Title : Frau Bovary
Author : Gustave Flaubert
Translator : Arthur Schurig
Release date
: April 26, 2005 [eBook #15711]
Most recently updated: December 14, 2020
Language : German
Credits
: Produced by Gunter Hille, K.F. Greiner and the Online
Distributed Proofreading Team.
Die Übertragung des Romans Madame Bovary aus dem Französischen besorgte Arthur Schurig.
Insel-Verlag zu Leipzig
Es war Arbeitsstunde. Da trat der Rektor ein, ihm zur Seite ein „Neuer“, in gewöhnlichem Anzuge. Der Pedell hinter den beiden, Schulstubengerät in den Händen. Alle Schüler erhoben sich von ihren Plätzen, wobei man so tat, als sei man aus seinen Studien aufgescheucht worden. Wer eingenickt war, fuhr mit auf.
Der Rektor winkte ab. Man setzte sich wieder hin. Darauf wandte er sich zu dem die Aufsicht führenden Lehrer.
„Herr Roger!“ lispelte er. „Diesen neuen Zögling hier empfehle ich Ihnen besonders. Er kommt zunächst in die Quinta. Bei löblichem Fleiß und Betragen wird er aber in die Quarta versetzt, in die er seinem Alter nach gehört.“
Der Neuling blieb in dem Winkel hinter der Türe stehen. Man konnte ihn nicht ordentlich sehen, aber offenbar war er ein Bauernjunge, so ungefähr fünfzehn Jahre alt und größer als alle andern. Die Haare trug er mit Simpelfransen in die Stirn hinein, wie ein Dorfschulmeister. Sonst sah er gar nicht dumm aus, nur war er höchst verlegen. So schmächtig er war, beengte ihn sein grüner Tuchrock mit schwarzen Knöpfen doch sichtlich, und durch den Schlitz in den Ärmelaufschlägen schimmerten rote Handgelenke hervor, die zweifellos die freie Luft gewöhnt waren. Er hatte gelbbraune, durch die Träger übermäßig hochgezogene Hosen an und blaue Strümpfe. Seine Stiefel waren derb, schlecht gewichst und mit Nägeln beschlagen.
Man begann die fertigen Arbeiten vorzulesen. Der Neuling hörte aufmerksamst zu, mit wahrer Kirchenandacht, wobei er es nicht einmal wagte, die Beine übereinander zu schlagen noch den Ellenbogen aufzustützen. Um zwei Uhr, als die Schulglocke läutete, mußte ihn der Lehrer erst besonders auffordern, ehe er sich den andern anschloß.
Es war in der Klasse Sitte, beim Eintritt in das Unterrichtszimmer die Mützen wegzuschleudern, um die Hände frei zu bekommen. Es kam darauf an, seine Mütze gleich von der Tür aus unter die richtige Bank zu facken, wobei sie unter einer tüchtigen Staubwolke laut aufklatschte. Das war so Schuljungenart.
Sei es nun, daß ihm dieses Verfahren entgangen war oder daß er nicht gewagt hatte, es ebenso zu machen, kurz und gut: als das Gebet zu Ende war, hatte der Neuling seine Mütze noch immer vor sich auf den Knien. Das war ein wahrer Wechselbalg von Kopfbedeckung. Bestandteile von ihr erinnerten an eine Bärenmütze, andre an eine Tschapka, wieder andre an einen runden Filzhut, an ein Pelzbarett, an ein wollnes Käppi, mit einem Worte: an allerlei armselige Dinge, deren stumme Häßlichkeit tiefsinnig stimmt wie das Gesicht eines Blödsinnigen. Sie war eiförmig, und Fischbeinstäbchen verliehen ihr den inneren Halt; zu unterst sah man drei runde Wülste, darüber (voneinander durch ein rotes Band getrennt) Rauten aus Samt und Kaninchenfell und zu oberst eine Art Sack, den ein vieleckiger Pappdeckel mit kunterbunter Schnurenstickerei krönte und von dem herab an einem ziemlich dünnen Faden eine kleine goldne Troddel hing. Diese Kopfbedeckung war neu, was man am Glanze des Schirmes erkennen konnte.
„Steh auf!“ befahl der Lehrer.
Der Junge erhob sich. Dabei entglitt ihm sein Turban, und die ganze Klasse fing an zu kichern. Er bückte sich, das Mützenungetüm aufzuheben. Ein Nachbar stieß mit dem Ellenbogen daran, so daß es wiederum zu Boden fiel. Ein abermaliges Sich-darnach-bücken.
„Leg doch deinen Helm weg!“ sagte der Lehrer, ein Witzbold.
Das schallende Gelächter der Schüler brachte den armen Jungen gänzlich aus der Fassung, und nun wußte er gleich gar nicht, ob er seinen „Helm“ in der Hand behalten oder auf dem Boden liegen lassen oder aufsetzen sollte. Er nahm Platz und legte die Mütze über seine Knie.
„Steh auf!“ wiederholte der Lehrer, „und sag mir deinen Namen!“
Der Neuling stotterte einen unverständlichen Namen her.
„Noch mal!“
Dasselbe Silbengestammel machte sich hörbar, von dem Gelächter der Klasse übertönt.
„Lauter!“ rief der Lehrer. „Lauter!“
Nunmehr nahm sich der Neuling fest zusammen, riß den Mund weit auf und gab mit voller Lungenkraft, als ob er jemanden rufen wollte, das Wort von sich: „Kabovary!“
Höllenlärm erhob sich und wurde immer stärker; dazwischen gellten Rufe. Man brüllte, heulte, grölte wieder und wieder: „Kabovary! Kabovary!“ Nach und nach verlor sich der Spektakel in vereinzeltes Brummen, kam mühsam zur Ruhe, lebte aber in den Bankreihen heimlich weiter, um da und dort plötzlich als halbersticktes Gekicher wieder aufzukommen, wie eine Rakete, die im Verlöschen immer wieder noch ein paar Funken sprüht.
Währenddem ward unter einem Hagel von Strafarbeiten die Ordnung in der Klasse allmählich wiedergewonnen, und es gelang dem Lehrer, den Namen „Karl Bovary“ festzustellen, nachdem er sich ihn hatte diktieren, buchstabieren und dann noch einmal im ganzen wiederholen lassen. Alsdann befahl er dem armen Schelm, sich auf die Strafbank dicht vor dem Katheder zu setzen. Der Junge wollte den Befehl ausführen, aber kaum hatte er sich in Gang gesetzt, als er bereits wieder stehen blieb.
„Was suchst du?“ fragte der Lehrer.
„Meine Mü...“, sagte er schüchtern, indem er mit scheuen Blicken Umschau hielt.
„Fünfhundert Verse die ganze Klasse!“
Wie das Quos ego bändigte die Stimme, die diese Worte wütend ausrief, einen neuen Sturm im Entstehen.
„Ich bitte mir Ruhe aus!“ fuhr der empörte Schulmeister fort, während er sich mit seinem Taschentuche den Schweiß von der Stirne trocknete. „Und du, du Rekrut du, du schreibst mir zwanzigmal den Satz auf: Ridiculus sum! “ Sein Zorn ließ nach. „Na, und deine Mütze wirst du schon wiederfinden. Die hat dir niemand gestohlen.“
Alles ward wieder ruhig. Die Köpfe versanken in den Heften, und der Neuling verharrte zwei Stunden lang in musterhafter Haltung, obgleich ihm von Zeit zu Zeit mit einem Federhalter abgeschwuppte kleine Papierkugeln ins Gesicht flogen. Er wischte sich jedesmal mit der Hand ab, ohne sich weiter zu bewegen noch die Augen aufzuschlagen.
Abends, im Arbeitssaal, holte er seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seine Habseligkeiten in Ordnung und liniierte sich sorgsam sein Schreibpapier. Die andern beobachteten, wie er gewissenhaft arbeitete; er schlug alle Wörter im Wörterbuche nach und gab sich viel Mühe. Zweifellos verdankte er es dem großen Fleiße, den er an den Tag legte, daß man ihn nicht in der Quinta zurückbehielt; denn wenn er auch die Regeln ganz leidlich wußte, so verstand er sich doch nicht gewandt auszudrücken. Der Pfarrer seines Heimatdorfes hatte ihm kaum ein bißchen Latein beigebracht, und aus Sparsamkeit war er von seinen Eltern so spät wie nur möglich auf das Gymnasium geschickt worden.
Sein Vater, Karl Dionys Barthel Bovary, war Stabsarzt a.D.; er hatte sich um 1812 bei den Aushebungen etwas zuschulden kommen lassen, worauf er den Abschied nehmen mußte. Er setzte nunmehr seine körperlichen Vorzüge in bare Münze um und ergatterte sich im Handumdrehen eine Mitgift von sechzigtausend Franken, die ihm in der Person der Tochter eines Hutfabrikanten in den Weg kam. Das Mädchen hatte sich in den hübschen Mann verliebt. Er war ein Schwerenöter und Prahlhans, der sporenklingend einherstolzierte, Schnurr- und Backenbart trug, die Hände voller Ringe hatte und in seiner Kleidung auffällige Farben liebte. Neben seinem Haudegentum besaß er das gewandte Getue eines Ellenreiters. Sobald er verheiratet war, begann er zwei, drei Jahre auf Kosten seiner Frau zu leben, aß und trank gut, schlief bis in den halben Tag hinein und rauchte aus langen Porzellanpfeifen. Nachts pflegte er sehr spät heimzukommen, nachdem er sich in Kaffeehäusern herumgetrieben hatte. Als sein Schwiegervater starb und nur wenig hinterließ, war Bovary empört darüber. Er übernahm die Fabrik, büßte aber Geld dabei ein, und so zog er sich schließlich auf das Land zurück, wovon er sich goldne Berge erträumte. Aber er verstand von der Landwirtschaft auch nicht mehr als von der Hutmacherei, ritt lieber spazieren, als daß er seine Pferde zur Arbeit einspannen ließ, trank seinen Apfelwein flaschenweise selber, anstatt ihn in Fässern zu verkaufen, ließ das fetteste Geflügel in den eignen Magen gelangen und schmierte sich mit dem Speck seiner Schweine seine Jagdstiefel. Auf diesem Wege sah er zu guter Letzt ein, daß es am tunlichsten für ihn sei, sich in keinerlei Geschäfte mehr einzulassen.
Für zweihundert Franken Jahrespacht mietete er nun in einem Dorfe im Grenzgebiete von Caux und der Pikardie ein Grundstück, halb Bauernhof, halb Herrenhaus. Dahin zog er sich zurück, fünfundvierzig Jahre alt, mit Gott und der Welt zerfallen, gallig und mißgünstig zu jedermann. Von den Menschen angeekelt, wie er sagte, wollte er in Frieden für sich hinleben.
Seine Frau war dereinst toll verliebt in ihn gewesen. Aber unter tausend Demütigungen starb ihre Liebe doch rettungslos. Ehedem heiter, mitteilsam und herzlich, war sie allmählich (just wie sich abgestandner Wein zu Essig wandelt) mürrisch, zänkisch und nervös geworden. Ohne zu klagen, hatte sie viel gelitten, wenn sie immer wieder sah, wie ihr Mann hinter allen Dorfdirnen her war und abends müde und nach Fusel stinkend aus irgendwelcher Spelunke zu ihr nach Haus kam. Ihr Stolz hatte sich zunächst mächtig geregt, aber schließlich schwieg sie, würgte ihren Grimm in stummem Stoizismus hinunter und beherrschte sich bis zu ihrem letzten Stündlein. Sie war unablässig tätig und immer auf dem Posten. Sie war es, die zu den Anwälten und Behörden ging. Sie wußte, wenn Wechsel fällig waren; sie erwirkte ihre Verlängerung. Sie machte alle Hausarbeiten, nähte, wusch, beaufsichtigte die Arbeiter und führte die Bücher, während der Herr und Gebieter sich um nichts kümmerte, aus seinem Zustande griesgrämlicher Schläfrigkeit nicht herauskam und sich höchstens dazu ermannte, seiner Frau garstige Dinge zu sagen. Meist hockte er am Kamin, qualmte und spuckte ab und zu in die Asche.
Als ein Kind zur Welt kam, mußte es einer Amme gegeben werden; und als es wieder zu Hause war, wurde das schwächliche Geschöpf grenzenlos verwöhnt. Die Mutter nährte es mit Zuckerzeug. Der Vater ließ es barfuß herumlaufen und meinte höchst weise obendrein, der Kleine könne eigentlich ganz nackt gehen wie die Jungen der Tiere. Im Gegensatz zu den Bestrebungen der Mutter hatte er sich ein bestimmtes männliches Erziehungsideal in den Kopf gesetzt, nach welchem er seinen Sohn zu modeln sich Mühe gab. Er sollte rauh angefaßt werden wie ein junger Spartaner, damit er sich tüchtig abhärte. Er mußte in einem ungeheizten Zimmer schlafen, einen ordentlichen Schluck Rum vertragen und auf den „kirchlichen Klimbim“ schimpfen. Aber der Kleine war von friedfertiger Natur und widerstrebte allen diesen Bemühungen. Die Mutter schleppte ihn immer mit sich herum. Sie schnitt ihm Pappfiguren aus und erzählte ihm Märchen; sie unterhielt sich mit ihm in endlosen Selbstgesprächen, die von schwermütiger Fröhlichkeit und wortreicher Zärtlichkeit überquollen. In ihrer Verlassenheit pflanzte sie in das Herz ihres Jungen alle ihre eigenen unerfüllten und verlorenen Sehnsüchte. Im Traume sah sie ihn erwachsen, hochangesehen, schön, klug, als Beamten beim Straßen- und Brückenbau oder in einer Ratsstellung. Sie lehrte ihn Lesen und brachte ihm sogar an dem alten Klavier, das sie besaß, das Singen von ein paar Liedchen bei. Ihr Mann, der von gelehrten Dingen nicht viel hielt, bemerkte zu alledem, es sei bloß schade um die Mühe; sie hätten doch niemals die Mittel, den Jungen auf eine höhere Schule zu schicken oder ihm ein Amt oder ein Geschäft zu kaufen. Zu was auch? Dem Kecken gehöre die Welt! Frau Bovary schwieg still, und der Kleine trieb sich im Dorfe herum. Er lief mit den Feldarbeitern hinaus, scheuchte die Krähen auf, schmauste Beeren an den Rainen, hütete mit einer Gerte die Truthähne und durchstreifte Wald und Flur. Wenn es regnete, spielte er unter dem Kirchenportal mit kleinen Steinchen, und an den Feiertagen bestürmte er den Kirchendiener, die Glocken läuten zu dürfen. Dann hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an den Strang der großen Glocke und ließ sich mit emporziehen. So wuchs er auf wie eine Lilie auf dem Felde, bekam kräftige Glieder und frische Farben.
Als er zwölf Jahre alt geworden war, setzte es seine Mutter durch, daß er endlich etwas Gescheites lerne. Er bekam Unterricht beim Pfarrer, aber die Stunden waren so kurz und so unregelmäßig, daß sie nicht viel Erfolg hatten. Sie fanden statt, wenn der Geistliche einmal gar nichts anders zu tun hatte, in der Sakristei, im Stehen, in aller Hast in den Pausen zwischen den Taufen und Begräbnissen. Mitunter, wenn er keine Lust hatte auszugehen, ließ der Pfarrer seinen Schüler nach dem Ave-Maria zu sich holen. Die beiden saßen dann oben im Stübchen. Mücken und Nachtfalter tanzten um die Kerze; aber es war so warm drin, daß der Junge schläfrig wurde, und es dauerte nicht lange, da schnarchte der biedere Pfarrer, die Hände über dem Schmerbauche gefaltet. Es kam auch vor, daß der Seelensorger auf dem Heimwege von irgendeinem Kranken in der Umgegend, dem er das Abendmahl gereicht hatte, den kleinen Vagabunden im Freien erwischte; dann rief er ihn heran, hielt ihm eine viertelstündige Strafpredigt und benutzte die Gelegenheit, ihn im Schatten eines Baumes seine Lektion hersagen zu lassen. Entweder war es der Regen, der den Unterricht störte, oder irgendein Bekannter, der vorüberging. Übrigens war der Lehrer durchweg mit seinem Schüler zufrieden, ja er meinte sogar, der „junge Mann“ habe ein gar treffliches Gedächtnis.
So konnte es nicht weitergehen. Frau Bovary ward energisch, und ihr Mann gab widerstandslos nach, vielleicht weil er sich selber schämte, wahrscheinlicher aber aus Ohnmacht. Man wollte nur noch ein Jahr warten; der Junge sollte erst gefirmelt werden.
Darüber hinaus verstrich abermals ein halbes Jahr, dann aber wurde Karl wirklich auf das Gymnasium nach Rouen geschickt. Sein Vater brachte ihn selber hin. Das war Ende Oktober.
Die meisten seiner damaligen Kameraden werden sich kaum noch deutlich an ihn erinnern. Er war ein ziemlich phlegmatischer Junge, der in der Freizeit wie ein Kind spielte, in den Arbeitsstunden eifrig lernte, während des Unterrichts aufmerksam dasaß, im Schlafsaal vorschriftsmäßig schlief und bei den Mahlzeiten ordentlich zulangte. Sein Verkehr außerhalb der Schule war ein Eisengroßhändler in der Handschuhmachergasse, der aller vier Wochen einmal mit ihm ausging, an Sonntagen nach Ladenschluß. Er lief mit ihm am Hafen spazieren, zeigte ihm die Schiffe und brachte ihn abends um sieben Uhr vor dem Abendessen wieder in das Gymnasium. Jeden Donnerstag abend schrieb Karl mit roter Tinte an seine Mutter einen langen Brief, den er immer mit drei Oblaten zuklebte. Hernach vertiefte er sich wieder in seine Geschichtshefte, oder er las in einem alten Exemplar von Barthelemys „Reise des jungen Anacharsis“, das im Arbeitssaal herumlag. Bei Ausflügen plauderte er mit dem Pedell, der ebenfalls vom Lande war.
Durch seinen Fleiß gelang es ihm, sich immer in der Mitte der Klasse zu halten; einmal errang er sich sogar einen Preis in der Naturkunde. Aber gegen Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern vom Gymnasium fort und ließen ihn Medizin studieren. Sie waren der festen Zuversicht, daß er sich bis zum Staatsexamen schon durchwürgen würde.
Die Mutter mietete ihm ein Stübchen, vier Stock hoch, nach der Eau-de-Robec zu gelegen, im Hause eines Färbers, eines alten Bekannten von ihr. Sie traf Vereinbarungen über die Verpflegung ihres Sohnes, besorgte ein paar Möbelstücke, einen Tisch und zwei Stühle, wozu sie von zu Hause noch eine Bettstelle aus Kirschbaumholz kommen ließ. Des weiteren kaufte sie ein Kanonenöfchen und einen kleinen Vorrat von Holz, damit ihr armer Junge nicht frieren sollte. Acht Tage darnach reiste sie wieder heim, nachdem sie ihn tausend- und abertausendmal ermahnt hatte, ja hübsch fleißig und solid zu bleiben, sintemal er nun ganz allein auf sich selbst angewiesen sei.
Vor dem Verzeichnis der Vorlesungen auf dem schwarzen Brette der medizinischen Hochschule vergingen dem neubackenen Studenten Augen und Ohren. Er las da von anatomischen und pathologischen Kursen, von Kollegien über Physiologie, Pharmazie, Chemie, Botanik, Therapeutik und Hygiene, von Kursen in der Klinik, von praktischen Übungen usw. Alle diese vielen Namen, über deren Herkunft er sich nicht einmal klar war, standen so recht vor ihm wie geheimnisvolle Pforten in das Heiligtum der Wissenschaft.
Er lernte gar nichts. So aufmerksam er auch in den Vorlesungen war, er begriff nichts. Um so mehr büffelte er. Er schrieb fleißig nach, versäumte kein Kolleg und fehlte in keiner Übung. Er erfüllte sein tägliches Arbeitspensum wie ein Gaul im Hippodrom, der in einem fort den Hufschlag hintrottet, ohne zu wissen, was für ein Geschäft er eigentlich verrichtet.
Zu seiner pekuniären Unterstützung schickte ihm seine Mutter allwöchentlich durch den Botenmann ein Stück Kalbsbraten. Das war sein Frühstück, wenn er aus dem Krankenhause auf einen Husch nach Hause kam. Sich erst hinzusetzen, dazu langte die Zeit nicht, denn er mußte alsbald wieder in ein Kolleg oder zur Anatomie oder Klinik eilen, durch eine Unmenge von Straßen hindurch. Abends nahm er an der kargen Hauptmahlzeit seiner Wirtsleute teil. Hinterher ging er hinauf in seine Stube und setzte sich an seine Lehrbücher, oft in nassen Kleidern, die ihm dann am Leibe bei der Rotglut des kleinen Ofens zu dampfen begannen.
An schönen Sommerabenden, wenn die schwülen Gassen leer wurden und die Dienstmädchen vor den Haustüren Ball spielten, öffnete er sein Fenster und sah hinaus. Unten floß der Fluß vorüber, der aus diesem Viertel von Rouen ein häßliches Klein-Venedig machte. Seine gelben, violett und blau schimmernden Wasser krochen träg zu den Wehren und Brücken. Arbeiter kauerten am Ufer und wuschen sich die Arme in der Flut. An Stangen, die aus Speichergiebeln lang hervorragten, trockneten Bündel von Baumwolle in der Luft. Gegenüber, hinter den Dächern, leuchtete der weite klare Himmel mit der sinkenden roten Sonne. Wie herrlich mußte es da draußen im Freien sein! Und dort im Buchenwald wie frisch! Karl holte tief Atem, um den köstlichen Duft der Felder einzusaugen, der doch gar nicht bis zu ihm drang.
Er magerte ab und sah sehr schmächtig aus. Sein Gesicht bekam einen leidvollen Zug, der es beinahe interessant machte. Er ward träge, was gar nicht zu verwundern war, und seinen guten Vorsätzen mehr und mehr untreu. Heute versäumte er die Klinik, morgen ein Kolleg, und allmählich fand er Genuß am Faulenzen und ging gar nicht mehr hin. Er wurde Stammgast in einer Winkelkneipe und ein passionierter Dominospieler. Alle Abende in einer schmutzigen Spelunke zu hocken und mit den beinernen Spielsteinen auf einem Marmortische zu klappern, das dünkte ihn der höchste Grad von Freiheit zu sein, und das stärkte ihm sein Selbstbewußtsein. Es war ihm das so etwas wie der Anfang eines weltmännischen Lebens, dieses Kosten verbotener Freuden. Wenn er hinkam, legte er seine Hand mit geradezu sinnlichem Vergnügen auf die Türklinke. Eine Menge Dinge, die bis dahin in ihm unterdrückt worden waren, gewannen nunmehr Leben und Gestalt. Er lernte Gassenhauer auswendig, die er gelegentlich zum besten gab. Béranger, der Freiheitssänger, begeisterte ihn. Er lernte eine gute Bowle brauen, und zu guter Letzt entdeckte er die Liebe. Dank diesen Vorbereitungen fiel er im medizinischen Staatsexamen glänzend durch.
Man erwartete ihn am nämlichen Abend zu Haus, wo sein Erfolg bei einem Schmaus gefeiert werden sollte. Er machte sich zu Fuß auf den Weg und erreichte gegen Abend seine Heimat. Dort ließ er seine Mutter an den Dorfeingang bitten und beichtete ihr alles. Sie entschuldigte ihn, schob den Mißerfolg der Ungerechtigkeit der Examinatoren in die Schuhe und richtete ihn ein wenig auf, indem sie ihm versprach, die Sache ins Lot zu bringen. Erst volle fünf Jahre darnach erfuhr Herr Bovary die Wahrheit. Da war die Geschichte verjährt, und so fügte er sich drein. Übrigens hätte er es niemals zugegeben, daß sein leiblicher Sohn ein Dummkopf sei.
Karl widmete sich von neuem seinem Studium und bereitete sich hartnäckigst auf eine nochmalige Prüfung vor. Alles, was er gefragt werden konnte, lernte er einfach auswendig. In der Tat bestand er das Examen nunmehr mit einer ziemlich guten Note. Seine Mutter erlebte einen Freudentag. Es fand ein großes Festmahl statt.
Wo sollte er seine ärztliche Praxis nun ausüben? In Tostes. Dort gab es nur einen und zwar sehr alten Arzt. Mutter Bovary wartete schon lange auf sein Hinscheiden, und kaum hatte der alte Herr das Zeitliche gesegnet, da ließ sich Karl Bovary auch bereits als sein Nachfolger daselbst nieder.
Aber nicht genug, daß die Mutter ihren Sohn erzogen, ihn Medizin studieren lassen und ihm eine Praxis ausfindig gemacht hatte: nun mußte er auch eine Frau haben. Selbige fand sie in der Witwe des Gerichtsvollziehers von Dieppe, die neben fünfundvierzig Jährlein zwölfhundert Franken Rente ihr eigen nannte. Obgleich sie häßlich war, dürr wie eine Hopfenstange und im Gesicht so viel Pickel wie ein Kirschbaum Blüten hatte, fehlte es der Witwe Dubuc keineswegs an Bewerbern. Um zu ihrem Ziele zu gelangen, mußte Mutter Bovary erst alle diese Nebenbuhler aus dem Felde schlagen, was sie sehr geschickt fertig brachte. Sie triumphierte sogar über einen Fleischermeister, dessen Anwartschaft durch die Geistlichkeit unterstützt wurde.
Karl hatte in die Heirat eingewilligt in der Erwartung, sich dadurch günstiger zu stellen. Er hoffte, persönlich wie pekuniär unabhängiger zu werden. Aber Heloise nahm die Zügel in ihre Hände. Sie drillte ihm ein, was er vor den Leuten zu sagen habe und was nicht. Alle Freitage wurde gefastet. Er durfte sich nur nach ihrem Geschmacke kleiden, und die Patienten, die nicht bezahlten, mußte er auf ihren Befehl hin kujonieren. Sie erbrach seine Briefe, überwachte jeden Schritt, den er tat, und horchte an der Türe, wenn weibliche Wesen in seiner Sprechstunde waren. Jeden Morgen mußte sie ihre Schokolade haben, und die Rücksichten, die sie erheischte, nahmen kein Ende. Unaufhörlich klagte sie über Migräne, Brustschmerzen oder Verdauungsstörungen. Wenn viel Leute durch den Hausflur liefen, ging es ihr auf die Nerven. War Karl auswärts, dann fand sie die Einsamkeit gräßlich; kehrte er heim, so war es zweifellos bloß, weil er gedacht habe, sie liege im Sterben. Wenn er nachts in das Schlafzimmer kam, streckte sie ihm ihre mageren langen Arme aus ihren Decken entgegen, umschlang seinen Hals und zog ihn auf den Rand ihres Bettes. Und nun ging die Jeremiade los. Er vernachlässige sie, er liebe eine andre! Man habe es ihr ja gleich gesagt, diese Heirat sei ihr Unglück. Schließlich bat sie ihn um einen Löffel Arznei, damit sie gesund werde, und um ein bißchen mehr Liebe.
Einmal nachts gegen elf Uhr wurde das Ehepaar durch das Getrappel eines Pferdes geweckt, das gerade vor der Haustüre zum Stehen kam. Anastasia, das Dienstmädchen, klappte ihr Bodenfenster auf und verhandelte eine Weile mit einem Manne, der unten auf der Straße stand. Er wolle den Arzt holen. Er habe einen Brief an ihn.
Anastasia stieg frierend die Treppen hinunter und schob die Riegel auf, einen und dann den andern. Der Bote ließ sein Pferd stehen, folgte dem Mädchen und betrat ohne weiteres das Schlafgemach. Er entnahm seinem wollnen Käppi, an dem eine graue Troddel hing, einen Brief, der in einen Lappen eingewickelt war, und überreicht ihn dem Arzt mit höflicher Gebärde. Der richtete sich im Bett auf, um den Brief zu lesen. Anastasia stand dicht daneben und hielt den Leuchter. Die Frau Doktor kehrte sich verschämt der Wand zu und zeigte den Rücken.
In dem Briefe, den ein niedliches blaues Siegel verschloß, wurde Herr Bovary dringend gebeten, unverzüglich nach dem Pachtgut Les Bertaux zu kommen, ein gebrochenes Bein zu behandeln. Nun braucht man von Tostes über Longueville und Sankt Victor bis Bertaux zu Fuß sechs gute Stunden. Die Nacht war stockfinster. Frau Bovary sprach die Befürchtung aus, es könne ihrem Manne etwas zustoßen. Infolgedessen ward beschlossen, daß der Stallknecht vorausreiten, Karl aber erst drei Stunden später, nach Mondaufgang, folgen solle. Man würde ihm einen Jungen entgegenschicken, der ihm den Weg zum Gute zeige und ihm den Hof aufschlösse.
Früh gegen vier Uhr machte sich Karl, fest in feinen Mantel gehüllt, auf den Weg nach Bertaux. Noch ganz verschlafen überließ er sich dem Zotteltrab seines Gaules. Wenn dieser von selber vor irgendeinem im Wege liegenden Hindernis zum Halten parierte, wurde der Reiter jedesmal wach, erinnerte sich des gebrochnen Beines und begann in seinem Gedächtnisse alles auszukramen, was er von Knochenbrüchen wußte.
Der Regen hörte auf. Es dämmerte. Auf den laublosen Ästen der Apfelbäume hockten regungslose Vögel, das Gefieder ob des kühlen Morgenwindes gesträubt. So weit das Auge sah, dehnte sich flaches Land. Auf dieser endlosen grauen Fläche hoben sich hie und da in großen Zwischenräumen tiefviolette Flecken ab, die am Horizonte mit des Himmels trüben Farben zusammenflossen; das waren Baumgruppen um Güter und Meiereien herum. Von Zeit zu Zeit riß Karl seine Augen auf, bis ihn die Müdigkeit von neuem überwältigte und der Schlaf von selber wiederkam. Er geriet in einen traumartigen Zustand, in dem sich frische Empfindungen mit alten Erinnerungen paarten, so daß er ein Doppelleben führte. Er war noch Student und gleichzeitig schon Arzt und Ehemann. Im nämlichen Moment glaubte er in seinem Ehebette zu liegen und wie einst durch den Operationssaal zu schreiten. Der Geruch von heißen Umschlägen mischte sich in seiner Phantasie mit dem frischen Dufte des Morgentaus. Dazu hörte er, wie die Messingringe an den Stangen der Bettvorhänge klirrten und wie seine Frau im Schlafe atmete ...
Als er durch das Dorf Vassonville ritt, bemerkte er einen Jungen, der am Rande des Straßengrabens im Grase saß.
„Sind Sie der Herr Doktor?“
Als Karl diese Frage bejahte, nahm der Kleine seine Holzpantoffeln in die Hände und begann vor dem Pferde herzurennen. Unterwegs hörte Bovary aus den Reden seines Führers heraus, daß Herr Rouault, der Patient, der ihn erwartete, einer der wohlhabendsten Landwirte sei. Er hatte sich am vergangenen Abend auf dem Heimwege von einem Nachbar, wo man das Dreikönigsfest gefeiert hatte, ein Bein gebrochen. Seine Frau war schon zwei Jahre tot. Er lebte ganz allein mit „dem gnädigen Fräulein“, das ihm den Haushalt führte.
Die Radfurchen wurden tiefer. Man näherte sich dem Gute. Plötzlich verschwand der Junge in der Lücke einer Gartenhecke, um hinter der Mauer eines Vorhofes wieder aufzutauchen, wo er ein großes Tor öffnete. Das Pferd trat in nasses rutschiges Gras, und Karl mußte sich ducken, um nicht vom Baumgezweig aus dem Sattel gerissen zu werden. Hofhunde fuhren aus ihren Hütten, schlugen an und rasselten an den Ketten. Als der Arzt in den eigentlichen Gutshof einritt, scheute der Gaul und machte einen großen Satz zur Seite.
Das Pachtgut Bertaux war ein ansehnliches Besitztum. Durch die offenstehenden Türen konnte man in die Ställe blicken, wo kräftige Ackergäule gemächlich aus blanken Raufen ihr Heu kauten. Längs der Wirtschaftsgebäude zog sich ein dampfender Misthaufen hin. Unter den Hühnern und Truthähnen machten sich fünf bis sechs Pfauen mausig, der Stolz der Güter jener Gegend. Der Schafstall war lang, die Scheune hoch und ihre Mauern spiegelglatt. Im Schuppen standen zwei große Leiterwagen und vier Pflüge, dazu die nötigen Pferdegeschirre, Kumte und Peitschen; auf den blauen Woilachs aus Schafwolle hatte sich feiner Staub gelagert, der von den Kornböden heruntersickerte. Der Hof, der nach dem Wohnhause zu etwas anstieg, war auf beiden Seiten mit einer Reihe Bäume bepflanzt. Vom Tümpel her erscholl das fröhliche Geschnatter der Gänse.
An der Schwelle des Hauses erschien ein junges Frauenzimmer in einem mit drei Volants besetzten blauen Merinokleide und begrüßte den Arzt. Er wurde nach der Küche geführt, wo ein tüchtiges Feuer brannte. Auf dem Herde kochte in kleinen Töpfen von verschiedener Form das Frühstück des Gesindes. Oben im Rauchfang hingen naßgewordene Kleidungsstücke zum Trocknen. Kohlenschaufel, Feuerzange und Blasebalg, alle miteinander von riesiger Größe, funkelten wie von blankem Stahl, während längs der Wände eine Unmenge Küchengerät hing, über dem die helle Herdflamme um die Wette mit den ersten Strahlen der durch die Fenster huschenden Morgensonne spielte und glitzerte.
Karl stieg in den ersten Stock hinauf, um den Kranken aufzusuchen. Er fand ihn in seinem Bett, schwitzend unter seinen Decken. Seine Nachtmütze hatte er in die Stube geschleudert. Es war ein stämmiger kleiner Mann, ein Fünfziger, mit weißem Haar, blauen Augen und kahler Stirn. Er trug Ohrringe. Neben ihm auf einem Stuhle stand eine große Karaffe voll Branntwein, aus der er sich von Zeit zu Zeit ein Gläschen einschenkte, um „Mumm in die Knochen zu kriegen“. Angesichts des Arztes legte sich seine Erregung. Statt zu fluchen und zu wettern — was er seit zwölf Stunden getan hatte — fing er nunmehr an zu ächzen und zu stöhnen.
Der Bruch war einfach, ohne jedwede Komplikation. Karl hätte sich einen leichteren Fall nicht zu wünschen gewagt. Alsbald erinnerte er sich der Allüren, die seine Lehrmeister an den Krankenlagern zur Schau getragen harten, und spendete dem Patienten ein reichliches Maß der üblichen guten Worte, jenes Chirurgenbalsams, der an das Öl gemahnt, mit dem die Seziermesser eingefettet werden. Er ließ sich aus dem Holzschuppen ein paar Latten holen, um Holz zu Schienen zu bekommen. Von den gebrachten Stücken wählte er eins aus, schnitt die Schienen daraus zurecht und glättete sie mit einer Glasscherbe. Währenddem stellte die Magd Leinwandbinden her, und Fräulein Emma, die Tochter des Hauses, versuchte Polster anzufertigen. Als sie ihren Nähkasten nicht gleich fand, polterte der Vater los. Sie sagte kein Wort. Aber beim Nähen stach sie sich in den Finger, nahm ihn in den Mund und sog das Blut aus.
Karl war erstaunt, was für blendendweiße Nägel sie hatte. Sie waren mandelförmig geschnitten und sorglich gepflegt, und so schimmerten sie wie das feinste Elfenbein. Ihre Hände freilich waren nicht gerade schön, vielleicht nicht weiß genug und ein wenig zu mager in den Fingern; dabei waren sie allzu schlank, nicht besonders weich und in ihren Linien ungraziös. Was jedoch schön an ihr war, das waren ihre Augen. Sie waren braun, aber im Schatten der Wimpern sahen sie schwarz aus, und ihr offener Blick traf die Menschen mit der Kühnheit der Unschuld.
Als der Verband fertig war, lud Herr Rouault den Arzt feierlich „einen Bissen zu essen“, ehe er wieder aufbräche. Karl ward in das Eßzimmer geführt, das zu ebener Erde lag. Auf einem kleinen Tische war für zwei Personen gedeckt; neben den Gedecken blinkten silberne Becher. Aus dem großen Eichenschranke, gegenüber dem Fenster, strömte Geruch von Iris und feuchtem Leinen. In einer Ecke standen aufrecht in Reih und Glied mehrere Säcke mit Getreide; sie hatten auf der Kornkammer nebenan keinen Platz gefunden, zu der drei Steinstufen hinaufführten. In der Mitte der Wand, deren grüner Anstrich sich stellenweise abblätterte, hing in einem vergoldeten Rahmen eine Bleistiftzeichnung: der Kopf einer Minerva. In schnörkeliger Schrift stand darunter geschrieben. „Meinem lieben Vater!“
Sie sprachen zuerst von dem Unfall, dann vom Wetter, vom starken Frost, von den Wölfen, die nachts die Umgegend unsicher machen. Fräulein Rouault schwärmte gar nicht besonders von dem Leben auf dem Lande, zumal jetzt nicht, wo die ganze Last der Gutswirtschaft fast allein auf ihr ruhe. Da es im Zimmer kalt war, fröstelte sie während der ganzen Mahlzeit. Beim Essen fielen ihre vollen Lippen etwas auf. Wenn das Gespräch stockte, pflegte sie mit den Oberzähnen auf die Unterlippe zu beißen.
Ihr Hals wuchs aus einem weißen Umlegekragen heraus. Ihr schwarzes, hinten zu einem reichen Knoten vereintes Haar war in der Mitte gescheitelt; beide Hälften lagen so glatt auf dem Kopfe, daß sie wie zwei Flügel aus je einem Stücke aussahen und kaum die Ohrläppchen blicken ließen. Über den Schläfen war das Haar gewellt, was der Landarzt noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Ihre Wangen waren rosig. Zwischen zwei Knöpfen ihrer Taille lugte — wie bei einem Herrn — ein Lorgnon aus Schildpatt hervor.
Nachdem sich Karl oben beim alten Rouault verabschiedet hatte, trat er nochmals in das Eßzimmer. Er fand Emma am Fenster stehend, die Stirn an die Scheiben gedrückt. Sie schaute in den Garten hinaus, wo der Wind die Bohnenstangen umgeworfen hatte. Sich umwendend, fragte sie:
„Suchen Sie etwas?“
„Meinen Reitstock, wenn Sie gestatten!“
Er fing an zu suchen, hinter den Türen und unter den Stühlen. Der Stock war auf den Fußboden gefallen, gerade zwischen die Säcke und die Wand. Emma entdeckte ihn. Als sie sich über die Säcke beugte, wollte Karl ihr galant zuvorkommen. Wie er seinen Arm in der nämlichen Absicht wie sie ausstreckte, berührte seine Brust den gebückten Rücken des jungen Mädchens. Sie fühlten es beide. Emma fuhr rasch in die Höhe. Ganz rot geworden, sah sie ihn über die Schulter weg an, indem sie ihm seinen Reitstock reichte.
Er hatte versprochen, in drei Tagen wieder nachzusehen; statt dessen war er bereits am nächsten Tag zur Stelle, und von da ab kam er regelmäßig zweimal in der Woche, ungerechnet die gelegentlichen Besuche, die er hin und wieder machte, wenn er „zufällig in der Gegend“ war. Übrigens ging alles vorzüglich; die Heilung verlief regelrecht, und als man nach sechs und einer halben Woche Vater Rouault ohne Stock wieder in Haus und Hof herumstiefeln sah, hatte sich Bovary in der ganzen Gegend den Ruf einer Kapazität erworben. Der alte Herr meinte, besser hätten ihn die ersten Ärzte von Yvetot oder selbst von Rouen auch nicht kurieren können.
Karl dachte gar nicht daran, sich zu befragen, warum er so gern nach dem Rouaultschen Gute kam. Und wenn er auch darüber nachgesonnen hätte, so würde er den Beweggrund seines Eifers zweifellos in die Wichtigkeit des Falles oder vielleicht in das in Aussicht stehende hohe Honorar gelegt haben. Waren dies aber wirklich die Gründe, die ihm seine Besuche des Pachthofes zu köstlichen Abwechselungen in dem armseligen Einerlei seines tätigen Lebens machten? An solchen Tagen stand er zeitig auf, ritt im Galopp ab und ließ den Gaul die ganze Strecke lang kaum zu Atem kommen. Kurz vor seinem Ziele aber pflegte er abzusitzen und sich die Stiefel mit Gras zu reinigen; dann zog er sich die braunen Reithandschuhe an, und so ritt er kreuzvergnügt in den Gutshof ein. Es war ihm ein Wonnegefühl, mit der Schulter gegen den nachgebenden Flügel des Hoftores anzureiten, den Hahn auf der Mauer krähen zu hören und sich von der Dorfjugend umringt zu sehen. Er liebte die Scheune und die Ställe; er liebte den Papa Rouault, der ihm so treuherzig die Hand schüttelte und ihn seinen Lebensretter nannte; er liebte die niedlichen Holzpantoffeln des Gutsfräuleins, die auf den immer sauber gescheuerten Fliesen der Küche so allerliebst schlürften und klapperten. In diesen Schuhen sah Emma viel größer aus denn sonst. Wenn Karl wieder ging, gab sie ihm jedesmal das Geleit bis zur ersten Stufe der Freitreppe. War sein Pferd noch nicht vorgeführt, dann wartete sie mit. Sie hatten schon Abschied voneinander genommen, und so sprachen sie nicht mehr. Wenn es sehr windig war, kam ihr flaumiges Haar im Nacken in wehenden Wirrwarr, oder die Schürzenbänder begannen ihr um die Hüften zu flattern. Einmal war Tauwetter. An den Rinden der Bäume rann Wasser in den Hof hinab, und auf den Dächern der Gebäude schmolz aller Schnee. Emma war bereits auf der Schwelle, da ging sie wieder ins Haus, holte ihren Sonnenschirm und spannte ihn auf. Die Sonnenlichter stahlen sich durch die taubengraue Seide und tupften tanzende Reflexe auf die weiße Haut ihres Gesichts. Das gab ein so warmes und wohliges Gefühl, daß Emma lächelte. Einzelne Wassertropfen prallten auf das Schirmdach, laut vernehmbar, einer, wieder einer, noch einer ...
Im Anfang hatte Frau Bovary häufig nach Herrn Rouault und seiner Krankheit gefragt, auch hatte sie nicht verfehlt, für ihn in ihrer doppelten Buchführung ein besondres Konto einzurichten. Als sie aber vernahm, daß er eine Tochter hatte, zog sie nähere Erkundigungen ein, und da erfuhr sie, daß Fräulein Rouault im Kloster, bei den Ursulinerinnen, erzogen worden war, sozusagen also „eine feine Erziehung genossen“ hatte, daß sie infolgedessen Kenntnisse im Tanzen, in der Erdkunde, im Zeichnen, Sticken und Klavierspielen haben mußte. Das ging ihr über die Hutschnur, wie man zu sagen pflegt.
„Also darum!“ sagte sie sich. „Darum also lacht ihm das ganze Gesicht, wenn er zu ihr hinreitet! Darum zieht er die neue Weste an, gleichgültig, ob sie ihm vom Regen verdorben wird! Oh dieses Weib, dieses Weib!“
Instinktiv haßte sie Emma. Zuerst tat sie sich eine Güte in allerhand Anspielungen. Karl verstand das nicht. Darauf versuchte sie es mit anzüglichen Bemerkungen, die er aus Angst vor einer häuslichen Szene über sich ergehen ließ. Schließlich aber ging sie im Sturm vor. Karl wußte nicht, was er sagen sollte. Weshalb renne er denn ewig nach Bertaux, wo doch der Alte längst geheilt sei, wenn die Rasselbande auch noch nicht berappt habe? Na freilich, weil es da „eine Person“ gäbe, die fein zu schwatzen verstünde, ein Weibsbild, das sticken könne und weiter nichts, ein Blaustrumpf! In die sei er verschossen! Ein Stadtdämchen, das sei ihm ein gefundenes Fressen.
„Blödsinn!“ polterte sie weiter. „Die Tochter des alten Rouault, die und eine feine Dame! O jeh! Ihr Großvater hat noch die Schafe gehütet, und ein Vetter von ihr ist beinahe vor den Staatsanwalt gekommen, weil er bei einem Streite jemanden halbtot gedroschen hat! So was hat gar keinen Anlaß, sich was Besonders einzubilden und Sonntags aufgedonnert in die Kirche zu schwänzeln, in seidnen Kleidern wie eine Prinzessin. Und der Alte, der arme Schluder! Wenn im vergangenen Jahre die Rapsernte nicht so unverschämt gut ausgefallen wäre, hätte er seinen lumpigen Pacht nicht mal blechen können!“
Die Freude war Karl verdorben. Er stellte seine Ritte nach Bertaux ein. Seine Frau hatte ihn nach einer Flut von Tränen und Küssen und unter tausend Zärtlichkeiten auf ihr Meßbuch schwören lassen, nicht mehr hinzugehen. Er gehorchte. Aber in seiner heimlichen Sehnsucht war er kühner; da war er empört über seine tatsächliche eigne Feigheit. Und in naivem Machiavellismus sagte er sich, gerade ob dieses Verbots habe er ein Recht auf seine Liebe. Was war die ehemalige Witwe auch für ein Weib: sie war spindeldürr und hatte häßliche Zähne; Sommer wie Winter trug sie denselben schwarzen Schal mit dem über den Rücken herabhängenden langen Zipfel; ihre steife Figur stak in den immer zu kurzen Kleidern wie in einem Futteral, und was für plumpe Schuhe trug sie über ihren grauen Strümpfen.
Karls Mutter kam von Zeit zu Zeit zu Besuch. Dann wurde es noch schlimmer; dann hackten sie alle beide auf ihn ein. Das viele Essen bekäme ihm schlecht. Warum er dem ersten besten immer gleich ein Glas Wein vorsetze? Und es sei bloß Dickköpfigkeit von ihm, keine Flanellwäsche zu tragen.
Zu Beginn des Frühlings begab es sich, daß der Vermögensverwalter der Frau verwitweten Dubuc, ein Notar in Ingouville, samt allen ihm anvertrauten Geldern übers Meer das Weite suchte. Nun besaß sie allerdings außerdem einen Schiffsanteil in der Höhe von sechstausend Franken und ein Haus in Dieppe. Aber von allen diesen vielgepriesenen Besitztümern hatte man nie etwas Ordentliches zu sehen bekommen. Die Witwe hatte nichts mit in die Ehe gebracht als ein paar Möbel und etliche Nippsachen. Nunmehr ging man der Sache auf den Grund, und da stellte sich denn heraus, daß besagtes Haus bis an die Feueresse mit Hypotheken belastet, daß kein Mensch wußte, wieviel Geld wirklich mit dem Notar zum Teufel gegangen, und daß die Schiffshypothek keine tausend Taler wert war. Folglich hatte die liebe Frau Heloise geflunkert. In seinem Zorn warf der alte Bovary einen Stuhl gegen die Wand, daß er in tausend Stücke ging, und machte seiner Frau den Vorwurf, sie habe den Jungen in das Unglück gestürzt und ihn mit einer alten Kracke eingespannt, die des Futters nicht einmal mehr wert sei.
Sie fuhren nach Tostes. Es kam zu einer Auseinandersetzung und zu heftigen Szenen. Heloise warf sich weinend in die Arme ihres Gatten und beschwor ihn, sie den Eltern gegenüber in Schutz zu nehmen. Karl wollte die Partei seiner Frau ergreifen. Aber das nahmen ihm die Alten übel. Sie reisten ab.
Diesen Schlag vermochte Heloise nicht zu verwinden. Acht Tage darnach, als sie dabei war, Wäsche im Hofe aufzuhängen, bekam sie einen Blutsturz, und am andern Morgen war sie tot.
Als Karl vom Friedhofe zurückkam, fand er im Erdgeschoß keinen Menschen. Er stieg die Treppe hinauf. Wie er in das Schlafzimmer trat, fiel sein Blick auf einen Rock Heloisens, der am Bette hing. Er lehnte sich gegen das Schreibpult und blieb da hocken, bis es dunkel wurde, in schmerzliche Träumereien versunken. Alles in allem hatte sie ihn doch geliebt ...
Eines Vormittags erschien Vater Rouault und brachte das Honorar für den behandelten Beinbruch: fünfundsiebzig Franken in blanken Talern und eine Truthenne. Er hatte Karls Unglück erfahren und tröstete ihn, so gut er konnte.
„Ich weiß, wie einem da zumute ist!“ sagte er, indem er dem Witwer auf die Schulter klopfte. „Habs ja selber mal durchgemacht, ganz so wie Sie! Als ich meine Selige begraben hatte, da lief ich hinaus ins Freie, um allein für mich zu sein. Ich warf mich im Walde hin und weinte mich aus. Fing an, mit dem lieben Gott zu hadern, und machte ihm die dümmsten Vorwürfe. An einem Aste sah ich einen verreckten Maulwurf hängen, dem der Bauch von Würmern wimmelte. Ich beneidete den Kadaver! Und wenn ich daran dachte, daß im selben Augenblicke andre Männer mit ihren netten kleinen Frauen zusammen waren und sie an sich drückten, schlug ich mit meinem Stocke wild um mich. Es war sozusagen nicht mehr ganz richtig mit mir. Ich aß nicht mehr. Der bloße Gedanke, in ein Kaffeehaus zu gehn, ekelte mich an. Glauben Sie mir das! Na, und so nach und nach im Gang der Zeiten, wie so der Frühling dem Winter und der Herbst dem Sommer folgte, da gings eins, zwei, drei, und weg war der Jammer! Weg! Hinunter! Das ist das richtige Wort: hinunter! Denn ganz kriegt man ja so was im ganzen Leben nicht los. Da tief drinnen in der Brust bleibt immer was stecken. Aber Luft kriegt man wieder! Sehen Sie, das ist nun einmal unser aller Schicksal, und deshalb darf man nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Man darf nicht sterben wollen, weil andere gestorben sind. Auch Sie müssen sich aufrappeln, Herr Bovary! Es geht alles vorüber! Besuchen Sie uns! Sie wissen ja, meine Emma denkt oft an Sie. Sie hätten uns vergessen, meint sie. Es wird nun Frühling. Zerstreuen Sie sich ein bißchen bei uns. Schießen Sie ein paar Karnickel auf meinem Revier!“
Karl befolgte seinen Rat. Er kam wieder nach Bertaux und fand da alles wie einst, das heißt wie vor fünf Monaten. Die Birnbäume hatten schon Blüten, und der treffliche Vater Rouault war wieder mordsgesund und von früh bis abend auf den Beinen. Und im ganzen Gut war mächtiger Betrieb.
Es war ihm eine Ehrensache, den Arzt mit der erdenklichsten Rücksicht auf sein Leid zu behandeln. Er bat ihn, sichs so bequem wie nur möglich zu machen, sprach im Flüstertone mit ihm wie mit einem Genesenden, und er war sichtlich außer sich, wenn man des Gastes wegen nicht, wie befohlen, die leichtverdaulichsten Gerichte auf den Tisch brachte, zum Beispiel feine Eierspeisen oder gedünstete Birnen. Er erzählte Anekdoten und Abenteuer. Zu seiner eignen Verwunderung lachte Karl. Aber mir einem Male erinnerte er sich seiner Frau und wurde nachdenklich. Der Kaffee ward gebracht, und da vergaß er sie wieder.
Je mehr er sich an sein Witwertum gewöhnte, um so weniger gedachte er der Verstorbenen. Das angenehme, ihm neue Bewußtsein, unabhängig zu sein, machte ihm die Einsamkeit bald erträglicher. Jetzt durfte er die Stunden der Mahlzeiten selber bestimmen, konnte gehen und kommen, ohne Rechenschaft darüber geben zu müssen, und wenn er müde war, alle vier von sich strecken und sich in seinem Bette breit machen. Er hegte und pflegte sich und ließ alle Tröstungen über sich ergehen. Übrigens hatte der Tod seiner Frau keine ungünstige Wirkung auf seinen Beruf als Arzt. Indem man wochenlang in einem fort sagte: „Der arme Doktor. Wie traurig!“ blieb sein Name im Munde der Leute. Seine Praxis vergrößerte sich. Und dann konnte er nun nach Bertaux reiten, wann es ihm beliebte. Eine unbestimmbare Sehnsucht wuchs in ihm auf, ein namenloses Glücksgefühl. Wenn er sich im Spiegel betrachtete und sich den Bart strich, fand er sich gar nicht übel.
Eines schönen Tages kam er nachmittags gegen drei Uhr im Gute angeritten. Alles war draußen auf dem Felde. Er betrat die Küche. Emma war drinnen, aber er bemerkte sie zunächst nicht. Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Ritzen des Holzes stachen die Sonnenstrahlen mit langen dünnen Nadeln auf die Fliesen, oder sie brachen sich an den Kanten der Möbel entzwei und wirbelten hinauf zur Decke. Auf dem Küchentische krabbelten Fliegen an den Gläsern hinauf, purzelten summend in die Apfelweinneigen und ertranken. Das Sonnenlicht, das durch den Kamin eindrang, verwandelte die rußige Herdplatte in eine Samtfläche und färbte den Aschehaufen blau. Emma saß zwischen dem Fenster und dem Herd und nähte. Sie hatte kein Halstuch um, und auf ihren entblößten Schultern glänzten kleine Schweißperlen.
Nach ländlichem Brauch bot sie dem Ankömmling einen Trunk an. Als er ihn ausschlug, nötigte sie ihn, und schließlich bat sie ihn lachend, ein Gläschen Likör mit ihr zu trinken. Sie holte aus dem Schranke eine Flasche Curaçao, suchte zwei Gläser heraus, füllte das eine bis zum Rande und goß in das andre ein paar Tropfen. Sie stieß mit Karl an und führte dann ihr Glas zum Munde. Da soviel wie nichts drin war, mußte sie sich beim Trinken zurückbiegen. Den Kopf nach hinten gelegt, die Lippen zugespitzt, den Hals gestrafft, so stand sie da und lachte darüber, daß ihr nichts auf die Zunge lief, obgleich diese mit der Spitze aus den feinen Zähnen herausspazierte und bis an den Boden des Glases mehreremals suchend vorstieß.
Emma nahm wieder Platz und begann sich von neuem ihrer Handarbeit zu widmen. Ein weißer baumwollener Strumpf war zu stopfen. Mit gesenkter Stirn saß sie da. Sie sagte nichts und Karl erst recht nichts. Der Luftzug, der sich zwischen Tür und Schwelle eindrängte, wirbelte ein wenig Staub von den Fliesen auf. Karl sah diesem Tanze der Atome zu. Dabei hörte er nichts als das Hämmern seines Blutes im eignen Hirne und aus der Ferne das Gackern einer Henne, die irgendwo im Hofe ein Ei gelegt hatte. Hin und wieder hielt Emma die Handflächen ihrer Hände auf den kalten Knauf der Herdstange und preßte sie dann an ihre Wangen, um diese zu kühlen.
Sie klagte über die Schwindelanfälle, von denen sie seit Frühjahrsanfang heimgesucht wurde, und fragte, ob ihr wohl Seebäder dienlich wären. Dann plauderte sie von ihrem Aufenthalt im Kloster und er von seiner Gymnasiastenzeit. So gerieten sie in ein Gespräch. Sie führte ihn in ihr Zimmer und zeigte ihm ihre Notenhefte von damals und die niedlichen Bücher, die sie als Schulprämien bekommen hatte, und die Eichenlaubkränze, die im untersten Schrankfache ihr Dasein fristeten. Dann erzählte sie von ihrer Mutter, von deren Grabe, und zeigte ihm sogar im Garten das Beet, wo die Blumen wüchsen, die sie der Toten jeden ersten Freitag im Monat hintrug. Der Gärtner, den sie hatten, verstünde nichts. Mit dem seien sie schlecht dran. Ihr Wunsch wäre es, wenigstens während der Wintermonate in der Stadt zu wohnen. Dann aber meinte sie wieder, an den langen Sommertagen sei das Leben auf dem Lande noch langweiliger. Und je nachdem, was sie sagte, klang ihre Stimme hell oder scharf; oder sie nahm plötzlich einen matten Ton an, und wenn sie wie mit sich selbst plauderte, ward sie wieder ganz anders, wie flüsternd und murmelnd. Bald war Emma lustig und hatte große unschuldige Augen, dann wieder schlossen sich ihre Lider zur Hälfte, und ihr schimmernder Blick sah teilnahmslos und traumverloren aus.
Abends auf dem Heimritt wiederholte sich Karl alles, was sie geredet hatte, bis ins einzelne, und versuchte den vollen Sinn ihrer Worte zu erfassen. Er wollte sich damit eine Vorstellung von der Existenz schaffen, die Emma geführt, ehe er sie kennen gelernt hatte. Aber es gelang ihm nicht, sie in seinen Gedanken anders zu erschauen als so, wie sie ausgesehen hatte, als er sie zum ersten Male erblickt, oder so, wie er sie eben vor sich gehabt hatte. Dann fragte er sich, wie es wohl würde, wenn sie sich verheiratete, aber mit wem? Ja, ja, mit wem? Ihr Vater war so reich und sie ... so schön!
Und immer wieder sah er Emmas Gesicht vor seinen geistigen Augen, und eine Art eintönige Melodie summte ihm durch die Ohren wie das Surren eines Kreisels: „Emma, wenn du dich verheiratetest! Wenn du dich nun verheiratetest!“ In der Nacht konnte er keinen Schlaf finden. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er verspürte Durst, stand auf, trank ein Glas Wasser und machte das Fenster auf. Der Himmel stand voller Sterne. Der laue Nachtwind strich in das Zimmer. Fern bellten Hunde. Er wandte den Blick in die Rötung nach Bertaux.
Endlich kam er auf den Gedanken, daß es den Hals nicht kosten könne, und so nahm er sich vor, bei der ersten besten Gelegenheit um Emmas Hand zu bitten. Aber sooft sich diese Gelegenheit bot, wollten ihm vor lauter Angst die passenden Worte nicht über die Lippen. Vater Rouault hätte längst nichts dagegen gehabt, wenn ihm jemand seine Tochter geholt hätte. Im Grunde nützte sie ihm in Haus und Hof nicht viel. Er machte ihr keinen Vorwurf daraus: sie war eben für die Landwirtschaft zu geweckt. „Ein gottverdammtes Gewerbe!“ pflegte er zu schimpfen. „Das hat auch noch keinen zum Millionär gemacht!“ Ihm hatte es in der Tat keine Reichtümer gebracht; im Gegenteil, er setzte alle Jahre zu. Denn wenn er auch auf den Märkten zu seinem Stolz als gerissener Kerl bekannt war, so war er eigentlich doch für Ackerbau und Viehzucht durchaus nicht geschaffen. Er verstand nicht zu wirtschaften. Er nahm nicht gern die Hände aus den Hosentaschen, und seinem eigenen Leibe war er kein Stiefvater. Er hielt auf gut Essen und Trinken, einen warmen Ofen und ausgiebigen Schlaf. Ein gutes Glas Landwein, ein halb durchgebratenes Hammelkotelett und ein Täßchen Mokka mit Kognak gehörten zu den Idealen seines Lebens. Er nahm seine Mahlzeiten in der Küche ein und zwar allein für sich, in der Nähe des Herdfeuers an einem kleinen Tische, der ihm — wie auf der Bühne — fix und fertig gedeckt hereingebracht werden mußte.
Als er die Entdeckung machte, daß Karl einen roten Kopf bekam, wenn er Emma sah, war er sich sofort klar, daß früher oder später ein Heiratsantrag zu erwarten war. Alsobald überlegte er sich die Geschichte. Besonders schneidig sah ja Karl Bovary nicht gerade aus, und Rouault hatte sich ehedem seinen künftigen Schwiegersohn ein bißchen anders gedacht, aber er war doch als anständiger Kerl bekannt, sparsam und tüchtig in seinem Berufe. Und zweifellos würde er wegen der Mitgift nicht lange feilschen. Vater Rouault hatte gerade eine Menge großer Ausgaben. Um allerlei Handwerker zu bezahlen, sah er sich gezwungen, zweiundzwanzig Acker von seinem Grund und Boden zu verkaufen. Die Kelter mußte auch erneuert werden. Und so sagte er sich: „Wenn er um Emma anhält, soll er sie kriegen!“
Zur Weinlese war Karl drei Tage lang da. Aber Tag verging auf Tag und Stunde auf Stunde, ohne daß Karls Wille zur Tat ward. Rouault gab ihm ein kleines Stück Wegs das Geleite; am Ende des Hohlwegs vor dem Dorfe pflegte er sich von seinem Gaste zu verabschieden. Das war also der Moment! Karl nahm sich noch Zeit bis zuallerletzt. Erst als die Hecke hinter ihnen lag, stotterte er los:
„Verehrter Herr Rouault, ich möchte Ihnen gern etwas sagen!“
Weiter brachte er nichts heraus. Die beiden Männer blieben stehen.
„Na, raus mit der Sprache! Ich kann mirs schon denken!“ Rouault lachte gemütlich.
„Vater Rouault! Vater Rouault!“ stammelte Karl.
„Meinen Segen sollen Sie haben!“ fuhr der Gutspächter fort. „Meine Kleine denkt gewiß nicht anders als ich, aber gefragt werden muß sie. Reiten Sie getrost nach Hause. Ich werde sie gleich mal ins Gebet nehmen. Wenn sie Ja sagt, — wohlverstanden! — brauchen Sie jedoch nicht umzukehren. Wegen der Leute nicht, und auch weil sie sich erst ein bißchen beruhigen soll. Damit Sie aber nicht zu lange Blut schwitzen, will ich Ihnen ein Zeichen geben: ich werde einen Fensterladen gegen die Mauer klappen lassen. Wenn Sie da oben über die Hecke gucken, können Sie das ungesehen beobachten!“
Damit ging er.
Karl band seinen Schimmel an einen Baum; kletterte die Böschung hinauf und stellt sich auf die Lauer, die Taschenuhr in der Hand. Eine halbe Stunde verstrich — und dann noch neunzehn Minuten ... Da gab es mit einem Male einen Schlag gegen die Mauer. Der Laden blieb sperrangelweit offen und wackelte noch eine Weile.
Am andern Morgen war Karl vor neun Uhr in Bertaux. Emma wurde über und über rot, als sie ihn sah. Sie lächelte gezwungen ein wenig, um ihre Fassung zu bewahren. Rouault umarmte seinen künftigen Schwiegersohn. Die Besprechung der geschäftlichen Punkte wurde verschoben. Übrigens war noch viel Zeit dazu, da die Hochzeit anstandshalber vor Ablauf von Karls Trauerjahr nicht stattfinden konnte, das hieß, nicht vor dem nächsten Frühjahr.
In dieser Erwartung verging der Winter. Fräulein Rouault beschäftigte sich mit ihrer Aussteuer. Ein Teil davon wurde in Rouen bestellt. Die Hemden und Hauben stellte sie nach Schnitten, die sie sich lieh, selbst her. Wenn Karl zu Besuch kam, plauderte das Brautpaar von den Vorbereitungen zur Hochzeitsfeier. Es wurde überlegt, in welchem Raume das Festmahl stattfinden, wieviel Platten und Schüsseln auf die Tafel kommen und was für Vorspeisen es geben solle.
Am liebsten hätte es Emma gehabt, wenn die Trauung auf nachts zwölf Uhr bei Fackelschein festgesetzt worden wäre; aber für solche Romantik hatte Vater Rouault kein Verständnis. Man einigte sich also auf eine Hochzeitsfeier, zu der dreiundvierzig Gäste Einladungen bekamen. Sechzehn Stunden wollte man bei Tisch sitzen bleiben. Am nächsten Tage und an den folgenden sollte es so weitergehen.
Die Hochzeitsgäste stellten sich pünktlich ein, in Kutschen, Landauern, Einspännern, Gigs, Kremsern mit Ledervorhängen, in allerlei Fuhrwerk moderner und vorsintflutlicher Art. Das junge Volk aus den nächsten Nachbardörfern kam tüchtig durchgerüttelt im Trabe in einem Heuwagen angefahren, aufrecht in einer Reihe stehend, die Hände an den Seitenstangen, um nicht umzufallen. Etliche eilten zehn Wegstunden weit herbei, aus Goderville, Normanville und Cany. Die Verwandten beider Familien waren samt und sonders geladen. Freunde, mit denen man uneins gewesen, versöhnte man, und es war an Bekannte geschrieben worden, von denen man wer weiß wie lange nichts gehört hatte.
Immer wieder vernahm man hinter der Gartenhecke Peitschengeknall. Eine Weile später erschien der Wagen im Hoftor. Im Galopp ging es bis zur Freitreppe, wo mit einem Rucke gehalten wurde. Die Insassen stiegen nach beiden Seiten aus. Man rieb sich die Knie und turnte mit den Armen. Die Damen, Hauben auf dem Kopfe, trugen städtische Kleider, goldne Uhrketten, Umhänge mit langen Enden, die sie sich kreuzweise umgeschlagen hatten, oder Schals, die mit einer Nadel auf dem Rücken festgesteckt waren, damit sie hinten den Hals frei ließen. Die Knaben, genau so angezogen wie ihre Väter, fühlten sich in ihren Röcken sichtlich unbehaglich; viele hatten an diesem Tage gar zum ersten Male richtige Stiefel an. Ihnen zur Seite gewahrte man vierzehn- bis sechzehnjährige Mädchen, offenbar ihre Basen oder älteren Schwestern, in ihren weißen Firmelkleidern, die man zur Feier des Tages um ein Stück länger gemacht hatte, alle mit roten verschämten Gesichtern und pomadisiertem Haar, voller Angst, sich die Handschuhe nicht zu beschmutzen. Da nicht Knechte genug da waren, um all die Wagen gleichzeitig abzuspannen, streiften die Herren die Rockärmel hoch und stellten ihre Pferde eigenhändig ein. Je nach ihrem gesellschaftlichen Range waren sie in Fräcken, Röcken oder Jacketts erschienen. Manche in ehrwürdigen Bratenröcken, die nur bei ganz besonderen Festlichkeiten feierlich aus dem Schranke geholt wurden; ihre langen Schöße flatterten im Winde, die Kragen daran sahen aus wie Halspanzer, und die Taschen hatten den Umfang von Säcken. Es waren auch Jacken aus derbem Tuch zum Vorschein gekommen, meist im Verein mit messingumränderten Mützen; fernerhin ganz kurze Röcke mit zwei dicht nebeneinandersitzenden großen Knöpfen hinten in der Taille und mit Schößen, die so ausschauten, als habe sie der Zimmermann mit einem Beile aus dem Ganzen herausgehackt. Ein paar (einige wenige) Gäste — und das waren solche, die dann an der Festtafel gewiß am alleruntersten Ende zu sitzen kamen — trugen nur Sonntagsblusen mit breitem Umlegekragen und Rückenfalten unter dem Gürtel.
Die steifen Hemden wölbten sich über den Brüsten wie Kürasse. Durchweg hatte man sich unlängst das Haar schneiden lassen (um so mehr standen die Ohren von den Schädeln ab!), und alle waren ordentlich rasiert. Manche, die noch im Dunkeln aufgestanden waren, hatten offenbar beim Rasieren nicht Licht genug gehabt und hatten sich unter der Nase die Kreuz und die Quer geschnitten oder hatten am Kinn Löcher in der Haut bekommen, groß wie Talerstücke. Unterwegs hatten sich diese Wunden in der frischen Morgenluft gerötet, und so leuchteten auf den breiten blassen Bauerngesichtern große rote Flecke.
Das Gemeindeamt lag eine halbe Stunde vom Pachthofe entfernt. Man begab sich zu Fuß dahin und ebenso zurück, nachdem die Zeremonie in der Kirche stattgefunden hatte. Der Hochzeitszug war anfangs wohlgeordnet gewesen. Wie ein buntes Band hatte er sich durch die grünen Felder geschlängelt. Aber bald lockerte er sich und zerfiel in verschiedene Gruppen, von denen sich die letzten plaudernd verspäteten. Ganz vorn schritt ein Spielmann mit einer buntbebänderten Fiedel. Dann kamen die Brautleute, darauf die Verwandten, dahinter ohne besondre Ordnung die Freunde und zuletzt die Kinder, die sich damit vergnügten, Ähren aus den Kornfeldern zu rupfen oder sich zu jagen, wenn es niemand sah. Emmas Kleid, das etwas zu lang war, schleppte ein wenig auf der Erde hin. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um den Rock aufzuraffen. Dabei las sie behutsam mit ihren behandschuhten Händen die kleinen stacheligen Distelblätter ab, die an ihrem Kleide hängen geblieben waren. Währenddem stand Karl mit leeren Händen da und wartete, bis sie fertig war. Vater Rouault trug einen neuen Zylinderhut und einen schwarzen Rock, dessen Ärmel ihm bis an die Fingernägel reichten. Am Arm führte er Frau Bovary senior. Der alte Herr Bovary, der im Grunde seines Herzens die ganze Sippschaft um sich herum verachtete, war einfach in einem uniformähnlichen einreihigen Rock erschienen. Ihm zur Seite schritt eine junge blonde Bäuerin, die er mir derben Galanterien traktierte. Sie hörte ihm respektvoll zu, wußte aber in ihrer Verlegenheit gar nicht, was sie sagen sollte. Die übrigen Gäste sprachen von ihren Geschäften oder ulkten sich gegenseitig an, um sich in fidele Stimmung zu bringen. Wer aufhorchte, hörte in einem fort das Tirilieren des Spielmannes, der auch im freien Felde weitergeigte. Sooft er bemerkte, daß die Gesellschaft weit hinter ihm zurückgeblieben war, machte er Halt und schöpfte Atem. Umständlich rieb er seinen Fiedelbogen mit Kolophonium ein, damit die Saiten schöner quietschen sollten, und dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er hob und senkte den Hals seines Instruments, um recht hübsch im Takte zu bleiben. Die Fidelei verscheuchte die Vögel schon von weitem.
Die Festtafel war unter dem Schutzdache des Wagenschuppens aufgestellt. Es prangten darauf vier Lendenbraten, sechs Schüsseln mit Hühnerfrikassee, eine Platte mit gekochtem Kalbfleisch, drei Hammelkeulen und in der Mitte, umgeben von vier Leberwürsten in Sauerkraut, ein köstlich knusprig gebratenes Spanferkel. An den vier Ecken des Tisches brüsteten sich Karaffen mit Branntwein, und in einer langen Reihe von Flaschen wirbelte perlender Apfelweinsekt, während auf der Tafel bereits alle Gläser im voraus bis an den Rand vollgeschenkt waren. Große Teller mit gelber Creme, die beim leisesten Stoß gegen den Tisch zitterte und bebte, vervollständigten die Augenweide. Auf der glatten Oberfläche dieses Desserts prangten in umschnörkelten Monogrammen von Zuckerguß die Anfangsbuchstaben der Namen von Braut und Bräutigam. Für die Torten und Kuchen hatte man einen Konditor aus Yvetot kommen lassen. Da dies sein Debüt in der Gegend war, hatte er sich ganz besondre Mühe gegeben. Beim Nachtisch trug er eigenhändig ein Prunkstück seiner Kunst auf, das ein allgemeines „Ah!“ hervorrief. Der Unterbau aus blauer Pappe stellte ein von Sternen aus Goldpapier übersätes Tempelchen dar, mit einem Säulenumgang und Nischen, in denen Statuen aus Marzipan standen. Im zweiten Stockwerk rundete sich ein Festungsturm aus Pfefferkuchen, umbaut von einer Brustwehr aus Bonbons, Mandeln, Rosinen und Apfelsinenschnitten. Die oberste Plattform aber krönte über einer grünen Landschaft aus Wiesen, Felsen und Teichen mit Nußschalenschiffchen darauf (alles Zuckerwerk): ein niedlicher Amor, der sich auf einer Schaukel aus Schokolade wiegte. In den beiden kugelgeschmückten Schnäbeln der Schaukel steckten zwei lebendige Rosenknospen.
Man schmauste bis zum Abend. Wer von dem zu langen Sitzen ermüdet war, ging im Hof oder im Garten spazieren oder machte eine Partie des in jener Gegend beliebten Pfropfenspiels mit und setzte sich dann wieder an den Tisch. Ein paar Gäste schliefen gegen das Ende des Mahles ein und schnarchten ganz laut. Aber beim Kaffee war alles wieder munter. Man sang Lieder, vollführte allerlei Kraftleistungen, stemmte schwere Steine, schoß Purzelbäume, hob Schubkarren bis zur Schulterhöhe, erzählte gepfefferte Geschichten und scharwenzelte mit den Damen.
Vor dem Aufbruch war es kein leichtes Stück Arbeit, den Pferden, die allesamt der allzu reichlich vertilgte Hafer stach, die Kumte und Geschirre aufzulegen. Die übermütigen Tiere stiegen, bockten und schlugen aus, während die Herren und Kutscher fluchten und lachten. Die ganze Nacht hindurch gab es auf den mondbeglänzten Landstraßen in Karriere über Stock und Stein heimrasende Fuhrwerke.
Die nachtüber in Bertaux bleibenden Gäste zechten am Küchentische bis zum frühen Morgen weiter, während die Kinder unter den Bänken schliefen.
Die junge Frau hatte ihren Vater besonders gebeten, sie vor den herkömmlichen Späßen zu bewahren. Indessen machte sich ein Vetter — ein Seefischhändler, der als Hochzeitsgeschenk selbstverständlich ein paar Seezungen gestiftet hatte — doch daran, einen Mund voll Wasser durch das Schlüsselloch des Brautgemachs zu spritzen. Vater Rouault erwischte ihn gerade noch rechtzeitig, um ihn daran zu hindern. Er machte ihm klar, daß sich derartige Scherze mit der Würde seines Schwiegersohnes nicht vertrügen. Der Vetter ließ sich durch diese Einwände nur widerwillig von seinem Vorhaben abbringen. Insgeheim hielt er den alten Rouault für aufgeblasen. Er setzte sich unten in eine Ecke mir vier bis fünf andern Unzufriedenen, die während des Mahles bei der Wahl der Fleischstücke Mißgriffe getan hatten. Diese Unglücksmenschen räsonierten nun alle untereinander auf den Gastgeber und wünschten ihm ungeniert alles Üble.
Die alte Frau Bovary war den ganzen Tag über aus ihrer Verbissenheit nicht herausgekommen. Man hatte sie weder bei der Toilette ihrer Schwiegertochter noch bei den Vorbereitungen zur Hochzeitsfeier um Rat gefragt. Darum zog sie sich zeitig zurück. Ihrem Manne aber fiel es nicht ein, mit zu verschwinden; er ließ sich Zigarren holen und paffte bis zum Morgen, wozu er Grog von Kirschwasser trank. Da diese Mischung den Dabeisitzenden unbekannt war, staunte man ihn erst recht als Wundertier an.
Karl war kein witziger Kopf, und so hatte er während des Festes gar keine glänzende Rolle gespielt. Gegen alle die Neckereien, Späße, Kalauer, Zweideutigkeiten, Komplimente und Anulkungen, die ihm der Sitte gemäß bei Tische zuteil geworden waren, hatte er sich alles andre denn schlagfertig gezeigt. Um so mächtiger war seine innere Wandlung. Am andern Morgen war er offensichtlich wie neugeboren. Er und nicht Emma war tags zuvor sozusagen die Jungfrau gewesen. Die junge Frau beherrschte sich völlig und ließ sich nicht das geringste anmerken. Die größten Schandmäuler waren sprachlos; sie standen da wie vor einem Wundertier. Karl freilich machte aus seinem Glück kein Hehl. Er nannte Emma „mein liebes Frauchen“, duzte sie, lief ihr überallhin nach und zog sie mehrfach abseits, um allein mit ihr im Hofe unter den Bäumen ein wenig zu plaudern, wobei er den Arm vertraulich um ihre Taille legte. Beim Hin- und Hergehen kam er ihr mit seinem Gesicht ganz nahe und zerdrückte mit seinem Kopfe ihr Halstuch.
Zwei Tage nach der Hochzeit brachen die Neuvermählten auf. Karl konnte seiner Patienten wegen nicht länger verweilen. Vater Rouault ließ das Ehepaar in seinem Wagen nach Haus fahren und gab ihm persönlich bis Vassonville das Geleite. Beim Abschied küßte er seine Tochter noch einmal, dann stieg er aus und machte sich zu Fuß auf den Rückweg.
Nachdem er hundert Schritte gegangen war, blieb er stehen, um dem Wagen nachzuschauen, der die sandige Straße dahinrollte. Dabei seufzte er tief auf. Er dachte zurück an seine eigne Hochzeit, an längstvergangne Tage, an die Zeit der ersten Mutterschaft seiner Frau. Wie froh war er damals gewesen. Er erinnerte sich des Tages, wo er mit ihr das Haus des Schwiegervaters verlassen hatte. Auf dem Ritt in das eigne Heim, durch den tiefen Schnee, da hatte er seine Frau hinten auf die Kruppe seines Pferdes gesetzt. Es war so um Weihnachten herum gewesen, und die ganze Gegend war verschneit. Mit der einen Hand hatte sie sich an ihm festgehalten, in der andern ihren Korb getragen. Die langen Bänder ihres normannischen Kopfputzes hatten im Winde geflattert, und manchmal waren sie ihm um die Nase geflogen. Und wenn er sich umdrehte, sah er über seine Schulter weg ganz dicht hinter sich ihr niedliches rosiges Gesicht, das unter der Goldborte ihrer Haube still vor sich hinlächelte. Wenn sie an die Finger fror, steckte sie die Finger eine Weile in seinen Rock, ihm dicht an die Brust ... Wie lange war das nun her! Wenn ihr Sohn am Leben geblieben wäre, dann wäre er jetzt dreißig Jahre alt!
Er blickte sich nochmals um. Auf der Straße war nichts mehr zu sehen. Da ward ihm unsagbar traurig zumute. In seinem von dem vielen Essen und Trinken beschwerten Hirne mischten sich die zärtlichen Erinnerungen mit schwermütigen Gedanken. Einen Augenblick lang verspürte er das Verlangen, den Umweg über den Friedhof zu machen. Aber er fürchtete sich davor, daß ihn dies nur noch trübseliger stimmte, und so ging er auf dem kürzesten Wege nach Hause.
Karl und Emma erreichten Tostes gegen sechs Uhr. Die Nachbarn stürzten an die Fenster, um die junge Frau Doktor zu erspähen. Die alte Magd empfing sie unter Glückwünschen und bat um Entschuldigung, daß das Mittagessen noch nicht ganz fertig sei. Sie lud die gnädige Frau ein, einstweilen ihr neues Heim in Augenschein zu nehmen.
Die Backsteinfassade des Hauses stand gerade in der Fluchtlinie der Straße, genauer gesagt: der Landstraße. In der Hausflur, gleich an der Haustüre, hingen an einem Halter ein Kragenmantel, ein Zügel, eine Mütze aus schwarzem Leder, und in einem Winkel auf dem Fußboden lagen ein paar Gamaschen, voll von trocken gewordnem Straßenschmutz. Rechter Hand lag die „Große Stube“, das heißt der Raum, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden und der zugleich als Wohnzimmer diente. An den Wänden bauschte sich allenthalben die schlecht aufgeklebte zeisiggrüne Papiertapete, die an der Decke durch eine Girlande von blassen Blumen abgeschlossen ward. An den Fenstern überschnitten sich weiße Kattunvorhänge, die rote Borten hatten. Auf dem schmalen Sims des Kamins funkelte eine Stutzuhr mit dem Kopfe des Hippokrates zwischen zwei versilberten Leuchtern, die unter ovalen Glasglocken standen.
Auf der andern Seite der Flur lag Karls Sprechzimmer, ein kleines Gemach, etwa sechs Fuß in der Breite. Drinnen ein Tisch, drei Stühle und ein Schreibtischsessel. Die sechs Fächer eines Büchergestells aus Tannenholz wurden in der Hauptsache durch die Bände des „Medizinischen Lexikons“ ausgefüllt, die unaufgeschnitten geblieben waren und durch den mehrfachen Besitzerwechsel, den sie bereits erlebt hatten, zerfledderte Umschläge bekommen hatten. Durch die dünne Wand drang Buttergeruch aus der benachbarten Küche in das Sprechzimmer, während man dort hören konnte, wenn die Patienten husteten und ihre langen Leidensgeschichten erzählten.
Nach dem Hofe zu, wo das Stallgebäude stand, lag ein großes verwahrlostes Gemach, ehemals Backstube, das jetzt als Holzraum, Keller und Rumpelkammer diente und vollgepfropft war mit altem Eisen, leeren Fässern, abgetanenem Ackergerät und einer Menge andrer verstaubter Dinge, deren einstigen Zweck man ihnen kaum mehr ansehen konnte.
Der Garten, der mehr in die Länge denn in die Breite ging, dehnte sich zwischen zwei Lehmmauern mit Aprikosenspalieren; hinten begrenzte ihn eine Dornhecke und trennte ihn vom freien Felde. Mitten im Garten stand ein gemauerter Sockel mit einer Sonnenuhr darauf, auf einer Schieferplatte. Vier Felder mit dürftigen Heckenrosen umgürteten symmetrisch ein Mittelbeet mit nützlicherem Gewächs. Ganz am Ende des Gartens, in einer Fichtengruppe, stand eine Tonfigur: ein Mönch, in sein Brevier vertieft.
Emma stieg die Treppe hinauf. Das erste Zimmer oben war überhaupt nicht möbliert, aber im zweiten, der gemeinsamen Schlafstube, stand in einer Nische mir roten Vorhängen ein Himmelbett aus Mahagoniholz. Auf einer Kommode thronte eine mit Muscheln besetzte kleine Truhe, und auf dem Schreibpult am Fenster leuchtete in einer Kristallvase ein Strauß von Orangenblüten, umwunden von einem Seidenbande: ein Hochzeitsbukett, die Brautblumen der andern! Emma betrachtete sie. Karl bemerkte es, nahm den Strauß aus der Vase und trug ihn auf den Oberboden. Währenddem saß sie in einem Lehnstuhl. Ihr eigenes Brautbukett kam ihr in den Sinn, das in einer Schachtel verpackt war. Eben trug man ihr ihre Sachen in das Zimmer und baute sie um sie herum auf. Nachdenklich fragte sie sich, was wohl mit ihrem Strauße geschähe, wenn sie zufällig auch bald stürbe.
In den ersten Tagen beschäftigte sich Emma damit, sich allerlei Änderungen in ihrem Hause auszudenken. Sie nahm die Glasglocken von den Leuchtern, ließ neu tapezieren, die Treppe streichen und Bänke im Garten aufstellen, um die Sonnenuhr herum.
Sie erkundigte sich, ob nicht ein Wasserbassin mit einem Springbrunnen und Fischen darin angelegt werden könnte. Karl wußte, daß sie gern spazieren fuhr, und da sich gerade eine Gelegenheit bot, kaufte er ihr einen Wagen. Nach Anbringung von neuen Laternen und gesteppten Spritzledern sah er ganz aus wie ein Dogcart.
So war Karl der glücklichste und sorgenloseste Mensch auf der Welt. Die Mahlzeiten zu zweit, die Abendpromenaden auf der Landstraße, die Gesten von Emmas Hand, wenn sie sich das Band im Haar zurechtstrich, der Anblick ihres an einem Fensterkreuze hängenden Strohhutes und noch allerhand andre kleine Dinge, von denen er nie geglaubt hätte, daß sie einen erfreuen könnten, all das trug dazu bei, daß sein Glück nicht aufhörte. Frühmorgens im Bette, Seite an Seite mit ihr auf demselben Kopfkissen, sah er zu, wie die Sonnenlichter durch den blonden Flaum ihrer von den Haubenbändern halbverdeckten Wangen huschten. So aus der Nähe kamen ihm ihre Augen viel größer vor, besonders beim Erwachen, wenn sich ihre Lider mehrere Male hintereinander hoben und wieder senkten. Im Schatten sahen diese Augen schwarz aus und dunkelblau am lichten Tage; in ihrer Tiefe wurden sie immer dunkler, während sie sich nach der schimmernden Oberfläche zu aufhellten. Sein eigenes Auge verlor sich in diese Tiefe; er sah sich darin gespiegelt, ganz klein, bis an die Schultern, mit dem Seidentuche, das er sich um den Kopf geschlungen hatte, und dem Kragen seines offen stehenden Nachthemdes.
Wenn er aufgestanden war, schaute sie ihm vom Fenster aus nach, um ihn fortreiten zu sehen. Eine Weile blieb sie, auf das Fensterbrett gestützt, so stehen, in ihrem Morgenkleide, das sie leicht umfloß, zwischen zwei Geranienstöcken. Karl unten auf der Straße schnallte sich an einem Prellsteine seine Sporen an. Emma sprach in einem fort zu ihm von oben herunter, währenddem sie mit ihrem Munde eine Blüte oder ein Blättchen von den Geranien abzupfte und ihm zublies. Das Abgerupfte schwebte und schaukelte sich in der Luft, flog in kleinen Kreisen wie ein Vogel und blieb schließlich im Fallen in der ungepflegten Mähne der alten Schimmelstute hängen, die unbeweglich vor der Haustüre wartete. Karl saß auf und warf seiner Frau eine Kußhand zu. Sie antwortete winkend und schloß das Fenster. Er ritt ab.
Dann, auf der endlos sich hinwindenden staubigen Landstraße, in den Hohlwegen, über denen sich die Bäume zu einem Laubdache schlossen, auf den Feldwegen, wo ihm das Korn zu beiden Seiten die Knie streifte, die warme Sonne auf dem Rücken, die frische Morgenluft in der Nase und das Herz noch voll von den Freuden der Nacht, friedsamen Gemüts und befriedigter Sinne, — da genoß er all sein Glück abermals, just wie einer, der nach einem Schlemmermahle den Wohlgeschmack der Trüffeln, die er bereits verdaut, noch auf der Zunge hat.
Was hatte er bisher an Glück in seinem Leben erfahren? War er denn im Gymnasium glücklich gewesen, wo er sich in der Enge hoher Mauern so einsam gefühlt hatte, unter seinen Kameraden, die reicher und stärker waren als er, über seine bäuerische Aussprache lachten, sich über seinen Anzug lustig machten und zur Besuchszeit mit ihren Müttern plauderten, die mit Kuchen in der Tasche kamen? Oder etwa später als Student der Medizin, wo er niemals Geld genug im Beutel gehabt hatte, um irgendein kleines Mädel zum Tanz führen zu können, das seine Geliebte geworden wäre? Oder gar während der vierzehn Monate, da er mit der Witwe verheiratet war, deren Füße im Bett kalt wie Eisklumpen gewesen waren? Aber jetzt, jetzt besaß er für immerdar seine hübsche Frau, in die er vernarrt war. Seine Welt fand ihre Grenzen mit der Saumlinie ihres seidnen Unterrocks, und doch machte er sich den Vorwurf, er liebe sie nicht genug. Und so überkam ihn unterwegs die Sehnsucht nach ihr. Spornstreichs ritt er heimwärts, rannte die Treppe hinauf, mit klopfendem Herzen ... Emma saß in ihrem Zimmer bei der Toilette. Er schlich sich auf den Fußspitzen von hinten an sie heran und küßte ihr den Nacken. Sie stieß einen Schrei aus.
Er konnte es nicht lassen, immer wieder ihren Kamm, ihre Ringe, ihr Halstuch zu befühlen. Manchmal küßte er sie tüchtig auf die Wangen, oder er reihte eine Menge kleiner Küsse gleichsam aneinander, die ihren nackten Arm in seiner ganzen Länge von den Fingerspitzen bis hinauf zur Schulter bedeckten. Sie wehrte ihn ab, lächelnd und gelangweilt, wie man ein kleines Kind zurückdrängt, das sich an einen anklammert.
Vor der Hochzeit hatte sie fest geglaubt, Liebe zu ihrem Karl zu empfinden. Aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete, ausblieb, da mußte sie sich doch getäuscht haben. So dachte sie. Und sie gab sich Mühe, zu ergrübeln, wo eigentlich in der Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert wird.
Emma hatte „Paul und Virginia“ gelesen und in ihren Träumereien alles vor sich gesehen: die Bambushütte, den Neger Domingo, den Hund Fidelis. Insbesondre hatte sie sich in die zärtliche Freundschaft irgendeines guten Kameraden hineingelebt, der für sie rote Früchte auf überturmhohen Bäumen pflückte und barfuß durch den Sand gelaufen kam, ihr ein Vogelnest zu bringen.
Als sie dreizehn Jahre alt war, brachte ihr Vater sie zur Stadt, um sie in das Kloster zu geben. Sie stiegen in einem Gasthofe im Viertel Saint-Gervais ab, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière gemalt waren. Alle diese legendenhaften Bilder, hier und da von Messerkritzeln beschädigt, verherrlichten Frömmigkeit, Gefühlsüberschwang und höfischen Prunk.
In der ersten Zeit ihres Klosteraufenthalts langweilte sie sich nicht im geringsten. Sie fühlte sich vielmehr in der Gesellschaft der gütigen Schwestern ganz behaglich, und es war ihr ein Vergnügen, wenn man sie mit in die Kapelle nahm, wohin man vom Refektorium durch einen langen Kreuzgang gelangte. In den Freistunden spielte sie nur höchst selten, im Katechismus war sie alsbald sehr bewandert, und auf schwierige Fragen war sie es, die dem Herrn Pfarrer immer zu antworten wußte. So lebte sie, ohne in die Welt hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Schulstuben und unter den blassen Frauen mit ihren Rosenkränzen und Messingkreuzchen, und langsam versank sie in den mystischen Traumzustand, der sich um die Weihrauchdüfte, die Kühle der Weihwasserbecken und den Kerzenschimmer webt. Statt der Messe zuzuhören, betrachtete sie die frommen himmelblau umränderten Vignetten ihres Gebetbuches und verliebte sich in das kranke Lamm Gottes, in das von Pfeilen durchbohrte Herz Jesu und in den armen Christus selber, der, sein Kreuz schleppend, zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, um irgendein Gelübde zu ersinnen, das sie auf sich nehmen wollte.
Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie allerlei kleine Sünden, nur damit sie länger im Halbdunkel knien durfte, die Hände gefaltet, das Gesicht ans Gitter gepreßt, unter dem flüsternden Priester. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gemahl, vom himmlischen Geliebten und von der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehrten, erweckten im Grunde ihrer Seele geheimnisvolle süße Schauer.
Abends, vor dem Ave-Maria, ward im Arbeitssaal aus einem frommen Buche vorgelesen. An den Wochentagen las man aus der Biblischen Geschichte oder aus den „Stunden der Andacht“ des Abbé Frayssinous und Sonntags zur Erbauung aus Chateaubriands „Geist des Christentums“. Wie andachtsvoll lauschte sie bei den ersten Malen den klangreichen Klagen romantischer Schwermut, die wie ein Echo aus Welt und Ewigkeit erschallten! Wäre Emmas Kindheit im Hinterstübchen eines Kramladens in einem Geschäftsviertel dahingeflossen, dann wäre das junge Mädchen vermutlich der Naturschwärmerei verfallen, die zumeist in literarischer Anregung ihre Quelle hat. So aber kannte sie das Land zu gut: das Blöken der Herden, die Milch- und Landwirtschaft. An friedsame Vorgänge gewöhnt, gewann sie eine Vorliebe für das dem Entgegengesetzte: das Abenteuerliche. So liebte sie das Meer einzig um der wilden Stürme willen und das Grün, nur wenn es zwischen Ruinen sein Dasein fristete. Es war ihr ein Bedürfnis, aus den Dingen einen egoistischen Genuß zu schöpfen, und sie warf alles als unnütz beiseite, was nicht unmittelbar zum Labsal ihres Herzens diente. Ihre Eigenart war eher sentimental als ästhetisch; sie spürte lieber seelischen Erregungen als Landschaften nach.
Im Kloster gab es nun eine alte Jungfer, die sich alle vier Wochen auf acht Tage einstellte, um die Wäsche auszubessern. Da sie einer alten Adelsfamilie entstammte, die in der Revolution zugrunde gegangen war, wurde sie von der Geistlichkeit begönnert. Sie aß mit im Refektorium, an der Tafel der frommen Schwestern, und pflegte mit ihnen nach Tisch ein Plauderstündchen zu machen, bevor sie wieder an ihre Arbeit ging. Oft geschah es auch, daß sich die Pensionärinnen aus der Arbeitsstube stahlen und die Alte aufsuchten. Sie wußte galante Chansons aus dem ancien régime auswendig und sang ihnen welche halbleise vor, ohne dabei ihre Flickarbeit zu vernachlässigen. Sie erzählte Geschichten, wußte stets Neuigkeiten, übernahm allerhand Besorgungen in der Stadt und lieh den größeren Mädchen Romane, von denen sie immer ein paar in den Taschen ihrer Schürze bei sich hatte. In den Ruhepausen ihrer Tätigkeit verschlang das gute Fräulein selber schnell ein paar Kapitel. Darin wimmelte es von Liebschaften, Liebhabern, Liebhaberinnen, von verfolgten Damen, die in einsamen Pavillonen ohnmächtig, und von Postillionen, die an allen Ecken und Enden gemordet wurden, von edlen Rossen, die man auf Seite für Seite zuschanden ritt, von düsteren Wäldern, Herzenskämpfen, Schwüren, Schluchzen, Tränen und Küssen, von Gondelfahrten im Mondenschein, Nachtigallen in den Büschen, von hohen Herren, die wie Löwen tapfer und sanft wie Bergschafe waren, dabei tugendsam bis ins Wunderbare, immer köstlich gekleidet und ganz unbeschreiblich tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma ihre Finger mit dem Staube dieser alten Scharteken. Dann geriet ihr Walter Scott in die Hände, und nun berauschte sie sich an geschichtlichen Begebenheiten im Banne von Burgzinnen, Rittersälen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie in einem alten Herrensitze gelebt, gehüllt in schlanke Gewänder wie jene Edeldamen, die, den Ellenbogen auf den Fensterstein gestützt und das Kinn in der Hand, unter Kleeblattbogen ihre Tage verträumten und in die Fernen der Landschaft hinausschauten, ob nicht ein Rittersmann mit weißer Helmzier dahergestürmt käme auf einem schwarzen Roß. Damals trieb sie einen wahren Kult mit Maria Stuart; ihre Verehrung von berühmten oder unglücklichen Frauen ging bis zur Schwärmerei. Die Jungfrau von Orleans, Heloise, Agnes Sorel, die schöne Ferronnière und Clemence Isaure leuchteten wie strahlende Meteore in dem grenzenlosen Dunkel ihrer Geschichtsunkenntnisse. Fast ganz im Lichtlosen und ohne Beziehungen zueinander schwebten ferner in ihrer Vorstellung: der heilige Ludwig mit seiner Eiche, der sterbende Ritter Bayard, ein paar grausame Taten Ludwigs des Elften, irgendeine Szene aus der Bartholomäusnacht, der Helmbusch Heinrichs des Vierten, dazu unauslöschlich die Erinnerung an die gemalten Teller mit den Verherrlichungen Ludwigs des Vierzehnten.
In den Romanzen, die Emma in den Musikstunden sang, war immer die Rede von Englein mit goldenen Flügeln, von Madonnen, Lagunen und Gondolieren. Sie waren musikalisch nichts wert, aber so banal ihr Text und so reizlos ihre Melodien auch sein mochten: die Realitäten des Lebens hatten in ihnen den phantastischen Zauber der Sentimentalität. Etliche ihrer Kameradinnen schmuggelten lyrische Almanache in das Kloster ein, die sie als Neujahrsgeschenke bekommen hatten. Daß man sie heimlich halten mußte, war die Hauptsache dabei. Sie wurden im Schlafsaal gelesen. Emma nahm die schönen Atlaseinbände nur behutsam in die Hand und ließ sich von den Namen der unbekannten Autoren faszinieren, die ihre Beiträge zumeist als Grafen und Barone signiert hatten. Das Herz klopfte ihr, wenn sie das Seidenpapier von den Kupfern darin leise aufblies, bis es sich bauschte und langsam auf die andre Seite sank. Auf einem der Stiche sah man einen jungen Mann in einem Mäntelchen, wie er hinter der Brüstung eines Altans ein weiß gekleidetes junges Mädchen mit einer Tasche am Gürtel an sich drückte; auf anderen waren Bildnisse von ungenannten blondlockigen englischen Ladys, die unter runden Strohhüten mit großen hellen Augen hervorschauten. Andre sah man in flotten Wagen durch den Park fahren, wobei ein Windspiel vor den Pferden hersprang, die von zwei kleinen Grooms in weißen Hosen kutschiert wurden. Andre träumten auf dem Sofa, ein offenes Briefchen neben sich, und himmelten durch das halb offene, schwarz umhängte Fenster den Mond an. Wieder andre, Unschuldskinder, krauten, eine Träne auf der Wange, durch das Gitter eines gotischen Käfigs ein Turteltäubchen oder zerzupften, den Kopf verschämt geneigt, mit koketten Fingern, die wie Schnabelschuhspitzen nach oben gebogen waren, eine Marguerite. Alles mögliche andre zeigten die übrigen Stiche: Sultane mit langen Pfeifen, unter Lauben gelagert, Bajaderen in den Armen; Giaurs, Türkensäbel, phrygische Mützen, nicht zu vergessen die faden heroischen Landschaften, auf denen Palmen und Fichten, Tiger und Löwen friedlich beieinanderstehen, und Minaretts am Horizonte und römische Ruinen im Vordergrunde eine Gruppe lagernder Kamele überragen, während auf der einen Seite ein wohlgepflegtes Stück Urwald steht, auf der andern ein See, eine Riesensonne mit stechenden Strahlen darüber und auf seiner stahlblauen, hie und da weiß aufschäumenden Flut, in die Ferne verstreut, gleitende Schwäne ...
Das matte Licht der Lampe, die zu Emmas Häupten an der Wand hing, blinzelte auf alle diese weltlichen Bilder, die eins nach dem andern an ihr vorüberzogen, in des Schlafsaales Stille, in die kein Geräusch drang, höchstens das ferne Rollen eines späten Fuhrwerks.
Als ihr die Mutter starb, weinte Emma die ersten Tage viel. Sie ließ sich eine Locke der Verstorbenen in einen Glasrahmen fassen, schrieb ihrem Vater einen Brief ganz voller wehmütiger Betrachtungen über das Leben und bat ihn, man möge sie dereinst in demselben Grabe bestatten. Der gute Mann dachte, sie sei krank, und besuchte sie. Emma empfand eine innere Befriedigung darin, daß sie mit einem Male emporgehoben worden war in die hohen Regionen einer seltenen Gefühlswelt, in die Alltagsherzen niemals gelangen. Sie verlor sich in Lamartinischen Rührseligkeiten, hörte Harfenklänge über den Weihern und Schwanengesänge, die Klagen des fallenden Laubes, die Himmelfahrten jungfräulicher Seelen und die Stimme des Ewigen, die in den Tiefen flüstert.
Eines Tages jedoch ward ihr alles das langweilig, aber ohne sichs einzugestehen, und so blieb sie dabei zunächst aus Gewohnheit, dann aus Eitelkeit, und schließlich war sie überrascht, daß sie den inneren Frieden wiedergefunden hatte und daß ihr Herz ebensowenig schwermütig war wie ihre jugendliche Stirne runzelig.
Die frommen Schwestern, die stark auf Emmas heilige Mission gehofft hatten, bemerkten zu ihrem höchsten Befremden, daß Fräulein Rouault ihrem Einfluß zu entschlüpfen drohte. Man hatte ihr allzu reichliche Gebete, Andachtslieder, Predigten und Fasten angedeihen lassen, ihr zu trefflich vorgeredet, welch große Verehrung die Heiligen und Märtyrer genössen, und ihr zu vorzügliche Ratschläge gegeben, wie man den Leib kasteie und die Seele der ewigen Seligkeit zuführe; und so ging es mit ihr wie mit einem Pferd, das man zu straff an die Kandare genommen hat: sie blieb plötzlich stehen und machte nicht mehr mit.
Bei aller Schwärmerei war sie doch eine Verstandesnatur; sie hatte die Kirche wegen ihrer Blumen, die Musik wegen der Liedertexte und die Dichterwerke wegen ihrer sinnlichen Wirkung geliebt. Ihr Geist empörte sich gegen die Mysterien des Glaubens, und noch mehr lehnte sie sich nunmehr gegen die Klosterzucht auf, die ihrem tiefsten Wesen völlig zuwider war. Als ihr Vater sie aus dem Kloster nahm, hatte man durchaus nichts dagegen; die Oberin fand sogar, Emma habe es in der letzten Zeit an Ehrfurcht vor der Schwesternschaft recht fehlen lassen.
Wieder zu Hause, gefiel sich das junge Mädchen zunächst darin, das Gesinde zu kommandieren, bald jedoch ward sie des Landlebens überdrüssig, und nun sehnte sie sich nach dem Kloster zurück. Als Karl zum ersten Male das Gut betrat, war sie just überzeugt, daß sie alle Illusionen verloren habe, daß es nichts mehr auf der Welt gäbe, was ihr Hirn oder Herz rühren könne. Dann aber waren das mit jedem neuen Zustande verbundene wirre Gefühl und die Unruhe, die sich ihrer diesem Manne gegenüber bemächtigte, stark genug, um in ihr den Glauben zu erwecken: endlich sei jene wunderbare Leidenschaft in ihr erstanden, die bisher nicht anders als wie ein Riesenvogel mit rosigem Gefieder hoch in der Herrlichkeit himmlischer Traumfernen geschwebt hatte. Doch jetzt, in ihrer Ehe, hatte sie keine Kraft zu glauben, daß die Friedsamkeit, in der sie hinlebte, das erträumte Glück sei.
Zuweilen machte sie sich Gedanken, ob das wirklich die schönsten Tage ihres Lebens sein sollten: ihre Flitterwochen, wie man zu sagen pflegt. Um ihre Wonnen zu spüren, hätten sie wohl in jene Länder mit klangvollen Namen reisen müssen, wo der Morgen nach der Hochzeit in süßem Nichtstun verrinnt. Man fährt gemächlich in einer Postkutsche mit blauseidnen Vorhängen die Gebirgsstraßen hinauf und lauscht dem Lied des Postillions, das in den Bergen zusammen mit den Herdenglocken und dem dumpfen Rauschen des Gießbachs sein Echo findet. Wenn die Sonne sinkt, atmet man am Golf den Duft der Limonen, und dann nachts steht man auf der Terrasse einer Villa am Meere, einsam zu zweit, mit verschlungenen Händen, schaut zu den Gestirnen empor und baut Luftschlösser. Es kam ihr vor, als seien nur gewisse Erdenwinkel Heimstätten des Glücks, genau so wie bestimmte Pflanzen nur an sonnigen Orten gedeihen und nirgends anders. Warum war es ihr nicht beschieden, sich auf den Altan eines Schweizerhäuschens zu lehnen oder ihre Trübsal in einem schottischen Landhause zu vergessen, an der Seite eines Gatten, der einen langen schwarzen Gehrock, feine Schuhe, einen eleganten Hut und Manschettenhemden trüge?
Alle diese Grübeleien hätte sie wohl irgendwem anvertrauen mögen. Hätte sie aber ihr namenloses Unbehagen, das sich aller Augenblicke neu formte wie leichtes Gewölk und das wie der Wind wirbelte, in Worte zu fassen verstanden? Ach, es fehlten ihr die Worte, die Gelegenheit, der Mut! Ja, wenn Karl gewollt hätte, wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte, wenn sein Blick nur ein einzigesmal ihren Gedanken begegnet wäre, dann hätte sich alles das, so meinte sie, sofort von ihrem Herzen losgelöst wie eine reife Frucht vom Spalier, wenn eine Hand daran rührt. So aber ward die innere Entfremdung, die sie gegen ihren Mann empfand, immer größer, je intimer ihr eheliches Leben wurde.
Karls Art zu sprechen war platt wie das Trottoir auf der Straße: Allerweltsgedanken und Alltäglichkeiten, die niemanden rührten, über die kein Mensch lachte, die nie einen Nachklang erweckten. Solange er in Rouen gelebt hatte, sagte er, hätte er niemals den Drang verspürt, ein Pariser Gastspiel im Theater zu sehen. Er konnte weder schwimmen noch fechten; er war auch kein Pistolenschütze, und gelegentlich kam es zutage, daß er Emma einen Ausdruck des Reitsports nicht erklären konnte, der ihr in einem Romane begegnet war. Muß ein Mann nicht vielmehr alles kennen, auf allen Gebieten bewandert sein und seine Frau in die großen Leidenschaften des Lebens, in seine erlesensten Genüsse und in alle Geheimnisse einweihen? Der ihre aber lehrte sie nichts, verstand von nichts und erstrebte nichts. Er glaubte, sie sei glücklich, indes sie sich über seine satte Trägheit empörte, seinen zufriedenen Stumpfsinn, ja selbst über die Wonnen, die sie ihm gewährte.
Manchmal zeichnete sie. Es belustigte ihn ungemein, dabeizustehen und zuzusehn, wie sie sich über das Blatt beugte oder wie sie die Augen zukniff und ihr Werk kritisch betrachtete oder wie sie mit den Fingern Brotkügelchen drehte, die sie zum Verwischen brauchte. Wenn sie am Klavier saß, war sein Entzücken um so größer, je geschwinder ihre Hände über die Tasten sprangen. Dann trommelte sie ordentlich auf dem Klavier herum und machte ein Höllenkonzert. Das alte Instrument dröhnte und wackelte, und wenn das Fenster offen stand, hörte man das Spiel im ganzen Dorfe. Der Gemeindediener, der im bloßen Kopfe und in Pantoffeln, Akten unterm Arme, über die Straße humpelte, blieb stehen und lauschte.
Dabei war Emma eine vorzügliche Hausfrau. Sie schickte die Liquidationen an die Patienten aus und zwar in höflichster Briefform, die gar nicht an Rechnungen erinnerte. Wenn sie Sonntags irgendwen aus der Nachbarschaft zu Gaste hatten, wußte sie es immer einzurichten, daß etwas Besonderes auf den Tisch kam. Sie schichtete auf Weinblättern Pyramiden von Reineclauden auf und verstand, die eingezuckerten Früchte so aus ihren Büchsen zu stürzen, daß sie noch in der Form serviert wurden. Demnächst sollten auch kleine Waschschalen für den Nachtisch angeschafft werden. Mit alledem vermehrte sie das öffentliche Ansehen ihres Mannes. Schließlich fing er selbst an, mehr und mehr Respekt vor sich zu bekommen, weil er solch eine Frau besaß. Mit Stolz zeigte er zwei kleine Bleistiftzeichnungen Emmas, die er in ziemlich breite Rahmen hatte fassen lassen und in der Großen Stube an langen grünen Schnuren an den Wänden aufgehängt hatte. Wenn die Kirche zu Ende war, sah man Herrn Bovary in schöngestickten Hausschuhen vor der Haustüre stehen.
Er kam spät heim, um zehn Uhr, zuweilen um Mitternacht. Dann aß er noch zu Abend, und da das Dienstmädchen bereits Schlafen gegangen war, bediente ihn Emma selber. Er pflegte seinen Rock auszuziehen und sichs zum Essen bequem zu machen. Kauend zählte er gewissenhaft alle Menschen auf, denen er tagsüber begegnet war, nannte die Ortschaften, durch die er geritten, und wiederholte die Rezepte, die er verschrieben hatte. Zufrieden mit sich selbst, verzehrte er sein Gulasch bis auf den letzten Rest, schabte sich den Käse sauber, schmauste einen Apfel und trank die Weinkaraffe leer, worauf er zu Bett ging, sich aufs Ohr legte und zu schnarchen begann. Wenn er frühmorgens aufmachte, hing ihm das Haar wirr über die Stirn.
Er trug stets derbe hohe Stiefel, die in der Knöchelgegend zwei Falten hatten; in den Schäften waren sie steif und geradlinig, als ob ein Holzbein drinnen stäke. Er pflegte zu sagen: „Die sind hier auf dem Lande gut genug!“
Seine Mutter bestärkte ihn in seiner Sparsamkeit. Wie vordem kam sie zu Besuch, wenn es bei ihr zu Hause kleine Mißlichkeiten gegeben hatte. Allerdings hegte die alte Frau Bovary gegen ihre Schwiegertochter sichtlich ein Vorurteil. Sie war ihr „für ihre Verhältnisse ein bißchen zu großartig.“ Mit Holz, Licht und dergleichen werde „wie in einem herrschaftlichen Hause gewüstet.“ Und mit den Kohlen, die in der Küche verbraucht würden, könne man zwei Dutzend Gänge kochen! Sie ordnete ihr den Wäscheschrank und hielt Vorträge, wie man dem Fleischer auf die Finger zu sehen habe, wenn er das Fleisch brachte. Emma nahm diese guten Lehren hin, aber die Schwiegermutter erteilte sie immer wieder von neuem. Die von beiden Seiten in einem fort gewechselten Anreden „Liebe Tochter“ und „Liebe Mutter!“ standen in Widerspruch zu den Mienen der Sprecherinnen. Beide Frauen sagten sich Artigkeiten mit vor Groll zitternder Stimme.
Zu Lebzeiten von Frau Heloise hatte sich die alte Dame nicht in den Hintergrund gedrängt gefühlt, jetzt aber kam ihr Karls Liebe zu Emma wie ein Abfall vor von ihr und ihrer Mutterliebe, wie ein Einbruch in ihr Eigentum. Und so sah sie auf das Glück ihres Sohnes mit stiller Trauer, just wie ein um Hab und Gut Gekommener auf den neuen Besitzers eines ehemaligen Hauses blickt. Sie mahnte ihn durch Erinnerungen daran, wie sie sich einst für ihn gesorgt und abgemüht und ihm Opfer gebracht hatte. Im Vergleiche damit leiste Emma viel weniger für ihn, und darum wäre seine ausschließliche Anbetung durchaus nicht gerechtfertigt.
Karl wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er verehrte seine Mutter, und seine Frau liebte er auf seine Art über alle Maßen. Was die eine sagte, galt ihm für unfehlbar; gleichwohl fand er an der andern nichts auszusetzen. Wenn Frau Bovary wieder abgereist war, machte er schüchterne Versuche, die oder jene ihrer Bemerkungen wörtlich zu wiederholen. Emma bewies ihm dann mit wenigen Worten, daß er im Irrtum sei, und meinte, er solle sich lieber seinen Patienten widmen.
Immerhin versuchte sie nach Theorien, die ihr gut schienen, Liebesstimmung nach ihrem Geschmack zu erregen. Wenn sie bei Mondenschein zusammen im Garten saßen, sagte sie verliebte Verse her, soviel sie nur auswendig wußte, oder sie sang eine schwermütige gefühlvolle Weise. Aber hinterher kam sie sich selber nicht aufgeregter als vorher vor, und auch Karl war offenbar weder verliebter noch weniger stumpfsinnig denn erst.
Das waren vergebliche Versuche, eine große Leidenschaft zu entfachen. Im übrigen war Emma unfähig, etwas zu verstehen, was sie nicht an sich selber erlebte, oder an etwas zu glauben, was nicht offen zutage lag. Und so redete sie sich ohne weiteres ein, Karls Liebe sei nicht mehr übermäßig stark. In der Tat gewannen seine Zärtlichkeiten eine gewisse Regelmäßigkeit. Er schloß seine Frau zu ganz bestimmten Stunden in seine Arme. Es ward das eine Gewohnheit wie alle andern, gleichsam der Nachtisch, der kommen muß, weil er auf der Menükarte steht.
Ein Waldwärter, den der Herr Doktor von einer Lungenentzündung geheilt hatte, schenkte der Frau Doktor ein junges italienisches Windspiel. Sie nahm es mit auf ihre Spaziergänge. Mitunter ging sie nämlich aus, um einmal eine Weile für sich allein zu sein und nicht in einem fort bloß den Garten und die staubige Landstraße vor Augen zu haben.
Sie wanderte meist bis zum Buchenwäldchen von Banneville, bis zu dem leeren Lusthäuschen, das an der Ecke der Parkmauer steht, wo die Felder beginnen. Dort wuchs in einem Graben zwischen gewöhnlichen Gräsern hohes Schilf mit langen scharfen Blättern. Jedesmal, wenn sie dahin kam, sah sie zuerst nach, ob sich seit ihrem letzten Hiersein etwas verändert habe. Es war immer alles so, wie sie es verlassen hatte. Alles stand noch auf seinem Platze: die Heckenrosen und die wilden Veilchen, die Brennesseln, die in Büscheln die großen Kieselsteine umwucherten, und die Moosflächen unter den drei Pavillonfenstern mit ihren immer geschlossenen morschen Holzläden und rostigen Eisenbeschlägen. Nun schweiften Emmas Gedanken ins Ziellose ab, wie die Sprünge ihres Windspiels, das sich in großen Kreislinien tummelte, gelbe Schmetterlinge ankläffte, Feldmäusen nachstellte und die Mohnblumen am Raine des Kornfeldes anknabberte. Allmählich gerieten ihre Grübeleien in eine bestimmte Richtung. Wenn die junge Frau so im Grase saß und es mit der Stockspitze ihres Sonnenschirmes ein wenig aufwühlte, sagte sie sich immer wieder: „Mein Gott, warum habe ich eigentlich geheiratet?“
Sie legte sich die Frage vor, ob es nicht möglich gewesen wäre durch irgendwelche andre Fügung des Schicksals, daß sie einen andern Mann hätte finden können. Sie versuchte sich vorzustellen, was für ungeschehene Ereignisse dazu gehört hätten, wie dieses andre Leben geworden wäre und wie der ungefundne Gatte ausgesehen hätte. In keinem Falle so wie Karl! Er hätte elegant, klug, vornehm, verführerisch aussehen müssen; so wie zweifellos die Männer, die ihre ehemaligen Klosterfreundinnen alle geheiratet hatten ... Wie es denen wohl jetzt erging? In der Stadt, im Getümmel des Straßenlebens, im Stimmengewirr der Theater, im Lichtmeere der Bälle, da lebten sie sich aus und ließen die Herzen und Sinne nicht verdorren. Sie jedoch, sie verkümmerte wie in einem Eiskeller, und die Langeweile spann wie eine schweigsame Spinne ihre Weben in allen Winkeln ihres sonnelosen Herzens.
Die Tage der Preisverteilung traten ihr in die Erinnerung. Sie sah sich auf das Podium steigen, wo sie ihre kleinen Auszeichnungen ausgehändigt bekam. Mit ihrem Zopf, ihrem weißen Kleid und ihren Lack-Halbschuhen hatte sie allerliebst ausgesehen, und wenn sie zu ihrem Platze zurückging, hatten ihr die anwesenden Herren galant zugenickt. Der Klosterhof war voller Kutschen gewesen, und durch den Wagenschlag hatte man ihr „Auf Wiedersehn!“ zugerufen. Und der Musiklehrer, den Violinkasten in der Hand, hatte im Vorübergehen den Hut vor ihr gezogen ... Wie weit zurück war das alles! Ach, wie so weit!
Sie rief Djali, nahm ihn auf den Schoß und streichelte seinen schmalen feinlinigen Kopf.
„Komm!“ flüsterte sie. „Gib Frauchen einen Kuß! Du, du hast keinen Kummer!“
Dabei betrachtete sie das ihr wie wehmütig aussehende Gesicht des schlanken Tieres. Es gähnte behaglich. Aber sie bildete sich ein, das Tier habe auch einen Kummer. Die Rührung überkam sie, und sie begann laut mit dem Hunde zu sprechen, genau so wie zu jemandem, den man in seiner Betrübnis trösten will.
Zuweilen blies ruckweiser Wind, der vom Meere herkam und mächtig über das ganze Hochland von Caux strich und weit in die Lande hinein salzige Frische trug. Das Schilf bog sich pfeifend zu Boden, fliehende Schauer raschelten durch das Blätterwerk der Buchen, während sich die Wipfel rastlos wiegten und in einem fort laut rauschten. Emma zog ihr Tuch fester um die Schultern und erhob sich.
In der Allee, über dem teppichartigen Moos, das unter Emmas Tritten leise knisterte, spielten Sonnenlichter mit den grünen Reflexen des Laubdaches. Das Tagesgestirn war im Versinken; der rote Himmel flammte hinter den braunen Stämmen, die in Reih und Glied kerzengerade dastanden und den Eindruck eines Säulenganges an einer goldnen Wand entlang erzeugten.
Emma ward bang zumute. Sie rief den Hund heran und beeilte sich, auf die Landstraße und heimzukommen. Zu Hause sank sie in einen Lehnstuhl und sprach den ganzen Abend kein Wort.
Da, gegen Ende des Septembers, geschah etwas ganz Besonderes in ihrem Leben. Bovarys bekamen eine Einladung nach Vaubyessard, zu dem Marquis von Andervilliers. Der Marquis, der unter der Restauration Staatssekretär gewesen war, wollte von neuem eine politische Rolle spielen. Seit langem bereitete er seine Wahl in das Abgeordnetenhaus vor. Im Winter ließ er große Mengen Holz verteilen, und im Bezirksausschuß trat er immer wieder mit dem höchsten Eifer für neue Straßenbauten im Bezirk ein. Während des letzten Hochsommers hatte er ein Geschwür im Munde bekommen, von dem ihn Karl wunderbar schnell durch einen einzigen Einstich befreit hatte. Der Privatsekretär des Marquis war bald darauf nach Tostes gekommen, um das Honorar für die Operation zu bezahlen, und hatte abends nach seiner Rückkehr erzählt, daß er in dem kleinen Garten des Arztes herrliche Kirschen gesehen habe. Nun gediehen gerade die Kirschbäume in Vaubyessard schlecht. Der Marquis erbat sich von Bovary einige Ableger und hielt es daraufhin für seine Pflicht, sich persönlich zu bedanken. Bei dieser Gelegenheit sah er Emma, fand ihre Figur entzückend und die Art, wie sie ihn empfing, durchaus nicht bäuerisch. Und so kam man im Schlosse zu der Ansicht, es sei weder allzu entgegenkommend noch unangebracht, wenn man das junge Ehepaar einmal einlüde.
An einem Mittwoch um drei Uhr bestiegen Herr und Frau Bovary ihren Dogcart und fuhren nach Vaubyessard. Hinterrücks war ein großer Koffer angeschnallt und vorn auf dem Schutzleder lag eine Hutschachtel. Außerdem hatte Karl noch einen Pappkarton zwischen den Beinen.
Bei Anbruch der Nacht, gerade als man im Schloßpark die Laternen am Einfahrtswege anzündete, kamen sie an.
Vor dem Schloß, einem modernen Baue im Renaissancestil mit zwei vorspringenden Flügeln und drei Freitreppen, dehnte sich eine ungeheure Rasenfläche mit vereinzelten Baumgruppen, zwischen denen etliche Kühe weideten. Ein Kiesweg lief in Windungen hindurch, beschattet von allerlei Gebüsch in verschiedenem Grün, Rhododendren, Flieder- und Schneeballsträuchern. Unter einer Brücke floß ein Bach. Weiter weg, verschwommen im Abendnebel, erkannte man ein paar Häuser mit Strohdächern. Die große Wiese ward durch längliche kleine Hügel begrenzt, die bewaldet waren. Versteckt hinter diesem Gehölz lagen in zwei gleichlaufenden Reihen die Wirtschaftsgebäude und Wagenschuppen, die noch vom ehemaligen Schloßbau herrührten.
Karls Wäglein hielt vor der mittleren Freitreppe. Dienerschaft erschien. Der Marquis kam entgegen, bot der Arztfrau den Arm und geleitete sie in die hohe, mit Marmorfliesen belegte Vorhalle. Geräusch von Tritten und Stimmen hallte darin wider wie in einer Kirche. Dem Eingange gegenüber stieg geradeaus eine breite Treppe auf. Zur Linken begann eine Galerie, mit Fenstern nach dem Garten hinaus, die zum Billardzimmer führte; schon von weitem vernahm man das Karambolieren der elfenbeinernen Bälle. Durch das Billardzimmer kam man in den Empfangssaal. Beim Hindurchgehen sah Emma Herren in würdevoller Haltung beim Spiel, das Kinn vergraben in den Krawatten, alle mit Ordensbändchen. Schweigsam lächelnd handhabten sie die Queues.
Auf dem düsteren Holzgetäfel der Wände hingen große Bilder in schweren vergoldeten Rahmen mit schwarzen Inschriften. Eine lautete:
Hans Anton von Andervilliers zu Yverbonville,
Graf von Vaubyessard und Edler Herr auf Fresnaye, gefallen in der Schlacht von Coutras am 20. Oktober 1587. |
Eine andre:
Hans Anton Heinrich Guy, Graf von Andervilliers
und Vaubyessard, Admiral von Frankreich, Ritter des Sankt-Michel-Ordens, verwundet bei Saint Vaast de la Hougue am 29. Mai 1692, gestorben zu Vaubyessard am 23. Januar 1693 |
Die übrigen vermochte man kaum zu erkennen, weil sich das Licht der Lampen auf das grüne Tuch des Billards konzentrierte und das Zimmer im Dunkeln ließ. Nur ein schwacher Schein hellte die Gemäldeflächen auf, deren sprüngiger Firnis mit diesem feinen Schimmer spielte. Und so traten aus allen den großen schwarzen goldumflossenen Vierecken Partien der Malerei deutlicher und heller hervor, hier eine blasse Stirn, da zwei starre Augen, dort eine gepuderte Allongeperücke über der Schulter eines roten Rockes und anderswo die Schnalle eines Kniebandes über einer strammen Wade.
Der Marquis öffnete die Tür zum Salon. Eine der Damen — es war die Schloßherrin selbst — erhob sich, ging Emma entgegen und bot ihr einen Sitz neben sich an, auf einem Sofa, und begann freundschaftlich mit ihr zu plaudern, ganz als ob sie eine alte Bekannte vor sich hätte. Die Marquise war etwa Vierzigerin; sie hatte hübsche Schultern, eine Adlernase und eine etwas schleppende Art zu sprechen. An diesem Abend trug sie über ihrem kastanienbraunen Haar ein einfaches Spitzentuch, das ihr dreieckig in den Nacken herabhing. Neben ihr, auf einem hochlehnigen Stuhle, saß eine junge Blondine. Ein paar Herren, kleine Blumen an den Röcken, waren im Gespräche mit den Damen. Alle saßen sie um den Kamin herum.
Um sieben Uhr ging man zu Tisch. Die Herren, die in der Überzahl da waren, nahmen Platz an der einen Tafel in der Vorhalle; die Damen, der Marquis und die Marquise an der andern im Eßzimmer. Als Emma eintrat, drang ihr ein warmes Gemisch von Düften und Gerüchen entgegen: von Blumen, Tischdamast, Wein und Delikatessen. Die Flammen der Kandelaberkerzen liebäugelten mit dem Silberzeug, und in den geschliffenen Gläsern und Schalen tanzte der bunte Widerschein. Die Tafel entlang paradierte eine Reihe von Blumensträußen. Aus den Falten der Servietten, die in der Form von Bischofsmützen über den breitrandigen Tellern lagen, lugten ovale Brötchen. Hummern, die auf den großen Platten nicht Platz genug hatten, leuchteten in ihrem Rot. In durchbrochenen Körbchen waren riesige Früchte aufgetürmt. Kunstvoll zubereitete Wachteln wurden dampfend aufgetragen. Der Haushofmeister, in seidnen Strümpfen, Kniehosen und weißer Krawatte, reichte mit Grandezza und großem Geschick die Schüsseln. Auf all dies gesellschaftliche Treiben sah regungslos die bis zum Kinn verhüllte Göttin herab, die auf dem mächtigen, bronzegeschmückten Porzellanofen thronte.
Am oberen Ende der Tafel, mitten unter all den Damen, saß, über seinen vollen Teller gebeugt, ein alter Herr, der sich die Serviette nach Kinderart um den Hals geknüpft hatte. Die Sauce tropfte ihm aus dem Munde; seine Augen waren rotunterlaufen. Er trug noch einen Zopf, um den ein schwarzes Band geschlungen war. Das war der Schwiegervater des Marquis, der alte Herzog von Laverdière. Anno dazumal (zu den seligen Zeiten der Jagdfeste in Vaudreuil beim Marquis von Conflans) war er ein Busenfreund des Grafen Artois. Auch munkelte man, er wäre der Geliebte der Königin Marie-Antoinette gewesen, der Nachfolger des Herrn von Coigny und der Vorgänger des Herzogs von Lauzun. Er hatte ein wüstes Leben hinter sich, voller Zweikämpfe, toller Wetten und Frauengeschichten. Ob seiner Verschwendungssucht war er ehedem der Schrecken seiner Familie. Jetzt stand ein Diener hinter seinem Stuhle, der ihm ins Ohr brüllen mußte, was es für Gerichte zu essen gab.
Emmas Blicke kehrten immer wieder unwillkürlich zu diesem alten Manne mit den hängenden Lippen zurück, als ob er etwas ganz Besonderes und Großartiges sei: war er doch ein Favorit des Königshofes gewesen und hatte im Bette einer Königin geschlafen!
Es wurde frappierter Sekt gereicht. Emma überlief es am ganzen Körper, als sie das eisige Getränk im Munde spürte. Zum erstenmal in ihrem Leben sah sie Granatäpfel und aß sie Ananas. Selbst der gestoßene Zucker, den es dazu gab, kam ihr weißer und feiner vor denn anderswo.
Nach Tische zogen sich die Damen in ihre Zimmer zurück, um sich zum Ball umzukleiden. Emma widmete ihrer Toilette die sorglichste Gründlichkeit, wie eine Schauspielerin vor ihrem Debüt. Ihr Haar ordnete sie nach den Ratschlägen des Coiffeurs. Dann schlüpfte sie in ihr Barege-Kleid, das auf dem Bett ausgebreitet bereitlag.
Karl fühlte sich in seiner Sonntagshose am Bauche beengt.
„Ich glaube, die Stege werden mich beim Tanzen stören!“ meinte er.
„Du willst tanzen?“ entgegnete ihm Emma.
„Na ja!“
„Du bist nicht recht gescheit! Man würde dich bloß auslachen. Bleib du nur ruhig sitzen! Übrigens schickt sich das viel besser für einen Arzt“, fügte sie hinzu.
Karl schwieg. Er lief mit großen Schritten im Zimmer hin und her und wartete, bis Emma fertig wäre. Er sah sie über ihren Rücken weg im Spiegel, zwischen zwei brennenden Kerzen. Ihre schwarzen Augen erschienen ihm noch dunkler denn sonst. Ihr Haar war nach den Ohren zu ein wenig aufgebauscht; es schimmerte in einem bläulichen Glanze, und über ihnen zitterte eine bewegliche Rose, mit künstlichen Tauperlen in den Blättern. Ihr mattgelbes Kleid ward durch drei Sträußchen von Moosrosen mit Grün darum belebt.
Karl küßte sie von hinten auf die Schulter.
„Laß mich!“ wehrte sie ab. „Du zerknüllst mir alles!“
Violinen- und Waldhornklänge drangen herauf. Emma stieg die Treppe hinunter, am liebsten wäre sie gerannt.
Die Quadrille hatte bereits begonnen. Der Saal war gedrängt voller Menschen, und immer noch kamen Gäste. Emma setzte sich unweit der Tür auf einen Diwan.
Als der Kontertanz zu Ende war, blieben auf dem Parkett nur Gruppen plaudernder Menschen und Diener in Livree, die große Platten herumtrugen. In der Linie der sitzenden Damen gingen die bemalten Fächer auf und nieder; die Blumenbukette verdeckten zur Hälfte die lachenden Gesichter, und die goldnen Stöpsel der Riechfläschchen funkelten hin und her in den weißen Handschuhen, an denen die Konturen der Fingernägel ihrer Trägerinnen hervortraten, während das eingepreßte Fleisch nur in den Handflächen schimmerte. Die Spitzen, die Brillantbroschen, die Armbänder mit Anhängseln wogten an den Miedern, glitzerten an den Brüsten und klapperten an den Handgelenken. Die Damen trugen im Haar, das durchweg glatt und im Nacken geknotet war, Vergißmeinnicht, Jasmin, Granatblüten, Ähren und Kornblumen in Kränzen, Sträußen oder Ranken. Bequem in ihren Stühlen lehnten die Mütter mit gelangweilten Mienen, etliche in roten Turbanen.
Das Herz klopfte Emma ein wenig, als der erste Tänzer sie an den Fingerspitzen faßte und in die Reihe der anderen führte. Beim ersten Geigenton tanzten sie los. Bald jedoch legte sich ihre Aufregung. Sie begann sich im Flusse der Musik zu wiegen, und mit einer leichten Biegung im Halse glitt sie sicher dahin. Bei besonders zärtlichen Passagen des Violinsolos flog ein süßes Lächeln um ihre Lippen. Wenn so die andern Instrumente schwiegen, hörte man im Tanzsaal das helle Klimpern der Goldstücke auf den Spieltischen nebenan, bis das Orchester mit einem Male wieder voll einsetzte. Dann gings im wiedergewonnenen Takte weiter; die Röcke der Tänzerinnen bauschten sich und streiften einander, Hände suchten und mieden sich, und dieselben Blicke, die eben schüchtern gesenkt waren, fanden ihr Ziel.
Unter den tanzenden oder plaudernd an den Türen stehenden Herren stachen etliche, etwa zwölf bis fünfzehn, bei allem Alters- und sonstigem Unterschied durch einen gewissen gemeinsamen Typ von den andern ab. Ihre Kleider waren von eleganterem Schnitte und aus feinerem Stoff. Ihr nach den Schläfen zu gewelltes Haar verriet die beste Pflege. Sie hatten den Teint des Grandseigneurs, jene weiße Hautfarbe, die wie abgestimmt zu bleichem Porzellan, schillernder Seide und feinpolierten Möbeln erscheint und durch sorgfältige und raffinierte Ernährung erhalten wird. Ihre Bewegungen waren ungezwungen. Ihren mit Monogrammen bestickten Taschentüchern entströmte leises Parfüm. Den älteren unter diesen Herren haftete Jugendlichkeit an, während den Gesichtern der jüngeren eine gewisse Reife eigen war. In ihren gleichgültigen Blicken spiegelte sich die Ruhe der immer wieder befriedigten Sinne, und hinter ihren glatten Manieren schlummerte das brutale eitle Herrentum, das sich im Umgange mit Rassepferden und leichten Damen entwickelt und kräftigt.
Ein paar Schritte von Emma entfernt, plauderte ein Kavalier in blauem Frack mit einer blassen, jungen, perlengeschmückten Dame über Italien. Sie schwärmten von der Kuppel des Sankt Peter, von Tivoli, vom Vesuv, von Castellammare, von Florenz, von den Genueser Rosen und vom Kolosseum bei Mondenschein, mit ihrem andern Ohre horchte Emma auf eine Unterhaltung, in der sie tausend Dinge nicht verstand. Man umringte einen jungen Herrn, der in der vergangnen Woche in England Miß Arabella und Romulus „geschlagen“ und durch einen „famosen Grabensprung“ vierzigtausend Franken gewonnen hatte. Ein andrer beklagte sich, seine „Rennschinder“ seien „nicht im Training“, und ein dritter jammerte über einen Druckfehler in der „Sportwelt“, der den Namen eines seiner „Vollblüter“ verballhornt habe.
Die Luft im Ballsaale wurde schwer, die Lichter schimmerten fahler. Man drängte nach dem Billardzimmer. Ein Diener, der auf einen Stuhl gestiegen war, um die Fenster zu öffnen, zerbrach aus Ungeschicklichkeit eine Scheibe. Das Klirren der Glasscherben veranlaßte Frau Bovary hinzublicken, und da gewahrte sie von draußen herein gaffende Bauerngesichter. Die Erinnerung an das elterliche Gut überkam sie. Im Geiste sah sie den Hof mit dem Misthaufen, ihren Vater in Hemdsärmeln unter den Apfelbäumen und sich selber ganz wie einst, wie sie in der Milchkammer mit den Fingern die Milch in den Schüsseln abrahmte. Aber im Strahlenglanz der gegenwärtigen Stunde starb die eben noch so klare Erinnerung an ihr früheres Leben schnell wieder; es je gelebt zu haben, kam ihr fast unmöglich vor. Hier, hier lebte sie, und was über diesen Ballsaal hinaus existieren mochte, das lag für sie im tiefsten Dunkel ...
Sie schlürfte von dem Maraschino-Eis, das sie in einer vergoldeten Silberschale in der Hand hielt, wobei sie die Augen halb schloß und den goldnen Löffel lange zwischen den Zähnen behielt. Neben ihr ließ eine Dame ihren Fächer zu Boden gleiten. Ein Tänzer ging vorüber.
„Sie wären sehr gütig, mein Herr,“ sagte die Dame, „wenn Sie mir meinen Fächer aufheben wollten. Er ist unter dieses Sofa gefallen.“
Der Herr bückte sich, und während er mit dem Arm nach dem Fächer langte, bemerkte Emma, daß ihm die Dame etwas weißes, dreieckig Zusammengefaltetes in den Hut warf. Er überreichte ihr den aufgehobenen Fächer ehrerbietig. Sie dankte mit einem leichten Neigen des Kopfes und barg schnell ihr Gesicht in den Blumen ihres Straußes.
Nach dem Souper, bei dem es verschiedene Sorten von Süd- und Rheinweinen gab, Krebssuppe, Mandelmilch, Pudding à la Trafalgar und allerlei kaltes Fleisch, mit zitterndem Gelee garniert, begannen die Wagen einer nach dem andern vor- und wegzufahren. Wer einen der Musselinvorhänge am Fenster ein wenig beiseiteschob, konnte die Laternenlichter in die Nacht hinausziehen sehen. Es saßen immer weniger Tänzer im Saale. Nur im Spielzimmer war noch Leben. Die Musikanten leckten sich die heißen Finger ab. Karl stand gegen eine Tür gelehnt, dem Einschlafen nahe.
Um drei Uhr begann der Kotillon. Walzer tanzen konnte Emma nicht. Aber alle Welt, sogar Fräulein von Andervilliers und die Marquise tanzten. Es waren nur noch die im Schlosse zur Nacht bleibenden Gäste da, etwa ein Dutzend Personen.
Da geschah es, daß einer der Tänzer, den man schlechtweg „Vicomte“ nannte — die weitausgeschnittene Weste saß ihm wie angegossen — Frau Bovary zum Tanz aufforderte. Sie wagte es nicht. Der Vicomte bat abermals, indem er versicherte, er würde sie sicher führen und es würde vortrefflich gehen.
Sie begannen langsam, um allmählich rascher zu tanzen. Schließlich wirbelten sie dahin. Alles drehte sich rund um sie: die Lichter, die Möbel, die Wände, der Parkettboden, als ob sie in der Mitte eines Kreisels wären. Einmal, als das Paar dicht an einer der Türen vorbeitanzte, wickelte sich Emmas Schleppe um das Bein ihres Tänzers. Sie fühlten sich beide und blickten sich einander in die Augen. Ein Schwindel ergriff Emma. Sie wollte stehen bleiben. Aber es ging weiter: der Vicomte raste nur noch rascher mit ihr dahin, bis an das Ende der Galerie, wo Emma, völlig außer Atem, beinahe umsank und einen Augenblick lang ihren Kopf an seine Brust lehnte. Dann brachte er sie, von neuem, aber ganz langsam tanzend, an ihren Platz zurück. Es schwindelte ihr; sie mußte den Rücken anlehnen und ihr Gesicht mit der einen Hand bedecken.
Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, daß in der Mitte des Saales eine der Damen auf einem Taburett saß, während drei der Herren vor ihr knieten. Der Vicomte war darunter. Er war der Bevorzugte. Und von neuem setzten die Geigen ein.
Alle Blicke galten dem tanzenden Paare. Es tanzte einmal und noch einmal herum: sie regungslos in den Linien ihres Körpers, das Kinn ein wenig gesenkt; er in immer der nämlichen Haltung, kerzengerade, die Arme elegant gerundet, den Blick geradeaus gerichtet. Das waren Walzertänzer! Sie fanden kein Ende. Eher ermüdeten die Zuschauer.
Nach dem Kotillon plauderte man noch eine kleine Weile. Dann sagte man sich „Gute Nacht“ oder vielmehr „Guten Morgen“, und alles ging schlafen.
Karl schleppte sich am Treppengeländer hinauf. Er hatte sich „die Beine in den Bauch gestanden.“ Ohne sich zu setzen, hatte er sich fünf Stunden hintereinander bei den Spieltischen aufgehalten und den Whistspielern zugesehen, ohne etwas von diesem Spiel zu verstehen. Und so stieß er einen mächtigen Seufzer der Erleichterung aus, als er sich endlich seiner Stiefel entledigt hatte.
Emma legte sich ein Tuch um die Schultern, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Nacht war schwarz. Feiner Sprühregen fiel. Sie atmete den feuchten Wind ein, der ihr die Augenlider kühlte. Walzerklänge summten ihr noch in den Ohren. Emma hielt sich gewaltsam wach, um den eben erlebten Märchenglanz, ehe er ganz wieder verronnen, noch ein wenig zu besitzen ...
Der Morgen dämmerte. Sie schaute hinüber nach den Fensterreihen des Mittelbaues, lange, lange, und versuchte zu erraten, wo die einzelnen Personen alle wohnten, die sie diesen Abend beobachtet hatte. Sie sehnte sich darnach, etwas von ihrem Leben zu wissen, eine Rolle darin zu spielen, selber darin aufzugehen.
Schließlich begann sie zu frösteln. Sie entkleidete sich und schmiegte sich in die Kissen, zur Seite ihres schlafenden Gatten.
Zum Frühstück erschienen eine Menge Menschen. Es dauerte zehn Minuten. Es gab keinen Kognak, was dem Arzt wenig behagte.
Beim Aufstehen sammelte Fräulein von Andervilliers die angebrochenen Brötchen in einen kleinen Korb, um sie den Schwänen auf dem Schloßteiche zu bringen. Nach der Fütterung begab man sich in das Gewächshaus, mit seinen seltsamen Kakteen und Schlingpflanzen, und in die Orangerie. Von dieser führte ein Ausgang in den Wirtschaftshof.
Um der jungen Arztfrau ein Vergnügen zu bereiten, zeigte ihr der Marquis die Ställe. Über den korbartigen Raufen waren Porzellanschilder angebracht, auf denen in schwarzen Buchstaben die Namen der Pferde standen. Man blieb an den einzelnen Boxen stehen, und wenn man mit der Zunge schnalzte, scharrten die Tiere. Die Dielen in der Sattel- und Geschirrkammer waren blank gewichst wie Salonparkett. Die Wagengeschirre ruhten in der Mitte des Raumes auf drehbaren Böcken, während die Kandaren, Trensen, Kinnketten, Steigbügel, Zügel und Peitschen wohlgeordnet zu Reihen an den Wänden hingen.
Karl bat einen Stallburschen, sein Gefährt zurechtzumachen. Sodann fuhr er vor. Das ganze Gepäck ward aufgepackt. Das Ehepaar Bovary bedankte und verabschiedete sich bei dem Marquis und der Marquise. Und heim ging es nach Tostes.
Schweigsam sah Emma dem Drehen der Räder zu. Karl saß auf dem äußersten Ende des Sitzes und kutschierte mit abstehenden Ellbogen. Das kleine Pferd lief im Zotteltrab dahin, in seiner Gabel, die ihm viel zu weit war. Die schlaffen Zügel tanzten auf der Kruppe des Gaules. Gischt flatterte. Der Koffer, der hinten angeschnallt war, saß nicht recht fest und polterte in einem fort im Takte an den Wagenkasten.
Auf der Höhe von Thibourville wurden sie plötzlich von ein paar Reitern überholt. Lachende Gesichter und Zigarettenrauch. Emma glaubte, den Vicomte zu bemerken. Sie schaute ihm nach, aber sie vermochte nichts zu erkennen als die Konturen der Reiter, die sich vom Himmel abhoben und sich im Rhythmus des Trabes auf und nieder bewegten.
Wenige Minuten später mußten sie Halt machen, um die zerrissene Hemmkette mit einem Strick festzubinden. Als Karl das ganze Geschirr noch einmal überblickte, gewahrte er zwischen den Beinen seines Pferdes einen Gegenstand liegen. Er hob eine Zigarrentasche auf; sie war mit grüner Seide gestickt und auf der Mitte der Oberseite mit einem Wappen geschmückt.
„Es sind sogar zwei Zigarren drin!“ sagte er. „Die kommen heute abend nach dem Essen dran!“
„Du rauchst demnach?“ fragte Emma.
„Manchmal! Gelegentlich!“
Er steckte seinen Fund in die Tasche und gab dem Gaul eins mit der Peitsche.
Als sie zu Hause ankamen, war das Mittagessen noch nicht fertig. Frau Bovary war unwillig darüber. Anastasia gab eine dreiste Antwort.
„Scheren Sie sich fort“ rief Emma. „Sie machen sich über mich lustig. Sie sind entlassen!“
Zu Tisch gab es Zwiebelsuppe und Kalbfleisch mit Sauerkraut. Karl saß seiner Frau gegenüber. Er rieb sich die Hände und meinte vergnügt:
„Zu Hause ists doch am schönsten!“
Man hörte, wie Anastasia draußen weinte. Karl hatte das arme Ding gern. Ehedem, in der trostlosen Einsamkeit seiner Witwerzeit, hatte sie ihm so manchen Abend Gesellschaft geleistet. Sie war seine erste Patientin gewesen, seine älteste Bekannte in der ganzen Gegend.
„Hast du ihr im Ernst gekündigt?“ fragte er nach einer Weile.
„Gewiß! Warum soll ich auch nicht?“ gab Emma zur Antwort.
Nach Tisch wärmten sich die beiden in der Küche, während die Große Stube wieder in Ordnung gebracht wurde. Karl brannte sich eine der Zigarren an. Er rauchte mit aufgeworfenen Lippen und spuckte dabei aller Minuten, und bei jedem Zuge lehnte er sich zurück, damit ihm der Rauch nicht in die Nase stieg.
„Das Rauchen wird dir nicht bekommen!“ bemerkte Emma verächtlich.
Karl legte die Zigarre weg, lief schnell an die Plumpe und trank gierig ein Glas frisches Wasser. Währenddessen nahm Emma die Zigarrentasche und warf sie rasch in einen Winkel des Schrankes.
Der Tag war endlos: dieser Tag nach dem Feste!
Emma ging in ihrem Gärtchen spazieren. Immer dieselben Wege auf und ab wandelnd, blieb sie vor den Blumenbeeten stehen, vor dem Obstspalier, vor dem tönernen Mönch, und betrachtete sich alle diese ihr so wohlbekannten alten Dinge voll Verwunderung. Wie weit hinter ihr der Ballabend schon lag! Und was war es, das sich zwischen vorgestern und heute abend wie eine breite Kluft drängte? Diese Reise nach Vaubyessard hatte in ihr Leben einen tiefen Riß gerissen, einen klaffenden Abgrund, wie ihn der Sturm zuweilen in einer einzigen Nacht in den Bergen aufwühlt. Trotzdem kam eine gewisse Resignation über sie. Wie eine Reliquie verwahrte sie ihr schönes Ballkleid in ihrem Schranke, sogar die Atlasschuhe, deren Sohlen vom Parkettwachs eine bräunliche Politur bekommen hatten. Emmas Herz ging es wie ihnen. Bei der Berührung mit dem Reichtum war etwas daran haften geblieben für immerdar.
An den Ball zurückdenken, wurde für Emma eine besondre Beschäftigung. An jedem Mittwoche wachte sie mit dem Gedanken auf: „Ach, heute vor acht Tagen war es!“ — „Heute vor vierzehn Tagen war es!“ — „Heute vor drei Wochen war es!“ Allmählich aber verschwammen in ihrem Gedächtnisse die einzelnen Gesichter, die sie im Schlosse gesehen hatte. Die Melodien der Tänze entfielen ihr. Sie vergaß, wie die Gemächer und die Livreen ausgesehen hatten. Immer mehr schwanden ihr die Einzelheiten, aber ihre Sehnsucht blieb zurück.
Oft, wenn Karl unterwegs war, holte Emma die grünseidene Zigarrentasche aus dem Schrank, wo sie unter gefalteter Wäsche verborgen lag. Sie betrachtete sie, öffnete sie und sog sogar den Duft ihres Futters ein, das nach Lavendel und Tabak roch. Wem mochte sie gehört haben? Dem Vicomte? Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Gewiß hatte sie die Stickerei auf einem kleinen Rahmen von Polisanderholz angefertigt, ganz heimlich, in vielen, vielen Stunden, und die weichen Locken der träumerischen Arbeiterin hatten die Seide gestreift. Ein Hauch von Liebe wehte aus den Stichen hervor. Mir jedem Faden war eine Hoffnung oder eine Erinnerung eingestickt worden, und alle diese kleinen Seidenkreuzchen waren das Denkmal einer langen stummen Leidenschaft. Und dann, eines Morgens, hatte der Vicomte die Tasche mitgenommen. Wovon hatten die beiden wohl geplaudert, als sie noch auf dem breiten Simse des Kamines zwischen Blumenvasen und Stutzuhren aus den Zeiten der Pompadour lag?
Jetzt war der Vicomte wohl in Paris. Weit weg von ihr und von Tostes! Wie mochte dieses Paris sein? Welch geheimnisvoller Name! Paris! Sie flüsterte das Wort immer wieder vor sich hin. Es machte ihr Vergnügen. Es raunte ihr durch die Ohren wie der Klang einer großen Kirchenglocke. Es flammte ihr in die Augen, wo es auch stand, selbst von den Etiketten ihrer Pomadenbüchsen.
Nachts, wenn die Seefischhändler unten auf der Straße vorbeifuhren mit ihren Karren und die „Majorlaine“ sangen, ward sie wach. Sie lauschte dem Rasseln der Räder, bis die Wagen aus dem Dorfe hinaus waren und es wieder still wurde.
„Morgen sind sie in Paris!“ seufzte die Einsame. Und in ihren Gedanken folgte sie den Fahrzeugen über Berg und Tal, durch Dörfer und Städte, immer die große Straße hin in der lichten Sternennacht. Aber weiter weg gab es ein verschwommenes Ziel, wo ihre Träume versagten. Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit dem Fingernagel lange Wanderungen durch die Weltstadt. Sie lief auf den Boulevards hin, blieb an jeder Straßenecke stehen, an jedem Hause, das im Stadtplan eingezeichnet war. Wenn ihr die Augen schließlich müde wurden, schloß sie die Lider, und dann sah sie im Dunkeln, wie die Flammen der Laternen im Winde flackerten und wie die Kutschen vor dem Portal der Großen Oper donnernd vorfuhren.
Sie abonnierte auf den „Bazar“ und die „Modenwelt“ und studierte auf das gewissenhafteste alle Berichte über die Premieren, Rennen und Abendgesellschaften. Sie war unterrichtet, wenn berühmte Sängerinnen Gastspiele gaben oder neue Warenhäuser eröffnet wurden; sie kannte die neuesten Moden, die Adressen der guten Schneider; sie wußte, an welchen Tagen die vornehme Gesellschaft im Bois und in der Oper zu finden war. Aus den Moderomanen lernte sie, wie die Pariser Wohnungen eingerichtet waren. Sie las Balzac und die George Sand, um wenigstens in der Phantasie ihre Begehrlichkeit zu befriedigen. Sie brachte diese Bücher sogar mit zu den Mahlzeiten und las darin, während Karl aß und ihr erzählte. Und was sie auch las, überallhinein drangen ihre Reminiszenzen an den Vicomte. Zwischen ihm und den Romangestalten fand sie allerhand Beziehungen. Aber allmählich erweiterte sich der Ideenkreis, dessen Mittelpunkt er war, und der Heiligenschein, den er getragen hatte, erblich schließlich, um auf andren Idealgeschöpfen wieder aufzuflammen.
Unermeßlich wie das Weltmeer, in der Sonne eines Wunderhimmels, so stand Paris vor Emmas Phantasie. Das tausendfältige Leben, das sich in diesem Babylon abspielt, war gleichwohl für sie auf ganz bestimmte Einzelheiten beschränkt, die sie im Geiste in deutlichen Bildern sah. Neben diesen — man könnte sagen — Symbolen des mondänen Lebens trat alles andre in Dunkel und Dämmerung zurück.
Das Dasein der Hofmenschen, so wie sie sichs vorstellte, spielte sich auf glänzendem Parkett ab, in Spiegelsälen, um ovale Tische, auf denen Samtdecken mit goldnen Fransen liegen. Dazu Schleppkleider, Staatsgeheimnisse und tausend Qualen hinter heuchlerischem Lächeln. Das Milieu des höchsten Adels bildete sie sich folgendermaßen ein: Vornehme bleiche Gesichter; man steht früh um vier Uhr auf; die Damen, allesamt unglückliche Engel, tragen Unterröcke aus irischen Spitzen; die Männer, verkannte Genies, kokettierend mit der Maske der Oberflächlichkeit, reiten aus Übermut ihre Vollblüter zuschanden, die Sommersaison verbringen sie in Baden-Baden, und wenn sie vierzig Jahre alt geworden sind, heiraten sie zu guter Letzt reiche Erbinnen. Die dritte Welt, von der Emma träumte, war das bunte Leben und Treiben der Künstler, Schriftsteller und Schauspielerinnen, das sich in den separierten Zimmern der Restaurants abspielt, wo man nach Mitternacht bei Kerzenschein soupiert und sich austollt. Diese Menschen sind die Verschwender des Lebens, Könige in ihrer Art, voller Ideale und Phantastereien. Ihr Dasein verläuft hoch über dem Alltag, zwischen Himmel und Erde, in Sturm und Drang.
Alles andre in der Welt war für Emma verloren, wesenslos, so gut wie nicht vorhanden. Je näher ihr die Dinge übrigens standen, um so weniger berührten sie ihr Innenleben. Alles, was sie unmittelbar umgab: die eintönige Landschaft, die kleinlichen armseligen Spießbürger, ihr ganzes Durchschnittsdasein kam ihr wie ein Winkel der eigentlichen Welt vor. Er existierte zufällig, und sie war in ihn verbannt. Aber draußen vor seinen Toren, da begann das weite, weite Reich der Seligkeiten und Leidenschaften. In der Sehnsucht ihres Traumlebens flossen Wollust und Luxus mit den Freuden des Herzens, erlesene Lebensführung mit Gefühlsfeinheiten ineinander. Bedarf die Liebe, ähnlich wie die Pflanzen der Tropen, nicht ihres eigenen Bodens und ihrer besondren Sonne? Seufzer bei Mondenschein, innige Küsse, Tränen, vergossen auf hingebungsvolle Hände, Fleischeslust und schmachtende Zärtlichkeit, alles das war ihr unzertrennlich von stolzen Schlössern voll müßigen Lebens, von Boudoiren mit seidnen Vorhängen und dicken Teppichen, von blumengefüllten Vasen, von Himmelbetten, von funkelnden Brillanten und goldstrotzender Dienerschaft.
Der Postkutscher, der allmorgentlich in seiner zerrissenen Stalljacke, die bloßen Füße in Holzpantoffeln, kam, um die Stute zu füttern und zu putzen, klapperte jedesmal durch die Hausflur. Das war der Groom in Kniehosen. Mit dem mußte sie zufrieden sein. Wenn er fertig war, ließ er sich den ganzen Tag über nicht wieder blicken. Karl pflegte nämlich sein Pferd, wenn er es geritten hatte, selbst einzustellen. Während er Sattel und Zäumung aufhing, warf die Magd dem Tiere ein Bund Heu vor.
Nachdem Anastasia unter tausend Tränen wirklich das Haus verlassen hatte, nahm Emma an ihrer Stelle ein junges Mädchen in Dienst, eine Waise von vierzehn Jahren, ein sanftmütiges Wesen. Sie zog sie nett an, brachte ihr höfliche Manieren bei, lehrte sie, ein Glas Wasser auf dem Teller zu reichen, vor dem Eintreten in ein Zimmer anzuklopfen, unterrichtete sie im Plätten und Bügeln der Wäsche und ließ sich von ihr beim Ankleiden helfen. Mit einem Worte, sie bildete sich eine Kammerzofe aus. Felicie — so hieß das neue Mädchen — gehorchte ihr ohne Murren. Es gefiel ihr im Hause. Die Hausfrau pflegte den Büfettschlüssel stecken zu lassen. Felicie nahm sich alle Abende einige Stücke Zucker und verzehrte sie, wenn sie allein war, im Bett, nachdem sie ihr Gebet gesprochen hatte. Nachmittags, wenn Frau Bovary wie gewöhnlich oben in ihrem Zimmer blieb, ging sie ein wenig in die Nachbarschaft klatschen.
Emma kaufte sich eine Schreibunterlage, Briefbogen, Umschläge und einen Federhalter, obgleich sie niemanden hatte, an den sie hätte schreiben können. Häufig besah sie sich im Spiegel. Mitunter nahm sie ein Buch zur Hand, aber beim Lesen verfiel sie in Träumereien und ließ das Buch in den Schoß sinken. Am liebsten hätte sie eine große Reise gemacht oder wäre wieder in das Kloster gegangen. Der Wunsch zu sterben und die Sehnsucht nach Paris beherrschten sie in der gleichen Minute.
Karl trabte indessen bei Wind und Wetter seine Landstraßen hin. Er frühstückte in den Gehöften, griff in feuchte Krankenbetten, ließ sich beim Aderlassen das Gesicht voll Blut spritzen, hörte dem Röcheln Sterbender zu, prüfte den Inhalt von Nachttöpfen und zog so und so oft schmutzige Hemden hoch. Abends aber fand er immer ein gemütliches Feuer im Kamin, einen nett gedeckten Tisch, den zurechtgesetzten Großvaterstuhl und eine allerliebst angezogene Frau. Ein Duft von Frische ging von ihr aus; wer weiß, was das war, ein Odeur, ihre Wäsche oder ihre Haut?
Eine Menge andrer seltsamer Kleinigkeiten war sein Entzücken. Sie erfand neue Papiermanschetten für die Leuchter, oder sie besetzte ihren Rock mit einem koketten Volant, oder sie taufte ein ganz gewöhnliches Gericht mit einem putzigen Namen, weil es ihm herrlich geschmeckt und er es bis auf den letzten Rest vertilgt hatte, obgleich es dem Mädchen greulich mißraten war. Einmal sah sie in Rouen, daß die Damen an ihren Uhrketten allerlei Anhängsel trugen; sie kaufte sich auch welche. Ein andermal war es ihr Wunsch, auf dem Kamine ihres Zimmers zwei große Vasen aus blauem Porzellan stehen zu haben, oder sie wollte ein Nähkästchen aus Elfenbein mit einem vergoldeten Fingerhut. So wenig Karl diese eleganten Neigungen begriff, so sehr übten sie doch auch auf ihn eine verführerische Wirkung aus. Sie erhöhten die Freuden seiner Sinnlichkeit und verliehen seinem Heim einen süßen Reiz mehr. Es war, als ob Goldstaub auf den Pfad seines Lebens fiel.
Er sah gesund und würdevoll aus, und sein Ansehen als Arzt stand längst fest. Die Bauern mochten ihn gern, weil er gar nicht stolz war. Er streichelte die Kinder, ging niemals in ein Wirtshaus und flößte jedermann durch seine Solidität Vertrauen ein. Er war Spezialist für Hals- und Lungenleiden. In Wirklichkeit rührten seine Erfolge daher, daß er Angst hatte, die Leute zu Tode zu kurieren, und ihnen darum mit Vorliebe nur beruhigende Arzneien verschrieb und ihnen hin und wieder ein Abführmittel, ein Fußbad oder einen Blutegel verordnete. In der Chirurgie war er allerdings ein Stümper. Er schnitt drauflos wie ein Fleischermeister, und Zähne zog er wie der Satan.
Um sich in seinem Handwerk „auf dem laufenden zu halten“, war er auf die „Medizinische Wochenschrift“ abonniert, von der ihm einmal ein Prospekt zugegangen war. Abends nach der Hauptmahlzeit nahm er sie gewöhnlich zur Hand, aber die warme Zimmerluft und die Verdauungsmüdigkeit brachten ihn regelmäßig nach fünf Minuten zum Einschlafen. Das Haupt sank ihm dann auf den Tisch, und sein Haar fiel wie eine Löwenmähne vornüber nach dem Fuße der Tischlampe zu. Emma sah sich dieses Bild verächtlich an. Wenn ihr Mann nur wenigstens eine der stillen Leuchten der Wissenschaft gewesen wäre, die nachts über ihren Büchern hocken und mit sechzig Jahren, wenn sich das Zipperlein einstellt, den Verdienstorden in das Knopfloch ihres schlecht sitzenden schwarzen Rockes gehängt bekommen! Der Name Bovary, der ja auch der ihre war, hätte Bedeutung haben müssen in der Fachliteratur, in den Zeitungen, in ganz Frankreich! Aber Karl hegte so gar keinen Ehrgeiz. Ein Arzt aus Yvetot, mit dem er unlängst gemeinsam konsultiert worden war, hatte ihn in Gegenwart des Kranken und im Beisein der Verwandten blamiert. Als Karl ihr abends die Geschichte erzählte, war Emma maßlos empört über den Kollegen. Karl küßte ihr gerührt die Stirn. Die Tränen standen ihm in den Augen. Sie war außer sich vor Scham ob der Demütigung ihres Mannes und hätte ihn am liebsten verprügelt. Um sich zu beruhigen, eilte sie auf den Gang hinaus, öffnete das Fenster und sog die kühle Nachtluft ein.
„Ach, was habe ich für einen erbärmlichen Mann!“ klagte sie leise vor sich hin und biß sich auf die Lippen.
Er wurde ihr auch sonst immer widerwärtiger. Mit der Zeit nahm er allerlei unmanierliche Gewohnheiten an. Beim Nachtisch zerschnippselte er den Kork der leeren Flasche; nach dem Essen leckte er sich die Zähne mit der Zunge ab, und wenn er die Suppe löffelte, schmatzte er bei jedem Schlucke. Er ward immer beleibter, und seine an und für sich schon winzigen Augen drohten allmählich gänzlich hinter seinen feisten Backen zu verschwinden.
Zuweilen schob ihm Emma den roten Saum seines Trikotunterhemdes wieder unter den Kragen, zupfte die Krawatte zurecht oder beseitigte ein Paar abgetragener Handschuhe, die er sonst noch länger angezogen hätte. Aber dergleichen tat sie nicht, wie er wähnte, ihm zuliebe. Es geschah einzig und allein aus nervöser Reizbarkeit und egoistischem Schönheitsdrang. Mitunter erzählte sie ihm Dinge, die sie gelesen hatte, etwa aus einem Roman oder aus einem neuen Stücke, oder Vorkommnisse aus dem Leben der oberen Zehntausend, die sie im Feuilleton einer Zeitung erhascht hatte. Schließlich war Karl wenigstens ein aufmerksamer und geneigter Zuhörer, und sie konnte doch nicht immer nur ihr Windspiel, das Feuer im Kamin und den Perpendikel ihrer Kaminuhr zu ihren Vertrauten machen!
Im tiefsten Grunde ihrer Seele harrte sie freilich immer des großen Erlebnisses. Wie der Schiffer in Not, so suchte sie mit verzweifelten Augen den einsamen Horizont ihres Daseins ab und spähte in die dunstigen Fernen nach einem weißen Segel. Dabei hatte sie gar keine bestimmte Vorstellung, ob ihr der richtige Kurs oder der Zufall das ersehnte Schiff zuführen solle, nach welchem Gestade sie dann auf diesem Fahrzeuge steuern würde, welcher Art dieses Schiff überhaupt sein solle, ob ein schwaches Boot oder ein großer Ozeandampfer, und mit welcher Fracht er fahre, mit tausend Ängsten oder mit Glückseligkeiten beladen bis hinauf in die Wimpel. Aber jeden Morgen, wenn sie erwachte, rechnete sie bestimmt darauf, heute müsse es sich ereignen. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, fuhr sie empor und war dann betroffen, daß es immer noch nicht kam, das große Erlebnis. Wenn die Sonne sank, war sie jedesmal tieftraurig, aber sie hoffte von neuem auf den nächsten Tag.
Der Frühling zog wieder in das Land. Als die Tage wärmer wurden und die Birnbäume zu blühen begannen, litt Emma an Beklemmungen. Dann ward es Sommer. Bereits Anfang Juli zählte sie sich an den Fingern ab, wieviel Wochen es noch bis zum Oktober seien. Vielleicht gäbe der Marquis von Andervilliers wieder einen Ball. Aber der ganze September verstrich, ohne daß ein Brief oder ein Besuch aus Vaubyessard kam. Nach dieser Enttäuschung war ihr Herz wieder leer, und das ewige Einerlei ihres Lebens hub von neuem an.
Also sollten sich denn fortan ihre Tage aneinanderreihen wie die Perlen an einer Schnur, jeder immer wieder gleich dem andern, sollten kommen und gehen und nie etwas Neues bringen! So flach auch das Leben andrer Leute war, sie hatten doch immerhin die Möglichkeit eines außergewöhnlichen Geschehnisses. Ein Abenteuer zieht häufig die unglaublichsten Umwälzungen nach sich und verändert rasch die ganze Szene. Aber in ihrem Dasein blieb alles beim alten. Das war ihr Schicksal! Die Zukunft lag vor ihr wie ein langer stockfinsterer Gang, und die Tür ganz am Ende war fest verriegelt.
Sie vernachlässigte die Musik. Wozu Klavier spielen? Wer hörte ihr denn zu? Es war ihr doch niemals vergönnt, in einem Gesellschaftskleid mit kurzen Ärmeln auf einem Konzertflügel vor einer großen Zuhörerschaft vorzutragen, ihre flinken Finger über die Elfenbeintasten hinstürmen zu lassen und das Murmeln der Verzückung um sich zu hören wie das Rauschen des Zephirs. Wozu also das mühevolle Einstudieren? Ebenso packte sie ihr Zeichengerät und den Stickrahmen in den Schrank. Wozu das alles? Wem zuliebe? Auch das Nähen ward ihr widerlich, und selbst das Lesen ließ sie. „Es ist immer wieder dasselbe!“ sagte sie sich.
Und so träumte sie vor sich hin, starrte in die Glut des Kamins oder sah zu, wie draußen der Regen herniederfiel.
Am traurigsten waren ihr die Sonntagsnachmittage. Wenn es zur Vesper läutete, hörte sie, vor sich hinbrütend, den dumpfen Glockenschlägen zu. Eine Katze schlich über die Dächer, gemächlich und langsam, und wo ein bißchen Sonne war, machte sie einen Buckel. Auf der Landstraße blies der Wind Staubwirbel auf. In der Ferne heulte ein Hund. Und zu allem dem, in einem fort, in gleichen Zeiträumen, der monotone Glockenklang, der über den Feldern verhallte.
Inzwischen kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in Lackschuhen, die Bauern in ihren Sonntagsblusen, die hin und her laufenden Kinder in bloßen Köpfen. Alles ging heimwärts. Nur fünf bis sechs Männer, immer dieselben, blieben vor dem Hoftor des Gasthofes beim Stöpselspiel, bis es dunkel wurde.
Es kam ein kalter Winter. Jeden Morgen waren die Fensterscheiben mit Eisblumen bedeckt, und das Tageslicht, das wie durch mattgeschliffenes Glas hereindrang, blieb mitunter den ganzen Tag über trüb. Von nachmittags vier Uhr an mußten die Lampen brennen.
An schönen Tagen ging Emma in den Garten hinunter. Der Rauhfrost hatte über die Gräser ein silbernes Netz gewoben, dessen glitzernde Maschen von Halm zu Halm gesponnen waren. Kein Vogel sang. Die Natur schien zu schlafen. Das Spalier war mit Stroh umwickelt, und die Weinstöcke hingen an der Mauer wie vereiste Schlangen. Der lesende Mönch unter den Fichten an der Hecke hatte den rechten Fuß verloren. Im Frost war die Glasur abgesprungen, und graue Flecke entstellten ihm nun das Gesicht.
Nach einer Weile stieg sie wieder hinauf in ihr Zimmer, schloß die Tür ab und schürte das Feuer im Kamine. In der Wärme des Zimmers ward sie matt, und die Langeweile lastete schwerer auf ihr. Gern wäre sie hinuntergelaufen, um mit dem Dienstmädchen zu plaudern, aber dazu war sie zu stolz.
Alle Morgen um die nämliche Stunde öffnete drüben der Schulmeister, sein schwarzseidnes Käppchen auf dem Kopfe, die Fensterläden seiner Behausung. Dann marschierte der Landgendarm mit seinem Säbel vorüber. Morgens und abends wurden die Postpferde, immer drei auf einmal, zur Tränke nach dem Dorfteiche vorbeigeführt. Von Zeit zu Zeit schellte die Türklingel irgendeines Ladens; und wenn der Wind ging, hörte man die Messingbecken, die als Aushängeschilder vor dem Barbiergeschäfte hingen, an ihre Stange klirren. Das Schaufenster schmückten ein altes auf Pappe ausgeklebtes Modenkupfer und eine weibliche Wachsbüste mit einer gelben Perücke. Der Friseur pflegte über seinen brotlosen Beruf und seine jammervolle Zukunft zu lamentieren; sein höchster Traum war ein Laden in einer großen Stadt, etwa in Rouen, am Kai, in der Nähe des Theaters. Mürrisch wanderte er den ganzen Tag über zwischen dem Gemeindeamt und der Kirche hin und her und lauerte auf Kundschaft. Sooft Frau Bovary durch ihr Fenster blickte, sah sie ihn jedesmal in seinem braunen Rock, die Zipfelmütze auf dem Haupte, wie einen Wachtposten hin und her patrouillieren.
Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbarte und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einem Leierkasten, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren darin: Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstücken vervielfältigten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Leierkastenmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen die Prellsteine oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte. In einem fort, bald schwermütig und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelhaft ausgestanzten Messingleiste an den Leierkasten angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierteltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollnen Überzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.
Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärtig gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspitze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.
In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegermutter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenkleide umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlichen Reden beschwichtigte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegermutter nicht empfänglicher denn früher. Als diese gelegentlich die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurcht der Dienstboten verantwortlich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.
Emma wurde unzugänglich und launisch. Sie ließ sich besondre Gerichte zubereiten, die sie dann aber nicht anrührte; an dem einen Tage trank sie nichts als Milch und am andern ein Dutzend Tassen Tee. Oft war sie nicht aus dem Hause zu bekommen, und bald war ihr wieder die Stubenluft zum Ersticken. Sie sperrte alle Fenster auf und konnte sich nicht leicht genug anziehen. Wenn sie das Dienstmädchen angefahren hatte, machte sie ihr im nächsten Augenblicke Geschenke oder ließ sie in die Nachbarschaft ausgehen. Aus ähnlicher Bizarrerie warf sie bisweilen armen Leuten alles Kleingeld hin, das sie bei sich hatte, obgleich sie eigentlich gar nicht weichherzig und mitleidig war, just wie alle Menschen, die auf dem Lande groß geworden sind und lebenslang etwas von der Härte der väterlichen Hände in ihrem Herzen behalten.
Gegen Ende des Februars brachte Vater Rouault in Erinnerung an seine Heilung persönlich eine prächtige Truthenne und blieb drei Tage im Hause seines Schwiegersohnes. Während Karl auf Praxis war, leistete ihm seine Tochter Gesellschaft. Er rauchte in ihrem Zimmer, spuckte in den Kamin, schwatzte von Ernteaussichten, Kälbern, Kühen, Hühnern und von den Gemeinderatssitzungen. Wenn er wieder hinausgegangen war, schloß sie ihre Tür mit einem Gefühl der Befriedigung ab, das ihr selber sonderbar vorkam.
Ihre Verachtung aller Menschen und Dinge verhehlte sie fortan immer weniger. Bisweilen gefiel sie sich darin, die merkwürdigsten Ansichten zu äußern. Sie tadelte, was andre für gut hielten, und billigte Dinge, die für unnatürlich oder unmoralisch erklärt wurden. Karl machte mitunter verwunderte Augen dazu.
Sollte dieses Jammerdasein ewig dauern? So fragte sie sich immer wieder. Sollte sie niemals von hier fortkommen? Sie war doch ebensoviel wert wie alle die Menschen, die glücklich waren! In Vaubyessard hatte sie Herzoginnen gesehen, die plumper im Wuchs waren als sie und ein gewöhnlicheres Benehmen hatten. Sie verwünschte die Ungerechtigkeit ihres Schöpfers und drückte ihr Haupt weinend an die Wände vor lauter Sehnsucht nach dem Tumult der Welt, ihren nächtlichen Maskeraden und frechen Freuden und allen den Tollheiten, die sie nicht kannte und die es doch gab.
Sie wurde immer blasser und litt an Herzklopfen. Karl verordnete ihr Baldriantropfen und Kampferbäder. Das machte sie nur noch reizsamer.
An manchen Tagen redete sie ohne Unterlaß wie eine Fieberkranke. Dieser Aufgeregtheit folgte ein plötzlicher Umschlag in einen Zustand von Empfindungslosigkeit. Dann lag sie stumm da, ohne sich zu rühren, und es wirkte bei ihr nur ein Belebungsmittel: das Übergießen mit Kölnischem Wasser.
Dieweil sie sich fortwährend über Tostes beklagte, bildete sich Karl ein, ihr Leiden sei zweifellos durch irgendwelchen örtlichen Einfluß verursacht, und so begann er ernstlich daran zu denken, sich in einer andren Gegend niederzulassen.
Um diese Zeit fing Emma an, Essig zu trinken, weil sie mager werden wollte. Sie bekam einen leichten trocknen Husten und verlor jegliche Eßlust.
Es fiel Karl sehr schwer, Tostes aufzugeben, wo er gerade jetzt, nach vierjähriger Praxis, ein gemachter Mann war. Indessen, es mußte sein! Er ließ Emma in Rouen von seinem ehemaligen Lehrmeister untersuchen. Es sei ein nervöses Leiden; Luftveränderung wäre vonnöten.
Karl zog nun allerorts Erkundigungen ein, und da brachte er in Erfahrung, daß im Bezirk von Neufchâtel in einem größeren Marktflecken namens Abtei Yonville der bisherige Arzt, ein polnischer Refügié, in der vergangenen Nacht das Weite gesucht hatte. Er schrieb an den dortigen Apotheker und erkundigte sich, wieviel Einwohner der Ort habe, wie weit die nächsten Kollegen entfernt säßen und wie hoch die Jahreseinnahme des Verschwundenen gewesen sei. Die Antwort fiel befriedigend aus, und infolgedessen entschloß sich Bovary, zu Beginn des kommenden Frühjahres nach Abtei Yonville überzusiedeln, falls sich Emmas Zustand noch nicht gebessert habe.
Eines Tages kramte Emma des bevorstehenden Umzuges wegen in einem Schubfache. Da riß sie sich in den Finger und zwar an einem der Drähte ihres Hochzeitsstraußes. Die Orangenknospen waren grau vor Staub, und das Atlasband mit der silbernen Franse war ausgefranst. Sie warf den Strauß in das Feuer. Er flackerte auf wie trocknes Stroh. Eine Weile glühte er noch wie ein feuriger Busch über der Asche, dann sank er langsam in sich zusammen. Nachdenklich sah Emma zu. Die kleinen Beeren aus Pappmasse platzten, die Drähte krümmten sich, die Silberfransen schmolzen. Die verkohlte Papiermanschette zerfiel, und die Stücke flatterten im Kamine hin und her wie schwarze Schmetterlinge, bis sie in den Rauchfang hinaufflogen ...
Bei dem Weggange von Tostes, im März, ging Frau Bovary einer guten Hoffnung entgegen.
Abtei Yonville (so genannt nach einer ehemaligen Kapuzinerabtei, von der indessen nicht einmal mehr die Ruinen stehen) ist ein Marktflecken, acht Wegstunden östlich von Rouen, zwischen der Straße von Abbeville und der von Beauvais. Der Ort liegt im Tale der Rieule, eines Nebenflüßchens der Andelle. Nahe seiner Einmündung treibt der Bach drei Mühlen. Er hat Forellen, nach denen die Dorfjungen reihenweise an den Sonntagen zu ihrer Belustigung angeln.
Man verläßt die Heeresstraße bei La Boissière und geht auf der Hochebene bis zur Höhe von Leux, wo man das Tiefland offen vor sich liegen sieht. Der Fluß teilt es in zwei deutlich unterscheidbare Hälften: zur Linken Weideland, rechts ist alles bebaut. Diese Prärie, die sich bis zu den Triften der Landschaft Pray hinzieht, wird von einer ganz niedrigen Hügelkette begrenzt, während die Ebene gegen Osten allmählich ansteigt und sich im Unermeßlichen verliert. So weit das Auge reicht, schweift es über meilenweite Kornfelder. Das Gewässer sondert wie mit einem langen weißen Strich das Grün der Wiesen von dem Blond der Äcker, und so liegt das ganze Land unten ausgebreitet da wie ein riesiger gelber Mantel mit einem grünen silberngesäumten Samtkragen.
Fern am Horizont erkennt man geradeaus den Eichwald von Argueil und die steilen Abhänge von Sankt Johann mit ihren eigentümlichen, senkrechten, ungleichmäßigen roten Strichen. Das sind die Wege, die sich das Regenwasser sucht; und die roten Streifen auf dem Grau der Berge rühren von den vielen eisenhaltigen Quellen drinnen im Gebirge her, die ihr Wasser nach allen Seiten hinab ins Land schicken.
Man steht auf der Grenzscheide der Normandie, der Pikardie und der Ile-de-France, inmitten eines von der Natur stiefmütterlich behandelten Geländes, das weder im Dialekt seiner Bewohner noch in seinem Landschaftsbilde besondre Eigenheiten aufweist. Von hier kommen die allerschlechtesten Käse des ganzen Bezirks von Neufchâtel. Allerdings ist die Bewirtschaftung dieser Gegend kostspielig, da der trockene steinige Sandboden viel Dünger verlangt.
Bis zum Jahre 1835 führte keine brauchbare Straße nach Yonville. Erst um diese Zeit wurde ein sogenannter „Hauptvizinalweg“ angelegt, der die beiden großen Heeresstraßen von Abbeville und von Amiens untereinander verbindet und bisweilen von den Fuhrleuten benutzt wird, die von Rouen nach Flandern fahren. Aber trotz dieser „neuen Verbindungen“ gelangte Yonville zu keiner rechten Entwicklung. Anstatt sich mehr auf den Getreidebau zu legen, blieb man hartnäckig immer noch bei der Weidebewirtschaftung, so kargen Gewinn sie auch brachte; und die träge Bewohnerschaft baut sich auch noch heute lieber nach dem Berge statt nach der Ebene zu an. Schon von weitem sieht man den Ort am Ufer lang hingestreckt liegen, wie einen Kuhhirten, der sich faulenzend am Bache hingeworfen hat.
Von der Brücke, die über die Rieule führt, geht der mit Pappeln besäumte Fahrweg in schnurgerader Linie nach den ersten Gehöften des Ortes. Alle sind sie von Hecken umschlossen. Neben den Hauptgebäuden sieht man allerhand ordnungslos angelegte Nebenhäuschen, Keltereien, Schuppen und Brennereien, dazwischen buschige Bäume, an denen Leitern, Stangen, Sensen und andres Gerät hängen oder lehnen. Die Strohdächer sehen wie bis an die Augen ins Gesicht hereingezogene Pelzmützen aus; sie verdecken ein Drittel der niedrigen Butzenscheibenfenster. Da und dort rankt sich dürres Spalierobst an den weißen, von schwarzem Gebälk durchquerten Kalkwänden der Häuser empor. Die Eingänge im Erdgeschoß haben drehbare Halbtüren, damit die Hühner nicht eindringen, die auf den Schwellen in Apfelwein aufgeweichte Brotkrumen aufpicken.
Allmählich werden die Höfe enger, die Gebäude rücken näher aneinander, und die Hecken verschwinden. An einem der Häuser hängt, schaukelnd an einem Besenstiel zum Fenster heraus, ein Bündel Farnkraut. Hier ist die Schmiede; ein Wagen und zwei oder drei neue Karren stehen davor und versperren die Straße. Weiterhin leuchtet durch die offene Pforte der Gartenmauer ein weißes Landhaus, eine runde Rasenfläche davor mit einem Amor in der Mitte, der sich den Finger vor den Mund hält. Die Freitreppe flankieren zwei Vasen aus Bronze. Ein Amtsschild mit Wappen glänzt am Tore. Es ist das Haus des Notars, das schönste der ganzen Gegend.
Zwanzig Schritte weiter, auf der andern Seite der Straße, beginnt der Marktplatz mit der Kirche. In dem kleinen Friedhofe um sie herum, den eine niedrige Mauer von Ellbogenhöhe umschließt, liegt Grabplatte an Grabplatte. Diese alten Steine bilden geradezu ein Pflaster, auf das aus den Ritzen hervorschießendes Gras grüne Rechtecke gezeichnet hat. Die Kirche selbst ist ein Neubau aus der letzten Zeit der Regierung Karls des Zehnten. Das hölzerne Dach beginnt bereits morsch zu werden. Auf dem blauen Anstrich der Decke über dem Schiff zeigen sich stellenweise schwarze Flecken. Über dem Eingang befindet sich da, wo gewöhnlich sonst in der Kirche die Orgel ist, eine Empore für die Männer, zu der eine Wendeltreppe hinaufführt, die laut dröhnt, wenn man sie betritt.
Das Tageslicht flutet in schrägen Strahlen durch die farblosen Scheiben auf die Bankreihen hernieder, die sich von Längswand zu Längswand hinziehen. Vor manchen Sitzen sind Strohmatten befestigt, und Namensschilder verkünden weithin sichtbar: „Platz des Herrn Soundso.“ Wo sich das Schiff verengert, steht der Beichtstuhl und ihm gegenüber ein Standbild der Madonna, die ein Atlasgewand und einen Schleier, mit lauter silbernen Sternen besät, trägt. Ihre Wangen sind genau so knallrot angemalt wie die eines Götzenbildes auf den Sandwichinseln. Im Chor über dem Hochaltar schimmert hinter vier hohen Leuchtern die Kopie einer Heiligen Familie von Pietro Perugino, eine Stiftung der Regierung. Die Chorstühle aus Fichtenholz sind ohne Anstrich.
Fast die Hälfte des Marktplatzes von Yonville nehmen „die Hallen“ ein: ein Ziegeldach auf etlichen zwanzig Holzsäulen. Das Rathaus, nach dem Entwurfe eines Pariser Architekten in antikem Stil erbaut, steht in der jenseitigen Ecke des Platzes neben der Apotheke. Das Erdgeschoß hat eine dorische Säulenhalle, der erste Stock eine offene Galerie, und darüber im Giebelfelde haust ein gallischer Hahn, der mit der einen Klaue das Gesetzbuch umkrallt und in der andern die Wage der Gerechtigkeit hält.
Das Augenmerk des Fremden fällt immer zuerst auf die Apotheke des Herrn Homais, schräg gegenüber vom „Gasthof zum goldnen Löwen“. Zumal am Abend, wenn die große Lampe im Laden brennt und ihr helles, durch die bunten Flüssigkeiten in den dickbauchigen Flaschen, die das Schaufenster schmücken sollen, rot und grün gefärbtes Licht weit hinaus über das Straßenpflaster fällt, dann sieht man den Schattenriß des über sein Pult gebeugten Apothekers wie in bengalischer Beleuchtung. Außen ist sein Haus von oben bis unten mit Reklameschildern bedeckt, die in allen möglichen Schriftarten ausschreien: „Mineralwasser von Vichy“, „Sauerbrunnen“, „Selterswasser“, „Kamillentee“, „Kräuterlikör“, „Kraftmehl“, „Hustenpastillen“, „Zahnpulver“, „Mundwasser“, „Bandagen“, „Badesalz“, „Gesundheitsschokolade“ usw. usw. Auf der Firma, die so lang ist wie der ganze Laden, steht in mächtigen goldnen Buchstaben: „Homais, Apotheker“. Drinnen, hinter den hohen, auf der Ladentafel festgeschraubten Wagen, liest man über einer Glastüre das Wort „Laboratorium“ und auf der Tür selbst noch einmal in goldnen Lettern auf schwarzem Grunde den Namen „Homais“.
Weitere Sehenswürdigkeiten gibt es in Yonville nicht. Die Hauptstraße (die einzige) reicht einen Büchsenschuß weit und hat zu beiden Seiten ein paar Kramläden. An der Straßenbiegung ist der Ort zu Ende. Wenn man vorher nach links abwendet und dem Hange folgt, gelangt man hinab zum Gemeindefriedhof.
Zur Zeit der Cholera wurde ein Stück der Kirchhofsmauer niedergelegt und der Friedhof durch Ankauf von drei Morgen Land vergrößert, aber dieser ganze neue Teil ist so gut wie noch unbenutzt geblieben. Wie vordem drängen sich die Grabhügel nach dem Eingangstor zu zusammen. Der Pförtner, der zugleich auch Totengräber und Kirchendiener ist und somit aus den Leichen der Gemeinde eine doppelte Einnahme zieht, hat sich das unbenutzte Land angeeignet, um darauf Kartoffeln zu erbauen. Aber von Jahr zu Jahr vermindert sich sein bißchen Boden, und es brauchte bloß wieder einmal eine Epidemie zu kommen, so wüßte er nicht, ob er sich über die vielen Toten freuen oder über ihre neuen Gräber ärgern solle.
„Lestiboudois, Sie leben von den Toten!“ sagte eines Tages der Pfarrer zu ihm.
Diese gruselige Bemerkung stimmte den Küster nachdenklich. Eine Zeitlang enthielt er sich der Landwirtschaft. Dann aber und bis auf den heutigen Tag zog er seine Erdäpfel weiter. Ja, er versichert sogar mit Nachdruck, sie wüchsen ganz von selber.
Seit den Ereignissen, die hier erzählt werden, hat sich in Yonville wirklich nichts verändert. Noch immer dreht sich auf der Kirchturmspitze die weiß-rot-blaue Fahne aus Blech, noch immer flattern vor dem Laden des Modewarenhändlers zwei Kattunwimpel im Winde, noch immer schwimmen im Schaufenster der Apotheke häßliche Präparate in Glasbüchsen voll trübgewordnem Alkohol, und ganz wie einst zeigt der alte, von Wind und Wetter ziemlich entgoldete Löwe über dem Tore des Gasthofes den Vorübergehenden seine Pudelmähne.
An dem Abend, da das Ehepaar Bovary in Yonville eintreffen sollte, war die Löwenwirtin, die Witwe Franz, derartig beschäftigt, daß ihr beim Hantieren mit ihren Töpfen der Schweiß von der Stirne perlte. Am folgenden Tag war nämlich Markttag im Städtchen. Da mußte Fleisch zurechtgehackt, Geflügel ausgenommen, Bouillon gekocht und Kaffee gebrannt werden. Daneben die regelmäßigen Tischteilnehmer und heute obendrein der neue Doktor nebst Frau Gemahlin und Dienstmädchen! Am Billard lachten Gäste, und in der kleinen Gaststube riefen drei Müllerburschen nach Schnaps. Im Herde prasselte und schmorte es, und auf dem langen Küchentische paradierten neben einer rohen Hammelkeule Stöße von Tellern, die nach dem Takte des Wiegemessers tanzten, mit dem die Köchin Spinat zerkleinerte. Vom Hofe aus ertönte das ängstliche Gegacker der Hühner, die von der Magd gejagt wurden, weil sie etlichen die Köpfe abschneiden wollte.
Ein Herr in grünledernen Pantoffeln, eine goldne Troddel an seinem schwarzsamtnen Käppchen, wärmte sich am Kamin des Gastzimmers den Rücken. Im Gesicht hatte er ein paar Blatternarben. Sein ganzes Wesen strahlte förmlich von Selbstzufriedenheit. Offenbar lebte er genau so gleichmütig dahin wie der Stieglitz, der oben an der Decke in seinem Weidenbauer herumhüpfte. Dieser Herr war der Apotheker.
„Artemisia!“ rief die Wirtin. „Leg noch ein bißchen Reisig ins Feuer! Fülle die Wasserflaschen! Schaff den Schnaps hinein! Und mach schnell! Ach, wenn ich nur wüßte, was ich den Herrschaften, die heute eintreffen, zum Nachtisch vorsetzen soll? Heiliger Bimbam! Die Leute von der Speditionsgesellschaft hören mit ihrem Geklapper auf dem Billard auch gar nicht auf! Und der Möbelwagen steht draußen immer noch mitten auf der Straße, gerade vor der Hofeinfahrt! Wenn die Post kommt, wird es eine Karambolage geben. Ruf mir mal Hippolyt! Er soll den Wagen beiseiteschieben ... Was ich sagen wollte, Herr Apotheker, diese Leute spielen schon den ganzen Vormittag. Jetzt sind sie bei der fünfzehnten Partie und beim achten Schoppen Apfelwein! Man wird mir noch ein Loch ins Tuch stoßen!“
Sie war auf einen Augenblick, den Kochlöffel in der Hand, ins Gastzimmer gelaufen.
„Das wär auch weiter kein Malheur!“ meinte Homais. „Dann schaffen Sie gleich ein neues Billard an!“
„Ein neues Billard!“ jammerte die Witwe.
„Nu freilich, Frau Franz! Das alte Ding da taugt nicht mehr viel! Ich habs Ihnen schon tausendmal gesagt. Es ist Ihr eigner Schaden! Und ein großer Schaden! Heutzutage verlangen passionierte Spieler große Bälle und schwere Queues. Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. Die Zeiten ändern sich! Man muß modern sein! Sehen Sie sich mal bei Tellier im Café Français ...“
Die Wirtin wurde rot vor Ärger, aber der Apotheker fuhr fort:
„Sie können sagen, was Sie wollen! Sein Billard ist handlicher als Ihrs. Und wenn es heißt, eine patriotische Poule zu entrieren, sagen wir: zum Besten der vertriebenen Polen oder für die Überschwemmten von Lyon ...“
„Ach was!“ unterbrach ihn die Löwenwirtin verächtlich. „Vor dem Bettelvolk hat unsereiner noch lange keine Angst! Lassen Sies nur gut sein, Herr Apotheker! Solange der Goldne Löwe bestehen wird, sitzen auch Gäste drin! Wir verhungern nicht! Aber Ihr geliebtes Café Français, das wird eines schönen Tages die Bude zumachen! Oder vielmehr der Gerichtsvollzieher! Ich soll mir ein andres Billard anschaffen? Wo meins so bequem ist zum Wäschefalten! Und wenn Jagdgäste da sind, können gleich sechse drauf übernachten! Nee, nee ... Wo bleibt nur eigentlich der langweilige Kerl, der Hivert!“
„Sollen denn Ihre Tischgäste mit dem Essen warten, bis die Post gekommen ist?“ fragte Homais ungeduldig.
„Warten? Herr Binet ist ja noch nicht da! Der kommt Schlag sechs, einen wie alle Tage! So ein Muster von Pünktlichkeit gibts auf der ganzen Welt nicht wieder. Er hat seit urdenklichen Zeiten seinen Stammplatz in der kleinen Stube. Er ließe sich eher totschlagen, als daß er wo anders äße. Was Schlechtes darf man dem nicht vorsetzen. Und auf den Apfelwein versteht er sich aus dem ff. Er ist nicht wie Herr Leo, der heute um sieben und morgen um halb acht erscheint und alles ißt, was man ihm vorsetzt! Übrigens ein feiner junger Mann! Ich hab noch nie ein lautes Wort von ihm gehört.“
„Da sehen Sie eben den Unterschied zwischen jemandem, der eine Kinderstube hinter sich hat, und einem ehemaligen Kürassier und jetzigen Steuereinnehmer!“
Es schlug sechs. Binet trat ein.
Er hatte einen blauen Rock an, der schlaff an seinem mageren Körper herunterhing. Unter dem Schirm seiner Ledermütze blickte ein Kahlkopf hervor, der um die Stirn eingedrückt von dem langjährigen Tragen des schweren Helms aussah. Er trug eine Weste aus schwarzem Stoff, einen Pelzkragen, graue Hosen und tadellos blankgewichste Schuhe, die vorn besonders ausgearbeitet waren, weil er dauernd an geschwollenen Zehen litt. Sein blonder Backenbart war peinlichst gestutzt und umrahmte ihm das lange bleiche Gesicht mit den kleinen Augen und der Adlernase wie eine Hecke den Garten. Er war ein Meister in jeglichem Kartenspiel und ein guter Jäger, hatte eine hübsche Handschrift und besaß zu Hause eine Drehbank, auf der er zu seinem Vergnügen Serviettenringe drechselte. Er hatte ihrer schon eine Unmenge, die er mit der Eifersucht eines Künstlers und dem Geiz des Spießers hütete.
Binet schritt nach der kleinen Stube zu. Erst mußten dort aber die drei Müllerburschen hinauskomplimentiert werden. Während man drin für ihn deckte, blieb er in der großen Gaststube stumm in der Nähe des Ofens stehen, dann ging er hinein, klinkte die Türe ein und nahm seine Mütze ab. Das hatte alles so seine Ordnung.
„An übermäßiger Höflichkeit wird der mal nicht sterben!“ bemerkte der Apotheker, als er wieder mit der Wirtin allein war.
„Er redet nie viel,“ entgegnete diese. „Vergangene Woche waren zwei Tuchreisende hier, lustige Kerle, die uns den ganzen Abend Schnurren erzählt haben. Ich wäre beinahe umgekommen vor Lachen. Der aber hat wie ein Stockfisch dabeigesessen und keine Miene verzogen.“
„Ja, ja,“ sagte der Apotheker, „der Mensch hat keine Phantasie, keinen Witz, keinen geselligen Sinn!“
„Er soll aber wohlhabend sein,“ warf die Wirtin ein.
„Wohlhabend?“ echote Homais. „Der und wohlhabend!“ Und gelassen fügte er hinzu: „Gott ja, so für seine Verhältnisse. Das ist schon möglich!“
Nach einer kleinen Weile fuhr er fort: „Hm! Wenn ein Kaufmann, der ein großes Geschäft hat, oder ein Rechtsanwalt, ein Arzt, ein Apotheker derartig in seinem Beruf aufgeht, daß er zum Griesgram oder Sonderling wird, so verstehe ich das. Davor gibt es Beispiele und Exempel. Solche Leute haben immerhin Gedanken im Kopfe. Wie oft ists mir nicht selber passiert, daß ich meinen Federhalter auf meinem Schreibtische gesucht habe, um ein Schildchen auszufüllen oder so was, — und weiß der Kuckuck, schließlich hatte ich ihn hinterm rechten Ohre stecken!“
Frau Franz ging indessen an die Haustür, um nachzusehen, ob die Post noch nicht angekommen sei. Sie war ganz aufgeregt. Da trat ein schwarz gekleideter Mann in die Küche. Das Dämmerlicht beleuchtete sein kupferrotes Antlitz und umfloß seine herkulischen Linien.
„Was steht dem Herrn Pfarrer zu Diensten?“ fragte die Wirtin und nahm vom Kaminsims einen der Messingleuchter, die mit ihren weißen Kerzen in einer wohlgeordneten Reihe dastanden. „Haben Ehrwürden einen Wunsch? Ein Gläschen Wacholder oder einen Schoppen Wein?“
Der Priester dankte verbindlich. Er kam wegen seines Regenschirmes, den er tags zuvor im Kloster Ernemont hatte stehen lassen. Nachdem er Frau Franz gebeten hatte, ihn gelegentlich holen und im Pfarrhause abgeben zu lassen, empfahl er sich, um nach der Kirche zu gehen, wo schon das Ave-Maria geläutet ward.
Als die Tritte des Geistlichen draußen verklungen waren, machte der Apotheker die Bemerkung, der Pfarrer habe sich eben sehr ungebührlich benommen. Eine angebotene Erfrischung abzuschlagen, sei seiner Ansicht nach eine ganz abscheuliche Heuchelei. Die Pfaffen söffen insgeheim alle miteinander. Am liebsten möchten sie den Zehnten wieder einführen.
Die Löwenwirtin verteidigte ihren Beichtvater.
„Na, übrigens nimmt ers mit vier Mannsen von Eurem Kaliber zugleich auf!“ meinte sie. „Voriges Jahr hat er unsern Leuten beim Strohaufladen geholfen. Er hat immer sechs Schütten auf einmal getragen. So stark ist er!“
„Natürlich!“ rief Homais aus. „Schickt nur Eure Mädels solchen Krafthubern zur Beichte! Wenn ich im Staate was zu sagen hätte, dann kriegte jeder Pfaffe aller vier Wochen einen Blutegel angesetzt. Jawohl, Frau Wirtin, aller vier Wochen einen ordentlichen Aderlaß zur Hebung von Sicherheit und Sittlichkeit im Lande!“
„Aber Herr Apotheker! Sie sind gottlos! Sie haben keine Religion!“
Homais erwiderte:
„Ich habe eine Religion: meine Religion! Und die ist mehr wert als die dieser Leute mit all dem Firlefanz und Mummenschanz. Ich verehre Gott. Erst recht tue ich das. Ich glaube an eine höhere Macht, an einen Schöpfer. Sein Wesen kommt hierbei nicht in Frage. Wir Menschen sind hienieden da, damit wir unsre Pflichten als Staatsbürger und Familienväter erfüllen. Aber ich habe kein Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, silbernes Gerät zu küssen und eine Bande von Possenreißern aus meiner Tasche zu mästen, die sich besser hegen und pflegen als ich mich selber. Gott kann man viel schöner verehren im Walde, im freien Felde oder meinetwegen nach antiker Anschauung angesichts der Gestirne am Himmel. Mein Gott ist der Gott der Philosophen und Künstler. Ich bin für Rousseaus Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Für die unsterblichen Ideen von Anno 1789! Und da glaube ich nicht an den sogenannten lieben Gott, der mit einem Spazierstöckchen in der Hand gemütlich durch seinen Erdengarten bummelt, seine Freunde in einem Walfischbauch einquartiert, jammernd am Kreuze stirbt und am dritten Tage wieder aufersteht von den Toten. Das ist schon an und für sich Blödsinn und obendrein wider alle Naturgesetze! Es beweist aber nebenbei, daß sich die Pfaffen in der schmachvollen Ignoranz, mit der sie die Menschheit verdummen möchten, mir Wollust selber herumsielen.“
Er schwieg und überschaute seine Zuhörerschaft. Er hatte sich ins Zeug gelegt, als spräche er vor versammeltem Gemeinderat. Die Wirtin war längst aus der Gaststube gelaufen. Sie lauschte draußen und vernahm ein fernes rollendes Geräusch. Bald hörte sie deutlich das Rasseln der Räder und das Klappern eines lockeren Eisens auf dem Pflaster. Endlich hielt die Postkutsche vor der Haustüre.
Es war ein gelblackierter Kasten auf zwei Riesenrädern, die bis an das Wagendeck hinaufreichten. Sie raubten dem Reisenden jegliche Aussicht und bespritzten ihn fortwährend. Die winzigen Scheiben in den Wagenfenstern klirrten in ihrem Rahmen. Wenn man sie heraufzog, sah man, daß sie vor Staub und Straßenschmutz starrten. Der stärkste Platzregen hätte sie nicht rein gewaschen. Das Fahrzeug war mit drei Pferden bespannt: zwei Stangen- und einem Vorderpferde.
Vor dem Gasthofe entstand ein kleiner Menschenauflauf. Alles redete durcheinander. Der eine fragte nach Neuigkeiten, ein andrer wollte irgendwelche Auskunft, ein dritter erwartete eine Postsendung. Hivert, der Postkutscher, wußte gar nicht, wem er zuerst Bescheid geben sollte. Er pflegte nämlich allerlei Aufträge für die Landleute in der Stadt zu übernehmen. Er machte Einkäufe, brachte dem Schuster Leder und dem Schmied altes Eisen mit; er besorgte der Posthalterin eine Tonne Heringe, holte von der Modistin Hauben und vom Friseur Lockenwickel. Auf dem Rückwege verteilte er dann die Pakete längs seiner Fahrstraße. Wenn er am Gehöft eines Auftraggebers vorbeifuhr, schrie er aus voller Kehle und warf das Paket über den Zaun in das Grundstück, wobei er sich von seinem Kutscherbocke erhob und die Pferde eine Strecke ohne Zügel laufen ließ.
Heute kam er mit Verspätung. Unterwegs war Frau Bovarys Windspiel querfeldein weggelaufen. Eine Viertelstunde lang pfiff man nach ihm. Hivert lief sogar ein paar Kilometer zurück; aller Augenblicke glaubte er, den Hund von weitem zu sehen. Schließlich aber mußte weitergefahren werden.
Emma weinte und war ganz außer sich. Karl sei an diesem Unglück schuld. Herr Lheureux, der Modewarenhändler, der mit in der Post fuhr, versuchte sie zu trösten, indem er ein Schock Geschichten von Hunden erzählte, die entlaufen waren und sich nach langen Jahren bei ihren einstigen Herren wieder eingestellt hatten. Unter anderem wußte er von einem Dackel zu berichten, der von Konstantinopel aus den Weg nach Paris zurückgefunden haben sollte. Ein andrer Hund war hinter einander dreißig Meilen gelaufen und hatte dabei vier Flüsse durchschwommen. Und sein eigner Vater hatte einen Pudel besessen; der war volle zwölf Jahre weg. Eines Abends, als der alte Lheureux durch die Stadt nach dem Gasthaus ging, sprang der Hund an ihm hoch.
Emma stieg zuerst aus, nach ihr Felicie, dann Herr Lheureux und eine Amme. Karl mußte man erst aufwecken. Er war in seiner Ecke beim Einbruch der Dunkelheit fest eingeschlafen.
Homais stellte sich vor. Er erschöpfte sich der „gnädigen Frau“ und dem „Herrn Doktor“ gegenüber in Galanterien und Höflichkeiten. Er sei entzückt, sagte er, bereits Gelegenheit gehabt zu haben, ihnen gefällig sein zu dürfen. Und in herzlichem Tone fügte er hinzu, er lüde sich für heute bei ihnen zu Tisch ein. Er sei Strohwitwer.
Frau Bovary begab sich in die Küche und an den Herd. Mit den Fingerspitzen faßte sie ihr Kleid in der Kniegegend, zog es bis zu den Knöcheln herauf und wärmte ihre mit schwarzledernen Stiefeletten bekleideten Füße an der Glut, in der die Hammelkeule am Spieß gedreht wurde. Das Feuer beleuchtete ihre ganze Gestalt und warf grelle Lichter auf den Stoff ihres Kleides, auf ihre poröse weiße Haut und in die Wimpern ihrer Augen, die sich von Zeit zu Zeit schlössen. Der Luftzug strich durch die halboffene Tür und rötete die Flammen. Hochrote Reflexe umflossen die Frau am Herd. Am andern Ende desselben stand ein junger Mann mit blondem Haar, der sie stumm betrachtete.
Es war Leo Düpuis, der Adjunkt des Notars Guillaumin, einer der Stammgäste im Goldnen Löwen. Er langweilte sich gehörig in Yonville, und deshalb kam er zu Tisch öfters absichtlich zu spät, in der Hoffnung, mit irgendeinem Reisenden den Abend im Wirtshause verplaudern zu können. Wenn er aber in der Kanzlei gerade gar nichts zu tun hatte, mußte er aus Langeweile wohl oder übel pünktlich erscheinen und von der Suppe bis zum Käse Binets Gesellschaft erdulden. Frau Franz hatte ihm den Vorschlag gemacht, heute mit den neuen Gästen zusammen zu essen; er war mit Vergnügen darauf eingegangen. Zur Feier des Tages war im Saal für vier Personen gedeckt worden.
Man versammelte sich daselbst. Homais bat um Erlaubnis, sein Käppchen aufbehalten zu dürfen. Er erkälte sich leicht.
Frau Bovary saß ihm beim Essen zur Rechten.
„Gnädige Frau sind zweifellos ein wenig müde?“ begann er. „In unsrer alten Postkutsche wird man schauderhaft durchgerüttelt.“
„Freilich!“ gab Emma zur Antwort. „Aber dieses Drüber und Drunter macht mir gerade Spaß. Ich liebe die Abwechselung.“
„Ach ja, immer auf demselben Platze hocken ist gräßlich!“ seufzte der Adjunkt.
„Wenn Sie wie ich den ganzen Tag auf dem Gaule sitzen müßten ...“, warf Karl ein.
Leo wandte sich an Emma:
„Grade das denke ich mir köstlich. Natürlich muß man ein guter Reiter sein.“
„Ein praktizierender Arzt hats übrigens in hiesiger Gegend ziemlich bequem“, meinte der Apotheker. „Die Wege sind nämlich soweit imstand, daß man ein Kabriolett verwenden kann. Im allgemeinen lohnt sich die Praxis auch. Die Bauern sind wohlhabend. Nach den statistischen Feststellungen haben wir, abgesehen von den gewöhnlichen Diarrhöen, Rachenkatarrhen und Magenbeschwerden, hin und wieder während der Erntezeit wohl Fälle von Wechselfieber, aber im großen und ganzen selten schwere Krankheiten. Besonders zu erwähnen sind die zahlreichen skrofulösen Leiden, die zweifellos von den kläglichen hygienischen Verhältnissen in den Bauernhäusern herrühren. Ja, ja, Herr Bovary, Sie werden öfters mit altmodischen Ansichten zu kämpfen haben, und vielfach werden Dickköpfigkeit und alter Schlendrian alle Anstrengungen Ihrer Kunst zunichte machen. Denn die Leute hierzulande versuchen es in ihrer Dummheit immer noch erst mit Beten, mit Reliquien und mit dem Pfarrer, statt daß sie von vornherein zum Arzt oder in die Apotheke gingen. Im übrigen ist das Klima wirklich nicht schlecht. Wir haben sogar etliche Neunzigjährige in der Gemeinde. Nach meinen Beobachtungen ist die Maximalkälte im Winter 4° Celsius, während wir im Hochsommer auf 25°, höchstens 30° kommen. Das wäre ein Maximum von 24° Reaumur. Das ist nicht viel. Das kommt aber daher, daß wir einerseits vor den Nordwinden durch die Wälder von Argueil, andrerseits vor den Westwinden durch die Höhe von Sankt Johann geschützt sind. Diese Wärme, die ihre Ursachen auch in der Wasserverdunstung des Flusses und in den zahlreich vorhandenen Viehherden in den Weidegebieten hat, die, wie Sie wissen, viel Ammoniak produzieren (also Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, ach nein, nur Stickstoff und Sauerstoff!), — diese Wärme, die den Humus aussaugt und alle Dünste des Bodens aufnimmt, sich gleichsam zu einer Wolke zusammenballt und sich mit der Elektrizität der Atmosphäre verbindet, die könnte schließlich (wie in den Tropenländern) gesundheitsschädliche Miasmen erzeugen —, diese Wärme, sag ich, wird gerade dort, wo sie herkommt, oder vielmehr, wo sie herkommen könnte, das heißt im Süden, durch die Südostwinde abgekühlt, die ihre Kühle über der Seine erlangen und bei uns bisweilen plötzlich als sanftes Mailüfterl wehen ...“
„Gibt es denn wenigstens ein paar Spazierwege in der Umgegend?“ fragte Frau Bovary im Laufe ihres Gespräches mit dem jungen Manne.
„Leider nur sehr wenige“, entgegnete er. „Einen hübschen Ort gibt es auf der Höhe, am Waldrande, der ‚Futterplatz‘ genannt. Dort sitze ich manchmal Sonntags und vertiefe mich in ein Buch und seh mir den Sonnenuntergang an.“
„Es gibt nichts Wunderbareres als den Sonnenuntergang,“ schwärmte Emma, „zumal am Gestade des Meeres!“
„Ach, ich bete das Meer an!“ stimmte Leo bei.
„Haben Sie nicht auch die Empfindung,“ fuhr Frau Bovary fort, „daß die Seele beim Anblicke dieser unermeßlichen Weite Flügel bekommt, die Flügel der Andacht, die ins Reich der Ewigkeiten emporheben, in die Sphäre der Ideen, der Ideale?“
„Im Hochgebirge ergeht es einem ebenso“, meinte Leo. „Ich habe einen Vetter, der im vergangnen Jahre eine Schweizerreise gemacht hat. Der hat mir erzählt: ohne sie selber zu sehen, könne man sich den romantischen Reiz der Seen gar nicht vorstellen, den Zauber der Wasserfälle und den großartigen Eindruck der Gletscher. Über Gießbächen hängen riesige Fichten, und am Rande von tiefen Abgründen kleben Alpenhütten; und wenn die Wolken einmal zerreißen, erblickt man tausend Fuß unten in der Tiefe die langen Täler. Wer das schaut, muß in Begeisterung geraten, in Andachtsstimmung, in Ekstase! Jetzt begreife ich auch jenen berühmten Musiker, der nur angesichts von erhabenen Landschaften arbeiten konnte.“
„Treiben Sie Musik?“ fragte Emma.
„Nein, aber ich liebe die Musik!“ antwortete er.
„Glauben Sie ihm das nicht, Frau Doktor!“ mischte sich Homais ein. „Das sagt er nur aus purer Bescheidenheit ... Aber gewiß, mein Verehrter! Gestern, in Ihrem Zimmer, da haben Sie doch das Engellied wundervoll gesungen. Ich hab es von meinem Laboratorium aus gehört. Sie haben eine Stimme wie ein Opernsänger!“
Leo Düpuis bewohnte nämlich im Hause des Apothekers im zweiten Stock ein kleines Zimmer, das nach dem Markt hinausging. Bei dem Komplimente seines Hauswirtes wurde er über und über rot.
Homais widmete sich bereits wieder dem Arzte, dem er die bemerkenswerten Einwohner von Yonville einzeln aufzählte. Er wußte tausend Anekdoten und Einzelheiten. Nur über das Vermögen des Notars könne er nichts Genaues sagen. Auch über die Familie Tüvache munkele man so allerlei.
Emma fuhr fort:
„Das ist ja entzückend! Und welche Musik lieben Sie am meisten?“
„Die deutsche! Die ist das wahre Traumland ...“
„Kennen Sie die Italiener?“
„Noch nicht. Aber ich werde sie nächstes Jahr hören. Ich habe die Absicht, nach Paris zu gehen, um mein juristisches Studium zu vollenden.“
„Wie ich bereits die Ehre hatte, Ihrem Herrn Gemahl mitzuteilen,“ sagte wiederum der Apotheker, „als ich ihm von dem armen Stryienski berichtete, der auf und davon gegangen ist: dank den Dummheiten, die der begangen hat, werden Sie sich eines der komfortabelsten Häuser von Yonville erfreuen. Eine ganz besondre Bequemlichkeit gerade für einen Arzt ist das Vorhandensein einer Hinterpforte nach dem Bach und der Allee zu. Man kann dadurch unbeobachtet ein und aus gehen. Die Wohnung selbst besitzt alle denkbaren Annehmlichkeiten; sie hat ein großes Eßzimmer, eine Küche mit Speisekammer, eine Waschküche, einen Obstkeller usw. Ihr Vorgänger war ein flotter Kerl, dem es auf ein paar Groschen nicht ankam. Hinten in seinem Garten, mit dem Blick auf unser Flüßchen, da hat er sich ein Lusthäuschen bauen lassen, lediglich, um an Sommerabenden sein Bier drin zu süffeln. Wenn die gnädige Frau die Blumenzucht liebt ...“
„Meine Frau gibt sich damit nicht weiter ab“, unterbrach ihn Karl. „Obgleich ihr körperliche Bewegung verordnet ist, bleibt sie lieber dauernd in ihrem Zimmer und liest.“
„Ganz wie ich!“ fiel Leo ein. „Was wäre wohl auch gemütlicher, als abends beim Schein der Lampe mit einem Buche am Kamine zu sitzen, während draußen der Wind gegen die Fensterscheiben schlägt?“
„So ist es!“ stimmte sie zu und blickte ihn mit ihren großen schwarzen Augen voll an.
Er fuhr fort:
„Dann denkt man an nichts, und die Stunden verrinnen. Ohne daß man sich bewegt, wandert man mit dem Erzähler durch ferne Lande. Man wähnt sie vor Augen zu haben. Man träumt sich in die fremden Erlebnisse hinein, bis in alle Einzelheiten; man verstrickt sich in allerhand Abenteuer; man lebt und webt unter den Gestalten der Dichtung, und es kommt einem zuletzt vor, als schlüge das eigne Herz in ihnen.“
„Wie wahr! Wie wahr!“ rief Emma aus.
„Haben Sie es nicht zuweilen erlebt, in einem Buche einer bestimmten Idee zu begegnen, die man verschwommen und unklar längst in sich selbst trägt? Wie aus der Ferne schwebt sie nun mit einem Male auf einen zu, gewinnt feste Umrisse, und es ist einem, als stehe man vor einer Offenbarung seines tiefsten Ichs ...“
„Das hab ich schon erlebt!“ flüsterte sie.
„Und darum“, fuhr er fort, „liebe ich die Dichter über alles. Ich finde, Verse sind zarter als Prosa. Sie rühren so schön zu Tränen!“
„Aber sie ermüden auf die Dauer,“ wandte Emma ein, „und daher ziehe ich jetzt mehr die Romane vor, aber sie müssen spannend und aufregend sein. Widerlich sind mir Alltagsleute und lauwarme Gefühle. Die hat man doch schon genug in der Wirklichkeit.“
„Gewiß,“ bemerkte der Adjunkt, „die naturalistischen Romane haben dem Herzen nichts zu sagen und entfernen sich damit, meiner Ansicht nach, von dem wahren Ziele der Kunst. Es ist so süß, sich aus den Häßlichkeiten des Daseins herauszuzüchten, wenigstens in Gedanken: zu edlen Charakteren, zu hehren Leidenschaften und zu glückseligen Zuständen. Für mich, der ich hier fern der großen Welt lebe, ist das die einzige Erholung. Nur hat man in Yonville wenig Gelegenheit ...“
„Jedenfalls genau so wie in Tostes!“ bemerkte Emma. „Drum war ich ständig in einer Leihbibliothek abonniert.“
Der Apotheker hatte diese letzten Worte gehört. „Wenn gnädige Frau mir die Ehre erweisen wollen,“ sagte er, „meine Bibliothek zu benutzen, so steht sie Ihnen zur Verfügung. Sie enthält die besten Autoren: Voltaire, Rousseau, Delille, Walter Scott, außerdem ein paar Zeitschriften und Zeitungen, unter andern den „Leuchtturm von Rouen“, ein Tagesblatt, dessen Korrespondent für Buchy, Forges, Neufchâtel, Yonville und Umgegend ich bin.“
Man saß bereits zwei und eine halbe Stunde bei Tisch, nicht ohne Mitverschulden der bedienenden Artemisia, die in ihren Holzschuhen saumselig über die Dielen schlürfte, jeden Teller einzeln hereinbrachte, allerlei vergaß, jeden Auftrag überhörte und immer wieder die Türe zum Billardzimmer offen ließ, die dann krachend von selber zuklappte.
Ohne es zu bemerken, hatte Leo, während er so eifrig plauderte, einen Fuß auf eine der Querleisten des Stuhles gesetzt, auf dem Frau Bovary saß. Sie trug einen gefalteten steifen Batistkragen und einen blauseidnen Schlips, und je nach den Bewegungen, die sie mit ihrem Kopfe machte, berührte ihr Kinn den Batist oder entfernte sich graziös davon. So kamen Leo und Emma, während sich Karl mit dem Apotheker unterhielt, in eins jener uferlosen Gespräche, die um tausend oberflächliche Dinge kreisen und keinen andern Sinn haben, als die gegenseitige Sympathie einander zu bekunden. Pariser Theaterereignisse, Romantitel, moderne Tänze, die ihnen fremde große Gesellschaft, Tostes, wo Emma gelebt hatte, und Yonville, wo sie sich gefunden, alles das berührten sie in ihrer Plauderei, bis die Mahlzeit zu Ende war.
Als der Kaffee gebracht wurde, ging Felicie fort, um in der neuen Wohnung das Schlafzimmer zurechtzumachen. Bald darauf brach die kleine Tischgesellschaft auf. Frau Franz war längst am erloschenen Herdfeuer eingenickt. Aber der Hausknecht war wachgeblieben. Eine Laterne in der einen Hand, begleitete er Herrn und Frau Bovary nach Haus. In seinem roten Haar hing Häcksel, und auf einem Beine war er lahm. Den Schirm des Pfarrers, den er ihm noch hintragen sollte, in der andern Hand, ging er voran.
Der Ort lag in tiefem Schlafe. Die Säulen der Hallen auf dem Markte warfen lange Schatten über das Pflaster. Der Boden war hellgrau wie in einer Sommernacht. Da das Haus des Arztes nur fünfzig Schritte vom Goldnen Löwen entfernt lag, wünschte man sich alsbald gegenseitig Gute Nacht, und so schied man voneinander.
Als Emma die Hausflur ihres neuen Heims betrat, hatte sie die Empfindung, als lege sich ihr die Kühle der Wände wie feuchte Leinwand um die Schultern. Der Kalkbewurf war frisch. Die Holztreppen knarrten. In ihrem Zimmer, im ersten Stock, fiel fahles Licht durch die gardinenlosen Fenster. Sie sah draußen Baumwipfel und weiterhin in der Niederung das Wiesenland, ein Nebelmeer darüber. Das Mondlicht sickerte durch die aufwallenden Dämpfe.
Im Zimmer standen Kommodenkästen, Flaschen, Gardinenstangen, Möbelstücke und Geschirr kunterbunt umher. Die beiden Packer hatten alles so stehen und liegen lassen.
Zum vierten Male schlief Emma an einem ihr noch fremden Orte. Das erstemal war es am Tage ihres Eintritts ins Kloster gewesen, das zweitemal an dem ihrer Ankunft in Tostes, das drittemal im Schloß Vaubyessard und das vierte hier in Yonville. Jedesmal hatte ein neuer Abschnitt in ihrem Leben begonnen. Darum glaubte sie, daß sich die gleichen Dinge an verschiedenen Orten nicht wiederholen könnten; und da ihr bisheriges Stück Leben häßlich gewesen war, so müsse das, was sie noch zu erleben hatte, zweifellos schöner sein.
Am andern Morgen, als Emma kaum aufgestanden war, sah sie den Adjunkt über den Markt gehen. Sie war im Morgenkleid. Er schaute zu ihr herauf und grüßte. Sie nickte hastig mit dem Kopfe und schloß das Fenster.
Den ganzen Tag über konnte es Leo Düpuis kaum erwarten, daß es sechs schlug. Als er aber endlich in den Goldnen Löwen kam, fand er niemanden vor als den Steuereinnehmer, der bereits am Tische saß.
Das gestrige Mahl war für Leo ein bedeutungsvolles Ereignis. Bis dahin hatte er noch niemals zwei Stunden lang mit einer „Dame“ geplaudert. Wie hatte er es nur fertiggebracht, ihr eine solche Menge von Dingen und in so guter Form zu sagen? Das war ihm vordem unmöglich gewesen. Er war von Natur schüchtern und wahrte eine gewisse Zurückhaltung, die sich aus Schamhaftigkeit und Heuchelei zusammensetzt. Die Yonviller fanden sein Benehmen tadellos. Er hörte still zu, wenn ältere Herren disputierten, und zeigte sich in politischen Dingen keineswegs radikal, was an einem jungen Manne eine seltene Sache ist. Dazu besaß er allerlei Talent: er aquarellierte, er war musikalisch, er beschäftigte sich in seinen Mußestunden gern mit der Literatur, — wenn er nicht gerade Karten spielte. Der Apotheker schätzte ihn wegen seiner Kenntnisse, und Frau Homais war ihm wohlgewogen, weil er höflich und gefällig war; öfters widmete er sich nämlich im Garten ihren Kindern, kleinem Volk, das immer schmutzig aussah und sehr schlecht erzogen war und dessen Beaufsichtigung einmal dem Dienstmädchen und dann noch besonders dem Lehrling oblag, einem jungen Burschen, namens Justin. Er war ein entfernter Verwandter des Apothekers, von diesem aus Mitleid in seinem Haus aufgenommen, wo er eine Art „Mann für alles“ geworden war.
Homais spielte die Rolle des guten Nachbars. Er gab Frau Bovary die besten Adressen für ihre Einkäufe, ließ seinen Apfelweinlieferanten eigens für sie herkommen, beteiligte sich an der Weinprobe und gab persönlich acht, daß das bestellte Faß einen geeigneten Platz im Keller erhielt. Er verriet ihr die beste und billigste Butterquelle und bestellte ihr Lestiboudois, den Kirchendiener, als Gärtner; neben seinen Ämtern in Kirche und Gottesacker hielt dieser nämlich die Gärten der Honoratioren von Yonville instand; man engagierte ihn „stundenweise“ oder „aufs Jahr“, ganz wie es gewünscht wurde.
Diese Hilfsbereitschaft des Apothekers entsprang weniger einem Herzensbedürfnis als schlauer Berechnung. Homais hatte nämlich früher einmal gegen das Gesetz vom 19. Ventôse des Jahres XI verstoßen, wonach die ärztliche Praxis jedem verboten ist, der sich nicht im Besitze eines staatlichen Diploms befindet. Eines Tages war er auf eine geheimnisvolle Anzeige hin nach Rouen vor den Staatsanwalt geladen worden. Dieser Vertreter der Justiz hatte ihn in seinem Amtszimmer, stehend und in Amtsrobe, das Barett auf dem Kopfe, vernommen. Es war am Vormittag, unmittelbar vor einer Gerichtssitzung gewesen. Von draußen, vom Gange her, waren dem Apotheker die schweren Tritte der Schutzleute ins Ohr gehallt. Es war ihm, als hörte er fern das Aufschnappen wuchtiger Schlösser. Er bekam Ohrensausen und glaubte, der Schlag würde ihn rühren. Schon sah er sich im Kerker sitzen, seine Familie in Tränen, die Apotheke unter dem Hammer und seine Arzneiflaschen in alle vier Winde verstreut. Hinterher mußte er seine Lebensgeister in einem Kaffeehause mit einem Kognak in Selters wieder auf die Beine bringen.
Allmählich verblaßte die Erinnerung an diese Vermahnung, und Homais hielt von neuem in seinem Hinterstübchen ärztliche Sprechstunden ab. Da aber der Bürgermeister nicht sein Freund war und seine Kollegen in der Umgegend brotneidisch waren, bebte er in ewiger Angst vor einer neuen Anzeige. Indem er sich nun Bovary durch kleine Gefälligkeiten verpflichtete, wollte er sich damit ein Recht auf dessen Dankbarkeit erwerben und ihn mundtot machen, falls die Kurpfuschereien in der Apotheke abermals ruchbar würden. Er brachte dem Arzt alle Morgen den „Leuchtturm“, und oft verließ er nachmittags auf ein Viertelstündchen sein Geschäft, um ein wenig mit ihm zu schwatzen.
Karl war mißgestimmt. Es kamen keine Patienten. Ganze Stunden lang saß er vor sich hinbrütend da, ohne ein Wort zu sprechen. Er machte in seinem Sprechzimmer ein Schläfchen oder sah seiner Frau beim Nähen zu. Um sich ein wenig Beschäftigung zu machen, verrichtete er allerhand grobe Hausarbeit. Er versuchte sogar, die Bodentüre mit dem Rest von Ölfarbe anzupinseln, den die Anstreicher dagelassen hatten.
Am meisten drückte ihn seine Geldverlegenheit. Er hatte in Tostes eine beträchtliche Summe ausgegeben für neue Anschaffungen im Hause, für die Kleider seiner Frau und neuerdings für den Umzug. Die ganze Mitgift, mehr als dreitausend Taler, war in zwei Jahren daraufgegangen. Bei der Übersiedelung von Tostes nach Yonville war vieles beschädigt worden oder verloren gegangen, unter anderm der tönerne Mönch, der unterwegs vom Wagen heruntergefallen und in tausend Stücke zerschellt war.
Eine zartere Sorge lenkte ihn ab: die Mutterhoffnungen seiner Frau. Je näher diese ihrer Erfüllung entgegengingen, um so liebevoller behandelte er Emma. Diese sich knüpfenden neuen Bande von Fleisch und Blut machten das Gefühl der ewigen Zusammengehörigkeit in ihm immer inniger. Wenn er ihrem trägen Gange zusah, wenn er das allmähliche Vollerwerden ihrer miederlosen Hüften bemerkte, wenn sie müde ihm gegenüber auf dem Sofa saß, dann strahlten seine Blicke, und er konnte sich in seinem Glücke nicht fassen. Er sprang auf, küßte sie, streichelte ihr Gesicht, nannte sie „Mammchen“, wollte mit ihr im Zimmer herumtanzen und sagte ihr unter Lachen und Weinen tausend zärtliche, drollige Dinge, die ihm gerade in den Sinn kamen. Der Gedanke, Vater zu werden, war ihm etwas Köstliches. Jetzt fehlte ihm nichts mehr auf der Welt. Nun hatte er alles erlebt, was Menschen erleben können, und er durfte zufrieden und vergnügt sein.
In der ersten Zeit war Emma über sich selbst arg verwundert. Dann kam die Sehnsucht, von ihrem Zustande wieder befreit zu sein. Sie wollte wissen, wie es sein würde, wenn das Kind da war. Aber als sie kein Geld dazu hatte, eine Wiege mit rosa-seidnen Vorhängen und gestickte Kinderhäubchen zu kaufen, da überkam sie eine plötzliche Erbitterung; sie verlor die Lust, die Baby-Ausstattung selber sorglich auszuwählen, und überließ die Herstellung in Bausch und Bogen einer Näherin. So lernte sie die stillen Freuden dieser Vorbereitungen nicht kennen, die andre Mütter so zärtlich stimmen, und vielleicht war dies der Grund, daß ihre Mutterliebe von Anfang an gewisser Elemente entbehrte. Weil aber Karl bei allen Mahlzeiten immer wieder von dem Kinde sprach, begann auch Emma mehr daran zu denken.
Sie wünschte sich einen Sohn. Braun sollte er sein, und stark sollte er werden, und Georg müßte er heißen! Der Gedanke, einem männlichen Wesen das Leben zu schenken, kam ihr vor wie eine Entschädigung für alles das, was sich in ihrem eigenen Dasein nicht erfüllt hatte. Ein Mann ist doch wenigstens sein freier Herr. Ihm stehen alle Leidenschaften und alle Lande offen, er darf gegen alle Hindernisse anrennen und sich auch die allerfernsten Glückseligkeiten erobern. Ein Weib liegt an tausend Ketten. Tatenlos und doch genußfreudig, steht sie zwischen den Verführungen ihrer Sinnlichkeit und dem Zwang der Konvenienz. Wie den flatternden Schleier ihres Hutes ein festes Band hält, so gibt es für die Frau immer ein Verlangen, mit dem sie hinwegfliegen möchte, und immer irgendwelche herkömmliche Moral, die sie nicht losläßt.
An einem Sonntag kam das Kind zur Welt, früh gegen sechs Uhr, als die Sonne aufging.
„Es ist ein Mädchen!“ verkündete Karl.
Emma fiel im Bett zurück und ward ohnmächtig. Schon stellten sich auch Frau Homais und die Löwenwirtin ein, um die Wöchnerin zu umarmen. Der Apotheker rief ihr diskret ein paar vorläufige Glückwünsche durch die Türspalte zu. Er wollte die neue Erdenbürgerin besichtigen und fand sie wohlgeraten.
Während der Genesung grübelte Emma nach, welchen Namen das Kind bekommen sollte. Zunächst dachte sie an einen italienisch klingenden Namen: an Amanda, Rosa, Joconda, Beatrice. Sehr gefielen ihr Ginevra oder Leocadia, noch mehr Isolde. Karl äußerte den Wunsch, die Kleine solle nach der Mutter getauft werden, aber davon wollte Emma nichts wissen. Man nahm alle Kalendernamen durch und bat jeden Besucher um einen Vorschlag.
„Herr Leo,“ berichtete der Apotheker, „mit dem ich neulich darüber gesprochen habe, wundert sich darüber, daß Sie nicht den Namen Magdalena wählen. Der sei jetzt sehr in Mode.“ Aber gegen die Patenschaft einer solchen Sünderin sträubte sich die alte Frau Bovary gewaltig. Homais für seine Person hegte eine Vorliebe für Namen, die an große Männer, berühmte Taten und hohe Werke erinnerten. Nach dieser Theorie habe er seine vier eigenen Sprößlinge getauft: Napoleon (der Ruhm!), Franklin (die Freiheit!), Irma (ein Zugeständnis an die Romantik!) und Athalia (zu Ehren des Meisterstücks des französischen Dramas!). Seine philosophische Überzeugung, sagte er, stehe seiner Bewunderung der Kunst nicht im Wege. Der Denker in ihm ersticke durchaus nicht den Gefühlsmenschen. Er verstünde sich darauf, das eine vom andern zu scheiden und sich vor fanatischer Einseitigkeit zu bewahren.
Zu guter Letzt fiel Emma ein, daß sie im Schloß Vaubyessard gehört hatte, wie eine junge Dame von der Marquise mit „Berta-Luise“ angeredet worden war. Von diesem Augenblick an stand die Namenswahl fest. Da Vater Rouault zu kommen verhindert war, wurde Homais gebeten, Gevatter zu stehen. Er stiftete als Patengeschenk allerlei Gegenstände aus seinem Geschäft, als wie: sechs Schachteln Brusttee, eine Dose Kraftmehl, drei Büchsen Marmelade und sechs Päckchen Malzbonbons.
Am Taufabend gab es ein Festessen, zu dem auch der Pfarrer erschien. Man geriet in Stimmung. Beim Likör gab der Apotheker ein patriotisches Lied zum besten, worauf Leo Düpuis eine Barkarole vortrug und die alte Frau Bovary (Patin des Kindes) eine Romanze aus der Napoleonischen Zeit sang. Der alte Herr Bovary bestand darauf, daß das Kind heruntergebracht wurde, und taufte die Kleine „Berta“, indem er ihr ein Glas Sekt von oben über den Kopf goß. Den Abbé Bournisien ärgerte diese Profanation einer kirchlichen Handlung, und als der alte Bovary ihm gar noch ein spöttisches Zitat vorhielt, wollte der Geistliche fortgehen. Aber die Damen baten ihn inständig zu bleiben, und auch der Apotheker legte sich ins Mittel. So gelang es, den Priester wieder zu beruhigen. Friedlich langte er von neuem nach seiner halbgeleerten Kaffeetasse.
Bovary senior blieb noch volle vier Wochen in Yonville und verblüffte die Yonviller durch das prächtige Stabsarztskäppi mit Silbertressen, das er vormittags trug, wenn er seine Pfeife auf dem Marktplatze schmauchte. Als gewohnheitsmäßiger starker Schnapstrinker schickte er das Dienstmädchen häufig in den Goldnen Löwen, um seine Feldflasche füllen zu lassen, was selbstverständlich auf Rechnung seines Sohnes erfolgte. Um seine Halstücher zu parfümieren, verbrauchte er den gesamten Vorrat an Kölnischem Wasser, den seine Schwiegertochter besaß.
Ihr selbst war seine Anwesenheit keineswegs unangenehm. Er war in der Welt herumgekommen. Er erzählte von Berlin, Wien, Straßburg, von seiner Soldatenzeit, seinen Liebschaften, den Festlichkeiten, die er dereinst mitgemacht hatte. Dann war er wieder ganz der alte Schwerenöter, und zuweilen, im Garten oder auf der Treppe, faßte er Emma um die Taille und rief aus: „Karl, nimm dich in acht!“
Die alte Frau Bovary sah dergleichen voller Angst um das Eheglück ihres Sohnes. Sie fürchtete, ihr Mann könne am Ende einen unsittlichen Einfluß auf die Gedankenwelt der jungen Frau ausüben, und so betrieb sie die Abreise. Vielleicht war ihre Besorgnis noch schlimmer. Dem alten Herrn war alles zuzutrauen.
Emma hatte das Kind zu der Frau eines Tischlers namens Rollet in die Pflege gegeben. Eines Tages empfand sie plötzlich Sehnsucht, das kleine Mädchen zu sehen. Unverzüglich machte sie sich auf den Weg zu diesen Leuten, deren Häuschen ganz am Ende des Ortes, zwischen der Landstraße und den Wiesen, in der Tiefe lag.
Es war Mittag. Die Fensterläden der Häuser waren alle geschlossen. Die sengende Sonne brütete über den Schieferdächern, deren Giebellinien richtige Funken sprühten. Ein schwüler Wind wehte. Emma fiel das Gehen schwer. Das spitzige Pflaster tat ihren Füßen weh. Sie ward sich unschlüssig, ob sie umkehren oder irgendwo eintreten und sich ausruhen sollte.
In diesem Augenblick trat Leo aus dem nächsten Hause heraus, eine Aktenmappe unter dem Arme. Er kam auf sie zu, begrüßte sie und stellte sich mit ihr in den Schatten der Leinwandmarkise vor dem Lheureuxschen Modewarenladen.
Frau Bovary erzählte ihm, daß sie nach ihrem Kinde sehen wollte, aber müde zu werden beginne.
„Wenn ...“, fing Leo an, wagte aber nicht weiterzusprechen.
„Haben Sie etwas vor?“ fragte Emma. Auf die Verneinung des Adjunkten hin bat sie ihn, sie zu begleiten. (Bereits am Abend desselben Tages war dies stadtbekannt, und Frau Tüvache, die Bürgermeistersgattin, erklärte in Gegenwart ihres Dienstmädchens, Frau Bovary habe sich kompromittiert.)
Um zu der Amme zu gelangen, mußten die beiden am Ende der Hauptstraße links abgehen und einen kleinen Fußweg einschlagen, der zwischen einzelnen kleinen Häusern und Gehöften in der Richtung auf den Gemeindefriedhof hinlief. Die Weiden, die den Pfad umsäumten, blühten, und es blühten die Veroniken, die wilden Rosen, die Glockenblumen und die Brombeersträucher. Durch Lücken in den Hecken erblickte man hie und da auf den Misthaufen der kleinen Gehöfte ein Schwein oder eine angebundne Kuh, die ihre Hörner an den Stämmen der Bäume wetzte.
Seite an Seite wandelten sie gemächlich weiter. Emma stützte sich auf Leos Arm, und er verkürzte seine Schritte nach den ihren. Vor ihnen her tanzte ein Mückenschwarm und erfüllte die warme Luft mit ganz leisem Summen.
Emma erkannte das Haus an einem alten Nußbaum wieder, der es umschattete. Es war niedrig und hatte braune Ziegel auf dem Dache. Aus der Luke des Oberbodens hing ein Kranz von Zwiebeln. Eine Dornenhecke umfriedigte ein viereckiges Gärtlein mit Salat, Lavendel und blühenden Schoten, die an Stangen gezogen waren. An der Hecke waren Reisigbunde aufgeschichtet. Ein trübes Wässerchen rann sich verzettelnd durch das Gras; allerhand kaum noch verwendbare Lumpen, ein gestrickter Strumpf und eine rote baumwollene Jacke lagen auf dem Rasen umher, und über der Hecke flatterte ein großes Stück Leinwand.
Beim Knarren der Gartentüre erschien die Tischlersfrau, ein Kind an der Brust, ein andres an der Hand, ein armseliges, schwächlich aussehendes, skrofulöses Jüngelchen. Es war das Kind eines Mützenmachers in Rouen, das die von ihrem Geschäft zu sehr in Anspruch genommenen Eltern auf das Land gegeben hatten.
„Kommen Sie nur herein!“ sagte die Frau. „Ihre Kleine schläft drinnen.“
In der einzigen Stube im Erdgeschoß stand an der hinteren Wand ein großes Bett ohne Vorhänge. Die Seite am Fenster, in dem eine der Scheiben mit blauem Papier verklebt war, nahm ein Backtrog ein. In der Ecke hinter der Türe standen unter der Gosse Stiefel mit blanken Nägeln, daneben eine Flasche Öl, aus deren Hals eine Feder herausragte. Auf dem verstaubten Kaminsims lagen ein Wetterkalender, Feuersteine, Kerzenstümpfe und ein paar Fetzen Zündschwamm. Ein weiteres Schmuckstück dieses Gemachs war eine „trompetende Fama“, offenbar das Reklameplakat einer Parfümfabrik, das mit sechs Schuhzwecken an die Wand genagelt war.
Emmas Töchterchen schlief in einer Wiege aus Weidengeflecht. Sie nahm es mit der Decke, in die es gewickelt war, empor und begann es im Arme hin und her zu wiegen, wobei sie leise sang.
Leo ging im Zimmer auf und ab. Die schöne Frau in ihrem hellen Sommerkleide in dieser elenden Umgebung zu sehen, kam ihm seltsam vor. Sie ward plötzlich rot. Er wandte sich weg, weil er dachte, sein Blick sei vielleicht zudringlich gewesen. Sie legte das Kind wieder in die Wiege. Es hatte sich erbrochen, und die Mutter am Halskragen beschmutzt. Die Amme eilte herbei, um die Flecke abzuwischen. Sie beteuerte, man sähe nichts mehr davon.
„Mir kommt sie noch ganz anders!“ meinte die Frau. „Ich habe weiter nichts zu tun, als sie immer wieder zu säubern. Wenn Sie doch so gut sein wollten und den Kaufmann Calmus beauftragten, daß ich mir bei ihm ein bißchen Seife holen kann, wenn ich welche brauche. Das wäre auch für Sie das bequemste. Ich brauche Sie dann nicht immer zu stören.“
„Meinetwegen!“ sagte Emma. „Auf Wiedersehn, Frau Rollet!“
Beim Hinausgehen schüttelte sie sich.
Die Frau begleitete die beiden bis zum Ende des Hofes, wobei sie in einem fort davon sprach, wie beschwerlich es sei, nachts so häufig aufstehen zu müssen. „Manchmal bin ich früh so zerschlagen, daß ich im Sitzen einschlafe. Drum sollten Sie mir ein Pfündchen gemahlenen Kaffee zukommen lassen. Wenn ich ihn früh mit Milch trinke, reiche ich damit vier Wochen.“
Nachdem Frau Bovary die Dankesbeteuerungen der Frau über sich hatte ergehen lassen, verabschiedete sie sich. Aber kaum war sie mit ihrem Begleiter ein Stück auf dem Fußwege gegangen, als sie das Klappern von Holzpantoffeln hinter sich vernahm. Sie drehte sich um. Es war die Amme.
„Was wollen Sie noch?“
Die Frau zog Emma bis hinter eine Ulme beiseite und fing an, von ihrem Manne zu erzählen. „Bei seinem Handwerke und seinen sechs Franken Pension im Jahre ...“
„Machen Sie rasch!“ unterbrach Emma ihren Wortschwall.
„Ach, liebste Frau Doktor,“ fuhr die Frau fort, indem sie zwischen jedes ihrer Worte einen Seufzer schob, „ich habe Angst, er wird böse, wenn er sieht, daß ich allein für mich Kaffee trinke. Sie wissen, wie die Männer sind ...“
„Sie sollen ja welchen haben, ich will Ihnen ja welchen schicken! Sie langweilen mich.“
„Ach, meine liebe, gute Frau Doktor, 's ist ja bloß für die schrecklichen Brustschmerzen, die er immer von wegen der alten Wunde kriegt. Der Apfelwein bekommt ihm gar nicht gut ...“
„Na, was wollen Sie denn noch?“ fragte Emma.
„Wenn es also,“ fuhr die Frau fort, indem sie einen Knicks machte, „wenn es also nicht zuviel verlangt ist ...“ Sie machte abermals einen tiefen Knicks. „Wenn Sie so gut sein wollen ...“
Ihre Augen bettelten gottsjämmerlich. Endlich bekam sie es heraus:
„Ein Bullchen Branntwein! Ich könnte damit auch die Füße Ihrer Kleinen ein bißchen einreiben. Sie sind so riesig zart ...“
Nachdem sich Emma endlich von der Frau losgemacht hatte, nahm sie Leos Arm. Eine Zeitlang schritten sie flott vorwärts. Dann wurde sie langsamer, und Emmas Blick, der bisher geradeaus gegangen war, glitt über die Schulter ihres Begleiters. Er hatte einen schwarzen Samtkragen auf seinem Rocke, auf den sein kastanienbraunes wohlgepflegtes Haar schlicht herabwallte. Die Nägel an seiner Hand fielen ihr auf; sie waren länger, als man sie in Yonville sonst trug. Ihre Pflege war eine der Hauptbeschäftigungen des Adjunkten; er besaß dazu besondre Instrumente, die er in seinem Schreibtische aufbewahrte.
Am Ufer des Baches gingen sie nach dem Städtchen zurück. Jetzt in der heißen Jahreszeit war der Wasserstand so niedrig, daß man drüben die Gartenmauern bis auf ihre Grundlage sehen konnte. Von den Gartenpforten führten kleine Treppen in das Wasser. Es floß lautlos und rasch dahin, Kühle verbreitend. Hohe, dünne Gräser neigten sich zur klaren Flut und ließen sich von der Strömung treiben; das sah aus wie ausgelöstes, langes, grünes Haar. Hin und wieder liefen oder schliefen Insekten auf den Spitzen der Binsen und auf den Blättern der Wasserrosen. In den kleinen blauen Wellen, im Zerfließen schon wieder neugeboren, glitzerte die Sonne. Die verschnittenen alten Weiden spiegelten ihre grauen Stämme auf dem Wasser. Und hüben die weiten Wiesen lagen so verlassen ...
Es war die Stunde, da man in den Gutshöfen zu Mittag ißt. Die junge Frau und ihr Begleiter vernahmen jetzt nichts als den Klang ihrer eignen Tritte auf dem harten Pfade und die Worte, die sie redeten, und das leise Rascheln von Emmas Kleid.
Die oben mit Glasscherben bespickten Gartenmauern, an denen sie nach Überschreitung eines Stegs hingingen, glühten wie die Scheiben eines Treibhauses. Zwischen den Steinen sprossen Mauerblumen. Im Vorübergehen stieß Frau Bovary mit dem Rande ihres Sonnenschirmes an die welken Blüten; gelber Staub rieselte herab. Ab und zu streifte eine überhängende Jelänger-jelieber- oder Klematis-Ranke die Seide ihres Schirmes und blieb einen Augenblick in den Spitzen hängen.
Sie plauderten von einer Truppe spanischer Tänzer, die demnächst im Rouener Theater gastieren sollte.
„Werden Sie hinfahren?“ fragte Emma.
„Wenn ich kann, ja!“
Hatten sie sich wirklich nichts andres zu sagen? Ihre Augen sprachen eine viel ernstere Sprache, und während sie sich mit so banalen Redensarten abquälten, fühlten sie sich alle beide im Banne der nämlichen schwülen Sehnsucht. Ein leiser, seelentiefer Unterton dominierte heimlich ohne Unterlaß in ihrem oberflächlichen Gespräch. Betroffen von diesem ungewohnten süßen Zauber, dachten sie aber gar nicht daran, einander ihre Empfindungen zu offenbaren oder ihnen auf den Grund zu gehen. Künftiges Glück ist wie ein tropisches Gestade: es sendet weit über den Ozean, der noch dazwischen liegt, seinen lauen Erdgeruch herüber, balsamischen Duft, von dem man sich berauschen läßt, ohne den Horizont nach dem Woher zu fragen.
An einer Stelle des Weges stand Regenwasser in den Wagengeleisen und Hufspuren; man mußte ein paar große moosbewachsene Steine, die Inseln in diesem Morast bildeten, begehen. Auf jedem blieb Emma eine Weile stehen, um zu erspähen, wohin sie den nächsten Schritt zu machen hatte. Wenn der Stein wackelte, zog sie die Ellbogen hoch und beugte sich vornüber. Aber bei aller Hilflosigkeit und Angst, in den Tümpel zu treten, lachte sie doch.
Vor ihrem Garten angelangt, stieß Frau Bovary die kleine Pforte auf, stieg die Stufen hinauf und verschwand. Leo begab sich in seine Kanzlei. Der Notar war abwesend. Der Adjunkt blätterte in einem Aktenhefte, schnitt sich eine Feder zurecht, schließlich ergriff er aber seinen Hut und ging wieder. Er stieg die Höhe von Argueil ein Stück hinauf, nach dem „Futterplatz“ am Waldrande. Dort legte er sich unter eine Tanne und starrte in das Himmelsblau, die Hände locker über den Augen.
„Ach, ist das langweilig! Ist das langweilig!“ seufzte er.
Er fand das Dasein in diesem Neste jammervoll, mit Homais als Freund und Guillaumin als Chef. Dem letzteren, diesem gräßlichen Kanzleimenschen mit seiner goldnen Brille, seinem roten Backenbart, seiner ewigen weißen Krawatte, dem mangelte auch der geringste Sinn für höhere Dinge. Es war nur in der ersten Zeit gewesen, daß er dem Adjunkten mit seinen formellen Diplomatenmanieren imponiert hatte. Wen gab es weiter in Yonville? Die Frau des Apothekers. Die war weit und breit die beste Gattin, sanft wie ein Lamm, brav und treu zu Kindern, Vater, Mutter, Vettern und Basen. Keinen Menschen konnte sie leiden sehen, und in der Wirtschaft ließ sie alles drunter und drüber gehn. Sie war eine Feindin des Korsetts, sah sehr gewöhnlich aus und war in ihrer Unterhaltung höchst beschränkt. Alles in allem war sie eine ebenso harmlose wie langweilige Dame. Obgleich sie dreißig Jahre alt war und er zwanzig, obwohl er Tür an Tür mit ihr schlief und obgleich er täglich mit ihr sprach, war es ihm doch noch nie in den Sinn gekommen, daß sie irgendjemandes Frau sein könne und mit ihren Geschlechtsgenossinnen mehr gemeinsam habe als die Röcke.
Und wen gab es außerdem noch? Den Steuereinnehmer Binet, ein paar Kaufleute, zwei oder drei Kneipwirte, den Pfaffen, dann den Bürgermeister Tüvache und seine beiden Söhne, großprotzige, mürrische, stumpfsinnige Kerle, die ihre Äcker selber pflügten, unter sich Gelage veranstalteten, scheinheilige Duckmäuser, mit denen zu verkehren glatt unmöglich war.
Von dieser Masse alltäglicher Leute hob sich Emmas Gestalt ab, einsam und doch unerreichbar. Ihm wenigstens war es, als lägen tiefe Abgründe zwischen ihr und ihm. In der ersten Zeit hatte er Bovarys hin und wieder zusammen mit Homais besucht, aber er hatte die Empfindung, als sei der Arzt durchaus nicht davon erbaut, ihn bei sich zu sehen, und so schwebte Leo immer zwischen der Furcht, für aufdringlich gehalten zu werden, und dem Verlangen nach einem vertraulichen Umgang, der ihm so gut wie unmöglich schien.
Sobald es herbstlich zu werden begann, siedelte Emma aus ihrem Zimmer in die Große Stube über, einem länglichen niedrigen Raume im Erdgeschosse. Gewöhnlich saß sie am Fenster in ihrem Lehnstuhle und betrachtete die Leute, die draußen vorübergingen.
Leo kam täglich zweimal vorbei, auf seinem Wege nach dem Goldnen Löwen und zurück. Seine Tritte erkannte Emma schon von weitem. Sie neigte sich jedesmal vor und lauschte, und der junge Mann glitt an der Scheibengardine vorüber, immer tadellos gekleidet und ohne den Kopf zu wenden. Oft aber in der Dämmerung, wenn sie, auf dem Schoße die begonnene Stickerei, verträumt dasaß, überlief sie ein Schauer beim plötzlichen Vorübergleiten seines Schattens. Dann fuhr sie auf und befahl das Essen.
Der Apotheker kam mitunter während der Tischzeit. Sein Käppchen in der Hand, trat er geräuschlos ein, um ja niemanden zu stören, jedesmal mit derselben Redensart: „Guten Abend, die Herrschaften!“ Er setzte sich an den Tisch zwischen das Ehepaar und fragte den Arzt, ob er neue Patienten habe, worauf sich Bovary seinerseits erkundigte, ob diese auch zahlungsfähig seien. Sodann unterhielten sich die beiden über das, was in der Zeitung gestanden hatte. Um diese Stunde wußte Homais sie bereits auswendig. Er rekapitulierte sie von Anfang bis zu Ende: den Leitartikel genau so wie alle darin berichteten merkwürdigen Vorgänge des In- und Auslands. Wenn auch dieser Gesprächsstoff erschöpft war, konnte er ein paar Bemerkungen über die Gerichte auf dem Tische nicht unterdrücken. Manchmal erhob er sich sogar ein wenig und machte Frau Bovary artig auf das zarteste Stück Fleisch aufmerksam, oder er wandte sich an das Dienstmädchen und gab ihr Ratschläge über die Zubereitung eines Ragouts oder über die richtige Verwendung der Gewürze. Er verstand mit erstaunlicher Fachkenntnis über aromatische Zutaten, Fleischertrakte, Saucen und Säfte zu sprechen. Er hatte in seinem Kopfe mehr Rezepte als Arzneiflaschen in seiner Apotheke. In der Herstellung von Konfitüren, Weinessig und süßen Likören war er ein Meister. Ferner kannte er auch alle neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Küchenökonomie, nicht minder das beste Verfahren, Käse zu konservieren und verdorbne Weine wieder verwendbar zu machen.
Um acht Uhr erschien Justin, der Lehrling, um seinen Herrn zum Schließen des Ladens zu holen. Homais pflegte ihm einen pfiffigen Blick zuzuwerfen, zumal wenn Felicie zufällig im Zimmer war. Er kannte nämlich die Vorliebe seines Famulusses für das Haus des Arztes.
„Der Schlingel setzt sich Allotria in den Kopf!“ meinte er. „Der Teufel soll mich holen: ich glaub, er hat sich in Ihr Dienstmädel verguckt!“
Übrigens machte er ihm noch einen schwereren Vorwurf: er horche auf alles, was in seinem Hause gesprochen würde. Beispielsweise sei er an den Sonntagen nicht aus dem Salon hinauszubringen, wenn er die schon halb eingeschlafenen Kinder hole, um sie ins Bett zu schaffen.
An diesen Sonntagsabenden erschienen übrigens nur wenige Gäste. Homais hatte sich nach und nach mit verschiedenen Hauptpersönlichkeiten des Ortes wegen seiner Klatschsucht und seiner politischen Ansichten überworfen. Aber der Adjunkt stellte sich regelmäßig ein. Sobald er die Haustürklingel hörte, eilte er Frau Bovary entgegen, nahm ihr das Umschlagetuch ab und die Überschuhe, die sie bei Schnee trug.
Zunächst machte man ein paar Partien Dreiblatt, sodann spielten Emma und der Apotheker Ecarté. Leo stand hinter ihr und half ihr. Die Hände auf die Rückenlehne ihres Stuhles gestützt, betrachtete er sich die Zinken des Kammes, der ihr Haar zusammenhielt. Bei jeder ihrer Bewegungen während des Kartenspiels raschelte ihr Kleid. Im Nacken, unterhalb des heraufgesteckten Haares, hatte ihre Haut einen bräunlichen Farbenton, der sich nach dem Rücken zu aufhellte und im Schatten des Kragens verschwamm. Ihr Rock bauschte sich zu beiden Seiten des Stuhlsitzes auf; er schlug eine Menge Falten und bedeckte ein Stück des Bodens. Wenn Leo hin und wieder aus Versehen mit der Sohle seines Schuhes darauf geriet, zog er den Fuß rasch zurück, als habe er einen Menschen getreten.
Wenn die Partie zu Ende war, begannen Homais und Karl Domino zu spielen. Emma setzte sich dann an das andre Ende des Tisches und sah sich, die Ellbogen aufgestützt, die „Illustrierte Zeitung“ an. Oft hatte sie auch ihren „Bazar“ mitgebracht. Leo nahm neben ihr Platz. Sie betrachteten zusammen die Holzschnitte und warteten mit dem Umblättern aufeinander. Manchmal bat sie ihn, Gedichte vorzulesen. Leo trug mit langsamer Stimme vor, die bei verliebten Stellen flüsternd wurde. Das Klappern der Dominosteine störte ihn. Der Apotheker war ein gerissener Spieler und hatte dabei auch noch unverschämtes Glück. Wenn die dreihundert Points erreicht waren, setzten sich die Spieler an den Kamin, und es dauerte nicht lange, da waren sie alle beide eingenickt. Das Feuer im Kamin war im Erlöschen, die Teekanne leer. Leo las weiter, und Emma hörte ihm zu, wobei sie halb unbewußt in einem fort den Lampenschirm herumdrehte, auf dessen dünnen Kattun Pierrots in einer Kutsche und Seiltänzerinnen mit Balancierstangen aufgedruckt waren. Mit einem Male hielt der Leser inne und wies durch eine Geste auf die eingeschlafene Zuhörerschaft, und nun sprachen sie lispelnd miteinander. Diese leise Plauderei dünkte beide um so süßer, als niemand ihrer lauschte.
So bestand zwischen ihnen eine gewisse Gemeinschaft und ein fortwährender Austausch von Romanen und Gedichtbüchern. Karl, der keine Neigung zur Eifersucht besaß, hatte nichts dagegen. Zu seinem Geburtstage bekam er einen phrenologischen Schädel, der über und über mit blauen Linien und Zeichen bedeckt war, eine Aufmerksamkeit Leos. Andre folgten. Er fuhr sogar mitunter nach Rouen, um dort Besorgungen für das Ehepaar zu machen. Als infolge eines Moderomans die Kakteen in Beliebtheit kamen, brachte er ein Exemplar, das er während der Fahrt in der Post vor sich auf den Knien hielt. Das stachlige Ding zerstach ihm alle Finger.
Emma ließ vor ihrem Fenster ein kleines Blumenbrett für ihre Blumentöpfe anbringen, ganz so, wie der Adjunkt eins hatte. Beim Begießen ihrer Blumen sahen sich die beiden.
Eines Abends, als Leo nach Haus kam, fand er in seinem Zimmer eine Reisedecke aus mattfarbenem Samt, auf dem mir Seide und Wolle Blumen und Blätter gestickt waren. Er zeigte sie Frau Homais, dem Apotheker, dem Lehrling, den Kindern und der Köchin; sogar seinem Chef erzählte er davon. Alle Welt wollte nun die Decke sehen. Aber warum machte die Frau des Doktors dem Adjunkten so kostbare Geschenke? Das war doch sonderbar. Und alsobald stand es unumstößlich fest: sie war „seine gute Freundin.“
Leo verstärkte unvorsichtigerweise diesen Klatsch, weil er unaufhörlich und vor jedermann von Emmas Schönheit und Klugheit schwärmte. Binet wurde ihm deshalb einmal gehörig grob:
„Was geht mich denn das an? Ich gehöre nicht zu der Clique!“
Der Verliebte marterte sich mit Grübeleien ab, wie er sich Emma erklären könne. Er schwankte fortwährend zwischen der Furcht, sich ihren Unwillen zuzuziehen, und der Scham über seine Feigheit. Er vergoß Tränen ob seiner Mutlosigkeit und seiner Sehnsucht. Oft genug entschloß er sich zu kühner Entscheidung. Er schrieb Briefe, die er wieder zerriß; nahm sich Tage der Tat vor, die er dann doch verstreichen ließ. Manchmal ging er mir dem festen Vorsatz zu ihr, alles zu wagen; aber in ihrer Gegenwart verlor er alsbald den Mut, und wenn gar Karl dazukam und ihn einlud, sich mit in den Dogcart zu setzen, um irgendeinen Patienten in der Umgegend zu besuchen, war er sofort dazu bereit. Dann sagte er der „gnädigen Frau“ adieu und fuhr mit. War nicht ihr Mann auch ein Stück von ihr?
Emma ihrerseits fragte sich gar nicht, ob sie Leo liebe. Es war ihr Glaube, daß die Liebe mit einem Male dasein müsse, unter Donner und Blitz, wie ein Sturm aus blauem Himmel, der die Menschen packt und erschüttert, ihnen den freien Willen entreißt, wie einem Baum das Laub, und das ganze Herz in den Abgrund schwemmt. Sie wußte nicht, daß der Regen auf den flachen Dächern der Häuser Seen bildet, wenn die Traufen verstopft sind. Und so wäre sie in ihrem Selbstbetrug verblieben, wenn sie nicht mit einem Male den Riß in der Mauer bemerkt hätten.
Es war an einem Sonntag nachmittag im Februar. Es schneite.
Herr und Frau Bovary, der Apotheker und Leo hatten zusammen einen Ausflug unternommen, um eine neu errichtete Leineweberei, eine halbe Stunde talabwärts von Yonville, zu besichtigen. Napoleon und Athalia waren mitgenommen worden, weil sie Bewegung haben sollten; und auch Justin war dabei, ein Bündel Regenschirme auf der Schulter.
Die neue Sehenswürdigkeit war eigentlich nichts weniger als sehenswert. Um einen großen öden Platz, auf dem zwischen Sand- und Steinhaufen bereits ein paar verrostete Maschinenräder lagen, zog sich im Viereck ein Gebäude mit einer Menge kleiner Fenster hin. Es war noch nicht ganz vollendet; durch den ungedeckten Dachstuhl erblickte man den grauen Himmel. An einem Giebelhaken hing ein Hebefestkranz aus Stroh und Ähren mit einem im Winde flatternden weiß-rot-blauen Wimpel.
Homais machte den Führer. Er erklärte der Gesellschaft die künftige Bedeutung des Etablissements und schätzte die Stärke der Balken und die Dicke der Mauern, wobei er sehr bedauerte, kein Metermaß bei sich zu haben.
Emma hatte sich bei ihm eingehängt. Sie stützte sich ein wenig auf seinen Arm und schaute träumerisch in die Ferne nach der Sonnenscheibe, deren mattes rotes Licht mit dem Nebel kämpfte. Plötzlich wandte sie sich ab. Da stand ihr Mann. Er hatte seine Mütze bis auf die Augenbrauen ins Gesicht hereingezogen. Seine dicken Lippen zitterten vor Frost, was ihm einen blöden Zug verlieh. Sogar seine Hinteransicht, sein behäbiger Rücken ärgerte sie. Sie fand, die breite Fläche seines Mantels kennzeichne die ganze Plattheit von Karls Persönlichkeit.
Während sie ihn so verächtlich musterte, genoß sie eine gewisse perverse Wollust. Da kam Leo an sie heran. Die Kälte machte ihn bleich, was in sein Gesicht etwas Schmachtendes, Sanftes brachte. Sein vorn offener Kragen ließ zwischen Krawatte und Hals ein Stück Haut sehen; von seinem Ohr lugte ein Teilchen zwischen den Strähnen seines Haars hervor, und seine großen blauen Augen, die zu den Wolken aufschauten, kamen Emma viel klarer und schöner vor als in den Gedichten die Bergseen, in denen sich der Himmel spiegelt.
„Rabenkind!“ schrie plötzlich der Apotheker und schoß auf seinen Jungen los, der eben in ein Kalkloch gesprungen war, um schöne weiße Schuhe zu bekommen. Als er tüchtig ausgescholten wurde, begann er laut zu heulen. Justin versuchte, ihm die Stiefelchen mit einem Strohwisch zu reinigen, aber ohne Messer ging das nicht. Karl bot ihm seins an.
„Unerhört!“ dachte Emma bei sich. „Er trägt ein Messer in der Tasche wie ein Bauer!“
Die neblige Luft wurde immer feuchter. Man machte sich auf den Heimweg nach Yonville.
An diesem Abend ging Emma nicht mit zu den Nachbarsleuten hinüber. Als ihr Mann fort war und sie sich allein wußte, begann sie die beiden Männer von neuem zu vergleichen, und der andere stand in geradezu sinnlicher Deutlichkeit vor ihr, mit der eigentümlichen Linienveränderung, die das menschliche Gedächtnis vornimmt. Von ihrem Bette aus sah sie die lichte Glut im Kamin und daneben — ganz so wie vor ein paar Stunden — Leo, den Freund. Er stand da, in gerader Haltung, in der rechten Hand den Spazierstock, und führte an der andern Athalia, die bedächtig an einem Eiszapfen saugte. Diese Szene hatte ihr gefallen, und sie konnte von diesem Bilde nicht loskommen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er an andern Tagen ausgesehen hatte, welche Worte er gesagt, in welchem Tone. Wie sein Wesen überhaupt sei ...
Die Lippen wie zum Kusse gerundet, flüsterte sie immer wieder vor sich hin: „Ach, süß, süß!“ Und dann fragte sie sich: „Ob er eine liebt? Aber wen? Ach, mich, mich!“
Mit einem Male sprach alles dafür. Das Herz schlug ihr vor Freude. Die Flammen im Kamin warfen auf die Decke fröhliche Lichter. Emma legte sich auf den Rücken und breitete ihre Arme weit aus.
Dann aber hob sie ihr altes Klagelied an: „Ach, warum hat es der Himmel so gewollt? Warum nicht anders? Aus welchem Grunde?“
Als Karl um Mitternacht heimkam, stellte sie sich so, als wache sie auf; und als er sich etwas geräuschvoll auszog, klagte sie über Kopfschmerzen. Ganz nebenbei fragte sie aber, wie der Abend verlaufen sei.
„Leo ist heute zeitig gegangen“, erzählte Karl.
Sie mußte lächeln, und mit dem Gefühl einer ungeahnten Glückseligkeit schlummerte sie ein.
Am andern Tage, gegen Abend, empfing sie den Besuch des Herrn Lheureux, des Modewarenhändlers. Der war, wie man zu sagen pflegt, mit allen Hunden gehetzt. Obgleich ein geborener Gascogner, war er doch ein vollkommener Normanne geworden; er einte in sich die lebhafte Redseligkeit des Südländers und die nüchterne Verschlagenheit seiner neuen Landsleute. Sein feistes, aufgeschwemmtes und bartloses Gesicht sah aus, als sei es mit Süßholztinktur gefärbt, und sein weißes Haar brachte den scharfen Glanz seiner munteren schwarzen Augen noch mehr zur Wirkung. Was er früher getrieben, wußte man nicht. Manche munkelten, er sei Hausierer gewesen, andre sagten, Geldwechsler in Routot. Etwas aber stand fest: er konnte im Kopfe die schwierigsten Berechnungen ausführen. Selbst Binet kam dies unheimlich vor. Dabei war er kriechend höflich; er lief in immer halb gebückter Haltung herum, als ob er jemanden grüßen oder einladen wollte.
Seinen mit einem Trauerflor versehenen Hut legte er an der Türe ab, stellte einen grünen Pappkasten auf den Tisch und begann sich dann unter tausend Floskeln bei Frau Bovary zu beklagen, daß er ihre Kundschaft noch immer nicht gewonnen habe. Allerdings sei eine „armselige Butike“ wie die seine nicht gerade verlockend für eine „elegante Dame“. Diese beiden Worte betonte er ganz besonders. Aber sie brauche nur zu befehlen, er mache sich anheischig, ihr alles nach Wunsch zu besorgen, Kurzwaren, Wäsche, Strümpfe, Modewaren, was sie brauche. Er fahre regelmäßig viermal im Monat nach der Stadt und stehe mit den ersten Firmen in Verbindung. Sie könne sich überall nach ihm erkundigen. Heute komme er nur ganz im Vorübergehen, um der gnädigen Frau ein paar feine Sachen zu zeigen, die er durch einen ganz besonders günstigen Gelegenheitskauf erworben hätte. Dabei packte er aus dem Kasten ein halbes Dutzend gestickter Halskragen.
Frau Bovary besah sie sich.
„Ich brauche nichts“, bemerkte sie.
Nunmehr kramte der Händler behutsam drei algerische Seidentücher aus, mehrere Pakete englischer Nähnadeln, ein paar strohgeflochtne Pantoffeln und schließlich vier Eierbecher aus Kokosnußschale, filigranartige Schnitzarbeiten von Sträflingen. Sich mit beiden Händen auf den Tisch stützend, mit langem Hals und offnem Mund, beobachtete er Emmas Augen, die unentschlossen in all diesen Gegenständen herumsuchten. Von Zeit zu Zeit strich er mit dem Fingernagel über die lang hingebreiteten Tücher, als wolle er ein Stäubchen entfernen; die Seide knisterte leise, und das grünliche Dämmerlicht glitzerte auf den Goldfäden des Gewebes in sternigen Funken.
„Was kostet so ein Tuch?“ fragte Emma.
„Ein paar Groschen!“ antwortete er. „Ein paar Groschen! Aber das eilt ja nicht. Ganz wanns Ihnen paßt! Unsereiner ist ja kein Jude!“
Sie dachte einen Augenblick nach, schließlich dankte sie dem Händler, der gelassen erwiderte:
„Na ja, dann ein andermal! Ich habe mich bisher mit allen Damen vertragen, mit meiner nur nicht.“
Emma lächelte. Er sah es und fuhr mit der Maske des Biedermannes fort:
„Ich wollte damit nur gesagt haben, daß Geld Nebensache ist. Wenn Sie mal welches brauchten, könnten Sie es von mir haben.“
Sie machte eine erstaunte Miene.
Schnell flüsterte er:
„Oh! Ich verschaffte es Ihnen auf der Stelle! Darauf können Sie sich verlassen!“
Davon abspringend, erkundigte er sich flugs nach dem alten Tellier, dem Wirt vom Café Français, den Bovary gerade in Behandlung hatte.
„Was fehlt ihm denn eigentlich, dem alten Freunde? Er hustet, daß sein ganzes Haus wackelt. Ich fürchte, ich fürchte, er läßt sich eher zu einem Überzieher aus Fichtenholz Maß nehmen als zu einem aus Wintertuch. Na, solange er auf dem Damme war, da hat er schöne Zicken gemacht! Die Sorte, gnädige Frau, die wird nie vernünftig! Und dann der Schnaps, das ist allemal der Ruin! Aber es ist immer betrübend, wenn man sieht, wie es mit einem alten Bekannten zu Ende geht.“
Während er seine Siebensachen wieder in den Pappkasten packte, schwatzte er so von allen möglichen Patienten des Arztes.
„Das liegt am Wetter, ganz zweifellos!“ erhärte er, indem er verdrießlich durch die Fensterscheiben sah. „Das bringt alle diese Krankheiten. Es geht mir ja selber so: ich fühle mich gar nicht recht au fait . Werde wohl demnächst auch mal zu Ihrem Herrn Gemahl in die Sprechstunde kommen müssen. Meiner Kreuzschmerzen wegen. Na, auf Wiedersehen, Frau Doktor! Stehe immer zu Ihrer Verfügung! Gehorsamster Diener!“
Und er schloß die Türe sacht hinter sich.
Emma ließ sich das Essen in ihrem Zimmer servieren, auf einem Tischchen am Kamin. Sie nahm sich mehr Zeit denn sonst, und es schmeckte ihr alles vorzüglich.
„Wie vernünftig ich doch war!“ sagte sie bei sich und dachte an die Seidentücher.
Da hörte sie Tritte auf der Treppe. Es war Leo. Sie stand schnell auf und nahm von der Kommode von einem Stoß Wischtücher, die gesäumt werden sollten, das oberste zur Hand. Als der junge Mann eintrat, tat sie sehr beschäftigt.
Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen. Frau Bovary schwieg immer wieder, und Leo war aus Schüchternheit einsilbig. Er saß nahe am Kamin auf einem niedrigen Sessel und spielte mit ihrem elfenbeinernen Nadelbüchschen.
Emma nähte oder glättete von Zeit zu Zeit mit dem Fingernagel den umgelegten Saum. Sie verstummte ganz, und er sagte nichts, weil ihn ihr Schweigen ebenso nachdenklich machte, als ob sie wer weiß was gesprochen hätte.
„Armer Junge!“ dachte sie.
„Warum bin ich bei ihr in Ungnade?“ fragte er sich.
Schließlich fing er an zu reden. Er müsse in den nächsten Tagen nach Rouen fahren. In einer Berufsangelegenheit.
„Ihr Musikalienabonnement ist abgelaufen. Darf ich es erneuern?“
„Nein“, entgegnete sie.
„Warum nicht?“
„Weil ...“
Emma biß sich auf die Lippen. Umständlich zog sie den grauen Zwirn hoch. Leo ärgerte sich über ihre Emsigkeit. „Warum zersticht sie sich die Finger?“ dachte er. Eine galante Bemerkung fuhr ihm durch den Sinn, aber er wagte nicht, sie auszusprechen.
„So wollen Sie es also aufgeben?“
„Was?“ fragte sie nervös. „Die Musik? Ach, du mein Gott! Ich habe soviel in der Wirtschaft zu tun, meinen Mann zu versorgen und tausend andre Dinge. Mit einem Wort: erst die Pflicht!“
Sie blickte nach der Uhr. Karl hätte schon längst heim sein müssen. Sie stellte sich beunruhigt. Zwei- oder dreimal meinte sie im Gespräche:
„Mein Mann ist so gut!“
Der Adjunkt mochte Herrn Bovary sehr gut leiden. Aber diese Zärtlichkeit befremdete ihn auf das unangenehmste. Gleichwohl stimmte er in ihr Lob ein.
„Darüber sind wir uns alle einig; der Apotheker sagts auch immer!“ erklärte er.
„Ja, ja, er ist ein prächtiger Mensch!“ wiederholte sie.
„Gewiß!“ bestätigte der Adjunkt.
Er begann dann von Frau Homais zu sprechen, über deren sehr nachlässige Kleidung sich die beiden sonst häufig amüsierten.
„So schlimm ist es gar nicht!“ behauptete Emma heute. „Eine gute Hausfrau kann sich nicht bloß um ihre Toilette kümmern.“
Dann versank sie in ihr früheres Stillschweigen.
So blieb sie auch an den folgenden Tagen. Ihre Sprache, ihr Benehmen, ihr ganzes Wesen waren wie verwandelt. Sie kümmerte sich um ihr Haus, ging wieder regelmäßig in die Kirche und hielt ihr Dienstmädchen strenger.
Die kleine Berta wurde aus der Ziehe zurückgeholt. Wenn Besuch kam, brachte Felicie das Kind herein, und Frau Bovary zeigte, was für stramme Beinchen es hatte. Sie beteuerte, Kinder hätte sie über alles gern; das ihre sei ihr Trost, ihre Freude, ihr Glück. Dabei liebkoste sie es unter einem Schwall von schwärmerischen Tiraden, die jeden Literaturfreund — die biederen Yonviller waren keine! — an die Sachette in Viktor Hügos „Notre-Dame“ erinnert hätten.
Wenn Karl heimkam, fand er seine Hausschuhe gewärmt am Kamine stehen, seine Westen hatten kein zerrissenes Futter mehr, und an seinen Hemden waren die Knöpfe immer vollzählig. Er hatte sogar das Vergnügen, seine Hüte und Mützen wohlgeordnet im Schranke hängen zu sehen. Emma lehnte es mit einem Male nicht mehr ab, ihn zu einem kleinen Rundgang in den Garten zu begleiten. Sie war mit jedem Vorschlage, den Karl machte, sofort einverstanden; selbst wenn sie den Zweck nicht recht einsah, fügte sie sich ohne Murren. Wenn Leo die beiden nach Tisch so sah: ihn am Kamin, die Hände über dem Bauche gefaltet, die Füße behaglich gegen die Glut gestemmt, die Backen noch rot vom Mahle und die Äuglein in eitel Wonne schwimmend, vor sich das Kind, das auf dem Teppich herumrutschte, und daneben die feinlinige schlanke Frau, wie sie sich über die Lehne seines Großvaterstuhls beugte und ihm einen Kuß auf die Stirn gab, — dann sagte er sich:
„Ich Narr! Nie wird sie die meine werden!“
Sie kam ihm ebenso vollkommen wie unnahbar vor, und ihm schwand jede, auch die leiseste Hoffnung. In seiner Resignation begann er sie zu vergöttern. Allmählich verlor sie in seinen Augen ihre Körperlichkeit, die nun einmal doch für ihn nicht da war. Vor seiner Phantasie schwebte sie immer höher, umstrahlt von einer Gloriole. Seine reine Liebe hatte nichts mehr mit seinem Alltagsleben zu tun; sie ward zu einem Heiligenkult, dessen Verlust mehr Schmerz bereitet, als der körperliche Besitz der Geliebten Genuß gewährt.
Emma magerte ab, ihre Wangen verloren die Farbe, ihr Gesicht wurde schmächtiger. Mit ihrem schwarzen gescheitelten Haar, ihren großen Augen, ihrer gerade geschnittenen Nase, ihrem Vogelgange und ihrer jetzigen Schweigsamkeit schien sie durchs Leben zu schreiten, ohne den Erdboden zu berühren, und es war, als trüge sie auf der Stirne das geheimnisvolle Mal einer höheren Bestimmung. Sie war so traurig und so still, so sanft und dabei so unnahbar, daß man ihre Gegenwart wie eine eiskalte Wonne empfand. Geradeso mischt sich in den Kirchen in den Duft der Rosen die Kälte des Marmors, so daß man zusammenschauert. Es lag ein seltsamer Zauber darin, dem niemand entrann.
„Sie ist eine Frau großen Stils,“ sagte der Apotheker einmal, „sie müßte einen Minister zum Manne haben!“
Die Spießbürger rühmten ihre Sparsamkeit, die Patienten ihr höfliches Wesen, die armen Leute ihren milden Sinn.
Innerlich aber war sie voller Begierden, voll Grimm und Haß. Hinter ihrem klösterlichen Kleid stürmte ein weltverlangendes Herz, und ihre keuschen Lippen verheimlichten alle Qualen der Sinnlichkeit. Sie war in Leo verliebt. Sie suchte die Einsamkeit, um in der Vorstellung ungestört zu schwelgen. Diese Wollust der Träume ward ihr durch den leibhaftigen Anblick des Geliebten nur gestört. Beim Hören seiner Tritte zitterte sie. Sobald er aber eintrat, verflog diese Erregung, und sie fühlte nichts als namenlose Verwunderung und tiefe Schwermut.
Leo ahnte nicht, daß Emma ans Fenster eilte, um ihm nachzusehen, wenn er entmutigt von ihr gegangen war. Voller Unruhe beobachtete sie alle seine Bewegungen und forschte in seinen Augen. Sie erfand einen ganzen Roman, nur um einen Vorwand zu haben, sein Zimmer einmal zu sehen. Die Apothekerin erschien ihr beneidenswert, weil sie mit ihm unter einem Dache schlafen durfte. Ihre Gedanken ließen sich immer wieder auf seinem Hause nieder, just wie die Tauben vom Goldnen Löwen, die hingeflogen kamen, um ihre roten Stelzen und weißen Flügel in der Dachrinne zu netzen.
Je klarer sich Emma ihrer Leidenschaft bewußt ward, um so mehr drängte sie sie zurück. Ihre Liebe sollte unsichtbar und klein bleiben. Wohl war es ihr Sehnen, daß Leo die Wahrheit bemerke; sie erträumte sich Zufälle und Katastrophen, die dies herbeiführten. Aber ihre Passivität, die Angst vor der Entscheidung und auch ihr Schamgefühl hielten sie zurück. Sie bildete sich ein, sie hätte sich ihn bereits allzusehr entfremdet, es wäre nun zu spät und alles sei verloren. Und dann sagte sie sich voll Stolz und Freude: „Ich bin eine anständige Frau geblieben!“ Sie stellte sich vor den Spiegel in der Pose der Resignation. Das tröstete sie ein wenig ob des Opfers, das sie zu bringen wähnte.
Ihre unbefriedigte Sinnlichkeit, ihre Lüsternheit nach Reichtum und Luxus und ihre schwermütige Liebe ergaben alles in allem ein einziges Weh. Statt aber ihre Gedanken andern Dingen zuzuwenden, verlor sie sich immer mehr in dieses Leid, gefiel sich darin und trug es in alle Einzelheiten ihres Lebens. Ein ungeschickt serviertes Gericht, eine offengelassene Türe brachte sie in Aufregung. Ein hübsches Kleid, das sie nicht haben konnte, ein Vergnügen, auf das sie verzichten mußte, machte sie unglücklich. Weil sich ihre kühnen Träume nicht erfüllten, ward ihr das Haus zu eng.
Daß Karl keine Dulderin in ihr sah, das empörte sie am allermeisten. Seine felsenfeste Überzeugung, daß er seine Frau glücklich mache, dünkte sie Beschränktheit, Beleidigung, Undankbarkeit. Für wen war sie denn so vernünftig? War es nicht gerade Karl, der sie von jedwedem Glück trennte? War nicht er der Anlaß all ihres Elends, das Schloß an der Tür ihres qualvollen Käfigs?
So häufte sie auf ihn alle Bitternisse ihres Herzens. Jeder Versuch, diese Verstimmungen zu bekämpfen, verschlimmerten sie nur. Denn die vergebliche Mühe machte sie noch mutloser und entfernte sie noch mehr von ihrem Manne. Gerade seine Gutmütigkeit reizte sie zur Rebellion. Die Spießerlichkeit ihrer Wohnung verlockte sie zu Utopien von Pracht und Herrlichkeit, und die ehelichen Freuden zu ehebrecherischen Gelüsten. Sie bedauerte es, daß Karl sie nicht schlecht behandelte; dann hätte sie gerechten Anlaß gehabt, sich an ihm zu rächen. Zuweilen freilich erschrak sie vor den Irrwegen, auf die sie in Gedanken geriet. Und immer mußte sie lächeln, wenn sie in einem fort hörte, daß sie glücklich sei, oder wenn sie sich gar selber noch Mühe gab, so zu tun und die Leute in ihrem Glauben zu lassen.
Manchmal hatte sie diese Komödie satt. Sie fühlte sich versucht, mit dem Geliebten auf und davon zu gehen, irgendwohin, weit, weit fort, wo ein andrer Stern ihrer harrte. Zugleich jedoch drohten ihr in Gedanken riefe, dunkle Abgründe.
„Er liebt mich ja gar nicht mehr!“ sagte sie sich. „Was soll da aus mir werden? Welche Zuflucht, welcher Trost, welche Erleichterung bleibt mir noch?“
Gebrochen, fiebernd, halbtot schluchzte sie leise vor sich hin, unter endlosen Tränen.
„Warum sagt es die gnädige Frau nicht dem Herrn Doktor?“ fragte das Dienstmädchen, als es einmal während eines solchen Anfalles ins Zimmer kam.
„Ach was! Ich bin nervös!“ erklärte Emma. „Daß du ihm ja nichts davon erzählst! Du würdest ihn nur beunruhigen.“
„Ach Gott“, meinte Felicie. „Der Tochter des alten Fischers Guérin aus Pollet, einer Bekannten von mir in Dieppe, wo ich vorher gedient habe, der ging es ganz genau so. War die trübsinnig! Schrecklich trübsinnig! Und leichenblaß sah sie immer aus. Ihr Leiden war so was wie ein Nebel im Kopfe, und die Ärzte und sogar der Pfarrer wußten kein Mittel dagegen. Wenns ganz schlimm kam, dann lief sie immer ganz allein ans Meer. Der Zollaufseher hat sie auf seiner Patrouille oft gesehen, platt auf dem Bauche liegen und auf den Steinen weinen. Später, als sie einen Mann hatte, soll sichs gegeben haben ...“
„Bei mir aber“, erwiderte Emma, „ist es erst nach der Hochzeit so gekommen.“
Eines Abends saß Emma am offnen Fenster. Eben hatte sie noch Lestiboudois, dem Kirchendiener, zugesehen, wie er unten im Garten den Buchsbaum zugestutzt hatte. Plötzlich drang ihr das Ave-Maria-Läuten ins Ohr.
Es war Anfang April. Die Primeln blühten, und ein lauer Wind hüpfte über die aufgeharkten Beete. Der Garten putzte sich für die Festtage des Sommers. Durch die Latten der Laube und weiterhin leuchtete der Bach, der sich in schnörkeligen Windungen in den flachen Wiesen hinwand. Der Abenddunst schwebte um die noch kahlen Pappeln und löste die Linien ihrer Aste zu weichem Violett auf, duftig und durchsichtig wie ein feiner Schleier. In der Ferne zogen Herden heim, aber ihr Huftritt und ihr Brüllen verklangen. Nur die Abendglocke läutete immerfort und füllte die Luft mit wehmütigem Frieden.
Bei diesen gleichförmigen Tönen verloren sich die Gedanken der jungen Frau in alte Jugend- und Klostererinnerungen. Sie dachte an die hohen Leuchter auf dem Hochaltar, die sich über die blumenreichen Vasen und über das Tabernakel mit seinen Säulchen emporgereckt hatten. Wie einst hätte sie wieder knien mögen in der langen Reihe der weißen Schleier, die sich grell abhoben von den schwarzen steifen Kapuzen der in ihren Betstühlen hingesunkenen Schwestern. Sonntags während der Messe, wenn sie aufschaute und in das von bläulichem Weihrauch umwobene holde Antlitz der Madonna blickte, dann war sie immer tief ergriffen und ganz weich gestimmt gewesen, leicht und ohne Last wie eine Flaumfeder, die der Sturmwind wegweht ...
Mit einem Male, ohne daß sie sich über den Vorgang klar ward, fand sie sich auf dem Wege zur Kirche. Ein Drang nach Andacht hatte sie ergriffen: ihre Seele sehnte sich, darin aufzugehen und alles Irdische zu vergessen.
Auf dem Marktplatze begegnete ihr Lestiboudois, der bereits wieder aus der Kirche kam, um zu seiner unterbrochenen Arbeit zurückzukehren. Die war ihm immer die Hauptsache, und das Läuten der Glocke besorgte er, wie es ihm gerade paßte. Übrigens war das Läuten ein Zeichen für die Kinder im Dorfe, daß es Zeit zur Katechismusstunde war.
Ein paar Jungen waren schon da und spielten Ball auf den Friedhofssteinen. Andre saßen rittlings auf der Mauer, baumelten mit den Beinen und köpften mit ihren Schuhspitzen die hohen Brennesseln, die zwischen der letzten Gräberreihe und der niedrigen Umfassungsmauer aufgeschossen waren. Das war das einzige bißchen Grün, denn die Grabmäler standen ganz dicht aneinander, und über ihnen lag beständig feiner Staub, der dem reinigenden Besen trotzte. Die Kinder liefen in Strümpfen darüber wie über einen eigens für sie hingebreiteten Teppich, und ihre aufjauchzenden Stimmen mischten sich in das letzte Ausklingen der Glocken. Das Summen verstummte, und der Strang der großen Glocke, der vom Kirchturm herabhing und mit dem Ende auf dem Erdboden hin und her geschleift war, beruhigte sich allmählich. Schwalben schossen pfeilschnell durch die Luft, kurze Schreie ausstoßend, und flogen zurück in ihre gelben Nester unter dem Turmdache. Im Chor der Kirche brannte eine Lampe oder vielmehr ein Nachtlicht unter einer hängenden Glasglocke. Von weitem sah die Flamme wie ein über dem Öl schwimmender zittriger weißer Fleck aus. Ein langer Sonnenstrahl durchquerte das Hauptschiff; in um so tieferem Dunkel lagen die Nebenschiffe und Nischen.
„Wo ist der Pfarrer?“ fragte Frau Bovary einen Knaben, der sich damit belustigte, die bereits lockere Klinke der Friedhofspforte völlig abzuwürgen.
„Der wird gleich kommen!“ war die Antwort.
Wirklich knarrte die Tür des Pfarrhauses, und der Abbé Bournisien erschien. Die Kinder rannten eiligst in die Kirche hinein.
„Rasselbande!“ murmelte der Priester. „Einen wie alle Tage!“ Er hob einen zerflederten Katechismus auf, an den sein Fuß gestoßen war. „Nichts wird respektiert!“ Da bemerkte er Frau Bovary.
„Verzeihung!“ sagte er. „Ich hatte Sie nicht erkannt.“
Er steckte den Katechismus in die Tasche und blieb stehen, indem er den schweren Sakristeischlüssel auf zwei Fingern balancierte.
Der Schein der Abendsonne fiel ihm voll ins Gesicht und nahm seiner Soutane alle Farbe. Sie glänzte übrigens an den Ellenbogen bereits, und in den Säumen war sie ausgefasert. Fett- und Tabakflecke begleiteten die Linie der kleinen Knöpfe die Brust entlang. Nach dem Kragen zu, unter dem Doppelkinn seines Gesichts, wurden sie zahlreicher. Es war von Sommersprossen besät, die sich in seinen stoppeligen grauen Bart hinein verloren. Er kam vom Essen und atmete geräuschvoll.
„Wie geht es Ihnen?“ erkundigte er sich.
„Schlecht!“ antwortete Emma.
„Ja, ja! Ganz wie mir“, erwiderte der Priester. „Die ersten warmen Tage machen einen unglaublich matt, nicht wahr? Aber es ist nun einmal so! Wir sind zum Leiden geboren, wie Sankt Paulus sagt. Und wie denkt Herr Bovary darüber?“
„Ach der!“ Sie machte eine verächtliche Gebärde.
„Was?“ erwiderte der ehrwürdige Mann ganz erstaunt. „Verordnet er Ihnen denn nichts?“
„Ach,“ meinte sie, „irdische Heilmittel, die nutzen mir nichts.“
Trotzdem sich der Geistliche unterhielt, warf er seinen Blick doch hin und wieder in die Kirche, wo die Jungen, die niedergekniet waren, sich gegenseitig mit den Schultern anrempelten, so daß sie reihenweise wie die Kegel umpurzelten.
„Ich möchte gern wissen ...“, fuhr Emma fort.
„Warte nur, Boudet, warte du nur!“ unterbrach sie der Priester in zornigem Tone. „Ich werde dich gleich an den Ohren kriegen, du Schlingel, du!“ Zu Emma gewandt, fügte er hinzu: „Das ist der Junge vom Zimmermann Boudet. Seine Eltern sind schwache Leute; sie lassen dem Jungen die größten Narrenpossen durch. Der Bengel könnte sehr wohl was lernen, wenn er nur wollte, denn er ist gar nicht dumm ... Na, und wie gehts dem Herrn Gemahl?“
Emma tat, als ob sie die Frage überhört hätte. Der Geistliche fuhr fort:
„Immer tüchtig beschäftigt, nicht wahr? Ja, ja! Er und ich, wir beiden haben im Kirchspiel zweifellos am meisten zu tun ...“ Er lachte behäbig, „... er als Arzt des Leibes und ich der Seele.“
Emma schaute ihn flehentlich an.
„Sie! Ja!“ sagte sie. „Sie heilen alle Wunden!“
„Oh! Sprechen Sie nicht so, Frau Bovary! Gerade heute vormittag, da bin ich nach Bas-Diauville gerufen worden, zu einer wassersüchtigen Kuh. Die Leute glaubten, das Tier sei verhext. Merkwürdig! Alle Kühe da ... Verzeihen Sie mal! — Longuemarre und Boudet! Zum Donnerwetter! Wollt ihr stille sein!“ Mit einem großen Satze war er drinnen in der Kirche.
Da flohen die Knaben hinter das Meßpult oder kletterten auf den Sitz des Vorsängers. Andre verkrochen sich in den Beichtstuhl. Aber der Pfarrer teilte behend rechts und links einen Hagel von Backpfeifen aus; einen der Jungen packte er am Rockkragen, hob ihn in die Luft und duckte ihn dann in die Knie, als ob er ihn mit aller Gewalt in die Steinfliese hineindrücken wollte.
„So!“ sagte er zu Frau Bovary, als er wieder bei ihr war, während er sein großes Kattuntaschentuch entfaltete und sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Die Landleute sind recht zu bedauern ...“
„Andre Leute auch“, meinte sie.
„Gewiß! Die Arbeiter in den Städten zum Beispiel.“
„Die meine ich nicht.“
„Erlauben Sie mir! Ich habe unter ihnen Familienmütter kennen lernen, ehrbare Frauen, ich sage Ihnen: wahre Heilige. Und sie hatten nicht einmal das tägliche Brot.“
„Ich meine solche,“ fuhr Emma fort, und ihre Mundwinkel zitterten, während sie sprach, „solche, Herr Pfarrer, die zwar ihr täglich Brot haben, aber kein ...“
„Kein Holz im Winter ...“, ergänzte der Priester.
„Ach, was liegt daran?“
„Was daran liegt? Mich dünkt, wer gut zu essen hat und eine warme Stube ... denn schließlich ...“
„O du mein Gott!“ seufzte Emma.
„Ist Ihnen nicht wohl?“ fragte er, indem er sich ihr besorgt näherte. „Gewiß Magenbeschwerden? Sie müssen heimgehen, Frau Bovary, und eine Tasse Tee trinken! Das wird Sie kräftigen. Oder vielleicht lieber eine Limonade?“
„Wozu?“
Sie sah aus, als erwache sie aus einem Traume.
„Sie faßten mit der Hand nach Ihrer Stirn, und da glaubte ich, es sei Ihnen schwindlig.“ Er besann sich. „Aber wollten Sie mich nicht etwas fragen? Mir ist es so. Was war es denn?“
„Ich? Nichts ... oh, nichts!“ stammelte Emma.
Ihr Blick, der in der Ferne verweilt hatte, fiel müd auf den alten Mann in der Soutane. Sie sahen sich beide in die Augen, ohne etwas zu sagen.
„Dann entschuldigen Sie, Frau Bovary“, sagte er nach einer Weile. „Die Pflicht ruft mich. Ich muß zu meinen Taugenichtsen da. Die erste Kommunion rückt heran. Ich fürchte, sie überrumpelt uns. Seit Himmelfahrt behalte ich die Kinder alle Mittwoch eine Stunde länger hier. Die armen Kleinen! Man kann sie nicht früh genug auf den Weg des Herrn leiten, wie es Gottes Sohn uns ja anbefohlen hat ... Recht gute Besserung, Frau Doktor! Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Gemahl!“
Damit trat er in die Kirche, nachdem er an der Schwelle das Knie gebeugt hatte. Emma sah ihm nach, bis er zwischen den Bänken verschwand. Er ging schwerfällig, den Kopf ein wenig eingezogen, die beiden Hände in segnender Haltung.
Sie wandte sich um, mit einem kurzen Ruck. wie eine Figur auf einer Drehscheibe, und schickte sich an, nach Hause zu gehen. Eine Weile hörte sie hinter sich noch die rauhe Stimme des Geistlichen und die hellen Antworten der Knaben ...
„Bist du ein Christ?“
„Ja, ich bin ein Christ.“
„Wer ist ein Christ?“
„Wer getauft ist und ...“
Zu Haus stieg sie die Treppe hinauf, wobei sie sich am Geländer festhielt. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie in ihren Lehnstuhl.
Das Licht des hellen Abends draußen flutete weich durch die Scheiben herein. Die Möbel schlummerten still auf ihren Plätzen, halb versunken in den Schatten der Dämmerung wie in einen schwarzen Weiher. Im Kamin war die Glut erloschen, und eintönig tickte die Uhr immerzu. Diese Ruhe der Dinge hier um sich herum empfand Emma als einen wunderlichen Kontrast zu dem wilden Sturm in ihrem Innern ...
Vom Nähtischfenster her tappte die kleine Berta in ihren gewirkten Schuhchen und versuchte zu ihrer Mutter zu gelangen. Sie haschte nach den Bändern ihrer Schürze.
„Laß mich!“ sagte Emma und wehrte das Kind mit der Hand ab.
Aber die Kleine kam noch näher und schmiegte sich an ihre Knie. Sie umfaßte sie mit ihren Ärmchen und schaute mit ihren großen blauen Augen zur Mutter auf. Dabei liefen ein paar Tropfen Speichel aus dem Munde des Kindes auf Emmas seidne Schürze.
„Laß mich!“ wiederholte die junge Mutter sehr unwillig.
Ihr Gesichtsausdruck erschreckte das Kind. Es begann zu schreien.
„Aber so laß mich doch!“ sagte Emma barsch und stieß ihr Kind mit dem Ellenbogen zurück.
Berta fiel gegen die Kommode, gerade auf den Messingbeschlag, der ihr die Wange ritzte, so daß sie blutete. Frau Bovary stürzte auf das Kind zu und hob es auf. Dann riß sie heftig am Klingelzug und rief das Dienstmädchen herbei. Sie war nahe daran, sich Vorwürfe zu machen, da erschien Karl. Es war um die Essenszeit. Er kam von seiner Praxis heim.
„Sieh, mein Lieber,“ sagte sie ruhigen Tones, „die Kleine ist beim Spielen gefallen und hat sich ein bißchen geschunden.“
Karl beruhigte sie; es sei nicht schlimm. Er holte Heftpflaster.
Frau Bovary ging zum Essen nicht hinunter. Sie wollte ihr Kind allein pflegen. Als sie dann aber sah, wie es ruhig schlief, verging ihr bißchen Beunruhigung, und sie kam sich selber recht töricht und schlapp vor, weil sie sich wegen einer Geringfügigkeit gleich so aufgeregt habe. In der Tat klagte die Kleine nicht mehr. Ihre Atemzüge hoben und senkten die wollene Bettdecke kaum merkbar. Ein paar dicke Tränen hingen ihr in den halbgeschlossenen Wimpern, durch die zwei tiefliegende blasse Augensterne schimmerten. Das auf die Backe geklebte Pflaster verzog die Haut.
„Merkwürdig!“ dachte Emma bei sich. „Wie häßlich das Kind ist!“
Als Karl um elf Uhr nach Hause kam — er war nach Tisch zum Apotheker gegangen —, fand er seine Frau an der Wiege stehen.
„Aber ich habe dir doch gesagt, daß es nichts ist!“ versicherte er ihr, indem er ihr einen Kuß auf die Stirn gab. „Ängstige dich nicht, armes Lieb, du wirst mir sonst krank!“
Er war lange beim Apotheker geblieben. Er hatte sich zwar gar nicht besonders aufgeregt gezeigt, trotzdem hatte sich Homais für verpflichtet gefühlt, ihn „aufzurappeln“. Dann hatte man von den tausend Gefahren gesprochen, denen kleine Kinder ausgesetzt sind, und von der Unachtsamkeit der Dienstboten. Frau Homais mußte ein Lied davon zu singen. Noch heute hatte sie auf der Brust ein Brandmal: auf diese Stelle hatte die damalige Köchin einmal die Kohlenpfanne fallen lassen! Infolgedessen waren die braven Homais über die Maßen vorsichtig. Die Tischmesser wurden nicht geschliffen und der Fußboden nicht gebohnt. Vor den Fenstern waren eiserne Gitter und vor dem Kamin ein paar Querstäbe angebracht. Die Apothekerskinder, so verwahrlost sie im übrigen waren, konnten keinen Schritt tun, ohne daß jemand dabei sein mußte. Bei der geringsten Erkältung stopfte sie der Vater mit Hustenbonbons voll, und als sie bereits über vier Jahre alt waren, mußten sie ohne Gnade noch dickgepolsterte Fallringe um die Köpfe tragen. Das war lediglich eine Schrulle der Mutter; der Apotheker war insgeheim sehr betrübt darüber, weil er Angst hatte, dieses Zusammenpressen könne dem Gehirn schädlich sein. Einmal entfuhr es ihm:
„Willst du denn Hottentotten aus deinen Kindern machen?“
Karl hatte etliche Male den Versuch gemacht, die Unterhaltung in eine andre Richtung zu bringen. Beim Gehen, als Leo vor ihm die Treppe hinunterstieg, raunte er ihm leise zu:
„Ich wollte Sie noch etwas fragen!“
„Sollte er etwas gemerkt haben?“ fragte sich der Adjunkt. Er bekam Herzklopfen und verlor sich in tausend Vermutungen.
Als die Türe hinter ihnen geschlossen war, bat Karl, er solle sich doch einmal in Rouen danach erkundigen, was ein hübsches Lichtbild koste. Er hegte nämlich schon lange den sentimentalen Plan, seine Frau mit dieser zarten Aufmerksamkeit zu überraschen. Er gedachte sich im schwarzen Rocke verewigen zu lassen. Nur wollte er vorher wissen, wieviel die Geschichte so ungefähr zu stehen käme. Dem Adjunkt mache das wohl keine besondre Mühe, da er doch beinahe aller acht Tage nach der Stadt führe.
Zu welchem Zwecke eigentlich? Homais vermutete Junggesellenabenteuer oder eine Liebschaft. Aber da täuschte er sich. Leo hatte keine galanten Beziehungen. Mehr denn je war er in Wertherstimmung. Die Löwenwirtin merkte es daran, daß er seine Portionen nicht mehr aufaß. Um hinter die Ursache zu kommen, fragte sie Binet; aber der Steuereinnehmer erwiderte unwirsch, er sei kein Polizeibüttel.
Allerdings kam Leo auch seinem Tischgenossen recht sonderbar vor. Oft lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, packte sich mit den Händen hinten am Kopfe und ließ sich in unbestimmten Klagen über das menschliche Dasein aus.
„Sie sollten sich ein bißchen mehr zerstreuen“, meinte der Steuereinnehmer.
„Womit denn?“
„Na, an Ihrer Stelle schaffte ich mir eine Drehbank an.“
„Aber ich kann doch nicht drechseln“, erwiderte der Adjunkt.
„Ach ja, freilich!“
Binet strich sich selbstzufrieden-verächtlich das Kinn.
Leo war es müde, erfolglos zu lieben. Das eintönige Leben begann ihn abzustumpfen; er hatte keine Interessen, die ihn erfüllten, keine Hoffnungen, die ihn stärkten. Yonville und die Yonviller ödeten ihn dermaßen an, daß er gewisse Leute und bestimmte Häuser nicht mehr erblicken konnte, ohne in Wut zu geraten. Besonders unausstehlich wurde ihm nachgerade der biedere Apotheker. Gleichwohl schreckte ihn die Aussicht auf völlig neue Verhältnisse genau so sehr, wie er sich danach sehnte. Dieses bange Gefühl wandelte sich nach und nach in Unruhe, und nun lockte ihn Paris, das ferne Paris mit der rauschenden Musik seiner Maskenfeste und dem Lachen seiner Grisetten. Er sollte daselbst sowieso sein Studium vollenden. Warum ging er nicht endlich dahin? Was hielt ihn zurück?
In Gedanken fing er nun an, seine Vorbereitungen zu treffen. Er machte heimliche Pläne. Er träumte sich sein Pariser Zimmer aus. Dort wollte er das Leben eines Bohémien führen. Gitarre wollte er spielen lernen, einen Schlafrock tragen, dazu ein Samtbarett und Hausschuhe aus blauem Plüsch. Und über dem Kamin sollten zwei gekreuzte Floretts hängen, ein Totenschädel darüber und die Gitarre darunter. Wundervoll!
Das Schwierige war nur, die Einwilligung seiner Mutter zu bekommen. Aber im Grunde war sein Plan doch der allervernünftigste! Sogar sein Chef redete ihm zu, sich in einer andern Kanzlei weiter auszubilden. So entschied sich Leo zunächst zu einem Mittelding. Er bewarb sich um einen Adjunktenposten in Rouen. Als ihm dies mißlang, schrieb er schließlich seiner Mutter einen langen Brief, in dem er ihr ausführlich auseinandersetzte, warum er ohne weiteres nach Paris übersiedeln wollte. Sie war damit einverstanden.
Trotz alledem beeilte er sich keineswegs. Volle vier Wochen lang gingen von Yonville nach Rouen und von Rouen nach Yonville Koffer, Rucksäcke und Pakete für ihn hin und her. Er vervollständigte seine Garderobe, ließ seine drei Lehnstühle aufpolstern, schaffte sich einen Vorrat von seidnen Halstüchern an, kurz und gut, er traf Vorbereitungen, als wolle er eine Reise um die Welt antreten. So verstrich Woche auf Woche, bis ein zweiter mütterlicher Brief seine Abreise beschleunigte. Er hätte doch die Absicht, ein Examen nach einem Semester zu machen.
Als der Augenblick des Abschieds gekommen war, da weinte Frau Homais, Justin heulte, und Homais verbarg seine Rührung, wie sich das für einen ernsten Mann schickt. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Mantel seines Freundes eigenhändig bis zur Gartenpforte des Notars zu tragen, wo des letzteren Kutsche wartete, die den Scheidenden nach Rouen fahren sollte.
Im letzten Viertelstündchen machte Leo seinen Abschiedsbesuch im Hause des Arztes.
Als er die Treppe hinaufgestiegen war, blieb er stehen, um Atem zu schöpfen. Bei seinem Eintritt kam ihm Frau Bovary lebhaft entgegen.
„Da bin ich noch einmal!“ sagte Leo.
„Ich hab es erwartet!“
Emma biß sich auf die Unterlippe. Eine Blutwelle schoß unter der Haut ihres Gesichts hin und färbte es über und über rot, vom Halskragen an bis hinauf zu den Haarwurzeln. Sie blieb stehen und lehnte die Schulter gegen die Holztäfelung.
„Ihr Herr Gemahl ist wohl nicht zu Hause?“
„Er ist fort.“
Dann trat Schweigen ein. Sie sahen sich beide an, und ihre Gedanken, von gleichem Bangen durchwoben, schmiegten sich aneinander wie zwei klopfende Herzen.
„Ich möchte Berta gern einen Abschiedskuß geben“, sagte Leo.
Emma ging hinaus, ein paar Stufen hinunter, und rief Felicie. Leo warf schnell einen heißen Blick auf die Wände, die Möbel, den Kamin, als wollte er alles umfassen, alles mit sich nehmen. Aber da war sie auch schon wieder im Zimmer. Das Mädchen brachte die kleine Berta, die einen Hampelmann an einem Faden in der Hand hielt, verkehrt, den Kopf nach unten.
Leo küßte die Kleine ein paarmal auf die Stirn.
„Lebwohl, armes Kind! Lebwohl, liebes Bertchen! Lebwohl!“
Er gab das Kind der Mutter zurück.
„Bring sie weg!“ befahl Emma.
Sie waren wiederum allein.
Frau Bovary wandte Leo den Rücken zu und preßte ihr Gesicht gegen eine Fensterscheibe. Er hielt seine Reisemütze in der Hand und schlug damit leise gegen seinen Schenkel.
„Es wird wohl regnen“, bemerkte Emma.
„Ich habe einen Mantel“, antwortete er.
„So!“
Sie wandte sich wieder um, das Kinn gesenkt. Das Licht glitt über ihre vorgebeugte Stirn wie über glatten Marmor bis hinab in die Augenbrauen. Man konnte nicht sehen, was in ihren Augen geschrieben stand, noch was die Gedanken dahinter sannen.
„Also adieu!“ seufzte Leo.
Sie hob den Kopf mit einer jähen Bewegung.
„Ja, adieu! Sie müssen gehen!“
Sie kamen aufeinander zu. Er reichte ihr die Hand hin. Sie zögerte.
„Sozusagen ein französischer Abschied!“ meinte sie, indem sie ihm die Hand überließ. Dabei lächelte sie gezwungen.
Leo fühlte ihre Finger in den seinen. Es kam ihm vor, als ströme ihr ganzes Ich in seine Haut. Als er seine Hand wieder öffnete, begegneten sich beider Augen noch einmal. Dann ging er.
Als er unter den Hallen war, blieb er stehen, wobei er sich hinter einem Pfeiler verbarg. Er wollte ein letztes Mal ihr weißes Haus mit seinen vier grünen Fensterläden sehen. Da vermeinte er, ihren Schatten hinter der Gardine ihres Zimmers zu erblicken. Aber der Vorhang hatte sich wohl von selbst gebauscht und fiel nun wieder langsam in seine langen senkrechten Falten zurück, in denen er dann regungslos stehen blieb wie eine Mauer von Gips. Leo eilte von dannen.
Von weitem sah er schon den Wagen seines Chefs auf der Straße halten. Ein Mann in leinenem Kittel stand daneben und hielt das Pferd. Der Apotheker und der Notar plauderten miteinander. Man wartete auf ihn.
„Lassen Sie sich noch einmal umarmen!“ sagte Homais, Tränen in den Augen. „Hier ist Ihr Mantel, mein lieber Freund! Erkälten Sie sich unterwegs nicht! Schonen Sie sich recht und nehmen Sie sich ordentlich in acht!“
„Einsteigen, Herr Düpuis!“ mahnte der Notar.
Der Apotheker beugte sich über das Spritzleder und stammelte mit tränenerstickter Stimme nichts als die beiden wehmütigen Worte:
„Glückliche Reise!“
„Guten Abend, Herr Apotheker!“ rief Guillaumin. „Los!“
Die beiden fuhren weg, und Homais wandte sich heimwärts.
Frau Bovary hatte das nach dem Garten gehende Fenster ihres Zimmers geöffnet und betrachtete die Wolken. In der Richtung nach Rouen, nach Westen zu, standen sie zusammengeballt. Leichteres finsteres Gewölk zog von daher im raschen Fluge heran, durchleuchtet von schrägen Sonnenstrahlen, die wie die goldnen Strahlenbündel einer aufgehängten Trophäe hervorschossen. Der übrige wolkenlose Teil des Himmelszeltes war weiß wie Porzellan. Ruckweise Windstöße beugten die Häupter der Pappeln; plötzlich rauschte Regen herab und prasselte durch das grünschimmernde Laubwerk. Bald kam die Sonne wieder heraus. Die Hennen gackerten. Die Spatzen schüttelten ihre Flügel auf dem nassen Gezweig, und in den Wasserrinnen auf dem sandigen Boden schwammmen rote Akazienblüten.
„Wie weit mag er nun schon sein!“ dachte sie.
Halb sieben, beim Essen, erschien Homais gewohnterweise.
„Na,“ sagte er, indem er sich an den Tisch setzte, „unsern jungen Freund hätten wir glücklich verfrachtet!“
„Wie man mir berichtet hat“, gab der Arzt zur Antwort. Sich auf seinem Stuhle nach ihm wendend, fuhr er fort: „Und was gibts bei Ihnen Neues?“
„Nichts weiter. Meine Frau war heute nachmittag nur ein bißchen aufgeregt. Sie wissen, die Frauen sind immer gleich aus dem Häuschen. Und meine ganz besonders! Aber man soll ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Ihre Nerven sind eben zarter besaitet als unsre.“
„Der arme Leo,“ bemerkte Karl, „wie wirds ihm in Paris ergehen? Wird er sich dort einleben?“
Frau Bovary seufzte.
„Natürlich!“ meinte der Apotheker und schnalzte mit der Zunge. „Feine Soupers! Maskenbälle! Sekt! Daran gewöhnt man sich schon, versichre ich Ihnen.“
„Ich glaube nicht, daß er unsolid werden wird“, warf Bovary ein.
„Gott bewahre!“ entgegnete Homais lebhaft. „Aber mit den Wölfen wird er halt heulen müssen. Sonst wird er als Duckmäuser verschrien. Sie haben keine Ahnung, was diese Kerlchens im Studentenviertel für ein flottes Leben führen! Mit ihren kleinen Mädchen! Übrigens sind die Studenten in Paris überall gern gesehen. Wenn einer nur ein bißchen gesellige Talente hat, stehen ihm die allerbesten Kreise offen. Und es gibt sogar in der Vorstadt Saint-Germain feine Damen, die sich Studenten zu Liebsten nehmen, und das gibt ihnen dann die beste Gelegenheit, sich reich zu verheiraten.“
„Das mag schon sein,“ sagte der Arzt, „ich habe nur Angst, er ... wird ... dort ...“
„Sehr richtig,“ unterbrach ihn der Apotheker, „das ist die Kehrseite der Medaille! In Paris, da muß man sich fortwährend die Taschen zuhalten. Zum Beispiel, Sie sitzen in einer öffentlichen Anlage. Nimmt da jemand neben Ihnen Platz, anständig angezogen, womöglich ein Ordensbändchen im Knopfloch. Man könnte ihn für einen Diplomaten halten. Er spricht Sie an. Sie kommen ins Plaudern. Er bietet Ihnen eine Prise an oder hebt Ihnen den Hut auf. So wird man intimer. Er nimmt Sie mit ins Café, ladet Sie in sein Landhaus ein, macht Sie bei einem Glas Wein mit Tod und Teufel bekannt — und das Ende vom Liede: er pumpt Sie an oder verstrickt Sie in gefährliche Abenteuer.“
„So ist es!“ gab Karl zu. „Aber ich dachte vor allem an die Krankheiten, die dem Studenten aus der Provinz in der Großstadt drohen. Zum Beispiel ... der Typhus.“
Emma zuckte zusammen.
„Der kommt von der gänzlich veränderten Lebensweise“, fuhr der Apotheker fort, „und der dadurch hervorgebrachten Umwälzung des ganzen Organismus. Und dann denken Sie an das Pariser Wasser! An das Essen in den Restaurants! Diese starkgewürzten Speisen verderben schließlich das Blut. Man mag sagen, was man will, mit einer guten Hausmannskost sind sie nicht zu vergleichen. Ich für meinen Teil, ich schätze von jeher die bürgerliche Küche. Die ist am gesündesten. Als ich stud. pharm. in Rouen war, da habe ich deshalb regelmäßig in einer Pension gegessen. Die Herren Professoren aßen auch da ...“
In dieser Weise fuhr er fort, sich über seine Ansichten im allgemeinen und seinen persönlichen Geschmack im besondern auszulassen, bis Justin kam und ihn zur Bereitung einer bestellten Arznei holte.
„Man hat aber auch keinen Augenblick seine Ruhe!“ schimpfte er. „Immer liegt man an der Kette! Keine Minute kann man fort. Ein Arbeitstier bin ich, das Blut schwitzen muß. Das ist ein Hundedasein!“
In der Tür sagte er noch:
„Übrigens, wissen Sie schon das Neueste?“
„Was denn?“
Homais zog die Brauen hoch und machte eine hochwichtige Miene.
„Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Versammlung der Landwirte unsers Departements heuer in Yonville stattfindet. Man munkelt wenigstens. In der heutigen Zeitung steht auch schon eine Andeutung. Das wäre für die hiesige Gegend von großer Bedeutung! Aber darüber reden wir noch einmal! Danke, ich sehe schon. Justin hat die Laterne mit ...“
Der nächste Tag war für Emma ein Tag der Betrübnis. Alles um sie herum erschien ihr wie von lichtlosem Nebel umflort, verschwommen, zerrissen. Der Schmerz strich durch ihre Seele mit leisen Klagen wie der Winterwind um ein einsames Schloß. Sie verfiel in die Träumerei, die den Menschen umspinnt, wenn er etwas auf immerdar verloren hat. Sie empfand die Müdigkeit, die ihn der vollendeten Tatsache gegenüber übermannt, den Schmerz, der ihn überkommt, wenn eine ihm zur Gewohnheit gewordne Bewegung plötzlich stockt, wenn Schwingungen jäh aufhören, die lange in ihm vibriert haben.
Wie damals nach der Rückkehr vom Schlosse Vaubyessard, als die wirbelnden Walzermelodien ihr nicht aus dem Sinne wollten, war sie voll düsterer Schwermut, in dumpfer Lebensunlust. Leo stand vor ihrer Phantasie immer größer, schöner, verführerischer. Wie ein Ideal. Wenn er auch fern von ihr war, so hatte er sie doch nicht verlassen. Er war da, und an den Wänden ihres Hauses schien sein Schatten noch zu haften. Immer wieder schaute sie auf den Teppich, über den er so oft gegangen, auf die leeren Stühle, wo er gesessen. Draußen kroch das Flüßlein noch immer vorbei mit seinen niedlichen Wellen, zwischen den schlammigen Ufern hin. An seinem Gestade waren sie so oft gewandelt, bei dem Rauschen der Fluten um die moosigen Steine. Wie warm hatte da die Sonne geschienen! Wie traulich waren die Nachmittage gewesen, wenn sie hinten im schattigen Garten allein gesessen hatten! Er hatte laut vorgelesen, bloßen Kopfes, in einem Korbstuhl sitzend. Der frische Wind, der drüben von den Wiesen her wehte, hatte die Blätter des Buches bewegt und die violetten Blüten der Glycinen an der Laube ... Ach, nun war er fort, die einzige Freude ihres Daseins, die einzige Hoffnung, daß sich ihr das erträumte Glück noch erfülle! Warum hatte sie dieses Glück nicht mit beiden Händen festgehalten, in den Schoß genommen, es nicht in die Ferne gelassen? Sie verwünschte sich, Leos Geliebte nicht geworden zu sein. Sie dürstete nach seinen Lippen. Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, hätte sich in seine Arme geworfen und ihm gesagt: „Hier bin ich! Nimm mich!“ Aber vor den Hindernissen, die sich der Verwirklichung dieses Dranges entgegengestellt hätten, verzagte Emma von vornherein, und der Schmerz darüber schürte ihre Sehnsucht zu noch heißerer Glut.
Fortan war die Erinnerung an Leo der Kristallisationspunkt ihrer Bitternisse. Sie flackerte verlockender als ein einsames Lagerfeuer, das Wanderer in einer sibirischen Steppe inmitten des Schnees angezündet haben. Zu diesem Feuer flüchtete sie, kauerte sich daneben nieder und fachte es sorgfältig wieder an, wenn es zu verlöschen drohte. Im Umkreise um sich herum suchte sie alles mögliche herbei, um diese Flammen zu nähren. Die fernsten Erinnerungen und die frischesten Ereignisse, Erlebtes und Erträumtes, die wuchernden Phantastereien ihrer Sinnlichkeit, ihre Sehnsucht nach Sonne, geknickt wie trocknes Gezweig im Wind, ihre nutzlose Tugend, ihre getäuschten Illusionen, die Armseligkeit ihres Hauswesens, alles das sammelte sie, raffte es zusammen und warf es in die Glut, um ihre Trübsal daran zu wärmen.
Mit der Zeit verglomm das Feuer aber doch, sei es, weil ihm die Nahrung fehlte, sei es, weil die Überfülle von Brennstoff es erstickte. In der Abwesenheit des Geliebten verkam allmählich ihre Liebe. Das Ineinemfort tötete den Schmerz, und am Himmel ihrer Gefühle verblaßte der erst grellrote Feuerschein und wich nach und nach schwarzem Dunkel. Während ihres phantastischen Zustandes hatte sich ihr Widerwille gegen den Gatten in Schwärmerei für den Geliebten verwandelt, und die Glut ihres Hasses hatte ihre zärtliche Sehnsucht gewärmt. Aber nunmehr, da ihre stürmische unbefriedigte Leidenschaft zu Asche gebrannt war, das keine Hilfe kam und keine neue Sonne aufging, ward tiefe Nacht um sie herum. In eisiger Kälte stand sie einsam da und erstarrte.
Die schrecklichen Tage von Tostes wiederholten sich nun. Nur bildete sie sich ein, noch unglücklicher denn damals zu sein, weil sie jetzt ein wirkliches Herzeleid trug und genau wußte, daß es nie anders werden könne.
Eine Frau, die so viel geopfert, sei — so sagte sie sich — wohlberechtigt, sich ein paar harmlose Liebhabereien zu gönnen. Sie schaffte sich einen gotischen Betstuhl an und verbrauchte in vier Wochen für vierzehn Franken Zitronen zur Pflege ihrer Hände. Sie schrieb nach Rouen und bestellte sich ein blaues Kaschmirkleid. Bei Lheureux suchte sie sich den schönsten Schal aus und trug ihn über ihrem Hauskleid. Sie schloß die Läden, nahm ein Buch zur Hand und blieb so stundenlang auf dem Sofa liegen.
Häufig änderte sie ihre Haartracht. Bald trug sie eine hohe Frisur, bald lose Locken, bald einen Kranz von Zöpfen, bald einen Scheitel.
Sie geriet auf den Einfall, Italienisch lernen zu wollen, und so kaufte sie sich ein Wörterbuch, eine Grammatik und eine Menge Schreibpapier. Dann versuchte sie es mit ernsthafter Lektüre, las Geschichtswerke und philosophische Schriften.
Nachts fuhr Karl mitunter in die Höhe, im Glauben, man hole ihn zu einem Kranken. Noch halb im Schlafe rief er:
„Ich bin gleich fertig!“
Aber es war nur das Knistern des Streichholzes gewesen, mit dem sich Emma die Lampe angezündet hatte. Sie wollte lesen. Aber es ging ihr wie mit ihren Stickereien, von denen ein ganzer Stoß angefangen im Schranke lag. Sie pflegte sie anzufangen, dann liegen zu lassen und eine andre zu beginnen.
Sie hatte launenhafte Stimmungen, in denen man sie leicht zu dem Unglaublichsten verleiten konnte. Einmal behauptete sie ihrem Manne gegenüber, sie könne ein Weinglas voll Schnaps mit einem Zuge leeren, und da Karl so töricht war, es zu bezweifeln, tat sie es wirklich.
Bei allen ihren „Extravaganzen“ (die Spießbürger von Yonville nannten das so!) sah Emma keineswegs unternehmungslustig aus. Im Gegenteil. Um ihre Mundwinkel lagerten sich jene gewissen starren Falten, die alte Jungfern und verbissene Streber zu haben pflegen. Sie war völlig blaß, weiß wie Leinwand; die Haut ihrer Nase bildete nach den Flügeln zu Fältchen, und ihre Augen blickten wie ins Leere. Seitdem sie an den Schläfen ein paar graue Haare entdeckt hatte, nannte sie sich gesprächsweise eine alte Frau.
Oft hatte sie Schwindelanfälle, und eines Tages spuckte sie sogar Blut. Aber als sich Karl eifrig um sie bemühte und seine Besorgnis verriet, meinte sie:
„Laß mich! Es ist mir alles gleich!“
Karl zog sich in sein Sprechzimmer zurück. Er sank in seinen Schreibsessel, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und weinte — unter dem phrenologischen Schädel.
Nach einer Weile setzte er einen Brief an seine Mutter auf und bat sie zu kommen. Es fand zwischen beiden eine lange Konferenz Emmas wegen statt. Welche Maßnahmen sollten getroffen werden? Was sollte geschehen? Wo sie jedwede ärztliche Behandlung ablehnte!
„Weißt du, was deiner Frau fehlt?“ meinte Frau Bovary schließlich. „Eine ordentliche Beschäftigung! Körperliche Arbeit! Wenn sie wie so manch andre ihr tägliches Brot selber verdienen müßte, dann hätte sie keine Nerven und Launen. Die kommen bloß von den überspannten Ideen, die sie sich aus purer Langweile in den Kopf setzt.“
„Beschäftigung hat sie doch aber!“ erwiderte Karl.
„So! Sie hat Beschäftigung? Was für welche denn? Romane schmökert sie, schlechte Bücher, Schriften gegen die Religion, in denen die Geistlichen verhöhnt werden mit Redensarten aus dem Voltaire! Armer Junge, das führt zu nichts Gutem, und wer kein guter Christ ist, mit dem nimmt es mal ein schlechtes Ende!“
Also ward beschlossen, Emma am Romanlesen zu hindern. Das schien nicht so einfach, aber Mutter Bovary nahm die Sache auf sich. Auf ihrer Heimreise wollte sie in Rouen persönlich zum Leihbibliothekar gehen und Emmas Abonnement abbestellen. Wenn der Mann trotzdem sein Vergiftungswerk fortsetzte, sollte man da nicht das Recht haben, sich an die Polizei zu wenden?
Der Abschied zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter war steif. In den drei Wochen ihres Beisammenseins hatten sie, abgesehen von den häuslichen Anordnungen und den höflichen Formeln bei Tisch und abends vor dem Zubettgehen, keine drei Worte gewechselt.
Die alte Frau Bovary reiste ab an einem Mittwoch, dem Markttage von Yonville. Vom frühen Morgen ab war an diesem Tage auf dem Marktplatz, gleichlaufend mit den Häusern von der Kirche bis zum Goldnen Löwen, eine lange Reihe von Leiterwagen aufgefahren, Fahrzeug an Fahrzeug, alle mit hochgespießten Deichseln. Auf der andern Seite des Platzes standen Zeltbuden, in denen Baumwollenwaren, Decken und Strümpfe feilgeboten wurden, daneben Pferdegeschirre und Haufen von bunten Bändern, deren Enden im Winde flatterten. Zwischen Eierpyramiden und Käsekörben, aus denen klebriges Stroh herausragte, lagen allerhand Eisenwaren auf dem Pflaster ausgebreitet. Neben Ackergerät gackerten Hühner in flachen Körben und steckten ihre Hälse durch die Luftlöcher. Die Menge schob sich, ohne zu weichen, gerade nach den Stellen, wo das Gedränge schon am dichtesten war. So geriet bisweilen das Schaufenster der Apotheke wirklich in Gefahr. An den Markttagen ward diese nie leer. Es standen immer eine Menge Leute darin, weniger um Arzneien zu kaufen als vielmehr um den Apotheker zu konsultieren. Herr Homais war in den benachbarten Ortschaften ein berühmter Mann. Seine rücksichtslose Sicherheit fing die Bauern. Sie hielten ihn für einen besseren Arzt als alle Doktoren im ganzen Lande.
Emma saß an ihrem Fenster, wie so oft. Das Fenster ersetzt in der Kleinstadt das Theater und den Korso. Sie belustigte sich über das wimmelnde Landvolk; da bemerkte sie einen Herrn in einem Rock von grünem Samt, mit gelben Handschuhen; sonderbarerweise trug er dazu derbe Gamaschen. Ein Bauersknecht mit gesenktem Kopf und recht trübseliger Miene folgte ihm. Beide gingen auf das Bovarysche Haus zu.
„Ist der Herr Doktor zu sprechen?“ fragte der Herr den Apothekergehilfen, der an der Haustüre mit Felicie plauderte. Er hielt ihn für den Diener des Arztes. „Melden Sie Herrn Rudolf Boulanger von der Hüchette.“
Es war keineswegs Eitelkeit, daß der Ankömmling sein Gut zu seinem Namen fügte. Er wollte nur genau angeben, wer er war. Die Hüchette war nämlich ein Rittergut in der Nähe von Yonville, das er samt zwei Meiereien unlängst gekauft hatte. Er bewirtschaftete es selber, jedoch ohne sich allzusehr dabei anzustrengen. Er war Junggeselle und hatte „so mindestens seine fünfzehntausend Franken“ im Jahr zu verzehren.
Karl begab sich in sein Sprechzimmer hinunter. Boulanger überwies ihm seinen Knecht, der einen Aderlaß wünsche, weil er am ganzen Körper ein Kribbeln wie von Ameisen habe.
„Das wird mich erleichtern“, wiederholte der Bursche auf alle Einwände. Bovary ließ sich nunmehr eine Leinwandbinde und eine Schüssel bringen. Er bat Justin, behilflich zu sein.
Dann wandte er sich an den Knecht, der schon ganz blaß geworden war.
„Nur keine Angst, mein Lieber!“
„Ach nee, Herr Doktor, machen Sie nur los!“ erwiderte er.
Dabei hielt er mit prahlerischer Gebärde seinen dicken Arm hin. Unter dem Stich der Lanzette sprang das Blut hervor und spritzte bis zum Spiegel hin.
„Die Schüssel!“ rief Karl.
„Donnerwetter!“ meinte der Knecht. „Das ist ja der reine Springbrunnen! Und wie rot das Blut ist! Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr?“
Bei diesen Worten sank der Mann mit einem Ruck in den Sessel zurück, daß die Lehne krachte.
„Das hab ich mir gleich gedacht!“ bemerkte Bovary, indem er mit den Fingern die angestochne Ader zudrückte. „Erst gehts ganz gut, dann kommt die Ohnmacht, gerade bei solchen robusten Kerlen wie dem da!“
Die Schüssel in Justins Händen geriet ins Schwanken. Die Knie schlotterten ihm; er wurde leichenfahl.
„Emma! Emma!“ rief der Arzt.
Mit einem Satze war sie die Treppe hinunter.
„Essig!“ rief ihr Karl zu. „Ach du mein Gott! Gleich zweie auf einmal!“
In seiner Aufregung konnte er kaum den Verband anlegen.
„'s ist weiter nichts!“ meinte Boulanger gelassen, der Justin aufgefangen hatte. Er setzte ihn auf die Tischplatte und lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand.
Frau Bovary machte sich daran, dem Ohnmächtigen das Halstuch aufzuknüpfen. Der Knoten wollte sich nicht gleich lösen, und so berührte sie ein paar Minuten lang leise mit ihren Fingern den Hals des jungen Burschen. Dann goß sie Essig auf ihr Batisttaschentuch, betupfte ihm ein paarmal behutsam die Schläfen und blies dann ein wenig darauf.
Der Knecht war bereits wieder munter, aber Justins Ohnmacht dauerte an. Seine Augäpfel verschwammen in ihrem bleichen Gallert wie blaue Blumen in Milch.
„Er darf das da nicht sehen!“ ordnete Karl an.
Frau Bovary ergriff die Schüssel und setzte sie unter den Tisch. Bei diesem Sichbücken bauschte sich ihr Rock (ein weiter gelber Rock mit vier Falbeln) um sie herum und stand wie steif auf der Diele, und je nach der Bewegung Emmas, die sich neigte, die Arme ausstreckte und sich dabei in den Hüften ein wenig hin und her drehte, wogte der Stoff auf und nieder. Dann nahm sie eine Wasserflasche und löste ein paar Stück Zucker in einem Glase.
In diesem Augenblicke trat der Apotheker ein. Das Mädchen hatte ihn vor Schreck herbeigeholt. Als er seinen Gehilfen wieder bei Bewußtsein sah, atmete er auf. Dann ging er um ihn herum und betrachtete sich ihn von oben bis unten.
„Dummkopf!“ brummte er. „Ein Dummkopf, wie er im Buche steht! Als obs wer weiß was wäre! Ein bißchen Aderlaß! Weiter nichts! Und das will ein forscher Kerl sein! Ja, wenn es gilt, von den höchsten Bäumen die Nüsse herunterzuholen, da klettert er wie ein Eichhörnchen ... Na, tu deinen Mund auf und zeig dich mal in deiner Gloria! Das sind ja nette Eigenschaften für einen, der mal Apotheker werden will! Ich sage dir: als Apotheker kommt man in die schwierigsten Lagen. So zum Beispiel vor Gericht als Sachverständiger. Da heißt es kaltblütig sein, hübsch ruhig überlegen und ein ganzer Mann sein! Sonst gilt man als Schwachmatikus ...“
Justin sagte kein Wort. Der Apotheker fuhr fort:
„Wer hat dir denn übrigens gesagt, daß du hierher gehen sollst? In einem fort belästigst du Herrn und Frau Doktor! Noch dazu an den Markttagen, wo du drüben so notwendig gebraucht wirst! Es warten zurzeit zwanzig Kunden im Laden. Deinetwegen habe ich alles stehn und liegen lassen. Marsch! Hinüber! Trab! Gib auf die Arzneien acht! Ich komme gleich nach!“
Als Justin seine Kleidung wieder in Ordnung gebracht hatte und fort war, plauderte man noch ein wenig über Ohnmachtanfälle. Frau Bovary sagte, sie hätte noch nie einen gehabt.
„Ja, bei Damen kommt so was sehr selten vor!“ behauptete Boulanger. „Es gibt aber auch Leute, die allzu zimperlich sind. Da hab ich gelegentlich eines Duells erlebt, daß ein Zeuge ohnmächtig wurde, als die Pistolen beim Laden knackten.“
„Was mich anbelangt,“ erklärte der Apotheker, „mich stört der Anblick fremden Blutes ganz und gar nicht. Aber der bloße Gedanke, ich selber könne bluten, der macht mich schwindlig, wenn ich nicht schnell an was andres denke.“
Inzwischen hatte Boulanger seinen Knecht fortgeschickt, nachdem er ihn ermahnt, sich nun zu beruhigen.
„Nun ists aber alle mit der Einbildung!“ sagte er ihm. „Die hat mir die Ehre Ihrer Bekanntschaft verschafft“, fügte er hinzu. Bei dieser Phrase blickte er Emma an. Dann legte er einen Taler auf die Tischecke, grüßte flüchtig und verschwand.
Bald darauf erschien er drüben auf dem andern Ufer des Baches. Das war sein Weg nach der Hüchette. Emma sah ihm von einem der Hinterfenster nach, wie er über die Wiesen ging, die Pappeln entlang, langsam wie einer, der über etwas nachdenkt.
„Allerliebst!“ sagte er bei sich. „Wirklich allerliebst, diese Doktorsfrau. Schöne Zähne, schwarze Augen, niedliche Füße und schick wie eine Pariserin! Zum Teufel, wo mag sie her sein? Wo mag sie dieser Schlot nur aufgegabelt haben?“
Rudolf Boulanger war vierunddreißig Jahre alt von roher Gemütsart und scharfem Verstand. Er hatte sich viel mit Weibern abgegeben und war Kenner auf diesem Gebiete. Die da gefiel ihm. Somit beschäftigte sie ihn in Gedanken, ebenso ihr Mann.
„Ich glaube, er ist mordsblöde. Sie hat ihn satt, zweifelsohne. Er hat dreckige Fingernägel und rasiert sich nur aller drei Tage. Wenn er seine Patienten abzurennen hat, sitzt sie daheim und stopft Strümpfe. Und langweilt sich. Sehnt sich nach der großen Stadt und möchte am liebsten alle Abende auf den Ball. Arme kleine Frau! So was schnappt nach Liebe wie ein Karpfen auf dem Küchentisch nach Wasser! Drei nette Worte, und sie ist futsch! Sicherlich! Das wär was fürs Herze! Scharmant! Aber wie kriegt man sie hinterher wieder los?“
Diese Einschränkung des in der Ferne stehenden Genusses erinnerte ihn — zum Kontrast — an seine Geliebte, eine Schauspielerin in Rouen, die er aushielt. Er vergegenwärtigte sich ihren Körper, dessen er sogar in der Vorstellung überdrüssig war.
„Ja, diese Frau Bovary,“ dachte er bei sich, „die ist viel hübscher, vor allem frischer. Virginie wird entschieden zu fett. Sie zu haben, ist langweilig. Dazu ihre alberne Leidenschaft für Krebse!“
Die Fluren waren menschenleer. Rudolf hörte nichts als das taktmäßige Rascheln der Halme, die er beim Gehen streifte, und das ferne Gezirpe der Grillen im Hafer. Er schaute Emma vor sich, in ihrer Umgebung, angezogen, wie er sie gesehen hatte. Und in der Phantasie entkleidete er sie.
„Oh, ich werde sie haben!“ rief er aus und zerschlug mit einem Schlage seines Spazierstockes eine Erdscholle, die im Wege lag.
Sodann überlegte er sich den taktischen Teil der Unternehmung. Er fragte sich:
„Wie kann ich mit ihr zusammenkommen? Wie bring ich das zustande? Sie wird egal ihr Baby im Arme haben. Und dann das Dienstmädel, die Nachbarn, der Mann und der unvermeidliche Klatsch! Ach was! Unnütze Zeitvergeudung!“
Nach einer Weile begann er von neuem:
„Sie hat Augen, die einem wie Bohrer in das Herz dringen! Und wie blaß sie ist ... Blasse Frauen sind meine Schwärmerei!“
Auf der Höhe von Argueil war sein Kriegsplan fertig.
„Ich brauche bloß noch günstige Gelegenheiten. Gut! Ich werde ein paarmal gelegentlich mit hingehen, ihnen Wildbret schicken und Geflügel. Nötigenfalls lasse ich mich ein bißchen schröpfen. Wir müssen gute Freunde werden. Dann lade ich die beiden zu mir ein ... Teufel noch mal, nächstens ist doch der Landwirtschaftliche Tag! Da wird sie hinkommen, da werde ich sie sehen! Dann heißts: Attacke! Und feste drauf! Das ist immer das Beste.“
Endlich war sie da, die berühmte Jahresversammlung der Landwirte! Vom frühen Morgen an standen alle Einwohner von Yonville an ihren Haustüren und sprachen von den Dingen, die da kommen sollten. Die Stirnseite des Rathauses war mit Efeugirlanden geschmückt. Drüben auf einer Wiese war ein großes Zelt für das Festmahl aufgeschlagen worden, und mitten auf dem Markte vor der Kirche stand ein Böller, der die Ankunft des Landrats und die Preiskrönung donnernd verkünden sollte. Die Bürgergarde von Büchy — in Yonville gab es keine — war anmarschiert und hatte sich mit der heimischen Feuerwehr, deren Hauptmann Herr Binet war, zu einem Korps vereinigt. Selbiger trug an diesem Tage einen noch höheren Kragen als gewöhnlich. In die Litewka eingezwängt, war sein Oberkörper so steif und starr, daß es aussah, als sei alles Leben in ihm in seine beiden Beine gerutscht, die sich parademarschmäßig bewegten. Da der Oberst der Bürgergarde und der Hauptmann der Feuerwehr eifersüchtig aufeinander waren, wollte jeder den andern ausstechen, und so exerzierten beide ihre Mannschaft für sich. Abwechselnd sah man die roten Epauletten und die schwarzen Schutzleder vorbeimarschieren und wieder abschwenken. Das ging immer wieder von neuem an und nahm schier kein Ende!
Noch nie hatte man in Yonville derartige Pracht und Herrlichkeit gesehen. Verschiedene Bürger hatten tags zuvor ihre Häuser abwaschen lassen. Weiß-rot-blaue Fahnen hingen aus den halboffnen Fenstern herab, alle Kneipen waren voll; und da schönes Wetter war, sahen die gestärkten Häubchen weißer wie Schnee aus, die Orden und Medaillen blitzten in der Sonne wie eitel Gold, und die bunten Tücher leuchteten buntscheckig aus dem tristen Einerlei der schwarzen Röcke und blauen Blusen hervor. Die Pächtersfrauen kamen aus den umliegenden Dörfern geritten; beim Absitzen zogen sie die langen Nadeln heraus, mit denen sie ihre Röcke hochgesteckt hatten, damit sie unterwegs nicht schmutzig werden sollten. Die Männer andrerseits hatten zum Schutze ihrer Hüte die Sacktücher darüber gezogen, deren Zipfel sie mit den Zähnen festhielten.
Die Menge strömte von beiden Enden des Orts auf der Landstraße heran und ergoß sich in alle Gassen, Alleen und Häuser. Überall klingelten die Türen, um die Bürgerinnen herauszulassen, die in Zwirnhandschuhen nach dem Festplatze wallten.
Zwei mit Lampions behängte hohe Taxusbäume, zu beiden Seiten der vor dem Rathause errichteten Estrade für die Ehrengäste, erregten ganz besonders die allgemeine Bewunderung. Übrigens hatte man an den vier Säulen am Rathause so etwas wie vier Stangen aufgepflanzt; jede trug eine Art Standarte aus grüner Leinwand. Auf der einen las man: HANDEL, auf der zweiten: ACKERBAU, der dritten: INDUSTRIE, der vierten: KUNST UND WISSENSCHAFT.
Die Freudensonne, die auf allen Gesichtern zu leuchten begann, warf auch ihren Schatten und zwar auf das Antlitz der Frau Franz, der Löwenwirtin. Auf der kleinen Vortreppe ihres Gasthofes stehend, räsonierte sie vor sich hin:
„So eine Torheit! So eine Eselei, eine Leinwandbude aufzubaun! Glaubt diese Bagage wirklich, daß der Herr Landrat besonders ergötzt sein wird, wenn er unter einem Zeltdache dinieren soll, wie ein Seiltänzer? Dabei soll der ganze Rummel der hiesigen Gegend zugute kommen! War es wirklich der Mühe wert, extra einen Koch aus Neufchâtel herkommen zu lassen? Für wen übrigens? Für Kuhjungen und Lumpenpack!“
Der Apotheker ging vorüber in schwarzem Rock, gelben Buxen, Lackschuhen und — ausnahmsweise (statt des gewohnten Käppchens) — einem Hut von niedriger Form.
„Ihr Diener!“ sagte er. „Ich habs eilig!“
Als die dicke Witwe ihn fragte, wohin er ginge, erwiderte er:
„Es kommt Ihnen komisch vor, nicht wahr? Ich, der ich sonst den ganzen Tag in meinem Laboratorium stecke wie eine Made im Käse ...“
„In was für Käse?“ unterbrach ihn die Wirtin.
„Nein, nein. Das ist nur bildlich gemeint“, entgegnete Homais. „Ich wollte damit nur sagen, Frau Franz, daß es im allgemeinen meine Gewohnheit ist, zu Hause zu hocken. Heute freilich muß ich in Anbetracht ...“
„Ah! Sie gehen auch hin?“ fragte sie in geringschätzigem Tone.
„Gewiß gehe ich hin!“ sagte der Apotheker erstaunt. „Ich gehöre ja zu den Preisrichtern!“
Die Löwenwirtin sah ihn ein paar Sekunden an, schließlich meinte sie lächelnd:
„Das ist was anders! Aber was geht Sie eigentlich die Landwirtschaft an? Verstehen Sie denn was davon?“
„Selbstverständlich verstehe ich etwas davon! Ich bin doch Pharmazeut, also Chemiker. Und die Chemie, Frau Franz, beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen und den Molekularverhältnissen aller Körper, die in der Natur vorkommen. Folglich gehört auch die Landwirtschaft in das Gebiet meiner Wissenschaft. In der Tat, die Zusammensetzung der Düngemittel, die Gärungen der Säfte, die Analyse der Gase und die Wirkung der Miasmen .., ich bitte Sie, was ist das weiter als pure bare Chemie?“
Die Löwenwirtin erwiderte nichts, und Homais fuhr fort:
„Glauben Sie denn: um Agronom zu sein, müsse man selber in der Erde gebuddelt oder Gänse genudelt haben? Keine Spur! Aber die Beschaffenheit der Substanzen, mit denen der Landwirt zu tun hat, die muß man unbedingt studiert haben, die geologischen Gruppierungen, die atmosphärischen Vorkommnisse, die Beschaffenheit des Erdbodens, des Gesteins, des Wassers, die Dichtigkeit der verschiedenen Körper und ihre Kapillarität! Und tausend andre Dinge! Dazu muß man mit den Grundsätzen der Hygiene völlig vertraut sein, um den Bau von Gebäuden, die Unterhaltung der Haus- und Arbeitstiere und die Ernährung der Dienstboten leiten und kontrollieren zu können. Fernerhin, Frau Franz, muß man die Botanik intus haben. Man muß die Pflanzen unterscheiden können, verstehen Sie, die nützlichen von den schädlichen, die nutzlosen und die nahrhaften, welche Arten man vertilgen und welche man pflegen, welche man hier wegnehmen und dort anpflanzen muß. Kurz und gut, man muß sich in der Wissenschaft auf dem Laufenden halten, indem man die Broschüren und die öffentlichen Bekanntmachungen liest, und immer auf dem Damme sein, um mit dem Fortschritte zu gehen ...“
Die Wirtin ließ unterdessen den Eingang des Café Français nicht aus den Augen. Der Apotheker redete weiter:
„Wollte Gott, unsre Agrarier wären zugleich Chemiker, oder sie hörten wenigstens besser auf die Ratschläge der Wissenschaft! Da habe ich kürzlich selbst eine große Abhandlung verfaßt, eine Denkschrift von mehr als 72 Seiten, betitelt: „Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung. Nebst einigen neuen Betrachtungen hierüber.“ Ich habe sie der „Rouener Agronomischen Gesellschaft“ übersandt, die mich daraufhin unter ihre Ehrenmitglieder (Sektion Landwirtschaft, Abteilung für Pomologie) aufgenommen hat. Ja, wenn so ein Werk gedruckt erschiene ...“
Der Apotheker hielt ein. Er merkte, daß Frau Franz von etwas ganz andrem in Anspruch genommen war.
„Sehr richtig!“ unterbrach er sich selber. „Eine unglaubliche Spelunke!“
Die Löwenwirtin zuckte so heftig die Achseln, daß sich die Maschen ihrer Trikottaille weit auseinanderzogen. Mit beiden Händen deutete sie auf das Konkurrenzlokal, aus dem wüster Gesang herüberhallte.
„Na! Lange wird die Herrlichkeit da drüben nicht mehr dauern!“ bemerkte sie. „In acht Tagen ist der Rummel alle!“
Homais trat erschrocken einen Schritt zurück. Die Wirtin kam die drei Stufen herunter und flüsterte ihm ins Ohr:
„Was? Das wissen Sie nicht? Noch in dieser Woche wird er ausgepfändet und festgesetzt. Lheureux hat ihm den Hals abgeschnitten. Mit Wechseln!“
„Eine fürchterliche Katastrophe!“ rief der Apotheker aus, der für alle möglichen Ereignisse immer das passende Begleitwort zur Hand hatte.
Die Löwenwirtin begann ihm nun die ganze Geschichte zu erzählen. Sie wußte sie von Theodor, dem Diener des Notars. Obgleich sie Tellier, den Besitzer des Café Français, nicht ausstehen konnte, mißbilligte sie doch das Vorgehen von Lheureux. Sie nannte ihn einen Gauner, einen Halsabschneider.
„Da! Sehen Sie!“ fügte sie hinzu. „Da geht er! Unter den Hallen! Jetzt begrüßt er Frau Bovary. Sie hat einen grünen Hut auf und geht am Arm von Herrn Boulanger.“
„Frau Bovary!“ echote Homais. „Ich muß ihr schnell guten Tag sagen. Vielleicht ist ihr ein reservierter Platz auf der Tribüne vor dem Rathause erwünscht.“
Ohne auf die Löwenwirtin zu hören, die ihm ihre lange Geschichte weitererzählen wollte, stolzierte der Apotheker davon. Mit lächelnder Miene grüßte er nach links und rechts, wobei ihn die langen Schöße seines schwarzen Rockes im Winde umflatterten, daß er wer weiß wieviel Raum einnahm.
Rudolf hatte ihn längst bemerkt. Er beschleunigte seine Schritte.
Da aber Emma außer Atem kam, ging er wieder langsamer. Lachend und in brutalem Tone sagte er zu ihr:
„Ich wollte nur dem Dicken entgehen, wissen Sie, dem Apotheker!“
Sie versetzte ihm eins mit dem Ellbogen.
„Was soll das heißen?“ fragte er sie. Dabei blinzelte er sie im Weitergehen von der Seite an.
Ihr Gesicht blieb unbeweglich; nichts darin verriet ihre Gedanken. Die Linie ihres Profils schnitt sich scharf in die lichte Luft, unter der Rundung ihres Kapotthutes, dessen blaßfarbene Bindebänder wie Schilfblätter aussahen. Ihre Augen blickten geradeaus unter ihren etwas nach oben gebogenen langen Wimpern. Obgleich sie völlig geöffnet waren, erschienen sie doch ein wenig zugedrückt durch den oberen Teil der Wangen, weil das Blut die feine Haut straffte. Durch die Nasenwand schimmerte Rosenrot, und zwischen den Lippen glänzte das Perlmutter ihrer spitzen Zähne. Den Kopf neigte sie zur einen Schulter.
„Mokiert sie sich über mich?“ fragte sich Rudolf.
In Wirklichkeit hatte der Ruck, den ihm Emma versetzt hatte, nur ein Zeichen sein sollen, daß Lheureux neben ihnen herlief. Von Zeit zu Zeit redete der Händler die beiden an, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
„Ein herrlicher Tag heute! — Alle Welt ist auf den Beinen! — Wir haben Ostwind!“
Frau Bovary wie Rudolf gaben kaum eine Antwort, während Lheureux bei der geringsten Bewegung, die eins der beiden machte, mit einem ewigen „Wie meinen?“ dazwischenfuhr, wobei er jedesmal den Hut lüftete.
Vor der Schmiede bog Rudolf mit einem Male von der Hauptstraße ab in einen Fußweg ein. Er zog Frau Bovary mit sich und rief laut:
„Leben Sie wohl, Herr Lheureux! Viel Vergnügen!“
„Den haben Sie aber fein abgeschüttelt!“ lachte Emma.
„Warum sollen wir uns von fremden Leuten belästigen lassen?“ meinte Rudolf. „Noch dazu heute, wo ich das Glück habe, mit Ihnen ...“
Sie wurde rot. Er vollendete seine Phrase nicht und sprach vom schönen Wetter und wie hübsch es sei, so durch die Fluren spazieren zu gehen.
Ein paar Gänseblümchen standen am Raine.
„Die niedlichen Dinger da!“ sagte er. „Und so viele! Genug Orakel für die verliebten Mädels des ganzen Landes!“ Ein paar Augenblicke später setzte er hinzu: „Soll ich welche pflücken? Was denken Sie darüber?“
„Sind Sie denn verliebt?“ fragte Emma und hustete ein wenig.
„Wer weiß?“ meinte Rudolf.
Sie kamen auf die Festwiese, auf der das Gedränge immer mehr zunahm. Bauersfrauen mit Riesenregenschirmen, einen Korb am einen und einen Säugling im andern Arme, rempelten sie an. Häufig mußten sie Platz machen, wenn eine lange Reihe nach Milch riechender Dorfschönen in blauen Strümpfen, derben Schuhen und silbernen Ohrringen vorbeizog, alle Hand an Hand.
Die Preisverteilung fand statt. Die Züchter traten, einer nach dem andern, in eine Art Arena, die durch ein langes Seil an Pfählen gebildet wurde. Innerhalb des so abgegrenzten Raumes standen die Tiere, mit den Schnauzen nach außen, die ungleich hohen Kruppen in einer unordentlichen Richtungslinie. Schläfrige Schweine wühlten mit ihren Rüsseln in der Erde. Kälber brüllten, Schafe blökten. Kühe lagen hingestreckt, die Bäuche im Grase, die Beine eingezogen, kauten gemächlich wieder und zuckten mit ihren schwerfälligen Lidern, wenn die sie umschwärmenden Bremsen stachen. Pferdeknechte, die Arme entblößt, hielten an Trensenzügeln steigende Zuchthengste, die mit geblähten Nüstern nach der Seite hin wieherten, wo die Stuten standen. Diese verhielten sich friedlich und ließen die Köpfe und Mähnen hängen, während ihre Füllen in ihrem Schatten ruhten und ab und zu an ihnen saugten. Über der wogenden Masse aller dieser Leiber sah man von weitem hie und da das Weiß einer Mähne wie eine Springflut im Winde aufwehen oder ein spitzes Horn hervorspringen, und überall dazwischen die Häupter wimmelnder Menschen. Außerhalb der Umseilung, etwa hundert Schritte davon entfernt, stand — unbeweglich wie aus Bronze gegossen — ein großer schwarzer Stier mit verbundenen Augen und einem Eisenring durch die Nase. Ein zerlumptes Kind hielt ihn an einem Stricke.
Ein paar Herren schritten langsam zwischen den beiden Reihen hin, besichtigten jedes Tier einzeln und eingehend und berieten sich jedesmal hinterher in flüsternder Weise. Einer von ihnen, offenbar der Einflußreichste, schrieb im Gehen Bemerkungen in ein Buch. Das war der Vorsitzende der Preisrichter, Herr Derozerays, Besitzer des Rittergutes La Panville. Als er Rudolf bemerkte, ging er lebhaft auf ihn zu und sagte verbindlich-freundlich zu ihm:
„Herr Boulanger, Sie lassen uns ja im Stich?“
Rudolf versicherte, er werde gleich zur Stelle sein. Als er jedoch außer Hörweite des Vorsitzenden war, meinte er:
„Der Fuchs soll mich holen, wenn ich hinginge! Ich bleibe lieber bei Ihnen!“
Er machte seine Witze über das Preisrichterkollegium, was ihn aber nicht abhielt, seinen eignen Ausweis als Mitglied des Festausschusses mit Grandezza zu zeigen, wenn er irgendwo durchwollte, wo ein Schutzmann stand. Mehrfach blieb er auch vor dem oder jenem „Prachtstück“ stehen. Frau Bovary bewunderte nichts mit. Das beobachtete er, und nun begann er spöttische Bemerkungen über die Toiletten der Damen von Yonville loszulassen. Dabei entschuldigte er sich, daß er selber auch nicht elegant gehe. Seine Kleidung war ein Nebeneinander von Alltäglichkeit und Ausgesuchtheit. Der oberflächliche Menschenkenner hält derlei meist für das äußere Kennzeichen einer exzentrischen Natur, die bizarr in ihrem Gefühlsleben, künstlerisch beanlagt und allem Herkömmlichen abhold ist, und empfindet Ärgernis oder Bewunderung davor. Rudolfs weißes Batisthemd mit gefälteten Manschetten bauschte sich im Ausschnitt seiner grauen Flanellweste, wie es dem Winde gerade gefiel; seine breitgestreiften Hosen reichten nur bis an die Knöchel und ließen die gelben Halbschuhe ganz frei, auf deren spiegelblanke Lackspitzen das Gras Reflexe warf. Er trat unbekümmert in die Pferdeäpfel. Eine Hand hatte er in der Rocktasche, und der Hut saß ihm schief auf dem Kopfe.
„Ein Bauer wie ich ...“, meinte er.
„Bei dem ist Hopfen und Malz verloren“, scherzte Emma.
„Sehr richtig! Übrigens ist kein einziger von all diesen Biedermännern imstande, den Schnitt eines Rockes zu beurteilen.“
Dann sprachen sie von dem Leben in der Provinz, wo die Eigenart des einzelnen erstickt und das Leben keinen Schwung hat.
„Darum verfalle ich der Melancholie ...“, sagte er.
„Sie?“ erwiderte Emma erstaunt. „Ich halte Sie gerade für sehr lebenslustig.“
„Ach, das sieht nur so aus! Weil ich vor den Leuten die Maske des Spötters trage. Aber wie oft habe ich mich beim Anblick eines Friedhofes im Mondenscheine gefragt, ob einem nicht am wohlsten wäre, wenn man schliefe, wo die Toten schlafen ...“
„Sie haben doch Freunde. Vergessen Sie die nicht!“
„Ich? Freunde? Welche denn? Ich habe keine. Um mich kümmert sich niemand.“
Dabei gab er einen pfeifenden Ton von sich.
Sie mußten sich einen Augenblick voneinander trennen, weil sich ein Mann zwischen sie drängte, der einen Turm von Stühlen schleppte. Er war derartig überladen, daß man nichts von ihm sah als seine Holzpantoffeln und seine Ellbogen. Es war Lestiboudois, der Totengräber, der ein Dutzend Kirchenstühle herbeischaffte. Findig, wie er immer war, wo es etwas zu verdienen gab, war er auf den Einfall gekommen, aus dem Bundestage seinen Vorteil zu schlagen. Und damit hatte er sich nicht verrechnet; er wußte gar nicht, wen er zuerst befriedigen sollte. Die Bauern, denen es heiß war, rissen sich förmlich um diese Stühle, deren Strohsitze nach Weihrauch dufteten. Sie lehnten sich mit wahrer Kirchenstimmung gegen die hohen wachsbeklecksten Stuhlrücken.
Frau Bovary nahm Rudolfs Arm von neuem. Er fuhr fort, als spräche er mit sich selbst.
„Ja, ja! Ich habe vieles entbehren müssen! Immer einsam! Ach, wenn mein Dasein einen Zweck gehabt hätte, wenn ich einer großen Leidenschaft begegnet wäre, wenn ich ein Herz gefunden hätte ... Oh, alle meine Lebenskraft hätte ich daran gesetzt, ich wäre über alle Hindernisse hinweggestürmt, hätte alles überwunden ...“
„Mich dünkt, Sie seien gar nicht besonders beklagenswert“, wandte Emma ein.
„So, finden Sie?“
„Zum mindesten sind Sie frei ...“ Sie zögerte. „... und reich!“
„Spotten Sie doch nicht über mich!“ bat er.
Sie beteuerte, es sei ihr Ernst. Da donnerte ein Böllerschuß. Alsbald wälzte und drängte sich alles der Ortschaft zu. Aber es war ein falscher Alarm gewesen. Der Landrat war noch gar nicht da. Der Festausschuß war nun in der größten Verlegenheit. Sollte der feierliche Akt beginnen, oder sollte man noch warten?
Endlich tauchte an der Ecke des Marktes eine riesige Mietkutsche auf, von zwei mageren Gäulen gezogen, auf die ein Kutscher im Zylinderhut aus Leibeskräften mit der Peitsche loshieb.
Binet, der Feuerwehrhauptmann, kommandierte in aller Hast:
„An die Gewehre!“
Und der Oberst der Bürgergarde brüllte das Echo dazu.
Hals über Kopf stürzte man an die Gewehrpyramiden. Etliche der Bürgergardisten vergaßen in der Eile, sich den Kragen zuzuknöpfen. Aber der Landauer des Herrn Landrats schien die Verwirrung zum Glück zu ahnen. Die beiden Pferde kamen im langsamsten Zotteltrabe gerade in dem Moment vor der Vorhalle des Rathauses an, als sich Feuerwehr und Bürgergarde in Reih und Glied unter Trommelschlag davor aufgestellt hatten.
„Stillgestanden! Präsentiert das Gewehr!“ kommandierte Binet.
„Stillgestanden! Präsentiert das Gewehr!“ der Oberst auf der andern Seite.
Die Trageringe rasselten in den Reihen, als ob ein Kupferkessel eine Treppe hinunterkollerte. Die Gewehre flogen nur so.
Nun sah man einen Herrn aus der Karosse steigen, in einer silberbestickten Hofuniform. Er hatte eine große Glatze, ein Toupet auf dem Hinterhaupte, sah blaß im Gesicht aus und war offenbar sehr leutselig. Um die Menschenmenge besser zu sehen, kniff er seine Augen, die zwischen dicken Lidern hervorquollen, halb zusammen, wobei er gleichzeitig seine spitzige Nase hob und seinen eingefallenen Mund zum Lächeln verschob. Er erkannte den Bürgermeister an seiner Schärpe und teilte ihm mit, daß der Landrat verhindert sei, persönlich zu kommen. Er selber sei Regierungsrat. Es folgten noch ein paar verbindliche Redensarten.
Tüvache, der Bürgermeister, begrüßte ihn ehrerbietig. Der Rat erklärte, er fühle sich beschämt. Die beiden standen sich dicht gegenüber, Angesicht zu Angesicht; um sie herum der Festausschuß, der Gemeinderat, die Honoratioren, die Bürgergarde und das Publikum. Der Regierungsrat schwenkte seinen kleinen schwarzen Dreimaster gegen die Brust und sagte ein paar Begrüßungsworte. Währenddem klappte Tüvache in einem fort wie ein Taschenmesser zusammen, lächelnd, stotternd, nach Worten suchend. Darauf beteuerte er die Königstreue der Yonviller und dankte für die ihnen widerfahrene große Ehre.
Hippolyt, der Hausknecht aus dem Goldnen Löwen, nahm die Pferde der Kutsche an den Kandaren und zog das Gefährt humpelnd nach dem Gasthofe, an dessen Hoftor ein Schwarm von gaffenden Landleuten stand. Die Trommeln wirbelten, der Böller krachte.
Die Herren vom Festausschuß begaben sich nun auf die vor dem Rathause errichtete Estrade und setzten sich in die roten Plüschsessel, die von der Frau Bürgermeisterin zur Verfügung gestellt worden waren.
Alle die Männer glichen einander. Alle hatten sie ausdruckslose blonde, apfelweinfarbene Gesichter, die von der Sonne etwas gebräunt waren, buschige Backenbärte, die sich unter hohen steifen Halskragen verloren, und weiße, sorglich gebundene Krawatten. Die Samtweste fehlte keinem, ebensowenig an den Uhrketten das ovale Petschaft aus Karneol. Alle stemmten sie die Arme auf die Schenkel, nachdem sie die Falten des Beinkleides sorgsam zurechtgestrichen hatten. Das nicht dekatierte Hosentuch glänzte mehr als das Leder ihrer derben Stiefel.
Die Damen der Gesellschaft hielten sich hinter der Estrade auf, unter der Vorhalle zwischen den Säulen, während die große Menge dem Rathause gegenüber stand oder teilweise auf Stühlen saß. Der Kirchendiener hatte die erst nach der Wiese getragenen Stühle rasch wieder hierhergeschleppt und brachte immer noch mehr aus der Kirche herzu. Durch seinen Handel entstand ein derartiges Gedränge, daß man nur mit Mühe und Not zu der kleinen Treppe der Estrade dringen konnte.
„Ich finde,“ sagte Lheureux zu dem Apotheker, der sich nach der Estrade durchdrängelte und gerade an ihm vorüberkam, „man hätte zwei venezianische Maste aufpflanzen und sie mit irgendeinem schweren kostbaren Stoff drapieren sollen, mit einer Nouveauté. Das würde sehr hübsch ausgesehen haben!“
„Gewiß!“ meinte Homais. „Aber Sie wissen ja! Der Bürgermeister macht alles bloß nach seinem eignen Kopfe. Er hat nicht viel Geschmack, der gute Tüvache, und künstlerischen Sinn nun gleich gar nicht!“
Mittlerweile waren Rudolf und Emma in den ersten Stock des Rathauses gestiegen, in den Sitzungssaal. Da dieser leer war, erklärte Boulanger, das wäre so recht der Ort, das Schauspiel bequem zu genießen. Er nahm zwei Stühle von dem ovalen Tisch, der unter der Büste von Majestät stand, und trug sie an eins der Fenster.
Die beiden setzten sich nebeneinander hin.
Unten auf der Estrade ging es lebhaft her. Alles plauderte und tuschelte. Da erhob sich der Regierungsrat von seinem Sitze. Man hatte inzwischen erfahren, daß er Lieuvain hieß, und nun lief sein Name von Mund zu Mund durch die Menge. Nachdem er ein paar Zettel geordnet und sich dicht vor die Augen gehalten hatte, begann er:
„Meine Herren!
Ehe ich auf den eigentlichen Zweck der heutigen Versammlung eingehe, sei es mir zunächst gestattet, — und ich bin überzeugt, Sie sind insgesamt damit einverstanden! — sei es mir gestattet, sage ich, der Behörden und der Regierung zu gedenken, vor allem, meine Herren, Seiner Majestät, unsers allergnädigsten und allverehrten Landesherrn, dem jedes Gebiet der öffentlichen und privaten Wohlfahrt am Herzen liegt, der mit sicherer und kluger Hand das Staatsschiff durch die unaufhörlichen Gefahren eines stürmischen Ozeans lenkt und dabei jedem sein Recht läßt, dem Frieden wie dem Kriege, der Industrie, dem Handel, der Landwirtschaft, den Künsten und Wissenschaften ...“
„Vielleicht setze ich mich ein wenig weiter zurück“, sagte Rudolf.
„Warum?“ fragte Emma.
In diesem Augenblicke bekam die Stimme des Regierungsrates besonderen Schwung. Er deklamierte:
„Die Zeiten sind vorüber, meine Herren, wo die Zwietracht der Bürger unsre öffentlichen Plätze mit Blut besudelte, wo der Grundbesitzer, der Kaufmann, ja selbst der Arbeiter, wenn er abends friedlich schlafen ging, befürchten mußte, durch das Stürmen der Brandglocken jäh wieder aufgeschreckt zu werden, wo Umsturzideen frech an den Grundfesten rüttelten ...“
„Nur weil man mich von unten bemerken könnte“, gab Rudolf zur Antwort. „Dann müßte ich mich vierzehn Tage lang entschuldigen. Und bei meinem schlechten Rufe ...“
„Sie verleumden sich“, warf Emma ein.
„I wo! Der ist unter aller Kritik! Das schwör ich Ihnen.“
„Meine Herren!“ fuhr der Redner fort. „Wenn wir unsre Blicke von diesen düstern Bildern der Vergangenheit abwenden und auf den gegenwärtigen Zustand unsers schönen Vaterlandes richten: was sehen wir da? Überall stehen Handel, Wissenschaften und Künste in Blüte, überall erwachsen neue Verkehrswege und -mittel, gleichsam wie neue Adern im Leibe des Staates, und schaffen neue Beziehungen, neues Leben. Unsre großen Industriezentren sind von neuem in vollster Tätigkeit. Die Religion ist gekräftigt und wärmt wieder aller Herzen. Unsre Häfen strotzen, der Staatskredit ist fest. Frankreich atmet endlich wieder auf ...“
„Das heißt,“ sagte Rudolf, „vom gesellschaftlichen Standpunkt hat man vielleicht recht.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte sie.
„Wissen Sie denn nicht,“ erläuterte er, „daß es problematische Naturen gibt? Halb Träumer, halb Tatenmenschen? Heute leben sie den hehrsten Idealen und morgen den wildesten Genüssen. Nichts ist ihnen zu toll, zu phantastisch ...“
Sie blickte ihn an, wie man einen Polarfahrer anschaut. Dann sagte sie:
„Uns armen Frauen dagegen, uns sind die Freuden solcher Kontraste verboten!“
„Schöne Freuden!“ entgegnete er bitter. „Das Glück liegt wo ganz anders!“
„Ach, so findet mans nirgends?“
„Doch! Eines Tages begegnet man dem Glück!“ flüsterte er.
„Und das wissen Sie alle gerade am besten,“ fuhr der Regierungsrat fort, „Sie, die Sie Landwirte und Landarbeiter sind, friedliche Vorkämpfer eines Kulturideals, Männer des Fortschrittes und der Ordnung! Sie wissen das, sage ich, daß politische Stürme weit furchtbarer sind denn Stürme in der Natur ...“
„Ja, eines Tages begegnet man ihm!“ wiederholte Rudolf, „ganz unerwartet, gerade wenn man alle Hoffnung verloren hat! Dann öffnet sich der Himmel, und es ist einem, als riefe eine Stimme: ‚Hier ist das Glück!‘ Und dem Menschen, den Sie da gefunden haben, dem müssen Sie aus innerm Drange heraus ihr Leben anvertrauen, ihm alles geben, alles opfern! Es werden keine Worte gewechselt. Alles ist nur Ahnung, Gefühl! Man hat sich ja längst im Traumland gesehen ...“
Er blickte Emma an.
„Endlich ist er da, der Schatz, den man so lange gesucht hat, leibhaftig da! Er glänzt und strahlt! Noch immer hält man ihn für ein Traumbild. Man wagt nicht, an ihn zu glauben. Man ist geblendet, als käme man plötzlich aus der Nacht in die Sonne ...“
Rudolf begleitete seine Worte mit Gebärden. Er preßte die Rechte auf sein Gesicht wie jemand, dem es schwindelt. Dann ließ er sie auf Emmas Hand sinken. Sie zog sie weg.
Der Rat sprach immer weiter:
„Wen könnte das auch verwundern, meine Herren? Höchstens Leute, die so blind wären, so verbohrt (ich scheue mich nicht, dieses Wort zu gebrauchen!), so verbohrt in die Vorurteile abgetaner Zeiten, daß sie die Gesinnung der Landwirte noch immer verkennen. Wo findet man, frage ich, mehr Patriotismus als auf dem Lande? Wo mehr Opferfreudigkeit in Dingen des Gemeinwohls? Mit einem Worte: wo mehr Intelligenz? Meine Herren, ich meine natürlich nicht jene oberflächliche Intelligenz, mit der sich müßige Geister brüsten, nein, ich meine die gründliche und maßvolle Intelligenz, die sich nur mit ersprießlichen Absichten betätigt und damit dem Vorteile des Einzelnen wie der Förderung der Allgemeinheit dient und eine Stütze des Staates ist, durchdrungen von der Achtung vor den Gesetzen und dem Gefühle der Pflichterfüllung ...“
„Pflichterfüllung!“ wiederholte Rudolf. „Immer und überall die Pflicht! Wie mich dieses Wort anwidert! Ein Chor von alten Schafsköpfen in Schlafröcken und von Betschwestern mit Wärmbullen und Gesangbüchern krächzt uns ewig die alte Litanei vor: ‚Die Pflicht, die Pflicht!‘ Der Teufel soll sie holen! Unsre Pflicht ist es, alles Große in der Welt mitzufühlen, das Schöne anzubeten und sich nicht immer gleich unter alle möglichen gesellschaftlichen Konvenienzen zu ducken, sich nicht zu Sklaven herabwürdigen zu lassen ...“
„Indessen ... indessen ...“, wandte Emma ein.
„Nein, nein! Warum immer gegen die Leidenschaften kämpfen? Sind sie nicht vielmehr das Allerschönste, was es auf Erden gibt, der Quell des Heldensinns, der Begeisterung, der Dichtung, der Musik, aller Künste, alles Lebens im wahren Sinne?“
„Aber man muß sich doch ein wenig nach den Leuten richten und sich ihrer Moral fügen“, meinte Emma.
„So! Das ist dann eben die doppelte Moral,“ eiferte er. „Die eine: die kleinliche, herkömmliche, die der Leute, die in einem fort ein andres Gesicht zieht, immer Ach und Weh schreit, im trüben fischt und auf dem Erdboden kriecht. Das ist die all der versammelten Troddel da unten. Und die andre: die göttliche, die um uns ist und über uns wie die Landschaft, die uns umprangt, und der blaue Himmel, der über uns leuchtet ...“
Lieuvain wischte sich den Mund mit dem Taschentuche, dann sprach er weiter:
„Soll ich Ihnen, meine Herren, den Nutzen der Landwirtschaft hier noch im einzelnen darlegen? Wer sorgt für unser täglich Brot? Wer schafft uns die Unterhaltungsmittel? Tut es nicht der Landmann? Er und kein anderer? Meine Herren, dem Landmann, der mit seiner schwieligen Hand das Saatkorn in die fruchtbringenden Furchen sät, verdanken wir das Getreide, das dann, von sinnreichen Maschinen zu Mehl gemahlen, in die Städte zu den Bäckern kommt, die Brot daraus backen für arm und reich! Ist es nicht der Landmann, der auf den Weiden die Schafherden hütet, damit wir Kleider haben? Wie sollten wir uns anziehen, wie uns nähren, ohne die Landwirtschaft? Aber, meine Herren, wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Hat nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tierchens nachgedacht, das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unsern Tisch und die Eier schenkt? Ich käme nicht zu Ende, wenn ich alle die andern verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht! Der Flachsbau hat in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders hinlenken möchte ...“
Dieser Appell war eigentlich unnötig, denn die Menge lauschte offenen Mundes und ließ sich kein Wörtchen entgehen. Der Bürgermeister, der zur Seite des Redners saß, horchte mit aufgerissenen Augen. Derozerays schloß die seinen hin und wieder voller Andacht. Und der Apotheker, der seinen Platz etwas weiter weg hatte, hielt sich eine Hand ans Ohr, um Silbe für Silbe ordentlich zu verstehen. Die übrigen Preisrichter nickten bedächtig mit den gesenkten Häuptern, um ihre Zustimmung zu erkennen zu geben. Die Feuerwehr stützte sich auf ihre Gewehre, und Binet stand immer noch stramm da im Stillgestanden und mit vorschriftsmäßiger Säbelhaltung. Hören konnte er vielleicht, aber sehen nicht, weil ihm die Blende seines Helms bis über die Nase reichte. Sein Leutnant, der jüngste Sohn des Bürgermeisters, hatte einen noch größeren auf. Dieses Ungetüm wackelte ihm fortwährend auf dem Kopfe hin und her. Überdies sah der Zipfel eines seidnen Tuches hervor, das er untergestopft hatte. Er lächelte wie ein artiges Kind unter dem Helme hervor, und sein schmales blasses Gesicht, über das Schweißtropfen rannen, verriet zugleich helle Freude und müde Abspannung.
Der Marktplatz war bis an die Häuser heran voller Menschen. In allen Fenstern erblickte man Leute, ebenso auf allen Türschwellen. Vor dem Schaufenster der Apotheke stand Justin, ganz versunken in das Schauspiel vor seinen Augen. Trotzdem um den Redner herum Stille herrschte, verlor sich seine Stimme doch bereits in einiger Entfernung im Winde. Nur einzelne abgerissene Worte drangen weiter, von denen das Geräusch hin- und hergerückter Stühle auch noch einen Teil verschlang. Noch weiter weg vernahm man dicht hinter sich langgedehntes Rindergebrüll oder das Blöken der Schafe, die sich einander antworteten. Die Kuhjungen und Hirten hatten nämlich ihre Tiere inzwischen bis auf den Markt getrieben, wo sie sich nun von Zeit zu Zeit laut bemerkbar machten.
Rudolf war dicht an Emma herangerückt und flüsterte ihr hastig zu:
„Muß einen diese Tyrannei der Gesellschaft denn nicht zum Rebellen machen? Gibt es ein einziges Gefühl, das sie nicht verdammt? Die edelsten Triebe, die reinsten Neigungen werden von ihr verfolgt und verleumdet, und wenn sich zwei arme Herzen trotz alledem finden, so verbündet sich alles, damit sie einander nicht gehören können. Aber sie werden es dennoch versuchen, sie regen ihre Flügel, und sie rufen sich. Früher oder später, in sieben Monaten oder in sieben Jahren, sind sie doch vereint in ihrer Liebe, weil es das Schicksal so will und weil sie füreinander geschaffen sind ...“
Er hatte die Arme verschränkt und stützte sie auf seine Knie, und so schaute er Emma an, ganz aus der Nähe, mit starrem Blicke. Sie konnte in seinen Augen die kleinen goldnen Kreislinien sehen, um die schwarzen Pupillen herum, und sie roch sogar das leise Parfüm in seinem Haar. Wollüstige Müdigkeit überfiel sie. Der Vicomte, mit dem sie im Schlosse Vaubyessard getanzt hatte, kam ihr in den Sinn. Sein Bart hatte genau so geduftet wie dieses Haar, nach Vanille und Zitronen. Unwillkürlich schloß sie die Augenlider, um den Geruch stärker zu spüren. Aber als sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte, fiel ihr Blick gerade auf die alte Postkutsche, fern am Horizonte, die langsam die Höhe von Leux herabfuhr und eine lange Staubwolke nach sich zog. In derselben gelben Kutsche war Leo so oft zu ihr zurückgekommen, und auf dieser Straße da war er von ihr weggefahren auf immerdar! Sie glaubte sein Antlitz zu sehen, im Rahmen seines Fensters. Dann verschwamm alles, und Nebel zogen vorüber. Es kam ihr vor, als wirble sie wie damals im Walzer, in der Lichtflut des Ballsaales, im Arme des Vicomte. Und Leo wäre nicht weit weg, sondern käme wieder ... Dabei spürte sie in einem fort Rudolfs Haar dicht neben sich. Die süße Empfindung seiner Nähe vermählte sich mit den alten Gelüsten; und wie Staubkörner, die der Wind aufjagt, umtanzten sie diese Gefühle zusammen mit dem leisen Dufte und betäubten ihr die Seele. Ein paarmal öffnete sie weit die Nasenflügel, um — stoßweise — den frischen Geruch der Girlanden einzuatmen, die um die Säulen geschlungen waren.
Sie streifte sich die Handschuhe ab und trocknete sich die feuchtgewordnen Hände; dann fächelte sie ihren Wangen mit dem Taschentuche Kühlung zu, wobei sie mitten durch das Hämmern des Blutes in ihren Schläfen das Gesumme der Menge und die immer noch Phrasen dreschende Stimme des Regierungsrates verworren vernahm.
Er predigte:
„Fahren Sie fort! Bleiben Sie auf Ihrem Wege! Lassen Sie sich nicht beirren, weder durch Hängenbleiben an veralteten Überlieferungen noch durch allzu hastige Annahme von kühnen Neuerungen! Richten Sie Ihren Eifer vor allem auf die Verbesserung des Bodens, auf eine gute Düngung, auf die Veredelung der Pferde-, Rinder-, Schafe- und Schweinezucht! Möge diese Versammlung für Sie eine Art friedlicher Kampfplatz sein, auf dem der Sieger beim Verlassen der Arena dem Besiegten die Hand drückt wie einem Bruder und ihm den gleichen Erfolg für die Zukunft wünscht! Und Ihr, Ihr würdigen Dienstboten, bescheidenes Hofgesinde, um deren mühevolle Arbeit sich bisher noch keine Regierung gekümmert hat, kommt her und empfangt den Lohn für Eure stille Tüchtigkeit und seid überzeugt, daß die Fürsorge des Staates fortan auch Euch gelten wird, daß er Euch ermutigt und beschützt, daß er Euch auf begründete Beschwerden hin recht geben wird und Euch, soweit es in seiner Macht steht, die Bürde Eurer opferfreudigen Arbeit erleichtern wird!“
Darnach setzte sich der Regierungsrat. Jetzt erhob sich Herr Derozerays und begann eine zweite Rede. Sie war nicht so schwungvoll wie die Lieuvains, dafür war sie sachlicher, das heißt: sie verriet Fachkenntnisse und gab tiefergehenden Betrachtungen Raum. Das Lob auf die Regierung war kürzer gefaßt; die Rede beschäftigte sich mehr mit der Landwirtschaft und der Religion. Die Wechselbeziehungen zwischen beiden wurden beleuchtet. Beide hätten zu allen Zeiten die Zivilisation gefördert. Rudolf plauderte mit Frau Bovary über Träume, Vorahnungen und Suggestion. Der Redner ging auf die Anfänge der menschlichen Gesellschaft zurück und schilderte die barbarischen Zeiten, da sich der Mensch im Urwalde von Eicheln genährt hatte. Später hätte man die Tierfelle abgelegt und sich mit Tuch bekleidet, hätte Feldwirtschaft und Weinbau begonnen. War dies nun ein Vorteil oder brachten nicht die neuen Beschäftigungen ungleich mehr Mühen denn Nutzen? Über dieses Problem stellte Derozerays allerhand Betrachtungen an.
Von der Suggestion war Rudolf unterdessen allmählich auf die Wahlverwandtschaft gekommen, und während der Redner unten vom Pfluge des Cincinnatus sprach, von Diocletian und seinen Kohlplantagen und von den chinesischen Kaisern, die zu Neujahr eigenhändig säen, setzte der junge Mann der jungen Frau auseinander, daß die Ursache einer solchen unwiderstehlichen gegenseitigen Anziehung in einer früheren Existenz zu suchen sei.
„Nehmen Sie beispielsweise uns beide!“ sagte er. „Warum haben wir uns kennen gelernt? Hat dies allein der Zufall gefügt? War es nicht vielmehr in beiden ein geheimer Drang, der uns gegenseitig einander zuführte, wie zwei Ströme ineinander fließen, jeder von weiter Ferne her?“
Er ergriff wiederum ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht.
„Preis für gute Bewirtschaftung ...“, rief unten der Redner.
„Denken Sie doch daran, wie ich zum ersten Male in Ihr Haus kam ...“
„Herrn Bizet aus Quincampoix!“
„Wußte ich damals, daß wir so bald gute Freunde werden sollten?“
„Siebzig Franken ...“
„Hundertmal habe ich reisen wollen, aber ich bin immer wieder zu Ihnen gekommen und hier geblieben ...“
„Für Erfolge im Düngen.“
„... heute und morgen, alle Tage, mein ganzes Leben ...“
„Herrn Caron aus Argueil eine goldene Medaille!“
„... denn noch keines Menschen Gesellschaft hat mich so völlig bezaubert ...“
„Herrn Bain aus Givry-Saint-Martin ...“
„... und so werde ich Ihr Bild in mir tragen ...“
„... für einen Merino-Schafbock ...“
„Sie aber werden mich vergessen! Ich bin an Ihnen vorübergewandelt wie ein Schatten!“
„Herrn Belot aus Notre-Dame ...“
„Aber nein, nicht wahr? Manchmal werden Sie sich doch meiner erinnern?“
„Für Schweinezucht ein Preis geteilt, je achtzig Franken, den Herren Lehérissé und Cüllembourg!“
Rudolf drückte Emmas Hand. Sie fühlte sich ganz heiß an und zitterte wie eine gefangene Taube, die fortfliegen möchte. Sei es nun, daß Emma versuchte, ihre Hand zu befreien, oder daß sie Rudolfs Druck wirklich erwidern wollte: sie machte mit ihren Fingern eine Bewegung. Da rief er aus:
„Ach, ich danke Ihnen! Sie stoßen mich nicht zurück! Sie sind so gut! Sie fühlen, daß ich Ihnen gehöre! Ich will Sie ja nur sehen, nur anschauen!“
Ein Windstoß, der durch die Fenster fuhr, bauschte die Tischdecke des Tisches im Saal, und unten auf dem Markte flatterten die mächtigen Haubenschleifen der Bäuerinnen wie weiße Schmetterlingsflügel auf.
„Für die Herstellung von Ölkuchen ...“
Der Vorsitzende fing an sich zu beeilen.
„Für Mastversuche nach flandrischer Art ... Weinbau ... Feldbewässerung ... langjährigen Pacht ... treue Dienste ...“
Rudolf sprach nicht mehr. Sie sahen sich beide an. Emmas trockne Lippen bebten in heißestem Begehren. Weich und ganz von selbst verschlangen sich ihre Hände.
„Katharine Nikasia Elisabeth Leroux aus Sassetot-la-Guerrière für vierundfünfzigjährigen Dienst auf ein und demselben Gute eine silberne Medaille im Werte von fünfundzwanzig Franken!“
Nach einer Weile hört man: „Wo ist Katharine Leroux?“
Sie erschien nicht, aber man vernahm flüsternde Stimmen.
„Geh doch!“
„Ach nein!“
„Brauchst keine Angst zu haben!“
„Nee, ist die dumm!“
„Hier! Hier steckt sie!“
„So mag sie doch vorkommen!“ rief der Bürgermeister dazwischen.
Da begann eine kleine alte Frau mit ängstlicher Gebärde zur Estrade hinzulaufen. In ihren Lumpen sah sie selber wie zerfallen aus. Sie hatte die Füße in derben Holzschuhen und um die Hüften eine große blaue Schürze. Ihr mageres Gesicht, von einer schlichten Haube umrahmt, war runzeliger als ein verschrumpfelter Apfel, und aus den Ärmeln ihrer roten Jacke langten zwei dürre Hände mit knochigen Gelenken heraus. Vom Staub der Scheunen, der Lauge der Wäsche und dem Fett der Schafwolle waren sie so hornig, hart und rissig, daß sie wie schmutzig aussahen, und doch waren sie in reinem Wasser tüchtig gewaschen worden. Daß sie unzählige Strapazen hinter sich hatten, das verrieten sie von selbst an ihrer demütigen Haltung: sie standen halboffen, wie bereit, ewig Dienste zu empfangen. Etwas wie klösterliche Strenge sprach aus den Zügen der alten Frau und verlieh ihnen eine Spur von Vornehmheit. Es lebte nichts Weiches in ihrem bleichen Gesicht, nichts Trauriges oder Rührseliges. Im steten Umgang mit Tieren war ihr stumme Geduld zur Natur geworden. Heute befand sie sich zum ersten Male inmitten einer solchen Masse von Menschen. Die Fahnen, der Trommelwirbel, die vielen Herren in schwarzen Röcken, das Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust des Rates, alles das erschüttertere bis ins Herz. Sie stand ganz erstarrt da, sie wußte nicht, ob sie zur Estrade vorlaufen oder enteilen sollte, und sie begriff nicht, warum man sie nach vorn drängte und warum ihr die Preisrichter freundlich zulächelten. Sie stand vor diesen behäbigen Bürgern als ein verkörpertes halbes Säkulum der Knechtschaft.
„Treten Sie näher, verehrungswürdige Katharine Nikasia Elisabeth Leroux!“ sagte der Regierungsrat, der die Liste der Preisgekrönten aus den Händen des Vorsetzenden entgegengenommen hatte. Indem er abwechselnd auf den Bogen und auf die Greisin blickte, wiederholte er in väterlichem Tone:
„Näher, immer näher!“
„Sind Sie denn taub?“ rief Tüvache heftig und sprang von seinem Sitze auf.
„Für vierundfünfzigjährige Dienstzeit eine silberne Medaille im Werte von fünfundzwanzig Franken! Die ist für Sie!“ wurde ihr laut gesagt.
Die alte Frau nahm sie und sah sie sich lange an, und ein Lächeln des Glückes sonnte ihr Gesicht. Als sie wegging, hörte man sie vor sich hinmurmeln:
„Ich werde sie dem Herrn Pfarrer bei uns zu Hause geben, damit er mir dermaleinst eine Messe liest.“
„Selig die Geistesarmen!“ meinte der Apotheker, zum Notar gewandt.
Der feierliche Akt war zu Ende. Die Menge verlief sich. Und nachdem nun die Preisverteilung vorüber war, nahm jeder wieder seinen Rang ein, und alles lief im alten Gleise. Die Herren schnauzten ihre Knechte an, und die Knechte prügelten das Vieh, das mit grünen Kränzen um die Hörner in seine Ställe zurücktrottete. Ahnungslose Triumphatoren.
Die Bürgergarde und die Feuerwehr traten weg und begaben sich in den ersten Stock des Rathauses. Der Bataillonstambour schleppte einen Korb Weinflaschen, und die Mannschaft spießte sich die spendierten Butterbrote auf die Bajonette.
Frau Bovary ging an Rudolfs Arm nach Haus. An der Türe nahmen sie Abschied. Sodann ging er bis zur Stunde des Festmahles allein durch die Wiesen spazieren.
Der Schmaus dauerte lange. Es war lärmig, die Bedienung schlecht. Man saß so eng aneinander, daß man für die Ellenbogen gar keine Freiheit hatte, und die schmalen Bretter, die als Bänke dienten, drohten unter der Last der Gäste zusammenzubrechen. Man aß unmenschlich viel. Jeder wollte auf seine Kosten kommen. Allen perlte der Schweiß von der Stirne. Zwischen der Tafel und den Hängelampen schwebte weißlicher Dunst, wie der Nebel über dem Flusse an einem Herbstmorgen.
Rudolf, der seinen Platz an der Zeltwand hatte, verlor sich völlig in Träumereien an Emma, so daß er nichts sah und hörte. Hinter ihm, draußen auf dem Rasen, schichteten die Kellner die gebrauchten Teller. Wenn ihn einer seiner Nachbarn anredete, gab er ihm keine Antwort. Man füllte ihm das Glas, ohne daß er es wahrnahm. Trotz des allgemeinen immer stärker werdenden Lärmes war es in ihm ganz still. Er sann über das nach, was Emma gesagt hatte, und über die Linien ihrer Lippen dabei. Ihr Bild schimmerte ihm wie aus Zauberspiegeln aus allem entgegen, was glänzte, sogar aus dem Messingbeschlag der Feuerwehrhelme. Die Zeltwand hatte Falten, die ihn an die ihres Kleides erinnerten. Und vor ihm, in der Ferne der Zukunft, winkte eine endlos lange Reihe verliebter Tage.
Am Abend sah er Emma wieder, beim Feuerwerk. Aber sie war in der Gesellschaft ihres Mannes, der Frau Homais und des Apothekers. Der letztere beunruhigte sich sehr über die Möglichkeit, daß einmal eine Rakete versehentlich in das Publikum gehen könnte. Aller Augenblicke verließ er seine Freunde, um Binet zur größten Vorsicht zu vermahnen. Die Feuerwerkskörper waren vorher aus übertriebener Ängstlichkeit im Hause des Bürgermeisters aufbewahrt worden, in dessen Keller. Das feucht gewordene Pulver entzündete sich nun schwer, und das Hauptstück, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, versagte vollständig. Ab und zu zischte ein dürftiges Feuerrad. Dann schrie die gaffende Menge vor Vergnügen laut auf, und in dieses Geschrei mischte sich das Kreischen der Weiber, die im Dunkeln von dreisten Händen angefaßt wurden.
Emma schmiegte sich schweigsam an Karls Arm. Den Kopf gehoben, verfolgte sie die Feuerlinien der Raketen auf dem schwarzen Himmel. Rudolf betrachtete sie im Scheine der Lampions. Nach und nach verlöschten diese, und nun leuchteten nur die Gestirne. Ein paar Regentropfen fielen. Frau Bovary legte sich ihr Tuch über das unbedeckte Haar.
In diesem Augenblicke fuhr der Landauer des Regierungsrates vom Gasthofe weg. Der Kutscher war bezecht und hockte verschlafen auf seinem Bocke. Man sah von weitem, wie die schwere Masse seines Körpers zwischen den Wagenlichtern hin und her pendelte, je nach den Bewegungen des Wagens auf dem holperigen Pflaster.
„Man sollte wirklich strenger gegen die Trunksucht vorgehen“, bemerkte der Apotheker. „Mein Vorschlag geht dahin, allwöchentlich am Rathause die Namen derer auszuhängen, die sich in der Woche vorher sinnlos betrunken haben. Das ergäbe nebenbei eine Statistik, die man in gewissen Fällen ... Aber entschuldigen Sie!“
Er eilte wiederum zum Feuerwehrhauptmann, der sich gerade anschickte, nach Hause zu gehen. Ihn trieb die Sehnsucht nach seiner Drehbank.
„Vielleicht täten Sie gut,“ mahnte ihn Homais, „wenn Sie einen von Ihren Leuten schickten, oder noch besser, wenn Sie selber gingen ...“
„Lassen Sie mich doch in Ruhe!“ murrte der Steuereinnehmer. „Das hätte ja gar keinen Sinn!“
Der Apotheker gesellte sich wieder zu seinen Freunden.
„Wir können völlig beruhigt sein“, sagte er zu ihnen. „Herr Binet hat mir soeben versichert, daß alle Vorsichtsmaßregeln getroffen sind. Es ist keine Feuergefahr mehr vorhanden. Und die Spritzen stehen voller Wasser bereit. Gehen wir schlafen!“
„Ach ja! Ich habs sehr nötig!“ erwiderte Frau Homais, die schon immer tüchtig gegähnt hatte. „Aber schön wars doch!“
Rudolf wiederholte leise mit einem zärtlichen Blicke:
„Wunderschön!“
Dann verabschiedete man sich und ging voneinander.
Zwei Tage darauf stand im „Leuchtturm von Rouen“ ein langer Bericht über die Landwirtschaftliche Versammlung. Der Apotheker hatte ihn am Morgen darauf schwungvoll verfaßt.
„Was künden diese Girlanden, diese Blumen und Kränze? Wohin wälzt sich die Menge, gleichwie die Wogen des stürmischen Weltmeeres unter den Strahlenbüscheln der tropischen Sonne, die unsere Fluren sengt?“
Sodann sprach er von der Lage der Landbevölkerung. „Gewiß, die Regierung hat hier viel getan, aber noch nicht genug. Mut! Tausend Reformen sind unerläßlich. Man gehe an sie heran!“ Bei der Schilderung der Ankunft des Regierungsvertreters feierte er „das martialische Aussehen unsrer Miliz“, die „behenden Dorfschönen,“ die „kahlköpfigen Greise, diese Patriarchen, die Letzten der unsterblichen Legionen, deren Soldatenherzen beim Wirbeln der Trommeln höher schlagen.“ Seinen eigenen Namen zählte er unter den Preisrichtern als ersten auf und erwähnte in einer Anmerkung sogar, daß Herr Homais, der Apotheker von Yonville, unlängst eine Denkschrift über den Apfelwein an die Rouener Agronomische Gesellschaft eingereicht habe. Bei der Preisverteilung angelangt, schilderte er die Freude der Ausgezeichneten mit dithyrambischer Begeisterung. „Väter fielen ihren Söhnen um den Hals, Brüder ihren Brüdern, Gatten ihren Gattinnen. Mehr denn einer zeigte voll Stolz seine schlichte Medaille, und heimgekehrt in sein stilles Kämmerlein, mag sie so mancher, Tränen in den Augen, an die Wand gehängt haben ... Gegen sechs Uhr abends vereinigte ein Festmahl in dem auf der Herrn Liégeard gehörenden Wiese errichteten großen Zelte die hervorragendsten Festteilnehmer. Von Anfang bis Ende herrschte die größte Gemütlichkeit. Mehrere Toaste wurden ausgebracht. Herr Regierungsrat Lieuvain trank auf Seine Majestät, Herr Bürgermeister Tüvache auf den Herrn Landrat, sodann Herr Rittergutsbesitzer Derozerays auf das Gedeihen der Landwirtschaft, Herr Apotheker Homais auf die Industrie und ihre Schwestern, die Künste und Wissenschaften, so zuletzt Herr Leplichey auf den Fortschritt. Am Abend erleuchtete ein prächtiges Feuerwerk plötzlich alle Gesichter. Man kann wohl sagen, es war ein wahres Kaleidoskop, eine herrliche Operndekoration, und im Moment durfte sich unser kleiner Ort in die Wunderwelt von Tausendundeiner Nacht entrückt wähnen. Zum Schlusse stellen wir mit Freuden fest, daß auch nicht ein einiger unliebsamer Vorfall das Volksfest gestört hat. Zu bemerken wäre nur noch das Fernbleiben der Geistlichkeit. Offenbar hat man unter ihr andre Ansichten von Allgemeinwohl und Fortschritt. Haltet es, wie ihr wollt, ihr Jünger Loyolas!“
Sechs Wochen flossen hin. Rudolf kam nicht. Endlich, eines Spätnachmittags, erschien er.
„Man darf sich nicht so schnell wieder sehen lassen. Das wäre ein Fehler!“
Nach dem Feste war er auf die Jagd gegangen. Und nach der Jagd hatte er sich gesagt, nun sei es zu spät zu einem Besuche. Sein Gedankengang war folgender:
„Wenn sie mich vom ersten Tage an geliebt hat, wird sie mich nach dem Hangen und Bangen des Wartens nur um so mehr lieben. Warten wir also noch eine Weile!“
Als er Emma in der Großen Stube entgegentrat, sah er, wie sie blaß wurde. Da wußte er, daß er sich nicht verrechnet hatte.
Sie war allein. Es dämmerte. Die kleinen Mullgardinen an den Scheiben der Fenster vermehrten das Halbdunkel. Das blanke Metall des Barometers, auf das ein Sonnenstrahl fiel, glitzerte auf der Fläche des Spiegels über dem Kamin wider wie flammendes Feuer.
Rudolf stand noch immer. Emma antwortete nur mit Mühe auf seine ersten Höflichkeitsworte.
„Ich war stark beschäftigt. Und dann bin ich auch krank gewesen.“
„Ernstlich?“ fragte sie erregt.
„Na,“ erwiderte Rudolf, indem er sich ihr zur Seite auf einen niedrigen Sessel setzte, „eigentlich wollte ich nicht wiederkommen.“
„Warum?“
„Erraten Sie es nicht?“
Wiederum sah er sie an, diesmal so leidenschaftlich, daß sie rot wurde und die Augen senkte.
Er begann von neuem:
„Emma!“
„Herr Boulanger!“ rief sie und rückte ein wenig von ihm ab.
„Ah!“ sagte er in wehmütigem Tone. „Sehen Sie, wie recht ich hatte, wenn ich nicht wiederkommen wollte! Ihr Name ..., dieser Name, der mein ganzes Herz erfüllt ..., er ist mir entschlüpft, und Sie verbieten mir, ihn auszusprechen! Frau Bovary! Alle Welt nennt Sie so! So heißen Sie! Und doch ist das der Name — eines andern!“ Nach einer Weile wiederholte er: „Eines andern!“ Er hielt sich die Hände vor sein Gesicht. „Ach, ich denke fortwährend an Sie ... Die Erinnerung bringt mich in Verzweiflung ... Verzeihen Sie mir ... Ich gehe ... Leben Sie wohl! Ich will weit, weit weg ... so weit gehen, daß Sie nichts mehr von mir hören werden! Aber heute ... heute ... ach, ich weiß nicht, was mich mit aller Gewalt hierher zu Ihnen getrieben hat! Gegen sein Schicksal kann keiner kämpfen! Und wo Engel lächeln, wer könnte da widerstehen? Man läßt sich hinreißen von der, die so schön, so süß, so anbetenswert ist!“
Es war das erstemal, daß Emma solche Dinge hörte, und als ob sie sich im Bade wollüstig dehnte, so fühlte sie sich in ihrem Selbstbewußtsein von der warmen Flut dieser Sprache umkost.
„Aber wenn ich mich auch nicht habe sehen lassen,“ fuhr er fort, „wenn ich nicht mit Ihnen reden durfte, so habe ich doch wenigstens das gesehen, was Sie umgibt. Ach, nachts, Nacht für Nacht habe ich mich erhoben und bin hierher geeilt, um Ihr Haus zu schauen, Ihr Dach im Scheine des Mondes, die Bäume in Ihrem Garten, die ihre Wipfel vor Ihrem Fenster wiegen, und das Lampenlicht, den hellen Schimmer, der durch die Scheiben hinausleuchtete in das Dunkel! Ach, Sie haben es nicht geahnt, daß da unten, Ihnen so nahe und doch so fern, ein Armer, ein Unglücklicher stand ...“
Sie schluchzte auf und sah ihn an.
„Sie sind ein guter Mensch!“ flüsterte sie.
„Nein! Ich liebe Sie! Weiter nichts! Glauben Sie mir das? Sagen Sie mirs! Ein Wort! Ein einziges Wort!“
Leise glitt Rudolf von seinem Sitze zur Erde. Aber von der Küche her drang das Klappern von Holzpantoffeln. Auch war die Türe nicht geschlossen. Er erinnerte sich daran.
„Es wäre barmherzig von Ihnen,“ sagte er, sich wieder erhebend, „wenn Sie mir einen Wunsch erfüllten.“
Er bat darum, ihm das Haus zu zeigen. Er wolle es kennen lernen. Frau Bovary hatte nichts dagegen. Sie gingen beide zur Türe, da trat Karl ein.
„Guten Tag, Doktor!“ begrüßte ihn Rudolf.
Der Arzt, den der ihm nicht zukommende akademische Titel schmeichelte, stotterte ein paar verbindliche Worte. Währenddessen wurde der andre wieder völlig Herr der Situation.
„Die gnädige Frau hat mir soeben von ihrem Befinden erzählt ...“, begann er.
Karl unterbrach ihn. Er sei in der Tat äußerst besorgt. Seine Frau habe bereits einmal an ähnlichen Zuständen gelitten.
Rudolf fragte, ob da nicht Reiten gut wäre.
„Gewiß! Ganz ausgezeichnet! Vortrefflich! Das ist wirklich ein guter Rat! Den solltest du tatsächlich befolgen, Emma!“
Sie wandte ein, daß sie kein Pferd habe, aber Rudolf bot ihr eins an. Sie lehnte sein Anerbieten ab, und er drang nicht weiter in sie. Dann erzählte er — um seinen Besuch zu motivieren -, sein Knecht, der Mann, dem Karl neulich zur Ader gelassen habe, leide immer noch an Schwindelanfällen.
„Ich werde mal bei Ihnen auf dem Gute vorsprechen“, sagte Bovary.
„Nein, nein! Ich schicke ihn lieber her. Wir kommen wieder zusammen. Das ist bequemer für Sie!“
„Sehr gütig! Ganz wie Sie wünschen!“
Als das Ehepaar dann allein war, fragte Karl:
„Warum hast du eigentlich das Angebot des Herrn Boulanger abgelehnt? Es war doch sehr liebenswürdig!“
Emma tat, als ob sie schmollte; sie wußte nicht gleich, was sie sagen sollte, und schließlich erklärte sie, die Leute könnten es „komisch“ finden.
„Ich pfeif auf die Leute!“ sagte Karl und machte eine verächtliche Gebärde. „Die Gesundheit ist tausendmal mehr wert! Das war nicht richtig von dir!“
„Aber ich habe doch auch kein Reitkleid!“
„Dann mußt du dir eins bestellen!“
Das Reitkleid gab den Ausschlag.
Als es fertig war, schrieb Bovary an Boulanger, seine Frau stehe ihm zur Verfügung. Sie nähme sein gütiges Anerbieten an.
Andern Tags um zwölf Uhr hielt Rudolf mit zwei Reitpferden vor dem Hause des Arztes. Das eine trug einen Damensattel aus Wildleder und einen roten Stirnriemen. Er selbst hatte hohe Reitstiefel aus feinstem weichen Leder an. Er nahm an, daß Emma solche gewiß noch nie gesehen hatte; und in der Tat war sie über sein Aussehen entzückt, als sie ihn in seinem langen dunkelbraunen Samtrock und den weißen Breeches an der Türe erblickte. Sie hatte auf ihn gewartet und war bereit.
Justin stahl sich aus der Apotheke. Er mußte sie sehen. Auch den Apotheker litt es nicht in seinem Laden. Er gab Rudolf allerlei gute Ratschläge.
„Es passiert so leicht ein Malheur!“ sagte er. „Reiten Sie vorsichtig! Sind die Tiere fromm?“
Emma vernahm über sich ein Geräusch. Es war Felicie, die mit der Hand gegen eine Fensterscheibe trommelte, um der kleinen Berta einen Spaß zu bereiten. Das Kind warf der Mutter ein Kußhändchen zu. Die Reiterin winkte mit der Gerte.
„Viel Vergnügen!“ rief Homais. „Ja recht vorsichtig! Recht vorsichtig!“
Er sah den Wegreitenden noch lange nach und schwenkte grüßend mit seiner Zeitung.
Sobald Emmas Pferd weichen Boden unter sich fühlte, fing es von selbst an zu galoppieren. Da sprengte auch Rudolf sein Pferd an. Hin und wieder wechselten sie ein Wort. Das Kinn ein wenig eingezogen, die hochgenommene linke Hand mit den Zügeln nach dem Widerrist zu vorhaltend, so überließ sie sich der wiegenden Galoppade.
Es ging die Anhöhe hinauf, immer im Galopp. Oben parierten die Gäule plötzlich. Emmas langer blauer Schleier flatterte weiter.
Es war einer der ersten Oktobertage. Nebel lag über den Fluren. In langen Schwaden beengten sie den Gesichtskreis und ließen die Hügel nur in Umrißlinien erkennen. Hin und wieder rissen die Nebel auseinander, flogen wie in Fetzen auf und zerstoben. Dann erblickte man durch die Lücken in der Ferne die Dächer von Yonville im Sonnenscheine, die Gärten am Bachufer, die Gehöfte und Hecken und den Kirchturm. Emma gab sich Mühe, ihr Haus herauszufinden, und noch nie war ihr der armselige Ort, in dem sie da lebte, so klein vorgekommen. Von der Höhe, auf der sie hielten, glich die ganze Niederung einem ungeheuer großen, fahlen, verdunstenden See. Die buschigen Bäume, die hie und da aus ihm herausragten, sahen wie schwarze Riffe aus, und die Reihen der hohen Pappeln wie lange Wellenzüge, die der Wind kräuselt.
Über dem Rasen unter den Tannen sickerte braunes Licht durch die laue Luft. Der Boden, rötlich wie zerblätterter Tabak, dämpfte die Tritte. Abgefallene Tannenzapfen rollten über den Weg, von den Hufen berührt.
Rudolf und Emma ritten den Waldsaum entlang. Ab und zu sah sie zur Seite, um seinem Blicke zu entgehen; dann glitten die Stämme der Bäume, einer nach dem andern, so rasch an ihr vorüber, daß die unaufhörliche Wiederholung sie halb schwindlig machte. Die Pferde keuchten.
Gerade, als sie in den Wald kamen, trat die Sonne hervor.
„Gott ist mit uns!“ sagte Rudolf.
„Glauben Sie denn an ihn?“ fragte sie.
„Galopp! Galopp!“ rief er von neuem und schnalzte mit der Zunge. Beide Tiere gehorchten.
Hohe Farne, wie sie zu beiden Seiten des Pfades standen, verfingen sich in Emmas Steigbügel. Rudolf, der zur Linken Emmas ritt, bückte sich jedesmal im Weiterreiten und befreite sie wieder. Ein paarmal galoppierte er ganz dicht neben ihr hin, um überhängende Zweige von ihr abzuwehren; dann fühlte sie, wie sein rechtes Knie ihr linkes Bein berührte.
Inzwischen war der Himmel ganz blau geworden. Kein Blatt rührte sich. Sie kamen über weite Felder, ganz voll blühenden Heidekrauts, und hie und da leuchteten unter dem grauen und gelben und goldbraunen Blätterwerk der Bäume Flecke von wilden Veilchen auf. Im Gebüsch regte sich öfters leiser Flügelschlag. Leise krächzend flogen Raben um die Eichen.
Sie saßen ab. Rudolf band die Pferde an. Emma schritt ihm voraus, den Weg weiter, über Moos in alten Wagenspuren. Ihr langes Reitkleid erschwerte ihr das Gehen, obwohl sie es mit der einen Hand aufgerafft hatte. Rudolf ging hinter ihr. Er sah zwischen dem schwarzen Tuch und den schwarzen Stiefeln das lockende Weiß ihres Strumpfes, das er wie ein Stück Nacktheit empfand.
Emma blieb stehen.
„Ich bin müde!“ sagte sie.
„Gehen wir weiter! Versuchen Sie es!“ bat er. „Mut!“
Hundert Schritte weiter blieb sie abermals stehen. Der blaue Schleier, der ihr von ihrem Herrenhute bis zu den Hüften herabwallte, übergoß ihr Gesicht mit bläulichem Licht. Es sah aus, wie in das Blau des Himmels getaucht.
„Wohin gehen wir denn?“
Er gab keine Antwort. Sie atmete heftig. Rudolf hielt Umschau und biß sich in den Schnurrbart. Sie standen in einer Lichtung, in der gefällte Baumstämme dalagen. Sie setzten sich beide auf einen.
Von neuem begann Rudolf, von seiner Liebe zu reden. Um Emma nicht durch Überschwenglichkeit zu verprellen, blieb er ruhig, ernst, schwermütig. Sie hörte ihm gesenkten Hauptes zu, während sie mit der Spitze ihres Stiefels den Waldboden aufscharrte. Aber bei dem Satze:
„Sind unsre beiden Lebenspfade nunmehr nicht in einen zusammengelaufen?“ unterbrach sie ihn:
„Nein! Das wissen Sie doch! Es ist unmöglich!“
Sie stand auf und wollte gehen. Er umfaßte ihr Handgelenk, und so blieb sie. Sie sah ihn eine kleine Weile liebevoll und mit feucht schimmernden Augen an, dann sagte sie hastig:
„Genug! Reden wir nicht mehr davon! Gehen wir zurück zu unsern Pferden!“
Rudolf machte eine Bewegung zornigen Ärgers. Sie wiederholte:
„Gehen wir zu unsern Pferden!“
Da lächelte er seltsam und näherte sich ihr mit vorgestreckten Händen, zusammengebissenen Zähnen und starrem Blicke. Sie wich zitternd zurück und stammelte:
„Ich fürchte mich vor Ihnen! Sie tun mir weh! Gehen wir zurück!“
„Wenn es sein muß!“ gab er zur Antwort. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich. Er sah wieder ehrerbietig, zärtlich, schüchtern aus.
Emma reichte ihm den Arm. Sie traten den Rückweg an.
„Was hatten Sie denn vorhin?“ fragte er. „Was war es? Ich habe Sie nicht begriffen. Gewiß haben Sie mich mißverstanden. Sie thronen in meinem Herzen wie eine Madonna, hoch und hehr und unerreichbar! Aber ich kann ohne Sie nicht leben! Ich muß Ihre Augen sehen, Ihre Stimme hören, Ihre Gedanken wissen! Seien Sie meine Freundin, meine Schwester, mein Schutzengel!“
Er schlang seinen Arm um ihre Taille. Sie versuchte, sich ihm sanft zu entwinden, aber er ließ sie nicht los. So gingen sie nebeneinander hin. Da hörten sie ihre Pferde, die Blätter von den Bäumen rupften.
„Noch nicht!“ bat Rudolf. „Reiten wir noch nicht zurück! Bleiben Sie!“
Er zog sie mit sich vom Wege ab in die Nähe eines kleinen Weihers, dessen Spiegel mit Wasserlinsen bedeckt war. Zwischen Schilf träumten verwelkte Wasserrosen. Vor dem Geräusch ihrer Schritte im Gras hüpften die Frösche davon und verschwanden.
„Es ist nicht recht von mir ... es ist nicht recht von mir! Ich bin toll, daß ich auf Sie höre!“
„Warum? Emma! Emma!“
„Ach, Rudolf!“ flüsterte die junge Frau, indem sie sich an ihn anschmiegte.
Das Tuch ihres Jacketts lag dicht am Samt seines Rockes. Sie bog ihren weißen Hals zurück, den ein Seufzer schwellte. Halb ohnmächtig und tränenüberströmt, die Hände auf ihr Gesicht pressend und am ganzen Leib zitternd, gab sie sich ihm hin ...
Die Dämmerung sank herab. Die Sonne stand blendend am Horizont und flammte in den Zweigen. Hier und da, um die beiden herum, im Laub und auf dem Boden, tanzten lichte Flecke, als hätten Kolibris im Vorbeifliegen ihre schimmernden Federn verloren. Rings tiefes Schweigen. Die Bäume atmeten süße Melancholie.
Emma fühlte, wie ihr Herz wieder klopfte, wie ihr das Blut durch den Körper kreiste.
In der Ferne, hinter dem Walde, über der Höhe ertönte ein langgezogener seltsamer Schrei, unaufhörlich. Dem lauschte sie schweigend. Er mischte sich in die verklingenden Schwingungen ihrer zuckenden Nerven und ward zu Musik ...
Rudolf rauchte eine Zigarette und stellte mit Hilfe seines Taschenmessers einen zerrissenen Zügel wieder her.
Auf demselben Wege ritten sie nach Yonville zurück. Sie sahen im weichen Boden die Spuren ihres Hinrittes, die Huftritte beider Pferde dicht beieinander, sie erkannten die Büsche wieder und einzelne Steine am Rain. Nichts um sie herum hatte sich verändert, und doch kam es Emma vor, als sei etwas höchst Bedeutsames geschehen, als seien die Berge von ihrem Platze geschoben. Von Zeit zu Zeit beugte sich Rudolf zu ihr herüber, um ihre rechte Hand zu erfassen und zu küssen. Er fand Emma im Sattel entzückend aussehend, bei ihrem geraden Sitz, ihrer schlanken Figur, der schicken Haltung ihres rechten Knies, ihren von der scharfen Luft geröteten Wangen, — alles im Abendrot.
Als sie Yonville erreichten, wurde ihr Pferd unruhig. Einmal machte es sogar kehrt. Aus allen Fenstern sah man ihr zu.
Beim Essen machte Karl die Bemerkung, Emma sähe vorzüglich aus. Als er sich aber darnach erkundigte, wie der Spazierritt gewesen sei, tat sie, als hätte sie die Frage überhört. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und starrte über ihren Teller weg in die flackernden Kerzen.
„Emma!“
„Was denn?“
„Weißt du, ich bin heute nachmittag beim Pferdehändler gewesen. Er hat eine recht gut aussehende alte Mutterstute zu verkaufen. Die Knie sind nur ein bißchen durch. Ich bin überzeugt, für hundert Taler ...“ Da sie nichts dazu sagte, fuhr er nach ein paar Augenblicken fort: „Ich habe gedacht, es sei dir erwünscht, und da habe ich mir den Gaul zurückstellen lassen ... nein, gleich gekauft ... Ists dir recht? Sag mal!“
Sie nickte bejahend mit dem Kopfe.
Eine Viertelstunde später fragte sie:
„Gehst du heute abend aus?“
„Ja. Warum denn?“
„Ach, ich wollt es bloß wissen, Bester!“
Sobald sie von Karl befreit war, ging sie in ihr Zimmer hinauf und schloß sich ein.
Sie war zunächst noch wie unter einem Banne. Sie sah im Geist die Bäume, die Wege, die Gräben, den Geliebten und fühlte seine Umarmung. Das Laub wisperte um sie herum, und das Schilf rauschte. Dann aber erblickte sie sich im Spiegel. Sie staunte über ihr Aussehen. So große schwarze Augen hatte sie noch nie gehabt! Und wie tief sie lagen! Etwas Unsagbares umfloß ihre Gestalt. Sie kam sich wie verklärt vor.
Immer wieder sagte sie sich: „Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!“
Der Gedanke entzückte sie. Es war ihr, als sei sie jetzt erst Weib geworden. Endlich waren die Liebesfreuden auch für sie da, die fiebernde Glückseligkeit, auf die sie bereits keine Hoffnung mehr gehabt hatte! Sie war in eine Wunderwelt eingetreten, in der alles Leidenschaft, Verzückung und Rausch war. Blaue Unermeßlichkeit breitete sich rings um sie her, vor ihrer Phantasie glänzte das Hochland der Gefühle, und fern, tief unten, im Dunkel, weit weg von diesen Höhen, lag der Alltag.
Sie erinnerte sich an allerlei Romanheldinnen, und diese Schar empfindsamer Ehebrecherinnen sangen in ihrem Gedächtnisse mit den Stimmen der Klosterschwestern. Entzückende Klänge! Jene Phantasiegeschöpfe gewannen Leben in ihr; der lange Traum ihrer Mädchenzeit ward zur Wirklichkeit. Nun war sie selber eine der amoureusen Frauen, die sie so sehr beneidet hatte! Dazu das Gefühl befriedigter Rache! Hatte sie nicht genug gelitten? Jetzt triumphierte sie, und ihre so lange unterdrückte Sinnlichkeit wallte nun auf und schäumte lebensfreudig über. Sie genoß ihre Liebe ohne Gewissenskämpfe, ohne Nervosität, ohne Wirrungen.
Der Tag darauf verging in neuem süßen Glück. Sie schworen sich ewige Treue. Emma erzählte ihm von ihren Leiden und Trübsalen. Er unterbrach sie mit Küssen. Sie sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an und bat ihn immer wieder, sie bei ihrem Vornamen zu nennen und ihr noch einmal zu sagen, daß er sie liebe. Es war wiederum im Walde, in einer verlassenen Holzschuhmacherhütte. Die Wände waren von Strohmatten und das Dach so niedrig, daß man drin nicht aufrecht stehen konnte. Sie saßen dicht beieinander auf einer Streu von trocknem Laub.
Von diesem Tag an schrieben sie sich beide regelmäßig alle Abende. Emma trug ihren Brief hinter in den Garten, wo sie ihn unter einen lockeren Stein der kleinen Treppe, die zum Bach führte, verbarg. Dort holte ihn Rudolf ab und legte einen von sich hin. Seine Briefe waren sehr kurz, worüber sie sich alle Tage beklagte.
Eines Morgens, da Karl bereits vor Sonnenaufgang fortgegangen war, geriet sie plötzlich auf den Einfall, unverweilt Rudolf sehen zu wollen. Ehe die Yonviller aufständen, konnte sie nach der Hüchette gehen, eine Stunde dort verweilen und wieder zurückkommen. Dieser Plan ließ sie gar nicht recht zur Besinnung kommen. Ein paar Augenblicke später war sie schon mitten in den Wiesen. Ohne sich umzublicken, schritt sie eilig ihres Wegs.
Der Tag begann zu grauen. Schon von weitem erkannte sie das Gut des Geliebten. Der Schwalbenschwanz der Wetterfahne auf dem höchsten Giebel zeichnete sich schwarz vom fahlen Himmel ab.
Über den Hof weg stand ein großes Gebäude. Das mußte das Herrenhaus sein. Dort trat sie ein. Es war ihr, als öffnete sich ihr alles von selbst. Eine breite Treppe führte auf einen Gang. Emma drückte auf die Klinke einer Tür, und da erblickte sie im Hintergrunde dieses Zimmers einen Mann im Bett. Es war Rudolf. Sie frohlockte laut.
„Du? Du!“ rief er aus. „Wie hast du das fertig gebracht? Dein Kleid ist feucht ...“
„Ich liebe dich!“ war ihre Antwort, indem sie ihm die Arme um den Hals schlang.
Nachdem ihr dieses Wagnis beim ersten Male geglückt war, kleidete sich Emma jedesmal, wenn Karl frühzeitig fort mußte, rasch an und schlich sich wie ein Wiesel durch die hintere Gartenpforte, auf dem Treppchen, das hinunter nach dem Bache führte, aus dem Hause. Aber wenn die Planke, die als Steg über das Wasser diente, zufällig weggenommen war, mußte sie ein Stück bis zum nächsten Steg an den Gartenmauern längs des Baches hingehen. Die bewachsene Böschung war steil und glitschig, und so mußte sie sich mit der einen Hand an Büscheln der vertrockneten Mauerblumen festhalten, um nicht zu fallen. Dann aber eilte sie querfeldein über die Äcker, ungeachtet, daß ihre zierlichen Schuhe einsanken, daß sie oft stolperte oder stecken blieb. Das Chiffontuch, das sie sich um Kopf und Hals gewunden hatte, flatterte im Winde. Aus Angst vor den weidenden Ochsen begann sie zu laufen. Atemlos, mit glühenden Wangen, ganz vom frischen Duft der Natur, ihrer Säfte, ihres Grüns und der freien Luft durchtränkt, kam sie an. Rudolf schlief dann meist noch. Sie kam zu ihm in sein Gemach wie der leibhaftgewordene Frühlingsmorgen.
Die gelben Gardinen vor den Fenstern machten das eindringende goldene Morgenlicht traulich und dämmerig. Mit blinzelnden Augen fand sich Emma zurecht. Die Tautropfen an ihren Gewändern leuchteten wie Topase und verliehen ihr etwas Feenhaftes. Rudolf zog sie lachend zu sich und drückte sie an sein Herz.
Darnach sah sie sich im Zimmer alles an, zog alle Fächer auf, kämmte sich mit seinem Kamm und betrachtete sich in seinem Rasierspiegel. Mitunter nahm sie seine große Tabakspfeife in den Mund, die auf dem Nachttisch lag, zwischen Zitronen und Zuckerstücken, neben der Wasserflasche.
Zum Abschiednehmen brauchten sie immer eine Viertelstunde. Emma vergoß Tränen. Am liebsten wäre sie gar nicht wieder von ihm weggegangen. Eine unwiderstehliche Gewalt trieb sie immer von neuem in seine Arme.
Da eines Tages, als er sie unerwartet eintreten sah, machte er ein bedenkliches Gesicht, als ob es ihm nicht recht wäre.
„Was hast du denn?“ fragte sie. „Hast du Schmerzen? Sprich!“
Schließlich erklärte er ihr in ernstem Tone, ihre Besuche begönnen unvorsichtig zu werden. Sie kompromittiere sich.
Allmählich machten Rudolfs Befürchtungen auf Emma Eindruck. Zuerst hatte die Liebe sie berauscht, und so hatte sie an nichts andres gedacht. Jetzt aber, da ihr diese Liebe zu einer Lebensbedingung geworden war, erwachte die Furcht in ihr, es könne ihr etwas davon verloren gehen oder man könne sie ihr gar stören. Wenn sie von dem Geliebten wieder heimging, hielt sie mit rastlosen Blicken Umschau; sie spähte nach allem, was sich im Gesichtskreise regte, sie suchte die Häuser des Ortes bis hinauf in die Dachluken ab, ob jemand sie beobachte. Sie lauschte auf jedes Geräusch, jeden Tritt, jedes Rädergeknarr. Manchmal blieb sie stehen, blasser und zittriger als das Laub der Pappeln, die sich über ihrem Haupte wiegten.
Eines Morgens, auf dem Heimwege, erblickte sie mit einem Male den Lauf eines Gewehrs auf sich gerichtet. Es ragte schräg über den oberen Rand einer Tonne hervor, die zur Hälfte in einem Graben stand und vom Gebüsch verdeckt wurde. Vor Schreck halb ohnmächtig ging Emma dennoch weiter. Da tauchte ein Mann aus der Tonne wie ein Springteufel aus seinem Kasten. Er trug Wickelgamaschen bis an die Knie, und die Mütze hatte er tief ins Gesicht hereingezogen, so daß man nur eine rote Nase und bebende Lippen sah. Es war der Feuerwehrhauptmann Binet, der auf dem Anstand lag, um Wildenten zu schießen.
„Sie hätten schon von weitem rufen sollen!“ schrie er ihr zu. „Wenn man ein Gewehr sieht, muß man sich bemerkbar machen!“
Der Steuereinnehmer suchte durch seine Grobheit seine eigene Angst zu bemänteln. Es bestand nämlich eine landrätliche Verordnung, nach der man die Jagd auf Wildenten nur vom Kahne aus betreiben durfte. Bei allem Respekt vor den Gesetzen machte sich also Binet einer Übertretung schuldig. Deshalb schwebte er in steter Furcht, der Landgendarm könne ihn erwischen, und doch fügte die Aufregung seinem Vergnügen einen Reiz mehr zu. Wenn er so einsam in seiner Tonne saß, war er stolz auf sein Jagdglück und seine Schlauheit.
Als er erkannte, daß es Frau Bovary war, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen. Er begann sofort ein Gespräch mit ihr.
„Es ist kalt heute! Ordentlich kalt!“
Emma gab keine Antwort. Er fuhr fort:
„Sie sind heute schon zeitig auf den Beinen?“
„Jawohl!“ stotterte sie. „Ich war bei den Leuten, wo mein Kind ist...“
„So so! Na ja! Und ich! So wie Sie mich sehen, sitze ich schon seit Morgengrauen hier. Aber das Wetter ist so ruppig, daß man auch nicht einen Schwanz vor die Flinte kriegt ...“
„Adieu, Herr Binet!“ unterbrach sie ihn und wandte sich kurz von ihm ab.
„Ihr Diener, Frau Bovary!“ sagte er trocken und kroch wieder in seine Tonne.
Emma bereute es, den Steuereinnehmer so unfreundlich stehen gelassen zu haben. Zweifellos hegte er allerlei ihr nachteilige Vermutungen. Auf eine dümmere Ausrede hätte sie auch wirklich nicht verfallen können, denn in ganz Yonville wußte man, daß das Kind schon seit einem Jahre wieder bei den Eltern war. Und sonst wohnte in dieser Richtung kein Mensch. Der Weg führte einzig und allein nach der Hüchette. Somit mußte Binet erraten, wo Emma gewesen war. Sicherlich würde er nicht schweigen, sondern es ausklatschen! Bis zum Abend marterte sie sich ab, alle möglichen Lügen zu ersinnen. Immer stand ihr dieser Idiot mit seiner Jagdtasche vor Augen.
Als Karl nach dem Essen merkte, daß Emma bekümmert war, schlug er ihr vor, zur Zerstreuung mit zu „Apothekers“ zu gehen.
Die erste Person, die sie schon von draußen in der Apotheke im roten Lichte erblickte, war — ausgerechnet — der Steuereinnehmer. Er stand an der Ladentafel und sagte gerade:
„Ich möchte ein Lot Vitriol.“
„Justin,“ schrie der Apotheker, „bring mir mal die Schwefelsäure her!“ Dann wandte er sich zu Frau Bovary, die die Treppe zum Zimmer von Frau Homais hinaufgehen wollte.
„Ach, bleiben Sie nur gleich unten! Meine Frau kommt jeden Augenblick herunter. Wärmen Sie sich inzwischen am Ofen ... Entschuldigen Sie!“ Und zu Bovary sagte er: „Guten Abend, Doktor!“ Der Apotheker pflegte nämlich diesen Titel mit einer gewissen Vorliebe in den Mund zu nehmen, als ob der Glanz, der darauf ruhte, auch auf ihn ein paar Strahlen würfe. „Justin, nimm dich aber in acht und wirf mir die Mörser nicht um! So! Und nun holst du ein paar Stühle aus dem kleinen Zimmer! Aber nicht etwa die Fauteuils aus dem Salon! Verstanden?“
Homais wollte selber zu seinen Fauteuils stürzen, aber Binet bat noch um ein Lot Zuckersäure.
„Zuckersäure?“ fragte der Apotheker eingebildet. „Kenne ich nicht! Gibt es nicht! Sie meinen wahrscheinlich Oxalsäure? Also Oxalsäure, nicht wahr?“
Der Steuereinnehmer setzte ihm auseinander, daß er nach einem selbsterfundenen Rezepte ein Putzwasser herstellen wollte, zur Reinigung von verrostetem Jagdgerät.
Bei dem Wort „Jagd“ schrak Emma zusammen.
Der Apotheker versetzte:
„Gewiß! Bei solch schlechtem Wetter braucht man das!“
„Es gibt aber doch Leute, die es nicht anficht!“ meinte Binet bissig.
Emma bekam keine Luft.
„Und dann möcht ich noch ...“
„Will er denn ewig hier bleiben!“ seufzte sie bei sich.
„... je ein Lot Kolophonium und Terpentin, acht Lot gelbes Wachs und sieben Lot Knochenkohle, bitte! Zum Polieren meines Lederzeugs.“
Der Apotheker wollte gerade das Wachs abschneiden, als seine Frau erschien, die kleine Irma im Arme, Napoleon zur Seite, und Athalia hinterdrein. Sie setzte sich auf die mit Plüsch überzogene Fensterbank. Der Junge lümmelte sich auf einen niedrigen Sessel, während sich seine ältere Schwester am Kasten mit den Malzbonbons zu schaffen machte, in nächster Nähe von „Papachen“, der mit dem Trichter hantierte, die Fläschchen verkorkte, Etiketten darauf klebte und dann alles zu einem Paket verpackte. Um ihn herrschte Schweigen. Man hörte nichts, als von Zeit zu Zeit das Klappern der Gewichte auf der Wage und ein paar leise anordnende Worte, die der Apotheker dem Lehrling erteilte.
„Wie gehts Ihrem Töchterchen?“ fragte plötzlich Frau Homais.
„Ruhe!“ rief ihr Gatte, der den Betrag in das Geschäftsbuch eintrug.
„Warum haben Sies nicht mitgebracht?“ fragte sie weiter.
„Sst! Sst!“ machte Emma und wies mit dem Daumen nach dem Apotheker.
Binet, der in die erhaltene Nota ganz vertieft war, schien nicht darauf gehört zu haben. Endlich ging er. Erleichtert stieß Emma einen lauten Seufzer aus.
„Bißchen asthmatisch?“ bemerkte Frau Homais.
„Ach nein, es ist nur recht heiß hier!“ entgegnete Frau Bovary.
Alles das hatte zur Folge, daß die Liebenden tags darauf beschlossen, ihre Zusammenkünfte anders einzurichten. Emma schlug vor, ihr Hausmädchen ins Vertrauen zu ziehen und durch ein Geschenk mundtot zu machen. Rudolf aber hielt es für besser, in Yonville irgendein stilles Winkelchen ausfindig zu machen. Er versprach, sich darnach umzusehen.
Den ganzen Winter über kam er drei- oder viermal in der Woche bei Anbruch der Nacht in den Garten. Emma hatte ihm den Schlüssel zur Hinterpforte gegeben, während Karl glaubte, er sei verloren gegangen. Zum Zeichen, daß er da war, warf Rudolf jedesmal eine Handvoll Sand gegen die Jalousien. Emma erhob sich daraufhin, aber oft mußte sie noch warten, denn Karl hatte die Angewohnheit, am Kamine zu sitzen und ins Endlose hinein zu plaudern. Emma verging beinahe vor Ungeduld und wünschte ihren Mann wer weiß wohin. Schließlich begann sie ihre Nachttoilette zu machen; dann nahm sie ein Buch zur Hand und tat so, als sei das Buch über alle Maßen fesselnd. Karl ging indessen zu Bett und rief ihr zu, sie solle auch schlafen gehn.
„Komm doch, Emma!“ rief er. „Es ist schon spät!“
„Gleich! Gleich!“ erwiderte sie.
Das Kerzenlicht blendete ihn. Er drehte sich gegen die Wand und schlief ein. Sie schlüpfte hinaus, mit verhaltenem Atem, lächelnd, zitternd, halbnackt.
Rudolf hüllte sie ganz mit hinein in seinen weiten Mantel, schlang die Arme um sie und zog sie wortlos hinter in den Garten, in die Laube, auf die morsche Holzbank, auf der sie dereinst so oft mit Leo gesessen hatte. Das war an Sommerabenden gewesen. Wie verliebt hatten seine Augen geschimmert! Aber jetzt dachte Emma nicht mehr an ihn.
Durch die kahlen Zweige der Jasminbüsche funkelten die Sterne. Hinter dem Paare rauschte der Bach, und hin und wieder knackte am Ufer das vertrocknete hohe Schilf. Manchmal formte es sich im Dunkel zu einem massigen Schatten, der mit einem Male Leben bekam, sich emporrichtete und wieder neigte und wie ein schwarzes Ungetüm auf die beiden zuzukommen schien, um sie zu erdrücken.
In der Kälte der Nacht wurden ihre Umarmungen um so inniger und ihr Liebesgestammel um so inbrünstiger. Ihre Augen, die sie gegenseitig kaum erkennen konnten, erschienen ihnen größer, und in der Stille ringsum bekamen ihre ganz leise geflüsterten Worte einen kristallenen Klang, drangen tief in die Seelen und zitterten in ihnen tausendfach wider.
Wenn die Nacht regnerisch war, flüchteten sie in Karls Sprechzimmer, das zwischen dem Wagenschuppen und dem Pferdestall gelegen war. Emma zündete eine Küchenlampe an, die sie hinter den Büchern bereitgestellt hatte. Rudolf machte sichs bequem, als sei er zu Hause. Der Anblick der „Bibliothek“, des Schreibtisches, der ganzen Einrichtung erregte seine Heiterkeit. Er konnte nicht umhin, über Karl allerhand Witze zu machen, was Emma ungern hörte. Sie hätte ihn viel lieber ernst sehen mögen, ihretwegen theatralischer, wie er es einmal gewesen war, als sie in der Pappelallee das Geräusch von näherkommenden Tritten hinter sich zu vernehmen wähnten.
„Es kommt jemand!“ sagte sie einmal.
Er blies das Licht aus.
„Hast du eine Pistole bei dir?“
„Wozu?“
„Damit du ... dich ... verteidigen kannst!“
„Gegen deinen Mann? Der arme Junge!“ Dazu machte er eine Gebärde, die etwa sagen sollte: „Der mag mir nur kommen!“
Dieser Mut entzückte sie, wenngleich sie die Unzartheit und urwüchsige Roheit heraushörte und darüber entsetzt war.
Rudolf dachte viel über diese kleine Szene nach.
„Wenn das ihr Ernst war,“ sagte er sich, „so war das recht lächerlich, sogar häßlich.“ Er hatte doch wahrlich keinen Anlaß, ihren gutmütigen Mann zu hassen. Sozusagen „von Eifersucht verzehrt“, das war er nicht. Überdies hatte ihm Emma ihre körperliche Treue mit einem feierlichen Eid beteuert, der ihm ziemlich abgeschmackt erschienen war. Überhaupt fing sie an, recht sentimental zu werden. Er hatte Miniaturbildnisse mit ihr tauschen müssen, und sie hatten sich alle beide eine ganze Handvoll Haare für einander abgeschnitten, und jetzt wünschte sie sich sogar einen wirklichen Ehering von ihm, zum Zeichen ewiger Zusammengehörigkeit. Häufig schwärmte sie ihm von den Abendglocken vor oder von den Stimmen der Natur. Oder sie erzählte von ihrer seligen Mutter und wollte von der seinigen etwas wissen. Rudolfs Mutter war schon zwanzig Jahre tot. Trotzdem tröstete ihn Emma mit allerlei Koseworten der Klein-Kindersprache, als ob es gölte, ein Wickelkind zu beruhigen. Mehr als einmal hatte sie, zu den Sternen aufblickend, ausgerufen:
„Ich glaube fest, da droben, unsre beiden Mütter segnen unsre Liebe!“
Aber sie war so hübsch! Und eine so unverdorbene Frau hatte er noch nie besessen. Solch eine Liebschaft ohne Unzüchtigkeiten war ihm, der das Verdorbenste kannte, etwas ganz Neues, das seinen Mannesstolz und seine Sinnlichkeit verführerisch umschmeichelte. Selbst Emmas Überschwenglichkeiten, so zuwider sie einem Naturmenschen wie ihm waren, fand er bei näherer Betrachtung reizend, da sie doch ihm galten. Aber weil er so sicher war, daß er geliebt wurde, ließ er sich gehen, und allmählich änderte sich sein Benehmen.
Nicht mehr wie einst hatte er für sie jene süßen Worte, die Emma zu Tränen rührten, nicht mehr die stürmischen Liebkosungen, die sie toll gemacht hatten. Und so kam es ihr vor, als ob der Strom ihrer eignen großen Liebe, in der sie völlig untergetaucht war, niedriger würde; sie sah gleichsam auf den schlammigen Grund. Vor dieser Erkenntnis schauderte sie, und darum verdoppelte sie ihre Zärtlichkeiten. Rudolf indessen verriet seine Gleichgültigkeit immer mehr.
Emma war sich selber nicht klar darüber, ob sie es bereuen müsse, sich ihm geschenkt zu haben, oder ob es nicht besser für sie sei, wenn sie ihn noch viel mehr liebte. Dann aber begann sie ihre Schwachheit als Schmach zu empfinden, und der Groll darüber beeinträchtigte ihr den sinnlichen Genuß. Sie gab sich ihm nicht mehr hin, sie ließ sich jedesmal von neuem verführen. Aber er meisterte sie, und sie fürchtete sich beinahe vor ihm.
Ihre Beziehungen zueinander gewannen nach außen ein harmloses Gepräge wie nie zuvor. Das war so recht nach Rudolfs Wunsch. So war ihm der Ehebruch recht. Nach einem halben Jahre, als der Frühling ins Land kam, waren sie fast wie zwei Eheleute zueinander, die ihre Liebesopfer an der gemütlichen Flamme des häuslichen Herdes bringen.
Um diese Zeit schickte Vater Rouault wie alljährlich eine Truthenne zur Erinnerung an das geheilte Bein. Mit der Gabe kam, wie immer, ein Brief. Emma zerschnitt den Bindfaden, mit dem er an den Korb gebunden war, und las die folgenden Zeilen:
„Meine liben Kinder, hofentlig trift euch di hir gesund und wol und is si so gut wi di früeren. Mir komt sie nämlig ein bissel zarter vor sozusagen nich so kombakt, das nächste mal schik ich euch zur abwekslung mal einen Han oder wolt ür liber ein par junge un schikt mir den Korb zerük, bite un auch di vorgen, ich hab Unglük mit der römise gehabt der ihr Dach ist mir neulig nachts bei dem grosen Sturm in die Bäume geflogen, die ernte ist diesmal nich besonders berümt. Kurz und gut ich weis nicht wan ich zu euch zu besuch kome, das ist jez so ne Sache, ich kan schwer vom Hofe weg seit ich allein bin meine arme Emma.“
Hier war ein großer Absatz, als ob der gute Mann seine Feder hingelegt hatte, um dazwischen eine Weile zu träumen.
„Was mich anbelangt so gehts mir leidlig bis auf den Schnuppen den ich mir neulig auf der messe in Yvetot geholt hab wo ich war, einen neuen Schäfer zu mieten. Den alten hab ich nämlig nausgeschmisen wegen seiner Grosen klape. Es is wirklig schrecklig mit diesen Gesindel, mausen tat er übrigens auch.
„Von nem Hausierer der vergangnen Winter durch eure Gegend gekomen is und sich bei euch nen Zan hat zihn lasen, hab ich vernomen das Karl imer feste ze tun hat. Das wundert mich kar nich und den Zan hat er mir gezeigt. Ich hab in zu ner tase Kafee dabehalten. Ich fragt in ob er dich auch gesehen hat, da sagte er Nein aber im Stale häte er zwei Gäule stehn sehn woraus ich schlise das der kurkenhandel bei euch gut geht. Das freut mich sehr meine liben Kinder der libe got mög euch ales möglige Glük schenken. Es tut mir sör leid das ich mein libes Enkelkind Berta Bovary noch imer nich kene. Ich habe für si unter deiner Stube ein Flaumenbäumgen geflanzt. Das sol nich angerürt werden auser später um die Flaumen für Berta einzumagen. Di werde ich dan im schrank aufheben und wen si komt krigt si imer welge. Adiö libe Kinder. Ig küse dich libe Emma un auch dich liber Schwigerson und di kleine auf ale beide Baken un verbleibe mit tausen Grüsen euer euch
libender vater
Theodor Rouault.“
Ein paar Minuten hielt sie das Stück grobes Papier noch nach dem Lesen in den Händen. Die Verstöße gegen die Rechtschreibung jagten sich in den väterlichen Zeilen nur so, aber Emma ging einzig und allein dem lieben Geist darin nach, der wie eine Henne aus einer dicken Dornenhecke allenthalben hervorgackerte. Rouault hatte die noch nassen Schriftzüge offenbar mit Herdasche getrocknet, denn aus dem Briefe rieselte eine Menge grauen Staubes auf das Kleid der Leserin. Sie glaubte, den Vater geradezu leibhaftig vor sich zu sehen, wie er sich nach dem Aschekasten bückte. Ach, wie lange war es schon her, daß sie nicht mehr bei ihm war! Im Geiste sah sie sich wieder auf der Bank am Herde sitzen, wie sie das Ende eines Steckens an der großen Flamme des Funken sprühenden Ginsterreisigs anbrennen ließ. Und dann dachte sie zurück an gewisse sonnendurchglühte Sommerabende, wo die Füllen so hell aufwieherten, wenn man in ihre Nähe kam, und dann weggaloppierten. Diese drolligen Galoppsprünge! Im Vaterhause, unter ihrem Fenster, da stand ein Bienenkorb, und manchmal waren die Bienen, wenn sie in der Sonne ausschwärmten, gegen die Scheiben geflogen wie fliegende Goldkugeln. Das war doch eigentlich eine glückliche Zeit gewesen! Voller Freiheit! Voller Erwartung und voller Illusionen! Nun waren sie alle zerronnen! Bei dem, was sie erlebt, hatte sie ihre Seele verbraucht, in allen den verschiedenen Abschnitten ihres Daseins, als junges Mädchen, dann als Gattin, zuletzt als Geliebte. Sie hatte von ihrer Seele verloren in einem fort, wie jemand, der auf einer Reise in jedem Gasthause immer ein Stück von seinen Habseligkeiten liegen läßt.
Aber warum war sie denn so unglücklich? Was war Bedeutsames geschehen, daß sie mit einem Male aus allen Himmeln gestürzt war? Sie erhob sich und blickte um sich, gleichsam als suche sie den Anlaß ihres Herzeleids.
Ein Strahl der Aprilsonne glitzerte auf dem Porzellan des Wandbrettes. Im Kamin war Feuer. Durch ihre Hausschuhe hindurch spürte sie den weichen Teppich. Es war ein heller Frühlingstag, und die Luft war lau.
Da hörte sie, wie ihr Kind draußen laut aufjauchzte.
Die kleine Berta rutschte im Grase herum. Das Kindermädchen wollte sie am Kleide wieder in die Höhe ziehen. Lestiboudois war dabei, den Rasen zu scheren. Jedesmal, wenn er in die Nähe des Kindes kam, streckte es ihm beide Ärmchen entgegen.
„Bring sie mir mal herein!“ rief sie dem Mädchen zu und riß ihr Töchterchen hastig an sich, um es zu küssen. „Wie ich dich liebe, mein armes Kind! Wie ich dich liebe!“
Als sie bemerkte, daß es am Ohre etwas schmutzig war, klingelte sie rasch und ließ sich warmes Wasser bringen. Sie wusch die Kleine, zog ihr frische Wäsche und reine Strümpfe an. Dabei tat sie tausend Fragen, wie es mit der Gesundheit der Kleinen stehe, just als sei sie von einer Reise zurückgekehrt. Schließlich küßte sie sie noch einmal und gab sie tränenden Auges dem Mädchen wieder. Felicie war ganz verdutzt über diesen Zärtlichkeitsanfall der Mutter.
Am Abend fand Rudolf, Emma sei nachdenklicher denn sonst.
„Eine vorübergehende Laune!“ tröstete er sich.
Dreimal hintereinander versäumte er das Stelldichein. Als er wieder erschien, behandelte sie ihn kühl, fast geringschätzig.
„Schade um die Zeit, mein Liebchen!“ meinte er. Und er tat so, als merke er weder ihre sentimentalen Seufzer noch das Taschentuch, das sie herauszog.
Jetzt kam wirklich die Reue über sie. Sie fragte sich, aus welchem Grunde sie eigentlich ihren Mann hasse und ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihm treu hätte bleiben können. Aber Karl bot ihr keine besondere Gelegenheit, ihm ihren Gefühlswandel zu offenbaren. Wenn der Apotheker nicht zufällig eine solche heraufbeschworen hätte, wäre alle ihre hingebungsvolle Anwandlung tatenlos geblieben.
Homais hatte letzthin die Lobpreisung einer neuen Methode, Klumpfüße zu heilen, gelesen, und als Fortschrittler, der er war, verfiel er sofort auf die partikularistische Idee, auch in Yonville müsse es strephopodische Operationen geben, damit es auf der Höhe der Kultur bleibe.
„Was ist denn dabei zu riskieren?“ fragte er Frau Bovary. Er zählte ihr die Vorteile eines solchen Versuches an den Fingern auf. Erfolg so gut wie sicher. Wiederherstellung des Kranken. Befreiung von einem Schönheitsfehler. Bedeutende Reklame für den Operateur. „Warum soll Ihr Herr Gemahl nicht beispielsweise den armen Hippolyt vom Goldnen Löwen kurieren? Bedenken Sie, daß er seine Heilung allen Reisenden erzählen würde. Und dann ...“ Der Apotheker begann zu flüstern und blickte scheu um sich, „... was sollte mich daran hindern, eine kleine Notiz darüber in die Zeitung zu bringen? Du mein Gott! So ein Artikel wird überall gelesen ... man spricht davon ... schließlich weiß es die ganze Welt. Aus Schneeflocken werden am Ende Lawinen! Und wer weiß? Wer weiß?“
Warum nicht? Bovary konnte in der Tat Erfolg haben. Emma hatte gar keinen Anlaß, Karls chirurgische Geschicklichkeit zu bezweifeln, und was für eine Befriedigung wäre es für sie, die geistige Urheberin eines Entschlusses zu sein, der sein Ansehen und seine Einnahmen steigern mußte. Sie verlangte mehr als bloß die Liebe dieses Mannes.
Vom Apotheker und von seiner Frau bestürmt, ließ sich Karl überreden. Er bestellte sich in Rouen das Werk des Doktors Düval, und nun vertiefte er sich jeden Abend, den Kopf zwischen den Händen, in diese Lektüre. Während er sich über Pferdefußbildungen, Varus und Valgus, Strephocatopodie, Strephendopodie, Strephexopodie (d.h. über die verschiedenartigen inneren und äußerlichen Verkrüppelungen des menschlichen Fußes), Strephypopodie und Strephanopodie (das sind Fußleiden, die oberhalb oder unterhalb der Verkrüppelung um sich greifen) unterrichtete, suchte Homais den Hausknecht vom Goldnen Löwen mit allen Mitteln der Überredungskunst zur Operation zu bewegen.
„Du wirst höchstens einen ganz leichten Schmerz spüren“, sagte er zu ihm. „Es ist nichts weiter als ein Einstich wie beim Aderlassen, nicht schlimmer, als wenn du dir ein Hühnerauge schneiden läßt.“
Hippolyts blöde Augen blickten unschlüssig um sich.
„Im übrigen“, fuhr der Apotheker fort, „kann mirs natürlich ganz egal sein. Dein Nutzen ist es. Ich rate dirs nur aus purer Nächstenliebe. Mein lieber Freund, ich möchte dich gar zu gern von deinem scheußlichen Hinkfuß befreit sehen, von diesem ewigen Hin- und Herwackeln mit den Hüften. Du kannst dagegen sagen, was du willst: es stört dich in der Ausübung deines Berufs doch erheblich!“
Nun schilderte ihm Homais, wie frei und flott er sich nach einer Operation werde bewegen können. Auch gab er ihm zu verstehen, daß er dann mehr Glück bei den Weibern haben würde, worüber der Bursche albern grinste.
„Schockschwerebrett! Du bist doch auch ein Mann! Du hättest doch auch nicht kneifen können, wenn man dich zu den Soldaten ausgehoben und in den Krieg geschickt hätte! Also Hippolyt!“
Homais wandte sich von ihm ab und meinte, so ein Dickkopf sei ihm noch nicht vorgekommen. Er begreife nicht, wie man sich den Wohltaten der Wissenschaft derartig störrisch entziehen könne.
Endlich gab der arme Schlucker nach. Das war ja die reine Verschwörung gegen ihn! Binet, der sich sonst niemals um die Angelegenheiten anderer kümmerte, die Löwenwirtin, Artemisia, die Nachbarn und selbst der Bürgermeister, alle drangen sie in ihn, redeten ihm zu und machten ihn lächerlich. Und was vollends den Ausschlag gab: die Operation sollte ihm keinen roten Heller kosten. Bovary versprach sogar, Material und Medikamente umsonst zu liefern. Emma war die Anstifterin dieser Generosität. Karl pflichtete ihr bei und sagte sich im stillen: „Meine Frau ist doch wirklich ein Engel!“
Beraten vom Apotheker, ließ Karl nach drei fehlgeschlagenen Versuchen durch den Tischler unter Beihilfe des Schlossers eine Art Gehäuse anfertigen. Es wog beinahe acht Pfund, und an Holz, Eisen, Blech, Leder, Schrauben usw. war nicht gespart worden.
Um nun zu bestimmen, welche Sehne zu durchschneiden sei, mußte zunächst festgestellt werden, welche besondere Art von Klumpfuß hier vorlag. Hippolyts Fuß setzte sich an sein Schienbein nahezu geradlinig an. Dazu war er noch nach innen zu verdreht. Es war also Pferdefuß, verbunden mit etwas Varus oder, anders ausgedrückt, ein Fall leichten Varus mit starker Neigung zu einem Pferdefuß.
Trotz dieses Klumpfußes, der in der Tat plump wie ein Pferdehuf war und runzelige Haut, ausgedörrte Sehnen und dicke Zehen mit schwarzen wie eisern aussehenden Nägeln hatte, war der Krüppel von früh bis abend munter wie ein Wiesel. Man sah ihn unaufhörlich im Hofe um die Wagen herumhumpeln. Es hatte sogar den Anschein, als sei sein mißratenes Bein kräftiger denn das gesunde. Offenbar hatte sich Hippolyt, von Jugend auf im schweren Dienst, sehr viel Geduld und Ausdauer zu eigen gemacht.
An einem Pferdefuß muß zunächst die Achillessehne durchschnitten werden, dann die vordere Schienbeinmuskel. Eher kann der Varus nicht beseitigt werden. Karl wagte es kaum, beide Schnitte auf einmal zu machen. Auch hatte er große Angst, einen wichtigen Teil zu verletzen. Seine anatomischen Kenntnisse waren mangelhaft.
Ambrosius Paré, der fünfzehn Jahrhunderte nach Celsus die erste unmittelbare Unterbindung einer Arterie wagte, Düpuytren, der es unternahm, einen Abszeß am Gehirn zu öffnen, Gensoul, der als erster eine Oberkiefer-Abtragung ausführte, — allen diesen hat sicherlich nicht so das Herz geklopft und die Hand gezittert, und sie waren gewiß nicht so aufgeregt wie Bovary, als er Hippolyt unter sein Messer nahm.
Im Stübchen des Hausknechts sah es aus wie in einem Lazarett. Auf dem Tische lagen Haufen von Scharpie, gewichste Fäden, Binden, alles was in der Apotheke an Verbandszeug vorrätig gewesen war. Homais hatte das alles eigenhändig vorbereitet, sowohl um die Leute zu verblüffen als auch um sich selbst etwas vorzumachen.
Karl führte den Einschnitt aus. Ein platzendes Geräusch. Die Sehne war zerschnitten, die Operation beendet.
Hippolyt war vor Erstaunen außer aller Fassung. Er nahm Bovarys Hände und bedeckte sie mit Küssen.
„Erst mal Ruhe!“ gebot der Apotheker. „Die Dankbarkeit für deinen Wohltäter kannst du ja später bezeigen!“
Er ging hinunter, um das Ereignis den fünf oder sechs Neugierigen mitzuteilen, die im Hofe herumstanden und sich eingebildet hatten, Hippolyt werde erscheinen und mit einem Male laufen wie jeder andere. Karl schnallte seinem Patienten das Gehäuse an und begab sich sodann nach Haus, wo ihn Emma angstvoll an der Türe erwartete. Sie fiel ihm um den Hals.
Sie setzten sich zu Tisch. Er aß viel und verlangte zum Nachtisch sogar eine Tasse Kaffee; diesen Luxus erlaubte er sich sonst nur Sonntags, wenn ein Gast da war.
Der Abend verlief in heiterer Stimmung unter Gesprächen und gemeinsamem Pläneschmieden. Sie plauderten vom kommenden Glücke, von der Hebung ihres Hausstandes. Er sah seinen ärztlichen Ruf wachsen, seinen Wohlstand gedeihen und die Liebe seiner Frau immerdar währen. Und sie, sie fühlte sich beglückt und verjüngt, gesünder und besser in ihrer wiedererstandenen leisen Zuneigung für diesen armen Mann, der sie so sehr liebte. Flüchtig schoß ihr der Gedanke an Rudolf durch den Kopf, aber ihre Augen ruhten alsbald wieder auf Karl, und dabei bemerkte sie erstaunt, daß seine Zähne eigentlich gar nicht häßlich waren.
Sie waren bereits zu Bett, als Homais trotz der Abwehr des Mädchens plötzlich ins Zimmer trat, in der Hand ein frisch beschriebenes Stück Papier. Es war der Reklame-Aufsatz, den er für den „Leuchtturm von Rouen“ verfaßt hatte. Er brachte ihn, um ihn dem Arzte zum Lesen zu geben.
„Lesen Sie ihn vor!“ bat Bovary.
Der Apotheker tat es:
„Ungeachtet der Vorurteile, in die ein Teil der Europäer noch immer verstrickt ist wie in ein Netz, beginnt es in unserer Gegend doch zu tagen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz einer chirurgischen Tat, die zugleich ein Beispiel edelster Menschenliebe ist. Herr Karl Bovary, einer unserer angesehensten praktischen Ärzte, ...“
„Ach, das ist zu viel! Das ist zu viel!“ unterbrach ihn Karl, vor Erregung tief atmend.
„Aber durchaus nicht! Wieso denn?“
Er las weiter:
„... hat den verkrüppelten Fuß ...“
Er unterbrach sich selbst:
„Ich habe hier absichtlich den terminus technicus vermieden, wissen Sie! In einer Tageszeitung muß alles gemeinverständlich sein ... die große Masse ...“
„Sehr richtig!“ meinte Bovary. „Bitte fahren Sie fort!“
„Ich wiederhole:
Herr Karl Bovary, einer unserer angesehensten praktischen Ärzte, hat den verkrüppelten Fuß eines gewissen Hippolyt Tautain operiert, des langjährigen Hausknechts im Hotel zum Goldnen Löwen der verwitweten Frau Franz am Markt. Das aktuelle Ereignis und das allgemeine Interesse an der Operation hatten eine derartig große Volksmenge angezogen, daß der Zugang zu dem Etablissement gesperrt werden mußte. Die Operation selbst vollzog sich wunderbar schnell. Bluterguß trat so gut wie nicht ein. Kaum ein paar Blutstropfen verrieten, daß ein hartnäckiges Leiden endlich der Macht der Wissenschaft wich. Der Kranke verspürte dabei erstaunlicherweise — wie der Berichterstatter als Augenzeuge versichern darf — nicht den geringsten Schmerz, und sein Zustand läßt bis jetzt nichts zu wünschen übrig. Allem Dafürhalten nach wird die vollständige Heilung rasch erfolgen, und wer weiß, ob der brave Hippolyt nicht bei der kommenden Kirmes mit den flotten Urlaubern um die Wette tanzen und seine Wiederherstellung durch muntere Sprünge feiern wird? Ehre aber den hochherzigen Gelehrten, Ehre den unermüdlichen Geistern, die ihre Nächte der Menschheit zum Heile opfern! Ehre, dreimal Ehre ihnen!
Der Tag wird noch kommen, wo verkündet werden wird, daß die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen gehen! Was der kirchliche Aberglaube ehedem nur den Auserwählten versprach, schenkt die Wissenschaft mehr und mehr allen Menschen. Wir werden unsere verehrten Leser über den weiteren Verlauf dieser so ungemein merkwürdigen Kur auf dem laufenden erhalten.“
Trotz alledem kam fünf Tage darauf die Löwenwirtin ganz verstört gelaufen und rief:
„Zu Hilfe! Er stirbt! Ich weiß nicht, was ich machen soll!“
Karl rannte Hals über Kopf nach dem Goldnen Löwen, und der Apotheker, der den Arzt so über den Markt stürmen sah, verließ sofort im bloßen Kopfe seinen Laden. Atemlos, aufgeregt und mit rotem Gesichte erreichte er den Gasthof und fragte jeden, dem er auf der Treppe begegnete:
„Na, was macht denn unser interessanter Strephopode?“
Der Strephopode wand sich in schrecklichen Zuckungen, so daß das Gehäuse, in das sein Bein eingezwängt war, gegen die Wand geschlagen ward und entzwei zu gehen drohte.
Mit vieler Vorsicht, um ja dabei die Lage des Fußes nicht zu verschieben, entfernte man das Holzgehäuse. Und nun bot sich ein gräßlicher Anblick dar. Die Form des Fußes war unter einer derartigen Schwellung verschwunden, daß es aussah, als platze demnächst die ganze Haut. Diese war blutunterlaufen und von Druckflecken bedeckt, die das famose Gehäuse verursacht hatte. Hippolyt hatte von Anfang an über Schmerzen geklagt, aber man hatte ihn nicht angehört. Nachdem man nunmehr einsah, daß er im Rechte gewesen war, gönnte man ihm ein paar Stunden Befreiung. Aber sowie die Schwellung ein wenig zurückgegangen war, hielten es die beiden Heilkünstler für angebracht, das Bein wieder einzuschienen und es noch fester einzupressen, um dadurch die Wiederherstellung zu beschleunigen.
Aber nach drei Tagen vermochte es Hippolyt nicht mehr auszuhalten. Man nahm ihm den Apparat abermals ab und war höchst über das verwundert, was sich nunmehr herausstellte. Die schwärzlichblau gewordene Schwellung erstreckte sich über das ganze Bein, das ganz voller Blasen war; eine dunkle Flüssigkeit sonderte sich ab. Man wurde bedenklich.
Hippolyt begann sich zu langweilen, und Frau Franz ließ ihn in die kleine Gaststube bringen neben der Küche, damit er wenigstens etwas Zerstreuung hätte. Aber der Steuereinnehmer, der dort seinen Stammplatz hatte, beschwerte sich über diese Nachbarschaft. Nunmehr schaffte man den Kranken in das Billardzimmer. Dort lag er wimmernd unter seinen schweren Decken, blaß, unrasiert, mit eingesunkenen Augen. Von Zeit zu Zeit wandte er seinen in Schweiß gebadeten Kopf auf dem schmutzigen Kissen hin und her, wenn ihn die Fliegen quälten.
Frau Bovary besuchte ihn. Sie brachte ihm Leinwand zu den Umschlägen, tröstete ihn und sprach ihm Mut ein. Auch sonst fehlte es ihm nicht an Gesellschaft, zumal an den Markttagen, wenn die Bauern drin bei ihm Billard spielten, mit den Queuen herumfuchtelten, rauchten, zechten, sangen und Spektakel machten.
„Wie geht dirs denn?“ fragten sie ihn und klopften ihm auf die Schulter. „So recht auf dem Damme bist du wohl nicht? Bist aber selber schuld daran!“ Er hätte dies oder jenes machen sollen. Sie erzählten ihm von Leuten, die durch ganz andere Heilmittel wiederhergestellt worden seien. Und zum sonderbaren Trost meinten sie:
„Du bist viel zu zimperlich! Steh doch auf! Du läßt dich wie ein Fürst verhätscheln! Das ist Unsinn, alter Schlaumeier! Und besonders gut riechst du auch nicht!“
Inzwischen griff der Brand immer weiter um sich. Bovary ward fast selber krank davon. Er kam aller Stunden, aller Augenblicke. Hippolyt sah ihn mit angsterfüllten Augen an. Schluchzend stammelte er:
„Lieber Herr Doktor, wann werd ich denn wieder gesund? Ach, helfen Sie mir! Ich bin so unglücklich, so unglücklich!“
Bovary schrieb ihm alle Tage vor, was er essen solle. Dann verließ er ihn.
„Hör nur gar nicht auf ihn, mein Junge!“ meinte die Löwenwirtin. „Sie haben dich schon gerade genug geschunden! Das macht dich bloß immer noch schwächer! Da, trink!“
Sie gab ihm hin und wieder Fleischbrühe, ein Stück Hammelkeule, Speck und manchmal ein Gläschen Schnaps, den er kaum an seine Lippen zu bringen wagte.
Abbé Bournisien, der gehört hatte, daß es Hippolyt schlechter ging, kam ihn zu besuchen. Er bedauerte ihn, dann aber erklärte er, in gewisser Beziehung müsse sich der Kranke freuen, denn es sei des Herrn Wille, der ihm Gelegenheit gäbe, sich mit dem Himmel zu versöhnen.
„Siehst du,“ sagte der Priester in väterlichem Tone, „du hast deine Pflichten recht vernachlässigt! Man hat dich selten in der Kirche gesehen. Wieviel Jahre lang hast du das heilige Abendmahl nicht genommen? Ich gebe zu, daß deine Beschäftigung und der Trubel der Welt dich abgehalten haben, für dein Seelenheil zu sorgen. Aber jetzt ist es an der Zeit, daß du dich darum kümmerst. Verzweifle indessen nicht! Ich habe große Sünder gekannt, die, kurz ehe sie vor Gottes Thron traten, (du bist noch nicht so weit, das weiß ich wohl!) seine Gnade erfleht haben; sie sind ohne Verdammnis gestorben! Hoffen wir, daß auch du uns gleich ihnen ein gutes Beispiel gibst! Darum: sei vorsichtig! Niemand verwehrt dir, morgens ein Ave-Maria und abends ein Paternoster zu beten! Ja, tue das! Mir zuliebe! Was kostet dich das? Willst du mir das versprechen?“
Der arme Teufel gelobte es. Tag für Tag kam der Seelsorger wieder. Er plauderte mit ihm und der Wirtin, und bisweilen erzählte er den beiden sogar Anekdoten, Späße und faule Witze, die Hippolyt allerdings nicht verstand. Aber bei jeder Gelegenheit kam er auf religiöse Dinge zu sprechen, wobei er jedesmal eine salbungsvolle Miene annahm.
Dieser Eifer verfehlte seine Wirkung nicht. Es dauerte nicht lange, da bekundete der Strephopode die Absicht, eine Wallfahrt nach Bon-Secours zu unternehmen, wenn er wieder gesund würde, worauf der Priester entgegnete, das sei nicht übel. Doppelt genäht halte besser. Er riskiere ja dabei nichts.
Der Apotheker war empört über „diese Pfaffenschliche“, wie er sich ausdrückte. Er behauptete, das verzögre die Genesung des Hausknechts nur.
„Laßt ihn doch nur in Ruhe!“ sagte er zur Löwenwirtin. „Mit euren Salbadereien macht ihr den Mann nur verdreht!“
Aber die gute Frau wollte davon nichts hören. Er und kein anderer sei ja an der ganzen Geschichte schuld! Und auch rein aus Widerspruchsgeist hing sie dem Kranken zu Häupten einen Weihwasserkessel und einen Buchsbaumzweig auf.
Allerdings nützten offenbar weder der kirchliche noch der chirurgische Segen. Unaufhaltsam schritt die Blutvergiftung vom Beine weiter in den Körper hinauf. Man versuchte immer neue Salben und Pflaster, aber der Fuß wurde immer brandiger, und schließlich antwortete Bovary mit einem zustimmenden Kopfnicken, als Mutter Franz ihn fragte, ob man angesichts dieser hoffnungslosen Lage nicht den Doktor Canivet aus Neufchâtel kommen lassen solle, der doch weitberühmt sei.
Canivet war Doktor der Medizin, fünfzig Jahre alt, ebenso wohlhabend wie selbstbewußt. Er kam und entblödete sich nicht, über den Kollegen geringschätzig zu lächeln, als er das bis an das Knie brandig gewordene Bein untersuchte. Sodann erklärte er, das Glied müsse amputiert werden.
Er suchte den Apotheker auf und wetterte gegen „die Esel, die das arme Luder so zugerichtet“ hätten. Er faßte Homais am Rockknopf und hielt ihm in seiner Apotheke eine Standpauke:
„Da habt Ihr so 'ne Pariser Erfindung! Solchen Unsinn hecken die Herren Gelehrten der Weltstadt nun aus! Genau so steht es mit ihren Schieloperationen, Chloroform-Betäubungen, Blaseneingriffen! Das ist alles Kapitalunfug gegen den sich der Staat ins Zeug legen sollte! Diese Scharlatane wollen bloß immer was zu tun haben. Sie erfinden die unglaublichsten Verfahren, aber an die Folgen denken sie nicht. Wir andern aber, wir sind rückständig. Wir sind keine Gelehrten, keine Zauberkünstler, keine Salonhelden. Wir haben unsre Praxis, wir heilen lumpige Krankheiten, aber es fällt uns nicht ein, Leute zu operieren, die kerngesund herumlaufen! Klumpfüße gerade zu hacken! Du lieber Gott! Ebenso könnte man auch einem Buckligen seinen Höcker abhobeln wollen!“
Homais war bei diesem Erguß gar nicht besonders wohl zumute, aber er verbarg sein Mißbehagen hinter einem verbindlichen Lächeln. Er mußte mit Canivet auf gutem Fuße bleiben, dieweil dieser in der Yonviller Gegend öfters konsultiert wurde und ihm dabei durch Rezepte zu verdienen gab. Aus diesem Grunde hütete er sich, für Bovary einzutreten. Er vermuckste sich nicht, ließ Grundsätze Grundsätze sein und opferte seine Würde den ihm wichtigeren Interessen seines Geschäfts.
Die Amputation des Beines, die der Doktor Canivet ausführte, war für den ganzen Ort ein wichtiges Ereignis. Frühzeitig waren die Leute schon auf den Beinen, und die Hauptstraße war voller Menschen, die allesamt etwas Trübseliges an sich hatten, als solle eine Hinrichtung stattfinden. Im Laden des Krämers stritt man sich über Hippolyts Krankheit. Ans Kaufen dachte niemand. Und Frau Tüvache, die Gattin des Bürgermeisters, lag vom frühen Morgen in ihrem Fenster, um ja nicht zu verpassen, wenn der Operateur ankäme.
Er kam in seinem Wägelchen angefahren, das er selber kutschierte. Durch die Last seines Körpers war die rechte Feder des Gefährts derartig niedergedrückt, daß der Wagenkasten schief stand. Neben dem Insassen auf dem Sitzpolster stand eine rotlederne Reisetasche, deren Messingschlösser prächtig funkelten. In starkem Trabe fuhr Canivet bis vor die kleine Freitreppe des Goldnen Löwen. Mit lauter Stimme befahl er, das Pferd auszuspannen. Er ging mit in den Stall und überzeugte sich, daß der Gaul ordentlich Hafer geschüttet bekam. Es war seine Gewohnheit, daß er sich immer zuerst seinem Tier und seinem Fuhrwerk widmete. Er galt deshalb im Munde der Leute für einen „Pferdejockel“. Aber gerade weil er sich darin unabbringbar gleichblieb, schätzte man ihn um so mehr. Und wenn der letzte Mensch auf Gottes ganzem Erdboden in den letzten Zügen gelegen hätte: Doktor Canivet wäre zunächst seiner kavalleristischen Pflicht nachgekommen.
Homais stellte sich ein.
„Ich rechne auf Ihre Unterstützung!“ sagte der Chirurg. „Ist alles bereit? Na, dann kanns losgehen!“
Der Apotheker gestand errötend ein, daß er zu empfindlich sei, um einer solchen Operation assistieren zu können. „Als passiver Zuschauer“, sagte er, „greift einen so was doppelt an. Meine Nerven sind so herunter ...“
„Quatsch!“ unterbrach ihn Canivet. „Mir machen Sie vielmehr den Eindruck, als solle Sie demnächst der Schlag rühren. Übrigens kein Wunder! Ihr Herren Apotheker hockt ja von früh bis abends in Eurer Giftbude. Das muß sich ja schließlich auf die Nerven legen! Gucken Sie mich mal an! Tag für Tag stehe ich vier Uhr morgens auf, wasche mich mit eiskaltem Wasser ... Frieren kenne ich nicht, Flanellhemden gibts für mich nicht, das Zipperlein kriege ich nicht, und mein Magen ist mordsgesund. Dabei lebe ich heute so und morgen so, wie mirs gerade einfällt, aber immer als Lebenskünstler! Und deshalb bin ich auch nicht so zimperlich wie Sie. Es ist mir total Wurst, ob ich einem Rebhuhn oder einem christlichen Individuum das Bein abschneide. Sie haben mir neulich mal gesagt, der Mensch sei ein Gewohnheitstier. Sehr richtig! Es ist alles bloß Gewohnheit ...“
Ohne irgendwelche Rücksicht auf Hippolyt, der nebenan auf seinem Lager vor Angst schwitzte, führten die beiden ihre Unterhaltung in diesem Stile weiter. Der Apotheker verglich die Kaltblütigkeit eines Chirurgen mit der eines Feldherrn. Durch diesen Vergleich geschmeichelt, ließ sich Canivet des längeren über die Erfordernisse seiner Kunst aus. Der Beruf des Arztes sei ein Priesteramt, und wer es nicht als das, sondern als gemeines Handwerk ausübe, der sei ein Heiligtumschänder.
Endlich erinnerte er sich des Patienten und begann das von Homais gelieferte Verbandszeug zu prüfen. Es war dasselbe, das bereits bei der ersten Operation zur Stelle gewesen war. Sodann erbat er sich jemanden, der das Bein festhalten könne. Lestiboudois ward geholt.
Der Doktor zog den Rock aus, streifte sich die Hemdsärmel hoch und begab sich in das Billardzimmer, während der Apotheker in die Küche ging, wo die Wirtin sowie Artemisia neugierig und ängstlich warteten. Die Gesichter der beiden Frauen waren weißer als ihre Schürzen.
Währenddessen wagte sich Bovary nicht aus seinem Hause heraus. Er saß unten in der Großen Stube, zusammengeduckt und die Hände gefaltet, im Winkel neben dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und starrte vor sich hin. „Welch ein Mißgeschick!“ seufzte er. „Was für eine große Enttäuschung!“ Er hatte doch alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen, und doch war der Teufel mit seiner Hand dazwischengekommen! Nicht zu ändern! Wenn Hippolyt noch stürbe, dann wäre er schuld daran! Und was sollte er antworten, wenn ihn seine Patienten darnach fragten? Sollte er sagen, er habe einen Fehler begangen? Aber welchen? Er wußte doch selber keinen, so sehr er auch darüber nachsann. Die berühmtesten Chirurgen versehen sich einmal. Aber das wird kein Mensch bedenken. Sie werden ihn alle nur auslachen und in Verruf bringen. Die Sache wird bis Forges ruchbar werden, bis Neufchâtel, bis Rouen und noch weiter! Vielleicht würde irgendein Kollege einen Bericht gegen ihn veröffentlichen, dem dann eine Polemik folgte, die ihn zwänge, in den Zeitungen eine Entgegnung zu bringen. Hippolyt könnte auf Schadenersatz klagen.
Karl sah sich entehrt, zugrunde gerichtet, verloren! Seine von tausend Befürchtungen bestürmte Phantasie schwankte hin und her wie eine leere Tonne auf den Wogen des Meeres.
Emma saß ihm gegenüber und beobachtete ihn. An seine Demütigung dachte sie nicht. Ihre Gedanken arbeiteten in andrer Richtung. Wie hatte sie sich nur einbilden können, daß sich ein Mann seines Schlages zu einer Leistung aufschwänge, wo sich seine Unfähigkeit doch schon mehr als ein dutzendmal erwiesen hatte!
Er lief im Zimmer auf und ab. Seine Stiefel knarrten.
„Setz dich doch!“ sagte sie. „Du machst mich noch ganz verrückt!“
Er tat es.
Wie hatte sie es nur fertig gebracht — wo sie doch so klug war! —, daß sie sich abermals so getäuscht hatte? Aber ja, ihr ganzer Lebenspfad war doch fortwährend durch das traurige Tal der Entbehrungen gegangen. Wie vom Wahnwitz geleitet! Sie rief sich alles einzeln ins Gedächtnis zurück: ihren unbefriedigten Hang zum Lebensgenuß, die Einsamkeit ihrer Seele, die Armseligkeit ihrer Ehe, ihres Hausstandes, ihre Träume und Illusionen, die in den Sumpf hinabgefallen waren wie verwundete Schwalben. Sie dachte an alles das, was sie sich ersehnt, an alles, was sie von sich gewiesen, an alles, was sie hätte haben können! Sie begriff den geheimen Zusammenhang nicht. Warum war denn alles so? Warum?
Das Städtchen lag in tiefer Ruhe. Plötzlich erscholl ein herzzerreißender Schrei. Bovary ward blaß und beinahe ohnmächtig. Emma zuckte nervös mit den Augenbrauen. Dann aber war ihr nichts mehr anzusehen.
Der da, der war der Schuldige! Dieser Mensch ohne Intelligenz und ohne Feingefühl! Da saß er, stumpfsinnig und ohne Verständnis dafür, daß er nicht nur seinen Namen lächerlich und ehrlos gemacht hatte, sondern den gemeinsamen Namen, also auch ihren Namen! Und sie, sie hatte sich solche Mühe gegeben, ihn zu lieben! Hatte unter Tränen bereut, daß sie ihm untreu geworden war!
„Vielleicht war es ein Valgus?“ rief Karl plötzlich laut aus. Das war das Ergebnis seines Nachsinnens.
Bei dem unerwarteten Schlag, den dieser Ausruf den Gedanken Emmas versetzte — er fiel wie eine Bleikugel auf eine silberne Platte —, hob sie erschrocken ihr Haupt. Was wollte er damit sagen, fragte sie sich. Sie sahen einander stumm an, gleichsam erstaunt, sich gegenseitig zu erblicken. Alle beide waren sie sich seelisch himmelweit fern. Karl starrte sie an mit dem wirren Blick eines Trunkenen und lauschte dabei, ohne sich zu regen, den verhallenden Schreien des Amputierten. Der heulte in langgedehnten Tönen, die ab und zu von grellem Gebrüll unterbrochen wurden. Alles das klang wie das ferne Gejammer eines Tieres, das man schlachtet. Emma biß sich auf die blassen Lippen. Ihre Finger spielten mit dem Blatt einer Blume, die sie zerpflückt hatte, und ihre heißen Blicke trafen ihn wie Brandpfeile. Jetzt reizte sie alles an ihm; sein Gesicht, sein Anzug, sein Schweigen, seine ganze Erscheinung, ja seine Existenz. Wie über ein Verbrechen empfand sie darob Reue, daß sie ihm so lange treu geblieben, und was noch von Anhänglichkeit übrig war, ging jetzt in den lodernden Flammen ihres Ingrimms auf. Mit wilder Schadenfreude genoß sie den Siegesjubel über ihre gebrochene Ehe. Von neuem gedachte sie des Geliebten und fühlte sich taumelnd zu ihm gezogen. Sein Bild entzückte und verführte sie in Gedanken abermals. Sie gab ihm ihre ganze Seele. Es war ihr, als sei Karl aus ihrem Leben herausgerissen, für immer entfremdet, unmöglich geworden, ausgetilgt. Als sei er gestorben, nachdem er vor ihren Augen den Todeskampf gekämpft hatte. Vom Trottoir her drang das Geräusch von Tritten herauf. Karl ging an das Fenster und sah durch die niedergelassenen Jalousien den Doktor Canivet an den Hallen in der vollen Sonne hingehen. Er wischte sich gerade die Stirn mit seinem Taschentuche. Hinter ihm schritt Homais, die große rote Reisetasche in der Hand. Beide steuerten auf die Apotheke zu.
In einem Anfall von Mutlosigkeit und Liebesbedürfnis näherte sich Karl seiner Frau:
„Gib mir einen Kuß, Geliebte!“
„Laß mich!“ wehrte sie ab, ganz rot vor Zorn.
„Was hast du denn? Was ist dir?“ fragte er betroffen. „Sei doch ruhig! Ärgere dich nicht! Du weißt ja, wie sehr ich dich liebe! Komm!“
„Weg!“ rief sie mit verzerrtem Gesicht. Sie stürzte aus dem Zimmer, wobei sie die Tür so heftig hinter sich zuschlug, daß das Barometer von der Wand fiel und in Stücke ging.
Karl sank in seinen Lehnstuhl. Erschrocken sann er darüber nach, was sie wohl habe. Er bildete sich ein, sie leide an einer Nervenkrankheit. Er fing an zu weinen im ahnenden Vorgefühl von etwas Unheilvollem, Unfaßbarem.
Als Rudolf an diesem Abend hinten in den Garten kam, fand er seine Geliebte auf der obersten Stufe der kleinen Gartentreppe sitzen und auf ihn warten. Sie küßten sich, und all ihr Ärger schmolz in der Glut der Umarmung wie der Schnee vor der Sonne.
Ihre Liebe begann von neuem. Oft schrieb ihm Emma mitten am Tage. Sie winkte sich Justin durch das Fenster her. Der legte schnell seine Arbeitsschürze ab und trabte nach der Hüchette. Rudolf kam alsbald. Sie hatte ihm nichts zu sagen, als daß sie sich langweile, daß ihr Mann gräßlich sei und ihr Dasein schrecklich.
„Kann ich das ändern?“ rief er einmal ungeduldig aus.
„Ja, wenn du wolltest!“
Sie saß auf dem Fußboden zwischen seinen Knien, mit aufgelöstem Haar und traumverlorenem Blick.
„Wieso?“ fragte er.
Sie seufzte.
„Wir müssen irgendwo anders ein neues Leben beginnen ... weit weg von hier ...“
„Ein toller Einfall!“ lachte er. „Unmöglich!“
Sie kam immer wieder darauf zurück. Er tat so, als sei ihm das unverständlich, und begann von etwas anderm zu sprechen.
Was Rudolf in der Tat nicht begriff, das war ihr ganzes aufgeregtes Wesen bei einer so einfachen Sache wie der Liebe. Sie müsse dazu doch Anlaß haben, Motive. Sie klammere sich doch an ihn, als ob sie bei ihm Hilfe suche.
Wirklich wuchs ihre Zärtlichkeit zu dem Geliebten von Tag zu Tag im gleichen Maße, wie sich ihre Abneigung gegen ihren Mann verschlimmerte. Je mehr sie sich jenem hingab, um so mehr verabscheute sie diesen. Karl kam ihr nie so unerträglich vor, seine Hände nie so vierschrötig, sein Geist nie so schwerfällig, seine Manieren nie so gewöhnlich, als wenn sie nach einem Stelldichein mit Rudolf wieder mit ihm zusammen war. Sie bildete sich ein, sie sei Rudolfs Frau, seine treue Gattin. Immerwährend träumte sie von seinem dunklen welligen Haar, seiner braunen Stirn, seiner kräftigen und doch eleganten Gestalt, von dem ganzen so klugen und in seinem Begehren doch so leidenschaftlichen Menschen. Nur für ihn pflegte sie ihre Nägel mit der Sorgfalt eines Ziseleurs, für ihn verschwendete sie eine Unmenge von Coldcream für ihre Haut und von Peau d'Espagne für ihre Wäsche. Sie überlud sich mit Armbändern, Ringen und Halsketten. Wenn sie ihn erwartete, füllte sie ihre großen blauen Glasvasen mit Rosen und schmückte ihr Zimmer und sich selber wie eine Kurtisane, die einen Fürsten erwartet. Felicie wurde gar nicht mehr fertig mit Waschen; den ganzen Tag steckte sie in ihrer Küche.
Justin leistete ihr häufig Gesellschaft und sah ihr bei ihrer Arbeit zu. Die Ellenbogen auf das lange Bügelbrett gestützt, auf dem sie plättete, betrachtete er lüstern alle die um ihn herum aufgeschichtete Damenwäsche, die Pikee-Unterröcke, die Spitzentücher, die Halskragen, die breithüftigen Unterhosen.
„Wozu hat man das alles?“ fragte der Bursche, indem er mit der Hand über einen der Reifröcke strich.
„Hast du sowas noch niegesehen?“ Felicie lachte. „Deine Herrin, Frau Homais, hat das doch auch!“
„So? Die Frau Homais!“ Er sann nach. „Ist sie denn eine Dame wie die Frau Doktor?“
Felicie liebte es gar nicht, wenn er sie so umschnüffelte. Sie war drei Jahre älter als er, und übrigens machte ihr Theodor, der Diener des Notars, neuerdings den Hof.
„Laß mich in Ruhe!“ sagte sie und stellte den Stärketopf beiseite. „Scher dich lieber an deine Arbeit! Stoß deine Mandeln! Immer mußt du an irgendeiner Schürze hängen! Eh du dich damit befaßt, laß dir mal erst die Stoppeln unter der Nase wachsen, du Knirps, du nichtsnütziger!“
„Ach, seien Sie doch nicht gleich bös! Ich putze Ihnen auch die Schuhe für die Frau Doktor!“
Alsobald machte er sich über ein Paar von Frau Bovarys Schuhen her, die in der Küche standen. Sie waren über und über mit eingetrocknetem Straßenschmutz bedeckt — vom letzten Stelldichein her —, der beim Anfassen in Staub zerfiel und, wo gerade die Sonne schien, eine leichte Wolke bildete. Justin betrachtete sie sich.
„Hab nur keine Angst! Die gehen nicht entzwei!“ sagte Felicie, die, wenn sie die Schuhe selber reinigte, keine besondere Sorgfalt anwandte, weil die Herrin sie ihr überließ, sobald sie nicht mehr tadellos aussahen. Emma hatte eine Menge Schuhzeug in ihrem Schranke, sie trieb damit eine wahre Verschwendung, aber Karl wagte nicht den geringsten Einwand dagegen.
So gab er auch dreihundert Franken für ein hölzernes Bein aus, das Hippolyt ihrer Ansicht nach geschenkt bekommen müsse. Die Fläche, mit der es anlag, war mit Kork überzogen. Es hatte Kugelgelenke und eine komplizierte Mechanik. Hose und Schuh verdeckten es vollkommen. Hippolyt wagte es indessen nicht in den Alltagsgebrauch zu nehmen und bat Frau Bovary, ihm noch ein anderes, einfacheres zu besorgen. Wohl oder übel mußte der Arzt auch diese Ausgabe tragen. Nun konnte der Hausknecht von neuem seinem Berufe nachgehen. Wie ehedem sah man ihn wieder durch den Ort humpeln. Wenn Karl von weitem den harten Anschlag des Stelzfußes auf dem Pflaster vernahm, schlug er schnell einen anderen Weg ein.
Lheureux, der Modewarenhändler, hatte das Holzbein besorgt. Das gab ihm Gelegenheit, Emma häufig aufzusuchen. Er plauderte mit ihr über die neuesten Pariser Moden und über tausend Dinge, die Frauen interessieren. Dabei war er immer äußerst gefällig und forderte niemals bare Bezahlung. Alle Launen und Einfälle Emmas wurden im Handumdrehen befriedigt. Einmal wollte sie Rudolf einen sehr schönen Reitstock schenken, den sie in Rouen in einem Schirmgeschäft gesehen hatte. Eine Woche später legte Lheureux ihn ihr auf den Tisch. Am folgenden Tage aber überreichte er ihr eine Rechnung im Gesamtbetrage von zweihundertundsiebzig Franken und so und soviel Centimes. Emma war in der gröbsten Verlegenheit. Die Kasse war leer. Lestiboudois hatte noch Lohn für vierzehn Tage zu bekommen, Felicie für acht Monate. Dazu kam noch eine Menge andrer Schulden. Bovary wartete schon mit Schmerzen auf den Eingang des Honorars von Herrn Derozerays, das alljährlich gegen Ende Oktober einzugehen pflegte.
Ein paar Tage gelang es ihr, Lheureux zu vertrösten. Dann verlor er aber die Geduld. Man dränge auch ihn, er brauche Geld, und wenn er nicht alsbald welches von ihr bekäme, müsse er ihr alles wieder abnehmen, was er ihr geliefert habe.
„Gut!“ meinte Emma. „Holen Sie sichs!“
„Ach was! Das hab ich nur so gesagt!“ entgegnete er. „Indessen um den Reitstock tuts mir wirklich leid! Bei Gott, den werd ich mir vom Herrn Doktor zurückgeben lassen!“
„Um Gottes willen!“ rief sie aus.
„Warte nur! Dich hab ich!“ dachte Lheureux bei sich.
Jetzt war er seiner Vermutung sicher. Indem er sich entfernte, lispelte er in seinem gewohnten Flüstertone vor sich hin:
„Na, wir werden ja sehen! Wir werden ja sehen!“
Frau Bovary grübelte gerade darüber nach, wie sie diese Geschichte in Ordnung bringen könne, da kam das Mädchen und legte eine kleine in blaues Papier verpackte Geldrolle auf den Kamin. Eine Empfehlung von Herrn Derozerays. Emma sprang auf und brach die Rolle auf. Es waren dreihundert Franken in Napoleons, das schuldige Honorar. Karls Tritte wurden draußen auf der Treppe hörbar. Sie legte das Gold rasch in die Schublade und steckte den Schlüssel ein.
Drei Tage darauf erschien Lheureux abermals.
„Ich möchte Ihnen einen Vergleich vorschlagen“, sagte er. „Wollen Sie mir nicht statt des baren Geldes lieber ...“
„Hier haben Sie Ihr Geld!“ unterbrach sie ihn und zählte ihm vierzehn Goldstücke in die Hand.
Der Kaufmann war verblüfft. Um seine Enttäuschung zu verbergen, brachte er endlose Entschuldigungen vor und bot Emma alle möglichen Dienste an, die sie allesamt ablehnte.
Eine Weile stand sie dann noch nachdenklich da und klimperte mit dem Kleingeld, das sie wieder herausbekommen und in die Tasche ihrer Schürze gesteckt hatte. Sie nahm sich vor, tüchtig zu sparen, damit sie recht bald ...
„Was ist da weiter dabei?“ beruhigte sie sich. „Er wird nicht gleich dran denken!“
Außer dem Reitstocke mit dem vergoldeten Silbergriffe hatte Rudolf auch noch ein Petschaft von ihr geschenkt bekommen, mit dem Wahlspruch: Amor nel Cor! (Liebe im Herzen!), fernerhin ein seidenes Halstuch und eine Zigarrentasche, zu der sie als Muster die Tasche genommen hatte, die Karl damals auf der Landstraße gefunden hatte, als sie vom Schlosse Vaubyessard heimfuhren. Emma hatte sie sorglich aufbewahrt. Rudolf nahm diese Geschenke erst nach langem Sträuben. Sie waren ihm peinlich. Aber Emma drang in ihn, und so mußte er sich schließlich fügen. Er fand das aufdringlich und höchst rücksichtslos.
Sie hatte wunderliche Einfälle.
„Wenn es Mitternacht schlägt,“ bat sie ihn einmal, „mußt du an mich denken!“
Als er hinterher gestand, er habe es vergessen, bekam er endlose Vorwürfe zu hören, die alle in die Worte ausklangen:
„Du liebst mich nicht mehr!“
„Ich dich nicht mehr lieben?“
„Über alles?“
„Natürlich!“
„Hast du auch vor mir nie eine andre geliebt, sag?“
„Glaubst du, ich hätte meine Unschuld bei dir verloren?“ brach er lachend aus.
Sie fing an zu weinen, und Rudolf vermochte sie nur mit viel Mühe zu beruhigen, indem er seine Worte durch allerlei Scherze zu mildern suchte.
„Ach, du weißt gar nicht, wie ich dich liebe!“ begann sie von neuem. „Ich liebe dich so sehr, daß ich nicht von dir lassen kann! Verstehst du das? Manchmal habe ich solche Sehnsucht, dich zu sehen, und dann springt mir beinahe das Herz vor lauter Liebe! Ich frage mich: wo ist er? Vielleicht spricht er mit andern Frauen? Sie lächeln ihm zu. Er macht ihnen den Hof ... Ach nein; nicht wahr, es gefällt dir keine? Es gibt ja schönere als ich, aber keine kann dich so lieben wie ich! Ich bin deine Magd, deine Liebste! Und du bist mein Herr, mein Gott! Du bist so gut! So schön! So klug und stark!“
Dergleichen hatte er in seinem Leben schon so oft gehört, daß es ihm ganz und gar nichts Neues mehr war. Emma war darin nicht anders als alle seine früheren Geliebten, und der Reiz der Neuheit fiel Stück um Stück von ihr ab wie ein Gewand, und das ewige Einerlei der sinnlichen Leidenschaft trat nackt zutage, die immer dieselbe Gestalt, immer dieselbe Sprache hat. Er war ein vielerfahrener Mann, aber er ahnte nicht, daß unter den nämlichen Ausdrucksformen himmelweit voneinander verschiedene Gefühlsarten existieren können. Weil ihm die Lippen liederlicher oder käuflicher Frauenzimmer schon die gleichen Phrasen zugeflüstert hatten, war sein Glaube an die Aufrichtigkeit einer Frau wie dieser nur schwach.
„Man darf die überschwenglichen Worte nicht gelten lassen,“ sagte er sich, „sie sind nur ein Mäntelchen für Alltagsempfindungen.“
Aber ist es nicht oft so, daß ein übervolles Herz mit den banalsten Worten nach Ausdruck sucht? Und vermag denn jemand genau zu sagen, wie groß sein Wünschen und Wollen, seine Innenwelt, seine Schmerzen sind? Des Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.
Aber mit der Überlegenheit, die kritischen Naturen eigentümlich ist, die immer Herren ihrer selbst bleiben, entlockte Rudolf auch dieser Liebschaft neue Genüsse. Er nahm keine ihm unbequeme Rücksicht auf Emmas Schamhaftigkeit mehr. Er behandelte sie bar jedes Zwanges. Er machte sie zu allem fügsam und verdarb sie gründlich. Sie hegte eine geradezu hündische Anhänglichkeit zu ihm. An ihm bewunderte sie alles. Wollüstig empfand sie Glückseligkeiten, die sie von Sinnen machten. Ihre Seele ertrank in diesem Rausche.
Der Wandel in erotischen Dingen bei ihr begann sich in ihrem äußerlichen Wesen zu verraten. Ihre Blicke wurden kühner, ihre Rede freimütiger. Sie hatte sogar den Mut, in Begleitung Rudolfs, eine Zigarette im Munde, spazieren zu gehen, „um die Spießer zu ärgern“, wie sie sagte. Und um ihren guten Ruf war es gänzlich geschehen, als man sie eines schönen Tages in einem regelrechten Herrenjackett der Rouener Postkutsche entsteigen sah. Die alte Frau Bovary, die nach einem heftigen Zank mit ihrem Manne wieder einmal bei ihrem Sohne Zuflucht gesucht hatte, entsetzte sich nicht weniger als die Yonviller Philister. Und noch vieles andre mißfiel ihr. Zunächst hatte Karl ihrem Rate entgegen das Roman-Lesen doch wieder zugelassen. Und dann war überhaupt die „ganze Wirtschaft“ nicht nach ihrem Sinne. Als sie sich Bemerkungen darüber gestattete, kam es zu einem ärgerlichen Auftritt. Felicie war die nähere Veranlassung dazu.
Die alte Frau Bovary hatte das Mädchen eines Abends, als sie durch den Flur ging, in der Gesellschaft eines nicht mehr besonders jungen Mannes überrascht. Der Betreffende trug ein braunes Halstuch und verschwand bei der Annäherung der alten Dame. Emma lachte, als ihr der Vorfall berichtet ward, aber die Schwiegermutter ereiferte sich und erklärte, wer bei seinen Dienstboten nicht auf Anstand hielte, lege selber wenig Wert darauf.
„Sie sind wohl aus Hinterpommern?“ fragte die junge Frau so impertinent, daß sich die alte Frau die Frage nicht verkneifen konnte, ob sie sich damit selber verteidigen wolle.
„Verlassen Sie mein Haus!“ schrie Emma und sprang auf.
„Emma! Mutter!“ rief Karl beschwichtigend.
In ihrer Erregung waren beide Frauen aus dem Zimmer gestürzt. Emma stampfte mit dem Fuße auf, als er ihr zuredete.
„So eine ungebildete Person! So ein Bauernweib!“ rief sie.
Er eilte zur Mutter. Sie war ganz außer sich und stammelte:
„So eine Unverschämtheit! Eine leichtsinnige Trine. Schlimmeres vielleicht noch!“
Sie wollte unverweilt abreisen, wenn sie nicht sofort um Verzeihung gebeten würde.
Karl ging abermals zu seiner Frau und beschwor sie auf den Knien, doch nachzugeben. Schließlich sagte sie:
„Meinetwegen!“
In der Tat streckte sie ihrer Schwiegermutter die Hand hin, mit der Würde einer Fürstin.
„Verzeihen Sie mir, Frau Bovary!“
Dann eilte sie in ihr Zimmer hinauf, warf sich in ihr Bett, auf den Bauch, und weinte wie ein Kind, den Kopf in das Kissen vergraben.
Für den Fall, daß sich irgend etwas Besonderes ereignen sollte, hatte sie mit Rudolf vereinbart, an die Jalousie einen weißen Zettel zu stecken. Wenn er zufällig in Yonville wäre, solle er daraufhin sofort durch das Gäßchen an die hintere Gartenpforte eilen.
Dieses Signal gab Emma. Dreiviertel Stunden saß sie wartend am Fenster, da bemerkte sie mit einem Male den Geliebten an der Ecke der Hallen. Beinahe hätte sie das Fenster aufgerissen und ihn hergerufen. Aber schon war er wieder verschwunden; Verzweiflung überkam sie.
Bald darauf vernahm sie unten auf dem Bürgersteige Tritte. Das war er. Zweifellos! Sie eilte die Treppe hinunter und über den Hof. Rudolf war hinten im Garten. Sie fiel in seine Arme.
„Sei doch ein bißchen vorsichtiger!“ mahnte er.
„Ach, wenn du wüßtest!“ Und sie begann ihm den ganzen Vorfall zu erzählen, in aller Eile und ohne rechten Zusammenhang. Dabei übertrieb sie manches, dichtete etliches hinzu und machte eine solche Unmenge von Bemerkungen dazwischen, daß er nicht das mindeste von der ganzen Geschichte begriff.
„So beruhige dich nur, mein Schatz! Mut und Geduld!“
„Geduld? Seit vier Jahren hab ich die. Wie ich leide!“ erwiderte sie. „Eine Liebe wie die unsrige braucht das Tageslicht nicht zu scheuen! Man martert mich! Ich halte es nicht mehr aus! Rette mich!“
Sie schmiegte sich eng an ihn an. Ihre Augen, voll von Tränen, glänzten wie Lichter unter Wasser. Ihr Busen wogte ungestüm.
Rudolf war verliebter denn je. Einen Augenblick war er nicht der kühle Gedankenmensch, der er sonst immer war. Und so sagte er:
„Was soll ich tun? Was willst du?“
„Flieh mit mir!“ rief sie. „Weit weg von hier! Ach, ich bitte dich um alles in der Welt!“
Sie preßte sich an seinen Mund, als wolle sie ihm mit einem Kusse das Ja einhauchen und wieder heraussaugen.
„Aber ...“
„Kein Aber, Rudolf!“
„... und dein Kind?“
Sie dachte ein paar Sekunden nach. Dann sagte sie:
„Das nehmen wir mit! Das ist ihm schon recht!“
„Ein Teufelsweib!“ dachte er bei sich, wie er ihr nachsah. Sie mußte ins Haus. Man hatte nach ihr gerufen.
Während der folgenden Tage war die alte Frau Bovary über das veränderte Wesen ihrer Schwiegertochter höchst verwundert. Wirklich, sie zeigte sich außerordentlich fügsam, ja ehrerbietig, und das ging so weit, daß Emma sie um ihr Rezept, Gurken einzulegen, bat.
Verstellte sie sich, um Mann und Schwiegermutter um so sicherer zu täuschen? Oder fand sie eine schmerzliche Wollust darin, noch einmal die volle Bitternis alles dessen durchzukosten, was sie im Stiche lassen wollte? Nein, das lag ihr durchaus nicht im Sinne. Der Gegenwart entrückt, lebte sie im Vorgeschmacke des kommenden Glückes. Davon schwärmte sie dem Geliebten immer und immer wieder vor. An seine Schulter gelehnt, flüsterte sie:
„Sag, wann werden wir endlich zusammen in der Postkutsche sitzen? Kannst du dir ausdenken, wie das dann sein wird? Mir ist es wie ein Traum! Ich glaube, in dem Augenblick, wo ich spüre, daß sich der Wagen in Bewegung setzt, werde ich das Gefühl haben, in einem Luftschiffe aufzusteigen, zur Reise in die Wolken hinein! Weißt du, ich zähle die Tage ... Und du?“
Frau Bovary hatte nie so schön ausgesehen wie jetzt. Sie besaß eine unbeschreibliche Art von Schönheit, die aus Lebensfreude, Schwärmerei und Siegesgefühl zusammenströmt und das Symbol seelischer und körperlicher Harmonie ist. Ihre heimlichen Lüste, ihre Trübsal, ihre erweiterten Liebeskünste und ihre ewig jungen Träume hatten sich stetig entwickelt, just wie Dünger, Regen, Wind und Sonne eine Blume zur Entfaltung bringen, und nun erst erblühte ihre volle Eigenart. Ihre Lider waren wie ganz besonders dazu geschnitten, schmachtende Liebesblicke zu werfen; sie verschleierten ihre Augäpfel, während ihr Atem die feinlinigen Nasenflügel weitete und es leise um die Hügel der Mundwinkel zuckte, die im Sonnenlichte ein leichter schwarzer Flaum beschattete. Man war versucht zu sagen: ein Verführer und Künstler habe den Knoten ihres Haares über dem Nacken geordnet. Er sah aus wie eine schwere Welle, und doch war er nur lose und lässig geschlungen, weil er im Spiel des Ehebruchs Tag für Tag aufgenestelt ward. Emmas Stimme war weicher und graziöser geworden, ähnlich wie ihre Gestalt. Etwas unsagbar Zartes, Bezauberndes strömte aus jeder Falte ihrer Kleider und aus dem Rhythmus ihres Ganges. Wie in den Flitterwochen erschien sie ihrem Manne entzückend und ganz unwiderstehlich.
Wenn er nachts spät nach Hause kam, wagte er sie nicht zu wecken. Das in seiner Porzellanschale schwimmende Nachtlicht warf tanzende Kringel an die Decke. Am Bett leuchtete im Halbdunkel wie ein weißes Zelt die Wiege mit ihren zugezogenen bauschigen Vorhängen. Karl betrachtete sie und glaubte die leisen Atemzüge seines Kindes zu hören. Es wuchs sichtlich heran, jeder Monat brachte es vorwärts. Im Geiste sah er es bereits abends aus der Schule heimkehren, froh und munter, Tintenflecke am Kleid, die Schultasche am Arm. Dann mußte das Mädel in eine Pension kommen. Das würde viel Geld kosten. Wie sollte das geschafft werden? Er sann nach. Wie wäre es, wenn man in der Umgegend ein kleines Gut pachtete? Alle Morgen, ehe er seine Kranken besuchte, würde er hinreiten und das Nötige anordnen. Der Ertrag käme auf die Sparkasse, später könnten ja irgendwelche Papiere dafür gekauft werden. Inzwischen erweiterte sich auch seine Praxis. Damit rechnete er, denn sein Töchterchen sollte gut erzogen werden, sie sollte etwas Ordentliches lernen, auch Klavier spielen. Und hübsch würde sie sein, die dann Fünfzehnjährige! Ein Ebenbild ihrer Mutter! Ganz wie sie müßte sie im Sommer einen großen runden Strohhut tragen. Dann würden die beiden von weitem für zwei Schwestern gehalten. Er stellte sich sein Töchterchen in Gedanken vor: abends, beim Lampenlicht, am Tisch arbeitend, bei Vater und Mutter, Pantoffeln für ihn stickend. Und in der Wirtschaft würde sie helfen und das ganze Haus mit Lachen und Frohsinn erfüllen. Und weiter dachte er an ihre Versorgung. Es würde sich schon irgendein braver junger Mann in guten Verhältnissen finden und sie glücklich machen. Und so bliebe es dann immerdar ...
Emma schlief gar nicht. Sie stellte sich nur schlafend, und während ihr Gatte ihr zur Seite zur Ruhe ging, hing sie fernen Träumereien nach.
Seit acht Tagen sah sie sich, von vier flotten Rossen entführt, auf der Reise nach einem andern Lande, aus dem sie nie wieder zurückzukehren brauchte. Sie und der Geliebte fuhren und fuhren dahin, Hand in Hand, still und schweigsam. Zuweilen schauten sie plötzlich von Bergeshöh auf irgendwelche mächtige Stadt hinab, mit ihrem Dom, ihren Brücken, Schiffen, Limonenhainen und weißen Marmorkirchen mit spitzen Türmen. Zu Fuß wanderten sie dann durch die Straßen. Frauen in roten Miedern boten ihnen Blumensträuße an. Glocken läuteten, Maulesel schrien, und dazwischen girrten Gitarren und rauschten Fontänen, deren kühler Wasserstaub auf Haufen von Früchten herabsprühte. Sie lagen zu Pyramiden aufgeschichtet da, zu Füßen bleicher Bildsäulen, die unter dem Sprühregen lächelten. Und eines Abends erreichten sie ein Fischerdorf, wo braune Netze im Winde trockneten, am Strand und zwischen den Hütten. Dort wollte sie bleiben und immerdar wohnen, in einem kleinen Hause mit flachem Dache, im Schatten hoher Zypressen, an einer Bucht des Meeres. Sie fuhren in Gondeln und träumten in Hängematten. Das Leben war ihnen so leicht und weit wie ihre seidenen Gewänder, und so warm und sternbesät wie die süßen Nächte, die sie schauernd genossen ... Das war ein unermeßlicher Zukunftstraum; aber bis in die Einzelheiten dachte sie ihn nicht aus. Ein Tag glich dem andern, wie im Meer eine Woge der andern gleicht, an Pracht und Herrlichkeit. Und diese Wogen fluteten fernhin bis in den Horizont, endlos, in leiser Bewegung, stahlblau und sonnenbeglänzt ...
Das Kind in der Wiege begann zu husten, und Bovary schnarchte laut. Emma schlief erst gegen Morgen ein, als das weiße Dämmerlicht an den Scheiben stand und Justin drüben die Läden der Apotheke öffnete.
Emma hatte Lheureux kommen lassen und ihm gesagt:
„Ich brauche einen Mantel, einen großen gefütterten Reisemantel mit einem breiten Kragen.“
„Sie wollen verreisen?“ fragte der Händler.
„Nein, aber ... das ist ja gleichgültig! Ich kann mich auf Sie verlassen? Nicht wahr? Und recht bald!“
Lheureux machte einen Kratzfuß.
„Und dann brauche ich noch einen Koffer ... keinen zu schweren ... einen handlichen ...“
„Schön! Schön! Ich weiß schon: zweiundneunzig zu fünfzig! Wie man sie jetzt meist hat!“
„Und eine Handtasche für das Nachtzeug!“
„Aha,“ dachte der Händler, „sie hat sicher Krakeel gehabt!“
„Da!“ sagte Frau Bovary, indem sie ihre Taschenuhr aus dem Gürtel nestelte. „Nehmen Sie das! Machen Sie sich damit bezahlt!“
Aber Lheureux sträubte sich dagegen. Das ginge nicht. Sie wäre doch eine so gute Kundin. Ob sie kein Vertrauen zu ihm habe? Was solle denn das? Doch sie bestand darauf, daß er wenigstens die Kette nähme.
Er hatte sie bereits eingesackt und war schon draußen, da rief ihn Emma zurück.
„Behalten Sie das Bestellte vorläufig bei sich! Und den Mantel ...,“ sie tat so, als ob sie sichs überlegte „... den bringen Sie auch nicht erst ... oder noch besser: geben Sie mir die Adresse des Schneiders und sagen Sie ihm, der Mantel soll bei ihm zum Abholen bereitliegen.“
Die Flucht sollte im kommenden Monat erfolgen. Emma sollte Yonville unter dem Vorwande verlassen, in Rouen Besorgungen zu machen. Rudolf sollte dort schon vorher die Plätze in der Post bestellen, Pässe besorgen und nach Paris schreiben, damit das Gepäck gleich direkt bis Marseille befördert würde. In Marseille wollten sie sich eine Kalesche kaufen, und dann sollte die Reise ohne Aufenthalt weiter nach Genua gehen. Emmas Gepäck sollte Lheureux mit der Post wegbringen, ohne daß irgendwer Verdacht schöpfte. Bei allen diesen Vorbereitungen war von ihrem Kinde niemals die Rede. Rudolf vermied es, davon zu sprechen. „Sie denkt vielleicht nicht mehr daran“, sagte er sich.
Er erbat sich zunächst zwei Wochen Frist, um seine Angelegenheiten zu ordnen; nach weiteren acht Tagen forderte er nochmals zwei Wochen Zeit. Hernach wurde er angeblich krank, sodann mußte er eine Reise machen. So verging der August, bis sie sich nach allen diesen Verzögerungen schließlich „unwiderruflich“ auf Montag den 4. September einigten.
Am Sonnabend vorher stellte sich Rudolf zeitiger denn gewöhnlich ein.
„Ist alles bereit?“ fragte sie ihn.
„Ja.“
Sie machten einen Rundgang um die Beete und setzten sich dann auf den Rand der Gartenmauer.
„Du bist verstimmt?“ fragte Emma.
„Nein. Warum auch?“
Dabei sah er sie mit einem sonderbaren zärtlichen Blick an.
„Vielleicht weil es nun fortgeht?“ fragte sie. „Weil du Dinge, die dir lieb sind, verlassen sollst, dein ganzes jetziges Leben? Ich verstehe das wohl, wenn ich selber auch nichts derlei auf der Welt habe. Du bist mein alles! Und ebenso möchte ich dir alles sein, Familie und Vaterland. Ich will dich hegen und pflegen. Und dich lieben!“
„Wie lieb du bist!“ sagte er und zog sie an sein Herz.
„Wirklich?“ fragte sie in lachender Wollust. „Du liebst mich? Schwöre mirs!“
„Ob ich dich liebe! Ob ich dich liebe! Ich bete dich an, Liebste!“
Der Vollmond ging purpurrot auf, drüben über der Linie des flachen Horizonts, wie mitten in den Wiesen. Rasch stieg er hoch, und schon stand er hinter den Pappeln und schimmerte durch ihre Zweige, versteckt wie hinter einem löchrigen, schwarzen Vorhang. Und bald erschien er glänzend-weiß im klaren Raume des weiten Himmels. Er ward immer silberner, und nun rieselte seine Lichtflut auch unten im Bache über den Wellen in zahllosen funkelnden Sternen, wie ein Strom geschmolzener Diamanten. Ringsum leuchtete die laue lichte Sommernacht. Nur in den Wipfeln hingen dunkle Schatten.
Mit halbgeschlossenen Augen atmete Emma in tiefen Zügen den kühlen Nachtwind ein. Sie sprachen beide nicht, ganz versunken und verloren in ihre Gedanken. Die Zärtlichkeit vergangener Tage ergriff von neuem ihre Herzen, unerschöpflich und schweigsam wie der dahinfließende Bach, lind und leise wie der Fliederduft. Die Erinnerung an das Einst war von Schatten durchwirkt, die verschwommener und wehmütiger waren als die der unbeweglichen Weiden, deren Umrisse aus den Gräsern wuchsen. Zuweilen raschelte auf seiner nächtlichen Jagd ein Tier durchs Gesträuch, ein Igel oder ein Wiesel, oder man hörte, wie ein reifer Pfirsich von selber zur Erde fiel.
„Was für eine wunderbare Nacht!“ sagte Rudolf.
„Wir werden noch schönere erleben!“ erwiderte Emma. Und wie zu sich selbst fuhr sie fort: „Ach, wie herrlich wird unsere Reise werden ... Aber warum ist mir das Herz so schwer? Warum wohl? Ist es die Angst vor dem Unbekannten ... oder die Scheu, das Gewohnte zu verlassen ... oder was ists? Ach, es ist das Übermaß von Glück! Ich bin zaghaft, nicht? Verzeih mir!“
„Noch ist es Zeit!“ rief er aus. „Überleg dirs! Wird es dich auch niemals reuen?“
„Niemals!“ beteuerte sie leidenschaftlich.
Sie schmiegte sich an ihn.
„Was könnte mir denn Schlimmes bevorstehen! Es gibt keine Wüste, kein Weltmeer, die ich mit dir zusammen nicht durchqueren würde! Je länger wir zusammen leben werden, um so inniger und vollkommener werden wir uns lieben! Keine Sorge, kein Hindernis wird uns mehr quälen! Wir werden allein sein und eins immerdar ... Sprich doch! Antworte mir!“
Er antwortete wie ein Uhrwerk in gleichen Zwischenräumen:
„Ja ... ja ... ja!“
Sie strich mit den Händen durch sein Haar und flüsterte wie ein kleines Kind unter großen rollenden Tränen immer wieder:
„Rudolf ... Rudolf ... ach, Rudolf ... mein lieber guter Rudolf ...“
Es schlug Mitternacht.
„Mitternacht!“ sagte sie. „Nun heißt es: morgen! Nur noch ein Tag!“
Er stand auf und schickte sich an zu gehen. Und als ob diese Gebärde ein Symbol ihrer Flucht sei, wurde Emma mit einem Male fröhlich.
„Hast du die Pässe?“ fragte sie.
„Ja.“
„Hast du nichts vergessen?“
„Nein.“
„Weißt du das genau?“
„Ganz genau!“
„Nicht wahr, du erwartest mich im Provencer Hof? Mittags?“
Er nickte.
„Also morgen auf Wiedersehen!“ sagte Emma mit einem letzten Kusse.
Er ging, und sie sah ihm nach.
Er blickte sich nicht um. Da lief sie ihm nach bis an den Bachrand und rief durch die Weiden hindurch:
„Auf morgen!“
Er war schon drüben auf dem andern Ufer und eilte den Pfad durch die Wiesen hin. Nach einer Weile blieb er stehen. Als er sah, wie ihr weißes Kleid allmählich im Schatten verschwand wie eine Vision, da bekam er so heftiges Herzklopfen, daß er sich gegen einen Baum lehnen mußte, um nicht umzusinken.
„Ich bin kein Mann!“ rief er aus. „Hol mich der Teufel! Ein hübsches Weib wars doch!“
Emmas Reize und all die Freuden der Liebschaft mit ihr lockten ihn noch einmal. Er ward weich. Dann aber empörte er sich gegen diese Rührung.
„Nein, nein! Ich kann Haus und Hof nicht verlassen!“
Er gestikulierte heftig.
„Und dann das lästige Kind ... die Scherereien ... die Kosten!“
Er zählte sich das alles auf, um sich stark zu machen.
„Nein, nein! Tausendmal nein! Es wäre eine Riesentorheit!“
Kaum auf seinem Gute angekommen, setzte sich Rudolf eiligst an den Schreibtisch, über dem an der Wand ein Hirschgeweih, eine Jagdtrophäe, hing. Aber sowie er die Feder in der Hand hatte, wußte er nicht, was er schreiben sollte. Den Kopf zwischen beide Hände gestützt, begann er nachzudenken. Emma war ihm in weite Ferne entrückt. Der bloße Entschluß, mit ihr zu brechen, hatte sie ihm mit einem Male ungeheuerlich entfremdet.
Um sie greifbarer vor sich zu haben, suchte er aus dem Schranke, der am Kopfende seines Bettes stand, eine alte Blechschachtel hervor, in der ursprünglich einmal Kakes drin gewesen waren und in der er seine „Weiberbriefe“ aufbewahrte. Geruch von Moder und vertrockneten Rosen drang ihm entgegen. Zu oberst lag ein Taschentuch, verblaßte Blutflecken darauf. Es war von Emma; auf einem ihrer gemeinsamen Spaziergänge hatte sie einmal Nasenbluten bekommen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Daneben lag ein Bild von ihr, das sie ihm geschenkt hatte. Alle vier Ecken daran waren abgestoßen. Das Kleid, das sie auf diesem Bilde anhatte, kam ihm theatralisch vor und ihr himmelnder Blick jämmerlich. Wie er sich ihr Konterfei so betrachtete und sich das Urbild in die Phantasie zurückzurufen suchte, verschwammen Emmas Züge in seinem Gedächtnisse, gleichsam als ob sich die noch lebende Erinnerung und das gemalte Bildchen gegenseitig befehdeten und eins das andre vernichtete.
Nun fing er an, in ihren Briefen zu lesen. Die aus der letzten Zeit wimmelten von Anspielungen auf die Reise; sie waren kurz, sachlich und in Eile hingeschrieben, wie Geschäftsbriefe. Er suchte nach den langen Briefen von einst. Da sie zu unterst lagen, mußte er den ganzen Kasten durchwühlen. Aus dem Wust von Papieren und kleinen Gegenständen zog er mechanisch welke Blumen, ein Strumpfband, eine schwarze Maske, Haarnadeln und Locken heraus. Braune und blonde Locken. Ein paar Haare davon hatten sich ins Scharnier gezwängt und rissen nun beim Herausnehmen ...
Mit allen diesen Andenken vertrödelte er eine Weile. Er stellte seine Betrachtungen über die verschiedenen Handschriften an, über den Stil in den einzelnen Briefbündeln, über die nicht minder variierende Rechtschreibung darin. Die einen hatten zärtlich geschrieben, andre lustig, witzig oder rührselig. Die wollten Liebe, jene Geld. Zuweilen erinnerte sich Rudolf bei einem bestimmten Worte an Gesichter, an gewisse Gesten, an den Klang einer Stimme. Manche wiederum beschworen nicht die geringste Erinnerung herauf.
Alle diese Frauen kamen ihm jetzt alle auf einmal in den Sinn. Jede war eine Feindin der andern. Alle zogen sie sich gegenseitig in den Schmutz. Etwas Gemeinsames — die Liebe — stellte sie allesamt auf ein und dasselbe Niveau.
Wahllos nahm er einen Stoß Briefe in die Finger, bildete eine Art Fächer daraus und spielte damit. Schließlich aber warf er sie, halb gelangweilt, halb verträumt, wieder in den Kasten und stellte diesen in den Schrank zurück.
„Lauter Blödsinn!“
Das war der Extrakt seiner Lebensweisheit. Sein Herz war wie ein Schulhof, auf dem die Kinder so erbarmungslos herumgetrampelt waren, daß kein grüner Halm mehr sproß. Die Freuden des Daseins hatten noch gründlicher gewirtschaftet. Die Schüler kritzeln ihre Namen an die Mauern. In Rudolfs Herz war keiner zu lesen.
„Nun aber los!“ rief er sich zu.
Er begann zu schreiben:
„Liebe Emma!
Sei tapfer! Ich will Dir Deine Existenz nicht zertrümmern ...“
„Eigentlich sehr richtig!“ dachte er bei sich. „Das ist nur in ihrem Interesse. Also durchaus anständig von mir ...“
„... Hast Du Dir Deinen Entschluß wirklich reiflich überlegt? Hast Du aber auch den Abgrund bemerkt, armes Lieb, in den ich Dich beinahe schon geführt hätte? Wohl nicht! Du folgst mir tollkühn und zuversichtlich, im festen Glauben an das Glück, an die Zukunft! Ach, wie unglücklich sind wir! Und wie verblendet waren wir!“
Rudolf hörte zu schreiben auf. Er suchte nach guten Ausflüchten. „Wenn ich ihr nun sagte, ich hätte mein Vermögen verloren? Ach, nein, lieber nicht! Übrigens nützte das nichts. Die Geschichte ging dann doch wieder von neuem los. Es ist, weiß Gott, verdammt schwer, so eine Frau wieder vernünftig zu machen!“
Er sann nach, dann schrieb er weiter:
„Ich werde Dich niemals vergessen. Glaube mir das! Mein ganzes Leben lang werde ich in inniger Verehrung Deiner gedenken. So aber hätte sich unsre Leidenschaft (das ist nun einmal das Schicksal alles Menschlichen!) eines Tages, früher oder später, doch verflüchtet. Zweifellos! Wir wären ihrer müde geworden, und wer weiß, ob mir nicht der gräßliche Schmerz beschieden gewesen wäre, Deine Reue zu erleben und selber welche zu empfinden als Veranlasser der Deinigen? Die bloße Vorstellung, Dir dieses Leid verursachen zu können, martert mich. Liebste Emma, vergiß mich! Wir hätten uns nie kennen lernen sollen! Warum bist Du so schön! Bin ich der Schuldige? Bei Gott, nein, nein! Wir müssen das Schicksal anklagen ...“
„Dieses Wort machte immer Eindruck“, sagte er zu sich.
„Ja, wenn Du eine leichtsinnige Frau wärst, wie es ihrer so viele gibt, ja dann hätte ich den Versuch wagen können, aus Egoismus, ohne Gefahr für Dich. Aber bei Deiner köstlichen schwärmerischen Art, dem Quell Deines Reizes und zugleich Deines vielen Kummers, bist Du nicht imstande, Du Beste aller Frauen, die Kehrseite unsrer zukünftigen Stellung in der Welt vorauszusehen. Auch ich habe zunächst gar nicht daran gedacht, habe mich in unserm Höhenglücke behaglich gesonnt, mich in ein Märchenland geträumt und mich um keine Folgen gekümmert ...“
„Vielleicht glaubt sie, ich zöge mich aus Geiz zurück ... Auch egal! Desto besser! Wenns nur Schluß wird!“
„... Die Welt ist grausam, geliebte Emma. Man hätte uns überall, wohin wir gekommen wären, Schwierigkeiten bereitet. Du hättest unverschämte Fragen, Verleumdungen, Schmähungen und vielleicht Beleidigungen über Dich ergehen lassen müssen. Beleidigungen, Du! Und ich wollte Dich zu meiner Königin erheben. Du solltest mein Heiligstes sein. Nun bestrafe ich mich mit der Verbannung, weil ich Dir so viel Schlimmes angetan habe. Ich gehe fort. Wohin? Ach, ich weiß es nicht, ich bin wahnsinnig!
Lebwohl! Bleib immer gut! Und vergiß den Unglücklichen nicht ganz, der Dich verloren hat! Lehre Deine Kleine meinen Namen, damit sie mich in ihre Gebete einschließt!“
Die Lichter der beiden Kerzen flackerten unruhig. Rudolf stand vom Schreibtisch auf und schloß das Fenster.
„So! Ich denke, das genügt! Halt! Noch etwas! Auf keinen Fall eine Aussprache!“
Er setzte sich wieder hin und schrieb weiter:
„Wenn Du diese betrübten Zeilen lesen wirst, bin ich schon weit weg, denn ich muß eilends fliehen, um der Versuchung zu entrinnen, Dich wiedersehen zu wollen. Ich darf nicht schwach werden! Wenn ich wiederkomme, dann werden wir vielleicht miteinander von unsrer verlorenen Liebe reden, kühl und vernünftig. Adieu!“
Er setzte noch ein „A dieu!“ darunter, in zwei Worten geschrieben. Das hielt er für sehr geschmackvoll.
„Wie soll ich nun unterzeichnen?“ fragte er sich. „Dein ergebenster? Nein! Dein treuer Freund? Ja, ja! Machen wir!“
Und er schrieb:
„Dein treuer Freund
R.“
Er las den ganzen Brief noch einmal durch. Er gefiel ihm.
„Armes Frauchen!“ dachte er in einem Anflug von Rührseligkeit. „Sie wird denken, ich sei gefühllos wie Stein. Eigentlich fehlen ein paar Tränenspuren. Aber heulen kann ich nicht. Das ist mein Fehler.“
Er goß etwas Wasser aus der Flasche in ein Glas, tauchte einen Finger hinein, hielt die Hand hoch und ließ einen großen Tropfen auf den Briefbogen herabfallen. Die Tinte der Schrift färbte ihn blaßblau. Um den Brief zu versiegeln, suchte er nun nach einem Petschaft. Das mit dem Wahlspruch Amor nel Cor geriet ihm in die Hand.
„Paßt eigentlich nicht gerade!“ dachte er. „Ach was! Tut nichts!“
Er rauchte noch drei Pfeifen und ging dann schlafen.
Es war spät geworden. Am andern Tage stand er mittags gegen zwei Uhr auf. Alsbald ließ er ein Körbchen Aprikosen pflücken, legte den Brief unter die Weinblätter am Boden und befahl Gerhard, seinem Kutscher, den Korb unverzüglich Frau Bovary zu bringen. Auf diese Art hatte er Emma häufig Nachrichten zukommen lassen, je nach der Jahreszeit, zusammen mit Früchten oder Wild.
„Wenn sie sich nach mir erkundigt,“ instruierte er, „dann antwortest du, ich sei verreist! Den Korb gibst du ihr persönlich in die Hände! Verstanden? So! Ab!“
Gerhard zog seine neue Bluse an, knüpfte sein Taschentuch über die Aprikosen und marschierte in seinen Nagelschuhen mit schwerfälligen Schritten voller Gemütsruhe gen Yonville.
Als der Kutscher dort ankam, war Frau Bovary gerade damit beschäftigt, auf dem Küchentische zusammen mit Felicie Wäsche zu falten.
„Eine schöne Empfehlung von meinem Herrn,“ vermeldete er, „und das schickt er hier!“
Emma überkam eine bange Ahnung, und während sie in ihrer Schürzentasche nach einem Geldstücke zum Trinkgeld suchte, sah sie den Mann mit verstörtem Blick an. Der betrachtete sie verwundert; er begriff nicht, daß ein solches Geschenk jemanden so sehr aufregen könne. Dann ging er.
Felicie war noch da. Emma hielt es nicht länger aus, sie eilte in das Eßzimmer, indem sie sagte, sie wolle die Aprikosen dahin tragen. Dort schüttete sie den Korb aus, nahm die Weinblätter heraus und fand den Brief. Sie öffnete ihn und floh hinauf nach ihrem Zimmer, als brenne es hinter ihr. Sie war fassungslos vor Angst.
Karl war auf dem Flur. Sie sah ihn. Er sagte etwas zu ihr. Sie verstand es nicht. Nun lief sie hastig noch eine Treppe höher, außer Atem, wie vor den Kopf geschlagen, halbverrückt, immer den unseligen Brief fest in der Hand, der ihr zwischen den Fingern knisterte. Im zweiten Stock blieb sie vor der geschlossenen Bodentüre stehen.
Sie wollte sich beruhigen. Der Brief kam ihr nicht aus dem Sinn. Sie wollte ihn ordentlich lesen, aber sie wagte es nicht. Nirgends war sie ungestört.
„Ja, hier gehts!“ sagte sie sich. Sie klinkte die Tür auf und trat in die Bodenkammer.
Unter den Schieferplatten des Daches brütete dumpfe Schwüle, die ihr auf die Schläfen drückte und den Atem benahm. Sie schleppte sich bis zu dem großen Bodenfenster und stieß den Holzladen auf. Grelles Licht flutete ihr entgegen.
Vor ihr, über den Dächern, breitete sich das Land bis in die Fernen. Unter ihr der Markt war menschenleer. Die Steine des Fußsteigs glänzten. Die Wetterfahnen der Häuser standen unbeweglich. Aus dem Eckhause schräg gegenüber, aus einem der Dachfenster drang ein schnarrendes, kreischendes Geräusch herauf. Binet saß an seiner Drehbank.
Emma lehnte sich an das Fensterkreuz und las den Brief mit zornverzerrtem Gesicht immer wieder von neuem. Aber je gründlicher sie ihn studierte, um so wirrer wurden ihre Gedanken. Im Geist sah sie den Geliebten, hörte ihn reden, zog ihn leidenschaftlich an sich. Das Herz schlug ihr in der Brust wie mit wuchtigen Hammerschlägen, die immer rascher und unregelmäßiger wurden. Ihre Augen irrten im Kreise. Sie fühlte den Wunsch in sich, daß die ganze Welt zusammenstürze. Wozu weiterleben? Wer hinderte sie, ein Ende zu machen, sie, die Vogelfreie?
Sie bog sich weit aus dem Fenster heraus und starrte hinab auf das Straßenpflaster.
„Mut! Mut!“ rief sie sich zu.
Das leuchtende Pflaster da unten zog die Last ihres Körpers förmlich in die Tiefe. Sie hatte die Empfindung, als bewege sich die Fläche des Marktplatzes und hebe sich an den Häusermauern empor zu ihr. Und die Diele, auf der sie stand, begann zu schwanken wie das Deck eines Seeschiffes ... Sie lehnte sich noch weiter zum Fenster hinaus. Schon hing sie beinahe im freien Raume. Der weite blaue Himmel umgab sie, und die Luft strich ihr um den wie hohlen Kopf. Sie brauchte nur noch sich nicht mehr festzuhalten, nur noch die Hände loszulassen ... Ohne Unterlaß summte unten die Drehbank wie die rufende Stimme eines bösen Geistes ...
In diesem Moment rief Karl:
„Emma! Emma!“
Da kam sie wieder zur Besinnung.
„Wo steckst du denn? Komm doch!“
Der Gedanke, daß sie soeben dem Tode entronnen war, erfüllte sie mit Schrecken und Grauen. Sie schloß die Augen. Zusammenfahrend fühlte sie sich von jemandem am Arm gefaßt: es war Felicie.
„Gnädige Frau, die Suppe ist angerichtet. Herr Bovary wartet.“
Sie mußte hinunter, mußte sich mit zu Tisch setzen.
Sie versuchte zu essen, aber sie brachte nicht einen Bissen hinunter. Sie faltete ihre Serviette auseinander, als ob sie sich die ausgebesserten Stellen genau ansehen wollte, und wirklich tat sie das und begann die Fäden des Gewebes zu zählen ... Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein. Hatte sie ihn oben fallen lassen? Wohin war er? Aber ihr Geist war zu matt, als daß sie imstande gewesen wäre, einen Vorwand zu ersinnen, um bei Tisch aufstehen zu können. Sie war feig geworden. Sie hatte Furcht vor Karl. Sicherlich wußte er nun alles, sicherlich! Und wahrhaftig, da sagte er mit eigentümlicher Betonung:
„Rudolf werden wir wohl nicht sobald wieder zu sehen kriegen?“
„Wer hat dir das gesagt?“ fragte sie zitternd.
„Wer mir das gesagt hat?“ wiederholte er, ein wenig betroffen von dem harten Klang ihrer Frage. „Na, sein Kutscher, dem ich vorhin vor dem Cafe Français begegnet bin. Boulanger ist verreist, oder er steht im Begriff zu verreisen ...“
Emma schluchzte laut auf.
„Wundert dich das?“ fuhr er fort. „Er verdrückt sich doch immer mal von Zeit zu Zeit so. Um sich zu zerstreuen. Kanns ihm nicht verdenken. Wenn man das nötige Geld dazu hat und Junggeselle ist ... Übrigens ist unser Freund ein Lebenskünstler! Ein alter Schäker! Langlois hat mir erzählt ...“
Er verstummte, aus Anstand, weil das Dienstmädchen gerade hereinkam. Sie legte die Aprikosen wieder ordentlich in das Körbchen, das auf der Kredenz stand. Karl ließ es sich auf den Tisch bringen, ohne zu bemerken, daß seine Frau rot wurde. Er nahm eine der Früchte und biß hinein.
„Ah!“ machte er. „Vorzüglich! Koste mal!“
Er schob ihr das Körbchen zu. Sie wehrte leicht ab.
„So riech doch wenigstens! Das ist ein Duft!“
Er hielt ihr eine Aprikose links und rechts an die Nase.
„Ich bekomm keine Luft!“ rief sie und sprang auf. Aber schnell beherrschte sie sich wieder, mit Aufgebot aller ihrer Kraft. „Es war nichts! Gar nichts! Wieder meine Nerven! Setz dich nur wieder hin und iß!“
Sie fürchtete, er könne sie ausfragen, um sie besorgt sein und sie dann nicht allein lassen. Karl gehorchte ihr und setzte sich wieder. Er spuckte die Aprikosenkerne immer erst in die Hand und legte sie dann auf seinen Teller.
Da fuhr draußen ein blauer Dogcart im flotten Trabe über den Markt. Emma stieß einen Schrei aus und fiel rücklings langhin zu Boden.
Rudolf hatte sich nach langer Überlegung entschlossen, nach Rouen zu fahren. Da nun aber von der Hüchette nach dorthin kein anderer Weg als der über Yonville führte, mußte er diesen Ort wohl oder übel berühren. Emma hatte ihn im Scheine der Wagenlaternen, die draußen die Dunkelheit wie Sterne durchhuschten, erkannt.
Der Apotheker, der sofort gemerkt hatte, daß im Hause des Arztes „was los sei“, stürzte herbei. Der Eßtisch war mit allem, was darauf gestanden, umgestürzt. Die Teller, das Fleisch, die Sauce, die Bestecke, Salz und Öl, alles lag auf dem Fußboden umher. Karl hatte den Kopf verloren, die erschrockene kleine Berta schrie, und Felicie nestelte ihrer in Zuckungen daliegenden Herrin mit bebenden Händen die Kleider auf.
„Ich werde schnell Kräuteressig aus meinem Laboratorium holen!“ sagte Homais.
Als man Emma das Fläschchen ans Gesicht hielt, schlug sie seufzend die Augen wieder auf.
„Natürlich!“ meinte der Apotheker. „Damit kann man Tote erwecken!“
„Sprich!“ bat Karl. „Rede! Erhole dich! Ich bin ja da, dein Karl, der dich liebt! Erkennst du mich? Hier ist auch Berta! Gib ihr einen Kuß!“
Das Kind streckte die Ärmchen nach der Mutter aus und wollte sie um den Hals fassen. Aber Emma wandte den Kopf weg und stammelte:
„Nicht doch! Niemanden!“
Sie wurde abermals ohnmächtig. Man trug sie in ihr Bett.
Lang ausgestreckt lag sie da, mit offnem Munde, die Lider geschlossen, die Hände schlaff herabhängend, regungslos und blaß wie ein Wachsbild. Ihren Augen entquollen Tränen, die in zwei Ketten langsam auf das Kissen rannen.
Karl stand an ihrem Bett; neben ihm der Apotheker, stumm und nachdenklich, wie das bei ernsten Vorfällen so herkömmlich ist.
„Beruhigen Sie sich!“ sagte Homais und zupfte den Arzt. „Ich glaube, der Paroxysmus ist vorüber.“
„Ja,“ erwiderte Karl, die Schlummernde betrachtend. „Jetzt scheint sie ein wenig zu schlafen, die Ärmste! Ein Rückfall in das alte Leiden!“
Nun erkundigte sich Homais, wie das gekommen sei. Karl gab zur Antwort:
„Ganz plötzlich! Während sie eine Aprikose aß.“
„Höchst merkwürdig!“ meinte der Apotheker. „Es ist indessen möglich, daß die Aprikosen die Ohnmacht verursacht haben. Es gibt gewisse Naturen, die für bestimmte Gerüche stark empfänglich sind. Es wäre eine sehr interessante Arbeit, diese Erscheinungen wissenschaftlich zu untersuchen, sowohl nach physiologischen wie nach pathologischen Gesichtspunkten. Die Pfaffen haben von jeher gewußt, wie wertvoll das für sie ist. Die Verwendung von Weihrauch beim Gottesdienst ist uralt. Damit schläfert man den Verstand ein und versetzt Andächtige in Ekstase, am leichtesten übrigens weibliche Wesen. Die sind feinnerviger als wir Männer. Ich habe von Fällen gelesen, wo Frauen ohnmächtig geworden sind beim Geruch von verbranntem Horn, frischem Brot ...“
„Geben Sie acht, daß sie nicht aufgeweckt wird!“ mahnte Bovary mit flüsternder Stimme.
„Diese Anomalien kommen aber nicht allein bei Menschen vor,“ fuhr der Apotheker fort, „sondern sogar bei Tieren. Zweifellos ist Ihnen nicht unbekannt, daß Nepeta cataria , vulgär Katzenminze, sonderbarerweise auf das gesamte Katzengeschlecht als Aphrodisiakum wirkt. Einen weiteren Beleg kann ich aus meiner eigenen Erfahrung anführen. Bridoux, ein Studienfreund von mir — er wohnt jetzt in der Malpalu-Straße — besitzt einen Foxterrier, der jedesmal Krämpfe bekommt, wenn man ihm eine Schnupftabaksdose vor die Nase hält. Ich habe dieses Experiment selber ein paarmal mit angesehen, im Landhause meines Freundes am Wilhelmswalde. Sollte mans für möglich halten, daß ein so harmloses Niesemittel in den Organismus eines Vierfüßlers derartig eingreifen kann? Das ist höchst merkwürdig, nicht wahr?“
„Gewiß!“ sagte Karl, der gar nicht darauf gehört hatte.
„Das beweist uns,“ fuhr der andre fort, gutmütig-selbstgefällig lächelnd, „daß im Nervensystem zahllose Unregelmäßigkeiten möglich sind. Ich muß gestehen, daß mir Ihre Frau Gemahlin immer außerordentlich reizsam vorgekommen ist. Darum möchte ich Ihnen, verehrter Freund, auf keinen Fall raten, ihr eine jener Arzneien zu verordnen, die angeblich die Symptome so einer Krankheit beseitigen sollen, in Wirklichkeit aber nur der Gesundheit schaden. Nein, nein, hier sind Medikamente unnütz! Diät! Weiter nichts! Beruhigende, milde, kräftigende Kost! Und dann, könnte man bei ihr nicht auch irgendwie auf die Einbildungskraft einzuwirken versuchen?“
„Wieso? Womit?“
„Ja, das ist eben die Frage! Das ist wirklich die Frage! That is the question! — wie ich neulich in der Zeitung gelesen habe.“
Emma erwachte und rief:
„Der Brief? Der Brief?“
Die beiden Männer glaubten, sie rede im Delirium. In der Tat trat das mitternachts ein. Emma hatte Gehirnentzündung.
In den nächsten sechs Wochen wich Karl nicht von ihrem Lager. Er vernachlässigte alle seine Patienten. Er schlief kaum mehr, unermüdlich maß er ihren Puls, legte ihr Senfpflaster auf und erneute die Kaltwasser-Umschläge. Er schickte Justin nach Neufchâtel, um Eis zu holen. Es schmolz unterwegs. Justin mußte nochmals hin. Doktor Canivet wurde konsultiert. Professor Larivière, sein ehemaliger Lehrer, ward aus Rouen hergeholt. Karl war der völligen Verzweiflung nahe. Am meisten ängstigte ihn Emmas Apathie. Sie sprach nicht, interessierte sich für nichts, ja, sie schien selbst die Schmerzen nicht zu empfinden. Es war, als hätten Körper wie Geist bei ihr alle ihre Funktionen eingestellt.
Gegen Mitte Oktober konnte sie, von Kissen gestützt, wieder aufrecht in ihrem Bette sitzen. Als sie das erste Brötchen mit eingemachten Früchten verzehrte, da weinte Karl. Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück. Sie durfte nachmittags ein paar Stunden aufstehen, und eines Tages fühlte sie sich soweit wohl, daß sie an Karls Arm einen kleinen Spaziergang durch den Garten versuchte.
Auf den sandigen Wegen lag gefallenes Laub. Sie ging ganz langsam, in Hausschuhen, ohne die Füße zu heben. An Karl angeschmiegt, lächelte sie in einem fort vor sich hin.
So schritten sie bis hinter an die Gartenmauer. Dort blieb sie stehen und richtete sich auf. Um besser zu sehen, hob sie die Hand über die Augen. Lange schaute sie hinaus in die Weite. Aber es gab in der Ferne nichts zu sehen als auf den Hügeln große Feuer, in denen man landwirtschaftliche Überbleibsel verbrannte.
„Das Stehen wird dich zu sehr anstrengen, Beste!“ warnte Karl und geleitete sie behutsam zur Laube hin. „Setz dich hier ein wenig auf die Bank! Das wird dir gut tun!“
„Nein, nein! Nicht hier! Hier nicht!“ stieß sie mit ersterbender Stimme hervor.
Sie wurde ohnmächtig, und abends war die Krankheit von neuem da, und zwar in erhöhtem Grade und mit allerlei Komplikationen. Bald hatte sie in der Herzgegend, bald in der Brust, bald im Kopfe, bald in den Gliedern Schmerzen. Dazu gesellte sich ein Auswurf, an dem Bovary die ersten Anzeichen der Lungenschwindsucht zu erkennen wähnte.
Zu alledem hatte der arme Schelm auch noch Geldsorgen.
Zunächst wußte er nicht, wie er dem Apotheker die vielen Arzneien vergüten sollte, die er von ihm bezogen hatte. Als Arzt brauchte er sie nicht zu bezahlen, aber das wäre ihm peinlich gewesen. Dann war der Haushalt, jetzt wo ihn das Mädchen führte, schrecklich teuer geworden. Die Rechnungen regneten nur so ins Haus. Die Lieferanten begannen ungeduldig zu werden. Insbesondre mahnte Lheureux in lästiger Weise. Er hatte den Höhepunkt von Emmas Krankheit dazu benutzt, ihre Rechnung höher auszuschreiben, als sie wirklich war. Flugs brachte er auch den Mantel, die Handtasche und zwei Koffer statt des einen und noch eine Menge andrer Gegenstände, die bestellt worden seien, wie er behauptete. Es nützte Bovary gar nichts, daß er erklärte, er brauche die Sachen nicht; der Händler erwiderte ihm in ungezogenem Tone, alle diese Waren seien bei ihm bestellt und er nähme sie nicht zurück. Herr Bovary möge sichs überlegen; er werde ihn eher verklagen als sich selber benachteiligen. Karl befahl daraufhin dem Mädchen, die Gegenstände im Geschäft abzugeben, aber Felicie vergaß es. Er selbst hatte sich um andre Dinge zu kümmern und dachte nicht mehr daran. Nach einer gewissen Zeit unternahm Lheureux einen neuen Versuch. Bald drohend, bald jammernd, brachte er es so weit, daß ihm Bovary schließlich einen Wechsel ausstellte, der in sechs Monaten fällig war. Als er das Papier unterschrieb, kam ihm der kühne Gedanke, tausend Franken von Lheureux zu leihen. Verlegen fragte er, ob er ihm diese Summe auf ein Jahr zu beliebigem Zinsfuß verschaffen könne. Der Handelsmann eilte sofort in seinen Laden, brachte das Geld und zugleich einen zweiten Wechsel, durch den sich Bovary verpflichtete, am 1. September kommenden Jahres eintausendundsiebzig Franken zu zahlen. Mit den bereits anerkannten hundertundachtzig Franken ergab das eine Gesamtschuld von zwölfhundertundfünfzig Franken. Lheureux machte hierbei ein ganz hübsches Geschäft; im übrigen wußte er im voraus genau, daß es hierbei nicht bliebe. Er rechnete darauf, daß der Arzt die Wechsel am Fälligkeitstage nicht einlösen könne und sie prolongieren müsse. Auf diese Weise sollte das erst armselige Sümmchen im Hause des Arztes wie in einem Sanatorium eine ordentliche Mastkur durchmachen und eines Tages dick und rund zu ihm zurückkehren.
Lheureux hatte allenthalben Erfolge. Er erlangte die regelmäßigen Apfelweinlieferungen für das Neufchâteler Krankenhaus. Der Notar Guillaumin schanzte ihm Aktien der Torfgruben zu Grümesnil zu. Dazu trug er sich mit dem Plane, zwischen Argueil und Rouen eine neue Postverbindung zu eröffnen, die den alten Rumpelkasten des Goldnen Löwen unbedingt außer Konkurrenz stellen sollte, indem sie schneller führe, billiger wäre und Eilgut bestelle. Damit wollte er den ganzen Handel von Yonville in seine Hände bringen.
Karl grübelte oftmals darüber nach, wie er die beträchtliche Wechselschuld in einem Jahre wohl tilgen könne. Er kam dabei auf allerhand Möglichkeiten. Sollte er sich an seinen Vater wenden oder irgend etwas verkaufen? Aber ersteres hatte vermutlich keinen Erfolg, und zu verkaufen gab es nichts. Er mochte sich sonst noch ausdenken, was er wollte: überall drohten die größten Schwierigkeiten. Und so schenkte er sich nur allzu gern weitere unerfreuliche Überlegungen. Er redete sich ein, er vernachlässige seine Frau, wenn er ihr nicht all sein Dichten und Trachten widme. Er wollte an nichts andres denken, selbst wenn ihr dadurch kein Abbruch geschähe.
Der Winter war streng. Emmas Genesung schritt nur langsam vorwärts. Als das Wetter wärmer wurde, schob man sie in ihrem Lehnstuhl an das Fenster, und zwar an das nach dem Marktplatze zu gelegene. Das andre mit dem Blick in den Garten war ihr jetzt verleidet; deshalb mußte seine Jalousie beständig heruntergelassen bleiben. Sie bestimmte, daß ihr Reitpferd verkauft werden solle. Alles, was ihr früher lieb gewesen, war ihr nunmehr zuwider. Sie kümmerte sich um nichts mehr als um ihre eigene Person. Die kleinen Mahlzeiten nahm sie in ihrem Bett ein. Manchmal klingelte sie dem Mädchen, um sich die Arznei reichen zu lassen oder um mit ihm zu plaudern. Der Schnee auf dem Dache der Hallen warf seinen hellen, immer gleichen Widerschein in das Zimmer. Dann kamen Regentage. Sie empfand eine Art Angst vor den sich alle Tage wiederholenden unausbleiblichen kleinen und kleinsten Ereignissen, die sie eigentlich gar nichts angingen, am meisten vor der allabendlichen Ankunft der Post im Goldnen Löwen. Dann redete die Wirtin laut, allerlei andre Stimmen lärmten dazwischen, und die Laterne Hippolyts, der unter den Koffern auf dem Wagenverdeck herumsuchte, leuchtete wie ein Stern durch die Dunkelheit. Um die Mittagszeit kam Karl nach Hause, dann ging er wieder. Sie trank ihre Bouillon. Um fünf Uhr, wenn es zu dämmern begann, kamen die Kinder aus der Schule; sie klapperten mit ihren Holzschuhen über das Trottoir, und im Vorübergehen schlug eins wie das andere mit dem Lineal gegen die eisernen Riegel der Fensterläden.
Um diese Zeit pflegte sich der Pfarrer einzustellen. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, erzählte ihr Neuigkeiten und ermahnte sie zur Frömmigkeit in gefälligem Plaudertone. Schon der Anblick der Soutane hatte für Emma etwas Beruhigendes.
Eines Tages, als ihre Krankheit am schlimmsten war, hatte sie nach dem Abendmahl verlangt, im Glauben, ihr letztes Stündlein sei gekommen. Während man im Gemach die nötigen Vorbereitungen zu dieser Zeremonie traf, die mit Arzneiflaschen bedeckte Kommode in einen Altar wandelte und den Fußboden mit Blumen bestreute, da war es ihr, als überkäme sie eine geheimnisvolle Kraft, die ihr ihre Schmerzen, alle Empfindungen und Wahrnehmungen nahm. Sie war wie körperlos geworden, sie hegte keine Gedanken mehr, und ein neues Leben begann ihr. Sie hatte das Gefühl, als schwebe ihre Seele gen Himmel, als verlösche sie in der Sehnsucht nach dem ewigen Frieden wie eine Opferflamme über verglimmendem Räucherwerk. Man besprengte ihr Bett mit Weihwasser. Der Priester nahm die weiße Hostie aus dem heiligen Ciborium. Halb ohnmächtig vor überirdischer Lust, öffnete Emma die Lippen, um den Leib des Heilands zu empfangen, der sich ihr bot. Die Bettvorhänge um sie herum bauschten sich weich wie Wolken, und die beiden brennenden Kerzen auf der Kommode leuchteten ihr mit ihrem Strahlenkranze wie Gloriolen herüber. Als sie mit dem Kopfe in das Kissen zurücksank, glaubte sie aus himmlischen Höhen seraphische Harfenklänge zu hören und im Azur auf goldnem Throne, umringt von Heiligen mit grünen Palmen, Gott den Vater in aller seiner erhabenen Herrlichkeit zu schaun. Er winkte, und Engel mit Flammenflügeln wallten zur Erde hernieder, um sie emporzutragen ...
Diese wundervolle Vision bewahrte Emma in ihrem Gedächtnisse. Es war der allerschönste Traum, den sie je geträumt. Sie gab sich Mühe, das Bild immer wieder zu empfinden. Es wich ihr nicht aus der Phantasie, aber es erschien ihr nur manchmal und in süßer Verklärung. Ihr einst so stolzer Sinn beugte sich in christlicher Demut. Das Gefühl der menschlichen Ohnmacht ward ihr ein köstlicher Genuß. Sie sah förmlich, wie aus ihrem Herzen der eigene Wille wich und der hereindringenden göttlichen Gnade Tür und Tor weit öffnete. Es gab also außer dem Erdenglück eine höhere Glückseligkeit und über aller Liebe hienieden eine andre erhabenere, ohne Schwankungen und ohne Ende, eine Brücke in das Ewige! In neuen Illusionen erträumte sie sich über der Erde ein Reich der Reinheit, einen Vorhimmel. Dort zu weilen, ward ihre Sehnsucht. Sie wollte eine Heilige werden. Sie kaufte sich Rosenkränze und trug Amulette. Ihr größter Wunsch war, in ihrem Zimmer, zu Häupten ihres Bettes, einen Reliquienschrein mit Smaragden zu besitzen. Den wollte sie dann alle Abende küssen.
Der Pfarrer wunderte sich über Emmas Wandlung, verhehlte sich jedoch nicht, daß diese allzu inbrünstige Frömmigkeit sehr leicht in Überschwenglichkeit und Ketzerei ausarten könne. Aber er war kein Seelenkenner, zumal außergewöhnlichen Erscheinungen gegenüber. Deshalb wandte er sich an den Buchhändler des Erzbischofs und bat ihn, ihm „ein passendes Erbauungsbuch für eine gebildete Frauensperson“ zu schicken. Mit der größten Gleichgültigkeit, als handle es sich darum, irgendwelchen Krimskram an einen Kamerunneger zu versenden, packte der Buchhändler alle möglichen gerade vorrätigen frommen Schriften in ein Paket: Katechismen in Form von Frage und Antwort, Streitschriften aufgeblasener Dogmatiker und frömmelnde Romane in rosa Einbändchen und süßlichem Stil, verbrochen von dichtenden Schulmeistern oder blaustrümpfigen Betschwestern, mit Titeln wie: „Die Herzpostille“, „Der Weltmann zu Füßen Mariä. Von Herrn von ***, Ritter mehrerer Orden“, „Voltaires Ketzereien zum Gebrauch für die Jugend“, usw. usw.
Emma war seelisch noch viel zu schwach, um sich mit geistigen Dingen ernstlich befassen zu können. Überdies stürzte sie sich auf diese Bücher mit allzu großem Bedürfnis nach wirklicher Erbauung. Die Starrheit der kirchlichen Lehren empörte sie, die Anmaßungen der Polemik stießen sie ab, und die Intoleranz, mit der ihr unbekannte Menschen verfolgt wurden, mißfiel ihr. Die Romane, in denen profane Dinge durch religiöse Ideen aufgeputzt waren, entbehrten ihr zu sehr auch nur der geringsten Weltkenntnis. Sie verschleierten die Realitäten des Lebens, für deren Brutalität sie viel lieber literarische Beweise gefunden hätte. Trotzdem las sie weiter, und wenn ihr eins der Bücher aus den Händen glitt, dann wähnte sie den zartesten Weltschmerz der katholischen Mystik zu empfinden, wie ihn nur die übersinnlichsten Seelen zu verspüren imstande sind.
Das Andenken an Rudolf hatte sie in die Tiefen ihres Herzens begraben; darin ruhte es unberührter und stiller denn eine ägyptische Königsmumie in ihrer Kammer. Aus dieser großen eingesargten Liebe drang ein leiser, alles durchströmender Duft von Zärtlichkeit in das neue reine Dasein, das Emma führen wollte. Wenn sie in ihrem gotischen Betstuhl kniete, richtete sie an ihren Gott genau die verliebten Worte, die sie einst ihrem Geliebten zugeflüstert hatte in den Ekstasen des Ehebruchs. Damit wollte sie der göttlichen Gnade teilhaftig werden. Aber vom Himmel her kam ihr keine Tröstung, und sie erhob sich mit müden Gliedern und dem leeren Gefühl, namenlos betrogen worden zu sein. Dieses Suchen, dachte sie bei sich, sei wiederum ein Verdienst, und im Hochmut ihrer Selbsterniedrigung verglich sich Emma mit den großen Damen der Vergangenheit, deren Ruhm ihr damals, als sie über den Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière träumte, aufgegangen war, jenen Damen in ihren mit königlicher Anmut getragenen langen kostbaren Schleppkleidern, die in einsamen Stunden zu Füßen Christi ihre vom Leben verwundeten Herzen ausgeweint hatten.
Nun wurde sie über die Maßen mildtätig. Sie nähte Kleider für die Armen, schickte Wöchnerinnen Brennholz, und als Karl eines Tages heimkam, fand er in der Küche drei Gassenjungen, die Suppe aßen. Die kleine Berta wurde wieder ins Haus genommen; Karl hatte sie während der Krankheit seiner Frau von neuem zu der Amme gegeben. Nun wollte ihr Emma das Lesen beibringen. Wenn das Kind weinte, regte sie sich nicht mehr auf. Es war eine Art Resignation über sie gekommen, eine duldsame Nachsicht gegen alles. Ihre Sprache ward voll gewählter Ausdrücke, selbst Alltäglichkeiten gegenüber.
Die alte Frau Bovary hatte nichts mehr an Emma auszusetzen, abgesehen von ihrer Manie, für Waisenkinder Jacken zu stricken und ihre eigenen Wischtücher unausgebessert zu lassen. Aber die gute Frau war der Zwiste in ihres Mannes Hause dermaßen müde, daß ihr der Frieden am Herde ihres Sohnes so wohltat, daß sie bis nach Ostern dablieb, um den Bärbeißigkeiten des alten Bovary zu entgehen, der alle Freitage, an den Fastentagen, unbedingt eine Bratwurst auf dem Tische sehen wollte.
Außer der Gesellschaft ihrer Schwiegermutter, die ihr durch ihre Rechtlichkeit und ihr würdiges Wesen einen gewissen Halt gab, hatte Emma jetzt fast alle Tage Besuch bei sich. Es verkehrten mit ihr: Frau Langlois, Frau Caron, Frau Dübreuil, Frau Tüvache, sowie die treffliche Frau Homais, die sich regelmäßig zwischen drei und fünf Uhr einstellte. Sie hatte dem Klatsch, der über ihre Nachbarin im Umlauf gewesen war, niemals Glauben schenken wollen. Auch die Apothekerskinder kamen mitunter in Justins Begleitung. Er brachte sie in Emmas Zimmer und blieb in der Nähe der Türe stehen, ohne sich zu rühren und ohne ein Wort zu sagen. Oft gewahrte ihn Frau Bovary gar nicht und ließ sich in ihrem Toilettemachen nicht stören. Sie kämmte sich das Haar, wobei sie den Kopf nach dem Durchziehen des Kammes jedesmal mit einer eigentümlichen heftigen Bewegung zurückwarf. Als der arme Junge zum ersten Male diese volle Haarflut sah, die in langen schwarzen Ringeln bis zu den Knien herabwallte, war es ihm zumute, als schaue er plötzlich ganz Neues, Außergewöhnliches, und er starrte wie geblendet hin.
Sicherlich bemerke Emma weder sein stummes Entzücken noch seine schüchterne Verehrung. Sie hatte keine Ahnung, daß die aus ihrem Leben entschwundene Liebe dort, ihr ganz nahe, in neuer Gestalt wieder auftauchte, unter einem groben Leinwandhemd, in einem jungen Herzen, das sich der Offenbarung ihrer Frauenschönheit weit öffnete. Im übrigen war sie jetzt in jeder Hinsicht grenzenlos gleichgültig. Mit dem stolzesten Gesichte sagte sie die zärtlichsten Worte. Ihr ganzes Benehmen war so widerspruchsvoll, daß man Selbstsucht nicht mehr von Mitleid an ihr unterscheiden konnte. Man wußte nicht mehr, war sie verdorben oder unnahbar.
Zum Beispiel war sie eines Abends sehr ungehalten über ihr Dienstmädchen. Es bat, ausgehen zu dürfen, und stotterte irgendeinen Vorwand her. Unvermittelt fragte Emma:
„Du liebst ihn also?“ und, ohne Felicies Antwort abzuwarten, fügte sie in traurigem Tone hinzu: „Geh! Lauf! Vergnüge dich!“
In den ersten Frühlingstagen ließ sie den Garten vollständig umändern. Karl war anfangs dagegen, dann jedoch freute er sich darüber, daß sie endlich wieder einmal einen bestimmten Wunsch äußerte. Nach und nach bewies sie auch anderweitig, daß sie sich wieder erholt hatte. Zunächst brachte sie es zuwege, daß Frau Rollet, die Amme, die sichs angewöhnt hatte, Tag für Tag mit ihren Säuglingen und Ziehkindern und einem kannibalischen Appetit in der Küche zu erscheinen, von dannen gejagt wurde. Sodann schüttelte sie sich die Familie Homais vom Halse, nach und nach auch die andern regelmäßigen Besucherinnen. Sogar in die Kirche ging sie seltener, zur großen Freude des Apothekers, der ihr daraufhin freundschaftlichst erklärte:
„Ich dachte schon, Sie seien eine Betschwester geworden!“
Bournisien kam nach wie vor alle Tage nach der Katechismusstunde. Am liebsten blieb er im Freien, im „Hain“, wie er die Laube scherzhaft zu nennen pflegte. Um dieselbe Zeit kehrte auch Karl meist heim. Beiden war warm, und so bekamen die beiden Männer eine Flasche Apfelsekt vorgesetzt, den sie „auf die völlige Genesung der gnädigen Frau“ tranken.
Öfters fand sich auch Binet ein, das heißt: er saß etwas tiefer, vor dem Garten, am Bache, um zu krebsen. Bovary lud ihn zu einer kleinen Erfrischung ein. Binet war ein Meister im Aufbrechen von Sektflaschen.
„Zunächst muß man die Bulle senkrecht auf den Tisch stellen,“ dozierte er, indem er selbstbewußt um sich blickte, „dann zerschneidet man die Bindfäden, und dann läßt man dem Pfropfen ganz, ganz sachte, nach und nach Luft. Sooo!“
Aber bei dieser Vorführung spritzte der Sekt öfters der ganzen Gesellschaft in die Gesichter, und der Priester unterließ es niemals, behaglich schmunzelnd den Witz zu machen:
„Seine Vortrefflichkeit springt einem buchstäblich in die Augen!“
Er war wirklich ein guter Mensch. Er hatte nicht einmal etwas dagegen, als der Apotheker dem Arzte empfahl, er solle mit seiner Frau zu ihrer Zerstreuung nach Rouen fahren und sich dort im Theater den berühmten Tenor Lagardy anhören. Homais wunderte sich über diese Duldsamkeit und fühlte ihm deshalb etwas auf den Zahn. Der Priester erklärte, er halte die Musik für weniger sittenverderbend als die Literatur. Aber Homais verteidigte die letztere. Er behauptete, das Theater kämpfe unter dem leichten Gewande des Spiels gegen veraltete Ideen und für die wahre Moral.
„ Castigat ridendo mores, verehrter Herr Pfarrer!“ zitierte er. „Sehen Sie sich daraufhin mal die Tragödien Voltaires an! Die meisten von ihnen sind mit philosophischen Aphorismen durchsetzt, die eine wahre Schule der Moral und Lebensklugheit für das Volk sind.“
„Ich habe einmal ein Stück gesehen,“ sagte Binet, „es hieß: ‚Der Pariser Taugenichts.‘ Darin kommt ein alter General vor, wirklich ein hahnebüchner Kerl. Er verstößt seinen Sohn, der eine Arbeiterin verführt hat; zu guter Letzt aber ...“
„Gewiß“, unterbrach ihn Homais, „gibt es schlechte Literatur, genau so wie es schlechte Arzneien gibt. Aber die wichtigste aller Künste deshalb gleich in Bausch und Bogen zu verurteilen, das dünkt mich eine kolossale Dummheit, eine groteske Idee, würdig der abscheulichen Zeiten, die einen Galilei im Kerker schmachten ließen.“
Der Pfarrer ergriff das Wort:
„Ich weiß sehr wohl: es gibt gute Dramen und gute Theaterschriftsteller. Aber diese modernen Stücke, in denen Personen zweierlei Geschlechts in Prunkgemächern, vollgepfropft von weltlichem Tand, zusammengesteckt werden, diese schamlosen Bühnenmätzchen, dieser Kostümluxus, diese Lichtvergeudung, dieser Feminismus, alles das hat keine andre Wirkung, als daß es leichtfertige Ideen in die Welt setzt, schändliche Gedanken und unzüchtige Anwandlungen. Wenigstens ist das zu allen Zeiten die Ansicht der kirchlichen Autoritäten.“
Er nahm einen salbungsvollen Ton an, während er zwischen seinen Fingern eine Prise Tabak hin und her rieb. „Und wenn die Kirche das Theater zuweilen in Acht und Bann getan hat, war sie in ihrem vollen Rechte. Wir müssen uns ihrem Gebote fügen.“
„Jawohl,“ eiferte der Apotheker, „man exkommuniziert die Schauspieler. In früheren Jahrhunderten nahmen sie an den kirchlichen Feiern teil. Man spielte sogar in der Kirche possenhafte Stücke, die sogenannten Mysterien, in denen es häufig nichts weniger als dezent zuging ...“
Der Geistliche begnügte sich, einen Seufzer auszustoßen. Der Apotheker redete immer weiter:
„Und wie stehts mit der Bibel? Es wimmelt darin — Sie wissens ja am besten — von Unanständigkeiten und — man kann nicht anders sagen — groben Schweinereien ...“ Bournisien machte eine unwillige Gebärde. „Aber Sie müssen mir doch zugeben, daß das kein Buch ist, das man jungen Leuten in die Hand geben kann. Ich werde es nie zulassen, daß meine Athalie ...“
„Das sind ja die Protestanten, nicht wir,“ rief der Pfarrer ungeduldig, „die den Leuten die Bibel überlassen!“
„Das kommt hier nicht in Frage“, erklärte Homais. „Ich wundre mich nur, daß man noch in unsrer Zeit, im Jahrhundert der wissenschaftlichen Aufklärung, eine geistige Erholung zu verdammen sucht, die in gesellschaftlicher, in moralischer, ja sogar in hygienischer Beziehung die Menschheit fördert! Das ist doch so, nicht, Doktor?“
„Zweifellos!“ erwiderte der Arzt nachlässig. Entweder wollte er niemandem zu nahetreten, obgleich er dieselbe Ansicht hegte, oder er hatte hierüber überhaupt keine Meinung.
Die Unterhaltung war eigentlich zu Ende, aber der Apotheker hielt es für angebracht, eine letzte Attacke zu reiten.
„Ich habe Geistliche gekannt,“ behauptete er, „die in Zivil ins Theater gingen, um die Balletteusen mit den Beinen strampeln zu sehen.“
„Ach was!“ wehrte der Pfarrer ab.
„Doch! Ich kenne welche!“ Und nochmals sagte er, Silbe für Silbe einzeln betonend: „Ich — ken — ne — wel — che!“
„Na ja,“ meinte Bournisien nachgiebig, „die Betreffenden haben da aber etwas Unrechtes getan.“
„Was Unrechtes? Der Teufel soll mich holen! Sie taten noch ganz andre Dinge!“
„Herr — Apo — the — ker!“ rief der Geistliche mit einem so zornigen Blicke, daß Homais eingeschüchtert wurde und einlenkte:
„Ich wollte damit ja nur sagen, daß die Toleranz die beste Fürsprecherin der Kirche ist.“
„Sehr wahr! Sehr wahr!“ gab der gutmütige Pfarrer zu, indem er sich wieder in seinen Stuhl zurücklehnte. Er blieb aber nur noch ein paar Minuten.
Als er fort war, sagte Homais zu Bovary:
„Das war eine ordentliche Abfuhr! Dem hab ichs mal gesteckt! Sie habens ja mit angehört! Um darauf zurückzukommen: tun Sie das ja, führen Sie Ihre Frau in das Theater, und wenns bloß deshalb wäre, um diesen schwarzen Raben damit zu ärgern. Sapperlot! Wenn ich einen Vertreter hätte, begleitete ich Sie selber! Aber halten Sie sich dazu! Lagardy singt nur einen einzigen Abend. Er hat ein Engagement nach England für ein Riesenhonorar! Übrigens soll er ein toller Schwerenöter sein! Er schwimmt im Gold! Drei Geliebte bringt er mit und seinen Leibkoch! Alle diese großen Künstler können nicht rechnen. Sie brauchen ein verschwenderisches Dasein, es regt ihre Phantasie an. Freilich enden sie im Spittel, weil sie in jungen Jahren nicht zu sparen verstehen ... Na, gesegnete Mahlzeit! Auf Wiedersehn!“
Der Gedanke, das Theater zu besuchen, schlug in Bovarys Kopfe schnell Wurzel. Er redete Emma in einem fort zu. Anfangs wollte sie nichts davon wissen und meinte, sie fühle sich zu schwach, es sei zu beschwerlich und zu kostspielig. Ausnahmsweise gab Karl nicht nach, zumal er sich einbildete, daß ihr diese Zerstreuung sehr dienlich wäre. Irgendwelche Schwierigkeit lag nicht vor. Seine Mutter hatte ihm jüngst ganz unvermutet dreihundert Franken geschickt. Die laufenden Ausgaben waren nicht groß, und die Wechselschuld bei Lheureux war noch lange nicht fällig, so daß er daran nicht zu denken brauchte. Er dachte, Emma sträube sich nur aus Rücksicht auf ihn. Deshalb bestürmte er sie immer mehr, bis sie seinen Bitten schließlich nachgab. Am andern Morgen um acht Uhr fuhren sie mit der Post ab.
Den Apotheker hielt nichts Dringliches in Yonville zurück, aber er hielt sich für unabkömmlich. Als er die beiden einsteigen sah, jammerte er.
„Glückliche Reise!“ sagte er. „Habt ihrs gut!“ Und zu Emma gewandt, fügte er hinzu: „Sie sehen zum Anbeißen hübsch aus! Sie werden in Rouen Furore machen!“
Die Post spannte in Rouen im „Roten Kreuz“ am Beauvoisine-Platz aus. Das war ein regelrechter Vorstadtgasthof mit geräumigen Ställen und winzigen Fremdenzimmern. Mitten im Hofe lief eine Schar Hühner herum, die unter den verschmutzten Einspännern der Geschäftsreisenden ihre Haferkörner aufpickten. Es war eine der Herbergen aus der guten alten Zeit. Sie haben morsche Holzbalkone, die in den Winternächten im Winde knarren; die Gäste, der Lärm und die Esserei werden in ihnen nie alle; die schwarzen Tischplatten sind voller großer Kaffeeflecke, die trüben dicken Fensterscheiben voller Fliegenschmutz und die feuchten Servietten voller Rotweinspuren. Auf der Straßenseite gibt es ein Café und hinten nach dem Freien zu einen Gemüsegarten. Alles trägt einen ländlichen Anstrich.
Karl machte sofort einen Besorgungsgang. An der Theaterkasse wußte er nicht, was Parkett, Proszeniumsloge, erster Rang und Galerie war; er bat um Auskunft, wurde dadurch aber auch nicht klüger. Der Kassierer wies ihn in die Direktion. Schließlich rannte er noch einmal in den Gasthof zurück, dann wieder an die Kasse. Auf diese Weise lief er mehrmals durch die halbe Stadt.
Frau Bovary kaufte sich einen neuen Hut, Handschuhe und Blumen. Karl war fortwährend in Angst, den Beginn der Oper zu versäumen. Und so nahmen sie sich beide keine Zeit, einen Bissen zu sich zu nehmen. Als sie aber vor dem Theater ankamen, waren die Türen noch geschlossen.
Eine Menge Menschen umlagerte die Eingänge. Überall an den Ecken der in der Nähe gelegenen Straßen prangten riesige Plakate, die in auffälligen Lettern ausschrien:
Es war ein schöner, aber heißer Tag. Der Schweiß rann den Leuten über die Stirn, und sie fächelten ihren erhitzten Gesichtern mit den Taschentüchern Kühlung zu. Hin und wieder wehte lauer Wind vom Strome her und blähte ein wenig die Leinwandmarkisen der Restaurants. Weiter unten, an den Kais, wurde man durch einen eisigen Luftzug abgekühlt, in den sich Gerüche von Talg, Leder und Öl aus den zahlreichen dunklen, vom Rollen der großen Fässer lärmigen Gewölben der Karren-Gasse mischten.
Aus Furcht, sich lächerlich zu machen, schlug Frau Bovary vor, noch nicht in das Theater hineinzugehen und erst einen Spaziergang durch die Hafenpromenaden zu machen. Dabei hielt Karl die Eintrittskarten, die er in der Hosentasche trug, vorsichtig mit seinen Fingern fest und drückte sie gegen die Bauchwand, so daß er sie in einem fort fühlte.
In der Vorhalle bekam Emma Herzklopfen. Als sie wahrnahm, daß sich der Menschenschwall die Nebentreppen nach den Galerien hinaufschob, während sie selbst die breite Treppe zum ersten Range emporschreiten durfte, lächelte sie unwillkürlich vor Eitelkeit. Es gewährte ihr ein kindliches Vergnügen, die breiten vergoldeten Türen mit der Hand aufzustoßen. In vollen Zügen atmete sie den Staubgeruch der Gänge ein, und als sie in ihrer Loge saß, machte sie sichs mit einer Ungezwungenheit einer Principessa bequem.
Das Haus füllte sich allmählich. Die Operngläser kamen aus ihren Futteralen. Die Stammsitzinhaber nickten sich aus der Entfernung zu. Sie wollten sich hier im Reiche der Kunst von der Unrast ihres Krämerlebens erholen, doch sie vergaßen die Geschäfte nicht, sondern redeten noch immer von Baumwolle, Fusel und Indigo. Das waren Grauköpfe mit friedfertigen Alltagsgesichtern; weiß in der Farbe von Haar und Haut, glichen sie einander wie abgegriffene Silbermünzen. Im Parkett paradierten die jungen Modenarren mit knallroten und grasgrünen Krawatten. Frau Bovary bewunderte sie von oben, wie sie sich mit gelbbehandschuhten Händen auf die goldenen Knäufe ihrer Stöcke stützten. Jetzt wurden die Orchesterlampen angezündet, und der Kronleuchter ward von der Decke herabgelassen. Sein in den Glasprismen widerglitzerndes Lichtmeer brachte frohe Stimmung in die Menschen. Dann erschienen die Musiker, einer nach dem andern, und nun hub ein wirres Getöse an von brummenden Kontrabässen, kratzenden Violinen, fauchenden Klarinetten und winselnden Flöten. Endlich drei kurze Schläge mit dem Taktstocke des Kapellmeisters. Paukenwirbel, Hörnerklang. Der Vorhang hob sich.
Auf der Bühne ward eine Landschaft sichtbar: ein Kreuzweg im Walde, zur Linken eine Quelle, von einer Eiche beschattet. Bauern, Mäntel um die Schultern, sangen im Chor ein Lied. Dann tritt ein Edelmann auf, der die Geister der Hölle mit gen Himmel gereckten Armen um Rache anfleht. Noch einer erscheint. Beide gehen zusammen ab. Der Chor singt von neuem.
Emma sah sich in die Atmosphäre ihrer Mädchenlektüre zurückversetzt, in die Welt Walter Scotts. Es war ihr, als höre sie den Klang schottischer Dudelsäcke über die nebelige Heide hallen. Die Erinnerung an den Roman des Briten erleichterte ihr das Verständnis der Oper. Aufmerksam folgte sie der intriganten Handlung, während eine Flut von Gedanken in ihr aufwallte, um alsbald unter den Wogen der Musik wieder zu verfließen. Sie gab sich diesen schmeichelnden Melodien hin. Sie fühlte, wie ihr die Seele in der Brust mit in Schwingungen geriet, als strichen die Violinenbogen über ihre Nerven. Sie hätte hundert Augen haben mögen, um sich satt sehen zu können an den Dekorationen, Kostümen, Gestalten, an den gemalten und doch zitternden Bäumen, an den Samtbaretten, Rittermänteln und Degen, an allen diesen Trugbildern, in denen eine so seltsame Harmonie wie um Dinge einer ganz andern Welt lebte ... Eine junge Dame trat auf, die einem Reitknecht in grünem Rocke eine Börse zuwarf. Dann blieb sie allein, und nun kam ein Flötensolo, zart wie Quellengeflüster und Vogelgezwitscher. Lucia begann ihre Kavatine in G-Dur. Sie sang von unglücklicher Liebe und wünschte sich Flügel. Ach, auch Emma hätte aus diesem Leben fliehen mögen, weit weg in Liebesarmen!
Da erschien auf der Szene Lagardy als Edgard. Er hatte jenen schimmernden blassen Teint, der dem Südländer etwas von der grandiosen Wirkung des Marmors verleiht. Seine männliche Gestalt war in ein braunes Wams gezwängt. Ein kleiner Dolch mit zierlichem Gehänge schlug ihm die linke Lende. Er warf lange schmachtende Blicke und zeigte seine blendend weißen Zähne. Man hatte Emma erzählt, eine polnische Fürstin habe ihn am Strand von Biarritz singen hören, wo er Schiffszimmermann gewesen sei, und sich in ihn verliebt. Seinetwegen habe sie sich ruiniert. Er habe sie dann einer andern zuliebe sitzen lassen.
Derartige galante Abenteuer mit sentimentalem Finale dienten dem berühmten Künstler als Reklame. Der schlaue Mime brachte es sogar fertig, in die Rezensionen der Zeitungen poetische Floskeln über den bezaubernden Eindruck seiner Persönlichkeit und die leichte Empfänglichkeit seines Herzens zu lancieren. Er besaß eine schöne Stimme, unfehlbare Sicherheit, mehr Temperament als Intelligenz, mehr Pathos als Empfindung. Er war Genie und Scharlatan zugleich, und in seinem Wesen lag ebensoviel von einem Friseur wie von einem Toreador.
Sobald er nur auf der Bühne erschien, begeisterte er Emma. Er schloß Lucia in seine Arme, wandte sich weg und kam wieder, sichtlich verzweifelt. Bald loderte sein Haß wild auf, bald klagte er in den zartesten Elegien, und die Töne perlten ihm aus der Kehle, zwischen Tränen und Küssen. Emma beugte sich weit vor, um ihn voll zu sehen, wobei sich ihre Fingernägel in den Plüsch der Logenbrüstung eingruben. Ihr Herz ward voll von diesen wehmütigen Melodien, die, von den Kontrabässen dumpf begleitet, nicht aufhörten, gleich wie die Notschreie von Schiffbrüchigen im Sturmgebraus. Die junge Frau kannte alle diese Verzücktheiten und Herzensängste, die sie unlängst dem Tode so nahe gebracht hatten. Die Stimme der Primadonna erschütterte sie wie eine laute Verkündung ihrer heimlichsten Beichte. Das Scheinbild der Kunst beleuchtete ihr die eigenen Erlebnisse. Aber ach, so wie Lucia war sie doch von niemanden in der Welt geliebt worden! Rudolf hatte nicht um sie geweint, so wie Edgard, am letzten Abend im Mondenschein, als sie sich Lebewohl sagten ...
Beifall durchstürmte das Haus. Die ganze Stretta mußte wiederholt werden. Noch einmal sangen die Liebenden von den Blumen auf ihren Gräbern, von Treue, Trennung, Verhängnis und Hoffnungen; und als sie sich den letzten Scheidegruß zuriefen, stieß Emma einen lauten Schrei aus, der in der Orchestermusik des Finale verhallte.
„Warum läßt sie denn eigentlich dieser Edelmann nicht in Ruhe?“ fragte Bovary.
„Aber nein!“ antwortete sie. „Das ist doch ihr Geliebter!“
„Er schwört doch, er wolle sich an ihrer Familie rächen. Und der andre, der dann kam, hat doch gesagt:
‚Nimm, Teure, meine Schwüre an
Der reinsten, wärmsten Liebe!‘
Und sie sagt:
‚So sei es denn!‘
Übrigens der, mit dem sie fortging, Arm in Arm, der kleine Häßliche mit der Hahnenfeder auf dem Hut, das war doch ihr Vater, nicht wahr?“
Trotz Emmas Berichtigungen blieb Karl, der das Rezitativ im zweiten Akte zwischen Lord Ashton und Gilbert mißverstanden hatte, bei dem Glauben, Edgard habe Lucia ein Liebeszeichen gesandt. Er gestand ein, von der ganzen Handlung nichts begriffen zu haben. Die Musik störe, sie beeinträchtige den Text.
„Was schadet das?“ wandte Emma ein. „Nun sei aber still!“
Er lehnte sich an ihren Arm. „Ich möchte gern im Bilde sein. Weißt du?“
„Sei doch endlich still!“ sagte sie unwillig. „Schweig!“
Lucia nahte, von ihren Dienerinnen gestützt, einen Myrtenkranz im Haar, bleicher als der weiße Atlas ihres Kleides ... Emma gedachte ihres eigenen Hochzeitstages, sie sah sich zwischen den Kornfeldern, auf dem schmalen Fußweg auf dem Gange zur Kirche. Warum hatte sie sich da nicht so widersetzt wie Lucia, unter leidenschaftlichem Flehen? Sie war vielmehr so fröhlich gewesen, ohne im geringsten zu ahnen, welcher Niederung sie zuschritt ... Ach, hätte sie, jung und frisch und schön, noch nicht besudelt durch die Ehe, noch nicht enttäuscht in ihrem Ehebruch, auf ein festes edles Herz bauen und Tugend, Zärtlichkeit, Sinnenlust und Pflichttreue zusammen fühlen dürfen! Niemals wäre sie von der Höhe solcher Glückseligkeit herabgesunken! „Nein, nein!“ rief sie schmerzlich bei sich aus. „All das große Glück da unten ist doch nur Lug und Trug, erdichtet von sehnsüchtigen oder verzweifelten Phantasten!“ Jetzt erkannte sie, daß die Leidenschaften in der Wirklichkeit armselig sind und nur in der Überschwenglichkeit der Kunst etwas Großes. Sie versuchte sich zur nüchternen Anschauung zu zwingen. Sie wollte in dieser Wiedergabe ihrer eigenen Schmerzen nichts mehr sehen als ein plastisches Phantasiegebilde, nichts mehr und nichts weniger als eine amüsante Augenweide. Und so lächelte sie in Gedanken überlegen-nachsichtig, als im Hintergrunde der Bühne hinter einer Samtportiere ein Mann in einem schwarzen Mantel erschien, dem sein breitkrempiger großer Hut bei einer Körperbewegung vom Kopfe fiel.
Das Sextett begann. Sänger und Orchester entfalten sich. Edgard rast vor Wut; sein glockenklarer Tenor dominiert, Ashton schleudert ihm in wuchtigen Tönen seine Todesdrohungen entgegen, Lucia klagt in schrillen Schreien, Arthur bleibt im Maße der Nebenrolle, und Raimunds Baß brummt wie Orgelgebraus. Die Frauen des Chors wiederholen die Worte, ein köstliches Echo. Gestikulierend stehen sie alle in einer Reihe. Zorn, Rachgier, Eifersucht, Angst, Mitleid und Erstaunen entströmen gleichzeitig ihren aufgerissenen Mündern. Der wütende Liebhaber schwingt seinen blanken Degen. Der Spitzenkragen wogt ihm auf der schwer atmenden Brust auf und nieder, während er mächtigen Schritts in seinen sporenklirrenden Stulpenstiefeln über die Bühne schreitet.
„Er muß eine unerschöpfliche Liebe in sich tragen,“ dachte Emma, „daß er sie an die Menge so verschwenden kann.“ Ihre Anwandlung von Geringschätzigkeit schwand vor dem Zauber seiner Rolle. Sie fühlte sich zu dem Menschen hingezogen, der sie unter dieser Gestalt berauschte. Sie versuchte, sich sein Leben vorzustellen, sein bewegtes, ungewöhnliches, glänzendes Leben, an dem sie hätte teilnehmen können, wenn es der Zufall gefügt hätte. Warum hatten sie sich nicht kennen gelernt und sich ineinander verliebt! Sie wäre mit ihm durch alle Länder Europas gereist, von Hauptstadt zu Hauptstadt, hätte mit ihm Mühen und Erfolge geteilt, die Blumen aufgelesen, die man ihm streute, und seine Bühnenkostüme eigenhändig gestickt. Alle Abende hätte sie, im Dunkel einer Loge, hinter vergoldetem Gitter aufmerksam den Sängen seiner Seele gelauscht, die einzig und allein ihr gewidmet wären. Von der Szene, beim Singen, hätte er zu ihr geschaut ...
Sie erschrak und ward verwirrt. Der Sänger sah zu ihr hinauf. Kein Zweifel! Sie hätte zu ihm hinstürzen mögen, in seine Arme, in seine Umarmung fliehen, als sei er die Verkörperung der Liebe, und ihm laut zurufen:
„Nimm mich, entführe mich! Komm! Ich gehöre dir, nur dir! Dir gelten alle meine Träume, mein ganzes heißes Herz!“
Der Vorhang fiel.
Gasgeruch erschwerte das Atmen, und das Fächeln der Fächer machte die Luft noch unerträglicher. Emma wollte die Loge verlassen, aber die Gänge waren durch die vielen Menschen versperrt. Sie sank in ihren Sessel zurück. Sie bekam Herzklopfen und Atemnot. Da Karl fürchtete, sie könne ohnmächtig werden, eilte er nach dem Büfett, um ihr ein Glas Mandelmilch zu holen.
Er hatte große Mühe, wieder nach der Loge zu gelangen. Das Glas in beiden Händen, rannte er bei jedem Schritte, den er tat, jemanden mit den Ellenbogen an. Schließlich goß er dreiviertel des Inhalts einer Dame in ausgeschnittener Toilette über die Schulter. Als sie das kühle Naß, das ihr den Rücken hinabrann, spürte, schrie sie laut auf, als ob man ihr ans Leben wolle. Ihr Gatte, ein Rouener Seifenfabrikant, ereiferte sich über diese Ungeschicktheit. Während seine Frau mit dem Taschentuche die Flecke von ihrem schönen roten Taftkleide abtupfte, knurrte er wütend etwas von Schadenersatz, Wert und Bezahlen. Endlich kam Karl glücklich bei Emma wieder an. Gänzlich außer Atem berichtete er ihr:
„Weiß Gott, beinahe hätt ich mich nicht durchgewürgt! Nein, diese Menschheit! Diese Menschheit!“ Nach einigem Verschnaufen fügte er hinzu: „Und ahnst du, wer mir da oben begegnet ist? Leo!“
„Leo?“
„Jawohl! Er wird gleich kommen, dir guten Tag zu sagen!“
Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als der Adjunkt auch schon in der Loge erschien. Mit weltmännischer Ungezwungenheit reichte er ihr die Hand. Mechanisch streckte Frau Bovary die ihrige aus, wie im Banne eines stärkeren Willens. Diesen fremden Einfluß hatte sie lange nicht empfunden, seit jenem Frühlingsnachmittage nicht, an dem sie voneinander Abschied genommen. Sie hatte am Fenster gestanden, und draußen war leiser Regen auf die Blätter gefallen. Aber rasch besann sie sich auf das, was die jetzige Situation und die Konvenienz erheischten. Mit aller Kraft schüttelte sie den alten Bann und die alten Erinnerungen von sich ab und begann ein paar hastige Redensarten zu stammeln:
„Ach, guten Tag! Wie? Sie hier?“
„Ruhe!“ ertönte eine Stimme im Parkett. Inzwischen hatte nämlich der dritte Akt begonnen.
„So sind Sie also in Rouen?“
„Ja, gnädige Frau!“
„Und seit wann?“
„Hinaus! Hinaus!“
Alles drehte sich nach ihnen um. Sie verstummten.
Von diesem Augenblick war es mit Emmas Aufmerksamkeit vorbei. Der Chor der Hochzeitsgäste, die Szene zwischen Ashton und seinem Diener, das große Duett in D-Dur, alles das spielte sich für sie wie in großer Entfernung ab. Es war ihr, als klänge das Orchester nur noch gedämpft, als sängen die Personen ihr weit entrückt. Sie dachte zurück an die Spielabende im Hause des Apothekers, an den Gang zu der Amme ihres Kindes, an das Vorlesen in der Laube, an die Plauderstunden zu zweit am Kamin, an alle Einzelheiten dieser armen Liebe, die so friedsam, so traulich und so zart gewesen war und die sie längst vergessen hatte. Warum war er wieder da? Welches Zusammentreffen von besonderen Umständen ließ ihn von neuem ihren Lebenspfad kreuzen?
Er stand hinter ihr, die Schulter an die Logenwand gelehnt. Von Zeit zu Zeit schauerte Emma zusammen, wenn sie den warmen Hauch seiner Atemzüge auf ihrem Haar spürte.
„Macht Ihnen denn das Spaß?“ fragte er sie, indem er sich über sie beugte, so daß die Spitze seines Schnurrbarts ihre Wange streifte.
„Nein, nicht besonders!“ entgegnete sie leichthin.
Daraufhin machte er den Vorschlag, das Theater zu verlassen und irgendwo eine Portion Eis zu essen.
„Ach nein! Noch nicht! Bleiben wir!“ sagte Bovary. „Sie hat aufgelöstes Haar! Es scheint also tragisch zu werden!“
Aber die Wahnsinnsszene interessierte Emma gar nicht. Das Spiel der Sängerin schien ihr übertrieben.
„Sie schreit zu sehr!“ meinte sie, zu Karl gewandt, der aufmerksam zuhörte.
„Möglich! Jawohl! Ein wenig!“ gab er zur Antwort. Eigentlich gefiel ihm die Sängerin, aber die Meinung seiner Frau, die er immer zu respektieren pflegte, machte ihn unschlüssig.
Leo stöhnte:
„Ist das eine Hitze!“
„Tatsächlich! Nicht zum Aushalten!“ sagte Emma.
„Verträgst dus nicht mehr?“ fragte Bovary.
„Ich ersticke! Wir wollen gehen!“
Leo legte ihr behutsam den langen Spitzenschal um. Dann schlenderten sie alle drei nach dem Hafen, wo sie vor einem Kaffeehause im Freien Platz nahmen.
Anfangs unterhielten sie sich von Emmas Krankheit. Sie versuchte mehrfach, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, indem sie die Bemerkung machte, sie fürchte, Herrn Leo könne das langweilen. Darauf erzählte dieser, er müsse sich in Rouen zwei Jahre tüchtig auf die Hosen setzen, um sich in die hiesige Rechtspflege einzuarbeiten. In der Normandie mache man alles anders als in Paris. Dann erkundigte er sich nach der kleinen Berta, nach der Familie Homais, nach der Löwenwirtin. Mehr konnten sie sich in Karls Gegenwart nicht sagen, und so stockte die Unterhaltung.
Aus der Oper kommende Leute gingen vorüber, laut pfeifend und trällernd:
‚O Engel reiner Liebe!‘
Leo kehrte den Kunstkenner heraus und begann über Musik zu sprechen. Er habe Tamburini, Rubini, Persiani, Crisi gehört. Im Vergleich mit denen sei Lagardy trotz seiner großen Erfolge gar nichts.
Karl, der sein Sorbett mit Rum in ganz kleinen Dosen vertilgte, unterbrach ihn:
„Aber im letzten Akt, da soll er ganz wunderbar sein! Ich bedaure, daß ich nicht bis zu Ende drin geblieben bin. Es fing mir grade an zu gefallen!“
„Demnächst gibts ja eine Wiederholung!“ tröstete ihn Leo.
Karl erwiderte, daß sie am nächsten Tage wieder nach Hause müßten. „Es sei denn,“ meinte er, zu Emma gewandt, „du bliebst allein hier, mein Herzchen?“
Bei dieser unerwarteten Aussicht, die sich seiner Begehrlichkeit bot, änderte der junge Mann seine Taktik. Nun lobte er das Finale des Sängers. Er sei da köstlich, großartig!
Von neuem redete Karl seiner Frau zu:
„Du kannst ja am Sonntag zurückfahren. Entschließe dich nur! Es wäre unrecht von dir, wenn du es nicht tätest, sofern du dir auch nur ein wenig Vergnügen davon versprichst!“
Inzwischen waren die Nachbartische leer geworden. Der Kellner stand fortwährend in ihrer nächsten Nähe herum. Karl begriff und zog seine Börse. Leo kam ihm zuvor und gab obendrein zwei Silberstücke Trinkgeld, die er auf der Marmorplatte klirren ließ.
„Es ist mir wirklich nicht recht,“ murmelte Bovary, „daß Sie für uns Geld ...“
Der andere machte die aufrichtig gemeinte Geste der Nebensächlichkeit und ergriff seinen Hut.
„Es bleibt dabei! Morgen um sechs Uhr!“
Karl beteuerte nochmals, daß er unmöglich so lange bleiben könne. Emma indessen sei durch nichts gehindert.
„Es ist nur ...“, stotterte sie, verlegen lächelnd, „... ich weiß nicht recht ...“
„Na, überleg dirs noch! Wir können ja noch mal darüber reden, wenn dus beschlafen hast!“ Und zu Leo gewandt, der sie begleitete, sagte er: „Wo Sie jetzt wieder in unserer Gegend sind, hoffe ich, daß Sie sich ab und zu bei uns zu Tisch ansagen!“
Der Adjunkt versicherte, er werde nicht verfehlen, da er ohnehin demnächst in Yonville beruflich zu tun habe.
Als man sich vor dem Durchgang Saint-Herbland voneinander verabschiedete, schlug die Uhr der Kathedrale halb zwölf.
Leo hatte während seiner Pariser Studienzeit die Ballsäle fleißig besucht und daselbst recht hübsche Erfolge bei den Grisetten gehabt. Sie hatten gefunden, er sähe sehr schick aus. Übrigens war er der mäßigste Student. Er trug das Haar weder zu kurz noch zu lang, verjuchheite nicht gleich am Ersten des Monats sein ganzes Geld und stand sich mit seinen Professoren vortrefflich. Von wirklichen Ausschweifungen hatte er sich allezeit fern gehalten, aus Ängstlichkeit und weil ihm das wüste Leben zu grob war.
Oft, wenn er des Abends in seinem Zimmer las oder unter den Linden des Luxemburggartens saß, glitt ihm sein Code-Napoléon aus den Händen. Dann kam ihm Emma in den Sinn. Aber allmählich verblaßte diese Erinnerung, und allerlei Liebeleien überwucherten sie, ohne sie freilich ganz zu ersticken. Denn er hatte noch nicht alle Hoffnung verloren, und ein vages Versprechen winkte ihm in der Zukunft wie eine goldne Frucht an einem Wunderbaume.
Als er sie jetzt nach dreijähriger Trennung wiedersah, erwachte seine alte Leidenschaft wieder. Er sagte sich, jetzt gälte es, sich fest zu entschließen, wenn er sie besitzen wollte. Seine ehemalige Schüchternheit hatte er übrigens im Verkehr mit leichtfertiger Gesellschaft abgelegt. Er war in die Provinz zurückgekehrt mit einer gewissen Verachtung aller derer, die nicht schon ein paar Lackschuhe auf dem Asphalt der Großstadt abgetreten hatten. Vor einer Pariserin in Spitzen, im Salon eines berühmten Professors mit Orden und Equipage, hätte der arme Adjunkt sicherlich gezittert wie ein Kind, hier aber, in Rouen, am Hafen, vor der Frau dieses kleinen Landarztes, da fühlte er sich überlegen und eines leichten Sieges gewiß. Sicheres Auftreten hängt von der Umgebung ab. Im ersten Stock spricht man anders als im vierten, und es ist beinahe, als seien die Banknoten einer reichen Frau ihr Tugendwächter. Sie trägt sie alle mit sich wie ein Panzerhemd unter ihrem Korsett.
Nachdem sich Leo von Herrn und Frau Bovary verabschiedet hatte, war er aus einiger Entfernung den beiden durch die Straßen gefolgt, bis er sie im „Roten Kreuz“ verschwinden sah. Dann machte er kehrt und grübelte die ganze Nacht hindurch über einen Kriegsplan.
Am andern Tag nachmittags gegen fünf Uhr betrat er den Gasthof mit beklommener Kehle, blassen Wangen und dem festen Entschluß, vor nichts zurückzuscheuen.
„Der Herr Doktor ist schon wieder abgereist!“ vermeldete ihm ein Kellner.
Leo faßte das als gutes Vorzeichen auf. Er stieg hinauf.
Emma war offenbar gar nicht aufgeregt, als er eintrat. Sie bat ihn kühl um Entschuldigung, daß sie gestern vergessen habe, ihm mitzuteilen, in welchem Gasthofe sie abgestiegen seien.
„O, das habe ich erraten“, sagte Leo.
„Wieso?“
Er behauptete, das gute Glück, eine innere Stimme habe ihn hierher geleitet.
Sie lächelte; und um seine Albernheit wieder gutzumachen, log er nunmehr, er habe den ganzen Morgen damit zugebracht, in allen Gasthöfen nach ihnen zu fragen.
„Sie haben sich also entschlossen zu bleiben?“ fügte er hinzu.
„Ja,“ gab sie zur Antwort, „aber ich hätte es lieber nicht tun sollen. Man darf sich nicht an unpraktische Vergnügungen gewöhnen, wenn man zu Hause tausend Pflichten hat ...“
„Ja, das kann ich mir denken ...“
„Nein, das können Sie nicht. Das kann nur eine Frau.“
Er meinte, die Männer hätten auch ihr Kreuz, und nach einer philosophischen Einleitung begann die eigentliche Unterhaltung. Emma beklagte die Armseligkeit der irdischen Freuden und die ewige Einsamkeit, in die das Menschenherz verbannt sei.
Um sich Ansehen zu geben, oder vielleicht auch in unwillkürlicher Nachahmung ihrer Melancholie, die ihn angesteckt hatte, behauptete der junge Mann, er hätte sich während seiner ganzen Studienzeit ungeheuerlich gelangweilt. Die Juristerei sei ihm gräßlich zuwider. Andere Berufsarten lockten ihn stark, aber seine Mutter quäle ihn in jedem ihrer Briefe. Mehr und mehr schilderten sie sich die Gründe ihres Leids, und je eifriger sie sprachen, um so stärker packte sie die wachsende Vertraulichkeit. Aber ganz offen waren sie alle beide nicht; sie suchten nach Worten, mit denen sie die nackte Wahrheit umschreiben könnten. Emma verheimlichte es, daß sie inzwischen einen andern geliebt, und er gestand nicht, daß er sie vergessen hatte. Vielleicht dachte er auch wirklich nicht mehr an die Soupers nach den Maskenbällen, und sie erinnerte sich nicht ihrer Morgengänge, wie sie durch die Wiesen nach dem Rittergute zu dem Geliebten gegangen war. Der Straßenlärm hallte nur schwach zu ihnen herauf, und die Enge des Zimmers schien ihr Alleinsein noch traulicher zu machen. Emma trug ein Morgenkleid aus leichtem Stoff; sie lehnte ihren Kopf gegen den Rücken des alten Lehnstuhls, in dem sie saß. Hinter ihr die gelbe Tapete umgab sie wie mit Goldgrund, und ihr bloßer Kopf mit dem schimmernden Scheitel, der ihre Ohren beinahe ganz verdeckte, wiederholte sich wie ein Gemälde im Spiegel.
„Ach, verzeihen Sie!“ sagte sie. „Es ist unrecht von mir, Sie mit meinen ewigen Klagen zu langweilen.“
„Keineswegs!“
„Wenn Sie wüßten,“ fuhr sie fort und schlug ihre schönen Augen, aus denen Tränen rollten, zur Decke empor, „was ich mir alles erträumt habe!“
„Und ich erst! Ach, ich habe so sehr gelitten! Oft bin ich ausgegangen, still für mich hin, und hab mich die Kais entlang geschleppt, nur um mich im Getriebe der Menge zu zerstreuen und die trüben Gedanken loszubekommen, die mich in einem fort verfolgten. In einem Schaufenster eines Kunsthändlers auf dem Boulevard habe ich einmal einen italienischen Kupferstich gesehen, der eine Muse darstellt. Sie trägt eine Tunika, einen Vergißmeinnichtkranz im offnen Haar und blickt zum Mond empor. Irgend etwas trieb mich immer wieder dorthin. Oft hab ich stundenlang davor gestanden ...“ Und mit zitternder Stimme fügte er hinzu: „Sie sah Ihnen ein wenig ähnlich.“
Frau Bovary wandte sich ab, damit er das Lächeln um ihre Lippen nicht bemerke, das sie nicht unterdrücken konnte.
„Und wie oft“, fuhr er fort, „habe ich an Sie Briefe geschrieben und hinterher wieder zerrissen.“
Sie antwortete nicht.
„Manchmal bildete ich mir ein, irgendein Zufall müsse Sie mir wieder in den Weg führen. Oft war es mir, als ob ich Sie an der nächsten Straßenecke treffen sollte. Ich bin hinter Droschken hergelaufen, aus denen ein Schal oder ein Schleier flatterte, wie Sie welche zu tragen pflegen ...“
Sie schien sich vorgenommen zu haben, ihn ohne Unterbrechung reden zu lassen. Sie hatte die Arme gekreuzt und betrachtete gesenkten Hauptes die Rosetten ihrer Hausschuhe, auf deren Atlas die kleinen Bewegungen sichtbar wurden, die sie ab und zu mit den Zehen machte.
Endlich sagte sie mit einem Seufzer:
„Ist es nicht das Allertraurigste, ein unnützes Leben so wie ich führen zu müssen? Wenn unsere Schmerzen wenigstens jemandem nützlich wären, dann könnte man sich doch in dem Bewußtsein trösten, sich für etwas zu opfern.“
Er pries die Tugend, die Pflicht und das stumme Sichaufopfern. Er selbst verspüre eine unglaubliche Sehnsucht, ganz in etwas aufzugehen, die er nicht befriedigen könne.
„Ich möchte am liebsten Krankenschwester sein“, behauptete sie.
„Ach ja!“ erwiderte er. „Aber für uns Männer gibt es keinen solchen barmherzigen Beruf. Ich wüßte keine Beschäftigung ... es sei denn vielleicht die des Arztes ...“
Emma unterbrach ihn mit einem leichten Achselzucken und begann von ihrer Krankheit zu sprechen, an der sie beinah gestorben wäre. Wie schade! meinte sie, dann brauche sie jetzt nicht mehr zu leiden. Sofort schwärmte Leo für die „Ruhe im Grabe“. Ja, er hätte sogar eines Abends sein Testament niedergeschrieben und darin bestimmt, daß man ihm in den Sarg die schöne Decke mit der Seidenstickerei legen solle, die er von ihr geschenkt bekommen hatte. Nach dem, wie alles hätte sein können, also nach einem imaginären Zustand, änderten sie jetzt in der Erzählung ihre Vergangenheit. Ist doch die Sprache immer ein Walzwerk, das die Gefühle breitdrückt.
Bei dem Märchen von der Reisedecke fragte sie:
„Warum denn?“
„Warum?“ Er zögerte. „Weil ich Sie so zärtlich geliebt habe!“
Froh, die größte Schwierigkeit überwunden zu haben, beobachtete Leo Emmas Gesicht von der Seite. Es leuchtete wie der Himmel, wenn der Wind plötzlich eine Wolkenschicht, die darüber war, zerreißt. Die vielen traurigen Gedanken, die es verdunkelt hatten, waren aus ihren Augen wie weggeweht.
Er wartete. Endlich sagte sie:
„Ich hab es immer geahnt ...“
Nun begannen sie von den kleinen Begebnissen jener fernen Tage einander zu erzählen, von allem Freud und Leid, das sie soeben in ein einziges Wort zusammengefaßt hatten. Er erinnerte sich der Wiege aus Tannenholz, ihrer Kleider, der Möbel in ihrem Zimmer, ihres ganzen Hauses.
„Und unsere armen Kakteen, was machen die?“
„Sie sind letzten Winter alle erfroren!“
„Ach, wie oft hab ich an sie zurückgedacht. Das glauben Sie mir gar nicht! Wie oft hab ich sie vor mir gesehen, wie damals im Sommer, wenn die Morgensonne auf Ihre Jalousien schien ... und Sie mit bloßen Armen Ihre Blumen begossen ...“
„Armer Freund!“ sagte sie und reichte ihm ihre Hand.
Leo beeilte sich, seine Lippen darauf zu pressen. Dann seufzte er tief auf und sagte:
„Damals übten Sie einen geheimnisvollen Zauber auf mich aus. Ich war ganz in Ihrem Banne. Einmal zum Beispiel kam ich zu Ihnen ... aber Sie werden sich wohl nicht mehr daran erinnern?“
„Doch, fahren Sie nur fort!“
„Sie standen unten in der Hausflur, wo die Treppe aufhört, gerade im Begriff auszugehen. Sie hatten einen Hut mit kleinen blauen Blumen auf. Ohne daß Sie mich dazu aufgefordert hatten, begleitete ich Sie. Ich konnte nicht anders. Aber mir jeder Minute trat es mir klarer ins Bewußtsein, wie ungezogen das von mir war. Ängstlich und unsicher ging ich neben Ihnen her und brachte es doch nicht über mich, mich von Ihnen zu trennen. Wenn Sie in einen Laden traten, wartete ich draußen auf der Straße und sah Ihnen durch das Schaufenster zu, wie Sie die Handschuhe abstreiften und das Geld auf den Ladentisch legten. Zuletzt klingelten Sie bei Frau Tüvache; man öffnete Ihnen, und ich stand wie ein begossener Pudel vor der mächtigen Haustüre, die hinter Ihnen ins Schloß gefallen war.“
Frau Bovary hörte ihm zu, ganz verwundert. Wie lange war das schon her! Alle diese Dinge, die aus der Vergessenheit heraufstiegen, erweckten in ihr das Gefühl, eine alte Frau zu sein. Unendlich viele innere Erlebnisse lagen dazwischen. Ab und zu sagte sie mit leiser Stimme und halbgeschlossenen Lidern:
„Ja ... So war es ... So war es ... So war es!“
Von den verschiedenen Uhren der Stadt schlug es acht, von den Uhren der Schulen, Kirchen und verlassenen Paläste. Sie sprachen nicht mehr, aber sie sahen einander an und spürten dabei ein Brausen in ihren Köpfen, und jeder hatte das Gefühl, dieses Rauschen ströme aus den starren Augensternen des anderen. Ihre Hände hatten sich gefunden, und Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Träume, alles ward eins mir der zärtlichen Wonne des Augenblicks. Die Dämmerung dichtete sich an den Wänden, und halb im Dunkel verloren, schimmerten nur noch die grellen Farbenflecke von vier dahängenden Buntdrucken. Durch das oben offene Fenster erblickte man zwischen spitzen Dachgiebeln ein Stück des schwarzen Himmels.
Emma erhob sich, um die Kerzen in den beiden Leuchtern auf der Kommode anzuzünden. Dann setzte sie sich wieder.
„Was ich sagen wollte ...“, begann Leo von neuem.
„Was war es?“
Er suchte nach Worten, um die unterbrochene Unterhaltung wieder anzuknüpfen, da fragte sie ihn:
„Wie kommt es, daß mir noch niemand solche innere Erlebnisse anvertraut hat?“
Leo erwiderte, ideale Naturen fänden selten Wahlverwandte. Er habe sie vorn ersten Augenblicke an geliebt, und der Gedanke bringe ihn zur Verzweiflung, daß sie miteinander für immerdar verbunden worden wären, wenn ein guter Stern sie früher zusammengeführt hätte.
„Ich habe manchmal dasselbe gedacht“, sagte sie.
„Welch ein schöner Traum!“ murmelte Leo. Und während er mit der Hand über den blauen Saum der Schleife ihres weißen Gürtels hinstrich, fügte er hinzu: „Aber was hindert uns denn, von vorn anzufangen?“
„Nein, mein Freund“, erwiderte sie. „Dazu bin ich zu alt ... und Sie zu jung ... Vergessen Sie mich! Andre werden Sie lieben ... und Sie werden sie wieder lieben!“
„Nicht so, wie ich Sie liebe!“
„Sie sind ein Kind! Seien Sie vernünftig. Ich will es!“
Sie setzte ihm auseinander, daß Liebe zwischen ihnen ein Ding der Unmöglichkeit sei und daß sie sich nur wie Schwester und Bruder lieben könnten, wie ehemals.
Ob sie das wirklich im Ernst sagte, das wußte sie selbst nicht. Sie fühlte nur, wie sie der Verführung zu unterliegen drohte und daß sie dagegen ankämpfen müsse. Sie sah Leo zärtlich an und stieß sanft seine zitternden Hände zurück, die sie schüchtern zu liebkosen versuchten.
„Seien Sie mir nicht bös!“ sagte er und wich zurück.
Emma empfand eine unbestimmte Furcht vor seiner Zaghaftigkeit, die ihr viel gefährlicher war als die Kühnheit Rudolfs, wenn er mit ausgebreiteten Armen auf sie zugekommen war. Niemals war ihr ein Mann so schön erschienen. In seinem Wesen lag eine köstliche Keuschheit. Seine Augen mit den langen, feinen, ein wenig aufwärtsgebogenen Wimpern waren halb geschlossen. Die zarte Haut seiner Wangen war rot geworden, aus Verlangen nach ihr, wie sie glaubte, und sie vermochte dem Drange kaum zu widerstehen, sie mit ihren Lippen zu berühren. Da fiel ihr Blick auf die Wanduhr.
„Mein Gott, wie spät es schon ist!“ rief sie aus. „Wir haben uns verplaudert!“
Er verstand den Wink und suchte nach seinem Hut.
„Das Theater habe ich ganz vergessen“, fuhr Emma fort. „Und mein armer Mann hat mich doch deshalb nur hiergelassen. Herr und Frau Lormeaux aus der Großenbrückenstraße wollten mich begleiten ...“
Schade! Denn morgen müsse sie wieder zu Hause sein.
„So?“ fragte Leo.
„Gewiß!“
„Aber ich muß Sie noch einmal sehen. Ich hab Ihnen noch etwas zu sagen!“
„Was denn?“
„Etwas ... Wichtiges, Ernstes! Ach, Sie dürfen noch nicht heimfahren! Nein! Das ist unmöglich! Wenn Sie wüßten ... Hören Sie mich doch an ... Sie haben mich doch verstanden? Ahnen Sie denn nicht ...“
„Sie haben es doch ziemlich deutlich gesagt!“
„Ach, scherzen Sie nicht! Das ertrag ich nicht! Haben Sie Mitleid mit mir! Ich möchte Sie noch einmal sehen ... einmal ... ein einziges ...“
„Es sei!“ Sie hielt inne. Dann aber, als besänne sie sich anders, sagte sie: „Aber nicht hier!“
„Wo Sie wollen!“
Sie dachte bei sich nach, dann sagte sie kurz:
„Morgen um elf in der Kathedrale!“
„Ich werde dort sein“, rief er aus und griff hastig nach ihren Händen. Sie entzog sie ihm.
Und wie sie beide aufrecht dastanden, sie mit gesenktem Kopf vor ihm, da beugte er sich über sie und drückte einen langen Kuß auf ihren Nacken.
„Sie sind toll! Ach, Sie sind toll!“ rief sie und lachte mit einem eigentümlichen tiefen Klange leise auf, während er ihren Hals immer noch mehr mit Küssen bedeckte. Dann beugte er den Kopf über ihre Schulter, als wolle er in den Augen ihre Zustimmung suchen. Da traf ihn ein eisiger stolzer Blick.
Er trat drei Schritte zurück, der Türe zu. Auf der Schwelle blieb er stehen und stammelte mit zitternder Stimme:
„Auf Wiedersehn morgen!“
Sie nickte und verschwand, leise wie ein Vogel, im Nebenzimmer.
Am Abend schrieb sie Leo einen endlosen Brief, in dem sie die Verabredung zurücknahm. Es sei alles aus, und es wäre zum Wohle beider, wenn sie sich nicht wiedersähen. Aber als der Brief fertig war, fiel ihr ein, daß sie doch seine Adresse gar nicht wußte. Was sollte sie tun?
„Ich werde ihm den Brief selbst geben,“ sagte sie sich, „morgen, wenn er kommt.“
Am andern Morgen stand Leo schon früh in der offnen Balkontüre, reinigte sich eigenhändig seine Schuhe und sang leise vor sich hin. Er machte es sehr sorgfältig. Dann zog er ein weißes Beinkleid an, elegante Strümpfe, einen grünen Rock, und schüttete seinen ganzen Vorrat von Parfüm in sein Taschentuch. Er ging zum Coiffeur, zerstörte sich aber hinterher die Frisur ein wenig, weil sein Haar nicht unnatürlich aussehen sollte.
„Es ist noch zu zeitig“, sagte er, als er auf der Kuckucksuhr des Friseurs sah, daß es noch nicht neun Uhr war.
Er blätterte in einem alten Modejournal, dann verließ er den Laden, zündete sich eine Zigarre an, schlenderte durch drei Straßen, und als er dachte, es sei Zeit, ging er langsam zum Notre-Dame-Platze.
Es war ein prächtiger Sommermorgen. In den Schaufenstern der Juweliere glitzerten die Silberwaren, und das Licht, das schräg auf die Kathedrale fiel, flimmerte auf den Bruchflächen der grauen Quadersteine. Ein Schwarm Vögel flatterte im Blau des Himmels um die Kreuzblumen der Türme. Über den lärmigen Platz wehte Blumenduft aus den Anlagen her, wo Jasmin, Nelken, Narzissen und Tuberosen blühten, von saftigen Grasflächen umrahmt und von Beeren tragenden Büschen für die Vögel. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen, und zwischen Pyramiden von Melonen saßen Hökerinnen, barhäuptig unter ungeheuren Schirmen, und banden kleine Veilchensträuße.
Leo kaufte einen. Es war das erstemal, daß er Blumen für eine Frau kaufte; und das Herz schlug ihm höher, wie er den Duft der Veilchen einatmete, als ob diese Huldigung, die er Emma darbringen wollte, ihm selber gölte. Er fürchtete, beobachtet zu werden, und rasch trat er in die Kirche.
Auf der Schwelle der linken Türe des Hauptportals unter der ‚Tanzenden Salome‘ stand der Schweizer, den Federhut auf dem Kopf, den Degen an der Seite, den Stock in der Faust, würdevoller als ein Kardinal und goldstrotzend wie ein Hostienkelch. Er trat Leo in den Weg und fragte mit jenem süßlich-gütigen Lächeln, das Geistliche anzunehmen pflegen, wenn sie mit Kindern reden:
„Der Herr ist gewiß nicht von hier? Will der Herr die Sehenswürdigkeiten der Kathedrale besichtigen?“
„Nein!“
Leo machte zunächst einen Rundgang durch die beiden Seitenschiffe und kam zum Hauptportal zurück. Emma war noch nicht da. Er ging abermals bis zum Chor.
Teile des Maßwerks und der bunten Fenster spiegelten sich in den gefüllten Weihwasserbecken. Das durch die Glasmalerei einfallende Licht brach sich an den marmornen Kanten und breitete bunte Teppichstücke über die Fliesen. Durch die drei geöffneten Türen des Hauptportals flutete das Tageslicht in drei mächtigen Lichtströmen in die Innenräume. Dann und wann ging ein Sakristan hinten am Hochaltar vorüber und machte vor dem Heiligtum die übliche Kniebeugung der eiligen Frommen. Die kristallenen Kronleuchter hingen unbeweglich herab. Im Chor brannte eine silberne Lampe. Aus den Seitenkapellen, aus den in Dunkel gehüllten Teilen der Kirche vernahm man zuweilen Schluchzen oder das Klirren einer zugeschlagenen Gittertür, Geräusche, die in den hohen Gewölben widerhallten.
Leo ging gemessenen Schrittes hin. Niemals war ihm das Leben so schön erschienen. Nun mußte sie bald kommen, reizend, erregt und stolz auf die Blicke, die ihr folgten, in ihrem volantbesetzten Kleid, mit ihrem goldnen Lorgnon, ihren zierlichen Stiefeletten, in all der Eleganz, die er noch nie gekostet hatte, und all dem unbeschreiblich Verführerischen einer unterliegenden Tugend. Und um sie die Kirche, gleichsam ein ungeheures Boudoir. Die Pfeiler neigten sich, um die im Dunkel geflüsterte Beichte ihrer Liebe entgegenzunehmen. Die farbigen Fenster leuchteten, ihr schönes Gesicht zu verklären, und aus den Weihrauchgefäßen wirbelten die Dämpfe, damit sie wie ein Engel in einer Wolke von Wohlgerüchen erscheine.
Aber sie kam nicht. Er setzte sich in einen der hohen Stühle, und seine Blicke fielen auf ein blaues Fenster, auf das Fischer mit Körben gemalt waren. Er betrachtete das Bild aufmerksam, zählte die Schuppen der Fische und die Knopflöcher an den Wämsen, während seine Gedanken auf der Suche nach Emma in die Weite irrten ...
Der Schweizer ärgerte sich im stillen über den Menschen, der sich erlaubte, die Kathedrale allein zu bewundern. Er fand sein Benehmen unerhört. Man bestahl ihn gewissermaßen und beging geradezu eine Tempelschändung.
Da raschelte Seide über die Fliesen. Der Rand eines Hutes tauchte auf, eine schwarze Mantille. Sie war es. Leo eilte ihr entgegen.
Sie war blaß und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu.
„Lesen Sie das!“ sagte sie und hielt ihm ein Briefchen hin. „Nicht doch!“
Sie riß ihre Hand aus der seinen und eilte nach der Kapelle der Madonna, wo sie in einem Betstuhle zum Gebet niederkniete.
Leo war über diesen Anfall von Bigotterie zuerst empört, dann fand er einen eigentümlichen Reiz darin, sie während eines Stelldicheins in Gebete vertieft zu sehen wie eine andalusische Marquise, schließlich aber, als sie gar nicht aufhören wollte, langweilte er sich.
Emma betete, oder vielmehr sie zwang sich zum Beten in der Hoffnung, daß der Himmel sie mit einer plötzlichen Eingebung begnaden würde. Um diese Hilfe des Himmels herabzuschwören, starrte sie auf den Glanz des Tabernakels, atmete sie den Duft der weißen Blumen in den großen Vasen, lauschte sie auf die tiefe Stille der Kirche, die ihre innere Aufregung nur noch steigerte.
Sie erhob sich und wandte sich dem Ausgang zu. Da trat der Schweizer rasch auf sie zu:
„Gnädige Frau sind gewiß hier fremd? Wollen Sie sich die Sehenswürdigkeiten der Kirche ansehen?“
„Aber nein!“ rief der Adjunkt aus.
„Warum nicht?“ erwiderte sie. Ihre wankende Tugend klammerte sich an die Madonna, an die Bildsäulen, die Grabmäler, an jeden Vorwand.
Programmgemäß führte sie der Schweizer nach dem Hauptportal zurück und zeigte ihnen mit seinem Stock einen großen Kreis von schwarzen Steinchen ohne irgendwelche Beigabe noch Inschrift.
„Das hier“, sagte er salbungsvoll, „ist der Umfang der berühmten Glocke des Amboise. Sie wog vierzigtausend Pfund und hatte ihresgleichen nicht in Europa. Der Meister, der sie gegossen, ist vor Freude gestorben ...“
„Weiter!“ drängte Leo.
Der Biedermann setzte sich in Bewegung. Vor der Kapelle der Madonna blieb er stehen, machte eine Schulmeisterbewegung mit dem Arm und wies mit dem Stolze eines Landmannes, der seine Saaten zeigt, auf eine Grabplatte.
„Hier unter diesem sichren Stein ruht Peter von Brézé, Edler Herr von Varenne und Brissac, Großseneschall von Poitou und Verweser der Normandie, gefallen in der Schlacht bei Montlhéry am 16. Juli 1465.“
Leo biß sich in die Lippen und trat vor Ungeduld von einem Fuße auf den andern.
„Und hier rechts, dieser Ritter im Harnisch auf dem steigenden Rosse, ist sein Enkel Ludwig von Brézé, Edler Herr von Breval und Montchauvet, Graf von Maulevrier, Baron von Mauny, Kammerherr des Königs, Ordensritter und ebenfalls Verweser der Normandie, gestorben am 23. Juli 1531, an einem Sonntag, wie die Inschrift besagt. Und dieser Mann hier unten, der eben ins Grab steigen will, zeigt ihn ebenfalls. Eine unübertreffliche Darstellung der irdischen Vergänglichkeit!“
Frau Bovary nahm ihr Lorgnon. Leo stand unbeweglich dabei und sah sie an. Er wagte weder ein Wort zu sprechen noch eine Geste zu machen. So sehr entmutigte ihn das langweilige Geschwätz auf der einen und die Gleichgültigkeit auf der andern Seite.
Der unermüdliche Cicerone fuhr fort:
„Hier diese Frau, die weinend neben ihm kniet, ist seine Gemahlin Diana von Poitiers, Gräfin von Brézé, Herzogin von Valentinois, geboren 1499, gestorben Anno 1566. Und hier links die weibliche Gestalt mit dem Kind auf dem Arm ist die heilige Jungfrau. Jetzt bitte ich die Herrschaften hierher zu sehen. Hier sind die Grabmäler derer von Amboise! Sie waren beide Kardinäle und Erzbischöfe von Rouen. Dieser hier war Minister König Ludwigs des Zwölften. Die Kathedrale hat ihm sehr viel zu verdanken. In seinem Testament vermachte er den Armen dreißigtausend Taler in Gold.“
Ohne stehen zu bleiben und fortwährend redend, drängte er die beiden in eine Kapelle, die durch ein Geländer abgesperrt war. Er öffnete es und zeigte auf einen Stein in der Mauer, der einmal eine schlechte Statue gewesen sein konnte.
„Dieser Stein zierte dereinst“, sagte er mit einem tiefen Seufzer, „das Grab von Richard Löwenherz, König von England und Herzog von der Normandie. Die Kalvinisten haben ihn so zugerichtet, meine Herrschaften. Sie haben ihn aus Bosheit hier eingesetzt. Hier sehen Sie auch die Tür, durch die sich Seine Eminenz in die Wohnung begibt. Jetzt kommen wir zu den berühmten Kirchenfenstern von Lagargouille!“
Da drückte ihm Leo hastig ein großes Silberstück in die Hand und nahm Emmas Arm. Der Schweizer war ganz verblüfft über die Freigebigkeit des Fremden, der noch lange nicht alle Sehenswürdigkeiten gesehen hatte. Er rief ihm nach:
„Meine Herrschaften, der Turm, der Turm!“
„Danke!“ erwiderte Leo.
„Er ist wirklich sehenswert, meine Herrschaften! Er mißt vierhundertvierzig Fuß, nur neun weniger als die größte ägyptische Pyramide, und ist vollständig aus Eisen ...“
Leo eilte weiter. Seine Liebe war seit zwei Stunden stumm wie die Steine der Kathedrale. Er hatte keine Lust, sie nun auch noch durch den grotesken käfigartigen Schornstein zwängen zu lassen, den ein überspannter Eisengießer keck auf die Kirche gesetzt hatte. Das wäre ihr Tod gewesen.
„Wohin gehen wir nun?“ fragte Emma.
Ohne zu antworten, lief er rasch weiter, und Frau Bovary tauchte schon ihren Finger in das Weihwasserbecken am Ausgang, als sie plötzlich hinter sich ein Schnaufen und das regelmäßige Aufklopfen eines Stockes hörten. Leo wandte sich um.
„Meine Herrschaften!“
„Was gibts?“
Es war wieder der Schweizer, der ein paar Dutzend dicke ungebundene Bücher, mit seinem linken Arme gegen den Bauch gedrückt, trug. Es war die Literatur über die Kathedrale.
„Troddel!“ murmelte Leo und stürzte aus der Kirche.
Ein Junge spielte auf dem Vorplatz.
„Hol uns eine Droschke!“
Der Knabe rannte über den Platz, während sie ein paar Minuten allein dastanden. Sie sahen einander an und waren ein wenig verlegen.
„Leo ... wirklich ... ich weiß nicht ... ob ich darf!“ Es klang wie Koketterie. In ernstem Tone setzte sie hinzu: „Es ist sehr unschicklich, wissen Sie das?“
„Wieso?“ erwiderte der Adjunkt. „In Paris macht mans so!“
Dieses eine Wort bestimmte sie wie ein unumstößliches Argument. Aber der Wagen kam nicht. Leo fürchtete schon, sie könne wieder in die Kirche gehen. Endlich erschien die Droschke.
„Fahren Sie wenigstens noch ans Nordportal!“ rief ihnen der Schweizer nach. „Und sehen Sie sich ‚Die Auferstehung‘, das ‚Jüngste Gericht‘, den ‚König David‘ und ‚Die Verdammten in der Hölle‘ an!“
„Wohin wollen die Herrschaften?“ fragte der Kutscher.
„Fahren Sie irgendwohin!“ befahl Leo und schob Emma in den Wagen.
Das schwerfällige Gefährt setzte sich in Bewegung.
Der Kutscher fuhr durch die Großebrückenstraße, über den Platz der Künste, den Kai Napoleon hinunter, über die Neue Brücke und machte vor dem Denkmal Corneilles Halt.
„Weiter fahren!“ rief eine Stimme aus dem Inneren.
Der Wagen fuhr weiter, rasselte den Abhang zum Lafayette-Platz hinunter und bog dann schneller werdend nach dem Bahnhof ab.
„Nein, geradeaus!“ rief dieselbe Stimme.
Der Wagen machte kehrt und fuhr nun, auf dem Ring angelangt, in gemächlichem Trabe zwischen den alten Ulmen hin. Der Kutscher trocknete sich den Schweiß von der Stirn, nahm seinen Lederhut zwischen die Beine und lenkte sein Gefährt durch eine Seitenallee dem Seine-Ufer zu, bis an die Wiesen. Dann fuhr er den Schifferweg hin, am Strom entlang, über schlechtes Pflaster, nach Oyssel zu, über die Inseln hinaus.
Auf einmal fuhr er wieder flotter, durch Quatremares, Sotteville, die große Chaussee hin, durch die Elbeuferstraße und machte zum drittenmal Halt vor dem Botanischen Garten.
„So fahren Sie doch weiter!“ rief die Stimme, diesmal wütend. Alsobald nahm der Wagen seine Fahrt wieder auf, fuhr durch Sankt Sever über das Bleicher-Ufer und Mühlstein-Ufer, wiederum über die Brücke, über den Exerzierplatz, hinten um den Spitalgarten herum, wo Greise in schwarzen Kitteln auf der von Schlingpflanzen überwachsenen Terrasse in der Sonne spazieren gingen. Dann führte die Fahrt zum Boulevard Bouvreuil hinauf, nach dem Causer Boulevard und dann den ganzen Riboudet-Berg hinan bis zur Deviller Höhe.
Wiederum ward kehrt gemacht, und nun begann eine Kreuz- und Querfahrt ohne Ziel und Plan durch die Straßen und Gassen, über die Plätze und Märkte, an den Kirchen und öffentlichen Gebäuden und am Hauptfriedhof vorüber.
Hin und wieder warf der Kutscher einen verzweifelten Blick vom Bock herab nach den Kneipen. Er begriff nicht, welche Bewegungswut in seinen Fahrgästen steckte, so daß sie nirgends Halt machen wollten. Er versuchte es ein paarmal, aber jedesmal erhob sich hinter ihm ein zorniger Ruf. Von neuem trieb er seine warmgewordenen Pferde an und fuhr wieder weiter, unbekümmert, ob er hier und dort anrannte, ganz außer Fassung und dem Weinen nahe vor Durst, Erschlaffung und Traurigkeit.
Am Hafen, zwischen den Karren und Fässern, in den Strassen und an den Ecken machten die Bürger große Augen ob dieses in der Provinz ungewohnten Anblicks: ein Wagen mir herabgelassenen Vorhängen, der immer wieder auftauchte, bald da, bald dort, immer verschlossen wie ein Grab.
Einmal nur, im Freien, um die Mittagsstunde, als die Sonne am heißesten auf die alten versilberten Laternen brannte, langte eine bloße Hand unter den gelben Fenstervorhang heraus und streute eine Menge Papierschnitzel hinaus, die im Winde flatterten wie weiße Schmetterlinge und auf ein Kleefeld niederfielen.
Gegen sechs Uhr abends hielt die Droschke in einem Gäßchen der Vorstadt Beauvoisine. Eine dichtverschleierte Dame stieg heraus und ging, ohne sich umzusehen, weiter.
Wieder im Gasthofe, war Frau Bovary sehr erstaunt, die Post nicht mehr vorzufinden. Hivert hatte dreiundfünfzig Minuten auf Emma gewartet, schließlich aber war er abgefahren.
Es war zwar nicht unbedingt erforderlich, daß sie wieder zu Hause sein mußte. Aber sie hatte versprochen, an diesem Abend zurückzukehren. Karl erwartete sie also, und so fühlte sie jene feige Untertänigkeit im Herzen, die für viele Frauen die Strafe und zugleich der Preis für den Ehebruch ist.
Sie packte schnell ihren Koffer, bezahlte die Rechnung und nahm einen der zweirädrigen Wagen, die im Hofe bereitstanden. Unterwegs trieb sie den Kutscher zu größter Eile an, fragte aller Augenblicke nach der Zeit und nach der zurückgelegten Kilometerzahl und holte die Post endlich bei den ersten Häusern von Quincampoix ein.
Kaum saß sie drin, so schloß sie auch schon die Augen. Als sie erwachte, waren sie schon über den Berg, und von weitem sah sie Felicie, die vor dem Hause des Schmiedes auf sie wartete. Hivert hielt seine Pferde an, und das Mädchen, das sich bis zum Fenster hinaufreckte, flüsterte ihr geheimnisvoll zu:
„Gnädige Frau sollen gleich mal zu Herrn Apotheker kommen! Es handelt sich um etwas sehr Dringliches!“
Das Dorf war still wie immer. Vor den Häusern lagen kleine dampfende, rosafarbige Haufen. Es war die Zeit des Früchteeinmachens, und jedermann in Yonville bereitete sich am selben Tag seinen Vorrat. Vor der Apotheke bewunderte man einen besonders großen Haufen dieser ausgekochten Überreste. Man sah, daß hier mit für die Allgemeinheit gesorgt wurde.
Emma trat in die Apotheke. Der große Lehnstuhl war umgeworfen, und sogar der „Leuchtturm von Rouen“ lag am Boden zwischen zwei Mörserkeulen. Sie stieß die Tür zur Flur auf und erblickte in der Küche — inmitten von großen braunen Einmachetöpfen voll abgebeerter Johannisbeeren und Schüsseln mit geriebenem und zerstückeltem Zucker, zwischen Wagen auf dem Tisch und Kesseln über dem Feuer — die ganze Familie Homais, groß und klein, alle in Schürzen, die bis zum Kinn gingen, Gabeln in den Händen. Der Apotheker fuchtelte vor Justin herum, der gesenkten Kopfes dastand, und schrie ihn eben an:
„Wer hat dir geheißen, was aus dem Kapernaum zu holen?“
„Was ist denn los? Was gibts?“ fragte die Eintretende.
„Was los ist?“ antwortete der Apotheker. „Ich mache hier Johannisbeeren ein. Sie fangen an zu sieden, aber weil der Saft zu dick ist, droht er mir überzukochen. Ich schicke nach einem andern Kessel. Da geht dieser Mensch aus Bequemlichkeit, aus Faulheit hin und nimmt aus meinem Laboratorium den dort an einem Nagel aufgehängten Schlüssel zu meinem Kapernaum!“
Kapernaum nannte er nämlich eine Bodenkammer, in der er allerlei Apparate und Material zu seinen Mixturen aufbewahrte. Oft hantierte er da drinnen stundenlang ganz allein, mischte, klebte und packte. Dieses kleine Gemach betrachtete er nicht als einen gewöhnlichen Vorratsraum, sondern als ein wahres Heiligtum, aus dem, von seiner Hand hergestellt, alle die verschiedenen Sorten von Pillen, Pasten, Säften, Salben und Arzneien hervorgingen, die ihn in der ganzen Gegend berühmt machten. Niemand durfte das Kapernaum betreten. Das ging soweit, daß er es selbst ausfegte. Die Apotheke stand für jedermann offen. Sie war die Stätte, wo er würdevoll amtierte. Aber das Kapernaum war der Zufluchtsort, wo sich Homais selbst gehörte, wo er sich seinen Liebhabereien und Experimenten hingab. Justins Leichtsinn dünkte ihn deshalb eine unerhörte Respektlosigkeit, und röter als seine Johannisbeeren, wetterte er:
„Natürlich! Ausgerechnet in mein Kapernaum! Sich einfach den Schlüssel nehmen zu meinen Chemikalien! Und gar meinen Reservekessel, den ich selber vielleicht niemals in Gebrauch genommen hätte! Meinen Deckelkessel! In unsrer peniblen Kunst hat auch der geringste Umstand die größte Wichtigkeit! Zum Teufel, daran muß man immer denken! Man kann pharmazeutische Apparate nicht zu Küchenzwecken verwenden! Das wäre gradeso, als wenn man sich mit einer Sense rasieren wollte oder als wenn ...“
„Aber so beruhige dich doch!“ mahnte Frau Homais.
Und Athalia zupfte ihn am Rock.
„Papachen, Papachen!“
„Laßt mich!“ erwiderte der Apotheker. „Zum Donnerwetter, laßt mich! Dann wollen wir doch lieber gleich einen Kramladen eröffnen! Meinetwegen! Immer zu! Zerschlag und zerbrich alles! Laß die Blutegel entwischen! Verbrenn den ganzen Krempel! Mach saure Gurken in den Arzneibüchsen ein! Zerreiß die Bandagen!“
„Sie hatten mir doch ...“, begann Emma.
„Einen Augenblick! — Weißt du, mein Junge, was dir hätte passieren können? Hast du links in der Ecke auf dem dritten Wandbrett nichts stehn sehn? Sprich! Antworte! Gib mal einen Ton von dir!“
„Ich ... weiß ... nicht“, stammelte der Lehrling.
„Ah, du weißt nicht! Freilich! Aber ich weiß es! Du hast da eine Büchse gesehn, aus blauem Glas, mit einem gelben Deckel, gefüllt mit weißem Pulver, und auf dem Schild steht, von mir eigenhändig draufgeschrieben: ‚Gift! Gift! Gift!‘ Und weißt du, was da drin ist? Ar — se — nik! Und so was rührst du an? Nimmst einen Kessel, der daneben steht!“
„Daneben!“ rief Frau Homais erschrocken und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Arsenik! Du hättest uns alle miteinander vergiften können!“
Die Kinder fingen an zu schreien, als spürten sie bereits die schrecklichsten Schmerzen in den Eingeweiden.
„Oder du hättest einen Kranken vergiften können“, fuhr der Apotheker fort. „Wolltest du mich gar auf die Anklagebank bringen, vor das Schwurgericht? Wolltest du mich auf dem Schafott sehen? Weißt du denn nicht, daß ich mich bei meinen Arbeiten kolossal in acht nehmen muß, trotz meiner großen Routine darin? Oft wird mir selber angst, wenn ich an meine Verantwortung denke. Denn die Regierung sieht uns tüchtig auf die Finger, und die albernen Gesetze, denen wir unterstehen, schweben unsereinem faktisch wie ein Damoklesschwert fortwährend über dem Haupte!“
Emma machte gar keinen Versuch mehr, zu fragen, was man von ihr wolle, denn der Apotheker fuhr in atemlosen Sätzen fort:
„So vergiltst du also die Wohltaten, die dir zuteil geworden sind? So dankst du mir die geradezu väterliche Mühe und Sorgfalt, die ich an dich verschwendet habe! Wo wärst du denn ohne mich? Wie ginge dirs heute? Wer hat dich ernährt, erzogen, gekleidet? Wer ermöglicht es dir, daß du eines Tages mit Ehren in die Gesellschaft eintreten kannst? Aber um das zu erreichen, mußt du noch feste zugreifen, mußt, wie man sagt, Blut schwitzen! Fabricando sit faber, age, quod agis! “
Er war dermaßen aufgeregt, daß er Lateinisch sprach. Er hätte Chinesisch oder Grönländisch gesprochen, wenn er das gekonnt hätte. Denn er befand sich in einem Seelenzustand, in dem der Mensch sein geheimstes Ich ohne Selbstkritik enthüllt, wie das Meer, das sich im Sturm an seinem Gestade bis auf den Grund und Boden öffnet.
Er predigte immer weiter:
„Ich fange an, es furchtbar zu bereuen, daß ich dich in mein Haus genommen habe. Ich hätte besser getan, dich in dem Elend Und dem Schmutz stecken zu lassen, in dem du geboren bist! Du wirst niemals zu etwas Besserem zu gebrauchen sein als zum Rindviehhüten. Zur Wissenschaft hast du kein bißchen Talent! Du kannst kaum eine Etikette aufkleben. Und dabei lebst du bei mir wie der liebe Gott in Frankreich, wie ein Hahn im Korb, und läßt dirs über die Maßen wohl gehn!“
Emma wandte sich an Frau Homais:
„Man hat mich hierher gerufen ...“
„Ach, du lieber Gott!“ unterbrach die gute Frau sie mit trauriger Miene. „Wie soll ichs Ihnen nur beibringen? ... Es ist nämlich ein Unglück passiert ...“
Sie kam nicht zu Ende. Der Apotheker überschrie sie:
„Hier! Leer ihn wieder aus! Mache ihn wieder rein! Bring ihn wieder an Ort und Stelle! Und zwar fix!“
Er packte Justin beim Kragen und schüttelte ihn ab. Dabei entfiel Justins Tasche ein Buch.
Der Junge bückte sich, aber Homais war schneller als er, hob den Band auf und betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund.
„Liebe und Ehe“, las er vor. „Aha! Großartig! Großartig! Wirklich nett! Mit Abbildungen! ... Das ist denn doch ein bißchen starker Tobak!“
Frau Homais wollte nach dem Buche greifen.
„Nein, das ist nichts für dich!“ wehrte er sie ab.
Die Kinder wollten die Bilder sehn.
„Geht hinaus!“ befahl er gebieterisch.
Und sie gingen hinaus.
Eine Weile schritt er zunächst mit großen Schritten auf und ab, das Buch halb geöffnet in der Hand, mit rollenden Augen, ganz außer Atem, mit rotem Kopfe, als ob ihn der Schlag rühren sollte. Dann ging er auf den Lehrling los und stellte sich mit verschränkten Armen vor ihn hin:
„Bist du denn mit allen Lastern behaftet, du Unglückswurm? Nimm dich in acht, sag ich dir, du bist auf einer schiefen Ebene! Hast du denn nicht bedacht, daß dieses schändliche Buch meinen Kindern in die Hände fallen konnte, den Samen der Sünde in ihre Sinne streuen, die Unschuld Athaliens trüben und Napoleon verderben? Er ist kein Kind mehr! Kannst du wenigstens beschwören, daß die beiden nicht darin gelesen haben? Kannst du mir das schwören?“
„Aber so sagen Sie mir doch endlich,“ unterbrach ihn Emma, „was Sie mir mitzuteilen haben!“
„Ach so, Frau Bovary: Ihr Herr Schwiegervater ist gestorben!“
In der Tat war der alte Bovary vor zwei Tagen just nach Tisch an einem Schlaganfall verschieden. Aus übertriebener Rücksichtnahme hatte Karl den Apotheker gebeten, seiner Frau die schreckliche Nachricht schonend mitzuteilen.
Homais hatte sich die Worte, die er sagen wollte, genauestens überlegt und ausgeklügelt — ein Meisterwerk voll Vorsicht, Zartgefühl und feiner Wendungen. Aber der Zorn hatte über seine Sprachkunst triumphiert.
Emma verzichtete auf Einzelheiten und verließ die Apotheke, da Homais seine Strafpredigt wieder aufgenommen hatte, während er sich mit seinem Käppchen Luft zufächelte. Allmählich beruhigte er sich jedoch und ging in einen väterlicheren Ton über:
„Ich will nicht sagen, daß ich dieses Buch gänzlich ablehne. Der Verfasser ist Arzt, und es stehen wissenschaftliche Tatsachen darin, mit denen sich ein Mann vertraut machen darf, ja die er vielleicht kennen muß. Aber das hat ja Zeit! Warte doch wenigstens, bis du ein wirklicher Mann bist!“
Als Emma an ihrem Hause klingelte, öffnete Karl, der sie erwartet hatte, und ging ihr mit offenen Armen entgegen.
„Meine liebe Emma!“
Er neigte sich zärtlich zu ihr hernieder, um sie zu küssen. Aber bei der Berührung ihrer Lippen mußte sie an den andern denken. Da fuhr sie zusammenschaudernd mit der Hand über das Gesicht:
„Ja ... ich weiß ... ich weiß ...“
Er zeigte ihr den Brief, worin ihm seine Mutter das Ereignis ohne jedwede sentimentale Heuchelei berichtete. Sie bedauerte nur, daß ihr Mann ohne den Segen der Kirche gestorben war. Der Tod hatte ihn in Doudeville auf der Straße, an der Schwelle eines Restaurants, getroffen, wo er mit ein paar Offizieren a.D. an einem Liebesmahl teilgenommen hatte.
Emma reichte Karl den Brief zurück. Bei Tisch tat sie aus konventionellem Taktgefühl so, als hätte sie keinen Appetit. Als er ihr aber zuredete, langte sie tapfer zu, während Karl unbeweglich und mit betrübter Miene ihr gegenüber dasaß.
Hin und wieder hob er den Kopf und sah seine Frau mit einem traurigen Blick an. Einmal seufzte er:
„Ich wollt, ich hätte ihn noch einmal gesehen!“
Sie blieb stumm. Weil sie sich aber sagte, daß sie etwas entgegnen müsse, fragte sie:
„Wie alt war dein Vater eigentlich?“
„Achtundfünfzig!“
„So!“
Das war alles.
Eine Viertelstunde später fing er wieder an:
„Meine arme Mutter! Was soll nun aus ihr werden?“
Emma machte eine Gebärde, daß sie es nicht wisse.
Da sie so schweigsam war, glaubte Karl, daß sie sehr betrübt sei, und er zwang sich infolgedessen gleichfalls zum Schweigen, um ihren rührenden Schmerz nicht noch zu vermehren. Sich zusammenraffend, fragte er sie:
„Hast du dich gestern gut amüsiert?“
„Ja!“
Als der Tisch abgedeckt war, blieb Bovary sitzen und Emma gleichfalls. Je länger sie ihn in dieser monotonen Stimmung ansah, um so mehr schwand das Mitleid aus ihrem Herzen bis auf den letzten Rest. Karl kam ihr erbärmlich, jammervoll, wie eine Null vor. Er war wirklich in jeder Beziehung „ein trauriger Kerl“. Wie konnte sie ihn nur loswerden? Welch endloser Abend! Etwas Betäubendes ergriff sie, wie Opium.
In der Hausflur ward ein schlürfendes Geräusch vernehmbar. Es war Hippolyt, der Emmas Gepäck brachte. Es machte ihm viel Mühe, es abzulegen.
„Karl denkt schon gar nicht mehr daran“, dachte Emma, als sie den armen Teufel sah, dem das rote Haar in die schweißtriefende Stirn herabhing.
Bovary zog einen Groschen aus der Westentasche. Er hatte kein Gefühl für die Demütigung, die für ihn in der bloßen Anwesenheit dieses Krüppels lag. Lief er nicht wie ein leibhaftiger Vorwurf der heillosen Unfähigkeit des Arztes herum?
„Ein hübscher Strauß!“ sagte er, als er auf dem Kamin Leos Veilchen bemerkte.
„Ja!“ erwiderte sie gleichgültig. „Ich habe ihn einer armen Frau abgekauft.“
Karl nahm die Veilchen und hielt sie wie zur Kühlung vor seine von Tränen geröteten Augen und sog ihren Duft ein. Sie riß sie ihm aus der Hand und stellte sie in ein Wasserglas.
Am andern Morgen traf die alte Frau Bovary ein. Sie und ihr Sohn weinten lange. Emma verschwand unter dem Vorwand, sie habe in der Wirtschaft zu tun.
Am Tage nachher beschäftigten sich die beiden Frauen mit den Trauerkleidern. Sie setzten sich mit ihrem Nähzeug in die Laube hinten im Garten am Bachrande.
Karl dachte an seinen Vater und wunderte sich über seine große Liebe zu diesem Mann, die ihm bis dahin gar nicht weiter zum Bewußtsein gekommen war. Auch Frau Bovary grübelte über den Toten nach. Jetzt fand sie die schlimmen Tage von einst begehrenswert. Ihr Joch war ihr so zur alten Gewohnheit geworden, daß sie nun Sehnsucht darnach empfand. Ab und zu rann eine dicke Träne über ihre Nase und blieb einen Augenblick daran hängen. Dabei nähte sie ununterbrochen weiter.
Emma dachte, daß kaum achtundvierzig Stunden vorüber waren, seit sie und der Geliebte zusammengewesen waren, weltentrückt, ganz trunken und nimmer satt, einander zu sehen. Sie versuchte sich die kleinsten und allerkleinsten Züge dieses entschwundenen Tages ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber die Anwesenheit ihres Mannes und ihrer Schwiegermutter störte sie. Sie hätte nichts hören und nichts sehn mögen, um nicht in ihren Liebesträumereien gestört zu werden, die gegen ihren Willen unter den äußeren Eindrücken zu verwehen drohten.
Sie trennte das Futter eines Kleides ab, das sie um sich ausgebreitet hatte. Die alte Frau Bovary handhabte Schere und Nadel, ohne die Augen zu erheben. Karl stand, beide Hände in den Taschen, in seinen Tuchpantoffeln und seinem alten braunen Überrock, der ihm als Hausanzug diente, bei ihnen und sprach auch kein Wort. Berta, die ein weißes Schürzchen umhatte, spielte mit ihrer Schaufel im Sande.
Plötzlich sahen sie Lheureux, den Modewarenhändler, kommen.
Er bot in Anbetracht des „betrüblichen Ereignisses“ seine Dienste an. Emma erwiderte, sie glaube darauf verzichten zu können, aber der Händler wich nicht so leicht.
„Ich bitte tausendmal um Verzeihung,“ sagte er, „aber ich muß Herrn Doktor um eine private Unterredung bitten.“ Und flüsternd fügte er hinzu: „Es ist wegen dieser Sache ... Sie wissen schon ...“
Karl wurde rot bis über die Ohren.
„Gewiß ... freilich ... natürlich!“
In seiner Verwirrung wandte er sich an seine Frau:
„Könntest du das nicht mal ... meine Liebe ...?“
Sie verstand ihn offenbar und erhob sich. Karl sagte zu seiner Mutter:
„Es ist nichts weiter! Wahrscheinlich irgend eine Kleinigkeit, die den Haushalt betrifft.“
Er fürchtete ihre Vorwürfe und wollte nicht, daß sie die Vorgeschichte des Wechsels erführe.
Sobald sie allein waren, beglückwünschte Lheureux Emma in ziemlich eindeutigen Worten zur Erbschaft und schwatzte dann von gleichgültigen Dingen, vom Spalierobst, von der Ernte und von seiner Gesundheit, die immer „so lala“ sei. Er müßte sich wirklich höllisch anstrengen und, was die Leute auch sagten, ihm fehle doch die Butter zum Brote.
Emma ließ ihn reden. Seit zwei Tagen langweilte sie sich entsetzlich.
„Und sind Sie völlig wiederhergestellt?“ fuhr er fort. „Ich sag Ihnen, ich habe Ihren armen Mann in einer schönen Verfassung gesehn! Ja, ja, er ist ein guter Mensch, wenn wir uns auch ordentlich einander in die Haare gefahren sind.“
Sie fragte, was das gewesen sei. Karl hatte ihr nämlich die Streitigkeit wegen der gelieferten Waren verschwiegen.
„Aber Sie wissen doch! Es handelte sich um Ihre Sachen zur Reise ...“
Er hatte den Hut tief in die Stirn hereingezogen, die Hände auf den Rücken genommen und sah ihr, lächelnd und leise redend, mit einem unerträglichen Blick ins Gesicht. Vermutete er etwas? Emma verlor sich in allerlei Befürchtungen. Inzwischen fuhr er fort:
„Aber wir haben uns schließlich geeinigt, und ich bin gekommen, ihm ein Arrangement vorzuschlagen ...“
Es handelte sich darum, den Wechsel, den Bovary ausgestellt hatte, zu erneuern. Übrigens könne der Herr Doktor die Sache ganz nach seinem Belieben regeln; er brauche sich gar nicht zu ängstigen, noch dazu jetzt, wo er gewiß mit Sorgen überhäuft sei.
„Das beste wäre ja, wenn die Schuld jemand anders übernähme. Sie zum Beispiel. Durch eine Generalvollmacht. Das wäre das Bequemste. Wir könnten dann unsere kleinen Geschäfte miteinander abmachen.“
Sie begriff nicht recht, aber er sagte nichts weiter. Dann kam er auf sein Geschäft zu sprechen und erklärte ihr, sie müsse unbedingt etwas nehmen. Er wolle ihr zwölf Meter Barege schicken, zu einem neuen schwarzen Kleide.
„Das, was Sie da haben, ist gut fürs Haus. Sie brauchen noch noch ein andres für die Besuche. Gleich beim Eintreten habe ich das bemerkt. Ja, ja, ich habe Augen wie ein Amerikaner!“
Er schickte den Stoff nicht, sondern brachte ihn selbst. Dann kam er nochmals, um Maß zu nehmen, und dann unter allen möglichen anderen Vorwänden wieder und wieder, wobei er sich so gefällig und dienstbeflissen wie nur möglich stellte. Er stand „gehorsamst zur Verfügung“, wie Homais zu sagen pflegte. Dabei flüsterte er Emma immer wieder irgendwelche Ratschläge wegen der Generalvollmacht zu. Den Wechsel erwähnte er nicht mehr, und Emma dachte auch nicht daran. Karl hatte wohl kurz nach ihrer Genesung mit ihr darüber gesprochen, aber es war ihr seitdem so viel durch den Kopf gegangen, daß sie das vergessen hatte. Sie hütete sich überhaupt, Geldinteressen an den Tag zu legen. Frau Bovary wunderte sich darüber, aber sie schrieb das der Frömmigkeit zu, die zur Zeit der Krankheit in ihr erstanden sei.
Sobald die alte Frau jedoch abgereist war, setzte Emma ihren Gatten durch ihren Geschäftssinn in Erstaunen. Man müsse Erkundigungen einholen, die Hypotheken prüfen und feststellen, ob nicht vielleicht ein Nachlaßkonkurs nötig sei. Sie gebrauchte auf gut Glück allerhand juristische Ausdrücke, sprach von Ordnung des Nachlasses, Nachlaßverbindlichkeiten, Haftung usw., und übertrieb immerfort die Schwierigkeiten der Erbschaftsregelung. Eines Tages zeigte sie ihm sogar den Entwurf einer Generalvollmacht, die ihr das Recht übertrug, das Vermögen zu verwalten, Darlehen aufzunehmen, Wechsel auszustellen und zu akzeptieren, jederlei Zahlung zu leisten und zu empfangen usw.
Lheureux war ihr Lehrmeister.
Karl fragte sie naiv, wer ihr die Urkunde ausgestellt habe.
„Notar Guillaumin.“ Und mit der größten Kaltblütigkeit fügte sie hinzu: „Ich habe nur nicht das rechte Vertrauen zur Sache. Die Notare stehn in so schlechtem Ruf! Vielleicht müßte man noch einen Rechtsanwalt um Rat fragen. Wir kennen aber nur ... nein ... keinen.“
„Höchstens Leo“, meinte Karl nachdenklich. Aber es sei schwierig, sich brieflich zu verständigen.
Da erbot sich Emma, die Reise zu machen. Er dankte. Sie bot es nochmals an. Keins wollte dem andern an Zuvorkommenheit nachstehen. Schließlich rief sie mit gut gespieltem Eigensinn aus:
„Ich will aber! Ich bitte dich, laß michs machen!“
„Wie gut du bist!“ sagte er und küßte sie auf die Stirn.
Am andern Morgen stieg sie in die Post, um nach Rouen zu fahren und Leo zu konsultieren. Sie blieb drei Tage fort.
Es waren drei erlebnisvolle, köstliche, wunderbare wahre Flitterwochentage.
Die beiden wohnten im Boulogner Hof am Hafen. Dort hausten sie bei verschlossenen Türen und herabgelassenen Fensterläden, unter überallhin gestreuten Blumen und bei Fruchteis, das man ihnen alle Morgen in der Frühe brachte.
Abends mieteten sie einen überdeckten Kahn und aßen auf einer der Inseln.
Es war die Stunde, da man von den Werften her die Hämmer gegen die Schiffswände schlagen hörte. Der Dampf von siedendem Teer stieg zwischen den Bäumen empor, und auf dem Strome sah man breite ölige, ungleich große Flecken, die im Purpurlichte der Sonne wie schwimmende Platten aus Florenzer Bronze glänzten.
Sie fuhren zwischen den vielen vor Anker liegenden Flußkähnen hindurch, und bisweilen streifte ihre Barke die langen Ankertaue. Das Geräusch der Stadt, das Rasseln der Wagen, das Stimmengewirr, das Bellen der Hunde auf den Schiffen wurde ferner und ferner. Emma knüpfte ihre Hutbänder auf.
Sie landeten an „ihrer Insel“. Sie setzten sich in eine Herberge, vor deren Tür schwarze Netze hingen, und aßen gebackene Fische, Omeletten und Kirschen. Dann lagerten sie sich ins Gras, küßten einander im Schatten der hohen Pappeln und hätten am liebsten wie zwei Robinsons immer auf diesem Erdenwinkel leben mögen, der ihnen in ihrer Glückseligkeit als das schönste Fleckchen der ganzen Welt erschien. Sie sahn die Bäume, den blauen Himmel und das Gras nicht zum ersten Male, sie lauschten nicht zum erstenmal dem Plätschern der Wellen und dem Wind, der durch die Blätter rauschte, aber es war ihnen, als hätten sie das alles niemals so genossen, als wäre die Natur vorher gar nicht dagewesen oder als wäre sie erst schön, seitdem ihr Begehren gestillt war.
Wenn es dunkel ward, kehrten sie heim. Der Kahn fuhr am Gestade von Inseln entlang. Die beiden saßen im Dunkeln auf der Bank unter dem hölzernen Verdeck und sprachen kein Wort. Die vierkantigen Ruder knirschten durch die Stille in ihren eisernen Gabeln, taktmäßig wie ein Uhrwerk. Hinter ihnen rauschte das Wasser leise um das herrenlose Steuer.
Einmal erschien der Mond. Da schwärmten sie natürlich vom stillen Nebelglanz über Busch und Tal und seinen Melodien. Und Emma begann sogar zu singen:
„Weißt du, eines Abends
Fuhren wir dahin ...“
Ihre metallische, aber schwache Stimme verhallte über der Flut, vom Wind entführt. Wie sanfter Flügelschlag streifte der Sang Leos Ohr.
Emma saß an die Rückwand der kleinen Kabine gelehnt. Durch eine offene Luke im Dache fiel der Mondenschein herein und in ihr Gesicht. Ihr schwarzes Kleid, dessen faltiger Rock sich wie ein Fächer ausbreitete, ließ sie schlanker und größer erscheinen. Die Hände gefaltet, hob sie den Kopf und schaute zum Himmel empor. Von Zeit zu Zeit verschwand sie im Schatten der Weiden, an denen der Kahn vorüberglitt, und dann tauchte sie plötzlich wieder auf, im Lichte des Mondes, wie eine Geistererscheinung.
Leo, der sich ihr zu Füßen am Boden des Fahrzeuges gelagert hatte, hob ein Band aus roter Seide auf. Der Bootsmann sah es und meinte:
„Das ist von gestern! Da hab ich eine kleine Gesellschaft spazierengefahren, lauter lustige Leute, Herren und Damen. Sie hatten Kuchen und Champagner mit und Waldhörner. Das war ein Rummel! Da war einer dabei, ein großer hübscher Mann mit einem schwarzen Schnurrbärtchen, der war riesig fidel! Sie baten ihn immer: ‚Du, erzähl uns mal einen Schwank aus deinem Leben, Adolf!‘ Oder hieß er Rudolf? Ich weiß nicht mehr ...“
Emma fuhr zusammen.
„Ist dir nicht wohl?“ fragte Leo und legte ihr die Hand um den Nacken.
„Ach nein, es ist nichts! Es ist ein bißchen kühl.“
„Er mochte auch viel Glück bei den Frauen haben“, redete der Bootsmann leise weiter. Er wollte seinem Fahrgaste offenbar eine Schmeichelei sagen. Dann spuckte er sich in die Hände und begann von neuem zu rudern.
Endlich kam die Trennungsstunde. Der Abschied war sehr traurig. Sie verabredeten, Leo solle durch die Adresse der Frau Rollet schreiben. Emma gab ihm genaue Anweisungen. Er solle doppelte Umschläge verwenden. Er wunderte sich über ihre Schlauheit in Liebesdingen.
„Und das andre ist doch auch alles in Ordnung, nicht wahr?“ fragte sie nach dem letzten Kusse.
„Aber gewiß!“
Als er dann allein durch die Straßen heimging, dachte er bei sich:
„Warum macht sie denn eigentlich so viel Wesens mit ihrer Generalvollmacht?“
Leo begann vor seinen Kameraden den Überlegenen zu spielen. Er mied ihre Gesellschaft und vernachlässigte seine Akten. Er wartete nur immer auf Emmas Briefe, las wieder und wieder in ihnen und schrieb ihr alle Tage. Er verweilte in Gedanken und in der Erinnerung immerdar voller Sehnsucht bei ihr. Sein heißes Begehren kühlte sich durch das Getrenntsein nicht ab, im Gegenteil, sein Verlangen, sie wiederzusehen, wuchs dermaßen, daß er an einem Sonnabendvormittag seiner Kanzlei entrann.
Als er von der Höhe herab unten im Tale den Kirchturm mit seiner sich im Winde drehenden blechernen Wetterfahne erblickte, durchschauerte ihn ein sonderbares Gefühl von Eitelkeit und Rührung, wie es vielleicht ein Milliardär empfindet, der sein Heimatdorf wieder aufsucht.
Er ging um Emmas Haus. In der Küche war Licht. Er wartete, ob nicht ihr Schatten hinter den Gardinen sichtbar würde. Es erschien nichts.
Als Mutter Franz ihn gewahrte, stieß sie Freudenschreie aus. Sie fand ihn „größer und schlanker geworden“, während Artemisia im Gegensatze dazu meinte, er sähe „stärker und brauner“ aus.
Wie einst nahm er seine Mahlzeit in der kleinen Gaststube ein, aber allein, ohne den Steuereinnehmer. Binet hatte es nämlich „satt bekommen“, immer auf die Post warten zu sollen, und hatte seine Tischzeit ein für allemal auf Punkt fünf Uhr verlegt, was ihn indessen nicht hinderte, darüber zu räsonieren, daß der „alte Klapperkasten egal zu spät“ käme.
Endlich faßte Leo Mut und klingelte an der Haustüre des Arztes. Frau Bovary war in ihrem Zimmer. Erst nach einer Viertelstunde kam sie herunter. Karl schien sich zu freuen, ihn wiederzusehen; aber weder am Abend noch andern Tags wich er von Emmas Seite. Erst nachts kam sie allein mit Leo zusammen, auf dem Wege hinter dem Garten, an der kleinen Treppe zum Bach, wie einst mit dem andern.
Da ein Gewitterregen niederging, plauderten sie unter einem Regenschirm, bei Donner und Blitz.
Die Trennung war ihnen unerträglich.
„Lieber sterben!“ sagte Emma.
Sie entwand sich seinen Armen und weinte.
„Lebwohl! Lebwohl! Wann werd ich dich wiedersehn?“
Sie wandten sich noch einmal um und umarmten sich von neuem. Da versprach ihm Emma, sie wolle demnächst Mittel und Wege finden, damit sie sich wenigstens einmal jede Woche sehen könnten. Emma zweifelte nicht an der Möglichkeit. Sie war überhaupt voller Zuversicht. Lheureux hatte ihr für die nächste Zeit Geld in Aussicht gestellt.
Sie schaffte ein Paar cremefarbige Stores für ihr Zimmer an. Lheureux rühmte ihre Billigkeit. Dann bestellte sie einen Teppich, den der Händler bereitwillig zu besorgen versprach, wobei er versicherte, er werde „die Welt nicht kosten“. Lheureux war ihr unentbehrlich geworden. Zwanzigmal am Tage schickte sie nach ihm, und immer ließ er alles stehen und liegen und kam, ohne auch nur zu murren. Man begriff ferner nicht, warum die alte Frau Rollet täglich zum Frühstück und auch außerdem noch häufig kam.
Gegen Anfang des Winters entwickelte Emma plötzlich einen ungemein regen Eifer im Musizieren.
Eines Abends spielte sie dasselbe Stück viermal hintereinander, ohne über eine bestimmte schwierige Stelle glatt hinwegzukommen. Karl, der ihr zuhörte, bemerkte den Fehler nicht und rief:
„Bravo! Ausgezeichnet! Fehlerlos! Spiele nur weiter!“
„Nein, nein! Ich stümpere. Meine Finger sind zu steif geworden.“
Am andern Tag bat er sie, ihm wieder etwas vorzuspielen.
„Meinetwegen! Wenn es dir Spaß macht.“
Karl gab zu, daß sie ein wenig aus der Übung sei. Sie griff daneben, blieb stecken, und plötzlich hörte sie auf zu spielen.
„Ach, es geht nicht, ich müßte wieder Stunden nehmen, aber ...“ Sie biß sich in die Lippen und fügte hinzu: „Zwanzig Franken für die Stunde, das ist zu teuer.“
„Allerdings ... ja ...“, sagte Karl und lächelte einfältig, „aber es gibt doch auch unbekannte Künstler, die billiger und manchmal besser sind als die Berühmtheiten.“
„Such mir einen!“ sagte Emma.
Am andern Tag, als er heimkam, sah er sie mit pfiffiger Miene an und sagte schließlich:
„Was du dir so manchmal in den Kopf setzt! Ich war heute in Barfeuchères, und da hat mir Frau Liégeard erzählt, daß ihre drei Töchter für zwölf Groschen die Stunde bei einer ganz vortrefflichen Lehrerin Klavierunterricht haben.“
Emma zuckte mit den Achseln und öffnete fortan nicht mehr das Klavier. Aber wenn sie in Karls Gegenwart daran vorbeiging, seufzte sie allemal:
„Ach, mein armes Klavier!“
Wenn Besuch da war, erzählte sie jedermann, daß sie die Musik aufgegeben und höheren Rücksichten geopfert habe. Dann beklagte man sie. Es sei schade. Sie hätte soviel Talent. Man machte ihrem Manne geradezu Vorwürfe, und der Apotheker sagte ihm eines Tages:
„Es ist nicht recht von Ihnen. Man darf die Gaben, die einem die Natur verliehen, nicht brachliegen lassen. Außerdem sparen Sie, wenn Sie Ihre Frau jetzt Stunden nehmen lassen, später bei der musikalischen Erziehung Ihrer Tochter. Ich finde, die Mütter sollten ihre Kinder immer selbst unterrichten. Das hat schon Rousseau gesagt, so neu uns diese Forderung auch anmutet. Aber das wird dermaleinst doch Sitte, genau wie die Ernährung der Säuglinge durch die eigenen Mütter und wie die Schutzpockenimpfung! Davon bin ich überzeugt!“
Infolgedessen kam Karl noch einmal gesprächsweise auf diese Angelegenheit zurück. Emma erwiderte ärgerlich, daß es besser wäre, das Instrument zu verkaufen. Dagegen verwahrte sich Bovary. Das kam ihm wie die Preisgabe eines Stückes von sich selbst vor. Das brave Klavier hatte ihm so oft Vergnügen bereitet und ihn einst so stolz und eitel gemacht!
„Wie wäre es denn,“ schlug er vor, „wenn du hin und wieder eine Stunde nähmst? Das wird uns wohl nicht gleich ruinieren!“
„Unterricht hat nur Zweck, wenn er regelmäßig erfolgt“, entgegnete sie.
Und so kam es schließlich dahin, daß sie von ihrem Gatten die Erlaubnis erhielt, jede Woche einmal in die Stadt zu fahren, um den Geliebten zu besuchen. Schon nach vier Wochen fand man, sie habe bedeutende Fortschritte gemacht.
An jedem Donnerstag stand Emma zeitig auf und zog sich geräuschlos an, um Karl nicht aufzuwecken, der ihr Vorwürfe wegen ihres zu frühen Aufstehens gemacht hätte. Dann lief sie in ihrem Zimmer herum, stellte sich ans Fenster und sah auf den Marktplatz hinaus. Das Morgengrauen huschte um die Pfeiler der Hallen und um die Apotheke, deren Fensterläden noch geschlossen waren. Die großen Buchstaben des Ladenschildes ließen sich durch das fahle Dämmerlicht erkennen.
Wenn die Stutzuhr ein viertel acht Uhr zeigte, ging Emma nach dem Goldnen Löwen. Artemisia öffnete ihr gähnend die Tür und fachte der gnädigen Frau wegen im Herde die glühenden Kohlen an. Ganz allein saß Emma dann in der Küche.
Von Zeit zu Zeit ging sie hinaus. Hivert spannte höchst gemächlich die Postkutsche an, wobei er der Witwe Franz zuhörte, die in der Nachthaube oben zu ihrem Schlafstubenfenster heraussah und ihm tausend Aufträge und Verhaltungsmaßregeln erteilte, die jeden andern Kutscher verrückt gemacht hätten. Die Absätze von Emmas Stiefeletten klapperten laut auf dem Pflaster des Hofes.
Nachdem Hivert seine Morgensuppe eingenommen, sich den Mantel angezogen, die Tabakspfeife angezündet und die Peitsche in die Hand genommen hatte, kletterte er saumselig auf seinen Bock.
Langsam fuhr die Post endlich ab. Anfangs machte sie allerorts Halt, um Reisende aufzunehmen, die an der Straße vor den Hoftoren standen und warteten. Leute, die sich Plätze vorbestellt hatten, ließen meist auf sich warten; ja es kam vor, daß sie noch in ihren Betten lagen. Dann rief, schrie und fluchte Hivert, stieg von seinem Sitz herunter und pochte mit den Fäusten laut gegen die Fensterläden. Inzwischen pfiff der Wind durch die schlecht schließenden Wagenfenster.
Allmählich füllten sich die vier Bänke. Der Wagen rollte jetzt schneller hin. Die Apfelbäume an den Straßenrändern folgten sich rascher. Aber zwischen den beiden mit gelblichem Wasser gefüllten Gräben dehnte sich die Chaussee noch endlos hin bis in den Horizont.
Emma kannte jede Einzelheit des Weges. Sie wußte genau, wann eine Wiese oder eine Wegsäule kam oder eine Ulme, eine Scheune, das Häuschen eines Straßenwärters. Manchmal schloß sie die Augen eine Weile, um sich überraschen zu lassen. Aber sie verlor niemals das Gefühl für Zeit und Ort.
Endlich erschienen die ersten Backsteinhäuser. Der Boden dröhnte unter den Rädern, rechts und links lagen Gärten, durch deren Gitter man Bildsäulen, Lauben, beschnittene Taxushecken und Schaukeln erblickte. Dann, mit einemmal, tauchte die Stadt auf.
Sie lag vor Emma wie ein Amphitheater in der von leichtem Dunst erfüllten Tiefe. Jenseits der Brücken verlief das Häusermeer in undeutlichen Grenzen. Dahinter dehnte sich flaches Land in eintönigen Linien, bis es weit in der Ferne im fahlen Grau des Himmels verschwamm. So aus der Vogelschau sah die ganze Landschaft leblos wie ein Gemälde aus. Die vor Anker liegenden Zillen drängten sich in einem Winkel zusammen. Der Strom wand sich im Bogen um grüne Hügel, und die länglichen Inseln in seinen Fluten glichen großen schwarzen, tot daliegenden Fischen. Aus den hohen Fabrikessen quollen dichte braune Rauchwolken, die sich oben in der Luft auflösten. In das Dröhnen der Dampfhämmer mischte sich das helle Glockengeläut der Kirchen, die aus dem Dunste hervorragten. Die blätterlosen Bäume auf den Boulevards wuchsen aus den Häusermassen heraus wie violette Gewächse, und die vom Regen nassen Dächer glitzerten stärker oder schwächer, je nach der höheren oder tieferen Lage der Stadtteile. Bisweilen trieb ein frischer Windstoß das dunstige Gewölk nach der Sankt Katharinen-Höhe hin, an deren steilen Hängen sich die luftige Flut geräuschlos brach.
Emma empfand jedesmal eine Art Schwindel, wenn sie die Stadt, diese Ansammlung von Existenzen, so vor sich sah. Das Blut stürmte ihr heftiger durch die Adern, als ob ihr die hundertundzwanzigtausend Herzen, die da unten schlugen, den Brodem der Leidenschaften, die in ihnen lodern mochten, in einem einzigen Hauche entgegensandten. Vor der Gewalt dieses Anblicks wuchs ihre eigene Liebe, und das dumpfe Rauschen des Straßenlärms, das zu ihr heraufdrang, hob ihre Stimmung. Die Plätze, die Straßen, die Promenaden erweiterten und vergrößerten sich vor ihr, und die alte Normannenstadt ward ihr zur Kosmopolis, zu einem zweiten Babylon, in das sie Einzug hielt.
Sie lehnte sich aus dem Wagenfenster hinaus und sog die frische Luft ein. Die drei Pferde liefen schneller, die Steine der schmutzigen Landstraße knirschten, der Wagen schwankte. Hivert rief die Fuhrwerke und Karren an, die vor ihm fuhren. Die Bürger, die aus ihren Landhäusern im Wilhelmswalde zurückkehrten, wo sie die Nacht über geblieben waren, wichen mit ihren Familienkutschen gemächlich aus.
Am Eingang der Stadt hielt die Post. Emma entledigte sich ihrer Überschuhe, zog andre Handschuhe an, zupfte ihren Schal zurecht und stieg aus.
In der Stadt wurde es lebendig. Die Lehrjungen putzten die Schaufenster der Läden. Marktweiber mit Körben schrien an den Straßenecken ihre Waren aus. Emma drückte sich mit niedergeschlagenen Augen an den Häusermauern entlang. Unter ihrem herabgezogenen schwarzen Schleier lächelte sie vergnügt. Um nicht beobachtet zu werden, machte sie Umwege. Durch düstre Gassen hindurch gelangte sie endlich ganz erhitzt zu dem Brunnen am Ende der Rue Nationale. Wegen der Nähe des Theaters gibt es dort die meisten Kneipen. Es wimmelt von Frauenzimmern. Ein paarmal fuhren Karren mit Bühnendekorationen an Emma vorüber. Beschürzte Kellner streuten Sand auf das Trottoir, zwischen Kästen mit grünen Gewächsen. Es roch nach Absinth, Zigarren und Austern.
Emma bog in die verabredete Straße ein. Da stand Leo. Sie erkannte ihn schon von weitem an dem welligen Haar, das sich unter seinem Hute zeigte. Er ging ruhig weiter. Sie folgte ihm nach dem Boulogner Hof. Er stieg vor ihr die Treppe hinauf, öffnete die Tür und trat ein ...
Eine leidenschaftliche Umarmung! Liebesworte und Küsse ohne Ende! Sie erzählten sich vom Leid der vergangenen Woche, von ihrem Hangen und Bangen, von ihrem Warten auf die Briefe. Aber dann war das alles vergessen. Sie sahen sich von Auge zu Auge, unter dem Lächeln der Wollust und unter dem Geflüster der Zärtlichkeit.
Das Bett war aus Mahagoni und sehr groß. Zu beiden Seiten des Kopfkissens hingen rotseidne weitbauschige Vorhänge herab. Wenn sich Emmas braunes Haar und ihre weiße Haut von diesem Purpurrot abhoben, wenn sie ihre beiden nackten Arme verschämt hob und ihr Gesicht in den Händen verbarg: was hätte Leo Schönres schauen können?
Das warme Zimmer mit seinem weichen Teppich, seiner netten Einrichtung und seinem traulichen Lichte war wie geschaffen zu einer heimlichen Liebe. Wenn die Sonne hereinschien, funkelte alles, was blank im Gemache war, hell auf: die Messingbeschläge an der Tür, an den Gardinenhaltern und am Kamin.
Sie liebten diesen Raum, wenn seine Herrlichkeit auch ein wenig verblichen war. Jedesmal, wenn sie kamen, fanden sie alles so vor, wie sie es verlassen. Mitunter lagen sogar die Haarnadeln noch auf dem Sockel der Standuhr, wo Emma sie am Donnerstag vorher liegen gelassen hatte.
Das Frühstück pflegten sie am Kamin an einem kleinen eingelegten Tisch aus Polisanderholz einzunehmen. Emma machte alles zurecht und legte Leo jeden Bissen einzeln auf den Teller, unter tausend süßen Torheiten. Wenn der Sekt ihr über den Rand des dünnen Kelches auf die Finger perlte, lachte sie lustig auf. Sie waren beide in den gegenseitigen Genuß versunken und vergaßen völlig, daß sie in einer Mietwohnung hausten. Es war Ihnen, als wären sie Jungvermählte und hätten ein gemeinsames Heim, das sie nie wieder zu verlassen brauchten. Sie sagten „unser Zimmer, unser Teppich, unsre Stühle,“ wie sie „unsre Pantoffeln“ sagten, wobei sie die meinten, die Leo Emma geschenkt hatte: Pantoffeln aus rosa Atlas mit Schwanflaumbesatz. Emma trug sie über den nackten Füßen. Wenn sie sich Leo auf die Knie setzte, pendelte sie mir ihren Beinen und balancierte die zierlichen Schuhe mit den großen Zehen.
Zum ersten Male in seinem Leben genoß er den unbeschreiblichen Reiz einer mondänen Liebschaft. Alles war ihm neu: diese entzückende Art zu plaudern, dieses verschämte Sichentblößen, dieses schmachtende Girren. Er bewunderte ihre verzückte Sinnlichkeit und zugleich die Spitzen ihres Unterrockes. Er hatte eine schicke Dame der Gesellschaft zur Geliebten, eine verheiratete Frau ... Was hätte er mehr haben wollen?
Durch den fortwährenden Wechsel in ihren Launen, die sie bald tiefsinnig, bald ausgelassen machten, bald redselig, bald schweigsam, bald überschwenglich, bald blasiert, rief und reizte Emma in ihm tausend Lüste, Gefühle und Reminiszenzen. Die Heldinnen aller Romane, die er je gelesen, aller Dramen, die er je gesehen, erstanden in ihr wieder. Ihr galten alle Gedichte der Welt. Ihre Schultern hatten den Bernsteinteint der „Badenden Odaliske“, ihr schlanker Leib gemahnte ihn an die edlen Vrouwen der Minnesänger, und ihr blasses Gesicht glich denen, die spanische Meister verewigt hatten. Sie war ihm mehr als alles das: sie war sein „Engel“.
Oft, wenn er sie anblickte, war es ihm, als ergösse sich seine Seele über sie und fließe wie eine Welle über ihr Antlitz und von da herab wie ein Strom auf ihre weiße Brust. Er sank ihr zu Füßen auf den Teppich, schlang beide Arme um ihre Knie, sah zu ihr empor und schaute sie lächelnd an. Und sie neigte sich zu ihm herab und flüsterte wie im Rausche:
„O rühr dich nicht! Sprich nicht! Sieh mich an! Es ist etwas Liebes, Süßes in deinen Augen, das ich so gern habe!“
Sie nannte ihn „mein Junge“.
„Mein Junge, liebst du mich?“
Er bestürmte sie mit Küssen. Eine andre Antwort begehrte sie nicht.
Auf der Stutzuhr spreizte sich ein kleiner kecker Amor aus Bronze, der in seinen erhobenen Armen eine vergoldete Girlande trug. Er machte ihnen viel Spaß. Nur wenn die Trennungsstunde schlug, kam ihnen alles ernsthaft vor.
Unbeweglich standen sie einander gegenüber, und immer wiederholten sie:
„Auf Wiedersehn! Nächsten Donnerstag!“
Plötzlich nahm sie seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, küßte ihn rasch auf die Stirn, und mit einem „Adieu!“ stürmte sie die Treppe hinunter.
Zunächst ging sie jedesmal zum Friseur in der Theaterstraße und ließ sich ihr Haar in Ordnung bringen. Es war schon spät. Im Laden brannten bereits die Gasflammen. Sie hörte das Klingeln drüben im Theater, das dem Personal den Beginn der Vorstellung anzeigte. Durch die Scheiben sah sie, wie Männer mit bleichen Gesichtern und Frauen in abgetragenen Kleidern im hinteren Eingang des Theatergebäudes verschwanden.
Der sehr niedrige Raum war überheizt. Mitten unter den Perücken und Pomaden prasselte ein Ofen. Der Geruch der heißen Brennscheren und der fettigen Hände, die sich mit ihrem Haar zu schaffen machten, betäubte sie beinahe. Es fehlte nicht viel, so wäre sie unter ihrem Frisiermantel eingeschlafen.
Wiederholt bot ihr der Friseur Billette zum Maskenball an.
Dann ging sie fort, die Straßen wieder hinan, zurück ins „Rote Kreuz“. Sie suchte ihre Überschuhe hervor, die sie am Vormittag unter einem Sitz der Postkutsche versteckt hatte, und nahm ihren Platz ein, unter den bereits ungeduldigen Mitfahrenden. Wo die steile Strecke begann, stiegen alle aus. Emma blieb allein im Wagen zurück.
Von Serpentine zu Serpentine sah sie in der Tiefe, unten in der Stadt, immer mehr Lichter. Sie bildeten zusammen ein weites Lichtermeer, in dem die Häuser verschwanden. Auf dem Sitzpolster kniend, tauchte sie ihre Blicke in diesen Glanz. Schluchzend flüsterte sie den Namen Leos vor sich hin, küßte ihn in Gedanken und rief ihm leise Koseworte nach, die der Wind verschlang.
Oben auf der Höhe trieb sich ein Bettler herum, der die Postwagen ablauerte. Er war in Lumpen gehüllt, und ein alter verwetterter Filzhut, rund wie ein Becken, verdeckte sein Gesicht. Wenn er ihn abnahm, sah man in seinen Augenhöhlen zwei blutige Augäpfel mit Löchern an Stelle der Pupillen. Das Fleisch schälte sich in roten Fetzen ab, und eine grünliche Flüssigkeit lief heraus, die an der Nase gerann, deren schwarze Flügel nervös zuckten. Wenn man ihn ansprach, grinste er einen blöd an. Dann rollten seine bläulichen Augäpfel fortwährend in ihrem wunden Lager.
Er sang ein Lied, in dem folgende Stelle vorkam:
„Wenns Sommer worden weit und breit,
Wird heiß das Herze mancher Maid ...“
Manchmal erschien der Unglückliche ohne Hut ganz plötzlich hinter Emmas Sitz. Sie wandte sich mit einem Aufschrei weg.
Hivert pflegte den Bettler zu verhöhnen. Er riet ihm, sich auf dem nächsten Jahrmarkt in einer Bude sehen zu lassen, oder er fragte ihn, wie es seiner Liebsten ginge.
Einmal streckte der Bettler seinen Hut während der Fahrt durch das Wagenfenster herein. Er war draußen auf das kotbespritzte Trittbrett gesprungen und hielt sich mit einer Hand fest. Sein erst schwacher und kläglicher Gesang ward schrill. Er heulte durch die Nacht, ein Klagelied von namenlosem Elend. Das Schellengeläut der Pferde, das Rauschen der Bäume und das Rasseln des Wagens tönten in diese Jammerlaute hinein, so daß sie wie aus der Ferne zu kommen schienen. Emma war tieferschüttert. Empfindungen brausten ihr durch die Seele wie wilder Wirbelsturm durch eine Schlucht. Grenzenlose Melancholie ergriff sie.
Inzwischen hatte Hivert bemerkt, daß eine fremde Last seinen Wagen beschwerte. Er schlug mit seiner Peitsche mehrere Male auf den Blinden ein. Die Schnur traf seine Wunden; er fiel in den Straßenkot und stieß ein Schmerzensgeheul aus.
Die Insassen des Wagens waren nach und nach eingenickt. Die einen schliefen mit offenem Munde; andern war das Kinn auf die Brust gesunken; der lag mit seinem Kopfe an der Schulter des Nachbars, und jener hatte den Arm in dem Hängeriemen, der je nach den Bewegungen des Wagens hin und her schaukelte. Der Schein der Laterne drang durch die schokoladenbraunen Kattunvorhänge und bedeckte die unbeweglichen Gestalten mit blutroten Lichtstreifen. Emma war wie krank vor Traurigkeit. Sie fror unter ihren Kleidern. Ihre Füße wurden ihr kälter und kälter. Sie fühlte sich sterbensunglücklich.
Zu Hause wartete Karl auf sie. Donnerstags hatte die Post immer Verspätung. Endlich kam sie. Das Essen war noch nicht fertig, aber was kümmerte sie das? Das Dienstmädchen konnte jetzt machen, was es wollte.
Es geschah oft, daß Karl, dem Emmas Blässe auffiel, sie fragte, ob ihr etwas fehle.
„Nein!“ antwortete sie.
„Aber du bist so sonderbar heute abend?“
„Ach nein, nicht im geringsten!“
Manchmal ging sie sofort nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer. Oft war gerade Justin da und bediente sie stumm und behutsam, besser als eine Kammerzofe. Er stellte den Leuchter und die Streichhölzer zurecht, legte ihr ein Buch hin und das Nachthemd und deckte das Bett auf.
„Gut!“ sagte sie. „Du kannst gehn.“
Er blieb nämlich immer noch eine Weile an der Türe stehen und blickte Emma mit starren Augen wie verzaubert an.
Der Morgen nach der Heimkehr war ihr immer gräßlich, und noch qualvoller wurden ihr die folgenden Tage durch die Ungeduld, mit der sie nach ihrem Glücke lechzte. Sie verging fast vor Lüsternheit, unter wollüstigen Erinnerungen, bis alle ihre Sehnsucht am siebenten Tage in Leos zärtlichen Armen befriedigt wurde. Seine eigne, heiße Sinnlichkeit verbarg sich unter leidenschaftlicher Bewunderung und inniger Dankbarkeit. Seine anbetungsvolle stille Liebe war Emmas Entzücken. Sie hegte und pflegte sie mit tausend Liebkosungen, immer in Angst, sein Herz zu verlieren.
Oft sagte sie ihm mit weicher, melancholischer Stimme:
„Ach du! Du wirst mich verlassen! Du wirst dich verheiraten! Wirst es machen wie alle andern!“
„Welche andern?“
„Wie alle Männer, meine ich.“
Ihn sanft zurückstoßend, fügte sie hinzu:
„Ihr seid alle gemein!“
Eines Tages führten sie ein philosophisches Gespräch über die menschlichen Enttäuschungen, als sie plötzlich, um seine Eifersucht auf die Probe zu stellen oder auch aus allzu starkem Mitteilungsbedürfnis, das Geständnis machte, daß sie vor ihm einen andern geliebt habe.
„Nicht wie dich!“ fügte sie schnell hinzu und schwor beim Haupte ihres Kindes, daß es „zu nichts gekommen“ sei.
Der junge Mann glaubte ihr, fragte sie aber doch, wo der Betreffende jetzt sei.
„Er war Schiffskapitän, mein Lieber!“
Log sie das, um jede Nachforschung zu vereiteln oder um sich ein gewisses Ansehen zu verleihen, dieweil ein kriegerischer und gewiß vielumworbener Mann zu ihren Füßen gelegen haben sollte?
In der Tat empfand der Adjunkt etwas wie das Bewußtsein der Inferiorität. Am liebsten hätte er gleichfalls Epauletten, Orden und Titel getragen. Alle diese Dinge mußten ihr gefallen, das sah er deutlich an ihrem Hang zum Luxus.
Dabei verschwieg ihm Emma noch einen großen Teil ihrer ins Großartige gehenden Wünsche; zum Beispiel, daß sie gern einen blauen Tilbury mit einem englischen Vollblüter und einem Groom in schicker Livree gehabt hätte, um in Rouen spazieren zu fahren. Diesen Einfall verdankte sie Justin, der sie einmal flehentlich gebeten hatte, ihn als Diener in ihren Dienst zu nehmen. Wenn die Nichterfüllung dieser Laune ihr auch die Seligkeit des Wiedersehns nicht weiter trübte, so verschärfte sie doch zweifellos die Bitterkeit der Trennung.
Oft, wenn sie zusammen von Paris plauderten, sagte sie leise:
„Ach, wenn wir dort leben könnten!“
„Sind wir denn nicht glücklich?“ erwiderte Leo zärtlich und strich mit der Hand liebkosend über ihr Haar.
„Doch! Du hast recht! Ich bin töricht. Küsse mich!“
Gegen ihren Gatten war sie jetzt liebenswürdiger denn je. Sie bereitete ihm seine Lieblingsgerichte und spielte ihm nach Tisch Walzer vor. Er hielt sich für den glücklichsten Mann der Welt. Emma lebte in völliger Sorglosigkeit. Aber eines Abends sagte er plötzlich:
„Nicht wahr, du hast doch bei Fräulein Lempereur Stunden?“
„Ja!“
„Merkwürdig! Ich habe sie heute bei Frau Liégeard getroffen und sie nach dir gefragt. Sie kennt dich gar nicht.“
Das traf sie wie ein Blitzstrahl. Trotzdem erwiderte sie unbefangen:
„Mein Name wird ihr entfallen sein.“
„Oder es gibt mehrere Lehrerinnen dieses Namens in Rouen, die Klavierstunden geben“, meinte Karl.
„Das ist auch möglich!“
Plötzlich sagte Emma:
„Aber ich habe ja ihre Quittungen. Wart mal! Ich werde dir gleich eine bringen.“
Sie ging an ihren Schreibtisch, riß alle Schubfächer auf, wühlte in ihren Papieren herum und suchte so eifrig, daß Karl sie bat, sich wegen der dummen Quittungen doch nicht soviel Mühe zu machen.
„Ich werde sie schon finden!“ beharrte sie.
In der Tat fühlte Karl am Freitag darauf, als er sich die Stiefel anzog, die bei seinen Kleidern in einem finsteren Gelaß zu stehen pflegten, zwischen Stiefelleder und Strumpf ein Stück Papier. Er zog es hervor und las:
„Quittung. |
Honorar für drei Monate Klavierstunden, nebst Auslagen für verschiedene beschaffte Musikalien: 65,- Frkn. |
Dankend erhalten
Friederike Lempereur, Musiklehrerin.“ |
„Zum Kuckuck! Wie kommt denn das in meinen Stiefel?“
„Wahrscheinlich“, erwiderte Emma, „ist es aus dem Karton mit den alten Rechnungen gefallen, der auf dem obersten Regal steht.“
Von nun an war ihre ganze Existenz nichts als ein Netz von Lügen. Sie hüllte ihre Liebe darein wie in einen Schleier, damit niemand sie sähe. Aber auch sonst wurde ihr das Lügen geradezu zu einem Bedürfnis. Sie log zu ihrem Vergnügen. Wenn sie erzählte, daß sie auf der rechten Seite der Straße gegangen sei, konnte man wetten, daß es auf der linken gewesen war.
Eines Donnerstags war sie früh, wie gewöhnlich ziemlich leicht gekleidet, abgefahren, als es plötzlich zu schneien begann. Karl hielt am Fenster Umschau, da bemerkte er Bournisien in der Kutsche des Bürgermeisters. Sie fuhren zusammen nach Rouen. Er ging hinunter und vertraute dem Priester einen dicken Schal an mit der Bitte, ihn seiner Frau einzuhändigen, sobald er im „Roten Kreuz“ angekommen sei. Bournisien fragte im Gasthofe sogleich nach Frau Bovary, erhielt aber von der Wirtin die Antwort, daß sie das „Rote Kreuz“ sehr selten aufsuche. Abends traf er sie in der Postkutsche und erzählte ihr von seinem Mißerfolge, dem er übrigens keine sonderliche Bedeutung beizumessen schien, denn er begann alsbald eine Lobrede auf einen jungen Geistlichen, der in der Kathedrale so wunderbar predige, daß die Frauen in Scharen hingingen.
Wenn sich auch Bournisien ohne weiteres zufrieden gegeben hatte, so konnte doch ein andermal irgendwer nicht so diskret sein. Und so hielt es Emma für besser, fortan im „Roten Kreuz“ abzusteigen, damit die guten Leute aus Yonville sie hin und wieder auf der Treppe des Gasthofes sahen und nichts argwöhnten.
Eines Tages traf sie Lheureux, gerade als sie an Leos Arm den Boulogner Hof verließ. Sie fürchtete, er könne schwatzen; aber er war nicht so töricht. Dafür trat er drei Tage später in ihr Zimmer und erklärte, daß er Geld brauche.
Sie erwiderte ihm, sie könne ihm nichts geben. Lheureux fing zu jammern an und zählte alle Dienste auf, die er ihr erwiesen.
In der Tat hatte Emma nur einen der von Karl ausgestellten Wechsel bezahlt, den zweiten hatte Lheureux auf ihre Bitte hin verlängert und dann abermals prolongiert. Jetzt zog er aus seiner Tasche eine Anzahl unbezahlter Rechnungen für die Stores, den Teppich, für Möbelstoff, mehrere Kleider und verschiedene Toilettenstücke, im Gesamtbetrag von ungefähr zweitausend Franken.
Sie ließ den Kopf hängen, und er fuhr fort:
„Aber wenn Sie kein Geld haben, so haben Sie doch Immobilien.“
Und nun machte er sie auf ein halbverfallenes altes Haus in Barneville aufmerksam, das sie mit geerbt hatten. Es brachte nicht viel ein. Es hatte ursprünglich zu einem kleinen Pachtgute gehört, das der alte Bovary vor Jahren verkauft hatte. Lheureux wußte genau Bescheid über das Grundstück; er kannte sogar die Anzahl der Hektare und die Namen der Nachbarn.
„An Ihrer Stelle“, sagte er, „versuchte ich, es loszuwerden. Sie bekämen dann sogar noch bar Geld heraus!“
Sie entgegnete, es sei schwer, einen Käufer zu finden, aber Lheureux meinte, das ließe sich schon machen. Da fragte sie, was sie tun müsse, um das Haus zu verkaufen.
„Sie haben doch die Vollmacht“, antwortete er.
Dieses Wort belebte sie.
„Lassen Sie mir die Rechnung hier!“ sagte sie.
„O, das eilt ja nicht!“ erwiderte Lheureux.
In der kommenden Woche stellte er sich wiederum ein und berichtete, es sei ihm mit vieler Mühe gelungen, einen gewissen Langlois ausfindig zu machen, der schon lange ein Auge auf das Grundstück geworfen habe und wissen möchte, was es koste.
„Der Preis ist mir gleichgültig!“ rief Emma aus.
Lheureux erklärte, man müsse den Käufer eine Weile zappeln lassen. Die Sache sei aber schon eine Reise dahin wert. Da sie selbst nicht gut verreisen könne, bot er sich dazu an, um das Geschäft mit Langlois zu besprechen. Er kam mit der Mitteilung zurück, der Käufer habe viertausend Franken geboten.
Emma war hocherfreut.
„Offen gestanden,“ fügte der Händler hinzu, „das ist anständig bezahlt!“
Die erste Hälfte der Summe zählte er ihr sofort auf. Als Emma sagte, damit solle ihre Rechnung beglichen werden, meinte Lheureux:
„Auf Ehre, es ist doch schade, daß Sie ein so schönes Sümmchen gleich wieder aus der Hand geben wollen!“
Sie sah auf die Banknoten und dachte an die unbegrenzte Zahl der Stelldichein, die ihr diese zweitausend Franken bedeuteten.
„Wie? Wie meinen Sie?“ stammelte sie.
„O,“ erwiderte er mit gutmütigem Lächeln, „man kann ja was ganz Beliebiges auf die Rechnung setzen. Ich weiß ja, wie das in einem Haushalte so ist.“
Er sah sie scharf an, während er die beiden Tausendfrankenscheine langsam durch die Finger hin und her gleiten ließ. Endlich machte er seine Brieftasche auf und legte vier vorbereitete Wechsel zu je tausend Franken auf den Tisch.
„Unterschreiben Sie!“ sagte er, „und behalten Sie die ganze Summe!“
Sie fuhr erschrocken zurück.
„Na, wenn ich Ihnen den Überschuß bar auszahle,“ sagte Lheureux frech, „erweise ich Ihnen dann nicht einen Dienst?“
Er schrieb unter die Rechnung:
„Von Frau Bovary viertausend Franken erhalten zu haben, bescheinigt
Lheureux.“
„So! Sie können unbesorgt sein. In sechs Monaten erhalten Sie die weiteren zweitausend Franken für Ihre alte Bude! Eher ist auch der letzte Wechsel nicht fällig.“
Emma fand sich in der Rechnerei nicht mehr ganz zurecht. In den Ohren klang es ihr, als würden Säcke voll Goldstücke vor ihr ausgeschüttet, die nur so über die Diele kollerten. Lheureux sagte noch, er habe einen Freund Vinçard, Bankier in Rouen, der die vier Wechsel diskontieren wolle. Die überschüssige Summe werde er der gnädigen Frau persönlich bringen.
Aber statt zweitausend Franken brachte er nur eintausendachthundert. Freund Vinçard habe „wie üblich“ zweihundert Franken für Provision und Diskont abgezogen. Dann forderte er nachlässig eine Empfangsbestätigung.
„Sie verstehen! Geschäft ist Geschäft! Und das Datum! Bitte! Das Datum!“
Tausend nun erfüllbare Wünsche umgaukelten Emma. Aber sie war so vorsichtig, dreitausend Franken beiseite zu legen, womit sie dann die ersten drei Wechsel prompt bezahlen konnte.
Der Fälligkeitstag des vierten Papieres fiel zufällig auf einen Donnerstag. Karl war zwar arg betroffen, wartete aber geduldig auf Emmas Rückkehr. Die Sache würde sich schon aufklären.
Sie log ihm vor, von dem Wechsel nur nichts gesagt zu haben, um ihm häusliche Sorgen zu ersparen. Sie setzte sich ihm auf die Knie, liebkoste ihn, umgirrte ihn und zählte ihm tausend unentbehrliche Sachen auf, die sie auf Borg hätte anschaffen müssen.
„Nicht wahr, du mußt doch zugeben: für so viele Dinge ist tausend Franken nicht zuviel?“
In seiner Ratlosigkeit lief Karl nun selber zu dem unvermeidlichen Lheureux. Dieser verschwor sich, die Geschichte in Ordnung zu bringen, wenn der Herr Doktor ihm zwei Wechsel ausstelle, einen davon zu siebenhundert Franken auf ein Vierteljahr. Daraufhin schrieb Bovary seiner Mutter einen kläglichen Brief. Statt einer Antwort kam sie persönlich. Als Emma wissen wollte, ob sie etwas herausrücke, gab er ihr zur Antwort:
„Ja! Aber sie will die Rechnung sehen!“
Am andern Morgen lief Emma zu Lheureux und ersuchte ihn um eine besondre Rechnung auf rund tausend Franken. Sonst käme die ganze Geschichte und auch die Veräußerung des Grundstücks heraus. Letztere hatte der Händler so geschickt betrieben, daß sie erst viel später bekannt wurde.
Obgleich die aufgeschriebenen Preise sehr niedrig waren, konnte die alte Frau Bovary nicht umhin, die Ausgaben unerhört zu finden.
„Gings denn nicht auch ohne den Teppich? Wozu mußten die Lehnstühle denn neu bezogen werden? Zu meiner Zeit gab es in keinem Hause mehr als einen einigen Lehnstuhl, den Großvaterstuhl! Die jungen Leute hatten keine nötig. So war es wenigstens bei meiner Mutter, und das war eine ehrbare Frau! Das kann ich dir versichern! Es sind nun einmal nicht alle Menschen reich. Und Verschwendung ruiniert jeden! Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich mich so verwöhnen wollte wie du! Und ich bin doch eine alte Frau, die wahrlich ein bißchen der Pflege nötig hätte ... Da schau mal einer diesen Luxus an! Lauter Kinkerlitzchen! Seidenfutter, das Meter zu zwei Franken! Wo man ganz schönen Futterstoff für vier Groschen, ja schon für dreie bekommt, der seinen Zweck vollkommen erfüllt!“
Emma lag auf der Chaiselongue und erwiderte mit erzwungener Ruhe:
„Ich finde, es ist nun gut!“
Aber die alte Frau predigte immer weiter und prophezeite, sie würden alle beide im Armenhause enden. Übrigens sei Karl der Hauptschuldige. Es sei ein wahres Glück, daß er ihr versprochen habe, die unselige Generalvollmacht zu vernichten ...
„Was?“ unterbrach Emma ihre Rede.
„Jawohl! Er hat mir sein Wort gegeben!“
Emma öffnete ein Fenster und rief ihren Mann. Der Unglücksmensch mußte zugeben, daß ihm die Mutter das Ehrenwort abgenötigt hatte. Da ging Emma aus dem Zimmer, kam sehr bald wieder und händigte ihrer Schwiegermutter mit der Gebärde einer Fürstin ein großes Schriftstück ein.
„Ich danke dir!“ sagte die alte Frau und steckte die Urkunde in den Ofen.
Emma brach in eine rauhe, scharfe, andauernde Lache aus. Sie hatte einen Nervenchok bekommen.
„Ach du mein Gott!“ rief Karl aus. „Siehst du, Mutter, es war doch nicht recht von dir! Du darfst ihr nicht so zusetzen!“
Sie zuckte mit den Achseln. Das sei alles „bloß Tuerei!“
Da lehnte sich Karl zum ersten Male in seinem Leben gegen sie auf und vertrat Emma so nachdrücklich, daß die alte Frau erklärte, sie werde abreisen. In der Tat tat sie das andern Tags. Als Karl sie noch einmal auf der Schwelle zum Bleiben überreden wollte, erwiderte sie:
„Nein, nein! Du liebst sie mehr als mich, und das ist ja ganz in der Ordnung! Wenn es auch dein Nachteil ist. Du wirst ja sehen ... Laß dirs wohl gehn! Ich werde ihr nicht sogleich wieder — sozusagen — zusetzen!“
Nicht weniger als armer Sünder stand er dann vor Emma, die ihm erbittert vorwarf, er habe kein Vertrauen mehr zu ihr. Er mußte erst lange bitten, ehe sie sich herabließ, eine neue Generalvollmacht anzunehmen. Er begleitete sie zu Guillaumin, der sie ausstellen sollte.
„Sehr begreiflich!“ meinte der Notar. „Ein Mann der Wissenschaft darf sich durch die Alltagsdinge nicht ablenken lassen.“
Karl fühlte sich durch diese im väterlichen Tone vorgebrachte Weisheit wieder aufgerichtet. Sie bemäntelte seine Schwachheit mit der schmeichelhaften Entschuldigung, er sei mit höheren Dingen beschäftigt.
Am Donnerstag darauf, in ihrem Zimmer im Boulogner Hofe, in Leos Armen war sie über die Maßen ausgelassen. Sie lachte, weinte, sang, tanzte, ließ sich Sorbett heraufbringen und rauchte Zigaretten. So überschwenglich sie ihm auch vorkam, er fand sie doch köstlich und bezaubernd. Er ahnte nicht, daß es in ihrem Innern gärte und daß sie sich aus diesem Motiv kopfüber in den Strudel des Lebens stürzte. Sie war reizbar, unersättlich, wollüstig geworden. Erhobenen Hauptes ging sie mit Leo durch die Straßen der Stadt spazieren, ohne die geringste Angst, daß sie ins Gerede kommen könnte. So sagte sie wenigstens. Insgeheim erzitterte sie freilich mitunter bei dem Gedanken, Rudolf könne ihr einmal begegnen. Wenn sie auch auf immerdar von ihm geschieden war, so fühlte sie sich doch noch immer in seinem Banne.
Eines Abends kam sie nicht nach Yonville zurück. Karl war außer sich vor Unruhe, und die kleine Berta, die ohne ihre „Mama“ nicht ins Bett gehen wollte, schluchzte herzzerreißend. Justin wurde auf der Poststraße entgegengesandt, und selbst Homais verließ seine Apotheke.
Als es elf Uhr schlug, hielt es Karl nicht mehr aus. Er spannte seinen Wagen an, sprang auf den Bock, hieb auf sein Pferd los und langte gegen zwei Uhr morgens im „Roten Kreuz“ an. Emma war nicht da. Er dachte, vielleicht könne der Adjunkt sie gesehen haben, aber wo wohnte er? Glücklicherweise fiel ihm die Adresse des Notars ein, bei dem Leo in der Kanzlei arbeitete. Er eilte hin.
Es begann zu dämmern. Er erkannte das Wappenschild über der Tür und klopfte an. Ohne daß ihm geöffnet ward, erteilte ihm jemand die gewünschte Auskunft, nicht ohne auf den nächtlichen Ruhestörer zu schimpfen.
Das Haus, in dem der Adjunkt wohnte, besaß weder einen Türklopfer noch eine Klingel noch einen Pförtner. Karl schlug mit der Faust gegen einen Fensterladen. Ein Schutzmann ging vorüber. Karl bekam Angst und ging davon.
„Ich bin ein Narr!“ sagte er zu sich. „Wahrscheinlich haben Lormeaux' sie gestern abend zu Tisch dabehalten!“
Die Familie Lormeaux wohnte gar nicht mehr in Rouen.
„Vielleicht ist sie bei Frau Dübreuil. Die ist vielleicht krank ... Ach nein, Frau Dübreuil ist ja schon vor einem halben Jahre gestorben ... Aber wo mag dann Emma nur sein?“
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er ließ sich in einem Café das Adreßbuch geben und suchte rasch nach dem Namen von Fräulein Lempereur. Sie wohnte Rue de la Renelle des Maroquiniers Nummer 74.
Als er in diese Straße einbog, tauchte Emma am andern Ende auf. Er stürzte auf sie los und fiel ihr um den Hals.
„Was hat dich denn gestern hier zurückgehalten?“ rief er.
„Ich war krank.“
„Was fehlte dir denn? ... Na und wo ... Wie?“
Sie fuhr mit der Hand über die Stirn und antwortete:
„Bei Fräulein Lempereur.“
„Das dachte ich mir doch gleich. Ich war auf dem Weg zu ihr.“
„Die Mühe kannst du dir nun ersparen. Sie ist übrigens schon ausgegangen. In Zukunft rege dich aber nicht wieder so auf! Du kannst dir denken, daß ich mich nicht gar frei fühle, wenn ich weiß, daß dich die geringste Verspätung dermaßen aus dem Gleichgewicht bringt!“
Das war eine Art Erlaubnis, die sie sich selbst gab, in Zukunft mit aller Ruhe über den Strang hauen zu können, wie man zu sagen pflegt. In der Tat machte sie nunmehr den ausgiebigsten Gebrauch davon. Sobald sie Lust verspürte, Leo zu sehen, fuhr sie unter irgendeinem Vorwand nach Rouen. Da dieser sie an solchen Tagen nicht erwartete, suchte sie ihn in seiner Kanzlei auf.
Die ersten Male war ihm das eine große Freude, aber allmählich verhehlte er ihr die Wahrheit nicht. Seinem Chef waren diese Störungen durchaus nicht angenehm.
„Ach was, komm nur mit!“ sagte sie.
Und er verließ ihretwegen seine Arbeit.
Sie sprach den Wunsch aus, er solle sich immer in Schwarz kleiden und sich eine sogenannte Fliege stehen lassen, damit er aussähe wie Ludwig der Dreizehnte auf dem bekannten Bilde. Er mußte ihr seine Wohnung zeigen, die sie ziemlich armselig fand. Er schämte sich, aber sie achtete nicht darauf und riet ihm, Vorhänge zu kaufen, wie sie welche hatte. Als er meinte, die seien sehr teuer, sagte sie lachend:
„Ach, hängst du an deinen paar Groschen!“
Jedesmal mußte ihr Leo genau berichten, was er seit dem letzten Stelldichein erlebt hatte. Einmal bat sie ihn um ein Gedicht, um ein Liebesgedicht ihr zu Ehren. Aber die Reimerei lag ihm nicht, und er schrieb schließlich ein Sonett aus einem alten Almanach ab.
Er tat das keineswegs aus Eitelkeit. Er kannte kein andres Bedürfnis, als ihr zu gefallen. Er war in allen Dingen ihrer Ansicht und hatte stets denselben Geschmack wie sie. Mit einem Worte: sie tauschten allmählich ihre Rollen. Leo wurde der feminine Teil in diesem Liebesverhältnisse. Sie verstand auf eine Art zu kosen und zu küssen, daß er die Empfindung hatte, als sauge sie ihm die Seele aus dem Leibe. Es steckte, im Kerne ihres Wesens verborgen, eine eigentümliche, geradezu unkörperliche Verderbnis in Emma, eine geheimnisvolle Erbschaft.
Wenn Leo nach Yonville kam, um Emma zu besuchen, aß er häufig bei dem Apotheker zu Mittag. Aus Höflichkeit lud er ihn ein, ihn nun auch einmal in Rouen zu besuchen.
„Gern!“ gab Homais zur Antwort. „Ich muß sowieso einmal ausspannen, sonst roste ich hier noch ganz und gar ein. Wir wollen zusammen ins Theater gehen, ein bißchen kneipen und ein paar Dummheiten loslassen!“
„Aber Mann!“ mahnte Frau Homais besorgt. Die undefinierbaren Gefahren, denen er entgegenlief, ängstigten sie im voraus.
„Was ist da weiter dabei? Hab ich meine Gesundheit nicht schon genug ruiniert in den fortwährenden Ausdünstungen der Drogen? Ja, ja, so sind die Frauen! Vergräbt man sich in die Wissenschaften, so sind sie eifersüchtig; und will man sich gelegentlich in harmlosester Weise ein bißchen erholen, dann ists ihnen auch wieder nicht recht. Aber lassen wirs gut sein! Rechnen Sie auf mich! In allernächster Zeit tauch ich in Rouen auf: und dann wollen wir mal zusammen eine Kiste öffnen!“
Früher hätte sich Homais gehütet, einen derartigen Ausdruck zu gebrauchen, aber seit einiger Zeit gefiel er sich ungemein darin, den jovialen Großstädter zu spielen. Ähnlich wie seine Nachbarin, Frau Bovary, fragte er den Adjunkt auf das neugierigste nach den Pariser Sitten und Unsitten aus. Er begann sogar in seiner Redeweise den Jargon der Pariser anzunehmen, um den Philistern zu imponieren.
Eines Donnerstags früh traf ihn Emma zu ihrer Überraschung in der Küche des Goldnen Löwen im Reiseanzug, das heißt, in einen alten Mantel gemummt, in dem man ihn noch nie gesehen hatte, eine Reisetasche in der einen Hand, einen Fußsack in der andern. Er hatte sein Vorhaben keinem Menschen verraten, aus Furcht, die Kundschaft könne an seiner Abwesenheit Anstoß nehmen.
Der Gedanke, die Orte wiedersehen zu sollen, wo er seine Jugend verlebt hatte, regte ihn sichtlich auf, denn während der ganzen Fahrt redete er in einem fort. Kaum war man in Rouen angekommen, so stürzte er aus dem Wagen, um Leo aufzusuchen. Dem Adjunkt half kein Widerstreben: Homais schleppte ihn mit in das „Grand Café zur Normandie“, wo er, bedeckten Hauptes, stolz wie ein Fürst eintrat. Er hielt es nämlich für höchst provinzlerhaft, in einem öffentlichen Lokal den Hut abzunehmen.
Emma wartete drei Viertelstunden lang auf Leo. Schließlich eilte sie in seine Kanzlei. Unter allen möglichen Mutmaßungen, wobei sie ihm den Vorwurf der Gleichgültigkeit und sich selber den der Schwäche machte, verbrachte sie dann den Nachmittag, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt, im Boulogner Hofe.
Um zwei Uhr saßen Leo und Homais immer noch bei Tisch. Der große Saal des Restaurants leerte sich. Sie saßen am Ofen, der die Form eines hochragenden Palmenstammes hatte, dessen innen vergoldete Fächer sich unter der weißen Decke ausbreiteten. Neben ihnen, im hellen Sonnenlichte, hinter Glaswänden, sprudelte ein kleiner Springbrunnen über einem Marmorbecken. An seinem Rande hockten zwischen Brunnenkresse und Spargel drei schläfrige Hummern; daneben lagen Wachteln, zu einem Haufen aufgeschichtet.
Der Apotheker tat sich sozusagen eine Güte. Wenngleich ihn die Pracht noch mehr entzückte als das vortreffliche Mahl, so tat der Burgunder doch seine Wirkung. Und als das Omelett mit Rum aufgetragen ward, da offenbarte er unmoralische Theorien „über die Weiber“. Am meisten rege ihn eine „schicke“ Frau auf, und nichts ginge über eine elegante Robe in einem vornehm eingerichteten Raume. Was die körperlichen Reize anbelange, da sei viel Fleisch „nicht ohne“.
Leo sah verzweifelt auf die Uhr. Der Apotheker trank, aß und schmatzte weiter.
„Sie müssen sich übrigens ziemlich einsam fühlen hier in Rouen“, sagte er plötzlich. „Aber schließlich wohnt ja Ihr Liebchen nicht allzuweit.“ Da Leo errötete, setzte er hinzu: „Na, gestehen Sie nur! Wollen Sie leugnen, daß Sie in Yonville ...“
Der junge Mann stammelte etwas Unverständliches.
„... im Hause Bovary jemanden poussieren ...“
„Aber wen denn?“
„Na, das Dienstmädel!“
Es war sein Ernst. Aber Leos Eitelkeit war stärker als alle Vorsicht. Ohne sichs zu überlegen, widersprach er. Er liebe nur brünette Frauen.
„Da haben Sie nicht unrecht“, meinte der Apotheker. „Die haben mehr Temperament!“
Homais begann zu flüstern und verriet seinem Freunde die Symptome, an denen man erkennen könne, ob eine Frau Feuer habe. Er geriet sogar auf eine ethnographische Abschweifung. Die Deutschen seien schwärmerisch, die Französinnen wollüstig, die Italienerinnen leidenschaftlich.
„Und die Negerinnen?“ fragte der Adjunkt.
„Das ist etwas für Kenner! Kellner! Zwei Tassen Kaffee!“
„Gehen wir?“ fragte Leo ungeduldig.
„ Yes! “
Aber zuvor wollte er den Besitzer des Restaurants sprechen und ihm seine Zufriedenheit aussprechen.
Des weiteren schützte der junge Mann einen geschäftlichen Gang vor. Er wollte nun endlich allein sein.
„Ich begleite Sie natürlich!“ sagte Homais.
Unterwegs erzählte er unaufhörlich von seiner Frau, von seinen Kindern, von ihrem Gedeihen, von seiner Apotheke, vom verwahrlosten Zustand, in dem er sie übernommen, und wie er sie in die Höhe gebracht habe.
Vor dem Boulogner Hofe verabschiedete sich Leo kurzerhand von ihm, eilte die Treppe hinan und fand seine Geliebte in der größten Erregung. Bei der Erwähnung des Apothekers geriet sie in Wut. Leo versuchte, sie durch allerlei vernünftige Gründe zu beruhigen. Es sei wirklich nicht seine Schuld gewesen. Sie kenne Homais doch. Wie habe sie nur glauben können, daß er lieber mit ihm statt mit ihr zusammen sei? Aber sie wollte gar nichts hören und schickte sich an, fortzugehen. Er hielt sie zurück, sank vor ihr auf die Knie, umschlang sie mit beiden Armen und sah sie mit einem rührenden Blick voller Begehrlichkeit und Unterwürfigkeit an.
Sie stand aufrecht vor ihm. Mit großen flammenden Augen sah sie ihn ernst, fast drohend an. Dann aber verschwamm dieser Ausdruck in Tränen. Ihre geröteten Lider schlossen sich, sie überließ ihm ihre Hände, die er an seine Lippen zog. Da erschien der Hausdiener. Ein Herr wünsche ihn dringend zu sprechen.
„Du kommst doch wieder?“ fragte Emma.
„Gewiß!“
„Aber wann?“
„Sofort!“
Es war der Apotheker.
„Ein feiner Trick, nicht?“ schmunzelte er, als er Leo erblickte.
„Ich wollte Ihnen Ihre Unterredung verkürzen. Sie war Ihnen doch offensichtlich unangenehm. So! Jetzt gehen wir zu meinem Freund Bridoux, einen Bittern genehmigen!“
Leo beteuerte, er müsse in seine Kanzlei. Aber der Apotheker lachte ihn aus und machte seine Witze über die Juristerei.
„Lassen Sie doch den Aktenkram Aktenkram sein! Zum Teufel, warum nur nicht? Seien Sie kein Frosch! Kommen Sie, wir gehn zu Bridoux! Seinen Terrier müssen Sie mal sehen! Der ist zu spaßig!“ Und da der Adjunkt immer noch widerstrebte, fuhr er fort: „Na, da begleite ich Sie wenigstens! Werde in Ihrem Laden eine Zeitung lesen oder in irgendeinem alten Schmöker blättern.“
Leo war wie betäubt durch Emmas Unwillen, durch des Apothekers Geschwätz und vielleicht auch durch die Nachwirkung des reichlichen Frühstücks. Unentschlossen stand er da, während Homais immer wieder in ihn drang:
„Kommen Sie nur mit! Wir gehn zu Bridoux! Er wohnt keine hundert Schritte von hier! Rue Malpalu!“
Diese Aufforderung wirkte wie eine Suggestion. Aus Feigheit oder Narrheit oder aus jenem merkwürdigen Drange, der den Menschen mitunter zu Handlungen bewegt, die seinem eigentlichen Willen zuwiderlaufen, ließ sich Leo zu Bridoux führen. Sie fanden ihn in dem kleinen Hofe seines Hauses, wo er drei Burschen beaufsichtigte, die das große Rad einer Selterwasserzubereitungsmaschine drehten. Nach einer herzlichen Begrüßung gab Homais seinem Kollegen Ratschläge. Dann trank man den Bittern. Leo war hundertmal im Begriffe, sich zu empfehlen, aber Homais hielt ihn immer wieder fest, indem er sagte:
„Gleich! Gleich! Ich gehe ja mit! Wir wollen nun mal in den ‚Leuchtturm von Rouen‘! Dem Redakteur guten Tag sagen. Ich mache Sie mit ihm bekannt, mit Herrn Thomassin.“
Trotzdem machte sich Leo endlich los und eilte wiederum in den Boulogner Hof. Emma war nicht mehr da. Im höchsten Grade aufgebracht, war sie fortgegangen. Jetzt haßte sie Leo. Das Stelldichein zu versäumen, das faßte sie als Beschimpfung auf! Nun suchte sie nach noch andern Gründen, mit ihm zu brechen. Er sei eines höheren Aufschwungs unfähig, schwach, banal, feminin, dazu knickerig und kleinmütig.
Dann wurde sie ruhiger; sie sah ein, daß sie ihn schlechter machte, als er war. Aber das Herabzerren eines Geliebten hinterläßt immer gewisse Spuren. Man darf ein Götzenbild nicht berühren: die Vergoldung bleibt einem an den Fingern kleben.
Fortan unterhielten sie sich immer häufiger von Dingen, die nichts mit ihrer Liebe zu tun hatten. In den Briefen, die ihm Emma schrieb, war die Rede von Blumen, Versen, vom Mond und den Sternen, mit einem Worte von allen den primitiven Requisiten, die eine mattgewordne Leidenschaft aufbaut, um den Schein aufrecht zu erhalten. Immer wieder erhoffte sie sich von dem nächsten Beieinandersein die alte Glückseligkeit, aber hinterher gestand sie sich jedesmal, daß sie nichts davon gespürt hatte. Diese Enttäuschung wandelte sich trotzdem in neues Hoffen. Emma kam immer wieder zu Leo voll Begehren und sinnlicher Erregung. Sie warf die Kleider ab und riß das Korsett herunter, dessen Schnuren ihr um die Hüften schlugen wie zischende Schlangen. Mit nackten Füßen lief sie an die Tür und überzeugte sich, daß sie verriegelt war. Mit einer hastigen Bewegung entledigte sie sich dann des Hemdes — und bleich, stumm, ernst und von Schauern durchströmt, warf sie sich in seine Arme.
Aber auf ihrer von kaltem Schweiß beperlten Stirn, auf ihren stöhnenden Lippen, in ihren irren Augen, in ihrer wilden Umarmung lebte etwas Unheimliches, Feindseliges, Todtrauriges. Leo fühlte es. Es hatte sich eingeschlichen, um sie zu trennen.
Ohne daß er darnach zu fragen wagte, kam er ferner zu der Erkenntnis, daß die Geliebte alle Prüfungen der Lust und des Leids schon einmal an sich selber erfahren haben mußte. Was ihn dereinst entzückt hatte, das flößte ihm jetzt Grauen ein.
Dazu kam, daß er gegen die täglich zunehmende Vergewaltigung seiner Person rebellierte. Er grollte ihr ob ihrer immer neuen Siege. Oft zwang er sich, kalt zu bleiben, aber wenn er sie dann auf sich zukommen sah, ward er doch wieder schwach, wie ein Absinthtrinker, den das grüne Gift immer wieder verführt.
Allerdings wandte sie alle Liebeskünste an: von ausgesuchten Genüssen bei Tisch bis zu den Raffinements der Kleidung und den schmachtendsten Zärtlichkeiten. Sie brachte aus ihrem Garten Rosen mit, die sie an der Brust trug und ihm ins Gesicht warf. Sie sorgte sich um seine Gesundheit und gab ihm gute Ratschläge, wie er leben solle. Abergläubisch schenkte sie ihm ein Amulett mit einem Madonnenbildchen. Wie eine ehrsame Mutter erkundigte sie sich nach seinen Freunden und Bekannten.
„Laß sie! Geh nicht aus! Denk nur an mich und bleib mir treu!“
Am liebsten hätte sie ihn überwacht oder gar überwachen lassen. Mitunter kam ihr letzteres in den Sinn. Es trieb sich in der Nähe des Boulogner Hofes regelmäßig ein Tagedieb herum, der dies wohl übernommen hätte. Aber ihr Stolz hielt sie davon ab.
„Mag er mich hintergehen! Dann ist er eben nichts wert! Was tuts? Ich halte ihn nicht!“
Eines Tages ging sie zeitiger von ihm weg als gewöhnlich. Als sie allein den Boulevard hinschlenderte, bemerkte sie die Mauer ihres Klosters. Da setzte sie sich auf eine schattige Bank unter den Ulmen. Wie friedsam hatte sie damals gelebt! Sie bekam Sehnsucht nach den jungfräulichen Vorstellungen von der Liebe, die sie sich damals aus Büchern erträumt hatte ...
Dann erinnerte sie sich an ihre Flitterwochen ... an den Vicomte, mit dem sie Walzer getanzt hatte, ... an die Ritte durch den Wald ... an den Tenor Lagardy ... Alles das zog wieder an ihr vorüber ... Und mit einem Male stand ihr auch Leo so fern wie alles andre.
„Aber ich liebe ihn doch!“ flüsterte sie.
Sie war dennoch nicht glücklich, und nie war sie das gewesen! Warum reichte ihr das Leben nie etwas Ganzes? Warum kam immer gleich Moder in alle Dinge, die sie an ihr Herz zog?
Wenn es irgendwo auf Erden ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisterungsfähig und liebeserfahren zugleich, mit einem Dichterherzen und einem Engelskörper, ein Schwärmer und Sänger, warum war sie ihm nicht zufällig begegnet? Ach, weil das eine Unmöglichkeit ist! Weil es vergeblich ist, ihn zu suchen! Weil alles Lug und Trug ist! Jedes Lächeln verbirgt immer nur das Gähnen der Langweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuß den Ekel, der ihm unvermeidlich folgt! Die heißesten Küsse hinterlassen dem Menschen nichts als die unstillbare Begierde nach der Wollust der Götter!
Eherne Klänge dröhnten durch die Luft. Die Klosterglocke schlug viermal. Vier Uhr! Es dünkte Emma, sie säße schon eine Ewigkeit auf ihrer Bank. Unendlich viel Leidenschaft kann sich in einer Minute zusammendrängen, wie eine Menschenmenge in einem kleinen Raume ...
Emma lebte nur noch für sich selbst. Die Geldangelegenheiten kümmerten sie nicht mehr. Aber eines Tages erschien ein Mann von schäbigem Aussehen und erklärte, Herr Vinçard in Rouen schicke ihn her. Er zog die Stecknadeln heraus, mit denen er die eine Seitentasche seines langen grünen Rockes verschlossen hatte, steckte sie im Ärmelaufschlag fest und überreichte ihr höflich ein Papier. Es war ein Wechsel auf siebenhundert Franken, den sie ausgestellt hatte. Lheureux hatte ihn seinem Versprechen entgegen an Vinçard weitergegeben.
Sie schickte Felicie zu dem Händler. Er könne nicht abkommen, ließ er zurücksagen. Der Unbekannte hatte stehend gewartet und dabei hinter seinen dichten blonden Augenlidern neugierige Blicke auf Haus und Hof gerichtet. Jetzt fragte er einfältig:
„Was soll ich Herrn Vinçard ausrichten?“
„Sagen Sie ihm nur“, gab Emma zur Antwort, „... ich hätte kein Geld! Vielleicht in acht Tagen ... Er solle warten ... Ja, ja, in acht Tagen!“
Der Mann ging, ohne etwas zu erwidern. Aber am Tage darauf erhielt sie eine Wechselklage. Auf der gestempelten Zustellungsurkunde starrten ihr mehrfach die Worte „Hareng, Gerichtsvollzieher in Büchy“ entgegen. Darüber erschrak sie dermaßen, daß sie spornstreichs zu Lheureux lief.
Er stand in seinem Laden und schnürte gerade ein Paket zu.
„Ihr Diener!“ begrüßte er sie. „Ich stehe Ihnen sogleich zur Verfügung!“
Im übrigen ließ er sich in seiner Beschäftigung nicht stören, bei der ihm ein etwa dreizehnjähriges Mädchen half. Es war ein wenig verwachsen und versah bei dem Händler zugleich die Stelle des Ladenmädchens und der Köchin.
Als er fertig war, führte er Frau Bovary hinauf in den ersten Stock. Er ging ihr in seinen schlürfenden Holzschuhen auf der Treppe voran. Oben öffnete er die Tür zu einem engen Gemach, in dem ein großer Schreibtisch mit einem Aufsatz voller Rechnungsbücher stand, die durch eine eiserne, mit einem Vorhängeschloß versehene Stange verwahrt waren. An der Wand stand ein Geldschrank von solcher Größe, daß er sichtlich noch andre Dinge als bloß Geld und Banknoten enthalten mußte. In der Tat lieh Lheureux Geld auf Pfänder aus. In diesem Schrank lagen unter anderm die Kette der Frau Bovary und die Ohrringe des alten Tellier. Der ehemalige Besitzer des Café Français hatte inzwischen sein Grundstück verkaufen müssen und in Quincampoix einen kleinen Kramladen eröffnet. Dort ging er seiner Schwindsucht langsam zugrunde, inmitten seiner Talglichte, die weniger gelb waren als sein Gesicht.
Lheureux setzte sich in seinen großen Rohrstuhl und fragte:
„Na, was gibts Neues?“
Emma hielt ihm die Vorladung hin.
„Hier, lesen Sie!“
„Ja, was geht denn mich das an?“
Diese Antwort empörte sie. Sie erinnerte ihn an sein Versprechen, ihre Wechsel nicht in Umlauf zu bringen. Er gab das zu.
„Aber notgedrungen hab ichs doch tun müssen! Mir saß selber das Messer an der Kehle!“
„Und was wird jetzt geschehn?“
„Ganz einfach! Erst kommt ein gerichtlicher Schuldtitel und dann die Zwangsvollstreckung! Schwapp! Ab!“
Emma konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Sie hätte ihm beinahe ins Gesicht geschlagen. Ruhig fragte sie, ob es denn kein Mittel gebe, Herrn Vinçard zu vertrösten.
„Den und vertrösten! Da kennen Sie Vinçard schlecht! Das ist ein Bluthund!“
Dann müsse eben Lheureux einspringen.
„Hören Sie mal,“ entgegnete er, „mir scheint, daß ich schon genug für Sie eingesprungen bin! Sehen Sie!“ Er schlug seine Bücher auf: „Hier! Am 3. August zweihundert Franken ... am 17. Juni hundertundfünfzig Franken ... am 23. März sechsundvierzig Franken ... am 10. April ...“
Er hielt inne, als fürchte er eine Dummheit zu sagen.
„Dazu kommen noch die Wechsel, die mir Ihr Mann ausgestellt hat, einen zu siebenhundert und einen zu dreihundert Franken! Von Ihren ewigen kleinen Rechnungen und den rückständigen Zinsen gar nicht zu reden! Das ist ja endlos! Da findet sich ja gar niemand mehr hinein! Ich will nichts mehr mit der Sache zu tun haben!“
Emma fing an zu weinen, nannte ihn sogar ihren lieben guten Lheureux, aber er verschanzte sich immer wieder hinter „diesen Schweinehund, den Vinçard“. Übrigens verfüge er selber über keinen roten Heller in bar. Kein Mensch bezahle ihn. Man zöge ihm das Fell über die Ohren. Ein armer Händler, wie er, könne nichts borgen.
Emma schwieg. Lheureux nagte an einem Federhalter. Durch ihr Schweigen sichtlich beunruhigt, sagte er schließlich:
„Na, vielleicht ... wenn dieser Tage was einkommt ...“
Sie unterbrach ihn:
„Wenn ich die letzte Rate für das Grundstück in Barneville bekomme ...“
„Wieso?“
Er tat so, als sei er sehr überrascht, daß Langlois noch nicht gezahlt habe. Mit honigsüßer Stimme sagte er:
„Na, da machen Sie mal einen Vorschlag!“
„Ach, den müssen Sie machen!“
Er schloß die Augen, als ob er sich etwas überlegte. Hierauf schrieb er ein paar Ziffern, und dann erklärte er, er käme sehr schlecht dabei weg, die Geschichte sei faul und er schneide sich in sein eignes Fleisch. Schließlich füllte er vier Wechsel aus, jeden zu zweihundertundfünfzig Franken, mit Fälligkeitstagen, die je vier Wochen auseinanderlagen.
„Vorausgesetzt natürlich, daß Vinçard darauf eingeht!“ sagte er. „Mir solls ja recht sein! Ich fackle nicht lange! Bei mir geht alles wie geschmiert!“
Er zeigte ihr im Vorbeigehen schnell noch ein paar Neuigkeiten.
„Es ist aber nichts für Sie darunter, gnädige Frau!“ meinte er. „Wenn ich bedenke: dieser Stoff, das Meter zu drei Groschen und angeblich sogar waschecht! Die Leute reißen sich drum! Man sagt ihnen natürlich nicht, was wirklich dran ist ... Sie könnens sich ja denken!“
Durch derlei Geständnisse seiner Unreellität andern gegenüber sollte er sich bei ihr als desto ehrlicher hinstellen. Emma war bereits an der Tür, als er sie zurückrief und ihr drei Meter Brokatstickerei zeigte, einen „Gelegenheitskauf“, wie er sagte.
„Prachtvoll! Nicht?“ sagte er. „Man nimmt es jetzt vielfach zu Sofabehängen. Das ist hochmodern!“
Mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers hatte er den Spitzenstoff bereits in blaues Papier eingeschlagen und Emma in die Hände gedrückt.
„Ich muß doch aber wenigstens wissen, was ...“
„Ach, das eilt ja nicht!“ unterbrach er sie und wandte sich einem andern Kunden zu.
Noch an dem nämlichen Abend bestürmte sie Karl, er solle doch seiner Mutter schreiben, daß sie den Rest der Erbschaft schicke. Es kam die Antwort, es sei nichts mehr da. Nach Erledigung aller Verbindlichkeiten verblieben ihm — abgesehen von dem Grundstück in Barneville — jährlich sechshundert Franken, die ihm pünktlich zugehen würden.
Nunmehr verschickte sie an ein paar von Karls Patienten Rechnungen; und da dies von Erfolg war, machte sie das häufiger. Der Vorsicht halber schrieb sie darunter: „Ich bitte, es meinem Manne nicht zu sagen. Sie wissen, wie stolz er in dieser Beziehung ist. Verzeihen Sie gütigst. Ihre sehr ergebene ...“ Hie und da liefen Beschwerden ein, die sie unterschlug.
Um sich Geld zu verschaffen, verkaufte sie ihre alten Handschuhe, ihre abgelegten Hüte, altes Eisen. Dabei handelte sie wie ein Jude. Hier kam ihr gewinnsüchtiges Bauernblut zum Vorschein. Auf ihren Ausflügen nach Rouen erstand sie allerhand Trödel, den Lheureux an Zahlungs Statt annehmen sollte. Sie kaufte Straußenfedern, chinesisches Porzellan, altertümliche Truhen. Sie lieh sich Geld von Felicie, von Frau Franz, von der Wirtin vom „Roten Kreuz“, von aller Welt. Darin war sie skrupellos. Mit dem Geld, das sie noch für das Barneviller Haus bekam, bezahlte sie zwei von den vier Wechseln. Die übrigen fünfzehnhundert Franken waren im Handumdrehen weg. Sie ging neue Verpflichtungen ein und immer wieder welche.
Manchmal versuchte sie allerdings zu rechnen, aber was dabei herauskam, erschien ihr unglaublich. Sie rechnete und rechnete, bis ihr wirr im Kopfe wurde. Dann ließ sie es und dachte gar nicht mehr daran.
Um ihr Haus war es traurig bestellt. Oft sah man Lieferanten mit wütenden Gesichtern herauskommen. Am Ofen trocknete Wäsche. Und die kleine Berta lief zum größten Entsetzen von Frau Homais in zerrissenen Strümpfen einher. Wenn sich Karl gelegentlich eine bescheidene Bemerkung erlaubte, antwortete ihm Emma barsch, es sei nicht ihre Schuld.
„Warum ist sie so reizbar?“ fragte er sich und suchte die Erklärung dafür in ihrem alten Nervenleiden. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht genügend Rücksicht auf ihr körperliches Leiden genommen habe. Er schalt sich einen Egoisten und wäre am liebsten zu ihr gelaufen und hätte sie geküßt.
„Lieber nicht!“ sagte er sich. „Es könnte ihr lästig sein!“
Und er ging nicht zu ihr.
Nach dem Essen schlenderte er allein im Garten umher. Er nahm die kleine Berta auf seine Knie, schlug seine Medizinische Wochenschrift auf und versuchte dem Kind das Lesen beizubringen. Es war noch gänzlich unwissend. Sehr bald machte es große, traurige Augen und begann zu weinen. Da tröstete er es. Er holte Wasser in der Gießkanne und legte ein Bächlein im Kies an, oder er brach Zweige von den Jasminsträuchern und pflanze sie als Bäumchen in die Beete. Dem Garten schadete das nur wenig, er war schon längst von Unkraut überwuchert. Lestiboudois hatte schon wer weiß wie lange keinen Lohn erhalten! Dann fror das Kind, und es verlangte nach der Mutter.
„Ruf Felicie!“ sagte Karl. „Du weißt, mein Herzchen, Mama will nicht gestört werden!“
Es wurde wieder Herbst, und schon fielen die Blätter. Jetzt war es genau zwei Jahre her, daß Emma krank war! Wann würde das endlich wieder in Ordnung sein? Er setzte seinen Weg fort, die Hände auf dem Rücken.
Frau Bovary war in ihrem Zimmer. Kein Mensch durfte sie stören. Sie hielt sich dort den ganzen Tag auf, im Halbschlafe und kaum bekleidet. Von Zeit zu Zeit zündete sie eins der Räucherkerzchen an, die sie in Rouen im Laden eines Algeriers gekauft hatte. Um in der Nacht nicht immer ihren schnarchenden Mann neben sich zu haben, brachte sie es durch allerlei Grimassen so weit, daß er sich in den zweiten Stock zurückzog. Nun las sie bis zum Morgen überspannte Bücher, die von Orgien und von Mord und Totschlag erzählten. Oft bekam sie davon Angstanfälle. Dann schrie sie auf, und Karl kam eiligst herunter.
„Ach, geh nur wieder!“ sagte sie.
Manchmal wieder lief sie, vom heimlichen Feuer des Ehebruchs durchglüht, schwer atmend und in heißer sinnlicher Erregung ans Fenster, sog die kühle Nachtluft ein und ließ sich den Wind um das schwere Haar wehen. Zu den Gestirnen aufblickend, wünschte sie sich die Liebe eines Fürsten ...
Leo trat ihr vor die Phantasie. Was hätte sie in diesem Augenblick darum gegeben, ihn bei sich zu haben und sich von ihm sattküssen zu lassen.
Die Tage des Stelldicheins waren ihre Sonntage, Tage der Verschwendung! Und wenn Leo nicht imstande war, alles allein zu bezahlen, steuerte sie auf das freigebigste dazu bei, was beinahe jedesmal der Fall war. Er versuchte, sie zu überzeugen, daß sie ebensogut in einem einfacheren Gasthofe zusammen kommen könnten. Sie wollte jedoch nichts davon hören.
Eines Tages brachte sie in ihrer Reisetasche ein halbes Dutzend vergoldete Teelöffel mit, das Hochzeitsgeschenk ihres Vaters. Sie bat Leo, sie im Leihhause zu versetzen. Er gehorchte, obgleich ihm dieser Gang sehr peinlich war. Er fürchtete, sich bloßzustellen. Als er hinterher noch einmal darüber nachdachte, fand er, daß seine Geliebte überhaupt recht seltsam geworden sei und daß es vielleicht ratsam wäre, mit ihr zu brechen. Seine Mutter hatte übrigens einen langen anonymen Brief bekommen, in der ihr von irgendwem mitgeteilt worden war, ihr Sohn „ruiniere sich mit einer verheirateten Frau.“ Der guten alten Dame stand sofort der konventionelle Familienpopanz vor Augen: der Vampir, die Sirene, die Teufelin, die im Hexenreiche der Liebe ihr Wesen treibt. Sie wandte sich brieflich an Leos Chef, den Justizrat Dübocage, dem die Geschichte längst schon zu Ohren gekommen war. Er nahm Leo dreiviertel Stunden lang ordentlich ins Gebet, öffnete ihm die Augen, wie er sich ausdrückte, und zeigte ihm den Abgrund, dem er zusteuere. Wenn es zum öffentlichen Skandal käme, sei seine weitere Karriere gefährdet! Er bat ihn dringend, das Verhältnis abzubrechen, wenn nicht im eignen Interesse, so doch in seinem, des Notars.
Leo gab zu guter Letzt sein Ehrenwort, Emma nicht wiederzusehen. Er hielt es nicht. Aber sehr bald bereute er diesen Wortbruch, indem er sich klar ward, in welche Mißhelligkeiten und in was für Gerede ihn diese Frau noch bringen konnte, ganz abgesehen von den Anzüglichkeiten, die seine Kollegen allmorgendlich losließen, wenn sie sich am Kamine wärmten. Er sollte demnächst in die erste Adjunktenstelle rücken. Es ward also Zeit, ein gesetzter Mensch zu werden. Aus diesem Grunde gab er auch das Flötespielen auf. Die Tage der Schwärmereien und Phantastereien waren für ihn vorüber! Jeder Philister hat in seiner Jugend seinen Sturm und Drang, und wenn der auch nur einen Tag, nur eine Stunde währt. Einmal ist jeder der ungeheuerlichsten Leidenschaft und himmelstürmender Pläne fähig. Den spießerlichsten Mann gelüstet es einmal nach einer großen Kurtisane, und selbst im nüchternen Juristen hat sich irgendwann einmal der Dichter geregt.
Es verstimmte Leo jetzt, wenn Emma ohne besondre Veranlassung an seiner Brust schluchzte. Und wie es Leute gibt, die Musik nur in gewissen Grenzen vertragen, so hatte er für die Überschwenglichkeiten ihrer Liebe kein Gefühl mehr. Die wilde Schönheit dieser Herzensstürme begriff er nicht.
Sie kannten einander zu gut, als daß der gegenseitige Besitz sie noch zu berauschen vermochte. Ihre Liebe hatte die Entwicklungsfähigkeit verloren. Sie waren beide einander überdrüssig, und Emma fand im Ehebruche alle Banalitäten der Ehe wieder.
Wie sollte sie sich aber Leos entledigen? So verächtlich ihr die Verflachung ihres Glückes auch vorkam: aus Gewohnheit oder Verderbtheit klammerte sie sich doch daran. Der Sinnengenuß ward ihr immer unentbehrlicher, so sehr sie sich auch nach höheren Wonnen sehnte. Sie warf Leo vor, er habe sie genarrt und betrogen. Sie wünschte sich eine Katastrophe herbei, die ihre Entzweiung zur Folge hätte, weil sie nicht den Mut hatte, sich aus freien Stücken von ihm zu trennen.
Sie hörte nicht auf, ihn mit verliebten Briefen zu überschütten. Ihrer Meinung nach war es die Pflicht einer Frau, ihrem Geliebten alle Tage zu schreiben. Aber beim Schreiben stand vor ihrer Phantasie ein ganz anderer Mann: nicht Leo, sondern ein Traumgebilde, die Ausgeburt ihrer zärtlichsten Erinnerungen, eine Reminiszenz an die herrlichsten Romanhelden, das leibhaft gewordne Idol ihrer heißesten Gelüste. Allmählich ward ihr dieser imaginäre Liebling so vertraut, als ob er wirklich existiere, und sie empfand die seltsamsten Schauer, wenn sie sich in ihn versenkte, obgleich sie eigentlich gar keine bestimmte Idee von ihm hatte. Er war ihr ein Gott, in der Fülle seiner Eigenschaffen unsichtbar. Er wohnte irgendwo hinter den Bergen, in einer Heimat romantischer Abenteuer, unter Rosendüften und Mondenschein. Sie fühlte, er war ihr nahe. Er umarmte und küßte sie ...
Nach solchen Traumzuständen war sie kraftlos und gebrochen. Die Raserei dieses Liebeswahnes erschlaffte sie mehr als die wildeste Ausschweifung.
Mehr und mehr verfiel sie in dauernde Mattheit. Gerichtliche Zustellungen und Vorladungen kamen. Es war ihr unmöglich, sie zu lesen. Leben war ihr eine Last. Am liebsten hätte sie immerdar geschlafen.
Am Fastnachtsabend kam sie nicht nach Yonville zurück. Sie nahm am Maskenballe teil. In seidnen Kniehosen und roten Strümpfen, eine Rokokoperücke auf dem Kopfe und einen Dreimaster auf dem linken Ohr, tollte und tanzte sie durch die laute Nacht. Es bildete sich eine Art Gefolge um sie, und gegen Morgen stand sie unter der Vorhalle des Theaters, umringt von einem halben Dutzend Masken, Bekannten von Leo: Matrosen und Fischerinnen. Man wollte irgendwo soupieren. Die Restaurants in der Nähe waren alle überfüllt. Schließlich entdeckte man einen bescheidenen Gasthof, in dem sie im vierten Stock ein kleines Zimmer bekamen.
Die männlichen Masken tuschelten in einer Ecke; wahrscheinlich einigten sie sich über die Kosten. Es waren zwei Studenten der medizinischen Hochschule, ein Adjunkt und ein Verkäufer. Was für eine Gesellschaft für eine Dame! Und die weiblichen Wesen? An ihrer Ausdrucksweise merkte Emma gar bald, daß sie fast alle der untersten Volksschicht angehören mußten. Nun begann sie sich zu ängstigen. Sie rückte mit ihrem Sessel beiseite und schlug die Augen nieder.
Die andern begannen zu tafeln. Emma aß nichts. Ihre Stirn glühte, ihre Augenlider zuckten, und ein kalter Schauer rieselte ihr über die Haut. In ihrem Hirn dröhnte noch der Lärm des Tanzsaals; es war ihr, als stampften tausend Füße im Takte um sie herum. Dazu betäubte sie der Zigarrenrauch und der Duft des Punsches. Sie wurde ohnmächtig. Man trug sie ans Fenster.
Der Morgen dämmerte. Hinter der Sankt-Katharinen-Höhe stand ein breiter Purpurstreifen auf dem bleichen Himmel. Vor ihr rann der graue Strom, im Winde erschauernd. Kein Mensch war auf den Brücken. Die Laternenlichter verblichen.
Sie erholte sich allmählich und dachte an ihre Berta, die fern in Yonville schlief, im Zimmer des Mädchens. Ein Wagen voll langer Eisenstangen fuhr unten vorüber; das Metall vibrierte in eigentümlichen Tönen ...
Da stahl sie sich in plötzlichem Entschlusse fort. Sie ließ Leo und kam allein zurück in den Boulogner Hof. Alles, selbst ihr eigner Körper war ihr unerträglich. Sie hätte fliegen mögen, sich wie ein Vogel hoch emporschwingen und sich rein baden im kristallklaren Äther.
Nachdem sie sich ihres Kostüms entledigt hatte, verließ sie den Gasthof und ging über den Boulevard, den Causer Platz, durch die Vorstadt, bis zu einer freien Straße mit Gärten. Sie ging rasch. Die frische Luft beruhigte sie. Nach und nach vergaß sie die lärmende Menge, die Masken, die Tanzmusik, das Lampenlicht, das Souper, die Dirnen. Alles war weg wie der Nebel im Winde. Im „Roten Kreuz“ angekommen, warf sie sich aufs Bett. Es war in demselben Zimmer des zweiten Stocks, wo ihr Leo damals seinen ersten Besuch gemacht hatte. Um vier Uhr nachmittags ward sie von Hivert geweckt.
Zu Haus zeigte ihr Felicie ein Schriftstück, das hinter der Uhr steckte. Emma las:
„Beglaubigte Abschrift. Urteilsausfertigung ...“ Sie hielt inne. „Was für ein Urteil?“ Sie besann sich.
Etliche Tage vorher war ein andres Schriftstück abgegeben worden, das sie ungelesen beiseitegelegt hatte. Erschrocken las sie weiter:
„ Im Namen des Königs! ...“ Sie übersprang einige Zeilen. „... binnen einer Frist von vierundzwanzig Stunden ... achttausend Franken ...“ Und unten: „Vorstehende Ausfertigung wird ... zum Zwecke der Zwangsvollstreckung erteilt ...“
Was sollte sie dagegen tun? Binnen vierundzwanzig Stunden!
„Die sind morgen abgelaufen!“ sagte sie sich. „Unsinn! Lheureux will mir nur angst machen!“
Mit einem Male aber durchschaute sie alle seine Machenschaften, den Endzweck aller seiner Gefälligkeiten. Das einzige, was sie etwas beruhigte, war gerade die enorme Höhe der Schuldsumme. Durch ihre fortwährenden Käufe, ihr Nichtbarbezahlen, die Darlehen, das Ausstellen von Wechseln, die Zinsen, die Prolongationen, Provisionen usw. waren ihre Schulden bis zu dieser Höhe angelaufen. Lheureux wartete auf dieses Geld ungeduldig. Er brauchte es zu neuen Geschäften.
Mit unbefangener Miene trat Emma in sein Kontor.
„Wissen Sie, was mir da zugefertigt worden ist? Das ist wohl ein Scherz!“
„Bewahre!“
„Wieso aber?“
Er wandte sich ihr langsam zu, verschränkte die Arme und sagte:
„Haben Sie sich wirklich eingebildet, meine Verehrteste, daß ich bis zum Jüngsten Tage Ihr Hoflieferant und Bankier bliebe? Für nichts und wieder nichts? Es ist vielmehr die höchste Zeit, daß ich mein Geld zurückkriege! Das werden Sie doch einsehen!“
Sie bestritt die Höhe der Schuldsumme.
„Ja, das tut mir leid!“ erwiderte der Händler. „Das Gericht hat die Forderung anerkannt. Gegen den Schuldtitel ist nichts zu machen. Sie haben ja die Vorladung bekommen! Übrigens bin ich nicht der Kläger, sondern Vinçard.“
„Könnten Sie denn nicht ...“
„Ich kann gar nichts!“
„Aber ... sagen Sie ... überlegen wir uns einmal ...“
Sie redete hin und her. Sie habe nicht gewußt, sie sei überrascht worden ...
„Ist das denn meine Schuld?“ fragte Lheureux mit einer höhnischen Geste. „Während ich mich hier abplagte, haben Sie herrlich und in Freuden gelebt!“
„Wollen Sie mir eine Moralpredigt halten?“
„Das könnte nichts schaden!“
Sie wurde feig und legte sich aufs Bitten. Dabei ging sie so weit, daß sie den Händler mit ihrer schmalen weißen Hand berührte.
„Lassen Sie mich zufrieden!“ wehrte er ab. „Am Ende wollen Sie mich gar noch verführen!“
„Sie sind ein gemeiner Mensch!“ rief sie aus.
„Na, na!“ lachte er. „Werden Sie nur nicht gleich ungnädig!“
„Ich werde allen Leuten erzählen, was für ein Mensch Sie sind! Ich werde meinem Manne sagen ...“
„Und ich werde Ihrem Manne was zeigen ...“
Er entnahm seinem Geldschranke Emmas Empfangsbestätigung der Summe für das verkaufte Grundstück.
„Glauben Sie, daß er das nicht für einen kleinen Diebstahl halten wird, der arme gute Mann?“
Sie brach zusammen, wie von einem Keulenschlage getroffen. Lheureux lief zwischen seinem Schreibtisch und dem Fenster hin und her und sagte immer wieder:
„Jawohl, das zeig ich ihm ... das zeig ich ihm ...“
Plötzlich trat er vor Emma hin und sagte in wieder friedlichem Tone:
„'s ist grade kein Vergnügen — das weiß ich wohl! — aber es ist noch niemand dran gestorben, und da es der einzige Weg ist, der Ihnen bleibt, um mich zu bezahlen ...“
„Aber wo soll ich denn das viele Geld hernehmen?“ jammerte Emma und rang die Hände.
„Na, wenn man Freunde hat wie Sie!“
Er sah sie scharf und so tückisch an, daß ihr dieser Blick durch Mark und Bein ging.
„Ich will Ihnen einen neuen Wechsel geben ...“
„Danke! Habe genug von den alten!“
„Könnte ich nicht was verkaufen?“
„Was denn?“ fragte er achselzuckend. „Sie besitzen doch gar nichts!“ Dann rief er durch das kleine Schiebfensterchen in seinen Laden hinein: „Anna, vergiß nicht die drei Stück Tuch Nummer vierzehn!“
Das Mädchen trat ein. Emma begriff, was das heißen sollte. Sie machte einen letzten Versuch.
„Wieviel Geld wäre dazu nötig, die Zwangsvollstreckung aufzuhalten?“
„Es ist schon zu spät!“ antwortete Lheureux.
„Wenn ich nun aber ein paar Tausend Franken brächte? Ein Viertel der Summe? ... Ein Drittel? ... Und noch mehr?“
„Das hätte alles keinen Zweck!“
Er drängte sie sanft dem Ausgange zu.
„Ich beschwöre Sie, bester Herr Lheureux! Nur ein paar Tage Zeit!“
Sie schluchzte.
„Donnerwetter! Gar noch Tränen!“
„Sie bringen mich zur Verzweiflung!“ jammerte sie.
„Mir auch egal!“
Er machte die Türe zu.
Mit stoischem Gleichmut empfing Emma am andern Tage den Gerichtsvollzieher Hareng und seine zwei Zeugen, als sie sich einstellten, um das Pfändungsprotokoll aufzusetzen.
Sie begannen in Bovarys Sprechzimmer. Den phrenologischen Schädel schrieben sie indessen nicht mit in das Sachenverzeichnis. Sie erklärten ihn als zur Berufsausübung nötig. Aber in der Küche zählten sie die Schüsseln, Töpfe, Stühle und Leuchter, und in ihrem Schlafzimmer die Nippsachen auf dem Wandbrette. Sie durchstöberten ihren Kleidervorrat, ihre Wäsche. Sogar der Klosettraum war vor ihnen nicht sicher. Emmas Existenz ward bis in die heimlichsten Einzelheiten — wie ein Leichnam in der Anatomie — den Blicken der drei Männer preisgegeben. Der Gerichtsvollzieher, der einen fadenscheinigen schwarzen Rock, eine weiße Krawatte und Stege an den straffen Beinkleidern trug, wiederholte immer wieder:
„Sie erlauben, gnädige Frau! Sie erlauben!“
Mitunter entfuhren ihm auch Worte wie:
„Wunderhübsch! Sehr nett!“
Gleich darauf aber schrieb er von neuem an seinem Verzeichnis, wobei er seinen Federhalter in sein Taschentintenfaß aus Horn tauchte, das er in der linken Hand hielt.
Als man in den Wohnräumen fertig war, ging es hinauf in die Bodenkammern. Als der Gerichtsvollzieher ein Schreibpult bemerkte, in dem Rudolfs Briefe aufbewahrt waren, ordnete er an, daß es geöffnet werde.
„Ah! Briefe!“ meinte er, geheimnisvoll lächelnd. „Sie erlauben wohl! Ich muß mich nämlich überzeugen, ob nicht sonst noch was drinnen steckt!“
Er blätterte die Bündel flüchtig durch, als sollten Goldstücke herausfallen. Emma war empört, als sie sah, wie seine plumpe rote Hand mit den molluskenhaften Fettfingern diese Blätter anfaßte, bei deren Empfang ihr Herz einst höher geschlagen hatte.
Endlich gingen sie. Felicie kam zurück. Sie hatte den Auftrag gehabt, aufzupassen und Bovary vom Hause fernzuhalten. Den Beamten, der zur Beaufsichtigung der gepfändeten Gegenstände zurückblieb, quartierten sie hurtig in einer Bodenkammer ein.
Karl schien an diesem Abend ernster denn sonst zu sein. Emma beobachtete ihn ängstlich. Es kam ihr vor, als stünden in den Falten seiner Stirn stumme Anklagen wider sie. Aber wenn ihre Blicke den chinesischen Ofenschirm streiften oder die breiten Gardinen oder die Lehnsessel, kurz alle die Dinge, mit denen sie sich die Armseligkeit ihres Lebens verschönt hatte, fühlte sie kaum einen Moment Reue, hingegen ein grenzenloses Mitleid mit sich selber, das ihre Wünsche eher noch anfachte als unterdrückte.
Karl saß friedlich am Kamin und fühlte sich höchst behaglich. Einmal rumorte der Gerichtsdiener, der sich in seinem Käfige langweilte.
„Ging da nicht oben einer?“ fragte Karl.
„Nein!“ beschwichtigte sie ihn. „Da war wahrscheinlich ein Dachfenster offen, und der Wind hat es zugeschlagen.“
Am andern Tag, einem Sonntag, fuhr sie früh nach Rouen, wo sie alle Bankiers aufsuchte, die sie dem Namen nach kannte. Die meisten waren auf dem Lande oder auf Reisen. Aber sie ließ sich nicht abschrecken und ging die Anwesenden um Geld an, indem sie beteuerte, sie brauche es und wolle es pünktlich zurückzahlen. Einige lachten ihr ins Gesicht. Alle wiesen sie ab.
Um zwei Uhr lief sie zu Leo und klopfte an seiner Türe. Es öffnete niemand. Endlich kam er von der Straße her.
„Was führt dich her?“
„Störe ich dich?“
„Nein ... aber ...“
Er gestand, sein Wirt sähe es nicht gern, wenn man „Damen“ bei sich empfinge.
„Ich muß dich sprechen!“ sagte sie.
Da nahm er den Schlüssel, aber sie hinderte ihn am Aufschließen.
„Nein! Nicht hier! Bei uns!“
Sie gingen nach dem Boulogner Hof in ihr Zimmer.
Emma trank zunächst ein großes Glas Wasser. Sie war ganz bleich. Dann sagte sie:
„Leo, du wirst mir einen Dienst erweisen!“
Sie faßte seine Hände, drückte sie fest und fügte hinzu:
„Hör mal: ich brauche achttausend Franken!“
„Du bist verrückt!“
„Noch nicht!“
Nun erzählte sie ihm rasch die Geschichte der Pfändung und klagte ihm ihre Notlage. Karl wisse von nichts; mit ihrer Schwiegermutter stehe sie auf gespanntem Fuße, und ihr Vater könne ihr wirklich nicht helfen. Doch er, Leo, müsse ihr diese unbedingt nötige Summe schleunigst verschaffen.
„Wie soll ich das?“
„Du willst bloß nicht!“ sagte sie aufgeregt.
Er stellte sich dumm:
„Es wird nicht so gefährlich sein! Mit tausend Talern wird der Biedermann schon zufrieden sein!“
„Vielleicht. Schaff sie mir nur!“ sagte sie. Dreitausend Franken seien allemal aufzutreiben! Leo möge sie doch einstweilen auf seinen Namen aufnehmen.
„Geh! Versuchs! Es muß sein! Schnell! Schnell! Ich will dich dafür auch recht liebhaben!“
Er ging und kam nach einer Stunde zurück. Mit einem Gesicht, als ob er wer weiß was zu verkünden hätte, sagte er:
„Ich war bei drei Personen ... umsonst!“
Darauf saßen sie einander gegenüber am Kamin, regungslos, ohne zu sprechen. Emma zuckte mit den Achseln und trippelte vor Ungeduld mit den Füßen. Er hörte, wie sie ganz leise sagte:
„Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich wüßte, wo ich das Geld auftriebe!“
„Wo denn?“
„In eurer Kanzlei!“
Sie sah ihn starr an.
Aus ihren fiebernden Augen sprach ein wilder Dämon. Zwischen ihren sich berührenden Wimpern lockten Sinnlichkeit und Sünde so stark, daß der junge Mann unter der stummen Verführungskraft dieses Weibes, das ihn zum Verbrecher machen wollte, nahe daran war, zu erliegen. Er fühlte seine Schwachheit. Jähe Furcht ergriff ihn, und um jeder weiteren Erörterung zu entgehen, schlug er sich vor die Stirn und rief aus:
„Morel kommt ja heute nacht zurück!“ Morel war ein Freund von ihm, der Sohn eines sehr wohlhabenden Kaufmanns. „Der schlägts mir nicht ab! Ich werde dir das Geld morgen vormittag bringen.“
Offenbar machte seine Zuversicht auf Emma einen viel weniger freudigen Eindruck, als er erwartet hatte. Durchschaute sie seine Lüge?
Errötend fuhr er fort:
„Wenn ich morgen bis drei Uhr nicht bei dir sein sollte, dann warte nicht länger auf mich, Schatz! Jetzt muß ich aber wirklich fort! Entschuldige mich! Lebwohl!“
Er drückte ihr die Hand, die schlaff in der seinen lag. Emma hatte alle Kraft verloren ...
Als es vier Uhr schlug, stand sie auf, um nach Yonville zurückzufahren. Nichts mehr trieb sie als die Gewohnheit.
Das Wetter war prächtig. Ein klarer kalter Märztag. Die Sonne strahlte auf einem kristallreinen Himmel. Sonntäglich gekleidete Bürger gingen mit zufriedenen Gesichtern spazieren. Als Emma den Notre-Dame-Platz überschritt, war die Vesper gerade zu Ende. Die Menge strömte aus den drei Türen des Hauptportals wie ein Strom aus einer dreibogigen Brücke.
Emma dachte zurück an den Tag, da sie mit Hangen und Bangen in das Mittelschiff eingetreten war, das sich so hoch vor ihr wölbte und ihr damals doch klein erschien im Vergleich zu ihrer grenzenlosen Liebe ... Sie ging weiter. Unter ihrem Schleier strömten die Tränen über ihre Wangen. Sie war wie betäubt, sie schwankte und war einer Ohnmacht nahe.
„Vorsehen!“ rief eine Stimme aus einem Torwege.
Sie blieb stehen, um einen hochtretenden Rappen vorbeizulassen, der, in der Gabel eines Dogcarts, aus dem Hause herauskam. Ein Herr in einem Zobelpelz kutschierte ...
„Wer war das doch?“ fragte sie sich. Er kam ihr bekannt vor. Das Gefährt fuhr im Trabe fort und war bald verschwunden.
„Aber das war doch der Vicomte!“
Emma wandte sich um, aber die Straße war leer. Sie fühlte sich so niedergeschlagen, so traurig, daß sie sich an die Wand eines Hauses lehnen mußte, um nicht umzusinken. Sie grübelte darüber nach, ob es wirklich der Vicomte gewesen war. Vielleicht, vielleicht auch nicht! Was lag daran? Sie war eine Verlassene, vor sich selber und vor andern! Eine Verlorene, vom Geratewohl gegen die Klippen des Lebens getrieben ... Und so empfand sie beinahe Freude, als sie, am „Roten Kreuz“ angelangt, den trefflichen Homais traf, der das Aufladen einer großen Kiste voll Apothekerwaren in die Post überwachte. In der Hand hielt er, in ein Halstuch eingewickelt, sechs Stück Pumpernickel, die er seiner Frau mitbringen wollte.
Frau Homais liebte diese kleinen schweren Brote sehr, die in der Normandie seit uralten Zeiten in Form eines Turbans gebacken und in der Fastenzeit mit gesalzner Butter gegessen werden. Man buk sie bereits zur Zeit der Kreuzzüge. Die wetterfesten alten Normannen stopften sich voll davon, und wenn sie diese Brote beim gelben Fackellicht vor sich auf dem Tische liegen sahen, zwischen riesigen Beefsteaken und Methumpen, mochten sie sich einbilden, Sarazenenköpfe zu vertilgen. Die Apothekersfrau verzehrte sie mit nicht geringerem Heldenmute; sie hatte nämlich abscheulich schlechte Zähne.
„Bin entzückt, Sie zu sehen!“ rief Homais, bot Emma die Hand und half ihr beim Einsteigen in die Postkutsche.
Dann legte er seine Pumpernickel hinauf in das Gepäcknetz, nahm seinen Hut ab und setzte sich mit verschränkten Armen und einer napoleonischen Denkermiene in die Ecke. Als unterwegs wie immer der Blinde am Straßengraben auftauchte, bemerkte er:
„Es ist mir unverständlich, daß die Behörde nach wie vor dieses schandbare Gewerbe duldet! Solche Vagabunden sollte man einsperren und zur Arbeit zwingen! Auf Ehre, die Kultur schleicht bei uns im Schneckengange vorwärts! Wir waten noch in Barbarei!“
Der Blinde steckte seinen Hut so durchs Wagenfenster, daß er wie eine halb abgerissene Wagentasche auf und nieder wippte.
„Er hat eine skrofulöse Affektion“, dozierte der Apotheker.
Obgleich er den armen Schelm schon längst kannte, tat er doch, als sähe er ihn zum ersten Male. Er murmelte etwas von Hornhaut, Star, Sklerotika, Facies vor sich hin. Dann riet er ihm in salbungsvollem Tone:
„Hast du dieses schreckliche Gebrechen schon lange, mein Sohn? Du solltest vor allem Diät halten, statt dich in der Kneipe zu betanken! Gut essen und gut trinken ist immer die Hauptsache.“
Der Blinde leierte sein Lied ab. Er war zweifellos geistig beschränkt.
Schließlich zog Homais seine Börse.
„Hier hast du einen Fünfer, gib mir einen Dreier wieder raus und vergiß nicht, was ich dir verordnet habe! Es wird dir gut bekommen!“
Hivert erlaubte sich, ganz laut die Wirksamkeit seines Rezepts zu bezweifeln. Da versicherte Homais dem Manne, lediglich eine „antiphlogistische Salbe eignen Fabrikats“ könne ihn heilen. Er gab ihm seine Adresse:
„Apotheker Homais, am Markt, allgemein bekannt!“
„So, nun zeig mal zum Dank den Herrschaften, was du Schönes kannst!“ rief ihm Hivert zu.
Der Blinde ließ sich in die Knie nieder, warf den Kopf zurück, rollte mit seinen grünlichen Augen und streckte die Zunge heraus. Dazu rieb er sich die Magengegend mit den Händen und stieß ein dumpfes Geheul aus wie ein halbverhungerter Hund.
Emma ward übel. Sie warf ihm über die Schulter ein Fünffrankenstück zu. Es war ihr ganzes Geld. Es kam ihr edel vor, es so wegzuwerfen.
Der Wagen war schon ein ziemliches Stück weiter, als sich Homais plötzlich aus dem Fenster lehnte und hinausrief:
„Und keine Mehlspeisen und keine Milch! Wolle auf dem Leibe tragen! Und Wacholderdämpfe auf die kranken Teile!“
Der Anblick der wohlbekannten Gegend, die an Emma vorüberzog, lenkte sie ein wenig von ihrem Schmerz ab. Eine unbezwingliche Müdigkeit überkam sie. Ganz erschöpft, lebensmüde und verschlafen langte sie in Yonville an.
„Mag nun kommen, was will!“ dachte sie beim Aussteigen. „Zu guter Letzt, wer weiß? Kann nicht jeden Augenblick ein unerwartetes Ereignis eintreten? Sogar Lheureux kann sterben ...“
Am andern Morgen wurde sie durch ein Geräusch auf dem Markt wach. Es war ein Gedränge um ein großes Plakat entstanden, das an einem der Pfeiler der Hallen angeschlagen war. Sie sah, wie Justin auf einen Prellstein stieg und es abriß. Aber im selben Moment faßte ihn der Schutzmann am Kragen. In diesem Augenblick trat Homais aus seiner Apotheke, und auch Frau Franz tauchte laut redend mitten in der Volksmenge auf.
„Gnädige Frau! Gnädige Frau!“ rief Felicie, die ins Zimmer stürzte.
Das arme Ding war außer sich. Sie hielt einen gelben Zettel in der Hand, den sie von der Haustüre abgerissen hatte. Emma überflog ihn. Es war die Versteigerungsankündigung.
Dann sahen sich beide wortlos an. Herrin und Dienerin hatten längst keine Geheimnisse mehr voreinander. Seufzend sagte Felicie nach einer Weile:
„An der Stelle der gnädigen Frau ging ich mal zum Notar Guillaumin.“
„Meinst du?“
Diese Frage bedeutete: „Durch dein Verhältnis mit dem Diener dieses Hauses weißt du doch Bescheid. Interessiert sich dieser Junggeselle für mich?
„Ja, gehn Sie nur, gnädige Frau! Es wird Ihnen nützen!“
Emma kleidete sich an. Sie zog ihr schwarzes Kleid an und setzte einen Kapotthut mit Jettbesatz auf. Damit man sie nicht sähe — es standen immer noch eine Menge Leute auf dem Markte -, ging sie zur Gartenpforte hinaus und den Weg am Bache hin.
Atemlos erreichte sie das Gittertor des Notars. Der Himmel war grau. Es schneite ein wenig. Auf ihr Klingeln hin erschien Theodor in einer roten Jacke auf der Freitreppe. Dann kam er und öffnete ihr. Er behandelte sie mit einer gewissen Vertraulichkeit, als ob sie ins Haus gehörte, und führte sie in das Eßzimmer.
Emmas Blick fiel flüchtig auf den breiten Porzellanofen, vor dem ein mächtiger Kaktus stand. An den braun tapezierten Wänden hingen in schwarzen Holzrahmen ein paar Kupferstiche: wollüstige Frauengestalten. Der gedeckte Tisch, die silbernen Schüsselwärmer, der Kristallgriff der Türklinke, der Parkettboden, die Möbel, alles blinkte in reinlicher, germanischer Sauberkeit.
„So ein Eßzimmer müßte ich haben!“ dachte Emma.
Der Notar trat ein. Er drückte seinen mit Palmenblattstickerei verzierten Schlafrock mit dem linken Arm gegen den Leib; mit der andern Hand nahm er sein braunsamtnes Hauskäppchen zum Gruße ab und setzte es rasch wieder auf. Es saß ihm kokett etwas auf der rechten Seite seines kahlen Schädels, über den drei lange blonde Haarsträhnen liefen.
Nachdem er Emma einen Stuhl angeboten hatte, setzte er sich an den Tisch, um zu frühstücken. Er entschuldigte sich ob dieser Unhöflichkeit.
„Herr Notar,“ sagte sie, „ich möchte Sie bitten ...“
„Um was denn, gnädige Frau? Ich bin ganz Ohr!“
Sie begann ihm ihre Lage zu schildern.
Guillaumin wußte bereits alles, da er in geheimer Geschäftsverbindung mit Lheureux stand, der ihm die Hypothekengelder zu verschaffen pflegte, die man dem Notar zu besorgen Auftrag gab. Somit kannte er — und besser als Emma — die lange Geschichte ihrer Wechsel, die erst unbedeutend gewesen, von den verschiedensten Leuten diskontiert, auf lange Fristen ausgestellt und dann immer wieder prolongiert worden waren. Jetzt hatte sie der Händler allesamt protestieren lassen und auf seinen Freund Vinçard abgeschoben, der die Angelegenheit nun in seinem Namen verfolgte, damit der andre bei seinen Mitbürgern nicht in den Ruf eines Halsabschneiders gerate.
Sie unterbrach ihre Erzählung häufig durch Beschuldigungen gegen Lheureux, auf die der Notar ab und zu mit ein paar nichtssagenden Worten antwortete. Er verzehrte sein Kotelett und trank seinen Tee, — wobei er das Kinn gegen seine himmelblaue, mit einer Brillantnadel geschmückte Krawatte einzog. Ein sonderbares, süßliches und zweideutiges Lächeln spielte um seine Lippen. Als er sah, daß Emma nasse Schuhe hatte, sagte er:
„Kommen Sie doch näher an den Ofen heran! Halten Sie die Schuhe doch an die Kacheln ... höher!“
Sie befürchtete, die Porzellankacheln zu beschmutzen. Aber der Notar sagte galant:
„Schöne Sachen verderben nie etwas!“
Sie machte einen Versuch, ihn zu rühren. Das brachte sie aber nur selbst in Rührung. Sie erzählte ihm von der Enge ihres häuslichen Lebens, von ihrem Unbefriedigtsein, von ihren Bedürfnissen. Der Notar verstand das: eine elegante Frau! Und ohne sich vom Essen abhalten zu lassen, drehte er seinen Stuhl nach ihr um. Er berührte mit einem Knie ihren Schuh, dessen Sohle am heißen Ofen zu dampfen begann.
Als sie ihn aber um tausend Taler anging, biß er sich auf die Lippen und erklärte, es tue ihm ungemein leid, daß er die Verwaltung ihres Vermögens nicht rechtzeitig in die Hände bekommen habe. Es gäbe tausend Möglichkeiten, selbst für eine Dame, ihr Geld gewinnbringend anzulegen. Beispielsweise wären die Torfgruben von Grümesnil oder Bauland in Havre bombensichere Spekulationen. Er machte Emma rasend vor Wut, angesichts der enormen Summen, die sie zweifellos dabei gewonnen hätte.
„Weshalb sind Sie denn nicht zu mir gekommen?“
„Das weiß ich selber nicht“, erwiderte sie.
„Na, warum denn nicht? Sie haben wohl Angst vor mir gehabt? Ich sollte Ihnen wirklich deshalb böse sein! Wir hätten uns schon längst kennen lernen sollen! Ich bin aber trotzdem Ihr gehorsamster Diener! Das werden Sie mir doch glauben, hoffe ich!“
Er faßte nach ihrer Hand, drückte einen gierigen Kuß darauf und behielt sie dann auf seinem Knie. Er liebkoste ihre Finger und sagte ihr tausend Schmeicheleien. Seine fade Stimme gurgelte wie Wasser im Rinnstein. Seine stechenden Augen funkelten durch die spiegelnden Brillengläser; während seine Hände in die Ärmelöffnung von Emmas Kleid fuhren, um ihren Arm zu betasten. Sie fühlte seinen schnaubenden Atem auf ihrer Wange.
Sie sprang auf und sagte:
„Herr Guillaumin, ich warte ...“
„Worauf?“ sagte der Notar, plötzlich ganz bleich geworden.
„Auf das Geld!“
„Aber ...“ In seiner Lüsternheit ließ er sich bewegen zu sagen: „Na ja ...“
Trotz seines Schlafrockes fiel er vor Emma auf die Knie und keuchte:
„Bitte, bleiben! Ich liebe Sie!“
Er umschlang ihre Taille.
Ein Blutstrom schoß Emma in die Wangen. Empört machte sie sich von dem Manne los und rief:
„Sie nützen mein Unglück aus! Das ist schamlos! Ich bin beklagenswert, aber nicht käuflich!“
Damit eilte sie hinaus.
Der Notar sah ihr ganz verdutzt nach. Sein Blick fiel auf seine schönen gestickten Pantoffeln. Sie waren ein Geschenk von zarter Hand. Dieser Anblick tröstete ihn schließlich. Überdies fiel ihm ein, daß ihn ein derartiges Abenteuer zu wer weiß was hätte verleiten können.
„Ein gemeiner Mensch! Ein Lump! Ein ehrloser Kerl!“ sagte Emma bei sich, als sie hastigen Schritts an den Pappeln hinging. Ihre Enttäuschung über den Mißerfolg verstärkte die Empörung ihres Schamgefühls. Es war ihr, als verfolge sie ein unseliges Geschick, und dieses Gefühl erfüllte sie von neuem mit Stolz. Nie in ihrem Leben war sie hochmütiger und selbstbewußter gewesen und noch nie so voller Menschenverachtung. Ein wilder Trotz entflammte sie. Sie hätte alle Männer schlagen, ihnen ins Gesicht speien, sie niedertreten mögen. Während sie weitereilte, bleich, zitternd, verbittert, irrten ihre tränenreichen Augen den grauen Horizont hin. Mit einer gewissen Wollust bohrte sie sich in Haß hinein.
Als sie ihr Haus von weitem wiedersah, erstarrte sie. Die Beine versagten ihr. Sie konnte nicht weiter ... Aber es mußte sein! Wohin hätte sie fliehen können?
Felicie erwartete sie an der kleinen Pforte.
„Gnädige Frau?“
„Es war umsonst!“
Eine Viertelstunde lang gingen sie zusammen alle Yonviller durch, die vielleicht ihr zu helfen geneigt wären. Aber bei jedem Namen, den Felicie nannte, wandte Emma ein:
„Unmöglich! Die tun es nicht!“
„Der Herr Doktor muß jeden Augenblick nach Hause kommen!“
„Ich weiß es! Laß mich allein!“
Sie hatte alles versucht. Nun mußte sie den Dingen ihren Lauf lassen. Karl würde heimkommen. Sie mußte ihm sagen:
„Geh wieder! Der Teppich, auf dem du stehst, ist nicht mehr unser. In diesem Haus gehört uns kein Stuhl mehr, kein Nagel, kein Halm Stroh! Und ich, ich habe dich zugrunde gerichtet. Armer Mann!“
Dann würde es eine große Szene geben, sie würde maßlos weinen, und wenn sich die erste Bestürzung gelegt hätte, würde er ihr verzeihen!
„Ja! Er wird mir verzeihen!“ murmelte sie in verhaltener Wut. „Er! Er, dem ich nicht für eine Million verzeihen kann, daß ich die Seine geworden bin! Niemals! Niemals!“
Der Gedanke, Bovary könnte die Überlegenheit über sie erringen, empörte sie. Ob sie ihm ein Geständnis machte oder nicht, jetzt sofort, nach ein paar Stunden oder morgen: er mußte doch alles erfahren. Und dann war die gräßliche Szene da, und sie hatte die Zentnerlast seiner Großmut zu tragen!
Wiederum überlegte sie, ob sie nicht noch einmal zu Lheureux gehen solle? Aber das nützte ja nichts! Oder ihrem Vater schreiben? Dazu war es zu spät! Beinahe bereute sie es, dem Notar nicht gefügig gewesen zu sein, — da hörte sie den Hufschlag eines Pferdes in der Allee. Es war Karl. Er öffnete das Hoftor. Sie sah ihn: er war weißer als Kalk.
Da lief sie eilends die Treppe hinunter und aus der Haustür hinaus nach dem Markt. Die Frau Bürgermeister stand vor der Kirchentür und sprach mit dem Kirchendiener. Sie beobachtete, wie Emma in dem Hause verschwand, wo der Steuereinnehmer wohnte. Schnell ging sie zu Frau Caron, die ihm gegenüber in der Ecke des Marktes wohnte, und klatschte ihr diese Neuigkeit. Die beiden Frauen stiegen zusammen auf den Oberboden, wo sie sich, gedeckt durch aufgehängte Wäsche, so aufstellten, daß sie bequem in Binets Dachstübchen sehen konnten.
Er war allein und saß an seiner Drehbank, gerade dabei beschäftigt, eine völlig zwecklose Spielerei aus Holz fertigzustellen. Im Halbdunkel seiner Werkstatt sprühte der helle Holzstaub aus seiner Maschine hervor, wie Funkenbüschel unter den Eisen eines galoppierenden Pferdes. Die beiden Räder schnurrten und kreisten. Binet lächelte mit aufmerksamer Miene, den Kopf etwas vorgebeugt. Er war sichtlich völlig versunken in sein Schöpferglück. Gerade das Handwerksmäßige, das der Intelligenz nur leichte Schwierigkeiten bietet, befriedigt den Menschen ungemein, wenn es vollendet ist, denn es gibt dabei ja kein ideales Darüberhinaus, das man ersehnen könnte.
„Ah, da ist sie!“ sagte Frau Tüvache.
Infolge des Geräusches der Drehbank vermochten sie nicht zu verstehen, was drüben gesprochen wurde. Nur einmal glaubten sie, das Wort „Taler“ zu hören, worauf Frau Caron flüsterte:
„Sie bittet ihn um Aufschub der Steuern.“
„Es scheint so“, meinte die andre.
Sie beobachteten, wie Emma in Binets Stube hin und her ging und die Serviettenringe, die Leuchter und all seinen andern zur Schau ausgelegten Krimskram besichtigte, während sich der Steuereinnehmer wohlgefällig den Bart strich.
„Will sie bei ihm etwas bestellen?“ fragte Frau Tüvache.
„Er verkauft doch nie etwas!“
Dann sah man, daß Binet ihr aufmerksam zuhörte. Er riß die Augen weit auf. Offenbar verstand er sie nicht. Sie redete weiter, eindringlich, flehend. Sie näherte sich ihm. Sie war sichtlich erregt. Jetzt schwiegen sie beide.
„Macht sie ihm gar einen Antrag?“ flüsterte Frau Tüvache. Binet bekam einen roten Kopf. Emma erfaßte seine Hände.
„Nein, das ist doch stark!“ zischelte Frau Caron.
In der Tat mußte Emma etwas Schändliches von Binet gefordert haben, denn dieser tapfere Veteran, der bei Dresden und Leipzig mitgekämpft hatte und dekoriert worden war, wich plötzlich vor ihr zurück, als ob ihn eine Natter stechen wollte, und rief aus:
„Frau Bovary, was muten Sie mir zu!“
„Solche Frauenzimmer sollte man öffentlich auspeitschen!“ eiferte Frau Tüvache.
„Wo ist sie denn mit einem Male hin?“ erwiderte die andre.
Wenige Augenblicke später sahen sie Emma die Hauptstraße hinausgehen und dann links verschwinden, wo der Weg zum Friedhof abzweigt. Die beiden Horcherinnen erschöpften sich in allerhand Vermutungen.
Emma lief zur alten Frau Rollet.
„Machen Sie mir das Korsett auf! Ich ersticke!“
Mit diesen Worten trat sie bei ihr ein. Dann sank sie auf das Bett und begann zu schluchzen. Die Frau deckte sie mit einem Rocke zu und blieb vor ihr stehen. Da Emma auf keine ihrer Fragen antwortete, ging sie schließlich hinaus, holte ihr Spinnrad und begann zu spinnen.
„Ach, hören Sie auf!“ sagte Emma leise. Es war ihr, als höre sie noch Binets Drehbank.
„Was mag sie nur haben?“ fragte sich Frau Rollet. „Warum ist sie hergekommen?“
Was ahnte sie von der Angst, die Frau Bovary aus ihrem Hause gejagt hatte?
Emma lag auf dem Rücken, regungslos, mit stieren Augen, die keinen Gegenstand deutlich sahen, so sehr sie sich mit idiotischer Beharrlichkeit bemühte, scharf zu beobachten. Sie starrte auf die brüchigen Stellen der Mauer, auf das armselige bißchen Holz, das im Kamine qualmte, auf eine große Spinne, die gerade über ihr an einem rissigen Deckenbalken hinkroch ...
Endlich kam Ordnung in ihre Gedanken. Erinnerungen tauchten auf ... der Tag, an dem sie mit Leo hier gewesen war ... Ach, wie weit lag das zurück! Die Sonne hatte im Bache geglitzert, und die Klematisranken hatten sie im Vorübergehen gestreift ... Tausend andre Erinnerungen umwirbelten sie wie ein brodelnder Katarakt, und mit einem Male war sie wieder bei ihren jüngsten Erlebnissen.
„Wieviel Uhr ist es?“ fragte sie.
Mutter Rollet ging vor das Haus, schaute nach der lichten Stelle des Himmels, die den Stand der Sonne verriet, und kam gemächlich wieder herein.
„Bald drei Uhr!“ sagte sie.
„Schön! Ich danke!“
Jetzt mußte Leo bald da sein! Sicherlich kam er. Er hatte das Geld aufgetrieben. Aber er suchte sie in ihrer Wohnung. Daß sie hier war, konnte er doch nicht wissen. Deshalb bat sie Frau Rollet, sofort einmal nachzusehen und ihn herzubringen.
„Machen Sie recht schnell!“
„Aber beste Frau Bovary, ich gehe ja schon! Ich fliege!“
Emma verwunderte sich, daß ihr Leo jetzt erst wieder eingefallen war. Er hatte ihr doch gestern sein Wort gegeben! Das brach er gewiß nicht! Schon sah sie sich im Geiste in Lheureux' Kontor und zählte ihm die drei Tausendfrankenscheine auf seinen Schreibtisch. Nun brauchte sie nur noch ein Märchen zu ersinnen, um ihrem Manne die ganze Geschichte harmlos hinzustellen. Das war nicht weiter schlimm!
Frau Rollet hätte längst wieder zurück sein müssen. Es schien der Wartenden wenigstens so. Aber da sie keine Uhr bei sich hatte, redete sie sich ein, sie irre sich. Sie ging hinaus in das Gärtchen und wanderte langsam hin und her. Dann schritt sie ein Stück den Pfad entlang der Hecke hin, kehrte aber plötzlich wieder um, weil sie sich sagte, die Frau könne auch auf einem andern Wege nach Hause kommen. Schließlich war sie des Wartens müde. Bange Ahnungen quälten sie. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Wartete sie seit ein paar Minuten oder seit einem Jahrhundert?
Sie kauerte sich in einen Winkel, schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu. Die Zauntüre knarrte. Emma sprang auf. Ehe sie eine Frage tat, vermeldete Frau Rollet:
„Es war niemand da!“
„Niemand?“
„Nein, niemand! Der Herr Doktor weint. Er läßt Sie suchen. Alles ist auf den Beinen!“
Emma blieb stumm. Sie atmete schwer. Ihre Augen irrten im Zimmer umher. Frau Rollet sah ihr erschrocken ins Gesicht. Unwillkürlich lief sie davon. Sie dachte, Emma sei wahnsinnig geworden.
Plötzlich schlug sie sich auf die Stirn und tat einen lauten Schrei. Rudolf war ihr ins Gedächtnis gekommen, wie ein heller Stern in stockfinsterer Nacht! Er war immer gutmütig, rücksichtsvoll und freigebig gewesen! Und selbst wenn er zögerte, ihr diesen Dienst zu leisten, mußte ihn nicht ein einziger voller Blick ihrer Augen an die verlorene Liebe mahnen und ihn dazu zwingen!
So ging sie denn nach der Hüchette, ohne das Bewußtsein zu haben, daß sie damit doch das tun wollte, was ihr eben noch so verächtlich vorgekommen war. Nicht im entferntesten dachte sie daran, daß sie sich prostituierte.
Auf dem Wege fragte sie sich:
„Was werde ich ihm sagen? Womit soll ich anfangen?“
Je näher sie kam, um so bekannter erschienen ihr die Büsche und Bäume, der Ginster am Hange und schließlich das Herrenhaus vor ihr. Die zärtliche Liebesstimmung von damals tauchte wieder auf, und ihr armes gequältes Herz schwoll im Nachhall der vergangenen Seligkeit. Ein lauer Wind strich ihr übers Gesicht. Schmelzender Schnee fiel, Tropfen auf Tropfen, von den knospenden Bäumen hernieder ins Gras.
Wie einst schlüpfte sie durch die kleine Gartenpforte und ging über den von einer doppelten Lindenreihe durchschnittenen Herrenhof. Die Bäume wiegten säuselnd ihre langen Zweige. Sämtliche Hunde im Zwinger schlugen an, aber trotz ihres Gebells erschien niemand.
Sie stieg die breite, mit einem hölzernen Geländer versehene Treppe hinauf. Die führte zu einem mit Steinfliesen belegten staubigen Gang, auf den eine lange Reihe verschiedener Zimmer mündete, wie in einem Kloster oder in einem Hotel. Rudolfs Zimmer lag links ganz am Ende. Als sie die Finger um die Türklinke legte, verließen sie plötzlich die Kräfte. Sie fürchtete, er möchte nicht zu Haus sein, ja, sie wünschte es beinah, und doch war es ihre einzige Hoffnung, der letzte Versuch zu ihrer Rettung. Einen Augenblick sammelte sie sich noch, dachte an ihre Not, faßte Mut und trat ein.
Er saß vor dem Feuer, beide Füße gegen den Kaminsims gestemmt, und rauchte eine Pfeife.
„Mein Gott, Sie!“ rief er aus und sprang rasch auf.
„Ja, ich! Rudolf! Ich komme, Sie um einen Rat zu bitten!“
Weiter brachte sie trotz aller Anstrengung nichts heraus.
„Sie haben sich nicht verändert! Sie sind noch immer reizend.“
„So,“ wehrte sie voll Bitternis ab, „das müssen traurige Reize sein, mein Freund, da Sie sie verschmäht haben!“
Und nun begann er sein damaliges Benehmen zu erklären. Er entschuldigte sich in halbschürigen Ausdrücken, da er etwas Ordentliches nicht vorzubringen hatte. Emma ließ sich durch seine Worte fangen, mehr noch durch den Klang seiner Stimme und durch seine Gegenwart. Dies war so mächtig, daß sie sich stellte, als schenke sie seinen Ausflüchten Glauben. Vielleicht glaubte sie ihm auch wirklich. Er deutete ein Geheimnis an, von dem die Ehre und das Leben eines dritten Menschen abgehangen hätte.
„Das ist ja nun gleichgültig“, sagte sie und sah ihn traurig an. „Ich habe schwer gelitten!“
Rudolf meinte philosophisch:
„So ist das Leben!“
„Hat es wenigstens Ihnen Gutes gebracht, nach unserer Trennung?“ fragte sie.
„Ach, nichts Gutes und nichts Schlechtes!“
„Dann wäre es vielleicht besser gewesen, wenn wir damals nicht voneinander gegangen wären?“
„Ja! Vielleicht!“
„Glaubst du das?“ fragte sie, indem sie aufseufzend ihm näher trat. „Ach Rudolf! Wenn du wüßtest! Ich habe dich sehr lieb gehabt!“
Jetzt war sie es, die seine Hand ergriff. Eine Zeitlang saßen sie mit verschlungenen Händen da wie damals, am Bundestage der Landwirte. In einer sichtlichen Regung seines Stolzes kämpfte er gegen seine eigene Rührung. Da schmiegte sich Emma an seine Brust und sagte:
„Wie hast du nur glauben können, daß ich ohne dich leben sollte! Ein Glück, das man besessen, vergißt man nie! Ich war ganz verzweifelt! Dem Tode nahe! Ich will dir alles erzählen, du sollst alles erfahren. Aber du! Du hast mich nicht einmal sehen mögen!“
In der Tat war er ihr seit drei Jahren ängstlich aus dem Wege gegangen, in jener natürlichen Feigheit, die für das starke Geschlecht charakteristisch ist. Emma sprach weiter, unter zierlichen Sendungen ihres Kopfes, schmeichlerischer als eine verliebte Katze.
„Du liebst andre! Gesteh es nur! Ach, ich begreife das ja auch und entschuldige diese anderen! Du hast sie verführt, wie du mich verführt hast. Du bist der geborene Verführer! Hast alles, was uns Frauen verrückt macht. Aber sag! Wollen wir von neuem beginnen? Ja? Sieh, ich lache! Ich bin glücklich! ... So rede doch!“
Sie sah entzückend aus. Eine Träne zitterte in ihrem Auge, wie eine Wasserperle nach einem Gewitter im Kelch einer blauen Blume.
Er zog sie auf seine Knie und strich mit der Hand liebkosend ihr Haar, über das der letzte Sonnenstrahl wie ein goldner Pfeil hinwegflog, funkelnd im Dämmerlicht. Sie senkte die Stirn, und er küßte sie leise und sanft auf die Augenlider.
„Du hast geweint?“ fragte er. „Warum?“
Da schluchzte sie laut auf. Rudolf hielt das für einen Ausbruch ihrer Liebe, und da sie kein Wort sagte, nahm er ihr Schweigen für eine letzte Scham und rief aus:
„O, verzeih mir! Du bist die einzige, die mir gefällt. Ich war ein Tor, ein Schwächling! Ein Elender! Ich liebe dich! Ich werde dich immer lieben! Aber was hast du? Sag es mir doch!“
Er sank ihr zu Füßen.
„So höre! ... Ich bin zugrunde gerichtet, Rudolf! Du mußt mir dreitausend Franken leihen.“
„Ja ... aber ...“
Er erhob sich langsam, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an.
„Du mußt nämlich wissen,“ fuhr sie schnell fort, „daß mein Mann sein ganzes Vermögen einem Notar anvertraut hatte. Der ist flüchtig geworden. Wir haben uns Geld geliehen. Die Patienten bezahlten nicht. Übrigens ist der Nachlaßkonkurs meines Schwiegervaters noch nicht zu Ende. Wir werden bald wieder Geld haben. Aber heute fehlen uns dreitausend Franken. Deswegen sollen wir gepfändet werden. Und zwar gleich, in einer Stunde! Ich baue auf deine Freundschaft, und deshalb bin zu dir gekommen!“
„Aha!“ dachte Rudolf und ward plötzlich blaß. „Also darum ist sie gekommen!“ Nach einer kleinen Weile sagte er gelassen: „Verehrteste, soviel habe ich nicht!“
Er log nicht. Er würde ihr die Summe wohl gegeben haben, wenn er sie da gehabt hätte, obgleich es ihm wie den meisten Menschen unangenehm gewesen wäre, sich großmütig zeigen zu müssen. Von allen Feinden, die über die Liebe herfallen können, ist eine Bitte um Geld der hartherzigste und gefährlichste.
Sie sah ihn erst lange fest an; dann sagte sie:
„Du hast sie nicht!“ Und mehrere Male wiederholte sie: „Du hast sie nicht! ... Ich hätte mir diese letzte Schmach also ersparen können! Du hast mich nie geliebt! Du bist nicht mehr wert als die andern!“
Sie verriet sich und ihre Frauenehre.
Rudolf unterbrach sie und versicherte, er sei selbst in Verlegenheit.
„Ach! Du tust mir sehr leid ...“, sagte Emma. „Ja, ungemein!“
Ihre Augen blieben an einer damaszierten Büchse hängen, die im Gewehrschrank blinkte.
„Aber wenn man arm ist, dann kauft man sich keine Flinten mit Silberbeschlag, kauft man sich keine Stutzuhr mit Schildpatteinlagen, keine Reitstöcke mit goldnen Griffen!“ Sie berührte einen, der auf dem Tische lag. „Und trägt keine solche Berlocken an der Uhrkette!“ Ach, er ließ sich sichtlich nichts abgehen. Das bewies allein das Likörschränkchen im Zimmer. „Ja, dich selber, dich liebst du! Dich und ein gutes Leben! Du hast ein Schloß, Pachthöfe, Wälder! Du reitest die Jagden mit, machst Reisen nach Paris! Und wenn du mir nur das gegeben hättest!“ Sie sprach immer lauter und nahm seine mit Brillanten geschmückten Manschettenknöpfe vom Kamin. „Diesen und andern entbehrlichen Tand! Geld läßt sich schnell schaffen! Aber nun nicht mehr! Ich will nichts davon haben! Behalt alles!“ Sie schleuderte die beiden Knöpfe weit von sich. Sie schlugen gegen die Wand. Ein Goldkettchen zerbrach.
„Ich, ach, ich hätte dir alles gegeben, hätte alles verkauft. Mit meinen Händen hätte ich für dich gearbeitet, auf der Straße hätte ich gebettelt, nur um von dir ein Lächeln, einen Blick, ein einziges Dankwort zu erhaschen. Aber du! Du bleibst gemütlich in deinem Lehnstuhl sitzen, als ob du mir nicht schon genug Leid zugefügt hättest! Ohne dich — das weißt du sehr wohl! — hätte ich glücklich sein können! Wer zwang dich dazu? Wolltest du eine Wette gewinnen? Und dabei hast du mir eben noch gesagt, daß du mich liebtest! Ach, hättest du mich doch lieber davongejagt! Meine Hände sind noch warm von deinen Küssen, und hier auf dem Teppich, hier auf dieser Stelle hast du gekniet und mir ewige Liebe geschworen! Du hast mich immer belogen und betrogen! Mich zwei Jahre lang in dem süßen Wahn des herrlichsten Gefühls gelassen! Und dann der Plan unsrer Flucht! Erinnerst du dich daran? An deinen Brief, deinen Brief! Er hat mir das Herz zerrissen! Und heute, wo ich zu diesem Manne zurückkehre, zu ihm, der reich, glücklich und frei ist, und ihn um eine Hilfe bitte, die der erste beste gewähren würde, wo ich ihn unter Tränen bitte und ihm meine ganze Liebe wiederbringe, da stößt er mich zurück, — weils ihn dreitausend Franken kosten könnte!“
„Ich habe sie nicht“, wiederholte Rudolf mit der Gelassenheit, hinter die sich zornige Naturen wie hinter einen Schild zu bergen pflegen.
Sie ging.
Die Wände schwankten, die Decke drohte sie zu erdrücken. Wieder nahm sie ihren Weg durch den langen Lindengang, über Haufen welken Laubs, das der Wind aufwühlte. Endlich stand sie vor dem Gittertor. Sie zerbrach sich die Nägel an seinem Schloß, so hastig wollte sie es öffnen. Hundert Schritte weiter blieb sie völlig außer Atem stehn und konnte sich kaum noch aufrecht halten. Wie sie sich umwandte, sah sie noch einmal auf das still daliegende Herrenhaus mit seinen langen Fensterreihen, auf den Park, die Höfe und die Gärten.
Wie in einer Betäubung stand sie da. Sie empfand kaum noch etwas andres als das Pochen und Pulsen des Blutes in ihren Adern, das ihr aus dem Körper zu springen und wie laute Musik das ganze Land rings um sie zu durchrauschen schien. Der Boden unter ihren Füßen kam ihr weicher vor als Wasser, und die Furchen der Felder am Wege erschienen ihr wie lange braune Wellen, die auf und nieder wogten. Alles, was ihr im Kopfe lebte, alle Erinnerungen und Gedanken sprangen auf einmal heraus, mit tausend Funken wie ein Feuerwerk. Sie sah ihren Vater vor sich, dann das Kontor des Wucherers, ihr Zimmer zu Haus, dann irgendeine Landschaft, immer wieder etwas andres. Das war heller Wahnsinn! Ihr ward bange. Da raffte sie ihre letzten Kräfte zusammen. Es war nur noch wenig Verstand in ihr, denn sie erinnerte sich nicht mehr an die Ursache ihres schrecklichen Zustandes, das heißt an die Geldfrage. Sie litt einzig an ihrer Liebe, und sie fühlte, wie ihr durch die alten Erinnerungen die Seele dahinschwand, so wie zu Tode Verwundete ihr Leben mit dem Blute ihrer Wunde hinströmen fühlen.
Die Nacht brach herein. Raben flogen.
Es schien ihr plötzlich, als sausten feurige Kugeln durch die Luft. Sie kreisten und kreisten, um schließlich im Schnee zwischen den kahlen Ästen der Bäume zu zergehen. In jeder erschien Rudolfs Gesicht. Sie wurden immer zahlreicher; sie kamen immer näher; sie bedrohten sie. Da, plötzlich waren sie alle verschwunden ... Jetzt erkannte sie die Lichter der Häuser, die von ferne durch den Nebel schimmerten.
Nun ward sie sich auch wieder ihrer Not bewußt, ihres tiefen Elends. Ihr klopfendes Herz schien ihr die Brust zersprengen zu wollen ... Aber mit einem Male füllte sich ihre Seele mit einem beinahe freudigen Heldenmut, und so schnell sie konnte, lief sie den Abhang hinunter, überschritt die Planke über dem Bach, eilte durch die Allee, an den Hallen vorbei, bis sie vor der Apotheke stand.
Es war niemand im Laden. Sie wollte eintreten, aber das Geräusch der Klingel hätte sie verraten können. Deshalb ging sie durch die Haustüre; kaum atmend, tastete sie an der Wand der Hausflur hin bis zur Küchentüre. Drinnen brannte eine Kerze über dem Herd. Justin, in Hemdsärmeln, trug gerade eine Schüssel durch die andere Tür hinaus.
„So! Man ist bei Tisch. Ich will warten“, sagte sie sich.
Als er zurückkam, klopfte sie gegen die Scheibe der Küchentüre.
Er kam heraus.
„Den Schlüssel! Den von oben, wo die ...“
Er sah sie an und erschrak über ihr blasses Gesicht, das sich vom Dunkel der Nacht grell abhob. Sie kam ihm überirdisch schön vor und hoheitsvoll wie eine Fee. Ohne zu begreifen, was sie wollte, ahnte er doch etwas Schreckliches.
Sie begann wieder, hastig, aber mit sanfter Stimme, die ihm das Herz rührte:
„Ich will ihn haben! Gib ihn mir!“
Durch die dünne Wand hörte man das Klappern der Gabeln auf den Tellern im Eßzimmer.
Sie gebrauche etwas, um die Ratten zu töten, die sie nicht schlafen ließen.
„Ich müßte den Herrn Apotheker rufen.“
„Nein! Nicht!“ Und in gleichgültigem Tone setzte sie hinzu: „Das ist nicht nötig. Ich werd es ihm nachher selber sagen. Leucht mir nur!“ Sie trat in den Gang, von dem aus man in das Laboratorium gelangte. An der Wand hing ein Schlüssel mit einem Schildchen: „Kapernaum.“
„Justin!“ rief drinnen der Apotheker, dem der Lehrling zu lange wegblieb.
„Gehn wir hinauf!“ befahl Emma.
Er folgte ihr.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Sie stürzte nach links, griff nach dem dritten Wandbrett — ihr Gedächtnis führte sie richtig —, hob den Deckel der blauen Glasbüchse, faßte mit der Hand hinein und zog die Faust voll weißen Pulvers heraus, das sie sich schnell in den Mund schüttete.
„Halten Sie ein!“ schrie Justin, ihr in die Arme fallend.
„Still! Man könnte kommen!“
Er war verzweifelt und wollte um Hilfe rufen.
„Sag nichts davon! Man könnte deinen Herrn zur Verantwortung ziehen!“
Dann ging sie hinaus, plötzlich voller Frieden, im seligen Gefühle, eine Pflicht erfüllt zu haben.
Emma hatte eben das Haus verlassen, als Karl heimkam. Die Nachricht von der Pfändung traf ihn wie ein Keulenschlag. Dazu seine Frau fort! Er schrie, weinte und fiel in Ohnmacht. Was nützte das? Wo konnte sie nur sein? Er schickte Felicie zu Homais, zu Tüvache, zu Lheureux, nach dem Goldenen Löwen, überallhin. Und mitten in seiner Angst um Emma quälte ihn der Gedanke, daß sein guter Ruf vernichtet, ihr gemeinsames Vermögen verloren und die Zukunft Bertas zerstört sei. Und warum? Keine Erklärung! Er wartete bis sechs Uhr abends. Endlich hielt ers nicht mehr aus, und da er vermutete, sie sei nach Rouen gefahren, ging er ihr auf der Landstraße eine halbe Wegstunde weit entgegen. Niemand kam. Er wartete noch eine Weile und kehrte dann zurück.
Sie war zu Haus.
„Was ist das für eine Geschichte? Wie ist das gekommen? Erklär es mir!“
Sie saß an ihrem Schreibtisch und beendete gerade einen Brief, den sie langsam versiegelte, nachdem sie Tag und Stunde darunter gesetzt hatte. Dann sagte sie in feierlichem Tone:
„Du wirst ihn morgen lesen! Bis dahin bitte ich dich, keine einzige Frage an mich zu richten! Keine, bitte!“
„Aber ...“
„Ach, laß mich!“
Sie legte sich lang auf ihr Bett.
Ein bitterer Geschmack im Munde weckte sie auf. Sie sah Karl ... verschwommen ... und schloß die Augen wieder.
Sie beobachtete sich aufmerksam, um Schmerzen festzustellen. Nein, sie fühlte noch keine! Sie hörte den Pendelschlag der Uhr, das Knistern des Feuers und Karls Atemzüge, der neben ihrem Bett stand.
„Ach, der Tod ist gar nichts Schlimmes!“ dachte sie. „Ich werde einschlafen, und dann ist alles vorüber!“
Sie trank einen Schluck Wasser und drehte sich der Wand zu.
Der abscheuliche Tintengeschmack war immer noch da.
„Ich habe Durst! Großen Durst!“ seufzte sie.
„Was fehlt dir denn?“ fragte Karl und reichte ihr ein Glas.
„Es ist nichts! ... Mach das Fenster auf! ... Ich ersticke!“
Ein Brechreiz überkam sie jetzt so plötzlich, daß sie kaum noch Zeit hatte, ihr Taschentuch unter dem Kopfkissen hervorzuziehen.
„Nimms weg!“ sagte sie nervös. „Wirfs weg!“
Er fragte sie aus, aber sie antwortete nicht. Sie lag unbeweglich da, aus Furcht, sich bei der geringsten Bewegung erbrechen zu müssen. Inzwischen fühlte sie eine eisige Kälte von den Füßen zum Herzen hinaufsteigen.
„Ach,“ murmelte sie, „jetzt fängt es wohl an?“
„Was sagst du?“
Sie warf den Kopf in unterdrückter Unruhe hin und her. Fortwährend öffnete sie den Mund, als läge etwas Schweres auf ihrer Zunge. Um acht Uhr fing das Erbrechen wieder an.
Karl bemerkte auf dem Boden des Napfes einen weißen Niederschlag, der sich am Porzellan ansetzte.
„Sonderbar! Sonderbar!“ wiederholte er.
Aber sie sagte mit fester Stimme:
„Nein, du irrst dich!“
Da fuhr er ihr mit der Hand zart, wie liebkosend, bis in die Magengegend und drückte da. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. Er wich erschrocken zurück.
Dann begann sie zu wimmern, zuerst nur leise. Ein Schüttelfrost überfiel sie. Sie wurde bleicher als das Bettuch, in das sich ihre Finger krampfhaft einkrallten. Ihr unregelmäßiger Pulsschlag war kaum noch fühlbar. Kalte Schweißtropfen rannen über ihr bläulich gewordnes Gesicht; etwas wie ein metallischer Ausschlag lag über ihren erstarrten Zügen. Die Zähne schlugen ihr klappernd aufeinander. Ihre erweiterten Augen blickten ausdruckslos umher. Alle Fragen, die man an sie richtete, beantwortete sie nur mit Kopfnicken. Zwei- oder dreimal lächelte sie freilich. Allmählich wurde das Stöhnen heftiger. Ein dumpfes Geheul entrang sich ihr. Dabei behauptete sie, daß es ihr besser gehe und daß sie sofort aufstehen würde.
Sie verfiel in Zuckungen. Sie schrie:
„Mein Gott, ist das gräßlich!“
Karl warf sich vor ihrem Bett auf die Knie.
„Sprich! Was hast du gegessen? Um Gottes willen, antworte mir!“
Er sah sie an mit Augen voller Zärtlichkeit, wie Emma keine je geschaut hatte.
„Ja ... da ... da ... lies!“ stammelte sie mit versagender Stimme.
Er stürzte zum Schreibtisch, riß den Brief auf und las laut:
„Man klage niemanden an ...“ Er hielt inne, fuhr sich mit der Hand über die Augen und las stumm weiter ...
„Vergiftet!“
Er konnte immer nur das eine Wort herausbringen:
„Vergiftet! Vergiftet!“
Dann rief er um Hilfe.
Felicie lief zu Homais, der es aller Welt ausposaunte. Frau Franz im Goldenen Löwen erfuhr es. Manche standen aus ihren Betten auf, um es ihren Nachbarn mitzuteilen. Die ganze Nacht hindurch war der halbe Ort wach.
Halb von Sinnen, vor sich hinredend, nahe am Hinfallen, lief Karl im Zimmer umher, wobei er an die Möbel anrannte und sich Haare ausraufte. Der Apotheker hatte noch nie ein so fürchterliches Schauspiel gesehen.
Er ging nach Hause, um an den Doktor Canivet und den Professor Larivière zu schreiben. Er hatte selber den Kopf verloren. Er brachte keinen vernünftigen Brief zustande. Schließlich mußte sich Hippolyt nach Neufchâtel aufmachen, und Justin ritt auf Bovarys Pferd nach Rouen. Am Wilhelmswalde ließ er den Gaul lahm und halbtot zurück.
Karl wollte in seinem Medizinischen Lexikon nachschlagen, aber er war nicht imstande zu lesen. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen.
„Ruhe!“ sagte der Apotheker. „Es handelt sich einzig und allein darum, ein wirksames Gegenmittel anzuwenden. Was war es für ein Gift?“
Karl zeigte den Brief. Es wäre Arsenik gewesen.
„Gut!“ versetzte Homais. „Wir müssen eine Analyse machen!“
Er hatte nämlich gelernt, daß man bei allen Vergiftungen eine Analyse machen müsse. Bovary hatte in seiner Angst alle Gelehrsamkeit vergessen. Er erwiderte ihm:
„Ja! Machen Sie eine. Tun Sie es! Retten Sie sie!“
Dann kehrte er in ihr Zimmer zurück, warf sich auf die Diele, lehnte den Kopf gegen den Rand ihres Bettes und schluchzte.
„Weine nicht!“ flüsterte sie. „Bald werde ich dich nicht mehr quälen!“
„Warum hast du das getan? Was trieb dich dazu?“
„Es mußte sein, mein Lieber!“
„Warst du denn nicht glücklich? Bin ich schuld? Ich habe dir doch alles zuliebe getan, was ich konnte!“
„Ja ... freilich ... Du bist gut ... du!“
Sie strich ihm langsam mit der Hand über das Haar. Die süße Empfindung vermehrte seine Traurigkeit. Er fühlte sich bis in den tiefsten Grund seiner verzweifelten Seele erschüttert, daß er sie verlieren sollte, jetzt, da sie ihm mehr Liebe bewies denn je. Er fand keinen Ausweg; er wußte keinen Zusammenhang; er wagte keine Frage. Und die Dringlichkeit eines Entschlusses machte ihn vollends wirr.
Sie dachte bei sich: „Nun ist es zu Ende mit dem vielfachen Verrat, mit allen den Erniedrigungen und den unzähligen, qualvollen Sehnsüchten!“ Nun haßte sie keinen mehr. Ihre Gedanken verschwammen wie in Dämmerung, und von allen Geräuschen der Erde hörte Emma nur noch die versagende Klage eines armen Herzens, matt und verklungen wie der leise Nachhall einer Symphonie.
„Bring mir die Kleine“, sagte sie und stützte sich leicht auf.
„Es ist nicht schlimmer, nicht wahr?“ fragte Karl.
„Nein, nein!“
Das Dienstmädchen trug das Kind auf dem Arm herein. Es hatte ein langes Nachthemd an, aus dem die nackten Füße hervorsahen. Es war ernst und noch halb im Schlaf. Erstaunt betrachtete es die große Unordnung im Zimmer. Geblendet vom Licht der Kerzen, die da und dort brannten, zwinkerte es mit den Augen. Offenbar dachte es, es sei Neujahrstagsmorgen, an dem es auch so früh wie heute geweckt wurde und beim Kerzenschein zur Mutter ans Bett kam, um Geschenke zu bekommen. Und so fragte es:
„Wo ist es denn, Mama?“ Und da niemand antwortete, redete es weiter: „Ich seh doch meine Schuhchen gar nicht!“
Felicie hielt die Kleine übers Bett, die immer noch nach dem Kamin hinsah.
„Hat Frau Rollet sie mir genommen?“
Bei diesem Namen, der an ihre Ehebrüche und all ihr Mißgeschick erinnerte, wandte sich Frau Bovary ab, als fühle sie den ekelhaften Geschmack eines noch viel stärkeren Giftes auf der Zunge. Berta saß noch auf ihrem Bette.
„Was für große Augen du hast, Mama! Wie blaß du bist! Wie du schwitzest!“
Die Mutter sah sie an.
„Ich fürchte mich!“ sagte die Kleine und wollte fort.
Emma wollte die Hand des Kindes küssen, aber es sträubte sich.
„Genug! Bringt sie weg!“ rief Karl, der im Alkoven schluchzte.
Dann ließen die Symptome einen Augenblick nach. Emma schien weniger aufgeregt, und bei jedem unbedeutenden Worte, bei jedem etwas ruhigeren Atemzug schöpfte er neue Hoffnung. Als Canivet endlich erschien, warf er sich weinend in seine Arme.
„Ach, da sind Sie! Ich danke Ihnen! Es ist gütig von Ihnen! Es geht ja besser! Da! Sehen Sie mal ...“
Der Kollege war keineswegs dieser Meinung, und da er, wie er sich ausdrückte, „immer aufs Ganze“ ging, verordnete er Emma ein ordentliches Brechmittel, um den Magen zunächst einmal völlig zu entleeren.
Sie brach alsbald Blut aus. Ihre Lippen preßten sich krampfhaft aufeinander. Sie zog die Gliedmaßen ein. Ihr Körper war bedeckt mit braunen Flecken, und ihr Puls glitt unter ihren Fingern hin wie ein dünnes Fädchen, das jeden Augenblick zu zerreißen droht.
Dann begann sie, gräßlich zu schreien. Sie verfluchte und schmähte das Gift, flehte, es möge sich beeilen, und stieß mit ihren steif gewordnen Armen alles zurück, was Karl ihr zu trinken reichte. Er war der völligen Auflösung noch näher als sie. Sein Taschentuch an die Lippen gepreßt, stand er vor ihr, stöhnend, weinend, von ruckweisem Schluchzen erschüttert und am ganzen Leib durchrüttelt. Felicie lief im Zimmer hin und her, Homais stand unbeweglich da und seufzte tief auf, und Canivet begann sich, trotz seiner ihm zur Gewohnheit gewordnen selbstbewußten Haltung, unbehaglich zu fühlen.
„Zum Teufel!“ murmelte er. „Der Magen ist nun doch leer! Und wenn die Ursache beseitigt ist, so ...“
„... muß die Wirkung aufhören!“ ergänzte Homais. „Das ist klar!“
„Rettet sie mir nur!“ rief Bovary.
Der Apotheker riskierte die Hypothese, es sei vielleicht ein heilsamer Paroxismus. Aber Canivet achtete nicht darauf und wollte ihr gerade Theriak eingeben, da knallte draußen eine Peitsche. Alle Fensterscheiben klirrten. Eine Extrapost mit drei bis an die Ohren von Schmutz bedeckten Pferden raste um die Ecke der Hallen. Es war Professor Larivière.
Die Erscheinung eines Gottes hätte keine größere Erregung hervorrufen können. Bovary streckte ihm die Hände entgegen, Canivet stand bewegungslos da, und Homais nahm sein Käppchen ab, noch ehe der Arzt eingetreten war.
Larivière gehörte der berühmten Chirurgenschule Bichats an, das heißt, einer Generation philosophischer Praktiker, die heute ausgestorben ist, begeisterter, gewissenhafter und scharfsichtiger Jünger ihrer Kunst. Wenn er in Zorn geriet, wagte in der ganzen Klinik niemand zu atmen. Seine Schüler verehrten ihn so, daß sie ihn, später in ihrer eigenen Praxis, mit möglichster Genauigkeit kopierten. So kam es, daß man bei den Ärzten in der Umgegend von Rouen allerorts seinen langen Schafspelz und seinen weiten schwarzen Gehrock wiederfand. Die offenen Ärmelaufschläge daran reichten ein Stück über seine fleischigen Hände, sehr schöne Hände, die niemals in Handschuhen steckten, als wollten sie immer schnell bereit sein, wo es Krankheit und Elend anzufassen galt. Er war ein Verächter von Orden, Titeln und Akademien, gastfreundlich, freidenkend, den Armen ein väterlicher Freund, Pessimist, selbst aber edel in Wort und Tat. Man hätte ihn als einen Heiligen gepriesen, wenn man ihn nicht wegen seines Witzes und Verstandes gefürchtet hätte wie den Teufel. Sein Blick war schärfer als sein Messer; er drang einem bis tief in die Seele, durch alle Heucheleien, Lügen und Ausflüchte hindurch. So ging er seines Weges in der schlichten Würde, die ihm das Bewußtsein seiner großen Tüchtigkeit, seines materiellen Vermögens und seiner vierzigjährigen arbeitsreichen und unanfechtbaren Wirksamkeit verlieh.
Als er das leichenhafte Antlitz Emmas sah, zog er schon von weitem die Brauen hoch. Sie lag mit offnem Munde auf dem Rücken ausgestreckt da. Während er Canivets Bericht scheinbar aufmerksam anhörte, strich er sich mit dem Zeigefinger um die Nasenflügel und sagte ein paarmal:
„Gut! ... Gut!“
Dann aber zuckte er bedenklich mit den Achseln. Bovary beobachtete ihn ängstlich. Sie sahen einander in die Augen, und der Gelehrte, der an den Anblick menschlichen Elends so gewöhnt war, konnte eine Träne nicht zurückhalten, die ihm auf die Krawatte herablief.
Er wollte Canivet in das Nebenzimmer ziehen. Karl folgte ihnen.
„Es steht wohl nicht gut mit meiner Frau? Wie wär es, wenn man ihr ein Senfpflaster auflegte? Ich weiß nichts. Finden Sie doch etwas! Sie haben ja schon so viele gerettet!“
Karl legte beide Arme auf Larivières Schultern und starrte ihn verstört und flehend an. Beinahe wäre er ihm ohnmächtig an die Brust gesunken.
„Mut! Mein armer Junge! Es ist nichts mehr zu machen!“ Larivière wandte sich ab.
„Sie gehn?“
„Ich komme wieder.“
Larivière ging hinaus, angeblich um dem Postillion eine Anweisung zu geben. Canivet folgte ihm. Auch er wollte nicht Zeuge des Todeskampfes sein.
Der Apotheker holte die beiden auf dem Marktplatz ein. Nichts fiel ihm von jeher schwerer, als sich von berühmten Menschen zu trennen. So beschwor er denn Larivière, er möge ihm die hohe Ehre erweisen, zum Frühstück sein Gast zu sein.
Man schickte ganz rasch nach dem Goldnen Löwen nach Tauben, zu Tüvache nach Sahne, zu Lestiboudois nach Eiern und zum Fleischer nach Koteletts. Der Apotheker war selbst bei den Vorbereitungen zum Mahle behilflich, und Frau Homais, sich ihre Jacke zurechtzupfend, sagte:
„Sie müssen schon entschuldigen, Herr Professor, man ist in so einer weggesetzten Gegend nicht immer gleich vorbereitet ...“
„Die Weingläser!“ flüsterte Homais.
„Wer in der Stadt wohnt, der kann sich schnell helfen ... mit Wurst und ...“
„Sei doch still! — Zu Tisch, bitte, Herr Professor!“
Er hielt es für angebracht, nach den ersten Bissen ein paar Einzelheiten über die Katastrophe zum besten zu geben:
„Zuerst äußerte sich Trockenheit im Pharynx, darauf unerträgliche gastrische Schmerzen, Neigung zum Vomieren, Schlafsucht ...“
„Wie hat sich denn die Vergiftung eigentlich ereignet?“
„Habe keine Ahnung, Herr Professor! Ich weiß nicht einmal recht, wo sie das acidum arsenicum herbekommen hat.“
Justin, der einen Stoß Teller hereinbrachte, begann am ganzen Körper zu zittern.
„Was hast du?“ fuhr ihn der Apotheker an.
Bei dieser Frage ließ der Bursche alles, was er trug, fallen. Es gab ein großes Gekrache.
„Tolpatsch!“ schrie Homais. „Ungeschickter Kerl! Tranlampe! Alberner Esel!“
Dann aber beherrschte er sich plötzlich:
„Ich habe gleich daran gedacht, eine Analyse zu machen, Herr Professor, und deshalb primo ganz vorsichtig in ein Reagenzgläschen ...“
„Dienlicher wäre es gewesen,“ sagte der Chirurg, „wenn Sie ihr Ihre Finger in den Hals gesteckt hätten.“
Kollege Canivet sagte gar nichts dazu, dieweil er soeben unter vier Augen eine energische Belehrung wegen seines Brechmittels eingesteckt hatte. Er, der bei Gelegenheit des Klumpfußes so hochfahrend und redselig gewesen war, verhielt sich jetzt mäuschenstill. Er lächelte nur unausgesetzt, um seine Zustimmung zu markieren.
Homais strahlte vor Hausherrenstolz. Selbst der betrübliche Gedanke an Bovary trug — in egoistischer Kontrastwirkung — unbestimmt zu seiner Freude bei. Die Anwesenheit des berühmten Arztes stieg ihm in den Kopf. Er kramte seine ganze Gelehrsamkeit aus. Kunterbunt durcheinander schwatzte er von Kanthariden, Pflanzengiften, Manzanilla, Schlangengift usw.
„Ich habe sogar einmal gelesen, Herr Professor, daß mehrere Personen nach dem Genusse von zu stark geräucherter Wurst erkrankt und plötzlich gestorben sind. So berichtet wenigstens ein hochinteressanter Aufsatz eines unserer hervorragendsten Pharmazeuten, eines Klassikers meiner Wissenschaft, ... ein Aufsatz des berühmten Cadet de Gassicourt!“
Frau Homais erschien mit der Kaffeemaschine. Homais pflegte sich nämlich den Kaffee nach Tisch selbst zu bereiten. Er hatte ihn auch eigenhändig gemischt, gebrannt und gemahlen.
„ Saccharum gefällig, Herr Professor?“ fragte er, indem er ihm den Zucker anbot.
Dann ließ er alle seine Kinder herunterkommen, da er neugierig war, die Ansicht des Chirurgen über ihre „Konstitution“ zu hören.
Als Larivière im Begriffe stand aufzubrechen, bat ihn Frau Homais noch um einen ärztlichen Rat in betreff ihres Mannes. Er schlief nämlich allabendlich nach Tisch ein. Davon bekäme er dickes Blut.
Der Arzt antwortete mit einem Scherze, dessen doppelten Sinn sie nicht verstand, dann ging er zur Türe. Aber die Apotheke war voller Leute, die ihn konsultieren wollten, und es gelang ihm nur schwer, sie loszuwerden. Da war Tüvache, der seine Frau für schwindsüchtig hielt, weil sie öfters in die Asche spuckte; Binet, der bisweilen an Heißhunger litt; Frau Caron, die es am ganzen Leibe juckte; Lheureux, der Schwindelanfälle hatte; Lestiboudois, der rheumatisch war; Frau Franz, die über Magenbeschwerden klagte. Endlich brachten ihn die drei Pferde von dannen. Man fand aber allgemein, daß er sich nicht besonders liebenswürdig gezeigt habe.
Nunmehr wurde die Aufmerksamkeit auf den Pfarrer Bournisien gelenkt, der mit dem Sterbesakrament an den Hallen hinging.
Seiner Weltanschauung treu, verglich Homais die Geistlichen mit den Raben, die der Leichengeruch anlockt. Der Anblick eines „Pfaffen“ war ihm ein Greuel. Er mußte bei einer Soutane immer an ein Leichentuch denken, und so verwünschte er jene schon deshalb, weil er dieses fürchtete.
Trotzdem verzichtete er nicht auf die gewissenhafte Erfüllung seiner „Mission“, wie er es nannte, und kehrte mit Canivet, dem dies von Larivière dringend ans Herz gelegt worden war, in das Bovarysche Haus zurück. Wenn seine Frau nicht völlig dagegen gewesen wäre, hätte er sogar seine beiden Knaben mitgenommen, damit sie das große Ereignis, das der Tod eines Menschen ist, kennen lernten. Es sollte ihnen eine Lehre, ein Beispiel, ein ernster Eindruck sein, eine Erinnerung für ihr ganzes weiteres Leben.
Sie fanden das Zimmer voll düstrer Feierlichkeit. Auf dem mit einem weißen Tischtuch bedeckten Nähtische stand zwischen zwei brennenden Wachskerzen ein hohes Kruzifix; daneben eine silberne Schüssel und fünf oder sechs Stück Watte. Emmas Kinn war ihr auf die Brust hinabgesunken, ihre Augen standen unnatürlich weit offen, und ihre armen Hände tasteten über den Bettüberzug hin, mit einer jener rührend-schrecklichen Gebärden, die Sterbenden eigen sind. Man hat die Empfindung, als bereiteten sie sich selber ihr Totenbett. Karl stand am Fußende des Lagers, ihrem Antlitz gegenüber, bleich wie eine Bildsäule, tränenlos, aber mit Augen, die rot waren wie glühende Kohlen. Der Priester kniete und murmelte leise Worte.
Emma wandte langsam ihr Haupt und empfand beim Anblick der violetten Stola sichtlich Freude. Offenbar fühlte sie einen seltsamen Frieden, eine Wiederholung derselben mystischen Wollust, die sie schon einmal erlebt hatte. Etwas wie eine Vision von himmlischer Glückseligkeit betäubte ihre letzten Leiden.
Der Priester erhob sich und ergriff das Kruzifix. Da reckte sie den Kopf in die Höhe, wie ein Durstiger, und preßte auf das Symbol des Gott-Menschen mit dem letzten Rest ihrer Kraft den innigsten Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte. Dann sprach der Geistliche das Misereatur und Indulgentiam , tauchte seinen rechten Daumen in das Öl und nahm die letzte Ölung vor. Zuerst salbte er die Augen, die es nach allem Herrlichen auf Erden so heiß gelüstet; dann die Nasenflügel, die so gern die lauen Lüfte und die Düfte der Liebe eingesogen; dann den Mund, der so oft zu Lügen sich aufgetan, oft hoffärtig gezuckt und in sündigem Girren geseufzt hatte; dann die Hände, die sich an vergnüglichen Berührungen ergötzt hatten; und endlich die Sohlen der Füße, die einst so flink waren, wenn sie zur Stillung von Begierden liefen, und die jetzt keinen Schritt mehr tun sollten.
Der Priester trocknete sich die Hände, warf das ölgetränkte Stück Watte ins Feuer und setzte sich wieder zu der Sterbenden. Er sagte ihr, daß ihre Leiden nunmehr mit denen Jesu Christi eins seien. Sie solle der göttlichen Barmherzigkeit vertrauen.
Als er mit seiner Tröstung zu Ende war, versuchte er, ihr eine geweihte Kerze in die Hand zu drücken, das Symbol der himmlischen Glorie, von der sie nun bald umstrahlt sein sollte. Aber Emma war zu schwach, um die Finger zu schließen, und wenn Bournisien nicht rasch wieder zugegriffen hätte, wäre die Kerze zu Boden gefallen.
Emma war nicht mehr so bleich wie erst. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck heiterer Glückseligkeit angenommen, als ob das Sakrament sie wieder gesund gemacht hätte.
Der Priester verfehlte nicht, die Umstehenden darauf hinzuweisen, ja er gemahnte Bovary daran, daß der Herr zuweilen das Leben Sterbender wieder verlängere, wenn er es zum Heil ihrer Seele für notwendig erachte. Karl dachte an den Tag zurück, an dem sie schon einmal, dem Tode nahe, die letzte Ölung empfangen hatte.
„Vielleicht brauche ich noch nicht zu verzweifeln!“ dachte er.
Wirklich sah sie sich langsam um wie jemand, der aus einem Traum erwacht. Dann verlangte sie mit deutlicher Stimme ihren Spiegel und betrachtete darin eine Weile ihr Bild, bis ihr die Tränen aus den Augen rollten. Darnach legte sie den Kopf zurück, stieß einen Seufzer aus und sank in das Kissen.
Ihre Brust begann alsbald heftig zu keuchen. Die Zunge trat weit aus dem Munde. Die Augen begannen zu rollen und ihr Licht zu verlieren wie zwei Lampenglocken, hinter denen die Flammen verlöschen. Man hätte glauben können, sie sei schon tot, wenn ihre Atmungsorgane nicht so fürchterlich heftig gearbeitet hätten. Es war, als schüttle sie ein wilder innerer Sturm, als ringe das Leben gewaltig mit dem Tode.
Felicie kniete vor dem Kruzifix, und sogar der Apotheker knickte ein wenig die Beine, während Canivet gleichgültig auf den Markt hinausstarrte. Bournisien hatte wieder zu beten begonnen, die Stirn gegen den Rand des Bettes geneigt, weit hinter sich die lange schwarze Soutane. An der andern Seite des Bettes kniete Karl und streckte beide Arme nach Emma aus. Er ergriff ihre Hände und drückte sie! Bei jedem Schlag ihres Pulses zuckte er zusammen, als stürze eine Ruine auf ihn.
Je stärker das Röcheln wurde, um so mehr beschleunigte der Priester seine Gebete. Sie mischten sich mit dem erstickten Schluchzen Bovarys, und zuweilen vernahm man nichts als das dumpfe Murmeln der lateinischen Worte, das wie Totengeläut klang.
Plötzlich klapperten draußen auf der Straße Holzschuhe. Ein Stock schlug mehrere Male auf, und eine Stimme erhob sich, eine rauhe Stimme, und sang:
‚Wenns Sommer worden weit und breit,
Wird heiß das Herze mancher Maid ...‘
Emma richtete sich ein wenig auf, wie eine Leiche, durch die ein elektrischer Strom geht. Ihr Haar hatte sich gelöst, ihre Augensterne waren starr, ihr Mund stand weit auf.
‚Nanette ging hinaus ins Feld,
Zu sammeln, was die Sense fällt.
Als sie sich in der Stoppel bückt,
Da ist passiert, was sich nicht schickt ...‘
„Der Blinde!“ schrie sie.
Sie brach in Lachen aus, in ein furchtbares, wahnsinniges, verzweifeltes Lachen, weil sie in ihrer Phantasie das scheußliche Gesicht des Unglücklichen sah, wie ein Schreckgespenst aus der ewigen Nacht des Jenseits ...
‚Der Wind, der war so stark ... O weh!
Hob ihr die Röckchen in die Höh.‘
Ein letzter Krampf warf sie in das Bett zurück. Alle traten hinzu. Sie war nicht mehr.
Nach dem Tode eines Menschen sind die Umstehenden immer wie betäubt. So schwer ist es, den Hereinbruch des ewigen Nichts zu begreifen und sich dem Glauben daran zu ergeben. Karl aber, als er sah, daß Emma unbeweglich dalag, warf sich über sie und schrie:
„Lebwohl! Lebwohl!“
Homais und Canivet zogen ihn aus dem Zimmer.
„Fassen Sie sich!“
„Ja!“ rief er und machte sich von ihnen los. „Ich will vernünftig sein! Ich tue ja nichts. Aber lassen Sie mich! Ich muß sie sehen! Es ist meine Frau!“
Er weinte.
„Weinen Sie nur!“ sagte der Apotheker. „Lassen Sie der Natur freien Lauf! Das wird Sie erleichtern!“
Da wurde Karl schwach wie ein Kind und ließ sich in die Große Stube im Erdgeschoß hinunterführen. Homais ging bald darnach in sein Haus zurück.
Auf dem Markte wurde er von dem Blinden angesprochen, der sich bis Yonville geschleppt hatte, um die Salbe zu holen. Jeden Vorübergehenden hatte er gefragt, wo der Apotheker wohne.
„Großartig! Als wenn ich gerade jetzt nicht schon genug zu tun hätte! Bedaure! Komm ein andermal!“
Er verschwand schnell in seinem Hause.
Er hatte zwei Briefe zu schreiben, einen beruhigenden Trank für Bovary zu brauen und ein Märchen zu ersinnen, um Frau Bovarys Vergiftung auf eine möglichst harmlose Weise zu erklären. Er wollte einen Artikel für den „Leuchtturm von Rouen“ daraus machen. Außerdem wartete eine Menge neugieriger Leute auf ihn. Alle wollten Genaueres wissen. Nachdem er mehreremals wiederholt hatte, Frau Bovary habe bei der Zubereitung von Vanillecreme aus Versehen Arsenik statt Zucker genommen, begab er sich abermals zu Bovary.
Er fand ihn allein. Canivet war eben fortgefahren. Karl saß im Lehnstuhl am Fenster und starrte mit blödem Blick auf die Dielen.
„Wir müssen die Stunde für die Feierlichkeit festsetzen!“ sagte der Apotheker.
„Wozu? Für was für eine Feierlichkeit?“ Stammelnd und voll Grauen fügte er hinzu: „Nein, nein ... nicht wahr? Ich darf sie dabehalten?“
Um seine Haltung zu bewahren, nahm Homais die Wasserflasche vom Tisch und begoß die Geranien.
„O, ich danke Ihnen!“ sagte Karl. „Sie sind sehr gütig ...“
Er wollte noch mehr sagen, aber die Fülle von Erinnerungen, die des Apothekers Tun in ihm wachrief, überwältigte ihn. Es waren Emmas Blumen!
Homais gab sich Mühe, ihn zu zerstreuen, und begann über die Gärtnerei zu plaudern. Die Pflanzen hätten die Feuchtigkeit sehr nötig. Karl nickte zustimmend.
„Jetzt werden auch bald schöne Tage kommen ...“
Bovary seufzte.
Der Apotheker wußte nicht mehr, wovon er reden sollte, und schob behutsam eine Scheibengardine beiseite.
„Sehn Sie, da drüben geht der Bürgermeister!“
Karl wiederholte mechanisch:
„Da drüben geht der Bürgermeister!“
Homais wagte nicht, auf die Vorbereitungen zum Begräbnis zurückzukommen. Erst der Pfarrer brachte Bovary zu einem Entschlusse hierüber.
Karl schloß sich in sein Sprechzimmer ein, ergriff die Feder, und nachdem er eine Zeitlang geschluchzt hatte, schrieb er:
„Ich bestimme, daß man meine Frau in ihrem Hochzeitskleid begrabe, in weißen Schuhen, einen Kranz auf dem Haupte. Das Haar soll man ihr über die Schultern legen. Drei Särge: einen aus Eiche, einen aus Mahagoni, einen von Blei. Man soll mich nicht trösten wollen! Ich werde stark sein. Und über den Sarg soll man ein großes Stück grünen Samt breiten. So will ich es! Tut es!“
Man war über Bovarys Romantik arg erstaunt, und der Apotheker ging sofort zu ihm hinein, um ihm zu sagen:
„Das mit dem Samt scheint mir übertrieben. Allein die Kosten ...“
„Was geht Sie das an!“ schrie Karl. „Lassen Sie mich! Sie haben sie nicht geliebt! Gehn Sie!“
Der Priester faßte Karl unter den Arm und führte ihn in den Garten. Er sprach von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Gott sei gut und weise. Man müsse sich ohne Murren seinem Ratschluß unterwerfen. Man müsse ihm sogar dafür danken.
Aber Karl brach in Gotteslästerungen aus.
„Ich verfluche ihn, euren Gott!“
„Der Geist des Aufruhrs steckt noch in Ihnen!“ seufzte der Priester.
Bovary ließ ihn stehen. Mit großen Schritten ging er die Gartenmauer entlang, an den Spalieren hin. Er knirschte mit den Zähnen und sah mit Blicken zum Himmel, die Verwünschungen waren. Aber auch nicht ein Blatt wurde davon bewegt.
Es begann zu regnen. Karls Weste stand offen. Nach einer Weile fror ihn. Er ging ins Haus zurück und setzte sich an den Herd in der Küche.
Um sechs Uhr hörte er Wagengerassel draußen auf dem Markte. Es war die Post, die von Rouen zurückkehrte. Er preßte die Stirn gegen die Scheiben und sah zu, wie die Reisenden nacheinander ausstiegen. Felicie legte ihm eine Matratze in das Wohnzimmer, er warf sich darauf und schlief ein.
Herr Homais war ein Freigeist, aber er ehrte die Toten. Er trug dem armen Karl auch nichts nach und kam abends, um Totenwache zu halten. Er brachte drei Bücher und ein Notizbuch mit. Er pflegte sich Auszüge zu machen.
Bournisien fand sich gleichfalls ein. Zwei hohe Wachskerzen brannten am Kopfende des Bettes, das man aus dem Alkoven hervorgerückt hatte.
Der Apotheker, dem das Schweigen unheimlich vorkam, drechselte Jeremiaden über die „unglückliche junge Frau“. Der Priester unterbrach ihn. Es sei nichts am Platze, als für sie zu beten.
„Immerhin“, versetzte Homais, „sind nur zwei Fälle möglich. Entweder ist sie, wie sich die Kirche ausdrückt, selig verschieden. Dann bedarf sie unsrer Gebete nicht. Oder sie ist als Sünderin von hinnen gegangen ... Oder wie lautet hier der kirchliche Ausdruck? Dann ...“
Bournisien unterbrach ihn und erklärte in mürrischem Tone, man müsse in jedem Falle beten.
„Aber sagen Sie mir,“ wandte der Apotheker ein, „da Gott stets weiß, was uns not tut, wozu dann erst das Gebet?“
„Wozu das Gebet?“ wiederholte der Priester. „Ja, sind Sie denn kein Christ?“
„Verzeihung! Ich bewundre das Christentum. Es hat zuerst die Sklaverei abgeschafft, es hat der Welt eine neue Moral geschenkt, die ...“
„Davon reden wir nicht. In der Heiligen Schrift ...“
„Gehen Sie mir mit der Bibel! Lesen Sie in der Geschichte nach! Man weiß, daß sie von den Jesuiten gefälscht ist ...“
Karl trat ein, näherte sich dem Totenbette und zog langsam die Vorhänge beiseite.
Emmas Kopf war ein wenig nach der rechten Schulter zu geneigt. Ihr Mund stand offen und sah wie ein schwarzes Loch im unteren Teil ihres Gesichtes aus. Beide Daumen hatten sich fest in die Handballen gedrückt. Etwas wie weißer Staub lag in ihren Wimpern, und die Augen verschwammen bereits in blassem Schleim, der wie ein dünnes Gewebe war, als hätten Spinnen ihr Netz darüber gesponnen. Das Bettuch senkte sich von ihren Brüsten bis zu den Knien und hob sich von da an nach ihren Fußspitzen. Karl hatte die Empfindung, ein schweres Etwas, ein ungeheures Gewicht laste auf ihr.
Die Turmuhr der Kirche schlug zwei Uhr. Vom Garten her drang das dumpfe Murmeln des Baches, der in die dunkle Ferne strömte. Von Zeit zu Zeit schneuzte sich Bournisien geräuschvoll, und Homais kritzelte Notizen auf das Papier.
„Lieber Freund,“ sagte er, „gehn Sie nun! Dieser Anblick zerreißt Ihnen das Herz!“
Sobald Karl das Zimmer verlassen hatte, begannen die beiden ihre Erörterung von neuem.
„Lesen Sie Voltaire!“ sagte der eine. „Lesen Sie Holbach! Die Enzyklopädisten!“
„Lesen Sie die ‚Briefe einiger portugiesischen Juden‘“, sagte der andre, „lesen Sie die ‚Grundlagen des Christentums‘ von Nicolas!“
Sie regten sich auf, bekamen rote Köpfe und sprachen gleichzeitig ineinander hinein. Bournisien war entrüstet über die Vermessenheit des Apothekers, Homais erstaunt über die Beschränktheit des Priesters. Sie waren beide nahe daran, sich Beleidigungen zu sagen, da kam plötzlich Karl abermals herein. Eine unwiderstehliche Gewalt zog ihn her. Er mußte immer wieder die Treppe hinauf.
Er setzte sich der Toten gegenüber, so daß er ihr voll ins Antlitz sehen konnte. Er verlor sich in ihren Anblick, mit einer Innigkeit, die den Schmerz verscheuchte.
Er erinnerte sich an allerlei Legenden von Scheintoten und von den Wundern des Magnetismus. Er bildete sich ein, er könne sie wieder aufwecken, wenn er alle seine Willenskraft konzentriere. Einmal beugte er sich sogar über sie und rief ganz leise: „Emma, Emma!“
Er atmete so heftig, daß die Flammen der Kerzen flackerten ...
Bei Tagesanbruch traf die alte Frau Bovary ein. Karl umarmte sie und brach von neuem in Tränen aus. Ebenso wie der Apotheker versuchte sie, ihm wegen des Aufwandes beim Begräbnisse Vorstellungen zu machen, aber er brauste so auf, daß sie schwieg. Hinterher beauftragte er sie sogar, baldigst in die Stadt zu fahren und das Nötige zu besorgen.
Karl blieb den ganzen Nachmittag allein. Berta war bei Frau Homais. Felicie saß mit Frau Franz bei der Toten.
Am Abend empfing Karl Besuche. Er erhob sich jedesmal, drückte dem Kommenden stumm die Hand, der sich dann zu den andern setzte, die nach und nach einen großen Halbkreis um den Kamin bildeten. Alle hatten die Köpfe gesenkt. Die Knie aufeinander, schaukelten sie mit den Beinen und stießen von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus. Alle langweilten sich maßlos, aber keinem fiel es ein, wieder zu gehen.
Um neun Uhr kam Homais zurück, beladen mit einer Menge Kampfer, Benzoe und aromatischen Kräutern. Auch ein Gefäß voll Chlor brachte er mit, um die Luft zu desinfizieren. Felicie, die Löwenwirtin und die alte Frau Bovary standen gerade um Emma herum, damit beschäftigt, die letzte Hand ans Totenkleid zu legen. Sie zupften den langen steifen Schleier zurecht, der bis hinab an die Atlasschuhe reichte.
Felicie wehklagte:
„Ach, meine arme gute Herrin! Meine arme gute Herrin!“
„Sehn Sie nur!“ sagte die Witwe Franz seufzend, „wie reizend sie noch immer ausschaut! Man möchte drauf schwören, daß sie gleich wieder aufstünde!“
Dann beugten sie sich über sie, um ihr den Kranz umzulegen. Dabei mußten sie den Kopf etwas hochheben. Da quoll schwarze Flüssigkeit aus dem Munde hervor, als erbräche sie sich.
„Mein Gott! Das Kleid! Geben Sie acht!“ schrie Frau Franz. Und zum Apotheker gewandt: „Helfen Sie uns doch! Oder fürchten Sie sich vielleicht?“
„Ich mich fürchten?“ erwiderte er achselzuckend. „Nein, so was! Ich habe in den Spitälern noch ganz andres gesehen und erlebt, als ich Pharmazeutik studierte. Wir brauten uns unsern Punsch im Seziersaal! Der Tod erschreckt einen Philosophen nicht. Ich habe sogar die Absicht — wie ich schon oft gesagt habe -, meinen Körper der Anatomie zu vermachen, damit er dermaleinst der Wissenschaft noch etwas nützt.“
Der Pfarrer kam und fragte nach Karl. Auf den Bescheid des Apothekers erwiderte er:
„Die Wunde, wissen Sie, ist noch zu frisch.“
Darauf pries Homais ihn glücklich, weil er nicht darauf gefaßt zu sein brauche, eine teure Gefährtin zu verlieren, worauf sich ein Disput über das Zölibat entspann.
„Es ist unnatürlich,“ sagte der Apotheker, „daß sich ein Mann des Weibes enthalten soll. Manche Verbrechen ...“
„Aber, zum Kuckuck!“ rief der Priester. „Kann denn ein verheirateter Mensch das Beichtgeheimnis wahren?“
Nun griff Homais die Beichte an. Bournisien verteidigte sie. Er zählte ihre guten Wirkungen auf. Er wußte Geschichten von Dieben, die auf einmal ehrliche Menschen geworden wären. Sogar Soldaten seien, nachdem sie im Beichtstuhl ihrer Sünden ledig gesprochen, fromme Menschen geworden. Und in Freiburg sei ein Diener ...“
Sein Partner war eingeschlafen. Als die schwüle Luft im Zimmer immer unerträglicher wurde, öffnete der Pfarrer das Fenster. Da ward der Apotheker wieder wach.
„Wie wärs mit einer Prise?“ fragte er ihn. „Hier! Das hält munter!“
In der Ferne bellte irgendwo fortwährend ein Hund.
„Hören Sie, wie der Hund heult?“ fragte der Apotheker.
„Man sagt, daß sie die Toten wittern“, sagte der Priester. „Ähnlich ist es bei den Bienen. Sie verlassen ihren Stock, wenn im Haus ein Mensch stirbt.“
Homais erhob keinen Einwand gegen diesen Aberglauben, denn er war bereits wieder eingeschlafen.
Bournisien, der widerstandsfähiger war, bewegte noch eine Zeitlang leise die Lippen. Dann senkte sich allmählich sein Kinn, sein dickes schwarzes Buch entfiel ihm, und er begann zu schnarchen.
So saßen sie einander gegenüber, mit vorgestreckten Bäuchen, mit ihren aufgedunsenen Gesichtern voller Stirnrunzeln. Nach all ihrem Zwist vereinte sie die gleiche menschliche Schwäche. Sie regten sich ebensowenig wie der Leichnam neben ihnen, der zu schlummern schien.
Karl kam. Er weckte die beiden nicht. Er kam zum letzten Male. Um Abschied von ihr zu nehmen.
Das Räucherwerk qualmte noch. Die bläuliche Wolke vermählte sich am Fensterkreuz mit dem Nebel, der hereindrang. Draußen blinkten einige Sterne. Die Nacht war mild.
Das Wachs der Kerzen träufelte in langen Tränen herab auf das Bettuch. Karl sah zu, wie die gelben Flammen flackerten. Der Lichtschimmer machte ihm die Augen müde.
Über das Atlaskleid huschten Reflexe; es war weiß wie Mondenschein. Emma verschwand darunter, und es schien ihm, als gehe die Tote in alle die Dinge ringsumher über, als lebe sie nun in der Stille, in der Nacht, im leisen Winde, in dem wirbelnden Kräuterdufte ...
Und mit einem Male sah er sie wieder in Tostes auf der Gartenbank unter dem blühenden Weißdornbusch ... dann in Rouen auf dem Gange durch die Straße ... und dann auf der Schwelle ihres Vaterhauses, im Gutshofe, in Bertaux ... Es war ihm, als höre er das Jodeln der lustigen Burschen, die unter den Apfelbäumen tanzten bei seiner Hochzeitsfeier. Wie hatte das Brautgemach nach ihrem Haar geduftet! Wie hatte ihr Atlaskleid in seinen Armen geknistert, wie sprühende Funken! Dasselbe Kleid! Damals und heute!
Langsam zog sein ganzes einstiges Glück noch einmal an ihm vorüber. Er sah sie vor sich in ihren eigentümlichen Bewegungen, ihrer Haltung, ihrem Gang. Er hörte den Klang ihrer Stimme. Immer wieder brandete die Verzweiflung an ihn heran, unaufhörlich, unversiegbar wie die Flut des Meeres am Strande.
Eine gräßliche Neugier überkam ihn. Langsam und klopfenden Herzens hob er mit den Fingerspitzen den Schleier. Aber da schrie er vor Schrecken laut auf, und die beiden andern Männer erwachten. Sie zogen ihn fort und führten ihn hinunter in die Große Stube.
Bald darauf kam Felicie und richtete aus, Bovary wolle vom Haar der Toten haben.
„Schneiden Sie ihr welches ab!“ befahl der Apotheker.
Da sie sichs nicht getraute, trat er selbst mit der Schere heran. Er zitterte so stark, daß er die Haut an der Schläfe an mehreren Stellen ritzte. Endlich raffte er sich zusammen und schnitt blindlings zwei- oder dreimal zu. Es entstanden ein paar kahle Stellen mitten in dem schönen schwarzen Haar der Toten.
Der Apotheker und der Pfarrer versenkten sich wieder in ihre Bücher, nicht ohne von Zeit zu Zeit einzunicken. Jedesmal, wenn sie wieder erwachten, warfen sie es sich gegenseitig vor. Der Pfarrer besprengte das Zimmer mit Weihwasser, und Homais schüttete ein wenig Chlor auf die Dielen.
Felicie hatte für sie gesorgt und auf der Kommode eine Flasche Branntwein, Käse und ein langes Weißbrot bereitgestellt. Gegen vier Uhr früh hielt es der Apotheker nicht mehr aus. Er seufzte:
„Wahrhaftig. Eine Stärkung wäre nicht übel!“
Der Priester hatte durchaus nichts dagegen. Er ging aber erst die Messe lesen. Als er wieder zurückkam, aßen und tranken beide, wobei sie sich angrinsten, ohne recht zu wissen warum, verführt von der sonderbaren Fröhlichkeit, die den Menschen nach überstandenen Trauerakten ergreift. Beim letzten Gläschen klopfte der Priester dem Apotheker auf die Schulter und sagte:
„Wir werden uns am Ende noch verstehen!“
In der Hausflur begegneten sie den Leuten, die den Sarg brachten. Zwei Stunden lang mußte sich Karl von den Hammerschlägen martern lassen, die von den Brettern zu ihm hallten. Dann legte man die Tote in den Sarg aus Eichenholz und diesen in die beiden andern. Aber da der letzte zu breit war, füllte man die Hohlräume mit Werg aus einer Matratze. Als der letzte Deckel zurechtgehobelt und vernagelt war, stellte man den Sarg vor die Tür. Das Haus ward weit geöffnet, und die Leute von Yonville begannen herbeizuströmen.
Der alte Rouault kam an. Als er das Sargtuch sah, wurde er mitten auf dem Markte ohnmächtig.
Rouault hatte den Brief des Apothekers sechsunddreißig Stunden nach dem Ereignis erhalten. Um ihn zu schonen, hatte Homais so geschrieben, daß er gar nicht genau wissen konnte, was eigentlich geschehen war.
Der gute Mann war zunächst wie vom Schlag gerührt umgesunken. Dann sagte er sich, sie könne wohl tot sein, aber sie könne auch noch leben ... Schließlich hatte er seine Bluse angezogen, seinen Hut aufgesetzt, Sporen an die Stiefel geschnallt und war im Galopp weggeritten. Den ganzen Weg über verging er beinahe vor Angst. Einmal mußte er sogar absitzen. Er sah nichts mehr, er hörte Stimmen ringsum und glaubte, er verlöre den Verstand.
Der Tag brach an. Er sah drei schwarze Hennen, die auf einem Baum schliefen. Er erbebte vor Schreck über diese böse Vorbedeutung. Schnell gelobte er der Madonna drei neue Meßgewänder für ihre Kirche und eine Wallfahrt in bloßen Füßen vom heimatlichen Kirchhof bis zur Kapelle von Vassonville.
In Maromme, wo er rastete, brüllte er die Leute im Gasthof munter, rannte mit der Schulter die Haustür ein, stürzte sich auf einen Hafersack, goß in die Krippe eine Flasche Apfelsekt, setzte sich wieder auf seinen Gaul und trabte von neuem los, daß die Funken stoben.
Immer wieder sagte er sich, daß man sie sicher retten würde. Die Ärzte hätten schon Mittel. Er erinnerte sich aller wunderbaren Heilungen, die man ihm je erzählt hatte. Dann aber sah er sie tot. Sie lag auf dem Rücken vor ihm, mitten auf der Straße. Er riß in die Zügel. Da schwand die Erscheinung.
In Quincampoix trank er, um sich Mut zu machen, nacheinander drei Tassen Kaffee.
Es wäre auch möglich, sagte er sich, daß sich der Absender in der Adresse geirrt hatte. Er suchte in seiner Tasche nach dem Briefe, fühlte ihn, wagte aber nicht, ihn noch einmal zu lesen. Schließlich kam er auf die Vermutung, es sei vielleicht nur ein schlechter Witz, irgendein Racheakt oder der Einfall eines Betrunkenen. Und wenn sie wirklich schon tot wäre, dann müßte er es doch an irgend etwas merken! Aber die Fluren sahen aus wie alle Tage, der Himmel war blau, die Bäume wiegten ihre Wipfel. Eine Herde Schafe trottete friedlich vorüber.
Endlich erblickte er den Ort Yonville. Er kam im Galopp an, nur noch im Sattel hängend. Er hatte das Pferd mit Schlägen vorwärts gehetzt; aus den Flanken des Tieres tropfte Blut. Als der alte Mann wieder zu sich kam, warf er sich unter heftigem Weinen in Bovarys Arme.
„Meine Tochter! Meine Emma! Mein Kind! Sag mir doch ...“
Der andre antwortete schluchzend:
„Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! Es ist so schrecklich!“
Der Apotheker zog sie auseinander.
„Die gräßlichen Einzelheiten sind unnütz! Ich werde dem Herrn schon alles erzählen. Da kommen Leute! Würde! Fassung! Man muß Philosoph sein!“
Der arme Karl gab sich alle Mühe, stark zu sein. Mehrere Male wiederholte er:
„Ja, ja ... Mut! Mut!“
„Na, wenns sein muß!“ sagte Rouault. „Ich hab welchen! Himmeldonnerwetter! Wir wollen unsrer Emma das Geleite geben, und wenns noch so weit wäre!“
Die Glocke begann zu läuten. Alles war bereit. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Rouault und Bovary saßen nebeneinander in den Chorstühlen. Die drei Chorknaben wandelten psalmodierend vor ihnen hin und her. Musik brummte. Bournisien in vollem Ornat sang mit scharfer Stimme. Er verbeugte sich vor dem Tabernakel, hob die Hände empor und breitete die Arme aus. Der Kirchendiener hantierte. Vor dem Chorpult stand der Sarg zwischen vier Kerzen. Karl bekam eine Anwandlung, aufzustehn und sie auszublasen.
Er strengte sich an, Andacht zu empfinden, sich zum Glauben an ein jenseitiges Dasein aufzuschwingen, wo er Emma wiedersehen würde. Er versuchte sich einzubilden, sie sei verreist, weit, weit weg und schon seit langer Zeit. Aber wenn er daran dachte, daß sie dort unter dem Leichentuche lag, daß alles zu Ende war, daß man sie nun in die Erde scharrte, da faßte ihn wilde Wut und schwarze Verzweiflung. Und dann wieder war ihm, als empfände er überhaupt nichts mehr. Er fühlte sich in seinem Schmerze erleichtert, aber alsbald warf er sich vor, eine erbärmliche Kreatur zu sein.
Auf die Fliesen der Kirche schlug in gleichen Zeiträumen etwas wie ein Eisenstab auf. Dieses harte Geräusch drang aus dem Hintergrund, bis es mit einem Male im Winkel eines Seitenschiffes aufhörte. Ein Mensch in einem groben braunen Rock kniete mühsam nieder. Es war Hippolyt, der Knecht vom Goldnen Löwen. Heute hatte er sein Bein erster Garnitur angeschnallt.
Ein Chorknabe machte die Runde durchs Kirchenschiff, um Geld einzusammeln. Die großen Kupferstücke klirrten eins nach dem andern in der silbernen Schale.
„Schnell weg! Ich leide!“ rief Bovary und warf zornig ein Fünffrankenstück hinein.
Der Sammelnde bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung.
Man sang, man kniete nieder, man richtete sich wieder auf ... Das nahm kein Ende! Karl erinnerte sich, daß er mit Emma in der ersten Zeit ihres Hierseins einmal zur Messe dagewesen war. Sie hatten rechts an der Mauer gesessen ... Die Glocke begann wieder zu läuten. Ein allgemeines Stühlerücken fing an. Die Sargträger hoben die drei Stangen der Bahre in die Höhe. Man verließ die Kirche.
Justin stand an der Tür der Apotheke. Er verschwand schleunigst, blaß und taumelnd.
Alle Fenster im Orte waren voller Neugieriger, um den Trauerzug vorbeiziehen zu sehn. Karl ging voran, erhobenen Hauptes. Er trug eine tapfre Miene zur Schau und grüßte kopfnickend jeden, der aus den Gassen oder den Häusern trat, um sich dem Zuge anzuschließen.
Die sechs Träger, drei auf jeder Seite, schritten langsam vorwärts. Sie keuchten. Die Priester, die Sänger und die Chorknaben sangen das De profundis . Ihre bald lauten, bald leisen Stimmen verhallten im Feld. Wo der Weg eine Biegung machte, verschwanden sie auf Augenblicke, aber das hohe silberne Kreuz schimmerte immer zwischen den Bäumen.
Die Frauen schlossen sich hinten an, in schwarzen Mänteln mit zurückgeschlagenen Kapuzen, in den Händen dicke brennende Wachskerzen. Karl fühlte, wie ihn seine Kräfte verließen unter der ewigen Monotonie der Gebete und der Lichter, inmitten des faden Geruchs von Wachs und Meßgewändern. Ein frischer Wind wehte herüber. Roggen und Raps grünten, und Tautropfen zitterten auf den Dornenhecken am Wege. Allerlei fröhliche Laute erfüllten die Luft: das Quietschen eines kleinen Wagens in der Ferne auf zerfahrener Straße, das wiederholte Krähen eines Hahnes oder der Galopp eines Füllens, das sich unter den Apfelbäumen austobte. Der klare Himmel war mit rosigen Wölkchen betupft. Bläuliche Lichter spielten um die Schwertlilien vor den Häusern und Hütten. Karl erkannte im Vorbeigehen jeden einzelnen Hof. Er entsann sich eines bestimmten Morgens, an dem er, einen Kranken zu besuchen, hier vorübergekommen war, erst hin und dann auf dem Rückwege zu „ihr“.
Manchmal flatterte das schwarze mit silbernen Tränen bestickte Leichentuch auf und ließ den Sarg sehen. Die ermüdeten Träger verlangsamten den Schritt. Die Bahre schwankte fortwährend wie eine Schaluppe auf bewegter See.
Endlich war man da.
Die Träger gingen bis ganz hinter, bis zu einer Stelle im Rasen, wo das Grab gegraben war. Man stellte sich im Kreis herum auf. Während der Priester sprach, rieselte die rote, an den Seiten aufgehäufte Erde über die Kanten hinweg in die Grube, lautlos und ununterbrochen.
Dann wurden die vier Seile zurechtgelegt und der Sarg darauf gehoben. Karl sah ihn hinabgleiten ... tiefer ... immer tiefer.
Endlich hörte man ein Aufschlagen. Die Seile kamen geräuschvoll wieder hoch. Bournisien nahm den Spaten, den ihm Lestiboudois reichte. Und während er mit der rechten Hand den Weihwedel schwang, warf er wuchtig mit der linken eine volle Schaufel Erde ins Grab. Der Sand und die Steinchen polterten auf den Sarg, und das Geräusch dröhnte Karl in die Ohren, unheimlich wie ein Widerhall aus der Ewigkeit.
Der Priester gab die Schaufel an seinen Nachbar weiter. Es war Homais. Würdevoll füllte und leerte er sie und reichte sie dann Karl, der auf die Knie sank, mit vollen Händen Erde hinabwarf und „Lebe wohl!“ rief. Er sandte ihr Küsse und beugte sich über das Grab, als ob er sich hinabstürzen wollte.
Man führte ihn fort. Er beruhigte sich sehr bald. Offenbar empfand er gleich den andern eine merkwürdige Befriedigung, daß alles überstanden war.
Auf dem Heimwege zündete sich Vater Rouault ruhig seine Pfeife an, was Homais insgeheim nicht besonders schicklich fand. Er berichtete, daß Binet nicht zugegen gewesen war, daß sich Tüvache nach der Messe „gedrückt“ hatte und daß Theodor, der Diener des Notars, einen blauen Rock getragen hatte, „als ob nicht ein schwarzer aufzutreiben gewesen wäre, da es nun einmal so üblich ist, zum Teufel!“ So hechelte er alles durch, was er beobachtet hatte.
Alle andern beklagten Emmas Tod, besonders Lheureux, der nicht verfehlt hatte, zum Begräbnis zu erscheinen.
„Die arme, liebe Frau! Welch ein Schlag für ihren Mann!“
Der Apotheker antwortete:
„Wissen Sie, wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er aus Verzweiflung Selbstmord begangen.“
„Sie war immer so liebenswürdig! Wenn ich bedenke, daß sie vorigen Sonnabend noch in meinem Laden war!“
„Ich hatte nur keine Zeit,“ sagte der Apotheker, „sonst hätte ich mich gern auf ein paar Worte vorbereitet, die ich ihr ins Grab nachgerufen hätte!“
Wieder im Hause, kleidete sich Karl um, und der alte Rouault zog seine blaue Bluse wieder an. Sie war neu, und da er sich unterwegs öfters die Augen mit dem Ärmel gewischt hatte, hatte sie Farbenspuren auf seinem staubbedeckten Gesicht hinterlassen. Man sah, wo die Tränen herabgerollt waren.
Die alte Frau Bovary setzte sich zu ihnen. Alle drei schwiegen. Endlich sagte Vater Rouault mit einem Seufzer:
„Erinnerst du dich noch, mein lieber Karl, wie ich damals nach Tostes kam, als du deine erste Frau verloren hattest? Damals tröstete ich dich, damals fand ich Worte! Jetzt aber ...“ Er stöhnte tief auf, wobei sich seine ganze Brust hob. „Ach, nun ist es aus mit mir! Ich habe meine Frau sterben sehen ... dann meinen Sohn ... und heute meine Tochter!“
Er bestand darauf, noch am selben Tage nach Bertaux zurückzureiten. In diesem Hause könne er nicht schlafen. Auch seine Enkelin wollte er nicht sehen.
„Nein! Nein! Das würde mich zu traurig machen! Aber küsse sie mir ordentlich! Lebe wohl! Du bist ein braver Junge! Und das hier,“ er schlug auf sein Bein, „das werde ich dir nie vergessen. Hab keine Bange! Und euren Truthahn bekommst du auch noch jedes Jahr!“
Aber als er auf der Höhe angelangt war, wandte er sich um, ganz wie damals nach der Hochzeit, als er sich nach dem Abschied auf der Landstraße bei Sankt Viktor noch einmal nach seiner Tochter umgedreht hatte. Die Fenster im Dorfe glühten wie im Feuer unter den Strahlen der Sonne, die in der Ebene unterging. Er beschattete die Augen mit der Hand und gewahrte fern am Horizont ein Mauerviereck und Bäume darinnen, die wie schwarze Büschel zwischen weißen Steinen hervorleuchteten. Dort lag der Friedhof ...
Dann ritt er seinen Weg weiter, im Schritt, dieweil sein Gaul lahm geworden war.
Karl und seine Mutter blieben bis in die späte Nacht auf und plauderten, obwohl sie beide sehr müde waren. Sie sprachen von vergangenen Tagen und von dem, was nun werden sollte. Die alte Frau wollte nach Yonville übersiedeln, ihm die Wirtschaft führen und für immer bei ihm bleiben. Sie fand immer neue Trostes- und Liebesworte. Im geheimen freute sie sich, eine Neigung zurückzugewinnen, die sie so viele Jahre entbehrt hatte.
Es schlug Mitternacht. Das Dorf lag in tiefer Stille. Das war wie immer. Nur Karl war wach und dachte in einem fort an „sie“.
Rudolf, der zu seinem Vergnügen den Tag über durch den Wald geritten war, schlief ruhig in seinem Schloß. Ebenso schlummerte Leo. Einer aber schlief nicht in dieser Stunde.
Am Grabe, unter den Fichten, kniete ein junger Bursche und weinte. Seine vom Schluchzen wunde Brust stöhnte im Dunkel unter dem Druck einer unermeßlichen Sehnsucht, die süß war wie der Mond und geheimnisvoll wie die Nacht.
Plötzlich knarrte die Gittertür. Lestiboudois hatte seine Schaufel vergessen und kam sie zu holen. Er erkannte Justin, als er sich über die Mauer schwang. Nun glaubte er zu wissen, wer ihm immer Kartoffeln stahl.
Am Tage darauf ließ Karl die kleine Berta wieder ins Haus kommen. Sie fragte nach der Mutter. Man antwortete ihr, sie sei verreist und werde ihr hübsche Spielsachen mitbringen. Das Kind tat noch ein paarmal die gleiche Frage, dann aber, mit der Zeit, sprach sie nicht mehr von ihr. Die Sorglosigkeit des Kindes bereitete Bovary Schmerzen. Ganz unerträglich aber waren ihm die Trostreden des Apothekers.
Bald begannen die Geldsorgen von neuem. Lheureux ließ seinen Strohmann Vinçard abermals vorgehen, und Karl übernahm beträchtliche Verpflichtungen, weil er es um keinen Preis zulassen wollte, daß von den Möbeln, die ihr gehört hatten, auch nur das geringste verkauft würde. Seine Mutter war außer sich darüber. Das empörte ihn wiederum maßlos. Er war überhaupt ein ganz andrer geworden. So verließ sie das Haus.
Nun fingen alle möglichen Leute an, ihr „Schnittchen“ zu machen. Fräulein Lempereur forderte für sechs Monate Stundengeld, obgleich Emma doch niemals Unterricht bei ihr genommen hatte. Die quittierte Rechnung, die Bovary einmal gezeigt bekommen hatte, war nur auf Emmas Bitte hin ausgestellt worden. Der Leihbibliothekar verlangte Abonnementsgebühren auf eine Zeit von drei Jahren und Frau Rollet Botenlohn für zwanzig Briefe. Als Karl Näheres wissen wollte, war sie wenigstens so rücksichtsvoll, zu antworten:
„Ach, ich weiß von nichts! Es waren wohl Rechnungen.“
Bei jedem Schuldbetrag, den er bezahlte, glaubte Karl, es sei nun zu Ende, aber es meldeten sich immer wieder neue Gläubiger.
Er schickte an seine Patienten Liquidationen aus. Da zeigte man ihm die Briefe seiner Frau, und so mußte er sich noch entschuldigen.
Felicie trug jetzt die Kleider ihrer Herrin, aber nicht alle, denn Karl hatte einige davon zurückbehalten. Manchmal schloß er sich in ihr Zimmer und betrachtete sie. Felicie hatte ungefähr Emmas Figur. Wenn sie aus dem Zimmer ging, hatte er manchmal den Eindruck, es sei die Verstorbne. Dann war er nahe daran, ihr nachzurufen: „Emma, bleib, bleib!“
Aber zu Pfingsten verließ sie Yonville, zusammen mit dem Diener des Notars, wobei sie alles mitnahm, was von Emmas Kleidern noch übrig war.
Um diese Zeit gab sich die Witwe Düpuis die Ehre, ihm die Vermählung ihres Sohnes Leo Düpuis, Notars zu Yvetot, mit Fräulein Leocadia Leboeuf aus Bondeville ganz ergebenst mitzuteilen. In Karls Glückwunschbrief kam die Stelle vor:
„Wie hätte sich meine arme Frau darüber gefreut!“
Eines Tages, als Karl ohne bestimmte Absicht durchs Haus irrte, kam er in die Dachkammer und spürte plötzlich unter einem seiner Pantoffel ein zusammengeknülltes Stück Papier. Er entfaltete es und las: „Liebe Emma! Sei tapfer! Ich will Dir Deine Existenz nicht zertrümmern ...“ Es war Rudolfs Brief, der zwischen die Kisten gefallen und dort liegen geblieben war, bis ihn der durchs Dachfenster wehende Luftzug an die Türe getrieben hatte. Karl stand ganz starr da, mit offnem Munde, just auf demselben Platz, wo dereinst Emma, bleicher noch als er, aus Verzweiflung in den Tod gehen wollte. Am Ende der zweiten Seite stand als Unterschrift ein kleines R. Wer war das? Er erinnerte sich der vielen Besuche und Aufmerksamkeiten Rudolf Boulangers, seines plötzlichen Ausbleibens und der gezwungenen Miene, die er gehabt, wenn er ihnen später — es war zwei- oder dreimal gewesen — begegnet war. Aber der achtungsvolle Ton des Briefes täuschte ihn.
„Das scheint doch nur eine platonische Liebelei gewesen zu sein!“ sagte er sich.
Übrigens gehörte Karl nicht zu den Menschen, die den Dingen bis auf den Grund gehen. Er war weit davon entfernt, Beweise zu suchen, und seine vage Eifersucht ging auf in seinem maßlosen Schmerze.
„Man mußte sie anbeten!“ sagte er bei sich. „Es ist ganz natürlich, daß alle Männer sie begehrt haben!“ Nunmehr erschien sie ihm noch schöner, und es überkam ihn ein beständiges heißes Verlangen nach ihr, das ihn trostlos machte und das keine Grenzen kannte, weil es nicht mehr zu stillen war.
Um ihr zu gefallen, als lebte sie noch, richtete er sich nach ihrem Geschmack und ihren Liebhabereien. Er kaufte sich Lackstiefel, trug feine Krawatten, pflegte seinen Schnurrbart und — unterschrieb Wechsel wie sie. So verdarb ihn Emma noch aus ihrem Grabe heraus.
Karl sah sich genötigt, das Silberzeug zu verkaufen, ein Stück nach dem andern, dann die Möbel des Salons. Alle Zimmer wurden kahl, nur „ihr Zimmer“ blieb wie früher. Nach dem Essen pflegte Karl hinaufzugehen. Er schob den runden Tisch an den Kamin und rückte ihren Sessel heran. Dem setzte er sich gegenüber. Eine Kerze brannte in einem der vergoldeten Leuchter. Berta, neben ihm, tuschte Bilderbogen aus.
Es tat dem armen Manne weh, wenn er sein Kind so schlecht gekleidet sah, mit Schuhen ohne Schnüre, die Nähte des Kleidchens aufgerissen, denn darum kümmerte sich die Aufwartefrau nicht. Berta war sanft und allerliebst. Wenn sie das Köpfchen graziös neigte und ihr die blonden Locken über die rosigen Wangen fielen, dann sah sie so reizend aus, daß ihn unendliche Zärtlichkeit ergriff, eine Freude, die nach Wehmut schmeckte, wie ungepflegter Wein nach Pech. Er besserte ihr Spielzeug aus, machte ihr Hampelmänner aus Pappe und flickte sie aufgeplatzten Bäuche ihrer Puppen. Wenn seine Augen dabei auf Emmas Arbeitskästchen fielen, auf ein Band, das liegengeblieben war, oder auf eine Stecknadel, die noch in einer Ritze des Nähtisches steckte, dann verfiel er in Träumereien und sah so traurig aus, daß das Kind auch mit traurig wurde.
Kein Mensch besuchte sie mehr. Justin war nach Rouen davongelaufen, wo er Krämerlehrling geworden war, und die Kinder des Apothekers ließen sich auch immer seltner sehen, da ihr Vater bei der jetzigen Verschiedenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Fortsetzung des näheren Verkehrs keinen Wert legte.
Der Blinde, den Homais mit seiner Salbe nicht hatte heilen können, war auf die Höhe am Wilhelmswalde zurückgekehrt und erzählte allen Reisenden den Mißerfolg des Apothekers. Wenn Homais zur Stadt fuhr, versteckte er sich infolgedessen hinter den Vorhängen der Postkutsche, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden. Er haßte ihn, und da er ihn zugunsten seines Rufes als Heilkünstler um jeden Preis aus dem Wege räumen wollte, legte er ihm einen Hinterhalt. Die Art und Weise, wie er das bewerkstelligte, enthüllte ebenso seinen Scharfsinn wie seine bis zur Verruchtheit gehende Eitelkeit. Sechs Monate hintereinander konnte man im „Leuchtturm von Rouen“ Nachrichten wie die folgenden lesen:
„Wer nach den fruchtbaren Gefilden der Pikardie reist, wird ohne Zweifel auf der Höhe am Wilhelmswalde einen Vagabunden bemerkt haben, der mit einem ekelhaften Augenleiden behaftet ist. Er belästigt und verfolgt die Reisenden, erhebt von ihnen gewissermaßen einen Zoll. Leben wir denn noch in den abscheulichen Zeiten des Mittelalters, wo es den Landstreichern erlaubt war, auf den öffentlichen Plätzen die Lepra und die Skrofeln zur Schau zu stellen, die sie von einem der Kreuzzüge mitgebracht hatten?“
Oder:
„Ungeachtet der Gesetze gegen das Landstreichertum werden die Zugänge unsrer Großstädte noch unausgesetzt von Bettlerscharen heimgesucht. Manche treten auch vereinzelt auf, und das sind vielleicht nicht die ungefährlichsten. Aus welchem Grunde duldet das eigentlich die Obrigkeit?“
Daneben erfand Homais auch Anekdoten:
„Gestern ist auf der Höhe am Wilhelmswalde ein Pferd durchgegangen ...“
Es folgte der Bericht eines durch das plötzliche Auftauchen des Blinden verursachten Unfalls.
Alles das hatte eine so treffliche Wirkung, daß der Unglückliche in Haft genommen wurde. Aber man ließ ihn wieder frei. Er trieb es wie vorher. Ebenso Homais. Es begann ein Kampf. Der Apotheker blieb Sieger. Sein Gegner wurde zu lebenslänglichem Aufenthalt in ein Krankenhaus gesteckt.
Dieser Erfolg machte ihn immer kühner. Fortan konnte kein Hund überfahren werden, keine Scheune abbrennen, keine Frau Prügel bekommen, ohne daß er den Vorfall sofort veröffentlicht hätte -, geleitet vom Fortschrittsfanatismus und vom Haß gegen die Priester.
Er stellte Vergleiche an zwischen den Volksschulen und den von den „Ignorantinern“ geleiteten, die natürlich zum Nachteil der letzteren ausfielen. Anläßlich einer staatlichen Bewilligung von hundert Franken für kirchliche Zwecke erinnerte er an die Niedermetzelung der Hugenotten. Er denunzierte kirchliche Mißbräuche. Er las den Pfaffen die Leviten, wie er meinte. Dabei wurde er ein gefährlicher Intrigant.
Bald war ihm der Journalismus zu eng; er wollte ein Buch Schreiben, ein „Werk“. So verfaßte er eine „Allgemeine Statistik von Yonville und Umgebung nebst klimatologischen Beobachtungen“. Die damit verbundenen Studien führten ihn ins volkswirtschaftliche Gebiet. Er vertiefte sich in die sozialen Fragen, in die Theorien über die Volkserziehung, in das Verkehrswesen und andres mehr. Nun begann er sich seiner kleinbürgerlichen Obskurität zu schämen; er bekam genialische Anwandlungen.
Seinen Beruf vernachlässigte er dabei keineswegs, im Gegenteil, er verfolgte alle neuen Entdeckungen seines Faches. Beispielsweise interessierte ihn der große Aufschwung in der Schokoladenindustrie. Er war weit und breit der erste, der den Schoka (eine Mischung von Kakao und Kaffee) und die Eisenschokolade einführte. Er begeisterte sich für die hydro-elektrischen Ketten Pulvermachers und trug selbst eine. Wenn er beim Schlafengehen das Hemd wechselte, staunte Frau Homais diese goldene Spirale an, die ihn umschlang, und entbrannte in verdoppelter Liebe für diesen Mann, der wie ein Magier glänzte.
Für Emmas Grabmal hatte er sehr schöne Ideen. Zuerst schlug er einen Säulenstumpf mit einer Draperie vor, dann eine Pyramide, einen Vestatempel in Form einer Rotunde, zu guter Letzt eine „künstliche Ruine“. Keinesfalls aber dürfe die Trauerweide fehlen, die er für das „traditionelle Symbol“ der Trauer hielt.
Karl und er fuhren zusammen nach Rouen, um bei einem Grabsteinfabrikanten etwas Passendes zu suchen. Ein Kunstmaler begleitete sie, namens Vaufrylard, ein Freund des Apothekers Bridoux. Er riß die ganze Zeit über schlechte Witze. Man besichtigte an die hundert Modelle, und Karl erbat sich die Zusendung von Kostenanschlägen. Er fuhr dann ein zweitesmal allein nach Rouen und entschloß sich zu einem Grabstein, über dem ein Genius mit gesenkter Fackel trauert.
Als Inschrift fand Homais nichts schöner als: STA VIATOR! Diese Worte schlug er immer wieder vor. Er war richtig vernarrt in sie. Beständig flüsterte er vor sich hin: „ Sta viator! “ Endlich kam er auf: AMABILEM CONJUGEM CALCAS! Das wurde angenommen.
Seltsamerweise verlor Bovary, obwohl er doch ununterbrochen an Emma dachte, mehr und mehr die Erinnerung an ihre äußere Erscheinung. Zu seiner Verzweiflung fühlte er, wie ihr Bild seinem Gedächtnis entwich, während er sich so viel Mühe gab, es zu bewahren. Dabei träumte er jede Nacht von ihr. Es war immer derselbe Traum: er sah sie und näherte sich ihr, aber sobald er sie umarmen wollte, zerfiel sie ihm in Staub und Moder.
Eine Woche lang sah man ihn jeden Abend in die Kirche gehen. Der Pfarrer machte ihm zwei oder drei Besuche, dann aber gab er ihn auf. Bournisien war neuerdings überhaupt unduldsam, ja fanatisch, wie Homais behauptete. Er wetterte gegen den Geist des Jahrhunderts, und aller vierzehn Tage pflegte er in der Predigt vom schrecklichen Ende Voltaires zu erzählen, der im Todeskampfe seine eignen Exkremente verschlungen habe, wie jedermann wisse.
Trotz aller Sparsamkeit kam Bovary nicht aus den alten Schulden heraus. Lheureux wollte keinen Wechsel mehr prolongieren, und so stand die Pfändung abermals bevor. Da wandte er sich an seine Mutter. Sie schickte ihm eine Bürgschaftserklärung. Aber im Begleitbriefe erhob sie eine Menge Beschuldigungen gegen Emma. Als Entgelt für ihr Opfer erbat sie sich einen Schal, der Felicies Raubgier entgangen war. Karl verweigerte ihn ihr. Darüber entzweiten sie sich.
Trotzdem reichte sie bald darauf selber die Hand zur Versöhnung. Sie schlug ihrem Sohne vor, sie wolle die kleine Berta zu sich nehmen; sie könne ihr im Haushalt helfen. Karl willigte ein. Aber als das Kind abreisen sollte, war er nicht imstande sich von ihm zu trennen. Diesmal erfolgte ein endgültiger, völliger Bruch.
Nun hatte er alles verloren, was ihm lieb und wert gewesen war, und er schloß sich immer enger an sein Kind an. Aber auch dies machte ihm Sorgen. Berta hustete manchmal und hatte rote Flecken auf den Wangen.
Ihm gegenüber machte sich in Gesundheit, Glück und Frohsinn die Familie des Apothekers breit. Was Homais auch wollte, gelang ihm. Napoleon half dem Vater im Laboratorium, Athalia stickte ihm ein neues Käppchen, Irma schnitt Pergamentpapierdeckel für die Einmachegläser, und Franklin bewies ihm bereits schlankweg den pythagoreischen Lehrsatz. Der Apotheker war der glücklichste Vater und der glücklichste Mensch.
Und doch nicht! Der Ehrgeiz nagte heimlich an seinem Herzen. Homais sehnte sich nach dem Kreuz der Ehrenlegion. Verdient hätte er es zur Genüge, meinte er. Erstens hatte er sich während der Cholera durch grenzenlosen Opfermut ausgezeichnet. Zweitens hatte er — und zwar auf seine eigenen Kosten — verschiedene gemeinnützige Werke veröffentlicht, beispielsweise die Schrift „Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung“, sodann seine „Abhandlung über die Reblaus“, die er dem Ministerium unterbreitet hatte, ferner seine statistische Veröffentlichung, ganz abgesehen von seiner ehemaligen Prüfungsarbeit. Er zählte sich das alles auf. „Dazu bin ich auch noch Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften.“ In Wirklichkeit war es nur eine einzige.
„Eigentlich müßte es schon genügen,“ rief er und warf sich selbstbewußt in die Brust, „daß ich mich bei den Feuersbrünsten hervorgetan habe!“
Er begann Fühlung mit der Regierung zu suchen. Zur Zeit der Wahlen erwies er dem Landrat heimlich große Dienste. Schließlich verkaufte und prostituierte er sich regelrecht. Er reichte ein Immediatgesuch an Seine Majestät ein, worin er ihn alleruntertänigst bat, „ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ Er nannte ihn „unsern guten König“ und verglich ihn mit Heinrich dem Vierten.
Jeden Morgen stürzte er sich auf die Zeitung, um seine Ernennung zu lesen; aber sie wollte nicht kommen. Sein Ordenskoller ging so weit, daß er in seinem Garten ein Beet in Form des Kreuzes der Ehrenlegion anlegen ließ, auf der einen Seite von Geranien umsäumt, die das rote Band vorstellten. Oft umkreiste er dieses bunte Beet und dachte über die Schwerfälligkeit der Regierung und über den Undank der Menschen nach.
Aus Achtung für seine verstorbene Frau, oder weil er aus einer Art Sinnlichkeit noch etwas Unerforschtes vor sich haben wollte, hatte Karl das geheime Fach des Schreibtisches aus Polisanderholz, den Emma benutzt hatte, noch nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich endlich davor, drehte den Schlüssel um und zog den Kasten heraus. Da lagen sämtliche Briefe Leos. Diesmal war kein Zweifel möglich. Er verschlang sie von der ersten bis zur letzten Zeile. Dann stöberte er noch in allen Winkeln, allen Möbeln, allen Schiebfächern, hinter den Tapeten, schluchzend, stöhnend, halbverrückt. Er entdeckte eine Schachtel und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Rudolfs Bildnis sprang ihm buchstäblich ins Gesicht. Es lag neben einem ganzen Bündel von Liebesbriefen.
Bovarys Niedergeschlagenheit erregte allgemeine Verwunderung. Er ging nicht mehr aus, empfing niemanden und weigerte sich sogar, seine Patienten zu besuchen. Dadurch entstand das Gerücht, daß er sich einschließe, um zu trinken. Neugierige aber, die hin und nieder den Kopf über die Gartenhecke reckten, sahen zu ihrer Überraschung, wie der Menschenscheue in seinem langen Bart und in schmutziger Kleidung im Garten auf und ab ging und laut weinte.
An Sommerabenden nahm er sein Töchterchen mit sich hinaus auf den Friedhof. Erst spät in der Nacht kamen die beiden zurück, wenn auf dem Marktplätze kein Licht mehr schimmerte, außer aus dem Stübchen Binets.
Aber auf die Dauer befriedigte ihn die Wollust seines Schmerzes nicht mehr. Er brauchte jemanden, der sein Leid mit ihm teilte. Aus diesem Grunde suchte er Frau Franz auf, um von „ihr“ sprechen zu können. Aber die Wirtin hörte nur mit halbem Ohre zu, da auch sie ihre Sorgen hatte. Lheureux hatte nämlich seine Postverbindung zwischen Yonville und Rouen eröffnet, und Hivert, der ob seiner Zuverlässigkeit in Kommissionen allenthalben großes Vertrauen genoß, verlangte Lohnerhöhung und drohte, „zur Konkurrenz“ überzugehen.
Eines Tages, als Karl nach Argueil zum Markt gegangen war, um sein Pferd, sein letztes Stück Besitz, zu verkaufen, begegnete er Rudolf. Als sie einander sahn, wurden sie beide blaß. Rudolf, der bei Emmas Tode sein Beileid nur durch seine Visitenkarte bezeigt hatte, murmelte zunächst einige Worte der Entschuldigung, dann aber faßte er Mut und hatte sogar die Dreistigkeit, — es war ein heißer Augusttag — Karl zu einem Glas Bier in der nächsten Kneipe einzuladen.
Er lümmelte sich Karl gegenüber auf der Tischplatte auf, plauderte und schmauchte seine Zigarre. Karl verlor sich in tausend Träumen vor diesem Gesicht, das „sie“ geliebt hatte. Es war ihm, als sähe er ein Stück von ihr wieder. Das war ihm selber sonderbar. Er hätte der andre sein mögen.
Rudolf sprach unausgesetzt von landwirtschaftlichen Dingen, vom Vieh, vom Düngen und dergleichen. Wenn er einmal in seiner Rede stockte, half er sich mit ein paar allgemeinen Redensarten. So vermied er jedwede Anspielung auf das Einst. Karl hörte ihm gar nicht zu. Rudolf nahm das wahr; er ahnte, daß hinter diesem zuckenden Gesicht Erinnerungen heraufkamen. Karls Wangen röteten sich mehr und mehr, seine Nasenflügel blähten sich, seine Lippen bebten. Einen Augenblick lang sahen Karls Augen in so düsterem Groll auf Rudolf, daß dieser erschrak und mitten im Satz steckenblieb. Aber alsbald erschien wieder die frühere Lebensmüdigkeit auf Karls Gesicht.
„Ich bin Ihnen nicht böse!“ sagte er.
Rudolf blieb stumm. Karl barg den Kopf zwischen seinen Händen und wiederholte mit erstickter Stimme im resignierten Tone namenloser Schmerzen:
„Nein, ich bin Ihnen nicht mehr böse!“
Er fügte ein großes Wort hinzu, das einzige, das er je in seinem Leben sprach:
„Das Schicksal ist schuld!“
Rudolf, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand insgeheim, für einen Mann in seiner Lage sei Bovary doch allzu gutmütig, eigentlich sogar komisch und verächtlich.
Am Tag darauf setzte Karl sich auf die Bank in der Laube. Die Abendsonne leuchtete durch das Gitter, die Weinblätter zeichneten ihren Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete süß, der Himmel war blau, Insekten summten um die blühenden Lilien. Karl atmete schwer; das Herz war ihm beklommen und tieftraurig vor unsagbarer Liebessehnsucht.
Um sieben Uhr kam Berta, die ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen hatte, um ihn zum Essen zu holen.
Sein Kopf war gegen die Mauer gesunken. Die Augen waren ihm zugefallen, sein Mund stand offen. In den Händen hielt er eine lange schwarze Haarlocke.
„Papa, komm doch!“ rief die Kleine.
Sie glaubte, er wolle mit ihr spaßen, und stieß ihn sacht an. Da fiel er zu Boden. Er war tot.
Sechsunddreißig Stunden darnach eilte auf Veranlassung des Apothekers Doktor Canivet herbei. Er öffnete die Leiche, fand aber nichts.
Als aller Hausrat verkauft war, blieben zwölf und dreiviertel Franken übrig, die gerade ausreichten, die Reise der kleinen Berta Bovary zu ihrer Großmutter zu bestreiten. Die gute alte Frau starb aber noch im selben Jahre, und da der Vater Rouault gelähmt war, nahm sich eine Tante des Kindes an. Sie ist arm und schickt Berta, damit sie sich das tägliche Brot verdient, in eine Baumwollspinnerei.
Seit Bovarys Tode haben sich bereits drei Ärzte nacheinander in Yonville niedergelassen, aber keiner hat sich dort halten können. Homais hat sie alle aus dem Feld geschlagen. Seine Kurpfuscherei hat einen unheimlichen Umfang gewonnen. Die Behörde duldet ihn, und die öffentliche Meinung empfiehlt ihn immer mehr.
Kürzlich hat er das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.