Title : Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Author : Christian Morgenstern
Release date
: May 25, 2005 [eBook #15898]
Most recently updated: December 14, 2020
Language : German
Credits
: Produced by Juliet Sutherland, Hagen von Eitzen and the
Online Distributed Proofreading Team
Zeichnung von Hans Wildermann frei nach einem Entwurf Christian Morgensterns zu Seite 42 : Bild meines Lebens.
Stil: Weltliche Periode (Nietzsche) beendet durch innere Krankheit.
Schale: Öffnung durch Johanneisches.
Blut: Erfüllung.
‚Nur wer sich wandelt,
bleibt mit mir verwandt.‘
Ich wurde am 6. Mai 1871 als einziges Kind des Landschaftsmalers Carl Ernst Morgenstern (Sohnes des Landschaftsmalers Christian Morgenstern) und seiner Ehefrau Charlotte Schertel (Tochter des Landschaftsmalers Josef Schertel) in München geboren und erlebte in unserm gegen Nymphenburg zu gelegenen — aller Kunst und heiteren Geselligkeit geöffneten — Hause mit parkartigem Garten glückliche, eindrucksreiche Kindheitsjahre. Meine Eltern reisten viel, zuerst aus Lebenslust, dann aus Rücksicht auf ein beginnendes Lungenleiden meiner Mutter, und nahmen mich schon von meinem dritten oder vierten Jahre an überallhin mit. Besonders ist mir eine lange Reise durch Tirol, die Schweiz und das Elsaß in Erinnerung, die im wesentlichen in einer von zwei unermüdlichen Juckern gezogenen Kutsche zurückgelegt wurde. Dazwischen und später waren es dann die (damals noch ländlichen) bayerischen Seedörfer Kochel, Murnau, Seefeld, Herrsching, Weßling und noch später schlesische Dörfer am Zobten und im Vorland des Riesengebirges, die dem sehr viel einsamen und stillfrohen Knaben unvergeltbar Liebes erwiesen. Solch freundliches Los ward ihm zumal durch die Lebensführung des Vaters, der als freier Landschafter sowohl, wie dann, als er an die Breslauer Kunstschule berufen worden war, Sommer um Sommer ins Land hinauszog; wozu noch kam, daß er ihn, als eifriger Jäger, bisweilen in seinen Jagdgebieten und Jagdquartieren mit sich hatte.
Diese Jahre waren grundlegend für ein Verhältnis zur Natur, das ihm später die Möglichkeit gab, zeitweise völlig in ihr aufzugehen.
10 Sie waren aber auch nötig, denn bald nach seinem zehnten Jahre, in dem er die Mutter verlor, begann der Ansturm feindlicher Gewalten von außen wie von innen. Was sich bisher, gehegt und verwöhnt, daheim und im Freien so durchgespielt hatte — mein Spielen bildet für mich ein eigenes sonniges Kapitel — zeigte sich dem äußeren Leben, wie es vor allem in der Schule herantrat, weniger gewachsen. Es war, als wäre das Leidenserbe der Mutter, das doch erst zwölf Jahre darauf zu wirklichem Kranksein führte, schon damals übernommen worden; denn wenn auch mancher frische Aufschwung immer wieder weiter trieb, so setzten doch mehr und mehr jene dumpfen Hemmungen ein, die ihn wohl nicht hätten so zu Jahren kommen lassen, wenn nicht irgend etwas in ihm ebenso zähe für ihn gestritten und ihn über das Schlimmste immer wieder von neuem hinweggebracht hätte. Vielleicht war es dieselbe Kraft, die, nachdem sie ihn auf dem physischen Plan verlassen hatte, geistig fortan sein Leben begleitete und, was sie ihm leiblich gleichsam nicht hatte geben können, ihm nun aus geistigen Welten heraus mit einer Treue schenkte, die nicht ruhte, bis sie ihn nicht nur hoch ins Leben hinein, sondern zugleich auf Höhen des Lebens hinauf den Weg hatte finden sehen, auf denen der Tod seinen Stachel verloren und die Welt ihren göttlichen Sinn wiedergewonnen hat.
Sie mag ihm auch den Jugend- und Lebensfreund zugeführt haben, Friedrich Kayßler , dem die Sammlung ‚Auf vielen Wegen‘ (und wieviel anderes!) mit dem Danke gehört: ‚Wär der Begriff des Echten verloren / In Dir wär er wiedergeboren‘.
11 In meinem 16. Jahre etwa wurde mir das erste Glück philosophischer Gespräche. Schopenhauer, vor allem, auch schon die Lehre von der Wiederverkörperung traten in mein Leben ein. Es folgte, Anfang der Zwanziger, Nietzsche, dessen suchende Seele mein eigentlicher Bildner und die leidenschaftliche Liebe langer Jahre wurde. Die Aufgabe, Ibsens Verswerke zu übertragen, führte mich 1898 nach Norwegen. Ich lernte Henrik Ibsens teure Person kennen und durfte in den Übersetzungen von ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt‘ mich innerlichst mit ihm verbinden.
Das Jahr 1901 sah mich über den ‚Deutschen Schriften‘ Paul de Lagardes. Er erschien mir — Wagner war mir damals durch Nietzsche entfremdet — als der zweite maßgebende Deutsche der letzten Jahrzehnte, wozu denn auch stimmen mochte, daß sein gesamtes Volk seinen Weg ohne ihn gegangen war.
Noch sechs Jahre darauf schrieb ich in mein Taschenbuch:
Zu Niblum will ich begraben sein,
am Saum zwischen Marsch und Geest …
Zu Niblum will ich mich rasten aus
von aller Gegenwart.
Und schreibt mir dort auf mein steinern Haus
nur den Namen und: ‚Lest Lagarde!‘
Ja, nur die zwei Dinge klein und groß:
Diese Bitte und dann meinen Namen bloß.
Nur den Namen und: ‚Lest Lagarde!‘
Inzwischen war dem Fünfunddreißigjährigen Entscheidendes geworden. Natur und Mensch hatten sich ihm endgültig vergeistigt. Und als er eines Abends wieder einmal das Evangelium nach Johannes aufschlug, glaubte er es zum ersten Male wirklich zu verstehen.
Die nächsten Jahre — des Austragens, Ausreifens, zu Ende Denkens — überstand er so, wie er sie überstand, eigentlich nur, weil ihm Gesundheit und Mittel fehlten, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo er in völliger Unbekanntheit seine Tage hätte vollenden dürfen. Er war doppelt geworden und in der wunderlichen Verfassung, sich, sozusagen, groß oder klein schreiben zu können. (In ‚Einkehr‘, ‚Ich und Du‘ und einer Sammlung Aufzeichnungen findet sich Einiges aus diesem Abschnitt.)
Er konnte in einem Kaffeehause sitzen und fühlen: ‚So von seinem Marmortischchen aus, seine Tasse vor sich, zu betrachten, die da kommen und gehen, sich setzen und sich unterhalten, und durch das mächtige Fenster die draußen hin und her treiben zu sehen, wie Fischgewimmel hinter der Glaswand eines großen Behälters, — und dann und wann der Vorstellung sich hinzugeben: Das bist Du! — Und sie alle zu sehen, wie sie nicht wissen, wer sie sind, wer da, als sie, mit SICH selber redet und wer sie aus meinen Augen als SICH erkennt und aus ihren nur als sie!‘ …
13 Und doch war solches Erkennen nur erst ein Oberflächen-Erkennen und darum letzten Endes noch zur Unfruchtbarkeit verurteilt.
So kam das Jahr 1908 —
‚Da traf ich Dich, in ärgster Not: den Andern!
Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut.
Von neuem hob ich an, mit Dir, zu wandern,
und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
Der Steig war steil, doch wagten wir's gemeinsam.
Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.‘
Der Andre war Sie , die mein Leben fortan teilte; der Pfad war der Weg theosophisch-anthroposophischer Erkenntnisse, wie sie uns heute, in einziger Weise, durch Rudolf Steiner vermittelt werden.
In dieser Persönlichkeit lebt ein großer spiritueller Forscher ‚ein ganz dem Dienste der Wahrheit gewidmetes Leben‘ vor uns und für uns dar.
Vor ihm darf auch der Unabhängigste sich von neuem besinnen und revidieren, vor ihm hat dies jedenfalls der getan, der immer am liebsten dem Worte nachleben wollte: — Vitam impendere vero.
Was ist denn von außen her über ein Leben zu sagen!
Gar nichts.
Nicht im lärmenden Kampf der Tage, auch nicht im Sturm einer großen Zeit, aber nach Jahrtausenden stiller Arbeit, nach Äonen ewig fortwirkenden Webens — dann werden die Menschen gut werden.
O, wer diesen Glauben, der mir Gewißheit ist, in allen Augenblicken seines Strebens im Herzen lebendig fühlte, er würde glücklich sein.
Mein einziges Gebet ist das um Vertiefung. Durch sie allein kann ich wieder zu Gott gelangen. Vertiefung! Vertiefung!
Ich bin ein Studienkopf, den der Schöpfer einst flüchtig skizzierte, als ihm ein Künstlerporträt im Sinne lag.
Ich möchte nicht leben, wenn Ich nicht lebte.
Vor einer Menschenmenge: Ich sehe plötzlich die Gedanken dieses Volks wie eine dicke schwarze Wolke über ihm. Eine Wolke voll Tränen und Blitzen.
Über all meinen Werken soll es wie ein großes Verstehen liegen — und davon werden viele glücklich werden.
Mir ist mein ganzes Leben zu Mut, als ginge mein Weg oft an der Hecke des Paradieses vorbei. Dann 15 streift mich warmer Hauch, dann mein‘ ich, Rosen zu sehn und zu atmen, ein süßer Ton rührt mich zu Tränen, auf der Stirn liegt es mir wie eine liebe, friedegebende Hand — sekundenlang. So streife ich oft vorbei an der Hecke des Paradieses …
O tiefe Liebe, die mich zu allem beseelt.
Möchte gern noch oft erwachen, stets als großer Künstler.
In Arco:
Ich dünkte mich einer jener alten blonden Germanen, die hier einst mit Herrscherschritt durch die Straßen wanderten.
Ich sehe auf mich selbst zurück. Unzählige Gestalten huschen schemenhaft an mir vorüber.
Ausgraben will ich meiner Seele Schacht.
Daß ich nie in meinem Leben eine Schwester gehabt habe! Kein fremdes Weib kann dem Bruder ein solches Verhältnis ersetzen.
Man lasse sich durch meine Ironie nicht irreführen. Meine Ironie ist naiv wie mein Pathos. Ich vermag Unglaubliches ironisch zu sagen, ohne eine Spur von frivoler Empfindung …, ja vielleicht schrieb ich es mit ernsthaftester Miene, ohne ein andres Lachen als das eines in sich heiteren unbewegten Geistes.
Ich fange das Raubvogelgesindel meiner häßlichen Gedanken und brate sie am Spieß, der über einem Feuer sich dreht. Ach, vergebens.
Nach einer Zoten-Posse
Je älter ich werde, einen desto tieferen, bittreren, inbrünstigeren Widerwillen empfinde ich gegen die Zote. Weniger gegen die, welche etwa von Mann zu Mann kursiert, obschon ich auch sie vollständig entbehren könnte, als gegen die öffentliche Zote von der Bühne herab. Wenn plötzlich Hunderte versammelter Menschen jede Scham voreinander verlieren und in wiehernder Freude über eine nicht mißzuverstehende Andeutung übereinstimmen, dann sinkt mir der Mensch unter das Tier und ein schmerzlicher Unwille zieht mir das Herz zusammen.
Ich habe doch für vieles Leichtsinn und nicht zum mindesten für die Liebe jeglicher Art, aber vor der berechneten Zote vergeht mir aller Übermut. Da schaue ich nur in einen Abgrund von Gemeinheit und Häßlichkeit. Wir jungen Männer, die wir etwas auf uns halten, sollten jenen Aufführungen beizuwohnen nicht als uns angemessen erachten und am wenigsten Weiber, die wir ehren, mit uns in jene niedrige und widerwärtige Sphäre hinabziehen.
Mein Skeptizismus ist vielleicht gerade das Charakteristische des philosophischen Dilettanten. Der philosophische Dilettant ist immer schnell am Ende aller Dinge, weil er nur die Ergebnisse der bereits gewonnenen Erkenntnis im Auge hat, ohne die Wege 17 zu gehen, ja oft auch nur zu kennen, auf denen jene erreicht worden sind.
Jedes Jahr habe ich mindestens Eine Periode fürchterlichsten Zweifels an mir selbst. Dann lebe ich mit beständigen Todesgedanken.
Die Sehnsucht meines Lebens ist eine oft übermächtige Sehnsucht nach praktischem Schaffen im Großen. Plastik wäre (und Architektur) mein höchster Fall. Meine höchste Liebe galt immer dem Gegenständlichen, der Linie, der Farbe, dem Ton an sich. Schon er allein vermochte mich zu entzücken, wievielmehr erst seine organischen Verbindungen.
Mein Hang zu philosophischem Nachdenken beruht auf der einfachen Grundlage, daß ich in jedem Augenblick über das kleinste Stück Natur irgendwelcher Art in höchste Verwunderung geraten kann.
Dieser Norden! Da wacht man in der verheißendsten Stimmung auf. Griesgrämig, grau, teilnahmslos ruhen die großen Augen der Fenster auf dir, als wollten sie sagen: wozu regst du dich so auf? was willst du mit deinen törichten Idealen? Alles ist eitel.
Ich verbrenne an meinem eigenen Maßstab.
Träume
Die wilde Jagd.
Der Schächer am Kreuz.
18 Mein Herz kommt mir heut vor wie ein Pfefferkuchenherz, das lange im Nassen gelegen hat.
Es ist etwas in mir, das jagt und jagt einem Ziele zu. Das läßt mich in keiner Trägheit ganz ruhn, in keinem Glück ganz vergessen.
Ich möchte am liebsten auf einem Turm wohnen. Täglich im Leben drunten ein Bad nehmen, untertauchen, und dann wieder hinaufsteigen in sein Luginsland, sein au dessus de la vie.
So oft ich unter neue Menschen gehe, so oft komme ich mit Wunden bedeckt von ihnen zurück. Es sind freilich nur leichte oberflächliche Schrammen, die bald wieder verheilen, aber sie haben, da sie entstanden, wie zehrendes Feuer gebrannt und besser vielleicht als eine tiefe Verwundung ihr Werk an meiner Seele getan.
Ich kann ungeklärte Verhältnisse einfach nicht ertragen. Warum können die Menschen nicht offen gegeneinander sein? Reine Luft zwischen uns!
Ich mag die Verärgerten nicht leiden.
Meine Natur hat sich von früh auf mit Apathie beholfen. Diese Langsamkeit zu reagieren, hat alles, was auf mich einbrach, auf eine breitere Fläche verteilt, und was mir in einer Stunde unzweifelhaft den Atem abgeschnürt hätte, wurde mir so in Tagen 19 und Wochen zu einem dumpfen Druck, der mein Leben nicht eben zerstörte, aber langsam und sicher ermattete.
Und das Verhaßteste von allem wird einst geschehen: Man wird mir ‚Milderungsgründe zubilligen‘. (‚Er war ein guter Mensch, er wollte das Beste usw.‘)
Was muß ich auf die Menschen für einen Eindruck machen, daß sie mich so oft wie ein unmündiges Kind behandeln wollen.
Ich trage keine Schätze in mir, ich habe nur die Kraft, vieles, was ich berühre, in etwas von Wert zu verwandeln. Ich habe keine Tiefe, als meinen unaufhörlichen Trieb zur Tiefe.
Mein nächstes Buch soll ‚Auferstehung‘ heißen, wenn mir noch eine Auferstehung beschieden sein sollte, im größten Sinne.
Ich will gern alles gutzumachen suchen, was ich und andere mit mir schlecht gemacht haben, aber nur noch in mir , in mir selbst. Alles andere ist Sentimentalität und Pfuscherei.
Ich hatte heute Nacht (24./25. II. 05) ca. 3/4 2 Uhr nach dem ersten Einschlafen wieder einen jener schon beschriebenen Gehirnzustände (etwa der achte in der Reihe), dessen Hauptmerkmal mir zu sein scheint, daß ich — innerhalb des Traumzustandes — aus einem unangenehmen Traum mit aller Willenskraft ins wache 20 Bewußtsein hinausstrebe. Es ist der Grenzzustand des Erwachens aus einem peinigenden oder doch beunruhigenden Traum das eigentliche Thema eines solchen Traumzustandes. So erinnere ich mich augenblicklich nicht mehr des Traumes im Traume selbst, sondern nur noch des Erwachenwollens, ja scheinbar wirklich Erwachtseins im Traume. Ich schien mich endlich mit aller Kraft aus dem Krampf des Traumes losgerissen zu haben, aber ich glaubte nicht an mein wirkliches Erwachtsein. Da fühlte ich ein Fünfpfennigstück zwischen den Zähnen. Ich biß darauf: jetzt war kein Zweifel mehr: es widerstand, es schmeckte metallig; ich schien wirklich wach. Währenddem wachte ich mehr und mehr auf. Im letzten Stadium vor dem wirklichen Erwachen verwandelte mein offenbar klarer werdender Intellekt das Geldstück in eine Emser Pastille, die sich zu lösen begann und den salzig-säuerlichen Geschmack auf meiner Zunge verstärkte. Hierauf wachte ich wirklich auf und war verwundert, nichts in meinem Munde zu finden. (Ich hatte nebenbei bemerkt den Tag — aber nicht den Abend zuvor — einige Emser Pastillen gegessen.)
Einem wirklichen Traume (28./29. Juli 05) folgend, möchte ich ein dramatisches Märchen orientalischen Charakters schreiben. Der Traum war etwa so: Eine Anzahl von uns, worunter mir noch M. Heimann, später auch Frisch (und seine Frau) erinnerlich, waren von andern eingeladen worden, Schriften (Dramen, Lyrisches, Lehrhaftes) eines fremden, höchst merkwürdigen Kulturvolkes (Chinesen, Inder?) kennenzulernen, um sie zu übersetzen. Es hieß, 12 Personen hätten genug 21 auf Jahre zu tun, wenn sie einen Vorstoß in diese fremde wunderliche Literatur machen wollten. Zu dem Zweck wurden uns große Bücher vorgelegt, die mit schönen mönchischen Handschriften gefüllt waren, und uns Stellen vorgelesen, die uns außerordentlich bedeutsam erschienen. Zu gleicher Zeit glitten wir im Traum unmerklich mehr und mehr in dieses Land selbst, es wurde uns geraten, seine Tempel, Gärten, Theater, Schlösser kennen zu lernen. Ein Trupp von uns wurde herumgeführt. Ich erinnere mich eines ungeheuren Lesesaales, in den man uns blicken ließ und dessen uns entgegengesetzte Seite eine einzige gewaltige Glasscheibe abschloß, durch die man eine Schweizer Landschaft mit einer Stadt erblickte, — wie wir erfuhren: Bern und seine Alpen; augenscheinlich von jenen Leuten der Wirklichkeit nachgebildet und hinter jener Scheibe als Aussicht angebracht.
Nach einer Weile verlor ich meine Gefährten. Ich nahm einen eigenen Führer und ließ mich von ihm, ich glaube nach einem Tempel, tragen. Der Träger trug zwei Stangen, die oben Fußtritte wie die Stelzen hatten. Auf diese trat man, während man sich an ihrem obersten Teile mit den Händen und Armen festhielt. Der Träger trug dann das Ganze wie eine doppelte Fahnenstange.
Der Mann, den ich genommen, lachte auf meine Befürchtung, ich könne ihm zu schwer werden und versicherte, ich würde viel eher loslassen als er. Er trug mich durch reißende Kanäle und zuletzt begann ich sowohl müde zu werden, wie ihn zu fürchten. Hier schiebt sich irgendwo eine Vorstellung ein, die ich in einem der Theater gesehen haben muß und in 22 der ein junges, süßes, zartes Geschöpf die Hauptrolle gespielt haben muß. Worte und Erscheinung überwältigten mich mit solcher Macht, daß ich in Tränen ausbrach. Und ich weinte so mit meinem ganzen Wesen, aber ohne jede Bitterkeit, nur aus tiefster Erregung der Seele, daß ich meine, dies Gefühl nie vergessen zu können. Was das Stück enthielt, weiß ich nicht mehr. Das Wort Samaria blieb haften und als hinterher wieder davon als von einem Übersetzungsangebot gesprochen wurde, hörte ich, daß die Sonne darin einmal mit Amanda angeredet wurde, was ich durch Alliebende (!) zu übertragen vorschlug.
Chor (zu vorigem)
Gebrochen von des Lebens vielen Strafen,
hinwandl' ich meinen Pfad gebeugten Hauptes,
schon nicht mehr hoffend auf des Himmels Gnade,
die süßen Boten lächelnden Erbarmens.
Wenn ich ein Musiker wäre, so würde ich eine Symphonie ‚Vineta‘ schreiben.
Ich wäre als Maler gewiß in Menzels Spuren gegangen, so sehr interessiert mich jeder Gegenstand als rein malerisches Objekt.
Wenn man durch Zusammenstellung der beiden Hände geheimnisvolle Figuren bildet, so habe ich ein besonderes Verständnis dafür und möchte sie alle kennen lernen. Für mich ist die Mystik der Hände unaussprechlich. (Dabei sind meine eigenen zwar klein, aber nicht schön. Nur der Handrücken — überhaupt die geballte Faust — ist gut und vielleicht die Daumen. 23 Die andern Finger sind Herdentiere. Der Handteller ist sehr bemerkenswert: Ein Chaos von Linien um ein riesiges M .)
Der ganze Wahnwitz unseres modernen Wohnens (ja Lebens) steigt mir aus dem Bild meines eigenen Umzugs auf: Wäre es nicht würdiger, sein bißchen Hab und Gut in einer Erdhöhle, die einem aber für immer gehört, wenn sie nicht ein Naturereignis vernichtet, zu bergen, als mit seinen Bündeln und Kisten durch prahlende Burgen zu irren, alle zwei, drei Jahre durchschnittlich den in festgemauerten Gelassen Seßhaften zu spielen, allen Ernst und alle Liebe zu einem eigenen Heim an teuer gemietete Wände zu verschwenden, die einem nie gehören können, die uns ewigen Nomaden Verhältnisse vortäuschen, die für uns eben nur erlogen, nur uneingestandene Kulisse sind. Mein Wohnungsideal ist das Zelt. Nur so weit möchte ich es noch bringen.
Ich leide oft sehr an der Art meines Humors. Meine ewige Fragestellung, ob nicht jeder Humor ein Quantum Philistrosität einschließt.
Wenn ich heute stürbe, glaube ich, alt genug geworden zu sein. Ich bin dann wenigstens alt genug geworden, um sterben zu können.
Warum muß ich so unaufhörlich unter mir und anderen leiden! Meine Seele ist fortwährend das Spiel über sie hinziehender Schatten.
24 Für mich gibt es nur ein Mittel, um die Achtung vor mir selbst nicht einzubüßen: Fortwährende Kritik.
Der alte oft erprobte Fluch: Mein Typus Weib bleibt mir ewig verborgen.
Was will ich denn! Einen Kameraden, eine freie Seele, einen anmutigen Körper.
In Rußland fände ich diese Gefährtin, in Italien — nein. In Deutschland, dem für mich doch allein zulässigen Lande — wo, wo, wo?
Ihr wollt alle nur die Liebe zur Möglichkeit haben. Ich habe nur die Liebe zur Unmöglichkeit.
Kritik, Kritik, nimmer genug Kritik,
ein Spiegel sei mir noch das letzte Tor.
Wie die Nacht über einen Tod zieht, so zieht Vergessenheitsnacht allnächtlich über mein Gehirn. Ja, oft hat ein Tag so viele Tage und Nächte, wie bei andern wohl oft Wochen und Monate. Wenn mich jemand hypnotisierte, ich sei eine Mücke und hätte nur einen Tag zu leben, so glaube ich wohl, daß dieser Tag für mich ein ganzes Leben werden könnte.
Ich habe soeben eine lange leidenschaftliche Epistel an meinen Ofen verfaßt und sie ihm dann gegeben. Er verschlang sie gierig und wärmte mir mit seinem Feuer zwei Minuten lang Gesicht und Hände. Gewiß, das war alles; aber es gibt Menschen, die nicht einmal wie ein Ofen zu antworten vermögen.
25 Ich ermangele ganz des Vermögens, mir nach einer Beschreibung — und wenn sie noch so genau ist — ein Zimmer oder eine Landschaft vorzustellen. Bühnenanweisungen gehen an mir meistens spurlos vorüber und Schilderungen etwa wie des Hauses der Buddenbrooks gehen nur mit einigen groben Zügen in mein Gehirn ein.
Ich habe sehr sichere Instinkte, aber nicht die Gabe, eingehend zu begründen, zu erklären. Die Mehrzahl der Heutigen hat umgekehrt die Gabe des Begründens und Erklärens in hohem Maße, aber dafür keine innere Direktion. Es ist unendlich quälend, die Berechtigung seines Urteils immer wieder aufs neue beweisen zu sollen.
Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein fernes, fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr ganzes Leben nach der einstigen Heimat, ruhlos durchmißt sie das Land nach allen Seiten. Und oft fällt sie zu Boden in ihrer großen Müdigkeit, und man kommt, hebt sie auf, pflegt sie und will sie ans Haus gewöhnen. Aber so bald sie die Flügel nur wieder fühlt, fliegt sie von neuem fort, auf die einzige Fahrt, die ihrer Sehnsucht genügt, die unvermeidliche Suche nach dem Ort ihres Ursprungs.
Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: ‚Und er entwich vor ihnen in die Wüste.‘
Wie wenig meiner sicher bin ich doch noch. Mit welcher Leichtfertigkeit habe ich heute Abend über 26 Menschen geredet: so daß ich nun nachts über mich erschrecke. (Ich werde mir doch das Armband ‚Denke daran‘ anlegen müssen.)
Eines kann ich wohl als Merkwort über all mein Leben und seine Erfahrungen schreiben: Fast alles, was ich geworden bin, verdanke ich mir selber, einigen Privatpersonen und dem Zufall. Von irgendeiner bewußten organischen Kultur um mich herum, die das Einzelindividuum zu benutzen und systematisch auszubilden vermocht hätte, spürte ich nie etwas. Weder Eltern noch Lehrer noch irgendwer hat mich je kraftvoll in die Hand genommen und in großem Sinne erzogen. Und wenn ich, ein Mensch von ursprünglich glänzender Begabung, alles in allem ein Dilettant geblieben bin, so hat die Hälfte der Schuld daran gewiß die Unsumme von Dilettantismus, von Halbheit und Kulturlosigkeit, die ich überall gefunden habe, wohin mich meine bewegte Jugend geführt hat. (Gelegentlich der herrlichen Schilderung der Krapotkinschen Jugend.)
Es ist bitter, sich sagen zu müssen, daß man zwischen 35 und 45 zu erledigen hat, was man zwischen 45 und 60 hätte sollen erledigen können.
Ihr macht mir aus meiner gleichmäßigen Höflichkeit gegen alle einen Vorwurf. Aber, was wollt ihr! Es gibt gewiß nicht gar so viele, denen es leicht fällt, die Menschen zu lieben. Nun, mir fällt es zuweilen leicht: warum sollte ich da gewaltsam unfreundlich zu ihnen sein? Ich finde an jedem etwas, was mir 27 Sympathie oder doch Interesse abnötigt; und würde nicht mein Gefühl vom Einssein mit allem eine Lüge sein, wenn ich irgendeinem Mitmenschen gegenüber völlig kalt bleiben könnte?
Ich bin der leichterregbarste und unbeeinflußbarste Mensch, den ich kenne.
Ist es ein Wunder, wenn dann und wann eine Nuance von Hochmut in einem auftaucht. Wenn man der offenbaren Niedertracht gegenüber zuweilen eisig wird — das Einzige, das ihr nicht zu Gebote steht. Die Menge weiß nichts von der Tiefe der Demut, die ein einzelner empfindet, der sich ganz zu erkennen strebt.
Luther spricht einmal von ‚bösen Gedanken‘, deren Kommen man nicht hindern könne, aber die es gelte, vor der Schwelle bleiben zu lassen. Der Satz (dessen schöner kräftiger Wortlaut mir im Augenblick leider nicht gegenwärtig) ist mir oft im Leben ein Trost gewesen; denn ich habe von früh auf, d.h. wohl etwa von meinem 14. Jahr an, daran gelitten, daß in der Reihe meiner Assoziationen plötzlich zuweilen ein ‚häßlicher Gedanke‘, eine häßliche Vorstellung auftauchte, die ich sofort als solche erkannte, ohne indes die Macht zu besitzen, ihr auszuweichen, ja ihr Wiedererscheinen zu hindern.
Es wäre vielleicht der richtige Augenblick, ein Tagebuch zu beginnen. Draußen regnet es ununterbrochen seit neun Stunden und bringt mir meine Einsamkeit erdrückend zum Bewußtsein. Heute Nachmittag durchfuhr 28 es mich: wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen können. Und ich bin krank, wenn ich es auch fortwährend wieder vergesse und mitten in meiner Krankheit Stunden, Tage, Wochen vollkommener Gesundheit durchlebe, Zeiten voll herrlichsten Blühens, in denen der Zerfall in mir gleichsam überblüht, hinweggesiegt wird von einem Frühling, der Herbst und Winter des Leibes nicht anerkennt, der die Ordnung der Natur vergewaltigt und, als unüberwindliche immer wieder auferstehende Lebenskraft mich über mich selbst hinwegretten zu wollen scheint. Aber dann kommt ein Spätnachmittag mit seiner gefährlichen Muße, dann kommt ein nasser, trübseliger Tag wie dieser, und mit dem Vergessen dessen, ‚was ist‘, ist es vorbei. Ich sehe ihn vor mir, meinen treusten Begleiter und Verfolger, den seltsamsten Kauz der Welt. Seine Beschäftigung besteht seit zehn, seit vierzehn Jahren darin, mich mit einer feinen Federpose in der Luftröhre zu reizen, gleich als wünschte er auf Erden nichts, als immer von neuem, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr meine Stimme zu hören, lediglich die Stimme, unartikuliert, tierisch, ohne Form, ohne Inhalt, wie er denn wohl auch selbst nur ein tierischer Geist sein mag, ein Gespenst ohne Hirn, nichts als fixe Idee von oben bis unten und ich sein einziges Ziel, sein einziger Lebenszweck.
Es berührt mich eigentümlich, wenn meine Freunde künftige Pläne vor mir ausbreiten. Die einen denken sich ein kleines Haus für mich aus in ihrer Nachbarschaft, die andern wollen mich weiß Gott wohin haben. 29 Vielleicht, vielleicht. Aber ich gebe mir höchstens noch zehn Jahre. Und diese zehn Jahre haben ihre Bestimmung, und die ist kaum: Nachbar zu werden und Besuchsreisen zu machen. Am meisten schmerzt mich, was ich von dichterischen Möglichkeiten alles fallen lassen muß. Zum Drama werde ich nie gelangen, ich habe von Natur nicht das Zeug dazu und mich auf Drama hinzudisziplinieren, dazu fehlt, wie gesagt, Zeit und dann auch Energie. Mein Widerwille nämlich gegen richtiges, zusammenhängendes ‚Schreiben‘ ist allzu groß. Daran wird auch mein Roman scheitern. Ich bin Gelegenheitsdichter und nichts weiter.
Ihr wollt meinen Platz wissen? Überall, wo gekämpft wird.
Meine Methode, ein Wort durch den Gestus zu finden.
Niemand war und ist mir eine empfindlichere Geißel als der richterlich geartete Mitmensch. Er ist für mich der personifizierte böse Blick. Vor ihm erschrickt alles Lebendige in mir so tief, als hätte der Tod selbst es gestreift. So mag eine Pflanze aufhören zu wachsen, wenn sie ein schlimmer Zauberer anhaucht. Sie will gern von Wind, Regen und Kälte vernichtet werden, und wenn sie jemand zertritt, so wird sie es als etwas Natürliches hinnehmen, aber sich bei lebendigem Leibe von einem andern lebenden Wesen schlechtweg in Frage stellen, verneinen, für unfähig, für einen Irrtum erklären lassen zu müssen und das nicht etwa unter einem Feuer von Leidenschaft, sondern kalt, vorbedacht — das ist unerträglich.
30 Dieser Ofen könnte mich veranlassen, zu bleiben. Er ist aus länglichen Kacheln gebaut, die ein von allerzartestem Lila umrahmtes milchweißes Ornament zeigen, und von schönen Verhältnissen. Wenn die Menschen mehr bedächten, wie viel Glück von einem einfachen Gegenstand ausgehen kann, wenn sich nur ein reiner Geschmack in ihm ausdrückt, würden sie unter den einfachsten Bedingungen viel dankbarer gegen ihr Leben sein dürfen. Ich kann nicht sagen, wie mich die ersten Architekturen des Südens (in Bozen) wieder bewegten. Ich glaube, ich werde von hier unaufhaltsam nach Italien hinabsinken — und vielleicht bloß um seiner Bauwerke willen, die mir den Menschen erhöhen, wie der Mensch sich in ihnen erhöht hat.
Als Primaner versuchte ich zum ersten Mal zu einer lebendigen Vorstellung dessen zu gelangen, was wir des Alls Unendlichkeit nennen. Ich legte mich nachts auf einen fast horizontal gestellten Klappsessel in den Garten, und bemühte mich, über das rein Bildmäßige des Sternenhimmels hinaus in seine Wirklichkeit einzudringen. Es gelang mir so wohl, daß ich empfand: Jetzt noch eine Sekunde solcher Erdabwesenheit, ein einziger kleiner Schritt weiter und mein Gehirn ist auf immer verloren. Und ich brach das schauerliche Experiment ab. Jetzt, etwa fünfzehn Jahre später, droht mir die gleiche Gefahr am lichten Tage. Es begann an einem stählern blauen Frühlingsabende in einer Gartenanlage in Obermais, mit dem Blick auf die dem Vinschgau vorgelagerten Ketten. Die Berge formten sich ungefähr wie zu einem Maulwurfshügel zusammen, 31 die Ortschaft, die Gegend um mich verloren ihre Wichtigkeit. Meine Mulde erschien mir nicht bedeutender als der Abdruck eines Daumenballens in einer Wachskugel, und mich trug der riesige doch kleine Planet wie ein Infusor auf seinem Rücken rund durch den Raum. Ein leichtes geistiges Schwindelgefühl, ein Vorgefühl von Seekrankheit des Geistes erfaßte mich. Die Begriffe oben und unten gingen in einem dritten unter. Ich saß da nur einfach von Luftdrucksgnaden.
Wenn ich das Gegenwärtige nicht so liebte, wenn ich diese Liebe nicht hätte wie einen großen und sicheren Fallschirm, ich wäre längst ins Bodenlose gefallen.
Da stamme ich nun von Malern — und muß den Zusammenbruch der Natur als eines Bildes in mir erleben!
Ich bin wie einer, der ohne Führer, nur so nach Karten und gelegentlicher Auskunft von Hirten und Wanderern ins Hochgebirge hineinsteigt. Niemand ahnt, mit was für Martern ich das oft zahlen muß und wie mir ein schneller Tod oft göttliche Wohltat wäre. Nein, mein ‚Dilettantismus‘ ist kein Spaß, keine Koketterie; er ist ein Schicksal, aber ich kann ihm nicht entrinnen; denn war mein Geist auch allezeit willig, meiner Physis fehlte es allezeit an jener letzten besten Energie, die sekundieren muß, wo irgend etwas Großes auf Erden werden soll.
Es ist viel Glück in mir, Glück, das mir meine Grenzen verschleiert und Glück, das sie mir ins Unbestimmte hinausrücken zu dürfen scheint. Ich habe viel Talent 32 zum Leben, — wenn das Leben nur mehr Talent zu mir hätte. Aber manchmal weht doch ein Windstoß alle die warme schützende Illusion fort und dann sehe ich flüchtig meinen Umriß und — schaudere.
Ich habe nur Einen wahren und wirklichen Feind auf Erden und das bin ich selbst.
Wenn ich unter Menschen bin, bin ich wie auf Ferien. — Und deshalb sollte ich eigentlich nicht mehr unter Menschen und am wenigsten unter Freunde gehen: denn sie wissen alle nicht, daß ich nur gastweise bei ihnen bin und ihnen zuhöre, daß mir für vieles von ihrem Leben und Treiben die letzte leidenschaftliche Aufmerksamkeit verloren gegangen ist, als wäre ich ein Mann, der etwa in einem Saal einer feinen und großen Musik zuhört — aber draußen vor der Türe steht heimlich sein Weib und wartet auf ihn und vor lauter innerer Unruhe hört er nur mit halbem Ohre zu und verbirgt kaum seine Zerstreutheit und mag manchem schärferen Beobachter mit Recht als kein sehr fachmännisch engagierter Zuhörer gelten.
Ich irre in diesen europäischen Ländern umher wie ein Vogel in einem Treibhaus. Die Menschen glauben, weil ich von einem Ort zum anderen reise, lebte ich ein beneidenswertes Leben. Sie wissen nicht, daß mich letzten Endes jeder dieser Orte enttäuscht — denn über jeden ist der Fluch europäischer Zivilisation ausgegossen, vor dem er vor hundert, ja vor fünfzig Jahren noch verschont war. Die entsetzliche Nüchternheit der letzten 30, 40 Jahre kriecht einem überall nach, ja sie färbt 33 auf einen selber ab: Man verhotellt zuletzt rettungslos. Denn wo kein Hotel ist, da ist kein Platz für dich mit deinem Rohrplattenkoffer und deiner schriftdeutschen Sprache. Ich habe wohl auch meine Zeit an die Großartigkeit unserer Epoche der Technik geglaubt, aber jetzt fühle ich nur noch das Eine: daß sie die Erde entzaubert, indem sie alles allen gemein macht.
Das abwechselnde Summen zweier oder dreier Wespen erinnert mich an die Responsorien der katholischen Kirche. Ich sehe die wohlgenährten Schwarzröcke vor mir, ich sehe den zelebrierenden Priester auf den Stufen des Altars und den Altar selbst mit seinen schlanken Kerzen und alten Gemälden.
Ich habe diesen Herbst mit Übeltaten angefangen. Ich habe an zwei heißen Septembertagen fünf oder sechs Wespen getötet, die in mein Zimmer gekommen waren und mich beunruhigten. Das war ganz und gar gegen meine Gewohnheit und nur durch eine Unruhe und Unbeherrschtheit zu erklären, die unter dem Einfluß des Südwindes mich vielleicht ebenso wie die Wespen überkommen hatte.
Spätere Bemerkung:
Ich weiß noch, wie mich damals besonders die ‚Dummheit‘ der Tiere erregt hatte, die oft eine Stunde lang an der Zimmerdecke hin und her und auf und ab irrten, ohne den scheinbar so einfachen Weg durch die offene Balkontür wiederzufinden oder wiederfinden zu wollen. Übertragen wir diese meine Ungeduld und Unduldsamkeit auf Götter und Menschen, so hätten diese Götter 34 wohl den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als Menschen totzuschlagen.
Mein ganzes Leben lang suche ich den Stachel, den ich hier ins träge Fleisch drücken könnte — und finde ihn nicht.
Ich könnte heute noch im Walde wie ein Knabe spielen: Aus Steinen und Holzstücken Häuser bauen, mit dürren Zweiglein Straßen abstecken und Haine bilden, einen Felsblock zum Range eines Alpengipfels erheben und einem Hirschkäfer und seiner Frau die Herrschaft über das alles verleihen. Und dieses kleine Reich würde mich glücklicher machen und meine Phantasie umständlicher erregen und beschäftigen — als ein noch so großes der Wirklichkeit. So habe ich einmal, mit 35 Jahren, acht Tage am Strande von Sylt mit Bauen und Zimmern einer Strandhütte verbracht und war wohl selten so von Herzen froh, wie bei diesem harmlosen Spiel.
Je älter ich werde, desto mehr wird ein Wort mein Wort vor allen: Grotesk.
Wenn ich ein Musiker wäre, so würde ich einen gemischten Chor mit Orchester komponieren: den ‚Chor der Genesenden‘, — und im Himmel selber sollte nicht tiefer, inbrünstiger und süßer gesungen werden.
Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was ich je gesagt, geschrieben 35 oder getan. Glaubet nicht, daß in der Breite meines Lebens das liegt, was euch wahrhaft dienlich sein kann.
Ißt man denn an einem Apfel auch alles mit: die Kerne, das Kerngehäuse, die Schale, den Stengel? Also lernt auch mich essen und schlingt mich nicht hinunter mit alledem, was nun zwar zu mir gehört und gehörte, aber von dem ich selbst so wenig wissen will, wie ihr davon sollt wissen wollen. Laßt mein allzuvergänglich Teil ruhen und zerfallen: Dann erst liebt ihr mich wirklich, habt ihr mich wirklich verstanden.
Ihr seid von hier, ich bin von dort.
Ihr meßt jedem sein Maß Liebe zu: dem dreiviertel, dem zwei Viertel, dem ein Viertel, dem nichts. Davon verstehe ich nichts. Ich kann nicht messen und meine Seele ist immer da am eifrigsten, wo ich sehe, daß Eure sich spart und sperrt.
Ich kann mit fertigen Menschen nichts anfangen. Es gibt fertigere Menschen denn mich, sicherlich ungezählte. Aber keiner ist fertig, soll je fertig sein.
Ihr selig Blinden rings um meinen Schritt!
Manchmal meine ich, mich definieren zu sollen als einen wehr- und hilflos dem Großen preisgegebenen Menschen. Auf mich kann eine Seite Lagarde z.B. wie eine Säure wirken, die mich für den Augenblick völlig zersetzt. Oder ein Wort Nietzsches oder Goethes.
36 An dieser meiner Lieblingsbank führt kein Spazierweg vorüber, geschweige denn eine Straße, — nur ein schmaler Wiesenpfad von zwei Spannen Breite. Da kommt denn auch begreiflicherweise wenig Volks vorbei, — — Einsiedler, Sonderlinge!
Ich sehe mich selbst, schreibend zur Nachtzeit — im Bett bei der Lampe, dies Büchelchen schreibend …
Und all das bin Ich.
Ich sehe. —
Ich bin wie eine Uhr, die sich jeden Tag von neuem richten muß, weil sie jeden Tag immer wieder von neuem nachgeht.
Mein Traum 26./27. Nov. 08: Ich sehe etwas in der Luft wie etwa drei glänzende glasklare Äpfel an einem (unsichtbaren?) Zweige, sie bewegen sich leicht im Wind — und daran geht mir das Wesen alles Lebens auf. Ich denke an Böhme und seine Lampe. Nach jenem Vorgang — bewegtes All — erkläre ich mir, im Traum, das ganze Leben. Das Ende ist mir leider entschwunden, ich weiß nur, daß ich großer Klarheit genoß.
Ich möchte sagen, daß ich immer noch im und vom Sonnenschein meiner Kindheit lebe.
Wenn ich mir je ein Haus baue, so muß es einen Hof umschließen, in dessen Mitte ein riesiger Baum steht. Nichts ist für mich mehr Abbild der Welt und des Lebens als der Baum. Vor ihm würde ich täglich nachdenken, vor ihm und über ihn …
37 Über die äußere Technik zur Hervorbringung kontemplativer Zustände mich unterrichten!
Mir den Sonntag Morgen als Posttag einrichten. Nur dann Privatkorrespondenz empfangen und beantworten. (Private Ordensregeln.)
Wie wenig reeller Wert ist oft an einer ausgedehnten ‚guten Handlung‘. Da bin ich eben bei einem Begräbnis gewesen. Aber nichts von meiner ganzen Beteiligung an diesem actus war anders als so gut wie nur äußerlich, außer der ursprünglichen spontanen Regung beim Empfang der Todesnachricht: Du willst diesem Entschlafenen die letzte Ehre erweisen.
Schließlich und endlich: was vermisse ich unter meinen Mitmenschen am meisten: Wirkliche, wirkliche Phantasie.
Heut habe ich mich zum zweiten Mal an die Erweckung des Lazarus gemacht .. Was ich hier will, ist viel tiefer als ‚Kunst‘.
Das ist es: Alle die andern beschäftigen sich mit ‚Gott‘. Ich wage zu sagen: Ich — bin — das, was wir Gott nennen — selbst. Wer das versteht, aber auch nur der, weiß, was ich meine, wenn ich von ‚meinem Ernste‘ spreche.
Meine Wendung zum Dualismus (wenn ich es so brottrocken ausdrücken will) datiert nicht etwa vom August 1908, sie hatte sich mir schon lange vorher verraten. 38 Ein äußeres Merkwort bedeutete für mich auf diesem Felde eine gelegentliche Auslassung Heinrich Frickes, etwa im Vorfrühling 1907, über sich, Goethes Farbenlehre und den Dualismus. Daß ein so tiefer Mensch überall Zweiheit sah, mit derselben Kraft, mit der ich überall Einheit fühlte, konnte ich nicht mehr vergessen. Aber ich kam doch auch noch auf ganz andern Wegen zu der Formulierung der Welt als Gottes ‚Du‘.
Ich habe einmal in meinem Leben auf einen Stein gebissen. Seitdem bitte ich jedes Brot vorher: enthalte keinen Stein!
An M. a Jetzt fangen wieder diese großen herrlichen Vormittage an, an deren spätem Ende ich, an allen Fibern zitternd, den Mittagstisch aufsuche, um unwillig und abwesend mein Essen beizunehmen, das mich langsam wieder dem Gesetz der Schwere unterwirft. Du kannst Dir keinen Begriff von diesem inneren Brennen und Verzehrtwerden machen, dessen ich oft kaum gewahr bin, so daß ich jeden Augenblick und bei jeder Berührung durch irgend etwas, einen Anblick, eine Zeitungsnachricht, eine Melodie, in Tränen ausbrechen möchte.
Man wird mich einst in manchem meiner Sätze zu einem Eklektiker degradieren wollen, aber wenn ich auch in nichts Bisheriges überschritten haben sollte: Eklektiker war ich nie. Nie zeichnete ich etwas auf, wozu ich nicht durch meine ganze Natur und Entwickelung gekommen wäre und vieles fand ich und 39 finde ich zu meinem Erstaunen wieder, was ich für mich allein zuvor besaß.
Da lese ich soeben am 7. August 1908 von Schleiermacher: ‚Darum lebt das ganze Universum, das Göttliche, in jeder Individualität, als jede Individualität‘. Ist dies nicht mein Gedanke? und habe ich Schleiermacher je zuvor näher kennen gelernt?
Der Mensch ist mein Fach und hier will ich bis zum Äußersten gehen. Wenn Ihr aber sagt: Dagegen wendet der Politiker dies ein und dagegen der Historiker dies und dagegen der Nationalökonom dies, so erwidere ich: Laßt auch sie ihr Fach bis zum Äußersten treiben. Ihr Fach ist der Mensch in irgend einer sozialen Form, das meine der Mensch an sich, der Mensch als inkommensurables Wesen.
Bei hunderten mag es fesselnder und lohnender sein, den Bedürfnissen nachzuspüren, woraus ihre Werke entsprungen sind, als diesen Werken selber. Bei mir mag man sich mehr an das halten, was ich schreibe.
Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein.
Ich weiß mich merkwürdig frei von jeder ‚romantischen Sehnsucht‘, ich fühle im Durchschnitt meines Wesens brüderlich zum Leben als etwas, dem ich nichts hinzuzufügen brauche und das mir nichts hinzuzufügen braucht. Darum vermag ich mich auch rein an ihm zu freuen, wo es Freude erweckt, darum wendet sich 40 mein Schmerz über das Leid der Welt gleich bis in seinen Grund zurück.
Kein Anders -Sein wollend, sondern das Sein in seinem Kern und Wesen anklagend und in Frage stellend.
An Steiner
Glück in medias res.
Ich war sozusagen bis 4 Uhr morgens gegangen und glaubte kaum noch, daß es nun noch wesentlich heller für mich werden könnte. Ich sah überall das Licht Gottes hervordringen, aber ..
Da zeigen Sie mir mit einem Male und gerade im rechten letzten Augenblick ein 5 Uhr, 6 Uhr, 7 Uhr — einen neuen Tag.
Ich werde noch manches veröffentlichen müssen, was einer früheren Entwickelungsstufe als meiner jetzigen angehört, denn ich darf niemanden über den Weg betrügen, den ich gegangen bin.
Niemanden loslassen. Keine Beziehung fallen lassen!
Immer bewußter sich konzentrieren lernen. Alles Flatternde und Flackernde in mir überwinden. An jeden guten Gedanken, jede gute Empfindung einen Stein hängen, sie verankern. Damit zusammenhängend: Seßhaft werden, Tempobändigung, Tempobeherrschung.
Meine Zahlen: 13/14/15/16/17/18/19. Mein Alter — 42?
Ich widerrufe alles Harte und Böse, was ich je in meinen Worten oder Briefen gesagt habe.
41 O nur nicht immer wieder erlahmen, nur nicht immer wieder absinken. Züchte doch den Willen in dir, du ewiger Wanderer ohne Stab .
Man soll mich als einen malen, der ohne Stab einen Berg erklimmt. Der Dämon seiner eigenen Schwäche hindert ihn, sich einen Stab zu bilden, — aber am Steigen selbst kann er ihn nicht hindern, wie oft er auch wie tot daliegen mag.
Was ich heute tue, tue ich nicht um meinetwillen, sondern um meiner Liebe zum Menschen willen.
Einem Menschen wie mir genügt es nicht, Ein Mal das Richtige zu erkennen.
Ich möchte gern auch noch zu äußerem Wirken gelangen. Ich möchte mein Berlin als geistiges Staatskunstwerk zum Ziel machen.
In alles und jedes einfließen lassen einen höheren Geist!
Ich träumte mir die Kraft eines Zukünftigen, — meine Zukunft und ließ, als ich vom Haus der lieben Freunde dankbar Abschied nahm, in jedem Zimmer eine Rose zurück, geschaffen durch den Willen meiner Liebe.
O meine Hand, du seltsames Geschöpf, du warst mir immerdar ein Angelhaken der Meditation. Wenn ich in deine Schale blicke, meine ich ein Geistgebilde zu schauen.
Stiel : Weltliche Periode (Nietzsche) beendet durch innere Krankheit.
Schale : Öffnung durch Johanneisches.
Blut : Erfüllung.
Ich darf wohl sagen: Die Entdeckung meines Mannesalters ist die Frau .
Mit meinen Erkenntnissen ist es so, wie wenn endlich ein Stück Berglehne abbricht und zerbröckelnd in die Tiefe rutscht. Wie einen Bergrutsch fühlt man's in sich und frohlockt, daß das Massiv der Blindheit, die wir sind, wieder um etwas kleiner geworden ist.
Ich kann ebensowenig Briefe schreiben, wie Gespräche führen. Beides verflacht mich und läßt mich in einem Zustand zurück, dessen Unerquicklichkeit ich niemandem wünsche.
Sprich du zu mir, mein höher Du!
Ich will mich ganz in dich verhören.
Großer philosophischer Moment während des Vortrags vom 27. August 1913: ich sah einen Augenblick lang den Menschen (Steiner) als reinen, bewußten Willen , sich allein durch ein ungeheures göttliches Vorwärts- Wollen im Leben und als solches Leben behauptend.
Wir leben doch alle auf dem Meeresgrund (dem Grund des Luftmeeres) — Vineta.
Die Sterne lauter ganze Noten.
Der Quellnixe wehendes Fontänenhaar.
Der Zypressen grüne Obelisken.
Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie uns nach sich erwecken.
Wer weiß, ob die Gedanken nicht auch einen ganz winzigen Lärm machen, der durch feinste Instrumente aufzufangen und empirisch (durch Vergleich und Experiment) zu enträtseln wäre.
Rhythmisch bewegte Luft ist gewissermaßen farbige Luft. Wirkung der Glocken.
Warum sind Hügel schöner als Berge? Weil sie den Begriff des Gebirges gegenüber der Ebene, diese beglückende Naturbrechung und Erhöhung des Niveaus mit lebendigerem Ausdruck offenbaren als die starren Felsberge, die mehr bloß Begriffliches sozusagen, weniger Gefühlswarmes an sich haben.
Die Natur kennt nur Farbenübergänge, keine Farben.
Da erwiderte mir gestern ein Herr aus Bremen: ‚Wie? Sie bedauern den Tod eines Seehunds? Ausrotten müßte man diese Tiere. Glauben Sie etwa, sie seien nützlich? Sie sind die ärgsten Fischräuber, die es gibt, ganz schädliche, unnütze Geschöpfe!‘ Ich dachte an die feuchten dunklen Augen der gutmütigen Tiere und sie erschienen mir weit liebenswerter als diese Anschauungen eines Pedanten, dem sich sein eigenes grenzenloses Räubertum als Mensch so ganz und gar von selbst verstand.
Mir genügt zur Zeit das Schwatzen der Seevögel, das leise Sich-Wiegen des stachlichen Strandhafers, ein wenig durch die Finger rinnender Sand und die graublaugrüne Fläche vor mir mit ihrer seltsamen Unbedingtheit.
Die Verschwendung der Natur ist zu groß. Und das ist das Bitterste: Unsere anklagenden Gedanken, und seien sie noch so erhaben, sind nur wie namenlose gleichgültige Vögel, die gegen ein kristallumpanzertes Feuer prallen, um ohnmächtig und ruhmlos in die Nacht hinabzufallen, vertan, verschwendet wie das Wesen das sie gebar.
Wie ich das Bröckeln und Rinnen einer in den Sand gewühlten Mulde beobachte, kommen mir einige der tragischsten Eindrücke meines Lebens ins Gedächtnis. Den einen empfing ich in den Thermen des Caracalla, 45 und was hier nur Bild und Gleichnis, war dort melancholische Wirklichkeit. Von den mächtigen Gewölberesten rieselte fast unaufhörlich Mörtel und verwittertes Mauerwerk, und ab und zu, wenn der leichte Wind sich stärker erhob, flog wohl auch ein größerer Stein polternd in die Tiefe. Es war ein unheimliches und erschütterndes Gespräch der Vergänglichkeit, dem der gefährdete Wanderer dort beiwohnte und zugleich das Totenraunen einer Kultur, das vielleicht noch währen wird, wenn der Petersdom das seinige anheben sollte. Den andern gaben mir die norwegischen Berge mit ihren ewigen Steinschlägen, in denen ihre Gipfel nach und nach herabzukommen scheinen.
Die große Ruhe und der tiefe Friede sind nur bei euch, ihr lieben fernen Berge.
Noch viel wunderbarer als der einfache Spiegel ist der durchsichtige Spiegel, z.B. ein Fenster, das auf eine Landschaft hinausgeht und in dem sich zugleich Gegenstände unseres Zimmers spiegeln.
Wie können Baumwipfel wie ein Mädchen aussehen, ja mehr noch: seinen ganzen Charakter zu enthalten scheinen? Und doch ist es manchmal so.
Ich habe heute ein paar Blumen für dich nicht gepflückt, um dir ihr — Leben mitzubringen.
Ich höre einen Vogel fortwährend ‚Chi—rur—gie‘ flöten.
46 Diese zwei jungen Teckel da vor mir, wie sie schön sind in ihrer jungen Natürlichkeit und Zärtlichkeit zueinander! Wahrlich, bei keinem Menschen kann reizender aussehen, als wenn das Männchen dem Kameraden mit seinem Auge folgt oder wenn das Weibchen ihm im sonnigen Moos den Kopf auf den Rücken legt voll Anmut und Anschmiegungsbedürfnis. Und welches Wohlgefühl des Lebens, wenn sie so, die Nase dicht am warmen Moos, die sonnendurchwärmte Waldluft einsaugen mit ihren vielfältigen Reizen, von denen wir nur einen groben Begriff haben. Und welches stets rege Interesse für alle die kleinen und großen Töne, die eine Landschaft fortwährend erfüllen und beleben.
Gebell eines ‚Achtung‘-Hundes:
Nervosität durch Geschrei von Kindern
Argwohn, es könnte auf ihn gemünzt sein (monoman)
Gefahr! (Furcht, Wut, Anspannung)
Beschimpfung (da nichts erfolgt)
Selbstgerechter Ärger (mehr monologisch)
Mitteilungsgefühl (Klatschbedürfnis)
(er teilt die Sache der Außenwelt mit)
Quittungen über vieles
Rivalität | } | mit andern Hunden |
Solidarität |
Grundloser Unwille
Katzenjammer, der sich zu betäuben sucht.
Es ist mit Landschaften wie mit Menschen, man lernt sie nie aus. Jeder und jede vermögen unter 47 Umständen alle Phasen von der ärmlichsten Häßlichkeit bis zur lebensvollsten Schönheit zu durchlaufen.
So schimmert ein Birkenwäldchen durch Kiefern, wie deine ferne Jugend in und durch meine Gedanken.
Die Natur ist die große Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit. Darum wird sie der Mensch immer mehr lieben, je feiner und beweglicher er werden wird. Sie gibt ihm die großen Züge, die weiten Perspektiven und zugleich das Bild einer bei aller unermüdlichen Entwickelung erhabenen Gelassenheit.
Es ist ein seltsames Gefühl, senkrecht in die Erde zu unseren Füßen hineinzudenken. Man kommt nicht weit, die Phantasie erstickt buchstäblich.
Keine Gegend setzt sich aus andern Elementen zusammen, als den uns bekannten. Das wissen wir und doch spielen wir damit, in einer Landschaft Geheimnisse zu vermuten, so lange wir sie noch nicht genau kennen.
Zeile aus einem Traum: Sanft und silbergestickt fand ich die süßen Berge.
Der Frühling ist etwas Herrliches. Der Frühlung aber, der nicht mehr kommen mußte , der nur so aus überirdischer Gnade noch einmal gekommen ist, der ist nicht mit Namen zu nennen.
48 Worauf beruht z.B. der Zauber des Waldes, die tiefe Beruhigung, die er dem Menschen gibt? Darauf wohl zumeist, daß uns in ihm eine unübersehbare Anzahl pflanzlicher Individuen einer bestimmten Art entgegentritt, die Lebensfrieden und Lebensmacht zugleich mit äußerster Zweckmäßigkeit vereinen. Der Stamm einer Bergfichte ist das Urbild ruhiger, in sich gefestigter Kraft; ein gewaltiger Lebenswille, den sobald nichts zu stören oder gar zu brechen vermag, offenbart sich in ihm. Ihre Äste, Zweige und Nadeln aber strahlen mit solch äußerster Zweckmäßigkeit rings von ihm aus, stellen im Verein mit dem Stamm und den Wurzeln einen so weise der Außen- und Umwelt eingepaßten Körper dar, daß man begreift: hier liegt die Lösung eines Problems vor, an der vielleicht unermeßliche Zeiten gearbeitet haben.
Die Fliegen, diese Spatzen unter den Insekten.
In der Katze hast du Mißtrauen, Wollust und Egoismus, die drei Tugenden des Renaissance-Menschen nach Stendhal und anderen. Damit ist sie, ich möchte sagen, das konzentrierteste Tier. Der Hund ist dagegen gläubig, selbstlos und erotisch kulturlos. Unsere heutige Zivilisation nähert sich mehr der Stufe des Hundes. Das Christentum ist vornehmlich gegen die Katze gerichtet. Man darf nach dem allen in einigen Jahrhunderten den Menschen erwarten.
Die Selbstachtung einer Katze ist außerordentlich.
49 Die Reinlichkeit der Katze ist eine ganz andre, als die des Menschen. Der Mensch wäscht sich, kämmt sich, bürstet und klopft seine Kleider, er entledigt sich, mit einem Wort, seines Staubes, indem er ihn dem Wasser, der Luft, der Erde zurückgibt. Die Katze hingegen schleckt ihn mit unermüdlicher Zunge in sich auf, verleibt ihn sich ein, vertilgt ihn — aber im fruchtbarsten Sinne, indem sie ihn schlankweg in ihr organisches Leben mit hineinnimmt.
Du hast einen Großstadtwinter umsonst den Anblick einfacher, natürlicher Anmut ersehnt. Drehe dich um. Vielleicht sitzt hinter dir auf dem leeren Divan eine etwa einjährige Katze, die dich dann und wann besucht, um sich dort eine halbe Stunde umständlich zu putzen und dann eine zweite halbe Stunde voll tiefen Behagens zu schlummern, — und du siehst was du suchtest, die eingeborene Lieblichkeit unbewußter Natur.
Eine der größten Unverfrorenheiten des Menschen ist, dies oder jenes Tier mit Emphase falsch zu nennen, als ob es ein annoch falscheres Wesen gäbe, in seinem Verhältnis zu den andern Wesen, als der Mensch!
Warum erfüllen uns Gräser, eine Wiese, eine Tanne, mit so reiner Lust? Weil wir da Lebendiges vor uns sehen, das nur von außen her zerstört werden kann, nicht durch sich selbst. Der Baum wird nie an gebrochenem Herzen sterben und das Gras nie seinen Verstand verlieren. Von außen droht ihnen jede mögliche Gefahr, von innen her aber sind sie gefeit. Sie 50 fallen sich nicht selbst in den Rücken, wie der Mensch mit seinem Geist und ersparen uns damit das wiederholte Schauspiel unseres eigenen zweideutigen Lebens.
Weshalb sollte man sich nicht damit abfinden, in einer gemäßigten, sehr gemäßigten Landschaft zu leben, da man doch nur den Blick zu erheben braucht, um ins völlig Ungemäßigte zu stürzen, und nur die Gedanken, um zu fühlen wie wenig es verschlägt, im wilden Ozean des ewig Ungewissen auf einem gehobelten Brett oder einem entwurzelten Baumstamm zu treiben.
Den Wolken wird vielleicht einstmals eine besondere Verehrung gezollt werden; als der einzigen sichtbaren Schranke, die den Menschen vom unendlichen Raum trennt, als der gnädige Vorhang vor der offenen vierten Wand unserer Erdenbühne.
Merkwürdig, zu fühlen, wie man auf diesem seinem Erdboden nicht viel anders festgehalten wird, als jene kleinen Saugnäpfchen aus Gummi, die man an die Wand preßt, um Uhren und Schlüssel dran aufzuhängen.
Ein dunkelblauer Lampion, innen von einer Kerze erleuchtet, gegen den Nachthimmel. Vision eines geisterhaften Planeten in nächtlicher Dämmerung.
Wie ein verzweifelndes Haupt Schutz, Ruhe und Wärme in seinen Händen, auf seinen Armen sucht, 51 so sucht Gott, der Mensch, Schutz, Ruhe und Wärme in jenem andern dumpferen Teile seines Wesens, den wir Natur nennen.
Durch die Natur beruhigt sich Gott selbst immer wieder. Wehe, wenn er als Mensch in dem unseligen Fieber der Zivilisaton sich selbst als Natur zerstört haben wird.
Wer die Welt nicht von Kind auf gewohnt wäre, müßte über ihr den Verstand verlieren. Das Wunder eines einzigen Baumes würde genügen, ihn zu vernichten.
Ich glaube, wer blind wäre, müßte die Pflanzen viel besser verstehen.
Was tut die Blume wohl mit Gott? Sie läßt sich Gott gefallen. In der Blume, als Blume träumt er seinen schönsten Traum, da widerstrebt ihm nichts.
Ich kenne keine ‚getrennten Gebiete‘. —
Wie schön wird eine Henne als Mutter. Vorher wirkt sie immer ein wenig komisch. Mit den Küchlein an sich aber rückt sie für mich unter — Sternbilder.
Eine schöne stattliche weiße Kuh mit geschwungenen Hörnern und einer großen sonoren Glocke — das ist schon ein Symbol, für den Gottesdienst eines Volkes.
Oder ein Stier ..
52 Wer mag wissen, was Glockengeläut z.B. in den Vögeln für eigentümliche, dunkle Gefühle auslöst. Ob sie sich da nicht momentweise auch ‘über sich selbst erheben‘, nur so in einem dumpfen Drang …
Ein verbummelter Hund, der auf eigene Faust jagt — und ein gehorchender treuer, bei allem Feuer durch innere Gesetze gezügelter Hund — zwei Stufen Gottes auch sie.
Es ist ergötzlich zu beobachten, wie Wespen und Ameisen von der Zudringlichkeit und Dickfelligkeit der Fliegen genau so wie wir Menschen gestört und irritiert werden.
Wie mag in einem rechten Sturm ein Baum zum Gefühl seiner selbst kommen! Wie wunderbar ist eine Birke im Sturm! Wie göttlich graziös! Wie unsagbar malerisch!
Lärchen, Birken, Erlen, ein fraulicher Wald!
Die hohen Tannen sprechen: Wir sind nicht traurig und nicht fröhlich, wir sind fest.
So ein Spinnentüchlein voll Regentropfen — wer macht das nach?
Wenn man berechnet hat, daß die Erde unter dem Einfluß des Mondes ihre Ebbe und Flut hat wie das Meer, so frage ich, warum nicht auch das menschliche Blut und Gehirn seine Gezeiten haben sollte.
53 Die Luftschiffahrt wird dem religiösen Genie der Menschheit neue Nahrung geben. Zu den großen Beförderern kosmischer Stimmungen: Wald, Meer und Wüste wird nun noch der Luftraum kommen.
Wir versuchen uns an dem äußeren Bilde andrer bewohnter Gestirne wohl selten über ein gewisses Maß von Kraft und Erfolg hinaus. Und doch — Landschaft, ins Unendliche variiert! Welch eine Vorstellung!
Jede Landschaft hat ihre eigene besondere Seele, wie ein Mensch, dem du gegenüberlebst. Dies wirst du am deutlichsten empfinden, wenn du den Eindruck einer gegenwärtigen mit dem wiederbeschworenen vergleichst, den eine andere, frühere, deiner Seele eingeprägt hat. Etwa wenn du einen Ausschnitt der gegenwärtigen betrachtest, der recht gut auch jener vergangenen angehören könnte, — so daß dir eine Weile so unheimlich zumute wird, als glaubtest du die Hand eines Abwesenden oder gar Verstorbenen zu halten, während es doch, wie du weißt, die des dir Gegenüberstehenden ist.
Ich sehe eine Zeit herankommen, wo man die Luft und das Meer so gründlich durchforscht haben wird, daß man dazu übergeht, in irgend einer Ebene oder Wüste einen Schacht anzulegen, durch den Generation um Generation mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln tiefer unter die Erdoberfläche eindringt.
Darum ist die Natur so tieftröstlich, weil sie schlafende Welt, traumlos schlafende Welt ist. Sie fühlt nicht 54 Freude, nicht Schmerz, und doch lebt sie vor uns und für uns ein Leben voll Weisheit, Schönheit und Güte. So schliefen auch wir einst und solchem Zustand kehren auch wir einst wieder zurück, nur mit dem Unterschiede, daß dann dies ganze Über-Glück, Über-Leid uns bewußt sein wird und daß wir dann auch keine Träume mehr brauchen, weil wir die Himmel selbst offen sehen.
Das Kleine in der Natur ist gewöhnlich größer als ‚das Große‘. Denn das Kleine ist nur zu oft Gottesarbeit, wo das Große nur Götterwerk.
Überall, überall liegen Keime des Lebens — darum — und nun kann man auf zweierlei Weise fortfahren: — tue ja nirgends Lebendigem Abbruch! oder: sorge nicht allzusehr des Einzelnen in einem Haushalt, der so auf Schritt und Tritt Verschwendung predigt und herausfordert.
Der Pilz ist der Parvenu der Pflanzen.
Dir sind die Alpen nicht hoch, nicht geheimnisvoll genug, du träumst von den Anden, vom Kaukasus, vom Himalaya. Und doch gilt es eben hier die Seele ganz zu weiten und schon hier letzte Erhabenheit zu empfinden. Sind nicht alle diese Berge gleiche Klippen der großen blauen, strahlenden Geister- und Gottes-See, auf die immer wieder hinzublicken, ja, die früher oder später mannhaft zu befahren unsere edelste Bestimmung und Freiheit ist?
Der Mensch hat noch immer sehr wenig Sinn für Wirklichkeit. Man erwäge nur etwa den gewöhnlichen Standpunkt der Sonne gegenüber. Heißt das Wirklichkeitsempfinden, von einem solchen Phänomen ein Leben lang nicht anders berührt zu werden, wie es gemeinhin zu geschehen pflegt? Oder schauen nicht vielmehr die Menschen die Sonne noch gar nicht?
Auch der Baum, auch die Blume warten nicht bloß auf unsere Erkenntnis. Sie werben mit ihrer Schönheit und Weisheit aller Enden um unser Verständnis.
Hast du noch nie empfunden: es muß anders werden! Wenn du z.B. im Walde saßest und die lieben Bäume und Gräser um dich herum sahest, von denen dich doch so ein Weltabgrund der Nichterkenntnis schied! Was waren sie eigentlich, wo war ihre Seele, wo war der Punkt, in dem ihr euch brüderlich treffen konntet, nicht nur in dumpfer Liebe von deiner Seite, sondern euch gleichsam ins gottgeschwisterliche Auge schauend? Wäre es nicht unsinnig, wenn es in einer Welt, so weit und verschwenderisch angelegt, immer so bliebe, nie anders würde? Muß es nicht anders werden? Und löst diese Not und Notwendigkeit nicht etwas in dir, das sagt: Ja, es muß besser werden, und ich will Tag um Tag dem Geist und den Geistern der Dinge entgegengehen, sind sie doch gewiß auch schon längst auf dem Wege zu mir.
Zugleich aus dem Leben gegriffen und zugleich typisch — das ist höchste Kunst.
Es ist etwas Jämmerliches um einen Lyriker ohne Liebe. Was helfen da Mai und Nachtigallen und Mondscheinnächte. Trauriger Zustand.
Ihr fürchtet, daß die Umsturzepoche, vor der wir zu stehen glauben, alle Kunst und Poesie, alles Schöne und Wertvolle im Leben vernichte?
Ich fürchte das nicht. Denn mag jeder Tempel zertrümmert, jedes Kunstwerk verbrannt, jedes Saitenspiel zerschmettert werden, das unantastbare Saitenspiel, das Menschenherz, wird nie aufhören, von den ewigen Melodien zu tönen, die der Geist der Welten ihm zuhaucht.
Alle wahrhaft großen Dichtungen sind Variationen zum Schicksalsliede, seien es Maestosi, Allegri oder Scherzi.
Ich betrachte als eine Aufgabe kommender Dichtergeschlechter, neue Mythen zu schaffen, und wir wollen ihnen schon vorarbeiten.
Dichten ist immer die Wiedergabe von Erinnerung. Die Erinnerung aber ist selbst etwas Dichtendes, künstlerisch Zusammenfassendes und Auswählendes.
57 Ein Dichter muß 77mal als Mensch gestorben sein, ehe er als Dichter etwas wert ist.
Der reimlose Jambus hat ein so formelles Pathos, ein so großrednerisches Moment in sich, daß er uns Modernen meistens geradezu unmöglich wird, da wir in tiefster Seele von dem Willen durchdrungen sind, wahr zu sein, redlich vor allem in der Wiedergabe unserer Stimmungen und inneren Erlebnisse.
Höchste Empfindungen, Phantasie im Gewande intimster Natur — — — — eine Durchgeistigung der Realität auf allen Punkten, künstlerischer Polytheismus (im Sinne der Kunst), das meine ich, muß das Programm der Zukunft, unserer Zukunft sein. Der Sieg des menschlichen Geistes über die Außenwelt muß vollkommen werden.
Je einheitlicher ein Volk einen Stil aus sich herausentwickelt, um so mehr ist es bei sich selbst daheim . Daher der Zauber des mittelalterlichen Stils, daher heute unsere Heimatlosigkeit.
Wenn wir einen nationalen Baustil haben wollten, müßten wir eine einheitliche Weltanschauung haben.
Wenn ich so die kleinen Dampfer die riesigen Kähne vorüberschleppen sehe, muß ich immer an den Dichter und das Publikum denken.
Schönheit ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird.
58 Oder auch: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden.
Gesetzt also, es gäbe einen Gott, so wäre sein Glaube, die beste aller Welten vor sich zu haben, verzeihlich.
Das naturalistische Drama hat nur dann Wert, wenn es den Menschen, so wie er heute ist, sich selbst unerträglich macht. Ibsen. Hauptmann.
Kritik oder Beispiel — naturalistische oder idealistische Kunst.
Der Naturalismus eine rein historische Kunstanschauung. Der Naturalismus nur ein Stadium, kein Ziel.
Wenn heute wieder ein Schubert geboren würde, würde er eine Mission mehr haben, nämlich, nur Texte zu komponieren, die Kulturwert haben.
Die Orgel, das Instrument der Zukunft.
In einem Philharmonischen Konzert:
Der Tempel der Germanen: Musik als Architektur empfunden. —
All-Genuß.
Mir ist, ich wäre ein Adler und trüge mich selbst und meine Last dünkte mir köstlich und ein tiefes Wohlgefühl durchströmte mich.
Dilettantismus des Geschmacks: Bei Betrachtung von Landschaften fortwährender Vergleichs-Standpunkt. Wie es in der Musik heißt, daß der ein Dilettant sei, 59 der beim Anhören eines Musikwerks in lauter Reminiszenzen aufgeht.
Ihr wißt ja alle nicht, was Schaffen heißt. Ein Bild malen, ein Gedicht machen? Nein! Seine ganze Zeit umgestalten, ihr das Gepräge seines Willens aufdrücken, sie mit seiner Schönheit erfüllen, sie überwältigen und unterwerfen mit seinem Geiste.
Der Krug des Nichts, aus dem alle Künstler schöpfen.
Schopenhauer nennt das bloße intellektuelle Anschauen die höchste Seligkeit, weil hier der schaffende Wille ganz schwiege. Als ob Schauen nicht schon Schaffen wäre!
Den Ästhetikern:
Zeigt Wege der Zukunft, aber beschwört nicht ewig die Toten gegen uns.
Vor einer roh gefügten Gebirgsbach-Brücke:
So müßte sich jeder Architekt vor die roheste natürlichste Form der Menschenarbeit hinstellen und an diesen Balken und Brettern seine ersten Kunstgedanken auslassen. Er sollte so von Anfang an die Kunst als Bedürfnis empfinden müssen und würde so gewiß zu originellen Gedanken gelangen, deren Regulativ dann das Studium der Vergangenheit sein könnte.
Der erste Schnee! Mein erster Gedanke war die ehrsame Zunft der Lyriker, die in deine Flocken starrt, dich grüßend zu besingen. Welche Dekadenz, diese 60 unpoetische Reflexion über deine himmlischen Dekadenzen, lieber trauter Schnee.
Es ist eigentlich eine Ungerechtigkeit, daß der Dichter nicht — gleich dem Musiker — den Teilen seiner Werke hinzufügen darf, in welchem Tempo er sie genommen wissen will.
Das losgerissene Segeltuch des kleinen Dampfers (vor meinem Fenster), das mit seinem freien Ende im Wasser liegt, so daß es für den stärksten Windstoß zu schwer wird, es als Fahne auszurollen: Bild für ein Künstlerschicksal.
Als ob Kunst nicht auch Natur wäre und Natur Kunst!
Wer wird dieses Drama der Freude dichten: mit stillen großen Menschen, die das Ja- und Amen-Lied im Herzen tragen, das Drama des Mittags, der Sonnenhöhe, ‚da alle Dinge rund und vollkommen‘ geworden sind.
Was soll uns Tragödie heißen und als tiefste Erregung von der Bühne herab gelten? Die Darstellung des wahrhaft bedeutenden Menschen, der immer eine tragische Erscheinung ist, weil in allem menschlich Großen neben der großen Freude auch der große Schmerz wohnt, weil in jedem ungemeinen Schicksal das Ja und das Nein allen Lebens wie aus zwei Posaunen erklingt, weil der große Mensch eine Abbreviatur des 61 ganzen Weltgeheimnisses ist. Die Tragödie ist der tiefe Gesang vom Wesen der Welt, und ihm von Zeit zu Zeit erschüttert zu lauschen unser Ewigkeitsdienst in all dem uns überbrausenden Alltag.
Wohl alle Kunst ist bis zu einem gewissen Grade unmännlich, besonders aber Dichten und Musizieren. Daher Nietzsches Vorliebe für Horaz als einen sehr männlichen Dichter, daher Lionardos Wunsch: vor allem als Mathematiker, Goethes: recht sehr als Staatsminister zu gelten.
Ich liebe die italienischen Kirchen und das Leben in ihnen. Ihr Geheimnis ist, daß sie nicht nur selber Kunstwerke sind, sondern auch alles Leben, das sich mit ihnen vermählt, zum Kunstwerk machen, indem sie es zu einem Bilde abtönen und feierlich umrahmen. Betritt die schlimme römische Sinnenfängerin Gesù, wann immer du willst, oder die ehrwürdige Ara Coeli oder die stattliche Maria Maggiore; welche Gruppen, Gesten, Mienen, welche gehaltenen und tiefen Ausdrücke des Individuums, welche stets bedeutenden Bilder ! Gewiß, alles, was die Menschen zu einem bestimmten Zwecke sammelt, vereinigt sie so mit sich zu einem Kunstwerk: die Markthalle, der Bahnhof, die Kaserne, das Schiff, eine Straße, ein Kornfeld im Herbst — aber wohl nichts bietet so die Gewähr eines künstlerisch abgeschlossenen und abgerundeten natürlichen Lebensgemäldes, wie die Kirche, nichts distanziert sich und seine Gemeinde mit soviel Glück vom kunstarmen Alltag wie sie.
62 Es gibt vielleicht keine glücklichere Manier, als alle Dinge vom Standpunkt des Malers aus zu betrachten.
Für Porträtmaler.
Wer einen Menschen recht erfassen will, muß ihn sehen, wenn er vom Schlaf aufwacht, mit wirrem Haar, die Züge und Glieder noch halb gelöst, noch halb unbewacht. Da ist er noch der Mensch ohne Namen, ohne Beruf — wenn auch mit all dem Bedeutenden, wodurch ihn das Leben bereichert hat. Zudem gibt es nichts, das malerischer wäre, als ein Mensch in Trikot oder langem, fließendem Hemd, ein Mensch bei den Bewegungen des Waschens, beim Abtrocknen nach dem Bade, beim Kämmen und Bürsten der Haare. Auch gebe ich allen Bildhauern und Aktmalern den Rat, ihre Modelle einmal einen geräumigen Krug mit beiden Armen unter die geöffnete Brause emporhalten zu lassen. Es ergeben sich da durch die zunehmende Schwere des Krugs eine Reihe interessanter und charakteristischer Phasen, von der ungezwungensten Pose bis zur angespanntesten.
Zu Fürsten:
Zeige mir, wie Du baust, und ich sage Dir, wer Du bist.
An unsere jungen Dichter: Geht ins Volk, mischt euch unter die gewöhnlichen Leute, sucht ihre Freundschaft zu gewinnen, sucht so reden zu lernen, daß sie euch verstehen wie ihresgleichen. Geht zu den verschiedensten Handwerkern, auf die Werften, in die Fabriken, in die Bergwerke; lernt vom Volk und für 63 das Volk, seht zu, daß was und wie ihr dann schreibt, jedem verständlich sein könne, der den guten Willen für euer Verständnis mitbringt. Laßt euch Jahre eures Lebens in einsamen Dörfern nieder, im deutschen Gebirge, an den Küsten, auf Inseln. Laßt euch vom glatten charakterlosen Großstädter nicht das Bild des Menschen fälschen, obwohl man auch bei ihm leicht unter die Schale dringen kann. Denkt an Luther, wie er herumging in allen Werkstätten, um sich die Sprache für seine Bibelübersetzung zu bilden, wandert, soviel ihr könnt, werdet lieber Handwerksburschen als hoffnungsvolle Literaten, die von Gesellschaft zu Gesellschaft eilen, die sich ihre Ziele aus Theatern und Zeitschriften holen, die sich ästhetisch anregen lassen, statt immer wieder auf den Grund des Lebens zu gehen.
Neue Dichter seh ich kommen, nach innen den Blick gerichtet — — —
Eine Karikatur ist bloß immer einen Augenblick wahr.
Es ist ein erheiternder Gedanke, daß es Schönes und Häßliches nur im Gehirn des Ästhetikers gibt. Von ‚der Darstellung des Schönen‘ zu reden — welch eine Einfalt! Es gibt nichts ‚Schönes‘ darzustellen, weil es nicht hier und dort etwa herumliegt, sondern in jedem Augenblick erst erschaffen werden muß. Und wenn Herr N. behauptet: aber diese Rose ist doch schön! so antworte ich ihm: Vielmehr Sie erschaffen die Schönheit der Rose im Moment Ihres Schauens und das fällt Ihnen leicht, denn Milliarden haben sie 64 vor Ihnen ebenfalls erschaffen. Gleichwohl wird die Schönheit, welche Sie der Rose erschaffen, sich nicht mit der messen können, die ein wahrhaft schöpferisches Auge, das von ihrem Bild getroffen wie trunken wird, weil es sich ewige Jugend bewahrt hat, ihr erschafft.
Wenn Sie daher von der von Ihnen erschaffenen — nachgeschaffenen — Schönheit als von Schönheit überhaupt reden, so drängen Sie damit Ihren sehr mittelmäßigen schöpferischen Geist der Welt und vor allem den Künstlern wie ein Joch auf, unter das man sich beugen müsse: als dürfe nur ebensoviel Schönheit erschaffen werden, als Ihnen zu schaffen möglich ist. (Ihr Wille zur Macht.) Aber, mein Werter, Sie wissen von der Schönheit nichts, so wenig wie irgendein andrer. Sie wissen nur von der von Ihnen geschaffenen (meist nachgeschaffenen) Schönheit. Auch wir Künstler wissen nicht, was ‚die Schönheit‘ ist, aber wir vermehren sie als von Natur aus stärker empfindende, zeugende, als die am weitesten vorgestreckten Fühler des Menschen.
Es gibt zwei große Gruppen produktiver Naturen: die mehr lehrhaften und die mehr unmittelbaren. Man soll sie, man muß sie beide gelten lassen und ihnen das ‚und‘ nicht rauben. Erst aus Goethe und Schiller, Shakespeare und Ibsen, Monet und Böcklin, Rodin und Klinger ergibt sich das ganze Bild unserer Kunst .
Es ist so plump von Künstlern und Dichtern, sich geradezu ans Geschlecht zu wenden. Als ob man sich ans Geschlecht erst wenden müßte.
65 Wenn das Individuum — wie Hebbel sagt — letzten Endes komisch ist — und es ist komisch —, so ist die Tragödie die höchste Form der Komödie.
Alle Kunstform borniert.
Programmusik mutet mich an wie Buchstaben aus lebendigen Blumen.
Ein Künstler muß seine Weisen eigentlich immer einer Geliebten ins Ohr spielen.
Chopin ist immer Mann oder doch Jüngling, Beethoven hat noch das Kind vor ihm voraus — und seiner ist darum nicht nur das Erden- sondern auch noch das Himmelreich.
Kunst ist nicht ein Stück Welt im Spiegel eines Temperaments, sondern — ein (Stück) Temperament im Spiegel des Bewußtseins.
Das Leben zeugt Blumen und Bienen. Blumen, das sind die schöpferischen Geister und Bienen, die andern, die daraus Honig sammeln.
In jedem Kunstwerk ist der Künstler selbst gegenwärtig. Wir spielen und hören in Wahrheit Beethoven, sehen Lionardo, lesen Goethe.
Liszt wirft mich oft aus der Musik heraus.
66 Musik — gesanggewordener Mensch und somit seine für uns vielleicht höchste Erscheinungsform. — Ein altes Bild: Der Gesang der Engel vor Gott: umgedeutet: Menschen vor Gott (der überall) zu Lied, zu Gesang geworden. Beethoven, ein Engel Gottes (der in unser aller) und zu Gottes (der in unser aller) Preis unaufhörlich tönend — Beethoven, ein Gesang Gottes vor sich selbst.
Das willkürliche Abbrechen von bedeutenden Musikstücken ist deshalb oft so schmerzlich, weil da nicht nur Musikstücke, sondern — Menschen abgebrochen werden.
Nirgends kann das Leben so roh wirken, wie konfrontiert mit edler Musik.
Die moderne Landschaftsmalerei (und Liebe zur Landschaft, Natur) — ein weiterer Schritt der Erde zur Erkenntnis und Liebe ihrer selbst.
Ein rechter Künstler schildert nie, um zu gefallen, sondern um zu — zeigen .
Jeder Künstler tötet zehn folgende (Dilettanten).
Ich kann mir in etwa 200 Jahren ein Drama denken, dessen Vorwurf der Kampf zwischen der Newtonschen und der Goetheschen Farbenlehre bildet. Die Farben treten auf und suchen umsonst das weiße Tageslicht in gemeinsamer Aktion zusammen hervorzubringen. Schließlich erscheint das eine weiße ungeteilte und unteilbare 67 Sonnenlicht in Gestalt eines weißgekleideten Weibes und entlarvt dieses ganz anmaßende Unterfangen als Betrug und Selbstbetrug.
Wenn mich nicht alles trügt, so stehen wir dicht vor Künstlergenerationen, die sich des ganzen irdischen Lebensstoffes noch ganz anders bemächtigten werden als die bisherigen.
Habt das Leben bis in seine unscheinbarsten Äußerungen hinab lieb und ihr werdet bis in eure unscheinbarsten Bewegungen hinab unbewußt von ihm zeugen.
Allzuviel Lyrik frißt die gesunde Natur des Dramas an und nimmt ihm, in einem ganz hohen Sinne, seine natürliche Sittlichkeit.
Schönheit ‚an sich‘? Nein, Schönheit, die über sich hinausweist.
Die neue — die christliche — Tragödie wird überall erst möglich sein, wenn der Mensch mehr und mehr aus der Materie erwacht. Ihr Stoff wird die Tragik seiner dann endlich überschauten und klar gewordenen Entwickelung sein und ihre Größe das dann noch ganz anders, weil aus einem ungleich höheren Bewußtseins- und Verantwortungsgrund gesagte, gesungene: Trotzdem! und Ja! und O Ewigkeit! O, unsere Gottesewigkeit! …
68 Ihr Geist wird aus der endlichen Erkenntnis dessen geboren werden, was der Mensch verbrochen und was er gutzumachen hat, sie wird den schauerlichen Fall des Menschen ins Ungeistige spiegeln und seine übermenschlichen Anstrengungen, Unsühnbar-Scheinendes zu sühnen, Unbezähmbar-Widerstrebendes zu überwinden, Unwiederbringlich-Verlorenes wiederzugewinnen. Erheben wird sich nach langen Geburtswehen endlich der Heerbann des Verständnisses und der Liebe, und seine Siege und Niederlagen werden fortan wie ein Ringen erwachter Götter erschüttern, wo heute der Tiefschlaf des Sondermenschlichen erst vereinzelte Ahnungen zuläßt.
Laßt uns darauf demütig warten und dazu das Unsere tun, Körnlein um Körnlein. Laßt uns uns dessen vertrösten in vielem Kleinkram und Wirrwarr noch unserer Tage.
Wir beweisen durch unsere kritische Stellung zu dem vielleicht oft anfechtbaren Menschlichen großer Künstler nichts, als daß uns durchaus nie zu lebendigem Bewußtsein gekommen ist, was ein solcher Künstler für den Menschen, für uns wirklich bedeutet. Wir können kalten Herzens den ‚Menschen‘ Wagner ablehnen, ja schmähen und damit es ganz für nichts erachten, daß täglich Ströme des Segens von ihm ausgehen, Ströme der Kultur, der Erhebung aus dem profanen Alltag, der Reinigung durch geistige Mächte.
In ein Zimmer, dessen rosa getünchte Wände in einer 69 breiten bunten Zierleiste auch ein kleines kaum bemerkbares blaues Muster aufweisen, wird eines Tages ein großer blauer Teppich gehängt. Und nun sollte man die kleinen blauen Muster sehen, wie sie mit einem Male leben und leuchten!
Alle Buchstaben, die je von Menschen geschrieben, zählen.
Nach der ‚Wildente‘: Ibsen wäre ‚ungriechisch‘? Aber was taten die alten Griechengötter andres, als (scheinbar) kalt und spöttisch das Treiben der Sterblichen betrachten, im Bewußtsein der Notwendigkeit aller Dinge.
So steht Ibsen vor seinen Mitmenschen. Der herbe Duft einer gewissen Lächerlichkeit, welche das Kennzeichen jeder Tragik ist, schwebt um seine Werke.
Es gibt ein höchst bedeutendes Bruchstück in unserer Literatur: Der ‚Empedokles‘ von Hölderlin. Hier habe ich einmal den abgebrochenen Weg des deutschen Dramas zu sehen vermeint.
Die Griechen gestalteten ihre Sagen; die Renaissance lebte in diesen Sagen und in den Erzählungen der Bibel; die neue Zeit, in der Breite ihrer Völker jenen Sagen wie diesen Berichten ferner und ferner rückend, muß die ganze bisherige Geschichte zum Stoff ihrer Kunstwerke nehmen. Unsere Sage sind die großen Epochen der Geschichte geworden, unser Göttermythos der Mythos vom großen Menschen in allen Zeiten. Dies ist recht eigentlich die uns zugeborene Sage: die Menschheits-Sage. In ihr liegen jene heidnischen und christlichen Stoffe mit inbegriffen, aber sie selbst ist noch unausmeßlich weiter und tiefer, ihr Reich 71 geht noch hinter alle Sagenkreise zurück und unter sie hinab, bis auf die Menschen, ja bis auf die Völker, die diese Kreise ersannen. Ein erster ungeheuerer Überblick über dreitausend Jahre geistige Erde ward möglich. Menschen dieses Überblicks werden die neue Tragödie schreiben, die einzige, welche der griechischen ebenbürtig sein wird, ja, welche sie überfliegen wird wie der Adler den Falken.
(Zum Thema Strindberg.)
Es entsteht jedesmal ein bedeutendes Schütteln des Kopfes, wenn ein absonderlicher Mensch durch das Mittel einer großen künstlerischen Begabung in die Welt hinausgreift. Begabung sollte eigentlich immer mit Bravheit gepaart sein, meint man, da man gern in aller Ruhe lernen und bewundern will; so kommt man weiter in der Bravheit, und damit, meint man, in der Kultur. Ein Mensch, der einen nötigt, mit ihm zu laufen, dann jäh wieder umzukehren, dann plötzlich ins Wasser zu springen, darauf vielleicht donquichotisch auf ein eingebildetes Amazonenheer loszurücken, schließlich mit einem Male in einem Kloster zu verschwinden, um mit einer Maske in der Linken und einer Geißel in der Rechten wieder hervor zu kommen, ein solcher Irrstern und Wirbelsturm wird nicht gern einregistriert und als voll genommen. Ein genialer Verrücktling, sagt man und geht wieder zur Ordnung über. Daß aber hier ein Mensch wie ein gehetztes Wild durch die Felder und Wälder, Schluchten und Flüsse des Lebens stürzt, gehetzt — ja wovon? — von irgend einem Verfolgungswahn: als flöge die 72 Finsternis hinter ihm her, aus der er entsprungen, und er müßte das ewige Licht finden, bevor sie ihn wieder packte, — oder von irgend einem Sehnsuchtswahn — wonach? —: nach dem grünen Wiesental eines unbewölkten Friedens oder nach dem Gipfelfelsen über den Nebeln, von dem aus er hinüberfliegen könnte ans Ufer eines anderen Sterns, einer höheren Welt, — daß aber hier ein Mensch durch die Welt geht, allen Jammer des Menschlichen vor sich her tragend, in Jubel und Hohn und Haß und jedem Gefühl vom niedrigsten bis zum höchsten, das wird als nichts empfunden, das bleibt tot und unfruchtbar für den ganzen Bann der Geordneten.
So ein Toter aber, solch ein den meisten nur selten und unvollkommen lebendig Werdender ist August Strindberg, ein gehetztes Wild, eine laufende Flammensäule, ein Mensch, alles in allem, vor dem die Sehnsucht nach jenem ‚Blitz aus der Wolke, der da heißt Über-Mensch‘ aufschreit, wenn irgendwo: denn dieser Untergehende ist ein Hinübergehender.
Was liegt an ‚Werken‘ (im letzten Grunde), was an Korrektheit, Bravheit, Nützlichkeit, Tradition, Gemüt, Liebe — kurz was an all dem Vordergrundswesen, außer daß da ein Mensch seinen Sinn sucht — ein Mensch . ‚Respektiert den Menschen —‘; er kommt so selten zum Vorschein. Die Menschen — was sind sie wert. Der Mensch ist immer ein Phänomen. Er sieht nicht schön aus: Irgendwie heißt sein Name und Ruhlos sein Schuh, sein Rock heißt Elend, seine Zunge Eitelkeit, sein Eingeweide Wollust, sein Herz Flamme, sein Auge Sonnenheimweh, sein Wanderstab Nirgendsheim und seine bittere Nahrung Er selbst.
73 In den Höfen und Gärten des Menschlichen gibt es viel Nützliches und Tüchtiges zu tun. Da gebe es nur den Schurz und die Schaufel. Da wird das Handwerk getan. Aber in der Gespensterstunde von zwölf bis eins, da horcht hinaus auf die wilde Jagd der vom Genius Gezeichneten, da laßt den Menschen zu euch hinein und legt die Finger in seine Wunden und fühlt —: es gibt noch etwas, wovor Kunst und Wissen und all das versinkt wie ein Rauch.
Und da wird euch Strindberg nicht mehr nur ein genialer Sonderling dünken.
Was wir in unsern neueren Büchern von der bisherigen Entwickelung der menschlichen Gesellschaft vor uns haben, ist vor allem eins: gewaschene Geschichte. Der natürliche Duft und Brodem der Dinge dürfte uns schlechtweg ersticken.
Jedem, der seine Gedanken niederlegt, blickt schon im Augenblick des Schreibens ein Größerer über die Schulter, sei es ein Vergangener, Lebendiger, oder noch Ungeborener. Wohl dem, der diesen Blick fühlt: Er wird sich nie wichtiger nehmen, als ein geistiger Mensch sich nehmen darf.
Der eine lebt, der andere schreibt sich aus. Das erste Dokument der Kultur war — ein Tagebuch.
Warum ist Balzac größer als Flaubert? Weil er eine unendliche Fülle ist, aus der Großes und Geringes, aber immer Lebendiges hervorsprudelt. Balzac ist eine 74 blühende Wiese, wo Flaubert vielleicht ein kunstvoller Garten. Keine Bewunderung hilft ihm gegenüber, man muß ihn lieben. Er hat dieses tief alles durchblutende Mitgefühl, jene wahre Liebe: die Sympathie, die ihn das Leben nicht vergolden, aber mit jenen zarten Händen anfassen läßt, womit dieses feine und des schärfsten Beurteilers immer noch spottende Gewebe allein angefaßt werden darf.
Der Sonderling:
Seit Friedrich Schillers hundertstem Todestag habe ich diesen Dichter für mich Max Zottuk getauft; so sehr haben mir Presse und Publikum jeden Buchstaben des einst teuren Namens verleidet.
Die Romanschriftsteller irren sich, wenn sie glauben, daß ihre Leser sich immer wieder die Mühe nähmen, die von ihnen sorgfältig beschriebenen Gesichter im Geiste nachzuzeichnen. Wenn ich lese, sein Kopf glich einer umgekehrten Zwiebel, so habe ich sofort ein Bild; wenn es aber heißt, sein Haar war braun, seine Stirn niedrig, seine Nase schön geschwungen, sein Mund grob aufgeworfen, so geht das — an mir wenigstens — ziemlich spurlos vorüber.
Es wird eine Zeit kommen, da wird man Geschichten ‚von außen her‘ schreiben, ich meine Geschichten, in denen wohl Ähnliches erzählt wird wie heute, aber deren eigentlicher Reiz darin besteht, daß die geschilderten Menschen durchsichtig gemacht sind — gegen das Mysterium hin. Sie werden charakterisiert 75 werden mit allem Glauben an ihre Wirklichkeit und doch zugleich wie Halluzinationen wirken, sie werden uns fesseln wie irgendwelche Gegenstände der bisherigen Poesie, aber der Schauder dessen, für den die alte Welt zusammengebrochen ist, wird auch ihrem Bilde mitgeteilt sein, so daß sie im selben ergötzen und ein tiefes unheimliches Wundern erregen.
Etwas vom Übersetzen.
Nehmen wir Ibsen. Ibsen arbeitete an jedem seiner Stücke durchschnittlich zwei Jahre. Wenn nun ein Ausländer hergeht und eines jener Dramen in vier Wochen in seine Sprache übersetzt, so wird er schwerlich jede der redenden Personen so in sich lebendig fühlen können, wie der Dichter, der sie zuletzt gleichsam als seine beständige Gesellschaft empfand.
Es gibt eine Art, ich möchte sie die rationalistische Methode zu übersetzen nennen. Der Übersetzer möchte das Original womöglich noch verdeutlichen. Ohne auch nur einen Schatten jener wirklichen Ehrfurcht, wie sie nur die Dichter selbst dem Dichter entgegenbringen.
Es ist das Unglück der Franzosen, zu gut schreiben zu können.
Ich kann mir viele denken, die Stendhal kurzerhand als langweilig oder gar abstoßend ablehnen. Der nächste Förster, der ihnen begegnet, zieht sie unendlich mehr an. Die Leidenschaft des Psychologen, der um Einen Stendhal sämtliche Förster der Welt hingibt, ist ihnen fremd, die Wißbegier dessen, dem 76 der Mensch A und O aller Studien, ist bei ihnen durch das Behagen ersetzt, stark, warm und einfach zu fühlen.
Nach den Erinnerungen eines Egotisten.
Überall, wo Stendhal über fremde Dinge schreibt (Italien, Napoleon …) fesselt er, wo er aber über sich selbst und seine Gesellschaft und Liebschaften schreibt, wird er sehr bald langweilig.
Zu Dostojewski.
Aus seinen Büchern findet man schwer wieder nach Westeuropa zurück.
Wenn ich Dostojewski lese, so ist es mir, als sähe ich einem Feuer zu — einem Steppenbrand —, das über die Ebene wandert. Und jetzt frißt und wühlt es sich schleichend durchs knisternde Gras — und jetzt fährt ein Sturmwind daher und erhebt es bis zu den Wolken, und jetzt kriecht und glimmt es wieder dahin und nur dicke Rauchmassen bezeichnen seinen Weg — und jetzt steigt es bei einem neuen plötzlichen Stoß gleich einer Säule zum Himmel und übergießt Himmel und Erde mit übergewaltigem, erschütterndem Glanz.
Mauthner tut Nietzsche Unrecht, auch da, wo er gegen ihn Recht hat. Ein Menschenleben gräbt sich sein Strombett und damit muß man zufrieden sein. Nietzsche ist gewiß nicht aus Eitelkeit den Weg zur Sprachkritik nicht weiter gegangen. Mauthner unterschätzt das Dynamische im Genie.
77 Es ist das Interessante an Büchern, über denen man eigentlich den Verstand verlieren müßte, daß man durch sie vielmehr an Verstand gewinnt. Freilich ist das nur ein neues Kompromiß — denn anständigerweise müßte man allerdings nach ihrer Lektüre abdanken. Aber das Leben ist nicht das, was wir anständig zu nennen lieben. Allein schon der Umstand, daß der Autor seinen Verstand behalten hat, wird genügen, den Leser zum gleichen zu veranlassen; es sei denn — daß er nur so beweisen zu können meinte, daß er noch tiefer als jene sei, daß er sozusagen aus Ehrgeiz, aus ‚Willen zur Macht‘ wahnsinnig zu werden geradezu — wünschte.
Ich habe nie einsehen mögen, warum mittelmäßige Menschen deshalb aufhören sollten, mittelmäßig zu sein, weil sie schreiben können.
Über etwas schreiben heißt, sich mit etwas überschreiben.
Denke dir immer jemanden, auf den deine Sätze durchaus nicht so Eindruck machen, wie sie's dir selber bisweilen tun, der sie vielmehr trocken und gleichgültig prüft, ja beinahe feindselig, wie ein Mensch, den jede neue Behauptung zunächst — ärgert.
Ich denke nach, welchen Dichter man einem Adler vergleichen könnte. Ibsen war die Eule in Person. Goethe war vielleicht ein Adler. War Shakespeare einer? Ich glaube, die Adler unter den Dichtern 78 werden erst kommen: Geister, die alles Dasein zugleich mit Falkenblick erkennen und über ihm in schier unerreichbarer Höhe kreisen. Geister mit einer ‚Freiheit‘ auch von sich selbst — …
(Der Evangelist und Apokalyptiker Johannes war ein Adler.)
Lagarde ist das stolzeste aber auch schroffste Gebirge, das ich kenne. So oft man auf ihm wandert, stürzt man in den Abgrund.
Alles Große macht sterben und auferstehn. Wer an Nietzsche und Lagarde nicht immer wieder stirbt, um an ihnen auch immer wieder aufzuerstehen, dem sind sie nie geboren worden.
Was wäre Lagarde mit all seinen Forderungen, seiner Strenge und Höhe, wenn nicht eine so große Natur und eine so tiefe, fast unvergleichliche Bildung in jedem Verstande sein Besitz, sein Erwerb gewesen wäre. Er gleicht einem Marmorbild, auf dessen Sockel ewige Gebote eingegraben sind, aber dessen Erscheinung für sich allein noch gebietender wirkt als sie.
Wer Lagarde erträgt, ist entweder ein Hundsfott, ein Kind oder ein Riese.
Wenn du Schriftsteller bist, so schreibe jeden Tag etwas nieder, und wenn du auch nur den zehnten Teil davon aufbewahrst. Kommt dann deine produktive Periode, so wirst du, was du zu sagen hast, mit 79 doppelter Leichtigkeit und Anmut sagen, du wirst dann wie der Klavierspieler sein, der eines Tages zu phantasieren beginnt und merkt, daß es auf den Tasten fortan kein Hindernis mehr für ihn gibt.
Mit Zeitungen und Zeitschriften kommt man nur wie im Sande vorwärts. Das macht, sie reden ohn' Unterbruch.
Drucke jede Woche nur Ein Wort, Einen Satz auf ein quadratmetergroßes Stück Papier und du wirst mehr ausrichten, wofern du Der bist, als mit einer Million Buchstaben in der gleichen Zeit.
In Fritz Mauthner tut der Immoralismus Nietzsches (dieser im Grunde raffinierteste Moralismus) einen weiteren entscheidenden Schritt. Der Wille zur Sauberkeit, zur Redlichkeit feiert in ihm einen — und wie alles Große grausam ist — grausamen — Triumph.
Im Übrigen: wer hier den ungeheuren sittlichen Entwickelungsprozeß, der unser ganzes geistiges Leben ist, nicht ahnungsvoll erkennen zu dürfen meint, wird sich auch nicht sagen können: Hier vollzieht sich ja im Großen nichts andres wie im Einzelnen: Persönlichkeitsentwickelung. Hier will ja irgend ein dumpf Wollender ganz ersichtlich zu immer höherer Selbstschönheit …
Vor seinem Kammerdiener, heißt es, ist kein Held ein Held mehr. Das gefällt manchen modernen Kritikern und Dichtern ganz ungemein. Begeistert predigen sie die Kammerdieneroptik, die Kammerdienerweisheit, 80 und überschütten die Welt mit dem überlegenen Lachen des — Kammerdieners.
Wenn man weiß, was zwei- oder dreitägiger Kefir ist, so hat man ein Bild für den Stil des Essayisten N. Könnte man sein Buch wie eine Flasche schütteln, so würde man verhältnismäßig leichtflüssige Milch bekommen. Da man es aber nicht schütteln kann, hat man ein dickes und schwerfälliges Getränk vor sich mit Brocken, die mehr kollern als rinnen, ein Getränk, nicht minder wertvoll als der ungeschüttelte Kefir, aber weniger angenehm genießbar als der geschüttelte.
Gespräch ist gegenseitige distanzierte Berührung. Ein Buch ist chiffriertes Tasten. Lies es, taste daran, und du wirst wiederbetastet werden, es wird sich die Erscheinung seines Verfassers auf und in die deine dechiffrieren, als telegraphierte er dir mit unsichtbaren Fingern durch die Stirn.
Je besser ein Stil wird, desto mehr nimmt er alles in sich hinein: die überflüssigen Interpunktionen, die allzuhäufigen Absätze, den Sperrdruck.
Ein Buch ist nicht etwas, was ein Mensch geschrieben hat, sondern dieses Menschenmysterium selbst, ebenso wie das Musikstück, das ich heut abend von dem Nachbarhause herüberklingen hörte, kein Musikstück von Beethoven war, sondern das Mysterium Beethoven selbst.
81 Jedes Buch hat zwei Wirkungen, die mittelbare und die unmittelbare. Die meisten Leser spüren nur die mittelbare. Darum bleiben auch so viele Bücher Druckerschwärze auf Papier. Und doch offenbart auch noch das schlechteste Buch seinen Vater nicht bloß mittelbar, sondern auch unmittelbar: ihn selbst, die Persönlichkeit, in der Chiffre dieser Sätze unverlierbar aufbewahrt und jeden Augenblick bereit, in ihrer ganzen ursprünglichen Kraft auf uns zu wirken.
In der übertriebenen Abneigung gegen schlechte Übersetzungen, gegen Übersetzungen überhaupt, liegt eine gewisse Verzärteltheit. Große Originale leuchten auch aus unbeholfenen Reproduktionen unzerstörbar hervor.
Tolstoi war ein Protest des höheren Menschen wider den Menschen, wie er gemeinhin heute noch ist. Tolstoi wollte nur ganz einfache, simple Dinge. Dinge, die sich eigentlich von selbst verstehen, — für jeden anständigen Menschen.
Man fordert von Tolstoi Märtyrertum. Man sagt: Lebe wie Franziskus, stirb wie Christus. Nun, er hat sich im Jahre 1907 den Henkern seines Staates dargeboten: — ‚nehmt mich und führt mich hin wie jene armen Opfer, legt den eingeseiften Strick um meinen alten Hals …‘
Der große Schriftsteller hat Stil, der kleine Manier, was nicht ausschließt, daß der große auch einmal klein und der kleine groß, d.h. ein Stilist sein kann. 82 Maeterlinck — oder ein versetzter Konditor.
In diesen Erzählungen von Liebe sehe ich immer nur eines: die Liebe als Selbstpreis. Selten oder nie, daß diese Menschen durch ihre Liebe zu einander wachsen wollen, daß sie sich über sich hinaus lieben. Daher denn auch die Übersättigung, ja der Ekel, der einen nach und vor derlei erfaßt, ein Verlangen, es möchte doch auch hier endlich eine neue Optik Platz greifen, eine tiefere, religiösere Betrachtung des Liebeslebens.
Nichts kann mich mehr aufbringen, als wie allezeit hier und dort über den Eckermann geredet wird. Immer ist ein halb mitleidiges Lächeln dabei, gleich als handle es sich um eine durchaus subalterne Natur, der es jeder seiner gönnerhaften Bespotter unvergleichlich zuvorgetan haben würde. Man hängt sich an die Einfalt mancher seiner Fragen und bedenkt nicht, daß er oft nur frug, um Goethen zu locken und anzureizen, man wirft ihm eigene Unbedeutendheit vor und übersieht die Fülle feiner Beobachtungen und Bemerkungen, die anmutigen Berichte über seine Liebhabereien, den langen Brief aus Genf und überall den Sinn und Takt fürs Wesentliche, der uns niemals mit Tagesgeschwätz langweilt, sondern ihn fortwährend bei der Würde seiner einzigartigen Aufgabe festhält.
Laß sie sich immer überheben, würde Goethe selbst sagen, soviel ist gewiß, daß ihrer keiner mich vermocht hätte, mein inneres Leben so munter und lebendig vor ihm zu entwickeln, wie dieser liebe Junge, der wohl nicht groß war im Sinne schöpferischer Kraft, aber in seinen Maßen ein ganzer Kerl, ein Vorbild, 83 allen denen zu empfehlen, denen es um ihre Bildung wahrhaft ernst ist, und die, da ihnen Gott die zeugende Kraft nur unvollkommen gewährt hat, im produktiven Empfangen seiner Höhe zustreben müssen und ihm damit wohl ebenso nahe kommen mögen, wie unsereins mit seinen stärkeren Mitteln und glücklicheren Voraussetzungen.
In aller Literatur von heute muß man dem Seelischen nachspüren. Was der Geist heute hinzutut, hat nicht allzu viel Wert; denn der Geist stand wohl selten auf einer bescheideneren Stufe.
Manchen Menschen würden Weihnachtskataloge, Zeitungsannoncen, und zu Mundwassern, Seife, Thermosflaschen, Petroleumöfen usw. beigepackte Erklärungen und Referate für lebenslängliche Lektüre völlig genügen.
Man werfe aus der philosophischen Literatur der neueren Zeit den literarischen Jargon hinaus und man wird viel gewonnen haben.
Unter Jargon oder Fachfuchserei verstehe ich beispielsweise die humanistische Ablehnung der Bibel, als einer Gefahr für den klassischen Stil.
An ‚Geist‘ fehlt es heute so wenig, daß man ihm aus dem Wege gehen muß, um nicht vom Überdruß erfaßt zu werden. Jede Zeitung, jede Zeitschrift hat etwas von einem Variété, darin Athleten, Jongleure, 84 Akrobaten auftreten. Eine Zeit, die den intellektuellen Biceps so eifrig und coram publico übt und spielen läßt, erfüllt damit gewiß eine bestimmte bedeutende Aufgabe, aber auf die Dauer wirkt solch im Grunde von niemandem gewünschtes Massenangebot bloßer Kunstfertigkeit destruktiv.
Wenn ein Schriftsteller sich jederzeit der Macht bewußt wäre, die in seine Hand gegeben ist, würde ein ungeheures Verantwortlichkeitsgefühl ihn eher lähmen als beflügeln. Auch das Bescheidenste, was er veröffentlicht, ist Same, den er streut und der in andern Seelen aufgeht, je nach seiner Art.
Entwurf für ein Vorwort zu: ‚Wir fanden einen Pfad‘. Man glaubt, es komme in neuen Dichtungen vor allem darauf an, daß sie gewissen vertrauten Empfindungen und Vorstellungen genügen, ja schmeicheln. Nun ist ja z.B. das, was wir Deutsche unter einem Liede verstehen, etwas ungemein Liebliches und Erfreuliches, und dieselben Menschen, die der reinen Musik, sagen wir, Mozarts zuliebe, den Fortschritt, den Wagner bedeutet, Rückschritt nennen, werden für ein wirklich gelungenes Lied …
Aber diese so sehr verständlichen und sympathischen Menschen sind in diesem Punkte Träumer und Liebhaber, an denen die Entwickelung sacht aber entschieden vorbeigehen muß. Es geht nicht an, bei einmal gewonnenen schönen Dingen versunken stehen zu bleiben und, weil sie dem viel angefochtenen Herzen so gar wohl tun, nur immer mehr ihrer Art zu 85 fordern; als wollte einer bloß von Blüten wissen und das weitere Werden der Frucht nur so mit in den Kauf nehmen. Gewiß, ein ewiger Frühling wäre ein holder Traum, aber zugleich das Ende unserer Welt, als welche ganz anderen Zielen denn unschuldigem Lebensgenusse zustrebt. Wir brauchen keine Kunst, deren Wesen Wiederholung ist, sondern eine, die sich weiter tastet, die dem wahrhaft Neuen, das in unsere Zeit hereinfließt (nicht dem Neuen freilich, das in Flugfahrzeugen oder wissenschaftlichem Aberglauben besteht) sich zu öffnen ringt, eine Kunst, die weder von den ‚Neutönern‘ akklamiert, noch auch zu guter alter Kunst gerechnet werden will, ja auch nicht zu ‚guter Kunst‘, — denn in diesem ‚gut‘ verbirgt sich hier nichts weiter als ‚das, was wir lieben‘, und eben das liebt diese Kunst nicht mehr.
Der Bekämpfung der Schundliteratur sollte die von fratzenhaften Reklamebildern zur Seite treten. Nur die große Trägheit in solchen Dingen nimmt hin, was hier täglich auf Plakaten und in der Presse vor Augen zu rücken gewagt wird, und achtet nicht der unausbleiblichen, schädlichen Wirkung solcher Zerrbilder auf jede, besonders aber auf jede jugendliche Seele.
Man weiß, wie wichtig es ist, Schwangeren harmonische Verhältnisse zu schaffen. Sollte es anders sein mit der Menschheit, die sich fortwährend im Zustande der Mutterschaft befindet?
Wir sollten gewisse Bücher mehrmals lesen, ehe wir darüber sprechen. Etwa einmal im Winter, einmal 86 im Sommer — und manche in noch ganz anderen Intervallen. Was wir dann über sie zu sagen hätten, würde vermutlich ebensovielmal besser sein … Und uns selbst würde solche Selbstzucht nicht nur zu besseren Lesern, sondern zugleich zu besseren Menschen machen.
Über jedem guten Buche muß das Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell werden. Die Sonne innerer Heiterkeit muß sich zuweilen von Seele zu Seele grüßen, dann ist auch im schwierigsten Falle vieles in Ordnung.
Alle Liebe zu Tolstoi wird doch nur eine andere Liebe noch steigern: die zu — Dostojewski.
Schriftstellerei ist heute vielfach nicht wichtiger zu nehmen, als daß, sagen wir, heute jedermann Kakao trinken kann, während es früher nur die Reichen konnten.
Es gibt kaum eine größere Gefahr für einen Menschen wie mich, als Nietzsche zu lesen. Es ist wie ein Wühlen im Schmerz meines eigenen Unwerts.
Nietzsche's herrliche Natur, die in einer wahrhaft ehrwürdigen Bescheidenheit und einer Frömmigkeit zur Kultur anfänglich immer sagt: Möchten andere es besser machen als ich.
87 Ein ganzes Leben in Denken aufgelöst, im Wort sichtbar geworden, strömt vor unsern Augen, aus geheimnisvollen Gründen hervorbrechend, in undurchdringliches Dunkel sich verlierend.
‚Also sprach Zarathustra!‘ — wie? wenn dieser Kehrreim mit einem gewissen Auguren-Lächeln gelesen und geschmeckt werden müßte. Wenn er eine feine Parodie auf jene Schlußphrasen wäre, womit noch jeder ethische Neuerer bisher seine Sätze gesiegelt, ein anderes ‚Amen! Amen!‘, eine Schluß- und Banngeberde, feierlicher Schauer voll für den Gläubigen, für den Auguren aber nur ein Lächeln mehr … Wie beginnt doch die fröhliche Wissenschaft? …
Man sieht Nietzsche ins Auge und weiß, wo das Ziel der Menschheit liegt.
Wer mit Nietzsche denkt, ‚widerspricht‘ sich auch mit Nietzsche. Wer sich an seinen ‚Widersprüchen‘ stößt, hat nie mit ihm gedacht (noch mehr: gefühlt ) — ist nie mit ihm geflogen.
Ein philosophisches System zu verstehen, erfordert schließlich ein Maß von Intellekt, nichts weiter. Einen leidenschaftlichen Wegsucher aber wie Nietzsche begreift man nicht bloß als kluger Kopf; man muß ihm noch obendrein ein bißchen — verwandt sein.
88 Gewiß, es gibt Züge, die ich Nietzsche, dem Menschen, verarge — aus Liebe. Nur kleine Züge, aber ich verstehe sie nicht an ihm — oder vielmehr: ich würdige nicht genug die Tiefe des Leids, in welche dieser Geist getaucht wurde, als er unter der Last seiner Gedanken, seiner Einsamkeit und seiner Krankheit zugleich, ein ebenso furchtbares wie großes Menschenopfer, zusammenbrach.
‚Also sprach Zarathustra‘ — Nietzsche selbst hätte diesen Titel und diesen Refrain in früheren Jahren streng abgelehnt. Es ist die Tragik dieses Buches, manchmal nicht mehr gefaßt und katonisch genug zu sein.
Ad Zarathustra — Vorrede.
1. Wo gäbe es einen größeren tieferen Prolog eines Schicksals! Wo ist das Gleichnis und die Anrufung, diesem Bilde und diesem Gebet an Würde, Heiterkeit und Tiefe gleich?
2. Ein Waldidyll voll milder Abendsonne, als Weg zur Wendepunkt-Wahrheit aller irdischen Kultur. Man kann hundertmal über diese Schlußworte hinweggesprungen zu sein meinen, bis man eines Tages erkennt, daß sie ein Berg sind, den man vielleicht nie ganz erklettern wird und von dem aus Zarathustra die Wasser gen Osten und gen Westen hat fließen sehn.
Es wird mir immer gewisser, daß Nietzsche überall da versagt, wo er sich bewußt oder unbewußt der Eitelkeit seines Geistes hingegeben hat. Hätte er diesen 89 polnisch-romanischen Zug nicht gehabt, er stände oft noch viel größer da. Es gibt keinen schlimmeren Fluch für einen Denker, als sich seinem Volk gegenüber als Schriftsteller verpflichtet zu fühlen. Wenn einer Denker geworden ist, das heißt ein Mensch, dem das Nachdenken über menschliche Probleme zur inneren Leidenschaft und Lebensaufgabe geworden ist, so ist er auch ganz von selbst genug Schriftsteller, seine Gedanken mitzuteilen.
Aber freilich, Nietzsche war vor allem ein Kämpfer . Er war ein Weiser aus der Kriegerkaste, nicht aus der der Priester.
Vielleicht hätte er im zweiten Teile seines Lebens auch noch die Milde der Weisheit ausgeströmt, nach ihren Blitzen auch ihre Wärme.
Der Zarathustra ist bei allen Einzelheiten unbestreitbarer Größe eines der schlechtesten Bücher, die es gibt. Er ist weder ein Volksbuch noch ein Buch für Verwöhnte und Einsame, es ist ein Mischmasch von Grandiosem und Banalem, inhaltlich wie im Vortrag. Ein Vordrängen, ein Aufdrängen persönlicher Stimmungen, ein kategorisches Erledigen von Dingen, deren ‚kategorische Erledigung‘ immer nur eine ‚niaiserie‘ bleibt, ein Spiel mit dichterischen Bildern und Gleichnissen, das oft groß und tragisch, öfter noch fast unbeherrscht und geschwätzig wirkt. Ein Buch, das nur durch Reduktion seiner Reden auf etwa 12–20 zu dem klassischen zu machen wäre, was es zu sein wünscht.
Unglückselige kleine Zeit, du hast auch auf ihm, deinem Größten, gelastet.
Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft: Man halte ihren biologisch-ethischen Grundgedanken sowie die Lehre vom Übermenschen gegen Kants kategorischen Imperativ, und sie werden ihm an ideeller Großartigkeit nichts nachgeben und als leidenschaftlicher Appell an die menschliche Armee in demselben Verhältnis zu ihm stehen, wie zum einfachen ‚ich erwarte, daß heute jeder seine Pflicht tut‘ das grandiose ‚Soldaten, vierzig Jahrhunderte blicken auf Euch herab!‘
Nietzsche war nur ganz, wenn er ganz er selbst war (soweit man sich so ausdrücken darf). Sobald er sich ins Schlepptau nehmen ließ, wurde er ein Schriftsteller unter Schriftstellern und nicht einmal immer ihr erster. Und er wurde manchmal nicht nur an- sondern noch mehr mitgeregt.
Ich kann damit nichts anfangen, — Nietzsche sei vor allem ein großer Künstler, ein großer Stilist, Artist gewesen. Was heißt das, vor allem. Was macht denn den großen Stil, wenn nicht der Mensch von überragendem Rang, der geborene Führer und Schöpfer? Und wo Nietzsche das nicht war — und er vergaß manchmal seinen Rang und führte weder noch schuf — da taugte auch sein Stil nichts, da war er auch nur ein Manierist seiner selbst.
Nietzsche, die große Antithese seiner Zeit.
Beim Vorlesen einiger Nietzschescher Aphorismen: — Geistige Austern. 91 Man kann Nietzsche aus zehn Zeilen erkennen lernen und aus zehn Büchern — verkennen.
Welch ein unnützes Geschwätz, Nietzsche habe die napoleonische Natur deshalb vor allem geliebt, weil er selbst keine gewesen sei. Herr Müller also ist ein Napoleon, weil er die Napoleons — nicht liebt.
Nietzsche, der Pole, der als Deutscher tief ward.
Nietzsche konnte mit den bisherigen fünfsinnlichen Erkenntnismitteln den Menschen nicht verstehen. Drum erfand er sich seinen Über-Menschen. Er ward damit der letzte große deutsche Philosoph — ante Christum natum. Er war, um in seiner Manier zu reden, der letzte — Ante-Christ.
Nietzsches Schicksal war, über den Trümmern des komischen Bildungsphilisters als tragischer zu sterben. Nietzsche starb an der ‚Bildung‘. Und mit ihm werden alle sterben, die mit seiner Seele nicht zu zittern wissen, die nur an seinen Geist glauben.
Daß Künstlerschaft und Könnerschaft untrennbar sind, das versteht sich von selbst. Aber das, worauf es heute, wie immer, ankommt, ist, wer da spricht und was — nicht nur wie — gesprochen wird. Ist Nietzsche nicht einer unserer ersten Stilisten? Und dennoch blieb er in höherem Sinne unfruchtbar. Ich wäge meine Worte, 92 denn wenn je einer, habe ich Nietzsche erlebt . Und nicht in mir war er unfruchtbar. Aber ich weiß auch, worin er lange Zeit mein Höchstes war: in seiner Größe als Mensch; nicht in der, ach nur allzu zeitgemäßen, Art seiner Philosophie. Die war Abendröte, nicht Morgenröte und wer von ihr aus weiter schreitet, der wandelt in die — Nacht.
Wer sich mit der Materie einläßt, wird von ihr erschlagen. (Zu R.'s Dekorationskampf.)
Es fehlen im Bilde unserer heutigen Kritik nicht die kunstrichtenden, sondern schlechtweg die richtenden Geister.
Kein Dramatiker kann wissen, was ein Schauspieler aus seinen Worten machen wird. Er mag sie so einfach setzen, wie er will — dieser wird sie vielleicht ganz in Leidenschaft tauchen und so gerade ihren feinsten Gehalt verändern; er mag sie so leidenschaftlich gemeint haben, wie er mag, dieser wird vielleicht nie im Leben bis zur Schwelle wahrer innerlicher Hingerissenheit gelangt sein. Der Schauspieler ist der Räuberkünstler par excellence. Aber oft auch ist der Räuber größer als der Beraubte und der Schatz des Wanderers erst wundervoll, wenn, der ihn erschlug, damit zu abenteuern beginnt.
Wenn ich Schauspieler wäre, würde ich mir für mein Studierzimmer zunächst einen riesigen Spiegel anschaffen. Vor ihm würde ich täglich mindestens zwei Stunden verbringen und meinem Körper eine Geschmeidigkeit anzüchten, die mir später gestattete, auch die leiseste Gemütsbewegung in unwillkürliche Sichtbarkeit umzusetzen. Ich würde mich dabei nicht in malerische oder zeichnerische Ideen verlieren, o nein, ich würde die Seele ganz allein Herr sein lassen und ihr, ihr allein, meine Glieder dienstbar machen. Unmittelbare 94 Übertragung dessen, was mich bewegte, wäre mein Ziel, so daß man nicht einen Körper und einen Geist zu sehen vermeinen sollte, sondern nur eins. Ich würde keinen andern Stil als den wahren Ausdruck meines Innenlebens haben wollen, aber freilich die Art meines Innenlebens wäre bereits der Stil, den ich will. Er wäre, meiner Natur entsprechend, zugleich lebhaft und maßvoll. Er wäre, wie ich hoffen dürfte eindringlich, nicht aufdringlich. (Ich rede hier fast lediglich von der Darstellung moderner Menschen.) Des weiteren würde ich folgendes tun: Ich würde mich nach Empfang meiner Rolle in die darzustellende Person zu verwandeln suchen. Ich würde wochenlang in allen Situationen als sie herumgehen, das heißt in ihrer Kleidung, mit ihrem vermutlichen Gehaben, mit ihrem Charakter, ihren Gewohnheiten. Dazu gehört allerdings eine eiserne Natur, aber des Schauspielers Kunst wird nicht genug bezahlt, daß er sich wie ein Krieger mit allem nur möglichen Raffinement wider das Zerstörende seines Berufes wappnen kann, gesetzt er braucht seine Mittel zum Kampf ums Ziel und nicht zum Behagen. Hätte ich pathologische oder Verbrechernaturen darzustellen, so würde ich, wie Hermann Müller es gelegentlich tut, Irrenhäuser, und wie's Richard Vallentin vor dem Nachtasyl machte, Kaschemmen aufsuchen. Die Moskauer sollen sich wochenlang in Dörfern aufgehalten haben, bevor sie ein Stück mit Bauern spielten. Das nenne ich, auf die Eroberung des Andern, das wir nicht sind, aber der Kunst halber einmal sein wollen, losgehen; das möchte ich vielleicht mit dem Namen praktischer Dualismus bezeichnen.
95 Mag sein, daß ich nichts von alledem täte, wenn ich Schauspieler wäre, das heißt natürlich auch meiner ganzen Veranlagung nach, nicht nur nominatim, Schauspieler; aber nun, da ich bin, was ich bin, glaube ich, ich würde das tun, wenn ich das wäre.
Man mag das Wort ‚Schmiere‘ zu seiner Bildung zum Theaterkritiker brauchen, aber es wird von wahrer Urbanität zeugen, wenn man es später jemals wieder zu brauchen — ablehnt.
Wenn es einem Kritiker Freude macht, sich einen Schaffenden im Sinne eines Schöpfers zu nennen, so soll man ihm die Freude lassen. Der liebe Gott wird dann schon einmal zu ihm sagen: ‚Schaffe eine Maus,‘ — ‚O nein,‘ wird der Kritiker antworten, ‚so ist nicht die Gabe meines Schaffens. Gib mir ein Nashorn oder ein Känguruh, so will ich dir sagen, was ich daran falsch und was ich daran richtig finde, und auch sonst werde ich noch manches zum Thema sagen, was vielleicht interessanter ist als das ganze Känguruh oder das ganze Nashorn,‘ — ‚Ja, ja,‘ wird der liebe Gott sagen, ‚das mag wohl sein, aber wenn ich nun so klug gewesen wäre wie du — was hätte ich dann wohl anfangen sollen? Wie hätte ich die Welt wohl aus mir heraussetzen sollen, wenn ich erst etwas bereits Herausgesetztes hätte vorfinden müssen, um mich an ihm herauszusetzen, oder anders ausgedrückt, um daran in deiner Weise schöpferisch zu werden?‘
96 Wenn einer vorliest! was denkst, was fühlst du da alles! … aber weil du (auch) zuhörst, so wirst du ein Zuhörer geheißen. Als ob dich das erschöpfen könnte: „der ‚Zuhörer‘ war ganz ergriffen“ — O gewiß, aber vielleicht nicht bloß als Zuhörer.
Der Klang der Stimme (z.B.) hatte dich vielmehr an einen Winterabend erinnert, an dem einmal jemand zu dir gesagt hat: ‚Das also hast du vor, diesen Weg willst du gehen!‘ .. Aber das kümmert den wenig, der vorliest. Er ‚liest vor‘ und du ‚hörst‘ zu. Ich möchte, daß du daraus ersiehst, wie armselig es ist, wenn man dich beispielsweise im Theater einfach als ‚Zuschauer‘ bezeichnet und behandelt. Jawohl, du schaust freilich (auch) zu, aber daneben — was ist alles daneben noch möglich — was begibt sich alles in dir noch daneben. Wir sollten uns alle wider den Bann solcher Wörter sträuben. Es ist, als bände uns einer eine starre Maske mit nur einem Gesichtsausdruck vor, aber die Maske ist nur suggeriert — erwachen wir doch und erkennen, daß wir auch im Theater nicht Zuschauer allein sondern unendlich viel mehr, nämlich durch keine Bezeichnung zu erschöpfende Wesen sind, und daß wir daher auch im Theater alles erleben dürfen, was ein Mensch nur immer geistig erleben kann, und nicht nur, was ein ‚Zuschauer‘ erleben darf. Aber wir sind so über und über im Bann von Bezeichnungen, daß wir aus lauter Pflichtgefühl ihnen zu entsprechen, keinen freien Gedanken mehr zu denken wagen, und nach einem innerlich noch so reichen Theaterabend dennoch von einem verlorenen Abend reden zu müssen glauben, weil wir als ‚Zuschauer‘ nicht ganz auf die Kosten gekommen sind. —
Zum Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters.
Nicht nur das Volk, auch die Kritiker haben dem Zauber der Russen — und nicht nur Stanislawskis — nicht widerstehen können, warum wohl? Weil von den Russen das ausging, was in den Deutschen heute höchstens als Privatsache, aber nicht als Unterton ihres ganzen nationalen Lebens lebt: Liebe, Liebe zu einander, zu uns, zu ihren Dichtern, wortlose, unausgesprochene, uneingestandene aber selbstverständliche Liebe. Es gibt kein anderes Wort, höchstens daß man noch sagte: innere Religiosität. Hieraus quoll die letzte Schönheit dieser Künstler. Und zu ihr könnten auch wir uns hinankämpfen und hinanleiden, wenn wir nicht mit kaltem Kritizismus, mit Theorien, Wunsch-Luftspiegeleien aufeinander loshackten, sondern verstehend und liebend einander zu fördern, einander zu steigern, einander zu vervollkommnen suchten.
Es ist nur sehr viel leichter zu wünschen und von Großem, wie es sein müßte, zu reden, als im Gegebenen sich zu bescheiden und die großen Faktoren sich nutzbar zu machen, die das lebendige Leben um einen herum enthält. Da muß man freilich etwas mehr guten Willen haben und nicht gleich ungeduldig in Bausch und Bogen verwerfen, wenn man nicht just in den Punkten, in denen man gern befriedigt sein möchte, auf seine Rechnung zu kommen scheint. Eines Schauspielers Wert erschöpft sich noch lange nicht im rein Darstellerischen. Ich habe hier in Tirol Gelegenheit, viel in kleine Theater zu kommen: nun, ich ziehe meinen Hut noch tief ab vor allen möglichen 98 Leuten, die der kaltherzige, hochfahrende, einseitige und verbildete Großstadt-Kritiker, dem die Augen fürs innere Leben und Sichfortentwickeln unseres Volkes oft nur zu sehr verschlossen sein mögen, zumeist, weil die persönliche innere Beziehung einfach nicht da ist, nicht da sein kann, vermutlich mit irgend einem Clichéausdruck wie Schmierenkomödianten abtun würde; und ich bin weit entfernt davon, diesen braven, willigen und fröhlich-unermüdlichen Soldaten der Kultur, mögen sie im Leibregiment oder in der verrufensten Garnison dienen, anders als mit einer Hochachtung zu begegnen, die mir fast immer noch irgendwo Dankbarkeit und Freude verstattet. Aber ich vergesse wohl, daß ich ein Gottseidank unverpflichteter Außenseiter bin und daß der Berufsmensch wohl unwillkürlich dem Schicksal des Spezialisten, das ist des Einäugigen, des Monophthalmoden, verfällt. Das Eine Auge starr auf die Bühne gerichtet, sieht er alles nur in der Kunstfläche, während es in Wahrheit bis in den Urgrund der Welt hineinreichende Plastik ist, auch dies, auch diese Bühnenmenschheit da droben.
Wie kann man einem Schauspieler ‚die Wahrheit sagen‘ und zugleich den Menschen in ihm respektieren? Einfach, indem man ihn liebt. Man liebt ja Blumen, Steine, Tiere — ist der Mensch der Liebe weniger würdig? Schließt denn Erkenntnis die Liebe aus? Oder ist es nicht vielmehr so: Je mehr Erkennen, desto mehr Liebe? So daß, je mehr einer einen Schauspieler durch und durch sieht, er auch weniger und weniger 99 imstande sein wird, richterlich von ihm zu reden. Man braucht dabei nichts zu opfern, nichts, als seine eigene Unschönheit. Man kann von derselben Leistung fast wie ein Weiser reden und fast wie ein Wilder.
Man kann das Theater (beispielsweise) nicht reformieren, wenn man nicht zugleich den ganzen Geist der Zeit reformiert. Es ist der Irrtum unserer Zeit, daß sie meint, man könne wesentliche Probleme aus dem Zusammenhange herauspflücken und für sich allein lösen.
Ein ‚Wort‘ ist etwas unendlich Rohes: es faßt millionen Beziehungen mit einem Griff zusammen und ballt sie wie einen Klumpen Erde. Bald wird die Erde trocken und hart — die Kugel bleibt als rotes drastisches Ganzes, aber die millionen Teilchen, daraus sie besteht, sind als solche so gut wie vergessen.
Oft überfällt dich plötzlich eine heftige Verwunderung über ein Wort: Blitzartig erhellt sich dir die völlige Willkür der Sprache, in welcher unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses unseres Weltbegriffes überhaupt.
Ich habe oft bemerkt, daß wir uns durch allzuvieles Symbolisieren die Sprache für die Wirklichkeit untüchtig machen.
Du bist ein Gymnaseweis, mein Lieber!
Charleytantismus der Bühne.
Ein Diletalent.
Man müßte neue Interpunktionen erfinden, die gewissen Willensrichtungen entsprächen: z.B. Die Fortsetzung davon <: (in dem Sinne von: Die Fortsetzung davon müßte sein ), als Optativzeichen = (man) 101 müßte, sollte haben, sein usw. Die Umkehrung :> = dürfte nicht sein, sollte nicht sein.
Erst das Wort reißt Klüfte auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sprache ist in unsere termini zerklüftete Wirklichkeit.
Der Ausdruck ‚Lieber Gott‘, über den schon Nietzsche spottet, mußte in der Tat dem Deutschen zu erfinden aufgespart bleiben. Es sollte ihm nur einmal aufgehen, wie er sich selbst damit den Blick für die unaussprechliche Gewaltigkeit und Fürchterlichkeit des Weltganzen verdirbt, wenn er dessen höchster Personifikation das vertrauliche Wörtchen ‚lieb‘ voransetzt.
Unter bürgerlich verstehe ich das, worin sich der Mensch bisher geborgen gefühlt hat. Bürgerlich ist vor allem unsere Sprache: Sie zu entbürgerlichen die vornehmste Aufgabe der Zukunft.
Es gibt gewisse Ausdrucksweisen von seltener distanzierter Schönheit und Vornehmheit, die nur zwischen dem fremden Sie und dem vertrauten Du möglich sind: in jenen köstlichsten Zwischenstadien der aufblühenden Liebe, wo das Herz schon Du sagt und der Mund noch Sie.
‚Ewiger‘ Schnee, welch ein gütiges, liebenswertes Wort! Lassen wir es ja stehen, der Wissenschaft zum Trotz, der guten alten Zeit zur Ehre. 102 Gestorbenes Wort: Zufall.
Prüfe gelegentlich deine Adjektiva nach.
Statt sehr geehrter Herr! könnte man doch viel einfacher schreiben: 5 e! Und statt hochachtungsvoll 2 o.
Das tränensäcksische a .
Gewöhnen wir uns den Superlativismus ab. Schreiben wir nicht mehr geehrtest, ergebenst, achtungsvollst, herzlichst und schönst. Schließen wir nicht mit tausend Grüßen, sondern mit gar keinem; denn ein Brief, der den Namen verdient, ist doch an sich schon der Gruß. Umarmen wir uns auch nicht mehr brieflich — ich rede natürlich hier stets nur vom Briefwechsel unter Männern —; wenn ich schreibe: ich umarme Dich, so male ich damit ein Bild, so wird durch die Niederschrift aus einer im Leben spontanen Handlung eine starre Pose. Seien wir nicht so gedankenlos gerade in Herzenssachen.
Beim Dialekt fängt die gesprochene Sprache erst an.
Der österreichische Dialekt ist darum so hübsch, weil die Rede beständig zwischen Sichgehenlassen und Sichzusammennehmen hin und her spielt. Er gestattet damit einen durch nichts andres ersetzbaren Reichtum der Stimmungswiedergabe.
Die meisten Menschen sprechen nicht, zitieren nur. Man könnte ruhig fast alles, was sie sagen, in Anführungsstriche 103 setzen; denn es ist überkommen, nicht im Augenblick des Entstehens geboren.
Man mag sagen, was man will, die Menschen tun so und so oft auch nichts andres als — bellen, gackern, krähen, meckern usw. Verfolge nur einmal die Tischgespräche einer Kneipe, die Ausrufe des Wirts, der Kellner, der Kartenspieler, kurz, all das Geschwätz, was nichts weiter ist noch sein will als Essen, Trinken, Schlafen oder irgend eine sonstige einfache Lebensäußerung.
Ich mag Worte wie gleichwohl oder immerhin gern leiden; denn sie erlauben, nach etwas Abfälligem noch eine Menge Anerkennendes zu sagen.
Welche und derselbe sind durch unsere besten Prosaiker hundertmal geheiligte Wörter, welche die modische Abneigung der ‚Jetztzeit‘ ertragen können. Derselbe , dagegen sich heute der überlegene Spott noch des armseligsten Skribenten richtet, ist nicht schlechter und nicht besser als eine Unmenge anderer deutscher Wörter. Dem Stilisten bedeutet jedes Wort solcher Art eine Möglichkeit mehr, und dem papierdeutschfeindlichen Sprachreiniger kann nicht entgehen, daß just dieses derselbe in Mundarten — man denke an z.B. selch, sell, dersöll — ein höchst lebendiges Dasein führt.
Gott ist nur ein Wort für ‚sich‘. Das Tier hat keines dieser beiden Worte. Es ist wortlos sowohl Ich wie Gott, das Wort erst spaltet das Leben in Ich und Gott. 104 Kritik der Sprache ist zuletzt auch nur ein Gesellschaftsspiel. Es gibt kein Wort, das außerhalb der Sprache noch irgendwelchen Sinn ergäbe. Wer sich außerhalb der Sprache setzen möchte, findet keinen Stuhl mehr. Er kann nicht einmal mehr sagen: nun weiß ich wenigstens, daß Wissen Unmöglichkeit ist. ‚Wissen‘ ist so gut eine Spielmünze, wie ‚sein‘, wie ‚Unmöglichkeit‘ wie ‚Sprache‘, wie ‚außerhalb‘. Es ist dafür gesorgt, daß wir die ‚Welt‘ nicht in die Luft sprengen. Ich nenne diese widerspruchslose Ohnmacht in Dingen wirklicher, nicht nur scheinbarer Erkenntnis manchmal bei mir: die Selbstversicherung Gottes. Sie ist eines Gottes würdig.
‚Er gibt Frieden‘ (schreibt Amiel) ‚und das Gefühl des Unendlichen,‘ Welche Zusammenstellung, nur daraus erklärlich, daß der Begriff des Unendlichen noch nie erlebt wurde. So können Menschen Jahrhunderte lang ein Wort voller Pathos brauchen, ohne je von seiner ganzen Bedeutung ergriffen worden zu sein, ja, ich behaupte, manche Worte können nur solange gebraucht werden, als ihr möglicher Sinn nicht völlig zu Ende gedacht wird. Wer ‚Gott‘ siehet, stirbt.
Philosophien sind Schwimmgürtel, gefügt aus dem Kork der Sprache.
Große geschriebene Worte sind vergeistigter Zeugungsakt in perpetuum.
Die schlimmste Folge demokratischer Anschauungsweise ist, daß nun auch die Worte alle ‚gleich‘ gewertet werden.
105 Und doch ist jedes Wort in dem Augenblick, wo es gedacht, gesprochen, geschrieben wird, ein Individuum für sich und nicht einmal demselben — vor oder nachher geborenen — Wort desselben Mundes, desselben Gehirns je irgendwie gleich. Wenn einer sagt: ich glaube dies und das, und sein Nachbar hört das, so kann das sein, als ob der eine sagte: Himalaya, und der andre hörte: Schneehaufen.
Die gleichen Worte sind einander nicht gleich. Es gibt keine Tautologie. Sondern alles ist pro — cessus.
Nicht nur jedes Gleichnis hinkt, sondern auch jede Gleichung.
Es gibt gar keine Worte, die bloß Worte wären. Sondern jedes Wort ist von vornherein ein — höchst individuelles — Urteil . Man glaubt, a sei gleich a. Eine vollkommene Ungeheuerlichkeit.
Freuen wir Deutschen uns, daß unsere Sprache die Sonne uns als ein Weib schenkt und lehrt. Daß sie der schlichteste Sinn bei uns als — Mutter empfinden darf. Und daß wir so um sie im Reigen der Fixsterne all unsere ewigen — Mütter schauen und verehren dürfen.
In dem lateinischen Wörtchen ‚duo‘ ist nur das deutsche Du sichtbar enthalten; das ‚Ich‘ ruht unsichtbar und doch ewig lebendig darin, wie unter Menschen das geliebte Ich im Herzen des liebenden Du. 106 Wer konversiert, der spricht nicht.
Zitate sind Eis für jede Stimmung.
Impressionismus — Eindrucktum.
Groß betrachtet ist alles Gespräch nur — Selbstgespräch.
Welch ein Unterfangen, sich hinter Worten verstecken zu wollen! Man ist ja — diese Worte selbst.
Wenn ich bei einem Schriftsteller auf jeder Seite ‚die die‘ lese, so kann mir schon übel werden. Wozu hat der liebe Gott das schöne Wort ‚welche‘ geschaffen? Aber rede einmal einer dieser time und money-Zeit von welcher und derselbe!
Gingganz ist einfach ein deutsches Wort für Ideologe.
Wie eigentümlich ähneln sich Schwyzerdütsch und Norwegisch!
Wie ist jede — aber auch jede — Sprache schön, wenn in ihr nicht nur geschwätzt, sondern gesagt wird.
Es gibt nichts Hemmenderes als Gemeinplätze und Redensarten. Jede Redensart ist die Fratze eigener Gedanken, ein ‚Mitesser‘ im Zellengewebe des Denkers.
107 Was du denkst und sagst, ist vor allem Ausdruck. Der sogenannte eigentliche Sinn des Gesagten ist nicht sein einziger Sinn.
Die Sprache ist eine ungeheure fortwährende Aufforderung zur Höherentwickelung. Die Sprache ist unser Geisterantlitz, das wir wie ein Wanderer in die unabsehbare und unausdenkbare Landschaft Gott unablässig weiter hineintragen.
Mit jedem Worte wachsen wir.
Jedes einmal ins Licht getretene Wort ist ein Vorspann (der Menschheit) für immer.
Denn jedes fordert, sobald es nur sichtbar wird, zur Produktion heraus. Man kann kein Wort lesen oder hörend aufnehmen, ohne es zugleich aus seinen Schrift- oder Tonelementen wieder zu schaffen . Beseelen heißt schaffen; ein nicht wieder beseeltes Wort bliebe ein nicht wieder geschaffenes, das heißt für den Nichtbeseeler tot.
Man nehme ein paar beliebige Wörter: Fest. Ebene. Landschaft. Musik. Ganze Welten von Schöpfungen erheben sich, indem wir sie lesen.
A.
Ich halte es für unrichtig, ja schädigend, die Orthographie in Hinblick auf die Bequemlichkeit der Vielen zu modernisieren. Die Bedeutung der in den Sprachen aufgespeicherten Erinnerungen ist nicht zu unterschätzen. Wenn ich Tier schreibe und mir das griechische 108 θηρ dabei als reiner Unterton mitklingt, wenn ein ganzes Volk, eine ganze Kultur bei diesem Worte mich an sich mahnen darf (nicht muß), so ist das etwas Seltenes und wunderlich Fruchtbares, dessen wir uns nicht mutwillig berauben sollten. Daß denen, die von der Antike nie berührt wurden, damit unnötiger Buchstabenballast aufgeladen wird, kann meiner Ansicht nach solange kein Gegengrund sein, als in geistigen Dingen den geistigen Menschen einer Nation und nicht den andern zunächst ihr Recht zu wahren ist.
B.
Vielleicht doch nicht. Der Klügere gibt nach. Dem Geistigeren ist es eine Ehre und Freude, zu verzichten, wenn dadurch Unzähligen wohlgetan und genützt wird. Du läufst Gefahr, in einer Welt, die viel zu groß und tief dazu ist, den Liebhaber zu spielen, als Liebhaber zu erstarren. Du verstehst, wie das Wort Liebhaber hier gemeint ist. Möchten wir doch alle mehr dienen, mehr helfen, statt immer so sehr auf unsere eigene Geschmacksbefriedigung auszugehn, möchten wir doch endlich diese pseudoaristokratischen Allüren überwinden und durch reifere, reichere Gesichtspunkte ersetzen.
Der Rückschritt im Alphabet der Buchstaben von R zu K kann einen Fortschritt im Alphabet der Moral bedeuten: Starr — stark.
Kongs-Enne, eines der tiefsten Wortbilder aller Sprachen.
109 Wie sich in der Wortzusammensetzung ‚Heilsarmee‘ für den Deutschen eines seiner tiefsten Eigenworte mit einem seiner weltlichsten Fremdwörter verbindet, erscheint in der Heilsarmee selbst etwas Göttliches mit etwas sehr Irdischem gepaart, das vor dem Ur-Wort ebenso als Fremd-Wort empfunden werden kann (obzwar nicht muß), wie das Wort Armee vor dem Geist unserer Sprache.
Es gibt Menschen, welche Schlagworte wie Münzen schlagen, und Menschen, welche mit Schlagworten wie mit Schlagringen zuschlagen.
Nichts ist so verbreitet wie das Schlagwort. Es wird bis in die höchsten Geisteskreise hinauf gebraucht und hängt oft noch dem Scharfsinnigsten als Zöpfchen hinten.
Mit keinem Köder fischt Mephisto so glücklich, als mit allem, was im Engeren und Weiteren unter den Begriff des Schlagworts fällt.
Man findet bei manchem Ernsthaften unserer Tage gegen gewisse Worte wie sittlich, vollkommen, edel, die Animosität dessen, dem sie irgend einmal gründlich verleidet worden sind. Das sollte nicht sein. Königliche Begriffe können nie von ihrem Glanze verlieren. Wenn es aber doch zuweilen so scheint, wen trifft die Schuld? Die Masse, die sich ihrer bemächtigt hat, oder die Paladine, welche ihnen nicht genug treue Diener, Berater und Leiter gewesen sind?
110 In einer nicht ganz natürlichen Redeweise liegt eine Gefahr für den Sprecher wie für den Hörer. Das gilt vom persönlichsten Verkehr wie von dem mit der Öffentlichkeit. So gibt es z.B. Menschen, welche immer ein wenig ironisieren. Sie nennen alles nicht so sehr beim Namen, als vielmehr bei irgend einem Spitz- oder Übernamen. Damit wirken sie kurzweilig, öfter aber demoralisieren sie, und ob auch nur um einen Schatten, sich wie den andern.
Alles Schwätzen hat zur Grundlage die Unwissenheit um Sinn und Wert des einzelnen Wortes. Für den Schwätzer ist die Sprache etwas Verschwommenes. Aber sie gibt's ihm genugsam zurück: dem ‚Verschwommenen‘, dem ‚Schwimmer‘.
Man will die deutsche Volksseele erstarken sehen, indem sie sich mehr abschließen und begrenzen soll, und vergißt, daß gerade das Unbegrenztseinwollen, das über engen Nationalitätsschranken stehen wollen ihre Haupteigentümlichkeit ist.
Man muß eine Operette wie den ‚Rastelbinder‘ von Lehar hören, und zwar in einem jubelnden Theater, — um alle ‚modernen Ideen‘ als Sentimentalität zu verwerfen. Nach einem solchen Abend könnte man sogar zu einer neuen Inquisition ja sagen.
Konfrontation ist das Einzige. Den Freiheitsschwätzer in solch ein Theater führen und nachdem die Zwerchfelle und Tränensäcke nach Schluß des ersten Aktes zu Ende gewirtschaftet haben, ihn fragen: Und das soll — regieren?
In Arco:
Jeden Freitag gibt man hier den Drehorgelmännern die Luft in Pacht.
Es ist etwas ganz Eigentümliches, wie verschieden die Menschen verschiedener Erdstriche ihre Zäune bauen. Ich erinnere mich z.B. bei Berlin keines einzigen mir zusagenden Zaunes; es gibt andere, die mich zu Tränen rühren können, wie die Steinzäune des Tessin …
Der Taler ist das einzige originelle und der lateinischen 112 Münze ebenbürtige Geldstück, das wir haben. Weshalb wir ihn auch als ‚unpraktisch‘ abschaffen.
Das Talent zur Disziplin ist die Wurzel von Preußens Größe. Möge es dies Talent feiner und feiner ausbilden und dafür lieber auf Gebieten nachstehen, wo es auf Improvisation, Ingenium, Genialität schlechtweg ankommt. Menzel ist der preußische Künstler an sich. Menzel sollte eine religiöse Formel für die Preußen werden. Denn was leistet damit der Preuße: Die ganze Vorarbeit des schrankenlosen und höchsten Genies und damit dies Genie beinahe selbst. Alles, was am Genie Fleiß ist, also vier Bestandteile von fünf mögen ‚preußisch‘ genannt werden. Preußen, wenn irgend ein Land, hat noch den Gedanken der Zucht . Hier ist sein Weg zu seiner Höhe, wie er es immer gewesen.
Darum soll Berlin das preußische Element in sich nicht abtöten, sondern steigern. Es hat es bereits zu sehr gemißachtet. Schinkel baute preußisch; es gibt nichts Herzerfrischenderes als diese so edlen, strengen, fast nüchternen Gebäude jener Zeit, an deren Stelle eine zügellose Horde von neuen Baumeistern und Aktiengesellschaften ihre wüsten Massenproduktionen gesetzt hat. Der Preuße hat keinen andern Weg zur Kunst als den der Einfachheit. Pracht wird bei ihm zu Schwulst, Luxus zu Unsittlichkeit. Er bleibe Brandenburger und sei stolz auf sein Land und seinen Breitegrad und äffe nicht in kompilatorischem Wahnsinn ihm ganz fremde Kulturen nach oder nehme sie wenigstens so weit in sich auf, daß er sie ganz aus seinem schlichten, nüchternen Geiste wiedergebäre, 113 wie es Schinkel tat, dieser Mann, den ich mit jedem neu niedergehackten Villino seiner Zeit mehr liebe.
Und dann endlich: los von diesem Prinzip, ein Haus nur aus Vorder- und Hinterwand bestehend zu bauen. Man gebe jedem Haus seine vier selbständigen Seiten wieder und erlöse es damit aus dem Zustand einer Mißgeburt — oder man komponiere ganze Stadtteile einheitlich und dann diese wieder unter einander. Man erhebe den Kasernenstil zur Höhe der Kunst. Man kann es. Man rede nicht ewig von Langweiligkeit. Wenn der Rechte es anfaßt, gibt es keine Langeweile. Was bei dem Mittelmäßigen langweilig wird, wird in der Hand des Genies zur Großartigkeit. Man räume nur mit diesem sogenannten herrschaftlichen Haus als Individuum auf.
(Staat, Stil, Sittlichkeit)
Vom höchsten Ordnungssinn ist nur ein Schritt zur Pedanterie.
Disziplin ist Abkürzung. Deshalb kommt der Norddeutsche schneller mit seiner Arbeit vorwärts als der Süddeutsche, wobei er durchaus nicht der Produktivere zu sein braucht.
Der Mensch en masse wird erst dann wieder achtbar werden, wenn er sich entschließt, neuen Adel aus sich zu züchten. Die schönsten Dinge auf Erden sind nur durch Adel möglich. Noch mehr: Der wahre Adel ist selbst das schönste Ding der Erde.
Unsere Art zu richten und zu strafen erscheint mir immer kindlicher. Ein einziger wirklicher Mensch 114 würde das alles über den Haufen werfen. Wieviel ließe sich da individualisieren !
Es müßte Anekdotenerzähler geben, die durch die Krankenhäuser gingen. Eine gute Anekdote ist ein wahres Lebenselixier. Ich glaube, ein Sterbender müßte noch lächeln, wenn er von dem französischen Landedelmann hörte, der sich nicht genug wundern konnte, als er erfuhr, daß er sein Leben lang Prosa gesprochen hätte.
Augenblicklich gibt es nur einen Feind des europäischen Friedens: England. Mit ihm ist nicht zu paktieren; darum muß es isoliert werden.
Eine der schönsten und symptomatischesten russischen Sitten ist die Anrede beim Vornamen. Eine ganze Welt von Zopfigkeit liegt in unserem Herr, Fräulein, gnädige Frau.
Der Russe hat mehr die Liebe zum Leben, wie es ist, der Deutsche (auch Ibsen, der ja aber deutsch) mehr die zum Leben, wie es sein sollte, könnte, müßte. Der ganze russische Idealismus liegt in dieser ergreifenden Versenkung ins Nächste, der ganze deutsche in diesem unausrottbaren Trachten über den ‚Tag‘ und sein Leben hinaus. Ich möchte sagen, der Drang ist hier wie dort derselbe, nur die Richtung ist verschieden.
Das macht den Deutschen von heute so unbeliebt: Er beruft sich bei jeder Gelegenheit auf seine ‚Geistesheroen‘, 115 die doch fast immer nur im Gegensatz zu ihm gelebt haben, und ist dabei genau so auf seinen Vorteil bedacht wie der Nachbar.
Wir Deutsche haben nicht nur römisches Recht, noch viel mehr römischen Geist im Leibe. Das Haupthindernis für uns, unsere ‚Seele‘ zu entdecken, ist, daß wir immer noch zu sehr darauf achten, daß alles, was wir von uns aussagen, auch ins Lateinische übersetzbar sei. Die nachwirkende Macht des römischen Imperiums bricht sich an den Grenzen Rußlands, der ersten rücksichtslos modernen Rasse.
Die sozialistische Lehre — das Brot der Armen.
Im Staat der Sozialisten wird einer auf den andern aufpassen. Und Faulenzer werden nicht geduldet, dulden sich selber nicht. Wer aber will vorher wissen, wer ein Faulenzer und wer ein — Schwangerer ist? Man würde den Schwangeren samt dem Faulenzer verurteilen und damit das Beste der Erde: das stille, langsame Reifen neuer Gedanken.
Ich habe eine furchtbare Vision: Wenn die Sozialisten zur Herrschaft gekommen sein werden, dann fängt das Blut überhaupt erst an , zu fließen.
Eure Todesstrafe, noch mehr Euer Kriegführen, Ihr Menschen, ist nicht mehr und nicht weniger als — Selbstmord. 116 Ein Volk würde ein anderes Bild bieten, wenn es wirklich ein Volk, eine einzige große Familie wäre. In einer Familie fühlt sich jedes Mitglied für das andere verantwortlich.
Alle für jeden, jeder für alle. Statt dessen lebt man in unsern großen Völkerfamilien nach dem geheimen Grundsatz: Jeder für sich: Alle für mich. Was kümmert den Bürger auf seinem Wege zum Reichtum der Mitbürger auf seinem Wege der Armut? Nichts. Aber sofort erinnert er sich dieses Mitbürgers, wenn seine Ruhe und sein Besitz bedroht werden. Dann ruft er ihn auf ‚zum gemeinsamen Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind‘. Dann zieht er plötzlich den Bruder, den Blutsverwandten, den armen Verwandten aus seinem Dunkel hervor. Und seine plötzliche Begeisterung wirkt ansteckend, — mein Gott, gewiß, zwar, freilich, allerdings, indessen, gleichwohl, — kurz, man ist kein Unmensch. Vergessen wir das Vergangene! Auf in den fröhlichen Krieg! Schulter an Schulter! Ein Volk, Ein Herz, Ein Schwert …
Im Himmel, könnte man sagen, wird es wenigstens keine Briefe mehr geben. Man wird zwar seine sämtlichen Briefträger dort wiederfinden — denn der Briefträger kommt eo ipso in den Himmel — aber sie werden alle selige Engel und außer Dienst sein und nicht mehr das unberechenbare Schicksal deiner Tage und Nächte.
Alles Jüdische ist vorwiegend destruktiv. Jesus, der größte Jude, ist auch der größte Destruktor der 117 ‚Welt‘. Spinoza ist nichts andres und wird darum auch von dem jüngsten jüdischen Destruktor Mauthner in seiner Eigenschaft als Antiteleologe über alle andern Denker erhoben. Mit Mauthner selbst kommt vielleicht die tollste Zerstörung in Gang, die die Geschichte des Geistes bisher erlebt hat. Man halte wider diese dämonischen Revolutionäre den Moralkritiker Nietzsche und man hat den ganzen Gegensatz zweier wie Feuer und Wasser verschiedener Welten. In Nietzsche ist alles ein Schaffen, Bauen, Konstruieren, Befehlen, Bestimmen; der Zweck heiligt ihm alle Mittel, er lebt und stirbt für selbstgeschaffene, irdische, hiesige Ideale. Er will das Furchtbare der menschlichen Existenz durch den Willen adeln, formen, überwinden. Alles in ihm ist Zuchtgedanke. Die Juden sind die Opponenten der Schaffenden, ihre Korrektoren, ihre bösen Gewissen.
Es ist wundervoll, in dieses wahrhaft weltgeschichtliche Dissonieren hineinzuhorchen.
Eine interessante Mischung von beiden ist der Mystiker, ist für mich vor allem Meister Ekkehart. Spinoza war so nahe an der Mystik, wie nur ein jüdischer Denker sein kann, aber er betrat ihr Reich nicht. Er war zu klug dazu, oder, anders ausgedrückt: die Leidenschaft des Schaffenden war nicht so sehr in ihm, wie die Leidenschaft des Erkennenwollenden. Daher auch seine Heiterkeit. Willenspassion und Heiterkeit vertragen sich nur sehr zeitweilig, das wußte auch Schopenhauer. Spinoza sah wie Christus über die ‚Welt‘ hinweg. Den Germanen aber ist diese ‚Welt‘ doch zu sehr selbst Gegenstand, Kunstmaterial, Entwickelungsstoff, sie wollen nicht so sehr 118 über die Welt hinaus, als in sie hinein. Goethe nahm sich von Spinoza die Freiheit, das gute Gewissen. Spinoza mußte ihm eine Bürgschaft mehr sein, daß dieser verhaßte Wahn von einem außerweltlichen Gott eben nur ein Wahn sei. Und nun mit dieser bestärkten Souveränität in sich ging er hin und wirkte sein Leben mit jedem Atemzuge in das Leben hinein, das er um sich vorfand, befruchtete sich aus ihm und es mit sich und wurde so ‚in der Beschränkung‘ der ‚Meister‘, als den wir ihn immer wieder erleben.
Alles öffentliche Leben ist wenig mehr als ein Schauspiel, das der Geist von vorgestern gibt, mit dem Anspruch, der Geist von heute zu sein.
For the happy fews — sollte das doch aller Weisheit Schlußwort zur Öffentlichkeit sein?
Für mich begehre ich nicht viel, wenn ich aber Talente sehe, die ein großes Volk in seiner Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Kleinlichkeit verkümmern läßt, dann steigt mir der Zorn auf.
Ich kann an Polen nicht ohne ein tiefes Unbehagen, ja nicht ohne Grauen denken. Ich möchte lieber selbst ein Pole sein, um glühend an der inneren Wiedergeburt dieses Volkes mitzuarbeiten, als so von außen dem Schauspiel seiner Schmach und Schwäche beiwohnen zu müssen.
Am Vollblut spürst du sofort, was Adel ist, beim Menschen wirst du's nicht gelten lassen. 119 Wohin käme ein stiller Beobachter, wenn er die gegenwärtigen deutschen Zustände an einigen großen Gedanken Paul de Lagardes messen, nein, nicht nur sie messen: wenn er sich unwillig von allem gegenwärtigen Leben zurückziehen wollte, weil es ihrem erhabenen Ernste so gar nicht entspricht? Dahin, wo er am wenigsten verharren möchte: ins Land der Verbitterung, der Lebensfeindlichkeit, der Verneinung. — Aber eine beständige Trauer, wenn er bedenkt, welche Wege die Entwickelung hätte einschlagen können und welche sie eingeschlagen hat, wird ihn nicht verlassen, und sie und ihre geheime Wirkung wird der Tribut sein, mit dem sich der Geist eines Gesetzgebers wird bescheiden müssen, den die Deutschen nicht verdient haben.
Organisation ist das große Wort, dem die Zukunft gehört.
Darf einem die Organisation der römischen Kirche keine Bewunderung einflößen — als eine der wenigen großen Machtgebilde auf Erden, die dauern?
In der Gesellschaft läuft alles darauf hinaus, daß einer vor dem andern den Hut abnimmt. ‚Ich nehme den Hut vor dir ab, damit du den Hut vor mir abnimmst.‘ Ein stillschweigendes Übereinkommen, das den, der klug und ‚liebenswürdig‘ in seinem Sinne handelt, in der ‚allgemeinen Achtung‘ außerordentliche Grade erreichen läßt.
Du erklärst, du fühlst nicht sozial, du verachtest deine Mitmenschen fast mehr als daß du sie liebst. Gut. Ich 120 verlange weder soziales Gefühl von dir, noch Verehrung des ‚Nächsten‘. Aber wenn du neben dir einen Hund verhungern siehst, so wirst du ihm von deinem Essen mitteilen, das versteht sich von selbst. Nun, ich verlange nur, daß du mit einem Mitmenschen fühlst wie mit einem Hunde, nämlich: Im Fall der äußersten Not: solidarisch.
In New York haben sich die Kellner ein Klubhaus gebaut. Man sollte sie auch bei uns dazu ermuntern und ihnen von jetzt ab kein Trinkgeld mehr (welch überlebte Bezeichnung), sondern nur noch Klubgeld geben.
Ein durch und durch kultivierter Kellner ist ein Kunstwerk, das nicht nur in Wien seine Lobredner haben sollte. Er hat etwas von einem Philosophen, von einem Arzt, einem Soldaten. Ganz anders, wie der Friseur etwa, der den Komödianten nie ganz los wird, oder die Kellnerin, die doch eben immer ein Weib bleibt, das heißt ein Geschöpf, von dem vollkommene Sachlichkeit weder verlangt werden darf noch will. In der großen Universität der täglichen Angelegenheiten, an der ich mir, als an einem Parallelinstitut der ehrwürdigen Alma Mater, das halbe moderne Leben neu erzogen denke, sollte der Lehrstuhl für die Wissenschaft von den Pflichten und Rechten des Kellners besonders sorgfältig besetzt werden. Wann übrigens wird diese Universität, nach der unser ganzes Leben von heute ruft, und zu der bereits unzählige Ansätze vorhanden sind, ins Leben treten?
121 Es ist ganz gewiß, daß die Menschen erst anfangen werden, im Geist zu leben. Hat erst die demokratische Bewegung das Ihre getan und neue Intelligenzen und Energien heraufgebracht, so wird es nicht bei der Langweiligkeit und Mittelmäßigkeit der heutigen Geschäfte bleiben. Die Phantasie wird ihr großes Zeitalter antreten, Organisationen werden entstehen, an die heut nur die Reichsten auch nur zu denken wagen, und werden sich halten: weil die Lust des Gehorchens um wichtiger Ziele willen dann stärker geworden sein wird, als die Lust, die heute regiert, die Lust zur größtmöglichen Behaglichkeit, im sozialistischen, wie im bourgeoisen Sinne. Weil man dann wieder jene höhere Art des Genießens, des Lebensgenusses verstehen wird, die unter Napoleon zuletzt halb Europa erfüllte, und in deren Bann unzähliges Volk allen Schlages und Ranges wieder einmal bewies, daß es noch ein ganz anderes Glück bedeuten kann, mit einem ‚vive l'empereur‘ auf den Lippen zu sterben, als mit einem ‚ni Dieu ni Maitre‘ zu leben.
Manche Leute müssen über ihre Dummheit durchaus öffentlich quittieren.
Einen Krieg beginnen, heißt nichts weiter, als einen Knoten zerhauen, statt ihn auflösen.
Man kann ein halbes Leben lang den Krieg verwerfen — bis man eines Tages erkennt: nein, der Krieg gehört vielleicht noch immer unter die tragischen Selbstzuchtmittel der Menschheit. Und furchtbarer als der Krieg bleibt, daß selbst dieses schreckliche 122 Mittel dem Menschen nicht mehr nützt, als es geschieht; daß es ihn wohl tüchtig erhalten mag, im gegebenen Augenblick in den Tod zu gehen, aber daß es ihn nicht tüchtiger dazu macht, in sich zu gehen und damit in den Tod seines bisherigen Lebens.
Lehrer-Komödie: Die Armut der Lehrer, während die Staaten Unsummen für die Wehrmacht hinauswerfen. Da sie nur Lehrer für 600 Mark sich leisten können, bleiben die Völker so dumm, daß sie sich Kriege für 60 Milliarden leisten müssen.
Alles Entscheidende kommt heute von Europa. Sogar die Entscheidung, inwieweit Asien entscheidend war.
Deutschland, der große Lyriker unter den Völkern.
Jede ernsthafte ‚Bewegung‘ ist tüchtig, aber Tüchtigkeit ist vielleicht das drittletzte, nicht das letzte Wort der Welt.
Ein gewandter Dieb ist ein — teures Kunstwerk.
Wer den Menschen mehr denn billig als Einzelperson nimmt, wird nur zu oft an ihm und mit ihm scheitern. Der Mensch ist nicht nur Einzelpersönlichkeit, sondern zugleich Volkszelle, wie die Volkspersönlichkeit zugleich wohl wieder in einer höheren Einheit aufgeht, usf.
Der moderne Jude — als Denker — wird selten glauben, das heißt ahnend ergreifen können. Aller Gottesgedanke 123 könnte nämlich, so fürchtet er, doch am Ende nur die feinste Blüte einer großen — Dummheit sein. Sich dem Hineinfall auf eine Dummheit aber auch nur auszusetzen, dünkt seiner mißtrauisch gewordenen Seele unerträglich. Er hat, wie Peer Gynt, nicht den Mut durch das Anonyme hindurch zu stürmen, er ist eben überall kein Krieger, er möchte gern um es herum. Aber man muß mitten in den Nebel hinein, das ist es. Und: Gott läßt sich (so wenig wie Goethe) — Brillen gefallen. Und: ohne ein gewisses Maß von Blindheit ward noch nie ein Seher.
Damit, daß der Jude sich immer geistig überlegen dünkt, kommt er nie zu überlegener Geistigkeit.
Ich glaube nicht, daß ein andrer Mensch meiner Zeit so am Juden gelitten hat wie ich, und zugleich so viel von ihm hält. Dies mag mir ein Recht geben, an sein Problem zu rühren.
Oh, wenn erst die Leidenschaft für den Planeten als solche uns ergriffen haben wird, der große amor nostro, dann wird es auch keine Kriege mehr geben, dann werden ungleich gewaltigere Unternehmungen diese armseligen Kraftproben einer noch dunklen Periode überflüssig machen! Denn freilich: das bittere Zuchtmittel des Krieges durch philanthropische Mahnungen nur einfach abschaffen zu wollen, geht nicht an. Zuerst muß der Geist der Völker den neuen Aufgaben, den neuen, höheren Ambitionen gewachsen sein, zuerst muß ihn der Furor jener neuen Anstrengungen, Wagnisse 124 und Opfer anfallen, ehe er den alten furor bellicus entlassen darf, ehe er von sich sagen darf: ich habe den Krieg wahrhaft — überwunden.
Napoleon war ein Naturereignis. Ihn einen großen Schlächter schmähen heißt nichts anderes, als ein Erdbeben groben Unfug schelten oder ein Gewitter öffentliche Ruhestörung.
An Napoleon muß man im Gebirge denken, den Blick auf einen Teil der Erdkarte gerichtet, ein Panorama vor sich mit Bergen, Tälern, Dörfern und Städten. Und dann sich vorstellen, wie dieser eine kleine Korporal in die Breite solchen Lebens mit seiner einen kleinen Faust gegriffen, wie er, gleich dem Monde das Meer, all dies schwerfällige, schwerflüssige Leben übermächtig zu sich emporzwang, so daß es auf eine Weile in ihm seinen natürlichen Mittel- und übernatürlichen Höhepunkt fand.
Ich sehe auf Reisen fast alle meine Bekannten wieder. Denn es gibt nur etwa 100 Typen in dem Milieu, in dem ich aufgewachsen, und sie sind immer und überall. Und oftmals rede ich einen Menschen an, aber es ist nur der mir vertraute Typus, nicht das bekannte Individuum selber.
So eine Wirtin hat immer die ganze Menschenkarte vor sich, vom jüngsten Backhuhn beiderlei Geschlechts bis zum ernsthaftesten Filet-Beefsteak.
Die ‚bessere‘ Gesellschaft ist die eigentlich und im tiefsten Sinne unwissende und ungebildete.
125 Nicht daß ein Fürst in allen Stücken der Seinen Herzog sein möchte, ist der Schade, sondern wenn er es seinem ganzen Vermögen nach nicht sein kann, nicht ist . Nicht nur einmal — zehnmal Absolutismus — und nicht Parlamentarismus, wenn ein wirklicher Herr und Herrscher in Frage kommt.
Eine Zeit des Geistes wird von selbst zur Monarchie zurückkehren. Laßt erst einmal Einen Geist über die Völker kommen, und sie werden nicht mehr begehren, als sich in ihren geborenen Führern auch sichtbarlich zu gipfeln.
Der Deutsche ist imstande, um eines Hiatus willen eine Wahrheit nicht zu sagen oder sie minder schlagend zu sagen.
Wir Deutsche leiden alle an der Hypochondrie der ‚Verpflichtungen‘. Sie macht unsere Stärke und unsere Schwäche.
Die Zeitung ist das Hauptspielzeug des europäischen Negers. Um die Zeitung verkauft er dem schlauen Händler Ahriman mindestens das eine Horn seiner Weisheit.
Jede Zeit schweigt zunächst das Größte tot, das in ihrem Schoße ruht; geht dies nicht länger an, so verleumdet sie es, verzerrt es und sucht es auf alle Weise zu vernichten.
126 Was das Fazit der europäischen Rüstungen sein wird? Der möglichst vollkommene déluge après nous.
Man mag in den Rüstungen eins nicht übersehen: Das Züchtungsmoment. Ist der Mensch zur Kultur noch nicht reif, so wird er hier wenigstens noch auf eine Spanne durchs Feuer der Disziplin geschickt. Preußens Mission z.B. ist gewißlich nicht nur die der Geschichtsbücher. Wer einmal ein echter Preuße gewesen, der — könnte jemand zu sagen versucht sein — wird so leicht nicht wieder verlottern, post mortem prussianam suam (in seinem späteren Erdenleben).
Wenn jemand gegen etwas vorgeht, so geht er nicht gegen das ganze Etwas vor: denn das sieht er dann gar nicht mehr. Sondern er sieht dann nur noch das ‚rote Tuch‘ in dem Etwas. Nie wird gegen ‚etwas‘ vorgegangen, immer nur gegen rotes Tuch. Und wenn zwei Völker gegen einander ziehen, so stürzt ein jedes bloß gegen rotes Tuch: denn wie könnte ein Volk wider ein andres Volk sein, wenn nicht die Helden vom roten Tuch wären, wenn nicht unaufhörlich von hüben und drüben auf rotes Tuch aufmerksam gemacht würde, so daß die Völker, die armen Stiere, zuletzt wild werden und einander anrennen.
Man wirft dem Schriftsteller wieder einmal vor, daß er sich zu wenig mit Politik beschäftige. Er soll Partei nehmen; und wer da nicht ‚wählt‘, wird leicht Verräter gescholten. Aber wie? Wählt er wirklich 127 nicht, ergreift er wirklich keine Partei? Bilden die Stillen im Lande keine Partei, und ist es ihre Schuld, daß die höchsten Geister, die sie als Führer verehren und wählen, im Land- und Reichstage sich nicht einordnen lassen, weil sie im Parlament der Menschheit sitzen?
Man kann an Völkern und Vaterländern auf mancherlei Weise bauen, es gibt nicht bloß die Schöpf- und Schöpferkelle der Wahlurne.
An der Vergeistigung, an der Verchristlichung seines Vaterlandes arbeiten, das heißt es lieben, das allein heißt mehr und anderes, als seinen unaufhaltsamen — Verfall wollen und mitbewirken.
Man dient seinem Volke auf mancherlei Weise und nicht am schlechtesten, indem man seinem politischen Leben in toto widerspricht. Das will nicht sagen, man glaubt, es könne anders sein, ja nicht einmal immer: es soll anders sein, als es ist. Geschichtliche Entwickelungen müssen ihren Gang gehen und ihre Zeit haben, und wer es da z.B. für sonderlich wahrscheinlich hält, soviel Kriegsmaterial zu Land, Luft und Wasser, wie gegenwärtig des Losbruches harrt, könne dem Versucher eines Tages in den Hals zurückgeworfen werden, der ahnt weder, wie die Linke noch wie die Rechte Gottes arbeitet. Er wird mit seinem frommen Wunsch ebenso eine Ohnmacht sein, wie der wandellose Wunsch und Glaube des Frommen, daß die Menschheit eine Gemeinde des Christus werde, eine Macht ist, die zwar bekämpft, aber nie gebrochen 128 werden kann und die im himmlischen Jerusalem, wie es der Apokalyptiker nennt, das Endziel ihrer Polis weiß. Nicht also um fromme Wünsche handelt es sich, wenn einer auf seinen Wahlzettel des großen Meisters Namen schreibt. Sondern um Zeugnisablegung inmitten einer Welt in gewissem Sinne der Welt sich Entfremdenden, Welt-Fremder.
Eine Artisten-Elegantine und ein aristokratischer Spätling ereiferten sich unter anderem über die ‚Extravaganzen‘ der Heilsarmee. Sie hatten noch immer nicht begriffen, daß mit Fug nur verurteilen darf, wer selbst etwas zu schaffen vermag und gewillt ist, und daß es unter Umständen mehr bedeuten kann, der ‚dumme August‘ in der Manege als der Baron in der Loge zu sein.
Unsere Dienstboten sind nicht Seelen, mit denen wir uns vorübergehend vereinigen, um es bequemer zu haben, sondern solche, denen wir, wenn irgend möglich, noch mehr und besser dienen sollen, als sie uns. Nicht umsonst und ohne Sinn muß die eine Seele noch äußerlich dienen, während die andere schon mehr innerlich dienen kann und darf. Sie muß noch grobe Arbeit verrichten und hat noch wenig Einsicht in den Sinn der Verschiedenheit aller Lebensverhältnisse; wir aber sind zu Feinarbeit — auch an ihnen — verpflichtet, wir wissen schon mehr vom Sinn des Lebens und müssen sie darum mit soviel Weisheit und Liebe behandeln, wie uns nur immer möglich ist. Auf sichtbare Erfolge müssen wir dabei ebenso verzichten lernen, wie wir uns davor zu hüten haben, sie unseren 129 Erziehungswillen allzusehr merken oder gar spüren zu lassen. Wenn wir nur nie die Achtung vor der unsterblichen Individualität, die in ihnen verborgen, verlieren und nie die Liebe zu ihnen als ewigen Geschwisterwesen, wird vieles Mögliche an ihnen vermieden und getan sein.
Das einzige, was uns in die Zukunft hineinhelfen mag, sind einzelne glückliche Geburten; ein tragischer Trost für einen allgemeinen Mißwachs.
Lustspielfigur. Letzte Menschen (Erfüllung des historischen Zeitalters). Professor, der eine Geschichte des Wörtchens ‚und‘ schreibt. Der Historiker des Wörtchens ‚und‘.
Muß nicht der Tod etwas sein, ohne das der Mensch nicht leben möchte? Ohne das er es nicht aushielte zu leben? Nein, ich will nicht unwillig sterben, ich will freudig und dankbar sterben, dankbar für die Möglichkeit, mich denen anreihen zu dürfen, welche als Opfer gefallen sind, um mit ihnen und für sie gegen die Lebendigen zu protestieren, welche die Erde zu einem schlechteren und unanständigeren Aufenthalt machen als das Grab.
Der Tag ist abgegriffen, laßt uns in den Morgen zurücksteigen.
Welcher Mensch kann das Große und Echte lieben, ohne das Kleine und Unechte zu hassen? Antwort: Der ‚moderne‘ Mensch.
Das Resignieren der heutigen Menschen ist bereits eine Gewohnheit geworden wie Essen, Trinken und 131 Schlafen; und deshalb ist es so gemein. Was für ein träges, ungeistiges Tier ist doch noch der Mensch und wie sehr bedarf es großer und größter Schrecken und Trübsale, damit er nicht immer wieder in Schlaf versinke!
Man könnte Kulturperioden von ungeheurer Größe träumen: Aber, so wie die Masse der Menschen bewillt und begabt ist, wird sie zur Weisheit wohl erst durch Müdigkeit kommen, erst dann, wenn es sich der Weisheit nicht mehr verlohnt.
Oder sollte sie jemals (wieder) einsehen, daß Größe nicht so nebenbei im Weiterabwickeln täglicher Geschäfte und Notdürfte erreicht werden kann? Frage doch herum, wer sich heut noch für solche Riesenorganisationen, bei deren Heraufführung ganze Generationen keine Rolle spielen dürften, erwärmen möchte? Der eine wird dich verständnislos anblicken, der andere seine Geschäfte, den täglichen Zwang seines Lebens vorschützen, der dritte wird gerade verliebt sein, der vierte ist Künstler und hat keine Zeit, der sechste glaubt nicht an deinen Traum, der siebente sagt: er interessiere sich lediglich für sich selbst und seine eigene Vervollkommenung, in ihm könne Gott allein verwirklicht werden, es gäbe kein Ziel für ‚die Menschheit‘, nur sein Ziel und darum sei er für keine Utopie, als welche den Menschen nur von sich und seiner innersten eigentlichsten Aufgabe, sich in sich selbst zu vollenden, weglocken könne. Und dieser siebente hat vielleicht Recht. Jedenfalls solange Recht, bis ihm ein höheres Recht, das heißt eine höhere Macht das Heft aus der Hand nimmt. Nämlich der Despot, der zugleich 132 Genie, das Genie, das zugleich Despot ist. Der König Platons.
Der einzige Baumeister, den es noch geben kann. Wo ist er? Wo kann er kommen? Der letzte Ort, wo er noch möglich gewesen wäre, war Rußland. Aber mit der Unfähigkeit der dort Regierenden hat der Mensch eine seiner außerordentlichsten Möglichkeiten verloren. Denn freiwillig wird kein Volk mehr zur Kastenbildung zurückkehren; dafür ist es das Ungetüm mit Millionen Köpfen, das nur Sinn für sich und seine nahen Interessen, das keinen Ehrgeiz und keine Schöpfersehnsucht hat. Das Wirtschaftliche tritt mit ihm in sein Recht. Das Ideal eines bequemen Erdenlebens anstelle jeder Ambition, etwas Höheres aus ihm zu machen, aus ihm, das als solches doch nur Stoff ist, Material, aber kein Ziel. Der Mensch sinkt damit auf die Stufe der Tierheit zurück , während er sich zum Bürger eines irdischen Himmelreichs zu erheben glaubt. Das Volk will endlich nur noch sich selbst allein. Eine Herde, kein Hirt. Damit dankt der Mensch als Schöpfer ab. Der Geist wird über diese endlose Horde noch ein letztes Abendrot ergießen, dann wird auch er dumpf und verstört die Höhlen der Einzelseele aufsuchen und eine Gemeinde von Mystikern und Sektierern erwecken. Eine Anzahl wunderbarer Individuen werden dann vielleicht noch über die Erde wandeln: Die großen Verzichter und Durchschauer des Traumes Mensch, einsame Halbgötter, inmitten des Fiaskos des Versuchs der Erde, im Menschen zum Kunstwerk zu werden. Ja, vielleicht werden diese Menschen, die wie riesenhafte Heilige dann das Fazit aller irdischen Historie in sich tragen, die größten 133 und erschütterndsten Menschen sein, die je gelebt haben. Aber kein Tempel ist um sie — auf unendlichen Trümmern schlagen sie ihre Harfen der auch sie einst verschlingenden Nacht entgegen.
Ich glaube, wir haben alle als Erbe unserer Zeit eine schlimme Laxheit mitbekommen. Das Verständnis für unerbittliche Forderungen ist mehr und minder gesunken. Beweist das nicht, daß der Mensch die Vorstellung eines gerechten Gerichts nach dem Tode (vollstrecke sich das nun selbst mit Naturnotwendigkeit oder werde es vollstreckt) — braucht? Braucht — und sei es nur: um nicht unter seiner eigenen Möglichkeit zu bleiben? Wird man wirklich seine Persönlichkeit mit solcher Inbrunst ausbilden, wenn man sie nicht — für eine unbekannte Zukunft ausbilden zu müssen meint? Was sind alle Appelle der Erde gegen jenen einen schauerlichen Appell der Ewigkeit?
Also Furcht, wird mancher sagen. Nun ja, auch das. Wie wäre Großes entstanden, ohne dies Ingrediens? Und wäre es etwas Schimpfliches, sich vor dem Fürchterlichen — und ist das Geheimnis der Welt, des Lebens nicht fürchterlich? — zu fürchten? Man führt heute die ‚Entstehung der Religion‘ (welch ein Ausdruck!) vielfach auf Furcht zurück. Nun, ihr armseligen Psychologen: nicht diese Furcht war das Trübselige, sondern euer Mangel an Furcht ist es, euer Mangel an Gefühl, Phantasie, Überlegenheit. Jawohl, Überlegenheit. Ich kenne nichts Untergeordneteres als den Menschen, dem Wissenschaft irgend etwas erklärt . Der Wissenschaft nicht bloß als eine gewaltige und 134 fruchtbare Übung des Menschengeistes betrachtet, nein: als etwas, das ihm wirkliche Wesensaufschlüsse über Welt und Leben gibt. Denn dies etwa, daß alles nach denselben gleichen Gesetzen vor sich gehe, ist doch kein Wesensaufschluß! Oder den Bau des Menschen etwa bis auf seinen letzten Zellenbaustein beschrieben haben, ist doch noch kein Wesensaufschluß! Das ist Handwerkerei, eine Sache mit goldenem Boden, ganz gewiß; aber Joseph war Tischler, nicht Jesus. Was weiß Joseph, der Handwerker, vom Geist und Wesen der Dinge?
‚Geist‘ ist heute Marktware, wer redet noch davon? Ein wirklich eigener Gedanke aber ist immer noch so selten wie ein Goldstück im Rinnstein.
Wir müssen aus der wissenschaftlichen Idylle endlich wieder ins Große kommen. Wieder Atem holen lernen, das ist es. Das Netz, das die ‚Geschichte‘, die ‚Weltgeschichte‘ über uns geworfen, als Netz erkennen und seine Maschen so weit machen, daß wir jeden Augenblick frei sein können, den wir frei sein wollen.
Machen wir uns doch von der Tyrannei der Geschichte frei. Ich sage nicht: von der Geschichte, ich sage: von der Tyrannei der Geschichte.
Die Zärtlichkeit, womit sich der moderne Mensch behandelt, ist erstaunlich. Was alles ist nicht ‚für sein Innenleben wichtig‘! Man liegt heute auf den Knien vor diesem seinem ‚Innenleben‘. Aber es ist 135 nur eine andre Art Mops oder Affenpintscher, wofür nun die ganze Welt als Kißchen und Zuckerchen gerade gut genug ist.
Unsere Zeit, welche die interessanten ‚Aberglauben‘ früherer Zeitalter selbstbewußt entwertet, ist selbst nur weniger interessant, keineswegs weniger abergläubisch, und wird einst ungleich anderer Nachsicht der Betrachtung bedürfen, wenn spätere Geschlechter eingesehen haben werden, daß dem Menschen, unbeschadet aller begreiflichen und jeweils sogar notwendigen Vordergrundsoptiken, als letzte Hintergrundstimmung doch nur Eines ziemt: Bei Gott kein Ding für unmöglich zu halten.
Optik! Optik! Wenn ihr euren ganzen ‚heutigen‘ Geist nur einmal von oben sehn könntet. Eure Wissenschaft, eure Kunst, euer tägliches Leben! Nicht um dies alles gering schätzen, o nein, nichts weniger als gering, sondern um es richtig schätzen zu lernen. Eine Menschheit, die zu sich selbst und ihrem Treiben noch keine wirkliche Distanz gewonnen hat, ist unreif, so erwachsen sie sich auch sonst gebärden mag.
In und trotz aller Geschäftigkeit — wieviel Verschlafenheit,
wieviel Verträumtheit! Das wacht oft
ein ganzes Leben lang nicht auf. Rüttelst du aber
zu unsanft, so magst du leicht einen Stoß vor die
Brust bekommen, wie von einem Schlaftrunkenen,
den man vorzeitig stört. Tröste dich mit diesem
,
‚
vorzeitig‘.
136
Und wer nicht aufstehen will, kann es wohl
auch noch nicht,
muß
wohl noch — schlafen.
Hüte dich, heute zu sterben! Sonst wirst du unvermeidlich Gegenstand einer — Trauerfeier. Du bist vielleicht dein ganzes Leben dem feiernden Volke aus dem Wege gegangen; stirbst du zur Unzeit, das heißt heute, so hilft dir kein Todesgott vor dem endlichen ‚Theater über Dir‘, an dem der Philister sich sättigen muß, soll er von dir überhaupt etwas haben.
Man kann nicht bescheidener sein als der ‚gute Europäer‘, der vor einem Universum voll Sternen, den tadellosen Zylinderhut seiner Wissenschaft in der Hand, ein Bild weltmännischer Reserve hochachtungsvoll und ergebenst verbleibt.
Der moderne Mensch ‚läuft‘ zu leicht ‚heiß‘. Ihm fehlt zu sehr das Öl der Liebe.
Man muß die Gegenwart von ihrer Wissenschaft reden hören, um zu wissen, was ein Parvenü ist.
Es gibt wenig Groteskeres als diese Ehe von: Ich weiß, daß ich nichts bin und Ich befinde über alles — in der Riesen-Zwerg-Brust des aufgeklärten, des ‚guten‘ Europäers. ‚Ein Irrtum‘ wird erwidert. ‚Wir befinden über keine letzten Dinge, wir lassen sie einfach auf sich beruhen, als etwas menschlicher Erkenntnis nicht Zugängliches. Was ich nicht weiß, macht mich 137 nicht heiß! — sollte das nicht ein männlicher, ja ein heldischer Wahlspruch sein? Genug, er ist unser Wahlspruch, und er deckt sich mit dem des Peer Gynt: Jeg er mig selv nok‘. (Ich bin mir selbst genug.)
Es wäre außerordentlich merkwürdig, daß so viele selbst der Geistigsten weit unter dem Niveau leben, das der Geist auf Erden schon einmal erreicht und aufgestellt hat, — wenn nicht jede Zeit ihre eigene Aufgabe hätte und die heute verkörperten Seelen eben durch die Entwickelung dazu bestimmt wären, sich gewissen Erkenntnissen ebenso entschieden zu verschließen wie andern vorbehaltlos Tür und Tor offen zu halten.
Es gibt ein Wort aus der Stimmung des Jahrhundertanfangs: ‚Man darf jetzt schon wieder — nun z.B. von — Gott sprechen.‘
‚Man darf jetzt schon wieder‘ — das Siegel einer ‚großen‘, ‚freien‘ Zeit.
Für jeden Menschen, sagt Goethe, kommt der Zeitpunkt, von dem an er wieder ‚ruiniert‘ werden muß. So auch: für jede Kulturperiode. Die unsrige hat diesen Zeitpunkt bereits überschritten. Sie kann trotz allem, was dagegen einzuwenden ist, in einem gewissen sehr hohen Sinne nicht mehr ein ausschließliches Interesse beanspruchen. Das Hauptaugenmerk richtet sich über ihren mehr oder minder glänzenden Abklang hinweg auf den folgenden Abschnitt, dessen Aufbau, dessen Aufgaben. Ihr bleibt noch vieles zu tun; freilich aber auch dies: sich möglichst unmißverständlich und allseitig ad absurdum zu führen.
Die Menschenverachtung ist für den nachdenkenden Geist nur die erste Stufe zur Menschenliebe.
Was uns allen zumeist fehlt, ist das tiefe, dauernde Bewußtsein des wirklichen Elends auf Erden, sonst würden wir über den Gefühlen einerseits des Mitleids, andrerseits des Dankes ganz der kleinlichen Misere des eigenen Lebens vergessen.
Es ist etwas Fürchterliches um einen Menschen, der leidet, ohne Tragik empfinden zu lassen.
Es gibt stillschweigende Voraussetzungen unter Menschen von Geist: die soll man nicht aussprechen. ‚Oberflächlich sein‘ (oder scheinen wollen) ‚aus Tiefe‘, das gehört hierher. Eine schwere Forderung an den Radikalismus der Jugend.
Und immer wieder komme ich darauf zurück, daß die Bewertung der geschlechtlichen Liebe unter uns Heutigen eine krankhafte Höhe erreicht hat, von der wir durchaus wieder heruntersteigen müssen.
Es gibt noch eine größere Liebe als die nach dem Besitz des geliebten Gegenstandes sich sehnende: Die die geliebte Seele erlösen wollende. Und diese Liebe ist so göttlich schön, daß es nichts Schöneres auf Erden gibt.
Hinter die Oberfläche der Menschen sehen, hinter das ‚Persönliche‘, das Leben selbst in ihnen lieben.
Nein, unser Bestes sind nicht unsere Werke. Das liegt oft in einem Blick von uns, in einem Gedanken, um dessentwillen wir uns selber lieben möchten und um den doch niemand je weiß und erfährt, als wir selbst.
Glück? Sollst du Glück haben? Wünsche ich dir auch nur eine Spur von Glück — wenn sie nicht deinen Wert erhöhte? Wert wünsche ich dir.
Zum Thema Egoismus:
Wir lieben nur die Bilder von allem, als etwas in uns selbst, nie das andere selbst.
Kein Mensch kann etwas anderes bieten als sein eigenes Programm, aber er soll es wenigstens so taktvoll wie möglich vorbringen, nicht wie ein Plebejer, der sich erst zufrieden gibt, wenn er ein paar andre niedergebrüllt hat.
So spricht die edle Rasse: Ich tue dies und das, weil ich es mir schuldig bin.
Das Bild vom Sündenfall bedeutet eigentlich nichts anderes als die — moralisch gesehene — Sichselbstbewußtwerdung des Tieres. Den Eintritt des ‚Geistes‘ in die Naturgeschichte.
140 Was wir aus der Geschichte des Geistes lernen können, das ist, meine ich, vor allem eine immer tiefere Bescheidenheit, uns zu äußern.
Es gibt keine Einzelschuld, es gibt nur Gesamtschuld. Wir müssen uns durchaus gegenwärtig halten, daß die Bestrafung eines Verbrechers durch unsere Behörden nur den Schein der Gerechtigkeit für sich hat, nicht die Gerechtigkeit selbst; denn wie könnte die wahre Gerechtigkeit sich gegen einen einzelnen wenden, sie, die das ganze Gewebe des Lebens vor sich ausgebreitet sähe.
Alles muß allem dienen. Es gibt im letzten Sinne keine Ungerechtigkeit.
Wer tief ist, muß sich schämen, sich so zu zeigen.
Es gibt kein widerwärtigeres Schauspiel, als wenn aus einem Menschen ein Berufspfaffe wird.
Wer die Grausamkeit der Natur und der Menschen einmal erkannt hat, der bemüht sich selbst in kleinen Dingen, wie dem Niedertreten des Grases, schonungsvoll zu sein.
Es ist leicht möglich, daß die moralischen Vorstellungen allmählich eine nicht nur moralische, sondern direkt dynamische (magnetische) Atmosphäre über der Erdoberfläche geworden sind, eine Welt, die sich in gewissem Sinne selbst regelt, selbst ihre Ausgleiche schafft, ihre eigene Gerechtigkeit hat und übt. Daher 141 dann jene oft beobachtete Justiz der Geschichte, jene vielen ‚gerechten Vergeltungen‘, jene moralischen Ausbrüche und Gegenströme.
Es gibt keine unleidlichere Gewohnheit, als das sogenannte Nötigen bei Tische. Dieses ewige Zureden in einer höchst untergeordneten Sache, die jeder mit sich selbst abzumachen hat, sollte unter Menschen, die auf sich halten, verpönt sein.
Auf Föhr:
Ich höre Anreden von Fremden an Eingeborene wie die folgenden: ‚Sie tragen noch die alte Tracht; bleiben Sie ja dabei; ich sehe das zu gern; lassen Sie auch Ihre Kinder in dieser Tracht gehn!‘ Oder: ‚Nein, was ist Ihre Tochter für ein schöngewachsenes Mädchen! Sehn Sie nur, meine Herren, dieses schmale Gesicht und dabei dieses kleidsame Mieder …‘ Als ob diese Halligbewohner, diese Nachkömmlinge der alten Friesen, Schaustücke eines Panoptikums wären; als ob sie nicht mit Fug herabsehen könnten auf diese zusammengewürfelte Gesellschaft halbkranker Groß- und Kleinstädter, die mit all ihrer ‚Bildung‘ nicht einmal wissen, wie ein Mensch einem Menschen gegenüberzutreten hat.
Meine Liebe sind allein die großen Unbedingten, die Glück oder Tod bringen, die sich vor allem bringen mit ihrem Geschmack, ihrer Wertsetzung und ihrem ethischen Pathos, die den unbeirrbaren Sinn für Größe besitzen, eine tiefe unauslöschliche Liebe zu dem, für welches sie geboren sind.
142 Und mein Haß: Die Geschmackler, die Renaissanceier, die ‚Töpfegucker jeder Stimmung‘ — die qualligen Ästheten, die stupenden Magister .. all dieses unproduktive und anmaßende Volk, das die Mode von heute ist, wo unser innerstes Leben nach Stil dürstet, nach Kultur, nach Ernst, nach Kraft, nach Männern, nach Willen und noch einmal nach dem ethischen Pathos eines Nietzsche, eines Dostojewski, eines Lagarde, eines Tolstoi.
Niemand ist zu gut für diese Welt. Menschen, von denen dies gesagt wird, sind vielmehr in irgend einem Betrachte nicht gut genug .
Wehe und wohl dem Menschen, der an keine Ungerechtigkeit mehr glaubt.
Die Mutter der Tiefe heißt: Schuld.
Tugend — im gemeinen Sinne, nicht als virtù — ist sehr oft nur ein Hindernis, tief zu werden, indem sie vor allzu gewaltsamen Leiden bewahrt, weshalb sie für Menschen, für die kein Grund vorliegt ein außergewöhnliches Los auf sich zu nehmen, die edelste Art bildet, mit einiger Schönheit durchs Leben zu kommen.
Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.
143 Als Dank — pour un sourire de printemps.
Als Dank — pour un sourire de vie.
Wer sich die Unsumme von Geduld vergegenwärtigt, mit der die Masse der Menschen ihr tägliches Arbeitslos trägt, der wird sie namenlos achten müssen, diese ‚Menge‘, trotz alledem und alledem. Und wenn wir Geistigen uns nur zu oft über sie erheben: sie kann doch nie brüderlich genug geliebt werden. Und jedenfalls soll sie beständig in unseren Gedanken wohnen, auch in denen, die ihr etwa zürnen.
Der Mensch mag tun und leiden, was es auch sei, er besitzt immer und unveräußerlich die göttliche Würde.
Man muß Erdbeben sein und die festen Städte der Menschen immer wieder zu Falle bringen. Man muß ihre Mauern wandeln machen, sonst stockt das Leben in ihnen. Aber es kann auch Zeiten geben, da man Urgestein sein muß, dahinauf sich ein namenlos geängstigtes Geschlecht retten kann. Wo man um der Liebe willen, um des nackten Lebens willen die verwerfen und verleumden muß, die den Erdboden zur schwankenden Welle machten, die den Abgrund predigten und die Schauder der Ewigkeit. Man wird aus Himmel und Sternen wieder ein Bild machen, man wird die Spinnweben alter Märchen auf offene Wunden legen müssen und all das bunte Spielzeug wieder hervorholen, das die Kulturen bisher hervorbrachten.
Der Bürger und nichts als Bürger ist ein trister Anblick, aber der aus jeder und gar jeder Bürgerlichkeit hinausgeschreckte Mensch, der verfluchte Bürger, der 144 irre, friedlose, von jeder Gewißheit enterbte, das personifizierte Grauen vor dem Unfaßbaren, der aus Tiefe wahnsinnig werdende Mensch — das wäre der Untergang selbst. ‚Oberflächlich aus Tiefe‘ — Lebenswort! Auf die Stirne von Tempeln!
Der Mensch hat die Liebe als Lösung der Menschheitsfrage einstweilen zurückgestellt und versucht es augenblicklich zunächst mit der Sachlichkeit.
(Vergleiche z.B. die großen Ärzte unserer Zeit.)
Enthusiasmus ist das schönste Wort der Erde.
Je freier ein Geist wird, desto gebundener wird er sich fühlen und nennen. Und am Ende wird er sagen: Wer weiß sich mit hunderttausend Stricken gefesselter als ich?
Dieses Verwerfen in Bausch und Bogen, dessen wir uns so oft schuldig machen, ist schrecklich. So wenn einer von Rousseaus Bekenntnissen sagt: das verlogene Zeug. Ja ja, verlogen vielleicht hier und dort und am dritten Ort — aber auch am vierten und fünften? — Und wir selbst, die wir so sprechen, sind es also an keinem? Nirgends verlogen, nirgends angreifbar, nirgends verwerflich?
Es können nur einigermaßen gleiche Naturen in ihrem ganzen Umfang einander erklären und abschätzen. Heut aber will jedermann interpretieren, wenn er nur schreiben gelernt hat.
145 Man soll über einen wahrhaft großen Menschen nicht reden. Denn worüber man bei ihm reden kann, darauf kommt es nicht an. Es kommt allein darauf an, wie er dir innerhalb und in deinen tiefsten Stunden erscheint. Von diesen unionibus mysticis aber kann man nur — schweigen oder doch nur in Momenten großer innerer Kraft zeugen.
Glaube mir, es gibt nichts Großes ohne Einfalt. Der Mensch, das Individuum ist Gottes Einfalt, ist einfältig gewordene Gottheit. In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.
Lieber einem zu viel als zu wenig Ehre geben. Ehre sage ich, nicht ‚Lob‘. Tadeln, ja ganz ablehnen können und doch immer noch ehren, das heißt fühlen lassen: Mein Bruder, was ich auch sagen muß, so wenig ich eine Blume in ihren inneren Organen verletzen möchte, so wenig möchte ich Dich — verletzen! das ist es.
Man soll nie auf irgendwen hinabsehen, der auf irgendeinem Wege — und sei es zehnmal ein wider Sitte und Gesetz verstoßender — zur Freiheit strebt.
Wenn ich dies und das nicht tue, so tut es ein anderer — welch grober Gedankengang! Als ob —
O, wie erniedrigt doch die ‚Konversation‘, wie verführt sie uns fortwährend zu Urteilen, die wir gar nicht haben, deren wir uns gleich darauf schämen, die nichts als höheres Geschwätz sind, das mit unserm 146 wahren Wesen nur eben soviel zu tun hat, als es dessen Teil an Torheit und Schwäche aufdeckt.
Mancher sucht sein Leben lang Kameradschaft, — aber man muß mit diesem Bedürfnis im Herzen nicht zu Frauen gehen. Sie wollen, eine jede, ausschließlich geliebt sein, sie wollen aus aller Kraft die Episode der Liebe, aber ohne sie dabei als Episode aufzufassen. Sie wollen ein ganzes Leben in Beschlag nehmen, aber dafür kein Leben der Kameradschaft, sondern ein Leben der Liebe geben. Ein Leben der Liebe aber ist ein Unding, wie ewige Musik oder ewiger Frühling. Die Liebe verdirbt die Seele zur Kameradschaft, sie ist kalt und heiß, eifersüchtig und unberechenbar, die Kameradschaft, die Freundschaft ist allein wahre Seelenliebe, sie ist bis zu jedem möglichen Grade unegoistisch, sie ist der höchste Zustand zwischen Mensch und Mensch. Die Liebe ist das Mittel zum Werden des Kindes, aber die Freundschaft ist das Mittel zum reif und süß Werden deiner selbst.
Wann wird dies sein? Wann wird das sein? — Wann wir es uns verdient haben werden.
Beim Menschen ist kein Ding unmöglich im Schlimmen wie im Guten.
Wer nicht auch böse sein kann — kann der wirklich tief sein?
Bedenke, daß der sogenannte gemeingefährliche Mensch nur um deines Behagens willen im Gefängnis sitzt, 147 und daß auf deiner Seite viel dazu gehört, das Freiheitsopfer so vieler Mitmenschen sittlich aufzuwiegen.
Das ist es, was ich immer wieder gelehrt finde: die Zaghaftigkeit — wo Gutes gewollt wird — ist zu nichts nütze. Umgekehrt, sie ist nur eine Quelle immer weiterer Schwäche und damit immer weiterer Mißerfolge.
Wir haben heute Ehrfurcht vor den Bewohnern eines Wassertropfens, aber vor dem Menschen haben wir immer noch keine Ehrfurcht.
Finsternis würde mich in kürzester Frist um alles Glück und um allen Verstand bringen. Gebt allen Menschen vor allem Licht und vorzüglich den Unglücklichsten unter uns, unsern Gefangenen.
Wer sich groß verfehlt, der hat auch große Quellen der Reinigung in sich.
Mut, Mut, das fehlt dem sogenannten denkenden Wesen, dem Menschen — als denkendem Wesen — am meisten. Und dann Phantasie. (Aber was wäre Phantasie ohne Mut?) Vielleicht ist Mangel an beiden eine der grundlegenden Lebensbedingungen, vielleicht kann der Mensch nur mit einem gewissen Quantum von Feigheit und Trägheit — existieren.
Tugend — Mangel an Gelegenheit, ein Gemeinplatz, der nur die Unseligkeit des üblichen Tugendbegriffs verrät, als etwas durchaus Negatives.
148 Wem das allgemeine Wohl das höchste Ziel auf Erden dünkt, der tut den Menschen gar nichts so Gutes, wie er meint. Man soll nie das Wohl, man soll nur das Heil jedes Menschen im Auge haben, — zwei Dinge, die sich oft wie Wasser und Feuer unterscheiden.
Die Geschichte ist eine Schlummerrolle, auf welcher gestickt steht: Ein Viertelstündchen. Aber ganze Generationen schlafen ihr ganzes Leben auf ihr. — Was ist dem Erwachten — Geschichte? Das, was — andre getan haben. Worauf er denn gar nicht genug an sein eigenes Tun denken kann.
Nur wer sich selbst verbrennt, wird den Menschen ewig wandernde Flamme.
O helfen, helfen können — es gibt nichts Größeres für menschliche Art!
Und nicht helfen können, nicht helfen dürfen, es hat gewiß nicht minder bittere Tränen erpreßt als: wo man's vermocht und sollte, nicht geholfen haben.
Man findet deshalb so wenig Menschenliebe, weil dem Äußeren meist zu viel Wichtigkeit beigelegt wird. Aber es ist damit wie mit der Kleidung. So mannigfaltig sich der Mensch auch tragen mag, in der Hülle steckt allemal Adam und Eva, der homo sapiens-insipiens, dasselbe allerletzten Endes unablehnbare Geschwister.
Was ist der Mensch, daß er nicht alles hingeben sollte — um des Menschen willen! 149 In dem Maße, wie der Wille und die Fähigkeit zur Selbstkritik steigen, hebt sich auch das Niveau der Kritik am andern.
Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang liegt klar vor ihm.
Frage und Prüfung:
Was kannst du?
Kannst du dich verkennen, beschimpfen, beschuldigen lassen, ohne auch nur einen Schatten von Zorn wider den Bruder zu fühlen?
Noch mehr: Kannst du Unrecht leiden ohne Groll? Man kerkert dich ein, man foltert dich, man hängt dich auf — gesetzt, du fielest unter Wilde oder gerietest vor ein russisches Gericht oder unter eine aufgeregte amerikanische Volksmenge. Könntest du dann leiden und sterben — ohne Verwünschung?
Wir sollten immer nur charakterisieren wollen, nie kritisieren.
150 Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den Andern, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.
Wer nicht zuvor sich selbst vorschreibt, wird auch den Menschen nie vorschreiben dürfen. Man kann dem Wesen der Macht nichts abmarkten.
Bemerke, wie die Tiere das Gras abrupfen. So groß ihre Mäuler auch sein mögen, sie tun der Pflanze selbst nie etwas zuleide, entwurzeln sie niemals. So handle auch der starke Mensch gegen alles, was Natur heißt, sein eigenes Geschlecht voran. Er verstehe die Kunst vom Leben zu nehmen, ohne ihm zu schaden.
Wenn der moderne Gebildete die Tiere, deren er sich als Nahrung bedient, selbst töten müßte, würde die Anzahl der Pflanzenesser ins Ungemessene steigen.
Man hüte sich vor Lieblingsvorstellungen, Lieblingsideen. Dergleichen lenkt einen bloß von der großen Liebe ab, die sich allein auf die Menschheit in ihrem Vorwärtskommen richten soll; dergleichen sind bloß Fallgruben der Eigenbrödelei, Sackgassen der Egoität. Mag sich ins Kornfeld werfen, den Himmel angucken und Träume spinnen, wer die Wirklichkeit noch nie geschaut hat; wem die Augen offen wurden, der weiß, daß es für ihn nur noch einen modus vivendi gibt, den des entschlossenen Realisten der Liebe.
151 Jede Krankheit hat ihren besonderen Sinn, denn jede Krankheit ist eine Reinigung; man muß nur herausbekommen, wovon. — Es gibt darüber sichere Aufschlüsse; aber die Menschen ziehen es vor, über hunderte und tausende fremder Angelegenheiten zu lesen und zu denken, statt über ihre eigenen. Sie wollen die tiefen Hieroglyphen ihrer Krankheit nicht lesen lernen und interessieren sich, gleich dem Neger, noch weit mehr für das Spielzeug des Lebens, als für seinen Ernst, als für ihren Ernst. — Hierin liegt die wahre Unheilbarkeit ihrer Krankheiten, im Mangel an und im Widerwillen gegen Erkenntnis, hierin, nicht in Bakterien.
Vor einem halbbeschneiten Berge: So ist mancher von uns halb noch im Schnee der Kühle, Kälte. Dann taut die Sonne den Schnee weg; aber in diese und jene Grube vermag sie nicht vorzudringen; weiße, unvertilgbare Flecken bleiben zurück: nie werden wir ganz frei von jedem Rest von Lieblosigkeit, nie ganz Liebe — solang wir noch dieser Berg sind.
Es gibt nur einen Fortschritt, nämlich den in der Liebe; aber er führt in die Seligkeit Gottes selber hinein.
Der Welt Schlüssel heißt Demut. Ohne ihn ist alles Klopfen, Horchen, Spähen umsonst.
Der Geist baut das Luftschiff, die Liebe aber macht gen Himmel fahren.
Der Nenner, auf den heut fast alles gebracht wird, ist Egoismus, noch nicht — Liebe.
152 So wie der Strom in das Meer muß, so muß der amor in die caritas.
Ganze Weltalter voll Liebe werden notwendig sein, um den Tieren ihre Dienste und Verdienste an uns zu vergelten.
A sagte zu B, der sich mit seinem persönlichen Schicksal herumschlug und des Jammers kein Ende fand: Wie erbarmungslos bist du!
Wie erbarmungslos? gab B befremdet zurück und fügte, da er A nicht durchdrang, nach einer Weile hinzu: Wenn nur du nicht erbarmungslos bist! (indem er meinte, dieser habe für sein Unglück kein Verständnis). Und wenn ich es gegen dich wäre, erwiderte A, so wäre ich es gegen einen Einzigen. Du aber bist es gegen Millionen. Denn du siehst nur dein eignes Leid, nicht auch das ihre. Du wärst aus ganzer Seele zufrieden, wenn nur du allein getröstet würdest, wenn nur dir allein unter allen Millionen geholfen würde. Prüfe dich selbst, ob ein solcher Sinn nicht noch strengster Zucht bedarf und ob es weit gefehlt ist, ihn selbstsüchtig, hart und erbarmungslos zu nennen.
Man muß von aller Verliebtheit in Maja frei werden, dann erst kann die große Liebe entstehen.
Der Haß hat uns in eine solche Grobheit des Urteils und der Beurteilung hineingesteigert, daß wir nichts mehr rein zu sehen vermögen. Wir vergessen, daß es keine Ablehnung gibt, die nicht, sei es ein Korn, 153 sei es einen Klumpen Unrecht enthielte. Versuchen wir uns doch einmal entschieden auf die Seite des Positiven zu stellen, in jeder Sache.
Viele Menschen fühlen sich in ihrer Ruhe und Sicherheit gestört und fordern laut nach strengen strafrechtlichen Maßnahmen gegen den Verbrecher.
Das ist verständlich, aber es zeigt auch, woran es noch viel mehr als an gesetzgeberischen Bestimmungen fehlt: An dem Bewußtsein, an der Ahnung wenigstens, was man selbst und was der sogenannte Verbrecher ist. Der Verbrecher und ich sind nichts wesentlich Getrenntes, wir stehen im engsten menschlichen Zusammenhang; er kann uns nichts tun, was er nicht auch sich selber täte, und wir können ihm nichts tun, was wir nicht auch uns selber täten. Er ist nicht anders von uns verschieden, als unser Arm, unser Bein, unser Auge. Nun heißt es zwar: So dich deine Hand ärgert, so haue sie ab. Aber wenn ich die Hand abhaue, so füge ich mir damit einen Schmerz zu, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde, und sollte ich ihn doch vergessen, so bleibt immer noch ihr Fehlen etwas, was sich nicht vergessen läßt.
Anders, wenn sich eine Gesellschaft einen Verbrecher vom Leibe schafft. Dann schafft sie sich ihn eben vom Leibe und damit punktum. Es fehlt der entsprechende Schmerz auf ihrer Seite, der Stachel, den sie nicht wieder los wird.
Die Bestimmung des Menschen ist nicht nur, daß er als ruhiger Bürger seinem Tagewerk nachgehe, sie ist noch etwas darüber: daß er sich mehr und mehr verinnerliche, 154 sich, und soviel an ihm liegt, seine Umwelt mehr und mehr verchristliche.
Alle, die beispielsweise für die Todesstrafe stimmen, wollen nicht die Gewissensnot, in die sie die Schreckenstat eines Bruders bringen und die dann Frucht über Frucht aus ihm zeitigen müßte, sondern sie wollen ihre Ruhe, ihre Behaglichkeit, ihr ungestörtes Weiterwirtschaftenkönnen im einmal Überkommenen. Wie gesagt, es kann ihnen nicht verdacht werden, wenn sie einer gewissen Sicherheit genießen wollen, aber sie müßten dafür, daß sie mit der einen Hand nehmen, nämlich Freiheit oder gar Leben vom Mitmenschen, mit der andern Hand geben: nämlich doppelte, dreifache Liebe.
Sie müßten nicht nur den andern sich, sondern sich zugleich dem andern opfern, sich, das heißt ihren Eigennutz, ihren Hochmut, ihre Gleichgültigkeit, ihre Trägheit. Aber dem wird ausgewichen und darum ist in unseren Strafen so viel — Rache; was man auch von Erziehungs- und Abschreckungstheorien redet. Erziehen soll man zuerst sich selbst und dann erst den, der mitten im Schoße von uns Tugendhaften als Lasterhafter emporblühen konnte. Wahrlich, es kann mit der allgemeinen Tugend nicht soweit her sein, wenn der Räuber und Mörder so üppig gedeiht, wahrlich, es ist nicht gut, wenn solch ein Unkrautboden wie unsere Gesellschaft auch noch nach Schutz und besonderer Fürsorge verlangt. Sie möge erst die sieben Todsünden in sich bekämpfen und im Verbrechertum zunächst vor allem das vergrößerte Spiegelbild ihrer selbst sehen, den immerwährenden Vorwurf ihrer selbst. Sie möge im Verbrechertum zunächst erst einmal 155 ihr — Schuld -Konto erblicken. Wenn sie aber meint, daß, sagen wir, der Bauer Adam in Vaduz unmöglich Schuld haben könne, wenn in den Südstaaten ein Neger sich an einer Weißen vergreift, so ist zu erwidern, daß weder der Bauer noch der Neger für sich nur als Bauer und Neger verbindlich sind, daß sie vielmehr vom Anfang bis zur Vollendung unserer Welt als schöpferische Faktoren rechnen, die nach der einen Seite unendliches Schulden-Karma abzutragen, nach der andern Seite die Geisterreiche der Zukunft mit aufzurichten haben, wozu sie nicht nur als Bauer und Neger, sondern in hinreichenden menschlichen Manifestationen ab aeterno in aeternum wiederkehren.
Daß Güte (z.B.) nicht Schwäche sein könne , behauptet niemand, daß sie es sei , nur ein Tor.
Wer ‚für Güte Dank‘ erwartet, macht sich schon allein dadurch, daß er sich selbst als ‚gütig‘ empfindet, der feinsten Berechtigung Dank zu ernten verlustig, indem er sich im Gefühl und Bewußtsein seiner Güte als ein besonderer Wohltäter andrer vorkommt, sich also über sie erhebt und überhebt. Eine solche Erwartung, so natürlich und allgemein sie sein mag, verdient nicht nur keinen Dank, sondern gerade das, womit ihr gewöhnlich vergolten wird: eine gewisse Gleichgültigkeit, ja beinahe einen gewissen (zurückschlagenden) Hochmut. Wer Gutes tun und dabei nicht in die Brüche geraten will, muß es soweit bringen, daß er sich nie anders denn als einen Diener des 156 andern empfindet, dem eine glücklichere Fügung gestattet — Schuld abzutragen. Er muß, fern davon, von dem andern Dank zu erwarten, vielmehr das Gefühl der Dankbarkeit gegen diesen andern entwickeln, weil er ihm Gelegenheit gibt, ihm zu helfen, gleichviel, wie solche Hilfe nachträglich ‚gelohnt‘ wird. Dies mag für uns freilich mehr oder minder immer ein Ideal bleiben; die erste Stufe ist jedenfalls, dem Satze von der Dank verdienenden Güte in uns und außer uns zu Leibe zu gehen.
Wer wollte den Gutartigen, den Begabten, den Wunderlichen nicht lieben. Aber den Böswilligen, den Ungeistigen, den Langweiligen zu lieben gilt es. Nicht so sehr ein jovialer Wirt sein allen, die ihre Zeche mehr oder minder bezahlen, als der barmherzige Samariter derer, die nichts haben als ihr schmerzliches Schicksal.
Kann man einen Menschen deshalb aus der Atmosphäre des tiefen, ungeheuren Geheimnisses, das uns alle umfängt, das wir alle sind, und vor dem es keine andere Grundstimmung als die unbegrenzter Ehrfurcht gibt, herauslösen, herausgelöst empfinden, weil er ein ‚Mörder‘ geworden ist?
Der Selbstlose, der aus ganzer Seele den Menschen dienen will, übersieht zu leicht, daß sein Selbst in ein niedrigeres und in ein höheres Selbst zerfällt, und daß er daher nicht nur selbstlos im einen Sinne, sondern in eben dem Maße selbstvoll im andern Sinne werden sollte. Sein Selbst verlieren, heißt sich läutern, seine 157 Seele bereiten, wie einen Acker, welcher der Saat wartet. Sein Selbst gewinnen aber heißt, Frucht tragen wollen, Saat herbeisehnen, aufnehmen, hegen, reifen.
Geistige Leidenschaft, Leidenschaft fürs Geistige, — prüfen wir uns einmal, wieweit sie gemeinhin reicht. Nach allem Möglichen wird unter Umständen mit vier Pferden gejagt, aber wenn einer Morgen um Morgen dein Leben lang an deiner Türe vorbeigeht mit Lebensbrot, so kann er ein Leben lang ungerufen davor vorbeigehen; denn seine Bettwärme wie sein appetitliches Frühstück oder seine Zeitung oder gar seine ‚Pflicht‘ läßt keiner so leicht im Stich um Lebensbrotes willen.
Wir leben heute noch recht wie Kinder, noch nicht wie erwachsene bewußte Menschen. Wir essen und trinken ruhig, während Mitmenschen neben uns verhungern und verdursten, wir gehen fröhlich in Freiheit herum, während Mitmenschen neben uns in Kerkern verderben. Wir können uns in jeder Weise freuen, während um uns in jeder Weise gelitten wird, und wenn wir selbst leiden, so haben wir die Unbefangenheit, mit dem Schicksal darum zu hadern. O, daß unser Herz und Geist mit den Zeiten verwandelt würde und diese bittere Häßlichkeit von uns abfiele und wir aus Kindern Erwachsene würden.
Was ist denn alle Mutter- und Vaterschaft anders als ein — Helfen! Als wunderreichste, geheimnisvollste Hilfe!
158 Alles ernsthaft Angefangene muß die Menschheit auch entschlossen weiter treiben und weiter entwickeln. Täte sie's nicht, so wäre sie ebenso unreif und leichtfertig wie die Individualität, die anfängt und liegen läßt, statt, wenn auch vielleicht erst in vielen Lebensläufen, allem in sich eine Folge und Ausbildung zu geben. Einziglich schon von diesem Gesichtspunkt aus sollte man die Mystik z.B. nicht so verdrossen ablehnen, als ob es ein Verdienst wäre, ein so wundertief begonnenes Geisteswerk in die Rumpelkammer zu verweisen und nicht vielmehr sich dessen Weiterausbau anzunehmen, zum mindesten dankbar gewärtig zu sein.
Mit allem Großen ist es wie mit dem Sturm. Der Schwache verflucht ihn mit jedem Atemzug, der Starke stellt sich mit Lust dahin, wo's am heftigsten weht.
Es ist unbeschreiblich, auf was alles die Menschen nicht kommen. In den gewöhnlichsten Verhältnissen.
Alles Festlegen verarmt.
Dem Steigenden werden Gärten der Schönheit Wüsten der Unbedeutendheit.
Der Schmerz über das, was wir an der Welt verfehlen und von dem sie gemeiniglich nichts weiß, kommt ihr wieder aus der Reife unseres Charakters.
Man kann wohl sagen, daß das Geschlecht zwei Drittel aller möglichen Geistigkeit auffrißt.
Das ist meine allerschlimmste Erfahrung: Der Schmerz macht die meisten Menschen nicht groß, sondern klein.
Wer Dinge verspottet, an die ein guter Geschmack längst nicht mehr rührt, wird selbst Gegenstand des Spottes, ja der Verachtung.
Wenn dich die Menschen nicht absichtlich verwunden, so tun sie's gewiß aus Ungeschicklichkeit.
Das Letzte, was wir aneinander erleben, ist schließlich doch das Schmerzlichste. Leide an mir, so spricht selbst noch das Liebste zu uns.
Wahrheit ist eine Sache des Temperamentes, darum kann man Wahrheit nicht lehren, nur zeugen.
Alles, im Kleinen und Großen, beruht auf Weitersagen.
Es ist merkwürdig, daß ein mittelmäßiger Mensch oft vollkommen recht haben kann, — und doch nichts damit durchsetzt.
Mit Jedem wächst auch sein Herold oder sein Henker.
Wenn du ein Geldstück von Wert bist, so briefwechsle dich nicht zu oft.
Spannung ist alles und Entladung.
Und höchste Lebensweisheit, seine Spannung immer richtig zu entladen.
Wie sollte man wohl leben, wenn man nicht fortwährend bei sich wie bei den andern hunderterlei Krumm gerade sein ließe.
Jede gründliche Erfahrung muß mit eignem Leben bezahlt werden — und fremdem.
161 Was du andern zufügst, das fügst du dir zu.
Es gibt in Wahrheit kein letztes Verständnis ohne Liebe.
Das sind die zwei Blumen des Lebens: Das Schaffen und die Liebe. Und nie wird wohl jemand ergründen, ob Gott sich als Welt schafft um der Liebe willen, oder ob er liebt um des Schaffens willen.
Es gibt keine ‚toten‘ Gegenstände. Jeder Gegenstand ist eine Lebensäußerung, die weiter wirkt und ihre Ansprüche geltend macht wie ein gegenwärtig Lebendiges.
Und je mehr Gegenstände du daher besitzest, desto mehr Ansprüche hast du zu befriedigen. Nicht nur sie dienen uns, sondern auch wir müssen ihnen dienen. Und wir sind oft viel mehr ihre Diener, als sie die unsern.
Geben und Nehmen, ein Gesetz aller Entwickelung.
Der Weise verzichtet auf alles, worauf sich irgend verzichten läßt; denn er weiß, daß jedes Ding eine Wolke von Unfrieden um sich hat.
Die Hälfte allen Unglücks — vom gröbsten bis zum feinsten — geht auf Unwissenheit oder Denkfehler zurück, gewollte und ungewollte Ungeistigkeit.
Lesen-Können, — darauf läuft schließlich alles hinaus.
162 Überall dem Selbstverständlichen zum Wort verhelfen — das ist ein großes Geheimnis.
Jeder muß sich selbst austrinken wie einen Kelch.
Nur durch Schaden werden wir klug — Leitmotiv der ganzen Evolution. Erst durch unzählige, bis ins Unendliche wiederholte leidvolle Erfahrungen lernt sich das Individuum zum Meister über sein Leben empor. Alles ist Schule.
Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger für sie reif ist. Nicht an der Wahrheit liegt es daher, wenn die Menschen noch so voller Unweisheit sind.
Es gehört mit zum Seltsamsten, was es gibt: Das pure, lautere Gold liegt vor uns, um uns. Aber wir leben mit Blei, Kupfer, Zinn; von Minderem zu schweigen. Wir haben die Wahrheit wie die Sonne über uns und folgen Schatten und Gespenstern.
Es gibt für Unzählige nur Ein Heilmittel — die Katastrophe.
Von Hundert, die von ‚Menge‘, von ‚Herde‘ reden, gehören neunundneunzig selbst dazu.
Vorsicht und Mißtrauen sind gute Dinge, nur sind auch ihnen gegenüber Vorsicht und Mißtrauen nötig. 163 Der geschäftige Clown im Zirkus, der den Teppich ‚mit aufrollen hilft‘ — ein Bild, das einem tausendfach aus dem Leben wiederkommt.
Das von selbst Verständliche wird gemeinhin am gründlichsten vergessen und am seltensten getan.
In vielen Fällen wäre der gerade Weg der kürzeste — zum Verderben.
Was wäre wohl aus der Welt geworden, wenn alle zum Mitschaffen Aufgerufenen immer gleich ‚schnurstracks‘ auf ihr Ziel losgegangen wären. Alle Weisheit ist langsam, alles Schaffen ist umständlich.
Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte, durch die viel Gutes in den Menschen hineinhuschen kann.
Nur in Versuchungen immer wieder fallend, erheben wir uns.
Jeder Jüngling mag von sich denken, er sei der Messias, aber er muß nicht Messias sagen, sondern nur Messias tun.
Man müßte sein Ich nicht immer mit sich identifizieren, sondern wie eine Mutter ihr Kind behandeln.
Faß das Leben immer als Kunstwerk.
Umschnalle dein Herz mit Schweigen.
Wir brauchen nicht so fort zu leben, wie wir gestern gelebt haben. Macht Euch nur von dieser Anschauung los und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.
Wenn man zum Leben ja sagt und das Leben selber sagt zu einem nein, so muß man auch zu diesem Nein ja sagen.
Man kann nur als Totschläger leben.
Höher als alles Vielwissen stelle ich die stete Selbstkontrolle, die absolute Skepsis gegen sich selbst.
Jeden Tag seines Lebens eine feine, kleine Bemerkung einfangen — wäre schon genug für ein Leben.
Nur im Fluß bleiben, nur nicht zur Spinne eines Gedankens werden.
Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so daß deine Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken.
Ich schreibe der Gegenwart schön gebildeter Gegenstände einen großen Einfluß auf den Menschen zu. So sollten wir die Möbel unserer Kinderzimmer mit außerordentlicher Sorgfalt auswählen. Irgend ein schöner, schlichter, ehrwürdiger Schrank, auf den der Blick unsres Kindes von seinem Lager aus fällt, ja kunstvolle Modelle bedeutender Bauwerke, z.B. eine kleine Nachbildung der Peterskuppel, eines griechischen Tempels, einer modernen Eisenbrücke würden ihm zweifellos eine Ahnung von großem Stil geben, die es sein ganzes Leben hindurch nachspüren und weiterentwickeln würde.
Ich lese von einer Spielzeugausstellung in Berlin. Und zwar einer Ausstellung von Dilettanten verfertigter Dinge, als da sind Dörfer aus Streichholzschachteln, rollendes Material aus Garnspulen, ein Haus aus einer Eierkiste und Zigarrenbrettchen usw. Mir lacht das Herz. Seit manchem Jahre schmähe ich das luxuriöse moderne Spielzeug, diese echte Aus- und Nachgeburt einer materialistischen Periode, — und nun erhebt endlich wieder das Spielzeug unserer Kindheit das bescheidene und phantasievolle Köpfchen. 166 Man sieht den Geist wieder bei der Arbeit, nach und unter so viel ödem Bildungsphilistertum wieder den Geist und die Liebe.
Alle Erziehung, ja alle geistige Beeinflussung beruht vornehmlich auf Bestärken und Schwächen. Man kann niemanden zu etwas bringen, der nicht schon dunkel auf dem Wege dahin ist, und niemanden von etwas abbringen, der nicht schon geneigt ist, sich ihm zu entfremden. Der bedeutende Mensch ist ein Mensch, an dem viele andre sich klar werden. Er greift in ihr Unbewußtes und Unterbewußtes und stärkt dort das ihm Verwandte. Wenn Lichtenberg von seinem Aberglauben redet, so schwächt er damit die Mannhaftigkeit vieler; denn ihre heimliche Neigung zum Unkontrollierbaren fühlt sich durch einen solchen Mann ein wenig gerechtfertigt, die strenge Zucht scheint ein wenig im Werte sinken zu dürfen. Wenn er aber von einem geläuterten Spinozismus als der Religion der Zukunft spricht, wie fällt da sein Wort bei manchem wie ein Frühlingsregen auf Saatfelder. Wie stärkt er da unser Feinstes, Tiefstes, Geistigstes.
Es gibt keinen strengeren Erzieher als den Ehrgeiz. Wobei freilich außer Betracht bleibt: wozu?
Wer möchte die Furcht in seiner Erziehung entbehren?
Jeder muß seinen Mann haben, der ihm über die Schulter sieht, und dieser wieder seinen und so fort. Das ist nur gut und billig; so allein kommt der Mensch vorwärts.
167 Wir freien Geister von heute sind nicht mehr der Gefahr ausgesetzt, gekreuzigt oder verbrannt zu werden. Um so mehr will es der Anstand und die Solidarität, aufs neue Gefahren zu suchen und zu schaffen, und sollten es die der Selbstkreuzigung, der Selbstverbrennung sein.
Übung ist alles, und insofern ist Genie Charakter.
Sieh dir ein gut beschicktes Trabrennen an. Und du wirst merken, worauf's ankommt, auch bei dir.
Zu einem andern Ende kommen wir nicht als zu dem: im Begonnenen unermüdlich weiter zu arbeiten, aber nicht in Verzweiflung und Selbstbetäubung, sondern indem wir jede Sekunde dieser Arbeit immer mehr durchseelen, immer innerlicher bejahen, immer entschiedener vergeistigen. Was denn schließlich auch unserer Hände Werk sich wunderlich wandeln machen wird, so daß, wenn einer etwa im Kriegshandwerk begann, er, wer weiß, als Kolonisator endet, oder als Kriegsmann irgend einer andern höheren Kriegsidee, als es die der bisherigen Kriege war.
Wenn wir bedenken, wieviel hunderttausend Jahre wir wohl alt sein mögen, werden wir geduldiger gegen das Tempo unserer heutigen Entwickelung werden. Die von uns heute so ungestüm begehrte edlere Zukunft unseres Geschlechtes wird sich vielleicht schon noch einmal verwirklichen, aber statt in Jahrhunderten erst in Jahrtausenden. Das ist freilich kein Trost für den Lebenden; aber der Lebende hat einen andern Trost: 168 daß ihm für seine Person schon heute die Möglichkeit gegeben ist, sich selbst so edel zu verwirklichen, wie er nur kann. Die Insichvollendung des Menschen ist jederzeit und überall möglich; zuletzt bleibt doch diese Erkenntnis und was sie fruchtet, der einzige wahre Fortschritt.
A. Zukünftige Ideale ziehen den Menschen davon ab, sich selbst als sein einziges Ideal, im ethischen Sinne, zu setzen. In dem Moment, wo jeder bei sich anfinge, wäre die schönste Zukunft vorweggenommen.
B. Ich will dir etwas sagen, Lieber: statt so zu theoretisieren, fange doch gleich bei dir selbst an. Auch dein Reden ist nämlich nur ein Umgehen deiner Pflicht. Bilde, Künstler, rede nicht.
Sich immer am Leben korrigieren.
Es ist hart, aber es gibt nur einen Weg, als Kämpfer für das Echte zuletzt den Erfolg an sich zu fesseln: So lange zu schweigen, Geduld zu haben, Menschen und Dinge gehen zu lassen, bis man durch die Treue gegen sich selbst und die äußeren Umstände eines Tages ein Faktor geworden ist, mit dem gerechnet werden muß. Dann endlich mag man dem Zorn und der Liebe in sich nachgeben, wann und wo es auch sei. Dann erst hat es, sie rückhaltlos zu äußern, Sinn und Wert: Für einen selbst, für den Getroffenen, für den Verteidigten, für alle andern.
Man soll auch seine Liebe und Leidenschaft noch mit kühlen Blicken unter sich sehen lernen. Man sei 169 stolz darauf, wenn man die Welt nicht mit jener brünstigen Liebe mancher Mystiker liebt, die nichts ist als versetzte Erotik. Man gebe dem Weibe, was des Weibes, und Gott, was Gottes ist.
Von sich zurückzutreten wie ein Maler von seinem Bilde — wer das vermöchte!
Jeder von uns hat etwas Unbehauenes, Unerlöstes in sich, daran unaufhörlich zu arbeiten seine heimlichste Lebensaufgabe bleibt.
Darin kann man Tolstoi unbedingt Recht geben: Was man Taugliches wird, wird man in der Regel trotz der Schule, nicht durch die Schule.
Gute Erziehung — ein zweischneidig Schwert. Mancher wird nie ein wirklicher Mensch, ein Mensch von Umfang , infolge seiner guten Erziehung.
Suche allem nach Möglichkeit eine Folge zu geben. Nichts macht das Leben ärmer als vieles anfangen und nichts vollenden.
Aber ebenso gewiß ist, daß wenn auch kein Schuß ins Schwarze trifft, unzählige es wie ein Sternenhimmel umschreiben.
Es ist der Schritt, der erobert. ‚En marche‘ — ist eines der schönsten Worte der Welt.
170 Siehe eine Sanduhr: Da läßt sich nichts durch Rütteln und Schütteln erreichen, du mußt geduldig warten, bis der Sand, Körnlein um Körnlein, aus dem einen Trichter in den andern gelaufen ist.
Was habe ich immer vor mir? Meine Hände. Darum möchte ich eine ‚Erziehung zum Nachdenken‘ geschrieben sehen unter Zugrundelegung der Anschauung der Menschenhand.
Die beste Erziehungsmethode für ein Kind ist, ihm eine gute Mutter zu verschaffen.
Die kleinen Schwächen legt man am schwersten ab, so wie man der Moskitos weit schwerer Herr wird als des Skorpions oder der Schlange. Und so ist es recht eigentlich das Kleine, was den Fortschritt der Menschheit aufhält: Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit, Trägheit, Lauheit.
Man möchte sich wie Bruder Bernardo auf irgend einem Marktplatz dem Gespött der Welt aussetzen, um gleich ihm ein jegliches um Christi Liebe willen geduldig und heiter zu ertragen — und leidet vielleicht schon darunter, wenn die Schaffnerin, die das Zimmer aufräumt, vergißt, guten Morgen zu wünschen, oder wenn der Türhüter des Hauses schlecht geschlafen hat.
Du sollst nicht zu sein begehren, was du nicht bist, 171 sondern nur einfach etwas von deiner Pflicht zu tun versuchen, Tag um Tag.
Denn es ist viel schwerer, einen Tag in wahrhafter Aufmerksamkeit und Wachsamkeit von Anfang bis Ende zu verleben, als ein Jahr in großen Absichten und hochfliegenden Plänen.
Jedem Menschen sein Recht lassen und wenn es uns noch so sehr als Unrecht erscheint. Den Kampf gegen dies sein Unrecht deshalb nicht aufgeben, aber ihn nicht außer sich führen, gegen jenen, sondern in sich, gegen sich, gegen das in sich, was, wenn auch noch so verborgen, jenem Unrecht entspricht. Oder könnten wir leugnen, daß wir innerlich an allem noch irgendwie teilhaben, was an Bösem außer uns geschieht? Daß in uns von dem z.B., was Millionen in Kriegsbegeisterung versetzt und zu unverantwortlichen Handlungen verführt, noch genug lebt, um unsere ganze Wachsamkeit und Tapferkeit gegen uns selbst aufzurufen, und sei es nur ein gewisses Sichfreuen bei dem ‚Sieg‘ des schwächeren Gegners oder eine ‚gerechte Empörung‘ über dies und das, was das blutige Handwerk nach sich zieht? Wir möchten allzugern wahrhaben, es sei menschlich schöner, mit dem Schwächeren sich zu freuen, als die gleichmäßige Trauer über Siegende wie Besiegte eine Quelle neuer Gelöbnisse vermehrter Anstrengung in uns selber werden zu lassen; es sei nicht leichter, empört über Grausamkeiten zu sein, als die Blitze der Entrüstung auf und in uns selbst abzuleiten, auf das Triebwesen, dessen feinere Wildheiten auch in uns noch nicht völlig gebändigt, noch nicht genug in rein dem vergeistigten Ich dienenden Kräften leben.
172 A. Sie sollten gerade da, wo Sie besondere Antipathie empfinden, doppelt streng gegen sich selbst vorgehen, nicht aber Ihrer Antipathie nachlaufen, wie der Student seiner Flamme.
B. Wie? Ich sollte mich auf meine Instinkte nicht mehr verlassen dürfen?
A. Ja und nein. Schauen Sie Ihren Instinkten zu wie Ihren Hunden, mit denen Sie über Land gehen. Aber behalten Sie sich stets vor, sie zurückzupfeifen, und pfeifen Sie gelegentlich auch einmal ohne Grund, einfach weil Sie der Herr sind und die Instinkte Ihre Diener.
‚Daß du dann niemals mehr Wein anrührtest!‘ rief ein Knabe seinem Vater zu, der mit ihm die Wendeltreppe eines Turms emporstieg. ‚Welche Selbstüberwindung! Welche — Entsagung!‘
Der Vater nickte lächelnd und wies dem Sohne die Aussicht, die das eben erreichte Treppenfenster erlaubte. Nachdem sie diese eine Weile bewundernd genossen, stiegen sie weiter und gelangten zum nächsten. Welche Entsagung! rief da der Vater verstellt. Hier haben wir nicht mehr den Blick von vorhin. Wie schön war es, auf all die nahen Dächer hinabzuschaun; da störte noch keine Landschaft wie jetzt …
‘— Störte?‘ fragte der Sohn —
… und sind wir erst droben, so werden wir auch diesem Rundbild entsagen müssen; denn droben, du weißt ja, schaut man bei hellen Tagen das Meer … Des Jungen Augen leuchteten auf und dann, der Schelmerei gewahr, maßen sie lange und nachdenklich den Sprecher … bis — hoch, ein Silberstreif — das 173 Meer am Horizont erschien und sie mit Tränen füllte. (Denn wie liebte schon dieser Knabe das Meer!)
Sich bewußt ausweiten. Von Gegensatz zu Gegensatz gehen. Vom Ersten bis zum Letzten und umgekehrt. Keinen und nichts vergessen, übersehen, gering achten.
Wir sind allzumal träge; daraus entspringen die meisten Übel. In jedem schlägt das Gewissen und regt sich das Wissen, wie es im Kleinen und Großen sein müßte und wie es nicht ist. Aber die Faulheit, die Vergeßlichkeit, die Gewohnheit lassen es nicht dazu kommen, daß wir aus Gedanken zu Taten hervorschreiten. Wir kennen manches große innerliche Mittel, aber man sollte auch kleinere, mehr äußerliche schaffen. Alle, die gut sein möchten, aber es nicht so sein können, wie sie möchten, weil sie sich zu schwach dazu fühlen, sollten sich zusammentun und eine Hilfsbrüderschaft über sich setzen, die ihr lebendiges Gewissen darstellt. Eine Gruppe, der sie selbst das Recht einräumten, ja die Pflicht auferlegten, sie immer wieder wachzurütteln und mit dem problematischen Willensmaterial, das in ihnen ist, zu arbeiten — so wie ein treuer Diener, der uns zum Sonnenaufgang aus dem Bett rüttelt, so wie ein Staat, der mit unseren Steuern ‚arbeitet‘. Eine Brockensammlung guter Willensregungen, sozusagen, das gälte es für diese Gruppe Tag für Tag. Des Menschen Wesen ist Schwäche; kann er nicht allein in die Höhe wachsen, so soll er sich an Stangen und Spaliere binden oder binden lassen. Ehre jedem, der statt auf dem Stroh 174 zu verkümmern, zur Krücke greift, Ehre jedem tapferen Invaliden.
Ein Hauptzug aller Pädagogik: Unbemerkt führen. Viele Menschen sind durchaus fähig und gewillt, der Wahrheit zu folgen, aber sie darf ihnen nicht geradezu gesagt, vor Augen gerückt werden. Sie verlieren in diesem letzteren Falle jede Freude an der Wahrheit; denn ihre Eigenliebe ist noch stärker als ihre Liebe zum Geiste, als ihr Geist, und so gefällt ihnen nur, wer und was sie — schont.
Und dann ist da noch etwas: Sie wollen mit Recht ihren Wahrheitsbesitz erarbeiten.
Übe dich an dem Worte: Mit der einen Hand wird gegeben, mit der anderen genommen. Alle Erziehung verläuft unter diesem Pendelgesetz. Alles Erzogensein besteht in der endlich errungenen inneren Ruhe dem einen wie dem andern Schicksal gegenüber und einer Liebe und einem Vertrauen, die höher sind als alle Vernunft zwischen Geburt und Tod.
Wer am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterlichen Entschluß des Durch-ihn-lernen-Wollens wie einen Schild vor sich her.
Wie mancher hat es schon ausgesprochen, daß Heldentum ebenso leichter sein kann als langsame, geduldige, unauffällige Selbsterziehung, wie eine Tat leichter sein kann als eine Handlung, ein Gefühl leichter als ein Empfinden.
175 Habe die Gabe der Unbestechlichkeit. So sehr auch Liebe für dich Partei ergreifen mag: dein Sein gilt, nicht dein Schein.
Sieh an, wie ein Zweirad in Bewegung und Fahrt gesetzt wird. Wenn du deinen Willen so in Bewegung und Fahrt zu setzen vermagst, so wirst du nach einigen Schwankungen wie ein Meister im Sattel sitzen.
Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.
Ich halte es nicht für das größte Glück, einen Menschen ganz enträtselt zu haben, ein größeres noch ist, bei dem, den wir lieben, immer neue Tiefen zu entdecken, die uns immer mehr die Unergründlichkeit seiner Natur nach ihrer göttlichen Seite hin offenbaren.
Glocken um Neujahr: wie der gewaltige Herzschlag einer starken unbesiegbaren Lebenshoffnung.
Unten am Fenster ging Meta vorüber. Mein Herz klopfte hörbar. Es klopfte so heftig, daß ich unwillkürlich “Herein!“ sagte. Und das Tor meiner Traumwelt tat sich ein ganz klein wenig auf und herein schlüpfte: die Liebe.
Es ist eine Kunst für sich, einen Brief zur rechten Zeit ankommen zu lassen. Man vergißt ihrer gewöhnlich. Und doch — wie oft ein intimes, beschauliches Gespräch am Morgen keine Hörer an uns fände, so mutet uns ein Brief morgens und abends anders an.
Einer der seltsamsten Zustände ist das dunkle und unvollkommene Bewußtsein, das wir von der Form und dem Ausdruck unsres eigenen Gesichtes haben. 177 So wird mir oft von diesem und jenem Gesichtsausdruck erzählt, hinter dem sich jedoch durchaus nicht das verbirgt, was man aus ihm schließen zu sollen glaubt.
Es ist ein furchtbarer Gedanke: ich halte die Hand vors Auge und das ganze Zimmer liegt im Dunkel usw.
Das ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl, wenn man sich frühmorgens Gesicht und Kopf abreibt und sich dabei vorstellt: nun hast du deine Gedanken mit gewaschen und abgetrocknet.
An den Glockensträngen der Stimmungen.
Es ist schön, zu denken, daß so viele Menschen heilig sind in den Augen derer, die sie lieben.
Es gibt kaum eine größere Enttäuschung, als wenn du mit einer recht großen Freude im Herzen zu gleichgültigen Menschen kommst.
Ein Weib ohne Bescheidenheit ist dem Manne das Greuel aller Greuel.
Daß der moderne Mensch nicht schreien soll, ist eine seiner qualvollsten und verderblichsten Forderungen an sich selbst.
Der Mann mit Luftballons: Ideale! Kauft Ideale!
178 Je mehr Bewegung man in seinem Geiste auffaßt, je glücklicher ist man. Überall die Bewegung aufzeigen, das schafft das meiste Glück.
Bild:
Erinnerungen, in den Abgrund des Vergessens fliehend (gleitend, fliegend). Die am nächsten schwebenden Gestalten sind schon fast in Nebel zerflossen.
Von der Prahlsucht der Kinder: Wille zur Macht überall versteckt.
Ich definiere den Humor als die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen aus. Oder: Humor ist das Bewußtwerden des Gegensatzes zwischen Ding an sich und Erscheinung und die hieraus entspringende souveräne Weltbetrachtung, welche die gesamte Erscheinungswelt vom Größten bis zum Kleinsten mit gleichem Mitgefühl umschließt, ohne ihr jedoch einen anderen als relativen Gehalt und Wert zugestehen zu können.
Tragikomödie:
Ein Mensch, der seine Gründe, mit denen er bejaht oder verneint, nicht mehr ernst nimmt, sondern unter sie hinab in sein triebhaftes Wesen taucht.
Es ist das Vorrecht junger Mädchen, von Zeit zu Zeit aufzuschreien.
179 Der Mann hat sein Ziel und das Weib hat seinen Sinn.
Zur Ehe: Ein Ballon captif kann den Himmel nicht erfliegen.
Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen wähnen, wenn jemand eine Meinung ausspricht.
Über den Wassern deiner Seele schwebt unaufhörlich ein dunkler Vogel: Unruhe.
Es gibt keine Seele, die nicht ihr Wattenmeer hätte, in dem zu Zeiten der Ebbe jedermann spazierengehen kann.
Mir macht es oft Mühe, deine Gedanken zu denken, aber du wirst niemals meine Empfindungen haben.
Manchmal wird mir die ganze Psychologie verdächtig, wenn ich bemerke, daß auf eine richtige Kombination schon bei den alltäglichsten Dingen so und so viele falsche kommen. Ja, wenn ein Mensch im Prinzip so denken und empfinden müßte, wie die andern!
Das schwer Übersichtliche, das nicht recht Durchdringliche — damit lockt uns das Leben selbst immer weiter und damit lockt auch der platteste Betrüger noch — und gewinnt.
Das Geheimnisvolle ist schlechtweg der sicherste Reiz an den Dingen. Zum Beispiel ein altes Haus, eine Landschaft, die mehr noch verbirgt als zeigt. Ibsen hat darum von jeher gewußt. (Vielleicht zu sehr gewußt .) Es ist 180 eine Art Dämmerluft um die Dinge. Wie mystisch wirken z.B. nachts die Häuser einer Stadt. Solch ein Haus mag noch so häßlich sein, nachts wirkt es mit dem ganzen Zauber eines unbegreiflichen Behältnisses unbegreiflicher Wesen, die namenlos und unerklärlich geworden sind, wie es selbst.
Warum fühlen wir uns so zum Romanischen als dem wesentlich Formalen hingezogen? Weil wir selbst vielleicht nur zu fähig sind zu zerfließen, uns metaphysisch zu interpretieren, uns mystisch zu entindividualisieren und zu ‚vergöttlichen‘ und dafür das einzubüßen, was starke Völker und Zeitalter unter einer großen, starken Erdenpersönlichkeit verstanden haben.
Der gesunde Mensch ist schön und sein Zustandekommen erstrebenswert. Aber es muß ein bißchen irgendwelcher Krankheit in ihn kommen, daß er auch geistig schön werde.
Möglichst viel Glück sagt man. Aber wie, wenn die höchste Glücksempfindung einen Menschen voraussetzte, der auch Allertiefstes gelitten haben muß? Wenn Glücksgefühl überhaupt erst möglich wäre in einem durch Lust und Unlust gereiften Herzen? Wer möglichst viel Glücksmöglichkeiten fordert, muß auch möglichst viel Unglück fordern oder er negiert ihre Grundbedingungen.
Blicke um dich ins Leben, zergliedere die Schicksale jedes einzelnen derer, die du kennst und frage dich, 181 ob es etwas andres als eine fast unerklärliche Illusion ist, die alle diese Menschen das Leben als lebenswert empfinden und preisen läßt. Ob das große Glück eine andere Rolle spielt als die eines zeitweisen Wetterleuchtens, ob nicht vielmehr die Gewohnheit und das kleine, das ganz minimal dosierte Glück es ist, was dem Menschen das wahre Gesicht seiner Tage verschleiert.
Ich frage mich oft, welches der wünschenswertere Typus von beiden ist: der mehr geistige Mensch, für den es nichts Abstoßenderes gibt, als das Uninteressante, oder der mehr gemütliche, für den es schlechtweg nur Anziehendes und Abstoßendes gibt.
Das ist das Ärgste, was einem Menschen geschehen kann, aus einem Fließenden ein Starrer (ja auch nur ein Stockender) zu werden. Das erkennt mancher und nährt Friedlosigkeit in sich oder unaufhörlichen Zweifel (so tat ich es), oder er ergibt sich einem Streben nach fast Unmöglichem, Ungeheurem. Manche aber überlassen sich ihrer natürlichen Liebe zu Welt und Mensch und damit geraten sie denn bald in die Strömung unendlichen Lebens, werden hineingerissen in den ewigen Zusammenhang aller Dinge, in dem es keinen Stillstand gibt.
Es ist das Unglück, daß Würde und Feinheit von Gedanken oft von den Raumverhältnissen eines Zimmers, einer beglückenden Fensteraussicht, einem gewissen Maß von Licht und Farbe abhängig sind, so daß einer, der sein Leben lang in einer Art von 182 länglichen Schachteln gehaust hat und eines Tages ein edel proportioniertes Gemach betritt, sich zu glauben geneigt findet, wieviel er vielleicht allein durch den Charakter seiner Wohnräume geistig verloren haben könnte.
Das, was allem Rauchen solchen Reiz verleiht, ist, daß sich der Raucher, wo auch immer, mit einer vertrauten Atmosphäre umgeben kann, einer mehr oder minder verklärten Zone, innerhalb der er ein bescheidenes Gefühl von Heimat empfinden darf mit all dem unwägbaren sinnlichen Wohlbehagen, womit uns das oft wiederholte Gleiche beschenkt, indem es wie unser Bett, unser Sessel, unsere Lampe eine gewisse Kontinuität der Stimmung befördert, ja wie in einem immer wieder gewobenen Schleier Gelebtes für uns bewahrt, Werdendes treulich hinzunimmt.
Die Wirtsstube ist die Palette, auf der sich die Farben des Individuums mischen und vermählen. Daher ihr großer Reiz für den Teilnehmer wie für den Betrachter.
Es ist ein wahres Glück, daß der liebe Gott die Fliegen nicht so groß wie die Elefanten gemacht hat, sonst würde uns, sie zu töten, viel mehr Mühe machen und auch weit mehr Gewissensbisse.
Ob Geister, sofern es solche gibt, auch Bücher lesen? Ich meine, ob sie, wie sie vielleicht in unserm Zimmer mit uns wohnen, auch dann und wann, in stillen Winternächten etwa, wenn sie es müde geworden sind, den massigen Menschenschläfer zu betrachten und zu belauschen, sich in die Werke vertiefen, die 183 auf unserm Tische liegen? Vielleicht verstehen sie das Geheimnis, sie bei geschlossenem Deckel, ohne auch nur ein einziges Blatt umzuwenden, von Anfang bis Ende zu lesen. Wie ich darauf komme? Durch einen kleinen Druckfehler, in einem Werke, in dem ich gerade studiere. Ich zaudere, ihn zu verbessern, — es ist nichts weiter, als daß in dem Bindewort ‚daß‘ das s nicht verdoppelt ist; aber ich tue es endlich doch: Denn, wenn es nun doch Geister gäbe, — müßten sie nicht unglücklich über diesen Fehler werden, den sie selbst nicht verbessern können und aus dessen Stehengebliebensein sie schließen müssen, daß ihr Freund ihrer nicht gedacht hat?
Es ist bekannt, wie viele verlorene Nadeln sich täglich auf Weg und Steg finden lassen. Im äußersten Gegensatz hierzu würde, gesetzt auch geistige Dinge könnten in solcher Weise verloren gehen, täglich wohl kaum Ein Paar Scheuklappen gefunden werden.
Tiefstes Problem des modernen — also wesentlich häßlichen, irgendwie verbogenen, schlecht weggekommenen — Menschen: Wie kann Schönes aus Unschönem kommen? Wie Vollkommenheit aus Unvollkommenem? — Alles ist Ausdruck. Kein Mensch kann Schöneres, Vollkommeneres geben, als er selbst ist. Unser ganzes geistiges Leben ist kein Weg von uns anders wohin, sondern einfach wir selbst.
Es gibt nichts Degoutableres, als fortwährend von sich als Person zu reden (außer zu bestimmten Zwecken), oder über sich reden hören zu müssen. Daher ist es 184 so kläglich, krank zu sein; ein Zustand, in dem dieses Reden und Beredetwerden fast unvermeidlich ist.
Wenn dich jemand ‚vollkommen versteht‘, sei gewiß, daß dich niemand vollkommener mißversteht.
Einander kennen lernen, heißt lernen, wie fremd man einander ist.
Ja — nein: geistiges Strickziehen.
Es ist gut, daß wir Spiegel haben. Daß wir für gewöhnlich unsere eigene Miene nicht sehen, ist eines der unheimlichsten Dinge, die es gibt.
Wir spielen unsere Gedanken gegeneinander aus, in Wirklichkeit unsere Temperamente.
Alles Sagen ist ein dem andern in sich Sagen, und der sagt's.
Wenn wir die Macht und Unbedingtheit einer Liebesleidenschaft begreifen wollen, so brauchen wir nur zu bedenken, daß sich in den beiden Menschen, die sich lieben, zugleich der dionysische Rausch zweier riesenhafter Zellenvölker manifestiert — so, als ob Rußland aus lauter Männern und Westeuropa aus lauter Weibern bestände und eines Tages will das zusammen in orgiastischer Hingerissenheit.
Eine wenn auch noch so leichte Sentimentalität gehört unstreitig zum Charme jeder Frau. Sie ist die Verbürgerin 185 jener Augenblicke, wo wir ihr ganz Schutz, ganz Ruhe, ganz Meer sein dürfen.
Man verliebt sich oft nur in einen Zustand des andern, in seine Heiterkeit oder in seine Schwermut. Schwindet dieser Zustand dann, so ist damit auch der feine besondere Reiz jenes Menschen geschwunden. Daher die vielen Enttäuschungen.
Die meisten Menschen verdunsten einem, wie ein Wassertropfen in der flachen Hand.
Wir sind alle hart und äußerlich zueinander, auch wenn wir noch so sehr aufeinander einzugehen trachten; aber wenn wir getrennt in unsern Zimmern liegen und nachts der Regen herniederfließt, dann suchen wir uns im Geiste mit zärtlicher, bereuender Teilnahme, dann drängen wir uns aneinander wie unwissende und zusammenschauernde Preisgegebne auf dunklem Meer, dann liebkosen und trösten sich unsere Seelen, die der erkältende Tag wieder verstocken und verhärten wird, dann lieben wir wirklich einander mit einer tiefen, schwermütigen, unbezwinglichen Liebe.
Es ist schauerlich an Toren zu rütteln, die verschlossen sind; noch schauerlicher aber, wenn sie nur aus dünnem Seelenstoff, ja, wenn sie nur aus den kühlen, harten Blicken einer Seele bestehen, die dich nicht in sich eindringen lassen will.
Wir sind alle Besessene, man muß das Wort nur wörtlich genug verstehen. Aber zugleich können wir auch 186 Mehrer dieses uralten Besitzstandes sein, den wir ‚unsern Geist‘ nennen, zugleich auch Besitzergreifende.
Die Forderung möglichster Klarheit in allen Dingen, die wir andern gegenüber so gern geltend machen, entspringt vornehmlich dem Unbehagen, das uns alles nicht völlig Verstandene als etwas von uns nicht völlig Beherrschtes einflößt. Es ist der ewige Kummer der Durchschnittsintelligenz, daß es auch außerhalb ihres Begriffsvermögens noch Geistigkeit gibt.
Eine schwache Persönlichkeit wird manchmal eine stärkere Persönlichkeit werden können als eine starke Persönlichkeit.
Glaubt ihr, ein Asket wolle weniger herrschen als ein Weltmann?
Der Geist legt den Charakter des Menschen auseinander in seine Teile, aber diese Teile gibt es in Wirklichkeit nicht.
Die Ruhe vor dem Tode, das Entsetzen vor dem Tode — wie erklärlich von der Seele, die ihre — zum mindesten nächste — Zukunft voraussieht.
Wie die Gefahr des Tauchers der Tintenfisch, so des Grüblers die Melancholie.
‚Totentanz‘ ist gar kein Thema. Man sollte zeichnen und malen, wie das Weib den Mann in den 187 großen Mischmasch hineinzieht. Unten sollte man die breite Bettelsuppe des heutigen Lebens hinmalen, und in diese Suppe hineinführend eine unabsehbare Kette von Weib und Mann, immer das Weib voraus, mit tausend Gebärden, von der unschuldigsten bis zur lasterhaftesten. Die Männer, auf die es ankommt, wollen schaffen, sie wollen die Welt vorwärtsbewegen; das Weib aber will vor allem wohnen. Ihm genügt das Gegenwärtige vollkommen, und es glaubt sich völlig gerechtfertigt, wenn es der Zukunft in Form von Kindern dient. Es ist die, trotz der bekannten Unbilden bequemste Art, den Fortschritt der Menschheit zu fördern: man stellt ein Kind, das heißt man beschränkt sich darauf, die Aufgabe weiterzugeben, einen Dritten vorzuschieben. Solange die Frauen das nicht begriffen haben, nämlich, daß es neben ihrem üblichen häuslichen Ideal auch noch andere größere Kulturideale geben könnte, wird die Menschheit nicht entscheidend vorwärts rücken. Und deshalb liebe ich die Russen und Skandinavier so sehr, denn dort findet man heute noch am ersten Frauen, die nicht nur Sinn für sich, sondern auch Sinn für den Mann haben, die ihn wirklich wie Kameraden unterstützen, und nicht nur als gesetzliche Konkubinen zum obersten Haussklaven machen wollen.
Den seelischen Wert einer Frau erkennst du daran, wie sie zu altern versteht und wie sie sich im Alter darstellt.
Wie macht das Gefühl bloßen Sichnaheseins Liebende schon glücklich.
188 In der Bewunderung manch eines Menschen liegt etwas Schamloses. Sein ‚Wie schön ist das! Wie schön ist das‘ ist nichts andres als ein ‚Wie wohl fühle ich mich, wie wohl fühle ich mich!‘ Das aber brauchte er nicht fortwährend in die Welt hinauszuempfindeln. (Im ‚nil admirari‘ liegt doch immerhin ein ganzes Teil Selbstzucht und Takt.)
Dunkelblau gekleidete kleine Mädchen auf grünen Matten — eine beinahe tragische Wirkung.
Es ist eines der merkwürdigsten Dinge der Welt, daß man eine Seite und mehr lesen kann und dabei an ganz etwas anderes denken.
Wäre der Mensch nicht noch fast vollkommen Tier, so würde er in einer so über alles Maß gewaltigen und erschütternden Welt, in verhältnismäßig unmittelbarer Nähe eines Naturphänomens wie unserer Sonne, — um nur etwas herauszugreifen — nicht so sein, wie er heut noch ist: ein kleinliches, grämliches, banales, kindisches, eitles, zanksüchtiges, gedankenloses, planloses, kurz, durchaus noch dumpfes und niederes Wesen.
Es ist schmerzlich, einem Menschen seine Grenze anzusehen.
Im Grunde spricht sich wohl in allen Forderungen, die der Mensch an seine Gattung stellt, nur der Wunsch des Menschen nach größerer und feinerer Behaglichkeit des persönlichen wie sozialen Lebens aus: Der 189 Mensch will wohl endlich soweit kommen wie die Blumen und die Bäume: ruhig leben und sterben zu dürfen. Zweifellos wünschen sich die meisten Menschen nichts Besseres.
Wir sind geborene Polizisten. Was ist Klatsch andres als Unterhaltung von Polizisten ohne Exekutivgewalt.
Eine Hauptsache bei vielem ist, daß stets der Anschein äußerster Wichtigkeit erweckt wird. Wenn z.B. eine Katze ihrem Verehrer fortläuft, so muß das aussehen, als ob sie auf der anderen Seite des Weges etwas ungemein Wichtiges zu tun hätte, was jeden andern Gedanken ausschlösse. Oder wenn ein sogenannter Zahlkellner gerufen wird, so muß er immer erst wie der Mond aus dem Gewölk treten, das heißt erst nach längerer Zeit und nur auf einen Moment, zu dem man sich beglückwünschen muß, da ihn neues Gewölk schon wieder zu verschlingen droht. Auch in geistigen Dingen nützt dergleichen viel, und wer darauf verzichtet, kann sicher sein, daß ihn sobald keiner wichtig nimmt.
Ironisches Gebot:
Wenn du gereizt bist, so wirf die Tür hinter dir zu, das erweckt allgemein Furcht.
Es gibts nichts Lohnenderes, als der Schwachheit des Menschen durch ein schönes Wort zu Hilfe zu kommen. Verordne einem ‚Patienten‘ dreimal täglich Manulavanz, und er wird sich über alle erhaben fühlen, die sich bloß die Hände waschen. Je interessanter du 190 seine Gewohnheiten benennst, desto geschmeichelter und dankbarer wird er sein, und das eine Wörtchen Alkoholismus, um ein Beispiel zu nennen, hat sicherlich nicht nur Gorkis Satin, sondern unzählige andere Unglückliche unzählige Male berauscht und getröstet. Übersetze das Unglück maßvoll ins Arabische, Griechische, Lateinische, und du wirst ein wahrer Wohltäter der Menschen werden. Du gibst ihrem Geist dadurch Anregung, du verschaffst ihnen eine kleine Distanz zu ihren Leiden oder Lastern. Wie fremdartig ist es, Angina zu haben, wie beinahe ehrenvoll, die Krisis eintreten zu fühlen. Du knüpfst damit das Individuum, das nichts mehr fürchtet als das Alleinsein, das Alleingelassenwerden, an ferne fremde Zeiten und Kulturen; das alte, das neue Europa versammelt sich um sein Lager, und selbst wenn die Pest es befällt und fällt, kommt sie ihm doch aus Asien: die Mutter der Menschheit selbst trifft es mit den Schatten ihrer gewaltigen Flügel.
Was ist das Erste, wenn Herr und Frau Müller in den Himmel kommen? Sie bitten um Ansichtspostkarten.
Es ist etwas Herrliches, wenn in das Händeklatschen einer Menge jenes Elementare kommt, das ich das Mark des Beifalls nennen möchte.
Mir sind diese Leute, die über alles so klug zu reden wissen, verdächtig. Des Geistes zeugende Kraft ist nicht in ihnen. Wem die Natur etwas Eigenes zu sagen mitgab, den kümmert es wenig, in jenem Sinne 191 klug zu reden. Ihn erfüllt ganz der Geist seiner Aufgabe (nicht der Aufgabe anderer).
Wer sich selbst auch nur Einen geistig regen Vormittag streng beobachtet, dem muß das scheinbare Filigran der Psychologie vorkommen, wie ein Gespinst aus Baumstämmen.
Die Psychologie befaßt sich mit den einzelnen Wellen des Baches. Aber hat ein Bach je aus — Wellen bestanden?
Die Psychologie antwortet, so wie der Lehrer dem Kinde, das ihn fragt: Was ist das — ein Baum? Ein Baum, sagt er, ist eine Pflanze mit Wurzeln, einem Stamm, Ästen, Blättern usw. Und das Kind des 19. Jahrhunderts ist ganz glücklich, daß es nun ‚weiß‘, was ein Baum ist.
Man muß scharf zwischen dem aktiven und dem kontemplativen Menschen unterscheiden. Jedem sein Reich und seine Welt für sich. Und vor allem, wird der Kontemplative sagen, dem Aktiven sein Reich für sich. Denn wenn der Kontemplative der Duft der Lebensblume ist, so ist der Aktive, so ist ‚die Welt‘ der einzige Weg zu diesem Duft.
Wenn ich die Augen fünf Minuten lang geschlossen und inzwischen nicht ganz klar und zusammenhängend gedacht habe, so könnte ich mir leicht einreden, ein Jahr sei vergangen und noch viel mehr.
192 Es gibt nichts Sinnverwirrenderes, als eines Tages zu entdecken, daß man als der und der lebt.
Je tiefer einer wird, desto einsamer wird er; aber nicht nur das: desto mehr lassen ihn selbst seine treusten Freunde allein — aus Zartgefühl, Schamgefühl, Liebe, Ehrfurcht, Verlegenheit, Hochachtung, Scheu, kurz, aus den allerbesten Gründen und mit dem unanfechtbarsten Takt des Herzens.
Man hat nie nur einen Grund zu einer Handlung, sondern hundert und tausend.
Heftige Bewegungen machen alle Tiere scheu. So sollte sich auch der vollkommene Weise im Geistigen jäher Bewegungen enthalten. Im Grunde ist es das Gleiche, wie du an ein Pferd herangehst und sein Zutrauen gewinnst, und wie du an einen Menschen dich wendest und ihn eroberst.
Je ernster ein Kritiker seine Kritik nimmt, desto kritischer wird er seinen Ernst nehmen.
Der Ironiker ist meist nur ein beleidigter Pathetiker.
Viele der Feinsten gehen in sich gekehrt durchs Leben, weil sie es nicht ertrügen, von andern überlegen betrachtet zu werden. Sie fürchten die Verwundung ihres Stolzes, den Verlust ihres Machtgefühls, sie ziehen es vor, in ihren vier Wänden die Ersten zu sein, statt auf dem Markte die Zweiten. Aber manch einen macht solch heimliches Schatzhütertum auch bitter und hochfahrend. 193 Immer lauter muß er bei sich Stolz nennen, was im Grunde vor allem Furcht ist, um schließlich, statt der Verschwender, der giftige Drache seines Horts zu werden, der alle Welt ob ihrer Armut verachtet.
Vorsehung —
Ich kann mir wohl denken, daß in einem genialen Menschen auch ein geniales un- oder unterbewußtes sich Vorsehen waltet, so wie einer im Traumwandeln dem überall drohenden Tode instinktiv ausweicht.
Napoleon im Kugelregen.
Wie nahe Furcht und Mut zusammenwohnen, das weiß vielleicht am Besten, wer sich dem Feind entgegenwirft.
Phantasie ist ein Göttergeschenk, aber Mangel an Phantasie auch. Ich behaupte, ohne diesen Mangel würde die Menschheit den Mut zum Weiterexistieren längst verloren haben.
Was wirkt am innerlich glühenden Menschen nicht übertrieben? Steht er nicht ewig wie unter lauter Großmüttern und Großvätern? Und geht und spricht er drum nicht am liebsten zu — Kindern?
Dieser Brief wäre an Dich gerichtet, von dem ich zehn Jahre nichts mehr gehört noch gesehen habe? O nein, wie wäre das möglich. Er ist an das Bild 194 gerichtet, das ich von damals und früher von Dir in mir trage, das ich zwar zu modifizieren versucht habe, aber mit nicht größerem Glück als der Bildhauer, der Deinen Kopf vor 10 Jahren geformt hätte und nun unternähme, die 10 Jahre Veränderung hineinzubringen, ohne das also veränderte Original vor sich zu haben.
Und Dein Brief, meinst Du, wäre an mich gerichtet?
Es ist rührend, dem Erklären und Beschreiben feiner Historiker und Psychologen zuzusehen: mit wie geschickten Fingern sie das Leben zergliedern, zerfasern — und wie dennoch das Geheimnis dieses Lebens unberührt bleibt.
Manche Menschen machen sich vor andern so klein wie möglich, um — größer als diese zu bleiben.
Dem Worte Größenwahn ist noch nie das Wort Kleinheitswahn oder Niedrigkeitswahn gegenübergeprägt worden. Und doch ist dieses Leiden so verbreitet, daß ganze Völker noch nicht darüber hinausgekommen sind, sich als bloße Tiere zu empfinden, zu gebärden und zu behandeln.
Mein Satz: Dummheit als absolut notwendiges Retardivum.
Ein berühmter Arzt ist wie eine junge Millionenerbin. Er weiß nie, wie weit man ihn als Menschen und nicht nur als Arzt liebt.
195 Wie wohl kann das Geräusch einer Säge oder einer arbeitenden Lokomotive tun, ein Hämmern, ein Türenschlagen, ja selbst ein Wagenrasseln, wenn man wund und weh daliegt und nach einfachen kräftigen Grüßen des Lebens hungert.
Jedes Wort ist notwendig Pol. Im Innern sind wir nur als Wortlose, sind wir nur, sobald wir bloß sind , unser Sein bloß fühlen . Daher das tiefe Friedensgefühl, das wir allem Vegetativen beilegen und beilegen dürfen.
Im Schachspiel offenbart sich durchaus, ob jemand Phantasie und Initiative hat oder nicht.
Wahrlich eine verderbliche Lehre: es sei die Bestimmung des Weibes, Gattin oder Mutter zu werden. Damit wird das Weib als Mensch, als Individuum völlig ausgeschaltet, als hätte es an sich überhaupt keinen Wert, keinen Sinn, keine Entwickelungsmöglichkeiten, habe überhaupt nur in Beziehung auf Gatten und Kind Existenzberechtigung. Möchten sich doch alle darüber klar werden, daß wir außer Männchen und Weibchen auch noch Menschen sind.
Im Sohn will die Mutter Mann werden.
Das ist die Gefahr von uns Künstlern: Wir empfinden z.B. einen aufgestützten, entblößten Frauenarm von so hinreißender Schönheit, daß wir ganz vergessen, daß er einer bestimmten Frau gehöre. Und wenn wir zu 196 dieser Frau nun in Liebe entlodern, so ist es eigentlich die Schönheit des Weibes, des Menschen überhaupt, die wir anbeten, weniger sie selbst. Und da setzt leicht die Tragödie ein.
Ein Mädchen gefällt uns nicht so sehr etwa um ihrer Augen willen, als ihre Augen um seinetwillen, das heißt um seiner ganzen imponderablen Persönlichkeit willen.
Das Weib mischt uns ins Leben hinein.
Leichtsinn und Geduld, zwei weibliche Haupteigenschaften.
Natürlichkeit, Schwester der Freiheit (und Einfalt).
Es ist schauerlich, Klavier spielen zu hören, während man über Berge und Täler hinwegblickt und die Erde als eine ihrer unzähligen Schwestern mit sich im unendlichen Räume schweben und kreisen fühlt.
Ein gewisses Maß von Schelten gehört wohl zum Leben. Schelten in seiner sublimiertesten Gestalt, als philosophischer, ja, als religiöser Pessimismus, dürfte ebenso nur eine Art von Ventilierung sein, wie der mehr oder minder gerechtfertigte Ärger des Eintags. Alles in Allem möchte hier ein Zuchtproblem vorliegen, das nur selten gelöst werden wird; wenn nämlich dies ganz große Zucht (also ganz großer Stil) ist: ein leidenschaftlich empfindsamer Geist und doch zugleich ein Weiser zu sein.
197 Die Meisten wissen garnicht, was sie für ein Tempo haben könnten, wenn sie sich nur einmal den Schlaf aus den Augen rieben.
Manche Menschen treiben leicht ab. Unversehens sind sie anderswo, als wo man sie haben will, als wo sie sich selbst haben wollen.
Darum können Zeitungen so sehr schaden, weil sie den Geist so unsäglich dezentrieren, recht eigentlich zer—streuen.
Wer sich überhebt, verrät, daß er noch nicht genug nachgedacht hat.
Vielen ist Reisen ein Ersatz für Leben. Es gibt oft nichts Schmerzlicheres, als solches zu erkennen.
Wenn die Mehrzahl der Menschen das Kleine nicht so viel wichtiger nähme als das Große, würde das Große nie auf seine Rechnung kommen. Wenn der Mensch sich mehr um den Himmel als um die Erde kümmerte, würde nicht nur die Erde, sondern auch der Himmel verkümmern. Der Geist ist nicht umsonst in die Materie herabgestiegen.
Wie schön ist es, das Auge von einem schönen Buch, in das man versunken war, zu einer schönen Landschaft aufzuschlagen. Dieser kurze Übergang von chiffrierter Geisterwelt in symbolische, dieser jungfräuliche Augenblick unbewußten Staunens ist einzig.
198 Alles was nicht leicht verstanden wird, reizt leicht. Die edelste Musik kann so z.B. ebenso wie die tiefste Philosophie Gegenstand erbitterter Gegnerschaft werden.
Solange das Tier noch gegessen wird, solange wird es seinen Esser auch besitzen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Oder glaubt man wirklich, es sei keine Beziehung zwischen der Dummheit des Kalbes, der Kuh, des Ochsen und der ihrer Verzehrer, es übertrage der Hammel, das Schwein, der Fisch usw. nicht ganz besondere psychische Hemmungen oder Reize?
Es gibt nichts Schwereres, als einen Menschen, den man liebt, einen Weg gehen lassen zu müssen, der zur nächsten Stadt führt, statt auf den nächsten Gipfel.
Für den Trägen gibt es nichts Aufreizenderes als die unaufhörlich fortschreitende Zeit. Er fühlt, wie sie über ihn hinweggeht und stammelt ihr in dumpfem Ingrimm seine Verwünschungen nach.
Was gegen die höchsten, reinsten Empfindungen ausgespielt wird, sind nichts als die gleichen Empfindungen, nur noch mehr oder minder vor ihrer Katharsis. Wie kann man den Satz nachsprechen: Gott ist die Liebe, und an anderer Stelle der Meinung sein, eine vom Tierischen ganz losgelöste seelisch-geistige Liebe sei — wohl vielleicht eine reinere, aber auch eine kühlere, blassere, ohnmächtigere Liebe!
199 Es gibt Seelen, zu schamhaft, Wege der tieferen Erkenntnis beschreiten zu wollen. Sollten sie als ‚von Gottes Stamme‘ nicht noch zu wenig stolz sein und als Arbeiter an Gottes Reiche nicht noch zu wenig demütig?
Welcher Erfahrene kennt nicht im Geistes- und Empfindungsleben den Zustand des Federsträubens der Vögel.
Ich machte die Beobachtung, daß Menschen, die beim Beifallklatschen die Arme weit von sich, ja fast über Kopfeshöhe ausstrecken, in einer zugleich wunderlichen und schmerzlichen Weise den Anblick ungeduldig Bittender, ungeduldig — Betender gewähren, eine Vorstellung, von der sie selbst nicht das Geringste ahnen und die doch nichts weniger als ihre ganze dürstende Seele — in einem doppelgängerischen Bilde gleichsam — enthüllt.
Die Anzahl der geistigen Foltermittel, die wir heute noch unter- wie gegeneinander bewußt oder unbewußt anwenden, ist groß. Eines davon ist das Fragen. Es gibt Menschen, die so wenig wie möglich gefragt sein wollen; wohlverstanden: nach Unwesentlichem. Und Gegenstücke dazu: Menschen, die fast keine andere Interpunktion kennen, als das Fragezeichen.
Wie mancher muß sich auf Kosten seiner Vergangenheit lieben lassen. Diese Vergangenheit hat ihm vielleicht ein gutartiges Gesicht gegeben. Älter werdend aber erkennt er mehr und mehr auch das Böse 200 in sich. Nun aber hängt ihm seine Miene wie ein Schild vor, das nur die eine Seite seines Wesens anzeigt.
Gewiß hat der Mann die moderne Kultur geschaffen, aber sie ist denn auch nur für ihn ein so ungeheurer Ruhmestitel. Er selbst würde vermutlich nie an dieser kompakten Errungenschaft vorbeikommen, wenn es nicht Frauen gäbe, die, ohne seinen ‚Geist der Schwere‘ himmlisch unbefangen daran vorüber und dem entgegenschritten, was ihrer Seele — denn für sie gibt es in der Tat und horribile dictu noch eine Seele — not und wohl tut.
Wie ein Wind über ein Ährenfeld, so ging diese durchfahrene Viertelstunde über seine bewegliche Seele.
Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muß viele Möglichkeiten der fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten und danach, was man geben kann, einrichten.
Es gibt Naturen, die für sich allein Stunden lang mit ihren Freunden und Bekannten reden, während ihnen in deren Gegenwart jeder Gesprächsstoff entfallen ist.
Du wohnst in einem Hause, das viele Menschen mit dir zugleich bewohnen. Einer dieser Hausgenossen ist ein auf den Tod Kranker, von dem du weißt, und viele der andern wissen es mit dir, daß ihm jeder Lärm, vor allem jede irgendwie laute und grelle Musik zur vollkommenen Folter und Marter wird. Da erscheint 201 ein Mann mit einer Ziehharmonika vor dem Hause und fängt an seine Operetten zu spielen. Dein erster Gedanke ist: Dem Mann muß sofort ein Geldstück gegeben werden, das ihn veranlaßt, sein Spiel einzustellen und weiterzugehen. Aber du kannst es nicht, denn du liegst selbst zu Bett und deine Bedienung ist ausgegangen. Aber das ganze übrige Haus! Einer wird doch gleich dir auf den Gedanken kommen, wenigstens einer aus der nächsten Umgebung des Kranken. Niemand rührt sich. Der Musikant spielt eine Viertelstunde lang, er überbietet sich.
Wie dieses Haus, so ist das Haus der Welt. Einer darinnen vielleicht hat jeweilig den rechten ursprünglichen Gedanken — den Gedanken, der sich im Grunde von selbst versteht — aber er ist an seiner Ausführung gehindert. Vielen andern geht auch noch so etwas Ähnliches durch den Sinn — aber sie lassen es beim Gedanken von vornherein bewenden. Ermiß daraus die Kraft der Originalität des Menschen, berechne daraus die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit einer wahrhaft originellen Handlung.
Unser Begreifen ist Schaffen; seien wir doch selig in diesem Bewußtsein.
Der Mensch ist ein in einem Spiegelkerker Gefangener.
Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.
Ein jeder sollte erst seine Grenzen anzugeben suchen, soweit er sie selbst erkennen kann, um darauf umso freier und unbefangener seine Beobachtungen und Meinungen niederzulegen.
Die Menschen haben sich daran gewöhnt, von hinten nach vorn, statt von vorn nach hinten zu denken.
Bedeutet es schließlich etwas, seine Kniee und Füße anblicken zu können? Und doch kannst du es nur solange, als du in dir lebst.
Nur der Erkennende lebt.
Ich darf wohl sagen: Ich liebe die Wissenschaft von Grund aus und hasse alle Schwarmgeisterei. Eine Wissenschaft aber, die vergißt, daß sie eine seltene, wunderbare Blume auf dem Boden des Mysteriums ist, ja, die vergißt, daß sie selbst Mysterium ist, sie fällt mit der übelsten Schwarmgeisterei in eins zusammen, 203 sie ist im Tiefsten inferior, allein schon rein intellektuell genommen.
Die Wissenschaft ist nur eine Episode der Religion. Und nicht einmal eine wesentliche.
Alles erkenntnistheoretische Denken ist ein Spielen mit dem Feuer. Wenn der Alltag nicht wäre mit seinen 24 breiten Körperstunden, wenn wir nicht als Tiere so fest und ökonomisch gebaut wären, so würde unser armes Gehirn zehnmal statt einmal verbrennen, so wäre philosophische Begabung und Anwartschaft auf Verrücktwerden dasselbe. Und so wird dieses Spiel denn auch immer gewagt werden dürfen. Zwar, der Einsatz ist dein Leben, aber wenn du auch die Gefahr nicht bestehst, so brauchst du selbst keineswegs grundsätzlich zu verlieren.
Der Denker, der dir kein Grauen erregt, ihn magst du zu Tisch einladen.
Jedesmal wieder, wenn man so recht in die ‚Welt‘ hineindenkt, kommen einem alle menschlichen Gedanken darüber vor wie Kinderstammeln, was sage ich, wie Bewegungen von Insekten, die von der Spitze ihres Grashalms in die Luft hinaustasten. Und das gilt nicht nur von gewöhnlichen Gedanken, das gilt ebenso von den tiefsten Gedanken unserer fähigsten Köpfe. Nur daß wir durch unsere Sinne die Welt so vereinfacht — besser vielleicht von einem Unendlichfachen auf ein Fünffaches gebracht — haben, ermöglicht uns, in ihr mit so festen Schritten zu wandeln; nur daß wir meinen, 204 ‚die Welt‘ in Wahrheit vor uns zu haben, wie ein gewaltiges Gemälde, das — wenn auch nur im Großen — so sei, wie wir es sehen, ermöglicht den ganzen Schatz menschlich-bürgerlichen Hochgefühls, die Freudigkeit des Tatmenschen, den tragischen Stolz des Philosophen, die königlichen Empfindungen des Künstlers. Unsere Armut ist es, die uns reich macht, unsere Beschränktheit, der wir das Gefühl unbeschränkter Entwickelungsfähigkeit verdanken. Aber umsonst. Irgend einmal und dann immer wieder wird — wenn auch nur blitzartig — die Armut als Armut, die Beschränktheit als Beschränktheit erkannt, die großartige Illusion zerreißt und die Geschichte der Erde und seines Bewohners entpuppt sich in der Riesensaison des ‚Universums‘ als — bürgerliches Schauspiel, eines unter unzähligen, Verfasser unbekannt, Wert indifferent.
Das Urbuch der Welt wird mit sympathetischer Tinte geschrieben.
Nur im vorbereiteten Herzen kann ein neuer Gedanke Wurzel fassen und groß werden. Sich vorbereiten, sich zubereiten, den Acker lockern für das beste Korn, ist alles.
Es gibt kein größeres Hindernis, zur Wahrheit zu gelangen, als — schreiben zu können. Vergiß deinen Stil, vergiß allen Stil, überlaß dich ganz dem Rhythmus der inneren Stimme, überlaß alle ‚Kunst‘ denen, die mehr Künstler sind als Wahrheitssucher.
205 Der Materialismus hat uns in viele Jämmerlichkeiten gestürzt, aus denen wir uns erst nach und nach wieder erheben werden.
Alles Denken ist Zurechtmachen.
Wunder ist ein Orientierungsbegriff wie tausend andre. Wird dieser Begriff mehr und mehr aus der Welt geschafft, so heißt das nichts weiter als: wir brauchen diesen Orientierungsbegriff nicht mehr, er ist für uns aufgegangen in den Begriff Entwickelung.
Wunder nannte man einst alles Übernatürliche. Da man heute übereingekommen ist, alles überhaupt Mögliche dem Begriffe Natur unterzuordnen, gibt es nichts Übernatürliches, also auch kein Wunder mehr. Aber Natur ist auch nur ein heuristischer Begriff und wer sich in der Zwangsjacke eben dieser Begriffe nicht wohl fühlt, wird ihn abermals entthronen und das alte Wort Wunder — vielleicht auf lateinisch als ‚Mysterium‘ — in einem neuen größeren Sinne über ihn setzen. Worte, Worte! Wird man nie begreifen, daß Worte nur Entscheidungen sind, nicht Erkenntnisse?
Es ist eine sehr geistreiche (!) Forderung, die ‚Natur‘ auf ‚natürliche‘ Weise erklärt sehen zu wollen.
Wie mancher Gedanke fällt um wie ein Leichnam, wenn er mit dem Leben konfrontiert wird.
206 Ich meine: Gehirn und Dinge sind in Einem Zirkel beschlossen. Im Gehirn kann nicht sein, was nicht im Stoff ist.
Wenn die Gehirnorganisation all ihr Um-sich unter den Formen von Zeit und Raum begreift, so ist anzunehmen, daß der unendliche Stoff hier keine ihm nicht entsprechende Organisation wird hervorgebracht, oder: wird zugelassen haben. Ich meine, diese Organisation, die unter Raum und Zeit begreift, erstand doch selbst aus dem, was sie nun begreift, und kann darum als Funktion des zu Begreifenden nicht essentiell von diesem verschieden sein …
A. Wenn jemand von einer Philosophie der Ameisen reden würde, so möchte er wohl fröhlichem Lachen begegnen. Aber ist die Philosophie der Menschen wirklich etwas so sehr, sehr anderes, als eine Philosophie der Ameisen wäre? Stelle dir nur an einem schönen Sommerabend den Erdball und das Leben auf seiner Oberfläche vor!
B. Ja ja, mein Lieber, wenn es die Menschen nur nicht zu dem einen Gedanken gebracht hätten: alles ist mir nur insoweit bekannt, als es meine Vorstellung ist. Dieser Gedanke, der ihm alles zu nehmen scheint, gibt ihm zugleich das Recht, sich selbst dem Sternenhimmel gegenüber zu behaupten, denn das Bewußtsein, daß alles, was er da erkennt, nur ein Bild in ihm ist, ja, noch mehr, das dies ‚er selbst‘ nur ein Bild — soll er sagen sein Bild? — ist, erlaubt ihm, deinem Ameisengleichnis den Stachel zu nehmen, so gut, wie dem Eindruck gestirnter Ewigkeit. Die Rechnung 207 steht nun für ihn so: Auf der einen Seite ‚alles Seiende‘ als Bild. Auf der andern das, welches ‚all dies Seiende zusamt sich selbst‘ — als Bild empfindet. —
Wir sind wieder da, wo jeder zuletzt hinkommt, und was ich beim Lesen Meister Ekkeharts einmal so formulierte: Gott ist ein Subtraktionsexempel.
Betrachte den Fühler dieses feingliedrigen Käfers. Was ist der Mensch anderes als solch ein Fühler, von unbekannter Urkraft ausgestreckt, tastend sich über die Dinge zu unterrichten suchend, zuletzt forschend zurückgekrümmt auf sich selbst — ? Der Mensch, ein Taster Gottes nach Sich selbst.
Alles Denken ist Übersetzen Gottes ins Rationalistische. Von Gott, dem Original, wissen wir nur durch Gott, den Übersetzer.
Man hat Hegel verspottet, weil er sagte, aus ihm rede der Weltgeist. Ach, auch aus ihnen, den Spöttern, redet leider nichts anderes.
Ich lese mit Erschütterung in Hegel, an dem ich immer vorbeigegangen war. Zwei Dinge hielten einst schon den Studenten ab, Hegeln eine unbestimmte geheime Neigung zu entziehen: Seine überlebensgroße Büste, die ihm am Kastanienwäldchen hinter der Berliner Universität manchen bedeutenden Augenblick schuf, und das über ihn umlaufende Wort: niemand habe Hegeln zuletzt mehr verstanden, nicht einmal er selbst. Ich halte den nämlich nicht für den Träger und Offenbarer höchster Erkenntnisse, der diese Erkenntnisse ein 208 für alle Mal ‚versteht‘. Das Höchste vermag der menschliche Geist auch nur in höchsten Momenten zu leisten, und manchmal ist es nur ein Blitz, der die Tiefe der Welt sekundenlang aufreißt.
Entweder man ist Künstler oder Philosoph. Der Philosoph achtet die Kunst, ja liebt sie, — aber er komplimentiert sie hinaus, wenn er mit seinem Ernst allein sein will.
Wogegen ich mich vor allem richte, das ist die Bürgerlichkeit so vieler bisheriger Philosophie. Es fehlt mir darin zu sehr an jener Überwältigung des menschlichen Geistes durch das, was ihn wohl überwältigen darf: die nicht nur rechnerisch gebrauchten, sondern innerlich erlebten Vorstellungen von Ewigkeit und Unendlichkeit. Für mich beginnt Philosophie hart vor dem Wahnsinn, sonst ist sie ein Handwerk wie andre auch. Und sie muß immer wieder bis hart an den Wahnsinn führen, das ist beinahe eine Forderung der Sittlichkeit philosophischen Denkens, da es sonst einen Mangel an Leidenschaft zu bedenklich verrät. Ohne Leidenschaft aber ist jede Tätigkeit großen Stiles, so erhaben sie sich auch geben mag, gemein.
Wie mancher Steinregen im Hochgebirge verdankt dem Klettern einer Gemse seinen Ursprung. Dies bedenke auch du, der du auf Gedankenbergen herumkletterst, und — freue dich dessen oder mache dir Vorwürfe darüber oder beides zugleich, je nachdem du geartet bist.
209 Man muß Pessimismus und Optimismus als ‚Stimmungen‘ hinter sich lassen, wenn man, obzwar erkenntnislos, aber von allen Seiten umwittert, den Pfad der Wirklichkeit wandelt.
Sei nur Skeptiker, es gibt keinen besseren Weg als den fortwährenden Zweifelns. Denn nur, wer die Relativität jeder Meinung eingesehen hat, sieht zuletzt auch die Relativität dieser Einsicht ein — und schwingt sich endlich vom letzten Erdenwort in — Sich selbst zurück.
Wenn ich wüßte, welches Wort der Erde keine Vorstellung enthielte, so würde ich es dazu gebrauchen, das Wort Vorstellung zu überwinden. Aber dieses Wort Vorstellung bleibt zuletzt als einziges auf dem obersten Siebe liegen, das alle andern passiert haben.
Nur glaube man nicht, damit etwas anfangen zu können. Denn wenn ich sage: Die Welt ist meine Vorstellung, so sage ich damit nichts andres als: eine Vorstellung ist meine Vorstellung. Es gibt keinen Weg hinaus, es gibt nur einen Weg hinein.
Welche Vorstellung wäre zuletzt nicht anthropomorph! Anthropomorph, sagt man, sei die Vorstellung eines persönlichen Gottes. Aber der Naturforscher, der sich die Welt unpersönlich, nämlich als Natur, als Wirklichkeit, als einen unendlichen Knäuel von Wirkungen denkt — hat ja auch von sich selbst kein anderes Bild; er sieht sich, interpretiert sich ‚naturwissenschaftlich‘ als ‚Natur‘ und projiziert sich (in seiner neuen Weltinterpretation) nur ebenso unvermeidlich ins ‚Universum‘ hinein wie früher. Oder 210 vielmehr: Universum ist bereits Selbstprojektion. Anthropomorph ist und muß ‚alles‘ bleiben.
Das menschliche Denken ist wie eine trübe Flüssigkeit, die sich im Lauf der Jahrhunderte langsam klärt. Nach immer mehr Erklärung trachtet der Geist, aber das Ergebnis ist nur immer mehr — Klärung. Und zuletzt wird das Denken schön geworden sein, wie klarer Honig, klares Wasser, klare Luft.
Mir fällt in aller bisherigen Philosophie eins auf: Sie hat nie recht genug — Phantasie, Sie zerbrach nie ihre Begriffe — aus Phantasie.
Lichtenberg's Bemerkung, die docta ignorantia mache weniger Schande als die indocta, scheint mir das Erschöpfendste, was über das Problem der Wissenschaften gesagt werden kann.
Nicht nur der Weg nach der Wahrheit scheint mehr wert als die Wahrheit selbst, um Lessingsch zu reden; noch wertvoller als der Weg selbst scheint der Wille zu solch einem Wege.
Wer sich an Kant hält, dem muß alle Metaphysik erscheinen wie das hartnäckige Surren einer großen Fliege an einem festgeschlossenen Fenster. Überall wird das Tier einen Durchlaß vermuten und nirgends gewährt die unerbittliche Scheibe etwas anderes als — Durchsicht.
Gesetzt und endlich einmal festgehalten, daß alle Wissenschaft nur Beschreibung und nicht Erklärung 211 sein kann, steht dem nichts im Wege, den Menschen als das bescheidenste Tier katexochen zu beschreiben.
Alles Denken ist wesentlich optimistisch. Der vollendete Pessimist würde verstummen und — sterben.
Alle Wissenschaft hat einen doppelten Wert. Einmal ihren Wert als Wissenschaft, den man allgemein für ihren eigentlichen, für ihren Hauptwert hält, und der doch nur ein Hilfswert ist; und ihren Wert als einer Art moralischer und intellektueller Gymnastik, deren Übung dem Einzelnen die Möglichkeit gewährt, seine Persönlichkeit (ganz ebenso wie es z.B. die Disziplin bei einem Streckenwärter tut) zu kräftigen, zu entwickeln, zu erhöhen. Und das ist ihr Hauptwert.
Und das ist der Hauptwert aller historisch gegebenen Berufe. Sie sind vor allem Kunstgriffe — um der Kultur der Persönlichkeit willen. Es könnten auch andere sein, und es werden sich auch vermutlich mit zahllosen Planeten noch zahllose andere finden. Die Gesamtheit dieser Kunstgriffe und ihrer Benutzung nennt man dann die Geschichte des Planeten.
Eines bleibt keinem Philosophen erspart: Das Offene-Türen-Einrennen. Dreiviertel seiner Kraft geht darauf flöten.
Von letzten Dingen kann man nicht immer gemein-verständlich reden. Genug, fürs erste, daß man sich selber verstand. (‚Ich und Mich, der Freund ist immer erst der — Dritte.‘)
212 Ich möchte bisweilen eine Erkenntnis in Form einer mathematischen Figur geben, z.B. die Anschauung Gottes in Form einer Kugel, aus einem Mittelpunkt strahlend.
Es gibt keine Wahrheit an sich. An sich ist einer der größten Materialismen der Epoche.
Man fragt sich oft: wie ist es möglich, daß dieser große Intellekt dies und jenes nicht gesehen oder seines Blicks nicht gewürdigt haben sollte. Aber ebenso übersehen vielleicht unsere Zeitgenossen Dinge, von denen wieder spätere nicht begreifen werden, daß sie für uns offenbar völlig im Schatten lagen. Man darf wohl sagen, jeder Blick vorwärts ist zugleich ein Nichtbeachten dessen, was zur Seite liegt. Der Geist gleicht einer Granate, deren Gebiet das vertikale Segment zwischen dem Punkt ihres Ausflugs und dem ihres endlichen Aufschlags ist.
Frage die Philosophie sich erst einmal: ‚wo bin ich hergekommen?‘
Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Nur wir stufen uns gegen sie ab, vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheimnis an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade.
Ein vorläufiger kritischer Gedankenstrich: daß man über ein gewisses Maß hinaus nicht wissen könne, verwandelt sich unvermerkt in das Postulat, niemand 213 habe außer den ‚nun einmal festgestellten‘ Grenzen etwas zu suchen. Man fühlt sich vor solchem Doktrinarismus an das Gebahren kleiner Kaufleute erinnert, die von einer Ware, die sie nicht führen, erklären, es gäbe diese Ware überhaupt nicht.
Du siehst in etwa 100 Meter Entfernung einen Mann Holz spalten. Das auf den Hackblock geschmetterte Scheit sinkt bereits nach links und nach rechts auseinander — da erreicht dich erst der Schall. So mögen wir die Welt ein halbes Leben lang betrachten, bis wir das Wort vernehmen, das zu ihr gehört, die Seele, die von ihr redet.
Niemand wird die Welt verstehen, der sie von heut auf morgen verstehen zu müssen glaubt, der sich über die augenblickliche Konfiguration der Erde nicht so hinwegzusetzen vermag, daß ihm heut und morgen zu Unwesentlichkeiten werden. Niemand wird die Götter und ihre Werke verstehen, vor dem tausend Jahre nicht wie ein Tag sein können und wie eine Nachtwache.
Man muß aufhören können zu fragen, im Täglichen wie im Ewigen.
Weder ‚ich‘ bin, noch jener ‚Baum‘ ist, sondern ein Drittes, nur unsere Vermählung , ist.
Über jedem Gedanken, jeder Vorstellung liegen hundert Gedanken und Vorstellungen, die uns 214 das jeweils Gedachte, jeweils Vorgestellte verhüllt.
Es gibt kurz- und weitsichtige Idealisten. Jene pflegen sich mit Stolz Realisten und den anderen Teil schlechtweg Idealisten zu nennen.
Die Rhetorik ist die Politik in der Philosophie. Der wirkliche Philosoph ist nicht Politiker, sondern Künstler. Er ‚redet‘ nicht, er bildet, baut.
Der Systematiker nötigt mich, ihm seinen Weltbau nachzudenken. Er sagt: Baue mir meine Gedankengebäude nach — und mit ihm bauend werde ich selbst zum Gedankenbaumeister. Er wendet sich an das reine Denken in mir, an den Geist.
Der Nichtsystematiker wendet sich mehr an die — Seele. Hegel. Nietzsche.
Wer bei einem Denker vor allem fragt, aus welchem persönlichen Grunde hat er das gesagt, — fügt sich selbst den größten Schaden zu; denn er geht am einzig Wesentlichen in dessen Sätzen vorüber, daran nämlich, ob sie wahr in sich selbst sind oder doch sein können, oder nicht. Gewiß ist jede Philosophie von der Persönlichkeit ihres Erzeugers gefärbt und darf dementsprechend empfunden und gewürdigt werden; aber über alledem steht ihr Gehalt an Wahrheit, der nachgeprüft und entschieden werden kann, ohne Ansehen der Person ihres Urhebers .
215 Was wird einem geistigen Wanderer nicht alles angesonnen, über Kopf, Hals und Schulter gesonnen! Wieviel Mühe gibt man sich nicht, ihn und das Seinige abzuleiten! Als ob ein geistiger Weg nicht aus sich selbst verstanden werden könnte, müßte.
In aller Wahrheit steckt heute notwendigerweise bereits ein Teil Binsenwahrheit, aus dem einfachen Grunde, weil der Mensch schon lange denkt, während die Menschen erst zu denken anfangen, also das ganze Pensum des Menschen noch einmal zu rekapitulieren und, noch mehr, zu popularisieren ist. Der Mensch ist nicht so von Gott verlassen, wie die Menschen glauben, aber auch nicht immer in dem ausnehmenden Grade von Gott erfüllt, wie sie annehmen, wenn einer einmal etwas Unerwartetes sagt.
Die Mission der Wahrheit ist, den Menschen in Geist aufzulösen, wie, materialistisch gesprochen, die Mission der Zeit, den Erdball in Luft.
Mancher wird die ihm so bequeme Joppe des Materialismus mit nichts vertauschen wollen; es geht ihm, wie er sagt, ‚der Sinn für Feierlichkeit‘ ab.
Abstrakte Gedanken sind zuletzt auch nichts als — konkrete Wesenheiten; es ist ganz umsonst, das Leben aus dem Leben heraustreiben zu wollen.
Zu Ende denken ist alles … Da wäre das erste, diesen Satz zu Ende zu denken. Will man ihn zu Ende denken, so darf man ihn nicht ‚zu Ende‘ 216 denken wollen. Denn alles Ende endet alles, also auch das Denken. Alles, also auch alles Denken, endet in Gott. Gott ist, wie der Anfang, so das Ende von allem. Etwas zu Ende denken wollen heißt also, es bis zu Gott hinaus denken wollen; Gott aber hat mit Denken nichts mehr zu schaffen.
Wie dereinst die sancta simplicitas des Glaubens, so schleppt heute die sancta simplicitas der Wissenschaft ihre Scheiter herbei, den ‚Ketzer‘ zu verbrennen.
Die Weltanschauungen mancher Menschen gleichen lächelnden Festungen.
Wenn einer heute in zehn Büchern dargetan, daß der Mensch nichts wissen könne über Gott und die Welt, dann nennt er sich, dann nennt ihn seine Mitwelt einen ‚ Wissenden ‘ und erbringt damit den Beweis, daß man zehn Bücher schreiben und zehn Bücher lesen und doch noch nicht so weit sein kann, sich folgerichtig auszudrücken.
Wer die Welt zu sehr liebt, kommt nicht dazu, über sie nachzudenken; wer sie zu wenig liebt, kann nicht gründlich genug über sie denken.
Inmitten unzähligem Hin- und Herreden der Einzelnen wächst still und groß das ewige Weisheitsgut der Menschen weiter.
(‚Nihil contra Deum, nisi Deus ipse.‘)
Wer Gott aufgibt, der löscht die Sonne aus, um mit einer Laterne weiter zu wandeln.
Es ist wohl gerade in unserer aufgeregten Epoche mehr denn je nötig, den Blick aus den Tagesaffären emporzuheben und ihn von der Tageszeitung weg auf jene ewige Zeitung zu richten, deren Buchstaben die Sterne sind, deren Inhalt die Liebe und deren Verfasser Gott ist.
Weltuntergang.
Alles Leben kehrt sich um und kehrt wieder zurück, aufwärts, in das Ehedem. Vergangenheit wird Zukunft. Die Knoten lösen sich wieder. Die ganze Welt lebt sich so selbst …
Tod einer Welt: ihre Geburt.
Nur die Formen wechseln. Der Toten Seele wird vielleicht schon wieder im Keim einer neuen vollkommeneren Form schlummern.
Es gibt keine Grenzen der Dinge.
Sich die Menschheit als die Blätter des Erd-Baums zu denken!
Hängt malus böse mit malus Apfel zusammen? Annahme eines Christen.
218 Der beste Beweis für die Gotteskindschaft Christi ist der, daß es Zeiten gab, wo jeder Teufel vor einem Kreuz die Flucht ergriff.
Wesen der antiken Götter: Bewußtsein des Fatums.
So gut Kirchen innerhalb unseres Gemeinwesens möglich waren und teilweise noch sind, so gut dürfen wir es von den Tempeln einer neuen Kultur hoffen. Weihe ist alles. Ist erst Wille zu solchen Heiligtümern, so werden sie selbst in unsern nüchternen Städten emporwachsen können. Der Mittelpunkt muß freilich ein großes Nationalheiligtum sein, etwa in Thüringen.
(Undatiert.)
Was ist ‚persönlicher Gott‘ anderes als der Riesenschatten, den wir selber auf den Vorhang der ewigen Mysterien werfen.
Sieh wie deine Studierlampe sich an die Zimmerdecke projiziert. So projizierst du dich auf die Wand des Außer-Dir. Wie du dich dort siehst, das nennst du ‚Welt‘, das Bewußtsein dieses (dich) So-Sehens deine ‚Weltanschauung‘.
Das Ich ist die Spitze eines Kegels, dessen Boden das All ist.
Die Welt ist nur eine Form des Menschen.
Wenn man den Sternenhimmel mit Ernst betrachtet, 219 wird man gestehen müssen, daß Gott, der Schöpfer, der größte Gedanke war, der je in ein Menschengehirn kommen konnte, wie zugleich Gott, der Sittenrichter einer der beschränktesten. Aber so gewiß der letzte unzählige Male bis zu Ende gedacht worden ist, so ungewiß ist es, ob der erste je in seiner ganzen unerhörten Mächtigkeit Herz und Hirn eines Sterblichen ergriffen und zerstört hat.
Ein Mensch, dessen ganzes Leben darauf gerichtet ist, das Rätsel Christi zu lösen.
Die Entwickelung der Fahrzeuge verfolgt langsam denselben Weg wie die religiöse Entwickelung. Der Vorspann verschwindet, die bewegende Kraft wird ins Innere selbst verlegt.
Leben ist die Suche des Nichts nach dem Etwas.
Der Mensch hat kein Vorrecht auf Rücksicht. Groß und unbeirrt geht die Natur ihren Gang, und Legionen denkender Wesen fallen als Opfer, weil ihr Denken noch nicht Macht genug über ihr Leben gewonnen hat.
Wie könnten wir die große Selbstkorrektur des Lebens anders als ahnungsvoll verfolgen?
Jeder Mensch ist ein neuer Versuch der Natur, über sich ins Reine zu kommen.
Wie die Sprache für uns denkt und dichtet, so auch das Leben. Es ist interessant, zu beobachten, wie ins Rollen gekommene Verhältnisse sich oft genug ohne unser weiteres Zutun vollenden wollen (z.B. ein Liebesverhältnis, für dessen Entwickelung sich das Leben gewissermaßen viel mehr interessiert als die Beteiligten selbst). (Kette der ‚Zufälle‘.)
Alles Lebendige ist umflossen vom Äther der Sinnlichkeit. Oder: Die Luft der lebendigen Welt ist ein leicht entzündliches und jeden Augenblick an hunderttausend Punkten aufflammendes Gas: Sinnlichkeit.
Gibt es eine schönere Form, an einen Menschen zu denken, als ihn ‚Tag um Tag in sein Gebet mit einzuschließen‘? Und doch haben wir diese Form fallen lassen müssen …
Es gibt wenig gewaltigere Dinge, als den Schluß des Johannes-Evangeliums. Zuerst die dreimalige Frage an Simon Johanna: ‚Hast du mich lieb?‘ Es ist, als ahnte und fürchtete Christus das ganze Papsttum voraus, die ganze offizielle Kirche, die ihn unzählige Male vergessen und verraten sollte. ‚Weide meine Schafe!‘ Eine welthistorische Szene. Und Christus verkündet ihm seinen Tod. ‚Und da er das gesagt, spricht er zu ihm: Folge mir nach!‘ ‚Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus lieb hatte …‘ ‚Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu: Herr, was soll aber dieser?‘ ‚Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, 221 was geht es dich an? Folge du mir nach!‘ ‚Da ging ein Reden aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht. Und Jesus sprach nicht zu ihm: Er stirbt nicht, sondern: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?‘ Keine Szene mehr, ein Mysterium: Dieses Vorbei Christi an dem andern, dieses allerletzte Wort — nach dem letzten — an den Vertrauten seiner Seele. — ‚Was geht es dich an?!‘ — ‚Bis ich komme. —‘
Ich schrieb dies auf einem Punkte, wo der Mensch mit Gott zusammenfällt, wo er aufhört, sich als Sonderwesen fühlen zu können.
Religion ist Selbsterkenntnis des menschlichen, als ebendamit göttlichen Geistes. Religion ist die Erkenntnis, daß alles Denken göttliches Denken ist, wie alle Natur göttliche Natur, daß jede Handlung eine Handlung Gottes, jeder Gedanke ein Gedanke Gottes ist, daß Gott nur soweit Gott ist, als er Welt ist, daß die Welt nichts anderes ist als Gott selbst, — daß in demselben Augenblick, da ein Mensch sich seines Gott-seins bewußt wird, Gott in ihm sich seiner selbst als Mensch bewußt wird.
Betrachte den Sternenhimmel — alles versinkt um dich her. Wer ist er, wer bist du. Dein Denken schweigt. Du fühlst dich wie hinweggehoben, zerflattern … Wer bist du, wer ist er, wenn nicht — Es. Das unfaßbare Selbst, Gott, das Mysterium. Und dies Mysterium fragt in sich selbst: wer bin ich, wer bist du. Gott fragt sich selbst in sich selbst — und weiß keine Antwort, erstummt in sich selbst …
Wie kann es eine Sünde für mich geben, wenn ich Gott bin? Wenn ich meinen Bruder erschlage, erschlage ich mich in ihm; es gibt nichts, was ich nicht ein Recht hätte zu tun; denn ich tue es an mir selber. Der Täter ist zugleich der Erleider — vielleicht ist 223 dies ein Fenster in mich hinein, vielleicht erahnt sich durch dies Wort das Unvorstellbare, das wir sind und dem gegenüber uns nur tiefstes Grauen und Wegsehen, praktisch aber nur dies übrig bleibt: uns als die, als die wir uns nun einmal vorgefunden haben, innerlichst zu vollenden, gleichviel, was objektiv für Uns, als Gott, damit gewonnen oder nicht gewonnen sein mag.
Das eine und einzige Gebot: Du darfst alles tun, was du willst, aber bedenke, daß du es dir selbst tust.
Wenn du meinst, es dir selbst tun zu dürfen, so tue selbst das Äußerste. Dies Gebot hindert kein Schaffen oder Zerstören. Mit diesem Gebot bist du frei zu allem und doch wird es dich weise machen.
Wie kann ich schwören: Ich schwöre bei dem allmächtigen Gotte, daß ich dies nicht getan habe — da ich doch selbst dieser allmächtige Gott bin und — als ein sogenannter anderer Mensch — es sehr wohl getan habe? Aber ich werde das dem Richter nicht auseinanderzusetzen vermögen; er wird niemals begreifen, daß er wie auch der Verbrecher Eine Person mit mir ist: und ich werde als Mensch wie ein Verrückter dastehen und als Gott auf mich den Richter blicken, wie jemand auf seinen Daumennagel blickt, auf den er ein Gesicht gemalt hat. Er spricht zu dem Daumen und sagt ihm, daß er mit ihm eins sei, aber der Daumen versteht kein Wort von dem, was er sagt.
Denke dir den einfachsten Menschen der Welt, mit einer oft lebhaften, leicht und nachhaltig erregbaren 224 Phantasie und einiger dichterischer Begabung, ohne hervorragende Charaktereigenschaften, aber von dem beständigen Wunsch erfüllt, sich zu verinnerlichen; ein Schwächling, ja ein würdeloser Mensch mitunter, ohne ausgeprägten Sinn für Moral, von einer Sinnlichkeit, die sich wie eine feine Wärme über sein Leben verbreitet, deren eigentliche Ausbrüche indessen nicht so sehr von Belang sind, sodaß man bei ihm zugleich von einer ihn häufig, wie die Flamme das Licht, verzehrenden Leidenschaftlichkeit und zugleich von einer sehr geringen Fähigkeit zur Leidenschaft sprechen mag; dabei von einer angeborenen Heiterkeit des Geistes, einer gewissen Neigung zu Spott und Gelassenheit, vielbelesen ohne irgendwie fachlich gebildet zu sein, von schlechtem Gedächtnis, ungeübt und träge im Dialektischen, durchdringend nur in seiner Ausdauer, immer nur ein Ziel bewußt oder unterbewußt zu verfolgen: sich in seinem Zusammenhang mit dem Außer-Ihm zu erkennen; — denke dir einen solchen Menschen eines Tages das Wort verstehen: Ich und der Vater sind eins. Denke dir, wie er das Wort in sich hin und her wendet, mehr noch, es sich hin und her wenden läßt; denn er springt auf seine inneren Erlebnisse nicht zu, er läßt sie leben oder sterben je nach ihrer eigenen Kraft; wie es ihn zum endlichen Bewußtsein seiner selbst zu bringen scheint, als wäre alles andre Blindheit, vollkommene Blindheit: sich nicht als Gott selbst — als das Eine und Alle, als das Einzig — Bestehende zu sehen, als wäre es geradezu eine ‚Ver-rücktheit‘, sich ‚Gott‘ gegenüber als irgend etwas anderes, Gegensätzliches, Seitliches, Beigeordnetes oder gar Untergeordnetes zu fühlen, ja 225 die Frage ‚Gott‘ überhaupt noch irgendwie zu diskutieren, als müsse man — sich sich selbst beweisen! ‚Ihr seid alle in mir, aber in wem bin ich? — Wer mich hat, der hat auch den Vater. —‘
Wie mich diese steten Wiederholungen einst ärgerten, wie einfältig und eigensinnig sie mir erschienen; als ob ein Kind immer dasselbe wiederholte!
Bis mir eines Abends dämmerte, aus welchem Gefühl heraus dieses unermüdliche Betonen geflossen sein muß …
Mein Tod ist meine Wahrheit, wie Dein Tod die Deinige. Wenn ich als Individuum sterbe, bejahe ich mich als Welt. Denn mein Tod als solcher ist dem Leben des Ganzen notwendig und da ich selbst der Teil wie das Ganze bin, ist mein Tod mir selber notwendig. Was aber meine Notwendigkeit ist, ist auch meine Wahrheit; denn Notwendigkeit ist höchste Bejahung und höchste Bejahung Wahrheit.
Ich werde erst sterben, wenn ich erfüllt haben werde, was ich erfüllt haben konnte. Gott stirbt nicht vor der Zeit. Er wacht hier auf und schläft dort ein, wie es gut ist. Was sträubst du dich gegen das, was du dein Schicksal nennst? Siehe dir selbst ins Antlitz: Dein Schicksal ist, daß du Gott bist. Ich sage: Gott! Aber wo uns die Wirklichkeit dieses Wortes faßte, da wäre unser Herz und Hirn auch schon dahin, wie ein Bologneser Glas, das, getroffen, zu Staub zerspringt. Gott schauen ist Tod, das wußten alle Völker. Gott erraten ist Leben.
226 Jahrhunderte stritten über das Wort Dreieinigkeit Und doch enthält es die Welt, für ein Kind gedeutet. Der Vater, das ist das Leben, das alles ist und das der einzelne Mensch nie aus seinem Gehirn heraus fassen oder gar erklären kann. Der Sohn, das ist dies selbe göttliche Leben als sich erahnendes Wesen, als Mensch, als der Mensch Christus im Besonderen. Der heilige Geist, das ist das langsame Weitergären dieser Erkenntnis auf Erden: daß alles ‚Gott‘ ist. —
Tief unten schlachten sich noch die Völker, es raucht das Blut und in Selbstzerfleischung fällt noch — Blindes sich selber an. Warum tue — Ich das. Ich weiß es nicht. Die Menschheit ist noch ein Kentaur, der heilige Geist hat das Tier erst zur Hälfte verwandelt.
‚Gott ist nur der Lebensfunke.‘ Schön. Dieser Funke aber bildet Sterne und Gehirne. Ja, er legt mir selbst das Wort Gott über sich in den Mund. Und so brauch ich's denn.
Was es gilt, ist die Austreibung Gottes aus allem Jenseits in das Diesseits. Gott ist nicht irgendwo, er ist auch nicht hier oder dort, sondern er ist dies und das, und drittes und legionstes.
Ich habe den verwandelnden Blick.
Vor einer Anzahl von Leuten der ‚guten Gesellschaft‘. Sind es nicht alles Menschen, die man in irgend einem Zuge ihres Wesens lieben kann? Alle sind so oder so ein wenig oder sehr liebenswert. Aber sie müßten 227 auch fast alle mit dem Gift einer schwachen doch steten Unruhe geimpft werden. Sie wollen zu wenig über sich hinaus, sie siedeln sich zu schnell bei sich selber an, sie haben zu wenig Wachstum und Wandertum in sich. Sie glauben, mit 30 Jahren sich gefunden zu haben — sie nennen es: erwachsen sein — und setzen sich schon auf sich selbst zur Ruhe. Man wird nichts Unerwartetes von ihnen mehr sehen oder hören; als ob man nicht von jedem Menschen in jeder Stunde Unerwartetes erwarten müßte! Man kann sie vorausberechnen wie irgend etwas ganz Gewöhnliches — und dabei sind sie das Ungewöhnlichste der Welt, nämlich Menschen und tragen das Unberechenbarste der Welt in sich: eine zu jeder Unerhörtheit fähige Seele. Sie haben ganz vergessen oder nie begriffen, daß sie — Gott sind, sie begnügen sich damit, Herr X oder Frau Y zu sein und als solche und nur als solche zu leben und zu sterben.
Dieser Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen, ist es, den ich unter der Bezeichnung ‚bürgerlich‘ überall aufspüre und verfolge. Es ist die eigentliche Gefahr des Menschen, zu versimpeln. Man sollte täglich zu einer festgesetzten Stunde einen Glockenton durchs ganze Land gehen lassen, der keine andre Bedeutung hätte, als die, den Menschen in Erinnerung zu rufen, daß sie nicht nur Bürger von diesem Namen und jenem Stand seien, sondern unerforschliche Teile des Unerforschlichen. Man müßte eine eigene Glocke dafür erfinden und in unzähligen großen und kleinen Exemplaren gießen lassen: eine ‚Gedächtnisglocke des Menschen‘. Wo aber ein Tempel 228 gebaut würde, da müßte über seiner Pforte stehen: Dem furchtbaren Gott, oder: Mir selber, dem dreimal Unbekannten.
Der Mensch von 1900 scheint eine neue Tugend in sich gereift sehen zu dürfen: die Erkenntnis des Bürgerlichen. Als das Bürgerliche bezeichne ich das Absehenkönnen des Menschen davon, daß er das Geheimnis der Geheimnisse ist, das Sichhinstellen- und Verharrenkönnen des Menschen als eines Zweiten. Bürger heißt: der sich in einer Burg Bergende. Bürger heißt mir der Mensch, insofern er sich in der Burg des Gedankens birgt, etwas andres als Gott selbst zu sein. Kein Mensch kann sich wirklich als Gott fühlen, der er ist. Es kann Gott sich nur bürgerlich und nicht anders ergreifen. Das Menschliche ist schlechtweg das Bürgerliche.
Im Menschen erschuf sich das Ungeborgene seine Burg. Gott ist nichts Außerbürgerliches; wo auch nur die kleinste Zelle, da ist sie zugleich Gottes Burg. Nun ist aber alles Zelle, das Wort wo ist überflüssig, ebenso wie wenn man sagen wollte: wo (im Glase Wasser) auch nur ein Tropfen Wasser, da ist Gott in ihm. Alles ist ‚Burg‘. Seit Welt überhaupt ist, gibt es nur Gott, den Geborgenen, den Bürger.
(In einem Kaffeehause.) So von seinem Marmortischchen aus, seine Tasse vor sich, zu betrachten, die da kommen und gehen, sich setzen und sich unterhalten, und durch das mächtige Fenster die draußen hin und her treiben zu sehen, wie Fischgewimmel hinter der 229 Glaswand eines großen Behälters, — und dann und wann der Vorstellung sich hinzugeben: Das bist Du! Und sie alle zu sehen, wie sie nicht wissen, wer sie sind, wer da, als sie, mit SICH selber redet, und wer sie aus meinen Augen als SICH erkennt und aus ihren nur als sie!
Wie tief wird doch die Kirche, wenn man die Menge betrachtet, in der sie das eigentlich Wertvolle, das Innerliche, Namenlose wach erhält, diese Menge, die unter den Händen der Aufklärer zu einem platten, sich selbst und den andern uninteressanten Haufen wird! Ja, die Kirche ist sicherlich unsere, der Erkennenwollenden, beste Freundin. Sie ist die einzige ebenbürtige Gefährtin der Philosophie. Und was die Verirrungen beider anbetrifft, so dürften sie hier wie dort, wenn auch gleich ehrwürdig, ganz verschiedenen Charakters, gleich unerträglich und gleich lächerlich sein.
Vielleicht bin ich nur ein Bildschnitzer und nun schnitz ich Gottes Bildnis an allem.
Eine szenische Vorstellung ist für den Kontemplativen etwas wie eine Parade. Oder wie ein Schachspiel, gespielt mit lebendigen Puppen. Oder wie ein Glockenspiel mit kunstvollen Figuren.
Aller Blick auf menschliche Dinge muß zuletzt im Furchtbaren enden. Iwan Karamasow lehnt diese Welt ab; und wenn er alles begriffe, die Leiden der Kinder begreift er nicht. Wie aber — wenn all dies Leiden zuletzt ein Eigenleiden, ein Selbsterleiden 230 Gottes ist! Wenn die ganze Menschheit und jede nur irgendwie denkbare Menschheit des Alls Gott selbst ist, das ohne Maß große schauerliche tragische Leben Gottes selbst! Nur eine Sekunde dumpfer Ahnung Seiner, als Gott selbst, in eines Menschen Hirn .. und scheint nicht alles aufgelöst — nicht in eine unsagbare Harmonie — o nein — aber in einen nie zu erfassenden, erfühlenden Abgrund von solcher Schauerlichkeit und Tiefe, daß jede Anklage, jede Klage, ja jedes Urteil verstummt. Es bleibt nur der fast unsichtbare Blitz einer fernen Erkenntnis Seiner selbst, der mich, den Menschen, zerfressen und tot niederwerfen würde, wenn er auch nur einen Grad heller, eine Sekunde länger leuchtete. Aber ich glaube, diese dumpfe Selbsterkenntnis Gottes im Menschen ist zugleich Seine einzige Selbsterkenntnis. Gott ist in der Natur gefangen, wenn man so sagen soll. Gott ringt sich aus ihr zum Sich Selbst erschauenden Geist empor. Der Mensch ist Gottes Kopf. Aber so wenig wie der Mensch, wird sich Gott je selbst erkennen (nur erahnen); denn er erkennt ja nur so weit, als er Mensch ist. Menschenleid ist zugleich Gottesleid; es scheint nur ein Wechsel des Worts und es ist doch etwas andres, ob jenes kleine Mädchen, von dem Iwan Karamasow erzählt, sich als eben dieses Mädchen die Brust mit den Fäustchen schlägt oder ob es einen Moment im Leben dieser selbstseienden, mit sich selbst kämpfenden, um sich selbst kämpfenden Unsagbarkeit ‚Gott‘ darstellt. Dieses Mädchen ist dort noch bürgerlich gesehen, göttlich gesehen wird es zum Mysterium, zu liebenswert für unsere Liebe, wie zu tief für unsere Klage.
231 (Nach einem französischen Roman.)
Sieh diese Liebe zweier Menschen, denen die gemeine Sorge des Lebens fern bleibt, diese, wenn du so willst, frevelhafte Liebe, weil sie im Geheimen und wider das Gesetz lebt, sieh diese beiden Luxusgeschöpfe, die der Proletarier erwürgen würde, wenn er wieder einmal in die Häuser der Bürger bräche, — stelle dir dicht daneben, kaum durch eine Straße getrennt, das grinsende Elend, die verstümmelnde Krankheit, den Schmutz, die Niedrigkeit, das Verbrechen vor — und frage dich, was ein Gott tun müßte, der dies nicht alles selbst wäre. Nur eine Welt, die Gott selbst ist, darf so sein, wie sie ist. Gott schenkt sich selber nichts, er ist die Liebe jener beiden feinen verwegen gewissenlosen Kulturgeschöpfe, er ist ihr Rausch, ein Rausch von solcher Tiefe und Schönheit, daß er selbst dieser Rausch sein muß, um seinen ganzen sublimen Wert zu empfinden, daß er er sein muß, um ihn (möchte ich sagen) nicht erst ‚empfinden‘ zu müssen und so ihn durch dies Empfinden, das zugleich ein Urteilen wäre — im Urteilen aber schläft auch schon das Verurteilen — herabzusetzen; ich sage, er ist diese Liebe selbst, wie er auch daneben das Elend, die Krankheit, der Schmutz ist, er braucht nicht vor sich zu erröten wie ein feiler Genüßling, er ist kein Dieb an fremdem Gut, er erschleicht seine höchsten Zustände nicht, er ist in schrecklicher Fülle und Wahrheit alles, von oben bis unten, er ist das ganze Universum am ‚eigenen Leibe‘, noch einmal: Er darf alles sein, weil er alles ist . (Spätere Anmerkung: Solange er nicht selbst darum ‚weiß‘. In diesem Moment beginnt seine — Sittlichkeit.)
232 Es gibt nichts, das ich Mir nicht vergeben könnte, und nichts, das ich nicht überwinden möchte.
Die Liebe zwischen Mann und Weib wird erst dadurch, daß sie Liebe Gottes zu sich selbst ist, zu einem Problem von schauerlicher Tiefe. Was allein kann das letzte Ziel dieser Liebe sein? Das Kind? Keineswegs. Das Kind ist ja nur wieder Gott als Individuum. Wenn der Mann mit dem Weibe plötzlich zusammenschmelzen könnte in einen dritten Körper, dann würde die Erde vielleicht im selben Augenblicke vor jähem Erschrecken untergehen.
Nietzsche sagt einmal, daß mit der Wissenschaft der Optimismus Herr geworden sei. Und fürwahr, mit dieser Zählmaschine in der Hand wird der Mensch ein beschäftigtes und beruhigtes Schulkind. Die Furchtbarkeit des Daseins verliert ihre Gewalt für ihn, er klassifiziert, klärt auf, korrigiert hier und dort. Eine Welt, für die es nur die Eine Bezeichnung ‚furchtbar‘ gibt, wird ihm zuletzt ein behagliches Wohnhaus, in das bloß der Tod seine ungemütlichen Schatten wirft. — Sei bedankt, Tod, millionenmal bedankt, daß du das unwegschaffbare Ingredienz unseres Lebens bist. Ohne dich müßte das ganze Sinnen jedes Denkenden unaufhörlich darauf gerichtet sein, dich zu erfinden. Ohne dich würde Gott am eigenen Leibe verfaulen.
Vor einem Kirchhof: Die abgelegten Kleider Gottes.
233 Gott ist die Überwältigung unseres Innern durch die Unendlichkeit. Die Kapitulation des menschlichen Begriffsvermögens vor der Welt.
Philosophie und Religion ist für den Menschen vielleicht nur der Gefrierpunkt gegen den Wahnsinn. Vor der Kälte des Universums zieht sich das Wasser als Haut zusammen, so vor der Kälte des Unbegreiflichen der Geist zur Weisheit, das Herz zum Glauben. Gott, wo er nicht im Verfall, rettet sich vor dem Verfall, indem er denkt .
Mein Gottesbegriff ist die Heiligung auch des Allerfurchtbarsten. Alles, was geschieht, ist Mein bewußter oder unbewußter Wille und als solcher unantastbar. Damit aber fällt zugleich die übertriebene Wichtigkeit alles Geschehens dahin. Alles ist wichtig — als göttliche Äußerung; und nichts ist wichtig — ebenfalls als göttliche Äußerung. Gottheit ist Fülle, und Fülle weiß nichts von dem, was sich Kümmerlichkeit als Gewinn und Verlust herausrechnet. Es gab zu lange nur den Gott des Bürgers, Gott sah sich selbst als Bürger: den aber hat sein eignes Lachen töten müssen. Aus dem Gott-Bürger wurde der Gott-Freie, aus dem komischen wieder der tragische Gott.
In einen Roman:
‚Ich sitze hier vor Ihnen und habe einen Gedanken, so groß, wie er vielleicht noch nie von einem Menschen gedacht worden ist, oder wenn, dann nur von einigen Wenigen, halb Verborgenen, ich sitze hier vor Ihnen und werde nicht drehend, nicht von Sinnen, nicht 234 von Fieber geschüttelt. Ich bringe es fertig, mit diesem Gedanken mein ganzes bisheriges Leben fortzuleben, als sei nichts geschehen. Begreifen Sie, wie tief ich mich verachten muß, daß selbst ein solcher Gedanke dies schöne Gleichgewicht, um das mich so viele beneiden, nicht zerstört, und wie ich im Innersten nur jenes Eine begehren muß: den Schmerz, den unentrinnbar tödlich verwundenden, den —‘
(Zu Drews.) Alles Lebendige unmittelbar als Gott zu fühlen, kann nicht Größenwahn sein: denn wenn ich mich als Entwickelungspunkt Gottes, als Gott in einer bestimmten Entwickelungsphase erkennen zu dürfen glaube, so gilt mir doch jeder Mitmensch, ja jedes lebendige Wesen überhaupt gleichfalls als Gott: sodaß da nichts ist, was sich über andres überhöbe, oder nur in dem Sinne, wie sich Gedanken im selben Kopfe übereinander überheben.
(Zu Drews.) Es ist sehr lehrreich, daß dieses dicke und gelehrte Buch ‚Die Religion als Selbstbewußtsein Gottes‘ gerade die Idee, die Gott am tiefsten faßt, als ‚wahnsinnig‘ hinstellt. Man mache sich klar: von unzähligen Ideen mit tödlicher Sicherheit gerade die energischste, bedeutendste! Man möchte den Geist des Verfassers eine umgekehrte Wünschelrute nennen.
Die Welt, lieber Herr Professor (beruhigen Sie sich), ist eine — Privatangelegenheit Gottes. Und da Sie mit zur Welt gehören, so gehören Sie, wie jeder andere, ebenfalls ganz restlos in diese Privatangelegenheit hinein.
235 (Zu Dostojewski.) Es ist ein Wandel zwischen Überreiztheit, Ermattung und Größe, einer Größe, wie sie sich nur bei den ganz tiefen, glühenden Seelen der Menschheit findet, und wenn ich im Augenblick gefragt werden sollte, wüßte ich auch im Augenblick nur zwei moderne Namen daneben zu nennen: den Namen Lagarde und den Namen Nietzsche. Nur bei ihnen findet man diesen Sturm der Seele wieder, der oft lange schläft, sich lange unter allerlei psychologischem, politischem, was weiß ich für Kleinkram verkriecht, um sich dann plötzlich unvermutet wie ein feuriger Wirbel zu erheben, emporzusteigen, alles zu überschütten, zu überstrahlen, daß das Herz zu klopfen anfängt —
Dostojewski hat folgende großartige Methode: Er führt eine Anzahl Menschen ein, die uns zunächst nur einfach fesseln, noch nicht erregen, wirft sie durcheinander, bringt sie in die unglaublichsten Verwickelungen, bis für jeden irgendeinmal die Stunde schlägt, wo er sein Innerstes enthüllen muß. Und enthüllt er sich nicht aus freien Stücken — und je bedeutender solch ein Mensch ist, desto verschlossener, schamhafter, unwilliger, ja selbst zynischer ist er — so wird er, ich möchte sagen, ‚gestellt‘. Ein andrer setzt ihm das Messer auf die Brust: Aljoscha und Iwan in den ‚Karamasow‘, Werssilow und sein Sohn im ‚Werdenden‘, Schatoff und Stawrogin in den ‚Dämonen‘ usw. Lassen wir das, ruft Schatoff, davon später, sprechen wir von der Hauptsache, von der Hauptsache .. Ich habe zwei Jahre auf Sie gewartet. — Nicht meine Person selbst, zum Teufel mit ihr, — aber 236 das andere —! Und dann sprechen sie alle von dem ‚andern‘, von der Hauptsache: ob es einen Gott gibt oder nicht; was der Mensch tun muß, wenn es Gott nicht gibt; ob der Mensch überhaupt ohne Gott leben könne; wie im Besondern das Russenvolk diese höchste und brennendste Lebensfrage entscheide, und ob dieses Volk nicht vielleicht ‚das einzige Gott tragende Volk‘ heute sei, ‚das einzige, dem die Schlüssel des Lebens und des neuen Wortes gegeben sind‘.
Und in diesen Gesprächen brennt die Flamme Gottes selbst, die Flamme des um sich selbst ringenden Gottes, dessen Leib das unendliche All der Gestirne und dessen Geist der Geist ihrer Lebendigen ist.
(Zu Dostojewski.) Wenn ich ein Priester wäre, so würde ich mit meiner Stirn erst dreimal vor ihm den Boden berühren, bevor ich mich umwendete und zu meinen Brüdern spräche; denn in ihm ward eine jener großen Leuchten der Erde lebendig, die noch in den finstersten Nächten leuchten, — er war einer der großen Rechtfertiger des Menschen, weil er sich am Menschen nicht genug sein ließ; nur aber, wem der Mensch kein Ziel war, nur ein Wurf nach dem Ziel, verdient Mensch gewesen zu sein.
(Zu Drews.) Wenn ich sage: ‚Mensch‘ ist nur eine sprachliche Ausdrucksform für ‚Gott‘ — ist das ‚Selbstvergötterung‘? Gott kann sich doch nicht selbst vergöttern! Was aber wäre Gott, der nicht die ganze Natur, der nicht alles, alles selbst wäre, der nur das Selbst, nicht auch das Ich zugleich, nicht zugleich die Sehnsucht nach Sich und dies Ersehnte 237 selbst, kurz, dessen Inhalt, sozusagen, nicht die gesamte unendliche Welt wäre? Gott ist jeder Gedanke und jedes Gebilde; es gibt allerdings Metaphysik, insofern die Natur nicht nur ein einfacher chemischer oder mechanistischer Prozeß ist, als den sie der Materialismus hinstellen will, aber es gibt keinen Metatheismus; Metatheismus aber wäre, das menschliche Subjekt noch einmal in Mensch und Gott zu spalten: wenn diese Spaltung auch noch so fruchtbar sein mag, ja wenn sie auch unzweifelhaft eines der instinktiven Mittel des aus dumpfem Urtrieb zu immer reinerer Sichselbsterfassung, Sichselbsterringung hindrängenden Gottes war und ist, seinen Weg zu sich selbst, ja: Sich Selbst zu finden.
Ihr werdet mich mit Euren blassen Gottesideen nicht überzeugen können. Der sichselbstschöpferische Gott ist ein zu gewaltiger Gedanke, und wenn nicht die Philosophen, so werden die Künstler mich stets begreifen.
Ich kann nur durch Kampf und Leiden zur Erkenntnis Meiner selbst kommen und zu diesem Leiden gehört, daß, was da leidet, zum allergrößten Teil nicht weiß, daß Ich leide, sondern sich als selbst-Leidendes fühlt, sodaß ich, obwohl ich es nur selbst bin, der leidet, doch endlos zugleich leiden mache . Und dies alles um Meinetwillen, um Meiner Entwickelung willen. Was bleibt Mir da noch übrig, womit kann Ich allein diesen furchtbaren und doch notwendigen Weg aufwiegen, wenn nicht durch — Liebe! Liebe nicht zu Mir, sondern zu dem, was Ich noch nicht 238 bin, also zur ganzen werdenden Welt, zu allem, was überhaupt noch Werden heißt. Die ganze Welt einst wieder an Mein Herz zurückzunehmen — könnte Ich mich ohne diesen Willen zur — Welt entschlossen haben?
(Schauerlich, wenn ich mit meinen ich und Ich mißverstanden würde. Wenn man mich für einen größenwahnsinnig gewordenen Subjektivisten nähme!)
Das Geschenk solcher Gotteserkenntnis, das sie uns anstelle der ‚ewigen Seligkeit‘ verspricht, ist folgendes:
Wir hören nie auf, als Lebendige wiedergeboren zu werden, wir sind und bleiben Teilnehmer des göttlichen Ringens um sich selbst. Gott schenkt uns (sich) keinen ‚Frieden‘, als den, welchen er sich selbst erringt. Alle höchste Stufe der Entwickelung erreicht Gott als Mensch: Der höchstentwickelte, am vollkommensten gelungene Mensch ist zugleich ein höchster Glücksmoment Gottes. Es gilt nicht, diese höchsten Glücksmomente Gottes auf allen Sternen einfach auszuschalten und als irdische Ungenügendheiten zu verdächtigen. Sie sind die einzige (bewußte) Seligkeit Gottes, es gibt keine andere, hinterweltliche, außer ihr. Sie sind selbst geistweltlich genug. Sie sind Erkämpftheiten, Ersiegtheiten, nicht faule Geschenke, sie sind nicht jenes Ausruhen, jener Friede, den die Geplagten und Gemarterten als Höchstes ersehnen, sondern Seligkeiten der Kraft, des außerordentlichen Vermögens, — alles irdische Große und Herrliche ist zugleich Seligkeit Gottes. Es gibt nicht Elende und Glückliche und einen Gott bewußt oder unbewußt außerhalb ihrer, sondern Gott selbst ist elend und glücklich, Gott selbst 239 fällt und erhebt sich, sündigt und überwindet sich, Gott selbst ist das Herz, die Seele, der anemos der Welt.
Wer das Wunder nicht als das Primäre erkennt, leugnet damit die Welt, wie sie ist, und supponiert ihr ein Fabrikspielzeug.
Das Wunder ist das einzig Reale, es gibt nichts außer ihm. Wenn aber alles Wunder ist, das heißt durch und durch unbegreiflich, so weiß ich nicht, warum man dieser großen einen Unbegreiflichkeit, die alles ist, nicht den Namen Gott sollte geben dürfen.
Wirklicher innerster, reinster Glaube kann sich nur auf etwas beziehen, wofür die Sprache kein anderes Wort hat als absurdum; das Absurde ist sein einziges Objekt. Ja, ich möchte noch weiter gehen: was geglaubt werden kann, ist schon nicht mehr glaubwürdig. Glaube, im innersten Begriff, ist Annahme aller Möglichkeiten mit Ausnahme der einzigen, zu ihm selbst je ein bestimmtes Geglaubtes, das heißt einen irgendwie bestimmten Inhalt, zu finden. Glaube ist nur wahrer Glaube als von keinem Gedanken entweihtes Gefühl Gottes. Glaube ist damit das Gefühl Gottes von Sich selbst, Glaube an Gott ist bereits kein reiner Glaube mehr: das an setzt einen Gedanken, ein Urteil, eine Auswahl voraus. Glaube an Gott ist ebenso wenig Glaube Gottes, wie Gefühl an Gott Gefühl Gottes. Daher auch keine Vernunft dem wahren Glauben etwas anhaben kann.
A. Wo ist Gott …
B. Du fragst, wo Gott ist?
B. (auf A. deutend) Dort.
A. Wo? (dreht sich lächelnd um).
B. Ja, du mußt dich nicht nur umwenden, du mußt dich in dich hineinwenden —
A. Hineinwenden?
B. Ja. Siehst du diesen Handschuh?
A. Ja.
B. Das ist der Mensch. Und dies (stülpt den Handschuh um) ist Gott.
Gott ist gewiß nicht Persönlichkeit. Aber er wird sie in jedem Moment. Gott ist: Persönlichkeiten.
Der Körper, der Übersetzer der Seele (Gottes) ins Sichtbare.
Daß jedes Menschenleben nur die eine leibgewordene Möglichkeit unter unzähligen Möglichkeiten bedeutet, gibt ihm erst den großen Hintergrund. Leib und — Seele, von hier aus neu zu begreifen. Der Leib, eine Linie der Seele, die Eine wirklich hingezeichnete Linie von Legionen Linien, die ebenfalls jede für sich hätte hingezeichnet werden können. (Sichtbar, leiblich geworden sein könnten.)
Die Welt ist ein einziges lebendiges Wesen, in beständigem Aufbau und beständiger Zersetzung begriffen. Es gibt für dies Wesen keinen Tod — um den Preis des individuellen Todes. Das Individuum ist der Preis des Dividuums. Das Individuum ist vergänglich, das Dividuum ohne Anfang noch Ende. Das Dividuum 241 teilt sich fortwährend und darum besteht es fortwährend. Es kann nur bestehen, wenn es beständig zu Individuen wird. Im Individuum wird es allein fest, sodaß man sagen kann: Die Individualität ist die Persönlichkeit der Dividualität, oder menschlicher: Der Mensch ist die Persönlichkeit Gottes.
Das Leben hat keinen Sinn als den Sinn — Gottes.
Im Anfang war — Mein Ziel.
Gott heißt immer nur der jüngste Begriff von Gott. Gott selbst kann es für den Menschen niemals geben — so wenig es für diese meine Hand diese meine Hand geben kann.
Dasselbe kann nicht zugleich zweierlei sein. Mensch und Gott ist dasselbe, also kann Gott nicht vom Menschen erkannt werden. Erkannt werden kann nur eins vom andern. Der Mensch kann sich nicht nach sich selbst umdrehen und darum wird er nie wissen, wer er eigentlich ist, woher, wohin, warum. Und mit ihm wird es Gott nie wissen. Gott ist sich selbst Mysterium. Und wäre dies schließlich nicht das Letzte — was wäre dann die Welt? Eine Sphinx, die, gelöst, in den Abgrund stürzen müßte . Ihr tiefster Sinn wäre damit verloren — das Nieaussinnbare. Sie hätte jeden Grund verloren, weiter zu sein ; denn der Welt Grund ist allein ihr Ziel . Wo aber ein Ziel erreicht ist, ist Tod und Ende. Welt, Gott, heißt stets unerreichtes Ziel. Und so unerreichbar ist dieses Ziel, daß wir nicht einmal wissen, wo es liegt, wie es heißt. 242 Aber immer sucht das Universum. Gott ist der Welt Suche nach ihm. Die Welt ist Gottes Suche nach Sich, nach Seinem Sinn, nach Seinem Grund. Alles ist Weg, Gott ist Weg. Das Kleinste wie das Größte, alles ist nur ein Weg. Der Weg nach dem Sinn ist der Sinn selber. Der Weg nach dem Sinn ist der Sinn des Wegs.
Alles will zusammensein und darum zusammenkommen. Assoziation ist zuletzt das eine welterklärende Wort. Das andere — kennen wir nicht. Aber wir würden das mit ihm bezeichnen, was dieses Zusammenkommen von Allem zu Einem verhindert, um dafür die Welt der Individualformen aus ihnen zu bilden. Denke dir zwei konzentrische Hohlkugeln aus Glas. Die äußere Hohlkugel ist mit Gas gefüllt, die innere luftleer. Nun wird die innere zertrümmert: Das Gas will blitzschnell den ganzen Raum erfüllen, als Eines, Untrennbares, Ganzes, Molekül an Molekül, gleichartig assoziiert. Aber umsonst: denn in der innern Kugel war etwas, das nun folgenden Vorgang zeitigt: Das Gas kommt nicht als Eines, Ungeteiltes zusammen, sondern erst als eine Unzahl von besonderen Zusammenheiten, etwas verhindert es am Zusammensein schlechthin. Jenes erlaubt ihm nur ein Zusammensein in Form von Legionen Zusammenseienden.
Oder so: Eine Masse wird durch einen Pilz in Gärung versetzt. Der Pilz bildet die außerordentlichsten und vielfältigsten Formen. Die Masse strebt ewig zurück zu ihrer Einheit, aber der Pilz wuchert fort. Gott sein eigener Pilz.
243 Es gibt nicht zweierlei Geist, sondern nur einerlei, und er ist Gottes Geist, ebenso, wie es auch nur einerlei Leib gibt, nämlich: Gottes Leib.
Man bemerkt es bei den irdischen Ereignissen dieser Tage (dem Vesuvausbruch und dem Erdbeben in San Francisco) wieder einmal, wie gering bei den Menschen das Gefühl ist, das das natürlichste von allen sein sollte: Das Gefühl des Zusammenhangs mit allem, was ist. Nicht einmal bis Neapel reicht ihr Glaube an die Einheit und Korrespondenz aller Dinge, wie sollten sie den Gedanken fassen, daß das ganze Universum beständig in ihnen ist, wie sie in ihm, ja, daß jener Ausbruch des Vesuv sowohl wie irgend ein untergehender Stern hinter der Milchstraße im Grunde nichts anderes als ihre ureigenste Angelegenheit bedeutet.
Sätze wie: In der Welt überwiegt die Summe des Leidens die Summe des Glückes — was sind sie im letzten Grunde anderes als Wortspielereien vor dem in Leid wie Lust furchtbaren, ganz und gar übergewaltigen Charakter des Weltalls. Sollte in diesem ganz unfaßbaren Komplex des Lebens nicht Leid und Lust so untrennbar, so organisch, so durch und durch ineinander verschlungen und verwirkt sein, daß man schon ein Prachtstück an Trockenheit und Pedanterie sein muß, um hier mit einer Wage heranzutreten und seine innere Unsicherheit, was nun wohl richtiger sei, die Welt zu segnen oder zu verdammen, durch ein so durchsichtiges Manöver bemänteln zu wollen? Der starke Geist wird, nachdem er angefangen 244 hat mit sich ins Reine zu kommen, leidenschaftlich bejahen oder verneinen; ohne vorzuschützen, daß er durch ‚sorgfältiges Abwägen‘ zu solcher Erkenntnis gelangt sei. Ein noch stärkerer aber wird es weder beim Ja noch beim Nein aushalten: Er wird bekennen, daß ihm vor einem solchen Schauspiel, wie die Welt, alle Erdenworte versagen und vergehen, daß wohl ein geheimes Ja in seiner Seele lebt, daß er sich aber nicht Weltallsrichter genug erachtet, es auszusprechen, und daß sein oft in ihm aufquellendes Nein zu der Brotkrume Erde, die und deren Erscheinungen er allein kennt, ebensowenig wagen darf, das unversiegbare Füllhorn seiender und noch möglicher Welten zu verwünschen. Er wird, wie einer, der seine Worte und Werturteile unerbittlich zu bändigen gelernt hat, zu schweigen versuchen, und wenn man ihn nach seiner Religion fragen wird, so wird er antworten: sie ist Verstummen aus Schrecken, aus Selbstzucht und aus Phantasie.
Ich will den Menschen nicht schiffbrüchig sehen, aber er sollte dessen bewußt sein, daß er auf einem Meere fährt.
Wir müssen uns davor hüten, ausschließlich mit der Menschheit unseres Planeten zu rechnen. Wir müssen annehmen, daß jeder mögliche Gedanke über Gott auch wirklich (von Gott) gedacht wird, gleichviel ob in unsern oder in Mars- oder Saturnköpfen, ja, daß es sehr wohl Planeten geben kann, auf denen Gott sozusagen leibhaftig im vollkommenen Bewußtsein seiner selbst lebt. Daß wir als die Phase Gottes, die 245 wir sind, offenbar nur Gott in irgend einer Phase darstellen, nicht zugleich in seiner höchsten; wiewohl auch seine höchste nur eine ‚endliche‘ sein mag, indem das unendliche ‚Mysterium‘ nur im immerwährenden Endlichen unendlich bleiben kann. Gott kann allein leben durch seinen immerwährenden Tod. Gott muß fortwährend sterben, um fortwährend leben zu können. Gott stirbt nie um den Preis fortwährenden Todes. Versuchen wir dieses Furchtbare zu fassen, und überwinden wir es durch das Wort ‚Ich bin‘, das Gott in uns spricht. ‚Ich sterbe als du, damit ich als ich lebe. Du aber bist ich und ich bin du, sei also getrost. Dies ist nun unsere Notwendigkeit (wie ich sie als du erkannt zu haben meine).‘
Ich glaube, unsere Erde hat ihr Ebenbild in jedem Baum, in jeder Blume. Ein Keim fiel in einen Grund, ging auf, entwickelte sich zu Pracht und Duft — und wird, was man so nennt, absterben, wenn er seinen Gang vollendet. Ist Schönheit und Duft einer Rose etwas Geringeres als Schönheit und Duft der großen Erdenblume? Und welkt, wenn die Rose welkt, minder Tragisches dahin, als wenn dieser Erdball einst vergehen wird? — Wachstum ist alles, das Wort ‚wächst‘ vielleicht das letzte mögliche Wort. — Und wie es unendlich viel Bäume und Blumen gibt, so unendlich viel Welten und Gestirne, keine, keines gleicht dem andern, — und so wäre der Paradiesesgarten als Ewigkeitsgarten abermals stabilisiert. Eine Phantasie, groß genug. Ein Bild für Gott, immerhin unzerreißbar von menschlichen Kinderhänden. Eine Vorstellung, eine Erahnung, wohl nicht stärker, nicht deutlicher als 246 der kaum erhaschte Duft einer von einem Berggipfel in einen Bergabgrund geworfenen Rose, deren an dir Vorüberfall du auf einer vorspringenden Felskante wie ein blitzartiges Wunder erlebst. Aber doch eben das, und als das, etwas. —
Der Mensch, der ganz erkannt haben würde, wäre der wieder geschlossene Ring Gottes.
Der Mensch ist ein an einer Stelle geöffneter Ring. Gott ist der Ring als Eines, Ununterbrochenes. Der Mensch stellt sich dar als dieser Ring, unterbrochen, mit seinen zwei Enden sich wieder zu vereinigen, zu schließen strebend. Der Mensch ist aus sich auslaufender und in sich zurücklaufender — aber noch nicht zurückgelaufener — Gott. Der Mensch ist die Offenheit des Rings, der noch nicht wieder zusammengeschmolzene Hingott und Widergott.
Gedanken vor Kierkegaard, Buch des Richters.
‚So wird sie mich in der Ewigkeit verstehen.‘ — Wäre es nicht furchtbar, wenn der Mensch nur Entwurf Gottes bliebe? Wenn jeder dieser Entwürfe als Entwurf endigen müßte, statt weiter und weiter durch alle Ewigkeit ausgeführt, weiter gebildet zu werden? Gewiß, der gegenwärtige Weltdurchschnitt wird immer Fragmentmosaik sein — aber es fragt sich, ob einmaliges Fragmentmosaik oder Fragmentmosaik als Fortsetzung und zwar nicht bloß im Ganzen, sondern auch im Einzelnen, Einzelnsten: ob ich also nicht nur Fragment Gottes im Ganzen, sondern auch Entwickelungsfragment meiner Person, als einer gottwerdenden 247 Person, als Gottes im Einzelnen, bin. So vielleicht: Kann Gott als Menschenperson verloren gehen, ist Person nur eine Maske Gottes (oder besser ein Leib Gottes) — oder ist Gott, einmal Person geworden, als solche ebenfalls unsterblich, sodaß seine Entwickelung nicht nur eine Entwickelung zur Selbstahnung seiner Selbst als Welt, sondern auch eine Entwickelung in jedem Einzelnen zur immer wieder sterblichen Person auf immer wieder höherer Stufe wäre?
Vor einem Sterbelager.
Vielleicht trifft man sich einmal unter freundlicheren Verhältnissen wieder. Ja, vielleicht haben wir uns auch diesmal schon wiedergetroffen, von früher her, nur, daß wir es nie wissen, daß wir heimliche Zusammenwanderer sind.
Der Irrtum ist das formbildende Prinzip. Wahrheit kann nur als Irrtum zur Erscheinung kommen. Alles Daseiende selbst ist Irrtum, aber Gott entwickelt sich, wird (ist) nur dadurch, daß er sich beständig ‚verrennt‘, verstrickt, verwickelt, zu Knoten schürzt, daß er sich selbst beständig Stationen schafft. Er würde wie ein Meer ins Unendliche verfließen — wenn er sich nicht fortwährend selbst im Netz gleichsam der Einzelerscheinung finge, diese Netzerscheinung wie als ein bereits Endgültiges zu höchster relativer Vollkommenheit emportriebe: um, wenn das ursprüngliche Netz sozusagen völlig in sie hineingenommen, nun den Persönlichkeitskern als Eigengewinn davon zurückzubehalten, das andere wieder zerfallen zu lassen.
248 Warum ist Mitleid nichts? Weil Mitleid dich ablenkt von dir auf den andern. Dich aber sollst du zu vollenden trachten, nicht den andern. Wer sich nach innen wendet in seiner Tiefe, von dem fällt Mitleid ab wie ein Müßiggang. Er kann niemanden mehr bedauern um seines Leides willen, er könnte ihn höchstens um dessentwillen bedauern, daß ihn sein Leid nicht in sich hineintreibt, daß es ihn nicht vertieft. Wer sich und den Nächsten als Gott erkannt hat, von dem fällt Mitleid ab wie ein Geschwätz. Er wird den Nächsten zwar mehr als sich lieben und ihm sein Menschliches zum Opfer bringen können, wenn es das gilt, aber ohne Mitleid; denn mit großem Auge wird er durch sein Leiden hindurch ihn als Sich sehen; in dem aber, was er da sieht, fallen, wie Ekkehart sagt, alle Worte dahin. Da hat Mit-Leiden keinen Sinn und keinen Platz mehr.
Es ist ein schauerlich tiefer Gedanke: Der grobe schwerfällige Körper, als Geist zugleich mit dem Geist aller Epochen unablässig verkehrend.
Denke dir einen Teppich aus Wasser. Und als die Stickerei dieses Teppichs die Geschichte des Menschen.
Zünde einen Magnesiumfaden an — und du hast das Leben des Menschen im blitzschnellen Bild. Leben und sterben sind nur zwei Ausdrücke für dasselbe. Und unser Ichgefühl das Gefühl des hineilenden feurigen Punktes.
Es gibt nur ein Neues: Die Nüance.
249 Die Welt, eine in sich zurücklaufende Spirale.
Wir müssen sehen, aus den Formen, als die wir erschienen sind, bis zu unserm Ende zu Kugeln zu werden: die Spirale der Ewigkeit hinabzurollen, nicht aber wie ungefügte Klötze hinabzurutschen und hinabzupoltern, muß unser erster Wunsch und letzter Wille sein.
Betrachte die Welt: Alles wesentlich, alles unwesentlich. Unwesentlich die Mücke, wesentlich der Mensch; unwesentlich der Mensch, wesentlich die Menschheit; unwesentlich die Menschheit, wesentlich das Universum; unwesentlich das Universum, wesentlich —
Wir müssen das Quantitative verabschieden. Gott, ich meine das Unvorstellbare, das wir sind, ist weder groß noch klein. Alles ist in jedem Augenblicke Gott und jeder ‚Teil‘ in jedem Augenblicke zugleich das Ganze. (Ist denn das Wasser für den Tropfen klein oder groß? Nein, er ist der Tropfen und das Wasser zugleich. Wasser aber ist weder klein noch groß und wenn der Tropfen zurückblickt auf den Wasserfall, so wird er doch darum nicht sagen können: Wasser ist groß. Und so ist ‚Gott‘ auch nicht größer da, wo er die ‚Milchstraße‘ ist, als da, wo er in einem Menschen im Gras liegt. An sich ist diese Blume hier nichts geringeres als zehntausend Gestirne. Und so zerbrich denn auch nicht, Herz, an diesen Worten ‚groß‘ und ‚klein‘, denn ‚das gibt es alles garnicht‘.)
250 Ich fürchte, — und dieser unheimliche Gedanke kehrt mir, fast seit ich denken gelernt, immer wieder, —: nicht, daß wir sterben werden, ist zu fürchten, sondern daß wir nie sterben werden. Ich empfand dies immer unter folgenden Worten: Ich werde immer da sein. Und wenn ich heute meinem Leib nach sterbe, wer will wissen, ob ich dann nicht — mein Freund bin? Nicht als ob etwas, was meine Seele genannt werden könnte, gewandert wäre, nein, sondern wie wenn ein Etwas in allem Lebendigen immer wäre und wüßte daß es wäre … Wer will wissen, ob er nicht aus seinem Freunde (wenn auch ganz und gar als dieser und mit allen physischen Prämissen) in die Welt blickt, in demselben Moment, wo er sein Bewußtsein verliert? Solange ich in meiner Form befangen bin, kann ich nichts Zweites sein, aber wenn diese Form zerbricht, bin ich vielleicht das Zweite, und das Zweite ist vielleicht nichts als wieder das Eine.
Die Menschheit ist nur eine Korrektur des Menschen.
Dies Bewußtsein wenigstens habe ich: mein höchster Gedanke hat nichts zu tun mit dem Äußerlichen meines Lebensganges. Ich bin nicht von denen, die zur Wiederaufnahme der Gottesidee durch irgend etwas getrieben worden sind, als da ist unterdrückte Sinnlichkeit, Einsamkeit der Seele, Verzweiflung an sich und der Welt oder ähnliches. Ich kenne diese Zustände wohl, aber ich wäre nie vor ihnen zu einem neuen Gottes-Begriff geflohen: wie denn dieser auch weder ‚heilt‘ noch ‚erlöst‘. Diese Idee ist vielmehr aus meiner innersten Natur herausgewachsen, ich kann 251 ihre Anfänge bis in mein zweites Jahrzehnt zurückverfolgen, in dessen Mitte etwa ein ganz spezifisch philosophisches Interesse in mir erwachte. Ihr endliches Zutagetreten hängt sehr stark mit der Art meines Schauens zusammen, das mir manchmal erlaubt, sehr in die Dinge zu versinken oder auch: die Dinge gleichsam in mich hineinzunehmen, und mir damit das Micheinsfühlen mit allem zu einem natürlichen Gefühl macht.
Ebenso hatte ich stets das Gefühl des Zusammenhangs in so hohem Maße, daß ich mich von Vorstellungen solcher Art nicht losmachen konnte, wie diese etwa, daß meine Hand, von A nach B bewegt, das ganze Weltall in Mitleidenschaft ziehen müsse.
Was sagt Meister Ekkehart anders als: zerbrich alle Sprache und damit alle Begriffe und Dinge: der Rest ist Schweigen. Dies Schweigen aber ist — Gott.
‚Gott‘ ist das einfache Ergebnis eines Subtraktionsexempels: ziehe alles von dir ab, was abzuziehen ist, und der Rest ist — Mysterium.
Gott ist seine eigene Erfindung. Das sich selbst Unerklärliche sagt aus Menschenmund Gott zu sich.
In Christus ist zum ersten Mal auf der Erde Gott selbst sich zum Bewußtsein gekommen. In Christus erkannte Gott als Mensch zum ersten Mal sich selbst. Seitdem sind fast zweitausend Jahre vergangen. Aber freilich: ‚Tausend Jahre sind vor Ihm wie ein Tag.‘
252 Man empört sich gegen die Gottheit Christi — als liege man selbst in Hose und Rock nicht als ein Stück — Gottheit herum.
Eines Einzelnen Leben ist vielleicht nichts Besondres. Von außen, mit fremdem Auge betrachtet, mag es nicht viel bedeuten, von innen, mit seinen Augen gesehen, schon mehr, sehr viel mehr. Als Leben — Gottes aber angeschaut, wird es sofort unaussprechlich tief und tragisch. Sieh nur irgend einen Menschen daraufhin an, daß er nichts andres ist als Gott, Gott selbst in ureigenster Person — und die Welt wird sich dir mit einemmal und auf immer verwandeln und du wirst kein Sittengesetz mehr zu befragen brauchen; denn alles wird dir auf einen Schlag wunderlich heilig werden.
Ich sehe das Unvermeidliche herannahen: daß den Menschen eines Tages in größerer und größerer Anzahl zum Bewußtsein kommt — nicht nur nominell wie bisher, sondern faktisch — daß sie in der Unendlichkeit leben.
Heute sehen die Menschen noch nicht den Raum, sie sehen den Himmel, aber noch nicht den RAUM.
Auf Erden ist nichts, sondern alles im Himmel zugleich und in der Ewigkeit. (Geträumte Zeile.)
Gott ist nicht etwas Vorgestelltes, sondern das, was wie jede andere Vorstellung, so auch die Gottesvorstellung produziert. Bis heute glaubt die Menschheit 253 noch, soweit sie glaubt, an den Gott oder die Götter ihrer Vorstellung. Und darum ist sie so leicht durch den Satz zu widerlegen: Dein Gott ist eine bloße Vorstellung von dir. Gewiß ist er das. Erst die Menschheit, welche bekennt: Was wir uns als Gott vorstellen, ist irrelevant; das einzige, was wir als Gott behaupten können, ist das Unvorstellbare, auf das unsre Vorstellungen zurückgehen, ist das, was wir für uns als Wirklichkeit klassifiziert haben, sind wir selbst (wie wir uns bezeichnen) und alles, was um uns ist (was wir so bezeichnen). Gott ist alles. Wir haben kein andres Wort für Gott als das Wort ‚alles‘. Man kennt und fühlt Pantheismus schon lange, aber ich weiß nicht, ob je mit diesem ‚alles‘ schon ganz und resolut Ernst gemacht worden ist. Wer ihn macht, für den gibt es kein Entrinnen mehr. Er muß selbst hinein in dies ‚alles‘ mit jeder Faser seines Leibes und jedem Schatten seiner Gedanken, er muß selbst zusammenfallen mit Gott, er muß selbst Gott — und nicht nur in Gott — sein.
‚Sein‘ (esse) ist nur eine Denkform Gottes. Wenn Gott sagt: ich bin, so sagt er dies beides nur als Mensch. Als Gott sagt er nichts, ‚ist‘ er nicht einmal etwas. Gott ist nicht Gott.
Als Mensch ‚ist‘ Gott.
Auch wo Gott ‚sich‘ fühlt, wie im Mystiker, bleibt er noch Mensch.
Man soll nur in alle Ewigkeit leugnen, daß die Welt unerklärlich sei. Die Folgen dieser bornierten Leugnung, 254 dieser stiermäßigen Annahme des Gottmenschenkopfes von seiner Anlage zur Selbsterkenntnis sind allzu wertvoll, verinteressieren — als Wissenschaft — das Leben in allzu hohem Grade.
Unbewußte Stupidität, bewußte Verlogenheit — als Voraussetzung aller Wissenschaft, ja aller geistigen Kultur überhaupt: das ist eine groteske Wahrheit Gottes, des Menschen.
Auch hier meine Ausführungen, was ich auch versuche, bleiben — Anthropomorphismus. Diese Feststellung sollte eigentlich der Tod Gottes sein. Der Tod Gottes — als einer auszuscheidenden Vorstellung. Aber diese Vorstellung war meine letzte, in der ich alle andern begrub. Kein Wort der Erde, das sich mir im Wort ‚Gott‘ nicht löste. Andre nennen ihre Grenzvorstellung Leben, Natur, Wirklichkeit. Aber ist das minder anthropomorph? Nein. Jedes Wort ist Vorstellung, jedes Wort ist demnach gleich viel wert. ‚Leben‘ ist das Wort einer andern Phantasie als ‚Gott‘, das ist alles.
Es gibt also zuletzt nur eine Grenzvorstellung, nur ein ‚Ur—wort‘. Dieses Urwort muß uns gelassen bleiben, wollen wir Menschen bleiben.
Gott wäre etwas gar Erbärmliches, wenn er sich in einem Menschenkopfe begreifen könnte.
Ich frage mich, welche innere Nötigung liegt meiner Handlungsweise zu Grunde (drücken wir es so aus): 255 das Ding an sich Gott zu nennen. Meine aufrichtigste Antwort lautet: Das ist des Dings an sich, das ist Gottes Sache selbst. Ich bin — wie ich es ansehen kann — nur eine Etappe im ungeheuren Heer und Komplex von Assoziationen, und wenn ich mich nun selbst psychologisch zu deduzieren suchte, so wäre damit wohl nicht viel mehr getan, als wenn ein Strudel jenes Baches dort unten die Art seines Gurgelns durch die Daten seines Lokals usw. erklären zu können glaubte.
Nun gut. Welche Nötigung? Die Nötigung, nicht Halt machen zu brauchen. Die Nötigung, mich mit allem um mich durch ein persönliches Band verbunden fühlen zu dürfen. Wenn diese Tanne da vor mir ein geistreicher Mechanismus ist wie ich, so kann sie mir in jedem Augenblick unendlich gleichgültig, ja widerlich werden. Aber sie ist kein Mechanismus, sie teilt — ob ich sie nun als Du oder Erscheinung bezeichne — Ein Geheimnis mit mir, das Geheimnis des Lebens. Wir sind Brüder als Erscheinungen, und unser Beider Vater als Dinge.
Ich, als Vater, erfülle mich erst im Menschen, als mir, dem Sohne; als Sohn erst erfahre ich mich als den Vater.
Oder: als Erscheinung erst werde ich mir selbst — Erscheinung.
Von mir: die Menschen sind ihm allein Köpfe Gottes.
Ja, gewiß, es ist vieles am Menschen lächerlich und verächtlich. Aber der Mensch ist ja auch nur ein 256 winziger Teil Gottes. Und was wäre Gott, wenn er nicht irgendwo auch lächerlich und verächtlich wäre. Gott schenkt sich nichts. Das wollen nur die Kurzsichtigen, die meinen, man könne das Eine ohne das Andere haben, ja noch mehr: man dürfe es.
Die planetarischen Kulturen geistiger Wesen sind die großen Grotesken Gottes. Gottes materielle Erscheinungsform ist notwendig grotesk.
Man könnte eine Bibliothek schreiben von den Selbsttröstungen Gottes.
Nicht, daß gekämpft wird, ist das Tragische der Welt. Sie selbst ist das Tragische.
Betrachte den gefüllten Zuschauerraum eines Theaters. Wie festlich machen ihn die vor Erwartung und Lebenslust glänzenden Augen der Frauen, ihre schneeweißen Nacken, ihr herrliches Haar — wie scheinen sie alle zu rufen voll reizender Ungeduld: den Vorhang auf! den Vorhang auf! Wie gern sie leben und leben sehn, wie ganz unverständlich es ihnen wäre, wenn nun plötzlich ein Mann aufstünde und spräche: Nein, nicht den Vorhang auf! nicht auf! Sondern laßt uns endlich ein Ende machen mit diesem ewigen Theaterspiel! Und seine Augen würden sich schließen im Übermaß des Schmerzes. Aber nach einer kurzen Spanne der Starrheit — was würde geschehen? Mit ihren Fächern würden sie ihn zu erschlagen drohen und mit hundert beredten Gebärden laut oder stumm, lächelnd oder schluchzend, die Männer rings fragen: 257 Wie? und wir? sind wir nichts? gelten für nichts? Ihr wollt dies starke süße bunte Leben nicht mehr? Ihr wollt also Uns nicht mehr? Was haben wir euch denn getan? Und was unsre Kinder, eure Kinder? O, ihr Toren, ihr Spielverderber, ihr Pflichtvergessenen! Aber ihr sollt uns nicht irre machen. Nicht irre an Lieben und Leben, nicht irre an Pflicht und gesundem Menschenverstand. Nein, die Komödie sei noch nicht zu Ende! — Der Sprecher von vorhin aber würde bei sich denken: Umsonst. Gottes Teufel ist seiner würdig. Er könnte nicht überzeugender noch unschuldiger sein. Und fürwahr: Heute erkannte ich ihn zum ersten Mal — und sein triumphierendes Reich, soweit Welt ist.
Wer sich einmal in die Idee des Teufels, an dem Gott immer wieder zu schanden wird, von dem er immer wieder zum Leben verführt wird, vertieft, dem wird die Größe und Schönheit des Lebens fürder nicht Einwand sein können: Denn je unfaßlicher dieser Gott ist, desto unfaßlicher wird auch die Kunst seines Teufels sein müssen, desto heiliger wird sie erscheinen müssen, desto bejahungswürdiger die Welt für menschliche Urteilskraft.
‚Die Welt‘ ist Gottes Weg zu seiner Schönheit. Überall und immer duftet diese Wunderpflanze ‚Welt‘. Um dieses Duftes willen ist sie da; er ist ihre Schönheit, ihre ‚Seele‘, ‚Gottes‘ — Seele.
Wir sind nie wirklich aus dem Paradiese vertrieben worden. Wir leben und weben mitten im Paradiese 258 wie je, wir sind selbst Paradies, — nur seiner unbewußt, und damit mitten im — Inferno.
‚Alles was ist, ist vernünftig‘ — ganz gewiß. Freilich nicht vom Standpunkt des Reichstagsabgeordneten X oder des Privatdozenten Y aus; aber sub specie Dei.
Im Geist erst wird die Natur, wird Gott tragisch. Was ist der Mensch? Die Tragödie Gottes.
Wenn einer die Welt bejaht, bejaht sie Gott, wenn sie einer verneint, verneint sie Gott (und damit Sich). Gott sagt weder bloß ja noch bloß nein zu sich, sondern urewig ja und nein.
Wo einer keine Augen für sich — als Mysterium — hat, da hat auch Gott keine Augen für sich, als Mysterium. Aber als der, als der er Augen für sich hat, leidet er unter diesem andern, als der er keine Augen für sich hat, und zürnt sich, dem andern, aus sich, dem einen.
Die Welt könnte so groß angelegt sein, daß die unaufgelöste Dissonanz eines ganzen Planeten als solche mit hineingehörte. Ein schauerlicher, wahnwitziger Gedanke. Denn wer will seine Dissonanz — schon allein seine ganz persönliche Dissonanz — nicht aufgelöst und sei es auch erst — nach Äonen.
Gott ist die Welt im Einzelnen wie als Gesamtheit. Als Gesamtheit aber ist er vielleicht eine Zweiheit von 259 Mann und Weib. Einheit als Gott, Zweiheit als Welt. Sagst du aber: Die Welt? das wäre wohl nicht genug, wenn nur das Gott wäre! so frage ich: weißt du, wo die Welt aufhört, daß du von genug und nicht genug redest? Wie kann etwas Un-Endliches noch-genug sein oder ‚nicht-genug‘?
Das ist gewiß: was auch von Gott, von Gottheit gedacht werden mag, kann auch noch nicht an den Saum des Mantels seines Ernstes rühren.
Wenn Gott nicht die ewige Sehnsucht zweier Seelen zu einander ist — wenn die Welt nicht der ewige Weg dieser zwei Seelen ist — so weiß ich nicht, was Gott und Welt bedeuten.
Der Mensch ist nur ein Moment innerhalb des MENSCHEN, und der MENSCH nur ein Moment innerhalb Naturae sive Dei.
Es versteht sich mir fast von selbst, daß das, was ich bin, sich irgend einmal seines ganzen Lebens — in allen seinen Erscheinungsformen — erinnern wird.
Und es wird nichts sein — kein Richten, kein Wundern, nur ein Schauen. Aber in diesem Schauen wird Gericht oder Freispruch beschlossen sein.
Ich und du, einmal groß und einmal klein geschrieben — das ist die Weltformel. Ich und Du, und ich und du.
Mußte der wahrhaft innerliche Mensch früher mit der Kirche ringen, so muß er es heute mit der Wissenschaft. 260 Der sich selbst schauende Gott ist immer nur als — Ketzer möglich.
Vielleicht ist nichts von allem Gedachten ganz unwahr. Sollte Gott über Sich gänzlich falsch denken können ? Sollte nicht die barbarischste religiöse Vorstellung ein Körnchen Wahrheit enthalten, enthalten müssen ?
Eines sein und haben und die Sehnsucht nach allem Andern, — Formel Gottes, des Individuums. (Hinzuzufügen: zusamt der stillgeglaubten Anwartschaft auf alles Andere.)
Wohin sollte die Natur in der Stufenfolge der Tiere im Menschen streben, wenn nicht dahin, daß Gott in ihm sich selbst erkenne? Dies aber, das Erkennen kann noch nicht sein letztes Ziel sein: er muß aus dieser Selbsterkenntnis noch zu irgend einem Handeln hervorschreiten, muß ja sagen und tun wie der Zarathustra Nietzsche's, oder nein wie der indische Buddha. Er muß das Schicksal der ‚Welt‘ an seinem Teile entscheiden; sie soll sein oder sie soll nicht sein. Und doch —.
Frage dich nur bei allem: ‚Hätte Christus das getan?‘ Das ist genug.
Das ergibt sich aus meiner Lehre, daß nicht nur der Einzelne sondern auch Volk um Volk und endlich die ganze Menschheit — Persönlichkeit zu werden trachtet.
261 Denn wenn wir ‚Gott‘ sind, — was können wir Höheres aus uns machen, als immer durchseeltere, durchbildetere, vollendetere Persönlichkeit? So wie der einzelne durch und durch kaloskagathos werden soll, so soll auch ein Volk, eine Menschheit durch und durch ‚kalonkagathon‘ werden wollen.
Kunstwerk der Einzelne, Kunstwerk sein Volk, Kunstwerk die ganze Erde — das ist das Ziel.
Jeder kann von Christus etwas fortnehmen. Verstehen aber wird ihn alle fünfzig Jahre — vielleicht — Einer.
Wenn, was sich so Theologen nennt, wirklich wissen könnten, wer Christus war, würden sie ihn allesamt als einen Irrsinnigen und Verbrecher verdammen. Ja, so weit weg steht der Mensch, der gesagt hat ‚Ich und der Vater sind eins‘ (und nur der johanneische Christus ist für mich Christus, so ausschließlich, daß, wenn es ihn nie gegeben haben sollte, er längst hätte ‚erfunden werden‘ müssen) von der übrigen ‚christlichen‘ Menschheit und insonderheit ihren Theologen, daß er wie der leibhaftige Teufel auf sie wirken würde, hätten sie ja den Mut und die Kraft, ihm sein Weltgefühl bis zum Letzten nachzufühlen.
Immer wieder kommt mir die Szene auf Golgatha ins Gedächtnis, immer wieder komme ich zu mir selber wie Christus und frage mich: Und Du schläfst! Und ich fahre auf und Scham übergießt mich ganz und ich erwache zu mir selbst. Aber nur ein Kleines, so bin ich wieder im Halbschlaf. Und wieder tritt mein Selbst an mich heran, rührt mir ans Herz, daß ich wie verwundet 262 aufschrecke und zum wievielten Male! das traurige Wort vernehme: Du schläfst! Wie — wäre mein Problem dies: Eine Natur, auf der Grenze geboren, wo das Mittelmäßige und das Außerordentliche zusammenstoßen, ein Mensch, zu groß, zu reich, zu tief, im Gewöhnlichen zu verharren und doch zu klein, zu arm, zu seicht, zu verharren im Ungewöhnlichen? Mir fällt ein Vers aus meinen ersten Jünglingsjahren ein, jenen Jahren, deren damals noch ganz anders zehrende Ohnmacht ich durch den ausdauernden Schritt nach nur Einem Ziel in zwei Jahrzehnten wenigstens bis zu einem gewissen Grade überwand: ‚Ich möchte schwächer sein und bin es nicht, ich möchte stärker sein und bin es nicht, und daß ich stärker nicht noch schwächer bin, als wie ich bin, das ist's, was mich zerbricht,‘ Und auch das fällt mir ein: Wie ich mich früher gehaßt habe. Gehaßt bis zu bitterster Todfeindschaft, die mir vielleicht nur aus Zufall nicht den Garaus machte. Und all mein Flehen um Tiefe fällt mir ein, das der alte Gott noch hören mußte und erfüllen sollte. Ein Mensch also gemacht aus Edelmetall und taubem Erz, zerspalten in Reichtum und Armut, Vermögen und Ohnmacht! Emporfahrend aus seiner Niedrigkeit, den Himmel des Seherischen und Schöpferischen in seine Arme herabzureißen, ihn erblickend in all seiner Herrlichkeit, und seiner flüchtigen Hoheit wieder entschlummernd in den Schlaf des Alltäglichen, von neuem erwachend nach kurzem Traum im Tal des unfruchtbaren Todes. Das wäre ich! Das bin ich?
Sieh einmal morgens nackenden Leibes beim Waschen an dir herunter, den Riesen-Zellenbau, das Zellenuniversum ohne Gleichen!
Welches naive Auge würde je darauf kommen, dich als eine einheitliche Ordnung von Legionen selbständiger Wesen zu verstehen und welches Auge würde folgen wollen, wenn der Verstand es wagte, die Wirklichkeit überhaupt als einen einzigen Zellenleib zu beschreiben, dessen Formen wir uns nur nicht vorstellen können?
Wie kann man sagen: Dies und das kommt hierher und daher; da doch alles überallher kommt.
Das Prinzip der Nachahmung (oder, vom Objekt aus: der Ansteckung) wirkt fortwährend in der ganzen Natur.
Ich habe zuweilen einen abgründigen Haß auf die Zahl. Sie ist die absurdeste Fälschung der ‚Wirklichkeit‘, die dem Menschen wohl je gelungen ist, und doch baut sich auf ihr ‚unsere ganze heutige Welt‘ auf.
Der große Irrtum ist der: man glaubt irgend einmal einen Mechanismus schaffen zu können, der schließlich wie ein Lebewesen wird und leben soll, und sei es auch nur ein Infusorium. Und übersieht dabei nur eins: daß es ein einzelnes Infusor für sich allein gar nicht gibt, daß man das ganze Weltall nachschaffen müßte, um auch nur ein kleinstes Tierchen in Wahrheit 264 lebendig zu machen — denn man kann nichts von außen hineinstopfen, Ihr Herren, man muß dann schon von der Pike auf schaffen, nicht nur so ex tempore und ex machina.
Alles ist Ausdruck eines Wesens .
Wenn im großen Weltkonzert einmal ein Stern untergeht, so ist das auch nichts weiter, wie wenn einem irdischen Orchestermusiker eine Saite platzt. Sähe man den Mann nicht die Geige absetzen, so würde man vermutlich gar nichts merken, so unbekümmert geht das vielstimmige Zusammenspiel seinen gewaltigen Gang.
Die ‚Welt‘ gibt offenbar immer nur relative Vollendungs-Möglichkeit. Zwischen zwei Eisperioden kann eine Menschheit sich vielleicht so ‚vollenden‘, wie ein Einzelner zwischen Geburt und Tod.
Wir glauben als Menschheit eine Art fließende Ebene zu sein und sind statt dessen ein wandelnder Berg oder eine wandelnde Pyramide.
Es ist mit der Weltenuhr wie mit der des Zimmers. Am Tage sieht man sie wohl, aber hört sie fast gar nicht. Des Nachts aber hört man sie gehen wie ein großes Herz.
Diese Waschkanne vor mir — nimm die Zeit von ihr: und sie stürzt zusammen in nichts. Die Zeit macht erst den Raum.
265 Das Amüsante ist, daß es nun, seit dem Auftreten des Menschen, auf einmal Vergangenheit und Zukunft gibt (von vielem andern ganz zu schweigen), als hätte die ganze Wirklichkeit nur darauf gewartet, sich von ihm in vorn und hinten, oben und unten, früher und später usw. einteilen zu lassen. O Mensch, du Kindskopf aller Kindsköpfe, o Wissenschaft, du grandioses Orientierungs-System dieses Kindskopfes, nichts weiter!
Gestern und morgen haben im All keinen Sinn. Das All war weder, noch wird es sein, — es ist. Und so war nichts von dem, was wir ‚vergangen‘ nennen. Alles ‚Vergangene‘ ist . Vergangenheit wie Zukunft sind nur Formen der Gegenwart.
Für Pflanze und Tier gibt es das Wort ewig nicht und daher auch keine — Ewigkeit. Es sollte sie auch für uns nicht geben. Wir sind . Wir werden nie sein, ebensowenig, wie wir je waren. Die Ewigkeit ist in jedem Moment ‚gelebte Gegenwart‘ — oder sie ist nicht.
Schauerlich, zu denken, daß alles nur ‚in der Flucht‘ ist. Es gibt nichts, als den Moment , in dem fortwährend alles ist.
So wie ‚ich‘ von Sekunde zu Sekunde lebe und mir dessen bewußt bin — (aber das alles ist nicht ich, das ist die Unendlichkeit, die in mir fortwährend weiter lebt) so lebt die gesamte Wirklichkeit wie ein einziger gigantischer Körper in ihrer eigenen, von mir ihr vermittelten Vorstellung von Sekunde zu Sekunde.
266 Alle Vergangenheit existiert nur als lebendige Erinnerung eines gegenwärtigen Kopfes.
Alle Vergangenheit ist eine Selbsterinnerung Gottes.
Die Welt ist eine sich ewig fortentwickelnde Kugel, deren Oberfläche — hier der dies von ihr aussagt.
Ist nicht einmal dasselbe Wort in deinem Munde je dasselbe, so bist auch wohl du selbst ein in jeder Sekunde Neuer, noch nie Dagewesener, Niemehrsodaseinwerdender. Und nicht du allein: Alles ist fortwährend neu, frisch, einzig, einmalig. Dies ist das Geheimnis des Lebens und damit Gottes, als eines ewig Seienden, ohne auch nur die Möglichkeit irgendwelcher Starrheit.
Bewußtsein: Wir stehen an einem Ende, wir sind ein Anfang.
Nicht nur Fortdauer, — — Ziel dauer.
Die Axt . (Fundamentalsätze.)
1. Keine Geschichte
2. Keine toten Gegenstände
3. Sprache — Prozeß.
Alle Materie ist ja nur geistiges Arrangement.
Aus einem Drama. Ein Freund zum andern (drohend): Die Welt wird doch keine Narrheit sein, — Du !?
267 Wer das Gebet in irgend einer Form wieder in unser Leben zurückbringt — er wird uns Ungeheures wiedergegeben haben.
Was ist Religion: Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln wollen.
Einen Tempel bauen mit der Aufschrift: Dem heroischen Leiden.
Es gibt keinen größeren Stilisator in der Natur als den Tod. Gib das Leben dem Tod in die Hand und du übergibst es — seiner Kultur. Selbst mit dem Menschen ist es nicht anders. Je mehr uns der Tod in Händen hat, desto höhere Kunstwerke werden wir.
Im Menschen vollendet sich und endet offenbar die Erde. Der Mensch — ein Exempel der beispiellosen Geduld der Natur.
Wer mag denn wissen, ob unsere Erde in der Rangstufe der Planeten nicht eine der untersten, niedersten ist? Ob sie der Mehrzahl anderer Wandelsterne nicht etwa vorkommen möchte, wie einem Paris, einem London der Marktflecken Schildburg, oder wie einem Lionardo sein Hund oder sein Pferd.
‚Der Übermensch ist der Sinn der Erde‘ — das heißt: der Erde Sinn ist ihr Untergang in — Höheres.
Gefühl von Gnade: seliges Vorgefühl des uns zum Heil, unserer ganzen Entwickelung nach, Erwartenden — ohne 268 den vollen Glauben, daß es auch wirklich kommen werde und ohne jeden Glauben daran, daß man es wirklich verdiene. Ein Gefühl, der objektiven Wahrheit zwar vielleicht nicht entsprechend, aber eine Schönheit des Herzens, ein Mehr — als — Wahrheit.
Alles Vollkommene darf angebetet werden, freilich nicht, daß es uns etwas schenke (außer sich selbst durchs Mittel seiner Schönheit), sondern angebetet im Sinne ehrfürchtiger Liebe.
Ja, dies Gebet, als kein Bitten um irgend etwas andres als um die immer reinere Offenbarung der Schönheit des Angebeteten soll bleiben, soll als das neue Gebet wiederkommen , nachdem wir das alte in uns niedergekämpft, ohne doch je vergessen zu können, daß es nicht nur eine Form des gemeinen Bedürfnisses, nein, noch weit mehr war: eine Form des edelsten Bedürfnisses der Seele: der Liebe. Als Liebe darf das Gebet wieder auferstehen, frei werden.
Gott ist der tiefste Gedanke, den der Mensch je gedacht hat. Gott ist der eigentliche Gedanke der Erde, der einzige all unsrer Gedanken, der, geschweige denn in Jahrtausenden, innerhalb ihres, der Erde, ganzen Daseins nicht zu Ende gedacht werden kann. Gott ist die große Frage der Erde, aller Erden: Ihr Leben ihre offenbare zugleich und geheime Antwort.
Es ist eines der tiefsten Worte: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Gott ist die Möglichkeit aller Möglichkeiten.
269 Göttliches (Theon) immer wieder in unzähligen Lebenslinien, Lebensläufen, Gott werdend (Theos) … Gott ein ewiger und unendlicher Prozeß des Sich-Verlierens und Sich-Gewinnens … Gott ein ewiges Ringen zahlloser dumpfer und lichter Individuen um Sich, als Schönheit der Schönheit. — Sich fortwährend auf irgend einer höchsten Formenstufe als diese gewinnend und besitzend und beschließend … und doch nie ganz und überall und gleichzeitig vollendet.
Im Kugelbegriff grenzt sich Gott gegen sich selbst ab. Gott ist, worin dieser letzte Begriff als in seiner höheren Einheit aufgeht.
Vielleicht wird jeder Planet so alt, bis er sich selbst erkannt und damit vollendet hat, oder doch so, wie Goethe sagt: der Mensch muß von einem gewissen Zeitpunkte an wieder ruiniert werden.
So wie ich — außer etwa als mystischer Seher — den Geistkörper des Menschen nicht schaue, so schaue ich auch nicht den Geistkörper der Erde. Und doch muß auch der Planet als Ganzes seinen Geistkörper haben und wer weiß, ob er damit nicht Brust an Brust mit Geistkörpern andrer Sterne lebt, sodaß …
Ein Kunstwerk schön finden, heißt, den Menschen lieben, der es hervorbrachte. Denn was ist Kunst andres als Vermittlung von Seele. Eine Landschaft schön finden, heißt, uns ihrer als eines göttlichen Geschenkes unbekannter Mächte freuen. Dankt meine 270 Ergriffenheit z.B. dem Meere selbst? Nein, sie dankt den schöpferischen Geistern, der ganzen Natur dafür, dem schöpferischen Geist — des Lebens selber. Interesselos aber ist mein Wohlgefallen am Schönen so wenig, daß es vielmehr alles tiefste Schöpferische in mir aufregt und, indem es ihm Gelegenheit gibt im ausgiebigsten Maße ‚mitzutun‘, bis zu einem gewissen Grade zugleich befriedigt. Nur bis zu einem gewissen Grade — denn über dies Befriedigen hinaus bleibt noch — ob bewußt oder unbewußt — etwas von jener nie ganz gestillten Sehnsucht, die wir allem gegenüber empfinden, was uns zur Liebe zwingt: die Sehnsucht, es noch mehr, noch besser, noch gründlicher zu lieben, als wir es lieben können , des Wunsches einer noch viel vollkommeneren, sublimeren Liebe, die den Dank wirklich zu erstatten vermöchte, den wir fühlen.
Weil wir niemals und nirgends etwas Totem gegenüberstehen, sondern immerdar dem Ausdruck irgendeines Willens — so ist alles Empfinden die unmittelbare Aufnahme jenes fremden Willens in unsern, auf die jedoch sofort auch seine Wiederausstoßung folgt, seine Distanzierung, Zurückweisung, Objektivierung. — Das Bild der Welt bietet so im Großen und Fortwährenden das Bild der — Liebe, als welche ein ewiger Wechsel zur Einheit zusammenfließender Zweiheit und in Zweiheit sich sichselbstgegenüberstellender Einheit ist.
Jeder konsequente Monismus führt unabänderlich zum — Dualismus. Denn eine absolute Einheit verträgt 271 der menschliche Geist niemals. Und wo er ihr nicht entweichen zu können glaubt, wie in Schopenhauer, verneint er.
Aus diesem Grunde könnte auch die Gottheit ihrer schauerlichen Einheit in Legionen Vielheiten entflüchtet sein, von zwei Leiden das kleinere wählend.
Die Welt als Trieb und Vorstellung — diese Fassung hätte vielleicht manches Mißverstehen Schopenhauers unmöglich gemacht.
Die Welt ist nicht bloß Pflanze, oder Tier, sondern — Mensch!
Immer wieder Gott zu werden: Ziel aller kosmischen Entwickelungen.
Beobachte doch, wie alles Menschliche sich fortwährend selbstkorrigiert. Wie sich ein ganz bestimmter — und nicht nur beliebiger oder ‚notwendiger‘ — Sinn des Lebens entwickelt, vielfach verschleiert, aber immer wieder hervorbrechend, sich immer reiner klärend und persönlicher enthüllend.
Wenn wir tausend Jahre wie einen Tag übersehen könnten, so würden wir die Entwickelung der Menschheit mit unheimlicher Schnelligkeit sich vollziehen sehen. So aber ‚sieht‘ vielleicht der Planet. Wir sehen nur die Individuen wachsen, er — die Typen.
Sollte in immer höherer Erkenntnis und Liebe (in immer höheren Formen) nicht die Möglichkeit immer 272 höheren Glückes liegen? Welche Genugtuungen, wieviel demütiger Dank, wieviel namenloser Jubel steht uns vielleicht noch bevor! Denn immer wieder, wenn alles, was ist, sich unaufhörlich höher ver- und emporgottet — wo braucht es eine Grenze zu finden, wo hat Gott — ein Ende? Solch ein Aspekt aber ist erst einer Gottheit würdig: — der ins Ewige und Unendliche.
Das Sein, das ist das Unvergängliche in uns, das Werden, das, als was wir dahingehen. Wie können Sein und Werden Gegensätze sein, wenn sie doch an uns in jeder Sekunde Eins sind, wenn das Ewig Seiende im Ewig Werdenden unaufhörlich ‚ist‘!
Warum sollte dies mein Leben ein Anfang oder Ende sein, da doch nichts ein Anfang oder Ende ist. Warum nicht einfach eine Fortsetzung, der unzähliges Wesensgleiche vorangegangen ist und unzähliges Wesensgleiche folgen wird.
Die Vorstellungen von Lohn und Strafe — müssen sie deshalb jeder tieferen Wahrheit entbehren, weil wir sie heute schroff ablehnen? Was hat sich eigentlich geändert? Daß wir uns heute unser Schicksal mehr oder minder selbst zu bereiten glauben, während wir früher glaubten, daß es uns bereitet würde. Ist nicht nur die Optik eine andere geworden, nur die Optik?
Man soll sich seiner Krankheiten schämen und freuen; denn sie sind nichts andres als ausgetragene Verschuldung.
273 Zukunft! — un-er-schöpfliches Wort! O Lust zu leben! O Lust, zu — — sterben!
Wohin können wir denn sterben, wenn nicht in immer höheres, größeres — Leben hinein!
Immer wieder: Nicht so sehr, was wir denken, ist das Höchste. Das Höchste ist das Denken selbst . Es allein verbürgt uns mit eherner Sicherheit den mit uns geborenen Gott.
— — — An der Pforte steht das Grauen.
Man versteht den Menschen erst — sub specie reincarnationis.
Die Hochzeit zu Kana. Christus verwandelt Wasser in Wein: Was bisher als Wasser (Mensch) gegolten, wird durch sein Offenbarungswort Wein (Gott!).
A. Was, was ist's, was den Menschen vom Christus trennt; sagen Sie mir das, können Sie mir das sagen?
B. Ja, das kann ich. Der Philister in ihm.
Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang des Christentums.
Der Gedanke Gottes muß freilich der Tod des Individuums sein. Darum hält er sich auch im Allertiefsten besser als im Vordergrund auf.
274 Die Menschheit ist ein großes Kind, dem feindliche Mächte unaufhörlich neues Spielzeug schaffen helfen, damit es sich nicht wesentlich entbabysiert. Was muß sie dagegen tun? Das Spielzeug, soweit es irgend geht, — spiritualisieren, das heißt sich von ihm nicht materialisieren lassen.
Wenn du die Lage einer Hütte auf einem Berge betrachtest, so machst du leicht deinen Standpunkt zu dem ihrigen, uneingedenk dessen, daß sich die Welt von da droben ganz anders ausnimmt als von dir aus. Ja, dies verhält sich bis zu einem gewissen Grade selbst dann noch so, wenn du dich mit aller Einbildungskraft auf ihren Standpunkt zu versetzen bemühst. Um einen Standpunkt ganz verstehen und würdigen zu können, muß man diesen Standpunkt selbst einnehmen oder wenigstens einmal eingenommen haben.
Aus diesem Grunde läßt sich alles Göttliche nicht eigentlich beurteilen, es sei denn von Menschen, die in persona im Über-Menschlichen zu verkehren vermögen.
Die Menschheit schleppt am Boden. Gefesseltes aller, ach viel zu aller, Art. Darunter ab und zu ein Adler. Auch er mit Fußring und Bleikugel. Aber ein ander Schauspiel doch, als all das andre. Er gewöhnt das Schleppen nicht, das alle andern mehr oder minder gewöhnen. Er empört sich sein ganzes langes Leben lang, flüchtet empor, strebt empor, königlich und unablässig. Auch er vermag sich nicht wirklich in die Luft zu schwingen — und das weniger, weil er die Gewichte 275 am Fuß nicht zu heben imstande ist, als weil ihn das ungeheure Gewimmel um ihn nicht los, nicht hoch läßt, — besser noch, weil er's nicht mit hochziehen kann , — aber er bleibt ein lebendig Memento Coeli, er verliert seine Göttlichkeit nicht an den Alltag, den Staub und die Straße, nicht an den Trott der Millionen.
Wer das feine zweite Ohr für den Souffleur hat, sieht die Geschichte der Menschheit anders an.
Werden wir hier auf Erden nicht schon von sichtbaren Lehrern erzogen und immer weiter befruchtet? Ist irgend ein großer Mensch, dem wir etwas verdanken, nicht unser Meister? Ist so das Leben nicht ein fortschreitendes Lehren und Lernen?
Und sollte das nach dem Tode der leiblichen Persönlichkeit — aufhören?
Wenn die Menschen sich weiter entwickeln, müssen auch ihre Götter sich mit und weiter entwickeln, all die geistigen Wesenheiten, die an ihnen gearbeitet haben und arbeiten. Der Lehrer, der das Kind bis zu dessen zwanzigstem Jahre geleitet hat, wird dann ebenfalls um zwanzig Jahre gealtert, gereift, weiter entwickelt sein. Wer überhaupt göttliche Demiurgen annimmt, der soll sie nicht als starre Götzen verehren.
Wir sollten wohl so vor dem Mysterium von Golgatha empfinden: Nicht nur: ein Gott opfert sich für seine Welt. Sondern ebenso: er opfert sich für 276 seine Welt . Für seinen eigenen ungeheuren tragischen Schöpfungsprozeß, Schöpfungskomplex. Oder, um die Majestät dieses Unausdenkbaren zu mildern: für den Menschen, seinen Sohn, seine Tochter. Denn vielleicht ist für den Gott, dem die Entwickelung seiner Schöpfung, seines Geschöpfes vor Augen steht, die von ihm selbst so verhängte und heraufgeführte Art und Notwendigkeit dieser Entwickelung ein noch ganz anderer Schmerz, als der seines Kreuzweges und Opfertodes. Vielleicht wird Christus erst dann von uns noch ganz anders ahnungsvoll begriffen werden, wenn wir uns in die Tragik eines Weltenschöpfers zu versenken suchen, dessen Wesen Liebe ist — stark und unaufhörlich wie die Sonne —, dessen Wille es ist, selbständige ebenbürtige Weltengötter, Weltenschöpfer, durch Äonen und Äonen heranreifen zu lassen, und dessen abgrundtiefe Weisheit es ist, den Schmerz in allen seinen Graden und Formen als Bildner zu wollen oder doch wenigstens zuzulassen. Glaubst du nicht, daß Sein Leid über alle Leiden der Welt das Leid all dieser Leiden übertrifft, — denn noch wie anders leidet ein Gott als ein Mensch —? Sollten wir nicht dieses Leiden des Gottes Christus, als Gottes, zu sehr verkennen hinter dem Leid des Gottes Christus, als Menschen, in der Maja des Jesus von Nazareth?
Es ist ein ungeheures Schauspiel, mit welcher grenzenlosen Freiheit in einem Kosmos, wie dem unsern, alles seine Wege gehen darf. Jede Meinung, jede Handlung ist erlaubt. Jedes Wort, und sei es noch so wunderlich oder verkehrt, kann gesagt werden, jede Urteilsnuance 277 bis zur höchsten Erkenntnis der Wahrheit hinauf, bis zur tiefsten Schmach der Verblendung hinab darf da sein und ist da und unterliegt keinem andern Gesetze, als dem der allmählichen Selbstkorrektur im Sinne einer von Liebe geläuterten Vernunft.
Das ist das Fruchtbarste an großen Menschen, daß ihr Anblick den, der sie langsam zu erkennen beginnt, bis in den Tod hinein beschämt. — Eine Erfahrung, von welcher aus der Mensch ahnen kann, was ein — Gott für ihn sein müßte, wenn er sich wirklich in ihn versenkte.
Kein größerer Irrtum als der: der Mensch sei dazu da, es jemals gut zu haben. Nie gut haben soll er es — außer höchstens, daß ihm die Kraft zu weiteren Kämpfen wachse —; denn sonst ‚bekäme‘ er es nie ‚gut‘; dann nämlich, wenn er, nach Äonen und unzähligen Wandelungen, seinen Kosmos absolviert haben wird: Und eine Heerschar Gottes-Söhne mehr zu neuem Schaffen gereift steht.
Wen Gott lieb hat, den züchtigt, den — züchtet er. Und so ward er die Welt, Sich Selbst zur — Zucht.
Die Menschheit hat längst alles empfangen, was zu empfangen ist. Aber sie muß es immer wieder von neuem und in immer wieder neuer Form empfangen und verarbeiten.
Die Lehre der Reincarnation z.B., sie ist längst da. Aber sie mußte eine Weile beiseite gelassen werden — die 278 ganze europäische Zivilisation geht auf dies Beiseitelassen zurück. Jetzt hat dieser Zyklus das Seine erfüllt, jetzt darf sie, als eine unermeßliche Wohltat, in den Gang der westlichen Entwickelung wieder eintreten. In einem Sinne, der erst jetzt möglich ist, zweitausend Jahre nach der Erscheinung des Christus, in einem ganz andern Sinne als je vorher, wird sie jetzt von neuem die Menschheit befruchten, erleuchten, erlösen.
Im Grunde gibt es den einzelnen Menschen garnicht. (Er bildet sich's bloß ein.)
Was reden wir von den alten Ägyptern, Persern, Indern. Reden wir doch von uns alten Ägyptern, Persern, Indern! Oder, wenn Jakob Böhme bei der Erschaffung der Welt dabei war, war er dann bei der Entstehung der Veden abwesend?
Die Menschen sind heute so weit gesunken, daß sie sich ‚genieren‘ vom Wesentlichsten ihres und alles Lebens zu reden. Gott, Christus, Unsterblichkeit sind in gewissen Kreisen so verpönt, wie in andern Hemd, Hose, Strümpfe; es gehört nicht zum guten Ton, nicht zum savoir vivre, sie nicht völlig zu ignorieren. Nur der ‚weiß‘ heute zu ‚leben‘, der in der Tat nicht mehr weiß, was leben heißt.
Ahnten die Mütter, wie ganz anders eine Mutter ihr Kind anblickt, die sich den Lehren der Wissenden in rechter Weise erschlossen, — nicht Eine würde damit unbekannt bleiben wollen.
279 Mein Gott, mein Gott, in jeder Sekunde geschieht irgend etwas andres Unsägliches auf Erden — und die Menschen wollen es nicht anders und die Menschen wollen es nicht anders. Denn sonst würden sie ihr Leben anders einrichten, sonst würden diese Schmetterlinge endlich Ernst zu machen versuchen.
Auf welcher Stufe steht noch der Mensch! Wie noch viel furchtbarer wird er leiden müssen, damit er nicht als Mumie im Weltall bleibt, damit Gott in diesem gefährlichen Schöpfungsabenteuer nicht zu Schaden kommt.
Als ich noch jung war, da dachte ich, die Zeiten des Leidens lägen mehr hinter uns als vor uns. Jetzt sehe ich fast nicht ein Ende. Zu viele Seelen gibt es, zu viele. Der Fall in die Materie war zu tief —
Man glaubt heut, der Mensch stamme vom Tiere ab. Wie aber, wenn umgekehrt die Tiere Ableger der Menschheit wären, zurückgebliebene Menschheit, voreilige, vorwitzige, und deshalb in einem zu frühen Zustand festgehaltene Menschheit?
Jede Schöpfung ist ein Wagnis.
Ich hatte mich in ‚Gott‘ verloren. Aber Gott will nicht, daß wir uns in ihm verlieren, sondern daß wir uns in ihm finden , das aber heißt, daß wir Christus in uns und damit in ihm finden. Daß du den Christus in ihm, daß du dich als Christus in ihm findest.
Wer in das, was von Göttlich-Geistigem heute erfahren werden kann, nur fühlend sich versenken, nicht erkennend 280 eindringen will, gleicht dem Analphabeten, der ein Leben lang mit der Fibel unterm Kopfkissen schläft.
Der ‚Glaube‘ — und dem entsprechend der Unglaube — an Gott gehört einer gewissen Periode der Menschheit an: er ist — im tiefsten Ernst gesprochen und den Begriff Humor so geistig wie möglich gefaßt — ein Kapitel ihres unfreiwilligen Humors. Es handelt sich in Wirklichkeit allein um das von Gott mögliche Maß von Wissen. Nicht um Gottesglauben, sondern Gottesforschung, Gotteswissenschaft.
Der Mensch will schon lange genug wieder frei werden von der nur fünfsinnlichen Beschränkung, die zu seinem Wachstum allerdings notwendig war, die er aber doch niemals ganz verlernt hat als ein Joch und eine Schulung zu empfinden, daraus er eines Tages wieder hervorgehen werde, wie er eines Tages hineingegangen ist: als einer, der aus Geisteswelten hinabgestiegen ist und zu Geisteswelten wieder hinansteigt. Er will es, — und wer einmal gefühlt hat, was der Wille des Menschen bedeutet, der weiß auch, daß vor diesem Willen, wenn der Tag der Reife gekommen, die Tore der alten Heimat sich auftun, wie von magischer Hand berührt. Er weiß, daß alles im Himmel und auf Erden ihm entgegenwächst, wenn es so weit ist; daß er nicht mehr zu darben braucht, wenn das Maß seiner Prüfungen voll ist. Denn war auch Kant ein großer Lehrer und Erzieher, wie viele Lehrer- und Erzieherstufen sind vom Kant-Menschen noch aufwärts, bis dahin, wovon es heißt: La Somma Sapienza e il Primo Amore.
281 Man denkt und empfindet heute nicht über die nächsten zehn, hundert, bestenfalls einigen hundert Jahre hinaus. Als ob uns, Erscheinungen der Ewigkeit, die Ewigkeit unserer Zukunft nicht gerade so anginge, wie unsere nächsten Jahrhunderte, ja, als ob diese nicht allein aus jener richtig bestimmt werden könnten.
Werden wir krank, weil es einem plötzlichen Gewitterregen oder einem herabrutschenden Dachziegel so gefällt? Oder weil unsere Eltern krank waren oder weil rings um uns Krankheit herrscht? Oder weil wir uns selbst die Krankheit irgendwie verschrieben haben, auf daß sie uns von etwas Schlimmerem, von einer Leidenschaft, oder einem Irrtum etwa — heile? Vor der Geburt schon verschrieben, aus einer, obzwar nicht minder individuellen aber zugleich viel höheren Weisheit und Erkenntnis, als deren wir uns in unserer gegenwärtigen Wiederverkörperung bewußt sind?
Man spricht gern von dem sinnlosen Tod eines Einzelnen, von den unschuldigen Opfern einer Katastrophe. Aber besser würden nur solche Anschauungen als sinnlos oder unschuldig empfunden. Man sollte sich des Wortes Sinnlosigkeit vor und in einem Kunstwerk, wie es das All ist, entschlagen und sich zwingen, das Verständnis einer jeden Erscheinung lieber vergeblich heranzuwarten, als sie als alogisch zu verleumden, innerlichst davon durchdrungen, daß am Ende doch mehr Weisheit im Kosmos herrschen dürfte, als dem eigenen Kopf just offenbar, ja, daß ein Kosmos sinnvoll nach dem Sinne solches Aburteilens und Besserwissens aufgebaut, sicherlich 282 schon in seinem allerersten Anfange wie ein Kartenhaus zusammengestürzt wäre. Was, ebenso, die Unschuld der Opfer anbetrifft, so kann ein Mensch nicht deshalb kurzerhand unschuldig genannt werden, weil er einer Katastrophe zum Opfer fällt. Er hat freilich gemeinhin vorher nicht gestohlen, aber selbst das Durchschnittsbewußtsein glaubt — gesetzt es handelt sich nicht um Kinder — so leicht nicht an einen schlechtweg schuldlosen Menschen. Ein höheres Bewußtsein verwirft den Begriff der Schuldlosigkeit ganz, vorbehält jedoch noch die Unschuld des Kindes. Eine dritte Einsicht weiß, daß auch dem Kinde nicht Unschuld, im letzten Verstande, zugesprochen werden kann, da es als seelisch-geistiges Wesen keine Neugeburt, sondern eine Wiederverkörperung ist, also ein volles Maß von eigenem Menschlichen vom ersten Tag an in sich birgt und weiter auszuwirken hat. Für dies Bewußtsein gibt es keine unschuldigen Opfer, keinen sinnlosen Tod, ihm löst sich alles in von allertiefstem Sinn durch- und überwaltete — wenn auch deshalb nicht weniger tragische — Enwickelung auf.
Die Menschen sollen einander lieben, aber damit ist nicht gesagt, daß ihnen dies nicht so schwer wie möglich gemacht wird und fallen soll, denn es gibt keine wohlfeile Liebe. Es gibt nirgends im Kosmos des Kreuzes billige Errungenschaften, und wie wäre er sonst auch seines Meisters und seiner Bestimmung würdig.
Von wie vielen geistigen Überwindungen und Siegen hat mancher Mensch schon gelesen und gehört, wie viele Dichter und Weise und Religionsstifter und — Götter 283 haben für ihn gelebt und sind von ihm kennen gelernt und wohl auch erlebt worden! Und doch fällt in der Stunde eines schweren Schicksals alles von ihm ab und nur sein eigen Los und Leid steht vor ihm, und nichts gilt dann mehr, nicht einmal Gott. Was half ihm nun sein ganzes geistiges Leben während langer Jahre, ja vielleicht Jahrzehnte? Nichts: denn er hat es nicht mit seinem Innenleben verknüpft, verbunden, vermählt, er war zu wenig re—ligiös. Er wuchs nicht zusammen mit jenem Höheren. Und so hat er jetzt auch keinen Halt an ihm und bekommt keine Kraft von ihm — und steht jetzt so arm wie am Anfang, ja ärmer als zuvor.
‚Hat die Religion eine Zukunft?‘ So gut, wie derjenige, der so fragt, eine Zukunft hat, in der er, wie zu hoffen steht, solchen Fragestellungen entwachsen sein wird.
Die Geschichte der Menschheit ist ein Ringen der Konsequenz gegen die Inkonsequenz (resp. Dumpfheit) und die Konsequenzlosen. Alle Konsequenz führt zu Gott, alles, was darunter, in Maja.
So wie der winzige Same in die Erde fällt, um die Urpflanze zu wiederholen und nicht nur zu wiederholen, so ist der Mensch ein Samenkorn Gottes. Die Sonne aber, die ihn reift, ist Christus.
‚Und Sie glauben wirklich, daß dort oben im blauen Himmel Geister und Götter herumspuken?‘
284 ‚Sie spuken dort nicht herum, sondern sie wirken und schaffen von dort und überall her an uns und der Welt und sie spuken so wenig herum, wie es hier in dieser Tanne oder dort in jenem Berge ‚herumspukt‘. Weder Tanne noch Berg sind ohne geistige Erbauer, geistige Erhalter, geistige Weiterbildner denkbar, noch mehr, sie sind integrierende Bestandteile, Glieder, Leibesteile (wie Sie wollen) geistiger Wesenheiten. ‘
Wenn man eine Geschichte der Weltliteratur aufschlägt, so scheint alles in schöner Einheitlichkeit vor einem zu liegen. Die älteste wie die neuste Dichtung sind ohne Weiteres auf die gleiche Quelle zurückbezogen, nämlich auf den Menschen, so wie man ihn heute versteht, einen Typus, den man nach dem Bilde der gegenwärtigen Menschheit geschaffen und als ungefähren Normaltypus für alle Zeiten und Länder festgesetzt hat.
Die Wirklichkeit jedoch kennt keinen solchen Generalnenner. Der Mensch verwandelt sich fortwährend und steht in den verschiedenen Zeitaltern in verschiedenem Zusammenhang mit der geistigen Welt. Er war seiner nicht immer so bar wie heut, aber er ist dies selbst heute nicht in dem Maße, wie angenommen zu werden pflegt. Ja noch mehr, er ist im Begriff, ihn langsam wieder zu gewinnen, und behält damit, da es im Licht seiner vollen Vernunft geschieht, der Welt ein noch nie erlebtes Schauspiel vor: das Bewußtwerden seiner, des Menschen, des menschlichen Geschlechtes, selbst, als, um es so auszudrücken, einer für sich besonderen kosmischen Hierarchie. 285 Daß die Welt eine — richtig verstanden — Gedachtheit Gottes ist, erscheint uns nur darum so fremd, weil unsere Gedanken so blaß und schemenhaft sind. Wenn wir denken, so denken wir Schatten. Gott denkt Realität. In Ihm ist daher Denken und Welt eins.
Man muß Gott schon in Zwei teilen, wenn seine schönste Empfindung, die Liebe, nicht allerletzten Endes Selbst-Liebe sein soll.
Ist dies nicht alles Schöpfung, merkwürdige, wunderliche Schöpfung? Dieser Schrank, diese Bettstatt, dieses ganze Zimmer? Ist nicht dies alles aus Einem Grundgedanken heraus entstanden, aus Einem mathematischen Grundgedanken?
Stimmt darin nicht alles irgendwie zusammen?
Und von diesem Gedanken: daß dies alles Schöpfung aus dem Nichts ist! — ist es da noch weit zu dem Gedanken eines Schöpfers und ganzer Reiche und Stufenfolgen von Helfern desselben — noch weit zu dem Gedanken, daß hinter allem und jedem — Geist steckt und nicht bloß alleiner, unterschiedloser Geist, sondern differenzierter, tausendfältig gearteter, gestufter Geist? Ist vom Staunen über Mensch, Tier, Pflanze und Mineral mehr als ein Schritt zum Ahnen unsichtbarer Wesenheiten und davon mehr als ein Schritt zum Glauben, daß es Lehren und Lehrer geben könne, nein, zur Überzeugung, daß es Lehren und Lehrer geben — müsse, in jene Geisterwelt offenen Sinnes hineinzudringen …
Die Vorarbeiten zu diesem Buch hat Christian Morgenstern noch selbst besorgt. Am weitesten gefördert von seiner Hand war der Abschnitt: ‚Tagebuch eines Mystikers‘, den er ursprünglich in einen vorwiegend autobiographisch gedachten Roman aufnehmen wollte. Mir blieb die Aufgabe, das vorhandene, zumeist noch über viele Taschenbücher verstreute Material nach seinem, öfter ausgesprochenen Plan zu sichten und dem bestehenden Rahmen einzufügen. Er sagt in einem Vorwortfragment für diese Sammlung: ‚Es liegt mir nicht daran, mit diesen durch Jahre gehenden Notizen ein neues Büchlein Aphorismen zu anderen zu geben. Es liegt mir nicht daran, mich irgendwie als Mystiker oder dergleichen herauszustellen. Zweck dieser Blätter ist allein der, aus einem Stück Entwickelung das zu lernen zu geben, was ein Stück Entwickelung nun eben zu lernen geben kann.‘
Diese Absicht wäre zweifellos noch eindringlicher verwirklicht worden, wenn der Verfasser selbst die Gestaltung des Buchs hätte vollenden können; ganz abgesehen davon, daß dann auch im Einzelnen mancher der Sätze überarbeitet worden wäre.
Für einen Zeitraum von fast sieben Jahren (1898 bis 1904) haben sich die Aufzeichnungen bisher noch nicht auffinden lassen. Der Charakter dieser mehr skeptischen Periode ist jedoch durch etliche Aphorismen des vorliegenden Bandes immerhin noch angedeutet.
Den Freunden meines Mannes, Friedrich Kayßler und Michael Bauer, die mir bei der Herausgabe behilflich waren, sei auch an dieser Stelle gedankt.
Breitbrunn am Ammersee, November 1917
Margareta Morgenstern.