The Project Gutenberg eBook of Hansi

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Title : Hansi

Author : Ida Frohnmeyer

Release date : November 29, 2006 [eBook #19971]

Language : German

Credits : E-text prepared by Norbert H. Langkau, Ralph Janke, and the Project Gutenberg Online Distributed Proofreading Team

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HANSI ***

E-text prepared by Norbert H. Langkau, Ralph Janke,
and the Project Gutenberg Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net/)


Hansi


Sonne

und Regen

im Kinderland

Das zweite

Bändchen


Ida Frohnmeyer

Hansi

Zwei Erzählungen


Mit Scherenschnitten von

Hedwig Schwegelbaur


12.-26. Tausend


1922


D. Gundert / Verlag / Stuttgart


Druck der Stuttgarter
Vereins-Buchdruckerei

Hansi

»Und wenn wir uns wiedersehen, ist mein Hansi ein großer, strammer Bub! Ach, wie ich mich jetzt schon freue!«

Das hatte Mutterchen gesagt, als sie zum letzten Male an ihres Jungen Bett gesessen hatte. Am andern Morgen, noch ehe Hansi die Augen geöffnet, waren sie und der Vater weggereist, weit weg, zurück in das heiße Land, in dem Hansi geboren war und als kleiner Junge gespielt hatte.

Wie war es da so schön! Wie ein langer, leuchtender Sonnentag! Ein bißchen heiß war es ja manchmal gewesen, aber dann hatte ihn die freundliche, braune Ayah gefächelt, und Mutterchen hatte ihm erlaubt, wie ein kleiner Hindujunge, nur mit einem Lendentuch bekleidet, herumzuspringen. Und da war eine große, mattenbedeckte Veranda gewesen und ein prächtiger Blumengarten und das weite, blaue Meer, in dem er jeden Morgen gebadet, und das ihm so viele schöne Muscheln geschenkt. Ja, und einmal war eine dabei gewesen, die sah drein, als habe sie ein Tigerfellchen angezogen, und sie hatte etwas ganz Wunderbares in sich verborgen — — das Rauschen des Meeres. Man mußte sie nur dicht ans Ohr halten, dann hörte man es deutlich, und wenn man die Augen schloß, konnte man denken, nahe bei Vater und Mutter zu sein.

Jetzt wohnte Hansi in einem großen Haus mit vielen andern Buben zusammen. Eine Veranda gab es da nicht, nur weite, helle Stuben, die ein wenig leer und nüchtern dreinsahen. An den Wänden hingen keine Bilder, und nirgends standen Blumentöpfe oder schön geformte Vasen. Natürlich, in einem Haus mit so vielen wilden Buben konnte man derartiges nicht haben. Mutterchen wenigstens hatte den Mangel so erklärt.

Wenn sie nur ein bißchen weniger wild gewesen wären, diese Buben! Hansi fürchtete sich vor ihnen, oft unnötigerweise, denn im Grund meinten sie es gut mit dem neuen Kameraden. Aber er war so verträumt und so fabelhaft leichtgläubig, der kleine Hansi. Das verlockte sie immer aufs neue zu Neckereien aller Art. »Hansi, du mußt einmal ein Sandmännchen werden und mit einem Karren herumziehen und Sand verkaufen!« sagte einer der Buben. Hansi schaute kläglich drein und meinte: »Ich will aber nicht!« — »Ja, du mußt eben, du mußt!« gröhlte die ganze Bande. Sie lachten aus vollem Halse und sahen ohne alles Mitleid, wie in Hansis Augen eine heiße Angst aufwachte. Vielleicht daß ihnen die dummen Worte leid gewesen wären, wenn sie gewußt hätten, daß sie wochenlang wie ein schweres Gewicht auf Hansis Herzen lagen. Ja, wochenlang. Dann auf einmal kamen ihm Mutterchens Worte in den Sinn: »Wenn wir uns wiedersehen, ist mein Hansi ein großer, strammer Bub.« Also noch ein Bub! Da konnte Mutter doch gewiß verhindern, daß er ein Sandmännchen werde. Hansi ward darüber so froh, daß er einen bescheidenen kleinen Luftsprung machen mußte. Dann lief er in den großen Hof hinunter, wo die andern Jungen spielten und schrien, und schrie zum erstenmal in seinem Leben tüchtig mit.

Der Hof erinnerte in nichts an den herrlichen Blumengarten. Nur in einer Ecke war ein kleiner Abglanz davon. Da hatten die größeren Buben ihre Gärtchen. Jedem gehörte ein schmales Beet, das er selbst bepflanzen durfte. Wie sehr liebte Hansi diese kleinen Gärten! Keiner der eigenen Besitzer wartete mit größerer Spannung auf das Erblühen einer Knospe, auf das Aufgehen irgend eines geheimnisvollen Blumensamens.

Die großen Jungen fanden es oft recht angenehm, den Kleinen helfen zu lassen. »Er tut es ja so gern,« entschuldigten sie sich vor sich selbst, wenn sie sahen, wie er mit glühendem Gesicht die Beete von Unkraut und Steinen säuberte. Aber keiner dachte daran, dem kleinen Hansi ein Stückchen, ach! nur ein winziges Stückchen zu geben. Und er mußte noch so lange auf ein eigenes Gärtchen warten! Wer in die dritte Klasse eintrat, bekam eines zugewiesen. Hansi aber gehörte noch zu den »Nullten«. So nannte man die Bürschchen unter sechs Jahren, die noch nicht zur Schule gingen. Manchmal waren deren zwei, drei, oder noch mehr beisammen, aber als Hansi ins Haus gekommen, waren eben alle Nullten stolze »Erstklässler« geworden, und Hansi war die einzige kleine Null. Das war dem guten Mutterchen gar hart erschienen. Sie hatte wohl vorausgesehen, wie verloren die kleine Null in dem großen Hause herumwandern werde. Den ganzen Vormittag hindurch waren Lektionen; für Hansi war niemand da, und so ging er mit seinen kleinen, immer noch ein bißchen trippelnden Schritten treppauf, treppab. Oft blieb er vor einem Klassenzimmer stehen und hörte ein Weilchen zu. Es freute ihn, wenn er die verschiedenen Stimmen unterscheiden konnte. »Das ist Gerhard und das Karl und das Fritz.« Er konnte sich beinahe einbilden, mit im Klassenzimmer zu sein wie ein richtiger großer Junge. Ach, wenn doch das Frühjahr bald kommen wollte!

Aber vorerst war es Juni. Im Juli und August waren lange Ferien, das wußte Hansi. Alle Jungen sprachen von diesen Ferien. Jeder war irgendwohin eingeladen, zu Verwandten oder guten Freunden, und jeder hatte etwas Schönes von den kommenden Wochen zu erzählen.

Nur Hansi nicht. Er wußte nicht, daß ihn eine Tante längst eingeladen, und niemand dachte daran, ihm etwas davon mitzuteilen. Da überkam ihn nach und nach eine große Traurigkeit. »Alle werden sie fortgehen, dann bin ich ganz allein,« dachte das Hänschen, und in Gedanken durchwanderte er das große Haus und horchte vergeblich an den totenstillen Klassenzimmern. Mit einem Mal hatte er die vielen wilden Buben lieb. Er konnte es ihnen nicht sagen, er schaute sie nur an mit bittenden Augen, die so deutlich sagten: »Geh nicht fort! Weißt du denn nicht, daß ich dann ganz allein bin?«

Aber frische, lebenslustige Buben verstehen eine leise Augensprache schlecht. Hansi mußte deutlicher reden, und das tat er auch eines Tages. Der Größte der ganzen Schar, der schon beinahe wie ein Herr dreinsah, hatte Hansi erlaubt, sein Gärtchen zu begießen. Eifrig trippelte der Kleine hin und her. Das Wasser lief aus der Kanne nicht nur auf die Blumen hinab, sondern auch auf Hansis Schürze und Schuhe. Ängstlich beschaute er den Schaden aber der Große wußte Rat.

»Komm, die Schürze hängen wir an die Mauer, da scheint noch Sonne hin. Die trocknet bald.«

Er tätschelte bei diesen Worten Hansis Haarschopf — das tat wohl bis tief ins kleine Herz hinein. Hansi faßte plötzlich Mut.

»Du, Ernst, kann ich nicht mit dir in die Ferien gehen? Weißt du, ich muß sonst allein dableiben.«

Noch ehe Ernst antworten konnte, erklang ein unbändiges Gelächter. Hinter den beiden stand Hansis schlimmster Quälgeist, ein lang aufgeschossener Junge mit schlenkrigen Gliedern. »Nun meint das Kindle, es bleibe allein zu Hause! Ha, ha, das ist ja rein zum Totlachen! Aber halt!« — der lustige Ton schlug plötzlich in einen ernsthaften um — »du hast ganz recht. Du mußt freilich allein dableiben. Ganz allein ... Die Hauseltern gehen weg, und die Mägde gehen weg, und die Lehrer gehen weg, und natürlich alle Buben — nur du allein mußt dableiben und das Haus hüten.«

Hansi starrte den Sprechenden an mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen, und nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Er schrie auf, so jammervoll, daß es sogar dem dummen Buben ins Herz drang, und dann stürzte er, immer den gleichen schmerzlichen Schrei ausstoßend, aufs Haus zu.

»Du Esel!« knurrte der große Ernst und gab dem Quälgeist einen Rippenstoß. Dann rannte er in großen Sprüngen dem kleinen Kameraden nach. Drinnen im Haus fand er ihn. Die Hausmutter, eine rüstige Frau, mit einem freundlichen, tüchtigen [TN1] Gesicht, hielt Hansi auf dem Schoß und strich ihm beruhigend über die tränennassen Bäckchen.

»Nun weine nur nicht mehr! Hat es denn gar so weh getan? Wo bist du denn gefallen? Komm, jetzt machen wir: Heile, heile Segen! Drei Tag' Regen, drei Tag' Schnee — tut dem Kindchen nimmer weh!«

In ihrer Stimme lag etwas so Beruhigendes, daß Hansis wildes Schluchzen allmählich verstummte. Da stellte ihn die Frau wieder auf die Erde, putzte ihm das Näschen und ging eilig, um in der Küche ihre Befehle für das Abendbrot zu geben.

Der große Ernst stand etwas verlegen neben dem kleinen Kameraden. »Hansi,« sagte er, »nun paß einmal auf: du mußt nicht allein dableiben. Du bist auch eingeladen, zu deiner Tante in den Schwarzwald. Dort ist's schön, freu' dich nur! Auf Karl brauchst du nicht zu hören, der schwatzt nur dummes Zeug.«

Hansi sagte nur das eine Wörtchen »O«, aber seine Augen sahen dabei so glücklich und dankbar drein, daß es dem großen Ernst ganz merkwürdig warm ums Herz wurde. Zärtlichkeiten waren unter den Jungen verpönt. Aber nun konnte er nicht anders: er bückte sich und küßte das strahlende Gesichtchen vorsichtig und rasch.


Ende August rückte Hansi wieder in die Anstalt ein. Er brachte ein sonnenverbranntes Gesichtchen mit und frohe, blanke Augen, in denen sich viel Liebes gespiegelt hatte. Das war deutlich zu sehen. Und ebenso deutlich war zu sehen, wie die Augen allmählich den frohen Glanz verloren und wieder den alten suchenden, verträumten Ausdruck gewannen.

Und doch war eigentlich niemand unfreundlich mit dem Kleinen. Nur ... es hatte niemand Zeit für ihn. Das war es. Die Hausmutter und die Mägde hatten alle Hände voll mit dem großen Haushalt. Der Hausvater und die Lehrer beschäftigten sich wohl auch außer den Stunden mit den Buben, aber Hansi war meist zu klein, um bei den verschiedenen Unternehmungen mittun zu können. Nur der Singlehrer gab sich hie und da mit ihm ab. Der hatte ihn einmal ein Lied, das ihn seine Ayah gelehrt, singen hören, und seither durfte Hansi in der Singstunde der Kleinen mitsingen. Ja, und manchmal durfte er auch noch nach der Stunde eine Weile bei dem freundlichen Herrn bleiben, der ihm auf dem Klavier allerlei vorspielte.

Gleich nach Vater und Mutter und den Blumen liebte Hansi die Musik. Aber es mußte schöne sein. Die Übungsstücke der Buben waren ihm zuwider. Auch der Lehrer spielte nicht immer schön nach Hansis Meinung. »Schön« waren nur die feinen, zarten Töne, die einen wie liebe Hände streichelten. — —

Der Herbst brachte eine große Freude für Hansi. Bei Vater und Mutter war ein Kindchen angekommen, ein kleines Schwesterlein, das mit ebenso erstaunten Blauaugen in die Welt gucke, wie es Hansi getan. Als das kleine Ding ein paar Wochen alt war, wurde es photographiert, und Hansi erhielt ein Bildchen.

Er betrachtete es mit strahlenden Augen, dann lief er zur Hausmutter. »Nicht wahr, Tante, einmal hat der liebe Gott gedacht: Nun will ich mal ein süßes, kleines Mädchen machen, und da hat er Käthe gemacht.«

»Ja, ja, das wird wohl so sein,« lächelte die Tante. Dabei setzte sie den großen Wäschekorb, den sie eben auf den Boden tragen wollte, wieder ab, um Hansi einen Kuß zu geben.

Hansi trug das Bildchen immer bei sich in der Tasche seiner Matrosenbluse. Wenn er sich sehr klein und verlassen vorkam, zog er es hervor und setzte sich damit in die Nähe der Gärtchen, um den Blumen von der kleinen Schwester zu erzählen. Sie verstanden ihn sehr gut, besonders die Dahlien, die mit ihren dicken Köpfen so vergnügt und wohlgenährt dreinsahen. Sie erinnerten Hansi immer an einen Buben des Hauses, der rote Pausbacken hatte und immer zufrieden war. Die Blumen waren überhaupt wie die Menschen. Sie hatten ihre eigenen Gesichter und ihr eigenes Wesen. Die Stiefmütterchen waren wie liebe, freundliche Kinderchen, aber die Rosen trugen sich stolz und hatten wundervolle Seidenkleider, daß man sie gar nicht anzufassen wagte. Noch schlimmer waren die Lilien, die so steif und gerade standen, nie sich hin und her wiegten und flüsterten wie die bunten Nelken. Doch die Liebste von allen war die Sonnenblume. Sie war die Mutter aller Blumen. Es konnte nicht anders sein. Sie glich ganz und gar einer freundlichen, liebespendenden Mutter.

Aber nun waren die Sonnenblumenmutter und alle ihre Sommerkinder verblüht. In den Gärten standen außer Dahlien nur noch Chrysanthemen. Der große Ernst hatte sein ganzes Stückchen Land damit bepflanzt. Da waren violette und bronzefarbene, blaßgelbe und weiße. Hansi liebte die weißen am meisten, denn sie sahen drein wie Sterne, und er mußte bei ihrem Anblick immer an den Stern von Bethlehem, an Weihnachten denken.

Und Hansi freute sich auf Weihnachten! Ganz weh tat ihm oft das Herz, weil es so voller Freude und Erwartung war. Zwar war es traurig, daß auch die bunten Herbstblumen verblühen mußten, und daß der weiße Schnee, der so naß und kalt war, alles zudeckte. Hansi konnte nicht verstehen, daß er die Blumen warm halte, wenn es ihm die andern auch noch so oft vorsagten. Nein, die Blumen waren alle tot und konnten sich nie mehr durch den dicken Schnee hinausfinden.

Das war furchtbar traurig. Aber Hansi wollte nicht daran, sondern an das wunderschöne Christfest denken. Er lernte viele Weihnachtslieder. Ja, der Lehrer ließ ihn ganz allein ein altes Lied singen, das fing an: »O Jesulein süß, o Jesulein mild.« Es waren ein paar Worte drin, die Hansi nicht verstand. Aber das schadete nichts. Die Melodie war süß und zart, gerade wie ein Lied sein muß, das man dem Jesuskindlein in der Krippe singen darf.

Hansi sang es oft. Wenn er allein in dem großen Kinderzimmer saß und mit dem alten Baukasten spielte, baute er einen wunderschönen Stall mit vielen Türmchen und Erkern. Dann legte er den blonden Kopf auf die Tischplatte, um durch das winzige Fensterchen in das dämmrige Innere zu sehen. Dazu sang er mit lieber, feiner Stimme, und seine Augen gewannen dabei einen Ausdruck, als wachse das winzige Ställchen zu einem großen, als stehe die Tür weit offen und das Hänschen wandere hinein in den seligen Glanz, der von dem Kindlein in der Krippe ausgeht.


In der Stadt war Weihnachtsmarkt. Von dem alten Stadttor, das einst trutzig jedem Fremden den Einlaß verweigert hatte, nun aber längst friedlich, mit efeuumsponnenen Türmen innerhalb der Stadt stand, führte eine breite Straße auf den Andreasplatz hinunter. Und hier standen alle die Weihnachtsbäume. Prächtige Weißtannen, die wohl dafür bestimmt waren, einen großen Saal zu schmücken; schlanke Rottannen, deren Zweige verlangend ausgestreckt waren, als könnten sie es kaum erwarten, die strahlenden Kerzen und goldenen Ketten zu tragen. Da waren auch putzige, kleine Bäume, zu denen sich Hansi ganz besonders hingezogen fühlte. Er schritt neben der Hausmutter die grüne Tannenstraße auf und ab; aber während diese die großen Bäume musterte, betrachtete Hansi mit zärtlichen Blicken die kleinen. Endlich wurde eine große, stolze Tanne gewählt, und Elise, die neueingetretene Magd, und der große Ernst, der zur Hilfe mitgekommen, packten sie vorsichtig und machten sich auf den Nachhauseweg.

»Komm, Hansi,« sagte die Tante, »wir gehen jetzt auch.«

Hansi streckte gehorsam seine Hand aus, aber er konnte nicht hindern, daß ihm dabei ein kleiner Seufzer entschlüpfte. Er hatte, während die Tante mit dem Verkäufer verhandelt, die ganze

Zeit neben einem zierlichen Bäumchen gestanden, dessen grüne Spitze nur eben an sein Näschen reichte.

»Gefällt dir das Bäumchen? Möchtest du es haben?« fragte mit einem Mal die Verkäuferin. »Ich schenke es dir. Die Frau Mama haben ja eine so große Tanne gekauft, da geht das Kleine noch drein.«

Hansi konnte sein Glück kaum fassen. Er dankte mehr mit den Augen als mit dem Mund, dann schritt er neben der Tante, vorsichtig die grüne Last gegen das dankbare Herzchen gedrückt.

Es war merkwürdig. Als der Morgen des Festes dämmerte, auf das sich Hansi wochenlang von ganzem Herzen gefreut, war die Freude mit einem Schlag wie weggewischt. Noch nie war er sich so klein und so verlassen vorgekommen, wie in dem unruhigen, frohen Treiben, das den ganzen Tag beherrschte. Er wurde erst ein bißchen froher, als ihm die Tante zwei beschädigte Glaskugeln, ein paar schillernde Goldfäden und sogar einige Halter mit Lichtstümpchen darin schenkte. Nun konnte er doch sein Bäumchen, sein eigenes, liebes Bäumchen schmücken. Er hatte sich selbst einigen Schmuck gefertigt: wundersam gezackte Sterne, auch Blumen und Vögel und allerlei Getier. Sie sahen zwar ein bißchen seltsam drein — Mutterchen hatte das entschieden besser gekonnt — aber im Grund schadete es nichts. Die langgeschwänzten Vögel wiegten sich vergnüglich in den grünen Zweigen, die Goldsterne und Goldfäden leuchteten prächtig, und die Glaskugeln waren so schön, daß Hansi eine Weile seine Arbeit unterbrechen mußte, um das Bäumchen von allen Seiten bewundern zu können. Nun wurden noch die fünf Kerzen angesteckt, und das Bäumchen war geschmückt.

Es stand in einem Rumpelkämmerchen auf einem alten Schemel, den Hansi erst fein säuberlich mit einem Taschentuch bedeckt hatte. Es war kalt in der Dachkammer, und Hansi hatte nahezu blaugefrorene Hände und ein rotes Näschen. Aber er schien es gar nicht zu beachten. Er war ganz versunken in den Anblick seines Bäumchens, und erst als die Glocke zum Vieruhrbrot rief, verließ er das Kämmerchen.

Um ½6 Uhr sollte die Weihnachtsfeier beginnen. Vorher mußten alle die vielen Buben noch einmal gewaschen und gekämmt, gebürstet und gestriegelt werden. Da konnte es leicht passieren, daß ein so kleines Männchen wie Hansi übersehen wurde.

Niemand vermißte ihn, bis es an das Ordnen des Zuges ging. Den mußte ja der Kleinste anführen. Aber wo war er nur? Nicht im Wohnzimmer, nicht in der Kinderstube, in keinem der Lehr-, in keinem der Schlafsäle. Die Buben lachten und stellten die ungeheuerlichsten Vermutungen auf. »Er hat vielleicht gemeint, die Krippe sei im Kohlenkeller,« meinte der lange Karl. Das schien der Tante gar nicht so unmöglich. Sie ging selbst die Kellertreppe hinunter; die Elise aber, die neue Magd, schickte sie auf den Boden, nach Hansi zu suchen.

Langsam schritt das junge Mädchen die steile Stiege hinauf. Oben angekommen, lehnte sie einen Augenblick den Kopf an die Wand und schluchzte laut und schmerzlich. Es war zum erstenmal, daß sie in der Fremde Weihnacht feiern mußte... Ach, wie sie sich nach Hause sehnte, wo sie von allen geliebt worden! Hier fragte niemand nach ihr, niemand brauchte sie. Es war gleichgültig, ob sie da war oder nicht... Doch — sie mußte ja Hansi suchen gehen.

Ein, zwei Türen hatte Elise schon geöffnet und umsonst in dem Halbdunkel herumgespäht, da sah sie einen Lichtstrahl aus dem alten Rumpelkämmerchen fallen. Die Türe war nur angelehnt. Ganz leise schob sich Elise hinein, und da sah sie das verlorene Hänschen auf einer Kiste sitzen. Vor ihm stand das wundersam geschmückte Bäumchen und leuchtete mit seinen fünf Kerzen.

Wie arm und wehmütig sah das drein... Aber das Kind saß davor mit glückstrahlenden Augen und sang:




»O Jesulein süß!
O Jesulein mild!
Des Vaters Will'n
Hast du erfüllt,
Bist kommen aus dem Himmelreich,
Uns armen Menschen worden gleich.
O Jesulein süß!
O Jesulein mild!«

Die blonde Elise lehnte unter der Türe. In ihre guten Augen, die schon so mütterlich schauen konnten, traten heiße Tränen, die langsam über ihr Gesicht rollten. Sie achtete es nicht. Hier in dem kleinen Dachkämmerchen, als sie das Kind so einsam sitzen sah, war plötzlich eine große Freude in ihr aufgewacht... Der brauchte sie und ihre Liebe! Der war ja auch ganz allein. Es tat ihm gewiß not, daß ihn jemand mit großer, warmer Liebe umfasse. Ach, und sie war ja froh, wenn sie Liebe schenken durfte ...

»Hansi,« sagte Elise, »komm, Bubele, wir haben dich gesucht, weil man zur Bescherung geht. Du kannst jetzt nicht dableiben, aber dein schönes Bäumle zünden wir morgen wieder an, gelt?«

»Nicht wahr, es ist wunderschön?« Hansi kletterte von seiner Kiste herunter. Dann faßte er mit seinem kalten Händchen die braune, warme Hand des Mädchens, und als er in ihr gutes Gesicht schaute, kam auch über ihn eine große, helle Freude.


Die alte Bodenkammer

Wohl jeder trägt in sich verborgen die Erinnerung an einen Ort, über dem der Stern der Kindheit mit besonders hellem Glanze leuchtet.

Vielleicht ist es ein Garten, ein weltfremder, drin prunkende Pfingstrosen und hohe Malvenstauden stehen; oder ein trauliches Zimmerchen mit herabgelassenen Vorhängen, und man sieht sich selbst klein und schmal an Mutters Knie lehnen und ihren Geschichten lauschen. Wieder zaubert die Erinnerung schneeige Berge, leuchtende Seen oder auch einen alten Hof, eine Scheuer — eine Bodenkammer.

Sie lag nicht in unserm Haus. Bei uns war alles hell und neu und sauber, sogar auf dem Boden. Aber im Nachbarhaus, schräg über der Straße, war eine richtige alte Bodenkammer, durch deren halbblindes Fenster das Licht nur spärlich eindringen konnte. Gegen Abend wurde es daher düster und schön gruselig. Man hockte so nahe wie möglich zusammen auf der riesigen alten Kiste und erzählte sich Geistergeschichten, bis einem vor Angst beinahe die Stimme versagte. Ich hatte an unserer Köchin eine sehr ergiebige Quelle und wußte u. a. von »den Mädchen, die noch Erbsen einlegen wollten« und von dem fürchterlichen Telegramm »Habe acht auf den Sarg« zu erzählen.

Anni, die Älteste unserer kleinen Schar, behandelte Hauffs »Gespensterschiff«. Wir kannten ja die Geschichte längst auswendig, aber Anni sorgte für Variationen, so daß wir immer neuen Grund zum Kreischen fanden.

Die andern zwei erzählten nie. Dem dicken Gretchen fiel nichts ein und das kleine Elschen zählte noch gar nicht recht mit. Sie mußte sich überhaupt geschmeichelt fühlen, daß wir großen acht- und neunjährigen Mädels sie mittun ließen. Wenn man erst fünf Jahre alt ist und noch nicht einmal lesen kann!

Sie, Klein-Elschen, war übrigens manchmal recht angenehm. Wenn man statt der Puppen gerne ein lebendiges Kindchen gehabt hätte, ließ sie sich geduldig in einen großen Schal wickeln und herumschleppen. Ja, sie nahm sogar mit sichtlichem Vergnügen den Schnuller in den Mund, den wir dem richtigen Baby entwendet hatten. Mit unserer Moral war es überhaupt etwas lax bestellt. Wurde in unserm Haushalt irgend ein Mangel entdeckt, so unternahm das für die Sache am meisten Befähigte einen Beutezug nach unten, wir nannten es einen Ausgang in die Stadt.

Die Bodenkammer war sehr geräumig. Wir hatten uns in einer Ecke ein ganz behagliches Wohnzimmerchen eingerichtet, dessen Hauptstolz ein dreibeiniges Sofa — an Stelle des vierten Beines stand eine Kiste — und eine wacklige Kinderbettlade bildete. Wir waren auch im Besitz einer Truhe, deren Deckel so schwer war, daß wir ihn nur mit Lebensgefahr aufheben konnten. Lange war es uns überhaupt nicht gelungen, und wir hatten uns schon darein ergeben, nie etwas von den darin verborgenen Schätzen zu Gesicht zu bekommen. Aber einmal packte uns die Neugierde so mächtig, daß sie uns wahre Riesenkräfte zu verleihen schien; unter Stöhnen und Ächzen gelang es uns, den Deckel zurückzuschlagen. Eine dicke Staubdecke war das erste, was sich den vier neugierig gesenkten Kinderköpfen darbot. Sie lag über einer Menge Bücher und vergilbter Blätter und hatte sich auf einem rundlichen, mit einem Tuch bedeckten Gegenstand, der in der untersten Tiefe sichtbar ward, angesammelt. Was stak wohl unter dem Tuch?

»Ein Ball!« riet das kleine Elschen. »Ein Goldklumpen!« meinte Gretchen mit bedächtiger Stimme.

»Wir wollen es herausholen,« schlug Anni vor. »Steig' du hinein, Mixi, du bist die Dünnste.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden. Ich hockte zwischen den staubigen Büchern nieder und fing an, das runde Ding aus seiner Umhüllung zu schälen. Ich versuchte dabei mit Kopf und Schultern den andern die Aussicht zu verdecken. Mußte ich in die staubige Kiste kriechen, so wollte ich wenigstens die Entdeckerfreude erst allein genießen.

Die letzte Hülle fiel und — — ein Totenschädel grinste mich an aus leeren Augenhöhlen ... in dem Oberkiefer staken noch ein paar gelbliche Zähne.

Ein eisiges Grauen packte mich, aber ich ließ den Schädel nicht fallen. Langsam, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, richtete ich mich auf und hielt meinen Spielgefährten den unheimlichen Fund entgegen.

Anni stieß einen gellenden Schrei aus. Das sonst etwas schwerfällige Gretchen flüchtete mit ein paar jähen Sätzen. Nur Elschen blieb stehen und tippte mit seinen rosigen Fingerchen auf den bleichen Schädel. Sie lachte dazu und sagte: »Was für ein komischer alter Mann!«

Die kalte Hand des Grauens ließ mich los. Ich lachte, lachte, daß mir beinahe die Tränen kamen. Dabei entglitt mir der Schädel und rollte mit merkwürdigem Ton über den Fußboden. Elschen hob ihn beinahe mitleidig auf und wickelte ihn in ihr Schürzchen.

Wir drei andern standen etwas verlegen beiseite. Zum erstenmal war sie die Überlegene, die Tonangebende.

»Wollen wir ihn begraben?« fragte die Kleine plötzlich, und wir stimmten begeistert zu.

Anni mußte sich unten nach einer passenden Schachtel, will sagen nach einem Sarg umsehen. Gretchen ging auf die Suche nach der Begräbnisstätte und dem Grabstein. Ich übernahm es, die Inschrift zu schreiben. Elschen, immer noch den Schädel im Schürzchen, lehnte neben mir und schaute bewundernd zu, wie ich mit krampfhaft festgehaltenem Federhalter meine großen, steifen Buchstaben malte.

»Lies es mir einmal vor!« bat sie, als das Werk beendet war, und ich las:

Hier ruht unser liber Uhruhrgroßvater.
Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.

»Du hättest nicht diesen Spruch schreiben sollen,« sagte Anni, mißbilligend das Schriftstück betrachtend. »Auf Gräber schreibt man ganz andere Sachen. Etwas von Auferstehen oder Wiedersehen.«

»Das ist mir einerlei!« entgegnete ich unerschüttert. »Mir gefällt der Spruch und ich habe den Ururgroßvater gefunden.«

Gretchen stand unter der Türe, die Hacke über der Schulter.

»Ich habe einen feinen Platz, kommt schnell!«

Eiligst wurde der Schädel in Annis Schachtel gesteckt. Der Deckel wollte zwar nicht zugehen, aber das schadete nichts. Wir legten einen Fetzen schwarzes Tuch darüber und nun ordnete sich der Zug. Voraus ging Gretchen, der Totengräber, dann Anni, der Pfarrer; Elschen, die den Schädel trug, war der Leichenwagen, ich stellte das Trauergeleite dar.

Wir gingen mit ernsten Köpfen und bedächtigem Schritt die Treppe hinunter. Unter der Türe begegnete uns die kleine Mutter des Hauses. Sie war eine zierliche, bewegliche Frau mit leb haften Augen, die sich stets zu freuen schienen, obwohl sie oft genug Grund gehabt hätten, ärgerlich und müde drein zu sehen. Außer meinen drei Freundinnen waren noch zwei größere und zwei ganz kleine Brüder zu versorgen. Das zappelte und schrie, lachte und kreischte den ganzen Tag um die Mutter herum, zerriß Kleider und Strümpfe, beschmutzte Fußböden und Fensterscheiben, wollte gewaschen und gefüttert sein. In dem allem stand die kleine Mutter, trug den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar froh und aufrecht und hatte lachende, warme Augen.

Wir waren das so gewohnt und es erschien uns nichts Absonderliches. Erst viele Jahre später verstanden wir, was für eine tapfere Seele in der kleinen Mutter gewohnt hatte.


»Mama, wir müssen ganz still sein, wir spielen Begraben!« krähte Elschen im Vorübergehen, und die Mutter stand denn auch andächtig und still.

Das Haus lag inmitten eines großen Gartens, der in verschiedene Abteilungen zerfiel. Da war ein freier Platz mit einem Sandhaufen für die Kinder. In einem andern Teil standen Blumen und Ziersträucher und wieder in einem andern lagen in schönen Reihen Gemüsebeete, daneben zog sich eine dichte Himbeerhecke. Am Ende dieser Hecke war der von Gretchen gewählte Begräbnisplatz. Sie hatte schon ein Loch gegraben, das sich aber als viel zu flach erwies. So arbeiteten Totengräber, Pfarrer und Trauergeleite mit vereinten Kräften, bis das Loch tief genug war, den Ururgroßvater aufzunehmen.

Die Grabrede fiel kurz aus, um so kräftiger und anhaltender war der Gesang. Wir hatten als passende Lieder gewählt: »Morgenrot, Morgenrot! Leuchtest mir zum frühen Tod!« und: »Der Pilger aus der Ferne zieht seiner Heimat zu.«

Elschen hatte noch vorgebracht »Wenn ich groß bin,« aber das war als völlig unmöglich abgeschlagen worden. Überdies sank sie durch diese Forderung in unserer Achtung wieder auf die frühere Stufe zurück.

An diesem Tag blieben wir bis zum Abendbrot im Garten. Der Sonnenschein war so hell und freundlich, während über der alten Bodenkammer immer noch etwas Unheimliches zu lagern schien. Aber am nächsten Tag unterzogen wir den Inhalt der Truhe einer weiteren Besichtigung.

Die Bücher rochen uralt und hatten schwere, feste Einbanddecken. Die Schrift war merkwürdig schnörkelig und ließ sich nicht ohne Mühe entziffern. Wir strengten uns auch nicht sonderlich an. Eine Menge der Bücher wurden mit Abscheu zur Seite gelegt, weil sie sich als »Doktorsbücher« erwiesen. Dasselbe Schicksal teilten ein paar Andachtsbücher »auf Kosten einer wahrheitliebenden Gesellschaft gedruckt«. Dann stieß Anni einen Schrei des Entzückens aus, denn sie hatte ein Geschichtenbuch, nein, noch schöner, ein Märchenbuch entdeckt. Wer hätte der Truhe diesen köstlichen Schatz angesehen!

Anni fing gleich an, uns »die Geschichte von dem tugendhaftigen Prinzen Treuherz und der wonnesamen Prinzessin Herzelaide« vorzulesen, aber der Genuß war nur mäßig. Sie blieb immer wieder an den feinen Schnörkelchen der Buchstaben hängen, und da die Sätze endlos lang waren, hielt sie an, wenn der Atem ausging, was nicht zur Erleichterung des Verständnisses beitrug.

Gretchen gähnte unverhohlen. Elschen spielte längst mit ihrer Puppe, da ging auch mir die Geduld aus.

»Laß doch die gräßlichen alten Prinzen und Prinzessinnen in Ruh! Man versteht ja gar nicht, was sie miteinander sprechen. Und richtig ordentlich schreiben konnten die Leute früher scheint's auch nicht. Wir wollen das Buch wieder in die Truhe werfen.«

Das Schließen des Deckels war viel leichter zu bewerkstelligen als das Öffnen. Mit einem dumpfen Knall schloß sich die Truhe, und fortan war sie vor unserer Neugier sicher.


Ein paar Tage lang besuchten wir regelmäßig Ururgroßvaters Grab und schmückten es mit Blumen. Auch mußte die Inschrift zweimal erneuert werden. Das eine Mal hatte sie der Regen zerstört, das andere Mal war sie den Buben in die Hände gefallen.

Diese schrecklichen Buben! Wie viel schöner wäre die Welt gewesen ohne sie! Wenn man mit den Puppen spazieren ging, äfften sie die Unterhaltung nach oder versuchten einen Überfall auf die Kinder. Wenn man im Bodenkammerzimmer eine Einladung an sie ergehen ließ, aßen und tranken sie all das mühsam Gekochte im Augenblick weg, und statt des Dankes brummten sie über »das bißchen Zeug«.

Nur bei den Ball- und Springspielen, hauptsächlich bei dem unvergleichlichen »Pflumeboppi, 's Hüsli brennt!« gingen wir Mädel und Buben gemeinsame Wege. Ja, und dann noch bei einem ganz besonderen Anlaß.

Unsere Vaterstadt feierte die 400jährige Wiederkehr des Tages, an dem sich die beiden, durch den Strom getrennten Stadthälften zusammengeschlossen hatten, mit der Aufführung eines historischen, eigens für die Gelegenheit verfaßten Festspiels.

Weit draußen vor der Stadt war die Bühne errichtet worden. Am zweiten Tag — die Stadt schwelgte eine halbe Woche lang in ihren Erinnerungen — waren bei der Vorstellung sämtliche Schulkinder zugegen.

Das war ein Ereignis, vor dem alles andere, das sonst unser Leben ausfüllte, zurücktreten mußte. Während der Vorstellung saßen wir getrennt, aber auf dem Nachhauseweg fanden wir uns zusammen und konnten das Geschaute besprechen.

Anni schwärmte besonders für den König Rudolf. Wie er sich hielt, wie er sich neigte! Sie streckte ihren schwarzen Wuschelkopf und die kurze Stumpfnase höher in die Luft, als erwerbe sie sich dadurch etwas von der königlichen Würde.

Gretchen war entzückt von all den holdseligen Frauengestalten, auch von den Kindern, die so niedliche, lange Kleider trugen. »Ich wollte, wir hätten auch welche!« meinte sie seufzend. »Unsere kurzen Röcke und Socken sehen gar nicht schön aus.«

Damit war ich jedoch nicht einverstanden.

»Denk dir doch, wie unangenehm die dummen, langen Kleider beim Springen wären! Der ‘Pflumeboppi’ z. B. fiele alle Augenblicke auf die Nase.«

»Ja, das ist wahr!« stimmte mir Anni zu. »Wer hat denn dir am besten gefallen, Mixi? — Seht, nun wird sie schon wieder ganz rot!«

»Gar nicht!« wehrte ich ab, obwohl ich die Glut bis unter die Haarwurzeln steigen fühlte.

»Ihr werdet natürlich lachen, aber das ist mir einerlei. Mir hat der Priester am besten gefallen.«

»Der alte, heidnische Kerl!« Anni war entrüstet. Das gutmütige Gretchen, wohl um mir wieder zu meiner natürlichen Gesichtsfarbe zu verhelfen, meinte tröstlich: »Sie hatten ihn, glaube ich, alle sehr gern.«

»Ja, und hörtest du nicht, wie sie alle so jammervoll aufschrieen, als er sich den Dolch ins Herz stieß?«

»Du tust gerade, wie wenn er es richtig getan hätte, Mixi! Du brauchst gar keine so fürchterlichen Augen zu machen, es ist ja doch alles nicht wahr.«

Ich duckte mich und schwieg. Da war wieder das Wort, das ich am meisten fürchtete und haßte — — es ist nicht wahr.

Wozu hatte man denn all die seltsamen Gedanken und Träume, die einen halb froh, halb traurig stimmten, wenn alles nicht wahr sein sollte!

Freilich, das auf der Bühne war vielleicht nicht wahr gewesen. Das waren ja alles gewöhnliche Menschenkinder. Unter den langlockigen Pagen hatte ich einen Knaben entdeckt, von dem ich genau wußte, daß er in Wirklichkeit einen struppigen roten Haarschopf besitze. Aber wozu daran denken? Das ließ sich alles so hübsch beiseite schieben. Das gehörte in die Welt, die Schule, Aufgaben, Stricken und Gemüse-essen hieß.

Die andere Welt, die man in sich trug, und die sich doch so seltsam weit ausbreitete, bis zu den weichen, weißen Wolken hinauf, bis zu den winzigen Maßliebchen und Marienkäferchen hinab — diese Welt war weit schöner und heimatlicher.


»Mixi, was träumst du wieder! So hör' doch! Ich habe einen wunderschönen Plan. Wir wollen das Festspiel aufführen, daheim in unsrer Bodenkammer. Dann kannst du ja deinen alten Priester spielen.«

»Nein, nein! Das soll Teddy tun. Ich will den Kaiser Valentinian, du nimmst König Rudolf und Gretchen kann Bischof fein. Ach, und für Elschen müssen wir auch eine Rolle finden. Wie herrlich wird das werden, ich freue mich halb zu Tod!«

Hatte uns schon die große Vorstellung die Köpfe verdreht, so tat es unsere eigene noch weit mehr. Die Mutter mußte natürlich in die Sache eingeweiht werden, denn die Blumentöpfe, die wir als Kulissen brauchten und die langen Kleider, auf denen Gretchen mit großer Energie bestand, waren alle in ihrer Verwahrung und konnten denn doch nicht ohne weiteres herbeigeschafft werden. Meine Großmutter steuerte zu unserer Kostümierung einige Umlegtücher und Schmucksachen bei.

Wir arbeiteten täglich stundenlang an unsern Vorbereitungen. Natürlich, das ganze Festspiel konnten wir nicht aufführen; wir mußten uns auf solche Szenen, in denen möglichst wenig Personen austraten, beschränken. Aber wir trösteten uns damit, daß sich ja das Publikum das übrige dazu denken könne.

Der große Tag nahte. Punkt 2 Uhr sollte die Vorstellung beginnen; ein paar Minuten früher fanden sich die Zuschauer ein. Wir hatten ihrer nur wenige gebeten. Natürlich die kleine Mutter, die sich beinahe ebenso sehr wie wir auf das Fest spiel freute, dann Großmutter und eine Tante, die auf Besuch gekommen. Großmutter erhielt den gedruckten Text, da sie die richtige Aufführung nicht mit angesehen hatte. Sie hielt das Heftchen weit von sich, denn ihre alten Augen konnten nicht mehr in die Nähe sehen. Das imponierte mir immer gewaltig, und es verfehlte auch seinen Eindruck auf meine Spielgefährten nicht. Es hat nicht jeder eine Großmutter, die so merkwürdig liest.

Die Zuschauer saßen auf dem alten Sofa. Wir hielten uns in einer Nebenkammer verborgen, bis es 2 Uhr schlug.

Das erste Bild stellte die Gründung unserer Stadt durch Kaiser Valentinian im Jahre 374 dar. Anni, Gretchen, Elschen und Teddy zogen als raurakischer Volkshaufe auf die »Bühne« und sangen ein Lied, von dessen sanfter, fließender Weise uns allerdings nur zwei Zeilen im Gedächtnis geblieben waren, weshalb das übrige mehr rezitativartig vorgetragen wurde. Dann stürzte Willy herein und verkündete das Nahen römischer Scharen, was erregtes Sprechen und Schreien zur Folge hatte. Er verschwand blitzschnell, um nach wenigen Augenblicken als römischer Hauptmann aufzutreten, der an Stelle der uns fehlenden Kriegerhaufen einen seltsamen Schwerttanz aufführte. Mit einem Male wandte er sich gegen die Türe und während seines Jubelrufs: »Großer Cäsar, Imperator, Heil sei dir, du starker Held!« ritt ich auf schnaubendem Roß auf die Bühne.

Das ging so zu: Wir hatten ein Schaukelpferd, das bei jeder starken schwingenden Bewegung einige Zoll vorwärts glitt; so konnte man also tatsächlich reiten.

Kaiser Valentinian trug ein Barett mit weißen Gänsefedern und einen malerisch umgeworfenen roten Mantel. Außer dem Szepter hielt er merkwürdigerweise auch ein Heftchen in der Hand, denn es war ihn das Genieren angekommen, und die rasch eingelernten und nur halb verstandenen Worte schienen sich alle verflüchtigt zu haben. So las denn der gute Kaiser Valentinian seine wohlmeinenden Worte an die verängsteten Rauraker. Ihre freudigen Zurufe wurden durch den Priester übertönt, der vor dem neuen Leben sich zu den alten Göttern flüchtet.

»Nehmet mich auf! von mannigfaltigen
Greueln und Sünden, von Schand und Not
Löse mich leicht der heilige Tod!«

Teddy in einem langen, dunkeln Gewand, mit mächtigem weißem Bart sah nach Annis Urteil ganz wie »so ein heidnischer Kerl« aus. Die letzten Worte heulte er geradezu. Dann ließ er sich, in dem schönen Glauben, die klagenden Weiber würden ihn auffangen, rücklings zu Boden stürzen. Aber o weh! Keine schützenden Arme umfingen seinen sinkenden Leib. Er schlug mit solchem Dröhnen auf den harten Fußboden, daß aus dem Zuschauerraum ein Entsetzensschrei erscholl, der freilich in ein Lachen überging, als der tote Priester wütend zischte: »Na, wartet nur bis nachher!«

Kaiser Valentinian stellte die Stimmung wieder her, indem er ein leuchtendes Bild der zukünftigen Stadt Basilea entwarf.

Unter dem Jubelchor des Volkes und von ihrer Schar begleitet und hilfreich geschoben, ritt seine Majestät davon.

Die zweite Szene, die den Bau der alten Rheinbrücke im Jahre 1225 behandelte, überschlugen wir, der vielen Personen wegen. Um sie aber nicht ganz unerwähnt zu lassen, wandelte Gretchen langsam und heimlich als Bischof über die Bühne; Elschen trippelte, ein Meßglöcklein schwingend, hintendrein.

Das dritte Bild brachte den Höhepunkt des Festes: Anni als König Rudolf. Ihre schwarzen Zöpfe waren unter einem Turban verborgen. Sie stak in einem deutschen Militärrock und schulterte einen uralten Schießprügel. Um den Hals hing ihr eine goldene Kette, und ihre Beine waren mit Reiterstiefeln bekleidet. König Rudolf versprach mit großem Pathos der Stadt ihre Freiheit; Schultheiß Gretchen dankte tief.

Die kriegerischen Rollen des vierten Bildes, wo es sich um den in die Schlacht von Sempach abziehenden Herzog Leopold handelte, wurden durchweg von den Buben gespielt, deren schauspielerische Begabung sich hauptsächlich in einem ungeheuren Stimmenaufwand äußerte. Auch die feierliche Vereinigung der beiden links und rechts vom Strom gelegenen Städte, des mehrern und mindern Basel, wurden von den Buben in stark verkürzter Form vorgetragen.

Den erhebenden Schluß bildete das Auftreten der drei Frauengestalten: Helvetia, Basilea, Klio. Unter dem völlig programmwidrigen Hurrahgeschrei der Buben sank Basilea in die mütterlichen Arme Helvetias.

Das Publikum erwies sich sehr aufmerksam. Die kleine Mutter lachte Tränen. Die Tante fühlte sich »bewegt«, und auch Großmutters alte Augen schauten freundlich zu uns herüber. In die Ferne konnte sie ja gut sehen, und so war ihr keine Einzelheit unserer Kostüme, keine einzige fürstliche Geste und dramatische Bewegung entgangen.

Nach dem wirklichen Festspiel hatte ein großes Festessen stattgefunden. Auch uns ward eines zu Teil.

Als die Vorstellung zu Ende war, lud uns die kleine Mutter feierlich ein, hinunter zu kommen. Der Tisch im Eßzimmer war gedeckt. In der Mitte stand eine Riesenplatte mit Erdbeeren. Hei! Wie da König Rudolf, Kaiser Valentinian und Herzog Leopold fröhlich schmausten. Auch der alte Priester vergaß seinen Groll, während er eine saftige Beere nach der andern in den Mund schob.

Diese Aufführung blieb nicht die einzige, die die alte Bodenkammer erlebt hat. Das Bühnenfieber hatte uns gepackt, und eine Zeit lang mußten sich Großmutter und die kleine Mutter wieder und wieder zu dem alten Sofa hinaufbequemen, um unsere »Lebenden Bilder«, Komödien und Tragödien anzusehen.

Der Winter machte diesen Vorstellungen ein Ende, und der Winter brachte auch eine schmerzliche Trennung. Meine Freunde verließen die Stadt. Das alte Haus wurde eingerissen, und in dem zierlichen Neubau, der sich an seiner Stelle erhob, war keine alte Bodenkammer mehr zu finden.


Sonne und Regen im Kinderland


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D. Gundert / Verlag / Stuttgart

Anmerkungen zur Transkription

[TN1] In original steht here tüchigen.