The Project Gutenberg eBook of Und die ihr alle meine Brüder seid

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Title : Und die ihr alle meine Brüder seid

Author : Ida Frohnmeyer

Release date : January 5, 2008 [eBook #24175]

Language : German

Credits : Produced by Norbert H. Langkau and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK UND DIE IHR ALLE MEINE BRÜDER SEID ***

  

Und die ihr alle meine Brüder seid

Erzählungen
von
Ida Frohnmeyer

1.–5. Tausend

Verlegt bei Eugen Salzer in Heilbronn

1920

Copyright 1920 by Eugen Salzer , Heilbronn

(Gesetzl. Formel für den Schutz des Inhalts in den Vereinigten Staaten von Amerika)

Den Einband zeichnete Carl F. Nahm

Druck der Chr. Belserschen Buchdruckerei in Stuttgart


Barbara.

[3] Der Friedhof liegt dicht neben dem Pfarrhausgarten, so daß der mächtige Birnbaum gleichermaßen die an der Mauer liegende Gräberreihe, wie auch die Gemüsebeete der Frau Pfarrer beschattet. Der Fliederstrauch, dessen Blütezeit alljährlich ein beglückendes Wunder der Schönheit ist, reckt sich mit seinen reichsten Ästen – ein wenig zum Kummer des Pfarrherrn – in den stillen Garten hinüber. Dafür klettert aber aus diesem breitblättriges Grün in die Höhe, und plötzlich tun sich über der Mauer die blaudunkeln Augen der Clematis auf.

Die Frau Pfarrer ist schon oft gefragt worden, ob ihr die Nachbarschaft des Friedhofs nicht unheimlich und drückend sei. Aber sie schüttelt den Kopf, und im Herzen denkt sie, daß es demjenigen, der so lange Jahre hindurch dicht neben dem stillen Garten gelebt, einmal leichter falle, sich in eines der schmalen Betten zur Ruhe zu legen. Sie geht, obwohl sich einige ihrer Gäste erstaunt, ja beinahe mißbilligend darüber äußern, fast allabendlich durch die kleine Pforte, die aus ihrem eigenen, mit lachendem Leben gefüllten Garten in den stillen hinüberführt. Wenn sie dann zurückkommt, ist ihr Antlitz vielleicht ein wenig blasser, aber die Augen haben einen hellen und gütigen Schein, und ihre Schritte sind ruhig und kraftvoll.

[4] An einem Sommerabend, der ganz gesättigt war vom Glanz und Duft der heißern Stunden, ging die Pfarrfrau wieder durch die schmalen Wege, die zwischen den Gräbern laufen.

Sie war nicht allein. Eine jüngere Freundin, von der sie lange Jahre getrennt gewesen, ging an ihrer Seite und schaute mit großen, ein wenig verträumten Augen über die blumenbunten Gräber. Plötzlich blieb sie an einem mit Immergrün bedeckten Hügel stehen und las mit halblauter Stimme die Worte:

Hier müssen doch aufhören die Gottlosen mit Toben;
hier ruhen doch, die viel Mühe gehabt haben.

„Was ist das für ein Grab? Steht der Spruch wirklich in der Bibel, Anne?“

„Ja. Im Buch Hiob. Nur heißt es dort statt ‚hier‘ daselbst, und das ist auch der Grund, weshalb mein Mann keine Stellenangabe wünschte. Aber das war der alten Schäufele gleichgültig. Sie war schon zufrieden, daß der Spruch überhaupt bestehen durfte, und daß sie keinen Namen anzugeben brauchte. Sie erzählte mir, sie habe mit dem Maler einen schweren Stand gehabt, denn er wollte ihr durchaus den absonderlichen Spruch ausreden und zum wenigsten am Fuß des Kreuzes ‚Auf Wiedersehen‘ anbringen. Aber gerade dies Wort konnte ja die arme Mutter gar nicht aufrichtig denken.“

„Warum nicht, Anne? Wie ernst du dreinsiehst! Wer liegt hier begraben? Ich bin sicher, dies Grab hat eine Geschichte.“

[5] „Ja … Eine schwere Geschichte. Wenn du sie hören willst, so komm' hinüber zu dem kleinen Bänkchen. Man sieht von dort gerade auf das Haus, wo meine Geschichte den Anfang nimmt.“

Die Freundin schob ihren Arm in den der Pfarrfrau. Sie schritten zu der kleinen Bank hinüber, die unter den Zweigen einer Trauerweide steht, und setzten sich. Aber Frau Anne begann nicht zu erzählen. Sie hatte die Hände ineinander gelegt und starrte mit leidvollen Augen zu dem Haus hinüber, das sie der Freundin bezeichnet. Diese aber, da sie den Ausdruck in der Pfarrfrau Gesicht gewahrte, wagte keine drängende Frage mehr. Ihr war, ein dunkler Schatten lege sich über die sonnenwarme Herrlichkeit des Abends. Stieg er wie ein arger Zauber aus jenem Grab empor, oder woben ihn Frau Annes dunkle Gedanken?

Da tat diese einen tiefen Atemzug und hob an:

„Ich kann mir noch so gut denken, wie ich Barbara zum erstenmal gesehen. Sie war damals acht Jahre alt, ein feines, schlankes Dinglein. Unser Annele brachte sie mir, etwa eine Woche nachdem wir hier aufgezogen waren, in den Garten und schrie schon von weitem mit triumphierender Stimme: ‚Mutter, da hab' ich eine Freundin!‘ Ich schaute ihnen mit einiger Spannung entgegen, denn das Freundschaftsbedürfnis meiner Tochter hatte mich schon etliche Male mit etwas überraschenden Gästen bekannt gemacht. Aber diesmal konnte ich die Freude, die aus Anneles schwarzen Augen funkelte, wirklich [6] verstehen und teilen. Man mußte das Kind auf den ersten Blick liebgewinnen. Kennst du das Bild von Uhde: Lasset die Kindlein zu mir kommen?… Inmitten einer Bauernstube, nein, eigentlich sieht es mehr wie eine Küche aus, sitzt der Herr Jesus, umgeben von einer Schar größerer und kleinerer Kinder. Es sind auch Erwachsene dabei. Dicht vor Jesus steht ein kleines Mädchen, ein blondes, herzerquickendes Kind, das sein ausgestrecktes Händchen in Jesu Hand legt und mit ernsten Augen zu ihm aufschaut. Dies kleine Mädchen habe ich in Gedanken immer ‚das Kind‘ genannt. Ich meine so: es ist für mich die Verkörperung alles dessen, was mich am Kinde wie ein holdseliges, ehrfurchtgebietendes Geheimnis berührt. Und an dieses Kind gemahnte mich die kleine Barbara.

Sie kam auf mich zu mit einem zaghaften Lächeln in den blauen Augen. Im Nacken baumelte ein krummes weißblondes Zöpfchen, über der Stirne ringelten sich krause, schimmernde Härchen. Ich konnte nicht anders, ich mußte das Kind in meine Arme ziehen. Mein Annele mit ihrem scharfen Blick hat mir wohl angesehen, daß ich das Kind nicht nur in die Arme, sondern ins Herz schloß. Sie drängte sich plötzlich an mich, gab mir einen schallenden Kuß und erklärte in sehr bestimmtem Ton: ‚Du, Barbara, das ist aber meine Mutter! Du mußt Frau Pfarrer sagen.‘ Die kleine Barbara lachte, und nun sah sie womöglich noch liebreizender drein, denn zwischen den tiefroten Lippen blitzten [7] gesunde Zähne, und in den runden Backen kamen Grübchen zum Vorschein.

Ich ging mit den Kindern ins Haus und war beinahe so eifrig wie mein Annele im Vorführen der Puppen und andern Herrlichkeiten. Und ich gewann das Kind mit jeder Minute lieber. Es tat so feine, nachdenkliche Fragen, es hatte so sorglich zugreifende Händchen, und – es konnte ein Bilderbuch beschauen. So, jetzt lachst du und denkst wohl, das könne ein jedes Kind. Keine Rede davon! Wenn ich an Annele oder an ihre Kinder denke! Darin gleichen sie alle der Mutter: gibt man ihnen ein Bilderbuch, so schlagen sie Seite um Seite so rasch um, daß man meinen könnte, darin bestehe das Vergnügen eines Bilderbuchs. Aber die kleine Barbara sah sich jedes Bildchen mit andächtigen Augen an. Nichts, nichts entging ihr. Und über alles machte sie ihre eigenartigen kleinen Bemerkungen.

Einmal schenkte ich ihr ein Bildchen, drauf Schneeglöckchen gemalt waren, und sagte dazu: ‚Um dies Glöcklein zu hören, muß man gar feine Ohren haben.‘ Da nickte die kleine Barbara und sagte: ‚Ja, ich hab' es einmal gehört. Und der liebe Gott hat's auch gehört und der Herr Jesus und die Sonne und der Wind und die Blumen.‘

Ganz leise und langsam kamen die Worte heraus. Und dazu diese Märchenaugen – ich muß gestehen, es kam etwas wie Neid über mich, wenn ich an Barbaras Mutter dachte. Mein Annele war solch [8] praktisches Diesseitsmenschlein. Sie hatte nie verträumte Augen, und tat nie eine Äußerung, die mir gezeigt hätte, daß ihr Seelchen sich ein eigen klein Wunderreich gebaut. Ich fürchtete mich manchmal beinahe, ihr eine Geschichte zu erzählen, denn beim geringsten Wunderbaren kam das bezweifelnde oder entrüstete Wort: ‚Aber Mutter, ist das wahr?‘

Die kleine Barbara unterbrach mich nie, wenn ich erzählte. Sie konnte auch nicht, wie Annele tat, nebenher zeichnen oder sticheln. Sie saß und schaute mich unverwandt an, und meine Geschichten wurden mir erst jetzt im Spiegel dieser Augen so recht lebendig.

Später habe ich manchmal gedacht, daß es besser gewesen wäre, ich hätte die Freude des Kindes am Wunderbaren und Geheimnisvollen nicht so sehr genährt. Ich glaubte, sie habe das kleine Freudenlicht in ihrem Alltag nötig, und ahnte nicht, daß es zur verzehrenden Flamme werden würde.

Eines Nachmittags hatte ich Annele erlaubt, in Barbaras Elternhaus hinüberzugehen. Ich kannte die Leute zwar noch nicht näher, aber ich hatte um des Kindes willen eine gute Meinung von ihnen und glaubte damals, daß ein derartiges Blümlein Wunderhold nur einem gehegten Gärtlein entsprießen könne.

Am Abend, als ich Annele zu Bett brachte, war sie merkwürdig still. Ich achtete erst nicht darauf, da ich innerlich stark mit einer Sache beschäftigt war. Aber als das Kind auch während ich das Zimmer [9] in Ordnung brachte, wortlos in seinem Bette saß, fiel es mir auf, und zugleich kam es mir zum Bewußtsein, daß sie noch kein Wort von ihrem Besuch bei Schäufeles berichtet hatte. Aber ich fragte nicht. Ich wußte, über kurz oder lang würde das Redebächlein schon wieder plätschern. Das Annele saß ganz steif da und verfolgte jede meiner Bewegungen. Zuletzt setzte ich mich wie gewohnt an ihr Bettlein und fragte: ‚Wollen wir jetzt beten?‘

Da tat das Kind einen tiefen Seufzer und sagte: ‚Ja … Und weißt du auch, für was ich jetzt dem lieben Gott danken will? Gar nicht für den schönen Tag, denn es war kein schöner. Aber weil du so eine nette Mutter bist, will ich ihm danken. Du hast mich so schön gewaschen und gekämmt und hast den Waschtisch so hübsch aufgeräumt, und deine Schürze ist sauber, und deine Hände sind weich, und – und –‘

Wieder ein tiefer Seufzer, dann, da ihr offenbar nichts Lobenswertes mehr einfallen wollte, wiederholte sie die Worte: ‚Ich will ihm jetzt danken, weil du so eine nette Mutter bist.‘

Am nächsten Tag führte ich meinen längst geplanten Besuch beim Nachbar Schäufele aus, und nun wurde es mir klar, warum Annele in einen Lobpreis meiner Tugenden ausgebrochen war. Das ganze Anwesen bot einen wenig einladenden Anblick. Frau Schäufele entschuldigte sich zwar wortreich über die augenblickliche Unordnung, aber ich habe, so oft ich auch später wiedergekommen bin, nie etwas anderes vorgefunden.

[10] Ein paar größere Kinder machten sich bei meinem Erscheinen eiligst davon, nur die kleine Barbara kam auf mich zu und bot mir ein klebriges Händchen. Sie sah gar nicht ordentlich drein, wie sonst, wenn sie zu uns ins Pfarrhaus kam, und mein Annele tat dies denn auch Frau Schäufele gleich mit klaren Worten kund. Da lachte die Frau und meinte: ‚Ach, man kann nicht immer putzen und waschen und aufräumen, das ist nichts für unsereins.‘ Ich nahm mir vor, wenigstens die kleine Barbara in dieser Richtung zu beeinflussen, und es ist mir dies auch gelungen. Man mochte ihr begegnen, wo man wollte, immer fiel sie auf durch ihr reinliches, ich möchte fast sagen, vornehmes Aussehen.

Die zwei kleinen Mädchen saßen in der Schule nebeneinander, und sie verbrachten auch den größten Teil ihrer Freizeit zusammen. Mein Annele, das sich früher so oft ein Brüderlein oder Schwesterlein gewünscht, war jetzt ganz befriedigt. Alle ihre Schätze wurden mit Barbara geteilt. Als ihr mein Bruder ein Album schenkte, ließ sie mir keine Ruhe, bis ich ein gleiches für Barbara kaufte. Am nächsten Tag holten sich die beiden bei der alten Maier ein paar rührende Bildchen: Engelsköpfchen, Vergißmeinnichtkränze und dergleichen. Die wurden in die Album geklebt, und jede schrieb der Freundin einen sinnigen Vers dazu. Was Annele geleistet, weiß ich nicht mehr. Barbaras Vers aber lautete:

Diesen Album hat man dir gekauft,
Anna hat man dich getauft,
[11] Dietrich hat man dich genannt,
Der Himmel ist dein Vaterland.

Ach, wie viele heitere und ernste Erinnerungen drängen sich mir auf, wenn ich an die Kinderzeit der beiden denke. Aber ich muß mich eilen, sonst bringe ich meine Geschichte nicht zu Ende.

Du kannst dir ja wohl denken, daß sich Barbara zu Hause nicht besonders wohl fühlte. Ich meine nicht nur der Unordnung und Unsauberkeit wegen. So zuwider mir beides ist, so muß ich doch zugeben, daß man auch in einem schmutzigen Heim strahlend glücklich sein kann. Wir haben eine Familie im Dorf, da laufen einem aus der Stube die Kinder und Ferkelchen und Hühner zusammen entgegen, und die Fenster brauchen keine Vorhänge, denn kein Mensch kann hineinsehen. Aber die Leute sind seelenvergnügt, du darfst mir's glauben. Aus keinem Haus tönt so viel Lachen und Singen. Nur Samstag abend gibt es ein großes Geschrei, weil da die Kinder gewaschen werden, und das sind sie halt nicht gewöhnt.

Aus Schäufeles Haus tönte fast alle Tage Geschrei. Die zwei Alten lebten in stetem Streit und verführten auch die Kinder dazu. Barbara war die Jüngste von Sechsen. Sie stand ihren Geschwistern ziemlich fremd gegenüber, auch den Vater schien sie eher zu fürchten. Aber die Mutter ward von ihr geliebt mit einer scheuen, sehnsüchtigen Liebe, die mich immer wieder erschütterte. Ich erinnere mich noch so gut an den Ausdruck in Barbaras Gesicht, [12] als Annele und ich am Konfirmationssonntag der beiden zu Schäufeles hinübergingen. Barbara sah in ihrem feierlichen schwarzen Kleid, über das die langen blonden Zöpfe fielen, schon ganz jungfräulich drein, viel reifer als mein kindliches Annele, das noch immer seine Puppen betreute und Tränen vergossen hatte über ihr langes Kleid.

Frau Schäufeles Stube war dem Festtag zu Ehren gefegt und so dicht mit Sand bestreut, daß jeder Schritt knirschte. Die Frau kam uns wohlgelaunt entgegen, und ich mußte mich wundern, wie schmuck sie dreinsah in ihrem saubern schwarzen Kleid und der seidenen Schürze.

‚Wie rasch die Jahre gehen, Frau Schäufele,‘ sagte ich. ‚Nun sind unsere kleinen Mädchen demnächst erwachsen.‘

Während ich redete, fiel mein Blick auf Barbaras Gesicht. Sie schaute die Mutter an mit großen, bittenden Augen. Da ging es mir durch den Sinn, daß dies Kind, trotz aller Liebe, die ich ihm geschenkt, immer gehungert hatte. Und ich mußte wieder nachsinnen über eines der größten Rätsel unserer rätselvollen Welt: Warum ist es, daß Frauen Kinder zur Welt bringen und ihnen doch nicht Mutter sind, während andere, in deren Herz das Licht wahrer Mütterlichkeit brennt, nie ein Kind ihr eigen nennen dürfen? – –

Mit dem Austritt aus der Schule trennten sich die Wege der beiden, die bisher so einträchtiglich nebeneinander gelaufen. Ich brachte Annele, wie [13] du weißt, ins Haus deiner Eltern, und da das Kind sich gut in die neuen Verhältnisse schickte, kehrte ich nach einigen Wochen beruhigt in unser Dörflein zurück. Gleich am nächsten Tag kam Barbara zu mir herüber und wollte haarkleinen Bericht von allem Erleben in der Stadt. Ich erzählte ihr von Anneles Schule, von ihrer originellen Klavierlehrerin, von den Mädchen, mit denen sie sich angefreundet. Ich saß über meine Näharbeit gebeugt und plauderte des langen und breiten, denn mein Kind fehlte mir, und das Sprechen von ihm gab mir ein wenig das Gefühl seiner Nähe. Da drang plötzlich ein schluchzender Ton an mein Ohr, und als ich erschreckt aufschaute, sah ich in Barbaras tränenüberströmtes Gesicht.

Wir haben dann lange zusammen gesprochen, aber ich konnte das Mädchen nicht wirklich trösten. Zwar meiner Versicherung, Annele werde ihr trotz all des Neuen treu bleiben, schenkte sie allmählich Glauben. Aber die Angst, Anneles Liebe zu verlieren, war nicht die einzige Not, die sie drückte. Ach, in den Wochen des Einsamseins hatte sich ein ganzer Berg unruhiger, unzufriedener Gedanken in dem Kinde angesammelt. Warum durfte sie nicht so viel Schönes und Neues erleben? Warum mußte sie immer mit den zänkischen Eltern zusammen sein? Warum war ein Tag wie der andere mit Kochen und Aufwaschen, mit Feld- und Gartenarbeit angefüllt? Nie würde in ihr Leben etwas Schönes und Wunderbares treten. Auf [14] ewig war sie verdammt in diesem abgelegenen Dorf zu sitzen.

Du mußt nicht lächeln über diesen törichten Kinderkummer. Wir Alten, die durch schwere Erfahrungen gegangen, meinen oft, der Jungen Leiden wögen leicht und trösten sie mit dem weisen Zuspruch, ihre Tränen zu sparen. Aber wer kann sagen: diese Sache ist der Tränen und des Kummers wert, jene nicht? Barbara litt mit der ganzen starken Leidensfähigkeit ihrer jungen Seele. Sie hungerte und sah nirgends Sättigung. Sie breitete ihre Flügel der Sehnsucht aus, aber sie sah nirgends eine Zuflucht, dahin sie hätte fliehen mögen. Und sie sah eine andere, deren Leben sie bisher geteilt, all das mühelos ergreifen, wonach ihr Herz schrie.

Ich habe versucht, Barbara zurechtzuhelfen. Nicht, indem ich ihren Kummer für nichtig erklärte; aber ich bat sie, zu bedenken, daß tränenvolle Augen nicht klar sehen. Ich wies sie hin auf die Schönheit, die Gott auch in ihr Leben gelegt. Ich schilderte ihr die gleichförmige, seelentötende Arbeit so vieler in den Städten und verglich damit die ihre in ihrer herrlichen, gesunden Vielseitigkeit. Ich sprach ihr von meiner eigenen starken Liebe zu unserem Tal, seinen Wäldern, Wiesen und Feldern. Aber gerade in diesem Punkt erreichte ich so viel wie nichts. Das Kind liebte seine Heimat nicht. Vielleicht, weil ihm das Elternhaus keine Heimat bot. Aber ich habe andere gesehen, denen es ähnlich ergangen, und die eben aus dieser Not heraus mit um so [15] größerer Liebe die Berge und Bäume der Heimat umfaßten.

Ich mußte mich oft besinnen, woher das Kind seinen seltsamen Durst nach der Ferne hatte. Die Eltern und Voreltern hatten immer in diesem Tal gelebt und schlecht und recht ihre Arbeit getan. Nur einer aus der Familie, ein Großonkel Barbaras, war, vom Goldfieber gepackt, nach Amerika ausgewandert und dort verschollen. Ach, er war vielleicht doch nicht der einzige gewesen, den eine innere Unruhe umgetrieben. Die Kirchenbücher sagen nichts. Sie halten nur die Namen fest, aber vom Wesen, von den Gedanken ihrer Träger berichten sie nichts.

Barbara schien ihren Kummer allmählich zu verwinden; aber so oft Annele in die Ferien kam, lebte er wieder neu auf. Es konnte dann geschehen, daß sie sich in der trotzigen Annahme, sie passe nicht mehr zu Annele, ferne hielt. Nur hin und wieder, wenn ich die beiden etwa an einem Sonntagnachmittag bei mir hatte, fiel es von Barbara wie ein Bann, und aus den blauen Augen schaute mich wieder das alte Vertrauen an.

Als die beiden im zwanzigsten Jahr standen – ein Jahr zuvor hatte Barbara ihren Vater verloren – brach die Zeit an, die für viele unseres Landes so verhängnisvoll geworden. Ich rede von dem Auswanderungsfieber, das auch in unserm Dorfe einen um den andern ergriff. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erregt die Leute waren. Nicht [16] etwa nur die Leichtfertigen und die Habenichtse, die eben nichts zu verlieren hatten, ließen sich verleiten, nein, auch besonnene Leute, die über eigenen Besitz verfügten, meinten es mit der Fremde, die so unendlich lockend und mühelosen Reichtum verheißend vor ihnen lag, versuchen zu müssen. Mein Mann war oft ganz verzweifelt, wenn all sein Bitten und Warnen erfolglos blieb.

Eine der ersten, die Feuer fing, war natürlich Barbara. Ein eleganter junger Mann, mit kecken Augen, die mir gar nicht gefallen wollten, war eines Tages erschienen und hatte unseren Mädchen dermaßen vorgeflunkert, daß ihrer gleich acht entschlossen waren, sich seiner Leitung anzuvertrauen und ihr Glück in Neuyork zu versuchen. In ein paar Monaten würden sie dort mehr verdienen als in der Heimat in Jahren, und wer weiß – in dem Lande, wo keine Standesunterschiede herrschten, konnte es ihnen auch glücken, eine Heirat zu machen, die sie plötzlich in die Reihe derer stellen würde, die in Seide gehen und in eigener Kutsche fahren und haben können, was ihr Herz begehrt. Nicht nur die Mädchen, auch die meisten der Mütter ließen sich durch diese Gedanken betören. Barbaras Mutter redete ihrer Tochter nicht zu und nicht ab; sie ließ sie einfach gewähren.

Als mir Barbara ihren Entschluß mitteilte, erschrak ich bis ins Herz hinein. Nicht das Gefühl der Sorge um ihr Fortkommen, ein Gefühl, mit dem ich jedes auswandernde Gemeindeglied begleitete, [17] beherrschte mich. Nein, eine heiße Angst, ein graues Entsetzen überkam mich bei Barbaras Worten. Wie habe ich das Mädchen angefleht, von ihrem Vorhaben abzustehen! Aber alle meine Vorstellungen glitten ab an ihrer siegessicheren Zuversicht, an ihrer strahlenden Freude, endlich in die Weite, in die Freiheit zu kommen.

O über das verblendete Kind!… Nicht in die Freiheit, in die allerelendeste Knechtschaft ist sie hineingelaufen. Jener Bursche mit den unlautern Augen war ein Mädchenhändler. Die andern, die mit Barbara zusammen auswanderten, scheinen schon auf dem Schiff Verdacht geschöpft zu haben. Aber Barbara wollte nicht daran glauben, und so ist sie dem Menschen zum Opfer gefallen. Es ist nie vollständige Klarheit in diese jammervolle Geschichte zu bringen gewesen. Offenbar war Barbara zuerst in einem anständigen Haus, denn wir erhielten guten Bericht, und ich fing an aufzuatmen und ließ mich nur zu gern Schwarzseherin nennen.

Aber dann folgten lange Monate des Schweigens. Unsere Briefe kamen zurück. Alle Nachforschungen, die mein Mann anstellen ließ, blieben erfolglos. O die verzehrende Angst jener Tage! Nie zuvor hatte ich so stark empfunden, wie Barbaras Leben mit tausend feinen Fäden an das meine gebunden war. Ich kam mir damals vor wie ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine ging das verlorene Kind suchen, schaudernd vor den Dunkelheiten, die sich ihr ahnend auftaten. Die andere mußte bei [18] dem eigenen Kinde sein, in dessen Leben die Liebe getreten, und das nun seiner Mutter bedurfte wie nie zuvor.

Ach, selbst über Anneles Hochzeitstag warf Barbaras Geschick seinen dunkeln Schatten. Als ich mein Kind in die Arme schloß, mein reines, bräutliches Kind, da sah ich plötzlich neben ihrem Gesicht ein anderes, vor dem ich entsetzt die Augen schloß. Und dann in der Kirche, die gedrängt voll Menschen war, schaute mich aus der hintersten Frauenbank Barbaras Mutter an … Wie mußte ich mich da schämen! ‚Die gibt ihr Kind schwer her, es drückt ihr schier 's Herz ab!‘ hörte ich eine Frau hinter mir flüstern. Aber ich weinte nicht um mein Kind. Von ihm wußte ich, daß es in eine goldene Helle hineinging. Wo aber war Barbara?

Am andern Tag, als das junge Paar weggefahren, ging ich hierher in meinen stillen Garten. Ich mußte allein sein.

Auf diesem Bänkchen bin ich gesessen. Vom Pfarrhaus herüber drangen frohe, helle Stimmen, die paßten so gar nicht zu den Stimmen meines Herzens.

Da sah ich eine schwarze Frauengestalt langsam auf mich zukommen, und nun wußte ich mit einem Male, warum ich hierher hatte kommen müssen … Um von Barbaras Mutter ein Entsetzliches, ein Unfaßliches zu hören.

Ich wollte aufstehen und ihr entgegengehen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht einmal [19] den Kopf heben, denn ich wußte, im nächsten Augenblick trifft dich ein Beilschlag ins Genick.

Dann saß Frau Schäufele plötzlich neben mir und glättete auf ihren Knien einen Zeitungsausschnitt und einen Brief. Ich hörte sie keuchend atmen, und nun sprach sie.

‚Frau Pfarrer, der Brief ist heute früh gekommen, vom Bäcker Schmid, wissen Sie, von dem, der vor einem halben Jahr hinüber ist. Im Brief hat er übersetzt, was da in der Zeitung steht. Und er meint – und er meint, es sei –‘

Nie, nie in meinem Leben zuvor oder nachher habe ich ein solches Weinen gehört. Was ich selbst an Schmerz erlitten, war nichts, war ausgelöscht vor diesem Herzeleid. Ach, daß dies Weinen von jenen vernommen worden wäre, die an dem Kinde gefrevelt!

Dann drängte die Mutter mich plötzlich: ‚Lesen Sie, lesen Sie, Frau Pfarrer!‘

Und ich las. Las die Geschichte, die damals durch alle amerikanischen Blätter ging, daß ein deutsches Mädchen einem gewissen Haus im Innern Neuyorks entflohen, indem es am Blitzableiter heruntergeglitten war, daß es halbtot gefunden und ins deutsche Hospital verbracht worden sei.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir damals beisammen gesessen sind, Frau Schäufele und ich. Ich weiß nur, daß es mir, als ich in mein hell erleuchtetes Haus eintrat, war, ich käme aus dem Land des Grauens und der Verzweiflung geschritten. Ich [20] bat meinen Mann, der mich ahnungslos scherzend als ‚Ausreißerin‘ empfing, ins Studierzimmer zu kommen und gab ihm den an Frau Schäufele gerichteten Brief. Noch in derselben Nacht ging ein Schreiben ab an den leitenden Arzt des deutschen Hospitals mit der Bitte um telegraphische Antwort auf die Frage, die unser Herz und Hirn marterte: ist es Barbara?

Es war Barbara. – – –

Mein Mann schrieb ein zweites Mal und bat um weitere Nachricht über Barbaras Zustand. Wir hatten Frau Schäufele gesagt, daß bis zum Eintreffen einer Antwort Wochen vergehen könnten, aber sie fragte jeden Tag an, ob keine gekommen. Ach, jetzt waren es ihre Augen, die einen hungrig flehenden Ausdruck trugen …

Ich nahm den Brief selbst dem Postboten ab, und als ich ihn zu meinem Mann hinauftrug, wußte ich, daß er Unheilvolles enthalte. Hand in Hand – wie hätte ich es sonst wohl ertragen können! – lasen wir das Schreiben des Arztes. O über die Verruchten, die das junge Leben in Schmach und Schande gezerrt! – Barbara war krank. Unheilbar krank an Körper und Geist. –

Ich wollte nicht, daß Frau Schäufele die Nachricht bei uns empfange. Ich meinte, es müsse ihr Wohltat sein, die schützenden Wände ihres Heims um sich zu fühlen. Ich dachte, sie werde sich verkriechen wie ein wundes Tier, werde sich scheuen, ihr Gesicht auf der Straße zu zeigen.

[21] So ging ich zu ihr hinüber und setzte mich zu ihr auf die Fensterbank. Ich weiß nicht, wie ich es sagte, ich weiß nur, daß, nachdem ich gesprochen, eine Stille um uns war wie des Todes Schweigen. Und ich glaubte zu fühlen, wie in diesem eisigen Schweigen alle Liebe, die sich in den letzten Monaten in der Mutter geregt, starb.

Ich hielt Frau Schäufeles Hand fest umschlossen und wartete, wartete. – Warum schrie sie ihre Qual nicht heraus? Warum weinte sie nicht, wie an jenem Abend?

Da plötzlich löste die Frau ihre Hand aus der meinen und richtete sich auf. ‚Frau Pfarrer,‘ sagte sie und schaute mich mit einem Blick an, den ich nie vergessen werde, ‚Frau Pfarrer, Sie müssen mir helfen, daß ich hinüber komme. Ich muß die Barbara heimholen.‘ – –

Was dem feinen, hellen Kinde nie gelungen, hatte jetzt das arme, sieche erreicht: das Herz der Mutter war erwacht.

Und die Frau blieb ihrem Entschlusse treu, auch als ihr mein Mann mit klaren Worten die Schwere ihres Unternehmens gezeigt. Sie scheute weder die Auslagen noch die Beschwerlichkeiten der Reise. Sie schreckte auch nicht zurück vor den Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit ihrer Tochter. Für mich waren diese Wochen voller Wunder. Ach, nie mehr wollte ich über einen Menschen das Urteil fällen: so und so ist er und so und so bleibt er. War mir diese Frau nicht all die Jahre hindurch stumpf [22] und gleichgültig erschienen? Hatte ich ihr nicht gezürnt, weil sie ihre Kinder vernachlässigte und ewig in Streit lebte? Und nun brach aus diesem Herzen eine Liebesfülle, die mich beschämte und erschütterte.

Sie hatte ihre Liebeskraft bitter nötig, denn das Zusammenleben mit Barbara war eine Hölle. Besonders in den ersten Monaten, als das Mädchen am liebsten im Dorf herumstrich. Die meisten wichen ihr ja aus. Die Kinder fürchteten sich vor den irren Blicken und Reden. Aber es gab auch lose und schlechte Menschen, die sich mit ihr einließen. Ach, und das Entsetzlichste war, daß das vergiftete Blut in dem armen Wesen nicht zur Ruhe kommen wollte. Dann konnte es geschehen, daß auch die Mutter ein Grauen anwandelte. Aber immer wieder überwand ihre erbarmende Liebe dieses Grauen. Sie wußte sich oft kaum zu helfen, aber sie hätte Barbara trotzdem nicht fortgegeben.

Und allmählich schien ihr treues Sorgen und Pflegen doch eine kleine Besserung im Zustand der Tochter herbeizuführen. Das wilde Umherschweifen hörte auf. Sie fing an, ihrer Mutter bei der Arbeit an die Hand zu gehen. Und dann begann sie eine seltsame Tätigkeit, die ich nie ohne Herzweh beobachten konnte. Immer wieder, oft dreimal des Tages, machte sie sich daran, den Tisch rein zu fegen. Mit angstvollem Blick murmelte sie dabei: ‚Nicht sauber, wird nie mehr sauber …‘

Einmal kam Annele mit dem kleinen Ernst zu Besuch. Ich fragte, ob sie Barbara besuchen werde, [23] aber sie verneinte unter Tränen. Da bat ich Frau Schäufele, lieber nichts von meinen Gästen verlauten zu lassen, denn man war nie ganz klar über Barbaras Geisteszustand. Nach Tagen völliger Apathie, in denen sie niemand zu kennen schien, konnte sie plötzlich wieder vernünftig fragen und antworten.

Irgendwie muß Barbara aber doch von unsern Gästen gehört oder sie gesehen haben. Ich hatte die beiden zur Bahn begleitet und plauderte mit Annele durchs Fenster. Es regnete in Strömen, so daß mir beinahe ein wenig vor dem langen Heimweg graute. Da – eben im letzten Augenblick, als der Schaffner die Türen zu schließen begann, kam Barbara dahergelaufen. Die Haare hingen ihr klatschnaß ums Gesicht, sie war ohne Schirm und Kopftuch. In der Hand hielt sie einen mächtigen buntfarbigen Blumenstrauß, und den hob sie nun zu Annele empor mit einem flehenden Ausdruck in dem armen Gesicht. Kaum hatte ihr Annele die Blumen abgenommen, da floh sie wie gehetzt davon. Wir aber freuten uns unter Tränen dieses Aufleuchtens aus einem früheren besseren Sein. – –

Beim Kartoffelausgraben im feuchten Nebel zog sich Barbara eine Erkältung zu. Ein paar Wochen lang lag sie zu Bett, dann schlief sie ein, fast plötzlich, ohne Kampf.

Und seltsam! Die gütige Hand des Todes hatte nach wenigen Stunden das Antlitz der armen Barbara also gewandelt, daß sie vor uns lag wie [24] in den Tagen ihrer ersten reinen Jugend. Mir schien es ein tröstlich und verheißend Gleichnis, aber Frau Schäufele schüttelte den Kopf. Bis zu ihrem Tod hat sich die Mutter mit der Frage gequält, ob ihr Kind wohl von Gott angenommen worden. Als ich sie einmal um dieser Gedanken willen bemitleidete, schaute sie mich fast streng an. ‚Ich hab' mir das selber eingebrockt, Frau Pfarrer. Ich hab' der Barbara nicht die rechte Liebe gegeben, wie sie ein Kind war. Jetzt muß ich nachzahlen. Wir müssen für alles zahlen, Frau Pfarrer.‘

‚Ja,‘ sagte ich, ‚für vieles, aber manchmal wird uns auch eine Schuld erlassen. Das wollen wir nicht vergessen, Frau Schäufele.‘ – –

Sie hat die Barbara nicht lange überlebt. In ihren letzten Wochen sind wir uns recht nahe gekommen. Damals haben wir uns oft gefreut an Gerhardts schönem Heimwehlied: ‚Ich bin ein Gast auf Erden‘. Aus diesem Lied stammen auch die Worte, die ich auf ihr Grab schreiben ließ. – – Sieh', dort drüben an der Mauer liegt sie begraben. Es ist zwar ein wenig dunkel geworden, aber man wird den Vers schon noch lesen können.“

Die beiden Frauen erhoben sich und gingen zu dem Grab hinüber. Mit stillen Augen lasen sie die Worte:

Ich wandre meine Straßen,
die nach der Heimat führt,
da mich ohn' alle Maßen
mein Vater trösten wird.

[25]

Der Sohn.

Peter Niemeyer jun. lag in einem Korbwagen und sog an den Fingern. Er hatte ein langes, runzliges Gesicht, das von der eben durchlebten Anstrengung feuerrot gefärbt war.

Peter Niemeyer jun. war vor zwei Stunden ins Dasein getreten. Wenigstens ins sichtbare, denn für Peter Niemeyer sen., der neben dem Korbwagen saß, lebte er schon lange. Seit Wochen, ja seit Monaten hatte sich all sein Denken, so weit es nicht von geschäftlichen Dingen in Anspruch genommen war, um das vor ihm liegende Menschenkind gedreht. Er hatte immer gewußt, daß es sich als Junge entpuppen werde. Wenn seine Frau einen Zweifel an dieser Hoffnung oder gar den Wunsch nach einem kleinen Mädchen ausgesprochen, war er ungeduldig geworden, und es hatte geschehen können, daß er die kleine Frau rauh angelassen.

Das tat ihm jetzt leid, und allerlei Gelübde und Vorsätze stiegen in ihm auf. Er strich sich mehrmals über den Kopf, der so kahl war wie der seines Sohnes und sagte halblaut: „Du wirst sehen, Peter, ich werde jetzt immer gut zu ihr sein.“

Peter jun. sog an den Fingern und zwinkerte mit den Augen. Er hatte offenbar kein Verständnis für seines Vaters Worte. Dieser aber, dem es nicht oft vorkam, daß er an einem Arbeitstag untätig auf einem Stuhle saß, verfiel in ein tiefes Sinnen, [26] das ihn weiter und weiter in die Vergangenheit zurückführte.

… War er das? Ein hübscher Bursche mit welligem Haar und immer lachenden Augen. Komm her, du junges, du strahlendes Leben! Laß dich umarmen! Fallen einem die Sterne nicht in den Schoß – – hei! so holt man sie eben herunter! – – Es war doch nicht so leicht gegangen … Man tappte in allerlei Dunkelheit und war endlich froh, als man in bekleisterter Schürze in Buchbinder Bergers Werkstatt stand. Das ging so ein paar Jahre. Na ja, es waren ganz gute Jahre, und dann glänzte doch endlich ein Glücksstern auf. Die Meisterstochter … Elisabeth. Man nannte sie meist Betty, aber ihm gefiel der lange, klingende Name, und er sagte ihn leise und laut. Nun, er war ja immer noch ein leidlich hübscher Kerl, und die lachenden Augen hatte er sich nicht verkleistern lassen. So kam es, daß die niedliche kleine Betty „Peter“ sagen lernte, und der Arbeiter ward zum jungen Meister.

Peter Niemeyer jun. bewegte sich unruhig, aber sein Vater bemerkte es nicht. Er durchlebte wieder die ersten Jahre seiner Ehe. Süße, heimliche Glücksbilder stiegen vor ihm auf, dann solche mit ernsterem Gesicht. Abende, an denen er versucht hatte, seine junge Frau teilnehmen zu lassen an dem, was er in stillen Stunden gedacht und gelesen. Er wollte sie mit hineinziehen in die einsame Welt seiner Gedanken, aber sie ging neben ihm mit stummen [27] Lippen. Und es erhoben sich wie feine Schatten die ersten Gefühle der Enttäuschung.

Elisabeth … Elisabeth … Er rief den klingenden Namen nicht mehr oft. Betty ließ sich kürzer und herrischer sagen. Er erlebte Stunden, da er sich betrogen erschien, und doch waren es die Stunden, in denen er klar sah, daß nicht sie, sondern er sich verändert hatte. Wie süß hatte ihm einst ihr Geplauder geklungen! Gerade das, daß sie in lebhaften Worten über Alltägliches sprechen konnte, war ihm reizvoll erschienen. Nun quälte ihn der nichtssagende Wortschwall. Einst hatte es ihn belustigt, daß die kleine Frau beim geringsten Anlaß in Aufregung geriet, später verletzte ihn dieser Mangel an Würde.

Peter jun. stieß einen quietschenden Schrei aus. Da öffnete sich eine Türe, und die Pflegerin trat herein. „So, so, hat er dich schreien lassen!“ sagte sie mit vorwurfsvollem Blick auf den träumenden Vater. Sie nahm das kleine Bündel aus den Kissen und brachte es in die Schlafstube. Peter Niemeyer war damit entlassen und hätte sich wieder nach seiner Werkstatt begeben können, aber er blieb sitzen.

Er starrte auf die Stelle, an der das Kind gelegen. Sein Kind … ja – und auch Elisabeths. Da war nun wirklich etwas, in das sie sich teilen konnten, etwas, das ihnen beiden lieb und interessant war. Fünfzehn Jahre lang hatte er auf dieses Glück gewartet. Fünfzehn Jahre … konnte man sich danach wieder zusammenfinden?

[28] Peter Niemeyer seufzte schwer. Er stand auf und ging nach der Türe, durch die die Pflegerin verschwunden. Seine Frau schlief.

Er setzte sich an ihr Bett und betrachtete ihre müden, noch immer feinen Züge. Ein warmes Gefühl wallte in ihm auf. „Elisabeth!“ sagte er leise und innig und streichelte ihre Hand. Darüber erwachte sie und blickte staunend in ihres Mannes bewegtes Gesicht. „Elisabeth! Nun haben wir ja endlich das Kind.“

Es war, als überwältigte ihn noch einmal der Jammer der einsamen Jahre, den sie nur unklar empfunden. Sie gehörte zu den Frauen, die in ihrem stärksten Empfinden Gattin sind. Sie vergötterte ihren Mann. Beinahe widerspruchslos stimmte sie seinem Reden und Tun bei, und nie kam ihr der Gedanke, daß sie ihm nicht nur bewundernd, sondern auch ratend und mahnend zur Seite stehen sollte. So hatte sie durch ihre blinde Liebe eine Selbstherrlichkeit in ihm großgezogen, die ihn in den Augen anderer oft lächerlich erscheinen ließ und ihr selbst manche bittere Stunde brachte.

Aber sie konnte rasch vergessen. So war ihr denn in dem Augenblick, da sie ihres Mannes streichelnde Hand verspürte, es sei alles gut geworden und werde immer so bleiben. Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie ihres Mannes Seele nicht kenne, daß sie so stumm vor ihr liege wie die ihres neugeborenen Sohnes. Es kam ihr auch nicht zum Bewußtsein, daß ihr dieser Tag in dem hilflosen, [29] unbefleckten Seelchen ein Geschenk gegeben, so groß und schön, daß ein sehr starker oder sehr leichter Sinn dazu gehört, um vor der Verantwortung nicht zu zagen.


Peter war in den ersten Jahren seines Lebens ein zartes Kind. Wenn Frau Elisabeth ihn spazieren fuhr, so brach wohl die eine oder andere der Freundinnen in die teilnehmenden Worte aus: „Der ist aber blaß! Sieh nur die Adern an den Schläfen! Ich frage mich, ob du ihn davonbringst.“ Und dann priesen sie ihre eigenen rotbackigen Kinder.

Aber der kleine Peter gedieh, allen Prophezeiungen zum Trotz. Er kriegte blanke Zähnchen und lernte den Gebrauch der Beine. Er fing an Tierstimmen und Menschenworte nachzuahmen, und dann kam der Tag, der glückselige Tag, wo er in einer kleinwinzigen Hose in seines Vaters Werkstatt stolzierte. Von da an trieb er sich gerne unter den hohen Tischen herum, eifrig bunte Papierabfälle sammelnd, die er mit dem großen Pinsel zusammenkleisterte. Hände und Kleider bekamen dabei ihr gut Teil ab zum Ärger der Mutter, die ihr Bübchen immer schmuck haben wollte. Der Vater aber lachte. „Er hat es eben im Blut! Gelt, Peter, du wirst einmal Vaters erster Arbeiter und kriegst den guten Platz am Fenster?“ – „Ja, wenn ich groß bin,“ sagte Peterchen, „aber –“ fügte er zögernd hinzu: „Mutter soll auch mit dabei sein.“

[30] Er war in diesen Tagen so sehr seiner Mutter Kind, daß er es nicht ertragen konnte, lange von ihr getrennt zu sein. Wenn sie kochte, stand er mit einem Rührlöffel in der Hand ernsthaft neben ihr. Er begleitete sie auf allen Gängen und schlief nur ein, wenn sie an seinem Bettchen saß. Des Morgens aber erwachte Frau Elisabeth daran, daß vorsichtige Fingerchen ihre Augenlider in die Höhe zogen, und sie schalt nie, sondern hob die Decke und ließ den kleinen Ruhestörer unterschlüpfen. Das ging so heimlich und still, und die Unterhaltung, die nun zwischen Mutter und Kind geführt wurde, war eine so leis geflüsterte, daß der Vater nicht daran erwachte.

Frau Elisabeth war diese Morgenstunde die süßeste am Tag. Wie weich und warm schmiegten sich die jungen Glieder in ihren Arm. Wie klopfte das Herzchen so rasch, so rasch … Sie spielte mit dem dunkeln, lockigen Haar, das der Junge von ihr geerbt. Auch die vollen, roten Lippen waren die ihren, und der Vater hatte dazu sein energisches Kinn gegeben. Aber sonst glich der Kleine keinem der Eltern. Vielleicht, wenn das Bild irgend eines Vorfahren aufbewahrt worden wäre, hätte man darauf die lange, schmale Nase und die trotzige Stirne gefunden, und auf einem andern vielleicht die schwarzen Brauen, die über der Nase zusammenwuchsen. Augen hatte der kleine Peter sehr seltsame. Sie waren von dunkelm Grau, groß und sanft, und es lag wie ein feiner Schleier darüber. [31] Aber in der Erregung zerriß der Schleier, und die Augen glühten und schauten nahezu schwarz.

Frau Elisabeth erschrak jedesmal darüber. Es packte sie die bange Ahnung, daß eine Zeit kommen könnte, in der es ihr nicht mehr gelingen würde, die wilden Augen zu beruhigen. Aber sie schob diese Gedanken von sich. Noch war das Peterchen klein, und wenn sein Seelchen in Not kam, schrie es nach ihr, nur nach ihr. Das tat nicht nur ihrem Herzen, nein, auch ihrer Eitelkeit wohl. Trotz aller Demut, die sie im Verhältnis zu ihrem Mann empfand, war sie eine Natur, die nach Lob und Bewunderung verlangte. Noch immer schwelgte sie in der Erinnerung an die Zeit, da sie die umworbene und gefeierte Betty Berger gewesen und führte diese Tage in ihren kleinlichen Zänkereien wieder und wieder an. In des Kindes Augen nun stand sie groß und unantastbar.

Das späte Mutterglück hatte übrigens ihre Liebe zum Gatten nicht beeinträchtigt. Der kleine Sohn mußte stets hinter dem Vater zurücktreten. Das wußten beide, der kleine und der große Peter, und sie nahmen es zu Zeiten mit einem leisen Erstaunen wahr, in das sich beim kleinen ein unverstandener feiner Schmerz, beim großen ein unbehagliches Schuldgefühl mischte.

Peter Niemeyer hatte redlich versucht, sein dem kleinwinzigen Sohn gegebenes Wort zu halten. Er wollte gut sein zur Mutter seines Kindes, und einige Wochen gelang es ihm. Frau Elisabeth erlebte [32] wieder wie in den ersten Jahren ihrer Ehe eine Zeit zarter Fürsorge; aber zu einer inneren Annäherung kam es nicht. Und Peters Stimme bekam wieder den alten selbstherrlichen Klang, und er zeigte sich, nach Art launischer Menschen, den einen Tag zu Scherz und Lachen aufgelegt, den andern reizbar und wortkarg. „Die Kluft zwischen uns ist zu groß, da ist kein Verstehen möglich,“ dachte er mißmutig.

Ach, da war wohl eine Brücke, die ihn wieder und wieder zu ihr getragen hätte … Für Güte und Erbarmen ist keine Kluft zu groß.


Der kleine Peter kam zur Schule. Das war ein Ereignis für die ganze Familie, und jedes nahm es auf und verarbeitete es seiner Art entsprechend. Dem Vater schien es der erste Schritt zur künftigen Kameradschaft. Nun lernte der Junge, jedes Jahr ein bißchen mehr. Zeigte es sich, daß er einen hellen Kopf habe, so konnte man ihn aufs Gymnasium schicken. Studieren … nein, das sollte er nicht. Das Geschäft ging gut, es durfte nicht in fremde Hände übergehen. Aber abends, da wollten sie zusammensitzen und lesen und sprechen. O, der Junge mußte nicht glauben, er, der Alte, sehe nicht über den Kleistertopf hinaus! Er war auch in guten Schulen gewesen, und überhaupt – früher wurde viel besser und gründlicher unterrichtet … Merk' er sich das, mein Herr Sohn!

[33] Peter Niemeyer pfiff, als er bei seiner Arbeit diese und ähnliche Gedanken bewegte, fröhlich vor sich hin. Unterdessen saß Frau Elisabeth im Wohnzimmer und weinte. Sie wußte selbst kaum warum, aber ihr war so traurig zumute, als sei ihr etwas Liebes gestorben. Vor einer Stunde hatte sie das Peterlein zur Schule gebracht. Er war einer der niedlichsten kleinen Schüler, das hatte sie mit Stolz festgestellt. Und er hatte den Lehrer artig gegrüßt und war nicht so blöde, mit dem Finger im Mund, dagesessen, wie Bäcker Brauns Jüngster. Aber als sich nun die begleitenden Mütter und Väter und älteren Geschwister zum Gehen anschickten, war das Peterchen heulend aus der Bank gesprungen und hatte sich an ihrem Kleid gehalten und Mutter geschrien, ohne auf ihre Trostworte zu achten. Zuletzt hatte sie ihm Dampfnudeln zum Mittagbrot versprochen, und das hatte geholfen. Das Peterchen war in die Bank zurückgekehrt und sie nach Hause.

Und nun saß sie da und weinte nach dem Kind, und das arme Büblein dachte wohl im stillen auch nur an sie. Ach, es gab doch recht schwere Dinge durchzumachen! Und so allein war man mit seinem Kummer, denn dem Mann durfte man nicht klagen. Er wurde gar leicht ungeduldig.

Frau Elisabeth schlang die Hände ineinander und schaute durchs Fenster. Es kam ihr plötzlich in den Sinn, daß sie an die Bereitung der versprochenen Dampfnudeln gehen müsse, aber sie blieb ruhig sitzen. Es war so angenehm, in diesen halb traurigen, [34] halb süßen Gedanken zu schwelgen. „Alle Mütter sind Märtyrerinnen,“ ja, das hatte sie einmal gelesen und sehr merkwürdig gefunden. Aber jetzt verstand sie, o, jetzt verstand sie …

Unten auf der Straße ging eine Nachbarsfrau vorbei. Sie nickte ein-, zweimal und Frau Elisabeth nickte wieder und führte dabei das Taschentuch an die Augen. Es war ihr eine Genugtuung, daß die Freundin sie in ihrem Schmerz gesehen. Sie schaute ihr heimlich nach, und da erlebte sie eine zweite Genugtuung. Die Freundin hatte sich wohl etwas eilig angekleidet, denn bei jedem Schritt schob sich ein blendend roter Rocksaum unter dem dunkeln Kleid hervor. Frau Elisabeth lächelte: „So 'ne Schlamperei! Und diese Farbe! Ja, wenn man eben keinen Geschmack hat …“

Sie erhob sich, und bald darauf stand sie heitern Gemüts an der Mehlkiste.

Das Peterchen kam mit dunkelglühenden Bäckchen nach Hause. „Mutter, die Schule ist fein!“ schrie er schon von weitem.

Frau Elisabeth gab es einen Stich durchs Herz. Sie hätte ihn lieber ein bißchen bekümmert, ein bißchen sehnsüchtig erregt gesehen.

„Hast du Heimweh nach mir gehabt, Peterchen?“ fragte sie, das Kind zärtlich umfangend.

„Nur ein bißchen. Weißt du, nachher kam das feine Bild von dem Elefanten. Der ist mal klug, Mutter! Und stark und, und – gerecht. Ja, gerecht nennt man das, Mutter. Wenn man dem etwas [35] Böses tut, straft er einen gleich. Da war mal so ein Schneider, Mutter, – –“

„Ja, das kannst du mir nachher erzählen, jetzt gehen wir zum Essen,“ sagte Frau Elisabeth. Sie sprach in kurzem, etwas gereiztem Ton, und die feinen Kinderohren horchten auf. Wie seltsam … war Mutter böse? Er war so froh gewesen, so erfüllt von all dem Wunderbaren, Neuen. Und die Geschichte war so lustig. Ha, ha, wie das viele Wasser in die Schneiderstube spritzte! Der stach den Elefanten gewiß nicht zum zweitenmal in den Rüssel! –

Das Peterlein machte einen Sprung, als müsse er sich aus des Schneiders nasser Stube retten. Da fühlte er sich von seinem Vater ergriffen, in die Luft gewirbelt und wieder auf die Erde gesetzt. Peterlein schaute atemlos zu ihm auf: „O Vater, bist du stark! Fast wie ein Elefant! Und denke dir, so klug ist der und soo – gerecht. Ich will dir mal was von einem Schneider erzählen. Willst du's hören?“

„Aber gewiß!“ rief Vater Niemeyer. Das freute ihn, das war ja wie ein Akkord aus der Zukunftsmusik, die er vorher gespielt.

Und das Peterlein erzählte, mit Mund und Augen und allen Gliedern. Der Vater bedauerte und lachte, alles am rechten Ort. Die Mutter – Peterchen schielte wieder und wieder zu ihr hinüber – kniff die Lippen zusammen, so eng, daß nur noch ein schmaler roter Strich zu sehen war. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß sie wiederauseinandergehen [36] und liebe Worte sprechen könnten. Wie schade, daß Mutter die Geschichte nicht gefiel! Vielleicht, wenn er ihr sie später noch einmal erzählte?

Abends beim Zubettgehen versuchte Peterchen seine Geschichte ein zweites Mal anzubringen. Aber Frau Elisabeth konnte sich nicht überwinden. Mit abweisendem Wort schloß sie die plauderfrohen Lippen. Die alte, häßliche Schule! Was brauchte er so vergnügt von dort herzukommen, wo sie nicht dabei gewesen. – „Gönnst du ihm denn seine Freude nicht?“ mahnte eine Stimme ihres Innern. Ja schon, aber er soll sie bei mir suchen.

Beinahe leidenschaftlich umarmte sie das stämmige Körperchen. „Du hast mich lieb, Peterchen? Nicht wahr, du wirst dein Mutterchen immer lieb haben?“ Der Kleine drückte das runde Gesicht gegen ihre Wange. „Immer, immer! Aber –“ fügte er zögernd hinzu, „warum darf ich dir nicht erzählen? Darf ich dir nie, gar nie erzählen, was wir in der Schule machen?“

Da durchzuckte Frau Elisabeth eine jähe Erkenntnis. Wie war sie so töricht gewesen! In ihrer selbstsüchtigen Liebe hatte sie ihn ja von sich gestoßen. Mußte sie nicht froh sein, o von Herzen froh und dankbar, daß er alles zu ihr trug?

„Freilich darfst du mir erzählen, Peterchen. Jeden Tag, soviel du willst! Aber für heute ist's genug, sonst bist du morgen müde in der Schule.“

Das half. Der dunkle Kopf sank auf das Kissen, und noch während Frau Elisabeth ordnend im [37] Zimmer hin und her ging, fiel das Peterlein in Schlummer.


In den folgenden Monaten geschah es oft, daß der kleine Peter etwas zu erzählen wußte. Aber nicht immer fand er die Mutter willig, seinen sprudelnden Berichten zu lauschen.

Arme Frau Elisabeth! Ihren Gedanken, die nie nach den Schätzen der Tiefe geforscht, nie in Qual und Sehnsucht zur Höhe gedrängt hatten, genügte die kleine Welt, in der sie sich bewegte, vollkommen. Sie war nicht unglücklich gewesen, wenn sie auch zuweilen unter den Launen ihres Mannes gelitten hatte. Er gab ihr ja auch wieder gute Worte, und sie hatte ein behagliches Heim und konnte hübsche Kleider tragen und brauchte keine grobe Arbeit zu tun. Aber nun war so vieles anders geworden.

Unter Peterleins dunkelm Lockenbusch fingen allerlei Gedanken zu arbeiten an. Nicht nur was er in der Schule sah und hörte, nein, auch alles was ihm sonst entgegentrat im Leben, wurde mit gierigen Augen und Händen entgegengenommen und betastet und befragt.

So mag es einem kleinen Pflanzensetzling zumute sein, den man von der Mutterpflanze gelöst hat. Er trinkt die Nahrung nicht mehr aus dem mütterlichen Stamm, nein, direkt aus der feuchten, kühlen Erde, und der Sonnenschein umfließt ihn inniger und wärmer, da er nun so rank und fein und klein für [38] sich steht. Er fängt behutsam an, Würzelchen auszustrecken, und er wagt es und entrollt ein verschämtes, zitterndes Blatt.

Frau Elisabeth aber begriff das neue Leben, das sich, losgelöst von dem ihren, entwickelte, nicht und betrachtete es mit feindseligen und argwöhnischen Augen. Hin und wieder zwar rang sich ihr die Erkenntnis durch, die sie am ersten Schultage durchzuckt hatte. Nein, er durfte ihr nicht verloren gehen. Sie wollte teilhaben an seinen innersten Gedanken, wie damals, als er zu früher Morgenstunde in ihr Bett gekrochen.

Aber wenn sie, nachdem sie dem Kind tage- und wochenlang gleichgültig und verständnislos zur Seite gestanden, eine plötzliche Annäherung suchte, konnte es geschehen, daß Peterlein die Lippen zusammenkniff. Das feine Seelchen flüchtete sich vor den täppischen Angriffen und schaute nur scheu und verängstet aus den großen verschleierten Augen.

Dann schwieg auch Frau Elisabeth; aber es war nicht ein aus Zartgefühl geborenes Schweigen. Das hätte dem Peterlein wohl getan und ihm vielleicht die herben Lippen geöffnet. Er beobachtete die Mutter, wie sie sich an den Nähtisch setzte, zu Nadel und Faden griff und zu nähen begann. Und jede Bewegung brachte ihr Gekränktsein zum Ausdruck, laut und hart. Das Kind aber wand sich in unverstandener Qual.

Es ging dann wohl, um sich zu zerstreuen, in die Werkstatt hinunter, denn der Vater nickte ihm meist [39] freundlich zu und schenkte ihm auch hin und wieder einen Streifen bunten Papiers.

Peterlein liebte es, auf einem hohen Drehstuhl zu sitzen, der dicht am Fenster stand. Draußen war nicht viel zu sehen, wenigstens nichts, was die Aufmerksamkeit der Arbeiter erregt hätte. Aber Peterlein bewunderte das steil abfallende braunrote Ziegeldach. Es wuchs so viel feines, samtenes Moos darauf, und er liebte alles Weiche. Die Mutter hatte ein Samtkleid, das drückte er oft verstohlen an die Wange.

Über das Dach ragte ein alter, klotziger Turm empor. Wie ein rundes, gutmütiges Gesicht schob sich die Hälfte seines Zifferblattes über den First empor. Und Peterlein nickte ihm zu. Er mochte ihn gerne leiden, den alten Turm mit dem breiten Gesicht, und er liebte auch die Zeiger, die so lustig Verstecken spielen konnten. Der eine, kleinere, glitzerte stundenlang oben in der Sonne, dann versank er, und Peterlein sah ihn des Abends nie. Der große lief viel schneller. Jetzt war er verschwunden, aber nachdem man ein Weilchen mit den Beinen geschaukelt, das Moos auf dem Dach in Gedanken gestreichelt, sich über die vielen, vielen Bücher gewundert und von der Möglichkeit, sie zu lesen, geträumt hatte, tauchte er auf der andern Seite auf und war so golden und blitzend wie zuvor.

„Was er nur denken mag, wenn er so zum Fenster hinausstarrt,“ dachte Peter Niemeyer sen. Er versuchte, in die eigene Kindheit hinabzusteigen. [40] Aber merkwürdig! es kam ihm keine Erinnerung, die ihm das Bild eines versonnenen kleinen Buben entgegengehalten hätte. Er sah sich immer in Bewegung, im Schulhof, auf der Straße, im elterlichen Hause … turnend, schreiend, raufend. War sein Junge am Ende kein echter Junge? – – An Kraft fehlte es ihm gewiß nicht. Er hatte breite Schultern, die den dunkeln Kopf stolz und aufrecht trugen, und daß er Beine hatte, die ihresgleichen suchten im Marschieren und Laufen, konnte Vater Niemeyer wieder und wieder beobachten.

Er nahm sich vor, den Jungen an den Sonntagen mehr mit sich ins Freie zu nehmen, womöglich mit andern Kindern zusammen.

Das Stillesitzen und Träumen verdroß ihn … aus dem einfachen Grund, weil es seiner Natur fremd und unverständlich war. Und er wollte den Jungen für sich heranwachsen sehen. Sein Kamerad, seine Stütze und Hilfe sollte er werden. Aber hatte er selbst nicht auch geträumt in jungen Tagen und sich eine heimliche Welt erbaut? O gewiß, aber es waren lauter klare Dinge gewesen, lebensfähige, starke Gedanken. Sein Junge aber war versunken in den Anblick eines alten Daches und beobachtete das Auf und Ab eines Zeigers. Dem mußte beizeiten ein Riegel vorgeschoben werden.

So kam es, daß am folgenden Sonntag die drei Niemeyer mit einer befreundeten, sehr kinderreichen Familie zusammen einen Ausflug machten. [41] Der nasenähnliche Vorsprung des nächstgelegenen Berges war zum Ziel ersehen worden. Die Gesellschaft setzte sich in fröhlicher Laune in Bewegung. Die Luft war klar, der Sonnenschein wärmend, ohne stechend zu sein. Peterlein sprang mit den andern Kindern um die Wette. Er schlug Purzelbäume wie ein gedienter Zirkusclown und ging aus einem Ringkampf, der mit viel Lachen und Gekreisch in Szene gesetzt wurde, als Sieger hervor. War das derselbe Junge, der verträumt in einem Winkel zu sitzen pflegte? Nein, das war ein echter, lebendiger Junge, wie er sein soll. Vater Niemeyer strahlte.

Dann fiel er mit einem Mal aus allen Himmeln. Der besiegte Nachbarjunge, der seinen Groll nicht verwinden konnte, drang plötzlich von hinten auf Peterlein ein und schlug ihn über den Kopf.

„Na, hoffentlich haut er ihm eine Tüchtige runter!“ dachte Vater Niemeyer ergrimmt. Aber Peterlein blieb stehen und schaute seinen Widersacher an. Grenzenloses Erstaunen malte sich in seinen Augen. „Du bist ja ein Feigling!“ sagte er mit seiner hellen Knabenstimme.

„Was bin ich!“ schrie der andere. Er versetzte Peter einen Stoß, der ihn zu Boden schleuderte; dann hielt er es für geraten, sich hinter seinen Vater zurückzuziehen.

Es wäre nicht nötig gewesen. Als Peterlein wieder aufrecht stand, ging er seines Wegs, ohne sich nur umzublicken.

[42] Peter Niemeyer ärgerte sich. Hatte der Junge kein Ehrgefühl im Leib? Mit ein paar raschen Schritten war er an seiner Seite. „Läßt du dir so etwas gefallen, Peter? Vorher hast du ihn ja auch untergekriegt. Warum hast du nicht mit ihm gerungen?“

„Weil er feig ist,“ sagte das Kind und hob seinen stolzen, freien Blick. Die Augen waren unverschleiert und glühend, und Vater Niemeyer wußte keine Entgegnung.

Oben auf dem Berggipfel lagerte man sich, und nachdem die Aussicht bewundert und die Namen der zerstreut liegenden Dörfer richtiggestellt waren, überließen sich die Erwachsenen der Ruhe.

Die Kinder drangen tiefer in den Wald hinein. Es ward still, nur hin und wieder klang ein vereinzelter heller Schrei, ein seliges Lachen herüber. Peter Niemeyer lag, die Beine weit ausgestreckt, und fühlte und trank den Zauber des Frühlingstages in tiefen Atemzügen.

Da schrak er jäh empor. Das Weinen eines Kindes, untermischt mit vielstimmigem Gelächter, war an sein Ohr gedrungen. Er richtete sich auf. Die Töne kamen näher und näher, und Frau Elisabeth horchte ängstlich auf. „Es ist unser Peterchen, der weint,“ flüsterte sie.

Da stürzte er auch schon auf sie zu, mitten in ihre ausgestreckten Arme. „Was hast du denn? Wer hat dir etwas zuleid getan?“ fragte sie wieder und wieder. Aber Peterlein konnte vor Schluchzen [43] nicht sprechen, und die andern Kinder mußten berichten. Das Peterlein sei ganz für sich gegangen, sie hätten ihn lange gesucht und endlich vor einem großen Stein gefunden. Den habe er immerzu betrachtet. Da sei eines von ihnen zum Spaß daraufgestanden, und nun habe das Peterlein angefangen zu weinen und sei davongelaufen und sie alle hinterdrein.

Vater Niemeyer war ernstlich böse. „Deswegen weint man doch nicht. Schäme dich, Peter!“

Frau Elisabeth fühlte Mitleid mit dem zuckenden Körperchen, das in ihrem Schoß lag. Er hatte sich zu ihr geflüchtet. Das tat wohl. Sie beugte sich ein wenig herab und flüsterte: „Sei nun wieder still, Peterlein! Sieh, die andern sind so vergnügt. Warum hat dich denn der dumme Stein so betrübt?“

Peterchen hob sein verweintes Gesicht. „Ach Mutter, es war ein kleiner Wald, eine wunderschöne kleine Welt darauf!“

„Wirklich!“ sagte Frau Elisabeth und vertilgte mit dem Taschentuch die Tränenspuren in ihres Sohnes Gesicht. Sie dachte dabei, was für ein absonderliches Kind sie doch habe, und es ward ihr unbehaglich bei dem Gedanken. Wie mochte das später werden? Nun zählte er erst acht Jahre und war ihr schon halb entglitten.

Ihr Blick ging unsicher und fragend zu ihrem Mann hinüber; aber Peter Niemeyer, der die Klage seines Jungen um die zertretene kleine Welt gehört, [44] lag still mit geschlossenen Augen und gerunzelter Stirne.


Der Sommer brachte für Peterlein etwas Wunderbares. Er durfte mit der Mutter in die Berge. Der Vater konnte nicht abkommen. Er brachte Frau und Kind zur Bahn und plauderte bis zuletzt lebhaft und fröhlich mit ihnen. Er hielt die Hand seiner Frau lange in der seinen und tätschelte seines Buben blasse Wangen.

„Nun geht nur tüchtig spazieren da oben und holt euch rote Backen! Und, Peterlein – – – fall' mir nur ja nicht in eine Gletscherspalte!“

„Wie ist es da?“

„O, schön! Aber wenn man hinunterpurzelt, merkt man davon nichts.“

„Bist du schon mal hinuntergepurzelt, Vater?“

„Bewahr' mich der Himmel! Junge, was denkst du nur! Aber an einer gestanden bin ich mehr als einmal!“

„Wie sieht das aus, Vater?“ drängte das Kind. „Ist es ein tiefes, schwarzes Loch?“

„Tief ist es, unendlich tief, aber nicht schwarz … Es glänzt so schönes Eis herauf. Ganz blankes, grünes Eis, Peterchen. Und unten rieselt und gluckst etwas – – ein Gletscherbächlein … aber es klingt oft eigentümlich – – wie – wie –“

„… wie wenn etwas weint,“ vollendete ein leises Stimmlein.

[45] „Warum meinst du das?“ fragte der große Peter lächelnd.

„Weil ich es einmal gehört habe, im Wald, weißt du, bei dem kleinen schwarzen See. Da muß das Bächlein hinein und deshalb weint es.“

„Na, hör' mal, Peterchen!“ begann Frau Elisabeth, aber ihr Mann legte eine beschwichtigende Hand auf ihren Arm.

Das konnte er verstehen. Das hatte der Junge von ihm. Es war ihm, als höre er wieder ein paar Takte aus seiner Zukunftsmusik … War er nicht auch als junger Bursche, wenn er durch Wald und Wiesen strich, stehen geblieben, um etwas von den Tönen zu erlauschen, die Wind und Bach und Tanne sangen? Ein Lied, ein funkelndes Lied der Freude, hatte ihm daraus geklungen. Und das Peterchen hörte ein Weinen … Also doch nicht ganz dasselbe, nein, nicht ganz.

Eine leise Unzufriedenheit wollte in Peter Niemeyer aufsteigen, aber er zwang sie nieder.

„Ich hörte kein Weinen, Peterchen. Ich wollte sagen, das Gletscherbächlein mache Musik. Ganz feine, silberne Töne hört man.“

„Ja … da singt jemand,“ nickte das Kind. Es saß und schlenkerte mit den Beinen und schaute aus weichen, verträumten Augen.

Peter Niemeyer stand auf und lachte. Die Zeit drängte. Er mußte eiligen Abschied nehmen. Dann setzten sich die Räder in Bewegung, und das Peterlein rollte davon, weit weg, dorthin, wo [46] das Bächlein unter schimmerndem Eis kleine Lieder singt.

Es gab auf der Reise sehr viel Erstaunliches zu sehen. Da waren die Telegraphendrähte. Lange Strecken liefen sie neben dem Zug her, oft nur in der Höhe des Fensters, aber das genügte ihnen nicht. Hinauf, hinauf! schienen sie zu schwirren. Und sie fingen an zu steigen – – rascher – rascher! Wohin! wohin? Da – – eine böse lange Stange stand in ihrem Weg und riß sie alle herunter – o so tief! Konnten sie nun nicht mehr fliegen? Nein, manchmal war es ganz aus damit. Sie sanken, sanken, und jede böse Stange machte sie tiefer sinken. Aber streckenweise ging es an tapfern Drähten vorbei. Die flogen jedesmal, wenn der dunkle Schatten sie heruntergezerrt hatte, aufs neue in die Höhe, immer wieder, immer wieder – – bis – – Ja, mit einem Mal waren sie ganz weg, und die Eisenbahn fuhr dicht an einem See vorbei, so dicht, daß man glauben konnte, die Räder liefen im Wasser. Es schimmerten blanke Steine und weiches, bewegliches Gras, und da – ja, da war ein Fisch, ein wirklicher, lebendiger Fisch, der blitzschnell zwischen den Steinen durchfuhr.

Dann mußte man durch einen dunkeln Tunnel fahren. Das war nicht hübsch. Aber nachher …

Das Peterlein saß ganz still, aber es öffnete die Augen weit und trank die Schönheit, die sich vor ihm aufgetan.

[47] Und der Glanz der sonnbeschienenen weißen Berge, die geheimnisdunkle Pracht der Wälder, der Duft und die Freude, die von den blumigen Matten aufstiegen, sanken durch die dürstenden Augen tief auf den Grund seiner stillen, wartenden Seele.


Peterlein fühlte sich schon nach wenigen Tagen in dem kleinen Bergnest so heimisch, als habe er immer in dem braunen Häuschen gewohnt. Wie war es so klein, so klein! Wenn sich Peter auf einen Stuhl stellte, so konnte er mit der Hand die Decke berühren, und wenn er Eile hatte, ins Freie zu kommen, sprang er durchs Fenster. Es war alles neu und furchtbar interessant, z. B. die vielen Menschen, die mit ihm und Mutter zusammen an einem Tisch aßen. Er kannte die wenigsten, denn gleich nach Tisch zerstreuten sie sich wieder in ihre Behausungen. Da der Gasthof selbst nur wenige Gäste beherbergen konnte, waren die meisten in den nächstgelegenen Häuschen untergebracht.

Peterlein war immer unter den ersten, die dem Ruf der Tischglocke Folge leisteten. Dann stand er am Fenster und beobachtete die Gäste, die sich von allen Seiten paar- und gruppenweise dem Gasthof näherten. Bei Regenwetter war es besonders hübsch. Da konnte man glauben, eine Schar Pilze wandere langsam und bedächtig auf den schmalen Weglein.

Frau Elisabeth fühlte sich fremd und eingeschüchtert. Daran war in erster Linie ihr Tischnachbar [48] schuld. Es war ein alter Sanskritgelehrter, der erst vor kurzem aus Indien zurückgekehrt war und noch immer in seligen Erinnerungen schwelgte. Beinahe täglich unterhielt er Frau Elisabeth mit Schilderungen alter Tempel, deren Existenz er als bekannt voraussetzte. Völlig zur Verzweiflung aber brachte er sie, als er ihr eines Mittags mit feurigen Worten die vom Mondlicht übergossene Tadsch Mahal schilderte. Frau Elisabeth lauschte mit krampfhaft festgehaltenem liebenswürdigem Lächeln, während sie innerlich stöhnte: „Mein Gott, wenn ich nur wüßte, von was er spricht.“

Sie ließ die Worte halb betäubt über sich ergehen und empfahl sich so schnell es irgend anging. Ach, warum hatte sie nicht darauf gehört, wenn ihr Mann ihr dies und jenes vorlesen wollte oder zum Selbstlesen anpries! Zwar, von Indien hatte er ihr nie gesprochen, daran glaubte sie sich mit Bestimmtheit zu erinnern. Aber – eine andere Sache hatte ihm immer so am Herzen gelegen. Beinahe jeden Regensonntag hatte er sie aufgefordert, die Gemälde im Museum anzusehen. „Denn, wirklich, Betty, es ist eine Schande, wenn ein Kind unserer Stadt nicht die Bilder ihrer zwei weltberühmten Maler kennt. Andere beneiden uns um den Besitz und kommen weit her, ihn zu sehen. Du kannst dich nicht einmal zu den paar Schritten entschließen. Warst du überhaupt schon dort?“

Wie gut erinnerte sie sich ihrer Antwort! „Na ja, als junges Mädchen war ich mal dort. Es hat [49] mir aber gar nicht so besonders gefallen. Da waren so merkwürdige Wesen … Frauen mit Fischschwänzen und Männer, halb Mensch, halb Pferd. – – Ach, und so ein schreckliches Bild war da. Es soll Christus vorstellen. Davon hat es mir nachts geträumt. – – Und die Frau mit den Kindern – das soll doch so ein schönes Bild sein – gefiel mir auch nicht. Der Junge ist wohl ganz nett, aber die Frau hat trübe Augen, und das Kleine sieht drein, als ob es Schnupfen hätte.“

Ja, das hatte sie geantwortet, und darauf waren Peter sen. und jun. allein ins Museum gegangen. Sie hatte nachher das Kind über die Bilder befragt, aber es hatte nicht viel zu antworten gewußt. Ein Kindchen habe er gesehen, so eines, wie sie im Wasser wohnen. Das habe ein Fischlein fangen wollen, da sei es ausgerutscht, und „nun macht es so, sieh, Mutter, so!“

Peterlein hatte ein weinerliches Gesicht geschnitten, dann hatte er plötzlich ein Tuch ergriffen, es eng um die Schultern gezogen und mit abgewandtem Gesicht gesagt: „Sieh, Mutter, so steht der Mann und wartet und wartet. Warum wartet er, Mutter? Da ist ein großes Wasser und vorne ist eine Frau, eine ganz arme, Mutter. Sie hat keine Kleider, nur ein ganz dünnes Tuch. Das glitzert sehr schön. Und sie wartet auch. Warum, Mutter? Vielleicht, daß sich der Mann mal umwenden soll? Ich glaube, sie will ihm etwas vorspielen. [50] Aber warum wartet der Mann und schaut immer auf das Wasser?“

„Vielleicht auf ein Schiff, um nach Hause zu fahren.“

„Ist er da nicht zu Hause? O, du weißt's nicht gewiß, Mutter?… Ich glaube doch, aber er möchte mal weg, um zu sehen, was über dem großen Wasser ist. Ja, deshalb wartet er auf das Schiff.“

Hatte der Professor nicht zum Schluß von diesem Bild gesprochen? Gewiß! Wenn sie nicht aufgestanden wäre, hätte er sie darüber ausgefragt. „… denn gnädige Frau müssen es natürlich aufs genaueste kennen.“ Ach, wie konnte sie nur diesem schrecklichen alten Herrn entrinnen!

Frau Elisabeth war während dieser Gedanken einen Waldweg gegangen, der zu einer einsamen kleinen Höhe führte. Peterlein lief singend hintendrein. Er erreichte die Mutter erst, als sie sich auf eine der leerstehenden Ruhebänke niedergelassen hatte. Er lehnte sich an sie, und sie schlang den Arm um ihn und fühlte unter ihrer Hand das vom Springen erregte Herzchen pochen.

„Mein Peterchen,“ flüsterte sie, und drückte die Lippen in sein Haar.

Er schob sich enger an sie heran. Da ließ eine Elster in der Nähe ihr häßliches Krächzen hören, und Peterlein riß sich los.

„Sieh, Mutter, dort sitzt er! O, wie schön schwarz und weiß … Mutter, wie heißt der Vogel?“

[51] „Na, wie heißt er denn!“ Frau Elisabeth sagte es ein wenig ungeduldig. Was brauchte Peter so laut zu schreien! Nun hatte die Frau auf der andern Bank gewiß die Frage gehört und wartete mit dem Jungen zusammen auf eine Antwort … Und sie wußte ja den Namen des dummen Vogels nicht! Was sollte sie nur machen?

Ihr war, über das Gesicht der fremden Dame gleite ein feines Lächeln.

„Peterchen!“ rief Frau Elisabeth, „komm mal flink her!“

Als das Kind näher trat, flüsterte sie hastig: „Es fällt mir jetzt gerade nicht ein. Wahrscheinlich ist's so etwas wie ein Rabe.“

„Aber Raben sind doch ganz schwarz, Mutter!“

Peterchen stand vor ihr, die Hände auf dem Rücken, und betrachtete sie vorwurfsvoll. Plötzlich sagte er: „Hast du den Namen wirklich mal gewußt? Oder, oder … weißt du, Mutter, heute – – am Essen – – das hast du auch nicht gewußt … weißt du, das weiße Haus, von dem der alte Mann erzählte. Da hast du bloß so getan – –“

Frau Elisabeth saß da, über und über errötend. Einen Augenblick war ihr, die ganze Bergkette senke sich, als wolle sie ihr eine spöttische Verbeugung machen. Die Fremde mußte jedes Wort gehört haben. Peterleins Stimme war so durchdringend hell, und die halb vorwurfsvoll, halb trotzig gesprochenen Worte hatten sehr deutlich geklungen.

[52] Frau Elisabeth neigte sich ein wenig vor und sagte ärgerlich: „Du bist ein ungezogenes Kind, Peter! So spricht man nicht zu seiner Mutter. Ich habe nie zu meinen Eltern gesagt, sie machen dies oder jenes nicht recht.“

„Ja – aber … Eltern sind doch auch manchmal unartig, Mutter. Nicht?“

Frau Elisabeth starrte ihren kleinen Sohn an. Er erwiderte ihren Blick, nicht trotzig, nur harmlos erstaunt.

Was sollte sie nur antworten?

Da – mitten in das Schweigen hinein – klang ein Lachen, ein herzliches, befreiendes Lachen. Die fremde Dame war aufgestanden und näherte sich den beiden.

„Du hast ganz recht, mein Junge! Wir Großen alle sind auch manchmal unartig. Aber – – das kannst du mir glauben – wir strengen uns tüchtig an, es nicht zu sein … Darf ich?“

Die letzten Worte galten Frau Elisabeth, die bereitwillig zur Seite rückte. Die Fremde setzte sich.

„Wie heißt du denn, kleiner Mann?“ wandte sie sich an Peter, und dann begann sie mit ihm zu plaudern.

„Weißt du, Mutter,“ meinte Peter später, „sie fragte so hübsche Sachen. Nicht: wie alt bist du, und in welche Klasse gehst du, und hast du schon viele Tatzen gekriegt.“

„Ja, was fragte sie denn?“

„O, Mutter, hast du es nicht gehört? Du saßest doch dabei. Sie fragte, ob ich die kleine Eidechse [53] mal gesehen, die unten am Mäuerchen wohnt. Und – Mutter, wir sprachen von den Wolken, und sie findet sie gar nicht langweilig wie du. Sie hat gestern abend den großen Bären auch gesehen. Hast du denn gar nicht zugehört?“

Nein, das hatte Frau Elisabeth nicht getan. Sie hatte eigentlich nur die Fremde beobachtet, das ruhige Gesicht, dessen nahezu grobe Züge durch einen unendlich gütigen, innerlich frohen Ausdruck verschönt wurden.

Ein Gesicht, das keine Maske trug.

Ein Gesicht, das jeden zu grüßen schien.

Wenn man dies Gesicht ansah, wußte man, diese Frau denkt immer in erster Linie: wie kann ich dir helfen?… wie kann ich dir wohl tun?

Und deshalb war sie auch herübergekommen und hatte Peters Frage beantwortet, die ihr so ungeheuerlich erschienen.

Warum hatte sie nicht diese einfachen Worte gefunden? Warum?

Ach, sie war so bestürzt gewesen, so bestürzt. Sie hatte geglaubt, in Peterleins Augen stehe sie fleckenlos da, und sie hatte auch geglaubt, das müsse so sein. Wenn die Kinder an den Eltern Fehler entdeckten – mußte da nicht jeder Respekt verschwinden? – – Freilich, die Fehler waren da. Die ließen sich nicht wegleugnen, nicht wegbefehlen. War es da nicht klüger, die Worte der fremden Frau nachzusprechen?… „Nicht nur klüger, auch tapferer und ehrlicher,“ flüsterte eine heimliche [54] Stimme in Frau Elisabeths Herzen. Sie mußte plötzlich an ihren Vater denken. Der war ein aufrechter Mann gewesen. Hart und streng manchmal, aber doch in erster Linie gegen sich selbst. Da gab es kein Bemänteln einer Schuld. Er war ein hitziger Mann gewesen und konnte in der Aufregung manches Wort sagen, das ihn nachher in der Seele brannte. Dann leistete er Abbitte, auch wenn es sich nur um ein Kind oder den jüngsten Lehrbuben handelte. Und hatte er dadurch an Achtung verloren? Nein, nein … Frau Elisabeth wußte plötzlich, daß ihr der Vater nie größer erschienen war, als in einem solchen Augenblick.

Sie wußte noch etwas. Sie wußte, daß er, heute bei Tisch, nicht mit ihr zufrieden gewesen wäre. Warum hatte sie dem Professor nicht einfach gesagt, sie wisse nichts von diesem – diesem Ding?

Es fiel ihr ein Wort ihres Vaters ein, das ihr das Blut in die Wangen trieb. „Kinder, gesteht doch ruhig ein, daß ihr etwas nicht wißt! Das ist keine Schande. Und wenn's auch eine wäre, denn es kommt ja vor, daß man etwas wissen sollte – na, da muß man eben die kleine Beschämung tragen. Nur kein feiges Sichverstellen!“

Die einsame Höhe war ein zauberkräftiger Fleck Erde. Noch nie hatte Frau Elisabeth so tief Einkehr bei sich gehalten wie an diesem Nachmittag. Das bekam auch Peter zu spüren. Er ging auf dem Nachhauseweg zwischen den beiden Frauen und merkte [55] auf ihr Reden, und seine feinen Ohren hörten mehr als Frau Elisabeth ahnte.

Am Abend, als er in dem großen Bett lag, setzte sich die Mutter neben ihn und schaute schweigend durchs Fenster. Der Junge betrachtete sie mit erwartungsvollen Augen. Was war mit Mutter?

„Peterchen,“ sagte sie leise und ein wenig stockend, „es ist wahr, ich habe den Herrn Professor heute nicht verstanden. Es war dumm, daß ich das nicht sagte. Und den Vogelnamen weiß ich schon lange nicht mehr. Vielleicht habe ich ihn einmal in der Schule gelernt … Und es ist auch wahr, was die freundliche Dame heute sagte, daß – daß wir Großen auch unsre Fehler haben. Aber sieh, Peterchen, bei manchen merkt man doch kaum etwas davon. Denk an Vater, Peter! Der ist doch immer so gut und lieb zu dir, und nun hat er uns hier heraufgeschickt, wo wir's so schön haben, während er immer arbeiten muß … Und Vater weiß so viel, alle sagen, wie klug er sei –“

Weiter konnte Frau Elisabeth nicht sprechen. Das Kind hing plötzlich an ihrem Hals und küßte sie, küßte sie … o, diese durstigen Lippen! – Und dann brach es in ein so leidenschaftliches Schluchzen aus, daß die Mutter sich keinen Rat wußte.

„Kind, Kind, was ist dir nur!“ flüsterte sie halb erschrocken, halb beseligt.

Noch nie hatten sie seine Arme so fest umklammert, noch nie die heißen kleinen Hände nach ihr gegriffen, als griffen sie tief, tief in ihr Herz.

[56] „Ich hab' dich lieb, Mutter! Ich hab' dich lieb!“ schluchzte das Peterlein. „Du gehörst mir, Mutter, sag, daß du mir gehörst!“

„Aber gewiß, Kind, gewiß! So – so … Nun will ich dir ein bißchen singen, und dann schläft mein Peterchen schön ein.“

Sie legte ihn zurecht und trocknete sein Gesicht. Dann hielt sie seine Hand und sang und sah, wie die wilden Augen sanft und ruhig wurden und sich müde schlossen.


Von diesem Tage an fühlte sich Frau Elisabeth weniger unbehaglich. Irgend etwas sagte ihr, daß diese Fremde ein innerlich reicher Mensch sei, und daß sie es verstehe, ihren Reichtum weiterzugeben.

Und sie, die Fremde, hatte feine Ohren. Sie hörte aus all dem oft so nichtigen und eitlen Wortschwall etwas heraus, das ihr des Hörens und Antwortens wert schien. So ging sie manche Stunde, die sie lieber in der Stille verlebt hätte, mit Frau Elisabeth und dem kleinen Jungen spazieren. Daß das Kind dabei war, erleichterte ihr das Opfer.

Sie hatte, ehe sie in das einsame Bergdorf gekommen, in einem großen Wirkungskreis gestanden. Tagtäglich waren Bilder des Elends, der Sünde vor ihr Auge getreten; flehende und drohende, verzweifelte und fordernde Hände hatten nach ihr gegriffen. Und ihr großes, reiches Herz hatte all [57] das Elend mit inbrünstigem Erbarmen umschlossen. Dann plötzlich war sie zusammengebrochen. Es war kaum zu glauben gewesen. Jedermann in ihrer Umgebung hatte sich gegen die Erkenntnis gesträubt, und sie selbst hatte hart mit dem müden Herzen gekämpft. Bis sie wußte: ich muß fliehen, aus allem heraus, sonst kann ich das Leben nicht mehr ertragen. Sie war in die Berge gereist mit dem festen Vorsatz, in ein Mausloch zu kriechen und sich daraus durch niemand und nichts vertreiben zu lassen. Aber an jenem Nachmittag, als Peters helle Stimme zu ihr gedrungen, hatte sie antworten müssen. Es war nicht anders gegangen.

Das Kind erschloß sich ihr täglich mehr, und sie empfand seine stürmische Liebe als köstliches Geschenk. Die ihre äußerte sich selten in Worten oder Gebärden. Ihr war, Frau Elisabeth könnte dies nicht wohl ertragen.

Aber sie liebte den Jungen, mit fast schmerzlicher Innigkeit … so, wie man etwas Feines und Holdseliges liebt, das man in täppischen Händen weiß. Sie schaute in des Kindes Seelengarten und sah, wie es drin üppig blühte und wucherte, und sie wußte, daß hier eines verständigen Gärtners Hand walten sollte … „Armer, kleiner Peter!“ dachte sie, wenn in diese Gedanken hinein Frau Elisabeths Worte drangen.


Frau Elisabeth und die Fremde reisten an demselben Tage ab. Beide waren froh, in den alten [58] Wirkungs- und Pflichtenkreis zu kommen. Auch Peter freute sich nach Kinderart der Veränderung. Er freute sich besonders darauf, dem Vater die schönen Steine zu zeigen, die er auf allen Wegen gesammelt. Aber als er von der „Tante“ Abschied nehmen sollte, riß er die Augen weit auf und starrte der Davongehenden nach.

Sie wandte sich nach einigen Schritten, ein letztes fröhliches Wort auf den Lippen … Und konnte es nicht aussprechen. Sie wußte, nie würde sie diese entsetzten Augen vergessen können.

Das aber ahnte sie nicht, daß ihr Bild durch lange Monate hindurch wie ein köstlicher Schatz in Peterleins Herzen gehütet wurde. – –

Der Vater freute sich an den mitgebrachten Steinen, bis er eines Tages entdeckte, daß Peterlein wieder seine „sonderbaren Sachen“ damit treibe. An einem Fleck im Garten hatte er sie alle zusammengetragen. Fein säuberlich eingewickelt war jeder, in buntes Papier oder in Stoff-Fetzen, und nun wurden sie auf Moos gebettet oder in kleine Gruben gesteckt.

Peterlein war so versunken in sein Spiel, das er mit einem glückseligen, zärtlichen Gemurmel begleitete, daß er des Vaters Schritte nicht hörte. Erst als die barsche Frage: „Was treibst du da?“ an sein Ohr drang, fuhr er empor. Er verstand nicht, warum der Vater so streng aussah, aber es schüchterte ihn ein, und er sagte ängstlich: „Es sind so liebe Steine … ich mache ihnen allen Bettchen.“

[59] „Ach, dummes Zeug! Das tut man doch nicht mit Steinen. Jetzt wirfst du auf der Stelle den ganzen Plunder weg. Dort – – auf den Kehrichthaufen hinunter.“

All die lieben Steine wegwerfen?… Der kleine Peter betrachtete den großen fragend, immer noch halb verträumt. Dann kam der Befehl zum zweitenmal, und er begriff.

Dunkelrot färbte sich sein Gesicht, schwarz und drohend blitzten die Augen, aber er bückte sich und sammelte die Steine in seine Schürze. Dann ging er zum Zaun hinüber und warf die Steine auf den Kehrichthaufen, einzeln, langsam, als wolle er die Qual möglichst lange auskosten. Einmal hielt er inne. Einer der Steine war auf ein Stück Eisen gefallen und zerbrochen. Da hatten Peterleins scharfe Augen an der glatten Bruchfläche etwas zu entdecken geglaubt. Aber er machte keine Bemerkung darüber. Er warf die Steine hinunter, einen nach dem andern, und schielte zu Zeiten nach dem Vater hinüber, der ihm ruhig zusah.

„So … nun kannst du mit mir in die Werkstatt kommen. Du darfst zusehen, und vielleicht darfst du auch etwas helfen.“

Peter Niemeyers Stimme klang jetzt freundlich. Du lieber Himmel! Er war ja kein Wüterich, kein Spielverderber. Er wollte den Jungen gern froh wissen, aber auf eine vernünftige Weise. Für derartige Dinge war er nun einfach zu groß.

[60] Peterlein machte auch zu den freundlichen Worten keine Bemerkung. Er hielt die Augen eigensinnig gesenkt und benützte die erste Gelegenheit, aus der Werkstatt zu entschwinden. Eilig lief er in den Garten zurück, kletterte über den Zaun und war mit einem Satz auf dem Kehrichthaufen. Wo war nur der zersprungene Stein? Da – Peterlein bückte sich und unterdrückte einen Jubelruf. „Ein Schmetterling! Ein ganz schöner Schmetterling!“ murmelte er staunend und fuhr mit dem Finger den feinen Linien der Versteinerung nach. „O, das soll er nicht sehen, der Böse!“

Er kletterte mit seinem Schatz vorsichtig wieder hinauf, lief durch den Garten und ins Haus. Dort ging er lange Zeit ruhelos umher. Kein Versteck wollte ihm gut genug erscheinen für seinen herrlichen Stein.

Endlich geriet er auf den Einfall, ihn in sein Kopfkissen zu schieben. Frau Elisabeth entdeckte natürlich den verborgenen Schatz, als sie Peterleins Kissen zurechtschüttelte. Da lernte sie denn die ganze Geschichte kennen, und Peterlein verfiel in trotzige Anklagen gegen den „bösen“ Vater, der ihm seine Steine genommen.

Die Mutter schalt. „Was fällt dir ein, so von deinem Vater zu sprechen, du unartiger Bub! Die großen Leute wissen viel besser, was für die kleinen paßt, als diese selbst. Weißt du noch, gestern? Da hat Vater dir verboten, mit dem Messer zu spielen, und wie du's doch getan, hast du dich geschnitten. Na, nun siehst du's. [61]

Peterlein saß aufrecht im Bett und dachte nach. Dann meinte er langsam: „Aber, Mutter, das ist doch nicht dasselbe. Mit dem Messer – – ja, da hat der Vater gewußt, daß es nicht paßt … und – und ich bin unartig gewesen … Aber warum passen die Steine nicht, Mutter? Da kann man sich doch nicht schneiden … Es waren so liebe Steinchen, Mutter, und ich hatte ihnen so schöne Bettchen gemacht.“

„Nun höre mal auf mit den dummen Steinen und geh' schlafen!“

Frau Elisabeth war gereizt. Im Grund war ihr ja die Handlungsweise ihres Mannes auch unverständlich. Warum ließ er denn dem Kind die Freude nicht? Aber ihn darüber befragen – – nein, das wagte sie nicht. Und der Junge sollte nur auch beizeiten lernen, das Fragen zu unterdrücken und sich seinem Vater anzupassen.

Sie ging ohne Gutenachtkuß, und Peterlein rief sie nicht zurück. Er saß noch immer in seinem Bettchen und rang mit seltsamen Gedanken. War das nicht alles schon oft so geschehen?… Was denn?… Das mit den Steinen? – – Das war ja unmöglich. Nein, aber das, das so weh tat, so furchtbar weh … das – – ja, nun wußte er's … Die Mutter liebte ihren kleinen Peter lange nicht so, lange nicht so – wie sie den Vater liebte.

Peterlein ließ den Kopf schwer ins Kissen fallen. Den Stein gegen die Wange gedrückt, starrte er [62] in das dämmrige Zimmer. Er hätte gerne geweint, um den Druck im Hals los zu werden. Aber wenn man ihn gehört hätte?

Seine Gedanken gingen auf die Suche nach etwas Tröstlichem, und da fanden sie den Stein. Der wunderschöne Schmetterling … Wer hatte ihn da hineingezeichnet?… Natürlich der liebe Gott. Der hatte ja alles gemacht, die Berge und das Moos und die Bäume und die Steine. Aber daß er so geschickt wäre und auch noch innen in die Steine etwas zeichnen könnte – nein, das hätte Peterlein nie gedacht. Aber nun wußte er auch, was er werden wollte. Wenn er groß war, wollte er weit fort wandern, immer weiter, und schöne Steine finden und schöne Vögel und schöne Blumen …

Als Frau Elisabeth nach Peterlein sah, schlief er. Sie versuchte, den Stein aus seiner Hand zu lösen. Aber es gelang nicht. Die kleinen Finger hielten ihn krampfhaft umschlossen.


Es kam in den nächsten Jahren wieder und wieder vor, daß Peter des Älteren und Peter des Jüngeren Anschauungen im Widerspruch standen. Der Junge kramte zu Hause allerlei Schulweisheit aus, über die sich der Vater lustig machte. Er tat es besonders dann, wenn ihm schien, sein Sohn stürze sich wieder in der alten ungesunden Weise auf eine Sache, auf die er selbst nicht viel hielt. Es [63] reizte ihn, daß der Junge hartnäckig an seinen Gedanken festhielt, und so kam es zu häßlichen Auftritten, die meist damit endeten, daß der Ältere dem Jüngeren ein paar sausende Hiebe versetzte.

Diese Auftritte drückten auf das feine Gemüt des Knaben. Nicht allein der Schläge wegen, obwohl er sie als Erniedrigung empfand, nein, schwerer war ihm, das wutentbrannte Gesicht seines Vaters sehen, die ungerechten, oft grausamen Worte hören zu müssen.

Die Mutter griff in diese Kämpfe meist nur mit einem beschwörenden „Peter, sei doch still!“ ein, das dem Jüngeren galt. Nachher pflegte sie ihn mit Vorwürfen zu überschütten und verteidigte des Vaters Auftreten mit Worten, deren Unlogik Peter reizte und zu spöttischen Antworten trieb. Er wußte, daß eine maßlose Heftigkeit, durch gekränkte Eitelkeit hervorgerufen, nun und nimmer „heiliger Vaterzorn“ genannt werden kann. Daß die Mutter es dennoch tat und oft, wie der Junge fühlte, gegen ihr besseres Wissen, erfüllte ihn mit Trotz und machte ihn blind gegen das eigene Unrecht, das ihm nur als erlaubte und gerechtfertigte Notwehr erschien.

Es war seltsam, so sehr Frau Elisabeth unter diesen Verhältnissen litt, sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie sie ihrem Mann näher gebracht hatten. Als er merkte, daß sein Sohn ihm mit den Jahren fremder ward und es ihm nicht gelingen wollte, ihn gleichsam an seine Seite zu befehlen, [64] wandte er sich in seiner Enttäuschung ihr zu, bei der er stets Zustimmung und Bewunderung gefunden und die ihn jetzt aus einem verstehenden Mitleid heraus doppelt warm umfing.

Der junge Peter sah es mit Staunen, und er war geneigt, in seinen Gedanken von dieser Liebe verächtlich zu denken.

Nach einem Auftritt gingen sich Vater und Sohn tagelang aus dem Weg, kaum, daß bei den Mahlzeiten einige knappe Worte gewechselt wurden, bis sich die Bitterkeit allmählich verlor und man zur Tagesordnung überging. Nie kam es zu einer herzlichen Aussprache, denn jeder hielt zäh an seinen Rechtsvorstellungen fest und erwartete vom andern den ersten Schritt.

Und bei all dem lebte in Peter eine starke Sehnsucht nach einer friedevollen, stillen Umgebung, nach Menschen, die seine Sprache redeten und verstünden. Er wußte, daß er anders war als Vater und Mutter, aber er sah darin nicht das Trennende. Warum sollen sich die Menschen nicht mit hellen Stimmen rufen, mit frohen Blicken grüßen können, auch wenn sie auf getrennten Wegen wandern?… Es muß sie nur ein jeder mit warmen Gedanken an den Nachbar gehen.

In der Schule war Peter ein Durchschnittsschüler. Nur im Aufsatz zeichnete er sich aus, d. h. wenn das Thema ihn fesselte. Der Lehrer hatte die Gewohnheit, die Besprechung mit ein paar kurzen Sätzen abzutun, um der Phantasie der Kinder [65] möglichst weiten Spielraum zu lassen. Auf diese Weise heimste er manche dürftige Leistung, aber auch manches warm und lebensvoll Geschaute ein. Er behandelte mit Vorliebe Zeiten und Menschen vergangener Jahrhunderte, und auf diesen Wegen folgte ihm Peter gerne. Zerfallene Burgen, zerstörte Klöster, Städte, deren einst stolze Namen verklungen sind … in Peters Gedanken erstanden sie im alten Glanz. Scharfäugig trotzen die Burgen auf verwegener Höhe, üppig und ehrfurchtgebietend liegen die Klöster in waldigen Tälern, und in den alten Städten flutet Leben. Da sind Häuser, die mit schön gemeißelten Erkern und kunstvoll gearbeiteten Türen prunken. Wer ging da hinein und trug Lachen und Sonne in die dämmerigen Stuben?… Und wer saß am Brunnenrand, während das Mondlicht in silbernen Tropfen über die Dächer rieselte, und hatte eine Laute im Arm und sang, so schön, so schön … Überall öffneten sich die Fenster, und da und dort gab eine Türe eine lauschende Gestalt frei … Und wer fuhr in einem Nachen den Strom hinab, in einem Nachen, der ganz mit Rosen bekränzt war?… Immer neue Gesichter drängen heran, edle und abstoßende, geistvolle und leere, angstvolle und harte … Was wollen sie von dem kleinen Peter? Er kann sich der Schatten kaum erwehren. Ihm ist, ein jeder bitte ihn: gib mir Leben, gib mir warmes, rotes Blut! Laß mich noch einmal schluchzen und lachen, noch einmal Qual und Freude trinken …

[66] „Niemeyer, Sie haben ja über das alte St. Gallen die reinste Novelle geschrieben,“ sagte Lehrer Röder, als er Peter sein Heft zurückgab. „Ist das wirklich alles in Ihrem Kopf gewachsen?“

„Ja!“ antwortete Peter und machte ein schuldbewußtes Gesicht.

Es war ihm seltsam ergangen, als er sich an das Schreiben des Aufsatzes gemacht. Die Tage, die er vor kurzer Zeit in St. Gallen verlebt, waren in ihm aufgestanden, mit zwingenden und drängenden Bildern. Er schritt wieder durch die Bibliothek und neigte sich über die Kästen, die die alten Evangelienbücher bergen. Wunderbar zarte, haarscharfe Schriftzüge, Blätter und Blumengewinde, die die heiligen Worte umrahmen, dazwischen Maria mit dem Kind … Wessen Hände haben dies alles erschaffen in langen, einsamen Stunden?… Und wer hat das dorngekrönte Haupt gezeichnet, das in einen schlichten Rahmen gefaßt in einer Ecke hängt? Auf den ersten Blick scheint es eine einfache Federzeichnung zu sein, aber dann entdeckt man, daß die Dornenkrone, daß Haupt- und Barthaar aus winzig kleinen Buchstaben bestehen, die sich für scharfe Augen zu einzelnen Worten formen, und man findet die kleine Schrift, die besagt, daß „in diesen figurs haaren ist die gantze Passion Vnsers Herrn Jesu Christi geschrieben“.

Draußen sinkt der Abend, und die Dämmerung füllt die alte Bibliothek. Das ist die Stunde der Schatten. Sie kriechen aus den Ecken und nehmen [67] langsam Gestalt an. Sie gehen wieder mit lautlosen Schritten durch den hohen Raum. Sie neigen sich über Tische und sind mit Federkiel und Pinsel beschäftigt. Und da ist einer, unter dessen Kutte ein heißes Herz schlägt, ein Herz, das zu Gottes und der Heiligen Ehre ein Werk ersinnen möchte, drin er all seine Liebe und Inbrunst bergen könnte. Er kann ihr nicht Gestalt geben, wie der und jener Bruder, in glühenden Farben oder in jubelnden Tönen … Da nimmt er ein Blatt Papier und zeichnet in zarten Linien das heilige Haupt, und danach schreibt er die ganze leidvolle Geschichte des Menschensohns in die Dornenkrone, in Haupt- und Barthaar des Antlitzes. Es geschieht „von freyer hand mit bloser feder und dinten“, und die Augen werden müde und brennend dabei … Ach, was bedeutet der Schmerz gegenüber der brennenden Sehnsucht seines Herzens!

Die Schatten umringen Peter. Aber er muß sich aus ihrer Mitte lösen, wenn er nicht mit ihnen eingeschlossen sein will, und dann steht er verstört und fremd im Straßengewühl und starrt in modern erleuchtete Fensterläden. –

Alle diese Bilder waren beim Schreiben des Aufsatzes in Peter aufgestiegen und hatten die gewünschte Beschreibung der ersten Jahre des Klosters verdrängt. Mit beklommenem Gewissen hatte er sein Heft abgegeben. War er diesmal nicht zu sehr abgewichen vom vorgeschriebenen Pfad?

[68] Aber als der Lehrer die Bemerkung über die Novelle machte, ruhte sein Blick nicht ungütig auf Peter. Er winkte ihn am Schluß der Stunde zu sich her und sagte: „Das Thema haben Sie ja gänzlich außer acht gelassen, Niemeyer. Aber – im übrigen gefällt mir die Sache … Lesen Sie viel?“

Peter bejahte und sah wieder schuldbewußt drein. Er mußte daran denken, wie oft die Schulaufgaben einer spannenden Geschichte wegen zu kurz gekommen waren.

„Na, was lesen Sie denn? Haben Sie einen Lieblingsschriftsteller?“

„Ja, zwei. Conrad Ferdinand Meyer und Karl May.“

Herr Röder sah einen Augenblick verdutzt drein, dann brach er in ein frohes Lachen aus.

„Niemeyer, das haben Sie gut gemacht. Den Conrad Ferdinand und Karl May! Aber nun sagen Sie einmal ehrlich: Was fesselt Sie an diesen verlogenen Indianergeschichten?“

Peter dachte nach und erwiderte zögernd: „Ich glaube das, daß die Kerle so tapfer sind, und daß sie so viel Neues entdecken … Das möchte ich auch einmal – – reisen – weit weg, in Länder, in denen noch nie jemand gewesen ist …“

„Da müssen Sie sich aber sputen, Niemeyer, die Erde ist nahezu entdeckt! Übrigens, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Kommen Sie bei mir vorbei und sehen Sie sich einmal Sven Hedins Bücher an. Da finden Sie Tapferkeit und finden Neuland, und [69] ich denke, darüber wird Ihnen der Geschmack an Karl May vergehen. Die Liebe zum Conrad Ferdinand dürfen Sie behalten.“

Als Peter den ersten Band von „Transhimalaya“ nach Hause trug, begegnete ihm sein Vater im Hausflur. Es war eine wohlige Unruhe in dem Jungen. Er ahnte, daß er etwas Köstliches in Händen halte, und, wie immer, wenn ihn etwas Frohes bewegte, drängte es ihn zur Aussprache.

„Vater, ich habe ein feines Buch! Herr Röder hat es mir geliehen … Kennst du es? ‚Transhimalaya‘ von Sven Hedin.“

„Den Titel kenne ich.“

„Willst du es auch lesen, Vater? Es muß sehr fein sein. Herr Röder ist ganz begeistert. Ich kann es ja vielleicht am Abend vorlesen?“

„Ach, laß nur! Das wird für Mutter nicht sehr unterhaltend sein, und ich weiß auch nicht, ob es mich sehr interessieren würde. Freue dich nur allein daran – das verstehst du ja ausgezeichnet.“

Der junge Peter kniff die Lippen zusammen und ging nach seinem Zimmer.

Der alte Peter aber blieb stehen und hatte plötzlich eine Vision des kleinen Peterleins, wie es ihm am ersten Schultag eine Geschichte erzählte. Hatte er ihn damals abgewiesen? Hatte er sich nicht gefreut an des Kindes Freude? Warum heute nicht? War ihm denn sein Kind, sein eigen Kind, nicht mehr lieb? Was bedeutete dieser feindselige Geist, der ihn zu zwingen schien, des Jungen Freude auszulöschen?

[70] Die Fragen und Beschuldigungen jagten sich in Peter Niemeyers Hirn. Es geschah nicht oft, daß er ihnen Gehör gab. In diesem Augenblick aber war ihm, eine harte Stimme rede auf ihn ein … Für dich haben wolltest du ihn, für dich allein. Und zwar ohne Anstrengung, ohne Opfer und Hingabe deinerseits. Dem kleinen Peter, ja, dem schenktest du Gehör. Das war keine große Anstrengung. Aber später, als der Bub anders ward, als du es wünschtest, gingst du zu Werk wie ein Tölpel. Knicken wolltest du, was sich da in fremder junger Kraft regte, weil es dir nicht paßte. … Dein Kind – – jawohl. Aber zugleich ein Menschenkind für sich, dessen Eigenart du hättest feinfühlig erkunden und pflegen sollen … Aber du warst zu bequem, zu eigensinnig, zu – arm dazu …

Wollte die Stimme denn nicht schweigen? Das war ja nicht zum Aushalten. Man meinte es ja gar nicht so schlimm. Man wollte dem Jungen gewiß nicht die Freude rauben. Nein, – – meinetwegen konnte man sich ja für das Buch interessieren.

Er tat es wenige Tage später bei Tisch, als ihm auffiel, wie wortkarg Peter dasaß. „Na, wie ist's mit dem Buch? Gefällt es dir?“

Peter nickte, aber er erzählte nichts. Wie konnte er seinem Vater davon sprechen, was dies Buch für ihn bedeute. Neuland … Neuland … Herr Röder hatte recht gehabt. Und nun wußte er, was [71] seines Lebens Inhalt werden sollte. In fremden Landen den Geheimnissen nachspüren, die in Felsen und Wäldern, auf dem Grund einsamer Seen schlummern. Wenn er auch nicht mehr der erste sein würde, der ein unbekanntes Zauberland betritt, in den Fußstapfen eines Tapfern wandeln ist auch etwas Großes, und Entdeckerfreude, das merkte Peter, blieb auch so noch übergenug.

Eine große Sehnsucht füllte und weitete sein ganzes Denken. Die Bilder der Zukunft, die er sich bis in alle Einzelheiten ausmalte, standen oft so greifbar vor ihm, daß es ihn mit hilflosem Erstaunen erfüllte, wenn er sich, durch irgend ein Geräusch erwachend, im Straßengewühl fand, nachdem er eben noch über einsame Höhen geritten, einen langen Zug fremdländischer Menschen und Tiere hinter sich.

In der Schule warf er sich mit fröhlichem Eifer auf seine Studien. Denn auch was an praktischen Fähigkeiten in Peter geschlummert, war aufgewacht, und er sagte sich mit großer Nüchternheit, daß er zur Erfüllung seiner stolzen Pläne vor allem Geld brauche. Das mußte er sich verschaffen, er selbst, denn auf die Unterstützung seines Vaters konnte er kaum rechnen. Überhaupt der Vater … Würde er zugeben, daß sein Sohn studiere, noch dazu Naturwissenschaften? Vielleicht, wenn er ihm auseinandersetzte, daß es für junge Stein- und Pflanzenkundige in überseeischen Ländern glänzende Stellungen gebe. Riesensummen wurden genannt, und [72] Peters Augen funkelten, wenn er daran dachte. O, er wollte sparen, keinen Rappen unnötig ausgeben! Dann mußte es doch möglich sein, nach Verlauf einiger Jahre eine Reise unternehmen zu können.

Hie und da gefiel sich Peter in dunkeln Äußerungen seiner Mutter gegenüber. Er erkundigte sich auch, wie das Geschäft gehe und ob es etwa leicht einen Käufer fände. Frau Elisabeth fühlte sich durch solche Fragen, die ihr Vorboten neuer Kämpfe schienen, verwirrt und verletzt. Daß auch Peter gar keine Liebe fühlte für die Arbeit, die schon sein Urgroßvater in Händen gehabt. Ach, wie war dieses Kind aus der Art geschlagen, innerlich und äußerlich.

Sie ging an einem Abend, als sie Peter schlafend wußte, auf sein Zimmer und betrachtete lange das herbe, stolze Gesicht. Sechzehn Jahre alt war Peter, und in wenigen Wochen sollte er eingesegnet werden. Er war doch eigentlich noch ein halbes Kind, aber im Schein der Kerze erschien sein Gesicht merkwürdig alt und beinahe streng. Daran mochten die finstern Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen, Schuld tragen. Frau Elisabeth beugte sich tiefer. Zu beiden Seiten des Mundes die feinen Linien … Das sollte doch nicht sein in einem so jungen Gesicht … Und sie rühren nicht her vom vielen Lachen. Peter lacht selten … Peterlein, Peterlein – – wo ist all das Glück geblieben, das mir deine ersten Jahre geschenkt?

[73] Ein schluchzender Ton drang aus Frau Elisabeths Mund. Peter bewegte sich, richtete weitaufgerissene Augen, die nichts erkannten, auf die Mutter, drehte sich zur Seite und murmelte: „Durch, durch! Man muß – –“

Frau Elisabeth seufzte. Mit schweren Schritten ging sie nach der Türe.


„Peter! Peter! So warte doch! Ich soll dir einen Gruß sagen.“

Peter blieb am Fuß des langen Treppengäßchens, das zur elterlichen Wohnung hinaufführte, stehen und schaute der Rufenden entgegen. Sie war ein feingliedriges Mädchen mit langen lichten Zöpfen, die beim Springen lustig tanzten. Bei Peter angelangt, sprudelte sie rasch hervor: „Das kannst du nicht erraten, von wem ich dich grüßen soll! Oder doch – probier's einmal!“

Während die beiden langsam die Stufen erstiegen, begann ein lustiges Raten und Verneinen. Alle gegenseitigen Bekannten der Nachbarskinder, Lehrer und Mitschüler, zuletzt in einer launigen Anwandlung Namen hochgestellter Personen, wurden von Peter vorgebracht. Alles ohne Erfolg. Das Mädchen lachte in einem hellen, jubelnden Ton, der unwillkürlich zur Freude mitriß. Sie sprach sehr lebhaft und mit blitzenden Augen. Nie hatte Peter frohere Augen gesehen und überhaupt wollte ihm mit einem Male dünken, noch nie so schöne, tiefblaue. [74] Sie standen in einem Gesicht, das zu schmal und unentwickelt war, um hübsch zu wirken. Aber die Haut war weiß und rosig und so durchsichtig zart, daß man sah, wie das Blut kam und ging … bei einer schnellen Erregung dunkelrote Wangen … bei plötzlichem Erschrecken ein schneeblasses Antlitz. Peter, der vor noch nicht allzu langer Zeit beinahe täglich mit dem Nachbarskind verkehrt hatte, betrachtete sie nun mit einem Gefühl, als sähe er sie zum erstenmal.

Wie war das so fein und schmal, das da auf leichten Füßen neben ihm schritt und mit seinem glitzernden Lachen die Welt in einen Sonnentag zu verwandeln schien … in einen Sonnentag, in dessen Bläue selige Lerchen steigen.

Sie trennten sich am Niemeyerschen Hause, ohne daß es Peter gelungen wäre, den Namen zu erfahren. „Wir können ja morgen wieder zusammen heim; vielleicht bist du da gescheiter,“ sagte Ruth mit einer hoheitsvollen Miene, die in merkwürdigem Gegensatz zu ihrem Kindergesicht stand, Peter aber sehr reizvoll erschien. Er betrachtete sie, bis sich die Hoheit in lauter Ungeduld verwandelt hatte, dann aber schüttelte er sehr energisch den Kopf. Er kannte die Lästermäuler der männlichen und der weiblichen Schuljugend. Er brauchte nur ein paarmal mit Ruth auf dem Schulweg gesehen zu werden, dann hatte die Geschichte ihren Namen weg.

„Ich komme lieber heute abend einmal zu euch, da können wir weiter raten,“ schlug Peter vor.

[75] „Ja, aber erst um sieben. Vorher muß ich üben.“

„Erst um sieben! Um halb acht Uhr muß ich zu Hause sein. Kannst du das Üben nicht abkürzen?“

„Ich kann schon, aber – – ich mag nicht,“ kam es etwas zögernd von Ruths Lippen.

„Spielst du so gerne? Was spielst du denn?“

„Geige. Und furchtbar gern tu ich's. Peter, ich will dir ein Geheimnis sagen, aber du mußt mir versprechen, daß du es keinem Menschen auf der ganzen, ganzen Welt wiedersagen wirst. Ja?… Also … ich will eine Künstlerin werden. Ich will immer, immer Musik um mich haben. Aber sie wissen's zu Hause noch nicht, nur Mutter natürlich. Vielleicht darf ich auch nicht. Dann muß ich es eben bleiben lassen … Mutter sagt, es kann auch so noch schön werden, und das glaube ich auch.“

„Unsinn, Ruth! Man läßt doch etwas nicht bleiben, von dem man weiß: ich muß es haben. Durchsetzen soll sich der Mensch, merk' dir das.“

Ruth sah einen Augenblick kläglich drein, und Peter mußte, in das schmale Kindergesicht blickend, selbst über seine Worte lächeln. Es war, als hätte er einer kleinen Schwalbe den Rat gegeben, gegen eine Mauer zu stürmen. Nur gut, daß er breite, starke Schultern hatte.

„Wie alt bist du eigentlich, Ruth?“ fragte er, in die Türe tretend.

„Vierzehn. Weißt du, an Silvester wurde ich vierzehn. Und du?“

„Ich bin eben sechzehn geworden.“ –

[76] Kurz vor sieben Uhr trat Peter in das Nachbarhaus. Ruths Mutter begrüßte ihn. „Nett, daß du wieder einmal kommst, Peter. Ich dachte schon, du wolltest jetzt nichts mehr von Ruth wissen, seit du so ein großer Bub geworden. Und ich fand es eigentlich schade. Ihr seid doch all die Jahre so gute Kameraden gewesen. Aber freilich – jetzt hast du eben genug an deinen Freunden.“

„Ich habe keinen Freund,“ sagte Peter nachdenklich, „und ich weiß eigentlich nicht, warum ich nicht mehr mit Ruth gespielt habe … Wir hatten so viele Aufgaben, und – – ich lese viel.“

Ruths Mutter lachte. „Na, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Jetzt geh nur zu Ruth hinauf. Sie übt in ihrem Zimmer.“

Peter ging durch den langen, immer dämmrigen Flur eine mächtig gebaute Treppe hinauf, auf deren breitem Geländer er hundertmal abgerutscht war. Er trat sehr leise auf und, auf der obersten Stufe angelangt, setzte er sich, wenige Schritte von Ruths Zimmertüre entfernt.

Ruth spielte in raschem Tempo eine ziemlich monotone Übung. Ein-, zweimal griff sie daneben, und Peter hörte ein ungeduldiges „So paß' doch mal auf!“

„Nun hat sie gewiß ganz rote Backen, wenn sie sich ärgert,“ dachte Peter und lächelte.

Dann, als die Sache ein paarmal glatt durchgegangen, hörte er ein befriedigtes „So“. Und nun begann ein anderes Spiel.

[77] Eine feine, sehnsüchtige Melodie kam dahergeglitten, warb und flehte … und brach ab in einem jammervollen Schluchzen.

Peter lauschte atemlos. So also konnte Ruth spielen. Ach, dann würde wohl auch ihr Traum vom Künstlertum in Erfüllung gehen … Warum nur stimmte ihn das so traurig?

Horch, nun begann wieder das Spiel.

Da war etwas Dunkles, Leidvolles, Zagendes, und dazwischen klang ein seliges Lachen. Aber es wurde immer wieder erstickt von dem Schweren … Bis es mit einem Male siegreich emporjubelte, all das Leidvolle, Beengende zurückdrängend. Wie es sich wiegte in der Luft, im Sonnenschein! Wie es stieg – – höher und höher und endlich verklang in einem letzten, unendlich zarten Triller.

Es folgte eine kleine Stille, dann kamen ein paar energische Doppelgriffe, und nun spielte Ruth eine Choralmelodie. Breite, ruhevolle Wogen strömten daher … Peter kannte die Worte, die er vor kurzem im Konfirmandenunterricht gelernt hatte. Einige der Verse hatten ihn tief ergriffen, und auch jetzt wieder füllte ihn eine geheimnisvoll-ehrfürchtige Stimmung. Gott ist gegenwärtig, dem die Cherubinen Tag und Nacht gebücket dienen … Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben, Meer ohn' Grund und Ende, Wunder aller Wunder, ich senk' mich in dich hinunter.

[78] Ruths Zimmertüre ward plötzlich geöffnet. Helles Licht ergoß sich auf die dunkle Treppe, so daß Peter einen Augenblick die Hände vors Gesicht legte.

„Hast du schon lange hier gesessen?“ fragte Ruth. Nun mußte Peter sie ansehen. Sie lehnte am Türpfosten, die Geige im Arm, und hatte ein blasses, ganz ernsthaftes Gesicht.

„Es war so schön, Ruth! Komm, setze dich hierher zu mir. Bist du mir böse, weil ich zugehört habe? Ich habe Musik auch gern.“

„Dann tut es nichts. Und ich hab' dich auch gern. Deshalb darfst du zuhören. Leuten, die Musik nicht lieb haben und die ich nicht mag, spiel' ich nichts vor.“

„O Ruth! Wie wird es dir ergehen!“ lachte Peter. „Eine Künstlerin muß allen vorspielen, ob sie sie leiden mag oder nicht.“

„Ach, weißt du, dann denke ich eben an einen Menschen, den ich lieb habe, und spiele dem alles vor. Aber nun sollst du raten.“

Peter war so erstaunt über diese plötzliche Aufforderung, daß er das Mädchen ein paar Augenblicke wortlos betrachtete. Sie saß jetzt auch auf der Treppe, die Hände um die Knie geschlungen, und sie sah nun wieder aus wie am Morgen, ein unbekümmertes kleines Schulmädel, dem die Necklust aus den Augen sprühte.

Sie mochte sein Schweigen für Ratlosigkeit halten, denn sie fuhr fort, ihn mit aufmunternden Worten auf die rechte Spur zu leiten.

[79] „Du mußt viel weiter zurückdenken, Peter. Wie du noch klein warst, hast du sie gesehen … Wie du einmal in den Bergen warst … So – jetzt ist's aber leicht.“

Nun war Peter völlig bei der Sache. Er war schon ein paarmal in den Bergen gewesen, aber als kleiner Bub nur einmal. Wie lag das alles so weit zurück – – und wie lag es so schön und grüßte herüber … „Die Tante! Ist es die fremde Tante?“

„Ja, die ist's!“ jubelte Ruth. „Tante Trude! Du weißt doch, daß sie eine Norddeutsche ist? Na, Mutter und sie waren zusammen in Pension in der französischen Schweiz, und da waren sie Freundinnen, und nachher, wie Mutter heiratete, ist sie Rudolfs Patin geworden. Und nun hat ihr Mutter geschrieben, sie möge doch einmal kommen, weil Rudolf konfirmiert wird. Ich glaube, sie hatten sich schon lange nicht mehr geschrieben. Die Tante hat so viel Arbeit und kennt so viele Menschen, sagt Mutter. Ja, und nun hat sie geantwortet und hat gefragt, ob wir nicht einen Peter Niemeyer kennen, der werde jetzt wohl auch konfirmiert, und wenn wir nun doch schon ein paar Jahre in der Nähe vom Totengäßchen wohnten, müßten wir dich sicher kennen. Und dann schreibt sie, ihr hättet euch so lieb gehabt, wie du ein kleiner Junge gewesen, und sie lasse dich grüßen. Kannst du dich noch an sie erinnern?“

„Ja, schon ein wenig. Ich glaube, sie war sehr freundlich zu mir und hat mir manchmal geholfen. [80] Aber ihr Gesicht – – nein, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“

„Mutter sagt, sie sei der beste Mensch auf der Welt, und das stehe auch in ihrem Gesicht. Weißt du, sie arbeitet den ganzen Tag für andere, immer nur für andere, und denkt an sich nur so im letzten Augenblickchen. Mutter sagt, die kriegt mal einen guten Platz im Himmel … Peter!“

„Ruth?“ Peter ist wirklich gespannt, was nun kommen wird. Das Gesichtchen, das aus dem Dämmerschein zu ihm aufblickt, ist eines, das er noch nicht kennt. Warm und froh und ein bißchen sehnsüchtig schauen die großen Augen, die ein so treuer Spiegel des beweglichen Geistchens sind.

„Peter, ich habe schon zweimal vom Himmel geträumt, d. h. nur einmal war es der Himmel selbst. Das andere Mal war ich auf dem Weg dahin. Es war ein sehr schlimmer Weg, Peter. Weißt du, mit schrecklich viel Steinen und so großen Löchern, daß ich manchmal nicht wußte, wie hinüberkommen. Es waren viele, viele Kinder bei mir, und ich glaube, auch ein paar große Leute. Das weiß ich nicht mehr so recht … Ja, und wie wir so gingen, sahen wir ein großes, langes Haus. Darin mußten tausend Lichter brennen, denn aus allen Fenstern gingen Strahlen. Aber denke dir, Peter, gerade kurz vor dem Haus war ein so breiter Graben – – ich konnte einfach nicht hinüber, ich fürchtete mich. Und ich war so traurig, denn eine Menge Kinder gingen hinüber und gingen in das [81] Haus hinein. Und da kam auf einmal ein Mann und nahm meine Hand … Ach, und da war ich so froh! Ich konnte nun gut weitergehen, und der Mann sprach zu mir. Ich weiß nicht mehr, was er sagte. Ich wußte es schon nicht mehr, wie ich aufwachte. Ich glaube, ich habe nicht gut aufgepaßt. Ich dachte immer: nie hast du eine so freundliche Stimme gehört, nie hat dich jemand so geführt … Ich war damals noch ein bißchen klein, Peter, es sind schon ein paar Jahre her. Ja, und nun gingen wir nach dem Haus, und es ging die Türe auf, und da war ein so großes Licht, daß ich es nicht ertragen konnte – – und ich wachte auf, und da war mein ganzes Zimmer voll Sonntagssonne und die Glocken läuteten … War das nicht ein schöner Traum, Peter?“

„Ja,“ sagte Peter und tat einen tiefen Atemzug, „das war ein schöner Traum. Und wer, glaubst du, ist der Mann gewesen, Ruth?“

„O, Peter! Hast du es nicht gespürt? Das war doch der Herr Jesus. Ich habe es gleich gewußt. Weißt du, nachher, wie ich ganz traurig war, daß ich mich nicht mehr an seine Worte erinnern konnte, habe ich gedacht, vielleicht hat er gesagt: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Das hätte er doch gut sagen können, nicht, Peter?“

„Freilich, ja. Und was hast du sonst noch geträumt?“

„O, der andere Traum war vom Himmel selbst. Aber da war er kein Haus. Nein, eine große Wiese [82] in den Alpen. Und gleich hinter der Wiese standen die weißen Berge, und davor war ein großer Stuhl, und da saß der liebe Gott. Er hatte einen mächtig langen Mantel an, der lag ganz breit auf der Wiese. Und eine Menge Menschen waren da. Ein paar standen ganz nahe bei ihm. Aber ich hatte auch ein feines Plätzchen, Peter! Und das Feine war, daß mich niemand sehen konnte! Denk' dir, ich saß in einem Zipfel von Gottes Mantel. Ich war ganz versteckt, und ich war so vergnügt. Aber nun solltest du gewiß gehen, Peter.“

„Ja, es ist Zeit. Aber ich darf doch wiederkommen?“

„O, Peter, nun sprichst du wie ein Herr. Wir sind doch keine großen Leute. Die fragen sich solche Sachen.“

„Na, also. Leb' wohl, Ruth. Vielleicht komme ich morgen wieder. Übrigens – kommt die Tante Trude eigentlich?“

„Nein. Sie kann nicht kommen. Es tut uns allen so schrecklich leid. Und sie hat geschrieben, sie hätte uns alle so gern kennen gelernt, und wir sollten ihr doch schreiben, dann kenne sie uns ein bißchen. Aber die andern wollen nicht. Nur Rudolf natürlich. Der muß sich doch auch bedanken. Aber Willy sagt, Briefe seien etwas Gräßliches, und Hans sagt, da habe er Gescheiteres zu tun. Und wie ich sagte, ich wolle schreiben, da sagten sie: Ja tu's nur, für ein Mädchen paßt das viel besser. Aber nun genier' ich mich doch ein bißchen, so allein. [83] Oder – – Peter, könntest du nicht schreiben? Sie kennt dich ja sogar besser als uns. Willst du nicht?“

„Vielleicht. Ich sag's dir dann morgen. Gute Nacht, Ruth.“

„Gute Nacht, Peter.“


„… Als einen im Grund unerfreulichen Burschen meinst du dich vorstellen zu müssen. Da muß ich dir denn doch verraten, daß der Peter, der zu mir gekommen in jenem kurzen Brief, durchaus keinen unerfreulichen Eindruck hinterlassen hat. Er und das Sonnenkind Ruth zusammen haben mir einen sehr schönen Abend geschenkt, und ich hoffe ernstlich, es bleibe nicht bei diesem ersten Besuch.“

Peter las diese Stelle in Tante Trudes Brief wieder und wieder. Es war, als strecke sich ihm eine warme Hand entgegen: Sieh, da bin ich, komm' zu mir, ich verstehe dich. Und er freute sich, daß er Ruths Drängen nachgegeben und geschrieben hatte.

Frau Elisabeth war weniger erfreut. Schon die häufigen Besuche im Nachbarhaus hatten Anlaß zu allerlei spitzen Bemerkungen gegeben, und sie hatte ihrem Mann mehrfach die Frage vorgelegt, was nur Peter an dem magern kleinen Ding Schönes finden könne. Peter, der Ältere, hatte gelacht und gemeint: „Na, Betty, das ist nun ein Punkt, über den sich ewig streiten läßt. Dem einen gefallen dralle Backen, und dem andern gefällt so ein [84] schmales Gesichtchen. Übrigens finde ich sie ein ganz nettes Ding, und ein wohlerzogenes. Sei nur froh, daß Peter nicht auf irgend ein albernes, kokettes Mädchen verfallen ist.“

Frau Elisabeth merkte, daß sie in dieser Angelegenheit bei ihrem Mann keine Unterstützung finden werde. „Er wird eben auch so gewesen sein,“ dachte sie ärgerlich, aber allmählich gewöhnte sie sich an Peters Freundschaft, und wenn sie auch kein gutes, verständnisvolles Wort dafür fand, so unterdrückte sie wenigstens die schlimmen.

Da kam die Sache mit dem Brief, und hier nun fand ihre Entrüstung ein Echo. Peter Niemeyer tadelte die Schreiberei als überspannt und lächerlich; Frau Elisabeth fühlte sich in ihren mütterlichen Rechten angegriffen. Eifersüchtige und aufreizende Bemerkungen flogen hinüber und wurden mit trotzigen und höhnischen beantwortet.

Eines Abends, als Peter mit weichen, versonnenen Augen am Fenster lehnte, trat Frau Elisabeth zu ihm.

„Mein lieber Bub,“ sagte sie und legte den Arm um ihn, „nun laß dir noch einmal in aller Liebe etwas sagen.“

Peter entzog sich jäh ihrer Umarmung. Er haßte diese Art von Liebesbezeugung, die immer die Einleitung zu Vorwürfen bildete und ihn von vornherein in eine rebellische Stimmung versetzte. Er hatte dies schon mit dürren Worten ausgesprochen, ohne eine Änderung herbeizuführen. Denn Frau [85] Elisabeth gefiel sich in dieser mütterlichen Rolle, und sie konnte nachher um so schmerzlicher bei ihrem Gatten klagen: „Ich habe so freundlich angefangen, aber er läßt sich ja gar nichts sagen …“

Frau Elisabeth zog sich seufzend von Peter zurück. Sie setzte sich an ihren Nähtisch, brach in ein scheltendes Klagen aus über Peters Undankbarkeit, allgemeine Bosheit, Verschlossenheit und Absonderlichkeit. „Wozu willst du denn nach Halle schreiben? Die Person geht dich doch gar nichts an. Was soll denn die ganze Geschichte bedeuten?“

Peter, der mit gekünstelter Gleichmütigkeit zugehört und nur bei dem Wort „Person“ einen bösen Blick auf die Mutter geworfen, trat plötzlich dicht an sie heran. Langsam und schwer atmend stieß er hervor: „Warum ich schreibe? Vielleicht könnte es sein, weil ich auch einmal jemand brauche, der mich versteht, und zwar jemand, der nicht nur immer als Mutter geehrt sein will und immer von Mutterrechten spricht, sondern wirklich eine Mutter ist.“

Das waren harte Worte. Frau Elisabeth brach in Tränen aus und schluchzte, Peter werde einmal an ihrem Grab Buße tun, und ob er denn gar nicht an seine Konfirmation denke. Statt aller Antwort ging Peter pfeifend aus dem Zimmer; aber in seiner Stube pfiff er nicht mehr. Er saß und brütete vor sich hin in unseligen Gedanken, die sein feines Gesicht häßlich verzerrten.

Dann, als habe ihn ein lichter Geist berührt, glätteten sich seine Züge. Ganz plötzlich, in wirrer [86] Ideenverbindung war ihm eine Erinnerung an die letzte Unterweisungsstunde aufgetaucht.

Der Pfarrer hatte die Szene gezeichnet, wie die Jünger, als sie mit Jesu gingen, zurückblieben und ins Streiten gerieten.

Und wieder erlebt Peter das Seltsame, Atemraubende, daß es ihm ist, als rollten die Jahrhunderte zurück in einer einzigen großen Bewegung – – und er ist mitten unter ihnen, ist einer von denen, die hinter Jesu gehen. Ein schmaler Weg durch hohes Korn … eine Gestalt … sie wendet sich, und aus ruhevollem Antlitz fragen ihn zwei tiefe Augen … Vorbei. Peter sitzt wieder in seiner Stube und fühlt sich erbärmlich und klein.


Ruth kann auch singen. Sie begleitet sich dazu auf der Gitarre, und Peter weiß eigentlich nicht, was er mehr liebt, die Geige oder Ruths Stimme. Das Geigenspiel ist vielleicht schöner, ja unbedingt schöner, aber Ruths Stimme ist, wie sie selbst, leicht und innig, glücklich und lachend. Nur wenn sie ernste Lieder singt, erlischt das Lachen, und dann kann Peter das traurige Stimmchen kaum ertragen.

„Heute weiß ich ein neues Lied, Peter. Ein wunderschönes. Paß' einmal auf. Ich habe es unter Mutters Noten gefunden. Aber es sind so viele Verse – ich habe mir nur die zwei ersten und den letzten gemerkt:

[87]
Jungfräulein, soll ich mit euch geh'n
in euren Rosengarten?
Da, wo die roten Röslein steh'n,
die feinen und die zarten,
und auch ein Baum, der blühet
und seine Läublein wiegt,
und auch ein kühler Brunnen,
der grad darunter liegt.
In meinen Garten kannst du nicht
an diesem Morgen früh;
den Gartenschlüssel find'st du nicht,
er ist verborgen hie.
Er liegt so wohl verschlossen,
er liegt in guter Hut –
Der Knab' 'darf feiner Lehre,
der mir den Gart'n auftut.
Dort hoch auf jenem Berge,
da steht ein Mühlenrad.
Das mahlet nichts als Liebe,
die Nacht bis an den Tag.
Die Mühle ist zerbrochen,
die Liebe hat ein End' –
So segn' dich Gott, mein feines Lieb,
jetzt fahr' ich ins Elend.

Gefällt es dir nicht, Peter? Du bist so still.“

„Ach, Ruth, es ist so furchtbar traurig. Merkst du das nicht? Nun muß er wandern, immer weiter weg von dem wunderschönen Garten. Wie heißt es doch?… und auch ein Baum, der blühet und seine Läublein wiegt …“

„Und auch ein kühler Brunnen, der grad darunter [88] liegt,“ summte Ruth. Sie betrachtete ihren Kameraden mit scheuen Augen. „Vielleicht hat sie ihm doch einmal aufgemacht, später, weißt du, wie er wieder gekommen ist.“

„Glaubst du, er sei wieder gekommen, Ruth?“

„O ja, ganz gewiß. Und dann gingen sie hinein und da war noch immer der kühle Brunnen …“

„Und dann, Ruth?“

„Und dann setzten sie sich und horchten auf das Rauschen, und vielleicht schien auch die Sonne ins Wasser. Das mag ich so gern, wenn alle Tropfen glitzern.“

„Und dann, Ruth?“

„Wie komisch du fragst, Peter! Jetzt weiß ich nichts mehr. Sag doch du weiter.“

„Nein. Wenn du nichts weißt, weiß ich auch nichts. Aber nun sing' mir das Lied noch einmal.“

Und Ruth sang, und Peter ging nach Hause und hatte Kopf und Herz voll schwermütiger Klänge und Worte. „Der Knab' 'darf feiner Lehre, der mir den Gart'n auftut …“

An diesem Abend schrieb Peter seine ersten Verse. Und während er schrieb, war es ihm, als hätte er den Schlüssel gefunden zu jenem Rosengarten, war es ihm, als ginge das Jungfräulein neben ihm auf leichten Sohlen und habe Ruths lichtes Haar und Ruths strahlende Augen. Aber als er die Verse später durchlas, erschrak er.

War es möglich, daß das, was ihm eine helle [89] Lohe geschienen, ein paar armselig glimmende Funken waren?

Er wußte noch nicht, daß unser Innigstes und Größtes, das in unendlich seligen und in unendlich schweren Augenblicken Empfangene, nie in seiner ganzen Schöne und Wärme ans Licht treten kann. Ein blasses Schattenbild … ein verlorener Nachklang …

Und doch können wir dem geheimnisvollen, drängenden Rieseln nicht wehren und hoffen immer aufs neue, es werde der starke, singende Quell der Schönheit hervorbrechen.


Der Tag der Einsegnung ging vorüber, und nun fehlten nur noch drei Wochen bis zum Abschluß des Schuljahrs. Peter mußte sich zum Sprechen entschließen, denn die Eltern schienen es als eine ganz selbstverständliche Sache anzusehen, daß er der Schule Lebewohl sagen und ins Geschäft eintreten werde. Die letzte Zeit war äußerlich eine friedliche gewesen. Am Konfirmationstag selbst hatte Frau Elisabeth eine jener Stunden erlebt, in denen ihre kleine Seele über sich selbst hinauswuchs. Die Worte des Pfarrers, der sich ebenso sehr an die Eltern als an die Kinder wendete, trafen sie ins Herz, und sie ging aus der Kirche voll guter Vorsätze. Sie wollte versuchen, in innigere Fühlung mit Peters verschlossener Seele zu kommen, wollte lernen, zu ihm zu stehen. Auch seinem Vater gegenüber? [90] Dieser Gedanke war peinlich und unbequem, und sie vermochte ihn nicht zu Ende zu denken. „In der letzten Zeit ging es ja so gut,“ redete sie sich tröstlich zu. „Wer weiß, wenn sie einmal im Geschäft beisammen sind, lernen sie sich besser verstehen.“

Dieser Gedanke bewegte auch Peter, den älteren, denn wenn er sich auch zu Zeiten einredete, seines Kindes Entfremdung lasse ihn gleichgültig, im Grund seiner Seele ruhte nach wie vor die Sehnsucht nach seinem Besitz. –

„Was meinst du, Peter, wann sollen wir mit der Lehre beginnen?“ fragte Vater Niemeyer eines Abends hinter der Zeitung hervor. Er war in heiterer Stimmung, und seine Augen forschten mit freundlichem Ausdruck in des Jungen Gesicht.

Peter ward dunkelrot. Er fühlte, daß seine Antwort einen Sturm entfesseln werde.

Das Zarte und Nachgiebige in ihm flüsterte: füge dich! Aber die junge Willens- und Lebenskraft reckte sich mächtig und ließ ihn beinahe rauh hervorstoßen: „Ich kann kein Buchbinder werden. Ich will lieber in der Schule bleiben. Ich möchte das Maturitätsexamen machen.“

„So!“ erwiderte Peter Niemeyer und legte die Zeitung auf den Tisch. „So – – mein Herr Sohn! Und seit wann hat man sich das in den Kopf gesetzt?“

Seine Stimme klang hart, und ein drohender Blick flog zu dem Buben hinüber. Peter schwieg und schaute starr geradeaus.

[91] Erst auf seines Vaters ungeduldiges „wird's bald!“ antwortete er in gequältem, beinahe flehendem Ton: „Schon lange!… Ich wollte es dir immer sagen, aber – –“

„Was aber?“

„Ich dachte, du werdest es nicht gerne hören.“

„Na, da hast du allerdings recht gedacht! Was glaubst du eigentlich?… Jahr um Jahr schufte ich mich ab und glaube die ganze Zeit, du werdest einmal das Geschäft übernehmen, und nun kommst du mir mit solchen Geschichten … Maturität!…

Und nachher? Studieren wirst du ja auch wohl wollen? Auf was hat sich denn die Neigung des gnädigen Herrn gerichtet? Weiß er das vielleicht?“

Peter zuckte zusammen und tat plötzlich einen Schritt vorwärts. Frau Elisabeth faltete erschrocken die Hände. Mein Gott, was würde nun losbrechen! Sie sah ihres Mannes höhnisches Gesicht und ihres Sohnes lodernde Augen.

„Peter!“ mahnte sie eindringlich. Sie wußten beide, welcher gemeint war, und der Junge antwortete ihrem Ruf mit einem spöttischen Lächeln. Dann richtete er den Blick auf den Vater und sagte: „O ja, der gnädige Herr weiß auch dies. Er möchte Naturwissenschaften studieren.“

„Naturwissenschaften!“ Peter Niemeyer sprach das Wort aus, als habe sich sein Sohn zu einer unehrlichen Hantierung bekannt. „Das gibt's nicht. Dazu gebe ich mein Geld nicht her. Ich bin [92] der Vater und du der Sohn, und du hast zu gehorchen. Verstanden?“

Frau Elisabeth hatte sich erhoben und war auf den Jungen zugetreten. „Sei still, Peter! Sei still! Versündige dich nicht! Denke dran, es ist dein Vater!“ flehte sie.

Aber Peter schob sie beiseite. Sein trotziges junges Gesicht glühte im Zorn.

„Nein, jetzt rede ich einmal!“ schrie er. „Mein Vater bist du – – ja! Aber was für einer? Wann hast du dich um mich gekümmert, um mich selbst?… Gehorchen, gehorchen … den Mund halten zu allem, was der Vater sagt, ob es richtig ist oder nicht … Keine eigene Meinung haben dürfen. Nur immer zustimmen, immer loben und gutheißen … Ist das ein Vater!“

Peter Niemeyer sprang auf. Er würde seinem Sohn die geballte Faust vor die Brust gestoßen haben, hätte sich ihm Frau Elisabeth nicht weinend entgegengeworfen. „Er ist außer sich, er weiß nicht, was er sagt,“ schluchzte sie. „Geh fort, Peter! Geh auf dein Zimmer!“

„Ja, fort aus meinen Augen!“

Peter Niemeyer löste sich aus der Umklammerung seiner Frau und schritt schwer atmend im Zimmer auf und ab. Er schalt in maßlosen Ausdrücken auf den ungeratenen Sohn, aber er wartete vergeblich darauf, daß ihm Frau Elisabeth wie gewöhnlich beistimme.

Sie saß in der Sofaecke, beinahe regungslos, und horchte mit allen Sinnen nach oben. Was mochte [93] er tun? Brütete er über finsteren Gedanken oder konnte er noch weinen, wie einst das Peterlein über seine zertretene kleine Welt … Ob die scheltenden Worte nicht zu ihm drangen?… Also studieren wollte er. Naturwissenschaften … Ach, und dann wohl Reisen machen in fremde Länder, wie jener Sven Hedin, von dem er so oft gesprochen … Mein Gott, Peter, wie konntest du auf solche Gedanken kommen!

„Und diese Sprache seinem Vater gegenüber!“ grollte Peter Niemeyer. „Du sagst wohl, er sei außer sich gewesen. Das soll er eben nicht sein, wenn er mit mir spricht. Zudem, was habe ich denn gesagt oder getan, was ihn so außer sich bringen konnte? Weil ich seinen kindischen Wünschen nicht nachgab? Das wird ihm noch oft genug begegnen. Das Leben faßt einen hart an.“

O gewiß, das Leben ist hart. Und deshalb sollen wir es auch werden? Wäre es nicht besser, wir versuchten uns die weichen Kinderhände zu bewahren … Eine Kinderhand … Schmal und fein ruht sie in unserer harten Hand … Und ist doch so stark und mächtig, eben weil sie weich und linde ist, vielleicht auch, weil sie so ganz selbstverständlich in Gottes Vaterhand ruht.

Horch, nun geht die Türe in Peters Zimmer. Man hört seine Schritte auf der Treppe, im Hausflur, dann das Öffnen und Schließen der Haustüre. Wohin will er so spät? Der Zeiger nähert sich der elften Stunde.

[94] Frau Elisabeth schaute ihren Mann erschrocken an. Dieser hielt einen Augenblick im Gehen inne, als er sagte: „Ach, laß ihn laufen! Die frische Luft kann ihm nur gut tun. Du bist übrigens seltsam besorgt um ihn heute abend, Elisabeth. Was ist nur in dich gefahren?“

Ja, was? Ein grelles Licht, eine jähe Erkenntnis, ein Wachrütteln aller Sinne … Frau Elisabeth findet keines dieser Worte. Sie fühlt sich nur jämmerlich klein und ohnmächtig ihrem Mann gegenüber; sie fürchtet sich, ja, sie zittert davor, ihm zu sagen, was ihr in der Seele brennt. Und muß es doch sagen!

„Peter!“ beginnt sie leise. „Ich will den Bub gewiß nicht rechtfertigen. Er hat sich zu schlimmen Worten hinreißen lassen. Aber, Peter, vielleicht hat er recht. Vielleicht hast du – – ach, ich meine uns beide … vielleicht haben wir uns nie richtig um ihn gekümmert. Ach, und nun rennt er in die Nacht hinaus, so im Jammer. Du weißt ja nicht, wie er sein kann, schon als kleiner Bub, so wild und heiß … Und wie er weinen konnte! Peter, ich muß ihm nach. Ich kann nicht anders.“

Sie wartete keine Antwort ab. Sie riß die Türe auf und stand schon unten an der Treppe, als sie ihres Mannes Stimme hörte: „Elisabeth! Betty! Ich bitte dich! Dieser Skandal …“

Frau Elisabeth schloß die Türe hinter sich. Skandal! Mochten die Leute denken, was sie wollten! Übrigens, das Gäßchen war menschenleer.

[95] Sie merkte erst jetzt, daß ein zarter Regen niederrieselte. Der Himmel war undurchdringlich finster, und der Wind, der eben aufzuwachen schien, blies kalt. Sie eilte die Stufen des Gäßchens hinab und blickte nach allen Seiten. Ganz in der Ferne ging eine Gestalt, die Peter sein konnte. Ach, wie war er schon so weit!

Frau Elisabeth hastete vorwärts. Sie durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Wenn er bei einer Straßenbiegung verschwand, durchzuckte sie jedesmal eine namenlose Angst. Und sie kam ihm nur langsam näher. Peter schritt mächtig aus.

Nun bog er in die Straße ein, die in gerader Linie auf die Brücke führt. Frau Elisabeth lief. Das Blut pochte ihr in Hals und Schläfen. Sie zitterte am ganzen Körper, aber die Angst riß sie vorwärts. Gottlob, nun war sie um die Ecke! Die Straße war menschenleer, aber dort – auf der Brücke bewegten sich ein paar Gestalten. Die würden doch helfen, wenn – – –

Peter mochte etwa die Mitte des Stromes erreicht haben, als er stehen blieb. Er legte die Arme auf die steinerne Brüstung und seinen fiebernden Kopf darauf.

Aus der Tiefe weht es kühl herauf. Schwarz und in eiliger Flucht, als trügen sie ein unseliges Geheimnis, jagen die Wogen dahin. Die Bogenlampen der Brücke und ein hellerleuchtetes Gasthaus am Ufer werfen in das schwarze Wasser ihr bißchen silbernes Licht, das zitternd ertrinkt.

[96] So würden sie ihn auch aufnehmen, die schwarzen Wellen … Aber man würde ihnen ihr Geheimnis zu entreißen suchen, und man würde ihn finden. – –

Peter schaudert. Nein, nicht hinunter will er in Nacht und Tod. Hinauf, hinauf zu allen Sternen und Sonnen … Leben will er – – Leben …

Was hatte doch in Tante Trudes letztem Brief gestanden, den er am Vorabend der Konfirmation erhalten? „Du willst große Reisen machen, Peter. Nun, eine Reise hast du ja längst angetreten, die große Lebensreise, die uns auch Neuland auftut. Nie geahnte Täler des Leids und Jammers und Höhen, die nur der Tapfere und Sicherschreitende erklimmen kann. Wir sind immer auf der Reise, Peter, du und ich und all die andern. Kennst du den alten Vers?

Unser Leben gleicht der Reise
eines Wandrers in der Nacht;
jeder hat in seinem Gleise
etwas, das ihm Kummer macht.

Aber doch auch etwas, das ihm Freude macht. Nicht wahr, Peter?“

Ruth, Ruth … liebe, kleine Ruth! Ja, sie ist Freude … holde Freude …

Etwas Großes, Warmes quillt in Peters Herzen auf und daneben etwas Tapferes, beinahe Frohmütiges. Das Wort seiner kleinen Weggefährtin kommt ihm in den Sinn. „Es kann auch so schön werden.“ Schön beim Büchereinbinden, Ruth? Jawohl, Peter! Wenn wir nur etwas Schönes in [97] uns tragen. Und das hast du ja … Wer weiß, Peter, vielleicht kriegst du noch in anderer Weise mit Büchern zu tun …

Frau Elisabeth steht nur wenige Schritte von Peter entfernt. Aber sie starrt nicht ins Wasser hinab. Ihre Augen ruhen unverwandt auf seinem Gesicht. Und ihre Seele glaubt in den schwarzen Fluten der Selbstanklage und Reue zu versinken. Was ist sie für eine Mutter gewesen! Ohne Mut, ohne Selbstüberwindung … sie hat die Dinge gleiten lassen. Und nun muß sie hier stehen in Dunkelheit und darf die Hand nicht nach Peter ausstrecken, darf nur ihre heißen, verworrenen Gedanken zu ihm schicken … Wird er denn ewig da stehen bleiben?

Da tat Peter eine Bewegung und reckte sich mächtig und wendete sich und stand seiner Mutter gegenüber. Sie schauten sich an, und jedes suchte in des andern Gesicht zu lesen.

Peter sah, wie das emporgewandte Frauenantlitz voller Not und Bitte war, und sie sah mit Staunen und Dankbarkeit, daß über dem seinen eine tiefe und ernste Ruhe lag.

Da faßte sie Mut. Sie trat auf ihn zu. „Peter,“ flüsterte sie, und es war ein Schluchzen in ihrer Stimme, „laß uns neu anfangen. Ich will zu dir stehen, wo ich es für recht halte, auch wenn – – auch wenn es mir schwer fällt … Wenn du nur wieder Vertrauen zu mir – zu uns haben könntest, Peter!“

[98] Da tat Peter, was sie beide überraschte. Er bückte sich und küßte die Hand seiner Mutter, die sich ihm bittend entgegengestreckt.

Dann gingen sie dicht nebeneinander und redeten kein Wort und fühlten nur, wie eines das andere in liebevolle und sorgliche Gedanken hüllte. Und es herrschte in beiden eine seltsame Klarheit.

„Ich habe ihn noch nicht gewonnen,“ dachte die Mutter. „Und es wird mir auch nicht gelingen, wenn ich nicht immer aufs neue mich selbst bekämpfe und mich in ihn hinein zu fühlen suche. Und vielleicht gelingt es mir auch dann nicht, denn er ist ein seltsames Menschenkind … Vielleicht auch kommen die beiden nie zusammen … Aber diese Stunde kann er nie vergessen, das las ich in seinen Augen. Nie mehr werden wir uns ganz verlieren.“

Peter aber hat das Gefühl, als müsse er der kleinen Mutter an seiner Seite emporhelfen, sie tragen und stützen. Er weiß, trotz ihrer Versicherung, mit schmerzlicher Gewißheit, daß sie nicht immer zu ihm stehen wird. Er weiß, daß ihre Seele wieder und wieder versinken wird im Alltag, aber er weiß auch, daß sie zu Zeiten ihre Flügel spürt und ausbreitet …

Es kann auch so schön werden …


[99]

Das rote Buch.

Ich hatte es längst vergessen gehabt.

Aber dann war es mir ergangen wie dem Sonntagskind, das zu gesegneter Stunde des Weges kommt, und plötzlich öffnet sich zu seinen Füßen die Erde, und es taucht mit geheimnisvollem Leuchten ein Schatz empor, der lange Jahre in der tiefsten Tiefe geruht. Also war, vom Zauber einer Stunde geweckt, aus der tiefsten Tiefe meiner Erinnerung das rote Buch emporgetaucht und mit ihm eine längst versunkene Welt, die voller Fragen und Wunder, voller Grauen und Süße gewesen.

Und plötzlich war Tante Ursula vor mich getreten, so klar und deutlich, daß ich für einen Augenblick meine ganze Umgebung vergaß. Sie saß, wie ich sie meist gesehen, in einem tiefen Stuhl und hielt das schmale, zarte Gesicht ein wenig geneigt. Silbern flimmerte das weiche Haar, das in so wunderschöner Linie die Stirn umrahmte. Die kleinen Hände hielten ein Strickzeug – ich meinte tatsächlich das leise Klappern der Nadeln zu hören. Aber dann verschwand das Bild so schnell wie es gekommen, denn mein Nachbar zur Linken streifte seine Zigarrenasche ab und fragte: „Sie sind wohl müde?“

Nein, natürlich war ich nicht müde. Meine Gedanken waren nur ungehörigerweise ein wenig abgeirrt. Und aufs neue wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit [100] dem Kreise plaudernder und rauchender Menschen zu, in deren Mitte mich dieser Abend geführt.

Aber nachher, auf dem Nachhauseweg, und vollends als ich in meinem mondlichtgefüllten Zimmer saß, tat ich die Tore meiner Seele weit auf, um all den Geistern Einlaß zu gewähren, die lachend und drohend dem roten Buch entstiegen.

Wie war es nur gekommen, daß ich seiner gedacht? Ach ja, der Hausherr hatte ein altes Buch gezeigt, in dessen Besitz er durch einen glücklichen Zufall geraten. In Schweinsleder war es gebunden. Den bräunlichen, mit schnörkeligen Buchstaben bedeckten Blättern entstieg ein modriges Düftlein, aber die illustrierenden Holzschnitte atmeten Leben, ein köstliches, triumphierendes, trotz der Tränen lachendes Leben.

Ich hatte das Buch durchblättert mit einem Gefühl, das seltsam gemischt war aus Ehrfurcht und Erwartung, aus Liebe und Grauen. Und plötzlich wußte ich: das hast du schon einmal erlebt, ach, nicht nur einmal, hundertmal, unzählige Male … Und siehe da! das rote Buch war lebendig geworden, und ich hatte Tante Ursulas Gesicht einen einzigen Augenblick gesehen.

Sie und das rote Buch sind ja so eng verbunden, daß ich keines vom andern lösen kann. Und als drittes gehört dazu die kleine Stube, in der Tante Ursula gewohnt hat, und die ich nie mit der gleichgültigen Selbstverständlichkeit betrat, mit der ich in [101] unsere Zimmer ging. Die gute Stube zwar, ja, die betrat ich auch nicht selbstverständlich. Aber ich haßte sie geradezu. Das Sofa und die Lehnstühle und all die blankpolierten Tische und Schränke sahen so unendlich hochmütig auf das kleine Mädchen herab. Im ganzen großen Zimmer war kein Plätzchen, das einem zugerufen hätte: hier kannst du für dich sitzen und spielen und träumen. Es gab darin nur einen Anziehungspunkt, und der ging von dem Glasschrank aus, in dem schön geordnet hundert seltsame Dinge lagen und standen: Spangen aus farbigem Glas und Ketten aus glänzenden Münzen, hölzerne Näpfe und Töpfe, mit leuchtenden Farben bemalt. Da waren zierliche braune Gestalten, in bunte Stoffe gehüllt, und daneben aus tiefschwarzem Holz geschnitzte Elefanten. Und mitten drin erhob sich ein weißes Märchenschloß mit Türmen und Pfeilern, von Palmen überschattet. Das ganze, unglaublich leichte Gebilde war aus Pflanzenmark geschnitten und schien mir von allem Wunderbaren das Köstlichste zu sein. Einmal, als meine Mutter den Schrank säuberte, hatte ich es in vor Seligkeit zitternden Händen gehalten. Das hatte mir zwar einen Klapps eingetragen, den ich aber im Übermaß meiner Freude kaum spürte. Ich ärgerte mich nur über die dumm und hämisch glotzenden Möbel, die meine Demütigung mitangesehen, und dann ging ich von der scheltenden Mutter weg und stieg die zwei Treppen zu Tante Ursula hinauf.

Da oben wurde immer alles gut, was unten verkehrt gewesen und geschmerzt hatte. Da oben gab es [102] keinen Spott und keine Schläge, keine Mahnreden und kein Schelten. Und wenn ich auch mit sehr traurigen oder sehr rebellischen Gedanken die Treppe hinaufstieg, ich brachte sie gar nicht mehr alle in Tante Ursulas Stube hinein. Sie fingen an von mir abzufallen, noch ehe ich auf der obersten Treppenstufe stand und den Apfelgeruch atmete, der den kleinen Vorplatz erfüllte. Und wenn ich geklopft hatte und, das „Herein“ erwartend, die Klinke ergriff, war mir schon ganz froh zumute.

Freilich, es gab auch schwere Fälle. Da saß dann auf der Treppenstufe ein kleines Mädchen, das sich sehnlichst in das Friedensreich hineinwünschte und es doch nicht wagte weiterzugehen, weil es ganz eingehüllt war in böse, anklagende Gedanken. Aber mit einem Male tat sich eine Türe auf, daß der dämmerige Vorplatz voller Licht wurde, und Tante Ursulas Stimme sagte: „Du, Vroneli, wir haben so lange nicht mehr das rote Buch beschaut. Komm' doch herein, ich habe es schon heruntergeholt.“

Und siehe, das Kind wanderte durch den Lichtschein in Tante Ursulas Stube, und alles war wieder gut, was verkehrt und schlecht gewesen.

Tante Ursula verstand alles, Tante Ursula hatte immer Zeit. Und ihr ganzes Zimmer war voller Köstlichkeiten, die ich wieder und wieder bestaunte, und über die wir uns immer aufs neue unterhielten. Alle Alltagsgeräte, die drunten bei uns nüchtern und seelenlos dreinsahen, hatten hier oben ein Gesicht, erzählten eine Geschichte, und ich war fest überzeugt, [103] daß dies einzig und allein von Tante Ursulas Einfluß herrühre. Der „Ofentapper“ drohte als große schwarze Hand hinter dem Ofen hervor, die Zündhölzer kamen in einem Schlitten angefahren. Auf dem Stuhlkissen stolzierten sieben schwarze Raben, die trugen goldene Kronen auf dem Kopf, und aus dem Fußschemel blühten Rosen und Vergißmeinnicht. Auf dem Rouleau war ein See, drauf schwammen weiße Schwäne, deren einer sicher das häßliche junge Entlein gewesen. Ganz herrlich aber war Tante Ursulas Lampenschirm. Eine ganze Stadt sah man da mit hellerleuchteten Fenstern. Einige Häuser hatten grüne oder rote, andere goldgelbe Scheiben. Es war wunderschön, rund um den Tisch zu gehen und sich auszumalen, wer in den Häusern wohnen und was er dort treiben könnte.

Tante Ursulas Stube war die behaglichste der Welt. Ich habe wenigstens seither keine finden können, die ihr gleichgekommen wäre. Es lag ja nicht an der Gruppierung der alten dunkeln Möbel, nicht an der Übereinstimmung der Farben und Bilder, nicht an den Blumen und Büchern – dies alles habe ich später wiedergefunden. Aber den köstlichen Liebeshauch, der diese ganze kleine Welt erfüllte, ihn habe ich mit Tante Ursula verloren.

Woher das rote Buch eigentlich stammte, kann ich nicht sagen. Es wird ja wohl einen Titel, einen Verfasser und Verleger gehabt haben – all dies hat mich damals nicht interessiert. Der Name „rotes Buch“ rührte von der leuchtend roten Einbanddecke her.

[104] Und nun, was stand darin? Alles, einfach alles. Und mehr kann man wahrlich nicht von einem Buch verlangen. Vorne drin war das Bild vom breiten und schmalen Weg. Wir beide hätten es ein wenig anders gemalt, denn der schmale Weg sah denn doch gar zu freudenarm und düster drein. Und es seien doch, meinte Tante Ursula, just die schmalen, stillen Wege, auf denen die Freude blühe.

Auch konnten wir nicht glauben, daß ihn nur so wenige Menschen gefunden, während sie sich auf dem breiten Weg drängten. „Weißt du, Herzkind,“ sagte Tante Ursula, „man hätte überhaupt statt des einen schmalen Weges viele schmale Weglein machen sollen, die alle zu Gottes Haus hinführen. Schmal sind sie ja wohl und vor allem still, denn sonst können wir nicht in uns hineinhorchen, und doch hören wir dort am deutlichsten die Stimme, die uns den rechten Weg zeigt.“ –

Von den Tieren wußte das rote Buch eine Menge zu erzählen, ja, es war darin geradezu unerschöpflich, denn Tante Ursula entdeckte immer wieder etwas, das sie noch nie zuvor gelesen.

So kam es, daß ich keinem Tierlein ein Leides tun konnte und wenn ich ein totes fand, es mit Tränen in die Erde bettete. Aber näher als die Tierwelt stand meinem Herzen die der Blumen. Ich sprach mit ihnen, in leisestem Flüsterton, denn dies schien mir die Sprache der Blumen zu sein.

Das rote Buch hatte mich gelehrt, auf einer jeden Geschichte zu lauschen. Königskerzen … die waren [105] erstmals aus der Erde emporgestiegen und hatten stolz und leuchtend zu beiden Seiten des Weges gestanden, als das verratene Königskind aus der Heimat wandern mußte. Rittersporn … der muß die goldenen Ähren schützen und steht darum am Ackerrand. Aber die rote Mohnblume hat sich zu ihm gesellt. Sie breitet ihr seiden Gewand in die Sonne und freut sich, daß der liebe Gott sie also geschaffen.

Schwertlilie … sie hat die seltsamste Geschichte von allen. Ich konnte mich lange, lange lautlos dem geheimnisvollen Zauber hingeben, der aus ihren wundersam gebogenen Blättern, der herrlichen Farbe, dem starken Duft zu strömen schien. So weiß ich nicht, ob ich ihr Märchen aus ihr selbst oder aus dem roten Buch gehört.

… Einmal stand im Wald hoch über den rauschenden Bäumen eine Burg. Drin lebte mitten unter den rauhen Kriegsgesellen des Ritters Töchterlein. Die war holdselig wie ein junges Bäumlein, über dem der erste Blütenschnee liegt, und hatte warme Augen voll ruhigen Glanzes. Doch schöner noch als die Rosen ihrer Wangen blühten die Gedanken ihres Herzens.

Alle die Ritter und Knappen, die Dienstmannen bis hinab zum jüngsten Knechtlein liebten sie, wie sie das Bild Unserer Lieben Frauen in der kleinen Kapelle liebten.

Aber einmal kam ein junger Rittersmann, der bog sein Knie vor der Holden und bat sie, ihm [106] zu folgen nach seiner Väter Burg als sein trautes Ehgemahl. Und sie gab ihm ihr Jawort, und die Hochzeit sollte gefeiert werden. Aber in der Nacht vor dem Fest brach ein Feind in die Burg ein, überwältigte die schlafenden Mannen, und bald loderte weithin sichtbar eine steile Flamme empor. Dem jungen Ritter war es jedoch gelungen, mit der Holden zu entfliehen. Er hoffte sie in seine eigene schützende Burg zu bringen. Aber als der Morgen graute, sahen sich die beiden, die, um Ausschau zu halten, auf einen kleinen Hügel gestiegen, rings von den Feinden umzingelt. „Mein die herrliche Beute!“ rief einer der Verfolger und teilte mit starken Armen die Büsche, um rascher zur Höhe zu gelangen. Da schrie die Holde in ihres Herzens Not zu allen Heiligen um Beistand, während der Ritter sein breites Schwert aus der Scheide riß, daß es weithin einen blitzenden Schein warf.

Immer näher rückten die Verfolger. Da – mit einem Male blieben sie stehen wie gebannt. Wo waren die Jungfrau und der Ritter? Eben noch hatten sie da oben gestanden, sie in einem blaßfarbenen Gewand, über das silberhelles Haar floß, er das blitzende Schwert in der Faust. Und nun, wo waren sie hingeraten?

Die Verfolger suchten und suchten, aber sie fanden nirgends ein Versteck, darein sich die beiden hätten bergen können. Enttäuscht und mißmutig gingen sie endlich davon. Nur einer, dessen Augen still und nachdenklich schauten, stieg, als sich die andern zerstreut, [107] langsam zur Höhe. Und da er sie erreicht, erblickte er, warm beschienen vom Licht der Sonne, eine Blume, wie er noch keine zuvor gesehen.

Sie reckte sich hoch und schlank, in einen wundersamen Duft gehüllt. Ihr Kelch war geschlossen, als hüte sie ein seliges Geheimnis, und war doch geöffnet, als biete sie allen das Wunder ihrer zartgeäderten bläulichen Blätter …

Der fremde Ritter neigte sich tiefer und tiefer. Glich diese wundersame Blume nicht dem Frauenbild, das er vor kurzem hier oben geschaut? Glich sie nicht dem Frauenbild, das er ersehnend im Herzen trug?

Da gewahrte er plötzlich rings um die Blume hohe grüne Blätter. Die sahen drein wie spitze, drohend gezückte Schwerter. Der Ritter trat zurück.

„Nimmer wird meine Hand dich berühren, Schwert – Lilie du! Hat nicht ein Wunder dich geboren und in unsre rauhe Welt gestellt?“ –

Es waren in dem Buche auch drei in den feinsten Farben gemalte Bilder, von einem Kranz tanzender Buchstaben umrahmt, die die Worte ergaben: die grüne, die silberne und die goldene Hochzeit.

Das erste Bild zeigte ein jugendliches Paar, das über eine Frühlingswiese schritt, gefolgt von einem fröhlich durcheinanderwogenden Zug festlicher Menschen.

Auf dem zweiten Bild lachte eine schön geschmückte und reich besetzte Tafel. Die Gäste hatten sich eben erhoben und scharten sich, jeder ein hohes, blitzendes [108] Glas in der Hand, um ein älteres, zufrieden lächelndes Paar.

Auf dem dritten Bild saß ein altes Paar, auf einem niedern Kanapee aneinandergelehnt, und schlief. Durch das freundlich umrankte Fenster glitt ein Sonnenstrahl just über die weißen Häupter hin und ließ sie silbern aufleuchten.

Deshalb fand ich die Unterschriften der Bilder falsch. Dies Bild sollte silberne Hochzeit heißen. Das andere Bild, wo der Wein wie Gold in den Gläsern glänzte, wo die Frauen goldene Ketten trugen und die Braut gar ein goldenschimmerndes Kleid – das mochte den Namen goldene Hochzeit tragen.

Einmal, als Tante Ursula das Buch mit mir beschaute, trug ich ihr meine Ansicht vor. Sie lächelte, strich mir die Haare aus der Stirn und sagte: „Manchmal hat ja mein Kind ganz gute Einfälle. Aber diesmal, nein diesmal hast du doch nicht recht. Erst silbern, dann golden.“

Ich stützte meine Hände auf ihr Knie. „Tante Ursula, warum sagt man grün und silbern und golden?“

„Warum? Man könnte es sich vielleicht so denken … Am ersten Hochzeitstag, wenn die Welt wie lauter Frühling dreinsieht, da schenkt der liebe Gott dem jungen Paar ein wunderschönes zartes, frischgrünes Zweiglein. Habt wohl acht dazu, sagt er, daß es nicht verdorrt und kein Blättlein verloren geht.“

„Ja, Tante Ursula, kann denn ein Zweiglein immer grün bleiben? Weißt du, im Winter –“

[109] „Nein, grün bleibt das Zweiglein nicht, das ist nicht möglich. Aber höre nur weiter. Wenn das junge Paar das Zweiglein sorglich hütet, dann geschieht etwas Wunderbares damit: es wird immer glänzender, und am silbernen Hochzeitstag – ja, da ist's ein silbernes Zweiglein, das das Paar in den Händen hält.“

„Aber Tante Ursula, wie ist es denn ein silbernes Zweiglein geworden?“

„Von den Sonnenstrahlen, die es berührten, Herzkind, und von den lieben Blicken, die drüber gingen und – ja, auch von den Tränen, die drauf fielen. Das verstehst du noch nicht, aber glaub' mir's nur, es ist so.“

„Und dann, Tante Ursula, wie geht's weiter mit dem Zweiglein?“

„Du willst wissen, wie aus dem silbernen ein goldenes wird? Ja, das ist viel schwerer, denn, weißt du, wenn die Menschen älter werden, werden sie oft auch müder und kälter und härter. Das Zweiglein kann aber nur unter ganz guten und ganz warmen Augen zu einem goldenen werden … Ach, eigentlich kriegen wir Menschen alle, nicht erst und nicht nur am Hochzeitstag, ein solches Zweiglein in die Hand.“

„Ich auch, Tante Ursula, ich auch?“

„Du auch, Herzkind, ganz gewiß. Wenn du ein wenig älter bist, wirst du es sehen, und dann sieh zu, daß du es sorglich hütest.“ –

Eine Geschichte handelte von dem Manne, der zur Himmelspforte wanderte. Er zog die Glocke, [110] und der heilige Petrus fragte durchs Schiebefensterchen nach seinem Begehr. Da bat der Mann um ein Schloß, um Dienerschaft und um ein weiches Bett, um gut Essen und Trinken – genau um das, was er all die Jahre auf Erden gerne gehabt hätte, und um das er die Reichen immer beneidet hatte. Und er kriegte das Schloß und kriegte alle Tage Bratwurst und Kartoffelsalat und hintennach kandierte Früchte und Backwerk. Aber nach einigen Wochen war ihm alles entleidet.

Da schickte er seinen Diener zum heiligen Petrus und ließ ihn zu sich bitten. Und als der heilige Petrus kam, tat der Mann sehr unwirsch und höhnte: „Das ist mir ein schöner Himmel, wo man's vor Langeweile kaum aushält!“

„Wer redet denn vom Himmel?“ sagte der heilige Petrus. „Guter Freund, du bist nicht im Himmel, du bist in der Hölle. Schau' nur durchs Fenster.“

Der heilige Petrus ging weg. Der Mann aber schlich mit schlotternden Knien ans Fenster und schaute hinaus. Aber er sah nichts, rein nichts. Er probierte ein Fenster nach dem andern, hinten und vorn, oben und unten – überall war dieselbe dicke Finsternis. Da zog der Mann die Vorhänge zu, aber das Furchtbare war: die Finsternis hatte Augen, tausend tote, schwarze Augen, die glotzten auch durch die Vorhänge.

Da fing der Mann an, sich nach dem Licht zu sehnen. Nicht nach dem künstlichen, das in seinen Zimmern brannte, nein, dieses haßte er, wie er die [111] Finsternis vor seinen Fenstern haßte. Er wanderte ruhelos in seinem Schloß umher und suchte, suchte nach einem Lichtfunken. Da geriet er einmal in ein Dachkämmerchen, das hatte hoch oben ein kleines Fenster.

„Ach, dies Guckloch wird mir so wenig nützen wie alle die andern,“ seufzte der Mann. Aber er reckte sich doch auf die Zehen, um durch die kleine Scheibe zu spähen, und da stieß er einen Schrei aus, denn er sah Licht, Licht! Zwar war es nur ein schmaler Streifen, der durch eine Türritze quoll. Aber der Mann glaubte nie etwas Schöneres gesehen zu haben. Er starrte wie gebannt auf den Lichtstreifen und vergaß darüber sein Schloß und sein weiches Bett, vergaß seine Dienerschaft und Essen und Trinken. Nur wenn ihn sein mühsam gereckter Körper gar zu sehr schmerzte, setzte er sich auf eine Kiste, die im Dachkämmerchen stand. Aber er hielt es nie lange aus, seine Sehnsucht nach dem Lichtstreifen war zu groß.

Einmal, nach langer Zeit, sah der Mann, wie sich die Ritze ein wenig vergrößerte … der Lichterstrahl wurde breiter und goldener und warf einen blassen Widerschein in das Kämmerchen. In dem Glanze aber sah der Mann selige Gestalten wandeln. Er hörte Klänge, die waren von so leuchtender Schöne, daß sich seine Augen mit Tränen füllten. Und wie das Licht immer breiter und goldener quoll, erkannte der Mann, daß er in den Himmel blicke. –

[112] Hier schloß die Geschichte in dem roten Buch, und ich war das erste Mal, als sie mir Tante Ursula vorgelesen, ganz verzweifelt. Aber Tante Ursula lächelte nur und sagte: „Die Geschichte geht nur hier im Buch zu Ende, Vroneli. Du mußt gar nicht traurig sein, denn nun erzählen wir sie uns weiter, du und ich. Und du wirst schon sehen, es kommt zu einem guten Ende. Denn das kannst du dir doch denken: wer so sehnsüchtig nach dem Lichte schaut, der hat auch einmal hineinwandeln dürfen. Das weiß ich ganz gewiß. Und heute nacht will ich ein wenig drüber nachdenken und es dir morgen sagen.“

Ich wischte mir die letzten Tränen von den Backen und sagte: „Ja … vielleicht ist das Licht auf einmal eine Brücke geworden, und dann hat er darauf hinübergehen können. Aber das kleine Fenster – da war er wohl zu dick. Wie ist er nur durchs Fenster gekommen, Tante Ursula?“

„Ich sage dir's morgen,“ tröstete Tante Ursula. „Es kommt alles zu einem guten Ende, ganz gewiß.“

So habe ich auch dieses aus dem roten Buch gelernt, daß man nicht ob des sichtbaren Endes, das eine Geschichte hat, verzweifeln muß, sondern sich des verborgenen guten Endes getrösten darf, das von einem „morgen“ enthüllt werden wird.