Title : Vom Musikalisch-Schönen
Author : Eduard Hanslick
Release date : October 18, 2008 [eBook #26949]
Language : German
Credits
: Produced by Jana Srna, Norbert H. Langkau and the Online
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Anmerkungen zur Transkription:
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In MIDI und PDF des Musikbeispiels auf Seite 38 wurden folgende Korrekturen vorgenommen:
Abgesehen von diesen Änderungen wurde das Musikbeispiel wie im Original belassen. Die heutige Aufführungspraxis weicht von der Notation in diesem Buch ab.
VON
Dr. EDUARD HANSLICK
WEILAND PROF. AN DER WIENER UNIVERSITÄT
13.–15. AUFLAGE
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG von BREITKOPF & HÄRTEL
1922
Seite | |
Kapitel I. | |
Die Gefühlsästhetik | 1 |
Kapitel II. | |
Die »Darstellung von Gefühlen« ist nicht Inhalt der Musik | 20 |
Kapitel III. | |
Das Musikalisch-Schöne | 58 |
Kapitel IV. | |
Analyse des subjektiven Eindruckes der Musik | 93 |
Kapitel V. | |
Das ästhetische Aufnehmen der Musik gegenüber dem pathologischen | 120 |
Kapitel VI. | |
Die Beziehungen der Tonkunst zur Natur | 141 |
Kapitel VII. | |
Die Begriffe »Inhalt« und »Form« in der Musik | 160 |
‹Seite III ›
An der achten Auflage (1891) dieser zuerst im Jahre 1854 erschienenen Schrift war nichts weiter neu, als das passendere Format und die geschmackvollere Ausstattung. Dasselbe gilt von der hier vorliegenden neuen Auflage. Auch dieser darf ich die Worte anpassen, welche Fr. Th. Vischer dem Wiederabdruck einer älteren Abhandlung (» der Traum «) vorausschickte. [1] »Ich nehme«, sagt Vischer, »diese Studie in die gegenwärtige Sammlung auf, ohne sie gegen Angriffe, die sie erfahren hat, zu schützen. Auch verbessernden Überarbeitens habe ich mich enthalten, ausgenommen kleine unwichtige Nachhilfen. Ich würde jetzt manches vielleicht anders sagen, mehr auseinandersetzen, gedeckter, beschirmter hinstellen; wem gefällt eine Arbeit ganz, wenn er sie nach Jahren wieder liest? Allein man weiß auch, wie leicht mit nachbesserndem Eingreifen mehr verderbt als besser gemacht wird.«
Wollte ich hier in Polemik eingehen, auf alle Kritiken antwortend, welche meine Schrift hervorgerufen hat, so würde dies Büchlein zu einem erschreckend starken Band anschwellen. Meine Überzeugungen ‹Seite IV › sind dieselben geblieben, desgleichen die Positionen und schroff sich gegenüberstehenden Musikparteien der Gegenwart. Der Leser wird mir daher wohl auch die Wiederholung einiger Bemerkungen gestatten, mit welchen ich das Erscheinen der dritten Auflage begleitet habe. Der Mängel dieser Abhandlung bin ich mir sehr lebhaft bewußt. Demungeachtet hat das weit über Erwarten günstige Schicksal der früheren Auflagen und der mich hocherfreuende Anteil, mit welchem bedeutende Fachmänner philosophischer wie musikalischer Disziplin davon Akt nahmen, mich überzeugt, daß meine Ideen, auch in der etwas scharfen und rhapsodischen Weise ihres ursprünglichen Auftretens, auf gutes Erdreich gefallen sind. Eine merkwürdige Übereinstimmung mit diesen Anschauungen fand ich, aufs freudigste überrascht, in den erst nach dem Tode des Dichters erschienenen kleinen Aufsätzen und Aphorismen über Musik von Grillparzer . Einige der wertvollsten dieser Aussprüche habe ich in dieser neuen Auflage zu zitieren mir nicht versagen können; ausführlicher davon ist in meinem Essay: » Grillparzer und die Musik « gehandelt. [2]
Leidenschaftliche Gegner haben mir mitunter eine vollständige Polemik gegen alles, was Gefühl heißt, aufgedichtet, während jeder unbefangene und aufmerksame Leser doch unschwer erkennt, daß ich nur gegen die falsche Einmischung der Gefühle in ‹Seite V › die Wissenschaft protestiere, also gegen jene ästhetischen Schwärmer kämpfe, die mit der Prätension, den Musiker zu belehren, nur ihre klingenden Opiumträume auslegen. Ich teile vollkommen die Ansicht, daß der letzte Wert des Schönen immer auf unmittelbarer Evidenz des Gefühls beruhen wird. Aber ebenso fest halte ich an der Überzeugung, daß man aus all den üblichen Appellationen an das Gefühl nicht ein einziges musikalisches Gesetz ableiten kann.
Diese Überzeugung bildet den einen, den negativen Hauptsatz dieser Untersuchung. Er wendet sich zuerst und vornehmlich gegen die allgemein verbreitete Ansicht, die Musik habe »Gefühle darzustellen«. Es ist nicht einzusehen, wie man daraus die »Forderung einer absoluten Gefühllosigkeit der Musik« herleiten will. Die Rose duftet, aber ihr »Inhalt« ist doch nicht »die Darstellung des Duftes«; der Wald verbreitet schattige Kühle, allein er stellt doch nicht »das Gefühl schattiger Kühle dar «. Es ist kein müßiges Wortgefecht, wenn ausdrücklich gegen den Begriff »darstellen« vorgegangen wird; denn aus ihm sind die größten Irrtümer der musikalischen Ästhetik entsprungen. Etwas »darstellen« involviert immer die Vorstellung von zwei getrennten, verschiedenen Dingen, deren eines erst ausdrücklich durch einen besonderen Akt auf das andere bezogen wird.
Emanuel Geibel hat durch ein glückliches Bild dies Verhältnis anschaulicher und erfreulicher ausgedrückt, ‹Seite VI › als philosophische Analyse es vermochte, und zwar in den Distichen: [3]
Wenn dies schöne Sinngedicht obendrein unter dem nachhallenden Eindruck dieser Schrift entstand, wie ich zu vermuten Anlaß habe, so muß sich meine, von poetischen Gemütern zumeist verketzerte, Anschauung doch auch mit wahrer Poesie leidlich vertragen.
Jenem negativen Hauptsatz steht korrespondierend der positive gegenüber: die Schönheit eines Tonstücks ist spezifisch musikalisch , d. h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf einen fremden, außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend. Es lag in der redlichen Absicht des Verfassers, das »Musikalisch-Schöne« als Lebensfrage unserer Kunst und oberste Norm ihrer Ästhetik vollständig zu beleuchten. Wenn trotzdem das polemische, negierende Element in der Ausführung ein Übergewicht erlangt, so wird man dieses in Erwägung der besonderen Zeitumstände hoffentlich entschuldigen. Als ich diese Abhandlung schrieb, waren die Wortführer der Zukunftsmusik eben am lautesten bei Stimme und mußten wohl Leute von meinem Glaubensbekenntnis ‹Seite VII › zur Reaktion reizen. Als ich die zweite Auflage veranstaltete, waren eben Liszts Programm-Symphonien hinzugekommen, welche vollständiger, als es bisher gelungen ist, die selbständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben. Seither besitzen wir nun auch Richard Wagners » Tristan «, » Nibelungenring « und seine Lehre von der » unendlichen Melodie «, d. h. die zum Prinzip erhobene Formlosigkeit, den gesungenen und gegeigten Opiumrausch, für dessen Kultus ja in Bayreuth ein eigener Tempel eröffnet worden ist.
Man möge es mir zugute halten, wenn ich angesichts solcher Zeichen keine Neigung fühlte, den polemischen Teil meiner Schrift zu kürzen oder abzuschwächen, sondern im Gegenteil noch dringender auf das Eine und Unvergängliche in der Tonkunst, auf die musikalische Schönheit hinwies, wie sie unsere großen Meister verkörperten und echt musikalische Erfinder auch in aller Zukunft pflegen werden.
Ed. H.
‹Seite 1 ›
Die bisherige Behandlungsweise der musikalischen Ästhetik leidet fast durchaus an dem empfindlichen Mißgriff, daß sie sich nicht sowohl mit der Ergründung dessen, was in der Musik schön ist, als vielmehr mit der Schilderung der Gefühle abgibt, die sich unser dabei bemächtigen. Diese Untersuchungen entsprechen vollständig dem Standpunkt jener älteren ästhetischen Systeme, welche das Schöne nur in bezug auf die dadurch wachgerufenen Empfindungen betrachteten und bekanntlich auch die Philosophie des Schönen als eine Tochter der Empfindung ( αἴσθησις ) aus der Taufe hoben.
An und für sich unphilosophisch, bekommen solche Ästhetiken in ihrer Anwendung auf die ätherischeste aller Künste geradezu etwas Sentimentales; das, so erquickend als möglich für schöne Seelen, dem Lernbegierigen äußerst wenig Aufklärung bietet. Wer über das Wesen der Tonkunst Belehrung sucht, der wünscht eben aus der dunklen Herrschaft des Gefühls herauszukommen, und nicht – wie ihm in den meisten Handbüchern geschieht – fortwährend auf das Gefühl verwiesen zu werden.
‹Seite 2 › Der Drang nach einer möglichst objektiven Erkenntnis der Dinge, wie er in unserer Zeit alle Gebiete des Wissens bewegt, muß notwendig auch an die Erforschung des Schönen rühren. Diese wird ihm nur dadurch genügen können, daß sie mit einer Methode bricht, welche vom subjektiven Gefühl ausgeht, um nach einem poetischen Spaziergang über die ganze Peripherie des Gegenstandes wieder zum Gefühl zurückzukehren. Sie wird, will sie nicht ganz illusorisch werden, sich der naturwissenschaftlichen Methode wenigstens so weit nähern müssen, daß sie versucht, den Dingen selbst an den Leib zu rücken, und zu forschen, was in diesen, losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, das Bleibende, Objektive sei.
Die Poesie und die bildenden Künste sind in ihrer ästhetischen Erforschung und Begründung dem gleichen Erwerb der Tonkunst weit voraus. Ihre Gelehrten haben größtenteils den Wahn abgelegt, es könne die Ästhetik einer bestimmten Kunst durch bloßes Anpassen des allgemeinen, metaphysischen Schönheitsbegriffs (der doch in jeder Kunst eine Reihe neuer Unterschiede eingeht) gewonnen werden. Die knechtische Abhängigkeit der Spezial-Ästhetiken von dem obersten metaphysischen Prinzip einer allgemeinen Ästhetik weicht immer mehr der Überzeugung, daß jede Kunst in ihren eigenen technischen Bestimmungen gekannt, aus sich selbst heraus begriffen sein will. Das »System« macht allmählich der »Forschung« Platz, und diese hält fest an dem ‹Seite 3 › Grundsatz, daß die Schönheitsgesetze jeder Kunst untrennbar sind von den Eigentümlichkeiten ihres Materials, ihrer Technik. [4]
Sodann pflegen die Ästhetiken der redenden und der bildenden Künste, sowie ihre praktischen Ausläufer, die Kunstkritiken, bereits die Regel festzuhalten, daß in ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne Objekt und nicht das empfindende Subjekt zu erforschen ist.
Die Tonkunst allein scheint diesen sachlichen Standpunkt noch immer nicht erringen zu können. Sie scheidet streng ihre theoretisch-grammatikalischen ‹Seite 4 › Regeln von den ästhetischen Untersuchungen und liebt es, erstere so trocken verständig, letztere so lyrisch-sentimental als möglich zu halten. Sich ihren Inhalt als eine selbständige Art des Schönen klar und scharf gegenüberzustellen, war der musikalischen Ästhetik bisher eine unerschwingliche Anstrengung. Statt dessen treiben da die »Empfindungen« den alten Spuk bei hellichtem Tage fort. Das musikalisch Schöne wird nach wie vor nur von Seite seines subjektiven Eindrucks angesehen, und in Büchern, Kritiken und Gesprächen täglich bekräftigt, daß die Affekte die einzige ästhetische Grundlage der Tonkunst und allein berechtigt seien, die Grenzen des Urteils über dieselbe abzustecken.
Die Musik – so wird uns gelehrt – kann nicht durch Begriffe den Verstand unterhalten, wie die Dichtkunst, ebensowenig durch sichtbare Formen das Auge, wie die bildenden Künste, also muß sie den Beruf haben, auf die Gefühle des Menschen zu wirken. »Die Musik hat es mit den Gefühlen zu tun.« Dieses »zu tun haben« ist einer der charakteristischen Ausdrücke der bisherigen musikalischen Ästhetik. Worin der Zusammenhang der Musik mit den Gefühlen, bestimmter Musikstücke mit bestimmten Gefühlen bestehe, nach welchen Naturgesetzen er wirke, nach welchen Kunstgesetzen er zu gestalten sei, darüber ließen uns diejenigen vollkommen im Dunkeln, die eben damit »zu tun« hatten. Erst wenn man sein Auge ein wenig an dieses Dunkel gewöhnt hat, gelangt man dahin, zu ‹Seite 5 › entdecken, daß in der herrschenden musikalischen Anschauung die Gefühle eine doppelte Rolle spielen.
Fürs erste wird als Zweck und Bestimmung der Musik aufgestellt, sie solle Gefühle oder »schöne Gefühle« erwecken. Fürs zweite bezeichnet man die Gefühle als den Inhalt , welchen die Tonkunst in ihren Werken darstellt.
Beide Sätze haben das Ähnliche, daß der eine genau so falsch ist, wie der andere.
Die Widerlegung des ersteren, die meisten musikalischen Handbücher einleitenden Satzes darf uns nicht lange aufhalten. Das Schöne hat überhaupt keinen Zweck ; denn es ist bloße Form , welche zwar nach dem Inhalt , mit dem sie erfüllt wird, zu den verschiedensten Zwecken verwandt werden kann, aber selbst keinen andern hat, als sich selbst. Wenn aus der Betrachtung des Schönen angenehme Gefühle für den Betrachter entstehen, so gehen diese das Schöne als solches nichts an. Ich kann wohl dem Betrachter Schönes vorführen in der bestimmten Absicht, daß er daran Vergnügen finde, allein diese Absicht hat mit der Schönheit des Vorgeführten selbst nichts zu schaffen. Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird; also zwar nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjekts, aber nicht durch dasselbe.
Von einem Zweck kann also in diesem Sinn auch bei der Musik nicht gesprochen werden, und die Tatsache, daß diese Kunst in einem lebhaften ‹Seite 6 › Zusammenhang mit unseren Gefühlen steht, rechtfertigt keineswegs die Behauptung, es liege in diesem Zusammenhange ihre ästhetische Bedeutung.
Um dieses Verhältnis näher zu untersuchen, müssen wir vorerst die Begriffe »Gefühl« und »Empfindung« – gegen deren Verwechselung im gewöhnlichen Sprachgebrauch nichts einzuwenden ist – hier streng unterscheiden.
Empfindung ist das Wahrnehmen einer bestimmten Sinnesqualität: eines Tons, einer Farbe. Gefühl das Bewußtwerden einer Förderung oder Hemmung unseres Seelenzustandes, also eines Wohlseins oder Mißbehagens. Wenn ich den Geruch oder Geschmack eines Dinges, dessen Form, Farbe oder Ton mit meinen Sinnen einfach wahrnehme (perzipiere), so empfinde ich diese Qualitäten; wenn Wehmut, Hoffnung, Frohsinn oder Haß mich bemerkbar über den gewöhnlichen Seelenzustand emporheben oder unter denselben herabdrücken, so fühle ich . [5]
Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Dieser Weg ist ihm nicht eigentümlich, es teilt ihn mit allem überhaupt Erscheinenden. Die Empfindung ist Anfang und Bedingung des ästhetischen Gefallens und bildet erst die Basis des Gefühls , welches ‹Seite 7 › stets ein Verhältnis und oft die kompliziertesten Verhältnisse voraussetzt. Empfindungen zu erregen bedarf es nicht der Kunst; ein einzelner Ton, eine einzelne Farbe kann das. Wie gesagt, werden beide Ausdrücke willkürlich vertauscht, meistens aber in älteren Werken »Empfindung« genannt, was wir als »Gefühl« bezeichnen. Unsere Gefühle also, meinen jene Schriftsteller, solle die Musik erregen und uns abwechselnd mit Andacht, Liebe, Jubel, Wehmut erfüllen.
Solche Bestimmung hat aber in Wahrheit weder diese noch eine andere Kunst. Die Kunst hat vorerst ein Schönes darzustellen. Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, [6] sondern die Phantasie , als die Tätigkeit des reinen Schauens.
Merkwürdig ist es, wie die Musiker und älteren Ästhetiker sich nur in dem Kontrast von »Gefühl« und »Verstand« bewegen, als läge nicht die Hauptsache gerade inmitten dieses angeblichen Dilemmas. Aus der Phantasie des Künstlers entsteigt das Tonstück für die Phantasie des Hörers. Freilich ist die ‹Seite 8 › Phantasie gegenüber dem Schönen nicht bloß ein Schauen , sondern ein Schauen mit Verstand , d. i. Vorstellen und Urteilen, letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die einzelnen Vorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen, und die Täuschung entsteht, es geschehe unmittelbar , was doch in Wahrheit von vielfach vermittelnden Geistesprozessen abhängt. Das Wort »Anschauung«, längst von den Gesichtsvorstellungen auf alle Sinneserscheinungen übertragen, entspricht überdies trefflich dem Akte des aufmerksamen Hörens, welches ja in einem sukzessiven Betrachten der Tonformen besteht. Die Phantasie ist dabei keineswegs ein abgeschlossenes Gebiet: so wie sie ihren Lebensfunken aus den Sinnesempfindungen zog, sendet sie wiederum ihre Radien schnell an die Tätigkeit des Verstandes und des Gefühls aus. Dies sind für die echte Auffassung des Schönen jedoch nur Grenzgebiete.
In reiner Anschauung genießt der Hörer das erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein solches ist aber die Tendenz, Affekte in sich erregen zu lassen. Ausschließliche Betätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich gerade pathologisch .
Alles das, von der allgemeinen Ästhetik längst entwickelt, gilt gleichmäßig für das Schöne aller Künste. Behandelt man also die Musik als Kunst , so muß man die Phantasie und nicht das Gefühl ‹Seite 9 › als die ästhetische Instanz derselben erkennen. Der bescheidene Vordersatz scheint uns darum rätlich, weil bei dem wichtigen Nachdruck, welcher unermüdlich auf die durch Musik zu erzielende Sänftigung der menschlichen Leidenschaften gelegt wird, man in der Tat oft nicht weiß, ob von der Tonkunst als von einer polizeilichen, einer pädagogischen oder medizinischen Maßregel die Rede ist.
Die Musiker sind aber weniger in dem Irrtume befangen, alle Künste gleichmäßig den Gefühlen vindizieren zu wollen, als sie darin vielmehr etwas spezifisch der Tonkunst Eigentümliches sehen. Die Macht und Tendenz, beliebige Affekte im Hörer zu erwecken, sei es eben, was die Musik vor den übrigen Künsten charakterisiere. [7]
Allein so wenig wir diese Wirkung als die Aufgabe der Künste überhaupt anerkannten, so wenig können wir in ihr das spezifische Wesen der Musik erblicken. Einmal festgehalten, daß die Phantasie das eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine sekundäre Wirkung auf das Gefühl in jeder Kunst ‹Seite 10 › vorkommen. Bewegt uns nicht ein großes Geschichtsbild mit der Kraft eines Erlebnisses? Stimmen uns Raphaels Madonnen nicht zur Andacht, Poussins Landschaften nicht zu sehnsüchtiger Wanderlust? Bleibt etwa der Anblick des Straßburger Doms ohne Wirkung auf unser Gemüt? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Sie gilt ebenso von der Poesie, ja von mancher außerästhetischen Tätigkeit, z. B. religiöser Erbauung, Eloquenz u. a. Wir sehen, daß die übrigen Künste ebenfalls stark genug auf das Gefühl einwirken. Den angeblichen prinzipiellen Unterschied derselben von der Musik müßte man daher auf ein Mehr oder Weniger dieser Wirkung basieren. Ganz unwissenschaftlich an sich, hätte dieser Ausweg obendrein die Entscheidung, ob man stärker und tiefer fühle bei einer Mozartschen Symphonie oder bei einem Trauerspiele Shakespeares, bei einem Gedicht von Uhland oder einem Hummelschen Rondo, füglich jedermann selbst zu überlassen. Meint man aber, die Musik wirke »unmittelbar« auf das Gefühl, die andern Künste erst durch die Vermittlung von Begriffen, so fehlt man nur mit andern Worten, weil, wie wir gesehen, die Gefühle auch von dem Musikalisch-Schönen nur in zweiter Linie beschäftigt werden sollen, unmittelbar nur die Phantasie. Unzähligemal wird in musikalischen Abhandlungen die Analogie herbeigerufen, die zweifellos zwischen der Musik und der Baukunst besteht. Ist aber je einem vernünftigen Architekten beigefallen, die Baukunst habe den Zweck , ‹Seite 11 › Gefühle zu erregen, oder es seien diese der Inhalt derselben?
Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgendeine Beziehung zu unserm Fühlen setzen, keines in eine ausschließliche. Man sagt also gar nichts für das ästhetische Prinzip der Musik Entscheidendes, wenn man sie nur ganz allgemein durch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisiert. Ebensowenig etwa, als man das Wesen des Weins ergründet, indem man sich betrinkt. Es wird einzig auf die spezifische Art ankommen, wie solche Affekte durch Musik hervorgerufen werden. Statt also an der sekundären und unbestimmten Gefühlswirkung musikalischer Erscheinungen zu kleben, gilt es, in das Innere der Werke zu dringen und die spezifische Kraft ihres Eindrucks aus den Gesetzen ihres eigenen Organismus zu erklären. Ein Maler oder ein Poet überredet sich kaum mehr, Rechenschaft von dem Schönen seiner Kunst abgelegt zu haben, wenn er untersuchte, welche »Gefühle« seine Landschaft oder sein Drama hervorruft: er wird der zwingenden Macht nachspüren, warum das Werk gefällt und weshalb gerade in dieser und keiner andern Weise. Daß diese Untersuchung, wie wir später sehen werden, in der Tonkunst viel schwieriger ist als in den andern Künsten, ja daß das Erforschliche in ihr nur bis zu einer gewissen Tiefe hinabreicht, berechtigt ihre Kritiker noch lange nicht, Gefühlsaffektionen und musikalische Schönheit unmittelbar zu vermengen, statt sie in wissenschaftlicher Methode möglichst getrennt darzustellen.
‹Seite 12 › Kann überhaupt das Gefühl keine Basis für ästhetische Gesetze sein, so ist obendrein gegen die Sicherheit des musikalischen Fühlens Wesentliches zu bemerken. Wir meinen hier nicht bloß die konventionelle Befangenheit, die es ermöglicht, daß unser Fühlen und Vorstellen oft durch Texte, Überschriften und andere bloß gelegentliche Gedankenverbindungen, besonders in Kirchen-, Kriegs- und Theaterkompositionen eine Richtung erhält, welche wir fälschlich dem Charakter der Musik an sich zuzuschreiben geneigt sind. Vielmehr ist überhaupt der Zusammenhang eines Tonstückes mit der dadurch hervorgerufenen Gefühlsbewegung kein unbedingt kausaler, sondern es wechselt diese Stimmung mit dem wechselnden Standpunkt unserer musikalischen Erfahrungen und Eindrücke. Wir begreifen heute oft kaum, wie unsere Großeltern diese Tonreihe für einen entsprechenden Ausdruck gerade dieses Affekts ansehen konnten. Dafür ist z. B. die außerordentliche Verschiedenheit ein Beweis, mit der viele Mozartsche, Beethovensche und Webersche Kompositionen zur Zeit ihrer Neuheit im Gegensatz zu heute auf die Herzen der Hörer wirkten. Wie viele Werke von Mozart erklärte man zu ihrer Zeit für das Leidenschaftlichste, Feurigste und Kühnste, was überhaupt an musikalischen Stimmungsbildern möglich schien. Der Behaglichkeit und dem reinen Wohlsein, welches aus Haydns Symphonien ausströme, stellte man die Ausbrüche heftiger Leidenschaft, ernstester Kämpfe, bitterer, schneidender ‹Seite 13 › Schmerzen in Mozarts [8] Musik gegenüber. Zwanzig bis dreißig Jahre später entschied man genau so zwischen Beethoven und Mozart. Die Stelle Mozarts als Repräsentanten der heftigen, hinreißenden Leidenschaft nahm Beethoven ein, und Mozart war zu der olympischen Klassizität Haydns avanciert. Ähnliche Wandlungen seiner Anschauung erfährt jeder aufmerksame Musiker im Laufe eines längeren Lebens an sich selbst. Durch diese Verschiedenheit der Gefühlswirkung ist jedoch die musikalische Schätzung vieler einst so aufregend wirkender Werke, der ästhetische Genuß, den ihre Originalität und Schönheit uns heute noch bereitet, an und für sich nicht alteriert. Der Zusammenhang musikalischer Werke mit gewissen Stimmungen besteht also nicht immer, überall, notwendig, als ein absolut Zwingendes, er ist vielmehr unvergleichlich wandelbarer als in jeder andern Kunst.
So besitzt denn die Wirkung der Musik auf das Gefühl weder die Notwendigkeit, noch die Ausschließlichkeit, noch die Stetigkeit, welche eine Erscheinung aufweisen müßte, um ein ästhetisches Prinzip begründen zu können.
‹Seite 14 › Die starken Gefühle selbst, welche die Musik aus ihrem Schlummer wachsingt, und all die süßen wie schmerzlichen Stimmungen, in die sie uns Halbträumende einlullt: wir möchten sie nicht durchaus unterschätzen. Zu den schönsten, heilsamsten Mysterien gehört es ja, daß die Kunst solche Bewegungen ohne irdischen Anlaß, recht von Gottes Gnaden hervorzurufen vermag. Nur gegen die unwissenschaftliche Verwertung dieser Tatsachen für ästhetische Prinzipien legen wir Verwahrung ein. Lust und Trauer können durch Musik in hohem Grade erweckt werden; das ist richtig. Nicht in noch höherem vielleicht durch den Gewinnst des großen Treffers, oder durch die Todeskrankheit eines Freundes? Solange man Anstand nimmt, deshalb ein Lotterielos den Symphonien, oder ein ärztliches Bulletin den Ouvertüren beizuzählen, so lange darf man auch faktisch erzeugte Affekte nicht als eine ästhetische Spezialität der Tonkunst oder eines bestimmten Tonstücks behandeln. Es wird einzig auf die spezifische Art ankommen, wie solche Affekte durch Musik hervorgerufen werden. Wir werden im IV. und V. Kapitel den Einwirkungen der Musik auf das Gefühl die aufmerksamste Betrachtung widmen, und die positiven Seiten dieses merkwürdigen Verhältnisses untersuchen. Hier, am Eingang unserer Schrift, konnte die negative Seite, als Protest gegen ein unwissenschaftliches Prinzip, nicht zu scharf hervorgekehrt werden.
Der erste, der meines Wissens diese Gefühlsästhetik ‹Seite 15 › in der Musik angegriffen hat, ist Herbart (im 9. Kapitel seiner Enzyklopädie) . Nachdem er sich gegen die »Deutelei« von Kunstwerken erklärt hat, sagt er: »Die Traumdeuter und Astrologen haben sich Jahrtausende nicht wollen sagen lassen, daß ein Mensch träume, weil er schläft, und daß die Gestirne sich bald da, bald dort zeigen, weil sie sich bewegen. So wiederholen bis auf den heutigen Tag selbst gute Musikkenner den Satz, die Musik drücke Gefühle aus, als ob das Gefühl, das etwa durch sie erregt wird, und zu dessen Ausdruck sie eben deshalb, wenn man will, sich gebrauchen läßt, den allgemeinen Regeln des einfachen und doppelten Kontrapunktes zugrunde läge, auf denen ihr wahres Wesen beruht. Was mögen doch die alten Künstler, welche die möglichen Formen der Fuge entwickelten, auszudrücken beabsichtigt haben? Gar nichts wollen sie ausdrücken ; ihre Gedanken gingen nicht hinaus, sondern in das innere Wesen der Kunst hinein; diejenigen aber, die sich auf Bedeutungen legen , verraten ihre Scheu vor dem innern und ihre Vorliebe für den äußern Schein.« Leider hat Herbart diese gelegentliche Opposition im einzelnen nicht näher begründet, und neben dieser glänzenden finden sich bei ihm auch manche schiefe Bemerkungen über Musik. Jedenfalls haben seine obigen Worte, wie wir sogleich sehen werden, nicht die verdiente Beachtung gefunden.
Anmerkung. Es dünkt uns für den vorliegenden Zweck kaum notwendig, den Ansichten, deren Bekämpfung uns beschäftigt, ‹Seite 16 › die Namen ihrer Autoren beizusetzen, da diese Ansichten weniger die Blüte eigentümlicher Überzeugungen, als vielmehr der Ausdruck einer allgemein gewordenen traditionellen Denkweise sind. Nur um einen Einblick in die ausgebreitete Herrschaft dieser Grundsätze zu gewähren, mögen einige Zitate älterer und neuerer Musikschriftsteller aus der großen Menge derer, welche dafür zu Gebote stehen, hier Platz finden.
Mattheson : »Wir müssen bei jeder Melodie uns eine Gemütsbewegung (wo nicht mehr als eine) zum Hauptzweck setzen.« ( Vollkomm. Kapellmeister. S. 143. )
Neidhardt : »Der Musik Endzweck ist, alle Affekte durch die bloßen Töne und deren Rhythmum, trotz dem besten Redner, rege zu machen.« ( Vorrede zur »Temperatur«. )
J. N. Forkel versteht unter den »Figuren in der Musik« »dasselbe, was sie in der Dichtkunst und Redekunst sind, nämlich der Ausdruck der unterschiedenen Arten, nach welchen sich Empfindungen und Leidenschaften äußern«. ( Über die Theorie der Musik. Göttingen 1777. S. 26. )
J. Mosel definiert die Musik als »die Kunst, bestimmte Empfindungen durch geregelte Töne auszudrücken«.
C. F. Michaelis : »Musik ist die Kunst des Ausdrucks von Empfindungen durch Modulation der Töne. Sie ist die Sprache der Affekte« usw. ( Über den Geist der Tonkunst, 2. Versuch. 1800. S. 29. )
Marburg : »Der Zweck, den der Komponist sich in seiner Arbeit vorsetzen soll, ist, die Natur nachzuahmen … die Leidenschaften nach seinem Willen zu regen … die Bewegungen der Seele, die Neigungen des Herzens nach ‹Seite 17 › dem Leben zu schildern.« ( Krit. Musikus, 1. Band. 1750. 40. Stück. )
W. Heinse : »Der Hauptendzweck der Musik ist die Nachahmung oder vielmehr Erregung von Leidenschaften .« ( Musikal. Dialoge. 1805. S. 30. )
J. J. Engel : »Eine Sinfonie, eine Sonate usw. muß die Ausführung einer Leidenschaft, die aber in mannigfaltige Empfindungen ausbeugt, enthalten.« ( Über musikal. Malerei. 1780. S. 29. )
J. Ph. Kirnberger : »Ein melodischer Satz (Thema) ist ein verständlicher Satz aus der Sprache der Empfindung, der einen empfindsamen Zuhörer die Gemütslage, die ihn hervorgebracht hat, fühlen läßt.« ( Kunst des reinen Satzes, II. Teil, S. 152. )
Pierers Universallexikon (2. Auflage) : » Musik ist die Kunst, durch schöne Töne Empfindungen und Seelenzustände auszudrücken. Sie steht höher als die Dichtkunst , welche nur (!) mit dem Verstande erkennbare Stimmungen darzustellen vermag, da die Musik ganz unerklärliche Empfindungen und Ahnungen ausdrückt.«
G. Schillings Universallexikon der Tonkunst bringt unter dem Artikel »Musik« die gleiche Erklärung.
Koch definiert die Musik als die »Kunst, ein angenehmes Spiel der Empfindungen durch Töne auszudrücken«. ( Musik. Lexikon: »Musik«. )
A. André : »Musik ist die Kunst, Töne hervorzubringen, welche Empfindungen und Leidenschaften schildern, erregen und unterhalten.« ( Lehrbuch der Tonkunst I. )
Sulzer : »Musik ist die Kunst, durch Töne unsere Leidenschaften auszudrücken, wie in der Sprache durch Worte.« ( Theorie der schönen Künste. )
‹Seite 18 › J. W. Böhm : »Nicht den Verstand, nicht die Vernunft, sondern nur das Gefühlsvermögen beschäftigen der Saiten harmonische Töne.« ( Analyse des Schönen der Musik. Wien 1830. S. 62. )
Gottfried Weber : »Die Tonkunst ist die Kunst, durch Töne Empfindungen auszudrücken.« ( Theorie der Tonsetzkunst, 2. Aufl. I. Bd. S. 15. )
F. Hand : »Die Musik stellt Gefühle dar. Jedes Gefühl und jeder Gemütszustand hat an sich und so auch in der Musik seinen besonderen Ton und Rhythmus.« ( Ästhetik der Tonkunst, I. Bd. 1837. § 24. )
Amadeus Autodidaktus : »Die Tonkunst entquillt und wurzelt nur in der Welt der geistigen Gefühle und Empfindungen . Musikalisch melodische Töne (!) erklingen nicht dem Verstande, welcher Empfindungen ja nur beschreibt und zergliedert, … sie sprechen zu dem Gemüt « usw. ( Aphorismen über Musik. Leipzig 1857. S. 329. )
Fermo Bellini : »Musica è l'arte, che esprime i sentimenti e le passioni col mezzo di suoni.« ( Manuale di Musica. Milano, Ricordi. 1853. )
Friedrich Thiersch : Allgemeine Ästhetik (Berlin 1846) § 18. S. 101 : »Die Musik ist die Kunst, durch Wahl und Verbindung der Töne Gefühle und Stimmungen des Gemütes auszudrücken oder zu erregen.«
A. v. Dommer : Elemente der Musik (Leipzig 1862) : » Aufgabe der Tonkunst : Die Tonkunst soll Gefühle und durch das Gefühl Vorstellungen in uns erregen.« (S. 174.)
Rich. Wagner , »Das Kunstwerk der Zukunft« (1850. Gesamm. Schr. III, 99 und ähnlich sonst) : »Das Organ des Herzens ist der Ton , seine künstlerisch bewußte ‹Seite 19 › Sprache die Tonkunst.« In den späteren Schriften freilich werden Wagners Definitionen noch nebelhafter; da ist ihm Musik gleich »Kunst des Ausdrucks« überhaupt (in »Oper und Drama«, Ges. Schriften III, 343 ), die ihm als »Idee der Welt« befähigt scheint, »das Wesen der Dinge in seiner unmittelbarsten Kundgebung zu erfassen« usw. ( »Beethoven«. 1870. S. 6 ff. ).
‹Seite 20 ›
Teils als Konsequenz dieser Theorie, welche die Gefühle für das Endziel musikalischer Wirkung erklärt, teils als Korrektiv derselben, wird der Satz aufgestellt: die Gefühle seien der Inhalt , welchen die Tonkunst darzustellen habe.
Die philosophische Untersuchung einer Kunst drängt zu der Frage nach dem Inhalt derselben. Die Verschiedenheit des Inhalts der Künste (untereinander) und die damit zusammenhängende Grundverschiedenheit ihrer Gestaltung folgt mit Notwendigkeit aus der Verschiedenheit der Sinne , an welche sie gebunden sind. Jeder Kunst eignet ein Kreis von Ideen, welche sie mit ihren Ausdrucksmitteln als Ton, Wort, Farbe, Stein darstellt. Das einzelne Kunstwerk verkörpert demnach eine bestimmte Idee als Schönes in sinnlicher Erscheinung. Diese bestimmte Idee, die sie verkörpernde Form, und die Einheit beider sind Bedingungen des Schönheitsbegriffs, von welchen keine wissenschaftliche Ergründung irgend einer Kunst sich mehr trennen kann.
Was Inhalt eines Werks der dichtenden oder bildenden Kunst sei, läßt sich mit Worten ausdrücken ‹Seite 21 › und auf Begriffe zurückführen. Wir sagen: dies Bild stellt ein Blumenmädchen vor, diese Statue einen Gladiator, jenes Gedicht eine Tat Rolands. Das mehr oder minder vollkommene Aufgehen des so bestimmten Inhalts in der künstlerischen Erscheinung begründet dann unser Urteil über die Schönheit des Kunstwerks.
Als Inhalt der Musik hat man ziemlich einverständlich die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle genannt, weil man in diesen den Gegensatz zu begrifflicher Bestimmtheit und daher die richtige Unterscheidung von dem Ideal der bildenden und dichtenden Kunst gefunden glaubte. Demnach seien die Töne und ihr kunstreicher Zusammenhang bloß Material, Ausdrucksmittel, wodurch der Komponist die Liebe, den Mut, die Andacht, das Entzücken darstellt. Diese Gefühle in ihrer reichen Mannigfaltigkeit seien die Idee, welche den irdischen Leib des Klanges angetan, um als musikalisches Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was uns an einer reizenden Melodie, einer sinnigen Harmonie ergötzt und erhebt, sei nicht diese selbst, sondern was sie bedeutet: das Flüstern der Zärtlichkeit, das Stürmen der Kampflust.
Um auf festen Boden zu gelangen, müssen wir vorerst solche altverbundene Metaphern schonungslos trennen: Das Flüstern ? Ja; – aber keineswegs der »Sehnsucht«; das Stürmen ? Allerdings, doch nicht der »Kampflust«. In der Tat besitzt die Musik das eine oder das andere; sie ‹Seite 22 › kann flüstern, stürmen, rauschen, – das Lieben und Zürnen aber trägt nur unser eigenes Herz in sie hinein.
Die Darstellung eines bestimmten Gefühls oder Affektes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.
Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isoliert da, so daß sie sich aus ihr gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die Darstellung der übrigen Geistestätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im Gegenteil abhängig von physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, sind bedingt durch Vorstellungen, Urteile, kurz durch eben das ganze Gebiet verständigen und vernünftigen Denkens, welchem man das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches gegenüberstellt.
Was macht denn ein Gefühl zu diesem bestimmten Gefühl? Zur Sehnsucht, Hoffnung, Liebe? Etwa die bloße Stärke oder Schwäche, das Wogen der inneren Bewegung? Gewiß nicht. Diese kann bei verschiedenen Gefühlen gleich sein und auch wieder bei demselben Gefühl, in mehreren Individuen, zu andern Zeiten, verschieden. Nur auf Grundlage einer Anzahl – im Momente starken Fühlens vielleicht unbewußter – Vorstellungen und Urteile kann unser Seelenzustand sich zu eben diesem bestimmten Gefühl verdichten. Das Gefühl der Hoffnung ist untrennbar von der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes, welcher kommen soll und mit dem gegenwärtigen verglichen wird. Die Wehmut ‹Seite 23 › vergleicht ein vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte Vorstellungen, Begriffe, ohne sie , ohne diesen Gedanken apparat, kann man das gegenwärtige Fühlen nicht »Hoffnung«, nicht »Wehmut« nennen, er macht sie dazu. Abstrahiert man von ihm, so bleibt eine unbestimmte Bewegung, allenfalls die Empfindung allgemeinen Wohlbefindens oder Mißbehagens. Die Liebe kann ohne die Vorstellung einer geliebten Persönlichkeit, ohne den Wunsch und das Streben nach der Beglückung, Verherrlichung, dem Besitz dieses Gegenstandes nicht gedacht werden. Nicht die Art der bloßen Seelenbewegung, sondern ihr begrifflicher Kern, ihr wirklicher, historischer Inhalt macht sie zur Liebe . Ihrer Dynamik nach kann diese ebensogut sanft als stürmisch, ebensowohl froh als schmerzlich auftreten und bleibt doch immer Liebe. Diese Betrachtung allein reicht hin, zu zeigen, daß Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjektiva ausdrücken könne, nie das Substantivum, die Liebe selbst. Ein bestimmtes Gefühl (eine Leidenschaft, ein Affekt) existiert als solches niemals ohne einen wirklichen historischen Inhalt, der eben nur in Begriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann die Musik als »unbestimmte Sprache« zugestandenerweise nicht wiedergeben – ist da nicht die Folgerung psychologisch unablehnbar, daß sie auch bestimmte Gefühle nicht auszudrücken vermag? Die Bestimmtheit der Gefühle ruht ja gerade in deren begrifflichem Kern.
‹Seite 24 › Wie es komme, daß Musik dennoch Gefühle, wie Wehmut, Frohsinn u. dgl. erregen kann (nicht muß ), das wollen wir später, wo vom subjektiven Eindruck der Musik die Rede sein wird, untersuchen. Hier mußte bloß theoretisch festgestellt werden, ob die Musik fähig sei, ein bestimmtes Gefühl darzustellen . Die Frage war zu verneinen, da die Bestimmtheit der Gefühle von konkreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt werden kann, welche letztere außer dem Gestaltungsbereich der Musik liegen. – Einen gewissen Kreis von Ideen hingegen kann die Musik mit ihren eigensten Mitteln reichlichst darstellen. Dies sind, entsprechend dem sie aufnehmenden Organ, unmittelbar alle diejenigen Ideen, welche auf hörbare Veränderungen der Kraft, der Bewegung, der Proportionen sich beziehen, also die Idee des Anschwellenden, des Absterbenden, des Eilens, Zögerns, des künstlich Verschlungenen, des einfach Fortschreitenden u. dgl. – Es kann ferner der ästhetische Ausdruck einer Musik anmutig genannt werden, sanft, heftig, kraftvoll, zierlich, frisch: lauter Ideen, welche in Tonverbindungen eine entsprechende sinnliche Erscheinung finden. Wir können diese Eigenschaftswörter daher unmittelbar von musikalischen Bildungen gebrauchen, ohne an die ethische Bedeutung zu denken, welche sie für das menschliche Seelenleben haben, und die eine geläufige Ideenverbindung so schnell zur Musik heranbringt, ja mit den rein musikalischen Eigenschaften unter der Hand zu verwechseln pflegt.
‹Seite 25 › Die Ideen, welche der Komponist darstellt, sind vor allem und zuerst rein musikalische . Seiner Phantasie erscheint eine bestimmte schöne Melodie. Sie soll nichts anderes sein als sie selbst. Wie aber jede konkrete Erscheinung auf ihren höheren Gattungsbegriff, auf die sie zunächst erfüllende Idee hinweist, und so fort immer höher und höher bis zur absoluten Idee, so geschieht es auch mit den musikalischen Ideen. So wird z. B. dieses sanfte, harmonisch ausklingende Adagio die Idee des Sanften, Harmonischen überhaupt zur schönen Erscheinung bringen. Die allgemeine Phantasie, welche gern die Ideen der Kunst in bezug zum eigenen, menschlichen Seelenleben setzt, wird dies Ausklingen noch höher, z. B. als den Ausdruck milder Resignation eines in sich versöhnten Gemütes auffassen, und kann vielleicht sofort bis zur Ahnung eines ewigen jenseitigen Friedens aufsteigen.
Auch die Poesie und bildende Kunst stellen vorerst ein Konkretes dar. Erst mittelbar kann das Bild eines Blumenmädchens auf die allgemeinere Idee mädchenhafter Zufriedenheit und Anspruchslosigkeit, ein beschneiter Kirchhof auf die Idee der irdischen Vergänglichkeit hinweisen. Geradeso, nur mit ungleich unsicherer und willkürlicher Deutung, kann der Hörer in diesem Musikstück die Idee jugendlichen Genügens, in jenem die Idee der Vergänglichkeit heraushören; allein ebensowenig als in den genannten Bildern sind diese abstrakten Ideen der Inhalt des musikalischen Werkes: von einer Darstellung ‹Seite 26 › des » Gefühls der Vergänglichkeit«, des » Gefühls der jugendlichen Genügsamkeit« kann nun vollends keine Rede sein.
Es gibt Ideen, welche durch die Tonkunst vollkommen repräsentiert werden und trotzdem nicht als Gefühl vorkommen, sowie umgekehrt Gefühle von solcher Mischung das Gemüt bewegen können, daß sie in keiner durch Musik darstellbaren Idee ihre entsprechende Bezeichnung finden.
Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wenn nicht deren Inhalt?
Nur das Dynamische derselben. Sie vermag die Bewegung eines physischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigend, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst. Gemeiniglich glaubt man, das darstellende Vermögen der Musik genügend zu begrenzen, wenn man behauptet, sie könne keineswegs den Gegenstand eines Gefühls bezeichnen, wohl aber das Gefühl selbst, z. B. nicht das Objekt einer bestimmten Liebe, wohl aber »Liebe«. Sie kann dies in Wahrheit ebensowenig. Nicht Liebe, sondern nur eine Bewegung kann sie schildern, welche bei der Liebe oder auch einem andern Affekt vorkommen kann, immer jedoch das Unwesentliche seines Charakters ist. »Liebe« ist ein abstrakter Begriff, so gut wie »Tugend« und »Unsterblichkeit«. Die Versicherung der Theoretiker, Musik habe keine abstrakten Begriffe darzustellen, ist überflüssig; denn ‹Seite 27 › keine Kunst kann dies. Daß nur Ideen , d. i. lebendig gewordene Begriffe Inhalt künstlerischer Verkörperung sind, versteht sich von selbst. [9] Aber auch die Ideen der Liebe, des Zornes, der Furcht können Instrumentalwerke nicht zur Erscheinung bringen, weil zwischen jenen Ideen und schönen Tonverbindungen kein notwendiger Zusammenhang besteht. Welches Moment dieser Ideen ist's denn also, dessen die Musik sich in der Tat so wirksam zu bemächtigen weiß? Es ist die Bewegung (natürlich in dem weiteren Sinne, der auch das Anschwellen und Abschwächen des einzelnen Tones oder Akkordes als »Bewegung« auffaßt). Sie bildet das Element, welches die Tonkunst mit den Gefühlszuständen gemeinschaftlich hat, und das sie schöpferisch in tausend Abstufungen und Gegensätzen zu gestalten vermag.
Der Begriff der Bewegung ist bisher in den Untersuchungen des Wesens und der Wirkung der Musik auffallend vernachlässigt worden; er dünkt uns der wichtigste und fruchtbarste.
Was uns außerdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist symbolisch .
Wie die Farben, so besitzen nämlich die Töne schon von Haus aus und in ihrer Vereinzelung ‹Seite 28 › symbolische Bedeutung, welche außerhalb und vor aller künstlerischen Absicht wirkt. Jede Farbe atmet eigentümlichen Charakter: sie ist uns keine bloße Ziffer, welche durch den Künstler lediglich eine Stellung erhält, sondern eine Kraft, schon von Natur aus in sympathetischen Zusammenhang mit gewissen Stimmungen gesetzt. Wer kennt nicht die Farbendeutungen, wie sie in ihrer Einfachheit gang und gäbe, oder durch feinere Geister zu poetischem Raffinement gehoben werden? Wir verbinden Grün mit dem Gefühl der Hoffnung, Blau mit der Treue. Rosenkranz erkennt in Rotgelb »anmutige Würde«, in Violett »philisterhafte Freundlichkeit« usw. ( Psychologie, 2. Aufl. S. 102. )
In ähnlicher Weise sind uns die elementaren Stoffe der Musik: Tonarten, Akkorde und Klangfarben schon an sich Charaktere . Wir haben auch eine nur zu geschäftige Auslegekunst für die Bedeutung musikalischer Elemente; Schubarts Symbolik der Tonarten bietet in ihrer Art ein Seitenstück zu Goethes Deutung der Farben. Es folgen jedoch diese Elemente (Töne, Farben) in ihrer künstlerischen Verwendung ganz andern Gesetzen, als jene Wirkung ihrer isolierten Erscheinung. So wenig auf einem Historienbild jedes Rot uns Freude, jedes Weiß Unschuld bedeutet, ebensowenig wird in einer Symphonie alles As-dur uns eine schwärmerische, alles H-moll eine menschenfeindliche Stimmung erwecken, oder jeder Dreiklang Befriedigung, jeder verminderte Septakkord Verzweiflung. Auf ästhetischem ‹Seite 29 › Boden neutralisieren sich derlei elementare Selbständigkeiten unter der Gemeinsamkeit höherer Gesetze. Von einem Ausdrücken oder Darstellen ist solche Naturbeziehung weit entfernt. »Symbolisch« nannten wir sie, indem sie den Inhalt keineswegs unmittelbar darstellt, sondern eine von diesem wesentlich verschiedene Form bleibt. Wenn wir im Gelben Eifersucht, in G-dur Heiterkeit, in der Zypresse Trauer sehen, so hat diese Deutung einen physiologisch-psychologischen Zusammenhang mit Bestimmtheiten dieser Gefühle, allein es hat ihn eben nur unsere Deutung, nicht die Farbe, der Ton, die Pflanze an und für sich. Man kann daher weder von einem Akkord an sich sagen, er stelle ein bestimmtes Gefühl dar, noch weniger tut er das im Zusammenhang des Kunstwerkes.
Ein anderes Mittel für den angeblichen Zweck, außer der Analogie der Bewegung und der Symbolik der Töne, hat die Musik nicht.
Läßt sich somit ihr Unvermögen, bestimmte Gefühle darzustellen, leicht aus der Natur der Töne ableiten, so scheint es fast unbegreiflich, daß es auf dem Erfahrungswege nicht noch viel schneller ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ist. Versuche jemand, dem noch so viele Gefühlssaiten aus einem Instrumentalstück anklingen, mit klaren Gründen nachzuweisen, welcher Affekt den Inhalt desselben bilde. Die Probe ist unerläßlich. – Hören wir z. B. Beethovens Ouvertüre zu » Prometheus «. Was das aufmerksame Ohr des Kunstfreundes in stetiger ‹Seite 30 › Folge aus ihr vernimmt, ist ungefähr folgendes: Die Töne des ersten Taktes perlen nach einem Fall in die Unterquarte rasch und leise aufwärts, wiederholen sich genau im zweiten; der dritte und vierte Takt führen denselben Gang in größerem Umfang weiter, die Tropfen des in die Höhe getriebenen Springbrunnens perlen herab, um in den nächsten vier Takten dieselbe Figur und dasselbe Figurenbild auszuführen. Vor dem geistigen Sinn des Hörers erbaut sich also in der Melodie die Symmetrie zwischen dem ersten und dem zweiten Takte, dann dieser beiden Takte zu den zwei folgenden, endlich der vier ersten Takte als eines großen Bogens gegen den gleich großen korrespondierenden der folgenden vier Takte. Der den Rhythmus markierende Baß bezeichnet den Anfang der ersten drei Takte mit je einem Schlag, den vierten mit zwei Schlägen; in gleicher Weise bei den folgenden vier Takten. Hier ist also der vierte Takt gegen die drei ersten eine Verschiedenheit, welche durch die Wiederholung in den nächsten vier Takten symmetrisch wird und das Ohr als ein Zug der Neuheit im alten Gleichgewicht erfreut. Die Harmonie in dem Thema zeigt uns wieder das Korrespondieren eines großen und zweier kleinen Bogen: dem C-dur-Dreiklang in den vier ersten Takten entspricht der Sekundakkord im fünften und sechsten, dann der Quintsextakkord im siebenten und achten Takt. Dieses wechselseitige Korrespondieren zwischen Melodie, Rhythmus und Harmonie erzeugt ein symmetrisches und ‹Seite 31 › doch abwechslungsvolles Bild, welches durch die Klangfarben der verschiedenen Instrumente und den Wechsel der Tonstärke noch reichere Lichter und Schatten erhält.
Einen weiteren Inhalt als den eben angedeuteten vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte. Solche Zergliederung macht freilich ein Gerippe aus blühendem Körper, geeignet, alle Schönheit, aber auch alle falsche Deutelei zu zerstören.
‹Seite 32 › Wie mit diesem ganz zufällig gewählten Motiv geht es mit jedem andern Instrumentalthema. Eine große Klasse von Musikfreunden hält es bloß für ein Charakteristikum der älteren »klassischen« Musik, den Affekten abhold zu sein, und gibt von vornherein zu, daß niemand in einer der 48 Fugen und Präludien aus J. S. Bachs » wohltemperiertem Klavier « ein Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt derselben bilde. So dilettantisch und willkürlich diese Unterscheidung auch ist, welche in dem Umstand, daß in der älteren Musik der Selbstzweck noch unverkennbarer, die Deutbarkeit schwieriger und weniger verlockend erscheint, ihre Erklärung findet, – der Beweis wäre dadurch schon hergestellt, daß die Musik nicht Gefühle erwecken und zum Gegenstand haben muß . Das ganze Gebiet der Figuralmusik fiele hinweg. Müssen aber große, historisch wie ästhetisch begründete Kunstgattungen ignoriert werden, um einer Theorie Haltbarkeit zu erschleichen, [10] dann ist diese falsch. Ein Schiff muß untergehen, sobald es auch nur ein Leck hat. Wem dies nicht genügt, der mag ihr immerhin den ganzen Boden ausschlagen. Er spiele das Thema irgend einer Mozartschen oder Haydnschen Symphonie, eines Beethovenschen Adagios, eines Mendelssohnschen ‹Seite 33 › Scherzos, eines Schumannschen oder Chopinschen Klavierstückes, den Stamm unserer gehaltvollsten Musik; oder auch die populärsten Ouvertürenmotive von Auber, Donizetti, Flotow. Wer tritt hinzu und getraut sich, ein bestimmtes Gefühl als Inhalt dieser Themen aufzuzeigen? Der eine wird »Liebe« sagen. Möglich. Der andere meint »Sehnsucht«. Vielleicht. Der dritte fühlt »Andacht«. Niemand kann das widerlegen . Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl darstellen , wenn niemand weiß, was eigentlich dargestellt wird? Über die Schönheit und Schönheiten des Musikstückes werden wahrscheinlich alle übereinstimmend denken, von dem Inhalt jeder verschieden. Darstellen heißt aber einen Inhalt klar, anschaulich produzieren, ihn uns vor Augen »daher stellen«. Wie mag man nun dasjenige als das von einer Kunst Dargestellte bezeichnen, welches, das ungewisseste, vieldeutigste Element derselben, einem ewigen Streit unterworfen ist?
Wir haben absichtlich Instrumentalsätze zu Beispielen gewählt. Denn nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann, gilt von der Tonkunst als solcher. Wenn irgendeine allgemeine Bestimmtheit der Musik untersucht wird, etwas so ihr Wesen und ihre Natur kennzeichnen, ihre Grenzen und Richtung feststellen soll, so kann nur von der Instrumentalmusik die Rede sein. Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es; denn nur sie ‹Seite 34 › ist reine, absolute Tonkunst . Ob man nun die Vokal- oder die Instrumentalmusik an Wert und Wirkung vorziehen wolle, – eine unwissenschaftliche Prozedur, bei der meist dilettantische Einseitigkeit das Wort führt, – man wird stets einräumen müssen, daß der Begriff »Tonkunst« in einem auf Textworte komponierten Musikstück nicht rein aufgehe. In einer Vokalkomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von jener der Worte, der Handlung, der Dekoration getrennt werden, daß die Rechnung der verschiedenen Künste sich streng sondern ließe. Sogar Tonstücke mit bestimmten Überschriften oder Programmen müssen wir ablehnen, wo es sich um den »Inhalt« der Musik handelt. Die Vereinigung mit der Dichtkunst erweitert die Macht der Musik, aber nicht ihre Grenzen. [11]
‹Seite 35 › Wir haben in der Vokalkomposition ein untrennbar verschmolzenes Produkt vor uns, aus dem es nicht ‹Seite 36 › mehr möglich ist, die Größe der einzelnen Faktoren zu bestimmen. Wenn es sich um die Wirkung der Dichtkunst handelt, so wird es niemand einfallen, die Oper als Beleg hervorzuheben; es braucht größerer Verleugnung, aber nur derselben Einsicht, um bei den Grundbestimmungen musikalischer Ästhetik ein Gleiches zu tun.
Die Vokalmusik illuminiert die Zeichnung des Gedichtes. [12] Wir haben in den musikalischen Elementen ‹Seite 37 › Farben von größter Pracht und Zartheit erkannt, von symbolischer Bedeutsamkeit obendrein. Sie werden vielleicht ein mittelmäßiges Gedicht zur innigsten Offenbarung des Herzens umwandeln. Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangstücke darstellen , sondern der Text. Die Zeichnung, nicht das Kolorit, bestimmt den dargestellten Gegenstand. Wir appellieren an das Abstraktionsvermögen des Hörers, das sich irgendeine dramatisch wirksame Melodie abgelöst von aller dichterischen Bestimmung rein musikalisch vorstellen wolle. Man wird z. B. in einer sehr wirksamen dramatischen Melodie, welche Zorn auszudrücken hat, an und für sich keinen weiteren psychischen Ausdruck finden, als den einer raschen, leidenschaftlichen Bewegung. Worte einer leidenschaftlich bewegten Liebe , also das gerade Gegenteil, werden vielleicht gleich richtig durch dieselbe Melodie interpretiert sein.
Als die Arie des Orpheus:
‹Seite 38 › Tausende (und darunter Männer wie J. J. Rousseau) zu Tränen rührte, bemerkte ein Zeitgenosse Glucks, Boyé , daß man dieser Melodie ebensogut, ja weit richtiger die entgegengesetzten Worte unterlegen könnte:
Wir setzen den Anfang der Arie, der Kürze wegen mit Klavierbegleitung, doch genau nach der italienischen Originalpartitur her:
‹Seite 39 › Wir sind zwar durchaus nicht der Meinung, daß in diesem Falle der Komponist ganz freizusprechen sei, indem die Musik für den Ausdruck schmerzlichster Traurigkeit gewiß weit bestimmtere Töne besitzt. Allein wir wählen aus Hunderten gerade dies Beispiel, einmal weil es den Meister trifft, dem die größte Genauigkeit im dramatischen Ausdruck zugeschrieben wird, sodann weil mehrere Generationen an dieser Melodie das Gefühl höchsten Schmerzes bewunderten, welchen die mit ihr verbundenen Worte aussprechen.
Allein auch weit bestimmtere und ausdrucksvollere Gesangsstellen werden, losgelöst von ihrem Text, uns höchstens raten lassen, welches Gefühl sie ausdrücken. Sie gleichen Silhouetten, deren Original wir meistens erst erkennen, wenn man uns gesagt hat, wer das sei.
Was hier an einzelnem gezeigt wurde, erweist sich ebenso an Werken von größerem und größtem Umfang. Man hat ganzen Gesangstücken oft andere Texte untergelegt. Wenn man in Wien Meyerbeers » Hugenotten « mit Veränderung des Schauplatzes, der Zeit, der Personen, der Begebenheit und der ‹Seite 40 › Worte als » Ghibellinen in Pisa « aufführt, so stört ohne Zweifel die ungeschickte Mache einer solchen Umarbeitung, allein der rein musikalische Ausdruck wird nicht im mindesten beleidigt. Und doch soll das religiöse Gefühl, der Glaubensfanatismus geradezu die Springfeder der » Hugenotten « bilden, welche in den » Ghibellinen « ganz entfällt. Der Choral Luthers darf hier nicht eingewendet werden; er ist ein Zitat . Als Musik paßt er zu jeder Konfession. – Hat der Leser nie das fugierte Allegro aus der Ouvertüre zur » Zauberflöte « als Vokalquartett sich zankender Handelsjuden gehört? Mozarts Musik, an der nicht eine Note geändert ist, paßt zum Entsetzen gut auf den niedrigkomischen Text, und man kann sich in der Oper nicht herzlicher an dem Ernst der Komposition erfreuen, als man hier über die Komik derselben lachen muß. Derlei Belege für das weite Gewissen jedes musikalischen Motivs und jedes menschlichen Affektes ließen sich zahllos vorbringen. Die Stimmung religiöser Andacht gilt mit Recht für eine der musikalisch am wenigsten vergreifbaren. Nun gibt es unzählige deutsche Dorf- oder Marktkirchen, wo zur heiligen Wandlung das » Alphorn « von Proch oder die Schlußarie aus der » Sonnambula « (mit dem koketten Dezimensprung »in meine Arme«) oder ähnliches auf der Orgel vorgetragen wird. Jeder Deutsche, der nach Italien kommt, hört mit Staunen in den Kirchen die bekanntesten Opernmelodien von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi. Diese und ‹Seite 41 › noch weltlichere Stücke, wenn sie nur halbwegs sanften Charakters klingen, sind weit entfernt, die Gemeinde in ihrer Andacht zu stören, im Gegenteil pflegt alles aufs äußerste erbaut zu sein. Wäre die Musik an sich imstande, religiöse Andacht als Inhalt darzustellen, so würde solch ein quid pro quo ebenso unmöglich sein, als daß der Prediger statt seiner Exhorte eine Tiecksche Novelle oder einen Parlamentsakt von der Kanzel rezitierte. Unsere größten Meister geistlicher Tonkunst bieten Beispiele in Fülle für unsern Satz. Namentlich Händel verfuhr hierin mit großartiger Ungeniertheit. Winterfeld hat nachgewiesen, daß viele der berühmtesten und ob ihres frommen Ausdrucks bewundertsten Stücke im » Messias « aus den weltlichen, meist erotischen Duetten herübergenommen sind, welche Händel (1711 bis 1712) für die Kurprinzessin Caroline von Hannover auf Madrigale von Mauro Ortensio gesetzt hatte. Die Musik zu dem zweiten Duett:
verwendete Händel unverändert in Tonart und Melodie für den Chor im ersten Teil des Messias: »Denn uns ist ein Kind geboren.« – Der dritte Satz desselben Duetts » Sò per prova i vostri ‹Seite 42 › inganni « hat dieselben Motive wie der Chor im zweiten Teil des Messias »Wie Schafe gehen«. Das Madrigal Nr. 16 (Duett für Sopran und Alt) ist im wesentlichen ganz übereinstimmend mit dem Duett im dritten Teil des Messias: »O Tod, wo ist dein Stachel«; – dort lautet der Text:
Von den zahlreichen anderen Beispielen bei Seb. Bach sei nur an sämtliche madrigalische Stücke des » Weihnachts-Oratoriums « erinnert, die bekanntlich aus ganz verschiedenen weltlichen Gelegenheitskantaten arglos herübergenommen sind. Und Gluck , von dem uns gelehrt wird, er habe die hohe dramatische Wahrheit seiner Musik nur dadurch erreicht, daß er jede Note genau der bestimmten Situation anpaßte, ja seine Melodie aus dem Tonfall der Verse selbst zog, – Gluck hat in die » Armida « nicht weniger als fünf Musikstücke aus seinen älteren italienischen Opern herübergenommen. (Vgl. m. »Moderne Oper« S. 16. ) Man sieht, daß die Vokalmusik , deren Theorie niemals das Wesen der Tonkunst bestimmen kann, auch praktisch nicht imstande ist, die aus dem Begriff der Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen.
Der von uns bekämpfte Satz ist übrigens so in Fleisch und Blut der gangbaren ästhetisch-musikalischen Anschauung eingedrungen, daß auch alle ‹Seite 43 › seine Deszendenten und Seitenverwandten sich gleicher Unantastbarkeit erfreuen. Dazu gehört die Theorie von der Nachahmung sichtbarer oder unmusikalisch hörbarer Gegenstände durch die Tonkunst. Mit besonderer Wohlweisheit wird uns bei der Frage von der »Tonmalerei« immer wieder versichert, die Musik könne keineswegs die außer ihrem Bereich liegende Erscheinung selbst malen, sondern nur das Gefühl , welches dadurch in uns erzeugt wird. Gerade umgekehrt. Die Musik kann nur die äußere Erscheinung nachzuahmen trachten, niemals aber das durch sie bewirkte, spezifische Fühlen. Das Fallen der Schneeflocken, das Flattern der Vögel, den Aufgang der Sonne kann ich nur dadurch musikalisch malen, daß ich analoge, diesen Phänomenen dynamisch verwandte Gehörseindrücke hervorbringe. In Höhe, Stärke, Schnelligkeit, Rhythmus der Töne bietet sich dem Ohr eine Figur , deren Eindruck jene Analogie mit der bestimmten Gesichtswahrnehmung hat, welche Sinnesempfindungen verschiedener Gattung gegeneinander erreichen können. Wie es physiologisch ein »Vikarieren« eines Sinnes für den andern bis zu einer gewissen Grenze gibt, so auch ästhetisch ein gewisses Vikarieren eines Sinneseindruckes für den andern. Da zwischen der Bewegung im Raume und jener in der Zeit, zwischen der Farbe, Feinheit, Größe eines Gegenstandes und der Höhe, Klangfarbe, Stärke eines Tones wohlbegründete Analogie herrscht, so kann man in der Tat einen Gegenstand ‹Seite 44 › musikalisch malen, das »Gefühl« aber in Tönen schildern zu wollen, das der fallende Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns hervorbringt, ist einfach lächerlich.
Obgleich, meines Erinnerns, alle musikalischen Theoretiker auf dem Grundsatz, die Musik könnte bestimmte Gefühle darstellen, stillschweigend folgern und weiter bauen, so hinderte doch manche ein richtiges Gefühl, ihn geradezu anzuerkennen. Der Mangel begrifflicher Bestimmtheit in der Musik störte sie und ließ sie den Satz dahin ändern: die Tonkunst habe nicht etwa bestimmte, wohl aber » unbestimmte Gefühle « zu erwecken und darzustellen. Vernünftigerweise kann man damit nur meinen, die Musik solle die Bewegung des Fühlens, abgezogen von dem Inhalt desselben, dem Gefühlten, enthalten; das also, was wir das Dynamische der Affekte genannt und der Musik vollständig eingeräumt haben. Dies Element der Tonkunst ist aber kein »Darstellen unbestimmter Gefühle«. Denn »Unbestimmtes« »darstellen« ist ein Widerspruch. Seelenbewegungen als Bewegungen an sich, ohne Inhalt, sind kein Gegenstand künstlerischer Verkörperung, weil diese ohne die Frage: was bewegt sich oder wird bewegt, nirgend Hand anlegen kann. Das Richtige an dem Satz, nämlich die involvierte Forderung, Musik solle kein bestimmtes Gefühl schildern, ist ein lediglich negatives Moment. Was aber ist das Positive, das Schöpferische im musikalischen Kunstwerk? Ein ‹Seite 45 › unbestimmtes Fühlen als solches ist kein Inhalt ; soll eine Kunst sich dessen bemächtigen, so kommt alles darauf an, wie es geformt wird. Jede Kunsttätigkeit besteht aber im Individualisieren , in dem Prägen des Bestimmten aus dem Unbestimmten, des Besondern aus dem Allgemeinen. Die Theorie der »unbestimmten Gefühle« verlangt das gerade Gegenteil. Man ist hier noch schlimmer daran, als bei dem früheren Satz, man soll glauben, daß die Musik etwas darstelle, und weiß doch niemals, was. Sehr einfach ist von hier der kleine Schritt zu der Erkenntnis, daß die Musik gar keine , weder bestimmte noch unbestimmte, Gefühle schildert. Welcher Musiker hätte aber diese durch unvordenklichen Besitz ersessene Reichsdomäne seiner Kunst aufgeben wollen? [14]
Unser Resultat ließe vielleicht noch der Meinung Raum, daß die Darstellung bestimmter Gefühle für ‹Seite 46 › die Musik zwar ein Ideal sei, das sie niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne und solle. Die vielen großsprechenden Redensarten von der Tendenz der Musik, die Schranken ihrer Unbestimmtheit zu durchbrechen und konkrete Sprache zu werden, die beliebten Lobpreisungen solcher Kompositionen, an welchen man dies Bestreben wahrnimmt oder wahrzunehmen vermeint, zeugen von der wirklichen Verbreitung solcher Ansicht.
Allein noch entschiedener, als wir die Möglichkeit musikalischer Gefühlsdarstellung bekämpften, haben wir die Meinung abzuwehren, als könne diese jemals das ästhetische Prinzip der Tonkunst abgeben.
Das Schöne in der Musik würde mit der Genauigkeit der Gefühlsdarstellung auch dann nicht kongruieren, wenn diese möglich wäre. Nehmen wir diese Möglichkeit für einen Moment an, um uns praktisch zu überzeugen.
Offenbar können wir diese Fiktion nicht an der Instrumentalmusik versuchen, welche die Nachweisung bestimmter Affekte von selbst verwehrt, sondern nur an der Vokalmusik , der das Betonen vorgezeichneter Seelenzustände zukommt. [15]
‹Seite 47 › Hier bestimmen die dem Komponisten vorliegenden Worte das zu schildernde Objekt; die Musik hat die Macht, es zu beleben, zu kommentieren, ihm in mehr oder weniger hohem Grade den Ausdruck individueller Innerlichkeit zu verleihen. Sie tut dies durch möglichste Charakteristik der Bewegung und durch Verwertung der den Tönen innewohnenden Symbolik. Faßt sie als Hauptgesichtspunkt den Text ins Auge, und nicht die eigene ausgeprägte Schönheit, so kann sie es zu hoher Individualisierung, ja zu dem Scheine bringen, sie allein stelle wirklich das Gefühl dar, welches in den Worten bereits unverrückbar, wenngleich steigerungsfähig vorlag. Diese Tendenz erreicht in der Wirkung etwas Ähnliches mit dem vorgeblichen » Darstellen eines Affektes als Inhalt des bestimmten Musikstücks«. Gesetzt den Fall, jene wirkliche und diese angebliche Kraft der Tonkunst wären kongruent, die Gefühlsdarstellung möglich und Inhalt der Musik, so würden wir folgerichtig solche Kompositionen die vollkommensten nennen, welche die Aufgabe am bestimmtesten lösen . Allein wer kennt nicht Tonwerke von höchster Schönheit ohne solchen Inhalt? (Wir erinnern an Bachs Fugen und Präludien.) Umgekehrt gibt es Vokalkompositionen, welche ein bestimmtes Gefühl aufs genauste, innerhalb der eben erklärten Grenzen, abzukonterfeien suchen, und welchen ‹Seite 48 › die Wahrheit dieses Schilderns über jedes andere Prinzip geht. Bei näherer Betrachtung gelangen wir zu dem Ergebnis, daß das rücksichtslose Anschmiegen solcher musikalischen Schilderung meist in umgekehrtem Verhältnis steht zu ihrer selbständigen Schönheit, daß also die deklamatorisch- dramatische Genauigkeit und die musikalische Vollendung nur die Hälfte Weges miteinander fortschreiten, dann aber sich trennen.
Am deutlichsten zeigt dies das Rezitativ , als diejenige Form, welche am unmittelbarsten und bis auf den Akzent des einzelnen Wortes sich dem deklamatorischen Ausdruck anschmiegt, nicht mehr anstrebend, als einen getreuen Abguß bestimmter, meist rasch wechselnder Gemütszustände. Dies müßte, als wahre Verkörperung jener Lehre, die höchste, vollkommenste Musik sein; in der Tat aber sinkt diese im Rezitativ ganz zur Dienerin herab und verliert ihre selbständige Bedeutung. Ein Beweis, daß der Ausdruck bestimmter Seelenvorgänge mit der Aufgabe der Musik nicht kongruiert, sondern in letzter Konsequenz derselben hemmend entgegensteht. Man spiele ein längeres Rezitativ mit Hinweglassung der Worte und frage dann nach seinem musikalischen Wert und Bedeuten. Diese Probe aber muß jede Musik aushalten, welcher allein wir die hervorgebrachte Wirkung zuschreiben sollen.
Keineswegs auf das Rezitativ beschränkt, können wir vielmehr an den höchsten und erfülltesten Kunstformen ‹Seite 49 › dieselbe Bestätigung finden, wie die musikalische Schönheit stets geneigt sei, dem speziell Ausdrückenden zu weichen, weil jene ein selbständiges Entfalten, dieses ein dienendes Verleugnen erheischt.
Steigen wir empor vom deklamatorischen Prinzip im Rezitativ zum dramatischen in der Oper. Die Musikstücke in Mozarts Opern stehen im vollen Einklang mit ihrem Text. Hört man selbst die kompliziertesten, die Finales, ohne Text, so werden Mittelglieder etwa unklar bleiben, die Hauptpartien und deren Ganzes aber an sich schöne Musik sein. Das gleichmäßige Genügen an die musikalischen und die dramatischen Anforderungen gilt bekanntlich darum mit Recht für das Ideal der Oper. Daß jedoch das Wesen derselben eben dadurch ein steter Kampf ist zwischen dem Prinzip der dramatischen Genauigkeit und dem der musikalischen Schönheit, ein unaufhörliches Konzedieren des einen an das andere, dies ist meines Wissens nie erschöpfend entwickelt worden. Nicht die Unwahrheit, daß sämtliche handelnde Personen singen , macht das Prinzip der Oper schwankend und schwierig – solche Illusionen geht die Phantasie mit großer Leichtigkeit ein – die unfreie Stellung aber, welche Musik und Text zu einem fortwährenden Überschreiten oder Nachgeben zwingt, macht, daß die Oper wie ein konstitutioneller Staat auf einem steten Kampfe zweier berechtigter Gewalten beruht. Dieser Kampf, in dem der Künstler bald das eine, bald das andere ‹Seite 50 › Prinzip muß siegen lassen, ist der Punkt, aus welchem alle Unzulänglichkeiten der Oper entspringen und alle Kunstregeln auszugehen haben, welche eben für die Oper Entscheidendes sagen wollen. In ihre Konsequenzen verfolgt, müssen das musikalische und das dramatische Prinzip einander notwendig durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang genug, um dem menschlichen Auge eine beträchtliche Strecke hindurch parallel zu scheinen.
Ähnliches gilt vom Tanze , wie wir in jedem Ballett beobachten können. Je mehr er die schöne Rhythmik seiner Formen verläßt, um mit Gestikulation und Mimik sprechend zu werden, bestimmte Gedanken und Gefühle auszudrücken, desto mehr nähert er sich der formlosen Bedeutsamkeit der bloßen Pantomime. Die Steigerung des dramatischen Prinzips im Tanze wird im selben Maß eine Verletzung seiner plastisch-rhythmischen Schönheit. Ganz wie ein gesprochenes Drama oder ein reines Instrumentalwerk vermag eine Oper nicht dazustehen. Darum wird das Augenmerk des echten Opernkomponisten wenigstens ein stetes Verbinden und Vermitteln sein, niemals ein prinzipielles verhältnismäßiges Vorherrschen des einen oder des andern Moments. Im Zweifel wird er sich aber für die Bevorzugung der musikalischen Forderung entscheiden; denn die Oper ist vorerst Musik, nicht Drama. Man kann dies leicht an der eigenen, sehr verschiedenen Intention ermessen, mit der man ein Drama besucht, oder aber eine Oper derselben ‹Seite 51 › Handlung. Die Vernachlässigung des musikalischen Teils wird uns immer weit empfindlicher treffen. [16]
Die größte kunstgeschichtliche Bedeutung des berühmten Streites zwischen den Gluckisten und den Piccinisten liegt für uns darin, daß dabei der innere Konflikt der Oper durch den Widerstreit ihrer beiden Faktoren, des musikalischen und des dramatischen, zum erstenmal ausführlich zur Sprache kam. Freilich geschah dies ohne ein wissenschaftliches Bewußtsein von der unermeßlichen prinzipiellen Bedeutung des Entscheides. Wer sich die lohnende Mühe nicht gereuen läßt, auf die Quellen jenes ‹Seite 52 › Musikstreites selbst zurückzugehen, [17] wird wahrnehmen, wie darin auf der reichen Skala zwischen Grobheit und Schmeichelei die ganze witzige Fechtergewandtheit französischer Polemik herrscht, zugleich aber eine solche Unmündigkeit in der Auffassung des prinzipiellen Teiles, ein solcher Mangel an tieferem Wissen, daß für die musikalische Ästhetik ein Resultat aus diesen langjährigen Debatten nicht zutage steht. – Die bevorzugtesten Köpfe: Suard und Abbé Arnaud auf Glucks Seite, Marmontel und La Harpe wider ihn, gingen zwar wiederholt über die Kritik Glucks hinaus zu einer Beleuchtung des dramatischen Prinzips in der Oper und seines Verhältnisses zum musikalischen ; allein sie behandelten dieses Verhältnis wie eine Eigenschaft der Oper unter vielen, nicht aber als das innerste Lebensprinzip derselben. Sie hatten keine Ahnung, daß von der Entscheidung dieses Verhältnisses die ganze Existenz der Oper abhänge. Merkwürdig ist, wie ganz nahe insbesondere Glucks Gegner einigemal dem Punkte sind, von dem aus der Irrtum des dramatischen Prinzips vollkommen erschaut und besiegt werden mag. So sagt de la Harpe im Journal de Politique et de Littérature vom 5. Oktober 1777: »On objecte, qu'il n'est pas naturel, de chanter un air de cette ‹Seite 53 › nature dans une situation passionée, que c'est un moyen d'arrêter la scène et de nuir à l'effet. Je trouve ces objections absolument illusoires. D'abord dès qu'on admet le chant, il faut l'admettre le plus beau possible, et il n'est pas plus naturel de chanter mal, que de chanter bien. Tous les arts sont fondées sur des conventions, sur des données. Quand je viens à l'opéra, c'est pour entendre la musique. Je n'ignore pas, qu' Alceste ne faisait ses Adieux à Admète en chantant un air; mais comme Alceste est sur le théâtre pour chanter, si je retrouve sa douleur et son amour dans un air bien melodieux, je jouirai de son chant en m'intéressant à son infortune.« Sollte man glauben, daß de la Harpe selbst nicht erkannte, wie prächtig er da auf festem Boden stand? Denn bald darauf läßt er sich beikommen, das Duo zwischen Agamemnon und Achilles in der » Iphigenia « aus dem Grunde zu bekämpfen, »weil es sich durchaus nicht mit der Würde dieser beiden Helden vertrage, daß sie zu gleicher Zeit redeten«. Damit hatte er jenen festen Boden, das Prinzip der musikalischen Schönheit, verlassen und verraten, das Prinzip des Gegners stillschweigend, unbewußt anerkennend.
Je konsequenter man das dramatische Prinzip in der Oper rein halten will, ihr die Lebensluft der musikalischen Schönheit entziehend, desto siecher schwindet sie dahin, wie ein Vogel unter der Luftpumpe. Man muß notwendig bis zum rein gesprochenen Drama zurückkommen, womit man ‹Seite 54 › wenigstens den Beweis hat, daß die Oper wirklich unmöglich ist, wenn man nicht dem musikalischen Prinzip (mit vollem Bewußtsein seiner realitätfeindlichen Natur) die Oberherrschaft in der Oper einräumt. In der wirklichen künstlerischen Ausübung ist diese Wahrheit auch niemals geleugnet worden, und selbst der strengste Dramatiker, Gluck, stellt zwar die falsche Theorie auf, die Opernmusik habe nichts anderes zu sein als eine gesteigerte Deklamation – in der Ausübung bricht aber die musikalische Natur des Mannes oft genug durch, und stets zum großen Vorteil seines Werkes. Dasselbe gilt von Richard Wagner . Für unseren Zusammenhang ist nur scharf hervorzuheben, daß der Hauptgrundsatz Wagners , wie er ihn im ersten Band von » Oper und Drama « ausspricht: »Der Irrtum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird«, – auf falschem Boden steht. Denn eine Oper, in der die Musik immer und wirklich nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebracht wird, ist ein musikalisches Unding. [18]
‹Seite 55 › Eine Konsequenz des Wagner schen Satzes (von Mittel und Zweck) wäre u. a. auch, daß alle Komponisten schweres Unrecht getan haben, wenn sie zu ‹Seite 56 › mittelmäßigen Texten und Situationen mehr als mittelmäßige Musik zu machen suchten, und wir ebenso schweres Unrecht begehen, jene Musik zu lieben.
‹Seite 57 › Die Verbindung der Poesie mit der Musik und der Oper ist eine Ehe zur linken Hand. Je näher wir diese morganatische Ehe betrachten, welche die musikalische Schönheit mit dem ihr bestimmt vorgeschriebenen Inhalt eingeht, desto trügerischer dünkt uns ihre Unauflöslichkeit.
Wie kommt es, daß wir in jedem Gesangstück manche kleine Änderung vornehmen können, welche, die Richtigkeit des Gefühlsausdrucks nicht im mindesten schwächend, doch die Schönheit des Motivs sogleich vernichtet? Das wäre unmöglich, wenn die letztere in der ersten läge. Wie kommt es, daß manches Gesangstück, welches seinen Text tadellos ausdrückt, uns unleidlich schlecht erscheint? Vom Standpunkt des Gefühlsprinzips kann man ihm nicht beikommen. Was bleibt also das Prinzip des Schönen in der Tonkunst, nachdem wir die Gefühle, als dafür unzureichend, abgelehnt?
Ein ganz anderes selbständiges Element, das wir sogleich näher betrachten wollen.
‹Seite 58 ›
Wir sind bisher negativ zu Werke gegangen und haben lediglich die irrige Voraussetzung abzuwehren gesucht, daß das Schöne der Musik in dem Darstellen von Gefühlen bestehen könne.
Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriß hinzuzubringen, indem wir die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne der Tondichtung sei.
Es ist ein spezifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt. Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben, – dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt.
Das Urelement der Musik ist Wohllaut , ihr Wesen Rhythmus . Rhythmus im Großen, als die Übereinstimmung eines symmetrischen Baues, und Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder im Zeitmaß. Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und dessen Reichtum ‹Seite 59 › nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann, sind die gesamten Töne , mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisierung. Unausgeschöpft und unerschöpflich waltet vor allem die Melodie , als Grundgestalt musikalischer Schönheit; mit tausendfachem Verwandeln, Umkehren, Verstärken bietet die Harmonie immer neue Grundlagen; beide vereint bewegt der Rhythmus , die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt der Reiz mannigfaltiger Klangfarben .
Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen . Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material der Darstellung von Gefühlen und Gedanken.
Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen .
In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affektes bringen kann, zeigt uns entfernt bereits ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die Arabeske . Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen korrespondierend, scheinbar inkommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelheiten und doch ein Ganzes. ‹Seite 60 › Denken wir uns nun eine Arabeske nicht tot und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken und feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als tätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung ergießt, – wird dieser Eindruck dem musikalischen nicht einigermaßen nahekommend sein?
Jeder von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und Formenspiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop, jedoch auf unmeßbar höherer idealer Erscheinungsstufe, ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Abwechselung schöne Formen und Farben, sanft übergehend, scharf kontrastierend, immer zusammenhängend und doch immer neu, in sich abgeschlossen und von sich selbst erfüllt. Der Hauptunterschied ist, daß solch unserm Ohr vorgeführtes Ton kaleidoskop sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes gibt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug. Will man nicht bloß in Gedanken, sondern in Wirklichkeit die Erhebung der Farbe zur Musik vollziehen, und die Mittel der einen Kunst in die Wirkungen der ‹Seite 61 › andern einbetten, so gerät man auf die abgeschmackte Spielerei des »Farbenklaviers« oder der »Augenorgel«, deren Erfindung jedoch beweist, wie die formelle Seite beider Erscheinungen auf gleicher Basis ruht.
Sollte irgend ein gefühlvoller Musikfreund unsere Kunst durch Analogien wie die obige herabgewürdigt finden, so entgegnen wir, es handle sich bloß darum, ob die Analogien richtig seien oder nicht. Herabgewürdigt wird nichts dadurch, daß man es besser kennen lernt. Will man auf die Eigenschaft der Bewegung, der zeitlichen Entwicklung, wodurch das Beispiel vom Kaleidoskop besonders treffend wird, verzichten, so kann man allerdings für das Musikalisch-Schöne eine höhere Analogie etwa in der Architektur, dem menschlichen Körper, oder einer Landschaft finden, die auch eine primitive Schönheit der Umrisse und Farben (abgesehen von der Seele, dem geistigen Ausdruck) haben.
Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Unterschätzung des Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in älteren Ästhetiken zugunsten der Moral und des Gemüts, in Hegel zugunsten der »Idee« begegnen. Jede Kunst geht vom Sinnlichen aus und webt darin. Die »Gefühlstheorie« verkennt dies, sie übersieht das Hören gänzlich und geht unmittelbar ans Fühlen . Die Musik schaffe für das Herz, meinen sie, das Ohr sei ein triviales Ding.
Ja, was sie eben Ohr nennen – für das »Labyrinth« oder »Trommelfell« dichtet kein Beethoven. ‹Seite 62 › Aber die Phantasie , die auf Gehörsempfindungen organisiert ist, und welcher der Sinn etwas ganz anderes bedeutet, als ein bloßer Trichter an die Oberfläche der Erscheinungen, sie genießt in bewußter Sinnlichkeit die klingenden Figuren, die sich aufbauenden Töne, und lebt frei und unmittelbar in deren Anschauung.
Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, dies selbständige Schöne in der Tonkunst, dies spezifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik kein Vorbild in der Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen Bestimmungen, oder mit poetischen Fiktionen erzählen. Ihr Reich ist in der Tat »nicht von dieser Welt«. All die phantasiereichen Schilderungen, Charakteristiken, Umschreibungen eines Tonwerks sind bildlich oder irrig. Was bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der Tonkunst schon Metapher. Die Musik will nun einmal als Musik aufgefaßt sein und kann nur aus sich selbst verstanden, in sich selbst genossen werden.
Keineswegs ist das »Spezifisch-Musikalische« als bloß akustische Schönheit oder proportionale Symmetrie zu verstehen, – Zweige, die es als untergeordnet in sich begreift, – noch weniger kann von einem »ohrenkitzelnden Spiel in Tönen« die Rede sein und ähnlichen Bezeichnungen, womit der Mangel an geistiger Beseelung hervorgehoben zu werden pflegt. Dadurch, daß wir auf musikalische Schönheit dringen, haben wir den geistigen Gehalt nicht ‹Seite 63 › ausgeschlossen, sondern ihn vielmehr bedingt. Denn wir anerkennen keine Schönheit ohne jeglichen Anteil von Geist. Indem wir aber das Schöne in der Musik wesentlich in Formen verlegt haben, ist schon angedeutet, daß der geistige Gehalt in engstem Zusammenhange mit diesen Tonformen steht. Der Begriff der »Form« findet in der Musik eine ganz eigentümliche Verwirklichung. Die Formen, welche sich aus Tönen bilden, sind nicht leer, sondern erfüllte, nicht bloße Linienbegrenzung eines Vakuums, sondern sich von innen heraus gestaltender Geist. Der Arabeske gegenüber ist demnach die Musik in der Tat ein Bild , allein ein solches, dessen Gegenstand wir nicht in Worte fassen und unsern Begriffen unterordnen können. In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische ; sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht imstande sind. Es liegt eine tiefsinnige Erkenntnis darin, daß man auch in Tonwerken von »Gedanken« spricht, und wie in der Rede unterscheidet da das geübte Urteil leicht echte Gedanken von bloßen Redensarten. Ebenso erkennen wir das vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppe, indem wir sie einen » Satz « nennen. Fühlen wir doch so genau wie bei jeder logischen Periode, wo ihr Sinn zu Ende ist, obgleich die Wahrheit beider ganz inkommensurabel dasteht.
Das befriedigend Vernünftige, das an und für sich in musikalischen Formbildungen liegen kann, beruht in gewissen primitiven Grundgesetzen, welche die ‹Seite 64 › Natur in die Organisation des Menschen und in die äußeren Lauterscheinungen gelegt hat. Das Urgesetz der »harmonischen Progression« ist es vorzugsweise, welches, analog der Kreisform bei den bildenden Künsten, den Keim der wichtigsten Weiterbildung und die – leider fast unerklärte – Erklärung der verschiedenen musikalischen Verhältnisse in sich trägt.
Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften. Diese den Rhythmus, die Melodie und Harmonie unsichtbar beherrschenden Wahlverwandtschaften verlangen in der menschlichen Musik ihre Befolgung und stempeln jede ihnen widersprechende Verbindung zu Willkür und Häßlichkeit. Sie leben, wenngleich nicht in der Form wissenschaftlichen Bewußtseins, instinktiv in jedem gebildeten Ohr, welches demnach das Organische, Vernunftgemäße einer Tongruppe, oder das Widersinnige, Unnatürliche derselben durch bloße Anschauung empfindet, ohne daß ein logischer Begriff den Maßstab oder das tertium comparationis hierzu abgäbe. [19]
‹Seite 65 › In dieser negativen, inneren Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze innewohnt, wurzelt dessen weitere Fähigkeit zur Aufnahme positiven Schönheitsgehalts.
Das Komponieren ist ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material. So reichhaltig wir dies musikalische Material befunden haben, so elastisch und durchdringbar erweist es sich für die künstlerische Phantasie. Diese baut nicht wie der Architekt aus rohem, schwerfälligem Gestein, sondern auf der Nachwirkung vorher verklungener Töne. Geistigerer, feinerer Natur als jeder andere Kunststoff, nehmen die Töne willig jedwede Idee des Künstlers in sich auf. Da nun die Tonverbindungen, in deren Verhältnissen das musikalisch Schöne ruht, nicht durch mechanisches Aneinanderreihen, sondern durch freies Schaffen der Phantasie gewonnen werden, so prägt sich die geistige Kraft und Eigentümlichkeit dieser bestimmten Phantasie dem Erzeugnis als Charakter auf. Als Schöpfung eines denkenden und fühlenden Geistes hat demnach eine musikalische Komposition in hohem Grade die Fähigkeit, selbst geist- und gefühlvoll zu sein. Diesen geistigen Gehalt werden wir in jedem musikalischen Kunstwerk fordern, doch darf er in kein anderes Moment desselben verlegt werden, als in die Tonbildungen selbst . Unsere Ansicht über den Sitz des Geistes und Gefühls einer Komposition verhält ‹Seite 66 › sich zu der gewöhnlichen Meinung wie die Begriffe Immanenz und Transscendenz . Jede Kunst hat zum Ziel, eine in der Phantasie des Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußeren Erscheinung zu bringen. Dies Ideelle in der Musik ist ein tonliches , nicht ein begriffliches, welches erst in Töne zu übersetzen wäre. Nicht der Vorsatz, eine bestimmte Leidenschaft musikalisch zu schildern, sondern die Erfindung einer bestimmten Melodie ist der springende Punkt, aus welchem jedes weitere Schaffen des Komponisten seinen Ausgang nimmt. Durch jene primitive, geheimnisvolle Macht, in deren Werkstätte das Menschenauge nun und nimmermehr dringen wird, erklingt in dem Geist des Komponisten ein Thema, ein Motiv. Hinter die Entstehung dieses ersten Samenkorns können wir nicht zurückgehen, wir müssen es als einfache Tatsache hinnehmen. Ist es einmal in die Phantasie des Künstlers gefallen, so beginnt sein Schaffen, welches, von diesem Hauptthema ausgehend und sich stets darauf beziehend, das Ziel verfolgt, es in allen seinen Beziehungen darzustellen. Das Schöne eines selbständigen einfachen Themas kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl mit jener Unmittelbarkeit an, welche keine andere Erklärung duldet, als höchstens die innere Zweckmäßigkeit der Erscheinung, die Harmonie ihrer Teile, ohne Beziehung auf ein außerhalb existierendes Drittes. Es gefällt uns an sich, wie die Arabeske, die Säule, oder wie Produkte des Naturschönen, wie Blatt und Blume.
‹Seite 67 › Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche »schöne Musik« mit und ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Sie faßt den Begriff des Schönen in der Musik viel zu eng und stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbständiges vor und teilt nun konsequent die Kompositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen. Der musikalische Champagner hat aber das Eigentümliche, er wächst mit der Flasche.
Ein bestimmter musikalischer Gedanke ist ohne weiteres durch sich geistvoll, der andere gemein; diese abschließende Kadenz klingt würdig, durch Veränderung von zwei Noten wird sie platt. Mit voller Richtigkeit bezeichnen wir ein musikalisches Thema als großartig, graziös, innig, geistlos, trivial; all diese Ausdrücke bezeichnen aber den musikalischen Charakter der Stelle. Zur Charakterisierung dieses musikalischen Ausdrucks eines Motivs wählen wir häufig Begriffe aus unserem Gemütsleben , als »stolz, mißmutig, zärtlich, beherzt, sehnend«. Wir können die Bezeichnungen aber auch aus anderen Erscheinungskreisen nehmen und eine Musik: »duftig, frühlingsfrisch, nebelhaft, frostig« nennen, Gefühle sind also zur Bezeichnung musikalischen Charakters nur Phänomene wie andere, welche Ähnlichkeiten dafür bieten. Derlei Epitheta mag man im Bewußtsein ihrer Bildlichkeit brauchen, ja man kann ihrer nicht entraten, nur hüte man sich zu sagen: diese Musik schildert Stolz usf.
‹Seite 68 › Die genaue Betrachtung aller musikalischen Bestimmtheiten eines Themas überzeugt uns aber, daß es – bei aller Unerforschlichkeit der letzten, ontologischen Gründe – doch eine Anzahl näherliegender Ursachen gibt, mit welchen der geistige Ausdruck einer Musik in genauem Zusammenhang steht. Jedes einzelne musikalische Element (d. h. jedes Intervall, jede Klangfarbe, jeder Akkord, jeder Rhythmus usf.) hat seine eigentümliche Physiognomie, seine bestimmte Art zu wirken. Unerforschlich ist der Künstler, erforschlich das Kunstwerk.
Dasselbe Thema klingt anders über dem Dreiklang, als über einem Sextakkord; ein Melodienschritt in die Septime trägt ganz anderen Charakter als in die Sexte, der Rhythmus, der ein Motiv begleitet, ob laut oder leise, von dieser oder jener Klanggattung, ändert dessen spezifische Färbung: kurz jeder einzelne Faktor einer Stelle trägt dazu mit Notwendigkeit bei, daß sie gerade diesen geistigen Ausdruck annimmt, so und nicht anders auf den Hörer wirkt. Was die Halévy sche Musik bizarr, die Auber sche graziös macht, was die Eigentümlichkeit bewirkt, an der wir sogleich Mendelssohn , Spohr erkennen, dies alles läßt sich auf rein musikalische Bestimmungen zurückführen, ohne Berufung auf das rätselhafte Gefühl .
Warum die häufigen Quintsext-Akkorde, die engen, diatonischen Themen bei Mendelssohn , die Chromatik und Enharmonik bei Spohr , die kurzen, zweiteiligen Rhythmen bei Auber usw. ‹Seite 69 › gerade diesen bestimmten, unvermischbaren Eindruck erzeugen – dies kann freilich weder die Psychologie noch die Physiologie beantworten.
Wenn man jedoch nach der nächsten bestimmenden Ursache fragt, – und darauf kommt es ja in der Kunst vorzüglich an, – so liegt die leidenschaftliche Einwirkung eines Themas nicht in dem vermeintlich übermäßigen Schmerz des Komponisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern im Tremolo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern in der Chromatik. Der Zusammenhang beider soll keineswegs ignoriert, vielmehr bald näher betrachtet werden; festzuhalten ist aber, daß der wissenschaftlichen Untersuchung über die Wirkung eines Themas nur jene musikalischen Faktoren unwandelbar und objektiv vorliegen, niemals die vermutliche Stimmung, welche den Komponisten dabei erfüllte. Will man von dieser unmittelbar auf die Wirkung des Werkes folgern, oder diese aus jener erklären, so kann der Schlußsatz vielleicht richtig ausfallen, aber das wichtigste Mittelglied der Deduktion, nämlich die Musik selbst, wurde übersprungen.
Die praktische Kenntnis des Charakters jedes musikalischen Elements hat der tüchtige Komponist, sei es in mehr instinktiver oder bewußter Weise, inne. Zur wissenschaftlichen Erklärung der verschiedenen musikalischen Wirkungen und Eindrücke gehört jedoch eine theoretische Kenntnis der genannten Charaktere, von ihrer reichsten Zusammensetzung ‹Seite 70 › bis in das letzte unterscheidbare Element. Der bestimmte Eindruck, mit welchem eine Melodie Macht über uns gewinnt, ist nicht schlechthin »rätselhaftes, geheimnisvolles Wunder«, das wir nur »fühlen und ahnen« dürfen, sondern unausbleibliche Konsequenz der musikalischen Faktoren, welche in dieser bestimmten Verbindung wirken. Ein knapper oder weiter Rhythmus, diatonische oder chromatische Fortschreitung, – alles hat seine charakteristische Physiognomie und besondere Art uns anzusprechen; darum wird es dem gebildeten Musiker eine ungleich deutlichere Vorstellung von dem Ausdruck eines ihm fremden Tonstückes geben, daß z. B. zuviel verminderte Septakkorde und Tremolo darin vorherrschen, als die poetischeste Schilderung der Gefühlskrisen, welche der Referent dabei durchgemacht.
Die Erforschung der Natur jedes einzelnen musikalischen Elementes, seines Zusammenhanges mit einem bestimmten Eindruck, – nur der Tatsache, nicht des letzten Grundes, – endlich die Zurückführung dieser speziellen Beobachtungen auf allgemeine Gesetze: das wäre jene »philosophische Begründung der Musik«, welche so viele Autoren ersehnen, ohne uns nebenbei mitzuteilen, was sie darunter eigentlich verstehen. Die psychische und physische Einwirkung jedes Akkords, jedes Rhythmus, jedes Intervalls wird aber nimmermehr erklärt, indem man sagt: dieser ist Rot, jener Grün, oder dieser Hoffnung, jener Mißmut, sondern nur durch Subsumierung der spezifisch musikalischen Eigenschaften ‹Seite 71 › unter allgemeine ästhetische Kategorien und dieser unter Ein oberstes Prinzip. Wären dergestalt die einzelnen Faktoren in ihrer Isolierung erklärt, so müßte weiter gezeigt werden, wie sie einander in den verschiedensten Kombinationen bestimmen und modifizieren. Der Harmonie und der kontrapunktischen Begleitung haben die meisten Tongelehrten eine vorzügliche Stellung zu dem geistigen Gehalt der Komposition eingeräumt. Nur ging man in dieser Vindikation viel zu oberflächlich und atomistisch zu Werke. Man bestimmte die Melodie als Eingebung des Genies, als Trägerin der Sinnlichkeit und des Gefühls – bei dieser Gelegenheit erhielten die Italiener ein gnädiges Lob; im Gegensatz zur Melodie wurde die Harmonie als Trägerin des gediegenen Gehalts aufgeführt, als erlernbar und Produkt des Nachdenkens. Es ist seltsam, wie lange man sich mit einer so dürftigen Anschauungsweise zufrieden stellen konnte. Beiden Behauptungen liegt ein Richtiges zugrunde, doch gelten sie weder in dieser Allgemeinheit, noch kommen sie in solcher Isolierung vor. Der Geist ist Eins und die musikalische Erfindung eines Künstlers gleichfalls. Melodie und Harmonie eines Themas entspringen zugleich in einer Rüstung aus dem Haupt des Tondichters. Weder das Gesetz der Unterordnung noch des Gegensatzes trifft das Wesen des Verhältnisses der Harmonie zur Melodie. Beide können hier gleichzeitige Entfaltungskraft ausüben, dort sich einander freiwillig unterordnen, – in dem einen wie dem ‹Seite 72 › andern Fall kann die höchste geistige Schönheit erreicht werden. Ist's etwa die (ganz fehlende) Harmonie in den Hauptmotiven zu Beethovens Coriolan- und Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre, was ihnen den Ausdruck gedankenreichen Tiefsinns verleiht? Wird man Rossinis Thema »O, Mathilde« oder ein neapolitanisches Volkslied mit mehr Geist erfüllen, wenn man einen basso continuo oder komplizierte Akkordenfolgen an die Stellen des notdürftigen Harmoniegeländes setzt? Diese Melodie mußte mit dieser Harmonie zugleich erdacht werden, mit diesem Rhythmus und dieser Klanggattung. Der geistige Gehalt kommt nur dem Verein aller zu, und die Verstümmlung eines Gliedes verletzt den Ausdruck auch der übrigen. Das Vorherrschen der Melodie oder der Harmonie oder des Rhythmus kommt dem Ganzen zugute, und hier allen Geist in den Akkorden, dort alle Trivialität in deren Mangel zu finden, ist bare Schulmeisterei. Die Kamelie kommt duftlos zutage, die Lilie farblos, die Rose prangt für beide Sinne – da läßt sich nichts übertragen, und ist doch jede von ihnen schön!
So hätte die »philosophische Begründung der Musik« vorerst zu erforschen, welche notwendigen geistigen Bestimmtheiten mit jedem musikalischen Element verbunden sind, und wie sie miteinander zusammenhängen. Die doppelte Forderung eines streng wissenschaftlichen Gerippes und einer höchst reichhaltigen Kasuistik machen die Aufgabe zu einer sehr schwierigen, aber kaum unüberwindlichen, es ‹Seite 73 › wäre denn, daß man das Ideal einer »exakten« Musikwissenschaft, nach dem Muster der Chemie oder Physiologie, erstrebte!
Die Art, wie der Akt des Schaffens im instrumentalen Tondichter vorgeht, gibt uns den sichersten Einblick in das Eigentümliche des musikalischen Schönheitsprinzips. Eine musikalische Idee entspringt primitiv in des Tondichters Phantasie, er spinnt sie weiter, – es schießen immer mehr und mehr Kristalle an, bis unmerklich die Gestalt des ganzen Gebildes in ihren Hauptformen vor ihm steht und nur die künstlerische Ausführung, prüfend, messend, abändernd, hinzuzutreten hat. An die Darstellung eines bestimmten Inhaltes denkt der instrumentale Tonsetzer nicht. Tut er es, so stellt er sich auf einen falschen Standpunkt, mehr neben als in der Musik. Seine Komposition wird die Übersetzung eines Programms in Töne, welche dann ohne jenes Programm unverständlich bleiben. Wir verkennen weder, noch unterschätzen wir Berlioz ' glänzendes Talent, wenn wir an dieser Stelle seinen Namen nennen. Ihm ist Liszt mit seinen weit schwächeren »symphonischen Dichtungen« nachgefolgt.
Wie aus dem gleichen Marmor der eine Bildhauer bezaubernde Formen, der andere eckiges Ungeschick heraushaut, so gestaltet sich die Tonleiter unter verschiedenen Händen zur Beethovenschen Ouvertüre, oder zur Verdischen. Was unterscheidet die beiden? Etwa, daß die eine höhere Gefühle, oder dieselben ‹Seite 74 › Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern daß sie schönere Tonformen bildet. Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß ein Komponist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der andere ein gemeines, daß der erstere es nach allen Beziehungen immer neu und bedeutend entwickelt, der letztere seines womöglich immer schlechter macht, die Harmonie des einen wechselvoll und originell sich entfaltet, während die zweite vor Armut nicht vom Flecke kommt, der Rhythmus hier ein lebenswarm hüpfender Puls ist, dort ein Zapfenstreich.
Es gibt keine Kunst, welche so bald und so viele Formen verbraucht, wie die Musik. Modulationen, Kadenzen, Intervallenfortschreitungen, Harmonienfolgen nutzen sich in fünfzig, ja dreißig Jahren dergestalt ab, daß der geistvolle Komponist sich deren nicht mehr bedienen kann und fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird. Man kann von einer Menge Kompositionen, die hoch über dem Alltagstand ihrer Zeit stehen, ohne Unrichtigkeit sagen, daß sie einmal schön waren . Die Phantasie des geistreichen Künstlers wird aus den geheim-ursprünglichen Beziehungen der musikalischen Elemente und ihrer unzählbar möglichen Kombinationen die feinsten, verborgensten entdecken, sie wird Tonformen bilden, die aus freiester Willkür erfunden und doch zugleich durch ein unsichtbar feines Band mit der Notwendigkeit verknüpft erscheinen. Solche Werke oder Einzelheiten derselben werden wir ohne Bedenken »geistreich« nennen. Hiermit berichtigt ‹Seite 75 › sich leicht Oulibicheffs mißverständliche Ansicht, eine Instrumentalmusik könne nicht geistreich sein, indem »für einen Komponisten der Geist einzig und allein in einer gewissen Anwendung seiner Musik auf ein direktes oder indirektes Programm bestehe«. Es wäre unserer Ansicht nach ganz richtig, das berühmte dis in dem Allegro der » Don Juan «-Ouvertüre oder den absteigenden Unisonogang darin einen geistreichen Zug zu nennen, – nun und nimmermehr hat aber das erstere (wie Oulibicheff meint) »die feindliche Stellung Don Juans gegen das Menschengeschlecht«, und letzterer die Väter, Gatten, Brüder und Liebhaber der von Don Juan verführten Frauen vorgestellt. Sind alle diese Deutungen an sich schon vom Übel, so werden sie es doppelt bei Mozart , welcher – die musikalischste Natur, welche die Kunstgeschichte aufweist – alles, was er nur berührt hat, in Musik verwandelte. Oulibicheff sieht auch in der G-moll-Symphonie die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe in vier verschiedenen Phasen genau ausgedrückt. Die G-moll-Symphonie ist Musik und weiter nichts. Das ist jedenfalls genug. Man suche nicht die Darstellung bestimmter Seelenprozesse oder Ereignisse in Tonstücken, sondern vor allem Musik , und man wird rein genießen, was sie vollständig gibt. Wo das Musikalisch-Schöne fehlt, wird das Hineinklügeln einer großartigen Bedeutung es nie ersetzen; und dies ist unnütz, wo jenes existiert. Auf alle Fälle bringt es die musikalische Auffassung in eine ganz falsche Richtung. ‹Seite 76 › Dieselben Leute, welche der Musik eine vorragende Stellung unter den Offenbarungen des menschlichen Geistes vindizieren wollen, welche sie nicht hat und nie erlangen wird, weil sie nicht imstande ist, Überzeugungen mitzuteilen, – dieselben Leute haben auch den Ausdruck »Intention« in Schwang gebracht. In der Tonkunst gibt's keine »Intention«, welche die fehlende »Invention« ersetzen könnte. Was nicht zur Erscheinung kommt, ist in der Musik gar nicht da, was aber zur Erscheinung gekommen ist, hat aufgehört, bloße Intention zu sein. Der Ausspruch: »Er hat Intentionen«, wird meist in lobender Absicht angewandt, – mir scheint er eher ein Tadel, welcher in trockenes Deutsch übersetzt etwa lauten würde: der Künstler möchte wohl, allein er kann nicht. Kunst kommt aber von Können ; wer nichts kann, – hat »Intentionen«.
Wie das Schöne eines Tonstücks lediglich in dessen musikalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Konstruktion nur diesen. Es herrschen darüber eine Menge schwankender, irriger Ansichten, von welchen hier nur eine angeführt werden mag.
Dies ist nämlich die aus der Gefühlsanschauung hervorgegangene landläufige Theorie der Sonate und Symphonie . Der Tonsetzer, heißt es, habe vier voneinander verschiedene Seelenzustände , die aber miteinander (wie?) zusammenhängen, in den einzelnen Sätzen der Sonate darzustellen. Um den unleugbaren Zusammenhang der Sätze zu rechtfertigen und ‹Seite 77 › ihre verschiedene Wirkung zu erklären, zwingt man ordentlich den Zuhörer, ihnen bestimmte Gefühle als Inhalt unterzulegen. Die Deutung paßt manchmal, öfter auch nicht, niemals mit Notwendigkeit. Dies aber wird immer mit Notwendigkeit passen, daß vier Tonsätze zu einem Ganzen verbunden sind, welche nach musikalisch -ästhetischen Gesetzen sich abzuheben und zu steigern haben.
Wir verdanken dem phantasiereichen Maler M. v. Schwind eine sehr anziehende Illustration der Klavierphantasie op. 80 von Beethoven , deren einzelne Sätze der Künstler als zusammenhängende Ereignisse derselben Hauptpersonen auffaßte und bildlich darstellte. Geradeso wie der Maler Szenen und Gestalten aus den Tönen heraussieht, so legt der Zuhörer Gefühle und Ereignisse hinein. Beides hat damit einen gewissen Zusammenhang, aber keinen notwendigen , und nur mit diesem haben es wissenschaftliche Gesetze zu tun.
Man pflegt oft anzuführen, daß Beethoven beim Entwurf mancher seiner Kompositionen sich bestimmte Ereignisse oder Seelenzustände gedacht haben soll. Wo Beethoven oder irgend ein anderer Tonsetzer diesen Vorgang beobachtet hat, benützte er ihn bloß als Hilfsmittel, sich durch den Zusammenhang eines objektiven Ereignisses das Festhalten der musikalischen Einheit zu erleichtern. Wenn Berlioz, Liszt u. a. mehr als dies an der Dichtung, dem Titel oder dem Erlebnis zu haben glaubten, so ist es eine Selbsttäuschung. Die Einheit der musikalischen Stimmung ‹Seite 78 › ist's, was die vier Sätze einer Sonate als organisch verbunden charakterisiert, nicht aber der Zusammenhang mit dem vom Komponisten gedachten Objekte . Wo sich dieser solch poetisches Gängelband versagte und rein musikalisch erfand, da wird man keine andere Einheit der Teile finden, als eine musikalische. Es ist ästhetisch gleichgültig, ob sich Beethoven allenfalls bei seinen sämtlichen Kompositionen bestimmte Vorwürfe gewählt; wir kennen sie nicht, sie sind daher für das Werk nicht existierend. Dieses selbst, ohne allen Kommentar, ist's, was vorliegt, und wie der Jurist aus der Welt hinausfingiert, was nicht in den Akten liegt, so ist für die ästhetische Beurteilung nicht vorhanden, was außerhalb des Kunstwerks lebt. Erscheinen uns die Sätze einer Komposition als einheitlich, so muß diese Zusammengehörigkeit in musikalischen Bestimmungen ihren Grund haben. [20]
‹Seite 79 › Einem möglichen Mißverstehen wollen wir schließlich dadurch begegnen, daß wir unsern Begriff des »Musikalisch-Schönen« nach drei Seiten feststellen. ‹Seite 80 › Das »Musikalisch-Schöne« in dem von uns angenommenen spezifischen Sinn beschränkt sich nicht auf das »Klassische«, noch enthält es eine Bevorzugung desselben vor dem »Romantischen«. Es gilt sowohl in der einen als der andern Richtung, beherrscht Bach so gut wie Beethoven, Mozart so gut wie Schumann. Unsere Thesis also enthält auch nicht die Andeutung einer Parteinahme. Der ganze Verlauf der gegenwärtigen Untersuchung spricht überhaupt kein Sollen aus, sondern betrachtet nur ein Sein ; kein bestimmtes musikalisches Ideal läßt sich daraus als das wahrhaft Schöne deduzieren, sondern bloß nachweisen, was in jeder, auch in den entgegengesetztesten Schulen in gleicher Weise das Schöne ist.
Es ist nicht lange her, seit man angefangen hat, Kunstwerke im Zusammenhang mit den Ideen und Ereignissen der Zeit zu betrachten, welche sie erzeugte. Dieser unleugbare Zusammenhang besteht wohl auch für die Musik. Eine Manifestation des menschlichen Geistes, muß sie wohl auch in Wechselbeziehung zu dessen übrigen Tätigkeiten stehen: zu den gleichzeitigen Schöpfungen der dichtenden und bildenden Kunst, den poetischen, sozialen, wissenschaftlichen Zuständen ihrer Zeit, endlich den individuellen Erlebnissen und Überzeugungen des Autors. Die Betrachtung und Nachweisung dieses Zusammenhangs ‹Seite 81 › an einzelnen Tonkünstlern und Tonwerken ist demnach wohl berechtigt und dankenswert. Doch muß man dabei sich stets in Erinnerung halten, daß ein solches Parallelisieren künstlerischer Spezialitäten mit bestimmten historischen Zuständen ein kunstgeschichtlicher , keineswegs ein rein ästhetischer Vorgang ist. So notwendig die Verbindung der Kunstgeschichte mit der Ästhetik von methodologischem Standpunkt erscheint, so muß doch jede dieser beiden Wissenschaften ihr eigenstes Wesen von einer unfreien Verwechselung mit der andern rein erhalten. Mag der Historiker, eine künstlerische Erscheinung im großen und ganzen auffassend, in Spontini den »Ausdruck des französischen Kaiserreichs«, in Rossini die »politische Restauration« erblicken, – der Ästhetiker hat sich lediglich an die Werke dieser Männer zu halten, zu untersuchen, was daran schön sei und warum. Die ästhetische Untersuchung weiß nichts und mag nichts wissen von den persönlichen Verhältnissen und der geschichtlichen Umgebung des Komponisten; nur was das Kunstwerk selbst ausspricht, wird sie hören und glauben. Sie wird demnach in Beethovens Symphonien, auch ohne Namen und Biographie des Autors zu kennen, ein Stürmen, Ringen, unbefriedigtes Sehnen, kraftbewußtes Trotzen herausfinden, allein daß der Komponist republikanisch gesinnt, unverheiratet, taub gewesen, und all die andern Züge, welche der Kunsthistoriker beleuchtend hinzuhält, wird jene nimmermehr aus den Werken lesen und zur Würdigung derselben verwerten dürfen. ‹Seite 82 › Die Verschiedenheit der Weltanschauung eines Bach , Mozart , Haydn zu vergleichen und den Kontrast ihrer Kompositionen darauf zurückzuführen, mag für eine höchst anziehende, verdienstliche Unternehmung gelten, doch sie ist unendlich kompliziert und wird Fehlschlüssen um so ausgesetzter sein, je strenger sie den Kausalnexus darlegen will. Die Gefahr der Übertreibung ist bei Annahme dieses Prinzips außerordentlich groß. Man kann da leicht den losesten Einfluß der Gleichzeitigkeit als eine innere Notwendigkeit darstellen und die ewig unübersetzbare Tonsprache deuten, wie man's eben braucht. Es wird rein auf die schlagfertige Durchführung desselben Paradoxons ankommen, daß es im Munde des geistreichen Mannes eine Weisheit, in jenem des schlichten ein Unsinn erscheint.
Auch Hegel hat in Besprechung der Tonkunst oft irregeführt, indem er seinen vorwiegend kunstgeschichtlichen Standpunkt unmerklich mit dem rein ästhetischen verwechselt und in der Musik Bestimmtheiten nachweist, die sie an sich niemals hatte. »Einen Zusammenhang« hat der Charakter jedes Tonstückes mit dem seines Autors gewiß, allein er steht für den Ästhetiker nicht zutage; – die Idee des notwendigen Zusammenhangs aller Erscheinungen kann in ihrer konkreten Nachweisung bis zur Karikatur übertrieben werden. Es gehört heutzutage ein wahrer Heroismus dazu, dieser pikanten, geistreich repräsentierten Richtung entgegenzutreten und auszusprechen, daß das »historische Begreifen« und das ‹Seite 83 › »ästhetische Beurteilen« verschiedene Dinge sind. [21] Objektiv aber steht fest: erstens , daß die Verschiedenartigkeit des Ausdrucks der verschiedenen Werke und Schulen auf einer durchgreifend verschiedenen Stellung der musikalischen Elemente beruhe, und zweitens , daß, was an einer Komposition, sei es die strengste Bach sche Fuge, oder das träumerischste Notturno von Chopin , mit Recht gefällt, musikalisch schön ist.
Noch weniger als mit dem Klassischen kann das »Musikalisch-Schöne« mit dem Architektonischen zusammenfallen, das jenes als Zweig in sich faßt. Die starre Erhabenheit übereinander getürmter Figuration, die kunstreiche Verschlingung vieler Stimmen, von denen keine frei und selbständig ist, weil es alle sind, haben ihre unvergängliche Berechtigung. Doch sind jene großartig düstern Stimmpyramiden der alten Italiener und Niederländer ebensosehr nur ein kleiner Bezirk auf dem Gebiete der musikalischen Schönheit, als die vielen zierlich ausgearbeiteten Gestalten in den Suiten und Konzerten von Sebastian Bach.
Viele Ästhetiker halten den musikalischen Genuß durch das Wohlgefallen am Regelmäßigen und Symmetrischen für ausreichend erklärt, worin doch niemals ein Schönes, vollends ein Musikalisch-Schönes bestand. Das abgeschmackteste Thema kann vollkommen ‹Seite 84 › symmetrisch gebaut sein. »Symmetrie« ist ja nur ein Verhältnisbegriff und läßt die Frage offen: Was ist es denn, das hier symmetrisch erscheint? – Die regelmäßige Anordnung geistloser, abgenützter Teilchen wird sich gerade in den allerschlechtesten Kompositionen nachweisen lassen. Der musikalische Sinn verlangt immer neue symmetrische Bildungen. [22]
‹Seite 85 › Zuletzt hat für die Musik die Platonische Ansicht Oerstedt an dem Beispiel des Kreises entwickelt, dem er positive Schönheit vindiziert. Sollte er niemals die Entsetzlichkeit einer ganz kreisrunden Komposition an sich erlebt haben?
Vorsichtiger vielleicht als notwendig, sei endlich noch hinzugefügt, daß die musikalische Schönheit mit dem Mathematischen nichts zu tun hat. Die Vorstellung, welche Laien (darunter auch gefühlvolle Schriftsteller) von der Rolle hegen, welche die Mathematik in der musikalischen Komposition spielt, ist eine merkwürdig vage. Nicht zufrieden damit, daß die Schwingungen der Töne, der Abstand der Intervalle, das Konsonieren und Dissonieren sich auf mathematische Verhältnisse zurückführen lassen, sind sie überzeugt, auch das Schöne einer Tondichtung gründe sich auf Zahlen. Das Studium der Harmonielehre und des Kontrapunkts gilt für eine Art Kabbala, ‹Seite 86 › welche die »Berechnung« der Komposition lehre.
Wenn für die Erforschung des physikalischen Teils der Tonkunst die Mathematik einen unentbehrlichen Schlüssel liefert, so möge im fertigen Tonwerk hingegen ihre Bedeutung nicht überschätzt werden. In einer Tondichtung, sei sie die schönste oder die schlechteste, ist gar nichts mathematisch berechnet. Schöpfungen der Phantasie sind keine Rechenexempel. Alle Monochordexperimente, Klangfiguren, Intervallproportionen u. dgl. gehören nicht hierher, der ästhetische Bereich fängt erst an, wo jene Elementarverhältnisse in ihrer Bedeutung aufgehört haben. Die Mathematik regelt bloß den elementaren Stoff zu geistfähiger Behandlung und spielt verborgen in den einfachsten Verhältnissen, aber der musikalische Gedanke kommt ohne sie ans Licht. Wenn Oerstedt fragt: »Sollte wohl die Lebenszeit mehrerer Mathematiker hinreichen, alle Schönheiten einer Mozart schen Symphonie zu berechnen?« [23] , so bekenne ich, daß ich das nicht verstehe. Was soll denn oder kann berechnet werden? Etwa das Schwingungsverhältnis jedes Tones zum nächstfolgenden, oder die Längen der einzelnen Perioden gegeneinander? Was eine Musik zur Tondichtung macht und sie aus der Reihe physikalischer Experimente hebt, ist ein Freies, Geistiges, daher unberechenbar. Am musikalischen Kunstwerk hat die Mathematik einen ebenso kleinen ‹Seite 87 › oder ebenso großen Anteil wie an den Hervorbringungen der übrigen Künste. Denn Mathematik muß am Ende auch die Hand des Malers und Bildhauers führen, Mathematik webt im Gleichmaß der Vers- und Strophenlängen, Mathematik im Bau des Architekten, in den Figuren des Tänzers. In jeder genauen Kenntnis muß die Anwendung der Mathematik, als Vernunfttätigkeit, eine Stelle finden. Nur eine wirklich positive, schaffende Kraft muß man ihr nicht einräumen wollen, wie dies manche Musiker, diese Konservativen der Ästhetik, gern möchten. Es ist mit der Mathematik ähnlich, wie mit der Erzeugung der Gefühle im Zuhörer, – sie findet bei allen Künsten statt, aber großer Lärm darüber ist bloß bei der Musik.
Auch mit der Sprache hat man die Musik häufig zu parallelisieren und die Gesetze der ersteren für die letztere aufzustellen versucht. Die Verwandtschaft des Gesanges mit der Sprache lag nahe genug, mochte man sich nun an die Gleichheit der physiologischen Bedingungen halten oder an den gemeinsamen Charakter als Entäußerung des Innern durch die menschliche Stimme. Die analogen Beziehungen sind zu auffällig, als daß wir hier darauf einzugehen hätten; es sei demnach nur ausdrücklich eingeräumt, daß, wo es sich bei der Musik wirklich bloß um die subjektive Entäußerung eines inneren Dranges handelt, in der Tat die Gesetzlichkeit des sprechenden Menschen teilweise maßgebend für den singenden sein wird. Daß der in Leidenschaft Geratende ‹Seite 88 › mit der Stimme steigt, während die Stimme des sich beruhigenden Redners fällt; daß Sätze besonderen Gewichtes langsam, gleichgültige Nebensachen schnell gesprochen werden: dies und ähnliches wird der Gesangskomponist, insbesondere der dramatische , nicht unbeachtet lassen dürfen. Allein man hat sich mit diesen begrenzten Analogien nicht begnügt, sondern die Musik selbst als eine (unbestimmtere oder feinere) Sprache aufgefaßt und nun ihre Schönheitsgesetze aus der Natur der Sprache abstrahieren wollen. Jede Eigenschaft und Wirkung der Musik wurde auf Ähnlichkeiten mit der Sprache zurückgeführt. Wir sind der Ansicht, daß, wo es sich um das Spezifische einer Kunst handelt, ihre Unterschiede von verwandten Gebieten wichtiger sind als die Ähnlichkeiten. Unbeirrt durch diese oft verlockenden, aber das eigentliche Wesen der Musik gar nicht treffenden Analogien muß die ästhetische Untersuchung unablässig zu dem Punkte vordringen, wo Sprache und Musik sich unversöhnlich scheiden. Nur aus diesem Punkte werden der Tonkunst wahrhaft fruchtbringende Bestimmungen sprießen können. Der wesentliche Grundunterschied besteht aber darin, daß in der Sprache der Ton nur ein Zeichen, d. h. Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während in der Musik der Ton eine Sache ist, d. h. als Selbstzweck auftritt. Die selbständige Schönheit der Tonformen hier und die absolute Herrschaft des Gedankens über den Ton als bloßes Ausdrucksmittel dort stehen sich so ausschließend ‹Seite 89 › gegenüber, daß eine Vermischung der beiden Prinzipe eine logische Unmöglichkeit ist.
Der Schwerpunkt des Wesens liegt also ganz wo anders bei der Sprache und bei der Musik, und um diesen Schwerpunkt gruppieren sich alle übrigen Eigentümlichkeiten. Alle spezifisch musikalischen Gesetze werden sich um die selbständige Bedeutung und Schönheit der Töne drehen, alle sprachlichen Gesetze um die korrekte Verwendung des Lautes zum Zweck des Ausdrucks.
Die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen sind aus dem Bestreben hervorgegangen, die Musik als eine Art Sprache aufzufassen; sie weisen uns täglich praktische Folgen auf. So mußte es hauptsächlich Komponisten von schwacher Schöpferkraft geeignet erscheinen, die ihnen unerreichbare selbständige musikalische Schönheit als ein falsches, sinnliches Prinzip anzusehen, und die charakteristische Bedeutsamkeit der Musik dafür auf den Schild zu heben. Ganz abgesehen von Richard Wagners Opern, findet man in den kleinsten Instrumentalsächelchen oft Unterbrechungen des melodischen Flusses durch abgerissene Kadenzen, rezitativische Sätze u. dgl., welche, den Hörer befremdend, sich anstellen, als bedeuteten sie etwas Besonderes, während sie in der Tat nichts bedeuten als Unschönheit. Von modernen Kompositionen, welche fortwährend den großen Rhythmus durchbrechen, um mysteriöse Zusätze oder gehäufte Kontraste vorzudrängen, pflegt man zu rühmen, es strebe darin die Musik, ihre engen Grenzen ‹Seite 90 › zu durchbrechen und zur Sprache sich zu erheben. Uns ist ein solches Lob immer sehr zweideutig erschienen. Die Grenzen der Musik sind durchaus nicht eng, aber recht genau festgesteckt. Die Musik kann sich niemals »zur Sprache erheben« – herablassen müßte man eigentlich vom musikalischen Standpunkt sagen –, indem die Musik ja offenbar eine gesteigerte Sprache sein müßte. [24]
‹Seite 91 › Das vergessen auch unsere Sänger, welche in Momenten größten Affekts Worte, ja Sätze sprechend herausstoßen und damit die höchste Steigerung der ‹Seite 92 › Musik gegeben zu haben glauben. Sie übersehen, daß der Übergang vom Singen zum Sprechen stets ein Sinken ist, so wie der höchste normale Sprechton noch immer tiefer klingt als selbst die tieferen Gesangstöne desselben Organes. Ebenso schlimm als diese praktischen Folgen, ja noch schlimmer, weil nicht allsogleich durch das Experiment geschlagen, sind die Theorien , welche der Musik die Entwickelungs- und Konstruktionsgesetze der Sprache aufdringen wollen, wie es in älterer Zeit zum Teil von Rousseau und Rameau , in neuerer Zeit von den Jüngern R. Wagners versucht wird. Es wird dabei das wahrhafte Herz der Musik, die in sich selbst befriedigte Formschönheit, durchstoßen und dem Phantom der »Bedeutung« nachgejagt. Eine Ästhetik der Tonkunst müßte es daher zu ihren wichtigsten Aufgaben zählen, die Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik und dem der Sprache unerbittlich darzulegen, und in allen Folgerungen das Prinzip festzuhalten, daß, wo es sich um Spezifisch-Musikalisches handelt, die Analogien mit der Sprache jede Anwendung verlieren.
‹Seite 93 ›
Erachten wir es auch als Prinzip und erste Aufgabe der musikalischen Ästhetik, daß sie die usurpierte Herrschaft des Gefühls unter die berechtigte der Schönheit stelle – da nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als Tätigkeit des reinen Schauens, das Organ ist, aus welchem und für welches alles Kunstschöne zunächst entsteht – so behaupten doch die affirmativen Äußerungen des Fühlens im praktischen Musikleben eine zu auffallende und wichtige Rolle, um durch bloße Unterordnung abgetan zu werden.
So sehr die ästhetische Betrachtung sich nur an das Kunstwerk selbst zu halten hat, so erweist sich doch in der Wirklichkeit dieses selbständige Kunstwerk als wirksame Mitte zwischen zwei lebendigen Kräften: seinem Woher und seinem Wohin , d. i. dem Komponisten und dem Hörer. In dem Seelenleben dieser beiden kann die künstlerische Tätigkeit der Phantasie nicht so zu reinem Metall ausgeschieden sein, wie sie in dem fertigen, unpersönlichen Kunstwerk vorliegt – vielmehr wirkt sie dort stets in enger Wechselbeziehung mit Gefühlen und Empfindungen. Das Fühlen wird somit vor ‹Seite 94 › und nach dem fertigen Kunstwerk, vorerst im Tondichter, dann im Hörer, eine Bedeutung behaupten, der wir unsere Aufmerksamkeit nicht entziehen dürfen.
Betrachten wir den Komponisten . Ihn wird während des Schaffens eine gehobene Stimmung erfüllen, wie sie zur Befreiung des Schönen aus dem Schacht der Phantasie kaum entbehrlich gedacht werden kann. Daß diese gehobene Stimmung, nach der Individualität des Künstlers, mehr oder minder die Färbung des werdenden Kunstwerkes annehmen, daß sie bald hoch, bald mäßiger fluten wird, nie aber bis zum überwältigenden Affekte, der das künstlerische Hervorbringen vereitelt, daß die klare Besinnung hierbei wenigstens gleiche Wichtigkeit behauptet mit der Begeisterung, – das sind bekannte, der allgemeinen Kunstlehre angehörige Bestimmungen. Was speziell das Schaffen des Tonsetzers betrifft, so muß festgehalten werden, daß es ein stetes Bilden ist, ein Formen in Tonverhältnissen. Nirgend erscheint die Souveränität des Gefühls, welche man so gern der Musik andichtet, schlimmer angebracht, als wenn man sie im Komponisten während des Schaffens voraussetzt und dieses als ein begeistertes Extemporieren auffaßt. Die schrittweis vorgehende Arbeit, durch welche ein Musikstück, das dem Tondichter anfangs nur in Umrissen vorschwebte, bis in die einzelnen Takte zur bestimmten Gestalt ausgemeißelt wird, allenfalls gleich in der empfindlichen vielgestaltigen Form des Orchesters, ‹Seite 95 › ist so besonnen und kompliziert, daß sie kaum verstehen kann, wer nicht selbst einmal Hand daran gelegt. Nicht bloß etwa fugierte oder kontrapunktische Sätze, in welchen wir abmessend Note gegen Note halten, auch das fließendste Rondo, die melodiöseste Arie erfordert, wie es unsere Sprache bedeutsam nennt, ein »Ausarbeiten« ins kleinste. Die Tätigkeit des Komponisten ist eine in ihrer Art plastische und jener des bildenden Künstlers vergleichbar. Ebensowenig als dieser darf der Tondichter seinem Stoff unfrei verwachsen sein; denn gleich ihm hat er ja sein (musikalisches) Ideal objektiv hinzustellen, zur reinen Form zu gestalten.
Das dürfte von Rosenkranz vielleicht übersehen worden sein, wenn er den Widerspruch bemerkt, aber ungelöst läßt, warum die Frauen , welche doch von Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der Komposition nichts leisten? [25] Der Grund liegt – außer den allgemeinen Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten – eben in dem plastischen Moment des Komponierens, das eine Entäußerung der Subjektivität nicht minder, wenngleich in verschiedener Richtung erheischt, als die bildenden Künste. Wenn die Stärke und Lebendigkeit des Fühlens wirklich maßgebend für das Tondichten wäre, so würde der gänzliche Mangel an Komponistinnen neben so zahlreichen Schriftstellerinnen und ‹Seite 96 › Malerinnen schwer zu erklären sein. Nicht das Gefühl komponiert, sondern die speziell musikalische, künstlerisch geschulte Begabung. Ergötzlich klingt es daher, wenn F. L. Schubart die »meisterhaften Andantes« des Komponisten Stamitz ganz ernsthaft als eine natürliche »Folge seines gefühlvollen Herzens« hinstellt, [26] oder Christian Rolle uns versichert, »ein leutseliger, zärtlicher Charakter mache uns geschickt, langsame Sätze zu Meisterstücken zu bilden«. [27]
Ohne innere Wärme ist nichts Großes noch Schönes im Leben vollbracht worden. Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem Poeten, sich reich entwickelt vorfinden, nur ist es nicht der schaffende Faktor in ihm. Selbst wenn ein starkes, bestimmtes Pathos ihn gänzlich erfüllt, so wird dasselbe Anlaß und Weihe manches Kunstwerks werden, allein – wie wir aus der Natur der Tonkunst wissen, welche einen bestimmten Affekt darzustellen weder die Fähigkeit noch den Beruf hat – niemals dessen Gegenstand.
Ein inneres Singen , nicht ein bloßes inneres Fühlen treibt den musikalisch Talentierten zur Erfindung eines Tonstücks.
Wir haben die Tätigkeit des Komponierens als ein Bilden aufgefaßt; als solches ist sie durchaus objektiv . Der Tonsetzer formt ein selbständiges ‹Seite 97 › Schöne. Der unendlich ausdrucksfähige, geistige Stoff der Töne läßt es zu, daß die Subjektivität des in ihnen Bildenden sich in der Art seines Formens auspräge. Da schon den einzelnen musikalischen Elementen ein charakteristischer Ausdruck eignet, so werden vorherrschende Charakterzüge des Komponisten: Sentimentalität, Energie, Heiterkeit usw. sich durch die konsequente Bevorzugung gewisser Tonarten, Rhythmen, Übergänge recht wohl nach den allgemeinen Momenten ausdrücken, welche die Musik wiederzugeben fähig ist. Einmal vom Kunstwerk aufgesogen, interessieren aber diese Charakterzüge nunmehr als musikalische Bestimmtheiten, als Charakter der Komposition, nicht des Komponisten. [28] Was der gefühlvolle und was der geistreiche Komponist bringt, der graziöse oder der erhabene, ist zuerst und vor allem Musik , objektives Gebilde. Ihre Werke werden sich voneinander durch unverkennbare Eigentümlichkeiten unterscheiden und als Gesamtbild die Individualität ihrer Schöpfer abspiegeln; doch wurden sie alle, die einen wie die ‹Seite 98 › andern, als selbständiges Schöne rein musikalisch um ihretwillen erschaffen.
Nicht das tatsächliche Gefühl des Komponisten, als eine bloß subjektive Affektion, ist es, was die gleiche Stimmung in den Hörern wachruft. Räumt man der Musik solch eine zwingende Macht ein, so anerkennt man dadurch deren Ursache als etwas Objektives in ihr; denn nur dieses zwingt in allem Schönen. Dies Objektive sind hier die musikalischen Bestimmtheiten eines Tonstücks. Streng ästhetisch können wir von irgendeinem Thema sagen, es klinge stolz oder trübe, nicht aber, es sei ein Ausdruck der stolzen oder der trüben Gefühle des Komponisten. Noch ferner liegen dem Charakter eines Tonwerkes als solchem die sozialen und politischen Verhältnisse, welche seine Zeit beherrschen. Jener musikalische Ausdruck des Themas ist notwendige Folge seiner so und nicht anders gewählten Tonfaktoren; daß diese Wahl aus psychologischen oder kulturgeschichtlichen Ursachen hervorging, müßte an dem bestimmten Werke (nicht bloß aus Jahreszahl und Geburtsort) nachgewiesen werden, und nachgewiesen wäre dieser Zusammenhang, wie interessant auch immer, zunächst eine lediglich historische oder biographische Tatsache. Die ästhetische Betrachtung kann sich auf keine Umstände stützen, die außerhalb des Kunstwerks selbst liegen.
So gewiß die Individualität des Komponisten in seinen Schöpfungen einen symbolischen Ausdruck finden wird, so irrig wäre es, aus diesem persönlichen ‹Seite 99 › Moment Begriffe ableiten zu wollen, die ihre wahrhafte Begründung nur in der Objektivität des künstlerischen Bildens finden. Dahin gehört der Begriff des Stils . [29]
Wir möchten den Stil in der Tonkunst von seiten seiner musikalischen Bestimmtheiten aufgefaßt wissen, als die vollendete Technik, wie sie im Ausdruck des schöpferischen Gedankens als Gewöhnung erscheint. Der Meister bewährt »Stil«, indem er, die klar erfaßte Idee verwirklichend, alles Kleinliche, Unpassende, Triviale wegläßt und so in jeder technischen Einzelheit die künstlerische Haltung des Ganzen übereinstimmend wahrt. Mit Vischer (Ästhetik § 527) würden wir das Wort »Stil« auch in der Musik absolut gebrauchen und, absehend von den historischen oder individuellen Einteilungen, sagen: dieser Komponist hat Stil , in dem Sinne wie man von jemand sagt: er hat Charakter .
Die architektonische Seite des Musikalisch-Schönen tritt bei der Stilfrage recht deutlich in den Vordergrund. Eine höhere Gesetzlichkeit, als die der bloßen Proportion, wird der Stil eines Tonstücks durch einen einzigen Takt verletzt, der, an sich untadelhaft, ‹Seite 100 › nicht zum Ausdruck des Ganzen stimmt. Genau so wie eine unpassende Arabeske im Bauwerk, nennen wir stillos eine Kadenz oder Modulation, welche als Inkonsequenz aus der einheitlichen Durchführung des Grundgedankens abspringt. Natürlich ist diese Einheit im weiteren, höheren Sinne zu nehmen, wonach sie unter Umständen den Kontrast, die Episode und manche Freiheiten in sich begreift.
In der Komposition eines Musikstückes findet daher eine Entäußerung des eigenen persönlichen Affektes nur insoweit statt, als es die Grenzen einer vorherrschend objektiven, formenden Tätigkeit zulassen.
Der Akt, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die Erfindung eines Tonwerkes, als vielmehr die Reproduktion , die Aufführung, desselben. Daß für den philosophischen Begriff das komponierte Tonstück, ohne Rücksicht auf dessen Aufführung, das fertige Kunstwerk ist, darf uns nicht hindern, die Spaltung der Musik in Komposition und Reproduktion, eine der folgenreichsten Spezialitäten unserer Kunst, überall zu beachten, wo sie zur Erklärung eines Phänomens beiträgt.
In der Untersuchung des subjektiven Eindrucks der Musik macht sie sich ganz vorzugsweise geltend. Dem Spieler ist es gegönnt, sich von dem Gefühl, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument zu befreien und in seinen Vortrag das wilde Stürmen, das sehnliche Glühen, die heitere Kraft und ‹Seite 101 › Freude seines Innern zu hauchen. Schon das körperlich Innige, das durch meine Fingerspitzen die innere Bebung unvermittelt an die Saite drückt oder den Bogen reißt oder gar im Gesange selbsttönend wird, macht den persönlichsten Erguß der Stimmung im Musizieren recht eigentlich möglich. Eine Subjektivität wird hier unmittelbar in Tönen tönend wirksam, nicht bloß stumm in ihnen formend. Der Komponist schafft langsam, unterbrochen, der Spieler in unaufhaltsamem Flug; der Komponist für das Bleiben, der Spieler für den erfüllten Augenblick. Das Tonwerk wird geformt, die Aufführung erleben wir. So liegt denn das gefühlsentäußernde und erregende Moment der Musik im Reproduktionsakt, welcher den elektrischen Funken aus dunkelm Geheimnis lockt und in das Herz der Zuhörer überspringen macht. Freilich kann der Spieler nur das bringen, was die Komposition enthält, allein diese erzwingt wenig mehr als die Richtigkeit der Noten. »Der Geist des Tondichters sei es ja nur, den der Spieler errate und offenbare« – wohl, aber eben diese Aneignung im Moment des Wiederschaffens ist sein, des Spielers, Geist. Dasselbe Stück belästigt oder entzückt, je nachdem es zu tönender Wirklichkeit belebt wird. Es ist, wie derselbe Mensch, einmal in seiner verklärendsten Begeisterung, das andere Mal in mißmutiger Alltäglichkeit aufgefaßt. Die künstliche Spieluhr kann das Gefühl des Hörers nicht bewegen, doch der einfachste Musikant wird es, wenn er mit voller Seele bei seinem Liede ist.
‹Seite 102 › Zur höchsten Unmittelbarkeit befreit sich die Offenbarung eines Seelenzustandes durch Musik, wo Schöpfung und Ausführung in einen Akt zusammenfallen. Dies geschieht in der freien Phantasie . Wo diese nicht mit formell künstlerischer, sondern mit vorwiegend subjektiver Tendenz (pathologisch in höherem Sinn) auftritt, da kann der Ausdruck, welchen der Spieler den Tasten entlockt, ein wahres Sprechen werden. Wer dies zensurfreie Sprechen, dies entfesselte Sichselbstgeben mitten in strengem Bannkreise je an sich selbst erlebt hat, der wird ohne weiteres wissen, wie da Liebe, Eifersucht, Wonne und Leid unverhüllt und doch unfahndbar hinausrauschen aus ihrer Nacht, ihre Feste feiern, ihre Sagen singen, ihre Schlachten schlagen, bis der Meister sie zurückruft, beruhigt, beunruhigend.
Durch die entbundene Bewegung des Spielens teilt sich der Ausdruck des Gespielten dem Hörer mit. Wenden wir uns zu diesem.
Wir sehen ihn oft von einer Musik ergriffen, froh oder wehmütig bewegt, weit über das bloß ästhetische Wohlgefallen hinaus im Innersten emporgetragen oder erschüttert. Die Existenz dieser Wirkungen ist unleugbar, wahrhaft und echt, oft die höchsten Grade erreichend, zu bekannt endlich, als daß wir ihr ein beschreibendes Verweilen zu widmen brauchten. Es handelt sich hier nur um zweierlei: – worin im Unterschied von andern Gefühlsbewegungen der spezifische Charakter dieser Gefühlserregung durch Musik liege, und wieviel von dieser Wirkung ästhetisch sei.
‹Seite 103 › Müssen wir auch das Vermögen, auf die Gefühle zu wirken, allen Künsten ausnahmslos zuerkennen, so ist doch der Art und Weise, wie die Musik es ausübt, etwas Spezifisches, nur ihr Eigentümliches nicht abzusprechen. Musik wirkt auf den Gemütszustand rascher und intensiver als irgend ein anderes Kunstschöne. Mit wenigen Akkorden können wir einer Stimmung überliefert sein, welche ein Gedicht erst durch längere Exposition, ein Bild durch anhaltendes Hineindenken erreichen würde, obgleich diesen beiden, im Vorteil gegen die Tonkunst, der ganze Kreis der Vorstellungen dienstbar ist, von welchen unser Denken die Gefühle von Lust und Schmerz abhängig weiß. Nicht nur rascher, auch unmittelbarer und intensiver ist die Einwirkung der Töne. Die andern Künste überreden, die Musik überfällt uns. Diese ihre eigentümliche Gewalt auf unser Gemüt erfahren wir am stärksten, wenn wir uns in einem Zustand größerer Aufregung oder Herabstimmung befinden.
In Gemütszuständen, wo weder Gemälde noch Gedichte, weder Statuen noch Bauten mehr imstande sind, uns zu teilnehmender Aufmerksamkeit zu reizen, wird Musik noch Macht über uns haben, ja gerade heftiger als sonst. Wer in schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen muß, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Keine Kunst kann da so tief und scharf in unsere Seele schneiden. Form und Charakter des Gehörten verlieren dann ganz ihre Bedeutung, sei es nächtigtrübes Adagio ‹Seite 104 › oder ein hellfunkelnder Walzer, wir können uns nicht loswinden von seinen Klängen, – nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die Töne selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt, wie sie glühend an die Nerven unseres ganzen Leibes rückt.
Als Goethe in hohem Alter noch einmal die Gewalt der Liebe erfuhr, da erwachte in ihm zugleich eine nie gekannte Empfänglichkeit für Musik. Er schreibt über jene wunderbaren Marienbader Tage (1823) an Zelter : »Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! Die Stimme der Milder, das Klangreiche der Szymanowska, ja sogar die öffentliche Exhibition des hiesigen Jägerkorps falten mich auseinander, wie man eine geballte Faust freundlich flach läßt. Ich bin völlig überzeugt, daß ich im ersten Takte Deiner Singakademie den Saal verlassen müßte.« Zu einsichtsvoll, um nicht den großen Anteil nervöser Aufregung in dieser Erscheinung zu erkennen, schließt Goethe mit den Worten: »Du würdest mich von einer krankhaften Reizbarkeit heilen, die denn doch eigentlich als die Ursache jenes Phänomens anzusehen ist.« [30] Diese Beobachtungen müssen uns schon aufmerksam machen, daß in den musikalischen Wirkungen auf das Gefühl häufig ein fremdes, nicht rein ästhetisches Element mit im Spiele sei. Eine rein ästhetische Wirkung wendet sich an die volle Gesundheit des Nervenlebens und zählt auf kein krankhaftes Mehr oder Weniger desselben.
‹Seite 105 › Die intensivere Einwirkung der Musik auf unser Nervensystem vindiziert ihr in der Tat einen Machtüberschuß vor den anderen Künsten. Wenn wir aber die Natur dieses Machtüberschusses untersuchen, so erkennen wir, daß er ein qualitativer sei , und daß die eigentümliche Qualität auf physiologischen Bedingungen ruhe. Der sinnliche Faktor, der bei jedem Schönheitsgenuß den geistigen trägt, ist bei der Tonkunst größer als in den andern Künsten. Die Musik, durch ihr körperloses Material die geistigste, von seiten ihres gegenstandlosen Formspiels die sinnlichste Kunst, zeigt in dieser geheimnisvollen Vereinigung zweier Gegensätze ein lebhaftes Assimilationsbestreben mit den Nerven , diesen nicht minder rätselhaften Organen des unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib und Seele.
Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben ist als Tatsache von der Psychologie wie von der Physiologie vollständig anerkannt. Leider fehlt noch eine ausreichende Erklärung derselben. Es vermag die Psychologie nimmermehr das Magnetisch-Zwingende des Eindrucks zu ergründen, den gewisse Akkorde, Klangfarben und Melodien auf den ganzen Organismus des Menschen üben, weil es dabei zuvörderst auf eine spezifische Reizung der Nerven ankommt. Ebensowenig hat die im Triumph fortschreitende Wissenschaft der Physiologie etwas Entscheidendes über unser Problem gebracht.
Was die musikalischen Monographien dieses Zwittergegenstandes betrifft, so ziehen sie es fast durchgängig ‹Seite 106 › vor, die Tonkunst durch Ausbreitung glänzender Schaustücke in einen imposanten Nimbus von Wundertätigkeit zu bringen, als in wissenschaftlicher Forschung den Zusammenhang der Musik mit unserm Nervenleben auf sein Wahres und Notwendiges zurückzuführen. Dies allein aber tut uns not, und weder die Überzeugungstreue eines Doktor Albrecht , welcher seinen Patienten Musik als schweißtreibendes Mittel verschrieb, noch der Unglaube Oerstedts , der das Heulen eines Hundes bei gewissen Tonarten durch rationelle Prügel erklärt, mittelst welcher derselbe zum Heulen abgerichtet worden sei. [31]
Manchem Musikfreunde dürfte es unbekannt sein, daß wir eine ganze Literatur über die körperlichen Wirkungen der Musik und deren Anwendung zu Heilzwecken besitzen. An interessanten Kuriositäten reich, doch in der Beobachtung unzuverlässig, in der Erklärung unwissenschaftlich, suchen die meisten dieser Musiko-Mediziner eine sehr zusammengesetzte und beiläufige Eigenschaft der Tonkunst zu selbständiger Wirksamkeit aufzustelzen.
Von Pythagoras , der zuerst Wunderkuren durch Musik verrichtet haben soll, bis auf unsere Tage taucht zeitweilig immer wieder, mehr durch neue Beispiele als durch neue Ideen bereichert, die Lehre auf, man könne die aufregende oder lindernde Wirkung der Töne auf den körperlichen Organismus als ‹Seite 107 › Heilmittel gegen zahlreiche Krankheiten in Anwendung bringen. Peter Lichtenthal erzählt uns ausführlich in seinem » Musikalischen Arzt «, wie durch die Macht der Töne Gicht , Hüftweh , Epilepsie , Starrsucht , Pest , Fieberwahnsinn , Konvulsionen , Nervenfieber , ja sogar » Dummheit « ( stupiditas ) geheilt worden sei. [32]
Rücksichtlich der Begründung dieser Theorie lassen sich diese Schriftsteller in zwei Klassen teilen.
Die einen argumentieren vom Körper aus und gründen die Heilkraft der Musik auf die physische Einwirkung der Schallwellen, welche sich durch den Gehörnerv den übrigen Nerven mitteile und durch solch allgemeine Erschütterung eine heilsame Reaktion des gestörten Organismus hervorrufe. Die Affekte, welche zugleich sich bemerkbar machten, seien nur eine Folge dieser nervösen Erschütterung, indem Leidenschaften nicht bloß gewisse körperliche Veränderungen hervorrufen, sondern diese auch ihrerseits die ihnen entsprechenden Leidenschaften zu erzeugen vermögen.
Nach dieser Theorie, welcher (unter dem Vortritt des Engländers Webb ) Nikolai , Schneider , ‹Seite 108 › Lichtenthal , J. J. Engel , Sulzer u. a. anhängen, würden wir durch die Tonkunst nicht anders bewegt, als etwa unsere Fenster und Türen, die bei einer starken Musik zu zittern beginnen. Als unterstützend werden Beispiele angeführt, wie der Bediente Boyles , dem die Zähne zu bluten anfingen, sobald er eine Säge wetzen hörte, oder viele Personen, welche beim Kratzen einer Messerspitze auf Glas Konvulsionen bekommen.
Das ist nur keine Musik . Daß Musik mit jenen so heftig auf die Nerven wirkenden Erscheinungen dasselbe Substrat, den Schall, teilt, wird uns für spätere Folgerungen wichtig genug werden, hier ist – einer materialistischen Ansicht gegenüber – lediglich hervorzuheben, daß die Tonkunst erst da anfange, wo jene isolierten Klangwirkungen aufhören, übrigens auch die Wehmut, in welche ein Adagio den Hörer versetzen kann, mit der körperlichen Empfindung eines schrillen Mißklangs gar nicht zu vergleichen ist.
Die andere Hälfte unserer Autoren (unter ihnen Kausch und die meisten Ästhetiker) erklärt die heilkräftigen Wirkungen der Musik von der psychologischen Seite aus. Musik – so argumentieren sie – erzeugt Affekte und Leidenschaften in der Seele, Affekte haben heftige Bewegungen im Nervensystem zur Folge, heftige Bewegungen im Nervensystem verursachen eine heilsame Reaktion im kranken Organismus. Dieses Raisonnement, auf dessen Sprünge gar nicht erst hingedeutet zu werden braucht, ‹Seite 109 › wird von der genannten idealen »psychologischen« Schule gegen die frühere materielle so standhaft verfochten, daß sie, unter der Autorität des Engländers Whytt , sogar aller Physiologie zu Trotz den Zusammenhang des Gehörnervs mit den übrigen Nerven leugnet, wonach eine körperliche Übertragung des durch das Ohr empfangenen Reizes auf den Gesamtorganismus freilich unmöglich wird.
Der Gedanke, durch Musik bestimmte Affekte als Liebe, Wehmut, Zorn, Entzücken, in der Seele zu erregen, welche den Körper durch wohltätige Aufregung heilen, klingt so übel nicht. Uns fällt dabei stets das köstliche Parere ein, welches einer unserer berühmtesten Naturforscher über die sogenannten » Goldberger schen elektromagnetischen Ketten« abgab. Er sagte: es sei nicht ausgemacht, ob ein elektrischer Strom gewisse Krankheiten zu heilen vermöge, – das aber sei ausgemacht, daß die » Goldberger schen Ketten« keinen elektrischen Strom zu erzeugen imstande sind. Auf unsere Tondoktoren angewandt, heißt dies: Es ist möglich , daß bestimmte Gemütsaffekte eine glückliche Krisis in leiblichen Krankheiten herbeiführen, – allein es ist nicht möglich, durch Musik jederzeit beliebige Gemütsaffekte hervorzubringen.
Darin kommen beide Theorien, die psychologische und die physiologische, überein, daß sie aus bedenklichen Voraussetzungen noch bedenklichere Ableitungen folgern und endlich die bedenklichste praktische Schlußfolgerung daraus ziehen. Logische ‹Seite 110 › Ausstellungen mag sich eine Heilmethode etwa gefallen lassen, aber daß sich bis jetzt noch immer kein Arzt bewogen findet, seine Typhuskranken in Meyerbeers » Propheten « zu schicken, oder statt der Lanzette ein Waldhorn herauszuziehen, ist unangenehm.
Die körperliche Wirkung der Musik ist weder an sich so stark, noch so sicher, noch von psychischen und ästhetischen Voraussetzungen so unabhängig, noch endlich so willkürlich behandelbar, daß sie als wirkliches Heilmittel in Betracht kommen könnte.
Jede mit Beihilfe von Musik vollführte Kur trägt den Charakter eines Ausnahmefalles, dessen Gelingen niemals der Musik allein zuzuschreiben war, sondern zugleich von speziellen, vielleicht von ganz individuellen körperlichen und geistigen Bedingungen abhing. Es ist sehr bemerkenswert, daß die einzige Anwendung von Musik, welche wirklich in der Medizin vorkommt, nämlich in der Behandlung von Irrsinnigen, vorzugsweise auf die geistige Seite der musikalischen Wirkung reflektiert. Die moderne Psychiatrie verwendet bekanntlich Musik in vielen Fällen und mit glücklichem Erfolge. Dieser beruht aber weder auf der materiellen Erschütterung des Nervensystems, noch auf der Erregung der Leidenschaften, sondern auf dem besänftigend aufheiternden Einfluß, welchen das halb zerstreuende, halb fesselnde Tonspiel auf ein verdüstertes oder überreiztes Gemüt auszuüben vermag. Lauscht der ‹Seite 111 › Geisteskranke auch dem Sinnlichen, nicht dem Künstlerischen des Tonstücks, so steht er doch, wenn er mit Aufmerksamkeit hört, schon auf einer, wenngleich untergeordneten Stufe ästhetischer Auffassung.
Was nun alle diese musikalisch-medizinischen Werke für die richtige Erkenntnis der Tonkunst beitragen? Die Bestätigung einer von jeher beobachteten starken physischen Erregung bei allen durch Musik hervorgerufenen »Affekten« und »Leidenschaften«. Steht einmal fest, daß ein integrierender Teil der durch Musik erzeugten Gemütsbewegung physisch ist, so folgt weiter, daß dies Phänomen, als wesentlich in unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser seiner körperlichen Seite erforscht werden müsse. Es kann demnach der Musiker über dies Problem sich keine wissenschaftliche Überzeugung bilden, ohne sich mit den Ergebnissen bekannt zu machen, bei welchen der gegenwärtige Standpunkt der Physiologie in Untersuchung des Zusammenhangs der Musik mit den Gefühlen hält.
Verfolgen wir den Gang, welchen eine Melodie nehmen muß, um auf unsere Gemütsstimmung zu wirken, so finden wir ihren Weg vom vibrierenden Instrument bis zum Gehörnerv, besonders nach den epochemachenden Bereicherungen dieses Gebiets durch Helmholtz' » Lehre von den Tonempfindungen « hinreichend aufgeklärt. Die Akustik weist genau die äußeren Bedingungen nach, unter welchen wir einen Ton überhaupt, unter welchen wir diesen oder jenen ‹Seite 112 › bestimmten Ton vernehmen; die Anatomie deckt uns unter Mithilfe des Mikroskops den Bau des Gehörorgans bis ins Innerste und Feinste auf; die Physiologie endlich kann zwar an diesem überaus kleinen und zarten, tief verborgenen Wunderbau keine direkten Versuche anstellen, hat aber doch dessen Wirkungsweise zum Teil mit Sicherheit ermittelt, zum Teil durch eine, von Helmholtz aufgestellte Hypothese so klargelegt, daß uns jetzt der ganze Vorgang der Tonempfindung physiologisch verständlich ist. Selbst darüber hinaus, auf dem Gebiete, in dem sich bereits die Naturwissenschaft eng mit der Ästhetik berührt, haben uns die Forschungen von Helmholtz über die Konsonanz und die Verwandtschaft der Töne viel Licht gegeben, wo noch bis vor kurzem viel Dunkel herrschte. Aber damit freilich stehen wir auch am Ende unserer Kenntnis. Das für uns Wichtigste ist und bleibt unerklärt: der Nervenprozeß, durch welchen nun die Empfindung des Tones zum Gefühl , zur Gemütsstimmung wird. Die Physiologie weiß, daß das, was wir als Ton empfinden, eine Molekularbewegung in der Nervensubstanz ist, und zwar wenigstens ebensogut als im Akustikus in den Centralorganen. Sie weiß, daß die Fasern des Gehörnervs mit den anderen Nerven zusammenhängen und seine Reize auf sie übertragen, daß das Gehör namentlich mit dem kleinen und großen Gehirn, dem Kehlkopf, der Lunge, dem Herzen in Verbindung steht. Unbekannt ist ihr aber die spezifische Art, wie Musik auf diese Nerven wirkt, noch mehr ‹Seite 113 › die Verschiedenheit, mit welcher bestimmte musikalische Faktoren, Akkorde, Rhythmen, Instrumente auf verschiedene Nerven wirken. Verteilt sich eine musikalische Gehörsempfindung auf alle mit dem Akustikus zusammenhängende Nerven oder nur auf einige? Mit welcher Intensität? Von welchen musikalischen Elementen wird das Gehirn, von welchen werden die zum Herzen oder zur Lunge führenden Nerven am meisten affiziert? Unleugbar ist, daß Tanzmusik in jungen Leuten, deren natürliches Temperament nicht durch die Zivilisation ganz zurückgehalten wird, ein Zucken im Körper, namentlich in den Füßen, hervorruft. Es wäre einseitig, den physiologischen Einfluß von Marsch- und Tanzmusik zu leugnen; und ihn lediglich auf psychologische Ideenassoziation reduzieren zu wollen. Was daran psychologisch ist, – die wachgerufene Erinnerung an das schon bekannte Vergnügen des Tanzes, – entbehrt nicht der Erklärung, allein diese reicht für sich keineswegs aus. Nicht weil sie Tanzmusik ist, hebt sie die Füße, sondern sie ist Tanzmusik, weil sie die Füße hebt. Wer in der Oper ein wenig um sich blickt, wird bald bemerken, wie bei lebhaften, faßlichen Melodien die Damen unwillkürlich mit dem Kopfe hin- und herschaukeln, nie wird man dies aber bei einem Adagio sehen, sei es noch so ergreifend oder melodisch. Läßt sich daraus schließen, daß gewisse musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse auf motorische Nerven wirken, andere nur auf Empfindungsnerven? Wann ‹Seite 114 › ist das erstere, wann das letztere der Fall? [33] Erleidet das Solargeflecht, welches traditionell für einen vorzugsweisen Sitz des Empfindens gilt, bei der Musik eine besondere Affektion? Erleiden sie etwa die »sympathischen Nerven« – an denen, wie Purkinje mir einst bemerkte, ihr Name das Schönste ist –? Warum ein Klang schrillend, widerwärtig, ein anderer rein und wohllautend erscheine, das wird auf akustischem Wege durch die Gleichförmigkeit und Ungleichförmigkeit der aufeinanderfolgenden Luftstöße – warum mehrere zusammenklingende Töne konsonieren oder dissonieren, wird durch ihren ungestörten, gleichmäßigen oder gestörten, ungleichmäßigen Abfluß erklärt. [34] Diese Erklärungen mehr oder minder einfacher Gehörsempfindungen können aber dem Ästhetiker nicht genügen; er verlangt nach der Erklärung des Gefühls und fragt: wie kommt es, daß die eine Reihe von wohlklingenden Tönen ‹Seite 115 › den Eindruck der Trauer, eine zweite von gleichfalls wohlklingenden den Eindruck der Freude macht? Woher die entgegengesetzten, oft mit zwingender Kraft auftretenden Stimmungen, welche verschiedene Akkorde oder Instrumente von gleich reinem, wohlklingendem Ton dem Hörer unmittelbar einflößen?
Dies alles kann – soweit unser Wissen und Urteil reicht – die Physiologie nicht beantworten. Wie sollte sie auch? Weiß sie doch nicht, wie der Schmerz die Träne erzeugt, wie die Freude das Lachen, – weiß sie doch nicht, was Schmerz und Freude sind ! Hüte sich deshalb jeder, von einer Wissenschaft Aufschlüsse zu verlangen, die sie nicht geben kann. [35]
Freilich muß der Grund jedes durch Musik hervorgerufenen Gefühls vorerst in einer bestimmten Affektionsweise der Nerven durch einen Gehörseindruck liegen. Wie aber eine Reizung des Gehörnervs, ‹Seite 116 › die wir nicht einmal bis zu dessen Ursprungsstelle verfolgen können, als bestimmte Empfindungsqualität ins Bewußtsein fällt, wie der körperliche Eindruck zum Seelenzustand, die Empfindung endlich zum Gefühle wird, – das liegt jenseits der dunkeln Brücke, die von keinem Forscher überschritten ward. Es sind tausendfältige Umschreibungen des einen Urrätsels: vom Zusammenhang des Leibes mit der Seele. Diese Sphinx wird sich niemals vom Felsen stürzen. [36]
Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet, ist von höchster Wichtigkeit für unsere Erkenntnis der Gehörseindrücke als solcher; in dieser Beziehung kann durch sie noch mancher Fortschritt geschehen: in der musikalischen Hauptfrage wird dies kaum je der Fall sein.
Aus diesem Resultate ergibt sich für die Ästhetik der Tonkunst die Betrachtung, daß diejenigen Theoretiker, welche das Prinzip des Schönen in der Musik auf Gefühlswirkungen bauen, wissenschaftlich verloren sind, weil sie über das Wesen dieses Zusammenhanges nichts wissen können, also bestenfalls nur darüber zu raten oder zu phantasieren vermögen. Vom Standpunkte des Gefühls wird eine künstlerische oder wissenschaftliche Bestimmung der Musik niemals ausgehen können. Mit der Schilderung der subjektiven Bewegungen, welche den Kritiker bei ‹Seite 117 › Anhörung einer Symphonie überkommen, wird er deren Wert und Bedeutung nicht begründen, ebensowenig kann er von den Affekten ausgehend den Kunstjünger etwas lehren. Letzteres ist wichtig. Denn stünde der Zusammenhang bestimmter Gefühle mit gewissen musikalischen Ausdrucksweisen so zuverlässig da, als man geneigt ist zu glauben, und als er dastehen müßte, um die ihm vindizierte Bedeutung zu behaupten, so wäre es ein leichtes, den angehenden Komponisten bald zur Höhe ergreifendster Kunstwirkung zu leiten. Man wollte dies auch wirklich. Mattheson lehrt im dritten Kapitel seines » vollkommenen Kapellmeisters «, wie Stolz, Demut und alle Leidenschaften zu komponieren seien, indem er z. B. sagt, die »Erfindungen zur Eifersucht müssen alle was Verdrießliches, Grimmiges und Klägliches haben«. Ein anderer Meister des vorigen Jahrhunderts, Heinchen , gibt in seinem » Generalbaß « acht Bogen Notenbeispiele, wie die Musik »rasende, zankende, prächtige, ängstliche oder verliebte Empfindungen« ausdrücken sollte. [37] Es fehlt nur noch, daß derlei Vorschriften mit der Kochbuchformel »Man nehme« anhüben, oder mit der medizinischen ‹Seite 118 › Signatur m. d. s. endigten. Es holt sich aus solchen Bestrebungen die lehrreichste Überzeugung, wie spezielle Kunstregeln immer zugleich zu eng und zu weit sind.
Diese an sich bodenlosen Regeln für die musikalische Erweckung bestimmter Gefühle gehören aber um so weniger in die Ästhetik, als die erstrebte Wirkung keine rein ästhetische, sondern ein unausscheidbarer Anteil daran körperlich ist. Das ästhetische Rezept müßte lehren, wie der Tonkünstler das Schöne in der Musik erzeuge, nicht aber beliebige Affekte im Auditorium. Wie ganz ohnmächtig diese Regeln wirklich sind , das zeigt am schönsten die Erwägung, wie zaubermächtig sie sein müßten . Denn wäre die Gefühlswirkung jedes musikalischen Elements eine notwendige und erforschbare, so könnte man auf dem Gemüt des Hörers, wie auf einer Klaviatur, spielen. Und falls man es vermöchte – würde die Aufgabe der Kunst dadurch gelöst? So nur lautet die berechtigte Frage und verneint sich von selbst. Musikalische Schönheit allein ist die wahre Kraft des Tonkünstlers. Auf ihren Schultern schreitet er sicher durch die reißenden Wogen der Zeit, in denen das Gefühlsmoment ihm keinen Strohhalm bietet vor dem Ertrinken.
Man sieht, unsere beiden Fragen – nämlich, welches spezifische Moment die Gefühlswirkung durch Musik auszeichne, und ob dies Moment wesentlich ästhetischer Natur sei – erledigen sich durch die Erkenntnis ein und desselben Faktors: der intensiven ‹Seite 119 › Einwirkung auf das Nervensystem . Auf dieser beruht die eigentümliche Stärke und Unmittelbarkeit, mit welcher die Musik im Vergleich mit jeder andern nicht durch Töne wirkenden Kunst Affekte aufzuregen vermag.
Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich überwältigend, also pathologisch auftritt, desto geringer ist ihr ästhetischer Anteil; ein Satz, der sich freilich nicht umkehren läßt. Es muß darum in der musikalischen Hervorbringung und Auffassung ein anderes Element hervorgehoben werden, welches das unvermischt Ästhetische dieser Kunst repräsentiert und als Gegenbild zu der spezifisch musikalischen Gefühlserregung sich den allgemeinen Schönheitsbedingungen der übrigen Künste annähert. Dies ist die reine Anschauung . Ihre besondere Erscheinungsform in der Tonkunst, sowie die vielgestaltigen Verhältnisse, welche sie in der Wirklichkeit zum Gefühlsleben eingeht, wollen wir im folgenden Abschnitt betrachten.
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Nichts hat die wissenschaftliche Entwicklung der musikalischen Ästhetik so empfindlich gehemmt als der übermäßige Wert, welchen man den Wirkungen der Musik auf die Gefühle beilegte. Je auffallender sich diese Wirkungen zeigten, desto höher pries man sie als Herolde musikalischer Schönheit. Wir haben im Gegenteil gesehen, daß gerade den überwältigendsten Eindrücken der Musik ein stärkster Anteil körperlicher Erregung von seiten des Hörers beigemischt ist. Von seiten der Musik liegt diese heftige Eindringlichkeit in das Nervensystem nicht sowohl in ihrem künstlerischen Moment, das ja aus dem Geiste kommt und an den Geist sich wendet, als vielmehr in ihrem Material , dem die Natur jene unergründliche physiologische Wahlverwandtschaft eingeboren hat. Das Elementarische der Musik, der Klang und die Bewegung ist es, was die wehrlosen Gefühle so vieler Musikfreunde in Ketten schlägt, mit denen sie gar gerne klirren. Weit sei es von uns, die Rechte des Gefühls an die Musik verkürzen zu wollen. Allein dies Gefühl, ‹Seite 121 › welches sich tatsächlich mehr oder minder mit der reinen Anschauung paart, kann nur dann als künstlerisch gelten, wenn es sich seiner ästhetischen Herkunft bewußt bleibt, d. h. der Freude an einem und zwar gerade diesem bestimmten Schönen .
Fehlt dies Bewußtsein, fehlt die freie Anschauung des bestimmten Kunstschönen, und fühlt das Gemüt sich nur von der Naturgewalt der Töne befangen, so kann die Kunst sich solchen Eindruck um so weniger zugute schreiben, je stärker er auftritt. Die Zahl derer, welche auf solche Art Musik hören oder eigentlich fühlen, ist sehr bedeutend. Indem sie das Elementarische der Musik in passiver Empfänglichkeit auf sich wirken lassen, geraten sie in eine vage, nur durch den ganz allgemeinen Charakter des Tonstücks bestimmte übersinnlich sinnliche Erregung. Ihr Verhalten gegen die Musik ist nicht anschauend, sondern pathologisch ; ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und Bangen in klingendem Nichts. Lassen wir an dem Gefühlsmusiker mehrere Tonstücke gleichen, etwa rauschend fröhlichen Charakters, vorbeiziehen, so wird er in dem Banne desselben Eindrucks verbleiben. Nur was diesen Stücken gleichartig ist, also die Bewegung des rauschend Fröhlichen, assimiliert sich seinem Fühlen, während das Besondere jeder Tondichtung, das künstlerisch Individuelle, seiner Auffassung entschwindet. Gerade umgekehrt wird der musikalische Zuhörer verfahren. Die eigentümliche künstlerische Gestaltung einer Komposition, ‹Seite 122 › das, was sie unter einem Dutzend ähnlich wirkender zum selbständigen Kunstwerk stempelt, erfüllt sein Aufmerken so vorherrschend, daß er ihrem gleichen oder verschiedenen Gefühlsausdruck nur geringes Gewicht beilegt. Das isolierte Aufnehmen eines abstrakten Gefühlsinhalts anstatt der konkreten Kunsterscheinung ist in solcher Ausbildung der Musik ganz eigentümlich. Nur die Gewalt einer besonderen Beleuchtung erscheint ihr nicht selten analog, wenn sie manchen so ergreift, daß er über die beleuchtete Landschaft selbst sich gar keine Rechenschaft zu geben vermag. Eine unmotivierte und darum desto eindringlichere Totalempfindung wird in Bausch und Bogen eingesaugt. [38]
Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie scharfen Blickes zu betrachten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt, aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen unbestimmten Empfindungszustand, den sie für rein geistig zu halten so unschuldig sind. Sie bilden das »dankbarste« Publikum und dasjenige, welches ‹Seite 123 › geeignet ist, die Würde der Musik am sichersten zu diskreditieren. Das ästhetische Merkmal des geistigen Genusses geht ihrem Hören ab; eine feine Zigarre, ein pikanter Leckerbissen, ein laues Bad leistet ihnen unbewußt, was eine Symphonie. Vom gedankenlos gemächlichen Dasitzen der einen bis zur tollen Verzückung der andern ist das Prinzip dasselbe: die Lust am Elementarischen der Musik. Die neue Zeit hat übrigens eine herrliche Entdeckung gebracht, welche für Hörer, die ohne alle Geistesbetätigung nur den Gefühlsniederschlag der Musik suchen, diese Kunst weit überbietet. Wir meinen den Schwefeläther, das Chloroform. In der Tat zaubern uns diese Mittel einen, den ganzen Organismus süßtraumhaft durchbebenden Rausch – ohne die Gemeinheit des Weintrinkens, welches auch nicht ohne musikalische Wirkung ist.
Die Werke der Tonkunst reihen sich für solche Auffassung zu den Naturprodukten , deren Genuß uns entzücken, aber nicht zwingen kann zu denken, einem bewußt schaffenden Geiste nachzudenken. Der süße Atem eines Akazienbaumes läßt sich auch geschlossenen Auges, träumend einsaugen. Hervorbringungen menschlichen Geistes verwehren das durchaus, wenn sie nicht eben auf die Stufe sinnlicher Naturreize herabsinken sollen.
In keiner andern Kunst ist dies so hohen Grades möglich, wie in der Musik, deren sinnliche Seite einen geistlosen Genuß wenigstens zuläßt. Schon das Verrauschen derselben, während die Werke ‹Seite 124 › der übrigen Künste bleiben , gleicht in bedenklicher Weise dem Akt des Verzehrens.
Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht schlürfen, eine Arie sehr wohl. Darum gibt auch der Genuß keiner andern Kunst sich zu solch akzessorischem Dienst her. Die besten Kompositionen können als Tafelmusik gespielt werden und die Verdauung der Fasane erleichtern. Musik ist die zudringlichste und auch wieder die nachsichtigste Kunst. Die jämmerlichste Drehorgel, so sich vor unser Haus postiert, muß man hören , aber zuhören braucht man selbst einer Mendelssohnschen Symphonie nicht.
Die gerügte Art des Musikhörens ist übrigens nicht etwa identisch mit der in jeder Kunst vorkommenden Freude des naiven Publikums an dem bloß sinnlichen Teil derselben, während der ideale Gehalt nur von dem gebildeten Verständnis erkannt wird. Diese unkünstlerische Auffassung eines Musikstückes zieht nicht den eigentlich sinnlichen Teil, die reiche Mannigfaltigkeit der Tonreihen an sich, sondern deren abstrakte, als bloßes Gefühl empfundene Totalidee. Dadurch wird die höchst eigentümliche Stellung ersichtlich, welche in der Musik der geistige Gehalt zu den Kategorien der Form und des Inhalts einnimmt. Man pflegt nämlich das ein Tonstück durchwehende Gefühl als den Inhalt, die Idee, den geistigen Gehalt desselben anzusehen; die künstlerisch geschaffenen, bestimmten Tonfolgen hingegen als die bloße Form, das Bild, die sinnliche ‹Seite 125 › Einkleidung jenes Übersinnlichen. Allein gerade der »spezifisch-musikalische« Teil ist die Schöpfung des künstlerischen Geistes, mit welchem der anschauende Geist sich verständnisvoll vereinigt. In diesen konkreten Tonbildungen liegt der geistige Gehalt der Komposition, nicht in dem vagen Totaleindruck eines abstrahierten Gefühls. Die dem Gefühl, als vermeintlichem Inhalt, gegenübergestellte bloße Form (das Tongebilde) ist gerade der wahre Inhalt der Musik, ist die Musik selbst, während das erzeugte Gefühl weder Inhalt noch Form heißen kann, sondern faktische Wirkung. Ebenso ist das vermeintliche Materielle , Darstellende, gerade das vom Geiste Gebildete, während das angeblich Dargestellte, die Gefühlswirkung, der Materie des Tons innewohnt und zur guten Hälfte physiologischen Gesetzen folgt.
Aus den obigen Betrachtungen ergibt sich leicht die richtige Wertschätzung für die sogenannten » moralischen Wirkungen « der Musik, die als glänzendes Seitenstück zu den vorher erwähnten »physischen« von älteren Autoren mit so viel Vorliebe herausgestrichen werden. Da hierbei die Musik nicht im entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als rohe Naturgewalt empfunden wird, die bis zu besinnungslosem Handeln treibt, so stehen wir an dem geraden Widerspiel alles Ästhetischen. Überdies liegt das Gemeinschaftliche dieser angeblich »moralischen« Wirkungen mit den anerkannt physischen zutage.
‹Seite 126 › Der drängende Gläubiger, der durch die Töne seines Schuldners bewogen wird, ihm die ganze Summe zu schenken, [39] ist dazu nicht anders angetrieben als der Ruhende, den ein Walzermotiv plötzlich zum Tanz begeistert. Der erstere wird mehr durch die geistigeren Elemente: Harmonie und Melodie, der zweite durch den sinnlicheren Rhythmus bewegt. Keiner von beiden handelt aber aus freier Selbstbestimmung, keiner überwältigt durch geistige Überlegenheit oder ethische Schönheit, sondern infolge befördernder Nervenreize. Die Musik löst ihm die Füße oder das Herz, geradeso wie der Wein die Zunge. Solche Siege predigen nur die Schwäche des Besiegten. Ein Erleiden unmotivierter ziel- und stoffloser Affekte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu unserem Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes unwürdig. Wenn vollends Menschen in so hohem Grade von dem Elementarischen einer Kunst sich hinreißen lassen, daß sie ihres freien Handelns nicht mehr mächtig sind, so scheint uns dies weder ein Ruhm für die Kunst, noch viel weniger für die Helden selbst.
Die Musik hat diese Bestimmung keineswegs, allein ihr intensives Gefühlsmoment macht es möglich, daß sie in solcher Tendenz genossen werde. Dies ist der Punkt, in welchem die ältesten Anklagen gegen die Tonkunst ihre Wurzel haben; daß sie entnerve, verweichliche, erschlaffe.
‹Seite 127 › Wo man Musik macht als ein Erregungsmittel »unbestimmter Affekte«, als Nahrung des »Fühlens« an sich, da wird jener Vorwurf nur zu wahr. Beethoven verlangte, die Musik solle dem Mann »Feuer aus dem Geiste schlagen«. Wohlgemerkt: »soll«. Ob aber nicht selbst ein Feuer, das durch Musik erzeugt und genährt wird, die willensstarke, denkkräftige Entwickelung des Mannes hemmend zurückhält?
Jedenfalls scheint uns diese Anklage des musikalischen Einflusses würdiger als dessen übermäßige Lobpreisung. Sowie die physischen Wirkungen der Musik im geraden Verhältnis stehen zu der krankhaften Gereiztheit des ihnen entgegenkommenden Nervensystems, so wächst der moralische Einfluß der Töne mit der Unkultur des Geistes und Charakters. Je kleiner der Widerhall der Bildung, desto gewaltiger das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde.
Das schreckt unsere Musik-Ethiker nicht ab. Sie beginnen, gleichsam präludierend, am liebsten mit zahlreichen Beispielen, »wie sogar die Tiere« sich der Macht der Tonkunst beugen. Es ist wahr, der Ruf der Trompete erfüllt das Pferd mit Mut und Schlachtbegier, die Geige begeistert den Bären zu Ballettversuchen, die zarte Spinne und der plumpe Elefant bewegen sich horchend bei den geliebten Klängen. Ist es denn aber wirklich so ehrenvoll, in solcher Gesellschaft Musikenthusiast zu sein?
‹Seite 128 › Auf die Tierproduktionen folgen die menschlichen Kabinettstücke. Sie sind meist im Geschmack Alexanders des Großen, welcher durch das Flötenspiel des Timotheus zuerst wütend gemacht, hierauf durch Gesang wieder besänftigt wurde. So ließ der minder bekannte König von Dänemark Ericus bonus , um sich von der gepriesenen Gewalt der Musik zu überzeugen, einen berühmten Musikus spielen und zuvor alles Gewehr entfernen. Der Künstler versetzte durch die Wahl seiner Modulationen alle Gemüter zuerst in Traurigkeit, dann in Frohsinn. Letzteren wußte er bis zur Raserei zu steigern. »Selbst der König brach durch die Tür, griff zum Degen und brachte von den Umstehenden vier ums Leben.« ( Albert Krantzius, Dan. lib. V., cap. 3. ) Und das war noch der » gute Erich «.
Wären solche »moralische Wirkungen « der Musik noch an der Tagesordnung, so käme man wahrscheinlich vor innerer Empörung gar nicht dazu, sich über die Hexenmacht vernünftig auszusprechen, welche in souveräner Exterritorialität den Menschengeist unbekümmert um dessen Gedanken und Entschlüsse bezwingt und verwirrt.
Die Betrachtung jedoch, daß die berühmtesten dieser musikalischen Trophäen dem grauen Altertum angehören, macht wohl geneigt, der Sache einen historischen Standpunkt abzugewinnen.
Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei den alten Völkern eine weit unmittelbarere Wirkung äußerte als gegenwärtig; weil die Menschheit eben ‹Seite 129 › in ihren primitiven Bildungsstufen dem Elementarischen viel verwandter und preisgegebener ist als später, wo Bewußtsein und Selbstbestimmung in ihr Recht treten. Dieser natürlichen Empfänglichkeit kam der eigentümliche Zustand der Musik im griechischen Altertum hilfreich entgegen. Sie war nicht Kunst in unserem Sinn. Klang und Rhythmus wirkten in fast vereinzelter Selbständigkeit und vertraten in dürftigem Vordrängen die Stelle der reichen, geisterfüllten Formen, welche die gegenwärtige Tonkunst bilden. Alles, was von der Musik jener Zeiten bekannt ist, läßt mit Gewißheit auf ein bloß sinnliches, dafür aber in dieser Beschränkung verfeinertes Wirken derselben schließen. Musik in der modernen, künstlerischen Bedeutung gab's nicht im klassischen Altertum, sonst hätte sie für die spätere Entwickelung ebensowenig verloren gehen können, als die klassische Dichtkunst, Plastik und Architektur verloren gegangen sind. Die Vorliebe der Griechen für ein gründliches Studium ihrer ins Subtilste zugespitzten Tonverhältnisse gehört als rein wissenschaftliche nicht hierher.
Der Mangel an Harmonie, die Befangenheit der Melodie in den engsten Grenzen rezitativischen Ausdrucks, endlich die Entwickelungsunfähigkeit des alten Tonsystems zu wahrhaft musikalischem Gestaltenreichtum machten eine absolute Bedeutung der Musik als Tonkunst im musikalischen Sinne unmöglich; sie ward auch fast niemals selbständig, sondern stets in Verbindung mit Poesie, Tanz und Mimik angewendet, mithin als eine Ergänzung der andern Künste. ‹Seite 130 › Musik hatte nur den Beruf, durch rhythmischen Pulsschlag und Verschiedenheit der Klangfarben zu beleben; endlich als intensive Steigerung rezitierender Deklamation Worte und Gefühle zu kommentieren. Die Tonkunst wirkte daher hauptsächlich nach ihrer sinnlichen und ihrer symbolischen Seite. Auf diese Faktoren hingedrängt, mußte sie dieselben durch solche Konzentration zu großer, ja raffinierter Wirksamkeit ausbilden. Die Zuspitzung des melodischen Materials bis zur Anwendung der Vierteltöne und des »enharmonischen Tongeschlechts« hat die heutige Tonkunst ebensowenig mehr aufzuweisen, als den charakteristischen Sonderausdruck der Tonarten und ihr enges Anschmiegen an das gesprochene oder gesungene Wort.
Diese gesteigerten tonlichen Verhältnisse fanden für ihren engen Kreis überdies eine viel größere Empfänglichkeit in den Hörern vor. Wie das griechische Ohr unendlich feinere Intervallenunterschiede zu fassen fähig war, als es das unsere in der schwebenden Temperatur auferzogene ist, so war auch das Gemüt jener Völker der wechselnden Umstimmung durch Musik weit zugänglicher und begehrlicher als wir, die an dem künstlerischen Bilden der Tonkunst ein kontemplatives Gefallen hegen, das deren elementarischen Einfluß paralysiert. So erscheint denn eine intensivere Wirkung der Musik im Altertum wohl begreiflich.
Desgleichen ein bescheidener Teil der Historien, die uns von der spezifischen Wirkung der verschiedenen ‹Seite 131 › Tonarten bei den Alten überliefert sind. Sie gewinnen einen Erklärungsgrund in der strengen Scheidung, mit welcher die einzelnen Tonarten zu bestimmten Zwecken gewählt und unvermischt erhalten wurden. Die dorische Tonart brauchten die Alten für ernste, namentlich religiöse Anlässe; mit der phrygischen feuerten sie die Heere an; die lydische bedeutete Trauer und Wehmut, und die äolische erklang, wo es in Liebe oder Wein lustig herging. Durch diese strenge, bewußte Trennung von vier Haupttonarten für ebensoviele Klassen von Seelenzuständen, sowie durch ihre konsequente Verbindung mit nur zu dieser Tonart passenden Gedichten mußten Ohr und Gemüt unwillkürlich eine entschiedene Tendenz gewinnen, beim Erklingen einer Musik gleich das ihrer Tonart entsprechende Gefühl zu reproduzieren. Auf der Grundlage dieser einseitigen Ausbildung war nun die Musik unentbehrliche, fügsame Begleiterin aller Künste, war Mittel zu pädagogischen, politischen und anderen Zwecken, sie war alles, nur keine selbständige Kunst . Wenn es bloß einiger phrygischen Klänge bedurfte, um den Soldaten mutig gegen den Feind zu treiben, und die Treue der Strohwitwen durch dorische Lieder gesichert war, so mag der Untergang des griechischen Tonsystems von Feldherren und Ehegatten betrauert werden, – der Ästhetiker und der Komponist werden es sich nicht zurückwünschen.
Wir setzen jenem pathologischen Ergriffenwerden das bewußte reine Anschauen eines Tonwerks ‹Seite 132 › entgegen. Diese kontemplative ist die einzig künstlerische, wahre Form des Hörens; ihr gegenüber fällt der rohe Affekt des Wilden und der schwärmende des Musik-Enthusiasten in Eine Klasse. Dem Schönen entspricht ein Genießen, kein Erleiden , wie ja das Wort »Kunstgenuß« sinnig ausdrückt. Die Gefühlvollen halten es freilich für Ketzerei gegen die Allmacht der Musik, wenn jemand von den Herzens-Revolutionen und -Krawallen Umgang nimmt, welche sie in jedem Tonstück antreffen und redlich mitmachen. Man ist dann offenbar »kalt«, »gemütlos«, »Verstandesnatur«. Immerhin. Edel und bedeutend wirkt es, dem schaffenden Geist zu folgen, wie er zauberisch eine neue Welt von Elementen vor uns aufschließt, diese in alle denkbaren Beziehungen zueinander lockt, und so fortan aufbaut, niederreißt, hervorbringt und vernichtet, den ganzen Reichtum eines Gebietes beherrschend, welches das Ohr zum feinsten und ausgebildetsten Sinneswerkzeug adelt. Nicht eine angeblich geschilderte Leidenschaft reißt uns in Mitleidenschaft. Freudigen Geistes, in affektlosem, doch innig-hingebendem Genießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen und feiner erkennend, was Schelling so schön »die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen« nennt. [40] Dieses Sich-Erfreuen mit wachem Geiste ist die würdigste, heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu hören.
‹Seite 133 › Der wichtigste Faktor in dem Seelenvorgang, welcher das Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häufigsten übersehen. Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den Absichten des Komponisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen Vermutungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden. Es versteht sich, daß dieses intellektuelle Hinüber- und Herüberströmen, dieses fortwährende Geben und Empfangen, unbewußt und blitzschnell vor sich geht. Nur solche Musik wird vollen künstlerischen Genuß bieten, welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz eigentlich ein Nachdenken der Phantasie genannt werden könnte, hervorruft und lohnt. Ohne geistige Tätigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß. Der Musik aber ist diese Form von Geistestätigkeit darum vorzüglich eigen, weil ihre Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen, sondern sich sukzessiv am Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein, ein beliebiges Verweilen und Unterbrechen zulassendes Betrachten , sondern ein in schärfster Wachsamkeit unermüdliches Begleiten fordern. Diese Begleitung kann bei verwickelten Kompositionen sich bis zur geistigen Arbeit steigern. Wie viele einzelne Individuen , so können auch manche Nationen sich ihr nur sehr schwer unterziehen. Die singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes, welchem das ausdauernde Durchdringen ‹Seite 134 › unerreichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen Gewebe von harmonischen und kontrapunktischen Verschlingungen zu folgen liebt. Dafür wird Hörern, deren geistige Tätigkeit gering ist, der Genuß leichter , und solche Musikbolde können Massen von Musik verzehren, vor welchen der künstlerische Geist zurückbebt.
Das bei jedem Kunstgenuß notwendige geistige Moment wird sich bei Zuhörern desselben Tonwerks in sehr verschiedener Abstufung tätig erweisen; es kann in sinnlichen und gefühlvollen Naturen auf ein Minimum sinken, in vorherrschend geistigen Persönlichkeiten das geradezu Entscheidende werden. Die wahre » rechte Mitte« muß sich, nach unserer Meinung, hier eher etwas nach rechts neigen. Zum Berauschtwerden braucht's nur der Schwäche, aber wirklich ästhetisches Hören ist eine Kunst . [41]
‹Seite 135 › Das Gefühlsschwelgen ist meist Sache jener Hörer, welche für die künstlerische Auffassung des Musikalisch-Schönen keine Ausbildung besitzen. Der Laie »fühlt« bei Musik am meisten, der gebildete Künstler am wenigsten. Je bedeutender nämlich das ästhetische Moment im Hörer (gerade wie im Kunstwerk), desto mehr nivelliert es das bloß elementarische. Darum ist das ehrwürdige Axiom der Theoretiker: »Eine düstere Musik erregt Gefühle der Trauer in uns, eine heitere erweckt Fröhlichkeit« – in dieser Ausdehnung nicht immer richtig. Wenn jedes hohle Requiem, jeder lärmende Trauermarsch, jedes winselnde Adagio die Macht haben sollte, uns traurig zu machen – wer möchte dann länger so leben? Blickt eine Tondichtung uns an mit klaren Augen der Schönheit, so erfreuen wir uns inniglich daran, und wenn sie alle Schmerzen des Jahrhunderts zum Gegenstand hätte. Der lauteste Jubel aber eines Verdischen Finales oder einer Musardschen Quadrille hat uns nicht immer froh gemacht.
‹Seite 136 › Der Laie und Gefühlsmensch fragt gerne, ob eine Musik lustig sei oder traurig – der Musiker, ob sie gut sei oder schlecht. Dieser kurze Schlagschatten weist deutlich, auf welch verschiedener Seite beide Parteien gegen die Sonne stehen.
Wenn wir sagten, daß unser ästhetisches Wohlgefallen an einem Tonstück sich nach dessen künstlerischem Wert richte, so hindert dies nicht, daß ein einfacher Hornruf, ein Jodler im Gebirg uns mitunter zu größerem Entzücken anrufen kann, als die vortrefflichste Symphonie. In diesem Fall tritt aber die Musik in die Reihe des Naturschönen . Nicht als dieses bestimmte Gebilde in Tönen, sondern als diese bestimmte Art von Naturwirkung kommt uns das Gehörte entgegen und kann übereinstimmend mit dem landschaftlichen Charakter der Umgebung und der persönlichen Stimmung jeden Kunstgenuß an Macht hinter sich zurücklassen. Es gibt also ein Übergewicht an Eindruck, welches das Elementarische über das Artistische erreichen kann, allein die Ästhetik, als Lehre vom Kunstschönen, hat die Musik lediglich von ihrer künstlerischen Seite aufzufassen, also auch nur jene ihrer Wirkungen anzuerkennen, welche sie als menschliches Geistesprodukt, durch eine bestimmte Gestaltung jener elementarischen Faktoren, auf die reine Anschauung hervorbringt.
Die notwendigste Forderung einer ästhetischen Aufnahme der Musik ist aber, daß man ein Tonstück um seiner selbst willen höre , welches es ‹Seite 137 › nun immer sei und mit welcher Auffassung immer. Sobald die Musik nur als Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern, akzessorisch, dekorativ, da hört sie auf, als reine Kunst zu wirken. Das Elementarische der Musik wird unendlich oft mit der künstlerischen Schönheit derselben verwechselt, also ein Teil für das Ganze genommen und dadurch namenlose Verwirrung verursacht. Hundert Aussprüche, die über »die Tonkunst« gefällt werden, gelten nicht von dieser, sondern von der sinnlichen Wirkung ihres Materials.
Wenn Heinrich der Vierte bei Shakespeare (II. Teil. IV. 4.) sich sterbend Musik machen läßt, so geschieht es wahrlich nicht, um die vorgetragene Komposition anzuhören, sondern um träumend in deren gegenstandlosem Element sich zu wiegen. Ebensowenig werden Porzia und Bassanio (im » Kaufmann von Venedig «) gestimmt sein, während der verhängnisvollen Kästchenwahl der bestellten Musik Aufmerksamkeit zu schenken. J. Strauß hat reizende, ja geistreiche Musik in seinen bessern Walzern niedergelegt, – sie hört auf, es zu sein, sobald man lediglich dabei im Takt tanzen will. In allen diesen Fällen ist es ganz gleichgültig, welche Musik gemacht wird, wenn sie nur den verlangten Grundcharakter hat. Wo aber Gleichgültigkeit gegen das Individuelle eintritt, da herrscht Klangwirkung , nicht Tonkunst . Nur derjenige, welcher nicht bloß die allgemeine Nachwirkung des Gefühls, sondern die unvergeßliche, bestimmte Anschauung eben dieses ‹Seite 138 › Tonstücks mit sich nimmt, hat es gehört und genossen. Jene erhebenden Eindrücke auf unser Gemüt und ihre hohe psychische wie physiologische Bedeutung dürfen nicht hindern, daß die Kritik überall unterscheide, was bei einer vorhandenen Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei. Eine ästhetische Anschauung hat Musik nicht sowohl als Ursache, denn als Wirkung aufzufassen, nicht als Produzierendes, sondern als Produkt.
Ebenso häufig als die elementarische Wirkung der Musik wird deren maßhaltendes, Ruhe und Bewegung, Dissonanz und Konkordanz vermittelndes, allgemein harmonisches Wesen mit der Tonkunst selbst verwechselt. Bei dem gegenwärtigen Stand der Tonkunst und Philosophie dürfen wir uns im Interesse beider die altgriechische Ausdehnung des Begriffs »Musik« auf alle Wissenschaft und Kunst, sowie auf die Bildung sämtlicher Seelenkräfte nicht gestatten. Die berühmte Apologie der Tonkunst im »Kaufmann von Venedig« (V. I.) [42] beruht auf solcher Verwechselung der Tonkunst selbst mit dem sie beherrschenden Geist des Wohlklangs, der Übereinstimmung, des Maßes. Man könnte in ähnlichen Stellen ohne viel Änderung statt »Musik« auch »Poesie«, »Kunst«, ja »Schönheit« überhaupt setzen. Daß aus der Reihe der Künste gerade die Musik hervorgeholt zu werden pflegt, verdankt sie der zweideutigen ‹Seite 139 › Macht ihrer Popularität. Gleich die weiteren Verse der angeführten Rede bezeugen dies, wo die zähmende Wirkung der Töne auf Bestien sehr gerühmt wird, die Musik also wieder einmal als Tierbändiger erscheint.
Die lehrreichsten Beispiele bieten Bettinas »musikalische Explosionen«, wie Goethe ihre Briefe über Musik galant bezeichnete. Als der wahrhafte Prototyp aller vagen Schwärmerei über Musik, zeigt Bettina, wie ungebührlich man den Begriff dieser Kunst ausdehnen kann, um sich bequem darum zu tummeln. Mit der Prätension, von der Musik selbst zu sprechen, redet sie stets von der dunklen Einwirkung, welche diese auf ihr Gemüt übt, und deren üppige Traumseligkeit sie absichtlich von jedem forschenden Denken absperrt. In einer Komposition sieht sie immer ein unerforschliches Naturerzeugnis, nicht ein menschliches Kunstwerk, und begreift daher Musik nie anders als rein phänomenologisch. »Musik«, »musikalisch« nennt Bettina unzählige Erscheinungen, die lediglich ein oder das andere Element der Tonkunst: Wohlklang, Rhythmus, Gefühlserregung mit ihr gemein haben. Auf diese Faktoren kommt es aber gar nicht an, sondern auf die spezifische Art, wie sie in künstlerischer Gestaltung als Tonkunst erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß die musiktrunkene Dame in Goethe , ja in Christus große Musiker sieht, obwohl von letzterem niemand weiß, daß er einer, von ersterem jedermann, daß er keiner gewesen.
‹Seite 140 › Das Recht historischer Bildungen und poetischer Freiheit halten wir in Ehren. Wir begreifen, warum Aristophanes in den » Wespen « einen feingebildeten Geist »den Weisen und Musikalischen« ( σοφὸν καὶ μουσικόν ) nennt, und finden den Ausdruck Graf Reinhardts sinnig, Oehlenschläger habe »musikalische Augen«. Wissenschaftliche Betrachtungen jedoch dürfen der Musik nie einen andern Begriff beilegen oder voraussetzen, als den ästhetischen , wenn nicht alle Hoffnung zur einstigen Feststellung dieser zitternden Wissenschaft aufgegeben werden soll.
‹Seite 141 ›
Das Verhältnis zur Natur ist für jedes Ding das Erste, das Ehrwürdigste und das Einflußreichste. Wer auch nur flüchtig an den Puls der Zeit gefühlt, der weiß, wie die Herrschaft dieser Erkenntnis in mächtigem Anwachsen begriffen ist. Durch die moderne Forschung geht ein so starker Zug nach der Naturseite aller Erscheinungen, daß selbst die abstraktesten Untersuchungen merklich gegen die Methode der Naturwissenschaften gravitieren. Auch die Ästhetik , will sie kein bloßes Scheinleben führen, muß die knorrige Wurzel kennen, wie die zarte Faser, an welcher jede einzelne Kunst mit dem Naturgrunde zusammenhängt. Und gerade für die musikalische Ästhetik erschließt das Verhältnis der Tonkunst zur Natur die wichtigsten Folgerungen. Die Stellung ihrer schwierigsten Materien, die Lösung ihrer kontroversesten Fragen hängt von der richtigen Würdigung dieses Zusammenhanges ab.
Die Künste, – vorerst als empfangend, noch nicht als rückwirkend betrachtet – stehen zu der umgebenden Natur in einer doppelten Beziehung. Erstens durch das rohe, körperliche Material, aus welchem ‹Seite 142 › sie schaffen, dann durch den schönen Inhalt, den sie für künstlerische Behandlung vorfinden. In beiden Punkten verhält sich die Natur zu den Künsten als mütterliche Spenderin der ersten und wichtigsten Mitgift. Es gilt den Versuch, diese Ausstattung im Interesse der musikalischen Ästhetik rasch zu besichtigen und zu prüfen, was die vernünftig und darum ungleich schenkende Natur für die Tonkunst getan hat.
Untersucht man, inwiefern die Natur Stoff für die Musik biete, so ergibt sich, daß sie dies nur in dem Sinn des rohen Materials tut, welches der Mensch zum Tönen zwingt. Das stumme Erz der Berge, das Holz des Waldes, der Tiere Fell und Gedärm sind alles, was wir vorfinden, um den eigentlichen Baustoff für die Musik, den reinen Ton, zu bereiten. Wir erhalten also vorerst nur Material zum Material, dies letztere ist der reine, nach Höhe und Tiefe bestimmte, d. i. meßbare Ton. Er ist erste und unumgängliche Bedingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu Melodie und Harmonie , den zwei Hauptfaktoren der Tonkunst. Beide finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des Menschengeistes.
Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbarer Töne, welches wir Melodie nennen, vernehmen wir in der Natur auch nicht in den dürftigsten Anfängen; ihre sukzessiven Schallerscheinungen entbehren der verständlichen Proportion und entziehen sich der Reduktion auf unsere Skala. Die Melodie aber ist »der ‹Seite 143 › springende Punkt«, das Leben, die erste Kunstgestalt des Tonreichs, an sie ist jede weitere Bestimmtheit, alle Erfassung des Inhalts geknüpft.
Ebensowenig wie Melodie kennt die Natur, diese großartige Harmonie aller Erscheinungen, Harmonie im musikalischen Sinn, als Zusammenklingen bestimmter Töne. Hat jemand in der Natur einen Dreiklang gehört, einen Sext- oder Septimakkord? Wie die Melodie, so war auch (nur in viel langsamerem Fortschreiten) die Harmonie ein Erzeugnis menschlichen Geistes.
Die Griechen kannten keine Harmonie, sondern sangen in der Oktave oder im Einklang, wie noch heutzutage jene asiatischen Völkerschaften, bei welchen überhaupt Gesang angetroffen wird. Der Gebrauch der Dissonanzen (wozu auch Terz und Sext gehörten) begann allmählich vom 12. Jahrhundert an, und bis ins 15. beschränkte man sich bei Ausweichungen auf die Oktave. Jedes der Intervalle, die jetzt unserer Harmonie dienstbar sind, mußte einzeln gewonnen werden, und oft reichte ein Jahrhundert nicht hin für solch kleine Errungenschaft. Das kunstgebildetste Volk des Altertums sowie die gelehrtesten Tonsetzer des früheren Mittelalters konnten nicht, was unsere Hirtinnen auf der entlegensten Alp: in Terzen singen. Durch die Harmonie aber ist der Tonkunst nicht etwa ein neues Licht aufgegangen, sondern es ist zum erstenmal Tag geworden. »Die ganze Tonschöpfung wurde von dieser Zeit an erst ausgeboren.« ( Nägeli. )
‹Seite 144 › Harmonie und Melodie fehlen also in der Natur. Nur ein drittes Element in der Musik, dasjenige, von dem die beiden ersten getragen werden, existiert schon vor und außer dem Menschen: der Rhythmus . Im Galopp des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem Gesang der Amsel und Wachtel äußert sich eine Einheit, zu welcher aufeinander folgende Zeitteilchen sich zusammenfassen und ein anschauliches Ganze bilden. Nicht alle, aber viele Lautäußerungen der Natur sind rhythmisch. Und zwar herrscht in ihr das Gesetz des zweiteiligen Rhythmus, als Hebung und Senkung, Anlauf und Auslauf. Was diesen Naturrhythmus von der menschlichen Musik trennt, muß alsbald auffallen. In der Musik gibt es nämlich keinen isolierten Rhythmus als solchen, sondern nur Melodie und Harmonie, welche rhythmisch sich äußert. In der Natur dagegen trägt der Rhythmus weder Melodie noch Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen. Der Rhythmus, das einzige musikalische Urelement in der Natur, ist auch das erste, so im Menschen erwacht, im Kinde, im Wilden am frühesten sich entwickelt. Wenn die Südsee-Insulaner mit Metallstücken und Holzstäben rhythmisch klappern und dazu ein unfaßliches Geheul ausstoßen, so ist das natürliche Musik; denn es ist eben keine Musik . Was wir aber einen Tiroler Bauer singen hören, zu welchem anscheinend keine Spur von Kunst gedrungen, ist durchaus künstliche Musik . Der Mann meint freilich, er singe, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: aber damit ‹Seite 145 › dies möglich wurde, mußte die Saat von Jahrhunderten wachsen.
Wir hätten somit die notwendigen Elementarbestandteile unserer Musik betrachtet und gefunden, daß der Mensch von der ihn umgebenden Natur nicht musizieren lernte. In welcher Art und Folge sich unser heutiges Tonsystem ausgebildet hat, lehrt die Geschichte der Tonkunst. Wir haben diese Nachweisung vorauszusetzen und nur ihr Ergebnis festzuhalten, daß Melodie und Harmonie, daß unsere Intervallenverhältnisse und Tonleiter, die Teilung von Dur und Moll nach der verschiedenen Stellung des Halbtons, endlich die schwebende Temperatur, ohne welche unsere (europäisch-abendländische) Musik unmöglich wäre, langsam und allmählich entstandene Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Die Natur hat dem Menschen nur die Organe und die Lust zum Singen mitgegeben, dazu die Fähigkeit, sich auf Grundlage der einfachsten Verhältnisse nach und nach ein Tonsystem zu bilden. Nur diese einfachsten Verhältnisse (Dreiklang, harmonische Progression) werden als unwandelbare Grundpfeiler jedem künftigen Weiterbau bleiben. – Man hüte sich vor der Verwechselung, als ob dieses (gegenwärtige) Tonsystem selbst notwendig in der Natur läge. Die Erfahrung, daß selbst Naturalisten heutzutage mit den musikalischen Verhältnissen unbewußt und leicht hantieren wie mit angeborenen Kräften, die sich von selbst verstehen, stempelt die herrschenden Tongesetze keineswegs zu Naturgesetzen; es ist dies ‹Seite 146 › bereits Folge der unendlich verbreiteten musikalischen Kultur. Hand bemerkt ganz richtig, daß darum auch unsere Kinder in der Wiege schon besser singen als erwachsene Wilde. »Läge die Tonfolge der Musik in der Natur fertig vor, so sänge auch jeder Mensch immer rein.« [43]
Wenn man unser Tonsystem ein »künstliches« nennt, so gebraucht man dies Wort nicht in dem raffinierten Sinn einer willkürlichen konventionellen Erfindung. Es bezeichnet bloß ein Gewordenes im Gegensatz zum Erschaffenen.
Dies übersieht Hauptmann , wenn er den Begriff eines künstlichen Tonsystems einen »durchaus nichtigen« nennt, »indem die Musiker ebensowenig haben Intervalle bestimmen und ein Tonsystem erfinden können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und die Sprachfügung erfunden haben«. [44] Gerade die Sprache ist in demselben Sinne wie die Musik ein künstliches Erzeugnis, indem beide nicht in der äußeren Natur vorgebildet liegen, sondern allmählich ‹Seite 147 › geworden sind und erlernt werden müssen. Nicht die Sprachgelehrten, aber die Nationen bilden sich ihre Sprache nach ihrem Charakter und ändern sie vervollkommnend immerfort. So haben auch die »Tongelehrten« unsere Musik nicht »errichtet«, sondern lediglich das fixiert und begründet, was der allgemeine, musikalisch befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht mit Notwendigkeit unbewußt ersonnen hatte. [45] Aus diesem Prozeß ergibt sich, daß auch unser Tonsystem im Zeitverlauf neue Bereicherungen und Veränderungen erfahren wird. Doch sind innerhalb der gegenwärtigen Gesetze noch so vielfache und große Evolutionen möglich, daß eine Änderung im Wesen des Systems sehr fernliegend erscheinen dürfte. Bestände z. B. die Bereicherung in der »Emanzipation der Vierteltöne«, wovon eine moderne Schriftstellerin schon Andeutungen bei Chopin finden will, [46] so würden Theorie, Kompositionslehre und Ästhetik der Musik eine total andere. Der musikalische Theoretiker kann daher gegenwärtig den Ausblick auf diese Zukunft noch kaum anders frei lassen, als durch die einfache Anerkennung ihrer Möglichkeit.
‹Seite 148 › Unserem Ausspruch, es gebe keine Musik in der Natur, wird man den Reichtum mannigfaltiger Stimmen einwenden, welche die Natur so wunderbar beleben. Sollte das Rieseln des Baches, das Klatschen der Meereswellen, der Donner der Lawinen, das Stürmen der Windsbraut nicht Anlaß und Vorbild der menschlichen Musik gewesen sein? Hatten all' die lispelnden, pfeifenden, schmetternden Laute mit unserem Musikwesen nichts zu schaffen? Wir müssen in der Tat mit Nein antworten. Alle diese Äußerungen der Natur sind lediglich Schall und Klang , d. h. in ungleichen Zeitteilen aufeinander folgende Luftschwingungen. Höchst selten und dann nur isoliert bringt die Natur einen Ton hervor, d. i. einen Klang von bestimmter, meßbarer Höhe und Tiefe. Töne sind aber die Grundbedingungen aller Musik. Mögen diese Klangäußerungen der Musik noch so mächtig oder reizend das Gemüt anregen, sie sind keine Stufe zur menschlichen Musik, sondern lediglich elementarische Andeutungen einer solchen, welche allerdings später für die ausgebildete menschliche Musik oft sehr kräftige Anregungen bieten. Selbst die reinste Erscheinung des natürlichen Tonlebens, der Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in keinem Bezug, da er unserer Skala nicht angepaßt werden kann. Auch das Phänomen der Naturharmonie – jedenfalls die einzige und unumstößliche Naturgrundlage, auf welcher die Hauptverhältnisse unserer Musik beruhen – ist auf seine richtige Bedeutung zurückzuführen. Die harmonische Progression ‹Seite 149 › erzeugt sich auf der gleichbesaiteten Äolsharfe von selbst, gründet also auf einem Naturgesetz, allein das Phänomen selbst hört man nirgend von der Natur unmittelbar erzeugt. Sobald nicht auf einem musikalischen Instrument ein bestimmter, meßbarer Grundton angeschlagen wird, erscheinen auch keine sympathischen Nebentöne, keine harmonische Progression. Der Mensch muß also fragen, damit die Natur Antwort gebe. Die Erscheinung des Echo erklärt sich noch einfacher. Es ist merkwürdig, wie selbst tüchtige Schriftsteller sich von dem Gedanken einer eigentlichen »Musik« in der Natur nicht losmachen können. Selbst Hand , von dem wir absichtlich früher Beispiele zitierten, welche seine richtige Einsicht in das inkommensurable, kunstunfähige Wesen der natürlichen Schallerscheinungen dartun, bringt ein eigenes Kapitel »von der Musik der Natur«, deren Schallerscheinungen »gewissermaßen« auch Musik genannt werden müssen. Ebenso Krüger. [47] Wo es sich aber um Prinzipienfragen handelt, da gibt es kein »gewissermaßen«; was wir in der Natur vernehmen, ist entweder Musik, oder es ist keine Musik. Das entscheidende Moment kann nur in die Meßbarkeit des Tons gelegt werden. Hand legt den Nachdruck überall auf die »geistige Beseelung«, »den Ausdruck inneren Lebens, innerer Empfindung«, »die Kraft der Selbsttätigkeit, wodurch unmittelbar ein Inneres zur Aussprache gelangt«. Nach diesem Prinzip ‹Seite 150 › müßte der Vogelgesang Musik genannt werden, die mechanische Spieluhr hingegen nicht; während gerade das Entgegengesetzte wahr ist.
Die »Musik« der Natur und die Tonkunst des Menschen sind zwei verschiedene Gebiete. Der Übergang von der ersten zur zweiten geht durch die Mathematik . Ein wichtiger, folgenreicher Satz. Freilich darf man ihn nicht so denken, als hätte der Mensch seine Töne durch absichtlich angestellte Berechnungen geordnet; es geschah dies vielmehr durch unbewußte Anwendung ursprünglicher Größen- und Verhältnisvorstellungen durch ein verborgenes Messen und Zählen, dessen Gesetzmäßigkeit erst später die Wissenschaft konstatierte.
Dadurch, daß in der Musik alles kommensurabel sein muß, in den Naturlauten aber nichts kommensurabel ist, stehen diese beiden Schallreiche fast unvermittelt nebeneinander. Die Natur gibt uns nicht das künstlerische Material eines fertigen, vorgebildeten Tonsystems, sondern nur den rohen Stoff der Körper, die wir der Musik dienstbar machen. Nicht die Stimmen der Tiere, sondern ihre Gedärme sind uns wichtig, und das Tier, dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die Nachtigall, sondern das Schaf.
Nach dieser Untersuchung, welche für das Verhältnis des Musikalisch-Schönen nur ein Unterbau, aber ein notwendiger, war, heben wir uns eine Stufe höher, auf ästhetisches Gebiet.
Der meßbare Ton und das geordnete Tonsystem sind erst, womit der Komponist schafft, nicht, was ‹Seite 151 › er schafft. Wie Holz und Erz nur »Stoff« waren für den Ton, so ist der Ton nur »Stoff« (Material) für die Musik. Es gibt noch eine dritte und höhere Bedeutung von »Stoff«: Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes, der dargestellten Idee, des Sujets. Woher nimmt der Komponist diesen Stoff? Woher erwächst einer bestimmten Tondichtung der Inhalt, der Gegenstand, welcher sie als Individuum hinstellt und von andern unterscheidet?
Die Poesie , die Malerei , die Skulptur haben ihren unerschöpflichen Quell von Stoffen in der uns umgebenden Natur. Der Künstler findet sich durch irgendein Naturschönes angeregt, es wird ihm Stoff zu eigner Hervorbringung.
In den bildenden Künsten ist das Vorschaffen der Natur am auffallendsten. Der Maler könnte keinen Baum, keine Blume zeichnen, wenn sie nicht schon in der äußeren Natur vorgebildet wären; der Bildhauer keine Statue, ohne die wirkliche Menschengestalt zu kennen und zum Muster zu nehmen. Dasselbe gilt von erfundenen Stoffen. Sie können nie im strengen Sinn »erfunden« sein. Besteht nicht die »ideale« Landschaft aus Felsen, Bäumen, Wasser und Wolkenzügen, lauter Dingen, die in der Natur vorgebildet sind? Der Maler kann nichts malen, was er nicht gesehen und genau beobachtet hat. Gleichviel ob er eine Landschaft malt oder ein Genrebild, ein Historiengemälde erfindet. Wenn uns Zeitgenossen einen »Huß«, »Luther«, »Egmont« malen, so haben sie ihren Gegenstand nie wirklich gesehen, ‹Seite 152 › aber für jeden Bestandteil desselben müssen sie das Vorbild genau der Natur entnommen haben. Der Maler muß nicht diesen Mann, aber er muß viele Männer gesehen haben, wie sie sich bewegen, stehen, gehen, beleuchtet werden, Schatten werfen; der gröbste Vorwurf wäre gewiß die Unmöglichkeit oder Naturwidrigkeit seiner Figuren.
Dasselbe gilt von der Dichtkunst , welche ein noch weit größeres Feld naturschöner Vorbilder hat. Die Menschen und ihre Handlungen, Gefühle, Schicksale, wie sie uns durch eigene Wahrnehmungen oder durch Tradition – denn auch diese gehört zu dem Vorgefundenen, dem Dichter Dargebotenen – gebracht werden, sind Stoff für das Gedicht, die Tragödie, den Roman. Der Dichter kann keinen Sonnenaufgang, kein Schneefeld beschreiben, keinen Gefühlszustand schildern, keinen Bauer, Soldaten, Geizigen, Verliebten auf die Bühne bringen, wenn er nicht die Vorbilder dazu in der Natur gesehen und studiert oder durch richtige Traditionen so in seiner Phantasie belebt hat, daß sie die unmittelbare Anschauung ersetzen.
Stellen wir nun diesen Künsten die Musik entgegen, so erkennen wir, daß sie ein Vorbild, einen Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet.
Es gibt kein Naturschönes für die Musik.
Dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten (nur die Baukunst findet gleichfalls kein Vorbild in der Natur) ist tiefgehend und folgenschwer.
‹Seite 153 › Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen, – etwas nachzumusizieren gibt es in der Natur nicht. Die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre, kein Rondo. Wohl aber Landschaften, Genrebilder, Idyllen, Trauerspiele. Der aristotelische Satz von der Naturnachahmung in der Kunst, welcher noch bei den Philosophen des vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war, ist längst berichtigt und bedarf, bis zum Überdruß abgedroschen, hier keiner weiteren Erörterung. Nicht sklavisch nachbilden soll die Kunst die Natur, sie hat sie umzubilden . Der Ausdruck zeigt schon, daß vor der Kunst etwas da sein mußte, was umgebildet wird. Dies ist eben das von der Natur dargebotene Vorbild, das Naturschöne. Der Maler findet sich von einer reizenden Landschaft, einer Gruppe, einem Gedicht, der Dichter von einer historischen Begebenheit, einem Erlebnis, zur künstlichen Darstellung des Vorgefundenen veranlaßt. Bei welcher Naturbetrachtung könnte aber der Tonsetzer jemals ausrufen: das ist ein prächtiges Vorbild für eine Ouvertüre, eine Symphonie! Der Komponist kann gar nichts umbilden , er muß alles neu erschaffen . Was der Maler, der Dichter in Betrachtung des Naturschönen findet, das muß der Komponist durch Konzentration seines Innern herausarbeiten. Er muß der guten Stunde warten, wo es in ihm anfängt zu singen und zu klingen: da wird er sich versenken und aus sich heraus etwas schaffen, was in der ‹Seite 154 › Natur nicht seinesgleichen hat und daher auch, ungleich den andern Künsten, geradezu nicht von dieser Welt ist.
Es unterliegt keineswegs eine parteiische Begriffsbestimmung, wenn wir zu dem »Naturschönen« für den Maler und Dichter den Menschen hinzurechneten, für den Musiker hingegen den kunstvoll aus der Menschenbrust quellenden Gesang verschwiegen. Der singende Hirt ist nicht Objekt, sondern schon Subjekt der Kunst. Besteht sein Lied aus meßbaren, geordneten, wenn noch so einfachen Tonfolgen, so ist's ein Produkt des Menschengeistes, ob es nun ein Hirtenjunge erfunden hat oder Beethoven.
Wenn daher ein Komponist wirkliche Nationalmelodien benützt, so ist dies kein Naturschönes; denn man muß bis zu einem zurückgehen, der sie erfunden hat, – woher hatte sie dieser? Fand er ein Vorbild dafür in der Natur? Dies ist die berechtigte Frage. Die Antwort kann nur verneinend lauten. Der Volksgesang ist kein Vorgefundenes, kein Naturschönes, sondern die erste Stufe wirklicher Kunst, naive Kunst . Er ist für die Tonkunst ebensowenig ein von der Natur erzeugtes Vorbild, wie die mit Kohle an Wachtstuben und Schuttböden geschmierten Blumen und Soldaten natürliche Vorbilder für die Malerei sind. Beides ist menschliches Kunstprodukt. Für die Kohlenfiguren lassen die Vorbilder in der Natur sich nachweisen, für den Volksgesang nicht; man kann nicht hinter ihn zurückgehen.
‹Seite 155 › Zu einer sehr gangbaren Verwirrung gelangt man, wenn man den Begriff des »Stoffs« für die Musik in einem angewandten, höheren Sinne nimmt und darauf hinweist, daß Beethoven wirklich eine Ouvertüre zu Egmont, – oder damit das Wörtchen »zu« nicht an dramatische Zwecke mahne, – eine Musik » Egmont « geschrieben hat, Berlioz einen » König Lear «, Mendelssohn eine » Melusina «. Haben diese Erzählungen, fragt man, dem Tondichter nicht ebenso den Stoff geliefert wie dem Dichter? Keineswegs. Dem Dichter sind diese Gestalten wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem Komponisten bieten sie bloß Anregung , und zwar poetische Anregung. Das Naturschöne für den Tondichter müßte ein Hörbares sein, wie es für den Maler ein Sichtbares, für den Bildhauer ein Greifbares ist. Nicht die Gestalt Egmonts, nicht seine Taten, Erlebnisse, Gesinnungen sind Inhalt der Beethovenschen Ouvertüre, wie dies im Bilde » Egmont «, im Drama » Egmont « der Fall ist. Der Inhalt der Ouvertüre sind Tonreihen , welche der Komponist vollkommen frei nach musikalischen Denkgesetzen aus sich erschuf. Sie sind für die ästhetische Betrachtung ganz unabhängig und selbständig von der Vorstellung »Egmont«, mit welcher sie lediglich die poetische Phantasie des Tonsetzers in Zusammenhang gebracht hat, sei es, daß diese Vorstellung auf eine unerforschliche Weise den Keim zur Erfindung jener Tonreihen gelegt hat, sei es, daß er diese nachträglich seinem Vorwurf entsprechend fand. Dieser ‹Seite 156 › Zusammenhang ist so lose und willkürlich, daß niemals ein Hörer des Musikstückes auf dessen angeblichen Gegenstand verfallen würde, wenn nicht der Autor durch die ausdrückliche Benennung unserer Phantasie im vorhinein die bestimmte Richtung oktroyierte. Berlioz' düstere Ouvertüre hängt an und für sich mit der Vorstellung »König Lear« ebensowenig zusammen, als ein Straußscher Walzer. Man kann das nicht scharf genug aussprechen, da hierüber die irrigsten Ansichten allgemein sind. Erst mit dem Augenblick erscheint der Straußsche Walzer der Vorstellung »König Lear« widersprechend, die Berliozsche Ouvertüre hingegen entsprechend, wo wir diese Musiken mit jener Vorstellung vergleichen . Allein eben zu dieser Vergleichung existiert kein innerer Anlaß, sondern nur eine ausdrückliche Nötigung vom Autor. Durch eine bestimmte Überschrift werden wir zur Vergleichung des Musikstückes mit einem außer ihm stehenden Objekt genötigt, wir müssen es mit einem bestimmten Maßstab messen, welcher nicht der musikalische ist.
Man darf dann vielleicht sagen, Beethovens Ouvertüre » Prometheus « sei zu wenig großartig für diesen Vorwurf. Allein nirgend kann man ihr von innen her beikommen, nirgend ihr eine musikalische Lücke oder Mangelhaftigkeit nachweisen. Sie ist vollkommen, weil sie ihren musikalischen Inhalt vollständig ausführt; ihr dichterisches Thema analog auszuführen ist eine zweite, ganz verschiedene Forderung. ‹Seite 157 › Diese entsteht und verschwindet mit dem Titel. Überdies kann ein solcher Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Überschrift nur auf gewisse charakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik erhaben oder niedlich, düster oder froh klinge, von einfacher Exposition zu betrübtem Abschluß sich entwickle usw. An die Dichtkunst oder Malerei stellt der Stoff die Forderung einer bestimmten konkreten Individualität , nicht bloßer Eigenschaften. Darum wäre es recht wohl denkbar, daß Beethovens Ouvertüre zu » Egmont « ebenfalls »Wilhelm Tell« oder »Jeanne d'Arc« überschrieben sein könnte. Das Drama Egmont, das Bild Egmont lassen höchstens die Verwechslung zu, daß dies ein anderes Individuum in den gleichen Verhältnissen, nicht aber, daß es ganz andere Verhältnisse sind.
Man sieht, wie eng das Verhältnis der Musik zum Naturschönen mit der ganzen Frage von ihrem Inhalt zusammenhängt.
Noch einen Einwand wird man aus der musikalischen Literatur herholen, um der Musik ein Naturschönes zu vindizieren. Beispiele nämlich, daß Tonsetzer aus der Natur nicht bloß den poetischen Anlaß geschöpft (wie in obigen Historien), sondern wirklich hörbare Äußerungen ihres Tonlebens direkt nachgebildet haben: der Hahnenruf in Haydns Jahreszeiten , Kuckuck, Nachtigall- und Wachtelschlag in Spohrs »Weihe der Töne« und in Beethovens Pastoralsymphonie . Allein wenn wir gleich diese Nachahmung hören und in einem musikalischen ‹Seite 158 › Kunstwerk hören, so haben sie doch darin keine musikalische Bedeutung, sondern eine poetische. Es soll uns der Hahnenschrei alsdann nicht als schöne Musik oder überhaupt als Musik vorgeführt, sondern nur der Eindruck zurückgerufen werden, welcher mit jener Naturerscheinung zusammenhängt. »Ich habe Haydns Schöpfung – gesehen beinahe«, schreibt Jean Paul nach einer Aufführung dieses Tonwerks an Thieriot . Allgemein bekannte Stichwörter, Zitate sind es, welche uns erinnern: es ist früher Morgen, laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese bloß beschreibende Tendenz hat nie ein Komponist Naturstimmen direkt zu wirklichen musikalischen Zwecken verwenden können. Ein Thema können alle Naturstimmen der Erde zusammen nicht hervorbringen, eben weil sie keine Musik sind, [48] und ‹Seite 159 › bedeutungsvoll erscheint es, daß die Tonkunst von der Natur nur Gebrauch machen kann, wenn sie in die Malerei pfuscht.
‹Seite 160 ›
Hat die Musik einen Inhalt?
So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst nachzudenken, ihre hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und wider entschieden. Gewichtige Stimmen behaupten die Inhaltslosigkeit der Musik, sie gehören beinahe durchaus den Philosophen : Rousseau , Kant , Hegel , Herbart , [49] Kahlert u. a. Von den zahlreichen Physiologen, welche diese Überzeugungen unterstützen, sind uns die durch musikalische Bildung hervorragenden Denker Lotze und Helmholtz die wichtigsten. Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für den Inhalt der Tonkunst! es sind die eigentlichen Musiker unter den Schriftstellern, und das Gros der allgemeinen Überzeugung steht zu ihnen.
Fast mag es seltsam erscheinen, daß gerade diejenigen, welchen die technischen Bestimmungen der Musik vertraut sind, sich nicht von dem Irrtum einer ‹Seite 161 › diesen Bedingungen widersprechenden Ansicht lossagen mögen, die man eher den abstrakten Philosophen verzeihen könnte. Das kommt daher, weil es vielen Musikschriftstellern in diesem Punkt mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als um die Wahrheit zu tun ist. Sie befehden die Lehre von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung gegen Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische Ansicht erscheint ihnen als unwürdiges Mißverstehen, als grober, frevelnder Materialismus. »Wie, die Kunst, die uns hoch erhebt und begeistert, der so viele edle Geister ihr Leben gewidmet, die den höchsten Ideen dienstbar werden kann, sie sollte mit dem Fluch der Inhaltlosigkeit beladen sein, bloßes Spielwerk der Sinne, leeres Geklingel!?« Mit derlei vielgehörten Ausrufungen, wie sie meist koppelweise losgelassen werden, obwohl ein Satz zum andern nicht gehört, wird nichts widerlegt noch bewiesen. Es handelt sich hier um keinen Ehrenpunkt, kein Parteizeichen, sondern einfach um die Erkenntnis des Wahren, und zu dieser zu gelangen, muß man sich vor allem über die Begriffe klar sein, die man bestreitet.
Die Verwechslung der Begriffe: Inhalt , Gegenstand , Stoff ist es, was in der Materie so viel Unklarheit verursacht hat und noch immer veranlaßt, da jeder für denselben Begriff eine andere Bezeichnung gebraucht, oder mit dem gleichen Wort verschiedene Vorstellungen verbindet. » Inhalt « im ursprünglichen und eigentlichen Sinne ist: was ein Ding ‹Seite 162 › enthält , in sich hält. In dieser Bedeutung sind die Töne , aus welchen ein Musikstück besteht, welche als dessen Teile es zum Ganzen bilden, der Inhalt desselben. Daß sich mit dieser Antwort niemand zufriedenstellen mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches abfertigend, hat seinen Grund darin, daß man gemeiniglich den »Inhalt« mit »Gegenstand« verwechselt. Bei der Frage nach dem »Inhalt« der Musik hat man die Vorstellung von » Gegenstand « (Stoff, Sujet) im Sinne, welchen man als die Idee, das Ideale, den Tönen als »materiellen Bestandteilen« geradezu entgegengesetzt. Einen Inhalt in dieser Bedeutung, einen Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes hat die Tonkunst in der Tat nicht. Kahlert stützt sich mit Recht nachdrücklich darauf, daß sich von der Musik nicht, wie vom Gemälde, eine »Wortbeschreibung« liefern läßt ( Ästh. 380 ), wenngleich seine weitere Annahme irrig ist, daß solche Wortbeschreibung jemals eine »Abhilfe für den fehlenden Kunstgenuß« bieten könne. Aber eine erklärende Verständigung, um was es sich handelt, kann sie bieten. Die Frage nach dem »Was« des musikalischen Inhaltes müßte sich notwendig in Worten beantworten lassen, wenn das Musikstück wirklich einen »Inhalt« (einen Gegenstand ) hätte. Denn ein »unbestimmter Inhalt«, den sich jedermann als etwas anderes denken kann, der sich nur fühlen, nicht in Worten wiedergeben läßt, ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung.
Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, ‹Seite 163 › diese haben keinen andern Inhalt als sich selbst. Sie erinnern abermals an die Baukunst und den Tanz, die uns gleichfalls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt entgegenbringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstücks jeder nach seiner Individualität anschlagen und benennen, der Inhalt desselben ist keiner, als eben die gehörten Tonformen; denn die Musik spricht nicht bloß durch Töne, sie spricht auch nur Töne.
Krüger , wohl der kenntnisreichste Verfechter des musikalischen »Inhalts« gegen Hegel und Kahlert, behauptet, die Musik gebe bloß eine andere Seite desselben Inhalts, welcher den übrigen Künsten, z. B. der Malerei, zusteht. »Jede plastische Gestalt«, sagt er ( Beiträge, 131 ), »ist eine ruhende: sie gibt nicht die Handlung, sondern die gewesene Handlung oder das Seiende. Also nicht: Apollo überwindet, sagt das Gemälde aus, sondern es zeigt den Überwinder, den zornigen Kämpfer« usw. Hingegen »die Musik gibt zu jenen stillstehenden plastischen Substantiven das Verbum, die Tätigkeit, das innere Wogen hinzu, und wenn wir dort als den wahren ruhenden Inhalt erkannt haben: zürnend, liebend, so erkennen wir hier nicht minder den wahren bewegenden Inhalt: zürnt, liebt, rauscht, wogt, stürmt.« Letzteres ist nur bis zur Hälfte richtig: »rauschen, wogen und stürmen« kann die Musik, aber »zürnen« und »lieben« kann sie nicht. Das sind schon hineingefühlte Leidenschaften. Wir müssen hier auf unser zweites Kapitel zurückweisen. Krüger fährt fort, ‹Seite 164 › der Bestimmtheit des gemalten Inhalts die des musizierten an die Seite zu stellen. Er sagt: »Der Bildner stellt Orest von Furien verfolgt dar: es erscheint auf der Außenfläche seines Leibes, in Auge, Mund, Stirn und Haltung der Ausdruck des Flüchtigen, Düstern, Verzweifelten, neben ihm die Gestalten des Fluchs, die ihn beherrschen, in gebietender, furchtbarer Hoheit, ebenfalls äußerlich in verharrenden Umrissen, Gesichtszügen, Stellungen. Der Tondichter stellt Orest den Verfolgten nicht im beruhenden Umriß hin, sondern nach der Seite, die dem Bildner fehlt: er singt das Grausen und Beben seiner Seele, die fliehend kämpfende Regung« usf. Dies ist meines Erachtens ganz falsch. Der Tonkünstler kann den Orestes weder so noch so, er kann ihn gar nicht darstellen.
Man wende nicht ein, daß ja auch die bildenden Künste uns die bestimmte, historische Person nicht zu geben vermögen, und wir die gemalte Gestalt nicht als dieses Individuum erkennen würden, brächten wir nicht die Kenntnis des Historisch-Tatsächlichen hinzu. Freilich ist es nicht Orest , der Mann mit diesen Erlebnissen und bestimmten biographischen Momenten; diesen kann nur der Dichter darstellen, weil nur er zu erzählen vermag. Allein das Bild » Orest « zeigt uns doch unverkennbar einen Jüngling mit edlen Zügen, in griechischem Gewand, Angst und Seelenpein in den Mienen und Bewegungen, es zeigt uns die furchtbaren Gestalten der Rachegöttinnen, ihn verfolgend und quälend. Dies alles ‹Seite 165 › ist klar, unzweifelhaft, sichtlich erzählbar – ob nun der Mann Orest heiße oder anders. Nur die Motive: daß der Jüngling einen Muttermord begangen usw., sind nicht ausdrückbar. Was kann die Tonkunst jenem sichtbaren (vom Historischen abstrahierten) Inhalt des Gemäldes an Bestimmtheit entgegensetzen? Verminderte Septimakkorde, Mollthemen, wogende Bässe u. dgl., kurz musikalische Formen, welche ebensogut ein Weib, anstatt eines Jünglings, einen von Häschern anstatt von Furien Verfolgten, einen Eifersüchtigen, Rachesinnenden, einen von körperlichem Schmerz Gequälten, kurz alles Erdenkliche bedeuten können, wenn man schon das Tonstück etwas will bedeuten lassen.
Es bedarf wohl auch nicht der ausdrücklichen Berufung auf den früher begründeten Satz, daß, wenn vom Inhalt und der Darstellungsfähigkeit der Tonkunst die Rede ist, nur von der reinen Instrumentalmusik ausgegangen werden darf. Niemand wird dies so weit vergessen, uns z. B. den Orestes in Glucks » Iphigenia « einzuwenden. Diesen » Orestes « gibt ja nicht der Komponist ; die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des Darstellers, Kostüm und Dekorationen des Malers – dies ist's, was den Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugibt, ist vielleicht das Schönste von allem, aber es ist gerade das Einzige, was nichts mit dem wirklichen Orest zu schaffen hat: Gesang.
Lessing hat mit wunderbarer Klarheit auseinandergesetzt, was der Dichter und was der bildende ‹Seite 166 › Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der Dichter, durch das Mittel der Sprache, gibt den historischen, individuell bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer hingegen einen Greis mit zwei Knaben (von diesem bestimmten Alter, Aussehen, Kostüm usf.), von den furchtbaren Schlangen umwunden, in Mienen, Stellung und Gebärden die Qual des nahenden Todes ausdrückend. Vom Musiker sagt Lessing nichts. Ganz begreiflich; denn nichts ist es eben, was dieser aus dem Laokoon machen kann.
Wir haben bereits angedeutet, wie eng die Frage nach dem Inhalt der Tonkunst mit deren Stellung zum Naturschönen zusammenhängt. Der Musiker findet nirgend das Vorbild für seine Kunst, welches den anderen Künsten die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts gewährleistet. Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne abgeht, wird im eigentlichen Sinne körperlos sein. Das Urbild ihrer Erscheinungsform begegnet uns nirgend, fehlt daher in dem Kreis unserer gesammelten Begriffe. Es wiederholt keinen bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum hat Musik für unser in bestimmte Begriffe gefaßtes Denken keinen nennbaren Inhalt.
Vom Inhalt eines Kunstwerkes kann eigentlich nur da die Rede sein, wo man diesen Inhalt einer Form entgegenhält. Die Begriffe »Inhalt« und »Form« bedingen und ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existiert auch kein selbständiger Inhalt. ‹Seite 167 › In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen. Dieser Eigentümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu besitzen, stehen die dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüber, welche denselben Gedanken, dasselbe Ereignis in verschiedener Form darstellen können. Aus der Geschichte des Wilhelm Tell machte Florian einen historischen Roman, Schiller ein Drama, Goethe begann sie als Epos zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall derselbe, in Prosa aufzulösende, erzählbare, erkennbare; die Form ist verschieden. Die dem Meer entsteigende Aphrodite ist der gleiche Inhalt unzähliger gemalter und gemeißelter Kunstwerke, die durch die verschiedene Form nicht zu verwechseln sind. Bei der Tonkunst gibt es keinen Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat außerhalb des Inhalts. Betrachten wir dies näher.
Die selbständige, ästhetisch nicht weiter teilbare, musikalische Gedankeneinheit ist in jeder Komposition das Thema . Die primitiven Bestimmungen, die man der Musik als solcher zuschreibt, müssen sich immer schon am Thema , dem musikalischen Mikrokosmus, nachweisbar finden. Hören wir irgendein Hauptthema, z. B. zu Beethovens B-dur-Symphonie. Was ist dessen Inhalt? Was seine Form? Wo fängt diese an, wo hört jener auf? Daß ein bestimmtes Gefühl nicht Inhalt des Satzes sei, hoffen wir dargetan zu haben, und wird in diesem wie in ‹Seite 168 › jedem andern konkreten Fall nur immer einleuchtender erscheinen. Was also will man den Inhalt nennen? Die Töne selbst? Gewiß; allein sie sind eben schon geformt. Was die Form ? Wieder die Töne selbst, – sie aber sind schon erfüllte Form.
Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder Willkür. Zum Beispiel: wechselt ein Motiv, das von einem andern Instrument oder in einer höheren Oktave wiederholt wird, seinen Inhalt oder seine Form ? Behauptet man, wie zumeist geschieht, das letztere, so bliebe als Inhalt des Motivs bloß die Intervallenreihe als solche, als Schema der Notenköpfe, wie sie in der Partitur dem Auge sich darstellt. Dies ist aber keine musikalische Bestimmtheit, sondern ein Abstraktum. Es verhält sich damit, wie mit den gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch welche man dieselbe Gegend rot, blau, gelb erblicken kann. Diese ändert hierdurch weder ihren Inhalt , noch ihre Form , sondern lediglich die Färbung . Solch zahlloser Farbenwechsel derselben Formen vom grellsten Kontrast bis zur feinsten Schattierung ist der Musik ganz eigentümlich und macht eine der reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer Wirksamkeit aus.
Eine für Klavier entworfene Melodie, die ein zweiter später instrumentiert, bekommt durch ihn ebenfalls eine neue Form, aber nicht erst Form ; sie ist schon geformter Gedanke. Noch weniger wird man behaupten wollen, ein Thema ändere durch ‹Seite 169 › Transposition seinen Inhalt und behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Widersprüche verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwidern muß, er erkenne einen ihm bekannten Inhalt, nur »klinge er verändert«.
Bei ganzen Kompositionen, namentlich größerer Ausdehnung, pflegt man freilich von deren Form und Inhalt zu sprechen. Dann gebraucht man aber diese Begriffe nicht in ihrem ursprünglichen logischen Sinne, sondern schon in einer spezifisch musikalischen Bedeutung. Die »Form« einer Symphonie, Ouvertüre, Sonate, Arie, eines Chors usw. nennt man die Architektonik der verbundenen Einzelteile und Gruppen, aus welchen das Tonstück besteht, näher also: die Symmetrie dieser Teile in ihrer Reihenfolge, Kontrastierung, Wiederkehr und Durchführung. Als den Inhalt begreift man aber dann die zu solcher Architektonik verarbeiteten Themen . Hier ist also von einem Inhalt als »Gegenstand« keine Rede mehr, sondern lediglich von einem musikalischen. Bei ganzen Tonstücken wird daher »Inhalt« und »Form« in einer künstlerisch angewandten, nicht in der rein logischen Bedeutung gebraucht; wollen wir diese an den Begriff der Musik legen, so müssen wir nicht an einem ganzen, daher zusammengesetzten Kunstwerk operieren, sondern an dessen letztem, ästhetisch nicht weiter teilbarem Kerne. Dies ist das Thema oder die Themen. Bei diesen läßt sich in gar keinem Sinne Form und Inhalt trennen. Will man jemand den »Inhalt« eines Motivs namhaft machen, so muß ‹Seite 170 › man ihm das Motiv selbst vorspielen . So kann also der Inhalt eines Tonwerks niemals gegenständlich, sondern nur musikalisch aufgefaßt werden, nämlich als das in jedem Musikstück konkret Erklingende. Da die Komposition formellen Schönheitsgesetzen folgt, so improvisiert sich ihr Verlauf nicht in willkürlich planlosem Schweifen, sondern entwickelt sich in organisch übersichtlicher Allmählichkeit wie reiche Blüten aus Einer Knospe.
Dies ist das Hauptthema , – der wahre Stoff und Inhalt (Gegenstand) des ganzen Tongebildes. Alles darin ist freie Folge und Wirkung des Themas, durch dieses bedingt und gestaltet, von ihm beherrscht und erfüllt. Es ist das selbständige Axiom, das zwar augenblicklich befriedigt, aber von unserm Geist bestritten und entwickelt gesehen werden will, was dann in der musikalischen Durchführung, analog einer logischen Entwickelung, stattfindet. Wie die Hauptfigur eines Romans bringt der Komponist das Thema in die verschiedensten Lagen und Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge und Stimmungen, – alles andere, wenn noch so kontrastierend, ist in bezug darauf gedacht und gestaltet.
Inhaltlos werden wir demnach etwa jenes freieste Präludieren nennen, bei welchem der Spieler, mehr ausruhend als schaffend, sich bloß in Akkorden, Arpeggios, Rosalien ergeht, ohne eine selbständige Tongestalt bestimmt hervortreten zu lassen. Solch freie Präludien werden als Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein, wir werden sagen ‹Seite 171 › dürfen, sie haben (im weiteren Sinne) keinen Inhalt, weil kein Thema.
Das Thema resp. die Themen eines Tonstückes sind also sein wesentlicher Inhalt.
In Ästhetik und Kritik wird auf das Hauptthema einer Komposition lange nicht das gehörige Gewicht gelegt. Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouvertüre zur » Leonore « so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouvertüre zur » Fingalshöhle « so, da wird jeder Musiker, ohne von der weiteren Durchführung noch eine Note zu wissen, ahnen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns aber ein Thema entgegen, wie das zur Fausta-Ouvertüre von Donizetti oder »Louise Miller« von Verdi , so bedarf es ebenfalls keines weiteren Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, daß wir in der Kneipe sind. In Deutschland legt Theorie und Praxis einen überwiegenden Wert auf die musikalische Durchführung gegenüber dem thematischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt) im Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt werden, und weniger vielleicht in der Kunst der Entwickelung, als in der symphonischen Kraft und Fruchtbarkeit der Themen liegt es, daß unsere Zeit keine Beethovenschen Orchesterwerke mehr aufweist.
Bei der Frage nach dem Inhalt der Tonkunst muß man sich insbesondere hüten, das Wort in lobender Bedeutung zu nehmen. Daraus, daß die ‹Seite 172 › Musik keinen Inhalt (Gegenstand) hat, folgt nicht, daß sie des Gehalts entbehre. »Geistigen Gehalt« meinen offenbar diejenigen, welche mit dem Eifer einer Partei für den »Inhalt« der Musik fechten. Wir müssen hier auf das im 3. Kapitel Gesagte verweisen. Die Musik ist ein Spiel, aber keine Spielerei. Gedanken und Gefühle rinnen wie Blut in den Adern des ebenmäßig schönen Tonkörpers; sie sind nicht er , sind auch nicht sichtbar , aber sie beleben ihn. Der Komponist dichtet und denkt . Nur dichtet und denkt er, entrückt aller gegenständlichen Realität, in Tönen . Muß doch diese Trivialität hier ausdrücklich wiederholt sein, weil sie selbst von denjenigen, die sie prinzipiell anerkennen, in den Konsequenzen allzuhäufig verleugnet und verletzt wird. Sie denken sich das Komponieren als Übersetzung eines gedachten Stoffs in Töne, während doch die Töne selbst die unübersetzbare Ursprache sind. Daraus, daß der Tondichter gezwungen ist, in Tönen zu denken, folgt ja schon die Inhaltlosigkeit der Tonkunst, indem jeder begriffliche Inhalt in Worten müßte gedacht werden können.
So strenge wir bei der Untersuchung des Inhalts alle Musik über gegebene Texte, als dem reinen Begriff der Tonkunst widersprechend, ausschließen mußten, so unentbehrlich sind die Meisterwerke der Vokalmusik bei der Würdigung des Gehaltes der Tonkunst. Vom einfachen Lied bis zur gestaltenreichen Oper und der altehrwürdigen Gottesfeier ‹Seite 173 › durch Kirchenmusik hat die Tonkunst nie aufgehört, die teuersten und wichtigsten Bewegungen des Menschengeistes zu begleiten und somit indirekt zu verherrlichen.
Nebst der Vindikation des geistigen Gehaltes muß noch eine zweite Konsequenz nachdrücklich hervorgehoben werden. Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren Schöpfungen Individualität aufprägen zu können. Die Art der künstlerischen Bearbeitung, sowie die Erfindung gerade dieses Themas ist in jedem Fall eine so einzige, daß sie niemals in einer höheren Allgemeinheit zerfließen kann, sondern als Individuum dasteht. Eine Melodie von Mozart oder Beethoven ruht so fest und unvermischt auf eigenen Füßen, wie ein Vers Goethes , ein Ausspruch Lessings , eine Statue Thorwaldsens , ein Bild Overbecks . Die selbständigen musikalischen Gedanken (Themen) haben die Sicherheit eines Zitats und die Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind individuell, persönlich, ewig.
Wenn wir daher schon Hegels Ansicht von der Gehaltlosigkeit der Tonkunst nicht teilen können, so scheint es uns noch irrtümlicher, daß er dieser Kunst nur die Aussprache des »individualitätslosen Innern« zuweist. Selbst von Hegels musikalischem Standpunkt, welcher die wesentlich formende, objektive Tätigkeit des Komponisten übersieht, die Musik rein als freie Entäußerung der Subjektivität auffassend, folgt nicht die »Individualitätslosigkeit« derselben, ‹Seite 174 › da ja der subjektiv produzierende Geist wesentlich individuell erscheint.
Wie die Individualität sich in der Wahl und Bearbeitung der verschiedenen musikalischen Elemente ausprägt, haben wir im 3. Kapitel berührt. Gegenüber dem Vorwurf der Inhaltlosigkeit also hat die Musik Inhalt, allein musikalischen, welcher ein nicht geringerer Funke des göttlichen Feuers ist, als das Schöne jeder andern Kunst. Nur dadurch aber, daß man jeden andern »Inhalt« der Tonkunst unerbittlich negiert, rettet man deren »Gehalt«. Denn aus dem unbestimmten Gefühle, worauf sich jener Inhalt im besten Fall zurückführt, ist ihr eine geistige Bedeutung nicht abzuleiten, wohl aber aus der bestimmten schönen Tongestaltung als der freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem Material.
[1] »Altes und Neues« von Fr. Th. Vischer (Stuttgart 1881) S. 187.
[2] »Musikalische Stationen« von Ed. Hanslick. Berlin, Verein f. dt. Lit. 1885. 5. Aufl.
[3] Neue Gedichte.
[4] R. Schumann hat viel Unheil angestiftet mit seinem Satz ( I, 43 der Gesammelten Schriften ): »Die Ästhetik der einen Kunst ist die der andern, nur das Material ist verschieden.«
Ganz anders urteilt Grillparzer und trifft das Richtige mit folgendem Ausspruch ( IX, 142 der sämtl. Werke ): »Der übelste Dienst, den man in Deutschland den Künsten erweisen konnte, war wohl der, sie sämtlich unter den Namen der Kunst zusammenzufassen. So viel Berührungspunkte sie unter sich allerdings wohl haben, so unendlich verschieden sind sie in den Mitteln, ja in den Grundbedingungen ihrer Ausübung. Wenn man den Grundunterschied der Musik und der Dichtkunst schlagend charakterisieren wollte, so müßte man darauf aufmerksam machen, wie die Wirkung der Musik vom Sinnenreiz, vom Nervenspiel beginnt und, nachdem das Gefühl angeregt worden, höchstens in letzter Instanz an das Geistige gelangt, indes die Dichtkunst zuerst den Begriff erweckt, nur durch ihn auf das Gefühl wirkt und als äußerste Stufe der Vollendung oder der Erniedrigung erst das Sinnliche teilnehmen läßt; der Weg beider ist daher gerade der umgekehrte. Die eine Vergeistigung des Körperlichen, die andere Verkörperung des Geistigen.«
[5] In dieser Begriffsbezeichnung stimmen die älteren Philosophen mit den neueren Physiologen überein, und wir mußten sie unbedingt den Benennungen der Hegel schen Schule vorziehen, welche bekanntlich innere und äußere Empfindung unterscheidet.
[6] Hegel hat gezeigt, wie die Untersuchung der »Empfindungen« (nach unserer Terminologie: der Gefühle), welche eine Kunst erweckt, ganz im Unbestimmten stehen bleibt und gerade vom eigentlichen konkreten Inhalt absieht. »Was empfunden wird«, sagt er, »bleibt eingehüllt in der Form abstraktester, einzelner Subjektivität, und deshalb sind auch die Unterschiede der Empfindung ganz abstrakte, keine Unterschiede der Sache selbst« ( Ästhetik I, 42 ).
[7] Wo »Gefühl« nicht einmal von »Empfindung« getrennt wurde, da kann von einem tieferen Eingehen in die Unterschiede des ersteren um so weniger die Rede sein; sinnliche und intellektuelle Gefühle, die chronische Form der Stimmung , die akute des Affektes , Neigung und Leidenschaft, sowie die eigentümlichen Färbungen dieser als »pathos« der Griechen und » passio « der neueren Lateiner wurden in bunter Mischung nivelliert, und von der Musik lediglich ausgesagt, sie sei speziell die Kunst, Gefühle zu erregen.
[8] Namentlich von Rochlitz existieren manche solcher für uns heute sehr verwunderlichen Aussprüche über Mozarts Instrumentalmusiken. Derselbe Rochlitz bezeichnet das reizende Menuetto capriccio in Webers As-dur-Sonate als einen »ununterbrochen fortströmenden Erguß einer leidenschaftlichen, heftig aufgeregten Seele, und doch mit bewunderungswürdiger Festigkeit zusammengehalten«.
[9] Vischer (Ästh. § 11 Anmerkung) definiert die bestimmten Ideen als die Reiche des Lebens, sofern ihre Wirklichkeit als ihrem Begriff entsprechend gedacht wird. Denn Idee bezeichnet immer den in seiner Wirklichkeit rein und mangellos gegenwärtigen Begriff.
[10] Bachianer wie Spitta freilich erstreben dies umgekehrt, indem sie, statt zugunsten ihres Meisters die Theorie selbst zu bestreiten, die Fugen und Suiten desselben mit ebenso beredten und positiven Gefühlsergüssen interpretieren, wie nur ein subtiler Beethovenianer seines Meisters Sonaten.
[11] Gervinus hat den Rangstreit zwischen der Vokal- und Instrumentalmusik in seinem » Händel und Shakespeare « (1868) wieder aufgenommen; aber indem er die »Sangkunst« für echte und wahre Musik, die »Spielkunst« für »ein von allem Innerlichen auf das Äußerliche herabgekommenes Kunstwerk«, für ein physikalisches Mittel zu physiologischen Reizen erklärt, beweist er mit allem Aufwand seines Scharfsinnes doch nur, daß man ein gelehrter Händel-Enthusiast und dennoch in wunderlichen Irrtümern über das Wesen der Musik befangen sein kann. Niemand hat diese Irrtümer schlagender widerlegt, als Ferdinand Hiller , dessen Kritik des Buches von Gervinus wir nachstehende treffende Stellen entnehmen: »Die Verbindungen des Wortes mit dem Tone sind von der mannigfachsten Art. Von dem einfachsten, in Tönen noch halb gesprochenen Rezitativ bis zu einem Chore von Bach oder einem Opernfinale von Mozart – welch eine Reihe von Zusammensetzungen! Aber nur im Rezitativischen, mag es selbständig auftreten oder den Gang eines Gesangstückes auch nur durch einen Ausruf unterbrechen, kann der Text mit der Musik in gleicher Kraft den Hörer ergreifen. Sobald die Musik in ihrer vollständigen Wesenheit auftritt, läßt sie das Wort, das sonst omnipotente Wort, weit hinter sich zurück. Der Beweis liegt, leider möchte man sagen, allzu nahe. Schön komponiert, kann das schlechteste Gedicht die Freude an der Komposition kaum schmälern, das größte poetische Meisterwerk aber kann eine langweilige Musik nicht einmal stützen. Welch geringes Interesse erregt der Text eines Oratoriums bei der Lektüre; man begreift es kaum, daß er dem genialen Tondichter den Stoff geben konnte zu einer stundenlangen, Ohr, Herz und Seele erfüllenden Musik. Ja, mehr noch, es ist in den meisten Fällen dem Hörer gar nicht möglich, Worte und Melodie gleichzeitig zu erfassen. Die konventionellen Klänge, aus welchen sich ein Satz in der Sprache zusammensetzt, müssen ziemlich rasch miteinander verbunden werden, damit sie, vom Gedächtnisse zusammengehalten, im Geiste zum Verständnisse gelangen. Die Musik aber erfaßt den Hörer mit dem ersten Tone und führt ihn mit sich fort, ohne ihm die Zeit, ja nur die Möglichkeit zu lassen, auf das Gehörte zurückzukommen.… Mögen wir«, fährt Hiller weiter fort, »dem naivsten Volksliede lauschen, mag uns Händels Halleluja, von tausend Stimmen getragen, entgegenklingen, so wird es im ersteren Falle der Reiz einer kaum entfalteten Melodienknospe, im letzteren die Kraft und Pracht der vereinigten Elemente der ganzen Tonwelt sein, was uns reizt oder begeistert. Das dort vom Feinsliebchen, hier vom Himmelreich die Rede, trägt zu jener ersteren, unmittelbaren Wirkung nichts bei; diese ist rein musikalischer Natur und würde nicht ausbleiben, auch wenn man die Worte weder verstände, noch verstehen könnte.« ( Aus dem Tonleben unserer Zeit. Neue Folge. Leipzig 1871. S. 40 ff. )
[12] Diesen bekannten bildlichen Ausdruck können wir hier als zutreffend gebrauchen, wo es sich noch, abgesehen von jeder ästhetischen Forderung, bloß um das abstrakte Verhalten der Musik zu Textworten überhaupt und damit um die Entscheidung handelt, von welchem dieser beiden Faktoren die selbständige, maßgebende Bestimmung des Inhaltes (Gegenstandes) ausgehe. Sobald es sich aber nicht mehr um das Was , sondern um das Wie der musikalischen Leistungen handelt, hört der Satz freilich auf, passend zu sein. Nur im logischen (wir hätten beinahe gesagt im »juristischen«) Sinn ist der Text Hauptsache, die Musik Akzessorium, die ästhetische Anforderung an den Komponisten geht viel höher, sie verlangt selbständige (zugleich natürlich textentsprechende) musikalische Schönheit . Fragt es sich also nicht mehr abstrakt, was die Musik, indem sie Textworte behandelt, tut, sondern wie sie es im wirklichen Falle tun soll , so darf man ihre Abhängigkeit vom Gedicht nicht in gleich enge Schranken bannen, wie sie der Zeichner dem Koloristen zieht. Seit Gluck in der großen, notwendigen Reaktion gegen die melodischen Übergriffe der Italiener nicht auf , sondern hinter die rechte Mitte zurückschritt (genau wie in unsern Tagen Richard Wagner), wird der in der Dedikation zur » Alceste « ausgesprochene Satz, es sei der Text die »richtige und wohlangelegte Zeichnung«, welche die Musik lediglich zu kolorieren habe, unablässig nachgebetet. Wenn die Musik nicht in viel großartigerem, als bloß kolorierendem Sinne das Gedicht behandelt, wenn sie nicht – selbst Zeichnung und Farbe zugleich – etwas ganz Neues hinzubringt, das in ureigener Schönheitskraft blättertreibend die Worte zum bloßen Epheuspalier umschafft: dann hat sie höchstens die Staffel der Schülerübung oder Dilettantenfreude erklommen, die reine Höhe der Kunst nimmermehr.
[13] »Nein, ich will euch nicht trauen, blinder Amor, grausame Schönheit, ihr seid zu lügenhafte, schmeichlerische Gottheiten!«
[14] Zu welchen Absurditäten das falsche Prinzip führt, in jedem Musikstück die Darstellung eines bestimmten Gefühles zu finden, und das noch falschere: für jede Gattung musikalischer Kunstformen ein spezielles Gefühl als notwendigen Inhalt zu diktieren, – ersieht man aus den Werken geistreicher Männer wie Mattheson . Getreu seinem Grundsatz: »Wir müssen bei jeder Melodie uns eine Gemütsbewegung zum Hauptzweck setzen«, lehrt er in seinem »Vollkommenen Kapellmeister« (S. 230 ff.) : »Die Leidenschaft, welche in einer Kurrende vorgetragen werden soll, ist die Hoffnung.« »Die Sarabande hat keine andere Leidenschaft auszudrücken, als die Ehrsucht .« »Im Concerto grosso führt die Wollust das Regiment.« Die Chaconne habe »Ersättigung« auszudrücken, die Ouvertüre »Edelmut«.
[15] In Kritiken von Vokalmusik hat der Verfasser (und andere seinen Grundsätzen beistimmende Kritiker) der Kürze und Bequemlichkeit halber häufig die Worte »Ausdrücken«, »Schildern«, »Darstellen« von den Tönen u. dgl. arglos gebraucht, und man darf sie wohl gebrauchen, wenn man sich ihrer Uneigentlichkeit streng bewußt bleibt, d. h. ihrer Beschränktheit auf symbolischen und dynamischen Ausdruck.
[16] Ungemein charakteristisch ist, was Mozart über die Stellung der Musik zur Poesie in der Oper sagt. Ganz im Gegensatz zu Gluck , der die Musik der Poesie untergeordnet wissen will, meint Mozart, daß die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein solle. Er weist in der Oper der Musik, wo sie zum Ausdruck der Stimmung verwandt wird, entschieden die Herrschaft zu. Er beruft sich auf das Faktum, daß gute Musik die elendesten Texte vergessen lasse, – ein Fall, wo das Umgekehrte stattfand, dürfte kaum anzuführen sein –; es folgt aber auch unwidersprechlich aus dem Wesen und der Natur der Musik . Schon dadurch, daß sie unmittelbar und mächtiger als jede andere Kunst die Sinne ergreift und ganz in Anspruch nimmt, macht sie den Eindruck, welchen die poetische Darstellung durch die Sprache hervorbringen kann, für den Augenblick zurücktreten; sie wirkt ferner durch den Sinn des Gehörs in einer, wie es scheint, noch nicht aufgeklärten Weise unmittelbar auf die Phantasie und das Gefühl mit einer erregenden Kraft ein, welche ebenfalls die der Poesie momentan überflügelt ( O. Jahn, »Mozart«, III. 91 ).
[17] Die wichtigsten dieser Streitschriften finden sich in der Sammlung: »Mémoires pour servir à l'histoire de la Révolution opérée dans la musique par Mr. le chevalier Gluck .« Naples et Paris 1781.
[18] Ich kann mir nicht versagen, hier einige treffende Aussprüche von Grillparzer und M. Hauptmann zu zitieren:
»Unsinnig« nennt es Grillparzer, »die Musik bei der Oper zur bloßen Sklavin der Poesie zu machen«, und fährt weiter fort: » wäre die Musik in der Oper nur da, um das noch einmal auszudrücken, was der Dichter schon ausgedrückt hat, dann laßt mir die Töne weg … Wer deine Kraft kennt, Melodie! die du, ohne der Worterklärung eines Begriffes zu bedürfen, unmittelbar aus dem Himmel durch die Brust wieder zum Himmel zurückziehst, wer deine Kraft kennt, wird die Musik nicht zur Nachtreterin der Poesie machen: er mag der letzteren den Vorrang geben (und ich glaube, sie verdient ihn auch, wie ihn das Mannesalter verdient vor der Kindheit), aber er wird auch der ersteren ihr eigenes, unabhängiges Reich zugestehen, beide wie Geschwister betrachten, und nicht wie Herrn und Knecht oder auch nur wie Vormund und Mündel.« Als Grundsatz will er festgehalten wissen: »Keine Oper soll vom Gesichtspunkte der Poesie betrachtet werden – von diesem aus ist jede dramatisch -musikalische Komposition Unsinn –, sondern vom Gesichtspunkte der Musik.«
Eine andere Stelle bei Grillparzer lautet: »Es wird keinem Opernkompositeur leichter sein, genau auf die Worte des Textes zu setzen, als dem, der seine Musik mechanisch zusammensetzt; da hingegen der, dessen Musik ein organisches Leben, eine in sich selbst gegründete Notwendigkeit hat, leicht mit den Worten in Kollision kommt. Jedes eigentlich melodische Thema hat nämlich sein inneres Gesetz der Bildung und Entwicklung, das dem eigentlich musikalischen Genie heilig und unantastbar ist, und das er den Worten zu Gefallen nicht aufgeben kann. Der musikalische Prosaist kann überall anfangen und überall aufhören, weil Stücke und Teile sich leicht versetzen und anders ordnen lassen; wer aber Sinn für ein Ganzes hat, kann es nur entweder ganz geben oder ganz bleiben lassen. Das soll nicht der Vernachlässigung des Textes das Wort reden, sondern sie nur in einzelnen Fällen entschuldigen, ja rechtfertigen. Daher ist Rossinis kindisches Getändel doch mehr wert, als Mosels prosaische Verstandesnachäffung, welche das Wesen der Musik zerreißt, um den hohlen Worten des Dichters nachzustottern, daher kann man Mozarten häufig Verstöße gegen den Text vorwerfen, Glucken nie; daher ist das so gepriesene Charakteristische der Musik häufig ein sehr negatives Verdienst, das sich meistens darauf beschränkt, daß die Freude durch Nicht-Traurigkeit, der Schmerz durch Nicht-Lustigkeit, die Milde durch Nicht-Härte, der Zorn durch Nicht-Milde, die Liebe durch Flöten und die Verzweiflung durch Trompeten und Pauken mit Kontrabässen ausgedrückt wird. Der Situation muß der Tonsetzer treu bleiben, den Worten nicht; wenn er bessere in seiner Musik findet, so mag er immer die des Textes übergehen.« Klingt nicht vieles in diesen, vor Dezennien geschriebenen Aphorismen wie eine Polemik gegen Wagners Theorien und den Walkürenstil? Einen tiefen Blick in die Natur des Publikums wirft Grillparzer mit dem Ausspruch : »Die von einer Oper eine rein dramatische Wirkung fordern, sind gewöhnlich jene, die dagegen auch von einem dramatischen Gedicht eine musikalische Wirkung begehren, d. i. Wirkung mit blinder Gewalt.« IX, 144 ff.
Ähnlich M. Hauptmann an O. Jahn: »Mir war's (beim Hören Gluckscher Opern) so oft wie Absicht des Komponisten wahr zu sein, aber nicht musikwahr, nur wortwahr , und dadurch wird's nicht selten musikunwahr; das Wort schließt kurz ab, die Musik will ausklingen. Die Musik bleibt doch immer der Vokal, zu dem das Wort nur der Konsonant ist, und den Akzent wird hier wie sonst immer nur der Vokal haben können, das Lautende, nicht das Mitlautende. Man hört doch immer die Musik, wenn sie noch so wortgetreu ist, auch für sich; so muß sie also auch für sich zu hören sein. « ( Briefe an Spohr usw. ed. F. Hiller. Leipzig 1867. S. 106. )
[19] »Die Poesie darf das Häßliche (Unschöne) schon einigermaßen freigebig anwenden. Denn da die Wirkung der Poesie nur durch das Medium der unmittelbar von ihr erweckten Begriffe an das Gefühl gelangt, so wird die Vorstellung der Zweckmäßigkeit den Eindruck des Häßlichen (Unschönen) von vornherein insoweit mildern, daß es als Reizmittel und Gegensatz sogar die höchste Wirkung hervorbringen kann. Der Eindruck der Musik aber wird unmittelbar vom Sinn empfangen und genossen, die Billigung des Verstandes kommt zu spät, um die Störungen des Mißfälligen wieder auszugleichen. Daher darf Shakespeare bis zum Gräßlichen gehen, Mozarts Grenze war das Schöne.« ( Grillparzer , IX. 142. )
[20] Diese Zeilen haben Beethoven-Auguren wie Herrn Lobe u. a. sehr entsetzt. Wir können ihnen nicht besser antworten als mit folgender, unserer Ansicht vollkommen zustimmenden Ausführung Otto Jahns in seinem Aufsatz über die neue Beethoven-Ausgabe von Breitkopf & Härtel (» Ges. Aufsätze über Musik «). Jahn knüpft an Schindlers bekannte Mitteilung an, Beethoven habe, um die Bedeutung seiner D-moll- und F-moll-Sonate befragt, geantwortet: »Lesen Sie nur Shakespeares Sturm .« Vermutlich, sagt Jahn , wird der Frager von seiner Lektüre die sichere Überzeugung mitbringen, daß Shakespeares Sturm auf ihn anders wirke, als auf Beethoven und keine D-moll- und F-moll-Sonaten in ihm erzeuge. Daß gerade dieses Drama Beethoven zu solchen Schöpfungen anregen konnte, ist freilich nicht ohne Interesse zu erfahren; aus dem Shakespeare das Verständnis derselben herholen wollen, hieße nur die Unfähigkeit der musikalischen Auffassung bezeugen. Bei dem Adagio des F-dur-Quartetts (op. 18 Nr. 1) soll Beethoven die Grabesszene aus Romeo und Julie vorgeschwebt haben; wer nun etwa diese in seinem Shakespeare aufmerksam nachliest und dann beim Anhören des Adagio sich zu vergegenwärtigen sucht, wird der sich den wahren Genuß des Musikstücks erhöhen oder stören? Überschriften und Notizen, auch authentische, von Beethoven selbst herrührende, würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunstwerks nicht wesentlich fördern, es ist vielmehr zu fürchten, daß sie ebensowohl Mißverständnisse und Verkehrtheiten hervorrufen würden, wie die, welche Beethoven veröffentlicht hat. Die schöne Sonate in Es-dur (op. 81) trägt bekanntlich die Überschriften » Les adieux, l'absence , le retour « und wird daher als zuverlässiges Beispiel von Programm-Musik mit Sicherheit interpretiert. » Daß es Momente aus dem Leben eines liebenden Paares sind«, sagt Marx , der es dahingestellt sein läßt, ob die Liebenden verheiratet sind, oder nicht, »setzt man schon voraus, aber die Komposition bringt auch den Beweis .« »Die Liebenden öffnen ihre Arme, wie Zugvögel ihre Flügel«, sagt Lenz vom Schluß der Sonate. Nun hat Beethoven auf das Original der ersten Abteilung geschrieben: »Das Lebewohl bei der Abreise Sr. Kais. Hoheit des Erzherzogs Rudolf , d. 4. Mai 1809« und auf den Titel der zweiten: »Die Ankunft Sr. Kais. Hoheit des Erzherzogs Rudolf , d. 30. Januar 1810.« Wie würde er protestiert haben, daß er dem Erzherzoge gegenüber diese »in schmeichelndem Kosen beseligter Lust« flügelschlagende Sie vorstellen sollte! – »Darum können wir zufrieden sein«, schließt Jahn , »daß Beethoven (in der Regel) solche Worte nicht ausgesprochen hat, welche nur zu viele zu dem Irrtum verleitet haben würden, wer die Überschrift verstehe, der verstehe auch das Kunstwerk. Seine Musik sagt alles, was er sagen wollte «.
[21] Wenn wir hier die » Musikalischen Charakterköpfe « von Riehl nennen, so geschieht dies gleichwohl mit dankbarer Anerkennung dieses geistreich anregenden Buches.
[22] Ich erlaube mir, zur Erläuterung hier eine Stelle aus meinem Buch » Die Moderne Oper « (Vorwort S. VI) anzuführen:
»Das berühmte Axiom, es könne das ›wahrhaft Schöne‹ (– wer ist Richter über diese Eigenschaft? –) niemals, auch nach längstem Zeitverlauf, seinen Zauber einbüßen, ist für die Musik wenig mehr, als eine schöne Redensart. Die Tonkunst macht es wie die Natur, welche mit jedem Herbst eine Welt voll Blumen zu Moder werden läßt, aus dem neue Blüten entstehen. Alle Tondichtung ist Menschenwerk, Produkt einer bestimmten Individualität, Zeit, Kultur und darum stets durchzogen von Elementen schnellerer oder langsamerer Sterblichkeit. Unter den großen Musikformen ist wieder die Oper die zusammengesetzteste, konventionellste und daher vergänglichste. Es mag traurig stimmen, daß selbst neuere Opern von edelster und glänzender Bildung (Spohr, Spontini) schon vom Theater zu verschwinden beginnen. Aber die Tatsache ist unanfechtbar und der Prozeß nicht aufzuhalten durch das in allen Perioden stereotype Schelten auf den bösen ›Zeitgeist‹. Die Zeit ist auch ein Geist und schafft ihren Körper. Die Bühne repräsentiert das Forum für die tatsächlichen Bedürfnisse des Publikums, im Gegensatz zu der Studierstube des stillen Partiturenlesers. Die Bühne bedeutet das Leben des Dramas, der Kampf um ihren Besitz den Kampf um sein Dasein. In diesem Kampf siegt gar häufig ein geringeres Kunstwerk über seine besseren Vorfahren, wenn dasselbe den Atem der Gegenwart, den Pulsschlag unseres Empfindens und Begehrens uns entgegenbringt. Publikum wie Künstler fühlen einen berechtigten Trieb nach Neuem in der Musik, und eine Kritik, welche nur Bewunderung für das Alte hat und nicht auch den Mut der Anerkennung für das Neue, untergräbt die Produktion. Dem schönen Unsterblichkeitsglauben müssen wir entsagen, – hat doch jede Zeit mit demselben getäuschten Vertrauen die Unvergänglichkeit ihrer besten Opern proklamiert. Noch Adam Hiller in Leipzig behauptete, daß, wenn jemals die Opern Hasses nicht mehr entzücken sollten, die allgemeine Barbarei hereinbrechen müßte. Noch Schubart , der Musikästhetiker vom Hohenasperg, versicherte von Jomelli , es sei gar nicht denkbar, daß dieser Tondichter jemals in Vergessenheit geraten könne. Und was sind uns heute Hasse und Jomelli?«
[23] »Geist in der Natur«, 3. Band, deutsch von Kannegießer. S. 32.
[24] Es darf nicht verschwiegen werden, daß eines der genialsten, großartigsten Werke aller Zeiten durch seinen Glanz beitrug zu dieser Lieblingslüge der modernen Musikkritik von dem »inneren Drängen der Musik zur Bestimmtheit der Wortsprache« und »zur Abwerfung der eurhythmischen Fesseln«. Wir meinen Beethovens » Neunte «. Sie ist eine jener geistigen Wasserscheiden, die weithin sichtbar und unübersteiglich sich zwischen die Strömung entgegengesetzter Überzeugungen legen.
Die Musiker, welchen die Großartigkeit der »Intention«, die geistige Bedeutung der abstrakten Aufgabe über alles geht, stellen die neunte Symphonie an die Spitze aller Musik; während die kleine Schar, welche, an dem überwundenen Standpunkt der Schönheit festhaltend, für rein ästhetische Forderungen kämpft, ihrer Bewunderung einige Einschränkungen setzt. Wie zu erraten, handelt es sich vorzugsweise um das Finale, da über die hohe Schönheit der ersten drei Sätze unter aufmerksamen und vorbereiteten Hörern kaum ein Streit entstehen wird. In diesem letzten Satz vermochten wir nie mehr als den Riesenschatten zu sehen, den ein Riesenkörper wirft. Die Größe der Idee, das bis zur Verzweiflung vereinsamte Gemüt zuletzt in der Freude aller zur Versöhnung zu bringen, kann man vollkommen verstehen und erkennen, und dennoch die Musik des letzten Satzes (bei all' ihrer genialen Eigentümlichkeit) unschön finden. Das allgemeine Verdammungsurteil, dem solche Sondermeinung verfällt, kennen wir recht wohl. Einer der geistvollsten und vielseitigsten Gelehrten Deutschlands, der 1853 in der » A. Allgemeinen Zeitung « den formellen Grundgedanken der neunten Symphonie anzufechten unternahm, erkannte deshalb die humoristische Notwendigkeit, sich gleich auf dem Titel für einen »beschränkten Kopf« zu erklären. Er beleuchtete die ästhetische Ungeheuerlichkeit, welche das Ausmünden eines mehrsätzigen Instrumentalwerks in einen Chor involviert, und vergleicht Beethoven mit einem Bildhauer, der Beine, Leib, Brust, Arme einer Figur aus farblosem Marmor fertigte, den Kopf aber koloriert. Man sollte glauben, daß jeden feinfühlenden Hörer beim Eintritt der Menschenstimme das gleiche Unbehagen überkommen müsse, »weil hier das Kunstwerk mit Einem Ruck seinen Schwerpunkt verändert und dadurch auch den Hörer umzuwerfen droht«. Fast ein Dezennium später erlebten wir die Freude, daß der »beschränkte Kopf« sich als David Strauß demaskierte.
Hingegen nennt Dr. Becher , der hier als Repräsentant einer ganzen Klasse erscheinen möge, in einer 1843 gedruckten Abhandlung über die neunte Symphonie den vierten Satz »den mit jedem andern bestehenden Tonwerke an Eigentümlichkeit der Gestaltung wie an Großartigkeit der Komposition und kühnstem Aufschwung der einzelnen Gedanken völlig inkommensurabeln Ausfluß von Beethovens Genialität« und versichert, dies Werk stehe ihm »mit Shakespeares König Lear und etwa einem Dutzend anderer Emanationen des Menschengeistes in seiner höchsten poetischen Potenz im Himalayagebirge der Kunst als Dhawalagirispitze, selbst seine ebenbürtigen Genossen überragend«. Wie fast alle seine Meinungsgenossen gibt Becher eine ausführliche Schilderung der Bedeutung des »Inhalts« jedes der vier Sätze und ihrer tiefen Symbolik, – der Musik geschieht auch nicht mit Einer Silbe Erwähnung. Das ist höchst charakteristisch für eine ganze Schule musikalischer Kritik, welche der Frage, ob eine Musik schön sei, mit der tiefsinnigen Erörterung auszuweichen liebt, was sie Großes bedeute .
[25] Rosenkranz , Psychologie. 2. Aufl. S. 60.
[26] Schubart , »Ideen zur Ästhetik der Tonkunst«. 1806.
[27] »Neue Wahrnehmungen zur Aufnahme der Musik.« Berlin 1784. S. 102.
[28] Welche Vorsicht bei Rückschlüssen von den Kompositionen auf den menschlichen Charakter des Komponisten notwendig ist, und wie groß dabei die Gefahr, daß die Phantasie die nüchterne Untersuchung zum Nachteil der Wahrheit beeinflußt, das hat neuerdings u. a. die Beethoven-Biographie von A. B. Marx gezeigt, deren musikalisch voreingenommene Panegyrik einer sorgfältigen Untersuchung der Tatsachen überhoben zu sein glaubte und daher durch Thayers genaue Quellenforschungen in vielen Punkten drastisch berichtigt worden ist.
[29] Irrig ist deshalb Forkels Ableitung der verschiedenen musikalischen Schreibarten aus »den Verschiedenheiten zu denken«, wonach der Stil jedes Komponisten darin seinen Grund hat, daß »der schwärmerische, der aufgeblasene, der kalte, kindische und pedantische Mann in den Zusammenhang seiner Gedanken Schwulst und unerträgliche Emphasis bringt, oder frostig und affektiert ist«. ( Theorie der Musik. 1777. S. 23. )
[30] Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. 3. Band, S. 332.
[31] »Der Geist der Natur.« III, 9.
[32] Die höchste Konfusion erreichte diese Lehre bei dem berühmten Arzt Baptista Porta , welcher die Begriffe von Medizinalpflanze und Musikinstrument kombinierte und die Wassersucht mit einer Flöte heilte, die aus den Stengeln des Helleborus verfertigt war. Ein aus dem populus verfertigtes Musikinstrument sollte Hüftschmerzen, ein aus Zimtrohr geschnitztes Ohnmachten heilen. ( Encyclopédie, article »musique«. )
[33] Wenn Carus den Reiz zur Bewegung damit erklärt, daß er den Hörnerv im kleinen Gehirn entspringen läßt, in dieses den Sitz des Willens verlegt und aus beiden die eigentümlichen Wirkungen der Gehörseindrücke auf Handlungen des Mutes u. a. ableitet, so ist das eine sehr unsichere Hypothese; denn nicht einmal die Abstammung des Gehörnervs aus dem kleinen Gehirn ist eine wissenschaftlich ausgemachte Tatsache.
Harleß (in R. Wagners Handwörterbuch der Physiologie, Artikel »Hören« ) vindiziert der bloßen Wahrnehmung des Rhythmus, ohne allen Gehörseindruck, denselben Trieb zu Bewegungen wie der rhythmischen Musik.
[34] Helmholtz , Lehre von den Tonempfindungen. 2. Aufl. 1870. S. 319.
[35] Einer unserer geistvollsten Physiologen, Lotze , sagt in seiner » medizinischen Psychologie « (S. 237): »Die Betrachtungen der Melodien würde zu dem Geständnis führen, daß wir gar nichts über die Bedingungen wissen, unter denen ein Übergang der Nerven aus einer Form der Erregung in die andere eine physische Grundlage für die kraftvollen ästhetischen Gefühle bietet, die der Abwechslung der Töne folgen.« Ferner über den Eindruck von Lust und Unlust, den selbst ein einfacher Ton auf das Gefühl ausüben kann (S. 236): »Es ist uns völlig unmöglich, gerade für diese Eindrücke einfacher Empfindungen einen physiologischen Grund anzugeben, da uns die Richtung, in welcher sie die Nerventätigkeit verändern, zu unbekannt ist, als daß wir aus ihr die Größe der Begünstigung oder Störung, die sie erfährt, abzuleiten vermöchten.«
[36] Eine neue wertvolle Bestätigung dieser Ansicht enthält Du Bois-Reymonds Rede auf der Naturforscherversammlung in Leipzig 1872: » Über die Grenzen des Naturerkennens. «
[37] Köstlich sind die Belehrungen des Herrn geheimen Rats und Doktors der Philosophie v. Böcklin , welcher S. 34 seiner » Fragmente zur höheren Musik « (1811) unter anderem sagt: »Angenommen, der Komponist wollte einen Beleidigten darstellen, so muß in dieser Musik ganz ästhetische Wärme auf Wärme, Schlag auf Schlag, ein erhabener Gesang mit äußerster Lebhaftigkeit hervorspringen, die Mittelstimmen rasen und schaudervolle Stöße den erwartungsvollen Zuhörer schrecken.«
[38] Der verliebte Herzog in Shakespeares » Twelfth night « ist eine poetische Personifikation solchen Musikhörens. Er sagt:
Und später, im 2. Akt, ruft er:
[39] Wird von dem neapolitanischen Sänger Palma und von anderen erzählt ( Anecdotes on music, by A. Burgh, 1814 ).
[40] » Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur .«
[41] W. Heinses schwärmerisch-dissolutem Temperament mußte es vollkommen entsprechen, von der bestimmten musikalischen Schönheit zugunsten des vagen Gefühlseindruckes abzusehen. Er geht (in der » Hildegard von Hohenthal «) so weit, zu sagen: »Die wahre Musik … geht überall auf den Zweck los, den Sinn der Worte und der Empfindung in die Zuhörer zu übertragen, so leicht und angenehm, daß man sie (die Musik) nicht merkt. Solche Musik dauert ewig, sie ist gerade so natürlich, daß man sie nicht merkt , sondern nur der Sinn der Worte übergeht.«
Ein ästhetisches Aufnehmen der Musik findet aber gerade im Gegenteil da statt, wo man sie vollkommen » merkt «, ihr aufmerkt und jeder ihrer Schönheiten sich unmittelbar bewußt wird. Heinse , dessen genialem Naturalismus wir den Zoll einer angemessenen Bewunderung nicht versagen, ist in poetischer, noch mehr in musikalischer Hinsicht sehr überschätzt worden. Bei der Armut an geistreichen Schriften über Musik hat man sich gewöhnt, Heinse als einen vorzüglichen musikalischen Ästhetiker zu behandeln und zu zitieren. Konnte man dabei wirklich übersehen, wie nach einigen treffenden Aperçus meist eine Flut von Plattheiten und offenbaren Irrtümern hereinstürzt, daß man über solche Unbildung geradezu erschrickt? Überdies geht Hand in Hand mit technischer Unkenntnis Heinses schiefes ästhetisches Urteil, wie seine Analysen der Opern von Gluck , Jomelli , Traëtta u. a. dartun, in welchen man anstatt künstlerischer Belehrung fast nur enthusiastische Ausrufungen erhält.
[43] Hand , Ästh. d. T. I. 50. Ebendaselbst wird passend angeführt, daß die Gälen in Schottland mit den indischen Völkerstämmen den Mangel der Quart und Septime teilen, die Folge ihrer Töne also cdegac lautet. Bei den körperlich sehr ausgebildeten Patagoniern im südlichen Amerika findet sich keine Spur von Musik oder Gesang. – Sehr gründlich und im Resultat ganz übereinstimmend mit dem Obigen ist die Entwickelung unseres Tonsystems neuerdings von Helmholtz (» Lehre von den Tonempfindungen «) dargelegt worden.
[44] M. Hauptmann , Die Natur der Harmonik und Metrik. 1853. S. 7.
[45] Unsere Ansicht stimmt mit den Forschungen Jacob Grimms überein , welcher u. a. andeutet: »Wer nun die Überzeugung gewonnen hat, daß die Sprache freie Menschenerfindung war, wird auch nicht zweifeln über die Quelle der Poesie und Tonkunst .« ( Ursprung der Sprache. 1852. )
[46] Johanna Kinkel , Acht Briefe über Klavierunterricht. 1852, Cotta .
[47] Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst, S. 149 ff.
[48] Von diesem Mißverständnis, den Naturlaut unmittelbar realistisch in das Kunstwerk zu übertragen – was, wie O. Jahn treffend bemerkt, nur in seltenen Fällen als Scherz zugestanden werden kann, ist es ja gänzlich verschieden und sollte eigentlich nicht Malerei genannt werden, wenn gewisse in der Natur gegebene, durch ihren rhythmischen oder klanglichen Charakter halb musikalisch wirkende Elemente, wie sie im Rauschen und Plätschern des Wassers, im Vogelgesang, in Wind und Wetter, im Schwirren der Pfeile, im Schnurren des Spinnrads u. dgl. enthalten sind, von den Komponisten – nicht etwa »nachgeahmt« werden, sondern ihnen Impulse zu Motiven von selbständiger Schönheit hergeben, welche sie künstlerisch frei konzipieren und durchführen. »Dieses Rechts bedient sich der Dichter in der Sprache wie im Rhythmus; in der Musik greift es aber noch viel weiter, weil der musikalischen Elemente viele durch die ganze Natur zerstreut sind«, und herrliche Beispiele aus unseren klassischen nicht minder wie aus unseren modernen Komponisten (die nur ungleich raffinierter verfahren als jene) sind jedem in Fülle gegenwärtig.
[49] Auf Herbart schen Grundlagen hat in neuester Zeit Robert Zimmermann in seiner » Allgemeinen Ästhetik als Formwissenschaft « (Wien 1865) das formale Prinzip in strenger Konsequenz in allen Künsten, somit auch in der Musik, durchgeführt.