Title : Der Löwe von Flandern: ein historische Roman aus Alt-Belgien
Author : Hendrik Conscience
Release date
: January 30, 2010 [eBook #31129]
Most recently updated: January 6, 2021
Language : German
Credits
: Produced by Norbert H. Langkau, Wolfgang Menges and the
Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Hendrik Conscience
ein historischer Roman
aus Alt-Belgien
0 1916
Wilhelm Borngräber Verlag
Berlin
Die Bearbeitung dieses Werkes
besorgte im Auftrage des
Flaminganten-Ausschusses
Kurt L. Walter van der Bleek
auf Grund des vlaemischen
Originals. Alle Rechte daran
sind vom Verleger gewahrt
11. bis 20. Tausend
Seiner Exzellenz
dem Herrn
Generaloberst Freiherrn v. Bissing
Generalgouverneur von Belgien
An den Stamm der Vlaemen:
I. | II. | III. | IV. |
V. | VI. | VII. | VIII. |
IX. | X. | XI. | XII. |
XIII. | XIV. | XV. | XVI. |
XVII. | XVIII. | XIX. | XX. |
XXI. | XXII. | XXIII. | XXIV. |
Geschichtliche Darstellung | |||
Nachwort |
L angsam ließ die rote Morgensonne ihr Nachtwolkengewand fallen, und jeder Tautropfen strahlte siebenfarbig ihr leuchtendes Bild zurück. Blaue Dunstwolken stiegen von der Erde auf, ruhten zögernd in den Baumwipfeln, und in zagender Liebe erschlossen sich taufeuchte Blumenkelche den ersten Strahlen des jungen Tages. Immer wieder hatte die Nachtigall ihr sanftes Lied erklingen lassen, aber das verworrene Zwitschern der anderen Waldsänger ließ ihre schmelzenden Töne verstummen.
Ein kleiner Trupp Ritter zog schweigend nach Rousselare [1] . Ihr Rossestampfen und Waffengeklirr störten den schweigenden Waldesfrieden. Ein Hirsch wurde aus seiner Einsamkeit aufgeschreckt, schoß aus dem Buschholz hervor und floh schneller als der Wind vor der drohenden Gefahr.
Gewänder und Waffen der Ritter waren so kostbar, daß man beim ersten Blick darauf schließen konnte, daß man Grafen oder noch höhere Herren vor sich hatte.
Ein seidener Waffenrock fiel in wallenden Falten von ihren Schultern, und ein versilberter Helm mit purpurnen und blauen Federn schmückte ihr Haupt. Die Stahlschuppen ihrer Panzerhandschuhe und die Goldmaschen ihrer Knieplatten blitzten in der flammenden Morgensonne. Die kühnen Schlachtrosse waren mit weißem Schaum bedeckt und ließen sich nur schwer bändigen. Bei ihren heftigen Bewegungen funkelten Silberknöpfe und Seidentroddeln ihres reichen Zaumzeuges in glitzerndem Farbenspiel.
Obgleich die Ritter keine Harnische angelegt hatten, waren sie doch gegen feindliche Überfälle auf der Hut.
Die gepanzerten Arme sahen aus dem Wams hervor. Gewaltige Schlachtschwerter hingen an ihren Sätteln. Knappen folgten mit mächtigen Schilden. Auf der Brustseite des Gewandes [8] trug jeder Ritter sein gesticktes Wappen, so daß man auf den ersten Blick Geschlecht und Familie erkennen konnte. –
Die Morgenfrische hatte ihnen die Lust zum Sprechen genommen. Dämmerung lag schwer auf ihren Augenlidern; nur mit Mühe kämpften sie gegen den Schlummer, der sie einhüllen wollte.
Ein junger Führer schritt der edlen Schar voran. Langes, blondes Haar wallte auf seine breiten Schultern herab. Feurige blaue Augen sprühten unter dichten Brauen hervor. Leichter Flaum beschattete sein Kinn. Um sein wollenes Gewand hatte er einen Gürtel geschlungen, und als Waffe trug er ein „Kreuzmesser“ in einer ledernen Scheide.
In seinen Zügen konnte man leicht lesen, daß die Gesellschaft, die er führte, ihm keineswegs angenehm war. Man konnte sogar glauben, daß er einen geheimen Plan gegen sie im Schilde führte; denn von Zeit zu Zeit warf er einen Seitenblick auf die ihm folgenden Ritter. Er war von hoher, ungewöhnlich kräftiger Gestalt. Sein fester Schritt war so schnell, daß die Pferde nur mit Mühe folgen konnten.
So trabte der kleine Troß seit kurzer Zeit vorwärts, als plötzlich das Roß eines Ritters über einen Baumstumpf strauchelte und stürzte, so daß der Ritter mit der Brust auf den Nacken seines Pferdes fiel und beinahe aus dem Sattel kam.
„Was soll das bedeuten?“ rief er in französischer Sprache. „Ich glaube, mein Gaul ist im Trab eingeschlafen!“
„Herr von Châtillon,“ rief ihm sein Begleiter lachend zu, „einer von beiden hat sicher geträumt.“
„Lache nur, soviel Du willst, Du schlechter Spötter,“ entgegnete ihm der Graf von Châtillon, „es ist darum nicht weniger wahr, daß ich nicht schlief. Denn schon seit zwei Stunden blicke ich unverwandt nach jenen Türmen, die sich anscheinend immer weiter entfernen, je mehr wir ihnen näher kommen wollen. Aber es ist leichter, an den Galgen zu kommen, als einmal von Dir ein freundliches Wort zu erhalten.“
Während die beiden Ritter spöttisch miteinander scherzten, [9] machten sich ihre Begleiter vergnügt auf Kosten des Grafen lustig, und der leichte Unfall hatte die Müdigkeit des ganzen Truppes verjagt.
Herr von Châtillon, der sein Roß wieder emporgerissen hatte, konnte die Anzüglichkeiten, die auf ihn gemünzt waren, nicht länger ruhig mit anhören, und in seinem plötzlich aufwallenden Zorn stieß er seinem Pferd den scharfen Sporn tief in die Weichen. Der Schmerz machte das Tier wild, es bäumte sich hoch auf und schoß dann wie ein Pfeil zwischen den Bäumen dahin. Aber nach einigen hundert Schritten stürmte es gegen den Stamm einer alten Eiche und stürzte, schwer verletzt, zu Boden.
Glücklicherweise war der Graf beim Anprall aus dem Sattel gesprungen oder geschleudert worden; nichtsdestoweniger mußte er sich ernstlich die Seite verletzt haben, denn er blieb einige Augenblicke regungslos liegen.
Als ihn seine Begleiter eingeholt hatten, stiegen sie alle von ihren Pferden, richteten ihn auf und bewiesen ihm das wärmste Mitgefühl.
Der Ritter, der mit den Spötteleien begonnen hatte, schien jetzt am meisten beunruhigt zu sein, und tiefe Trauer lag auf seinem Gesicht.
„Lieber Châtillon, ich bedauere Dich von ganzem Herzen. Verzeih' mir meine unbesonnenen Reden,“ bat er, „ich wollte Dich nicht beleidigen.“
„Laßt mich in Ruh'!“ rief Châtillon aus und riß sich aus den Armen seiner Begleiter los; „meine Herren, ich bin noch nicht gestorben. Glaubt Ihr denn, die Sarazenen hätten mich geschont, damit ich später wie ein Hund im Walde verenden könnte! Nein, bei Gott, noch lebe ich, und Du solltest Deine Spötteleien auf der Stelle büßen, Saint-Pol, wenn ich mich an Dir rächen dürfte.“
„Aber, beruhige Dich doch,“ entgegnete Saint-Pol. „Du bist verwundet, lieber Bruder; das Blut rinnt ja durch Dein Panzerhemd.“
Châtillon streifte den rechten Panzerärmel hoch und sah, daß ein Zweig die Haut leicht geritzt hatte.
„Es ist nicht der Rede wert,“ sagte er, „nur eine kleine Schramme. Aber ohne Absicht hat uns dieser verdammte Vlaeme nicht diesen widerlichen Weg geführt. Ich werde es schon herausbekommen. Und ich will nicht mehr Châtillon heißen, wenn ich den Schurken nicht an einem Ast dieser verwünschten Eiche aufhängen lasse.“
Der Vlaeme, der auf diese Weise zur Rechenschaft gezogen wurde, tat, als verstände er die französische Sprache nicht; doch sah er auf und blickte Châtillon kühn ins Auge.
„Meine Herren,“ rief da der Ritter aus, „seht nur den unverschämten Blick dieses Bauernlümmels. – Hierher, Schurke!“
Langsam kam der junge Mann näher. Sein Haupt war stolz erhoben; aber in seinen Augen lag ein sonderbarer Zug, ein Ausdruck, der Wut mit List vereinigte und so düstere Drohungen enthielt, daß sich Châtillon von einer beklemmenden Unruhe ergriffen fühlte.
In diesem Augenblick brachte plötzlich einer der Ritter, der diesem Auftritt beigewohnt hatte, sein Pferd in Trab, verschwand bald hinter den mächtigen Bäumen und gab dadurch deutlich genug seinen Unwillen zu erkennen.
„Nun also!“ herrschte Châtillon den Führer an. „Sage mir, weshalb hast Du uns auf diesen Weg geführt, und warum hast Du uns nicht auf den Baumstamm aufmerksam gemacht, der da im Wege lag?“
„Herr,“ antwortete der Vlaeme in gebrochenem Französisch, „ich kenne keinen anderen Weg nach Schloß Wijnendaal, und ich wußte nicht, daß Ew. Edeln die Gewohnheit haben, zu Pferd zu dieser Tageszeit zu schlafen.“
Als der Führer diese Worte aussprach, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, das zugleich Hochmut und Ironie verriet. Man hätte meinen können, er wolle den Zorn des Grafen reizen, um ihm dann zu trotzen.
„Unverschämter Lümmel!“ schrie ihn Châtillon an, „wagst Du es etwa, Dich über mich lustig zu machen! Holla! Leute! Hängt mir diesen Burschen. Die Raben sollen ihn fressen.“
Das spöttische Lächeln des jungen Mannes wurde unverhohlener. Seine Mundwinkel zuckten immer verräterischer, und seine Wangen entfärbten sich.
„Einen Vlaemen wollt ihr hängen?“ stieß er leise hervor. „Da wartet nur, meine Herren!“
Er sprang einige Schritte zurück, stemmte sich gegen einen Baumstamm, streifte die Ärmel seines Wamses bis zu den Schultern auf und zog seinen blitzenden Dolch aus der Scheide. Die Muskeln seines nackten Armes spannten sich, und sein Gesichtsausdruck erinnerte an den eines Löwen. „Weh dem, der mich anrührt!“ rief er ihnen mit dröhnender Stimme zu. „Flanderns Raben fressen keinen Vlaemen! Sie fressen lieber Franzosenfleisch!“
„Ergreift ihn!“ rief Châtillon aus, „ergreift den Lumpen! Seht die Feiglinge! Ihr fürchtet euch wohl vor seinem Messer? Meine Hände kann ich mit seinem Blut nicht besudeln, denn ich bin aus edlem Hause. Das ist eure Aufgabe. Pack gegen Pack! Werft euch auf ihn!“
Einige Ritter suchten Châtillon zu beruhigen. Aber den meisten wäre es nur zu recht gewesen, wenn man den Vlaemen gehängt hätte. – Die Waffenträger, die durch ihren Herrn aufgereizt waren, hatten sich gerade auf den jungen Mann stürzen wollen, als unvermutet der Ritter hinzukam, der, in Gedanken versunken, vorausgeritten war [2] . Die Kostbarkeit seines Gewandes und seiner Rüstung übertraf die der anderen Ritter bedeutend. Das gestickte Wappen auf seiner Brust enthielt drei goldene Lilien in blauem Felde unter einer Grafenkrone. [12] Das war ein Zeichen dafür, daß königliches Blut in seinen Adern rollte.
„Halt!“ rief er den Waffenträgern streng zu, und dann wandte er sich an den Grafen von Châtillon:
„Herr von Châtillon, Ihr scheint zu vergessen, daß ich Flandern von meinem königlichen Bruder Philipp von Frankreich zu Lehen erhalten habe. Der Vlaeme ist mein Vasall, und nur mir allein gehört sein Leben.“
„Dieser verächtliche Bürger soll mich also ungestraft beleidigen dürfen!“ entgegnete Châtillon voll Zorn. „Graf, es ist tatsächlich unglaublich, daß Ihr das niedere Volk immer gegen den Adel verteidigt. Dieser Vlaeme soll sich also rühmen dürfen, ungestraft einen französischen Ritter verhöhnt zu haben? Hat er den Tod nicht verdient?“
„Herr von Valois,“ sagte Saint-Pol, „gönnt meinem Bruder die kleine Genugtuung, diesen Vlaemen hängen zu sehen. Was kümmert Eure Königliche Hoheit das Leben dieses starrköpfigen Burschen?“
„Meine Herren,“ rief Karl von Valois mit zorniger Stimme, „versteht mich recht, ich untersage es euch, in meiner Gegenwart derart zu sprechen. Ich schätze das Leben meiner Untertanen höher ein. Lassen Sie den jungen Mann gehen. Zu Pferd! meine Herren. Wir verlieren sonst zu viel Zeit.“
„Steig' auf,“ flüsterte Saint-Pol seinem Bruder zu, „antworte nicht, nimm das Pferd Deines Schildknappen und komm. Herr von Valois ist ein unverbesserlicher Volksfreund.“
Inzwischen hatten die Schildknappen ihre Schwerter in die Scheide gesteckt und führten nun die Pferde ihren Gebietern vor.
„Seid ihr fertig, meine Herren?“ fragte Graf von Valois, „dann beeilt euch, bitte, sonst werden wir zu spät zur Jagd kommen. Und Du, Vasall, bleib' an unserer Seite und entferne Dich nicht vom Weg! Wie weit ist es noch bis Wijnendaal?“
Der junge Mann nahm höflich die Mütze ab, verbeugte sich vor seinem Retter und erwiderte: „Noch eine knappe Stunde, gnädiger Herr.“
„Der Bursche ist mir verdächtig!“ sagte Saint-Pol. „Ein Wolf in Schafskleidern.“ –
„Das habe ich mir schon lange gedacht,“ fügte der Kanzler Pierre Flotte hinzu. „Er beobachtet uns tatsächlich wie ein Wolf und spitzt die Ohren wie ein Hase, wenn wir sprechen.“
„Aha! nun weiß ich, wer's ist!“ rief Châtillon aus. „Meine Herren, habt ihr nicht von einem Weber gehört, der Peter de Coninck heißt und in Brügge wohnt?“
„Das ist ein Irrtum,“ warf Raoul de Nesle ein, „ich habe in Brügge persönlich mit dem berüchtigten Weber gesprochen, und obwohl er diesen hier an Schlauheit und Arglist weit übertrifft, muß ich Ihnen sagen, daß er nur ein Auge hat, während unser Führer zwei sehr schöne besitzt. Ohne Zweifel liebt er den alten Grafen von Flandern und sieht uns als seine Besieger scheel an. Das ist's! Nehmt ihm die Treue nicht übel, die er seinem unglücklichen Fürsten hält.“
„Jetzt haben wir dieses Thema aber zur Genüge erörtert!“ sagte Châtillon. „Gibt's denn gar keinen anderen Gesprächsstoff? Halt,“ fügte er hinzu, „wißt ihr übrigens, was unser allergnädigster König Philipp mit diesem edlen Flandern vorhat? Auf mein Wort: hält unser erhabener Herrscher seine Schatzkammern ebenso verschlossen wie Herr von Valois seinen Mund, so wird man uns am Hofe magere Kost reichen.“
„Das sagt Ihr so,“ antwortete Pierre Flotte, „aber der König spricht auch, wenn's ihm gefällt. Reitet etwas langsamer, meine Herren, und ich will euch etwas mitteilen, wovon ihr euch nichts träumen laßt.“
Neugierig kamen die Ritter dicht an ihn heran und ließen den Grafen von Valois etwas vorausreiten. Als er weit genug entfernt war, so daß er sie nicht mehr hören konnte, ergriff der Kanzler wieder das Wort:
„Also hört: die Beutel unseres allergnädigsten Königs Philipp des Schönen sind leer. Enguerrand von Marigny hat ihm aufbinden lassen, Flandern sei eine wahre Goldgrube. Und er hat gar nicht so unrecht. Denn dies Ländchen hier besitzt allein mehr Gold und Silber als ganz Frankreich.“
Die Ritter lächelten und nickten wiederholt zustimmend.
„Hört weiter! Unsere Königin Johanna ist auf die Vlaemen sehr erbittert. Sie haßt dieses hochmütige Volk unaussprechlich. Sie sagte vor einiger Zeit in meiner Gegenwart, daß sie den letzten Vlaemen am Galgen sehen wollte.“
„So spricht nur eine Königin,“ rief da Châtillon aus, „sollte ich je Statthalter dieses Landes werden – was mir ja meine hochherzige Nichte versprochen hat –, so gelobe ich euch, meine Herren, daß die Landeskasse Geld speien wird, und daß es mir schon gelingen wird, mich dieses Peters de Coninck mitsamt seiner Gilden zu entledigen und die Plunderwirtschaft der Volksregierung abzuschaffen. Aber warum lauscht denn dieser dreiste Lump auf unsere Unterhaltung!“
Der Vlaeme, der ihnen als Führer diente, hatte sich unbemerkt näher herangeschlichen und gespannt die Äußerungen, die die Ritter fallen ließen, verfolgt. Als er sah, daß man es entdeckt hatte, schoß er pfeilschnell in den Wald zurück. Ein unbeschreiblicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. In einiger Entfernung blieb er stehen und zog den Dolch aus der Scheide.
„Herr von Châtillon,“ rief er diesem drohend zu, „seht Euch diese Klinge genau an, daß Ihr sie wiedererkennen könnt, wenn sie Euch zwischen Hals und Nacken fährt!“
„Ist denn kein einziger unter meinen Leuten, der mich rächt?“ schrie Châtillon wutentbrannt.
Kaum hatte er das gesagt, als ein gewaltiger Krieger vom Pferde sprang und sich mit bloßem Degen auf den jungen Mann warf. Dieser steckte in aller Ruhe seinen Dolch, anstatt sich mit ihm zu verteidigen, in die Scheide zurück, ballte die Fäuste und erwartete seinen Feind.
„Stirb, verfluchter Vlaeme!“ schrie der Waffenträger und zückte die Klinge nach dem Führer.
Der Jüngling antwortete nicht; aber er heftete seine großen Augen, in denen ein unheimliches Feuer leuchtete, fest auf seinen Gegner. Dieser, dem der Blick durch und durch ging, senkte die Waffe, als versagte ihm der Mut.
„Schlag ihn nieder!“ schrie ihm Châtillon zu.
Aber der Vlaeme wartete nicht, bis der Feind sich ihm genähert hatte. Mit einem Satz hatte er den Waffenträger erreicht und ihm sein Schwert entrissen. Nun preßte er ihn mit starken Armen an sich und schleuderte ihn mit dem Kopf so unbarmherzig gegen den Baumstamm, daß der Unglückliche entseelt zu Boden sank.
Ein gellender Todesschrei hallte durch den Wald, und die Augen des Franzosen schlossen sich für immer.
Ein triumphierendes Lachen entrang sich der Brust des Vlaemen. Er näherte die Lippen dem Ohr des Toten, und mit beißendem Spott sagte er: „Bestelle Deinem Gebieter, daß Jan Breydels [3] Fleisch nicht den Raben zugedacht ist: das Blut der Fremdlinge ist viel geeigneter für sie.“
Mit diesen Worten lief er quer durch das Buschholz und verschwand im Dunkel des Waldes.
Voll gespannter Furcht hatten die Ritter diesen schrecklichen Kampf mit angesehen. Aber er war so kurz gewesen, daß sie nicht ein einziges Wort hatten wechseln können. Kaum waren sie aus ihrer Bestürzung wieder zu sich gekommen, als Graf Saint-Pol ausrief: „Bruder, ich glaube tatsächlich, daß Du es mit einem Zauberer zu tun gehabt hast. Bei diesem Kampf ist's nicht mit rechten Dingen zugegangen.“
„Ein verwünschtes Land!“ antwortete Châtillon zerknirscht. „Mein Pferd bricht den Hals; mein Diener bezahlt seine Treue mit dem Leben. Heut ist ein Unglückstag. Nun, Leute, [16] nehmt euren Kameraden auf und bringt ihn, so gut es geht, zum nächsten Dorf, damit er geheilt oder – bestattet werde. Bitte, meine Herren, sagt dem Grafen von Valois nichts von dem, was hier geschehen ist.“
„Das versteht sich von selbst,“ gab Pierre de Flotte zur Antwort. „Aber, meine Herren, wir müssen unseren Pferden die Sporen geben und vorwärts kommen. Sehen Sie, Herr von Valois verschwindet schon hinter den Bäumen.“
Sie ließen ihren Rossen die Zügel schießen und waren bald bei dem Grafen, ihrem Feldherrn. Dieser ritt langsam weiter, ohne ihre Anwesenheit zu bemerken. In tiefem Nachsinnen saß er weit vorgebeugt im Sattel, und sein eiserner Panzerhandschuh ruhte achtlos mit dem Zügel auf der Mähne seines Pferdes. Die andere Hand umfaßte den Griff seines Schlachtschwertes, das am Sattel hing. Während ihn so seine Gedanken beschäftigten und sich die anderen Ritter wegen seiner düsteren Stimmung spöttische Blicke zuwarfen, tauchte plötzlich vor ihnen Schloß Wijnendaal mit seinen himmelhohen Türmen und riesigen Wällen auf.
„Noël!“ rief Raoul de Nesle voll Freude, „dort ist das Ziel unserer Reise. Das ist Wijnendaal, trotz Teufel und Hexerei!“
„Ich möchte es in Brand setzen,“ murrte Châtillon, „es kostet mich ein Pferd und einen treuen Diener.“
Nun wandte sich der Ritter, der die Lilien auf der Brust trug, um und sprach: „Meine Herren, dort wohnt der unglückliche Landesherr Gwijde von Flandern, ein Vater, dem man sein Kind entrissen hat, und dessen Land wir durch Waffenglück gewonnen haben. Ich bitte euch, zeigt ihm nicht, daß ihr als Sieger kommt, und vergrößert sein Leid nicht durch übermütige Worte.“
„Aber, Graf von Valois,“ fiel Châtillon gekränkt ein, „glaubt Ihr etwa, daß wir nicht wissen, was man vom rechten Ritter verlangt. Wissen wir denn nicht, daß ein französischer Ritter sich nach dem Siege edelmütig zeigen soll?“
„Ich sehe also, daß Ihr's wißt,“ erwiderte Graf von Valois mit Nachdruck, „ich ersuche Euch, nun auch danach zu handeln! Die Ehre besteht nicht in eitlen Worten, Herr von Châtillon. Was nützt es, die Gesetze der Ritterschaft auf der Zunge zu tragen, wenn sie Euch nicht von Herzen kommen. Wer sich aber seinen Untergebenen gegenüber nicht edelmütig erweist, wird es auch nicht im Umgange mit seinesgleichen sein.“
Dieser Vorwurf rief Châtillons Zorn wieder wach, und er wäre sicher in wütende Reden ausgebrochen, hätte ihn sein Bruder Saint-Pol nicht zurückgehalten und ihm zugeflüstert: „Schweig, Châtillon, schweig doch still, denn unser Feldherr hat ganz recht. Es gehört sich auch so, daß wir dem alten Grafen von Flandern kein Leid mehr zufügen. Er ist unglücklich genug.“
„Der untreue Vasall hat unserem Könige den Krieg erklärt und den Groll unserer Nichte Johanna von Navarra so heftig erregt, daß sie beinahe dadurch erkrankt wäre – und da sollen wir ihm noch schonend entgegenkommen.“
„Meine Herren,“ rief Graf von Valois ihnen nochmals zu, „ihr kennt meine Bitte. Ich glaube nicht, daß es euch an Edelmut fehlen wird. Nun, vorwärts, ich höre die Meute bellen. Man hat uns bereits bemerkt, denn die Brücke fällt, und die Sturmegge [4] wird aufgezogen!“
Schloß Wijnendaal [5] , das der edle Graf Gwijde von Flandern erbaut hatte, war eins der schönsten und stärksten Schlösser jener Zeit. Aus den breiten Gräben, von denen es umgeben war, stiegen gewaltige Mauern auf, an denen eine Anzahl Wachthäuschen hing. Durch die Schießscharten hindurch konnte man die Ausschau haltenden Armbrustschützen und ihre stählernen Lanzenspitzen sehen. Innerhalb der Wälle erhoben sich die Dächer des gräflichen Hauses mit den wehenden Wetterfahnen. [18] Sechs runde Türme standen an den Mauerecken und in der Mitte des Vorhofes. Von hier aus konnte man mit allerlei Wurfgeschossen den heranziehenden Feind treffen und ihm so die Annäherung ans Schloß erschweren. Eine einzige Brücke verband diese befestigte Insel mit den umliegenden Tälern.
Sobald die Ritter ankamen, gab der Turmwächter der inneren Wache ein Zeichen, und sogleich kreischten die schweren Tore in ihren Angeln.
Unterdes erdröhnte hallendes Rossestampfen auf der Brücke, und die französischen Ritter zogen zwischen zwei Reihen vlaemischer Fußsoldaten in die Burg. Die Tore wurden hinter ihnen geschlossen. Die „Sturmegge“ mit ihren eisernen Spitzen rasselte nieder, und die Brücke ging langsam in die Höhe.
D ie Luft war so klarblau, daß das staunende Auge vergeblich ihre unermeßbare Tiefe zu ergründen suchte. Strahlend stieg die Sonne am Horizont auf, und eine girrende Turteltaube trank die letzten Tautropfen von den grünen Blättern der Bäume. Aus Schloß Wijnendaal erscholl unaufhörlich das Kläffen der Meute. Das Wiehern der Pferde mischte sich mit den lieblichen Tönen des Jagdhorns. Aber die Zugbrücke war noch aufgezogen, und vorübergehende Landleute konnten nur raten, was da im Gange war. Zahllose Wachen mit Armbrust und Schild schritten auf den äußeren Wällen auf und ab, und durch die Schießscharten hindurch konnte man sehen, wie viele Waffenknechte innerhalb der Mauern geschäftig hin und her liefen.
Endlich erschienen einige Leute über dem Tor und ließen die Brücke herab. Da wurde es auch schon geöffnet, um den Jagdzug hinauszulassen. In dem stattlichen Zug, der langsam über die Brücke ritt, sah man folgende Damen und Herren:
Voran ritt der achtzigjährige Graf Gwijde [6] von Flandern auf einem Fuchs. Seine Haltung trug den Stempel stiller Ergebenheit. Alter und Unglück hatten sein stolzes Haupt schwer gebeugt. Seine schmalen Wangen waren tief gefurcht. Ein purpurnes Wams fiel von seinen Schultern bis auf den Sattel herab, und sein schneeweißes Haar war von einem gelbseidenen Tuche umwunden. Durch diese Hülle glich sein Haupt einem Silbergefäße mit goldenem Reif. Auf der Brust trug er in einem herzförmigen Schild den schwarzen springenden Löwen in goldenem Felde.
Der unglückliche Fürst sah sich an seinem Lebensabend, wo ihm die Ruhe als Lohn für seine Arbeit zu gönnen gewesen wäre, seiner Krone beraubt. Seine Kinder hatten durch das Los der Waffen ihr Erbe verloren, und Armut erwartete sie, die eigentlich die reichsten Fürsten Europas hätten sein müssen. Siegprahlende Feinde umringten den unglücklichen Landesherrn, und doch gab er der Verzweiflung in seinem Herzen nicht Raum.
Neben ihm ritt Karl von Valois, der Bruder des französischen Königs. Er unterhielt sich eifrig mit dem alten Gwijde; doch es schien, als wären sie nicht einer Meinung.
Jetzt hing kein Schlachtschwert mehr am Sattel des französischen Feldherrn; ein langer Degen ersetzte die schwere Waffe; auch die blitzenden Stahlplatten hatte er von den Beinen geschnallt.
Ihnen folgte ein Ritter von ungemein wildem und trotzigem Aussehen. Seine Augen rollten, und wenn sein Blick auf einen Franzosen fiel, preßte er seine Lippen ingrimmig aufeinander und knirschte mit den Zähnen.
Er war etwa fünfzig Jahre alt; aber noch beseelte ihn volle Lebenskraft, und man mußte ihn mit seiner starken Brust und seinem gewaltigen Körperbau für den stärksten Ritter [20] halten. Auch sein Roß war größer als die anderen, und so überragte er den ganzen Zug an Haupteslänge. Ihn schützten sein blinkender Helm mit blauem und gelbem Federbusch, ein schwerer Waffenrock und das gebogene Schwert. Sein Koller, das von seinem Rücken bis auf das Pferd niederwallte, trug auch den vlaemischen Löwen im goldenen Felde. Die Ritter jener Zeit hätten unter tausend anderen in diesem trotzigen Reiter Robrecht van Bethune [7] , den ältesten Sohn von Gwijde, erkannt.
Seit einigen Jahren hatte ihm sein gräflicher Vater die innere Regierung von Flandern übertragen. In allen Feldzügen hatte er die vlaemischen Heere angeführt und sich in der Fremde einen gefürchteten Namen erworben. Während des sizilianischen [21] Krieges hatte er im Lager der Franzosen so staunenswerte Waffentaten vollführt, daß er von der Zeit an der Löwe von Flandern genannt wurde. Das Volk, das seine Helden allzeit liebt und bewundert, besang die Unerschrockenheit des Löwen in seinen Sagen und verherrlichte den, der einst die Krone von Flandern tragen sollte. Da Gwijde wegen seines hohen Alters Schloß Wijnendaal selten verließ und auch von den Vlaemen nicht sehr geliebt wurde, erhielt auch Robrecht den Grafentitel, wurde im ganzen Land als der Herr angesehen, und als solchem wurde ihm Gehorsam geleistet.
An seiner rechten Seite ritt Wilhelm, sein jüngster Bruder, dessen bleiche Wangen und schwermütigen Züge wie die eines kranken Mägdeleins neben dem gebräunten Antlitz von Robrecht erschienen. Seine Kleidung unterschied sich von der des Bruders nur durch das krumme Schwert, das Robrecht allein trug.
Darauf folgten viele andere Herren, sowohl Franzosen wie Vlaemen. Hierunter waren die vornehmsten: Walter, Herr van Maldeghem, Karl, Herr van Knesselare, Roegaert, Herr van Axpoele, Jan, Herr van Gavere, Rase Mulaert, Dietrich der Fuchs und Gerhard der Mohr.
Die Ritter Jacques de Châtillon, Guy de Saint-Pol, Raoul de Nesle und ihre Begleiter ritten ungeordnet, liebenswürdig plaudernd, zwischen den vlaemischen Herren.
Ihnen folgte der junge Adolf van Nieuwland, der Sprößling eines der edelsten Geschlechter der reichen Stadt Brügge. Sein Antlitz bestach nicht durch weibische Schönheit. Das war keiner jener Männer mit rosenfarbigen Wangen und lächelndem Munde, denen zum Weibe nur die Frauenkleidung fehlt. So hatte sich die Natur nicht an ihm vergangen. Die Sonne hatte seine ernsten Wangen leicht gebräunt. Durch seine Stirn zogen sich zwei Falten, die frühzeitige Klugheit ankündigten. Sein Antlitz war scharf und männlich geschnitten, und die edlen Linien seines Körpers erinnerten an ein griechisches [22] Bildwerk. Aus seinen Augen, die halb von den Brauen beschattet waren, leuchtete eine weiche, aber einsame Seele.
Obwohl er den anderen Rittern an Geburt nicht nachstand, blieb er doch zurück und ließ die, die geringerer Herkunft waren, vorausreiten. Mehrmals hatte man ihm Platz gemacht, um ihn nach vorn reiten zu lassen, aber er achtete nicht auf diese Liebenswürdigkeit und schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.
Auf den ersten Blick hätte man Adolf für einen Sohn Robrechts van Bethune halten können. Denn bis auf den großen Altersunterschied glichen sich die beiden Ritter auffallend. Die gleiche Gestalt, die gleiche Haltung, die gleichen Bewegungen! Doch war die Kleidung von anderer Farbe, und das gestickte Wappen auf Adolfs Brust zeigte drei goldblonde Mägdelein auf rotem Grunde. Darüber stand sein Wahlspruch: Pulchrum pro patria mori [8] .
Dieser Jüngling war von seiner Kindheit an in Robrechts Hause aufgewachsen. Jetzt war er sein vertrauter Freund und wurde von ihm wie ein geliebter Sohn behandelt. Er schätzte seinen Wohltäter als Vater und Fürst und liebte ihn und seine Kinder von ganzem Herzen.
Dicht hinter ihm ritten die Frauen, die so prächtig geschmückt waren, daß das reiche Gold und Silber ihrer Kleidung die Augen blendete. Alle saßen auf leichten Zeltern. Ein langes Reitkleid fiel an der Seite des Pferdes über ihre Füße bis zur Erde herab. Golddurchwirkte, eng anliegende Mieder bedeckten ihre Brust, und von ihren hohen, mit Perlen geschmückten Hauben flatterten zierliche Bänder. Die meisten trugen einen Raubvogel auf der Hand.
Unter diesen Edelfrauen war eine, die durch Pracht und Schönheit alle anderen in Schatten setzte. Es war Machteld, Robrechts jüngste Tochter.
Die Maid war sehr jung. Sie war kaum älter als fünfzehn Jahre; aber ihre hohe, schlanke Gestalt, ein Erbteil ihrer edlen, mächtigen Vorfahren, die Strenge ihrer feinen Züge, die Ruhe ihrer Haltung gaben ihr etwas Königliches, Ehrfurchtgebietendes.
Obwohl die Ritter darin wetteiferten, ihr zu gefallen und ihr jede erdenkliche Höflichkeit erwiesen, entbrannte doch keiner in vermessener Liebe zu ihr. Sie wußten, nur ein Fürst durfte Machteld von Flandern heimführen.
Traumhaft schön saß die schlanke, junge Maid lieblich in der Seide ihres Zelters und trug ihr Haupt stolz erhoben. Während die linke Hand leicht den Zügel hielt, saß auf der Rechten ein Habicht mit roter Kappe, an der goldene Glöckchen läuteten.
Unmittelbar nach der lieblichen Tochter des Landesfürsten ritten zahlreiche Schild- und Hofknappen, alle in zweifarbige Seide gekleidet. Die Knechte, die zum Hause des Grafen Gwijde gehörten, konnte man leicht von den anderen unterscheiden, denn die rechte Seite ihrer Kleidung war aus schwarzem, die linke aus goldgelbem Moiré. Einige waren in Purpur und Grün, andere in Rot und Blau gekleidet, je nach den Wappenfarben ihrer Gebieter.
Endlich kamen Jäger und Falkenträger. Vor den ersteren lief die Meute von etwa fünfzig Hunden an ledernen Koppeln; darunter waren Windhunde, Bracken und Spürhunde aller Art.
Die Tiere waren von sonderbarem Ungestüm; sie zogen so stark an den Koppeln, daß die Jäger sich rückwärtsstemmend ziehen lassen mußten.
Die Falkeniere trugen auf Querstangen allerlei Falken und Jagdvögel: Habichte, Steinfalken, Geier und Sperber. Die Vögel hatten rote, mit Glöckchen besetzte Kappen auf dem Kopfe und dünne Lederhöschen an den Beinen.
Außerdem trugen die Falkeniere noch künstliche, scharlachrote Lockvögel mit Flügeln; die sollten die Falken während der Jagd zurückrufen.
Sobald der Zug sich etwas von der Brücke entfernt hatte und auf einen breiteren Weg gekommen war, mischten sich die Herren, ohne auf die Standesunterschiede zu achten, untereinander. Jeder suchte sich einen Freund oder Kameraden, um die Reise durch gefälliges Gespräch zu verkürzen. Sogar viele Frauen waren zu ihnen herangeritten. Doch blieben Gwijde von Flandern und Karl von Valois noch an der Spitze des Zuges, denn niemand wäre so unhöflich gewesen, an ihnen vorbeizureiten. Robrecht van Bethune und Wilhelm hatten ihre Rosse neben das ihres Vaters geführt, und auch Raoul de Nesle war mit Châtillon zu ihrem Feldherrn geritten. Dieser blickte traurig auf das weiße Haupt Gwijdes und in Wilhelms schwermütiges Antlitz und sagte: „Ich bitt' Euch, edler Graf, glaubt mir, daß mir Euer trauriges Los sehr zu Herzen geht. Es ist mir, als hätte mich selbst Euer Unglück getroffen. Doch noch ist alle Hoffnung nicht verloren. Auf meine Bitte wird mein königlicher Bruder alles vergeben und vergessen.“
„Herr von Valois,“ entgegnete Gwijde, „da täuscht Ihr Euch, Euer Fürst hat es deutlich bewiesen, daß Flanderns Untergang sein größter Wunsch ist; hat er nicht meine Untertanen gegen mich aufgestachelt? Hat er mir nicht mit unmenschlicher Grausamkeit meine Tochter Philippa geraubt und in einen Kerker geworfen? Und erwartet Ihr etwa, daß er alles wieder aufrichtet, was er so blutig zerstört hat? Fürwahr, Ihr täuscht Euch sehr, Philippe-le-Bel, Euer Bruder und König wird mir das Land, das er mir entrissen hat, nie zurückgeben. Euern Edelmut, Herr von Valois, werde ich nie vergessen, doch ich bin zu alt, um mich noch mit einer trügerischen Hoffnung trösten zu können. Meine Herrschaft ist aus. Das war Gottes Wille!“
„Ihr kennt meinen königlichen Bruder Philipp nicht,“ erwiderte Valois, „seine Taten sprechen allerdings gegen ihn, aber ich versichere Euch, er hat ein edles, ritterliches Herz.“
Da unterbrach Robrecht van Bethune Valois voll Ungeduld: „Was sagt Ihr – ein edles, ritterliches Herz! Bricht ein edler Ritter sein gegebenes Wort, seine Treue? Als wir mit unserer unglücklichen Philippa arglos nach Corbeil kamen, hat Euer König das Gastrecht verletzt und uns alle eingekerkert. Ist diese Verräterei etwa eines edlen Ritters wert?“
„Herr van Bethune,“ antwortete Valois ernst, „Eure Worte sind sehr scharf. Ich hoffe, daß Ihr nicht die Absicht hattet, mich zu kränken.“
„O nein, auf Ehre nicht,“ gab Robrecht zur Antwort, „Eure Großmut hat Euch meine Freundschaft gewonnen. Aber Ihr könnt doch nicht mit voller Überzeugung behaupten, daß Euer König ein ehrenwerter Ritter ist?“
„Hört mich an,“ entgegnete da Valois, „glaubt mir, daß in der Brust Philipps des Schönen das beste Herz schlägt; aber feige Schleicher aus seiner Umgebung beraten ihn. Enguerrand de Marigny [9] ist ein eingefleischter Teufel, der ihn zum Bösen verleitet, und noch jemand treibt ihn zu unerhörten Scheußlichkeiten. Doch hier verbietet mir die Ehrfurcht, Namen zu nennen; doch gerade hier liegt die Schuld an Eurem Unglück.“
„Wen meint Ihr denn,“ fragte Châtillon absichtlich.
„Da fragt Ihr nach einer allbekannten Sache, Herr von Châtillon,“ rief ihm Robrecht van Bethune zu, „hört zu, ich will's Euch sagen, es ist Eure Nichte, Johanna von Navarra [10] , die meine unglückliche Schwester gefangen hält; es ist Eure Nichte, [26] Johanna von Navarra, die Frankreichs Geld verfälschen ließ; es ist Eure Nichte, Johanna von Navarra, die Flandern den Untergang geschworen hat!“
Châtillon wurde rot vor Zorn. Er ritt dicht an Robrecht heran und rief ihm zu: „Das ist schmählich erlogen!“
Diese Beschuldigung verletzte Robrechts Ehre. Schnell riß er sein Pferd zurück und zog sein gebogenes Schwert aus der Scheide. Schon wollte er sich auf Châtillon stürzen – da sah er, daß sein Feind keine Waffen bei sich trug. Mit sichtlichem Unmut steckte er sein Schwert in die Scheide zurück, ritt wieder auf Châtillon zu und sprach mit verhaltener Erregung: „Ich halte es nicht mehr für nötig, mein Herr, Euch meinen Handschuh zuzuwerfen. Ihr wißt, daß der Vorwurf der Lüge ein Flecken ist, der nur durch Blut abgewaschen werden kann. Noch vor Sonnenuntergang fordere ich Genugtuung für diesen Schimpf!“
„Es sei,“ entgegnete ihm Châtillon, „ich bin bereit, die Ehre meiner königlichen Nichte gegen alle Ritter der Welt zu verteidigen.“
Nun schwiegen beide und ritten wieder auf ihre vorigen Plätze zurück. Während des kurzen Streites hatten die anderen Ritter mit sehr verschiedenen Gefühlen die Worte Robrechts mit angehört. Manchen Franzosen erbitterte die Äußerung des Vlaemen tief; doch Ritterehre untersagte es ihnen, sich in den Streit zweier Feinde einzumischen. Karl von Valois schüttelte ungeduldig sein Haupt, und deutlich konnte man in seinem Gesicht den Unwillen lesen, den dieser Streit hervorgerufen hatte. Dagegen huschte über das Antlitz des Grafen Gwijde ein zufriedenes Lächeln, und leise sagte er zu Valois: „Mein Sohn Robrecht ist ein mutiger Ritter. Das hat Euer König Philipp bei der Belagerung von Rijssel erfahren müssen. Da hat Robrechts Schwert manch tapferen Franzosen erschlagen. Die Brügger, die ihn mehr als mich lieben, nennen ihn den Löwen von Flandern, und diesen ehrenvollen Beinamen hat [27] er sich in der Schlacht bei Benevent [11] gegen Manfred wohl verdient.“
„Ich kenne Herrn Robrecht seit langer Zeit,“ war die Antwort. „Weiß nicht ein jeder, mit welcher Kühnheit er dem Tyrannen Manfred das Schwert entwandt? Die Ritter meines Landes rühmen seine Waffentaten. Der Löwe von Flandern gilt als unüberwindlich – und mit Recht.“
Ein stolzes Lächeln erhellte das Antlitz des alten Vaters; aber plötzlich verdüsterte es sich, er beugte in tiefem Schmerze sein Haupt: „Herr von Valois, ist das nicht doppelt schmerzvoll für mich, gerade einem solchen Sohne kein Erbe hinterlassen zu können? Ihm, der dem Haus von Flandern soviel Ruhm und Ehre erworben hätte. Ach, das und die Gefangenschaft meiner unglücklichen Tochter sind zwei Schicksalsschläge, die mich gebrochen haben.“
Karl von Valois antwortete nicht auf Gwijdes Klagen. Lange Zeit hüllte er sich in tiefes Nachdenken und ließ den Zügel seines Trabers am Sattelknopf hängen. Gwijde betrachtete voll Bewunderung den edlen Freund, denn er erkannte, wie schmerzlich das Unglück des Hauses von Flandern den ritterlichen Franzosen betrübte.
Da richtete sich plötzlich Karl von Valois glückstrahlend im Sattel auf, und erfreut rief er aus: „Eine Eingebung Gottes!“
Gespannt sah Gwijde ihn an.
„Graf von Flandern,“ sagte Valois, „ich will, daß mein königlicher Bruder Euch wieder auf den Thron Eurer Väter setze!“
„Und welches Mittel haltet Ihr für stark genug, dieses Wunderwerk zu vollbringen; denn er hat doch mein Land schon Euch übertragen?“
„Hört zu, edler Graf, Eure Tochter weint trostlos in den Kerkern des Louvre. Euer Erbe ist verloren. Euern Kindern [28] blieb kein Lehen. Ich weiß nun ein Mittel, das Eurer Tochter die Freiheit und Euch Euer Land wiedergeben soll.“
„Wirklich,“ rief Gwijde zweifelnd, „ich kann's nicht glauben, Herr von Valois; oder Eure Königin Johanna von Navarra müßte nicht mehr am Leben sein.“
„Nein, das nicht! Unser König Philipp der Schöne hält in Compiègne offenen Hof. Meine Schwägerin Johanna weilt gerade in Paris, und dort hält sich auch Enguerrand de Marigny auf. Begleitet mich nach Compiègne, und laßt auch die edelsten Ritter Eures Landes mitziehen, tut Fußfall vor meinem Bruder und huldigt ihm als reumütiger Vasall.“
„Und dann?“ fragte Gwijde verwundert.
„Er wird Euch gnädig empfangen und Flandern und auch Eure Tochter freigeben. Verlaßt Euch auf mein Wort, denn mein Bruder ist in der Abwesenheit der Königin der großmütigste Fürst.“
„Von Herzen danke ich Eurem guten Engel für diese glückliche Eingebung und, Herr von Valois, für Euern großen Edelmut,“ rief Gwijde hocherfreut. „O, möge Gott mir vergönnen, daß ich durch dieses Mittel die Tränen meines unglücklichen Kindes trocknen kann! Aber wer weiß, ob in diesem gefährlichen Frankreich Kerkerbande nicht auch mir bevorstehen?“
„Fürchtet nichts, Graf, fürchtet nichts,“ entgegnete ihm Valois, „ich selbst will Euch verteidigen und Euch treu zur Seite stehen. Und sollten unsere Bemühungen fruchtlos bleiben, so werden Euch mein Siegel und meine Ehre freies Geleit nach Rupelmonde zurück sichern.“
Gwijde ließ die Zügel los, ergriff die Hand des französischen Ritters und drückte sie in tiefer Dankbarkeit. „Ihr seid ein edler Feind,“ sagte er schmerzlich.
Während dieses Zwiegespräches war der ganze Zug in eine weite Ebene gekommen, durch welche der Krekelbach rauschte. Jeder machte sich zur Jagd bereit.
Die vlaemischen Ritter setzten sich ihre Falken auf die Faust. Die Hunde wurden verteilt, und die Leitbänder der Jagdvögel gelöst.
Die Frauen hatten sich unter die Ritter gemischt, und es traf sich, daß Karl von Valois nun neben der schönen Machteld ritt.
„Ich glaube, anmutiges Edelfräulein,“ sagte er, „daß Ihr den Preis der Jagd erringen werdet; denn einen schöneren Vogel als den Euren habe ich nie gesehen. Er hat so gleichmäßiges Gefieder, so starke Schwingen, so gelb geschuppte Klauen. Er ist wohl recht schwer auf der Hand?“
„O ja – sehr schwer, edler Herr,“ gab Machteld zur Antwort. „Und obgleich er nur für den tiefen Flug abgerichtet ist, kann er doch Reihern und Kranichen hoch in der Luft nachjagen.“
„Es scheint mir,“ bemerkte Valois, „daß Euer Wohledeln ihn zu reichlich füttern. Es wäre besser, ihm etwas schmalere Kost zu geben.“
„O nein, verzeiht, Herr von Valois,“ rief die Maid hoheitsvoll, „aber da täuscht Ihr Euch sicherlich: mein Falke ist so gerade recht. Ich bin in der Falkenzucht nicht unkundig. Ich selbst habe diesen schönen Habicht aufgezogen, zur Jagd abgerichtet und ihn des Nachts bei Kerzenschein bewacht. Aus dem Weg, Herr von Valois, aus dem Weg, über dem Sumpf steigt eben eine Schnepfe auf.“
Als Herr von Valois nach der angedeuteten Stelle sah, zog Machteld ihrem Falken die Kappe ab und warf ihn hoch.
„Steig' auf, mein lieber Falke!“ rief ihm Machteld nach.
Auf dies Geheiß flog der Vogel himmelwärts. Das Auge konnte ihm nicht mehr folgen. Einige Zeit ruhte er bewegungslos auf seinen Fittichen, und seine durchdringenden Augen suchten nach dem ihm bestimmten Wild. Bald sah er die Schnepfe in der Ferne fliegen. Schneller als ein niederstürzender Stein stieß der Falke auf den armen Vogel und packte ihn mit seinen scharfen Klauen.
„Seht Ihr, Herr von Valois,“ rief Machteld erfreut aus, [30] „daß Frauenhand auch gut Falken abrichten kann. Da kommt mein treuer Vogel mit seiner Beute zurück.“
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als der Habicht schon mit der Schnepfe auf ihrer Hand saß.
„Gönnt mir die Ehre, das Wild aus Euern schönen Händen zu empfangen,“ bat Karl von Valois.
Bei dieser Frage wurde das Antlitz der Jungfrau traurig. Sie blickte den Ritter flehend an und sagte: „Ach, Herr von Valois, nehmt es mir nicht übel, ich habe meine erste Beute schon meinem Bruder Adolf, der da neben meinem Vater steht, versprochen.“
„Euerm Ohm Wilhelm, wollt Ihr sagen, mein edles Fräulein.“
„Nein, unserem Bruder Adolf van Nieuwland. Er ist so gut, so gefällig zu mir. Er hilft mir beim Abrichten meines Falken. Er lehrt mich Lieder und Sagen und spielt mir auf der Harfe vor. Wir haben ihn alle sehr lieb.“
Während dieser Worte hatte Karl von Valois seinen durchdringenden Blick forschend auf Machteld geheftet, doch er erkannte, daß nur Freundschaft im Herzen der Jungfrau wohnte.
„Da hat er sich diese Gunst redlich verdient,“ sagte er lächelnd, „laßt Euch nur nicht durch meine Bitte länger zurückhalten.“
Ohne sich um die Gegenwart der anderen Ritter zu kümmern, rief Machteld so laut sie konnte: „Adolf, Herr Adolf!“ Und ausgelassen wie ein Kind schwang sie ihre Schnepfe hoch in der Luft.
Auf ihren Ruf ritt der Jüngling zu ihr heran.
„Adolf,“ rief sie, „das ist Eure Belohnung für die schönen Sprüche, die Ihr mich gelehrt habt.“
Der junge Ritter verbeugte sich ehrerbietig vor ihr und nahm fröhlich die Schnepfe in Empfang. Die Ritter betrachteten ihn mit neidischer Neugierde, und mehr als einer suchte auf seinem Antlitz heimliche Liebe zu entdecken; – aber vergeblich! Plötzlich wurden sie aus ihrem neugierigen Forschen aufgeschreckt.
„Schnell, Herr van Bethune,“ rief der Hauptfalkenier, „nehmt Euerm Geierfalken die Kappe ab und werft ihn auf; denn da läuft ein Hase!“
Einen Augenblick später schwebte der Vogel bereits hoch über den Wolken und stieß dann senkrecht auf das fliehende Wild. Es war ein sonderbarer Anblick. Denn als der Falke seine Krallen in den Rücken des flüchtigen Hasen geschlagen hatte, klammerte er sich dort fest, und so stürzten beide windschnell vorwärts; doch dauerte es nicht lange. Gerade als sie an einem Buschholz vorbeiliefen, krallte sich der Falke mit der einen Klaue daran fest und hielt mit der anderen das Wild, daß es nicht fortkam, soviel es auch zappelte und sich wand. Schnell wurden einige Hunde von der Koppel gelöst. Sie stürzten sich auf den Hasen und nahmen ihn dem Falken ab.
Siegesfroh kreiste der mutige Vogel über den Hunden und flog über ihnen her bis zu den Jagdknechten; dann stieg er hoch auf und brachte seine Freude in eigenartigen Wendungen zum Ausdruck.
„Herr van Bethune,“ rief Valois aus, „das ist ein Vogel, der seine Beute tapfer schwächt. Ein herrlicher Geierfalke!“
„Ja, edler Graf, er ist der allerprächtigste,“ antwortete Robrecht. „Ihr solltet einmal seine Adlerklauen bewundern.“
Mit diesen Worten warf er den Lockvogel hoch. Der Falke, der dies sah, kehrte sofort auf die Faust seines Herrn zurück.
„Seht nur,“ sagte Robrecht und zeigte Valois den Vogel, „seht nur das schöne Blond seines Gefieders, die silberweiße Brust und seine hohen, bläulich glänzenden Krallen!“
„Ja, Herr Robrecht, das ist allerdings ein Vogel, der keinen Adler zu fürchten braucht,“ antwortete Valois, „aber sein Bein blutet anscheinend.“
Robrecht, der seinen Falken genauer untersucht hatte, rief nun ungeduldig:
„Falkenträger, komm schnell her zu mir, mein Vogel hat sich ernstlich gequetscht. Ach Gott, das arme Tier hat seine Klauen [32] zu sehr angestrengt. Pflege ihn gut, mein treuer Steven. Sein Tod würde mich sehr traurig machen.“
Er reichte den verletzten Falken zu Steven hinunter, der fast über den Vorfall weinte, denn da sein Amt darin bestand, die Falken zu lehren und abzurichten, so lagen ihm diese Tiere wie Kinder am Herzen.
Kaum hatten die vornehmsten Herren ihre Falken aufgeworfen, so fingen auch alle anderen mit der Jagd an.
Innerhalb von zwei Stunden fing man allerlei hochfliegendes Wild, wie: Enten, Möwen, Reiher und Kraniche und auch die tiefer streichenden Rebhühner, Drosseln und Brachvögel.
Als die Sonne im Zenit stand, hallten die klaren Jagdhörner durch die Ebene. Der ganze Zug sammelte sich wieder, und in langsamem Schritt ging's zurück nach Wijnendaal.
Unterwegs nahm Karl von Valois sein Gespräch mit dem alten Gwijde wieder auf. Obgleich der Graf von Flandern nicht ohne Mißtrauen an eine Reise nach Frankreich dachte, wollte er sie doch aus Liebe zu seinen Kindern trotz aller Gefahren unternehmen. Er beschloß, auf Anraten des französischen Feldherrn, sich mit allen Edeln, die ihm geblieben waren, Philipp dem Schönen zu Füßen zu werfen, um durch diese demütige Huldigung sein Mitleid zu erwecken. Die Abwesenheit der Königin ließ ihn hoffen, daß Philipp der Schöne nicht unerbittlich sein würde. –
Robrecht van Bethune kam nicht mehr mit Châtillon in Berührung; sie vermieden es, sich zu begegnen, und keiner von beiden sprach ein Wort. Adolf van Nieuwland ritt jetzt neben Machteld und ihrem Oheim Wilhelm. Die Jungfrau war allem Augenschein nach damit beschäftigt, ein Lied oder einen Spruch auswendig zu lernen, den ihr Adolf vorsprach; denn von Zeit zu Zeit riefen die verwunderten Edelfrauen: „Wie schön er das sagt! Was ist doch Herr van Nieuwland für ein kluger Minnesänger.“
So erreichten sie endlich Wijnendaal. Der ganze Zug ritt ins [33] Schloß. Hinter ihm zog man die Brücke nicht auf, und auch das Fallgatter wurde nicht herabgelassen.
Einige Augenblicke später verließen die französischen Ritter in voller Rüstung die Burg. Als sie über die Brücke ritten, sagte Châtillon zu seinem Bruder: „Du weißt, daß ich heut' abend die Ehre unserer Nichte verteidigen muß, und ich rechne damit, daß Du mein Sekundant sein wirst.“
„Geht's etwa gegen den kühnen Robrecht van Bethune?“ fragte Saint-Pol. „Ich weiß nicht, mich dünkt, Du wirst schlecht dabei wegkommen; denn der Löwe von Flandern ist kein Kätzchen, das man ohne Handschuhe anfassen kann. Das sollte Dir auch bekannt sein!“
„Was geht's mich an!“ unterbrach ihn Châtillon zornig. „Ein Ritter vertraut seiner Geschicklichkeit und seinem Mut und nicht roher Körperkraft!“
„Du hast recht, Bruder, ein Ritter darf vor keinem Feind weichen, aber er soll sich auch nicht unbesonnen einer Gefahr aussetzen. Ich hätte an Eurer Stelle den finsteren Robrecht reden lassen, soviel er wollte. Was kümmern Dich seine Worte, wo er ja doch unser Gefangener ist.“
„Schweig, Saint-Pol, solche Reden stehen einem Ritter nicht wohl an! Fehlt es Dir etwa an Mut?“
Als sie diese Worte wechselten, verschwanden sie mit den anderen Rittern zwischen den Bäumen des Waldes.
Jetzt ließen die Waffenknechte das Fallgatter herab, zogen die Brücke auf und waren nicht mehr zu sehen.
D er befreundete Ritter oder der bedürftige Minnesänger, dem sich das gastliche Tor des Schlosses Wijnendaal geöffnet hatte, befand sich zuerst auf einem kleinen, viereckigen freien Platz. Ihm zur Rechten lagen die Stallungen, in denen wohl hundert Pferde ohne jede Schwierigkeit untergebracht werden konnten; davor lagen die Dunghaufen, auf denen [34] zahllose Enten und Tauben herumliefen. Zu seiner Linken lag ein Gebäude, das die Wohnungen der Waffenknechte und Troßknappen enthielt. Weiter hinten standen die Belagerungsgeschütze für Zeiten des Krieges. Da waren große Rammen und Sturmböcke mit ihren Stützbalken und Wagen, dann Wurfmaschinen, die Geschosse in die belagerte Stadt schleudern sollten, und auch solche, mit denen man große Steine gegen die feindlichen Tore oder Wälle senden konnte.
Endlich waren dort noch allerlei Sturmbrücken, Fußangeln, Feuertonnen und unzählige andere Kriegswerkzeuge aufgestellt.
Dicht vor den ankommenden Reisigen erhob sich der stattliche gräfliche Palast mit seinen Türmen über die niederen Gebäude, die ihn umringten. Eine steinerne Treppe, an deren Fuß zwei schwarze Löwen ruhten, führte zum ersten Stockwerk hinauf und in eine lange Flucht viereckiger Säle. In vielen stand ein Bett für den jeweiligen Gast, während andere mit den alten Waffenrüstungen verstorbener Grafen oder mit eroberten Bannern und Standarten geschmückt waren.
Auf der rechten Seite, in einer Ecke des Gebäudes, lag ein kleiner Saal, der sich von den übrigen in allem unterschied. Seine Wandbekleidung zeigte die ganze Geschichte der Kreuzzüge in lebensgroßen Bildern.
Auf dem einen Bild stand Gwijde, von Kopf zu Fuß mit einer eisernen Rüstung bedeckt, und hielt den Rittern, die ihn umgaben, das Kreuz entgegen [12] .
Im Hintergrunde waren mehrere Kriegsknechte, die sich schon auf den Weg gemacht hatten. Das nächste Bild stellte die Schlacht von Massura dar; hier hatten die Christen 1250 den Sieg errungen. Der heilige Ludwig, König von Frankreich, und Graf Gwijde waren unter den anderen durch ihre Banner kenntlich. Das dritte Bild zeigte ein grausiges Schauspiel. [35] Viele christliche Ritter lagen pestkrank, mit dem Tode ringend, in einer öden Steppe zwischen schrecklichen Leichen und Pferdekadavern. Schwarze Raben kreisten über dieser Unglücksstätte und warteten auf den Tod eines Ritters, um dann sein Fleisch fressen zu können.
Das vierte Bild stellte die glückliche Rückkehr des Grafen von Flandern dar. Seine erste Gemahlin, Fogaats van Bethune, lag weinend an seiner Brust, und seine Söhne Robrecht und Balduin drückten mit inniger Liebe seine Hände. Das war das letzte Gemälde.
Vor dem Marmorkamin, in dem ein kleines Feuer brannte, saß der alte Graf von Flandern in einem mächtigen Armstuhl. Das gedankenschwere Haupt hatte er auf seine rechte Hand gestützt. Unbewußt blickte er auf seinen Sohn Wilhelm, der emsig aus einem Buch mit silbernem Schloß Gebete las. Machteld, die junge Tochter von Robrecht van Bethune, stand mit ihrem Falken auf der anderen Seite des Raumes. Sie streichelte den Vogel, ohne auf den alten Gwijde und seinen Sohn zu achten. Während der Graf mit tiefem Schmerz an seine überstandenen Leiden dachte und Wilhelm die himmlische Gnade anflehte, spielte Machteld mit ihrem geliebten Falken und dachte gar nicht daran, daß das Erbe ihres Vaters von den Franzosen erobert war. Und dennoch war die kindliche Maid nicht gefühllos; aber ihre Trauer dauerte selten länger als der unglückliche Vorfall selbst, der sie erschütterte. Als man ihr gesagt hatte, daß alle Städte Flanderns vom Feinde erobert wären, brach sie in eine Flut von Tränen aus und weinte bitterlich; aber schon am Abend desselben Tages wurde der Falke von neuem geliebkost, und die Tränen waren getrocknet und vergessen.
Nachdem Gwijde lange seinen Sohn unsicher angestarrt hatte, ließ er plötzlich die Hand, die sein Haupt stützte, sinken und fragte:
„Wilhelm, um was flehst Du Gott so eifrig an?“
„Ich bete für meine arme Schwester Philippa,“ gab der Jüngling zur Antwort. „Weiß Gott, vielleicht hat Königin Johanna sie schon ins Grab gestoßen; aber dann gelten meine Gebete ihrem Seelenheil!“
Bei diesen Worten beugte er sein Haupt tief, als wollte er die beiden Tränen verbergen, die ihm über die Wange liefen.
Der alte Vater seufzte tief. Er ahnte, daß die düstere Prophezeiung Wilhelms sich verwirklichen konnte; denn Johanna von Navarra war eine boshafte Frau. Doch ließ er seine Trostlosigkeit nicht merken und sagte:
„Wilhelm, man darf sich nicht mit düsteren Vorahnungen betrüben. Die Hoffnung ist den irdischen Sterblichen als Trost gegeben. Und weshalb solltest Du auch nicht hoffen? Seit der Gefangenschaft Deiner Schwester grämst Du Dich und siechst hin, und nicht ein einziges Lächeln hat seither Dein Antlitz erhellt. Es ist recht, daß Du das Schicksal Deiner Schwester nicht gefühllos mit ansiehst; aber reiße Dich um Gottes willen aus Deiner düsteren Verzweiflung empor!“
„Du sprichst von einem Lächeln, Vater? Lächeln sollte ich, derweil meine arme Schwester im Kerker schmachtet? Nein, das kann ich nicht. Einsam rinnen ihre Tränen auf den kalten Boden ihres Gefängnisses. Dem Himmel klagt sie ihr Unglück, sie ruft Dich, mein Vater! Sie ruft uns alle, denn wir sollen ihr Labsal bringen. Und wer gibt ihr Antwort? Das grausige Echo der unterirdischen Gewölbe des Louvre. Seht Ihr sie nicht, wie sie totenbleich, schwach und welk wie eine hinsterbende Blume ihre Arme Gott entgegenstreckt. Hört Ihr nicht, wie sie ruft: „O mein Vater, meine Brüder, erlöst mich, ich schmachte in Ketten.“ Das sieht und hört mein Herz. – Das fühlt meine Seele! – Und da sollte ich lächeln?“
Machteld, die nur einen Teil dieser schmerzlichen Worte mit angehört hatte, setzte ihren Falken hastig auf die Lehne eines Sessels und fiel ungestüm weinend und heftig schluchzend ihrem Großvater zu Füßen. Sie lehnte ihr Haupt auf seinen Schoß [37] und rief: „Ist meine geliebte Muhme tot? O Gott, welch' Unglück! Ist sie wirklich tot? Werde ich sie niemals wiedersehen?“ Der Graf hob sie zärtlich auf und sprach voll Güte zu ihr: „Sei ruhig, meine liebe Machteld, weine nicht, Philippa ist nicht tot.“
„Nicht tot?“ fragte die Maid erstaunt. „Aber weshalb sprach denn Herr Wilhelm vom Sterben?“
„Du hast ihn nicht richtig verstanden,“ antwortete der Graf. „Philippas Lage ist unverändert geblieben.“
Während die junge Machteld ihre Tränen trocknete, blickte sie Wilhelm vorwurfsvoll an und sagte schluchzend:
„Immer betrübt Ihr mich grundlos. Fast könnte man glauben, Ihr hättet alle trostreichen Worte vergessen; denn stets sprecht Ihr von so grausigen Dingen, daß mich ein Zittern überfällt; meinem Falken ist bang vor Eurer Stimme, – sie klingt so hohl! Das ist gar nicht nett von Euch, und Ihr kränkt mich damit!“
Wilhelm sah die Maid an, und sein Blick flehte um Mitleid für seinen Schmerz. Als Machteld ihm in die traurigen Augen sah, lief sie auf ihn zu und drückte ihm die Hand.
„Ach, verzeiht mir, lieber Wilhelm,“ bat sie, „ich habe Euch sehr lieb; aber Ihr müßt mich auch nicht mehr mit dem schrecklichen Worte ‚Sterben‘ kränken; das klingt noch lange in meinen Ohren nach! Seid mir, bitte, nicht mehr böse!“
Noch ehe Wilhelm ihr antworten konnte, lief sie zu ihrem Falken zurück und begann ihren Zeitvertreib von neuem, während die Tränen noch über ihre Wangen liefen.
„Mein Sohn,“ sagte Gwijde, „tragt der Jungfrau die Worte nicht nach. Du weißt, daß sie nicht böse gemeint waren!“
„Ich vergebe ihr von ganzem Herzen; denn ich liebe sie wie eine Schwester. Der Schmerz, den sie um Philippas vermeintlichen Tod empfand, hat mir sehr wohlgetan.“
Mit diesen Worten öffnete Wilhelm wieder sein Buch und las jetzt mit lauter Stimme:
„Jesus Christus, Seligmacher, erbarm' Dich meiner Schwester. Um Deiner bitteren Leiden willen erlöse sie, o Herr!“
Bei dem Namen des Herren entblößte der alte Gwijde sein Haupt, faltete die Hände und betete mit Wilhelm zusammen. Machteld ließ ihren Falken auf dem Stuhl stehen, kniete in der einen Ecke des Zimmers nieder, in der ein Kissen vor einem großen Kruzifix lag.
Wilhelm fuhr fort:
„Sancta Maria, Mutter Gottes, ich bitte Dich, hör' mich an, tröste sie in dem dunklen Kerker, o heilige Magd.“
„O Jesus, süßer Jesus, Barmherziger, erbarm' Dich meiner armen Schwester.“
Gwijde wartete, bis das Gebet zu Ende war, ohne auf Machteld zu achten, die wieder zu ihrem Falken gegangen war:
„Aber sag' mir nur, Wilhelm, dünkt es Dich nicht, daß wir Herrn von Valois großen Dank schulden?“
„Herr von Valois ist der würdigste Ritter, den ich kenne,“ antwortete der Jüngling. „Hat er uns nicht mit größtem Edelmut behandelt? Er hat Euerm grauen Haupt Ehrerbietung erwiesen und Euch sogar getröstet. Ich weiß bestimmt, daß er unserem Unglück und der Gefangenschaft meiner Schwester ein Ende gemacht haben würde, wenn das in seiner Macht stände. Gott lohne ihm seinen Edelmut mit der ewigen Seligkeit!“
„Ja, Gott sei ihm in seiner letzten Stunde gnädig,“ fügte Graf Gwijde hinzu. „Kannst Du das glauben, mein Sohn, daß er, unser Feind, so edelmütig sein will, sich um unsertwillen in Gefahr zu begeben und sich den Haß Johannas von Navarra zuzuziehen.“
„Ja, da Ihr von Karl von Valois sprecht, glaube ich das gern. Aber was kann er für uns und unsere Schwester tun?“
„Höre, Wilhelm! Als er heute morgen mit uns zur Jagd ritt, hat er mir ein Mittel geraten, durch welches wir mit Gottes Hilfe König Philipp den Schönen versöhnen können.“
Außer sich vor Freude schlug der Jüngling die Hände zusammen und rief:
„O Himmel, sein guter Engel hat durch seinen Mund gesprochen. Und was sollt Ihr tun, Vater?“
„Zu Compiègne mit meinen Edeln den König aufsuchen und ihm zu Füßen fallen.“
„Und Königin Johanna?“
„Die ungnädige Johanna von Navarra ist mit Enguerrand de Marigny in Paris. Jetzt ist der günstigste Augenblick!“
„Gebe Gott, daß Eure Hoffnung Euch nicht täuscht! Wann wollt Ihr denn die gefahrvolle Reise unternehmen, Vater?“
„Übermorgen wird Herr von Valois mit seinem Gefolge nach Wijnendaal kommen, um uns das Geleite zu geben. Ich habe die Edeln, die mir noch treu geblieben sind, zu mir entbieten lassen, um sie davon in Kenntnis zu setzen. – Aber Dein Bruder Robrecht kommt gar nicht. Weshalb bleibt er solange dem Schloß fern?“
„Habt Ihr seinen Streit von heut morgen bereits vergessen, Vater? Er hat eine Beleidigung von sich abzuwaschen. Jetzt kämpft er wohl gerade mit Châtillon.“
„Du hast recht, Wilhelm. Das hatte ich vergessen. Dieser Zwist kann uns schädlich sein; denn Herr von Châtillon besitzt am Hofe Philipps des Schönen großen Einfluß.“
Zu jener Zeit waren Ehre und Ruhm das kostbarste Gut des Ritters. Er durfte keinen Verdacht der Verleumdung auf sich fallen lassen, ohne Rechenschaft dafür zu fordern. Deshalb waren Zweikämpfe etwas Alltägliches, und sie fanden keine besondere Beachtung.
Plötzlich erhob sich Gwijde und sagte:
„Da höre ich die Brücke fallen. Sicher sind meine Lehnsleute schon da. Komm, wir gehen in den großen Saal.“
Sie gingen aus dem Gemach und ließen die junge Machteld allein.
Bald kamen in den Saal zu dem alten Grafen die Herren [40] van Waldeghem, van Roode, van Kortrijk, van Oudenaarde, van Heyle, van Nevele, van Roubais, der Herr Walter van Lovendeghem mit seinen beiden Brüdern und mehreren anderen, zweiundfünfzig an der Zahl. Einige hielten sich gerade im Schloß auf. Andere hatten ihre Herrschaftssitze in der umliegenden Ebene. Sie warteten alle voll Neugierde auf den Befehl oder die Nachricht des Grafen und standen mit entblößtem Haupte vor ihrem Gebieter.
Dieser hielt ihnen bald darauf folgende Ansprache:
„Meine Herren, Ew. Edeln wissen, daß die Treue, die ich meinem Lehnsherren, König Philipp, geschworen habe, die Ursache zu meinem Unglück ist. Als er mich aufforderte, Rechenschaft über die Besteuerung der Gemeinden abzulegen, habe ich als untertäniger Vasall seinem Wunsche willfahren. Brügge hat mir den Gehorsam verweigert, und meine Untertanen haben sich gegen mich erhoben. Als ich mit meiner Tochter nach Frankreich gereist bin, um dem Könige zu huldigen, hat er uns alle gefangen genommen. Mein unglückliches Kind trauert noch im Kerker des Louvre. Das alles wißt ihr; denn ihr steht eurem Fürsten treu zur Seite. Ich habe, wie es meiner Würde ziemte, mir mein Recht erkämpfen wollen, aber das Waffenglück war gegen uns. Der meineidige Eduard von England brach das Bündnis, das wir mit ihm geschlossen hatten, und ließ uns in der Not im Stich. Mein Land ist verloren, ich bin zum Geringsten unter euch geworden, und mein graues Haupt kann die Grafenkrone nicht mehr tragen. Ihr habt einen anderen Herren.“
„Noch nicht,“ rief Walter van Lovendeghem, „eher würd' ich meinen Degen zerbrechen. Ich erkenne keinen anderen Herren an als den edlen Gwijde van Dampierre!“
„Herr van Lovendeghem, ich freue mich über Eure treue Liebe von ganzem Herzen; aber erst hört mich kaltblütig zu Ende an! Herr von Valois hat Flandern durch Waffengewalt gewonnen und von seinem königlichen Bruder zu Lehen erhalten. [41] Seinem Edelmut allein verdanke ich es, daß ich mit Ew. Edeln hier in Wijnendaal zusammen sein kann; denn er selbst hat mich aus Rupelmonde in dieses liebe Heim gebeten. Noch mehr: er hat beschlossen, das Haus von Flandern wieder aufzurichten und mich wieder zum regierenden Grafen zu machen. Darüber wollte ich mit Ew. Edeln verhandeln, – denn ich brauche eure Hilfe.“
Das Erstaunen der Herren, die gespannt gelauscht hatten, wurde durch diese letzten Worte noch mehr gesteigert. Daß Karl von Valois das Land, das er erobert hatte, wieder hergeben wollte, kam ihnen unglaublich vor. Verblüfft sahen sie den Grafen an, und dieser fuhr nach kurzer Unterbrechung fort:
„Meine Herren, ich setze nicht den geringsten Zweifel in eure aufrichtige Treue zu mir, deshalb habe ich die größte Zuversicht, daß ihr meine letzte Bitte erfüllen werdet: übermorgen breche ich nach Frankreich auf, um mich dem König zu Füßen zu werfen, und ich bitte Ew. Edeln, mich zu begleiten.“
Einer nach dem anderen antwortete, daß er bereit sei, seinem Grafen überall hin Folge zu leisten und ihm beizustehen. Nur einer sagte nichts. Das war Dietrich der Fuchs.
„Herr Dietrich,“ fragte ihn der Graf, „wollt Ihr mich nicht begleiten?“
„Aber selbstverständlich!“ rief Dietrich, „der Fuchs kommt mit, und ging's in den Rachen der Hölle! Aber, verzeiht, edler Graf, – ich sage Euch, hier braucht man kein Fuchs zu sein, um die Falle zu merken. Man hat Ew. Hoheit schon einmal gefangen genommen, und Ihr verfolgt schon wieder die gleiche Spur. Gebe Gott, daß die Sache gut abläuft; aber das verspreche ich Euch, daß Philipp der Schöne den Fuchs nicht fangen wird.“
„Ihr urteilt und sprecht allzu leichtfertig, edler Herr!“ entgegnete ihm Gwijde. „Karl von Valois stellt uns einen Geleitsbrief aus und gelobt uns bei seiner Ehre, daß er uns wieder ungehindert nach Flandern zurückbringen wird.“
Die Herren, die Valois' edle Gesinnung kannten, glaubten seinem Versprechen und berieten weiter mit dem Grafen. Inzwischen schlich sich Dietrich der Fuchs unbemerkt aus dem Saal, ging auf den Vorhof und schritt dort in tiefes Nachdenken versunken auf und ab.
Einige Augenblicke später wurde die Brücke herabgelassen, und Robrecht van Bethune ritt auf das Schloß zu. Als er vom Pferde stieg, näherte sich ihm Dietrich und sagte:
„Man braucht erst gar nicht zu fragen, Herr Robrecht, was aus Euerm Feind geworden ist. Das Schwert des Löwen hat noch nie sein Ziel verfehlt. Herr von Châtillon reist wohl schon ins Jenseits?“
„Nein,“ antwortete Robrecht, „mein Schwert ist so heftig auf seinen Helm niedergesaust, daß Châtillon drei Tage lang nicht sprechen kann. Aber er muß seinem Schöpfer danken, daß er nicht erschlagen wurde. Doch ein anderes Unglück hat uns betroffen. Adolf van Nieuwland, der mein Sekundant war, hat mit Saint-Pol gefochten. Adolf hatte Saint-Pol gerade am Kopf verletzt, als unglücklicherweise sein Panzer aufging, so daß die feindliche Waffe den Jüngling tödlich verwundete. Ihr werdet ihn gleich sehen; denn meine Knappen tragen ihn ins Schloß.“
„Aber, Herr van Bethune,“ fragte Dietrich, „haltet Ihr diese Reise nach Frankreich nicht auch für ein recht unbesonnenes Unternehmen?“
„Welche Reise? Ihr setzt mich in Erstaunen!“
„Wißt Ihr denn noch nichts davon?“
„Kein Wort.“
„Nun, wir ziehen übermorgen mit unserem Grafen nach Frankreich!“
„Was sagt Ihr, Dietrich, mein Freund? Ihr scherzt! Wie! Nach Frankreich?“
„Ja, ja, Herr Robrecht, um den französischen König fußfällig um Verzeihung zu bitten. Ich habe ja allerdings noch nie [43] von einer Katze gehört, die von selbst in den Sack kriecht, und nun werde ich es in Compiègne bald selbst mit ansehen können; – oder es fehlt mir an gesundem Menschenverstand.“
„Wißt Ihr das, was Ihr da sagt, auch ganz sicher? oder täuscht Ihr Euch vielleicht?“
„Ganz sicher. Beliebt nur in den Saal zu gehen, und Ihr werdet alle Herren bei unserem Grafen, Euerm Vater, antreffen. Übermorgen reisen wir in die Gefangenschaft, das könnt Ihr mir glauben! Bekreuzigt Euch deshalb am Schloßtor von Wijnendaal!“
Als Robrecht das hörte, konnte er seinen Zorn nicht länger zurückhalten.
„Dietrich, mein treuer Freund,“ sagte er zu ihm, „laßt, bitte, den verwundeten Adolf auf das linke Bett in meinem Schlafgemach tragen, und sorgt für ihn, bis ich zurückkomme! Schickt auch zu Meister Rogaert, daß er ihm die Wunde verbinde!“
Während er dies sagte, lief er schon voller Ungeduld in den Saal, wo die Ritter mit ihrem Grafen berieten. Er schob sie ungestüm zur Seite, bis er vor seinem Vater stand.
Die Ritter waren höchst erstaunt, denn Robrecht hatte Harnisch und Rüstung noch nicht abgelegt.
„Aber, Herr Vater,“ rief er aus, „was erzählt man mir da! Ihr wollt Euch Euern Feinden ausliefern, so daß sie Euer graues Haupt mit Schmach bedecken können, – so daß die schnöde Johanna Euch in Fesseln schlagen kann?“
„Ja, mein Sohn,“ antwortete Gwijde mit Würde. „Ja, ich gehe nach Frankreich – und Du begleitest mich. Dein Vater will es so!“
„Nun, so sei's!“ entgegnete Robrecht. „Aber der Fußfall, der schändliche Fußfall?“
„Ich werde den Fußfall tun und Du auch,“ war die unerbittliche Antwort.
„Ich?“ rief Robrecht zornig. „Ich soll den Fußfall tun. Ich, Robrecht van Bethune, soll unserem Feinde zu Füßen fallen? Wie! Der Löwe von Flandern soll sein Haupt vor einem [44] Franzosen beugen, vor einem Falschmünzer, vor einem Meineidigen?“
Der Graf ließ einige Augenblicke verstreichen. Als er glaubte, daß Robrecht sich etwas beruhigt hatte, sagte er:
„Du wirst es tun, mein Sohn!“
„Nie und nimmer,“ rief Robrecht aus, „niemals werde ich meine Waffen mit solcher Schmach bedecken. Ich sollte mich vor einem Fremdling beugen, – ich? Da kennt Ihr Euern Sohn schlecht, Vater!“
„Robrecht!“ entgegnete Gwijde kaltblütig. „Der väterliche Wille ist ein Gesetz, gegen das Du nicht handeln darfst. – Ich will es so!“
„Nein,“ rief Robrecht nochmals, „der Löwe von Flandern beißt, – aber er schmeichelt nicht. Nur vor Gott und vor Euch beuge ich mein Haupt. Aber niemals, niemals vor einem anderen Menschen!“
„Aber, Robrecht,“ entgegnete ihm der Vater, „hast Du denn gar kein Mitleid mit mir, mit Deiner unglücklichen Schwester Philippa, mit Deinem Vaterland, daß Du das einzige Mittel, das uns noch helfen kann, zurückweist?“
Robrecht, in dessen Brust Schmerz und Zorn tobten, ballte in ungestümem Jammer beide Fäuste.
„Wollt Ihr denn, o mein Herr und Vater,“ antwortete er, „daß ein Franzose auf mich wie auf seinen Sklaven herabsieht? Der Gedanke allein kränkt mich tödlich. Nein, nein, – niemals. Euer Befehl, sogar Eure Bitte ist nutzlos! – Ich werde es nie tun!“
Zwei Tränen glänzten auf den schmalen Wangen des alten Grafen. Der sonderbare Ausdruck in seinem Antlitz ließ die anwesenden Ritter im Zweifel, ob Freude oder Schmerz sie vergossen hatte; denn ein trostreiches Lächeln schien seine Züge zu erhellen.
Robrecht wurde durch die Tränen seines Vaters tief ergriffen; sein Herz schlug in Höllenpein. Außer sich vor Erregung rief er:
„Verwünscht, verflucht mich, o mein Fürst und Vater; aber ich versichere Euch, daß ich niemals mit krummem Rücken vor einem Franzosen kriechen werde, – und sollte ich Euerm Befehl trotzen!“
Robrecht van Bethune erschrak über seine eigenen Worte. Er wurde bleich und bebte am ganzen Körper. Er rang seine zuckenden Hände, und man hörte, wie die eisernen Schuppen seiner Panzerhandschuhe klirrend aneinander schlugen. Er fühlte seinen Mut sinken und erwartete mit tödlicher Angst den Fluch seines Vaters.
Während die Ritter in größter Bestürzung auf die Antwort des Grafen harrten, schlang dieser seine schwachen Arme um Robrechts Hals, und mit Tränen der Freude und Liebe rief er aus:
„O mein edler Sohn! Mein Blut, das Blut der Grafen von Flandern fließt rein in Deinen Adern. Dein Ungehorsam hat mir den schönsten Tag meines Lebens bereitet. Nun will ich gern sterben! Nimm mich in Deine Arme, o mein Sohn; denn ich fühle mich unaussprechlich glücklich.“
Die anwesenden Herren waren von Verwunderung und Mitgefühl tief erschüttert. In feierlicher Stille sahen sie schweigend auf diese Umarmung. Der alte Graf ließ seinen Sohn los und blickte in leidenschaftlicher Begeisterung auf seine Lehnsleute.
„Seht her, meine Herren,“ sagte er, „so war ich in meiner Jugend; – so waren die Dampierres immer. Urteilt nach dem, was ihr gehört und gesehen habt, ob Robrecht die Grafenkrone nicht verdient. – O Flandern, so sind deine Krieger. Ja Robrecht, Du hast recht. Ein Graf von Flandern darf sein Haupt vor keinem Fremdling beugen. Aber ich bin alt und bin der Vater der gefangenen Philippa und auch Deiner, mein tapferer Sohn! Ich werde Philipp dem Schönen zu Füßen fallen. So befiehlt es Gott! Ich unterwerfe mich seinem heiligen Willen. Du wirst mich begleiten. Aber Dein Haupt wirst du nicht beugen. – Bleibe stets dabei, auf daß [46] die Grafen, die nach mir kommen werden, ohne jede Schmach und Schande ihr Haupt erheben können!“
Hierauf besprach man das Nähere der Reisevorbereitungen und noch verschiedene politische Fragen. Robrecht van Bethune hatte seine Ruhe wiedergewonnen; er verließ den Saal und ging in das kleinere Gemach, in dem sich Machteld aufhielt. Er ergriff die Hand des jungen Mädchens, führte es zu einem Lehnstuhl, und dann zog er, ohne ihre Hand loszulassen, einen zweiten Sessel heran, in den er sich setzte.
„Meine liebe Machteld,“ sagte er, „Du hast Deinen Vater doch lieb, nicht wahr?“
„O ja, das wißt Ihr doch ganz genau,“ rief die Maid aus, und streichelte mit ihren zarten Händen die rauhen Wangen des Ritters.
„Aber,“ sagte nun Robrecht, „wenn nun jemand zu meiner Verteidigung sein Leben aufs Spiel setzte, würdest Du den nicht auch lieb haben?“
„Sicherlich,“ war ihre Antwort, „und ich würde ihm dafür ewig dankbar bleiben.“
„Jetzt hat nun ein Ritter Deinen Vater gegen einen Feind verteidigt und ist tödlich verwundet worden.“
„O Gott,“ seufzte Machteld, „ich will vierzig Tage für ihn beten und auch noch länger, – bis er gesund wird.“
„Ja, bete auch für mich, mein gutes Kind; aber ich verlange noch etwas von Dir.“
„Sprecht nur, Herr Vater! Ich bin Eure gehorsame Tochter.“
„Versteh mich recht! Ich verreise auf einige Tage, – und Dein Großvater und alle Edelleute, die Du kennst, ziehen gleichfalls fort. Wer wird nun dem armen verwundeten Ritter zu trinken geben, wenn ihn dürstet?“
„Wer das tun wird? Ich, Herr Vater; ich werde ihn nie verlassen, bis Ihr wiederkommt. Ich werde meinen Falken mit in sein Zimmer nehmen und ihm stets Gesellschaft leisten. Fürchte nicht, daß ich ihn den Dienstboten überlasse! Meine [47] Hand soll ihm die Trinkschale an seine Lippen führen, wenn ihn dürstet. Und wie will ich mich freuen, wenn er wieder gesund wird!“
„Das ist recht von Dir, mein Kind. Ich kenne Dein liebevolles Herz; aber Du mußt mir noch versprechen, daß Du in den ersten Tagen seiner Krankheit kein Geräusch in seinem Zimmer machen wirst. Auch darf kein Dienstbote dort laut sein.“
„O, nein, das braucht Ihr nicht zu befürchten, Vater. Ich werde ganz leise mit meinem Falken sprechen, so daß es der Ritter nicht hören kann.“
Robrecht nahm die gute Machteld bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer.
„Ich werde Euch den Kranken zeigen,“ sagte er, „aber sprich nicht laut in seiner Gegenwart.“ Adolf van Nieuwland war durch die Knappen in einem Saal in Robrechts Wohnung auf ein Bett gelegt worden. Zwei Ärzte hatten die Wunde verbunden und standen mit Dietrich dem Fuchs neben dem Krankenlager. Der Kranke gab kein Lebenszeichen von sich, sein Antlitz war bleich, die Augen geschlossen. –
„Nun, Meister Rogaert,“ wandte sich Robrecht an einen der Ärzte, „wie geht es unserem unglücklichen Freunde?“
„Schlecht,“ antwortete Rogaert, „recht schlecht, Herr van Bethune. Ich kann noch nicht sagen, ob man hoffen kann; aber ich glaube, er wird nicht sterben müssen.“
„Ist die Wunde nicht tödlich?“
„O doch, tödlich oder nicht tödlich, die Natur ist der beste Arzt; sie tut zuweilen mehr Wunder als Kräuter oder Steine [13] . Ich habe ihm einen Dorn von der Krone unseres Heilandes auf die Brust gelegt; – diese heilige Reliquie wird uns helfen.“
Während dieses Gesprächs war Machteld näher an den Kranken herangetreten. Die Neugier trieb sie, das Gesicht des kranken Ritters zu erkennen. Plötzlich erkannte sie Adolf Nieuwland. Mit einem Aufschrei fuhr sie zurück, eine Flut von Tränen stürzte aus ihren Augen, sie schrie laut auf.
„Was soll das heißen, meine Tochter?“ sagte Robrecht. „Kannst Du Dich nicht mäßigen, Du mußt Dich ruhig und leise am Bett eines Kranken verhalten.“
„Ruhig sein!“ schluchzte die Maid. „Ruhig sein, wo Herr Adolf im Sterben liegt, er, der mich so schöne Lieder lehrte! Wer wird nun der Minnesänger von Wijnendaal sein? Wer wird nun beim Abrichten meiner Falken helfen und mein Bruder sein?“ –
Dann trat sie an das Bett, betrachtete weinend den verwundeten Ritter und rief schluchzend:
„Adolf, Herr Adolf, mein guter Bruder!“
Als sie keine Antwort bekam, schlug sie die Hände vors Gesicht und sank weinend in einen Stuhl. Robrecht glaubte, seine Tochter würde nicht aufhören mit Klagen, und ihre Gegenwart würde dadurch eher schädlich als nützlich sein; er ergriff deshalb die junge Machteld bei der Hand:
„Komm, mein Kind,“ sagte er, „komm aus diesem Zimmer heraus, bis Du Dich gefaßt hast.“
Doch Machteld wollte das Gemach nicht verlassen, sie antwortete:
„O, mein Vater, laßt mich hier, ich will auch nicht mehr weinen. Laßt mich bei meinem Bruder Adolf, ich will die heißen Gebete, die er mich gelehrt hat, für ihn zu Gott schicken!“
Sie nahm ein Kissen von einem Sessel, legte es auf den Boden am Kopfende des Bettes und betete dort leise. Doch ihre Worte waren von tiefen Seufzern zerrissen, und heiße Tränen liefen über ihre Wangen.
Robrecht van Bethune wachte bis in die späte Nacht hinein an Adolfs Lager und hoffte, daß Gehör und Sprache wiederkehren [49] würden. Doch vergeblich. Nur schwach und langsam atmete der Verwundete und lag regungslos da.
Meister Rogaert fürchtete nun doch ernst für sein Leben; denn auf den Schläfen des Kranken brannte heißes Fieber. –
Inzwischen zogen die adligen Herren, die nicht im Schlosse wohnten, mit großer Genugtuung aus Wijnendaal. Die treuen Ritter freuten sich, daß sie sich ihrem Gebieter gefällig erweisen konnten. Die anderen, die im gräflichen Hause wohnten, suchten ihre Schlafgemächer auf.
Zwei Stunden später hörte man in Wijnendaal nur noch die Rufe der Wachen, das Anschlagen der Hunde und die schrillen Schreie der Nachteule.
D ie Reise, die Graf Gwijde auf Anraten des Herrn von Valois unternahm, sollte für ihn und sein Land Flandern sehr gefährlich werden; denn Frankreich hatte zu schwerwiegende Gründe, das reiche Land möglichst lange zu besitzen.
Philipp der Schöne und seine Gemahlin Johanna von Navarra hatten zu ihrer leichtsinnigen Verschwendung alles Gold des Reiches in ihre Schatzkästen fließen lassen, und dennoch hatten die ungeheuren Summen, die das Volk bewilligt hatte, nicht genügt, um ihre unersättliche Geldgier zu befriedigen. Philipp hatte jetzt zu dem letzten Mittel gegriffen und fälschte die Münzen des Reiches, lud dadurch unmögliche Lasten auf sein Land, und doch war er noch nicht befriedigt.
Seine habsüchtigen Minister und besonders Enguerrand de Marigny veranlaßten ihn trotz der Unzufriedenheit des Volkes, unter dem jeden Tag der Ausbruch der Revolution drohte, dazu, neue Abgaben zu fordern.
Es ist unbegreiflich, daß Philipp der Schöne trotzdem immer an großem Geldmangel litt.
In Brügge allein war mehr Geld als in ganz Frankreich. [50] Das wußte er und hatte seit Jahren alles aufgeboten, um Flandern zu unterwerfen.
Anfangs verlangte er Unmögliches vom alten Grafen Gwijde, um ihn zum Ungehorsam zu zwingen; dann nahm er seine Tochter gefangen und eroberte schließlich Flandern durch Waffengewalt. –
Das alles hatte sich der alte Graf wohl überlegt und verhehlte sich die möglichen Folgen der Reise keineswegs; aber der Schmerz, den ihm die Gefangenschaft seiner jüngsten Tochter bereitete, zwang ihn, auch dieses letzte Mittel zu ihrer Befreiung zu versuchen. Das freie Geleit, das Karl von Valois ihm zugesichert hatte, befestigte ihn in seinem Entschluß.
So machte er sich mit seinen Söhnen Robrecht und Wilhelm und fünfzig vlaemischen Edlen auf den Weg. Karl von Valois begleitete ihn mit einer großen Anzahl französischer Ritter.
Als der Graf mit seinen Edlen in Compiègne angekommen war, wurde er auf Veranlassung des Herrn von Valois ausgezeichnet beherbergt; er erwartete nun den Befehl des Königs, der ihn an den Hof rufen sollte.
Der edelmütige Franzose verwendete sich so eindringlich bei seinem königlichen Bruder, daß dieser gnädig Gwijde allein zu sich entbot.
Der alte Graf begab sich voller Hoffnung in den königlichen Palast. Hier führte man ihn in einen großen Prachtsaal. Im Hintergrunde stand der königliche Thron. Blaue, mit goldenen Lilien bestickte Samtbehänge fielen zu beiden Seiten auf den Boden herab. Die Stufen waren mit einem gold- und silberdurchwirkten Teppich belegt. Philipp der Schöne wandelte mit seinem Sohne Ludwig Hutin [14] auf und ab. Ihnen folgten viele französische Edle, von denen sich einer hin und wieder in das Gespräch des Königs mischte. Das war Herr von Nogaret, der es auf Philipps Befehl hin gewagt [51] hatte, den Papst Bonifatius gefangen zu nehmen und zu mißhandeln.
Als man Gwijde meldete, ging der König neben den Thron. Sein Sohn Ludwig blieb an seiner Seite; die anderen Herren stellten sich in zwei Reihen längs der Wand auf. Langsam trat der alte Graf von Flandern näher und kniete vor dem König nieder –
„Vasall!“ sprach er, „diese demütige Stellung gebührt sich für Euch nach all dem Verdruß, den Ihr uns bereitet habt. Ihr verdient den Tod und seid verurteilt. Dennoch beliebt es unserer königlichen Gnade, Euch Gehör zu schenken. Erhebt Euch und sprecht!“
Der alte Graf richtete sich auf und sagte: „Mein Fürst und Gebieter, im Vertrauen auf Eure königliche Gerechtigkeit bin ich Eurer Majestät zu Füßen gefallen und vertraue mein Schicksal Eurer Großmut an.“
„Ihr unterwerft Euch recht spät!“ erwiderte der König. „Ihr habt mit Eduard von England gegen uns ein Bündnis geschlossen. Ihr habt Euch als ungetreuer Vasall gegen Euern Herrn erhoben und seid hochmütig genug gewesen, ihm den Krieg zu erklären. Euer Land habt Ihr Euch durch Euern Ungehorsam verscherzt.“
„O Fürst,“ sprach Gwijde, „laßt mich Gnade vor Euch finden. Möge Eure Majestät bedenken, wie schmerzlich und kummervoll es für einen Vater sein muß, wenn man ihm sein Kind entreißt. Habe ich nicht in tiefer Wehmut gebeten? Habe ich nicht gefleht, um sie wieder zu erhalten? O König, wenn man Euch Euern Sohn, meinen zukünftigen Herrn Ludwig, der so stattlich neben Euch steht, wenn man Euch diesen entrisse und ihn in fremdem Lande einkerkerte, würde Eure Majestät nicht zu jeder Gewalttat bereit sein, um das Blut, das Euch entsprossen ist, zu rächen und zu befreien? O ja, Euer Vaterherz versteht mich, ich werde Gnade vor Euch finden!“
Philipp der Schöne blickte seinen Sohn zärtlich an; in diesem Augenblick erwog er Gwijdes Schmerz und empfand inniges Mitleid mit dem unglücklichen Grafen.
„Sire,“ rief Ludwig in tiefer Rührung, „o seid ihm um meinetwillen gnädig! Habt doch Mitleid mit ihm und seinem Kinde, ich bitte Euch herzlich darum!“
Der König richtete sich auf, und seine Züge wurden streng.
„Laßt Euch durch die Worte eines ungehorsamen Vasallen nicht so leicht hinreißen, mein Sohn,“ sagte er. „Aber ich will nicht unerbittlich sein, wenn man mir beweisen kann, daß er nur durch Vaterliebe und nicht durch Trotz zu seiner Handlung getrieben wurde.“
„Herr,“ sagte Gwijde, „es ist Eurer Majestät bekannt, daß ich, um mein Kind wieder zu bekommen, alles versucht habe, was in meiner Macht lag. Aber vergebens. Mein Flehen, mein Bitten waren umsonst. Alles, selbst die Bemühung des Papstes, blieben fruchtlos … Was war da noch zu tun? Da hatte ich zu hoffen gewagt, daß Waffengewalt meiner Tochter Befreiung bringen würde. Doch das Geschick war mir nicht günstig. Ew. Majestät behielt den Sieg.“
„Aber,“ fiel ihm der König ins Wort, „was können wir für Euch tun? Ihr habt unseren Vasallen ein verderbliches Beispiel gegeben. Wenn wir Euch nun gnädig sind, werden sie alle gegen uns aufstehen, und Ihr werdet Euch sicher aufs neue mit unseren Feinden verbinden!“
„O, mein Fürst,“ antwortete Gwijde, „beliebt nur, die unglückliche Philippa ihrem Vater wiederzugeben, und ich werde Euch ewig dankbar sein!“
„Und wird Flandern die geforderten Summen aufbringen, und werdet Ihr uns das nötige Geld verschaffen, um die Kosten, die Euer Ungehorsam verursacht hat, zu decken?“
„Dieser Gnadenbeweis Eurer Majestät wird mir nie zu teuer sein! Eure Befehle werde ich ehrerbietigst vollziehen. Aber mein Kind, o König, mein Kind!“
„Euer Kind,“ wiederholte der König unschlüssig.
Jetzt dachte er an Johanna von Navarra, die die Tochter des Grafen von Flandern nicht gutwillig freigeben würde. Er durfte seinem guten Herzen nicht folgen; denn zu sehr fürchtete er den Zorn der trotzigen Johanna. Deshalb wollte er kein bestimmtes Versprechen geben und sagte:
„Nun, die Fürsprache meines geliebten Bruders hat viel für Euch getan. Seid guter Hoffnung, denn Euer trauriges Los rührt mich. Ihr wart schuldig, aber Eure Strafe ist schwer. Ich werde versuchen, sie zu erleichtern. Trotzdem beliebt es uns heute nicht, Euch in Gnaden zu empfangen: erst müssen gründliche Nachforschungen stattfinden. Dann verlangen wir Eure Unterwerfung in Gegenwart aller Vasallen, damit sie sich an Euch ein Vorbild nehmen. Verlaßt uns jetzt, damit wir beraten können, was sich für einen untreuen Vasallen tun läßt.“
Auf diesen Befehl verließ der Graf von Flandern den Saal. Er war noch nicht aus dem Palast gegangen, als sich schon unter den französischen Herren das Gerücht verbreitete, daß ihm der König Land und Tochter wiedergeben wollte. Viele beglückwünschten ihn von Herzen; andere wieder, die auf die Eroberung von Flandern ihre ehrgeizigen Pläne gebaut hatten, waren tief ergrimmt. Aber sie ließen es nicht merken, da sie gegen den königlichen Willen doch nichts ausrichten konnten. –
Freude und Vertrauen erfüllten jetzt die Herzen der vlaemischen Ritter; sie schmeichelten sich mit süßer Hoffnung und freuten sich schon auf die Befreiung ihres Vaterlandes. Sie glaubten, daß nichts den guten Ausgang des Unternehmens hindern könnte, da der König nach dem guten Empfang Herrn von Valois versichert hatte, daß er Gwijde großmütig entgegenkommen wollte. –
Graf Gwijde traf schon die nötigen Vorbereitungen, um bei seiner Rückkehr den königlichen Befehlen nachzukommen und seine Untertanen durch einen langen Frieden für den letzten [54] Krieg zu entschädigen. Sogar Robrecht van Bethune zweifelte durchaus nicht an der versprochenen Gnade; denn seit sein Vater am Hofe gewesen, waren die französischen Herren äußerst liebenswürdig und ehrerbietig zu den Vlaemen. Hierin zeigte sich nach ihrer Meinung des Königs Wohlwollen: sie wußten, daß die Absichten und Gedanken der Fürsten stets auf den unentschiedenen Mienen der Höflinge zu lesen sind. –
Herr von Châtillon hatte den Grafen auch einige Male aufgesucht und beglückwünscht. Aber sein Herz barg ein teuflisches Geheimnis, und er lächelte, um es zu verbergen. Seine Nichte, Johanna von Navarra, hatte ihm Flandern als Lehen versprochen. Alle seine herrschsüchtigen Pläne hatten auf die Erlangung dieser reichen Grafschaft gezielt, und nun verschwand diese Aussicht wie ein Traum.
Châtillon, der von politischem Ehrgeiz ergriffen war, schmiedete einen verräterischen Plan und beschönigte ihn vor seinem Gewissen mit dem Namen der Pflicht. –
An dem gleichen Tage, an dem er aus Flandern am königlichen Hofe ankam, rief er einen seiner treuesten Diener zu sich und sandte ihn auf seinem besten Pferde nach Paris.
Ein Brief, den er dem Boten mitgab, mußte die Königin und Enguerrand de Marigny von allem unterrichten und sie nach Compiègne rufen.
Sein verräterischer Plan glückte vollkommen. Als Johanna den Brief las, bebte sie vor Wut. Sie, die den Vlaemen ewigen Haß geschworen hatte, sollte sich nun diese Beute entgehen lassen. Und erst Enguerrand de Marigny, der das Geld, das man mit Gewalt aus Flandern erpressen wollte, bereits verspielt und verausgabt hatte! Beiden lag viel zu viel an Flanderns Untergang, als daß sie mit seiner Befreiung einverstanden hätten sein können. Kaum hatten sie die Nachricht erhalten, als sie auch schon, so schnell sie konnten, nach Compiègne fuhren und unerwartet in die Gemächer des Königs eilten.
„Sire,“ rief Johanna aus, „gelte ich Euch denn nichts mehr, daß Ihr in dieser Weise und ohne mich zu fragen meine Feinde gnädig empfangt? Oder habt Ihr den Verstand verloren, daß Ihr diese Vlaemischen zu Euerm eigenen Schaden erhalten wollt!“
„Madame,“ antwortete der König voll Selbstbeherschung, „es wäre ratsam, daß Ihr Euerm König und Gemahl mehr Ehrerbietung entgegenbrächtet! Wenn es mir beliebt, den alten Grafen von Flandern gnädig zu empfangen, so werde ich meinen Willen durchsetzen.“
„Im Gegenteil!“ rief Johanna rot vor Zorn, „das wird nicht geschehen. Ich dulde es nicht, versteht Ihr? Ich dulde es nicht! Wie! Die Meuterer, die meine Oheime enthauptet haben, sollen straflos bleiben. Sie sollten damit prahlen können, daß sie Blutsverwandte der Königin von Navarra ungestraft verhöhnen durften!“
„Der Zorn reißt Euch hin, Madame!“ antwortete der König, „überwägt es selbst in aller Ruhe und sagt mir dann, ob es recht und billig ist, daß man Philippa wieder zu ihrem Vater führt?“
Diese Worte steigerten die Wut Johannas bis zum Äußersten. –
„Ich sollte Philippa wieder hergeben!“ fiel sie ihm ins Wort. „Aber Majestät, überlegt Ihr denn nicht, was Ihr da sagt? Sie vermählt sich dann mit dem Sohne Eduards von England, und Euer eigenes Kind wird um diese Hoffnung betrogen. Nein, um keinen Preis! Ihr könnt Euch drauf verlassen; das wird niemals geschehen. Außerdem ist Philippa ja meine Gefangene, und es wird Euch nicht gelingen, sie mir zu entreißen!“
„Aber, Madame,“ rief Philipp aus, „da irrt Ihr Euch nun doch! Vergeßt auch nicht, daß mir Eure hochmütigen Worte sehr mißfallen, und daß ich Euch meinen Unwillen fühlen lassen kann, sobald es mir beliebt. Mein Wille ist zugleich der Wille Eures Fürsten.“
„Und Ihr wollt Flandern dem trotzigen Gwijde wiedergeben? Ihr wollt es ihm möglich machen, Euch nochmals den Krieg zu erklären? Diese Unklugheit soll Euch noch teuer zu stehen kommen! Ich werde mich, da ich jetzt gesehen habe, wie wenig Ihr mich achtet, mit Philippa in mein Königreich Navarra zurückziehen!“
Diese letzten Worte trafen den König hart. Navarra war der wertvollste Teil Frankreichs, und er hätte es nicht gern entbehrt. Da Johanna diese Drohung schon mehrmals ausgesprochen hatte, fürchtete er, sie könnte sie endlich verwirklichen. Nach einigem Bedenken sagte er:
„Ihr regt Euch unnütz auf, Madame. Wie könnt Ihr behaupten, daß ich Flandern zurückgeben wollte? Ich habe in dieser Angelegenheit noch gar keinen Entschluß gefaßt!“
„Eure Worte waren deutlich genug,“ antwortete Johanna. „Aber wie dem auch sei, ich erkläre Euch: verwerft Ihr meinen Rat, so verlasse ich Euch; denn ich mag die Folgen Eurer Unvorsichtigkeit nicht tragen. Der Krieg gegen Flandern hat des Reiches Schatzkammern erschöpft, und nun wollt Ihr die Meuterer in Gnaden aufnehmen, da Ihr doch in der Lage seid, Euch wieder alles Nötige zu beschaffen! Nie hat unsere Geldlage schlechter dagestanden! Das kann Euch Herr von Marigny beweisen.“
Bei diesen Worten trat Enguerrand von Marigny vor den König.
„Sire, es ist unmöglich, die Soldaten noch weiter zu löhnen,“ sagte er; „das Volk will die Lasten nicht mehr aufbringen. Der Obmann der Pariser Kaufleute hat den Zuschuß verweigert, und bald vermag ich die Ausgaben des königlichen Hauses nicht mehr zu bestreiten. Auch die Münzen dürfen nicht weiter entwertet werden. Flandern allein kann uns retten. Die Zollbeamten, die ich dahin geschickt habe, treiben die Gelder ein, die uns aus dieser Verlegenheit erretten sollen. Bedenket, Sire, welch großem Unheil Ihr Euch aussetzt.“
„Ist denn alles Geld bereits dahin, das dem dritten Stande auferlegt wurde?“ fragte der König mißgestimmt.
„Sire,“ antwortete Enguerrand, „die Gelder, welche die Zollpächter von Paris Eurer Majestät geliehen hatten, habe ich Etienne Barbette zurückerstattet. Im Reichsschatz blieb nichts oder doch nur sehr wenig.“
Die Königin merkte voll Freude, wie sehr diese Nachricht den König erschütterte. Ihr dünkte, nun würde das Urteil über Gwijde unschwer zu erlangen sein. Listig trat sie zu ihrem Gemahl und sprach:
„Ihr sehet wohl, Sire, wie vorteilhaft mein Rat für Euch ist. Wie könnt Ihr Frankreichs Heil aus den Augen lassen, um Aufrührer zu begünstigen? Sie haben Euch und mich verhöhnt, unsern Feinden geholfen und es gewagt, unsern Befehlen zu trotzen. Der Besitz des Goldes macht sie stolz und aufgeblasen. Nichts ist leichter, als sie dieses überflüssigen Geldes zu entledigen; sie sollten Eure königliche Hand küssen, die ihnen das Leben läßt, denn allesamt haben sie den Tod verdient.“
„Aber Herr von Marigny,“ fragte der König, „findet Ihr denn gar keine Möglichkeit, noch für einige Zeit die Ausgaben des Reiches aufzubringen? Denn ich glaube nicht, daß die Gelder aus Flandern so bald kommen werden. Dieser Zustand bringt mich in die größte Verlegenheit.“
„Keine, Sire, wir haben schon zu viel versucht.“ Johanna mischte sich ein:
„Wenn Ihr meinem Rate folgen und mit Gwijde verfahren wollt, wie ich's begehre, so werde ich eine außerordentliche Steuer in meinem Königreiche Navarra erheben, und für lange Zeit werden wir dann dieser lästigen Sorgen enthoben sein.“
Mochte nun Schwäche oder Geldgier den König bestimmen, jedenfalls gab er Johannas Drängen nach, und so ward ihr der alte Gwijde ausgeliefert. Das arglistige Weib beschloß, den Grafen von Flandern den Fußfall tun zu lassen; doch in sein Vaterland sollte er nicht mehr zurückkehren.
S pät am Abend kam Johanna von Navarra zu Compiègne an. Während sie dem wankelmütigen König mit List und Drohungen die Verurteilung der Vlaemen entlockt hatte, saß Graf Gwijde mit seinen edlen Lehensmannen in einem Saale seines Hauses. In silbernen Schalen kreiste der Wein, und jeder ermunterte die andern mit frohen Hoffnungen und tröstlichen Aussichten.
So hatten sie fröhlich über dies und jenes gesprochen, als Dietrich der Fuchs in den Saal trat, der als Robrechts bester Freund in dem Hause des Grafen untergebracht war. Schweigend hemmte er den Schritt und blickte bald auf den alten Grafen, bald auf dessen beiden Söhne. Aus seinen Zügen sprach tiefer Schmerz und inniges Mitleid. Da er sonst immer fröhlich und offenherzig war, so erschraken die Ritter nicht wenig ob seines gramvollen Aussehens; sie ahnten, daß irgendeine schlimme Nachricht sein Antlitz verdüsterte.
Als erster verlieh Robrecht van Bethune seinen Gedanken Ausdruck: „Stockt Euch die Zunge, Dietrich? Sprecht! Und bringt Ihr traurige Kunde, so lasset, bitte, Eure Scherze ruhn.“
„Das will ich gern, Herr Robrecht,“ meinte Dietrich; „aber ich weiß nicht, wie ich Euch die Nachricht beibringen soll; es schmerzt mich, den Unglücksboten spielen zu müssen.“
Furcht malte sich auf den Gesichtern der Zuhörer; mit ängstlicher Neugier schauten sie auf Dietrich. Der füllte einen Becher mit Wein, trank und sprach dann:
„Das soll mir Mut machen. Hört denn und seht es dem Fuchs, eurem Diener, nach, daß sein Mund euch Schlimmes künden muß. Mit Recht habt ihr geglaubt, Philipp der Schöne würde euch in Gnaden empfangen; ist er doch ein edelmütiger Fürst. Noch vorgestern war er froh, euch seines Herzens Großmut zu erweisen; doch damals war er noch nicht von bösen Geistern besessen.“
„Wie denn?“ riefen die Ritter erstaunt, „ist er besessen?“
„Herr Dietrich,“ sprach Robrecht strenge, „laßt alle Umschweife; Ihr habt uns andres zu sagen, aber es scheint Euch nicht recht über die Lippen zu wollen.“
„Ganz recht, mein Herr van Bethune,“ entgegnete Dietrich. „Hört, was mich so tödlich betrübt: Johanna von Navarra und Enguerrand von Marigny sind in Compiègne.“
Diese Namen wirkten auf alle Ritter fürchterlich. Wie betäubt beugten alle schweigend das Haupt. Endlich reckte der junge Wilhelm die Hände gen Himmel und rief verzweifelt:
„O Himmel! die schlimme Johanna – Enguerrand von Marigny! Weh! meine arme Schwester! – Vater, wir sind verloren!“
„Das also sind die Teufel, von denen der gute Fürst besessen ist,“ sagte Dietrich. „Ihr sehet nun, durchlauchtigster Graf, daß es Euer Diener nicht schlecht meinte, als er Euch in Wijnendaal vor dieser Schlange warnte.“
„Wer hat Euch gesagt, daß die Königin von Navarra nach Compiègne gekommen sei?“ fragte der Graf, als ob er noch an der Sache zweifle.
„Meine eigenen Augen, ihr Herren,“ antwortete Dietrich. „Stets fürchtete ich Verrat, denn ich traute den doppelsinnigen Worten nicht. Deshalb habe ich dauernd gewacht, gespäht und aufgepaßt. So habe ich Johanna von Navarra gesehen, ihre Stimme gehört. Meine Ehre setz' ich dran, daß meine Worte wahr sind.“
„Hört, ihr Herren,“ sprach Walter van Lowendeghem, „Dietrich sagt uns die Wahrheit, er gibt sein Ehrenwort darauf; Johanna von Navarra ist also beim König. Die ungnädige Fürstin wird alles aufbieten, um uns zu schädigen, und Gott weiß, was ihr alles zu Gebote steht. Am besten überlegen wir schleunigst, wie wir uns aus dieser Schlinge ziehen. Käme man, um uns festzunehmen, so wäre es zu spät.“
Der alte Graf versank in trostlose Trauer. Keine Rettung [60] sah er aus dieser gefährlichen Lage, hier inmitten in des Königs Landen schien ihm die Flucht nach Flandern unmöglich. Robert van Bethune murrte und verwünschte innerlich die Reise, die ihn seinen Feinden wehrlos in die Hände geliefert hatte.
Während sie alle in trübem Schweigen auf den trostlosen Grafen blickten, trat ein Hofknappe in die Tür des Saales und rief:
„Herr von Nogaret, Gesandter des Königs!“
Eine plötzliche Bewegung offenbarte die Erschütterung der Vlaemen ob dieser Ankündigung. Nogaret war stets der Vollstrecker geheimer Befehle des Königs. Sie glaubten, er käme mit den Leibwachen, um sie gefangenzunehmen. Robrecht van Bethune zog seinen Degen aus der Scheide und legte ihn vor sich auf den Tisch; auch die andern griffen an die Schwerter, während sie zur Tür starrten.
So standen sie da, als Nogaret hereintrat. Er verbeugte sich höflich vor den Rittern und sagte zu Gwijde gewandt:
„Graf von Flandern, mein gnädiger König und Gebieter wünscht, daß Ihr Euch morgen vormittag gegen elf Uhr mit Euren Lehensmannen zu Hofe begebet, um öffentlich von ihm Verzeihung für Euer Vergehen zu erflehen. Die Ankunft der durchlauchtigsten Königin von Navarra hat diesen Befehl beschleunigt. Sie selbst hat sich bei ihrem fürstlichen Gemahl für Euch verwandt, und ich soll Euch von ihr ausrichten, daß sie Eure Unterwerfung gern sähe. – Also bis morgen, ihr Herren! Entschuldigt, daß ich euch so eilig verlasse. Ihre Majestät wartet auf mich, und ich darf nicht säumen, – der Herr beschütze euch!“
Mit diesem Gruß schritt er aus dem Saale.
„Dem Himmel sei Dank, meine Herren,“ sprach Gwijde. „Der König ist uns gnädig gesinnt, und nun können wir getrost und heiter zur Ruhe gehen. Ihr habt des Königs Wünsche vernommen: rüstet euch also, ihnen geziemend zu entsprechen.“
Nun fanden die Ritter ihre frohe Laune wieder. Sie plauderten noch eine Weile von Dietrichs Furcht und dem verheißenen guten Erfolg, dann ward der letzte Becher auf ihres Grafen Wohl geleert. Als sie sich trennen wollten, ergriff Dietrich Robrechts Hand und sagte schwermütig:
„Lebt wohl, mein Freund und Gebieter! ja, lebt wohl; denn vielleicht wird eine lange Zeit vergehen, ehe ich Euch wieder einmal die Hand drücken kann. Denkt daran, daß Euer Diener Dietrich Euch immer trösten und beistehen wird, in welchem Kerker Ihr auch sein möget.“
Robrecht sah eine Träne in Dietrichs Augen glänzen und entnahm daraus die tiefe Rührung seines treuen Freundes. „Ich verstehe Euch, Dietrich,“ flüsterte er ihm ins Ohr. „Was Ihr fürchtet, ahnt auch mir; aber es gibt keinen Ausweg. Lebt denn wohl, bis auf bessere Tage.“
„Ihr Herren,“ rief Dietrich im Fortgehen, „wenn ihr Nachrichten an eure Blutsverwandten nach Flandern zu senden habt, so rate ich euch, macht sie bald fertig; ich werde euer Bote sein.“
„Was sagt Ihr,“ verwunderte sich Walter van Lowendeghem, „wollt Ihr denn nicht mit uns zu Hofe gehen, Dietrich?“
„Jawohl, ich werde bei euch sein, aber ihr werdet mich so wenig erkennen als die Franzosen. Ich hab' es verschworen, Philipp soll den Fuchs nicht fangen! Gott behüte euch, ihr Herren!“
Als er ihnen diesen letzten Gruß zurief, war er bereits zur Tür hinaus. Der Graf zog sich mit seinen Leibpagen zurück, und auch die übrigen verließen den Saal, um schlafen zu gehen.
Zur festgesetzten Stunde konnte man in einem weiten Saale des königlichen Palastes die vlaemischen Ritter mit ihrem alten Grafen erblicken. Ihre Waffen hatten sie im Vorzimmer ablegen müssen. Heitere Zufriedenheit sprach aus ihren Zügen, als ob sie sich schon im voraus der gelobten Gnade freuten. [62] Das Antlitz Robrechts van Bethune hatte freilich einen anderen Ausdruck. Es zeigte bitteren Groll, rasende Wut. Der mutige Vlaeme konnte nicht ertragen, wie hochmütig die Franzosen dreinschauten, und ohne die Liebe zu seinem Vater hätte er gar manchen deshalb zur Rechenschaft gezogen. Der Zwang der Not bedrückte ihn; bei genauer Beobachtung hätte man merken können, daß er die Hände rang, als wollten sie Fesseln sprengen.
Karl von Valois stand bei dem alten Gwijde und unterhielt sich freundlich mit ihm. Er harrte des Augenblicks, da er nach dem Geheiß seines königlichen Bruders die Vlaemen zum Throne geleiten sollte. Auch einige Äbte und Prälaten sah man unter den Anwesenden, ferner auch manch wackeren Bürger von Compiègne, der absichtlich zu dieser Feier geladen worden war.
Während alle von Gwijdes Angelegenheit sprachen, kam ein alter Pilger in den Saal, mit einem breiten Hut auf dem demütig geneigten Haupte, so daß die Gesichtszüge kaum zu erblicken waren. Ein brauner muschelgezierter Pilgerrock verhüllte seine Gestalt, und ein langer Stab, mit einem Trinkgefäß daran, stützte seine matten Glieder. Sobald die Prälaten ihn erblickten, traten sie zu ihm und überschütteten ihn mit Fragen. Der eine wollte wissen, wie es den Christen in Syrien erginge, der andre, wie der Krieg in Italien stände, ein dritter erkundigte sich, ob er keine wunderbaren Reliquien mitgebracht habe, und was man sonst noch alles von Pilgern erfahren möchte. Auf alles das antwortete er wie jemand, der erst eben aus diesem fernen Lande kommt, und erzählte so viel Wundersames, daß ihm die Umstehenden ehrerbietig und neugierig lauschten. Inmitten seiner ernsten, sachlichen Schilderung gebrauchte er aber doch zuweilen so komische Wendungen, daß selbst die Prälaten laut lachen mußten. Bald hatten sich mehr als fünfzig Personen rund um ihn geschart, und einige gingen in ihrer Bewunderung und Verehrung so weit, daß sie unauffällig [63] seinen Rock berührten, als ob ihnen das besonderen Segen brächte. Dennoch kam dieser seltsame Pilger nicht von der Reise; er hatte die Lande, die er so gut zu kennen schien, nur in der Jugend besucht und wußte nicht viel mehr von dem, was er gesehen hatte. Aber wo die Erinnerung versagte, kam die Phantasie zu Hilfe; dann erzählte er von übernatürlichen Dingen und lachte innerlich über die leichtgläubigen Zuhörer: es war Dietrich der Fuchs. Niemand kam ihm in der Kunst gleich, sich zu verkleiden und alle möglichen Gestalten anzunehmen. Er konnte sein Gesicht durch Wässer und Farben älter und jünger machen, und zwar so geschickt, daß selbst seine Freunde ihn nicht zu erkennen vermochten. Er traute dem Wort des französischen Fürsten nicht im mindesten und wollte, wie er im voraus zum Grafen gesagt hatte, nicht leiden, daß man den Fuchs finge. Deshalb hatte er diese Verkleidung angelegt, um den Feinden nicht in die Hände zu fallen.
Kurz darauf betrat der König mit der Königin, gefolgt von zahllosen Rittern und Hofdamen, den Saal, und beide bestiegen den Thron. Die meisten französischen Herren stellten sich längs der Wand in zwei Reihen auf, die andern blieben in der Nähe der Bürger stehen. Zwei Herolde mit den Bannern von Frankreich und Navarra nahmen zu beiden Seiten des Thrones Aufstellung.
Auf ein Zeichen des Königs trat Karl von Valois mit den vlaemischen Edlen vor; selbige beugten vor dem Thron ein Knie auf Sammetkissen nieder und verharrten schweigend in dieser demütigen Haltung. Zur Rechten des Grafen kniete sein Sohn Wilhelm, zur Linken, auf Robrechts Platz, ein Edler, Walter van Maldeghem. Robrecht war bei den französischen Rittern geblieben; anfangs glückte es ihm, von Philipp dem Schönen unbemerkt zu bleiben.
Die Gewänder der Fürstin Johanna glänzten von Gold und Edelsteinen, und die königliche Krone, die ihr Haupt schmückte, [64] strahlte mit ihren tausend Diamanten heller denn des Tages Licht. Hochmütig und eitel warf die stolze Frau verächtliche Blicke auf die Vlaemen, die vor ihr auf den Knien lagen, und lächelte haßerfüllt und ließ den alten Grafen absichtlich so lange warten. Endlich flüsterte sie Philipp dem Schönen einige Worte ins Ohr, und dieser sprach mit erhobener Stimme zu Gwijde: „Ungetreuer Vasall, in Unsrer königlichen Gnade haben Wir es für gut befunden, Erhebungen über Eure Verbrechen anstellen zu lassen. Wir wollten sehen, ob es Uns möglich sei, Euch zu vergeben; aber Wir haben befunden, daß die Vaterliebe nur ein Vorwand für Eure Widerspenstigkeit war, und daß Euch verbrecherischer Hochmut zum Ungehorsam angetrieben hat.“
Bei diesen Worten schlugen die Herzen der Ritter in wildem Schreck, und Staunen erfüllte sie. Jetzt wurden sie der Schlinge gewahr, vor der Dietrich der Fuchs sie gewarnt hatte. Da Gwijde sich nicht regte, blieben auch sie noch auf den Knien. Der König fuhr fort:
„Ein Vasall, der sich treulos gegen seinen König und Landesherrn auflehnt, geht seines Lebens verlustig, und wer mit Frankreichs Feinden in Verbindung tritt, verwirkt sein Leben. Ihr habt Euch den Befehlen Eures Königs widersetzt; Ihr habt mit Eduard von England, Unserm Feinde, die Waffen wider Uns erhoben und mit Uns Krieg geführt [15] . Somit habt Ihr als ungetreuer Lehensmann das Leben verwirkt. Dennoch wollen Wir dieses Urteil nicht überhastet vollstrecken, sondern vorerst ordnungsgemäß eine Untersuchung anstellen lassen. Deshalb sollt Ihr und die Edlen, die an Eurer Auflehnung teil hatten, in Haft gehalten werden, bis es Uns beliebt, andre Maßregeln zu Eurer Beaufsichtigung zu treffen.“
Karl von Valois hatte diese Rede mit tiefem Herzeleid mitangehört. Jetzt trat er vor den Thron und sprach:
„Mein König und Herr! Es ist Euch bekannt, mit welcher Treue ich Eurer Majestät gleich dem geringsten Eurer Untertanen gedient habe. Nie hat jemand sagen können, daß ich mein Wappenschild auch nur durch einen Schein von Feigheit oder Untreue besudelt hätte. Und nun solltet Ihr es sein, o König, der meine Ehre, – die Ehre Eures eigenen Bruders – schändete? Ihr könntet mich zum Verräter machen, – Euer Bruder sollte ein treuloser Ritter genannt werden dürfen. O Sire, bedenkt, daß ich Gwijde freies Geleit verbürgt habe, daß Ihr mich jetzt zu einem Meineidigen macht!“
Während Karl von Valois also sprach, war er in flammende Wut geraten. Sein Blick strahlte so gewaltige Kraft, daß Philipp der Schöne fast bereit war, sein Urteil zu widerrufen. Da ihm selbst die Ehre des Ritters über alles ging, fühlte er innerlich den Schmerz seines treuen Bruders mit. Derweile hatten sich die Vlaemen erhoben und harrten bangend des Erfolges. Die Übrigen erwarteten in regungsloser Angst, was kommen würde.
Aber die Königin Johanna ließ ihrem Gemahl keine Zeit zur Antwort; voll Sorge, daß ihr die Beute wieder entgehen könnte, rief sie mit leidenschaftlichem Eifer:
„Herr von Valois, es steht Euch nicht zu, die Feinde Frankreichs zu verteidigen! Ihr begeht damit eine Treulosigkeit! Es ist dies nicht das erste Mal, daß Ihr Euch dem Willen Eures Königs widersetzt!“
„Madame,“ widersprach Karl bitter, „Euch ziemt es wahrlich nicht, den Bruder Philipps des Schönen einer Treulosigkeit zu beschuldigen. Soll es um Euretwillen heißen, daß Karl von Valois einen unglücklichen Landesherrn verraten habe? Soll mein Wappenschild mit Schande bedeckt werden? Nein, beim Himmel! das wird nicht geschehen. Ich berufe mich auf Euch, Philipp, mein Fürst und mein Bruder; werdet Ihr [66] es dulden, daß das Blut Ludwigs des Heiligen in mir entehrt wird? Soll das der Lohn für meine treuen Dienste sein?“
Offensichtlich versuchte der König, Johanna zu einer Milderung des Urteils zu bestimmen; doch in ihrem unerbittlichen Haß gegen die Vlaemen wies sie die Vorstellungen des Fürsten hochmütig zurück und wurde bei den Worten Karls von Valois flammend rot. Plötzlich rief sie mit lauter Stimme:
„Heda, Leibwachen, des Königs Wille geschehe; man nehme die ungetreuen Lehensmannen gefangen!“
Auf diesen Ruf drangen zahlreiche Wachmannschaften durch alle Türen in den Saal. Die vlaemischen Ritter ließen sich ohne Gegenwehr gefangennehmen. Sie wußten, daß Gewalt sie nicht retten konnte, da sie unbewaffnet und von vielen Feinden umringt waren.
Einer der Anführer ging auf den alten Gwijde zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:
„Herr Graf, ich nehme Euch im Namen des Königs, meines Gebieters, gefangen.“
Der Graf von Flandern blickte ihn traurig an, wandte sich zu Robrecht hin und seufzte:
„Weh, unglücklicher Sohn!“
Robrecht van Bethune stand regungslos bei den französischen Rittern, die ihn fragend anschauten. Als hätte ihn eine unsichtbare Hand mit einem Zauberstabe berührt, zuckte jäh eine krampfhafte Bewegung durch seinen Körper; seine Muskeln spannten sich, seine Augen sprühten. Wie ein Löwe sprang er vor, und der ganze Saal erdröhnte von seiner gewaltigen Stimme, da er ausrief:
„Unselige, ich sah eine unedle Hand die Schulter meines Vaters berühren; hinweg mit ihr, oder ich will des Todes sein!“
Im Sprunge riß er einem Söldner gewaltsam die Streitaxt aus den Händen. Ein furchtbarer Schrei entfuhr den Rittern ringsum, und alle zogen die Degen, denn sie glaubten das Leben des Königs bedroht. Doch bald schwand die Furcht, denn [67] Robrecht hatte schon zugeschlagen. Er hatte seine Drohung ausgeführt: der Arm des Anführers, der seinen Vater berührt, lag mit der vermessenen Hand am Boden, und das Blut strömte aus der schrecklichen Wunde.
Ein Haufen Söldner stürzte auf Robrecht zu, um ihn zu packen, doch blind und toll vor Wut schwang er die Streitaxt ums Haupt, und nicht einer wagte sich in seinen Bereich. Ohne Zweifel würde noch mehr Unglück geschehen sein, wenn nicht der alte Gwijde in ängstlicher Sorge um das Leben seines Sohnes diesem flehend zugerufen hätte:
„Robrecht, du mein großherziger Sohn, ach, ergib dich um meinetwillen; tue es, ich bitte dich, ich befehle es dir!“
Bei diesen Worten umfaßte er Robrecht, und dieser fühlte die Tränen seines Vaters auf seine Hand niedertropfen. Jetzt sah er seine Unbesonnenheit ein. Er entrang sich den Armen des Grafen, warf die Streitaxt wuchtig über die Köpfe der Söldner hinweg an die Wand und rief:
„Heran, ihr feigen Mietlinge! fangt denn den Löwen von Flandern; zaget nicht mehr, er ergibt sich.“
In großer Anzahl warfen sich die Söldner auf ihn und nahmen ihn gefangen.
Während er mit seinem Vater aus dem Saale geführt wurde, rief er Karl von Valois zu:
„Euer Wappenschild ist nicht beschmutzt; Ihr waret und seid weiter der edelste Ritter von Frankreich, Eure Treue bleibt unversehrt. Dies sagt der Löwe von Flandern, auf daß man es höre.“
Die französischen Ritter hatten ihre Degen wieder eingesteckt, sobald sie inne wurden, daß das Leben des Königs nicht bedroht war. Mit der Gefangennahme der Vlaemen mochten sie nichts zu tun haben, – es hätte ihren Adel geschändet.
In dem Herzen des Königs und der Königin herrschten sehr verschiedene Gefühle. Philipp der Schöne war schmerzlich ergriffen und betrübt über das gefällte Urteil. Johanna hingegen [68] freute sich über Robrechts Widerstand. Er hatte es gewagt, in Gegenwart des Königs einen seiner Diener zu verwunden; diese Tat konnte ihr in ihren rachsüchtigen Plänen vortrefflich zustatten kommen.
Der König vermochte seine Rührung und Betrübnis nicht zu bergen und wollte gegen den Wunsch seiner stolzen Gemahlin den Thron und den Saal verlassen. Er erhob sich und sprach:
„Meine Herren! Wir beklagen den ungestümen Verlauf dieses Verhörs gar sehr. Lieber hätten Wir bei dieser Gelegenheit euer Edlen Unsere Gnade erzeigt; aber zu Unserm großen Leidwesen war das im Interesse Unserer Krone nicht möglich. Gemäß Unserm königlichen Willen sorget, daß die Ruhe in Unserm Palast fürder nicht gestört werde.“
Auch die Königin erhob sich und wollte mit ihrem Gemahl die Stufen des Thrones herabsteigen, doch ein neues Hemmnis trat ihr in den Weg. Karl vor Valois hatte lange fernab in tiefem Nachdenken gestanden; die Ehrerbietung und Liebe, die er seinem Bruder entgegen brachte, kämpften lange in ihm gegen den Ärger über diesen Verrat. Plötzlich brach sein Zorn los, sein Antlitz ward weiß, rot und blau, und wie rasend warf er sich der Königin entgegen.
„Madame,“ schrie er, „Ihr sollt mich nicht ungestraft entehren! Hört, meine Herren, ich spreche vor Gott, unser aller Richter: Ihr, Johanna von Navarra, seid es, die das Vaterland durch ihre Verschwendung gebrandschatzt hat! Ihr seid es, die das Reich meines edlen Bruders zugrunde richtet! Ihr bringt Frankreich nur Schmach und Hohn! Die Untertanen des Königs machtet Ihr durch Verfälschung der Münzen und ungerechte Erpressungen unglücklich! – Und ich sollte Euch noch dienen?! Nein, Ihr seid ein falsches, verräterisches Weib!“
Wütend riß er seinen Degen aus der Scheide, brach ihn auf dem Knie entzwei und warf die Stücke mit solcher Gewalt zu Boden, daß sie auf die Stufen des Thrones flogen.
Johanna barst schier vor rasendem Zorn. Ihren Zügen entschwand [69] in teuflischer Verzerrung alles Weibliche; man hätte glauben können, daß sie vom Schlag getroffen sei.
„Packt ihn! packt ihn!“ stieß sie hervor.
Die Leibwachen, die noch im Saale waren, wollten diesen Befehl vollziehen. Schon trat ihr Hauptmann an Karl von Valois heran; aber der König liebte seinen Bruder zu innig, als daß er dies dulden konnte.
„Wer Herrn von Valois berührt, soll noch heute sterben!“ rief er.
Auf diese Drohung blieben die Wachen regungslos stehen, und von Valois verließ ungehindert den Saal, so sehr auch die wütende Königin zeterte.
Derart endigte dies stürmische Schauspiel. Gwijde ward zu Compiègne eingekerkert, Robrecht führte man nach Bourges in Berry, seinen Bruder Wilhelm nach Rouen in der Normandie. Die übrigen vlaemischen Herren wurden, ein jeglicher in einer andern Stadt, gefangen gehalten, damit sie einander nicht trösten konnten. Dietrich der Fuchs kehrte als einziger nach Flandern zurück, denn in seinem Pilgerrock hatte man ihn nicht erkannt.
Mit Hilfe seiner Freunde zog Karl von Valois alsbald nach Italien und kam erst wieder nach Frankreich, als Ludwig Hutin nach dem Tode Philipps des Schönen den Thron bestiegen hatte. Er verklagte dann Enguerrand von Marigny wegen vieler Staatsverbrechen und ließ ihn zu Montfaucon henken. Aber in Wahrheit darf man behaupten, daß der Tod dieses Ministers mehr der Gefangennahme des Grafen Gwijde als seinen anderen Missetaten zuzuschreiben ist, und daß Karl von Valois ihn henken ließ, um für diesen Verrat Rache zu nehmen.
D amals gab es in Flandern zwei Parteien, die einander gegenüberstanden, und die nichts unversucht ließen, um sich gegenseitig nach Kräften zu schaden. Die meisten Edlen [70] und Machthaber hatten bei allen Gelegenheiten zur französischen Regierung gestanden und bekamen deshalb den Namen „Leliaerts“, weil sie der französischen Lilie anhingen. Weshalb sie die Feinde des Vaterlands so begünstigten, wird sich aus dem Folgenden leicht entnehmen lassen.
Seit einigen Jahren waren durch die kostbaren Ritterspiele, die inländischen Kriege und die weiten Kreuzfahrten die meisten Edelleute verarmt. Hierdurch sahen sie sich gezwungen, ihre Stadt- und Herrschaftsrechte an die Einwohner gegen große Summen zu verkaufen und ihnen Freiheiten und Vorrechte zu verleihen.
Die Städte verarmten wohl anfangs dadurch; doch bald trug die erkaufte Freiheit die schönsten Früchte. Das niedere Volk, das vordem mit Leib und Eigen den Edlen zugehörte, begriff nun, daß es den Schweiß seines Angesichts nicht mehr für ungerechte Herren vergoß. Es erwählte sich Bürgermeister und Ratsherren und bildete eine Regierung, um welche die Herren des Landes sich nicht im mindesten zu kümmern hatten. Die Gilden wirkten vereint für die allgemeine Wohlfahrt und setzten Obmänner ein, welche der Sachwaltung vorstanden. Die liebenswürdigste Gastfreiheit lockte Fremde aus allen Weltgegenden nach Flandern, und der Handel entfaltete ein Leben und eine Betriebsamkeit, wie sie unter den Lehensherren unmöglich gewesen waren. Der Gewerbefleiß blühte, das Volk wurde reich und war stolz auf die so lang verkannte Würde, es erhob sich mehr als einmal mit den Waffen in der Hand gegen die früheren Herren. Die Edlen sahen ihre Rechte und Güter dadurch schwer bedroht und suchten durch List und Gewalt die wachsende Macht der Gemeinden zu behindern; doch das war ihnen nie geglückt. Denn der Reichtum der Städte erlaubte selbigen, ein Heer aufzubieten, die bestehenden Freiheiten zu verteidigen und sie ungeschmälert zu bewahren. In Frankreich war das anders. Philipp hatte in seiner Geldnot wohl zuweilen den dritten Stand oder die Bürger zusammengerufen; [71] aber dieses verlieh dem Volke nur zeitweilig einiges Ansehen, das unmittelbar darauf durch die Lehensherren wieder vernichtet wurde.
Die zurückgebliebenen Edlen, die in Flandern nicht mehr viel zu sagen hatten und nun mit allen anderen gleiche Eigentumsrechte besaßen, betrauerten gar sehr ihre verlorene Macht. Um sie wieder zu erhalten, hätten sie die blühenden Gemeinden zerstören müssen. Da es in Frankreich noch keine Freiheit gab und die Herrschaft der Lehensherren dort noch ausschließlich und gewaltherrlich war, so hofften sie, Philipp der Schöne würde die Verhältnisse in Flandern umstoßen und ihnen die einstigen Rechte wieder verleihen. Deshalb also begünstigten sie Frankreich gegen Flandern, und das trug ihnen den Schimpfnamen Leliaerts [16] ein. Deren gab es zu Brügge, das damals nächst Venedig die reichste Handelsstadt der Welt war, sehr viele. Sogar die Bürgermeister und andere Verwaltungsbeamte, die ihre Stellung französischem Einfluß verdankten, waren Leliaerts.
Die Gefangennahme des Grafen und der ihm treu gebliebenen Edelleute wurde von ihnen mit Freude begrüßt; denn nun war Flandern Philipp dem Schönen ausgeliefert und dieser konnte daraufhin alle Gesetze und Vorrechte umstoßen.
Der Wortbruch des französischen Hofes erfüllte das Volk mit größter Bestürzung. Das Mitleid steigerte noch die Liebe, mit der es jeder Zeit seinem Grafen ergeben war, und diese Treulosigkeit löste Empörung aus. Aber die zahlreichen französischen Truppen, die allenthalben lagen, und die Uneinigkeit unter den Bürgern brach vorerst den patriotischen Klauwaarts [17] den Mut. So blieb Philipp der Schöne ruhig im [72] Besitz von Gwijdes Erbteil. Als die traurige Mär nach Flandern kam, begab sich Maria, die Schwester Adolfs van Nieuwland, mit zahlreicher Dienerschaft nach Wijnendaal, um ihren verwundeten Bruder in einer Tragbahre in sein Vaterhaus nach Brügge zu überführen. Die junge Machteld folgte angesichts der schmerzlichen Trennung von all ihren Blutsverwandten der neuen Freundin und verließ Schloß Wijnendaal, das französische Besatzung erhalten hatte.
Das Haus der Familie Nieuwland lag an der spanischen Straße zu Brügge. Zwei runde Türme ragten zu beiden Seiten des Giebels mit ihren Wetterhähnen über das Dach und beherrschten alle umliegenden Gebäude. Zwei Pfeiler aus Quadersteinen in griechischem Stil stützten den Torbogen, den der Schild und Wahlspruch derer van Nieuwland zierte: „Pulchrum pro patria mori!“ Zu beiden Seiten des Schildes schwebte ein Engel mit Palmenzweigen in der Hand. In einem Gemach, welches fern genug von dem dauernden Lärm der Straße lag, ruhte der kranke Adolf auf einem kostbaren Bett. Er war so bleich und durch den Schmerz der Wunde so abgezehrt, daß man ihn kaum wiedererkennen konnte. Zu Häupten des Bettes stand auf einem Tischchen ein kleiner Krug und ein silberner Becher. An der Wand hing der Harnisch, der unter Saint-Pols Waffe geborsten war und dadurch Adolfs Wunde verschuldet hatte; daneben eine Harfe mit zerrissenen Saiten. Rings um ihn war es totenstill. Da die Fenster halb geschlossen waren, wurde das Gemach nur schwach erleuchtet.
Schweigend saß in einer Ecke Machteld, mit niedergeschlagenen Augen. Der Falke auf der Lehne ihres Stuhles schien an dem Gram der Gebieterin teilzunehmen: den Kopf unter dem Flügel ruhte er regungslos. Einst war das Mägdelein in ihrer munteren Fröhlichkeit gegen jeden Schmerz gefeit gewesen; nun war sie ganz umgewandelt. Die Gefangenschaft aller, die ihr [73] teuer waren, hatte ihr junges Herz tief erschüttert. Jetzt schien ihr alles schwarz und düster: der Himmel war für sie nicht mehr blau, die Felder nicht mehr grün, – durch ihre Träume zogen sich nicht mehr Gold- und Silberfäden. Nur Kummer und stille Verzweiflung fanden den Weg zu ihrem Herzen; nichts konnte sie über den schmerzlichen Gedanken an die Gefangenschaft ihres Vaters trösten.
Nach einiger Zeit erhob sie sich aus ihrer Regungslosigkeit und nahm ihren Falken auf die Hand. Weinend blickte sie auf den Vogel, und während sie hie und da eine Träne auf ihren bleichen Wangen trocknete, flüsterte sie leise:
„Du treuer Vogel, traure nicht so bang, mein Vater wird bald wiederkehren. Die böse Königin von Navarra soll ihm kein Leid antun: ich hab so heiß für ihn zum heiligen Michael gebetet, und Gott ist immer gerecht. Darum traure fürder nicht, du lieber Falke.“
Das Mägdelein weinte heiße Tränen. Schienen auch ihre Worte voller Trost und Hoffnung – in ihrem Herzen wohnte tiefer Gram. Und weiter sprach sie:
„Du armer Falke, nicht wirst du nun mehr in den Gefilden unseres väterlichen Schlosses jagen; Franzosen hausen in unserem schönen Wijnendaal. Meinen unglücklichen Vater haben sie in einen Kerker geworfen, in schwere Ketten geschlossen. In dunklem Gefängnis schmachtet er so einsam, und wer weiß, ob ihn nicht die grausame Johanna noch umbringt! Ach du mein lieber Vogel, dann werden auch wir vor Angst vergehen. – Der Gedanke, der furchtbare Gedanke allein raubt mir alle Kraft. Ach! setze dich doch nieder, meine zitternde Hand kann dich nicht mehr tragen.“
Das trostlose Kind sank ermattet in den Sessel, doch ihr Antlitz ward nicht bleicher; waren doch schon längst die Rosen auf ihren Wangen gewelkt, die Augenlider durch ewiges Weinen gerötet. Der Huldreiz ihrer Züge war geschwunden und ihr Auge ohne Feuer und Leben.
Lange blieb sie so in Traurigkeit versunken; der Reihe nach grübelte sie über all das nach, was ihre Verzweiflung nur noch steigern mußte. Die traurigen Gedanken weckten die schauerlichsten Vorstellungen. Sie sah ihren unglücklichen Vater gefesselt in einem feuchten Kerker, hörte seine Ketten rasseln, hörte den Widerhall seiner wehen Seufzer an dieser grausen Stätte. Auch der Gedanke, daß man in Frankreich so häufig die Menschen vergiftete, quälte sie beständig, und die gräßlichsten Bilder tauchten vor ihren Augen auf. Solcherart wurde das Mägdelein unaufhörlich gefoltert und lebte in tödlicher Pein.
Ein unterdrückter Seufzer tönte vom Bette her. Schnell wischte Machteld die Tränen von ihren Wangen und eilte in banger Sorge zu dem Kranken. Sie goß den Trank in die silberne Schale, stützte mit der rechten Hand ein wenig Adolfs Haupt und brachte die Schale an seinen Mund.
Weit öffnete der Ritter die Augen und heftete sie voller Staunen auf das junge Mägdelein. Dankbarkeit sprach aus seinen matten Blicken, und ein unbeschreibliches Lächeln verklärte seine bleichen Züge.
Seit seiner Verwundung hatte der Kranke noch nicht wieder verständlich gesprochen; es schien sogar, als ob er die Worte, die man leise zu ihm sprach, nicht vernahm. Doch als Machteld ihn in den ersten Tagen seiner Krankheit freundlich ermunterte: „Werde doch gesund, armer Adolf, mein teurer Bruder; ich will für dich beten, denn dein Tod würde mich noch unglücklicher machen,“ – und mancherlei, was sie ganz arglos an seinem Bette sprach, hatte Adolf gar wohl vernommen und verstanden, wenn es ihm auch an Kraft gebrach, zu sprechen.
In der vergangenen Nacht hatte sich Adolfs Zustand wirklich gebessert. Nach langem Kampf hatte ihm die Natur heilsamen Schlaf geschenkt, und daraus war er mit neuer Lebenskraft erwacht. Der Seufzer, der sich bei seinem Erwachen seiner Brust entrang, war kräftiger, als es ihm seine Wunde bisher gestattet hatte.
Als nun Machteld den Becher von seinem Munde nahm, faßte sie gewaltiges Staunen; denn mit schwacher, doch klarer Stimme sprach er:
„O edle Jungfrau! Mein lieber Schutzengel! Ich danke dem gütigen Gott für den Trost, den er mir durch Euch beschert hat. Bin ich der Sorge wert, edle Maid, daß Eure durchlauchtige Hand mein Haupt so freundlich stützt? Seid gesegnet für Eure Mühen um einen armen Rittersmann.“
Das Mägdelein sah ihn verwundert an; als sie aber merkte, wie sehr er an Lebenskraft gewonnen hatte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und lieh ihrer Freude jubelnden Ausdruck.
„O, Ihr werdet wieder genesen, Herr Adolf!“ rief sie. „Nun mag ich nicht mehr trauern; jetzt werde ich wenigstens einen Bruder haben, der mich tröstet.“
Als erinnerte sie sich dann aber an etwas Vergessenes, hemmte sie jäh ihre heftige Bewegung; ihr Gesicht wurde ernst, und kniend warf sie sich vor einem Kreuz am Kopfende des Bettes nieder. Sie faltete ihre Hände und richtete ein langes Dankgebet an den Herrn, der ihren Freund und Bruder Adolf hatte genesen lassen. Dann erhob sie sich, blickte noch einmal den Ritter an und sprach fröhlich:
„Haltet Euch recht still, Herr Adolf, und rühret Euch nicht, so hat es Meister Rogaert geheißen.“
„Was habt Ihr nicht alles für mich getan, durchlauchtigste Tochter meines Herrn,“ sprach Adolf. „Beständig vernahm ich Eure Gebete, so manches Mal hat Eure tröstende Stimme mein Herz gestärkt! Ja, im Schlummer schien es mir, daß ein Engel Gottes den Tod von meinem Bett abwehrte. Ein Engel, der mein Haupt stützte, meinen brennenden Durst mitleidig stillte und mir unaufhörlich versicherte, daß ich nicht sterben würde. Möge Gott mir bald meine Gesundheit wieder geben, auf daß ich mein Blut für die Euren vergießen kann.“
„Herr van Nieuwland,“ entgegnete das Mägdelein, „Ihr habt [76] Euer Leben für meinen Vater gewagt; Ihr liebt ihn so treu wie ich; ziemte es mir da nicht, Euch meine Dankbarkeit zu beweisen und für Euch wie für meinen Bruder zu sorgen? Der Engel, den Ihr sahet, war der heilige Michael, den ich bat, daß er Euch seine Hilfe leihe. – Nun will ich geschwind Eure gute Schwester Maria rufen; sie soll sich mit mir über Eure Besserung freuen.“
Sie verließ den Ritter und kam einige Augenblicke danach mit Maria ins Gemach zurück. Ihre Freude über die Fortschritte in Adolfs Befinden sprach aus ihren Zügen und ihrer ganzen Haltung. Ihre Bewegungen wurden rascher und bestimmter; die Tränen waren versiegt, und der treue Vogel hörte wieder heitere Worte. Sobald sie mit Maria in das Gemach zurückgekehrt war, hatte sie den Falken vom Stuhl auf ihre Hand genommen und war mit ihm an Adolfs Bett getreten.
„Mein teurer Bruder,“ rief Maria und küßte ihn auf die bleiche Wange, „du wirst gesund; nun werden die trüben Träume von mir weichen. O, wie bin ich froh! Wie oft habe ich an deinem Bette in bittrem Herzeleid geweint, wie oft glaubte ich, daß du sterben würdest, doch nun schwindet aller Gram. Willst du trinken, Bruder?“
„Nein, gute Maria,“ antwortete Adolf. „Nie habe ich in meiner Krankheit Durst gelitten: hat mich doch die edelmütige Machteld gar fürsorglich gelabt! Sobald ich nur zum heiligen Kreuz [18] wandern kann, soll mein Gebet den Segen Gottes auf sie niederflehen, auf daß ihr nie ein Unglück widerfahren möge.“
Inzwischen erzählte Machteld eifrig flüsternd ihrem Falken von der erfreulichen Besserung. Als der Vogel seine Gebieterin so fröhlich sah, schüttelte er sein Gefieder, als rüstete er sich zur Jagd.
„Treuer Vogel,“ sagte das Mägdelein, indem es des Falken [77] Kopf Adolf zuwandte, „sieh, nun wird Herr van Nieuwland gesund, den wir so lange in tiefem Schweigen daliegen sahen. Nun können wir zusammen sprechen und werden nicht mehr so im Dunkeln sitzen. Unsere Furcht entschwand, und so wird auch aller Kummer entweichen, denn nun wirst du wohl inne, daß Gott gütig und gerecht ist. Ja, mein schöner Falke, so endet wohl auch dereinst die bittere Gefangenschaft von …“
Hier merkte Machteld, daß sie fast etwas gesagt hätte, was der kranke Ritter nicht wissen sollte. Aber brach sie auch kurz ab, das Wort „Gefangenschaft“ erklang befremdend in Adolfs Ohr. Auch die Tränen, die er bei seinem Erwachen auf des Mägdeleins Wangen bemerkt hatte, erfüllten ihn nun mit banger Ahnung.
„Was sagt Ihr, Machteld?“ rief er, „von wessen Gefangenschaft sprecht Ihr? Ihr weint! Himmel, was ist Euch widerfahren?“
Machteld durfte nicht antworten; aber Maria lenkte geschickt ein und flüsterte ihm ins Ohr:
„Sie meint die Gefangenschaft ihrer Tante Philippa; sprich nicht mehr darüber; denn sie weint unaufhörlich. Da es dir nun besser geht, kann ich bald Wichtiges mit dir besprechen, wenn Meister Rogaert es erlaubt; aber sie darf uns nicht hören, auch will ich erst Meister Rogaert erwarten. Nun bleib' ruhig, lieber Bruder, ich will Machteld in ein anderes Zimmer führen.“
Der Ritter ließ sein Haupt in die Kissen sinken und stellte sich, als ob er ruhe. Alsbald wandte sich Maria zu Machteld und sprach:
„Kommt, laßt uns gehen; denn Adolf möchte ein wenig schlafen. Aus Dankbarkeit gegen Euch spricht er zu viel.“
Das Mädchen folgte willig ihrer Freundin. Bald darauf trat der Wundarzt Rogaert ein, und Maria führte ihn zu ihrem Bruder.
„Nun, Herr Adolf,“ rief Rogaert und ergriff seine Hand, „ich [78] sehe, es geht gut. Nur keine Furcht, wir sind nun über den Berg. Ich brauche Eure Wunde jetzt nicht zu verbinden. Trinkt nur reichlich von diesem Wasser und haltet Euch so ruhig wie möglich. In weniger als einem Monat werden wir eine Wanderung zusammen machen, wenn nicht ganz unvorhergesehene Rückfälle eintreten. Da aber Euer Geist nicht so krank ist wie Euer Körper, so gestatte ich, daß Fräulein Maria Euch von dem traurigen Ereignis berichtet; aber bitte, Herr Adolf, erschreckt nur nicht und bleibt immer hübsch ruhig.“
Maria hatte schon zwei Stühle herangeschoben und setzte sich mit Meister Rogaert beim Kopfende des Bettes nieder. Der kranke Ritter betrachtete sie voll gespannter Neugierde. Man konnte in seinen Zügen lesen, wie sehr es ihm schon jetzt nahe ging.
„Laß mich erst ganz ausreden,“ begann Maria, „unterbrich mich nicht und sei vernünftig, lieber Bruder. – Am Abend deines Mißgeschicks rief unser Graf seine getreuen Lehnsleute zusammen und teilte ihnen mit, daß er nach Frankreich reisen wolle, um dem König Philipp dem Schönen zu Füßen zu fallen, und Gwijde von Flandern zog also mit den Edlen nach Compiègne; aber dort wurden sie allesamt gefangen genommen, und nun wird unser Land von den Franzosen beherrscht. Flandern untersteht Raoul von Nesle …“
Dieser knappe Bericht ergriff den Ritter nicht so heftig, als man hätte erwarten sollen. Er antwortete nicht und schien in tiefes Nachdenken versunken.
„Ist das nicht traurig?“ fragte Maria.
„O großer Gott!“ seufzte Adolf, „welche holde Seligkeit hast du Gwijde zugedacht, da er so viele Demütigungen hienieden erdulden muß! – Aber sage mir, Maria, ist auch der Löwe von Flandern gefangen?“
„Ja, lieber Bruder, Robrecht van Bethune sitzt zu Bourges in Berry gefangen und Herr Wilhelm in Rouen. Von all [79] den Edlen, die mit ihm beim Grafen waren, ist nur einer diesem traurigen Schicksal entgangen – der listige Dietrich.“
„Nun begreife ich auch die abgebrochenen Worte und die Tränen der unglücklichen Machteld. – Ohne Vater, ohne Verwandte muß die Tochter des Grafen von Flandern bei Fremden Zuflucht suchen!“
Hell funkelten seine Augen, sein Gesicht strahlte vor Begeisterung, und er fuhr fort:
„Das teure Kind meines Fürsten und Gebieters ist mein Schutzengel gewesen! Wohl ist sie jetzt verlassen, unglücklich, allen Verfolgungen ausgesetzt; aber eingedenk der Wohltaten des Löwen werde ich über sie wachen wie über ein Heiligtum. O, welch schöne, welch erhabene Aufgabe ward mir zuteil! Wie ist mir nun das Leben wert, da ich es ganz der Dankbarkeit weihen kann.“
Nach kurzem, tiefem Nachdenken ward plötzlich sein Gesicht finster; flehend blickte er den Arzt an und sprach:
„O Gott! wie quälend wird nun meine Wunde, wie unerträglich das Krankenlager! Rogaert, werter Freund, o macht mich doch rasch gesund – Gott wird's Euch vergelten, damit ich etwas für sie tun kann, die mich so liebreich in meiner Krankheit gepflegt hat. Spart kein Geld, braucht die köstlichsten Kräuter, die edelsten Arzneien, damit ich aus dem Bett komme, denn hier werde ich fürder keine Ruhe mehr haben!“
„Aber, Herr van Nieuwland,“ antwortete Rogaert, „die Heilung Eurer Wunde läßt sich nicht beschleunigen, die Natur muß immer Zeit haben, die Wundflächen wieder zu vereinigen. Geduld und Ruhe werden Euch mehr helfen als alle Wundersteine. Aber wir wollten Euch noch mehr sagen. Wißt, daß die Franzosen überall die Herren spielen und mit jedem Tag hochmütiger werden. Bisher haben wir die junge Machteld noch ihren Augen entzogen, aber wir fürchten, sie könnte doch einmal entdeckt werden, und dann kann es geschehen, daß auch sie an Johanna von Navarra ausgeliefert wird.“
„Heiliger Himmel!“ rief Adolf aus, „Ihr habt recht, Meister Rogaert, man würde sie nicht schonen! Aber was tun? Welch Elend, so da zu liegen, während sie meine Hilfe braucht!“
„Ich weiß einen Platz,“ erwiderte Rogaert, „wo Machteld in Sicherheit sein würde.“
„O, Ihr rettet mich aus der Verzweiflung, sagt rasch, wo das ist!“
„Meint Ihr nicht, Adolf, daß sie im Jülicher Lande bei ihrem Ohm Wilhelm in aller Ruhe bleiben könnte?“
Bei dieser Frage erschrak der Ritter sichtlich. Sollte er Machteld in fremde Lande ziehen lassen? Sollte er sich selbst in die Unmöglichkeit setzen, ihr zu helfen, sie zu verteidigen? Dazu konnte er sich nicht entschließen, da er sich doch schon innerlich vorgenommen hatte, Machteld persönlich ihrem Vater zurückzugeben und sie vor jeder Kränkung zu bewahren.
Er bot all seine Seelenkräfte auf, um einen anderen Weg zu finden, ohne daß sie so weit von ihm fort mußte. Als er ihn gefunden glaubte, verklärte die Freude sein Gesicht, und er entgegnete:
„Wahrlich, Meister Rogaert, dieser Ort scheint mir recht günstig; aber Ihr sagt selbst, daß die französischen Banden über ganz Flandern verstreut sind; deshalb wäre solche Reise für ein Edelfräulein wohl zu gefährlich. Mit einem Geleit stände es noch ärger. Und sollte ich Jungfrau Machteld allein mit einigen Dienern ziehen lassen? Nein! ich muß über sie wie über mein Seelenheil wachen, denn Robrecht van Bethune wird von mir einst seine Tochter zurückfordern.“
„Aber, Herr Adolf, erlaubt mir zu erwidern, daß Ihr die Jungfrau noch mehr bloßstellt, wenn Ihr sie in Flandern haltet; denn wer soll sie beschirmen? Ihr nicht, – dazu seid Ihr nicht imstande. – Die Herren der Stadt werden es auch nicht tun, sie sind ja Frankreich ergeben. Was würde aus dem armen Edelfräulein werden, wenn die Franzosen es entdeckten?“
„Ich habe ihren Beschirmer bereits gefunden,“ antwortete Adolf, – „Maria, schick' bitte einen Knecht zu dem Zunftmeister der Wollenweber, er möchte mich besuchen. Meister Rogaert, ich beabsichtige, unsere junge Edeldame unter den Schutz der Gemeinde zu stellen. – Findet Ihr den Einfall nicht gut?“
„O ja, er ist nicht übel, aber es wird Euch nicht glücken; denn das Volk ist aufgebracht gegen alles, was sich adlig nennt; man darf ihm damit nicht kommen. – Und eigentlich haben sie nicht so unrecht, Herr Adolf, denn die meisten der Edelleute halten zu den Feinden und wollen die Rechte der Gemeinden vernichten.“
„Das kann mich von meinem Vorhaben nicht abbringen, Meister Rogaert. Mein Vater hat der Stadt Brügge viele Vorrechte verschafft, und der Zunftmeister der Weber und seine Kameraden haben das nicht vergessen. Sollte es mir aber dennoch mißglücken, so werden wir überlegen, wie wir die Jungfrau nach Jülich bringen.“
Etwa eine halbe Stunde nach dieser Unterredung trat Meister De Coninck, Obmann der Wollweber, in Adolfs Zimmer.
Ein langes Koller von braunwollenem Tuche, ohne Zierat oder Borten, also gänzlich verschieden von der stolzen Kleidung der Edlen, wallte bis auf seine Füße herab. Man sah, daß der Vorsteher der Weber absichtlich allen Putz mied, um seinen niedrigen Stand anzuzeigen und so Hochmut mit Hochmut zu beantworten; denn dieses wollene Wams umhüllte den mächtigsten Mann von Flandern. Auf dem Haupte trug er eine flache Mütze, unter der seine Haare einen halben Fuß lang über die Ohren fielen. Ein Gürtel hielt die weiten Falten seines Kollers über den Hüften zusammen, und der Griff eines Kreuzmessers blinkte an seiner Seite. Da er ein Auge verloren hatte, war sein Antlitz nicht sehr einnehmend. Ungewöhnliche Blässe, vorstehende Backenknochen und die gefurchte Stirn verliehen seinem Gesicht einen sinnenden Ausdruck. [82] Gewöhnlich fiel nichts Besonderes an ihm auf; wenn aber etwas seine Aufmerksamkeit erregte, ward sein Blick durchdringend und lebhaft; dann leuchtete sein kluger, männlicher Geist aus dem einzigen Auge, das ihm noch geblieben war, und seine Haltung wurde trotzig und stolz. Beim Eintreten betrachtete er wie ein mißtrauischer Fuchs die Menschen im Zimmer und zumal Meister Rogaert; denn er merkte gleich, daß dieser listiger war als die anderen.
„Meister De Coninck,“ sprach Adolf, „wollet bitte näher treten. Ich habe eine Bitte, die Ihr mir nicht abschlagen werdet; denn meine ganze Hoffnung ruht auf Euch. Aber erst müßt Ihr mir geloben, das Geheimnis, welches ich Euch anvertrauen will, niemandem zu entdecken.“
„Die Rechtfertigkeit und die Freundlichkeit des Herrn van Nieuwland sind den Wollwebern noch unvergessen,“ antwortete De Coninck, „deshalb mögen Euer Edeln auf mich als einen dankbaren Diener rechnen. Sollte allerdings Eure Bitte den Rechten des Volkes und der Gemeinde widersprechen, so würde ich Euch raten, das Geheimnis für Euch zu behalten und nichts von mir zu verlangen.“
„Seit wann,“ rief Adolf etwas unwillig, „seit wann, Meister, haben die Herren van Nieuwland Eure Rechte verkürzt? Ihr beleidigt mich.“
„Vergebt mir, Herr, wenn Euch meine Worte verletzt haben,“ entgegnete De Coninck; „es ist so schwer, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, daß man klüglich allen mißtraut. Gestattet mir eine Frage, um allen Zweifel in mir zu zerstreuen: Ist Euer Edeln ein Leliaert?“
„Ein Leliaert?“ fuhr Adolf entrüstet auf, „nein, Meister De Coninck, in mir pocht ein Herz, das allen Franzosen feind ist; meine Bitte an Euch sollte gerade gegen sie gerichtet sein.“
„O Herr, dann sprecht frei heraus, ich stehe zu Euren Diensten.“
„Schön. Also Ihr wißt, daß unser Graf Gwijde mit all' seinen Edlen gefangen ist; noch aber ist jemand in Flandern [83] verblieben, die, aller Hilfe, alles Beistands bar, des Mitleids der Vlaemen um ihres Unglücks und ihrer edlen Abkunft willen wert ist.“
„Ihr sprecht von Jungfrau Machteld, der Tochter des Herrn van Bethune,“ fiel De Coninck ein.
„Woher wißt Ihr das?“ fragte Adolf erstaunt.
„O, ich weiß noch mehr. So heimlich habt Ihr Machteld nicht in Eure Wohnung bringen können, daß De Coninck es nicht gewußt hätte, und sie würde sie auch nicht ohne mein Wissen verlassen haben. Aber seid nur ruhig; ich kann Euer Edeln versichern, daß nur wenige Personen in Brügge außer mir um dieses Geheimnis wissen.“
„Meister, Ihr seid ein wunderlicher Mann; doch Euer Edelmut bürgt mir dafür, daß Ihr die junge Tochter des Löwen von Flandern gegen die Gewalt der Franzosen beschützen werdet, falls es nötig wäre.“
De Coninck entstammte wohl dem Volke, aber er war einer jener seltenen Geister, die durch Verstand und Einsicht die geborenen Beherrscher ihrer Mitmenschen sind. Kaum hatten die Jahre seine Gabe zur Reife gebracht, da rüttelte er seine Brüder aus ihrem trägen Schlummer, überzeugte sie von der Macht der Einigkeit und erhob sich mit ihnen wider die Zwingherren. Die wollten freilich das Erwachen ihrer einstigen Sklaven gewaltsam hindern, doch vergeblich: De Conincks Beredsamkeit hatte den Geist seiner Brüder so hoch gestimmt, daß sie kein Joch mehr tragen mochten. Wurden sie dennoch bisweilen mit bewaffneter Hand unterdrückt, so beugten alle demütig den Nacken, und De Coninck tat, als ob ihm Sprache und Verstand fehle; aber sein rastloser Geist ruhte nicht: Kaum hatte er den Mut seiner Brüder in der Stille wieder gestählt, so standen sie vereint gegen die Bedrücker auf, und die Gemeinde erlangte wieder ihre Freiheit. Alle politischen Pläne der Edelleute zerstoben vor De Conincks Geist, und durch ihn sahen sie all ihre Rechte auf das Volk schwinden, [84] ohne es hindern zu können. Entschieden hat De Coninck mit am meisten das Verhältnis der Edlen zum Volke umgestaltet; all sein Planen galt lediglich der Erhebung eines Volkes, das so lange in der niederen Knechtschaft der Lehensherren geschmachtet hatte.
Als Adolf van Nieuwland die junge Machteld seinem Schutz anvertraute, da lächelte er befriedigt, denn das war ja ein Triumph des Volkes, welches er vertrat. Er berechnete die Vorteile, die ihm bei der Ausführung des großen Befreiungsplanes aus der Gegenwart des durchlauchtigsten Edelfräuleins erwachsen konnten.
„Herr van Nieuwland,“ antwortete er, „Eure Bitte ehrt mich sehr. Alles soll zum Schutz eines so edlen Sprosses geschehen.“ Und um die Bedeutung des Volkes noch mehr zu unterstreichen, fügte er hinzu:
„Aber sie könnte von hier entführt werden, noch ehe ich ihr zu Hilfe kommen kann.“
Das erzürnte Adolf sehr, denn er schloß daraus, daß der Obmann nicht so recht bei der Sache war. Deshalb erwiderte er:
„Wenn Ihr uns nicht tatkräftig helfen könnt, Meister, so ratet mir bitte, was man am besten zum Schutze der Tochter unseres Landesherrn tun könnte.“
„Die Weberzunft ist stark genug, um das Edelfräulein vor allem Unheil zu bewahren,“ antwortete De Coninck listig; „ich kann Euch versichern, sie würde hier in Brügge ebenso sicher wie in Deutschland wohnen können, wenn ich sie beraten dürfte.“
„Aber wer hindert Euch daran?“ fragte Adolf.
„O Herr, ein geringer Bürger kann nicht so ohne weiteres über seine Landesherrin verfügen; sollte es ihr aber belieben, künftig meinem Rate zu folgen, so könnte ich für sie einstehen.“
„Ich verstehe Euch nicht recht, Meister. Was verlangt Ihr [85] denn von der Jungfrau? Ihr wollt sie doch nicht anderswohin bringen?“
„O nein; – aber sie dürfte sich nicht ohne mein Wissen auf die Straße begeben, sich auch nicht weigern, auszugehen, wenn ich es für nötig halte. Übrigens soll es Euch freistehen, mir diese Vollmacht zu entziehen, sobald Ihr an meiner Aufrichtigkeit zweifelt.“
Da De Coninck in Flandern für einen der verständigsten Männer galt, so nahm Adolf an, daß sein Verlangen von Vorsicht diktiert war, und gestand ihm deshalb alles zu, unter der Bedingung, daß er persönlich für die Jungfrau einstehe. Der Obmann machte alsdann darauf aufmerksam, daß er die edle Machteld nicht kannte, und deshalb wurde sie von Maria herbeigeholt.
De Coninck verbeugte sich tief und demütig vor ihr; das Mägdelein aber betrachtete ihn erstaunt, denn es wußte nicht, wer er war. Da hörte man plötzlich Lärm auf dem Gang, als ob zwei Menschen sich stritten.
„So wartet doch!“ rief einer von ihnen, „ich will gehen und fragen, ob Ihr eintreten dürft.“
„Was?“ rief eine andere noch gewaltigere Stimme, „Ihr wollt die Fleischer fernhalten, während die Weber zugelassen werden? Rasch, macht Platz, oder Ihr werdet es bereuen!“
Die Tür ging auf, und ein junger kräftig gebauter Mann mit stolzen Zügen trat ins Zimmer. Er trug ein Koller wie De Coninck, nur war es geschmackvoller verziert. Ein großes Kreuzmesser steckte in seinem Gürtel. Als er in das Zimmer trat, warf er sein langes blondes Haar zurück und blieb verblüfft an der Tür stehen. Er hatte geglaubt, den Obmann der Weber mit einigen seiner Genossen zu finden. Als er jetzt aber diese herrliche Jungfrau und vor ihr De Coninck in demütiger Haltung erblickte, wußte er nicht, was er denken sollte. Doch ließ er sich weder hierdurch, noch durch Meister Rogaerts forschende Blicke außer Fassung bringen. Er entblößte [86] sein Haupt, verbeugte sich hastig vor allen anwesenden Personen und ging stracks auf De Coninck zu. Dem klopfte er freundschaftlich auf die Schulter und meinte:
„Meister Peter, ich suche Euch schon seit zwei Stunden in der ganzen Stadt, aber ich konnte Euch nirgends finden. Ihr wißt ja noch nicht, was vorgeht, was ich Euch für Nachrichten bringe.“
„Nun, was gibt es denn, Meister Breydel?“ fragte De Coninck ungeduldig.
„Starrt mich doch nicht so mit Eurem grauen Auge an,“ rief Jan Breydel, „denn Ihr wißt wohl, daß ich mich vor Eurem Katzenblick nicht fürchte. Doch einerlei – wisset denn, König Philipp der Schöne und die verfluchte Johanna von Navarra kommen morgen nach Brügge. – Und die sauberen Herren vom Magistrat haben hundert Weber, vierzig Fleischer, und ich weiß nicht wie viele noch zum Herrichten von Triumphbogen, Wagen und Schafotten verlangt.“
„Und was besagt denn das so Außerordentliches, daß Ihr so lauft?“
„Wie, Meister! – was das besagt? Mehr, als Ihr denkt; denn nicht ein einziger Fleischer mag helfen, und dreihundert Weber warten auf Euch vor dem Pand [19] . Was mich betrifft, so sollen sie nur warten, bis ich mich für die rühre. Die Goedendags [20] stehen bereit, die Messer sind geschliffen. Ihr wißt wohl, was das bei meiner Zunft besagen will.“
Die Anwesenden lauschten neugierig den ungezwungenen Worten des Fleischers. Seine Stimme war angenehm und wohlklingend, [87] ohne die Weichheit einer Frauenstimme. De Coninck bedachte, daß Breydels Vorhaben heikel war und antwortete daher:
„Meister Jan, ich komme mit; wir werden unter uns die nötigen Maßnahmen treffen. Erst aber erkennet in dieser edlen Jungfrau die Tochter von unserem Herrn Robrecht van Bethune!“
Breydel warf sich bestürzt vor Machteld auf die Knie, blickte zu ihr auf und rief:
„O meine durchlauchtigste Gebieterin! vergebt mir die unbesonnenen Worte, die ich ahnungslos vor Euch sprach. Die edle Tochter des Löwen von Flandern, unseres Herrn, möge es einem geringen Bürger nachsehen.“
„Steht auf, Meister,“ antwortete Machteld freundlich. „Eure Worte haben mich nicht verletzt; denn Liebe zum Vaterland und Haß gegen unsere Feinde gaben sie Euch ein. Ich danke Euch für Eure Treue.“
„Gnädige Gräfin,“ sprach Breydel, und stand auf, „Euer Edeln können nicht glauben, wie sehr ich die Snakkers [21] und Leliaerts hasse! O, könnte ich das Leid rächen, das dem Hause von Flandern angetan wurde, – o, könnt' ich's doch! Aber der Obmann der Wollenweber kommt mir immer dazwischen. Vielleicht hat er recht, denn aufgeschoben ist nicht aufgehoben; aber ich kann kaum an mich halten. Morgen kommt die falsche Königin von Navarra nach Brügge: Gott wende meinen Sinn, sonst sieht sie ihr verhaßtes Frankreich nicht wieder.“
„Meister,“ sprach Machteld, „wollt Ihr mir etwas versprechen?“
„Ich Euch etwas versprechen, edle Dame? Wie gütig sprecht Ihr doch zu Eurem unwürdigen Diener! Ein Gedanke von [88] Euch soll mir ein heiliges Gebot sein, durchlauchtige Jungfrau!“
„Gut; ich wünsche, daß Ihr während der Anwesenheit Eurer neuen Fürsten die Ruhe nicht stört.“
„Es soll geschehen,“ sagte Breydel betrübt, „ich hätte lieber gehört, daß Ihr meinen Arm und mein Messer braucht. Aber was nicht ist, kann noch werden!“
Dann beugte er nochmals ein Knie vor der jungen Machteld und fuhr fort:
„Ich bitte, ich beschwöre Euch, edle Tochter des Löwen, vergeßt Euren Diener Breydel nicht, falls Ihr jemals mutiger Männer bedürfet. Die Fleischerzunft wird ihre Goedendags und ihre Messer Euch zu Diensten geschliffen halten.“
Das Mädchen erschrak nicht wenig über dies blutige Anerbieten; aber der junge Mann gefiel ihr sehr.
„Meister,“ entgegnete sie, „ich werde meinen Herrn und Vater, wenn ihn mir Gott zurückgibt, von Eurer Treue in Kenntnis setzen; ich kann Euch nur meiner Dankbarkeit versichern.“
Bei diesen Worten stand der Obmann der Fleischer auf und zog De Coninck am Arm mit sich fort. Nachdem beide das Zimmer und das Nieuwlandsche Haus verlassen hatten, plauderten die Zurückbleibenden noch lange über den unerwarteten Besuch.
Als die beiden auf der Straße waren, begann De Coninck:
„Meister Jan, Ihr wißt, der Löwe von Flandern war immer ein Freund des Volkes; deshalb ist es unsre Pflicht, seine Tochter wie ein Heiligtum zu hüten.“
„Still,“ sprach Breydel, „der erste Franzose, der sie unfreundlich ansieht, soll mit meinem Kreuzmesser Bekanntschaft machen. Aber, Meister Peter, wäre es nicht besser, wenn wir die Tore schlössen und Johanna nicht in die Stadt ließen? Alle Fleischer stehen bereit; die Goedendags stehen hinter der Tür, und auf den ersten Ruf sind die Leliaerts …“
„Hütet Euch wohl, Gewalttätigkeiten zu begehen,“ unterbrach [89] De Coninck. „Es ist überall Sitte, seinen Landesherrn prunkvoll zu empfangen – das kann also die Gemeinde nicht entehren. Es ist besser, die Kräfte für wichtige Unternehmungen aufzusparen. Das Vaterland wimmelt von französischen Kriegsknechten, und wahrscheinlich würden wir gegen sie den kürzeren ziehen.“
„Aber, Meister, das dauert schon zu lange. Wir wollen lieber den Knoten mit einem guten Messer durchschneiden, statt ihn so langsam zu lösen. Ihr versteht –!“
„O ja, aber der Plan ist schlecht. Das beste Messer ist die Vorsicht, Breydel. Es schneidet zwar langsam, aber es wird nie stumpf und bricht auch nicht. – Wozu wollt Ihr denn die Tore schließen? Nichts ist damit gewonnen. Ich will Euch einmal etwas sagen: Laßt das Unwetter sich ruhig verziehen, laßt die Kriegsknechte mählich nach Frankreich zurückkehren, gebt den Französlingen und Leliaerts ein wenig nach, damit ihre Wachsamkeit nachläßt.“
„Nein,“ warf Breydel ein, „unmöglich. – Schon werden sie herrisch, beginnen zu drohen; sie berauben die Bauern ihrer Freiheit und behandeln uns Bürger wie Sklaven.“
„Desto besser, Meister Jan, desto besser!“
„Desto besser! was soll das heißen? Geht, Meister! Habt Ihr den Mantel gedreht, wollt Ihr uns mit Eurer Fuchsesschläue verraten? – Fast scheint es mir, als wenn Ihr mit der Zeit etwas nach Lilien röchet!“
„Nein, nein, mein Freund Jan! Bedenkt nur wie ich, daß die Befreiung um so schneller naht, je mehr die Erbitterung steigt. Würden sie ihr Tun beschönigen, mit scheinbarer Gerechtigkeit herrschen, dann würde das Volk im Joch entschlummern und das Gebäu unserer Freiheit sänke für immer dahin. Seht, die Tyrannei der Herrscher brütet die Freiheit des Volkes wie eine Henne aus. Sollten sie aber wagen, die Vorrechte unserer Stadt anzutasten, so wäre ich der erste, der Euch zum Widerstand ermunterte – aber auch dann noch [90] nicht zur offenen Gewalt. Es gibt andere Waffen, die sicherer arbeiten.“
„Meister,“ gestand Jan Breydel zu, „ich verstehe jetzt, Ihr habt immer recht, als ständen Eure Worte auf Pergament. Aber es fällt mir sehr schwer, die kecken Franzosen so lange zu ertragen; lieber noch wäre ich sarazenisch als welsch [22] . Doch Ihr sagt ganz richtig: je mehr ein Frosch sich aufbläst, desto eher platzt er. Ich muß zugeben: im Verstand sind uns die Weber über.“
„Gut, Meister Breydel, und in Mut und Kühnheit die Fleischer. Gehen beide Tugenden, Vorsicht und Mut, bei uns stets Hand in Hand, dann wird es den Franzosen an Zeit fehlen, uns in Ketten zu schlagen.“
Der Obmann der Fleischer lachte laut und zufrieden über die Schmeichelei. „Ja,“ meinte er, „in meiner Zunft gibt's tapfere Leute, Meister Peter. Und die Welschen sollen das merken, wenn der bittere Apfel reif ist. Aber da fällt mir ein: wie wollt Ihr die Tochter des Löwen, unseres Herrn, den Augen der Königin entziehen?“
„Ich werde sie ihr im Sonnenlicht zeigen.“
„Wie, Meister? Jungfrau Machteld Johanna von Navarra zeigen? Mir scheint, Ihr redet irre! Seid Ihr auf den Kopf gefallen?“
„Keineswegs! Morgen, beim Einzug der fremden Herrschaften, sollen alle Weber unter Waffen sein; Ihr werdet an der Spitze der Fleischer stehen. Was können die Welschen dann ausrichten? Nichts natürlich. Schön. Dann stelle ich Jungfrau Machteld in die vorderste Reihe, damit Johanna von Navarra sie bestimmt bemerkt. So erfahre ich auch zugleich, was die Königin [91] im Sinne hat, und was wir für Machteld zu befürchten haben.“
„Recht so, Meister Peter! Ihr habt zu viel Verstand für einen sterblichen Menschen! Ich werde die Tochter des Löwen bewachen und habe nur den einen Wunsch, daß ein Franzose sie beleidigt, denn es juckt mir gewaltig in den Fäusten. Aber heute muß ich noch nach Lijseele gehen und Hornvieh kaufen, so lange werdet Ihr über die junge Gräfin wachen.“
„Nun seid nur ruhig, Freund Jan, und laßt Euer Blut nicht zu arg kochen. So, da sind wir ja am Weber-Pand.“
Wie Breydel gesagt hatte, standen dort unzählige Weber vor der Tür. Alle hatten sie Wämser und Mützen genau wie ihr Obmann. Hie und da hatte wohl ein junger Gesell längeres Haar und mehr Verzierungen am Rocke, aber schlimm war das nicht, denn allzu viel Eitelkeit war bei der Zunft nicht gestattet.
Jan Breydel sprach noch leise ein paar Worte mit De Coninck und verließ ihn dann ganz befriedigt.
Beim Nähern ihres Obmannes löste sich die Schar der Weber; sie entblößten ehrerbietig das Haupt und folgten ihm in die Herberge.
D ie Leliaerts hatten ungewöhnliche Anstalten zum Schmucke der Stadt getroffen; sie hofften sich dadurch die Gunst des neuen Fürsten zu erringen. Alle Zunftgesellen hatten an der Errichtung der Triumphbögen mitgearbeitet; mit Geld war nicht gespart worden; die reichsten Stoffe waren aus den Läden hervorgesucht und an den Giebeln der Häuser aufgehängt worden; auch viele junge Bäume hatte man abgehauen und in den Straßen aufgestellt. Am andern Morgen um zehn Uhr war alles fertig.
In der Mitte des großen Marktes hatte die Zunft der Zimmerleute ein prachtvolles, mit blauem Sammet überzogenes Schaugerüst [92] errichtet. Darauf standen Sessel mit goldenen Borden und gestickten Kissen und daneben zwei Standbilder, der Friede und die Macht, die Kronen aus Lorbeer- und Ölzweigen über die Häupter Philipps des Schönen und Johannas von Navarra halten sollten. Leichte Behänge schmückten den Thron, und der Markt war rings mit reichen Teppichen belegt. Am Eingang der Steinstraße ragten vier marmorne Fußsäulen; auf jeder stand ein Posaunenbläser in Engelskleidung, mit langen Flügeln und purpurnem Gewand. Gegenüber der großen Fleischhalle in der Frauenstraße war ein prächtiger Triumphbogen mit gotischen Pfeilern errichtet worden. Ob der Wölbung hing das Wappen von Frankreich auf purpurnem Grunde, weiter unten an Pfeilern die Schilde von Flandern und Brügge. Überall an den Leisten waren Sinnbilder angebracht, um dem fremden Gebieter zu schmeicheln. Hier kroch Flanderns schwarzer Löwe vor einer Lilie, dort waren die Sterne des Himmels mit Lilien vermengt, kurz lauter plattes Zeug, das die Bastardvlaemen erdacht hatten.
Wäre Jan Breydel nicht durch den Obmann der Weber zurückgehalten worden, so hätten die unwürdigen Darstellungen das Volk nicht lange erbittert; so aber verhehlte er seinen Ärger und beschaute alles mit finsterer Ruhe. De Coninck hatte ihm begreiflich gemacht, daß der rechte Augenblick noch nicht gekommen war.
Die Kathelinenstraße war ihrer ganzen Länge nach mit schneeweißer Leinwand und langen Laubkränzen behangen. Willkommensprüche schmückten die Häuser der Leliaerts. Auf kleinen viereckigen Ständern brannte allerlei Rauchwerk in prächtig getriebenen Vasen und junge Mägdelein streuten Blumen auf die Straßen. – Das Kathelinentor, durch das die Fürsten in die Stadt einziehen mußten, war von außen mit kostbarem Scharlach behangen. Sinnbilder schmeichelten den Fremden und entehrten den Löwen, das siegreiche Zeichen früherer Geschlechter. Acht Trompeter standen neben dem [93] Tor auf dem Wall, um den Willkomm zu blasen und die Fürsten anzukündigen. Auf dem großen Markte standen die Zünfte mit ihren Goedendags in Reihe und Glied längs der Häuser. De Coninck lehnte sich mit dem rechten Flügel der Weber an den Eiermarkt; Breydel mit der Fleischerzunft stand zur Steinstraße hin; die anderen Zünfte verteilten sich in kleineren Gruppen auf der anderen Seite. Die Leliaerts und vornehmsten Edlen der Stadt hatten sich unter der Halle auf einem prächtigen Gerüst versammelt.
Gegen elf Uhr kündeten die Trompeter auf den Wällen die Ankunft der Herrschaften an, und endlich betrat der königliche Zug durch das Kathelinentor die Stadt. Voraus ritten vier Herolde auf schönen weißen Pferden; an ihren Trompeten hingen die Banner Philipps des Schönen, ihres Gebieters, mit goldenen Lilien auf blauem Felde. Sie bliesen einen schönen Marsch und entzückten die Zuhörer durch den Zusammenklang der Töne.
Zwanzig Schritt dahinter ritt König Philipp der Schöne hoch zu Roß einher. Keiner von allen Rittern, die ihn begleiteten, konnte ihn an Schönheit übertreffen; schönes schwarzes Haar fiel in leichten Locken auf seine Schultern nieder und spielte schmeichelnd um seine zarten Wangen, auf die ein Weib hätte stolz sein können. Die gebräunte Farbe seines weichen Gesichts verlieh ihm einen männlichen Ausdruck; sein Lächeln war sanft und seine ganze Erscheinung sehr einnehmend. Die hohe, schöne Gestalt und die edle Haltung machten ihn zum vollkommensten Ritter seiner Zeit. Deshalb wurde er denn auch in ganz Europa le Bel ‚der Schöne‘ genannt. – Seine Kleidung war reich mit Gold und Silber gestickt und doch nicht überladen. Überhaupt empfand man, daß feinster Geschmack, nicht Eitelkeit den Ausschlag gab. Der versilberte Helm auf seinem Haupte war mit einem großen Federbusch geschmückt, der bis auf den Rücken seines Pferdes herabhing.
Neben ihm ritt seine Gemahlin, die stolze Johanna von [94] Navarra. Sie saß auf einem falben Zelter und war ganz mit Gold und Edelsteinen beladen. Ein langes Reitkleid von Goldstoff, das eine silberne Schnur auf der Brust zusammenfaßte, fiel in schweren Falten bis auf die Erde und schillerte lebhaft in tausendfältigem Glanz. Perlen, Knöpfe und Eicheln aus den kostbarsten Stoffen hingen im Übermaß an ihr und ihrem Zelter. Man konnte in den Zügen der hochmütigen, eitlen Fürstin lesen, daß dieser siegreiche Einzug ihrem stolzen Herzen schmeichelte. Sie blickte mit hochfahrender Aufgeblasenheit auf das überwundene Volk, das in den Fenstern, auf den Brunnen, ja sogar auf den Dächern stand, um den Zug sehen zu können.
An der andern Seite des Königs ritt sein Sohn Ludwig Hutin. Der junge Fürst war trotz seiner hohen Stellung demütig und gutartig; Wohlwollen für seine neuen Untertanen strahlte von seinem Gesicht, und die Bürger sahen ihn stets freundlich lächeln. Er besaß die guten Eigenschaften seines Vaters, nichts von den häßlichen Wesenszügen seiner Mutter.
Dicht hinter dem König kamen einige Schildknappen, Pagen und Hofdamen, dann folgte ein langer Zug prächtig gekleideter Ritter, darunter die Herren Enguerrand von Marigny, Châtillon, Saint-Pol, de Nesle, de Nogaret und andere. Die königliche Standarte und eine Menge kleiner Fahnen flatterten lustig über den edlen Rittern.
Schließlich kam noch ein Trupp Leibwachen, wohl dreihundert Mann, alle zu Pferde, von Kopf bis zu Füßen in Eisen. Lange Speere ragten wohl zwanzig Fuß über die Schar empor; sie hatten Helme, Harnische, Waffenröcke, Schilde und eiserne Handschuhe, auch die schweren Pferde waren mit Eisenplatten bedeckt.
Die vielen Bürger, deren Scharen überall standen, betrachteten den Zug in feierlichem Schweigen. Kein einziger Willkommengruß ertönte aus ihren Reihen, keinerlei Freude tat sich kund. Durch diesen kalten Empfang fühlte sich Johanna von Navarra [95] schwer gekränkt, und ihre Erbitterung stieg, als sie bemerkte, daß viele Augen ohne jede Ehrerbietung auf ihr ruhten, und daß manch verächtliches Lächeln ihr den Haß der Vlaemen gegen sie bezeigte.
Sobald der Zug zum Markt kam, setzten die beiden Engel auf den Marmorsäulen ihre Posaunen an und bliesen ihren Willkomm, daß es über den ganzen Platz schallte. Dann stimmten die Herren vom Magistrat mit einigen anderen Leliaerts den Ruf an: „Hoch Frankreich! Es lebe der König! Es lebe die Königin!“
Die stolze Johanna kochte innerlich vor Wut, als sie auch nicht einen Einzigen aus dem Volk oder den Zünften rufen hörte. Alle Bürger standen regungslos da, nicht das kleinste Zeichen von Ehrerbietung oder Freude ward laut [23] . Die zornige Königin verbiß vorerst ihren Grimm, und nur ihr Gesicht verriet ihre Mißstimmung.
Etwas abseits vom Throne befand sich eine Schar Edeldamen auf auserlesenen Zeltern. Um die Königin Johanna mit geziemender Pracht zu empfangen, hatten sie sich so reich mit Juwelen und kostbarem Schmuck behangen, daß das Auge den Glanz kaum ertragen konnte. Machteld, die schöne junge Tochter des Löwen von Flandern, war ganz vorn und fiel der Königin zuerst in die Augen.
Ein langer spitzer Hut von gelber Seide und rotsammeten Bändern saß leicht auf ihrem Kopf; darunter fiel ein Tuch von feinstem Linnen über Wangen, Hals und Schultern bis zur Mitte des Rückens hernieder. An einem goldenen Knopf, oben auf dem Hut, hing ein durchsichtiger, mit tausend goldenen und silbernen Punkten durchwirkter Schleier; ihr Obergewand war vorn offen und ließ einen Latz von blauem Sammet mit silbernen Schnüren hervorschauen; es reichte nur bis an [96] die Knie und war von dem kostbarsten Goldstoff. Darunter kam ein grünes Atlasgewand hervor, das lang, in reichen Falten bis zur Erde niederhing. Lieblich schimmerte dies reiche Gewand, denn bei jeder Bewegung änderte es die Farbe: bald schien es im Sonnenlichte wie feinstes Gold in gelbem Glanze zu erstrahlen, bald wieder ward es grün, bald blau. Auf der Brust der jungen Edeldame an einer kostbaren Perlenschnur, blinkte eine Platte von geschlagenem Gold, die den schwarzen Löwen von Flandern, kunstvoll in Achat geschnitten, umfaßte. Ein goldener Schuppengürtel mit seidenen und silbernen Fransen zeigte einen Verschluß aus zwei Rubinen. Das Geschirr des Zelters, der die liebliche Jungfrau trug, war auch über und über mit goldenen und silbernen Plättchen und beweglichen Eicheln verziert. Ebenso kostbar und prächtig waren auch die anderen Frauen gekleidet.
Die Königin von Navarra kam mit dem ganzen Zuge langsam angeritten und richtete den Blick mit unwilliger Neugierde auf diese Frauen, die so im Sonnenlicht glänzten. Als sie sich ihnen auf eine bestimmte Entfernung genähert hatte, ritten ihr die Edeldamen mit vielem Anstand entgegen und bewillkommneten ihre neue Fürstin mit manch höflichem Gruße. Nur Machteld schwieg und betrachtete Johanna ernst; es war ihr nicht möglich, die Frau zu ehren, die ihren Vater hatte in den Kerker werfen lassen. Ihr Grimm war deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen; Johanna bemerkte es. Hochmütig blickte sie auf Machteld, um sie einzuschüchtern; aber sie täuschte sich, denn die Jungfrau senkte ihre Augenlider nicht und sah die grimmige Königin stolz an. Diese war schon durch die ungewohnte Pracht der Edeldamen erregt, nun konnte sie nicht länger an sich halten, wandte mit sichtlichem Ärger ihren Zelter um und rief, mit dem Kopf auf die Damen weisend:
„Seht, meine Herren, ich glaubte allein Königin in Frankreich zu sein; aber fast dünkt mich, die Vlaemen, die in unseren [97] Gefängnissen liegen, sind allesamt Prinzen, da ich ihre Frauen hier gekleidet sehe wie Königinnen und Prinzessinnen.“
Sie hatte das so laut gerufen, daß alle umstehenden Ritter, ja, selbst einige Bürger es verstanden. Mit schlecht verhehltem Mißvergnügen fragte sie den Ritter, der ihr folgte:
„Herr von Châtillon, was ist das nur für eine trotzige Jungfrau hier vor mir mit dem Löwen von Flandern auf der Brust? Was bedeutet das?“
Châtillon ritt heran und antwortete:
„Es ist die Tochter des Herrn van Bethune, sie heißt Machteld.“
Dabei legte er seinen Finger auf den Mund, um der Königin Verstellung und Schweigen anzuraten. Sie verstand und gab ihre Zustimmung durch ein Lächeln zu erkennen, ein Lächeln voll grausamer Falschheit und häßlicher Rachsucht.
Wer in diesem Augenblick den Vorsteher der Weber beobachtete, der konnte sehen, wie starr sein einziges Auge auf die Königin gerichtet war; kein Fältchen war auf ihrer Stirn erschienen und verschwunden, das De Coninck nicht bemerkt hätte. In ihren wechselnden Zügen hatte er ihren Zorn, ihre Absichten und Pläne gelesen. Schon wußte er, daß Châtillon der Vollstrecker ihrer Befehle sein sollte, und sann sofort auf Mittel, der List und Gewalt dieser Feindin zu begegnen.
Bald darauf stieg das Fürstenpaar ab und nahm auf dem Schaugerüst Platz. Die Edelknaben und Hofdamen stellten sich in zwei Reihen auf die Stufen, die edlen Ritter scharten sich hoch zu Roß um das Gerüst. Als alle die bestimmten Plätze eingenommen hatten, traten die Herren vom Magistrat mit den Jungfrauen als den Vertreterinnen der Stadt Brügge vor und überreichten auf einem kostbaren Sammetkissen die Schlüssel der Stadt. Gleichzeitig stießen die Engel wieder in ihre Posaunen, und die Leliaerts riefen abermals: „Es lebe der König! Es lebe die Königin!“
Totenstille herrschte unter den Bürgern; sie schienen sich absichtlich so ruhig zu verhalten, um ihre Unzufriedenheit um [98] so deutlicher zu zeigen, und erreichten auch vollkommen ihren Zweck; denn Johanna bedachte schon in ihrem beleidigten Herzen, wie sie am besten diese unehrerbietigen Untertanen bestrafen und ducken könnte.
König Philipp der Schöne empfing in seiner Sanftmut den Magistrat mit größtem Wohlwollen und gelobte, für die Wohlfahrt Flanderns nach Möglichkeit zu sorgen. Dieses Versprechen war aufrichtig gemeint. Er war ja ein edelmütiger Fürst und ehrenhafter Ritter und hätte vielleicht in Frankreich wie in Flandern seine Untertanen glücklich gemacht, wenn nicht zwei Ursachen die Ausführung seiner guten Vorsätze verhindert haben würden. Die erste und schlimmste war die Herrschaft seiner stolzen Frau Johanna. Hatte Philipp der Schöne etwas Gutes im Sinn, so lenkte sie ihn wie ein böser Geist zum Schlechten und zwang ihn, all ihre verderblichen Pläne gutzuheißen. Dazu kam die Verschwendung, die ihn zu allen Mitteln, guten wie schlechten, greifen ließ, um das vergeudete Geld zu ersetzen. Wohl meinte er es jetzt aufrichtig gut mit Flandern, aber was nützte das, da doch Johanna darüber schon anders beschlossen hatte?
Nachdem die Schlüssel überreicht waren, lieh der König noch einige Zeit der Ansprache des Magistrats ein gnädiges Ohr und verließ dann den Thron. Alles stieg zu Pferde, und langsam ritt der Zug durch die übrigen Straßen der Stadt, bis zum Prinzenhof, wo sie einkehrten, um hier mit den vornehmsten Herren und Leliaerts das Mittagmahl einzunehmen.
Derweile kehrten die Zunftgenossen heim, und das Fest nahm sein Ende.
Abends, als die Gäste längst fort waren, saß die Königin Johanna allein mit ihrer Kammerfrau in ihrem Schlafgemach. Schon hatte sie einen großen Teil der lästigen Prachtgewänder abgelegt und war noch damit beschäftigt, sich ihrer Schmuckstücke zu entledigen. Ihre Hast und der unzufriedene Ausdruck ihrer Züge verrieten die größte Ungeduld. Die Kammerfrau [99] mußte heftige Worte hören und alles, was sie tat, trug ihr scharfen Tadel ein. Halsband und Ohrgehänge flogen wie wertloses Zeug umher.
Dann schritt sie in weißem Nachtgewand, tief in Gedanken im Zimmer auf und ab. Sie hatte nicht die mindeste Lust zu schlafen, und ihre flammenden Augen irrten wild umher. Die Kammerjungfer näherte sich der Fürstin mit liebenswürdiger Ehrerbietung und fragte:
„Beliebt es Eurer Majestät noch länger zu wachen, und soll ich einen größern Leuchter mit mehr Wachslichtern herbeiholen?“
Ungestüm erwiderte die Königin:
„Es ist hell genug. Quält mich nicht mit Euren lästigen Fragen und laßt mich allein. Wartet im Vorsaal auf meinen Oheim de Châtillon – er soll gleich kommen! Geht!“
Während die Kammerjungfer dem groben Befehl Folge leistete, setzte sich Johanna an einen Tisch und ließ den Kopf auf die Hand niedersinken. In dieser Stellung verharrte sie einige Augenblicke: sie gedachte, wie man ihrer gespottet hatte. Dann stand sie auf, schritt hastig mit heftigen Gebärden im Zimmer auf und ab. Endlich sprach sie mit gedämpfter Stimme:
„Wie! Ein kleines erbärmliches Volk sollte mich, die Königin der Franzosen, verhöhnen dürfen? Ein trotziges Mädchen wagt es, meinen Blick zu erwidern? Das ist Hohn!“ Tränen des Zornes rollten über ihre glutroten Wangen.
Plötzlich warf sie den Kopf zurück und lachte tückisch wie ein böser Geist. Dann fuhr sie fort:
„Wartet nur, ihr aufgeblasenen Vlaemen, ihr kennt Johanna von Navarra noch schlecht; ihr wißt nicht, wie schrecklich ihre Rache euch treffen kann. Ruht und schlaft nur ohne Bangen in eurer Vermessenheit; ich weiß euch zu foltern! Tränen sollt ihr vergießen, schmerzhaft sollt ihr meine Hand fühlen! Ja, ihr sollt meine Macht kennen lernen! Kriechen sollst du und winseln, vermessenes Volk! Und ich werde euerm Flehen taub [100] sein. Mit Wonne werde ich eure stolzen Häupter mit Füßen treten. Vergebens sollt ihr weinen und jammern, Johanna von Navarra ist unerbittlich – das wißt ihr noch nicht.“
Jetzt vernahm sie die Schritte der Kammerjungfer im Vorzimmer. Aufgeregt eilte die Fürstin zum Spiegel und änderte ihre ganze Haltung; sie glättete ihre Züge, alle Erregung schien geschwunden. In der Kunst der Verstellung, der größten Untugend der Frauen, war Johanna von Navarra Meisterin.
Alsbald trat Châtillon in das Zimmer und beugte ein Knie vor der Königin.
„Herr von Châtillon,“ sprach sie, und hob ihn mit der Hand empor, „Ihr scheint auf meine Wünsche nicht viel Wert zu legen. Habe ich Euch nicht vor zehn Uhr hierher beschieden?“
„Es ist wahr, Madame, aber der König, mein Herr, hielt mich wider meinen Willen zurück. Seid versichert, durchlauchtigste Nichte, daß ich auf glühenden Kohlen gestanden habe; ich brannte, Eurem königlichen Befehl Folge zu leisten.“
„Eure Ergebenheit freut mich; ich beabsichtige auch, Euch heute für Eure treuen Dienste zu belohnen.“
„Gnädige Fürstin, es ist schon eine hohe Gnade für mich, Eurer Majestät folgen und dienen zu dürfen. Laßt mich Euch überall begleiten. Ein anderer Untertan mag höheren Ämtern nachjagen; für mich ist Eure huldreiche Gegenwart das größte Glück; weiter verlange ich nichts.“
Die Königin lächelte und sah mißbilligend auf den Schmeichler; denn sie durchschaute, wie sehr sein Herz seine Worte Lügen strafte. Dann sagte sie mit Nachdruck zu ihm: „Und wenn ich Euch das Land Flandern zu Lehen geben wollte?“
Châtillon, der solches Anerbieten nicht erwartet hatte, bereute sofort seine Worte; er wußte im ersten Augenblick nicht, was er antworten sollte. Doch sammelte er sich schnell und sprach:
„Falls Eure Majestät mich gnädigst mit soviel Vertrauen beehren wollte, wie dürfte ich es da wagen, mich Eurem königlichen Willen eigensinnig zu widersetzen. In dankbarer Ergebenheit [101] würde ich diese hohe Gunst hinnehmen und Eure großmütige Hand mit ehrerbietiger Liebe küssen.“
„Hört, Herr von Châtillon,“ rief die Königin ungeduldig, „ich beabsichtige nicht, Eure Höflichkeit auf die Probe zu stellen; deshalb wäre es mir lieber, wenn Ihr Eure Redensarten ließet und offen reden würdet! Denn Ihr könnt mir doch nichts sagen, was ich nicht besser wüßte. Was dünkt Euch von meinem Einzug hier? Hat Brügge nicht die Königin von Navarra über die Maßen herrlich empfangen?“
„Ich bitte Euch, durchlauchtige Nichte, laßt diese bittern Scherze. Mir ist der Hohn, der Euch zuteil ward, furchtbar nahe gegangen; ein schlechtes, verächtliches Volk hat Euch offen getrotzt und Eure Würde mit Füßen getreten. Doch bekümmert Euch nicht darüber. Es fehlt uns ja nicht an Mitteln, die vermessenen Untertanen zu bändigen und zu zähmen.“
„Kennt Ihr Eure Nichte, Herr von Châtillon? Das stolze Herz der Königin von Navarra?“
„Wahrlich, o Fürstin, edelster, preislichster Stolz. Denn wer eine Krone trägt, ohne ihr Achtung zu verschaffen, verdient sie nicht. Mit Recht bewundert jedermann Euer königliches Wesen.“
„Wißt Ihr auch, daß kleine Rache mir nicht genügt? Die Strafe der Beleidiger muß meiner Stellung entsprechen. Ich bin Königin und ein Weib; das genügt Euch, um zu wissen, wie Ihr Euch zu verhalten habt, wenn ich Euch zum Landvogt von Flandern mache.“
„Eure Majestät braucht sich deshalb nicht länger Sorgen zu machen; seid sicher, daß Eure Rache vollkommen befriedigt werden wird. Vielleicht werde ich Eure Wünsche übertreffen, denn ich habe nicht nur Eure Schmach, nein auch die Beleidigungen zu rächen, die dies starrköpfige Volk der Krone von Frankreich täglich antut.“
„Herr von Châtillon, laßt Eure Schritte durch schlaueste Politik leiten; zieht den Strick nicht mit einem Male um [102] ihren Hals zusammen; raubt ihnen vielmehr durch langsame Demütigung den Mut. Nehmt ihnen mählich ihr Geld, das ihren Widerstand spornt, und habt Ihr sie an den Pflug gewöhnt, so preßt das Joch so fest, daß ich mich siegesfroh an ihrer Erniedrigung weiden kann. Überhastet nichts; ich habe genügend Geduld, wenn man dadurch besser zum Ziel kommt. Es wird schneller gehen, wenn man klüglich einen gewissen De Coninck, den Obmann der Weber, entfernt und stets nur Franzosen oder gute Freunde zu einflußreichen Ämtern zuläßt.“
Châtillon lauschte aufmerksam dem Rat der Königin und wunderte sich innerlich über ihre schlaue Politik. Da ihn schon eigene Rachsucht zu schlimmer Zwingherrschaft trieb, so freute er sich sehr, gleichermaßen seiner Leidenschaft und den Wünschen seiner Nichte entsprechen zu können.
Er antwortete mit sichtlicher Freude:
„Dankbar empfange ich die Ehre, die mir Eure Majestät erzeigt, und ich werde nichts versäumen, um als treuer Diener den Rat meiner Fürstin zu befolgen. Habt Ihr mir sonst noch Befehle zu geben?“
Diese Frage bezog sich auf die junge Machteld. Châtillon wußte wohl, daß diese Jungfrau den Zorn der Königin erregt hatte, und konnte sich deshalb wohl denken, daß sie es sühnen mußte. Johanna entgegnete:
„Es scheint ratsam, die Tochter des Herrn van Bethune nach Frankreich zu überführen, denn auch sie hat sich die vlaemische Starrköpfigkeit zu eigen gemacht. Es wäre mir lieb, sie am Hofe zu haben. Doch genug davon – Ihr versteht meine Absichten. Morgen verlasse ich dies verwünschte Land, denn ich habe schon zu lange den Hohn ertragen. Raoul von Nesle folgt uns, Ihr bleibt als Statthalter in Flandern mit der Vollmacht, das Land nach Eurem Willen zu regieren.“
„Oder vielmehr gemäß dem Willen meiner königlichen Nichte,“ fiel von Châtillon ihr schmeichelnd ins Wort.
„Ganz recht,“ fuhr Johanna fort, „Eure Bereitwilligkeit freut mich. Zwölfhundert Reiter sollen Euch zur Seite bleiben und Euren Befehlen Nachdruck verschaffen. Nun möge Euer Edlen mich die nötige Ruhe genießen lassen. Ich wünsche Euch gute Nacht, mein trefflicher Oheim!“
„Ein guter Engel bewahre Eure Majestät,“ sprach Châtillon, indem er sich verneigte und das Gemach der argen Frau verließ.
D ie Herren vom Magistrat hatten mit Zustimmung der Leliaerts übergroße Kosten zur Einholung der französischen Fürsten aufgewandt. Das Errichten von Siegesbögen und Prunkgerüsten mit den dazu nötigen Stoffen hatte bedeutende Ausgaben verursacht. Zudem hatte jeder Mann von der Leibwache des Königs ein gutes Maß vom besten Wein erhalten. Da diese Ausgaben durch die Regierung angeordnet waren und deshalb auch aus dem Gemeindesäckel bestritten werden mußten, so hatten sich die Bürger dazu ziemlich gleichgültig verhalten.
Nun war all dies Prunkwerk schon wieder fortgeräumt. Châtillon war in Kortrijk, der Einzug der fremden Fürsten fast vergessen, als eines Morgens um zehn Uhr ein Ausrufer vor dem Stadthaus auf dem Pui [24] erschien und mit einigen Posaunenstößen das Volk zusammenrief. Als der Haufe groß genug war, zog er ein Pergament aus der Tasche und las mit lauter Stimme:
„Es wird jeglichem Bürger kund und zu wissen getan, daß der Magistrat das Folgende beschlossen hat:
Eine außerordentliche Besteuerung ist festgesetzt, um die Kosten vom Einzug unseres gnädigsten Fürsten Philipp, des Königs von Frankreich, zu decken.
Jeder Eingesessene der Stadt Brügge hat hierzu, ohne Unterschied des Alters, auf jeden Kopf acht Grooten Vlaamsch zu bezahlen;
die Zollbeamten sollen das Geld am nächsten Samstag an den Türen in Empfang nehmen; wer sich mit List oder Gewalt der Zahlung entzieht, soll hierzu durch den Herrn Baljuw von Rechts wegen dazu gezwungen werden.“
Die Bürger sahen sich ob dieser Verkündigung verwundert an und murrten im stillen gegen das willkürliche Gebot. Auch einige Mitglieder der Weberzunft waren darunter. Sie gingen unverzüglich zu ihrem Obmann, um ihn sofort davon in Kenntnis zu setzen.
De Coninck vernahm die Nachricht mit innerem Grimm. Dieser einschneidende Streich gegen die Vorrechte der Gemeinde machte ihn sehr besorgt; er sah in diesem Erlaß ein Vorzeichen dafür, daß sich die Adligen aufs neue unter französischem Schutz Gewaltherrschaft über das Volk anmaßen wollten, und beschloß, diesen ersten Versuch durch List oder Gewalt zu vereiteln. Zwar konnte er das Opfer seiner Vaterlandsliebe werden, weil das fremde Heer noch in Flandern stand. Aber das vermochte ihn nicht zurückzuhalten; mit Leib und Seele hatte er sich dem Wohle seiner Vaterstadt geweiht. Sofort berief er den Zunftknappen zu sich und hieß ihn:
„Geh schnell zu allen Meistern und entbiete sie in meinem Namen zum Pand. Sie sollen sofort ihr Geschäft verlassen, denn es eilt!“
Der Weberpand war ein geräumiges Gebäude mit rundem Giebel. Durch ein einziges großes Fenster mit dem Wappen der Zunft darüber fiel das Licht in das erste Stockwerk der Vorderseite. Über dem großen Tore ragte kunstvoll in Stein gehauen St. Georg mit dem Drachen. Im übrigen war der Giebel dieses Versammlungshauses unbedeutend und ohne Zierat. Nach seinem Äußern hätte man schwerlich erraten können, daß die reichste Zunft in Flandern hier ihre Zusammenkünfte [105] hielt; denn viele Häuser in der Nachbarschaft übertrafen es an Größe und Pracht. War es auch in zahlreiche größere und kleinere Räume geteilt, so blieb doch keiner leer oder unbenutzt. In einer geräumigen Kammer des zweiten Stockwerks waren die Probestücke der Freigesellen und Meister mit den Mustern vom kostbarsten Tuch oder Stoff aufgehängt, der je in Brügge gefertigt worden war. In einem anderen Gemach daneben waren all die Werkzeuge aufgestellt, die von den Webern, Tuchwalkern und Färbern gebraucht werden. Ein drittes Gemach diente zur Aufbewahrung der Prachtgewänder und Festwaffen der Zunft.
Der große Versammlungssaal der Meister lag vorn an der Straße. Alle Wandlungen der Wolle auf dem Wege vom Schafhirten bis zum Weber, vom Färber bis zu dem fremden Kaufmann, der aus fernen Landen kam, um vlaemisches Tuch gegen Gold zu erhandeln, waren auf den Wänden dargestellt. Einige eichene Tische und viele schwere Sessel standen auf den Quadersteinen des Fußbodens. Sechs mit Sammet ausgeschlagene Lehnstühle bezeichneten die Plätze des Obmannes und der Altmeister im Hintergrund des Gemaches.
In kurzer Zeit waren die Weber bereits zahlreich in dem Saale versammelt. Leidenschaftlich besprachen sie die wichtige Frage, und die größte Unzufriedenheit leuchtete aus ihren Zügen. Die meisten ergingen sich in bitteren Worten über den Magistrat, doch einige schienen nicht sehr zum Widerstand geneigt. Während die Versammlung ständig wuchs, kam De Coninck in den Saal und schritt langsam durch seine Genossen auf den für ihn bestimmten großen Sessel zu. Die Altmeister setzten sich neben ihn; die übrigen blieben zumeist bei ihren Lehnstühlen stehen, um auf der gefurchten Stirn ihres Vorstehers den Sinn seiner Worte besser lesen zu können. Zusammen waren es ihrer sechzig.
Sobald De Coninck die Aufmerksamkeit seiner Genossen auf sich gerichtet sah, sprach er ausdrucksvoll und anschaulich:
„Meine Brüder! Achtet auf meine Worte: denn die Feinde unserer Freiheit, unserer Wohlfahrt wollen uns aufs neue in Banden schlagen! Der Magistrat und die Leliaerts haben dem fremden Gebieter mit ungewohnter Pracht geschmeichelt, sie haben uns zur Errichtung von Prunkgerüsten gezwungen, und nun verlangen sie, daß wir ihre dummen Verschwendungen mit dem Lohn unserer Arbeit bezahlen! Das widerspricht den Vorrechten der Stadt und der Zunft. Meine Brüder, versteht mich wohl und richtet mit mir einen Blick auf die Zukunft! Wenn wir dieses Mal dem willkürlichen Gebot Gehorsam leisten, wird unsere Freiheit bald niedergetreten sein. Dies ist der erste Versuch, das erste Stück des Sklavenjochs, das man unserm Nacken aufbürden will. Die treulosen Leliaerts, die es dulden, daß ihr Graf, unser rechtmäßiger Herr, bei dem Fremden im Kerker schmachtet, um uns desto ungestörter unterdrücken zu können, – sie haben sich lange vom Schweiß unseres Angesichts gemästet. Lange hat das Volk wie ein verächtliches Lasttier für sie die schwerste Arbeit getan und sich abgequält; Euch, Brügger! Kameraden! euch ward zuerst des Himmels Licht zuteil; ihr habt die Ketten zuerst gebrochen; groß und männlich habt ihr euch aus der Knechtschaft erhoben und eure Häupter beugen sich nicht mehr vor Zwingherrn. Nun beneiden uns die Völker ob unseres blühenden Wohlstands; sie bewundern unsre Größe. Ist es denn nicht unsere Pflicht, ungeschmälert die Freiheit zu bewahren, die uns zum edelsten Volke der Welt macht? Ja, eine heilige Pflicht! Wer sie vergißt, ist ein Feigling, der seine Menschenwürde verkennt: ein Sklave nur, der zur Verachtung geboren ward.“
Brakels, ein Weber, der schon zweimal Obmann gewesen war, erhob sich von seinem Sessel und unterbrach De Conincks Rede:
„Ihr sprecht immer von Knechtschaft und Rechten! Aber wer sagt denn, daß der Magistrat uns schmälern will? Ist es nicht besser, die acht Grooten zu zahlen und Ruhe zu halten? Ihr könnt Euch doch denken, daß es zum Blutvergießen [107] kommen wird. Gar mancher von uns wird die Leichen seiner Kinder und Brüder begraben müssen – und all das wegen acht Grooten! Hörte man auf Euch, so hätten die Weber mehr mit dem Goedendag als mit dem Weberschiff zu schaffen; aber ich hoffe, daß es unter unseren Meistern noch mehr gescheite Leute gibt, die Eurem Rat nicht folgen.“
Diese Worte riefen unter den Webern die größte Bestürzung hervor. Einige, doch nur ganz wenige, hatten durch ihre Gebärden zu erkennen gegeben, daß sie diese Ansicht teilten. Die meisten waren mit Brakels Rede unzufrieden.
Mit forschendem Auge hatte De Coninck alle scharf beobachtet und seine Anhänger gezählt. Es schmeichelte ihn, daß nur wenige die Besorgnisse seines Gegners teilten. So antwortete er:
„Es steht ausdrücklich im Gesetz, daß man dem Volk ohne seine Zustimmung keine neuen Lasten aufbürden darf. Wir bezahlen diese Freiheit nur allzu teuer, und niemand, selbst der Höchste nicht, darf sie antasten. Für einen Menschen, der nicht weiter in die Zukunft blickt, machen freilich acht Grooten einmal bezahlt nicht viel aus; aber es sind ja auch nicht die acht Grooten, die mich zum Widerstande reizen; sollen wir etwa die Vorrechte, unsere Schutzwehr gegen die Herrschsucht der Leliaerts zerstören lassen? Nein, das wäre feig und höchst unvorsichtig. Wißt, meine Brüder, die Freiheit ist ein zarter Baum, bricht man einen seiner Zweige ab, so vergeht er und stirbt. Duldet ihr, daß die Leliaerts den Baum derart beschneiden, so werden sie uns bald die Kraft rauben, den verdorrten Stamm zu verteidigen. Wer ein Männerherz hat, darf die acht Grooten nicht bezahlen! Wer das echte Klauwaarts-Blut in sich strömen fühlt, der ergreife den Goedendag und verteidige die Rechte des Volkes! Die Abstimmung mag hierüber entscheiden, denn mein Rat ist kein Befehl.“
Nun ergriff der Weber, der bereits gesprochen hatte, wieder das Wort:
„Ihr gebt uns einen verderblichen Rat. Ihr freut Euch an Aufruhr und Blutvergießen, damit Ihr überall als Anführer genannt werdet; wäre es nicht viel weiser, uns der französischen Herrschaft als getreue Untertanen zu unterwerfen und dadurch unseren Handel auf dieses große Land auszudehnen? Ja, ich behaupte: die Regierung Philipps des Schönen wird unseren Wohlstand vermehren, und jeder wohldenkende Bürger muß die französische Herrschaft als ein Glück betrachten. Unser Magistrat besteht aus achtbaren, weisen Herren.“
Alle Weber waren höchst verdutzt und viele warfen finstere, verächtliche Blicke auf den Mann, der solch feige Worte gesprochen hatte. De Coninck flammte zornig auf. Seine Volksliebe kannte keine Grenzen; daß ein Weber so reden konnte, schien ihm die ganze Zunft zu entehren.
„Wehe!“ rief er, „ist denn alle Liebe zur Freiheit und zu eurem Vaterland in eurer Brust erstorben? Wollt ihr aus Geldgier denen die Hände küssen, die euch in Ketten schlagen? Sollen unsere Nachkommen sagen, die Brügger hätten ihr Haupt vor einem Fremden und vor dessen Sklaven gebeugt? Nein, Brüder, duldet das nicht, besudelt euren Namen nicht mit solcher Schmach! Laßt die feigen Leliaerts immerhin um der Ruhe und des Geldes willen ihre Freiheit dem Ausländer verpfänden. Wir bleiben frei von Schande und Schmach! Mögen die Kinder des freien Brügge nochmals ihr Blut für das Recht dahingeben. Um so herrlicher prangt die purpurne Standarte, um so fester wird des Volkes Recht besiegelt!“
Meister Brakels ließ De Coninck nicht fortfahren:
„Was Ihr auch sagen mögt, ich wiederhole, es ist keine Schande für uns, einem fremden Fürsten zu unterstehen; im Gegenteil sollten wir uns freuen, daß wir nunmehr dem großen Frankreich zugehören. Was kümmert es ein handeltreibend Volk darum, unter wem es seinen Reichtum mehrt? Mohammeds Gold ist so gut wie das unserige.“
Die Erbitterung gegen Brakels erreichte jetzt den Höhepunkt; [109] niemand antwortete. De Coninck seufzte laut und schmerzlich: „O welche Schande! ein Leliaert, ein Bastard hat in der Versammlung der Weber gesprochen; der Fleck ist nicht zu tilgen.“
Ungestümer Zorn packte die Schar der Weber; wutentbrannt, flammenden Auges blickten sie auf Meister Brakels. Und plötzlich ertönte hier und dort der Schrei: „Stoßt ihn aus, den Leliaert! Kein französisch Gesinnter soll unter uns sein!“
De Coninck mußte allen Einfluß aufbieten, um die Ruhe wiederherzustellen, denn manche waren drauf und dran, zu Gewalttaten zu schreiten. Es ward beantragt, daß man Meister Brakels von der Zunft ausschließen oder zu einer Buße von vierzig Pfund Wachs verurteilen sollte. Während der Schreiber mit der Abstimmung beschäftigt war, stand Brakels ganz ruhig vor dem Obmann. Er baute auf alle, die seine erste Rede gutgeheißen hatten. Aber er täuschte sich gewaltig; der Name Leliaert galt allen als Schandfleck, und deshalb blieb ihm kein einziger Freund. Alle Stimmzettel trugen das Urteil: Ausgestoßen, und diese Entscheidung wurde mit allgemeinem Jubel begrüßt.
Nun flammte der Zorn des Leliaerts auf, und er erging sich in ungestümen Drohungen und Scheltworten gegen De Coninck. Der Obmann blieb mit der größten Ruhe in seinem Stuhl sitzen und antwortete nicht auf die Schmähungen seines Gegners. Zwei starke Gesellen, die als Türwärter angestellt waren, traten alsbald zu dem Ausgestoßenen und befahlen ihm, auf der Stelle die Versammlung zu verlassen. In bitterem Grimm gehorchte Brakels dem Geheiß und lief wutschnaubend zu Johannes van Gistel, dem Oberzöllner, den er von dem Widerstand des Obmanns der Weber in Kenntnis setzte.
De Coninck sprach noch lange mit seinen Genossen und ermutigte sie zur Verteidigung ihrer Rechte; doch verlangte er keinerlei Aufstand, sondern empfahl ihnen, einfach Zahlung der acht Grooten zu verweigern und zu warten, bis er sie zu [110] den Waffen rufen würde. Hierauf trennten sie sich und gingen heim. De Coninck allein schritt tief nachdenklich durch die alte Sackstraße, um sich zu seinem Freunde Breydel zu begeben. Er sah voraus, welche Anstrengungen die Lehensherren machen würden, um ihre Herrschaft über das Volk wiederzugewinnen, und bedachte, wie er seine Brüder vor der Knechtschaft bewahren könnte. Als er fast die Fleischerstraße erreicht hatte, wurde er von etwa zehn Bewaffneten umringt. Angesichts dieses Überfalls blieb er stehen, der Vogt trat an ihn heran und befahl ihm, ohne Widerstand den Dienern des Gesetzes zu folgen. Wie einem Missetäter wurden ihm die Hände auf den Rücken gebunden; man überhäufte ihn mit Schmähungen; aber er trug das alles mit der größten Geduld und ohne Murren; denn er begriff, daß jeder Widerstand hier nutzlos war. Er ließ sich von den mit Streitäxten bewaffneten Gerichtsdienern durch drei bis vier Straßen führen und schien gar nicht auf die Ausrufe des verwunderten Volkes zu achten. Endlich brachte man ihn in den oberen Saal des Prinzenhofs.
Hier waren die vornehmsten Leliaerts und der Magistrat versammelt. Der Oberzöllner Johannes van Gistel nahm unter ihnen den höchsten Rang ein; er war auch in ganz Flandern der wärmste Freund der Franzosen. Sobald er De Coninck vor sich sah, sprach er erzürnt:
„Wie wagt Ihr es, die Oberhoheit des Magistrats zu mißachten, hochfahrender Bürger? Eure Auflehnung ist uns bekannt, und in Bälde werdet Ihr Euren Ungehorsam am Galgen büßen.“
De Coninck antwortete ruhig:
„Mir ist die Freiheit des Volkes teurer als das Leben. Auch die schändlichste Todesstrafe werde ich furchtlos erleiden, denn mit mir stirbt das Volk doch nicht; es gibt noch Männer genug, die das Joch nicht mehr gewohnt sind.“
„Das ist ein Traum,“ fuhr Gistel fort, „das Reich des Volkes hat ein Ende. Unter der Herrschaft der Franzosen muß ein [111] Untertan seinem Herrn gehorchen. Die Vorrechte, die ihr schwachen Fürsten abgetrotzt habt, sollen überprüft und eingeschränkt werden; denn ihr werdet gar zu hochmütig durch die Gunst, die wir selbst euch bewiesen haben, und erhebt euch wider uns wie undankbare, verächtliche Diener.“
Ein Zornesblitz schoß aus De Conincks Auge. „Verächtlich!“ rief er, „das weiß Gott, wer von beiden verächtlich ist, das Volk oder die entarteten Leliaerts. Ihr vergeßt Vaterland und Ehre, um feige dem fremden Gebieter zu schmeicheln; demütig kniet ihr vor einem Fürsten, der Flandern den Untergang geschworen hat; und warum? Um eure tyrannische Zwingherrschaft über das Volk wiederzuerlangen, aus Habsucht! Wartet nur! das glückt euch nicht. Denn wer die Früchte der Freiheit einmal gekostet hat, dankt für eure Gunst. Ihr seid ja doch Sklaven der Ausländer! Glaubt ihr etwa, daß die Brügger die Sklaven anderer Sklaven werden sollen? O, ihr täuscht euch, ihr Herren. Mein Vaterland ist groß geworden, das Volk hat seine Würde erkannt, und euch ist das eiserne Zepter für ewig entrissen.“
„Schweigt! Ihr Aufrührer,“ rief Gistel, „die Freiheit steht Euch nicht zu. Ihr seid nicht für sie geschaffen.“
„Die Freiheit,“ antwortete De Coninck, „haben wir mit dem Schweiß unseres Angesichts, mit unserem Herzblut erkauft – und Ihr solltet sie vernichten?“
Gistel lächelte spöttisch und fuhr fort:
„Eure Worte und Drohungen sind leerer Schall, Meister. Mit den französischen Truppen werden wir dem Ungestüm schon die Flügel beschneiden. Andere Gesetze werden die Gemeinden beherrschen; der Starrsinn hat lange genug gewährt. Seid nur ruhig, es ist dafür gesorgt, daß Brügge demütig seinen Nacken beugen wird und Ihr – werdet das Sonnenlicht nicht mehr erblicken.“
„Tyrann!“ rief der Obmann der Weber, „Ihr Schande von Flandern! Wölbt sich das Grab Eurer Väter nicht in dieser [112] Erde? Ruhen ihre heiligen Gebeine nicht in dem Schoß des Landes, das Ihr dem Fremden verschachert, Ihr Bastard? Die Nachwelt wird das Urteil über Eure Schandtat fällen, und in den Chroniken Eurer Kinder wird man den Fluch über Euren Verrat lesen.“
„Genug von Euren lächerlichen Schmähungen!“ rief Gistel; „in den Kerker der Missetäter mit ihm, bis der Galgen ihn empfängt.“
Auf dies Geheiß ward De Coninck über die Treppen in ein unterirdisches Verlies geführt. Ein eiserner Gürtel umschloß ihn, und eine Kette fesselte seinen linken Fuß an seine rechte Hand. Er bekam etwas Wasser und Brot; dann wurde der Kerker geschlossen, und er blieb allein an diesem dunklen Orte.
Die Worte des Zöllners hatten ihn tief erschüttert: er sah die Freiheit seiner Vaterstadt ernstlich bedroht. In seiner Abwesenheit konnte es den Leliaerts möglicherweise glücken, mit den französischen Truppen die Stadt einzunehmen und den Bau zu zerstören, dem er sein ganzes Leben geweiht hatte. Dieser Gedanke war für den Volksfreund furchtbar. Rüttelte er zuweilen schmerzlich an seinen Ketten, dann war es ihm, als sähe er seine Brüder in solchen Fesseln, als Opfer schändlichster Knechtschaft. Und dann erschimmerte eine bittere Träne auf seinen Wangen.
Die Leliaerts hatten schon längst einen verräterischen Anschlag unter sich vereinbart. Bisher konnten sie ihre Herrschaft in Brügge nicht fest begründen; denn da alle Bürger bewaffnet waren, so konnte man sie nicht zwingen, die Befehle auszuführen. Wollte der Magistrat gegen die Bürgerschaft Gewalt anwenden, dann kamen die schrecklichen Goedendags zum Vorschein, und alle Anstrengungen blieben fruchtlos, – die Zünfte waren zu mächtig. Um nun ein für allemal dies lästige Hindernis fortzuräumen, waren die Leliaerts mit dem Landvogt Châtillon übereingekommen, am nächsten Morgen ganz früh die Bürgerschaft zu überfallen und zu entwaffnen. Châtillon [113] sollte zur selben Stunde mit fünfhundert französischen Reitern vor den Toren stehen. De Coninck allein war es möglich, diesen Plan zu entdecken, so geheim man ihn auch halten mochte. Er verfügte über geheime Hilfsmittel, denen die Französlinge vergeblich nachzuspüren gesucht hatten. Der Obmann der Weber war listiger als sie alle, das wußten sie. Und um dem Volke seinen schlauen Beschützer zu entreißen und es hierdurch arg zu schwächen, hatten sie ihn gefangengenommen. Brakels Enthüllungen über den Widerstand der Weber diente ihnen nur als Vorwand.
Nachdem sie die Stadt Brügge derart durch nichtswürdige Anschläge den geldgierigen Fremden verkauft hatten, wollten sie sich trennen. Da flog die Saaltür auf, und ein Mann drängte sich gewaltsam durch die Wächter. Mit stolzem Schritte trat er zu dem Magistrat und rief:
„Die Zünfte von Brügge lassen euch fragen, ob ihr De Coninck loslassen wollt oder nicht? Ich rate euch, bedenkt euch nicht lange!“
„Meister Breydel,“ antwortete Gistel, „Ihr habt keine Erlaubnis, in diesen Saal zu treten; verlaßt ihn schleunigst!“
„Ich frage euch,“ wiederholte Jan Breydel, „ob ihr den Vorsteher der Wollweber loslassen wollt?“
Gistel flüsterte leise einer der Magistratspersonen etwas ins Ohr und rief dann:
„Wir beantworten die Drohungen eines starrköpfigen Schurken mit der verdienten Strafe: Nehmt ihn gefangen!“
„Ha, ha! Nehmt ihn gefangen?“ rief Breydel lachend, „wer soll mich denn gefangennehmen? Wisset denn, daß die Bürgerschaft im Begriff steht, sich des Prinzenhofs gewaltsam zu bemächtigen, und daß ihr alle mit eurem Leben für das Leben des Obmanns der Weber haftet. Das Liedchen wird gleich anders klingen, das versichere ich euch.“
Derweile waren einige Wachen herangekommen und hatten den Vorsteher der Fleischer beim Kragen gepackt; einer richtete schon die Stricke, mit denen er gebunden werden sollte. Während [114] Breydel sprach, hatte er diese Vorbereitungen kaum beachtet; als er sich nun aber von den Leliaerts den Wachen zuwandte, entrang sich ein dumpfer Laut seiner Brust, gleich dem Gebrüll eines Stieres. Flammenden Auges blickte er seine Häscher an und rief:
„Denkt ihr, Jan Breydel, ein Fleischer von Brügge, läßt sich wie ein Kalb binden? Ho, ho, heute jedenfalls nicht!“
Er hatte diese Worte mit fürchterlicher Wut ausgestoßen. Nun hieb er dem Söldner, der ihn beim Wams festhielt, so gewaltig mit der Faust auf den Kopf, daß der wankend zu Boden stürzte. Wie ein Blitz fuhr er unter die erschrockenen Wächter, warf eine Menge nieder, und als er zur Tür gelangt war, drehte er sich um und fuhr die Leliaerts heftig an:
„Das sollt ihr büßen, ihr Halunken! Einen Fleischer von Brügge binden! Schmach! Wehe euch, Tyrannen! Hört ihr, die Trommel der Fleischer schlägt euren Totenmarsch!“
Er hätte sie noch weiter bedroht; aber er konnte den andringenden Wachen nicht länger widerstehen und lief wütend die Treppe hinab.
Ein dumpfes Geräusch wie ferner Donner ertönte in diesem Augenblick von der anderen Seite der Stadt her. Die Leliaerts erbleichten, dies drohende Unwetter jagte ihnen Furcht ein. Doch sie wollten ihren Gefangenen nicht loslassen, stellten mehrere Wachen vor dem Hof auf, um den Ansturm des Volkes abzuwehren, und ließen sich durch Kriegsknechte bis heim geleiten. – Eine Stunde später war die ganze Stadt in Aufruhr.
Die Sturmglocke ertönte, die Trommeln der Zünfte dröhnten durch alle Straßen, und ein furchtbares Getöse, gleich dem Geheul eines Orkans, fegte durch die Stadt. Türen und Fenster wurden geschlossen, und die Wohnungen öffneten sich nur, um den bewaffneten Hausvater hinauszulassen. Die Hunde bellten fürchterlich, als hätten sie den Wehruf verstanden, und vereinten ihre rauhe Stimme mit dem Geschrei ihrer racheheischenden Herren. Große Volkshaufen liefen eilig hin und [115] her. Der eine hatte eine Keule, der andere einen Goedendag oder eine Streitaxt. Inmitten der wogenden Scharen konnte man die Fleischer leicht an ihrem blinkenden Schlachtbeil erkennen. Die Schmiede mit ihren großen Vorhämmern auf den Schultern begaben sich ebenfalls zum Sammelplatz bei dem Weberpand. Hier standen bereits unzählige Zunftgesellen, und ihre Zahl wuchs in dem Maße, als sich die angekommenen Freunde unter ihre Fahne scharten.
Als der Trupp groß genug war, stieg Jan Breydel auf einen Wagen, der sich zufällig auf dem Platze befand, und schwang sein Schlachtbeil in furchtbaren Kreisen um sein Haupt.
„Männer von Brügge,“ schrie er, „es gilt jetzt Leben und Freiheit! Wir wollen den Verrätern zeigen, wie es mit den Brüggern steht und ob ein Pfund Sklavenfleisch unter uns zu finden ist; denn das glauben sie schon. Meister De Coninck liegt in Ketten – mag denn unser Blut für seine Befreiung fließen! Dies ist für alle Zünfte Pflicht, für die Fleischer ein Fest! Geschwind die Ärmel aufgestreift!“
Während die Fleischerzunft diesen Befehl ausführte, entblößte er selbst seine sehnigen Arme bis an die Schultern und rief, vom Wagen springend:
„Vorwärts und Heil! Heil De Coninck!“
„Heil De Coninck!“ riefen alle. „Vorwärts! vorwärts!“
Gleich den rollenden Wogen der brausenden See strömte die Menge zum Prinzenhof. Todesschreie und Waffenklirren begleiteten die furchtbare Schar. Die Rufe der Männer und das Heulen der Hunde mengte sich mit Glockenschall und Trommelwirbel. Es schien, als wären die Bürger von allgemeiner Raserei ergriffen.
Kaum wurden die Wachen dieser wütenden Rotte ansichtig, so flohen sie nach allen Seiten und ließen so das Gebäude schutzlos; aber nicht alle hatten sich durch die Flucht retten können, denn im Nu lagen mehr als zehn Leichen auf dem Vorhof.
Rasend wild, wie ein gereizter Löwe, stürmte Breydel die [116] Treppen hinauf und warf einen französischen Diener, den er im Gange betraf, von oben hinab unter das Volk. Das unglückliche Opfer ward auf den Spitzen der Goedendags aufgefangen und sofort mit Keulen erschlagen. Bald erfüllte das Volk den ganzen Hof. Breydel hatte einige Schmiede herbeigerufen und ließ die Türen der Kerker sprengen. Zu ihrem größten Schmerz fanden sie sie alle leer. Nun fluchten sie noch wilder, daß sie den Tod De Conincks rächen wollten.
Als die Weber erfuhren, daß ihr Obmann nicht zu finden war, ließen sie sich nicht mehr halten; statt weiter nach ihm zu suchen, liefen sie in Scharen nach den Wohnungen der vornehmsten Leliaerts und zertrümmerten dort alles. Doch gelang es ihnen nicht, einen einzigen Leliaert aufzuspüren, denn die hatten den Besuch vorausgesehen. Eben wollte Breydel voll Verzweiflung und Rachedurst den Prinzenhof verlassen; da trat ein greiser Tuchwalker zu ihm und sprach:
„Meister Breydel, Ihr sucht nicht gut; es gibt noch einen Kerker an der anderen Seite des Gebäudes, ein tiefes Loch, in dem ich schon ein Jahr meines Lebens verbracht habe. Kommt, folgt mir, bitte.“
Durch mehrere Gänge hindurch gelangten sie zu einer kleinen eisernen Tür. Der alte Walker nahm einem der umherstehenden Schmiede einen großen Hammer aus den Händen und zertrümmerte das Schloß mit wenigen Schlägen, doch die Tür ging nicht auf. Ungeduldig riß Jan Breydel den Hammer an sich und schmetterte so gewaltig wider die Tür, daß gleichzeitig alle Klammern aus der Tür sprangen. Nun die Tür zusammengebrochen war, konnte man in den Kerker sehen. In einem Winkel stand De Coninck, mit einer schweren Kette an die Mauer gefesselt. Voll leidenschaftlicher Freude lief Jan Breydel ihm entgegen und umarmte den Freund wie einen wiedergefundenen Bruder.
„O Meister!“ rief er, „welche Freudenstunde für mich! Ich wußte nicht, daß ich Euch so innig liebte.“
„Ich danke Euch, tapferer Freund,“ gab De Coninck zur Antwort, während er den Kuß des erregten Fleischers erwiderte. „Ich wußte wohl, daß Ihr mich nicht im Kerker sitzen lassen würdet; zu gut kenne ich Euren edlen Mut. Ihr seid wie die Vlaemen von echtem Schrot und Korn.“
Dann wandte er sich zu den anderen und rief mit einer Begeisterung, die leidenschaftlich zu Herzen ging:
„Brüder! Ihr habt mich heute vom Tode befreit. Euch weihe ich mein Blut; eurer Freiheit jeder Funke meiner Seele! Betrachtet mich nicht mehr als einen Obmann, als einen Weber, der unter euch wohnt, sondern als einen Mann, der vor Gott geschworen hat, eure Freiheiten gegen den Feind zu schützen. Unverbrüchlich sei der Eid, der durch die dunklen Gänge meines Gefängnisses hallte! Mein Blut, mein Leben, meine Ruhe dem Vaterland …“
Der Ruf: „Heil De Coninck! Heil! Heil!“ verschlang seine Stimme und dröhnte weithin durch das Gefängnis. Von Mund zu Mund ging der Schrei hinaus, und bald hörte man nur ihn allein in der ganzen Stadt, ja selbst die Kinder stammelten: „Heil De Coninck!“
Der eiserne Gürtel wurde durchgefeilt, und De Coninck trat mit Jan Breydel in das Haupttor. Kaum aber hatte das harrende Volk die Fesseln an seinen Händen und Füßen bemerkt, da erhob sich von allen Seiten ein rasendes Mordgeschrei. Tränen der Rührung und der Wut strömten aus den Augen der Zuschauer, und der Ruf: „Heil De Coninck!“ erdröhnte mit donnernder Gewalt [25] . Plötzlich stürzte ein Haufe Weber zu De Coninck und hob ihn voll Eifer auf den blutigen Schild eines erschlagenen Kriegsknechts. Mochte sich auch der Obmann gegen diese Ehrung sträuben, mußte er es dulden, daß man ihn derart sieghaft durch alle Straßen der Stadt trug.
Es war ein seltsames Schauspiel. Tausende von Menschen liefen mit Messern, Beilen, Speeren, Hämmern, Keulen und anderen Zufallswaffen schreiend und wie toll über den Markt. Ob ihren Häuptern auf dem Schilde saß De Coninck; er hatte noch an Händen und Füßen seine Fesseln. Neben ihm gingen die Fleischer mit bloßen Armen und blinkenden Beilen. Als solchermaßen eine gute Stunde vergangen war, verlangte De Coninck die Obmänner und Anführer der Zünfte zu sprechen und bedeutete sie, daß es sich um eine höchst wichtige Angelegenheit der Bürgerschaft handelte. Er ersuche sie deshalb, am Abend in seine Wohnung zu kommen, um die nötigen Maßregeln zu besprechen.
Alsdann dankte er dem Volk und empfahl ihm stete Bereitschaft, zu den Waffen zu greifen. Nachdem dann seine Hände und Füße von den Ketten befreit waren, wurde er unter dem Jubel der Brügger bis an die Tür seiner Wohnung in der Wollstraße geleitet.
B evor die Sonne am nächsten Morgen aufgegangen war, stand Jan van Gistel mit den Leliaerts in voller Rüstung auf dem Gemüsemarkt; wohl dreihundert Reiter und bewaffnete Diener waren dort versammelt. Tiefstes Schweigen herrschte in dem kleinen Heere; denn sollte ihr Anschlag glücken, so durften sie die Bürger von Brügge nicht wecken. Sie erwarteten geduldig die ersten Strahlen der Morgensonne, um das Volk zu überfallen und zu entwaffnen; dann wollten sie De Coninck und Breydel wegen ihres aufrührerischen Trotzes hängen lassen und die Zünfte zur Unterwerfung zwingen. Châtillon sollte am selben Tage seinen Einzug in die entwaffnete Stadt halten, Brügge für immer eine andere Verfassung bekommen. Zu ihrem Unglück hatte jedoch der schlaue De Coninck ihr Geheimnis entdeckt und sich zum Kampfe gerüstet. Zur nämlichen Zeit und ebenso still standen die Weber und die [119] Fleischer mit den anderen Zunftgenossen in der vlaemischen Straße. De Coninck und Breydel gingen etwas abseits von der Schar auf und ab und entwarfen den Plan, nach dem sie handeln wollten. Während die Weber und die Fleischer die Leliaerts angriffen, sollten die übrigen Gesellen sich der Stadttore bemächtigen und dieselben verschlossen halten, damit der Feind von außen keine Hilfe bekäme.
Kaum war dies beschlossen, da tönte die Morgenglocke auf der St. Donatus-Kirche, und weithin hallte das Gestampf der Rosse Jan van Gistels.
Nun setzten sich auch die Zünfte in Bewegung und zogen in größter Stille den Leliaerts entgegen. Auf dem Markt erblickten die beiden feindlichen Haufen einander. Die Französlinge traten eben aus der Breydelstraße, während die Zünfte noch in der vlaemischen Straße waren. Die Leliaerts erschraken gewaltig, als sie merkten, daß ihr Geheimnis entdeckt war. Doch gaben sie ihren Plan nicht auf, denn sie waren Ritter und mutige Krieger. Bald ließ die Kriegsdrommete ihre ermunternden Klänge ertönen, die Rosse stoben mit ihren Reitern gegen die noch in der vlaemischen Straße zusammengedrängten Bürger. Die gefällten Speere der Leliaerts kreuzten sich mit den Goedendags der Weber, die standhaft den Stoß abwarteten. Aber aller Mut, alle Gewandtheit der Zunftleute war vergebens, sie konnten ob ihrer ungünstigen Stellung der Gewalt des stürmischen Angriffs nicht widerstehn. Fünf aus dem ersten Glied fielen tot oder verwundet nieder und so ward es den Reitern möglich, die Schlachtordnung zu durchbrechen. Drei Abteilungen wichen zurück; die Leliaerts glaubten sich schon Herren des Schlachtfelds und brachen in den Siegesruf aus: „Monjoie St. Denis! Frankreich! Frankreich!“ – Sie stachen und hieben links und rechts auf die Weber ein und bedeckten den Platz mit den Leichen der Bürger.
De Coninck wehrte sich tapfer an der Spitze mit einem langen Goedendag und verhinderte einige Zeit, daß die ersten Glieder [120] zerstreut wurden. Diese hatten allein die ganze Macht der Leliaerts wider sich; denn da die Straße sie einschloß, konnten die hintersten Glieder nicht in den Kampf eingreifen. Doch die Zurufe und das Beispiel des Obmannes beschworen das Schicksal nicht lange. Mit erneuter Kraft griffen die Leliaerts die vorderen Scharen an und warfen sie in großer Verwirrung aufeinander. Das geschah so schnell, daß schon viele getötet waren, ehe Jan Breydel den Kampf bemerkte. Denn er stand mit seiner Zunft weiter hinten in der Straße. Erst eine Wendung, die De Coninck angeordnet hatte, zeigte ihm endlich, in welcher Gefahr die Weber schwebten. Er brüllte mit heiserer Stimme einige unverständliche Worte, wandte sich dann zu seinen Leuten und rief:
„Vorwärts, Fleischer, vorwärts!“
Wie rasend fuhr er durch die Weber hin und stürmte mit all den Seinigen auf die Reiter los. Der erste Schlag seines Beils ging durch die Nasenplatte und den Kopf eines Pferdes, der zweite streckte dessen Reiter zu seinen Füßen hin. Im Nu war er über vier Leichen hinweg und kämpfte grimmig weiter, bis er selbst eine kleine Wunde an dem linken Arm erhielt. Der Anblick des eigenen Blutes brachte ihn vollends außer sich. Wutschäumend erspähte er den Ritter, der ihn verwundet hatte, mit jagendem Blick warf er sein Beil fort, bückte sich dann unter den Speer seines Feindes, sprang am Pferde hinauf und umklammerte den Leliaert. Mochte der auch fest im Sattel sitzen, der Kraft des tollen Breydel konnte er nicht widerstehen: er flog aus dem Sattel und stürzte zu Boden. Während der Obmann der Fleischer seine Rache an ihm kühlte, hatten sich seine Genossen und die übrigen Zunftleute stracks auf die Leliaerts geworfen und viele niedergeschmettert. Da der Kampf lange auf demselben Platze stand, so türmten sich die Leichen von Menschen und Pferden, und Ströme von Blut färbten die Straße dunkelrot.
Bald konnte nichts mehr dem wuchtigen Ansturm der Zünfte [121] widerstehen, denn mit dem Weichen der Leliaerts konnten sich ihre Feinde auf dem Markte ausbreiten und nunmehr sämtlich in den Kampf eingreifen. Offenbar suchten sie die Reiter zu umzingeln und dehnten deshalb ihren rechten Flügel bis zum Eiermarkt aus. Nun wandten die besiegten Ritter ihre Pferde und flohen eiligst, um dem drohenden Tode zu entgehen. Die Weber und Fleischer verfolgten sie mit Siegesgeschrei; doch sie konnten sie nicht einholen, da alle gut beritten waren.
Beim Klange der Drommeten und dem Lärm des Kampfes war die ganze Stadt in Aufruhr geraten. Bald war alles auf den Beinen. Tausende bewaffneter Bürger strömten aus allen Straßen herbei, um den streitenden Brüdern beizustehen; aber der Sieg war schon erfochten. Da die Leliaerts auf die Burg geflohen waren, so wurde dieser Platz von den Zunftgenossen rings umzingelt und bewacht.
Während sich dies auf dem Markte zutrug, umringte der Landvogt Châtillon die aufrührerische Stadt mit fünfhundert französischen Reitern. Er hatte vorausgesehen, daß die Brügger nach alter Gewohnheit die Stadttore geschlossen halten würden und deshalb auch das Nötige zur Beseitigung dieses Hindernisses vorbereitet. Sein Bruder Gui de Saint-Pol mußte mit zahlreichem Fußvolk und den nötigen Angriffsmaschinen zu ihm stoßen. In Erwartung dieser Hilfe entwarf er bereits einen Plan für den Sturm und suchte die schwächste Seite der Stadt ausfindig zu machen. Obgleich er nur wenig Mannschaften auf den Wällen sah, hielt er es doch nicht für ratsam, mit Reitern allein etwas zu unternehmen; denn er wußte wohl, was für ein unbändiges Volk in Brügge wohnte. Eine halbe Stunde später erschien in der Ferne der Zug Saint-Pols. Die Spitzen der Speere und die Streitäxte blitzten in den ersten Strahlen der Sonne, und eine undurchdringliche Staubwolke erhob sich vor den Pferden, welche die Sturmwerkzeuge zogen. Die wenigen Bürger, welche die Tore und Wälle bewachten, [122] sahen nicht ohne Furcht die zahlreichen Haufen nahen. Als sie der schweren Balken und Sturmwerkzeuge ansichtig wurden, beschlich sie eine bange Ahnung. In wenig Augenblicken verbreitete sich die Schreckenskunde durch die ganze Stadt, und die Herzen der Frauen packte Weh und Angst.
Die bewaffneten Zunftleute waren noch um die Burg geschart, als die Nachricht von dem heranrückenden feindlichen Heere sie überraschte. Sie ließen einige Mannschaften auf dem Platze zurück, um einen Ausfall der verschanzten Leliaerts zu verhindern, liefen eiligst zu den Wällen und verteilten sich auf den bedrohten Mauern. Als sie sahen, wie die französischen Söldner bereits die Balken zu den furchtbaren Werkzeugen zusammenfügten, ward ihnen um ihre Vaterstadt bange. Die Belagerer arbeiteten in ziemlicher Entfernung von den Mauern der Stadt und waren außer dem Bereich der Pfeile, die ihnen von dort zugeschleudert wurden. Ruhig setzten sie ihre Arbeiten fort, während Châtillon mit seinen Reitern jeden Ausfall der Bürger verhinderte. Alsbald erhoben sich denn auch schon im Lager der Franzosen hohe Türme mit Fallbrücken; Sturmrammen und Ballisten waren auch fast fertig, und alles kündigte den Brüggern ein furchtbares Schicksal an. Trotz der großen Gefahr war den Mienen der Zunftleute keine feige Furcht anzumerken. Starr und regungslos blickten sie auf den Feind. Ihre Herzen schlugen rascher, und ihr Atem flog; aber das war nur der erste Eindruck beim Anblick des feindlichen Lagers. Bald strömte das Blut freier in ihren Adern, ohne daß sie die Augen vom Feinde abzuwenden brauchten; mannhaftes Feuer glühte auf ihren Wangen, und die Herzen sämtlicher Bürger waren von Rachedurst und Heldenmut beseelt.
Ein einzelner Mann stand heiter und froh auf dem Walle. Seine Lebhaftigkeit, sein zufriedenes Lächeln ließ annehmen, daß er einer glücklichen Stunde entgegensah. Bisweilen wandte er sein flammendes Auge vom Feinde auf das Schlachtbeil, das in seiner starken Faust blitzte, und dann streichelte er den [123] Mordstahl mit zärtlicher Liebe. – Es war der unverzagte Jan Breydel.
Die Obmänner der Zünfte versammelten sich bei De Coninck und erwarteten schweigend seinen Rat und seine Befehle. Wie gewöhnlich bedachte der Obmann der Weber sich lange und blickte träumerisch zum französischen Heere hinüber. Das dauerte dem unruhigen Breydel zu lange, und er rief ungeduldig:
„Nun, Meister De Coninck, was befehlt Ihr denn? Sollen wir einen Ausfall machen und die französischen Snakkers überfallen, oder sollen wir sie auf unsern Wällen totschlagen?“
Der Vorsteher der Weber antwortete nicht; er starrte noch immer in tiefem Nachdenken auf die feindlichen Arbeiten und zählte genau die großen Sturmwerkzeuge.
Obgleich die anderen seine Gedanken auf seinem Gesicht zu lesen suchten, konnten sie doch nichts als kaltes Wägen darin wahrnehmen. Ruhe und Besonnenheit erfüllten De Conincks Herz, doch keine Hoffnung auf ein glückliches Gelingen. Er sah ein, daß es unmöglich war, der Gewalt der Feinde zu widerstehen; denn die riesigen Ballisten und hohen Türme machten die Feinde den Brüggern allzu überlegen, da diese nicht mit so gewaltigen Kriegswerkzeugen ausgerüstet waren. Als er sich genau überzeugt hatte, daß die Stadt, wenn es zum Sturme käme, durch Feuer und Schwert vernichtet werden würde, entschloß er sich zu einem traurigen Mittel; er wandte sich zu den Obmännern und sprach langsam:
„Genossen, die Not drängt; unsere Stadt, die Blume von Flandern, war verkauft gewesen, ohne daß wir es wußten. In dieser Lage kann uns nur Vorsicht helfen. Muß euch auch solch Opfer eurer edelsten Gefühle schmerzen, so bedenkt, bitte, wohl, daß zwar der Held, der sein Blut für die Rechte seiner Mitbürger vergießt, zu preisen ist, doch daß der Tollkühne törig handelt, der sein Vaterland kühnlich in Gefahr bringt. Hier nützt kein Kampf …“
„Was? Was?“ rief Breydel, „hier nützt kein Kampf? Wer gibt Euch diese Worte ein?“
„Vorsicht und Liebe zu meinem Geburtsort,“ antwortete De Coninck. „Wir mögen als Vlaemen auf den Trümmern unserer Stadt mit den Waffen in der Hand sterben; wir würden gern zwischen den blutigen Leichen unserer Brüder jauchzend niedersinken: wir sind ja Männer. Aber unsere Frauen – unsere Kinder – sollten wir wehrlos der zügellosen Rachsucht unserer Feinde ausliefern? Nein, der Mut ist dem Manne verliehen, um seine schwächeren Mitmenschen zu beschirmen … Wir müssen die Stadt übergeben!“
Die Umstehenden erschraken bei diesen Worten, als wäre ein Blitz zwischen ihnen niedergefahren, und sie schauten den Obmann mit zornigen Blicken an. Die Schmach schien ihnen zu groß, und alle riefen in höchster Erregung:
„Die Stadt übergeben? – Wir?“
De Coninck ertrug kalt ihre vorwurfsvollen Blicke und antwortete:
„Ja, Genossen, mag es auch euren freiheitliebenden Herzen mißfallen, es ist dennoch der letzte Ausweg, der uns bleibt, um unsere Stadt vor der Zerstörung zu retten.“
Jan Breydel hatte diese Worte mit bitterem Ingrimm vernommen. Als er merkte, daß schon viele Obmänner schwankend wurden und zur Unterwerfung neigten, trat er leidenschaftlich vor und rief:
„Den ersten, der noch von Übergabe zu sprechen wagt, strecke ich als Verräter zu meinen Füßen nieder! Lieber sterbe ich lachend auf der Leiche eines Feindes, als daß ich ehrlos am Leben bleibe. Was denkt ihr denn – daß meine Fleischer vor der Gefahr beben? Seht sie dort mit ihren aufgestreiften Ärmeln! Ihr Herz pocht wild, ungestüm verlangen sie den Kampf, und ich soll ihnen sagen: übergebt die Stadt! Bei Gott, solche Sprache verstehen sie nicht. Ich sage euch: wir beschützen die Stadt, und wer sich fürchtet, der gehe heim zu [125] Weib und Kind. Die Hand, die das Tor öffnet, reckt sich zum letztenmal – mein Beil soll die Feigheit richten!“
Wutentbrannt eilte er zu seinen Genossen und schritt hastig vor ihren Gliedern auf und ab.
„Die Stadt übergeben! – Wir die Stadt übergeben!“ wiederholte er nochmals voll zorniger Verachtung.
Einige Anführer der Zunft hatten das gehört und fragten ihn erstaunt, was er damit sagen wolle; da brach er los:
„Gnade uns der Himmel, ihr Männer! Mein Blut kocht in den Adern – o über den Schimpf, den unerträglichen Schimpf! Die Weber wollen die Stadt an die Snakkers übergeben. Ich aber beschwöre euch, Brüder, bleibt bei mir, wir wollen als echte Vlaemen sterben. Sehet den Boden, darauf wir stehen, – hier fielen unsere Väter! Wohlan, hier sei auch mein Grab! Ja, dies sei unser Grab und das der Franzosen! Unser Tod mag den feigen Webern zur ewigen Schande gereichen. Wer kein echter Fleischer ist, mag heimgehen. – Sprecht, wer geht mit mir in den Tod?“
Die Fleischer erhoben ein erschreckliches Geheul, und dreimal erdröhnte das furchtbare Wort: Tod! gleich einem Stöhnen aus unheilschwangerem Abgrund. „In den Tod!“ erscholl es aus siebenhundert wütenden Kehlen, und in die Rufe mengte sich das furchtbare Getöse der Schlachtbeile, die sie auf dem stählernen Pfriem schliffen.
Unterdessen hatten sich die meisten Obmänner durch De Coninck überzeugen lassen, daß sein trauriger Vorschlag die einzige Rettung war und hätten die Stadt gern übergeben, wenn Breydels Widerspenstigkeit es nicht unmöglich gemacht hätte. Angesichts der vielen schrecklichen Sturmwerkzeuge, die beim feindlichen Heere emporragten, beschlossen sie endlich, ohne Rücksicht auf Breydels Widerstand, mit dem Feind in Unterhandlungen zu treten. Als der gereizte Breydel ihre Absicht merkte, brüllte er vor Wut wie ein verwundeter Löwe und stürmte mit einem unverständlichen Geschrei auf De Coninck [126] los. Die Fleischer sahen den Zorn ihres Obmannes und folgten ihm in Unordnung und voller Rachegier.
„Tod! Tod!“ heulte der rasende Haufe, „Tod dem Verräter De Coninck!“
De Conincks Leben schwebte in großer Gefahr; dennoch sah er die wütende Schar herankommen, ohne die geringste Furcht zu verraten. Wie man Wahnsinnige mitleidig anschaut, so blickte er mit verschränkten Armen, fest und unerschüttert den anstürmenden Fleischern entgegen. Mitten aus der wogenden Menge ertönte immer heftiger der schreckliche Ruf: „Tötet ihn, den Verräter!“ und schon schwebte das Beil über dem Haupte des großen Mannes. Er stand ungebeugt wie eine Rieseneiche, die der Gewalt des Sturmwindes trotzt, und von dem Bollwerk, darauf er stand, beherrschte er die Menge wie ein König.
In diesem Augenblick vollzog sich in Jan Breydels Zügen eine seltsame Wandlung. Als wäre er jählings aller Kraft beraubt, ließ er das Beil schlaff an seiner Seite niedersinken. Er bewunderte die Größe des Mannes, dessen Ratschläge er nicht hatte annehmen wollen. Doch nur einen Augenblick; denn alsbald sah er, in welcher Gefahr der Freund schwebte. Er warf den Fleischer, der schon sein Beil über De Conincks Haupte schwang, zu Boden und schrie:
„Halt, ihr Männer! Haltet ein!“
Anfangs wurde dieser Befehl nicht gehört, denn in dem wirren Mordgeheul konnte eine einzelne Stimme nicht durchdringen. So stellte sich Breydel drohend vor den Weberobmann und ließ zornig sein Beil kreisen. Nun erst begriffen seine Gehilfen, daß er De Coninck beschirmen wollte; sie senkten die Waffen und harrten mit drohendem Murren, was kommen würde.
Während sich Breydel bemühte, sie zur Ruhe zu bringen, kam ein Herold aus dem französischen Lager zum Fuß der Mauer, auf der sie standen. Die Aufmerksamkeit der erregten Bürger [127] wandte sich daher dem feindlichen Boten zu. Der rief den Belagerten zu: „Im Namen des mächtigen Königs Philipp von Frankreich läßt euch aufrührerische Untertanen mein Feldherr Châtillon fragen, ob ihr die Stadt auf Gnade oder Ungnade übergeben wollt? Gebt ihr nicht binnen zehn Minuten entsprechende Antwort, so wird eure Feste durch Sturmwerkzeuge zerstört und alles durch Feuer und Schwert vernichtet.“
Alle richteten ihre Blicke auf De Coninck. Ihn, den sie eben noch töten wollten, schienen sie nun um Rat zu bitten. Selbst Breydel schaute ihn fragend an; doch keiner erhielt die gewünschte Antwort. De Coninck stand schweigend unter ihnen, als ob ihn dies alles gar nichts anginge.
„Nun, Freund De Coninck, wozu ratet Ihr denn?“ fragte Breydel.
„Daß man die Stadt übergibt,“ kam es kalt zurück.
Aufs neue begannen die Fleischer zu murren und zu toben. Doch ein gebieterisches Zeichen Jan Breydels brachte sie zur Ruhe.
„Glaubt Ihr nicht, De Coninck,“ fragte er, „daß wir mit unverzagtem Mut die Stadt verteidigen können? Läßt hier auch größte Tapferkeit keinen Erfolg erwarten? O unselige Stunde!“
Deutlich konnte man bei dieser Frage den tiefen Schmerz in Breydels Zügen lesen. Hatten seine Augen auch vordem in Kampfeslust geglüht, jetzt war aller Heldenmut darin erloschen.
De Coninck erhob nun seine Stimme und sprach zu der umstehenden Menge:
„Ihr alle seid meine Zeugen, daß nur Liebe zum Vaterland mich leitet. Für meine Vaterstadt gab ich mich eurer tollen Wut preis, und so wäre es mir auch nicht schwer gefallen, durch Feindeshand zu fallen; aber der Schutz der Perle Flanderns ist mir heilige Aufgabe. Schmäht mich, verhöhnt und verspottet mich wie einen Verräter; ich kenne meine Pflicht. Nichts, und mag es auch noch so schmerzlich sein, kann mich [128] von diesem Ziel abbringen; aber einst werde ich euch befreien, wenn ich auch jetzt nicht nach euren Wünschen handle. Zum letzten Male sage ich es euch: es ist unsere Pflicht, die Stadt zu übergeben.“
Wer bei dieser kurzen Ansprache Breydels Mienen beobachtet hätte, hätte die verschiedensten Regungen wahrgenommen: Trotz, Mut und Kummer wechselten darin, und sein Händeringen verriet den Kampf mit seiner Leidenschaftlichkeit. Als die Worte: „Wir müssen die Stadt übergeben“ noch einmal wie ein Todesurteil an sein Ohr schlugen, umfing ihn inniger Gram, und er stand eine Weile wie in Gedanken verloren.
Die Fleischer und die anderen Zunftleute blickten in tiefem Schweigen abwechselnd die beiden Obmänner an.
„Meister Breydel,“ rief De Coninck, „wenn Ihr an unserem Untergang nicht schuld sein wollt, so sagt rasch ja. Dort kommt der Herold der Franzosen zurück; die zehn Minuten sind vorüber!“
Breydel erwachte plötzlich aus tiefem Sinnen und sagte traurig:
„Ihr wollt es, Meister? Muß es so sein? Wohlan, so übergebt die Stadt!“
Bei diesen Worten ergriff er gerührt De Conincks Hand; zwei Tränen innigen Schmerzes entfielen seinen Augen, und ein dumpfer Seufzer schlich über seine Lippen. Die beiden Obmänner sahen sich mit einem Blick an, darin sich ihr ganzer Seelenzustand widerspiegelte. Sie verstanden sich und schlossen einander gerührt in die Arme.
So lagen die zwei größten Männer Brügges – Heldenmut und Vernunft – Brust an Brust, in gegenseitige Bewunderung versunken.
„O tapferer Bruder!“ rief De Coninck, „Ihr besitzt eine große Seele! Welch inneren Kampf habt Ihr durchlebt! Aber Ihr habt ihn bestanden!“
Bei diesem rührenden Anblick ging ein Freudenblitz durch die [129] ganze Schar, und alle Uneinigkeit schwand aus den Herzen der tapferen Vlaemen. Auf De Conincks Befehl ertönte dreimal schmetternd das Horn der Weber, und ihr Herold rief dem französischen Boten zu:
„Gibt Euer Feldherr unserem Gesandten freies Geleit?“
„Er gibt sicheres Geleit, nach Kriegsgebrauch, bei seiner Treue,“ lautete die Antwort.
Auf diese Zusicherung hin wurde das Fallgatter aufgezogen, die Brücke niedergelassen, und zwei Bürger verließen die Stadt: De Coninck und der Herold der Zünfte. Als sie ins französische Lager kamen, wurden sie in das Zelt des Feldherrn Châtillon geführt. De Coninck nahte sich mit kühner Miene dem Landvogt und sprach:
„Herr von Châtillon, die Bürger von Brügge lassen Euch durch mich, ihren Gesandten, verkünden, daß sie nicht nutzlos Menschenblut vergießen wollen und deshalb beschlossen haben, Euch die Stadt zu überliefern; da aber nur dies edle Gefühl sie zur Unterwerfung drängt, lassen sie Euch folgenden Vertrag anbieten: Daß die Kosten des königlichen Einzugs nicht durch eine neue Belastung des dritten Standes beschafft werden, daß der Magistrat abgesetzt und keine Untersuchung der Gründe des Aufruhrs angestellt wird. Wollet mir nun sagen, ob Ihr auf diese Bedingungen eingeht!“
Die Züge des Landvogts verfinsterten sich.
„Was bedeutet diese Sprache,“ rief er, „wie wagt Ihr es, mir Bedingungen zu stellen, da ich nur meine Sturmwerkzeuge vorzubringen brauche, um eure Mauern in Trümmer zu verwandeln?“
„Das mag sein,“ erwiderte De Coninck, „aber ich sage es Euch und wäge meine Worte wohl: ehe ein Franzose unsere Wälle besteigt, sollen die Gräben unserer Stadt mit den Leichen Eurer Leute gefüllt werden. Es fehlt uns keineswegs an Kriegsgerät, und die Geschichte bezeugt, daß die Brügger für ihre Freiheit zu sterben wissen.“
„Ja, ich weiß, daß ihr euch immer durch eure Starrköpfigkeit ausgezeichnet habt; aber die kümmert mich wenig, denn der Mut der Franzosen kennt keine Hindernisse. Ich will die Stadt auf Gnade oder Ungnade haben, das ist meine Antwort.“
Châtillon war beim Anblick der vielen Zunftleute und ihrer trotzigen Haltung auf den Wällen im Hinblick auf die bevorstehende Schlacht von banger Sorge erfüllt worden. Aus Vorsicht war ihm die Übergabe der Stadt erwünscht. Er kannte die Unerschrockenheit der Brügger, und er war daher sehr froh, als die Ankunft De Conincks seinen Wunsch zu künden schien; aber die vorgeschlagenen Bedingungen gingen ihm wider den Strich. Dennoch würde er sie vielleicht zugestanden haben mit dem Hintergedanken, ihrer Erfüllung sich später irgendwie zu entziehen; aber er mißtraute dem Obmann der Weber und zweifelte an der Aufrichtigkeit seiner Worte. Um festzustellen, ob sich die Brügger wirklich bis zum Äußersten verteidigen wollten, gab er mit lauter Stimme den Befehl, die Sturmwerkzeuge in Tätigkeit zu setzen.
Während der Verhandlung hatte De Coninck unverwandt die Züge des Feldherrn beobachtet und Unentschlossenheit und Verstellung darin gelesen. So gewann er die Überzeugung, daß Châtillon einen Kampf nicht wünschte. Er bestand daher auf seinen Vorschlägen ungeachtet der Anstalten, die schon für den Sturmlauf getroffen wurden. Die kalte Standhaftigkeit De Conincks täuschte den französischen Feldherrn. Er glaubte nun sicher, daß die Brügger ihn nicht fürchteten und ihre Stadt hartnäckig verteidigen würden; und weil er nicht sein ganzes Heer samt Flandern um dieses einzigen Handels willen aufs Spiel setzen wollte, so begann er, mit De Coninck über die Bedingungen der Übergabe zu unterhandeln. Nach langem Hin- und Herreden einigten sie sich endlich dahin, daß der Magistrat im Amte bleiben solle; die übrigen Punkte wurden den Brüggern zugestanden. Der Landvogt machte seinerseits [131] zur Bedingung, daß er beliebig viel Soldaten in die Stadt legen könne.
Als der Siegelbrief von beiden aufgesetzt und unterzeichnet war, kehrte De Coninck mit dem Herold der Weber zur Stadt zurück. Die Bedingungen wurden in allen Straßen verkündet. Eine halbe Stunde später hielt das französische Heer mit Posaunenschall und fliegenden Bannern siegprunkenden Einzug; die Zunftleute dagegen zogen sich voll Schmerz und Kummer in ihre Wohnungen zurück. Nun kam auch der Magistrat mit den Leliaerts aus der Burg hervor, und scheinbare Ruhe breitete sich über die Stadt.
D a sich die Stadt Brügge jetzt ganz in der Macht der Franzosen befand, so begann Châtillon, ernstlich an die Erfüllung der Wünsche der Königin zu denken. Sie hatte ihn angewiesen, die junge Machteld van Bethune nach Frankreich zu schleppen. Daran schien ihn nichts zu hindern, weil seine Kriegsknechte die Stadt besetzt hielten. Aber Gründe der Klugheit hielten ihn vorerst davon zurück. Vor allem wollte er seine Macht in Brügge befestigen, die Zünfte knechten, ein Kastell bauen [26] . Dann erst gedachte er, die Tochter des Löwen von Flandern gefangenzunehmen und der Königin auszuliefern.
Adolf van Nieuwland war beim Einzug der Franzosen um Machteld höchlichst besorgt gewesen, da er sie jetzt schutzlos den Feinden preisgegeben glaubte. De Conincks tägliche Besuche und seine ununterbrochene Wachsamkeit vermochten ihn anfangs nicht zu beruhigen, und erst als die Franzosen mehrere Wochen hindurch nichts Feindseliges unternommen hatten, begann er anzunehmen, daß sie das Edelfräulein van Bethune [132] vergessen hatten und ihr kein Leid antun würden. Sein kräftiger Körper und die sorgfältige Behandlung Meister Rogaerts hatten seine Wunden zur Heilung gebracht; er bekam wieder Leben und Farbe, aber eine tiefe Traurigkeit lag noch auf seinem Antlitz. Der unglückliche Ritter sah die Tochter seines Fürsten und Wohltäters täglich bleicher werden, von trüben Gedanken gepeinigt siechte Machteld matt und krank dahin, wie eine welkende Blume. Und er, der ihrer aufopfernden Pflege das Leben verdankte, konnte ihr nicht helfen, sie nicht trösten. Waren auch seine Worte noch so freundlich, sie vermochten nichts bei dem gebeugten Mägdelein, das beständig um den Vater seufzte und weinte. Noch keine Kunde hatte sie bisher von ihm erhalten, und sie sah sich für immer von ihrer teuren Familie getrennt. Adolf suchte ihren Gram zu verscheuchen; er dichtete Verse und Lieder für sie, spielte auf der Harfe oder besang Robrechts Heldentaten; aber das alles beeinflußte die Stimmung des Mädchens nicht, ihre düsteren Gedanken waren durch nichts zu bannen. Sie war sanft, freundlich und dankbar, doch ohne Leben, ohne Empfindung oder irgendeine Neigung; selbst ihr Falke trauerte einsam und vergessen.
Wenige Wochen nach seiner völligen Genesung wagte sich Adolf langsamen Schrittes aus der Stadt und wandelte sinnend bei Sevecote [27] durch die Felder. Die Sonne stand schon tief am Himmel, und der Westen flammte in leuchtenden Farben. Gesenkten Hauptes, von bitteren Gedanken erfüllt schritt Adolf weiter, ohne auf den Weg zu achten. Eine Träne des Schmerzes feuchtete sein Auge, und zuweilen hob ein Seufzer seine Brust. Tausenderlei Mittel bedachte er, um das Los der jungen Machteld erträglicher zu gestalten, doch seine Verzweiflung nahm nur zu, denn er fand keinen Trost für sie. Er sah sie täglich weinen, immer mehr dahinsiechen, ohne daß man ihr raten, [133] helfen konnte. Für einen mutigen Ritter wie er, war das Gefühl solcher Ohnmacht peinigend, und bisweilen knirschte er erbittert mit den Zähnen – aber was nützt das? Nur eines blieb ihm: Tränen des Schmerzes zu weinen und von besseren Tagen zu träumen.
Schon weit ab von der Stadt setzte er sich, voll trüber Gedanken, am Rande des Weges nieder. Er starrte zu Boden und hing seinen traurigen Vorstellungen nach. Während er also schweren Herzens dasaß, kam ein Mann des Weges. Er trug eine baumwollene Mönchskutte, daran eine weite Kapuze die bis zum Rücken niederhing; ein Greisenbart wallte auf seine Brust herab, und starke Wimpern überschatteten die schwarzen Augen; seine hohlen Wangen waren gebräunt und die Stirn voll tiefer Falten.
Langsamen Schrittes, wie ein müder Reisender, nahte der Mönch mählich dem Platze, wo sich Adolf niedergelassen hatte, und blieb plötzlich vor ihm stehen. Freudige Überraschung belebte seine Züge; offenbar war ihm Adolf wohlbekannt. Aber sein Gesicht wurde gleich wieder ernst und kalt, als wollte er sich verstellen.
Adolf merkte erst jetzt die Anwesenheit des Mönches. Er stand auf und begrüßte ihn mit höflichen Worten.
„Mein Herr,“ erwiderte der Mönch, „ich bin von einer weiten Reise ermüdet, Euer Sitz lockt auch mich zu ruhen. Bitte, laßt Euch durch mich nicht stören.“
Er ließ sich auf den Rasen nieder und winkte Adolf, ihm nachzutun. Der nahm voll Ehrfurcht, doch gern seinen vorigen Platz wieder ein und setzte sich neben den Fremdling. Freilich erregte dessen Stimme seine Aufmerksamkeit: es schien ihm, als hätte er sie schon öfters gehört. Doch er schlug sich diesen Gedanken aus dem Sinne, weil er sich nicht erinnern konnte, wo er diesen Priester gesehen hätte.
Der Mönch schaute den jungen Ritter eine Weile durchdringend an; dann fragte er:
„Ich habe Flandern schon vor geraumer Zeit verlassen; deshalb hätte ich gern von Euch gehört, was sich überhaupt in unserer Stadt Brügge zuträgt.“
„O mein Vater,“ antwortete Adolf, „damit kann ich Euch gern dienen. In unserer Stadt Brügge sieht es schlimm aus: die Franzosen haben sie eingenommen.“
„Das scheint Euch nicht zu gefallen? Ich hörte aber doch, daß die meisten Adligen ihren rechtmäßigen Grafen verleugnet und die Fremden liebevoll empfangen haben.“
„Ach, das ist nur zu wahr! Der unglückliche Graf Gwijde ist von vielen seiner Untertanen verlassen, und gar mancher hat seinen alten Ruhm vergessen; aber nicht allen ist das vlaemische Blut in den Adern versiegt, noch gibt es Herzen, die den Fremdlingen nicht gewogen sind.“
Bei diesen Worten leuchtete sichtliche Freude aus den Zügen des Mönches, und er erwiderte:
„Eure Gefühle, Herr, sind löblich und meiner Achtung wert. Es freut mich aufrichtig, einen edlen Menschen zu finden, in dem noch nicht alle Liebe zu dem unglücklichen Landesherrn Gwijde erloschen ist. Gott lohne Euch Eure Treue.“
„O mein Vater,“ rief Adolf, „wäre es Euch vergönnt, meinem Herzen auf den Grund zu schauen und zu fassen, welche Liebe ich für meinen unglücklichen Herrn Gwijde und die Seinen hege! Ich schwöre Euch: der glücklichste Augenblick meines Lebens wäre der, da ich den letzten Blutstropfen für ihn dahingeben könnte.“
Der Mönch kannte das Menschenherz genügend, um fest an die Worte des jungen Ritters und an seine innige Liebe zu dem gefangenen Gwijde zu glauben. Nach kurzem Sinnen hub er an:
„Wenn ich Euch Gelegenheit gäbe, diesem Eide gemäß zu handeln, würdet Ihr nicht zurücktreten, sondern als Mann allen Gefahren trotzen?“
„Bitte, Vater,“ rief Adolf flehentlich, „bitte, zweifelt weder [135] an meiner Treue noch an meinem Mute. Sprecht rasch, Euer Schweigen drückt mich …“
„So hört denn aufmerksam zu. Ich bin dem Hause Gwijde von Flandern ob mancher Wohltat die größte Dankbarkeit schuldig; Liebe und Erkenntlichkeit, wie ich sie stets für meinen gnädigen Fürsten hegte, trieben mich an, ihm in seiner Bedrängnis beizustehen. Mit diesem Vorsatz verließ ich mein Kloster und zog nach Frankreich. Dort ermöglichten mir Bitten, Geld und mein geistlicher Stand, zu all den edlen Gefangenen Zutritt zu erlangen, und so überbrachte ich dem Vater die Worte des Sohnes, dem Sohne den Segen des Vaters. Im Kerker des Louvre habe ich mit der armen Philippa geseufzt und geweint. Derart habe ich ihre Pein gelindert, ihre Einsamkeit für kurze Zeit unterbrochen. Ganze Nächte hindurch bin ich gereist; oft wurde ich verjagt, geschmäht und verhöhnt. Aber des achtete ich nicht, angesichts des Glückes, meinem rechtmäßigen Fürsten in seiner Bedrängnis dienen zu können. Die Tränen der Dankbarkeit, die bei meinem Kommen flossen, waren mir ein Lohn, den alle Güter der Welt nicht aufwiegen können.“
„Seid gesegnet, edelmütiger Priester,“ rief Adolf, „der Himmel wird es Euch lohnen; aber sagt mir, ich bitte Euch, wie geht es Herrn van Bethune?“
„Er sitzt in einem Turme zu Bourges, im Lande Berry. Sein Los ist nicht zu schlimm, denn er ist von Banden und Ketten frei. Sein Gefangenenwärter ist ein alter Soldat, der im sizilischen Kriege mannhaft unter dem Banner des schwarzen Löwen gefochten hat. So ist er eher Herrn Robrechts Freund als sein Wächter.“
Adolf lauschte mit größter Aufmerksamkeit; mitunter wollte er seine Freude in Worten künden, doch er hielt an sich. Der Mönch fuhr fort:
„Seine Gefangenschaft würde ihn weniger hart bedünken, wenn ihn nicht sein Herz von hinnen zöge; er ist Vater und [136] trübe Ahnungen quälen sein Herz. Seine Tochter ist in Flandern geblieben, und er fürchtet, die tückische, grausame Königin von Navarra wird auch dieses Kind verfolgen und schwere Leiden über sie verhängen. Dieser schmerzliche Gedanke foltert den zärtlichen Vater, und sein Kerker wird ihm unerträglich; bitterste Verzweiflung durchtobt sein Herz, und jeder Tag seines Lebens gleicht den Qualen einer verdammten Seele. Überlegt Euch nun, ob Ihr wirklich entschlossen seid, Euer Leben für den Löwen, Euren Herrn, zu wagen. Der Kastellan von Bourges will ihn gegen Ehrenwort für einige Zeit in Freiheit setzen, falls ein treuer, opferbereiter Untertan sich aus Liebe zu ihm an seiner Statt einkerkern lassen will.“
Der junge Ritter warf sich vor dem Priester nieder und küßte ihm ehrfürchtig die Hand.
„O selig die Stunde!“ rief er, „da ich Machteld diesen Trost verschaffen kann. Sie soll ihren Vater sehen, o Gott! und ich soll diese heilige Sendung vollbringen? Wie pocht mein Herz so froh! Der glücklichste Mensch auf Erden sitzt zu Euren Füßen, ehrwürdiger Priester! Wißt Ihr, in welche Seligkeit, in welch reine Freude mich Eure Worte stürzen? Ja, dankbar will ich die Ketten wie einen kostbaren Schmuck entgegennehmen. Nichts soll mir über diese eisernen Fesseln gehen! O Machteld, Machteld! Könnten dir doch die Lüfte diese Freudenbotschaft künden.“
Der Mönch unterbrach die Begeisterung des Ritters nicht und stand auf; langsam schritt Adolf hinter ihm her, der Stadt zu.
„Mein Herr,“ begann jener schließlich, „Eure edlen Gefühle erfüllen mich mit berechtigter Bewunderung. Wohl zweifle ich nicht an Eurem Mute; aber habt Ihr auch bedacht, welchen Gefahren Ihr Euch aussetzt? Wenn die List entdeckt würde, müßtet Ihr Euer Opfer mit dem Leben büßen.“
„Ein vlaemischer Ritter fürchtet den Tod nicht,“ entgegnete Adolf, „nichts kann mich schrecken. Wenn Ihr wüßtet, wie ich seit sechs Monden Tag und Nacht mein Gehirn martere, [137] nach einer Gelegenheit suche, um für das Haus Flandern mein Leben zu wagen, – Ihr würdet mir nicht von Furcht und Gefahr reden. Noch eben, da ich trostlos am Wege saß, bat ich um eine göttliche Eingebung, und durch Euch hat Gott zu mir gesprochen.“
„Wir müssen noch heute nacht fort von hier, damit man nicht hinter unser Geheimnis kommt.“
„Je eher, je lieber! Denn meine Gedanken weilen schon in Bourges bei dem Löwen von Flandern, meinem Herrn und Fürsten.“
„Ihr seid jung, Herr Ritter; aber sonst gleichen Eure Gesichtszüge wohl denen von Herrn Robrecht; nur im Alter seid Ihr gar verschieden. Dies soll uns jedoch nicht hindern; denn meine Kunst wird Euch schnell die fehlenden Jahre verleihen.“
„Was wollt Ihr damit sagen, Vater? Könnt Ihr mich älter machen, als ich bin?“
„O nein. Aber ich kann Euer Gesicht so verändern, daß Ihr Euch selbst nicht wiederkennen sollt. Dazu verwende ich Kräuter, deren Wirkungen ich kenne; denkt aber nicht, daß ich gottlosen Künsten fröhne. Doch nun sind wir ja dicht bei der Stadt: könnt Ihr mir sagen, wo ein gewisser Adolf van Nieuwland wohnt?“
„Adolf van Nieuwland?“ rief der Ritter, „der bin ich ja, mit dem Ihr sprecht!“
Der Priester schien baß verwundert. Er blieb mitten auf dem Wege stehen und blickte den Junker mit geheucheltem Staunen an.
„Wie, Ihr seid Adolf van Nieuwland? Dann ist also Machteld van Bethune in Eurer Wohnung!“
„Diese Ehre ist meinem Haus zuteil geworden,“ antwortete Adolf. „Eure Ankunft wird sie höchlich freuen. Fast kommt der Trost zu spät, den Ihr bringt; denn trauernd siecht sie dahin, als ob sie sterben wollte.“
„Hier, diesen Brief von ihrem Vater könnt Ihr Machteld [138] geben; denn ich merke wohl, daß es Euch glücklich machen wird, ihr Trost zu bringen.“
Dabei holte er unter der Kutte ein Pergament hervor, das mit einem seidenen Faden und durch Siegel verschlossen war und übergab es dem Ritter. Der beschaute es schweigend in höchster Erregung. Seine Vorstellung trug ihn schon zu Machteld, und er spürte die eigne Freude an des Mägdeleins Glückseligkeit. Nunmehr ging ihm der Mönch viel zu langsam; er war immer etwas voraus, denn Ungeduld beflügelte seine Schritte. Als sie in der Stadt bei Adolfs Wohnung angelangt waren, betrachtete der Mönch das Haus, als wollte er es sich einprägen, und sprach:
„Gott mit Euch! Herr van Nieuwland! Heute abend, vielleicht ziemlich spät, komme ich wieder zu Euch. Richtet derweile Euer Gepäck.“
„Wollt Ihr nicht mit mir zu der Jungfrau gehen? Ihr seid so ermüdet: nehmt bitte mit meiner Wohnung vorlieb.“
„Ich danke Euch, Herr; meine Priesterpflichten machen mich anderen Orts nötig. Gegen zehn Uhr treffe ich Euch wieder. Gott nehme Euch in seinen Schutz!“
Damit verließ er den erstaunten Ritter und ging in die Wollstraße, wo er in De Conincks Hause verschwand. Voller Freude über dies unerwartete Glück, das ihm wie ein goldener Traum erschien, pochte Adolf mit heißer Ungeduld an seine Tür. Der Brief des Herrn van Bethune brannte ihm in der Hand, und als der Diener ihm öffnete, stürmte er ungestüm ins Haus.
„Wo ist Machteld? Wo ist Fräulein Machteld?“ fragte er hastig.
„Im Saale an der Straße,“ entgegnete der Diener.
Der Ritter flog die Treppe hinan und öffnete stürmisch die Tür des Saales.
„O edle Machteld,“ rief er, „trocknet Eure Tränen. Nun lacht sonnige Freude, denn unser Unglück ist vorbei!“
Die junge Gräfin saß beim Eintritt Adolfs traurig am Fenster. [139] Sie betrachtete den aufgeregten Junker mit Zweifel und Unglauben.
„Was sagt Ihr?“ rief sie endlich, stand auf und setzte ihren Falken rasch auf den Stuhl, „unser Unglück ist vorbei?“
„Ja, edle Frau, nun harret Euer ein besseres Los. Hier ist ein glückbringendes Schreiben – sagt Euer Herz Euch nicht, von welcher teuren Hand?“
Ehe er noch ausgesprochen hatte, lief Machteld in höchster Aufregung auf ihn zu und riß ihm den Brief aus den Händen. Ungewöhnte Glut färbte ihre Wangen mit flammendem Rot, und Freudentränen entströmten ihren Augen. Sie erbrach das gräfliche Siegel und las den Brief dreimal, ehe sie irgendein Wort zu verstehen schien – ach nein, sie verstand ihn nur zu wohl, das unglückliche Mägdelein. Unaufhaltsam flossen ihre Tränen, aber es war nicht mehr Freude; herber Schmerz entlockte ihr diese Zähren.
„Herr Adolf,“ rief sie schmerzbewegt, „Eure Freude zerreißt mir das Herz. Unser Unglück ist vorbei, sagt Ihr? Da – leset selbst und beweint mit mir meinen unglücklichen Vater.“
Der Ritter ergriff den Brief aus Machtelds Hand und begann ihn gesenkten Hauptes zu lesen. Anfangs glaubte er, der Priester habe ihn betrogen und als Boten einer schrecklichen Nachricht gebraucht; als er aber den ganzen Inhalt des Schreibens kannte, schwand sein Argwohn. Einige Augenblicke sann er schweigend über seine unvorsichtigen Worte nach. Als ihn Machteld so bekümmert sah, bereute sie innerlich den Vorwurf, den sie ihm gemacht hatte; sie trat zu dem traurigen Junker und sagte freundlich:
„Vergebt mir, Herr Adolf. Seid nicht traurig und glaubt nicht, daß ich Euch gram bin, weil Ihr mir zu viel Glück verheißen habt. Ich weiß, wie glühend Ihr auf das Wohl eines armen Mägdeleins bedacht seid. Seid überzeugt, Adolf, daß ich für Eure edelmütige Aufopferung nicht undankbar bin.“
„Edle Machteld,“ rief er, „ein großes Glück kann ich Euch [140] verheißen. Nein, meine Freude ist nicht dahin. Den Inhalt des Briefes kannte ich; aber der war nicht der Grund meiner Freude. Trocknet Eure Tränen, Machteld; ich wiederhole Euch, grämt Euch nicht mehr, denn bald werdet Ihr lange an Eures Vaters Brust ruhen können.“
„O, welches Glück,“ schluchzte Machteld, „sollte es wahr werden? Sollte ich meinen Vater sehen und sprechen? Aber warum quält Ihr mich, Herr Adolf? Weshalb klärt Ihr mir dies Rätsel nicht auf? Sprecht doch, damit meine Zweifel schwinden.“
Ein flüchtiger Schatten verdüsterte die heiteren Züge des Junkers. Er hätte Machtelden die geforderte Erklärung so gern gegeben, aber seine edle Seele duldete nicht, von den eigenen Verdiensten zu sprechen. Mit hörbarer Betrübnis erwiderte er:
„Vergebt es mir, bitte, edle Jungfrau, wenn ich schweige. Seid gewiß, daß Ihr Euren Durchlauchtigen Vater sehen werdet, daß er seine teure Tochter auf dem Boden der Heimat sprechen und umarmen wird; aber mehr darf ich Euch nicht sagen.“
Die junge Gräfin gab sich damit nicht zufrieden. Zweierlei drängte sie, dies Rätsel zu lösen: weibliche Neugier und die noch haftenden Zweifel. In sichtlichem Ärger preßte sie die Lippen aufeinander und sagte schließlich:
„Ach, Herr Adolf, enthüllt mir doch, was Ihr mir verbergen wollt; haltet mich nicht für so unbesonnen, daß ich es zu meinem eigenen Schaden preisgeben würde.“
„Ich darf, ich kann nicht.“
„Es würde mich doch so froh machen, Herr Adolf. Nun also glaube ich Euren Worten nicht. Ihr raubt mir die Freude, die ich erlebt hätte. Sagt mir es doch.“
„Ich bitte Euch, verschont mich, edles Fräulein, ich kann nicht.“
Bei jedem Wort des Ritters wuchs die Neugierde Machtelds. [141] Immer wieder fragte sie ihn nach dem Geheimnis, – vergebens. Endlich packte sie die Ungeduld: als alle Bitten nichts nützten, begann sie aus Ärger wie ein Kind zu weinen. Beim Anblick ihrer Tränen entschloß er sich endlich, ihr alles zu sagen, mochte ihm auch das Eingeständnis der eigenen Aufopferung noch so viel kosten. Machteld las in seinen Zügen ihren Sieg und nahte ihm in froher Erwartung, während er also zu ihr sprach:
„Hört denn, Machteld, wie wundersam ich den Brief und die frohe Nachricht erhielt. In tiefem Sinnen saß ich bei Sevecote und flehte in glühendem Gebet die Gnade des Himmels auf meinen unglücklichen Landesherrn herab. Wie groß war mein Staunen, als ich plötzlich einen Priester vor mir stehen sah! Sofort dachte ich, mein Gebet sei erhört und dieser Mann werde mir Trost bringen – und so war es auch; denn aus seiner Hand empfing ich den Brief, aus seinem Mund vernahm ich die Kunde: Euer Vater kann sein Gefängnis auf einige Tage verlassen, aber ein anderer Ritter muß die Ketten für ihn tragen.“
„Welche Freude!“ rief Machteld aus, „ich werde ihn sehen und sprechen. O mein Vater, mein teurer Vater! Wie dürstet meine Seele nach Eurer Umarmung! Adolf, Ihr macht mich überglücklich; Eure Worte tun so wohl! Aber wer wird die Stelle meines Vaters einnehmen wollen?“
„Der Mann ist schon gefunden,“ gab der Ritter zur Antwort.
„Der Segen des Himmels komme über ihn!“ rief die Jungfrau. „Welch Edelmut, meinen Vater solcherart zu befreien, mir das Leben wiederzugeben! O, stets werde ich diesen Mann lieben, allzeit ihm dankbar sein; er verdient noch mehr. Aber wer ist denn dieser edelmütige Ritter?“
Adolf ließ sich auf ein Knie vor der Jungfrau nieder und rief:
„Wer anders als Euer Diener Adolf, o edle Tochter des Löwen, meines Herrn!“
Machteld blickte den Jüngling voll inniger Rührung an, hob ihn vom Boden auf und sprach:
„Adolf, mein guter Bruder, wie kann ich Euch je Eure Hingabe lohnen? O, ich weiß, was Ihr alles getan habt, um mein Schicksal zu erleichtern. Es ist mir nicht entgangen: auf mein Wohlergehen war Euer ganzes Leben gerichtet. Nun wollt Ihr gar die Ketten meines Vaters auf Euch nehmen und geht vielleicht in den Tod, um mir einen glücklichen Augenblick zu schaffen. Ich unfrohes, trauriges Ding habe das nicht verdient.“
Seltsam feurig erglänzten die Augen des Ritters. Begeistert rief er:
„Fließt nicht das Blut meiner Grafen in Euren Adern, edle Frau? Seid Ihr nicht der teure Sproß des Löwen, des Fürsten, der meines Vaterlandes Ruhm verkörpert? Nie, niemals kann ich ihm seine Wohltaten vergelten; mein Blut, mein Leben habe ich Eurem Durchlauchtigen Hause geweiht. Alles, was der Löwe liebt, ist mir heilig!“
Während Machteld ihn bewundernd anschaute, meldete ein Diener den Priester, und dieser wurde auf Adolfs Geheiß in den Saal geführt.
„Seid gegrüßt, durchlauchtige Tochter des Löwen, unseres Herrn,“ sprach er mit ehrerbietiger Verneigung, während er die Kappe seiner Kutte zurückwarf.
Machteld betrachtete forschend den Mönch und strengte ihr Gedächtnis an, um sich seines Namens zu entsinnen; denn seine Stimme griff ihr tief ins Herz. Plötzlich nahm sie seine Hand; ihre Augen glänzten vor Freude, und sie rief leidenschaftlich bewegt:
„O Gott! Der Herzensfreund meines Vaters – Herr Dietrich! Ich glaubte, alle außer Herrn van Nieuwland hätten uns verlassen. Nun sei dem Himmel Dank, er hat mir einen zweiten Beschützer gesandt! Und ich – ich wagte Euch in Gedanken der Untreue zu beschuldigen! Vergebt meinem bekümmerten Herzen diesen Irrtum, Herr Dietrich.“
Dietrich war ganz verdutzt, daß seine Kunst von einem Frauenauge durchschaut worden war. Ärgerlich legte er seinen Bart ab und erschien nun der Jungfrau in kenntlicherer Gestalt. Adolf erging sich in Danksagungen und drückte ihm mit inniger Freundschaft die Hand. Dann wandte sich Dietrich zu Machteld und sprach:
„Fürwahr, edles Fräulein, ich muß gestehen, Ihr habt ein scharfes Auge. Jetzt freilich heißt es wieder natürlich sprechen. Und doch wäre ich lieber unerkannt geblieben; denn die Maske, die Ihr durchschaut habt, ist für das Wohl meines Gebieters, des Löwen, unentbehrlich. Ich bitte Euch deshalb, nennt bei niemandem meinen Namen, das könnte mir das Leben kosten. Euer Antlitz, edle Jungfrau, trägt die Spuren Eures langen, tiefen Schmerzes; aber die sollen nicht dauern, wenn sich unsere Hoffnungen verwirklichen. Sollte sich jedoch die Gefangenschaft Eures Vaters gegen all' unsere Hoffnung länger hinziehen, so gebietet Euch die Religion, auf die Gerechtigkeit des Herrn zu vertrauen. Ich habe Herrn van Bethune gesehen und gesprochen. Sein Los ist durch das Wohlwollen des Kastellans erleichtert, und er ersucht Euch, seinetwegen nicht zu weinen.“
„Erzählt mir doch, was er Euch gesagt hat, Herr Dietrich. Beschreibt mir seinen Kerker, sein Leben. Nur seinen teuren Namen zu hören, tut meinem Herzen schon wohl.“
Dietrich der Fuchs begann eine eingehende Beschreibung des Turmes von Bourges und erzählte dem Mägdelein alles, was er wußte. Mit der größten Bereitwilligkeit beantwortete er jede kleinste Frage und tröstete sie durch erheuchelte Fröhlichkeit.
Inzwischen war Adolf aus dem Saal gegangen, um mit seiner Schwester Maria seine Reise zu besprechen und anzuordnen, daß man hierzu sein Pferd und seine Waffen instand setzte. Auch hatte er durch einen treuen Diener De Coninck und Breydel benachrichtigt und aufgefordert, über die junge Gräfin zu wachen. Das war freilich unnötig, da Dietrich der Fuchs schon mit geheimen Befehlen beim Weber gewesen war. Sobald [144] Adolf zurückkam, erhob sich Dietrich von dem Sessel und sprach:
„Herr van Nieuwland, ich kann nicht länger bleiben. Geduldet Euch nun, bitte, nur ein wenig, damit ich Eurem Gesicht das nötige Alter verleihe. Fürchtet nicht, daß es Euch irgendwie schaden könnte, und laßt mich gleich beginnen.“
Der Ritter setzte sich vor Dietrich auf einen Sessel und lehnte sein Haupt zurück. Machteld, die dies alles nicht begreifen konnte, stand verwundert neben ihnen. Neugierig verfolgte sie, wie Dietrichs Finger auf Adolfs Gesicht zahlreiche graue Flecken und schwarze Linien zeichneten. Bei jedem Strich erstaunte das Mägdelein mehr; denn die Züge des Ritters veränderten sich und erinnerten an die ihres Vaters. Beim Anblick dieser Wunder pochte der Jungfrau Herz gar ungestüm. Als dann alle Linien recht dastanden, befeuchtete Dietrich Adolfs Wangen und Stirn mit einem bläulichen Wasser und ersuchte ihn, aufzustehen.
„Wir sind fertig,“ sagte er, „Ihr gleicht Herrn van Bethune, als ob ihr beide Kinder desselben Vaters wäret. Und hätte ich Euch nicht selbst so umgestaltet, ich würde Euch mit dem Namen des durchlauchtigsten Löwen begrüßen. Ja, glaubt es mir, ich empfinde wirklich Ehrfurcht vor Eurem neuen Gesicht.“
Die junge Machteld stand sprachlos und wie von Sinnen vor Adolf. Sie konnte sich nicht sattsehen und betrachtete abwechselnd die beiden Ritter, wie man nach der Erklärung eines unbegreiflichen Vorganges fragt. Adolf glich Herrn van Bethune so genau, daß sie hätte glauben können, ihr Vater stände wirklich vor ihr.
„Herr van Nieuwland,“ sagte Dietrich der Fuchs, „wenn Ihr Euer edles Vorhaben glücklich ausführen wollt, so ist es ratsam, daß wir schleunigst abreisen. Wenn Euch ein Feind oder ungetreuer Diener so erblickt, dann schwebt Ihr in der größten Gefahr, Euer Leben nutzlos aufs Spiel zu setzen.“
Adolf sah ein, daß er die Wahrheit sprach.
„Lebt wohl, edle Jungfrau,“ rief er, „lebt wohl und denkt zuweilen an Euren Diener Adolf.“
Sie schluckte die Tränen herunter, die schon in ihren Augen glänzten, und löste ihren grünen Schleier.
„Hier,“ sprach sie, „empfanget das aus den Händen Eurer dankbaren Schwester. Er mag Euch an mich erinnern, die Eure edle Tat nie vergessen wird. Es ist meine Lieblingsfarbe.“
Der Ritter sank auf ein Knie, als er dies Pfand empfing, und drückte es mit dankbarem Blick an seine Lippen.
„O Machteld!“ rief er, „ich habe diese Gunst nicht verdient. Möchte dereinst der Augenblick kommen, da ich mein Blut für das Haus von Flandern vergießen kann: dann werde ich mich Eurer Freundschaft und Güte würdig zeigen.“
„Es ist Zeit; bitte, unterbrecht Eure Danksagungen,“ bemerkte Dietrich.
„Lebt wohl, Machteld!“
„Lebt wohl, Adolf!“
Und der Ritter verließ rasch den Saal. Im Vorhof schwangen er und Dietrich sich in den Sattel; einige Augenblicke später hallten die einsamen Straßen der Stadt von dem Tritt zweier Pferde wieder, bis sie unter dem Genter Tor verschwanden.
I m Jahre 1280 hatte ein furchtbarer Brand die alte Halle am Markt völlig vernichtet. Dort war der hölzerne Turm mit allen Rechtsurkunden der Stadt Brügge in Flammen aufgegangen. Nur einige massive Mauern des untersten Stockwerkes waren verschont geblieben und mit ihnen einige Räume, welche bisweilen als Wachtstuben dienten. Die französischen Kriegsknechte hatten dies verlassene Gemäuer zum Sammlungsplatz erwählt, und hier verbrachten sie ihre freien Stunden mit Schwelgen und Spielen.
Einige Zeit nach der Abreise Adolfs van Nieuwland befanden sich acht französische Söldner in einem der entlegensten Räume der Brandstätte. Eine große tönerne Lampe beleuchtete die gebräunten Gesichter der Krieger, und kräuselnd stieg ihr Qualm zum Gewölbe empor. An den Wänden konnte man beim grellen Lampenschein noch einige Verzierungen im römischen Stile bemerken. Eine weibliche Statue ohne Hände, deren Gesicht mit der Zeit schon ganz entstellt war, stand in einer Nische des Gemachs. Vier Kriegsknechte saßen an einem schweren eichenen Tische und würfelten eifrig. Mehrere andere standen dabei und folgten aufmerksam dem Spiel. Offenbar waren diese Leute nicht zum Würfeln allein hierhergekommen: sie hatten Helme auf, und breite Schwerter hingen an ihrem Gürtel, als ob es zum Kampfe ginge.
Nach einigen Augenblicken stand einer der Spieler auf und warf ärgerlich die Würfel beiseite.
„Ich glaube, der alte Bretone hat keine sauberen Finger,“ rief er. „Das wäre doch recht sonderbar, wenn ich unter fünfzig Würfen nicht einmal gewinnen sollte. Ich habe keine Lust mehr zum Spiel, ich höre auf.“
„Ihr wollt nicht mehr spielen!“ rief der Gewinner frohlockend. „Was Teufel, Johann, Eure Tasche ist doch sicher nicht leer! – Fliehet Ihr so vor dem Feind?“
„Wage es noch einmal,“ meinte ein anderer, „vielleicht wendet sich das Glück.“
Der Söldner, der Johann genannt wurde, schwankte lange, ob er sein Glück noch einmal versuchen sollte; endlich griff er in sein Panzerhemd und zog einen glänzenden Schmuck hervor. Es war ein Halsschmuck von den feinsten Perlen mit goldenem Schloß.
„Da,“ sprach er, „ich setze diese Perlen gegen euren Gewinn: die schönste Schnur, die je am Hals einer vlaemischen Frau geblinkt hat! Wenn ich diesmal wieder verliere, bleibt mir kein Härlein von der Beute.“
Der Bretone nahm den Schmuck in die Hand und betrachtete ihn neugierig.
„Gut, es gilt!“ rief er; „in wieviel Würfen?“
„In zwei,“ antwortete Johann, „werft Ihr zuerst.“
Ein Haufen Goldstücke lag auf der Tafel neben den kostbaren Juwelen. Aller Augen folgten in beklemmender Spannung den rollenden Würfeln, und die Herzen der Spieler klopften heftig. Beim ersten Wurf schien das Glück Johann zu lächeln, denn er warf zehn, sein Genosse nur fünf. Während er sich nun der Hoffnung hingab, sein Geld wiederzugewinnen, sah er, daß der Bretone die Würfel heimlich zum Munde führte und an einer Stelle benetzte. Als er merkte, daß Trug an seinem Verluste schuld war, jagte ihm Ärger und Rachsucht das Blut zu Kopfe. Er tat aber, als habe er nichts gesehen, und meinte:
„So werft; was zaudert Ihr? Seid Ihr bange?“
„Nein, nein!“ rief der Bretone und ließ die Würfel rasch aus den Händen rollen. „Das Glück kann sich wenden – seht Ihr wohl? Zwölf!“
Nun warf Johann die Würfel nachlässig auf den Tisch. Da er unglücklicherweise diesmal nur sechs bekam, nahm der Bretone mit Freudenrufen das Geschmeide an sich und barg es unter seinem Harnisch. Johann wünschte ihm mit erkünstelter Ruhe Glück zu seinem Gewinn und schien sich über den Verlust nicht sonderlich zu grämen. Aber in seiner Brust fraß geheimer Grimm, und er konnte sich nur mühsam zurückhalten. Während der frohe Gewinner mit einem anderen Genossen sprach, flüsterte Johann denen, die bei ihm standen, etwas ins Ohr und schien den Bretonen durch seine Blicke ihrer Aufmerksamkeit anzuempfehlen; dann rief er:
„Da Ihr mir alles abgewonnen habt, Kamerad, werdet Ihr es mir nicht abschlagen, das Glück noch einmal zu versuchen. Ich setze das Geld, das wir diesen Abend noch verdienen, gegen eine gleiche Summe. Tut Ihr mit?“
„Aber natürlich, ich weiche nie!“
Johann nahm die Würfel und warf achtzehn in zweimal. Während nun der andere die Würfel von der Tafel nahm und sie beim Sprechen ganz absichtslos in der Hand zu halten schien, gaben die Soldaten neben Johann genau darauf acht. Sie sahen deutlich, daß der Bretone die Würfel nochmals an seine Lippen führte, und dank dieser List einmal zehn und einmal zwölf warf.
„Ihr habt verloren, Freund Johann!“ rief er.
Ein furchtbarer Faustschlag war die Antwort auf diesen Zuruf; Blut strömte aus seinem Mund, und einen Augenblick war er ganz betäubt, denn der Schlag hatte sein Hirn erschüttert.
„Ihr seid ein Schelm, ein Dieb!“ schrie Johann; „ich habe gar wohl gesehen, wie Ihr die Würfel naß machtet und mich so um mein Geld betroget! Ihr sollt mir alles wiedergeben, oder …“
Der Bretone ließ ihn nicht fortfahren. Er zog sein breites Schwert und stürzte unter furchtbaren Schmähungen auf ihn los. Auch Johann hatte sich kampfbereit gemacht und schwur blutige Rache. Aber dazu kam es nicht. Schon blitzten die beiden Klingen bereits im Lampenschein, und alles kündete unvermeidliches Blutvergießen, als ein anderer Krieger in die Stube trat.
Seine stolzen und gebieterischen Blicke auf die Streitenden machten ihn sogleich als Vorgesetzten kenntlich. Sowie die Soldaten seiner ansichtig wurden, verstummten die Flüche und Scheltworte, und die Schwerter fuhren schleunigst in die Scheiden.
Johann und der Bretone kündeten einander durch Blicke an, daß der Kampf nur aufgeschoben sei, und traten mit den anderen zu ihrem Vorgesetzten, der sie fragte:
„Seid ihr bereit, Leute?“
„Wir sind fertig, Herr de Cressines!“ klang es zurück.
„Beobachtet die größte Stille,“ nahm de Cressines das Wort, [149] „und vergeßt nicht, daß das Haus, in das uns dieser Bürger führt, unter dem Schutz unseres Feldherrn Châtillon steht. Der erste, der irgend etwas anrührt, wird es bitter bereuen. Man folge mir.“
Der Bürger, der den französischen Kriegsknechten als Führer diente, war eben jener Meister Brakels, der Leliaert, der aus der Weberzunft ausgestoßen worden war. Als die Söldner mit ihrem Anführer auf der Straße waren, ging Brakels schweigend voran und führte sie durch die Finsternis in die spanische Straße zur Tür von Herrn van Nieuwlands Wohnung. Hier stellten sich die Söldner längs der Mauer auf und atmeten kaum, damit man ihre Gegenwart nicht bemerkte. Meister Brakels ließ den Klopfer des Tores leise niederfallen. Nach einigen Augenblicken kam eine Dienstmagd in den Gang und fragte mißtrauisch, wer so spät anklopfe.
„Öffnet rasch,“ gab Brakels zur Antwort, „ich komme von Meister de Coninck mit einer eiligen Nachricht für Jungfrau Machteld van Bethune. Zögert keinen Augenblick; denn die Jungfrau ist in großer Gefahr.“
Die Dienstmagd war weit entfernt, Verrat zu argwöhnen. Sie zog den Riegel weg und öffnete die Tür rascher als sonst wohl. Aber wie groß war ihre Bestürzung, als acht französische Soldaten hinter dem Vlaemen her in den Gang drangen. Ihr gellender Schrei scholl bis in die entlegensten Gemächer des Hauses, und sie wollte sich durch die Flucht retten. Aber Cressines hielt sie zurück.
„Wo ist Eure Gebieterin, Machteld van Bethune?“ fragte Cressines mit kalter Ruhe.
„Gräfin Machteld hat sich schon seit zwei Stunden zur Ruhe begeben, und nun schläft sie,“ stammelte die erschrockene Magd.
„Geht zu ihr,“ sprach der Befehlshaber, „und sagt ihr, sie möge sich ankleiden; denn sie muß auf der Stelle dieses Haus verlassen und uns folgen. Seid gehorsam, denn es täte mir leid, wenn ich Gewalt anwenden müßte.“
Die Magd lief in angstvoller Eile die Treppe hinauf und weckte Adolfs Schwester.
„Ach, Herrin,“ rief sie, „steht schnell auf, das ganze Haus wimmelt von Soldaten!“
„Himmel,“ sagte Maria mit bebender Stimme, „was sagst du? Soldaten in unserem Hause? Was wollen sie?“
„Sie wollen die Gräfin van Bethune sofort wegführen. Bitte eilt, denn sie schläft noch – ich fürchte, die Soldaten könnten in ihr Zimmer dringen.“
Hastig, ohne Antwort warf die erschrockene Maria ein weites Gewand über und ging mit der Magd zu Herrn de Cressines, der noch auf dem Gange stand. Zwei Diener des Hauses waren auf das Geschrei der Magd herbeigelaufen und standen entmutigt zwischen den französischen Soldaten. Man hatte sie gepackt und festgehalten.
„Mein Herr,“ fragte Maria den Anführer, „wollt Ihr mir sagen, warum Ihr so zur Nachtzeit in meine Wohnung dringt?“
„Ja, edle Dame,“ bekam sie zur Antwort, „es geschieht auf Befehl des Landvogts. Gräfin Machteld van Bethune, die hier wohnt, muß uns unverzüglich folgen. Fürchtet nicht, daß sie schlecht behandelt wird. Ich verpfände Euch meine Ehre, daß kein Wort sie kränken soll.“
„O mein Herr,“ rief Maria, „wüßtet Ihr, welches Los Ihr dem Mägdelein bereitet, Ihr würdet unverrichteter Sache wieder fortgehen; denn ich entnehme Euren Worten, daß Ihr ein ehrenwerter Ritter seid.“
„Ihr habt recht, ich bin kein Freund solcher Unternehmungen, aber den Befehl meines Feldherrn muß ich pünktlich ausführen. Wollet mir also die Jungfrau Machteld ausliefern; wir können nicht länger warten. Erspart mir strenge Maßregeln.“
Maria sah wohl, daß nichts diesen Schlag abwenden konnte; doch verhehlte sie ihre tiefe Betrübnis vor den fremden Kriegsknechten [151] und weinte nicht. Mit sichtlichem Abscheu schaute sie auf den Vlaemen, der in einem Winkel des Ganges stand, und ihre Blicke schienen ihm seinen Verrat vorzuwerfen. Meister Brakels war nicht kühn genug, dem entrüsteten Mägdelein in die Augen zu sehen. Zitternd ward er sich nun bewußt, welche Rache ihn verfolgen würde, und wich einige Schritte zurück, als ob er fliehen wollte.
„Man bewache diesen Vlaemen,“ rief Cressines seinen Leuten zu; „laßt ihn nicht fort; denn wer wie er seine Freunde verrät, ist zu allem fähig.“
Meister Brakels wurde beim Arm gepackt und mit Gewalt zwischen die Soldaten gedrängt. ‚Verräter‘ ward er geschmäht, und die Verachtung der Männer, denen er gedient hatte, war sein Lohn.
Maria verließ den Gang und trat bekümmerten Herzens in Machtelds Schlafgemach; wie erstarrt blieb sie vor dem Bette stehen und betrachtete das unglückliche Mägdelein, das so sanft schlief. Eine helle Träne glänzte unter seinen Wimpern, und der Atem ging schwer und fiebrig. Plötzlich zog es die Hand unter der Decke hervor und reckte sie, als wollte es ein Schreckbild verscheuchen. Aus dem unverständlichen Gemurmel tönte mehrmals Adolfs Name wie ein Hilferuf.
Tränen brachen aus Marias Augen; der Anblick griff ihr tief ins Herz, und ihr Mitleid wuchs noch bei dem Gedanken an das Leid, das das arme Mägdelein fürder erdulden sollte. Doch so sehr sie sich auch quälte, ihrer unglücklichen Freundin die Nachricht zu bringen, sie durfte nicht zögern, die Zeit war kostbar. Jeden Augenblick konnten die Söldner in das Zimmer treten, und welchen Schrecken, welchen Kummer hätte dann die edle Machteld erlebt! In dieser Erkenntnis ergriff sie die Hand ihrer Freundin und weckte sie mit den Worten:
„Meine liebe Machteld, wachet auf, ich habe Euch etwas Eiliges zu sagen.“
Die Berührung Marias hatte das Mägdelein heftig erschreckt; [152] weit öffnete sie die Augen und zitterte, während sie ihre Freundin unsicher anschaute.
„Seid Ihr es, Maria?“ fragte sie und rieb die tränenfeuchten Augen; „was führt Euch zu so ungewöhnlicher Stunde zu mir?“
„Ach, meine arme Machteld,“ rief Maria weinend aus, „steht auf. Hier ist Euer Kleid, – steht rasch auf, ein großes Unglück steht Euch bevor.“
Erschrocken sprang Machteld auf und blickte Maria ängstlich an; die weinte bitterlich, während sie Machteld ankleidete. Erst als sie ihr ein langes Reitkleid reichte, antwortete sie mit einem tiefen Seufzer:
„Ihr geht auf Reisen, edle Dame, der heilige Georg beschütze Euch!“
„Aber warum dieses Reitkleid, meine teure Maria? Ach, jetzt sehe ich, welches Los meiner harrt! Mein böser Traum ist wahr geworden: als Ihr mich wecktet, sah ich mich in Frankreich, vor Johanna von Navarra. O Gott, nun ist alle Hoffnung dahin! Ich werde das schöne Flandern nicht wiedersehen, und Du, mein teurer Löwe, du lieber Vater, wirst Dein Kind vielleicht nicht mehr in dieser Welt wiedersehen …“
Maria hatte sich gramverzehrt in einen Sessel niedergelassen und schluchzte schweigend. Sie brachte es nicht über sich, die Befürchtungen ihrer Freundin zu bestätigen. Nach einigen Augenblicken warf sich ihr die geängstigte Machteld um den Hals und sagte:
„Weinet nicht so um mich, liebe, teure Freundin. Schon längst bin ich mit Unglück und Elend vertraut; für das Haus Flandern ist alle Ruhe, alle Freude dahin.“
„Unglückliches, edles Mägdelein,“ schluchzte Maria, „Ihr wißt nicht, daß drunten französische Söldner Eurer harren, daß man Euch auf der Stelle fortführen wird.“
Das bleiche Mägdelein erschauerte bei diesen Worten.
„Söldner?“ rief sie. „Soll ich der Roheit unedler Mietlinge [153] ausgesetzt sein? O liebe Maria, schützet mich … O Gott, könnte ich jetzt sterben! Robrecht, Robrecht, wüßtet Ihr, welche Schmach Eurem Kinde widerfährt!“
„Erschreckt nicht so; ein ehrenwerter Ritter ist bei ihnen.“
„So ist denn die Unglücksstunde gekommen; ich muß Euch verlassen, Maria, und die böse Königin von Navarra wird mich, wie meinen Vater, einkerkern. Doch es sei! Es gibt einen Beschützer im Himmel, der mich nicht verlassen wird …“
„Zieht rasch Euer Reitkleid an, ich höre die Tritte der Söldner.“
Während Machteld das Kleid anzog, öffnete sich die Tür. Die Magd trat ein und sagte:
„Der französische Edelmann läßt fragen, ob das Fräulein van Bethune bereit sei, und ob er vor ihr erscheinen dürfe.“
„Er mag kommen!“ war Marias Antwort.
Herr de Cressines war der Magd gefolgt und trat unmittelbar darauf in das Zimmer. Er verbeugte sich vor der Jungfrau, und man las in seinen mitleidigen Blicken, daß er diesen Auftrag widerwillig ausführte.
„Gräfin,“ sprach er, „deutet es mir nicht übel, wenn ich Euch ersuche, mir auf der Stelle zu folgen. Ich darf keinen Augenblick mehr säumen.“
„Ich werde mich gehorsam fügen,“ antwortete Machteld, die ihre Tränen zurückhielt. „Ich hoffe, mein Herr, daß Ihr mich vor aller Schmach bewahren werdet.“
„Ich versichere Euch, edle Dame,“ rief Cressines, den des Mägdeleins Ergebung rührte, „daß Euch kein Leid zugefügt werden soll, solange Ihr unter meinem Schutze steht.“
„Aber Eure Söldner, mein Herr?“
„Meine Söldner, Fräulein, sollen Euch kein Wort sagen. Diese Versicherung mag Euch genügen.“
Die beiden Mädchen umarmten sich zärtlich und vergossen viele Tränen. Immer aufs neue wiederholten sie die bitteren Worte der Trennung, immer wieder fielen sie sich um den Hals. Endlich folgten sie dem Ritter in den Gang.
„O mein Herr,“ rief Maria, „sagt mir doch, wohin Ihr meine unglückliche Freundin führt!“
„Nach Frankreich,“ sagte Cressines; und den Soldaten gebot er:
„Achtet auf meine Worte! – Wer in Gegenwart dieser Dame ein unziemendes Wort sagt, wird streng bestraft. Ich will, daß man sie ihrem durchlauchtigen Stande gemäß behandelt. Führt die Pferde vor!“
Machteld weinte still unter dem Schleier, der ihr Gesicht bedeckte. Maria hielt eine Hand gefaßt, und beide standen bewegungslos wie Bildsäulen da. Worte reichten nicht hin, ihren herben Abschiedsschmerz auszudrücken.
Als die Pferde vor die Tür gebracht waren, half Herr de Cressines Machtelden auf einen leichten Traber. Meister Brakels und die Diener wurden freigelassen, und der Zug entfernte sich rasch durch die Straßen von Brügge. Einige Augenblicke später waren sie auf freiem Felde, auf Wegen, welche Machteld nicht erkennen konnte. Die Nacht war düster, und feierliche Stille lag auf der schlummernden Natur. Herr de Cressines blieb stets an Machtelds Seite. Weil er sie in ihrer Betrübnis nicht stören wollte, sprach er nicht mit ihr und würde vielleicht die Reise schweigend zurückgelegt haben, wenn ihn nicht die junge Machteld zuerst angeredet hätte.
„Ist es mir erlaubt, mein Herr, etwas über mein zukünftiges Schicksal zu wissen, und darf ich fragen, von wem der Befehl stammt, der mich aus meiner Wohnung reißt?“
„Der Befehl ward mir durch Herrn de Châtillon gegeben,“ antwortete de Cressines. „Wahrscheinlich kommt er von höherer Seite, denn das Ziel Eurer Reise ist Compiègne.“
„Ja,“ schluchzte das betrübte Mägdelein, „Johanna von Navarra erwartet mich. Meinen Vater und alle meine Blutsverwandten einzukerkern genügte nicht; ich fehle ihr noch. Jetzt ist ihre Rache vollständig. O mein Herr, Ihr habt eine böse Königin!“
„Ein Mann hätte mir das nicht sagen dürfen. Es ist wahr, edle Frau, unsere Königin behandelt die Vlaemen sehr strenge, [155] und ich hege innigstes Mitleid für Herrn van Bethune; aber ich kann nicht mit anhören, daß man meine Fürstin schmäht.“
„Vergebt! Eure ritterliche Treue verdient meine Achtung. Ich werde über Eure Königin nicht mehr Klage führen und schätze mich glücklich, in meinem Unglück einen so ehrenwerten Ritter zum Führer zu haben.“
„Es wäre mir ein wahres Vergnügen, Euer Edeln bis nach Compiègne zu begleiten; aber diese Ehre ist mir nicht zugedacht. In einer Viertelstunde bekommt Ihr eine andere Gesellschaft, aber das kann Eure Lage in nichts ändern; die französischen Ritter vergessen nie, was sie den Frauen schuldig sind.“
„Es ist wahr, mein Herr, die französischen Ritter sind sehr höflich und ehrerbietig gegen uns; aber wer bürgt mir dafür, daß ich immer eine Begleitung haben werde, die meinem Stande angemessen ist?“
„O! das wird sicher der Fall sein. Ich bringe Euch nach Schloß Male und muß Euch dem Herrn von Saint-Pol übergeben. Soweit geht mein Auftrag.“
Sie plauderten noch einige Zeit, bis sie vor der Brücke des Schlosses anlangten. Bei ihrem Nahen rief die Torwache sie an, und das Fallgitter ging hoch. Kurz darauf fiel die Brücke rasselnd nieder, und der ganze Zug ritt in das Schloß.
N un waren schon Monate seit der Übergabe der Stadt Brügge verflossen. Herr de Châtillon hatte Herrn von Mortenay [28] zum Stadtvogt ernannt und war nach Kortrijk zurückgekehrt; denn er traute den Brüggern nicht genug, um unter ihnen zu wohnen. Die Söldner, welche er in der eroberten Stadt gelassen hatte, begingen allerlei Ausschreitungen und setzten den Bürgern gar boshaft zu. Dieses Druckes müde, kehrten fast alle fremden Kaufleute in ihr Vaterland zurück, [156] und der Handel ging von Tag zu Tag zurück. Die Zünfte sahen mit Schmerz und innerer Erbitterung ihren Wohlstand dahinsinken; doch die Maßregeln der Franzosen waren hinreichend streng, um einstweilen ihre Wut zu zügeln. Ein großer Teil der Festungswerke wurde geschleift und ein starkes Kastell gebaut, um die Stadt im Zaume zu halten.
Zur großen Verwunderung seiner Mitbürger ließ De Coninck all das ohne Widerstreben geschehen und ging ruhig und anscheinend gleichgültig durch die Straßen; nur in den Versammlungen der Weber verkündete er die Befreiung des Vaterlandes und hielt so die Hoffnung in den Herzen seiner Brüder wach.
Breydel war gar nicht mehr wiederzuerkennen. Düsteres Brüten hatte seine jugendlichen Züge alt gemacht. Seine Augenbrauen hingen tief herab, das stolze Haupt des tapferen Vlaemen war gebeugt wie unter einer drückenden Last. Die Herrschaft, der Anblick der aufgeblasenen Franzosen war für ihn wie eine Natter, die sein Herz fest umschlungen hielt und grausam zerfleischte. Alle Freude, alle Zufriedenheit war für ihn dahin. Selten verließ er seine Wohnung; denn das eroberte Brügge war ihm ein Kerker, dessen Luft ihn erdrückte. Dieser edle Schmerz verließ ihn keinen Augenblick, und seine Brüder vermochten ihn durch nichts zu trösten oder aufzumuntern. In den Augen jedes Franzosen las er gleich einem Vorwurf das Schandwort: Sklave!
Eines Morgens war er sehr früh in seinem Laden und setzte die Träumereien der Nacht fort, mit der linken Hand auf einen Hauklotz gestützt. Seine unsteten Blicke glitten über die Fleischstücke an der Wand, doch er sah sie nicht; seine Seele war mit anderen Gedanken beschäftigt. So stand er geraume Zeit regungslos da, bis seine rechte Hand unwillkürlich ein Schlachtbeil ergriff, das, viel größer als die anderen, besonderen Zwecken bestimmt schien. Als er den glänzenden Stahl gewahrte, glitt ein seltsames Lächeln über seine grimmen Züge, und lange starrte er das Mordwerkzeug an. Plötzlich wurde [157] sein Angesicht finster und traurig. Er blickte düster vor sich hin und sagte klagend: „Vorbei! Keine Hoffnung mehr auf Befreiung! Wir müssen das Haupt beugen und weinen über unser besiegtes Vaterland. Da laufen täglich diese frohblickenden Franzosen durch die Stadt, spotten, verhöhnen jeden – und wir, wir Vlaemen, wir müssen es dulden, müssen es ertragen! O Gott, wie grausam nagt die Verzweiflung an meinem Herzen!“ Er packte krampfhaft das Beil und betrachtete es: „Und du, meine treue Waffe, wozu wirst du mir fürder dienen? Es gibt kein Vaterland mehr zu rächen, kein fremdes Blut mehr zu vergießen. Tränen der Scham benetzen dich, Breydel flennt wie ein Weib …“
Alsbald ergriff ihn heftige Wut. Er warf das Beil zu Boden und trat mit dem Fuße darauf. „Geh!“ rief er, „ein Sklave bedarf keiner Waffen!“ Und dann sank seine Hand wieder auf die Bank nieder.
Die Tür des Ladens tat sich auf, und Breydel erkannte nun verwundert De Coninck.
„Guten Tag, Meister,“ sprach er, „welch schmerzliche Neuigkeit bringt Ihr mir so früh?“
„Freund Jan,“ erwiderte De Coninck, „ich frage Euch nicht, weshalb Ihr so traurig seid, ich kenne Eure edle Seele; der Gedanke an die Sklaverei bringt Euch um, ich sehe es wohl.“
„Schweigt, Meister, schweigt davon; mir ist, als ob die Wände meines Hauses dieses schmachvolle Wort wiederholen. O mein Freund, wäre ich doch auf den Mauern unserer Stadt gestorben, dann hätte ich mir solch bittere Pein erspart. Wieviel feindliche Franzosen hätten dann neben mir ihr Grab gefunden! Aber diese glorreichen Tage sind vorüber.“
De Coninck betrachtete den Obmann der Fleischer mit Rührung; er ermaß an seinen eigenen Leiden, wie tödlich dieser Schmerz für eine Seele, wie die Breydels, sein mußte und antwortete:
„Tröstet Euch doch, edler Freund! Bedenkt: das Feuer, welches unter der Asche glimmt, ist noch nicht erloschen. Einst kehren [158] die ruhmreichen Tage zurück; die dunstige Luft der Knechtschaft klärt sich auf; schon hat die Freiheitssonne einige Strahlen zu uns niedergesandt. Ihr wißt es nicht, aber Ihr könnt mir glauben, die Stunde der Freiheit naht. Noch sind wir nicht schwer genug gedrückt, die Bande der Sklaverei müssen noch schmerzlicher auf uns lasten, damit selbst den Feiglingen die Kette unerträglich wird. Dann, tapferer Bruder, dann wird unsere teure Vaterstadt wieder den schwarzen Löwen von Flandern hochtragen vor allem Volke.“
Breydel betrachtete den Obmann der Weber bei diesen Worten mit seltsamem Ausdruck. Ein Lächeln der Hoffnung verklärte sein Gesicht, und sein bedrücktes Herz erleichterte sich durch einen tiefen Seufzer. Er ergriff De Conincks Hand, drückte sie an sein Herz und sprach:
„Ihr allein, mein Freund, kennt mich, Ihr allein könnt mich rühren und trösten.“
„Aber,“ fuhr De Coninck fort, „mein Besuch hat einen anderen Zweck, Meister Jan. Ihr wißt, daß wir gelobt haben, die junge Machteld zu beschützen.“
„Was gibt's?“ rief Breydel ungestüm. Bange Ahnung verfärbte seine Wangen. „Freund, bringt Ihr eine schreckliche, schmähliche Kunde?“ rief er aus.
„Die Franzosen haben die Tochter unseres Herrn gefangengenommen und fortgeführt!“
Breydel trat einen Schritt vorwärts, hob das Beil vom Boden und schwang es wütend in seiner Faust. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Wort kam aus seinem Mund; endlich rollten zwei glänzende Tränen über seine Wangen, Tränen der Wut und Rachsucht.
„O Löwe von Flandern!“ keuchte er, „so gehen sie mit Deinen Kindern um; und das sollte ich dulden? Nein, nein, jetzt ist's vorbei, De Coninck, es ist vorbei! Ich höre auf nichts; heute muß ich Blut sehen, viel Blut, oder ich sterbe!“
„Ruhig, mein Freund,“ antwortete De Coninck, „ruhig, und [159] nehmt Vernunft an: Euer Leben schuldet Ihr dem Vaterland und dürft es nicht nutzlos wagen.“
„Ich will nichts hören,“ fuhr Jan Breydel fort. „Ich danke Euch für Euren weisen Rat, aber ich mag und kann ihn nicht befolgen. Spart Eure Worte, sie sind fruchtlos.“
„Aber, Meister Jan, laßt Euch nicht so hinreißen; Ihr könnt die Franzosen doch nicht allein verjagen.“
„Das kümmert mich nicht, so weit denke ich nicht. Rache für die Tochter des Löwen, und dann den Tod! O, jetzt bin ich glücklich! Mein Geist riß sich wieder empor, mein Herz schlägt wieder kühn und stark! Aber ich will mich beruhigen; sagt mir nur, was Ihr wißt.“
„O, nicht viel. Heute ganz früh hat mich ein Diener des Herrn van Nieuwland geweckt. Von ihm erfuhr ich, daß die edle Machteld in der Nacht fortgeführt worden ist, und daß der Verräter Brakels den Franzosen zum Führer gedient hat.“
„Brakels!“ rief Breydel; „noch einer mehr für mein Beil; der soll den Franzosen nicht mehr dienen!“
„Wohin man die Jungfrau gebracht, weiß ich nicht; vermutlich nach Schloß Male; denn der Diener hat diesen Namen zweimal von den Söldnern nennen hören. Ihr seht wohl, Breydel, es wäre besser, Genaueres abzuwarten, statt so unbesonnen zu Werke zu gehen. Ja, es ist fast gewiß, daß die edle Jungfrau bereits nach Frankreich gebracht worden ist.“
„Ihr pocht an eines Tauben Tür,“ rief Breydel; „ich sage Euch, nichts kann mich mehr wankend machen. Ich will und muß fort, vergebt mir, daß ich Euch stehenden Fußes verlasse.“
Er barg das Beil unter seinem Wams und wandte sich hastig nach der Tür; aber De Coninck hatte ihm rasch der Weg vertreten. Wie ein Tiger, der in der Schlinge hängt, spähte Breydel im Laden umher, als suchte er einen Ausgang. Sein Körper neigte sich vor, seine Muskeln waren gespannt, wie wenn er sich auf etwas stürzen wollte, das seine Flucht hemmte.
„Laßt die nutzlosen Versuche,“ redete ihm De Coninck zu, „ich versichere Euch, Ihr werdet mit dem Beil nicht ausgehen. Ihr seid mir zu teuer, und ich halte es für meine Pflicht, Euch vor Unheil zu bewahren.“
„Laßt mich durch, Meister Peter,“ rief der Obmann der Fleischer, „ich bitte Euch, laßt mich fort. Ihr quält mich grausam.“
„Nein, hierin bin ich unerbittlich; glaubt Ihr, Ihr wäret Euer eigener Herr, daß Ihr Euer Leben nach Belieben wagen dürftet? O nein, Meister, Gott hat Euch eine tiefere Seele geschenkt, und das Vaterland hat in Euch einen kräftigen Mann gefunden, um Euch zum Schutz für unsre Freiheit am Leben zu erhalten. Bedenkt diese hohe Sendung, Meister, und vergeudet Eure Kräfte nicht durch nutzlose Rache.“
Während De Coninck so sprach, besänftigte sich die Aufregung des Fleischers. Seine Haltung wurde ruhig, und man hätte glauben können, daß er durch die weise Rede seines Freundes überzeugt worden sei. Das war zwar nicht Verstellung, aber auch nicht der wahre Ausdruck seiner Gefühle. Er schwankte zwischen Rachsucht und Besonnenheit, ohne innerlich zur Ruhe zu kommen.
„Ihr habt recht, mein Freund,“ sprach er, „ich lasse mich zu leicht hinreißen; aber Ihr wißt, es gibt Leidenschaften, deren Drängen man nicht widerstehen kann. Ich will meine Waffe da wieder an die Wand hängen; nun werdet Ihr mich doch herauslassen; ich muß ja heute noch nach Thourout, um Vieh zu kaufen.“
„Gut, ich will Euch nicht länger zurückhalten, obgleich ich weiß, daß Ihr nicht nach Thourout gehen werdet.“
„Gewiß, Meister, ich habe kein Vieh mehr im Stalle und muß mir noch vor Abend welches beschaffen.“
„Ihr könnt mich nicht täuschen, Meister Jan, ich kenne Euch zu lange. Durch Eure Augen blicke ich bis ins Innerste Eurer Seele; Ihr geht geradeswegs nach Male.“
„Ihr seid ein Zauberer, Meister Peter, denn Ihr kennt meine Gedanken besser als ich. Ja, ich gehe nach Male, aber glaubt mir, nur, um nach der unglücklichen Tochter unseres Herrn zu forschen. Ich gelobe Euch, die Rache bis auf einen günstigeren Tag zu verschieben.“
Die beiden Obmänner gingen zusammen hinaus und trennten sich vor der Tür nach kurzem Gespräch.
Breydel erreichte nach einer halben Stunde das Dorf Male. Die Herrschaft Male liegt eine kleine Meile von Brügge entfernt. Zur Zeit unserer Erzählung bestand sie vornehmlich aus ungefähr dreißig Strohhütten, die hier und da auf dem Gebiet des Schlosses zerstreut lagen. Zwischen den undurchdringlichen Wäldern rings um das Dorf waren durch Fleiß die fruchtbarsten Äcker erstanden. Da die Erde jener Gegend ihren Bewohnern dankbar schien und mit reicher Ernte lohnte, hätte man annehmen sollen, daß die Bauern von Male in Wohlstand lebten. Und doch zeigte ihre Kleidung, ihre ganze Erscheinung größte Dürftigkeit. Knechtschaft und Bedrückung waren an ihrer Armut schuld. Der Schweiß ihres Angesichts rann weder für sie noch für ihre Familie. Alles kam dem Lehnsherrn, ihrem Gebieter, zugute, und sie schätzten sich glücklich, wenn ihnen nach Abzug der Steuer und Lehnsabgaben noch genug blieb, um ihren Körper während des Jahres für die schwere Arbeit zu stärken.
Unweit des Schlosses befand sich ein viereckiger Platz, um den etwas dichter einige steinerne Gebäude errichtet waren. In der Mitte stand eine steinerne Säule, und daran hing eine Kette mit einem eisernen Halsband. Dies war das Wahrzeichen der gräflichen Rechtspflege und die Säule der bekannte Pfahl, an dem man die Missetäter ausstellte. An der einen Seite war eine kleine Kapelle erbaut, deren Kirchhof seine Mauern einige Schritte auf den Platz hin dehnte.
Daneben stand ein ziemlich hohes Haus, der einzige Krug oder das Wirtshaus, da man Wein und Bier ausschenkte. Der [162] Name der Herberge war über der Tür dargestellt, aber so schlecht und ungeschickt, daß man kaum den heiligen Martin in diesem steinernen Bilde erkennen konnte. Der Flur des untersten Stockwerkes war so weit, wie es die Außenmauern erlaubten. Ein breiter, sehr großer Herd ragte einige Fuß vor und füllte den Hintergrund des Raumes aus; er ließ nur an jeder Seite einen kleinen Winkel übrig, in dem Samen und Pflanzenwurzeln zum Trocknen hingen. Die anderen Wände waren mit Kalk geweißt und mit allerlei hölzernem und zinnernem Küchengerät behängt. Ein Schlachtbeil und eine Anzahl großer Messer in ledernen Scheiden hingen an einem dafür bestimmten Platz. Der Rauch, der beständig vom Herd in die Stube drang, hatte die Balken der Decke ganz geschwärzt. Das Zimmer erhielt dadurch ein ungemütliches Aussehen. Obgleich die Sonne sehr hell schien, war es darin doch ziemlich düster; denn die halb romanischen, halb gotischen Fenster waren fast sieben Fuß über dem Boden und bestanden aus kleinen Scheiben. Schwere Sessel und noch klumpigere Tische standen in der Stube herum. Die Wirtin lief hin und her, um die zahlreichen Gäste zu bedienen und ihnen einzuschenken. Die zinnernen Kannen und Becher standen nicht still, und dadurch wurde die lebhafte Unterhaltung der Gäste zu einem unverständlichen Summen. Am Herde kündete männlich-kräftiger Klang, daß Vlaemisch gesprochen wurde, während in der Stube mehr weibische, lispelnde Töne die französische Sprache verrieten. Unter denjenigen, welche sich dieser fremden Sprache bedienten und zur Besatzung des Schlosses gehörten, war ein Kerl namens Leroux, der wie ein Vorgesetzter zu seinen Genossen sprach; doch war er ein einfacher Krieger wie sie; nur seine ungewöhnliche Stärke hatte ihm diesen Vorrang verschafft.
Während die französischen Kriegsknechte ihre Kannen unter heiteren Gesprächen leerten, kam ein anderer Söldner in den Krug und sprach zu ihnen:
„Holla, Kameraden, ich bringe euch gute Kunde. Wir werden [163] das verwünschte Flandern verlassen, und wahrscheinlich sehen wir schon morgen unser schönes Frankreich wieder.“
Die Söldner staunten über seine Worte und blickten den Boten verwundert an.
„Ja,“ fuhr der fort, „morgen geht es mit der schönen Edeldame fort, die uns heut nacht so zur Unzeit besucht hat.“
„Ist das wahr, was Ihr da sagt?“ fragte Leroux.
„Natürlich ist es wahr, unser Herr de Saint-Pol hat mich geschickt, Euch davon zu benachrichtigen.“
„Ich glaube Euch, denn Ihr seid immer ein Unglücksbote,“ rief Leroux.
„Aber warum erbittert Euch diese Nachricht? Kehrt Ihr nicht gern nach Frankreich zurück?“
„Durchaus nicht, wir genießen hier die Früchte des Sieges, und ich habe keine Lust, sie sobald im Stiche zu lassen.“
„O, dann erschreckt nicht so sehr, wir kommen in wenigen Tagen wieder zurück. Wir müssen Herrn de Saint-Pol nur bis Rijssel begleiten.“
Als Leroux eben antworten wollte, öffnete sich die Tür und ein Vlaeme trat ein. Er betrachtete die Franzosen mit kühnem Stolz, setzte sich allein an einen Tisch und rief:
„Wirt! einen Krug Bier und rasch, denn ich bin eilig.“
„Sogleich, Meister Breydel,“ war die Antwort.
„Das ist ein schöner Vlaeme,“ flüsterte ein Söldner Leroux in das Ohr. „Er ist zwar nicht so groß wie Ihr; aber welch kräftiger Körper und was für eine Stimme; das ist kein Bauer!“
„Wahrlich,“ antwortete Leroux, „es ist ein prächtiger Kerl. Er hat Augen wie ein Löwe. Ich würde mich gern mit ihm anfreunden.“
„Wirt,“ rief Jan Breydel und stand auf, „wo bleibt Ihr, die Kehle brennt mir fürchterlich.“
„Sagt, Vlaeme,“ begann Leroux, „könnt Ihr Französisch?“
„Mehr, als mir lieb ist,“ antwortete Breydel in derselben Sprache.
„Schön. Ich sehe, Ihr seid ungeduldig und habt Durst. Hier biete ich Euch meine Kanne an. Trinkt, und wohl bekomm's!“
Breydel nahm die Kanne mit einem Zeichen des Dankes aus der Hand des Söldners und sprach, indem er sie zum Munde führte:
„Auf Eure Gesundheit und Glück im Kriege.“
Doch kaum hatten nur einige Tropfen seinen Mund benetzt, so setzte er den Becher mit Widerwillen auf den Tisch.
„Was ist das? Fürchtet Ihr Euch vor dem edlen Trank? Die Vlaemen sind das nicht gewohnt,“ rief Leroux lachend.
„Das ist französischer Wein,“ antwortete Breydel so gleichgültig, als wäre der Widerwille ganz natürlich.
Die Söldner sahen einander verwundert an, und sichtlicher Ärger verfinsterte Leroux' Züge. Doch bestimmte ihn Breydels kalter Ausdruck, den Vlaemen ohne Auseinandersetzung zu seinem Sitz zurückzulassen. Mittlerweile hatte der Wirt das verlangte Bier gebracht, und der Obmann der Fleischer tat mehrere Züge, ohne auf die Franzosen zu achten.
„Nun denn, Kameraden,“ rief Leroux und hob den Becher, „laßt uns noch ein Glas leeren, damit man nicht sagen kann, wir verreisten mit trockener Kehle. Auf die Gesundheit der schönen Edelfrau.“
Jan Breydel kämpfte bei diesen Worten mit Mühe seine Aufregung nieder.
„Wenn während unserer Abwesenheit nur nichts vorfällt!“ meinte Leroux anzüglich, „die Brügger beginnen wieder zu murren und unruhig zu werden. Man müßte die Stadt einmal plündern, während wir in Frankreich sind.“
Breydel knirschte vor Wut mit den Zähnen, aber er hatte sein Gelübde und die Warnung De Conincks noch nicht vergessen. Er horchte noch gespannter, als Leroux fortfuhr:
„Den Schaden würden wir der schönen Edeldame zu danken haben … Aber wer mag es nur sein? Ich für meinen Teil glaube, es ist die Frau eines mächtigen Meuterers, und sie wird zu den anderen nach Frankreich geführt. Sie wird noch bitteres Brot essen …“
Der Vorsteher der Fleischer war von seinem Sessel aufgestanden, und während er lässig in der Stube auf und ab ging, um seine Aufregung zu verbergen, brummte er mit leiser Stimme einige Worte eines Volksliedes:
Als die Franzosen diese Töne hörten, waren sie äußerst erstaunt.
„Hört,“ sagte einer, „das ist das Lied der Klauwaerts; welche Frechheit! Wagt es der Vlaeme, in unserer Gegenwart so etwas zu singen!“
Breydel hatte diese Worte wohl gehört. Aber er sang ruhig weiter, ja, er hob sogar seine Stimme, als ob er den Franzosen trotzen wollte:
„Aber was bedeutet dieser Gesang, den ihr ewig im Munde führt?“ fragte Leroux einen Vlaemen aus dem Schloß, der bei ihm saß.
„Nun, er besagt, daß der schwarze Löwe von Flandern seine Klauen in den Halbmond der Sarazenen geschlagen und Graf Boudewyn zum Kaiser gemacht hat.“
„Hört mal, Vlaeme,“ rief Leroux Breydel zu, „Ihr müßt doch zugeben, daß der schreckliche schwarze Löwe vor dem Lilienbanner unseres mächtigen Fürsten, Philipps des Schönen, fliehen mußte; jetzt ist er sicher für immer tot.“
Meister Jan lächelte und antwortete mit verächtlichem Spott:
„Das Lied hat noch einen Schlußvers, hört nur:
Fragt nun, was das bedeutet!“
Als Leroux sich den Sinn dieser Worte hatte erklären lassen, warf er heftig seinen Sessel um, schenkte seinen Becher bis zum Rande voll und rief:
„So will ich denn doch mein Leben lang eine feige Memme sein, wenn ich Euch nicht den Hals breche, falls Ihr noch ein Wort sagt!“
Jan Breydel lachte spöttisch bei dieser Drohung und antwortete:
„Schwört nicht solche Sachen, Ihr macht die Rechnung ohne den Wirt. Denkt Ihr, ich werde vor Euch schweigen? Vor allen Franzosen der Welt würde ich auch nicht ein einziges Wort unterdrücken. Und, um Euch das zu beweisen, trinke ich auf die Ehre des Löwen, – und ich verachte die Franzosen, hört Ihr es?“
„Kameraden,“ sagte Leroux wutbebend, „laßt mich allein mit dem Vlaemen kämpfen, er soll durch meine Hand sterben.“
Dann trat er an Breydel heran und sprach:
„Ihr lügt! Es lebe die Lilie!“
„Ihr selbst lügt! Und Heil dem schwarzen Löwen von Flandern!“ schrie Breydel ihm ins Gesicht.
„Kommt heran,“ fuhr der Franzose fort, „Ihr seid stark; ich will Euch beweisen, daß die Lilie vor keinem Löwen zu weichen braucht. Wir kämpfen bis auf den Tod!“
„Versteht sich, aber laßt uns schnell machen. Es freut mich, einen mutigen Feind gefunden zu haben; das ist der Mühe wert!“
Schon waren sie außerhalb des Kruges und schritten zwischen den Bäumen hin. Als sie einen bequemen Platz gefunden hatten, trat jeder einen Schritt zurück, und beide richteten sich zu einem furchtbaren Kampfe. Breydel warf seinen Dolch auf die Erde und streifte die Ärmel seines Wamses bis zu den Schultern auf; seine muskelstrotzenden Arme setzten die Söldner in Erstaunen, die abseits standen, um das Ringen mit anzusehen. Da Breydel keine andere Waffe als den Dolch hatte, warf Leroux seine Waffen ebenfalls von sich. Er wandte sich zu seinen Kameraden und sprach:
„Achtung, was auch geschehen mag, ich will nicht, daß man mir hilft. Dieser Kampf muß ehrlich abgemacht werden, denn mein Gegner ist ein tapferer Vlaeme.“
„Seid Ihr fertig?“ rief Breydel.
„Ich bin bereit!“ war die Antwort.
Nun zogen die Kämpfer die Köpfe zwischen die Schultern, die Augen blitzten unter den gefalteten Brauen, Zähne und Lippen preßten sich hart zusammen, und so stürzten sie wie zwei rasende Stiere aufeinander los. Von jeder Seite fiel ein schwerer Faustschlag auf des Gegners Brust, wie ein Hammer auf einen Amboß, und beide Streiter taumelten zurück; aber das entflammte sie zu noch größerer Wut. Sie stießen ein dumpfes Geheul aus und umschlangen sich mit den Armen wie mit zwei eisernen Gürteln; jetzt drückten sie sich gegenseitig mit furchtbarer Gewalt nieder. Arme, Beine, [168] Schenkel – alle Glieder zeigten ungewöhnliche Kraft; denn sie preßten sich furchtbar widereinander, und manchmal stöhnten die Streiter ob der quälenden Quetschungen infolge dieses erbitterten Ringens. Das Feuer der Raserei brannte in ihren grimmen Zügen, und ihrer Augen Weiß war ganz mit Blut unterlaufen. Doch keiner konnte den andern aus seiner Stellung bringen; es war, als wären ihre Füße am Boden festgewurzelt. Breydels Adern waren so geschwollen, daß sie wie Bänder auf seinen Armen lagen. Dampfender Schweiß troff strömend von den Wangen der Kämpfer, und ihr Atem ward kurz und abgerissen. Ihre Brust senkte und hob sich rasch; aber man hörte nichts als einige Flüche, und dazwischen dumpfes Stöhnen.
Nachdem sie solcherart einige Zeit miteinander gerungen hatten, trat der Franzose etwas zurück, umschlang Breydels Hals und drückte ihm den Kopf unwiderstehlich vornüber, so daß er wankte und sich niederbeugte. Leroux ließ ihm keine Zeit, sich aufzurichten. Er benutzte seinen Vorteil – nun noch ein kräftiger Druck, und Breydel mußte seine Knie unter dieser furchtbaren Gewalt beugen.
„Da kniet der Löwe schon,“ rief Leroux und versetzte Breydel einen so entsetzlichen Schlag auf den Kopf, daß dem das Blut aus dem Munde stürzte.
Aber dabei hatte er Breydel mit einer Hand loslassen müssen. Als er eben die Hand reckte, um dem Vlaemen den Garaus zu machen, sprang dieser auf und wich drei Schritt zurück. Schnell, wie der Blitz, schnellte er brüllend auf den Franzosen los und umfaßte ihn mit solcher Wut, daß ihm die Rippen im Leibe krachten. Aber auch der schlang seine Glieder wie Schlangen um Breydels Körper mit einer Kraft, die noch durch Übung und Gewohnheit gesteigert wurde. Der junge Vlaeme fühlte, daß sich seine Beine unter den Knien des Franzosen bogen und den Grund verloren. Dies anhaltende Ringen, darin er zum erstenmal in seinem Leben seinen Mut zuschanden werden sah, war ihm qualvoller als die Hölle. Schaum trat [169] auf seine Lippen, und er wurde ganz toll vor Wut; plötzlich riß er sich von dem Franzosen los, senkte sein Haupt gegen die Brust und warf sich ihm entgegen. Wie eine Sturmramme gegen eine Mauer stieß Breydels Stirn gegen die Brust seines Feindes, also daß dieser wankend zurückwich und nun auch ihm das Blut aus Nase und Mund stürzte. Ehe er sich wieder erholen konnte, fiel des Vlaemen Faust wie ein Stein zerschmetternd auf sein Haupt, und er stürzte mit einem Schmerzensschrei zu Boden.
„Ihr habt des Löwen Klauen gespürt,“ keuchte Breydel.
Die Söldner, welche diesem Ringen beiwohnten, hatten ihren Genossen durch Worte und Zurufe ermutigt, sich jedoch in den Kampf nicht weiter eingelassen. Während sie den röchelnden Leroux vom Boden aufhoben, verließ Breydel langsamen Schrittes den Platz und kehrte in das Wirtshaus zurück. Er verlangte einen anderen Krug Bier und tat mehrere Züge, um seinen Durst zu löschen. Er saß eine Weile an dem Tisch, und seine Müdigkeit begann zu schwinden, als sich die Tür hinter seinem Rücken auftat. Ehe er sich umdrehen konnte, um zu sehen, wer hereinkam, ward er von starken Männern gepackt und zu Boden geworfen. In einem Augenblick wimmelte das ganze Haus von bewaffneten Franzosen. Breydel kämpfte lange mit nutzloser Anstrengung gegen seine Feinde. Macht- und kraftlos blieb er endlich still liegen und betrachtete die Franzosen mit giftigem Blick wie einer, der töten will oder den Tod erwartet. Gar mancher Söldner bebte beim Anblick des dahingestreckten Vlaemen; denn während sein Leib regungslos am Boden lag, rollten seine flammenden Augen so gar stolz und drohend, daß die Herzen der Umstehenden banges Ahnen durchschauerte.
Ein Ritter, dem man an der Kleidung den Anführer ansehen konnte, näherte sich Breydel vorsichtig. Er befahl, ihn in jeder Bewegung zu hindern, und sagte zu dem Vlaemen:
„Wir kennen uns schon längst, schändlicher Bursch! Im Walde [170] von Wijnendaal habt Ihr den Schildknappen des Herrn von Châtillon erschlagen und uns Ritter mit dem Messer zu bedrohen gewagt. Nun untersteht Ihr Euch wieder, auf dem Grund und Boden meines Rechtsgebieters einen meiner besten Leute zu ermorden. Euch soll nach Euren Taten geschehen; noch heute soll man Euch einen Galgen auf den Mauern von Male errichten, damit die Brügger Meuterer sich an Euch ein Beispiel nehmen.“
„Ihr seid ein Verleumder!“ rief Breydel, „ich habe ehrlich um mein Leben gekämpft, und wenn Ihr mich nicht mit verräterischer Gewalt daran hindert, so würde ich Euch beweisen, daß ich keine Reue habe!“
„Ihr habt Frankreichs Wappen zu lästern gewagt!“
„Ich habe den schwarzen Löwen meines Vaterlandes gerächt und würde es wieder tun. Aber laßt mich nicht wie einen geschlachteten Ochsen hier auf dem Boden liegen, – oder ermordet mich auf der Stelle. Ich werde mich geduldig führen lassen.“
Ohne ihn loszulassen, ließen ihn die Söldner auf Befehl Saint-Pols aufstehen, und man brachte ihn mit aller Vorsicht an die Tür. Der gefangene Vlaeme ging langsam zwischen den Kriegsknechten vorwärts; zwei der stärksten hielten ihn an den Armen, vier andere gingen vor und hinter ihm, so daß es ihm unmöglich war, zu entwischen. Das war aber auch nicht seine Absicht. Getreu seinem Versprechen leistete er nicht den geringsten Widerstand. Während die Söldner dann mit dem Gefangenen des Weges schritten, ergingen sie sich in höhnenden Scherzen über ihn. Breydel erfaßte ob ihres Spottes eine unaussprechliche Wut, und innerlich wünschte er sich den Tod. Doch er bekämpfte seine leidenschaftliche Aufwallung, bis einer zu ihm sagte:
„Hört mal, schöner Vlaeme, wenn Ihr morgen am Strick so lieblich vor uns tanzt, werden wir die Raben von Eurer Leiche fortjagen.“
Der Obmann der Fleischer warf einen verächtlichen Blick auf den Söldner, der seines Mißgeschickes spottete. Der fuhr fort:
„Betrachtet mich doch nicht immer, verwünschter Klauwaert, oder ich zerschlage Euch das Gesicht.“
„Feigling!“ rief Breydel; „das sieht euch ähnlich! einen gefangenen Feind verhöhnt und verspottet ihr; unedle Mietlinge eines verächtlichen Herrn …“
Ein Backenstreich des Söldners unterbrach ihn. Er schwieg plötzlich und neigte sein Haupt, als ob er den Mut sinken ließe; aber das war es nicht. Furchtbare Wut kochte in seiner Seele, und gleich dem Feuer im Schoße des Vulkans flammte rasende Rachsucht im Herzen des Vlaemen auf. Die Söldner fuhren fort, ihn zu schmähen, und sein Schweigen reizte sie noch mehr. Aber an der Brücke des Schlosses fand ihr Lachen ein jähes Ende, und ihre Gesichter erbleichten vor Angst und Schrecken. Breydel raffte in diesem Augenblick all seine Kräfte, die ihm die Natur so freigebig verliehen hatte, zusammen und riß sich von seinen Wächtern los. Wie ein Leopard stürzte er sich auf die beiden Söldner, die ihn am meisten gereizt hatten, und krallte seine Hände um ihre Kehlen.
„Für Dich, Du Löwe von Flandern, will ich sterben, aber nicht am Galgen, nicht ohne Rache!“
Mit diesen Worten drückte er die Gurgel der Söldner so fest zu, daß ihre Wangen bleich und bleifarben wurden; mit unwiderstehlicher Gewalt schüttelte er die Körper seiner Feinde hin und her und schlug ihre Köpfe mit furchtbarer Kraft widereinander. Durch das Würgen betäubt, leisteten sie keinen Widerstand, und ihre Arme hingen schlaff an ihrem Körper herunter. Die Tat war unbeschreiblich schnell vollbracht. Als die übrigen Franzosen ihre Genossen in Gefahr sahen, liefen sie fluchend herbei. Aber Breydel ließ die Erwürgten zu Boden fallen und floh eiligst davon. Er wurde von den Söldnern bis an einen breiten Graben verfolgt. Gewohnt, auf Wiesen und Weiden seinem Gewerbe nachzugehen, sprang [172] Breydel wie ein Hirsch über das Wasser und lief weiter nach Saint Kruis. Zwei Söldner versuchten es, ihm nachzutun, aber sie fielen bis an den Hals hinein und mußten die Verfolgung aufgeben. – Der Obmann der Fleischer eilte voll Wut nach Brügge und ging stracks nach seiner Wohnung. Er fand nur einen jungen Gesellen dort vor, der sich just anschickte, auszugehen.
„Wo sind meine Gesellen?“ rief Breydel ungeduldig.
„Nun, Meister,“ antwortete der Bursche, „die sind nach dem Pand, denn die Fleischer sind eiligst zusammengerufen.“
„Was ist denn wieder geschehen?“
„Ich weiß nicht recht, Meister, aber der Stadtbote hat vor dem Rathaus einen Befehl verlesen, daß alle Bürger, welche ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit gewinnen, jede Woche am Samstag einen Silberpfennig von ihrem Arbeitslohn an die Zollknechte zahlen müssen. Es heißt allgemein, dies sei die Veranlassung zu der Zunftversammlung, die der Obmann der Weber angeordnet hat.“
„Bleib du hier und schließe den Laden,“ hieß ihn Breydel; „sage meiner Mutter, daß ich diese Nacht nicht nach Hause komme. Sie braucht sich nicht zu ängstigen.“
Er nahm sein gewohntes Beil von der Wand. Als er es unter seinem Wams verborgen hatte, verließ er seine Wohnung und begab sich nach dem Pand seiner Zunft. Sobald er in den Saal trat, verbreitete sich ein freudiges Gemurmel unter den Gesellen, und sie riefen:
„Ha! Da ist Breydel, unser Obmann.“
Jeder, der einstweilen seinen Platz eingenommen hatte, stand auf und bot ihm den großen Sessel an. Aber Breydel setzte sich nicht wie gewöhnlich an das obere Ende, sondern nahm einen kleineren Stuhl und ließ sich mit bitterm Lächeln darauf nieder.
„O meine Brüder,“ rief er, „kommt, reicht mir die Hand, denn ich habe eure Freundschaft nötig. Mir und unserer Zunft ist heute eine tiefe Schmach widerfahren.“
Meister und Gesellen drängten sich um Breydels Sessel. Nie hatten sie eine so tiefe Bestürzung und Betrübnis an ihm bemerkt; er schien unsagbaren Folterqualen zu erliegen. Aller Augen richteten sich fragend auf ihn; nach einem tiefen Seufzer fuhr er fort:
„Ihr echten Söhne von Brügge habt nun schon zu lange mit mir diese Schmach erduldet, auch ihr könnt die Sklaverei nicht ertragen. Aber, o Himmel, wüßtet ihr, was mir heute widerfahren ist, so würdet ihr wie Kinder weinen. O über die unerhörte Schande! Ich wage nicht, es auszusprechen, die Schmach quält mich zu sehr.“
Schon waren die gebräunten Gesichter all dieser Männer von Wut gerötet. Noch kannten sie nicht den Grund ihres Zornes, und doch ballten sie schon krampfhaft die Fäuste und stießen furchtbare Flüche aus.
„Hört,“ fuhr Breydel fort, „und erliegt nicht der Scham. Hört wohl, tapfere Brüder! Die Franzosen haben euren Obmann ins Gesicht geschlagen, und diese Wange ist durch einen schmählichen Backenstreich entehrt.“
Unbeschreiblich war die Wut, die den Fleischern bei diesen Worten aufstieg. Unerhörtes Rachegebrüll stieg zur Decke des Saales empor, und jeder schwur bei sich, diese Schmach zu rächen.
„Und womit“, fragte Breydel, „wäscht man solchen Schandfleck ab?“
„Mit Blut!“ schrien alle.
„Ihr versteht mich, Brüder,“ fuhr der Obmann fort, „ja, Blut allein kann mich rächen. Wisset denn, daß die Besatzung des Schlosses Male mich also behandelt hat. Sprecht denn mit mir: Morgen soll die Sonne kein Schloß von Male mehr finden!“
„Sie soll es nicht mehr finden!“ wiederholten alle Fleischer mit wilder Rachegier.
„Kommt,“ sprach Breydel, „laßt uns gehen. Jeder kehrt [174] nach seiner Wohnung zurück, macht sich bereit und nimmt sein bestes Beil. Besorgt euch womöglich auch andere Waffen und Gerätschaften, denn wir müssen das Schloß ersteigen. Gegen elf Uhr in der Nacht werden wir uns alle im Elsterbusch hinter Saint Kruis zusammenfinden.“
Nachdem er den Ältesten noch einige besondere Anordnungen erteilt hatte, verließ er den Pand, und auch seine Genossen gingen bald heim. Noch ehe jene Stunde auf dem Turm von Saint Kruis geschlagen hatte, konnte man nächtlings beim schwachen Scheine des zunehmenden Mondes zwischen den Bäumen und auf allen Pfaden um das Dorf einen Haufen Menschen erblicken. Alle eilten derselben Richtung zu und verschwanden einer nach dem andern im Elsterbusch. Einige von ihnen trugen Armbrüste, andere Keulen; doch die meisten hatten keine sichtbaren Waffen. Jan Breydel stand in der Mitte des kleinen Gehölzes und beratschlagte mit den Meistern der Zunft, von welcher Seite man den Angriff auf das Schloß wagen sollte.
Endlich einigten sie sich, den Graben neben der Brücke mit Holz zu füllen. Dann wollte man versuchen, die Mauer zu übersteigen. Der Obmann ging rastlos zwischen den vielen Gesellen umher, die damit beschäftigt waren, Stauden und kleine Bäume umzuhauen und in Bündel zu binden. Sobald er sich überzeugt hatte, daß es ihnen nicht an Leitern fehle, gab er den Befehl zum Aufbruch. Die Fleischer verließen das Gehölz, um Schloß Male zu zerstören.
Den Chroniken zufolge waren es ihrer siebenhundert; und dennoch waren sie so einig in ihrer Rachegier, daß sich nicht ein einziger unvorsichtiger Laut aus dieser Menge vernehmen ließ. Man hörte nur das Rascheln des Reisigs, das man nachschleifte, und das Bellen der Hunde, die von dem ungewohnten Geräusch aufgeschreckt wurden. Einen Bogenschuß vom Schlosse blieben sie stehen, und Breydel ging mit einigen Gesellen voraus, um die Feste zu erkunden. Die Torwache hatte das Geräusch ihrer [175] Schritte gehört; so lauschte sie, da sie noch im Zweifel war, mit größerer Aufmerksamkeit und kam auf den Wall heraus.
„Warte,“ sprach einer der Gesellen Breydels, „ich werde den lästigen Wächter da einmal heimschicken.“
Damit spannte er seine Armbrust und zielte auf die Schildwache. Er erreichte sein Ziel, doch der Pfeil zersplitterte an dem Panzer des Franzosen. Der lief, durch diesen Schlag erschreckt, zurück und schrie aus voller Kraft:
„Frankreich! Der Feind! Zu den Waffen! Zu den Waffen!“
„Vorwärts, Genossen!“ rief Breydel. „Vorwärts! Hierher mit den Bündeln!“
Die Fleischer warfen einer nach dem andern ihre Bündel in den Graben; bald war er hinlänglich ausgefüllt, um über ihn hin wie über eine Brücke zum Fuß der Mauer gelangen zu können. Die Leitern wurden angesetzt, und ein Teil der Vlaemen erstieg die Mauer, ohne Gegenwehr zu finden. Auf den Ruf der Schildwache war die Besatzung aus den Betten gesprungen, und in wenigen Augenblicken waren mehr denn fünfzig bekleidet und gewappnet. Die Zahl verstärkte sich rasch. Besser noch als der Ruf der Wache hatte das Geschrei der Fleischer die Schlafenden geweckt.
Jan Breydel befand sich mit nur dreißig seiner Gesellen innerhalb des Schlosses, als eine große Schar Ritter und Söldner gegen ihn anstürmte. Anfangs fiel gar mancher Fleischer; denn da sie keine Panzerhemden hatten, konnte nichts die Pfeile der Franzosen hemmen. Doch das dauerte nicht lange; in kurzer Zeit waren alle Vlaemen innerhalb der Mauern.
„Seht, Brüder,“ rief Breydel, „ich beginne das Schlachten! Mir nach!“
Wie sich ein Pflug selbst eine Spur in die Erde gräbt, so bahnte sich Breydel einen Weg durch die Franzosen. Jeder Schlag mit seinem Beil kostete einem Feind das Leben, und das Blut seiner Schlachtopfer strömte in Bächen von seinem Wams. Wütend wie er warfen sich die anderen Vlaemen von [176] allen Seiten auf die Söldner, und ihr Jauchzen übertönte das Todesgeschrei der Franzosen.
Während solcherart im Vorhof und auf den Wällen gekämpft wurde, hatte der Burgvogt, Herr von Saint-Pol, in aller Eile einige Pferde satteln lassen. Als man ihm verkündete, daß keine Hoffnung mehr wäre, und daß die meisten Söldner erschlagen seien, ließ er das Tor öffnen. Dann wurde mit Gewalt ein weinendes Mädchen aus dem Gebäude geschleppt, und nachdem sie in den Armen eines Söldners auf einem der Pferde Platz gefunden hatte, durchschwammen alle Reiter den Graben und verschwanden zwischen den Bäumen des Waldes. Es war den Franzosen unmöglich, der Gewalt der Fleischer zu widerstehen, zumal ihnen letztere an Zahl überlegen waren. Eine Stunde später war keiner mehr in Male, der nicht sein Leben auf vlaemischem Boden empfangen hatte. Man durchsuchte über zwei Stunden mit Fackeln alle Gemächer und Keller des Schlosses, doch traf man nirgends mehr einen Feind, denn wer nicht getötet worden war, hatte sich durch's Nottor ins Freie geflüchtet.
Nachdem sich Breydel von einem Diener des Schlosses genau alle Räume hatte zeigen lassen, nahm er mit Recht an, daß die Jungfrau Machteld fortgeführt war. Nun überließ er sich ganz seiner Wut und steckte das herrliche Schloß an allen vier Ecken in Brand. Während die Flammen zum Himmel aufloderten und schon ein großer Teil der Mauern krachend zusammenstürzte, hieben die Fleischer Bäume, Brücken und alles, was vernichtet werden konnte, nieder, bis das Schloß ein Bild gänzlicher Zerstörung darbot. Die Glocken der umliegenden Dörfer läuteten Brand, und die Bauern verließen ihre Hütten, um das Feuer zu löschen, aber es war zu spät. Von der gräflichen Burg stand nichts mehr als die vier glühenden Mauern.
Ja, ja, mag denn die morgige Sonne vergebens nach dem Schloß von Male suchen!
Da nunmehr die Rache vollzogen war, kamen die Fleischer wieder zusammen und verließen die Brandstätte mit siegesfrohem Gesang: sie sangen das Lied vom schwarzen Löwen.
A ls die Franzosen während des Krieges 1296 ganz Westflandern besetzten, leistete ihnen Schloß Nieuwenhove hartnäckigen Widerstand. Zahlreiche vlaemische Ritter hatten sich unter Robrecht van Bethune darin eingeschlossen und wollten es nicht übergeben, solange sich auch nur einer von ihnen noch verteidigen konnte. Aber die Überzahl der Feinde machte ihren Heldenmut nutzlos; sie blieben fast alle auf den Mauern der Feste. Die Franzosen drangen durch die zerstörten Wälle ein, aber sie fanden nur Leichen; und da sie ihre Wut nicht an Feinden auslassen konnten, steckten sie das Kastell in Brand, rissen die Mauern nieder und füllten die Gräben mit Schutt aus.
Die Überreste von Nieuwenhove lagen ungefähr zwei Meilen von Brügge nach Kortrijk zu. Inmitten eines dichten Waldes, fern von den Wohnstätten der Landleute, wurden diese Trümmer selten besucht, zumal das beständige Krächzen der Nachtvögel bei den abergläubischen Dorfbewohnern den Glauben erweckt hatte, daß die Geister der gefallenen Vlaemen hier um Rache oder Genugtuung riefen.
Hatte auch der Brand das ganze Schloß in Flammen gesetzt, so war es doch nicht völlig zerstört, und die Mauerreste ließen seine ursprüngliche Form noch erkennen. Das Gebäude stand, war aber mit unzähligen Spalten und Rissen gelockert. Die Dächer waren eingestürzt, und von den zerstörten Fenstern war nur noch die steinerne Einfassung übrig. Alles trug den Stempel eiliger Zerstörung; denn einige Teile waren unversehrt geblieben, während andere sorgfältig vernichtet waren. Auf dem Vorhof, den die halb geborstene Festungsmauer umschloß, lagen hier und da Schutthaufen, wie sie der Zufall aufgetürmt hatte.
Nun waren schon sechs Jahre seit der Zerstörung Nieuwenhoves verflossen. Die Gewächse, die der Wind zwischen das umherliegende Gestein gesät hatte, waren mit der Zeit immer zahlreicher geworden. Üppiges Gras sproßte überall auf, und wie Lieblingskinder der wilden Natur wiegten Feldblumen ihre silbernen Kelche auf den Rändern der Trümmer. Das braune Gemäuer des Gebäudes wurde von mächtigen Efeuranken erklettert, die in den ausgebrannten Spalten wurzelten. Andere Gewächse, wie wilde Weinreben und Geißblatt, rankten sich von einer Mauer zur anderen und breiteten so über die tiefen Risse ein Gewebe von herrlichem Grün.
Es war vier Uhr morgens; schwachgelbe Dämmerung erhellte den Osten, und ein Kranz goldener Lichtstrahlen erglänzte als Vorbote der Sonne am Horizont. Die Ruinen von Nieuwenhove freilich waren noch in graue Schatten gehüllt; in ungewissem Farbenkleid schlummerte die Natur, während der erwachende Tag sich bereits am blauen Himmel spiegelte. Hier und da glitt noch eine träge Nachteule aufgeschreckt nach ihrer Höhle und krächzte verdrießlich über den Glanz, der sie vertrieb.
Da saß ein Mann auf einem der Schutthaufen inmitten der Trümmer. Ein Helm ohne Federbusch war mit Sturmriemen auf seinem Haupte befestigt. Ein Harnisch umschloß die kräftige Brust, und Stahlplatten bedeckten die übrigen Glieder. Er stützte sich mit seinem eisernen Handschuh auf einen Schild, darauf man vergebens ein Wappenzeichen suchte; nichts war darauf als ein brauner Querstreifen. All seine Waffen, selbst der lange Speer neben ihm, waren schwarz. Wahrscheinlich hatte sich dieser Ritter in tiefer Trauer also gewappnet. Nicht weit von ihm stand ein Pferd, das noch schwärzer war als der Ritter; da es auch ganz mit Eisen bedeckt war, konnte es nur mit Mühe den Kopf zur Erde neigen, um die feuchten Spitzen der Kräuter abzurupfen. Das Schlachtschwert am Sattel war ungewöhnlich groß und schien für eine Riesenhand bestimmt zu sein.
Während Totenstille über den Trümmern lastete, seufzte der Ritter oft und tief und bewegte die Hände, als ob er mit jemandem spräche. Von Zeit zu Zeit wandte er sein Haupt mißtrauisch nach dem Gebüsch und den Wegen, die das Schloß umgaben, und als er sicher war, allein zu sein, schlug er das Visier seines Helmes zurück. Nun konnte man sein Gesicht erblicken.
Es war ein Mann von höherem Alter mit gefurchten Wangen und grauem Bart. Wohl hatte langer Kummer seine Züge gezeichnet, aber es lohte noch genugsam Feuer in seiner Brust, um seinen Augen ungewöhnliche Lebhaftigkeit zu verleihen.
Nachdem er einige Augenblicke auf die Ruinen von Nieuwenhove gestarrt hatte, glitt ein bitteres Lächeln über seine Wangen. Er senkte das Haupt, als ob er etwas auf dem Boden suche – Tränen glänzten auf seinen Wimpern und rollten perlend zur Erde. – Dann sprach er:
„O Helden, meine Brüder! In diesen Mauern ist euer edles Blut geflossen, mir zu Füßen ruhen eure Leichen im endlosen Todesschlaf; und die einsamen Blumen umranken wie Märtyrerkronen eure Gebeine. Glücklich ihr, die ihr das schmerzenreiche Leben dem Vaterland habt opfern können, denn ihr habt die Knechtschaft Flanderns nicht gesehen. Frei und herrlich seid ihr gestorben, eure Seelen tragen nicht die Schande, wie sie die Fremdlinge auf das Haupt der Vlaemen gehäuft haben! Das Blut dessen, dem ihr den stolzen Namen ‚der Löwe‘ gegeben habt, strömte mit dem eurigen auf diesen Boden. Sein Schwert war ein versengender Blitz, sein Schild eine Mauer – und nun, o Schmach! nun sitzt er seufzend wie ein Verworfener auf euren stillen Gräbern; ohnmächtige Tränen fließen wie aus den Augen einer schwachen Frau über seine Wangen!“
Plötzlich stand der Ritter auf, ließ hastig das Visier seines Helmes herab, wandte den Blick nach dem Wege und schien aufmerksam auf etwas zu lauschen. Ein Geräusch wie Pferdegestampf klang von ferne herüber. Als er sicher war, sich [180] nicht zu täuschen, nahm er seinen Speer vom Boden auf, lief rasch zu seinem Pferde, legte ihm das Gebiß an, sprang in den Sattel und ritt hinter eine bergende Mauer. Aber er war noch nicht lange in diesem Versteck, als noch andere Töne zu ihm herüberschallten. In das Geklirr der Waffen und das Schnauben der Rosse klang das Wehklagen einer weiblichen Stimme. Als der Ritter diesen Notschrei hörte, erblaßte er unter seinem Helm. Nicht Furcht trieb die Farbe von seinen Wangen – Furcht war ihm unbekannt; aber Ehre und Ritterpflicht geboten ihm, der Klagenden zu Hilfe zu eilen; schon erglühte sein kühnes Herz in dem Wunsche, die Unglückliche zu retten, während wichtigere Gründe und ein feierliches Gelübde ihm verboten, sich von irgend jemand erkennen zu lassen. Er bebte bei dem inneren Kampfe mit sich selbst. Bald kam der Zug näher, und die Klagerufe des Mägdeleins wurden ihm nun verständlicher.
„O mein Gott, mein Vater!“ rief es in unverkennbarem Schmerz.
Nun waren alle Bedenken des Ritters geschwunden. Die Stimme hatte etwas unbeschreiblich Rührendes für ihn. Er preßte seinem Rosse den Sporn in die Seite und sprengte über die Trümmerhaufen in den Weg. In kurzer Entfernung sah er den Zug nahen. Sechs französische Reiter ohne Speer, aber sonst wohlbewaffnet, sprengten mit verhängten Zügeln heran. Einer von ihnen hatte eine Dame vor sich, die er fest umschlang. Sie wehrte sich verzweifelt, die Luft hallte von ihren Hilferufen wider. Der schwarze Ritter blieb mitten auf dem Wege stehen und legte seinen Speer an, um die Räuber zu erwarten. Erstaunt über das unvorhergesehene Hindernis, zügelten die Ritter ihre Pferde und betrachteten den schwarzen Krieger nicht ohne geheimes Bangen. Derjenige, der unter ihnen zu gebieten schien, ritt voraus und rief:
„Aus dem Weg, Herr Ritter! Aus dem Weg, oder wir reiten Euch nieder!“
„Ich fordere euch, ihr falschen und ehrlosen Ritter, auf, diese Dame freizugeben. Wenn ihr's nicht tut, so erkläre ich mich für ihren Streiter.“
„Vorwärts! Vorwärts!“ rief der Anführer seinen Leuten zu.
Der schwarze Ritter ließ ihnen keine Zeit, heranzukommen. Er beugte sich auf den Nacken seines Pferdes und stürmte plötzlich mitten zwischen die erstaunten Franzosen. Mit dem ersten Stoße seiner Lanze durchbohrte er die Sturmhaube und den Kopf eines Feindes und warf ihn tödlich verwundet aus dem Sattel. Aber während es ihm geglückt war, einen seiner Feinde zu besiegen, hatten die übrigen die Schwerter gegen ihn gezückt, hatte der Anführer Saint-Pol bereits mit einem fürchterlichen Hiebe die Schulterplatte an der Rüstung des schwarzen Ritters zerschmettert. Beim Angriff so vieler Feinde ließ der seinen Speer fallen und zog sein Riesenschwert aus der Scheide; er umfaßte den Griff mit beiden Händen und schlug so wild um sich, daß ihm kein Franzose zu nahen wagte; denn jeder Hieb seiner Waffe fiel wie ein schmetternder Hammerschlag auf die Rüstung der Gegner. Der Reiter, der die Jungfrau hielt, wehrte sich mit einem langen Degen und umfaßte mit dem anderen Arm das unglückliche Mädchen. In dieser gewaltigen Erregung, von Schrecken und Hoffnung durchtobt, fehlte es der geraubten Jungfrau an Kraft, zu sprechen oder zu klagen. Unbeweglich starrten ihre Augen im Kopf, und die zarten Wangen waren krampfhaft verzerrt. Zuweilen streckte sie ihre Arme flehend nach dem Unbekannten aus, der sie erretten wollte, doch bald hingen sie wieder schlaff und kraftlos über dem Rücken des Pferdes.
Die furchtbaren Schwerthiebe wider die Helme und Schilde hallten dröhnend rings im Walde wider, und das Blut quoll unter den Harnischen hervor; doch in der Hitze des Gefechts achteten die Streiter nicht darauf und kämpften wütend weiter. Schon waren die Rüstungen an vielen Stellen zerschlagen und zerbrochen, und Saint-Pols Pferd hatte eine klaffende Wunde [182] im Nacken; deshalb ließ es sich nicht mehr willig von seinem Herrn lenken, und der hatte die größte Mühe, den Schlägen des schwarzen Ritters auszuweichen. Als er sah, daß das Gefecht für die Franzosen eine ungünstige Wendung nahm, gab er dem Söldner, der die Dame hielt, ein Zeichen. Der Reiter verstand diesen Wink und versuchte, dem Befehl zu gehorchen und vom Schlachtfeld zu fliehen; aber der schwarze Ritter merkte seine Absicht, drückte seinem Rosse den Sporn in die Seite und sprengte plötzlich vor den Söldner. Geschickt wich er den Schlägen der übrigen Feinde aus, und er rief:
„Setzt die Dame zur Erde, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“
Ohne auf diesen Zuruf zu achten, wandte der Söldner sein Roß auf die Seite und suchte vorbeizukommen; aber das Schwert des schwarzen Ritters sauste mit doppelter Kraft auf seinen Helm nieder und spaltete ihm das Haupt bis auf die Schulter. Sein Blut strömte zurück auf den Kopf und das weiße Kleid des Mägdeleins; ihre schönen blonden Locken wurden davon völlig genäßt und dunkelrot gefärbt. Gleich darauf gaben sie die Arme des Erschlagenen frei, und beide stürzten zur Erde.
Währenddes hatte der Ritter noch einen anderen Franzosen zu Boden geworfen, und nun blieben nur noch drei Gegner. Das Gefecht schien jetzt noch hitziger zu werden; die Pferde wurden hin und her geworfen und schnaubten bei jedem Schlage, der auf ihre eiserne Rüstung fiel. Das Mägdelein lag bewußtlos unter ihnen. Da sie zuerst aus dem Sattel geglitten war, lag die blutende Leiche des Söldners über ihr. Es war merkwürdig, daß die Pferde sie nicht verletzten; sie traten um und neben sie, ohne sie zu berühren. Nur warfen sie die Erde hoch und bedeckten so die Wangen des Mägdeleins mit Staub und Schmutz.
Die Streiter schöpften Atem und waren allesamt durch schwere Wunden oder Blutverlust gelähmt und geschwächt. Plötzlich wich das Roß des schwarzen Ritters einige Schritte zurück [183] und blieb stehen. Die Franzosen freuten sich innerlich, als sie dieses scheinbaren Rückzuges ihres Feindes gewahr wurden. Sie glaubten, er bedürfe der Ruhe und würde den Kampf aufgeben; aber sie täuschten sich, denn jählings fiel er sie mit verhängtem Zügel an, und sein Schlag war so wohl berechnet, daß das Haupt des vordersten Söldners mit dem Helm auf den Weg flog. Staunend und durch diese Wundertat erschreckt, floh Saint-Pol mit dem einzig verbliebenen Genossen in aller Eile vom Schlachtfeld; sie trieben ihre Pferde schnell voran und verließen den schwarzen Ritter in dem festen Glauben, daß er mit dem Teufel im Bunde stehe.
Das Gefecht hatte nur einige Augenblicke gewährt, denn die Schläge der Kämpfer waren unaufhaltsam niedergeprasselt; deshalb stand die Sonne auch noch nicht über dem Horizont, aber die Nebel erhoben sich bereits über dem Wald, und die Wipfel der Bäume erglänzten in lieblichem Grün.
Als der Ritter sich als Herrn des Schlachtfelds sah und keine Feinde mehr gewahrte, stieg er vom Pferd, band es an einen Baum und näherte sich dem regungslosen Mägdelein. Es lag ausgestreckt unter der Leiche des Söldners und gab kein Lebenszeichen von sich; der Boden um sie her war von den Pferden zerstampft und zertreten. Der schwarze Ritter konnte ihre Züge nicht erkennen, das Blut des Franzosen war auf ihren Wangen mit Erde vermengt geronnen, und ihre langen Locken waren von den Rossen in den Grund gestampft. Ohne lange Untersuchung hob der Ritter das unglückliche Mägdelein vom Boden auf und trug es in seinen Armen in die Ruinen von Nieuwenhove; hier legte er es sanft auf dem Vorhof ins Gras und ging in den noch erhaltenen Teil des Gebäudes. Zwischen den ragenden Mauern fand er glücklicherweise einen Saal, dessen Decke noch nicht eingefallen war und der als Zufluchtsort dienen konnte. Zwar waren die Scheiben der Fenster von dem Brande zersprungen und geschmolzen, aber das übrige war noch erhalten; lange Stücke zerrissener Tapeten hingen [184] an der Wand, und Reste zerbrochener Kasten und Betten lagen zerstreut auf dem Boden. Der Ritter raffte einiges zusammen und legte Bretter darauf und stellte so eine Art Feldbett her; dann riß er die Teppiche von den Wänden und legte sie über die Bretter.
Froh, daß er diesen günstigen Ort gefunden hatte, kehrte er zu der ohnmächtigen Jungfrau zurück und trug sie in den Saal. Mit ängstlicher Sorge bettete er sie auf dies seltsame Lager und legte noch ein Stück Teppich unter ihren Kopf. Nur edle Menschenliebe und Ritterpflicht trieb ihn zu diesen Mühen und Sorgen. Um sich zu überzeugen, daß sie nicht verwundet sei, betrachtete er genau ihre Kleider und stellte zu seiner größten Freude fest, daß nur ihr oberstes Gewand befleckt war und ihr Herz noch fühlbar klopfte. Nachdem er ihr Mund und Augen von Staub gereinigt hatte, verließ er das Gemäuer und kehrte zu dem Wege zurück, da die Leichen seiner Feinde lagen. Einem der toten Franzosen nahm er den Helm ab und schöpfte ihn an einem Bache, der am Kampfplatz vorbeifloß, voll Wasser. Dann ergriff er den Zaum seines Pferdes und brachte es in einen Winkel des Schlosses. Als er zu der Jungfrau in den Saal zurückkam, riß er ein Stück von dem Wams, das er unter dem Harnisch trug, und benutzte es als Tuch, um das Gesicht des Mägdeleins damit zu waschen. Schon nahte der Tag, und die Felder prangten bereits in klaren Farben. Aber im Gewölbe dieses Saales war es noch düster, und der Ritter konnte nicht sehen, ob die Wangen des Mädchens gehörig von Staub und Blut gesäubert waren. Er wusch ihr Kopf, Hals und Hände und bedeckte sie gegen die Kälte mit einem großen Teppich, den er zu diesem Zwecke von der Wand riß. Als er so alles Erdenkliche getan hatte und überzeugt war, daß die Jungfrau noch lebte, überließ er sie kräftigender Ruhe und kehrte zu seinem Rosse zurück; er reinigte die Rüstung mit Kräutern, um die blutigen Spuren des Kampfes möglichst zu verwischen, und ging dann in den [185] Vorhof, um Gras für sein Pferd zu sammeln. Das dauerte eine gute Weile; doch er ließ es sich nicht verdrießen, und demütig gebrauchte er seine edlen Hände zu dieser niedrigen Arbeit. Endlich brachte er seinem Pferde einen Arm voll saftigen Futters.
Schon hatte die Sonne sich über den Horizont erhoben, und ihre Strahlen leuchteten hell über die Fluren. Durch die Fenster des Saales fiel jetzt gleichfalls hinlänglich Licht, um alle Gegenstände auf dem Boden zu unterscheiden. In der Hoffnung, das Mädchen nun besser betrachten zu können, trat der Ritter in den Saal. Die Jungfrau saß aufgerichtet und starrte entsetzt auf die schwarzen Wände ihres grausigen Aufenthalts. Die Augen waren weit aufgerissen, und sie glich einer Wahnsinnigen; denn ihre Wimpern senkten sich nicht, sondern blieben regungslos offen. Sobald der Ritter ihr sein Angesicht zuwandte, ergriff ein jähes Zittern seinen ganzen Körper; er erbleichte und fühlte, daß ihm die Beklemmung die Sprache raubte; statt Worte kamen nur unverständliche Laute aus seinem Mund. Derart erregt eilte er auf die Jungfrau zu und drückte sie mit feuriger Liebe an sein Herz.
„Mein Kind, meine unglückliche Machteld,“ rief er in Verzweiflung, „mußte ich mein Gefängnis verlassen, um dich nun in den Armen des Todes wiederzufinden!“
Das Mädchen stemmte seine Hand mit Widerwillen gegen die Brust des Ritters und stieß ihn leidenschaftlich von sich.
„Verräter,“ sprach sie, „wie dürft Ihr die Tochter des Grafen von Flandern antasten? Ihr schämt Euch nicht, ein wehrloses Mägdelein gewaltsam fortzuführen? Aber Gott beschützt mich. Es gibt noch Blitze des Himmels; hört Ihr? Eure Strafe naht – horcht, wie der Donner grollt, Bösewicht!“
Als der Ritter diese Worte hörte, entströmten Tränen seinen Augen; er riß den Helm ungestüm von seinem Haupt, und nun konnte man die Zähren über seine Wangen fließen sehen.
„O meine vielgeliebte Machteld,“ rief er, „erkenne mich doch, ich bin Dein Vater Robrecht, den Du so lieb hast, der sich so sehr in der Gefangenschaft um Dich gegrämt hat. Himmel! Du stößt mich von Deiner Brust!“
Mit einem wilden Lachen entgegnete das Mägdelein:
„Jetzt bebt Ihr, ehrloser Räuber. Nun packt Euch das Bangen des Bösewichts. Aber für Euch gibt es keine Gnade. Der Löwe, mein Vater, wird mich rächen, und Ihr werdet nicht ungestraft das gräfliche Blut von Flandern gekränkt haben. Still!… Ich höre das Gebrüll des Löwen … Mein Vater naht – horch! Die Erde dröhnt unter seinen Schritten. Für mich einen Kuß, für Euch den Tod!“
Jedes Wort drang wie ein Pfeil in das Herz des Ritters. Alle Qualen der Hölle durchtobten sein Inneres, und unaussprechliche Betrübnis ergriff ihn; heiße Tränen rannen über seine gefurchten Wangen, und voll Verzweiflung schlug er sich an die Brust.
„So erkenne mich doch, armes Kind,“ rief er, „bring' mich nicht um, lache nicht so bitter; Deine Blicke geben mir den Tod. Ich bin der Löwe, den Du liebst, der Vater, den Du rufst.“
„Ihr der Löwe?“ antwortete Machteld mit Verachtung, „Ihr der Löwe? O Lästerer! Nein, der Löwe spricht vlaemisch! Höre ich etwa nicht, daß Ihr die Sprache der Königin Johanna redet? Die Sprache, die schmeichelt und verrät? Auch der Löwe ist fort – man sagt ihm, komm! – und eine Kette … ein Kerker – ein goldenes Gefäß und Gift. O Frankreich! Frankreich! sein Blut!… und auch ich – ich, sein Kind! Aber Ihr bedenkt nicht, daß das Grab eine Zuflucht bietet. Bei Gott im Himmel kann eine Seele nicht mehr entehrt werden!“
Der Ritter konnte seiner Verzweiflung nicht Herr werden; er umarmte sie nochmals und rief:
„Hörst Du denn nicht, mein Kind, daß ich die Sprache unserer Väter spreche? Was für ein bitteres Leid hat Dich gefoltert, [187] daß sich Dein Geist verwirrte? Erinnere Dich, daß unser Freund, Herr Adolf van Nieuwland, mich befreien wollte, und nenne mich nicht mehr Verräter und Bösewicht, denn Deine Worte durchbohren mein Herz!“
Bei Adolfs Namen wurden die krampfhaften Züge Machtelds leichter. Ein sanftes Lächeln verscheuchte den schmerzlichen Ausdruck ihres Angesichts, und sie antwortete mit ruhiger Stimme:
„Adolf habt Ihr gesagt? Adolf ist fort, um den Löwen zu holen. Habt Ihr ihn gesehen? Er hat Euch von der unglücklichen Machteld erzählt, nicht wahr? O ja, er ist mein Bruder! Er hat ein Gedicht für mich gemacht … Still! Ich höre die Klänge seiner Harfe … Welch schönes Lied! Aber was ist das?… Ja, mein Vater kommt; ich sehe schon einen Strahl … ein heiliges Licht … weg, Ehrloser!“
Nun gingen ihre Worte in dumpfe Laute über, und ihre Rede wurde unverständlich. Ein schwermütiger Ausdruck verdüsterte ihre Züge.
Der Ritter erschrak bei diesen drohenden Blicken. In seiner argen Pein wußte er nicht, was tun, und fühlte, daß ihm der Mut schwand. Ohne zu sprechen, faßte er die Hand seines kranken Kindes und benetzte sie mit Tränen der Liebe und des Schmerzes; doch sie riß schnell die Hand aus der seinen und rief:
„Diese Hand ist nicht für einen Franzosen! Ein falscher Ritter, ein Räuber, wie Ihr, darf sie nicht berühren. Eure Tränen sind Flecken, die der Löwe mit Blut tilgen wird. Erschreckt, Schlange! Bebt, denn der Augenblick naht! Seht Ihr dies Blut auf meinem Gewande? Das ist auch französisches Blut – wie schwarz!“
Der Ritter konnte diese Folterqualen nicht mehr ertragen. Flehentlich fiel er vor der Jungfrau nieder und schluchzte:
„Um der Liebe des Herrn willen, meine unglückliche Machteld, weise die Liebe Deines Vaters nicht länger von Dir. Laß [188] meine traurige Reise nicht vergebens sein. Kannst Du meine Tränen so gleichgültig anschauen, hat Deine teure Stimme nicht ein einzig tröstendes Wort für mich? Soll ich denn vor Schmerz zu Deinen Füßen sterben?“
Die Jungfrau sah ihn mit Abscheu an.
„Ein Wort!“ fuhr der Ritter fort; „nenne mich Deinen Vater, stoße ihn nicht mehr von Dir. Ach, wüßtest Du, mein unglückliches Kind, welche Schmerzen mir Deine Verachtung verursacht, könntest Du doch die Angst Deines Vaters sehen! Aber nein, Du bist außer Dir, die Verfolgung der Franzosen hat Deinen Geist verwirrt! O Jammer!“
Er wollte sein unglückliches Kind in die Arme schließen, doch sie erschrak bei diesem Versuch und rief heftig mit gellender Stimme:
„Hinweg! Streckt Eure Arme nicht so nach mir aus! Es sind Schlangen, die das Gift der Schande in sich tragen. Ha! Berührt mich nicht, haltet ein, Bösewicht! Hilfe! Hilfe!“
Durch eine rasche Bewegung riß sie sich aus den Armen des Ritters und sprang laut jammernd vom Bett auf. In ihrer Angst lief sie nach dem Ausgang des Saales und wollte entfliehen. Der Ritter erbebte und warf sich ihr ängstlich in den Weg, um sie zurückzuhalten. Wie schrecklich war dies Schauspiel, wie unermeßlich der Schmerz des Ritters! Er umfaßte seine Tochter mit banger Sorge und versuchte, sie zum Bette zurückzubringen; aber sie in ihrer Verwirrung hielt ihn für ihren Feind und kämpfte mit furchtbarer Heftigkeit gegen ihren verzweifelten Vater. Mit fast übernatürlicher Anstrengung entwand sie sich mehrmals seinen Händen, und er mußte ihr im Saale nachsetzen; sie schrie laut auf und schlug bei ihrem Widerstreben mit unglaublicher Kraft um sich. Um sie an der Flucht zu hindern, sah ihr Vater sich genötigt, sie mit größerer Gewalt zurückzuhalten und sie fest in seine Arme zu drücken. Er machte von seiner Kraft Gebrauch, hob das klagende Mägdelein empor und trug es auf das Bett zurück. [189] Sie betrachtete ihn mit zornigen Blicken und begann bitterlich zu weinen.
„Ihr habt die Kräfte eines Mägdeleins niedergezwungen, falscher Ritter,“ schluchzte sie. „Was zaudert Ihr nun? Niemand sieht ja Euer Verbrechen als Gott allein. Aber dieser Gott hat den Tod zwischen uns gestellt! Ein Grab gähnt zwischen uns! Darum weint Ihr.“
Der unglückliche Vater war so schmerzzerrissen, daß er diese Worte nicht hörte. Wiederum setzte er sich gramerfüllt nieder und betrachtete sein weinendes Kind mit irrem Blick; unbeschreibliche Qualen nagten an ihm und raubten ihm den Mut; sein Haupt sank kraftlos auf die Brust.
Währenddessen hatten sich Machtelds Augen geschlossen, und sie schien zu schlafen. Ein lichter Hoffnungsschimmer drang in das Vaterherz; diese Ruhe konnte sein Leiden und die Schmerzen seiner Tochter lindern. In diesem Gedanken verhielt er sich ganz still, um den Schlaf des Mägdeleins nicht zu stören. Er betrachtete sie mit liebevollem Blick, und trotz allen Schmerzes empfand er doch noch eine wehmütige Freude.
E inige Zeit, nachdem Breydel das zerstörte Schloß verlassen hatte, kam er mit seinen Genossen nach Saint-Kruis. Schon unterwegs waren ihm viele Brügger entgegengekommen und hatten ihm mitgeteilt, daß die französische Besatzung der Stadt gewaffnet bereit stünde, um ihn in Empfang zu nehmen. Noch siegestrunken von dem errungenen Erfolge hörte er auf keine Warnungen und hielt sich für stark genug, den Franzosen zum Trotz Brügge zu betreten; aber einige Schritte hinter dem Dorfe Saint-Kruis ward er mit seinen Fleischern durch ein unerwartetes Hindernis aufgehalten.
Der Weg bis zum Stadttor wimmelte so von Menschen, daß man unmöglich durch die dichten Scharen dringen konnte. [190] Trotz der noch herrschenden Dunkelheit konnte man aus dem Gebraus der Tausende von Stimmen die unzählbaren Massen ermessen, die aus der Stadt strömten. Mit staunender Verwunderung betrachtete Breydel diese Menge, die wie ein wogender See vorwärts drängte, und wich mit seinen Leuten zur Seite des Weges aus. Die Flüchtlinge liefen nicht verwirrt durcheinander, sondern jede Familie hielt sich für sich, ohne sich unter die anderen zu mischen. Fast in jedem Trupp war eine weinende Frau; auf die Schulter der einen lehnte sich ein greiser Vater, eine andere trug einen Säugling an der Brust und führte ihre schreienden, müden Kinder an der Hand. Dahinter kamen die älteren Söhne, die unter der Last des Hausgeräts und des Bettzeugs gebückt dahinzogen. Solcher Gruppen gab es unendlich viele. Manche hatten kleine Wagen voll Waren, die sie in Sicherheit brachten, etliche saßen zu Pferde; doch Lasttiere hatten nur sehr wenige.
Breydel hätte gern die Ursache dieses seltsamen Zuges erfahren und fragte viele Flüchtlinge, wohin sie strebten, und weshalb sie ihre Stadt verließen; aber die Klagerufe der Frauen gaben ihm keine Lösung dieses Rätsels.
„O Herr!“ rief die eine, „die Franzosen wollen uns lebendig verbrennen, wir entfliehen qualvollem Tode!“
„Ach, Meister Breydel,“ rief eine andere noch schmerzvoller, „wenn Euch Euer Leben lieb ist, geht nicht nach Brügge; denn für Euch steht ein Galgen über dem Schneidertor!“
Als Breydel durch eine zweite Frage sich die Sache aufklären wollte, ertönte aus dem Zuge eine kräftige Stimme gleich dem Geheul des Wolfes und schrie:
„Vorwärts! Vorwärts! Wir Ärmsten! Die französischen Reiter verfolgen uns!“
Und alle stürzten verzweifelt weiter, und mit unglaublicher Schnelligkeit flüchtete die Menge in der Finsternis vorbei. Da erschollen gleichzeitig mehrere Klagerufe:
„Wehe, wehe! Sie verbrennen unsere Vaterstadt! Seht, [191] die Flammen steigen über unseren Dächern auf. O wehe, wehe!“
Breydel war bis dahin erstaunt stehen geblieben. Nun wandte er den Blick nach der Stadt und gewahrte rote Flammen und Rauchwirbel über den Wällen. Wut und Schmerz lohten in seiner Brust auf. Er wies nach der Stadt und rief:
„O Leute, gibt es Feiglinge unter euch, die ihre Stadt so verwüsten lassen? Nein! Sie sollen sich nicht an diesem Freudenfeuer ergötzen! Auf, auf, werft alles aus dem Weg! Wir müssen durch!“
Gefolgt von seinen Genossen warf er sich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Menge und trieb die erschreckten Familien auseinander. Ein furchtbarer Lärm, ein schreckliches Geheul entstand, und die Flüchtlinge liefen eilig nach allen Seiten aus dem Wege, denn sie glaubten, daß die französischen Reiter ihnen nach dem Leben trachteten. Es fiel Breydel nicht schwer, durch die flüchtenden Frauen und Kinder zu dringen, und er kam rasch genug vorwärts. Während er sich noch verwunderte, keine streitbaren Leute oder Zunftgenossen anzutreffen und vergebens nach ihnen ausspähte, stieß er unerwartet auf eine geordnete Rotte. Es waren viele Gesellen von der Weberzunft, und alle bewaffnet, wenn auch gar kunterbunt: sie trugen Armbrüste, Messer, Beile oder was sie sonst an Waffen gefunden hatten. Ein Hauptmann ging strammen Schrittes vor ihnen her und sperrte so den Weg wie mit einem Schlagbaum. Immer mehr solche Scharen kamen nach und nach aus der Stadt, und die Zahl der Bewaffneten betrug fast fünftausend Mann. Breydel wollte sich dem Hauptmann nähern, aber jetzt hörte er etwas weiter eine Stimme, die das Geräusch der Waffen beherrschte. Er erkannte De Coninck an seinen Worten:
„Behaltet nur Ruhe und Mut im Herzen, meine Gesellen! Daß niemand sein Glied verläßt! Und geht nicht hastig vorwärts, damit ihr nicht in Unordnung kommt. Vorwärts die [192] dritte Rotte, schließt auf den Troß! Hauptmann Lindens, brecht Euren linken Flügel!“
„Aber was bedeutet das?“ rief Jan Breydel, indem er zu De Coninck trat. „Ihr ergötzt euch an schönen Übungen und duldet, daß man unsere Stadt verbrennt? Wollt ihr als Memmen euren Frauen und Kindern auf der Flucht folgen? Ach, was seid ihr für jämmerliche Feiglinge!“
„Immer hitzig, immer leidenschaftlich!“ entgegnete De Coninck. „Was redet Ihr nur von Brennen? Seid ganz ruhig, die Franzosen werden schon nichts verbrennen.“
„Aber, Meister Peter, seid Ihr denn blind? Seht Ihr denn nicht die Flammen über unseren Mauern?“
„Schön. Das ist das Stroh, das wir angezündet haben, um unsere Troßwagen ungehindert durch das Tor zu bringen. Die Stadt ist nicht in Not, mein Freund. Kommt mit mir nach Saint-Kruis zurück, ich habe Euch wichtige Geheimnisse mitzuteilen. Jetzt ist die Zeit da. Ihr wißt, daß ich die Sache kaltblütig beurteile und deshalb oft Recht behalte. Folgt meinem Wunsch und stellt Eure Fleischer geordnet an die Spitze. Wollt Ihr?“
„Ich muß wohl, denn ich weiß ja nicht, was im Werk ist. Laßt Eure Weber einen Augenblick haltmachen.“
De Coninck befahl den Anführern, ihre Leute haltmachen zu lassen. Dann rief Jan Breydel mit erhobener Stimme:
„Genossen! Stellt euch in Reih und Glied an die Spitze des Zuges! Jeder zu seiner Abteilung; macht schnell!“
Derweil lief er zwischen den Fleischern auf und ab und stellte sie an ihre Plätze. Als das geschehen war, kam er wieder zu de Coninck und sagte:
„Wir sind fertig, Meister, Ihr könnt nun die Befehle geben!“
„Nein, Breydel,“ antwortete der Obmann der Weber, „ich lasse Euch den Oberbefehl. Gebietet Ihr dem Zug, Ihr genießt mehr das Ansehen eines Heerführers als ich.“
Der Obmann der Fleischer freute sich sehr über diese Anerkennung und rief mit donnernder Stimme:
„Fleischer und Weber! In gemessenem Schritt – – vorwärts marsch!“
Auf diesen Befehl setzten sich die Rotten in Bewegung, und das kleine Heer zog langsam des Wegs dahin. Bald stießen sie bei Saint-Kruis auf die Frauen und Kinder, die dort mit Hab und Gut hockten. Seltsam sah es auf diesem wirren Lagerplatze aus. Unzählige Familien hatten sich auf einem ausgedehnten Felde niedergelassen. Die Nacht war so düster, daß man kaum einige Schritte vor sich etwas unterscheiden konnte. Aber man hatte schon etliche Feuer angezündet, so daß man die traurigen Familien beisammensitzen sah. Die Flammen beleuchteten mit rötlichem Schein die bekümmerten Züge der Mütter und zeigten, wie sie mit banger Liebe den Säugling an die beklemmte Brust drückten. Andere Kinder lagen ermüdet auf den Knien und weinten vor Hunger und Durst gar bitterlich; aber man konnte ihnen nichts zur Erquickung bieten. Wie schwer mußten die armen Mütter bei diesem schmerzlichen Anblick leiden! Das Geräusch auf dem Lagerplatz klang bei der Dunkelheit und dem Leuchten des Feuers noch unheimlicher. Das Geschrei der Kinder und die unterdrückten Klagen der Frauen griffen tief in die Seele, wie das letzte Gebet am Freundesgrab. Durch alles dieses tönte der ängstliche Ruf der Kinder, die ihre Mütter verloren hatten, und das Heulen der Hunde, welche vergeblich ihre Herren in dieser Verwirrung suchten.
De Coninck ging mit Breydel in ein Haus am Wege und ließ sich von den Bewohnern ein Zimmer anweisen. Mit der größten Ehrerbietung räumten ihm die Landleute ihre ganze Wohnung ein und führten die beiden berühmten Brügger in eine kleine Kellerkammer zu ebener Erde. De Coninck nahm der Frau, welche sie dorthin führte, die Lampe aus der Hand. Als sie das Zimmer verlassen hatte, schloß er die Tür fest zu, [194] damit sie niemand belauschte oder überraschte. Dann gab er Breydel einen Zettel und setzte sich neben ihn. Während der Fleischer ihn neugierig ansah, begann er:
„Erst will ich Euch erklären, warum wir die Stadt in der Nacht wie Flüchtlinge verlassen. Daran seid Ihr schuld mit dem unvorsichtigen Racheakt, den Ihr gegen Euer Gelübde an der Besatzung von Male begangen habt. Als die Flammen himmelhoch über dem Wald emporlohten, wurden die Sturmglocken in der Stadt gezogen, und alle Einwohner liefen ängstlich zusammen. In diesen traurigen Zeiten sehen sie ja immer den Tod vor sich. Herr von Montenay hatte seine französischen Söldner, und zwar nur um der eigenen Sicherheit willen, auf dem Markte versammelt. Man wußte nicht, was vorging; aber als einige Eurer Schlachtopfer von Male herbeieilten und laut schrien, man müsse an den Brüggern Rache nehmen, da waren sie nicht mehr zu halten; sie wollten alles verbrennen und ermorden, und Herr von Montenay mußte ihnen mit dem Tode drohen, um mit ihnen fertig zu werden. Ihr könnt Euch denken, daß ich angesichts dieser Lage meine Weber versammelt hatte und mich zu blutiger Gegenwehr bereit machte. Vielleicht wäre es uns geglückt, die Franzosen zu verjagen, aber das hätte uns nur geschadet; ich werde Euch das gleich beweisen. Ich ging dann unter freiem Geleite zu Herrn von Montenay und erlangte von ihm, daß er nichts wider die Stadt unternehme unter der Bedingung, daß wir alle stehenden Fußes fortzögen. – Bei Sonnenaufgang wird er alle in der Stadt verbliebenen Klauwaerts hängen lassen.“
Breydel fuhr heftig auf, als er den Obmann der Weber diese schändlichen Bedingungen so kaltblütig erzählen hörte.
„Ist es möglich!“ rief er; „wie konntet ihr das so feigherzig annehmen? Ihr laßt euch wie eine Herde dummer Schafe vertreiben? Wäre ich zur Stelle gewesen, ihr hättet Brügge nicht verlassen!“
„Oho, wäret Ihr dagewesen! Wißt Ihr, was dann geschehen [195] wäre? Die Straßen von Brügge lägen voller Leichen, verheerende Flammen hätten unsere Häuser bereits in Asche gelegt. Aber, mein leidenschaftlicher Freund Jan, ich muß Euch erst die Lage noch besser klarmachen; dann werdet Ihr mir sicher recht geben. Solange die anderen Städte des Landes von den Fremden geknechtet werden, kann die Stadt Brügge nicht frei und unabhängig bleiben; denn alsdann hocken unsere Feinde dauernd unter unseren Wällen. Man darf auch nicht das Vaterland über die Geburtsstadt vergessen. Die Ketten der französischen Zwingherrschaft können wir nur mit Hilfe der anderen Städte Flanderns brechen, weil in jedem Orte Feinde wohnen, die alles darauf anlegen würden, uns die errungene Freiheit wieder zu rauben. Gewiß habt auch Ihr daran wohl schon gedacht, aber in Eurer aufbrausenden Hitze springt Ihr über die Hindernisse, ohne sie aus dem Wege zu räumen. Etwas weit Bedeutsameres ist Euch entgangen; wollt Ihr mir, bitte, auf die Frage antworten: Wer gab uns das Recht, zu morden und zu brennen? Wer hat solchen Taten, die auf Erden mit dem Tod, bei Gott mit Verdammnis bestraft werden, bei uns Gesetzesrechte verliehen?“
Breydel blickte De Coninck unwirsch an und entgegnete:
„Aber, Meister, ich glaube, Ihr sucht mich mit hochtrabenden Reden zu verwirren. Wer gab uns das Recht, zu morden und zu brennen? Sagt, wer gab es denn den Franzosen?“
„Wer? Ihr König Philipp der Schöne und ihr Feldherr Châtillon. Die Fürsten tragen auf ihren gekrönten Häuptern auch Lohn oder Strafe für ihre guten oder bösen Anordnungen; durch Treue und Gehorsam kann ein Untertan nicht sündigen. Das vergossene Blut zeugt wider den Herrn, der gebietet, nicht wider den Diener, der gehorcht. Aber wir, die wir ohne Befehl, nur aus freiem Willen zu Werke gehen, sind auch vor Gott und der Welt verantwortlich für unsere Taten; auf unsere Häupter fällt das durch uns vergossene Blut zurück.“
Das ging dem Obmann der Fleischerinnung innerlich nahe. De Conincks Darlegung fiel ihm schwer aufs Herz, und wenn er nicht viel dagegen einzuwenden wußte, so quälte es ihn doch sehr, daß er sie so hinnehmen sollte.
„Aber, Meister,“ rief er aus, „Ihr scheint hinterher Reue zu empfinden; das wäre doch eine Schande. Haben wir nicht unser Leben und unsere Rechte verteidigt, hat uns nicht die Liebe zu unserem gesetzmäßigen Herrn, dem Löwen, dazu getrieben? Ich weiß mich frei von aller Missetat; – und ich hoffe bestimmt, daß mein Beil noch nicht sein letztes Schlachtopfer gesehen hat. Wohl bin ich zuweilen geneigt, Euer unbegreifliches Verhalten zu tadeln, so wage ich es doch nicht, weil Eure Wege geheimer sind als die anderer Sterblicher.“
„Ihr habt recht, es steckt noch etwas anderes dahinter, und das ist der Knoten, den ich Euch lösen will. Ihr habt immer gedacht, Meister Jan, daß ich zu langsam in unserer Sache gewesen bin; aber hört, was ich tat, während Ihr aus Rachsucht das Blut der Feinde nutzlos vergosset. Ich habe unseren Grafen Gwijde von unseren Bemühungen zur Befreiung des Vaterlandes in Kenntnis gesetzt, und er hat sie durch seine fürstliche Billigung bekräftigt. Jetzt sind wir keine Meuterer mehr, mein Freund, jetzt sind wir gesetzliche Feldobersten unseres Landesherrn.“
„Dank Euch, Meister,“ rief Breydel begeistert aus, „nun versteh' ich Euch. Wie klopft mir das Herz bei diesem Ehrennamen! Ja, ich war ein Meuterer, und ich wußte es, aber nun bin ich ein würdiger Krieger. Die Franzosen sollen die Wandlung spüren.“
„Von dieser Billigung unseres Fürsten habe ich Gebrauch gemacht,“ erzählte De Coninck weiter, „alle Freunde des Vaterlands zum allgemeinen Aufstand aufzustacheln, und das ist mir geglückt. Auf den ersten Ruf werden in allen Städten Flanderns mutige Klauwaerts aus dem Boden wachsen!“
Der Obmann der Weber empfand ein glückhaftes Ahnen; eine [197] Träne blinkte an seinen Wimpern, und er drückte Breydels Hand, während er fortfuhr:
„Und dann, mein heldenmütiger Freund Breydel, dann soll die Sonne der Freiheit nicht einen lebenden Franzosen mehr bescheinen, und aus Furcht vor unserer Rache werden sie uns den Löwen wiedergeben! Uns, uns, Brügges Söhnen, wird Flandern seine Freiheit verdanken! Wird Euer Geist nicht bei diesem Gedanken von edlem Stolz erfüllt?“
Breydel umarmte De Coninck mit ungestümer Freude.
„Mein Freund, o mein Freund!“ rief er, „wie greifen mir doch Eure Worte ans Herz. Ein unbeschreibliches Gefühl hebt mich empor, ich bin der glücklichste Mensch auf Erden! O Vaterland, wie groß machst Du die Seelen derer, die Dich lieben! Seht, Meister Peter, in diesem Augenblick würde ich den Namen eines ‚Vlaemen‘ nicht gegen die Krone Philipps des Schönen vertauschen!“
„Ihr wißt noch nicht alles, Meister. Der junge Gwijde von Flandern und Johann, der Graf van Namen, haben sich uns angeschlossen; Herr Jan Borluut soll die Genter führen; in Oudenaarde haben wir Herrn Arnold; in Aalst Herrn Balduin van Papenrode. Herr Johann van Renesse versprach uns all seine Vasallen aus Seeland, und noch eine ganze Reihe mächtiger Lehensherren wird uns beistehen. Was sagt Ihr nun von meiner Langsamkeit und Geduld?“
„O, ich bewundere Euch, teurer Freund, und danke innerlich Gott, daß er Euch so viel Verstand gegeben hat. Nun ist es mit den Franzosen aus! Auch für das Leben des letzten gebe ich keine sechs Grooten mehr.“
„Heute morgen um neun Uhr werden die vlaemischen Herren zusammenkommen, um den Tag der Rache zu bestimmen. Der junge Gwijde bleibt als Feldherr unter uns; die übrigen kehren geradeswegs nach ihren Gütern zurück und halten ihre Leute bereit. Es wäre ratsam, daß auch Ihr mitginget, damit Ihr die getroffenen Maßregeln nicht etwa aus Unkenntnis [198] vereitelt. Wollt Ihr mit mir zum Weißbusch bei Dale gehen?“
„Wenn Ihr es wünscht, Meister; aber was werden unsere Genossen zu unserer Abwesenheit sagen?“
„Dafür ist schon gesorgt; ich habe sie von meiner Abreise in Kenntnis gesetzt und den Oberbefehl dem Obmann Lindens übertragen. Er wird sich mit unseren Leuten nach Damm begeben, um uns dort zu erwarten. Kommt, wir reisen sofort ab, denn schon graut der Tag!“
In aller Eile wurden zwei gesattelte Pferde vorgeführt, und nachdem Breydel seinen Fleischern die nötigen Befehle gegeben hatte, verließen die beiden Obmänner das Dorf Saint-Kruis. Während ihres schnellen Rittes konnten sie nicht viel reden. Immerhin beantwortete De Coninck Breydels Fragen in abgerissenen Sätzen und legte ihm den großen Entwurf der allgemeinen Befreiung dar. Nachdem sie so eine ganze Stunde mit verhängtem Zügel dahergeritten waren, sahen sie die zerstörten Türme von Nieuwenhove über die Bäume ragen.
„Das ist gewiß Nieuwenhove, wo der Löwe so viel Franzosen erschlagen hat?“ fragte Breydel.
„Ja, noch eine halbe Meile vom Weißbusch.“
„Ihr müßt zugeben, daß man unseren Herrn Robrecht nicht besser taufen konnte. Er ist wahrhaft ein Löwe, wenn er das Schwert in der Faust führt.“
Dabei waren sie zu der Stelle gekommen, wo der schwarze Ritter mit den Entführern Machtelds gekämpft hatte; sie sahen die blutigen Leichen am Boden liegen.
„Franzosen,“ murmelte De Coninck im Vorbeireiten, „vorwärts, Meister, wir dürfen uns nicht aufhalten.“
Breydel weidete sich an dem gräßlichen Anblick mit innerer Freude; mehrmals trieb er sein Roß über die ausgestreckten Leichen, ohne auf De Conincks Ruf zu achten. Der Obmann der Weber mußte wider seinen Willen zu ihm zurück.
„Aber, Meister Breydel,“ rief er, „was treibt Ihr? Um Gottes willen, hört auf, Ihr nehmt ehrlose Rache.“
„Laßt mich“, antwortete Breydel. „Ihr wißt nicht, daß dies die Söldner sind, die mir ins Gesicht geschlagen haben. Aber was ist das? Horcht! Vernehmt Ihr nicht dort hinten aus den Ruinen von Nieuwenhove einen Laut wie die Klagen einer Frau? O, welcher Gedanke kommt mir da; sie haben die Jungfrau Machteld aus Male hierhergebracht!“
Jählings sprang er vom Pferde, und ohne es anzubinden, lief er in aller Eile nach den Ruinen.
Sein Freund folgte ihm; doch Breydel war schon auf dem Vorhof des Schlosses, ehe noch De Coninck vom Pferd gestiegen war. Der brauchte zu dem noch einige Augenblicke, um die Rosse am Wege anzubinden. Je näher Breydel den Ruinen kam, um so deutlicher vernahm er die Klagerufe. Da er nicht rasch genug den Eingang zu dem Orte fand, von dem der Ruf scholl, so stieg er auf einen Haufen Steine und blickte durch ein Fenster in den Saal. Er erkannte Machteld auf den ersten Blick; den schwarzen Ritter aber mußte er natürlich für einen Feind halten. Darob riß er das Beil unter seinem Wams hervor und sprang in den Saal.
„Schändlicher Räuber!“ rief er dem schwarzen Ritter zu; „ehrloser Franzose! Ihr habt lange genug gelebt! Ihr sollt Euch nicht ungestraft an der Tochter des Löwen, meines Herrn, vergriffen haben.“
Der Ritter stand wie versteinert ob dieser plötzlichen Erscheinung und hörte die Drohungen Breydels mit Staunen. Bald jedoch faßte er sich und erwiderte:
„Ihr täuscht Euch, Meister Breydel, ich bin ein Sohn Flanderns. Seid ruhig, die Tochter des Löwen ist gerächt.“
Breydel wußte nicht, was er denken sollte. Noch bebte er vor Wut; aber die Worte des Ritters, der ihm vlaemisch antwortete und seinen Namen nannte, hatten Macht genug, ihn zurückzuhalten. Machteld war bei Breydels Erscheinen durchaus [200] nicht erschrocken; in ihrer Verwirrung war sie sicher, daß der schwarze Ritter einer ihrer Räuber sei, sie lachte froh auf und rief:
„Tod ihm! Er hat meinen Vater eingekerkert und will mich zu der bösen Johanna von Navarra bringen. Der Heuchler! Warum rächt Ihr nicht das Blut Eurer Grafen, Vlaeme?“
Der Ritter betrachtete die Jungfrau mit schmerzlichem Mitleiden, und Tränen strömten aus seinen Augen.
„Unglückliches Kind!“ seufzte er.
„Ihr liebt und beklagt die Tochter des Löwen,“ sagte Breydel und drückte dem Ritter die Hand, „vergebt mir, ich habe Euch verkannt.“
In diesem Augenblick trat De Coninck in den Eingang des Saales. Erstaunt erhob er die Hände über das Haupt, warf sich vor dem Ritter auf die Knie und rief:
„O Himmel, der Löwe, unser Herr!“
„Der Löwe, unser Herr?“ wiederholte Breydel, der nun auch neben dem Obmann der Weber niederkniete, „Gott, was wollte ich tun!“
Sie blieben ehrerbietig und tief gebeugt, ohne ein Wort, vor dem Ritter auf den Knien.
„Steht auf, meine getreuen Untertanen,“ sprach Robrecht van Bethune, „ich weiß, was ihr für euren Fürsten getan habt.“
Als sie sich erhoben hatten, fuhr er fort:
„Sehet hier auf meine Tochter! Bedenkt, wie das Herz eines Vaters bei diesem Anblick leiden muß – und nichts habe ich, um ihr zu helfen: keine Speise und keinen Trank, als das kalte Wasser des Baches. Ihr seht, der Herr prüft mich mit harten Schlägen!“
„Wolltet Ihr, durchlauchtigster Graf, nur befehlen, daß ich Euch das alles besorge?“ fragte Breydel. „Darf ein geringer Untertan Euch darin zu Diensten sein?“
Damit lief er schon zur Tür, doch ein gebieterisches Zeichen des Grafen nötigte ihn wieder zurück.
„Geht,“ sprach er, „sucht einen Arzt; aber nur einen getreuen Untertan. Nehmt ihm den Eid ab, daß er nichts verrät, was er sehen oder hören mag.“
„Herr Graf,“ rief Breydel hocherfreut, „da fällt mir just einer meiner besten Freunde ein, der glühendste Klauwaert in Flandern. Er wohnt zu Wardamme, und ich werde ihn gleich herbringen.“
„Nennet aber den Löwen von Flandern nicht. Und euch beiden empfehle ich unverbrüchliches Stillschweigen an. Geht!“
Breydel verließ den Saal. Nun richtete der Graf an den Obmann der Weber mancherlei Fragen über des Landes Angelegenheiten und meinte dann:
„Ja, Meister De Coninck, ich habe in meiner Gefangenschaft durch Herrn Dietrich und Herrn van Nieuwland von Euren mißglückten Versuchen erfahren. Es tut mir unendlich wohl, noch so treue Untertanen zu haben, während die meisten Edeln mich verlassen.“
„Es ist wahr, durchlauchtigster Graf,“ antwortete De Coninck, „viele Herren haben sich gegen das Vaterland erklärt, aber die Zahl der treugebliebenen Adligen ist doch größer als die der Abtrünnigen. Meine Versuche sind auch nicht mißglückt, wie Eure Gräfliche Hoheit das glauben. Nie war Flandern der Befreiung näher; just zu dieser Stunde sind die Herren Gwijde und Johann van Namen mit vielen anderen Edeln im Weißbusch bei Dale versammelt, um einen mächtigen Bund zu schließen. Sie warten nur auf mich.“
„Was sagt Ihr, Obmann? So nahe diesen Ruinen sind meine beiden Brüder?“
„Ja, Hoher Herr, Eure beiden durchlauchtigen Brüder und auch Euer treuer Freund Jan van Renesse.“
„O Gott! und ich kann sie nicht umarmen! Herr Dietrich hat Euch gesagt, unter welcher Bedingung ich meinen Kerker verlassen habe. Ich will das Leben des Jünglings, der mir augenblicklich die Freiheit verschafft hat, nicht in Gefahr bringen; und doch [202] wünsche ich, meine Brüder zu sehen. Ich will mit Euch gehen, aber mit geschlossenem Visier. Scheint es mir nötig, mich zu entdecken, so werde ich Euch ein Zeichen geben, und Ihr sollt dann den anwesenden Rittern das Ehrenwort abnehmen, daß sie meinen Namen geheim halten; wenn sie es verweigern, dann werde ich mich nicht entdecken. Auch sprechen werde ich nicht.“
„Wie Ihr es wollt, mein Herr; Ihr werdet sicher mit mir zufrieden sein; denn ich verstehe Euch sehr wohl. – Die kranke Machteld scheint zu schlafen; möchte ihr doch die Ruhe heilsam sein!“
„Sie schläft nicht, das arme Kind, sie schlummert vor Mattigkeit. Aber mir scheint, ich höre Schritte von Menschen. So, nun habe ich meinen Helm aufgesetzt; jetzt kennt Ihr mich nicht mehr, vergeßt das nicht!“
Der Arzt trat mit Breydel in den Saal, grüßte ehrerbietig den schwarzen Ritter und ging, ohne etwas zu sagen, zu der Kranken. Nachdem er die übliche Untersuchung vorgenommen hatte, erklärte er, die Jungfrau müsse schleunigst zur Ader gelassen werden, und tat dementsprechend mit der Lanzette einen Stich in die Ader ihres linken Armes, während die beiden Obmänner sie auf dem Bette festhielten. Der Graf seufzte schmerzlich und wandte sich nach einer anderen Seite des Saales. Als das Blut in sprudelndem Strahl aus dem Arme seines unglücklichen Kindes hervorsprang, packte ihn bitteres Weh, und er erzitterte heftig. Als er seine Betrübnis mühsam überwunden hatte, wandte er sich wieder zu seiner Tochter, aber ohne sie anzublicken. Der Arzt stillte das Blut erst, als ihre Kräfte zu schwinden begannen. Sie atmete noch einigemal tief auf und sank dann in eine krampfhafte Ohnmacht. Nun wurde ihr der Arm verbunden, und sie schien zu schlafen.
„Mein Herr,“ sprach der Arzt, zu Robrecht gewandt, „ich versichere Euch, daß die Jungfrau keine Gefahr läuft. Die Ruhe wird ihren Geist wiederherstellen.“
Als der Graf die tröstenden Worte hörte, winkte er den beiden Obmännern und ging aus dem Saal. Draußen vor den Ruinen sprach er zu Breydel: „Meister, ich empfehle mein Kind Eurer Sorge. Kehrt zu ihr zurück und bewacht die Tochter Eures Grafen bis zu meiner Wiederkehr. Meister Peter, wir gehen zum Weißbusch.“
Er holte seinen Traber und ritt aus den Ruinen. De Coninck begleitete ihn zu Fuß und ließ sein Pferd am Wege stehen, obgleich er mit dem Grafen daran vorbeikam; denn er wußte sehr wohl, daß es ihm nicht geziemte, neben seinem Landesherrn zu reiten.
Kurz vor dem Weißbusch traten ihnen ungefähr zehn Herren entgegen. Sobald sie De Coninck erkannten, wandten sie sich mit den beiden zum Wald zurück. Die vornehmsten unter ihnen waren Johann Graf van Namen und der junge Gwijde, beide Brüder Robrechts van Bethune, Wilhelm van Jülich, ihr Neffe, Priester und Probst zu Aachen, Johann van Renesse, der mutige Seeländer, Johann Borluut, der Held von Woeringen, Arnold van Oudenaarde und Balduin van Papenrode. Die Gegenwart eines unbekannten Ritters erfüllte sie mit größtem Mißtrauen, und sie blickten auf De Coninck, als ob sie von ihm schleunige Aufklärung erwarteten. Der Vorsteher der Weber trat mitten unter sie und sprach:
„Meine Herren, ich bringe Euch den größten Feind der Franzosen, den edelsten Ritter von Flandern. Ein sehr triftiger Grund, an dem das Leben eines vortrefflichen Menschen hängt, verbietet ihm, sich jetzt Euer Edeln erkennen zu geben; wollet es ihm also nicht mißdeuten, daß er seinen Helm geschlossen hält und auch nicht spricht; denn seine Stimme ist Euch allen wie die Stimme Eurer Mutter bekannt. Meine lang erprobte Treue mag Euer Edeln eine Bürgschaft dafür sein, daß ich keinen falschen Bruder in unseren Kreis bringe.“
Die Ritter verwunderten sich über diese seltsame Erklärung [204] und versuchten, den Namen des Unbekannten zu erraten; doch da ihnen die Gegenwart des gefangenen Löwen ganz unmöglich scheinen mußte, so gingen all ihre Vermutungen in die Irre. Sie verließen sich jedoch vollständig auf den vorsichtigen Obmann der Weber und schickten ihre Diener nach den verschiedenen Seiten, um sich vor einer unerwarteten Überraschung zu sichern. De Coninck begann hierauf folgendermaßen:
„Meine Herren, die Gefangenschaft unseres durchlauchtigsten Landesherrn ist den Brüggern sehr schmerzlich gewesen. Es ist wahr, wir haben uns manchmal gegen euch erhoben, weil man unsere Vorrechte verletzen wollte, und vielleicht habt ihr gedacht, wir würden es mit den Franzosen halten. Aber bedenkt, ein edelmütiges und freies Volk kann keine fremden Gebieter dulden; seit dem verräterischen Anschlag Philipps des Schönen haben wir wiederholt unser Leib und Gut daran gewagt; mancher Franzose hat die Freveltat seines Fürsten mit dem Tode gebüßt, und das Blut der Vlaemen ist zu Brügge in Strömen geflossen. Angesichts dieser Lage habe ich mich unterfangen, Eurer Edeln wegen der Möglichkeit einer allgemeinen Befreiung vorstellig zu werden; ich glaube, unser Joch ist stark erschüttert und kann durch einen kräftigen Stoß abgeschüttelt werden. Ein glücklicher Zufall kam uns wundersam zu statten: der Obmann der Fleischer hat das Schloß Male zerstört, und deshalb hat Herr von Montenay alle Klauwaerts aus Brügge verjagt; nun befinden sich meine Zunftgenossen in Stärke von mehr als fünftausend Mann zu Damm. Siebenhundert Fleischer haben sich uns angeschlossen, und ich kann Euer Edeln versichern, die Fleischer mit ihrem Obmann Breydel brauchen auch vor zehnmal so viel Franzosen nicht zu weichen; es ist eine wahre Löwenschar. Wir besitzen nun ein Heer, das nicht zu verachten ist, und können sofort gegen die Franzosen in den Kampf ziehen, wenn durch euch die nötige Hilfe aus den andern Städten zu uns stößt. Dies mußte ich euch bekanntgeben; wollet nun die nötigen [205] Maßregeln treffen. Der Augenblick ist günstig! Ich erwarte eure Befehle, um mich als getreuer Untertan nach ihnen zu verhalten.“
„Mich dünkt,“ antwortete Johann Borluut, „allzu große Eile kann uns nur schaden. Wohl sind die Brügger aufgestanden und zum Kampf bereit, doch in anderen Städten ist es noch nicht so weit gediehen. Man sollte die Rache noch etwas hinausschieben, um mehr Mittel sammeln zu können. Ihr könnt sicher sein, daß das Heer der Franzosen durch eine große Schar vlaemischer Abtrünniger und Leliaerts verstärkt werden wird. Wir müssen bedenken, daß wir die Freiheit des Vaterlands in diesem Spiele wagen; denn wenn wir in diesem Kampfe unterliegen, so ist es für immer verloren. Dann können wir unsere Waffen nur noch an den Nagel hängen.“
Da der edle Borluut durch ganz Flandern als ein tüchtiger und weiser Krieger bekannt war, so stimmten viele der anwesenden Ritter, darunter auch Johann van Namen, seiner Rede bei. Doch nun trat der junge Gwijde vor und sprach mit Leidenschaft:
„Bedenkt doch, meine Herren, daß jede enteilende Stunde eine Stunde des Leidens für meinen alten Vater, für meine unglücklichen Blutsverwandten bedeutet; bedenkt, welchen Schmerz mein durchlauchtigster Bruder Robrecht erdulden muß! Wir haben ihn hilflos in den Händen seiner Feinde gelassen; wir ließen in feigem Abwarten unsere Schwerter rosten und die Schande auf unseren Häuptern sich häufen! Wenn unsere gefangenen Brüder aus ihren Kerkern uns fragend zurufen könnten: Wie habt ihr euch eurer Schwerter bedient, wie seid ihr den Pflichten eines Ritters nachgekommen? – was könnten wir ihnen dann antworten? Nichts! Schamröte würde unsere Wangen färben und unser Haupt sich unter ihrem Vorwurf beugen. Nein, ich will nicht länger warten; das Schwert ist gezückt, und nur mit dem Blute der Feinde gerötet soll die Scheide es fürder umfangen. Ich hoffe, daß [206] mein Neffe Wilhelm mich bei diesem Unternehmen durch seinen Beistand unterstützen wird.“
„Je eher, je lieber,“ rief Wilhelm von Jülich, „nur zu lange haben wir die Leiden der Unseren voller Leides mitangesehen. Es ziemt sich nicht, für einen Mann, sich so lange reizen zu lassen, ohne sich zu rächen. Ich habe den Harnisch angetan, und ich werde ihn erst am Tage der Befreiung wieder ablegen. Ich kämpfe mit meinem Neffen Gwijde und will von keinem Hinziehen mehr hören.“
„Aber, meine Herren,“ nahm Johann Borluut das Wort, „darf ich euch bemerken, daß wir Zeit brauchen, um unsere Leute heimlich zu versammeln, daß es euch an Hilfe fehlen wird, wenn ihr ohne uns ins Feld zieht; Herr van Renesse hat bereits ähnliche Bedenken geäußert.“
„In weniger als vierzehn Tagen kann ich wirklich meine Vasallen nicht unter die Waffen bringen,“ sprach Herr van Renesse, „und ich würde den Herren Gwijde und Wilhelm raten, sich dem Rat des edeln Borluut zu fügen. Jedenfalls ist es unmöglich, die deutschen Reiter so bald hierher zu bringen. Was dünkt Euch, Meister De Coninck?“
„Wenn die Worte eines geringen Untertanen vor den Herren seines Landes einigen Wert haben sollen, so würde ich ebenfalls zur Vorsicht raten, obgleich es meinem Plan zuwiderläuft. In diesem Fall würden wir unsere übrigen Brüder auch noch aus Brügge locken und so unser Heer vermehren; inzwischen würden diese Herren ihre Vasallen versammeln können und bereit halten, bis Herr von Jülich mit seinen deutschen Reitern zu uns stößt.“
Der schwarze Ritter gab mehrmals seine Unzufriedenheit durch Kopfschütteln zu erkennen; er war sichtlich in großer Versuchung, zu sprechen, doch jedesmal hielt er sich zurück. Endlich mußten sich Gwijde und Wilhelm dem Willen der anderen Herren fügen, denn diese waren sämtlich gegen den Vorschlag der beiden Brüder. Es wurde dann näher festgestellt, daß [207] De Coninck sein Volk zum Damm und zu Aardenberg lagern sollte; Wilhelm von Jülich sollte nach Deutschland, um seine Reiter zu holen, der junge Gwijde die Söldner des Grafen, seines Bruders, aus Namen herbeiführen; Herr van Renesse nach Seeland, und die übrigen ein jeglicher nach seiner Herrschaft, um alles zum allgemeinen Aufstand vorzubereiten.
In dem Augenblick, da sie einander die Hände zum Abschied drückten, hielt sie der schwarze Ritter durch einen Wink zurück und sprach:
„Meine Herren!…“
Seine Stimme rief allgemeines Erstaunen unter den Rittern hervor; sie streiften einander mit flüchtigem Blick, um die eigene Vermutung in den Mienen der anderen bestätigt zu finden. Aber der junge Gwijde stürzte vor und rief:
„O glückliche Stunde! Mein Bruder, mein lieber Bruder, Deine Stimme dringt zum Grunde meines Herzens!“
Mit ungestümer Gewalt riß er den Helm von dem Haupte des schwarzen Ritters und umarmte ihn in inniger Liebe.
„Der Löwe, unser Graf!“ stießen alle hervor.
„Unglücklicher Bruder!“ fuhr Gwijde fort, „Du hast so viel gelitten, und Deine Gefangenschaft hat mich so tief bekümmert. Doch nun, o Seligkeit! kann ich Dich umarmen. Du hast Deine Ketten zerbrochen und Flandern hat seinen Grafen wieder. Vergib mir meine Tränen, sie fließen aus Liebe zu Dir, im schmerzvollen Gedenken an Dein Leid. Dank sei dem Herrn für dies unerwartete Glück!“
Robrecht drückte den jungen Gwijde zärtlich an sein Herz; dann wandte er sich zu seinem anderen Bruder Johann van Namen, umarmte auch ihn und sagte alsdann:
„Meine Herren, ich hatte wichtige Gründe, mich nicht zu entdecken. Aber ich halte es für meine Pflicht, euch etwas mitzuteilen, was euren Entschluß ändern muß. Wißt denn, daß der König von Frankreich all seine Lehensleute mit ihren Untergebenen entboten hat, um gegen die Mauren zu Felde [208] zu ziehen! Da er diesen Zug nur unternimmt, um den König von Majorka wieder in den Besitz seines Reiches zu setzen, so ist es sicher, daß er dieses mächtige Heer viel eher gebrauchen wird, um Flandern zu behaupten. Die Zusammenkunft ist auf Ende Juni festgesetzt. Also noch einen Monat, und Philipp der Schöne steht an der Spitze von siebzigtausend Mann. Bedenkt nun, ob es nicht ratsam wäre, die Befreiung vor diesem Zeitpunkt ins Werk zu setzen; später wird es unmöglich sein. Ich befehle euch nichts, denn morgen muß ich in meine Haft zurückkehren.“
Die Ritter begriffen die Bedeutung seiner Worte und beschlossen möglichste Eile. Dies änderte ihren Plan, indem sie nicht länger warten, sondern schleunigst mit ihren Scharen zu De Coninck nach Damm kommen wollten. Der junge Gwijde wurde als nächster Blutsverwandter Robrechts zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt, da Wilhelm von Jülich diese Würde in Rücksicht auf seinen Stand als Priester nicht annehmen wollte. Johann van Namen konnte den Vlaemen nicht persönlich beistehen, denn bei der bevorstehenden Bewegung hatte er genug zu tun, sich seine Grafschaft zu erhalten; aber er wollte ihnen doch eine starke Abteilung Reiter zuschicken.
Kurz darauf brachen die Herren nach ihren Herrschaften auf. Robrecht blieb mit seinen Brüdern, seinem Neffen Wilhelm und De Coninck allein.
„O Gwijde!“ sprach Robrecht tief bewegt, „o Wilhelm! ich bringe euch eine so schreckliche Nachricht, daß meine Zunge sie nicht wiederzugeben wagt, daß der bloße Gedanke daran mir schon die Augen mit Tränen füllt. Ihr wißt, wie boshaft die Königin Johanna unsere arme Schwester Philippa gefangen genommen hat. Sechs Jahre war ein Kerker des Louvre die Behausung der Unglücklichen, und während dieser ganzen Zeit hat sie weder ihren Vater noch ihre Brüder sehen dürfen. Ihr glaubt sie noch auf Erden; denn ihr fleht [209] zu Gott um ihre Befreiung; aber ach! eure Gebete sind vergeblich! Unsere Schwester hat man vergiftet und ihren Leichnam in die Seine geworfen.“
Wenn die Trauer zu tief ins Herz des Menschen greift, raubt sie ihm jählings die Sprache; so erging es auch mit Gwijde und Wilhelm. Sie erbleichten und starrten schweigend vor sich hin. Gwijde erwachte zuerst aus seiner Bestürzung.
„So ist es denn wirklich wahr,“ seufzte er, „Philippa ist tot! O seliger Geist meiner armen Schwester, Du kannst in meinem Herzen meinen Gram, den Rachedurst lesen, der mich beseelt. Du sollst gerächt werden! Ströme von Blut will ich im Gedenken an Dich vergießen!“
„Laßt Euch nicht zu sehr vom Schmerz hinreißen, teurer Neffe,“ sprach Wilhelm von Jülich. „Beklagt Eure Schwester, betet für ihre Seele; aber kämpft für die Freiheit des Vaterlands. Das neidische Grab gibt seine Toten auch nicht für Blut wieder zurück.“
„Brüder,“ unterbrach sie Robrecht, „kommt, bitte, mit zu eurer Nichte Machteld; sie befindet sich nicht weit von hier. Ich werde euch unterwegs noch manches Traurige berichten; laßt eure Diener hier warten.“
Robrecht erzählte ihnen nun, wie wundersam er sein Kind aus den Händen der Franzosen befreit, welchen Schmerz er in den Ruinen von Nieuwenhove erlitten hatte. Doch sein Kummer hatte sich gesänftigt, denn er vertraute den Worten des Arztes. Die Hoffnung, daß Machteld ihn endlich erkennen werde, goß Trost in sein Herz, und er vertraute auf seine Seelenstärke, die ihm helfen würde, auch diesen Schmerz zu überwinden. Bald kamen sie in den Saal, wo Machteld ruhig zu schlafen schien. Ihre Wangen waren weiß wie Alabaster und ihr Atem so schwach, daß sie einer Toten glich. Als die Ritter das mit Schmutz vermengte Blut auf Machtelds Kleidern sahen, packte sie arge Bestürzung. Voll innigen Mitleids falteten sie die Hände, doch sie sagten nichts; denn der [210] Arzt hatte den Finger auf den Mund gelegt und ihnen so zu verstehen gegeben, daß die größte Ruhe herrschen müsse. Der junge Gwijde umarmte seinen Bruder Robrecht und weinte heftig an seiner Brust.
„O Himmel,“ schluchzte er, „wie liegt es da, des Löwen Kind!“
Der Arzt winkte die Ritter zum Eingang und führte sie aus dem Saal; dann sprach er:
„Die Jungfrau ist wieder im Besitz ihrer Sinne, aber sie ist sehr schwach und ermattet; in eurer Abwesenheit ist sie einmal erwacht und hat Meister Breydel erkannt; sie hat ihn vielerlei gefragt, um ihr Gedächtnis zu sammeln. Er hat sie getröstet und ihr versichert, daß Herr van Bethune kommen werde, sie zu besuchen; es ist nicht ratsam, meine Herren, diese Hoffnung zu zerstören; deshalb rate ich, nicht von ihr zu gehen. Auch ist es nötig, daß die Dame ein besseres Lager und andere Kleider bekommt.“
Robrecht kehrte mit seinen Brüdern zu Machteld zurück und betrachtete ihre bleichen Züge mit stillem Kummer. Ihre Lippen bewegten sich, und von Zeit zu Zeit stieß sie unverständliche Laute aus. Mit einem kräftigeren Atemzug wiederholte sie zweimal das Wort „Vater!“ – es tönte wie ein süßer Harfenklang in Robrechts Ohr; im Übermaß seiner Liebe preßte er seinen Mund auf die Lippen der träumenden Tochter. Dieser lange Kuß schien der Jungfrau neues Leben einzuflößen. Leichte Röte erschien auf ihren Wangen, und ihre Augen öffneten sich unter sanftem, seligem Lächeln. Unbeschreiblich war der Ausdruck in den Zügen des Mägdeleins. Sie blickte schweigend in ihres Vaters Augen und schien in süßestem Entzücken zu schwelgen. So sehen gewiß die Engel im Himmel aus, wenn sie das Antlitz des Herrn erschauen! Alsbald hob die Jungfrau ihre Arme, und Robrecht beugte sich zu ihr herab, um sich von ihr umarmen zu lassen. Aber das war nicht des Mädchens Absicht: es streichelte mit ihren zarten Händen liebkosend [211] seine Wangen. Beide waren in Wonne versunken und spürten in sich eine Welt voll Seligkeit. Nun hatte der Vater all seine Schmerzen vergessen und dankte er Gott, der die Unglücklichen für Freude nur um so empfänglicher macht.
Nicht minder ergriffen waren die Umstehenden von diesem Anblick heiliger Vaterliebe; sie wagten nicht, das feierliche Schweigen durch einen Laut zu stören und trockneten heimlich ihre Tränen. Ihre Haltung war jedoch ganz verschieden: Johann van Namen konnte seine Erschütterung am besten bemeistern und stand mit starrem Blick, erhobenen Hauptes da. Wilhelm von Jülich, der Priester, war niedergekniet und betete mit gefalteten Händen. Bei dem jungen Gwijde und Jan Breydel mischte sich bitterer Schmerz mit glühender Rachsucht; das war in ihren zusammengepreßten Lippen und den drohenden Bewegungen ihrer geballten Fäuste deutlich zu lesen. De Coninck, der in anderen Fällen so kalt schien, war jetzt der Betrübteste von allen; seine Tränen flossen in Strömen unter der Hand hervor, mit der er sein Gesicht bedeckte.
Endlich erwachte die junge Machteld aus ihrem stillen Schauen. Leidenschaftlich drückte sie das Haupt ihres Vaters an ihr klopfendes Herz und sprach mit schwacher Stimme:
„O mein Vater! mein geliebter Vater! Da liegt Ihr nun an dem Herzen Eures glücklichen Kindes! Ich fühle Euer Herz an dem meinigen schlagen! Gott sei gelobt, der dem Menschen so viel Glück beschert! Bleibet so dicht bei mir, lieber Vater, denn Eure Küsse versetzen mich in den Himmel!“
„Deine Liebe, mein Kind,“ rief Robrecht, „läßt mich alle erlittenen Leiden vergessen. Du kannst nicht begreifen, wie bitter es mir war, von Dir nicht erkannt zu werden; aber Gott allein weiß, wieviel Freude er in dieser Stunde meinem Herzen bereitet hat. Ich will meine Liebkosungen verdoppeln, denn sie sind ein Balsam für meine Seele. Meine liebe Machteld, wie traurig war doch Dein Los!“
Inzwischen war auch der junge Gwijde näher getreten und [212] stand mit offenen Armen vor der Ruhestatt. Sobald Machteld ihn bemerkte, sprach sie, ohne ihren Vater loszulassen:
„Ach, mein geliebter Oheim Gwijde! Auch Ihr seid hier? Ihr weint über mich? Und Herr Wilhelm, der da drüben kniet und betet, und Herr van Namen – sind wir denn in Wijnendaal?“
„Unglückliche Nichte,“ antwortete Gwijde, „Eure Leiden brechen mir das Herz. O laßt mich Euch umarmen, denn meine Seele dürstet nach Trost; ich bin zu Tode bekümmert.“
Machteld ließ ihren Vater los und bot dem liebevollen Gwijde die Hand dar. Dann sagte sie etwas lauter:
„Herr von Jülich, kommt, gebt mir auch einen Kuß, und Ihr, mein teurer Oheim Johann, drückt mich an Eure Brust: ihr alle seid mir so herzlich zugetan.“
Sie wurde der Reihe nach von all ihren Verwandten geliebkost, und war in tiefster Seele glücklich; alsbald war das überstandene Leid aus ihren Gedanken entschwunden. Als Wilhelm von Jülich zu ihr trat, beschaute sie ihn verwundert von Kopf bis zu Füßen und fragte:
„Was bedeutet das, Herr Wilhelm? Warum tragt Ihr diesen Harnisch über Eurem Priestergewand, weshalb führt Ihr, ein Diener des Herrn, dieses lange Schwert?“
„Der Priester, der das Vaterland verteidigt, streitet auch für die Altäre seines Gottes!“ gab er zur Antwort.
De Coninck und Breydel standen mit entblößtem Haupt etwas abseits von ihrem Ruhelager und nahmen an der allgemeinen Freude teil. Machteld schaute sie ob ihrer Liebe dankbar an; sie zog das Haupt ihres Vaters an ihre Brust und fragte mit leiser Stimme:
„Wollt Ihr mir etwas geloben, mein vielgeliebter Vater?“
„Alles, mein Kind; ich bin von Herzen froh, wenn ich Deine Wünsche erfüllen kann.“
„So bitte ich Euch, mein lieber Vater, daß Ihr diese beiden treuen Untertanen nach Verdienst belohnt; sie haben Tag für Tag ihr Leben für das Vaterland aufs Spiel gesetzt.“
„Ich will Deinen Wunsch gern erfüllen, Machteld; ich werde dafür sorgen, daß sie Dich ein anderes Mal gleichfalls umarmen dürfen, wenn sie es, wie jetzt, verdient haben. Nun laß mich los, ich muß mit Gwijde sprechen.“
Er winkte seinen Bruder heran und führte ihn aus dem Saal in den Vorhof.
„Lieber Bruder,“ sagte er, „es ist angemessen, die Liebe dieser beiden Obmänner unserer guten Stadt Brügge nicht unbelohnt zu lassen; ich gebe Euch deshalb die nötige Vollmacht, diesen meinen Wunsch auszuführen. Ich wünsche, daß Ihr auf dem Schlachtfelde inmitten aller Zünfte De Coninck und Breydel in Gegenwart all ihrer Gesellen zu Rittern schlagt; so soll die Liebe zum Vaterland in ihnen geadelt werden. Bewahret diesen Befehl wie ein Geheimnis in Eurem Herzen, bis die Zeit gekommen ist. Nun wollen wir wieder in den Saal zurück, denn ich muß Euch verlassen.“
Robrecht trat zu seiner Tochter heran, ergriff ihre Hand und sprach:
„Mein Kind, Du weißt, wie ich aus meiner Gefangenschaft herauskam: ein edelmütiger Ritter setzt für mich sein Leben in dem Kerker aufs Spiel. Werde nicht traurig, Machteld, beuge Dich mit mir dem schrecklichen Schicksal …“
Machteld unterbrach ihn und antwortete:
„O, ich kenne das traurige Wort, das auf Euren Lippen schwebt: Ihr müßt mich verlassen!“
„Du hast es gesagt, mein edles Kind; ich muß in meinen Kerker zurück; ich habe bei meiner Treue gelobt, nur einen Tag in Flandern zu bleiben. Weine nicht, das Unglück wird uns nicht lange mehr verfolgen.“
„Ich werde nicht weinen, das wäre eine große Sünde. Ich bin dem Herrn dankbar für so viel Trost und werde durch Geduld und Gebet mein Glück von ihm zu verdienen suchen. Gehet, mein Vater, gebt mir noch einen Kuß, und mögen die Engel des Himmels Euch auf Eurer Reise begleiten.“
„Obmann Breydel,“ sprach Robrecht, „ich gebe Euch den Befehl über die Leute von Brügge; Meister De Coninck sei der oberste Anführer. Jetzt ersuche ich Euch, eine gute Pflegerin zu meiner Tochter herbeizuschaffen; besorgt ihr andere Kleider. In Bälde werdet Ihr sie von hier fortführen und vor aller Schmach bewahren. Ich stelle sie unter Euren Schutz, damit sie behandelt wird, wie es ihrer Abkunft entspricht. Meister Breydel, wollet meinen Traber auf den Vorhof führen.“
Nachdem Robrecht von seinen beiden Brüdern Abschied genommen hatte, umarmte er seine Tochter und blickte sie mit größter Innigkeit an. Machteld küßte ihn wiederholt und hielt ihn fest umschlungen.
„Nun, mein Kind,“ fuhr Robrecht fort, „tröste Dich, bald werde ich für immer zurückkehren. In wenigen Tagen wird Dein guter Bruder Adolf wieder bei Dir sein.“
„O, sagt ihm, ich bitte ihn, sich zu eilen.“
„Seid überzeugt, er wird seinem Rosse Flügel verleihen.“
„Gehet nun mit Gott, mein lieber Vater; ich werde über die Trennung von Euch nicht weinen.“
Robrecht verließ endlich seine Tochter und stieg mit den anderen Rittern zu Pferde. Als Machteld den Hufschlag der fortsprengenden Rosse hörte, strömten trotz ihres Versprechens Tränen über ihre Wangen. Doch das hatte keine schlimmen Folgen für sie, denn ihr blieb ein tröstliches Bewußtsein.
De Coninck und Breydel vollzogen die Befehle des Löwen, ihres Gebieters. Eine Frau wurde herbeigeholt, und Machteld erhielt reine Kleidung. Gegen Abend waren alle zu Damm im Lager der Brügger.
W ährend der acht Tage, die auf diese Vorfälle folgten, verließen noch mehr als dreitausend Bürger die Stadt Brügge und begaben sich nach Ardenberg zu De Coninck oder [215] nach Damm zu Breydel. Durch den Abzug dieser streitbaren Männer ermutigt, überließen sich die Franzosen allen Zügellosigkeiten und behandelten die verbliebenen Einwohner wie gekaufte Sklaven. Es gab aber auch viele Brügger, denen die Franzosen keine Schwierigkeiten machten, und die mit ihnen sprachen und scherzten wie mit Brüdern; das waren Vlaemen, die ihr Vaterland verleugnet hatten und durch Selbsterniedrigung die Gunst der Feinde zu erlangen suchten. Sie rühmten sich des Schandnamens „Leliaert“, als wäre er ein Ehrentitel. Die übrigen waren Klauwaerts, echte Söhne Flanderns, die das Joch mit Ungeduld trugen; aber das Gut, das sie im Schweiß ihres Angesichts erworben hatten, war ihnen zu teuer, als daß sie es schutzlos den Händen der fremden Plünderer überlassen hätten.
An diesen Klauwaerts und den Frauen und Kindern der Verbannten ließen die Franzosen ihre feige Gewalttätigkeit aus. In ihrer schändlichen Rache ließen sie sich durch nichts hindern; ungestört raubten sie alles nach Belieben, holten mit Gewalt die Waren aus den Läden und bezahlten sie mit Schimpfworten und Schmähungen. Dies erbitterte die bedrückten Bürger so sehr, daß sie sich sämtlich weigerten, den Franzosen auch nur mehr ein Stück Fleisch oder einen Bissen Brot zu verkaufen und in ihren Läden irgend etwas auszuhängen. Sie verbargen die Lebensmittel in der Erde, um sie dem Späherblick des Feindes zu entziehen, und in vier Tagen war die Besatzung so ausgehungert, daß sie in Scharen auf den Feldern umherlief, um etwas zu finden. Zu ihrem Glück kam ihnen noch einiges durch die Fürsorge der Leliaerts zugute; trotzdem aber herrschte fortwährend drückender Mangel in der Stadt. Die Zunftleute waren ohne Arbeit; sie konnten deshalb die Schätzungen nicht mehr aufbringen und mußten sich verbergen, um den Verfolgungen des Zollmeisters Jan van Gistel zu entgehen. Wenn die Zolldiener Sonnabends herumgingen, um den weißen Pfennig in Empfang zu nehmen, [216] fanden sie nie einen Mann zu Hause; dann war es, als ob alle Brügger die Stadt verlassen hätten. Viele von den Zünften klagten bei Jan van Gistel, daß sie nichts verdienten und deshalb den Zoll nicht bezahlen könnten. Aber der entartete Vlaeme hörte sie nicht an und wollte die Abgaben durch Zwang erheben. Viele Bürger wurden ins Gefängnis geworfen, andere umgebracht.
Herr von Montenay, der französische Stadtvogt und Befehlshaber der Besatzung, war weniger grausam als der Zollmeister. Er wollte angesichts dieser drängenden Not die Lasten herabsetzen und sandte zu dem Zweck einen Boten nach Kortrijk, der dem Feldherrn Châtillon die Hungersnot und die gefährliche Lage der Besatzung vorstellen und ihn zur Abschaffung des weißen Pfennigs bewegen sollte. Jan van Gistel, der als abtrünniger Vlaeme von seinen Landsleuten verachtet und gehaßt wurde, nahm die Gelegenheit wahr, um Châtillon zur Strenge aufzustacheln. Er schilderte die Widerspenstigkeit der Brügger in den schwärzesten Farben und bat ihn, für ihre Starrköpfigkeit Rache zu nehmen, indem er vorgab: sie wollten nicht arbeiten, um aus anscheinend stichhaltigen Gründen den weißen Pfennig verweigern zu können. Als Châtillon hiervon benachrichtigt wurde, entbrannte er in heftigem Zorn. Es ging ihm wider den Strich zu sehen, wie nutzlos alle von ihm aufgewandte Mühe war, des Königs Befehle auszuführen; denn das vlaemische Volk war nicht zu bändigen. Täglich gab es Aufläufe in allen Städten, der Haß gegen die Franzosen brach überall hervor, und an einigen Orten, wie zum Beispiel in Brügge, wurden die Diener des Königs Philipp im geheimen, sogar am hellen Tage umgebracht. Noch rauchten die zerstörten Türme von Male, und das Blut der erschlagenen Franzosen klebte ungerächt an den Trümmern.
Der Quell all dieses Leides, das sich für Frankreich über ganz Flandern ergoß, entsprang in Brügge. Hier war die Flamme des Aufruhrs zuerst aufgetreten. Breydel und De Coninck [217] waren die Häupter des Drachen, der sich unter Philipps des Schönen Zepter nicht beugen wollte. In dieser Erwägung beschloß Châtillon, einen kräftigen Anlauf zu nehmen und Flanderns Freiheit im Blute der Widerspenstigen zu ersticken. Er versammelte schleunigst siebzehnhundert Reiter aus dem Hennegau, der Picardie und dem französischen Flandern, nahm noch eine große Abteilung Fußknechte dazu und zog mit diesem Heer voll Wut nach Brügge. Neben Lebensmitteln und sonstigem Gut fanden sich in diesem Zuge auch mehrere große Fässer voller Seile und Schlingen, die Châtillon für einen furchtbaren Zweck bestimmt hatte: De Coninck, Breydel und all ihre Genossen sollten daran gehängt werden. Um den Klauwaerts keine Zeit zur Vorbereitung von Meutereien zu lassen, hatte der französische Landvogt seine Ankunft heimlich Herrn von Montenay angezeigt; niemand als der Stadtvogt wußte etwas von den schrecklichen Dingen, die da kommen sollten.
Am 18. Mai 1302 um neun Uhr morgens rückte das französische Heer mit fliegenden Fahnen in die Stadt. Châtillon ritt an der Spitze seiner siebzehnhundert Reiter. Sein Blick war wild und drohend; die Bürger befiel quälende Angst, und sie ahnten bereits einen Teil der Leiden, die ihrer harrten. Die Klauwaerts konnte man an ihren Gefühlsäußerungen erkennen. Ihre Häupter waren gebeugt, und schwerster Kummer sprach aus ihren Zügen. Doch sie glaubten nicht, daß ihnen noch Schlimmeres widerfahren könnte als die Eintreibung des weißen Pfennigs und allenfalls noch härtere Bedrückung. Die Leliaerts hatten sich auf dem Freitagsmarkt um die Besatzung geschart. Ihnen war die Ankunft des Landvogts sehr willkommen, denn er sollte ja auch sie für die Verachtung seitens der Klauwaerts rächen. Als Châtillon herankam, riefen die feigen Abtrünnigen immer wieder:
„Heil Frankreich! Heil dem Landvogt!“
Die Neugierde hatte das Volk zusammengetrieben, und es stand [218] nun dichtgedrängt am Markte. Überall sah man unbeschreibliche Furcht und Beklemmung. Die Frauen drückten ihre Kinder schweigend ans Herz, und manche weinten, ohne recht zu wissen, warum. Aber trotz aller Furcht vor der Rache des Landvogts rief doch keiner: Heil Frankreich! Waren sie auch jetzt ohnmächtig, so lohte doch der Haß gegen die Unterdrücker Flanderns in ihrem Herzen, und trotz allen Kummers sprühte noch bisweilen ein drohender Blick aus ihren Augen, wie ein flüchtiger Strahl; dann dachten sie an Breydel und De Coninck und träumten von blutiger Rache.
Während sie die Franzosen scharf beobachteten, hatte Châtillon seine Leute folgendermaßen aufgestellt: An jeder Seite stand eine lange Reihe Reiter, dazwischen eine Abteilung Söldner, so daß der Platz mit Ausnahme einer Seite geschlossen war; diese hatte man absichtlich offen gelassen, damit die Bürger sehen könnten, was vor sich ging. Nachdem diese Anordnung getroffen war, wurden die übrigen Reiter und Söldner unbemerkt nach den Stadttoren geschickt, um sie zu schließen und zu bewachen.
Châtillon stand mit einigen Anführern inmitten seiner Reiter. Der Kanzler Pierre Flotte, der Stadtvogt Montenay und Jan van Gistel, der Leliaert, schienen mit ihm über etwas sehr Wichtiges zu verhandeln. Ihre Züge drückten die größte Bestürzung aus. Obgleich sie nicht so laut sprachen, daß sie von den Bürgern gehört werden konnten, so verstanden doch die französischen Anführer zuweilen etwas; mancher brave Ritter blickte mitleidig auf das bange Volk und mit tiefer Verachtung auf den Verräter van Gistel, als der zum Landvogt sagte:
„Glaubt mir, Herr, ich kenne meine starrköpfigen Landsleute; Eure Gnade würde ihren Trotz nur steigern. Wärmt keine Schlange an Eurer Brust. Sie wird Euch tödlich verletzen. Ich weiß aus Erfahrung: die Brügger werden ihren Nacken nicht beugen, solange die Rädelsführer unter ihnen wohnen; dieses Unkraut muß man ausrotten, oder man wird nie damit fertig.“
„Herr van Gistel“, bemerkte lächelnd der Kanzler, „scheint seine Landsleute nicht sehr in sein Herz geschlossen zu haben; würde man auf ihn hören, so würde morgen keine lebende Seele mehr in Brügge sein.“
„Wirklich, meine Herren,“ fuhr Gistel fort, „nur die Liebe zu meinem König gibt mir diese Worte ein. Ich wiederhole, der Tod der Aufwiegler allein kann die Flammen des Aufruhrs in unserer Stadt löschen. Ich habe mir die Namen der hartnäckigsten Klauwaerts gemerkt; solange die Meuterer frei in Brügge umhergehen können, ist Ruhe ausgeschlossen.“
„Wieviel sind es?“ fragte Châtillon.
„Etwa vierzig,“ antwortete er kalt.
„Wie?“ rief Montenay entrüstet, „Ihr wollt vierzig Bürger hängen lassen? Diese hier haben solch grausame Strafe nicht verdient, aber wohl die Aufrührer, die sich in Damm befinden. Die Rädelsführer De Coninck und Breydel mit ihren Anhängern, diese haben sich des Todes schuldig gemacht, aber nicht diese schwachen Bürger, die Ihr aus persönlicher Rache gehängt sehen möchtet.“
„Herr von Montenay,“ bemerkte Châtillon, „Ihr habt mich benachrichtigt, daß sie Euren Söldnern kein Essen mehr verkaufen wollen; ist das nicht genug?“
„Es ist wahr, Herr Landvogt, sie haben das unberechtigterweise verweigert; es war ihre Untertanenpflicht zu gehorchen. Aber meine Söldner haben auch in sechs Monaten keine Bezahlung erhalten, und die Vlaemen wollen nur gegen bares Geld verkaufen. Ich würde es in der Tat bedauern, wenn meine Meldung so beklagenswerte Folgen hätte.“
„Diese Rücksicht kann Frankreichs Krone großen Schaden tun,“ meinte Gistel. „Es wundert mich, daß Herr von Montenay die aufrührerischen Brügger verteidigt!“
Montenay wurde sehr zornig über diesen Vorwurf; denn Gistel hatte seine Worte in sehr verletzender Form geäußert. [220] Der edelmütige Stadtvogt betrachtete den Leliaert mit Verachtung und antwortete:
„Wenn Ihr Euer Vaterland liebtet, so würdet Ihr den Tod Eurer unglücklichen Brüder nicht verlangen und ich, als Franzose, brauchte sie nicht zu verteidigen. Und nun wißt, damit es auch der Landvogt hört: Die Brügger würden uns die Lebensmittel nicht verweigert haben, wenn Ihr den weißen Pfennig nicht in so unvernünftig drückender Form eingefordert hättet. Euch verdanken wir diese Unruhen. Ihr sucht Eure Landsleute nur zu vergewaltigen und ruft dadurch in ihrem Herzen den bitteren Haß gegen uns hervor.“
„Ihr alle seid meine Zeugen, daß ich die Befehle des Herrn von Châtillon getreulich ausgeführt habe,“ entgegnete van Gistel.
„Das war durchaus nicht Eure Absicht,“ erwiderte Montenay, „vielmehr wolltet Ihr Euch für die Verachtung der Brügger rächen. Es ist ein arger Mißgriff des Königs, unseres Gebieters, daß er einen Mann, der von allen verachtet wird, zum Zollmeister über Flandern eingesetzt hat.“
„Herr von Montenay,“ rief van Gistel leidenschaftlich, „Ihr werdet mir für diese Worte einstehen.“
„Meine Herren,“ fiel Châtillon ihnen in die Rede, „ich verbiete jede weitere Auseinandersetzung in meiner Gegenwart; eure Schwerter mögen diesen Streit entscheiden. Ich sage Euch, Herr von Montenay, Eure Redensarten haben mir sehr mißfallen. Der Zollmeister hat meinem Willen gemäß gehandelt. Die Krone von Frankreich muß gerächt werden, und wenn die Rädelsführer die Stadt nicht verlassen hätten, so würde es mehr Galgen als Straßenkreuzungen in Brügge geben. Ehe ich nach Damm gehe, um die Zünfte zu strafen, will ich dieser aufrührerischen Stadt ein abschreckendes Beispiel bieten. Herr van Gistel, nennt mir die acht starrköpfigsten Klauwaerts, damit sofort die Gerechtigkeit ihren Lauf nehme.“
Um nicht um seine Rache zu kommen, ließ Gistel seine Augen über das bestürzte Volk schweifen und suchte acht der Männer [221] aus der Menge heraus; diese nannte er dem Landvogt. Darauf mußte ein Herold vor dem Volk Aufstellung nehmen; nachdem er mit seiner Trompete Stille geboten hatte, verkündete er:
„Im Namen des mächtigen Königs Philipp, unseres Herrn und Gebieters, werden die Bürger, deren Namen ich jetzt nennen werde, auf der Stelle vor meinen Feldherrn Châtillon gerufen und entboten; wer sich nicht einstellt, soll unverzüglich und ohne Gnade mit dem Tode bestraft werden.“
Dieser Trug glückte vollständig: kaum waren diese Namen bekannt gegeben worden, so kamen die Klauwaerts aus der Menge zum Markt und begaben sich ohne Zögern zu Châtillon. Sie wußten wohl, daß sie nichts Gutes zu erwarten hatten, und würden sich vielleicht durch die Flucht gerettet haben, wenn es möglich gewesen wäre. Die meisten unter ihnen waren etwa dreißig Jahre alt, nur ein einziger Greis nahte langsamen Schrittes und gebeugten Hauptes. Stille Duldung lag in seinen Zügen, und nicht die geringste Furcht war darin bemerkbar. Er blieb vor Châtillon stehen und betrachtete ihn mit fragenden Blicken, als ob er sagen wollte: Was verlangt Ihr?
Sobald der letzte der Gerufenen herangekommen war, gab der Landvogt ein Zeichen, und die acht Klauwaerts wurden ungeachtet ihres Sträubens mit Stricken gebunden. Klagen und Murren erhob sich im Volke, aber eine Abteilung der Reiter stellte sich drohend vor ihm auf und machte es bald verstummen. In wenigen Augenblicken wurde ein langer Galgen auf dem Markte errichtet und ein Priester den Verurteilten zugeführt. Beim Anblick dieser schrecklichen Vorbereitungen flehten die Frauen und Brüder der unglücklichen Klauwaerts um Gnade, und das Volk drängte sich ungestüm zusammen. Lautes Schluchzen, vermischt mit Verwünschungen und Rachegeschrei, ertönte aus der Bürgerschar und lief wie ein Vorbote des Aufruhrs durch die Menge. Alsbald kam ein Trompeter heran und rief:
„Es sei euch kund und zu wissen getan: Wer sich widerspenstig getraut, die Rechtspflege des Landvogts, meines Herren, durch Rufen oder auf andere Weise zu stören, soll an demselben Galgen neben den Meuterern aufgehängt werden!“
Bei dieser Ankündigung erstarb die Klage in aller Munde, und Totenstille herrschte unter dem bangen Volke. Die Frauen blickten tränenüberströmt gen Himmel und flehten zu dem, der allein die Menschen versteht und hört, wenn ein Tyrann ihnen die Sprache raubt. Die Männer verfluchten ihre Ohnmacht und entflammten in fieberhafter Wut. Sieben Klauwaerts wurden der Reihe nach an den Galgen gehängt und starben angesichts ihrer Mitbürger. Der Schmerz der geängsteten Brügger wandelte sich in Verzweiflung. Jedesmal, wenn einer von der Leiter gestoßen wurde, beugten sie das Haupt zu Boden und wandten so ihre Augen von dem schrecklichen Schauspiel ab. Sicher würden viele sich von dem Platz entfernt haben, wenn sie sich hätten bewegen dürfen; aber das war ihnen verboten, und wenn sich nur die geringste Unruhe unter ihnen bemerkbar machte, kam ein Söldner mit entblößtem Schwert, um sie zur Ruhe zu zwingen.
Nur noch ein Klauwaert stand bei Herrn von Châtillon; jetzt war die Reihe, gehangen zu werden, an ihm. Er hatte gebeichtet und sich bereit gemacht; dennoch eilte man nicht mit ihm, denn der Landvogt hatte das Zeichen noch nicht gegeben. Inzwischen bemühte sich Montenay, die Begnadigung des greisen Vlaemen zu erlangen, aber van Gistel hatte auf diesen Klauwaert einen besonderen Haß geworfen und gab vor, er sei einer der Rädelsführer und habe sich der französischen Herrschaft am meisten widersetzt. Auf Befehl des Landvogts redete er den alten Vlaemen folgendermaßen an:
„Ihr habt gesehen, wie Eure Genossen für ihre Widerspenstigkeit bestraft worden sind. Gleich ihnen seid auch Ihr verurteilt; dennoch will der Landvogt aus Ehrfurcht vor Euren grauen Haaren Gnade vor Recht ergehen lassen. Er schenkt [223] Euch das Leben unter der Bedingung, daß Ihr Euch fortan wie ein ergebener Untertan Frankreichs unterwerft. Rettet Euch mit dem Ruf: Heil Frankreich!“
Der Greis warf einen Blick voll Zorn und Verachtung auf den Abtrünnigen und antwortete mit bitterem Lächeln:
„Wenn ich Euch gliche, würde ich das wohl rufen; ich tät's, wenn ich mein weißes Haar durch eine niedere Tat besudeln könnte. Doch nein; ich verachte Euch und trotze Euch bis in den Tod. – Ihr, Verräter, gleicht der Schlange, die im Eingeweide ihrer Mutter wühlt; denn Ihr liefert den Fremden das Land aus, das Euch ernährt hat. Zittert! Ich habe noch Söhne, die mich rächen werden, und Ihr, Ihr werdet nicht in Eurem Bette sterben! Ihr wißt, daß ein Mensch in seiner letzten Stunde nicht lügen kann.“
Jan van Gistel erbleichte bei dieser feierlichen Verkündigung des Greises. Fast bereute er seine Rache, und er versank in trübes Sinnen; ein Verräter fürchtet den Tod gleich einem Racheboten des Herrn. Châtillon konnte an dem Gesicht des Klauwaerts hinlänglich bemerken, daß er hartnäckig blieb.
„Nun, was sagt der Meuterer?“ fragte er.
„Mein Herr,“ antwortete Gistel, „er verhöhnt mich und verachtet Eure Gnaden.“
„Hängt ihn!“ befahl der Landvogt.
Der Söldner, der das Henkeramt versah, nahm den Greis beim Arm, und der folgte ihm gehorsam bis zum Fuß der Leiter; es vergingen noch einige Augenblicke, ehe die Schlinge um seinen Hals gelegt war. Er empfing den letzten Segen des Priesters und setzte endlich seinen Fuß auf die Leiter, um den Galgen zu besteigen. Aber plötzlich ging trotz der Wachen eine ungestüme Bewegung durch das Volk. Vor einem unwiderstehlichen Drucke taumelten einige gegen die Mauern der Häuser, andere wurden vorwärts gestoßen, und ein Jüngling mit bloßen Armen drang durch die Menge bis auf den Markt. Kaum war er aus der dichtgedrängten Volksmasse heraus, so [224] überschaute er mit wildem Blick den Markt, schnellte wie ein Pfeil vorwärts und rief:
„Vater, Vater! Ihr sollt nicht sterben!“
Mit diesen Worten zückte er einen Dolch und stieß ihn bis an das Heft in die Brust des Henkers. Der fiel mit einem Schmerzensschrei von der Leiter und wälzte sich sterbend in seinem Blut. Inzwischen umfaßte der junge Klauwaert seinen Vater, hob ihn vom Boden auf und lief mit seiner heiligen Bürde ins Volk zurück. Die Franzosen hatten in regungsloser Erstarrung diesen Auftritt mit angesehen, doch nur einen Augenblick. Châtillon riß sie schnell aus ihrer Bestürzung. Ehe noch der Jüngling zehn Schritte weit gelaufen war, hatten ihn mehr als zwanzig Söldner eingeholt. Er setzte seinen Vater auf den Boden und drohte seinen Feinden mit dem noch rauchenden Messer. Aber wohl fünfzig andere Vlaemen scharten sich um ihn, so daß die Söldner zwischen sie dringen mußten, um ihn zu packen. Aber wie groß wurde die Wut der Franzosen, als sie ihre zwanzig Gefährten einen nach dem anderen niederfallen sahen! Jählings blinkten die Messer in den Händen der umstehenden Klauwaerts, und die Söldner wurden unbarmherzig niedergestoßen, wobei freilich auch mancher Vlaeme sein Leben ließ.
Nun stürzte sich die ganze Reiterei wütend auf das flüchtende Volk. Die großen Schlachtschwerter trieben die Menge bald auseinander, und die Pferde zerstampften die Widerspenstigen. Doch sie waren nicht ungerächt gestorben: erschlagene Franzosen bildeten ihr Lager. Auch Vater und Sohn waren geblieben, ein Degen hatte beide durchbohrt. Das Volk floh wie ein reißender Strom mit ängstlichem Geschrei durch die Straßen hin. Alles eilte nach seiner Wohnung. Türen und Fenster wurden geschlossen, und einige Stunden später schien es, als hätte die Stadt keine Einwohner mehr.
Rasend vor Wut über den Tod ihrer Kameraden und von Natur zu Gewalttätigkeiten geneigt, liefen die Söldner in [225] Scharen durch die menschenleeren Straßen und ließen sich die Häuser der Klauwaerts von den Leliaerts bezeichnen. Sie schlugen Türen und Fenster in Stücke, raubten Geld und Gut und zertrümmerten alles, was ihnen nicht kostbar genug oder zu schwer war. Die weinenden Mädchen, die man in Kellern oder anderen Verstecken auffand, wurden grausam mißhandelt. Männer, die ihre Frauen und Schwestern verteidigen wollten, wurden bald von der rasenden Horde überwunden und hingemordet. Hier und da lagen vor den Türen der geplünderten Häuser verstümmelte Leichen zwischen zertrümmertem Hausrat. Nichts als das wütende Geschrei der Söldner und das Jammern der unglücklichen Frauen war zu hören. Lachend kamen die Plünderer aus den verwüsteten Wohnungen, beladen mit geraubtem Gut, triefend von vlaemischem Blute. Zogen einige von Mord und Raub gesättigt ab, so traten andere, schlimmere an ihre Stelle, und so trieben die Franzosen Stunden um Stunden dies schändliche Spiel. Alle Schandtaten, die nur ein zügelloser Feind begehen kann, wurden durch sie ausgeführt. In der Wohnung Peter De Conincks blieb kein Stück ganz; selbst die Mauern wären nicht stehen geblieben, wenn die Plünderer nicht ihre Zeit zu anderen Missetaten gebraucht hätten. Eine andere Rotte lief geradewegs zum Hause des Obmanns Breydel. In wenig Augenblicken war die Tür eingestoßen, und zwanzig Söldner traten fluchend in den Laden; sie trafen niemanden, obgleich sie alle Stuben durchsuchten. Die Kassen wurden erbrochen, Geld und Gut geraubt und und alles in Trümmer verwandelt. Während sie müde und ermattet mit boshafter Freude auf die Schutthaufen starrten, kam einer ihrer Genossen die Treppe herab und sprach:
„Ich habe auf dem Boden ein Geräusch gehört, sicher verbergen sich Vlaemen unter dem Dach. Ich glaube, wir werden da noch bessere Beute finden, denn sie haben gewiß ihr Geld mitgenommen.“
Die Söldner wandten sich hastig nach der Treppe. Jeder [226] wollte zuerst hinauf, aber die Stimme ihres Genossen hielt sie zurück.
„Wartet, wartet!“ rief er, „ihr könnt nicht hinauf, die Bodenluke ist wenigstens zehn Fuß hoch, und die Leiter haben sie aufgezogen; aber das hat nichts zu sagen, ich habe eine Leiter im Hofe stehen sehen; ich gehe schnell hin und hole sie.“
Er kam bald damit zurück und stieg mit seinen Genossen nach oben. Die Leiter wurde unter die Luke gestellt und man versuchte, sie aufzuheben. Aber das gelang nicht; ein starker Riegel hinderte sie.
„Schön!“ rief einer von ihnen, während er ein schweres Stück Holz vom Boden aufnahm, „da sie nicht gutwillig öffnen, wollen wir ein anderes Mittel versuchen.“
Er schlug mit dem Holz gewaltig vor die Luke, doch sie blieb fest und rührte sich nicht. Ein Wehelaut tönte vom Boden her, so schmerzlich, als ob jemand sein Leben ausgehaucht hätte.
„Ha, ha,“ riefen die Söldner, „sie liegen auf der Luke!“
„Wartet,“ meinte ein anderer, „ich werde sie bald wegjagen; wollt ihr mir etwas helfen?“
Nun nahmen sie einen schweren Balken, hoben ihn zusammen auf und stießen ihn dann mit solcher Gewalt gegen die Luke, daß die Bretter davon losbrachen und herabfielen. Mit tobendem Geschrei legten sie rasch die Leiter an und stürmten alle nach oben. Hier blieben sie plötzlich stehen; es schien, daß ihre Herzen weicher wurden, denn die Flüche erstarben auf ihren Lippen, und sie blickten sich unschlüssig an. Im Hintergrund des Bodens stand ein Knabe, nicht über vierzehn Jahre alt, mit einem Schlachtbeil in der Hand; bleich vor Angst und bebend hielt er die Waffe wider die Franzosen erhoben, ohne einen Laut von sich zu geben. Aus seinen blauen Augen schossen Strahlen von Verzweiflung und Heldenmut. Er war sichtlich von heftiger Bewegung ergriffen; denn die Muskeln seiner zarten Wangen zogen sich zusammen und verliehen ihm einen furchtbaren Ausdruck. Er glich im kleinen [227] einer griechischen Statue. Hinter dem jungen Fleischer knieten zwei Frauen: Eine alte Mutter mit gefalteten Händen und zum Himmel erhobenen Augen, und eine zarte Jungfrau mit aufgelöstem Haar. Das geängstigte Mägdelein hatte sein Gesicht in den Kleidern seiner Mutter verborgen und hielt sie wie in Todesangst umschlungen. In dieser Haltung saßen sie regungslos. Kein Seufzer, keine Klage kam über ihre Lippen.
Als sich die Söldner von ihrem ersten Erstaunen erholt hatten, nahten sie sich den Unglücklichen ungestüm und ergingen sich in Scheltworten gegen sie. Just wollten sie Hand an sie legen, denn das Kind flößte ihnen nicht die mindeste Furcht ein. Aber wie packte sie der Zorn, als der junge Fleischer den linken Fuß zurücksetzte und sein Beil verzweifelt schwang. Sie stutzten, einen Augenblick wurden sie in ihren schändlichen Plänen gehemmt. Dann wollte einer von ihnen das Kind durchbohren, aber der Knabe wehrte den Degen ab und hieb mit verzweifelter Kraft seinem Feind in die Schulter, so daß dieser wankend seinen Genossen in die Arme fiel. Als hätte dieser Schlag des Kindes Kraft erschöpft, stürzte es rücklings zu Boden und blieb regungslos neben den Frauen liegen.
Die Söldner hatten sich um ihren verwundeten Genossen versammelt, und entkleideten ihn unter Rachegeschrei und Verwünschungen. Derweile weinte die alte Frau in größter Angst und flehte um Gnade.
„O, ihr Herren!“ rief sie und streckte die Arme aus, „habt doch Mitleid mit uns Unglücklichen! Mordet uns nicht, um der Liebe des Herrn willen! Seht doch meine Tränen und erbarmt euch unserer Leiden. Was nützt euch der Tod von zwei wehrlosen Frauen?“
„Es ist die Mutter des Fleischers, der so viele Franzosen zu Male ermordet hat,“ rief einer der Söldner; „sie muß sterben!“
„O nein, nein, mein Herr!“ erwiderte die alte Frau, „taucht eure Hände nicht in mein Blut, ich bitte euch beim bitteren [228] Leiden unseres Erlösers, laßt uns das Leben! Nehmt alles, was wir besitzen.“
„Heraus mit eurem Geld!“ rief eine Stimme.
Daraufhin ergriff die Frau ein Kästchen, das hinter ihr stand, und warf es dem Söldner zu.
„Da, meine Herren,“ sprach sie, „das ist alles, was uns in der Welt geblieben ist, ich schenke es euch gern.“
Das Kästchen ging auf, und eine Menge Goldstücke und kostbares Geschmeide rollte auf den Boden. Während die Söldner einander wegstießen, um die Beute zu haschen, faßte einer das Mädchen beim Arm und schleifte es grausam über die Erde.
„Mutter, o Mutter, hilf mir!“ schluchzte die Jungfrau mit ersterbender Stimme.
Aus Verzweiflung und Liebe zu ihrem Kinde wurde die Mutter zur rasenden Furie; ihre Augen sanken tief in ihre Höhlen zurück und funkelten unter den dichten Brauen wie bei den Wölfen; ihre Lippen bebten im Krampf und ließen die Zähne sehen, als wäre die Mutter in diesem furchtbaren Augenblick von der Wildheit einer Tigerin erfaßt. Wütend sprang sie auf den Söldner los, schlang ihre Arme um seinen Kopf, packte ihn dann mit ihrer Hand wie mit einer Klaue, preßte ihm die Nägel in das Gesicht und zerfleischte ihm die Wangen, so daß ihm das Blut über das Kinn lief.
„Mein Kind!“ schluchzte sie, „mein Kind, Bösewicht!“
Das Gesicht des Söldners verriet hinlänglich den unerträglichen Schmerz, denn die Augen traten ihm aus dem Kopfe. Da er das Mägdelein nicht loslassen wollte, setzte er der Mutter den Degen auf die Brust und durchbohrte ihr grausam das Herz. Die unglückliche Frau ließ ihren Feind los und lehnte sich wankend an das Dach. Blut lief über ihre Kleider, ihre Augen erloschen, ihre Züge erstarben und ihre Hände griffen ins Freie wie nach einer Stütze. Der Söldner riß das goldene Gehänge aus den Ohren des jammernden Mägdeleins, zog ihr die Perlenschnur vom Hals, die Ringe vom Finger. [229] Dann ergriff er mit einem wilden Lachen seinen Degen, durchbohrte sie, und rief dabei höhnisch der sterbenden Mutter zu:
„Ihr sollt die lange Reise zusammen machen können, vlaemische Brut!“
Die Mutter stieß noch einen Schmerzensschrei aus, stürzte nach vorn und sank dann auf die Leiche ihres Kindes.
Das alles war in wenigen Augenblicken geschehen, so daß die anderen Söldner noch immer die Juwelen zusammenrafften, als Mutter und Tochter schon die Erde mit einer besseren Welt vertauscht hatten. Sobald die fremden Plünderer alles nur einigermaßen Wertvolle geraubt hatten, verließen sie das Haus und eilten weiter, um anderswo die gleiche Verwüstung anzurichten. Die unglücklichen Bürger, die nunmehr aus ihren Wohnungen vertrieben waren oder nicht darin zu bleiben wagten, irrten wie verloren in den Straßen umher, und die Franzosen riefen ihnen Schmähworte nach. Wie mußte diese Verzweiflung, diese Ohnmacht den vlaemischen Herzen nahe gehen! Wie bitter und leidenschaftlich verwünschten sie alles, was französisch hieß!
Etwa um Mittag ritt eine große Reiterschar durch die Stadt, um die Söldner wieder zusammenzurufen; denn Herr von Châtillon fand, daß Frankreichs Krone nun hinlänglich gerächt war. Man ließ ausrufen, die Leichen sollten begraben werden, und jeder möge nach seiner Wohnung zurückkehren. Einige Klauwaerts waren in das Haus des Obmannes Breydel gegangen, hatten die Leichen der beiden Frauen vom Boden geholt und brachten sie auf einer Tragbahre nach dem Damm-Tor. Hier vollzog sich ein trauriges, herzzerreißendes Schauspiel. Tausende weinender Frauen, jammernder Kinder und schwacher Greise baten kniend, die Stadt verlassen zu dürfen; doch den Söldnern war befohlen, die Tore geschlossen zu halten. Sie hörten auf kein Flehen und beantworteten die Tränen der geängstigten Bürger mit bitterem Hohn. Als diese lange Zeit vergebens gebeten hatten, kam eine der Frauen auf den glücklichen [230] Gedanken, den Wachen ihr Geschmeide zu geben. Viele andere folgten dem Beispiel, und bald lagen ein großer Haufen von kostbaren Halsschnüren, Schlössern, Ohrgehänge und anderem reichen Zierat vor dem Tore. Die Söldner griffen gierig nach dem blinkenden Tande und versprachen, die Tore zu öffnen, wenn man ihnen all diese Kostbarkeiten schenken würde. Daraufhin warfen die Frauen hastig ihr Geld und Gut auf den Boden, und die Tore wurden geöffnet. Frohes Jauchzen begrüßte die glückliche Befreiung. Die Mütter nahmen ihre Kinder auf den Arm, der Sohn stützte den Vater, und so strömte alles durch das Tor. Die Männer, welche die Leichen der Mutter und Schwester Jan Breydels trugen, folgten den anderen auf der Flucht, und hinter ihnen schloß sich wieder das Tor.
J an Breydel hatte sich mit seinen siebenhundert Genossen unweit Damm, etwa eine Meile von Brügge gelagert. Dreitausend Gesellen anderer Zünfte hatten sich seinem Befehl unterstellt. So befand er sich an der Spitze eines Heeres, das zwar gering an Zahl, aber machtvoll war durch seinen Mut und seine Unerschrockenheit: denn die Herzen dieser Männer lechzten nach Freiheit und Rache. In dem Gehölz, das der Obmann zum Lagerplatz gewählt hatte, war eine Viertelstunde weit alles mit Zelten bedeckt. Am Morgen des 18. Mai, kurz bevor Châtillon in Brügge einrückte, rauchten vor den regelmäßigen Linien dieses Lagers unzählige Feuer; doch man sah nur wenig Volk bei den Zelten. Frauen und Kinder waren genug da, aber nur selten zeigte sich ein Mann, und auch dann war es nur eine Schildwache. Etwas abseits von dem Lager, hinter den Bäumen, die ihre Zweige über die Zelte breiteten, befand sich ein offener, unbewachsener Platz. Dort hörte man das summende Geräusch vieler Stimmen, das nur zuweilen von starken Schlägen übertönt wurde. Der Amboß [231] ertönte von den Schmiedehämmern klingend wider, und die größten Bäume sanken krachend unter den Beilen der Fleischer dahin. Lange Stangen wurden gerundet, geglättet und mit einer Eisenspitze versehen. Schon lagen große Haufen solcher Goedendags am Boden. Andere Gesellen flochten Weidenzweige zu Schilden und gaben sie der Reihe nach der Gerberzunft, die sie mit einer Ochsenhaut überzogen. Auch die Zimmerleute verfertigten allerlei schweres Kriegswerkzeug zum Sturm auf Städte, zumal Ballisten und andere Wurfmaschinen.
Jan Breydel lief von der einen Seite zur anderen und trieb seine Genossen durch ermutigende Worte an; zuweilen nahm er selbst ein Beil aus den Händen seiner Fleischer und brachte dann zu ihrem Staunen mit bewunderungswürdiger Kraft einen Baum in ganz kurzer Zeit zu Falle.
Auf der linken Seite dieses offenen Platzes stand ein prächtiges Zelt von himmelblauem Stoff mit silbernen Borten. Daran hing ein Schild, auf dem der schwarze Löwe in goldenem Felde gestickt war: das zeigte, daß hier eine Person von gräflichem Blute untergebracht war. Es war Machteld, die sich unter den Schutz der Zünfte gestellt hatte und bei ihnen wohnte. Zwei Frauen aus dem durchlauchtigsten Hause van Renesse waren aus Seeland gekommen, um als Ehrendamen und Freundinnen bei ihr zu sein. Nichts fehlte ihr; die kostbarsten Möbel, die prächtigste Kleidung hatte ihr der edle Herzog von Seeland zugeschickt. Zwei große Scharen Fleischer mit blinkendem Beile standen zu beiden Seiten des Zeltes und dienten der jungen Gräfin als Leibwache.
Der Obmann der Weber ging vor dem Eingang auf und ab – in tiefem Sinnen; – – er starrte zu Boden. Die Leibwachen betrachteten ihn still, und voller Ehrerbietung wagten sie nicht zu sprechen. Er war mit dem Entwurf eines allgemeinen Lagerplatzes beschäftigt. Damit es ihnen nicht am Nötigsten fehlte, hatte er das ganze Heer in drei Gruppen geteilt. Die [232] Fleischer und Gesellen verschiedener Zünfte ließ er unter Breydels Befehl zu Damm ein Lager beziehen. Hauptmann Lindens stand mit zweitausend Webern bei Sluis, und De Coninck selbst blieb mit zweitausend anderen zu Aardenburg. Aber diese erzwungene Trennung der verschiedenen Heeresteile mißfiel ihm; er hätte lieber vor der Rückkunft des Herrn Gwijde alle Abteilungen zusammengezogen. Deshalb war er nach Damm gekommen und hatte schon mit Jan Breydel darüber verhandelt. Jetzt wartete er auf die Erlaubnis, die Tochter seines Herrn zu sehen und zu begrüßen. Während er noch diesen Entwurf überdachte, wurde der Vorhang des Zeltes beiseite gezogen, und Machteld schritt langsam über den Teppich, der vor dem Eingang lag. Sie war bleich und matt, ihre schwachen Glieder trugen sie nur mit Mühe; sie schwankte schon bei den wenigen Schritten, die sie tat, und ruhte schwer auf dem Arme der jungen Adelheid van Renesse, die sie begleitete. Ihre Kleidung war kostbar, aber prunklos; sie hatte jeden Schmuck verschmäht und trug als einziges Kleinod die goldene Brustplatte mit dem schwarzen Löwen von Flandern.
De Coninck hatte sein Haupt entblößt und stand ehrerbietig vor ihr. Machteld lächelte ergreifend. Auf ihren Zügen mischte sich bitterer Schmerz mit ruhiger Zufriedenheit, denn sie war erfreut, den Obmann zu sehen. Mit schwacher Stimme sprach sie:
„Seid gegrüßt, Meister De Coninck, unser Freund! Ihr seht, ich fühle mich nicht wohl, das Atmen fällt mir recht schwer; aber ich mag nicht immer in meinem Zelte bleiben. Die Trauer überwältigt mich in dieser engen Behausung. Ich will die treuen Untertanen meines Vaters arbeiten sehen, wenn mich meine Füße so weit tragen können. Ihr werdet mich begleiten; ich bitte Euch, Meister, beantwortet meine Fragen; das wird meinem kranken Geiste Erleichterung schaffen. Die Wachen sollen uns nicht folgen. Die reine Morgenluft tut mir so wohl.“
De Coninck folgte seiner Landesherrin und begann, mit ihr [233] über mancherlei zu plaudern; mit seinem gewohnten Scharfsinn und seiner Beredsamkeit wußte er ihr viel Trost zu schaffen und verscheuchte so vorübergehend all ihre trüben Gedanken. Als die Jungfrau inmitten der Zunftleute stand, ward sie mit Jauchzen und Glückwünschen begrüßt. Alsbald ertönte allenthalben der Ruf: „Heil der edeln Tochter des Löwen!“ Er lief langhin hallend durch das Gehölz, und Machteld empfand innige Freude über dies Zeichen feuriger Liebe. Sie trat zu dem Obmann der Fleischer und sagte freundlich:
„Meister Breydel, ich habe Euch von weitem gesehen, Ihr arbeitet mit mehr Eifer als der geringste Eurer Gesellen. Es scheint, die Arbeit gefällt Euch!“
„Meine Gebieterin,“ antwortete Breydel, „wir machen Goedendags, die das Vaterland und den Löwen, unseren Herrn, befreien sollen. Ich habe gewaltige Freude an dieser Arbeit, denn es kommt mir vor, als wenn auf der Spitze eines jeden Goedendags, den wir herstellen, bereits ein Franzose steckt. Verwundert Euch nicht, durchlauchtige Gräfin, wenn ich so zornig in diese Bäume haue; mir ist dabei, als hiebe ich auf den Feind ein, und dieser Rachetraum läßt meine Hand nicht matt werden.“
Machteld bewunderte den jungen Mann, dessen Blicke all sein Heldenfeuer verrieten, dessen Gesicht, wie das einer griechischen Gottheit, den Ausdruck der zartesten und wildesten Leidenschaften vereinte. Mit Wohlgefallen betrachtete sie diese Augen, darin männlicher Stolz unter den langen Wimpern hervorstrahlte, die sanften Züge, die als der Spiegel einer edeln Seele in hingebender Aufopferung und Vaterlandsliebe erglänzten. Mit wohlwollendem Lächeln meinte sie:
„Meister Breydel, Eure Gesellschaft wäre mir sehr angenehm: wollet uns bitte folgen.“
Jan Breydel warf das Beil weg, strich die blonden Locken zurück, setzte seine Mütze anmutiger auf den Kopf und folgte der Jungfrau voll Stolz. Machteld sagte leise zu De Coninck:
„Wenn mein Vater tausend so treuer, unerschrockener Untertanen in seinem Dienste hätte, so würden die Franzosen nicht lange in Flandern bleiben.“
„Vlaemen wie Breydel gibt es nur einen,“ antwortete De Coninck. „Die Natur vereint selten einen so feurigen Geist mit einem so kräftigen Körper, und das ist eine weise Fügung Gottes; denn sonst würden die Menschen in ihrem Kraftgefühl zu stolz werden, gleich den Riesen des Altertums, die den Himmel erstürmen wollten …“
Er wollte in seiner Rede fortfahren, aber eine Wache mit Schild und Schwert kam atemlos zu ihnen gelaufen und meldete Breydel:
„Meister, meine Genossen von der Lagerwache haben mich geschickt, um Euch zu benachrichtigen, daß man vor dem Tor unserer Stadt Brügge eine dichte Staubwolke von dem Wege emporsteigen sieht und ein brausendes Tosen wie von einem Heere vernehmbar ist. Der Zug verläßt die Stadt und kommt auf unseren Lagerplatz zu.“
„Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ rief Breydel so kraftvoll, daß es alle hörten. „Jeder in seine Abteilung; rasch!“
Die Arbeiter griffen voller Ungestüm zu den Waffen und liefen wild durcheinander, aber nur einen Augenblick. Schnell hatten sich die Züge geordnet, und bald standen die Gesellen bewegungslos in dichtgeschlossenen Reihen da. Breydel schickte fünfhundert erlesene Leute zu Machtelds Zelt; die Jungfrau war eilends dorthin zurückgekehrt. Ein Wagen und einige leichte Pferde wurden vor das Zelt gebracht und alles zur Flucht vorbereitet. Dann ging Breydel mit seinen Leuten rasch aus dem Gehölz und stellte sie in Schlachtordnung auf, um den Feind zu empfangen.
Bald bemerkten sie, daß sie sich getäuscht hatten, denn der Zug, der den Staub aufwirbelte, kam ohne jede Ordnung heran. Massen von Frauen und Kindern liefen durcheinander. Die Frauen weinten und wehklagten alle um eine Bahre, die [235] von Männern herbeigetragen wurde. Die Ursache, weshalb die Zunftleute zu den Waffen gegriffen hatten, bestand also nicht mehr. Dennoch blieben sie in ihren Gliedern, stützten sich auf ihre Waffen und warteten neugierig, was das bedeute.
Endlich nahte der Zug dem Heere. Während sich viele Frauen und Kinder herzudrängten, um ihre Männer oder ihre Väter zu umarmen, enthüllte sich inmitten der Scharen ein schreckliches Bild. Vier Männer trugen die Bahre nahe vor Breydel hin und legten die Leichen zweier Frauen auf den Boden: deren Kleider waren ganz mit Blut befleckt; ihre Züge konnte man nicht erkennen, da ein schwarzer Schleier ihre Häupter bedeckte. Als die Leichen von der Bahre gehoben und auf den Boden gelegt wurden, erfüllten die Frauen die Luft mit ihren Klagen. Nur ein herzzerreißendes Wehe! Wehe! konnte man verstehen. Endlich rief eine Stimme:
„Die Franzosen haben sie grausam ermordet!“
Dieser Ruf weckte Wut und Rachedurst unter den Zunftleuten, die bis dahin bestürzt gewartet hatten; aber ihr Vorsteher Breydel wandte sich ihnen zu und rief:
„Der erste, der sein Glied verläßt, wird streng bestraft!“
Er war von quälender Unruhe gepeinigt, als ob ein Vorgefühl seines Unglücks sein Herz ergriffen hätte. Ungestüm lief er zu den am Boden liegenden Leichen und zog das Tuch von ihrem Angesicht. Aber o Gott! Welch furchtbarer Anblick für ihn. Kein Seufzer entrang sich seiner Brust, kein Glied bewegte er: er stand, als wäre er vom Schlage getroffen. Er war totenblaß, und seine Haare sträubten sich. Er starrte nur regungslos auf die Augen der Leichen; seine Lippen bebten; es war, als sei seine letzte Stunde gekommen. In dieser Stellung blieb er wenige Augenblicke; dann atmete er tief auf. Verzweifelt sprang er vorwärts zu seinen Leuten, reckte zugleich beide Arme und schrie schmerzvoll:
„O welch entsetzliches Unglück! Meine alte Mutter!… Meine arme Schwester!“
Mit diesen Worten warf er sich in De Conincks Arme und lag, aller Kraft beraubt, an der Brust seines Freundes. Mit schrecklichen Blicken stierte er rings umher, also daß seine Gefährten vor Angst und Mitleid zitterten. In seiner düsteren Verzweiflung nahm er sein Beil an seinen Mund und biß wie ein Rasender mit solcher Kraft in den Stiel, daß er ein Stück davon zwischen den Zähnen behielt; aber man nahm ihm rasch die gefährliche Waffe fort. De Coninck gebot den Gesellen, in Ordnung zur Arbeit zurückzukehren, bis ein Befehl sie zu den Waffen rufen werde. Sie hätten lieber schleunige Rache genommen, aber sie wagten keinen Widerspruch, denn ihnen war bekannt, daß De Coninck von dem jungen Gwijde zum Oberbefehlshaber ernannt worden war; so kehrten sie murrend ins Gehölz zurück und setzten ihre Arbeit widerwillig fort.
Als die beiden Obmänner in Breydels Zelt gekommen waren, setzte sich dieser matt und niedergeschlagen an einen Tisch und ließ das Haupt auf die Brust sinken. Er sagte nichts; ein bitteres Lächeln glitt über seine Züge, als spottete er des eigenen Unglücks.
„Mein unglücklicher Freund,“ sprach De Coninck, „beruhigt Euch um Gottes willen.“
„Beruhigt Euch, beruhigt Euch!“ wiederholte Breydel, „bin ich nicht ruhig? Habt Ihr mich je so ruhig gesehen?“
„Lieber Freund,“ fuhr De Coninck fort, „wie bitter sind doch die Qualen Eurer Seele; ich sehe den Tod auf Eurem Gesicht. Trösten kann ich Euch nicht; – Euer Unglück ist zu groß, für solche Wunden weiß ich keinen Balsam.“
„Ich wohl,“ antwortete Breydel, „der Balsam, der mich heilen kann, ist mir bekannt, aber mir fehlt die Macht. O meine arme Mutter! Sie haben ihre Hände in dein Blut getaucht, weil dein Sohn ein Vlaeme ist – und dieser Sohn, ach, dieser Sohn kann dich nicht rächen!“
Sein Gesichtsausdruck änderte sich bei diesem Ausruf; er knirschte mit den Zähnen und packte die Füße des Tisches, als [237] ob er ihn zerbrechen wollte; trotzdem wurde er bald wieder ruhig, und tiefste Trauer beschattete sein Gesicht.
„Nun, Meister, seid ein Mann, überwindet Eure Verzweiflung. Seid mutig bei dem bitteren Leid, das Euch heute trifft; das Blut Eurer Mutter soll gerächt werden.“
Ein grauenhaftes Lächeln trat wieder auf Breydels Lippen, und er entgegnete:
„Gerächt werden? Wie leicht gelobt Ihr etwas, das Ihr nicht halten könnt! Wer kann mich rächen? Ihr nicht. Glaubt Ihr, daß ein Strom französisches Blut hinreicht, um meiner Mutter Leben wieder zu erkaufen? Ruft das Blut eines Tyrannen seine Schlachtopfer wieder ins Leben zurück? O nein, sie sind tot, für immer, für ewig, mein Freund! Ich werde still und ohne Klagen leiden; nichts kann mich trösten; wir sind zu schwach, unsere Feinde zu mächtig.“
De Coninck antwortete nicht auf Breydels Worte und schien über etwas Wichtiges zu sinnen. Zuweilen glitt ein Schatten über sein Gesicht, als ob er sich Gewalt antäte, die innere Wut zu verbergen. Breydel betrachtete ihn neugierig in der Meinung, daß etwas Außergewöhnliches in der Brust seines versonnenen Freundes vorging. Der leidenschaftliche Ausdruck verschwand von De Conincks Gesicht, er stand langsam auf und sprach:
„Unsere Feinde sind zu mächtig, sagt Ihr; morgen werdet Ihr das nicht mehr sagen. Sie haben sich des Verrats und der Bosheit bedient und sich nicht gescheut, unschuldiges Blut zu vergießen, als ob kein Racheengel mehr am Throne des Herrn wäre. Sie wissen nicht, daß ihrer aller Leben in meiner Hand steht, und daß ich sie zermalmen kann, als wenn mir Allmacht von Gott verliehen wäre. Sie suchen ihren Vorteil in Treubruch und schändlicher Niedertracht. Wohlan, ihr eigenes Schwert soll sie vernichten; das sage ich Euch!“
De Coninck erschien in diesem Augenblick wie ein Prophet, der dem lasterhaften Jerusalem den Fluch des Herrn kündet; [238] es war etwas so Furchtbares im Tone seiner Stimme, daß Breydel voll ehrfürchtiger Andacht seinen Worten lauschte.
„Wartet ein wenig,“ fuhr De Coninck fort, „ich werde einen der Neuankömmlinge holen, damit wir erfahren, wie dieses alles sich zugetragen hat. Laßt Euch durch seine Erzählung nicht hinreißen; ich gelobe Euch eine Rache, wie Ihr sie selbst nicht vollkommener wünschen könntet. Denn nun ist es doch so weit gekommen, daß Geduld eine Schmach wäre.“
Kurz nachdem er das Zelt verlassen hatte, kam er mit einem Zunftgesellen zurück und ließ ihn die Vorfälle, die sich an diesem Tage in Brügge ereignet hatten, mit allen Einzelheiten erzählen. Sie erfuhren von ihm, wie groß Châtillons neues Heer war, den Tod der gehängten Bürger und die schreckliche Plünderung der Stadt. Breydel hörte die Erzählung kaltblütig mit an; denn alle diese Schandtaten waren ihm nicht so schmerzlich wie die Ermordung derjenigen, der er das Leben verdankte. De Coninck dagegen wurde immer zorniger, je mehr er dies schreckliche Schauspiel vor seinem Geist sich entrollen sah. Vaterland und Befreiung waren die beiden Gefühle, welche ihn zu solcher Leidenschaft entflammten. Nun sah er wohl, daß es Zeit war, daß man unverzüglich losschlagen mußte; denn solch grausame Rechtspflege konnte die Vlaemen erschrecken und entmutigen. Er entließ den Gesellen und stützte schweigend den Kopf in die Hand, während Breydel ungeduldig erwartete, was er sagen würde.
Plötzlich schritt De Coninck auf Breydel zu und rief:
„Freund, schleift Euer Beil, verscheucht die Trauer aus Eurem Herzen, wir werden die Ketten des Vaterlands zersprengen.“
„Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte Breydel.
„Hört: Der Landmann wartet, bis daß die Morgenkühle alle Raupen in ein Nest getrieben hat; dann schneidet er es vom Baume, legt es hin und zertritt das Ungeziefer auf einmal. Versteht Ihr das?“
„Vollendet Eure Verkündigung,“ rief Breydel; „treuester Freund, ein Lichtstrahl verscheucht meine düstere Verzweiflung! Vollendet, sprecht aus!“
„Also: auch die Franzosen haben sich in unserer Vaterstadt wie Ungeziefer eingenistet. Sie sollen gleichfalls zermalmt werden, als fiele ein Berg über sie. Freuet Euch, Meister Jan, sie sind verurteilt. Der Tod Eurer Mutter soll mit Wucher gerächt werden, und das Vaterland wird aus diesem Blute frei emportauchen!“
Breydels Auge schweifte ungestüm im Zelte umher. Er suchte sein Beil, bis ihm einfiel, daß man es ihm abgenommen hatte. Gerührt ergriff er De Conincks Hand.
„Mein Freund!“ rief er, „Ihr habt mich vielmals gerettet, aber alsdann gabt Ihr mir nur das Leben; jetzt erhalte ich durch Euch Freude und Glück zurück. Sagt mir nur schnell, wie wir diese Rache ins Werk setzen sollen, damit ich meiner Sache sicher bin.“
„Einen Augenblick Geduld, Ihr sollt es gleich hören; ich muß diesen Plan vor allen Obmännern darlegen; ich werde sie gleich rufen lassen.“
Er ging hastig aus dem Zelt, rief eine Schildwache und sandte sie nach dem Gehölz, um alle Anführer zu sich zu entbieten. Bald darauf standen sie, ihrer dreißig, in einem Kreise vor dem Zelte. De Coninck sagte zu ihnen:
„Genossen! Die feierliche Stunde ist gekommen. Die Freiheit müssen wir erringen oder den Tod. Lange genug trugen wir das Mal der Schande auf der Stirn. Es ist Zeit, daß wir unseren Feinden Rechenschaft über das Blut unserer Brüder abfordern; und wenn wir für das Vaterland sterben müssen, so denkt daran, Genossen, daß die Ketten der Sklaverei am Rande des Grabes abfallen, und daß wir frei und sonder Schmach bei unseren Vätern schlafen werden. Aber nein, wir werden siegen, das weiß ich. Der schwarze Löwe von Flandern kann nicht untergehen; und sehet, ob wir das Recht nicht auf [240] unserer Seite haben? Die Franzosen haben unser Land geplündert, unseren Grafen und die Edeln, die Blüte der echten Vlaemen eingekerkert. Philippa haben sie vergiftet, unsere Stadt Brügge verwüstet und die redlichsten unserer Brüder an den Galgen gehängt. Die blutigen Leichen der Mutter und der Schwester unseres unglücklichen Freundes Breydel ruhen in unserer Mitte. Diese Leichen und alle, die durch die Hand der fremden Tyrannen gestorben sind, schreien in eurem Herzen nach Rache! Wohl, so bergt in eurem Herzen wie in einem Grabe, was ich euch sagen werde. Die Franzosen sind heute durch ihr teuflisches Treiben ermattet, sie werden fest schlafen; aber dieser Schlaf soll für die meisten bis zum jüngsten Gericht dauern! Sagt euren Gesellen nichts; aber führt sie morgen zwei Stunden vor Sonnenaufgang bis hinter Saint-Kruis in den Elsterbusch [29] . Ich gehe stehenden Fußes nach Aardenburg, um meine Mannen vorzubereiten und den Hauptmann Linden zu benachrichtigen; denn ich muß noch heute in Brügge sein. Das wundert euch: doch ihr werdet mir zugeben: ein Franzose ist in Brügge, den wir nicht töten dürfen, sein Blut würde über unsere Häupter kommen.“
„Herr von Montenay?“ antworteten viele Stimmen.
„Dieser Ritter,“ fuhr De Coninck fort, „hat uns stets gütig behandelt; er hat gezeigt, daß ihm das Unglück unseres Vaterlandes nahe geht. Er hat sich gar manches Mal den grausamen Verfolgungen des verfluchten Jan van Gistel widersetzt und Gnade für die Verurteilten erhalten. Mit diesem edeln Blute dürfen wir unsere Waffen nicht färben; um dies zu verhüten, gehe ich heute nach Brügge, mag auch noch so große Gefahr damit verbunden sein.“
„Aber,“ fiel ihm einer der Obmänner in die Rede, „wie sollen [241] wir morgen in die Stadt kommen, da die Tore doch bis Sonnenaufgang verschlossen sind?“
„Die Tore werden uns geöffnet werden,“ antwortete De Coninck, „ich werde nicht aus der Stadt zurückkehren, bevor unsere Rache unfehlbar sicher ist. Ich habe euch genug gesagt, morgen auf dem Versammlungsplatz werde ich euch nähere Befehle geben; haltet eure Leute bereit. Ich nehme unsere junge Gräfin von hier mit fort; sie soll dieses blutige Schauspiel nicht sehen.“
Breydel hatte während dieser Worte nicht die geringsten Zeichen der Zustimmung gegeben, aber sein Gesicht erstrahlte in ungemeiner Freude. Sobald die Obmänner fort waren, warf er sich an De Conincks Brust und sprach, während Tränen über seine Wangen rollten:
„Ihr habt mich aus meiner Verzweiflung gerissen, teurer Freund! Nun kann ich ruhig über den Leichen meiner Mutter und Schwester weinen und sie mit Andacht zur Erde bestatten. – Und dann, wenn sich das Grab über ihnen geschlossen hat …! O, was bleibt mir dann noch in der Welt, das ich lieben könnte?“
„Euer Vaterland und sein Aufblühen!“ bekam er zur Antwort.
„Ja ja, Vaterland, Freiheit – und Rache! Denn jetzt, hört Ihr, mein Freund, jetzt würde ich vor Grimm weinen, wenn die Franzosen unser Land verließen. Dann würde ja mein Beil keine Opfer mehr finden, ich würde ihre Leichen nicht mehr zertreten können, wie die Hufe ihrer Rosse unsere Brüder zerstampft haben. Die Freiheit ohne Kampf ginge mir wider die Seele; jetzt, wo sie das Herz, unter dem ich das Leben empfing, durchbohrt haben, kann mich nur der Anblick strömenden Blutes zufriedenstellen. Macht rasch und geht mit Gott, damit sich alles zum Guten wende; denn ich dürste nach der versprochenen Rache.“
De Coninck nahm von Breydel Abschied: „Haltet alles geheim und seid vorsichtig, mein Freund.“
Ehe er das Lager verließ, bereitete er alles zur Abreise der edeln Machteld vor; nachdem er noch kurz mit ihr gesprochen hatte, bestieg er einen Traber und verschwand in der Richtung nach Aardenburg.
Unterdes waren die Leichen der Mutter und Schwester Breydels von den Frauen gewaschen und umgekleidet worden. Sie hatten erst ein Zelt inwendig schwarz ausgeschlagen und in der Mitte die beiden Leichen auf ein Feldbett niedergelegt. Sie lagen in düsterem Totenkleid, nur das Antlitz konnte man sehen. Rund um die feierliche Lagerstätte brannten acht gelbe Wachskerzen; ein Kreuz mit einem silbernen Weihwasserkessel und einigen Palmzweigen stand am Kopfende, während weinende Frauen dabei saßen und beteten.
Unmittelbar nach De Conincks Abreise ging Breydel nach dem Gehölz und befahl, die Arbeit aufzugeben; er sandte die Zunftleute nach den Zelten zur Ruhe und kündigte ihnen an, daß sie am anderen Morgen vor Tagesanbruch aufbrechen müßten. Nachdem er noch einige Maßregeln getroffen, um die Frauen und Kinder im Lager unterzubringen, begab er sich nach dem Zelt, in dem die Leiche seiner Mutter lag. Dort schickte er die Frauen weg und schloß die Tür ab.
Vergeblich kamen mehrere Anführer zu dem Zelt, um den Obmann zu sprechen, Anweisungen oder Befehle zu holen; sie bekamen auf ihr Klopfen keine Antwort. Anfangs glaubten sie ihren Meister in Trauer versunken; aber als sie vier Stunden vor der Tür gewartet hatten, ohne das geringste Geräusch zu vernehmen, wurden sie von Furcht gepackt. Sie wagten nicht, ihre Gedanken zu äußern. War Breydel tot? Hatte das Beil oder der Schmerz seinen Lebensfaden zerschnitten?
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Breydel erschien, anscheinend ohne ihre Gegenwart zu bemerken. Niemand sprach, denn seine Züge ließen das Herz erstarren, die Sprache stocken. Er war bleich, seine Blicke irrten wild umher, und viele bemerkten, [243] daß zwei Finger seiner rechten Hand mit Blut befleckt waren. Keiner wagte, ihm zu nahen; der Tod strahlte aus seinen Augen, und wen er ansah, dem drang jeder Blick wie ein Pfeil in die Seele. Das Blut an seinen Fingern machte sie noch mehr zittern; eine schreckliche Ahnung ließ sie erraten, woher es stammte. Gewiß hatte er in die Wunde seiner Mutter gegriffen und aus dieser furchtbaren Berührung diese Raserei geschöpft, die seine Kraft mehren, seinen Rachedurst erhöhen mußte! So wandelte er sprachlos durch das Gehölz, bis der Abend das Lager mit Finsternis bedeckte und ihn den Augen seiner Genossen entzog.
Als De Coninck nach Aardenburg gekommen war, unterstellte er seine zweitausend Weber dem Befehl eines der ersten Anführer und sandte einen Boten mit Befehlen an den Hauptmann Lindens. Nachdem er die Vereinigung der drei Heeresabteilungen zu Saint-Kruis vorbereitet hatte, schwang er sich wieder aufs Pferd und ritt stracks nach Brügge. Dort ließ er seinen Traber in einer Herberge stehen und ging zu Fuß in die Stadt. Nichts trat ihm in den Weg; denn es war bereits spät am Abend, die Tore waren offen und keine Soldaten als die Schildwachen auf dem Wall zu sehen. Furchtbare Stille herrschte in den Straßen, durch die er gehen mußte. Alsbald machte er vor einem kleinen Hause an der Donatuskirche halt. Er wollte anklopfen, aber er ward inne, daß die Wohnung keine Tür mehr hatte und der Eingang mit einem langen Tuchstreifen verhängt war. Dies Haus und seine Räume mochten ihm wohlbekannt sein; denn er hob das Tuch und schritt rasch in den Laden geradeswegs zu einem kleinen Hinterstübchen, das durch das unbestimmte Licht einer Lampe erleuchtet war. Zwischen dem zertrümmerten Hausrat, der am Boden umherlag, saß eine Frau weinend an einem Tische. Sie hielt zwei kleine Kinder fest an ihre Brust gedrückt und küßte sie unter Schluchzen, als wäre sie glücklich, wenigstens diesen Reichtum behalten zu haben. Weiter hinten in einem [244] Winkel, der von der Lampe nur halb erleuchtet wurde, saß ein Mann: er hatte das Haupt in die Hände gestützt und schien zu schlafen.
Beim unerwarteten Erscheinen De Conincks erschrak die Frau heftig. Sie drückte ihre Kinder fester an sich, und ein lauter Schrei kündete ihre Angst. Der Mann griff hastig nach seinem Dolch; als er aber seinen Obmann erkannte, stand er auf und sprach:
„O Meister, welch schmerzliche Last habt Ihr mir auferlegt, da Ihr mir gebotet, in der Stadt zu bleiben; die Gnade Gottes allein hat uns von dem unvermeidlichen Tode gerettet. Unsere Häuser sind geplündert, unsere Brüder gehängt und ermordet, und Gott weiß, was morgen noch geschehen wird. O gestattet mir, zu Euch nach Aardenburg zu gehen: ich bitte Euch flehentlich.“
De Coninck antwortete nicht auf diese Bitte; er winkte den Zunftgesellen in einen Winkel, der am dunkelsten war, und sagte dann mit leiser Stimme:
„Gerhard, als ich die Stadt verließ, habe ich Euch mit dreißig anderen Gesellen zurückgelassen, um die Anschläge der Franzosen zu entdecken. Ich wählte gerade Euch hierzu, weil ich Euren Mut und Eure Vaterlandsliebe kenne. Der Tod Eurer Genossen hat Euch wohl Angst gemacht: ist dem so, dann möget Ihr noch heute nach Aardenburg abreisen.“
„Meister,“ antwortete Gerhard, „Eure Worte machen mich bekümmert. Ich fürchte den Tod durchaus nicht; aber mein Weib und meine armen Kinder bleiben hier allem Unheil ausgesetzt. Furcht und Schrecken machen sie krank. Sie weinen und beten den ganzen Tag, und die Nacht gibt ihnen die Kräfte nicht wieder. Könntet Ihr sie sehen, wie bleich sie sind! Sollte mich der Anblick all dieser Leiden, all dieser Angst unberührt lassen? Ich bin doch ihr Vater und Beschützer. Und heischen sie nicht von mir allein den Trost, den ich ihnen doch nicht geben kann? O Meister, glaubt mir, ein [245] Vater leidet mehr, als seine Frau und Kinder leiden können. Und doch bin ich bereit, für das Vaterland alles zu vergessen, selbst die Meinen: wenn ich Euch mit irgend etwas dienlich sein kann, dürft Ihr auf mich rechnen. Sprecht also, ich spüre, daß Ihr mir eine wichtige Anordnung zu geben habt.“
De Coninck ergriff des braven Gerhard Hand und drückte sie gerührt. „Noch eine Seele wie die Breydels,“ dachte er.
„Gerhard,“ rief er aus, „Ihr seid ein würdiger Gesell; ich danke Euch für Eure Treue und Euren Mut. Hört also, denn ich habe wenig Zeit. Ihr müßt rasch zu Euren Genossen gehen und sie benachrichtigen. Heut Nacht sollt Ihr heimlich mit ihnen in die Pfeffergasse schleichen. Ihr allein werdet dann auf den Wall zwischen dem Damm- und dem Kruistor steigen. Legt Euch platt auf die Erde und schauet nach der Gegend von Saint-Kruis aus. Seht Ihr ein Feuer im Felde leuchten, so werft Euch mit Euren Genossen auf die Wache und öffnet das Tor; es sollen siebentausend Vlaemen davorstehen.“
„Das Tor wird zur bestimmten Zeit offen sein, seid deshalb, bitte, ohne Sorge,“ antwortete Gerhard kaltblütig.
„Ist das sicher?“
„Ganz sicher.“
„Dann guten Abend, werter Freund. Gott behüte Euch!“
„Und sei auch mit Euch, Meister!“
De Coninck ließ den Zunftgesellen zu seiner Frau zurückkehren und entfernte sich aus dem Hause. So gelangte er zu einer prächtigen Wohnung bei der alten Halle. Er klopfte an, und die Tür wurde geöffnet.
„Was wollt Ihr, Vlaeme?“ fragte der Diener.
„Ich wünsche Herrn von Montenay zu sprechen.“
„Ja, habt Ihr aber auch keine Waffen? Man kann Euch nicht trauen.“
„Was kümmert das Euch!“ meinte der Obmann; „geht und sagt Eurem Herrn, daß De Coninck ihn sprechen will.“
„Herr du mein Gott! Ihr heißt De Coninck; dann kommt [246] Ihr sicherlich in böser Absicht!“ Damit lief der Diener eiligst nach oben und kam nach einigen Augenblicken zurück.
„Ihr möchtet hinaufkommen,“ sagte er; „wollet mir, bitte, folgen.“
Er führte De Coninck die Treppe hinauf bis zum Eingang eines Gemachs. Montenay saß an einem kleinen Tisch, auf dem sein Helm, sein Degen und seine eisernen Handschuhe lagen. Er sah den Obmann verwundert an; der beugte sich vor dem Stadtvogt und sprach:
„Herr von Montenay, im Vertrauen auf Eure Rechtlichkeit kam ich hierher. Ich bin fest überzeugt, daß ich diese Kühnheit nicht zu bereuen habe.“
„Gewiß,“ antwortete Montenay, „Ihr sollt zurückkehren, wie Ihr gekommen seid.“
„Euer Edelmut ist unter uns sprichwörtlich geworden,“ fuhr De Coninck fort, „ich kam auch nur deshalb zu Euer Edeln, um Euch zu zeigen, daß wir einen geradherzigen Feind hochachten. Châtillon hat heute unsere Stadt der Wut seiner Söldner preisgegeben, acht unserer unschuldigen Brüder hängen lassen. Gebet selbst zu, Herr von Montenay, daß es unsere Pflicht ist, ihren Tod zu rächen; denn was konnte der Landvogt ihnen anderes vorwerfen, als daß sie sich seinen tyrannischen Befehlen nicht fügen wollten?“
„Der Untergebene muß seinem Herrn gehorchen; mag auch die Strafe noch so streng sein, es steht ihm nicht zu, die Handlungen seiner Vorgesetzten zu verurteilen.“
„Ihr habt recht, Herr von Montenay, so spricht man in Frankreich, und da Euer Edeln von Rechts wegen Untertan Philipps des Schönen sind, so ziemt es Euch, seine Befehle auszuführen. Wir aber sind freie Vlaemen und können die schmählichen Ketten nicht länger tragen; da nun der Landvogt in seinen Grausamkeiten so weit gegangen ist, so kann ich Euch die Versicherung geben, daß in Bälde das Blut in Strömen fließen wird. Wäre uns das Schicksal feind, behieltet [247] ihr Franzosen den Sieg, dann blieben euch nur wenig Sklaven, denn wir wollen sterben. Aber wie dem auch sei, und deshalb kam ich her: kein Haar Eures Hauptes soll Euch von uns gekrümmt werden. Das Haus, in dem Ihr Euch befindet, soll uns heilig sein; kein Vlaeme soll den Fuß über die Schwelle Eurer Wohnung setzen. Empfangt darauf mein Wort.“
„Ich danke den Vlaemen für ihre Liebe zu mir; aber ich lehne den Schutz, den Ihr mir anbietet, ab und werde nie davon Gebrauch machen. Fiele wirklich etwas der Art vor, so würde ich mich unter des Landvogts Banner und nicht in meiner Wohnung befinden, und falls ich sterbe, soll es mit dem Schwert in der Faust geschehen. Aber ich glaube nicht, daß es so weit kommen wird, denn die Unruhen werden wohl gedämpft werden. Euch, Obmann, rate ich als Freund, das Land schleunigst zu verlassen.“
„Nein, mein Herr, ich verlasse dieses Land nicht, die Gebeine meiner Väter ruhen in dieser Erde. Bitte, bedenkt, daß nichts unmöglich ist, daß auch französisches Blut durch uns vergossen werden kann; dann gedenket meiner Worte. Das ist alles, was ich Eurer Edeln zu sagen hatte. Ich wünsche Euch Lebewohl, Gott nehme Euch unter seinen Schutz.“
Montenay überdachte die Worte des Obmannes genau und ward zu seinem großen Schmerz inne, daß sie ein furchtbares Geheimnis bargen. Er beschloß deshalb, am nächsten Tage Châtillon zur Wachsamkeit zu mahnen und selbst einiges zur Sicherheit der Stadt anzuordnen. Aber er ahnte nicht, daß seine Befürchtung so bald eintreten würde, legte sich zu Bett und schlief ruhig ein.
H inter dem Dorfe Saint-Kruis, einige Pfeilschüsse von Brügge, lag ein kleines Gehölz, der Elsterbusch, unter dessen schattigen Bäumen die Einwohner der volkreichen Stadt sich gewöhnlich des Sonntags ergingen. Die Bäume standen nicht [248] sehr dicht, und weicher Rasen deckte die Erde wie mit einem grünen Teppich. Um zwei Uhr nachts war Breydel bereits auf der festgesetzten Stelle. Es war undurchdringlich finster; der Mond hatte sich hinter schweren Wolken verborgen. Leise säuselnd hauchte der Wind wie ein Seufzer durch das Laub, und das eintönige Rauschen der Blätter mehrte noch die Schrecken dieser furchtbaren Nacht. Auf den ersten Blick konnte man im Elsterbusch nichts wahrnehmen; nur bei genauerem Zusehen hätte man die vielen Menschen wie dunkle Schatten auf dem Boden ausgestreckt bemerkt. Bei jeder Gestalt blinkte ein flimmernder Stern, als wäre der Rasen in ein Himmelsgewölbe verwandelt. Es war, als hätte man mit vollen Händen tausende leuchtender Punkte darüber hingestreut. Diese Sterne waren Beile, auf deren glattem Stahl sich das wenige Licht der Nacht spiegelte. Mehr als zweitausend Fleischer lagen reihenweise, alle in der gleichen Haltung auf der Erde; ihre Herzen pochten, ihr Blut strömte rasch, denn die langersehnte Stunde, die Stunde der Rache und der Erlösung war nahe. Größte Stille herrschte unter den Leuten, und etwas Geheimes, Schaudererregendes hing wie ein Zauberschleier über dem schweigenden Heer.
Breydel lag tiefer in dem Busch; einer seiner Genossen, den er ob seiner Unverzagtheit ganz besonders liebte, hatte sich neben ihn auf den Boden hingestreckt. Mit unterdrückter Stimme plauderten sie:
„Die Franzosen sind auf dies seltsame Erwachen nicht gefaßt,“ sagte Breydel, „sie schlafen gut, denn sie haben ein verstocktes Gewissen, diese Bösewichte. Ich bin auf ihre Gesichter neugierig, wenn sie zugleich meine Waffe und den Tod vor sich sehen.“
„O, mein Beil schneidet wie Gift; ich habe es geschliffen, bis ich mir die Haare vom Arm damit scheren konnte, und ich hoffe, daß es diese Nacht stumpf wird. Sonst schleife ich es nie wieder!“
„Es ging ja auch zu weit, Martin. Die Franzosen behandeln uns wie eine Herde dummer Ochsen und denken, wir sollen vor ihrer Tyrannei weichen; aber, weiß Gott, sie kennen uns nicht und täuschen sich, wenn sie uns nach den verfluchten Leliaerts beurteilen.“
„Ja, diese Bastarde rufen: Heil Frankreich! Sie schmeicheln den Fremden, aber auch sie sollen etwas erleben! Als ich mein Beil so sorglich schliff, habe ich auch an sie gedacht.“
„Nein, Martin, das Blut Eurer Landsleute dürft Ihr nicht vergießen. De Coninck hat es verboten.“
„Und Jan van Gistel, dieser feige Verräter: soll er etwa am Leben bleiben?“
„Jan van Gistel soll sterben! Er muß für den Tod von De Conincks altem Freunde Rechenschaft abgeben. Aber er soll auch der einzige sein.“
„So sollen die anderen Abtrünnigen unbestraft bleiben? Seht, Meister, solch Gedanke tut mir weh, das kann ich nicht übers Herz bringen.“
„Ihre Strafe wird groß genug sein – Schmach und Verachtung wird ihnen zuteil; wir werden sie höhnen und schmähen. Sagt doch, Martin, macht Euch nicht der Gedanke beben, daß Euch jeder ins Gesicht speien, Euch sagen dürfte: Ihr seid ein Abtrünniger, ein Feigling, ein Landesverräter? Das soll ihnen widerfahren.“
„Wirklich, Meister, bei Euren Worten geht mir ein kalter Schauer über den Leib! Welch furchtbare Strafe, tausendmal härter fürwahr als der Tod. Welche Hölle für sie, wenn sie ein vlaemisches Herz besäßen!“
Sie schwiegen einige Augenblicke, da sie von ferne etwas wie Menschenschritte hörten, doch das Geräusch entschwand bald; alsdann fuhr Breydel fort:
„Die schändlichen Franzosen haben meine alte Mutter ermordet. Ich habe mich davon überzeugt: ein feindlicher Degen hat das Herz durchbohrt, das mich so innig liebte. Sie [250] empfanden kein Mitleid mit ihr, weil sie einen unbeugsamen Vlaemen geboren hatte; aber nun werde auch ich kein Mitleid mit ihnen haben und zugleich mein Blut und das Vaterland rächen.“
„Geben wir auch Gnade, Meister? Machen wir auch Gefangene?“
„Unglück über mich, wenn ich jemand gefangen nehme oder ihm das Leben schenke! Geben sie etwa Gnade? Nein, sie schöpfen Mut aus dem Morden, zerstampfen die Leichen unserer Brüder unter den Hufen ihrer Rosse. Und glaubt Ihr, Martin: nun, da der blutige Schatten meiner lieben Mutter mir stets vor Augen schwebt, könnte ich einen Franzosen sehen, ohne in Raserei zu kommen? O, mit den Händen würde ich sie zerfetzen, mit den Zähnen zerfleischen, wenn mein Beil durch die vielen Schlachtopfer stumpf würde. Aber das kann nicht sein, meine Waffe war mir schon seit langem ein treuer Begleiter.“
„Hört, Meister, das Geräusch auf dem Wege von Damm nimmt zu! Wartet ein wenig!“
Er legte sich mit dem Ohr zur Erde nieder, richtete sich dann auf und sprach:
„Meister, die Weber sind nicht mehr weit, nur mehr vier Bogenschüsse.“
„So kommt denn, stehen wir auf! Geht still die Rotten entlang und heißt sie liegen bleiben. Ich gehe De Coninck entgegen, damit er weiß, nach welcher Seite er seine Leute aufstellen kann.“
Einige Augenblicke später kamen viertausend Weber von verschiedenen Seiten in das Gehölz und legten sich, wie ihnen befohlen war, schweigend auf den Boden nieder. Die Stille wurde durch ihre Ankunft kaum gestört, und bald war kein Laut mehr zu vernehmen. Nur einige Leute konnte man von einer Schar zur anderen gehen sehen; sie überbrachten den Anführern den Befehl, sich zur Ostseite des Busches zu [251] begeben. Als sie dort zahlreich versammelt waren, scharten sie sich um De Coninck, um seine Befehle in Empfang zu nehmen. Der hub an:
„Brüder, heute muß die Sonne unsere Freiheit oder unseren Tod bestrahlen; kämpft zaglos, wie es euch die Liebe zum Vaterland lehrt; bedenket wohl, daß ihr für die Stadt, da die Gebeine eurer Väter ruhen, für die Stadt, da eure Wiege stand, streiten müßt. Gebt niemand Gnade; tötet alle Franzosen, die euch in die Hände fallen, laßt auch nicht einen Strunk dieses fremden Unkrautes übrig. Wir oder sie müssen sterben! Ist jemand unter euch, der noch Mitleid für die Leute empfindet, die unsere Brüder erbarmungslos erhängt oder erschlagen haben, für diese Verräter, die unseren Grafen gefangengenommen, sein Kind vergiftet haben?“
Ein Gemurmel glitt unter dem Laubdach der Bäume dahin, so düster und rachegierig, daß dieser Ton allein schon das Herz mit Bangen erfüllen konnte.
„Sie sollen des Todes sterben!“ gaben die Anführer zur Antwort.
„Wohlan,“ fuhr De Coninck fort, „noch heute werden wir frei sein; aber wir werden noch größeren Mutes bedürfen, um unsere Freiheit zu bewahren; denn ohne Zweifel wird der französische König mit einem neuen Heere nach Flandern kommen.“
„Um so besser,“ fiel ihm Breydel ins Wort, „dann werden noch mehr Kinder um ihre Väter weinen müssen, wie ich meine arme Mutter beweine. Gott habe sie selig!“
Breydel hatte De Coninck unterbrochen. Der fürchtete, die Zeit, um ihnen die nötigen Anweisungen zu geben, könnte zu kurz werden, und fuhr fort:
„Hört zu, was ihr zu tun habt: sobald die Glocke von Saint-Kruis drei schlägt, laßt eure Leute aufstehen, sich gliedern und auf die Stadt zurücken. Ich werde mich mit einigen Gesellen an die Stadtmauern begeben; und wird gleich danach das Tor durch die Klauwaerts geöffnet, die ich in der Stadt [252] gelassen habe, so ziehet schweigend in die Stadt ein und nehmt folgende Richtung: Meister Breydel mit den Fleischern wird das Speitor besetzen und sich dann mit seinen Leuten in alle Straßen nächst der Snaggaartsbrücke verteilen. Meister Lindens, Ihr nehmt das Kathelinentor und schickt Eure Leute in alle Straßen bei der Frauenkirche. Die Zunft der Gerber und Schuster soll das Genter Tor bis an den Stein und die Burg besetzen; die anderen Zünfte unter dem Obmann der Maurer sollen das Dammtor nehmen und sich im Umkreis der Saint-Donatuskirche ausbreiten; ich mit meinen zweitausend Leuten werde mich zum Boverietor begeben, und meine Gesellen werden das ganze Viertel von dort bis ans Eselstor und den großen Markt einkreisen. Habt ihr solcherart die Wachen der Tore überfallen, so bleibt möglichst still in den Straßen stehen; denn wir wollen die Franzosen erst wecken, wenn alles bereit ist. Merket wohl! Sobald ihr den vaterländischen Ruf hört: Flandern der Löwe! ruft ihn alle mit; der soll als Zeichen dienen, und ihr könnt euch dadurch in der Finsternis wiedererkennen. Stürmt dann die Türen der Häuser ein, wo die Franzosen untergebracht sind, und macht alles nieder.“
„Meister,“ meinte einer der Anführer, „wir werden doch aber die Franzosen nicht von unseren Mitbürgern unterscheiden können, denn meist werden wir sie zu Bett und entkleidet antreffen.“
„Da gibt es ein leichtes Mittel, jeden Mißgriff zu vermeiden. Hört, was ihr zu tun habt. Könnt ihr auf den ersten Blick nicht sehen, ob ihr auf einen Franzosen oder Vlaemen trefft, dann heißt ihm: Schild en vriend! zu sagen. Wer diese Worte nicht aussprechen kann, hat eine französische Zunge, und den macht nieder.“
Eben schlug es drei Uhr auf dem Turme zu Saint-Kruis.
„Noch etwas!“ sagte De Coninck hastig. „Ich habe das Haus des Herrn von Montenay unter meinen Schutz gestellt; es darf also von euch weder zerstört noch angegriffen werden; niemand [253] soll einen Fuß über die Schwelle dieses edelen Feindes setzen. Nun rasch zu euren Leuten! Teilt ihnen meine Befehle mit und tut, wie befohlen. Macht rasch! Und bitte, kein Geräusch!“
Die Anführer begaben sich zu ihren Abteilungen und führten sie nacheinander zum Wegesrand. De Coninck stellte eine große Schar Weber längst des Weges bis auf Bogenschußweite von der Stadt auf. Er allein schlich dem Wall noch näher und suchte die Finsternis zu durchdringen. Das brennende Ende einer Lunte, das er in seiner Hand verborgen hielt, schimmerte rotglühend durch seine Finger. Er sah einen Kopf sich über die Stadtmauer erheben: es war der Weber, den er am Abend zuvor besucht hatte. Nun nahm er flink ein Bündel Flachs, das er unter dem Wams verborgen hatte, legte es auf den Boden und blies die Lunte stark an. Alsbald lohte eine lichte Flamme vom Felde auf, und das Haupt des Webers verschwand hinter der Stadtmauer. Das Zeichen war noch keine vier Minuten gegeben worden, als die Schildwache, die oben auf dem Wall stand, mit einem Schmerzensschrei zu Boden stürzte und über die Mauer geworfen wurde. Dann hörte man hinter dem Tore Waffen rasseln und das Stöhnen von Sterbenden; und gleich darauf folgte Totenstille.
Mit der größten Vorsicht zogen alle Zünfte in Brügge ein. Jeder Anführer begab sich mit seinen Leuten nach dem Stadtviertel, das ihm De Coninck angewiesen hatte. Eine Viertelstunde später waren die Wachen an allen Toren erschlagen, und jede Zunft befand sich auf ihrem Platz. Vor jedem Hause, da Franzosen untergebracht waren, standen acht Klauwaerts bereit, sich mit Hammer und Beil den Eingang zu schaffen. Keine einzige Straße war unbesetzt, die ganze Stadt war in den Händen der Klauwaerts, die nur des Zeichens zum Angriff harrten. De Coninck stand mitten auf dem Freitagsmarkt; nach kurzem Bedenken sprach er laut den Fluch über die Franzosen:
„Vlaenderen den Leeuw! Wat walsch is, valsch is! Slaed al dood!“ [30]
Dieser Ruf, das Todesurteil für die Fremden, wurde von fünftausend Kehlen wiederholt. Man kann sich leicht das furchtbare Geheul, die schauerliche Verwirrung, das entsetzliche Mordgeschrei vorstellen. Im gleichen Augenblick wurden alle Türen eingestoßen und zertrümmert. Die Klauwaerts stürmten voll Rachedurst zu den Schlafkammern der Franzosen und ermordeten alles, was die Worte ‚Schild en vriend‘ nicht aussprechen konnte. Weil in einigen Häusern mehr Franzosen untergebracht waren, als man in so kurzer Zeit erschlagen konnte, hatten viele Zeit, sich anzukleiden und zu den Waffen zu greifen. Das geschah zumal in dem Stadtviertel, wo Châtillon mit seinen zahlreichen Wachen wohnte. Ungeachtet der Wut Breydels und seiner Leute hatten sich ungefähr sechshundert Franzosen solcherart zusammengerottet. Viele waren, wenngleich verwundet, dem Gemetzel entkommen und begaben sich aus den anderen Straßen zur Snaggaartsbrücke. So stieg die Zahl der Flüchtigen schließlich auf ungefähr tausend Mann, die ihr Leben so teuer als möglich verkaufen wollten. In dichten Scharen standen sie vor den Häusern und verteidigten sich verzweifelt gegen die Fleischer. Viele hatten Armbrüste und schossen gar manchen Klauwaert nieder. Aber das steigerte nur die Raserei der anderen, die ihre Genossen fallen sahen. Man hörte Châtillons Stimme, der die Seinen zum Widerstand anfeuerte, und ward auch Herrn von Montenays ansichtig, dessen Riesenschwert in der Finsternis wie ein Blitzstrahl leuchtete.
Breydel raste wie ein Wahnsinniger und hieb rechts und links auf die Franzosen ein. Er stand schon einige Fuß über der Erde, soviel Feinde hatte er vor sich niedergeworfen. Ströme von Blut flossen unter den Leichen, und der Ruf: „Flandern [255] der Löwe! Schlagt alles tot!“ mischte sich schauerlich mit dem Ächzen der Sterbenden.
Unter den Franzosen befand sich auch Herr van Gistel. Da er wußte, daß sein Tod unvermeidlich war, wenn die Vlaemen den Sieg behielten, so rief er beständig: „Hoch Frankreich! Hoch Frankreich!“ Er hoffte die Söldner dadurch anzufeuern. Aber Jan Breydel erkannte seine Stimme.
„Leute!“ rief er in voller Wut, „ich muß die Seele dieses Abtrünnigen haben! Vorwärts! Das hat lange genug gedauert, wer mich liebt, der folge mir nach!“
Mit diesen Worten warf er sich mit seinem Beil mitten unter die Franzosen und hieb alles um sich her sofort nieder. Als seine Genossen das sahen, stürzten sie sich mit solcher Wut auf den Feind, daß sie ihn gegen eine Mauer drängten und an fünfhundert Leute töteten. In diesem entscheidenden Augenblick, in dieser furchtbaren Todesstunde, gedachte Montenay der Worte und des Gelübdes De Conincks; er hoffte, den Landvogt noch retten zu können, und rief:
„Ich bin Montenay, man gebe mir den Weg frei!“
Die Klauwaerts ließen ihn ehrerbietig durch und hemmten ihn nicht.
„Hierher, hierher! Folgt mir, Genossen!“ rief er dem verbliebenen Häuflein Franzosen zu; denn er glaubte, sie so zu retten. Aber die Vlaemen hieben so schrecklich auf sie ein, die Zahl der Flüchtenden schmolz so zusammen, daß mit Châtillon nicht mehr als dreißig Leute in das Haus des Herrn von Mortenay gelangen konnten; die übrigen lagen alle in ihrem Blut am Boden. Breydel stellte seine Leute vor der Tür des Stadtvogts auf und verbot ihnen, das Haus zu betreten. Er kreiste die Wohnung ein, damit niemand entfliehen sollte, und hielt selbst vor dem Eingang Wache.
Während dieses Gefechts war De Coninck in der Steinstraße bei der St. Salvatorskirche noch damit beschäftigt, die letzten Franzosen aufzuspüren. Das gleiche taten auch die anderen [256] Zünfte in den ihnen angewiesenen Straßenvierteln. Man warf die Leichen der Getöteten aus den Häusern, bis die Straßen ganz damit bedeckt waren und man in der Finsternis nur mit Mühe mehr hindurchdringen konnte. Viele Söldner der Besatzung hatten sich verkleidet und glaubten so, durch das eine oder andere Tor entfliehen zu können. Aber das glückte ihnen nicht, da man ihnen befahl, die Worte ‚Schild en vriend‘ auszusprechen. Kaum hörte man nur den Klang ihrer Stimme, da saß ihnen schon das Beil im Nacken, und stöhnend stürzten sie zur Erde. Aus allen Vierteln der Stadt ertönte der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw! Wat walsch is, valsch is – slaed al dood!“ Hie und da floh noch ein Franzose vor einem Klauwaert; aber er fiel bald einem anderen in die Hände und starb wenige Schritte weiter.
Dies Gemetzel dauerte, bis sich die Sonne bereits über den Horizont erhoben. Fünftausend Fremde wurden in dieser Nacht den Geistern der ermordeten Vlaemen geopfert. Das ist ein blutiges Blatt in den Chroniken Flanderns; die schreckliche Zahl steht genau darin aufgezeichnet.
Vor der Wohnung des Herrn von Montenay gab es ein seltsam schreckliches Schauspiel. Tausend Fleischer lagerten auf dem Boden, die Beile in der Hand, die Augen drohend und voll Rachsucht auf die Tür gerichtet. Ihre bloßen Arme, ihre Wämser waren von Blut gerötet, und zwischen ihnen lagen viele Leichen. Aber darauf schienen sie nicht zu achten. Einige Gesellen der anderen Zünfte schritten hie und da über die am Boden liegenden Fleischer und suchten die Leichen der erschlagenen Vlaemen, um sie zu bestatten. Wohl sah man den Fleischern die heftige Wut an, doch kein einziges Schimpfwort kam über ihre Lippen. Montenays Wohnung war ihnen dem gegebenen Wort gemäß heilig. Sie wollten De Conincks Gelübde nicht brechen; auch hatten sie zu viel Achtung vor dem Stadtvogt, und sie gaben sich deshalb damit zufrieden, das Quartier zu besetzen und zu bewachen.
Herr von Châtillon und Jan van Gistel, der Leliaert, waren in Montenays Haus geflüchtet. Furchtbarste Angst hatte sie gepackt, denn sie sahen den sicheren Tod vor Augen; Châtillon war ein mutiger Ritter und erwartete kaltblütig sein Schicksal. Jan van Gistel dagegen war bleich und bebte. Trotzdem er sich Gewalt antat, konnte er seine Angst nicht verhehlen und erregte das Mitleid der anderen Franzosen, selbst bei Châtillon, der doch in derselben Gefahr schwebte. Die Herren waren in einem Saal des oberen Stockwerks nach der Straße zu. Von Zeit zu Zeit gingen sie zum Fenster und blickten schaudernd auf die Fleischer, die vor den Türen lagerten wie ein Haufen Wölfe, die auf ihre Beute lauern. Als auch van Gistel zum Fenster trat, hatte Breydel ihn bemerkt und mit dem Beil bedroht. Eine jähe Bewegung entstand unter den Fleischern. Alle hatten ihre Waffen zu dem Verräter, den sie töten wollten, erhoben. Wie bebte des Leliaerts Herz, als ihm diese tausend Beile sein Todesurteil entgegenblitzten! Er wandte sich zu den anderen Rittern und sprach gar kläglich:
„Wir müssen sterben, meine Herren, es gibt keine Gnade für uns; denn sie dürsten nach unserem Blute wie rasende Tiger. Sie werden nicht fortgehen; ach Gott, was sollen wir tun?“
„Durch dieses Pack umzukommen,“ entgegnete Châtillon, „ist nicht ehrenvoll. Ich wünschte, ich wäre wie ein Ritter mit dem Degen in der Faust gefallen; aber nun läßt sich das nicht ändern!“
Châtillons Kaltblütigkeit entmutigte van Gistel noch mehr.
„Es läßt sich nicht ändern!“ wiederholte er, „ach Gott, welch schrecklicher Augenblick, wie werden sie uns martern! Herr von Montenay, ich bitte Euch um Gottes willen, Ihr vermögt doch so viel über sie, fragt doch, ob sie uns für großes Lösegeld das Leben schenken wollen.“
„Ich werde sie fragen,“ antwortete Montenay, „aber laßt Euch nicht sehen, sonst holen sie Euch aus dem Hause!“
Er öffnete das Fenster und rief:
„Meister Breydel! Herr van Gistel läßt Euch fragen, ob Ihr ihm gegen ein großes Lösegeld freies Geleit gewähren würdet. Verlangt alles, was Ihr wollt, bestimmet selbst die Summe. Verweigert es nicht, ich bitte Euch.“
„Leute!“ rief Breydel seinen Genossen bitter lachend zu, „sie bieten uns Geld! Sie glauben, die Rache eines Volkes könnte mit Geld gesühnt werden; sollen wir das annehmen?“
„Wir müssen den Leliaert haben,“ heulten die Fleischer, „sterben muß er, der Verräter, der Bastardvlaeme!“
Dieses Geschrei gellte fürchterlich in Gistels Ohren. Es kam ihm vor, als ob die Beile ihm schon den Todesstreich versetzten. Montenay wartete, bis sich das ungestüme Rachegeschrei gelegt hatte, und rief dann von neuem:
„Ihr habt mir gesagt, daß meine Wohnung eine Freistatt sei. Warum brecht Ihr nun das gegebene Wort?“
„Wir werden Eure Wohnung achten,“ antwortete Breydel. „Aber ich gebe Euch mein Wort: weder Châtillon noch Gistel sollen die Stadt lebend verlassen; ihr Blut soll das Blut unserer Brüder sühnen, und wir werden nicht von hier weichen, bis unsere Beile ihnen den letzten Nackenstreich versetzt haben.“
„Und darf ich frei die Stadt verlassen?“
„Ihr, Herr von Montenay, Ihr mögt mit Euren Dienern gehen, wohin Ihr wollt. Kein Haar auf Eurem Haupt soll gekrümmt werden; aber täuscht uns nicht, denn wir kennen die Leute, die wir suchen, nur zu wohl.“
„Nun denn, so sage ich Euch, daß ich binnen einer Stunde nach Kortrijk abreisen werde.“
„Gott nehme Euch in seinen Schutz!“
„Ihr habt also mit wehrlosen Rittern keinerlei Mitleid?“
„Sie haben auch mit unseren Brüdern kein Mitleid gehabt, wir müssen ihr Blut haben. Der Galgen, den sie errichteten, steht noch da.“
Montenay schloß das Fenster wieder und sprach zu den Rittern:
„Meine Herren, ich beklage euch tief: sie verlangen euren Tod. [259] Ihr schwebt in großer Gefahr! Aber ich hoffe dennoch, daß ich Euer Edeln noch mit Gottes Hilfe werde retten können. Denn hier führt eine Hintertür nach dem Hofe, durch die ihr vielleicht euren blutdürstigen Feinden entrinnen könnt. Verkleidet euch und steigt zu Pferde. Dann werde ich mit meinen Dienern zur Tür hinausgehen, und während ich so die Aufmerksamkeit der Fleischer auf mich ziehe, müßt ihr schleunigst durch die Hintertür nach den Wällen fliehen. Am Schmiedetor ist die Mauer abgebrochen, und es kann euch nicht schwer fallen, ins freie Feld zu gelangen; denn eure Pferde wird man nicht aufhalten können.“
Châtillon und van Gistel warfen sich voller Freude auf dieses letzte Mittel. Der Landvogt legte die Kleider seines Kaplans an, van Gistel die eines einfachen Dieners; dreißig andere Franzosen, die noch übriggeblieben waren, zogen die Pferde aus den Ställen und trafen die nötigen Vorbereitungen, um mit ihrem Feldherrn zu entfliehen.
Als sie alle aufgesessen waren, trat Herr von Montenay mit seinen Dienern auf die Straße, wo die Fleischer lagen. Diese argwöhnten nicht im geringsten, daß man auf einer anderen Seite hinauskommen könne; sie standen auf und betrachteten alle, die den Stadtvogt begleiteten, ganz genau. Aber plötzlich erhob sich in einer anderen Straße der Ruf: „Vlanderen den Leuw! Wat walsch is, valsch is! Slaet al dood!“ und man hörte den Hufschlag der davonjagenden Rosse an der Straßenecke. Hals über Kopf liefen alle Fleischer mit wildem Geheul zu der Stelle, von wo der Lärm herübertönte; aber es war zu spät. Châtillon und van Gistel waren entflohen; von den dreißig Mann, die sie begleiteten, waren zwanzig niedergemacht worden; denn überall stießen sie auf Feinde, die über sie herfielen; doch das Glück fügte es, daß die beiden Ritter entkamen. Sie flohen hinter Saint-Klara vorbei zum Stadtwall und gelangten ans Schmiedetor; hier sprangen sie mit ihren Trabern in den Graben und schwammen mit großer Gefahr [260] hindurch, wobei Châtillons Troßknecht samt seinem Pferde ertrank.
Die Fleischer hatten die fliehenden Franzosen bis zum Tor hinein verfolgt. Als sie ihre beiden Erzfeinde in der Ferne zwischen den Bäumen verschwinden sahen, packte sie rasende Wut, und sie begannen förmlich zu toben; denn nun war es ihnen, als sei die Rache dennoch unvollständig geblieben. Nachdem sie einige Zeit wie versteinert auf die Stelle gestiert hatten wo Châtillon verschwunden war, verließen sie den Wall und wandten sich mißvergnügt zum Freitagsmarkt. Plötzlich weckte ein anderes Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Inmitten der Stadt erhob sich ein Stimmengewirr, ein öfters unterbrochenes, langanhaltendes Geschrei, als ob ein Fürst frohen Einzug hielte. Den Fleischern war dies Freudengeschrei unverständlich; sie waren noch zu weit davon entfernt. Allmählich kam die jauchzende Menge näher, und bald wurde der Siegesruf verständlich:
„Heil dem blauen Löwen! Heil unserem Obmann! Flandern ist frei! Heil! Heil!“
Die unübersehbare Menge aller Einwohner von Brügge fegte wie eine Gewitterwolke durch die Straßen. Das Jauchzen der Vlaemen, die ihre Freiheit erkämpft hatten, hallte wider die Mauern der Häuser und dröhnte wie rollender Donner über der Stadt. Frauen und Kinder liefen zwischen den bewaffneten Zunftgenossen einher, und frohes Händeklatschen mischte sich in den immer wiederkehrenden Ruf:
„Heil, heil dem blauen Löwen!“
Mitten aus diesen Scharen ragte eine weiße Standarte empor, darauf ein springender Löwe in blauer Seide gestickt war. Es war das große Banner der Stadt Brügge, das so lange den Lilien hatte weichen müssen. Jetzt hatte man es wieder aus seinem Versteck hervorgeholt, jetzt prangte es über den Leichen der erschlagenen Feinde, und die Wiederkehr dieses Wappens ward von Tausenden mit frohem Zuruf begrüßt.
Ein Mann von kleinem Wuchs trug das bejubelte Sinnbild und preßte es mit den über der Brust verschränkten Armen an sein Herz, als wollte er es mit der innigsten Liebe umfangen. Tränen liefen in Strömen über seine Wangen, Tränen der Liebe zum Vaterland und des Glückes; denn eine unaussprechliche Seligkeit verklärte seine Züge. Er, der selbst bei dem größten Unglück nie geweint hatte, vergoß jetzt Tränen, da er den Löwen seiner Vaterstadt wieder auf dem Altar der Freiheit aufstellte.
Die Augen der unabsehbaren Menge waren beständig auf ihn gerichtet, und der Ruf: „Heil De Coninck! Heil dem Löwen!“ erscholl immer kraftvoller. Als der Obmann der Weber mit der Standarte dem Freitagsmarkt nahte, wurden auch schon die Fleischer von toller Freude ergriffen. Auch sie stimmten in den jauchzenden Siegesruf ein und drückten einander mit feuriger Liebe die Hände. Wahrlich, Vaterlandsliebe erweckt im Menschen edle Gefühle. Wie von Sinnen stürzte Breydel vorwärts, erreichte die Standarte und streckte mit sichtlicher Ungeduld beide Hände nach dem Löwen aus. De Coninck reichte ihm das Banner und sprach:
„Hier, mein Freund, nun haben wir es zurückerobert, das Sinnbild der Freiheit unserer Väter.“
Breydel antwortete nichts, sein Herz war zu voll. Zitternd vor Rührung umschlang er die Standarte und umarmte so den blauen Löwen. Er barg sein Haupt in den Falten der Seide und weinte regungslos einige Augenblicke. Dann ließ er die Fahne los und warf sich in höchster Erregung an De Conincks Brust.
Während die beiden Vorsteher einander feurig in die Arme schlossen, rief das Volk unaufhörlich weiter, und fort und fort erscholl das laute Jauchzen der Tausende. Der Freitagsmarkt war nicht groß genug für alle Bürger, obgleich sie sich bis zum Ersticken drängten. Die Steinstraße war noch bis an die St. Salvatorskirche voller Menschen, ebenso wimmelte die [262] Schmiede- und Boveriestraße bis weit hinauf von Kindern und Frauen.
Der Obmann der Weber wandte sich zur Mitte des Marktes und nahte sich dem dort ragenden Galgen. Die Leichen der gehenkten Vlaemen waren abgenommen und bereits begraben worden; aber die acht Schlingen hatte man absichtlich als ein Erinnerungszeichen an die Zwingherrschaft noch daran gelassen. Die Standarte mit dem Brügger Löwen wurde neben dem Galgen aufgepflanzt und alsdann mit neuem Freudengeschrei begrüßt. Nachdem De Coninck noch einmal seine Augen zu dem wiedererrungenen Wappen erhoben hatte, sank er in die Knie, senkte das Haupt und betete mit gefalteten Händen. – Läßt man einen Stein in ruhiges Wasser fallen, so breitet sich die Bewegung in zitternden Kreisen mählich über die ganze Wasserfläche. Solcherart ging auch De Conincks Gedanke auf die Bürger über, obgleich die meisten ihn nicht sahen. Erst knieten die schweigend nieder, welche ihm zunächst standen; sie teilten die Bewegung den anderen mit, und so senkten sich der Reihe nach alle Häupter. Die Stimmen verstummten erst in der Mitte des Kreises und wurden dann immer leiser, bis zuletzt die größte Stille unter der Menge eingetreten war. Achttausend Menschen knieten auf dem noch blutigen Boden; achttausend Häupter beugten sich vor Gott, der die Menschen für die Freiheit erschaffen hat; sie hofften, daß der Herr huldvoll auf sie herabblickte, die Chöre der seligen Geister einstimmten in ihre innigen Dankgebete. Nach kurzer Zeit erhob sich De Coninck wieder vom Boden, und da noch immer die frühere Stille herrschte, sprach er mit lauter Stimme, so daß viele ihn verstehen konnten:
„Brüder, heute hat die Sonne ein helleres Licht für uns; denn die Luft in unserer Stadt ist wieder rein; der Atem der Fremden vergiftet sie nicht mehr. Die stolzen Franzosen glaubten, wir würden ihre Sklaven sein und bleiben; aber jetzt haben sie die Lehre, daß unser Löwe wohl schlafen, aber [263] nicht sterben kann, mit dem Verlust ihres Lebens bezahlt. Wir haben das Erbe unserer Väter wiedererrungen, die Fußstapfen der Fremden mit Blut verwischt. Aber noch sind nicht all unsere Feinde tot; Frankreich wird uns noch mehr bewaffnete Söldner senden, denn Blut verlangt Blut. Doch das hat nichts zu sagen, jetzt sind wir unüberwindlich. Trotzdem dürft ihr nach dem errungenen Siege nicht rasten! Erhaltet eure Herzen stark und kühl, laßt das edle Feuer, das jetzo in eurer Brust glüht, nicht erlöschen. Nun gehe ein jeglicher heim und freue sich mit seinem Hausgesinde über die glückliche Befreiung. Jauchzet! Trinket den Wein der Freude, denn dies ist der schönste Tag eures Lebens. Die Bürger, die keinen Wein haben, mögen nach der Halle gehen, dort soll jedem ein Maß verabfolgt werden.“
Das Geschrei, welches mählich wieder anwuchs, hinderte De Coninck, in seiner Rede fortzufahren; er winkte den umstehenden Anführern und ging mit ihnen an die Ecke der Steinstraße. Die Scharen öffneten sich ehrfurchtsvoll vor ihm, und überall begrüßte ihn der frohe Zuruf der Bürger. Alles drängte jetzt zu der Standarte, die neben dem Galgen aufgepflanzt war. Alle betrachteten in höchster Freude den blauen Löwen, blickten auf ihr Stadtwappen wie auf das Angesicht eines Freundes, der nach langen Reisen aus fremden Landen unter seine Brüder zurückgekehrt ist. Sie reckten die Hände so fröhlich empor, daß sie ein kühler, gleichgültiger Beobachter für sinnlos gehalten hätte.
Bald kamen auch Gesellen, die sich bereits Wein geholt hatten, mit ihren Kannen auf den Markt und verbreiteten die frohe Nachricht, daß in der Halle ein Maß für jeden verschenkt würde. Eine Stunde später hatte jeder seinen Trinkbecher in der Hand, und so endete dieser frohe Tag ohne Unordnung und Streit; nur ein Gefühl herrschte: ein Gefühl, wie es die Seele des Gefangenen packt, wenn er die Sonne wieder über seinem Haupte strahlen sieht und sich bewußt wird, daß fortan nur noch die weite Welt sein Kerker ist.
N un waren zwei Jahre vergangen, seit der Fremdling den Fuß auf den vaterländischen Boden gesetzt und gerufen hatte: „Beugt euer Haupt, ihr Vlaemen! Ihr Abkömmlinge des Nordens, gehorcht den Söhnen des Südens oder sterbt.“
Aber damals wußten sie nicht, daß es in Brügge einen Mann voll Geist und Heldenmut gab, einen Mann, der unter all seinen Zunftgenossen hervorleuchtete, zu dem Gott wie zu Moses gesprochen hatte: „Gehe hin und erlöse Deine Brüder aus den Banden Pharaos!“
Sobald die verheerenden Scharen der Franzosen den Boden des Vaterlands betreten hatten und die Sonne vom aufgewirbelten Staub verfinstert wurde, ertönte eine geheime Stimme in De Conincks Seele, eine Stimme, die da sprach: Gib acht, jene suchen Sklaven! Bei diesem Gedanken erzitterte der edle Bürger in schmerzvoller Entrüstung.
„Sklaven, wir Sklaven?“ war sein Seufzer. „O Herr, unser Gott, laß das nicht zu! Das Blut unserer freien Väter ist vor Deinen Altären dahingeströmt, im sandigen Arabien sind sie mit Deinem Namen auf den Lippen erschlagen worden; o gib es nicht zu, daß ihre Söhne von Fremdlingen in Ketten geschlagen werden, damit die Tempel, die wir Dir errichtet haben, nicht von Sklaven erfüllt werden.“
De Coninck hatte dieses Gebet in seiner Sprache gesprochen, aber das Herz der Menschen liegt offen vor ihrem Schöpfer. Er fand in dem Vlaemen noch all den Edelmut, den Geist, daraus seine Seele erschaffen war, und erleuchtete ihn mit einem göttlichen Strahl. Jählings von geheimer Kraft beseelt, fühlte sich der zwiefach stark und rief voll Begeisterung:
„Ja, Herr, ich habe Deine starke Hand auf meiner Stirn gefühlt; ja, ich werde mein Vaterland schützen! Ich werde die Gräber meiner Väter, Deiner Diener, nicht zertreten lassen! Gesegnet seist Du, o Gott, der mich berufen hat!“
Seit diesem Augenblick hatte De Coninck nur ein Sinnen, nur einen Wunsch in seinem Herzen bewahrt; aus dem großen Worte ‚Vaterland‘ entstanden all seine Gefühle, all seine Handlungen; Vorteil, Verwandtschaft, Ruhe, alles wurde geopfert, um allein der Liebe zu dem Lande des Löwen in seinem großen Herzen Raum zu geben. Wo gab es auch je einen edleren Sterblichen als diesen Vlaemen, der viele hundertmal sein Leben und seine Freiheit für Flanderns Freiheit wagte! Welchem Sterblichen ward jemals höherer Geist zuteil? Er allein vereitelte trotz aller Bastarde und Leliaerts, die Flandern verkaufen wollten, jegliche Unternehmung des Königs von Frankreich; er allein bewahrte sogar in Ketten ein Löwenherz und bereitete die Befreiung langsam vor.
Die Franzosen wußten es wohl: sie kannten den, der jeden Augenblick die Räder ihres Siegeswagens zerschellte. Sie hätten den lästigen Gegner wohl gern aus dem Wege geräumt, aber er besaß auch die List der Schlange. Er hatte sich in seinen Brüdern eine Brustwehr errichtet; das wußten die Fremdlinge und wagten nicht, ihn anzugreifen; denn alsdann würde er blutig gerächt worden sein. Während die Franzosen ganz Flandern unter das Joch der Tyrannei gebeugt hatten, lebte De Coninck im vollen Genuß seiner Freiheit unter seinen Mitbürgern und beherrschte sogar seine Gebieter; sie fürchteten ihn mehr, als er sie.
Jetzt hatten siebentausend Franzosen die zweijährige Unterdrückung mit dem Leben gebüßt; kein einziger Fremdling atmete mehr in dem befreiten Brügge; das Volk jubelte über seine Erlösung; die Stadt hallte wider von fröhlichen Liedern, die von den Minnesängern für dieses Fest gedichtet wurden, und die weiße Flagge mit dem blauen Löwen flatterte aufs neue vom Wachtturm. Dies Symbol, das in früheren Zeiten gleichermaßen auf den Mauern Jerusalems geprangt hatte und Zeuge so glorreicher Taten gewesen war, erfüllte die Herzen der Brügger mit Stolz; von diesem Tage an wurde [266] eine Unterjochung Flanderns unmöglich: die Bürger erinnerten sich, wie viel Blut ihre Väter für die Freiheit vergossen hatten. Bisweilen stürzten Tränen aus ihren Augen, Tränen, die das Herz erleichtern, wenn es zu feurig ist und von edler Leidenschaft erglüht.
Vielleicht wird man annehmen, daß De Coninck das Werk nun für vollendet gehalten, sich damit beschäftigt hätte, seine zerstörte Wohnung wiederherzustellen. Doch nein, er dachte weder an sein Haus, noch an den Reichtum, der ihm geraubt war; das Wohlergehen und die Ruhe seiner Brüder war seine erste Sorge. Er wußte wohl, daß von Freiheit zur Unordnung nur ein Schritt ist; drum erwählte er noch am gleichen Tage von jeder Zunft einen Altmeister und legte mit Zustimmung des Volkes die Regierung in ihre Hände. Er wurde nicht zum Vorsitzenden dieses Rates ernannt, keine Geschäfte wurden ihm übertragen, aber er übernahm sie alle. Niemand durfte etwas ohne sein Wissen tun, sein Rat war Befehl in allen Dingen, und ohne jemals etwas zu gebieten, war sein Gedanke doch die einzige Richtschnur für das Gemeinwohl, – so groß ist die Herrschaft des Geistes.
Das französische Heer war zwar vernichtet, aber man konnte sicher sein, daß Philipp der Schöne neue, noch zahlreichere Truppen nach Flandern schicken würde, um die ihm widerfahrene Schmach zu rächen. Die meisten dachten wenig an diese furchtbare Gewißheit, es genügte ihnen, jetzt frei und froh zu sein; aber De Coninck teilte nicht die allgemeine Freude. Er hatte die Gegenwart bereits vergessen. Denn er sorgte schon dafür, künftigem Unheil vorzubeugen. – Es war ihm nicht unbekannt, daß mit der Gefahr auch die Begeisterung und der Mut des Volkes dahingeht, und deshalb wandte er alle Mühe auf, um in der Stadt die Erinnerung an den Krieg dauernd lebendig zu erhalten. Jedem Gesellen wurde ein Goedendag oder eine andere Waffe gegeben, eine neue Einteilung der Zünfte vorgenommen und der Befehl erteilt, [267] sich jederzeit zum Kampf bereitzuhalten. Die Maurerzunft begann, die Festungswerke wiederherzustellen, und in den Werkstätten der Schmiede war es verboten, anderes als Waffen für die Gemeinde herzustellen. Die Zölle wurden neu eingerichtet und die städtischen Abgaben wieder erhoben. Durch diese weisen Maßnahmen lenkte De Coninck alle Gedanken, alle Bestrebungen auf ein Ziel und bewahrte auf diese Weise seine Vaterstadt vor dem mannigfachen Unheil, das eine große Umwälzung, so edel sie auch sei, allzeit nach sich zieht. Man hätte glauben sollen, die neue Regierung Brügges hätte schon längst bestanden.
Unmittelbar nach der Befreiung, während das Volk noch in allen Straßen den Wein der Freude trank, hatte De Coninck einen Boten in das Lager zu Damm gesandt, um die übrigen Zunftleute gleichwie die Frauen und Kinder in die Stadt zu rufen. Mit ihnen war auch Machteld gekommen, und man hatte ihr eine prachtvolle Wohnung im Prinzenhof angeboten. Sie hatte jedoch das Haus van Nieuwland erwählt, den Ort, da sie so manche trübe Stunde verlebt hatte, den Ort, daran alle ihre Tränen geknüpft waren. Hier fand sie an Adolfs guter Schwester eine zärtliche Freundin wieder, in deren Herz sie die Liebe und die Bangigkeit ihres beklemmten Herzens gießen konnte.
Zum vierten Male erhob sich die Sonne mit strahlender Glut über dem freien Brügge. Machteld saß allein in dem Gemach, das sie früher in dem Haus Adolfs van Nieuwland bewohnt hatte. Der treue Vogel, ihr geliebter Falke, war nicht mehr bei ihr, er war tot. In den ernsten Zügen der Jungfrau zeigten sich die bleichen, untrüglichen Kennzeichen ihrer Krankheit. Ihre Augen waren trübe, ihre Wangen eingefallen; alles verriet, daß bitteres Weh an ihrem Herzen nagte.
Just eben trat ihre Freundin Maria in das Gemach. Das Lächeln, welches jetzt über die Züge der Jungfrau glitt, war dem ähnlich, das sich zuweilen, selbst nach einem schmerzlichen [268] Tode, auf dem Antlitz mancher Gestorbenen hält; es drückte, mehr als die heftigste Klage, ihren Schmerz und Kummer aus. Sie sah die Schwester Adolfs mit einem Blick an, der zu ihr sagte: O, gib mir Trost und Linderung! Maria nahte dem bekümmerten Mägdelein und drückte ihm voll zärtlichen Mitleids die Hand. Sie verlieh ihrer Stimme den sanften Laut, der so wohltuend auf das Herz der Unglücklichen wirkt, und sprach:
„Ihr vergießt im stillen Tränen, teure Machteld, Euer Herz vergeht vor Leid und Kummer, und nichts, nichts erleichtert Euer bitteres Los! O, wie seid Ihr doch unglücklich!“
„Unglücklich, sagt Ihr, liebste Freundin? O ja, es ist etwas in meinem Innern, das mir das Herz zusammenpreßt und quält. Wißt Ihr, welch schreckliche Bilder mir stets vor Augen schweben? Begreift Ihr, warum ich immerdar weinen muß? Ich habe meinen Vater durch Gift sterben sehen, habe die Stimme eines Sterbenden vernommen, eine Stimme, die da sagte: Leb' wohl, mein Kind, das ich so zärtlich liebte.“
„Ich bitte Euch, teure Machteld,“ fiel Maria ihr ins Wort, „verbannt diese gräßlichen Gedanken. Ihr macht mich beben! Euer Vater lebt; Ihr versündigt Euch schwer durch diese Verzweiflung! Vergebt mir diese harten Worte.“
Machteld ergriff die Hand Marias und drückte sie sanft, als wollte sie ihrer Freundin zu verstehen geben, daß ihre Worte dennoch für sie tröstlich gewesen wären. Trotzdem hing sie weiter ihren traurigen Betrachtungen nach, als wenn es ihr Freude machte. Die Klagen vergrämter Herzen sind auch Tränen, die den Schmerz erleichtern. Sie fuhr fort:
„Ich habe noch mehr gesehen, Maria: ich sah den Scharfrichter, von der grausamen Johanna von Navarra entsandt, sein Beil über dem Haupt Eures Bruders erheben!“
„O Gott,“ rief Maria, „welch furchtbarer Gedanke!“
Sie bebte, und Tränen erzitterten in ihren Augen.
„Und auch seine Stimme habe ich vernommen, eine Stimme, die sagte: Lebe wohl! Lebe wohl!“
Von diesem schrecklichen Worte betroffen, warf sich Maria in Machtelds Arme; ihre Tränen flossen auf die klopfende Brust ihrer unglücklichen Freundin, und man hörte sie nur noch still schluchzen. Nachdem sie einander solcherart einige Zeit stumm und voll bitteren Schmerzes umschlungen gehalten hatten, fragte Machteld:
„Versteht Ihr nun meinen Schmerz? Begreift Ihr nun, weshalb ich langsam hinsieche?“
„O ja,“ antwortete Maria verzweifelt, „ja, ich verstehe, ich fühle Eure Leiden. O mein armer Bruder! Aber warum, teuerste Machteld, sollten wir uns so sehr durch trügerische Gedankengebilde peinigen lassen? Nichts kann diesem schmerzlichen Vorgefühl, das uns quält, auch nur einige Gewißheit geben; ich bin überzeugt, daß unserem Herrn Robrecht, Eurem Vater, nichts Schlimmes widerfahren, daß mein Bruder bereits auf dem Wege ist, ins Vaterland zurückzukehren.“
„Und Ihr habt geweint, Maria? Weint man, wenn einem die Rückkehr des Bruders entgegenlacht?“
„Ihr quält Euch selbst, liebe Jungfrau! O, der Schmerz muß tiefe Wunden in Eurem Herzen geschlagen haben, daß Ihr diesen schwarzen Bildern so hartnäckig nachhängt. Glaubt mir, Euer Vater lebt, und vielleicht steht seine Befreiung nahe bevor. Denkt nur, wie Ihr Euch freuen werdet, wenn Ihr erst seine Stimme hört, die zu Euch sagen wird: Meine Ketten sind zerbrochen! Wenn er einen zärtlichen Kuß auf Eure Stirn drücken und seine liebevolle Umarmung Eure Wangen wieder röten wird. Ihr werdet wieder in dem herrlichen Schloß Wijnendael wohnen: Herr van Bethune wird den Thron seiner Väter besteigen, und dann sollt Ihr durch Eure Liebe eine Stütze seines Alters werden! Dann werdet Ihr nicht mehr Eurer gegenwärtigen Schmerzen gedenken, es sei denn, um Euch an dem zu erfreuen, was Ihr [270] aus Liebe zu Eurem durchlauchtigen Vater gelitten habt. Sagt mir nun, meine teuerste Machteld, wollt Ihr denn jeglichen Hoffnungsstrahl von Eurer Seele abwehren, können diese frohen Aussichten Euch keinen Trost verleihen?“
Während dieser Worte war eine merkliche Veränderung in Machteld vor sich gegangen. Sanfte Freude hatte ihr Auge geheitert, und ein liebliches Lächeln schwebte um ihre Lippen.
„O Maria,“ schluchzte sie, während sie ihren rechten Arm um den Hals ihrer tröstenden Freundin schlang, „wüßtet Ihr, welche Erquickung ich empfinde, welch unerwartetes Glück Ihr wie einen Balsam über mich ausgegossen habt! So möge der Engel des Herrn Euch in Eurer letzten Stunde trösten. Welch süße Worte gab Euch die Freundschaft ein, meine Schwester!“
„Eure Schwester,“ wiederholte Maria, „dieser Name kommt Eurer Dienerin nicht zu, durchlauchtige Jungfrau. Ich bin hinlänglich belohnt, wenn ich diesen tiefen Gram von Euch gescheucht habe.“
„Nehmt diesen Namen an, meine liebe Maria. Ich liebe Euch so zärtlich. Und ward Euer edler Bruder nicht mit mir erzogen? Ward er mir nicht von meinem Vater zum Bruder gegeben? Ja, wir sind von der gleichen Familie. O, ich bete ganze Nächte, daß die heiligen Engel Adolf auf seiner gefährlichen Reise bewahren mögen! Er kann mich noch trösten, noch erheitern! Aber horch! sollte mein Gebet erhört sein? Ja, ja, da ist er, mein lieber Bruder!“
Sie reckte den Arm und wies regungslos mit dem Finger nach der Straße. Sie stand da gleich einer Statue und schien einem fernen Geräusch zu lauschen. Maria erschrak; sie glaubte, Machtelds Sinne hätten sich verwirrt. Gerade als sie sprechen wollte, hörte sie den Hufschlag eines Rosses in der Straße widerhallen und begriff jetzt den Sinn von Machtelds Worten. Dieselbe Hoffnung durchdrang auch sie, und sie fühlte die ungestümen Schläge ihres Herzens sich verdoppeln. [271] Einige Augenblicke hatten sie miteinander solcherart sprachlos dagestanden, dann verstummte plötzlich das Geräusch, das sie gehört hatten, und schon glaubten beide, sie hätten sich in ihrer frohen Hoffnung getäuscht, als die Tür des Gemachs ungestüm aufgerissen wurde.
„Da ist er! Da ist er!“ rief Machteld. „Gott sei Dank, meine Augen sehen ihn wieder!“
Sie lief dem Ritter hastig entgegen, und auch Adolf eilte herbei; doch er fuhr plötzlich bebend zurück. Statt der lieblichen Jungfrau, der er zu begegnen glaubte, sah er eine abgehärmte Gestalt vor sich mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen. Während er bedachte, ob dieser Schatten Machteld sei oder nicht, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Körper; alles Blut drang ihm von den Wangen zum Herzen, und sein Gesicht war bleicher denn das weiße Gewand seiner Freundin. Seine Arme sanken nieder, und die Augen starrten auf die abgezehrten Wangen Machtelds. So stand er bewegungslos, als ob ihn der Blitz getroffen hätte. Plötzlich senkte er die Augen zu Boden, und eine Flut bitterster Tränen strömte über seine Wangen. Er sprach kein einziges Wort, selbst keine Klage, kein Seufzer kam über seine Lippen. Vielleicht hätte er noch lange in stiller Verzweiflung geweint, denn sein Herz war zu sehr von Trauer ergriffen, um es durch Worte entlasten zu können; aber seine Schwester Maria, die sich aus Achtung vor Machteld bis dahin zurückgehalten hatte, flog ihm um den Hals und weckte ihn durch Küsse, mit denen sie unter zärtlichen Worten die Wange ihres geliebten Bruders bedeckte. Die Jungfrau betrachtete die Äußerung schwesterlicher Liebe mit inniger Rührung, sie zitterte und wurde von tiefster Niedergeschlagenheit ergriffen. Adolfs Erbleichen und der Schreck, den er so deutlich verriet, hatten ihr gekündet: Du bist entstellt, deine abgezehrten Wangen beängstigen, deine erloschenen Augen flößen Furcht und Schrecken ein; sogar der Mann, den du deinen Bruder nennst, erbebte bei deinem Anblick. [272] Von düsterer Verzweiflung durchschüttert, fühlte sie die bebenden Knie versagen. Mühsam schleppte sie sich bis zu einem Lehnstuhl und ließ sich kraftlos und matt in ihn hineinsinken. Sie barg das Gesicht in den Händen und blieb in dieser Stellung sitzen. Nach einigen Augenblicken hörte sie in dem Gemach keinen Laut mehr, größte Stille herrschte um sie her, und sie vermeinte, daß man sie grausam verlassen habe.
Aber bald fühlte sie eine Hand die ihre drücken; sie hörte sich mit zärtlich-flehentlicher Liebe anrufen: „Machteld! Machteld! O meine unglückliche Schwester!“
Dann öffnete sie die Augen und sah Adolf weinend vor sich stehen. Tränen rollten über seine Wangen, und aus seinen Blicken sprach heiße Zuneigung, tiefes Mitleid.
„Ich bin verändert, nicht wahr, Adolf,“ seufzte sie. „Ihr fürchtet Euch vor mir; Ihr werdet mich nicht mehr so gern wie früher haben.“
Der Ritter verfärbte sich bei diesen Worten und betrachtete das Mädchen mit seltsamem Blick. Er faßte sich jedoch schnell und sprach:
„Machteld, habt Ihr an meiner Zuneigung zweifeln können? O, das ist nicht recht von Euch! Wirklich, Ihr seid allerdings verändert! Welche Krankheit, welcher Kummer hat Euch so gequält, meine arme Schwester, daß alle Farbe aus Euren Wangen gewichen ist? Ich habe geweint und war erschreckt. Ja, aber es war aus Mitleid, aus Teilnahme an Eurem Schicksal. Immer, immer will ich Euer Freund und Bruder sein, Machteld. Ich will Euch trösten durch eine frohe Nachricht, durch gute Neuigkeiten Euch heilen!“
Die Jungfrau war allmählich heiterer geworden. Die Stimme Adolfs übte einen wunderbaren Einfluß auf sie aus, und froh und lebhaft antwortete sie: „Eine gute Nachricht, sagt Ihr, Adolf? Gute Nachricht von meinem Vater? O, sprecht, sprecht, mein Freund!“
Dabei zog sie zwei Stühle zu ihrem Sessel und bot sie Maria und ihrem Bruder an. Adolf reichte Machteld die eine Hand, die andere seiner teuren Schwester. So saß er inmitten der beiden nun weniger bekümmerten Mägdelein wie ein tröstender Engel, auf dessen Worte man lauscht wie auf ein frommes Lied.
„Freut Euch, Machteld, dankt Gott für seine Güte. Euer Vater ist zwar betrübt, doch ganz gesund nach Bourges zurückgekehrt; niemand denn der alte Kastellan und Dietrich der Fuchs wissen um seine kurze Abwesenheit. Er genießt noch Freiheit in seinem Gefängnis; die Feinde, die ihn bewachen müssen, sind seine besten Freunde geworden.“
„Aber wenn die böse Johanna Frankreichs Schmach an ihm rächen wollte, wer würde ihn dann vor ihren Henkersknechten schützen? Ihr seid nicht mehr bei ihm, edler Freund.“
„Seht, Machteld, die Wachen, denen die Feste zu Bourges anvertraut ist, sind alle alte Krieger, die ob schwerer Wunden zu weiten Kriegsfahrten nicht mehr tauglich sind. Die meisten unter ihnen haben die Heldentaten des Löwen von Flandern zu Benevent mit erlebt. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, welche Liebe, welche Bewunderung ein echter Krieger vor dem Manne fühlt, dessen Name die Feinde Frankreichs so oft erzittern machte. Wenn Herr van Bethune ohne Erlaubnis des Kastellans, ihres Befehlshabers, entfliehen wollte, würden sie ihn ohne Zweifel zurückhalten; aber ich versichere Euch, – denn ich kenne den Edelmut dieser Krieger, die unter dem Harnisch ergraut sind, – daß sie alle ihr Blut für ihn dahingeben würden, wenn man auf dem von ihnen so verehrten Haupte nur ein Härlein krümmen wollte. Fürchtet nichts, das Leben Eures Vaters ist in Sicherheit, und wäre ihm Euer neues Unglück nicht so nahe gegangen, er würde seine Haft geduldig ertragen.“
„O, wie gut sind Eure Nachrichten, mein Freund, wie hold erklingen Eure Worte meinem erleichterten Herzen! Ich fühle [274] mich bei Eurem Lächeln wieder aufleben; fahrt fort, damit ich Eurer Stimme noch weiter lauschen kann.“
„Noch süßere Hoffnungen gab mir der Löwe für Euch mit auf den Weg, Machteld. Vielleicht steht die Befreiung Eures Vaters nahe bevor; vielleicht werdet Ihr in kurzem mit ihm und all Euren Blutsverwandten wieder in dem schönen Wijnendaal sein.“
„Was sagt Ihr, Freund? Eure Liebe gibt Euch diese Worte ein, umschmeichelt mich doch nicht mit einem unmöglichen Glück.“
„Seid doch nicht so ungläubig, Machteld. Hört, worauf diese frohe Hoffnung gegründet ist: Ihr wißt, daß sich Karl von Valois, der edelste Franzose, der wackerste Ritter, nach Italien zurückgezogen hat. Auch am römischen Hofe hat er nicht vergessen, daß er die schuldlose Ursache für die Gefangennahme Eurer Verwandten war. Der Gedanke peinigt ihn, wie ein Verräter seinen Freund und Waffengefährten, den Löwen von Flandern, den Händen seiner Feinde selbst überliefert zu haben. So bemüht er sich denn, auf jede nur mögliche Weise seine Befreiung zu bewirken. Schon sind die Gesandten des Papstes Bonifacius vor König Philipp dem Schönen erschienen und haben von ihm dringend die Freilassung Eures Vaters und all Eurer Verwandten gefordert. Der Heilige Vater spart keine Mühe, um Flandern seine gesetzmäßigen Fürsten zurückzugeben. Der französische Hof ist zum Frieden geneigt. Wir wollen uns an diese tröstende Hoffnung klammern, treue Freundin.“
„Gewiß, Adolf, wir wollen so trostvolle Gedanken nähren! Aber wir schmeicheln uns nur mit trügender Hoffnung. Wird der König von Frankreich den Untergang seiner Söldner nicht rächen? Wird Châtillon, unser erbitterter Feind, seine grausame Nichte Johanna nicht aufstacheln? Bedenkt doch, Adolf, was für Folterqualen diese blutdürstige Frau ersinnen kann, um sich an uns für die Tapferkeit der Vlaemen zu rächen.“
„Quält Euch doch nicht selbst, meine liebe Machteld. Eure Furcht ist ja unbegründet. Vielleicht wird auch Philipp der Schöne durch die schreckliche Vernichtung seiner Söldner inne werden, daß die Vlaemen sich niemals der Franzosenherrschaft fügen. Sein eigner Vorteil wird ihn zwingen, unsere Landesherren in Freiheit zu setzen, sonst verliert er das schönste Lehen seiner Krone. Ihr seht, edle Jungfrau, daß alles sich günstig gestaltet.“
„Ja, ja, Adolf, in Eurer Gegenwart weicht all mein Kummer. Ihr sprecht so tröstlich, daß mein Herz gar freudig davon erklingt.“
Solcherart sprachen sie noch lange über ihre Befürchtungen und Hoffnungen, und als Adolf Machteld alles dargelegt und ihr Herz mit Trost gelabt hatte, richtete er in brüderlicher Liebe auch das Wort an seine Schwester. So entspann sich ein ruhiges Geplauder, das sie recht froh und heiter stimmte. Machteld vergaß alles erlittene Weh; sie atmete freier, kräftiger, und ihre Wangen färbten sich mit einer leichten Röte.
Plötzlich ließ sich brausender Lärm in den Straßen vernehmen. Tausende von Stimmen erklangen, und laute Freudenrufe der Menge schollen durcheinander. Nur in den Pausen ließen sich einzelne Rufe verstehen. „Vlaenderen den Leeuw! Heil, Heil unserem Grafen!“ schrie das begeisterte Volk mit frohem Händeklatschen. Adolf war mit den Frauen zum Fenster getreten. Sie sahen die wogende Menge, Kopf an Kopf, nach dem Markt eilen. Auch Frauen und Kinder befanden sich in dem Menschenstrom. In einer anderen Straße vernahmen sie den Hufschlag zahlreicher Rosse. Aus allem konnten sie schließen, daß ein Reiterheer in Brügge seinen Einzug hielt. Während sie die mögliche Ursache dieser Volksbewegung besprachen, teilte ein Diener mit, daß ein Bote um die Erlaubnis bäte, vor ihnen erscheinen zu dürfen. Sobald sie erteilt war, trat der Bote in das Zimmer. Es war ein junger Edelknabe, ein liebliches Kind, dessen Züge Unschuld und Treue kündeten. [276] Seine Kleidung war aus schwarzer und blauer Seide und gar zierlich geschmückt. Er nahte bis auf wenig Schritt den Frauen, entblößte ehrerbietig das Haupt und verbeugte sich tief, ohne aber zu sprechen.
„Welch gute Nachricht bringst Du uns, mein lieber Knabe?“ fragte Machteld freundlich.
Jetzt hob der Edelknabe das Haupt und antwortete mit zarter Kinderstimme:
„An die durchlauchtigste Tochter des Löwen, unseres Grafen! Ich bringe eine Botschaft von meinem Herrn und Meister Gwijde, der in diesem Augenblick mit fünfhundert Reitern in die Stadt eingerückt ist. Er läßt seine schöne Nichte Machteld van Bethune grüßen und wird ihr in nur wenigen Stunden seine innige Zuneigung selbst bezeigen. Dies meine Botschaft, die Euch hiermit kund getan sei, edle Jungfrau.“
Dann trat er gesenkten Hauptes zur Tür zurück und entfernte sich. Gemäß dem Versprechen, das der junge Gwijde von Flandern im Gehölz bei den Ruinen von Nieuwenhove De Coninck gegeben hatte, war er mit der vereinbarten Hilfe von Namur eingetroffen. Unterwegs hatte er das Schloß Wijnendaal erstürmt und die französische Besatzung niedergemacht. Ebenso hatte er die Burg Sijsseele bis auf den Grund zerstört, weil ihr Kastellan ein geschworener Leliaert war und den Franzosen in seinen Mauern Zuflucht gewährt hatte. Der siegreiche Einzug Gwijdes riß die Bürger zu höchster Freude hin. In allen Straßen jauchzte und jubelte die Menge:
„Heil unserem Grafen! Vlaenderen den Leeuw!“
Sobald der junge Feldherr mit seinen Reitern auf dem Freitagsmarkt anlangte, überreichten ihm die Altmeister die Schlüssel, und so wurde ihm, als zeitlichem Grafen von Flandern, bis zur Befreiung Robrechts van Bethune, seines Bruders, gehuldigt. Nun schien den Brüggern ihre Freiheit vollkommen; denn jetzt hatten sie einen Fürsten, der sie in den Krieg führen konnte. Die Reiter wurden bei den vornehmsten Bürgern [277] untergebracht. Ja, der Eifer und die Dienstfertigkeit war so groß, daß man sich förmlich schlug, um den Zaum eines Pferdes zu erhaschen; jeder wollte einen der Leute des Grafen bei sich haben. Man kann sich vorstellen, wie gastfrei und freundlich diese Hilfstruppen empfangen wurden.
Als Gwijde die durch De Coninck eingerichtete Regierung bestätigt hatte, ging er unverzüglich zu dem Nieuwlandschen Hause, umarmte seine kranke Nichte immer und immer wieder und erzählte ihr, wie er die Franzosen aus dem geliebten Wijnendaal vertrieben habe. Ein köstliches Mahl harrte ihrer, das Maria anläßlich der glücklichen Rückkunft ihres Bruders hatte bereiten lassen. Sie tranken den Freudentrunk auf die Befreiung der gefangenen Vlaemen und weihten auch dem schmerzlichen Andenken der vergifteten Philippa eine Träne.
N ach der schrecklichen Nacht, in der solche Ströme Franzosenblutes vergossen worden waren, kamen Châtillon, Jan van Gistel und die wenigen anderen, die dem Tod entronnen waren, nach Kortrijk. Das war noch stark besetzt, so daß die Truppen in dem festen Kastell ohne Gefahr bleiben konnten. Die Franzosen setzten auf diesen Ort ob seiner unüberwindlichen Festungswerke das meiste Vertrauen. Châtillon war ganz verzweifelt über seine Niederlage und glühte vor Rachedurst. Er zog noch einige Söldnerabteilungen aus anderen Städten heran, um Kortrijk gegen jeden Angriff zu sichern, und übergab den Oberbefehl der Stadt dem Kastellan van Lens, einem verräterischen Vlaemen. In aller Eile besuchte er noch die übrigen Grenzstädte und besetzte sie mit dem Rest der Truppen aus der Picardie; zum Befehlshaber von Rijssel machte er den Kanzler Pierre Flotte; dann reiste er nach Paris an den Hof des Königs, der die Niederlage seiner Truppen bereits erfahren hatte. Philipp der Schöne empfing den Landvogt von Flandern mit dem höchsten Unwillen und machte ihm Vorwürfe, daß [278] seine Gewaltherrschaft all dies Unglück verschuldet hatte. Vielleicht wäre Châtillon für immer in Ungnade gefallen. Aber die Königin Johanna haßte ja die Vlaemen und hatte sich über ihre Bedrückung gefreut: sie wußte ihren Oheim Châtillon so gut zu entschuldigen, daß Philipp der Schöne sich schließlich mehr zum Dank als zum Zorn geneigt fühlte. Alsbald wandte der französische Fürst seinen Unwillen wider die Vlaemen und schwur, an ihnen sattsam Rache zu nehmen.
Schon war ein Heer von zwanzigtausend Mann vor Paris versammelt, um das Königreich Majorka aus den Händen der Ungläubigen zu befreien. Es waren dies die Truppen, deren Einberufung Robrecht van Bethune den vlaemischen Herren angezeigt hatte. Mit diesem Heere hätte man gegen Flandern Krieg führen können, aber Philipp zog es vor, die Rache noch einige Zeit aufzuschieben, um mit noch mehr Truppen zu Felde zu ziehen. Durch außerordentliche Boten erging ein Aufruf durch ganz Frankreich: darin wurde den Bannerherren des Landes kundgetan, daß die Vlaemen siebentausend Franzosen ermordet hätten, und daß der Fürst seine Lehensleute mit ihren Untergebenen so eilig als möglich nach Paris berufe, um diese schmachvolle Niederlage zu rächen. In jenen Zeiten waren Waffenübungen und Krieg die einzige Beschäftigung der Edelleute; – sie freuten sich, wenn sich irgendwo Gelegenheit zum Kämpfen bot; daher ist es also gar nicht verwunderlich, daß sie dem Rufe willig Folge leisteten. Aus allen Teilen des weiten Frankreich kamen die Vasallen mit ihren bewaffneten Leuten herbeigeeilt, und in wenigen Tagen war das französische Heer mehr als fünfzigtausend Mann stark.
Neben dem Löwen von Flandern und Karl von Valois war Robert d'Artois einer der kühnsten Kriegshelden Europas und war jenen beiden sogar durch die Kriegskunde und Erfahrung überlegen, die er auf seinen zahlreichen Streifzügen erworben hatte. Noch niemals hatte er volle acht Tage hintereinander seinen Harnisch abgelegt, und so war er in Waffen ergraut. [279] Sein unerbittlicher Haß war damals gegen die Vlaemen aufgeflammt, als sie seinen einzigen Sohn bei Veurne erschlagen hatten; er bestimmte die Königin Johanna, ihn zum obersten Befehlshaber des Heeres zu ernennen; das begegnete auch gar keiner Schwierigkeit; denn niemandem stand dieses ehrenvolle Amt mehr zu als Robert d'Artois.
Geldmangel und auch der tägliche Zustrom noch weiterer Vasallen aus fernliegenden Herrschaften hielten das Heer einige Zeit in Frankreich zurück. Die übergroße Hast, mit der die Franzosen gewöhnlich bei ihren Feldzügen zu Werke gingen, war ihnen schon gar manches Mal verderblich geworden. Sie hatten durch eigenen Schaden gelernt, daß auch Vorsicht eine Macht ist; deshalb wollten sie sich diesmal auf alle Fälle vorsehen und mit mehr Klugheit zu Werke gehen. –
Die boshafte Königin von Navarra entbot Robert d'Artois zu sich und peitschte ihn zu jeder nur möglichen Grausamkeit in Flandern auf. Unter anderem befahl sie ihm, allen vlaemischen Säuen die Brüste abschneiden, all ihre Ferkel mit dem Schwerte durchbohren und die Hunde von Flandern totschlagen zu lassen: Die ‚Hunde‘ von Flandern, das waren die Tapferen, die mit dem Schwert in der Faust für das Vaterland stritten; mit den ‚Säuen‘ und ‚Ferkeln‘ waren die Frauen und Kinder gemeint! Solch schändliche Worte im Munde einer Königin, eines Weibes, werden als Beweis ihrer Grausamkeit in den Chroniken aufbewahrt.
Während dieser Verzögerung verstärkten sich aber auch die Vlaemen ganz gewaltig. Herr Johann van Borluut hatte die Genter gegen die Besatzung ihrer Stadt aufgewiegelt und vertrieb die Franzosen aus Gent; ihrer siebenhundert blieben in diesem Kampf. Auch Oudenaarde und mehrere andere Gemeinden machten sich frei, so daß solcherart nur noch in den stark befestigten Städten, wohin sich die flüchtigen Franzosen zusammengezogen hatten, Feinde verblieben. Wilhelm von Jülich kam mit einer großen Schar Bogenschützen aus Deutschland [280] nach Brügge. Sobald Herr Johann van Renesse mit vierhundert Seeländern zu ihm gestoßen war, brachen sie beide mit den Truppen und einer Menge Freiwilliger nach Kassel auf, um die französische Besatzung anzugreifen und zu vertreiben. Die Stadt war außerordentlich stark befestigt und konnte nicht leicht genommen werden. Wilhelm von Jülich hatte auf die Mitwirkung der Bürger gerechnet; aber sie wurden zu gut von den Franzosen bewacht, als daß sie sich hätten rühren können. Das zwang ihn, eine regelrechte Belagerung zu beginnen; doch es dauerte recht lange, ehe er sich die nötigen Werkzeuge dazu verschaffen konnte.
Der junge Gwijde war in den bedeutendsten Städten Flanderns mit Jubel empfangen worden. Seine Anwesenheit hatte gar manchem Mut gegeben, ihn zur Verteidigung des Vaterlandes angespornt. Ebenso hatte Adolf van Nieuwland die kleineren Ortschaften besucht, um das Volk zu den Waffen zu rufen.
In Kortrijk lagen fast dreitausend Franzosen unter dem Befehl des Kastellans van Lens. Statt sich durch gute Behandlung bei der Bürgerschaft beliebt zu machen, begingen diese zusammengelaufenen Kriegsknechte alle möglichen Ausschreitungen. Aber das hatten die Kortrijker sehr bald satt. Durch das Beispiel der anderen Städte ermutigt, erhoben sie sich einmütig gegen die Franzosen und erschlugen mehr als die Hälfte; die übrigen flohen in aller Eile auf das Kastell und verschanzten sich gegen den Ansturm des Volkes. Aus Rache schossen sie Brandpfeile auf die Stadt und steckten die schönsten Gebäude in Flammen. Alle Häuser rings um den Markt und der Begijnenhof wurden durch das Feuer von Grund aus vernichtet. Die Kortrijker belagerten das Kastell voll Mut und sonder Zagen; doch es war ihnen nicht möglich, die Franzosen ohne fremde Hilfe zu vertreiben. Angesichts der trüben Aussicht, ihre Stadt bald ganz abbrennen zu sehen, sandten sie einen Boten nach Brügge, um Herrn Gwijde dringend um Beistand zu bitten.
Der Bote kam am 5. Juli 1302 zu Gwijde, legte ihm die beklagenswerte Lage der guten Stadt Kortrijk dar und versprach ihm im Namen der Bürger jede Hilfe und unbedingten Gehorsam. Dem jungen Grafen ging dieser Bericht sehr nahe, und er beschloß, sich unverzüglich nach der unglücklichen Stadt zu begeben. Da Wilhelm von Jülich alle Kriegsknechte nach Kassel geführt hatte, wußte Gwijde kein anderes Mittel, als die Zünfte von Brügge anzurufen. Er ließ sofort alle Obmänner in den oberen Saal des Prinzenhofs entbieten und ging selbst mit den Rittern, die sich bereits zu ihm begeben hatten, dorthin. Eine Stunde später waren die Einberufenen, dreißig an der Zahl, in dem bestimmten Gemach versammelt; mit entblößtem Haupt standen sie am Ende des Saales und erwarteten schweigend, was man ihnen mitteilen würde. De Coninck und Breydel, als die Häupter der beiden angesehensten Zünfte, standen vornan. Herr Gwijde saß in einem reichen Lehnstuhl am oberen Ende des Saales; ringsumher standen die Herren Jan van Lichtervelde und van Heyne, beide Beers von Flandern [31] , der Herr van Gavere, dessen Vater durch die Franzosen vor Veurne ermordet worden war; der Tempelritter Herr van Bornhem, Herr Robrecht van Leeuwerghem, Balduin van Ravenschoot, Ivo van Belleghem, Hendrik, Herr van Lonchyn, ein Luxemburger, Goswijn, van Goetsenhove und Johann van Cuyck aus Brabant, Peter und Ludwig van Lichtervelde; Peter und Ludwig Goethals van Gent und Heinrich van Petershem. Adolf van Nieuwland stand rechts vom jungen Grafen und sprach mit ihm.
In der Mitte des Raumes, zwischen den Vorstehern und Rittern, stand der Bote von Kortrijk. Sobald jeglicher seinen gehörigen Platz eingenommen hatte, hieß Gwijde dem Boten, [282] seine Mitteilung vor den Obmännern zu wiederholen. Er gehorchte diesem Befehl und sprach:
„Meine Herren, die Bürger von Kortrijk lassen euch durch mich wissen, daß sie die Franzosen aus ihrer Stadt vertrieben und ihrer fünfzehnhundert erschlagen haben; aber jetzt leidet die Stadt die größte Not. Der Verräter van Lens hat sich in das Kastell geworfen; er läßt täglich mit brennenden Pfeilen auf die Häuser schießen, und schon ist der reichste Teil der Stadt in Asche gelegt. Herr Arnold van Oudenaarde ist den Kortrijkern zu Hilfe gekommen, ihre Feinde sind jedoch zu zahlreich. In dieser schlimmen Lage bitten sie den Herrn Gwijde insonderheit und ihre Freunde in Brügge insgesamt um Hilfe und hoffen, daß sie keinen Tag zögern werden, ihre bedrängten Brüder zu befreien. Das ist es, was die Bürger von Kortrijk euch künden lassen.“
„Ihr habt es gehört, Obmänner,“ sprach Gwijde, „eine unserer besten Städte ist in Gefahr, ganz vernichtet zu werden; ich glaube nicht, daß der Hilferuf eurer Brüder von Kortrijk vergeblich sein wird. Aber die Sache heischt Eile, allein eure Mitwirkung kann sie aus ihrer Bedrängnis retten; deshalb ersuche ich euch, schnellstmöglich eure Zünfte zu den Waffen zu rufen. Wieviel Zeit braucht ihr, um eure Leute für diesen Zug zu rüsten?“
De Coninck antwortete:
„Heut nachmittag, durchlauchtigster Herr, werden viertausend bewaffnete Weber auf dem Freitagsmarkt stehen; ich werde sie führen, wohin Ihr befehlt.“
„Und Ihr, Meister Breydel, werdet Ihr auch da sein?“
Breydel trat mit stolzem Selbstbewußtsein vor und entgegnete:
„Edler Graf, Euer Diener Breydel wird Euch nicht weniger als achttausend Gesellen liefern.“
Die Ritter bekundeten die größte Verwunderung.
„Achttausend!“ riefen sie wie aus einem Mund.
„Ja, ja, meine Herren,“ fuhr Breydel fort, „achttausend oder [283] mehr. Alle Zünfte Brügges, nur die Weber ausgenommen, haben mich zum Anführer gewählt, und Gott weiß, wie ich mich für diese Gunst dankbar bezeigen werde. Heut mittag schon, wenn es Euer Edeln befiehlt, werden sich die getreuen Brügger auf dem Freitagsmarkt versammeln, und ich kann kühnlich behaupten, daß Euer Edeln an meinen Fleischern tausend Löwen in Euerm Lager haben; denn niemand ist ihnen gleich. Je eher, je lieber, edler Herr! Unsere Beile setzen schon Rost an.“
„Meister Breydel,“ sprach Gwijde, „Ihr seid ein tapferer, kühner Untertan meines Vaters. Das Land, das solche Männer hervorbringt, kann nicht lange in Sklaverei bleiben; ich danke Euch für Eure Tüchtigkeit.“
Ein freundliches Lächeln der umstehenden Ritter verriet, wie angenehm ihnen Breydels Worte gewesen waren. Der Obmann kehrte zu seinen Genossen zurück und flüsterte De Coninck ins Ohr:
„Ich bitte Euch, Meister, ärgert Euch nicht über das, was ich eben Herrn Gwijde gesagt habe. Ihr seid und bleibt mein Anführer, denn ohne Euern Rat würde ich nicht viel Gutes ausrichten. Meine Worte haben Euch doch nicht beleidigt?“
Der Obmann der Weber drückte Breydels Hand als Zeichen seiner Freundschaft und seines Einverständnisses.
„Meister De Coninck,“ fragte Gwijde, „habt Ihr die Zünfte von meinem Wunsch in Kenntnis gesetzt? Sollen mir die nötigen Gelder besorgt werden?“
„Die Zünfte von Brügge,“ war die Antwort, „stellen Euch all ihre Mittel zur Verfügung, edler Herr. Wollet nur einige Diener mit einem schriftlichen Befehl nach dem Pand senden: dort soll ihnen so viel Geld in Silber ausgezahlt werden, als Euer Edeln es wünschen. Sie bitten Euch, keine Rücksicht auf sie zu nehmen, denn die Freiheit kann ihnen gar nicht zu teuer sein.“
In dem Augenblick, da Gwijde die Bereitwilligkeit der Brügger [284] mit dankenden Worten anerkennen wollte, tat sich die Tür auf. Alles blickte erstaunt auf den Mönch, der, ungerufen, keck in den Saal trat und auf die Obmänner zuging. Eine Kutte von schwerem braunen Tuche war durch einen Strick um seinen Leib zusammengehalten, eine schwarze Kappe verbarg seine Züge, so daß man ihn nicht erkennen konnte. Er schien sehr alt, denn sein Rücken war gebeugt, und ein langer Bart hing über seine Brust herab. Flüchtig betrachtete er der Reihe nach alle Ritter, und sein scharfer Blick drang bis auf den Grund ihrer Herzen; wenigstens war es sichtlich sein Bestreben. Adolf van Nieuwland erkannte in ihm den gleichen Mönch, der ihm den Brief von Robrecht van Bethune gebracht hatte, und wollte ihn mit lauter Stimme begrüßen, aber das Gebaren des Mönches war so seltsam, daß dem jungen Ritter die Worte auf den Lippen erstarben. Alle Anwesenden wurden von Zorn ergriffen. Das kecke Auftreten des Fremden war eine Schmach, die sie sich nicht gefallen lassen wollten. Doch bald löste sich das Rätsel: da der Mönch seine Prüfung beendet hatte, band er den Strick von den Lenden los, warf seine Kutte und den Bart ab und blieb mitten im Saale stehen. Er erhob sein Haupt, und so gewahrte man einen Mann von ungefähr dreißig Jahren, von schlanker, kühner Gestalt, der die Ritter betrachtete, als ob er fragen wollte: Nun, erkennt ihr mich wieder?
Aber die Umstehenden antworteten nicht so rasch, wie er es wünschte, und so rief er:
„Meine Herren, es scheint Euer Edeln zu befremden, einen Fuchs unter dieser Kutte zu finden, und doch habe ich schon zwei Jahre darin verbracht.“
„Willkommen, willkommen, teurer Freund Dietrich!“ riefen die Edeln wie aus einem Mund; „wir dachten, Ihr wäret längst tot!“
„Dann könnt ihr Gott danken, daß ich wieder auferstanden bin,“ erwiderte Dietrich der Fuchs; „aber nein, ich war nicht [285] tot, unsere gefangenen Brüder und Herr van Nieuwland können es bezeugen. Ich habe sie alle getröstet, denn als ein Wanderpriester durfte ich die Gefangenen besuchen; Gott vergebe mir das Latein, das ich gesprochen habe. Ja, ja, meine Herren, lacht nicht, ich habe Latein gesprochen. Ich bringe Nachrichten von all unseren unglücklichen Landsleuten für ihre Blutsverwandten und Freunde.“
Einige der Ritter wollten ihn über das Schicksal der Gefangenen ausfragen; aber er verweigerte jede Antwort und fuhr fort:
„Um Gottes willen! fragt mich jetzt nicht darüber. Ich habe euch viel Wichtigeres zu erzählen. Hört und zittert nicht; denn ich bringe euch traurige Kunde. Ihr habt das Joch abgeschüttelt und eure Freiheit erkämpft; ich bedauere, daß ich dem Feste nicht habe beiwohnen können. Ehre sei euch, ihr edeln Ritter und Bürger, die ihr das Vaterland befreit habt. Ich kann euch versichern: wenn die Vlaemen binnen vierzehn Tagen keine neuen Ketten tragen, werden ihnen alle Teufel der Hölle die Freiheit nicht wieder rauben können; aber daran zweifle ich noch stark.“
„So erklärt Euch denn, Herr Dietrich, erklärt Euch näher und erschreckt uns nicht durch unverständliche Worte.“
„Nun denn, so sage ich euch: vor der Stadt Rijssel lagern zweiundsechzigtausend [32] Franzosen.“
„Zweiundsechzigtausend!“ wiederholten die Ritter und blickten einander erschrocken an.
„Zweiundsechzigtausend!“ wiederholte auch Breydel, während er erfreut die Hände rieb, „o Gott, welch schöne Herde!“
De Coninck senkte sein Haupt und verfiel in tiefes Sinnen; dieses war immer das erste, was der kluge Obmann der Weber in schwierigen Fällen tat. Dann berechnete er rasch die Gefahr und die Mittel, ihr zu begegnen.
„Ich versichere euch, meine Herren,“ nahm Dietrich wieder das Wort, „es sind ihrer mehr denn zweiunddreißigtausend Reiter und wohl ebensoviel Fußknechte. Sie rauben und brennen, als ob sie sich dadurch den Himmel verdienen sollten.“
„Seid Ihr dieser schlimmen Kunde auch ganz gewiß,“ fragte Gwijde ängstlich, „hat Euch der, der es Euch sagte, nicht getäuscht, Herr Dietrich?“
„Nein, nein, edler Gwijde, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, habe selbst gestern abend in dem Zelt des Seneschalls Robert d'Artois gespeist. Er hat mir auf seine Ehre geschworen, daß der letzte Vlaeme von seiner Hand sterben solle. Seht nun, was Ihr tun könnt. Ich meinesteils werde schleunigst einen Harnisch anlegen; und müßte ich auch allein gegen die zweiundsechzigtausend verwünschten Franzosen kämpfen, ich würde keinen Schritt zurückweichen; ich mag Flanderns Sklaverei nicht mehr länger mit ansehen.“
Jan Breydel konnte sich keinen Augenblick stillhalten; ständig waren Arme und Beine in Bewegung. Hätte er nur zu sprechen gewagt; aber die Ehrfurcht vor den anwesenden Herren hielt ihn zurück. Gwijde und die anderen Edeln sahen einander in ratloser Betrübnis an. Zweiunddreißigtausend geübter Reiter, das schien ihnen zu viel, um Widerstand leisten zu können. Im vlaemischen Heere waren nur die fünfhundert Reiter, die Gwijde mitgebracht hatte. Was vermochte diese kleine Anzahl gegen die furchtbare Masse der Feinde?
„Was sollen wir tun,“ fragte Gwijde, „wie sollen wir jetzt das Vaterland retten?“
Einige waren der Meinung, man müsse sich in der Stadt Brügge einschließen, bis das französische Heer aus Mangel an Lebensmitteln abziehen würde; andere wieder wollten gerade dem Feinde entgegenziehen und ihn nachts überfallen. Es wurden noch verschiedene Vorschläge gemacht, aber die meisten als unvorteilhaft, die übrigen als undurchführbar verworfen.
De Coninck stand noch immer gesenkten Hauptes sinnend da; [287] er lauschte wohl auf das, was da gesagt wurde, aber das hinderte ihn nicht an weiterem Nachdenken.
Endlich fragte ihn Gwijde, welche Mittel er angesichts solcher bedenklichen Lage vorschlagen könne.
„Edler Herr,“ antwortete De Coninck, „wäre ich Befehlshaber, so würde ich mich folgendermaßen verhalten: Ich würde in aller Eile mit den Zünften nach Kortrijk ziehen, um den Kastellan van Lens zu verjagen – dann würden die Franzosen diese Stadt nicht als Ausgangspunkt für ihre Pläne benutzen können. Wir aber hätten eine sichere Unterkunftsstätte für die Frauen und Kinder und auch für uns selbst; denn Kortrijk mit seinem Kastell ist stark, während Brügge, so wie es jetzt ist, nicht einen einzigen Sturm aushalten kann. Ich würde noch in dieser Stunde dreißig Boten zu Pferde mit der Nachricht von der Ankunft des Feindes in alle Städte Flanderns senden und alle Klauwaerts nach Kortrijk berufen. Desgleichen würde ich Herrn van Renesse und Herrn Wilhelm von Jülich dorthin bitten. Auf diese Weise, edler Graf, davon bin ich überzeugt, werden binnen vier Tagen dreißigtausend streitbare Vlaemen im Lager sein, und dann brauchen wir die Franzosen nicht so sehr zu fürchten.“
Die Ritter lauschten in feierlicher Stille; sie bewunderten den ungewöhnlichen Mann, der in so wenig Augenblicken einen allgemeinen Kriegsplan entworfen hatte und ihnen jetzt so treffliche Maßregeln darlegte. Obgleich sie die Tüchtigkeit des Obmanns kannten, kostete es sie doch Mühe, sich zu überzeugen, daß ein Weber, ein Mann aus dem gemeinen Volke, soviel Geist besaß.
„Ihr habt mehr Verstand als wir alle zusammen,“ rief Dietrich, „ja, ja, so muß es geschehen! Wir sind stärker, als wir glaubten: nun wendet sich das Blatt. Ich glaube, die Franzosen werden ihr Kommen noch bereuen.“
„Ich danke Gott, daß er Euch diesen Gedanken eingegeben hat, Meister De Coninck,“ fuhr der junge Graf fort, „Eure [288] guten Dienste sollen nicht unbelohnt bleiben. Ich werde Eurem Rate folgen; er zeugt von großer Weisheit. Meister Breydel, ich hoffe, Ihr werdet die Leute, die Ihr uns versprochen habt, auch herbeischaffen.“
„Achttausend habe ich gesagt, edler Graf,“ entgegnete Breydel; „nun gut! jetzt sage ich zehntausend. Ich will nicht, daß auch nur ein einziger Geselle oder Lehrjunge in Brügge bleibe. Jung und alt, alles muß mit. Ich werde schon sorgen, daß uns die Franzosen nicht auf einmal über den Haufen rennen; und diese Obmänner, meine Freunde, werden das auch tun, das weiß ich.“
„Fürwahr, edler Herr,“ riefen die Obmänner einstimmig, „es soll niemand fehlen, denn alle brennen auf den Kampf!“
„Die Zeit ist zu kostbar, um uns noch länger aufzuhalten,“ sprach Gwijde, „geht nun schnell, eure Zünfte zu versammeln; binnen zwei Stunden werde ich für den Kriegszug bereit sein und an der Spitze eurer Scharen auf dem Freitagsmarkte stehen. Geht, ich bin mit eurer Bereitwilligkeit und eurem Mute zufrieden.“
Alle verließen den Saal. Gwijde sandte sofort zahlreiche Boten nach allen Richtungen mit Befehlen für die Edelleute aus, die dem Vaterland treu geblieben waren; desgleichen schickte er auch Herrn Wilhelm von Jülich die Botschaft, daß er mit Herrn Jan van Renesse nach Kortrijk kommen müsse.
Die schreckliche Kunde verbreitete sich in kurzer Zeit durch die ganze Stadt. In dem Maße sie von einem zum anderen ging, vergrößerte das Gerücht die Zahl der Feinde gar wundersam; bald waren die Franzosen über hunderttausend Mann stark. Man kann sich denken, wie zagend und ängstlich die Frauen und Kinder dem nahenden Unheil entgegenblickten! In allen Straßen sah man weinende Mütter, die ihre zitternden Töchter voll Liebe und Mitleid umarmten. Die Kinder jammerten, weil sie ihre Mütter weinen sahen, und zitterten, ohne die drohende Gefahr ganz zu begreifen. Die schmerzlichen [289] Klagen und die Todesangst in den Zügen dieser schwachen Wesen stachen seltsam von der kühnen, trotzigen Haltung der Männer ab.
Von allen Seiten kamen die Zünfte mit ihren Waffen herangelaufen. Das Rasseln der eisernen Platten, die einige umgehängt hatten, klang klirrend in das Ohr und verschwamm mit dem furchtbaren Spottgesang der geängstigten Frauen und Kinder: Wehe! wehe! Wenn einige Männer sich in der Straße begegneten, blieben sie wohl einen Augenblick stehen, um einige Worte miteinander zu wechseln und sich zum Siegen oder Sterben zu ermutigen. Hier und da sah man, wie ein Vater vor der Tür seiner Wohnung Frau und Kind umarmte; aber dann trocknete er bald die Tränen und verschwand pfeilgeschwind in der Richtung zum Freitagsmarkt. Die Frau blieb noch lange auf der Schwelle stehen und starrte nach der Ecke, hinter der der Vater ihrer Kinder verschwunden war. Das Lebewohl schien ihr ein Abschied auf ewig gewesen zu sein, und Tränen rannen über ihre Wangen; dann hob sie ihre schluchzenden Kinder vom Boden auf und lief verzweifelt ins Haus zurück.
In kurzer Zeit standen schon die Zünfte in langen Reihen auf dem Freitagsmarkt versammelt. Breydel hatte sein Versprechen erfüllt. Zwölftausend Gesellen von den verschiedenen Zünften hatte er unter sich. Die Beile der Fleischer blinkten wie Spiegel im Sonnenlicht und blendeten den Zuschauer. Über der Schar der Weber ragten zweitausend Goedendags mit ihren eisernen Spitzen empor; auch eine Abteilung Bogenschützen war darunter. Gwijde stand in der Mitte des Platzes, etwa zwanzig edle Ritter um ihn. Er wartete auf die Rückkunft der Boten, die man nach allen Karren und Pferden ausgeschickt hatte, die in der Stadt aufzutreiben waren. Ein Weber, den De Coninck auf den Glockenturm geschickt hatte, kam in diesem Augenblick mit der großen Fahne von Brügge auf den Markt. Kaum wurden die Zunftleute des blauen Löwen gewahr, da stieg ein hinreißendes Jubelgeschrei aus ihren Scharen empor. Unaufhörlich [290] wiederholten sie denselben Ruf, der in der blutigen Nacht das Zeichen der Rache gewesen war:
„Vlaenderen den Leeuw! Wat Walsch is, valsch is!“
Und dann schwangen sie ihre Waffen, als ob sie ihren Feinden bereits gegenüberständen.
Als das Gepäck des Heeres auf die Wagen geladen war, ertönten die schmetternden Klänge der Trompeten, und die Bürger verließen mit wehenden Fahnen durch das Genter Tor ihre Stadt. Da die Frauen sich ohne jeden Schutz sahen, packte sie die Angst noch mehr. Jetzt war ihnen, als ob sie nur noch den Tod zu erwarten hätten.
Nachmittags verließ Machteld die Stadt mit all ihren Dienern und Frauen, und diese Abreise brachte viele auf den Gedanken, daß sie in Kortrijk sicherer würden wohnen können. Rasch packten sie alles ein und zogen, nachdem sie ihre Häuser verschlossen hatten, mit ihren Kindern zum Genter Tor hinaus.
Solcherart zogen unzählige Familien nach Kortrijk, und ihre bitteren Tränen netzten das Gras, das am Rande des Weges grünte.
In Brügge ward es so still wie im Grab.
E s war dunkle Nacht, als Gwijde mit ungefähr sechzehntausend Mann in Kortrijk anlangte. Die Einwohner waren durch vorausgesandte Reiter benachrichtigt worden; sie standen gar zahlreich auf den Wällen der Stadt und empfingen ihren Landesherrn bei Fackelschein mit frohem Jauchzen. Sobald sich das Heer innerhalb der Mauern aufgestellt hatte, brachten die Kortrijker alle nur möglichen Lebensmittel heran. Ganze Fässer Wein schenkten sie an ihre ermüdeten Brüder aus, blieben die ganze Nacht mit ihnen auf den Wällen und umarmten sie in ihrer Freude einmal übers andere. Während dieser Beweise brüderlicher Liebe gingen eine ganze Menge den ermatteten Kindern und Frauen auf dem Wege entgegen, um [291] ihnen die Last des Gepäcks abzunehmen. Manche dieser schwachen Wesen, die sich die Füße wund gelaufen hatten, wurden auf den breiten Schultern der hilfreichen Bürger Kortrijks zur Stadt getragen. Alle wurden beherbergt und sorglich gepflegt und getröstet. Die Dankbarkeit der Kortrijker und ihre innige Freundschaft steigerte den Mut der Brügger gewaltig; denn allezeit wird der Menschen Geist durch edle Gefühle gehoben.
Machteld und Maria, die Schwester Adolfs van Nieuwland, und eine große Anzahl anderer Edelfrauen aus Brügge waren bereits einige Stunden in Kortrijk, ehe das Heer anlangte; sie waren bei ihren Bekannten abgestiegen und hatten für das Unterkommen der Ritter bei ihren Blutsverwandten und Freunden Sorge getragen, so daß die Edelleute, die Gwijde begleiteten, bei ihrer Ankunft die Abendmahlzeit schon bereit fanden.
Am nächsten Morgen besichtigte Gwijde in aller Frühe mit einigen vornehmen Einwohnern der Stadt die Festungswerke des Kastells und fand zu seiner großen Betrübnis, daß es nicht ohne große Sturmwerkzeuge erobert werden könnte. Die Mauern waren zu hoch, und aus den Trümmern, die darob emporragten, konnten die Belagerer mit zuvielen Pfeilen überschüttet werden. Nachdem er alles vorsichtig bedacht hatte, beschloß er, keinen tollkühnen Sturm zu wagen, der ihm zum mindesten tausend Mann hätte kosten können. Er gebot, Sturmrammen und Falltürme zu bauen und das in der Stadt befindliche Kriegswerkzeug herbeischaffen. Dies bestand aus einigen Ballisten und ganz wenigen „Blijden“ [33] . So konnte man erst nach fünf Tagen daran denken, das Kastell zu bestürmen. Dieser Verzug war übrigens den Kortrijkern nicht mehr so schlimm; denn seit der Ankunft des vlaemischen Heeres hatte die französische Besatzung damit aufgehört, Brandpfeile [292] auf die Stadt zu schleudern. Wohl sah man die Besatzung vor den Schießscharten der Türme mit ihren Armbrüsten bereit stehen, aber sie schoß nicht. Den Vlaemen war der Grund unbekannt; sie glaubten, daß eine List dahinter steckte und hielten ihrerseits sehr scharfe Wacht. Jeder Angriff war von Gwijde verboten worden; er wollte nichts wagen, ehe seine Sturmwerkzeuge bereit waren und er des Sieges gewiß sein konnte. Der Kastellan van Lens war in äußerster Not; seine Bogenschützen hatten nur noch wenige Pfeile übrig, und daher gebot ihm die Vorsicht, sie für einen Angriff aufzusparen. Auch waren die Vorräte so zusammengeschrumpft, daß er der Besatzung nicht mehr als die Hälfte der gewöhnlichen Ration geben konnte. Er hoffte, daß die Wachsamkeit der Vlaemen etwas nachlassen und er so Gelegenheit finden würde, einen Boten nach Rijssel in das französische Lager zu senden.
Arnold van Oudenaarde, der einige Tage zuvor mit dreihundert Mann den Kortrijkern zu Hilfe gekommen war, hatte sich unter den Wällen der Stadt auf dem Groeninger Kouter nicht weit von der Abtei gelagert. Dieser Platz war für ein allgemeines Lager sehr günstig und wurde in dem Kriegsrat, den Gwijde zusammengerufen hatte, auch für diesen Zweck bestimmt. Schon am anderen Tage, während die Zunft der Zimmerleute an den Sturmwerkzeugen arbeitete, wurden die anderen Vlaemen aus der Stadt geführt, um die Gräben des Lagerplatzes auszuwerfen. Die Weber und die Fleischer bekamen jeder eine Hacke und einen Spaten und machten sich eifrig ans Werk. Die Verschanzungen stiegen wie durch Zauberei empor, das ganze Heer wetteiferte bei der Arbeit, man stritt sich förmlich darum. Die Spaten und Hacken wurden so rasch gehandhabt, daß man ihnen mit den Augen nicht folgen konnte, und große Erdschollen flogen in Massen auf die Verschanzung, gleich den zahllosen Steinen, die eine belagerte Stadt auf den Feind wirft.
Sowie ein Teil der Erdarbeiten vollendet war, kamen andere [293] Leute und spannten dort ihre Zelte auf. Von Zeit zu Zeit ließen die Arbeiter ihre Werkzeuge in der Erde stecken und erkletterten hastig die Verschanzung. Dann hallte ein allgemeiner Willkommgruß über dem Lager, und der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw! Vlaenderen den Leeuw!“ klang noch aus der Ferne als Antwort wieder. Dies geschah jedesmal, wenn Beistand aus anderen Städten herankam.
Das vlaemische Volk hatte seine Edeln doch etwas mit Unrecht der Treulosigkeit und Feigheit beschuldigt; freilich hatten sich viele von ihnen offen für Frankreich erklärt; aber die Zahl der treugebliebenen war dennoch größer als die der Abtrünnigen. Zweiundfünfzig der vornehmsten vlaemischen Ritter saßen in Frankreich gefangen, und gewiß war es nur die Liebe zum Vaterland und zu ihrem Fürsten, die sie ins Gefängnis gebracht hatte. Die anderen treuen Edelleute, die in Flandern lebten, hielten es für unrühmlich, mit einem aufrührerischen Volke gemeinsame Sache zu machen. Turnier und Schlachtfeld allein waren würdige Stätten für ihre Waffentaten. Die Sitten jener Zeit hatten diese Meinung in ihnen gefestigt, denn damals war der Abstand zwischen einem Ritter und einem Bürger so groß, wie jetzt zwischen dem Herrn und seinem Diener. Solange sich der Kampf innerhalb der Mauern der Städte und unter dem Befehl der Volksführer abspielte, blieben sie auf ihren Kastellen und trauerten über die Unterdrückung des Vaterlands. Jetzt aber, da Gwijde als Feldherr über seine Untertanen gebot, kamen sie alle mit ihren Untergebenen aus ihren Herrschaften herbeigeeilt.
Am Morgen des ersten Tages langten die Herren Balduin van Papenrode, Hendrik van Raveschoot, Ivo van Belleghem, Salomon van Sevecote und Herr van Maldeghem mit seinen zwei Söhnen zu Kortrijk an. Gegen Mittag stieg wirbelnd eine ungeheure Staubwolke in der Richtung von Moorseele über dem umliegenden Wald empor. Während die Brügger in ihren Verschanzungen laut aufjauchzten, zogen fünfzehnhundert [294] Mann von Veurne in die Stadt, an ihrer Spitze der berühmte Krieger Eustachius Sporkijn. Eine große Ritterschar, der sie unterwegs begegnet waren, begleitete sie; die vornehmsten darunter waren: Herr Johann van Ayshoven, Wilhelm van Dakenam und sein Bruder Peter, Herr van Landeghem, Hugo van der Moere und Simon van Caestere. Auch Johann Willebaert van Thourout hatte sich mit einigen Reitern dem Befehl Sporkijns unterstellt. Fast jeden Augenblick kamen einzelne Reiter in das Lager, ja selbst Angehörige anderer Länder oder Grafschaften, die sich eben in Flandern befanden, zauderten nicht, zur Befreiung Flanderns mitzuwirken. So waren Hendrik van Lonchijn aus Luxemburg, Goswijn van Goetsenhove und Jan van Cuyck, zwei edle Brabanter, bereits bei Gwijde, als die Leute von Veurne in die Stadt kamen. All diese Truppen zogen sofort, nachdem sie in Kortrijk etwas erfrischt worden waren, ins Lager und wurden dem Befehl des Herrn van Renesse unterstellt.
Am zweiten Tag eilten die Yperner heran. Obgleich sie die eigene Stadt bewachen mußten, mochten sie doch nicht zugeben, daß Flandern ohne ihr Zutun befreit würde. Ihre Truppen waren weitaus die schönsten und reichsten ringsum: fünfhundert Keulenträger, ganz in Scharlach gekleidet, mit schönen Federn auf ihren glänzenden Helmen, zudem mit kleinen Brustplatten und Kniescheiben, die im Sonnenschein erglänzten; siebenhundert andere Leute trugen ungewöhnlich große Armbrüste mit stählernen Federn; sie waren grün mit gelber Verzierung gekleidet. Bei ihnen befanden sich folgende Herren: Jakob van Ypern, Waffenträger des Grafen Jan van Namen, Dietrich van Vlamertinghe, Josef van Hollebeke und Balduin van Passchendale; die Anführer waren Philipp Baalde und Peter Belle, die Vorsteher der beiden vornehmsten Zünfte von Ypern. Am Nachmittag kam die übrige Bevölkerung von der Ost- und Westgrafschaft aus den Dörfern, die rund um Brügge herum lagen, zweihundert wohlgerüstete Krieger.
Am dritten Tage kam vormittags Wilhelm von Jülich mit Jan van Renesse von Kassel zurück, und mit ihnen trafen fünfhundert Reiter, vierhundert Seeländer und noch eine Anzahl Brügger im Lager ein.
Die einberufenen Ritter und Vertreter der Städte hatten sich fast sämtlich eingestellt, und alle möglichen Waffengattungen befanden sich unter Gwijdes Befehl. Die Freude der Vlaemen während dieser Tage war unaussprechlich; jetzt sahen sie, daß ihre Landsleute noch nicht entartet waren, daß es noch mutige Männer in ihrem Vaterland gab. Schon waren an einundzwanzigtausend tapferer Krieger unter dem Banner des schwarzen Löwen versammelt, und noch strömten unaufhörlich kleine Abteilungen herzu.
Obgleich die Franzosen ein Heer von zweiundsechzigtausend Mann hatten, davon die Hälfte beritten war, konnte in den Herzen der Vlaemen nun keine Furcht mehr Platz finden. In ihrer Begeisterung ließen sie bisweilen ihre Arbeit liegen, um einander zu umarmen, und dann sprachen sie so zuversichtlich, als ob ihnen der Sieg nicht entgehen könnte.
Gegen Abend, just als sie mit ihren Spaten in die Zelte gehen wollten, erhob sich aufs neue der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw!“ von den Mauern Kortrijks. Alle liefen nach der Verschanzung zurück, um zu sehen, was da vorging, und antworteten dann mit lauter, froher Stimme auf den Ruf der Kortrijker. Sechshundert Reiter trabten, ganz mit Eisen bedeckt, unter allgemeinem Jubel in das Lager. Dieser Zug kam von Namur und war durch den Grafen Johann, Bruder Robrechts van Bethune, nach Flandern gesandt worden.
Durch das Eintreffen dieser Hilfstruppen stieg noch die Freude der Vlaemen; denn gerade an Reiterei litten sie den größten Mangel. Obgleich sie wohl wußten, daß die Leute von Namur sie nicht verstanden, riefen sie ihnen Grüße zum Willkomm entgegen und brachten ihnen Wein in Überfluß. Als die fremden Krieger dieser großen Freundschaft gewahr wurden, [296] fühlten auch sie in sich Gegenliebe erwachen und schwuren, ihr Blut für so gute Leute zu vergießen.
Nur die Stadt Gent hatte den Aufruf noch nicht beantwortet; nicht ein einziger Geselle war von dorther nach Kortrijk gekommen. Man wußte schon längst, daß es in Gent von Leliaerts wimmelte und der Magistrat ganz französisch gesinnt war; trotzdem waren dort siebenhundert französische Söldner erschlagen worden, und Jan Borluut hatte seinen Beistand zugesagt. In dieser Ungewißheit erhoben zwar die Vlaemen im Lager gegen ihre Brüder von Gent noch nicht laut den Vorwurf der Verräterei, doch der Argwohn gegen sie war recht stark.
Am Abend, als die Sonne schon hinter dem Dorfe Moorseele gesunken war, hatten sich alle Arbeiter in ihre Zelte zurückgezogen. Hie und da ertönte Gesang. Bisweilen war er vom Klingen der Kannen unterbrochen, und sein Schlußvers wurde von vielen Stimmen jauchzend wiederholt. In anderen Zelten hörte man wildes Stimmengewirr. Nur der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw!“ verriet, daß die Sprechenden sich gegenseitig Mut machten und überschäumende, ungezügelte Worte der Begeisterung austauschten. In der Mitte des Lagers etwas abseits von den Zelten brannte ein großes Feuer, das seinen roten Glanz weithin verbreitete. Etwa zehn Leute waren damit beschäftigt, es zu unterhalten; man sah sie hin und wieder große Baumstämme heranschleppen und hörte bisweilen, wie ein Anführer ihnen zurief:
„Vorsichtig, Leute! Hört auf, und schürt das Feuer nicht zu arg; jagt die Funken nicht so hoch über das Lager hinaus!“
Einige Schritt von diesem Feuer stand das Zelt der Lagerwache. Es bestand aus einem Dach, das mit Ochsenhäuten überdeckt war. Sein Fachwerk ruhte auf acht schweren Balken; die vier Seiten waren offen, damit man das Lager nach allen Richtungen übersehen könnte.
Jan Breydel mußte mit fünfzig seiner Leute während der [297] Nacht Wache halten. Sie saßen alle auf kleinen hölzernen Stühlen rund um einen Tisch unter dem Dache, das sie vor Tau und Regen schützte; ihre Beile blitzten im Widerschein des Feuers und glimmten in ihren Händen auf, als ob sie glühende Waffen wären. Man konnte im Finstern die von ihnen ausgestellten Wachen auf- und abschreiten sehen. Vor ihnen auf dem Tisch standen ein großer Krug Wein und einige zinnerne Kannen, und obgleich ein Trunk ihnen nicht versagt war, so konnte man dennoch merken, daß sie sehr mäßig tranken. Denn nur selten führten sie die Kannen zum Munde. Sie lachten und schwatzten heiter, um die Zeit zu verbringen, und sprachen schon im voraus von den schönen Schlägen, die sie den Franzosen beibringen wollten.
„Nun soll mal einer sagen,“ rief Breydel, „daß die Vlaemen ihren Vätern nicht gleichen, wenn sich ein Heer, wie das unsrige, aus freiem Willen versammelt! Jetzt mögen die Franzosen nur kommen mit ihren zweiundsechzigtausend Mann! Je mehr Wild, desto besser die Jagd. Sie sagen, wir wären ein Haufen schlechter Hunde; aber sie mögen Gott bitten, daß sie nicht gebissen werden. Die Hunde haben gute Zähne.“
Die Fleischer lachten herzlich über die scherzenden Worte ihres Obmannes und blickten dabei auf einen greisen Gesellen, dessen grauer Bart sein hohes Alter bezeugte. Einer von ihnen rief ihm zu:
„Ihr, Jakob, werdet sie wohl nicht mehr beißen können!“
„Wenn meine Zähne auch nicht so gut sind wie die Eurigen,“ brummte der alte Fleischer, „so habe ich doch ein Beil, welches schon lange ans Beißen gewöhnt ist. Ich möchte wohl zwanzig Maß Wein auf die Wette wagen, wer von uns beiden die meisten Franzosen zur Hölle sendet.“
„Es gilt,“ rief der andere, „wir wollen sie zusammen austrinken; ich gehe und hole sie.“
„Oho!“ rief Breydel, „wollt ihr euch wohl still verhalten! Trinkt morgen; denn das sage ich euch: den ersten von euch, [298] der sich betrinkt, lasse ich in Kortrijk einsperren; er soll am Kampfe nicht teilnehmen.“
Diese Drohung übte eine wundersame Wirkung auf die Fleischer aus; die Worte erstarben auf ihren Lippen, und keiner von ihnen rührte auch nur mehr ein Glied. Einzig der alte Fleischer wagte noch zu sprechen.
„Beim Barte unseres Obmanns!“ rief er, „wenn mir das widerführe, dann ließ ich mich lieber noch am Feuer braten, wie das einst dem heiligen Laurentius geschehen ist. Denn solch ein Fest werde ich nie weder erleben.“
Breydel merkte, daß seine Drohung der ganzen Wache Furcht und Betrübnis einjagte; dies war ihm nicht recht, da er selbst freudig gestimmt war. Um ihnen ihre Heiterkeit wiederzugeben, ergriff er den Krug, füllte die Kannen und sprach:
„Nun, Leute, weshalb schweigt ihr jetzt? Da, nehmt und trinkt, damit euch der Wein die Sprache wiedergibt. Es ist mir leid, daß ich mit euch so gesprochen habe. Ich kenne euch ja und weiß, daß echtes Fleischerblut in euren Adern strömt! Nun denn, auf euer Wohl, Genossen!“
Nun war plötzlich die Freude zurückgekehrt, und das Schweigen endete mit anhaltendem Gelächter, da sie inne wurden, daß die Drohung ihres Obmannes nur Scherz gewesen war.
„Trinkt nur,“ fuhr Breydel fort, indem er seinen Becher füllte, „diesen Krug will ich euch darangeben, ihr mögt ihn bis zum Grunde leeren. Für eure Freunde, die auf Wache stehen, soll ein anderer herbeigeschafft werden. Jetzt, da wir sehen, daß aus allen Städten Hilfe herbeieilt und wir so stark werden, können wir uns dieses Glückes wohl freuen.“
„Ich trinke einen Verachtungsschluck auf die Genter,“ rief ein Geselle; „wir wissen schon längst, daß man sich auf einen zerbrochenen Stab stützt, wenn man ihnen vertraut. Aber das hat nichts zu sagen; mögen sie nur zu Hause bleiben, dann hat eben unsere Stadt Brügge allein die Ehre des Kampfes und der Befreiung.“
„Sind etwa die Genter Vlaemen wie wir?“ spottete ein anderer, „schlägt ihr Herz auch für die Freiheit? Und wohnen auch wohl Fleischer in Gent? Es lebe Brügge! Da ist der echte Stamm.“
„Oho!“ rief Breydel, „zu Gent wohnt ein Mann, der ein Löwenherz zu eigen hat. Ist Jan Borluut nicht in der ganzen Welt bekannt? Ich bin überzeugt, wollte er die Sache genau untersuchen, so würde er finden, daß seine Voreltern Fleischer waren oder doch so etwas der Art; denn Herr Jan gleicht einem Genter, wie ein Stier einem Schaf.“
Die Fleischer brachen von neuem in schallendes Gelächter aus; sie begriffen sehr gut, daß ihr Obmann damit sagen wollte, die Genter wären Schafe.
„Und ich weiß nicht,“ fuhr Breydel fort, „weshalb Herr Gwijde ihre Ankunft überhaupt wünscht; wir haben keinen solchen Überfluß an Lebensmitteln im Lager, daß wir uns noch mehr Esser zu der Mahlzeit rufen brauchen. Glaubt der Feldherr vielleicht, wir würden das Spiel verlieren? Da merkt man so recht, daß er in Namur gewohnt hat, er kennt die Brügger nicht, sonst würde er nicht nach den Gentern verlangen. Wir haben sie nicht nötig. Sie mögen daheim bleiben, wir werden unsere Sachen schon ohne sie erledigen, und zudem ist es ja doch nur wankelmütiges Volk!“
Als ein echter Brügger liebte Breydel die Genter nicht. Zwischen den beiden ersten Städten Flanderns herrschte seit ihrem Ursprung her eine gewisse Eifersucht. Nicht, daß die eine etwa mutigere Leute besaß als die andere; aber beide waren arbeitsam und suchten einander den Handel zu rauben und an sich zu ziehen. Noch heute besteht dieser Haß zwischen den Einwohnern von Gent und Brügge; so schwer ist es, dem gemeinen Volke ererbte Gefühle zu nehmen, daß sich diese Eifersucht trotz aller Umwälzungen bis auf uns erhalten hat.
Solcherart fuhr Breydel fort, mit seinen Genossen zu schwatzen, und manch höhnisches Scheltwort fiel gegen die Genter, bis [300] diese Frage ganz erschöpft war und das Gespräch auf einen anderen Stoff überging. Plötzlich wurde die Aufmerksamkeit durch ein Geräusch geweckt; sie hörten ein paar Schritte hinter dem Zelt einen Wortwechsel, wie wenn sich zwei Männer stritten. Alle standen auf, um zu sehen, was da sein mochte; aber ehe sie noch das Zelt verlassen hatten, kam schon ein Fleischer, der auf Wache gestanden hatte, mit einem anderen Menschen herbei, den er gewaltsam vorwärts riß.
„Meister,“ sagte er, während er den Fremdling in das Zelt stieß, „hinter dem Lager habe ich diesen Minstrell entdeckt; er ging an alle Zelte, lauschte und schlich wie ein Fuchs durch die Finsternis; ich bin ihm lange gefolgt und habe ihn beobachtet. Sicher steckt dahinter Verrat, denn seht nur, wie der Schelm zittert!“
Der Mann, den man in das Zelt gebracht hatte, war mit einem blauen Wams bekleidet, eine Mütze mit einer Feder bedeckte sein Haupt. Ein langer Bart beschattete sein halbes Gesicht. In der linken Hand hielt er ein kleines Instrument, das fast einer Harfe glich, als ob er darauf vor der Gesellschaft ein Liedchen spielen wollte. Er zitterte vor Furcht, und sein Gesicht war so bleich, als ob er am Sterben sei; sichtlich suchte er sich den Blicken Jan Breydels zu entziehen, denn er wandte das Haupt nach der anderen Seite, damit jener seine Züge nicht erblicken sollte.
„Was habt Ihr in dem Lager zu tun,“ rief Breydel, „weshalb lauscht Ihr an den Zelten? Antwortet rasch!“
Der Sänger antwortete in einer Sprache, die hochdeutsch zu sein schien, und weckte dadurch die Vermutung, daß er in irgend einem anderen Landesteile zu Hause wäre.
„Meister, ich komme von Luxemburg und habe dem Herrn van Lonchijn zu Kortrijk eine Botschaft gebracht. Man hat mir gesagt, einer meiner Brüder wäre im Lager, und ich war hergekommen, um ihn zu suchen. Ich bin ängstlich und fürchte mich, weil die Schildwache mich für einen Spion angesehen hat; aber ich hoffe, ihr werdet mir nichts zuleide tun.“
Breydel, der Mitleid mit dem Sänger empfand, sandte die Schildwache zurück, wies dem Fremdling einen Stuhl und meinte:
„Ihr müßt von einer so langen Reise ermüdet sein. Da, mein schöner Sänger, setzt Euch her, trinkt – diese Kanne ist für Euch. Ihr müßt uns einige Lieder vorsingen, und wir wollen Euch einschenken. Habt Mut, Ihr befindet Euch unter guten Leuten.“
„Vergebt mir, Meister, ich kann nicht hierbleiben, denn Herr van Lonchijn wartet auf mich. Ich hoffe, daß Ihr mich nicht dem Wunsche dieses edlen Ritters zuwider länger aufhalten werdet!“
„Erst ein Lied!“ riefen die Fleischer; „er kommt nicht fort, ehe er ein Lied gesungen hat!“
„Macht rasch,“ rief Breydel; „wenn Ihr uns nicht das Vergnügen gewähren wollt, einige Lieder zu hören, dann halte ich Euch bis morgen hier. Hättet Ihr gleich gutwillig damit angefangen, so wäret Ihr schon fertig damit. Singt, ich befehle es Euch!“
Die Furcht des Sängers steigerte sich angesichts dieses strengen Befehls; nur mit Mühe konnte er die Harfe in den Händen halten, denn er bebte so, daß die Saiten des Instruments seine Kleider streiften und davon erklangen. Dies kitzelte die Lust der Fleischer noch mehr.
„Wollt Ihr spielen oder singen?“ rief Breydel; „wenn Ihr nicht eilt, so ergeht's Euch schlecht!“
Zu Tode erschrocken, griff der Sänger mit seinen zitternden Händen in die Harfe. Aber er brachte nur falsche, wirre Töne hervor. Nun merkten die Fleischer, daß er nicht spielen konnte.
„Er ist ein Spion,“ rief Breydel, „entkleidet ihn und seht nach, ob er nichts bei sich trägt.“
In einem Augenblick waren ihm die Oberkleider vom Leibe gerissen, und wenngleich er flehentlich um Gnade bat, wurde [302] er bei dieser Untersuchung von einer Ecke in die andere gestoßen.
„Hier habe ich's!“ rief ein Fleischer, der mit der Hand zwischen das Wams auf der Brust des Unbekannten gegriffen hatte, „hier ist der Verrat!“
Als er die Hand aus dem Wams hervorzog, hielt er darin ein Pergament. Es war in drei- oder vierfaches Wachstuch gewickelt, und daran hing ein Siegel, das mit Flachs umwunden war, um es vor dem Zerbrechen zu schützen. Der Sänger stand zitternd da, als hätte er den Tod vor Augen; während er den Vorsteher ängstlich ansah, murmelte er einige unverständliche Worte, welche die Fleischer aber nicht hörten.
Jan Breydel ergriff das Pergament, und nachdem er es entfaltet hatte, starrte er es lange Zeit an, ohne daß ihm dadurch die mindeste Aufklärung wurde.
Damals konnten außer den Geistlichen nur wenige lesen, selbst fast alle Edelleute lebten noch in größter Unwissenheit.
„Was ist das, Ihr Schelm?“ rief Breydel.
„Es ist ein Brief des Herrn van Lonchijn …“ stammelte der angebliche Sänger abgebrochen.
„Warte,“ fuhr Breydel fort, „das werde ich bald sehen.“
Er nahm seinen Dolch und schnitt den um das Siegel gewundenen Flachs ab. Kaum ward er der Lilien des Wappens von Frankreich ansichtig, da sprang er voll Wut auf, packte den Unbekannten beim Bart, schleifte ihn daran hin und her und rief dabei:
„Ist das ein Brief des Herrn van Lonchijn, Ihr Verräter? Nein, es ist ein Brief des Kastellans van Lens, und Ihr seid ein Spion. Ihr sollt eines bitteren Todes sterben, Ihr Bösewicht!“
Bei diesen Worten zog er mit solcher Gewalt an dem Bart des Spions, daß die Bänder rissen, mit denen er am Kopfe befestigt war; nun erkannte Breydel sein Gesicht. Er stieß ihn mit solchem Ingrimm zurück, daß er gegen einen Pfeiler des Zeltes taumelte.
„O Brakels! Brakels! Eure letzte Stunde ist gekommen!“ rief Breydel, als ob ihn ein Gespenst erschreckte.
Der alte Fleischer, den man ob seiner schlechten Zähne verspottet hatte, sprang auf Brakels zu, griff ihn mit den Händen bei der Kehle und preßte ihn wider den Pfeiler, gegen den ihn Breydel geworfen hatte. Die Augen seines Opfers verdrehten sich in den Höhlen; denn unter dem Griff des Fleischers ging dem Verräter der Atem aus. Er wäre fast erwürgt worden, wenn er nicht durch seine Bemühungen, sich loszureißen, von Zeit zu Zeit Luft bekommen hätte. Das Geschrei der Fleischer hatte viele geweckt; die strömten nun aus allen Zelten neugierig herbei. Der eine kam ohne Koller, der andere ohne Wams. Kaum vernahmen sie die Ursache des Lärms, da verlangten sie wütend, daß man ihnen Brakels überliefern solle.
„Gebt ihn uns,“ schrien sie, „sein Blut, sein Leben!“
Breydel nahm den alten Fleischer bei den Schultern, schob ihn von Brakels weg und rief:
„Besudelt Euch nicht mit dem Blute dieses Verräters! Er ist zu verächtlich, sonst wäre er bereits durch meine Hand getötet worden.“
„Nein,“ rief der Fleischer, sein Beil erhebend, „ich muß an diesem Spiel meine Freude haben. Man tut ein verdienstliches Werk, wenn man einen Landesverräter erschlägt. Laßt mich, Meister, ich bitte Euch um Gottes willen; nur einen Schlag.“
„O Meister, habt doch Mitleid mit mir … ich werde dem Vaterland getreulich dienen … tötet mich doch nicht!“
Breydel betrachtete ihn voll Wut und tiefer Verachtung, setzte ihm einen Fuß in die Seite und schleuderte ihn plötzlich bis in die andere Ecke des Zeltes. Inzwischen hatten die Fleischer die größte Mühe, die Menge zurückzuhalten, die voll Rachsucht das Zelt umringte.
„Gebt ihn uns,“ rief die wütende Schar, „ins Feuer, ins Feuer!“
„Ich will nicht,“ sprach Breydel mit gebieterischem Blick zu seinen Leuten, „daß das Blut dieser Schlange eure Beile beflecke. Er soll dem Volke ausgeliefert werden.“
Der Befehl war noch nicht ausgesprochen, als schon ein Mann aus der Schar hervortrat und Brakel eine Schnur um den Hals warf; dann rissen sie den Verräter rücklings über und schleiften ihn aus dem Zelte. Seine bangen Schreie verschmolzen mit dem stürmischen Jauchzen der Menge. Nachdem sie ihn rund um das Lager geschleift hatten, kamen sie unter johlendem Geheul zu dem Feuer und zogen ihn vier-, fünfmal durch die Glut, bis er ganz unkenntlich geworden war. Dann setzten sie ihren Lauf wieder fort und verschwanden mit dem leblosen Körper in der Finsternis. Lange noch hörte man ihr Geschrei in der Ferne, und noch lange zerrten sie die Leiche des Verräters, bis sie schließlich eine Stunde später ganz verstümmelt an einem Galgen beim Feuer zur Schau aushing. Dann kehrten alle in ihre Zelte zurück, und tiefe Stille folgte diesem schrecklichen Lärm.
G wijde hatte Befehl gegeben, daß sich das ganze Heer, eine jegliche Rotte unter ihrem Anführer, am anderen Morgen auf dem Groeninger Kouter vor dem Lager einfinden sollte; er wollte eine allgemeine Musterung halten.
Gemäß diesem Befehle hatten sich die Vlaemen auf dem bestimmten Platz geschickt in einem Viereck aufgestellt, gleich vier Grundmauern eines Gebäudes. Jede Rotte bestand aus acht geschlossenen Gliedern; die viertausend Weber De Conincks bildeten das vordere Ende des rechten Flügels. Das erste Glied seiner Abteilung bestand aus Schützen, die ihre schweren Armbrüste über die Schulter gehängt hatten, während eiserne Pfeile in einem Köcher an ihrer Seite hingen. Sie hatten keine andere Schutzwaffe als eine dicke eiserne Platte, die ihnen mit vier Riemen vor die Brust gebunden war. Über sechs tieferen [305] Gliedern starrten Tausende von Speeren zehn Fuß hoch empor. Diese Waffe, der berüchtigte Goedendag, wurde von den Franzosen am meisten gefürchtet, denn mit ihr konnte man ein Pferd sehr leicht durchbohren. Kein Harnisch schützte gegen ihren gewaltigen Stich, jeder Ritter, der davon getroffen wurde, fiel unfehlbar aus dem Sattel.
Auf demselben Flügel standen auch die schweren Truppen von Ypern; ihr vorderstes Glied bestand aus fünfhundert kräftigen Leuten, deren Kleidung von einem so hellen Rot wie das der feinsten Korallen war; von ihren glänzenden Helmen wallten wehende Federbüsche auf die Schultern herab, große Keulen, mit stählernen Spitzen beschlagen, standen mit dem dicken Ende neben ihrem Fuße, während ihre Hand am Griffe ruhte; ihre Arme und Schenkel waren mit kleinen eisernen Platten bedeckt. Die übrigen Leute dieser trefflichen Schar waren alle in Grün gekleidet; ihre stählernen Bogen ragten entspannt über ihre Köpfe hinaus. Der linke Flügel bestand lediglich aus den zehntausend Kriegern Breydels. An der einen Seite blendeten die unzähligen Beile der Fleischer die Augen der anderen Kriegsknechte, die auch ständig den Kopf abwendeten; denn die Glut der Sonne, die aus diesen stählernen Spiegeln zurückstrahlte, brachte sie in die Gefahr, zu erblinden. Die Fleischer waren nicht kunstvoll gekleidet; kurze braune Hosen und Jacken von gleicher Farbe bildeten ihren ganzen Anzug; die Ärmel waren bis an den Ellenbogen aufgestreift. Das war ihre gewöhnliche Art, denn sie waren auf ihre kräftigen Muskeln stolz. Viele hatten blondes Haar, aber sie waren von der Sonne ganz verbrannt. Lange Narben aus früheren Gefechten zogen sich wie tiefe Furchen über ihr Gesicht. Für sie waren es Lorbeeren, die ihre Tapferkeit bezeugten. Die Züge Breydels stachen auffallend gegen diese düsteren, unheimlichen Wesen ab; während die meisten seiner Genossen durch ihren furchtbaren Ausdruck Schrecken einflößten, war Breydels Gesicht angenehm und edel: schöne blaue Augen flammten unter [306] fein gezogenen Augenbrauen, lange blonde Locken fielen über seinen Hals, und sein Bart verlängerte das schöne Oval seines Gesichts. Jetzt, da er heiter und zufrieden war, berührten seine Züge angenehm; aber wenn ihn der Zorn hinriß, hätte kein Löwenhaupt das seine an Furchtbarkeit übertroffen; dann furchten sich seine Wangen, seine Zähne knirschten ingrimmig, und seine Brauen ballten sich buschig über den Augen.
Im dritten Flügel standen die Leute von Veurne mit den Waffenknechten Arnolds van Oudenaarde und Balduins van Papenrode. Die Zünfte von Veurne hatten tausend Schleuderer und fünfhundert Helmschläger. Die ersteren standen in den vordersten Gliedern und waren ganz in Leder gekleidet, damit die Schleuder beim Schwingen an der Kleidung kein Hindernis fände. Um ihre Lenden wand sich ein breiter lederner Schlauch wie ein Gürtel; darin lagen die runden Kiesel, die sie auf den Feind warfen. An ihrer rechten Hand hing ein lederner Riemen mit einer Öffnung in der Mitte: das war die Schleuder, eine furchtbare Waffe, mit der sie ihren Feind so genau zu treffen wußten, daß die schweren Steine, die sie gegen ihn schleuderten, selten ihr Ziel verfehlten. Hinter ihnen standen die Helmschläger; sie waren ganz mit eisernen Platten bedeckt und trugen schwere Sturmhauben auf dem Kopf. Ihre Waffe war eine Streitaxt mit einem langen Stiel; oben an der Axt war eine dicke eiserne Spitze, mit der sie die Helme und Harnische durchbohrten: darum hießen sie Helmschläger. Die Leute von Oudenaarde und Papenrode, die auf derselben Seite standen, hatten verschiedenerlei Waffen; die beiden ersten Reihen bestanden aber nur aus Bogenschützen. Die anderen hatten Speere, Keulen und Schlachtschwerter.
Den letzten Flügel, der das Viereck schloß, bildete die ganze Reiterei des Lagers, jene elfhundert Mann zu Pferde, die Johann Graf von Namur seinem Bruder Gwijde geschickt hatte. Diese Abteilung war ganz in Eisen und Stahl gehüllt; man konnte nichts sehen als die Augen der Reiter, die aus [307] dem Visier des Helmes hervorblitzten, und die Hufe der Pferde, die aus ihrer eisernen Verhüllung herausragten.
Solcherart war das Heer gemäß dem Befehl des Feldherrn aufgestellt. Größte Stille herrschte in den Scharen; die Kriegsknechte fragten einander wohl, was es geben solle, aber dann sprachen sie so leise, daß es niemand außer ihren Nebenmännern hören konnte.
Gwijde und all die anderen Ritter, welche keine Truppen mitgebracht hatten, wohnten in Kortrijk; das ganze Heer stand bereits einige Zeit in der beschriebenen Aufstellung, als man plötzlich das Banner des Herrn Gwijde unter dem Stadttor hervorkommen sah. Herr van Renesse, der in Abwesenheit des Feldherrn Oberbefehlshaber des Lagers war, rief:
„Die Waffen auf, schließt an! Richtet die Glieder! Ruhe!“
Auf den ersten Befehl des edeln Herrn van Renesse brachte jeder seine Waffe in gehörige Lage; dann nahmen sie näher Fühlung und richteten sich. Kaum war das geschehen, als die Reiterlinie sich öffnete, um den Feldherrn mit seinem zahlreichen Gefolge in das Viereck hineinzulassen.
Voran ritt der Fahnenträger mit dem Banner Flanderns; der schwarze Löwe auf goldenem Felde flatterte leicht neben dem Kopfe des Pferdes und schien den erfreuten Vlaemen seine Krallen wie ein Siegeszeichen zu weisen. Gleich nach ihm kam Gwijde mit seinem Neffen Wilhelm von Jülich. Der junge Feldherr trug einen blinkenden Harnisch, auf dem das Wappen Flanderns kunstreich dargestellt war; seinen Helm schmückte ein schöner Federbusch, der bis auf den Rücken seines Pferdes herabwallte. Auf dem Harnisch Wilhelms von Jülich war ein breites rotes Kreuz. Die weiße Priesterkleidung hing unter seinem Panzerhemd hervor und reichte bis auf den Sattel; sein Helm war ohne Federn und seine ganze Rüstung einfach und ohne Verzierung. Unmittelbar nach diesen durchlauchtigen Herren folgte Adolf van Nieuwland; seine ganze Bewaffnung war äußerst zierlich, überall an [308] den Verbindungsstellen der Schuppen seiner Rüstung waren goldene Knöpfe angebracht. Sein Helmbusch war grün und seine eisernen Handschuhe versilbert. Unter seinem Panzerhemd konnte man einen grünen Schleier hervorhängen sehen, – das Geschenk, das ihm die Tochter des Löwen als Zeichen der Dankbarkeit überreicht hatte. Neben ihm ritt Machteld auf einem schneeweißen Zelter. Die Jungfrau war noch blaß, aber nicht mehr krank. Die Ankunft ihres Bruders Adolf hatte ihre Krankheit verscheucht. Ein himmelblaues Reitkleid vom feinsten Samt, mit kleinen silbernen Löwen wie übersät, fiel in leichten Falten über ihre Füße bis zur Erde nieder, und ein seidener Schleier hing von der Spitze ihres Hutes bis auf das Pferd herab.
Dann kamen noch ungefähr dreißig Ritter und Edelfrauen, alle auf das kostbarste gekleidet und so froh und munter, als ob sie irgendeinem Turnier beiwohnen wollten. Endlich folgten vier Schildknappen zu Fuß; die beiden ersten trugen jeder einen reichen Harnisch und ein Schlachtschwert am Arme, die anderen jeder einen Helm und einen Schild. Während die Scharen in feierlicher Stille dastanden, kam der glänzende Zug in die Mitte des Vierecks und machte dort halt.
Gwijde ließ seinen Herold kommen und gab ihm ein Pergament, dessen Inhalt er verkünden sollte.
„Füge den Kriegsnamen ‚Löwe von Flandern‘ hinzu,“ sprach er; „denn das freut unsere guten Leute von Brügge.“
Die Neugier der Kriegsknechte tat sich durch eine augenblickliche Bewegung und die größte Aufmerksamkeit kund; sie sahen wohl, daß hinter all diesen feierlichen Formen ein Geheimnis verborgen sei; denn sicherlich hatten sich die Edeldamen nicht ohne Absicht so reich gekleidet. Der Herold ritt vor, stieß dreimal in die Posaune und rief mit lauter Stimme:
„Wir, Gwijde von Namur, entbieten im Namen unseres Grafen und Bruders Robrecht van Bethune, des Löwen von Flandern, [309] allen, die dieses lesen oder lesen hören, Heil und Frieden. In Anbetracht …“
Plötzlich hielt er inne; ein Murmeln ging durch die verschiedenen Rotten, und während jeder hastig nach seinen Waffen griff, spannten die Schützen ihre Bogen, als ob ihnen irgendeine Gefahr drohte.
„Der Feind! der Feind!“ rief es hier und da.
In der Ferne sah man ein zahlreiches Heer heranrücken; mehrere tausend Mann schritten in dichtgedrängten Scharen vorwärts, und das Ende war nicht abzusehen. Doch war man ungewiß, ob es der Feind wäre oder nicht, da keine Reiterei dabei war. Bald sah man, wie sich ein Reiter von diesem unbekannten Zug ablöste und in vollem Trab auf den Lagerplatz zusprengte. Er hing vornüber auf dem Hals seines Trabers, so daß man ihn nicht erkennen konnte, obgleich er nun schon ganz dicht herangekommen war. Immer mehr nahte er dem erstaunten Heere und rief zugleich:
„Vlaenderen den Leeuw! Vlaenderen den Leeuw! Hier sind die Genter!“
Man erkannte den alten Krieger: ein frohes Jauchzen antwortete seinem Ruf, und sein Name erscholl aus aller Mund:
„Hoch Gent! Heil Herrn Johann Borluut! Willkommen, gute Brüder!“
Als die Vlaemen sahen, daß ihnen ein so unerwarteter Beistand, ein so zahlreiches Heer zu Hilfe kam, da war ihre Freude nicht mehr zu bändigen; die Anführer mußten alles aufbieten, um sie nur in ihren Gliedern zu halten. Sie ergingen sich in ungestümen Bewegungen und tobten vor Freude, als ob sie wahnsinnig wären. Herr Jan Borluut rief ihnen zu:
„Habt Mut, meine Freunde, Flandern wird frei sein. Ich bringe fünftausend wohlbewaffnete, unverzagte Leute.“
Und aufs neue erscholl der Ruf: „Heil, Heil dem Helden von Woeringen! Borluut! Borluut!“
Borluut kam zu dem jungen Grafen und wollte ihn mit höflichen Wendungen begrüßen; aber Gwijde unterbrach ihn:
„Laßt die Redensarten beiseite, Herr Johann, gebt mir die Hand als Freund. Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid, Ihr, der Ihr Euer Leben unter dem Harnisch verbracht habt, und dem so tiefe Weisheit innewohnt; ich war schon mißmutig, als ich Euch nicht kommen sah. Ihr habt lange gezaudert …“
„O ja, edler Gwijde,“ war die Antwort, „länger, als ich wünschte, aber die feigen Leliaerts haben mich zurückgehalten. Können Euer Edeln wohl glauben, daß in Gent eine Verschwörung ausgebrochen war, um den Franzosen wieder Eingang in die Stadt zu verschaffen? Sie wollten uns nicht herauslassen, als es galt, unseren Brüdern zu Hilfe zu kommen; aber, Gott sei Dank! das ist ihnen nicht geglückt, denn das Volk haßt und verachtet sie über die Maßen. Die Genter haben den Magistrat auf die Burg gejagt und die Tore der Stadt erbrochen. Dort hinten kommen nun fünftausend unerschrockene Männer, die es ebensosehr nach dem Kampf wie nach einer Mahlzeit verlangt: sie haben heute noch keinen Bissen Brot gegessen.“
„Ich dachte mir wohl, daß Euch große Hindernisse zurückhielten, und fürchtete schon, Ihr würdet nicht kommen.“
„Wie, edler Gwijde, ich hätte nicht in Kortrijk sein sollen? Ich, der ich mein Blut für Fremde vergossen habe, ich sollte meinem Vaterland in der Not nicht beistehen? Das sollen die Franzosen erfahren! Ich fühle mich, als wäre ich keine dreißig Jahre alt! Und meine Leute erst, o Himmel! Wartet nur, edler, Herr, bis die blutige Stunde gekommen ist, und achtet dann auf den weißen Löwen von Gent, wie Ihr da die Franzosen werdet fallen sehen.“
„Ihr erfreut mich, Herr Borluut. Auch unsere Leute sind allesamt ebenso mutig, ebenso unverzagt; wenn wir im Kampf unterliegen sollten, würden nicht viele Vlaemen nach Hause zurückkehren, das versichere ich Euch!“
„Verlieren, sagt Ihr? Verlieren, Herr Gwijde? Das glaube ich nicht, dafür sind unsere Leute zu guten Mutes. Und Breydel erst! Der Sieg steht ihm auf dem Gesicht geschrieben. Seht, edler Herr, ich möchte meinen Kopf verwetten: wenn man Breydel gehen ließe, würde er mit seinen Fleischern durch die zweiundsechzigtausend Franzosen durchbrechen, wie man durch ein Kornfeld dringt. Gott und der heilige Georg werden uns beistehen, hofft nur alles Gute; aber nun entschuldigt mich, Herr Gwijde, mein Heer ist angelangt. Ich verlasse Euch für einen Augenblick.“
Die Genter schritten schon ganz ermattet und mit Staub bedeckt auf den Groeninger Kouter; bei starker Sonnenglut waren sie in schnellem Marsch dahergeeilt. Man sah bei ihnen all die verschiedenen Waffengattungen, die wir bereits beschrieben haben. An der Spitze trabten etwa vierzig Edle hoch zu Roß; es waren fast lauter Freunde des alten Kriegers Jan Borluut: Herr van Leerne, Jan van Coyeghem, Balduin Steppe, Simon Bette, Paul van Severen und sein Sohn, Jan van Aerseele, Junker van Vijnkt, Thomas van Vuselaare, Jan van Mechelen, Wilhelm und Robrecht Wenemaer und noch viele, viele andere. Mitten über diesem Heere flatterte das Banner von Gent mit seinem weißen Löwen. Die Brügger, die nun fühlten, wie ungerecht ihre Schmähungen gegen die Genter gewesen waren, riefen immer wieder: „Willkommen! Willkommen, Brüder! Heil Gent!“
Jan Borluut stellte inzwischen seine Leute in regelmäßigen Abteilungen vor dem linken Flügel des Vierecks auf; er wollte seine tapferen Genter gleichsam zur Schau stellen, damit sich die Brügger überzeugen sollten, daß sie ihnen auch in der Liebe zum Vaterland nicht nachstanden. Auf Befehl Gwijdes verließ er dann den Lagerplatz und rückte in Kortrijk ein, um seine Leute gut unterzubringen, so daß sie die nötige Ruhe genießen konnten.
Sobald die Genter abgezogen waren, trat Johann van Renesse vor und rief: „Die Waffen auf! Still!“
Der Zug, der sich in die Mitte des Heeres begeben hatte, nahm seinen vorigen Platz wieder ein. Alles schwieg auf Befehl des Herrn van Renesse und lauschte aufmerksam dem Herold, der die drei Posaunenstöße wiederholte und dann mit lauter Stimme las:
„Wir, Gwijde von Namur, entbieten im Namen unseres Grafen und Bruders Robrecht van Bethune, des Löwen von Flandern, allen, die dieses lesen oder lesen hören, Heil und Frieden!
„In Anbetracht der guten und treuen Dienste, die dem Lande von Flandern und uns selbst von Meister De Coninck und Meister Breydel aus Brügge erwiesen worden sind;
„willens, ihnen beiden, mit Wissen all unserer Untertanen, einen Beweis unserer Gunst zu geben;
„willens auch, ihre edelmütige Liebe zum Vaterland zu belohnen, wie es sich geziemt und gehört, auf daß ihre treuen Dienste bleiben mögen in ewigem Gedächtnis und Andenken;
„also unser Graf und Vater, Gwijde von Flandern, uns die Macht dazu gegeben hat, tun zu wissen:
„Peter De Coninck, Obmann der Wollweber, und Jan Breydel, Obmann der Fleischer, aus unserer guten Stadt Brügge, und ihre Nachkommen bis in ewige Zeiten, sind und sollen bleiben von edelm Blute; genießen die Vorrechte, in deren Genuß die Lehnsherren in unserem Lande von Flandern sind;
„und damit sie in Ehren hiervon Gebrauch machen können, wird jedem von ihnen ein Zwanzigstel des Zolles in unserer guten Stadt Brügge zum Unterhalt ihrer Häuser zugestanden.“
Ehe noch der Herold geendet hatte, übertönte hallendes Jauchzen der Weber und Fleischer seine Stimme. Die große Gunst, die ihren Obmännern bewiesen worden, war auch ein Lohn für ihre Tapferkeit. Ein Teil dieser Ehre mußte auch auf die Zünfte zurückfallen. Wären sie nicht so fest von der Treue und Liebe ihrer Obmänner gegen das Volk überzeugt gewesen, so hätten sie diese Erhebung ohne Zweifel mit Zorn aufgenommen und als eine politische List der Edeln angesehen. [313] Sie würden gesagt haben: So rauben die Lehnsherren uns die Vertreter unserer Rechte und bringen unsere Obmänner auf ihre Seite. In einem anderen Falle wäre dieser Verdacht vielleicht nicht unbegründet gewesen, denn die Menschen lassen sich gewöhnlich durch Ehrfurcht verleiten. Daher ist es nicht zu verwundern, daß das Volk bitteren Haß gegen diejenigen seiner Brüder hegt, die zu hoch emporsteigen. Denn aus edelmütigen Volksfreunden werden sie schlechte, feige Schmeichler und unterstützen die Macht, die sie erhoben hat. Sie wissen, daß sie mit derselben steigen und fallen müssen, und sehen voraus, daß sie das Volk, das sie verlassen haben, als Überläufer verstoßen und verachten wird.
Die Zünfte von Brügge vertrauten zu fest auf De Coninck und Breydel, um in diesem Augenblick solchen Gedanken Raum zu geben. Ihre Obmänner gehörten jetzt zu den Edelleuten; sie hatten nun zwei Leute, die zum Grafenrat zugelassen wurden und den Feinden ihrer Vorrechte frei entgegentreten, sie offen bekämpfen konnten. Sie fühlten, wie sehr ihre Macht hierdurch wachsen mußte, und gaben sich deshalb der ungetrübtesten Freude hin; ihr Jauchzen hallte so lange fort, bis ihnen die Stimme versagte. Dann schwieg der Lärm, und der Jubel war nur noch in ihren Zügen, an ihren Bewegungen zu erkennen.
Adolf van Nieuwland trat jetzt zu den Obmännern und ersuchte sie, vor den Feldherrn zu treten; sie gehorchten und nahten langsam dem Zuge der Ritter.
In De Conincks Zügen war keine Freude zu lesen. Er kam stattlich und ruhig heran, ohne auch nur die mindeste Erregung zu zeigen. Doch in seinem Herzen herrschte innige Zufriedenheit und edler Stolz. Nur hatte seine gewohnte Vorsicht seine Züge so sehr in die Gewalt bekommen, daß man seine Gefühle nur selten aus ihnen entnehmen konnte. Jetzt wollte er sich seine Unabhängigkeit bewahren; wenn man dann einst von ihm etwas verlangen sollte, das dem Vorteil des Volkes [314] zuwiderlief, so konnte er dem Fürsten sagen: Wer hat Eure Gunst verlangt, was habt Ihr mir denn gegeben, daß Ihr nun Unrechtes von mir fordert? – Anders bei Breydel: der hatte seine Empfindungen nie bezwungen; die geringste Regung, das leiseste Gefühl, das sein Herz bewegte, drückte sich in seinen Zügen aus, und man konnte leicht bemerken, daß eine seiner Tugenden seine große Offenherzigkeit war. Auch konnte er die Tränen, die seinen blauen Augen entströmten, nicht zurückhalten; er beugte sein Haupt, um sie zu verbergen, und stellte sich pochenden Herzens neben seinen Freund De Coninck.
Alle Ritter und Edelfrauen waren abgestiegen und hatten ihre Pferde den Schildknappen übergeben. Gwijde ließ die vier Waffenträger vortreten und bot den Obmännern die überaus kostbare Rüstung dar; der Harnisch wurde ihnen angelegt und der Helm mit der blauen Feder ihnen aufs Haupt geschnallt.
Die Brügger betrachteten diese feierliche Handlung mit ruhiger Aufmerksamkeit. Ihre Herzen waren von Zufriedenheit erfüllt, und sie waren so bewegt, als ob ihnen selbst diese Ehre widerfahren wäre. Als die Obmänner in ihr Gewaffen gekleidet waren, mußten sie das eine Knie zur Erde beugen; dann trat Gwijde vor und erhob sein Schlachtschwert über De Conincks Haupt.
„Herr De Coninck,“ sprach er, „seid ein treuer Ritter, verletzt nie die Ehre und greift nie zum Schwert, es sei denn für Gott, Euer Vaterland und Euren Fürsten.“
Damit versetzte er ihm dem Brauch der Ritterschaft zufolge einen leichten Schlag mit seinem Schlachtschwert. Ebenso wurde Jan Breydel zum Ritter geschlagen. Zu gleicher Zeit trat Machteld aus dem Zug und stellte sich vor die knienden Obmänner; sie nahm die Schilde aus den Armen der Knappen und hing sie um den Hals der neuen Ritter. Viele Zuschauer bemerkten, daß sie den Schild zuerst um Breydels Hals gehängt hatte, und daß dies absichtlich geschehen sein mußte, da sie deshalb einige Schritte seitwärts zu tun hatte.
„Dies Wappen ist ein Geschenk meines Vaters für Euer Edeln,“ sprach sie, mehr zu Breydel hingewandt; „ich weiß, edle Herren, daß ihr sie vor aller Schmach bewahren werdet; ich freue mich, daß ich an der Belohnung eurer Vaterlandsliebe teilnehmen kann.“
Breydel sah die junge Edeldame mit tiefster Dankbarkeit an; seine Augen sprachen den Eid feurigster Zuneigung und Aufopferung. Er würde sich ohne Zweifel der edlen Jungfrau zu Füßen geworfen haben, aber die feierliche Haltung der umstehenden Ritter machte zu großen Eindruck auf ihn; erstaunt, bewegungslos stand er da, ohne zu sprechen.
„Meine Herren, nun könnt ihr zu euren Leuten zurückgehen,“ sprach Gwijde. „Wir hoffen, daß ihr diesen Abend in unseren Rat kommen werdet, wir müssen mit euch eine längere Besprechung haben. Führet nun eure Truppen nach dem Lager zurück.“
De Coninck verbeugte sich leicht und ging fort, und ebenso tat es Breydel; aber kaum hatte sich dieser einige Schritte entfernt, als er schon die Last der Waffen inne wurde, die ihn überall beklemmte; er kehrte hastig zu Gwijde zurück und sprach:
„Edler Graf, ich ersuche Euer Edeln um noch eine Gunst.“
„Sprecht, Herr Breydel, sie soll Euch zugestanden werden.“
„Seht, durchlauchtiger Herr,“ fuhr der Obmann fort, „Ihr habt mir heute eine große Gnade erwiesen, aber Ihr wollt mich doch nicht hindern, gegen unsere Feinde zu streiten?“ Die Ritter kamen näher an Breydel heran, seine Worte versetzten sie in großes Staunen.
„Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte Gwijde.
„Daß diese Waffen mich überall beengen und kneifen, Herr Graf! Ich kann mich in dem Harnisch nicht rühren, und dieser Helm lastet so schwer auf meinem Kopfe, daß ich den Hals nicht bewegen kann; ich versichere Euch, daß ich mich in diesem eisernen Kerker totschlagen lassen müßte wie ein gebundenes Kalb.“
„Der Harnisch wird Euch vor den Schwertern der Franzosen schützen,“ bemerkte der Ritter.
„Ja,“ entgegnete Breydel, „dessen bedarf ich aber durchaus nicht. Wenn ich frei bin mit meinem Beil in der Faust, dann fürchte ich nichts. Wahrlich, ich würde da eine schöne Figur machen, steif und unbehilflich! Nein, nein, meine Herren, ich will das nicht am Leibe haben; deshalb, Herr Graf, ersuche ich Euch: erlaubt mir, bis nach dem Kampfe Bürger zu bleiben; später will ich dann mit diesem lästigen Harnisch Bekanntschaft machen.“
„Das mögt Ihr halten, wie es Euch beliebt, Herr Breydel,“ antwortete Gwijde, „dennoch seid und bleibt Ihr ein Ritter.“
„Wohlan!“ rief Breydel erfreut, „dann bin ich der Ritter mit dem Beil! Dank, Dank, durchlauchtiger Herr.“
Mit diesem Ausruf lief er zu seinen Leuten, die ihm durch laute Glückwünsche und allerlei Zurufe ihre Freude bekundeten. Er hatte bereits die ganze Rüstung abgeworfen, noch ehe er die Reihen der Fleischer erreichte. Nur den Wappenschild behielt er, den ihm Machteld um den Hals gehängt hatte.
„Albrecht, mein Freund,“ rief er einem seiner Leute zu, „nimm die Waffen auf und trage sie nach meinem Zelt! Ich will kein Eisen an meinem Leibe tragen, während ihr mit bloßer Brust der feindlichen Waffe entgegengeht; dieser Kirmeß will ich im Fleischergewand beiwohnen. Sie haben mich zu einem Edelmann gemacht, meine Gesellen, aber das ändert nichts an der Sache! Mein Herz ist und bleibt den Fleischern treu, und das werden die Franzosen schon fühlen. Kommt, wir gehen nach dem Lager, ich werde mit euch Wein trinken, wie vorhin, ich schenke euch jedem ein Maß, und dann trinken wir ein Hoch auf den schwarzen Löwen!“
All seine Gesellen wiederholten diesen Ruf; die Glieder kamen etwas in Unordnung, und ungestüm wollten sie sich nach dem Lager zurückbegeben.
„Oho, Leute,“ rief Breydel, „so nicht, jeder in sein Glied, oder wir werden schlechte Freunde.“
Die anderen Abteilungen waren bereits in Bewegung und kehrten beim Schall der Hörner mit fliegenden Fahnen nach der Verschanzung zurück; der Zug der Ritter rückte in das Stadttor und verschwand hinter den Wällen. Bald danach plauderten sämtliche Vlaemen vor ihren Zelten von der Erhebung der Obmänner. Eine große Schar Fleischer saß in weitem Kreise, die Humpen in der Hand, auf dem Boden; große Kannen standen neben ihnen; einstimmig sangen sie das Lied vom schwarzen Löwen. Mitten unter ihnen, auf einer leeren Tonne, saß der geadelte Breydel, der als Vorsänger jeden Vers begann; er trank wiederholt auf die Befreiung des Vaterlandes und suchte durch größere Vertraulichkeit die Änderung seines Standes vergessen zu machen; denn er fürchtete, daß seine Gesellen denken könnten, er wolle ihnen nicht mehr, wie zuvor, ihr Freund und Genosse sein.
De Coninck hatte sich in seinem Zelt eingeschlossen, um den Glückwünschen seiner Weber zu entgehen; die Beweise ihrer Liebe gingen ihm zu nahe, und es wurde ihm zu schwer, diese Rührung zu verbergen; deshalb blieb er den ganzen Tag allein, während das Heer sich der ungetrübtesten Freude hingab.
U nweit der Stadt Rijssel, auf einem ungewöhnlich großen Felde, war das französische Lager aufgeschlagen. Die unzähligen Zelte, die für so viele Menschen nötig waren, bedeckten fast eine halbe Meile Landes. Da ein hochaufgeworfener Wall das Lager einfaßte, hätte man von fern glauben können, daß man eine befestigte Stadt vor sich habe, wenn nicht das Wiehern der Pferde, die Rufe der Söldner, der Rauch der Wachtfeuer und die Tausende flatternder Wimpel die Anwesenheit eines Lagers verraten hätte. Die Abteilung, in der die [318] edlen Ritter wohnten, war an den kostbaren Standarten und gestickten Fähnlein zu erkennen. Während hier samtene Zelte von verschiedenerlei Farben standen, traf man in der anderen Abteilung nur kleine Zelte von Leinwand oder Stroh an. Es scheint unglaublich, daß ein so zahlreiches Heer nicht vor Hunger umkam; denn in jenen Zeiten führte man selten Lebensmittel mit sich; aber es war im Gegenteil an allem Überfluß. Das Getreide lag im Schmutz herum, und die besten Lebensmittel wurden unter die Füße getreten. Die Franzosen gebrauchten ein gutes Mittel, sich mit allem zu versorgen und sich zu gleicher Zeit bei den Vlaemen verhaßt zu machen. Unaufhörlich zogen große Söldnerscharen aus der Verschanzung, um das Land zu durchstreifen und alles zu rauben, zu plündern und zu vernichten. Die wilden Kriegsknechte hatten die Absicht ihres Feldherrn Robert d'Artois vollständig begriffen; um sie auszuführen, vollbrachten sie die furchtbarsten Greuel, die man im Kriege nur begehen kann. Als Sinnbild der Verwüstung, mit der sie Flandern bedrohten, hatten sie kleine Besen an ihre Speere gehängt, womit sie andeuten wollten: sie kämen, um Flandern auszukehren und zu säubern; und in der Tat, sie unterließen nichts, um diese Drohung auszuführen. Schon nach wenigen Tagen stand im ganzen südlichen Teile des Landes kein einziges Haus mehr, nicht eine Kirche, kein Schloß, kein Kloster, ja selbst kein Baum mehr. Alles war zerstört und vernichtet. Man achtete weder Alter noch Geschlecht. Frauen und Kinder wurden ermordet und ihre unbegrabenen Leichen den Raubvögeln zur Speise gegeben.
In dieser Weise begannen die Franzosen den Kampf. Nicht die mindeste Furcht, nicht die geringste Reue regte sich im Herzen der fremden Bösewichte bei ihrem schändlichen Unternehmen; gestützt auf ihre übergroße Macht, hielten sie sich für unüberwindlich; desto feiger und schändlicher war ihr Tun. Bei ihren ehrlosen Waffen hatten sie geschworen, daß ganz Flandern das gleiche Los treffen solle!
Am selben Morgen, da Gwijde die schöne Aufgabe erfüllte, die treuen Dienste De Conincks und Breydels zu belohnen, hatte der französische Feldherr die vornehmsten seiner Ritter zu einem prächtigen Gastmahl geladen.
Das Zelt des Grafen d'Artois war ungemein lang und breit und in verschiedene Räume eingeteilt; da waren Gemächer für die Ritter, andere für die Schildknappen und Waffenträger, für die Leibdiener und Köche und für verschiedene andere Personen seines Gefolges. In der Mitte war ein großer Saal, der abwechselnd zu Gastmählern oder Versammlungen des Kriegsrats bestimmt war und gar viele Ritter fassen konnte. Die gestreifte Seide des Zeltes war mit unzähligen kleinen silbernen Lilien bedeckt; an der Vorderseite über dem Eingang hing das Wappen des Hauses Artois; ein wenig weiter auf einer Erhöhung flatterte das große Lilienbanner Frankreichs. In diesem prächtigen Gemach, das mit reichen Teppichen ausgehangen war, hatte man lange geschnitzte Tische und Samtsessel aufgestellt. Wahrlich, ein Palast konnte nicht mehr Reichtum und Pracht entfalten!
Oben an der Tafel saß Robert Graf d'Artois. Er hatte bereits ein hohes Alter erreicht, war aber noch voll Lebenskraft; eine Narbe auf seiner rechten Wange zeugte von seiner Tapferkeit im Krieg und verlieh seinen Zügen noch mehr Strenge. War auch sein Gesicht durch tiefe Furchen und braune Flecken entstellt, so blitzten doch seine Augen noch mit allem Feuer männlicher Leidenschaft unter seinen buschigen Brauen hervor. Sein Gebaren war wild, und seine kühnen Blicke ließen den unerbittlichen Krieger erkennen.
Neben ihm zur Rechten saß der greise Sigis, König von Melinde; das Alter hatte sein Haar gebleicht und sein Haupt gebeugt, und doch wollte er dieser Schlacht beiwohnen. In der Gesellschaft so vieler alter Kriegskameraden fühlte er den Mut in sein Herz zurückkehren und gelobte sich innerlich, noch manche rühmliche Waffentat auszuführen. Das Gesicht des [320] alten Fürsten flößte die größte Ehrfurcht ein; Milde und Seelenruhe waren darin ausgedrückt. Der gute Sigis würde die Vlaemen gewiß nicht bekämpft haben, wenn ihm der Stand der Dinge bekannt gewesen wäre; aber man hatte ihn gleich vielen anderen hintergangen, hatte vorgegeben, die Vlaemen wären schlechte Christen, und man täte also ein gottgefälliges Werk, wenn man sie bis auf den letzten Mann ausrottete. In dieser Zeit leidenschaftlichsten Glaubenseifers genügte es, jemanden der Ketzerei zu beschuldigen, um ihm in jedermann einen Todfeind erstehen zu lassen.
Zur Linken des Feldherrn saß Balthasar, König von Majorka, ein wilder und tapferer Krieger; seine Züge bezeugten das hinlänglich. Der starre Blick seiner schwarzen Augen war schier unerträglich. Wilde Freude erheiterte sein Antlitz, da er hoffte, sein Reich, das ihm von den Mauren entrissen war, wieder zu erhalten. Neben ihm saß Châtillon, der frühere Landvogt von Flandern, der Mann, der das Werkzeug der Königin Johanna, die Ursache alles geschehenen Unglücks war. Seine Schuld war es, daß so viele Franzosen in Brügge und Gent ermordet worden waren; er war die Ursache der schrecklichen Metzelei, die noch bevorstand. Welche Ströme nach Rache schreienden Blutes lasteten auf dem Haupte dieses Tyrannen! Er gedachte, wie ihn die Brügger schmachbedeckt aus ihrer Stadt verjagt hatten und rechnete auf gewaltige Rache; es schien ihm unmöglich, daß die Vlaemen der vereinigten Macht so vieler Könige, Fürsten und Grafen widerstehen könnten, und innerlich jubelte er bereits, und sein Gesicht war fröhlich.
Auf ihn folgte sein Bruder Gui de Saint-Pol, der nicht minder rachsüchtig war als er; weiter konnte man auch Thibaud, Herzog von Lothringen, zwischen den Herren Johann von Barlas und Renauld von Trier bemerken; er war den Franzosen mit sechshundert Pferden und zweitausend Bogenschützen zu Hilfe gekommen.
Rudolf von Nesle, ein tapferer und edelmütiger Ritter, saß [321] neben Herrn von Ligny an der linken Seite der Tafel. Seine Züge verrieten Unzufriedenheit und Betrübnis, und es war deutlich zu merken, daß ihm die grausamen Drohungen, welche die Ritter gegen Flandern ausstießen, nicht behagten.
In der Mitte der rechten Seite, zwischen Louis von Clermont und dem Grafen Jean d'Aumale, saß Gottfried von Brabant, der den Franzosen Berittene zugeführt hatte.
Neben ihnen bewunderte man die hohe Gestalt des Seeländers Hugo van Arckel; er ragte weit über die anderen Ritter empor, und sein kräftiger Wuchs verriet hinlänglich, wie furchtbar ein solcher Kämpfer auf dem Schlachtfeld sein mußte. Dieser Ritter war seit langen Jahren nirgend anders denn in dem einen oder anderen Kriegslager zu Hause gewesen; seiner Tapferkeit und großen Waffentaten wegen überall berühmt, hatte er eine Abteilung von achthundert unverzagten Männern um sich versammelt und zog mit ihnen in alle Lande, wo es nur etwas zu kämpfen gab. Mehrmals hatte er den Sieg durch seine Gegenwart dem Fürsten, dem er diente, zugewandt; er wie seine Leute waren mit Narben bedeckt. Dies beständige Kämpfen war sein Leben und seine Erholung; Ruhe war ihm unerträglich. Er hatte sich in das französische Lager begeben, weil er dort viele seiner Waffenbrüder gefunden hatte; und da ihn lediglich die Lust zum Krieg leitete, so kümmerte er sich wenig darum, für wen oder weshalb er kämpfte.
Unter anderem waren ferner noch die Herren Simon von Piémont, Louis de Beaujeu, Froald, Kastellan von Douai, und Alin de Bretagne anwesend.
Eine weitere Ritterschar fand sich am unteren Ende der Tafel. Gleich als hätten die Franzosen sie nicht zwischen sich haben wollen, saßen sie alle nebeneinander auf dem am wenigsten ehrenvollen Platz. Wirklich hatten die Franzosen darin nicht unrecht: diese Ritter waren verächtlich. Denn während ihre Vasallen als echte Vlaemen den Feind erwarteten, waren ihre Lehensherren im französischen Heere. Welche Verblendung [322] trieb die Abtrünnigen dazu, den Schoß ihrer Mutter gleich einer Schlange zu zerfleischen? Sie fochten unter feindlicher Fahne, um das Blut ihrer Landsleute auf vaterländischem Boden zu vergießen, vielleicht das Blut eines Bruders oder das eines Busenfreundes; und weshalb? Um das Land, in dem sie geboren waren, in Sklavenketten zu schlagen und den Fremden zu unterwerfen.
Die Entarteten erkannten nicht, daß Schande und Verachtung über ihrem Haupte schwebte; sie hatten kein Herz, um darin nagende Vorwürfe zu empfinden! Die Namen dieser Abtrünnigen sind der Nachwelt erhalten geblieben: Hendrik van Bautershem, Geldof van Winghene, Arnold van Eickhove und sein ältester Sohn, Hendrik van Wilre, Willem van Redinghe, Arnold van Hofstad, Willem van Cranendonc und Jan van Raneel waren unter den vielen anderen die Vornehmsten.
Alle Ritter aßen von Tellern aus getriebenem Silber und tranken die kostbarsten Weine aus goldenen Bechern. Die Gefäße, die vor Robert d'Artois und den beiden Königen standen, waren kostbarer und größer als die der anderen Herren; ihre Wappen waren kunstvoll darin eingegraben, und manch unschätzbarer Stein glänzte an ihrem Rande. Während der Mahlzeit war viel über den Stand der Dinge die Rede, und aus den Worten der Gäste konnte man sehr wohl entnehmen, welch furchtbares Los dem verurteilten Flandern zugedacht war.
„Ja, ja,“ antwortete der Feldherr auf eine Frage Châtillons, „alles muß vernichtet werden. Diese verwünschten Vlaemen sind nicht anders zu bändigen als durch Feuer und Schwert; ließen wir diese Bauernschar leben, so hätten wir nichts erreicht. Das muß ein Ende nehmen! Meine Herren! Laßt uns kurzerhand vorgehen, damit wir unsere Schwerter nicht länger mehr mit diesem schlechten Blute zu besudeln brauchen.“
„Fürwahr,“ sprach Jan van Raneel, der Leliaert, „fürwahr, Herr d'Artois, Ihr habt recht. Es ist nicht möglich, mit diesen [323] Meuterern anders fertig zu werden. Sie sind zu reich und würden sich bald über uns erhaben glauben. Sie wollen bereits nicht mehr anerkennen, daß wir, die wir doch auch aus edelm Blute entsprossen sind, sie als unsere Untertanen behandeln dürfen, – als ob das Geld, welches sie mit ihrer Hände Arbeit gewonnen haben, ihr Blut veredeln könnte! Sie haben sich in Brügge und Gent Häuser gebaut, die unsere Schlösser an Pracht übertreffen; ist das nicht eine Schmach für uns? Gewiß, wir dürfen das nicht länger ertragen.“
„Wenn wir nicht alle acht Tage von neuem Krieg führen wollen,“ bemerkte Willem van Cranendonc, „so müssen alle Zunftleute erschlagen werden, denn die Verbleibenden werden sich nicht ruhig verhalten; deshalb finde ich, daß Herr d'Artois allen Grund hat, keinen zu verschonen.“
„Und was werdet ihr tun, wenn ihr all eure Vasallen ermordet habt?“ fragte der gewaltige Hugo van Arckel lachend. „Meiner Treu! Dann könnt ihr eure Ländereien selbst pflügen. Eine schöne Aussicht, wahrhaftig.“
„O,“ antwortete Jan van Raneel, „ich weiß ein gutes Aushilfsmittel: wenn Flandern von dieser starrköpfigen Bande gesäubert ist, werde ich französische Freigelassene aus der Normandie rufen und ihnen meine Ländereien übergeben.“
„Auf diese Weise könnte Flandern wirklich ein Teil Frankreichs werden. Das ist ein guter Vorschlag; ich werde dem König das vorstellen, damit er die anderen Lehnsherren auffordert, sich auch dieses Mittels zu bedienen. Ich glaube, das dürfte so schwer nicht sein.“
„Gewiß nicht, mein Herr. Findet Ihr meinen Gedanken nicht gut?“
„Ja, ja, das wollen wir schon zuwege bringen; laßt uns aber zuvor damit beginnen, den Platz zu säubern.“
Bei diesen Worten verfinsterte innerer Gram die Züge Rudolfs von Nesle, denn sein Edelmut sträubte sich gegen solche Grausamkeit. Er sagte leidenschaftlich:
„Aber, Herr d'Artois, ich frage Euch, sind wir Ritter oder nicht, und schätzen wir unsere Ehre so gering, daß wir ärger als die Sarazenen hausen sollen? Ihr treibt die Grausamkeit zu weit; ich versichere Euch, es wird uns nur Schande bringen vor der ganzen Welt. Wir wollen das Heer der Vlaemen bekämpfen und besiegen, aber damit auch genug! Nennt dies Volk nicht einen Haufen Bauern, wir werden genug damit zu tun haben! Und unterstehen sie nicht dem Sohn ihrer Fürsten?“
„Konstable von Nesle,“ rief Artois leidenschaftlich, „ich weiß, daß Ihr die Vlaemen über alle Maßen liebt. Diese Liebe ehrt Euch, in der Tat! Sicherlich flößt Euch Eure Tochter solch liebevolle Gesinnung ein?“ [34]
„Herr d'Artois,“ antwortete Rudolf, „daß meine Tochter in Flandern wohnt, hindert mich nicht, ein ebenso guter Franzose zu sein wie nur irgendeiner; mein Schwert hat das zur Genüge bewiesen, und ich habe deshalb allen Grund zu glauben, daß diese Ritter Euren scherzenden Worten kein Gehör schenken werden. Aber etwas liegt mir mehr am Herzen: die Ehre der Ritterschaft; und ich versichere Euch, daß Ihr diese in große Gefahr bringt.“
„Was heißt das?“ rief der Feldherr, „soll man daraus etwa verstehen, daß Ihr die Meuterer verschonen wolltet?! Haben sie den Tod etwa nicht verdient, als sie siebentausend Franzosen ohne Gnade ermordet haben?“
„Ohne Zweifel haben sie sich des Todes schuldig gemacht, und deshalb werde ich auch die Krone meines Fürsten so schwer als möglich rächen. Aber nur an denen, die mit den Waffen in der Hand gefunden werden. Ich berufe mich auf diese Ritter: ziemt es sich wohl, daß wir unser Schwert zu einem Henkerswerk gebrauchen und wehrlose Leute ermorden, während sie auf dem Felde pflügen?!“
„Er hat recht!“ rief Hugo van Arckel ergrimmt, „wir streiten gegen keine Mauren, meine Herren, und es ist ein schändliches Werk, das uns da aufgetragen wird. Bedenkt, daß wir es mit Christen zu tun haben! In meinen Adern strömt auch deutsches Blut, und ich werde nicht leiden, daß man meine Brüder wie Hunde behandelt; sie führen Krieg in offenem Feld und müssen deshalb den Gesetzen des Krieges gemäß bekämpft werden.“
„Ist es wohl möglich,“ erwiderte d'Artois, „daß Ihr diesen schlechten Bauern das Wort redet? Unser Fürst, der ja nur zu gut ist, hat bereits jedes Mittel versucht, um sie zu bändigen, aber alles war vergebens. Wir sollten also unsere Leute ermorden, unseren König höhnen und schmähen lassen und dann noch das Leben dieser aufrührerischen Schurken schonen? Nein, das soll nicht geschehen! Ich weiß, welche Befehle mir gegeben sind, und werde sie vollziehen.“
„Herr d'Artois,“ fiel Rudolf von Nesle noch leidenschaftlicher ihm ins Wort, „ich weiß nicht, welche Befehle Ihr empfangen habt, aber ich sage Euch, daß ich ihnen nicht Folge leisten werde, wenn sie mit der Ehre der Ritterschaft in Widerspruch stehen; selbst der König hat nicht das Recht, meine Waffen zu entehren. Und hört, meine Herren, ob ihr anderer Ansicht seid oder nicht: heute morgen bin ich in aller Frühe aus dem Lager gegangen, überall fand ich die Zeichen der schrecklichsten Verwüstung. Die Kirchen sind verbrannt und die Altäre beraubt, die Leichen von kleinen Kindern und Frauen liegen haufenweise auf den Feldern und werden von den Raben zerfleischt. Ich frage euch, handeln so ehrliche Krieger?“
Bei diesen Worten erhob er sich von der Tafel und nahm die Zeltdecke auf:
„Seht, meine Herren,“ fuhr er fort und wies auf das Feld, „laßt eure Augen nach allen Richtungen schweifen, überall gewahrt ihr die Flammen der Verwüstung; der Himmel ist düster vom Rauch, dort hinten steht ein ganzes Dorf in [326] Flammen. Was bedeutet solch ein Krieg? Das ist schlimmer, als wenn die grausamen Normannen wiedergekommen wären, um die Welt in eine Mördergrube zu verwandeln!“
Robert d'Artois wurde rot vor Zorn, er rückte ungeduldig auf seinem Sessel hin und her und rief:
„Genug davon! Ich werde nicht dulden, daß man so in meiner Gegenwart spricht! Ich weiß, was ich zu tun habe! Flandern muß gesäubert werden, ich kann ihm nicht helfen. Diese Redensarten mißfallen mir sehr, und ich ersuche den Herrn Konstable, sich nicht länger in dieser Weise zu äußern. Er mag sein Schwert rein erhalten, wir werden das auch tun; die Handlungen unserer Söldner können uns nicht zur Schande gereichen. Laßt uns deshalb dies ärgerliche Gespräch abbrechen, und ein jeder tue seine Pflicht.“
Er erhob seine goldene Trinkschale und rief: „Auf Frankreichs Ehre und der Meuterer Vernichtung!“
Rudolf von Nesle wiederholte: „Auf Frankreichs Ehre!“ und legte absichtlich besonderen Nachdruck auf diese Worte; ein jeder sah daraus, daß er nicht auf die Vernichtung der Vlaemen trinken wollte. Hugo van Arckel legte seine Hand an den Becher, der vor ihm stand, erhob ihn jedoch nicht und sagte auch nichts. Alle anderen wiederholten den Ruf des Feldherrn und tranken auf die Vernichtung der Vlaemen.
Seit einigen Augenblicken hatten die Züge Hugos van Arckel einen eigentümlichen Ausdruck angenommen: man konnte Mißvergnügen und Ärger darauf lesen. Er blickte starr auf den Feldherrn, dann rief er aus:
„Ich würde mich schämen, noch auf Frankreichs Ehre zu trinken.“
Robert d'Artois flammte zornig auf; er schlug mit seiner Trinkschale auf den Tisch, daß die Trinkgefäße der anderen Ritter in die Höhe sprangen, und schrie:
„Herr d'Arckel, Ihr sollt auf Frankreichs Ehre trinken; ich verlange es!“
„Mein Herr,“ entgegnete Hugo mit erkünstelter Ruhe, „ich [327] trinke nicht auf die Verwüstung eines Christenlandes. Ich habe lange in allen Gegenden gekämpft, aber noch nie habe ich Ritter angetroffen, die ihr Gewissen mit so schrecklichen Übeltaten hätten beschweren mögen.“
„Ihr sollt mir Bescheid tun, das fordere ich!“
„Und ich will es nicht!“ antwortete Hugo. „Hört, Herr d'Artois, Ihr habt mir bereits gesagt, daß meine Leute zu hohe Bezahlung verlangten und Euch zu teuer kämen. Wohlan, Ihr sollt nicht mehr zu bezahlen haben, ich will unter Eurem Heere nicht mehr dienen; so hat unser Streit ein Ende.“
Alle Ritter, selbst der Feldherr, wurden ob dieser Worte bestürzt, denn sie empfanden den Abzug Hugos als einen großen Verlust. Der Seeländer stieß seinen Sessel zurück, warf einen seiner Handschuhe auf den Tisch und rief:
„Meine Herren, ich sage, daß ihr alle lügt! Ich höhne euch ins Gesicht. Das ist mein Handschuh, wer Lust hat, mag ihn aufnehmen; ich fordere ihn auf den Kampfplatz!“
Fast alle Ritter griffen ungestüm danach, auch Rudolf von Nesle; aber Robert d'Artois hatte sich so hastig herzugedrängt, daß er ihn vor den anderen ergriffen hatte.
„Ich nehme Eure Herausforderung an,“ sprach er, „kommt, wir wollen gehen!“
Der alte König Sigis von Melinde richtete sich auf und erhob zum Zeichen, daß er sprechen wollte, seine Hand über den Tisch. Die große Ehrfurcht, die beide Kämpfer vor ihm empfanden, hielt sie zurück; sie blieben schweigend stehen, um ihn zu hören. Der Greis sprach: „Meine Herren, laßt euren Eifer sich ein wenig abkühlen und schenkt meinem Rate Gehör. Ihr, Graf Robert, seid in diesem Augenblick nicht Herr Eures Lebens; wenn Ihr fallt, wird das Heer Eures Fürsten ohne Feldherr und deshalb der Unordnung und Zersplitterung ausgesetzt sein; das dürft Ihr nicht wagen. Euch, Herr van Arckel, frage ich, ob Ihr an der Tapferkeit des Herrn d'Artois zweifelt?“
„Keineswegs,“ antwortete van Arckel, „ich erkenne gern an, daß Herr Robert ein unverzagter, mutiger Ritter ist.“
„Wohlan,“ fuhr König von Melinde fort, „Ihr hört es, Feldherr, man tritt Eurer Ehre nicht zu nahe; so bleibt Euch nur noch die Schmach zu rächen, die Frankreich widerfahren ist. Ich rate euch beiden, den Kampf bis auf einen Tag nach der Schlacht zu verschieben. Meine Herren, gebt es nur alle zu: ist mein Rat nicht auf eine weise Vorsicht gegründet?“
„Ja, ja,“ antworteten die Ritter, „es sei denn, daß der Feldherr einem von uns die Gunst erzeigen wollte, den Handschuh für ihn aufzunehmen.“
„Schweigt,“ rief Artois, „davon will ich nichts hören! Herr van Arckel, willigt Ihr in diese Verzögerung?“
„Das geht mich nichts an. Ich habe meinen Handschuh hingeworfen, und der Feldherr hat ihn aufgenommen; er mag also die Zeit festsetzen, ihn mir wiederzugeben.“
„So sei es,“ sprach Robert d'Artois, „wenn die Schlacht nicht bis Sonnenuntergang dauert, werde ich Euch noch am gleichen Abend aufsuchen.“
„Gebt Euch die Mühe nicht,“ antwortete Hugo, „ich werde eher bei Euch sein, als Ihr es denkt.“
Sie riefen sich noch einige Drohungen zu, doch das dauerte nicht lange. Der alte König Sigis unterbrach sie:
„Meine Herren, es ziemt sich nicht, daß Ihr länger darüber sprecht! Laßt uns die Becher noch einmal vollschenken und vergeßt Euren Mißmut. Setzt Euch nieder, Herr van Arckel.“
„Nein, nein!“ rief Hugo, „ich setze mich nicht nieder, ich verlasse sofort das Heer. Lebt wohl, meine Herren, wir werden einander auf dem Schlachtfeld wiedersehen: Gott behalte euch unter seinem Schutze!“
Damit verließ er das Zelt und rief seine achthundert Mann zusammen; kurz danach hörte man Trompetenschallen und das Waffengeklirr einer abziehenden Rotte. Hugo van Arckel [329] verließ das Lager der Franzosen und kam noch am gleichen Abend zu den Vlaemen, denen er seine Dienste anbot. Es läßt sich leicht denken, mit welcher Freude sie ihn empfingen; denn man rühmte ihn und seine Leute als unüberwindlich, und sie verdienten auch diesen Namen.
Die französischen Ritter hatten sich wieder zu Tische gesetzt und tranken tüchtig. Während sie noch über Hugos Vermessenheit sprachen, trat ein Herold in das Zelt und verbeugte sich ehrerbietig vor den Rittern. Seine Kleidung und seine Waffen waren mit Staub bedeckt, und der Schweiß rann ihm von der Stirn. Alles verriet, daß er in größter Hast herbeigeeilt und fast außer Atem gekommen war. Die Ritter betrachteten ihn neugierig, während er ein Pergament unter seinem Harnisch hervorzog, es dem Feldherrn überreichte und sprach:
„Mein Herr, diese Urkunde wird Zeugnis dafür ablegen, daß ich von Herrn van Lens aus Kortrijk zu Euch gesandt bin, um Euch unsere Not zu klagen.“
„Wohlan, sprecht!“ rief von Artois ungeduldig, „kann Herr van Lens das Kastell von Kortrijk nicht gegen einen Haufen Landstreicher verteidigen?“
„Gestattet mir, Euch zu sagen, daß Ihr Euch täuscht,“ antwortete der Bote. „Die Vlaemen besitzen ein Heer, das keineswegs zu verachten ist; sie sind über dreißigtausend Mann stark und haben Pferde und Kriegsgerät im Überfluß; sie bauen furchtbare Wurfmaschinen, um das Kastell zu bestürmen. Unsere Lebensmittel und Pfeile sind zu Ende, und wir haben bereits begonnen, einige unsrer schlechtesten Pferde zu verzehren. Sollten Eure Hoheit noch einen Tag länger zögern, den Herrn van Lens zu entsetzen, dann werden inzwischen alle Franzosen in Kortrijk erschlagen sein; denn es gibt keinen Ausweg, um zu entkommen. Die Herren van Lens, Montenay und Rayecourt bitten demütigst, daß Ihr sie aus dieser Gefahr erretten wollet.“
„Meine Herren,“ rief Robert d'Artois, „welch herrliche Gelegenheit; schöner können wir sie uns gar nicht wünschen. Alle Vlaemen haben sich bei Kortrijk zusammengerottet! Wir gehen hin, greifen sie an, und es sollen nicht viele von ihnen entkommen; durch die Hufe unserer Rosse soll diesem schlechten Volke sein Recht werden. Ihr, Bote, bleibt im Lager, morgen sollt Ihr mit uns in Kortrijk sein. Nun noch einen Trunk zum Abschied, meine Herren. Geht und rüstet eure Scharen für den Marsch, wir müssen schleunigst aufbrechen.“
Kurz darauf verließen sie das Zelt, um dem Befehl ihres Anführers nachzukommen. Von allen Seiten erklangen die Trompeten, um die Söldner aus dem Felde zurückzurufen; die Pferde wieherten, die Waffen klirrten, kriegerischer Lärm erscholl aus allen Teilen des Lagers. Einige Stunden später waren die Zelte abgebrochen und auf die Troßwagen gepackt, und alles war bereit. Wohl fehlten noch viele Söldner, die sich irgendwo mit Plündern aufhielten; aber das konnte bei einem so zahlreichen Heere nicht auffallen. Nachdem sich jeder Anführer an die Spitze seiner Scharen gestellt hatte, bildeten die Ritter zwei Abteilungen, und das Heer zog in folgender Ordnung aus der Verschanzung:
Die erste Abteilung, die mit fliegenden Standarten aus dem Lager kam, bestand aus dreitausend ausgezeichneten leichtberittenen Kriegern; sie hatten eine lange Streitaxt in der Hand, und lange Schwerter hingen an ihrem Sattelknopf. Ihre Rüstung war nicht so schwer wie die der anderen Reiter; deshalb ritten sie voraus und waren gleichsam für die ersten Plänkeleien bestimmt. Unmittelbar darauf folgten viertausend Bogenschützen zu Fuß; sie schritten stolz und in dichtgeschlossenen Reihen dahin, indem sie ihr Gesicht mit großen viereckigen Schilden vor den Strahlen der Sonne schützten. Ihre Köcher waren mit Pfeilen gefüllt, und ein kurzer Degen ohne Scheide glänzte an ihrem Gürtel. Das waren die Kriegsleute, die aus dem Süden Frankreichs gekommen waren; mehr als die Hälfte [331] waren Spanier und Lombarden. Jean von Barlas, ein tapferer Krieger, ritt neben diesen Scharen auf und nieder und war ihr Oberbefehlshaber.
Die zweite Abteilung stand unter dem Befehl Renaulds von Trier und zählte dreitausendzweihundert schwere Reiter. Sie saßen auf großen, kräftigen Schlachtrossen und hatten ein breites, glänzendes Schwert rechts geschultert; Harnische von Eisen umhüllten ihren Leib, und Platten aus einem Stück waren überall um ihre Glieder geschnallt. Den größten Teil dieser Leute hatte das Gebiet von Orleans geliefert.
Der Herr Konstable von Nesle führte die dritte Abteilung. Erst kam eine Schar von siebenhundert edeln Rittern, in schimmernder Rüstung und mit zierlichen Fähnlein an ihren Speeren; flatternde Federbüsche hingen von ihren Helmen auf den Rücken herab, und ihre Wappen waren in allerlei Farben auf ihren Harnischen dargestellt. Die Pferde waren vom Kopf bis zu den Füßen mit Eisen bekleidet, und zierliche Troddeln hingen überall an ihrer Seite. Mehr als zweihundert gestickte Standarten ragten über diese Schar empor; das war unstreitig der herrlichste Ritterzug, den man in diesen Zeiten sehen konnte. Alle waren auf das kostbarste bewaffnet. Hinter ihnen kamen noch zweitausend Söldner zu Pferde, mit langen Marteelen oder Waffenhämmern auf den Schultern, dann hing noch das Schlachtschwert an ihrem Sattel. Sie waren aus Geschwadern zusammengesetzt, die zum stehenden Heere Philipps des Schönen gehörten.
Die Spitze der vierten Abteilung führte Herr Ludwig von Clermont, ein erfahrener Krieger. Sie bestand aus dreitausendsechshundert Lanzenreitern, die das Königreich Navarra gestellt hatte. An ihrer gleichmäßigen Bewaffnung konnte man wohl bemerken, daß es erlesene, wohlgeübte Truppen waren. Vor dem ersten Gliede ritt der Fahnenträger mit der großen Standarte von Navarra.
Robert Graf d'Artois, der Oberfeldherr des Heeres, hatte die [332] fünfte, die Hauptabteilung unter seinen Befehl genommen. Alle Ritter, die keine Leute mitgebracht oder sie den anderen Scharen einverleibt hatten, befanden sich bei ihm. Die Könige von Majorka und Melinde ritten an seiner Seite. Unter allen anderen stach Thibaut II., Herzog von Lothringen, durch seine kostbare Rüstung hervor; ebenso bemerkte man die stolzen Standarten der Herren Johann Graf von Tarcanville, Angelin von Vimeu, Renold von Longueval, Farald von Reims, Arnold van Wesemaal, Marschall von Brabant, Robert von Mortfort und unzählige andere. Diese Abteilung übertraf die dritte noch an Pracht. Die Helme der Ritter waren versilbert oder vergoldet und ihre Harnische an den Gelenken mit goldenen Knöpfen verziert. Die Sonne, die auf den blinkenden Stahl ihrer Rüstungen niederbrannte, hüllte diesen herrlichen Zug in flammende Glut. Die Schlachtschwerter, die an ihrer Seite hingen, schwankten hin und her und schlugen klirrend an die eiserne Bedeckung der Pferde. So entstand ein fortwährendes Klingen und Klirren, das den Zug wie Kriegsmusik auf dem Wege begleitete. Auf die edeln Ritter folgten fünftausend Reiter mit Streitäxten und Waffenhämmern. Außerdem gehörten zu dieser Abteilung noch sechzehntausend Fußmannen, welche in drei Gruppen geteilt waren. Die erste bestand aus tausend Armbrustschützen; sie hatten nur eine stählerne Brustplatte und einen flachen, viereckigen Helm als Schutzwaffe; kleine Köcher voll eiserner Pfeile hingen an ihrem Gürtel und lange Degen an ihrer Seite. Die zweite Schar zählte sechstausend Mann. Sie war mit Keulen bewaffnet, die am dicken Ende mit furchtbaren stählernen Spitzen beschlagen waren. Die dritte bestand aus Helmhauern mit langen Beilen. Alle diese Leute waren aus der Gascogne, der Languedoc und der Auvergne [35] gekommen.
Herr von Châtillon, der Landvogt, führte den Befehl über [333] die sechste Abteilung. Deren zahlreiche Glieder bestanden aus dreitausendzweihundert Söldnern zu Pferde. Auf die Wimpel ihrer Speere hatten sie flammende Besen gemalt, zum Zeichen, daß sie Flandern säubern wollten; sie hatten die schwersten Pferde vom ganzen Heer, und doch konnten auch diese nur mit Mühe unter der Last all des Eisens, das sie bedeckte, vorwärtskommen.
Dann folgten die siebente und achte Abteilung; die erstere stand unter dem Befehl von Johann Graf von Aumale, die andere unter dem Herrn Ferry von Lothringen. Jede von ihnen umfaßte zweitausendsiebenhundert Reiter aus Lothringen, der Normandie und der Picardie [36] .
Herr Gottfried von Brabant bildete mit seinen eigenen Vasallen, insgesamt siebenhundert wohlgerüsteten Reitern, die neunte Abteilung.
Die zehnte und letzte Abteilung des Heeres war Herrn Gui de Saint-Pol anvertraut; er mußte den Nachtrab bilden und das Gepäck des Heeres bewachen.
Dreitausendvierhundert Reiter von allen Waffengattungen ritten voraus, dann folgte noch ein großer Haufe Fußvolks mit Bogen und Schlachtschwertern. Im ganzen waren es beinahe siebentausend Mann. Ein Teil von ihnen schwärmte mit brennenden Fackeln vom Heere nach allen Richtungen hin aus, um alles, was nur brennen wollte, zu vernichten. Endlich folgten unzählige Troßwagen, die mit den Zelten und dem Kriegsgerät beladen waren.
So zog das französische Heer, in zehn Scharen geteilt und über sechzigtausend Mann stark, langsam den Weg dahin, der nach Kortrijk führte. Das Auge konnte diesen ungeheuren Zug in seiner ganzen Ausdehnung gar nicht erfassen; die vordersten waren schon am Horizont verschwunden, ehe noch die letzten das Lager verließen.
Tausende flatternder Wimpel wehten über dem wandernden Heere, und die Sonne spiegelte sich herrlich blinkend in den Rüstungen der stolzen Truppen. Die Pferde schnaubten und stöhnten unter ihrer Last; die Waffen schlugen klirrend widereinander, und aus all diesen verschiedenen Tönen entstand ein dumpfes Geräusch, das dem Brausen der stürmenden See glich. Überall, wohin die vernichtenden Krieger gedrungen waren, stoben die Flammen in dichten Rauchwolken zum Himmel empor. Nicht eine einzige Wohnung entging der Verwüstung; die Chroniken bezeugen, daß kein Mensch, kein Tier verschont wurde.
Flandern war von Rijssel bis Douai und Kortrijk so verheert, daß sich die französischen Vandalen wohl mit Recht rühmen konnten, es wie mit einem Besen ausgefegt zu haben.
Tief in der Nacht kam das Heer des Herrn d'Artois in die Nähe von Kortrijk. Châtillon kannte die Gegend genau, weil er geraume Zeit in der Stadt gewohnt hatte; deshalb wurde er zum Feldherrn gerufen, um den Platz zum Lager zu bestimmen. Nach kurzer Beratung bogen sie mit den verschiedenen Abteilungen ein wenig rechts ab und schlugen ihre Zelte auf dem Pottelberg und den umliegenden Feldern auf.
Herr d'Artois nahm mit den beiden Königen und einigen vornehmen Herren Besitz von dem Schlosse Hoogmosscher, das unweit des Pottelberges lag. Zahlreiche Wachen wurden ausgestellt, und die übrigen begaben sich ganz furchtlos zur Ruhe; in allzu großem Vertrauen auf ihre Übermacht hätten sie nie geglaubt, daß man es wagen würde, sie anzugreifen.
Solcherart befanden sich die Franzosen etwa eine Viertelstunde vom Lager der Zünfte; die Vorposten konnten einander in der Finsternis auf und ab wandeln sehen.
Die Vlaemen hatten ihre Wachen verdoppelt und befohlen, daß man nur bewaffnet zur Ruhe gehen dürfe.
D ie vlaemischen Ritter, die in Kortrijk Unterkunft gefunden hatten, lagen alle zu Bett, als sich die Nachricht von der Ankunft der Franzosen in der Stadt verbreitete. Sogleich ließ Gwijde die Trompeten erklingen, die Trommeln rühren, und eine Stunde später waren alle Männer, die in der Stadt sich befanden, auf den Wällen versammelt. Die Ritter waren in voller Rüstung herbeigeeilt; denn sie vermeinten, daß die Franzosen sie unmittelbar angreifen würden.
Es stand zu befürchten, daß der Kastellan van Lens während des Gefechts aus dem Kastell hervorbrach und über die Stadt herfiel. Deshalb ließ man die Yperner aus dem Lager kommen. Sie sollten die französische Besatzung bewachen und einen Ausfall verhindern. Am Steintor wurde eine ansehnliche Wachttruppe aufgestellt, um die Frauen und Kinder innerhalb der Mauern zurückzuhalten. Denn denen war der Schrecken in die Glieder gefahren, und sie wollten noch in derselben Nacht entfliehen. Sie glaubten, den unvermeidlichen Tod vor Augen zu haben: von der einen Seite konnte der Kastellan van Lens jeden Augenblick einen Ausfall aus dem Schlosse machen, und nach der anderen Seite hin war die Aussicht noch furchtbarer. Auf die geringe Anzahl ihrer bewaffneten Brüder hatten sie nicht genügend Vertrauen, um zu hoffen, daß der Sieg auf deren Seite sein werde. Und wirklich: wenn Heldenmut und Furchtlosigkeit die Vlaemen nicht gehindert hätte, die Gefahr zu erkennen, so würden auch sie wohl an ihr letztes Stündlein gedacht haben. Nicht nur besaß ja das französische Heer mehr Fußvolk als das ihrige, sie hatten dort zudem noch zweiunddreißigtausend Reiter zu bekämpfen.
Die vlaemischen Anführer berechneten kaltblütig die möglichen Folgen der bevorstehenden Schlacht; wie groß auch ihre Tapferkeit und Kampflust sein mochte, die Gefahr konnten sie sich [336] nicht verhehlen. Der Heldenmut hindert den Menschen nicht, all des Furchtbaren einer solchen Lage inne zu werden. Er läßt die angeborene Furcht vor dem Tode nicht schwinden; aber er gibt dem Manne Kraft genug, diese niederdrückenden Gefühle zu überwinden. Für sich selbst fürchteten die vlaemischen Führer nicht, aber das Vaterland, die Freiheit, die man gegen eine so ungleiche Macht aufs Spiel setzte, erfüllte sie mit bangem Ahnen. Trotzdem sie also nur schwache Hoffnung hegen durften, beschlossen sie, den Kampf anzunehmen und lieber als Helden auf dem Schlachtfeld zu sterben, als sich schmachvoll zu unterwerfen.
Die junge Machteld wurde mit Adolfs Schwester und mehreren anderen Edelfrauen nach der Abtei von Groeningen gesandt, um da einen sicheren Aufenthaltsort zu haben, wenn die Franzosen sich Kortrijks bemächtigen sollten. Nachdem alles derart angeordnet war, zogen die Ritter sämtlich in das Lager.
Das französische Volk hat immer die anderen Nationen mißachtet und verkannt; Übermut ist ein Hauptmerkmal seines Wesens. Dieser eitle Wahn ist ihnen schon so oft verderblich gewesen! Wie viele Franzosen liegen auf fremdem Boden begraben, die als Opfer ihres Leichtsinns in der Blüte des Lebens gefallen sind!
Der Feldherr Robert d'Artois war zwar ein erfahrener, tapferer Krieger, aber er war zu vermessen; er hielt es in diesem Falle nicht für nötig, vorsichtig zu Werke zu gehen, und stellte sich vor, er würde gleich beim ersten Angriff das vlaemische Volk über den Haufen rennen. Diese stolze Überzeugung erfüllte auch die Herzen seiner Krieger; ja, das ging so weit, daß das französische Heer so ruhig schlief, als ob es irgendwo in einer befreundeten Stadt gelegen hätte, während sich Gwijdes Heer in der Finsternis zur Schlacht vorbereitete. Im Vertrauen auf ihre zahllose Reiterei waren die Franzosen sicher, daß einem solchen Heere nichts widerstehen könne. Wären sie nicht so tollkühn, so anmaßlich zu Werke gegangen, [337] so hätten sie die Stätte, darauf sie kämpfen mußten, wohl erst untersucht und die Vorzüge und Nachteile seiner Lage erwogen. Dann hätten sie gefunden, daß die Bodengestaltung zwischen den beiden Heeren ihre Reiterei unnütz machte. Doch wozu solch überflüssige Sorge? War das vlaemische Heer denn etwa so bedeutend, daß es Vorsicht nötig machte? Robert d'Artois glaubte es nicht.
Die Vlaemen hatten auf dem Groeninger Kouter Stellung genommen. Hinter ihnen gen Norden zog sich die Leye hin, ein breiter Fluß, der jeden Angriff von dieser Seite her unmöglich machte. Vor der Schlachtlinie floß der Groeninger Bach, der durch seine Breite und seine seichten, sumpfigen Ufer der französischen Reiterei ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellte. Der rechte Flügel lehnte sich an den Teil der Wälle Kortrijks unweit der St. Martinskirche. Der linke Flügel war durch eine Bucht des Groeninger Baches eingeschlossen, so daß die Vlaemen wie auf einer Insel standen, gegen die ein Angriff sehr schwierig durchzuführen war. Das Gelände, das sie von dem französischen Heere trennte, bestand aus einigen tiefliegenden Weideflächen. Ihr Boden war durch den Mosscherbach, der sich hindurchschlängelte, bewässert und durchweicht. So mußte die französische Reiterei mindestens über zwei kleine Flüsse setzen, ehe sie etwas ausrichten konnte, und diese Hindernisse zu überwinden, war nicht leicht, da die Pferde auf den sumpfigen Ufern keinen festen Grund fanden und bis an die Knie einsanken.
Der französische Feldherr ging zu Werke, als ob er auf hartem, festem Boden zu kämpfen hätte, und entwarf den Angriffsplan in einer Weise, die mit den Regeln der Kriegskunst durchaus nicht in Einklang stand. Daran konnte man wieder sehen, daß allzu großes Selbstvertrauen den Menschen unvorsichtig macht.
Bei Anbruch des Tages, ehe noch die glühende Sonnenscheibe am Horizont erschien, standen die Vlaemen schon in Schlachtordnung [338] am Groeninger Bach. Gwijde führte den Befehl über den linken Flügel. Bei ihm waren alle die kleineren Zünfte von Brügge. Eustachius Sporkijn mit den Leuten von Veurne bildete den Mittelpunkt dieser Abteilung. Die zweite Schar hatte Herrn Jan Borluut zum Anführer und zählte fünftausend Genter. Die dritte Schar unterstand Herrn Wilhelm von Jülich und umfaßte die Weber und Freisassen von Brügge. Der rechte Flügel, der sich an Kortrijks Wälle anlehnte, bestand aus den Fleischern mit ihrem Vorsteher Breydel und den Leuten aus Seeland; Herr Jan van Renesse war ihr Befehlshaber. Die anderen vlaemischen Ritter hatten keinen bestimmten Platz, sie schlossen sich an, wo es ihnen gut dünkte, und wo ihre Hilfe etwa nötig sein konnte; die elfhundert Namurschen Reiter waren hinter der Schlachtordnung aufgestellt. Man wollte von ihnen keinen Gebrauch machen, damit sie keine Unordnung unter das Fußvolk brachten.
Endlich begann sich auch das französische Heer vorzubereiten. Tausende von Trompeten schmetterten gleichzeitig ihre schrillen Töne in die Luft, die Pferde wieherten, und das Waffengerassel war so furchtbar, daß die Vlaemen ein kalter Schauer überkam. Welch eine gewaltige Masse von Feinden sollte auf sie eindringen! Doch die mutigen Männer wurden dadurch nicht aus der Fassung gebracht. Sie gingen dem Tod entgegen, das wußten sie; was aber sollte aus ihren verlassenen Frauen und Kindern werden? In diesem feierlichen Augenblick dachten sie an alles, was sie auf Erden am meisten liebten. Den Vater folterte heftiger Schmerz bei dem Gedanken, seine Söhne den Fremden als Sklaven zurückzulassen; und der Sohn schluchzte wehmütig auf in Erinnerung an seinen kranken, greisen Vater. Furchtlosigkeit und Kummer beherrschten zugleich die Brust der Vlaemen. Wenn diese beiden Gefühle sich angesichts einer drohenden Gefahr verschmelzen, so entsteht daraus verzweifelte Wut. So geschah es auch bei den Vlaemen. Ihre Blicke wurden starr und wild, sie knirschten [339] ingrimmig mit den Zähnen, brennender Durst dörrte ihnen Mund und Gaumen aus, und der Atem ihrer klopfenden Brust war kurz und schwer. Furchtbare Stille lastete auf dem Heere; niemand gab seinen Gefühlen Ausdruck, denn alle waren in düstere Gedanken versunken. So standen sie schon geraume Zeit, in langen Reihen aufgestellt, als sich die Sonne über dem Horizont erhob und ihnen das Heer der Franzosen sichtbar werden ließ.
Der Reiter waren so viele, daß die Speere über den feindlichen Truppen dichter emporragten denn die Ähren eines Kornfeldes. Die Rosse in den vordersten Gliedern stampften ungeduldig und bedeckten ihre eiserne Rüstung mit Flocken weißen Schaumes. Die Trompeten schmetterten wie in festlichem Jubel, und leicht spielte der Wind mit den flatternden Fahnen und Standarten.
Die Stimmen der Anführer übertönten bisweilen diesen kriegerischen Lärm, während dann und wann aus einer Abteilung der Waffenruf: „Noël, Noël! Frankreich, Frankreich!“ erscholl und alles Getöse beherrschte. Die französischen Reiter waren ungeduldig. Sie spornten hie und da ihre Schlachtrosse, um sie aufzumuntern; dann wieder streichelten sie sie und sprachen ihnen zu, damit sie die Stimme ihres Herrn im Kampfe besser erkennen sollten. Wer wird die Ehre haben, den ersten Stoß zu tun? Dieser Gedanke beherrschte alle und war die Ursache der Ungeduld. Jene Ehre wurde unter den Rittern gar hoch gehalten. Wenn sie einem in einer bedeutenden Schlacht zuteil wurde, so rühmte er sich ihrer das ganze Leben hindurch als eines Beweises unzweifelhafter Tapferkeit. Deshalb hielten sie alle ihre Pferde bereit und den Speer gefällt, um auf das geringste Zeichen ihres Feldherrn vorwärts zu stürmen.
Auf den Weiden, die sich neben dem Heere erstreckten, bewegten die französischen Fußknechte sich in wogenden Scharen und zogen langsam, wie ein furchtbares Ungetüm, in schlängelnden Windungen durch das Feld. Sie befleißigten sich der größten Stille.
Als Gwijde merkte, daß sich der Angriff vorbereitete, sandte er tausend Schleuderer unter dem Befehl Salomons, Herrn van Sevecote, gegen den zweiten Bach vor, um den französischen Vortrab anzugreifen.
Dann ließ er seine verschiedenen Truppen eine Stellung einnehmen, so daß sie ein Viereck bildeten und in das Innere des Lagers blicken konnten. Dort war mit Rasen ein Altar errichtet; die große Standarte St. Georgs, des Schutzherrn der Krieger, entfaltete den Ritter mit dem Drachen über dem Haupte des Priesters, der in vollständigem Ornate auf den Stufen des Altars Gebete für den guten Ausgang des Kampfes zum Himmel sandte. Als er geendet hatte, stieg er auf die oberste Stufe des Altars, wandte sich zum Volke um und erhob seine Hände über das Heer.
Plötzlich und aus eigenem Antrieb sanken alle Scharen zu Boden und empfingen in Totenstille den letzten Segen. Dieser feierliche Augenblick packte sie gewaltig; ein erhebendes Gefühl entflammte ihre Herzen zu edler Selbstverleugnung, und ihnen war, als ob Gottes Stimme sie zum Märtyrertod berufe. Von heiligem Feuer erfüllt, vergaßen sie alles, was ihnen auf Erden teuer war, und gedachten mit Begeisterung der Heldentaten ihrer Väter. Da weitete sich ihre Brust, das Blut strömte ungestüm durch ihre Adern, und sie sehnten sich nach dem Kampfe wie nach der Befreiung.
Als der Priester seine Hände sinken ließ, richteten sie sich schweigend auf. Jetzt sprang der junge Gwijde vom Pferde, trat mitten unter sie und rief:
„Männer von Flandern! Gedenket der ruhmreichen Taten eurer Väter; sie zählten ihre Feinde nicht. Ihr unerschrockener Mut erkämpfte die Freiheit, die uns die fremden Tyrannen jetzt rauben wollen. Auch ihr sollt heute euer Blut für dieses heilige Pfand dahingeben, und wenn wir sterben müssen, so wollen wir es tun als ein freies, mannhaftes Volk, als ungebändigte Söhne des Löwen. Denkt an Gott, dessen Tempel [341] sie verbrannt haben, an eure Kinder, die sie ermorden werden, an eure geängstigten Frauen, an alles, was ihr liebt: dann werden sich unsre Feinde, auch wenn wir unterliegen müssen, dieses Sieges nicht rühmen, denn alsdann werden mehr Franzosen als Vlaemen gefallen sein. Habet zumal auf die Reiter acht und stoßt eure Goedendags den Pferden zwischen die Beine. Verlaßt eure Rotten nicht: wer einen erschlagenen Feind plündert, oder wer aus dem Kampfe laufen will, den sollt ihr selbst erschlagen, das befehle ich euch. Findet sich ein Feigling unter euch, so sterbe er durch eure Hand; sein Blut komme über mich allein.“
Voll hoher Begeisterung beugte er sich nieder und nahm ein wenig Erde vom Boden in den Mund. Dann erhob er seine Stimme noch lauter und rief:
„Bei dieser teuren Erde, welche ich in mir tragen will; heute will ich sterben oder siegen!“
Sämtliche Rotten bückten sich zugleich und aßen wie er ein wenig vom vaterländischen Boden. Dadurch erfüllte sie stille Wut und finstere Rachsucht, ihre Augen schossen giftige Blicke. Ein dumpfes Dröhnen, gleich dem Getöse eines Orkans im Schoß unterirdischer Höhlen, durchbrauste das begeisterte Heer; aus dem furchtbaren Lärm waren nur die Worte zu verstehen:
„Wir wollen und werden sterben!“
Dann wurde in aller Eile die Schlachtordnung wieder hergestellt, so wie sie zuvor gewesen war.
Inzwischen war Robert d'Artois mit einigen französischen Anführern ziemlich nahe an das vlaemische Heer herangeritten, um zu sehen, welche Stellung es eingenommen hatte. Nun ließ er seine Bogenschützen gegen die Schleuderer Gwijdes vorwerfen, und man sah, wie sich die Vorposten der Heere von Zeit zu Zeit einige Steine oder Pfeile zusandten, während Robert seine Reiterei nach vorn schob. Als er sah, daß sich Gwijde mit seinem Volk in einer Reihe aufgestellt hatte, teilte er sein Heer in drei Gruppen. Die erste unter Rudolf von Nesle war [342] zehntausend Mann stark. Die zweite behielt er unter seinem eigenen Befehle und stellte sie aus den besten Kriegern, fünfzehntausend auserlesenen Reitern zusammen. Die dritte, die den Nachtrab bilden mußte und zum Schutze des Lagers bestimmt war, ließ er unter dem Befehl von Gui de St.-Pol.
Just als er sich anschickte, mit dieser furchtbaren Macht gegen das vlaemische Heer anzustürmen, kam Johann von Barlas, der Anführer der fremden Truppen, zu ihm und redete ihn folgendermaßen an:
„Um Gotteswillen, Herr d'Artois, laßt mich mit meinen Leuten in den Kampf gehen; setzt doch nicht die Blüte der französischen Ritter der Gefahr aus, von der Hand dieser zusammengelaufenen Vlaemen zu sterben. Das sind wütende Kerle, die Verzweiflung hat sie wahnsinnig gemacht. Ich kenne ihre Gewohnheit; sie haben ihre Vorräte in der Stadt gelassen. Bleibt Ihr hier in Schlachtordnung stehen. Ich werde sie mit meiner leichten Reiterei von Kortrijk abschneiden und durch kleine Angriffe beschäftigen. Die Vlaemen essen viel und den ganzen Tag, deshalb haben sie viele Lebensmittel. Nehmen wir ihnen die ab, so werden sie bald aus Hunger abziehen müssen. Dann könnt Ihr sie an einer günstigeren Stelle angreifen und so die ganze Brut vertilgen, ohne Ströme edlen Blutes zu vergießen.“
Der Konstable von Nesle und mehrere andere Herren hießen diesen Rat gut; aber Robert war blind vor Wut. Er wollte nichts davon hören und gebot Johann von Barlas zu schweigen.
Mit all diesen Vorbereitungen war die Zeit dahingegangen. Es war bereits sieben Uhr morgens; die französische Reiterei befand sich nun etwa zwei Schleuderwürfe vom Feinde. Zwischen den Schützen der Franzosen und den Schleuderern der Vlaemen lag der Mosscherbach, so daß sie einander nicht näherkommen konnten und von beiden Seiten nur wenig Leute tot blieben. Der Seneschall von Artois gab Rudolf von Nesle, dem Anführer der ersten Schar, den Befehl zum Angriff.
Das erste Glied der Reiter stürmte in ungestümer Hitze vorwärts und sprengte bis zum Mosscherbach. Hier aber sanken sie bis an die Sättel in den Schlamm. Einer ritt den andern über den Haufen; die vordersten fielen von ihren Pferden und wurden von den Vlaemen tödlich getroffen oder erstickten im Schlamm. Wer herauskommen konnte, kehrte in größter Eile zurück und wagte nicht mehr, sich noch ferner unbesonnen in Gefahr zu stürzen. Inzwischen stand das vlaemische Heer regungslos hinter dem zweiten Bach und sah den Hergang in tiefem Schweigen mit an.
Als der Konstable Rudolf merkte, daß hier für seine Reiter ein Durchkommen unmöglich war, eilte er zu Herrn d'Artois und rief:
„Fürwahr, ich sage Euch, Graf, wir setzen unsere Leute großer Gefahr aus, wenn wir sie in den Bach jagen; nicht ein einziges Pferd will oder kann hinüber. Laßt uns lieber unsere Feinde aus dem Lager locken; glaubt mir, Ihr setzt uns hierbei alle aufs Spiel!“
Aber der Feldherr stand zu sehr im Banne des Ingrimms und der Wut, als daß er auf diesen weisen Rat geachtet hätte; zornig schrie er:
„Konstable, das ist ein Lombarden-Rat! Seid Ihr bange vor diesem Haufen Wölfe oder tragt Ihr ihr Fell?“
Damit wollte er andeuten, daß der Konstable die Vlaemen liebte und vielleicht zu Frankreichs Schaden begünstigen wollte. Durch diesen Verweis tief gekränkt, flammte Rudolf in hellem Zorn auf; er ritt näher zu dem Feldherrn heran und antwortete im höchsten Eifer:
„Ihr zweifelt an meinem Mut? Ihr verhöhnt mich? So frage ich Euch: wagt Ihr es, mir stehenden Fußes, allein in die Scharen des Feindes zu folgen? Ich werde Euch so weit bringen, daß Ihr nimmer wiederkehren sollt!“
Mehrere andere Ritter warfen sich zwischen die streitenden Anführer und erreichten durch Zureden, daß sie sich beruhigten. [344] Übrigens bedeuteten auch sie dem Seneschall, daß ein Übergang über den Bach unmöglich wäre. Er wollte aber davon nichts wissen und befahl Rudolf, von neuem vorzurücken.
Von Zorn fortgerissen stürmte nun der Konstable mit seinen Scharen ungestüm auf das vlaemische Heer los. Aber als sie beim Bach anlangten, stürzten sämtliche Reiter des ersten Gliedes; der eine erdrückte den andern, und mehr als fünfhundert kamen in dieser Verwirrung um. Denn die Vlaemen überschütteten sie mit einer solchen Masse von Steinen, daß ihnen Helm und Harnisch am Leibe zerschmettert wurde. Als Herr d'Artois das sah, war er genötigt, Rudolfs Truppen zurückzurufen. Nur mit größter Mühe konnte man sie wieder in Reih und Glied bringen; denn die furchtbarste Verwirrung herrschte unter ihnen. Inzwischen hatte Johann von Barlas eine Stelle gefunden, wo man den ersten Bach bequemer durchwaten konnte. Dort war er mit zweitausend Armbrustschützen hinübergegangen. Als er so auf die Weide gelangt war, wo die vlaemischen Schleuderer standen, stellte er seine Leute in einen dichtgedrängten Haufen und ließ eine solche Unmenge eiserner Pfeile auf die Feinde werfen, daß die Luft davon verfinstert wurde. Gar viele Vlaemen fielen tot oder verwundet zur Erde, und die französischen Schützen gewannen bedeutenden Raum.
Herr Salomon van Sevecote hatte selbst die Schleuder eines gefallenen Zunftmannes aufgenommen und ermutigte die Seinigen durch sein Beispiel; aber ein eiserner Pfeil durchbohrte den Vorderteil seines Helmes, und tot sank er nieder. Als die Vlaemen ihren Anführer und so viele ihrer Genossen fallen sahen und auch keine Kiesel mehr hatten, wandten sie sich langsam zu ihrem Heer zurück. Nur ein einziger Schleuderer von Veurne blieb mitten auf der Wiese allein stehen, als ob er den Pfeilen der Franzosen trotzen wollte. Bewegungslos stand er da, obgleich die Pfeile über sein Haupt hinweg und rings um ihn her flogen. Langsam legte er schließlich einen [345] schweren Kiesel in seine Schleuder und faßte das Opfer, welches er treffen wollte, genau ins Auge. Nachdem er die Schleuder einige Male kräftig geschwungen hatte, ließ er das eine Ende los, und der Kiesel flog heulend durch die Luft. Ein schmerzlicher Schrei entfuhr der Brust Johann von Barlas', und leblos stürzte er mit zerschmettertem Haupte zur Erde.
So fielen die Anführer der beiden streitenden Scharen bei demselben Angriff.
Hierdurch gerieten die französischen Schützen in solche Wut, daß sie ihre Armbrüste fortwarfen, mit dem Degen in der Faust den vlaemischen Schleuderern nacheilten und sie bis an den zweiten Bach, der vor dem vlaemischen Lager floß, verfolgten.
Als Herr Valepaiële, welcher bei Robert d'Artois stand, den Fortschritt der Schützen bemerkte, rief er:
„O Seneschall, diese schlechten Fußknechte werden so viel erreichen, daß sie allein die Ehre des Kampfes ernten. Wenn sie den Feind auseinandertreiben, was bleibt dann uns Rittern hier zu tun übrig? Es ist eine Schande! Wir stehen hier, als ob wir nicht zu kämpfen wagten.“
„Montjoie Saint-Denis!“ schrie Robert, „Vorwärts, Konstable! Greift an!“
Bei diesem Befehl ließen alle Ritter der ersten Abteilung ihren Pferden die Zügel schießen und sprengten in Unordnung vorwärts; jeder wollte der Erste sein, um den Ehrenstoß zu tun. Nur von diesem Gedanken erfüllt, ritten sie die Bogenschützen über den Haufen und durchbohrten die eigenen Leute. Hunderte von Fußknechten rangen unter den Hufen der Rosse, die sie zertraten, mit dem Tode; die übrigen flohen nach allen Seiten hin vom Schlachtfeld davon.
So machten die Ritter den errungenen Vorteil zunichte und ließen den vlaemischen Schleuderern Zeit, sich wieder zu sammeln. Das Wehegeschrei der Gefallenen war fürchterlich. Die unglücklichen Ritter, über die eine ganze Schar anderer Ritter [346] hinwegstürmte, riefen, man möge sie doch nicht zermalmen. Aber da war kein Halten mehr. Schon waren die Stimmen der zuerst Gefallenen im letzten Todesröcheln verhallt; diejenigen, die sie überrannt hatten, wurden nun ihrerseits von den anderen zerstampft, so daß das Wehegeschrei kein Ende nahm. Die hintersten Scharen, die jetzt glaubten, daß der Kampf begonnen habe, setzten nun auch den Pferden die Sporen in die Weichen und jagten zu dem Bache hin, an dessen Ufern sich das zutrug. Die meisten von ihnen vermehrten nur die Opfer, die ihres Feldherrn Unbesonnenheit verschuldete. So kamen unbegreiflich viele Ritter und Fußknechte ums Leben.
Die Vlaemen hatten sich noch nicht gerührt. Noch immer standen sie regungslos, schweigend in einer langen Reihe da und sahen dieses Schauspiel verwundert mit an. Die vlaemischen Anführer gingen mit viel Klugheit und Erfahrung zu Werke. Manch anderer würde diesen Augenblick zu einem Angriff für günstig gehalten haben, wäre vielleicht über den Bach vorgestoßen und über die Franzosen hergefallen. Aber Gwijde und Jan Borluut, dessen Rat ersterer befolgte, wollten die Vorteile ihrer Stellung nicht für einen augenblicklichen Gewinn darangeben. Fortwährend herrschte im Heere die größte Stille, damit jegliche Befehle gehört werden konnten.
Endlich waren beide Bäche mit Leichen von Menschen und Pferden aufgefüllt, und so glückte es Rudolf von Nesle, mit ungefähr tausend Reitern hinüberzugelangen. Als er sie in dichtgedrängten Reihen aufgestellt hatte, rief er:
„Frankreich, Frankreich! Vorwärts, vorwärts!“
Mutig und sonder Zagen griff er die Mitte des Heeres der Vlaemen an. Die hatten ihre langen Goedendags mit dem einen Ende in die Erde gestemmt und nahmen die französischen Reiter mit der Spitze dieser furchtbaren Waffe in Empfang. Eine Unmenge Feinde fiel bei diesem Stoß aus dem Sattel und war bald erstochen. Aber Gottfried von Brabant, der [347] inzwischen auch mit seinen neunhundert schweren Reitern über den Bach gekommen war, griff die Schar Wilhelms von Jülich mit solcher Wucht an, daß er die drei ersten Glieder zu Boden warf und die vlaemische Schlachtordnung durchbrach.
Nun entbrannte ein furchtbarer Kampf. Die französischen Reiter hatten ihre Speere weggeworfen und hieben mit ihren furchtbaren Schlachtschwertern auf die Vlaemen ein. Die wehrten sich tapfer mit Keulen und Streitäxten und erschlugen auch manchen Reiter; aber der Vorteil blieb doch auf seiten Gottfrieds von Brabant: seine Leute hatten schon gar viele Vlaemen rings um sich her zu Boden gestreckt, und in der vlaemischen Schlachtordnung klaffte eine weite Lücke. Durch diese drangen alsbald alle Franzosen, die über den Bach gelangen konnten und griffen jenen Teil des vlaemischen Heeres im Rücken an. Diese Wendung war für die Vlaemen äußerst verhängnisvoll. Da der Feind von vorn und hinten auf sie einstürmte, fehlte es ihnen an Raum, um ihre Goedendags zu gebrauchen. So waren sie gezwungen, sich mit Streitäxten, Keulen oder Schwertern zu verteidigen, und das hatte wieder für die französischen Reiter große Vorteile. Nun konnten sie von oben herab leicht auf die Vlaemen einhauen und spalteten fast mit jedem Schlag einem das Haupt oder hieben ein Glied vom Leibe.
Wilhelm von Jülich focht wie ein Löwe. Er stand allein mit seinem Waffenträger und Philipp von Hofstade inmitten von dreißig Feinden, die sein Banner rauben wollten, aber alle Arme, die sich danach ausgestreckt hatten, waren unter seinem Schwerte gefallen.
In diesem Augenblicke setzte Artur von Mertelet, ein normännischer Ritter, mit einer ansehnlichen Reiterschar über den Bach und stürmte in vollem Trab auf Wilhelm von Jülich an. Das Eingreifen dieses Trupps mußte die Lage der Vlaemen noch verschlimmern; denn nun wurde die Übermacht der Feinde [348] doch zu groß, der Angriff unwiderstehlich. Als der Normann Wilhelms Fahne zu Gesicht bekam, trieb er sein Roß pfeilgeschwind darauf zu und fällte den Speer, um den Fahnenträger zu durchbohren. Aber Philipp von Hofstade bemerkte es, drängte sich durch einige französische Fußknechte hindurch und stürmte Mertelet entgegen. Der Anprall der beiden Ritter war so gewaltig, daß sie sich gegenseitig durchbohrten. Die beiden Kämpfer und ihre Rosse blieben bewegungslos stehen, als ob plötzlich ihre Leidenschaft abgekühlt wäre. Man hätte glauben können, daß sie sich einander aufmerksam betrachteten; und dabei drückten sie noch mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf den Speer, als ob sie in boshafter Freude den Feind noch ärger quälen wollten. Doch das dauerte nicht lange: bald machte Mertelets Pferd eine Bewegung, und die Leichen beider Ritter fielen aus dem Sattel zu Boden.
Als Herr Jan van Renesse, der auf dem rechten Flügel stand, inne ward, in welcher Gefahr Wilhelm von Jülich schwebte, verließ er seinen Platz, eilte hinter die Schlachtlinie und griff mit Breydel und seinen Fleischern die Franzosen von der Seite an.
Nichts konnte solchen Leuten widerstehen. Mit bloßer Brust stürzten sie jeder Waffe entgegen und empfingen den Todesstich oder Schlag, der sie traf, ohne auch nur den Kopf wegzuwenden. Diese Männer wagten es in der Tat, dem Tod ins Auge zu blicken, seiner zu spotten. So sank denn auch alles unter ihre Füße, sobald sie sich zeigten; sie hieben mit ihren Beilen den Pferden die Füße ab, brachten so den Ritter zu Sturz und spalteten ihm das Haupt.
Wenige Augenblicke, nachdem sie Wilhelm von Jülich zu Hilfe gekommen waren, war der Kampfplatz so gesäubert, daß nur noch etwa zwanzig Franzosen hinter der Schlachtlinie verblieben, darunter Gottfried von Brabant, der für den Feind seiner Sprache und Stammverwandten stritt.
Als Herr van Renesse ihn bemerkte, rief er ihm zu:
„Gottfried, Gottfried! Gebt acht, Ihr werdet sterben!“
„Ihr meint Euch selbst,“ antwortete Gottfried, indem er Herrn Jan einen gewaltigen Streich auf den Kopf versetzte. Aber der schwang sein Schwert mit einer kräftigen Wendung von unten nach oben und hieb ihm so stark wider das Kinn, daß Gottfried aus dem Sattel stürzte.
Alsbald fielen zwanzig Fleischer über ihn her, und er empfing zwanzig Wunden, davon schon die geringste tödlich war. Inzwischen war Jan Breydel mit einigen seiner Leute tiefer in die Feindesschar eingedrungen und hatte so lange eingehauen, bis er die Standarte von Brabant erkämpft hatte. Als er mit ihr unter fortwährendem Fechten bis an die Schlachtlinie gelangt war, zerriß er sie in Stücke, warf den Schaft fort und rief:
„Schande, Schande über den Verräter!“
Die Brabanter wollten diesen Hohn rächen; sie griffen den Feind mit erhöhter Wut an und machten unglaubliche Anstrengungen, um als Vergeltung auch das Banner Wilhelms zu zerreißen. Aber der Fahnenträger Jan Ferrand stritt wider alle, die ihm zu nahe kamen. Viermal wurde er zu Boden geworfen, und viermal stand er mit der Standarte wieder auf, obgleich er über und über mit Wunden bedeckt war.
Wilhelm von Jülich hatte bereits eine Unmenge Franzosen zu seinen Füßen hingestreckt. Jeder Schlag seines Riesenschwerts überlieferte einen Feind dem Tode. Durch all diese gewaltigen Anstrengungen erschöpft und überall durch Hiebe verletzt, quoll ihm das Blut aus Nase und Mund. Er erbleichte und fühlte, wie ihm die Kräfte ausgingen. Voll Ärger zog er sich hinter die Schlachtlinie zurück, um sich ein wenig zu erholen. Jan de Vlamijnck, sein Schildknappe, löste die Riemen seines Harnisches und nahm ihm die Waffen ab, damit er freier atmen konnte.
Während Wilhelms Abwesenheit hatten die Franzosen wieder etwas Raum gewonnen; die Vlaemen schienen zurückweichen zu wollen. Als Wilhelm das merkte, lieh er seiner Betrübnis [350] durch verzweifelte Klagen Ausdruck. Darob ersann Jan de Vlamijnck rasch einen schlauen Streich, der die gewohnte Tapferkeit seines Gebieters bezeugte. Er legte Wilhelms Waffen an, warf sich mitten unter die Feinde und rief:
„Zurück, ihr Männer von Frankreich! Hier ist Wilhelm von Jülich wieder!“
Gleichzeitig hieb er tapfer auf die Feinde ein und warf gar manchen von ihnen zu Boden. Die anderen wichen zurück und ließen so den Gliedern Zeit, sich wieder zu schließen.
Rudolf von Nesle hatte sich mit dem Kern seiner Reiter auf die fünftausend Genter des Herrn Borluut gestürzt. Furchtlos hatte der mutige Franzose versucht, diese Schar zu durchbrechen; schon dreimal hatten die Genter ihn mit Verlust vieler Krieger zurückgeschlagen, ohne daß sich ihre Glieder lösten. Jan Borluut erwog, daß es ein großer Nachteil sein würde, wenn er diesen Standort verließe, um Rudolfs Leute anzugreifen, und darum ersann er ein anderes Mittel. Er nahm drei seiner hintersten Glieder und vereinigte sie rasch zu zwei neuen Rotten, die er hinter der Schlachtlinie aufstellte: mit dem einen Ende standen sie unmittelbar hinter dem Heer, mit dem anderen tiefer im Felde hinter der Schlachtlinie. Nun befahl er der mittleren Abteilung seiner Truppen, die sich in dem Raum zwischen den beiden neuen Scharen befand, sie solle beim ersten Ansturm der Franzosen zurückweichen.
Rudolf von Nesle, der seine Reiter wieder in Reih und Glied gebracht hatte, sprengte aufs neue gegen die Genter an. Alsbald wich die mittlere Abteilung zurück. Die Franzosen vermeinten, sie hätten die Schlachtordnung durchbrochen und erhoben den frohen Ruf: „Noël, Noël! Sieg, Sieg!“
Sie drängten sämtlich in die Lücke und hofften, das Heer im Rücken anzugreifen und niederzumachen. Aber dieses glückte ihnen nicht: überall fanden sie eine Mauer von Speeren und Streitäxten. Jan Borluut ließ die beiden Flügel seiner Truppe vorwärtsschwenken; seine fünftausend Genter bildeten einen [351] Kreis, und so schloß er das Netz, darin er die tausend Franzosen gefangen hielt. Jetzt begann ein furchtbares Gemetzel; eine ganze Viertelstunde lang wurde gehauen, geschlagen, gestochen und gestoßen, ohne daß man sehen konnte, wer wich oder wer siegte. Menschen und Pferde lagen untereinander, schreiend, jammernd und schnaubend, man hörte und sah nichts, – furchtbar strömte das Blut.
Rudolf von Nesle kämpfte noch lange mit Wunden bedeckt und mit dem Blute der Seinen bespritzt über den Leichen; sein Tod war unabwendbar. Als Jan Borluut dessen inne ward, fühlte er herzliches Mitleid mit dem heldenmütigen Ritter und rief ihm zu:
„Ergebt Euch, Herr Rudolf, ich möchte Euch nicht gern sterben sehen!“
Rudolf war durch Wut und Verzweiflung ganz von Sinnen gekommen; er verstand Borluuts Worte wohl, und vielleicht quoll ein Gefühl des Dankes in seinem Herzen auf. Aber der Vorwurf des Einverständnisses mit dem Feinde, den der Seneschall Robert wider ihn erhoben hatte, war ihm so bitter nahe gegangen, daß er nicht mehr weiterleben wollte. Er winkte mit der Hand, als wenn er Jan Borluut ein letztes Lebewohl zuriefe, und erschlug noch zwei Genter. Schließlich fiel er, von einer Keule auf das Haupt getroffen, neben der Leiche seines Bruders leblos nieder. Gar mancher Ritter, der vom Pferde gestürzt war, wollte die Waffen strecken, aber man hörte nicht darauf; nicht ein einziger entkam.
Während Borluuts Truppen dies Gemetzel vollzogen, wurde in der ganzen Schlachtreihe nicht minder heftig gefochten. Hüben erscholl der Ruf: „Noël, Noël, Montjoie Saint-Denis!“ und man konnte daraus entnehmen, daß dort die Franzosen im Vorteil waren. Drüben hinwiederum erhob sich der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw! Wat walsch is, valsch is! Slaet al dood!“ Er dröhnte zum Himmel empor und kündete die Vernichtung eines französischen Truppenteils.
Der Groeninger Bach starrte von Blut und Leichen. Das Wimmern der Sterbenden wurde von dem Gerassel der Waffen übertönt: ein furchtbares Getöse, das gleich dem rollenden Donner über die Streitenden dahinzog. Eine lange Reihe von Leichen zog sich wie ein Damm überall vor der Schlachtlinie hin. Die Verwundeten waren ihres Todes gewiß; denn niemand wurde aufgehoben, und so mußten sie entweder im Morast ersticken, oder sie wurden von den Pferden zertreten.
Währenddes hatte sich Hugo van Arckel mit seinen achthundert unerschrockenen Kriegern bis mitten in die Reihen der Franzosen vorgewagt. Er war so sehr von allen Seiten von Feinden umringt, daß es den Vlaemen unmöglich war, ihn zu sehen. Hier kämpfte er so tapfer und gewandt, daß die Masse von Feinden, die ihn angriffen, seine Schar, so klein sie auch war, nicht durchbrechen konnte; schon hatte er rings um sich her eine gewaltige Menge Gegner zu Boden gestreckt. Jeder, der sich ihm zu nahen wagte, bezahlte es mit dem Leben. Allmählich drang er mehr und mehr nach dem Lager der Franzosen vor, und es schien, als ob er es erreichen wollte. Doch das war gar nicht seine Absicht. Als er die Mitte der französischen Scharen erreichte, wandte er sich seitlich der Standarte von Navarra zu und riß sie dem Fahnenträger aus der Hand. Die Söldner der Königin von Navarra fielen wütend über ihn her und machten viele seiner Leute nieder; doch er verteidigte die eroberte Fahne so tapfer, daß niemand sie seinen Händen wieder entreißen konnte. Schon war er fast wieder bis zum Heere der Vlaemen zurückgelangt, als ihm Ludwig von Forest durch einen furchtbaren Hieb den linken Arm zerschmetterte. Man sah das verstümmelte Glied neben dem Harnisch hängen. Das Blut floß in dichtem Strome hernieder, und Totenblässe breitete sich über seine Wangen; doch er ließ die Standarte nicht los. Ludwig von Forest wurde von einem anderen Vlaemen erschlagen, und Hugo van Arckel kam fast leblos mit der Standarte von Navarra in der Mitte [353] des Heeres an. Er versuchte noch einmal den Ruf „Vlaenderen den Leeuw!“ auszurufen, aber die Stimme versagte ihm, und er sank mit der eroberten Standarte zur Erde.
Am linken Flügel, wo Gwijdes Schar stand, wurde noch heftiger gekämpft. Châtillon hatte sich mit mehreren Tausend Reitern auf die Zünfte von Veurne geworfen und bereits einige hundert Mann niedergemacht. Eustachius Sporkijn lag schwer verwundet hinter der Schlachtreihe und rief seiner Schar zu, sie solle nur ja nicht ins Wanken kommen. Aber die Gewalt, die sie zurückdrängte, war zu groß, sie mußte weichen. Gefolgt von einem großen Trupp Reiter durchbrach Châtillon die Schlachtordnung, und über dem Haupte des sterbenden Sporkijn, der dann auch bald den Geist aufgab, entspann sich ein wilder Kampf.
Adolf van Nieuwland hatte allein mit Gwijde und seinem Fahnenträger standgehalten, so daß sie vom Heere getrennt waren und eines gewissen Todes gewärtig sein konnten. Châtillon bot alles mögliche auf, um das große Banner von Flandern zu ergreifen. Wenn auch Segher Lonke, der die Standarte trug, bereits mehrmals niedergeworfen worden war, so konnte Châtillon sein Ziel dennoch nicht erreichen. Er tobte, schrie wütend seine Leute an und hieb wie toll auf die Rüstung der drei unüberwindlichen Vlaemen ein. Sicher hätten diese es nicht so lange durchführen können, sich gegen eine Schar mutiger Feinde zu wehren; aber sie hatten so viel niedergemacht, daß die rund um sie angehäuften Leichen eine ziemliche Höhe erreicht hatten, die Annäherung der anderen Reiter erschwerten und ihnen als Brustwehr dienten. Châtillon ließ sich von seiner Wut und Ungeduld hinreißen: er nahm einen langen Speer aus den Händen einer seiner Reiter und stürmte damit auf Gwijde los. Er hätte wohl auch den jungen Grafen unfehlbar getötet, denn der sah seinen neuen Feind nicht ankommen, da er mit anderen Rittern focht. Schon war es, als ob der Speer zwischen Helm und Harnisch in seinen Hals [354] eindrang, da erhob Adolf van Nieuwland wie ein Blitz sein Schlachtschwert, hieb den Speer in zwei Stücke und rettete so das Leben seines Feldherrn.
Im gleichen Augenblick, ehe noch Châtillon Zeit gehabt hatte, wieder zum Schwert zu greifen, sprang Adolf über die Leichen hinweg, gelangte so zu dem französischen Ritter und schlug ihm so furchtbar aufs Haupt, daß er einen Teil der Wange nebst einem Stück des Helms einbüßte. Das Blut strömte auf seine Schultern. Er wollte sich noch wehren, aber zwei kräftige Hiebe warfen ihn aus dem Sattel unter die Hufe der Pferde. Die Vlaemen zogen ihn darunter hervor, schleiften ihn hinter die Schlachtlinie und hieben ihn in Stücke.
Inzwischen war Arnold van Oudenaarde dem linken Flügel zu Hilfe gekommen; das gab dem Stand der Dinge schnell eine andere Wendung. Die Zünfte von Veurne hatten sich, mit dieser neuen Schar vereint, wieder vorwärts gestürzt, und die Franzosen wurden in der größten Verwirrung zurückgetrieben. Mengen von Pferden und Reitern stürzten zu Boden, und die Unordnung unter ihnen wurde so groß, daß die Vlaemen den Kampf für gewonnen hielten und auf dieser ganzen Linie unaufhörlich jauchzten:
„Sieg, Sieg! Vlaenderen den Leeuw! Wat walsch is, valsch is! Slaet al dood!“
Wer in diesem Augenblick die Fleischer hätte sehen können, der wäre, auch ohne ihren Schlägen ausgesetzt zu sein, schier vor Schrecken und Graus gestorben. Über Leichen von Menschen und Pferden sah man sie mit bloßer Brust, bloßen Armen und bluttriefendem Beile daher laufen, springen und alles niederschlagen. Ihre Gesichter waren von Schlamm, Schweiß und Blut unkenntlich, ein grimmiges Lachen in ihren Zügen kündete den bitteren Haß gegen ihre Feinde und ihre Kampflust.
Die Franzosen hatten in ihrem Übermut von den Vlaemen gesprochen, als ob sie sie gleich mit einem Ansturm zu Boden werfen würden. Jetzt wurden sie zu ihrem eigenen Schaden [355] inne, daß man mit eitlem Geschwätz auf dem Schlachtfeld nicht viel ausrichtet. Sie bedauerten die Folgen ihrer Unbesonnenheit und erkannten nun, was für ein Volk sie vor sich hatten. Doch den Mut verloren sie nicht; noch immer waren sie zahlreicher als die Vlaemen, denn sie besaßen Truppen, die noch gar nicht im Kampfe gewesen waren.
Während die vordersten Scharen des französischen Heeres solchermaßen vernichtet waren, stand der Seneschall d'Artois mit der zweiten Abteilung von dem vlaemischen Heere noch weiter entfernt. Da die Schlachtordnung des Feindes nicht breit genug war, daß man sie mit so vieler Mannschaft auf einmal bekämpfen konnte, war er noch nicht vorgerückt. Er glaubte, seine Leute hätten ohne Zweifel die Oberhand, denn er sah keinen von ihnen zurückkehren. Indessen sandte er Ludwig von Clermont mit viertausend normannischen Reitern, um die vlaemische Schlachtordnung auf dem linken Flügel anzugreifen. Es glückte Clermont, an dieser Seite festeren Boden zu finden. Er gelangte mit allen seinen Reitern über den Bach und brach plötzlich auf Gwijdes Scharen herein.
Da diese somit von neuen Feinden im Rücken angegriffen wurden, während sie mit Châtillons Leuten vor sich noch genug zu tun hatten, konnten sie nicht länger Widerstand leisten; die ersten Glieder wurden niedergeworfen, die übrigen gerieten in Verwirrung, und dieser ganze Teil des vlaemischen Heeres wich in Unordnung zurück. Zwar flößte ihnen die Stimme des jungen Gwijde genugsam Mut ein, indem sie beschwor, stehen zu bleiben, aber das half alles nichts. Der Ansturm war zu gewaltig, und die Bitten ihres Feldherrn konnten einzig und allein erreichen, daß sie ihren Rückzug so langsam als möglich ausführten.
Das Unglück wollte, daß Gwijde in diesem Augenblick einen so furchtbaren Schlag auf seinen Helm bekam, daß er vornüber auf den Nacken seines Pferdes stürzte und sein Schwert fallen ließ. Er war verwirrt und betäubt und konnte sich [356] in dieser Lage nicht wehren. Es wäre wohl um ihn geschehen gewesen, wenn ihm Adolf nicht geholfen hätte. Dieser Ritter sprengte vor Gwijdes Pferd und schwang sein Schwert so kühn und unverzagt in die Runde, daß die Franzosen nicht zu dem jungen Gwijde gelangen konnten. Nachdem er einige Zeit gekämpft hatte, wurde sein Arm schwach und müde: man konnte das an den Streichen seines Schwertes sehen, die immer langsamer wurden. Schläge und Hiebe prasselten auf seine Rüstung nieder, er fühlte seine Kräfte schwinden und hauchte der Welt bereits sein letztes Lebewohl zu. Inzwischen war Gwijde hinter die Schlachtordnung gebracht worden und hatte sich von der Betäubung erholt. Angstvoll bemerkte er die Lage seines Retters, ergriff ein anderes Schwert und stürzte sich aufs neue in den Kampf. Mit ihm waren einige der Kühnsten herbeigeeilt, und die Franzosen wurden noch zurückgedämmt, bis wieder neue Haufen zum Kampf anrückten. Nun aber konnten die vlaemischen Ritter trotz aller Furchtlosigkeit die Franzosen nicht mehr aufhalten; der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw!“ wurde von einem anderen übertönt; jetzt waren es die Franzosen, die da riefen:
„Noël, Noël! Vorwärts, der Sieg ist unser! Schlagt sie tot, diese Fußgänger!“
Die Vlaemen wurden über den Haufen geworfen und auseinandergetrieben. Mochte auch Gwijde noch so Erstaunliches leisten, er konnte den Rückzug seiner Truppen nicht mehr hindern; denn es kamen wohl drei Reiter auf jeden Vlaemen; die Pferde rannten sie um oder trieben sie mit unwiderstehlicher Gewalt zurück. Nun kamen ihre Glieder in Unordnung, und dieser Flügel des vlaemischen Heeres mußte vor dem Feinde fliehen; viele von ihnen wurden erschlagen, die anderen alle so zerstreut, daß sie den Reitern keinen Widerstand mehr zu leisten vermochten und von den Franzosen bis an die Leye verfolgt wurden, wo ein großer Teil ertrank.
Am Ufer dieses Flusses hatte Gwijde seine Leute wieder [357] einigermaßen in geschlossenen Gliedern aufstellen können, aber die Übermacht der Feinde war zu groß. Obgleich zerstreut, fochten die Leute von Veurne voller Verzweiflung; der Schaum stand ihnen vor dem Mund, und überall rieselte das Blut an ihrem Körper herab. Doch all ihr Heldenmut konnte ihnen nichts nützen. Jeder hatte schon drei bis vier Reiter erschlagen, aber es wurden ihrer immer weniger, während die Zahl der Feinde stetig wuchs. Ihr einziger Gedanke war, ehrenvoll zu sterben und die Rache vollzogen zu haben.
Als Gwijde sein Heer erliegen sah und die Schlacht für verloren hielt, hätte er vor Schmerz weinen mögen; aber in seinem Herzen war für Trauer kein Raum; düstere Raserei hatte ihn gepackt. Seinem Eide getreu, wollte er nicht länger leben, und wie ein Wahnsinniger trieb er sein Pferd mitten unter die frohlockenden Feinde. Adolf van Nieuwland und Arnold van Oudenaarde folgten ihm; sie kämpften so wütend, daß die Feinde ob ihrer Wundertaten erschraken. Wie durch Zauberei sanken die Reiter von ihren Schwertern dahin. Doch die meisten Vlaemen lagen schon am Boden, und die Franzosen schrien mit Recht: „Noël, Noël!“ denn nichts schien mehr Gwijdes Scharen retten zu können.
In diesem Augenblick sah man von Oudenaarde her, hinter dem Haverschen Bach etwas hell in der Sonne aufleuchten, das sich zwischen den Bäumen bewegte. Diese seltsame Gestalt nahte sich rasch und langte endlich auf dem offenen Felde an; zwei Reiter wurden sichtbar, die in größter Eile auf das Schlachtfeld gesprengt kamen. Der eine war seiner prächtigen Rüstung nach ein Ritter; sein Harnisch und alles Eisen, das ihn und sein Pferd bedeckte, war vergoldet und verbreitete ungemeinen Glanz. Ein großer, blauer Federbusch wallte im Winde auf seinen Rücken nieder, das Zaumzeug seines Rosses war ganz mit silbernen Schuppen bedeckt, und auf seiner Brust prangte ein rotes Kreuz; über diesem Zeichen stand auf schwarzem Grunde mit silbernen Buchstaben das Wort „Flandern“.
Kein Ritter auf dem ganzen Schlachtfeld war so prächtig gerüstet wie dieser Unbekannte, aber was ihn am meisten von allen unterschied, war seine Gestalt. Er war einen Kopf größer als die Größten, und seine Glieder waren so kräftig, daß man ihn für einen Riesen hätte halten können. Das Pferd, das er ritt, trug viel zu seinem ungewöhnlichen Aussehen bei, denn es war auch wunderbar groß und stark, der schönste deutsche Hengst, den man sich denken konnte. Lange Schaumflocken flogen um sein Maul, und schnaubend kam er heran. Der Ritter hatte keine andere Wehr als einen furchtbaren Waffenhammer, dessen Stahl sich glänzend in der goldenen Rüstung spiegelte. Der andere Reiter war ein Mönch. Der war schlecht gewappnet: Harnisch und Helm waren so verrostet, daß sie ganz rot zu sein schienen. Er hieß Bruder Wilhelm van Saestinge. In seinem Kloster zu Doest erfuhr er, daß bei Kortrijk gegen die Franzosen gekämpft werden solle; er nahm deshalb zwei Pferde aus dem Stall, gab das eine für die verrosteten Waffen dahin, die er trug, und auf dem anderen kam er jetzt herangesprengt, um der Schlacht beizuwohnen. Auch er war ungewöhnlich kräftig gebaut und unverzagten Mutes; ein langes Schlachtschwert blitzte in seiner Faust, und schon an seinen Augen konnte man erkennen, daß er ein furchtbarer Kämpfer sein mußte; er war dem wunderbaren Ritter soeben begegnet, und da beide demselben Ziel zustrebten, so waren sie zusammen geritten.
Die Vlaemen richteten ihre Augen mit freudiger Erwartung auf den goldenen Ritter, den sie von ferne herankommen sahen. Sie konnten das Wort Flandern noch nicht lesen und also nicht wissen, ob er ein Freund oder Feind war; aber in ihrer gefährlichen Lage vermeinten sie, daß Gott ihnen unter dieser Gestalt einen seiner Heiligen sende, um sie zu befreien. Dazu trugen die glänzende Rüstung, die ungewöhnliche Gestalt und das rote Kreuz, das der Ritter auf seiner Brust trug, nicht wenig bei.
Gwijde und Adolf, die mitten unter den Feinden standen, sahen einander hocherfreut an; sie hatten den goldenen Ritter erkannt. Nun hielten sie die Franzosen für verloren; denn auf die Kraft und Erfahrung dieses neuen Kriegers hatten sie das größte Vertrauen. Die Blicke, die sie sich einander zuwarfen, besagten: O, welch ein Glück, da ist der Löwe von Flandern!
Der goldene Ritter kam endlich an die französischen Truppen heran; ehe man noch fragen konnte, wen er bekämpfen, wem er beistehen wollte, stürzte er sich in die dichtesten Reiterhaufen und schlug mit seinem Hammer so wild und furchtbar auf sie ein, daß sie, von Schrecken ergriffen, einander umrannten, um nur seinen Schlägen zu entgehen. Alles stürzte unter seinem schmetternden Hammer nieder, und überall, wo er durch die feindlichen Scharen drang, blieb hinter seinem Rosse eine Spur wie von einem segelnden Schiffe. Solcherart warf er alles, was er treffen konnte, nieder und gelangte mit unheimlicher Schnelligkeit zu den Scharen, die gegen die Leye gedrängt wurden. Da rief er:
„Vlaenderen den Leeuw! Folgt mir! folgt mir!“
Mit diesen Worten schleuderte er eine große Anzahl Franzosen in den Schlamm und erschlug so erstaunlich viele, daß die Vlaemen ihn für ein übernatürliches Wesen ansahen.
Jetzt kehrte der Mut in ihre Herzen zurück. Unter Freudengeschrei stürzten sie vorwärts und strebten, den Wundertaten des Ritters gleich zu tun. Die Franzosen konnten diesem unerschrockenen Löwen nicht länger widerstehen. Die vordersten machten kehrt und wollten fliehen, aber sie stürzten auf die Pferde ihrer Genossen, und einer warf den anderen zu Boden.
Ein allgemeines Gemetzel begann jetzt, soweit nur das Heer reichte. Die Vlaemen schlugen alles nieder und sprangen über große Haufen Leichen, um die entfernteren Feinde anzugreifen. Jetzt wurde nicht mehr „Noël!“ geschrien, der Ruf: „Vlaenderen den Leeuw!“ beherrschte jeden anderen Laut und betäubte [360] die Kämpfer so, daß sie die Schläge ihrer eigenen Waffen nicht mehr hören konnten.
Bruder Wilhelm, der Mönch, war von seinem Pferde gesprungen und kämpfte zu Fuß; alles, was in seinen Bereich kam, wurde von tödlichen Streichen getroffen. Er schwang sein Schwert, als wäre es eine Feder, und verlachte spottend die Feinde, die ihn angreifen wollten. Man hätte denken können, daß er sich an einem Spiel erlustige: er war so fröhlich und scherzte so ausgelassen, als ob er mit Kindern zu kämpfen hätte. Trotz seiner Gewandtheit fiel doch mancher Schwerthieb auf seinen verrosteten Harnisch. Ein anderer wäre recht wohl unter jedem dieser Schläge gefallen; aber Bruder Wilhelm blieb unerschütterlich. Jeder, der das Unglück hatte, ihm zu begegnen, sank im gleichen Augenblick vor seinem Riesenschwert dahin.
Plötzlich sah er etwas weiter Ludwig von Clermont mit seinem Banner stehen.
„Vlaenderen den Leeuw!“ rief Bruder Wilhelm. „Die Standarte ist mein!“
Als sei er tödlich getroffen, ließ er sich zu Boden sinken, kroch auf Händen und Füßen unter den Pferden dahin und stand plötzlich neben Ludwig von Clermont wieder auf. Von allen Seiten prasselten die Hiebe auf ihn nieder, doch wußte er sich so gut zu verteidigen, daß er nur einige arge Quetschungen davontrug. Daß er es auf die Standarte abgesehen hatte, ließ er sich nicht merken; ja, er kehrte ihr sogar den Rücken zu. Aber plötzlich wandte er sich um, hieb dem Fahnenträger jählings den Arm ab und zerriß das gefallene Banner in Stücke. Sicherlich hätte der Mönch hier seinen Tod gefunden; aber inzwischen waren die Seinigen schon bis zu ihm vorgedrungen, und die Franzosen wurden in größter Unordnung zurückgetrieben.
Der goldene Ritter hatte die Feinde, die den jungen Gwijde umringten, in wenigen Augenblicken zerstreut und drang immer [361] weiter vorwärts. Mit seinem Hammer zerschmetterte er Helme und Schädel, und niemanden fand er, der ihm Widerstand leisten konnte. Jeder, der, von seinen Schlägen betäubt, zu Boden fiel, wurde unter den Hufen der Rosse zertreten. Gwijde nahte sich ihm und sagte rasch:
„O Robrecht, mein Bruder, wie danke ich Gott, daß Ihr angekommen seid! Ihr habt das Vaterland gerettet!“
Der goldene Ritter antwortete nicht. Nur legte er den Finger auf den Mund, als wollte er sagen: Still! still!
Adolf hatte dies Zeichen ebenfalls gesehen und beschloß, sich so zu verhalten, als ob er den Grafen von Flandern nicht kenne.
Inzwischen stürzten die Franzosen einer über den anderen nieder; die vlaemischen Scharen drangen unwiderstehlich auf die Fliehenden ein und erschlugen die gefallenen Ritter mit Keulen und Streitäxten. Tausende von Pferden lagen halb versunken in dem sumpfigen Boden; unzählige Leichen der Feinde bedeckten den Kampfplatz. Der Groeninger Bach war nicht mehr zu sehen: die Leichen, mit denen er angefüllt war, bildeten eine Masse mit denen, die an seinen Ufern lagen; vielleicht hätte man seinen Lauf an dem Blutstrom erkannt, aber das Blut stand überall in großen Lachen. Das Wimmern der Sterbenden, die Klagen der Erstickenden, das Jauchzen der siegesfrohen Vlaemen vermischte sich zu einem grausigen Lärm; dazu kam das Schmettern der Trompeten, das Klirren der Schwerter auf den Harnischen, das schmerzliche Wiehern der verwundeten Pferde! Einzig ein berstender Vulkan, der unter rollendem Donner das Innere der Erde zerreißt, kann ein Bild solcher Schrecken geben. Es war, als wenn der Jüngste Tag hereingebrochen wäre.
Es schlug neun Uhr auf dem Turm zu Kortrijk, als Nesles und Châtillons weichende Reiterei zu den Scharen Roberts d'Artois flüchteten. Als er die Niederlage der Seinen vernahm, entbrannte Robert in wilder Wut. Er wollte sich mit den [362] zahlreichen Abteilungen, die seinem Befehl unterstanden, auf das vlaemische Heer werfen. Die anderen Ritter suchten ihn von diesem unvorsichtigen Vorhaben abzubringen und machten ihm klar, daß sich kein Pferd auf dem Kampfplatz bewegen könne; aber er wollte auf niemand hören und sprengte, von all seinen Leuten gefolgt, mitten durch die Flüchtlinge dahin. Die Reiter, die der ersten Niederlage entkommen waren, wurden von dem Seneschall und seinen neuen Truppen niedergeritten und entflohen alsbald in größter Unordnung nach allen Seiten hin vom Schlachtfeld, um dieser schrecklichen Verwirrung zu entrinnen. Aber das war nicht möglich; die ersten Scharen wurden von den letzten vorwärts gedrängt, und so warf sich die Masse frischer Truppen mit größtem Wagemut auf die vlaemische Schlachtordnung.
Beim ersten Stoß sah sich Gwijdes Heer genötigt, hinter den Groeninger Bach zurückzuweichen. Hier aber dienten die gefallenen Pferde als Brustwehr: es war, als ob sie sich hinter eine Verschanzung zurückgezogen hätten. Die französischen Reiter konnten sich in dem sumpfigen Boden nicht aufrecht erhalten; einer fiel über den andern, und im Fallen töteten sie sich gegenseitig. Als Robert d'Artois das sah, wurde er wie wahnsinnig; er setzte mit einigen furchtlosen Rittern über den Bach und drang auf Gwijdes Scharen ein. Nach kurzem Gefecht, in dem eine Menge Vlaemen fielen, ergriff Robert d'Artois einen Zipfel der großen Standarte von Flandern und riß ein Stück mit der vordersten Klaue des Löwen davon ab.
Ein rasendes Geschrei erhob sich aus den vlaemischen Scharen, die zunächst standen. Alles rief:
„Schlagt ihn tot! schlagt ihn tot!“
Der Seneschall versuchte, die Standarte den Händen des Segher Lonke zu entreißen. Aber Bruder Wilhelm warf sein Schwert fort, sprang am Pferde Roberts d'Artois hinauf und schlang seine beiden Arme um den Hals des Feldherrn. Dann stemmte er seinen Fuß gegen den Sattel und riß mit solcher Gewalt [363] an Roberts Haupte, daß dieser das Gleichgewicht verlor und beide zur Erde fielen. Inzwischen waren die Fleischer herbeigeeilt. Jan Breydel wollte die Schmach rächen, die der Standarte Flanderns widerfahren war, und hieb Robert den Arm mit einem Schlag ab.
Als der unglückliche Seneschall inne ward, daß er dem Tode verfallen war, fragte er, ob kein Edelmann da sei, dem er seine Waffen übergeben könne. Die Fleischer aber brüllten, daß sie diese Sprache nicht verständen, und hieben so lange auf ihn ein, bis er seinen Geist aufgab.
Derweile hatte Bruder Wilhelm den Kanzler Pierre Flotte ebenfalls zu Boden geworfen und erhob sein Schwert, um ihm das Haupt zu spalten; der Franzose flehte um Gnade. Bruder Wilhelm lachte höhnisch auf und hieb ihm in den Nacken, also daß er leblos zu Boden sank. Die französischen Herren von Tarcanville und von Aspremont wurden von dem Hammer des goldenen Ritters niedergeschmettert: Gwijde spaltete Renold von Longueval mit einem Schlage das Haupt, und Adolf van Nieuwland warf Raoul von Nortfort aus dem Sattel. In wenigen Augenblicken fielen mehr als hundert Edelleute.
Herr Rudolf von Gaucourt hatte sich mit den beiden Königen Balthasar und Sigis und noch siebzehn auserlesenen Rittern lange Zeit gegen die Genter Jan Borluuts verteidigt. Die beiden Könige waren mit vielen andern Rittern bereits erschlagen, auch sein Pferd war schon gefallen. Aber Rudolf stand noch mit wundersamer Kühnheit inmitten seiner Feinde. Er wehrte sich mit der größten Gewandtheit gegen die Genter und hielt sie mit furchtbaren Schlägen von sich fern. Als er eines Trupps von fast vierzig französischen Reitern ansichtig wurde, sprang er mitten in ihre Reihen. Doch Jan Borluut setzte ihm mit einer großen Anzahl Genter nach. Die vierzig Ritter waren bald erschlagen, und noch immer verteidigte sich Rudolf von Gaucourt mit gleichem Mute. Von Wunden [364] und Anstrengung ermattet, sank er schließlich auf die Leichen seiner Waffenbrüder nieder, und die Genter liefen herzu, um ihn zu töten; aber Jan Borluut wollte den tapferen Franzosen nicht sterben lassen. Er ließ ihn hinter die Schlachtlinie tragen und nahm ihn unter seinen Schutz.
Obgleich die Franzosen in den vordersten Gliedern während dieses Gefechts unterlegen waren, rückte die vlaemische Schlachtordnung doch nur wenig vor. Denn immer neue Feinde eilten herbei, um die Gefallenen zu ersetzen.
Der goldene Ritter kämpfte am linken Flügel wie ein wahrer Löwe gegen eine ganze Reiterschar. An seiner Seite fochten mit gleichem Mute der junge Gwijde und Adolf van Nieuwland; letzterer warf sich beständig mitten unter die Feinde und brachte sich oftmals in Lebensgefahr. Es war, als ob er beschlossen hätte, unter den Augen des goldenen Ritters zu sterben. Der Vater Machtelds sieht mich! dachte er, und dann fühlte er, wie seine Brust sich weitete; seine Muskeln spannten sich, und seine Seele war von Todesverachtung erfüllt. Der goldene Ritter rief ihm manchmal zu, er solle sich nicht so sehr der Gefahr aussetzen; aber diese Worte klangen in Adolfs Ohr wie ein Lob: sie hatten nur die entgegengesetzte Wirkung! Bei jedem Zuruf des goldenen Ritters sprengte das Roß des tapferen jungen Mannes vorwärts und drang immer tiefer in die Reihen der Franzosen. Es war ein Glück für den Jüngling, daß ein stärkerer Arm als der seinige sein Leben bewachte, daß jemand neben ihm war, der in väterlicher Liebe geschworen hatte, ihn zu beschützen.
Im ganzen Heere der Franzosen war nur mehr eine Fahne zu sehen: noch entfaltete das große Kronbanner seine schillernden Wappenzeichen, seine silbernen Lilien und all die glänzenden Perlen, woraus das Wappen Frankreichs zusammengesetzt war. Gwijde wies mit der Hand nach dem Ort, da der Fahnenträger stand, und rief dem goldenen Ritter zu:
„Dort ist es, das müssen wir haben!“
Sie versuchten zunächst, ein jeder von seiner Seite, durch die französischen Scharen zu dringen, doch das glückte ihnen anfangs nicht, mochten sie auch noch so unermüdlich die Feinde auseinandertreiben. Adolf van Nieuwland hatte endlich eine günstigere Stelle gefunden, drang allein durch und kam nach langem Kampf bis zum großen Banner.
Welch unseliger Eifer trieb den Jüngling so dem Tode entgegen! Wenn er gewußt hätte, wieviel bittere Tränen in diesem Augenblick seinetwegen vergossen wurden, wie oft sein Name aus dem Mund einer Jungfrau mit Gebeten zum Himmel gesandt wurde, dann würde er sich nicht so tollkühn dem Tode preisgegeben haben; vielleicht wäre er zurückgeblieben.
Das Kronbanner war von einer großen Reiterschar umringt. Sie hatten bei ihrer Ehre und Treue geschworen, lieber unter diesem letzten Zeichen zu sterben, ehe sie es rauben ließen. Was vermochte Adolf wider so viele mutige Krieger? Sobald sie seiner ansichtig wurden, begrüßten sie ihn mit höhnenden Worten: alle Schwerter wurden gleichzeitig über seinem Haupte geschwungen, und er sah sich rings umschlossen. Schläge hagelten unaufhörlich auf seine Rüstung nieder, und trotz seiner bewunderungswürdigen Gewandtheit konnte er sich nicht mehr verteidigen. Das Blut lief bereits unter seinem Helm hervor, es wurde dunkel vor seinen Augen; seine Muskeln waren unter so vielen Schlägen erlahmt. Voll Verzweiflung, in dem sicheren Vorgefühl, daß seine letzte Stunde gekommen sei, rief er mit so lauter Stimme, daß es die Franzosen hörten:
„Machteld! Machteld! Lebe wohl!“
Mit diesem Rufe sprengte er quer durch die Schwerter der Feinde zu dem Banner hin und riß es dem Fahnenträger aus der Faust. Aber zehn Hände nahmen es ihm wieder ab. Hiebe prasselten auf ihn nieder, und kraftlos fiel er auf den Rücken seines Rosses.
Durch die Bewegung, die in diesem Augenblick unter die Streitenden kam, wurde der goldene Ritter auf die Gefahr [366] Adolfs aufmerksam. Er dachte an den Schmerz, den seine unglückliche Machteld erleben würde, wenn Adolf von Feindeshand stürbe, wandte sich zu seinen Leuten und rief mit einer Stimme, die wie Donner das Schlachtgetümmel beherrschte:
„Vorwärts! Männer von Flandern! Heran! heran!“
Gleich der stürmenden See, die mit unermeßlicher Kraft wider ihre Dämme tobt, sie nach langem Kampf unter einer himmelhohen Welle begräbt und ihre schäumenden Wogen über die Fluren ergießt, Wälder entwurzelt und Städte zu Boden wirft, so warf sich die vlaemische Löwenschar bei diesem Rufe des unbekannten Ritters vorwärts. Die Franzosen wurden mit solcher Wut angegriffen, daß beim ersten Stoße ganze Haufen niederstürzten; die Keulenschläge und die Hiebe der Beile prasselten auf sie ein wie Hagel, der die Früchte des Feldes vertilgt. Noch nie sah man ein solch hartnäckiges Gefecht; alle Streiter waren mit Blut überdeckt, und viele hatten noch die Waffen in der Faust, während sie schon längst von tödlicher Wunde getroffen waren. Es war ein unbeschreibliches Wirrsal von Menschen und Pferden. Gräßlichstes Mordgeschrei, schmerzlichste Klagen verschmolzen ineinander und bildeten ein dröhnendes Tosen, das die Herzen noch mehr zur Wut entflammte. Die französischen Ritter konnten sich nicht mehr bewegen, denn sie wurden von allen Seiten auf die hinter ihnen stehenden Scharen gedrängt, während Beile und Schwerter die vordersten Glieder der Reihe niederhieben.
Der goldene Ritter hatte sich mit seinem vertilgenden Waffenhammer einen Weg durch die Feinde gebahnt und war dem Kronbanner von Frankreich genaht. Dicht hinter ihm kamen Gwijde, Arnold van Oudenaarde und noch einige der mutigsten Vlaemen. Er versuchte, in dieser Verwirrung die grüne Feder Adolfs van Nieuwland im Umkreise des Banners zu entdecken, doch vergebens. Einen Augenblick später schien es ihm jedoch, als ob er sie in der Ferne unter den Vlaemen gewahrte. Die vierzig erlesenen Ritter, die noch bei dem Banner standen, [367] sprengten dem goldenen Ritter entgegen. Aber er ließ seine Waffe so rasch kreisen, daß kein Schwert ihn berührte. Das erste Mal, da er seinen Hammer wie ein Felsstück niedersausen ließ, zerschmetterte er den Herrn Alin von Bretagne, mit dem zweiten Schlage zertrümmerte er den Harnisch Richards von Falais und zerbrach ihm die Rippen.
Inzwischen kämpften die Vlaemen mit gleichem Mut; Arnold van Oudenaarde empfing eine Wunde am Kopf, und mehr als zwanzig seiner Leute wurden von den Franzosen niedergemacht. Der goldene Ritter hieb alles nieder, was er erreichen konnte; schon lagen die Herren Jean d'Emmery, Arnold von Wahain und Hugo de Viane zu seinen Füßen; das Auge konnte dem Schwunge seines Hammers nicht folgen, so rasch flog er von einem Feind zum andern.
Der Fahnenträger ward alsbald inne, daß das Banner auf diesem Platze nicht mehr zu halten war, und deshalb floh er mit ihm zurück. Als aber der goldene Ritter das sah, warf er mit wunderbarer Kraft drei oder vier Feinde zur Seite und verfolgte den Fahnenträger bis weitab vom Kampfplatz. Als er ihn eingeholt hatte, kämpfte er so lange und unverdrossen, bis er schließlich das Banner errungen hatte. Eine ganze Schar Reiter war über ihn hergefallen, um die Fahne wieder zu erobern. Doch der goldene Ritter hatte sie wie einen Speer in den Steigbügel gestellt und begann jählings so wild auf sie einzuhauen, daß gar viele umkamen. Jetzt drang er unter fortwährenden Kämpfen durch die Feinde hindurch und gelangte mitten unter das vlaemische Heer. Er hob das Banner empor und rief:
„Vlaenderen den Leeuw! Unser ist der Sieg! Heil! Heil!“
Die Scharen antworteten durch ein lautes Jauchzen und schwangen als Zeichen ihrer Freude die Waffen hoch in der Luft. Ihr Mut wuchs noch beim Anblick dieses eroberten Feldzeichens.
Gui de Saint-Pol stand noch mit etwa zehntausend Fußknechten [368] und einer starken Reiterschar am Pottelberg. Schon hatte er die kostbarsten Güter im Lager zusammenpacken lassen und wollte seine Leute durch die Flucht retten; Peter Lebrun, einer der Ritter, die bei dem Kronbanner gefochten hatten, war halb betäubt vom Schlachtfeld zurückgekommen. Als er das sah, ging er auf ihn zu und rief:
„Wie, Saint-Pol! Könnt Ihr das wagen? Wollt Ihr wie ein Feigling den Tod Roberts d'Artois und all unserer Brüder ungerächt lassen? Ich bitte Euch um der Ehre Frankreichs willen, tut das nicht! Laßt uns lieber sterben, um dieser Schande zu entgehen! Führt Eure Scharen vorwärts in den Kampf, vielleicht werdet Ihr noch mit Euren frischen Truppen den Sieg erringen.“
Gui von Saint-Pol wollte nichts von Kämpfen hören; Furcht hatte ihn übermannt, und er antwortete:
„Herr Lebrun, ich weiß, was ich zu tun habe. Ich werde das Gepäck des Heeres nicht rauben lassen; es ist besser, daß ich die übriggebliebenen Leute nach Frankreich zurückbringe, als daß ich sie nutzlos erschlagen lasse.“
„Und so wollt Ihr alle, die noch mit dem Schwert in der Faust dastehen, verlassen und dem Feinde ausliefern? Aber das wäre gar verräterisch von Euch! Sollte ich den heutigen Tag überleben, so werde ich Euch der Treulosigkeit beim König beschuldigen.“
„Die Vorsicht gebietet mir den Rückzug, Herr Lebrun. Ich werde abziehen, mögt Ihr auch sagen, was Ihr wollt; denn Euer Rat gibt Euch die Aufregung ein, und Ihr seid gar zu sehr in Wut entbrannt.“
„Und Ihr seid gar zu sehr von Furcht ergriffen! Aber sei es denn, wenn Ihr es durchaus wollt; um Euch zu zeigen, daß ich noch vorsichtiger bin als Ihr, werde ich mit einem Trupp den Rückzug decken. Ziehet denn ab, ich werde den Feind aufhalten.“
Er nahm zweitausend Fußknechte und führte sie auf das Schlachtfeld.
Inzwischen war die Zahl der kämpfenden Franzosen so zusammengeschmolzen, daß ihre Schlachtordnung an vielen Stellen durchbrochen war. Das erlaubte den Vlaemen, sie von vorn und im Rücken anzugreifen.
Der goldene Ritter, der ob seiner riesigen Gestalt und der Größe seines Pferdes das ganze Schlachtfeld übersehen konnte, bemerkte die Bewegung Lebruns und durchschaute seine Absicht. Es war ihm klar, das Saint-Pol mit dem Troß des Heeres entwischen wollte. Deshalb ritt er zu Gwijde heran und setzte ihn von dem Vorhaben des Feindes in Kenntnis. Sofort wurden einige Ritter hinter die Schlachtlinie gesandt, um den Anführern die nötigen Befehle zu überbringen. Wenige Augenblicke später setzten sich mehrere Scharen in Bewegung und breiteten sich nach allen Richtungen hin über das Schlachtfeld aus. Jan Borluut zog mit seinen Gentern an den Stadtwällen entlang und griff Lebrun von der Seite an; die Fleischer mit ihrem Obmann Breydel schwenkten um das Kastell Nedermosschere herum und stürmten das französische Lager von hinten.
Die Scharen Saint-Pols waren dieses Angriffs nicht gewärtig. Sie waren damit beschäftigt, die kostbarsten Güter des Lagers zu sammeln, als sie die Beile der Fleischer und mit ihnen den Tod über ihren Häuptern schweben sahen. Das furchtbare Geschrei der angreifenden Vlaemen erschreckte sie so sehr, daß sie in Unordnung durcheinanderliefen und nach allen Seiten hin über die Felder entflohen; die Fleischer aber hieben gar furchtbar auf sie ein. Gui de Saint-Pol, der auf einem guten Traber saß, entging der Todesgefahr und entfloh so rasch als möglich, ohne sich mehr um seine Leute zu bekümmern.
Das Lager war bald gesäubert, und nach wenigen Minuten war nicht ein einziger lebender Franzose mehr darin. Die Vlaemen eroberten alle die goldenen und silbernen Gefäße und noch unendlich viele andere Schätze, die der Feind mitgebracht hatte.
Auf dem Schlachtfeld war der Kampf noch nicht beendet. Ein Haufe von etwa tausend Reitern verteidigte sich noch; sie kämpften wie die Löwen, trotzdem sie bereits über und über mit Wunden bedeckt waren. Darunter befanden sich mehr als hundert edle Ritter, die diese Niederlage nicht überleben wollten und mit rasender Wut auf die Vlaemen einhieben. Allmählich wurden sie unter die Wälle der Stadt, in die Bittermeersch [37] , getrieben. Hier stürzten die Pferde in den Ronduitebach oder versanken an den Ufern. Die Ritter konnten sich nicht mehr auf ihren Pferden halten; deshalb sprang einer nach dem anderen aus dem Sattel, sie scharten sich wieder zu einem Kreise, kämpften weiter zu Fuß und schlugen noch gar manchen Vlaemen tot. Die Bittermeersch war zu einem Blutsee geworden; die Kämpfenden standen bis über die Knöchel im Blute. Köpfe, Arme, Beine, alles lag hier mit zerbrochenen Helmen und Schwertern durcheinander.
Einige Leliaerts, darunter Jan van Gistel und eine Anzahl Brabanter, sahen, daß an Entkommen nicht mehr zu denken war. Deshalb liefen sie mitten unter die Vlaemen und riefen: „Vlaenderen den Leeuw! Heil, Heil Flandern!“ Sie glaubten sich hierdurch zu retten; aber gleich kam ein Weber auf Jan van Gistel zugelaufen und versetzte ihm einen so furchtbaren Schlag auf den Kopf, daß sein Schädel zerschmettert wurde. Der Weber murmelte mit unterdrückter Stimme:
„Mein Vater hat Euch gesagt, daß Ihr nicht auf dem Bette sterben würdet, Ihr Verräter!“
Die anderen wurden an ihren Wappen erkannt und als Verräter niedergemacht und durchbohrt.
Der junge Gwijde empfand Mitleid mit den noch verbliebenen Rittern, die sich so mutig verteidigten, und rief ihnen zu, sie sollten sich gefangen geben, damit ihr Leben erhalten bliebe. [371] Da sie einsahen, daß Mut und Tapferkeit ihnen nichts mehr helfen konnten, ergaben sich die Ritter und wurden entwaffnet. Sie wurden Jan Borluuts Obhut anvertraut.
Der vornehmste dieser edlen Kriegsgefangenen (im ganzen waren es etwa sechzig) war Thibaut II., nachmals Herzog von Lothringen; auch die übrigen waren von hoher Geburt und als tapfere Ritter berühmt.
Jetzt blieb kein einziger Feind mehr auf dem Schlachtfeld; aber nach allen Richtungen sah man sie entfliehen. Die Vlaemen waren ganz verwundert, daß sie nichts mehr zu bekämpfen hatten, und glühten noch von Kampfbegier. So liefen sie scharenweise durch die Felder, um die Fliehenden zu verfolgen; beim St. Magdalenen-Hospital holten sie eine Abteilung von Saint-Pols Leuten ein und erschlugen sie alle; etwas weiter fanden sie Willem van Mosschere, den Leliaert, der sich mit einigen anderen aus dem Gefecht entfernt hatte. Als er sich umringt sah, bat er um Gnade und gelobte, Robrecht van Bethune als ein treuer Untertan zu dienen. Aber sie hörten ihn nicht an, und die Beile der Fleischer raubten ihm Sprache und Leben.
So ging es den ganzen Tag fort, bis nicht ein einziger Franzose oder französisch Gesinnter mehr zu finden war.
O bgleich eine starke Abteilung der vlaemischen Truppen den Feind scharenweise in den Feldern verfolgte, blieben doch noch einige geordnete Truppenteile auf dem Schlachtfeld zurück. Jan Borluut hatte seine Leute haltmachen lassen, um dem Kriegsbrauch gemäß das Schlachtfeld bis zum anderen Tage zu behaupten; nur wenige hatten in heftiger Leidenschaft auf diesen Befehl nicht geachtet; die Abteilung, die er bei sich hatte, bestand noch aus dreitausend Gentern; dazu kamen Leute von allen Waffengattungen, die von Anstrengung oder Wunden ermattet waren, den Feind nicht verfolgen konnten [372] und deshalb auf dem Schlachtfeld geblieben waren. Jetzt, da der Kampf gewonnen und die Fesseln des Vaterlands gebrochen waren, jauchzten die Vlaemen mit inniger Freude:
„Vlaenderen den Leeuw! Sieg! Sieg!“
Alsbald antworteten die Yperner und Kortrijker von den Wällen der Stadt mit noch lauterem Jubel. Auch sie konnten wohl Sieg rufen; denn während die beiden Heere einander auf dem Groeninger Kouter bekämpften, war der Kastellan van Lens mit hundert seiner Leute von dem Kastell in die Stadt gedrungen und hätte sie vielleicht ganz niedergebrannt. Aber die Yperner hieben so unverzagt auf seine Schar ein, daß die Franzosen nach langem Kampf in Unordnung in das Kastell zurückflohen. Als van Lens seine Leute zählte, fand er, daß nur der zehnte Teil der Wut der Feinde entgangen war.
Die meisten Anführer und Edeln hatten sich in das Lager begeben und um den goldenen Ritter versammelt; sie drückten ihm alle ihre Dankbarkeit aus, er aber antwortete nicht, aus Furcht, sich zu verraten. Gwijde, der bei ihm stand, wandte sich zu den Rittern und sprach:
„Meine Herren, der Ritter, der uns alle und Flandern so wunderbar errettet hat, ist ein Kreuzfahrer, der unbekannt zu bleiben wünscht: der edelste Sohn Flanderns trägt seinen Namen.“
Die Ritter sagten nichts, aber jeder bemühte sich, zu erraten, wer das wohl sein mochte, der so edel, so tapfer und so stark war. Diejenigen, die bei der Zusammenkunft in dem Gehölz bei Dale gewesen waren, wußten schon längst, wer es war, aber sie wagten nicht, ihre Überzeugung zu verkünden, da sie feierlich gelobt hatten, das Geheimnis zu wahren. Unter den anderen waren viele, die gar nicht daran zweifelten, daß es der Graf von Flandern selbst sein müsse; allein sie schwiegen, weil Gwijde den Wunsch des goldenen Ritters ausgesprochen hatte.
Robrecht hatte schon einige Zeit leise mit Gwijde gesprochen; da ließ er sein Auge über die anwesenden Scharen schweifen und sagte endlich:
„Ich sehe Adolf van Nieuwland nicht; sollte mein junger Freund unter dem Schwerte der Feinde gefallen sein? O, das würde mich ewig schmerzen. Und wie würde meine arme Machteld heiß um ihren guten Bruder weinen!“
„Gefallen wird er nicht sein, Robrecht; mich dünkt, ich hätte soeben noch seine grüne Feder zwischen den Bäumen des Neerlander Busches gesehen. Gewiß jagt er nun den übrigen Feinden nach; Ihr habt gesehen, mit welch unbändiger Wut er sich stets mitten unter die Franzosen wagte. Fürchtet nichts, Gott hat ihn sicherlich nicht sterben lassen.“
„O Gwijde, ich wollte, Ihr sprächet die Wahrheit! Mein Herz bricht bei dem Gedanken, daß sich mein unglückliches Kind an einem so frohen Tage nicht freuen sollte. Ich bitte Euch, mein Bruder, laßt die Leute Borluuts das Schlachtfeld absuchen, ob Adolf nicht zu finden ist. Ich gehe, um meine kranke Machteld zu trösten. Die Gegenwart ihres Vaters möchte ihr zum wenigsten einen frohen Augenblick geben.“
Er grüßte die anwesenden Ritter mit der Hand und eilte nach der Abtei von Groeningen. Gwijde befahl Jan Borluut, seine Leute über das Schlachtfeld zu schicken, um die Verwundeten unter den Leichen hervorzuziehen und in das Lager zu bringen.
Als die Genter das Schlachtfeld betraten, blieben sie anfangs, entsetzt über den furchtbaren Anblick, stehen. Jetzt, da die Leidenschaft des Kampfes in ihnen erloschen war, schweiften ihre Augen mit Schaudern über das ausgedehnte Blutfeld, darauf Tausende von Leichen, Pferden, Fahnen und allerlei Waffen in wilder Verwirrung durcheinanderlagen. Hie und da sah man einen Sterbenden den Arm bittend um Hilfe ausstrecken. Schrecklich tönten über das Schlachtfeld die Stimmen der Verwundeten, die da riefen:
„Trinken, trinken … gebt uns um Gottes willen zu trinken!“
Die Sonne brannte mit sengender Glut auf ihre offenen Wunden und quälte sie mit unerträglichem Durst; ihre trockenen Lippen klebten aufeinander, und nur mit Mühe konnten sie röchelnd die Todesklage hervorbringen. Die Luft war von schwarzen Raben wie von einer Gewitterwolke erfüllt; das Krächzen dieser gefräßigen Raubvögel hallte wie der Ruf des Todes über das Schlachtfeld und erfüllte die Herzen der Überlebenden mit düsterer Beklemmung. Die kreischenden Vögel stürzten sich auf die Leichen, und die Verwundeten kämpften mit Angst gegen diese scheußlichen Feinde und erzitterten bei dem Gedanken, sie könnten eine Beute dieser Tiere werden, sie sollten keine Ruhestätte nach dem Tode finden, keine geweihte Erde, um bis zum Jüngsten Tage darin zu schlafen!
Welch schreckliche Aussicht! Welch fürchterlicher Gedanke!
Unzählige Hunde hatte der Geruch des Blutes aus der Stadt gelockt; sie liefen von einer Leiche zur anderen und heulten sich in furchtbaren Tönen an. Zu alledem gesellte sich das dumpfe Wiehern oder vielmehr das Röcheln der sterbenden Rosse und der jauchzende Siegesruf der Leute in der Stadt.
Sowie die Genter sich über das Schlachtfeld hinbreiteten, stiegen die Raben vor ihnen auf und flogen weiter auf Raub aus. Man untersuchte alle Gefallenen, und die, deren Herz noch schlug, trug man in das Lager, um sie in das Leben zurückzurufen. Eine große Schar hatte in allen möglichen Gefäßen frisches Wasser aus dem Gaverschen Bach geschöpft, um die noch Lebenden damit zu laben. Es war rührend und ergreifend anzuschauen, wie gierig die Verwundeten das kühle Wasser einsogen, wie dankbar sie mit einer Freudenträne diese Labung aus den Händen ihrer Brüder und Feinde entgegennahmen. War man eben derart mit einem beschäftigt, so reckten sich in der Nähe flehend eine Menge Arme, und viele schwache Stimmen riefen:
„O, gebt auch mir zu trinken – nur einen einzigen Tropfen [375] Wasser! Bei den Leiden unseres Seligmachers, Brüder, befeuchtet meine Lippen und errettet mich vom Tode!“
Die Genter hatten den Befehl erhalten, die vlaemischen Ritter, die sich fänden, tot oder lebend in das Lager zu tragen. Sie hatten nun schon fast die Hälfte des Schlachtfelds abgesucht. Die Leichen der edeln Herren Salomon van Sevecote, Philipp van Hofstade, Eustachius Sporkijn, Jan van Severen, Peter van Brügge waren bereits fortgetragen, und man war dabei, dem verwundeten Jan van Mechelen den Harnisch loszuschnallen. Jetzt waren sie zu der Stelle gekommen, wo der Kampf am hartnäckigsten getobt hatte; die Leichen lagen mit Blut bedeckt rings um sie her. Während sie noch damit beschäftigt waren, Herrn van Mechelen zu laben, hörten sie plötzlich ein Stöhnen, gleich als stieg es aus dem Boden auf; sie horchten, doch sie sahen nichts, keine der Leichen ringsumher gab das geringste Lebenszeichen von sich. Nach einiger Zeit wiederholte sich das Stöhnen, und nun merkten sie, daß es etwas weiter abseits unter mehreren gefallenen Pferden hervortönte. Nach langen Mühen hatten sie diese endlich beiseite geschafft und fanden einen sterbenden Ritter.
Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, ganz mit Blut bedeckt. Sein Harnisch war von der Last eines darauf gefallenen Pferdes ganz eingedrückt. Mit der rechten Hand hatte er noch das Schlachtschwert umfaßt, während er in der linken einen grünen Schleier hielt; seine Wangen waren bleich und trugen das Zeichen des nahenden Todes. Mit wirrem, mattem Blicke betrachtete er die Leute, die zu seiner Rettung herbeikamen. Seine Wimper hatte nicht mehr die Kraft, das brechende Auge vor der Sonne zu schützen.
Jan Borluut erkannte den unglücklichen Adolf van Nieuwland.
In aller Eile wurden die Riemen seines Harnischs gelöst, sein Haupt aus dem Schlamm emporgehoben und seine Lippen mit erquickendem Wasser benetzt. Mit ersterbender Stimme [376] flüsterte er einige unverständliche Worte, und seine Augen schlossen sich, als ob seine Seele aus dem wunden Leib entflohen sei. Einige Augenblicke war er ganz ohne Bewußtsein; dann kam er wieder zu sich, doch er blieb äußerst schwach. Er ergriff Jan Borluuts Hand und sprach so langsam, daß zwischen jedem Wort eine lange Pause war:
„Ich sterbe, Ihr seht es, Herr Jan; meine Seele wird nicht lange mehr auf Erden weilen. Aber – beweint mich nicht. Ich sterbe froh, – da das Vaterland befreit ist …“
Sein Atem war zu kurz, als daß er länger hätte sprechen können; er ließ sein Haupt in den Arm Jan Borluuts sinken und führte den grünen Schleier langsam an seine Lippen. Dann sank er wie tot an Jan Borluuts Brust. Sein Herz schlug aber noch, und die Wärme des Lebens verließ ihn nicht. Der Anführer der Genter ließ den verwundeten Ritter mit aller nur erdenklichen Vorsicht in das Lager bringen.
Machteld hatte sich mit Adolfs Schwester vor dem Gefecht in eine Zelle der Abtei Groeningen zurückgezogen. Sicherlich war in diesem Augenblick niemand in Flandern geängstigter als diese unglückliche Jungfrau. All ihre Verwandten und ihr Freund Adolf waren im Kampfe. Von dieser Schlacht, welche die Vlaemen gegen eine so überlegene Macht wagten, hing die Freiheit ihres Vaters ab; diese Schlacht mußte den Thron von Flandern wiederherstellen oder für immer vernichten. Wenn die Franzosen den Sieg errangen, dann mußte sie auf den Tod all derer, die ihr teuer waren, für sich selbst auf das furchtbarste Los gefaßt sein.
Sobald die Kriegstrompete ihre Töne über das Schlachtfeld sandte, erzitterten die beiden Frauen und erbleichten, als ob sie zur gleichen Zeit ein tödlicher Schlag getroffen hätte. In diesem bangen Augenblick vermochten sie die Gefühle ihrer Seele nicht auszusprechen; sie waren zugleich auf einen Betstuhl niedergesunken, hatten den Kopf darauf gestützt, und still flossen Tränen über ihre Wangen. So knieten sie nun [377] dort in feurigem Gebet, ohne sich zu regen, als wären sie in tiefen Schlaf versunken gewesen; von Zeit zu Zeit hörte man einen schwachen Seufzer, und wenn das Tosen der Schlacht lauter anschwoll, dann schluchzte Maria:
„O allmächtiger Gott, Herr der Heerscharen, erbarme dich unser! Steh uns bei in der Not, o Herr!“
Und Machtelds zarte Stimme erwiderte:
„O süßer Jesus, Seligmacher, schütze ihn! Und rufe ihn nicht zu dir, o barmherziger Gott!“
„Heilige Mutter Gottes, bitte für uns!“
„O Mutter Christi, Trösterin der Betrübten, bitte für ihn!“
Dann tönte das donnernde Kriegsgetöse noch furchtbarer zu ihnen herüber, und ihre Hände zitterten vor Angst wie Espenlaub; ihre Häupter beugten sich tiefer, ihre Tränen flossen reichlicher, und ihr Gebet wurde wieder unverständlich; denn die Beklemmung raubte ihnen die Sprache.
Der Kampf dauerte lange, das furchtbare Geschrei der widereinander anstürmenden Scharen schwebte fortwährend über der Abtei von Groeningen, aber noch länger dauerte das stille Gebet der Frauen; denn als der goldene Ritter an die Pforte des Klosters klopfte, waren sie noch nicht vom Betstuhl aufgestanden. Plötzlich vernahmen sie dröhnende Männerschritte in dem Gange, der zur Zelle führte. Sie wandten das Haupt, und während sie starr auf die Tür blickten, erbebten beide in einem süßen Vorgefühl des Trostes.
„Adolf kommt wieder!“ schluchzte Maria. „O, unser Gebet ist erhört worden.“
Machteld lauschte sorglicher hin und antwortete niedergeschlagen:
„Nein, nein, er ist es nicht, sein Schritt ist nicht so schwer. O, Maria, vielleicht ein Unglücksbote!“
In diesem Augenblick hörte man die Tür der Zelle in ihren Angeln knarren; eine Nonne öffnete sie und ließ den goldenen Ritter hinein. Die zarte Gestalt Machtelds erstarrte, ihre [378] Augen hefteten sich zweifelnd auf den Krieger, der mit offenen Armen vor ihr stand, um sie zu empfangen. Erst schien es ihr, als ob ein falscher Traum sie narrte; aber dies Gefühl war flüchtiger denn der Blitz, und ungestüm warf sie sich jauchzend an die Brust des goldenen Ritters.
„Mein Vater,“ rief sie, „o mein teurer Vater! Ich sehe Euch wieder, frei, ohne Ketten! Laßt mich Euch in meine Arme schließen! O Gott, wie gütig bist du! Entzieht mir Eure Wange nicht, lieber Vater; laßt mich die Freude, die ich empfinde, ausdrücken.“
Robrecht van Bethune umarmte seine zärtliche Tochter voller Entzücken; er hielt sie an seine Brust gepreßt, bis ihre Aufregung ein wenig nachgelassen hatte, und legte dann den Helm und seine eisernen Handschuhe auf den Betstuhl. Von der Anstrengung des Tages ermattet, zog er einen Sessel herbei und ließ sich darin nieder. Machteld umschlang seinen Hals mit beiden Armen; dann betrachtete sie mit Bewunderung und Ehrerbietung den Mann, dessen Züge sie mit so viel Glück erfüllten, und der sie so zärtlich, so innig liebte. Mit klopfendem Herzen lauschte sie den süßen Worten, die seine geliebte Stimme ihr zuflüsterte.
„Machteld,“ sprach er, „mein edles Kind, der Herr hat uns lange geprüft; aber nun ist all unser Leid zu Ende. Flandern ist frei, das Vaterland ist gerächt, der schwarze Löwe hat alle Lilien zerrissen, und alle Fremden sind erschlagen. Fürchte nun nichts mehr, die bösen Söldner, die Johanna von Navarra ausgeschickt hat, sind tot.“
Machteld horchte mit ängstlicher Begierde den Worten ihres Vaters; sie blickte träumerisch in seine Augen und lächelte mit gar seltsamem Ausdruck. Sie war so von Freude erfüllt, daß sie dasaß, als ob sie jeglichen Gefühls beraubt wäre. Nach einigen Augenblicken merkte sie, daß ihr Vater nicht mehr sprach, und rief:
„O Herr, das Vaterland ist frei! Die Franzosen sind geschlagen! [379] Und Euch, meinen Vater, Euch habe ich wieder! Dann wollen wir in unser schönes Wijnendaal zurückkehren, kein Kummer wird Eure alten Tage mehr verbittern, und ich werde mein Leben froh und glücklich in Euern Armen verbringen! Solches Glück konnte ich nicht erwarten, soviel wagte ich nicht von Gott in meinen Gebeten zu verlangen!“
„Höre, mein Kind, und werde nicht niedergeschlagen, ich bitte Dich: heute noch muß ich Dich wieder verlassen. Der edelmütige Krieger, der mich diesmal noch aus meinen Banden freiließ, empfing mein Ehrenwort, daß ich zurückkehren würde, sobald die Schlacht geliefert wäre.“
Tieftrauernd ließ die Jungfrau bei diesen Worten ihr Haupt auf die Brust sinken und schluchzte.
„Sie werden Euch ermorden, unglücklicher Vater!“
„Sei doch nicht so furchtsam, Machteld,“ erwiderte Robrecht, „mein Bruder Gwijde hat sechzig französische Ritter von edelm Blute gefangengenommen; man wird Philipp dem Schönen kundtun, daß ihr Leben für das meine als Pfand dient, und er darf die übriggebliebenen Helden seiner Rachsucht nicht opfern. Ich habe nichts mehr zu befürchten, Flandern ist mächtiger denn Frankreich. Deshalb bitte ich Dich, weine nicht. Sei froh, unser harrt die schönste Zukunft! Ich werde Wijnendaal wiederherstellen lassen: es soll uns alle empfangen. Dann werden wir wieder zusammen auf die Falkenjagd gehen; denke Dir, wie fröhlich unser erster Jagdzug sein wird!“
Ein Lächeln unaussprechlicher Freude und ein herzlicher Kuß waren Machtelds Antwort. Aber plötzlich schien sich ein quälender Gedanke in ihrem Geist zu regen, ihre Züge wurden traurig, und schweigend blickte sie zu Boden, wie jemand, der von Scham ergriffen ist.
Robrecht warf einen forschenden Blick auf seine Tochter und fragte sie:
„Machteld, mein Kind, warum wirst Du plötzlich so traurig?“
Die Jungfrau erhob nur halb ihr Haupt und antwortete mit leiser Stimme:
„Aber, mein lieber Vater, Ihr sprecht ja gar nicht von Adolf, weshalb kommt er nicht mit Euch?“
Es dauerte einen Augenblick, ehe Robrecht ihre Frage beantwortete; er glaubte, in Machteld ein Gefühl entdeckt zu haben, das, vielleicht ihr selbst noch unbewußt, in ihrem Herzen verborgen ruhte. Nicht ohne Absicht sprach er daher folgende Worte:
„Ihn halten noch einige Geschäfte zurück, mein Kind; noch immer ziehen zersprengte Feinde im Feld umher; die verfolgt er gewiß. Machteld, ich kann Dir sagen, daß unser Freund Adolf der edelste und mutigste Ritter ist, den ich kenne; noch nie sah ich bei jemandem ein so männliches Verhalten. Zweimal hat er meinem Bruder Gwijde das Leben gerettet, bis unter das Kronbanner Frankreichs fielen die Feinde haufenweise unter seinem Schwert; alle Ritter rühmten seine Tapferkeit und gestanden, daß ihm ein großer Teil an der Befreiung Flanderns zukommt.“
Während Robrecht also sprach, hielt er die Augen auf seine Tochter geheftet und folgte jeder Regung, die sich in ihren Zügen aussprach. Er sah darin Freude und Stolz sich ablösen und zweifelte nicht mehr an der Richtigkeit seiner Ahnung.
Maria stand begeistert vor Robrecht; sie lauschte mit Rührung dem Lobe auf ihren Bruder.
Während die junge Machteld ihren Vater in größter Erregung anblickte, vernahm man lautes Stimmengewirr an der Pforte des Klosters; das dauerte nur wenige Augenblicke, dann wurde alles wieder still. Bald öffnete sich die Tür der Zelle, und Gwijde, Robrechts Bruder, trat langsam, mit bedrückter Miene herein; er nahte ihnen und sprach:
„Ein großes Unglück, mein Bruder, trifft uns heute in einem Manne, der uns allen teuer ist. Die Genter haben ihn auf dem Schlachtfeld unter den Toten gefunden und hierher in [381] das Kloster gebracht; seine Seele schwebt auf seinen Lippen, und vielleicht ist seine Sterbestunde nahe. Er wünscht Euch noch zu sehen, ehe er von der Welt scheidet; deshalb bitte ich Euch, ihm diese letzte Gunst zu erzeigen.“
Dann wandte er sich zu Adolfs Schwester und fügte hinzu:
„Euch läßt er gleichfalls bitten, edle Dame.“
Ein schmerzlicher Schrei entfloh dem Munde der beiden Frauen.
Machteld fiel ohnmächtig in die Arme ihres Vaters, und Maria eilte, ohne weiter auf etwas hören zu wollen, mit herzzerreißenden Weherufen zur Tür und verließ die Zelle. Auf diesen Lärm hin kamen zwei Nonnen herbei und empfingen die ohnmächtige Machteld aus den Armen des Ritters; der küßte seine Tochter noch einmal und wollte gehen, um den sterbenden Adolf zu besuchen. Aber die Jungfrau öffnete die Augen, und als sie die Absicht ihres Vaters merkte, riß sie sich aus den Händen der Nonnen los, umklammerte Robrecht und rief:
„Laßt mich mit Euch gehen, Vater, daß er mich noch einmal sieht. Wehe mir, welch tiefer Schmerz zerreißt mein Herz! Mein Vater, ich sterbe mit ihm – schon fühle ich den Tod in mir – ich will ihn sehen: eilt, kommt, o kommt rasch! – Er stirbt – Adolf!“
Robrecht betrachtete seine Tochter voll Mitleid. Jetzt blieb ihm kein Zweifel mehr über das Gefühl, das im geheimen im Herzen seiner Tochter Wurzel gefaßt hatte. Diese Gewißheit machte ihn aber weder bestürzt noch mißmutig. Da es ihm nicht möglich war, seine Tochter durch Worte zu trösten, so drückte er sie fest an sein Herz. Doch Machteld entwand sich bald den zärtlichen Banden; sie zog Robrecht bei der Hand fort und rief:
„O, Vater, erbarmt Euch meiner! Kommt, daß ich noch einmal die Stimme meines guten Bruders höre, daß seine Augen mich noch einmal in diesem Leben anblicken!“
Sie kniete vor ihm nieder, und während Tränen aus ihren Augen strömten, fuhr sie fort:
„Ich bitte Euch, mißachtet mein Flehen nicht. Erhört mich, Vater!“
Robrecht hätte am liebsten seine Tochter bei den Nonnen gelassen, denn er fürchtete, daß der Anblick des sterbenden Ritters sie zu sehr ergreifen würde. Doch den dringenden Bitten Machtelds konnte er nicht länger widerstehen; er nahm sie bei der Hand und sprach:
„Wohlan, meine Tochter, geh mit mir und besuche den armen Adolf. Aber, bitte, betrübe mich nicht zu sehr durch Deine Verzweiflung; bedenke, daß Gott uns heute so große Gnaden erwiesen hat, und daß er ob Deiner Verzweiflung zürnen könnte.“ Als er diese Worte sprach, waren sie bereits im Gange vor der Zelle.
Man hatte Adolf in den großen Speisesaal des Klosters gebracht, ein Federbett auf der Erde hingebreitet und ihn daraufgelegt. Ein Priester, der in der Heilkunde wohlerfahren war, hatte seinen Körper ganz genau untersucht und keine offene Wunde an ihm gefunden; lange blaue Striemen kennzeichneten die empfangenen Schläge auf seiner Haut, und unter den schweren Quetschungen war das Blut zusammengelaufen und geronnen. Nach einem Aderlaß wurde er gewaschen und mit kräftigem Balsam gerieben. Durch die sachverständige Behandlung des Priesters war er schon ein wenig gekräftigt, doch schien er noch immer seinem Ende nahe, obgleich seine Augen nicht mehr so trübe und glasig waren. Rund um das Bett standen gar viele Ritter, die stumm um ihren Freund trauerten. Jan van Renesse, Arnold van Oudenaarde und Peter De Coninck leisteten dem Priester hilfreiche Hand, Wilhelm von Jülich, Jan Borluut und Balduin van Papenrode befanden sich zur Linken, während der junge Gwijde mit Jan Breydel und den anderen vornehmsten Rittern gebeugten Hauptes am Fußende standen.
Breydel war gräßlich anzuschauen. Seine Hände waren in [383] vielen Stellen geritzt, und ein blutiges Tuch bedeckte die Hälfte seines Hauptes. Seine Arme und Kleider waren zerrissen und das stumpf gewordene Beil hing an seiner Seite. Die anderen Ritter hatten gleichfalls das eine oder andere Glied mit Tüchern umwickelt, und eines jeden Rüstung zeigte furchtbare Beulen und war schrecklich zerhackt.
Maria kniete weinend neben ihrem Bruder. Sie hatte seine Hand ergriffen und benetzte sie mit ihren Tränen, während Adolf sein mattes Auge auf sie heftete.
Sobald Robrecht mit seiner Tochter den Saal betrat, packte alle Ritter Staunen und Bewunderung: der Held, der ihnen in der Not so wunderbar zu Hilfe gekommen war, war der Löwe von Flandern, ihr Graf! Sie beugten alle mit der größten Ehrerbietung ein Knie zur Erde und sprachen:
„Ehre sei dem Löwen, unserem Herrn!“
Robrecht ließ seine Tochter los, hob die Herren Jan Borluut und van Renesse auf und küßte beide auf die Wangen. Dann gab er den übrigen ein Zeichen, sich zu erheben, und sprach:
„Meine treuen Untertanen, meine Freunde! Ihr habt mir heute bewiesen, wie mächtig ein Heldenvolk ist. Jetzt trage ich die Krone meines kleinen Reiches mit mehr Hochgefühl als Philipp der Schöne die von Frankreich; denn auf euch kann ich mit Recht stolz sein.“
Dann ging er zu Adolf, ergriff seine Hand und betrachtete ihn lange; in beiden Augen des Löwen von Flandern glänzten helle Tränen, die allmählich schwerer wurden, sich schließlich losrissen und wie Perlen blinkend zu Boden fielen. Machteld lag schon neben Adolfs Haupt auf den Knien. Sie hatte den grünen Schleier, der jetzt beschmutzt und blutig war, an sich genommen und benetzte mit ihren Tränen dieses Zeichen ihrer Zuneigung und seiner Aufopferung. Sie sprach kein Wort, sah auch Adolf nicht an; denn sie hielt ihre beiden Hände vor das Gesicht und schluchzte in tiefer Betrübnis, ohne sich zu rühren.
Der Priester blickte gleichfalls bewegungslos auf den leidenden Ritter. Ihm schien es, als vollzöge sich eine wunderbare Veränderung in seinen Zügen, als strömte wieder mehr Leben in ihn über. Und wirklich, seine Augen erhielten mehr Glanz, und sein Gesicht verlor die Anzeichen des nahenden Todes. Bald richtete er einen Blick voll Liebe auf Robrecht und sprach langsam und mit Anstrengung:
„O, mein Herr und Graf, Eure Gegenwart ist mir ein süßer Trost. Nun kann ich sterben; das Vaterland ist frei! Ihr werdet den Thron in friedensreichen Tagen besitzen … Ich verlasse freudig die Welt, jetzt, da die Zukunft Euch und Eurer edeln Tochter dauerndes Glück verheißt. O, glaubt mir in meiner Todesstunde! Euer Unglück war für mich, Euren unwürdigen Diener, ergreifender als für Euch selbst. So manchmal habe ich in stillen Nächten mein Lager mit Tränen benetzt, wenn ich der traurigen Lage der edlen Machteld und Eurer Gefangenschaft gedachte …“
Dann wandte er das Haupt ein wenig zu Machteld, und ihre Tränen flossen noch reichlicher, als er also sprach:
„Weinet nicht, edle Jungfrau, ich verdiene dieses liebevolle Mitleid nicht. Es gibt noch ein anderes Leben; dort werde ich meine gute Schwester wiedersehen! Bleibet auf Erden, um im Alter Eurem Vater eine Stütze zu sein, und denkt zuweilen in Euren Gebeten an den guten Bruder, der Euch verlassen muß …“
Hier brach er plötzlich ab und schaute wie verwundert um sich.
„Aber, mein Gott,“ sprach er und sah den Priester fragend an, „was ist das? Ich fühle neue Kraft, das Blut kreist freier durch meine Adern.“
Machteld erhob sich und betrachtete ihn mit ängstlicher Erwartung.
Alle blickten gespannt auf den Priester. Der hatte inzwischen den Kranken mit scharfem Blicke gemustert und alle Eindrücke, welche auf ihn gewirkt hatten, geprüft. Er ergriff [385] Adolfs Hand und fühlte ihm den Puls, während alle Umstehenden angstvoll seinen Bewegungen folgten; sie schlossen aus den Mienen des Priesters, daß noch nicht jede Hoffnung dahin war, den Leidenden am Leben zu erhalten.
Der Geistliche setzte schweigend seine Untersuchung fort. Er hob die Augenlider des Kranken auf und betrachtete sie, er öffnete ihm den Mund und ließ die Hand über seine bloße Brust gleiten. Dann wandte er sich zu den umstehenden Rittern und sprach im Tone der tiefsten Überzeugung:
„Ich sage euch, meine Herren, das Fieber, das diesem jungen Ritter den Tod bringen mußte, ist vorüber – er wird nicht sterben.“
Alle wurden so von ihrem Gefühl übermannt, als hätten die Lippen des Priesters ein Todesurteil ausgesprochen. Aber bald vermochten sie, ihrer Freude durch Worte und Gebärden Ausdruck zu verleihen.
Maria hatte die Verkündigung des Priesters mit einem lauten Schrei beantwortet und ihren Bruder in größter Aufregung umarmt. Machteld fiel auf die Knie nieder, erhob ihre Hände und rief mit lauter Stimme:
„Ich danke Dir, Du gütiger, Du barmherziger Gott, daß Du das Gebet Deiner demütigen Dienerin erhört hast!“
Nach dieser kurzen Danksagung sprang sie auf und warf sich voll grenzenloser Freude in die Arme ihres Vaters. „Er bleibt am Leben! Er wird nicht sterben!“ rief sie. „O, jetzt bin ich so glücklich!“ und einen Augenblick ruhte sie ermattet an Robrechts Brust. Aber ebenso rasch kehrte sie zu Adolf zurück und gab ihrem Entzücken ihm gegenüber Ausdruck.
Was allen wie ein Wunder erschien, war nur eine Folge von Adolfs Zustand. Er hatte weder offene noch tiefe Wunden empfangen, sondern viele Quetschungen; die Schmerzen, die er infolgedessen litt, hatten ein gefährliches Fieber hervorgerufen, das ihm den Tod hätte bringen können. Aber Machtelds Gegenwart, die seiner Seele Kräfte verdoppelte, verscheuchte [386] das tödliche Fieber, und so entrann er dem Grabe, das schon den Rachen nach ihm aufsperrte.
Robrecht van Bethune ließ seine Tochter, die vor Freude ganz außer sich war, neben Adolf niedersitzen, trat zu den Rittern und redete sie folgendermaßen an:
„Ihr edeln Männer von Flandern habt heute einen Sieg errungen, der als ein Beweis eurer großen Tapferkeit auf eure Kinder und Kindeskinder übergehen wird; ihr habt der ganzen Welt gezeigt, wie es dem Fremden ergeht, der den Fuß auf unseres Vaterlandes Boden zu setzen wagt. Die Liebe zum Vaterland hat in euren Heldenseelen unerhörten Mut entflammt und, durch gerechte Rache gestählt, haben eure Arme die Tyrannen erschlagen. Die Freiheit ist einem Volke, das sie mit seinem Blute besiegelt hat, teuer; fortan kann kein Fürst des Westens mehr die Vlaemen auch nur für einen Augenblick zu Sklaven machen; denn ihr alle würdet lieber sterben, ehe ihr das duldetet. Doch das brauchen wir ja auch nicht mehr zu befürchten. Flandern hat sich heute über alle Völker erhoben, und ihr edeln Männer seid es, denen das Vaterland diesen Ruhm verdankt. Jetzt wünschen wir, daß Friede und Ruhe unsere Untertanen für ihre Treue belohnt; es wird uns glücklich machen, von allen mit dem Namen Vater begrüßt zu werden, wenn wir uns durch unsere fürsorgliche Liebe und das unaufhörliche Bestreben, sie glücklich zu machen, diesen Namen verdienen können. Sollte es dennoch wieder geschehen, daß die Franzosen zurückzukommen wagten, so würden wir noch der Löwe von Flandern sein, und unser Hammer würde euch nochmals zum Kampfe führen. Wir bitten euch, ihr Herren, sänftigt die Gemüter, sobald ihr in eure Lehen zurückgekehrt seid, bringt alles zur Ruhe, damit der Sieg nicht durch Aufruhr befleckt werde, und leidet vor allem nicht, daß das Volk die Verfolgungen wider die Leliaerts nochmals aufnimmt. Es ist unsere Sache, über sie zu Gericht zu sitzen. Wir müssen euch nun verlassen. Während unseres [387] Fernseins werdet ihr unserem Bruder Gwijde als eurem Herrn und Grafen Gehorsam leisten.“
„Uns verlassen!“ rief Jan Borluut ungläubig. „Ihr kehrt nach Frankreich zurück? Tut es nicht, edler Graf, sie werden ihre Niederlage an Euch rächen.“
„Meine Herren,“ unterbrach ihn Robrecht, „ich frage euch, wer unter euch möchte aus Furcht vor dem Tode sein Ehrenwort und seine Rittertreue brechen?“
Alle beugten das Haupt, und keiner sprach ein Wort; voll Schmerz sahen sie ein, daß nichts ihren Grafen zurückhalten konnte. Der fuhr fort:
„Meister De Coninck, Eure Weisheit hat uns großen Nutzen gebracht und soll es auch ferner tun; wir berufen Euch in unseren Rat und wünschen, daß Ihr bei uns an unserem gräflichen Hofe verbleibt. Herr Breydel, Eure Tapferkeit und Eure Treue verdienen großen Lohn; seid von jetzt an für immerdar Oberbefehlshaber all Eurer Stadtgenossen, die uns mit den Waffen dienen können; wir wissen, wie ehrenvoll Ihr dieses Amt ausüben könnt. Zudem sollt auch Ihr zu unserem Hofe gehören und dorten wohnen können, wenn es Euch beliebt.“
„Und Ihr, mein Freund Adolf, Ihr verdient noch größeren Lohn. Wir alle waren Zeugen Eures furchtlosen Mutes; Ihr habt Euch des edeln Namens Eurer Vorfahren würdig gezeigt. Ich habe Eure Aufopferung nicht vergessen. Ich weiß, mit welcher Sorge, mit welcher Liebe Ihr mein unglückliches Kind beschützt und getröstet habt; ich weiß, welch reines, welch inniges Gefühl in euer beider Herzen, still und euch selbst unbewußt, lodert. Wohlan, ich will Euch an Edelmut gleichkommen; die durchlauchtige Familie des Grafen von Flandern vereinige sich mit der der Edelherren van Nieuwland; der schwarze Löwe glänze auf Eurem Schilde. Ich gebe Euch mein teures Kind, meine Machteld, zum Weibe!“
Machtelds Brust entfloh nur ein Laut, der Name Adolfs; [388] aber sie ergriff bewegt seine Hand, zitterte heftig und sah ihm tief in die Augen; dann strömten ihre Tränen reichlicher; doch jetzt waren sie durch reinste Freude hervorgelockt. Der junge Ritter sprach gleichfalls kein Wort, sein Glück war zu innig, zu groß, als daß er es hätte ausdrücken können. Er hob nur seine glänzenden Augen voll Liebe zu Machteld empor, voll Erkenntlichkeit zu Robrecht und voll Dankbarkeit zu Gott.
Seit einiger Zeit war lautes Tosen bei dem äußeren Tor der Abtei vernehmlich geworden. Es klang, als ob sich ein Volksauflauf zusammenrottete. Dies Getöse nahm ständig mehr und mehr zu und wuchs bisweilen zu lautem Jauchzen an. Jetzt kam eine Nonne herein und teilte mit, daß eine große Volksmenge vor dem Tor stehe und unaufhörlich verlange, den goldenen Ritter zu sehen. Nun, da die Tür des Saales offen stand, war der Jubelruf „Vlaenderen den Leeuw! Heil unserem Befreier, Heil, Heil!“ bei den Rittern deutlicher zu verstehen.
Robrecht wandte sich zu der Nonne und sprach:
„Wollet ihnen sagen, daß der goldene Ritter, nach dem sie rufen, in wenigen Augenblicken zu ihnen kommen werde.“
Dann trat er zu dem kranken Ritter, ergriff seine noch schwache Hand und sprach:
„Adolf van Nieuwland, meine teure Machteld wird nun Eure eheliche Gemahlin. Der Segen des Allmächtigen komme über eure Häupter und verleihe euren Kindern die Tapferkeit ihres Vaters, die Tugenden ihrer Mutter. Ihr habt mehr verdient; aber es steht nicht in meiner Macht, Euch ein kostbareres Geschenk zu geben, denn das Kind, das der Trost und die Stütze meiner alten Tage werden sollte.“
Während Adolf von Danksagungen überfloß, schritt Robrecht eilig auf Gwijde zu.
„Lieber Bruder,“ sprach er, „ich will, daß diese Hochzeit so bald als möglich mit Pracht gefeiert und durch den Segen der Kirche bekräftigt wird; das ist mein inniger Wunsch. [389] Meine Herren, ich verlasse euch jetzt in der Hoffnung, bald frei und ungehindert für das Glück meiner treuen Untertanen wirken zu können. Ich ersuche euch alle, das Geheimnis von dem wahren Namen des goldenen Ritters aufs sorglichste zu wahren; mein Bruder Gwijde wird den Leuten der Abtei dies gleichfalls befehlen.“
Nach diesen Worten trat er zu Adolf und küßte ihn auf die Wange.
„Lebe wohl, mein Sohn,“ sagte er.
Und seine Machteld ans Herz drückend:
„Lebe wohl, geliebte Machteld. Weine nun nicht mehr über mich; ich bin glücklich, da das Vaterland gerächt ist, und ich werde nun bald zurück sein.“
Dann umarmte er noch seinen Bruder Gwijde, Wilhelm von Jülich und seine anderen Freunde, drückte allen bewegt die Hand und rief:
„Lebt wohl, lebt wohl, ihr alle, edle Söhne von Flandern, treue Waffenbrüder!“
Auf dem Vorhof legte er seine Rüstung an, stieg zu Pferde, ließ das Visier seines Helmes fallen und ritt zum Tor hinaus. Eine unübersehbare Volksmenge hatte sich davor versammelt; sobald sie des goldenen Ritters ansichtig wurde, teilte sie sich in zwei Reihen, um ihn durchzulassen, und begrüßte ihn mit jauchzenden Zurufen.
Wohl hundertmal schallte immer wieder der Ruf: „Heil dem goldenen Ritter! Sieg! Sieg! Unser Befreier!“ Sie winkten mit den Händen, um ihre Freude auszudrücken, und rafften die Erde aus den Hufspuren seines Pferdes wie ein Heiligtum auf. Ihnen schien, daß der heilige Georg, den man während des Kampfes in allen Kirchen von Kortrijk angerufen hatte, ihnen in dieser Gestalt zu Hilfe gekommen war. Daß der Ritter so langsam und schweigsam dahinritt, festigte sie noch in dieser Meinung, und manche fielen, während er vorbeiritt, ehrfurchtsvoll auf ihre Knie nieder. Lange folgten sie ihm [390] nach und schienen sich an seinem Anblick nicht sättigen zu können; denn je länger es dauerte, um so wundersamer erschien ihnen der goldene Ritter. Ihre Einbildung lieh ihm eine Gestalt, wie sie sich die Heiligen vorstellten.
Endlich gab er seinem Pferde den Sporn und verschwand wie ein Pfeil zwischen den Bäumen des Waldes. Das Volk versuchte, seines goldenen Harnisches noch zwischen dem Laube gewahr zu werden, aber vergebens; das Roß hatte seinen Herrn bereits weit aus dem Bereich ihrer Augen entführt. Da sahen sie denn einander an und sprachen traurig:
„Er ist in sein himmlisches Vaterhaus zurückgekehrt!“
bis zur Befreiung Robrechts van Bethune, des dreiundzwanzigsten Grafen von Flandern.
V on den sechzigtausend Mann, die von Philipp dem Schönen ausgesandt waren, um Flandern zu verwüsten, entkamen nur etwa siebentausend, die in aller Eile auf verschiedenen Wegen den französischen Boden zu erreichen suchten. Gui von Saint-Pol hatte bei Rijssel fünftausend von ihnen gesammelt und glaubte, mit ihnen nach Frankreich zu gelangen, wurde aber von einem Teile des vlaemischen Heeres angegriffen und in blutiger Schlacht besiegt; fast alle seine Leute fanden daselbst den Tod, der sie in den früheren Kämpfen verschont hatte. Die excellente Cronike sagt uns, wie viele Franzosen in ihr Vaterland zurückgekehrt sind: ‚Und derer, die entkamen, waren wohl dreitausend Mann, der Rest des ganzen großen Heeres, das da versammelt gewesen war zum Untergang Flanderns; sie konnten die Märe überbringen von ihren Abenteuern, die so traurig waren.‘
Die ausgezeichnetsten Edlen, die tapfersten Ritter blieben vor Kortrijk; ihre Zahl war so groß, daß, wie die Geschichte erzählt, kein Schloß, keine Herrschaft in Frankreich war, da man nicht Trauer anlegte; überall flossen Tränen über den Tod eines Ehegemahls, eines Vaters oder Bruders, und das ganze Land hallte von Klagen wider. Die vlaemischen Feldherren trugen Sorge dafür, das die gefallenen Könige und die vornehmsten Lehnsherren in der Abtei von Groeningen begraben wurden, wie das ein Gemälde kündet, welches sich noch in der St.-Michaeliskirche zu Kortrijk befindet.
Außer den goldenen Gefäßen, kostbaren Stoffen und reichen Waffen fand man auf dem Schlachtfeld siebenhundert vergoldete Sporen; die wurden mit den eroberten Standarten am Gewölbe der Frauenkirche zu Kortrijk aufgehängt, und [392] danach wurde dieser Kampf auch die ‚Schlacht der goldenen Sporen‘ genannt. Auch einige tausend Pferde fielen in die Hände der Vlaemen, die in den folgenden Kämpfen großen Vorteil davon hatten. Vor dem Genter Tor, unweit von Kortrijk, hat man 1831 mitten auf dem ehemaligen Schlachtfeld eine Kapelle zu Ehren Unserer lieben Frau von Groeningen erbaut. Auf dem Altar sind die Namen der gefallenen französischen Feldherren zu lesen, und einer der goldenen Sporen hängt in der Mitte des Gewölbes. In Kortrijk wird dieser frohe Tag jedes Jahr durch ein öffentliches Volksfest gefeiert. Daran schließt sich ein Jahrmarkt, den man Vergaderdag (Versammlungstag) nennt. Jedes Jahr im Monat Juli ziehen die armen Leute von Haus zu Haus und erbetteln alte Kleider, um sie zu verkaufen, so wie man es im Jahre 1302 mit der reichen Beute getan hat; von einem Geiger begleitet, ziehen sie dann zum Potterberg, dem alten Lagerplatz der Franzosen, und erlustigen sich bis zur Tagesneige.
Die Nachricht von der Niederlage des Heeres versetzte den französischen Hof in tiefe Trauer; Philipp der Schöne entbrannte in Wut wider seine Gemahlin Johanna, deren Bosheit an diesem Unheil schuld war. Er machte ihr das mit bitteren Worten zum Vorwurf, so wie es uns Lodewijk van Velthem, ein Dichter, der in jener Zeit lebte und damals seine Reimchronik schrieb, erzählt. –
Der Magistrat von Gent, dem nur Leliaerts angehörten, vermeinte, Philipp der Schöne werde eiligst ein neues Heer nach Flandern senden. Deshalb wollte er die Tore nicht öffnen, um die Stadt so lange als möglich den Franzosen zu erhalten. Doch er wurde bald von den Gentern selbst für diese verräterische Absicht bestraft. Das Volk griff zu den Waffen, der Magistrat und alle Leliaerts wurden ermordet. Die vornehmsten Bürger überbrachten dem jungen Gwijde die Schlüssel der Stadt und gelobten ihm ewige Treue. Inzwischen kam Johann, Graf von Namur, der Bruder Robrechts van Bethune, [393] nach Flandern und übernahm die Regierung; er sammelte schnell ein neues, noch mächtigeres Heer, um den Franzosen widerstehen zu können. Ohne seinen Scharen lange Ruhe zu gönnen, zog er nach Rijssel, das sich nach einigen Stürmen ergab; von dort eilte er nach Douai, nahm auch diese Stadt ein und machte die Besatzung kriegsgefangen; die Stadt Kassel ergab sich ebenfalls. Nachdem er den Franzosen noch einige andere feste Plätze abgenommen hatte und sah, daß keine neuen Feinde aus Frankreich heranrückten, sandte Johann von Namur den größten Teil seines Heeres nach Hause und behielt nur einige erlesene Scharen erfahrener Krieger.
Das Land war nun ruhig, und der Handel begann von neuem zu blühen; die verwüsteten Äcker wurden wieder besät, und es schien, als hätte Flandern neues Leben, neue Kraft bekommen. Man glaubte nicht ohne Grund, daß sich Frankreich nun die Lehre zu Herzen nehmen würde.
Philipp der Schöne hatte in der Tat keine Lust mehr, den Krieg von neuem zu beginnen; aber der Racheschrei, der sich in allen Teilen Frankreichs erhob, die Klagen der Ritter, deren Brüder vor Kortrijk gefallen waren, und vor allem die Hetzerei der rachsüchtigen Königin Johanna trieben ihn schließlich doch wieder zum Kriege. So versammelte er denn ein Heer von achtzigtausend Mann, darunter sich fast zwanzigtausend Reiter befanden; dennoch kam es bei weitem dem ersten an Wert nicht gleich, welches er verloren hatte. Denn es bestand zumeist aus Mietlingen oder zum Dienste gezwungenen Soldaten. Der Oberbefehl wurde König Ludwig von Navarra übertragen; der sollte, ehe er eine Schlacht lieferte, Douai und die anderen französischen Grenzfestungen den Händen der Vlaemen entreißen. Als dies Heer nach Flandern kam, schlug es zwei Stunden von Douai bei Vitry sein Lager auf.
Sobald man in Flandern vernahm, daß ein neues französisches Heer gesammelt worden war, lief durch das ganze Land der [394] Ruf: „Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ Noch nie sah man ähnliche Begeisterung; aus allen Städten, aus den kleinsten Dörfern kamen große Haufen Volkes mit allerart Waffen herbeigeeilt. Singend und jubelnd ging es dem Feinde entgegen, und Johann von Namur mußte viele zurücksenden aus Furcht, daß es an Lebensmitteln fehlen könnte. Diejenigen, die als Leliaerts bekannt waren, wollten ihr früheres Tun vergessen machen und baten flehentlichst, als Beweis ihrer Sinnesänderung ihr Blut für das Vaterland vergießen zu dürfen! Das wurde ihnen denn auch freudig zugestanden.
Unter dem Feldherrn Johann von Namur standen fast alle Ritter, die sich auch in der Schlacht vor Kortrijk ausgezeichnet hatten: der junge Gwijde, Wilhelm von Jülich, Jan van Renesse, Jan Borluut, Peter De Coninck, Jan Breydel und noch manch anderer. Adolf van Nieuwland war von seiner Krankheit noch nicht wiederhergestellt und konnte daher diesem Zuge nicht beiwohnen.
In zwei verschiedenen Abteilungen zogen die Vlaemen bis auf zwei Meilen dem Feind entgegen und nahmen dort Stellung. Nachdem sie hier kurze Zeit gelagert hatten, zogen sie weiter bis zur Skarpe, einem kleinen Fluß bei Flines. Täglich forderten sie die Franzosen zum Kampf heraus. Da aber weder die vlaemischen noch französischen Feldherren zum Kampf bereit schienen, so kam es zu keinem Ereignis. Der Grund zu dieser Ruhe war, daß Johann von Namur die Befreiung seines Vaters und Bruders bewirken wollte und deshalb Boten nach Frankreich gesandt hatte, um zu versuchen, ob man mit Philipp dem Schönen nicht Frieden schließen könne. Wahrscheinlich konnte man am französischen Hofe über die Bedingungen nicht einig werden, denn die Boten blieben aus, und man bekam nur ungünstige Antworten.
Das vlaemische Heer begann indes zu murren und wollte trotz des Verbots des Feldherrn mit den Franzosen eine Schlacht wagen; die Forderung der Truppen wurde schließlich so nachdrücklich, [395] daß Johann von Namur gezwungen war, über die Skarpe zu ziehen, um den Feind anzugreifen. Aus fünf Schiffen wurde eine Brücke über den Fluß geschlagen, und das vlaemische Heer zog singend hinüber, froh, daß es endlich zum Kampfe ging. Aber da kam eine zweideutige Nachricht aus Frankreich, die sie noch einige Tage zurückhielt. Am Ende wollten sich die Scharen durchaus nicht mehr halten lassen, und es gab schon bedenkliche Anzeichen von Aufruhr. Nun wurde alles zum Angriff bereit gemacht, und die Vlaemen zogen den Franzosen entgegen; die wollten jedoch keine Schlacht wagen, brachen ihr Lager eilig ab und zogen in Unordnung davon. Die Vlaemen fielen über die Fliehenden her und erschlugen ihrer eine große Zahl. In weiterem Vorstoß nahmen sie das Kastell Harne, wo der König von Navarra die Speicher für das Heer angelegt hatte. Die Vorräte, die Zelte und alles, was das französische Heer mitgebracht hatte, fiel in die Hände der Vlaemen. Danach ereigneten sich noch einige unbedeutende Gefechte, deren Ergebnis war, daß die Franzosen mit Schmach bedeckt bis tief nach Frankreich zurückgetrieben wurden.
Als die vlaemischen Feldherren sahen, daß kein Feind mehr im offenen Felde zu bekämpfen war, entließen sie einen Teil ihres Heeres und behielten nur so viel Leute, um die Besatzungen der französischen Grenzstädte am Rauben und Plündern hindern zu können.
Aus dem Städtchen Lessines, auf der Grenze von Hennegau, drangen täglich Haufen von Söldnern ins vlaemische Gebiet und richteten großen Schaden unter den Bewohnern des platten Landes an. Als Johann von Namur davon hörte, legte er sich mit einem Teil seiner Truppen davor und erstürmte, eroberte und verbrannte Lessines, das dem Grafen von Hennegau gehörte.
Inzwischen wandte sich Wilhelm von Jülich mit den Zünften von Brügge und Kortrijk nach Saint Omaar, um den Franzosen diese Stadt zu nehmen. Dort wurde er von der französischen [396] Reiterei, die bei weitem zahlreicher war als die seinige, mit Ungestüm angegriffen. Da er keinen Ausweg sah, stellte er seine Leute in einem Kreis auf und wehrte sich, bis es ihm die Finsternis gestattete, zurückzuweichen und so einer sicheren Niederlage zu entgehen. Einige Tage später kehrte Johann von Namur von Lessines zu Wilhelm zurück, so daß deren vereinigte Macht an die dreißigtausend Mann stark wurde. Sie griffen das französische Heer an, schlugen es in die Flucht und zerstreuten die feindlichen Scharen.
Jetzt begann man Saint Omaar zu bestürmen; alle Tage wurde die Stadt mit ungewöhnlichem Mute von verschiedenen Seiten angegriffen. Da jedoch die Besatzung sehr stark war, so wurden die Belagerer oft mit Verlust vieler Leute zurückgeschlagen; das hinderte sie aber nicht, Massen von Steinen über die Wälle zu werfen und die Häuser arg zu beschädigen. Auch viele Einwohner von Saint Omaar wurden in den Straßen durch die Steine getötet. Die Franzosen wurden um die Erhaltung der Stadt besorgt, und in der Absicht, einen kräftigen Versuch zu machen, ließen sie alle Bürger unter die Waffen treten. Dadurch bildeten sie eine ansehnliche Kriegsmacht, die sie in zwei Scharen teilten.
In der Nacht, da undurchdringliche Finsternis die Fluren bedeckte, schlichen sie insgeheim aus der Stadt, legten die eine Hälfte ihrer Truppen in ein dichtes Gebüsch zur Seite des vlaemischen Lagers, der andere Teil zog zur Feste Areques, das gleichfalls von den Vlaemen belagert wurde. Bei Sonnenaufgang begann der Angriff bei Arcques mit solcher Gewalt, daß die Vlaemen, die ganz überrascht waren, fliehen wollten; die Stimme ihrer Anführer gab ihnen jedoch den Mut wieder, sie trieben die Franzosen zurück, und der Sieg schien sich ihnen zuzuneigen, als sie plötzlich eine große Reiterschar im Rücken angriff. Die warf beim ersten Stoß mehrere Glieder über den Haufen und trieb die Vlaemen nach hartnäckigem Kampf auseinander und in die Flucht.
Der andere Teil des vlaemischen Heeres wurde unvermutet von den in dem Gehölz verborgenen Soldaten angegriffen. Er stellte sich schleunigst in Schlachtordnung auf und zog sich langsam zurück. Vielleicht würden die Vlaemen ohne große Verluste davongekommen sein, wenn nicht ein beklagenswertes Unglück ihre Niederlage verursacht hätte. Als sie an den Aafluß gekommen waren, betraten sie in so großer Anzahl und so dicht gedrängt die Brücke, daß diese das Gewicht der vielen Menschen nicht mehr tragen konnte und mit furchtbarem Krachen in den Fluß stürzte. Das Geschrei und die Klagen der Verwundeten, die in das Wasser fielen, jagte den vlaemischen Scharen, die noch vor dem Flusse standen, argen Schrecken ein. Ohne auf die Stimme ihrer Anführer zu hören, wandten sie sich zur Flucht und liefen in völliger Auflösung vom Schlachtfeld. Diese Niederlage kostete den Vlaemen fast viertausend Mann.
Als Johann von Namur und Wilhelm von Jülich merkten, daß der Feind ihr verlassenes Lager plünderte, und dadurch aufgehört hatte, sie zu verfolgen, da sammelten sie die Flüchtlinge, so gut sie konnten, hielten ihnen die Schmach dieser Niederlage vor Augen und riefen in ihnen den Wunsch nach schleuniger Rache wach. Dann kehrten sie zum Feinde zurück, überraschten ihn, als er eben damit beschäftigt war, das Lager zu plündern, und warfen sich unversehens mit großem Geschrei über ihn her. Die meisten Plünderer wurden erschlagen und die anderen in die Stadt getrieben; so behielten die Vlaemen den Sieg des Tages.
Während man gegen Frankreich einen langwierigen und wenig erfolgreichen Krieg führte, war Seeland durch den Tod seines letzten Fürsten herrenlos geworden. Wilhelm von Hennegau wollte dies Land in Besitz nehmen, indem er vorgab, daß es ihm durch Erbrecht zugehöre. Die Söhne des Grafen von Flandern erhoben gleichfalls Anspruch darauf. Johann von Namur rüstete schleunigst eine Flotte aus und landete mit [398] einem vlaemischen Heer auf der Insel Katsand; nach einem unbedeutenden Gefecht wandte er sich nach Walchern und stieg bei Vere, das sich ergab, ans Land. Wilhelm von Hennegau hatte gleichfalls ein Heer aufgebracht und kam damit nach Seeland, wo er Johann von Namur eine Schlacht anbot. Die Vlaemen besiegten ihn in einem furchtbaren Kampf und trieben ihn bis Arnemuiden in die Flucht. Wilhelm von Hennegau, der dort frische Hilfstruppen fand, sammelte sein zerstreutes Heer und zog aufs neue wider die Vlaemen. Aber dieses Mal war seine Niederlage nur noch schrecklicher: er sah sich gezwungen, auf die Insel Schouwen zu flüchten. Kurz darauf eroberten die Vlaemen die Stadt Middelburg und viele andere Ortschaften. Das nötigte Wilhelm von Hennegau zu einem Waffenstillstand, durch den der größte Teil von Seeland an Flandern abgetreten wurde.
Philipp der Schöne sammelte inzwischen ein anderes mächtiges Heer, um sich für die Niederlage bei Kortrijk zu rächen. Er gab den Oberbefehl darüber Walter de Châtillon und gab ihm den Auftrag, bei seiner Ankunft in Flandern alle Besatzungen aus den Grenzstädten an sich zu ziehen, wodurch sein Heer weit über hunderttausend Mann stark werden mußte.
Philipp, einer der Söhne des alten Grafen von Flandern, der in Italien die Grafschaften Tyetta und Lorette geerbt hatte, hörte nicht sobald von dieser neuen Heeresbildung, als er mit einigen Hilfstruppen nach Flandern eilte, und dort von seinen Brüdern zum Oberbefehlshaber erwählt wurde. Mit dem Heere, das in Seeland gekämpft hatte, und noch einigen anderen Truppen brachte er seine Macht auf fünfzigtausend Mann, zog bis Saint-Omaar, um die Franzosen zu erwarten, und überrumpelte die Feste Arcques. Die feindlichen Heere gerieten bald aufeinander. In den beiden ersten Tagen fanden einige kleine Gefechte statt, in denen Pierre de Courtrenel, einer der französischen Feldherren, mit seinen Söhnen fiel und die Franzosen viele Leute verloren. Von Furcht ergriffen, wagte es [399] Walter de Châtillon nicht, eine allgemeine Schlacht zu liefern. Er zog nachts mit seinem Heere nach Utrecht, und zwar so heimlich, daß die Vlaemen, die nichts von diesem Abzuge gemerkt hatten, am anderen Morgen ganz erstaunt waren, als sie nicht einen einzigen Franzosen mehr erblickten. Philipp benützte den Rückzug des Feindes, stürmte und nahm die Städte Terwanen, Lens, Lillers und Bassee. Zur Rache für die Greuel, die von den Franzosen vor der Schlacht bei Kortrijk in Flandern verübt worden waren, wurde die ganze Gegend durch die Vlaemen verwüstet und geplündert. Mit reicher Beute beladen, kehrten sie nach Flandern zurück.
Der König von Frankreich hatte sich durch so viele Niederlagen überzeugt, daß es ihm unmöglich sein würde, Flandern durch die Gewalt der Waffen zu gewinnen. Daher sandte er Amadeus von Savoyen als Friedensunterhändler zu dem vlaemischen Feldherrn Philipp. Die Kinder des gefangenen Grafen wünschten nichts sehnlicher, als die Befreiung ihres Vaters Gwijde und ihres Bruders Robrecht zu erlangen. Sie waren gern zum Frieden mit Frankreich bereit und nahmen dafür selbst ungünstigere Bedingungen hin. So wurde ein Waffenstillstand geschlossen, bis der Vertrag von beiden Seiten angenommen wäre.
Der war am französischen Hof aufgesetzt worden und enthielt verschiedene, für Flandern höchst nachteilige Punkte. Dennoch hoffte Philipp der Schöne, die Annahme durch List zu erreichen. Er ließ den achtzigjährigen Grafen von Flandern aus seiner Gefangenschaft zu Compiègne nach Flandern gehen und nahm ihm sein Ehrenwort ab, daß er im Monat Mai des künftigen Jahres in seinen Kerker zurückkehren würde, wenn er die Annahme des Vertrags, so wie ihn der französische Hof aufgestellt, nicht erreichen könnte.
Der alte Graf wurde von seinen Untertanen prunkvoll empfangen und nahm auf dem Schlosse Wijnendaal Wohnung. Als er aber die Bedingungen des Friedens mit Frankreich vorgelegt [400] hatte, wurden sie von Grund auf von den Städten verworfen. Der alte Graf hoffte allerdings, mit der Zeit ihre Annahme zu erlangen.
Als der Waffenstillstand mit Wilhelm von Hennegau abgelaufen war, vernahm der Graf, daß ein holländisches Heer aufgeboten sei, um Seeland zu nehmen; in aller Eile wurden deshalb Jan van Renesse und Florenz von Borseele ausgesandt, diesen neuen Feinden entgegenzutreten. Die Vlaemen besiegten die holländische Flotte in einer Seeschlacht, darin die Holländer und Hennegauer mehr als dreitausend Mann und all ihre Schiffe verloren. Der Bischof von Utrecht, der Feldherr der Utrechtschen Scharen, wurde gefangengenommen und nach Wijnendaal in Gewahrsam gebracht. In derselben Schlacht fielen Wilhelm van Horn, Dietrich van Harlem, Dietrich van Zulen und Suederus van Beverenweerdt. Die Vlaemen zogen siegreich durch ganz Nordholland und eroberten fast alle Städte, außer Harlem, das sich hartnäckig wehrte. Die vornehmsten Bürger von Nordholland wurden als Geiseln gefangen nach Gent gebracht.
Während der Graf von Hennegau das Feld räumte und Holland den Vlaemen überließ, erhob sich in Dortrecht ein tapferer Mann, namens Niklas van den Putte; der wollte sein Vaterland befreien, sammelte einige Kriegerscharen, überfiel mit ihnen eine Abteilung Vlaemen und erschlug in einem Gefecht fast zweitausend. Von einer anderen Seite brachte auch Witte van Haemstedde, gleichfalls ein tapferer Mann, viele Krieger zusammen und machte kurz darauf einen Teil des vlaemischen Heeres, dem er bei Hillegom begegnete, bis auf den letzten Mann nieder. Diese einzelnen Gefechte änderten wenig den Stand der Dinge in Seeland und verhinderten nicht, daß die Belagerung von Zierikzee fortdauerte.
Unterdessen kam das Ende des Waffenstillstandes mit Frankreich heran, und alles kündete einen neuen Krieg an. Der Friede hatte nicht zustande kommen können, weil die Bedingungen [401] für die Vlaemen unannehmbar waren. Am letzten Tage des Monats April kehrte der alte Gwijde krank und schwach gleich einem zweiten Regulus nach Frankreich in die Gefangenschaft zurück.
Philipp der Schöne hatte während des Waffenstillstandes alles nur mögliche getan, um ein ungeheures Heer zusammenzubringen. In allen Landen waren für seine Rechnung Hilfstruppen geworben und dem Volk verschiedene neue Abgaben aufgezwungen worden, damit die Kosten dieses Krieges bestritten werden konnten. Der König selbst kam gegen Ende Juni an die vlaemische Grenze. Obgleich er über die größte Kriegsmacht gebot, die Frankreich je besessen hatte, so segelte doch noch eine zahlreiche Flotte unter Reinier Grimaldi von Genua zur vlaemischen Seeküste, um den jungen Gwijde und Jan van Renesse, die in Seeland waren, in Schach zu halten.
Philipp von Flandern hatte inzwischen auch einen Aufruf im Land erlassen und viele Kriegsscharen um seine Fahnen versammelt; er zog mit ihnen dem französischen Heer entgegen, um Philipp dem Schönen eine Schlacht anzubieten. Beide Lager befanden sich so dicht nebeneinander, daß sie im anderen die flatternden Banner erblicken konnten. Am ersten Tage fand nur ein kleines Gefecht statt, in dem der französische Anführer Genuilla mit all seinen Leuten erschlagen wurde. Ungeduldig und kampfbegierig stellten sich die Vlaemen am anderen Tag in Schlachtordnung auf und rüsteten sich zu einem gewaltigen Angriff. Als die Franzosen aber das merkten, zogen sie sich eiligst nach Utrecht zurück und überließen ihr Lager den Vlaemen, die große Beute machten und alle Werke, welche die Franzosen errichtet hatten, schleiften oder zerstörten. Die Stadt Bassee wurde von ihnen zum zweiten Male erobert und die Vorstädte der Stadt Lens niedergebrannt.
Philipp der Schöne wollte nun Flandern vom Hennegau aus angreifen und zog mit seinem Heere nach Doornick. Aber schon am ersten Tage nach seiner Ankunft standen ihm die Vlaemen [402] gegenüber. Es lag nicht in seiner Absicht, eine Schlacht anzunehmen, ehe er wußte, was seine Flotte in Seeland ausgerichtet hatte. Um nicht handgemein zu werden, brach er fast jede Nacht sein Lager ab und zog, stets von den Vlaemen verfolgt, kreuz und quer durchs Land.
Am 10. August 1304 fand endlich die Seeschlacht zwischen den beiden Flotten statt. Das Gefecht dauerte zwei Tage, vom Morgen bis zum Abend. Am ersten Tag war das Kriegsglück auf seiten der Vlaemen, und vielleicht würden sie den vollen Sieg errungen haben: aber ihre Schiffe waren des Nachts auf eine Sandbank festgetrieben worden, und so wurden sie am anderen Tage von den Franzosen unter dem berühmten Admiral Renier Grimaldi geschlagen. Ihre Schiffe wurden verbrannt, und der junge Gwijde fiel mit vielen anderen Rittern in die Hände der Feinde. Jan van Renesse, der mutige Seeländer, der mit wenigen Leuten Utrecht bewachte, wollte die Stadt verlassen und bestieg einen Nachen, um über die Leck zu fahren; doch das Schiff hatte zu schwer geladen, sank mitten im Fluß, und der edle Ritter Jan fand ein klägliches Ende – er ertrank. Als die Vlaemen dieses Unglück von den Flüchtigen erfuhren, betrauerten sie ihn mit schmerzlichen Klagen und schwuren, ihn nicht ungerächt zu lassen.
Als die Nachricht von dem Ausgang der Seeschlacht in das französische Lager kam, befand sich dies bei Rijssel auf dem Peuvelberg. Philipp der Schöne gab die Stellung, obgleich sie günstig war, auf und bezog etwas abseits eine andere, während jene unmittelbar nachher von den Vlaemen besetzt wurde. Die wollten die Schlacht nicht länger hinausschieben. Es war den Feldherren unmöglich, sie noch länger zurückzuhalten. So stellten sie sich also in Schlachtordnung, um den Feind anzugreifen. Als Philipp der Schöne das sah, sandte er einen Boten mit Friedensvorschlägen; aber die Vlaemen wollten nichts davon hören und schlugen den Boten tot.
Kurz darauf fielen sie mit furchtbarem Geschrei und donnerndem [403] Hurra über die Franzosen her, die verwirrt und erschreckt durcheinander liefen. Beim ersten Ansturm wurden die vordersten Glieder über den Haufen geworfen und erschlagen. Das vlaemische Heer kämpfte mit noch größerer Erbitterung als in der Schlacht bei Kortrijk; und die Franzosen konnten ihnen nur schwachen Widerstand bieten, obzwar sie mit gleichem Mute fochten. Philipp von Flandern und Wilhelm von Jülich drangen durch alle feindlichen Scharen hindurch bis zu König Philipp dem Schönen, der dadurch in großer Gefahr schwebte. Seine Leibwache rund um ihn wurde niedergemacht; und er wäre sicherlich auch gefangen oder getötet worden, wenn man ihm nicht seinen Mantel und die anderen Abzeichen seiner Würde genommen hätte. Derart unkenntlich gemacht, entkam er; er hatte nur eine leichte Wunde durch einen eisernen Pfeil erhalten. Das französische Heer wurde vollständig in die Flucht geschlagen, und die Vlaemen errangen einen entscheidenden Sieg.
Selbst das französische Kronbanner (die Oriflamme) wurde in Stücke gerissen, wie die Chronik von Flandern es berichtet.
In dieser Schlacht verlor Wilhelm von Jülich das Leben. Die Vlaemen waren bis zum Abend damit beschäftigt, des Königs Zelt und all die anderen Kostbarkeiten zu erbeuten. Dann kehrten sie nach dem Peuvelberg zurück, um sich etwas zu erquicken. Da sie jedoch hier nichts fanden, brachen sie nach Rijssel auf. Am anderen Tage kehrten alle in ihre Heimat zurück. Diese Schlacht wurde am 15. August 1304 geliefert.
Vierzehn Tage später kam Philipp der Schöne mit einem neuen Heere nach Flandern, um Rijssel zu belagern. Die vlaemische Bürgerschaft schloß ihre Läden und griff einmütig zu den Waffen; Philipp von Flandern ließ sie alle bei Kortrijk zusammenkommen und zog einige Tage darauf gen Rijssel, den Franzosen entgegen. Als Philipp der Schöne ihre gewaltige Menge sah, rief er erstaunt aus: „Mich dünkt, Flandern speit oder regnet Krieger.“
Da er keine Niederlage mehr wagen durfte, machte er nach einigen kleinen Gefechten Friedensvorschläge. So kam ein Waffenstillstand zustande, und die Unterhandlungen begannen. Es dauerte aber lange, ehe die Bedingungen von beiden Seiten angenommen wurden.
Unterdessen starb der alte Graf Gwijde zu Compiègne in seinem Gefängnis; Johanna von Navarra folgte ihm bald in den Tod.
Schließlich wurde zwischen Philipp von Flandern und Philipp dem Schönen der Friede geschlossen und unterzeichnet. Robrecht van Bethune mit seinen Brüdern Wilhelm und Gwijde und all den anderen gefangenen Rittern kamen frei und konnten in ihr Vaterland zurückkehren. Das Volk war mit den Bedingungen des Friedens nicht zufrieden und nannte ihn einen Bund der Ungerechtigkeit. Dies Mißvergnügen führte aber zu keinen weiteren Folgen.
Als Herr Robrecht van Bethune nach Flandern kam, wurde ihm ein ungewöhnlich prächtiger Empfang bereitet und als Grafen gehuldigt. Er lebte noch siebzehn Jahre, hielt die Ehre und den Ruhm Flanderns aufrecht und entschlief im Herrn am 18. September 1322.
D ie Geschichte Belgiens ist die Geschichte von erbitterten Kämpfen des Germanentums gegen romanischen Vordrang, romanische Herrschsucht. Einst waren es die Römer, denen sich das Volk Flanderns unterwerfen mußte, später die Welschen, die romanisierten Franken, die in steten Kämpfen ihre Macht über Belgiens Lande auszudehnen strebten und trotz häufiger schwerer Niederlagen Fetzen auf Fetzen an sich rissen. Auch in den Zeiten, da der Kriegslärm zu ruhen schien, ging der Kampf weiter: dann waren es Sprache und Kultur, die widereinander stritten und das erbitterte Ringen fortsetzten. In dem Maße, als Belgien, als die deutschen Vlaemen den Anschluß an den großen germanischen Bruderstamm verloren, in demselben Maße wurde es dem französischen Einfluß möglich, Boden zu gewinnen. Die Erkenntnis dieser bedrohlichen Fortschritte führte zu der vlaemischen Sprachbewegung, die hauptsächlich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewann und das völkische Gewissen der Belgier wachzurütteln strebte.
Einer der erfolgreichsten Vertreter dieser Bewegung wurde Hendrik Conscience, der, am 3. Dezember 1812 geboren, nach Beendigung seiner militärischen Dienstzeit 1836 entschieden für das Vlaementum Stellung nahm. Gleich sein erster Roman „In't wonderjaer 1566“, den er, als ersten der neuen vlaemischen Literaturperiode, 1837, schrieb, erregte gewaltiges Aufsehen. Ihm folgte im nächsten Jahr als zweiter der „Löwe von Flandern“, der die goldene Sporenschlacht verherrlicht. Von da an war die Stellung des Dichters in seinem Vaterlande gesichert: angesehene Stellungen, ein Jahresgehalt aus der Schatulle des Königs lohnten seine verdienstvolle Tätigkeit und erlaubten ihm, sorgenlos seine dichterische Tätigkeit fortzusetzen und jene gewaltige Reihe von Romanwerken zu vollenden, die in den langen Jahren bis zu seinem Tode (1883 zu [406] Brüssel) erschienen und in immer gleichem Maße von seinen Landsleuten freudig und dankbar anerkannt wurden. Bis zu welchem Grade er sich dem deutschen Brudervolke nahestehend fühlte, beweist der Umstand, daß er, der einen französischen Namen trug, besonders auf die Verbreitung seiner Werke in Deutschland bedacht war und deshalb die von 1846 bis 1884 in Münster erschienene Gesamtausgabe seiner Werke in deutscher Sprache selbst sorglich durchsah.
Denn es sind ja deutsche Kämpfe, deutsche Helden, von denen seine Werke handeln, so wie der Geist und die Art, die aus dem „Löwen von Flandern“ zu uns spricht, deutsch ist, trotz mancher Züge, die uns etwas zu kraß anmuten. Aber man muß das Wesen eines Grenzstammes anders werten als das der Kernbevölkerung, die den Grenzkämpfen zumeist entrückt bleibt. Die Erbitterung immerwährenden Ringens verleiht dem Volkscharakter eine trotzige Härte, die zur Roheit ausarten kann und unverständlich bleibt, wenn man sie nicht aus der geschichtlichen Stellung des betreffenden Volkes heraus wertet. Um so mehr aber kann man stolz sein auf die glühende Vaterlandsliebe, auf die rückhaltlose Aufopferungsfähigkeit, die zähe Treue und die heldenhafte Kraft, die aus all diesen Kämpfen hervorleuchten und eines Deutschen würdig sind. Mit Schmerzen denkt man daran, daß es unlängst eine Zeit gegeben hat, da sich durch welschen Einfluß und lügenhafte Verhetzung auch Angehörige dieses deutschen Stammes gegen ihre deutschen Brüder wandten und mit allen Vorzügen und Fehlern ihres Wesens auf der Seite ihrer Unterdrücker für eine Freiheit fochten, die von Deutschland niemals bedroht war. Es ist wohl eine Fügung des Schicksals, daß der gewaltige Krieg der Gegenwart auch in Belgien eine Entscheidung zugunsten des Germanentums herbeiführte in dem Augenblick, da der Vordrang des Franzosentums in diesem Lande übermächtig geworden war und schon sicher auf seinen Sieg vertraute. Nun können Vlaemen und Deutsche gemeinsam jener heldenhaften Zeiten [407] gedenken, die der „Löwe von Flandern“ zurückzaubert, die Zeiten jenes Ringens, dessen Höhepunkt die goldene Sporenschlacht bildete, die Zeiten, da schlichte Männer aus dem Volke wider den hochmütigen französischen Adel stritten und durch ihre glühende Vaterlandsliebe die Eroberungslust ihrer westlichen Nachbarn zunichte machten. Auch wenn einst das große Weltenringen zu Ende sein wird und die dadurch erweckte seelische Erhebung nachgelassen hat, wird Consciences „Löwe von Flandern“ eines der Werke bleiben, das immer wieder mit flammenden Worten zu Felde zieht gegen materialistische Überschätzung irdischen Wohllebens und kaufmännischer Erfolge und für die idealen Aufgaben und Ziele der Deutschen eintritt.
[1] Eine kleine Stadt in Westflandern.
[2] Karl, der zweite Sohn Philipps des Kühnen, war Graf von Valois, von Alençon und von Perche. Er empfing von seinem Bruder Philipp dem Schönen, König von Frankreich, den Oberbefehl über die französische Armee und eroberte Flandern.
[3] Breydel war Hauptanführer der Schlächter in Brügge.
[4] Fallgatter.
[5] Schloß Wijnendaal ist nun verfallen. Es liegt in der Nähe eines Dorfes gleichen Namens bei Thourout in Westflandern.
[6] Guy van Dampyere, der Sohn des alten Wilhelm van Dampyere, war der vierundzwanzigste Graf von Flandern. (Dits die excellente Cronike van Vlaenderen.)
[7] „Robrecht van Nyvers (auch van Bethune) hat der heiligen Kirche große Dienste erwiesen; so hat er in Apoelghen Meinfoort, den stolzen Feind der heiligen Kirche, erschlagen.“ (Die excellente Cronike). Die Tatsache, auf die dieser Satz anspielt, ist folgende:
Karl von Anjou, König von Sizilien, wollte gegen Manfred, der dieses Königreich gegen den Willen des Papstes besaß, in den Krieg ziehen. Er bildete ein französisches Heer aus etwa 20 000 auserlesenen Kriegern und übergab den Oberbefehl an Robrecht van Bethune, der damals achtzehn Jahre alt war. Bald darauf nahm Karl von Anjou den jungen Konradin, den Enkel des deutschen Kaisers Friedrich, gefangen. Karl, der sich von einem so hochgestellten Feind befreien wollte, beschloß, ihn zum Tode verurteilen zu lassen. Sismonde von Sismondi (Histoire des républiques italiennes) sagt darüber: „Ein einziger Richter sprach das Todesurteil, und der junge Konradin wurde auf das Schafott gebracht, um enthauptet zu werden. Der Richter, der Konradin zum Tode verurteilt hatte, las das Urteil gegen ihn vor, das ihn als Verräter der Krone und Feind der Kirche bezeichnete. Er war gerade damit zu Ende und sprach das Todesurteil aus, als Robrecht von Flandern, der eigene Schwager von Karl von Anjou, auf den falschen Richter zustürzte, ihm seinen Degen in die Brust stieß und rief: „Es steht Euch nicht zu, Elender, einen so edlen und schönen Herrn zum Tode zu verurteilen.“ Der Richter starb in Gegenwart des Königs, und dieser durfte seinen Günstling nicht rächen.“ – Noch andere Taten beweisen, daß Robrecht von einem wunderbaren Mut beseelt war, so daß man von ihm sagen konnte: ein Löwenherz schlägt in seiner eisernen Brust.
[8] Schön ist der Tod fürs Vaterland.
[9] Enguerrand de Marigny , ein normannischer Edelmann, wurde unter Philipp dem Schönen Palastleiter vom Louvre und den öffentlichen Bauten und Finanzminister. Er mißbrauchte seine Gewalt, verschwendete die Gelder des Reiches, verfälschte die Münzen und verarmte das Volk durch Auflegung willkürlicher Lasten.
[10] Johanna war die einzige Tochter Heinrichs I., Königs von Navarra; sie erbte dieses Königreich von ihrem Vater und wurde dadurch eine der reichsten Fürstinnen ihrer Zeit. Sie vermählte sich mit Philipp dem Schönen und vereinigte durch diese Heirat zwei Kronen auf ihrem Haupte.
[11] Die Schlacht wurde am Freitag, dem 26. Februar 1266, geschlagen. Manfred verlor in ihr Krone und Leben. (Sismonde de Sismondi.)
[12] Der Graf Gwijde lag mit dem Heiligen Ludwig, König von Frankreich, im Kampf gegen die Sarazenen.
[13] In früheren Zeiten gebrauchte man oft Steine zum Heilen von Krankheiten; man schrieb ihnen übernatürliche Kraft zu. Der Stein, den man im Neste eines Adlers gefunden hatte, wurde als bestes Heilmittel angesehen.
[14] Hutin = Zänker.
[15] „Der Graf Gwijde hatte bereits im Jahre 1295 mit dem König von England ein Bündnis geschlossen, worin unter anderem eine Heirat zwischen dem Prinzen von Wales und der Tochter des Grafen von Flandern festgesetzt war.“ (Jahrbücher von Brügge.)
[16] Leliaert = Lilienverehrer. Vgl. das Wappen des französischen Herrscherhauses.
[17] Zu dieser Zeit wurden die französisch gesinnten Vlaemen Leliaerts genannt, wogegen die Freunde des Grafen und der Unabhängigkeit des Landes unter dem Namen Klauwaarts bekannt waren; dies bezog sich auf die Klauen, womit der Löwe von Flandern die Lilien zu bedrohen schien. (Voisin, Notice sur la bataille de Courtrai.)
[18] Ein Dorf in geringer Entfernung von der Stadt Brügge. Es war dort eine berühmte Kapelle zum heiligen Kreuze.
[19] Die Zünfte hatten besondere Gebäude, wo sie sich versammelten und ihr Festgerät, wie Standarten usw., bewahrten. Dies nannte man „Pand“.
[20] Sprich: Gutentags. – Die Vlaemen hatten eine fürchterliche Waffe, die sie mit großer Behendigkeit zu gebrauchen wußten. Es waren lange Speere, mit einer eisernen Spitze versehen. Sie hatten sie aus Scherz „Goedendags“ genannt, was so viel bedeutete, als daß sie den Feind damit tüchtig begrüßen konnten.
[21] Wenn die Brügger kamen, um ihre Steuern zu bezahlen, wurden sie von den französischen Beamten barsch angefahren. Sie nannten die Scheltworte: „de Snakkers“. Die Brücke, an der das Zollhaus stand, heißt noch heute die „Snaggaartsbrücke“.
[22] In dieser Zeit bezeichnete man das französische Volk mit dem Namen „Walen“. Diese Bezeichnung ist aus dem französischen Wort „Gaulois“ gebildet worden. Anscheinend haben die Walen ihren Namen auf diese Weise erhalten. Jakob von Maerlant, ein Dichter des 13. Jahrhunderts, nennt die französischen Dichter „welsche, falsche Poeten“.
[23] Als Philipp seinen Einzug in Brügge hielt, verwunderte er sich darüber, daß ihn die Einwohner ohne jedes Zeichen von Freude empfingen. (Brügger Jahrbücher.)
[24] Dies war der Platz vor dem Rathause, von welchem man zu dem Volke sprach (rostra).
[25] „De Coninck blieb nicht lange eingekerkert, denn er wurde noch am gleichen Tage durch die Waffengewalt der Stadtgemeinde in Freiheit gesetzt.“ (Vgl. Brügger Jahrbücher.)
[26] Man fing in der Tat mit dem Bau des Kastells dort an, wo jetzt die Wassermühlen stehen; jedoch wurde er nicht vollendet.
[27] Ein Weiler bei Brügge.
[28] Der vlaemische Text enthält eine doppelte Form für diesen Namen: ‚Mortenay‘ und ‚Montenay‘.
[29] „Und sie kamen überein, daß sie sich am nächsten Morgen in aller Frühe, noch vor Sonnenaufgang, bei Sinte-Kruiskercke bei Brügge gut gewappnet und mit allem Nötigen versehen versammeln wollten.“ (Die excellente Chronike.)
[30] Flandern der Löwe! Was welsch (französisch) ist, ist falsch! Schlagt alle tot!
[31] Es gab vier edle Geschlechter in Flandern, deren Häupter jedesmal den Namen ‚Beers‘ trugen; wenn das Grafengeschlecht ausstarb, wurde der neue Fürst aus einer dieser Familien gewählt.
[32] Die Geschichtschreiber machen die verschiedensten Angaben über die Stärke der französischen Macht. Wir haben den Durchschnitt der verschiedenen Zahlen gegeben.
[33] Das waren scharfe, schwere Wurfgeschosse, die man bei der Belagerung von Städten und Burgen gebrauchte.
[34] Adela, die Tochter Rudolfs von Nesle, war mit Wilhelm van Dendermonde, einem der Söhne des alten Grafen von Flandern, verheiratet.
[35] Französische Provinzen.
[36] Französische Provinzen.
[37] Der Platz, der hier die „Bittermeersch“ genannt wird, erhielt später den Namen „Blutmeersch“, zum Andenken an das Blut, das hier vergossen wurde.
Anmerkungen zur Transkription:
Die Rechtschreibung des Originaltextes wurde beibehalten, ebenso unterschiedliche Schreibweisen wie Klauwaart und Klauwaert, Saint Kruis und Saint-Kruis etc. Es wurden einige Änderungen in der Zeichensetzung vorgenommen.
S. 28
: "ein Mittel, daß Eurer Tochter" wurde geändert in "ein Mittel, das Eurer Tochter"
S. 28
: "sollten unsere Bemühungen furchtlos bleiben" wurde geändert in "sollten unsere Bemühungen fruchtlos bleiben"
S. 38
: "o eilige Magd" wurde geändert in "o heilige Magd"
S. 57
: "antwortete Euguerrand" wurde geändert in "antwortete Enguerrand"
S. 62
: "Karl van Valois" wurde geändert in "Karl von Valois"
S. 101
: "furchbar nahe gegangen" wurde geändert in "furchtbar nahe gegangen"
S. 109
: "in ungestümen Drohungen und Scheltworte" wurde geändert in "in ungestümen Drohungen und Scheltworten"
S. 121
: "Die Weber und Fleischer verfolgtn" wurde geändert in "Die Weber und Fleischer verfolgten"
S. 153
: "Ich hoffe, mein Heer," wurde geändert in "Ich hoffe, mein Herr,"
S. 170
: "Breydel erfaßt ob ihres Spottes" wurde geändert in "Breydel erfaßte ob ihres Spottes"
S. 171
: "Furchbare Wut kochte" wurde geändert in "Furchtbare Wut kochte"
S. 192
: "mit erhobener Simme" wurde geändert in "mit erhobener Stimme"
S. 210
: "ist es nötig, das" wurde geändert in "ist es nötig, daß"
S. 216
: "nahm die Gelegenheit war" wurde geändert in "nahm die Gelegenheit wahr"
S. 235
: "Nur ein herzzeißendes" wurde geändert in "Nur ein herzzerreißendes"
S. 242
: "Pötzlich öffnete sich die Tür" wurde geändert in "Plötzlich öffnete sich die Tür"
S. 311
: "mein Herr ist angelangt" wurde geändert in "mein Heer ist angelangt"
S. 316
: "den ihn Machteld um den Hals gehängt hatte" wurde geändert in "den ihm Machteld um den Hals gehängt hatte"
S. 321
: "Line weitere Ritterschar" wurde geändert in "Eine weitere Ritterschar"
S. 328
: "davon will ich nichts hören?" wurde geändert in "davon will ich nichts hören!"
S. 329
: "unter seinen Harnisch hervorzog" wurde geändert in "unter seinem Harnisch hervorzog"
S. 331
: "Regnaulds von Trie" wurde geändert in "Renaulds von Trier" (vgl.
S. 320
)
S. 341
: "denn aldann werden mehr Franzosen" wurde geändert in "denn alsdann werden mehr Franzosen"
S. 357
: "Adolf von Nieuwland" wurde geändert in "Adolf van Nieuwland"
S. 366
: "Arnold von Oudenaarde" wurde geändert in "Arnold van Oudenaarde"
S. 368
: "und er anwortete" wurde geändert in "und er antwortete"
S. 407
: "die Zeiten jenes Ringes" wurde geändert in "die Zeiten jenes Ringens"
Das Inhaltsverzeichnis wurde nachträglich eingefügt.