Title : Deutscher Mondschein
Author : Wilhelm Raabe
Release date
: April 16, 2010 [eBook #32008]
Most recently updated: January 6, 2021
Language : German
Credits : Produced by Michael Wooff, with German from the original text, and his own translation
Produced by Michael Wooff, with German from the original
text, and his own translation
Deutscher Mondschein
Eine Erzählung von Wilhelm Raabe (1831-1910)
Erzählen wir ruhig und ohne alle Aufregung. Ich bin ein selbst für Deutschland außergewöhnlich nüchterner Mensch und verstehe es, meine fünf Sinne zusammenzuhalten. Außerdem bin ich Jurist, der Mann meiner Frau und der Vater meiner Söhne. Weder zur Zeit der Holunderblüte noch zur Zeit der Stockrosen, Sonnenblumen und Astern pflege ich mich sentimentalen oder romantischen Anwandlungen ausgesetzt zu fühlen. Ein Tagebuch führe ich nicht; aber sämtliche Jahrgänge meines Terminkalenders halten in meiner Bibliothek wohlgeordnet ihren Platz fest. Diese alles vorausgeschickt, teile ich mit, daß ich mich im Jahre 1867 auf ärztlichen Rat, der Seeluft und des Meerwassers wegen, auf der Insel Sylt befand und daß ich daselbst eine Bekanntschaft machte—eine ganz außerordentliche Bekanntschaft.
Selbstverständlich kann ich mich nicht dabei aufhalten, das oft Empfundene und noch häufiger Geschilderte und in Briefen oder durch den Druck Verbreitete von neuem durch eine schriftliche Wiedergabe meiner eigenen Erfahrungen und Gefühle zu berichtigen oder zu bekräftigen. Wogenschlag, Sandhafer und Sandroggen, Möwenflug und vor allem der Westwind machten auf jeden, der von einer deutschen Beamtenexistenz den Schweiß und den Staub abzuspülen hat, einen angenehmen, erfrischenden Eindruck. Sie verfehlten ihre Wirkung auch auf mich nicht, zumal da die Anstrengungen, die der erwähnten Erfrischung vorangingen, nicht gering waren.
Ich wohnte auf der Grenze der beiden Dörfer Tinnum und Westerland und hatte also, um zum Strande und in die heilige Salzflut zu gelangen, einen Weg von mindestens einer halben Stunde zurückzulegen. Ein nicht kürzerer Weg führte dann zu dem edlen Mann, der uns allmittäglich für einen soliden Preis von innen aus wieder auferbaute. Auf häuslichen Komfort oder gar Luxus mache ich als an Genügsamkeit gewöhnter deutscher Staatsdiener überhaupt keinen Anspruch. Da ich von meinen einundzwanzig Pfeifen sieben mit mir führte, würde ich mich selbst in einem Hünengrabe behaglich eingerichtet haben.
Gut—ich wohnte bei einem Bäcker, der seinen Backofen mit Strandholz, das heißt dem in den Strandauktionen von gestrandeten Schiffen erstandenen Gebälk und Sparren- und Balkenwerk heizte. Ich half ihm dann und wann, dieses Holz zu spalten, und fühlte mich hier gemütlich dadurch angeregt—daheim widme ich mich dem Geschäft mehr aus sanitätischen Gründen.
Daheim säge und spalte ich in meinen Mußestunden mein Brennholz, hier trieb ich Allotria oder studierte einige vorsichtigerweise im Gepäck mitgeführte Abhandlungen über die braunschweigische Erbfolge. In den Geschäftsstunden ging ich am Strande spazieren.
Bei einem solchen Badeaufenthalt zieht sich alles in die Länge. Zu Hause wandle ich jeglichen Tag und in jedem Wetter rund um die zu Spaziergängen eingerichteten Wälle meiner Amststadt; auf Sylt speiste ich, hielt eine Stunde auf einer Düne Siesta und lief dann geradeaus gen Norden den Strand entlang, manchmal bis zum Roten Kliff, jedoch gewöhnlich nur bis zu den Badehütten von Wenningstedt.
Da das Meer wie ein Waschweib beiderlei Geschlechts nichts bei sich behalten kann, sondern alles wieder auswirft, so waren diese Gänge nie ohne ihre Reize; denn wenn ich auch ein Mann der Prosa bin, so kann ich doch einen toten Seehund mit einer gewissen Melancholie vom Rücken auf den Bauch wenden und meine Gedanken dabei haben.
Gut—oder diesmal vielmehr: besser! Ich befand mich ungefähr drei
Wochen auf dieser lang von Süden nach Norden oder umgekehrt
hingestreckten Insel, als ich die zu Anfang meiner Relation erwähnte
Bekanntschaft machte.
Es war gegen Abend. Die Sonne war untergegangen, und ich kam—heute —vom Roten Kliff zurück, und zwar nicht wenig müde, denn die Ebbe hatte den Weg am Strande nach besten Kräften für alle auf Sylt anwesenden am Unterleib leidenden Patienten gangbar gemacht. Wenn man zehn Schritte lang auf ziemlich festgeschlagenem Sande wandelte, versank man während der nächsten zweihundert Schritte desto tiefer, und die Gattin, Tochter, Cousine oder Geliebte meiner Leser, die über diesen der Gesundheit so ungemein ersprießlichen Pfad graziös weggeglitten wäre, würde ich in der Tat gern einem Poeten zur lyrischen oder epischen Verwendung empfehlen, wenn mir ein solcher außer dem Kreisrichter Löhnefinke unter meinen Kollegen und sonstigen Freunden und Feinden bekannt wäre.
Ich sagte: die Sonne war untergegangen, und verbessere mich. Sie ging eben unter, als ich bei den Dünen, südlich von Wenningstedt, dem Riesenloch gegenüber, anlangte. Ein Blankeneser oder Cuxhavener Fischerboot verschwand mit ihr in den Nebeln des Meereshorizontes, und ein trübes Grau wurde aus dem erfreulichen und dem Auge so wohltätigen Grün des Wassers. Auch die gelbrote Färbung der Sandhügel zur Linken des gesunden, aber beschwerlichen Weges verschwand, und die graue Farbe gewann zur Linken wie zur Rechten die Oberhand. Das Dünengras fing an, in einem kühlern Winde zu lispeln; es war Abend geworden, und es war gegründete Aussicht vorhanden, daß es demnächst Nacht werde.
Stolpernd und trotz der Abendkühle in Schweiß gebadet, beschleunigte ich meine Schritte der abendliche Pfeife zu, als mir das Unerwartete passierte und ich den Kollegen Löhnefinke kennenlernte.
Jedermann, der den westlichen Strand der Insel Sylt kennt, weiß auch, wie schroff oft die Dünen gegen den sandigen Gesundheitspfad an der See abfallen, und an einer der schroffsten Stellen fiel mir der Kollege auf den Hals und setzte mich für alle Zeit meines Erdenwandels in Erstaunen: der geehrte Leser erlaube mir, daß ich mein Protokoll mit gewohnter Ruhe und ohne Aufregung weiterführe.
Ich befand mich, wie gesagt, dem Riesenloch gegenüber, und die Sonne hatte vor fünf Minuten Abschied genommen, als plötzlich auf der Höhe der Düne zur Linken, ungefähr siebenzig Fuß über meinem Kopfe, ein Mensch erschien, der unbedingt im eiligsten Laufe an dem Anhange anlangte, die Arme gegen den Abendhimmel emporwarf, dann sich niederkauerte und mit einem Male zu meinem haarsträubenden Grausen, den schroffen, fast senkrechten Hügel herab rutschte, schurrte, schoß!
Ehe der Ruf des halben Schreckens und ganzen Erstaunens, den ich ausstieß, verhallt war, saß der Mensch schon am Fuße der Düne im weichen Sande zwischen einem dorthin angespülten halbzertrümmerten Faß und einer zerbrochenen Schiffslaterne und sah mit weitoffenem, schreckensbleichem und doch zugleich zu einem offenbaren Grinsen sich verziehendem Munde mich, den Herbeieilenden, an und rief, schrie oder vielmehr heulte:
„Er—sie—ist hinter mir! Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr, aber—wer kann gegen seine Nerven…?“
„Wer? was? wer ist hinter Ihnen?“ schrie ich, an der grauen Dünenwand emporstarrend, ohne etwas irgend Bedrohliches zu erblicken. Nichts zeigte sich, was die gewagte Rutschpartie des noch immer im Sande vor mir sitzenden, ziemlich wohlbeleibten und höchst anständig gekleideten Individuums und die grenzenlose Bestürzung desselben rechtfertigen konnte.
„Wer ist hinter Ihnen? Niemand, wie mir scheint! So reden Sie doch! Wer jagt Sie? Was treibt Sie zu solchen Sprüngen? Ich sehe wahrhaftig nicht das geringste da oben!“
„Doch, doch! Er—sie—der Mond—Luna—Selene! Nein, nein, nicht Luna und Selene, sondern er, der Mond, der verruchte deutsche Mond! Eben geht er hinter den Watten auf und wird in einigen Minuten dort über die Höhe hinter mir her sein! Und hier kein Dach, kein Schirm – nicht einmal ein Regenschirm—und der nächste Badekarren zum Unterschlüpfen eine Viertelstunde weit ab! Das ist mein Tod!“
Einen Regenschirm führe ich gewöhnlich mit mir und so auch jetzt; der Unbekannte in seiner Verstörung hatte ihn jedoch nicht bemerkt, und ehe ich ihn dem Narren anbot, überlegte ich natürlicherweise.
Es war mir klar, juristisch klar, daß ich einen Wahnsinnigen vor mir hatte, und schnell gefaßt überdachte ich, wie unter solchen Umständen von mir gegen ihn zu handeln sei. Sollte ich den Mann, da ich an seinen eigentümlichen Fiktionen nichts ändern konnte, seinem Schicksal überlassen und es seinen Wächtern anheimstellen, ihn einzufangen; oder sollte ich ein Gespräch mit ihm anknüpfen und auf die Gefahr hin, in persönlich unangenehme Auseinandersetzungen mit ihm zu geraten, seine Zustände näher zu ergründen suchen?
Als Mensch würde ich das erstere vorgezogen haben, als Jurist, als Kriminalist zog mich das letztere an. Ich folgte der Verlockung und führte die Unterhaltung weiter.
„Mein lieber Herr,“ sprach ich, „wenn Sie sich unter einem Regenschirm gegen Ihren Feind gesichert glauben, so bin ich mit dem meinigen gern zu Diensten. Nehmen Sie meinen Arm.“
Ich hatte bereits das seidene Wetterdach ausgespannt, und der Irrsinnige war ebenfalls bereits mit einem Freudenruf in die Höhe gesprungen.
„O mein Herr, der Himmel hat mich Ihnen entgegengeführt.“
Er nahm meinen Arm und sagte, den Hut abziehend:
„Erlauben Sie aber auch, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist
Löhnefinke—Königlich Preußischer Kreisrichter zu Groß-Fauhlenberge,
Provinz…“
Jetzt tat ich in vollkommener Stupefaktion einen Seitensprung:
„Mein Herr—das ist nicht möglich!“
„Mein Herr?“
„Sie? Sie, der Sie, um dem Mondaufgange zu entrinnen, sich kopfüber, auf die Gefahr den Hals zu brechen, eben da—dort hinunterstürzten, der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge? Unmöglich, ganz unmöglich sind Sie der Kreisrichter Löhnefinke!“
„Doch, doch! Wenn Sie es ein Vergnügen nennen wollen, so habe ich es und bin der Genannte.“
Mühsam faßte ich mich, indem ich mir sagte: jetzt ist es außer allem
Zweifel, es ist ein Wahnsinniger mit mehreren fixen Ideen. Der
Unglückliche hält nicht nur den Mond für seinen Feind, sondern er
hält sich unbedingt dazu für einen andern.
„Ja, mein Name ist Löhnefinke, und ich würde es für eine Ehre halten, wenn Sie, mein werter Herr, mich nunmehr auch mit dem Ihrigen bekannt machen würden.“
Was war dagegen zu machen? Ich stellte mich vor und nannte meinen Namen und Titel. Sofort zog der Irrsinnige von neuem den Hut, griff nach meiner Hand, drückte sie herzlich und rief:
„Ach, mein liebe Kollege, sehen Sie, wie das Fatum die Leute zusammenführt! Wahrhaftig, das hätte ich mir vor einer Viertelstunde nicht träumen lassen. Mein Gott, so sind wir ja schon seit geraumer Zeit die besten Bekannten! Erinnern Sie sich doch! Haben wir nicht in Sachen Johann Peter Müllers, des nachgemachten Zigeunerhäuptlings aus Langensalza, Akten gewechselt und eine geschäftliche Korrespondenz geführt? Nicht wahr, es fällt Ihnen ein? O, wie mich das freut!“
War das ein Traum, oder war’s Wirklichkeit? War dieser Mensch verrückt, oder war ich es?
Die Sache verhielt sich in der Tat so, und meines Schriftenwechsels mit dem preußischen Kreisgericht zu Groß-Fauhlenberge erinnerte ich mich sofort auf das deutlichste. Und mein sonderbarer Begleiter (wir schritten bereits nebeneinander her) hielt sich auch gar nicht allein an das bloße Sicher- und Feststellen dieser Tatsache; nein, er vertiefte sich augenblicklich in die Einzelheiten des betreffenden Falles, legte mir jetzt mündlich alle die Bedenken vor, die er mir früher schriftlich mitgeteilt hatte, und—ich erwiderte ihm, als ob es wirklich keinem Zweifel mehr für mich unterliege, daß er der fragliche königlich preußische Beamte sei und wirklich den Namen Löhnefinke führe. Der Vollmond war währenddem in der Tat am östlichen Horizonte emporgestiegen und schien uns auf die Köpfe, ohne daß mein Begleiter sich um ihn kümmerte. Arm in Arm gegen den Badestrand von Westerland anwandelnd, vertieften wir uns immer mehr in unsere hohe Wissenschaft und ließen den Mond scheinen, wie es ihm beliebte. So hatten wir fast das Herrenbad erreicht und näherten uns jetzt der Treppe, welche von dem Strande zu der Höhe der Dünen hinaufführt, als der Kollege, der sich seiner ersten Exaltation zum Trotz mir nunmehr als ein höchst klarer Kopf und scharfer Jurist ausgewiesen hatte, plötzlich, im Sande steckenbleibend, sich umsah, aufguckte und, geisterbleich werdend, stöhnte:
„O ihr Götter, da sind wir ja mitten drin!“
Daran war kein Zweifel: wir waren mitten drin; die fixe Idee packte von neuem den Unglückseligen, wütend und angstvoll zog er sich meinen ausgespannten Schirm dicht auf den Hut herab, und ich—ich konnte nichts weiter tun, als ihn—den Kreisrichter Löhnefinke, fester am Ellbogen zu halten und dem erbost sich Windenden und Abzappelnden eindringlichst zuzureden:
„Aber Verehrtester, ich bitte Sie! Fassung! Fassung! Dieses ist doch zu toll, Kollege! Was hat Ihnen denn dieses unschädliche Beleuchtungsinstitut eigentlich zuleide getan? Oder was haben Sie gegen es verbrochen? Nehmen Sie Vernunft an, Kollege, überzeugen Sie sich doch: die harmlose Kugel macht durchaus keine Miene, uns auf den Kopf zu fallen.“
„O mein Kopf! mein Kopf!“ stöhnte der Kreisrichter, den fraglichen
Körperteil mit beiden Händen haltend.
„Kommen Sie, Kollege, niemand jagt Sie, niemand treibt Sie. Welch ein ganz verrückter Raptus! Nehmen Sie mir das nicht übel!“
„Niemand? Niemand?“ ächzte Löhnefinke.
„Niemand. Und wissen Sie, jetzt lassen Sie uns dort hinaufsteigen; im Pavillon finden wir noch Menschen—Gesellschaft, irgendein ermutigendes Getränke und unbedingt eine Petroleumampel, gegen welche Ihr Feind oder Ihre Feindin sicherlich den kürzeren zieht.“
„Petroleum!“ murmelte Löhnefinke, das Wort fassend und festhaltend wie ein Verbrecher auf dem Hochgericht den Ruf: Gnade!
„Horchen Sie nur, es ist sogar noch Musik im Pavillon. Was meinen Sie, wenn wir uns daselbst bei einem Glase Grog noch eine Weile niederließen und…“
„ …den Untergang des Mondes abwarteten?! Jaja, das ist das rechte!“
„ Würde uns aber doch ein wenig lange da fesseln. Der Mond geht erst nach dreiviertel auf sieben Uhr morgens unter; aber ein anderer Trost steigt uns herauf. Sehen Sie, dort über der See erhebt sich dunkles Gewölk; Kollege, warten wir ab, bis eine Wolke vor den Mond gezogen ist.“
„Jaja, angenommen! Gern, nur zu gern eingeschlagen! Kollege, ich stelle mich ganz und gar unter Ihre Vormundschaft. Treten wir ein in die Bude, warten wir, bis eine Wolke vor das grinsende Scheusal gezogen ist, und trinken wir Grog derweile!“ rief der aufgeregte preußische Staatsbeamte, und so erkletterten wir die steile Treppe, langten, ohne den Hals gebrochen zu haben, auf der Höhe an, wandten uns rechts durch das Dünengras dem erleuchteten, von Musik durchschmetterten und mit Badegästen dicht gefüllten Dünenpavillon zu.
In dem Augenblick aber, als wir in die Tür des hölzernen Rundbaus traten, schwieg plötzlich die Badeblechmusik. Die Musikanten packten ihre Instrumente ein oder nahmen sie einfach unter den Arm. Sie nahmen auch noch einen Gratisschnaps am Büffet und zogen ab, und der größte Teil des Publikums folgte ihnen seltsamerweise auf dem Fuße, ohne sich erst von dem Kunstgenuß erholt zu haben. Nur einige Gruppen verständiger Männer hielten sich noch bei ihren Gläsern.
Über die Nordsee strich jetzt ein ziemlich lebendiger Wind. Die Wellen rauschten lauter und bedeckten sich mit weißern und krausern Schaumkronen. Das belebende und erwärmende Getränke, welches wir bestellten, bevor wir uns niederließen, mußte unbedingt von dem wohltätigsten Einfluß auf unsere seelische Stimmung und unser körperliches Behagen sein.
Nun saßen wir, und während am nächsten Tische eine muntere
Gesellschaft lustig durcheinanderschwatzte, sah ich mir meinen neuen
Bekannten, und zwar durchaus nicht verstohlen, genauer bei
Lampenbeleuchtung an, und meine Verwunderung stieg unter dem
Scrutinio.
Der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, korpulent, wie schon bemerkt, und sonst ohne alle äußerlichen Absonderlichkeiten. Ein breites Kinn, ein kurzgehaltenes, graugesprenkeltes Haupthaar, ein preußischer Beamtenbart und zwei graue, kluge Augen, die jeden Gegenstand, auf den sie sich hefteten, scharf festhielten, gaben mir sicherlich keinen Anlaß, den Mann für einen Tollhauskandidaten zu erklären, und doch—ich hielt es nicht aus! Meine Hand auf den Arm des Kollegen legend und dicht an ihn heranrückend, sagte ich:
„Nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Löhnefinke, aber in diesem
Moment glaube ich nicht mehr daran.“
„Woran nicht?“
„An Ihr Auftreten vorhin. An—na ja, an Ihre halsbrecherische Flucht über die Düne, an jene Rutschpartie bei Wenningstedt, an: kurz an Ihre Mondfeindschaft, Kollege.“
Sofort kam eine außerordentliche Veränderung über den ganzen, dicht neben mir sitzenden Menschen. Er duckte sich wieder einmal, und wie vorhin nach meinem Regenschirm griff er jetzt nach dem vor ihm stehenden Glase, zog die darin befindliche heiße, dampfende Mischung auf einen Zug in sich hinein und flüsterte durch die Zähne:
„Es ist aber doch so! Ich hasse den Mond; er ist mein Todfeind, und ich ziehe den kürzern gegen ihn, wie er gegen die Lampe da über uns.“
Ich winkte der Kellnerin, welche meinen Wink verstand und dem Kollege ein zweites dampfendes Glas vor die Nase setzte.
„Danke!“ sagte der Kreisrichter. Und auch Ihnen Dank; denn wäre ich vorhin Ihnen und Ihrem Schirm nicht in die Arme gefallen, so weiß ich wahrlich nicht, was auf diesem schattenlosen Strande aus mir geworden wäre.“
„Kollege,“ sprach ich, „ich bin ein ruhiger Mann, amtiere seit langen Jahren zur Zufriedenheit meiner Amtseingesessenen und meiner vorgesetzten Behörden. Ich habe den Landesorden zu Hause im Schubkasten und bin noch nie einem mir anvertrauten Geheimnis gegenüber feloniter vorgegangen: würden Sie es sehr übelnehmen, Kollege, wenn ich Sie aufforderte, mir mitzuteilen, wie Sie mit jenem unschuldigen Trabanten unserer sündigen Erde in Konflikt geraten sind?“
„Ich werde das durchaus nicht übelnehmen“, sagte der Kollege.
„Im Gegenteil, von Zeit zu Zeit fühle ich das intensivste Bedürfnis, meinem Haß und Zorn und leider auch meiner grimmigsten Beklemmung und Angst gegen eine fühlende Seele Luft zu machen. Lassen Sie sich ebenfalls noch ein Glas Grog geben und hören Sie zu. Nachher mögen Sie richten und werde ich mich auf Ihr Urteil verlassen, um so mehr, als ich Sie bereits aus unserem amtlichen Schriftenwechsel als einen tüchtigen Juristen kennengelernt habe.“
„Ungemein verbunden“, sprach ich, aufs äußerste gespannt, und sah jetzt dem Kollegen in die Augen, wie ich vor fünfundzwanzig Jahren meiner Braut nicht in die ihrigen gesehen hatte. Er schlürfte von neuem vom dampfenden Getränk und begann und legte sein Bekenntnis ab.
„Zuerst,“ sagte er, „muß ich Ihnen bemerken, daß mein Arzt mich hierher ins Seebad geschickt hat auf den Antrieb meiner Frau gerade dieses meines Zustandes wegen, wie sie sagt,—meiner Nerven wegen, wie er sagt. Jahrelang hat der Mann, der mich von Jugend auf kennt, der mit mir aufgewachsen ist, über diesen Zustand gelacht; erst durch die Insinuationen meiner Gattin ist ihm die Sache bedenklich geworden. Auf einmal hat er gefunden, daß es jetzt die höchste Zeit sei, etwas gegen die bedauerlichen Zustände zu tun, und hier bin ich und gehe pflichtgemäß täglich ins Wasser, wie Sie heute abend erfahren haben, bis jetzt ohne den geringsten Erfolg. Zur Sache! Mit einem Wort, ich büße für meine Jugendsünden.“
„Aha!“ murmelte ich, doch der Kollege schüttelte, meine Meinung sofort erkennend, nachdrucksvoll den Kopf und seufzte:
„O nein, nein! Ach, wie glücklich würde ich mich schätzen, wenn es d a s wäre! Das ist ja gerade mein Elend, daß ganz das Gegenteil dessen, was Sie im Sinne haben, den Grund meiner Verstörung bildet. Ich versichere Sie, weder der Wein noch die Weiber haben es mir in meinen Jünglingstagen angetan. Ich bin nur zu solide gewesen und bereue es heute in Kummer, Schmerz und im Sylter Badekostüm. O hätte ich mich doch ausgetobt in den Tagen meiner Jugend! Hätte ich doch meiner Phantasie die Zügel auf den Hals geworfen und die Gefahr, abgeworfen zu werden und das Genick zu brechen, zur rechten Zeit auf mich genommen! Kollega, Kollega, unterdrückte Poesie ist es, welche mich verrückt macht – verrückt weit nach dem vierzigsten Lebensjahre. Der deutsche Mondschein rächt sich an mir, und ich bezweifle, daß mir irgendein Bad, Sauer oder Bitterwasser helfen werde.“
„Der deutsche Mondenschein?“
„Freilich und sechsmal ja! Der Mond grinst mich aus meinem Verstande heraus, mich den königlich preußischen Kreisrichter Friedrich Wilhelm Löhnefinke zu Groß-Fauhlenberge, und nicht nur für eigene Verschuldung büße ich, nein, ich habe auch noch dazu die Schulden ungezählter Generationen meiner Vorfahren an das glänzende Ungeheuer abzutragen. O Kollega, ich fühle mich stellenweise sehr unglücklich!“
„Kollege, Sie sind jedenfalls ein sehr interessanter Mensch. Mit aufgespanntesten Seelenkräften bitte ich um eine genauere Erklärung.“
„Welche ich Ihnen geben werde. Mein Vater war königlicher Beamter, mein Großvater gleichfalls, und es wäre lächerlich von mir, wenn ich daran zweifeln wollte, daß auch mein Urgroßvater königlicher Beamter gewesen sei, selbstverständlich Provinzialbeamter wie wir alle. Meine Mutter war ein deutsches Weib, ebenso meine Großmutter und natürlich meine Urgroßmutter nicht weniger. Auch sie stammten sämtlich aus königlichen Provinzialbeamtenfamilien ab. Von Poesie wußten sie nichts, und auf den Mond achteten sie nur insofern, als er so gefällig war, sie zu benachrichtigen, wann es Zeit sei, die Haare zu verschneiden oder zur Ader zu lassen. O, sie überließen es einfach mir, für die Vernachlässigung zu büßen! Meine Mutter las Clauren, meine Großmutter Bibel und Gesangbuch, meine Urgroßmutter konnte wahrscheinlich gar nicht lesen. Meine Vorväter lasen und schrieben ihre Akten, lasen das Amtsblatt und vielleicht auch die Zeitung, und ich war bis in die jüngste Zeit ihr würdiger Nachkomme. Da kam das Jahr achtundvierzig, und der Mond ging mir auf.“
„Aha!“ rief ich wiederum; aber der Kollege Kreisrichter schüttelte abermals das Haupt und sagte:
„O nein, nein und zwölfmal nein! Sie irren sich jetzt nicht weniger als vorhin. Sie wissen was wir unter dem Worte ‚altliberal‘ verstehen?“
Ich nickte mit der Energie einer chinesischen Pagode.
„Sie werden mir also zugestehen, daß man als Altliberaler noch weit davon entfernt ist, den Mond zu hassen und vor dem Monde Reißaus zu nehmen?“
Es wäre töricht von mir gewesen, dieses Zugeständnis nicht zu machen, und ich machte es, tat aber dabei die Gegenfrage:
„Wie alt waren Sie im März von Achtundvierzig?“
„Ich hatte eben das Alter eines preußischen Auskultators erreicht.“
„Bravo! Erzählen Sie ruhig weiter.“
„Im März kam er also über die Dächer und schien in meine Stube zu Berlin, und ich rieb mir die Augen, wie gesagt, ohne ihnen zu trauen. Noch hatte ich nicht die geringste Ahnung von der Gefährlichkeit des Burschen, aber im folgenden Jahre neunundvierzig bekam ich mehr als eine Ahnung davon. Mit heißem Kopfe aus einer erregten Volksversammlung heimkehrend, schlief ich mit eben diesem Kopfe in der Fensterbank liegend ein, und das hämische Gestirn schien mir während mehrerer Stunden darauf.“
„Und?“
„Und am folgenden Morgen hatte ich nicht nur Kopfweh, sondern auch einen ausgesprochenen Ekel an manchen Dingen und Menschen, die mir sonst sehr hoch in Empfindung, Gefühl und Achtung gestanden hatten. Die Poesie brach durch—und—Kollege, wissen Sie was das bedeutet, wenn die Poesie des Lebens bei einem königlich preußischen Auskultator zum Durchbruch gelangt?“
„Gottlob nein; erinnern Sie sich nur, daß wir über unsere respektiven
Landesgrenzen miteinander korrespondiert haben.“
„Das ist wahr; aber ich wußte es auch nicht, doch heute kann ich darüber reden. Sie haben die ganze Nacht ruhig und solide von den Pandekten und dem Landrecht geträumt, und Sie erwachen und suchen sich den Inhalt Ihrer Träume wieder zu vergegenwärtigen. Es gelingt Ihnen nur zu gut, und der Jammer beginnt. Sie sehen von Ihrem Kopfkissen aus nach Ihrer Bibliothek hinüber, und plötzlich ergreift Sie eine kaum zu bezwingende Lust aufzuspringen, den ganzen Trödel in die Arme zu fassen—-und—und—und—Dinge—unsagbare Dinge damit vorzunehmen. Sie bezähmen sich aber, denn es fällt Ihnen ein wieviel Geld Sie in den Wust gesteckt haben, und Sie bezähmen sich auch zum Glück für Ihre weitere Karriere und gehen an die Bereitung Ihres Kaffees. Dabei ergreift Sie dann die Vorstellung, daß Sie noch immer ohne die entsprechende Vergütung dem Staate zur Verfügung stehen, mit erschütternder Gewalt; und darüber wieder kocht Ihnen nicht nur die Galle, sondern auch Ihr Gebräu über, und Sie fressen die eine in sich hinein und schütten das andere nicht in die Dachrinne, sondern ebenfalls in sich hinein. Sie haben Illusionen verloren und Sie machen sich neue: sehen Sie, da haben Sie eine der ersten Wirkungen unseres Feindes, des Mondes! Ja, Sie machen sich sonderbare Illusionen, und was das sonderbarste ist, Sie verdenken es sich selber gar nicht. Nachher gehen Sie zum Büro, begegnen unterwegs Ihrem Vorgesetzten, grüßen ihn höflichst, und jetzt, mit einem Male, fällt Ihnen ein anderes Träumen ein! Sie erinnern sich dessen, was Sie träumten, als Sie mit dem Kopfe im offenen Fenster lagen und der Mond Ihnen auf den Kopf schien. Sie stehen und sehen dem Präsidenten nach; und nun, und einzig und allein durch des deutschen Mondes Schuld, fällt Ihnen bei, daß Sie für Ihre Person doch mehr gelesen haben als Ihre Vorfahren: nicht die Zeitung, sondern Zeitungen, außerdem Schiller und Goethe, Voltaire und Rousseau, Börne und Stahl, Ranke und Raumer und ein inkommensurables Gemisch neuester Poeten höchst liberaler Art. Sie erinnern sich an manches, was Sie auf Universitäten beim Kommersch sangen, und der sanfte, liebliche Mond, der vielleicht gerade als zarte Sichel über Ihnen im Hellblau des Morgenhimmels steht, verzieht den Mund höhnisch und wächst, wächst, wächst von neuem zu Vollmond an, während Sie Tag für Tag, Woche für Woche Ihren Amstgeschäften nachgehen. Sie fühlen sich grenzenlos unbehaglich, Sie kommen sich unsagbar dumm, albern und abgeschmackt vor und protokollieren auch dumm, wofür Sie eine ganz gehörige Nase besehen. Mit der letztern gehen Sie nach Hause und besehen zufällig Ihren abnehmenden Haarwuchs im Spiegel, und wenn Sie dabei in Ihrem Bart ein weißes Haar entdecken sollten, so kommt auch das Ihrem guten Freunde, dem Monde, ganz gelegen; denn er ist imstande, Sie daran fester zu fassen und leichter seine Wege zu führen als an irgend etwas anderem. Das nächste Mal, wenn Sie wieder einsam in der Nacht am Fenster sitzen, nimmt er Sie bei diesem Haar: Sie sehnen sich nach einem Busen, einem zarten, gefühlvollen, weichen Busen, in den Sie alle Ihre Wehmut ausschütten können, dem Sie Ihren Gram sagen, dem Sie Verdruß und Ärgernis mitteilen können. Sie träumen wachend, und der Mond hohnlacht ärger denn zuvor…“
„Halten Sie einmal, Löhnefinke!“ rief ich, beide Hände auf die Stirn drückend. „Muß denn immer erst ein anderer kommen und einem seine eigensten vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustände klar und objektiv hinstellen? Kollega, Sie haben vollständig recht; nervös, wie Sie selber, folge ich Ihrer Auseinandersetzung! Fahren Sie fort,—wahrhaftig, der Mond ist ein Ungeheuer!“
„Er ist es, der Mond, und vor allem dieser deutsche Mond! Da kommt er abermals über das Dach, und Sie legen den Kopf auf die Schulter und blinzeln ihm blöde und verlegen in die breite Fratze. Und plötzlich schwankt hohes Weizenährenfeld vor Ihren Blicken, die Nachtigall oder sonst ein Vogel piept im Gebüsch, es blitzt der Teich, der Bach murmelt, und Sie, Kollega, fangen gleichfalls an zu murmeln. Was murmeln Sie? Natürlich irgendeinen wohlklingenden Taufnamen, auf E oder A auslaufend,—Klothilde, Josephine, Maria, Amalia—was weiß ich?! Einerlei! Es ist entschieden—er hat Sie; er hat Sie mit allem, was an Ihnen ist, dieser heimtückische, hinterlistige Schleicher, der Mond, der deutsche Mooond! Sie fühlen sich in der Stimmung, ihn Ihren Freund zu nennen, die Arme nach ihm auszustrecken, eine Träne ihm hinzuweinen, und Sie sind ohne allen weitern Zweifel grenzenlos blamiert.“
„Ja!“ sagte ich und nichts weiter. Der Kollege aber schwieg in melancholischem Tiefsinn eine geraume Weile, bis er von neuem auf und fortfuhr.
„Ich war Landbote, als während des Militärkonflikts Seine Majestät unserem Ministerpräsidenten den berühmten, symbolischen Stock schenkte; ich stimmte selbstverständlich mit der Majorität und jetzt —jetzt im Jahre siebenundsechzig—habe ich ein Sonett—bedenken Sie, ein Sonett!—ein Lobsonett auf den allverehrten Herrn Ministerpräsidenten gemacht und dasselbige im Inseratenteil der Nationalzeitung abdrucken lassen. Verstehen Sie mich und meine Stellung zu dem Monde, dem deutschen Monde?“
„Vollkommen!“ sagte ich nach einigem Nachdenken.
„Dann kann ich mich kurz fassen und werde es tun. Man kennt—und der Mond weiß es—einen passabel wohlklingenden, auf E oder A auslaufenden Namen und die Trägerin natürlich dazu; oder man sucht sofort nach einem solchen Namen und seiner Trägerin, und daß der Mond bereitwilligst hilft, ihn und sie zu finden, versteht sich von selber. Kein Kuppler bietet in derartigen Fällen eilfertiger und geschickter seine Hand. O, er leuchtet uns auf den lyrischen Dichter, mit welchem wir uns plötzlich mehr als wahlverwandt fühlen. O, er scheint uns auf das Blatt, auf welchem wir selber der Muse die Cour machen. O, er greint auf uns herab, wenn wir am Ausgange des Ball, Konzert oder Theatersaales auf sie warten. O, o, o, er geleitet uns später auch nach Hause, wenn die Alte nichts dagegen einzuwenden hatte, daß wir sie dahin bringen. O, o, o, o, wer versteht es besser als er, dem Esel, dem Menschen, heimzuleuchten? Gleichgültig ist es, aber doch eine wohl aufzuwerfende Frage, ob auch er die Schuld davon trage, wenn der Alte eines schönen Morgens ‚Ja!‘ sagt. Sind Sie auch verheiratet, Kollege?“
Die Frage drang so abrupt auf mich ein, daß sie mich fast vom Stuhle warf und ich mich wahrhaftig erst einen Moment durch sammeln mußte, ehe ich sie bejahend beantworten konnte.
„Wohl! Dann wollen wir über dieses Thema kein Wort weiter verlieren. Ist er auch an der Alliteration schuld? Sehen Sie, da ist er und guckt ins Fenster—die Wolken, auf welche Sie mich vorhin vertrösteten, haben auch nichts gegen ihn vermocht. Die Wiesen liegen im weißesten Lichte—o wie schön, wie wunderbar! Lieber Kollege, wie reizend ist doch die Welt—wie großartig in Krieg und Frieden! Poesie trieft von oben herab und sprießt von unter herauf! Horchen Sie—hören Sie die Musik des ewigen Meeres! Die Wogen tanzen den unsterblichen Tanz im deutschen Mondschein, weshalb sollten wir nicht mittanzen? Meine Seele ist im harmonischen Fließen der Welt ein Tropfen. Kollege, lassen Sie uns hinaustreten in die holde Natur; es ist ein Sünde, in diesem dumpfen Gemache zu sitzen, während Erde und Wasser da draußen vor dem Pavillon im deutschen Mondschein so außerordentlich schön daliegen; kommen Sie, trinken Sie aus, lassen Sie…“
„Sie fürchten nicht mehr…?“
„Was sollte ich fürchten? Liebster, guter Freund, das ist es ja eben! Er siegt uns allen ob, und in seinem Lichte gewinnen wir alle unsere Siege.“
„Auch die Schlacht bei Königgrätz?“
„Auch diese, was man auch dagegen einzuwenden haben mag. Und künftige große und merkwürdige Siegesschlachten ebenfalls! Ach, welche Luft, welches Licht! Bitte, lassen Sie uns noch einmal die Düne besteigen, noch einen Blick auf das heilige Meer zu werfen.“
„Und nachher, mitten im Mondschein stehend, werden Sie mir weiter von
Ihrer Lebensentwicklung sprechen?“
„Gern, mit Vergnügen, sofort, obgleich es meiner Meinung nach doch eigentlich gar nicht mehr nötig ist. Sehen Sie, Bester, das Faktum steht ebenso fürchterlich wie behaglich fest—der Mond übermannt dann und wann den königlich preußischen Justizbeamten Löhnefinke, und letzterer hat zu guter Letzt selber nicht die geringsten Einwendungen gegen den ihm aufgedrängten Rausch und Taumel zu erheben. Ja, ich habe im deutschen Mondschein auch ein deutsches Mädchen gefunden, mich mit Einwilligung der Eltern desselben demselben verlobt und es später geheiratet. Heute noch befinde ich mich mit Zugabe einer achtzehnjährigen Tochter im unangefochtenen Besitz, und vielleicht kann ich nachher beide Damen Ihnen vorstellen.“
„Also—also Sie laufen wirklich nicht allein—nicht sich selber überlassen hier auf Sylt herum?“
„Keineswegs. Ich wohne mit Weib und Kind dort in Westerland und bin unter ihrer Aufsicht hierher ins Bad gekommen. Was denken Sie auch?“
„Entschuldigen Sie meine törichte Frage, Kollege. Dieses ist ein so wunderbarer Abend, ein so erfreuliches Zusammentreffen, und eine so überinteressante Unterhaltung, daß da alles zu entschuldigen ist.“
„Beruhigen Sie sich nur; wir verstehen uns vollkommen. Auch habe ich Sie schon tagelang, unbemerkt von Ihnen, ins Auge gefaßt; als Mensch fielen Sie mir auf, und den Juristen erkannte ich sofort in Ihnen, und das Schicksal ließ mich vorhin nicht ohne Absicht und vollgütige Berechtigung Ihnen in die Arme rutschen. Wir mußten uns heute abend gegeneinander aussprechen; es gehört mit zur Kur und ist auch zum großen Teil eine Wirkung des Salzwassers. Aber der Mond – ich muß Sie immer von neuem auf diesen herrlichen Mond aufmerksam machen! Ja, ich bin in seinen Banden und werde darin bleiben müssen, bis der Tod mich erlöst. Kollege, durch ihn und mit Beihilfe der gegenwärtigen Zeit und der Weltlage bin ich—der Poet in meiner Familie geworden. Fassen Sie das ganz und begreifen Sie mich ganz, sowohl in meiner Stimmung bei unserem Begegnen am Strande wie in meinem augenblicklichen Geisteszustand.“
Löhnefinke der Poet in seiner Familie! Ich trat mehrere Schritte zurück. Obgleich der tolle Mensch klar wie die Insel Sylt im deutschen Mondenschein vor mir lag, frappierte mich das Wort doch. Es war wie der Kanonenknall, der einen auch frappiert, trotzdem daß man mit dem Lorgnette vor den Augen beobachtete, wie der Kanonier die Lunte anblies.
„Ich, der Erbe so unendlicher Prosa“, fuhr der Kollege fort, „ich bin besiegt von meinem Feinde und ihm jedesmal, wenn er über den Horizont guckt, verfallen trotz allem Gesperr und Gezappel. Ich bin Idealist in der Politik, Dichter in der Führung meines Haushalts. Ich sehe die Zeit kommen, wo ich mein Abrechnungsbuch in Hexametern und Ottave Rime führen werde. Ich schwärme für Gemüt und Gemütlichkeit in den Vorgängen der Stunde, und—Kollege, Kollege!—ich werde von meinen Weibern—meinen Damen nicht verstanden, nicht begriffen. Das ist es, was meine Nerven zerrüttet und mich unter ihrer, meiner Damen, Führung hieher nach Westerland gebracht hat, und jetzt lassen Sie uns gefälligst nach Hause gehen, es wird allmählich sehr kühl.“
Er hatte mich untergefaßt—zärtlichst; und wir wandelten Arm in Arm über die mondbeglänzte Heide von Sylt. Nimmer war ich in meinem Leben mit einem so poetischen preußischen Kreisrichter Hüfte an Hüfte geschritten. Er, dieser exaltierte Kollege, deklamierte laut, immer lauter. Er zeigte eine wahrhaft staunenerregende Belesenheit in deutscher und fremder Lyrik. Gedichte an den Mond wechselten mit Hymnen auf die Freiheit und Schlachtliedern gegen alle möglichen und unmöglichen Feinde. Tropische Landschafts— und Stimmungsbilder wechselten mit abgerissenen Strophen aus bekannten und unbekannten Romanzen und Balladen jeglichen historischen und unhistorischen Inhalts. Löhnefinke war göttlich, und sein Feind, der Mond, konnte wirklich seine Freude an ihm haben; aber mehr als einem seiner und meiner Vorgesetzten würde er in diesem Zustande nicht nur moralische, sondern auch physische Übelkeit erregt haben. In der Ferne nordwärts blinzelte das wechselnde Licht des Leuchtturms von Kampen wie das Auge eines Spötters, der seine Umgebung auf irgend etwas außergewöhnlich Drolliges aufmerksam macht. Die Schafe auf der Heide, über deren Tüder, das heißt Haltestricke, wir stolperten, standen auf, sahen uns verwundert an und staunend nach.
So kamen wir dem Dorfe Westerland immer näher, jedoch bevor wir es erreichten, wurden wir angerufen und, der äußern Erscheinung und dem Tone nach, auf die allerlieblichste Weise aus dem Traum, Nacht und Mondscheinwandeln in die Wirklichkeit zurückgerissen. Vom Dache konnten wir glücklicherweise beide nicht fallen.
Wie aus den Strahlen des Mondes gebildet, stand auf einer Bodenanschwellung der Heide eine ungemein zierliche, graziöse Mädchengestalt vor uns, und ein ganz reizendes Mädchengesichtchen neigte sich im Mondenscheine wahrhaftig märchenhaft hübsch uns entgegen. Daß der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge ein reizendes Gesichtchen aufzuweisen gehabt habe, kann ich nicht sagen, aber er besaß eine biedere, gewissermaßen auch joviale Visage, und der Enthusiasmus der letzten Stunden hatte dieselbige sogar noch sehr verschönert: um so heftiger mußte ich mich jetzo über den Ausdruck verwundern, mit welchem er sein süßes Töchterchen ansah. Statt noch heiterer und noch glücklicher zu werden, fielen plötzlich seine sämtlichen Züge schlaff auseinander, um sich sofort zu einem Gewirr verdrießlicher Falten zusammenzuziehen.
„Da bist du endlich, Papa? Na, das muß ich sagen!“ rief die elfenhafte Huldin uns entgegentretend.
„Ja, da bin ich endlich“, brummte der Kollege, „und hier…“
Er vollendete nicht; denn die junge Dame schnitt ihm kurz das Wort ab:
„Wir haben lange auf dich gewartet, Papa, und die Mama ist sehr böse auf dich!“
„So? hm!“ brummte der Kollege, und „hm!“ sagte auch ich in der Tiefe meiner Seele.
„Komm her, Helene, wir wollen zusammen heimgehen“, sprach der Vater des schönen Kindes begütigend; allein die Elfe im Mondschein entgegnete noch kürzer:
„Ich danke, Papa; ich werde mit der Mama gehen. Da kommt sie schon und wird dir sagen, wie sie auf dich gewartet hat. Mama, hier ist der Papa endlich!“
Ei freilich, er war in der Tat hier, der Vater Löhnefinke, und er zitierte in diesem Augenblick keine deutschen Dichter und keine auswärtigen mehr. Aber ebenfalls durch den deutschen Mondschein kam die Mama heran, und zwar ziemlich rasch und energisch. Ich hätte mit Vergnügen Abschied genommen und mich empfohlen, ehe sie uns erreichte; doch der Kollege hielt meinen Arm mit einem wahren Landdragonergriff fest und flüsterte:
„O, ich muß Sie vorstellen, Freund. Wo wollen Sie hin? O
Kollege,erlauben Sie, daß ich Sie meiner Gattin vorstelle!“
Was konnte ich anders ausdrücken als die größte Sehnsucht, auch die
Kollegin kennenzulernen?
Zwischen den ersten Häusern der Ortschaft Westerland vorschreitend, hatte die Würdige uns jetzt erreicht und den Arm ihrer Tochter genommen. Mich übersah sie zu Anfang natürlich vollständig und widmete sich einzig und allein den Angelegenheiten der Familie:
„Also endlich, Löhnefinke?! Deine alte, gewohnte
Rücksichtslosigkeit! Aber ich sage dir, Löhnefinke…“
„Aber liebe Johanna, so sieh doch! Erlaube mir, dir hier meinen
Freund und Korrespondenten…“
So wird man nicht selten als spanische Wand zwischen den Zugwind und den Lehnstuhl des Rheumatismuskranken geschoben! Die Vorstellung fand statt, und ich fügte mich mit der mir angebornen Bonhomie in die mir zugeteilte Rolle. Nach etlichem höflichen Wortaustausch schritten wir vier nun doch miteinander den biedern, niedern, friedlichen, friesischen Hütten zu, und wenn mir bis jetzt in den Seelenzuständen meines Kollegen ein letzter Punkt dunkel geblieben war, so wurde derselbe mir nun auf diesem kurzen Wege vollkommen klar.
O, wie der Mond, der deutsche Mond auf die beiden Frauen und den königlich preußischen Kreisrichter herunterlachte! O, er weiß sich zu rächen, der deutsche Mond! Er hat seine Mittel, er kennt seine Mittel, und er weiß seine Mittel zu gebrauchen! Mein Freund Löhnefinke hat vollständig recht: es ist ein Elend, die Erbschaft von Generationen, von Jahrhunderten antreten zu müssen, ohne vorher von der Rechtswohltat des beneficii inventarii Gebrauch machen zu dürfen. Es ist ein Jammer, jenen bleichen, ab- und zunehmenden Gesellen erst nicht zu beachten, dann zu verachten und endlich seinem Einflusse ohne erklecklichen Widerstand hingegeben zu werden und sich hinzugeben!
Man muß eben ein Mann—ein deutscher Mann und Beamter sein, um das Entsetzliche im ganzen und vollen an sich zu erleben. Frau Johanne und Fräulein Helene Löhnefinke, ohne je die Ansprüche des Mondes an den Menschen berücksichtigt zu haben, hatten sich ganz auf die Seite des Mondes gestellt und rächten ebenfalls ihn an seinem Verächter. Es war nicht abzusehen, wieweit sie den Gatten und Vater noch hinunterbringen konnten,—tief genug hinunter hatten sie ihn bereits gebracht.
Als ich spät am Abend wieder bei meinem Bäcker saß, rauchte ich ein halb Dutzend Pfeifen über den Erlebnissen und Erfahrungen des Tages und kam gegen Mitternacht zu dem Entschluß, meinem augenblicklich in Göttingen Mathematik studierenden Jungen ein Exemplar von Jean Paul Friedrich Richters sämtlichen Werken zu seinem nächsten Geburststage zu schenken.