The Project Gutenberg eBook of Herr und Knecht: Novelle

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Title : Herr und Knecht: Novelle

Author : graf Leo Tolstoy

Translator : Hermann Röhl

Release date : July 26, 2010 [eBook #33266]

Language : German

Credits : Produced by Norbert H. Langkau, Wolfgang Menges and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HERR UND KNECHT: NOVELLE ***

  

Herr und Knecht

Novelle
von
L. N. Tolstoi

Verlags-Signet

Ins Deutsche übertragen
von
H. Röhl


Im Insel-Verlag zu Leipzig


Zweite Auflage
11. – 15. Tausend


3

I

E s war in den siebziger Jahren, an einem 7. Dezember, also am Tage nach St. Nikolaus. Im Kirchspiel war Feiertag, und der Herbergswirt und Kaufmann zweiter Gilde Wasili Andrejitsch Brechunow hatte das Dorf noch nicht verlassen können; denn zuerst hatte er in der Kirche anwesend sein müssen, da er Kirchenältester war, und dann hatte er nicht umhin gekonnt, in seinem Hause seine Verwandten und Bekannten zu empfangen und zu bewirten. Aber nun waren die letzten Gäste abgefahren, und Wasili Andrejitsch machte sich bereit, sofort zu einem benachbarten Gutsbesitzer zu fahren, um diesem einen kleinen Wald abzukaufen, um den er schon lange gehandelt hatte. Wasili Andrejitsch hatte es mit dieser Fahrt eilig, damit ihm nicht städtische Händler dieses vorteilhafte Geschäft wegschnappten. Der junge Gutsbesitzer forderte für den Wald nur aus dem Grunde zehntausend Rubel, weil Wasili Andrejitsch ihm siebentausend dafür geboten hatte. Diese siebentausend Rubel bildeten aber nur den dritten Teil des wirklichen Wertes des Waldes. Wasili Andrejitsch hätte vielleicht noch länger um den Preis gefeilscht, da der Wald in seinem Bezirke lag und zwischen ihm und den andern ländlichen Händlern des Kreises schon seit langer Zeit eine Abmachung bestand, nach welcher ein Händler in dem Bezirke eines andern den Preis nicht in die Höhe treiben durfte; aber Wasili Andrejitsch hatte erfahren, daß Holzhändler aus der Gouvernementsstadt vorhätten, nach Gorjatschkino zu fahren und um den Wald zu handeln, und so hatte er denn beschlossen, sofort selbst hinzufahren und die Sache mit dem Gutsbesitzer zum Abschluß zu bringen. Sowie ihn daher der Feiertag loskommen ließ, nahm er aus dem Kasten siebenhundert Rubel, die ihm gehörten, tat noch 4 zweitausenddreihundert Rubel Kirchengelder, die er in Verwahrung hatte, dazu, so daß dreitausend Rubel herauskamen, zählte die ganze Summe sorgsam durch, steckte sie in seine Brieftasche und traf Anstalten zur Abfahrt.

Der Knecht Nikita, der einzige von Wasili Andrejitschs Leuten, der an diesem Tage nicht betrunken war, ging hinaus, um anzuspannen. Der Grund, weswegen Nikita an diesem Tage nicht betrunken war, war der: er war ein arger Trinker; aber nach der Fastnacht, wo er die Jacke vom Leibe und seine Lederstiefel vertrunken hatte, hatte er das Trinken verschworen und nun schon seit mehr als einem Monat nicht mehr getrunken; auch jetzt hatte er nicht getrunken, trotz der starken Verführung, da überall an diesen beiden ersten Festtagen eine tüchtige Menge Branntwein konsumiert wurde.

Nikita war ein Bauer aus einem Nachbardorfe und jetzt fünfzig Jahre alt; er war, wie man von ihm sagte, kein rechter Hauswirt und hatte den größten Teil seines Lebens nicht in seinem eigenen Hause, sondern bei andern Leuten als Knecht verbracht. Überall schätzte man ihn wegen seines Fleißes, seiner Geschicklichkeit und Arbeitskraft, ganz besonders aber wegen seines guten, freundlichen Wesens; aber nirgends blieb er lange im Dienst, weil er etwa zweimal im Jahre, mitunter auch häufiger, ins Trinken hineingeriet und dann nicht nur alles vertrank, was er auf dem Leibe hatte, sondern auch händelsüchtig und gewalttätig wurde. Auch Wasili Andrejitsch hatte ihn schon ein paarmal fortgejagt, ihn aber immer wiedergenommen, da Nikitas Ehrlichkeit, seine Liebe zu den Tieren und vor allem seine Anspruchslosigkeit bei ihm stark ins Gewicht fielen. Wasili Andrejitsch zahlte ihm nicht achtzig Rubel, was der angemessene Lohn für einen solchen Knecht gewesen wäre, sondern vierzig Rubel, und 5 diese verabfolgte er ihm ohne genaue Abrechnung, in kleinen Posten, und großenteils nicht in barem Gelde, sondern in Gestalt von hoch berechneten Waren aus seinem Laden.

Nikitas Frau, Marfa, die früher einmal ein hübsches, flinkes Weib gewesen war, wirtschaftete zu Hause mit einem nahezu erwachsenen Sohne und zwei Töchtern und forderte ihren Mann gar nicht dazu auf, zu Hause zu wohnen, erstens weil sie schon seit zwanzig Jahren mit einem aus einem fremden Dorfe stammenden Böttcher zusammenlebte, der bei ihnen im Hause wohnte, und zweitens weil sie zwar mit ihrem Manne ganz nach ihrem Belieben umsprang, wenn er nüchtern war, aber eine Heidenangst vor ihm hatte, sobald er zu trinken anfing. Einmal, als Nikita sich zu Hause betrunken hatte, hatte er, wahrscheinlich um sich an seiner Frau für die Knechtung zu rächen, die er in nüchternem Zustande erlitt, ihre Truhe erbrochen, ihre besten Kleider hervorgeholt, das Beil genommen und alle ihre Röcke und Umhänge auf dem Hauklotz in kleine Stückchen zerhackt. Der gesamte Lohn, welchen Nikita verdiente, wurde seiner Frau ausgehändigt, und Nikita erhob dagegen keinen Widerspruch. So war Marfa auch diesmal zwei Tage vor dem Feste zu Wasili Andrejitsch gekommen, hatte sich von ihm Weizenmehl, Tee, Zucker und ein Achtel Branntwein, zusammen für ungefähr drei Rubel, sowie noch fünf Rubel in bar geben lassen und sich dafür wie für eine besondere Gnade bedankt, während doch Nikita, selbst bei niedrigster Berechnung, von Wasili Andrejitsch zwanzig Rubel zu fordern hatte.

„Ich habe doch mit dir keinen förmlichen Kontrakt gemacht,“ pflegte Wasili Andrejitsch zu Nikita zu sagen. „Wenn du etwas brauchst, so laß es dir von mir geben; du wirst es 6 schon abarbeiten. Bei mir ist es nicht wie bei anderen Leuten, wo das Gesinde auf seinen Lohn bis zum Termin warten muß und dann peinlich gerechnet wird und Strafabzüge gemacht werden. Zwischen uns beiden geht es anständig zu: du dienst mir, und ich lasse dich nicht im Stiche.“ Und wenn Wasili Andrejitsch in dieser Weise redete, so war er der aufrichtigen Meinung, daß er Nikitas Wohltäter sei; denn was er sagte, überzeugte ihn selbst, und alle Leute, Nikita allen voran, bestärkten ihn, um sich seine Gunst zu erhalten, durch ihre Zustimmung in dieser Überzeugung.

„Das sehe ich ja auch ein, Wasili Andrejitsch, und ich meine, ich diene Ihnen so eifrig, wie wenn Sie mein leiblicher Vater wären. Ich sehe es sehr wohl ein,“ antwortete Nikita, der sehr wohl einsah, daß Wasili Andrejitsch ihn betrog, sich aber sagte, daß er keinen Versuch machen dürfe, seine Rechnung mit ihm klarzustellen, sondern, solange er keine andere Stelle habe, dableiben und nehmen müsse, was man ihm gebe.

Jetzt also, wo Nikita von dem Herrn den Befehl erhalten hatte anzuspannen, begab er sich vergnügt und willig wie immer mit seinem munteren, leichten, etwas watschelnden Gange nach dem Schuppen, nahm dort den schweren, aus Riemen verfertigten, mit einer Troddel geschmückten Zaum vom Nagel und ging, mit der Gebißkette klirrend, nach dem verschlossenen Stall, in welchem für sich allein das Pferd stand, das Wasili Andrejitsch anzuspannen befohlen hatte.

„Na, du langweilst dich wohl, Dummerchen?“ sagte Nikita als Antwort auf das leise begrüßende Gewieher, mit welchem ihn der einzige Bewohner dieses Stalles, ein mittelgroßer, wohlgebauter Hengst, mit etwas hängendem Hinterteil, dunkelbraun mit gelblichen Flecken am Maul, an den Füßen 7 und in den Weichen, empfing. „Na na! Nicht zu eilig, ich will dir erst zu saufen geben, Dummerchen!“ redete er zu dem Pferde, ganz so, wie man mit solchen Wesen redet, die die Worte verstehen, und nachdem er mit dem Schoße seines Pelzes den wohlgenährten, fetten, in der Mitte ausgekehlten, mit Staub bedeckten Rücken des Hengstes abgewischt hatte, legte er ihm den Zaum um den hübschen, jugendlichen Kopf, wobei er ihm die Ohren und den Haarschopf freimachte, warf das Halfter herunter und führte das Tier zum Tränken.

Als der Braungelbe vorsichtig aus dem stark voll Mist liegenden Stalle herausgeschritten war, begann er zu spielen und schlug aus, indem er sich stellte, als wolle er mit dem Hinterfuße dem Knechte, der trabend mit ihm zum Ziehbrunnen lief, einen Schlag versetzen.

„Ei, wie übermütig, du Schelm!“ sagte Nikita zu ihm; er wußte recht wohl, daß der Braungelbe vorsichtig genug war, mit dem Hinterfuße nur so zu schlagen, daß er ihm den kurzen Schafpelz berührte, aber ihn nicht wirklich an den Körper traf. An diesem Kunststück des Hengstes hatte Nikita immer eine ganz besondere Freude.

Als das Pferd sich an dem kalten Wasser satt getrunken hatte, stand es ein Weilchen still, holte tief Atem und bewegte dabei die nassen, kräftigen Lippen, von deren Haarborsten durchsichtige Tropfen in den Trog zurückfielen; dann prustete es.

„Wenn du nicht mehr magst, brauchst du nicht; wir werden uns das merken; aber daß du nicht nachher mehr verlangst,“ sagte Nikita, der in vollständigem Ernst und mit aller Gründlichkeit dem Braungelben sein Verfahren auseinandersetzte. Dann lief er wieder zum Schuppen, indem er am Zügel das muntere, junge Pferd mit sich zog, das mit den Hinterbeinen 8 ausschlug und so kräftig schnaubte, daß der ganze Hof davon erscholl.

Von den andern Knechten war niemand da; Nikita erblickte nur einen nicht zum Hause gehörigen Menschen, den Mann der Köchin, der für die Feiertage zu ihr auf Besuch gekommen war.

„Geh doch mal hin, lieber Mann,“ sagte Nikita zu ihm, „und frage den Herrn, welchen Schlitten ich anspannen soll, den großen, breiten oder den kleinen.“

Der Mann der Köchin ging ins Haus und kehrte bald mit der Nachricht zurück, der Herr habe befohlen, den kleinen Schlitten anzuspannen. Nikita hatte unterdessen dem Pferde schon das Kumt angelegt, das mit kleinen Nägeln beschlagene Rückenpolster festgebunden und ging nun, in der einen Hand das leichte, mit Ölfarbe gestrichene Krummholz tragend, mit der andern das Pferd führend, zu den beiden Schlitten, die unter dem Schuppen standen. „Wenn er den kleinen will, mir ist es recht,“ sagte er, führte das kluge Pferd in die Gabeldeichsel, das die ganze Zeit über tat, als ob es ihn beißen wolle, und begann mit Hilfe des Mannes der Köchin anzuspannen.

Als schon alles beinah fertig war und nur noch übrig blieb die Leinen an den Zügeln zu befestigen, schickte Nikita den Mann der Köchin in den Schuppen hinein, um Stroh, und nach dem Speicher, um einen leeren groben Sack zu holen.

„So! Alles richtig! Na na, tu nur nicht so üppig!“ sagte Nikita und stopfte das frisch ausgedroschene Haferstroh, das der Mann der Köchin gebracht hatte, in den Schlitten hinein. „Und nun gib mir da die Packleinwand her, so als Überzug, und obendrauf kommt der Sack. Siehst du wohl: so, und so; nun wird es sich gut darauf sitzen,“ sagte er und führte 9 dabei das aus, was er sagte, und stopfte den Sack über dem Stroh auf allen Seiten um den Sitz herum fest.

„So, nun danke ich dir auch schön, lieber Freund,“ sagte Nikita zu dem Manne der Köchin. „Zu zweien fleckt es doch mit aller Arbeit besser.“ Und nachdem er die ledernen, am verbundenen Ende mit einem Ringe versehenen Lenkriemen in Ordnung gebracht hatte, setzte sich Nikita auf den Schlittenrand und lenkte das nach Bewegung verlangende brave Pferd über den mit gefrorenem Miste bedeckten Hof zum Tore.

„Onkel Nikita, Onkelchen, ach Onkelchen!“ rief ihm ein siebenjähriger Knabe nach, der geräuschvoll die Tür aufklinkte und eilig aus dem Hausflur auf den Hof herausgelaufen kam; er trug ein schwarzes Pelzröckchen, neue weiße Filzstiefel und eine warme Mütze. „Setz mich hinein!“ bat er mit seinem hohen Stimmchen und knöpfte sich im Gehen sein Pelzröckchen zu.

„Na, dann komm flink her, mein Täubchen,“ sagte Nikita, hielt an, setzte das freudestrahlende Söhnchen seines Herrn in den Schlitten und fuhr auf die Straße hinaus.

Es war zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, kalt (zehn Grad), trübe und windig. Auf dem Hofe kam einem die Luft ruhig vor; aber auf der Straße blies ein scharfer Wind: von dem Dache des danebenstehenden Schuppens stiebte der Schnee herunter, und an der Ecke beim Badehause wirbelte er nur so. Kaum war Nikita herausgefahren und hatte das Pferd zur Haustür herumgewendet, als auch schon Wasili Andrejitsch, eine Zigarette im Munde, den mit Tuch überzogenen Schafpelz tief unten mit einem breiten Gurte fest zusammengeschnallt, aus dem Flur auf die Stufen heraustrat, wo der festgetretene Schnee unter seinen Filzstiefeln 10 laut knirschte. Dort blieb er stehen und bog zu beiden Seiten seines rotwangigen, mit Ausnahme des Schnurrbartes rasierten Gesichtes die Ecken des Kragens seines Schafpelzes mit der Pelzseite nach innen, damit das Pelzwerk nicht vom Atem feucht werde.

„Sieh mal an; so ein Racker; sitzt schon drin!“ sagte er, als er sein Söhnchen im Schlitten erblickte, und zeigte beim Lächeln seine weißen Zähne. Wasili Andrejitsch war durch den Branntwein, den er mit seinen Gästen getrunken hatte, in angeregte Stimmung geraten und daher in noch höherem Grade als sonst mit allem, was ihm gehörte, und mit allem, was er tat, zufrieden. Wasili Andrejitschs blasse, magere, schwangere Frau, den Kopf und die Schultern mit einem wollenen Tuche umwickelt, so daß nur ihre Augen zu sehen waren, gab ihm zu seiner Abfahrt das Geleite und stand hinter ihm im Hausflur.

„Wirklich, du solltest Nikita mitnehmen,“ sagte sie und trat schüchtern aus der Tür heraus. Wasili Andrejitsch antwortete nichts und spuckte nur aus. „Du hast eine große Geldsumme bei dir,“ fuhr die Frau in demselben kläglichen Tone fort. „Und wenn nur nicht auch noch ein Unwetter kommt. Wirklich, du solltest es tun.“

„Ach was, kenne ich etwa den Weg nicht, so daß ich durchaus einen Begleiter nötig hätte?“ erwiderte Wasili Andrejitsch; er sprach mit jener besonderen, gekünstelten Anstrengung der Lippen, mit der er gewöhnlich mit Verkäufern und Käufern redete; augenscheinlich fand er an seiner eigenen Redeweise großes Gefallen.

„Aber wirklich, du solltest ihn mitnehmen. Ich bitte dich um Gottes willen!“ sagte die Frau noch einmal und mummte sich auf der einen Seite noch dichter in ihr Tuch ein.

11

„Sie läßt doch nicht locker. Na, wo soll ich ihn denn im Schlitten lassen?“

„Das wird schon gehn, Wasili Andrejitsch; ich bin bereit,“ sagte Nikita fröhlich. „Nur müßten, wenn ich weg bin, die Pferde gefüttert werden,“ fügte er, zu der Hausfrau gewendet, hinzu.

„Ich werde dafür sorgen, lieber Nikita; ich will Semjon damit beauftragen,“ antwortete die Hausfrau.

„Also wie ists? Soll ich mitfahren, Wasili Andrejitsch?“ fragte Nikita, auf die Entscheidung seines Herrn wartend.

„Ja, ich werde der Alten schon den Gefallen tun müssen. Aber wenn du mitfährst, mußt du dir vorher ein wärmeres Staatskleid anziehen,“ erwiderte Wasili Andrejitsch, wieder lächelnd, und blinzelte dabei mit dem einen Auge nach Nikitas Halbpelz hin, der schmierig und verfilzt und unter den Achseln und am Rücken zerrissen und am Saume ausgefranst war; er hatte offenbar schon viel durchmachen müssen.

„He, lieber Freund, komm doch mal heraus und halte das Pferd!“ rief Nikita nach dem Hofe hinein dem Manne der Köchin zu.

„Ich werde es tun, ich werde es halten!“ sagte der Knabe, nahm seine frierenden, roten Händchen aus den Taschen und ergriff mit ihnen die kalten ledernen Lenkriemen.

„Verbrauche nur nicht zu viel Zeit dabei, dein Galakostüm anzulegen; beeile dich!“ rief Wasili Andrejitsch seinem Knechte spöttisch zu.

„In einem Augenblicke bin ich wieder da, Väterchen Wasili Andrejitsch,“ antwortete Nikita, und mit einwärts gesetzten Fußspitzen in seinen geflickten, schmierigen Filzstiefeln hurtig dahinhuschend, rannte er auf den Hof und in die Gesindestube.

12

„Flink, liebe Arina, gib mir meinen Mantel vom Ofen herunter; ich muß mit dem Herrn wegfahren!“ rief Nikita, während er ins Zimmer hineingelaufen kam, und nahm seinen Gurt vom Nagel.

Die Köchin, die nach dem Mittagessen geschlafen hatte und jetzt gerade dabei war, den Samowar für ihren Mann zurechtzumachen, begrüßte den guten Nikita freundlich, und von seiner Eilfertigkeit angesteckt, rührte sie sich ebenso schnell wie er, langte vom Ofen seinen dort trocknenden, schlechten, abgetragenen Tuchmantel herunter, schüttelte ihn und machte ihn biegsam.

„Nun wirst du hier Raum genug haben, um den Feiertag mit deinem Manne vergnüglich zu verleben,“ sagte Nikita zu der Köchin; denn aus gutmütiger Höflichkeit redete er immer ein bißchen mit jedem Menschen, mit dem er allein zusammen war. Dann legte er sich den schmalen, zusammengefilzten Gurt um, zog seinen an sich schon dünnen Bauch ganz in sich hinein und schnallte den Gurt über dem Halbpelz aus Leibeskräften zusammen.

„Siehst du, so!“ sagte er hierauf, nicht mehr zu der Köchin, sondern zu dem Gurte gewendet, und steckte dessen Enden unter. „Nun wirst du nicht aufgehen!“ Er hob und senkte die Schultern, damit die Arme sich bequem bewegen könnten, zog hierauf den Mantel darüber an, reckte wieder den Rücken, um den Armen Freiheit zu verschaffen, schlug sich unter die Achseln und langte sich seine Handschuhe von dem Wandbrette. „Na, nun ist alles in Ordnung.“

„Du solltest dir etwas anderes auf die Füße ziehen, Nikita Stepanütsch,“ sagte die Köchin. „Deine Stiefel sind recht schlecht.“

Nikita blieb stehen und schien zu überlegen.

13

„Das wäre eigentlich nötig … Na, es wird auch so gehen; es ist ja nicht weit!“

Damit lief er auf den Hof und auf die Straße.

„Wird es dir auch nicht zu kalt sein, lieber Nikita?“ fragte die Hausfrau, als er zu dem Schlitten kam.

„Kalt? Bewahre! Mir ist ganz warm,“ antwortete Nikita, schob am Vorderende des Schlittens das Stroh zurecht, um sich damit die Füße zu bedecken, und steckte die bei einem so braven Pferde entbehrliche Peitsche in das Stroh hinein.

Wasili Andrejitsch saß schon im Schlitten, dessen gebogenen hinteren Teil er fast ganz mit seinem in zwei Pelzen steckenden Rücken ausfüllte, und ergriff nun sofort die Leine und trieb das Pferd an. Nikita setzte sich, während der Schlitten schon fuhr, vorn links zurecht und steckte das eine Bein heraus.

II

D er brave Hengst zog unter leisem Knarren der Kufen den Schlitten an und schritt in munterem Gange auf der innerhalb der Ortschaft glattgefahrenen, gefrorenen Straße dahin.

„Wie kannst du dich unterstehen, dich da aufzuhocken? Gib mal die Peitsche her, Nikita!“ rief Wasili Andrejitsch; er freute sich augenscheinlich über seinen Sohn, der sich hinten auf die Kufen gekauert hatte. „Wart, ich will dich! Lauf zu deiner Mutter, du Schlingel!“

Der Knabe sprang ab. Der Braungelbe beschleunigte seinen Paßgang, schüttelte sich und ging in Trab über.

Das Dorf Krestü, zu welchem Wasili Andrejitschs Haus gehörte, bestand nur aus sechs Häusern. Sobald sie an dem letzten Hause, der Schmiede, vorbei waren, merkten sie sofort, daß der Wind weit stärker war, als sie geglaubt hatten. Vom 14 Wege war fast gar nichts mehr zu sehen. Die Spur der Kufen wurde sofort wieder verweht, und man konnte den Weg nur daran unterscheiden, daß er höher war als das übrige Terrain. Über das ganze Feld hin stürmte es, und die Linie, wo Erde und Himmel sich berühren, war schlechterdings nicht zu erkennen. Der Teljatiner Wald, der sonst immer so gut zu sehen war, erschien durch das Schneegestöber hindurch nur undeutlich als etwas Schwarzes. Der Wind blies von links; er trieb hartnäckig die Mähne an dem drallen, wohlgenährten Halse des Braungelben nach der einen Seite, drückte sogar den aufgebundenen Schweif des Tieres seitwärts und preßte den langen Kragen an dem Mantel Nikitas, der auf der Windseite saß, gegen dessen Gesicht und Nase.

„Er kann nicht ordentlich zutraben, wegen des Schneetreibens,“ sagte Wasili Andrejitsch, der auf sein gutes Pferd stolz war. „Ich bin einmal mit ihm nach Paschutino gefahren, da hat er mich in einer halben Stunde hingebracht.“

„Was?“

„Ich sage, ich bin mit ihm in einer halben Stunde nach Paschutino gefahren.“

„Das kann niemand bestreiten: es ist ein gutes Pferd,“ erwiderte Nikita.

Sie schwiegen ein Weilchen. Aber Wasili Andrejitsch hatte Lust, ein bißchen zu reden.

„Na, wie ist es? Du hast doch wohl deiner Frau verboten, dem Böttcher Schnaps zu geben?“ sagte Wasili Andrejitsch; er war so fest davon überzeugt, daß Nikita sich geschmeichelt fühlen müsse, wenn er sich mit einem so bedeutenden, klugen Manne, wie er, unterhalten dürfe, und so zufrieden mit seinem eigenen Späßchen, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, dieses Gespräch könne seinem Knechte vielleicht unangenehm sein.

15

Nikita hatte wieder nicht verstanden, da der Wind den Ton der Worte seines Herrn weggetragen hatte.

Wasili Andrejitsch wiederholte mit seiner lauten, deutlichen Stimme seinen Scherz über den Böttcher.

„Gott möge es ihnen verzeihen, Wasili Andrejitsch; ich mische mich nicht in diese Sachen. Wenn sie nur meinem Jungen nichts zuleide tut; sonst mag sie machen, was sie will.“

„Da hast du recht,“ antwortete Wasili Andrejitsch. „Na, was meinst du? Willst du dir zum Frühjahr ein Pferd kaufen?“ fragte er, zu einem neuen Gegenstande übergehend.

„Das wird wohl nötig werden,“ antwortete Nikita; er schlug den Kragen seines Mantels zurück und bog sich zu seinem Herrn hin.

Jetzt war das Gespräch für Nikita interessant geworden, und er hatte den Wunsch, alles zu verstehen.

„Der Junge ist nun herangewachsen und muß selbst pflügen; bisher haben wir immer einen Pflüger und ein Pferd gemietet,“ fügte er hinzu.

„Weißt du was? Nehmt meinen Kreuzschwachen; ich werde euch einen billigen Preis machen,“ rief Wasili Andrejitsch. Er fühlte sich in angeregter Stimmung und verfiel infolge dessen auf seine Lieblingsbeschäftigung, der er seine gesamten Geisteskräfte widmete, auf den Handel.

„Sonst könnten Sie mir ja auch fünfzehn Rubel geben, und ich kaufe mir ein Pferd auf dem Pferdemarkt,“ antwortete Nikita, der recht wohl wußte, daß für den Kreuzschwachen, welchen Wasili Andrejitsch an ihn loswerden wollte, sieben Rubel der richtige Preis war, Wasili Andrejitsch aber, wenn er ihm dieses Pferd überließe, es ihm mit fünfundzwanzig Rubeln anrechnen werde und er dann ein halbes Jahr lang von ihm kein Geld werde zu sehen bekommen.

16

„Es ist ein gutes Pferd. Ich meine es mit dir ebenso gut wie mit mir selbst. Auf mein Gewissen. Brechunow übervorteilt keinen Menschen. Lieber verliere ich selbst mein Hab und Gut, als daß ich es so machen sollte wie andere Leute. Auf Ehre!“ rief er in jenem ihm geläufigen Tone, in welchem er diejenigen, mit denen er als Käufer oder Verkäufer handelte, zu beschwatzen suchte. „Es ist ein tüchtiges Pferd.“

„Gewiß, gewiß,“ sagte Nikita mit einem Seufzer, und in der Überzeugung, daß es keinen Zweck habe weiter zuzuhören, ließ er mit der Hand den Kragen los, der ihm sofort wieder das Ohr und das Gesicht bedeckte.

Etwa eine halbe Stunde lang fuhren sie schweigend. Der Wind blies bei Nikita an der Seite und am Arme da hindurch, wo der Pelz zerrissen war.

Er krümmte sich zusammen und atmete in den Kragen hinein, der ihm den Mund bedeckte, und es kam ihm vor, als ob dieser Hauch ihn erwärme.

„Nun, was meinst du? Wollen wir über Karamüschewo fahren oder direkt?“ fragte Wasili Andrejitsch.

Über Karamüschewo ging die Fahrt auf einer vielbenutzten Landstraße, bei der zu beiden Seiten gute Merkstangen aufgestellt waren; aber es war weiter, direkt war es näher; aber der Weg war wenig befahren, und die Merkstangen waren teils nicht mehr vorhanden, teils in so üblem Zustande, daß sie nicht aus dem Schnee hervorragten.

Nikita überlegte einen Augenblick lang.

„Über Karamüschewo ist es ja weiter, aber der Weg ist besser befahren,“ antwortete er.

„Aber direkt brauchen wir nur darauf zu achten, daß wir, ohne uns zu verirren, durch den Hohlweg kommen, und dann 17 ist guter Weg,“ erwiderte Wasili Andrejitsch, welcher Lust hatte, direkt zu fahren.

„Wie Sie belieben,“ antwortete Nikita und ließ den Kragen wieder los.

Wasili Andrejitsch tat, was er in Aussicht genommen hatte: eine halbe Werst weiter, bei einer Merkstange, einem im Winde hin und her wackelnden Eichenstämmchen, an dem noch hier und da trockene Blätter hafteten, bog er links ab.

Nach dieser Biegung hatten sie den Wind fast gerade entgegen. Das Schneetreiben wurde dichter. Wasili Andrejitsch lenkte das Pferd; er blähte die Backen auf und blies sich den Atem von unten in den Schnurrbart. Nikita war eingedruselt.

So fuhren sie etwa zehn Minuten schweigend. Plötzlich sagte Wasili Andrejitsch etwas.

„Was?“ fragte Nikita und öffnete die Augen.

Wasili Andrejitsch gab keine Antwort, sondern drehte und wendete sich und hielt Umschau, nach hinten und am Pferde vorbei nach vorn. Das Pferd, das von Schweiß an den Weichen und am Halse ganz kraus geworden war, ging Schritt.

„Was ist denn? Was ist denn?“ fragte Nikita von neuem.

„Ja, was ist denn, was ist denn?“ äffte Wasili Andrejitsch ihm ärgerlich nach. „Es sind keine Merkstangen zu sehen! Wir müssen vom Wege abgekommen sein!“

„Dann halten Sie doch; ich will den Weg wieder suchen,“ sagte Nikita. Er sprang behende aus dem Schlitten, zog die Peitsche aus dem Stroh heraus und ging nach links zu, nach der Seite, auf der er gesessen hatte.

Der Schnee lag in diesem Jahre nicht tief, so daß man überall gehen konnte; aber an einzelnen Stellen reichte er doch bis 18 ans Knie und füllte von oben her einen Stiefel Nikitas voll. Nikita ging hin und her und tastete mit den Füßen und mit der Peitsche; aber ein Weg war nirgends.

„Nun, wie steht's?“ fragte Wasili Andrejitsch, als Nikita wieder zum Schlitten herankam.

„Auf dieser Seite ist kein Weg. Ich muß nach der anderen Seite suchen gehen.“

„Da nach vorn zu ist etwas Schwärzliches; geh doch mal dahin und sieh zu,“ sagte Wasili Andrejitsch.

Nikita ging dorthin und näherte sich dem, was schwärzlich aussah: dieses Schwärzliche war Erde, die von entblößten Wintersaatfeldern durch den Wind über den Schnee getrieben war und den Schnee schwarz gefärbt hatte. Nachdem Nikita dann auch noch auf der rechten Seite umhergegangen war, kehrte er zum Schlitten zurück, klopfte sich den Schnee ab, schüttelte ihn auch aus dem Stiefel aus und setzte sich wieder in den Schlitten.

„Wir müssen rechts fahren,“ sagte er in entschiedenem Tone. „Vorher bekam ich den Wind in die linke Seite und jetzt gerade ins Gesicht. Fahren Sie nach rechts,“ sagte er mit aller Bestimmtheit.

Wasili Andrejitsch befolgte seine Weisung und hielt nach rechts. Aber auf einen Weg kamen sie dennoch nicht. So fuhren sie eine Zeitlang. Der Wind hatte nicht nachgelassen, und es schneite immer noch.

„Wir sind offenbar ganz und gar vom Wege abgekommen, Wasili Andrejitsch,“ sagte Nikita auf einmal, wie es schien, mit einer Art von Vergnügen. „Was ist das da?“ fuhr er fort und zeigte auf schwarzes Kartoffelkraut, das aus dem Schnee hervorragte.

Wasili Andrejitsch hielt das Pferd an, das schon ganz 19 in Schweiß geraten war und mit den Flanken heftig atmete.

„Was willst du damit?“ fragte er.

„Ich will sagen, daß wir auf dem Felde von Sacharowka sind. Nun seh mal einer, wohin wir geraten sind!“

„Quatsch!“ erwiderte Wasili Andrejitsch, der jetzt in durchaus ungekünstelter, bäuerlicher Sprache redete, ganz anders als zu Hause.

„Das ist kein Quatsch, Wasili Andrejitsch, sondern was ich sage, ist richtig,“ antwortete Nikita. „Auch am Schlitten ist es zu hören, daß wir über ein Kartoffelfeld fahren; und da sind auch Haufen, da haben sie das Kartoffelkraut zusammengeworfen. Das ist das Feld, das zur Brennerei von Sacharowka gehört.“

„Ei ei, wohin haben wir uns verirrt!“ sagte Wasili Andrejitsch. „Was sollen wir nun machen?“

„Wir müssen geradeaus fahren, weiter nichts; irgendwohin werden wir schon kommen,“ erwiderte Nikita. „Kommen wir nicht nach Sacharowka, dann kommen wir nach der herrschaftlichen Meierei.“

Wasili Andrejitsch gehorchte und ließ das Pferd gehen, wie es Nikita geheißen hatte. So fuhren sie ziemlich lange. Manchmal fuhren sie über entblößte Wintersaat, wo die beschneiten Raine und die Schneewehen obenauf mit Erdstaub bedeckt waren. Dann wieder kamen sie auf Stoppelfeld, bald von Wintergetreide, bald von Sommergetreide, wo Beifußstauden und Strohhalme aus dem Schnee hervorragten und im Winde schwankten. Dann wieder kamen sie in tiefen, überall gleichmäßig weißen, eben daliegenden Schnee, aus dessen Oberfläche nichts mehr hervorschaute. Schnee rieselte von oben herab, und Schnee stiebte von unten auf. Manchmal glaubten sie bergauf, manchmal 20 bergab zu fahren; bisweilen hatten sie die Vorstellung, als ständen sie still auf einem Fleck und das Schneefeld liefe neben ihnen vorbei. Beide schwiegen sie. Das Pferd war offenbar sehr ermattet, infolge des Schweißes am ganzen Leibe rauh geworden und von Reif bedeckt; es ging im Schritt. Plötzlich sank es ein und blieb in einer Vertiefung stecken, mochte dies nun eine vom Wasser ausgespülte Stelle oder ein Graben sein. Wasili Andrejitsch wollte anhalten, aber Nikita schrie ihm zu:

„Wozu sollen wir halten? Sind wir hineingefahren, so müssen wir auch wieder hinausfahren. Hü, mein lieber Freund, hü, hü, du lieber Kerl!“ rief er in heiterem Tone dem Pferde zu; er sprang aus dem Schlitten und sank selbst tief in die Höhlung hinein.

Das Pferd zog kräftig an und arbeitete sich sofort auf einen gefrorenen Damm hinauf. Augenscheinlich war es also ein von Menschenhand hergestellter Graben.

„Wo sind wir denn?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„Das werden wir schon erfahren!“ antwortete Nikita. „Fahren Sie nur einfach zu. Irgendwohin werden wir schon kommen.“

„Das wird da wohl der Wald von Gorjatschkino sein?“ sagte Wasili Andrejitsch und zeigte auf etwas Schwarzes, das vor ihnen durch den Schnee hindurch sichtbar wurde.

„Wenn wir herankommen, werden wir sehen, ob das ein Wald ist und was für einer,“ antwortete Nikita.

Nikita hatte bemerkt, daß aus der Gegend, wo sich dieser schwarze Gegenstand befand, trockene, längliche Weidenblätter vom Winde herübergetrieben wurden, und wußte daher, daß da kein Wald war, sondern menschliche Wohnungen; aber er wollte es nicht sagen. Und wirklich waren sie nach dem 21 Graben noch nicht dreißig Schritt weitergefahren, als sie zweifellos dunkle Bäume vor sich hatten, und ein neues, melancholisches Geräusch vernahmen. Nikita hatte richtig vermutet: es war kein Wald, sondern eine Reihe hoher Weidenbäume, an denen noch hier und da Blätter im Winde raschelten. Die Weidenbäume waren augenscheinlich an dem Graben, der eine Tenne umgab, gepflanzt.

Als sie sich den Bäumen näherten, die im Winde so schwermütige Töne von sich gaben, hob sich das Pferd auf einmal mit den Vorderfüßen über die Höhe des Schlittens hinaus, arbeitete sich dann auch mit den Hinterfüßen hinauf und ging nun nicht mehr bis an die Knie im Schnee. Das war ein Fahrweg.

„Da sind wir nun glücklich angekommen,“ sagte Nikita. „Ich weiß bloß nicht, wo wir sind.“

Das Pferd schritt auf dem verschneiten Fahrwege, ohne von ihm abzukommen, dahin, und sie waren auf ihm noch nicht hundert Schritte weit gefahren, als sie wie eine dunkle Masse das Flechtwerk einer Getreidedarre vor sich hatten, von der unaufhörlich Schnee herunterrieselte. Als sie an der Darre vorbei waren, machte der Weg eine Biegung, so daß sie nun den Wind hinter sich hatten, und sie fuhren in eine Schneewehe hinein. Aber darüber hinaus sahen sie vor sich eine Gasse zwischen zwei Häusern, so daß offenbar die Schneewehe auf dem Fahrwege zusammengeweht war und sie hindurchfahren mußten. Und wirklich kamen sie, sobald sie durch die Schneewehe hindurch waren, in die Dorfstraße. Auf dem ersten Gehöfte flatterte steifgefrorene Wäsche, die an einer Leine aufgehängt war, wild im Winde: zwei Hemden, ein rotes und ein weißes, ein Paar Unterhosen, Fußlappen und ein Unterrock. Das weiße Hemd bewegte sich besonders 22 wild und schlug, an den Ärmeln festgesteckt, heftig umher.

„Na, das muß ein faules Weib sein, wenn sie nicht etwa im Sterben liegt; hat die Wäsche zum Fest nicht abgenommen!“ sagte Nikita beim Anblicke der flatternden Wäschestücke.

III

A m Anfang der Dorfstraße war es noch windig, und der Weg war verschneit; aber in der Mitte des Dorfes wurde es still, warm und angenehm. Auf einem Gehöfte bellte ein Hund; bei einem andern kam eine Frau, die sich den Rock über den Kopf geschlagen hatte, von irgendwo hergelaufen und blieb, als sie in die Haustür trat, auf der Schwelle stehen, um nach den Vorbeifahrenden hinzusehen. Aus der Mitte des Dorfes hörte man Mädchen Lieder singen. Wind und Schnee und Kälte, alles schien in dem Dorfe gelinder zu sein.

„Das ist ja Grischkino,“ sagte Wasili Andrejitsch.

„Ja, das stimmt,“ antwortete Nikita.

Und es war auch wirklich Grischkino. Es stellte sich also heraus, daß sie zu weit nach links geraten und ungefähr acht Werst in falscher Richtung gefahren, dabei aber doch ihrem Bestimmungsorte näher gekommen waren. Von Grischkino nach Gorjatschkino waren noch etwa fünf Werst.

In der Mitte des Dorfes stießen sie auf einen hochgewachsenen Mann, der mitten auf der Straße ging.

„Wer kommt denn da angefahren?“ schrie der Mann, hielt das Pferd an, faßte, sobald er Wasili Andrejitsch erkannte, sofort nach der Gabeldeichsel, griff an ihr mit den Händen weiter, gelangte so zum Schlitten und setzte sich auf den Rand desselben.

23

Es war dies ein Bauer, namens Isai, welchen Wasili Andrejitsch kannte; in der ganzen Umgegend war er als der größte Pferdedieb berüchtigt.

„Ah, Wasili Andrejitsch! Wohin geht denn die Reise?“ fragte Isai und hüllte beim Reden Nikita in eine Wolke von Branntweinduft ein.

„Wir wollen nach Gorjatschkino.“

„Wie kommt ihr denn dann hierher? Da hättet ihr doch über Malachowo fahren sollen.“

„Das hätten wir freilich sollen, aber wir haben den Weg verfehlt,“ antwortete Wasili Andrejitsch und hielt das Pferd an.

„Ein hübsches Pferdchen,“ bemerkte Isai, das Pferd musternd, und zog ihm an dem aufgebundenen Schwanze den locker gewordenen Knoten mit wohlgeübtem Griffe bis ganz an die Rübe hinauf.

„Da wollt ihr wohl hier über Nacht bleiben, wie?“

„Nein, lieber Freund, wir müssen notwendig weiterfahren.“

„Ihr müßt es wohl sehr eilig haben. Und wer ist denn das hier? Ah! Nikita Stepanütsch!“

„Wer soll es denn auch sonst sein?“ erwiderte Nikita. „Aber was haben wir zu tun, lieber Mann, damit wir uns nicht noch einmal verirren?“

„Wie könnt ihr euch hier verirren! Wendet um und fahrt geradeaus auf der Dorfstraße zurück, und dann, wenn ihr hinauskommt, immer geradeaus. Nicht links. So kommt ihr an die große Landstraße; und von der müßt ihr dann links abbiegen.“

„Und wo ist die Stelle, wo man von der großen Landstraße abbiegen muß? Ist es ein unbezeichneter Sommerweg oder ein bezeichneter Winterweg?“ fragte Nikita.

24

„Winterweg, Winterweg. Gleich wenn ihr hinkommt, sind da Sträuche, und gegenüber von den Sträuchen steht noch eine große, eichene Merkstange mit Laub daran; da ist es.“

Wasili Andrejitsch wendete um und fuhr wieder durch die Ortschaft zurück.

„Sonst bleibt doch lieber hier über Nacht!“ rief ihnen Isai nach.

Aber Wasili Andrejitsch gab ihm keine Antwort, sondern trieb das Pferd an: fünf Werst ebenen Weges und davon zwei durch Wald, die hoffte er mit Leichtigkeit zurücklegen zu können, um so mehr da, wie es schien, der Wind sich gelegt und das Schneetreiben nachgelassen hatte.

Sie fuhren wieder auf der glatt gefahrenen Straße zurück, auf welcher hier und da frischer Mist dunkle Flecke bildete, kamen bei dem Gehöft mit der Wäsche vorbei, wo inzwischen das weiße Hemd sich zum Teil losgerissen hatte und nur noch an dem einen steif gefrorenen Ärmel hing, fuhren wieder hinaus zu den unheimlich raschelnden Weidenbäumen und gelangten wieder auf das freie Feld. Das Schneetreiben hatte nicht nachgelassen, sondern war im Gegenteil noch heftiger geworden. Der ganze Weg war verschneit, und nur an den Merkstangen konnte man erkennen, daß man nicht von ihm abgekommen war. Aber auch die Merkstangen auf der vor ihm liegenden Wegstrecke zu unterscheiden war für Wasili Andrejitsch sehr schwierig, weil sie gegen den Wind fuhren.

Wasili Andrejitsch kniff die Augen zusammen, beugte den Kopf nach vorn und hielt Ausschau nach den Stangen; großenteils aber ließ er das Pferd gewähren, da er zu dessen Klugheit viel Vertrauen hatte. Und wirklich kam das Pferd nicht vom Wege ab, sondern ging, bald nach rechts bald 25 nach links biegend, unbeirrt weiter, immer den Krümmungen des Weges folgend, den es unter den Füßen fühlte. Auf diese Art sahen sie fortwährend die Merkstangen, bald zur Rechten bald zur Linken, obgleich der Schneefall und der Wind stärker geworden waren.

So waren sie etwa zehn Minuten gefahren, als sich plötzlich gerade vor dem Pferde etwas Schwarzes zeigte, das sich in dem schrägen Netzwerk des vom Winde getriebenen Schnees bewegte. Das waren Leute, die nach derselben Richtung fuhren. Der Braungelbe hatte sie bald eingeholt und schlug mit den Füßen gegen die Rücklehne des vor ihnen fahrenden Schlittens.

„Fahrt doch vorbei! … he! … fahrt doch vor!“ wurde ihnen aus dem Schlitten in herausforderndem Tone zugerufen.

Wasili Andrejitsch begann vorbeizufahren. In dem Schlitten saßen drei Bauern und ein Weib. Offenbar waren sie auf der Heimfahrt von einem Festbesuche. Einer der Bauern schlug mit einer Gerte das kleine Pferdchen fortwährend auf das Hinterteil. Die beiden andern, die gleichfalls vorn im Schlitten saßen, gestikulierten erregt mit den Armen und schrien etwas. Die Frau, ganz vermummt und mit Schnee bedeckt, saß still im Hinterteil des Schlittens, wie ein Vogel, der seine Federn sträubt.

„Wo seid ihr her?“ schrie Wasili Andrejitsch.

„Aus A…a…a…!“ war nur zu hören.

„Wo ihr her seid, frage ich.“

„Aus A…a…a…!“ schrie einer der Bauern aus Leibeskräften; aber trotzdem war es unmöglich, den Namen des Dorfes zu verstehen.

„Hau zu! Laß sie nicht vor!“

26

„Die sind gewiß zum Feste auf Besuch gewesen,“ sagte Nikita zu Wasili Andrejitsch.

„Vorwärts, vorwärts! Hau zu, Semjon! Fahr ihnen vor! Hau zu!“

Die Schlitten stießen mit den Flügeln aneinander, verfingen sich beinahe, kamen aber doch wieder los, und der Bauerschlitten begann zurückzubleiben.

Das zottige, dickbauchige Pferdchen, das ganz mit Schnee bedeckt war und unter dem niedrigen Krummholz schwer keuchte, schleppte sich augenscheinlich unter Aufbietung seiner letzten Kräfte mit den kurzen Beinen, die es ganz unter den Leib zog, durch den tiefen Schnee. Der Kopf des offenbar noch jungen Tieres, mit hinaufgezogener Unterlippe wie bei einem Fische, mit weit geöffneten Nüstern und angstvoll zurückgelegten Ohren, hielt sich einige Sekunden lang neben Nikitas Schulter und begann dann zurückzubleiben.

„Was doch der Branntwein tut,“ sagte Nikita. „Ganz zuschanden gequält haben sie das Pferdchen. Die reinen Barbaren!“

Einige Minuten lang war noch das Schnaufen des gequälten Pferdes und das Geschrei der betrunkenen Bauern zu hören; dann wurde das Schnaufen still, und darauf verstummte auch das Geschrei. Und nun hörten sie wieder ringsum nichts weiter als den an ihren Ohren vorbeipfeifenden Wind und ab und zu das leise Knarren der Kufen an kahlgewehten Stellen des Weges.

Diese Begegnung hatte auf Wasili Andrejitsch ermunternd und ermutigend gewirkt, und er trieb das Pferd, auf das er sich verließ, dreister an, ohne mehr besonders auf die Merkstangen achtzugeben.

Nikita hatte nichts zu tun und versank wieder in Halbschlummer. 27 Auf einmal blieb das Pferd stehen; Nikita hackte mit der Nase nach vorn und wäre beinahe hinausgefallen.

„Wir fahren ja schon wieder falsch,“ sagte Wasili Andrejitsch.

„Was?“

„Es sind keine Merkstangen zu sehen. Wir müssen wieder vom Wege abgekommen sein.“

„Wenn wir vom Wege abgekommen sind, müssen wir ihn wiedersuchen,“ antwortete Nikita kurz, stand auf und begann wieder, mit seinen einwärts gedrehten Füßen behend ausschreitend, durch den Schnee zu wandern. Lange ging er so hin und her, indem er bald aus dem Gesichtskreise verschwand, bald wieder auftauchte und wieder verschwand; endlich kehrte er zurück.

„Da ist kein Weg; vielleicht weiter nach vorn,“ sagte er und setzte sich auf den Schlitten.

Es fing schon an merklich dunkel zu werden. Das Schneetreiben hatte nicht zugenommen, aber sich auch nicht verringert.

„Wenn wir doch wenigstens die Bauern hörten, die wir vorhin trafen,“ sagte Wasili Andrejitsch.

„Die haben uns nicht eingeholt; also müssen wir weit vom Wege abgekommen sein. Aber vielleicht haben die sich auch selbst verirrt,“ bemerkte Nikita.

„Wohin sollen wir denn nun fahren?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„Wir müssen dem Pferde seinen eigenen Willen lassen,“ antwortete Nikita. „Es wird uns schon irgendwohin bringen. Geben Sie mir die Leine.“

Wasili Andrejitsch überließ ihm die Leine um so lieber, als 28 ihm die Hände trotz der warmen Handschuhe zu frieren begannen.

Nikita nahm die Leine; er hielt sie nur, vermied es aber, sie zu bewegen, und freute sich über die Klugheit seines Lieblings. In der Tat machte das kluge Pferd, das bald das eine bald das andre Ohr bald nach der einen bald nach der anderen Seite hin drehte, allmählich mit dem Schlitten eine Wendung.

„Nur nicht reden!“ murmelte Nikita ab und zu. „Sehen Sie nur, was er tut. Geh nur, geh nur; wirst es schon finden. So ist's richtig, so ist's richtig.“

Sie bekamen jetzt den Wind in den Rücken; es wurde wärmer.

„Und klug ist er,“ fuhr Nikita fort sich über das Pferd zu freuen. „Unser junger ‚Kirgise‘ ist ja stark, aber nur dumm. Aber dieser, sehen Sie bloß, was er mit den Ohren anstellt. Der braucht keinen Telegraphen; eine Werst weit spürt er alles.“

Und es war noch keine halbe Stunde vergangen, als vor ihnen wirklich eine dunkle Masse, ein Wald oder ein Dorf, auftauchte und rechter Hand wieder Merkstangen sichtbar wurden. Offenbar waren sie wieder auf einen Weg gekommen.

„Aber das ist ja wieder Grischkino,“ rief auf einmal Nikita.

Wirklich, jetzt stand da links von ihnen jene selbe Getreidedarre, von der der Schnee herunterstiebte, und weiterhin kam dieselbe Leine mit der steif gefrorenen Wäsche, den Hemden und Unterhosen, die noch immer ebenso wild im Winde flatterten.

Wieder fuhren sie in die Dorfstraße hinein, wieder wurde es still, warm und angenehm, wieder sahen sie den frischen 29 Mist auf dem Wege, wieder hörten sie Stimmen und Lieder, wieder fing der Hund an zu bellen. Es war schon so dunkel geworden, daß hinter einigen Fenstern Licht angezündet war.

In der Mitte der Dorfstraße lenkte Wasili Andrejitsch das Pferd zu einem großen, zweistöckigen Hause aus Backstein und hielt es vor dem Tore an.

„Ruf doch mal Taras heraus,“ sagte er zu Nikita.

Nikita trat an das stark verschneite, erleuchtete Fenster, in dessen Scheine die vorbeiflatternden Schneeflocken glänzten, und klopfte mit dem Peitschenstiel an.

„Wer ist da?“ antwortete eine Stimme auf Nikitas Pochen.

„Aus Krestü, lieber Mann; Brechunow und sein Knecht,“ antwortete Nikita. „Komm doch mal auf einen Augenblick heraus.“

Der Mann drinnen trat vom Fenster zurück, und gleich darauf hörte man, wie die Tür nach dem Flur geöffnet wurde, und wie dann die Klinke der Außentür knackte; und die Tür wegen des Windes festhaltend, trat ein alter, weißbärtiger Bauer heraus, mit hoher Mütze, einen Halbpelz über das weiße Feiertagshemd geworfen; hinter ihm stand ein junger Bursche in rotem Hemde, mit Lederstiefeln.

„Bitte näherzutreten,“ sagte der Alte.

„Wir haben den Weg verfehlt, Bruder,“ sagte Wasili Andrejitsch. „Wir wollten nach Gorjatschkino und gerieten hierher zu euch. Dann fuhren wir wieder los und haben uns noch einmal verirrt.“

„Ei, ei, da seid ihr ja arg in der Irre gefahren,“ erwiderte der Alte. „Peter, geh und mach das Tor auf,“ wandte er sich an den jungen Burschen im roten Hemde.

30

„Schön! Gleich!“ antwortete dieser in munterem Tone und lief in den Hausflur.

„Über Nacht bleiben wollen wir nicht, Bruder,“ sagte Wasili Andrejitsch.

„Wohin wollt ihr denn jetzt noch fahren? Es ist ja schon Nacht. Übernachtet doch hier.“

„Das würde ich gern tun; aber ich muß fahren.“

„Nun, dann wärme dich wenigstens auf; der Samowar ist gerade fertig,“ sagte der Alte.

„Sich ein bißchen aufwärmen, das könnte man schon tun,“ erwiderte Wasili Andrejitsch. „Dunkler wird es nicht werden; im Gegenteil, sobald der Mond aufgeht, wird es heller. Komm, Nikita, wir wollen hineingehen und uns aufwärmen.“

„Schön, das können wir ja,“ antwortete Nikita, der arg durchgefroren war und nichts lieber wünschte, als seine erstarrten Glieder am Ofen zu erwärmen.

Wasili Andrejitsch ging mit dem Alten in das Haus hinein, Nikita aber fuhr durch das von Peter geöffnete Tor und brachte nach dessen Anweisung das Pferd unter das Schutzdach des Schuppens. Unten auf dem Boden lag viel Mist, und das hohe Krummholz stieß oben gegen die Querstange. Die Hühner mit ihrem Hahn, die sich bereits auf die Querstange gesetzt hatten, fingen unzufrieden an zu gackern und klammerten sich mit den Krallen fester an die Querstange. Die geängstigten Schafe drängten sich in dichtem Haufen zur Seite; ihre hornigen Klauen klapperten laut auf dem gefrorenen Miste. Ein Hund, offenbar ein noch junges Tier, stieß zunächst ein entsetztes Gewinsel aus und bellte dann in seinem Schreck und Ingrimm den fremden Eindringling heftig an.

31

Nikita redete mit allen: er entschuldigte sich bei den Hühnern und suchte sie durch die Versicherung zu beruhigen, daß er sie nicht weiter belästigen werde; er machte den Schafen Vorwürfe, daß sie sich fürchteten, ohne selbst zu wissen wovor, und redete, während er das Pferd festband, unaufhörlich dem jungen Hunde ins Gewissen.

„So, jetzt wird es in Ordnung sein,“ sagte Nikita und klopfte nun den Schnee von seinem eigenen Leibe ab. „Aber was er für einen Spektakel macht!“ fügte er mit Bezug auf den Hund hinzu. „Warte du nur! Na, nun genug … dummer Kerl. Genug. Regst dich bloß auf,“ sagte er. „Es sind ja keine Diebe; gute Bekannte …“

„Das sind, wie man so sagt, die drei häuslichen Ratgeber,“ sagte der junge Bursche und schob mit kräftigen Armen den noch draußen stehenden Schlitten unter das Schutzdach.

„Was heißt das: Ratgeber?“ fragte Nikita.

„So steht im Paulson gedruckt: ‚Schleicht ein Dieb zum Hause, so bellt der Hund; das bedeutet: schlaf nicht, paß auf. Der Hahn kräht; das bedeutet: steh auf. Die Katze wäscht sich; das bedeutet: ein werter Gast kommt; mach dich bereit, ihn zu bewirten,‘“ sagte der junge Bursche lächelnd her.

Peter konnte lesen und schreiben, wußte das einzige Buch, das er besaß, das Lesebuch von Paulson, beinah auswendig und zitierte, namentlich wenn er, wie an diesem Tage, etwas getrunken hatte, gern daraus Denksprüche, die ihm zu der Gelegenheit zu passen schienen.

„Das stimmt,“ erwiderte Nikita.

„Du bist wohl tüchtig durchgefroren, Onkelchen?“ fragte Peter.

32

„Ja freilich,“ antwortete Nikita. Sie gingen über den Hof und durch den Flur in die Stube.

IV

D ie Bauernwirtschaft, in welcher Wasili Andrejitsch eingekehrt war, war eine der reichsten im Dorfe. Die Familie hatte fünf ihr zugewiesene Landparzellen inne und pachtete außerdem noch Land dazu. In der Wirtschaft waren sechs Pferde, drei Kühe, zwei Kälber und gegen zwanzig Schafe. Die Zahl der Familienmitglieder, die zu der Wirtschaft gehörten, belief sich im ganzen auf zweiundzwanzig: vier verheiratete Söhne, sechs Enkel, von denen einer, Peter, schon verheiratet war, zwei Urenkel, drei Waisen und vier Schwiegertöchter mit kleinen Kindern. Es war eine der seltenen Wirtschaften, die noch ungeteilt geblieben waren; aber auch hier war im Innern schon längst die stille Wühlarbeit der Zwietracht im Gange, die, wie immer, unter den Weibern ihren Anfang genommen hatte und unvermeidlich in Bälde zur Teilung führen mußte. Zwei Söhne lebten in Moskau als Wasserfahrer, einer war Soldat. Zu Hause waren jetzt der Alte, seine Frau, ein in der Wirtschaft tätiger Sohn und ein Sohn, der aus Moskau zu den Feiertagen auf Besuch gekommen war, ferner Peter, sowie Weiber und Kinder. Außer den Familienangehörigen war noch ein Gast da, der Nachbar Dorfschulze.

In der Stube hing über dem Tische eine Lampe mit einem Schutzschirm darüber und warf ihr helles Licht auf das darunter stehende Teegeschirr, die Flasche mit Schnaps, die kalten Speisen, sowie auf die mit Ziegeln bekleideten Wände in der Ehrenecke, wo mehrere Heiligenbilder und zu beiden Seiten davon andere Bilder hingen. Auf dem Ehrenplatze 33 am Tische saß, nur im schwarzen Halbpelz, Wasili Andrejitsch, der an seinem gefrorenen Schnurrbart sog und mit seinen hervorstehenden Habichtsaugen um sich herum die anwesenden Leute und die Stube musterte. Außer Wasili Andrejitsch saß am Tische der weißbärtige, kahlköpfige alte Hausherr in weißem, hausgewebtem Hemde, neben ihm der aus Moskau zu den Feiertagen gekommene Sohn, mit kräftigem Rücken und starken Schultern, in einem feinen Kattunhemde, ferner jener andere Sohn, der breitschultrige älteste Bruder, der im Hause die Wirtschaft führte, und endlich der hagere, rothaarige Dorfschulze.

Die Männer, die bereits gegessen und Branntwein dazu getrunken hatten, wollten gerade zum Tee übergehen, und der Samowar, der beim Ofen auf dem Fußboden stand, summte bereits. Auf den Schlafgerüsten und auf dem Ofen lagen eine Anzahl von Kindern. Auf einer Pritsche saß, über eine Wiege gebeugt, ein Weib. Die alte Hausfrau, deren Gesicht nach allen Richtungen hin von kleinen Fältchen überzogen war, durch die sogar ihre Lippen gerunzelt waren, versorgte Wasili Andrejitsch mit Speise und Trank.

In dem Augenblicke, als Nikita in die Stube trat, hatte sie gerade ein aus sehr dickem Glase bestehendes Gläschen mit Branntwein gefüllt und trug es zu Wasili Andrejitsch hin.

„Nimm fürlieb, Wasili Andrejitsch,“ sagte der Alte. „Das geht schon nicht anders: dem Feiertag zu Ehren muß man ein Gläschen trinken.“

Der Anblick und der Geruch des Branntweins, namentlich jetzt, wo er durchgefroren und ermattet war, versetzten Nikita in starke Erregung. Er machte ein finsteres Gesicht, schüttelte sich den Schnee von der Mütze und vom Mantel ab, trat vor die Heiligenbilder und bekreuzte und verbeugte sich dreimal 34 vor ihnen, als ob er keinen der im Zimmer Anwesenden überhaupt gewahr würde; dann erst wandte er sich zu dem alten Hauswirt, verbeugte sich zuerst vor ihm, dann vor allen übrigen, die am Tische saßen, dann vor den am Ofen stehenden Weibern, und nachdem er gesagt hatte: „Ich wünsche Glück zum Feiertage,“ begann er, ohne nach dem Tische hinzublicken, seinen Mantel auszuziehen.

„Na, du bist aber mal gut bereift, Onkel,“ sagte der älteste Sohn mit einem Blick auf Nikitas Gesicht, Augen und Bart, die ganz mit Schnee gepudert waren. Nikita legte den Mantel ab, schüttelte ihn noch einmal aus, hängte ihn an den Ofen und trat an den Tisch. Man bot ihm ebenfalls Branntwein an. Es war ein Augenblick qualvollen Kampfes: beinahe hätte er das Gläschen genommen und die verlockend duftende, helle Flüssigkeit in den Mund gegossen; aber er blickte Wasili Andrejitsch an, erinnerte sich an sein Gelöbnis, erinnerte sich an die vertrunkenen Stiefel, erinnerte sich an den Böttcher, erinnerte sich an seinen Jungen, dem er versprochen hatte, ihm zum Frühjahr ein Pferd zu kaufen; er seufzte und lehnte den Branntwein ab.

„Ich danke ergebenst; ich trinke nicht,“ sagte er mit finsterer Miene und setzte sich an das zweite Fenster auf die Bank.

„Warum denn nicht?“ fragte der älteste Sohn.

„Das ist nun mal so: ich trinke eben nicht,“ antwortete Nikita; er hob seine Augen nicht auf, sondern schielte nach seinem Schnurr- und Kinnbart und brachte die darin befindlichen Eisstückchen zum Schmelzen.

„Es bekommt ihm nicht,“ bemerkte Wasili Andrejitsch und aß zu dem Gläschen Schnaps, das er getrunken hatte, einen Fastenkringel hinterher.

„Nun, dann ein Täßchen Tee,“ sagte die freundliche alte 35 Frau. „Du bist gewiß tüchtig durchgefroren, guter Mann. Was trödelt ihr denn so lange mit dem Samowar, ihr Weiber?“

„Er ist fertig,“ antwortete eine junge Frau, fächelte mit einem Vorhang dem überkochenden, zugedeckten Samowar Luft zu, trug ihn mit Mühe heran, hob ihn in die Höhe und setzte ihn mit einem lauten Stoß auf den Tisch.

Unterdessen hatte Wasili Andrejitsch erzählt, wie sie vom Wege abgekommen seien, wie sie zweimal zu demselben Dorfe gelangt wären, wie sie irre gefahren und wie sie mit den Betrunkenen zusammengetroffen seien. Die Leute vom Hause wunderten sich, setzten ihm auseinander, wo und warum sie vom Wege abgekommen seien, und wer die Betrunkenen gewesen wären, und belehrten ihn, wie er fahren müsse.

„Von hier nach Moltschanowka kann ein kleines Kind fahren; man braucht nur auf die Stelle aufzupassen, wo der Weg von der großen Landstraße abbiegt; da ist ein Gebüsch. Wunderlich, daß ihr euch nicht hingefunden habt!“ sagte der Schulze.

„Ihr solltet die Nacht über hierbleiben. Die Frauen werden euch ein Nachtlager zurechtmachen,“ redete ihnen die Alte freundlich zu.

„Morgen früh fahrt ihr dann weiter; das wäre schon das Beste,“ fügte der Alte bekräftigend hinzu.

„Es geht nicht, Bruder. Die Geschäfte!“ erwiderte Wasili Andrejitsch. „Was man in einer Stunde versäumt hat, bringt man in einem Jahre nicht wieder ein,“ fuhr er fort und dachte dabei an den Wald und an die Händler, die ihm bei diesem Kaufe zuvorkommen konnten. „Wir werden ja doch wohl hinkommen?“ wandte er sich an Nikita.

Nikita gab lange keine Antwort und tat, als wäre er mit dem Auftauen seines Bartes vollauf beschäftigt.

„Wenn wir nur nicht wieder den Weg verfehlen,“ sagte er 36 endlich mürrisch. Nikita war mißgestimmt, weil er ein leidenschaftliches Verlangen nach Branntwein hatte; das Einzige, was ihm über dieses Verlangen hätte hinweghelfen können, war Tee; aber Tee war ihm noch nicht angeboten worden.

„Wenn wir nur glücklich bis dahin kommen, wo der Weg abzweigt,“ sagte Wasili Andrejitsch. „Dann können wir uns ja nicht mehr verirren; dann geht es durch Wald bis zu unserem Ziele.“

„Sie haben zu bestimmen, Wasili Andrejitsch, ob wir fahren sollen oder nicht,“ sagte Nikita, indem er ein ihm hingereichtes Glas Tee in Empfang nahm.

„Wir wollen tüchtig Tee trinken, und dann vorwärts!“

Nikita schwieg und wiegte nur den Kopf hin und her. Behutsam goß er den Tee in die Untertasse und wärmte an dem Dampfe seine durchgefrorenen Hände. Darauf biß er von einem Stück Zucker eine kleine Ecke ab, verbeugte sich vor den Wirtsleuten, sagte: „Auf Ihr Wohl!“ und schlürfte dann die wärmende Flüssigkeit ein.

„Wenn uns doch jemand bis an den Scheideweg bringen könnte,“ sagte Wasili Andrejitsch.

„Gewiß, das kann geschehen,“ antwortete der älteste Sohn. „Peter kann ja anspannen und euch bis an den Scheideweg begleiten.“

„Nun, dann spann an, liebster Freund. Ich werde dir dafür sehr dankbar sein.“

„Was redest du, lieber Mann!“ sagte die freundliche Alte. „Wir freuen uns von Herzen, dir behilflich sein zu können.“

„Geh, Peter, und spanne die Stute an,“ sagte der älteste Sohn.

„Schön,“ erwiderte Peter lächelnd, nahm sofort seine Mütze vom Nagel und lief hinaus, um anzuspannen.

37

Während das Pferd angeschirrt wurde, ging das Gespräch wieder zu dem Gegenstande über, um den es sich zu der Zeit gedreht hatte, als Wasili Andrejitsch vor das Fenster gefahren kam. Der Alte beklagte sich bei seinem Nachbar, dem Dorfschulzen, über seinen dritten Sohn, der zu den Feiertagen ihm selbst gar nichts und seiner Frau ein französisches Tuch als Geschenk geschickt hatte.

„Das junge Volk entzieht sich ganz der elterlichen Zucht,“ sagte der Alte.

„Ganz und gar,“ erwiderte der Dorfschulze. „Es ist nicht mehr zum Aushalten. Sie sind gar zu klug geworden. Da zum Beispiel dieser Demotschkin, der hat seinem Vater bei einem Streite den Arm gebrochen. Das kommt alles von der großen Klugheit her; da ist kein Zweifel.“

Nikita hörte zu, blickte den Redenden ins Gesicht und hätte sich offenbar gern ebenfalls an dem Gespräche beteiligt; aber er war von dem Teetrinken vollständig in Anspruch genommen und nickte nur beistimmend mit dem Kopfe. Er trank ein Glas nach dem andern, und es wurde ihm immer wärmer, immer behaglicher. Im weiteren Verlaufe blieb das Gespräch lange bei ein und demselben Gegenstande stehen, bei den schädlichen Folgen der Wirtschaftsteilungen, und das Gespräch hatte offenbar nicht etwa einen theoretischen Charakter, sondern es handelte sich dabei um die Teilung in diesem Hause, eine Teilung, die der zweite Sohn forderte, der hier mit dabei saß und mürrisch schwieg. Augenscheinlich war dies ein wunder Punkt, und diese Frage war für alle Hausgenossen von größtem Interesse; aber aus Anstandsgefühl mochten sie in Gegenwart Fremder ihre Privatangelegenheit nicht erörtern. Indes konnte sich der Alte schließlich doch nicht halten und erklärte mit einer Stimme, der man anhörte, daß ihm die 38 Tränen nahe waren, solange er lebe, werde er in keine Teilung willigen; jetzt habe er, Gott sei Dank, ein wohleingerichtetes Haus; wenn aber die Wirtschaft geteilt würde, dann könnten sie allesamt betteln gehn.

„So wie es bei den Matwejews gegangen ist,“ sagte der Schulze. „Es war ein schönes Anwesen; aber da haben sie es geteilt, und nun hat keiner etwas.“

„Dahin möchtest du es auch bringen,“ wandte sich der Alte an seinen Sohn.

Der Sohn antwortete nichts, und es trat ein unbehagliches Stillschweigen ein. Dieses Stillschweigen unterbrach Peter, der das Pferd angespannt hatte und vor einigen Minuten wieder in die Stube gekommen war. Er hatte, seit er in der Stube war, dem Gespräche zugehört und dabei fortwährend gelächelt.

„Eine solche Geschichte steht auch im Paulson,“ sagte er. „Ein Vater gab seinen Söhnen ein Rutenbündel zum Zerbrechen. Das Bündel konnten sie nicht zerbrechen; aber jede einzelne Rute zerbrachen sie leicht. So ist es hier auch,“ sagte er und lächelte über das ganze Gesicht. „Es ist fertig,“ fügte er hinzu.

„Nun, wenn's fertig ist, dann wollen wir fahren,“ sagte Wasili Andrejitsch. „Und was die Teilung betrifft, Großväterchen, so gib du nur nicht nach. Du hast alles erworben, und du bist Herr darüber. Mach eine Eingabe an den Friedensrichter; der wird schon Ordnung stiften.“

„Immer macht er Randal, immer macht er Randal,“ fuhr der Alte mit weinerlicher Stimme in seinen Klagen fort. „Es ist gar nicht mehr mit ihm auszukommen. Rein des Teufels ist er.“

Unterdessen hatte Nikita sein fünftes Glas Tee ausgetrunken, 39 stellte aber sein Glas auch jetzt noch nicht umgekehrt hin, sondern legte es auf die Seite, in der Hoffnung, es werde ihm auch noch ein sechstes eingegossen werden. Aber es war kein Wasser mehr im Samowar, und die Hausfrau goß ihm nicht mehr ein; auch begann Wasili Andrejitsch sich anzuziehen. So war denn weiter nichts zu machen. Nikita stand gleichfalls auf, legte sein Stück Zucker, von dem er auf allen Seiten abgebissen hatte, in die Zuckerdose zurück, wischte sich mit dem Schoße seines Halbpelzes den Schweiß vom Gesichte und ging an den Ofen, um sich seinen Mantel anzuziehen.

Als er damit fertig war, seufzte er schwer auf, bedankte sich bei den Wirtsleuten und verabschiedete sich von ihnen; dann ging er aus der warmen, hellen Stube in den dunklen, kalten Flur, wo der eindringende Wind tobte und heulte und der durch die Türritzen getriebene Schnee den Fußboden bedeckte, und trat von da auf den dunklen Hof hinaus.

Peter, in einem Pelz, stand mitten auf dem Hofe bei seinem Pferde und sagte lächelnd eine Strophe aus dem Paulson her:

„Der Schneesturm verdunkelt den Himmel schier,
Wild wirbeln die Flocken im Wind;
Bald klingt's, als heulte ein wildes Tier,
Und bald, als weinte ein Kind.“

Nikita nickte beifällig mit dem Kopfe und brachte die Lenkseile in Ordnung.

Der Alte, welcher Wasili Andrejitsch hinausbegleitete, kam mit einer Laterne in den Flur, um ihm zu leuchten; aber die Laterne erlosch sofort. Und auf dem Hofe konnte man sogar spüren, daß der Schneesturm noch ärger geworden war als vorher.

„Na, das ist einmal ein Wetter!“ dachte Wasili Andrejitsch. 40 „Da kommen wir womöglich gar nicht hin. Aber es muß sein; die Geschäfte! Und ich habe mich ja auch schon fertig gemacht. Und das Pferd des Wirtes ist auch schon angespannt. Mit Gottes Hilfe werden wir schon hinkommen.“ Der alte Hauswirt dachte gleichfalls, daß es nicht rätlich sei zu fahren; aber er hatte schon einmal zum Bleiben zugeredet, ohne daß der Gast auf ihn gehört hatte. „Vielleicht ist es auch nur mein Alter, was mich so ängstlich macht; sie werden schon hinkommen,“ sagte er bei sich. „Und wenigstens können wir uns dann rechtzeitig schlafen legen und haben keine Mühe und Umstände.“

Auch Peter sah, daß es gefährlich war zu fahren, und hatte seine Besorgnisse; aber das hätte er um keinen Preis gezeigt; vielmehr spielte er den Couragierten und tat, als hätte er nicht die geringste Furcht; auch hatten ihn wirklich die Verse über den Schneesturm dadurch einigermaßen ermutigt, daß sie so vollständig das zum Ausdruck brachten, was draußen vorging. Nikita hatte schlechterdings keine Lust zu fahren; aber er hatte sich schon längst daran gewöhnt, keinen eigenen Willen zu besitzen und anderen zu gehorchen. So hielt denn niemand die Abfahrenden zurück.

V

W asili Andrejitsch trat zu seinem Schlitten (er konnte in der Dunkelheit nur mit Mühe unterscheiden, wo dieser stand), stieg hinein und ergriff die Leine.

„Na, dann fahr voran!“ rief er.

Peter, der in seinem Schlitten kniete, trieb sein Pferd an. Der Braungelbe, der schon lange gewiehert hatte, da er die Stute vor sich witterte, rannte ihr nach, und sie kamen auf die Dorfstraße hinaus. Wieder fuhren sie durch die Ortschaft, 41 auf demselben Wege, an demselben Gehöfte mit der aufgehängten, steif gefrorenen Wäsche vorbei, die jetzt nicht mehr zu sehen war, vorbei an derselben Darre, die bereits fast bis zum Dache verschneit war, und von der unaufhörlich der Schnee herunterrieselte, vorbei an denselben traurig raschelnden, pfeifenden, sich biegenden Weidenbäumen, und fuhren nun wieder hinein in das von oben und unten her tobende Meer von Schnee. Der Wind war so stark, daß, da er von der Seite kam und gegen die Fahrenden wie gegen ein Segel drückte, er den Schlitten aufkippte und das Pferd zur Seite legte. Peter fuhr mit seiner flott austrabenden tüchtigen Stute voran und stieß von Zeit zu Zeit einen ermunternden Schrei aus. Der Braungelbe lief hinter ihr her.

Als sie so etwa zehn Minuten lang gefahren waren, wandte sich Peter um und rief ihnen etwas zu. Weder Wasili Andrejitsch noch Nikita konnte es bei dem Winde verstehen. Aber sie vermuteten, daß sie bei der Wegscheide angekommen seien. Und wirklich bog Peter links ein, und der Wind, der bisher von der Seite gekommen war, blies ihnen jetzt wieder entgegen, und da wurde auch durch den Schnee hindurch etwas Dunkles sichtbar. Das war das Gesträuch an der Wegscheide.

„Nun, dann fahrt mit Gott weiter!“

„Vielen Dank, lieber Peter!“

„Der Schneesturm verdunkelt den Himmel schier, wild wirbeln die Flocken im Wind,“ rief Peter und verschwand.

„Ei sieh mal, was das für ein Dichter ist,“ sagte Wasili Andrejitsch und schüttelte mit der Leine.

„Ja, es ist ein tüchtiger Bursche, so ein richtiger Bauer,“ erwiderte Nikita.

Sie fuhren weiter. Nikita hatte sich tief eingemummt und 42 den Kopf so in die Schultern hineingezogen, daß sein kleiner Bart ihm den Hals bedeckte; so saß er schweigend da, darauf bedacht, die durch den Tee in seinem Körper angesammelte Wärme nicht wieder zu verlieren. Vor sich sah er die geraden Linien der Gabeldeichsel, die ihn fortwährend in die Täuschung versetzten, als ob da ein vielbefahrener Weg sei, und das hin und her schaukelnde Hinterteil des Pferdes mit dem nach einer Seite gewendeten, in einen Knoten gebundenen Schwanze, und weiter vorn das hohe Krummholz und den auf und ab gehenden Kopf und Hals des Pferdes mit der auseinanderflatternden Mähne. Mitunter fiel sein Blick auf Merkstangen, so daß er wußte, daß sie noch auf dem Wege fuhren und es für ihn nichts zu tun gab.

Wasili Andrejitsch führte die Zügel, überließ aber meist dem Pferde, selbst dafür zu sorgen, daß sie auf dem Wege blieben. Aber trotzdem der Braungelbe sich im Dorfe ausgeruht hatte, lief er doch nur ungern, und es machte den Eindruck, als ob er vom Wege abbiegen wollte, so daß Wasili Andrejitsch ihn einige Male zurechtlenken mußte.

„Da rechts ist eine Merkstange, da die zweite, da die dritte,“ zählte Wasili Andrejitsch im stillen. „Und da vorn ist auch der Wald,“ dachte er, da er etwas Dunkles vor sich erblickte. Aber was er für einen Wald gehalten hatte, war nur ein Strauch. Sie fuhren an dem Strauche vorbei, sie fuhren noch etwa sechzig Schritt weiter: aber es war weder von der vierten Merkstange noch vom Walde etwas zu sehen.

„Der Wald muß doch gleich kommen,“ dachte Wasili Andrejitsch, und erregt durch den genossenen Branntwein und Tee, trieb er unaufhörlich das Pferd mit den Zügeln an, und das folgsame, gute Tier gehorchte und lief bald im Paßgang bald 43 in kurzem Trabe dahin, wohin es gelenkt wurde, obwohl es wußte, daß sein Herr es ganz und gar nicht nach der richtigen Seite lenkte. Es vergingen noch zehn Minuten; der Wald wollte immer noch nicht kommen.

„Da haben wir ja wieder den Weg verloren!“ sagte Wasili Andrejitsch und hielt das Pferd an.

Nikita stieg schweigend aus dem Schlitten, und seinen Mantel haltend, der infolge des Windes ihm bald dicht am Körper klebte, bald sich bauschte und von ihm weg wollte, machte er sich daran, durch den Schnee zu waten; er ging nach der einen, er ging nach der anderen Seite. Dreimal verschwand er ganz aus der Sehweite. Endlich kehrte er zurück und nahm seinem Herrn die Leine aus der Hand.

„Nach rechts müssen wir fahren,“ sagte er kurz und in bestimmtem Tone und wendete das Pferd.

„Na, wenn du das meinst, wollen wir nach rechts fahren,“ erwiderte Wasili Andrejitsch, überließ ihm die Leine und schob seine frierenden Hände in die Ärmel. „Und wenn wir auch nur nach Grischkino zurückkommen.“

Nikita antwortete nicht.

„Nun, Freundchen, leg dich mal ordentlich ins Zeug!“ rief er dem Pferde zu; aber das Pferd ging trotz alles Schüttelns mit der Leine nur im Schritt. Der Schnee lag stellenweise knietief, und der Schlitten kam bei jeder Bewegung des Pferdes nur mit einem Ruck vorwärts.

Nikita griff nach der Peitsche, die am Vorderteile des Schlittens hing, und schlug das Pferd. Das gute, an solche Behandlung nicht gewöhnte Tier machte ein paar heftige Sätze und setzte sich in Trab, ging dann aber sogleich wieder in Paßgang und in Schritt über. So fuhren sie etwa fünf Minuten. Es war so dunkel, und der Schnee stiebte so dicht 44 von oben und von unten, daß mitunter nicht einmal das Krummholz zu sehen war. Manchmal schien es, als ob der Schlitten auf einem Fleck stillstände und das Feld nach hinten hin liefe. Plötzlich machte das Pferd kurz halt; offenbar witterte es vor sich irgend etwas Unheimliches. Nikita sprang, die Leine hinwerfend, wieder behende hinaus und ging vor das Pferd, um nachzusehen, weshalb es stehen geblieben sei; aber kaum hatte er einen Schritt über den Kopf des Pferdes hinaus gemacht, als ihm die Füße ausglitten und er einen Abhang hinunterrutschte.

„Halt, brr, halt!“ rief er sich selbst zu, während er hinabsank und einen Halt suchte; aber es gelang ihm nicht eher, zum Stillstand zu kommen und festen Fuß zu fassen, als bis er mit den Beinen in eine am Grunde der Schlucht zusammengewehte tiefe Schneeschicht hineingefahren war.

Eine am oberen Rande der Schlucht überhängende Schneewachte war durch Nikitas Fall erschüttert worden, stürzte auf ihn herunter und schüttete ihm Schnee in den Nacken.

„Aber was ist das für ein Benehmen von euch,“ sagte Nikita vorwurfsvoll, sich an die Schneewachte und an die Schlucht wendend, und schüttelte sich den Schnee aus dem Kragen.

„Nikita! He! Nikita!“ rief Wasili Andrejitsch von oben. Aber Nikita antwortete nicht auf den Ruf.

Er hatte keine Zeit; er mußte sich den Schnee abschütteln und dann die Peitsche suchen, die er beim Herunterrutschen von dem Abhange verloren hatte. Als er die Peitsche gefunden hatte, wollte er geradeswegs wieder da hinaufklettern, wo er herabgeglitten war; aber dies war ein Ding der Unmöglichkeit; er rutschte immer wieder zurück, so daß er unten umhergehen mußte, um eine geeignete Stelle zum Aufstieg 45 zu suchen. Ungefähr acht Schritte entfernt von der Stelle, wo er heruntergerutscht war, kroch er mühsam auf allen vieren die Anhöhe hinauf und ging nun am Rande der Schlucht nach der Stelle zu, wo das Pferd sein mußte. Indessen Pferd und Schlitten waren nicht zu sehen; aber da er gegen den Wind ging, so hörte er, bevor er noch etwas sah, das Schreien Wasili Andrejitschs und das Wiehern des Braungelben, die ihn riefen.

„Ich komme, ich komme. Was schreist du so?“ sagte er vor sich hin.

Erst als er schon ganz dicht beim Schlitten war, erblickte er das Pferd und den neben dem Schlitten stehenden Wasili Andrejitsch, der übermäßig groß erschien.

„Zum Teufel, wo warst du denn geblieben?“ schalt dieser ärgerlich den Herankommenden. „Wir müssen zurückfahren. Meinetwegen wollen wir nach Grischkino zurückkehren.“

„Zurückfahren möchte ich schon ganz gern, Wasili Andrejitsch; aber nach welcher Seite sollen wir fahren? Hier ist eine so zerklüftete Gegend, wenn wir da irgendwo mit dem Schlitten hineinfallen, kommen wir nicht wieder heraus. Ich bin da so hinuntergeschurrt, daß ich mich nur mit Not und Mühe wieder heraufgearbeitet habe.“

„Na, aber wir können hier doch nicht stehen bleiben; irgendwohin müssen wir doch fahren!“ sagte Wasili Andrejitsch.

Nikita gab keine Antwort. Er setzte sich auf den Schlitten, mit dem Rücken gegen den Wind, zog sich die Stiefel aus und schüttelte den Schnee heraus, der ihm da hereingekommen war; dann nahm er etwas Stroh und verstopfte damit sorgfältig von innen ein Loch im linken Stiefel.

Wasili Andrejitsch schwieg, als ob er jetzt alle weiteren Entscheidungen seinem Knechte anheimstelle. Nachdem Nikita 46 seine Stiefel wieder angezogen hatte, nahm er die Beine in den Schlitten herein, zog seine Fausthandschuhe wieder an, ergriff die Leine und lenkte das Pferd an der Schlucht entlang. Aber sie waren noch nicht hundert Schritte weit gefahren, als das Pferd wieder jählings stehen blieb. Es hatte wieder eine Schlucht vor sich.

Nikita stieg wieder aus und begann wieder im Schnee umherzuwaten. Das dauerte ziemlich lange. Endlich erschien er wieder, und zwar von derjenigen Seite, welche der, nach der er sich entfernt hatte, gerade entgegengesetzt war.

„Wasili Andrejitsch, wo sind Sie?“ rief er.

„Hier,“ antwortete Wasili Andrejitsch. „Nun, wie steht's?“

„Es ist nichts zu unterscheiden. Es ist zu dunkel. Überall Schluchten. Wir müssen wieder gegen den Wind fahren.“

Wieder fuhren sie eine Strecke; wieder ging Nikita im Schnee umher und fiel dabei; wieder setzte er sich in den Schlitten; wieder ging er und fiel; und endlich blieb er, keuchend vor Erschöpfung, bei dem Schlitten stehen.

„Nun, was gibt's?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„Ja, was gibt's! Ich bin ganz matt. Und das Pferd kann auch nicht mehr.“

„Was sollen wir nun also tun?“

„Warten Sie einen Augenblick.“

Nikita ging nochmals weg und kehrte bald zurück.

„Fahren Sie hinter mir her,“ sagte er und ging vor dem Pferde voran.

Wasili Andrejitsch hatte ganz darauf verzichtet, irgendwelche Weisungen zu geben, sondern tat gehorsam, was ihm Nikita sagte.

„Hierher, mir nach!“ rief Nikita, sich schnell nach rechts wendend, 47 ergriff den Braungelben am Zügel und lenkte ihn in eine Schneewehe hinein. Das Pferd sträubte sich anfangs, machte aber dann einen starken Satz, in der Hoffnung, über die Schneewehe hinüberzuspringen; jedoch reichte seine Kraft nicht dazu aus, und es versank in den Schnee bis an das Kumt. „Steigen Sie doch aus!“ schrie Nikita seinen Herrn an, der im Schlitten sitzen geblieben war, faßte unter die eine Deichselstange und versuchte, den Schlitten an das Pferd heranzuschieben. „Ja, es geht ein bißchen schwer, Brüderchen,“ wandte er sich an den Braungelben. „Aber was ist zu machen? Gib dir mal rechte Mühe! Zu! Zu! Noch ein bißchen!“ schrie er. Das Pferd zog einmal und noch einmal an, vermochte aber trotzdem nicht, sich herauszuarbeiten, und blieb wieder stecken. Es machte eigentümliche Bewegungen mit den Ohren und legte schnuppernd den Kopf auf den Schnee, wie wenn es über etwas nachdächte. „Na aber, Brüderchen, so ist das nicht gut,“ sagte Nikita ermahnend zu dem Braungelben. „Los, noch einmal!“ Wieder zog Nikita auf seiner Seite an der Deichselstange. Wasili Andrejitsch tat auf der andern Seite dasselbe. Das Pferd drehte den Kopf hin und her; dann gab es sich auf einmal einen starken Ruck.

„Na, zu! zu! Keine Angst, du wirst nicht ertrinken!“ rief Nikita.

Ein Sprung, ein zweiter, ein dritter – endlich hatte sich das Pferd aus der Schneewehe herausgearbeitet und blieb nun, schwer atmend und sich schüttelnd, stehen. Nikita wollte es weiterführen; aber Wasili Andrejitsch war in seinen zwei Pelzen so außer Atem gekommen, daß er nicht imstande war zu gehen und sich in den Schlitten warf.

„Laß mich erst wieder zu Atem kommen,“ sagte er und knüpfte 48 das Tuch auf, das er sich in dem Dorfe um den Kragen seines Pelzes gebunden hatte.

„Hier macht das nichts aus; hier können Sie im Schlitten liegen,“ erwiderte Nikita. „Ich will das Pferd führen.“

Und während Wasili Andrejitsch im Schlitten lag, führte Nikita das Pferd am Zaum etwa zehn Schritte abwärts, dann ein wenig aufwärts und machte halt.

Die Stelle, wo Nikita halt gemacht hatte, lag nicht in einer Mulde, wo sich der Schnee hätte anhäufen können; aber sie war doch teilweise durch eine Anhöhe gegen den Wind geschützt. Es gab Augenblicke, wo man im Schutze der Anhöhe glauben konnte, der Wind habe sich ein wenig gelegt; aber das dauerte nicht lange, und als wollte er diese Ruhepause wieder einbringen, brauste darauf der Sturm mit verzehnfachter Gewalt einher, raste noch ärger als vorher und brachte noch dichtere Schneewirbel mit sich. Ein solcher Windstoß erfolgte gerade in dem Augenblicke, als Wasili Andrejitsch, der sich wieder erholt hatte, aus dem Schlitten gestiegen und zu Nikita herangetreten war, um mit ihm zu besprechen, was nun weiter zu tun sei. Beide bückten sich unwillkürlich und warteten mit ihrem Gespräche, bis die Wut dieses Windstoßes vorüber sein würde. Auch der Braungelbe drückte unzufrieden die Ohren an und schüttelte mit dem Kopfe. Sobald der Windstoß einigermaßen vorbei war, zog sich Nikita die Handschuhe aus, steckte sie in seinen Gurt, hauchte in die Hände und machte sich daran, das Lenkseil vom Krummholz abzulösen.

„Was tust du denn da?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„Ich spanne das Pferd aus; was sollen wir denn noch weiter tun? Meine Kraft ist zu Ende,“ antwortete Nikita; es klang, als ob er sich entschuldigen wollte.

49

„Können wir denn nicht irgendein Obdach erreichen?“

„Nein, wir können kein Obdach erreichen; wir quälen nur das Pferd zunichte. Das liebe Tier ist ja schon jetzt ganz erschöpft,“ sagte Nikita und wies auf das Pferd, das gehorsam und zu allem bereit dastand und schwer keuchend die von Schweiß feuchten Weichen bewegte. „Wir müssen hier übernachten,“ erklärte er, in demselben Tone, wie wenn er sich anschickte, in einer Herberge über Nacht zu bleiben, und begann den Kumtriemen aufzubinden. Die beiden Bügel des Kumts sprangen auseinander.

„Werden wir aber auch nicht erfrieren?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„Was ist zu machen? Wenn wir erfrieren, müssen wir's eben hinnehmen,“ antwortete Nikita.

VI

W asili Andrejitsch fühlte sich in seinen beiden Pelzen ganz warm, besonders nachdem er sich in der Schneewehe so abgeplackt hatte; aber es lief ihm doch kalt über den Rücken, als er zu der Überzeugung gelangte, daß er wirklich werde hier übernachten müssen. Um sich zu beruhigen, setzte er sich in den Schlitten und holte die Zigaretten und die Streichhölzer aus der Tasche.

Nikita spannte unterdessen das Pferd aus. Er löste den Bauchriemen und den Riemen des Rückenpolsters, nahm das Lenkseil und den Krummholzriemen ab und drehte das Krummholz heraus; dabei redete er unaufhörlich mit dem Pferde und sprach ihm Mut ein.

„Na, nun komm heraus, komm heraus,“ sagte er zu dem Tiere, indem er es aus der Gabeldeichsel herausführte. „Siehst du, hier werden wir dich anbinden. Und Stroh lege 50 ich dir unter und zäume dich ab,“ sagte er und führte dabei alles aus, was er sagte. „Wenn du erst ein bißchen gefressen haben wirst, dann wird dir gleich vergnüglicher zumute sein.“

Aber der Braungelbe ließ sich augenscheinlich durch Nikitas Reden nicht beruhigen und blieb aufgeregt. Er trat von einem Beine auf das andere, drückte sich an den Schlitten, stellte sich mit dem Hinterteile gegen den Wind und rieb seinen Kopf an Nikitas Ärmel.

Anscheinend nur, um nicht Nikita durch Ablehnung des freundlich angebotenen Strohes zu kränken, das dieser ihm unter die Schnauze gehalten hatte, zog der Braungelbe einmal mit einem plötzlichen Ruck ein Büschel Stroh aus dem Schlitten; aber sofort sagte er sich auch, daß es sich jetzt nicht darum handle, Stroh zu fressen, ließ es wieder fallen, und der Wind riß im gleichen Augenblicke das Stroh auseinander, trug es davon und überschüttete es mit Schnee.

„Jetzt wollen wir uns ein Signal machen,“ sagte Nikita, wendete den Schlitten mit dem Vorderteil gegen den Wind, band die Deichselstangen mit dem Riemen des Rückenpolsters zusammen, richtete sie in die Höhe und befestigte sie am Vorderteile des Schlittens. „So! Wenn wir nun verschneit werden, werden es gute Menschen an den Deichselstangen sehen und uns ausgraben,“ bemerkte Nikita dazu. „Das habe ich von alten Leuten gelernt.“

Unterdessen hatte Wasili Andrejitsch seinen Pelz aufgemacht und rieb nun, die Schöße desselben als Windschutz benutzend, ein Streichholz nach dem andern an dem stählernen Schächtelchen; aber die Hände zitterten ihm, und die aufflammenden Streichhölzer erloschen eines nach dem andern im Winde, teils ehe sie noch recht in Brand geraten waren, teils gerade 51 in dem Augenblicke, wo er sie an die Zigarette heranbrachte. Endlich brannte ein Streichholz gut und erleuchtete für einen Augenblick die Innenseite seines Pelzes, seine Hand mit dem goldenen Ringe an dem nach innen gebogenen Zeigefinger und das mit Schnee bedeckte Haferstroh, das unter dem Sacke hervorschaute – und die Zigarette kam in Brand. Ein paarmal zog er gierig den Rauch ein, schluckte ihn hinunter, ließ ihn durch den Schnurrbart hinaus und wollte eben noch einmal einen Zug tun, als der Tabak mitsamt dem Feuer vom Winde weggerissen wurde und nach derselben Seite davonflog wie vorher das Stroh.

Aber auch schon diese wenigen Schlucke Tabaksrauch hatten Wasili Andrejitsch in heitrere Stimmung versetzt.

„Na, wenn wir hier übernachten müssen, dann meinetwegen!“ sagte er in entschlossenem Tone. Und beim Anblicke der aufgerichteten Deichselstangen bekam er Lust, dieses Signal noch zu vervollkommnen und Nikita zu belehren.

„Warte mal, ich will noch eine Flagge machen,“ sagte er und hob das Tuch auf, das er sich vom Kragen abgebunden und in den Schlitten geworfen hatte. Er zog die Handschuhe aus, reckte sich in die Höhe, um hinaufzureichen, und band das Tuch mit einem festen Knoten an den Polsterriemen neben die Deichselstangen.

Das Tuch begann sofort wild zu flattern; bald legte es sich eng an die eine Deichselstange an, bald wehte es plötzlich zur Seite, spannte sich und knatterte.

„Sieh nur, wie geschickt ich das gemacht habe,“ sagte Wasili Andrejitsch, wohlgefällig sein Werk betrachtend, und stieg wieder in den Schlitten. „Beide zusammen hätten wir es hier wärmer; aber zwei können hier nicht sitzen,“ sagte er.

„Ich werde schon einen Platz finden,“ antwortete Nikita. 52 „Ich muß nur erst das Pferd zudecken; ganz in Schweiß ist es geraten, das liebe Tier. Erlauben Sie mal,“ fügte er hinzu, und an den Schlitten herantretend, zog er den Sack unter Wasili Andrejitsch hervor. Er legte ihn doppelt zusammen, und nachdem er vorher den Umlaufriemen und das Rückenpolster abgenommen hatte, bedeckte er den Braungelben mit dem Sacke.

„So wirst du es doch ein bißchen wärmer haben, mein Dummerchen,“ sagte er und legte dem Pferde über den Sack wieder das Rückenpolster und den schweren Umlaufriemen auf.

Als Nikita mit dieser Arbeit fertig war, trat er wieder zum Schlitten. „Die Packleinwand werden Sie wohl nicht nötig haben?“ sagte er. „Und etwas Stroh können Sie mir auch geben.“

Und nachdem er das eine und das andere seinem Herrn unter dem Leibe weggezogen hatte, ging er hinter die Rücklehne des Schlittens, grub sich dort im Schnee eine Grube und legte das Stroh hinein. Dann zog er sich die Mütze tief ins Gesicht, wickelte sich fest in seinen Mantel, bedeckte sich darüber noch mit der Packleinwand, setzte sich auf das ausgebreitete Stroh und lehnte sich gegen das aus Bast verfertigte Hinterteil des Schlittens, das ihn gegen den Wind und den Schnee schützte.

Wasili Andrejitsch schüttelte mißbilligend den Kopf zu dem, was Nikita tat, wie er denn überhaupt gegen die Unbildung und Dummheit des niedrigen Volkes eine starke Verachtung hegte, und traf nun auch seinerseits seine Vorbereitungen für die Nacht.

Er breitete das übriggebliebene Stroh im Schlitten gleichmäßig aus, aber so, daß es da, wo er mit der Seite des 53 Körpers darauf liegen wollte, etwas dichter war; darauf steckte er die Hände in die Ärmel und suchte sich mit dem Kopfe eine bequeme Lage in einer Ecke des Schlittens am Vorderteil, das ihm einen Schutz gegen den Wind gewährte. Zu schlafen beabsichtigte er nicht. Er lag da und dachte nach; er dachte immer nur an ein und dasselbe, was den einzigen Zweck und Inhalt, die Freude und den Stolz seines Lebens bildete: wieviel Geld er schon erworben habe und noch erwerben könne, und wieviel Geld andere Leute, die er kannte, erworben hätten und besäßen, und auf welche Weise diese anderen ihr Geld erworben hätten und immer noch mehr erwürben, und daß er, in derselben Weise wie sie, noch sehr viel Geld erwerben könne.

„Die Eichen werden gute Schlittenkufen geben. Selbstverständlich auch Balken. Und Brennholz mag wohl jede Dessätine noch dreißig Klafter liefern,“ so rechnete er, den Wert des Waldes abschätzend, den er im Herbst besichtigt hatte und jetzt zu kaufen beabsichtigte. „Aber zehntausend Rubel werde ich ihm doch nicht geben, sondern nur achttausend; und dann mache ich ihm noch einen Abzug für die Lichtungen. Den Feldmesser werde ich schmieren; hundert oder auch hundertfünfzig Rubel muß ich ihm wohl in den Rachen werfen, dann wird er mir schon so ein fünf Dessätinen Lichtungen herausmessen. Und für achttausend Rubel wird er mir den Wald schon lassen; dreitausend lege ich ihm gleich ohne weiteres bar hin. Da mache ich mir keine Sorge; er wird sich schon herumkriegen lassen,“ dachte er und fühlte mit dem Oberarm nach den Banknoten in der Brusttasche. „Und wie wir von der Wegscheide an uns haben verirren können, das mag der Himmel wissen. Hier müßte doch ein Wald sein und die Hütte des Waldwächters. Wenn doch ein Hund 54 zu hören wäre. Aber gerade wenn's nötig ist, bellen die verdammten Köter nicht.“ Er öffnete ein wenig den Kragen, horchte hinaus und blickte umher. Zu sehen war in der Dunkelheit nur als schwarze Masse der Kopf des Braungelben und sein Rücken, auf dem der Sack hin und her wehte; zu hören war immer nur dasselbe Pfeifen des Windes, das Flattern und Knattern des Tuches an der Deichsel und der wie Peitschenhiebe klingende Ton des gegen die Bastwand des Schlittens getriebenen Schnees. Er mummte sich wieder ein. „Wenn man das gewußt hätte, wäre man ja lieber da über Nacht geblieben. Na, ganz egal, dann kommen wir eben morgen hin. Nur daß ich einen Tag verloren habe. Aber bei solchem Wetter werden die andern auch nicht hinfahren.“ Und nun fiel ihm ein, daß er am nächsten Tage vom Fleischer Geld für Hammel zu erhalten hatte. „Er wollte selbst kommen; nun wird er mich nicht zu Hause treffen, und meine Frau wird nicht verstehen, das Geld in Empfang zu nehmen; sie ist doch gar zu ungebildet. Auf die richtigen Umgangsformen versteht sie sich nicht,“ dachte er weiter, in Erinnerung daran, daß sie nicht verstanden hatte, sich dem Landkommissär gegenüber zu benehmen, der gestern zum Feiertage bei ihm zu Besuch gekommen war. „Es ist ja auch erklärlich; sie ist eben ein Frauenzimmer; wo hätte sie denn auch etwas gesehen und gelernt? Als meine Eltern noch lebten, wie sah damals unser jetziges Hauswesen aus? Alles hatte nur einen sehr geringen Zuschnitt; mein Vater war ja für einen Bauer wohlhabend, aber eben nur ein Bauer; eine Graupenmühle und eine Herberge, das war das ganze Vermögen. Und was habe ich in den fünfzehn Jahren daraus gemacht? Ich habe einen Laden, zwei Schenken, eine Mühle, eine Getreidehandlung. Zwei Güter habe ich in 55 Pacht. Mein Haus und mein Speicher haben Blechdächer,“ sagte er sich mit Stolz. „Das ist jetzt eine andere Sache als zu Lebzeiten meines Vaters! Wer ist jetzt in der ganzen Gegend der angesehenste Mann? Brechunow!“

„Und woher kommt das? Weil ich alle meine Gedanken auf das Geschäft richte, weil ich mich anstrenge, weil ich es nicht so mache wie andre Leute, die faulenzen oder sich mit Dummheiten abgeben. Aber ich gönne mir oft nicht einmal in der Nacht den Schlaf. Und selbst wenn's schneit und stürmt, ich fahre doch. Na, da geht denn auch das Geschäft nach Wunsch. Die Leute denken, man könnte so spielend Geld erwerben. Nein, arbeiten muß man, sich den Kopf zerbrechen. Sie bilden sich ein, man könnte durch irgendwelchen Glücksfall in die Höhe kommen. Da, dieser Mironow, der ist jetzt Millionär. Und warum? Gearbeitet hat er, gearbeitet. Dann gibt's einem der liebe Gott. Wenn mich nur Gott gesund erhält.“ Und der Gedanke, daß auch er ein solcher Millionär werden könne wie Mironow, der mit nichts angefangen hatte, dieser Gedanke regte Wasili Andrejitsch so auf, daß er das Bedürfnis verspürte, mit jemand ein bißchen zu reden. Aber es war niemand da, mit dem er hätte reden können. Wäre er nur nach Gorjatschkino hingekommen, dann hätte er mit dem Gutsbesitzer sprechen und dem ein Licht darüber aufstecken können, was er, Brechunow, für ein ausgezeichneter Mensch sei.

„Nun sieh mal an, wie das bläst! Wir werden noch so einschneien, daß wir uns am Morgen gar nicht werden herausarbeiten können,“ dachte er, während er auf die heftigen Stöße des Windes horchte, der den Schnee gegen das Vorderteil des Schlittens peitschte und so stark blies, daß die Bastwand sich bog.

56

„Es war ein Fehler, daß ich auf Nikita gehört habe,“ dachte er. „Wir hätten weiterfahren sollen; irgendwohin würden wir schon gekommen sein. Und selbst wenn wir wieder nach Grischkino zurückgekommen wären, so hätten wir wenigstens bei Taras übernachten können. Aber nun kann man hier die ganze Nacht sitzen. Ja, ich dachte doch vorhin an etwas Schönes; was war das nur? Richtig, daß Gott einem nur für tüchtige Arbeit etwas gibt, aber nicht den Taugenichtsen, Faulpelzen und Dummköpfen … Aber ich muß ein bißchen rauchen.“ Er setzte sich hin, holte sein Zigarettenetui hervor, legte sich auf den Bauch nieder und beschirmte die Flamme mit dem Schoße des Pelzes gegen den Wind; aber der Wind fand trotzdem seinen Weg und löschte die Streichhölzer eines nach dem andern aus. Endlich gelang es ihm mit besonderer Kunst, eine Zigarette in Brand zu bekommen, und daß er das erreicht hatte, freute ihn gewaltig. Allerdings rauchte weit mehr der Wind als er selbst die Zigarette auf; aber er konnte doch etwa drei Züge tun und kam dadurch wieder in vergnügtere Stimmung. Er streckte sich wieder im Schlitten aus, jetzt mit dem Kopfe nach dem Hinterteil desselben, wickelte sich ein, überließ sich wieder seinen Erinnerungen und Träumereien und versank in Halbschlummer. Aber auf einmal war es ihm, als bekäme er einen Stoß, und er wachte auf. Hatte der Braungelbe ein Maulvoll Stroh unter ihm hervorgezogen, oder war es irgendwelche Aufregung in seinem Innern gewesen – genug, er erwachte, und das Herz begann ihm so schnell und so heftig zu schlagen, daß es ihm schien, als zittere der Schlitten unter ihm. Er öffnete die Augen. Um ihn herum war alles unverändert; nur heller schien es ihm geworden zu sein. „Es tagt,“ dachte er, „es kann nicht mehr lange hin sein bis zum Morgen.“ Aber 57 sogleich fiel ihm ein, daß die größere Helligkeit nur davon herrührte, daß der Mond aufgegangen war. Er richtete sich auf und blickte zuerst nach dem Pferde. Der Braungelbe stand noch immer mit dem Hinterteile gegen den Wind und zitterte am ganzen Leibe. Der mit Schnee bedeckte Sack hatte sich auf der einen Seite umgeschlagen, der Umlaufriemen war schief gerutscht, und der von Schnee bedeckte Kopf mit dem flatternden Haarschopf und der flatternden Mähne war jetzt im Hellen deutlicher sichtbar. Wasili Andrejitsch beugte sich über die Rückwand des Schlittens und blickte nach hinten. Nikita saß noch immer in derselben Stellung da, in der er sich hingesetzt hatte. Die Packleinwand, die er über sich gebreitet hatte, und seine Beine waren dicht mit Schnee bedeckt. „Wenn der Mensch nur nicht erfriert; seine Kleidung ist gar zu schlecht. Dann werde ich noch dafür verantwortlich gemacht werden. Er hat sich auch bei dem Umherlaufen übermäßig angestrengt, und die beste Konstitution hat er sowieso nicht,“ dachte Wasili Andrejitsch und wollte schon dem Pferde den Sack abnehmen und Nikita damit zudecken; aber es war ihm doch zu kalt, um aufzustehen und hin und her zu gehen; auch fürchtete er, das Pferd könne ihm erfrieren. „Wozu habe ich ihn überhaupt mitgenommen? Daran ist nur sie mit ihrer Dummheit schuld,“ dachte Wasili Andrejitsch, in Erinnerung an seine ungeliebte Frau, und streckte sich wieder auf seinem früheren Platze aus, mit dem Kopfe nach dem Vorderteile des Schlittens. „So hat auch mein Onkel einmal eine ganze Nacht im Schnee zugebracht,“ fiel ihm ein, „und es hat ihm nichts geschadet. Aber freilich, Sewastjan,“ hier kam ihm ein anderer Fall ins Gedächtnis, „als man den ausgrub, da war er tot, ganz starr, wie ein geschlachtetes Rind, das man hat steif frieren lassen.“

58

„Wenn ich in Grischkino über Nacht geblieben wäre, dann wäre das nicht passiert.“ Und nachdem er sich sorgsam eingewickelt hatte, damit die Wärme des Pelzes nirgends verloren ginge und er es überall, am Halse, an den Knien und an den Füßen, warm hätte, schloß er die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber trotz aller Bemühungen behielt er immer das Bewußtsein, ja er fühlte sich sogar vollkommen frisch und angeregt. Wieder begann er seine Gewinne zu berechnen, und wieviel Geld ihm andre Leute schuldig waren; wieder prahlte er vor sich selber und freute sich über seine Persönlichkeit und über die Stellung, die er einnahm; – aber jetzt wurden diese vergnüglichen Gedanken fortwährend durch die heranschleichende Angst unterbrochen und durch den Ärger darüber, daß er nicht in Grischkino über Nacht geblieben war. Er drehte sich mehrmals herum und legte sich anders zurecht, in der Absicht, eine bequemere und mehr gegen den Wind geschützte Lage zu finden; aber alles kam ihm unbequem vor; er richtete sich wieder auf, veränderte seine Lage, wickelte sich die Beine ein, schloß die Augen und verhielt sich ruhig. Aber dann machte sich entweder in den zusammengekrümmten Beinen, die in den hohen Filzstiefeln steckten, ein dumpfer Schmerz fühlbar, oder es zog auch irgendwo durch, und so dachte er denn, nachdem er eine kurze Weile so gelegen hatte, wieder mit ingrimmigem Ärger über sich selbst daran, daß er jetzt ruhig in der warmen Stube zu Grischkino liegen könnte, und erhob sich wieder, wälzte sich herum, wickelte sich ein und legte sich wieder anders zurecht.

Einmal kam es ihm vor, als höre er in der Ferne Hähne krähen. Ein Gefühl der Freude stieg in ihm auf; er schlug den Kragen des Pelzes zurück und horchte gespannt; aber 59 wie sehr er auch sein Gehör anstrengte, es war nichts zu hören als das Geräusch des Windes, der um die Deichselstangen pfiff, und das Geräusch des Schnees, der gegen die Bastwand des Schlittens schlug. Nikita saß noch immer so da, wie er sich am Abend hingesetzt hatte; er hatte sich die ganze Zeit über nicht gerührt und seinem Herrn nicht einmal geantwortet, der ihn einige Male angerufen hatte. „Der hat keinen Kummer; er schläft gewiß,“ dachte Wasili Andrejitsch ärgerlich, indem er über die Rücklehne des Schlittens hinüber auf den dicht beschneiten Nikita hinblickte.

So stand Wasili Andrejitsch wohl zwanzigmal auf und legte sich wieder hin. Es schien ihm, als wolle diese Nacht gar kein Ende nehmen. „Jetzt muß der Morgen schon nahe sein,“ dachte er einmal, als er sich erhob und um sich blickte. „Ich will mal nach der Uhr sehen. Ich werde zwar tüchtig frieren, wenn ich meine Umhüllung aufmache; aber wenn ich erfahre, daß es auf den Morgen zugeht, dann wird mir gleich fröhlicher zumute sein. Dann wollen wir auch bald anspannen.“ Im Grunde seines Herzens wußte Wasili Andrejitsch, daß es noch nicht Morgen sein konnte; aber seine Angst wuchs immer mehr, und er wünschte gleichzeitig, sowohl die Wahrheit festzustellen als auch sich selbst zu täuschen. Vorsichtig öffnete er die Haken seines Halbpelzes, steckte die Hand an der Brustgegend hinein und wühlte lange umher, bis er zur Weste gelangte. Mühsam, mühsam zog er seine silberne, mit emaillierten Blumen verzierte Uhr heraus und versuchte zu sehen, wie spät es war. Aber ohne Licht war nichts zu erkennen. Er legte sich wieder auf den Bauch, ebenso wie eine Weile vorher, als er sich die Zigarette anzündete, holte die Streichhölzer heraus und machte sich daran, eines anzustreichen. Diesmal ging er mit größerer Sorgfalt 60 zu Werke: er suchte durch Betasten mit den Fingern dasjenige Hölzchen heraus, welches die größte Phosphormasse hatte, und es gelang ihm gleich beim erstenmal, es zum Brennen zu bringen. Er hielt das Zifferblatt unter die Flamme und betrachtete es: aber er traute seinen Augen nicht; es war erst zehn Minuten über zwölf. Die ganze Nacht lag noch vor ihm.

„O weh, was ist das für eine lange Nacht!“ dachte Wasili Andrejitsch und fühlte, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. Und nachdem er sich wieder zugeknöpft und eingemummt hatte, drückte er sich von neuem in seine Schlittenecke. Plötzlich vernahm er durch das eintönige Brausen des Windes hindurch mit Sicherheit einen neuen Ton, einen Ton von etwas Lebendigem. Dieser Ton schwoll gleichmäßig an, und nachdem er zu vollständiger Deutlichkeit gelangt war, wurde er mit derselben Gleichmäßigkeit wieder schwächer. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß es ein Wolf war. Und dieser Wolf heulte in solcher Nähe, daß man, da auch der Wind von dort herüber stand, deutlich hören konnte, wie er durch die Drehung der Kinnlade den Klang seiner Stimme veränderte. Wasili Andrejitsch hatte den Kragen zurückgeschlagen und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Braungelbe horchte gleichfalls, die Ohren bewegend, angestrengt danach hin und wechselte, als der Wolf mit seinem Geheul aufhörte, die Fußstellung und schnaubte warnend. Von nun an vermochte Wasili Andrejitsch schlechterdings nicht mehr einzuschlafen, ja überhaupt nicht innerlich ruhig zu sein. Wie sehr er sich auch bemühte, an seine Rechnungen, an seine Geschäfte, an seinen Ruhm, seine angesehene Stellung und seinen Reichtum zu denken, so bemächtigte sich seiner doch immer mehr 61 eine furchtbare Angst und drängte alle andern Gedanken zurück, und in alle Gedanken mischte sich der Gedanke ein, warum er nicht über Nacht in Grischkino geblieben sei.

„Was scher ich mich um den dummen Wald; meine Geschäfte gehen, Gott sei Dank, auch ohne ihn gut. Ach, wenn ich doch ein Nachtlager unter Dach und Fach hätte!“ sagte er zu sich selbst. „Man sagt, daß Betrunkene am leichtesten erfrieren,“ dachte er, „und ich habe ziemlich stark getrunken.“ Und während er nun auf seine Empfindungen achtete, fühlte er, daß er zu zittern anfing, ohne selbst zu wissen, weswegen er zitterte, ob vor Kälte oder vor Furcht. Er versuchte, sich einzumummen und dazuliegen wie vorher; aber er war nicht mehr imstande, das zu tun. Es war ihm unmöglich, ruhig auf einem Fleck zu bleiben; es verlangte ihn, aufzustehen und irgend etwas zu unternehmen, um die in ihm aufsteigende Angst, gegen die er sich machtlos fühlte, zu übertäuben. Er holte wieder die Zigaretten und die Streichhölzer hervor; aber es waren nur noch drei Streichhölzer übrig, und die waren sämtlich schlecht. Bei allen dreien rieb sich die Zündmasse ab, ohne daß sie Feuer gefangen hätten.

„Hol dich der Teufel, verfluchtes Biest! Fort mit dir!“ schimpfte er, ohne selbst zu wissen, auf wen, und schleuderte die verdrückte Zigarette von sich. Auch das Streichholzschächtelchen wollte er schon wegschleudern; aber er hemmte noch diese Bewegung seiner Hand und schob das Schächtelchen in die Tasche. Es überkam ihn eine solche Unruhe, daß er nicht länger an seinem Platze bleiben konnte. Er stieg aus dem Schlitten, stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind und band sich seinen Gurt anders um, nämlich recht tief unten und recht fest.

„Wozu soll ich hier liegen und auf den Tod warten? Ich 62 will mich auf das Pferd setzen, und dann vorwärts!“ Dieser Gedanke schoß ihm auf einmal durch den Kopf. „Mit einem Reiter wird dem Pferde die Kraft nicht versagen. Ihm,“ dachte er mit Bezug auf Nikita, „kann es ganz gleich sein, ob er stirbt. Was hat er für ein Leben! Um ein solches Leben kann es ihm nicht leid sein. Aber ich habe, Gott sei Dank, so viel, daß ich mein Leben genießen kann …“

Er band das Pferd los, warf ihm die Zügel auf den Hals und wollte aufsteigen; aber es mißglückte ihm. Dann stellte er sich auf den Schlitten und wollte vom Schlitten aus aufsteigen. Aber der Schlitten schwankte unter seinem Gewichte, und er kam wieder nicht hinauf. Beim dritten Male stellte er das Pferd wieder dicht neben den Schlitten, und indem er vorsichtig auf den Rand des Schlittens trat, gelang es ihm endlich insoweit, daß er mit dem Bauche über den Rücken des Pferdes zu liegen kam. Nachdem er so ein Weilchen still gelegen hatte, schob er sich einmal und noch einmal vorwärts und brachte endlich das Bein über den Rücken des Pferdes hinüber; er setzte sich zurecht und stützte sich mit den Füßen in Ermangelung von Steigbügeln auf den langen Umlaufriemen. Nikita war von dem Stoße, den ihm der schwankende Schlitten versetzt hatte, aufgewacht und richtete sich auf; und es kam Wasili Andrejitsch so vor, als ob er etwas sagte.

„Das fehlte noch, daß man täte, was einem solche Dummköpfe raten! Na ja, ich soll wohl hier um nichts und wieder nichts umkommen?“ rief Wasili Andrejitsch, schob sich die auseinanderflatternden Schöße seines Pelzes unter die Knie, wendete das Pferd um und trieb es an, vom Schlitten weg in der Richtung, wo nach seiner Meinung der Wald und das Wächterhäuschen sein mußten.

63

VII

N ikita hatte von dem Augenblicke an, wo er sich mit der Packleinwand eingehüllt und sich hinter der Hinterwand des Schlittens hingesetzt hatte, dagesessen, ohne sich zu rühren. Wie alle Menschen, die mit der Natur leben und die Not kennen, war er geduldig und konnte Stunden, ja Tage lang ruhig warten, ohne in Unruhe oder Erregung zu geraten. Er hatte gehört, wie sein Herr ihn vorhin einige Male angerufen hatte; aber er hatte nicht geantwortet, weil er sich nicht bewegen mochte.

Der Gedanke, daß er in dieser Nacht sterben könne, ja aller Wahrscheinlichkeit nach werde sterben müssen, kam ihm gleich damals, als er sich hinter dem Schlitten niedersetzte. Obgleich ihm von dem getrunkenen Tee und von der starken Bewegung beim Herumwaten durch die Schneewehen noch warm war, so wußte er doch, daß diese Wärme nicht lange vorhalten und er nicht mehr imstande sein werde, sich durch Bewegung zu erwärmen, weil er sich entsetzlich müde fühlte. Er fühlte sich in demselben Zustande wie ein Pferd, das völlig den Dienst versagt und erst gefüttert werden muß, um wieder weiterarbeiten zu können. Außerdem war ihm der eine Fuß in dem zerrissenen Stiefel ganz erstarrt, und er fühlte an ihm die große Zehe nicht mehr. Und auch am ganzen Körper fror er immer heftiger.

Der Gedanke, daß er in dieser Nacht sterben werde, erschien ihm weder besonders traurig noch besonders furchtbar. Besonders traurig konnte ihm dieser Gedanke nicht erscheinen, weil sein ganzes Leben ganz und gar nicht ein ununterbrochener Festtag, sondern vielmehr ein steter Frondienst gewesen war, von dem er müde zu werden anfing. Auch 64 besonders furchtbar war ihm dieser Gedanke nicht, weil er, abgesehen von den Brotherren, denen er, wie jetzt diesem Wasili Andrejitsch, hier auf Erden diente, sich von dem höchsten Herrn abhängig fühlte, von Ihm, der ihn in dieses Leben gesandt hatte, und weil er wußte, daß er, auch wenn er sterbe, in der Hand dieses Herrn bleibe, und daß dieser Herr ihm nichts Übles tun werde.

„Es kann einem ja leid tun, so alles zu verlassen, worin man sich eingelebt und woran man sich gewöhnt hat. Na, aber was ist zu machen? Dann muß man sich eben auch an das Neue gewöhnen.“

„Und die Sünden?“ dachte er auf einmal und erinnerte sich an seine Trunksucht, an das vertrunkene Geld, und wie er seine Frau geschimpft und mißhandelt und oft die Kirche versäumt und die Fasten nicht gehalten hatte, und an alles, was ihm sonst noch vom Popen in der Beichte zum Vorwurf gemacht worden war. „Gewiß, das sind Sünden. Aber habe ich die denn selbst verschuldet? Offenbar hat mich doch Gott so geschaffen. Na ja, mögen es Sünden sein. Was soll ich nun dabei tun?“

So überlegte er das, was ihm in dieser Nacht zustoßen konnte, und nachdem er über diesen Punkt dergestalt mit sich ins reine gelangt war, überließ er sich allerlei Gedanken und Erinnerungen, die ihm von selbst in den Kopf kamen. Er dachte daran, wie Marfa gekommen war, und wie die Knechte sich betrunken hatten und er sich geweigert hatte mitzutrinken, und dann wieder an die jetzige Fahrt, und an die Stube im Hause des Bauern Taras, und an die Gespräche über die Wirtschaftsteilungen, und an seinen Sohn, und an den Braungelben, der es jetzt unter der Decke warm habe, und an seinen Herrn, der sich so unruhig umherwälze, 65 daß der Schlitten knarre. „Ich meine, dem guten Manne tut es jetzt selbst leid, daß er gefahren ist,“ dachte er. „Von einem so angenehmen Leben mag man nicht gern Abschied nehmen; das ist eine andere Sache wie bei unsereinem.“ Und alle diese Erinnerungen und Gedanken begannen sich in seinem Kopfe zu vermengen und wirr durcheinander zu schlingen, und er schlief ein.

Als aber Wasili Andrejitsch beim Besteigen des Pferdes den Schlitten ins Schwanken brachte und die Hinterwand, an die sich Nikita mit dem Rücken lehnte, zurückwich und er von der einen Kufe einen Stoß in den Rücken bekam, da wachte er auf und sah sich, ob er nun wollte oder nicht, genötigt, seine Lage zu verändern. Mit Mühe streckte er die Beine gerade, schüttelte den Schnee von ihnen ab und erhob sich; sofort aber durchdrang auch eine peinigende Kälte seinen ganzen Körper. Nachdem er begriffen hatte, was vorging, kam ihm der Wunsch, Wasili Andrejitsch möchte ihm den Sack dalassen, den das Pferd nun nicht mehr nötig hatte, damit er sich mit ihm zudecken könne, und er rief ihm das zu.

Aber Wasili Andrejitsch hielt sich nicht länger auf und verschwand in dem stäubenden Schnee. Allein zurückgeblieben, überlegte Nikita einen Augenblick lang, was er nun tun solle. Wegzugehen und nach einer menschlichen Wohnung zu suchen, dazu fühlte er nicht mehr die Kraft in sich. Auch sich wieder auf seinen alten Platz zu setzen war nicht mehr möglich: der war schon ganz von Schnee bedeckt. Im Schlitten aber, das fühlte er, würde er sich nicht warm halten können, weil er nichts hatte, um sich zuzudecken, und sein Mantel und sein Pelz ihn gar nicht wärmten. Er fror, als wäre er im bloßen Hemde. So stand er ein Weilchen 66 und überlegte; dann seufzte er, und ohne die Packleinwand vom Kopfe zu nehmen, legte er sich im Schlitten auf den Platz, den vorher sein Herr eingenommen hatte.

Er ballte sich unten am Boden des Schlittens zu einem möglichst kleinen Klumpen zusammen, konnte aber schlechterdings nicht warm werden. So lag er etwa fünf Minuten lang, am ganzen Leibe zitternd; dann ging das Zittern vorüber, und er verlor allmählich das Bewußtsein. Ob er sterbe oder einschlafe, das wußte er nicht; aber er fühlte sich in gleicher Weise zu dem einen wie zu dem andern bereit. Nur ganz unklar dachte er: „Wenn es Gott gefällt, daß ich noch einmal hier in dieser Welt lebend aufwache und wie früher als Knecht lebe und immer in derselben Weise fremde Pferde pflege und fremden Roggen nach der Mühle fahre und in derselben Weise mich betrinke und das Trinken abschwöre und in derselben Weise meinen Arbeitsverdienst meinem Weibe und diesem Böttcher hingebe und in derselben Weise darauf warte, daß mein Sohn heranwächst: so geschehe Sein heiliger Wille. Und wenn es Gott gefällt, daß ich in einer andern Welt erwache, wo alles ebenso neu und beglückend sein wird, wie mir hier auf Erden in meiner ersten Kindheit die Liebkosungen meiner Mutter und das Spielen mit anderen Kindern und das Schlittenfahren im Winter und die Wiesen und die Wälder neu und beglückend waren, und daß für mich ein anderes, neues, wunderbares Leben beginne: so geschehe Sein heiliger Wille.“ Dann verlor Nikita völlig das Bewußtsein.

VIII

U nterdessen ritt Wasili Andrejitsch, das Pferd mit den Füßen und den Enden der Zügel antreibend, in der 67 Richtung dahin, wo er aus irgendwelchem Grunde den Wald und das Wächterhäuschen vermutete. Der Schnee verklebte ihm die Augen, und der Wind schien ihn zurückhalten zu wollen; aber er trieb, sich ganz vornüber beugend, unaufhörlich das Pferd an. Dabei schlug er fortwährend seinen Pelz zusammen und schob ihn zwischen seinen Körper und das kalte, mit Nägeln beschlagene Rückenpolster, das ihm beim Sitzen hinderlich war. Das Pferd ging gehorsam, wiewohl nur mit großer Mühe, im Paßgang dahin, wohin er es lenkte.

So ritt er ungefähr fünf Minuten, immer geradeaus, wie er meinte, ohne etwas anderes zu sehen als den Kopf des Pferdes und die weiße Wüste, und ohne etwas anderes zu hören als das Pfeifen des Windes um die Ohren des Pferdes und um den Kragen seines Pelzes.

Plötzlich zeigte sich vor ihm etwas Dunkles. Das Herz in der Brust begann ihm freudig zu pochen, und er ritt auf dieses Dunkle zu, in welchem er bereits die Wände von Bauernhäusern zu erkennen glaubte. Aber dieses Dunkle war nicht unbeweglich, sondern schwankte fortwährend und war kein Dorf, sondern ein Grenzrain, der mit hohen, aus dem Schnee herausragenden Beifußstauden bewachsen war, welche der durch sie hindurchpfeifende Wind immer nach einer Seite bog. Und ohne eigentlichen Grund schauderte beim Anblicke dieser vom Winde unbarmherzig mißhandelten Beifußstauden Wasili Andrejitsch zusammen und trieb eilig das Pferd weiter, ohne zu beachten, daß er beim Heranreiten an die Beifußstauden die frühere Richtung vollständig verändert hatte und jetzt das Pferd nach einer ganz anderen Seite trieb, immer noch in der Vorstellung, daß er nach der Seite ritte, wo sich das Wächterhäuschen befinden müsse. 68 Aber das Pferd strebte immer nach rechts, und deshalb lenkte er es die ganze Zeit über mehr nach links.

Wieder erblickte er etwas Dunkles vor sich. Er freute sich, überzeugt, daß es diesmal nun sicher ein Dorf sei. Aber es war wieder ein mit Beifuß bewachsener Rain. Und wieder schwankten die Stauden wild hin und her und flößten dem einsamen Reiter eine unerklärliche Angst ein. Und nicht genug damit, daß dies ebensolche Beifußstauden waren; es führte an ihnen auch eine vom Winde fast verwehte Pferdespur vorbei. Wasili Andrejitsch hielt an, beugte sich hinunter und blickte scharf hin: es war eine leicht mit Schnee überdeckte Pferdespur, und sie konnte von keinem anderen Pferde herrühren als von seinem eigenen. Er war offenbar im Kreise herumgeritten, und zwar auf einem kleinen Raume. „So gehe ich zugrunde,“ dachte er; aber um nicht ganz von der Furcht übermannt zu werden, trieb er das Pferd noch heftiger an und starrte immer in den weißen Schneenebel hinein, in welchem er nichts sah als ab und zu aufschimmernde und sofort wieder verschwindende leuchtende Punkte. Einmal glaubte er, das Bellen von Hunden oder das Heulen von Wölfen zu hören; aber diese Laute waren so schwach und unbestimmt, daß er nicht wußte, ob er wirklich etwas höre oder es sich nur einbilde. Er hielt das Pferd an und horchte mit größter Spannung.

Plötzlich ertönte nicht weit von seinen Ohren ein furchtbares, betäubendes Schreien, und alles erzitterte und erbebte unter ihm. Wasili Andrejitsch klammerte sich an den Hals des Pferdes; aber auch dieser ganze Hals zitterte, und das furchtbare Geschrei wurde noch entsetzlicher. Einige Sekunden lang vermochte Wasili Andrejitsch gar nicht zur Besinnung zu kommen und sich darüber klar zu werden, was eigentlich 69 geschehen war. Aber was geschehen war, bestand nur darin, daß der Braungelbe, sei es um sich Mut zu machen, sei es um jemand zur Hilfe herbeizurufen, ein lautes, schallendes Gewieher ausgestoßen hatte.

„Zum Teufel noch einmal! Was hast du mir für einen Schreck eingejagt, verdammtes Vieh!“ sagte Wasili Andrejitsch vor sich hin.

Aber auch nachdem er die wahre Ursache seiner Angst erkannt hatte, konnte er sich von dieser Angst nicht mehr frei machen.

„Ich muß mich sammeln, muß meine Gedanken zusammennehmen,“ sagte er zu sich, konnte sich aber dabei doch nicht zur Ruhe zwingen und trieb das Pferd unaufhörlich an, ohne zu bemerken, daß er jetzt mit dem Winde ritt, und nicht mehr gegen den Wind. Sein Körper fror, schmerzte und zitterte, namentlich zwischen den Beinen am Schritt, wo er ungeschützt war und das Rückenpolster berührte. Der Gedanke an das Wächterhäuschen war ihm ganz aus dem Sinn gekommen, und er wünschte jetzt nur noch eines: zu dem Schlitten zurückzukehren, um nicht so einsam und allein wie diese Beifußstauden mitten in dieser furchtbaren Schneewüste zugrunde zu gehen.

Auf einmal sank das Pferd unter ihm weg; es war in eine Schneegrube hineingeraten und begann nun mit den Beinen um sich zu schlagen, fiel aber zur Seite. Wasili Andrejitsch sprang herunter, wobei er den Umlaufriemen, auf den er sich mit dem Fuße gestützt hatte, ganz seitwärts verschob und das Rückenpolster, an dem er sich beim Abspringen gehalten hatte, schief zog. Sobald er vom Pferde heruntergesprungen war, kam das Pferd wieder mit sich zurecht, tat einen Ruck nach vorn, machte einen Sprung, dann noch einen, stieß 70 wieder ein Gewieher aus, und indem es den auf dem Boden schleifenden Sack und den Umlaufriemen hinter sich her schleppte, verschwand es seinem Herrn aus den Augen und ließ diesen allein in der Schneemasse zurück. Wasili Andrejitsch lief ihm nach; aber der Schnee war so tief und seine Pelze so schwer, daß er nicht mehr als zwanzig Schritte machen konnte, wobei er mit jedem Beine bis über das Knie einsank; dann blieb er atemlos stehen. „Der Wald, die Hammel, die gepachteten Güter, der Laden, die Schenken,“ dachte er, „was wird nun aus alledem werden? Was geschieht denn hier mit mir? Das kann doch nicht sein!“ fuhr es ihm durch den Kopf. Und infolge einer eigenartigen Gedankenverknüpfung erinnerte er sich an die vom Winde gepeitschten Beifußstauden, an denen er zweimal auf seinem Ritte vorbeigekommen war, und es überkam ihn ein solches Grauen, daß er an die Wirklichkeit dessen, was mit ihm vorging, gar nicht zu glauben vermochte. Er dachte: „Ob mir auch nicht etwa das alles nur träumt?“ und wollte aufwachen; aber da war kein Schlaf, aus dem er hätte erwachen können. Das war wirklicher Schnee, der ihm das Gesicht peitschte und ihn beschüttete, und das war eine wirkliche Einöde, in der er jetzt allein geblieben war, wie jenes Beifußgestrüpp, und einem unvermeidlichen, baldigen, allen Sinnes und Verstandes baren Tode entgegensah.

„Königin des Himmels, wundertätiger Nikolaus!“ rief er aus, indem er sich an die gestrigen Kirchengebete erinnerte und an das Heiligenbild mit der schwarzgewordenen Malerei und dem goldenen Rahmen, und an die Kerzen, die er zum Anzünden vor diesem Heiligenbilde verkaufte, und die ihm sofort wieder zurückgebracht wurden, und die er dann, da sie kaum angebrannt waren, wieder in seinem Kasten verwahrte. 71 Und nun betete er zu ebendiesem wundertätigen Nikolaus um seine Rettung und gelobte ihm einen Dankgottesdienst und Kerzen. Aber zugleich war er sich in zweifelloser Weise darüber klar, daß dieses Heiligenbild und sein Rahmen und die Kerzen und die Geistlichen und die Gebete, daß das alles zwar dort in der Kirche sehr wichtig und nötig sei, ihm aber hier nichts helfen könne, und daß zwischen diesen Kerzen und Gebeten einerseits und seiner jetzigen jammervollen Lage andrerseits keinerlei Zusammenhang bestehe und auch nicht bestehen könne.

„Ich darf nicht den Mut verlieren,“ sagte er sich. „Ich muß den Spuren des Pferdes folgen, sonst werden die auch noch verweht.“ Und er setzte sich wieder in Bewegung. Aber trotzdem er eigentlich beabsichtigte ruhig zu gehen, begann er doch zu laufen, fiel fortwährend, erhob sich wieder und fiel von neuem. An solchen Stellen, wo der Schnee nicht tief lag, war die Spur des Pferdes kaum noch zu erkennen. „Es ist um mich geschehen,“ dachte Wasili Andrejitsch; „ich verliere auch diese Spur noch.“ Aber in diesem Augenblicke bemerkte er, als er nach vorn sah, etwas Dunkles. Das war der Braungelbe, und der Braungelbe nicht allein, sondern auch der Schlitten mit der aufgerichteten Deichsel. Der Braungelbe, dem das Rückenpolster und der Umlaufriemen und der Sack ganz schief gerutscht waren, stand jetzt nicht auf seinem früheren Platze, sondern näher bei der Deichsel und schlug mit dem Kopfe hin und her, den ihm der Zügel, auf welchen er getreten war, nach unten zog. Es stellte sich heraus, daß Wasili Andrejitsch in derselben Vertiefung stecken geblieben war, in welcher ihm vorher mit Nikita zusammen das gleiche begegnet war, und daß das Pferd ihn zum Schlitten zurückgebracht hatte, und daß die 72 Stelle, wo er vom Pferde gesprungen war, von dem Standorte des Schlittens nicht mehr als fünfzig Schritte entfernt gewesen war.

IX

N achdem Wasili Andrejitsch sich zu dem Schlitten hingeschleppt hatte, hielt er sich an ihm fest und stand lange so da, ohne sich zu rühren, bemüht, sich zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen. Nikita befand sich nicht mehr an seinem früheren Platze; aber im Schlitten lag etwas, was schon ganz mit Schnee bedeckt war, und Wasili Andrejitsch erriet, daß das Nikita sei. Wasili Andrejitschs Furcht war jetzt vollständig verschwunden, und wenn er jetzt etwas fürchtete, so war es eben nur jener entsetzliche Angstzustand, den er auf dem Pferde und namentlich damals, als er allein in der Schneegrube zurückgeblieben war, durchgemacht hatte. Um keinen Preis durfte er es dahin kommen lassen, daß ihn diese Angst von neuem überfiel, und damit sie ihn nicht überfalle, durfte er nicht an sich selbst denken, sondern er mußte an etwas anderes denken, mußte etwas tun. Und daher stellte er sich zunächst mit dem Rücken gegen den Wind und machte seinen Pelz auf. Dann, sobald er ein wenig zu Atem gekommen war, schüttelte er den Schnee aus den Stiefeln und aus den Handschuhen. Hierauf band er sich seinen Gurt von neuem um, und zwar fest und tief unten, so wie er sich zu umgürten pflegte, wenn er aus seinem Laden heraustrat, um das von den Bauern gebrachte Getreide vom Wagen zu kaufen; so gürtete er sich auch jetzt zur Vorbereitung auf seine Tätigkeit. Das erste, was ihm nötig schien, war, das Bein des Pferdes frei zu machen. Das tat Wasili Andrejitsch denn auch, und nachdem er den 73 Zügel unter dem Fuße des Pferdes hervorgezogen hatte, band er den Braungelben wieder an die eiserne Krampe am Vorderteile des Schlittens, am alten Fleck, und trat nun von hinten an das Pferd heran, um an ihm den Umlaufriemen, das Rückenpolster und den Sack in Ordnung zu bringen. Aber in diesem Augenblicke sah er, daß sich im Schlitten etwas bewegte und Nikitas Kopf sich aus der Schneedecke erhob. Der Knecht brachte es offenbar nur mit großer Anstrengung fertig, sich aufzurichten und hinzusetzen; darauf machte er mit der Hand ganz seltsame Bewegungen vor seiner Nase, wie wenn er da Fliegen wegjagen wollte, und sagte etwas; wie Wasili Andrejitsch meinte, rief er ihn zu sich heran.

Wasili Andrejitsch ließ den Sack, wie er war, ohne ihn zurechtgelegt zu haben, und trat zum Schlitten hin.

„Was willst du?“ fragte er. „Was sagst du?“

„Ich … ich … ster … sterbe, nun … ist's da,“ brachte Nikita mühsam in Absätzen heraus. „Meinen Arbeitslohn … geben Sie meinem Jungen … oder meiner Frau … ganz gleich.“

„Was hast du denn? Sind dir die Glieder erfroren?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„Ich fühle … der Tod kommt … Verzeihen Sie mir … wenn ich Ihnen Übles getan habe … um Christi willen,“ sagte Nikita mit weinerlicher Stimme und fuhr dabei unaufhörlich mit den Händen vor seinem Gesichte umher, als wollte er Fliegen wegscheuchen.

Wasili Andrejitsch stand etwa eine halbe Minute lang schweigend da, ohne sich zu rühren; dann trat er plötzlich mit derselben Entschlossenheit, mit der er bei einem vorteilhaften Kaufe dem Verkäufer den Handschlag zu geben pflegte, einen 74 Schritt zurück, streifte die Ärmel seines Pelzes auf und machte sich daran, mit beiden Händen den Schnee von Nikita und aus dem Schlitten wegzuscharren. Nachdem er dies ausgeführt hatte, machte Wasili Andrejitsch eilig seinen Gurt auf, schlug den Pelz auseinander, drückte Nikita durch einen Stoß, den er ihm versetzte, nieder und legte sich dann auf ihn, so daß er ihn nicht nur mit seinem Pelze, sondern auch mit seinem ganzen warmen, erhitzten Körper bedeckte.

Mit den Händen stopfte Wasili Andrejitsch die Seitenteile seines Pelzes zwischen die Bastwand des Schlittens und Nikitas Leib, und mit den Knien hielt er den Saum des Pelzes fest; so lag er auf dem Bauche, mit dem Kopfe gegen die Wand des Vorderteiles gelehnt. Jetzt hörte er weder die Bewegungen des Pferdes noch das Pfeifen des Sturmwindes; er horchte nur auf Nikitas Atmen. Nikita lag anfangs lange da, ohne sich zu bewegen; dann seufzte er laut und rührte sich; offenbar fing er an warm zu werden.

„Na, siehst du wohl! Und da redest du von Sterben! Lieg ganz still und wärme dich! So handeln wir …“ begann Wasili Andrejitsch zu reden.

Aber weiter konnte er zu seiner größten Verwunderung nicht sprechen, da ihm die Tränen in die Augen traten und der Unterkiefer hastig zu zucken anfing. Er hörte auf zu sprechen und schluckte nur das, was ihm in die Kehle kam, hinunter.

„Das hat mich ja gehörig angegriffen, ich bin ganz schwach geworden,“ dachte er bei sich. Aber diese Schwäche war ihm nicht unangenehm; im Gegenteil, sie rief in ihm ein ganz besonderes Gefühl der Freude hervor, wie er es bisher noch nie kennen gelernt hatte.

75

„So handeln wir!“ sagte er zu sich selbst und empfand dabei eine ganz eigenartige feierliche Rührung. So lag er ziemlich lange Zeit schweigend da, wischte sich die Augen an dem Pelzwerk ab und stopfte den rechten Pelzschoß, den der Wind immer wieder zurückschlug, unter sein Knie.

Aber er verspürte eine brennende Lust, jemandem etwas über seinen freudigen Gemütszustand zu sagen.

„Nikita!“ rief er.

„Mir ist wohl, mir ist warm,“ erscholl es von unten als Antwort.

„So ist es recht, Bruder! Beinah wäre ich ins Verderben geraten. Du wärest erfroren, und ich wäre …“

Aber hier fingen ihm wieder die Kinnbacken an zu zittern, und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen, und er konnte nicht weiterreden.

„Na, das schadet nichts,“ dachte er. „Ich weiß doch selbst über mich, was ich weiß.“ Und er verstummte.

Einige Male blickte er nach dem Pferde hin und bemerkte, daß dessen Rücken unbedeckt war und der Sack sowie der Umlaufriemen auf den Schnee herunterhingen; er sagte sich, daß er aufstehen und das Pferd zudecken müsse; aber er konnte sich nicht entschließen, Nikita auch nur für einen Augenblick zu verlassen und den freudigen Gemütszustand, in welchem er selbst sich befand, zu stören. Angst empfand er jetzt gar keine.

Es war ihm warm, von unten her durch Nikita, von oben her durch den Pelz. Nur die Hände, mit denen er die Seitenteile des Pelzes rechts und links von Nikitas Körper festhielt, und die Füße, von denen der Wind fortwährend den Pelz zurückschlug, begannen ihm zu erstarren. Aber er dachte nicht an seine eigenen Glieder; er dachte nur 76 daran, wie er den unter ihm liegenden Knecht warmhalten könne.

„Keine Bange; das werde ich schon zurechtbekommen!“ sagte er bei sich selbst in bezug darauf, daß es ihm gelingen werde, Nikita warmzuhalten, mit derselben Ruhmredigkeit, deren er sich bei seinen Käufen und Verkäufen zu bedienen pflegte.

So lag Wasili Andrejitsch lange, lange. Anfangs zogen ihm Gedanken an diejenigen Dinge durch den Kopf, die vor seinen Augen umherzitterten: an den Schneesturm, an die Deichselstangen, an das Pferd unter dem Krummholz; und er dachte an Nikita, der unter ihm lag. Dann mischten sich Erinnerungen an das Fest hinein, und an seine Frau, und an den Landkommissär, und an den Kerzenkasten, und wieder an Nikita, der nun unter diesem Kasten lag. Dann sah er Bauern vor sich, welche verkauften und kauften, und weiße Wände und Häuser mit Blechdächern, und unter den Häusern lag wieder Nikita. Dann verwirrte sich das alles miteinander, eines ging in das andre über, und wie die Farben des Prismas sich zu dem einheitlichen weißen Lichte verbinden, so flossen alle diese verschiedenen Eindrücke in ein einziges Nichts zusammen, und er schlief ein. Lange Zeit schlief er, ohne zu träumen; aber vor der Morgendämmerung stellten sich die Traumgesichte wieder ein. Es war ihm, als stände er bei seinem Kerzenkasten, und die Frau des Bauern Tichon verlange von ihm zum Feiertage eine Kerze für fünf Kopeken; er will die Kerze herausnehmen und ihr geben; aber er kann die Hände nicht heben; die stecken zusammengeballt in den Taschen. Er will um den Kasten herumgehen; aber seine Beine bewegen sich nicht, und die neuen, sauberen Gummischuhe sind an den steinernen Fußboden 77 angewachsen, und er kann sie nicht in die Höhe heben, und auch die Füße kann er nicht aus ihnen herausziehen. Und auf einmal ist der Kerzenkasten kein Kerzenkasten mehr, sondern ein Bett, und Wasili Andrejitsch sieht sich mit dem Bauche auf dem Kerzenkasten liegen, das heißt auf seinem Bette in seinem Hause. Und so liegt er auf dem Bette und kann nicht aufstehen, und dabei muß er doch aufstehen; denn gleich wird ihn der Landkommissär Iwan Matwjeitsch abholen, und er muß mit Iwan Matwjeitsch hingehen, entweder um mit dem Gutsbesitzer um den Wald zu handeln, oder um dem Braungelben den Umlaufriemen in Ordnung zu bringen. Und er fragt seine Frau: „Nun? Ist der Landkommissär noch nicht gekommen?“ – „Nein,“ antwortet sie, „er ist noch nicht gekommen.“ Und er hört, daß ein Wagen sich der Haustür nähert. „Das wird er gewiß sein.“ – „Nein, es fährt vorbei.“ – „Mikolawna, du, Mikolawna, kommt er denn immer noch nicht?“ – „Nein.“ Und er liegt auf dem Bette und kann gar nicht aufstehen, und dieses Warten ist angstvoll und freudig zugleich. Da plötzlich eine große Freude: der, auf den er gewartet hat, kommt, und nun ist es gar nicht der Landkommissär Iwan Matwjeitsch, sondern jemand anders, aber doch gerade der, auf den er wartet. Er ist gekommen und ruft ihn bei seinem Namen, und der, welcher ihn da bei seinem Namen ruft, das ist ebenderselbe, der ihn vorhin angerufen und ihm geheißen hat, sich auf Nikita zu legen. Und Wasili Andrejitsch freut sich, daß dieser Jemand gekommen ist, um ihn abzuholen. „Ich komme!“ ruft er freudig. Und dieser Ausruf weckt ihn auf.

Und er erwacht; aber nun er erwacht ist, ist er ein ganz anderer als der, welcher er beim Einschlafen war. Er will 78 aufstehen und kann es nicht; er will den Arm bewegen, er kann es nicht; das Bein, auch das kann er nicht. Er will den Kopf umdrehen; auch dazu ist er nicht imstande. Er ist darüber erstaunt, aber in keiner Weise betrübt. Er begreift, daß das der Tod ist; aber auch darüber grämt er sich nicht im geringsten. Er erinnert sich daran, daß Nikita unter ihm liegt und warm geworden ist und lebt, und es kommt ihm vor, als wäre er selbst Nikita, und Nikita er selbst, und als steckte sein Leben nicht in ihm selbst, sondern in Nikita. Er strengt sein Gehör an und hört Nikitas Atmen, ja sogar ein schwaches Schnarchen desselben. „Nikita lebt; also lebe auch ich,“ sagt er triumphierend zu sich selbst. Und eine ganz neue Empfindung, eine Empfindung, die er in seinem ganzen Leben noch nicht gekannt hat, überkommt ihn.

Er erinnert sich an sein Geld, an seinen Laden, an sein Haus, seine Einkäufe und Verkäufe und an Mironows Millionen, und es wird ihm schwer, zu begreifen, warum dieser Mensch, welcher Wasili Brechunow geheißen hat, sich mit all den Dingen beschäftigt hat, die in Wirklichkeit seine Beschäftigung gebildet haben. „Nun, er hat eben nicht gewußt, worauf es ankommt,“ dachte er mit Bezug auf diesen Wasili Brechunow. „Ich habe es nicht gewußt; aber jetzt weiß ich es. Jetzt weiß ich es ohne jeden Irrtum; jetzt weiß ich es .“ Und wieder hört er den Ruf dessen, der ihn schon einmal gerufen hat. „Ich komme, ich komme!“ antwortet freudig und gerührt sein ganzes Ich. Und er fühlt, daß er frei ist und nichts ihn mehr zurückhält.

Und weiter sah und hörte und fühlte Wasili Andrejitsch in dieser Welt nun nichts mehr.

Ringsum tobte noch immer in gleicher Weise der Schneesturm. Unverändert wirbelte der Schnee und bedeckte den 79 Pelz des toten Wasili Andrejitsch, und den am ganzen Leibe zitternden Braungelben, und den kaum noch sichtbaren Schlitten, und den warm gewordenen Knecht Nikita, der tief unten im Schlitten unter seinem nun toten Herrn lag.

X

V or Tagesanbruch wachte Nikita auf. Es weckte ihn die Kälte, die ihm wieder in den Rücken zu dringen begann. Es hatte ihm geträumt, er käme mit einer seinem Herrn gehörigen Fuhre Mehl von der Mühle, verfehlte bei Ljapino die Brücke und bliebe mit der Fuhre stecken. Und nun sah er sich im Traume, wie er unter die Fuhre kroch und sie zu heben versuchte, indem er sich mit dem Rücken dagegen stemmte. Aber seltsam! Die Fuhre bewegt sich nicht und haftet fest an seinem Rücken, und er vermag weder die Fuhre zu heben noch unter ihr wieder hervorzukriechen. Das ganze Kreuz ist ihm zerquetscht. Und dabei ist sie eiskalt! Es ist klar, daß er sich Mühe geben muß hervorzukriechen. „Na, nun ist's genug!“ sagt er zu jemand, zu demjenigen, der ihm die Fuhre auf den Rücken preßt. „Nimm die Säcke herunter!“ Aber die Fuhre wird immer kälter und kälter und drückt ihn immer schlimmer, und auf einmal hört er ein sonderbares Klopfen und wird davon vollständig wach und erinnert sich an alles Vorhergegangene. Die kalte Fuhre, das war sein erfrorener, toter Herr, der auf ihm liegt. Und derjenige, der da geklopft hatte, das war der Braungelbe gewesen, der zweimal mit den Hufen gegen den Schlitten geschlagen hatte.

„Andrejitsch, he, Andrejitsch!“ ruft Nikita, der schon die Wahrheit ahnt, vorsichtig seinen Herrn an und krümmt mit Anstrengung seinen Rücken, um in die Höhe zu kommen.

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Aber Wasili Andrejitsch gibt keine Antwort, und sein Bauch und seine Beine sind steif und kalt, und schwer wie Bleigewichte.

„Er muß wohl gestorben sein. Gott gebe ihm die ewige Seligkeit!“ denkt Nikita.

Er dreht den Kopf ein paarmal hin und her, gräbt sich mit der Hand durch den auf ihm liegenden Schnee hindurch und öffnet die Augen. Es ist schon hell. Der Wind pfeift noch ebenso um die Deichselstangen, und das Schneetreiben ist noch ebenso dicht, nur mit dem Unterschiede, daß der Schnee jetzt nicht mehr mit peitschendem Tone gegen die Bastwand des Schlittens schlägt, sondern lautlos Schlitten und Pferd immer höher und höher bedeckt und keine Bewegung und kein Atmen des Pferdes mehr zu hören ist. „Der muß wohl auch erfroren sein,“ denkt Nikita mit Bezug auf den Braungelben. Und wirklich waren jene Hufschläge gegen den Schlitten, von denen Nikita aufgewacht war, die letzten Anstrengungen vor dem Tode gewesen, durch die der schon ganz erstarrte Braungelbe versucht hatte, sich auf den Beinen zu halten.

„Mein Gott, Vater im Himmel, gewiß rufst du nun auch mich,“ sagt Nikita zu sich selbst. „Dein heiliger Wille geschehe. Aber mir ist doch bange. Nun, zweimal braucht man nicht zu sterben, und daß man einmal stirbt, ist unvermeidlich. Wenn's nur recht schnell ginge …“ Er steckt seine Hand wieder unter, schließt die Augen und verliert das Bewußtsein, völlig überzeugt, daß er jetzt sicher und gänzlich sterbe. –

Es war schon Mittag, als Bauern mit Schaufeln Wasili Andrejitsch und Nikita ausgruben, achtzig Schritt seitwärts von der Landstraße und eine halbe Werst vom Dorfe entfernt.

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Der Schnee lag höher, als der Schlitten war; aber die Deichselstangen und das Tuch daran waren noch sichtbar gewesen. Der Braungelbe stand bis an den Bauch im Schnee; der Umlaufriemen und der Sack waren ihm vom Rücken heruntergeglitten. Das Tier sah am ganzen Leibe weiß aus; den toten Kopf hielt es gegen den erstarrten Kehlkopf gedrückt. Die Nüstern waren von Eisstücken erfüllt, die Augen bereift und gleichfalls wie mit gefrorenen Tränen überzogen. Das Pferd war in der einen Nacht so abgemagert, daß nur Haut und Knochen an ihm übriggeblieben waren. Wasili Andrejitschs Körper war starr geworden wie der eines geschlachteten, gefrorenen Tieres, und in derselben Haltung, in der er auf Nikita gelegen hatte, mit gespreizten Beinen, wurde er von diesem herabgewälzt. Die vorstehenden Habichtsaugen waren überfroren, und der offene Mund unter dem kurzgeschnittenen Schnurrbart mit Schnee vollgestopft. Nikita dagegen, obgleich völlig erstarrt, war noch am Leben. Als man ihn aufweckte, war er überzeugt, daß er bereits gestorben sei, und daß das, was mit ihm jetzt geschah, nicht mehr in dieser, sondern in jener Welt vorgehe. Als er das Schreien der Bauern hörte, die ihn ausgruben und Wasili Andrejitschs Leichnam von ihm herunterwälzten, da war er zuerst darüber erstaunt, daß in jener Welt die Bauern ebenso schrien wie auf Erden; nachdem er aber dann begriffen hatte, daß er noch hier in dieser Welt sei, war er darüber eher betrübt als erfreut, namentlich als er merkte, daß ihm an beiden Füßen die Zehen erfroren waren.

Zwei Monate lag Nikita im Krankenhause. Drei Zehen wurden ihm abgenommen; aber die übrigen heilten, so daß er wieder arbeiten konnte. Er lebte noch zwanzig Jahre, zuerst als Knecht, dann in höherem Alter als Wächter. Gestorben 82 ist er erst in diesem Jahre, bei sich zu Hause, wie er sich das gewünscht hatte, unter den Heiligenbildern und mit einer brennenden Wachskerze in der Hand. Vor seinem Tode bat er seine Frau um Verzeihung und verzieh auch ihr den Böttcher, nahm Abschied von seinem Sohne und seinen Enkelkindern und starb, aufrichtig erfreut darüber, daß er durch seinen Tod seinen Sohn und seine Schwiegertochter von der Last eines überflüssigen Essers befreie, sowie darüber, daß er nunmehr wirklich aus diesem Leben, das er satt hatte, in jenes andere Leben übergehe, das ihm von Jahr zu Jahr und von Stunde zu Stunde immer verständlicher und lockender geworden war. Ob es ihm dort, wo er nach diesem wirklichen Tode erwacht ist, besser oder schlechter geht, ob er sich enttäuscht gesehen oder ebendas gefunden hat, was er zu finden erwartete – das werden wir alle bald erfahren.


Anmerkung zur Transkription:

Auf Seite 24 wurde vor „wie es schien“ ein Komma ergänzt.