Title : Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte
Author : Marie von Ebner-Eschenbach
Release date : June 16, 2012 [eBook #40012]
Language : German
Credits
: Produced by Eleni Christofaki, Jana Srna, Alexander Bauer
and the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net
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Aus den Schriften
von
Marie von Ebner-Eschenbach.
Sechstes bis zehntes Tausend.
Berlin.
Verlag von Gebrüder Paetel
(
Dr.
Georg Paetel).
1911.
Alle Rechte,
vornehmlich das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.
Seite | |
1. Der Kreisphysikus | 7 |
2. Der Nebenbuhler | 105 |
3. Der Vorzugsschüler | 147 |
4. Er laßt die Hand küssen | 205 |
5. Fräulein Susannes Weihnachtsabend | 235 |
Doktor Nathanael Rosenzweig hatte eine entbehrungsreiche Jugend durchlebt. Was genießen heißt, erfuhr er in der schönsten Zeit des Daseins nicht. Heute hungern und dabei gerade genug erwerben, um morgen weiter hungern zu können; nachts um zwei Uhr sich zusammenrollen wie ein Igel und in der Ecke der Kellerstube den harten, traumlosen Schlaf der Erschöpfung schlafen; erwachen bei dem Gewimmer der alten Großmutter, die sich entschuldigte, daß sie noch nicht gestorben sei, daß sie ihm noch zur Last fallen müsse; forteilen, um lehrend die Möglichkeit zu erringen, selbst zu lernen – so ging es jahraus, jahrein. Erwerben, der Inbegriff all seines Dichtens und Trachtens, Geld erwerben, Kenntnisse, Gunst, hauptsächlich die seiner Professoren (Nathanael studierte Medizin an der Universität in Krakau), erwerben um jeden Preis, den der Ehrlichkeit einzig ausgenommen, erwerben und nur ja nichts umsonst hergeben, nicht den kleinsten Teil der eigenen Kraft; keine mitleidige Regung kennen, keine hemmende Rücksicht.
Seine Großmutter und er, er und seine Großmutter machten für ihn die Welt aus, und wie wenn seine Welt klein war, so waren seine Ziele nahe. Das erste und am schwersten Errungene bestand in dem -10- Ersparnisse so vieler Gulden, daß er und die alte Frau nicht sofort verhungern mußten, wenn ein unvorhergesehenes Unglück seine Tätigkeit für einige Zeit lähmen sollte. Als er es erreicht hatte, da fühlte er sich als Kapitalist und tröstete die Großmutter bei ihrer allmorgendlichen Klage mit den Worten:
„Lebe du nur ruhig fort, jetzt kann uns nicht so leicht mehr etwas geschehen.“
Sein rastloser Fleiß verminderte sich nach dem ersten Erfolge nicht, er wuchs vielmehr mit der Kraft dessen, der ihn anwandte.
Nathanael wurde ein starker Mann; seine kreuzspinnenartigen Extremitäten kräftigten sich zu muskulösen Armen und Beinen, die Brust wurde breit, die Gestalt bekam etwas Reckenhaftes trotz ihrer Magerkeit. Sein Auftreten war so sicher, sein Blick ruhig und klar, seine Rede so bestimmt, daß schon seine ersten Patienten – gar kleine Leute – meinten:
„Das ist ein gescheiter Herr Doktor!“
Seine grüne Jugend sah ihm niemand an; er hatte sich zu lange in Gesellschaft der Sorge befunden, und wenn er sie auch bändigte und unterwarf, – daß sie heimlich an ihm zu nagen fortfuhr, konnte er nicht verhindern.
Allmählich kam er in Besitz eines Rufes, eines bescheidenen, aber eines guten, und dem verdankte er es auch, daß er mit dreißig Jahren schon, von Amts wegen, als Physikus nach einem der westlichen Kreise versetzt wurde. Ein sicheres Brot von nun an, ein reichliches sogar nach Nathanaels Begriffen. Er hätte bei der Einrichtung seiner Wohnung auf dem Ring der Kreishauptstadt nicht so ängstlich zu -11- knickern gebraucht, aber er fürchtete, übermütig zu werden, wie die meisten Armen, wenn sie plötzlich zu Geld kommen, und gab den Handwerkern wenig zu verdienen. Immer des Wortes eingedenk: „Die Axt im Hause erspart den Zimmermann“, schaffte er allerlei Werkzeuge an und ließ sich's nicht verdrießen, den Tischler und den Schlosser gleichfalls zu ersparen. Und wenn es auch wirklich ein Graus war, wie die Sachen aussahen, den Doktor beirrte das nicht; der Schönheitssinn war bei ihm entweder nicht vorhanden oder nicht ausgebildet.
Als die Großmutter, steinalt und unbeweglich, ihre Stube nicht mehr zu verlassen vermochte, sich aber doch noch herzlich sehnte nach dem Anblick einer grünen Staude, einer blühenden Blume, da wurde der Herr Doktor ein Gärtner, und bald sahen die Fenster seiner Wohnung aus wie die eines Treibhauses.
Die Greisin litt manchmal an Rückfällen in ihre ehemalige Schwachherzigkeit, doch äußerte sich diese jetzt in andrer Weise.
„Wenn ich nur nicht zu früh sterbe,“ sagte die Neunzigjährige. „Ein Begräbnis ist gar zu kostspielig!“
Nathanael tröstete sie liebreich:
„Stirb ja nicht, Großmutter, du würdest mich um den Lohn aller Mühen betrügen, die ich um deinetwillen gehabt habe.“
Der Besitz Nathanaels mehrte sich im Schranke, die Lust am Besitze stieg und stieg. Pläne, deren Verwirklichung dem klugen Manne in seiner Jugend als bare Unmöglichkeit erschienen wären, erwog er -12- nun mit der Zuversicht bevorstehender Erfüllung. Seine ärztliche Praxis war ausgedehnt und einträglich. Nach allen Schlössern der Umgebung berief man ihn. Der trockene, wortkarge Doktor Rosenzweig, der keinen Widerspruch duldete, der nie eine Schmeichelei über die Lippen brachte, wurde der Vertrauensmann der Edelleute und, was viel merkwürdiger war, das Orakel ihrer liebenswürdigen und feinen Damen und der Freund ihrer Kinder.
„– Der Kleine ist schwer krank, aber – Rosenzweig behandelt ihn.“ – „Den ganzen Tag habe ich in Todesangst um mein Töchterlein zugebracht – aber jetzt ist Rosenzweig gekommen.“
Wenn nur Rosenzweig da war, so war Hilfe da, und blieb sie einmal aus, dann hatte Gott eben nicht gewollt, daß ein Mensch sie bringe.
Unter keinen Umständen erwies man sich karg gegen ihn, das hätte niemand gewagt. – Doktor Rosenzweig baut sich ein Haus, ein Haus aus gebrannten Ziegeln; dazu braucht er Geld. Er hat außerhalb der Stadt einen Baugrund gepachtet, und unter seiner eigenen Leitung ist auf dem ein viereckiger, einstöckiger Wohnkasten errichtet worden. Stolz ruht er auf tüchtigen Kellergewölben, hat eine steinerne Treppe und ein wetterfestes Ziegeldach. Die Fensterrahmen sind schneeweiß angestrichen, die Mauern schneeweiß getüncht. Als einzige Zierde der Fassade prangt neben der Glocke an der Tür das Schildchen der Feuerversicherungsgesellschaft.
Aus den Fenstern der vorderen Front – sie liegt gegen Osten, und ihr erstes Geschoß wird von dem Doktor und seiner Großmutter bewohnt – hat -13- man eine weite, weite Aussicht: Himmel und Felder. Frei schweift der Blick ins Grenzenlose. Kein Hügel hemmt ihn, kein Wald bringt einen dunklen Fleck hervor auf der glatten, im Sommer goldig, im Winter silbern schimmernden Flur. Jede Handbreit Erde kann von der lieben Sonne durch und durch getränkt werden mit lebenweckenden Strahlen. Gibt es einen Schatten, so ist es ein solcher, der nicht kühlt, nicht ruht, der keinem Hälmchen die Wärme entzieht, deren es zu seinem wunderbar geheimnisvollen Reifen bedarf – der Schatten der fliehenden Wolken. Wie oft verfolgt ihn Nathanael aufmerksamen Auges, sieht ihn hingleiten über den wachsenden, schwellenden Reichtum, den sie zum Herbste einheimsen und zu Schiff auf der Weichsel nach Deutschland und nach Rußland bringen und teuer verkaufen werden. Wer sich doch beteiligen könnte an diesem großartigen Erwerb, ein Hundertstel, ach ein Tausendstel nur von dem Gewinn, den er abwirft, in die eigne Tasche fließen sähe! Der Doktor fängt an, auf der unermeßlichen Ebene Luftschlösser zu erbauen, so bunt und märchenhaft schön, daß er nicht umhin kann, während er sie baut, lächelnd zu denken: Mahnst du auch mich einmal, nie angetretenes Vätererbe – morgenländische Phantasie?
Er wendet sich ab von dem Anblick fremden Reichtums und will einen Strich gezogen haben zwischen diesem und seinem bescheidenen Eigentum. Das Doktorhaus wird in fünf Klafter breiter Entfernung von jedem Punkte seiner Mauern mit einem Zaun aus ordentlich zugehobelten Latten umgeben; nach je ihrer zwanzig kommt ein starker, spitz zulaufender -14- Pfahl. Aus dem Raume zwischen Haus und Zaun wird nach und nach ein kleiner Garten werden; die Einteilung in Blumen- und Gemüsebeete ist bereits getroffen. Kein Schachbrett kann genauer quadriert sein.
„Im nächsten Jahre, liebe Großmutter, wirst du Rosen und Reseden unter deinen Fenstern blühen sehen,“ versprach Nathanael der Greisin, und sie erwiderte:
„Wenn ich es nur noch erlebe, mein Kind. Aufs Jahr werde ich fünfundneunzig.“
„Weit über hundert mußt du werden!“ rief er eifrig. „Das bist du mir schuldig, denke doch! Wie würde es das Vertrauen der Leute zu mir erhöhen, wenn es hieße: Seine Großmutter hat er auf mehr als hundert Jahre gebracht. Denn die Leute sind dumm, liebes Godele [1] , sie schreiben meiner Kunst zu, was deine gute Natur getan hat. Bleibe du nur frohen Mutes, nimm dir nur recht fest vor, noch nicht zu sterben. Solange du es dir fest vornehmen kannst, wirst du munter weiter leben.“
Die Greisin nahm es sich vor, aber von einer rechten Munterkeit war nicht mehr die Rede.
„Mir ist jetzt so oft,“ sagte sie, „als ob dein Großvater vor mich träte und zu mir spräche wie in seiner Todesstunde: ‚Komm bald! Wir wohnen so friedlich beisammen im Garten Eden, wie wir gehaust haben auf Erden. Komm bald nach, Rebekka!‘ ... Damals konnte ich nicht folgen dem Rufe meines Geliebten, weil du mich hast zurückgehalten, du armes -15- Würmchen, du ganz verlassenes. Von Vater und Mutter zuerst, und vom Großvater bald darauf. Ja, es war eine schreckliche Seuche, die Gott geschickt hat über sein Volk im Kazimirz, und nicht gewußt hätte ich, wem sagen: Sei barmherzig meinem Enkelkind, wenn ich mich nun auch hinlege zu sterben. So habe ich damals nicht erfüllen dürfen den Wunsch meines Geliebten. Jetzt aber, Nathanael, mein Kind, jetzt aber ist mir, als sollte ich ihn nicht länger warten lassen.“
Solche Reden schnitten dem Doktor ins Herz. Nie hatte die zurückhaltende, schweigsame Großmutter ähnliche geführt. Ein bedenkliches Zeichen, wenn alte Leute etwas tun, das außerhalb ihrer Gewohnheiten liegt! Der kleinen Veränderung folgt oft nur gar zu bald die unwiderrufliche – die letzte nach. Und noch ein Symptom, das den Doktor beunruhigte. Die Greisin, die sonst nie genug Einsamkeit haben konnte, war jetzt nicht mehr gern allein. So oft Nathanael sich bei ihr verabschiedete, sprach sie:
„Geh denn in Gottes Namen, aber schicke mir den Goj [2] , daß er mir Gesellschaft leiste, und ich doch blicken könne in ein menschliches Angesicht und nicht immer und immer nur auf die Felder und den Himmel.“
Der „Goj“ war ein Jüngling von nun achtzehn Jahren, des Doktors Famulus, sein Diener, sein Sklave. Des Tages wußte er sich nicht zu erinnern, an dem der „Wohltäter“ ihm ein gutes Wort gegönnt oder ein gutes Kleidungsstück geschenkt hätte. Wenn die Röcke und Stiefel Rosenzweigs unbrauchbar -16- wurden, erhielt der große Junge sie zur Benutzung und die Vermahnung dazu, ihnen all die Rücksicht zu erweisen, die man fremdem Eigentum schuldig ist. Der Doktor ging immer mehr in die Breite, und fast schien es, als ob er kleiner würde. Sein Famulus „verdünnte“ sich, wie Rosenzweig sagte, von Tag zu Tag und schoß spargelmäßig in die Höhe. Wie ihm die Gewänder des Wohltäters saßen, das kam dem selbst entweder erbärmlich oder lächerlich vor – beides mit einem Zusatze von Verachtung.
Den Jungen konnte er einmal nicht leiden, sein Widerwillen gegen ihn war unüberwindlich und entsprang aus dem Gedanken, daß der Findling seines Herrn Brot umsonst oder doch fast umsonst esse.
Vor vier Jahren hatte ihn Rosenzweig von der Straße aufgelesen, in einer eiskalten, herrlichen Winternacht. Mit dem Stolze eines Triumphators war er im Schlitten des Grafen W. pfeilgeschwind dahingesaust. Der Graf selbst hatte ihn bei der Abfahrt sorgsam in die Pelzdecke gehüllt, in der er sich so behaglich fühlte, und ihm immer wieder gedankt und immer von neuem Worte gesucht für das Unsagbare – die Glückseligkeit des Liebenden, dem sein Teuerstes, das er schon verloren gab, wiedergeschenkt ist. Gerettet die junge Gräfin, gerettet vom beinahe sicheren Tode durch das Genie, durch die erfinderische Sorgfalt des unvergleichlichen Arztes, der an ihrem Krankenlager gestanden hatte wie ein Held auf dem Schlachtfelde, fast besiegt noch den Sieg im Auge, kampfbereit noch im Erliegen, der nicht gewichen war, bevor er sagen konnte:
„Wir haben gewonnen, sie wird leben!“ -17-
Er hatte so viele Nächte durchwacht und sich auf den guten Schlaf gefreut während der Heimfahrt im bequemen Schlitten. Aber seine Müdigkeit mußte zu groß sein, sie verscheuchte die ersehnte Erquickung, statt sie herbeizurufen. So oft Nathanael die Augen schloß, unwillkürlich öffneten sie sich wieder und schwelgten im Anblick des sternenbesäeten, mondhellen Himmels und der schneebedeckten Ebene, die in wunderbarer Blankheit erglänzte, gleich einer ungeheuren, neugeprägten Silbermünze ... Wieviel Gold ließe sich erwerben um solche Münze? Die Keller des viereckigen Doktorhauses hätten nicht Raum, sie zu fassen, die köstlichen Barren, die verehrungswürdigen! Berger und Träger allbezwingender Kräfte, gebundene Zauber, aufgespeicherte Macht. Was läßt sich nicht tauschen um Gold? Unschätzbares erkauft man damit, das weiß der Mann, der denen, die ihn bezahlen, die Gesundheit wiedergibt.
Der Doktor wurde in seinem Gedankengange plötzlich unterbrochen. Das Gefährt stand dicht am Straßengraben still, und der Kutscher rief:
„Herr Doktor! Herr Doktor!“ ...
„Was gibt es, mein Sohn?“
„Herr Doktor, da liegen zwei Betrunkene.“
„Steig ab und prügele sie ein wenig durch, damit sie nicht erfrieren.“
Indes der Kutscher abstieg und die Zügel am Bocke verknotete, hatte Nathanael sich aufgerichtet und vorgebeugt und sah einer der auf dem Boden liegenden Gestalten mit gespannter Aufmerksamkeit in das vom Mondenlicht hell erleuchtete Gesicht. Kein Säufergesicht, wahrlich! sondern eines, das -18- Zeugnis gab von ehrlichem Darben und Dulden bis an die Grenze der menschlichen Kraft.
Der arme Teufel hatte, in dem Augenblick wenigstens, kein Bewußtsein seines Elends, er schien fest zu schlafen. Als aber der Kutscher ihn packte und emporzerrte, fiel er sofort, steif wie ein Eisblock, in den Schnee zurück. Jener sprach:
„Der eine ist schon erfroren, Herr Doktor!“
Rosenzweig sprang mit beiden Füßen aus dem Schlitten und überzeugte sich bald, daß die Behauptung des Dieners richtig sei. Grimm erfüllte ihn. Da war ihm einmal wieder der Tod zuvorgekommen, den er am meisten haßte, der nicht durch Krankheit bedingte, durch das Alter herbeigeführte, der Tod, dem der Zufall in die Hand gearbeitet hat, der Tod, der seine Beute umsonst gewinnt, dem sie dumm und töricht zuteil wird, ohne triftigen Grund.
„Sehen mir nach dem andern,“ sagte der Doktor zwischen den Zähnen.
Der andre schlief auch, aber weniger tief.
Es war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, dem Toten offenbar nahe verwandt, sein viel jüngerer Bruder oder sein Sohn.
Mit dem Feuereifer des Berufs begann der Doktor Wiederbelebungsversuche anzustellen, und nach langen Mühen krönte sie ein schwacher Erfolg. Ein kaum spürbares Rieseln war durch des Knaben starre Pulse geglitten, und wenn es auch sofort wieder staute, dennoch erklärte der Doktor voll Siegesgewißheit:
„Jetzt hab ich ihn!“
Und er hüllte ihn in seinen Pelz, hob ihn in -19- den Schlitten, brachte ihn heim und legte ihn in sein eigenes Bett, an dem er das Kind des Elends mit derselben Hingebung bewachte, die er der Herrin im Grafenschloß gewidmet hatte. Am Morgen war der Patient außer Lebensgefahr, und Rosenzweig konnte nicht umhin, zu sich selbst zu sagen: Auch der gerettet, zwischen zweimaligem Sonnenaufgang zwei!
Schmunzelnd streichelte er seinen langen Mosesbart und freute sich seines mächtigen Vermögens.
Sein Patient aber erhielt noch am selben Tage die Weisung:
„Steh auf und geh.“
„Wohin? Gnädiger Herr Doktor, wohin? Wer nimmt mich ohne meinen Bruder?“ antwortete der Knabe verzweifelnd, und nun trat die Frage heran: Was mit ihm beginnen?
Die Papiere, die der Verstorbene bei sich gehabt hatte, wiesen ihn aus als den Maschinenschlosser Julian Mierski, der viele Jahre hindurch als Werkführer in einer Fabrik in Lemberg gedient hatte. In seinem Zeugnisse hieß es, der vorzügliche Arbeiter habe, zum Bedauern seines Dienstherrn, infolge schwerer Erkrankung entlassen werden müssen. Seitdem konnte er nichts mehr verdienen, sein Bruder aber, den er nach dem Tode der Eltern – arme Häusler in einem Dorfe bei Lemberg – zu sich genommen, nur gar wenig. So gingen, erzählte der Knabe, in Monaten die Ersparnisse von Jahren hin und wurden aufgezehrt bis auf einige Gulden, deren Anzahl er genau angab, und die sich auch richtig im Ranzen des Verunglückten vorgefunden hatten.
Die Großmutter hörte dem unter Tränen erstatteten -20- Berichte aufmerksam zu.
„Horch, Nathanael, mein Kind,“ sagte sie. „Es ist nicht recht gewesen von dem Goj in Lemberg, zu verlassen den Mann in seiner Krankheit, der ihm in Gesundheit gedient hat viele Jahre.“
„Eine Fabrik ist keine Versorgungsanstalt,“ erwiderte Rosenzweig und befahl seinem Geretteten: „Sprich weiter.“
Dieser fuhr fort:
„Vor acht Tagen ist ein Bekannter von meinem Bruder gekommen und hat erzählt, daß es in Krakau eine Fabrik gibt, wie die unsre, und daß sie uns dort gewiß nehmen werden. Mein Bruder war sehr froh: ‚Komm, Joseph, wir wandern‘, hat er gesagt und hat auf der Reise immer gemeint, der lange Müßiggang ist es gewesen, der ihn nicht hat gesund werden lassen, beim Marschieren wird ihm besser. Auf einmal hat er aber nicht weiter gekonnt und hat sich in den Schnee gelegt, um ein wenig zu schlafen.“
„Und du hast das zugegeben?“ schrie der Doktor ihn an. „Weißt du nicht, was einem geschieht, wenn man sich bei solchem Frost in den Schnee legt?“
Der Knabe senkte seine großen Augen, aus denen unaufhörlich Tränen flossen, und schwieg.
„Was soll man anfangen mit einem solchen Chamer [3] ?“ fragte Rosenzweig die Großmutter.
Die Greisin entgegnete:
„Laß ihn heute noch ruhen unter deinem Dache. Sei ihm barmherzig. Er ist eine Waise wie du.“
Am nächsten Tage lautete ihr Rat: -21-
„Behalte ihn. Unsre Magd wird ohnehin alt und wackelig und kann eine Hilfe brauchen. Behalte ihn und richte ihn ab zu deinem Dienst. Wer wird es verargen einem großen Mann wie dir, wenn er tut sich halten einen Famulus?“
So wurde der Findling ein Genosse des Doktorhauses und zwar, obwohl Rosenzweig das nicht gelten ließ, ein ungemein nützlicher. In den Augen seines Herrn blieb Joseph ein „Chamer“, der aus Büchern nichts lernte, nichts zu lernen vermochte. Mit achtzehn Jahren noch las er nicht ohne Schwierigkeit die einfachsten Kindergeschichten. Ihn zur Schule zu zwingen, hatte der Doktor schon nach den ersten Monaten aufgegeben, weil er nur mit Schlägen dahin zu bringen war, und weil sein Wohltäter nicht immer Muße hatte, ihm die zu spenden. Seine mechanischen Fertigkeiten hingegen waren groß und groß der Fleiß, mit dem er sie ausübte. Auch er pfuschte in jedes Handwerk, aber mit besserem Erfolg als dereinst der Doktor.
In allem, was er unternahm, offenbarte sich ein Schick, eine Leichtigkeit, ja sogar ein Geschmack, der den Pillenschächtelchen des Doktors ebensosehr zugute kam, wie den Blumenbeeten im Gärtlein vor dem Hause. Immer nur mit Verdruß hörte Nathanael ihn loben, „den Tagedieb, der nichts kann und nie etwas andres können wird als spielen.“
Er hatte einmal wieder diesen Vorwurf ausgesprochen, da entgegnete Joseph:
„Wenn du dich entschließen könntest, deine Felder in deine eigene Verwaltung zu nehmen, würde ich dir beweisen, daß ich kein Tagedieb bin.“
Der Doktor fuhr fort: -22-
„Was sprichst du von meinen Feldern? Weißt du nicht, daß ich ein Jude bin und als solcher Grundeigentum nicht besitzen darf? Weißt du nicht, daß sogar mein Haus auf fremdem Boden steht?“ –
Joseph wurde rot vor Verlegenheit, sah jedoch dem Doktor vertrauensvoll und offen ins Gesicht und erwiderte:
„Du hast die Felder auf den Namen des Theophil von Kamatzki gekauft, aber sie sind doch dein.“
„Sag einmal, mein Junge, woher hast du diese Nachricht?“ fragte Rosenzweig, und höchst verdächtig war die Gebärde, mit der er dabei sein spanisches Rohr zu schwenken begann.
Gelassen antwortete Joseph:
„Das ist kein Geheimnis. Alle Leute wissen es und gönnen dir die Felder.“
Während dieses Gespräches standen die beiden mitten auf dem Wege, der schnurgerade von der Haustür zum Gartenpförtlein führte, zwischen zwei säuberlich mit Reseden eingefaßten Rosenbeeten. An den Stachelbeerhecken, die Joseph längs des Lattenzaunes gezogen hatte, reiften die ersten Früchte. Was man überblicken konnte an zart entfalteten Salatstauden, an Rüben mit kühnen Federbüschen, an gelblich zwischen gekräuselten Blättern hervorleuchtendem Blumenkohl, an schier kriegerisch behelmtem Zwiebelnachwuchs, an zierlichem Majoran und – dulce cum utile – als Begrenzung jeglichen Gemüsekarrees an duftendem Lavendel, dessen kleine Knospen zu schwellen anfingen, das war alles so kraftstrotzend und kerngesund, daß bei dem Anblick jedem Menschen, besonders aber einem Arzte, das Herz im Leibe lachen mußte. -23- Mit geheimem Wohlgefallen betrachtete Rosenzweig die freundlichen Himmelsgaben und sagte:
„Weil du ein leidlicher Gärtner bist, bildest du dir ein, auch ein Landwirt sein zu können.“ Damit wollte er abbrechen, besann sich aber und fügte hinzu, indem er die Spitze seines Stockes mit großer Hartnäckigkeit in die Erde bohrte und diese Operation scheinbar höchst aufmerksam verfolgte:
„Ich hätte die Felder nicht – eigentlich mit einem gewissen Unrecht – in meinen Besitz gebracht, wenn ich nicht hoffen dürfte, sie bald zu Recht besitzen zu dürfen. Du wirst wohl wissen, daß eine Veränderung der Landesgesetze bevorsteht, und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.“
Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.
„Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen,“ schloß der Jüngling. „Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.“
„Bist ein Narr,“ sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch die Pläne zu sehen.
Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig, einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt -24- solche Käuze. Sie setzen uns allerdings manchmal in Erstaunen; gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.
Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu seiner Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon erörtert worden war.
„Du wirst reich werden wie Laban,“ prophezeite die alte Frau. „Über dir ist des Herrn sichtbarer Segen.“
In diesem Frühjahr hatte es sich erwiesen, in diesem für Tausende unseligen Frühjahr 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen, hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr das Hab und Gut und die Hoffnung derer, die sie bebauten.
Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinander geteilt, wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.
Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Tagelöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.
Die Großmutter aber fragte täglich: -25-
„Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?“
Nathanael erwiderte lächelnd:
„Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!“
Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können:
„Die Schnitter kommen!“
Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.
Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph:
„So groß war sie?“
Er fragte aber auch:
„So schön war sie?“
Erlöst von allen Gebresten, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.
Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grauser Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.
Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört -26- bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden, veränderten Antlitz der Großmutter das lang bekannte, teure und – fand es nicht. Das einzige ideale Gut, das er besessen hatte, die Zuneigung dieser alten Frau, war für immer dahin und er, als ein bejahrter Mann – allein. Mit jähem Schreck fiel es ihn an: Zwischen dieser Greisin und dir liegt eine Generation. Du solltest jetzt hingehen können und an der Brust deines Weibes um sie weinen, und dir Trost schöpfen aus dem Anblick deiner Kinder.
Der rastlos Strebende, der nie zurück, der nur vorwärts geschaut hatte, nach Zielen, die mit seinen Erfolgen wuchsen, hielt einmal still in seinem Laufe, wandte sich und durchmaß im Geiste seinen ganzen Lebensweg. Viel erreicht! durfte er sich gestehen, doch niemals das geringste ohne einen Gedanken an dich – Großmutter. So freudig ihr Dasein ihn erfüllt und beglückt hatte, so schmerzlich klaffte jetzt der Riß, den ihr Scheiden verursachte.
Sie hätte ihn nicht verlassen sollen, sie, deren Nähe ihn über das Schwinden der Zeit – eines Begriffes, der dem hohen Alter verloren geht, getäuscht hatte.
„Weiche ab von dem Brauche unsres Volkes,“ hatte die Greisin oft gesprochen. „Heirate nicht zu früh, setze nicht Bettler in die Welt. Du kannst warten, mein Kind, du bist jung.“
Immer hatte er zu dieser Ermahnung geschwiegen; heute antwortete er ihr, die ihn nicht mehr hören konnte:
„Ich war dir so lange zu jung zum Freien, bis -27- ich mir zu alt dazu geworden bin.“
Alsbald jedoch empfand er den Widerspruch, den er ihr ins Grab nachgerufen, als einen Frevel. Er trat zu ihr, beugte sich über sie, und, was nie geschehen war, so lange sie gelebt hatte, er küßte ihre Hand, küßte ihre Stirn und den für ewig verstummten Mund, den einzigen auf Erden, von dem er sich „mein Kind“ hatte nennen gehört.
Joseph beteiligte sich als Freiwilliger an den Erntearbeiten, und eines Nachmittags sah ihn Rosenzweig, der gleichgültig, als ob die Sache ihn nichts anginge, vorbeischritt, hoch oben stehen auf einem beinahe völlig beladenen Leiterwagen. Behend und kräftig schichtete er die Garben, und dem Doktor fiel es auf, daß der Bursche in der drollig weiten Jacke, die seinem Wohltäter als Rock gedient hatte, und in den viel zu kurzen Hosen doch ein bildschönes Menschenkind sei. Groß, schlank und stark, weiß und rot im Gesicht, den wohlgeformten Kopf umwallt von leicht gelocktem blonden Haar, sein ganzes Wesen Freudigkeit atmend an der Arbeit, an der Mühe, nahm er sich auf seiner stolzen Höhe ganz merkwürdig gut aus.
Unter den auf dem Felde beschäftigten Weibern und Mädchen befand sich auch die Tochter des Pächters, dem Rosenzweig die Gründe des Pan Theophil von Kamatzki anvertraut hatte. Ein hübsches, lebhaftes Ding, die echte Masurentochter. Rosenzweig bemerkte, daß die braunen, funkelnden Augen des Mädchens und die blauen des Burschen einander gar oft begegneten, -28- und wenn sich dann die braunen verlegen senkten, wurden sie von den blauen hartnäckig verfolgt, so hartnäckig, so kühn, daß sie sich endlich wieder erheben mußten, mit oder ohne ihren Willen.
Die Geringschätzung, die Rosenzweig für Joseph hegte, erhielt durch diesen kleinen Vorgang neue Nahrung. Ein Mensch, zu ewiger Dienstbarkeit verurteilt durch die elende Beschaffenheit seines Kopfes, befaßt sich damit, den eines Mädchens zu verdrehen? Und in welchem Alter? In dem eines Knaben, in den Jahren, in denen der Sohn des Doktors stände, wenn der Doktor zur rechten Zeit geheiratet hätte. Was er in heroischer Selbstverleugnung so lange zu erringen säumte, bis er die Hoffnung, es zu erringen, versäumte , das Glück der Liebe, danach haschte in gedankenlosem Leichtsinn ein von fremden Gnaden lebender, unreifer Habenichts!
Am Abend berief ihn Rosenzweig auf sein Zimmer. Das war ein so kahles und ungemütliches Gelaß, daß jeden, der es betrat, fröstelte – sogar in den Hundstagen. Die Einrichtung bestand aus einigen an die Wände gereihten Sesseln, einem riesigen, mit weißer Ölfarbe angestrichenen Schreibtisch und einem gleichfalls weiß angestrichenen, langen und niederen Büchergestell, das, einer Gewölbbudel ähnlich, das Gemach in zwei Teile schied. In dem kleineren, zunächst den Fenstern, hielt sich der Doktor auf, in dem größeren, nächst der Tür, hatten die Patienten, die ihn besuchten, zu warten, bis er zu ihnen trat durch einen schmalen Raum, der zwischen der Wand und dem Büchergestell frei geblieben war. Auf dessen oberstem Brette lagen oder standen allerlei Dinge, mit deren -29- gruselnder Betrachtung die Leute sich die Zeit des Wartens vertrieben. Sonderbare Instrumente, Messer und Zangen und fest verschlossene Gläser, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, in der der galizische Instinkt sofort Weingeist witterte. Nur war leider das gute Getränk verdorben durch höchst unappetitliche Gebilde, die darin schwammen.
Über all diese Sachen hinweg rief Rosenzweig jetzt dem eintretenden Joseph zu:
„Sag einmal, was hast du mit der kleinen Lubienka des Pächters?“
Wie gewöhnlich, wenn sein Wohltäter ihn scharf anredete, wurde der Bursche feuerrot, fand auch nicht gleich eine Antwort. Erst nachdem Rosenzweig seine Frage wiederholt hatte, nahm Joseph sich zusammen und entgegnete halblaut, aber bestimmt:
„Ich hab sie lieb.“
„Und – sie?“
„– Sie hat mich auch lieb.“
Der Doktor lachte bitter und höhnisch:
„Das bildest du dir ein?“
„Das weiß ich, gnädiger Herr –“
„Wohin soll dieses Liebhaben führen?“
Nun meinte Joseph, der Doktor habe ihn zum besten, wolle ihn nur ein wenig aufziehen, und erwiderte ganz munter:
„Zu einer Heirat, Herr.“
„Einer Heirat! Du denkst ans Heiraten?“
„Ja, Herr! und Lubienka denkt auch daran.“
„Sie auch!... Was sagt denn ihr Vater dazu?“
„Dem ist es recht, Panie Kochanku!“ [4] rief Joseph -30- mit einem Ausbruch überwallender Empfindung und machte Miene, auf dem jedem andern als dem Doktor verbotenen Weg in das Bereich seines Wohltäters zu stürzen ...
Der aber erhob sich gebieterisch von seinem Stuhle und bannte den Jüngling mit einem strengen:
„Bleib, wo du bist!“ an seinen Platz.
In grausamen Worten hielt er ihm seine Armut und seine Aussichtslosigkeit vor. Ihn empörte der Gedanke, daß dieser Mensch vielleicht auf ihn gerechnet habe, respektive auf seinen Geldbeutel, und er faßte den Entschluß, dem interessierten Schlingel nach beendeter Erntearbeit die Tür zu weisen. Vorläufig wies er ihn aus dem Zimmer und legte sich mit dem Vorsatz zu Bett, den Pächter am folgenden Tage ernstlich zu ermahnen, der Löffelei zwischen seiner Tochter und Joseph ein Ende zu machen.
Gerade an diesem Tage jedoch ereignete sich etwas, das ihn von jedem unwesentlichen und nebensächlichen Gegenstand ein für allemal abzog.
Er wurde am frühen Morgen zu dem plötzlich erkrankten Sohn einer benachbarten Gutsfrau berufen, konnte die besorgte Mutter über den Zustand des Patienten beruhigen und wäre am liebsten sogleich wieder nach Hause gefahren. Das gestattete jedoch die landesübliche Gastfreundschaft nicht. Gern oder ungern hieß es an einem reichlichen Frühstück teilnehmen, das im Salon aufgetragen war. Dort hatte sich eine große Anzahl Schloßgäste versammelt, eine Gesellschaft, dem Doktor wohlbekannt und so -31- widerwärtig, als ob sie aus lauter Kurpfuschern bestanden hätte. Anhänger und Anhängerinnen „König“ Adam Czartoryskis, Konspiranten gegen die bestehende gute Ordnung, Schwärmer für die Wiedereinführung der alten polnischen Wirtschaft. Die Frau des Hauses, noch jung, schön, enthusiastisch, seit dem Tode ihres Mannes unumschränkte Herrin der großen Güter, die sie ihm zugebracht hatte, war die Seele der ganzen Partei und ihre mächtige Stütze. Sie unterhielt eine lebhafte Korrespondenz mit der Nationalregierung in Paris, empfing und beherbergte deren Emissäre und verwendete jährlich große Summen für Revolutionszwecke.
Dieses fanatische Treiben mißfiel dem Doktor und entstellte ihm das Bild der in jeder andern Hinsicht, als gute Mutter, als kluge Verwalterin ihres Vermögens und als humane Herrin ihrer Untertanen verehrungswürdigen Frau.
Mit verdrießlicher Miene nahm er am Teetische Platz, aß und trank und sprach kein Wort, indes Herren und Damen eifrig politisierten. Ihm war, als sei er von Kindern umgeben, die, statt Soldaten zu spielen, zur Abwechselung einmal Verschwörer spielten.
Da legte eine weiße Hand sich plötzlich auf die Lehne seines Sessels.
„Warum so verstimmt, angesichts des schönsten Wunders, mein lieber Doktor?“ sprach Gräfin Aniela W. zu ihrem Lebensretter.
Rosenzweig erhob und verneigte sich:
„Welches Wunder meinen Euer Hochgeboren?“
„Das der Wiedererweckung des polnischen Reiches!“ versetzte die reizende Frau, und aus ihren Taubenaugen schoß ein Adlerblick, und ihre zierliche Gestalt -32- richtete sich heroisch auf.
Der Doktor verbiß ein Lächeln, und sogleich riefen mehrere Patriotinnen in schmerzlicher Enttäuschung:
„Sie zweifeln? O Doktor, – ist das möglich? Ein so gescheiter Mann!“
„Ich zweifle nicht, meine Damen! Wer sagt, daß ich zweifle?“
„Ihr Lächeln sagt es, das ganz unmotiviert ist, da wir Ernst machen,“ sprach die Gräfin und kreuzte die Arme wie Napoleon.
„Der Augenblick, das fremde Joch abzuschütteln, ist gekommen ... Sie dürfen es erfahren, weil Sie ein guter Pole und unser Vertrauter sind! Das Zeichen zum Ausbruch der Revolution wird in Lemberg auf dem ersten Balle des Erzherzogs gegeben werden!“
Allgemeines Schweigen folgte dieser freimütigen Erklärung. Die Verschworenen waren betroffen über die Eigenmächtigkeit, mit der Aniela über das gemeinsame Eigentum – den Plan der Partei – verfügte.
Doch war sie viel zu liebenswürdig und sah auch viel zu reizend aus, als daß man ihr hätte zürnen können. Sie trug ein Pariser Häubchen mit einer Kaskade aus gesinnungstüchtigen rot und weißen Bändern. Den köstlichen Stoff des Morgenkleides hatte ihr Gemahl von seiner letzten Missionsreise nach Rußland, aus Nishnij Nowgorod mitgebracht, – unter welchen Gefahren!
Ach, es war eine ganze Geschichte ... Heute wurde sie aber nicht erzählt, am wenigsten in diesem Augenblick, in dem es vor allem galt, den üblen -33- Eindruck zu verwischen, den die Politikerin auf ihre Umgebung hervorgebracht hatte.
„Ihr Kleingläubigen!“ rief sie, „zweifelt ihr an der Treue und Zuverlässigkeit eines Mannes, der dem Vaterlande mein Leben erhalten hat?“
Einige junge Herren beeilten sich zu protestieren, und ein alter Schlachziz mit langem, herabhängendem Schnurrbart erhob sein Madeiragläschen, leerte es auf einen Zug und sprach:
„Vivat, Doktor Rosenzweig!“
Die Frau vom Hause wiederholte:
„Vivat, Doktor Rosenzweig, dem so viele von uns ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder verdanken!“
Sie stürzte nach diesem Toast den Rest ihrer sechsten Tasse Tee hinunter, und statt sich erkenntlich zu zeigen, brummte der Arzt:
„Wie oft habe ich Euer Hochgeboren ersucht, nicht so viel Tee zu trinken. Sie ruinieren Ihre Nerven!“
Die schöne Festgeberin lächelte überlegen:
„Guter Gott, meine Nerven! An die werden bald ganz andre Zumutungen gestellt werden!“
„Ich verstehe – auf jenem Revolutionsballe!“
„Ja, Doktor! Ja!“ rief Gräfin Aniela dazwischen, – „dem Ball, auf dem wir ein welthistorisches Ereignis inaugurieren!“
„Bei der Mazurka oder bei der Française?“
„Beim Kotillon. Die Damen wählen zugleich alle anwesenden Offiziere. Die Offiziere legen zum Tanz ihre Säbel ab. Die Säbel werden fortgeschafft. Kaum ist das geschehen, so werfen sich die Polen auf -34- die waffenlosen Feinde und machen sie nieder!“
„Vivat!“ rief der Schlachziz, „alle nieder, ohne Pardon!“
Einige Damen widersprachen und schlugen vor, den Offizieren Pardon zu geben, die ihn verlangen würden. Sie zogen jedoch ihren Antrag zurück, als sie bemerkten, daß er Zweifel an der Echtheit ihres Patriotismus erregte.
„Meine Herrschaften,“ sagte Rosenzweig, „dieser Plan ist wundersam ausgedacht, aber ausführen werden Sie ihn nicht.“
„Warum?“ rief's von allen Seiten, „was soll uns hindern?“
„Ihre eigene Hochherzigkeit, Ihr eigener loyaler Charakter. Edle Damen und edle Herren, wie Sie, können hassen, können befehden, aber sie verraten nicht, und sie morden nicht.“
„Monsieur!“ entgegnete ein neunzehnjähriges Bürschlein, das eben aus einer Pariser Erziehungsanstalt heimgekehrt war. „Ihr Argument würde im Kriege gelten, aber es gilt nicht in einer Konspiration.“
„Ganz richtig – weil ja ...“ Dem alten Schlachziz war plötzlich eingefallen, daß er jetzt eine Rede halten sollte; er sprang auf, schlug die Fersen aneinander und rief nach langer Überlegung:
„Vivat, Polonia! Vivat, König Adam!“
Nun erhob sich in der Ecke des Zimmers eine zitternde, klanglose Stimme. Wie aus der Tiefe eines Berges kam sie hervor, einem Berge von Seiden- und Schalstoffen, von Spitzen, Rüschen und Bändern. Die Stimme gehörte der Starostin Sulpicia, Großtante -35- der Hausfrau, bei der die hochbejahrte Dame ein sehr reich mit Butter bestrichenes Gnadenbrot genoß.
„Olga, Duschenka moja,“ [5] sprach sie, „denke vor allem an dein ewiges Heil!“
Mit Schrecken hatte die Schloßdame das leise Sinken des Enthusiasmus ihrer Gäste wahrgenommen, indessen sie selbst nach der siebenten Tasse Tee auf dem Gipfel der Begeisterung angelangt war. Die Greisin goß mit ihrer Ermahnung Öl ins Feuer. Es schlug auch sogleich lichterloh empor in dem lauten, feierlichen Ausrufe:
„Alles für Polen! Mein zeitliches und mein ewiges Heil!“
Gräfin Aniela warf sich, ganz entzückt von dieser Größe, ihrer Freundin in die Arme, die Herren küßten die Hände der Patriotinnen. Einer von ihnen erbat sich die Ehre, aus dem Schuh der Hausfrau trinken zu dürfen. Sie gestattete es aber nicht, aus Rücksicht für den erhabenen Ernst dieser Stunde, und der Abgewiesene setzte sich ans Klavier und intonierte ein melancholisches Nationallied.
Alle schwiegen, alle horchten gerührt; in manches Auge traten Tränen.
Die unwiderstehliche Macht dieses Gesanges ergriff sogar einen, der bisher unbeweglich in einer Fensterecke gestanden und am Gespräch nicht teilgenommen hatte.
Rosenzweig kannte ihn nicht und war in angestammtem Mißtrauen geneigt gewesen, ihn, seiner auffallenden Blässe wegen, für einen der verschämten -36- Patienten zu halten, die sich berühmten Ärzten so gern auf neutralem Gebiet in den Weg stellen, um im Vorübergehen eine Konsultation abzuhalten, für die sie später das Honorar schuldig bleiben.
Indessen hatte Rosenzweig sich geirrt. Der Fremde machte keinen Versuch, in seine Nähe zu gelangen, während er selbst nicht mehr vermochte, seine Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.
Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit blondem, dünnem Bart, mit blauen, offenbar sehr kurzsichtigen Augen. Der Eindruck eines ungemein regen Geisteslebens, den seine Züge hervorbrachten, wurde durch die Blässe erhöht, die den Doktor anfangs verleitet hatte, ihn für einen Kranken zu halten. Doch auch von dieser Meinung war er bald abgekommen. Krankheit vergeistigt nicht, wie die Poeten oft behaupten, sie zeichnet vielmehr die Kinder des Staubes mit deutlichen Merkmalen ihrer Abkunft.
In dem Wesen dieses Mannes aber gab sich kein Zeichen von körperlicher Mühsal kund. Die Leidensspuren auf seiner marmorgleichen Stirn waren durch rastlos arbeitende Gedanken ausgeprägt worden und der Schmerzenszug um den jungen Mund durch frühe, schwere Seelenkämpfe. Die Geringschätzung, mit der das Treiben der Gesellschaft ihn zu erfüllen schien, wurde allmählich besiegt. Die Klänge des schönen Volksliedes ergriffen und bewegten auch ihn. Eine Empfindung verband ihn mit seinen Brüdern: Sehnsucht, leidenschaftlich heiße Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland.
An diesem Leidensborn hat kein Volk sich so -37- übersatt getrunken wie das, aus dessen Herzen solch ein Lied geströmt. Es singt von dem verirrten Sohne, der heimkehrt zum Elternhaus, voll Reue und glühender Liebe. Zagend steht er an der verschlossenen Tür und hört die Stimme seines Vaters, die nach ihm ruft, und hört das Weinen seiner Mutter ... Vater! Mutter! stöhnt er. Sie antworten: Komm! Erlöse uns, wir liegen in Banden ... Er rüttelt an der eisernen Pforte, zerpocht sich die Hände, zerschlägt sich die Stirn, schon fließt sein Blut. Vergeblich. Nie wird diese Pforte weichen, nie vermag er sie aus den Angeln zu heben. – Er wird auf der Schwelle verschmachten.
Der Gesang war verstummt, und die Stille, die ihm folgte, wurde erst nach einer Weile durch die Wirtin unterbrochen, die sich erhob, auf den Fremden zuschritt und leise mit ihm zu parlamentieren begann.
Die stattliche Dame machte sich förmlich klein vor ihrem Gast; jede ihrer Mienen bezeugte Ehrfurcht, jede ihrer Gebärden war Huldigung.
Sie faltete die Hände und flehte:
„Sprechen Sie, o sprechen Sie zu der Versammlung!“
Die Aufforderung der Hausfrau fand lebhafte Unterstützung.
„Ach ja, sprechen Sie!“ riefen viele Stimmen durcheinander. – „Es würde uns beseligen.“ – „Wir wagten nur noch nicht, Sie darum zu bitten.“ – „Aus Bescheidenheit.“
Alle kamen heran, sehr freundlich, mit auserlesener Höflichkeit – keiner ohne eine gewisse Scheu. Sogar die siegessichere Gräfin Aniela war befangen, und -38- ihre anmutigen Lippen zitterten ein wenig, als sie sprach:
„Geben Sie uns eine Probe Ihrer wunderbaren Beredsamkeit, von der wir schon so viel gehört haben. Man sagt, daß Sie steinerne Herzen zu rühren und moralisch Tote zu den größten Taten zu wecken vermögen.“
Der Fremde lachte, und dieses Lachen war hell und frisch, wie das eines Kindes. Unwillkürlich mußte Rosenzweig denken: Du hast eine unschuldige Seele.
„Wie heißt der Mann?“ fragte er die Hausfrau.
Sie errötete und gab mit nicht sehr glücklich gespielter Unbefangenheit zur Antwort:
„Es ist mein Cousin Roswadowski aus dem Königreich.“
Niemals hatte der Doktor von einem berühmten Redner Roswadowski auch nur das geringste gehört; aber was lag daran? In Zeiten nationaler Erhebung pflegen ja von heut auf morgen nationale Größen aus dem Boden zu wachsen.
Roswadowski erwiderte den Blick, den der Arzt auf ihm ruhen ließ, mit einem ebenso forschend gespannten, und sich leicht gegen ihn verneigend, sagte er:
„Bitten Sie doch Herrn Doktor Rosenzweig zu sprechen. Er möge Ihnen sagen, was er von der Revolution erwartet.“
„Das wissen wir im voraus,“ entgegnete Aniela, „wie jeder gute Pole, die Wiederherstellung des Reiches, das allgemeine Wohl!“
„Olga, Duschenka moja,“ ließ wieder die Großtante sich vernehmen, „sage deiner Freundin, daß keiner ein guter Pole ist, der nicht ein guter -39- Katholik ist.“
Ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Roswadowski fort:
„Das allgemeine Wohl soll jedes besondere in sich begreifen, also auch das dieses Mannes und seiner Glaubensgenossen. Warum höre ich keinen von euch, die ihr seines Lobes voll seid, davon sprechen, daß ihr die Schuld abzutragen gedenkt, in der wir alle ihm gegenüberstehen und seinem Volke?“
„ Ce cher Édouard! “ rief Graf W. und fügte, sich in den Hüften wiegend, mit süßlichem Lächeln, nur vernehmbar für seine Frau und für den neben ihr stehenden Rosenzweig hinzu: „Er wird immer verrückter.“
Auch die Schloßdame war unzufrieden mit dem unerwarteten Ausfall ihres Cousins und erklärte sehr scharf, „in einer Schuld der Dankbarkeit und Verehrung fühle sie wenigstens sich dem vortrefflichen Doktor gegenüber nicht.“
„Und was die Gleichberechtigung aller Konfessionen im Königreiche Polen betrifft,“ sagte Aniela, „so ist sie bereits im Prinzip festgestellt. Mit den Modalitäten wird man sich beschäftigen. Bis jetzt hatte man aber noch nicht Zeit, auf Details einzugehen.“
„Ich falle Ihnen zu Füßen!“ sprach Rosenzweig. „Um die Sache der Juden ist mir nicht mehr bang.“
„Ihre Verheißung macht ihn lachen, so groß ist sein Vertrauen –,“ nahm Roswadowski wieder das Wort. „Er, dessen ganzes Leben nur eine Übung im Dienste der Pflicht gegen uns ist, erwartet von uns – nichts.“
„Herr, wenn ich meine Pflicht nicht täte, käm ich -40- um mein Amt,“ fiel der Doktor ein, im Tone eines Menschen, der einer unangenehmen Erörterung ein Ende machen will.
Sein unberufener Parteigänger jedoch entgegnete:
„Wenn ich von Pflicht sprach, so hatte ich eine höhere im Auge, als die, die Ihr Amt Ihnen auferlegt. Von Amts wegen sind Sie ein tüchtiger Kreisphysikus, zum Samariter macht Sie Ihr eigenes Herz.“
„Samariter!... Ich?“
„Jawohl, Sie! Der des Evangeliums pflegte des Sterbenden an der Heerstraße und übergab ihn dann fremder Hut. Sie haben den Sterbenden, den Sie auf Ihrem Wege fanden, in Ihr Haus aufgenommen, das dem verwaisten Christenknaben ein Vaterhaus geworden ist.“
Der Doktor deprezierte:
„– Wie man's nimmt,“ und dachte im stillen ganz grimmig: „Du bist gut unterrichtet, Lobhudler! Mein Haus ein Vaterhaus für einen solchen Chamer!“
Und in dem Augenblick beantwortete sich ihm eine Frage, die er oft erwogen hatte, die Frage: ob man wohl zwei Gedanken auf einmal haben könne, denn wahrhaftig, er hatte zugleich auch den: ich will dem Chamer, bevor ich ihn wegschicke, doch einen neuen Anzug machen lassen.
„So hat ein Jude getan,“ wandte der Redner sich an die Gesellschaft, „aus freiem Willen für einen Andersgläubigen, und was haben wir Andersgläubigen jemals aus freiem Willen für einen seines Volkes getan? Leset eure Geschichte und fragt euch selbst, ob ein Jude die Tage herbeiwünschen kann , in -41- denen in Polen wieder Polen herrschen?“
Olga und Aniela erhoben Einwendungen; was die Herren betraf, so waren die meisten von ihnen dem Grafen W. in das Nebenzimmer gefolgt und hatten dort an Spieltischen Platz genommen. Nur der ehrwürdige Schlachziz und der Ankömmling aus Paris hielten ritterlich bei den Damen aus, und der erste versicherte, er habe sich in seiner Jugend auch mit der Geschichte seines Landes beschäftigt, darin jedoch niemals andre als glorreiche Dinge gelesen.
Jetzt wurde die Tür aufgerissen, ein Diener stürzte herein und meldete:
„Der Herr Kreishauptmann. Er wird gleich in den Hof fahren.“
Die mutigen Damen stießen einen Schrei des Entsetzens aus:
„Um Gottes willen, der Kreishauptmann!“
Voll Todesangst ergriff die Hausfrau die Hand ihres Vetters: „Fort! fort! verbergen Sie sich!“
„Ich denke nicht daran,“ erwiderte er ganz ruhig, „ich bleibe; ich freue mich sehr, die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Mannes zu machen.“
„Sie bleiben nicht! Sie gehen – weil Ihre Gegenwart uns kompromittiert,“ rief Graf W., der mit bestürzter Miene in den Salon zurückgekehrt war.
Ein Wortwechsel entspann sich ...
„Doktor, ich beschwöre Sie, eilen Sie dem Kreishauptmann entgegen, suchen Sie ihn so lange als möglich auf der Treppe aufzuhalten,“ flehte die Herrin des Schlosses und drängte Rosenzweig zur Tür.
„Ich werde tun, was ich kann; ich empfehle mich, meine Herrschaften!“ antwortete er und verließ den -42- Salon, im Grund der Seele höchlich ergötzt über das Ende, das die Versammlung der Verschwörer genommen hatte.
Vom Gange aus sah er den Kreishauptmann soeben in das Haus treten. Ein behäbiger, feiner, mit äußerster Sorgfalt gekleideter Herr. Der Deckel seines Zylinders glänzte in der Vogelperspektive, in der er sich zuerst dem Doktor zeigte, wie die Mondesscheibe. Nicht minder glänzte der Lackstiefel an dem kleinen Fuße, den der Beamte auf die erste Stufe der niederen Treppe setzte, als Rosenzweig bei ihm anlangte.
„Ich habe die Ehre, Euer Hochwohlgeboren zu begrüßen!“ sprach der Doktor, seinen Hut feierlich schwenkend.
„Wie, mein lieber Doktor? Sind Sie es wirklich? Was?“ sprach der Beamte mit dem gnädigsten Lächeln, „auch Sie im Neste der Verschwörer?“
„– Herausgefallen, als ein noch nicht flügges Vöglein! – Wie befinden sich Euer Gnaden?“
„Gut. Dank Ihren Ordonnanzen.“
„Und der Pünktlichkeit, mit der Euer Gnaden ihnen nachkommen. Sie sind ein so vortrefflicher Patient, daß Sie verdienen würden, immer krank zu sein.“
„Sehr verbunden für den christlichen Wunsch ... Entschuldigen Sie – da habe ich mich versprochen.“ Und nun kam die Frage, die der Kreishauptmann dem Doktor auch bei der flüchtigsten Begegnung nicht erließ. „Aber, mein lieber Doktor, wann werden Sie sich denn endlich taufen lassen?“
Auf die stehende Frage erfolgte die stehende Antwort:
„Ich weiß es noch nicht genau.“ -43-
„Entschließen Sie sich! Sie sind ja ohnehin nur ein halber Jude.“
„Ich würde vermutlich auch nur ein halber Christ sein.“
„Oho! das ist etwas andres!“ entgegnete der Beamte streng. „Wir sprechen noch davon; jetzt sagen Sie mir –“ seine Miene blieb unverändert, aber seine kleinen klugen Augen blickten den Doktor durchdringend an: „Ist er oben, der Sendbote? Haben Sie ihn gesehen?“
„Welchen Sendboten?“
„Hier im Hause wird er als Herr von Roswadowski vorgestellt.“
Auf dem Gesichte Rosenzweigs malte sich ein so aufrichtiges Erstaunen, daß der Beamte ausrief:
„Sie sind nicht eingeweiht! – Nun, ich will Ihnen Ihre politische Unschuld nicht rauben ... Ganz scharmant, diese Konspiranten! besonders die Damen. Übrigens haben wir uns weniger in acht vor ihnen zu nehmen, als sie sich selbst vor – andern. Es ballt sich ein Gewitter über ihren Häuptern zusammen, von dessen Aufsteigen sie keine Ahnung haben. Diese harmlosen Unzufriedenen, die sich für bedrohlich halten, sind selbst von ganz anders Unzufriedenen, in ganz anders gefährlicher Weise bedroht.“
Rosenzweig konnte eine Erklärung dieser Worte nicht mehr erbitten. Auf der Höhe der Treppe erschien soeben die Hausfrau, strahlend vor Freundlichkeit, und der Kreishauptmann schwebte ihr in zierlichen Schritten eiligst entgegen.
Rosenzweig ließ seinem Kutscher den Befehl erteilen, -44- anzuspannen und ihm auf der Straße nachzufahren. Er selbst ging zu Fuße voraus und schlug bald einen schmalen Weg ein, der, die Felder quer durchschneidend, in der Nähe eines steinernen Kreuzes in die Landstraße ausmündete. Dort wollte er seinen Wagen erwarten.
Er sehnte sich danach, tüchtig auszuschreiten, frische, freie Luft zu atmen und den gesunden Erdgeruch einzuziehen, der aus den aufgerissenen Schollen emporstieg. Nur Wunder nahm es ihn, daß er die Wonne und Wohltat, der parfümierten Salonluft und Gesellschaft entronnen zu sein, nicht so recht zu empfinden vermochte.
Ein tiefinnerliches Unbehagen erfüllte ihn; ein unbestimmtes Etwas ging ihm nach, von dem er sich keine andre Rechenschaft zu geben wußte, als daß es sehr quälend sei.
Plötzlich rief er mehrmals hintereinander laut aus: „Narr! Narr!“
Die Apostrophe galt dem, den der Kreishauptmann soeben einen Sendboten genannt, und die Erinnerung an das unverdiente Lob, das dieser Mensch ihm gespendet hatte, das war's, was dem Doktor die Laune verdarb. Jedes Wort, das der „Narr“ gesprochen, jeder Zug seines durchgeistigten Apostelgesichts, der Ausdruck der schwärmerischen Ehrfurcht, mit dem seine tiefblauen Augen auf ihm geruht – alles hörte, alles sah er wieder, und eine zornige Beschämung erfüllte ihn.
Er, der trockene, auf seinen Vorteil bedachte -45- Nathanael Rosenzweig – ein Menschenfreund und Samariter? – So einsam er da wandelte auf dem Felde, ihm schoß das Blut in die Wangen, daß sie glühten. Er gedachte all der Hände, die sich im Verlauf seines langen Lebens flehend zu ihm ausgestreckt, und sagte sich: „Nie hast du geholfen außer im Beruf. Und was wir dem zuliebe tun, tun wir uns selbst zuliebe.“ Seine Schuldigkeit hatte er in ihrem ganzen Umfang erfüllt; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er bisher gehalten und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!
Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.
Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. An dessen Fuße kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafspelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen -46- schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.
Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halberloschenen, rotumränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdrucke eines alten Jagdhundes zu ihm empor.
„Was tust du hier?“ fragte Rosenzweig.
„Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte,“ antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, „ich warte immer auf einen Brief von unserm lieben Herrgott.“
„Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?“
„Daß ich zu ihm kommen darf, ist ja hohe, hohe Zeit.“
„Wie alt bist du?“
„Siebzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da –“ er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust – „kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.“
„Warum bleibst du nicht zu Hause?“
Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: „Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.“
„Wem gehört die Schaluppe?“ -47-
„Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.“
„Ein Schürzenvermögen also!“ spöttelte der Doktor. „Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?“
„Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lange lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ‚Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‘ – Ja!“
„Du hast da einen saubern Schwiegersohn.“
„Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren, wie du, wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.“ Er senkte die keuchende Stimme. „Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!“
„Warum denn? Was meinst du damit?“
„O, die armen Herrschaften! Die Armen, Armen!“ wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. „Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.“
Der Doktor fuhr auf: „Du bist nicht bei Trost!“
Nun begann der andre die Hände zu ringen!
„Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück!... So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß; so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede ...“ Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: -48- „Bist auch du mit ihnen einverstanden?“
„Einverstanden – ich? mit wem?... Sag alles!“ befahl Rosenzweig. „Was wird ums neue Jahr geschehen?“
„Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.“
– Auch die des Pan Theophil Kamatzki. – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: „Was wird denn die Regierung dazu sagen?“
„Die Regierung? Ach! Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt werden soll.“
Rosenzweig brach in ein schallendes Gelächter aus:
„O! dieses Volk!... Seit fünfzig Jahren verkehre ich mit diesem Volk, aber die Wege seiner Dummheit habe ich noch nicht erforscht ... Alter! die Vermessungen hat der Kaiser vornehmen lassen, weil er wissen will, wie groß sein Galizien ist, und wie viel Steuern es ihm zahlen kann.“
Ungläubig wackelte der Greis mit dem Kopfe:
„Das wissen wir besser, verzeih. Der Kaiser nimmt den Herren, die gegen ihn sind, das Land und schenkt es den Bauern, die für ihn sind. Dann wird es gut sein, glauben die meisten ... Ich glaube, daß es schlecht sein wird. Jeden Tag wird Sonntag sein, und was tun die Bauern am Sonntag, als raufen und sich betrinken?... O, mein gnädiger Herr, könnt man's doch verhüten.“
„Sei du ganz ruhig, das wird gewiß verhütet -49- werden,“ entgegnete Rosenzweig und lachte wieder.
Da wurde der Alte plötzlich aufgebracht:
„Wenn du gestern abend im Wirtshaus gewesen wärest und den Kommissär hättest predigen gehört, du würdest nicht lachen.“
„Den Kommissär? Den Emissär, willst du wohl sagen! Ein Emissär, wie sie jetzt zu Dutzenden herumziehen.“
„Nein, nein, kein solcher. Einer, der einmal ein Herr war und jetzt sagt, daß es keine Herren mehr geben soll. Er weiß so gut, was für Zeiten kommen werden, daß er lieber gleich von selbst ein Bauer geworden ist und hat alles verschenkt.“
Diese Worte erweckten Nathanaels ganze Aufmerksamkeit und erhoben es ihm zur Überzeugung, daß der Alte von demselben Manne sprach, den der Kreishauptmann den Sendboten genannt, und vor dem er selbst eben erst Aug in Auge gestanden hatte.
Derselbe! er war es – er gewiß, der Rätselhafte, dessen Lebensgeschichte die Vernünftigen einander mit Hohn und Spott erzählten, die Furchtsamen mit Haß, die Phantasten mit Begeisterung, es war – Eduard Dembowski .
Oft hatte er sagen gehört, daß von diesem Menschen ein Zauber ausgehe, dem sich niemand zu entziehen vermöge, und dieser geheimnisvollen Einwirkung den größten Unglauben entgegengebracht, und nun gestand er sich, daß er doch etwas ihr Ähnliches erfahre.
Ja! der bleiche Schwärmer schritt wie ein Gespenst neben ihm her. Ja! sein Bild verfolgte ihn mit unleidlicher Hartnäckigkeit. Vergeblich suchte er -50- seine Gedanken von ihm abzulenken, immer wieder tauchte es auf und trotzte dem Willen, es zu verscheuchen.
Das Gefährt des Doktors stand schon seit geraumer Weile auf der Straße. Eine bequeme Britzschka, bespannt mit einem Paar kugelrunder Falbenstuten, in zierlichen Krakauergeschirren, mit glockenbehangenen Kummeten. Der Kutscher war ein schlanker Bursche im saubern, einfach verschnürten Leibrock, und das Ganze bildete eine hübsche Equipage, um die so mancher Edelmann den Doktor beneidete.
Dieser klopfte den Falben die starken Hälse und legte ihnen die Zöpflein der schwarzen, eingeflochtenen Mähnen zurecht. Schon war er im Begriff, in den Wagen zu steigen, da wandte er sich zu dem Alten am Fuße des Kreuzes zurück:
„Du! wie heißt du?“
„Semen Plachta, Herr.“
„Hör an, Semen! Krieche heim und sage deinem Schwiegersohn, daß Doktor Rosenzweig morgen kommen wird, dich zu besuchen. Er soll dich zu Hause lassen. Verstehst du mich? Wenn ich komme und dich nicht zu Hause finde, werde ich dafür sorgen, daß dein Schwiegersohn noch vor der allgemeinen Verteilung als erste Abschlagzahlung auf das Künftige eine Tracht Prügel erhält.“ Rosenzweig hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fünfguldenbanknote entnommen. Sein Gesicht wurde sehr ernst, während er sie betrachtete. Ein kurzes Zögern noch – dann reichte er sie dem Greise hin.
„Das aber gehört dir. Ich will morgen hören, -51- ob das Geld für dich verwendet worden ist.“
Semen streckte die Hand nach dem fabelhaften Reichtum aus; – zu sprechen, zu danken vermochte er nicht. Auch der Kutscher auf dem Bocke blieb starr, riß die Augen auf, ließ vor Erstaunen beinah die Zügel fallen. Was sollte das heißen, um Gottes willen? Sein Herr verschenkte fünf Gulden an einen Straßenbettler?!
„Herr,“ sagte er, als der Doktor in den Wagen stieg, „du hast ihm fünf Gulden gegeben. Hast du dich nicht geirrt?“
„Schweig und fahr zu!“ befahl Rosenzweig, und die Peitsche knallte, und die Falben griffen aus.
Bald kam auf der weiten Ebene das Doktorhaus in Sicht. Es stand jetzt nicht mehr so allein da wie ein Grenzstein; sehr nette Stallungen und Schuppen erhoben sich hufeisenförmig im Hintergrund, und eine wohlgepflegte Baumschule füllte den Raum zwischen den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden.
Die letzteren waren wirklich nach einem Plane des Chamers, dem der Architekt seine Sanktion gegeben hatte, ausgeführt worden und gut ausgefallen, das mußte man gelten lassen.
Ob Rosenzweig zu seinem Daheim zurückkehrte aus dem Gehöft eines Schlachziz, aus dem Hause eines Grundherrn oder aus dem Schlosse eines Magnaten – sein geliebtes Besitztum begrüßte er stets mit der gleichen Freude. „Den andern das ihre, das meine mir!“ – Aufrichtig gesagt, getauscht hätte er, wenn auch noch so gewinnreich, mit keinem. Er hatte ja nie ein lebendes Wesen (seine Großmutter ausgenommen) so geliebt, wie er sein kleines -52- Gut liebte. Und wie es da so schmuck vor ihm lag, das langsam und mühsam Erworbene, die Verkörperung seiner Kraft und Tüchtigkeit, ein so wahrhaft zu Recht bestehendes Eigentum, wie es wenige gab, da ballten sich seine Fäuste, und er vollzog einen imaginären Totschlag an dem imaginären ersten, der es wagen würde, ihm seinen Besitz anzutasten.
Am Abend noch besuchte er den Kreishauptmann und berichtete ihm Wort für Wort sein Gespräch mit Semen Plachta.
Der Beamte ließ sich in eine ausführliche Erörterung der kommunistischen Umtriebe im Lande ein; die eigentlichen Absichten ihres Urhebers jedoch, das Wesen des seltsamen Mannes überhaupt, wußte er nicht zu erklären, so genaue Kenntnis er auch von dessen ganzem Lebenslaufe besaß.
Der Sendbote, der das Land rastlos durchpilgerte und in den Palästen und den Hütten das Evangelium der Gleichberechtigung aller Menschen und der Gleichteilung allen Grund und Bodens verkündete, gehörte, als Sohn des Senatorkastellans von Polen und Herrn der Herrschaft Rudy im Warschauer Gouvernement, dem hohen Adel an. Auch er war wie seine Standesgenossen aufgewachsen und erzogen worden im Bewußtsein überkommener Rechte, ererbter Macht und der Pflicht, sie zu wahren und sie auszuüben.
Kaum jedoch in ihren Besitz gelangt, hatte er sich ihrer freiwillig entäußert. Die Erträgnisse seiner Güter flossen in die Bettelsäcke der Güterlosen oder wurden zu Revolutionszwecken verwendet. Er aber zog umher und warb Jünger für seine Lehre und fand ihrer in den Reihen seiner eigenen Standesgenossen. -53- An die eindrucksfähigen Herzen der Jugend wandte er sich, und je reiner und unschuldiger diese Herzen waren, desto feuriger erglühten sie in Verehrung für ihn, und in Sehnsucht, seinem opfermutigen Beispiel zu folgen. Boten des Sendboten tauchten auf im Königreiche Polen, im westlichen Rußland, in Posen, in Galizien. Die Worte ihres Abgottes auf den Lippen, riefen sie dem Adel zu: – Wirf deine Reichtümer und deine zu lang genossenen Vorrechte von dir. Vorrecht ist Unrecht. Und dem Volke: – Kommt, ihr Armen! Nehmt euern Anteil an dem Boden, den seit Jahrhunderten euer Schweiß, und wie oft! auch euer Blut gedüngt hat. – Zu allen aber sprachen sie: Erhebt euch, schüttelt das Joch der Fremden ab! Wir wollen ein Reich gründen, darin es weder Überfluß noch Armut, nicht Herrschaft noch Knechtschaft gibt, das Reich – das Christus gepredigt hat.
Der geistige Leiter dieser Missionen hatte sich inzwischen an dem gegen Rußland geplanten und fast im Augenblick des Losbruchs gescheiterten Aufstande des Jahres 1843 beteiligt. Als Flüchtling entkam er nach Posen, wurde dort binnen kurzem wegen Verbreitung kommunistischer Grundsätze zur Rechenschaft gezogen, in Haft genommen, endlich verbannt. Er begab sich nach Brüssel, wo Lelewel die Verirrungen seiner allzuheißen Freiheits- und Vaterlandsliebe in den Qualen bittersten Heimwehs verbüßte. Der Umgang mit diesem „Großmeister der Revolutionäre“ steigerte die Begeisterung Dembowskis zum Fanatismus. Was seine Seele fortan erfüllte, war nicht mehr Mitleid allein mit den Elenden und Armen, -54- es war auch Haß gegen die Starken und Reichen, hießen sie nun die Beherrscher der Teilungsmächte oder die Inhaber der polnischen Zentralgewalt in Paris und Usurpatoren des Königreichs, das sie wiederherstellen wollten.
Der Apostel der Nächstenliebe kehrte als ein politischer Agitator nach der Heimat zurück. Er, den bisher nur seine eigenen Eingebungen geleitet hatten, übernahm die Ausführung fremder Pläne und die Aufgabe, Galizien zur Empörung reif zu machen. In dieser Aufgabe wirkte er nun. Wußten die, die ihn mit ihr betrauten, was sie taten? Sahen sie ihn und seine Lehre nur als das Ferment an, das die stumpfsinnige Menge in Gärung bringen, in eine Bewegung setzen sollte, der die Richtung vorzuschreiben sie sich anmaßten? –
Die Sympathie und Bewunderung, die jeder echte Pole für den empfindet, der im Kampfe gegen die Fremdherrschaft gelitten hat, bewährte sich von neuem. Der Adel nahm den Geächteten in Schutz, obwohl er einen Gegner seiner Interessen in ihm erkannte. Mochte er welcher Partei immer angehören, die Befreiung Polens war auch sein Ziel, auf dem Wege traf man zusammen und drückte einander die Hand.
„Und sehen Sie,“ schloß der Kreishauptmann, „so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich – beneiden müßte.“
„Euer Gnaden!“ rief Nathanael mißbilligend aus, -55- und beide Männer schwiegen. Nach geraumer Zeit erst nahm der Doktor wieder das Wort:
„Ich glaube, Euer Gnaden, es wäre Sache der Regierung, vor allem sich und den Adel vor dem verderblichen Einfluß des kommunistischen großen Herrn zu schützen.“ Hier flocht er das ruthenische Sprichwort ein: ‚Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt.‘ – „Ich begreife nicht, warum man so lange untätig zusieht. Warum man ihn nicht hindert gleichsam unter den Augen der gesetzlichen Macht sein tödliches Gift auszustreuen.“
Unangenehm berührt durch die Entschiedenheit, mit der Rosenzweig sprach, entgegnete der Kreishauptmann mit kühler Überlegenheit:
„Es geschieht schwerlich ohne Grund. Übrigens – unter uns! – wir haben Weisung, auf ihn zu fahnden – in unauffälliger Weise.“
„O – dann!“ rief Nathanael übereifrig – „dann beschwöre ich Euer Gnaden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unauffälliger wäre nichts, als einen Kranken dem Arzte anzuvertrauen. Und daß Ihr ‚Sendbote‘ krank ist – hier,“ er deutete auf die Stirn, „und in das Beobachtungszimmer des Kreisphysikus gehört, darauf schwöre ich!“
Der Ausdruck im Gesichte des Beamten wurde immer kälter; er richtete plötzlich eine gleichgültige Frage an den Doktor und entließ ihn, indem er beim Abschied warnend Talleyrands berühmtes „ Surtout pas trop de zèle! “ zitierte.
Die Warnung blieb fruchtlos. Des Doktors ein mal entfesselter Eifer für die Sache der Ordnung und des Gesetzes war nicht mehr zu bändigen. -56- Er hätte die Friedlosigkeit, die ihn umherjagte, auch den andern mitteilen mögen, legte einen Abscheu ohnegleichen gegen die zuwartende Geduld an den Tag, deren man sich in maßgebenden Kreisen befliß, und nannte sie verbrecherischen Leichtsinn und unverzeihliche Lauheit.
Sein politisches Glaubensbekenntnis hatte sich bisher in dem Satze zusammenfassen lassen:
„Unsre Regierung wird die denkbar beste sein, sobald sie sich nur noch herbeiläßt, den Juden das Recht zu geben, Grund und Boden zu besitzen.“ Jetzt aber war ihm der Glaube an die Weisheit dieser Regierung erschüttert, und er begann sich als ihr Belehrer und Ratgeber zu gebärden. Auf dem Kreisamt hatte man wenig Ruhe vor ihm, er brachte täglich neue, immer bedenklicher lautende Nachrichten von dem Umsichgreifen der kommunistischen Propaganda, und riet immer dringender, man möge sich doch entschließen, energische Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen.
Die genaue Bekanntschaft des Schwiegersohnes Semen Plachtas, die er gemacht hatte, gab ihm viel zu denken. Er hatte sich bisher niemals mit dem Studium einer Bauernseele beschäftigt. Ein Bauer war in seinen Augen der uninteressanteste von allen mit einer Menschenhaut überzogenen Bipedes. Jetzt nahm er einen von der Sorte aufs Korn, beobachtete ihn genau, ging sogar mit ihm ins Wirtshaus, ließ sich mit ihm in Gespräche ein und wußte am dritten Tage, was er schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß der Mann faul, trunksüchtig und einfältig war. Wie einfältig, das kam erst zum Vorschein, wenn ihm der Branntwein die schwere Zunge löste und -57- es nur weniger Fragen bedurfte, um sich zu überzeugen, daß ihm sogar die Kardinalerkenntnis der Unterscheidung zwischen mein und dein fehlte.
Der Doktor fuhr zur Gräfin Aniela und hielt ihr einen Vortrag über den Zustand der Landbevölkerung. „Ja,“ schloß er, „der Bauer ist dumm, aber wodurch soll er denn gescheit werden, wenn er es nicht zufällig von Natur ist? Ja, der Bauer ist faul, aber was würde die Arbeitsamkeit ihm nützen, sie brächte ihn doch nimmer auf einen grünen Zweig. Seine Arbeitsamkeit käme mehr dem Herrn zugute als ihm. Ja, der Bauer trägt den heute verdienten Groschen heute noch in die Schenke, aber diese Verschwendung kommt von seinem Elend. Das Elend ist nicht sparsam, das Elend vermag einen so gesunden und fruchtbringenden Gedanken, wie den der Sparsamkeit, gar nicht zu fassen.“
Gräfin Aniela streckte das zierliche Hälschen in die Höhe, ihre lieblichen Lippen verzogen sich spöttisch.
„Verehrter Lebensretter, Sie sprechen ja ganz wie der ‚Sendbote‘,“ sagte sie, „man glaubt ihn zu hören.“
Der Doktor schwieg; der scherzhaft gemeinte Vorwurf traf ihn tief.
Eine Stunde später stand er in seiner Baumschule vor einem Stämmchen, nicht viel dicker als ein Finger, und doch trug es schon unter seiner kleinen Blätterkrone drei herrliche Äpfel, völlig reif beinah, mit gelblich glänzender Schale. Zu jeder andern Zeit hätte der Doktor an dem Anblick seine Freude gehabt, heute vermehrte sich durch ihn nur sein Mißmut. Joseph kam aus dem Hause, sein Arbeitsgerät auf -58- der Schulter, und wollte den Wohltäter noch zu andern Bäumchen führen, die ein ebenso kräftiges Streben, brave Bäume zu werden, an den Tag legten, wie das, welches er staunend betrachtete.
Er erhielt keine Antwort. Mit finsterer Strenge funkelten die schwarzen Augen Rosenzweigs unter ihren buschigen Brauen den Jüngling an, und plötzlich sprach er:
„Sag einmal, hast du nie etwas von einem Freiheitshelden, so eine Art Narren gehört, der sich hier in der Gegend aufhält, und, wie man behauptet, den Bauern in den Wirtshäusern Revolution predigt?“
Joseph sah offenbar betroffen aus und schwieg.
„Gesteh! Gesteh!“ befahl Rosenzweig, und sein drohendes, zornrotes Gesicht näherte sich dem des Jünglings.
„Ich weiß nicht, Herr,“ stammelte dieser, „ob du den meinst, den sie den Sendboten nennen.“
„Den eben meine ich!“
„Der predigt aber nicht Revolution, der predigt Fleiß und Nüchternheit.“
„Fleiß im Stehlen, Nüchternheit beim Totschlagen – was?“ höhnte der Doktor.
Ungewohnterweise ließ sich Joseph nicht aus der Fassung bringen. Noch mehr! Er erlaubte sich einen Widerspruch:
„Du bist im Irrtum. Ich kenne ihn.“
Rosenzweig prallte mit einem unartikulierten Ausruf zurück, und Joseph fuhr fort:
„Ich habe lange mit ihm gesprochen.“
„Wo? und wann? und was?“
„Auf dem Felde, in der vorigen Woche; und von -59- dir ist die Rede gewesen.“
„– Von mir?“
Aus dem Munde des Chamers hat er seine Nachrichten über mich? dachte der Doktor. – Nun, sie sind danach!
„Ich habe ihn nie predigen gehört,“ nahm Joseph wieder das Wort.
„Möchtest aber wohl?“
„O ja! – ich möchte wohl. Kein Pfarrer kann es ihm gleichtun, heißt es. Es heißt auch, daß er heute nacht zum letztenmal in unsrer Gegend sprechen wird, in der Schenke des Abraham Dornenkron, eine Meile von hier, auf der Straße nach Dolego.“
Eine lange Pause entstand, der der Doktor ein Ende machte, indem er Joseph befahl, an die Arbeit zu gehen; er selbst begab sich zum Kreishauptmann, meldete, was er soeben in bezug auf den Emissär in Erfahrung gebracht hatte, und fragte an, ob es nicht geraten wäre, ein Pikett Husaren nach der Schenke zu schicken und den Aufwiegler gefangen nehmen zu lassen.
„Was nötig ist, wird geschehen, mein lieber Rosenzweig!“ antwortete der Beamte. „Wir sind von allem, was vorgeht, auf das genaueste unterrichtet und finden darin keinen Grund zur Sorge. Wovor fürchten denn Sie sich? Sie gehören zu uns. Ich wollte, ich könnte etwas von Ihrer Vorsicht denen einflößen, die ihrer bedürftiger wären als Sie und wir.“
Rosenzweig machte noch einige Krankenbesuche und kam erst spät am Abend heim. Vor dem Gartentor fand er Joseph, der ihn erwartete.
„Was hast du dazustehen? Geh schlafen!“ herrschte -60- er ihm zu.
Auch er hätte gern Ruhe gefunden, aber sie floh ihn in dieser Nacht, wie in den vorhergehenden Nächten.
Auf einmal fiel es ihm ein, ob es nicht möglich wäre, daß Joseph sich jetzt aus dem Hause schliche, um nach der Schenke zu rennen und die Abschiedsrede des Agitators zu hören. Der Weg ist freilich weit, und die Nacht schon vorgeschritten, aber der Bursch hat junge Beine ... Übrigens – wer weiß? Wenn er fürchtet, zu spät zu kommen, nimmt er am Ende gar ein Pferd aus dem Stall ...
Nun, der Zweifel wenigstens sollte ihn nicht lange quälen. Rasch nahm er den Leuchter vom Tisch und eilte über die Treppe, den Gang, nach der von Joseph bewohnten Stube.
In Jahren hatte er sie nicht betreten; sie war die einzige schlechte im Hause und ärgerte ihn, so oft er sie sah. Ein länglicher, schmaler Raum, einfenstrig, mit Ziegeln gepflastert. Wäre Rosenzweig nicht der Wohltäter, sondern der Arzt Josephs gewesen, er hätte ihm verboten, da zu schlafen auf dem Strohsack, im Winkel zwischen der Drehbank und der Mauer, die förmlich troff von Feuchtigkeit.
Er sagte sich das, als er eintretend den Menschen, den er auf dem Wege nach Dolego vermutete, lang ausgestreckt fand auf seiner mehr als bescheidenen Lagerstätte, tief und selig schlafend.
Als Rosenzweig sich über ihn beugte und ihm ins Gesicht leuchtete, zuckten seine Augenlider, sein roter, frischer Mund zog sich trotzig zusammen, aber nur um gleich wieder mit leicht aufeinander ruhenden -61- Lippen ungestört weiter zu atmen. Hätte er tausend Zungen gehabt, sie würden nicht vermocht haben, kräftigere Fürsprache für die Lauterkeit seines Herzens einzulegen, als es der Ausdruck des bewußtlosen, schweigenden Friedens auf seinem Antlitz tat.
Der Doktor stellte den Leuchter auf die Drehbank und begann sich in der Kammer umzusehen. Was es da gab an begonnenen, an halb und fast beendeten Arbeiten, das alles war die Frucht des Fleißes emsig schaffender und geschickter Hände. Und es mußte doch kein so übler Verstand sein, der ihr Tun leitete, denn nirgend fand sich die Spur verwüsteten Materials oder kindischer Spielerei. Und worauf sich das ganze Sinnen und Denken dieses Verstandes richtete, das war das Wohl und Gedeihen des Doktorhauses, ihm kam all sein Streben zugute, das förderte er nach bester Kraft und Einsicht. Ein Beispiel für hundert fiel dem Doktor auf und – fast rührte es ihn.
Er hatte unlängst das hölzerne Gartenpförtlein durch ein eisernes ersetzen lassen und war zufrieden gewesen mit der vom Stadtschlosser gelieferten Arbeit, aber Joseph meinte: „Sie ist nicht schön genug, ich will eine Verzierung anbringen.“ Rosenzweig verhöhnte ihn damals, und nun war das Werk schon unternommen, war schon mit unsäglicher Mühe aus starkem Eisenblech herausgesägt und gefeilt, und inmitten schmucker Arabesken zeichnete sich, gar künstlich verschlungen, der Namenszug Rosenzweigs.
Dieser lächelte, kreuzte die Hände und versank in eine, zum erstenmal wohlwollende und mitleidige Betrachtung des bescheidenen Tausendkünstlers. Zu Häupten seines Lagers bemerkte er ein Bild des -62- heiligen Joseph, mit vier Nägeln an der Wand befestigt, und darunter stand in ungefügiger Schrift:
„Von meiner Lubienka.“
– Die deine, du armer Junge, der auf der weiten Erde nichts besitzt? Hab erst festen Boden unter deinen eigenen Füßen, eh du es wagst, einem schwächeren Menschenkinde zuzurufen: Tritt zu mir! Du hast dir noch nichts erworben, noch nichts verdient trotz deiner Arbeitsfreudigkeit und Treue, nichts – keinen Lohn, keinen Dank, kein Recht. Was du mir leistest und nützest, gilt nur als Zahlung einer dereinst – unfreiwillig eingegangenen Schuld.
Wann wird diese Schuld endlich getilgt sein, armer Geselle?... Ist sie es denn im Grunde nicht längst? Besäßest du Klugheit genug, um abzurechnen und abzuwägen, vor Jahren schon hättest du gesagt: Wir sind quitt! Von nun an bezahle mich, Herr! Ich will auch für mich erwerben. – Ich sei ein harter Mann, heißt es, aber ungerecht darf mich niemand schelten. Wenn du gefordert hättest, ich hätte dir gegeben, ich hätte dich gelten lassen, wenn du dich geltend gemacht hättest ... Du hast es aber nicht getan; du bist schweigend unter deinem Joche weitergeschritten und wirst so weiterschreiten, bis du zusammenbrichst, und am Ausgang deines Lebens so hilflos dastehst, wie du an seinem Eingang gestanden hast.. Wessen Schuld? – Warum denkst du nicht? Warum sprichst du nicht? Warum verschwendest du die kostbaren Kräfte deiner Jugend?... Aber es geschieht, und ich verbrauche sie – und so wie ich tun Tausende, und so wie du Hunderttausende ...
Noch einen Blick auf den sanft Schlafenden, und -63- Nathanael schloß die Augen und preßte die Hände an seine Stirn. Grell und blendend drang es auf ihn ein, wie ein im Dunkel aufflammendes Licht. Mit Grauen und Entsetzen erfüllte ihn das Bewußtsein: Da schläft er noch still und harmlos, und die Hunderttausende seinesgleichen schlafen wie er. Doch werden sie erwachen – schon weckt man sie. Zu welchen Taten? Wie werden sie hausen, die plötzlich entfesselten Knechte?
Ein Schwindel ergriff ihn, ihm war, als wanke sein Haus.
„Noch nicht!“ rief er und stieß den Fuß heftig gegen den Boden.
Joseph erwachte, sprang auf: „Was befiehlst du, Herr?“ Das Bewußtsein kehrte ihm nicht schneller zurück, als diese Frage auf seine Lippen trat.
„Wissen will ich, was vorgeht, hören, was euch gepredigt wird. Ich will den Sendboten hören. Spann die Falben vor den Wagen, du wirst mich nach der Schenke des Dornenkron fahren. Spann ein!“
Die Nacht war dunkel. Ein feiner, dichter Regen strömte unablässig, emsig auf die Erde nieder, und ein andrer, ein kompakter Regen spritzte von ihr auf beim energischen Gestampfe der wackeren Rößlein. „Polens fünftes Element“ umwirbelte und übersprühte das von Joseph gelenkte Gefährt, das zwischen einer doppelten Reihe riesiger Pappeln auf der Kaiserstraße dahinrollte.
Der Doktor saß lange Zeit schweigend in seinen -64- Mantel gehüllt. Ungeduld verzehrte ihn.
„Wir kommen zu spät,“ sagte er endlich. „Treib die Falben an.“
„Sie laufen ja, was sie können,“ antwortete Joseph. „Wir sind schon weit.“ Er deutete nach einem großen, weißlichen Fleck im Nordwesten des bleigrauen Horizonts, „die Weichsel und der Dunajec stecken schon ihre Fahnen aus.“
Eine Viertelstunde später war das Ziel erreicht: ein niedriges, weitläufiges Gebäude. Vor dem standen allerlei Fuhrwerke und hinderten Joseph, sich mit dem seinen zu nähern.
Rosenzweig hieß ihn halten, stieg ab und suchte sich einen Weg durch das Gewirr der Wagen und Pferde zu bahnen. Es war keine leichte Aufgabe für einen, der möglichst unbemerkt in das Haus gelangen wollte.
Die meisten Kutscher hatten ihr Gespann verlassen, die andern schliefen auf dem Bocke oder taten so und leisteten dem Befehl des Doktors, ein wenig Raum zu geben, keine Folge. Er hob eben den Stock, um sich ihnen deutlicher verständlich zu machen, als Abraham Dornenkron auf der Schwelle des Hauses erschien, einen brennenden Span in der Hand.
„Schaff mir Platz, Abraham,“ sprach der Doktor, „ich bin's, ich, Doktor Rosenzweig.“
„Gott der Gerechte!“ stieß der Wirt erschrocken hervor, faßte sich aber sogleich und patschte dienstwillig in den Sumpf, der die Zufahrt zu seinem Gasthof bildete. Er schob die künstlich aufgestellte Wagenburg auseinander und rief dabei fortwährend mit überflüssigem -65- Stimmaufwand:
„Der Herr Doktor Rosenzweig! – Is wer krank? Wohin belieben zu reisen der Herr Doktor?“
Sobald die Möglichkeit vorhanden war, sich ihm zu nähern, sprang Nathanael auf ihn los und packte ihn beim Ohr:
„Sei still, Spitzbube! Du brauchst mich bei deinen Gästen nicht anzumelden. Ich will das schon selbst besorgen.“
Und als das Männlein trotzdem nicht aufhörte, seine Verwunderung über die Ankunft des Doktors laut auszuschreien, drückte der ihn gegen den Türpfosten, daß ihm der Atem verging, und drang an ihm vorbei in den Flur.
„Ein Gibor! [6] Schema Isroel, ein Gibor der gewaltige Doktor!“ raunte Abraham einem mißgestalteten Wesen zu, das plötzlich im Dunkel geräuschlos wie eine Eidechse, krummbeinig wie ein Kobold, neben ihm aufgetaucht war.
Es wiegte den unförmigen Kopf; seine nachtschwarzen Augen funkelten klug und feurig.
„Er ist eingezogen, zu spionieren, Tateleben. Wir wollen ihm kommen zuvor, daß uns nicht kann begegnen ein Unglück,“ flüsterte der Kleine.
„Elend über Elend! Wie heißt ihm kommen zuvor?“
„Ich will nehmen ein Pferd, Tateleben, und reiten nach Tarnow wie ein Windstoß, zu melden bei der Polizei, daß bei uns Versammlung halten die rebellischen Gojim, und daß die kaiserliche -66- Regierung soll ausschicken gegen sie Soldaten, wenn es is gefällig der kaiserlichen Regierung.“
Abraham betrachtete seinen Sprößling mit Blicken bewundernder Liebe:
„Reit wie ein Windstoß, mein Sohnleben, daß du mit Gott bald kommst ans Ziel. Reit,“ wiederholte er und setzte in naiver Fürsorge hinzu: „Tu dich nur nehmen in acht, daß du nicht kommst um deine graden Glieder.“
Rosenzweig war inzwischen in die Wirtsstube getreten oder hatte sich vielmehr hineingezwängt.
Es herrschte darinnen eine dicke, dumpfe Atmosphäre, das Produkt von mehr als hundert, dicht aneinandergepferchten Menschen, in nassen Pelzen, Kleidern und Stiefeln. Fuseldünste und der Qualm einer an der Decke hängenden Naphthalampe trugen dazu bei, das Atmen in diesem Raume zu erschweren. Die Anwesenden jedoch erfuhren unbewußt den beklemmenden Einfluß, der die Gesichter der einen glühen machte und die andrer bis zur Todesblässe entfärbte. Es waren Männer, den verschiedensten Altersstufen und Ständen angehörig, in ärmlicher Kleidung, im reichen Nationalkostüm, im Priestertalar, im Studentenrock, im schäbigen, schwarzen Gewand des Winkelschreibers. Die keinen andern Platz mehr gefunden hatten, waren auf die Bänke gestiegen und, zwischen die Mauern und die Menge geklemmt, bezahlten sie bei jedem neuen Andrang den Vorteil ihrer erhöhten Stellung mit der Gefahr, erdrückt zu werden.
In der vordersten Reihe, seine Umgebung überragend, stand ein grauhaariger, graubärtiger, breitschultriger Herr, in kostbarer Magnatentracht. -67- Wenn er den Kopf wandte, zeigte sich dem beobachtenden Nathanael das ausdrucksvolle asiatische Profil eines der mächtigsten Fürsten des Landes.
– Auch du, Starosta princeps nobilitatis ? dachte Rosenzweig. Aber eine noch größere Überraschung erwartete ihn.
Der einzige in der Stube freigebliebene Raum war der vor dem Eingang in das Nebenzimmer, dessen offene Tür von einigen jungen Leuten mit wahrhaft wildem Eifer vor der Zudringlichkeit der Neugier oder des Fanatismus behütet wurde. Dort schritt Dembowski im Gespräch mit einem Schlachziz auf und ab, in dem Rosenzweig zu seinem grenzenlosen Erstaunen den vertrauten Freund des Kreishauptmanns erkannte. Er lebte in glücklichen Familien- und geordneten Vermögensverhältnissen, war ein harmloser, aufrichtiger Mensch, dem der Friede über alles ging. Nie hatte er es dahin gebracht, einer politischen Debatte seiner Gutsnachbarn bis ans Ende zu folgen, weil er regelmäßig früher einschlief. Und dieser ruhigste und stillste aller Staatsbürger, da wandelte er nun flammend und glühend in einem Seelenkampfe, dessen Pein sich in seinem zuckenden Gesicht malte, neben dem Aufwiegler einher.
Der aber, leicht vorgebeugt, den Arm des Neophiten sanft berührend, sprach eindringlich und leise zu ihm, sprach Worte, auf welche dieser keine Erwiderung mehr zu finden schien. Ein letztes noch – und er wandte sich von dem Erschütterten und trat zu seiner Gemeinde, die ihn mit unendlichem Jubel empfing.
Der Sendbote war als Bauer gekleidet. Er trug -68- einen langen, weißen Kaftan, der am Halse durch zwei große Metallknöpfe geschlossen war, hohe Stiefel, ein Hemd aus grober Leinwand und Pluderhosen aus demselben Stoffe. Ein lederner Riemen, an dem ein kleines Kruzifix aus schwarzem Holze hing, umgürtete seine Lenden. Sein dichtes, dunkelblondes Haar war kurz geschoren; es wuchs in scharfer Spitze in die Stirn und zog schön gewölbte Bogen um die mattweißen, etwas eingedrückten Schläfen.
Ruhig ließ er den Freudensturm des Willkomms verbrausen, stand da mit herabhängenden Armen, die Finger nur leicht gekreuzt, und schaute ins Gewühl lässig und obenhin, wie sehr Kurzsichtige pflegen, die schauend schon im voraus auf das Sehen verzichten.
„Freunde, Brüder,“ begann er, ohne die Stimme zu erheben, und sogleich wurde es still bis zur Lautlosigkeit, – „ich grüße euch zum letztenmal vor dem Kampf, vielleicht zum letztenmal vor dem Tode.“
„Sei uns gegrüßt!“ antwortete ein brauner Kumpan von martialischem Aussehen; „im Kampf, im Tod, im Sieg!“
„Im Sieg!“ durchlief's die Menge als Seufzer der Sehnsucht, als Schrei der Hoffnung, als Ausruf der Zuversicht.
„Sieg?“ wiederholte der Redner, „ihr habt ihn schon errungen. Ein Kampf wie der eure ist ein Sieg und ein Sieger jeder von euch, ob er den Fuß auf seine Feinde stellt, ob er zertreten von ihren Rossen auf dem Schlachtfelde liegt. Meine Brüder! was immer uns beschieden sein mag, der Gedanke, -69- der uns beseelt, kann nicht mehr sterben. Er wird fortleben, sogar auf den Lippen derer, die uns um seinetwillen verfolgen und töten. Sie selbst werden die heilige Lehre noch verbreiten, indem sie von dem Märtyrertum erzählen, das wir erlitten haben.“
Allmählich war die lähmende Müdigkeit von ihm gewichen, seine geschmeidige Gestalt hatte sich emporgerichtet:
„Vielleicht ist die Erinnerung an unsern Tod das einzige, was wir denen hinterlassen können, für die wir so gern gelebt hätten. Wir müssen dafür sorgen, daß dieses Erbe ein glorreiches sei ... Es wird kein glorreiches sein, wenn nicht jeder einzelne, der zu unserm Bunde geschworen hat, sich als ein Priester fühlt, dessen Ehrgeiz Entsagung und dessen Ruhm grenzenlose Hingebung an die Sache Gottes ist.“
Vereinzelte Laute der Zustimmung ließen sich vernehmen, aber so manches Antlitz drückte Enttäuschung aus.
„Die Sache Gottes, meine Brüder!“ wiederholte der Redner. „Vermöchte ich den Feuereifer, ihr zu dienen, in euern Seelen zu erwecken, den er in der meinen erweckt hat, und euch den Abscheu und die Scham kennen zu lehren, womit ich zurückblicke auf die einst genossenen Erdenfreuden. Mitten in der Fülle ihrer Genüsse fand mich der Herr. Aus ihrem Taumel schrak ich auf bei seinem Ruf. Und die Stimme, mit der der Allerbarmer mich rief, war die des Mitleids, und das Mitleid gebar den Zweifel und der Zweifel die Erkenntnis.“
Verklärung breitete sich über seine Züge; das -70- Licht der schönsten Liebesgedanken leuchtete auf seiner Stirn.
„Ich lebte, wie die Verwöhnten leben. Weil der Zufall mir zuviel beschert hatte, kannt ich kein Genügen; in meiner heißen Hand zerschmolz das Gold.
Da war einer unter meinen Dienern – Jelek hieß er, ein Bauerssohn, der, aufgeweckt und tüchtig, es bis zu dem Amte meines Güterverwalters gebracht hatte. Er allein wagte es einmal, eine Warnung gegen mich auszusprechen, und fiel dadurch bei mir in Ungnade.
An einem Sommermorgen ritt ich nach fröhlich durchlebter Nacht mit meinem Anhang von einem Feste bei meiner Geliebten heim. Ihre Küsse brannten noch auf meinen Lippen, die Klänge der Musik summten mir noch im Ohr, liebliche Bilder gaukelten vor meinen Augen, eine beglückende Lebenslust erfüllte mich. In meiner Seele vermählten sich die Erinnerung an genossene Freuden mit der Erwartung künftiger, und übermütig rief ich meinen Gefährten zu:
‚Wie heute, so morgen, und immer!‘
Wir waren am Ausgang des Waldes angelangt; vor uns lagen im schimmernden Duft des jungen Tages die taufrischen Wiesen, das Ährenmeer der Felder, und aus der Ferne grüßte mein bewimpeltes Schloß mit seinen starken Türmen. Seine Fenster blinkten, auf seinem altersgrauen Gemäuer lag der Glanz der aufgehenden Sonne wie ein Lächeln auf dem Antlitz eines Greises. Einen schönen Anblick bot mein ehrwürdiges, gastliches Haus, und mit Jauchzen sprengten meine Gefährten ihm zu. -71-
Ich aber verhielt mein Roß.
Ich hatte längs des Waldsaumes einen Mann in hastender Eile herbeikommen gesehen und Jelek, meinen Verwalter, in ihm erkannt. ‚Woher und wohin?‘ rief ich ihn an. Er nannte einen weit entfernten Meierhof, nach dem ihn der Intendant mit einem Auftrag schickte. – ‚Fand sich dazu kein Geringerer? Seit wann machst du Botengänge?‘ – Auf diese meine Frage gab er zur Antwort: ‚Seit ich bei dir in Ungnade gefallen bin. Dein Intendant hat mich meines Amtes entsetzt und bedenkt mich dafür mit allerlei Ämtern.‘ – Er keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, und ich sah es ihm an, daß ihm der Boden unter den Füßen brannte. Ich sah auch, daß sich vom Dorfe aus ein langer Zug nach der Straße hin bewegte, und daß der es war, dem er entgegenstrebte. Ich setzte mein Pferd in Schritt, und er folgte mir. So kamen wir zur Landstraße, auf der die Leute wanderten. Ein paar hundert Männer, Jünglinge, Greise, ihre Sensen auf den Schultern, Säcke auf den Rücken. Sie schritten stumm, mit gesenkten Köpfen, die meisten barfuß und zerlumpt – meine Bauern!... Und wie sie, sich bis zur Erde verneigend, an mir vorüberschlichen, unlustig, wie eine Herde, die nach fremdem Pferch getrieben wird, da wußt ich: die Leute sind vermietet für die Erntezeit, weithin vielleicht, und werden den Boden, auf dem ihre eigene ärmliche Ernte reift, nicht wiedersehen, eh der Schnee ihn bedeckt.
Jelek hatte ein Tüchlein hervorgezogen, in dem einige Münzen eingebunden waren, und drückte es -72- einem Alten in die Hand, der am Ende des Zuges mühsam nachhumpelte: – ‚Damit du nicht darbst unterweges, Vater. Gott tröste dich. Meinetwegen mußt du fort.‘
Der Alte barg das Tuch an seiner Brust, und der Haiduk, der die Schar geleitete, stieß ihn vorwärts.
In die Augen Jeleks traten Tränen des Schmerzes und der Wut.
‚Warum sagtest du,‘ fragte ich ihn, ‚dein Vater müsse um deinetwillen fort?‘
‚Weil es so ist. Der Intendant hätte sich nicht getraut, ihn zu vermieten, wenn du mir noch gnädig wärest wie sonst.‘
Ein paar Tage später traf ich meinen Jelek, wie er einen Arbeiter auf dem Felde, einen hochbejahrten Mann, der Faulheit anklagte und erbärmlich schlug.
‚Siehst du nicht, daß der Mann erschöpft ist und nicht mehr arbeiten kann?‘ sagte ich, und er erwiderte:
‚So werden sie es in der Fremde auch meinem Vater tun. Warum soll es dem einen besser gehen als dem andern?‘
Was ich ihm antworten sollte, wußte ich nicht, aber zu dem Alten sagte ich:
‚Tun dir die Schläge nicht weh, daß du dastehst und nicht einmal klagst?‘
‚O, mein gnädiger Herr!‘ entgegnete er, ‚was würde das Klagen mir nützen?‘
Und auch darauf mußte ich schweigen ...
Heimkehrend fand ich das Haus zum Empfang meiner Geliebten geschmückt, und alle, die um meine Gunst buhlten, waren versammelt, um ihr zu huldigen. Sie erschien in ihrer königlichen Schönheit, -73- und ihr Anblick und der Anblick der Pracht, die mich umgab, und der kriechenden Dienstfertigkeit meines Anhangs – Grauen, meine Brüder! Grauen erweckten sie mir ... Ein Dämon, meint ich, habe tückisch mein Auge zu furchtbarem Hellsehen geschärft ... All der Glanz, alle die Pracht und Herrlichkeit und die Liebe des Weibes und die Treue der Freunde – sie hatten einen Preis, und bezahlt hatte ihn das Elend. Die hatten ihn bezahlt, die zum Frondienst vermietet hingezogen waren in die Fremde.. Das Gewühl vor mir, die Wände des Saales wurden durchsichtig. Wie durch schimmernde Schleier sah ich eine wandernde Schar, deutlich jede Linien der Gestalten, jeden Zug der Gesichter, die mein Auge an jenem Morgen nur flüchtig gestreift hatte. Ergebung auf allen! Nicht schöne, männliche – nein! die trost- und hoffnungslose Ergebung des Stumpfsinns. Was jenes Opfer der ungerechten Vergeltung, die mein Diener übte, gesprochen hatte, das sprachen auch sie in ihrem Schweigen. ‚Was würden Klagen uns nützen?‘
Brüder! in dieser Stunde habe ich meiner Macht geflucht und mein Glück gerichtet ... Meine Macht war zum Unheil andrer ausgeübt worden, mein Glück wuchs nicht wie eine Blume aus dem gesunden Mutterschoß der Erde, es war ein Wuchergebilde, ihrer Krankheit Frucht, und nährte sich parasitisch von kostbaren Lebenssäften.“
Der Redner bog den Kopf zurück; seine Lider schlossen sich, einem Gepeinigten gleich zog er den Atem ein.
„Da ergoß sich in meine Brust ein Strom der Schmerzen ... Die Schmerzen jedes einzelnen, der -74- um meinetwillen gelitten hatte, ergossen sich in meine Brust!... Und jede Schuld und jedes Unrecht, das die begangen hatten, die mir dienten, als meine Schuld empfand ich sie und vernahm schaudernd, wie ihr Schrei gegen mich zum Himmel stieg.
Die Luft im Saale lastete wie Blei, aus den Augen meiner Geliebten blickte die Sünde, die Töne der Musik girrten sinnverwirrende Melodien, und – fort trieb es mich, hinweg von dem durchschauten Trug in die kühle, klare Nacht. Ich wanderte unter ihren schimmernden Sternen, soweit meine Füße mich trugen, und wie auch mein Herz blutete und rang, mir war, als lebte ich auf. In der herben Qual, die ich litt, fühlte ich die Hand meines Herrn, verstand die Mahnung, deren er mich gewürdigt hatte. Und während sie mich suchten im Schlosse und in den Gärten, lag ich im Waldesgrund auf dem Angesicht vor meinem Gott und flehte um Kraft zur Buße und Sühne, und bot mich ihm dar zum Werkzeug seines Willens, zum Verkünder seiner Lehre, und flehte den Urquell des Lichtes um Erleuchtung auf meinem Wege an.
Sie wurde mir. Wie das Auge des Blindgeborenen, als der Finger des Heilands es berührte, sich der alten, vertrauten und ihm doch unbekannten Welt erschloß, so erschloß sich meine Erkenntnis der Offenbarung, in deren Licht ich gewandelt war von Jugend an – ein Blinder. Und je tiefer ich in den Geist des göttlichen Wortes eindrang, desto klarer wird es mir: Inbegriff seiner Weisheit ist die Liebe. Für uns Menschen – die Nächstenliebe!“
Die hochgehenden Wogen der Begeisterung, mit -75- der der Sendbote empfangen worden, waren allmählich verebbt. Ein Gemurmel der Mißbilligung, in das sich nur vereinzelt warme Zurufe mischten, erhob sich jetzt. Aus der Gruppe, die den Fürsten umdrängte, scholl rauh die Mahnung:
„Laß den Pfarrer von Nächstenliebe sprechen, sprich du von der Befreiung des Vaterlands!“
„Eines, die beiden!“ antwortete der Redner. „Keine Befreiung ohne die Liebe des Nächsten. Sie ist der unermeßlich reiche Schatz, der uns an dem Tag erlöst, an dem wir uns entschließen, ihn zu heben. Nur verstehen müßt ihr ihr Gesetz. Für euch, ihr Mächtigen und Reichen, lauten seine ersten Worte: Entsagung, Entbehrung, Sühne!“
Die Lippen des Fürsten kräuselte ein Lächeln, aber mit immer mächtiger werdender Stimme fuhr der Redner fort:
„Es gibt nur einen Herrn, den König der Himmel und der Welten, und nur ein Menschenvolk gleichgeborener Brüder. Der sich Herrschaft anmaßt über seine Brüder, säet und erntet Unheil; die Seele des Knechtenden wie die des Geknechteten verdirbt.“
Mit einem raschen Schritte trat er auf den Fürsten zu:
„Rette deine Seele, demütige dich! Gedenke der Sünden deiner Väter, gedenke der Flüche, die auf deinem Haupte lasten. Wie? – Befreiung von fremder Tyrannei verlangt ihr? Was habt denn ihr jemals ausgeübt an dem bejammernswerten Volke, als Tyrannei? Ihr, der Adel, ihr wart der Staat. Niemals ist in Polen ein andrer Stand zu Wort gekommen, als der eure, und wohin habt ihr das -76- Land gebracht?... Euer Eigennutz hat es ausgebeutet, eure Zwietracht es zerrissen, euer Verrat es den Feinden ausgeliefert!“
„Du lügst! Schweig! Wir wollen dich nicht mehr hören!“ tönte es ihm zurück.
Ein rasender Tumult erhob sich.
„Platz da! Platz für den Fürsten!“ riefen die Begleiter des Magnaten, der sich schweigend und verächtlich umgewandt hatte, und dem die Seinen mit Stoßen und Drängen einen Weg zum Ausgang zu bahnen suchten.
Nathanael, in der Nähe stehend, erwies sich ihnen hilfreich. Die Menge war wie eingekeilt unter der Tür, aber sein eiserner Arm teilte sie, um den Fortstürmenden Raum zu schaffen, und ein allgemeines Aufatmen gab es, als der Fürst mit seiner Schar das Freie gewonnen hatte.
Von draußen vernahm man ihr Schreien, Fluchen und Lachen. Die Herren pfiffen ihren Kutschern und ihren Hunden, Peitschen knallten, Fuhrwerke setzten sich in Bewegung.
Der Blick des Sendboten glitt schwermütig über die gelichteten Reihen seiner Jünger.
„Auf die Großen dieser Erde habe ich nicht gezählt; wohl uns, wenn wir keine andern Gegner hätten als sie,“ sprach er ruhig. „Der Bedrücker sind wenige, der Bedrückten viele. Wenn die Bedrückten sich erheben und im Namen des Allgerechten ihren Anteil am Besitz der Erde fordern würden, dann wäre die Macht der Mächtigen wie Spreu. Aber der Koloß, der sich nur zu regen brauchte, um seine Bande zu sprengen – er regt sich nicht. Er duldet und -77- front und wird ewig dulden und fronen. Durch das unwürdige Leben, das er seit Jahrhunderten führt, ist das Bewußtsein seines Menschentums, seines freien Willens in ihm erstickt worden. Sie aber, die ihm dieses Bewußtsein raubten, haben nicht nur gegen das elende, von ihnen verachtete Volk, sie haben – und dessen gedenken sie nicht! – sie haben gegen Gott gefrevelt, indem sie Tausende seiner Geschöpfe unfähig machten, sein Bild widerzuspiegeln.“
Er hielt inne, und die jungen Leute jubelten ihm Beifall zu. Die älteren Männer schwiegen. Einige Geistliche hatten sich in die Nähe der Tür begeben. Der treulose Freund des Kreishauptmanns war samt den Edelleuten verschwunden, nachdem er mit staunendem Schrecken den großen Kopf Rosenzweigs aus dem Gedränge hervorragen gesehen hatte. Der Doktor jedoch, mit der Wucht eines Pfeilers auf seinem Vordermann lastend, brachte jeden allmählich zum Weichen und stand nun auf demselben Fleck, auf dem früher der Fürst gestanden hatte, dicht vor dem Sendboten.
Eine freudige Röte stieg diesem in die Wangen, als er Nathanaels ansichtig wurde.
„Gott wird die Schuldigen richten!“ nahm er wieder das Wort. „Was uns zukommt, ist die Erlösung der Armen, deren Jammer zu ermessen wir besser vermögen, als sie selbst. Was ich von euch fordere, ihr Herren, ihr wißt es, besprochen und wieder besprochen haben wir's in langen Stunden. Ihr aber, Studenten und Männer der Wissenschaft, die ihr dem Volke nahe steht wie euerm Vater, betreut es, als wäre es euer Kind. Lehrt es euch -78- lieben und vertrauen, verwendet zu seinen Gunsten euer Wissen, euer Können, eure Erfahrung, Kraft und Zeit. Vergeßt euch selbst in seinem Dienst. Keiner von euch pflege mehr seinen Geist in kaltsinniger Abgeschlossenheit ... Mit welchem Rechte vertieft ihr euch in die Erforschung der schwierigsten Welt- und Daseinsrätsel, während um euch her noch Menschen leben, mit dem gleichen Anspruch auf Erkenntnis ausgestattet wie ihr – und unfähig, die einfachsten Gedankenreihen zu bilden?... Ihr sucht nach Zielen in euern Wissenschaften und werdet immer nur Grenzen finden. Ich nenne euch ein Ziel, das sich erreichen läßt: die Verminderung des Irrtums, des Wahns, des Aberglaubens unter euern Brüdern ... Dem Zug einer ungeheuern Heersäule, die nachts aufbricht, um zum Kampfplatz zu eilen, gleicht das Wandeln des Menschengeschlechts über die Erde. Die, denen Kraft gegeben ward, die andern zu überholen, haben sich an die Spitze gestellt. Sie schreiten schon im rosigen Morgenlicht, die Schatten fliehen, ein Wunderland öffnet sich vor ihnen. Unaufhaltsam jagen sie ihm zu, auf sonnenbeglänzter Bahn, unbekümmert um die Nachhut, die hinter ihnen im Dunkel tappt und sich verirrt, und keinen Steg mehr findet, der zu den Glücklichen hinüberführt, an deren Seite auch sie den Kampf des Lebens zu kämpfen berufen waren ... Deshalb, ihr Führer, macht halt! Öffnet eure Reihen, laßt die Nachhut herankommen. Einen breiten Weg für die Nachhut! Zu ihrem Heil, meine Brüder! aber auch zu dem eurigen, denn aus jedem bisher blöden Auge, das sich dank eurer fürsorgenden Liebe einem Strahl der Wahrheit öffnet, -79- wird euch der Himmel grüßen ...“
Einige Schulmänner in der Nähe Rosenzweigs wechselten bedeutungsvolle Blicke: „Ich bin sehr enttäuscht,“ flüsterte ein Advokatenschreiber den gelehrten Herren zu: „Das ist ja gar nichts.“
Der Doktor stand nach und nach ganz bequem, von einem Gedränge war keine Rede mehr. Das Auditorium machte sich langsam und geräuschlos fort. Wagen um Wagen rollte, Reiter trabten davon.
Die Zurückbleibenden widersetzten sich endlich dieser Flucht. Die Verwünschungen, mit denen die Abtrünnigen begleitet wurden, begannen in Tätlichkeiten auszuarten.
Gebieterisch erhob der Redner seinen Arm.
„Laßt jeden unbehelligt ziehen,“ befahl er. „Wer von euch kann sagen, ob das Samenkörnlein Wahrheit, das jetzt von der Brust dieser Männer abzuprallen schien, nicht, ohne daß sie selbst es ahnen, in ihr Wurzel geschlagen hat? Vielleicht tritt mancher von denen, die uns jetzt verlassen, noch dereinst in unsre Reihen ein. Mir aber, meine Brüder, mir ist es ein Segen zu fühlen: was mich in dieser Abschiedsstunde umgibt, ist Treue, was mich vernimmt – Verständnis. Den tiefsten Inhalt meiner Lehre, in eure Herzen darf ich ihn gießen wie in köstliche Schalen, die ihn rein und lauter bewahren, und ihn andern Herzen also mitteilen werden.
Brüder, wir müssen immer hören, ohne Kampf der Menschen untereinander könne die Welt nicht bestehen; in einem allgemeinen Frieden würden unsre Kräfte einrosten und unsre Geister erschlaffen. Das ist falsch. Friede zwischen den Menschen bedeutet -80- ja nicht das Ende aller Kämpfe, es bedeutet vielmehr den Beginn eines neuen, eines herrlichen Kampfes. Während der Haß der Urheber aller bisherigen Kämpfe gewesen ist, wird die Liebe die Mutter der künftigen sein. Die Streiter, die sie aufruft, werden nicht etwa ein leichtes Spiel haben, denn die Feinde, denen sie gegenüberstehen, gönnen ihren Überwindern nicht Ruhe, nicht Rast; täglich besiegt, erheben sie sich täglich wieder. Leiden und Leidenschaft sind ihre Namen. Faßt sie nur einmal scharf ins Auge, und ihr werdet euch fragen müssen: Ist es möglich, daß wir jemals einen andern Streit unternommen haben als den gegen sie, als den gegen die Leiden der andern und gegen die Leidenschaft in unsrer eigenen Brust? Wie? es gibt in der Welt diese fürchterlichen Gewalten, und wir haben mit ihnen einen faulen Frieden geschlossen? Wir haben sie hingenommen wie das Notwendige und Unentrinnbare, wir haben schläfrig und lau den Vampyr an unserm Marke zehren lassen und unsre Streitlust nicht an ihm gebüßt, nein, an unsern Brüdern, unsern mitleidenden Brüdern! Wir haben Beladenen neue Lasten auferlegt, wir haben Verwundete verletzt.
O, des Wahnsinns! Oder – des Verbrechens – oder vielmehr der beiden! Verbrechen ist Wahnsinn, die Torheit ist die Quelle jedes Unrechts.“
Ja, und tausendmal ja! dachte Rosenzweig, Tränen in den Augen, erschüttert in allen Fugen seines Wesens. Ein unermeßliches Glück durchdrang ihn, er empfand die höchste aller Wonnen – die Wonne, aus den beengenden Schranken der Selbstsucht aufzusteigen wie aus einem Grabe. Was er bisher am meisten -81- geschätzt hatte, erschien ihm wertlos, die Arbeit vergeudet, die er auf die Erwerbung seines Reichtums verwandt, verächtlich seine engherzige Freude an ihm, der, ein toter Staub, in seinen Händen gelegen. Beschämung erfüllte seine Seele, aber mit Entzücken gab er sich ihr hin als dem Wahrzeichen seiner Wandlung, dem Beginn seines inneren Wachsens und Klärens. Nur ein Gedanke trübte die reine Seligkeit dieses Augenblicks; er galt dem Apostel des Mitleids und der Liebe und wurde schmerzlicher und sorgenvoller, als dieser die Zukunft, die er träumte, als eine erreichbare zu schildern begann. – Täusche dich nicht! hätte er ihm zurufen mögen. Das Land deiner Verheißung hat auf Erden keine Stätte. Begnüge dich damit, unsre Sehnsucht nach ihm erweckt zu haben. Schon das ist Befreiung.
Aber der Sendbote sprach ... Der Klang seiner Stimme füllte wie etwas Körperliches den Raum, der Glutstrom seiner Beredsamkeit trieb seine kühnsten, prächtigsten Wogen, und endlich schloß er:
„Zweck und Ziel unsres Bundes ist das Wohl des Volks, das Wohl eines jeden Bewohners der polnischen Erde; schwört Treue unserm Bunde!“ Da riefen alle, da tönte es mit der Stimme einer Begeisterung aus der Brust von jung und alt, von Besonnenen und Schwärmern:
„Wir schwören!“
Sie fielen vor ihm nieder und küßten seine Hände, seine Knie, seine Füße. „Wir schwören dir Gehorsam bis in den Tod!“ überschrie einer aus der Menge alle übrigen. Der Sendbote wehrte ab:
„Nicht mir Gehorsam – der Sache schwört, die -82- Armen und Bedrückten zu lieben, wie euch selbst, und das Vaterland mehr, als euch selbst.“
Die Beteuerungen wiederholten sich.
„So geht denn hin. Werbt im Volke, werbt Werber für das Volk. Entsendet keinen, der nicht auf das Kruzifix geschworen hat. Ich bringe euch die Eidesformel und den Katechismus,“ sprach der Agitator, und Stille trat während der Verteilung der Schriften ein.
Plötzlich wurde sie durch ein so angstvolles Gekreisch unterbrochen, daß alle zusammenfuhren. Abraham Dornenkron stürzte herein, schreckensbleich, mit aufgelösten Locken:
„Rette sich, wer kann sich retten! Mein Sohnleben ist gewesen in Tarnow, hat gesehen steigen auf die Husaren, gleich werden sie sein hier, mein Sohnleben is geritten ihnen voraus.“
Die Warnung Abrahams erweckte Hohn, Trotz, Bestürzung. Einige stammelten ein leises Abschiedswort und eilten rasch davon. Was Waffen trug, scharte sich um Dembowski und schickte sich zu seiner Verteidigung an. Er aber wies seine Getreuen hinweg.
„Fort! Ihr, ich, wir alle. Noch ist es nicht Zeit zum Kampfe. Ein Hochverräter jeder, der den Kampf zu früh beginnt. Fort! Alle fort!“
Die Stube leerte sich. Der letzte, der hinaustrat, war der Sendbote, knapp vor ihm schritt Nathanael. In tiefer Stille bestiegen die Verschworenen ihre Wagen und stoben auseinander wie Schatten. Das Pferd des Redners wurde vorgeführt, er schwang sich hinauf und gab ihm die Fersen. Das Tier -83- bäumte sich, fiel schwer auf einen Vorderfuß zurück und zog den andern mit schmerzvollem Zucken in die Höhe.
Eilends sprang Rosenzweig herbei. „Ihr Pferd lahmt,“ sagte er, „auf dem Pferde kommen Sie nicht weit.“
Der Wirt näherte sich, eine Flasche tragend, in deren Hals eine tropfende Unschlittkerze stak, hockte am Boden nieder und bestätigte jammernd den Ausspruch des Doktors. Diesen ergriff ein Verdacht, er hielt dem Juden die geballte Faust vors Gesicht:
„Wart, Kerl, wenn du das getan hast!“
Abraham brach sofort in Wehklagen und Unschuldsbeteuerungen aus. Der Emissär war vom Pferde gestiegen, stand regungslos und horchte.
Deutlich vernahm man schon das Heransprengen der Reiter auf der Straße. Sie ritten mit dem scharf herüber pfeifenden Wind. Gelblichgrau begann der Horizont zu schimmern. Der fahle Schein der ersten Dämmerung verbreitete sich über die Ebene. Nathanael fröstelte und glühte. Kalter Schweiß rann ihm über die Stirn, eine eiserne Kralle schnürte ihm die Kehle zu. Das war Furcht , deren Symptome er so oft an andern beobachtet, die er an sich selbst nie erfahren hatte.
„Verbergen Sie sich im Haus,“ sprach er zum Emissär.
„Was würde mir das nützen, wenn der Wirt falsch ist – und er ist es,“ antwortete jener. „Ich will meinen Beinen vertrauen. So viel Klugheit wie das gehetzte Wild habe auch ich. Irgendwo findet sich ein Hohlweg, ein Baum, ein mitleidiger -84- Strauch, der mich verbirgt.“
Er schickte sich zur Flucht an.
Da faßte ihn der Doktor mit überlegener Kraft und drängte ihn zu seinem Wagen hin.
„Herunter, Joseph!“ befahl er, „und sieh zu, wie du nach Hause kommst. Sie aber, nehmen Sie seinen Platz ein. Rasch!“
Der Widerstrebende war auf den Wagen hinaufgehoben, bevor er sich's versah. Der Doktor warf ihm seinen im Wagen zurückgebliebenen Mantel über die Schultern, Joseph legte die Zügel in seine Hand und trat sofort im Eilschritt den Heimweg an.
„Du!“ sprach Nathanael, und Abraham beugte sich beinahe bis zur Erde unter dem Blitz, der aus den Augen des Doktors auf ihn niederfuhr, „du sollst mich kennen lernen, wenn du den Verräter weiter spielst!“ Einige Verwünschungen folgten, die ihm leicht von den Lippen flossen. Schwerer wurde es ihm, hinzuzusetzen: „Wenn du aber dein Maul hältst – dann kriegst du von mir für dein Schweigen das Doppelte von dem, was deine Angeberei dir eingetragen hätte.“
Er machte eine rasche Wendung den immer näherkommenden Reitern entgegen.
„Hallo ho!“ rief er, die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr geformt, „zu spät! zu spät!“
Ein Pikett Husaren mit einem blutjungen Kadetten an der Spitze kam angaloppiert. Der Kadett riß sein Pferd dicht vor Nathanael zusammen:
„Gottes Donner! der Herr Doktor! Was führt Sie her?“
„Beim Zeus! die Neugier, mein Gräflein. Aber Sie – warum just Sie? Ein heißer Ritt in kalter -85- Morgenstunde, das gibt, so wahr ich Sie kenne, eine Halsentzündung.“
„Gottes Donner! scherzen Sie nicht! komm ich wirklich zu spät? Ist das Nest leer? War der Emissär wirklich da? Haben Sie ihn gesehen?“ fragte der Jüngling in überstürzter Hast.
„Gesehen, gehört, ihn als unschädlichen Schwärmer diagnostiziert.“
„Unschädlich? Dann war er's nicht.“
„Er war's!“
„Es is gewesen er!“ fiel Abraham geläufig ein. „Der Herr Kadett können noch sehn stehn hier sein Pferd, das ich hab vernagelt, damit er nicht kann reiten davon.“
„Was ihn zwang,“ bemerkte Rosenzweig, „im Wagen eines seiner Freunde davon zu fahren !“
Der Jüngling nahm das Pferd in Augenschein, ließ ihm das Eisen abreißen und befahl einem Soldaten, es am Zügel mit zu führen.
„Ich nehm es mit, als Pfand,“ sagte er. „Und nun – in welcher Richtung ist er davongefahren, Doktor?“
„Das verrate ich Ihnen um keinen Preis.“
„In welcher Richtung? Die Sache ist ernst. Ich bin ein gemachter Mann, wenn ich ihn fange. Wir haben verschärfte Order erhalten, heute nachmittag. – In welcher Richtung, Doktor?... Gottes Donner! sprechen Sie!“
Rosenzweig entgegnete mürrisch: „Ich weiß nichts. Vielleicht sind Sie ihm selbst begegnet auf der Straße.“
„Niemandem bin ich begegnet außer einigen -86- guten Bekannten ... Übrigens“ – er hielt inne und schlug sich vor die Stirn. „Auch die sind ja verdächtig ... Rechts um!“ kommandierte er seinen Leuten, und die Husaren machten kehrt. „Adieu, Doktor. Und du, Jude, merk auf! Es soll ein Preis auf den Kopf des Emissärs gesetzt sein, heißt es, ein Preis von tausend Gulden. Dein wäre er gewesen, hätt ich den Kerl hier erwischt.“
Abraham zuckte zusammen, wand sich wie ein Wurm und kreischte laut. Der Fuß des Doktors stand auf dem seinen und trat ihn unbarmherzig.
„Was gibt's?“ rief der Husar.
„Er weint um die tausend Gulden, die ihm an der Nase vorbei geflogen sind,“ entgegnete Rosenzweig.
Der Kadett setzte sich wieder an die Spitze seiner Mannschaft: „Ich reite zurück. Die Wagen holen wir noch ein ... Gottes Donner! die wollen wir jetzt aufs Korn nehmen ... In Galopp, Marsch!“ Und das Pikett rasselte davon.
Abraham hüpfte kläglich auf einem Fuße und hielt den andern, zurückgekrümmten, wie in einer Schlinge in der Hand.
„Zweitausend Gulden!“ winselte er. „Sie haben mir zerquetscht, Herr Doktor, Sie Gibor, zwei Zehen.. Aber sie sollen gehen drein, ich verlang kein Schmerzensgeld, wenn Sie mir auszahlen morgen meine zweitausend Gulden, die Sie sind mir schuldig, so wahr Gott lebt!“
Rosenzweig antwortete dumpf: „Komm nur, Halunke. Was ich verspreche, halte ich – auch einem Halunken.“
Er trat an den Wagen und sprach, auf den -87- Rücksitz deutend, zu seinem Fahrgast:
„Da hinüber steigen Sie, überlassen Sie mir Ihren Platz. Ich bringe Sie in Sicherheit.“
Der Sendbote stand mit einem Satze neben ihm und drückte kräftig seine Hand:
„Haben Sie Dank. Sorgen Sie nicht weiter um mich; ich finde Freunde überall.“
Vergeblich suchte der Doktor ihn zurückzuhalten, er entwand sich ihm und war bald den Augen seines Retters im verhüllenden Zwielicht entschwunden.
Rosenzweig kutschierte nach Hause, im kurzen Trab, im Schritt – wie es den Falben beliebte. Er hatte keine Eile. Wäre der Weg noch einmal so lang gewesen, er würde ihm nicht zu lang geworden sein. Dem, der über ein Wunder nachdenkt, vergeht die Zeit geschwind.
Gelogen, betrogen, einen Schurken bestochen – hatte er das wirklich getan, er, der redliche Rosenzweig? Um eines Menschen willen getan, den er noch vor kurzem für einen Feind der Gesellschaft, für seinen eigenen Feind gehalten?
Die widersprechendsten Empfindungen lieferten sich eine Schlacht in Nathanaels sonst so gleichmütiger Seele. Nur die schlimmste von allen, die Reue, war nicht unter ihnen.
Am Nachmittag kam Abraham, sein Geld zu holen. Ja, der Spitzbube nannte es sein, das schöne, zum Ankauf eines neuen Feldes bestimmte Geld. Finster gab der Doktor es hin.
Dann begab er sich auf das Kreisamt. -88-
Er hatte die Absicht, seinem Chef die Ereignisse in der Schenke genau zu berichten, fand ihn jedoch so beschäftigt und in so ungewöhnlicher Aufregung, daß er es vorzog, zu schweigen. Auch in den folgenden Tagen ging es nicht besser.
Auf dem Amte herrschte in dieser Zeit eine beständige Unruhe, eine außerordentliche Tätigkeit. Der Kreishauptmann bewahrte mit Mühe den Schein seines heitern Selbstvertrauens. Die Zuversicht war erzwungen, mit der er beteuerte, alle Fäden des Netzes in seiner Hand zu halten, an dem Tyssowski in Krakau, Skarzynski im Bochnier, Julian Goslar im Sandezer, Wolanski im Jasloer und Mazurkiewicz im Sanoker Kreise knüpften. Die Untreue seines besten Freundes, der offen zur Revolutionspartei übergetreten war, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Er und der Doktor tauschten allmählich die Rollen. Der Ängstliche wurde der Sorglose und der Sorglose der Ängstliche.
Eines Morgens überbrachte Joseph seinem Herrn einen Brief, der durch einen Boten im Hause abgegeben worden war. Er enthielt zwei Eintausendguldennoten in ein Blatt gefaltet, auf dem die Worte geschrieben standen:
Meine Schuld bleibt ewig ungetilgt.
Nathanael barg das Blatt an seiner Brust und legte die Noten vor sich hin auf den Tisch.
„Joseph,“ rief er.
„Was befiehlst du?“
„Sieh diese zwei Bilder gut an. Weißt du, was sie vorstellen?“
„Viel Geld, mein ich.“ -89-
„Geld! Geld! nun ja – aber noch etwas andres.“
„Was denn, Herr?“
„Den Lohn deiner jahrelangen Arbeit ... Nein, nicht ihren Lohn – ihren redlich verdienten Ertrag.“
Joseph sah den Gebieter fragend an.
„ Dahin sieh, auf die Bilder, nicht auf mich,“ rief dieser. „Sie stellen noch ein drittes vor.“
„Was denn, Herr?“ wiederholte Joseph.
„Was denn? Soll ich Lubienka rufen? Die wüßte es gleich, daß es nichts andres sein kann als – dein Heiratsgut.“
Da rief Joseph mit einem Schrei der Wonne:
„Mein Wohltäter, mein Herr, du Gütigster!“ und wollte sich vor ihm niederwerfen.
„Steh!“ befahl Nathanael, legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ernst in sein Angesicht, das sich zu ihm emporwandte wie zu einem Gott.
„Du hast eine harte Jugend gehabt, mein Joseph.“
„Ich? – Was sagst du, Herr? – Warst du nicht immer wie ein Vater gegen mich?“
„Nein, nein, mein Junge, wirklich nicht. Aber du bist gegen mich immer wie ein Sohn gewesen,“ antwortete der Doktor und setzte die für Joseph unverständlichen Worte hinzu: „Gäb es viele deinesgleichen, dann wäre der himmlische Sendbote – kein Tor.“
Von nun an hatte Joseph glückliche Tage, und noch viel glücklicher wären sie gewesen, wenn die große Veränderung, die mit seinem Herrn vorgegangen war, ihn nicht bekümmert hätte. Sie fiel jedem auf und erregte das Befremden aller Freunde des Doktors. Er, der emsige Sparer, wurde oft von großmütigen -90- Regungen ergriffen. Er, für den der Bettler und der Dieb bisher in eine Kategorie gehört hatten, begann zwischen ihnen einen großen Unterschied zu entdecken. Er, auf den bisher die Reichen und der Reichtum eine starke Anziehungskraft ausgeübt, betrat nur noch gerufen die Schlösser, ungerufen aber die Hütten der Armen. Die Unruhe, die ihn umhergejagt hatte, war verschwunden. Mit stillem, hartnäckigem Eifer ging er seinem Beruf nach. Als die Revolution ausbrach und ihre ersten blutigen Opfer forderte, verstand er es, immer da zu sein, wo man seiner am meisten bedurfte. Nie, auch nicht in den schlimmsten Tagen, verließ ihn die kaltblütige Zuversicht: von der Revolution ist nichts zu fürchten.
Andrer Ansicht war der Kreishauptmann.
Alle Mutigen wandten sich schon der Überzeugung zu, der Aufstand müsse in kurzem beendet sein, als er noch davon sprach, die Provinz sei verloren, wenn nicht in höchster Eile eine Armee einrücke, die tausendköpfige Hyder der „verwüstenden Insurrektion“ zu bekämpfen. Er meinte, Rosenzweig habe den Verstand verloren, als er eines Tages erwiderte:
„Die Insurrektion ist keine tausendköpfige Hyder, sondern ein hilfloses Kind. Mit Blumen in den Händen kommt es heran, mit einem Herzen voll Liebe, und mit Worten der Erlösung auf den Lippen. So kommt es zu uns. Aber wir sind Wölfe, Bären, Tiger, aber wir sind reißende Bestien. Wir verstehen die Sprache dieses Kindes nicht. Es predigt Erbarmen, Gerechtigkeit und Güte, und wir wollen von alledem nichts wissen, wir wollen mit niemand Erbarmen haben, als mit uns selbst, wir wollen -91- bleiben, was wir sind, behalten, was wir haben, womöglich noch andern etwas wegnehmen, um uns zu bereichern. Und so wird es immer sein, und ein Narr, der daran zweifelt! Und wir, reißende Tiere, wir werden das Kind zerfleischen und fressen, und uns zufrieden schlafen legen nach dieser Heldentat.“
„Phantasterei! Das ist ja pure Phantasterei!“ rief der Beamte voll Bestürzung aus. „Was ist mit Ihnen vorgegangen! Welcher Teufel hat Ihre gesunden Sinne verwirrt?“
„Wissen Sie,“ nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort, „daß mir berichtet wurde, Sie hätten einer Zusammenkunft beigewohnt, in der der gefährlichste Kommunistenführer eine seiner berüchtigten Ansprachen hielt? Wissen Sie, daß schlechte Spötter behaupten, seine Beredsamkeit habe Sie zum Schwärmer gemacht?“
Nathanael ließ sich durch diese Anklage nicht außer Fassung bringen.
„Ein Schwärmer wäre ich,“ entgegnete er, „wenn ich an die Verwirklichung der Utopien glaubte, für die dieser ‚Kommunistenführer‘, wie Sie ihn nennen, lebt, und für die er sterben wird. Nun, nicht einmal unter dem Einfluß seiner Nähe, beim Wohllaut seines Wortes, unter den Blitzen seines Auges ist es mir auch nur durch den Sinn geflogen: Wer weiß? vielleicht doch!... Vielleicht vermag ein Beispiel, wie das deine, uns Selbstlosigkeit zu lehren und allgemeine Erfüllung der einfachsten Pflichten. O nein, nein! dazu kenne ich uns Menschen zu gut. Aber gedacht habe ich mir: du wirst zu Boden geworfen, zertreten, ein Narr geheißen und – vergessen werden. -92- Kaum gibt es in zehn Jahren noch einen unter allen, die du liebtest, der deinen Namen nennt. Trotzdem ist der mächtige Fürst, den die Neugier oder der Wunsch, sich populär zu machen, in deine Versammlung trieb, ein Bettler gegen dich. Reich bleibt ewig nur der Schenkende, und die Größe des Mannes mißt sich nach der seiner Idee und der Opfer, die er ihr bringt. Die deine hat das Maß überschritten, das sich in unsrer kleinen Welt verwirklichen läßt. Ihre Größe macht sie zum Irrtum, und dich zum Irrenden. So dachte ich; und ich, der Arzt, der eingefleischte Hasser und Verfolger alles Krankhaften, Überspannten, Wahnbefangenen, ich tat ein Gebet für ihn zu meinem Gott:“
„Laß ihn sterben, umringt von allen Gebilden seiner Torheit, laß ihn ungeheilt sterben, o Herr!“
Dieses Gebet schien bald im vollkommensten Maße erhört.
Die Erhebung war am Widerstand der Landbevölkerung gescheitert; das Korps, das die Insurgenten aufgebracht hatten, war durch dreihundert Mann kaiserlicher Truppen und eine zehnfache Anzahl Bauern, die sich ihnen anschlossen, unter Benedeks energischer Führung, bei Gdow geschlagen worden.
Von der erlittenen Niederlage erhielt die Revolutionsregierung in Krakau entstellte Kunde.
Die Freiheitshelden waren, so lautete sie, nicht durch reguläre Truppen, sondern durch fanatisierte Bauernhorden überwältigt worden, die, bis Wieliczka vorgedrungen, sich jetzt im Anmarsche auf die Stadt -93- befanden.
Ein Schrei der Rache erhob sich und – verstummte vor der Beredsamkeit eines Mannes, der Schonung des verblendeten und irregeführten Volkes forderte und verlangte, ihm als Bekehrer entgegengesendet zu werden.
Dieser Mann war Eduard Dembowski, und sein Wille geschah.
Vertrauend auf die Gewalt seines Wortes verließ er Krakau, von Priestern im reichen Ornate, von Fahnen und Kreuze tragenden Mönchen begleitet. Eine große Menschenmasse folgte; dreißig Scharfschützen deckten den Zug. Er überschritt die Weichselbrücke und bewegte sich durch die Vorstadt Podgorze auf der Straße nach Wieliczka.
Sie lag still und öde; so weit das Auge reichte, keine Spur von herannahenden Bauernrotten. Von Podgorze aus kam jedoch eine Schreckenskunde, der Nachhut durch eilende Boten zugetragen; sie durchfiel den Zug wie ein Blitz:
Österreichische Truppen marschieren gegen Podgorze.
Ein rascher Befehl seines Führers, und der Zug trat den Rückweg an in der Hoffnung, die Stadt vor den Kaiserlichen erreichen und die Brücke noch gewinnen zu können.
Auf den Anhöhen rechts von Podgorze angelangt, konnte der Sendbote schon den Sturm auf die Stadt und das siegreiche Vordringen der Truppen überblicken.
Die Kaserne war genommen, die Kirche besetzt; die polnischen Schützen, aus den Häusern vertrieben, -94- jagten in ungeordneter Flucht der Brücke zu.
Grimm und Schmerz erfüllten bei diesem Anblick die Seele des Emissärs.
„Vorwärts! Mit Gott vorwärts, wir schlagen uns durch, wir erreichen noch die Brücke. Mut!“ rief er den zögernden Priestern zu. „Ihr habt nichts zu fürchten. Die man zum Sturme zwingt, folgen widerwillig. Es sind Galizier, sie schießen nicht auf ihre Landsleute, schießen nicht auf geweihte Priester!“
Er befahl, ein geistliches Lied anzustimmen, und in majestätischer Ordnung, langsam und feierlich, kam die Prozession die Anhöhe herab. Der Emissär schritt voran im Bauernkleide, sein heller Kaftan schimmerte in der anbrechenden Dämmerung; in der Hand hielt er ein kleines schwarzes Kreuz.
Ungehindert gelangte der Zug durch den noch unbesetzten Stadtteil bis zur Kirche. Hierher aber war schon eine Kompanie vorgedrungen, die den Weg zur Brücke versperrte.
Der Emissär machte halt.
„Seht eure Brüder!“ sprach er die Soldaten an und deutete auf die Scharen, die ihm folgten. „Auch ihr seid Polen. Keinen Kampf, Brüder – gebt Raum!“
Schweigen antwortete ihm. Noch einmal begann er die Soldaten zu beschwören – da ertönte das Kommando:
„Fällt das Bajonett!“
Mit einem Blick der Verzweiflung sah Dembowski sich um.
Die Geistlichen und Mönche waren zurückgewichen. Seine Getreuen jedoch und die Schützen drängten -95- sich um ihn.
„Kein Ausweg ... Schießt – und vorwärts!“ rief er plötzlich mit wilder Entschlossenheit und drang auf die Soldaten ein.
Zwei Dechargen erwiderten den unerwarteten Angriff.
Nach der ersten sah man Dembowski noch aufrecht stehen, das Kreuz hoch über seinem Haupte schwingend. Nach der zweiten sank er, in den Kopf getroffen.
Rosenzweig erfuhr den Tod des Sendboten durch den Kreishauptmann, der seinen Bericht mit den Worten schloß: „So mußte ein Wahnsinniger enden.“
Die Prophezeiung Nathanaels traf ein; der idealste Vertreter der Revolution erfuhr den einstimmigen Tadel und Hohn aller Parteien; sein Andenken erlosch auch bald im Volke.
Seine Leiche war unter denen der in Podgorze Gefallenen nicht aufgefunden worden, und eine Zeit lang erhielt sich das Gerücht, er sei nicht tot, er lebe versteckt als Bauer und werde beim Ausbruch neuer Freiheitskämpfe auf ihrem Schauplatz erscheinen.
Als jedoch die Stürme des Jahres 1848 aufstiegen und verbrausten, ohne ihn aus seiner vermeintlichen Verborgenheit gelockt zu haben, erlosch auch in denen, die sie am längsten genährt hatten, die Hoffnung auf seine Wiederkehr.
Es war zu Ende der fünfziger Jahre, an einem -96- milden Septemberabend, in einem Dorfe unweit der schlesischen Grenze. Vor der Schenke hielt eine gedeckte Britschka, der ein paar tüchtige Braune vorgespannt waren. Behaglich, ohne Eile, wie es guten Fressern geziemt, ließen sie sich den Inhalt einer vor ihnen aufgestellten Futterkrippe schmecken. Der Kutscher, ein ältlicher Mann, so wohlgenährt wie seine Pferde, hatte sich auf die Bank vor dem Hause gesetzt, dampfte aus einer kurzen Pfeife und machte sich ein Vergnügen daraus, die Fragen der hübschen Wirtsmagd mit einer schelmischen Zurückhaltung zu beantworten, die darauf abzielte, ihre durch die Ankunft völlig fremder Gäste ohnehin erregte Neugier noch zu spannen.
„Ihr fahrt wohl recht weit über Land?“ fragte sie.
„Weiter, als du denken kannst,“ erwiderte er.
„Vielleicht gar ins Ungarn hinein?“
„Pah! Das wäre ja nur ein Katzensprung!“
Das Mädchen stemmte den Arm in die Seite und lachte:
„Die möcht ich sehen, die Katz, die so springen könnt!“
„Bei uns zu Haus gibt's ihrer genug. Komm du nur hin, dann wirst sie sehen.“
„Ei, so was!... Aber wo ist denn Euer zu Haus?“
„Wo?“ Er deutete mit der Hand nach drei verschiedenen Richtungen: „Da – und da, und dort.“
„Geh weg, du spaßest.“
„Frag meinen Herrn, wenn du mir nicht glaubst.“
„Ja, just,“ spottete sie, „fragen – so einen Herrn!“
„Fürcht'st dich?“ – er zwinkerte sie verschmitzt -97- an. „Hast es schon weg, daß er ein Hexenmeister ist?“
Sie schlug rasch und verstohlen ein Kreuz:
„So? Das hätt ich ihm nicht angesehen.“
„Ja, ein gar großer Hexenmeister. Macht die Kranken gesund, macht die Toten lebendig.“
„Die Toten?“ ... Das Mädchen schauerte.
„Die Halbtoten also. Zu so einem sind wir g'rad auf dem Weg.“
„Da kommt ihr ja zu spät, wenn ihr noch lang zu fahren habt.“
„Wir kommen nie zu spät. Der Herr sagt nur: Wart! – und der Tod wartet.“
„So? Hat dein Herr auch eine Frau?“
„Eine Frau hat er nicht, aber mehr als hundert Kinder.“
„Was du sagst?“ und wieder lachte sie hellaut auf.
Der Gegenstand dieses Gespräches war ein Greis von kräftiger Gestalt. Er trug eine Reisekappe und einen langen, auf der Brust leicht verschnürten Rock. Den untern Teil des markigen, dunkelfarbigen Gesichtes bedeckte der Bart, der, weiß und dicht wie die Haare, in zwei mächtige Strähne geteilt, fast bis zum Gürtel herabwallte. Der Alte, die Hände auf dem Rücken, stand am jenseitigen Ufer des Teiches, der sich auf eines Steinwurfs Entfernung vom Wirtshaus befand und ein lang gestrecktes Oval bildete, an dessen einem schmalen Ende knorrige, ganz schief gewachsene Weiden ihre Zweige zu seinem trüben Spiegel niedersenkten, während das andre sich sanft gegen die ansteigende Dorfstraße verflachte.
Der Teich war alles in allem: Badeort für die Jugend, Waschanstalt für die Hausfrauen, See für -98- das schwimmtüchtige Geflügel, Schwemme für die Pferde. Am Werktagabend ging es in seiner Umgebung lebendig zu. Große und kleine Knaben, barfüßig, die Hosen übers Knie gezogen, ritten ihre Pferde ins Wasser, bewundert und beneidet von den Kindern, die am Ufer standen oder saßen, die meisten als ziemlich lässige Hüter jüngerer Geschwister. Männer und Weiber kehrten vom Felde heim, und, von weitem schon angekündigt durch die Töne eines schallenden Gesanges, kam eine Mädchenschar, Rechen und Sicheln tragend, ins Dorf gezogen.
Unter den am Teiche spielenden Kindern war eines, das die besondere Aufmerksamkeit des Fremden erregte. Ein Bürschlein von etwa sechs Jahren, mit sehr lieblichem, aber blassem Gesichtchen. Seine schlichten, blonden Haare, im Nacken lang, über der Stirn gerade geschnitten, quollen reich unter dem Mützchen hervor. Er hatte tiefliegende, blaue Augen, eine schmale, leicht gebogene Nase und einen feinen, ausdrucksvollen Mund. Nach der Beschaffenheit seines Kaftans und seiner Stiefel zu schließen, gehörte er wohlhabenden Eltern an.
In der offenen Tür eines der nächstgelegenen Häuser war ein junges, hübsches Weib mit einem Kinde auf dem Arm erschienen und rief dem Knaben zu:
„Jasiu, der Vater kommt.“
Da machte das Bübchen einen Luftsprung und lief von seinen Spielgefährten fort, dem Angekündigten entgegen. Der blieb stehen, beugte sich und lachte, als sein Junge im vollen Lauf an ihn anprallte. Er rückte ihm die verschobene Mütze zurecht, nahm -99- seine Hand und schritt mit ihm weiter.
Es war ergötzlich, sie daher kommen zu sehen, den Bauern und das Bäuerlein, das zweite in Haltung, Gang, Gestalt und Kleidung das verkleinerte Ebenbild des ersten.
Sie näherten sich, und der Fremde bemerkte auf dem Gesicht des Bauern die entstellenden Spuren einer schweren Verwundung. Die rechte Wange war eingefallen und von Narben zerrissen, das rechte Auge geschlossen.
Auch ein Veteran der letzten Kämpfe, dachte der Greis und heftete den Blick immer aufmerksamer auf den Herankommenden. Ein märchenhaft-wunderlicher Einfall durchzuckte ihn. Plötzlich machte er ein paar rasche Schritte, stand dicht vor dem Bauern, starrte ihn an und rief:
„Ist es möglich?“
Überrascht wich jener zurück, aber nur, um schon im nächsten Augenblick auf ihn zuzustürzen.
„Sie! O Gott, Sie – Doktor Rosenzweig!“ sagte er mit einer Stimme, deren Wohllaut unvergessen in der Erinnerung des Alten gelebt hatte. Früher als dieser gewann er seine Fassung wieder: „So habe ich Sie nicht umsonst erwartet, nicht vergeblich gehofft, daß Sie auf einem Ihrer Samariterzüge den Weg durch unser Dorf nehmen würden, um –“ fügte er mit Rücksicht auf das Publikum, das sie umgab, hinzu – „Ihren Diener Hawryl zu besuchen.“
„Hawryl –“ stammelte Rosenzweig, „Hawryl also ... Wie geht's, Hawryl?“
„Überzeugen Sie sich selbst. Erweisen Sie mir -100- die Ehre, in mein Haus einzutreten, ruhen Sie ein wenig aus unter meinem Dache.“
Schweigend, noch ganz betäubt, folgte der Doktor dieser Einladung und ließ sich zu dem Hause geleiten, auf dessen Schwelle die junge Frau stehen geblieben war und sich bemühte, das kräftige Kind in ihren Armen, das dem Vater jauchzend und mit ausgestreckten Händchen entgegenstrebte, festzuhalten.
„Mein liebes Weib, Herr Doktor,“ sprach Hawryl, und zu ihr gewandt: „Heiße ihn willkommen, Magdusia, einen werteren Gast kann uns der Himmel nicht schicken.“
Ihr Gesicht spiegelte die Freude, die sich auf dem ihres Mannes malte, rein und innig wider: „Seien Sie schön gegrüßt, Herr,“ sagte sie und lachte ihn mit ihren großen Augen treuherzig an.
Nathanael war wie im Traum. Erst in der Stube, allein mit Hawryl, begann er sich von seinem Staunen zu erholen:
„Sie leben! – Mensch, Sie leben! Ist das auch wahr, daß Sie leben? Aber wenn es wahr ist, so stehen Sie doch nicht so gleichgültig da –“
„Gleichgültig?“ rief Hawryl.
„So reichen Sie mir doch die Hand!“
Zum zweitenmal hielt er sie in der seinen – eine andre als damals, eine derb gewordene Hand, deren Besitzer den Bauern nicht nur spielte .
Sie nahmen Platz am Tische, der mitten in der freundlichen Stube stand, und lange dauerte es, bevor Hawryl, immer von neuem durch die verwunderten Ausrufungen des Doktors unterbrochen, die seltsame und doch so einfache Geschichte seiner Rettung beenden -101- konnte.
Zunächst schrieb er sie der Kleidung zu, die er trug, als er bei der Kirche in Podgorze verwundet wurde und für tot liegen blieb. Er war, da sich noch Leben in ihm fand, mit andern Landleuten und Soldaten ins Spital nach Krakau gebracht worden. Dort hatte er das Bewußtsein wieder erlangt, bald aber auch die Überzeugung, daß der Arzt, der ihn behandelte, ihn keineswegs für einen Bauern hielt. Später verrieten ihm einige, wie absichtslos hingeworfene Worte des Doktors, daß er von ihm erkannt worden war.
An dem Tage, an dem man ihn für geheilt erklärte, kam der Direktor, ein Pole – man hatte die Spitalsleitung noch nicht gewechselt – in die Rekonvaleszentenstube.
Der Agitator sah diesen Mann damals zum ersten- und letztenmal in seinem Leben.
„Du heißest Hawryl Koska,“ sagte er zu ihm, „bist ein aus dem Königreich zugereister Untertan des Grafen Branski, der dich nach seiner galizischen Herrschaft, auf ein Bauerngut, übersiedelt. So lese ich in deinem Passe. Ist das richtig?“
Und ohne die Antwort abzuwarten, reichte er ihm einen auf den Namen Hawryl Koska lautenden, mit einer auf ihn passenden Personalbeschreibung versehenen Paß, wandte sich an seinen Nachbar und ließ den Umgetauften stehen.
„In der verworrensten Gemütsstimmung, Freund,“ rief Hawryl, „in der ein Mensch sich befinden kann. Ich hatte zuversichtlich erwartet, nach meiner Genesung vor Gericht gebracht und als einer der Unruhstifter erschossen zu werden, und hatte mich -102- auf den Tod vorbereitet, wie ein gläubiger Christ. Und nun sollte ich leben. – Mein erstes Gefühl war das der Enttäuschung, mein erster Gedanke ein Gedanke schon des Hochmuts: Gott spart dich auf. Er will nicht deinen Tod, er will deinen Dienst. Das Werk, das zu beginnen du ausersehen warst, du sollst es auch vollenden.
Von diesem stolzen Glauben erfüllt, trat ich ins Volk und wurde sein Genosse: scheinbar ein Gleicher unter Gleichen, in meinen eigenen, eitlen Augen – ein verkleideter Prophet. O Freund! ein einziges Jahr dieses Lebens, und der vermeinte Prophet war ein demütiger Mensch geworden. Das für erreichbar gehaltene Ziel rückte in unabsehbare Fernen. Zu der Kirche, die ich mit einer herrlichen Kuppel krönen wollte, war der Grundstein noch nicht gelegt, ja, der Boden für ihn noch nicht ausgehoben! Nicht die Arbeit des Künstlers war zu tun, sondern die des bescheidenen Taglöhners.
Das erkannte ich.
Und nun – wäre ich nicht ein elender Wortheld gewesen, wenn ich es verschmäht hätte, mich an dieser Arbeit, dieser allerwichtigsten, zu beteiligen?... So griff ich denn zu Schaufel und Spaten, nicht bloß im bildlichen Sinn. Das Kruzifix, in dessen Zeichen ich dereinst zum Kampfe schritt – da hängt es über dem Bette meiner Kinder. O sehen Sie die ausgebreiteten Arme der Liebe, die verwundete Brust, das geneigte, edelste Haupt ... Wer darf sich vermessen, in dieses Versöhners Namen aufzurufen zu Kampf und Streit?“
Er seufzte, aber sein Angesicht bewahrte den -103- Ausdruck tiefsten, klarsten Friedens, und mit einem heiteren Lächeln fuhr er fort:
„So finden Sie den gefährlichen Agitator wieder. Ach, wenn ich an meinen Ausgang denke, an alles, was ich gehofft, was ich mir zugetraut habe – und jetzt! Vergnügt lege ich mich zur Ruhe und preise den Tag, an dem es mir gelungen ist, den Jan abzuhalten, sein Weib zu prügeln, den Martin, in die Schenke zu gehen, oder den Basil dahin zu bringen, seinen alten Pflug in den Winkel zu werfen und mit dem neuen auf den Acker zu fahren.“
„Ihr Geheimnis aber,“ fragte Nathanael, den Gang des Gespräches unterbrechend, „war das nie in Gefahr, verraten zu werden?“
„Der vorige Gutsherr hat es mit ins Grab genommen. Für seinen Nachfolger bin ich ein Bauer wie ein andrer.“
– „Ein Bauer! Ein Bauer!... Und so wollen Sie es forttreiben bis an Ihr Ende?“
– „Bis an mein Ende, und ich glaube nicht, damit etwas Großes zu tun und ihnen mehr zu geben, als ich von ihnen empfange. Ich bin keineswegs immer ihr Lehrer, sie sind auch die meinen. Ihre Freuden zu teilen, vermag ich nicht, aber in Leid und Schmerz haben wir uns oft gefunden. Ich habe Bauern vor ihrem verhagelten Feld, ich habe Mütter an der Leiche ihrer Kinder stehen gesehen und Ehrfurcht gefühlt. Selten ist mir einer von ihnen verachtungswürdig erschienen, aber hundert unzählige Male beklagenswert.“
In seinem Auge leuchtete die alte schwärmerische Glut, seine gebräunten Wangen erbleichten vor -104- innerer Bewegung:
„Es ist ein Schatz an Geduld, Ausdauer, heldenmütiger Ergebung in einen höheren Willen in diesem Volke, den alle Mißhandlung, die es erfahren hat, nicht zu erschöpfen vermochte. Aber seines Reichtums unbewußt, streut es ihn aus und erwirbt nichts dazu. Die Einsicht fehlt und mit ihr das Wirken der tätigen, sittlichen Kräfte. Genug! Genug! das alles wissen Sie so gut wie ich, und somit auch, daß es vieles nicht geringe zu tun gibt auf meinem geringen Posten. Ihn auszufüllen, reicht mein Können gerade hin. Hawryl Koska wird nicht umsonst gelebt haben. – Der Sendbote ist gestorben, ohne einen Jünger zu hinterlassen.“
„Einen doch!“ rief Nathanael. „Einen, den Sie aus den Reihen Ihrer eifrigsten Gegner geholt haben. Einen Mann, dessen Zwecke irdischer Natur gewesen sind, dessen Herz an verlierbaren Gütern gehangen hat und den Sie den Wert der unverlierbaren kennen gelehrt haben. Sendbote! da steht er vor Ihnen, Ihr Jünger in weißen Haaren.“
Beide waren zugleich aufgesprungen, stürzten einander an die Brust und hielten sich fest umschlungen.
[1] Großmütterchen.
[2] Andersgläubiger.
[3] Esel.
[4] Lieber Herr!
[5] Mein Seelchen.
[6] Ein Riese.
Graf Edmund N. an seine Hochwürden Herrn Professor Erhard.
Paris, den 10. Mai 1875.
Mein verehrter Freund!
Da bin ich, aus Marseille eingetroffen, vor vierzehn Tagen, die mir vergangen sind wie vierzehn Stunden.
Es ist unmöglich, liebenswürdiger empfangen zu werden, als ich es wurde von Freunden und Verwandten. Freilich begegnet man auch nicht alle Tage einem Manne, der direkt von den Antipoden kommt, mit Menschenfressern zu Mittag gespeist, am Salzsee gewohnt, den schwarzen Turban der Kopten getragen, den Schrei auf Ceylon gehört und bei indischen Schlangenbändigern in die Lehre gegangen ist.
Tante Brigitte grüßt Dich. Sie hat sich kürzlich frisch emaillieren und perückieren lassen, und jetzt machen wir gegenseitig Staat miteinander. Von einer Veränderung an ihr keine Spur. Sie sagt noch immer bei den unpassenden Gelegenheiten: Ah, je comprends ça ! Sie spricht noch immer mit derselben Schwärmerei von meiner verstorbenen Mutter: ihrem Kinde mehr als ihrer Schwester, und bricht plötzlich ab mitten in der tiefsten Rührung, wischt sich die Augen, winkt mit dem Taschentuche und -108- seufzt: „ Va, mon enfant, va te distraire. “
Lieber Freund, ich bilde mir ein, daß auch sie vor Zeiten nicht verschmäht hat, kleine Zerstreuungen zu suchen in ihrem Schmerze, erst um die Schwester, dann um den Gatten. Heil ihr! möge noch so mancher Frühling frisch gemalte Rosen auf ihren Wangen erblühen sehen. Sie ist die gutmütigste Egoistin, die ich kenne.
Ganz in Übereinstimmung mit Dir, will sie mich jetzt verheiraten, und gegen die junge Dame, die sie mir ausgesucht hat, ist nichts einzuwenden. Sie stammt aus gutem Hause, von braven Eltern, ist verteufelt hübsch, hat einen klaren, schlagfertigen Verstand, eigenes Urteil, den Mut es auszusprechen und – was unendlich mehr: die Fähigkeit, auch ein gegenteiliges anzuhören und sogar gelten zu lassen. Dabei gleichmäßig heiter, harmlos, unbefangen. Ich glaube, daß sie noch nie vor einem Menschen die Augen niedergeschlagen hat; und es wäre schade wahrlich, denn sie sind prachtvoll; dunkelgrau wie ein Gewitterhimmel, und wenn es in ihnen aufblitzt bei irgend einem Anlaß, da gibt's einen schönen Anblick.
Ich hoffe, du bestätigst mir heute oder morgen den Empfang meiner Sendung aus Marseille. Kurz vor dem Einlaufen in den Hafen, an Bord des „Triomphant“, schrieb ich die Schlußworte des letzten Kapitels meines Reisetagebuchs. Streiche fort, was Dir sentimental vorkommt, ehe Du abschreiben lässest. Nach zweijährigem Herumbummeln in fremden Weltteilen hat mich die Heimkehr ins alte Europa seltsam bewegt. Plötzlich ist alles vor mir gestanden, -109- was zu vergessen ich auf und davon gegangen ...
Aber – sei unbesorgt, es war nur eine flüchtige Erinnerung. In die Tiefen des Ozeans versenkt, in den Sand der Wüste vergraben, in die Lüfte gestreut habe ich die Leidenschaft meiner Jugend.
Und jetzt will ich glücklich und tätig sein, ein Landwirt werden, ein Familienvater, ein Bürgermeister, alles, alles – nur nicht Politiker.
Vorher indessen noch eine Zeitlang: cum dignitate otium . Es ist ein gewaltiger Strom des Lebens, der hier an einem vorüberbraust, und mit gekreuzten Armen seinem Treiben zuzusehen, hat einen großen Reiz.
Jedenfalls, Lieber, Verehrter, dürfte der Aufenthalt in Paris mir jetzt gesünder sein als vor zehn Jahren, da ich, ein laubfroschfarbiger Jüngling, in dieser Stadt der Arbeit und des Genusses erschien. Damals an Deiner Hand, mein Mentor, oder vielmehr in Deiner Hand, das reine Postpaket, aufgegeben von meinem armen, weltentfremdeten Vater in Korin an der Wottawa, abzugeben in Paris, Rue St. Dominique im Hotel der Tante. Sie hatte mich reklamiert, und Ihr liefertet mich aus für ein Jahr, in dem es mir oblag, tanzen und fechten zu lernen und mich in der Aussprache des Französischen zu vervollkommnen.
O, Ihr alten, unschuldigen Kinder!
Wir haben leicht lachen heute, aber einen zwanzig-jährigen, in einem Privat-Trappisten-Kloster zwischen zwei greisen Gelehrten erzogenen Menschen nach Paris schicken, zu einer langmütigen Tante, die den Bengel vergöttert – das war ein Wagnis, das ich nicht -110- unternehmen werde mit meinen Söhnen.
Ei, wenn er nur welche hätte! denkst Du im stillen. Nun, Freund, vielleicht ist heute übers Jahr schon einer auf dem Wege. Sobald er sein erstes Lustrum erreicht haben wird, kommt er zu Dir in die Lehre. Du lässest einen kleinen Pfahlbau für ihn im Teiche errichten, und er stellt mit seinen Bausteinen keltische Monumente auf und getreuliche Nachbildungen der Stufenpyramiden auf Otaheiti. Alle Kinder, die überhaupt Bausteine besitzen, tun das unbewußt, die meinen werden es mit Bewußtsein tun.
Und nun für heute lebe wohl!
Dein Edmund.
Professor Erhard an den Grafen Edmund N.
Korin, den 15. Mai 1875.
Hochgeborener Herr Graf!
Mein lieber Mundi!
Ballen und Kisten glücklich einpassiert. Ei, wie köstlich! Gratuliere vornehmlich zur Erwerbung des Papyrus. Da ist Arbeit für viele Jahre in Aussicht gestellt. Möge Dein gehorsamster Diener sie zu Ende führen können. Dazu jedoch möchte die Zeit nicht langen, und wenn sein guter, gnädiger Gott ihn auch das Alter Methusalems erzielen ließe.
Daß Dein edler Vater noch lebte, sich der altägyptischen Statuette zu erfreuen, und der trefflichen Produkte textiler Kunst aus dem einstigen Reiche der Sikhs! Lieber Mundi, mein teurer Graf, Du hast im größten wie im kleinsten bei der Auswahl der von Dir nach Hause geschickten, vielfach unschätzbaren -111- Gegenstände Dich in einem hohen Grade umsichtig und weise erwiesen. So bist und warst Du von jeher, und ich würde mich sehr besinnen, Deiner Behauptung zuzustimmen, daß Dein hochseliger Vater und meine Wenigkeit sich in ein Wagnis eingelassen, als wir dich vor zehn Jahren für reif erklärten zu einem Aufenthalt im modernen Babel. Wir wußten, was wir taten, und durften es – wie Figura zeigt – wohl tun.
Dein Reisetagebuch wird bestens abgeschrieben werden; doch darf ich leider nicht zur Indrucklegung raten, ein Vorschlag, mit dem ich Dich zu überraschen gedachte; es fehlt gar zu oft der nötige Zusammenhang. Die sentimental-feurige Apostrophe an die südliche Küste Frankreichs ist eine Zierde des Manuskriptes, und ich müßte lügen, wenn ich behauptete, daß sie mich, wenn auch nur gelinde, erschreckt hat. Was Du so schwungvoll die Leidenschaft Deiner Jugend nennst (ein hübscher Ausdruck und mir durchaus neu) dürfte derzeit wohl zur Gänze erloschen sein und Dein guter Verstand eingesehen haben, daß auf Erwiderung niemals zu hoffen, ja, daß eine solche niemals zu wünschen war. Eine vermählte, eine edle, heilig-zarte Frau, und zugleich die Deines besten Freundes, der Dich liebt, wie wenn Du der Sohn wärest, den er, leider vergeblich, ersehnt – das müßte ein andrer als mein Mundi sein, der sich da mit unerlaubten Gedanken trüge oder getragen hätte; denn wenn sich ja dereinst etwas Ähnliches in seiner schönen Seele begeben hat, liegt es derselben heute ferner als uns die Sintflut.
Glück und Segen und des Himmels auserlesenste -112- Gunst über Dich! Ich bitte um Mitteilung des werten Namens derjenigen, die, Gott gebe es! bald den teuren Deinen tragen wird. Wolle mich, wenn Du das Haus ihrer hochschätzbaren Eltern besuchst, dort allerseits des Angelegentlichsten empfehlen.
In treuer Wertschätzung, Liebe, Ergebenheit
Dein alter Lehrer P. Erhard.
PS. In Deiner Wirtschaft herrscht beste Ordnung, in Deinem Schlosse beginnt sie schon das Szepter zu schwingen. Auf Schritt und Tritt begegnet dem Wissenden Genuß, dem Schüler Belehrung. Der Boden der Halle mit Ausgrabungen bedeckt, darf ohne Ruhmredigkeit verglichen werden mit einem klassischen Trümmerfeld. Aus bereits eingetretenem Mangel an Raum waren wir genötigt, die holdig-schönen von ungemeinem antiquarischen Reiz umflossenen Mumien in Deinem Schlafgemache unterzubringen.
Graf Edmund N. an Professor Erhard.
Paris, den 22. Mai 1875.
Lieber Professor, bester Freund!
Allzubreit darf das Altertum sich in meinem Hause doch nicht machen, wer weiß, ob wir nicht, in erwartbarer Zeit, darin Platz brauchen für eine junge Frau. Die Mumien lasse, wenn's nicht anders geht, in den Keller schaffen. Es gehört zu meinen Marotten, daß ich lieber in meinem Bette schlafe als im Sarge einer Pharaonentochter.
Um die Erlaubnis, das Elternhaus Madeleines – so heißt nämlich die halb und halb Erwählte – besuchen -113- zu dürfen, habe ich noch nicht gebeten, mich noch nicht entschlossen zu dem entscheidenden Schritt. Keineswegs aus Angst vor einem Korbe. Madeleine hat für mich „ de l'amitié “ – nicht zu übersetzen mit unserm deutschen „Freundschaft“; es heißt weniger und mehr und jedenfalls etwas ganz andres. Die Mutter ist mir wohlgesinnt, und geradezu geliebt werde ich vom Vater. Der würde Dir gefallen, den würdest Du zu erwerben suchen – für unsre Sammlung. Denke Dir das schönste Exemplar einer Rasse, die wir für ausgestorben hielten, einen „ chasseur du roi “, wie ihn die Bretagne um 1794 nicht charakteristischer aufgestellt: Untersetzt, breitnackig, breitgestirnt, mit funkelnden Falkenaugen, kurzer Nase, runden Nüstern, Mund und Kinn wie, ziemlich grob, aus Stein gemeißelt. Ich wette, er schwört noch bei der heiligen Jungfrau von Auray und trägt unter dem Hemde mehr Amulette als Ludwig XI. In seinen Augen ist jedes Mißgeschick, von dem Frankreich seit dem Zusammentreten der Nationalversammlung betroffen wurde, eine Sühne für die Zertrümmerung des Königtums. Mit dem letzten Kriege ließ Gott die schwerste Geißel über das abtrünnige Reich des Heiligen Ludwig niedersausen. Die Deutschen sind ihm nur Werkzeuge der Rache des Allgerechten, und als solche dürfte er sie eigentlich nicht hassen, aber er haßt sie doch und ingrimmig. Mich, als den Sohn eines „Tschèche“ und einer Französin, hält er für einen geborenen Widersacher seiner Feinde und zieht in meiner Gegenwart mit besonderem Schwung gegen sie los.
Da habe ich denn schon oft bemerkt, wie peinlich -114- solche Ausbrüche des Zornes gegen uns – welch ein Schnitzer! ich sage uns , ich „Tschèche“, – auf Madeleine wirken.
Sie schweigt zwar, aber sie kämpft entschieden mit innerster Empörung; wechselt die Farbe, und gestern sah ich, wie ihre schönen Hände, die einen so ausgesprochen festen und braven Charakter haben, krampfhaft zitterten auf ihrem Schoße.
Vielleicht ahnt sie etwas von meiner wahren Gesinnung, dachte ich, und fürchtet, ich könnte mich durch die Ausfälle ihres Vaters verletzt fühlen. In der Absicht, sie darüber zu beruhigen, sagte ich ihr, daß ich Kosmopolit bin aus ganzem Herzen. Ich wiederholte, was ich so oft von Dir gehört, und was sich mir überzeugend eingeprägt hat: daß unsre Nation nur unsre erweiterte Familie ist, und daß der rechte und gute Mensch seine Familie nicht auf Kosten andrer liebt, lobt und fördert. Indessen vermöge ich doch, mich in die Empfindungen eines, in seinem Stolze gekränkten Patrioten hineinzudenken, und sie, trotz ihrer Verschiedenheit von den meinen, zu ehren.
Sie hörte mich aufmerksam an und nickte zustimmend, freilich auch etwas spöttisch, und lächelte, wie sie pflegt, wenn ich ihr gegenüber einmal einen warmen, vertrauensvollen Ton anschlage ... Es ist eine ungute Art zu lächeln, die mich aus der Fassung bringt, mich immer unvorbereitet findet und peinlich überrascht.
Das war anders dereinst! Elsbeth konnte mich nie überraschen; sie konnte mich nur stets von neuem in der hohen Meinung, die ich von ihr hatte, bestärken. -115- Bei zahlreichen Gelegenheiten fragte ich mich: was würde jetzt das Prototyp dieser Frau tun? dachte mir das Schönste und Schwerste aus – und das war dann, was sie tat, so natürlich und einfach, wie wenn es das Selbstverständliche wäre.
Ja, diese Frau! Ich habe dem Geschick für vieles zu danken, für nichts aber so heiß, als daß ich drei Jahre in ihrer Nähe leben und mit ihr verkehren durfte, fast wie ein Hausgenosse. Ohne sie wäre ich untergegangen, war auf dem besten Wege ... Sehr unrecht hast Du, es zu bezweifeln! Erinnere Dich, wie ich Euch heimkehrte, nach jenem ersten lehrreichen Aufenthalt in Paris. Ich sehe noch den Ausdruck des Schreckens im Angesicht meines armen, damals schon todkranken Vaters bei unserm ersten Tischgespräche, da ich meine neuerworbenen Ansichten vom Leben auskramte, mit meinen Erfahrungen prahlte und mich erhaben dünkte über Euch, wie ein aus dem Kriege kommender Soldat über ein paar alte Ofenhocker.
Und später – das Eis war gebrochen, es hatte schon begonnen zu tauen in meiner erwachenden Seele ... weißt Du noch? – lag ich auf den Knien vor dem Sterbenden, und er segnete mich und sprach leise mit seinem allgütigen Lächeln: „Verliebe Dich, mein Sohn.“
Wahrlich, ein väterlicher Rat ist nie treuer befolgt worden. Ich habe geliebt, wie man nicht mehr liebt im neunzehnten Jahrhundert, und wie vielleicht auch in den vorigen Jahrhunderten nur wenig Frauen geliebt worden sind.
Die Frau Deines väterlichen Freundes, sagst -116- Du vorwurfsvoll. – Aber dieses Bewußtsein verschärfte nur die Qual und änderte nichts an der Empfindung.
Niemand vermag mir den Glauben zu nehmen, daß sie für mich, und daß ich für sie geboren war, daß wir Eins gewesen sein mußten in einem früheren Leben und nun zueinander strebten mit derselben Urgewalt, wie die Fluten des durch Klippen getrennten Bergstroms, der zu Tale stürzt.
Und dennoch, so zuversichtlich ich hoffte, daß jede sehnsüchtige Empfindung meiner Seele einen Widerhall in der ihren fände, so fest war meine Überzeugung, daß Elsbeth lieber sterben würde und lieber mich sterben ließe, als ein Unrecht tun. Ich aber hatte Augenblicke – Dir, alter Mensch, darf ich's sagen, unsre Schuljungen würden mich verhöhnen – in denen alle meine Wünsche schwiegen vor dem einen, ihrer würdig, ihr Freund, ihr geistiger Genosse zu bleiben. Die ich wie eine Göttin verehrte, sollte nicht niedersteigen, um in meinen Armen eine Erdenfrau zu werden. Aber diese Augenblicke wurden immer seltener, die Selbstbeherrschung wurde mir immer schwerer, um so mehr, als Elsbeth ihr Benehmen änderte, ihre Unbefangenheit zu verlieren, jedes Alleinsein mit mir ängstlich zu vermeiden schien —
Unwandelbar derselbe blieb nur Er, der Lustspielgatte, der arglose, alberne – anbetungswürdige. Er hielt mich mit Gewalt fest, wenn ich fort wollte, er plagte mich, um mir mein kroatisches Gut zu erhalten, das ihm das seine so schön arrondiert hätte, und das schon zu Zeiten meines Vaters losgeschlagen werden sollte, weil wir Geld brauchten für die arg -117- zurückgegangene Wirtschaft in Korin.
Aber er weigerte sich zu kaufen. Im Anfang zögernd, dann immer entschiedener. – „Es ist halt schwer, es ist halt schwer. Mir würde der Krempel passen. Du gehst mathematisch darauf zu Grund. Kennst Dich ja bei uns gar nicht aus.“
„So kaufe! kaufe! zahle, was du recht findest.“
„Was ich recht fände, kann ich nicht zahlen, und weniger mag ich nicht zahlen; ich mache keinen Handel mit einem Menschen, der wie Du in Geschäften ein Mondkalb ist. Das darf nicht sein. Was meinst, Elsbeth?“
Sie lachte. Es gibt nichts, das lieblicher wäre als ihr Lachen. Um so lachen zu können, muß man eine großartige und milde Seele haben. Gar wenige Frauen lachen schön. „Was soll ich nur antworten, ohne entweder unhöflich oder gewissenlos zu sein?“ fragte sie, und er schmunzelte und begann seinen graublonden Knebelbart um den Zeigefinger zu wickeln: „Ja, wenn ich Kinder hätte, Gott weiß, welcher Schandtat ich fähig wäre, – aber so!“
Und später hieß es dann: „Weil ich keine Kinder habe und mathematisch keine bekommen werde, will ich Deine lang vernachlässigten Interessen vertreten, Du Junge Du, wie wenn es die meiner Kinder wären.“
Nein, einen solchen Mann betrügt man nicht: „Das darf nicht sein,“ wie er sagt.
Aber so schwer als möglich hat er mir's gemacht, ein ehrlicher Kerl zu bleiben. Ich mußte am Ende heraus mit einem halben Geständnis. Da murmelte er etwas von Unsinn und wurde ein wenig -118- rot. „Du weißt nicht mehr, was Du erfinden sollst, damit man Dich nur fortläßt,“ sagte er und – ließ mich ziehen.
Kommst halt wieder, wenn Du mathematisch sicher bist: ich darf mit gutem Gewissen!
Und ich darf! Ich werde mit meiner jungen Frau den ersten Winter in meinem, durch den fürsorgenden Freund bewohnbar gemachten Hause in der Nähe von Fiume verleben, gut nachbarlich mit Elsbeth und mit meinem lieben alten Hans.
Seit drei Tagen schreibe ich an diesem Brief. Nun soll er endlich abgeschickt werden. Wir reisen morgen auf das Land.
Die Tante hat ihre Einladungen gemacht; unter den ersten Aufgeforderten waren die Eltern Madeleines samt Tochter.
Die letztere und ich hatten eben vom Ende der Saison gesprochen, vom nahen Scheiden, als die Tante herantrat mit der Kunde, daß uns ein baldiges Wiedersehen bevorstehe.
Da bereitete mir Madeleine wieder eine Überraschung – ein heller Freudenglanz überflog ihr Gesicht, leuchtete aus ihren Augen.
Dieses plötzliche Aufflammen war wirklich eigentümlich. Ich glaube, sie hat mehr „ amitié “ für mich, als sich einbildete
Dein treuer Schüler.
Wenn die Eifersucht der Mumien es erlaubt, so schreibe mir doch einmal wieder und adressiere: Les Ormeaux, Département Meurthe et Moselle, près Cirey les fosses . Wie nahe der jetzt deutschen Grenze!
Graf Edmund N. an Professor Erhard. -119-
Les Ormeaux, den 2. Juni 1875.
Teurer Freund, lieber Professor!
Gestern hatte die Tante den Besuch einer merkwürdigen Frau.
Ich will sie Irina nennen.
Vor Jahren in Wien lernte ich sie kennen. Sie war reizend und sehr gefeiert. Ihr Mann, ein widerwärtiger Gesell, ein Streber, hatte sie aus Ehrgeiz geheiratet; sie galt, als „Adoptivtochter“ eines hohen Würdenträgers, für einflußreich. Der Gatte ließ ihr volle Freiheit. Welchen Gebrauch sie in Petersburg davon gemacht, weiß ich nicht; in Wien bestand ihr Hauptvergnügen darin, die Herzen ihrer zahlreichen Anbeter an langsamem Feuer zu braten. Wie niemand verstand sie sich auf die Kunst, nichts zu versprechen und – alles hoffen zu lassen. An mir ging sie gerade so lange gleichgültig vorbei, als sie meine Gleichgültigkeit nicht bemerkte. Dann begann der Kampf. Meine Seele lag in Elsbeths Banne. Ich konnte mir jederzeit ihr Bild so deutlich heraufbeschwören, daß ich sie sah wie mit körperlichen Augen, – aber kennst Du den Mann, der einer hübschen Frau gegenüber, die sich ihm an den Kopf wirft, den Spröden spielt? – Ich hatte nur den Abhub der Liebe zu vergeben, Irina begnügte sich damit, sie triumphierte. Der Rausch war kurz, aber noch vor der völligen Ernüchterung trennten uns die Verhältnisse.
Zwei ihrer Briefe beantwortete ich, den dritten -120- und vierten nicht mehr.
Und jetzt sehe ich sie wieder; etwas gealtert, aber noch immer verlockend, und, wie ich höre, noch immer sehr umworben. Eine gefährliche Frau; besonders für junge Leute, die die Kinderschuhe eben ausgetreten haben, oder für die alten, die eben im Begriffe sind, wieder hinein zu schlüpfen.
Bei Tische schenkte sie mir keine Aufmerksamkeit; als ich aber nachmittags in den Garten ging, um im Freien meine Zigarre zu rauchen (aus dem Hause der Tante ist der Tabak verbannt), kam sie mir nach, eine Zigarette dampfend. Wir wandelten eine Weile am Ufer des Teiches nebeneinander und führten ein unbedeutendes Gespräch. Plötzlich blieb sie stehen, sah mich fest an und sagte in ihrer nachlässigen und sanften Weise: „Unter anderm, warum haben Sie meine letzten Briefe nicht beantwortet?“
Ich war auf diese Frage gefaßt und erwiderte ohne Zögern: „Weil ich wußte, daß Sie mir einst danken würden für diese weise Zurückhaltung.“
„Wirklich? Mir ist das nicht ausgemacht.“
„Mir hingegen mit einer Gewißheit, so groß, daß sie auslangt für uns beide.“
Wir setzten unsre Wanderung wieder fort; die Luft war drückend schwül, hinter den Hügeln an der deutschen Grenze stiegen schwere Gewitterwolken auf.
Irina zog mit einem tiefen Atemzuge den Rauch ihrer Zigarette ein und ließ ihn, langsam genießend, wieder herausqualmen zwischen den leicht geöffneten Lippen. – „Wenn ich nicht irre, trug ich Ihnen an, mich scheiden und mich mit Ihnen trauen zu lassen -121- in irgendeinem siebenbürgischen Gretna Green.“
„Etwas dergleichen ... Denken Sie, wenn ich selbstsüchtig genug gewesen wäre, Sie beim Wort zu nehmen?“
„Nun?“
„Sie hätten auf alles verzichten müssen: Ihre Stellung in der Welt, Ihren Einfluß, die Liebe der Ihren, Ihr abwechslungsreiches Leben ...“
„Und die Folge dieser Entbehrungen?“
„Daß Sie sich unglücklich gefühlt hätten.“
„Was weiter? Wer sagt Ihnen, daß Durst nach Glück mich veranlaßt hat, Ihnen den Vorschlag zu machen, der so wenig Anwert bei Ihnen fand? Es war Durst nach dem Gegenteil, nach Leid, nach Schmerz, mit einem Worte – nach Liebe.“
Ich muß sie sehr zweifelnd angesehen haben, denn sie beeilte sich, zu bekräftigen – „Liebe, ja, ja. Schade, daß ich sie nur zu empfinden und nicht einzuflößen verstand. Wir wären miteinander durchgegangen, und Sie hätten mich unglücklich gemacht, und das wäre wundervoll gewesen – unglücklich durch einen Menschen, den man liebt. Die Hand, die mich schlägt, ich küsse sie. Quäle, mißhandle mich, so viel es Dich freut, mit meiner Liebe wirst Du doch nicht fertig, diesen Reichtum erschöpfst Du nicht ... Und den in sich zu fühlen, den göttlichen Lebensquell ... was ist all das kleine Glück, das sich uns im Leben bietet, gegen ein solches Unglück?“
Sie verlangsamte ein wenig ihren noch sehr jugendlichen und hübschen Gang; ihre ganze Art und Weise blieb ruhig, ja gleichgültig, und dieser Gegensatz zwischen ihren Worten und ihrem Benehmen hatte -122- einen eigentümlichen Reiz.
Wir nahmen Platz auf einer Gartenbank; der Himmel verfinsterte sich mehr und mehr, es herrschte ein malerisches Halbdunkel unter den Bäumen, das äußerst vorteilhaft war für Irinas farblosen, durchsichtigen Teint. Ihr feines Gesicht mit den großen grauen Augen, die zarte Gestalt im duftigen Spitzenkleide gewannen in der schmeichelnden Beleuchtung etwas Poetisches, Elfenhaftes.
„Das Glück,“ sagte ich, „mit dem Sie sich in Ermangelung des erwünschten Gegenteils begnügen mußten, hat doch auch sein Gutes, es hat Sie jung erhalten und schön.“
„Und leichtsinnig,“ setzte sie hinzu, in nur allzu überzeugtem Tone. „Wir Frauen haben einmal im Leben nichts als die Liebe, und wenn wir mit der unsern nicht an den Rechten gekommen sind, dann heißt es eben – tröste Dich, wie du kannst!... Man sucht, man findet ... das wohlbekannte Surrogat: Zerstreuung – ohne Liebe ... Sie aber“ – der wehmütige Ausdruck, den ihre Züge angenommen hatten, verwandelte sich in einen übermütig schalkhaften – „Sie werden Liebe haben – ohne Zerstreuung.“
Ich verstand sie nicht gleich und brachte ein albernes „Wieso?“ vor, dessen ich mich zur Stunde noch schäme.
Der Donner grollte, einige Regentropfen fielen, sie achtete ihrer nicht, schalt mich einen Geheimniskrämer, den sie jedoch durchschaue, und gratulierte mir zu meiner bevorstehenden Heirat. Als echter Deutscher (ihr bin ich ein Deutscher) hätte ich klug -123- und praktisch gewählt. – Das Erbfräulein ist hübsch, wohlerzogen, hat einen vortrefflichen Charakter. „Kann man mehr verlangen?“ fragte sie. „Sie treffen es gut – beinahe so gut wie – Ihre Braut. Und somit gebe ich Ihnen meinen Segen.“
Sie erhob sich rasch und streifte meine Stirn mit flüchtigem Kusse. Ich wollte sie an mich ziehen, doch entwand sie sich mir und sprach: „O nein ... Aus, aus!... Ob die Liebe gar nicht kommt, ob zur unrechten Zeit, ist eins und dasselbe ... wir sind geschiedene Leute. – Wenn unsre Wege sich nicht mehr kreuzen sollten, Sie nur noch von mir hören, und nicht immer das Beste, dann gesellen Sie sich nicht zu denen, die einen Stein auf mich werfen. Sie haben kein Recht dazu,“ schloß sie sanft.
Ich war ergriffen und gerührt. Es ist nicht heiter, wenn jemand, mit dem wir glaubten, längst abgerechnet zu haben, vor uns hintritt und uns beweist, daß wir tief in seiner Schuld stehen.
Etwas dergleichen sagte ich auch, ohne damit einen besonderen Eindruck zu machen.
Die schwarzen Wolken am Himmel platzten und sandten einen Guß nieder wie aus hunderttausend Traufen. Irina, leicht aufatmend, bot dem strömenden Regen ihr unbedecktes Haupt und schlug ohne die geringste Eile den Heimweg ein.
Zur Albernheit verurteilt an diesem Nachmittag, wußte ich nichts andres zu sagen als: „Ihr schönes Kleid wird ganz verdorben.“
„Durch Ihre Schuld!“ erwiderte sie mit scherzender Anklage. „Warum mahnten Sie nicht früher zum Aufbruch ... Jetzt haben Sie auch mein Kleid auf -124- dem Gewissen.“
Triefend kamen wir nach Hause. Irina ging, sich umkleiden zu lassen, und betrat eine halbe Stunde später im Reiseanzug den Salon. Die Tante beschwor sie zu bleiben, wenigstens morgen noch, vergeblich, sie ließ sich nicht erbitten.
Wir begleiteten sie zur Bahn, im offenen Wagen. Das Gewitter hatte sich völlig verzogen, der Sommerabend war mild und hell, ein kräftiger Erdgeruch wallte aus den feuchten Feldern und Wiesen zu uns herauf. Ich saß Irina gegenüber; sie lächelte mir zu und machte sich lustig über die Melancholie, in die mich, wie sie behauptete, ihre Abreise versetzte.
Auf der Station warteten einige Bauern, der Zug war schon signalisiert; Irinas Leute hatten kaum Zeit, die Bagage aufzugeben und Billetts zu lösen, da brauste er heran.
Aus dem Fenster eines Coupés erster Klasse beugte sich ein junger Mensch weit heraus, ein langer, hübscher, blasser Bursche, mit keimendem Schnurr- und Backenbärtchen. Als er Irina erblickte, stieg eine dunkle Röte ihm in die Wangen, die aufrichtigste Seligkeit funkelte aus seinen unverwandt auf sie gerichteten Augen. Hastig winkte er den Schaffner herbei.
„Ach, mein Neffe Wladimir, welcher Zufall!“ sagte Irina mit förmlich herausfordernder Unbefangenheit und nahm Abschied. Ich führte sie zum Waggon, dessen Tür bereits offen stand. Der Jüngling hatte das Handgepäck, das der Kammerdiener hineinreichte, in Empfang genommen, stand da und hielt selbstvergessen die Reisetasche Irinas -125- mit leidenschaftlicher Innigkeit an seine Brust gepreßt. Ich half der schönen Frau einsteigen. Der Duft frischer Blumen strömte uns aus dem Wagen entgegen; in den Netzen hingen, auf den Sitzen lagen die schönsten Teerosensträuße. – Ich hörte Irina noch sagen: „ Quelle folie! “ Dann flog die Tür zu, die Lokomotive pfiff und pustete, die Räder setzten sich in Bewegung, ein letzter Gruß, ein Taschentuch, das man flattern sieht an einem Fenster und – alles vorüber.
Die Tante und ich fuhren nach Hause. Sie war außerordentlich aufgeräumt. Durch alle ihre Kosmetikes hindurch schimmerte der Glanz stiller Heiterkeit. In einem alten Renner, vor dessen Augen ein andres Pferd durchgeht, mögen sich ähnliche Erinnerungen regen, wie die ihren waren in diesem Augenblicke.
Ganz gegen ihre Gewohnheit, denn sie gehört zu den harmlosesten Geschöpfen, die ich kenne, bemerkte sie nach einer kleinen Pause, während der wir uns unsren Betrachtungen überlassen hatten:
„Früher waren es Cousins, jetzt sind es Neffen. Ich weiß nicht, ob das ein Fortschritt oder ein Rückschritt ist.“
„ Mais “, setzte sie seufzend hinzu, und ihre Stirn würde sich in nachdenkliche Falten gelegt haben, wenn die Crême de Lys à la Ninon eine solche Hautgymnastik erlaubt hätte – „ mais je comprends ça! “
Dein Edmund.
Graf Edmund N. an Professor Erhard. -126-
Les Ormeaux, den 25. Juni 1875.
Lieber verehrter Freund!
Bereite Dich auf eine Überraschung vor. Unsre Pläne sind umgestoßen. Ich schrieb Dir gestern in verdrießlicher Laune. Dank der Nachlässigkeit meines Dieners blieb der Brief liegen. Heute zerreiße ich ihn, schreibe einen neuen und hoffe, wenn diese Zeilen in Deine Hände kommen, bin ich ganz versöhnt mit meinem Lose und habe eingesehen, „daß alles Segen war.“
Was sich begeben hat, ist folgendes:
Neulich am Abend waren wir alle auf dem Balkon. Eine Dame aus der Nachbarschaft, die sich für eine Naturfreundin hält, hatte uns dahin beordert, um den Aufgang des Mondes zu bewundern. Sie quittierte die Oh und Ah, die ausgestoßen wurden, und machte die Honneurs des schönen Schauspiels, als ob sie es erfunden hätte. Es verdroß sie, daß Madeleine sich schweigend verhielt. – „Die jetzige Jugend lobt nichts,“ meinte sie, „nicht einmal den lieben Gott in seinen Werken. Ein Anblick wie dieser läßt Euch kühl. Nicht wahr, liebe Kleine?“
Die „Kleine“, von der die dicke Naturschwärmerin um einen halben Kopf überragt wird, sah zu ihr nieder und erwiderte rasch und lebhaft: „Sie tun mir unrecht, niemand schätzt den Mond mehr als ich, diesen liebenswürdigen Alten, dessen Glanz schon längst erloschen ist, der sich aber in Ermangelung eigenen Lichtes zum Spiegel fremden Lichtes macht -127- und uns so hold die Nacht erhellt. Ich will mir sogar ein Beispiel an ihm nehmen und bei fremdem Glücke borgen, was man so braucht, um den Schein der Heiterkeit zu haben und zu verbreiten.“
„Welche Resignation!“ rief ich aus.
„Eine sehr bedingte, wohl gemerkt,“ erwiderte sie. „Mit dem Scheine begnügt ein braves Herz sich erst, wenn das Wesen ihm unerreichbar bleibt ... Ja, wenn die Wahl frei stände ...“ sie hielt inne. Es war wieder das Aufblitzen in ihrem Gesichte, das Leuchten der Augen, das übermütig schalkhafte Lächeln. –
Plötzlich warf sie einen Blick voll Entschlossenheit auf eine junge Frau hinüber, die ich längst im Verdachte hatte, die Vertraute aller ihrer Mädchengeheimnisse zu sein, und fuhr fort: „Zum Beispiel Sie, meine Damen, wenn Sie sich statt dieses Anblicks,“ den Arm ausstreckend, deutete sie nach dem Horizont, „den eines Sonnen aufganges gönnen wollten, was so leicht geschehen kann, und – ich wette, noch nicht geschehen ist.“
Einige widersprachen, ein kurzer Streit entspann sich. Am Ende beschloß die ganze Gesellschaft einstimmig, morgen mit dem frühesten auszureiten und von einem Hügel aus, der zu Pferde in zwanzig Minuten zu erreichen war, das Erscheinen des Tagesgestirns zu erwarten.
„Seien Sie pünktlich,“ empfahl mir Madeleine, ehe wir uns trennten, und ich versprach's und hielt Wort. Ich war der erste beim Stelldichein im weitläufigen, kiesbestreuten Hofe, in dessen Mitte eine Fontäne plätscherte. Ihr einförmiges Geräusch wurde -128- allmählich eine Art Stimme und gurgelte: „Mach Dich gefaßt! Mach Dich gefaßt!“ Es kam sogar zu einem Vers:
Nicht sehr schön, aber was kann man von einer Fontäne verlangen?
Die Pferde wurden vorgeführt, streckten die Hälse, senkten die Köpfe; alle schienen unzufrieden, gegen jede Gewohnheit so früh aus dem Stall zu müssen.
Und nun erschien Madeleine unter dem Portal. Im dunkeln, enganliegenden Reitkleid nahm ihr ganzes Wesen sich so gar jung und unfertig aus ... Da hieß es: nicht vergleichen! nicht denken an Elsbeths wundervolle Frauengestalt.
Madeleine, die Reitpeitsche unter dem Arme, knöpfte mit der bloßen Rechten den Handschuh der Linken zu. Sie hatte mich gesehen, aber ohne zu grüßen hastig den Kopf gesenkt, runzelte ein wenig die breiten Brauen (die hat sie vom Vater), preßte die Lippen aufeinander ...
Ich sage Dir alles, demnach auch die Vermutungen, die mir da in den Sinn kamen: Ah, Mademoiselle, ich zögere Ihnen wohl zu lange? Sie haben wahrscheinlich geflunkert mit ihrer Eroberung, und nun fragen die Freundinnen: Was ist das? will der Besiegte sich noch immer nicht ergeben?... Die Entscheidung muß endlich herbeigeführt werden. So oder so! In der Kühlwanne läßt sich unsereines nicht halten ... Wohlan, ich will Ihnen den Sieg nicht schwer machen, sagte ich zu mir, trat an sie -129- heran, und wir wünschten einander einen guten Morgen und waren gleich einig, daß wir auf die übrige Gesellschaft nicht warten wollten.
„Welches Pferd befehlen Mademoiselle?“ fragte der Stallmeister.
„Gleichviel, das erste beste,“ gab sie zur Antwort mit kaum unterdrückter Ungeduld und saß im nächsten Augenblick schon im Sattel auf einem tüchtigen Braunen, und auch ich wählte nicht lange – was mich später reute –, sondern bestieg, weil er am nächsten bei der Hand war, einen hochbeinigen, langohrigen Gaul, auf dem nicht einmal der Apollo von Belvedere sich gut hätte ausnehmen können.
Wir ritten im Schritt aus dem Hofe, dann im kurzen Trabe durch den Park und sprengten draußen in einen munteren Jagdgalopp ein. Madeleine, des Weges kundig, führte. Es ging immer schneller vorwärts, eine gute Weile über das Weideland, zwischen flachen grünen Hügeln dem Licht entgegen, das im Osten emporlohte.
„Wohin denn?“ fragte ich endlich. „Wo ist das Ziel?“
Sie erwiderte: „Längst überholt,“ hielt ihr Pferd an, lauschte und spähte in die Ferne, und ich rief:
„Bravo! Wissen Sie, wo wir sind? Da steht der Grenzpfahl – auf deutschem Boden – in der Höhle des Löwen.“
„Jawohl, und da schickt er einen Abgesandten.“
Von der flammenden Morgenröte am Himmel hob sich der Schattenriß eines Reiters, der, wie aus dem Boden gewachsen, vor uns auftauchte. Es war ein deutscher Offizier, ein schöner Mensch, sehr sonnverbrannt, -130- sehr hübsch gewachsen, vortrefflich beritten. Er legte die Hand an die Mütze, und ich dumme gute Haut dankte ihm noch und bemerkte nicht gleich, daß der Held nur Augen hatte für Madeleine, die er voll Ehrfurcht und frommer Anbetung begrüßte.
O Lieber! und sie senkte den Blick vor dem seinen; und ich habe mich geirrt – sie kann das doch auch.
„Madeleine,“ sagte er, und seine Stimme war tief und wohlklingend und hätte mir in jedem andern Augenblick einen angenehmen Eindruck gemacht.
„Arnold,“ sagte sie. Das D tönte so zärtlich nach, so liebevoll: Arnolde. Sie reichten einander die Hände.
„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.“
Ihre ablehnende Gebärde drückte deutlich aus: Dafür keinen Dank! – „Morgen also?“ fragte sie nach einer langen Pause ernster, schweigender Seligkeit.
„Morgen. Vergessen Sie mich nicht, Sie wissen, wovon ich lebe.“
„Und ich? – Als neulich Ihr Brief nicht kam am bestimmten Tage und auch am nächsten nicht – ich wäre fast gestorben.“
„Wie voreilig!“ sprach er und wurde rot vor Bestürzung und Wonne und drückte ihre Hand fester, „liebe Madeleine ...“
„Mein edler, mein treuer Freund.“
„Treu, ja, aber das ist mein Schicksal, nicht mein Verdienst.“
„Ich lobe Sie auch nicht, ich sage nur, Sie -131- sind es.“
„Wie Sie.“
„Das heißt: bis ans Ende.“
„Bis ans Ende.“
„Gott behüte Sie, Arnold.“
„Sie wollen mich schon verlassen?“
„Ich will nicht – ich muß.“
„Madeleine!“
„Noch einmal, noch tausendmal: Gott behüte Sie! Ich bete zu ihm für Ihr Glück.“
„– Dann beten Sie für sich.“
Das war, glaube ich, ihr ganzes Gespräch. Möglich, daß ich einiges überhörte. Mein Untier von einem Rotschimmel hatte einen Anfall von Heimweh bekommen und kehrte ganz entschlossen um; ich wandte ihn und er wieder sich; wir waren einer hartköpfiger als der andre und führten, indem wir uns kaffeemühlenartig auf dem Fleck herumdrehten, ein sonderbares accompagnement auf zu der Liebesszene, die sich zehn Schritte von uns abspielte.
Nachdem der Offizier (der mich gewiß für irgendeine untergeordnete Vertrauensperson gehalten hat) sich empfohlen, ritten wir in entgegengesetzter Richtung dem Aussichtshügel zu und erblickten, an dessen Fuß angelangt, die vom Schlosse her trabende Kavalkade.
„Fräulein,“ sagte ich mit verachtungswürdiger Plumpheit zu Madeleine, „wissen Ihre Eltern?...“
„Das versteht sich,“ fiel sie mir ins Wort und hatte ein gar rührendes Lächeln, „sie wissen es, aber sie glauben es nicht.“
„Was nicht?“ -132-
„Daß meine Neigung alles überdauert, ihren Widerstand, die immerwährende Trennung. Sie meinen, endlich wird diese Liebe doch erlöschen. Nur Zeit lassen, nur Geduld haben. Ein andrer wird kommen und das Bild des Abwesenden aus ihrem Herzen verdrängen. Da stellen sie von Zeit zu Zeit Proben an ...“
„Und Bewerber auf,“ rief ich ungemein beleidigt.
Sie aber erzählte in wenig Worten, das Schloß ihrer Eltern sei im Kriegsjahre zu einem Spitale gemacht worden. Mit andren Verwundeten wurde ‚Er‘ gebracht, sterbend, der Arzt gab ihn auf. – „Meine Mutter aber,“ sagte Madeleine, „pflegte ihn gesund. Ich bin ihr kaum mehr Dank schuldig für mein Leben, als er ihr für das seine. Das verpflichtet, Sie begreifen. Wir werden meine Eltern nie betrügen ... Er hat mir einmal die Hand geküßt, in Gegenwart meines Vaters ... Er ist einmal aus seiner Heimat nach Falaise gekommen, zwei Nächte und einen Tag gereist, um mich zu sehen, an der Seite meiner Mutter, um auf der Straße an mir vorüberzugehen und stumm zu grüßen. – Ich war krank gewesen, er hatte durch meine Freundin davon gehört ...“
„Sublim!“ spöttelte ich. „Es muß ihre Eltern rühren, sie werden endlich nachgeben.“
„Sie werden nie nachgeben und wir auch nicht.“
„In einem solchen Kampfe siegen die Überlebenden. Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge also – die Jüngeren.“
Wir waren nicht mehr allein, die Reiter hatten -133- uns eingeholt.
Madeleine sprach mit gesenkter Stimme: „Gott erhalte mir meine Eltern!“
Oben auf dem Hügel war es herrlich. Ein feuriger Glutball, stieg sie empor, die Lichtspenderin, die Urheberin alles Lebens ... Lieber Freund, die Schilderung des Sonnenaufganges wirst Du mir wohl erlassen.
Dein Edmund.
Graf Edmund N. an Professor Erhard.
Les Ormeaux, den 5. Juli 1875.
Bester Freund!
Glaubst Du, daß es heutzutage einen Romancier gibt, kühn genug, um seinem Publikum ein Liebespaar wie Madeleine und Arnold vorzuführen? – Er müßte sich darauf gefaßt machen, ein lächerlicher Idealist genannt zu werden, der faden Brei rührt für literarische Kinderstuben und Menschen schildert, die es nie und nirgends gibt.
Und doch wäre der Mann ein so treuer Darsteller der Wirklichkeit, wie nur irgendein orthodoxer Naturalist. – Allerdings würde diese Wirklichkeit niemanden mehr interessieren.
Ich bin veraltet, mich interessiert sie. Madeleine und ich haben ein Freundschaftsbündnis geschlossen.
„Konnte ich Ihnen,“ sagte sie, „einen größeren Beweis von Vertrauen geben, als den, Sie zum Zeugen meiner Zusammenkunft mit Arnold zu machen? Auf Gnade und Ungnade habe ich Ihnen mein Geheimnis ausgeliefert.“
Was ich vor drei Tagen miterlebte, war ein -134- Abschied. Das Regiment Arnolds, das im Elsaß stand, hat Marschbefehl bekommen und kehrt zurück nach Bayern. Die Trennung der Liebenden wird dadurch räumlich erweitert, tatsächlich bleibt sie dieselbe. Sie sehen einander nicht, sie stehen nur in freilich sehr eifrigem, schriftlichem Verkehr. Als Briefbote fungiert die Freundin – wie mir scheint, nicht ohne Wissen der Eltern. Die denken wohl: Schwärmt Euch aus, in solcher Art ist's ungefährlich; man wird ihrer müd.
Meine Meinung aber ist, daß diese beiden tun werden, wie sie sagen, und einander treu bleiben bis ans Ende. Gestern machte ich mich in denkbarst vorsichtiger Weise zu ihrem Anwalt – bei der Mutter; an den alten Chouan wollte ich erst später heran. Aber ich traf auf den unbeugsamsten Widerstand; – so einen sanften, wohlüberlegten, gegen jeden Angriff gefeiten. Welche Kraft von Fanatismus in dieser schmächtigen, blassen Frau, deren Stimme sich nie über den Konversationston erhebt, deren Lippen ohne Beben dem Glück der armen Madeleine das Todesurteil sprechen! Sie liebt ihr Kind, sie weiß, daß Arnold ein braver Mensch ist, aber zugeben, daß ihre Tochter die Frau eines Deutschen werde – o, da würde sie sich doch ebenso gern auf den Pranger stellen und öffentlich brandmarken lassen.
Das nenn ich einen gehörigen Rassenhaß!... Etwas Gräßliches wahrhaftig und Dummes obendrein, wie denn jeder Haß, der sich gegen Menschen wendet, statt gegen das Unrecht, das sie tun ... Weise ist nur die Liebe – halte mir den kühnen -135- Übergang zugute, ich bin mir des Mangels an Folgerichtigkeit in meinem Gedankengange sehr bewußt ... Weise ist Irina, die dafür, daß sie nicht geliebt wurde, wie sie es erstrebt, Trost findet, indem sie sich lieben läßt. Weise ist Madeleine, die im Vollgefühl ihrer großartigen Empfindung eine höhere Befriedigung genießt als mancher, dessen Leben eine Kette erfolggekrönter Liebesabenteuer war.
Unweise ist Elsbeth, unweise bin ich mit meiner Selbstüberwindung, die so viel Verlogenheit in sich birgt.
Jede echte Liebe, sogar eine hoffnungslose, ist herrlich, erbärmlich und töricht, aber der Kleinmut, der verzichtet.
„Wir Frauen haben nur die Liebe,“ sagt Irina. So hat denn Elsbeth – nichts.
Arme Elsbeth!
Lebe wohl und schreibe doch einmal wieder
Deinem treuen Edmund.
Graf Edmund N. an Professor Erhard.
Wien, den 12. August 1875.
Mein verehrter Freund!
Dir schreiben, was ich vorhabe, fällt mir schwer. Es wird Dich empören, es wird Dir weh tun. Wenn Dich dieser Brief findet, mitten in einer fesselnden Arbeit, dann lege ihn weg und lies ihn erst am Abend, vor dem Einschlafen. Das ist der rechte Moment. Da bist Du in der unendlich wohlwollenden und versöhnlichen Stimmung, die jeden guten Menschen ergreift, wenn er sich, zufrieden mit seinem Tagewerk, -136- auf das Lager streckt und die angenehme Müdigkeit seiner Glieder, die köstlichste Abgespanntheit seiner Nerven ihm eine vortreffliche Nacht verheißen ... Dann nimm dieses Blatt zur Hand. So sanft wie die Traumseligkeit, die Dich umfängt, wird Dein Urteil sein; Du wirst denken: Sieh doch, seinem Verhängnis entgeht keiner ... Ei, ei! – Nun, Gott mit ihm. Nach Nowidworo denn ...
Ja, nach Nowidworo, das ist das Ende vom Liede.
Ich will hintreten vor meinen alten Hans und will ihm sagen: Alles war vergeblich, die Flucht, die Trennung, der lange Kampf. Ich komme wieder als derselbe, der ich gegangen, nur daß ich erprobt habe, daß meine Liebe unüberwindlich ist. Habe ich nicht getan, was ich konnte? Habe ich nicht sogar heiraten wollen? Danke ich's nicht ganz allein der Seelengröße Madeleines, daß der lügenhafte Bund nicht geschlossen wurde?
Mache mit mir, was Du willst, wirf mich hinaus, schieß mich tot, ich verlange nur Eins: bevor Du es tust, frage Deine Frau, ob ihr damit ein Gefallen geschieht ... Man muß doch auch an sie denken. – Haben wir einmal Phantasie, stellen wir uns vor, daß ich um ein Jahr früher nach Fiume gekommen wäre, sie kennen gelernt und heimgeführt hätte ... Verzeih, verzeih, lieber Hans! Du bist ein Engel, und ich bin nur ein gewöhnlicher Sterblicher – aber Elsbeth wäre vielleicht mit mir glücklicher geworden als mit Dir ... Nicht wegen des geringeren Unterschieds im Alter, – was sind die Jahre! Im Gemüte wirst Du immer ein Jüngling -137- bleiben. Wie oft kam ich mir, mit Dir verglichen, wie ein Greis vor.
Aber Du kennst die Frauen nicht, hast Dich nie mit ihnen befaßt, Du bist mit der Deinen wie der beste Vater ... Ich, mein teurer, treuer Hans, ich würde wahrscheinlich trotz aller Anbetung weniger zart mit ihr umgehen als Du, ich würde sie mit Eifersucht quälen, aber es gäbe nichts, was mich je von dem Gedanken an sie ablenken könnte. Immer hätte ich in ihrer Gegenwart die Empfindung eines reicheren, erhöhten Lebens, immer sie in der meinen das Bewußtsein, eines andern Menschen köstlichstes Gut, sein Um und Auf, sein Schicksal zu sein.
Ich würde sie nicht tage- und wochenlang allein lassen, und nachmittags, wenn ich noch so müde aus der Wirtschaft nach Hause gekommen wäre, würde ich nicht einschlafen ... und wenn ich mit ihr im Walde spazieren ginge, würde ich noch Sinn für andres haben, als für die Anzahl Raummeter, die der Holzschlag ergeben wird, und für den wahrscheinlichen Ertrag der Eichelmast.
Hans, mein väterlicher Freund, werfen wir einmal alles über Bord: Vorurteil, die sogenannten Gesetze der Ehre, und fragen wir uns, ob Du Dich nicht ebenso zufrieden fühlen würdest wie jetzt, wenn Du ... nun, das ist wirklich schwer auszusprechen ... wenn – sagen wir, Elsbeth und ich Deine Kinder wären, Deine dankbaren, in Dir den Schöpfer ihres Glückes verehrenden Kinder ...
Lieber Hans, was ist die Aufgabe des Menschenfreundes? Nach den schwachen Kräften, die ihm als einzelnen gegeben sind, die Summe des auf -138- Erden vorhandenen Leids zu vermindern, die des Glückes zu erhöhen. – Mathematisch, um mit Dir zu sprechen: Ich besitze etwas, das mir Freude macht = 6; doch kenne ich einen, dem dieses selbe etwas Freude machen würde = 100.000. – Was tue ich, der Menschenfreund? Ich schenke ihm den bewußten Gegenstand und erhöhe damit die Summe der Weltfreude um 99.994!
Ähnliches, liebster Professor, habe ich einmal getan. Ich hatte ein Bild, das jeden Kenner entzückte. Einen mir befreundeten Maler machte der Wunsch, es zu besitzen, halb verrückt. Er sann und träumte nichts andres; er meinte, es sein nennen zu dürfen, würde ihn beseligen und läutern und jede in seiner Künstlerseele noch schlummernde Kraft zur höchsten Entfaltung bringen.
Ich erwog das Glück, das ich diesem Menschen bereiten konnte, machte die bewußte Rechnung und – schenkte ihm das Bild.
O Freund, es handelte sich um eine bemalte Leinwand, die nichts davon wußte, ob der begeisterungstrunkene Blick eines Künstlers auf ihr ruhte, ob der meine es streifte mit flüchtigem Wohlgefallen.
Sie aber lebt, und, ich glaube es wenigstens, ist mir gut. Eigentümlich, daß sich meiner, je näher der Augenblick des Wiedersehens kommt, Zweifel bemächtigen, vielleicht begründete?
Nein doch, nein! – ich brauche mich nur der Nachmittage unter den Linden auf der Terrasse zu erinnern ... Ich las vor – „Faust“ von Turgenjew ... Wie sie da horchte, mit welcher Spannung, wie sie mich ansah ... Am selben Abend entstand -139- ein Gedicht, das natürlich verbrannt wurde, und das ich vergessen habe, bis auf die eine Strophe:
So war es. Aber freilich, zu wem hätte sie auch die Augen erheben sollen? Mein Hans, ihr Hans, ich will sagen: unser Hans schlief oder schlummerte wenigstens ...
In zwei Tagen werde ich viel mehr wissen als heute. Ich schreibe Dir gleich, noch unter dem ersten Eindruck. Was steht mir bevor?
Dein Edmund.
Professor Erhard an Freiherrn Hans v. B.
Korin, den 12. September 1875.
Euer Hochwohlgeboren!
Hochverehrter Herr Freiherr!
Für die Belästigung auf das Höflichste um gnädige Nachsicht bittend, wage ich es, Euer Hochwohlgeboren um eine Kunde von meinem lieben Grafen zu bitten. Derselbe äußerte in seinem letzten Schreiben die Absicht, die Gegend von Fiume zu besuchen, und dürfte es bei dieser Gelegenheit schwerlich verabsäumt haben, Euer Hochwohlgeboren seine Aufwartung zu machen. Auf die Annahme dieses Falles hin darf ich vermuten, daß es Euer freiherrlichen Gnaden bekannt sein dürfte, wohin unser teurer Reisender seine Schritte gelenkt, und dieser Vermutung wieder entspringt -140- das oben gestellte flehentliche Ersuchen.
Genehmigen Euer Hochwohlgeboren den Ausdruck der unbegrenzten Hochverehrung, mit welcher zeichnet
Euer Hochwohlgeboren
untertänigster Diener
P. Erhard.
Hans v. B. an Professor Erhard.
Nowidworo, den 14. September 1875.
Euer Hochwürden setzen mich in Bestürzung.
Unser lieber Edmund hat uns nach zweitägigem Aufenthalte verlassen, um geraden Weges heimzufahren nach Korin.
Sieht aus wie das Leben, ist prächtig. Er muß seinen Plan geändert haben; ich staune, daß er nichts davon schrieb.
Mit der inständigen Bitte, mir sein Eintreffen zu Hause telegraphisch bekannt zu geben,
Euer Hochwürden
tief ergebener Hans B.
Graf Edmund N. an Professor Erhard.
Abbazia, den 20. September 1875.
Lieber, verehrter Freund!
Ich habe noch eine kleine Seefahrt unternommen, bin aber jetzt auf dem Heimwege; heftig regt sich in mir die Sehnsucht nach meinem Zuhause. Eines -141- schönen Morgens wirst Du im Frühstückszimmer erscheinen, mit einem Schweinsledernen unter jedem Arme, und – plumps! da liegen die Folianten; Du hast sie fallen lassen, Du brauchst Deine beiden Hände, um sie vor Verwunderung über dem Kopfe zusammenzuschlagen und dann dem Freunde zu reichen, der Dir die seinen entgegenstreckt.
Freue Dich, Du Lieber und Getreuer! ich komme für lange Zeit.
Wenn Jahre zwischen heute und dem Tage lägen, an dem ich Dir zum letzten Male schrieb, eine größere Wandlung könnte mit mir nicht vorgegangen sein; ich bin, scheint mir – klug geworden.
Als ein ganzer Geck kam ich noch am Nachmittag des 14. August in Karlstadt an. Ich hatte im natürlich reservierten Coupé Toilette gemacht und gefiel mir selbst in meinem Knickerbocker und meinem englischen, helmförmigen Hut.
Auf dem Bahnhofe wartete der Wagen aus Nowidworo, der gelbe Phaeton, den Hans nur bei großen Gelegenheiten ausrücken läßt; vorgespannt war der Jucker-Viererzug, und auf dem Bocke prangte mein dicker, schweigsamer Freund Djuro.
„ Pomez Bog ,“ rief ich, und er erwiderte: „ Ljubim ruka .“ Sein braunes Gesicht glänzte gleich einem blankgescheuerten Kupferkessel, und er lachte mich so vergnügt an, als ob ihm das verkörperte Trinkgeld entgegenträte.
Wir flogen schon ein Weilchen dahin zwischen rebenbepflanzten Hügeln und Geländen, als er sich besann, daß er etwas an mich zu bestellen habe, und mir einen Brief in den Wagen reichte. – Von Hans. -142- Sein gewöhnliches Riesenformat, der Inhalt drei Zeilen im Telegrammstil:
Willkommen! hochwillkommen, Du, mein Junge, Du! Erwarten Dich mit offenen Armen. Haben uns redlich nach Dir gesehnt.
Elsbeth und Hans.
Beide hatten unterschrieben.
Ich zerknüllte das Blatt und schleuderte es fort; denn es brannte wie eine Kohle in meiner geschlossenen Hand. Die Sonne brannte auch, der Himmel erstrahlte in feurigem Blau, zu eitel Fünkchen wurde der Staub, der uns umwirbelte. Am Saume der großen Ebene dunkelten die Wälder, erhoben sich die Spitzen der Okiker Gebirge.
Mit innigem Entzücken begrüßte ich sie ... Die schönsten Bilder tauchten vor mir empor, holde Träume umfingen mich.
Mein Kutscher war plötzlich aufgestanden, schwang die Peitsche und schnalzte kräftig. Ein Leiterwagen, mit türkischem Weizen beladen, wackelte vor uns her. Die kleinen, mageren Pferde krochen nur so; ihr Lenker schlief, der Länge nach ausgestreckt, auf seiner Ernte. Djuros Peitschenknall weckte ihn, er fuhr empor, wich aus, und wir sausten weiter.
Das Gefühl ist nicht zu beschreiben, das mich ergriff, als ich die Schloßmauern von Nowidworo durch die Bäume des Gartens schimmern sah und bald jedes Fenster am Mansardendache unterschied.
Die Luft schien mir dünner und reiner zu werden, mein Herz war so leicht, der letzte Zweifel abgetan. Ich mußte mich zusammennehmen, um nicht laut -143- aufzujubeln.
Beim steinernen Kreuze, wo der Weg sich abzweigt, der zwischen Walnußbäumen gerade zum Schlosse führt, lenkte Djuro nach rechts, und wir fuhren längs des Gartenzauns dem schlanken, zinnengekrönten Türmchen an der Ecke, der sogenannten „Warte“, zu.
Dort oben hatten Hans und Elsbeth gewiß gestanden und nach mir ausgespäht, und jetzt eilen sie die Treppe hinab und zur Pforte zwischen den Pfeilern und werden gleich heraustreten ... Wenn sie zuerst kommt, dann ist's ein gutes Zeichen.
Das Zeichen stimmte wohl –
Sie kam zuerst, weiß gekleidet, im reichen Schmuck ihrer dunkeln Haare, in ihrem ganzen Liebreiz – ein wenig blaß kam sie mir vor im ersten Augenblick.
Hinter ihr breitete sich's chamoisfarbig; ein paar Arme fochten sinnlos in der Luft herum und bemächtigten sich meiner, als ich aus dem Wagen sprang. Es waren die Arme meines alten Hans, und er drückte mich an seine Brust wie ein Bär. Seine Augen standen voll Tränen, alle seine Gesichtsmuskeln zitterten.
„Elserl,“ brachte er nach vielen vergeblichen Anstrengungen endlich heraus, „umarm ihn auch – Du darfst, weil er da ist — wenn er nicht da wäre, dürftest Du nicht,“ sprach er in warnendem Tone und zwinkerte mir voll Verständnis zu.
Auch seine Frau verstand diese allerdings sehr einfache Logik. Sie errötete, eine tiefe Verwirrung malte sich in ihren Zügen, doch gelang es ihr bald, eine heitere Miene anzunehmen. Mit ihrer gewohnten, -144- sanften Sicherheit blickte sie zuerst ihn, dann mich an und bot mir die Wange.
Ich küßte sie ... das Unglaubliche geschah – ich küßte sie, und ob es mich auch durchzuckte vom Wirbel bis zu den Füßen, ob mir der Atem vergehen wollte – ich verlor meine Fassung nicht.
„Jetzt die Überraschung,“ sagte Hans zwischen Weinen und Lachen ... „Wir haben nämlich eine Überraschung ... Du wirst Dich wundern.“
Mein lieber Freund, eine flüchtige Erinnerung an die Absicht, mit der ich gekommen, an die berühmte Rechnung, kam mir in den Sinn, und mich überlief's.
Elsbeth nahm meinen Arm, sie drückte ihn herzlich mit ihrer Hand, Hans ging nebenher, klopfte mich von Zeit zu Zeit auf die Schulter und murmelte: „Du, mein Junge, Du!“ Er lobte und bewunderte alles an mir, mein Aussehen, meinen Vollbart, meinen Anzug, und Elsbeth stimmte ihm bei, und wenn er sich wie ein sehr erfreuter Vater benahm, so hatte sie in ihrer Art und Weise gegen mich etwas entschieden Mütterliches.
Wir näherten uns dem schattigen Platze unter den Linden, den edlen, herrlichen, die am Rande der Wiese vor dem Schlosse stehen.
Dort habe ich ihr das Meisterwerk des großen russischen Erzählers vorgelesen, diese Bäume haben leise dazu gerauscht; auf der Bank unter dem mächtigsten von ihnen hat sie gesessen, mir gegenüber in sprachloser Ergriffenheit, und mich angesehen mit jenem unvergeßlichen Blick ...
Auf derselben Stelle unter demselben Baum befand -145- sich jetzt eine stattliche Frau, in halb städtischer, halb ländlicher Tracht, und neben ihr stand ein Korbwägelchen mit blauseidenem Dach.
„ Spovo on? “ fragte Elsbeth.
„ Sada isputje ,“ antwortete die Frau.
Das heißt: „Schläft er?“ und: „Eben erwacht.“
Mein dummer Kopf hatte eine plötzliche Erleuchtung. Sie war so hell – zu hell — sie schmerzte.
Elsbeth führte mich zu dem Wägelchen, hob die Schleier, die es verhüllten, und der Inhalt der kleinen Equipage kam zum Vorschein. Er hatte kugelrunde, rosige Wangen und dunkle Augen, machte Fäustchen, strampelte und war – mein Nebenbuhler.
Wie sie sich zu ihm hinabneigte, gewann ihr Gesicht einen Ausdruck stiller, vollkommener Seligkeit, der mich sofort belehrte: Wenn je ein Funke Neigung für mich in ihrem Herzen erglomm – er ist erloschen. Der Atem dieses Kindleins hat ihn ausgeblasen.
Sein Vater warf sich in die Brust, kreuzte die Arme und betrachtete abwechselnd seinen Sohn und mich mit, – glaube mir, – fast gleicher Zärtlichkeit.
„Nun, mein Junge,“ rief er mich an, „was sagst Du? sag etwas zu Deinem quasi Bruder.“
Aber ich konnte nichts sagen, ich war in den Anblick Elsbeths versunken.
„Wir Frauen,“ sagt Irina, „haben nur die Liebe,“ nun – Elsbeth ist reich.
Zwei Tage hielt ich es wacker aus bei ihr und ihm und dem Kinde, am dritten räumte ich dem -146- Nebenbuhler das Feld.
Die Frage, ob ich nicht auch ohne ihn von dannen gegangen wäre, wie ich ging, will ich einstweilen unerörtert lassen.
Auf Wiedersehen, Freund und Mentor! Schalte und walte in meinem Hause, wie's Dir gefällt. Auch wenn ich nur durch eine Allee von Mumien in mein Zimmer gelangen kann – mir ist alles recht und eines gewiß: Vorläufig interessiere ich mich für keine Frau mehr, die nicht tot ist seit mindestens dreitausend Jahren.
„Galgenhumor,“ denkst Du und irrst; es ist der ehrliche, sehr harmlose, der einem etwas verwundeten Herzen entströmt. Aber die Wunde schließt sich schon, bald gibt es ehrenvolle Narben.
Erwarte mich ohne Bangen, ich bin geheilt.
Dein Edmund.
Mutter und Sohn saßen einander gegenüber am Tische, der als Arbeits- und Speisetisch diente, und dessen eine Hälfte schon für die Abendmahlzeit gedeckt war. Eine Petroleumlampe mit grünem Schirm beleuchtete hell die Schulbücher, die der Knabe vor sich aufgeschichtet hatte, und die ungemein geschont aussahen nach einer mehr als halbjährigen Benutzung. Es war Ende März, und in wenigen Monaten mußte Georg Pfanner aus der dritten Klasse, wie aus jeder früheren Vorbereitungs- und Gymnasialklasse, als Vorzugsschüler hervorgegangen sein. Mußte! Wohl und Weh des Hauses hing davon ab, der – wenigstens relative – Frieden seiner Mutter, der Schlaf ihrer Nächte ... Wenn dem Vater schien, daß „sein Bub“ im Fleiß nachlasse, wurde sie zur Verantwortung gezogen. Das wirkte viel stärker auf den Jungen, als die strengste Ermahnung und Strafe getan hätte. Für seine Mutter empfand er eine anbetende Liebe und war das ein und alles der freudlosen, vor der Zeit gealterten Frau. Die beiden gehörten zueinander, verstanden einander wortlos, sie hatten, ohne es sich selbst zu gestehen, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen einen Dritten geschlossen, dem sie im stillen immer Unrecht gaben, auch wenn er recht hatte, weil sie sich im Grund ihrer Seele in steter Empörung gegen ihn -150- befanden. Frau Agnes würde erstaunt und wahrscheinlich entrüstet gewesen sein, wenn man ihr gesagt hätte, daß ihre Empfindung für ihren Mann längst nichts mehr war als eine Mischung von Furcht und von Mitleid. Georg würde eher die ganze Schule zum Kampf herausgefordert, als geduldet haben, daß ein unehrerbietiges Wort über seinen Vater gesprochen werde. Aber weder der Mutter noch dem Sohne wurde es wohl in seiner Nähe. Seine Anwesenheit bedrückte, löschte jede heitere Regung im ersten Aufflackern aus. Und doch war der einzige Lebenszweck dieses Mannes die Sorge um das Wohl seines Kindes in Gegenwart und Zukunft.
Frau Agnes ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken und blickte nach der Schwarzwälderuhr, die an der Wand neben dem Kleiderschrank ihr blechernes Pendel schwang. So spät schon, und der Mann kam noch immer nicht aus dem Bureau. Sie lasteten ihm dort so unbarmherzig viel Arbeit auf, und er besorgte sie widerspruchslos und nahm noch Arbeit mit nach Hause, um die Vorgesetzten nur gewiß zufrieden zu stellen und beim nächsten Avancement berücksichtigt zu werden.
Ja, der Mann plagte sich, und es war sehr begreiflich, daß er übermüdet und mürrisch heimkehrte. Und der Junge, der liebe, geliebte Junge, plagte sich auch. Heute ganz besonders. Dunkelrot brannten seine Wangen, und sogar die Kopfhaut war gerötet, und die Stirn zog sich kraus. In Hemdärmeln saß er da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, preßte das Kinn auf seine geballten Hände und starrte ratlos -151- zu seinem Hefte nieder. Dreimal schon hatte er die Rechenaufgabe gemacht und jedesmal ein andres Resultat erhalten, und keines, das sah er wohl, konnte das richtige sein.
Die Mutter wagte nicht, ihn anzusprechen, um ihn nicht zu stören, warf nur verstohlen von Zeit zu Zeit einen bekümmerten Blick auf ihn und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit und flickte emsig am schadhaften Futter der Jacke, die er ausgezogen hatte.
Nun wurde nebenan ein Geräusch vernehmbar. Im Schloß der Küchentür drehte sich der Schlüssel.
„Der Vater kommt,“ sprach Frau Agnes. „Bist fertig, Schorschi?“
„Mit der Rechnung noch lang nicht.“ Sein Mund verzog sich, und unter seinen blonden Wimpern quollen plötzlich Tränen hervor.
„Um Gottes willen, Schorschi, nicht weinen, du weißt ja – der Vater ...“
Da trat er ein, und sie stand auf und ging ihm entgegen, und er erwiderte ihr schüchternes Willkomm mit einem ungewohnt freundlichen:
„Na, grüß euch Gott.“
Offizial Pfanner war um ein weniges kleiner als seine Frau und ungemein dürr. Die Kleider schlotterten ihm am Leibe. Seine dichten, eisengrauen Haare standen auf dem Scheitel bürstenartig in die Höhe, seine noch schwarz gebliebenen Brauen bildeten zwei breite, fast gerade Striche über den dunkeln, sehr klugen Augen. Den Mund beschattete ein mächtiger, ebenfalls noch schwarzer Schnurrbart, -152- den Pfanner sorgfältig pflegte, und der dem Beamten der Kaiserlich Königlich Österreichischen Staatsbahn etwas Militärisches gab.
Pfanner hatte einen großen Pack Schriften mitgebracht und war doch nicht unwirsch. Er ließ sich von seiner Frau den Überrock ausziehen und sagte sanft und ruhig: „Bring das Essen und lösch die Lampe in der Küche aus. Die brennt, ich weiß nicht zu was. – Lern weiter!“ befahl er dem Sohn, der sich nach ihm gewendet hatte und ihn scheu und ängstlich ansah.
„Es ist so schwer,“ murmelte Georg.
Der Vater stand jetzt hinter seinem Stuhle: „Schwer, fauler Bub? Deine Faulheit überwinden, das wird dir schwer, sonst nichts. Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer. Faul bist.“
„Ich hab alles fertig,“ sprach Georg mit einem trockenen Schluchzen und drängte die Tränen zurück, die ihm wieder in die Augen treten wollten, „nur die Rechnung nicht ...“ da kippte seine Stimme um, der Satz endete mit einem schrillen Jammerton, und zugleich beugte der Kopf des Jungen sich tiefer. Seinem Bekenntnis mußte die Strafe folgen, er erwartete die unausbleibliche mit dumpfer Resignation, den wohlbekannten Schlag der kleinen, harten Hand, die wie ein Hammer niederfiel und das Ohr und die Wange Georgs auf Tage hinaus grün und blau marmorierte.
Aber heute zürnte der Vater nicht. Nach einer kleinen Weile streckte sich sein Arm über die Schulter des Knaben, der Zeigefinger bezeichnete eine Stelle in der Rechnung, deren sorgfältig geschriebene Zahlen -153- eine Seite des Heftes bedeckten.
„Da sitzt der Fehler. Siehst du?“
War's möglich, daß Georg ihn noch immer nicht sah? daß er sich keinen Rat wußte, auch dann nicht, als der Vater zu erklären begann. Er tat das auf eine so völlig andre Art als der Lehrer. Dem Kind wollte und wollte das richtige Verständnis nicht aufgehen, trotz aller Anstrengung und Mühe. Dazu die Furcht: Jetzt reißt dem Vater die Geduld, jetzt kommt der Schlag. Zuletzt dachte er nur noch an den und wünschte, die Züchtigung wäre vollzogen, damit er sich nicht mehr vor ihr ängstigen brauche.
„Gib acht, du gibst nicht acht!“ rief Pfanner und begab sich auf seinen Platz am oberen Ende des Tisches, wo für ihn gedeckt war. Die Mutter hatte das Abendessen aufgetragen. Kartoffeln in der Schale, ein schönes Stück Butter, ein Laib Brot, eine Schüssel mit kaltem Fleische. Die stellte sie zagend vor ihren Mann hin, und seine Mißbilligung blieb nicht aus.
„Fleisch am Abend – was heißt das? Keine neue Einführung, bitt ich mir aus.“
Sie entschuldigte sich. Sie log. Die Nachbarin hätte so schönes Fleisch vom Land bekommen und ihr dieses schon eingekaufte um ein Billiges abgetreten: „Es ist auch noch für morgen da,“ setzte sie hinzu, um einer wiederholten Rüge vorzubeugen, die viel schärfer ausgefallen wäre. Sie hätte aber auch die schärfste über sich ergehen lassen. Es galt einen Kampf, in dem sie, die sonst willensschwache Frau, um keinen Preis nachgeben durfte.
Das Abendessen war längst vorbei, die Mutter -154- längst zur Ruhe gegangen, Vater und Sohn saßen noch bei ihrer Arbeit. Pfanner befaßte sich mit dem Aufstellen einer statistischen Tabelle, Georg kam mit seiner Rechnung nicht zu Ende. Die Aufmerksamkeit weder des einen noch des andern war völlig bei seiner Beschäftigung. Jeder von ihnen hatte heute ein Glück erfahren, und die Erinnerung daran stellte sich immer und immer wieder zerstreuend und ablenkend ein.
Pfanner war dem Herrn Subdirektor begegnet, und der hatte ihn angesprochen und ihn der Wohlmeinung des Herrn Direktors und seiner eigenen versichert. Der Herr Direktor warte nur auf die erste Gelegenheit, dem unermüdlichen Fleiß und Diensteifer des Offizianten die gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen.
„Für außergewöhnliche Leistungen außergewöhnliche Auszeichnungen. Verlassen Sie sich darauf.“ Mit diesen Worten hatte der hohe Vorgesetzte ihn verlassen, und Pfanner war weiter gewandert, von einem berauschenden Glücksgefühl ergriffen. Worauf durfte er sich Hoffnung machen? Auf Beförderung außer der Tour? Auf eine große Remuneration? Die wäre ihm vielleicht das liebste. Georgs Sparkassenbuch würde dadurch eine unverhoffte Bereicherung erfahren. An jedem letzten Tag des Monats nahm er es aus der Lade und ließ die wenigen, mühselig vom Gehalt ersparten Gulden eintragen, um nur ja nicht unnötigerweise einen Heller Zinsen einzubüßen.
Der Sparkassenbeamte lachte schon: „Was bringen's denn heut, Herr Offizial, einen halben Gulden, einen ganzen?“
Pfanners Hochmut litt unter diesen Spötteleien. -155- Und jetzt stellte er sich vor, wie ihm sein würde, wenn er einen Hunderter oder gar zwei hinlegen könnte und nachlässig sagen:
„Bitte, tragen Sie heute das ein, ins Buch von meinem Buben.“
Sein Georg an der Spitze eines, wenn auch kleinen Vermögens – er liebte ihn mehr, wenn er daran dachte.
Der zukünftige Kapitalist hielt die Feder in der Hand und sann. Nicht über seine Rechnungsaufgabe. Seine Gedanken trugen ihn weit weg aus der kahlen, dürftig eingerichteten Stube ins Freie, wo jetzt schon neues Leben sich zu regen begann und ein Frühling sich ankündigte, von dem er wieder nichts haben sollte. Dem Frühling würde der Sommer folgen, die Schule geschlossen werden, und die Kameraden würden auf Ferien gehen; einige in die Nähe von Wien, andre glückliche ganz aufs Land, auf das wirkliche Land, oder gar ins Gebirge, in die Wälder, an die schimmernden Seen und Flüsse, an brausende Wasserfälle ... Nur er kam nie hinaus aus den trostlosen Straßen der Vorstadt, nie fort vom müdmachenden, langweiligen, verhaßten Straßenpflaster, auf dem man sich die Schuhe zerriß und die Füße wund ging. Dazu des Vaters ewig wiederholtes:
„Lern! Hast gelernt? Kinder sind da, um zu lernen.“
In seinem Jungen aber schrie es: Nicht nur um zu lernen! Manchmal schon hatte er sich ein Herz gefaßt und gesagt: „Die andern sind jetzt auf Ferien und lernen nicht.“
Da war der Vater bös geworden. „Sind das -156- Vorzugsschüler? Wenn ja ein paar darunter sind, dann sind sie nicht leichtsinnig und zerstreut wie du, fauler Bub. Haben vielleicht nicht einmal Talent wie du, dafür aber Fleiß, eisernen Fleiß. Ferien ... was Ferien! Ein tüchtiger Mensch braucht keine, will keine. Hab ich Ferien?“ Es war der Stolz Pfanners, daß er noch nie Urlaub genommen.
Indessen, trotz all der väterlichen Strenge, ein wahres Löschhorn für jede heitere, lustige Regung, hatte es einige Jahre gegeben, in denen Georg eine Frühlingsfreude genossen. Und heute war der gesegnete Tag, an dem ihm endlich ein langgehegter, heißer Wunsch erfüllt wurde. Er trug das Mittel, Frühlingsfreude wieder zu erwecken, in seiner Tasche.
Um ein Stockwerk tiefer als die Familie Pfanner, im dritten des gegenüber liegenden Hauses, wohnte ein Schuster, der eine Nachtigall besaß. Wenn der Frühling anbrach, hing er ihren Käfig unter den Fenstersims an die Mauer. Der Käfig war eng und schmal, hatte dicke Sprossen und bot seiner Bewohnerin wenig Raum und wenig Licht. Sie sang wundersam in ihrer traurigen Gefangenschaft. Ihre süßen Lieder klangen nicht nur klagend und sehnsuchtsvoll, auch hell und jubelnd und wie voll des seligen Entzückens über die eigene Herrlichkeit, berauscht vom Triumph über die eigene hinreißende Macht. Die Töne, die der kleinen Brust entquollen, erfüllten die Gasse mit Wohllaut.
Georg brachte jeden freien Augenblick am Fenster zu, beugte sich hinaus und sandte der Nachtigall seine Liebesgrüße. Der Schuster, das konnte man -157- leicht bemerken, kümmerte sich nicht viel um die holde Sängerin. Wäre sie Georgs Eigentum gewesen, wie hätte er sie gehegt und gepflegt! Sie war sein Glück, seine Wohltäterin, sie zauberte ihm den Frühling in die traurige Stube und Schönheit und Poesie in sein ödes Leben. Er lauschte ihr, und märchenhaft liebliche Bilder tauchten vor ihm auf, Landschaften im purpurnen Grün des neuen jungen Lebens, blütendurchhaucht, lichtgetränkt. Alles, wovon er gelesen und gehört hatte, das zu erblicken er sich gesehnt, das für ihn das ewig Unerreichbare bleiben sollte.
Bis Johannis ging es so fort, dann hörte die Nachtigall auf zu schlagen, und der Schuster nahm das Bauer wieder ins Zimmer herein. Im letzten Frühjahr hatte Georg vergeblich auf das Erscheinen des Bauers gewartet. Der Schuster hatte die Nachtigall vielleicht verschenkt, oder vielleicht war sie gestorben, und mit ihr all die schönen Träume, die ihr Gesang geweckt, und die stille, geheimnisvolle Wonne, sich ihnen zu überlassen und ihnen nachzuhängen.
Nun aber, vor einigen Wochen an einem grauen, frostigen Februarmorgen, tönten Georg, als er in die Nähe der Schule kam, die schmerzlich vermißten Nachtigallenklänge entgegen. Er stieß einen Freudenschrei aus, sah um sich, sah zu den Häusern empor, und da war nirgends ein Vogelbauer zu entdecken, und nirgends stand ein Fenster offen, aus dem der Gesang hätte dringen können. Die Töne schlugen einmal stärker, einmal schwächer an sein Ohr. Sie wanderten, näherten, entfernten sich, und plötzlich lachte Georg laut auf. Die Nachtigall, die so prachtvoll sang, spazierte vor ihm her, blieb stehen, schmetterte -158- ihre Lockrufe in die Luft hinaus, ging ein Stück weiter, kehrte um und kam jetzt auf ihn zu.
Sie hieß Salomon Levi, war fünfzehn Jahre alt und trug schiefgetretene Stiefel, einen schwarzen Kaftan, einen steifen, breitkrempigen Hut. Ihre eingefallenen Wangen entlang baumelten ein Paar glänzende, rabenschwarze Schläfenlocken.
„Herrje, Salomon!“ hatte Georg ausgerufen, „was ist mit dir? bist eine Nachtigall worden?“
Der Angeredete trug an einem fettigen Riemen ein Tabulett, noch einmal so breit als er selbst, und hinkte von früh bis abends unermüdlich auf dem Kai vor der Schulgasse auf und ab. Sein Warenlager erfreute sich unter den Studenten des Rufes großer Solidität und bestand aus Brief- und Geldtaschen, Spiegeln, Messern, Uhrketten und dergleichen. Der junge Hausierer führte auch allerlei Spielzeug, das auf Georg eine starke Anziehung übte. Er hatte nie, nicht einmal als kleines Kind, Spielzeug besessen.
„Spielereien kaufen – Geld hinauswerfen, Unsinn!“ sagte Pfanner. „Ein Kind, das Phantasie hat, ein Kind wie das meine braucht keine. Ein Scheit Holz oder ein hölzernes Pferd sind dasselbe für ihn, sind ihm beide ein lebendiges Pferd. Eine Puppe in Seidenkleidern oder der in Zeitungspapier gewickelte Stiefelknecht sind ihm eines wie das andere, ein lebendiges Kind.“
Für Georg haftete der Reiz des Versagten an jedem Gegenstand in Salomons Auslagekasten. Er kam nie ohne Herzweh an ihm vorüber und knüpfte, so oft es anging, ein Gespräch mit Levi an, um alle die Kostbarkeiten, die er ausbot, mit Muße betrachten -159- und sogar berühren zu dürfen.
„Ach Salomon,“ sagte er ihm einmal, „wie glücklich bist du! Kannst immer auf und ab gehen, und mußt nicht mehr in die Schule, hast so viele schöne Sachen und kannst sie den ganzen Tag ansehen. Wie froh mußt du sein!“
Salomon sah ihn wehmütig an. In welchem Irrtum war Georg befangen! Wenn Salomon alle die „schönen Sachen“ anbrächte, und noch viele andre und Geld für sie bekäme und studieren könnte, dann wäre er froh.
Sie hielten nun täglich eine Unterredung, eine kurze bloß, denn Georg wußte, daß der Vater ihn daheim fast regelmäßig, mit der Uhr in der Hand, erwartete, und wenn er sich um ein paar Minuten verspätete, dann gab es böse Minuten für seine arme Mutter.
So flüchtig aber auch die Begegnungen der beiden Knaben waren, sie bildeten allmählich ein starkes Band. Jeder von ihnen kannte das Leiden; einer bedauerte den andern und beneidete ihn auch. Fürs Leben gern hätten sie getauscht, verhandelten oft darüber und waren schon gute Bekannte gewesen vor jenem Februarmorgen, an dem der Vorzugsschüler dem Hausierer zugerufen hatte:
„Bist eine Nachtigall worden?“
Helles Entzücken durchströmte ihn, als Salomon ihm ein Instrumentchen zeigte, nicht größer wie eine Nuß, in dem alle Flötentöne der Nachtigall schliefen. Man brauchte es nur zwischen die Lippen zu nehmen und geschickt mit der Zunge zu behandeln, um den lieblichen Gesang zu wecken. Er hätte sich auf die Knie werfen und Salomon beschwören mögen: „Sei -160- gut, sei großmütig, schenk mir die Nachtigall!“ Aber das Bild seines Vaters schwebte ihm vor, er vernahm die Worte: „Du bist ein Beamtensohn, du unterstehst dich nicht, etwas anzunehmen, nicht ein Endchen Bleistift, nicht eine Feder. Von keinem Mitschüler, von keinem Menschen.“
So stotterte er denn mit fliegendem Atem: „Was kostet die Nachtigall?“
Sie kostete zwanzig Heller, und Salomon hatte heute schon ein paar Dutzend verkauft und hoffte, noch ein paar Dutzend zu verkaufen und bald auch seinen ganzen Vorrat, denn sie gingen reißend ab.
Georg überlegte: „Wirst du in fünf Tagen keine mehr haben...? Hebe mir eine auf, ich bitte dich. Wenn ich mein Jausengeld erspare, habe ich in fünf Tagen zwanzig Heller beisammen und kann dir die Nachtigall bezahlen.“
Salomon war sehr ungläubig. Mehrmals schon hatte Georg versucht, sein Jausengeld zu sparen, um bei ihm einen Einkauf machen zu können, es aber nie weiter gebracht als bis zu acht, höchstens zu zehn Heller. Dann war er plötzlich an einem Nachmittag zu hungrig geworden und hatte sein ganzes Geld auf einmal ausgegeben, für eine besonders lockende Brezel. Beim Bäcker an der Ecke bekam man so köstliche! Er hatte auch schon seinen kleinen Besitz an Kupfermünzen Ärmeren, als er selbst war, geschenkt. Salomon zweifelte mit gutem Grund an der Fähigkeit des „jungen Herrn“, etwas zurückzulegen. Dennoch erfüllte er ihm seinen Wunsch. Eine Nachtigall blieb unverkauft, die beste. Wer die zu behandeln verstand, konnte ihr ganz besonders klangreiche Töne entlocken.
Und heute hatte Georg sie erworben, war glorreich -161- vor Salomon hingetreten, hatte ihm zehn Zweihellerstücke in die Hand gezählt und die Nachtigall in Empfang genommen.
Der Unterricht in der Gebrauchsanweisung war „dreingegangen“. Das kleine Instrument wanderte von einem Mund zum andern, und sogleich, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit lernte Georg dem Tabulettkrämer seine Kunst ab.
„Was ein Talent zur Musik! Ich hab müssen lernen drei Tag, bis ich hab spielen gekonnt. Sie können gleich spielen, besser als ich.“
Georg erwiderte glückselig, es sei ja so leicht. Ach, wenn alles so leicht wäre, wenn es mit der Mathematik und der Geschichte und mit dem Griechischen auch so ginge!
In Salomons melancholischen Augen leuchtete es auf: „Mir möchte leicht sein das Studieren,“ sprach er und sah sehr hochmütig und sehr traurig aus.
Jetzt war es nahe an elf Uhr. Frau Agnes hatte sich auf Befehl Pfanners zu Bette begeben, sie schlief aber nicht; sie beobachtete vom dunkeln Alkoven aus ihren Mann, der mit unvermindertem Eifer liniierte, rubrizierte, und ihren Jungen, der müd und blaß sich über sein Heft beugte oder mit verträumten Augen emporblickte zu dem grauen Fleck, den der Rauch der Lampe allmählich an die Decke gemalt hatte. Er durfte noch immer auf des Vaters grimmig wiederholtes „Bist fertig?“ nicht mit ja antworten; er war eben nicht bei der Sache. Er hatte eine Hand in die Tasche gesteckt und die Finger um die -162- Nachtigall gelegt und preßte sie manchmal, als ob sie etwas Lebendiges wäre und es fühlen könnte, mit großer, sanfter Liebe.
Der Heimweg, der ihm sonst immer endlos vorkam, war ihm heute zu kurz gewesen. Fast die ganze Zeit hindurch hatte er die Nachtigall schlagen lassen, und Kinder und selbst Erwachsene waren stehen geblieben und hatten ihm zugehört und sich über die herzige Musik gefreut. Es wäre ihm ein Glück gewesen, vor der Mutter eine Probe seiner neu erlernten Kunst abzulegen. Aber das ging nicht an, die Mutter würde sogleich gesagt haben: „Du mußt dem Vater das Ding zeigen, du weißt ja, er mag Spielereien nicht.“ Und wenn Georg auch geantwortet hätte: „Es ist keine Spielerei, es ist ein Instrument,“ würde sie doch dabei geblieben sein: „Hinter dem Rücken des Vaters darf man nichts tun und nichts haben.“ So hatte sie es immer gehalten ... bis heute.
Georg aber konnte nicht vergessen, daß ihm vor Jahren der jüngste Sohn der Nachbarin, Karl Walcher, seine Flöte geliehen; er hätte sie ihm auch gern geschenkt, ohne Pfanners spartanisches Verbot. Was Georg einmal hörte von den Kinderliedern, die seine Mutter ihm vorsummte, bis zum feierlichen Kirchengesang, alles merkte er sich und brachte die Melodie ganz richtig heraus auf dem höchst primitiven Instrumentchen. Frau Walcher und ihre Söhne hatten ihn bewundert und sogar sein Vater ihm manchmal ein zustimmendes: „Nicht übel“ gespendet. Aber bald war ihm seine Freude verdorben worden.
„Laß die Dummheiten – lern!“ hatte es bald -163- geheißen. An dem geringsten Versäumnis, an jeder Zerstreutheit des Knaben hatte die Flöte Schuld getragen. Bald, schrecklich bald hatte der Vater sie ihrem Eigentümer zurückgestellt. So würde er gewiß auch die Nachtigall nicht dulden, und deshalb mußte sie vor ihm verborgen bleiben, die liebe, herrliche.
Als Georg endlich zur Ruhe gehen durfte, erhielt sie ihren Platz unter seinem Kopfkissen. Nach Mitternacht erwachte er, zog sie an seine Lippen. Um sie zu küssen; natürlich nur, sie schlagen zu lassen, konnte ihm doch nicht einfallen ... Zwar – die Eltern schliefen. Zwischen ihnen und ihm, am Mauervorsprung des Alkoven, tickte kräftig, jedes schwache Geräusch übertönend, der flinke Gang der Schwarzwälderin. Dennoch wäre es nicht geraten ... und während er dachte: nicht geraten, berührte seine Zungenspitze schon das kühle Metallplättchen. Ohne seinen Willen, fast ohne sein Zutun begann die Nachtigall ihren Gesang zu erheben. Sie klagte, sie lockte, sie verkündete eine unerfüllbare Sehnsucht. Ihre Töne stiegen, schwollen, brachen plötzlich ab. Herrgott im Himmel ... Zu laut, zu laut! Der Vater hat einen gar leisen Schlaf ... Entsetzlich erschrocken, von Schauern der Angst durchrieselt, steckte Georg seinen Kopf unter die Decke. Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte der Vater von einem merkwürdigen Traum, den er in der Nacht gehabt. Der Schuster hatte wieder eine Nachtigall angeschafft, und Pfanner war gewesen, als ob er sie so laut schlagen hörte, daß er darüber erwachte, und dann, das war das Merkwürdige, hatte er sich eingebildet, -164- wach zu sein und sie noch zu hören. Seine Frau konnte nicht genug staunen, auch ihr hatte etwas ganz Ähnliches geträumt, und das mußte wohl etwas zu bedeuten haben.
Georg stand auf und trat ans Fenster, damit die Eltern sein Erröten nicht sähen.
Auch Frau Agnes hatte ihr Geheimnis, und sie mußte, um es zu bewahren, allerlei Ausflüchte gebrauchen, die gar oft weitab von der Wahrheit lagen. Seit einiger Zeit war bei allen Mahlzeiten der Tisch reichlicher besetzt, und Pfanner hatte doch nicht mehr Wirtschaftsgeld bewilligt als früher. Seine Frau konnte nicht immer bei der Wahrheit bleiben, wenn er sie darüber zur Rede stellte. Ungern genug hörte er schon und fühlte sich gedemütigt, wenn sie gestand, einige Konfektionsarbeiten gemacht und durch Vermittlung Frau Walchers unter der Hand verkauft zu haben. Nie hätte er erfahren dürfen, daß sie ein eben entbehrliches Kleidungsstück oder Hausgerät ins Versatzamt getragen, einen noch aus dem väterlichen Hause mitgebrachten kleinen Schmuckgegenstand veräußert hatte. Er hielt viel auf diese Reste einer ehemaligen Wohlhabenheit; es schmeichelte ihm, sich seine einst sehr schöne Frau – nur leider die Hellblonden verblühen sehr schnell! – aus einem guten und damals fast reichen Hause geholt zu haben. Der geringste Zufall konnte alles an den Tag bringen und dann – Agnes schloß die Augen und erzitterte bei dem Gedanken, was dann geschehen würde. Aber gleichviel, das Kind mußte um jeden Preis besser genährt -165- werden als bisher.
Frau Adjunkt Walcher hatte sich schon vor einem Jahre in ihrer kurz angebundenen, offenherzigen Weise darüber ausgesprochen: „Mir scheint immer, Sie halten Ihren Schorsch zu kurz in der Kost, Frau Offizial. So ein Bub will tüchtig essen. ‚Das Lernen zehrt, und in einen kleinen Ofen muß man öfter nachlegen als in einen großen‘, sagt mein Mann. Er und ich sind oft hungrig schlafen gegangen – Herrgott, ein Adjunkt mit tausend Gulden Gehalt! – unsre zwei Buben waren immer satt geworden. Sehen auch aus wie die Knöpf. Ihr Schorsch schießt in die Höh, wird ja bald den Herrn Offizial eingeholt haben, setzt aber kein Lot Fleisch an.“
„Finden Sie, daß er schlecht aussieht?“ hatte Frau Agnes in Bestürzung ausgerufen.
Nun nein, das fand die Frau Adjunkt gerade nicht, aber so gewiß „kleber“ und eine bessere „Farb“ sollt er haben: „Die Nahrung muß ausreichend sein,“ sie betonte das Wort mit Wohlgefälligkeit, es kam ihr so gebildet vor. „Ausreichend, sagt mein Mann. Das viele Lernen schlägt sich sonst den Kindern auf die Nerven.“
Dies Gespräch hatte entschieden; die Liebe der Mutter hatte über den Widerwillen der ehrlichen Frau gegen Falschheit und Lüge gesiegt. Ihrem Manne Vorstellungen zu machen, einen Versuch zu machen, ihn zur geringsten Mehrausgabe zu bewegen, wäre ihr so wenig eingefallen, als einem Stein zuzureden, sich in Brot zu verwandeln. Eine Erörterung zwischen ihm und ihr kam überhaupt nicht vor. Vom Anfang ihrer Ehe an hatte sein herrisches -166- und ablehnendes Wesen jede Möglichkeit, ihm vertrauensvoll zu nahen, ausgeschlossen. Was konnte eine Frau ihm zu sagen haben? Er war er, und außer ihm war die Pflicht, und diesen beiden höchsten Mächten unterstand die Welt, die er begriff. Erst als ein Sohn ihm geboren wurde, gab es ein zweites Wesen, ihm ebenso wichtig, wie er sich selbst. Eine Fortsetzung seines Ich, eine vervollkommnete Fortsetzung. Alles, was seinem Ehrgeiz versagt geblieben, was er nicht errungen, sollte sein Sohn erringen.
Er war aus Armut und Niedrigkeit hervorgegangen, hatte einen nur mangelhaften Schulunterricht genossen und niemals die Aussicht gehabt, es zu einer höheren Stellung zu bringen. Als kleiner Beamter lebte er und würde er sterben. Aber der Sohn: Das Gymnasium als Primus absolvieren, den Doktorhut summa cum laude erwerben, schon in den ersten Anfängen der Laufbahn von der Glorie reichster Verheißungen umstrahlt, steigen von Erfolg zu Erfolg, von Ehren zu Ehren – das sollte der Sohn. Den nüchternen Offizial Pfanner, den unfehlbaren Rechner, den trockenen Vernunftmenschen nahm, wenn er sich diesen Vorstellungen hingab, die Phantasie auf ihre Flügel und trug ihn über alle Gipfel des Wahrscheinlichen sausend hinweg. Und wenn er dann wieder zur Erde niederstieg und seinen Georg zufällig einmal müßig einhergehen sah, wetterte er ihn an: „Lern!“
Er selbst, immer in der Zukunft lebend, die Gegenwart und was sie darbot, geringschätzend, entfremdete sich mehr und mehr seinen Standesgenossen. Er erwies sich ihnen gefällig, machte Arbeiten, die -167- ihnen zugekommen wären, hatte aber dabei nur seinen eigenen Vorteil, die Verbesserung seiner Stellung im Auge. Dem Verkehr mit ihnen, den Zusammenkünften im Kaffeehaus und im Stammgasthaus, ging er so viel als möglich aus dem Wege. Nur selten fand er sich mit den Kollegen zusammen. Beim „goldenen Wiesel“, wo die Versammlungen der Herren Beamten stattfanden, an denen auch einige Vorgesetzte und Bekannte der Vorgesetzten teilnahmen, da begegnete Pfanner richtig jedesmal dem Manne, den er haßte, dem Kunstschlosser Herrn Obernberger. Vor Jahren hatte es dem als großer Vorzug gegolten, mit den Herren von der Eisenbahn im Gasthaus zusammenkommen zu dürfen. Jetzt hatte der Standpunkt sich verrückt. Seitdem die Arbeiten aus der Kunstschlosserei Obernbergers erste Preise auf den Ausstellungen erhalten hatten, seitdem er viele hundert Arbeiter in seinen Werkstätten beschäftigte, im eigenen Hause wohnte, im eigenen Wagen vorfuhr und das Band des Franz Josephs-Ordens im Knopfloch trug, eilten die meisten der Herren ihm bis zur Tür entgegen, und bei Tische erhielt er den Platz zur Rechten des Inspektors.
Das alles hätte Pfanner hingehen lassen und sich nicht weiter darum gekümmert. Aber dieser Schlosser hatte einen Sohn, und dieser Sohn trat seinem Georg im Gymnasium auf die Fersen, konnte ihn einholen, konnte ihn überflügeln, denn der verdammte Bub hatte Talent, sein ärgster Feind mußte das zugeben. „Talent um eine Million“, wie Herr Obernberger sagte, „aber nicht um einen Heller Fleiß.“
Es war nach der Schule. Pepi Obernberger und -168- Georg Pfanner gingen ein Stück des Weges miteinander. Sie waren beide aufgerufen worden vom Professor des Griechischen, und Pepi hatte besser bestanden. Georg schritt sehr kleinlaut und mit einem ganz roten Kopf neben ihm her. Der Vater versäumte nie zu fragen: „Hat der Herr Professor dich aufgerufen, und wen noch, und wie ist's gegangen?“
„Du weißt immer,“ sagte Georg zu seinem Kameraden. „Hast heut wieder sehr gut gewußt. Ich wäre froh, wenn ich immer so gut wüßte wie du.“
Pepi fing sogleich zu prahlen an: Hol's dieser und jener! Ihm lag nichts an dem dummen Plunder. Kasusartige Endungen, Komparation der Adjektiva, dummes Zeug! Er plagte sich auch gar nicht damit. Wenn der Trottel von einem Professor eine neue Walze einlegte in seinen Werkelkasten und anfing, sie herunter zu leiern, da höchstens hörte er ein bißchen zu. Zu Hause sah er kein Buch an, das war ihm viel zu fad.
„Geh, geh!“ fiel Georg ungläubig ein, und er verbesserte sich:
„Fast keins, auf Ehre. Daß sie mir immer so gute Zeugnisse geben, das danke den alten Perücken der Teufel. Ich gift mich darüber, weil's meinen Alten auf die dumme Idee bringt, einen Professor aus mir zu machen. Aber nein! Lieber als so ein lächerlicher Zopf zu werden und auf alles zu verzichten, was schön ist: Rad fahren, reiten, jagen, tanzen, kutschieren, Billard spielen im Kaffeehaus, Gletscher besteigen, lieber erschieß ich mich!“
Georg sah ihn aufmerksam an, er war so ganz und gar das Ebenbild seines Vaters, des braven, -169- fröhlichen Herrn Obernberger mit dem runden Kopf und dem runden Gesicht und dem freundlich lächelnden Munde. Und der Mensch sprach von Selbstmord?
„Red nicht so!“ rief Georg. „Du wirst keine Todsünde begehen; Selbstmord ist eine Todsünde und eine Feigheit.“
„Unsinn!“ stieß Pepi höhnisch aus. „Wie kann man so ein Esel sein und alles nachplappern, was sie einem in der Schul sagen. Aber du hast nie einen eigenen Einfall. Hast den Kopf schon ganz ausgestopft mit Pappendeckel. Adje!“ – Du Schulesel! setzte er in Gedanken hinzu und bog ab, um die nächste Tramwaystation zu erreichen.
Georg ging langsam vorwärts und sagte sich doch mit Unbehagen, daß jeder Schritt ihn dem Hause näher brachte, wo der Vater ihn gewiß schon erwartete mit der ständigen Frage, die er heute mit so großem Zagen beantworten würde.
O das traurige Haus, das kahle, große mit den langen Gängen und den schmalen Stiegen, und das Zimmer, in dem man immer saß zu dreien, und wo keines sich vor dem andern retten konnte. Dahin mußte er zurückkehren, heute und morgen und alle Tage und noch fünf Jahre lang. Wie soll man das erleben, und hat man's erlebt, fangen neue Studien an, die schwersten. Wie ein grauer Berg, den er nie werde übersteigen können, bäumte die Zukunft sich vor ihm auf; ein ödes, trostloses, der Verzweiflung verwandtes Gefühl ergriff sein Herz und durchtränkte es mit unsagbarer Bitternis. Plötzlich kam ein nie gekannter Trotz über ihn. Obwohl die Uhr am nächsten Turme halb sieben schlug, obwohl er genau wußte, daß -170- er werde sagen müssen: „Ja, ich habe mich aufgehalten unterwegs,“ setzte er sich auf eine Bank im kleinen Square vor Beginn der Gasse, in der die elterliche Wohnung lag, zog die Nachtigall aus der Tasche und ließ sie schlagen. Sie tröstete, sie milderte jedes herbe Gefühl. Sie ließ ihn einen Übergang finden aus tiefer Niedergeschlagenheit zu lauterem Frohmut.
Er hatte ja nicht nur Betrübnis und Gram in seiner Seele, tief in ihrem Innersten unter lastenden Schatten lohte rot und warm die Flamme junger Lebensfreudigkeit, und ein unausgesprochenes, immer zum Schweigen verdammtes Glücksgefühl wollte sich einmal hinaussingen. Es jubelte in die laue Luft, zum lichten Frühlingshimmel empor, mit der Stimme der Nachtigall.
Georg fand den Vater nicht daheim. Er war dagewesen, hatte sich umgekleidet und zu einer Beamtenversammlung ins Stammgasthaus begeben. Mutter und Sohn sprachen es nicht aus, welch ein Fest das Alleinbleiben für sie war. Um jede Minute, die er auf dem Heimweg vertrödelt hatte, tat es Georg jetzt leid. Die Stube kam ihm auf einmal traut und freundlich vor, die Luft reiner, und die Lampe schien heller zu leuchten als sonst. Unter ihr in einem Glase stand ein kleiner Veilchenstrauß; Frau Walcher hatte ihn gebracht.
Georg beugte sich über ihn und sog seinen zarten Duft ein: „Die gute Frau Walcher;“ er lächelte seine Mutter pfiffig an. „Hat sie den auch vom Land gekriegt, wie neulich wieder das gute ‚Junge‘ vom Hasen? -171- “
Frau Agnes errötete. So war ihr der Schorschi hinter ihre Schliche gekommen? Sie wich seinem auf sie gerichteten Blick aus, sie antwortete nicht, sie sprach nur: „Der Vater hat dir sagen lassen, du sollst lernen.“
„Schon recht,“ erwiderte er übermütig und warf die Schultasche im weiten Bogen auf das Sofa, daß sie dort, emporgeschnellt, einen fröhlichen Hupf machte.
„Aber Georg, du bist ja heut wie ausgewechselt.“
„Ja, ja, Mutter!“ Er stürzte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.
Sie wehrte: „Sei gescheit.“
„Nein, gescheit bin ich heute einmal nicht. Ich muß dich lieb haben und küssen, dein liebes Gesicht, deine lieben Hände, jeder Finger bekommt einen Kuß.“
Nun denn! Ach, die Zärtlichkeit des Kindes tat sehr wohl. „Jetzt aber setz dich, es wird ja alles kalt.“
Und sie setzten sich und aßen und ließen sich's schmecken und plauderten und dachten nicht an morgen, und waren so glücklich, wie die armen Leute sind, die ganz in der Gegenwart leben, den Augenblick genießen, den Blick von der Zukunft abgewendet, die ihnen nichts Gutes bringen kann.
Nach dem Abendbrot begab die Mutter sich an die Nähmaschine und wollte noch ein Stündchen fleißig sein. Die alte Nähmaschine, die sich die letzte Zeit hindurch nur schwer in Bewegung setzen ließ und den Dienst auch schon mehrmals versagt hatte, glitt heute dahin wie ein Schlitten auf festgefrorener Bahn. Was war denn da geschehen? Gestern noch hatte die Mutter gedacht, die alte Getreue werde überhaupt nicht mehr brauchbar sein und nicht einmal in der -172- Fabrik hergestellt werden können. Was geschehen war? Der Vater hatte sie auseinander genommen und sie ausgezeichnet repariert.
„Der Vater?“ das gab dem Georg zu denken. „Hat denn der Vater gelernt, Nähmaschinen reparieren?“
„Gewiß nicht. Aber weißt du, der Vater kann vieles, das er nicht gelernt hat, er hat zu allem Talent.“
Hat es nicht gelernt und kann es, weil er Talent hat. Etwas können, das man nicht gelernt hat, heißt also Talent haben. Er versank in Grübeleien.
„Aber Mutter, ich hab doch auch Talent.“
Sie mußte lachen. Es war wirklich, wie wenn ein Zweifel aus seinen Worten spräche: „Nun, ich meine, du hörst es oft genug, um es zu wissen,“ und sie griff zärtlich mit der Hand in seinen zerzausten blonden Schopf.
„Wenn's nur wahr ist, Mutter, wenn's nur recht wahr ist;“ er schluckte mühsam und benetzte die trocken gewordenen Lippen mit der Zunge. Die Traurigkeit, die ihn nach dem Gespräch mit Pepi angewandelt hatte, wollte sich wieder in ihm regen; aber die Anwesenheit der Mutter bannte sie rasch. Sein Herz ging weit auf, nicht das kleinste Geheimnis blieb darin. Von allem, was bisher stumm und schweigend in ihm gelegen, redete er, und während er es tat, wurde ihm manches klar und ausgemacht, was er sich selbst nie eingestanden hatte. Die Mühe, die das Lernen ihm verursachte, und daß es ihm so schwer wurde, sich etwas „auswendig zu merken“. Andre lernten viel leichter auswendig und merkten sich's viel länger.
„Du hast kein sehr gutes Gedächtnis,“ meinte die -173- Mutter und dachte, das kommt oft vor bei sehr Talentvollen. Sie gab dem Sohn auch etwas Ähnliches zu verstehen; er zuckte die Achseln.
„Wer Talent hat, das findest du selbst, kann auch, was er nicht gelernt hat. Ich hab vielleicht gar kein so großes Talent zum Lernen in der Schule. Aber vielleicht zu etwas anderm ... Das Singen in der Volksschule hat mich so gefreut. Da hab ich immer einen Einser gehabt ... und – weißt du noch, die Flöte! Ach, wenn ich hätte lernen dürfen Flöte spielen, oder gar Violine ... Jetzt hab ich halt nichts mehr als nur – soll ich's dir sagen? soll ich? Ja? — Bleib sitzen – ganz ruhig.“
Er stand auf und ging in den dunkelsten Winkel des Alkoven, und leise schwirrten von dort her die Töne der Nachtigall zu der Mutter herüber, und sie staunte und hörte zu und überhörte, daß die Küchentür geöffnet wurde, und nun auch die Zimmertür.
„Halb elf,“ sprach Pfanner, eintretend, „und du bist noch auf, und wo ist der Bub?“
Er war in schlechter Laune.
In der Versammlung war ein Antrag, den Pfanner und einige ältere Beamten eingebracht hatten, abgelehnt worden. Beim gemeinsamen Abendessen hatte sich dann Obernberger eingefunden, einen Flaschenkorb in der mächtigen Rechten, und hatte Bordeaux und Champagner mit so guter, bescheidener Manier serviert, daß selbst der Herr Direktorstellvertreter sich herbeiließ, ein Gläschen anzunehmen. Nur Pfanner lehnte schroff ab. In Gift hätte sich ihm ein vom -174- „Schlosser“ kredenzter Trunk verwandelt. Bis zum Überdruß renommierte der wieder mit seinem Pepi und gab die tollen Streiche des Burschen so stolz und behaglich zum Besten, daß Pfanner zuletzt nicht mehr an sich halten konnte!
„Wenn's der meine so treiben tät, der sollt mich kennen lernen.“
Da waren dann gleich Entschuldigungen Pepis nachgekommen und ein zärtliches Lob des guten Kerls, der er sei, bei all seinem Übermut, und was für ein goldenes Herz er habe und – ein Talent! Die Herren Professoren zweifelten gar nicht daran, daß er in diesem Jahre Primus werden würde.
Primus – der Sohn des Schlossers! Pfanner hatte plötzlich einen gallbittern Geschmack im Munde, und das Essen widerstand ihm. Sein Georg war nur in der ersten Klasse Primus gewesen, in der zweiten zweiter Vorzugsschüler, und nun in der dritten konnte er's allem Anschein nach gar nur zum Vierten, dem letzten Vorzugsschüler, bringen. Er hatte ein „Genügend“ gehabt in Griechisch und ein „Befriedigend“ in Geometrie. Wohin kam er, wenn er es von nun an nicht zu lauter Vorzugsklassen brächte? Wohin überhaupt, wenn er in seinen Leistungen von Jahr zu Jahr zurückblieb? Pfanner sah alles schon verloren, alle Mühe umsonst angewendet, alle Opfer umsonst gebracht. Der Sohn würde am Ende auch nichts andres werden als der Vater, ein armseliger kleiner Beamter. Dieser Sohn, dem alle Hilfsmittel geboten waren, der nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchte. Aber es ging ihm zu gut, der Hafer stach ihn, und er überließ sich seinem Leichtsinn -175- und seiner Faulheit. Von Erbitterung erfüllt, mit dem Vorsatz, die Zügel schärfer anzuziehen, war Pfanner nach Hause gekommen. Da fand er seine Frau müßig im Zimmer sitzend und dem Vogelgesang lauschen, den sein großer Bub, im Alkoven versteckt, nachahmte.
„Schämst dich nicht?“ fuhr er ihn an, als Georg auf seinen Befehl hervortrat. „Hast Ehr im Leib oder keine? Was tragst da in der Hand? Aufmachen die Hand!“
Der Knabe gehorchte. Der Gedanke, eine Entschuldigung vorzubringen, kam ihm gar nicht. Pfanner erfuhr alles, und sein Unwillen, seine Entrüstung kannten keine Grenzen. Dieser Bub! Wirklich ein ungeratener Sohn. Spielt da, der bald Vierzehnjährige, mit einer Lockpfeife, oder was das ist. Spielt bei Tag und Nacht, ja, ja – er besann sich jetzt – hat noch die Eltern zum Narren gehalten. Wenn er abends lernen soll, fallen ihm die Augen zu, spielen kann er bis in die Nacht. „Aber wart nur ... Her mit dem Quark!“
Ein fruchtloser Widerstand des Schwächeren, ein rascher Sieg des Stärkeren, ein Armschwung ... Das Fenster stand offen – die Nachtigall flog hinaus.
Frau Agnes zuckte zusammen. Georg stand mit weit aufgerissenen Augen:
„Vater, meine einzige Freud!“ schrie er auf, und galt es nun, was es mochte, die härtesten Worte, die grausamsten Schläge, er mußte weinen um seine „einzige Freud“, weinen, schluchzen, sich auf den Boden werfen und sich winden in Trostlosigkeit und Verzweiflung. Daß der Vater tobte und schrie, hörte er -176- nicht, daß der Vater einen Knoten ins Taschentuch flocht, sah er nicht, daß Hieb auf Hieb auf ihn niedersauste, fühlte er nicht. Er wußte und fühlte nur, daß er ein armes Kind war, dem immer das weggenommen wurde, woran sein Herz ihm hing.
„Aufstehen! Still! Augenblicklich still!“ wetterte Pfanner und hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Kinde, das sich endlich vom Boden erhob und heftige Anstrengungen machte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Vielmehr forderte sein Zorn noch ein Haupt, sich darüber zu ergießen. Wer trug Schuld an dem frevelhaften Leichtsinn des Buben, wer unterstützte ihn noch darin? Die Mutter, die verbrecherisch schwache, törichte Mutter! Wenn aus dem Buben nichts wird, wenn er heranwächst zu einer Last und sogar Schande der Eltern – Müßiggang ist aller Laster Anfang –, wenn er elend untergeht, fällt die Verantwortung dafür auf ihr Gewissen, und sie wird einst zur Rechenschaft gezogen werden.
Pfanner verstand es, seine Umgebung stumm zu machen. Es kam kein Laut über die Lippen seiner Frau. Bis zu einem gewissen Grade hatte sie sich im Laufe ihrer Ehe an sein maßloses Übertreiben gewöhnt, und jetzt freute sie sich gar, daß seine Vorwürfe sie trafen. So diente sie ihrem Jungen eine Zeitlang wenigstens als Schild.
Der Mann schrie und tobte, und dabei zog er den Rock und die Weste aus und legte sie sorgfältig auf einen Sessel. Sogar in der Wut gegen seine nächsten Menschen verfuhr er schonend mit seinen Sachen. Nun entstand eine Pause, aber nur als Vorbereitung zu einem neuen Schrecknis, zu der -177- Frage:
„Sind die Aufgaben gemacht?“
„Ich werd sie morgen machen,“ erwiderte Georg bang und zögernd. „Morgen ist Sonntag ...“
„Ja so. Bring die Aufgaben!“ Pfanner sah sie durch. „Eine Fabel aus Deutsch in Latein übersetzen. Griechische Grammatik zu lernen: Unregelmäßigkeit der Deklination. Geometrie: Drei Aufgaben. Geschichte: Wiederholung, von den Kreuzzügen bis zu Rudolf von Habsburg. Und von alledem nichts gemacht? nichts? Das alles soll morgen bewältigt werden?“ Er dekretierte: „Geschichte heute noch wiederholen, aufmerksam durchlesen. Wenn man am Abend etwas aufmerksam durchliest, weiß man es am nächsten Morgen wörtlich.“
„Es sind sechsundzwanzig Seiten,“ wagte Georg einzuwenden.
„Zweiundzwanzig, vier Seiten nehmen die Illustrationen ein.“ Er legte das Buch vor ihn hin: „Setz dich, lern!“
Der Knabe tat, wie ihm geheißen worden. Gut also, gut, so setzt er sich denn hin und lernt. Daß er müd und schläfrig ist, was liegt daran, ihm ist alles recht, er lernt. Wenn er sich nur zu Tode lernen könnte, das wäre ihm das allerliebste. Wenn er tot wäre, hätte er Ruhe, und seine Mutter hätte Ruhe, brauchte sich seinetwegen nicht beschimpfen lassen. So begann er denn zu lesen: „Schon in den ersten Jahrhunderten trieben Andacht und Glaubensinnigkeit die Christen zu den heiligen Stätten ...“
An schönen Sonntagnachmittagen unternahm -178- Pfanner regelmäßig einen Spaziergang, und Georg durfte ihn begleiten. Ein Vergnügen, auf das die Mutter längst freiwillig verzichtet hatte, und von dem das Kind trauriger heimkehrte, als es ausgewandert war. Mit dem Vater spazieren gehen, bedeutete, an jeder Unterhaltung, jedem Genuß vorüber gehen. Dort drüben, im luftigen Prater, wurde nach der Scheibe geschossen, im Luftschiff, im mechanischen Ringelspiel gefahren, da gab's Theateraufführungen, Wachsfigurenkabinetts, eine Damenkapelle, Zigeunermusik. Und ein Aquarium und ein Panorama und so vieles Schöne noch, von dem Georgs Mitschüler zu erzählen wußten. Wenn er eine Anspielung wagte, eine Frage stellte: „Warst du schon einmal im Wurstelprater? Hast du schon einmal die Zigeuner spielen gehört?“ antwortete der Vater voll Verachtung: Was man im Wurstelprater zu sehen und zu hören bekäme, sei lauter elendes Zeug, an dem nur ungebildete und rohe Menschen sich zu ergötzen vermöchten. Im Bogen wich er allem aus, was seine eigene Neugier hätte reizen können oder gar ihn selbst in Versuchung bringen, sich einen guten Tag zu machen. Einmal in einem Jahr, nein – einmal in vielen Jahren. Er wollte nicht! wollte nicht ein paar Gulden unnötig ausgeben, die ins Sparkassenbuch des Kindes gelegt werden könnten.
Als sie nach Hause kamen, erwartete sie ein gutes, kräftiges Abendessen.
„Weil heute Sonntag ist,“ entschuldigte sich Agnes, da Pfanner ihr neuerdings Verschwendung vorwarf.
Es war ein Verdacht in ihm rege geworden, -179- den er nicht aussprach, der ihn aber quälte, und der entweder getilgt oder gerechtfertigt werden mußte. Kürzlich hatte er sich um Lebensmittelpreise erkundigt, hatte gerechnet und herausgebracht, daß die Ausgaben, die sich seine Frau fortgesetzt erlaubte, unmöglich mit dem ihr zur Verfügung gestellten Küchengelde bestritten werden konnten. Erarbeitet wollte sie den Überschuß haben? Lächerlich! Er, der Sohn einer armen Näherin, wußte, was seine Mutter verdient hatte mit täglich zwölfstündiger emsiger Arbeit. Ihm ins Gesicht sollte seine Frau, die ihren Haushalt ohne jegliche Unterstützung bestellte, nicht behaupten, daß sie imstande sei, sich eine regelmäßige Einnahme zu verschaffen. Womit also bestritt sie die Mehrauslagen? Pfanner begnügte sich nicht lange mit den ausweichenden Antworten, die sie ihm gab. Eines Tages stellte er ein scharfes Verhör an, und sie, in die Enge getrieben, angeekelt von der erniedrigenden Pein, immer neue Ausflüchte ersinnen zu sollen – gestand.
Ja denn, ja, sie verkaufte, sie versetzte, sie gab ihr Letztes her, damit das Kind, das in fortwährender geistiger Anspannung lebte, ordentlich ernährt werde in den Jahren der Entwicklung und des stärksten Wachsens.
Pfanner zürnte, höhnte: Was hatte denn er gehabt in diesen selben Jahren? Wer hatte denn gefragt, wie er sich nährte? Georg wuchs auf wie ein Hofratssohn im Vergleich zu ihm. Er, zu vierzehn Jahren, hatte sich sein Brot selbst verdienen müssen, sein Brot im Sinne des Wortes! und nicht etwa ein frisch gebackenes. Die Entbehrungen hatten ihm sehr gut angeschlagen, er war immer gesund geblieben. -180- Warum sollte sein Bub anders geartet sein als er und wie ein Weichling behandelt werden, den man aufpäppeln muß?
Agnes beharrte zum ersten Male während ihrer langen Ehe im Widerstand gegen den Mann. Der Augenblick, den sie so sehr gefürchtet hatte, war gekommen und fand sie stärker, als sie geglaubt hatte sein zu können. Ruhig ließ sie die Anklagen Pfanners über sich ergehen, und indes er ihr vorwarf, ihn hintergangen zu haben, grübelte sie nach über eine Möglichkeit, ihn noch weiter zu hintergehen. Es mußte sein, um des Kindes willen.
So widerstandsfähig, wie sein Vater gewesen, war eben der blasse, hochaufgeschossene Junge nicht, der jetzt mit einem: „Guten Abend, Vater und Mutter!“ eintrat und schweratmend an der Tür stehen blieb, als ob die gewitterschwüle Atmosphäre, die im Zimmer herrschte, ihm auf die Brust gefallen wäre.
Einige Tage später feierte Georg seinen vierzehnten Geburtstag. Er hatte zwei Vorzugsnoten aus der Schule mitgebracht. Mit feierlichem Ernst und mit der Mahnung, das kostbare Geschenk zu schonen, übergab ihm sein Vater einen neuen Sommeranzug, eine hübsche Mütze und ein Paar solide Halbschuhe. Am Nachmittag blieb Pfanner länger als gewöhnlich am Tische sitzen und sprach, nachdem Frau Agnes das Zimmer verlassen hatte, eingehender und zutraulicher mit Georg, als sonst seine Art war.
Er wußte wohl, die Mutter nannte ihn grausam, und fand, daß er zu viel verlange von seinem Sohne. -181- Wenn es nach ihr ginge, würde der jetzt freilich gute Tage haben, die Schule Schule sein lassen und nur tun, was ihm gefiele. Aber dann? Wie würde die Zukunft aussehen nach einer vertrödelten Jugend? Und ist die Zukunft nicht die Hauptsache? Ausgerüstet mit der Macht des Wissens soll Georg der seinen entgegengehen. Ohne Mühe freilich ist Wissen nicht zu erringen. Will er der Feigling sein, der vor der Mühe flieht, oder der Held, der sie aufsucht, mit ihr ringt, sie überwindet? Es gibt keinen Sieg außer diesem ersten. Ohne ihn ist kein hohes Ziel zu erreichen.
„Das deine soll ein hohes sein!“ rief Pfanner aus. „Du bist nun kein Kind mehr, und ich kann dir sagen, das Ziel, das du dir stecken sollst, ist, ein Staatsmann zu werden. Einer, der mit überlegenem Geiste und mit starker Hand die Teufel der Zwietracht, die unsre Heimat zerreißen, bezwingt, das große Wort: ‚Gleiches Recht für alle‘ von den Lippen in die Herzen verpflanzt und es zur Tat, und uns einig, groß und glücklich macht. Denk dir, ein Mann sein, der das vermöchte! Er würde der Retter, der Erlöser, der Abgott seines Volkes.“
Georg hörte ihm voll Bewunderung zu. Daß sein Vater mit ihm redete wie mit einem Ebenbürtigen, machte ihn unendlich stolz. Der Glaube an sich selbst, der ins Schwanken gekommen war, erwachte wieder. „Ein ordentlicher Mensch sein, ist viel, und der mittelmäßig Begabte mag sich damit begnügen,“ hatte der Vater unter anderm gesagt, „ein außerordentlich Begabter ist sich selbst und den andern schuldig, ein großer Mensch zu werden. Bei ihm kommt es nur auf den Willen an, auf den unerschütterlichen -182- Entschluß ...“
Er konnte nicht einschlafen an diesem Abend. Die Zukunftsbilder, die sein Vater entworfen hatte, standen zu lebhaft vor ihm. Von der Tätigkeit eines Staatsmannes machte er sich allerdings keinen rechten Begriff, sah sich vorerst auf der Rednerbühne, einer Versammlung gegenüber, die ihn mit höhnenden Zurufen empfing; Feindseligkeit blickte aus aller Augen, in jedem Gesicht stand ein: Nein! geschrieben. Und er begann zu sprechen, und allmählich verstummten die Zurufe, und von den Gesichtern verschwand der mißgünstige Ausdruck, Teilnahme und Zustimmung wurden rege und begannen sich zu äußern, vereinzelt erst, dann immer häufiger, endlich völlig einstimmig. Er hatte seine Zuhörer hingerissen durch die Gewalt seines Wortes. Und alle, vom Ersten bis zum Letzten, sahen den Führer in ihm und folgten ihm willig und entzückt; denn sie wußten, was er wollte, war das Gute, das Weise, und der Weg, den er sie führte, war der Weg zu ihrem Heile.
Auf seinen nächsten Gängen zur Schule blieb er nicht mehr bei Salomon stehen. Er dankte für die freundlichen Winke und Verbeugungen des Hausierers nur mit einem kurzen Grußwort. Einmal hielt er sich aber doch bei ihm auf. Salomon hatte ihn gar zu inständig flehend angesehen und fragte gar zu trübselig:
„Habe ich Ihnen was getan, junger Herr, sind Sie böse auf mich?“
„Was dir einfällt,“ erwiderte Georg, „was werd ich denn bös auf dich sein.“
Es kam Salomon halt so vor. Vielleicht hatte die Nachtigall sich doch nicht bewährt, hineinschauen -183- kann man ja nicht, und vielleicht wünschte der junge Herr eine andre. Salomon war bereit, ihm eine andre zu geben um den halben Preis.
„Eine andre um den halben Preis,“ erwiderte Georg. Gewaltig trat die Versuchung an ihn, den lockenden Antrag anzunehmen. Aber er bestand, er siegte in seinem kurzen Seelenkampf.
„Nein, nein, ich brauch keine Nachtigall mehr, ich will keine!“ rief er. „Ich bin jetzt vierzehn Jahre alt, und es gehört sich für mich nicht mehr zu spielen. Ich muß lernen, ich muß trachten, Vorzugsschüler zu bleiben, ich darf keinen andern Gedanken haben als lernen.“
Diesen Vorsatz führte er aus.
Es kamen Tage, an denen sein Fleiß an Raserei grenzte. Sie verflossen und ließen eine schauderhafte Erschöpfung zurück. Niemandem, nicht einmal seiner Mutter, vertraute er, was um diese Zeit in ihm vorging. „Ich werd noch närrisch,“ dachte er. „In meinem Kopf ist kein Blut und kein Hirn; in meinem Kopf ist es weiß und leer. Das Lernen hat alles aufgefressen und muß jetzt auch aufhören, weil es nichts mehr zu fressen findet.“ Das ist ganz natürlich und ganz albern und ein peinigender Zustand, aus dem sich aufzuraffen unmöglich ist ...
Wie im Halbschlaf saß er bei seinen Büchern, und eben in dieser Zeit ließ Pepi sich herab, einer Anwandlung des Fleißes nachzugeben, und kam ihm nach, kam ihm vor in großen Sprüngen. Aus jedem Gegenstand, in dem er aufgerufen wurde, erhielt er -184- eine Vorzugsklasse.
Und wieder fragte ihn Georg: „Wie machst du's, daß du immer weißt? Sag mir's, wie du's machst?“
Pepi steckte die Hände in die Taschen und warf die Beine, als ob er sie von sich schleudern wollte:
„Zu langweilig!... Dumme Fragerei!“ ... In abgebrochenen Sätzen nur geruhte er zu antworten. Sein Alter gab klein bei, weil er ihm gedroht hatte, sich zu erschießen. So tat er ihm denn auch etwas zulieb und legte seinem Genie keinen Kappzaum mehr an: „Und jetzt mach ich ihm halt die Freud und werd Primus.“
„Ja, ja, wenn's geht!“
„Wenn's geht?“
„Gar gewiß ist's doch nicht. Es ist noch der Rott da und der Bingler.“
„Ich werd Primus,“ wiederholte Pepi voll Aufgeblasenheit. „Alles geht und wird, wie ich's haben will – grad so!“
„Wie du's haben willst?“
„Grad so. Das kannst du nicht begreifen. Du freilich nicht, du armer Büffler. Weil du nur ein Büffler bist, kannst du's nicht begreifen. Du möchtest nur; ich kann, was ich mag.“
Georg warf sich in die Brust: „Und ich auch,“ wollte er antworten; doch brach ihm die Stimme ...
Ihm war, als ob der Boden sich aufrisse und zwischen ihm und dem gottbegnadeten Kameraden ein unüberbrückbarer Abgrund gähne. Drüben, mitten in fruchtbaren Gefilden, in denen alles grünte und blühte, stand Pepi, und wohin sein Fuß trat, entsprang -185- ein Quell, und was seine Hand berührte, wurde zur herrlichen Frucht. Und er hüben, auf kargem, steinigem Boden, der widerstrebend nur und ungern sich den schattigen Zweig, den nährenden Halm entringen ließ.
Warum die schreiende Ungerechtigkeit, warum dem andern alles und ihm so bettelhaft wenig?
Pepi beobachtete seinen stillen Kampf und verzog höhnisch den Mund. „Büffler!“ sprach er. „Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder.“
Da ergriff wilder Zorn den sanftmütigen Georg. Er sprang auf Pepi zu und packte ihn an der Gurgel.
Der unerwartet Angefallene brüllte und wehrte sich mit Händen und Füßen, und bald waren die beiden umringt von einer johlenden Schar, die sich an dem Zweikampf beteiligte, fast durchweg zugunsten Georgs. Den vielbeneideten, vielgehaßten Pepi einmal gänzlich überwunden abziehen zu sehen, gewährte jedem einzelnen einen köstlichen Genuß. Jämmerlich zugerichtet, in zerfetzten Kleidern, verließ er den Plan. Das begab sich unweit der Schule, und an der Straßenecke war Salomon gestanden und hatte der Schlacht mit gespannter Teilnahme zugesehen. Er begleitete Georg mit Glückwünschen und Heilrufen; der aber winkte traurig ab. Er hatte etwas getan, was seinem ganzen Wesen widersprach, schämte sich seines Erfolges und betrachtete mit Entsetzen seinen neuen Rock, an dem die Spuren der Schlägerei zu sehen waren. Nun begann er zu rennen, um früher als der Vater heimzukommen. In Schweiß gebadet betrat er die Küche, legte das -186- Ohr an das Schloß der Zimmertür und horchte. Alles still, nur die Nähmaschine schnurrte, die Mutter war allein. O, Gott sei Lob und Dank! Hastig trat er ein und sprudelte die Geschichte seines jüngsten Erlebnisses heraus:
„Und jetzt flick mir den Rock, Mutter, flick mir den Rock!“
Das Abendessen wurde schweigend eingenommen. Eine dumpfe Verstimmung herrschte im Hause. Pfanner schmollte noch immer mit seiner Frau. Er hatte die Scheine über alle von ihr versetzten Gegenstände an sich genommen, um sie nach und nach einzulösen. Gott weiß, unter welchen Bitternissen. Jeder Gulden, den er ins Versatzamt trug, war ein Raub am Sparkassenbuch seines Sohnes; an diesem künftigen Vermögen, aus dem die Kosten der Rigorosen und des Freiwilligenjahres bestritten werden sollten. Es gab Augenblicke, in denen er sie haßte, die Schuld an dem Raube trug. Ihn gutzumachen, lag nicht in ihrer Macht, in der seinen aber lag, sie büßen und leiden zu machen. Tag für Tag wiederholte sich dieselbe Tortur. Tag für Tag verlangte er die Hausrechnung zu sehen, ging jeden einzelnen Posten durch, bemängelte jeden. Mit raffinierter Kunst erniedrigte er die Mutter in Gegenwart des Kindes durch sein zur Schau getragenes Mißtrauen.
„Wer einmal betrogen hat, gleichviel in welcher Absicht, betrügt wieder! man muß sich vor ihm in acht nehmen.“
Gepeinigt sah Georg zu ihr hinüber und warf -187- ihr hinter dem Rücken des Vaters Küsse zu. Um seinetwillen wurde sie beschämt, er war der unschuldige Urheber ihrer Qual. Und sie, alles erratend, was in ihm vorging, bezwang sich, bemühte sich, gelassen und standhaft zu bleiben bei den Kränkungen, die sie erfuhr. Der Mann hielt für Unempfindlichkeit, was höchster Heldenmut war, und verschärfte die Lauge in den Ausdrücken seiner Geringschätzung. Wie immer war es auch heute gegangen und Agnes kaum noch imstande, ihre Selbstbeherrschung zu bewahren, als ein heftiger Riß an der Glocke sie erschreckte. Sie schrie auf; auch Georg erschrak. Es war etwas so völlig Ungewohntes, daß um diese Zeit jemand Einlaß bei ihnen begehrte.
„Nervös, wie die elektrisierten Frösch,“ brummte Pfanner. „Habt ihr in eurem Leben noch nicht läuten gehört? Sieh nach, wer's ist,“ befahl er der Frau.
Sie zündete rasch eine Kerze an und eilte in die Küche. Schon wurde ein zweites Mal geschellt, noch ungeduldiger, noch heftiger als früher. Als Agnes öffnete, stand ein großer, breitschultriger, fein gekleideter Mann da und fragte:
„Ist Herr Offizial Pfanner zu Hause?“
Wer konnte das sein? Vielleicht ein Vorgesetzter, der Herr Inspektor oder gar der Herr Oberinspektor?
„Ja, er ist zu Hause,“ sagte sie, „belieben einzutreten.“
Ohne Gruß ging er an ihr vorbei; er hielt sie offenbar für die Magd, und ihr war der Irrtum recht. Sie hätte in ihrem grauen, ausgewaschenen Percailkleide, in ihren geflickten Schuhen einem Vorgesetzten gegenüber nicht für die Frau eines -188- k. k. Beamten gelten mögen. Höflich stieß sie die Zimmertür vor dem Fremden auf, trat in die Küche zurück und hörte nur noch ihren Mann in durchaus nicht respektvollem Tone sagen:
„Herr Obernberger? Was verschafft mir das Vergnügen?“
Obernberger schloß die Tür hinter sich, die Magd sollte das Gespräch zwischen ihm und Pfanner nicht mit anhören.
„Vergnügen werden Sie von meinem Besuch nicht haben,“ erwiderte er in erregtem Tone, „ich komme, um mich zu beklagen.“
Hoho! Das konnte unangenehm werden. Pfanner hatte ein böses Gewissen. War eine der wegwerfenden Reden, die er über Obernberger zu führen pflegte, dem „Schlosser“ hinterbracht worden? Vielleicht auch einem der Vorgesetzten, bei denen der Meister in hohem Ansehen stand? Verfluchte Geschichte! Pfanner verbarg seine Bestürzung hinter einem besonders borstigen Wesen: „Nur heraus mit der Sprache, genieren Sie sich nicht. Ich kann was vertragen,“ sagte er.
Georg war aufgesprungen und hatte einen Sessel herbeigeholt. Obernberger nahm Platz. Er betrachtete den Knaben, der mit gesenkten Augen und krampfhaft verschlungenen Fingern vor ihm stehen blieb, streng und prüfend:
„Herr Obernberger! Herr Obernberger!“ sprach Georg leise und flehentlich.
O, wenn er früher an Herrn Obernberger gedacht hätte, er würde seinen Sohn nicht geprügelt haben. Herr Obernberger war immer so gütig mit ihm, -189- wenn er ihn traf, und neulich, als er im Wagen gekommen war, den Pepi aus der Schule abzuholen, hatte er Georg eingeladen, mitzufahren. Eine Seligkeit wäre es gewesen, der Einladung zu folgen, aber er wagte es nicht. Der Vater hätte gewiß gesagt: „Hast vergessen, daß du keine Gnaden annehmen sollst?“
Je länger Obernberger seine Augen auf Georg ruhen ließ, je milder wurde ihr Ausdruck, und jetzt redete er ihn an: „Wissen Sie, daß ich schon auf dem Wege zum Herrn Direktor war, um mich über Sie zu beklagen? Ich mag Ihnen aber doch Ihre gute Note in Sitten nicht verderben und will mich mit einer häuslichen Züchtigung begnügen, die Ihnen Ihr Vater sicher erteilen wird, wenn er hört, was vorgefallen ist. Herr Offizial,“ wendete er sich an Pfanner, „Georg hat heute nach der Schule meinen Sohn angefallen und ihn gewürgt, und andre haben sich hineingemischt, und mein Pepi ist mir nach Hause gekommen, ganz zerrissen, und das rechte Auge so blau und geschwollen, daß er ein paar Tage hindurch weder lesen noch schreiben kann. Und das ist geschehen ohne den geringsten Grund.“
„Ohne den geringsten Grund?“ wiederholte Pfanner, hob sich halb von seinem Sitz, und es war, als ob er auf den Sohn losspringen wollte.
„Nicht ohne Grund,“ hauchte Georg mehr als er sprach. „Er hat mir gesagt, daß ich ein Büffler bin. Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder, hat er gesagt.“
Pfanner schwieg und saß wieder gerade auf seinem Sessel. Obernberger war betroffen.
„Ist das wahr?“ fragte er, und Georg beteuerte: -190-
„Es ist wahr.“
„Hinaus!“ rief Pfanner ihm plötzlich zu und wies mit ausgestrecktem Arm nach der Küchentür.
Draußen stand die Mutter neben dem Herde und zitterte an allen Gliedern und fragte sich, was für ein neues Unheil über ihren Georg hereingebrochen sein möchte. Er lief auf sie zu, war bleich wie Wachs, und grünliche Schatten zogen sich längs der Nase zu den Mundwinkeln herab: „Mutter, Mutter!“ preßte er hervor, „was wird jetzt mit mir geschehen?“
In der Stube jedoch begab sich das Unerhörte. Pfanner entschuldigte seinen Sohn. Der Junge war schüchtern von Natur und nur zu sanft für einen Buben. Wenn er einmal losgeschlagen hatte, mußte er arg provoziert worden sein. Er sei auch absolut wahrhaft, versicherte der Vater, der ihn noch nie auf einer Lüge ertappt hatte.
„Können Sie das von Ihrem Pepi auch sagen?“ fragte Pfanner und setzte die gewisse, militärische Miene auf, die er sich angeeignet hatte, als er einst, nach wenigen Monaten seiner Dienstzeit, zum Korporal befördert worden war.
Der gutmütige Obernberger stand immer noch unter dem Eindruck, den die Todesangst auf dem Gesichte Georgs auf ihn gemacht hatte. Der große, breite Mensch schmolz in der Nähe des kleinen, hitzigen Pfanner ordentlich zusammen. Ein gewaltiger Schneemann in der Nähe eines Häufleins glühender Kohlen. Er hatte keine Ursache, sich auf die Wahrheitsliebe seines Pepi zu verlassen, und weil er das nicht -191- eingestehen wollte, schwieg er.
„Fragen Sie Ihren Pepi aufs Gewissen, ob mein Sohn ihn wirklich ohne Grund geschlagen hat,“ sprach Pfanner. „Aug in Aug mit dem Buben, in unsrer Gegenwart soll er es ihm wiederholen. Tut er das, dann lade ich Sie zu einer Exekution ein, wie sie bei uns noch nicht stattgefunden hat, obwohl ich bei meinem Buben die Prügel nicht spare.“
Bei dieser Abmachung blieb es. Herr Obernberger, der als Richter gekommen war, verließ die Wohnung des Offizials mit dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Er achtete nicht auf die zwei, die sich tief verneigten, als er die Küche durchschritt. Georg lief ihm voran, öffnete mit demütiger Beflissenheit die Tür und murmelte:
„Verzeihen Sie mir, Herr Obernberger, verzeihen Sie mir,“ so leise, mit so von Scheu und Tränen erstickter Stimme, daß der in unangenehme Gedanken versunkene Fabriksherr nichts davon hörte.
Als Agnes und Georg das Zimmer wieder betraten, hatte Pfanner einen großen, mit Zahlen bedeckten Bogen vor sich liegen, den er mit äußerster Aufmerksamkeit durchsah. Georg holte seine Hefte herbei und machte sich an seine Arbeit. Eine halbe Stunde verging, ehe der Vater seinen Sohn ansprach, und dann – o Wunder! geschah es nicht einmal in unfreundlicher Weise. Er überzeugte sich, daß Georg beinahe fertig war mit seinen Aufgaben:
„Bist du aus Geschichte schon aufgerufen worden?“ fragte er.
„Noch nicht.“
„Merkwürdig. So spät?“ -192-
„Vielleicht morgen. Wir haben morgen Geschichte.“
„Nun, da kriegst du doch eine Vorzugsklasse?“
„Ich weiß nicht, vielleicht.“
„Du!“ schrie der Vater ihn an. „Weißt du, was das heißt, wenn du keine Vorzugsklasse kriegst? Weißt du, was ein ‚Genügend‘ dich kostet?“
„Ich weiß es,“ erwiderte Georg tonlos.
„Den Vorzugsschüler kostet's dich, fauler Bub!“
„Ich bin nicht faul, Vater.“
Der Vater hob namenlos erstaunt den Kopf. Sein friedfertiger Junge war heute der Held einer Prügelei gewesen, und jetzt vermaß er sich, ihm zu widersprechen. Was war vorgegangen? War in dem Jungen der Mann erwacht? Sollte er am Ende noch so schneidig werden, wie er sich ihn immer gewünscht?
Frau Agnes hatte ihre Hand auf den Arm des Sohnes gelegt, als er dem Vater widersprochen: „Um Gottes willen, Schorsch!“
„Still,“ herrschte Pfanner sie an, „laß ihn reden. Ich bin nicht faul, behauptet er. Also red, 's ist erlaubt, 's ist befohlen,“ drang er in ihn.
„Ich lern den ganzen Tag,“ sagte Georg. „Ich kann nicht mehr lernen als ich lern, ich weiß nicht, was ich anfangen soll, damit du zufrieden bist.“ Die Tollkühnheit der Verzweiflung kam über ihn, und er wagte hinzuzusetzen: „Andre Eltern sind schon zufrieden, wenn ihre Kinder ‚Genügend‘ bekommen, und ich soll lauter ‚Vorzüglich‘ und ‚Lobenswert‘ haben ... Und ich soll mich schinden ... Und ich ...“ Er konnte nicht weiter reden, rang die Hände, schlug mit der Stirn auf den Tisch und wand sich in einem -193- Schmerze, über den der Vater selbst erschrak. Zum erstenmal im Leben fühlte er sich ratlos dem Kinde gegenüber.
„Ich hab schon ein ‚Genügend‘ in Griechisch!“ schrie Georg in pfeifenden, gequetschten Tönen. „Wenn ich noch ein ‚Genügend‘ bekomme, bin ich kein Vorzugsschüler mehr. Und ich bekomm gewiß noch ein ‚Genügend‘ ...“
Das war zu viel. Die Worte machten der Langmut Pfanners ein Ende. Alles in ihm, das ein bißchen weich zu werden begonnen hatte, erstarrte wieder:
Kein Vorzugsschüler mehr! Dieser Bub, der die Fähigkeit besaß, einen Platz unter den Ausgezeichneten zu behaupten, wollte durch die Schule kriechen mit dem großen Heer der Mittelmäßigen? Pfui über den Buben!
„Du bleibst Vorzugsschüler, oder ich geb dich zu einem Schuster in die Lehr.“
„Tu's, Vater, tu's! Aber warum grad zu einem Schuster!“ erwiderte Georg außer sich. „Du kannst mich auch zu Herrn Obernberger geben, und ich werd ein Kunstschlosser ... Oder auch mit Musik kann ich mein Brot verdienen ...“
„Georg, Georg, um Gottes willen!“ wiederholte die Mutter. Sie sah ihren Mann fahl werden vor Wut, sah seine Fäuste sich ballen:
„Musik? gut, gut! Ich kauf dir einen Leierkasten, kannst in den Häusern orgeln und auf die Kreuzer warten, die sie dir aus den Fenstern werfen.“
Georg preßte das Kinn auf die Brust und starrte -194- zu Boden.
Pfanner sprang auf und führte einen schweren Schlag auf den Nacken des Kindes: „Kein Wort mehr! Und – das merke, komm mir nicht noch einmal mit einer schlechten Note nach Hause. Untersteh dich nicht!“
„Nein, nein,“ murmelte Georg. Er war jetzt ganz furchtlos. Um so besser, wenn er nicht mehr nach Hause zu kommen braucht. Der Vater wird sich nicht mehr über ihn ärgern, und die Mutter nicht mehr quälen um seinetwillen. Wäre er doch nicht auf die Welt gekommen ... – oder wäre er schon draußen – wäre er tot!
Am nächsten Morgen war der Vater von einer furchtbar dräuenden Schweigsamkeit. Die dunkeln Ringe unter seinen geröteten Augen, bei ihm das sicherste Zeichen einer schlaflos durchwachten Nacht, gaben ihm das Aussehen eines Kranken. Er frühstückte hastig, nahm seine Schriften unter den Arm, setzte den Hut auf und verließ das Zimmer, ohne den Gruß seiner Frau und seines Sohnes zu erwidern. Man hörte ihn die Küchentür zuschlagen, daß sie dröhnte.
Georg ordnete die Hefte und Bücher in seiner Schultasche, war fertig, nahm Stück auf Stück wieder heraus, ordnete alles von neuem, langsam und bedächtig. Die Mutter mahnte zur Eile. Er ließ plötzlich alles liegen und stehen und warf sich ihr in die Arme, und sie drückte ihn an ihr Herz. Sie sprachen nicht, es kam keine Anklage über ihre Lippen, aber glühend brannte sie in ihren Herzen. Wie glücklich könnten sie sein, sie zwei, wie glückselig, wenn der Ehrgeiz des -195- Vaters nicht wäre, der blinde, törichte, der vom Apfelbäumchen, das ihm Gott in seinen Garten gepflanzt, die Triebkraft der Eiche verlangte.
Dreimal schon hatte Georg Lebewohl gesagt und brachte sich noch immer nicht fort.
„Du kommst zu spät, Schorschi,“ sagte Frau Agnes. „Lauf jetzt, lauf! Und sei nicht so traurig,“ fügte sie hinzu und strich ihm über die Wangen.
„Du bist selbst traurig,“ antwortete er.
„Ach – das vergeht, bei der Arbeit vergeht's.“
„Also adieu,“ sagte er und schritt resolut der Tür zu, und über die Treppe hinab bis zum ersten Stockwerk. Dort blieb er stehen, besann sich, kehrte plötzlich um und stürmte in raschen Sätzen wieder zurück, und wie er oben ankam, sah er die Mutter vor der Wohnungstür stehen, auf derselben Stelle, bis zu der sie ihn begleitet hatte.
„Was gibt's?“ fragte sie wie aus dem Schlaf auffahrend, warf den Kopf zurück und bemühte sich, eine strenge Miene anzunehmen. „Hast was vergessen?“
„Ich hab dir ja nicht ordentlich Adieu gesagt,“ und er fiel ihr um den Hals und küßte sie mit stürmischer Zärtlichkeit.
In der Schule kam er zu spät. Der erste Vortrag hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, als er eintrat und sich auf seinen Platz setzte.
„Wo steckst denn?“ raunte der Nachbar ihm zu. „Du bist aufgerufen worden und warst nicht da.“
„Unglück, Unglück,“ murmelte Georg und gab sich alle erdenkliche Mühe, aufmerksam zuzuhören. -196- In seinem Kopfe ging es sonderbar zu. Es summte und hämmerte darin, und der Stimme, die vom Katheder zu ihm herübertönte – sonst eine laute, kraftvolle Stimme –, fehlte der Klang. Die Worte, die sie sprach, waren nicht artikuliert, flossen ineinander wie Wellen ... Noch etwas Sonderbares! der breite Saal schien sich zu verlängern ins Unglaubliche. Es war kein Saal mehr, es war ein langer Gang, von merkwürdig kaltem, weißem Licht erfüllt, und ganz weit am Ende stand ein schwarzer Strich auf einem Piedestal. Georg mußte mit Gewalt alle seine Denkkraft zusammen nehmen, um sich klar zu machen: das ist der Herr Professor, der einen Vortrag hält.
Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und dachte: Ich werde heute nicht lernen können. Nach einer Weile aber wurde es besser, er vermochte sich aus dem unheimlich traumhaften Zustand, in den er geraten war, heraus zu reißen. Der zweite Vortrag hatte begonnen. Der jetzt sprach, war ein sehr beliebter, von der ganzen Schule verehrter Lehrer, der Professor der Geschichte. Er hatte einen sonst kaum mittelmäßigen Schüler aufgerufen, und der bestand mit Ehren. Georg folgte. Ach! wenn er auch so viel Glück hätte wie sein Vorgänger. Es schien beinahe. Der Professor prüfte aus dem unlängst von Georg Wiederholten und sagte:
„Gut, bis auf zwei Jahreszahlen. Sie bekommen ‚Lobenswert‘. Ich möchte Ihnen aber gern ‚Vorzüglich‘ geben können und stelle deshalb noch einige Fragen. Nennen Sie mir alle deutschen Kaiser bis zu Rudolf dem Ersten.“
Das war keine sehr schwere Frage. Voll Zuversicht -197- begann er sie zu beantworten und gelangte glorreich bis zu Otto III. Da verriet ihn sein Gedächtnis – er ließ den gelehrten und frommen Kaiser ein hohes Alter erreichen und Heinrich II. den ersten Salier sein.
Der Professor zuckte bedauernd die Achseln und unterbrach ihn: „Das geht nicht gut. – Etwas andres! Erzählen Sie mir die Geschichte von Konradin.“
O – die wußte er! die hatte er seiner Mutter erzählt; so rührend, daß sie dabei weinen mußte. Konradin war ja – nun ja – war ja König Enzio ... Oder nein, richtig – Enzio war Konradin ...
Ein kaum unterdrücktes boshaftes Kichern erhob sich, der Pepi lachte ihn aus. Die Augen des Professors hefteten sich fest auf ihn. Er verstand, daß diese guten, wohlwollenden Augen ganz besorgt fragten: „Sind Sie bei Trost?“
Er hätte schreien mögen: „Nein! ganz verwirrt und konfus bin ich!“
„Sie tun mir leid,“ sprach der Professor, „aber – sagen Sie selbst – welche Klasse haben Sie verdient?“
Georg flüsterte etwas völlig Unverständliches. Dem Lehrer schien, es sei ein Dank gewesen. Der Junge wußte heute nichts, erriet aber viel, erriet das innige Mitleid, das er seinem Lehrer einflößte.
Ehe der dritte Vortrag begann, verließ er die Schule und ging langsam die Straße hinab. Es war ein Frühlingstag mit sommerlichem Sonnenschein, der Himmel wolkenlos, die Luft noch frei von Staub und Dunst. Georg schritt mit weit aufgerissenen, verglasten Augen zwischen den Menschen dahin, die sich in der -198- Hauptverkehrsstraße der Vorstadt drängten. Einem oder dem andern fiel auf, wie sonderbar „verloren“ er aussah. Keiner hatte Lust und Zeit, ihn zu fragen, was ihm sei. Ein Tischlerjunge nur, der einen Handwagen schleppte, und an den er angestoßen war, rief ihm zu:
„Hüo! wo hast dein Schädel? Anbaut mit samt der Mitzen?“
Unwillkürlich griff Georg nach seinem Kopfe. Er war barhaupt, hatte seine Mütze in der Schule gelassen, und auch seine Lernsachen. Daran lag aber nichts. Ihn würde niemand nach ihnen fragen. Er konnte ja nicht mehr heim. „Komm mir nicht nach Hause mit einer schlechten Note!“ Diese Worte dröhnten unablässig an sein Ohr. Jetzt mußte er sie bekommen, die schlechte Note, die erste, wirklich schlechte. Was würde der Vater jetzt mit ihm tun? Und wie würde die Mutter sich kränken ... Nein, nein, Vater und Mutter, er wagt es nicht, er kommt nicht mehr zurück, er geht, wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Donau. Und dieser eine Gedanke, je länger er ihn vor sich sah, als das Unabwendbare, Einzige, je mehr befreundete er sich mit ihm. Dieser Gedanke mit dem dunklen Kerne hatte eine blendende Atmosphäre und fing an, eine große Helligkeit zu verbreiten. Er gestaltete sich jetzt so: „Ich muß in die Donau, ich will aber auch, und gern. Wie gut ist es, tot zu sein, nicht mehr hören müssen: Lern! Wie gut auch, wenn es keinen Zwiespalt mehr zwischen den Eltern gibt. Aber du begehst einen Selbstmord,“ fuhr es ihm durch den Sinn, „und ein Selbstmord ist eine Todsünde.“ Ihn schauderte. „Lieber Gott! -199- Allgütiger!“ stöhnte er und blickte flehend zum Himmel empor. „Rechne mir meinen Tod nicht als Sünde an! Ich will keine Sünde begehen, ich will sterben für den Frieden meiner Eltern. Mein Tod ist ein Opfertod.“
Ein Opfertod!
An dieses Wort klammerte er sich; es brachte ihm Trost. Er verwandelte die Tat der Verzweiflung in eine Heldentat und schwerste Schuld in ein Märtyrertum. Es ging auf vor dem armen, irrenden, suchenden Kinde wie ein Stern in der Nacht. Keine Erwägung, keine Überlegung, kein Zweifel mehr, nicht die geringste Fähigkeit, sich etwas andres vorzustellen, nur die rasende, unbezwingliche Sehnsucht, Erlösung zu erfahren und Erlösung zu bringen.
Er war am Ende der Straße angelangt, bog in die Seitengasse ein, die auf den Kai mündete. Bleierne Müdigkeit lag ihm in den Gliedern, sein Kopf brannte und schmerzte bis zur Bewußtlosigkeit. Die Donau, die ist ein kühles, weiches Bett, da findet man Ruhe und Labung. Nur sie erreichen, nur bis zu ihr hinkommen! Eine dumpfe Angst: „sie mißgönnen mir die Erlösung, sind hinter mir, verfolgen mich,“ jagte ihn vorwärts. Er begann zu laufen, und dabei schien ihm, daß er immer auf demselben Fleck bliebe. Das war fürchterlich, noch einmal einen so argen Kampf mit dem Unüberwindlichen kämpfen zu müssen.
„Wohin? Was sind Sie so eilig?“ sprach eine wohlbekannte Stimme ihn an. Der Hausierer stand -200- vor ihm.
„Du?“ sagte er, „du Salomon?“
Ein wenig Zeit nahm er sich zum Abschied von dem Armen. Auch der war elend, dem es Seligkeit gewesen wäre, in der Schule zu sitzen, aus der Georg entflohen war, und der auf und ab wandeln mußte vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in Staub und Sonnenbrand, und sah so krank aus, und seine schmächtige Gestalt war schon ganz schief vom Tragen des schweren Warenkastens. Ja, ja, wem zu Schweres auferlegt wird, der verkrüppelt. Armer Salomon, den der Wachmann aufscheucht und einzuführen droht, wenn er ganz erschöpft einige Augenblicke auf einer Bank ausruhen möchte. Fort, fort auf müden Füßen in den ausgetretenen, geplatzten Stiefeln ... Georgs Blick glitt über sie hinweg, und plötzlich beugte er sich, zog rasch seine neuen Halbschuhe aus und legte sie auf den Warenkasten.
„Nimm sie, ich brauche sie nicht mehr,“ sprach er und – lachte. Ja, wahrhaftig, Salomon schwor später darauf, daß er gelacht habe, und wie unaussprechlich schmerzvoll dieses Lachen geklungen, kam ihm erst später zum Bewußtsein, nachdem alles vorüber war. Zuerst in seiner freudigen Verblüffung hatte er nur Augen für die schönen, guten Schuhe, die ihm wie aus dem Füllhorn des Glückes zugefallen waren. Als er sich besann, daß Georg seine Schuhe gar nicht verschenken dürfe, und wohl nur einen Spaß mit ihm gemacht habe und er sich umsah und rief: „Junger Herr! junger Herr!“ – drang schon lautes, vielstimmiges Geschrei an sein Ohr: „Im Wasser!“ – „Hineingesprungen!“ – „Hilfe! Hilfe!“ Von allen -201- Seiten stürzten sie herbei, rannten, krochen die steile Böschung hinab, standen mit vorgestreckten Hälsen, Entsetzen oder stumpfsinnige oder abscheuliche Neugier in den Gesichtern, und deuteten: „Da! dort! Siehst ihn?“
Anstalten zur Rettung wurden getroffen – vergebliche. Eine Stromschnelle hatte den schwimmenden Körper erfaßt und häuptlings an einen Brückenpfeiler geschleudert.
Mit gellenden Wehrufen drängte sich Salomon durch die Menge zum Ufer hin. Die Schuhe hatte er von sich geworfen, streute seine Waren im Laufe achtlos aus ... Gott! Gott! Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen, der, den er bewundert hatte und beneidet, und der immer so gut gegen ihn gewesen war.
Pfanner hatte einen schweren Entschluß gefaßt und ausgeführt. Er war zum Direktor des Gymnasiums gegangen, um Georg seiner Nachsicht zu empfehlen. Vor wenigen Tagen noch würde er einen solchen Schritt für unmöglich gehalten und geglaubt haben, sich und Georg durch ihn zu erniedrigen.
Mit so viel Wärme und Verbindlichkeit, als ihm irgend zu Gebote stand, sprach er die Bitte aus, seinen Sohn nachsichtig zu klassifizieren, wenn der Bursche auch in letzter Zeit etwas nachgelassen habe im Fleiße. Sein Vater bürgte dafür, daß es von nun an besser werden sollte.
„Nachgelassen im Fleiße?“ Das war dem Direktor neu. So viel er wußte, hatte noch keiner der Professoren sich über Georgs Mangel an Fleiß beklagt. -202- „Ich wäre froh“, sagte er, „wenn ich allen Eltern so Gutes über ihre Söhne sagen könnte, wie Ihnen über Georg. Er ist bei sämtlichen Lehrern vortrefflich angeschrieben, sehr brav und auch durchaus nicht unbegabt“ ...
„O, das glaub ich!“ warf Pfanner hochfahrend ein.
„Durchaus nicht unbegabt,“ wiederholte der Direktor kühl, „aber auch nicht ungewöhnlich begabt. Ich fürchte, daß Sie zu viel von ihm verlangen, ihm eine größere Leistungsfähigkeit zutrauen, als er besitzt. Wenn Sie ihn zwingen, seine Kräfte zu überspannen, ruinieren Sie ihn.“
Der Offizial kam tief niedergeschlagen ins Bureau. So verlangte er also zu viel von seinem Buben, so ruinierte er ihn, so sollte Georg nur mittelmäßig begabt sein? Er glaubte es nicht. Diese Schulleute irren so oft. Wie viele, von denen ihre Lehrer nichts gehalten, sind große Männer geworden. Er ging an seine Arbeit, vergrub sich in sie, suchte Rettung in ihr vor dem schweren Drucke, der ihm auf dem Herzen lastete.
Gegen Mittag meldete ihm der Bureaudiener, es sei jemand da, der ihn sprechen wolle. Auf dem Gange erwartete ihn Frau Walcher in einem Zustand furchtbarer Zerstörtheit. Etwas Entsetzliches sei geschehen, stotterte sie, das Ärgste, das man sich denken könne. Er solle nur gleich mit ihr kommen.
„Was ist das Ärgste?“ fuhr er sie an. „Was ist's mit meinem Buben?“
Ihre Antwort war eine Gebärde der Verzweiflung.
Dem Liebling des Gymnasiums wurde ein feierliches -203- Leichenbegängnis bereitet. Alle Professoren, alle Schulkameraden beteiligten sich daran. Meister Obernberger folgte dem Zuge, weinend wie ein Kind, und sein Pepi hatte heute allen Hochmut abgetan.
Der Vater schritt in guter Haltung hinter dem Sarge. Jedes Wort, das am Grabe zum Preise seines Sohnes gesprochen wurde, schien ihm wohl zu tun, während die Mutter immer tiefer in sich zusammensank.
„Am besten für sie wär's,“ sagte schwerbekümmert Frau Walcher zu ihrem Manne, „wenn man sie gleich mitbegraben könnt.“
Die zwei Ehepaare traten die Rückfahrt im selben Wagen an. Pfanner und seine Frau wechselten nicht eine Silbe. Einer wich scheu dem Blick des andern aus. Daheim angelangt, gab Agnes den dringenden Bitten der Freundin, zuerst bei ihr einzutreten, nach.
„Da hat sie doch ein paar Stunden Frieden,“ dachte die Getreue.
Als der Abend kam und die gewohnte Pflicht sie rief, ging Agnes mechanisch daran, das Abendbrot zu bereiten. Sie betrat das Zimmer, um die Lampe anzuzünden. Aber Pfanner hatte das schon selbst getan. Die Lampe brannte auf dem Tische, und dort lagen die Bücher und die Mütze, die der Schuldiener zurückgebracht hatte. Vor sich aufgeschlagen hatte Pfanner ein dünnes Büchlein – das Vermögen des Kindes, das guldenweise zusammen gesparte. Und in der gebrochenen Gestalt, die da saß und die Gegenstände alle betrachtete, drückte eine herzzerreißende Trostlosigkeit sich aus. Was ging jetzt vor in dieser -204- Seele!
Agnes kam leise heran.
Die Frau, die er zermalmt und zertreten und zu einer dienenden Maschine herabgewürdigt hatte, fühlte sich in diesem Augenblick als die Größere und Stärkere und, im Vergleiche zu ihm – die Glückliche. Sie durfte ihres Kindes ohne Selbstvorwurf gedenken, von ihr hatte es mit zärtlicher Liebe Abschied genommen.
„Pfanner,“ sprach sie.
Er fuhr auf und starrte sie an mit Entsetzen. Wollte sie Rechenschaft von ihm fordern? Seine Lippen zuckten und zitterten, er brachte keinen Laut hervor. Etwas Greisenhaftes lag in seinen entstellten Zügen.
Da wich der Haß, da schwieg jeder Vorwurf. Sie näherte sich langsam und sagte:
„Du hast ja nur sein Bestes gewollt.“
Überrascht in demütiger Dankbarkeit nahm er ihre beiden Hände, legte sein Gesicht hinein und schluchzte.
„So reden Sie denn in Gottes Namen“, sprach die Gräfin, „ich werde Ihnen zuhören; glauben aber nicht ein Wort.“
Der Graf lehnte sich behaglich zurück in seinem großen Lehnsessel: „Und warum nicht?“ fragte er.
Sie zuckte leise mit den Achseln: „Vermutlich erfinden Sie nicht überzeugend genug.“
„Ich erfinde gar nicht, ich erinnere mich. Das Gedächtnis ist meine Muße.“
„Eine einseitige, wohldienerische Muße! Sie erinnert sich nur der Dinge, die Ihnen in den Kram passen. Und doch gibt es auf Erden noch manches Interessante und Schöne außer dem – Nihilismus.“ Sie hatte ihre Häkelnadel erhoben und das letzte Wort wie einen Schuß gegen ihren alten Verehrer abgefeuert.
Er vernahm es ohne Zucken, strich behaglich seinen weißen Bart und sah die Gräfin beinahe dankbar aus seinen klugen Augen an. „Ich wollte Ihnen etwas von meiner Großmutter erzählen,“ sprach er. „Auf dem Wege hierher, mitten im Walde, ist es mir eingefallen.“
Die Gräfin beugte den Kopf über ihre Arbeit und murmelte: „Wird eine Räubergeschichte sein.“
„O, nichts weniger! So friedlich wie das Wesen, -208- durch dessen Anblick jene Erinnerung in mir wachgerufen wurde, Mischka IV. nämlich, ein Urenkel des ersten Mischka, der meiner Großmutter Anlaß zu einer kleinen Übereilung gab, die ihr später leid getan haben soll,“ sagte der Graf mit etwas affektierter Nachlässigkeit, und fuhr dann wieder eifrig fort: „Ein sauberer Heger, mein Mischka, das muß man ihm lassen! er kriegte aber auch keinen geringen Schrecken, als ich ihm unvermutet in den Weg trat – hatte ihn vorher schon eine Weile beobachtet ... Wie ein Käfersammler schlich er herum, die Augen auf den Boden geheftet, und was hatte er im Laufe seines Gewehres stecken? Denken Sie: – ein Büschel Erdbeeren!“
„Sehr hübsch!“ versetzte die Gräfin. „Machen Sie sich darauf gefaßt – in Bälde wandern Sie zu mir herüber durch die Steppe, weil man Ihnen den Wald fortgetragen haben wird.“
„Der Mischka wenigstens verhindert's nicht.“
„Und Sie sehen zu?“
„Und ich sehe zu. Ja, ja, es ist schrecklich. Die Schwäche liegt mir im Blut – von meinen Vorfahren her.“ Er seufzte ironisch und sah die Gräfin mit einer gewissen Tücke von der Seite an.
Sie verschluckte ihre Ungeduld, zwang sich, zu lächeln und suchte ihrer Stimme einen möglichst gleichgültigen Ton zu geben, indem sie sprach: „Wie wär's, wenn Sie noch eine Tasse Tee trinken und die Schatten Ihrer Ahnen heute einmal unbeschworen lassen würden? Ich hätte mit Ihnen vor meiner Abreise noch etwas zu besprechen.“
„Ihren Prozeß mit der Gemeinde? – Sie werden -209- ihn gewinnen.“
„Weil ich recht habe.“
„Weil Sie vollkommen recht haben.“
„Machen Sie das den Bauern begreiflich. Raten Sie ihnen, die Klage zurückzuziehen.“
„Das tun sie nicht.“
„Verbluten sich lieber, tragen lieber den letzten Gulden zum Advokaten. Und zu welchem Advokaten, guter Gott!... ein ruchloser Rabulist. Dem glauben sie, mir nicht, und wie mir scheint, Ihnen auch nicht, trotz all Ihrer Popularitätshascherei!“
Die Gräfin richtete die hohe Gestalt empor und holte tief Atem. „Gestehen Sie, daß es für diese Leute, die so töricht vertrauen und mißtrauen, besser wäre, wenn ihnen die Wahl ihrer Ratgeber nicht frei stände.“
„Besser wär's natürlich! Ein bestellter Ratgeber, und – auch bestellt – der Glaube an ihn.“
„Torheit!“ zürnte die Gräfin.
„Wie so? Sie meinen vielleicht, der Glaube lasse sich nicht bestellen?... Ich sage Ihnen, wenn ich vor vierzig Jahren meinem Diener eine Anweisung auf ein Dutzend Stockprügel gab und dann den Rat, aufs Amt zu gehen, um sie einzukassieren, nicht einmal im Rausch wäre es ihm eingefallen, daß er etwas Besseres tun könnte, als diesen meinen Rat befolgen.“
„Ach, Ihre alten Schnurren! – Und ich, die gehofft hatte, Sie heute ausnahmsweise zu einem vernünftigen Gespräch zu bringen!“
Der alte Herr ergötzte sich eine Weile an ihrem Ärger und sprach dann: „Verzeihen Sie, liebe Freundin. -210- Ich bekenne, Unsinn geschwatzt zu haben. Nein, der Glaube läßt sich nicht bestellen, aber leider der Gehorsam ohne Glauben. Das eben war das Unglück des armen Mischka und so mancher andrer, und deshalb bestehen heutzutage die Leute darauf, wenigstens auf ihre eigne Fasson ins Elend zu kommen.“
Die Gräfin erhob ihre nachtschwarzen, noch immer schönen Augen gegen den Himmel, bevor sie dieselben wieder auf ihre Arbeit senkte und mit einem Seufzer der Resignation sagte: „Die Geschichte Mischkas also!“
„Ich will sie so kurz machen als möglich,“ versetzte der Graf, „und mit dem Augenblick beginnen, in dem meine Großmutter zum erstenmal auf ihn aufmerksam wurde. Ein hübscher Bursche muß er gewesen sein; ich besinne mich eines Bildes von ihm, das ein Künstler, der sich einst im Schlosse aufhielt, gezeichnet hatte. Zu meinem Bedauern fand ich es nicht im Nachlaß meines Vaters und weiß doch, daß er es lange aufbewahrt hat, zum Andenken an die Zeiten, in denen wir noch das jus gladii ausübten.“
„O Gott!“ unterbrach ihn die Gräfin, „spielt das jus gladii eine Rolle in Ihrer Geschichte?“
Der Erzähler machte eine Bewegung der höflichen Abwehr und fuhr fort: „Es war bei einem Erntefest und Mischka einer der Kranzträger, und er überreichte den seinen schweigend, aber nicht mit gesenkten Augen, sah vielmehr die hohe Gebieterin ernsthaft und unbefangen an, während ein Aufseher im Namen der Feldarbeiter die übliche Ansprache herunterleierte.
„Meine Großmutter erkundigte sich nach dem -211- Jungen und hörte, er sei ein Häuslersohn, zwanzig Jahre alt, ziemlich brav, ziemlich fleißig und so still, daß er als Kind für stumm gegolten hatte, für dummlich galt er noch jetzt. – Warum? wollte die Herrin wissen; warum galt er für dummlich?... Die befragten Dorfweisen senkten die Köpfe, blinzelten einander verstohlen zu und mehr als: ‚So, – ja eben so‘, und: – ‚je nun, wie's schon ist‘, war aus ihnen nicht herauszubringen.
„Nun hatte meine Großmutter einen Kammerdiener, eine wahre Perle von einem Menschen. Wenn er mit einem Vornehmen sprach, verklärte sich sein Gesicht dergestalt vor Freude, daß er beinahe leuchtete. Den schickte meine Großmutter andern Tages zu den Eltern Mischkas mit der Botschaft, ihr Sohn sei vom Feldarbeiter zum Gartenarbeiter avanciert und habe morgen den neuen Dienst anzutreten.
„Der eifrigste von allen Dienern flog hin und her und stand bald wieder vor seiner Gebieterin. ‚Nun,‘ fragte diese – ‚was sagen die Alten?‘ Der Kammerdiener schob das rechte, auswärts gedrehte Bein weit vor ...“
„Waren Sie dabei?“ fiel die Gräfin ihrem Gaste ins Wort.
„Bei dieser Referenz gerade nicht, aber bei späteren des edlen Fritz,“ erwiderte der Graf, ohne sich irre machen zu lassen. „Er schob das Bein vor, sank aus Ehrfurcht völlig in sich zusammen und meldete, die Alten schwämmen in Tränen der Dankbarkeit.
„‚Und der Mischka?‘
„‚O, der‘ – lautete die devote Antwort, und nun -212- rutschte das linke Bein mit anmutigem Schwunge vor – ‚o der – der laßt die Hand küssen.‘
„Daß es einer Tracht väterlicher Prügel bedurft hatte, um den Burschen zu diesem Handkuß im Gedanken zu bewegen, verschwieg Fritz. Die Darlegung der Gründe, die Mischka hatte, die Arbeit im freien Felde der im Garten vorzuziehen, würde sich für Damenohren nicht geschickt haben. – Genug, Mischka trat die neue Beschäftigung an und versah sie schlecht und recht. ‚Wenn er fleißiger wäre, könnt's nicht schaden,‘ sagte der Gärtner. Dieselbe Bemerkung machte meine Großmutter, als sie einmal vom Balkon aus zusah, wie die Wiese vor dem Schlosse gemäht wurde. Was ihr noch auffiel, war, daß alle andern Mäher von Zeit zu Zeit einen Schluck aus einem Fläschchen taten, das sie unter einem Haufen abgelegter Kleider hervorzogen und wieder darin verbargen. Mischka war der einzige, der diesen Quell der Labung verschmähend sich aus einem irdenen, im Schatten des Gebüsches aufgestellten Krüglein erquickte. Meine Großmutter rief den Kammerdiener. ‚Was haben die Mäher in der Flasche?‘ fragte sie. – ‚Branntwein, hochgräfliche Gnaden.‘ – ‚Und was hat Mischka in dem Krug?‘
„Fritz verdrehte die runden Augen, neigte den Kopf auf die Seite, ganz wie unser alter Papagei, dem er ähnlich sah wie ein Bruder dem andern, und antwortete schmelzenden Tones: ‚Mein Gott, hochgräfliche Gnaden – Wasser!‘
„Meine Großmutter wurde sogleich von einer mitleidigen Regung ergriffen und befahl, allen Gartenarbeitern nach vollbrachtem Tagewerk Branntwein zu -213- reichen. ‚Dem Mischka auch,‘ setzte sie noch eigens hinzu.
„Diese Anordnung erregte Jubel. Daß Mischka keinen Branntwein trinken wollte, war einer der Gründe, warum man ihn für dummlich hielt. Jetzt freilich, nachdem die Einladung der Frau Gräfin an ihn ergangen, war's aus mit Wollen und Nichtwollen. Als er in seiner Einfalt sich zu wehren versuchte, ward er mores gelehrt, zur höchsten Belustigung der Alten und der Jungen. Einige rissen ihn auf den Boden nieder, ein handfester Bursche schob ihm einen Keil zwischen die vor Grimm zusammengebissenen Zähne, ein zweiter setzte ihm das Knie auf die Brust und goß ihm solange Branntwein ein, bis sein Gesicht so rot und der Ausdruck desselben so furchtbar wurde, daß die übermütigen Quäler sich selbst davor entsetzten. Sie gaben ihm etwas Luft, und gleich hatte er sie mit einer wütenden Anstrengung abgeschüttelt, sprang auf und ballte die Fäuste ... aber plötzlich sanken seine Arme, er taumelte und fiel zu Boden. Da fluchte, stöhnte er, suchte mehrmals vergeblich sich aufzuraffen und schlief endlich auf dem Fleck ein, auf den er hingestürzt war, im Hofe, vor der Scheune, schlief bis zum nächsten Morgen, und als er erwachte, weil ihm die aufgehende Sonne auf die Nase schien, kam just der Knecht vorbei, der ihm gestern den Branntwein eingeschüttet hatte. Der wollte schon die Flucht ergreifen, nichts andres erwartend, als daß Mischka für die gestrige Mißhandlung Rache üben werde. Statt dessen reckt sich der Bursche, sieht den andern traumselig an und lallt: ‚Noch einen Schluck!‘
„Sein Abscheu vor dem Branntwein war überwunden. -214-
„Bald darauf, an einem Sonntag nachmittag, begab es sich, daß meine Großmutter auf ihrer Spazierfahrt, von einem hübschen Feldweg gelockt, ausstieg und bei Gelegenheit dieser Wanderung eine idyllische Szene belauschte. Sie sah Mischka unter einem Apfelbaum am Feldrain sitzen, ein Kindlein in seinen Armen. Wie er selbst, hatte auch das Kind den Kopf voll dunkelbrauner Löckchen, der wohlgebildete kleine Körper hingegen war von lichtbrauner Farbe und das armselige Hemdchen, das denselben notdürftig bedeckte, hielt die Mitte zwischen den beiden Schattierungen. Der kleine Balg krähte förmlich vor Vergnügen, so oft ihn Mischka in die Höhe schnellte, stieß mit den Füßchen gegen dessen Brust, und suchte ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Augen zu fahren. Und Mischka lachte und schien sich mindestens ebensogut zu unterhalten wie das Bübchen. Dem Treiben der beiden sah ein junges Mädchen zu, auch ein braunes Ding und so zart und zierlich, als ob ihre Wiege am Ganges gestanden hätte. Sie trug über dem geflickten kurzen Rocke eine ebenfalls geflickte Schürze und darin einen kleinen Vorrat aufgelesener Ähren. Nun brach sie eine derselben vom Stiele, schlich sich an Mischka heran und ließ ihm die Ähre zwischen der Haut und dem Hemd ins Genick gleiten. Er schüttelte sich, setzte das Kind auf den Boden und sprang dem Mädchen nach, das leicht und hurtig und ordentlich wie im Tanze vor ihm floh; einmal pfeilgerade, dann wieder einen Garbenschober umkreisend, voll Ängstlichkeit und dabei doch neckend und immer höchst anmutig. Allerdings ist bei unsren -215- Landleuten eine gewisse angeborene Grazie nichts Seltenes, aber diese beiden jungen Geschöpfe gewährten in ihrer harmlosen Lustigkeit ein so angenehmes Schauspiel, daß meine Großmutter es mit wahrem Wohlgefallen genoß. Einen andern Eindruck brachte hingegen ihr Erscheinen auf Mischka und das Mädchen hervor. Wie versteinert standen beide beim Anblick der Gutsherrin. Er, zuerst gefaßt, neigte sich beinahe bis zur Erde, sie ließ die Schürze samt den Ähren sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.
„Beim Souper, an dem, wie an jeder Mahlzeit, der Hofstaat, bestehend aus einigen armen Verwandten und aus den Spitzen der gräflichen Behörden, teilnahm, sagte meine Großmutter zum Herrn Direktor, der neben ihr saß: ‚Die Schwester des Mischka, des neuen Gartenarbeiters, scheint mir ein nettes, flinkes Mädchen zu sein, und ich wünsche, es möge für die Kleine ein Posten ausgemittelt werden, an dem sie sich etwas verdienen kann.‘ Der Direktor erwiderte: ‚Zu Befehl, hochgräfliche Gnaden, sogleich ... obwohl der Mischka meines Wissens eine Schwester eigentlich gar nicht hat.‘
„‚Ihres Wissens,‘ versetzte meine Großmutter, ‚das ist auch etwas, Ihr Wissen!... Eine Schwester hat Mischka und ein Brüderchen. Ich habe heute alle drei auf dem Felde gesehen.‘
„‚Hm, hm,‘ lautete die ehrerbietige Entgegnung, und der Direktor hielt die Serviette vor den Mund, um den Ton seiner Stimme zu dämpfen, ‚es wird wohl – ich bitte um Verzeihung des obszönen Ausdrucks, die Geliebte Mischkas und, mit Respekt zu -216- sagen, ihr Kind gewesen sein.‘“
Der unwilligen Zuhörerin dieser Erzählung wurde es immer schwerer, an sich zu halten, und sie rief nun: „Sie behaupten, daß Sie nicht dabei waren, als diese denkwürdigen Reden gewechselt wurden? Woher wissen Sie denn nicht nur über jedes Wort, sondern auch über jede Miene und Gebärde zu berichten?“
„Ich habe die meisten der Beteiligten gekannt, und weiß – ein bißchen Maler, ein bißchen Dichter, wie ich nun einmal bin – weiß aufs Haar genau, wie sie sich in einer bestimmten Lage benommen und ausgedrückt haben müssen. Glauben Sie Ihrem treuen Berichterstatter, daß meine Großmutter nach der Mitteilung, welche der Direktor ihr gemacht, eine Wallung des Zornes und der Menschenverachtung hatte. Wie gut und fürsorglich für ihre Untertanen sie war, darüber können Sie nach dem bisher Gehörten nicht in Zweifel sein. Im Punkte der Moral jedoch verstand sie nur äußerste Strenge, gegen sich selbst nicht minder als gegen andre. Sie hatte oft erfahren, daß sie bei Männern und Frauen der Sittenverderbnis nicht zu steuern vermöge, der Sittenverderbnis bei halbreifen Geschöpfen jedoch, der mußte ein Zügel angelegt werden können. – Meine Großmutter schickte ihren Kammerdiener wieder zu den Eltern Mischkas. Mit der Liebschaft des Burschen habe es aus zu sein. Das sei eine Schande für so einen Buben, ließ sie sagen, ein solcher Bub habe an andre Dinge zu denken.
„Der Mischka, der zu Hause war, als die Botschaft kam, schämte sich in seine Haut hinein ...“
„Es ist doch stark, daß Sie jetzt gar in der Haut -217- Mischkas stecken wollen!“ fuhr die Gräfin höhnisch auf.
„Bis über die Ohren!“ entgegnete der Graf, „bis über die Ohren steck ich darin! Ich fühle, als wäre ich es selbst, die Bestürzung und Beschämung, die ihn ergriff. Ich sehe ihn, wie er sich windet in Angst und Verlegenheit, einen scheuen Blick auf Vater und Mutter wirft, die auch nicht wissen, wo ein und aus vor Schrecken, ich höre sein jammervoll klingendes Lachen bei den Worten des Vaters: ‚Erbarmen Sie sich, Herr Kammerdiener! Er wird ein Ende machen, das versteht sich, gleich wird er ein Ende machen!‘“
„Diese Versicherung genügte dem edlen Fritz, er kehrte ins Schloß zurück und berichtete, glücklich über die treffliche Erfüllung seiner Mission, mit den gewohnten Kniebeugungen und dem gewohnten demütigen und freudestrahlenden Ausdruck in seiner Vogelphysiognomie: ‚Er laßt die Hand küssen, er wird ein Ende machen.‘“
„Lächerlich!“ sagte die Gräfin.
„Höchst lächerlich!“ bestätigte der Graf. „Meine gute, vertrauensselige Großmutter hielt die Sache damit für abgetan, dachte auch nicht weiter darüber nach. Sie war sehr in Anspruch genommen durch die Vorbereitungen zu den großen Festen, die alljährlich am zehnten September, ihrem Geburtstage, im Schlosse gefeiert wurden, und einen Vor- und Nachtrab von kleinen Festen hatten. Da kam die ganze Nachbarschaft zusammen, und Dejeuners, auf dem grünen Teppich der Wiesen, Jagden, Pirutschaden, Soupers bei schönster Waldbeleuchtung, Bälle – und so weiter folgten einander in fröhlicher Reihe ... Man muß gestehen, unsre Alten verstanden Platz einzunehmen -218- und Lärm zu machen in der Welt. Gott weiß, wie langweilig und öde unser heutiges Leben auf dem Schlosse ihnen erscheinen müßte.“
„Sie waren eben große Herren,“ entgegnete die Gräfin bitter, „wir sind auf das Land zurückgezogene Armenväter.“
„Und – Armenmütter,“ versetzte der Graf mit einer galanten Verneigung, die von derjenigen, der sie galt, nicht eben gnädig aufgenommen wurde. Der Graf aber nahm sich das Mißfallen, das er erregt hatte, keineswegs zu Herzen, sondern spann mit hellem Erzählerbehagen den Faden seiner Geschichte fort:
„So groß der Dienertroß im Schlosse auch war, während der Dauer der Festlichkeiten genügte er doch nicht, und es mußten da immer Leute aus dem Dorfe zur Aushilfe requiriert werden. Wie es kam, daß sich gerade dieses Mal auch Mischkas Geliebte unter ihnen befand, weiß ich nicht, genug, es war der Fall, und die beiden Menschen, die einander hätten meiden sollen, wurden im Dienste der Gebieterin noch öfter zusammengeführt, als dies in früheren Tagen bei der gemeinsamen Feldarbeit geschehen war. Er, mit einem Botengang betraut, lief vom Garten in die Küche, sie von der Küche in den Garten – manchmal trafen sie sich auch unterwegs und verweilten plaudernd ein Viertelstündchen ...“
„Äußerst interessant!“ spottete die Gräfin – „wenn man doch nur wüßte, was sie einander gesagt haben.“
„O, wie Sie schon neugierig geworden sind! – aber ich verrate Ihnen nur, was unumgänglich zu meiner -219- Geschichte gehört. – Eines Morgens lustwandelte die Schloßfrau mit ihren Gästen im Garten. Zufällig lenkte die Gesellschaft ihre Schritte nach einem selten betretenen Laubgang und gewahrte am Ende desselben ein junges Pärchen, das, aus verschiedenen Richtungen kommend, wie freudig überrascht stehen blieb. Der Bursche, kein andrer als Mischka, nahm das Mädchen rasch in die Arme und küßte es, was es sich ruhig gefallen ließ. Ein schallendes Gelächter brach los – von den Herren und, ich fürchte, auch von einigen der Damen ausgestoßen, die der Zufall zu Zeugen dieses kleinen Auftritts gemacht hatte. Nur meine Großmutter nahm nicht teil an der allgemeinen Heiterkeit. Mischka und seine Geliebte stoben natürlich davon. Der Bursche – man hat es mir erzählt“ – kam der Graf scherzend einer voraussichtlichen Einwendung der Gräfin entgegen, „glaubte in dem Augenblick sein armes Mädchen zu hassen. Am selben Abend jedoch überzeugte er sich des Gegenteils, als er nämlich erfuhr, die Kleine werde mit ihrem Kinde nach einer andern Herrschaft der Frau Gräfin geschickt; zwei Tagereisen weit für einen Mann, für eine Frau, die noch dazu ein anderthalb Jahre altes Kind mitschleppen mußte, wohl noch einmal so viel. – Mehr als: ‚Herrgott! Herrgott! o du lieber Herrgott!‘ sprach Mischka nicht, gebärdete sich wie ein Träumender, begriff nicht, was man von ihm wolle, als es hieß an die Arbeit gehen – warf plötzlich den Rechen, den ein Gehilfe ihm samt einem erweckenden Rippenstoß verabfolgte, auf den Boden, und rannte ins Dorf, nach dem Hüttchen, in dem seine Geliebte bei ihrer kranken Mutter wohnte, das heißt, gewohnt -220- hatte, denn nun war es damit vorbei. Die Kleine stand reisefertig am Lager der völlig gelähmten Alten, die ihr nicht einmal zum Abschiedsegen die Hand aufs Haupt legen konnte, und die bitterlich weinte. ‚Hört jetzt auf zu weinen,‘ sprach die Tochter, ‚hört auf, liebe Mutter. Wer soll euch denn die Tränen abwischen, wenn ich einmal fort bin?‘
„Sie trocknete die Wangen ihrer Mutter und dann auch ihre eigenen mit der Schürze, nahm ihr Kind an die Hand und das Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten auf den Rücken und ging ihres Weges an Mischka vorbei, und wagte nicht einmal, ihn anzusehen. Er aber folgte ihr von weitem, und als der Knecht, der dafür zu sorgen hatte, daß sie ihre Wanderung auch richtig antrete, sie auf der Straße hinter dem Dorfe verließ, war Mischka bald an ihrer Seite, nahm ihr das Bündel ab, hob das Kind auf den Arm und schritt so neben ihr her.
„Die Feldarbeiter, die in der Nähe waren, wunderten sich: – ‚Was tut er denn, der Tropf?... Geht er mit? Glaubt er, weil er so dumm ist, daß er nur so mitgehen kann?‘
„Bald nachher kam keuchend und schreiend der Vater Mischkas gerannt: ‚O, ihr lieben Heiligen! Heilige Mutter Gottes! hab ich mir's doch gedacht – seiner Dirne läuft er nach, bringt uns noch alle ins Unglück ... Mischka! Sohn – mein Junge!... Nichtsnutz! Teufelsbrut!‘ – jammerte und fluchte er abwechselnd.
„Als Mischka die Stimme seines Vaters hörte und ihn mit drohend geschwungenem Stocke immer näher herankommen sah, ergriff er die Flucht, zur -221- größten Freude des Knäbleins, das ‚Hott! hott!‘ jauchzte. Bald jedoch besann er sich, daß er seine Gefährtin, die ihm nicht so rasch folgen konnte, im Stich gelassen, wandte sich und lief zu ihr zurück. Sie war bereits von seinem Vater erreicht und zu Boden geschlagen worden. Wie wahnsinnig raste der Zornige, schlug drein mit den Füßen und mit dem Stocke, und ließ seinen ganzen Grimm über den Sohn an dem wehrlosen Geschöpfe aus.
„Mischka warf sich dem Vater entgegen, und ein furchtbares Ringen zwischen den beiden begann, das mit der völligen Niederlage des Schwächeren, des Jüngeren, endete. Windelweich geprügelt, aus einer Stirnwunde blutend, gab er den Kampf und den Widerstand auf. Der Häusler faßte ihn am Hemdkragen und zerrte ihn mit sich; der armen kleinen Frau aber, die sich inzwischen mühsam aufgerafft hatte, rief er zu: ‚Mach fort!‘
„Sie gehorchte lautlos, und selbst die Arbeiter auf dem Felde, stumpfes, gleichgültiges Volk, fühlten Mitleid und sahen ihr lange nach, wie sie so dahinwankte mit ihrem Kinde, so hilfsbedürftig und so völlig verlassen.
„In der Nähe des Schlosses trafen Mischka und sein Vater den Gärtner, den der Häusler sogleich als ‚gnädiger Herr‘ ansprach und flehentlich ersuchte, nur eine Stunde Geduld zu haben mit seinem Sohne. In einer Stunde werde Mischka gewiß wieder bei der Arbeit sein; jetzt müsse er nur geschwind heimgehen und sich waschen und sein Hemd auch. Der Gärtner fragte: ‚Was ist ihm denn? er ist ja ganz blutig.‘ – ‚Nichts ist ihm,‘ lautete die Antwort, ‚er -222- ist nur von der Leiter gefallen.‘
„Mischka hielt das Wort, das sein Vater für ihn gegeben, und war eine Stunde später richtig wieder bei der Arbeit. Am Abend aber ging er ins Wirtshaus und trank sich einen Rausch an, den ersten freiwilligen, war überhaupt seit dem Tage wie verwandelt. Mit dem Vater, der ihn gern versöhnt hätte, denn Mischka war, seitdem er im Schloßgarten Beschäftigung gefunden, ein Kapital geworden, das Zinsen trug, sprach er kein Wort, und von dem Gelde, das er verdiente, brachte er keinen Kreuzer nach Hause. Es wurde teils für Branntwein verausgabt, teils für Unterstützungen, die Mischka der Mutter seiner Geliebten angedeihen ließ – und diese zweite Verwendung des von dem Burschen Erworbenen erschien dem Häusler als der ärgste Frevel, den sein Sohn an ihm begehen konnte. Daß der arme Teufel, der arme Eltern hatte, etwas wegschenkte, an eine Fremde wegschenkte, der Gedanke wurde der Alp des Alten, sein nagender Wurm. Je wütender der Vater sich gebärdete, desto verstockter zeigte sich der Sohn. Er kam zuletzt gar nicht mehr nach Hause, oder höchstens einmal im geheimen, wenn er den Vater auswärts mußte, um die Mutter zu sehen, an der ihm das Herz hing. Diese Mutter ...“ der Graf machte eine Pause – „Sie, liebe Freundin, kennen sie, wie ich sie kenne.“
„Ich soll sie kennen?... Sie lebt noch?“ fragte die Gräfin ungläubig.
„Sie lebt; nicht im Urbilde zwar, aber in vielfachen Abbildern. Das kleine, schwächliche, immer bebende Weiblein mit dem sanften, vor der Zeit gealterten -223- Gesicht, mit den Bewegungen des verprügelten Hundes, das untertänigst in sich zusammensinkt und zu lächeln versucht, wenn eine so hohe Dame, wie Sie sind, oder ein so guter Herr, wie ich bin, ihm einmal zuruft: ‚Wie geht's?‘ und in demütigster Freundlichkeit antwortet: ‚Vergelt's Gott – wie's eben kann.‘ – Gut genug für unsereins, ist seine Meinung, für ein Lasttier in Menschengestalt. Was dürfte man anders verlangen, und wenn man's verlangte, wer gäbe es einem? – Du nicht, hohe Frau, und du nicht, guter Herr ...“
„Weiter, weiter!“ sprach die Gräfin. „Sind Sie bald zu Ende?“
„Bald. – Der Vater Mischkas kam einst zu ungewohnter Stunde nach der Hütte und fand da seinen Jungen. ‚Zur Mutter also kann er kommen, zu mir nicht,‘ schrie er, schimpfte beide Verräter und Verschwörer und begann Mischka zu mißhandeln, was sich der gefallen ließ. Als der Häusler sich jedoch anschickte, auch sein Weib zu züchtigen, fiel der Bursche ihm in den Arm. Merkwürdig genug, warum just damals? Wenn man ihn gefragt hätte, wie oft er den Vater die Mutter schlagen sah, hätte er sagen müssen: ‚Soviel Jahre, als ich ihrer gedenke, mit dreihundertfünfundsechzig multipliziert, das gibt die Zahl.‘ – Und die ganze Zeit hindurch hatte er dazu geschwiegen, und heute loderte beim längst gewohnten Anblick plötzlich ein unbezwinglicher Zorn in ihm empor. Zum zweiten Male nahm er gegen den Vater Partei für das schwächere Geschlecht, und dieses Mal blieb er Sieger. Er scheint aber mehr Entsetzen als Freude über seinen Triumph empfunden zu haben. -224- Mit einem heftigen Aufschluchzen rief er dem Vater, der nun klein beigeben wollte, rief er der weinenden Mutter zu: ‚Lebt wohl, mich seht ihr nie wieder!‘ und stürmte davon. Vierzehn Tage lang hofften die Eltern umsonst auf seine Rückkehr, er war und blieb verschwunden. Bis ins Schloß gelangte die Kunde seiner Flucht; meiner Großmutter wurde angezeigt, Mischka habe seinen Vater halbtot geschlagen und sich dann davon gemacht. Nun aber war es nach der Verletzung des sechsten Gebotes diejenige des vierten, die von meiner Großmutter am schärfsten verdammt wurde; gegen schlechte und undankbare Kinder kannte sie keine Nachsicht ... Sie befahl, auf den Mischka zu fahnden, sie befahl, seiner habhaft zu werden und ihn heimzubringen zu exemplarischer Bestrafung.
„Ein paarmal war die Sonne auf- und untergegangen, da stand eines Morgens Herr Fritz an der Gartenpforte und blickte auf die Landstraße hinaus. Lau und leise wehte der Wind über die Stoppelfelder, die Atmosphäre war voll feinen Staubes, den die Allverklärerin Sonne durchleuchtete und goldig schimmern ließ. Ihre Strahlen bildeten in dem beweglichen Element reizende kleine Milchstraßen, in denen Milliarden von winzigen Sternchen aufblitzten. Und nun kam durch das flimmernde, tanzende Atomengewimmel eine schwere, graue Wolkensäule, bewegte sich immer näher und rollte endlich so nahe an der Pforte vorbei, daß Fritz deutlich unterscheiden konnte, wen sie umhüllte. Zwei Heiducken waren es und Mischka. Er sah aus blaß und hohläugig wie der Tod und wankte beim Gehen. In den Armen trug er sein Kind, das die Händchen um seinen Hals geschlungen, -225- den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte und schlief. Fritz öffnete das Tor, schloß sich der kleinen Karawane an, holte rasch einige Erkundigungen ein und schwebte dann, ein Papagei im Taubenfluge, ins Haus, über die Treppe, in den Saal hinein, in dem meine Großmutter eben die sonnabendliche Ratsversammlung hielt. Der Kammerdiener, von dem Glücksgefühl getragen, das Bedientenseelen beim Überbringen einer neuesten Nachricht zu empfinden pflegen, rundete ausdrucksvoll seine Arme und sprach, vor Wonne fast platzend: ‚Der Mischka laßt die Hand küssen. Er ist wieder da.‘
„‚Wo war er?‘ fragte meine Großmutter.
„‚Mein Gott, hochgräfliche Gnaden‘ – lispelte Fritz, schlug mehrmals schnell nacheinander mit der Zunge an den Gaumen und blickte die Gebieterin so zärtlich an, als die tiefste, unterwürfigste Knechtschaft es ihm nur irgend erlaubte. ‚Wo wird er gewesen sein ... Bei seiner Geliebten. Ja,‘ bestätigte er, während die Herrin, empört über diesen frechen Ungehorsam, die Stirn runzelte, ‚ja, und gewehrt hat er sich gegen die Heiducken, und dem Janko hat er, ja, beinahe ein Auge ausgeschlagen.‘
„Meine Großmutter fuhr auf: ‚Ich hätte wirklich Lust, ihn henken zu lassen.‘
„Alle Beamten verneigten sich stumm; nur der Oberförster warf nach einigem Zagen die Behauptung hin: ‚Hochgräfliche Gnaden werden es aber nicht tun.‘
„‚Woher weiß er das?‘ fragte meine Großmutter mit der strengen Herrschermiene, die so vortrefflich wiedergegeben ist auf ihrem Bilde und die mich gruseln macht, wenn ich im Ahnensaal an ihm vorübergehe. -226- ‚Daß ich mein Recht über Leben und Tod noch nie ausgeübt habe, bürgt nicht dafür, daß ich es nie ausüben werde.‘
„Wieder verneigten sich alle Beamten, wieder trat Schweigen ein, das der Inspektor unterbrach, indem er die Entscheidung der Gebieterin in einer wichtigen Angelegenheit erbat. Erst nach beendigter Konferenz erkundigte er sich, gleichsam privatim, nach der hohen Verfügung betreffs Mischkas.
„Und nun beging meine Großmutter jene Übereilung, von der ich im Anfang sprach.
„‚Fünfzig Stockprügel,‘ lautete ihr rasch gefällter Urteilsspruch; ‚gleich heute, es ist ohnehin Samstag.‘
„Der Samstag war nämlich zu jener Zeit, deren Sie,“ diesem Worte gab der Graf eine besondere, sehr schalkhafte Betonung – „sich unmöglich besinnen können, der Tag der Exekutionen. Da wurde die Bank vor das Amtshaus gestellt ...“
„Weiter, weiter!“ sagte die Gräfin, „halten Sie sich nicht auf mit unnötigen Details.“
„Zur Sache denn! – An demselben Samstag sollten die letzten Gäste abreisen, es herrschte große Bewegung im Schlosse; meine Großmutter, mit den Vorbereitungen zu einer Abschiedsüberraschung, die sie den Scheidenden bereiten ließ, beschäftigt, kam spät dazu, Toilette zum Diner zu machen, und trieb ihre Kammerzofen zur Eile an. In diesem allerungünstigsten Momente ließ der Doktor sich anmelden. Er war unter allen Dignitären der Herrin derjenige, der am wenigsten in Gnaden bei ihr stand, verdiente es auch nicht besser, denn einen langweiligeren, schwerfälligeren Pedanten hat es -227- nie gegeben.
„Meine Großmutter befahl, ihn abzuweisen, er aber kehrte sich nicht daran, sondern schickte ein zweites Mal und ließ die hochgeborene Frau Gräfin untertänigst um Gehör bitten, er hätte nur ein paar Worte über den Mischka zu sprechen.
„‚Was will man denn noch mit dem?‘ rief die Gebieterin; ‚gebt mir Ruhe, ich habe andre Sorgen.‘
„Der zudringliche Arzt entfernte sich murrend.
„Die Sorgen aber, von denen meine Großmutter gesprochen hatte, waren nicht etwa frivole, sondern solche, die zu den peinvollsten gehören – Sorgen, für die Ihnen, liebe Freundin, allerdings das Verständnis und infolgedessen auch das Mitleid fehlt – Poetensorgen.“
„O mein Gott!“ sagte die Gräfin unbeschreiblich wegwerfend, und der Erzähler entgegnete:
„Verachten Sie's, soviel Sie wollen, meine Großmutter besaß poetisches Talent, und es manifestierte sich deutlich in dem Schäferspiel „ Les adieux de Chloë “, das sie gedichtet und den Darstellern selbst einstudiert hatte. Das Stückchen sollte nach der Tafel, die man im Freien abhielt, aufgeführt werden, und der Dichterin, obwohl sie ihres Erfolges ziemlich sicher war, bemächtigte sich, je näher der entscheidende Augenblick kam, eine desto weniger angenehme Unruhe. Beim Dessert, nach einem feierlichen, auf die Frau des Hauses ausgebrachten Toast, gab jene ein Zeichen. Die mit Laub überflochtenen Wände, welche den Einblick in ein aus beschnittenen Buchenhecken gebildetes Halbrund verdeckt hatten, rollten auseinander, und eine improvisierte Bühne wurde sichtbar. -228- Man erblickte die Wohnung der Hirtin Chloë, die mit Rosenblättern bestreute Moosbank, auf der sie schlief, den mit Tragant überzogenen Hausaltar, an dem sie betete, und den mit einem rosafarbigen Band umwundenen Rocken, an dem sie die schneeig weiße Wolle ihrer Lämmchen spann. Als idyllische Schäferin besaß Chloë das Geheimnis dieser Kunst. Nun trat sie selbst aus einem Taxusgange, und hinter ihr schritt ihr Gefolge, darunter ihr Liebling, der Schäfer Myrtill. Alle trugen Blumen, und in vortrefflichen Alexandrinern teilte nun die zarte Chloë dem aufmerksam lauschenden Publikum mit, dies seien die Blumen der Erinnerung, gepflückt auf dem Felde der Treue, und bestimmt, dargebracht zu werden auf dem Altar der Freundschaft. Gleich nach dieser Eröffnung brach ungemessener Jubel im Auditorium los und steigerte sich von Vers zu Vers. Einige Damen, die Racine kannten, erklärten, er könne sich vor meiner Großmutter verstecken, und einige Herren, die ihn nicht kannten, bestätigten es. Sie aber konnte über die Echtheit des Enthusiasmus, den ihre Dichtung erweckte, nicht in Zweifel sein. Die Ovationen dauerten noch fort, als die Herrschaften schon ihre Wagen oder ihre Pferde bestiegen hatten und teils in stattlichen Equipagen, teils in leichten Fuhrwerken, teils auf flinken Rossen aus dem Hoftor rollten oder sprengten.
„Die Herrin stand unter dem Portal des Schlosses und winkte den Scheidenden grüßend und für ihre Hochrufe dankend zu. Sie war so friedlich und fröhlich gestimmt, wie dies einem Selbstherrscher, auch des kleinsten Reiches, selten zuteil wird. Da – eben im Begriff, sich ins Haus zurückzuwenden, gewahrte sie -229- ein altes Weiblein, das in respektvoller Entfernung vor den Stufen des Portals kniete. Es hatte den günstigen Augenblick wahrgenommen und sich durch das offenstehende Tor im Gewirr und Gedränge unbemerkt hereingeschlichen. Jetzt erst wurde es von einigen Lakaien erblickt. Sogleich rannten sie, Herrn Fritz an der Spitze, auf das Weiblein zu, um es gröblich hinwegzuschaffen. Zum allgemeinen Erstaunen jedoch winkte meine Großmutter die dienstfertige Meute ab und befahl zu fragen, wer die Alte sei und was sie wolle. Im nämlichen Moment räusperte sich's hinter der Gebieterin und nießte, und, den breitkrempigen Hut in der einen Hand und mit der andern die Tabaksdose im Busen verbergend, trat der Herr Doktor bedächtig heran. ‚Es ist, hm, hm, hochgräfliche Gnaden werden entschuldigen,‘ sprach er, ‚es ist die Mutter des Mischka.‘
„‚Schon wieder Mischka, hat das noch immer kein Ende mit dem Mischka?... Und was will die Alte! ‘“
„‚Was wird sie wollen, hochgräfliche Gnaden? Bitten wird sie für ihn wollen, nichts andres.‘
„‚Was denn bitten? Da gibt's nichts zu bitten.‘
„‚Freilich nicht, ich habe es ihr ohnehin gesagt, aber was nutzt's? Sie will doch bitten, hm, hm.‘
„‚Ganz umsonst, sagen Sie ihr das. Soll ich nicht mehr aus dem Hause treten können, ohne zu sehen, wie die Gartenarbeiter ihre Geliebten embrassieren?‘
„Der Doktor räusperte sich, und meine Großmutter fuhr fort: ‚Auch hat er seinen Vater halbtot geschlagen.‘
„‚Hm, hm, er hat ihm eigentlich nichts getan, -230- auch nichts tun wollen , nur abhalten, die Mutter nicht ganz totzuschlagen.‘
„‚So?‘
„‚Ja, hochgräfliche Gnaden. Der Vater, hochgräfliche Gnaden, ist ein Mistvieh, hat einen Zahn auf den Mischka, weil der der Mutter seiner Geliebten manchmal ein paar Kreuzer zukommen läßt.‘
„‚Wem?‘
„‚Der Mutter seiner Geliebten, hochgräfliche Gnaden, ein erwerbsunfähiges Weib, dem sozusagen die Quellen der Subsistenzmittel abgeschnitten worden sind ... dadurch, daß man die Tochter fortgeschickt hat.‘
„‚Schon gut, schon gut!... Mit den häuslichen Angelegenheiten der Leute verschonen Sie mich, Doktor, da mische ich mich nicht hinein.‘
„Der Doktor schob mit einer breiten Gebärde den Hut unter den Arm, zog das Taschentuch und schneuzte sich diskret. ‚So werde ich also der Alten sagen, daß es nichts ist.‘ Er machte, was die Franzosen une fausse sortie nennen, und setzte hinzu: ‚Freilich, hochgräfliche Gnaden, wenn es nur wegen des Vaters wäre ...‘
„‚Nicht bloß wegen des Vaters, er hat auch dem Janko ein Auge ausgeschlagen.‘
„Der Doktor nahm eine wichtige Miene an, zog die Augenbrauen so hoch in die Höhe, daß seine dicke Stirnhaut förmliche Wülste bildete, und sprach: ‚Was dieses Auge betrifft, das sitzt fest und wird dem Janko noch gute Dienste leisten, sobald die Sugillation, die sich durch den erhaltenen Faustschlag gebildet hat, aufgesaugt sein wird. Hätte mich auch gewundert, -231- wenn der Mischka imstande gewesen wäre, einen kräftigen Hieb zu führen nach der Behandlung, die er von den Heiducken erfahren hat. Die Heiducken, hochgräfliche Gnaden, haben ihn übel zugerichtet.‘
„‚Seine Schuld; warum wollte er ihnen nicht gutwillig folgen.‘
„‚Freilich, freilich, warum wollte er nicht? Vermutlich, weil sie ihn vom Sterbebette seiner Geliebten abgeholt haben – da hat er sich schwer getrennt ... Das Mädchen, hm, hm, war in andern Umständen, soll vom Vater des Mischka sehr geprügelt worden sein, bevor sie die Wanderung angetreten hat. Und dann – die Wanderung, die weit ist, und die Person, hm, hm, die immer schwach gewesen ist ... kein Wunder, wenn sie am Ziele zusammengebrochen ist.‘
„Meine Großmutter vernahm jedes Wort dieser abgebrochenen Sätze, wenn sie sich auch den Anschein zu geben suchte, daß sie ihnen nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit schenkte. ‚Eine merkwürdige Verkettung von Fatalitäten,‘ sprach sie, ‚vielleicht eine Strafe des Himmels.‘
„‚Wohl, wohl,‘ nickte der Doktor, dessen Gesicht zwar immer seinen gleichmütigen Ausdruck behielt, sich aber allmählich purpurrot gefärbt hatte. ‚Wohl, wohl, des Himmels, und wenn der Himmel sich bereits dreingelegt hat, dürfen hochgräfliche Gnaden ihm vielleicht auch das Weitere in der Sache überlassen ... ich meine nur so!‘ schaltete er, seine vorlaute Schlußfolgerung entschuldigend, ein – ‚und dieser Bettlerin‘, er deutete nachlässig auf die Mutter Mischkas, ‚huldvollst ihre flehentliche Bitte erfüllen.‘
„Die kniende Alte hatte dem Gespräch zu folgen -232- gesucht, sich aber mit keinem Laut daran beteiligt. Ihre Zähne schlugen vor Angst aneinander, und sie sank immer tiefer in sich zusammen.
„‚Was will sie denn eigentlich?‘ fragte meine Großmutter.
„‚Um acht Tage Aufschub, hochgräfliche Gnaden, der ihrem Sohne diktierten Strafe, untersteht sie sich zu bitten, und ich, hochgräfliche Gnaden, unterstütze das Gesuch, durch dessen Genehmigung der Gerechtigkeit besser Genüge geschähe, als heute der Fall sein kann.‘
„‚Warum?‘
„‚Weil der Delinquent in seinem gegenwärtigen Zustande den Vollzug der ganzen Strafe schwerlich aushalten würde.‘
„Meine Großmutter machte eine unwillige Bewegung und begann langsam die Stufen des Portals niederzusteigen. Fritz sprang hinzu und wollte sie dabei unterstützen. Sie aber winkte ihn hinweg: ‚Geh aufs Amt,‘ befahl sie, ‚Mischka ist begnadigt.‘
„‚Ah!‘ stieß der treue Knecht bewundernd hervor und enteilte, während der Doktor bedächtig die Uhr aus der Tasche zog und leise vor sich hinbrummte: ‚Hm, hm, es wird noch Zeit sein, die Exekution dürfte eben begonnen haben.‘
„Das Wort ‚begnadigt‘ war von der Alten verstanden worden; ein Gewinsel der Rührung, des Entzückens drang von ihren Lippen, sie fiel nieder und drückte, als die Herrin näher trat, das Gesicht auf die Erde, als ob sie sich vor so viel Größe und Hoheit dem Boden förmlich gleichzumachen suche.
„Der Blick meiner Großmutter glitt mit einer -233- gewissen Scheu über dieses Bild verkörperter Demut: ‚Steh auf‘, sagte sie und – zuckte zusammen und horchte ... und alle Anwesenden horchten erschaudernd, die einen starr, die andern mit dem albernen Lachen des Entsetzens. Aus der Gegend des Amtshauses hatten die Lüfte einen gräßlichen Schrei herübergetragen. Er schien ein Echo geweckt zu haben in der Brust des alten Weibleins, denn es erhob stöhnend den Kopf und murmelte ein Gebet ...
„‚Nun?‘ fragte einige Minuten später meine Großmutter den atemlos herbeistürzenden Fritz: ‚Hast du's bestellt?‘
„‚Zu dienen,‘ antwortete Fritz und brachte es diesmal statt zu seinem süßen Lächeln nur zu einem kläglichen Grinsen: ‚Er laßt die Hand küssen, er ist schon tot.‘“ –
„Fürchterlich!“ rief die Gräfin aus, „und das nennen Sie eine friedliche Geschichte?“
„Verzeihen Sie die Kriegslist, Sie hätten mich ja sonst nicht angehört,“ erwiderte der Graf. „Aber vielleicht begreifen Sie jetzt, warum ich den sanftmütigen Nachkommen Mischkas nicht aus dem Dienst jage, obwohl er meine Interessen eigentlich recht nachlässig vertritt.“
Fräulein Susette, oder wie sie sich lieber nennt, Susanne, spazierte am Weihnachtsabend munter in ihrem Zimmer hin und her. Sie hatte viele Leute beschenkt, versetzte sich nun im Geiste zu dem und jenem der angenehm Überraschten und befand sich da sehr behaglich. Ihre zu kleinen, aber flinken und geschickten Hände schlugen gleichsam den Takt zu der Freudenmusik in ihrem Innern, indem sie die beinernen Nadeln der Strickerei rasch und lieblich klappern ließen.
Andern Vergnügen machen ist ein Vergnügen für jeden natürlich gearteten Menschen, dachte sie, für mich aber, die so spät dazu kam, ein berauschendes Glück. – Wenn einem die Eltern mißraten sind, wenn man ein langes Dasein der freudlosen Pflichterfüllung, der Unterwürfigkeit und Entbehrung hinter sich hat, und erwacht eines Morgens selbständig, frei, wohlhabend, gar nicht mehr jung, aber mit einem ungehobenen Schatz an Heiterkeit im Herzen, das ist zum Übermütigwerden, und Susanne wurde übermütig und machte ausschweifenden Gebrauch von ihrer Unabhängigkeit und von ihrem Reichtum.
Sie hatte viele Jahre mit ihrer begüterten, aber vom Geizteufel besessenen Großmutter in einer armen Leuten abgemieteten Dachkammer gelebt. Wie gelebt! Als geduldige und mißhandelte Magd. Dennoch vergoß -238- sie am Sterbebette ihrer Tyrannin ehrliche Tränen.
Nach dem Tode der alten Frau befand sich Susanne, deren einziges Enkelkind, an der Spitze eines nach ihren Begriffen großen Vermögens. Die Erbin bezog nun eine hübsche, aus drei Zimmern und einer Küche bestehende Wohnung im vierten Stock eines stattlichen Hauses in der Göttweihergasse. Sie nahm ein Dienstmädchen auf, ging oft spazieren und stieg, wenn sie müde wurde, in einen Stellwagen, ohne weiteres – wie eine Prinzessin.
Der Luxus jedoch, den sie am maßlosesten betrieb, war der Verschenkluxus; ihm ergab sie sich immer, besonders aber um die gesegnete Weihnachtszeit, und ein solcher Christabend, an dem Susanne auf und ab pendelte in ihrer guten Stube – sorgfältig vermeidend, den Rand des kleinen, unter dem Tische liegenden Teppichs zu betreten, um ihn nicht abzunützen – und an alle die Menschen dachte, denen sie eine Freude bereitet hatte – ein solcher Christabend ... Niemand vermag seine stillen Entzückungen zu schildern. Das Fräulein wußte nur eins: sich die Hochgefühle, von denen sie jetzt beseelt wird, in Permanenz versetzt denken, und sie hat eine Vorstellung dessen, was himmlische Seligkeit ist.
Auf einmal blieb Susanne stehen und horchte. Durch die Wand, aus der Wohnung nebenan, war das Gekreische jubelnder Stimmen zu ihr gedrungen. Haha, die Kunzelkinder! Nur zu! Dieser Jubel macht dem Fräulein kein geringes Vergnügen, denn sie ist dessen Urheberin. Sie hat den Christbaum gekauft und geschmückt, der jetzt so begeistert akklamiert wird. Ohne sie hätten die Nachbarn einen traurigen -239- Weihnachtsabend gehabt. Sie war kürzlich dem Haupte der Familie, dem Herrn Kürschnermeister Kunzel, und seinem ältesten Sprößling, dem siebenjährigen Toni, auf der Treppe begegnet und hatte zu dem Kinde gesagt: „Nun, Toni, freust du dich auf den Christbaum?“ worauf der Junge seine kleinen, tiefliegenden Augen gesenkt, die Unterlippe vorgeschoben und etwas Unverständliches gemurmelt, der Kürschnermeister jedoch mit einer weit ausholenden Schwenkung des Hutes und ehrfürchtiger Verbeugung geantwortet hatte: „Ach nein, gnädigstes Fräulein, heuer hält sich das Christkinderl bei uns nicht auf ... Es wird ... es hat ...“ Er stockte, fuhr langsam mit seiner breiten Hand über den Kopf und das Gesicht und setzte verlegen hinzu: „Es muß sparen ... auf eine neue Wiege – mit Zubehör ... die alte tut's durchaus nicht mehr ...“
„Mein Gott, das sechste, und ich habe schon das vierte und das fünfte aus der Taufe gehoben!“ sagte Susanne zu sich selbst, und zu Herrn Kunzel sagte sie nichts, sondern ging stumm und unaufhaltsam ihrer Wege, was sie später sehr bereute. Wenn man auch keineswegs gesonnen ist, bei Nummer sechs Taufpatenstelle zu vertreten, läuft man doch nicht mit unanständiger Eile davon, weil einem dessen bevorstehende Ankunft angezeigt wird.
Das Schlimme, ja das Abscheuliche dabei ist, daß Susanne um die Gunst, welche sie eben in Gedanken verweigerte – nie gebeten worden ist, dieselbe vielmehr selbst angeboten und sogar nach der Geburt von Nummer fünf aufgedrungen, als sie gehört hatte: die Kürschnersleute finden keine Taufpatin -240- für ihre Jüngste.
Wie überrascht waren jene gewesen, da Susanne im Augenblick der größten Verlegenheit als rettender Engel erschien, aber auch wie ehrlich beschämt! Der Mann ganz rot, und die Frau ganz blaß, hatten zuerst an das großmütige Anerbieten kaum glauben können. Sie hatten einander bestürzt angesehen und gemurmelt: „Nein, Mutter ... das wäre zu viel.“ – „Nein, Vater, das gibt's nicht ...“
Und einmal wieder hatte Susanne was „zu viel“ ist und „was es nicht gibt“ getan und einmal wieder in den auserlesensten Hochgefühlen geschwelgt und sich in eine neue Gelegenheit zu fortwährenden Opfern hineingestürzt mit Mutius Scävolaischer Begeisterung.
Das der wirkliche Sachverhalt, bei dem sich die Noblesse des braven Ehepaares so deutlich geoffenbart, und aus dem Susanne so wenig gelernt hatte, daß sie entfloh wie vor einer Gefahr, vor der Aussicht auf ein neues Kunzelchen.
Welche Abgründe im Menschenherzen, sogar in einem ganz passablen! klagte sie. Stille, schwarze Wässerchen, verborgene Miserabilitätsadern in einem scheinbar leidlich gesunden Organismus.
Susanne hatte viel gelitten durch die Erinnerung an ihr schnödes Benehmen gegen Herrn Kunzel, und das Gejauchze seiner Kinder, das sie jetzt vernahm, wirkte unsagbar heilend auf ihre Seelenwunde. Gar lebhaft und innig regte sich in dem Fräulein der Wunsch, ein bißchen hinüberzugehen zu den guten Leutchen, um persönlich an ihrer Freude teilzunehmen.
Aber der Respekt der Einsamen vor der Familie, -241- die man an einem Tage, wie der heutige, in ihrem friedlichen Beisammensein nicht stören darf, hielt sie davon ab, und so fuhr sie fort, ihre Besuche vergnügt in Gedanken abzustatten.
Sie flog in die Brigittenau zu ihrer Wäscherin und von da zu dem Buchbinder Hasse in Lerchenfeld, und von Lerchenfeld in die Kumpfgasse zur alten Blumenresel, zu lauter wackeren, schwer ringenden Menschen, die heute aufatmen – Susanne hat sie von ihren drückenden Sorgen befreit. Von der Kumpfgasse begibt sich das Fräulein nach der Freiung, sie tut es ein wenig zögernd.
Ach – es kann nicht anders sein!... Wenn sie von Leuten kommt, die sich eine Ehre aus ihr machen – jetzt naht sie einer Wohnung, die auch nur im Geiste zu betreten eitel Ehre für sie ist, denn in dieser Wohnung residiert ihr Vetter Joseph, der kaiserlich königliche Hofrat. Ein Pracht- und Mustermensch, der Vetter Hofrat, angebetet von seinen Untergebenen, hochgeschätzt von seinen Vorgesetzten, ein Beamter mit großer Zukunft. Und was für ein Ehemann! Die Ritterlichkeit, die Liebe selbst. – Verehrter Joseph!... Ja, was für ein Ehemann! Was für ein Vater, und – Susanne darf sagen – was für ein Vetter!
Musterhaft schon von jeher, hatte Joseph aus reinem Pflichtgefühl die Großtante manchmal in ihrer Dachkammer besucht und auf Susanne einen Eindruck gemacht, dessen Tiefe sie erst ermaß, als sie hörte: der Vetter heiratet ein schönes, sehr reiches Fräulein.
Sie erschrak tödlich über diese Nachricht und dann über ihr Erschrecken. Hatte sie denn auf ihn gehofft, -242- den Hohen, Einzigen? – Niemals! Mit Seelenstärke überwand sie ihren unberechtigten Schmerz; sie begeisterte sich sogar für die Frau ihres Vetters und fuhr fort, ihn zu bewundern. Seine glänzende Heirat machte ihn nicht hochmütig, er blieb immer gleich huldvoll gegen die arme Susanne.
In ihren schwersten Tagen – nie wird sie es ihm vergessen –, wenn sie ihn auf der Straße traf und wegen ihres in der Auflösung begriffenen Fähnchens und ihres ärmlichen alten Umhängetuches vor Beschämung am liebsten zu einem Schatten auf dem Trottoir zerflossen wäre – hatte er sie nie verleugnet. Im Gegenteil, sie immer herablassend gegrüßt mit zwei Fingern der schwedisch behandschuhten Rechten, die er eigens zu diesem Behufe, sogar im Winter, aus der Tasche des kostbaren, ehrfurchtgebietenden Paletots gezogen; manchmal auch: „Gu'n Morgen, Sette,“ dazu gesagt ...
„Gu'n Morgen, Sette!“ ... Wie lange, wie süß hatte es immer in ihr nachgehallt und sie mit einem Klange umschmeichelt, für den sie nur eine richtige Bezeichnung fand – einem balsamischen Klange.
Jetzt, zu Geld und Gut gekommen, zeigte Susanne sich dankbar, indem sie jede Gelegenheit ergriff, ihrem Vetter oder einem der Seinen eine Aufmerksamkeit zu erweisen, und mit den Christgeschenken trieb sie es großmütiger von Jahr zu Jahr. Ihr Budget wurde dadurch sehr beschwert – aber ihre Seele bekam Flügel.
Und nicht genug ...
Mit den Wonnen des heutigen Tages fand das Glück sich noch nicht ab. Es brachte Fortsetzung – einen unaussprechlich lieben Besuch. Morgen, Susanne -243- darf darauf rechnen, nach der heiligen Messe, wird der Vetter weihrauchduftend erscheinen, in Begleitung seiner imponierend schönen Frau, seines lieben fünfzehnjährigen Sohnes und seiner kleinen Tochter. Sein mächtiges, glatt rasiertes Gesicht wird von dem Lichte würdevollen Wohlwollens erhellt sein, und er wird sagen: „Wirklich, Sette, zu viel, wir bitten ...“
Die schöne Base jedoch wird ihm ins Wort fallen – spöttisch lachend, wie sie pflegt, wahrscheinlich weil es ihr so reizend steht: „Nein, wie die gute Susette nur jedesmal errät, was wir uns am meisten wünschen! Wie sie das nur anfängt, die gute Susette!“
Eine große Verwirrung wird sich des Fräuleins bemächtigen. Sollte die Kammerjungfer das geheime Einverständnis, in dem sie sich befinden, verraten haben? – Aber nein, das wäre zu schlecht, solche Schlechtigkeit kann nicht vorkommen in der Nähe dieser Menschen. Damit wird sie sich trösten; es werden noch einige Reden gewechselt werden, und dann wird Joseph aufstehen und sprechen: „Wir sind auch gekommen, um dir glückliche Feiertage und ein glückliches neues Jahr zu wünschen, Sette. Kinder, gratuliert der Tante!“
Die wohlerzogenen artigen Kinder werden sogleich die Absicht an den Tag legen, dem Fräulein die Hände zu küssen, was sie natürlich nicht zugeben wird. Und die schöne Cousine wird – abermals mit ihrem reizend spöttischen Lächeln, ihre Wange derjenigen Susannes bis auf einen Zentimeter nähern und dabei die Luft küssen ... Und dann werden sie gehen, und Susanne wird sie bis an die Haustür begleiten, ins Zimmer zurückeilen, die Arme ausbreiten -244- und rufen:
„Sie waren da! Sie waren da!“ und Rosi, die verdienstvolle Magd, wird ihre Zustimmung kundgeben. „No jo. Dos sind holt Herrschoften. Do hoben's Fräul'n auch amol an B'such von Herrschoften kriegt und nit immer nur von so Leut, die wos wolln. No joh!“
Ach, der Vorgenuß und der Nachgenuß, das sind die rechten. Der Augenblick selbst hat etwas Überwältigendes ... Schon das gewisse Würgen im Halse, das sich einstellt, wenn um Zwölf die Glocke ertönt ...
Hilf Gott! just als sie es denkt, da läutet's. Was bedeutet das? Wem kann es nur einfallen, daher zu kommen am Weihnachtsabend? Rosi erwartet allerdings ihre Schwestern, aber die klingeln nicht, die klopfen.
Etwas Unheimliches ist's zum Glücke nicht, das Fräulein hört ihre Dienerin auf dem Gange sehr heiter sprechen, und nun tritt die schmunzelnd ein und sagt:
„Eine Visit soll ich anmelden. Noh, Tonerl, is g'fällig?“
Es ist gefällig; der Angerufene, Toni Kunzel, erscheint. Mit ernster, geschäftsmäßiger Miene, den großen, lichtblonden Kopf vorgebeugt, geht er gradaus auf den Tisch zu und legt drei Pakete von verschiedener Größe darauf. Zu grüßen hat er vergessen vor lauter Wichtigkeit. Er wickelt das Mitgebrachte schweigend aus den vielen, nicht eben blanken Papieren, in die es eingehüllt ist, knüllt jedes extra zusammen und steckt es in die rückwärtige Tasche seines grünen Jäckchens, das zuletzt wegragt -245- wie ein Pfauenschwanz.
Nach und nach sind zum Vorschein gekommen: eine vergoldete Nuß, ein roter Apfel und ein lebzeltener Husar, mit einem von kleinen Zähnen etwas angenagten Federbusch. Toni legt alles schön nebeneinander, ändert die Reihenfolge einige Male, bis sie ihm recht ist und der Husar zuerst und die Nuß zuletzt kommt. Dann fährt er mit dem Rücken der Hand an dieser Darbringung, sie gleichsam unterstreichend, vorbei und sagt:
„So, Fräul'n. Nimm Sie sich das. Weil heut Christabend is. Daß Sie auch was hat;“ und sieht sie dabei so kapabel und überlegen an, aus unsagbar ehrlichen und unschuldigen Augen, und wartet siegessicher auf die Äußerung des Beifalls, den seine Großmut erwecken muß.
„O du Toni!“ will Susanne ausrufen, aber mitten im Satze kippt ihre Stimme um; es schießt ihr heiß in die Augen, und ihr Näschen rötet sich. Sie nimmt den edlen Spender beim Kopf und drückt einen Kuß auf seinen Scheitel, und Toni, offenbar ungemein geschmeichelt und gerührt, packt ihre kleine Rechte und küßt sie auf das allerinnigste. Dann läßt er noch eine Anpreisung und Gebrauchsanweisung seiner Gaben folgen: „'s is alles gut. Alles vom Christkinderl. Sie kann alles essen, auch die Nuß. Aber schad wär's halt.“
Damit empfiehlt er sich.
Das Fräulein ist wieder allein. Süße, schöner denn je belebte Einsamkeit!... „O du Toni!“ und! „Nein, das Kind!“ sagt sie unzählige Male. Da hat sie nun die erste Christbescherung erhalten in ihrem -246- ganzen Leben, und das macht ihr einen Eindruck ... sie wird ganz töricht, als sie sich Rechenschaft von ihm geben will ... Es ist ein himmelblauer Eindruck, meint sie, und lacht und strickt dazu. Himmelblau mit goldenen Sternchen, und stellenweise, wo er durchsichtig wird, guckt ein wehmütig grauer Hintergrund heraus. Musik ist auch dabei, die Sternchen klingen. Ein wenig verrückt diese Idee ... sei's darum! Nach einem außerordentlichen Ereignis hat man eben andre als Werkeltagsgedanken, und – was fährt Susannen nicht alles durch den Kopf! Viel angenehmer Unsinn, an den sie beileibe nicht glaubt, den sie sich aber doch vorspiegeln läßt von Dame Phantasie, weil die heute so gut bei Laune ist.
– Wenn ein Kind das Herzensbedürfnis empfand, dich zu beschenken, spricht die alte, ewig junge Faslerin, warum sollten nicht auch Erwachsene es empfinden? Warte nur, was heute noch alles kommt!
Susanne depreziert: Wer sollte mir etwas schenken? Der es tun könnte, der Vetter, ein Familienvater, hat andre Sorgen – und meine übrigen Bekannten sind arme Leute. –
Das macht nichts, auch die können geben. Die Blumenresel zum Beispiel, die gerade jetzt, dank deiner Verwendung, dreißig Jubiläumssträuße in der Singerstraße abzuliefern hat, könnte wohl im Vorübergehen eine schöne, frische Rose für dich abgeben. Sie brauchte sich deiner nur zu erinnern, wie der kleine Toni sich deiner erinnert hat ... Und der Buchbinder Hasse in Lerchenfeld, für den du den Mietzins erlegtest, und der aus Abschnitzeln so allerliebste Notizbüchelchen macht. Ein Dutzend davon hast du ihm abgenommen -247- und verschenkt bis auf eines, das du kindische alte Person gar zu gern selbst behalten hättest, das rehbraune mit dem vierblättrigen Klee – du überwandest diese Regung des Geizes, denn Rosi lechzte ja förmlich nach dem Büchlein, im Interesse ihres Liebhabers, ohne Zweifel. Wenn nun dem guten Hasse einfiele, was dem Kunzeltoni eingefallen ist, daß auch du am Christabend etwas haben sollst, wenn der Meister ein solches Büchlein brächte, oder schickte, durch die Post ... Es wäre noch Zeit, eben schlägt's Sieben, da kommt der Briefträger ins Haus ...
Kling! kling! o Tag der Wunder! wird die Schwätzerin recht behalten? – Es hat wieder geläutet: Rosi geht die Haustür öffnen und schreit so laut auf, daß man's deutlich bis ins Zimmer hört: „Jo wos denn? Na, so wos ...“ Und schon wirbelt sie herein, und ihr auf dem Fuße folgt ein Kommissionär, dessen Gesicht feuerfarbig und dessen Gang schwankend ist, und trägt ein mit winzigen Kerzen bestecktes, mit dem feinsten Konfekt behangenes Christbäumchen.
Susanne starrt und starrt und bringt keine Silbe über die Lippen.
Um so beredter ist Rosi, die spricht ohne Aufhören: „Von der Freiung Nummer sechzehn is er geschickt, sogt er. No joh, vom Herrn Vetter, no i sog's holt – die Herrschoften ... 's is lang nix kommen, ober wenn emol was kommt, kommt was Rechts. Do stellen's es her auf'n Tisch, 's Christbäumerl.“
Merkwürdigerweise zögert der Kommissionär, er -248- sieht sowohl Rosi wie Susanne betroffen an, und sagt, er habe den Auftrag, das Präsent dem Fräulein persönlich zu übergeben. Die Versicherung Rosis, das Fräulein stehe vor ihm, will ihm nicht recht einleuchten. Fräulein Rainer mit einem A sei ihm gesagt worden.
„Reiner mit E,“ berichtigt Susanne, und er wiederholt:
„Mit E?“ und stellt das Bäumchen auf den Tisch, um in seiner Tasche nach dem Adreßzettel zu suchen, den ihm sein Auftraggeber eingehändigt hat. Rosis Geduld jedoch ist erschöpft. Sie nimmt den Mann bei den Schultern und schiebt ihn mit kräftigen Armen aus dem Zimmer. Der Angetrunkene sucht Widerstand zu leisten, es ist aber vergeblich. „Gib ihm einen Gulden!“ ruft Susanne ihrer Dienerin nach, und das kommt mit einem Jauchzen heraus, glückseliger als das der Kunzelkinder. Die Jugend ist die Zeit der Freude, sagen die Leute. Irrtum! Irrtum! alt muß man sein und eine Freude kaum mehr erwartet haben, um sie zu begrüßen, wenn sie kommt, wie Frühlingsodem an einem Wintertag.
Unwillkürlich hat Susanne vor dem Bäumchen die Hände gefaltet. Ich lasse einen Glassturz darüber machen, beschließt sie, an meinem Sterbebette soll es stehen. Mein letzter Blick soll darauf fallen und Gott danken, daß er seine Menschen so gut gegen mich sein ließ.
Wie Susanne das Bäumchen immer aufmerksamer betrachtet, entdeckt sie halb verborgen im Moose, das den zierlichen Stamm umgibt, ein Päckchen in schneeweißem Papier. Sie entfaltet es: sein Inhalt besteht -249- in einem mit rosafarbigem Atlas überzogenen Etui. Auf dem Deckel ist ein Papierstreifen angesteckt, der eine in der mikroskopischen Schrift des Vetters ausgeführte Widmung trägt. Sie lautet:
Dein Seppel.
Ohne „Dir“ und – „Seppel!“ O verehrter Joseph! – Nun, ein Scherz, aber, Susanne kann sich nicht helfen, er hat etwas Verletzendes für sie, und geradezu von Schwindel wird sie ergriffen, als sie das Etui öffnet und ... Gott! was blinkt und blitzt ihr entgegen in allen Farben des Regenbogens? – ein wundervoll gefaßter Solitär ...
Wahrlich, das übersteigt das Maß, innerhalb dessen eine freudige Überraschung noch angenehm ist; das geht in das Gebiet des beunruhigend Unbegreiflichen über.
Am liebsten würde Susanne die Widmung von dem Etui herabnehmen, dasselbe sorgfältig zusammenpacken und sogleich mit einigen dankend ablehnenden Zeilen an den Vetter zurückschicken. Doch fürchtet sie, ihn dadurch zu verletzen, und beschließt, die delikate Angelegenheit morgen mündlich abzumachen. Halb im Scherz, halb im Ernst wird sie den Vetter fragen, ob er sie für eine Person hält, die man ohne weiteres grausam beschämen darf? und den Solitär an das Herz legen, an dem er seine Heimstätte zu suchen und zu finden hat, das Herz der Gemahlin.
Susanne hat sich in Gedanken alles zurecht gelegt, aber schlafen wird sie heute kaum. Die Sorge um den wertvollen Schmuckgegenstand, den sie gegen -250- ihren Willen in Verwahrung hat, wird ihr die Ruhe rauben. Noch ist sie unentschieden, in welchem ihrer Schränke sie ihn bergen soll, als derbe Schritte das Nahen Rosis anzeigen, und Susanne nichts übrig bleibt, als das Päckchen einstweilen wieder im Moose zu verstecken. Mit einem brennenden Wachsstock in der Hand tritt die Magd ein, ist sehr unwirsch und brummt: „Nit zum Wegbringen der Mensch. Betrunken wie a Kanon am heilgen Weihnachtsabend. Steht noch auf der Stieg'n und studiert sei schmierige Adreß. ‚Nummer fünf heißt's,‘ sogt er, Nummer drei heißt's, sog i, kennen's nit lesen?“
„Nummer fünf?“ fragt das Fräulein beunruhigt, „liebe Rosi, wenn es wirklich fünf hieße und nicht drei?“
Ihr Bedenken wird mit Überlegenheit belächelt, die ihr wohltut; dabei zündet die Magd Kerzlein um Kerzlein an. Das reich geputzte Bäumchen erstrahlt in magischem Glanze, und dieser Glanz dringt in alle Seelentiefen Susannens und leuchtet jeden Zweifel, jede leise auftauchende Sorge hinaus.
Sie ist völlig verzückt. Ihr gutes, kleines Mopsgesicht gewinnt einen Ausdruck rührend reiner Freude, und sie sagt glückselig bewegt: „Mein erster Christbaum, Rosi, mein erster Christbaum, Ro —“
Die zweite Silbe bleibt ihr in der Kehle stecken ... Es hat wieder geläutet, hastig, ja wild. Susannens Augen richten sich erschrocken auf ihre Magd. Die jedoch ist ganz übermütig: „Heut geht's ober zu. No jo, vielleicht schickt Seine Majestät der Kaiser wos.“
Sie enteilt, um die Tür aufzureißen vor der neuen Überraschung, und eine Überraschung ist's, aber -251- was für eine!
Draußen läßt das Drohen und Fluchen einer rauhen Männerstimme sich vernehmen. Ohne anzuklopfen, ohne die Mütze zu rücken, poltert der Kommissionär ins Zimmer, schimpft fürchterlich, als er die angezündeten Kerzchen am Christbaum erblickt, bläst gleich drei, vier auf einmal aus und fährt Rosi, die ihm auf dem Fuße gefolgt ist, mit unglaublicher Grobheit an. Er hat es ja gesagt, hinüber auf Nummer fünf gehört das Bäumerl, zur Rainer mit A, und nicht zu einer alten Schachtel mit E. Den Guldenzettel, den sie ihm gespendet hat, wirft er auf den Tisch. Da hat sie das Ihrige, und jetzt hofft er nur, daß ihm nichts weggekommen ist, sonst – den Weg zur Polizei kennt er, den braucht ihm niemand weisen.
Kurz, nachdem er sich benommen wie in einer Diebeshöhle, nimmt er das Bäumchen unter den Arm, trampelt davon und schlägt hinter sich die Tür zu, daß alles dröhnt.
Susanne ließ sich auf einen Sessel, nicht wie sie sonst pflegte aus Rücksicht für den Überzug, nieder gleiten , sonder nieder fallen , Rosi stand vor ihr, nahm einen Zipfel der blanken Schürze, und steckte ihn in den Gürtel. Ihre Augen funkelten vor Entrüstung, ihre Lippen wurden dick und scharlachrot. Sie kreuzte die nackten Arme und sprach erregt:
„Na, dos is aber doch!“
Das Fräulein hat indessen ein stilles Gebet verrichtet: Lieber Gott, gib mir Kraft, vor diesem braven, aber der höchsten Politur ermangelnden Mädchen die Würde des Familienlebens meines tiefgesunkenen -252- Vetters zu wahren. Gib mir Kraft, ich brauche sie; ich glaube, ich habe keinen Puls, und meine Füße sind ganz steif. Wie mir jetzt ist, so dürfte es der Erde sein, wenn sie dereinst in die Eisperiode tritt. O meine Sonne, mein Prachtmenschenexemplar – wie siehst du aus!
„Die Rainer,“ nimmt Rosi wieder das Wort, „dos is die Lokalsängerin, wo neulich so viel in der Zeitung g'standen is. Doß die daneben wohnt, weiß freilich die ganze Straß'n. Daß aber der Herr Vetter zu der ihrer Bekonntschoft g'hört, hätt i mer nit denkt. Hot so e scheene Frau und lauft der schiechen Astel nach.“
Susannens Zähne klappern aneinander, die Zunge klebt ihr am Gaumen, doch gelingt es ihr, dank ihrer heroischen Anstrengung, in ziemlich natürlichem Tone zu sagen: „Ja, meine liebe Rosi, die Rainer ist eben eine große Künstlerin.“
„So? und drum schickt er ihr wos zu Weihnachten, und vielleicht gar hinterm Rucken der gnädigen Frau?“
„Liebe Rosi,“ erwidert Susanna zurechtweisend und setzt ihre Wahrheitsliebe hintan, um die Familienehre zu schützen, „dieses Geschenk, es wird von ihm und von ihr sein. Es ist so Sitte bei den Herrschaften, daß sie großen Künstlerinnen zu passenden Gelegenheiten Blumen schicken oder – Christbäume.“
„Meinen's Fräulein? – No jo,“ spricht Rosi mit ihrem gewohnten überlegenen Lächeln und geht, das Abendessen anzurichten, das heute aus Fisch und Gugelhupf besteht. Dazu braut sie einen guten Punsch für sich und ihre Schwestern. Es geschieht -253- ohne Wissen der Gebieterin, die nicht ahnen darf, daß in ihrem Hause Spirituosen, diese Mörder der Intelligenz, genossen werden.
Während der kleine Betrug an ihr verübt wird, bleibt Susanne ihren traurigen Betrachtungen überlassen.
– Solitär, wenn er nicht bei Fräulein Rainer ist! Ein Ehegatte und Familienvater? – „Ohne Dir ...“ Sie sind also auf dem Du-Fuße, – „Ohne Dir ,“ schauderhaft . Wenn er noch gesagt hätte: „Ohne Dich !“ – Gott, wie tief sinkt man sofort in jeder Hinsicht, wenn man in einer das Gleichgewicht verloren hat.
Tiefbekümmert fragt sich Susanne, ob sie dem ahnungslosen Vetter, hinter dessen tiefstes Geheimnis sie gekommen ist, je wieder unter die Augen wird treten können, und gar seiner betrogenen Gattin und seinen armen Kindern, deren Vater, statt für sie zu sparen, Solitäre kauft für Fräulein Rainer.
Zu Tode schämen muß sie sich vor ihnen allen ... sie, die Mitwisserin einer großen Schuld. Es wird ihr aufs Herz fallen, verdammende Stimmen werden ihr zurufen: Mitwisserin! – Ach, gar zu gern hätte sie sich den morgigen Besuch, vor dem ihr schaudert, erspart, sich krank melden, sich entschuldigen lassen. Doch nein! Sie hat leider schon gelogen am heiligen Abend, sie wird nicht wieder lügen am heiligen Tage. Durch! sagt sie mit Strafford, mitten durch die gehäuften Trümmer ihres schönsten Wahngebildes.
Nun sitzt sie da, die Hände im Schoße, wie sie nicht mehr gesessen, seitdem sie Totenwache gehalten hat an der Bahre ihrer Großmutter.
Rosi läßt sich wieder sehen, deckt den Tisch, stellt -254- mit berechtigtem Stolze das Souper auf und wünscht guten Appetit. Sie wird für heute des weiteren Dienstes enthoben und kehrt zu ihren Schwestern zurück, die bereits eingetroffen sind.
In der Küche geht es munter zu. Man schmaust, man plaudert, man findet des Kicherns kein Ende.
Susanne nickt zustimmend mit dem Kopfe, so oft sie lachen hört: „Freut euch des Lebens, ihr Armen, euch glüht ja noch das Lämpchen des Glaubens an die Menschen,“ sagt sie leise und würgt einige Stückchen Fisch hinunter.
Sie tut es nur, um Rosi, wenn die am nächsten Tage fragen sollte: „Hat's geschmeckt?“ erwidern zu können: „Es war so gut, daß ich nicht alles auf einmal verspeisen wollte, und mir etwas aufgehoben habe für heute.“ – Ach Gott ja, morgen ist wieder ein Heute, und übermorgen auch, und so geht es fort und dürfte noch lange fortgehen, denn Susanne hat eine eiserne Gesundheit. Vor ihr liegt ein weiter, ein einsamer Weg. Die Menschen, denen sie Gutes tut, was ist sie ihnen? Eine unermeßlich reiche Person, die einen Teil ihres Überflusses dazu verwendet, sie aus drückender Not zu befreien. Mit der Erinnerung an diese schwindet auch die Erinnerung an die Befreierin.
Stunden verfließen. Im Hause ist alles still geworden. Das Fräulein geht sich überzeugen, ob die Wohnungstür versperrt und verriegelt und die Sicherheitskette vorgelegt ist. Ja wohl, so müde und schläfrig Rosi gewesen sein mag, sie hat alles in Ordnung gebracht, ehe sie zur Ruhe ging. Brave Person! Eine brave Dienerin zu haben ist ein Glück, das ein -255- einzeln stehendes weibliches Wesen nicht hoch genug schätzen kann. Als Susanne in ihrem Schlafzimmer niederkniet zum Abendgebet, dankt sie dem Himmel ganz besonders für diese Gnade; sie betet überhaupt sehr lange, gibt immer wieder einige Vaterunser zu für einen vom rechten Wege weit Abgeirrten.
Endlich legt sie sich zu Bette und will schlafen. Aber der Wille gebietet dem Schlaf nicht, verscheucht ihn im Gegenteil durch energisches Herbeirufen. Schweige denn, Wille, weichet hinweg, Gedanken! Ein tiefer, gesunder Schlaf wird Susannen heute schwerlich erquicken, doch vielleicht gelingt es ihr, in einen ihre Traurigkeit abstumpfenden Dusel zu kommen. So dämmert sie hin in der Finsternis, die rings um sie, die in ihr herrscht, schließt die Augen und rührt sich nicht.
Nach einer Weile, was sieht sie mit ihren geschlossenen Augen? Gerade vor sich das Erglimmen eines schwachen Lichtscheins. Er wird immer heller und geht von einer vergoldeten Nuß aus, die langsam über den Rand des Bettes aufsteigt, wie ein kleinwinziger Mond. Das Licht, das er verbreitet, ist warm wie das Leben und rosig wie junge Liebe. Allmählich nimmt er eine noch schönere Färbung an, und darüber braucht man sich nicht zu wundern, denn die Morgenröte ist dazu gekommen, eine herrlich strahlende Morgenröte, die das Nahen der Sonne verkündet, und da flammt sie auch schon empor in Gestalt eines feuerfarbigen Apfels. Als Herold, mit etwas defektem Federbusch, sprengt ein gelber Reiter vor ihr her. Er gibt seinem Rosse die Sporen, ein mächtiger Satz, und da steht er salutierend auf dem -256- Federbette des Fräuleins.
Sie fährt auf, schlägt sich vor die Stirn, hat im Nu Licht gemacht, schlüpft in ihre Pantoffelchen und eilt ins Nebenzimmer.
Da liegt auf dem Tische vergessen ihre Christbescherung, der sichtbare Beweis, daß es doch ein Wesen gibt, das sich ihrer am heiligen Abende erinnert und das – selbst ein Kind, die Geschenke des Christkindleins mit ihr geteilt hat.
Dieses wunderbare Erlebnis ist ihr aufgespart worden, ihr, der alten Jungfer, die gar keinen Anspruch machen darf auf die Liebe von Kindern. Kürzlich erst hat sie ein solches Glück erfahren, und statt sich seiner innigst zu freuen, setzt sie sich hin, die undankbare Kröte! und melancholisiert und überläßt sich feigem Selbstbedauern!
Beschämt und reuig, aber mit einer sozusagen wonnegetränkten Seele ergriff Susanne ihren Husaren, ihren Apfel, ihre Nuß, und begab sich zurück ins Schlafgemach. Bevor sie ihr Lager wieder aufsuchte, legte sie die Geschenke Tonis auf das Nachtkästchen in derselben Reihenfolge, die er ihnen mit Ordnungssinn und seinem Gefühle für Rangunterschiede angewiesen hatte.
Sie blieb hellmunter und überließ sich heiteren Vorstellungen.
Den Mittelpunkt derselben bildete Toni. Was für treuherzige Augen er hat, und treu herzig ist er und warm herzig dazu, das sprach sich gar deutlich in seinem Handkuß aus. Welch ein Unterschied zwischen diesem und den pro forma -Handküssen des höflichen Neffen und der zierlichen Nichte. Susanne erinnert -257- sich vieler kleiner Züge, die ihr im Benehmen Tonis angenehm aufgefallen sind; des Ernstes, den sie so oft an ihm bewundert hat, des Buckels voll Sorgen, den er macht, wenn ihm die Obhut über seine jüngeren Geschwister anvertraut wird. Er nimmt seinen Teil der häuslichen Sorgenlast auf seine jungen Schultern. Und wie brav und verläßlich er ist! er vergißt nie einen Auftrag, den man ihm gibt.
Zum Pfadfinder und Genie scheint Toni – wohl ihm! – keine Anlage zu haben, aber ein vortrefflicher Mann, geschickt in seinem Fache, ein Muster für seine Standesgenossen, die Vorsehung seiner Gehilfen könnte er werden, wenn er eine tüchtige Erziehung, wenn er Bildung bekäme, die echte Bildung, die von innen heraus kommt, die den Wert des Menschen erhöht und den Stolz auf seinen Wert verringert.
– Wenn er die bekommen könnte ? wiederholt Susanne und ruft auf einmal laut aus: „Er soll sie bekommen!“
Ein Gedanke über alle Gedanken ist raketenartig in ihr emporgeschossen; sie setzt sich auf in ihrem Bette, sie lacht und weint. Es vergeht eine lange Zeit, bevor die hochgehenden Fluten ihrer Empfindungen sanft und selig verebben. Endlich liegt der Kopf wieder auf dem Kissen, sie atmet leicht und wird gut schlafen.
Vorher aber komme noch einmal, Freundin Phantasie, und male ihr die am morgigen Tage bevorstehenden Ereignisse deutlich aus.
Sie sieht sich, bereits um acht Uhr früh, in größter Parade und mit der Spitzencoiffe, federnden Ganges hinüberwandeln zu Kunzel. Die Bedienerin läßt sie -258- ein, und sie findet die Familie, wie immer zu dieser Stunde an einem Feiertage, um den Frühstückstisch versammelt.
Beim Eintreten des verehrten und unerwarteten Gastes springen alle auf. Sie aber spricht: „Sitzen bleiben! Ich allein stehe, wie sich's gehört für eine Bittende.
„Lieber Meister, liebe Meisterin, erlauben Sie mir, den Toni zu adoptieren. Er bleibt Ihr Sohn und wird auch der meine, und im nächsten Jahre nehme ich als Familienglied teil an Ihrem Weihnachtsfeste.“
Verlag von Gebrüder Paetel (Dr. Georg Paetel) in Berlin W.
Ein Buch für die Jugend.
Aus meinen Schriften.
Von
Marie von Ebner-Eschenbach.
Dritte Auflage.
(Elftes bis fünfzehntes Tausend.)
Quart; 6 Bogen.
In Originalleinenband 1 Mark.
Inhalt:
Zum Geleite. – Erzählungen : Der Fink; Die Spitzin; Der Muff; Krambambuli; Aus „Meine Kinderjahre“. – Märchen und Parabeln : Brautwahl; Die Begegnung; Das Blatt; Die Siegerin; Doppelfreude; Wertbestimmung; Die Nachbarn. – Spruchverse. – Die Erdbeerfrau. – Zwanzig Aphorismen.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
Verlag von Gebrüder Paetel (Dr. Georg Paetel) in Berlin W.
Werke von Marie von Ebner-Eschenbach:
Das Gemeindekind. Erzählung. Zwölfte Auflage. Oktav. Geheftet 3 Mark. Elegant gebunden 4 Mark.
Dorf- und Schloßgeschichten. Neunte Auflage. Oktav. Geheftet 4 Mark. Elegant gebunden 5 Mark.
Inhalt : 1. Der Kreisphysikus. – 2. Jakob Szela. – 3. Krambambuli. – 4. Die Resel. – 5. Die Poesie des Unbewußten. Novellchen in Korrespondenzkarten.
Neue Dorf- und Schloßgeschichten. Fünfte Auflage. Oktav. Geheftet 4 Mark. Elegant gebunden 5 Mark.
Inhalt : 1. Die Unverstandene auf dem Dorfe. – 2. Er laßt die Hand küssen. – 3. Der gute Mond.
Lotti, die Uhrmacherin. Erzählung. Achte Auflage. Oktav. Geheftet 4 Mark. Elegant gebunden 5 Mark.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
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