Title : Ingeborg
Author : Bernhard Kellermann
Release date : September 15, 2012 [eBook #40771]
Language : German
Credits : Produced by Jens Sadowski
S. Fischer, Verlag, Berlin
1907
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Published, February 6, 1906. Privilege of copyright in the United States reserved under the act approved March 3, 1905, by S. Fischer, Verlag, Berlin.
N un wohne ich in einer Hütte, die inmitten der weiten Steppe steht.
Ich lebe gerne hier, es ist so weit und so still. Niemand kennt mich, niemand kommt zu mir, ich bin ganz allein. Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich habe keine Langeweile, meine Tage vergehen. Wie die Wolken über den weiten Himmel streichen, so streichen die Stunden über mich hinweg.
Ich bin zufrieden.
Zuweilen denke ich noch an das Mädchen aus dem Walde. Ich habe sie noch nicht vergessen, nein. Es ist ja nicht mehr wie früher, da ich keine Nelke am Wege sehen konnte und kein Fleckchen blauen Himmels, ohne zu denken: sähe sie es doch, sähe sie doch diese Nelke, dieses blaue Fleckchen! so ist es ja nicht mehr, aber doch denke ich zuweilen noch an sie.
Sie war . . .
Schmuck der Welt nannte ich sie und Liebling Gottes. Ich gab ihr viele, viele Namen. Den richtigen fand ich nicht.
Möge es ihr wohl ergehen.
Es gab einen Sommer in meinem Leben, da ich mich am liebsten gekleidet hätte wie ein Grieche, wehende Haare, Rosen in den Haaren, eine goldene Leier in den Händen. Diesen Sommer gab es. Er ist längst vergangen. Sie schenkte ihn mir.
Möge es ihr wohl ergehen!
Sie kam aus dem Walde, da wo er ganz hoch und nächtig ist. Sie war blond. Golden kam sie aus dem schwarzen Walde, das dachte ich oft.
Sie ging durch den Wald und sang, sie ging durch das Feld und sang, sie sang Tag und Nacht. Es klang immer, wo sie ging. Sie schwebte von einer Stelle zur andern, wie ein Falter, sie küßte Blumen und Bäume, sie sah Augen in den Wipfeln der Bäume. Sie glaubte an Gnome und Waldwichte . . .
An einem Morgen im zarten Frühling, da kam sie angestiegen. Ganz plötzlich tauchte sie vor mir auf. Ich saß auf der Treppe meines Hauses im Bergwalde und sonnte mich. Wir wechselten einige Worte. Ich habe sie noch im Gedächtnis.
Es fiel mir auf, wie schwebend ihre Stimme klang. Sie sang zur Hälfte, und sie hatte die Gewohnheit den Kopf dabei zur Seite zu neigen. Sie konnte auch keinen Augenblick ruhig stehen.
Damals sah sie naß aus wie ein Baum am Morgen. Ihr Kleid war durchnäßt, ihre Schuhe, die Haare waren zerweicht und hingen über Schläfen und Wangen. Sie hatte Tau auf den Lippen und Lidern. Tau und Sonnentropfen.
„Es ist heute so naß im Walde!“ sagte sie, und es rieselte über ihre Wangen.
Sie lachte.
„Sie sitzen vor Ihrem Hause, Fürst, wie ein Dachs vor seinem Bau. Wo waren Sie den langen Winter über?“
„Zu Hause, Komtesse.“ Sie lachte.
„Sie nennen mich immer Komtesse, ich bin aber gar nicht Graf Flüggens Tochter.“
Sie sei nicht Graf Flüggens Tochter?
„Papa nennt mich so, aber er ist nicht mein Vater. Haha, wie sagte ich?“
Sie lachte und blickte mich von der Seite an.
„Nein, er hat mich erzogen, Graf Flüggen, seit dem achten Jahre.“ Und sie erzählte, daß sie Ingeborg Giselher heiße und ihr Vater ein Holzfäller sei, im Revier Otternbrücklein. Er habe viele Kinder, er vermisse sie nicht. Wenn er das Brot über dem Tische schneide, so sperrten sich so viele Mäulchen auf, wie wenn man Weißbrot in einen Karpfenteich wirft.
„— wie wenn man Weißbrot in einen Karpfenteich wirft, so viele Mäulchen“, sagte sie und lachte.
Sie sprach noch einige Worte, dann ging sie.
„Ich danke für den Besuch, Fräulein Giselher!“ sagte ich.
„O, bitte,“ erwiderte sie und lächelte über die Schulter zurück. „Es war ja kein Besuch, ich kam ganz zufällig vorüber. Adieu, Fürst!“
Sie steuerte durch die Wiese, sprang über den Graben und verschwand im Walde.
Ich blickte ihr nach. Wie durchnäßt sie war, dachte ich, wie es über ihre Wangen rieselte! Und ich dachte, wie war das mit dem Karpfenteiche? Wie kann ein Mensch nur auf diesen Einfall kommen? Ich lächelte.
D ies war unser erstes Gespräch. Dann sah ich sie lange Zeit nicht mehr, die Tochter des Holzfällers aus dem Walde. Ich lebte ruhig in meinem Hause im Bergwalde und es war Frühling. Hier und da kam sie mir in den Sinn: es rieselte so über ihre Wangen! Und als einmal meine Blicke auf die Türkise eines Schmuckes fielen, schwebten ihre Augen vor mir. Sie waren wie betaute Türkise.
Ich dachte nicht mehr an sie.
Ich lebte ruhig für mich in meinem Hause, ich streifte in den Wäldern umher.
Ich denke an dieses Haus und ein leiser Schmerz erfaßt mich. Es war ein totes Ding, gewiß, aber doch kam es mir beseelt vor. Ich sah es im Schnee, im Gewitter, in der heißen Sonne, immer sah es gleichmäßig ruhig aus. Es kam mir so tapfer vor.
Nun steht es nicht mehr. Wie eine Wunde wird es wohl aussehen im Bergwalde. Ich selbst habe dem Bergwalde diese Wunde geschlagen. In einer Nacht — Aber ich habe es nicht vergessen, es steht immer vor meinen Blicken. Es ist ein altes Jagdschloß, es sieht aus wie die Arche Noahs und ist ockergelb gestrichen. In der Sonne kann es wie golden durch die hohen Kastanien schimmern, es kann glühendrote Wangen bekommen gegen Abend, so sieht es aus.
Im Innern ist es kühl und still, die Gänge mit den vielen Türen sind schneeweiß.
Oft wandere ich in Gedanken noch durch diese schneeweißen Gänge, diese großen, kühlen Zimmer. Ich gehe hin und her, öffne die Türen, schließe sie. Ich blicke zum Fenster hinaus. Ich trete ein in die weißen Zimmer, begrüße sie mit einer Verneigung, lausche und lächle. Ich wische mit dem Finger den Staub von dem Schreibtische mit dem sonderbaren Löschblatt. Alles in Gedanken.
Ich öffne die schwere Haustüre und trete auf die Treppe. Ich stehe in einer schattigen Laube, die von den Wipfeln der Kastanien gebildet wird. Dicht vor mir liegt eine kleine Wiese, dann beginnt der Wald. Ich wende den Kopf nach links, nach rechts, Wald, Wald, Wald, soweit ich sehen kann, Wald und Hügelland. Die Bergstraße schlängelt sich an der kleinen Wiese entlang, dann stürzt sie sich ins Tal hinunter, sie bohrt sich in die Wälder hinein. Tief unten liegt das Tal, klein, schmal, ein feines Band zieht durch den Grund, darauf zappelt zuweilen etwas, das ist ein Wagen.
Ich blicke über das Tal, mein Blick fällt auf die Spitze eines Turmes, die, nicht größer als ein Bleistift, aus dem Walde drüben ragt. Das ist Rote Buche und hinter dem Berge liegt Hohe Fichte. Doch das sieht man nicht. Nun ist mir nur noch das Jagdschloß geblieben, aber es genügt mir vollauf. So oft ich die Turmspitze wahrnehme, lächle ich.
Angenehme Erinnerungen! —
Dieser Frühling war schöner als jeder andere, den ich erlebte. Er hatte eine eigentümliche Luft, sie zitterte nicht, sie regte sich nicht, sie lag wie ein einziger, großer Tautropfen auf dem Tale, klar und durchsichtig war sie. Sie besaß auch einen eigentümlichen Geschmack, ich verspürte ihn, so oft ich sie einatmete. Noch schmeckte sie nach Eis und schon schmeckte sie nach Honig.
Ich hatte keine Muße an das Mädchen zu denken, das eines Morgens angestiegen kam, als ich auf der Treppe saß und mich sonnte. Nein. Mein Herz war erfüllt von den kleinen Wundern um mich her. Ich ging herum und besah mir meine Herrlichkeiten. Ich sah dem Frühling in die schimmernden Augen.
Im Februar hatte ich schon nach den Spionen des Frühlings gefahndet. Ich schälte Ästchen ab, nein, es war noch nichts. Am vierzehnten Februar wälzte ich einen Stein vom Platze, und siehe da, ein kleiner schwarzer Käfer war darunter und bleiche Keime. Daß es der vierzehnte Februar war, weiß ich, weil ich an diesem Tage einen Brief von Freund Bluthaupt, dem Dichter, erhielt.
Dann kam der Südwind, mitten in der Nacht, und ich erwachte augenblicklich und lachte laut heraus vor Vergnügen. Das war ein Hallo im Walde, die Bäume schüttelten den Schlaf von sich und taten laut. Seitdem war ich auf dem Posten. Der Frühling kam aus der feuchten Erde, aus der Luft, er kam von überall her. Ich stand und lauschte: es rieselte und gluckste überall. Es war wie ein verstecktes Lachen unter dem faulenden Laube, man wußte, daß da drunten Dinge vor sich gingen. Es roch so wunderbar nach Erde und Wurzeln. Das Wasser der Bäche veränderte seinen Geschmack. Und — ah! — es schoben sich grüne Spitzen durch die Laubdecke. Was für ein Grün war es doch! Ich hatte ja ganz vergessen, daß es dieses Grün gab. Feuchtigkeit schlug aus den Buchenstämmen, überall regte es sich, eine stille Ergriffenheit lag auf allen Dingen. Ich entdeckte die erste Anemone. Siehst du, Pazzo? sagte ich zu meinem Hunde, und Pazzo betrachtete aufmerksam die Blume und seine Augen glänzten.
Dann ging es im Sturmschritt vorwärts, der Frühling fackelte nicht lange. Es grünte, es knospete. Allerlei billiges, wildes Kraut wuchs zuerst, dann kletterte das Grün in die Höhe, in die Sträucher und schließlich bis in die obersten Ästchen der Buchen. Die Knospen der Kastanien tropften, Züge schneller Vögel glitten hoch am Himmel über das Tal, ein Fink zog ein im Buchenwalde, und eines Tages schaukelte ein weißer Schmetterling über die Wiese! Hoho! rief ich und lachte.
Nun war der Frühling da. Ich hatte gesehen, wie er einzog, und doch schien es mir jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster blickte und all das, all das sah, als sei er über Nacht gekommen.
Ich schüttelte den Kopf, ich konnte es nicht fassen.
Die Erde erfaßte ein Rausch, ein Taumel, sie lachte.
Eines Tages nun, da blühten die Apfelbäume an der Bergstraße . . . Sie marschierten die Straße hinab und ich begriff nicht, warum sie nicht auch noch sangen und sich schwenkten wie Fahnen.
Das schönste, was ich besaß, das war ein kleiner blühender Apfelbaum. Der stand an der Parkmauer, und ich verliebte mich jedes Frühjahr in ihn. Als ich ihn zum ersten Mal ansah, zog es leicht an meinem Herzen und mein Atem setzte eine Weile aus. Er war schön und klein, lieblich, wie eine geschmückte kleine Prinzessin sah er aus, weiß in weiß, eine kleine schlanke Prinzessin, auf die alle Augen gerichtet sind und die nicht weiß, wie schön sie ist, und daß alle Leute nichts tun als an sie denken Tag und Nacht.
Ich war glücklich und blickte in mein Herz. Da war nichts als Freude und Verwunderung.
Häufig setzte ich mich ins Gras und besah mir eine Stelle, nicht größer als die Hand. Das schwebte! Das war so kunstvoll und mannigfaltig. Ich sah mir diese handgroße Stelle an und schüttelte den Kopf, und ich begriff nichts, und eine eigentümliche Rührung zog durch meinen ganzen Körper, von den Zehen bis zum Kopfe. Großer Gott, wie hast du das ersinnen können? — Und Gott lächelte aus dem kleinsten Halme.
Es war alles so wunderbar, und ich lauschte auf meine Atemzüge. So wunderbar waren meine Atemzüge. Ich lebte. So wunderbar war dies. Ich ging in den Wald und sang, um nicht weinen zu müssen.
Das war der Frühling.
Zuweilen kam der Frühling auch des Nachts zu mir, in meine Träume, und ich lachte viel im Traume. Verliebte und kuriose Abenteuer erlebte ich da. Das war der Frühling, natürlich. Sicherlich war der Frühling auch schuld daran, daß ich mich in die rothaarige Liselotte, eine geborene Weikersbach, verliebte. Sie war längst tot, sie lag drunten in der Dorfkirche, aber ihr Bild hing in meinem Zimmer. Sie blickte mir nach, wohin ich auch ging. Sie lächelte. Sie hatte viele Sommersprossen und eine bläulichweiße Haut. Im Traume küßte ich sie oft. Komme, Axel, rief sie, er ist in die Stadt gefahren, um einen Schmuck für mich zu kaufen. Am Morgen darauf lächelte sie.
Der Frühling hatte mir sein süßes Gift in die Adern eingespritzt, das war es.
Oft stand ich lange Zeit am Waldesrande und blickte auf das Haus und dachte: Kommt Liselotte heraus im Reifrock und ihr Gemahl mit Perücke und Schnallenschuhen? Und ich wartete, obschon ich wußte, daß Liselotte und ihr Gemahl längst tot waren. Auch das kam wohl vom Frühling, daß ich wartete auf das Unmögliche.
Die Luft war es, die alles zum Märchen werden ließ! Mir kam es vor als blickte ich in ein wunderliches Bilderbuch mit sonderbaren Figuren, und unter einer stünde: das ist Axel. — — — — — — — — —
In einer Nacht erwachte ich mit dem Gefühle des Glückes: Eine Stimme sang im Walde.
Ich richtete mich auf und lauschte. Es war ganz schwarz um mich, Sternchen flimmerten in der Dunkelheit.
Es sang. Die Stimme schwebte in der Nacht.
Die Stimme entfernte sich und schwieg plötzlich.
Es war eine Stunde nach Mitternacht, das Sternbild des Orion sank in den Wald.
Ich setzte mich im Hemde auf das Fenstergesims.
Mitternachtsluft.
E inige Tage darauf traf ich Ingeborg wieder. Ich ging mit Pazzo durch den Wald. Es war in einem Laubgange, der sich schnurgerade durch den Buchenwald zog.
Sie kam langsam des Weges daher, sie schlenkerte die Arme und blickte nach rechts und links in den Wald hinein, als suche sie etwas. Wie neulich war sie ohne Hut und durchnäßt vom Tau. Sie trug etwas wie ein Kränzchen in der Hand. Sie sang halblaut, und erst als wir uns ganz nahe waren, schwieg sie still.
Sie sah schön aus, wie sie durch den Laubgang wandelte. Der Laubgang war mit grünem Lichte angefüllt und so kühl und feierlich wie nur die Klostergänge sind, durch deren Bogenfenster die Morgensonne flutet. In all dem grünen Lichte, in der Feierlichkeit wandelte sie, fast durchscheinend, gewebt aus Weiß, Weiß, etwas Gold und Rot.
„Guten Morgen!“ rief sie und ihre Augen strahlten.
Ich gab ihr die Hand. Ihre Hand war eisigkalt und ganz blau gefroren. Es war kühl. Auch ihr Gesicht war blau gefroren, schmal, und ihre Nase erschien spitzig und klein. Ein feiner Riß lief über ihre Wange.
„Heute ist es frisch, Fürst!“ sagte sie und schüttelte sich. „Ich bin seit fünf Uhr unterwegs. Man muß jetzt zeitig aufstehen, der Tag ist noch so kurz.“
Ich fragte sie, ob sie wohl den ganzen Tag spazieren ginge und sänge?
„Ja!“ erwiderte sie und lächelte und blickte mir in die Augen.
Dieses Lächeln verwirrte mich. Gewiß lächelte sie über mein grünes Hütchen, die hohen Stiefel, oder über meinen gestutzten Schnurrbart.
Man sah ihre oberen Zähne, wenn sie lächelte. Sie standen etwas vor.
Wohin sie gehe?
Sie beschrieb einen weiten Bogen mit der Hand und zuckte die Achseln.
„Ich weiß es nicht. Zuerst gehe ich da hinunter!“ Sie deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. Pazzo drehte den Kopf und blickte dem Finger nach.
Dort sei ein kleiner Bach, sie wolle sich umsehen, was er treibe.
Ich lächelte. Es freue mich, daß sie die Wälder von Edelhof liebe, sagte ich. Darauf achtete sie nicht. Sie blickte zu Boden und sah Pazzo aufmerksam an. Sie war um einen Kopf kleiner als ich, ich sah ihren schönen Scheitel. Schnurgerade war er. Mein Blick fiel auf ein goldenes Medaillon, das sie um den nackten Hals trug.
Sie schüttelte den Kopf.
„Wie klug Ihr Hund blickt, Fürst!“ sagte sie voller Verwunderung. „Er hat Augen wie ein Mensch.“
Pazzos Augen glänzten wie nasse Kastanien, er ließ die Zunge aus dem Maule hängen und atmete aufgeregt.
„Er ist schön. Wie heißt er?“
„Pazzo.“
Pazzo sprang steif auf die Beine und blickte von einem zum andern.
Ingeborg kauerte sich nieder und sagte: „Nun komm mal, schöner Pazzo!“ Und sie legte Pazzo das Kränzchen aus Anemonen um den Hals, das sie in der Hand trug. Pazzo kläffte vor Vergnügen und sprang hoch in die Luft.
Ingeborg lachte, sie stand auf. Sie blickte mich an.
„Wird er zur Jagd verwendet?“ fragte sie plötzlich voller Hast.
Er sei ein Jagdhund.
„O! — Ja, er hat Zähne spitz wie Dornen. Ich hasse Jagdhunde und Jäger!“ sagte sie und sie wurde ganz rot im Gesicht.
„Adieu, Fürst!“ sagte sie kurz.
„Adieu, Fräulein Giselher.“
Aber Ingeborg ging nicht sogleich, sie wandte sich zurück.
„Sie sagten vorhin, es freue Sie, daß ich die Wälder von Edelhof liebe. Weshalb sagten Sie dies?“
Ich lächelte, zog die kurze Pfeife aus der Tasche und steckte sie in Brand. Ich blinzelte durch den Rauch, wartete noch ein Weilchen, dann antwortete ich:
„So? Habe ich das gesagt? Nun das war albern, Sie haben recht. Jeder Gutsbesitzer hätte so etwas sagen können, der sich auf seine Wälder etwas einbildet.“
Ingeborg sah mich prüfend an. Es habe so geklungen —
Adieu, Fürst!
Adieu, Fräulein Giselher!
Im Walde rief ein Kuckuck. Ich ging meines Weges und lächelte in mich hinein. Der Laubgang war zwei Wegstunden von Ingeborgs Behausung entfernt, ich aber konnte ihn in zehn Minuten erreichen. —
Ich ging hin und her. Es war ein schöner Morgen. Tief drinnen im Walde wurde Pazzo unruhig und blickte ins Dickicht. Ich sah einen Mann durch das Dickicht eilen, der den Hut in der Hand hielt. Er trat auf den Weg heraus, schwang den Hut und tat, als ginge er spazieren. Es war ein schlanker, junger Mann mit samtschwarzen Haaren und einem bleichen Gesichte. Von weitem schon fielen mir seine Hände auf. Sie waren lang, bläulichweiß und feingegliedert. Es waren grausame Hände, die eine große Macht in sich trugen. An diesen Händen erkannte ich den jungen Mann. Es war Harry Usedom, der Geiger. Ich hatte ihn gute sechs Jahre nicht mehr gesehen, damals war er fast noch ein Knabe und ganz aus Samt, Samt sein Anzug, seine Haare, seine Augen und sein Gesicht. Auch sein Spiel war Samt, violetter seidenweicher Samt war sein Spiel, mit einem Orchideengeruch.
Ich verstand, natürlich. Jetzt begriff ich alles.
„Harry Usedom?“ sagte ich. Er hatte wohl an mir vorübergehen wollen, denn er heftete die Blicke zu Boden. Er wußte nicht, daß ich ihm eine große Freude machen wollte. Er wandte mir seine großen Augen zu, die wie Veilchen aussahen, und lächelte müde. Er hatte einen großen Mund, Ekel und Sünden. Aber er war schön. Wie eine bleiche Frau sah Harry Usedom aus mit schmalem, schlankem Kopfe.
Wir begrüßten uns und sprachen dies und jenes.
„Viele Grüße an Ihren Vater,“ sagte ich, „ist er noch leidend?“
„Ja.“
Harry Usedom hatte nicht Lust viel zu sprechen.
Ich lächelte, es sei mir eine Freude, ihn getroffen zu haben. Oft vergingen Tage und ich träfe keinen Menschen im Walde, heute habe ich schon zwei getroffen, ihn und vor kurzer Zeit eine junge Dame im Buchengang. Nun also, auf Wiedersehen!
Harry Usedom verbeugte sich und errötete. Er ging, ich stellte mich hinter einen Baum und blickte ihm nach. Er hielt den Kopf gesenkt, schwang den Hut, wie vorhin, und gab sich den Anschein, als setze er in aller Ruhe seine Promenade fort. Aber ich bemerkte wohl, daß er übernatürlich große Schritte machte.
Ich lachte.
Ich, Axel, der Patron der Liebenden! Einen Heiligenschein um den Kopf, Liebestränke in der Flasche!
Ich wünschte den beiden Glück.
Es ist Frühling und Gott will, daß sich die roten Münder finden!
M an soll die Tage, die ohne Wunsch sind, die wunschlosen Tage soll man preisen und besingen. Sie sind wie ein stiller, stillschaffender Sommer im Herzen, überwuchern alles, lassen Rosenhecken auf Gräbern wachsen, sie sind stille Fruchtbarkeit und machen reich, und der Reiche ist gerecht. Darum soll man die wunschlosen Tage loben!
Man soll die Tage der heißen lodernden Wünsche loben, auch sie! Sie sind wie Sensenhiebe in schläfriges Unkraut, sie tragen den Samen glänzender fremder Blüten ins Herz, die Blut anstatt Honig haben und nach Mord und Vernichtung duften, sie sind wie ein schwarzes Wetter im schwülen Sommer, das Blitze sät und morsche Bäume fortlacht. Sie machen demütig und stolz, auch sie soll man loben.
Man soll das Leben in jeder Form loben, den Mord und die Liebe, heilig sind Mord und Liebe.
Meine wunschlosen Tage waren gekommen. Sie zogen still vorüber wie Leute, die aus der Kirche kommen. Mit einem warmen, weichen Herzen ging ich einher und oft habe ich in mich hineingekichert, wenn ich allein war im Walde.
Vor einigen Jahren war ich draußen in der weiten Welt. Ich tanzte. Über Menschen und heilige Bücher bin ich hinweggetanzt, gewiß habe ich manches Unheil angerichtet, hier und da habe ich auch einer armen Seele eine kleine Freude bereitet.
Nun lebte ich allein für mich, ich brauchte niemand, ich war mir allein genug.
Ich hatte nie Langeweile, nein, niemals.
Tag und Nacht flogen vorbei, und von vielen wußte ich nicht, wie sie vergingen.
Es gab keine Uhren in meinem Hause, in meiner Tasche. Es gab ohnedies genug Uhren, die Sonne, das Laub der Bäume, der Brunnen im Parke. Er rauschte am Tag anders als in der Nacht, um Mitternacht anders als gegen Morgen. Auch der Geruch des Waldes war eine Uhr. Auch die kleinen, kleinsten Geräusche, deren Ursache man nicht kennt, sie hatten ihre bestimmten Stunden. Übergenug Uhren gab es ohnehin.
Ich denke daran, wie diese Tage vergingen, da mein Herz ohne Wünsche war.
Ich pfiff Pazzo, und wir streunten im Walde umher. Zuweilen zog ich die hohen Stiefel an und ging mit dem Gesinde auf die Felder. Ich schaufelte und harkte. Hinter dem Pfluge ging ich einher, scherzte und schnupfte und trank aus irdenen Krügen. Ich ging in die Bibliothek, zog ein Buch heraus und las. Ich fand einen berückenden Gedanken, erschrak über seine Schönheit, seine Tiefe, stellte ihn mir vor, verfolgte ihn. Eine Krone diesem Mann! dachte ich, eine Krone und ein Kaiserreich. Es hat Köpfe in der Welt gegeben . . .
Ich setzte mich ans Klavier und schlug eine Taste an und ließ den Ton durch mein Blut rieseln. Lange Stunden konnte ich damit verbringen. Dieser Flügel war ein allwissendes, allempfindendes Wesen. Des Menschen wildes, zuckendes Herz war darin verborgen, sein süßes Weinen und sein irrsinniges Lachen. Ich lauschte. Was ist das? dachte ich und erschrak. Und ich wagte es nicht, den folgenden Akkord anzuschlagen, ich wagte es nicht. Ich hatte soviel Schmerz in einem Auge gesehen und konnte dieses Auge nicht mehr vergessen.
Es wurde dunkel, die Welt verlor die Farben, und in meinem Kopfe erwachten sie. Korallenwälder und ein Meer aus Regenbogen, Wände von Katzenaugen und eine silberne Unendlichkeit. Kreisende Kometen an meinen Augendeckeln. Haha!
Ich konnte mir die Welt nach Gutdünken und Belieben zeichnen und malen. Kohlschwarze Flüsse, rote Himmel, grüne Menschen, wie ich wollte. Das Unmögliche konnte ich vollbringen. Es ist schwer, den Teufel auf eine Nadelspitze zu setzen, aber ich konnte es, und ich konnte mich ergötzen an seinem jämmerlichen Gesichte, ich konnte Jehovah vorüberwandeln lassen, die Sonne am Siegelring, ich konnte alles was ich wollte. So herrlich waren die Visionen hinter den geschlossenen Augenlidern, daß ich mir zuweilen wünschte, blind zu sein. Blind, so unsinnig der Gedanke ist.
Zum Beispiel, ja, gut, ich schließe die Augen und warte. Ich sehe eine bronzegrüne Luft. Etwas Weißes erscheint. Es ist der Leib eines Weibes, eines schlanken Mädchens. Das Mädchen richtet seine sanften, warmen Blicke auf mich, still und steif steht es, die Hände leicht gegen die Brüste gedrückt. Ich lasse sie nicht aus den Augen und warte. Da beginnen die Brüste zu blühen, ihre Knospen springen auf und durchsichtige Blumenkelche wachsen heraus. Die Finger des Weibes blühen und kleine weiße Blüten liegen wie Milchtropfen auf ihnen. Feine Korallenästchen sind die Adern der Hände und Arme. Die Lippen des Weibes blühen purpurrot, die Haare verwandeln sich in goldene Blütengehänge und fallen über Schultern und Leib. Eine kristallhelle blaue Tulpe wächst aus der Stirne, aus den Knien wächst eine kristallhelle blaue Tulpe. Das Weib bewegt die Lippen und öffnet sie und flüstert, ein winziger Schmetterling schwebt aus dem Munde, wieder einer, ein Schwarm in allen Farben, und sie umgaukeln das blühende Weib gleich fliegenden Blüten. Das Weib schließt die Lider, da erscheinen in diamantener Schrift rätselhafte Zeichen auf den Lidern, das Weib öffnet die Augen und die Augen sind strahlend weiß wie Lichter. Nun fangen auch die Wimpern zu blühen an . . . . .
Manche Nacht habe ich mit solchen Träumen verbracht. Sollte ich Langeweile haben? Nein, meine Tage vergingen. —
Ich bekam eine Einladung zu einer Abendgesellschaft von Graf Flüggen zugeschickt.
Papa erwartet Sie bestimmt, stand darunter geschrieben.
Soll er warten. Ich habe keine Zeit.
Harry Usedom ging an meinem Hause vorüber, in einen phantastischen Mantel eingehüllt, es regnete. Er hatte es sehr eilig. Ich saß am Klavier und sah ihn die Straße heraufkommen. Ich hielt inne im Spiel. Denn gewiß horchte er mit seinen feinen Ohren, er wollte mein Herz belauschen. Ein wunderlicher Gedanke war dies, aber er zwang mich innezuhalten.
Viele Grüße! dachte ich und lächelte. —
Ich erinnere mich so deutlich an die Nächte dieses Frühlings. Sie waren so wunderbar still, so still, daß man auf die Stille horchen mußte. Sie waren schwarz wie Samt mit vielen, vielen Sternen. Ich lag häufig vor meinem Hause im Grase und sah in die Sterne empor. Ein herber Duft fiel aus den Kastanien. Sie standen in Blüte, wie große Christbäume sahen sie aus und ihre Kerzen erschienen wiederum wie Christbäumchen, ganz aus Licht. Ich roch Wiesensalbei und Waldmeister.
Da lag ich, auf dem Rücken, und sah in den Himmel hinein. Das Hirn Gottes mit seinen Gedanken? Sah ich in Gottes Hirn hinein und sah seine Gedanken brennen? Die Sterne blickten mich an und es rieselte durch meinen Leib. Soll ich in die Knie sinken? dachte ich. Und ich wünschte ein Pfeil zu sein, hineingeschossen zu werden in den Himmel, und eine Sekunde da droben stille zu stehen und mich zu drehen und umzublicken, bevor ich wieder zur Erde fiel. Und ich sah solange in die Sterne hinein, bis sie auf mich heruntertropften, und ich zusammenschrak. Ein Hirn voller Sterne trug ich ins Haus und dann träumte ich, daß ich im Grase läge und in die Sterne blickte.
Ich war reich und glücklich.
Meine wunschlosen Tage waren dies.
Die Abendgesellschaft bei Graf Flüggen fand an einem Sonntage statt. Am Nachmittage jenes Sonntags fuhr Ingeborg im offenen Jagdwagen am Schlosse vorüber. Sie kutschierte selbst, knallte mit der Peitsche und nickte zu mir herauf.
Es war ganz eigentümlich. Ich träumte zuerst von ihr. Da stand ich im Hofe, in Hemdärmeln und schraubte an einem Pfluge, an dem einige Schrauben locker geworden waren. Der Hof lag zwischen dem Schlosse und den Wirtschaftsgebäuden und hatte ein breites Tor zur Bergstraße. Es war Sonntag, alles ruhig und leer. Die Sonne schien, so daß die Pflugschar gleißte und mir zuweilen in die Augen schnitt.
Pazzo lag in der Sonne, die Füße steif von sich gestreckt, weiß und blau sah er aus, er warf einen hellblauen schmalen Schatten, der jedes abstehende Härchen wiedergab. Er blinzelte und schien zu lächeln, weil ich mich ungeschickt anstellte. Und wenn ich ihn anblickte, so schlug er mit dem Schwanz auf den Boden, als wolle er sich für dieses Lächeln entschuldigen und mich milde stimmen.
Unvermittelt mußte ich an Ingeborg denken. Gewiß, dachte ich, hat sie dies vom Weißbrot und dem Karpfenteich irgendwo gelesen. Oder wenigstens schon oft gesagt und nicht erst in jenem Augenblicke erfunden. Nein, sicher hat sie es gelesen. Kam es mir nicht gleich bekannt vor? Ich werde sie fragen.
Haha, werde ich zu ihr sagen, Fräulein Giselher, diese Geschichte vom Weißbrot und dem Karpfenteich habe ich nun in einem Buche entdeckt. Was sagen Sie dazu?
Gewiß wird sie dann nicht leugnen.
Ich werde ihr sagen, daß ich mich freuen würde, sie öfters zu sehen. Ich habe vier junge Füchse, kleine drollige Spitzbuben — die Knechte nahmen einen Bau aus — kommen Sie und schauen Sie sich diese Füchse an, Fräulein Giselher.
Der Schweiß rann mir über das Gesicht und tropfte auf meine Hand, die schon schmutzig und fettig geworden war. Das Gewinde der Schraube schien verdorben zu sein.
Alles Ernstes, ich würde ein langes Gespräch mit ihr führen!
Fräulein Giselher, so würde ich beginnen, ich habe lange Jahre auf Sie gewartet, ohne es zu wissen.
Hahaha!
Weshalb sie nun lache? — Ohne es selbst zu wissen auf Sie gewartet. Sehnsucht und Träume viele Jahre. Ich strecke meine Arme des Nachts zum Fenster hinaus, um einen Nacken zu umschlingen — niemand ist da. Es pocht an meine Türe. Herein! rufe ich und erschrecke, denn endlich kommt sie. Aber niemand ist da. Nun aber — —
Ja, das sind lauter Lügen, gewiß Fräulein Giselher. Ich liebe es zu lügen und ich habe ein großes Geschick dazu. Die Kinder und ich, was lügen wir doch zusammen! Aber eines sage ich Ihnen — Sie kennen mich nicht, meine Freundin. Nein. Ich rauche meine Pfeife und lächle vor mich hin, niemand weiß, was ich denke. Niemand weiß, was ich zuweilen denke, wenn der Wald wehklagt. Wäre es nicht möglich, daß ich ein Herz hätte? Ich sehe die Leute an und denke: sie kennen dich nicht und das stimmt mich heiter.
Da hob Pazzo den Kopf und zuckte mit den Ohren.
Ein Wagen rasselte die Straße herauf und flog am offenen Tor vorüber.
Ingeborg kutschierte. Niemand saß sonst im Wagen, den zwei glänzende Füchse zogen.
Ich grüßte, und Ingeborg neigte den Kopf, kühl und zurückhaltend, als kenne sie mich gar nicht.
Mußte ich aber auch gerade in Hemdärmeln im Hofe stehen. In Hemdärmeln, hohen Stiefeln, und dazu hatte ich schmutzige aufgequollene Hände.
Ich hatte kein Glück . . .
Da empfand ich, daß ich träumte, und ich erwachte! Es knatterte in der Ferne. Es klang, als würden Nüsse aus einem Sack auf die Erde geschüttet und zerschlagen.
Ich lag in meinem Zimmer. Was träumte ich doch! dachte ich.
Das Knattern aber verstärkte sich, und nun hörte ich, daß ein Wagen die Straße herauf kam. Die Pferde mußten scharf in den Boden einschlagen, da die Straße steil anstieg.
Ingeborg flog in einem Jagdwagen heran. Hinter ihr saß steif, die Arme verschränkt, ein Lakai.
Ingeborg hielt die Zügel und knallte mit der Peitsche.
Sie blickte an den Fenstern entlang und lächelte, als sie mich gewahrte. Die Peitsche knallte, so daß es klang wie feine Schüsse.
Ich verneigte mich und lächelte. Ich dachte an den sonderbaren Traum.
Aber am Abend blieb ich zu Hause. Ich hatte keine Lust, unter Menschen zu gehen. Dieser Abend war ein einziger, schöner Traum und ich schlief erst ein, als die Hähne krähten. Ich dachte an Liselotte.
Rothaarige Liselotte, geborene Weikersbach, was ist mit uns beiden? Wir sehen uns an, lächeln, haben verborgene dunkle Sünde in den Augen. Was wird wohl dein Ehegemahl sagen?
Ich ging hinunter in die Dorfkirche von Hohenficht und besah mir Liselottes Epitaphium. Ich las die wenigen Daten, las den Namen, Liselotte, geborene Weikersbach, und ward traurig und dunkel in der Seele.
Liselotte, dich würde ich lieben, wenn du lebtest! Ja, das weiß ich!
Wunderbare Abenteuer habe ich mit Liselotte erlebt.
Sie gäben ein dickes Buch, wollte ich sie aufschreiben. Ein Buch, über das man viel lachen müßte. Alle meine Abenteuer mit Liselotte sind heiterer Natur. — Habe ich giftige Beeren gegessen?
A n einem regnerischen Nachmittage im Mai saß Liselotte in meinem Zimmer, als ich nach Hause kam. Ich war mit Pazzo im Walde gewesen.
Es war nicht Liselotte, es war Ingeborg, Ingeborg Giselher, die schöne Tochter des Holzfällers drinnen im schwarzen Hochwalde. Aber es war dämmerig in meinem Zimmer und auf den ersten Blick glaubte ich Liselotte, die Rothaarige, vor mir zu sehen. Und dann als ich längst wußte, daß es Ingeborg Giselher war, die Goldblonde, nahm mein Besuch immer wieder Liselottes Bild an, und alles schwankte vor meinen Augen.
Liselotte kam, um mit mir zu sprechen. Ja, nun saß sie da, wir kannten uns aus den Träumen, wir wußten viel von einander, wir zwei.
Es war Ingeborg, natürlich, sie hatten gar keine Ähnlichkeit, Liselotte und die Tochter des Holzfällers, und doch war es schwer für mich, Liselotte nicht zu sehen in Ingeborg, Liselotte nicht zu hören aus Ingeborgs Stimme.
Die süße Luft des Frühlings hatte mir den Sinn betäubt. Den ganzen Tag über hatte ich an Liselotte gedacht und mir zu erklären versucht, wie es kam, daß ich sie lieben mußte, obschon sie doch längst tot war. Ich war die Nacht vorher vor ihrem Bilde gesessen, bis mir die Augen zufielen.
Ingeborg kam, um mit mir zu sprechen. Sie schlug eine unangenehme Taste an. Gewiß, es war nicht angenehm, diese Dinge zu hören.
Zuerst sagte sie etwas von einer Jagd, und daß sie Grüße bringe, recht herzliche Grüße von Graf Flüggen.
„Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie in diesen hohen Stiefeln und der alten Joppe begrüße, Fräulein Giselher,“ sagte ich, „ich komme von der Jagd.“
Bitte, bitte!
„Ich bringe recht herzliche Grüße von Papa. Er wollte Sie gerne einmal wieder bei sich sehen! Er wird Sie zur nächsten Jagd einladen.“
Dank und Gegengrüße.
Wir sahen uns an, und ich ging ans Fenster, um mich mit den Vorhängen zu beschäftigen. Ingeborg war geschmückt wie eine Prinzessin, sie sah aus wie eine Erscheinung aus den Bildern Botticellis.
Sie trug einen weißen breitrandigen Strohhut und ihre sorgfältig gelockten Haare hingen wie goldene Quasten über die Wangen herab.
Sie sah sich in meinem Zimmer um, das so groß war wie ein Saal, voll von Schränkchen, Vasen, Büchern. Es war etwas in Unordnung.
„Sie wohnen wie ein Dichter!“ sagte sie lächelnd.
„Ich bin noch bei keinem Dichter gewesen, aber ich glaube, so wohnen sie, die Dichter.“
Ich hörte ihr zu. Liselotte? dachte ich. Liselottes Bild an der Wand begann zu lächeln.
Wer diese Frau an der Wand dort sei?
„Liselotte, eine geborene Weikersbach,“ antwortete ich und mußte lächeln. „Eine schöne und lebenslustige Dame, nicht?“
Ja.
Dann blickte mich Ingeborg an und sagte: „Ich habe Ihnen noch andere Grüße zu bringen. Von Claire Davison. Sie ist gestorben, das wissen Sie?“
„Gewiß“, sagte ich. „Von Claire Davison?“ Ich war sehr überrascht.
„Sie ist sehr unglücklich gewesen. Wissen Sie, wie sie gestorben ist, Claire?“
Ingeborg sah mich an. Aber ich hatte mir nichts vorzuwerfen, ich konnte ganz ruhig bleiben.
„Sie hat mir sehr leid getan“, sagte ich. „Ich habe alles gehört, es ist traurig. Sie war so schön und stolz.“
„Das war sie, ja.“
Sie habe ihr einige Wochen vor ihrem Tode geschrieben, daß sie mich grüßen solle, träfe sie mich irgendwo einmal. Vor einem Jahre etwa war das. Vor zwei Jahren sei Claire bei Graf Flüggen zu Besuch gewesen, drei Monate, sie seien einigemal hier vorbeigefahren. Ob ich sie nicht gesehen hätte?
„Nein.“ Ich sagte die Wahrheit. „Ich danke Ihnen für die Grüße, Fräulein Giselher.“
Damit war das unangenehme Gespräch beendet. Wir plauderten noch einiges. Vielleicht habe sie gehört, ob der Geiger Harry Usedom nun Rote Buche gekauft habe oder nicht?
Doch, Herr Usedom habe Rote Buche gekauft.
„Der alte Herr Usedom, wo lebt er gegenwärtig?“
Gegenwärtig lebe er auf Rote Buche bei seinem Sohne.
Es wurde dunkel. Ingeborg erhob sich. Ich erbot mich, sie ein Stückchen zu begleiten, da es dunkel und stürmisch sei.
Bis zur Höhe nähme sie die Begleitung mit Freuden an, aber nur bis zur Höhe.
Ich verstand, weshalb ich nur bis zur Höhe mitgehen sollte.
Ein hastiger feuchter Wind blies aus dem Tale herauf und die Wälder schüttelten sich. Zwischen den Bäumen war es dunkel und der Wald roch nach Regen und Nacht. Wir sahen nahezu den Weg nicht. Pazzos weißes Fell leuchtete, er schien abenteuerlich hohe Sprünge zu machen und jeden Augenblick seine Gestalt zu verändern.
Ingeborg hielt mit beiden Händen den Hut, und der Wind wehte ihr den Saum des Kleides um die Füße, so daß sie kaum vorwärts kam.
„Haha,“ lachte sie. „Welch ein Wind!“ Eine richtige Unterhaltung war nicht möglich und unsere Worte flogen vereinzelt und zerfetzt hin und her.
„Harry Usedom ist ein ganz außerordentlicher Geiger!“ schrie ich in den Wind hinein.
„Gewiß ist er das,“ schrie Ingeborg zur Antwort.
„Er ist ein schöner Mensch!“
„Ja.“
Der Wind hielt inne, es wurde auffallend warm. Wir atmeten auf.
„Wissen Sie, daß jene Liselotte, deren Bild Sie in meinem Zimmer sahen, im Schlosse umgeht? Man sagt es. Nachdem sie gestorben war, hat sie jede Nacht ihren Gemahl besucht. Er wurde immer bleicher und bleicher, war guter Dinge allezeit und starb acht Wochen nach Liselottes Tod.“ Erzählte ich. Das sei sehr merkwürdig, sagte Ingeborg und blickte mich an und lächelte unmerklich. Sie lächelte genau wie Liselotte im Traume mich anlächelte, und ein leises Grauen rieselte über meinen Rücken.
„Sagen Sie,“ begann sie, „man hat mir viele Dinge von Ihnen erzählt. Ist es wahr, daß Sie buchstäblich das Geld auf die Straße warfen? Sie öffneten das Fenster des Hotels und warfen das Geld auf die Straße.“
„Ja, es war ein kleiner Scherz, es war auch nicht viel eigentlich.“
Ingeborg lächelte und schüttelte den Kopf.
Ich lachte, weil ich an die Balgerei vor meinem Fenster dachte und an meine lustigen Streiche.
Der Wind setzte wieder ein und trieb uns den Berg hinauf, über die Höhe fiel blasser Lichtschein. Der Mond kam herauf, in Wolken eingehüllt, wie ein blindes Auge sah er aus. Alle Dinge warfen plötzlich blasse und wässerige Schatten, die Bäume, wir beide, Pazzo. Ingeborgs Lockenbüschel flatterten und ihre Kleider.
„Das ist die Höhe“, sagte Ingeborg. Wir blieben stehen. Pazzo wartete abseits und begriff die Störung nicht. Sein Schatten sah aus wie die Silhouette eines hochbeinigen Fabelwesens.
„Ich danke Ihnen!“ sagte Ingeborg. Ein eigentümliches demütiges Lächeln schimmerte in ihren Augen.
„Dank für den Besuch,“ sagte ich, den Hut in der Hand haltend, „vielleicht führt Sie der Weg wieder einmal an meinem Hause vorüber, Fräulein Giselher?“
Ingeborg lachte.
„Ja, es kann sein, daß ich wieder einmal vorbeikomme“, rief sie und blickte in den Mond, der hinter glänzenden Wolken zog. Bläuliches Licht huschte über ihr Gesicht, ihre Zähne und ihre Augen glänzten wie Email.
Ingeborg blickte in den Mond, dann wandte sie mir den Blick zu und sie sagte unvermutet: „Abscheulich müssen Sie gegen Claire gewesen sein, Fürst! Ja, abscheulich!“ Sie sprach sehr schnell. Sie schüttelte den Kopf und fuhr leise fort:
„Ich begreife Sie gar nicht! Nein! Ich bringe Ihnen Grüße von ihr, von Claire, wir sprechen von ihrem Tode, und Sie verändern keine Miene und sagen, daß Claire Ihnen sehr leid getan habe. Was ist das? Sehr leid hat sie Ihnen getan! Und Sie haben sie doch ermordet, ja, das haben Sie getan.“
Sie sah mir dicht in die Augen, aber ihr Blick war schüchtern und demütig. Ihre Haare wehten.
„Wissen Sie, was mir Claire alles von Ihnen erzählt hat? Nein, sie hat nicht oft von Ihnen gesprochen, das ist wahr. Sie sagte, Sie seien edel und gütig. Sie sagte, sie hätte nicht mehr als hundert Worte mit Ihnen gewechselt. Sie haben es wohl gewußt, Sie haben alles gewußt, aber Sie waren doch abscheulich! Was hätte Claire für ein Wort von Ihnen gegeben? Wir fuhren zweimal an Ihrem Hause vorüber, Claire wurde so weiß wie Kreide. Nein, ich weiß nicht, was zwischen Claire und Ihnen war, aber Sie waren nicht edel gegen sie. Sie hätten bei Papa einen Besuch machen können, um Claire eine Freude zu bereiten, — nichts taten Sie, gar nichts!“
Ich sah sie an und konnte nichts erwidern. Ich dachte an diese sonderbaren Menschen, an alles dachte ich und an nichts.
Ingeborgs Antlitz war bleich, ihre Augen füllten sich mit dem Lichte des Mondes und wurden bleich. Auch ihre Stimme klang bleich.
„Fürst,“ flüsterte sie, „wer sind Sie doch? Sie wissen nicht wer Sie sind, nein.“ Sie hielt inne. Sie lächelte und schüttelte ganz unmerklich den Kopf. „Nein, Sie wissen nicht, wer Sie sind!“ wiederholte sie noch leiser. Dann lachte sie, ganz kurz. Sie sah mich mit schwärmerischen Augen an und sagte:
„Ich liebe Sie nicht, nein, aber ich muß immerfort an Sie denken. Weshalb kamen Sie am Sonntag nicht? Ich schrieb noch eine Zeile unter die Einladung, ich dachte, Sie müßten nun kommen. Aber dann bekam ich Angst und ich fuhr auf Umwegen an Edelhof vorüber. Aber doch kamen Sie nicht. Ich habe gewartet und gewartet, ich saß auf der Treppe und der Wind blies. Herr Usedom war da, auch Harry Usedom, alle waren sie da. Ich sprach kein Wort. Was werden sie sich von mir denken? Das ist mir ganz gleichgültig. Harry Usedom sagte zu mir: Was haben Sie doch? Nichts, sagte ich. Ich sagte es sehr unhöflich. Ich wartete auf Sie, auf Sie ganz allein! Es ist mir gleichgiltig, daß ich unhöflich gegen Harry Usedom war — — haha — — alles hat sich vor meinen Augen gedreht, dann lief ich bis zur Höhe, bis hieher und wartete. Sie kamen aber nicht!“
Ich wollte sprechen, aber Ingeborg ließ es nicht zu.
„Es hilft nichts, daß ich immer singe“, fuhr sie fort, und das eigentümliche demütige Lächeln auf ihrem Antlitze irrte hin und her. „Es hilft nichts mehr. Den ganzen Winter über habe ich an etwas gedacht und wußte nicht woran. Aber als es Frühling wurde, da fiel es mir ein. Ich bin zu Ihnen gegangen, was hat es mich gekostet? Das mit Claire ist ja gar nicht wahr, ach, es ist ja gar nicht wahr! Sie hat mir keine Grüße aufgetragen. Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen. Du könntest ihm Grüße bringen, schrieb Claire, aber dann sofort, ich dachte nur so, es war Scherz. Bringe ihm keine Grüße, nein, nein. Claire wollte es nicht, sie schrieb ausdrücklich, daß sie es nicht wollte, ich sage es Ihnen ganz der Wahrheit gemäß, aber ich habe es doch getan. Ich mußte doch einen Vorwand haben.“
Ich wollte sie unterbrechen.
„Nein, nein,“ sagte sie, „Sie haben mich freundlich empfangen. Sie taten nicht erstaunt. Sie lächelten auch nicht. Sie sagten, daß ich entschuldigen solle — ja wegen der alten Joppe und der Stiefel — das war so gütig von Ihnen! Sie sind gütig, ich weiß es, auch Claire sagte es, selbst sie. Ihre zwei Schlösser und sechs Dörfer haben Sie weggegeben für Almosen — ich weiß alles von Ihnen.“
Ich lächelte. „Ich habe gespielt,“ sagte ich.
„Hahaha,“ lachte Ingeborg, „jajaja — —“ sie sah mich an, lachte, dann senkte sie den Kopf.
„Fürst, Fürst,“ flüsterte sie und schwieg. Ihre Haare wehten. Was sollte ich tun? Ich fand kein Wort, das gepaßt hätte. Ich hätte ihr ja gerne ein sanftes Wort gesagt, aber es fiel mir nichts ein.
Was wollte sie doch von mir? Zuerst machte sie mir Vorwürfe wegen Claire und dann . . .
Plötzlich stieg ein Lächeln in mein Gesicht. All das kam mir lächerlich vor. Diese Worte, diese vielen wirren Worte.
„Ich bin dieser Worte nicht würdig,“ sagte ich. „Ich lächle. Ja, sogar eitel machen mich diese Worte.“
Ingeborg zuckte zusammen und blickte mich erschrocken an. Ihre Lippen lächelten verzerrt und sie sagte ganz tonlos: „Man hat mir viel von Ihnen erzählt, Fürst, dann dachte ich — ich habe dann oft an Sie gedacht. Ich würde Sie um etwas Liebe bitten, wenn es Wert hätte, selbst das würde ich tun. Ich habe keinen Stolz vor Ihnen. Aber ich glaube, Sie haben kein Herz.“
Ich erwiderte: „Ich lebe für mich, ich bin müde, ich kann Ihnen nicht sagen wie es kam.“
Das bleiche Mädchengesicht nickte traurig.
„Sie können also nicht mehr lieben?“ sagte sie.
Wie lächerlich klang das.
„Nein,“ entgegnete ich, „ich weiß nicht wie es kommt.“
Ingeborg wandte sich ab und ging mit zögernden Schritten davon. Alles flatterte an ihr.
„Fräulein Giselher,“ sagte ich, „ich wollte Sie mit keinem Worte verletzen. Ich gab mir Mühe aufrichtig zu sein. Ich habe mich gefreut, daß Sie heute zu mir kamen.“
Ingeborg ging. Ihre weiße Gestalt glitt still in die Dämmerung hinein, sie wurde düster, grau, dann sah ich sie nicht mehr.
Ich rief dem Hunde und stieg die Straße hinab.
I ch stieg den Berg hinab. Sobald der Wind aussetzte, steckte ich meine Pfeife in Brand. Ich schüttelte den Kopf und lachte. Gott verzeihe mir, daß ich lachte, aber das Erlebnis da droben auf der Höhe stimmte mich heiter.
Wie das Lächeln auf ihrem Antlitze hin und her irrte, wie ihre Worte flackerten! Und das alles meinetwegen, war es möglich? Freude und Stolz schwellten mir die Brust.
Ich stieg den Berg hinab und watete in den Wind hinein. Pazzo zerschnitt den Wind mit seiner spitzigen Brust. Über den schwarzen Himmel zogen Herden von Lämmerwölkchen, die sich alle zum Monde begaben, Licht zu trinken. Sie schimmerten vergnügt, sie schienen sich zu tummeln und aneinander zu reiben. Der Wald wogte. Der Wind suchte sich seine Bäume aus und schüttelte sie, daß sie mit den Spitzen den Boden berührten.
Die Funken stoben aus meiner Pfeife, und jedesmal schien es mir, als sähe ich mein fröhliches Gesicht.
Ingeborgs Worte, diese hastigen wirren Worte, zogen hin und her in meinem Kopfe. Sie stand vor mir, ihre Haare wehten, ihr Gesicht war bleich und voller Demut. Schön, rührend sah sie aus, und wie ihre Augen strahlten! Bei Gott, ich sah jetzt noch ihren Schein!
Ich schüttelte den Kopf. So sonderbar ist der Mensch, daß er sich vor einem Fremden zu Boden wirft und sich demütigt, wenn seine Zeit gekommen ist.
Ich dachte an das junge Mädchen und seine weichen zitternden Worte und war ergriffen. Es war der Frühling, ja, sie konnte nichts dagegen machen.
Nun war es Gottes Wille, daß sie sich an mich wendete, der gerade seine wunschlosen Tage hatte, der müde war, zu müde für die Liebe, die ihren ganzen Mann erfordert, viel zu müde.
Es hat Zeiten gegeben, da der Blick eines Dienstmädchens wie Feuer in meinen Adern lief, und ich lange Nächte an diesen armseligen heißen Blick denken mußte — nun aber waren die wunschlosen Tage des träumenden Blutes gekommen.
Ich blieb stehen, blickte in die ziehenden Wölkchen empor, und Mitleid für die gedemütigte Seele erfaßte mich.
Ich wollte ihr nacheilen und mit ihr sprechen. Dank, Dank, wollte ich sagen. Ich kann Sie nicht lieben, Fräulein Ingeborg, ich habe meine wunschlosen Tage, aber Dank für Ihre Liebe. Wenn Sie wollen, kommen Sie zu mir, Tage und Nächte will ich mit Ihnen plaudern, ich will Ihr Freund sein, ich schäme mich ja, ich bin arm in diesen Tagen, egoistisch, weil ich glücklich mit mir allein bin.
Aber ich eilte ihr nicht nach. Ich ging weiter.
Ich dachte: vielleicht bin ich nur so reich und glücklich, weil sie mich liebt? Sie beschenkt mich mit ihren Gedanken, ihrer Liebe, aus der Ferne, ich werde heiter und froh, und sie wird arm und unglücklich. Sie wirft sich auf den Boden und weint, und im gleichen Momente durchzuckt mich die Freude, eine unerklärliche tiefe Freude, und ich atme tief und lächle. Niemand kann es sagen.
Ich ging immer weiter und weiter die dunkle Waldgasse hinab und bei jedem Schritte dachte ich, daß ich umkehren sollte, um mit ihr zu sprechen.
Nun wanderte sie durch den sausenden Wald, langsam, beschämt und dachte an den Mann mit dem müden Herzen. Der Wind blies und sie hustete. Dann kam sie nach Hause, sie legte das Kleid ab, das schöne helle Frühlingsgewand und warf es unter das Bett. Sie wollte es nicht mehr sehen. Im Spiegel haftete noch ihr Bild von heute Mittag. Ich werde ihm gefallen? lächelte der Mund. Und die Augen sagten: Ja, ja, wirst ihm gefallen . . . . . . . . Sie drückte die Lider zu . . . . . . . .
Immer weiter stieg ich die Bergstraße hinab und wollte doch eigentlich umkehren. Die wunderlichen Worte klangen durch meinen Kopf.
Ja, ich mußte umkehren und ihr sagen, daß sie doch Geduld haben sollte mit mir, Geduld! Sie sei schön, ja herrlich sei sie, ergreifend sei sie.
Ich ging und ging. Mein Sinn verdunkelte sich.
Da sprang mein Herz auf.
Wie eine Knospe sprang es auf, ich spürte es. Es durchzuckte mich, es war wie ein Schrei der Freude in meinem Blute.
Ich kehrte um und stieg den Berg hinauf, zuerst zögernd, dann mit schnellen Schritten. Der Wind trieb mich, es war ein gewaltiges Brausen im Walde, das mich bis in die tiefste Seele erschütterte.
Ich ging und ging. Ich holte Ingeborg nicht mehr ein. Ich ging durch den schwarzen Wald, immer zu. Plötzlich lag ein Schloß mit vielen erleuchteten Fenstern im Walde.
Es erschien mir wie eine Festung, ich blieb stehen.
W ollte ich in das Schloß mit den vielen erleuchteten Fenstern hineingehen und durch den Diener sagen lassen: es steht einer im Korridore, einer, den Hut in der Hand?
Es war gegen Morgen, der Tag blaute. Ich blickte aus meinem Fenster, das auf den Park hinausging, und lauschte auf den Gesang eines Vogels. Er sang in der weiten Stille des Morgens, da alles schlief.
Die ganze Nacht hindurch sang er, bis die Sonne aufging, der Frühling ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Oft hatte ich mich schon an seinem Gesange gelabt, aber heute verstand ich den kleinen Vogel und mein Herz bebte. Ich wußte wohl was das bedeutete. Nur die Unglücklichen und die Glücklichen zittern beim Gesang eines Vogels. Mein Herz zuckte bei jedem Tone, und wenn er leise zwitscherte, daß man ihn kaum noch hörte, so erschrak ich, ich öffnete die Lippen und mein Atem stockte.
Meine Zeit war gekommen!
Ich preßte die Hände vors Gesicht und lächelte und drückte einen Kuß in meine Hände.
Meine Zeit war gekommen! — — —
Mein Sinn ist dunkel, dunkelgolden ist mein Sinn, es kreist etwas in meinem Hirn. Ich habe ein lautes Herz in der Brust.
Ich gehe umher, berühre die Schränke, Tische, als ob sie von Fleisch wären, ich gehe umher und spreche mit mir selbst. Ich ziehe die Vorhänge des Zimmers zu, so daß es ganz golden um mich wird. In einem goldenen Zimmer sitze ich und lächle vor mich hin. Ich nehme den Stock und wandere. Mit großen Schritten, in weiten Kreisen muß ich gehen. Mein Schritt hallt durch schlafende Dörfer, die Hunde kläffen, ich wandere, in weiten Kreisen muß ich wandern. Ich lächle. Die Sterne lächeln. —
Ich ließ anspannen und fuhr nach Graf Flüggens Schloß.
Ich hatte mich sorgfältig rasiert und eine weiße Binde umgebunden. Ingeborg war nicht zu sehen.
Graf Flüggen erschöpfte sich in Liebenswürdigkeiten. Er war ein gebückter Greis mit langem Barte, wie ein Zwerg kam er mir vor. Ich zog das Gespräch in die Länge, erzählte von fernen Ländern und ihrer Sonne, Ingeborg war nicht zu sehen.
Wagen liefen durch den Abend, vorüber an meinem Hause. Ich sah nicht wer darinnen saß. Über Rote Buche stiegen bunte Leuchtkugeln in die dunkele Nacht. Ein Fest! dachte ich. Mitten in der Nacht rollten die Wagen wieder die Bergstraße herauf. Ingeborg saß im vordersten Wagen, ich erkannte sie an ihrem Hute, ich erkannte sie an dem Wirbeln meines Herzens.
Harry Usedom ging zweimal im Laufe einer Woche an Edelhof vorüber, er ging schnell den Berg hinauf, langsam und schwebend den Berg hinunter. Es gingen Dinge vor sich.
Wie ein Knabe durch ein Astloch in eine Schaubude späht, so spähte ich in diese Dinge. Sie huschten und zuckten an meinen Augen vorüber.
Ein leises trauriges Lied klang eines Abends durch meine Seele.
Mich fröstelte . . . . .
Eines Abends, als der Wald rot leuchtete in der untergehenden Sonne, begegnete ich Ingeborg und Harry Usedom droben auf der Höhe. Sie kamen des Weges daher, trugen große Sträuße von Maiglöckchen in der Hand und lachten. Ich sah es, ich hörte es. Lächelnd kamen sie beide heran, in Ingeborgs Augen schimmerte nicht die leiseste Erinnerung an jenen Abend.
Harry Usedoms Augen strahlten. Nie hatte ich solche Augen gesehen, sie hingen wie Lampen in seinem Gesichte und sein Gesicht, das immer weiß und krankhaft erschien, war von einer feinen Röte des Glückes überzogen.
„Die Herren kennen sich? Natürlich — — natürlich —“ sagte Ingeborg und lächelte. Dann sprach sie mit Pazzo, und ich wechselte einige Worte mit Harry Usedom. Ob es ihm auf Rote Buche gefalle. Sehr schöne Wälder, nicht wahr? Prachtvolle Wälder! Und den See habe er auch noch!
Es gefalle ihm sehr gut auf Rote Buche! Seine Augen strahlten, sie waren wie dunkle Höhlen voller Geschmeide. Ich mußte immerfort diese strahlenden Augen ansehen.
Er schreibe gegenwärtig eine Oper. Die Konzertreisen wolle er aufgeben.
Harry Usedoms Lippen waren breit, in den Mundwinkeln gekräuselt. Sie erinnerten an Orangenschnitten. Sie waren rot.
Die Herren zogen den Hut, Ingeborg nickte und verneigte sich leicht, wir trennten uns.
Ich bog in den nächsten Seitenweg ein und zündete mir die Pfeife an. Viele Dinge wirbelten im Rauch der Pfeife vor meinen Augen herum.
Pazzo sah mich an. Er kannte mich genau, und als ich ihn ansprach, sprang er an mir empor, um mich zu liebkosen. Ich streichelte ihm den Rücken mit sanfter Hand — immer auf und ab.
Einige Tage darauf. Ich ging mit Ingeborg oben auf der Höhe, am Waldesrande entlang. Die Sonne stand schräg und schon etwas rot über dem Walde und warf einen schattigen, dunkelen Spitzenkragen über den Hügel. Auf diesem Spitzenkragen schritten wir dahin, hoch über dem Tale und seinen kleinen Dörfern und blitzenden Bächen. Sonnenflecken zuckten über Ingeborgs Kleid und Gesicht, wir sprachen nichts. Pazzo schritt neben uns her, er tauchte mit Behagen die schlanken Füße in das hohe, saftige Gras.
Ingeborgs Gesicht erschien grün im Widerschein des Grases und des Waldes, zuweilen kam die Sonne, dann glühte es für einen Augenblick.
Ingeborgs Stirn war voller Gedanken.
Wir kamen an eine Bank und Ingeborg sagte: „Wollen wir uns ein wenig niederlassen?“ Sie blickte mich kurz an, während sie die Frage stellte. Ich war ihr dankbar für den Blick und für die nichtssagenden Worte. Sie fühlte es, denn sie blickte mich nochmals an und prüfte meine Mienen. Ich merkte es sehr gut. Ich stellte das Gewehr an einen Baum, Pazzo bewachte es.
Hinter der Bank sang ein Vogel. Ich lauschte, was für ein Vogel war es doch? Es war ein Vogel, den ich noch nicht gehört hatte. Vielleicht hatte er sich verflogen.
Es hatte sich manches geändert, das sah ich wohl ein. Ich saß neben Ingeborg und mein Herz klopfte. Ingeborg saß mit gleichgültigem, verschlossenem Gesicht da, das Kinn in die Hand gestützt und interessierte sich für die jungen Heupferdchen, die im Grase herumschnellten.
Eine feine Falte zog zwischen Ingeborgs Brauen, ich wagte es nicht, zu sprechen. Wenn sie bei schlechter Laune war, weshalb ging sie dann nicht?
Sie saß so nahe, daß ich meine Hand nicht neben mich legen konnte, ohne sie zu berühren, und plötzlich stieg mir das Blut in den Kopf, so nahe saß sie. Ich fühlte ihre Wärme.
Ich saß still, ich regte mich nicht, ich dachte an die feine Falte zwischen Ingeborgs Brauen. Sie konnte über mich befehlen, ja, das konnte sie. Ein Wink und ich verschwand, und ich trat ihr nie wieder unter die Augen. Ich verließ die Gegend, wenn sie es verlangte, meine Gegenwart sollte ihr nicht die Laune verderben.
Schön lag das Tal zu unsern Füßen, und bis auf die kleine Falte Ingeborgs wäre alles herrlich gewesen. Ein Bauer mähte mit einer blitzenden Sense tief unten, er war nicht größer als eine Ameise. Über dem Tale flimmerte es in einer grünen Wiese wie von einem Edelsteine, aber es war nur ein Stück Glas, eine zerbrochene Flasche, die dort blitzte. Drüben lagen zerstreute Häuschen, still, sie schienen unbewohnt zu sein.
Da tauchte plötzlich aus dem nahen Kornfelde ein Spaten auf, dann ein Hut, ein Kopf, der Kopf hüpfte auf und ab und verschwand wieder im Korn und auch der Spaten tauchte unter.
Dieser hüpfende Kopf scheuchte mich aus meiner Versunkenheit auf. Ein wahnsinnig kühner Gedanke schoß durch meinen Kopf. Wie, wenn ich einfach meinen Arm um Ingeborg legte und sagte: Nun —? Es ist schön hier neben Ihnen zu sitzen und das Tal zu betrachten. Stundenlang könnte ich hier neben Ihnen sitzen, wenn Sie auch nichts sprechen.
Ich bewegte die Lippen, feuchtete sie an, dann sagte ich: „Es ist schön hier zu sitzen und das Tal zu betrachten.“
Ingeborg nickte. „Ja,“ sagte sie.
Im Tal ging der Mann mit dem Spaten, klein, blau. Mein Herz krampfte sich zusammen. Die Glasscherbe drüben im Felde hörte auf zu blitzen, die Schatten stiegen. Ich heftete die Augen auf die Häuschen uns gegenüber. Sie waren bewohnt, vorhin war eine Tür offen gestanden, jetzt hatte man sie geschlossen. Aus dem Walde, der den Hügel oberhalb der Häuschen bedeckte, kam etwas hervorgekrochen. Es sah aus wie ein Kärrchen, das von weißen Mäusen gezogen wurde. Etwas Weißes ging nebenher, etwas Weißes lag auf dem Kärrchen. Er war ein Müller, der Säcke auf einem Karren fuhr, den zwei Schimmel zogen. Die Beine der Schimmel verschwanden im Getreide. Das Kärrchen fuhr bis zu den kleinen Bauernhäuschen. Dort machte es Halt, und einige Leute kamen aus den Türen. Eine Magd schlug auf die Säcke und Mehl stieb heraus, ein rundes Wölkchen, als habe sie geschossen.
Das alles sah ich ganz genau, während sich mein Herz zusammenzog.
Ingeborg bewegte einen Fuß, ich erschrak. Sie bewegte wieder einen Fuß, ich erschrak. Ja, nun stand sie auf. Wir gingen. Im Walde war es dunkeler geworden, immer dämmeriger wurde es. Der Himmel leuchtete rot wie Wein durch die düsteren Wipfel. Lang war unser Weg, wir sprachen nichts.
Ein Vogel zwitscherte. Ich lächelte. Ingeborg sah mich an.
„Ich muß an einen Traum denken, Fräulein Giselher,“ sagte ich. Ich sprach sehr schnell, ich wußte, daß ich nun sprechen konnte und die Freude durchrann mich. Ich fuhr fort. „Ich muß an einen Traum denken. Ich denke oft, was es doch für eine sonderbare Sache mit der Seele des Menschen ist. Heute denke ich nicht daran zu stehlen, aber morgen habe ich den Wunsch es zu tun und übermorgen tue ich es. Aber vor drei Tagen, da dachte ich noch nicht daran. Nun sitze ich im Gefängnis und denke über mich nach. Plötzlich fällt mir ein, daß ich schon zuweilen vom Stehlen geträumt habe. Ja, was sage ich da. Es paßt nicht hierher, ich wollte es auch nicht sagen, ich wollte sagen, unsere Seele hat ihre besonderen Wünsche, aber wir kennen sie nicht. Was wollte ich sagen? Ich wollte Ihnen von einem Traume erzählen, den ich hatte. Ich träume die sonderbarsten Dinge der Welt zusammen. Nun hören Sie, vor einigen Wochen träumte ich von einer Stimme. Welch eine Stimme war es doch! Berückend schön war sie. Ich liege im Bette und träume, daß ich im Bette liege und eine Stimme spricht zu mir. Sie sollen hören, wie sonderbar wir uns unterhielten, diese Stimme und ich. Diese Stimme sagte, daß sie nur mich wolle und keineswegs den Leuchter aus Bernstein und die Schuhe aus Perlmutter. Nein, nein, nur dich, sagte sie. Und ich lag und lächelte und verlor fast die Besinnung, so herrlich und berückend klang die Stimme. Dann sagte sie, daß wir eine Hütte am Strande haben würden, eine kleine Hütte. Du bist ja ein Fischer, sagte sie. Ein Feuer wird auf unserm Herde brennen und du wirst mir die Schuhe mit Fischschuppen bekleben. — Darauf antwortete ich ihr: ja! Ich werde am blauen Grunde des Meeres herumwandern und nach schönen Dingen für dich suchen. Vielleicht finde ich auch ein hübsches Messerchen für dich, sagte ich.“
Ich lächelte und fuhr ebenso hastig fort: „Die Stimme sagte darauf, ich solle mich vor den Sägefischen in acht nehmen, da drunten im Meere. — Haha! — Ich aber fuhr fort: einmal wird auch eine Kiste an den Strand geworfen und wenn wir sie aufbrechen, so fallen lauter alte Kronen heraus, goldene Reifen mit grünen und roten Steinen, Zepter und Spangen. Auch ein Haarpfeil ist für dich dabei. Darauf jubelte die Stimme und begann zu singen: ich erwachte und im Garten sang eine Nachtigall.“
Ich blickte auf Ingeborg und wartete darauf, daß sie etwas sagte. Aber Ingeborg bewegte keine Miene, schmal, gleichsam erfroren sah ihr Gesicht aus. Sie schüttelte den Kopf.
„Es sang eben ein Vogel im Walde, da mußte ich an die Stimme und den Traum denken,“ sagte ich.
„Ja, aber — ich verstehe den Zusammenhang nicht,“ entgegnete Ingeborg.
Die Falte zwischen ihren Brauen war tiefer geworden.
Zusammenhang? War kein Zusammenhang da?
„Ich mußte doch mein Lächeln begründen, Sie blickten mich an, dann glaubte ich Ihnen sagen zu müssen, weshalb ich lächelte. Es war vielleicht ungeschickt von mir.“ — —
Wir kamen an Graf Flüggens Schloß. Die Pfeiler des Gitters trugen Löwen aus Stein, die zwei Wappen vorhielten. Mit Moos bedeckt waren die Löwen, als habe man Kübel von Schlamm über sie gestülpt.
Ingeborg bot mir die Hand. Ich blickte sie an. Sie verstand meinen Blick recht gut. Sie senkte die Augen, dann sagte sie: „Ich habe Harry Usedom mein Wort gegeben.“
Ich verneigte mich. Ich verneigte mich tief, mein Unglück drückte mich nieder. Ich war voller Demut.
„Ich wünsche Ihnen Glück!“ sagte ich mit ruhiger, tiefer Stimme und nahm den Hut ab.
Ich ging . . . . .
Ich ging hinein in den Wald, stolperte hin und her, wußte nicht, ob ich nach rechts gehen sollte oder nach links. Es war auch einerlei.
Ich lachte leicht auf, wie einer der friert. Hahaha, lachte ich, hahaha!
Aber gleichzeitig hatte ich den Drang in mir, mich auf den Boden zu werfen und liegen zu bleiben.
Dann besann ich mich auf den Weg und steuerte meinem Hause zu.
Es war spät, die Sterne tauchten am Himmel auf.
Etwas Weißes saß auf der Treppe meines Hauses. Es war Ingeborg.
Sie erhob sich und eilte auf mich zu.
„Nein! Nein!“ rief sie.
Sie kam zu mir her, faßte leicht meinen Arm und blickte mir von unten herauf in die Augen. Wie war der Blick? Voller Suchen, voller Staunen, voller Glanz. Sie lächelte und schmiegte sich an mich.
Ich legte meinen Arm um sie und küßte sie auf den Mund.
W ie oft küßte ich Ingeborg? Ich habe es nicht gezählt. Auch Ingeborg hat es nicht gezählt.
„Siehst du nun?“ sagte ich und küßte sie.
Sie lächelte verzückt und bot mir den Mund und die Stirne zum Kusse. „Du sagtest, du könntest nicht mehr lieben!“
„Ja, siehst du nun?“ sagte ich und küßte sie.
Ach, nach Hause, nach Hause, nein, nein. Jetzt nach Hause? Nein, nein! Wer denkt auch daran? Du? Nein, nein, keiner denkt daran.
Wie war dieser Abend? Er war wie der Wind, der über Blumen gegangen ist. Er war wie der Traum von zwei Vöglein, die in einer Rosenhecke schlummern. Gott sandte uns ein Lächeln und Grüße, viele Grüße.
Die Sterne kamen herauf, haha! Blau und voll geheimnisvoller Liebe war der Himmel. Wir saßen unter einem blühenden Apfelbaum, er schäumte von Blüten. Die weißen Blüten und der blaue Nachthimmel, es war Tausendundeinenacht, es war Himmel.
Ich sah Ingeborg an und sagte: „Schön, schön, schön bist du! Du verschenkst Himmel!“
Und ich schüttelte den Apfelbaum, da fielen die Blüten über Ingeborgs schönen Scheitel.
Ingeborg sagte: „Nein, du bist schön! Du weißt es nicht. Du bist so schön, als wärst du kein Mensch! Deine Augen sind so warm und rein, du hast Kinderaugen, weißt du es?“
Nein. Mein Herz pochte.
„Ich glaube, du könntest sterben unter Mörderhänden und deine Augen würden sich nicht verändern. Solche Augen hat Jesus Christus gehabt, ich weiß es!“
Mein Herz pochte.
In meinem Kopfe sprühte es. Ich hatte einen weißen Stern in meinem Kopfe.
„Höre, süße Ingeborg,“ sagte ich, „was denkst du! Eben fällt mir eine Legende ein. Gerade in diesem Momente. Es ist die Legende von der Mutter Gottes und dem erfrorenen Weinstock.
Du mußt sie hören, denn sie paßt so gut. Denke dir, alle Weinstöcke treiben und grünen, nur einer nicht. Er ist erfroren. In einer Nacht packte ihn der Frost. Ich erzähle schlecht, ach, entschuldige.
Ja. Aber da kam die Mutter Gottes des Weges daher, und nun höre: wie an den Fenstern hundert Augen erscheinen, zieht die Königin vorüber, so schlugen plötzlich Blüten aus allen Reben, und wie Kinder die Ärmchen ausstrecken, kommt die Mutter gegangen, so streckten sich überall Ranken und Blätter nach der Mutter Gottes aus. Verstehst du?“
„Schön! — Wo hast du sie gehört, die Legende?“
„Gehört? Nein, sagte ich nicht, daß sie mir eben einfiel, diese Legende, in diesem Augenblick?“ — —
Es ist spät. Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht! Hat jemand eine Ahnung, wie leise man gute Nacht sagen kann? Immer leiser und leiser und doch hört man es noch. Und wie man es sagen kann? daß es soviel bedeutet! — — — „Gute Nacht, du mein Himmelreich!“ — — — —
Ich war allein. Plötzlich stand Pazzo vor mir und blickte mich an. Niemand hatte ihn mehr gesehen. Ich ging nach Hause, durch den stillen weiten Wald ging ich nach Hause. Mitten im weiten feierlichen Walde begegnete mir Gott.
Bist du es, Axel? sprach Gott zu mir.
Ich kniete nieder. Ja.
Gott hauchte mir seinen Atem ins Gesicht.
Ich ging. Auf einer Lichtung begegnete mir der Frühling. Nackt und keck. Er kicherte. Verstehst du mich? sagte er. Er hatte hellgrüne Augen. Ja, sagte ich und lächelte, zuerst den kleinen Apfelbaum an der Parkmauer, dann Liselotte — — —
Ich habe meine Dinge vor mit dir! sagte der Frühling und kitzelte mich unter dem Kinn, daß ich lachen mußte.
Ich ging hin und her im stillen weiten Walde.
Jemand begegnete mir.
Bist du es wieder?
Ja, ich gehe rings im Kreise, sprach er.
Ich kniete nieder. Er berührte meine Lider mit dem Finger, da sah ich meine frohen Tage vor mir liegen. Meine Augen wurden feucht.
Ich bin glücklich, kann es ruhig sagen. Ich liege im Grase vor meinem Hause, es duftet, ich rieche Harz und Waldmeister. Die Maikäfer segeln über den Himmel, sie schwirren über meinem Kopfe. Die ganze Nacht hindurch liege ich da und sehe mir die Sterne an. Wenn ein Stern blinzelt, so muß ich ebenfalls blinzeln, silberne dünne Finger fahren nach meinen Augen. Wenn ein Stern zittert, so spüre ich das leise Zittern in der Mitte meines Herzens.
Ich sehe in die Sterne und mein Herz klopft. Es durchrieselt mich, die Sterne liebkosen mich.
Ich höre den Frieden da droben. Er lispelt.
D er Tag graut. Nebel ziehen. Ein Mann sitzt auf der Höhe. An seiner Lodenjoppe hängen feine Tauperlen, er hat den Hut aus der heißen Stirne gerückt. Der Nebel zieht in Schnüren an ihm vorüber.
Es blitzt in der Nebelwolke, blitzende Schwerter fahren hin und her. Der Nebel zerreißt, Tannenwipfel tauchen empor, sie glühen rot. Durch einen Riß blickt ein Streifen blauen Himmels, ein Eck fahlgrüner Wiese, kleine Bauernhäuser mit blinzelnden Fenstern. Langsam weicht der Nebel zurück in die Wälder, die letzten Fetzen schlüpfen ins Geäst der Buchen.
Der Mann blickt über das Tal. Es ist wie eine große Muschel, in der alle Farben zusammenfließen. Eine Reihe von Schnittern schwingt tief unten in gleichmäßigem Takte die Sense. Die Fenster der Bauernhäuser sehen mit leuchtendem Staunen in die aufsteigende Sonne. Der Wald trieft und atmet tief auf in der Wonne des Erwachens. Es klingelt im Walde von hellen Vögelstimmen.
Des Mannes Augen sind geblendet vom Lichte. Die Sonne ist noch nicht rund, da kommt ein Mädchen aus dem Walde. Sie ist naß vom Tau wie Blumen und Gräser. Sie läuft, daß die Röcke fliegen.
„Ich wollte auf dich warten!“ ruft sie, daß es klingt, „ich wollte zuerst da sein!“
Sie lacht, sie weint, sie stürzt sich an des Mannes Brust.
Des Mannes Hände zittern.
Die Sonne geht auf und scheucht die Nebel in die Wälder, wir gehen durch den Wald, die Sonne sinkt hinter goldenen Höhen, wir gehen zusammen, wir zwei. Wir blicken in die Höhe, die Wipfel der Buchen sind durchsichtig, hellgrün wie Wasser, wir gehen wie in einem hellgrünen Meere, dessen Grund die Sonne erleuchtet.
„Es ist Mittag,“ sagen wir.
Tag um Tag. Mein Herz klopft.
Wir treffen uns auf der Bank auf der Höhe. Ingeborg erzählt mir, wie sie zur Bank eilt.
Ja, zuerst geht sie schnell, sehr schnell, dann läuft sie und zuletzt fliegt sie durch Dick und Dünn und es geht immer noch zu langsam.
Ich lächle.
„Ich habe die ganze Nacht gesessen und an dich gedacht!“ sage ich.
Ingeborg nimmt das Kettchen mit dem goldenen Medaillon vom Halse und drückt es mir in die Hand.
Hastig, als könne es jemand sehen.
„Nimm,“ sagt sie, „nimm! Ich habe nichts, das mir mehr wert wäre.“
„Erlaube, daß ich die Spitze deines Schuhes küsse!“ sage ich.
Ingeborg kommt am Abend in den Birkenhain vor ihrem Hause, sie trägt ein kleines Heft in der Hand.
„Nimm,“ sagt sie, „nimm! Es ist ein Schulheft, ein kleines Heft, vielleicht macht es dir Freude?“
Ich muß mich abwenden. Ich danke Ingeborg im tiefsten Herzen. Ich nehme den Hut ab und gehe neben ihr her.
„Warum trägst du den Hut in der Hand?“ fragt Ingeborg.
„Es ist schwül im Walde,“ erwidere ich.
Ingeborg zieht eine Photographie aus der Tasche. Sie lacht.
Da steht er, die Geige in der Hand und sieht uns an mit seinen großen Frauenaugen.
Ingeborg lacht. „Er ist dumm und hochmütig,“ sagt sie und zerreißt das Bild kreuz und quer.
Die Stücke wirft sie ins Gebüsch.
Ich lache. „Ja, er ist dumm und hochmütig,“ sage ich.
„Ich möchte dir alles schenken, was ich habe!“ sagt Ingeborg.
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll.
Ich drücke ihr die Hand.
„O!“ sagt sie und schließt halb die Augen. „Ich träume.“
Meine Augen sahen in die schöne Welt und ich hatte das tiefe Gefühl, daß ich zu ihr gehörte und mich nicht zu schämen brauchte.
Mein Herz war schwer und reich und es füllte mir die Brust mit süßer Bürde. Dankbarkeit und Staunen und Liebe war mein Herz in dieser Zeit.
Ich sah Ingeborgs schwebende Gestalt neben mir hergehen und staunte und war dankbar, jenem Geiste dankbar, der sie mir schickte in diesem Frühling, ihr dankbar, daß ich neben ihr einhergehen durfte. Ich wünschte mir nichts anderes, als neben ihr einhergehen zu dürfen. Das war Glück!
Ich konnte einschlafen, während ich neben Ingeborg einherging, die Besinnung verlieren, ich hatte keinen Gedanken mehr im Kopfe, keine Klarheit. Klarheit? Ach — hahaha — — nein, ich war betäubt, kein Gedanke, keine Klarheit.
Ingeborg fühlte meinen Blick, sie kam heran, gab mir die beiden Hände und blickte mir in die Augen und lächelte. So standen wir lange, Gott weiß wie lange, wir wußten ja nichts mehr.
Ich kannte ihre Augen ganz genau. Oft dachte ich, immer dachte ich an ihre Augen. Sie sind wie Türkise, glänzende Türkise, aber was will das sagen? Es ist ein eigentümlicher, suchender, strahlender Blick in ihnen, etwas Blitzendes, ich besinne mich, in meinem Kopfe ist es wie ein Wetterleuchten. Ich habe den Ausdruck ihrer Augen vergessen. Ich sehe sie wieder an, diese Augen ja, es ist etwas Blinkendes, Schimmerndes in ihren Augen, niemand kann es im Gedächtnis behalten. Ihr Gesicht ist schmal, spitzig dem Kinn zu, es lugt aus den goldenen Quasten hervor, die über die Wangen herabhängen und nahezu die Brust berühren, wenn sie den Kopf senkt.
Ihre Wangen sind schmal und leicht gerötet, sie bekommen Grübchen, sobald sie lächelt.
Ein verzücktes Lächeln hat sie und alles lächelt an ihr, sobald sie lächelt, nimmermehr kann ich dies Lächeln vergessen, es umschwebt mich Tag und Nacht. Ich kenne es gut, aber jeden Tag erscheint es mir neu. Jeden Tag entdecke ich es, dieses Lächeln, und es rinnt durch mein Blut, daß es heiter und fröhlich wird.
Heute denke ich, ein goldener Ton ist über ihr Gesicht gebreitet wie über die Bildnisse alter Meister. Und morgen denke ich: ja, etwas von dem Golde reifer Ähren ist über ihr Gesicht gestreut. Und übermorgen denke ich, daß sie die Farben der Wiesen und Felder im Gesicht hat, das Gold der Ähren, das Blau der Vergißmeinnichte, das Rot der Erdbeeren. Ingeborg, Ingeborg . . . .
In dieser Zeit schrieb ich einen Brief an meinen Freund, den Dichter Karl Bluthaupt. Ich bin glücklich, schrieb ich, komme sofort! Ich bin sehr glücklich, große Dinge geschehen, ich wohne auf der Sonne, in einem Garten auf der Sonne, in der Nachbarschaft der schönsten Engel, ich bin glücklich, komme sofort.
Noch viel mehr schrieb ich. Nun, Freund Bluthaupt war ein Dichter, der wird wohl verstehen, wenn er liest: ich bin glücklich, ich bin sehr glücklich. Ein Meer von Glück ist über mich gestürzt, ich bin glücklich . . . .
Zwei Stunden hatte ich zu gehen, um diese Botschaft meines Glückes zur Post zu bringen. Ich ging in der Nacht, lachte und schwang den Brief hin und her.
Ich bin glücklich, wohne auf der Sonne, in einem Garten auf der Sonne. Ein Bach von Glück bewässert diesen Garten, die Blumen lachen. Näheres mündlich — — — — — — — — — — — — — — —
Wir gingen durch den Wald, einen hohen Tannenwald. Pazzo spitzte die Ohren und blieb stehen.
Er schlug an.
„Ruhe, Pazzo,“ rief ich.
Pazzo gehorchte, schlich zu mir heran und blickte ins Dickicht.
„Es ist jemand im Walde,“ sagte ich. „Es ist ein Mensch im Dickicht, kein Tier, ich kenne Pazzo.“
Ingeborg sah mich an und erblaßte. Wir gingen weiter.
„Laß uns ins Freie gehen,“ sagte Ingeborg. Sie zitterte.
Vielleicht sei es Usedom gewesen?
Sie legte die Hand auf meinen Arm und sah mich prüfend an.
„Was denkst du?“
Ich lächelte. „Schön bist du, Ingeborg! das dachte ich. Gütig bist du, Ingeborg!“
„Laß es dir erzählen, Axel. Höre mir zu. Er schleicht herum, ich weiß es. Seit ich ihn kenne, schleicht er mir nach. Schon als Knabe war er so. Er ist so aufdringlich und so hochmütig. Ich fürchtete mich früher vor ihm, besonders vor seinen Händen fürchtete ich mich. Ich habe nichts mit ihm gehabt, ich haßte ihn. Ja, es ist wahr, zuweilen liebte ich ihn auch. Damals war ich ein dummes Mädchen, ich war stolz auf ihn. Er bekam immerzu Blumen von den Frauen geschickt, er warf sie weg. Er hatte eine Busennadel von einer Königin, er schenkte sie einem Bauernknaben. Ich will mir auch nichts von einer Königin schenken lassen, sagte er. Das gefiel mir, ich war ja so töricht damals. Ich hatte es gerne, wenn er vor mir stand, dann sahen seine Augen aus wie die eines Hundes. Es ist alles Verstellung, er ist so hochmütig und dumm. Immer spricht er von sich, von seinen Konzerten und daß die Leute an den Bahnhöfen stünden, um ihn zu erwarten. Er weinte immer vor mir. Ich weine vor dir, sagte er, tausend und abertausend Frauen gäben ihr Leben für mich und du blickst mich nicht an.“ — —
Einige Tage darauf gingen wir wieder durch den Wald, und wieder schlug Pazzo an. Es war in einem Walde hoher dicker Buchen. Pazzo bellte und sprang in den Wald hinein. Harry Usedom kam hinter einer Buche vor.
„Rufen Sie Ihren Hund zurück!“ rief er und zog die Hände an sich.
Er stand am Wege und sah Ingeborg an.
Sein Gesicht war fahl, grau, tiefe Ringe zogen um seine Augen, die matt glänzten.
Sein schmales Gesicht sah aus wie das einer Frau, die dem Tode nahe ist. Seine Lippen zuckten, er hatte die Linke auf das Herz gelegt, und die Finger begannen nervös zu trommeln.
„Ich suchte Sie seit vielen Tagen zu sprechen,“ sagte er, „ich wollte Ihnen nur dies sagen: Sie haben ein kurzes Gedächtnis, Fräulein Ingeborg!“
Er griff an den Hut, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten in den Wald hinein.
„Komm,“ sagte ich zu Ingeborg, indem ich meine Hand sachte auf ihre Schulter legte.
Ingeborg war bleich, sie sprach lange nichts. Dann sagte sie:
„Ich liebe ihn doch.“
Ein Stich fuhr mir ins Herz, ich nahm sachte die Hand von ihrer Schulter.
„Nein, nein! Laß doch deine Hand da. Ich liebe ihn noch ein wenig, er tut mir leid, aber ich liebe dich ja tausendmal mehr, tausendmal mehr. Küsse mich Axel, sei gut!“
„Ich liebe dich,“ sagte ich und küßte sie. O, o, nun sei alles gut.
„Ich erschrak, Axel. Nun sollst du alles hören. Ich habe ihm mein Wort gegeben — es war einige Tage nachdem ich dir auf der Höhe gesagt hatte, daß ich dich liebte. Er kam zu mir in den Garten. Man sieht Sie ja jetzt so selten, sagte er. Ich gehe viel spazieren. Ja, fuhr er fort, die Krone eines Fürsten ist mehr wert, als der Ruhm eines Geigers. So dumm und plump war es. Aber ich war in diesen Tagen unglücklich und hilflos, deshalb zürnte ich ihm nicht. Ich lachte. Was sagen Sie da! rief ich und lachte. Ach, Usedom, wie töricht können Sie doch zuweilen sein. An diesem Abend gab ich mein Wort, aus Trotz geschah es. Er legte seine Hand auf meine Schulter, und ich dachte an dich. Das sollte er sehen, dachte ich, das sollte er nur sehen! Ich ging mit Usedom im Walde herum, nur um dir zu begegnen und dich zu verletzen. Du wirst das nicht verstehen, nein, du nicht. Ich war unglücklich und gedemütigt, ich war verwirrt im Kopfe. O, wie gerne wäre ich damals mit dir gegangen, gleich zu dir hingegangen, und ich sah dich kaum an und sprach mit Pazzo — — —“
Wir sitzen in der Sonne auf einer Wiese. Ingeborg singt leise und bindet einen Strauß aus Feldblumen. Ich liege im Grase und lausche und sehe zu, wie Ingeborg den Strauß bindet. Nie in meinem Leben hörte ich solch eine Stimme, nie in meinem Leben habe ich so etwas Schönes gesehen wie Ingeborg. Ihre Wimpern sind golden und lang. Es ist, als ob sie eine kleine Sonne unter den Lidern habe, die hervorstrahle. Ihre Brauen sind golden, regelmäßig und hochgeschwungen, goldene Bogen, man sieht jedes einzelne Härchen. Wie mit einem Pinsel scheinen sie gezeichnet und eines Japaners Hand schien den Pinsel geführt zu haben. Ihre Stirne ist hoch und rein und dahinter stecken all die vielen Gedanken, die sie selbst noch nicht kennt. Ingeborg dreht den Strauß hin und her und drückt ihn mit mütterlicher Liebe gegen die Brust. Es singt ein Vogel im nahen Walde, Ingeborg hält inne und lauscht.
Sie fühlt meinen Blick, hebt die Lider und lächelt mir zu. Sie beschäftigt sich wieder mit ihrem Strauße, vergißt mich ganz, macht ein rundes Kindermäulchen und lächelt die Blumen an und singt leise.
Sie ist fertig. „Ist er schön?“ fragt sie.
„Ja!“
„Nun, so nimm ihn! Aber hüte ihn gut.“
Ingeborg ist die Mutter der Blumen und Vögel und sie streichelt die Bäume. Sie kennt alle Kräuter, die Namen aller Vögel, aller Büsche. Sie blickt in die Wipfel der Bäume, als sehe sie Gesichter, und ich habe sie dabei ertappt, daß sie mit Blumen plauderte wie mit Kindern.
Ingeborg ist im Walde geboren.
Ich sehe sie heute, ich sehe sie morgen, jeden Tag sehe ich sie. Jeden Tag glaube ich sie zum erstenmal zu sehen. Und mein Herz bebt nicht minder, kommt sie daher, als am ersten Morgen.
In dieser Zeit lag ich oft lange über Mitternacht vor meinem Hause im Grase. Silbern schimmerte das Tal und die Wölkchen am Himmel. Dunkele Vögel strichen lautlos über den Wald, Leuchtkäferchen segelten vorüber, zuweilen setzten sie sich in meine Nähe und ich ließ sie nicht aus den Augen. So klein wie sie waren, so stumm und prächtig. Sie liebten sich und sie waren so glücklich wie ich großer Käfer. Ich sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit der Gebüsche verschwanden. Viele Käferchen, Nachtfalter und Motten mit silberigen Flügeln waren unterwegs.
Ich lag und dachte an Ingeborg, dachte an mich und mein unfaßbares Glück. Der Friede des schimmernden Tales zog in mein Herz.
Es war ein solch tiefer Friede, wie ich ihn nie gekannt hatte. Mein Herz strömte über. Und ich stand auf und erhob die Hand und segnete die Welt. Ich dachte: Frieden in alle Menschenherzen, süßen Frieden. Glückliche Stunden allem was da lebt, dem ärmsten Manne im fernsten Lande, dem kleinsten Wurm in der dunkelsten Erde. Feuer dem Frierenden, Brot dem Hungernden, einen sanften Tod dem Mörder, gute Fahrt dem Seemanne auf dem Meere!
Ich lag bis spät nach Mitternacht im Grase und ich hatte das Gefühl dahinzuschweben.
Friedlich schwebt die Erde ihre Bahn, dachte ich. Und ich öffnete die Lippen und flüsterte: „Friedlich schwebt die Erde ihre Bahn.“ —
In dieser Zeit, ja, was war doch alles in dieser Zeit!
Ich legte mich schlafen und zählte die Minuten, bis ich sie wiedersehen sollte. Ich ging noch einmal durch den roten Tag und sammelte. Ich fühlte den Druck ihrer Lippen auf meinem Munde, meine Hände behielten den Druck ihrer Hände in der Erinnerung. Die Wärme ihres Atems war in meinem Gedächtnis, die Weichheit ihrer Haare, der Glanz ihrer Augen, das Lächeln ihrer Wangen.
Dann schlief ich ein und im Traume begegnete mir Ingeborg wieder. Von Stunde zu Stunde erwachte ich, ich blickte in die Sterne empor, sie funkelten, sie leuchteten, sie flackerten, sie erblaßten — endlich!
Und Ingeborg sprach: „Am Tage gehe ich umher, als ob ich träumte. In der Nacht gehe ich im Traume umher, als ob ich wachte.“ Ingeborg sprach: „Alle Dinge sehe ich in hohem Glanze. Nie war der Himmel blauer, nie war der Wald grüner. Ich sehe alle Dinge wie mit Regenbogenrändern. O, Axel, dir danke ich alles!“
Ingeborg, Ingeborg, du Liebling Gottes, du Schmuck der Welt!
Die Tage zogen vorüber, wie Rosenblätter einen Bach hinabtreiben, so still, so schön und kaum gesehen, so waren diese Tage.
Das Tal schaukelte wie eine goldene Wiege, der Wald rauschte wie eine Orgel, die Vögel sangen als hätten sie diamantene Schnäbel.
Und Ingeborg jubelte: „Immer blauer wird der Himmel, immer süßer wird dein Mund!“
„ I ch liebe dich.“ Wie schön ist es, das sagen zu können, wie schön ist es, das zu hören —
Es ist ein kleines, kleines Wort, aber jeder muß es einmal sagen und jeder hört es einmal. Wenn eines Menschen Herz aufspringt im Frühling, so muß er es sagen. Er kann ein Tyrann sein mit blutschwarzen Gedanken, er kann ein Forscher sein, der immer über seinen Büchern sitzt, es kommt seine Stunde.
Er vergißt alles, sein Sinn wird dunkel, und sein Mund spricht das kleine, kleine Wort. Schöne, ewige Gedanken kann einer im Kopfe haben, er kann ein großer Mann sein, an den viele denken tagaus, tagein, es kommt seine Stunde und er findet nichts als dies kleine, kleine Wort.
Es ist alt und tief, birgt des Menschen ganzes blutrotes Herz, all sein Glück, all seinen Jammer, bei Tag und bei Nacht wurde es gesprochen, geflüstert und geknirscht wurde es, wird gesprochen werden immerfort, immerfort, solange die Lerche im Äther trillert. — — —
Sei gegrüßt, Ingeborg! Ich liebe dich, kannst es glauben.
Ich gehe hin und her, sehe viel in den Himmel empor, sehe viel ins Weite. Lächle. Stehe vor einem Stein am Wege und lächle. Ich bin nie müde. Nein, es gibt nun keine Müdigkeit mehr. Ich schlage die Augen auf und es ist hell und weit in meiner Seele.
Immerzu habe ich Gedanken im Kopfe, herrliche Gedanken, reich ist mein Gemüt, reich und heiß. Wie ein Dichter fühle ich mich, durch dessen Herz große Werke brausen.
Über die Parkmauer spritzen hohe Wogen von Blüten, weiße, rote und violette und zitronengelbe, in meinem Garten stehen viele Blumen, wie wehende Feuerchen sehen sie aus, brennende Lunten, Sonnenflocken, wie rote Münder, wie Augen, ja, auch wie Augen sehen sie aus. Der Frühling hat seine Feuer in den Bergen angezündet und sie brennen Tag um Tag. Er wirft Herzen von Menschen, Rehen und Vögeln, Wünsche von Blumen, Schmetterlingen und Bäumen in seine Feuer, daß sie brennen.
Der Hirsch schreit im Walde.
Ich gehe durch die brennenden Feuer des Frühlings und lächle.
Zuweilen habe ich wunderliche Gedanken! Eine rote schaumige Abendwolke steht über den Bergen, wie ein leuchtendes Schneegebirge. Möchte ich nicht auf der Spitze dieser Wolke stehen und den Hut schwingen? Ich sehe mir den Mond an und es geht mir durch den Sinn, daß ich auf dem Rande des Mondes stehen möchte und die Erde grüßen.
Herrliche Tage und Nächte. Das Herz hüpft mir in der Brust, ich lache vor mich hin.
Niemand weiß es, nein, keine Seele ahnt es, deshalb lächle ich auch vor mich hin.
Ich sitze in meinem Zimmer, es wird Abend. Wollte doch die Nacht schneller kommen! Könnte ich doch eine dunkle Decke über die Erde breiten. Es ist soviele Ungeduld in mir, niemand weiß ja, worauf ich warte.
Schweigen ringsum, die Nacht kommt.
Ich zünde eine Kerze an und setze mich vor die Flamme. Ich höre mein Herz pochen. Ich warte.
Es schreitet wohl irgendwo ferne im dunkeln Wald? Es eilt —?
Ich warte. Ich habe Geduld, Geliebte, übereile dich nicht . . .
Da flüstert es, etwas Helles tritt in den Rahmen der Türe.
Ingeborg!
Ich gehe hin, gleite in die Knie, auch sie kniet nieder und wir küssen uns, beide kniend. Wir schmiegen Wange an Wange, pressen Brust an Brust.
„Nimm Platz!“ sage ich leise.
„Ja!“ antwortet Ingeborg ebenso leise. Mich trifft ihr leuchtender Blick.
Ich lege meinen Arm um sie. „Du bist bei mir, es ist tief in der Nacht. Ich danke dir, Ingeborg.“
„Wir sind ganz allein.“
„Ja!“
„Niemand weiß, daß wir beisammen sind.“
„Niemand!“
„Ingeborg, ich liebe dich sehr, du weißt es.“
„Ja, ja!“
Ingeborg nickt, sie zieht meine Hand an die Brust.
„Ich habe nur dieses Kleid an,“ flüstert sie und lächelt mir zu.
„Du bist gut, Ingeborg!“
Wir lächeln. Unsere Augen sind ohne Lider, die Wimpern zucken nicht mehr.
Ich stehe auf und blase die Kerze aus.
Nun ist es ganz dunkel. Die dunkelblaue Nacht blickt herein. Ein Stern wandert vorbei, leuchtet uns bis auf den Grund unserer Augen.
Ingeborgs Zähne schimmern, ihre Haare sprühen golden auf.
Die Wohlgerüche des Waldes und des Feldes hauchen durch das Fenster und sinken über uns. Aus dem Garten duftet ein Mandelbaum. Feine Geräusche erwachen, bald nah, bald fern. Bald im Wipfel der Kastanie am Fenster, bald in den Ställen, ein Klirren, ein Schlürfen, die Nacht klingt leise. Die Ruhe horcht. Alle kleinen Geräusche halten an sich, keines will den Anfang machen, die Ruhe zu stören.
Unsere Stimmen sinken zu einem Lispeln herab, nicht lauter als das Rieseln eines Brunnens.
„Meine Wangen sind heiß!“ sagt Ingeborg. Sie ist stolz darauf.
„Ja,“ erwidere ich, „deine Wangen sind heiß, Liebste.“
„Darf ich über deine Brüste streichen?“
„Sie gehören dir!“
„Es ist süß, über deine Brüste zu streichen.“
„Es ist süß, wenn du es tust.“
Wir schwatzen lange Zeit. Die kleinen Geräusche erwachen. Wir rühren uns nicht. Unsere Herzen pochen dumpf.
„Wie schön!“ flüstert Ingeborg. „Noch nie war es so schön und so traut!“
Traut! sagt sie. Das ist ein wunderschönes Wort.
Ein bleierner Ton fällt in der Ferne. Die Uhr im Dorfe drunten schlägt. Es ist so still im Tale, daß man die Uhr weit hinein in die Wälder hört.
Ingeborg zuckt zusammen.
„Wir haben Zeit,“ flüstere ich.
Ingeborg nickt.
Eine Geschichte erwacht in meinem Kopfe, als ich sage: wir haben Zeit.
„Wir haben Zeit — wir haben Zeit. Höre, süße Ingeborg, ich denke an zwei junge Menschen, die auf dem Meere segeln. Es ist die Tochter eines Fürsten und ein junger Goldschmied. Er hat der Tochter des Fürsten ein Geschmeide überbracht, da sahen sie einander. Höre, sie liebten sich und entflohen über das Meer.
Unser Schiff ist wie eine Wiege, die zwei Kindlein schaukelt, flüstert die Geliebte. Der Gespiele erwidert:
Das Meer ist unser Brautbett, der Himmel der Dom mit abertausend Kerzen, die zu unserer Hochzeit angezündet wurden.
Ja, sagt die Tochter des Fürsten und schmiegt sich an den Geliebten, Gott trägt uns auf seiner Hand über das Meer!
Höre, süße Ingeborg. Der Steuermann kommt und spricht:
Herrin, ich finde kein Ziel. Wir müßten längst am Ziele sein, viele Wochen sind wir unterwegs.
Der Steuermann kommt und spricht:
Herrin, ich finde kein Ziel. Meine Haare sind schneeweiß. Dreißig Jahre segeln wir. —
Hahaha — wir haben Zeit!
Hundert Jahre vergehen, tausend Jahre vergehen. Hahaha, wir haben Zeit! —“
Ingeborg lächelt.
„Du sprichst, daß mir das Herz stehen bleibt,“ sagt sie.
Ich neige mich vor, daß ihr Haar meine Wange liebkost, ich schließe die Augen dabei.
„Wir haben Zeit!“ flüstert Ingeborg und lacht leise.
„Ja!“
„Es ist schön, im Dunkeln zu sitzen und die Sterne wandeln draußen vorbei.“
„Ja, es ist unsagbar schön.“
W as dachten sich wohl Knechte und Mägde, die im Hause hin- und hergingen? Sie blickten mich an und dachten, daß sich mein Verstand verwirrt habe. Sie begriffen nicht, weshalb die Treppe mit Blumen bestreut war, als ob eine Hochzeit wäre, sie begriffen nicht, daß im Zimmer des Herrn ein Teppich aus Kornblumen gebreitet war, heute, morgen aus Mohn, und an einem andern Tage aus Birkenlaub.
Dieses Haus war weiß Gott ein verzaubertes Haus! Oft öffnete ich die Türen aller Zimmer und ging durch alle Zimmer hindurch. Hin und her, mit einem von Freude und Freiheit geschwellten Herzen.
Die Blumen der Tapeten schienen lebendig geworden zu sein und zu duften, die Bildnisse der alten Herrschaften mit komischen Hüten und Frisuren lächelten. Liselotte, geborene Weikersbach, blinzelte mir zu. Ich stellte mich vor sie und lächelte. Ja, sagte ich, konnte dir leider die Treue nicht halten, Liselotte, so ist die Liebe!
Eine ganz sonderbare Luft webte durch dieses verzauberte Haus.
Diese Luft barg Ausrufe, Flüstern, Blicke, das Schimmern von Zähnen, das Knistern eines schnellen Schrittes. Viele Geheimnisse waren in dieser Luft verborgen, leises Lachen, verliebte Worte, Lider, die sich bewegen, Arme, die einen Nacken umschlingen, das Rot eines Mundes, das Blitzen eines Ringes. Man dachte an nichts, plötzlich hörte man seinen Namen, die Luft rief ihn, plötzlich sah man einen Mund, der ein Licht ausbläst, man erblickte sich selbst, wie man gerade in einem Spiegel seine glücklichen Augen studiert. Die Luft spiegelte das.
Den ganzen Tag ging die Sonne in diesem Hause spazieren, sie stieg durch die Fenster ein, durch die Schlüssellöcher der Türen. Dann kam die Dämmerung und eine kurze Zeit war alles still und tot. Doch sobald der Mond und die Sterne heraufkamen, wurde es wieder lebendig in diesem Hause. Fünkchen sprangen über die Tische und Sessel, es knisterte und etwas kletterte an der Tapete herunter, etwas Silberiges spielte mit einer Quaste, und die Quaste begann zu baumeln.
Im Dorfe drunten schlug die Uhr. Eins, zwei, drei — zehn. Im Dorf drunten schlug die Uhr. Eins, zwei — elf.
Ein Hauch wehte durch das Haus. Es knisterte, eine Treppe knarrte, ein Schreiten, ein Flackern und Schweben — Ingeborg war da!
Es raunte in meinem Zimmer, es wisperte, flüsterte und lachte. Ganz als ob ein kleiner Springbrunnen sänge und kichere. Gewiß waren die Herrschaften mit den sonderbaren Kleidern und Frisuren aus den Rahmen gestiegen und gaben sich Stelldichein in meinem Zimmer.
In vielen, vielen Nächten kam Ingeborg zu mir. Mein Herz klopfte in den langen Stunden des Wartens. Mit einem Jauchzen empfing sie mein Herz. Ja, wie begrüßten wir uns doch? Als seien wir lange Jahre getrennt gewesen und hätte die Sehnsucht unsere Liebe geglüht und gestählt und vertausendfacht.
Ein Ineinandertauchen der Blicke, gestammelte Worte, ein Kuß auf die Fingerspitzen, das war unsere Begrüßung. Gar oft sagten wir gar nichts, wir gaben uns die Hände und lächelten uns an, lange Zeit.
Ingeborg kam aus dem Walde zu mir, in stiller Nacht, ich durfte ihr nicht entgegengehen, ich durfte sie nicht begleiten.
Nein, nein, ich bin deine wilde Geliebte, wohne im Walde, komme und gehe — verstehst du?
Sie sagte es nicht, wenn sie kam. Ich durfte es nicht wissen. Zuweilen sagte sie: heute komme ich nicht, aber es war kaum Mitternacht, da war sie bei mir.
„Ich hätte nicht schlafen können, Axel!“
„Dank, Dank, süße Ingeborg! Ich saß hier und dachte an den letzten Blick heute Abend. Er hat mein Herz glühend gemacht. Ingeborg, hüte dich! Ich werde dich in meinen Armen erdrücken.“
„Ja, ja!“ Sie läßt den Kopf in den Nacken fallen und schließt die Augen. Ihre Zähne lächeln.
„Das werde ich alles Ernstes tun, hüte dich, Ingeborg! Ich liebe dich, du weißt es. Du kannst mit mir tun, was du willst, Ingeborg. Das ist keine Redensart, nein, es ist Ernst, du kannst mich blenden lassen, ich klage nicht, nein, ich lächle. Du kannst mich in den Boden hineintreten, alles was du willst, kannst du. Aber hüte dich, meine Liebe ist gefährlich! Mein Herz ist rot, blutig rot und wild!“
„O, Axel, wie gut muß Gott sein, daß er uns ein solches Glück schenkt!“
Ich erwidere: „Er liebt alle Liebenden, mußt du wissen. Seht, sagt er zu seinen Engeln, sie lieben einander! Und die Engel sagen: gelobt seist du, du Vater der Liebe, du bist ein guter Gott, ja!“
Die Nacht vergeht, die Nacht vergeht.
Heute verging die Nacht schneller als gestern, morgen wird sie schneller vergehen als heute, übermorgen schneller als morgen.
Wir plaudern. Wir schweigen. Wir lauschen auf das Lied des Vogels, der im stillen Parke von seinem Glücke singt. Die Nacht vergeht.
„Horche doch, was der Vogel singt, Axel! Hörst du alles? Nun sang er deinen Namen —“
Ingeborg sieht mich an — „bleibe so“, sagte sie, „bleibe so — schließe die Augen — lächle ein wenig, so! Überirdisch siehst du aus! Bleibe so, rühre dich nicht!“ Sie gleitet in die Knie und flüstert:
„Bleibe so, ich will dich ansehen“ — Sie streicht mit dem Finger über meine Hand, ganz leise.
„Ich liebe deine Hand, Axel — ich liebe jedes Härchen deiner Hand, jeden Nagel, bleibe so, bleibe so — ich will deine Hand liebkosen —“.
Ich sitze mit geschlossenen Augen. Meine Hand wird leicht in die Höhe gehoben, Ingeborgs Lippen berühren sie — es durchschauert mich. Es ist ein erstickter Schrei der Wonne in meiner Kehle —
Die Nacht vergeht, der Morgen dampft. Ein helles Kleid verschwindet im Dampfe des Morgens. Ich nehme mein Gewehr und wandere in den Wald hinein. Tief im Walde fallen zwei Schüsse.
Was hat der Herr geschossen?
Ich treffe nichts, schlechte Augen, sodann zittere ich auch etwas, von der kleinen Pfeife rührt es her. — — —
Ich begegnete ganz zufällig Graf Flüggen im Walde, als ich mein Gewehr spazieren trug. Wie ein Zwerg kam er daher mit langen schlenkernden Armen. Er ging immer, als suche er etwas auf dem Boden.
„Hören Sie doch nur, was für ein sonderbares Geschöpf diese Ingeborg da ist!“ sagte Graf Flüggen und seine Äuglein blinkerten. „Tag und Nacht läuft sie im Walde herum. Ja, hihi, auch in der Nacht.
Schon jeden Sommer trieb sie es, aber Heuer treibt sie es doch toll. Schläft im Walde, das Mädchen, schläft im Walde.“
Ich lachte.
Graf Flüggen lachte ebenfalls. Er hustete, so lachte er.
„Aber — aber natürlich“ — er schlug die Hände an die Schenkel — „sie ist im Walde geboren.“ —
„Im Walde fand ich sie. Ganz wie in einem Märchen saß sie da, blond, ein Zöpfchen wie ein Schwänzchen, sang, sang, daß man es meilenweit hörte. Wie heißt du? Ich heiße Ingeborg Giselher. Wer ist dein Vater? Er haut Bäume um für die Schiffe und meine Mutter ist aus Dänemark. Sie sprach so klug und munter, daß mir das Herz aufging. Bist du vielleicht der Waldgott, sagte sie. Ja. Nun, dann kenne ich dich. Ich habe dich vor drei Tagen gesehen, mit einem Buschen auf dem Kopf und einem großen Prügel in der Hand. — Hi hi hi — — du singst, Ingeborg? Ja, ich werde eine Sängerin, die Mutter hat es gesagt. Dann zeigte sie mir auch einen hohlen Baum, in dem gerade zweitausend Zwerge zu Mittag aßen. Seine Tochter ist krank, sagte sie. Wessen Tochter? Nun, die vom König Waps. Sie liegt da. Wo? Nun in der Spinnenwebe. Sie hat Husten . . . . Ja, was ist uns Ingeborg geworden, meiner Gattin und mir? Hihi — eine Freude für unsere alten Tage, eine Lust, ein Vergnügen — —.“ Er kicherte, nickte, Tränen liefen über seine Wangen.
Immerzu sprach der alte Mann von Ingeborg. Er war etwas schwatzhaft geworden in den letzten Jahren. Aber ich hörte zu, meinetwegen.
„Ja, ja, schläft im Walde, fast jede Nacht. Nun, sie soll ihre Freude gerne haben, unsere Ingeborg.“
Da stieß mich der Teufel ins Genick und ich sagte:
„Vielleicht hat sie einen Geliebten, den sie besucht? Wie?“
Graf Flüggen pfiff durch die Zähne und blinzelte.
„Welch ein Einfall! Nein, nein, eine falsche Vermutung — er ist ja sehr begabt und hübsch, aber es fehlt ihm — ja, er ist kein Mann — er ist leidend, sehr krank, glaube ich. Nun, denken Sie, schon mit zwölf Jahren schleppten sie ihn von Stadt zu Stadt. Nein nein, welch ein Einfall von Ihnen!“
Graf Flüggen lachte.
Auch ich lachte.
„Besuchen Sie mich doch! Keine Zeit? Ich glaube auch unsere Ingeborg wird sich freuen. Sie sagte neulich, weshalb sieht man Fürst Axel so selten?“
Ich würde wohl bald wieder vorsprechen.
„Viele Grüße an Fräulein Ingeborg.“
„Danke, danke. Das wird sie freuen, ja gewiß. Sie hat mir einmal etwas von Ihren Augen gesagt, kann es Ihnen nicht sagen, junger Freund — hihi —
Früher stellte sie sich unter Ihnen so etwas wie einen Ritter Blaubart vor, ganz sicherlich, wie in den Märchen — dann bekam sie Sie zu Gesicht, vorigen Herbst. Papa, sagte sie, nun und dann sagte sie eben das von Ihren Augen. — Adieu, junger Freund. Weidmannsheil!“
R ote Tage! Blaue Nächte! Schön ist das Leben! Die Tage sind ein Rausch, die Nächte ein Märchen. Die Tage sind Singen und Lachen, die Nächte sind Küsse, die Tränen des Glückes aus zuckenden Wimpern trinken. Die Tage sind eine große rote Sonne, die Nächte ein blaues Lichtchen Mondenglanz in einem Auge ohne Grund.
An einem Sonntage kam ein Mann zu mir, der aus Haaren, Harz und Honig war. Ich stand am Fenster und sah ihn die Bergstraße heraufkommen. Ein dicker Stock ging neben dem Manne her. Dieser Stock machte noch größere Schritte als der Mann und war immer um einiges voraus. Der Mann stand still und stieß den Stock in den Boden.
„Ist der Herr zu Hause?“ rief er über die Wiese.
Ja, der Herr sei zu Hause.
Sofort begann der Mann wieder auszuschreiten, er steuerte auf die Türe zu, und Mann und Stock verschwanden im Hause.
Es pochte laut, und ein bärtiger haselnußbrauner Kopf mit leuchtenden wasserblauen Augen erschien in der Türe.
„Guten Tag auch,“ sagte der Mann und trat ein, den Stock in der Hand.
Er sei ein Holzfäller, komme aus dem Walde und heiße Fürchtegott Giselher.
„Willkommen!“ sagte ich und streckte dem Besuche die Hand hin.
„Keine Übereilung, Herr!“ sagte der Mann, der aus dem Walde kam. Er zog sich einen Stuhl näher zur Türe, ließ sich gemächlich nieder, den Hut auf dem Schoße und den dicken Stock über den Knien. Er blickte durch mein Zimmer, das ein Museum auserlesener Gegenstände war, und lächelte geringschätzig.
Er hatte einen Kopf wie ein Apostel, sein Gesicht verschwand nahezu in dem Kranze rußiger, zackiger Haare, zu dem sich Haupt- und Barthaare vereinigten. Die Brauen, die Federn ähnlich waren, hingen halb über seine wasserblauen, treuherzigen Augen. Der Mann hatte große Hände, Äxte waren sie gleichsam, sie waren voller Risse und Sprünge, die Nägel abgeschabt und braun.
„Ja, ich komme aus dem Walde“, sagte der Bärtige und blickte mich an. „Ein weiter Weg hieher, ein weiter Weg. Aber es ist schön durch Gottes Natur zu wandeln, allezeit ist es schön, etwa nicht?“
Es sei schön, durch Gottes Natur zu wandeln, da habe er recht.
Der Mann zog ein großes blaues Schnupftuch aus der Tasche und schnäuzte sich geräuschvoll.
„Das Getreide steht gut, die Kartoffeln sehen gut aus. Ein wenig Regen noch. Nun, der Herr über Mensch und Vieh wird es wohl einrichten.“
Er wickelte das Schnupftuch zusammen, wiegte den Kopf hin und her und lächelte.
Also er sei Ingeborgs Vater. Ingeborg kenne ich doch, wie?
„Gewiß, gewiß!“
„Hm. Der Herr Graf ist ein biederer Mann mit einem Herzen, das Gott gefällt. Er hat Ingeborg zu sich genommen und sie zu einer feinen Dame erzogen — das ist alles schön und recht. Sie hat einen klaren Kopf, Ingeborg, das hat der Herr Graf in der ersten Stunde gemerkt. Wer ist dein Vater? hat der Herr Graf sie gefragt. Er haut Bäume um für die Schiffe und meine Mutter ist aus Dänemark, hat sie ihm geantwortet. Sie gefiel ihm, in Sonderheit ihre Stimme hat ihm recht gefallen — alles schön und recht, es fressen viele Mäuler aus meiner Schüssel. Ein Mensch muß auch etwas wissen in unserer Zeit. Das haben wir nicht im Walde. Alles schön und recht. Ich habe sie nicht gerne hergegeben, aber es war ja viel besser für sie und Eigennutz ist nichts nutz. Nun, nun, nun, ich konnte sie ja auch oft sehen, ich fragte, was mit dem Waldschlag am Weiher sei, ich fragte, was mit der Streu sei, — ich hatte Holz zu fahren — ja, es gab immer dann und wann einen Grund ins Schloß zu kommen, ja, ja, ja, gut.“
„Alles schön und gut“, sagte Fürchtegott Giselher und wiegte den Kopf auf den breiten Schultern hin und her.
„Alles schön und gut, ja ja.“ Fürchtegott Giselher räusperte sich und nahm den dicken Stock in die Hand und schwenkte ihn ein wenig auf und ab.
Er blickte mich an und murmelte etwas in den Bart. Dann blies er durch die Lippen, daß der Schnurrbart flatterte.
„Alles schön und gut, aber zuweilen denke ich, daß es vielleicht besser für Ingeborg gewesen wäre, wenn sie nicht ins Schloß gekommen wäre. Lieber arm bleiben, aber richtig im Herzen, als eine feine Dame werden — nun nun, hm, verstanden?“
„In den Wald, mein Herr, da kommt die Sünde nicht. Hören Sie, Herr, im Walde — ha — dada, was ist im Walde? Was ist im Walde nicht, sage ich. Schweigen, dunkel, grün und ein Specht klopft. So! Ich sitze vor meiner Hütte und es wird Abend. Es gibt keinen Abend in Städten und Schlössern, nur im Walde. Da ist er. Du kannst ihn anfassen, er sitzt neben dir auf der Bank! Es saust im Walde, es duftet im Walde, Harz tropft von den Bäumen. Herr, wie saust der Wald! Ich höre es. Fünfzig Jahre lebe ich im Walde und nun höre ich, wie er saust. Es saust ringsumher. Der Wald spricht! Worte gehen mir durch den Kopf, Worte wie sie in den Büchern stehen. Ich sitze auf der Bank und klopfe mit der Pfeife den Takt. Ich klopfe den Takt mit der Pfeife, ich will die Worte aussprechen — — fort sind sie. Hahaha! Ich bin nur in der Dorfschule gewesen, nur in der Dorfschule — Herr, wo ist der Feiertag so schön wie im Walde? Ich habe ein frisches Hemd an und meine besten Kleider, ich sitze vor der Hütte und horche auf das Rauschen der Bäume. Ah! Hört ihr es? Es säuselt. Die Wipfel verneigen sich. — — Das ist der Herr!! Der Herr geht durch den Wald, und ich höre es. Ich stehe auf, nehme den Hut ab und sage — — Herr?! — Ich höre ihn, höre seine Worte, und ich strecke die Hand aus und spreche zu den Bäumen — zu den — — — ich spreche zu ihnen —“
Der Mann aus dem Walde saß steif und mit ausgestreckter Hand und strahlenden Augen, gerade als ob er zu den Bäumen spräche.
„Es werde Licht! sage ich. Licht! Verstehst du, Sohn des Himmels, was das ist? Licht! Es werde Licht! Ich höre Stimmen, ganz deutlich, ich lausche. Ich höre sie ganz deutlich. — — Ich lausche — — fort sind sie. Das ist der Wald.“
Und Fürchtegott Giselher sprach noch lange über den Wald, er sagte, daß am Sonntag alte Männer und Frauen zu ihm kämen und er ihnen die heilige Schrift auslegte. Woher habe er aber diese Gabe, die heilige Schrift auszulegen? Von Gott und vom Walde! Dann rückte er auf dem Stuhle zurecht und sagte: „Ich bin von Gott geschickt, um dir das zu sagen. Es ist noch Zeit umzukehren. Bei den Büchern und nackten Frauen an den Wänden ist Sünde, im Walde ist Gott. Zwischen dir und mir ein Abgrund, mein Freund!“
Seine Augen funkelten, er zog auf dem Boden einen Strich mit dem Stock. „Hier arm, hier reich, hier Gott, hier Teufel. Jawohl!“ Er schüttelte den Kopf, daß seine Haare flatterten, und fuhr in erregtem Tone fort: „Die reichen Leute sind für die Hölle. Reich und gottlos ist ein Ding. Meine Tochter wurde reich, nun, ich ließ sie nicht von mir und ihrer Mutter, auf daß sie auch gottlos werde! Sie hat arme Eltern, die im Walde wohnen, da kann sie nicht gottlos werden, nein!“
Hier nahm ich das Wort. Das sei sie doch wohl nicht geworden?
„Nicht!?“ Fürchtegott Giselher lachte grimmig.
„Nicht, du Sohn der Sünde? — — Ja, Gott hat seine Posten überall ausgestellt. Ich habe einen Brief bekommen von einem Unbekannten —“
„Gewiß,“ sagte ich, „Ingeborg ist meine Braut.“
„Hahaha! Mein Freund, auch Maren war meine Braut! Braut, was sagst du, hahaha. Freund, sage ich dir, jung und schön war Maren, aus dem fernen Dänenlande, sprach so sonderbar, sang wie ein Vogel. Oft kam der Teufel zu mir und wollte mich verlocken. Niemand sieht es, sagte er, sieh wie es die anderen treiben! Aber — ha, acht Jahre haben wir gewartet! — Braut, das ist etwas ganz anderes!“
Vater Giselher lachte, rückte auf dem Stuhle hin und her und legte beide Hände an den dicken Stock.
Ja, deshalb sei er gekommen, Gott freue sich über jedes wiedergefundene Schäflein. Er wolle wissen — er wolle wissen —
Ich lächelte. „Wir werden uns wohl verständigen können“, sagte ich.
Ich beruhigte ihn, so gut ich konnte. Ich wolle mit Ingeborg sprechen.
Alles was er wünsche solle geschehen.
Vater Giselher nickte mit dem Kopfe.
„Ich sehe mit dir läßt sich reden, mein Sohn, gut!“ Er stellte den Stock in die Ecke.
„Ein schöner Tag!“ sagte er, tief aufatmend. „Kostbare Dinge in diesem Zimmer da!“
Nun könne er mir wohl die Hand geben? „Nun schon!“ Vater Giselher drückte mir die Hand.
Wir verlebten einen schönen Nachmittag und Abend zusammen, Vater Giselher und ich. Vater Giselher wollte nicht bleiben, aber ich verstand es ihm zuzureden. So blieb er bis zum Abend und schließlich bis Mitternacht.
Ich liebte ihn. Wäre er nicht Ingeborgs Vater gewesen, so hätte ich allein schon diese Eiche aus dem Walde lieb gewonnen, aber so war er noch dazu Ingeborgs Vater. Und Ingeborgs Vater hätte ich unter allen Umständen geliebt, er hätte ein zwölffacher Raubmörder sein können, ja sogar ein Taschendieb.
Wir plauderten, aßen und tranken. Vater Giselher lehnte jeden Wein zuerst mit einer schroffen Handbewegung ab, aber als ich ihm sagte, daß sogar Jesus Christus nichts gegen das Weintrinken gehabt habe — habe er nicht auf der Hochzeit zu Kana Wasser in feinsten Wein verwandelt? — ließ er sich bewegen. Er trank den stärksten Wein wie Wasser und ich hatte meine Freude an ihm.
Er sprach, sprach von Ingeborg und wie sehr er sie liebe, mit feuchten Augen sprach er. Er sprach von der Welt und wie schlecht sie geworden sei. Er spie voller Verachtung auf den Boden.
„Nun, du mußt wissen, daß ich ein Blatt lese, der Weinstock und die Reben heißt es, der Pfarrer von Heiligenbrunn schickt es mir immer zu, da steht es drinnen, wie schlecht und gottlos die Welt geworden ist. Eieiei — eiei! — Sollte man es für möglich halten? Ein unglaublich verrückter Mann hat behauptet, daß Gott gestorben ist! Gott ist gestorben — wie — aber dieser Narr lebt noch! Er hat es gesehen, daß Gott gestorben ist, er hat ihm die Augen zugedrückt, natürlich! hahaha! Und dabei steht doch schon in der Bibel: ewig, ewig, ewig ist der Herr Zebaoth! Dada! —“
Zum Beispiel sei wiederum so ein falscher eitler Schriftgelehrter und Pharisäer aufgestanden und habe behauptet, jenes Wunder auf der Hochzeit von Kana sei erfunden. Haha! Aber ein Mensch, der Tote auferwecken könne, könne doch auch Wasser in Wein verwandeln? Jedes Kind begreife das!
Wie klug diese Pharisäer doch seien! „Der Herr aber ist allmächtig, er kann meinen Stock in ein Huhn, uns zwei in Gerstenkörner verwandeln, und das Huhn frißt die Gerstenkörner auf. Niemand wird glauben, daß der Stock uns gefressen hat, und doch ist es so. Ja, bei ihm ist kein Ding unmöglich!“
Vater Giselher sprach und sprach, aß und trank. Immer wieder sprach er vom Walde und daß Worte durch seinen Kopf klängen, sodaß er sie fast greifen und festhalten könne. Allmählich nannte er eine Menge von Namen, die mir natürlich fremd waren, er fragte dies und jenes, fragte mich auch, ob ich glaube, daß Peter von der Gaschmühle das Mehl gestohlen habe, oder nicht.
Nein, ich glaube es nicht.
Auch Vater Giselher glaubte es nicht. Nein, nie und nimmermehr, denn er hätte doch Peters Vater gekannt, den ein Baum erschlagen habe in jener Sturmnacht vom 3. November 1867. Ob ich je wieder einen solchen Sturm erlebt hätte?
„Haha! Was für ein Wetter, eiei!“
Vater Giselher ahmte das Brüllen des Sturmes nach, das Krachen der Bäume, das Pfeifen der Zweige, das Schwanken der Tannen. Die Zweige der Bäume stellte er durch die ausgespreizten Finger dar, er ließ sie auf und abschwanken und stieß einige Gläser dabei um.
„Was aber nun das Sonderbare ist, dieser Peter hat das Mehl doch gestohlen, Tatsache! Er hat es selbst eingestanden, zwei Monate hat er bekommen!“
Plötzlich hob Vater Giselher den Finger in die Höhe. Der Wald sauste.
Ein Lächeln verklärte sein bärtiges braunes Gesicht und er bewegte die Lippen und klopfte mit der Pfeife den Takt auf dem Tische.
„Jaja, es leben viele Wunder im Walde“, sagte er dann vor sich hin. „Niemand weiß, weshalb die Eiche knorrig sein muß und die Tanne schlank, weshalb das Rotkehlchen eine rote Kehle hat, niemand weiß das. Warum sind die Leute im Walde gottesfürchtig und gottlos die in den Städten? Antwort? haha!“
Um Mitternacht brach Vater Giselher auf. Ich bot ihm den Wagen an, ich wollte ihn selbst nach Hause fahren.
Nein nein!
„Wenn mir Gott Füße gemacht hat, weshalb soll ich denn fahren? Das ist wider den Sinn. — Nun also, wie es ausgemacht ist: vor Gott und dem Gesetze.“
„Ich werde mit Ingeborg sprechen.“
Vater Giselher ging mit großen Schritten den Berg hinunter und schwang den Stock, daß Funken aus der Straße fuhren. Dann begann er mit lauter Stimme einen Choral anzustimmen. Der Wald hallte. — — —
Am andern Tage traf ich mit Ingeborg im Walde zusammen und ich sprach mit ihr. Mein Herz zitterte, wollte sie doch ja sagen!
Ingeborg senkte den Kopf und blickte auf den Weg.
Daran habe sie nicht gedacht, nein.
Sie zuckte zusammen. „Ja, wer hat ihm denn den Brief geschrieben?“
Unsere Blicke begegneten sich.
Ingeborg erblaßte. — „O,“ rief sie aus und schlug die Hände vor das Gesicht, „welch ehrlose Menschen es doch gibt, pfui, pfui!“
„Sein Unglück hat ihm den Verstand verwirrt,“ sagte ich. „Er wäre gewiß nie einer solchen Schlechtigkeit fähig gewesen. Denke daran, wie tief du ihn getroffen hast.“
„O, wie schlecht, wie schlecht!“
„Die Verzweiflung macht sinnlos, Ingeborg. Schlecht ist er erst geworden.“
Ingeborg sah mich an und ihre Augen strahlten. „Du, du, du bist gut, Axel! Er ist dein Rivale und doch verteidigst du ihn. Du bist gerecht. — Ja, Axel denke nicht, daß ich dich nicht liebe, weil ich nicht gleich ja sagte. Ich wollte deine Geliebte sein, deine wilde Geliebte, die aus dem Walde kommt. So schön war es. —“
„Du kannst es ja bleiben, trotzdem.“
„Du sollst mich immer als deine Geliebte betrachten, Axel. Als nichts anderes!“
„Ja, Ingeborg.“
S ommer! Unser Sommer. Wir wohnen hoch oben über dem Tale, wie Vögel in ihrem Horste. Wir fühlen uns stolz und frei, etwas vom Stolze und dem königlichen Gefühle der Adler ist in uns gekommen. Tief unten das kleine Tal, Berge, Berge, Wälder, Wälder, soweit wir blicken können. Viele Stunden weit reicht unser Blick, bis zu den fernen hellblauen Höhenzügen, die den weiten Himmel tragen. All das was wir sehen ist für uns zu einem Gesichte geworden, in dem wir lesen, lächeln kann das Gesicht, schmunzeln, es kann hilflos aussehen, es kann vor Zorn und verhaltener Wut beben, todtraurig kann es sein, gleichgültig. Es kann ein Zittern der Rührung über dieses Gesicht rieseln, wenn die feurigen Boten der Sonne am Morgen über den Himmel schweben, das Gesicht kann voller Sehnsucht der scheidenden Sonne nachblicken, verzweifeln, wenn die Sonne gesunken ist, sterben.
Der Mond kommt und kitzelt es, es lächelt, es kichert.
Wie schwebte der Mond in diesem Sommer empor! So frei und stolz und königlich still. Erstaunt sah er zuweilen aus, zuweilen lächelnd wie ein Verschwender, glänzend, als käme er aus dem Bade. Es ging ihm gut. Er blendete wie ein Spiegel aus Silber, in den die Sonne fällt. Alle Sterne waren am Platze, funkelten, er lächelte überlegen.
Die Lerche sang und trillerte in diesen weißen Nächten.
Die Sonne schüttete brennenden Wein auf die Erde, jeden Tag. Es regnete Sonne, in hellen dampfenden Bächen floß sie die vielen Wege und Pfade ins Tal hinab. Ein Dampf von Sonne lag über den Wäldern, ein roter Dampf, in dem lauter kleine Sonnen zitterten. Man mußte die Augen scharf machen und das Licht mit der Hand abblenden, wollte man durch diesen Sonnennebel hindurchspähen. Dann sah man tief unter den schlummernden Wäldern etwas Blitzendes, eine Schlange aus Quecksilber, das war der Fluß. Etwas blitzte, es zappelte, regte sich, das waren Leute, die auf den Feldern arbeiteten.
Es summte, brummte. „Horch!“ sagte Ingeborg. Ja, ich hörte es, es war als ob irgendwo in großer Entfernung eine Dreschmaschine surre. Das war der Sommer.
Der Frühling klingt, der Sommer surrt, der Herbst klagt und murmelt, der Winter schweigt.
Die Wälder schliefen, sie lächelten im heißen Schlafe, heitere Träume hatten sie, der Boden war heiß, als würde Brot auf ihm gebacken. Traten wir plötzlich auf eine Lichtung, so stand das Licht vor uns wie eine Mauer, wir prallten zurück. Die Luft zitterte und farbige Feuerchen tanzten über den Gräsern.
Die Erdbeeren wurden rot, das Korn golden und die Menschen braun. Der Schweiß stand auf ihren Stirnen, in den schweißigen Augen kochte die Sonne. Langsam stiegen die Bauern die Bergstraße herauf und sie blieben oft stehen und fuhren sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Die Bergstraße war schneeweiß, mit hohem Staube bedeckt, und es ging sich auf ihr wie auf Samt. Die Spuren vieler nackter Sohlen hatten sich in ihr abgeprägt, ganz deutlich wie in Mehl.
Das Haus funkelte golden hinter den Kastanien hervor, in seinen Fenstern brannten helle Feuer. Die Wiese stand hoch und unaufhörlich wimmelte sie von Faltern in allen Farben. Ging man durch sie hindurch, so flatterten sie ringsum in die Höhe und es war als verfolgten sie einen. Prächtige Trauermäntel saßen häufig auf der heißen Treppe und sonnten sich.
Im Hause war es heiß und die blendendweißen Korridore mit den vielen Türen waren die einzig kühlen Orte des Hauses. In den Zimmern war es meistens dunkel, da die Läden geschlossen werden mußten. Steckte man einen Finger durch den Fensterladen, so konnte man fühlen, wie die Sonne ihn röstete.
Am schönsten war es im Parke. Der Park war verwildert, alt, einem Urwalde nicht unähnlich mit den dicken bemoosten Bäumen, die von allerlei Schlinggewächsen umsponnen waren. An vielen Stellen vermochte die Sonne nicht durchzudringen, sie stach mit scharfen Nadeln durch das Laub, aber sie hatte nicht die Macht, diese Dunkelheit zu zerstören. Hier war es kühl und feucht, moderig. Alle Wege des Parkes waren verwachsen und man mußte sich mit den Ellbogen Bahn schaffen. Es gab nur einen langen Hauptweg, der zum Schlosse führte. Wie ein Bach floß die Sonne im Zickzack in seiner Mitte. Hier befand sich ein Brunnen, ein rundes Becken, in dem eine dicke kurze Säule Wassers sprudelte. Diesen singenden murmelnden Brunnen, über dem immer Kühle schwebte, liebte Ingeborg ganz besonders. Sie konnte stundenlang auf seinem Rande sitzen und die Hände in das kühle grüne Wasser tauchen und das goldene Netz betrachten, das auf dem Grunde des Beckens zitterte. Es entstand durch die Brechung des Lichtes mit den kleinen Wellen, die ohne Aufhören zum Rande des Beckens eilten, und schien nach Ingeborgs Händen zu haschen.
Da saß sie und träumte, dann wandte sie sich plötzlich nach mir um und lächelte fein und voll unsäglicher Liebe. Ihr Lächeln glänzte zuerst in den Augen, dann glitt es über die Lippen. Die Lippen öffneten sich und ihre Zähne lächelten, ihre Wangen überzog ein besonders gütiges, beinahe kindliches Lächeln.
Dann sprach Ingeborg mit verträumter, weicher Stimme: „Höre wie der Brunnen rauscht!“
Sie deutete mit der Hand die Allee hinunter. Etwas Weißes schimmerte dort im Sonnenlichte, die Treppe, die ins Haus führte. Und sie sprach: „Dort wohnen wir!“ Wie im Traume sagte sie es.
Und ich ging näher, legte die Hand auf ihre Schulter, so leicht es ging und sagte: „Ich liebe dich, Ingeborg.“ So leise es ging.
Ingeborg erwiderte nichts darauf, sie lächelte zu mir empor, nahm meine Hand und legte sie an ihre Brust.
Fühlst du? fragte ihr Lächeln.
Und mein Lächeln antwortete ihr, daß ich es wohl fühlte.
Hörst du, was mein Herz sagt? fragte ihr Lächeln.
Und mein Lächeln antwortete ihr, daß ich wohl hörte, was ihr gütiges, herrliches Herz sagte.
Ingeborg, Ingeborg, wie soll ich doch dein Herz nennen? — —
Ingeborg wohnt in den weißen Zimmern des Schlosses, die gegen Sonnenaufgang gehen. Ich höre sie singen, hell und rein ist ihre Stimme und kräftig, die Wände klingen, und der Wald hallt wie von geschwungenen Glocken, wenn sie drinnen im Walde singt.
Ich sehe auf meine Türe. Da steht: Gehst du, Ingeborg? Und außen an der Türe da steht: Willkommen Ingeborg!
Ich schlafe ein, fünf Minuten schlummere ich, ich erwache, ein großer Brief mit fünf roten Siegeln ist angekommen, oder ein Paket mit Blumen und einigen hübschen Kieselsteinen.
Briefe schwirren hin und her, obschon wir fast stündlich beisammen sind. Aber immer gibt es noch etwas zu sagen, man hat es vergessen, man kann es nicht aussprechen. Es kommt ein Buch mit einer angestrichenen Stelle, oder auch nur ein weißes Blatt Papier, ganz leer, nichts steht darauf, aber näher zugesehen findet man eine kleine matte Stelle.
Ingeborg geht in den Wald, um Blumen zu pflücken, ich sage: eigentlich habe ich nichts zu tun, Ingeborg, ich gehe mit.
Ich gehe um den kleinen See herum, der mitten im Parke liegt. Da kommt Ingeborg daher.
Wohin gehst du, Axel?
Ich gehe um den See herum!
Ich habe ganz den gleichen Weg!
Ich lese aber dieses Buch.
Ich lese ganz das gleiche Buch!
Ich erwache des Morgens, ein Mund küßt mich, Ingeborg steht vor mir zerzaust und naß vom Tau, Blumen in der Hand.
Wo warst du?
Ich schlief im Walde, o herrlich war es. Ich habe oben im Bach gebadet!
Viele Nächte schläft Ingeborg im Walde, oft bekomme ich sie Tag und Nacht nicht zu sehen. Ich sitze und tue nichts, ich warte auf sie. Mein Herz klingt und singt. Mein Sinn wird dunkel — ich fühle, daß sie nun kommt. Da kommt sie aus dem Walde. Pazzo begleitet sie. Er ist von mir zu ihr übergegangen.
Danderadei — danderadei — singt sie und schwingt den Strauß in der Hand. Es klingt wie Fanfaren.
Meine Hände beben, meine Füße zittern, ich gehe ihr entgegen, mit feuchten Augen gehe ich ihr entgegen und ich gehe langsam, weil meine Knie zittern. Außerdem würde ich ja springen, sausen. O, du Herrliche! denke ich, ich flüstere es.
„Ich fand etwas im Walde!“ ruft Ingeborg. „Sieben Zettelchen. Du hast sie geschrieben, Axel! Erst fand ich eines. Ich lese: Ingeborg. Axels Hand, denke ich. Ich suche und finde ihrer sieben. Vergilbt sind sie, aber doch kann ich sie noch lesen. Wann schriebst du sie?“
„Ich schrieb sie einige Tage, nachdem du auf der Höhe mit mir gesprochen hattest, Ingeborg! Ich schrieb viele, viele und streute sie in den Wind.“
„Axel, Axel!“
Ich lasse die Pfeife in das Gras fallen, um unauffällig niederknien zu können vor ihr.
Oft fassen wir uns an den Händen und laufen über die Wiese — durch den Wald und schreien und lachen. Huriho! Hurihohoho!
Groß und weit ist meine Seele geworden. Ein ganzer Weltenraum ist meine Seele nun, voll wiegenden Lichtes. Meine Seele zieht ihre Kreise immer weiter. Ich entdecke mich. Ich staune, staune über mich selbst, bin verwundert über mich selbst. Ich sitze und sehe in mich hinein, blühendes Chaos, wiegende Wunder, Licht und Purpur und sanfte Musik. Ich breite die Arme aus und sehe in den Himmel hinein, nie sah ich tiefer in die Unendlichkeit des Blaus.
Ich breite die Arme aus . . . Da du so schön bist, du großer Gott, wie gütig mußt du sein!
Ich höre mein Blut klingen, es ist rot, funkelt, hat Feuer angezündet, es lacht durch meinen Kopf, es klingt gegen meine Hirnschale, Licht fährt aus meinen Augen.
Ich fühle wie mein Herz das Blut in die Adern schleudert, es rauscht, eine sprudelnde Quelle von Blut bin ich.
Ich fühle das Leben um mich her. Das Leben in einem Halme, einem Blatte, die Säfte pochen, der Halm erschauert, eine Blume schwankt, zuckt vor Wollust zusammen, sie gibt sich hin.
Ingeborg hat den Finger an mein Herz gelegt, da begann es zu schlagen, und nun schlägt es, schlägt es!
Es sind erstickte Schreie der Wonne in mir, mein Blut schreit und ich zucke zusammen — ja — — —
Es gab Stunden, da flocht Gott unsere Seelen zusammen zu einem Wesen. Ein Lächeln entdeckte uns alles was in des andern Brust vorging, wir fühlten es, die Worte brauchten wir nicht. Ich empfand Ingeborgs Stimme als meine Stimme, und Ingeborgs Atemzug war mein Atemzug. Dann brach in meinem Kopfe ein zweites Auge auf, ein schärferes, und dieses Auge blickte hinein in eine zweite Welt, deren Ahnung mich erschütterte.
Wir saßen im dunkeln Zimmer und sahen zu, wie sich eine Blume öffnete. Es war eine weiße Lilie. Sie schälte sich aus ihren Häuten, sie sprengte langsam die Knospe, die Blätter sanken herab, müde befriedigt, voller Lächeln, voller Weinen und Hoffen.
Es dauerte Stunden, bis die Lilie sich entfaltet hatte. Wir erlebten sie. Es war als steige Gott mit dem Dufte aus dem Kelche, als jubele es ringsum, als habe diese kleine Blume eine Erschütterung, eine Veränderung der Welt hervorgerufen. Die Welt hatte einen Schritt vorwärts gemacht und wir fühlten ihn. Keine Blume konnte aufgehen, kein Vogel aus dem Ei schlüpfen, ohne daß alles was lebte, es fühlte, es miterlebte.
Oft eilt ein leises Lachen durch mein Blut, in Stunden, da ich traurig bin, ich weiß wohl woher es kommt, dieses leise Lachen.
Zuweilen erzählte Ingeborg.
„Hoho!“ lachte sie, „das war noch schön!“ Dann lachte sie noch eine Weile für sich und dann begann sie. Sie erzählte immer vom Walde. „. . . . . da stand eine alte, alte Tanne, an der das Moos nur so herunterhing wie graue Bärte. Ich sah sie oft lange an. Einmal nun, da klopfte ich an die Tanne — warum? — das weiß ich nicht mehr. Was meinst du? die alte Tanne sprach! Gott, Axel, ich habe, habe es gehört. Sie sprach mit einer tiefen, tiefen Stimme, wie ein Faß: Willst du Zapfen haben? Dann schüttelte sie sich und es kamen viele, viele Zapfen herunter.“ Tausend solcher Geschichten erzählte sie.
„. . . Da schickten sie mich in die Stadt, weil ich etwas lernen sollte. Ich träumte immer vom Walde. Einmal da träumte ich von einer großen Lichtung, die von Erdbeeren ganz übersät war. Ja, nie habe ich soviele Erdbeeren gesehen. Ich bückte mich, sie fielen herunter, alle, alle, alle, es sah rot im Grase aus, es klebte . . . In der Stadt hielt ich es ein Jahr aus. Dann kam ich zurück. Höre Axel, wie erschrak ich! Der Wald kannte mich nicht mehr. Er zürnte mir, o, wie sah er mich an! Ich weinte. Dann kam ich auf eine famose Idee. Sie schmückten mich in dieser Zeit so. Ich nahm die Kette aus den Haaren, zog mein ältestes Kleid an, zog die Schuhe und Strümpfe aus, brachte mein Haar in Unordnung, und nun lief ich in den Wald hinein und schrie wie toll. Solltest du gesehen haben, Axel, Axel, hoho! Ja, er kannte mich wieder . . .“
„Einmal wieder, da kam ein Mann durch den Wald, ich habe vergessen, wie er aussah, er lächelte und hatte helle Augen. Ich ging mit ihm ein gutes Stück Weges. Er küßte mich auf die Stirne. Ich dachte, ich sei mit Jesus Christus gegangen, und später als ich erfuhr, daß Jesus Christus vor langer Zeit gelebt hatte, trauerte ich. Aber einige Jahre darauf glaubte ich doch wieder, daß mir Jesus Christus begegnet sei und es wurde so licht in meiner Seele —“
„Und jetzt?“
„Frage nicht, Guter!“ Sie brach in Weinen aus und bettete den Kopf an meine Brust.
Nach einer Weile, da sie sich ausgeweint hatte, flüsterte sie: „Du bist der Mann im Walde gewesen, du! Ich erkannte dich wieder, als ich dich zuerst sah. Gehe hin, rede, hilf ihnen, den armen Menschen!“
I ch erzähle von meinem Glücke, es ist schön, für mich ist es schön. Nun, seid gütig, laßt mich fortfahren. Ich könnte ja immerzu — tausend Nächte . . .
Wüßtet ihr, wie schön es ist an diese Dinge zu denken! Es lacht in mir, es jubelt in mir, zuweilen laufe ich im Kreise herum, ich weine vor Freude. Oft ist die Freude der Erinnerung größer als der Schmerz, daß all das vergangen ist, und das ist es, weshalb ich erzähle. —
Dies sind die Tage der hohen Feste. Ihr Glanz ist noch um mich und verklärt mir einsame Stunden.
Alles wird Religion, Religion wird alles.
Die Worte ändern den Sinn, die alltäglichsten Worte sind zu Rätseln geworden.
Wir speisen zu Mittag und sprechen alltägliche Worte.
„Das Brot, Lieber!“
„Ja, das Brot, danke. Liebste.“
Was für Worte sind das? Es sind alltägliche Worte, ja, aber es sind verkappte, rätselhafte Worte. Sie heißen: ich liebe dich, Lieber. Sie heißen: ich liebe dich, Liebste.
Aber wiederum, was sind das für Worte? Es sind verkappte, rätselhafte Worte. Sie heißen: Welt, Leben, Tod. Sie heißen: Gott, Ewigkeit, Erlösung. Aber wiederum, was sind das für Worte? Verkappte, tiefe, tiefe Worte. Sie heißen, wer nennt sie?
„Du nimmst Wein, Liebste?“
„Ja, danke.“
„Roten, weißen?“
„Ja, roten, weißen?“
Du nimmst Gift? Ja, ich nehme Gift. Du nimmst ein Glas Tod? Ja, ich nehme ein Glas Tod.
Alle Worte ändern den Sinn.
Wir gehen durch den Wald. Ein Wunder ist der Wald, ein Wunder rauscht durch den Wald. Wir gehen durch die Felder, die Wiesen, ein Wunder sind die Ähren, ein Wunder die kleinste Blume. Alles wird zum Wunder.
„Wir wollen sehen wie die Sonne untergeht, Axel.“
Die Sonne sinkt hinter die Berge.
„O, o!“ Ingeborg preßt die Hände auf die Brust, ihre Augen schimmern.
Es durchschauert mich.
„Axel, der Mond kommt herauf!“
„O, o! Sieh ein kleiner Stern begleitet ihn! Ein großer goldner Stern funkelt dort über den Tannen!“ Sie hat Tränen der Verzückung in den Augen.
Ein Wunder Stern und Mensch — — — —
Ob die Tage schöner sind als die Nächte, ob die Nächte schöner sind als die Tage, wer vermöchte das zu sagen?
Niemand!
Einigemal in der Woche kommt Graf Flüggen angefahren. Er breitet die Arme aus, sieht er Ingeborg, er winkt mit dem Taschentuch, rollt der Wagen in den Wald zurück.
„Du hast mir alles genommen, Axel!“ sagt er zu mir, er zürnt mir im Geheimen. Er geht gebückter, er wird nun plötzlich wirklich alt.
Der Sinn schwindelt mir, denke ich an mein Glück.
Wiederum schrieb ich an Freund Bluthaupt. Komme, komme, schrieb ich. Ich bin glücklich, alles jauchzt in mir. Komme, ich bin verändert, verzaubert und verhext, komme, du wirst deine größte Überraschung erleben — — —
Eines Nachmittags kam Harry Usedom mit einem zerbrochenen Wagen vor mein Haus.
Ich saß auf der Treppe, ließ mich von der Sonne braten, ich wartete auch auf Ingeborg, die im Walde war.
„Ich habe ein kleines Unglück gehabt!“ sagte Harry Usedom.
Die Deichsel des Wagens war zerbrochen. Der Wagen umgestürzt.
„Haben Sie sich verletzt?“ fragte ich ihn. Er war über und über mit Staub bedeckt.
„Nein,“ sagte er und lächelte. „Ich fiel nur auf die Straße. Es ging gut ab.“
Ich bat ihn einzutreten, bis die Knechte den Schaden ausgebessert hätten.
Wir saßen in meinem Zimmer und plauderten.
„Sie haben herrliche Gegenstände hier,“ sagte er und betrachtete alles mit kindlicher Freude. Er sah immer noch bleich aus, aber er ging aufrecht und sprach frei und heiter. Sein Blick fiel auf die Türe, wo die Worte standen: Du gehst Ingeborg? er zuckte zusammen, starrte die Worte an, wurde rot. Dann sammelte er sich wieder und sprach über die Gegenstände, die in meinem Zimmer standen.
Er sprach über jeden einzeln, ließ sich seine Geschichte erzählen, lächelte, hörte aufmerksam zu, aber seine Gedanken wanderten. Der Wagen war ausgebessert.
Harry Usedom ging nicht.
Er sprach weiter über Vasen und Schalen, dazwischen ging er an den Flügel und schlug einige Akkorde an. Er sprach, lachte leise und dazwischen horchte er. Ob ich eine Geige habe? Ich brachte sie ihm und er griff hastig danach und spielte. Er ging langsam hin und her, während er spielte. Er riß in den Saiten, er sang. Seine Augen leuchteten, sie wurden trüb, sein Gesicht spielte mit. Ich verstand wohl was er spielte.
Mitten in seinem Spiele trat Ingeborg ins Zimmer.
Ihr Gesicht glühte, ihre Augen schimmerten licht und blau. Pazzo kam mit ihr herein. Er bellte und knurrte und wollte auf Usedom losfahren.
Usedom hörte augenblicklich auf zu spielen. Er legte die Geige auf einen Stuhl. Dann nahm er sie vom Stuhle und legte sie auf den Flügel. Seine Hand zitterte, so daß die Geige klapperte, während er sie auf den Flügel legte.
„Du hier?“ sagte Ingeborg und streckte ihm die Hand hin.
„Wie geht es?“
„Danke!“ sagte er und es zuckte um seinen Mund. „Ich habe einen kleinen Unfall gehabt mit dem Wagen. Die Deichsel ist gebrochen. Ich verhielt mich etwas hier, wir plauderten — ich bin noch bestaubt — verzeihe — dann spielte ich ein wenig Geige — es war so traulich hier, ich bin immer allein —“ Er stockte, verneigte sich leicht. Er blickte Pazzo an, mit gütigen Augen blickte er ihn an. Er streichelte ihn.
„Bleibe doch, Harry. Spiele weiter.“
„Danke,“ sagte er, „du bist so gütig, so gütig Ingeborg. Ich danke dir von ganzem Herzen — ich will spielen, wenn du es wünschest — sehr gerne —“ Er griff nach der Geige, nahm sie aber nicht.
„Nein,“ fuhr er fort und schüttelte den Kopf, „ich kann nicht spielen, ich kann jetzt nicht spielen — ich erlebe so viel, was ist das für ein Augenblick! Du bist gut — alles stürzt über mich.“ Er schloß die Augen, seine Wimpern wurden feucht.
„Harry!“ sagte Ingeborg gütig zu ihm und berührte seinen Arm.
Da nahm er ihre Hand von seinem Arme, und er stürzte in die Knie.
„— — — nur einen Augenblick — einen Augenblick. Ingeborg —“
Ingeborgs Augen füllten sich mit Tränen, sie lächelte.
„— — — nur einen Augenblick — einen Augenblick, Ingeborg —“
Schluchzen erstickte seine Stimme.
Er stand auf und lächelte, das Gesicht naß von Weinen.
„Verzeihung!“ sagte er, er lächelte wie ein glücklicher Knabe und ging. — — —
„Horch!“ sagte Ingeborg.
Unsere Blicke begegneten sich. Im Walde sang eine Geige. Die Geige jubelte und klang. Es war ganz still und die Geige klang so deutlich zu uns herein, als sänge sie dicht unter dem Fenster. Nie in meinem Leben hörte ich solch ein wunderbares Lied. Das weinende Glück war es.
Ingeborg saß regungslos und blickte mit großen Augen vor sich hin. Dann begann sie zu weinen, sie weinte unaufhörlich in ihre Hände, und das Weinen erschütterte ihren ganzen Körper. Ihre Schultern zuckten.
Das Lied der Geige entfernte sich, es erstarb in der großen Stille.
„Verzeihe, daß ich weinte,“ sagte Ingeborg.
Verzeihe, daß ich weinte, sagte sie!
In drei Nächten erklang die Geige im stillen Walde.
Dann hörten wir sie nicht mehr. Einige Tage darauf kam aus dem fernen Süden eine Karte, sie war an uns beide adressiert. Dank! stand darauf. Sonst nichts.
E ines Tags traf Karl Bluthaupt, der Dichter, ein. Das heißt, er kam mitten in der Nacht, hatte alle Züge versäumt, mit vielem Hallo und Lärm weckte er uns aus dem Schlafe.
Nun lebte er oben in den Giebelzimmern des Schlosses und arbeitete Tag und Nacht. Zuweilen kam er zu uns herunter, er lachte, strahlte, berauscht von seinem Werke, dann und wann sah ich ihn im Hofe stehen und mit einer zierlichen hübschen Magd eine Unterhaltung führen. Dieses Gespräch war weithin hörbar und der Wald gab Echo, lachte er. Wiederum konnte er uns begegnen, eine Falte in der Stirne, zerstreut, er grübelte über seinem Werke.
Er war groß, um einiges größer noch als ich, breitschulterig, knochig, er nahm große Schritte beim Gehen. Seine Haare waren dunkelrot, wie Kupfer, wirr, er hatte eine Habichtsnase, dunkelblaue Augen und einen immer offenen, immer lächelnden Mund. Er sah aus wie ein Sänger vergangener Zeiten, der am Tage hinter dem Pfluge einherschreitet und des Abends in der Halle vor den Frauen singt. Sein Wesen war schwer zu erkennen, viele Widersprüche waren in seinem Wesen, er war sehr stolz und doch schüchtern, seine Forderungen waren hart, grausam und doch war er weichherzig, er konnte wie ein Kind sein, tanzen, lachen, es gab Stunden, da war er düster, ernst, es zuckte in seinen Augen, seine Züge fielen ein, er redete sonderbare tiefe Worte, der Geist kam über ihn, er sprach mit sich selbst, mit einem Unsichtbaren. Dann ging er in sein Zimmer und arbeitete. Er konnte von der Arbeit kommen, müde, glücklich bis zur Ergriffenheit, dann sprach er mit feuchter weicher Stimme.
Er war geistig und körperlich mutig bis zur Verwegenheit, immer gut, immer edel, er verlangte nichts von den Menschen, nie, nein. Und gab ihnen immerzu, alles!
Ich liebte ihn. Stundenlang könnte ich von ihm sprechen, wenn einer es anhören möchte.
Ja, er kam mitten in der Nacht, durchnäßt bis auf die Haut, es regnete diese ganze Nacht.
„Hallo!“ rief es.
Ich schnellte in die Höhe, das Blut schoß mir in den Kopf, das war er, dort stand er. Drei Jahre hindurch hatte ich auf ihn gewartet. Ich erkannte seine Gestalt wieder, ich hatte sie ja nicht vergessen gehabt, aber ich erkannte sie wieder. Ich erkannte seine Hand wieder, den Druck seiner Hand erkannte ich wieder. Sie war schmal und knochig, wie ein Skelett fast, Freund Bluthaupts Hand.
„Dir geht es ja gut, verdammt gut!“
Ich erkannte seine Stimme wieder. Wie ich sie liebte, diese kräftige, etwas bäuerische Stimme!
Natürlich ging es auch ihm gut. Immer ging es ihm gut, er konnte am Verhungern sein, er konnte mitten in der Verzweiflung leben; es geht mir gut.
Ich ging rasch zu Ingeborg. „Karl ist da,“ sagte ich zu ihr, lachte und ging sofort wieder hinaus.
Ich ging rasch den Korridor zurück, der Regen trommelte gegen die Scheiben, es war ein wohliges Gefühl, ich fühlte alle Tropfen auf meinem Leibe.
Dann kam Ingeborg. In ganz unglaublich kurzer Zeit hatte sie sich angekleidet. Sie trug ihr schönstes Kleid, es war ganz weiß und schmiegte sich um ihren Körper, sie hatte die Schuhe aus Wieselpelz an, die ich für sie ersonnen hatte, eine Rose trug sie an der Brust und eine in der Hand. Die gab sie Bluthaupt. Ihre Augen waren feucht, sie sprach nichts.
Haha, ja, er war überrascht, ich muß es sagen. Er wurde rot und dann blaß, da sah er sehr schön aus.
Ingeborg bot ihm die Rose, wie ein Kind einem Landesherrn eine Rose überreicht, sie neigte den Kopf dabei zurück, ganz gebogen stand sie da.
Er nahm die Rose, gab ihr die Hand, stotterte etwas.
Er habe keine Ahnung gehabt — nicht die leiseste Ahnung — er bitte um Entschuldigung, aber alle Züge seien früher abgefahren, als man annehmen konnte.
Ich amüsierte mich sehr in dieser Nacht, ich war so glücklich, daß ich mich herzlich amüsieren konnte. Ingeborg blickte Bluthaupt an, seinen Mund, seine Stirne, seine Hände, sie lauschte, wenn er die Lippen öffnete. Er sprach solch einfache Worte.
Sie hatte noch keinen Dichter gesehen und gehört. Sie dachte, die Dichter trügen Rosen in den Haaren und sprächen in Versen. Ich stelle mir die Dichter vor wie etwas Wehendes, etwas Goldenes, so sagte sie einmal.
Wir hatten Bluthaupts Bücher gelesen, zusammen, Kopf an Kopf. Ingeborg sagte: er kennt mich und deutete auf ihr Herz. Wie er die Menschen doch kennt! — Bald wird er kommen, Ingeborg. — Ja, was sage ich zu ihm?
Und nun saß er vor ihr, sie konnte ihn nicht verstehen, sie konnte durch keines seiner Worte, keine seiner Mienen eindringen in ihn, sie grübelte, sie war enttäuscht.
„O,“ sagte sie mir am andern Tage, mit besonders rundem Mäulchen sagte sie dieses O. „O!“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, was kümmern mich diese armen Droschkenpferde, von denen er so viel sprach? Ich bin nun froh keine Droschkenpferde mehr zu sehen! Dann fährt er mit dem Finger in die Luft hinein und lacht. Diese elenden Droschkenpferde! Haha, das ist der Dichter Karl Bluthaupt!“
„Und sieh, Axel, darauf wußte er mir nicht zu antworten, als ich ihn fragte, wie die Frauen seien. Ich wollte nun gerade seine Ansicht wissen. — Er wich aus. Das kann niemand wissen. Man kennt sie nicht, man kennt nur Beispiele. Ich traf ein armes Mädchen, sie ging mit mir. Am Morgen verließ sie mich und eine Stunde später war sie wieder da, sie hatte mir eine Kravatte angefertigt. So sind sie. Und wieder, eine Frau kann heute zu einem Mann sagen, du bist ein Heiliger, du kannst Wunder tun, am andern Tage, du bist ein kleiner erbärmlicher Mensch. Sie sind rührend, wenn sie lieben, interessant, wenn sie hassen. Man kann wirklich nichts bestimmtes über sie sagen.“
Einige Tage später kam sie zu mir, nahm mich am Arm und sagte: „Du Axel, nun habe ich es gesehen!“
„Was hast du gesehen?“
„Daß er ein Dichter ist. In seinen Augen sah ich ein Licht, einen Glanz. Woran er wohl dachte? Seitdem sehe ich das Licht immer wieder. Ich glaube es ist das Bewußtsein der Unsterblichkeit, dieses Licht?“
Einige Tage später, da sagte sie: „Komme, Axel, komme. Es ist etwas ganz Merkwürdiges geschehen. — Höre, es ist sonderbar. Der Knecht, den sie den Mönch nennen, ging an uns vorüber. Bluthaupt betrachtete ihn so sonderbar. Ich lachte. Er trägt Sommer und Winter diesen dicken Mantel und diesen großen Hut, sagte ich. Das ist es nicht, antwortete er, dieser Mensch ist ein Verbrecher. Der Mönch! hörst du, Axel? Ja, er hat ein Verbrechen begangen, einen Mord, aber es ist schon lange Jahre her. Woher er das wisse? Er hat das Gesicht des Opfers in dem seinen, er hat zwei Gesichter, ich sehe es, er dachte immer daran. Woher weiß er nur, daß der Mönch ein Verbrechen beging?“
Ich lächelte. „Glaubst du es denn?“
Ingeborg sah mich verblüfft an. „Ja?“ sagte sie, kindlich verlegen. Und sie fuhr fort: „Hören Sie,“ fragte ich dann, „wenn Sie nun durch die Straße gehen und sehen viele Gesichter?“ Darauf sagte er, dann sehe ich viele Schuld, gewiß. Woher er das habe? Ich habe früher viel mein Gesicht studiert, sagte er, jedes Laster und jede Schuld prägte sich darinnen ab. Er wurde finster, während er dies sagte. Er ist unheimlich! Ich wollte noch mehr wissen. Wenn sie nun im Gesichte Ihres Bruders einen Mord läsen? fragte ich. So würde ich es ihm sagen und mich in acht nehmen. Wovor? Daß ich nicht auch einen Mord begehe. Ich fragte weiter. Wenn er aber Ihre Geliebte ermordet hätte? Was würden Sie tun?
„Ich würde ihn erschlagen, antwortete er, dabei lächelte er, aber ich erschrak über sein Lächeln, er log nicht.“
„Du forschest ihn aus?“
„Ja, ich forsche, Axel!“
Dann sah sie ihn mit der zierlichen kleinen Magd plaudern. Sie sah ihn mitten unter den Knechten stehen, er duzte sie alle. Sie schüttelte den Kopf.
„Er hat hundert Gesichter,“ sagte sie, „ich gebe es auf ihn zu erforschen.“
Seitdem nannte sie ihn den Mann mit den hundert Gesichtern.
Und sie erzählte es mir immer, wenn sie ein neues Gesicht an ihm entdeckte.
Sehr spät erst entdeckte sie sein wirkliches Gesicht, so wie ich es sehe, wenn ich die Augen schließe und an ihn denke. —
Ich erinnere mich eines Abends, da er so wunderbar über die Menschen sprach, über Sehnsucht und Glücksverlangen, über Hoffnung, über Glück, über Verirrung, über ihre Trauer, ihren Schmerz, ihre Einsamkeit, ihre Verzweiflung. Wie ein Künstler in die Saiten greift und Akkorde und Melodien flicht, so flocht er Akkord an Akkord und wir hörten ein Lied über des Menschen Herz, das so wunderbar ist, so wunderbar schön, so wunderbar mild, so wunderbar wild, so wunderbar, so wunderbar . . . . . . .
Ich glaube, daß Ingeborg an diesem Abend sein wirkliches Gesicht entdeckte, ich glaube es, denn sie sprach die ganze Nacht nichts darüber, sie blickte mich nur an und ihre Wangen lächelten. Sie zog meine Hand an die Lippen, sie küßte sie nicht, sie drückte sie nur an den Mund. Sie sann.
Ja, gewiß war es an diesem Abend. — — —
E s ist schön an diesen Sommer zu denken, ihn immer wieder zu durchwandern, durch seine Sonne zu gehen, seine Sonne, nicht die eines anderen Sommers. Ich habe ja seine Sonne im Gedächtnis, sie brennt noch auf meinen Händen und glüht noch um mein Gesicht.
Es ist schön diesen kühlen weißen Korridor zu durchwandern, die Türen zu öffnen, zuzuschlagen, zu Freund Bluthaupt hinaufzusteigen und eine Zigarette bei ihm zu rauchen, ja, es ist eine Lust, in diesen Wald dieses Sommers zu gehen, Ingeborg an der Seite, eingehüllt in Ingeborgs Liebe, die so warm ist, so warm.
All das ist schön. Es ist schön, in den verwilderten Park hineinzulaufen, zu rufen, zu singen.
Nun gehört dieser Park Anton Kreidmeier, einem Knechte.
Ich habe nichts vergessen, nein. Manches ist verschmolzen wie ein Schmuckstück, das man ins Feuer warf, aber vieles steht ganz klar vor mir, scharf, einzeln, für alle Zeiten ist es in meinem Kopfe. Ich bin reich, zuweilen schmerzt mich mein Reichtum, aber nur zuweilen.
Ich habe einen schmalen Riß in der Hand, er rührt von Ingeborgs Busennadel her, all die Jahre ist er nicht vergangen. Oft sehe ich diesen Riß an, ganz zärtlich betrachte ich ihn, ja, ich habe ihn schon gestreichelt. Ach, ich weiß, ich habe einem Manne auf einem Schiffe eine Geschichte über diesen Riß erzählt — er sah schlecht — er vermochte ihn kaum zu entdecken — einem mir gänzlich unbekannten Manne, eine rührende Geschichte von einem Hunde, der diesen Riß verursachte, nur um über diesen Riß sprechen zu können, da ich gerade an ihn denken mußte. So bin ich, muß ich an etwas denken, so komme ich nicht los davon, bis ich es hundertmal gedacht habe, ich muß fortgehen, hinauslaufen, immer wieder von vorne anfangen und an das bestimmte denken. Das ist mir geblieben, es ist recht gut zu vergleichen mit dem vernarbten Riß in der Hand.
Ich betrachte diesen Riß, ich fühle ein Paar Lippen darauf, die das Blut aufsaugen, ich sehe sie, diese gespitzten Lippen, diese bittenden lächelnden Augen, die mich von der Seite her anblicken, um Verzeihung bitten für etwas, was nicht der Rede wert ist, ich fühle ein paar Haare, die mein Handgelenk streifen. Ich spüre den Geruch dieser Haare. Worte höre ich. Ich höre das Wort mein. Diese Stimme die es sagt, ist weich und zärtlich, sie spricht noch ein kurzes I nach dem Ei, mei—in spricht sie. Ich könnte diesen kleinen Riß küssen und ihm danken, wäre er nicht auf meiner Hand. Ich tue es nicht. Wer hätte je gedacht, daß dieser unscheinbare Riß, das unscheinbarste Ereignis in einer Stunde, in der sonst noch viel geschah, mir so viel werden könnte, aus einer Zeit, da es viele Stunden gab, viele, viele Stunden, da ich die Stunden nicht zählte? Er ist mir nun alles, ja, ich muß sagen, jetzt in dieser Minute ist er mir alles, mein ganzes Besitztum, mein Liebling, mein Glück! Ich sehe ihn ja wiederum wochenlang nicht. Denke nicht an ihn, habe viele viele andere Dinge, die mich reich machen, in Entzücken versetzen, aber jetzt, ja jetzt ist er mir alles! —
Die Nachtigall hat uns verlassen, die Lerche brütet zum zweitenmal, die Kirschen sind rot. Viele Bäume sind schon geleert. Grüne Äpfel und Birnen, mit Flaum bedeckt, sieht man an den Bäumen. Die Erde fiebert. Sie ist Mutter, milliardenfach Mutter, hat viel zu tun und wird nicht müde, mit heißen Wangen schafft sie.
Die Sonne funkelt, der Himmel ist blau wie Stahl, stille weiße Wolken sind über ihn verstreut wie weiße Segel über ein Meer.
Ich sehe mich herumgehen. Ich trug einen weißen Anzug, meine Hände und mein Gesicht waren braun von der Sonne. Ich ging mit weiter vorgereckter Brust. Ich ging leicht dahin, der Boden wippte unter meinen Füßen, ich war nie müde, ich hatte immer das Gefühl zu schweben. Leicht geriet ich ins Tanzen. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab, da passierte es mir oft. Rotes Viereck, blaues Viereck, meine Füße kaprizierten sich auf das rote Viereck. Rotes Viereck rechts, rotes Viereck links, — da tanzte ich schon. Oft schlich ich, ich ging leise, ganz leise. Weshalb aber ging ich doch nur leise?
Ich ging tief hinein in den Wald, wo er dunkel wurde und seltsame glänzende Pilze wuchsen und schillernde Fliegen, dort fing ich an zu singen, ich sang so laut ich konnte, unsinniges Zeug sang ich. Oder ich sang Ingeborgs Namen, ich sang so laut ich konnte und lauschte auf den Widerhall. Ich ging durch den Wald, alle Blätter hätte ich küssen mögen, jedes einzeln, vorn und auf der Rückseite. Viele küßte ich auch. Denn es konnte sein, daß eine plötzliche Welle von Glück über mich stürzte, dann mußte ich wohl oder übel die Blätter küssen.
Ich ging um den See herum, der im Parke lag, ich erinnerte mich plötzlich eines Wortes, eines süßen Wortes, das zwei Lippen mir aufs Ohr küßten.
Die Welle des Glückes stürzte über mich, ich zog die Ringe vom Finger und warf sie in den See, ich zog die Nadel aus meiner Binde und warf sie in den See.
Niemand sah es.
Immerzu sang es in mir.
Wir wollen uns schmücken, mein Mädchen, denn unser Glück ist gekommen! Laß uns Kränze von Rosen auf dem Haupte tragen, da es Sommer ist, gib mir deine Hände, du Liebe, sieh, wir wollen die Arme schwingen und tanzen, da die Wiesen grün sind!
So sang es in mir.
Einmal da stand ich am Fenster und die Sonne ging unter. So schön ging sie unter, das Tal leuchtete, alles hielt der sinkenden Sonne sein Geschenk entgegen, die Gräser funkelnde Rubine, die Wälder goldene Schleier, der Fluß Feuer, ein Winken war es, ein heiteres Abschiednehmen, und die Sonne lächelte und sank. Da kam es über mich, da ich die Freude sah und die Dankbarkeit des Tales und das Lächeln der Sonne, da ich so glücklich war, so reich, ich lächelte, aber es kam über mich, und ich mußte weinen, ich lächelte und weinte zu gleicher Zeit.
Wie ich weinte, faßte mich eine Hand und ein Paar Augen blickten mich an. „Du weinst, Axel?“
Ich lachte, die Tränen spritzten über mein Gesicht, weil ich beim Lachen den Kopf schüttelte, ich zog Ingeborg an mich und sie blieb regungslos bei mir, nur ihre Lippen bewegten sich unmerklich, sie küßte immerzu mein Herz. — — —
Der glückliche Mensch! Ich kann dir wohl sagen, wie er aussieht, wie er außen und innen aussieht!
Schön macht das Glück, weise und gut.
Wie ein junger Gott wandelt er, der Glückliche, er geht nicht, er wandelt. Rosen auf dem Haupte, Rosen auf den Wangen, Rosen in seinem Kopfe, was er berührt, das lebt, was er anblickt, das leuchtet. Feuer ist seine Stimme. Er steht auf seiner Höhe und blickt auf die Dinge und versteht sie, von oben blickt er auf alles und versteht, denn alle Dinge kommen aus Glück und Unglück hervor. Er versteht die großen Herzen und die kleinen, die glühenden und die vereisten, er versteht das Lied des Vogels und eines Dichters Vers.
Wisse, daß er Freude um sich streut, es gibt viele Bettler auf dem Wege des Lebens, und die meisten erkennt nur das Auge des Glücklichen. Er sucht. Er hat einen Feind, den er grimmig haßte, viele Jahre, einen der ihn bitter verriet, er ist glücklich, schreibt an ihn, laß es gut sein, schreibt er an ihn, es ist vergessen, neue Tage sind gekommen. Mit Tränen in den Augen schreibt er es, sein Herz strömt über. Er wandert zu dem Trotzigen, pocht an seiner Türe, pocht und pocht, bis er öffnet. Verzeihe, verzeihe, sagt er, ich, ich war ja schuld —
Schon manch einen habe ich gekannt, der Geld und Gut und Ehre verschenkte, weil er glücklich war, ja der selbst sein Glück verschenkte, da er glücklich war, und arm davontanzte in einem Hemde.
Wisse, so macht das Glück, daß sich einer ans Kreuz schlagen läßt und seinen Mördern nicht flucht, ja, es kann geschehen, daß einer lügt und den Menschen Paradiese erdichtet, weil er glücklich ist.
Eine Lawine von Glück rollt er durch Jahrtausende.
So ist das Glück: Sprichst du davon, so mußt du sprechen, tausend und tausend Tage und Nächte und du findest kein Ende, immerzu mußt du sprechen, immerzu —
Zwei glückliche Menschen wohnen da oben im Bergwalde.
Ich sehe ein kleines Lichtchen brennen in einem dunkelen Zimmer. Ein kleines Lichtchen, ich sehe ein Lächeln, ein Gesicht, das in goldenen Haaren schwimmt.
Ich höre flüstern. „Ich bin dein.“
Ich bin dein, ich bin dein.
Sommernacht, du bist ein dunkelblauer Edelstein.
Sommernacht, du bist ein duftender Hauch aus Gottes Munde. Sommernacht, du bist das klare gütige Auge einer jungen Mutter.
Ist nicht das die Sommernacht, ein warmer dunkelblauer Wald, ein nacktes Kindchen im Moose, das mit einem brummelnden Bären spielt? Ist nicht das die Sommernacht, ein Zwerg sitzt auf einem Brunnenrande und blickt in einen Spiegel? Ist nicht das die Sommernacht — ein Gesang aus der Ferne — ein Winken irgendwo — ein Kuß in der Luft — — ein Seufzen — — ein Blitz von Blut —
Ich bin dein, ich bin dein!
Ich denke an den Leib eines Weibes, der zu blühen beginnt. Das träumte ich einmal, es standen rätselhafte Worte auf den Lidern des Weibes — weiße Augen — Augen wie Lichter —
Ich denke — — Tiefen öffnen sich, die Welt schlägt ihr Auge auf und blickt mich an — ich knie vor Gottes Thron und Gott flüstert mir seine Geheimnisse ins Ohr.
Ich bin dein, ich bin dein!!
Die Welt steht still, es ist weder dunkel noch hell, laut noch leise. Es flüstert.
„Siehst du meine Augen?“
„Ja, ich sehe sie. Sie brennen.“
„Deine Augen sind eine glänzende Nacht. Sterne sind darin.“ Es flüstert.
Es ist ein Sprühen und Schreiten ringsum. Alte uralte Götter wandeln um uns. — —
Sommernacht, du bist ein dunkler Zypressenhain, durch den uralte Götter wandeln mit langen Bärten. Sie tragen die Bärte auf den Armen, um nicht daraufzutreten, es ist dunkel, ihre Augen leuchten — —
Diese Dinge, die kein Mensch erfassen kann, kein Mensch denken kann — —
Der Tag graut, es wispert in meinem Zimmer, es kichert. „Der Mond fällt rückwärts in den Wald,“ sagt Ingeborg und kichert.
„Was sieht er wohl alles in einer Nacht?“ sage ich.
Ingeborg kichert.
„Mir fällt eben ein, Ingeborg, erinnerst du dich, ein Mann hat geschrieben: Des Lebens ungemischte Freude —?“
„Ja, o Axel, ein armer, armer, unglücklicher Mann war das —“
„Hahaha!“
„Sind wir Kinder?“
„Ja, ich bin so fröhlich, so leicht. Ich fliege. Ich könnte ohne Aufhören lachen, lachen!“ — —
Auf der Wiese vor dem Schlosse stand eine kleine schlanke Birke. Sie hatte seidenweiche junge Blätter, die immer etwas zu wispern hatten, und eine Rinde so weiß und weich wie das Fell eines Kaninchens. Vor diese Birke zimmerten wir eine Bank, Ingeborg und ich. Einen Tag brauchten wir dazu, bis wir die Pflöcke zuspitzten, das Brett sägten. Wir lachten viel bei der Arbeit und Ingeborg fieberte vor Eifer.
Viele Abende saßen wir auf dieser kleinen Bank und sahen zu wie die Sonne unterging.
Wir saßen wieder auf der Bank unter der Birke und der Abend begann zu glühen.
„Euch Göttern schreiben wir einen Brief! Wir Ingeborg und Axel!“ sagte ich.
„Beginne Axel!“ sagte Ingeborg.
Und ich begann: „Ihr Götter, ihr guten Götter, ihr habt eure guten und eure schlechten Tage wie wir Menschen. An euern schlechten Tagen, da schafft ihr Menschen mit gewöhnlichen Gesichtern und einer Seele nicht tiefer und wärmer als eine Regenpfütze im März.
Aber an euern guten Tagen, da schafft ihr Menschen mit einem Antlitze, unvergeßlich, mit einer glühenden tiefen Seele. An eurem besten Tage, da schufet ihr Ingeborg.“
„Ihr guten Götter, ihr habt gewiß große Ohren, dann hörtet ihr was Axel sprach und ihr vernahmet seine sanfte Stimme. Seht euch sein Gesicht an und ihr wißt, wie gütig er sein muß.“
„Ihr Götter über den Wolken, ihr kennt Ingeborg wohl, dann begreift ihr auch und ihr verzeiht mir, daß ich nicht mit euch über den Wolken wandeln möchte, trotzdem ihr Götter seid.“
„Das möchte ich auch nicht!“ schrie Ingeborg. „Nein, ihr alten freundlichen Götter. Aber ich bitte euch, straft uns nicht für unsern Frevel!“ — —
Wir saßen wieder auf der Bank unter der kleinen Birke. Die Bank hatte gerade Raum für zwei Menschen.
Es war in der Stunde, da die Sterne noch nicht aufgegangen sind und man sie doch alle mit den Blicken ahnt.
Ich sagte: „Ingeborg, du bist mein Liebling, und mein Herz ist so reich geworden, seitdem ich dich küßte.“
Ingeborg sagte: „O, Axel, ich erschrecke vor Freude, sehe ich deinen Schatten um die Ecke kommen. Das Blut weicht aus meinen Wangen, wenn ich deine Stimme höre. Es ist mir unbegreiflich, daß ich deine Küsse ertrage, ohne zu sterben.“
Ich sagte: „O, Ingeborg, ich bin ein Garten, ein blühender Garten. Ich bin in Blüte, Ingeborg!“
Ingeborg sagte: „Ich sehe alle Dinge verändert, und liebe sie mehr als je. Ich liebe die Steine sogar, die auf der Straße liegen. Auf allen Dingen scheinst du zu sein. Die ganze Welt ist ein Spiegel geworden, der dich mir zeigt. Ich habe dein Lächeln schon im Laube einer Buche gesehen und deine Hand in einer Wiese, die sich bewegte. Ach, käme doch etwas, wodurch ich dir meine Liebe zeigen könnte. Ich würde betteln gehen für dich, von Haus zu Haus —“
Ich sagte: „Ich höre kaum was du sagst, ich höre nur deine Stimme. Sie singt mich in den Tod. Das ist herrlich. Das ist herrlich, die Augen zu schließen und in Gedanken der Linie deines Profiles zu folgen.
Das ist herrlich, deine Haare anzusehen, ich habe jedes Fünkchen deiner Haare im Gedächtnis. Wie sind deine Haare? Sie sind als ob sie überall Augen hätten. Das ist herrlich, deine Wimpern haben einmal meine Schultern berührt, immerzu fühle ich es — jetzt — in jeder Minute —“
Ingeborg sagte: „O, mein Geliebter, wirst du mich immer so lieben?“
Ich sagte: „Warum fragst du, süße Herrlichkeit?“ Ingeborg sagte: „Ich weiß es, ja! Aber doch sollst du mir es im Tage einmal sagen und tausendmal, daß du mich liebst.“
Ich nahm Ingeborgs Hände und legte sie auf meine Brust, ich öffnete das Hemd, so daß sie meine nackte Brust berührten.
Und ich sagte: „Ich werde dich lieben in alle Ewigkeit, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich — —“
So ist das Glück: Sprichst du davon, so mußt du sprechen, Tag um Tag, Nacht um Nacht, du kannst nimmer aufhören, nein, das kannst du nicht, du mußt sprechen, sprechen — schreien — flüstern — immerzu — —
E s zog eine drohende Wolke herauf über unseren Himmel, eine finstere Wolke, sie drückte mich nieder. Ich schlug an meine Brust, brach in die Knie und betete zu dem großen Geiste.
Die drohende Wolke zog vorbei, sie zerschmetterte mich nicht. Lange danach erst kam der Blitz, da der Himmel wieder klar und leuchtend war — —
Ingeborg erkrankte.
So begann es. Wir saßen auf der Wiese am Waldesrande, die Ingeborg Honigtröpflein taufte. Da standen viele gelbe Blumen, aus denen Honig tropfte. Man roch den Honig schon von weitem, ein Heer von Bienen brummelte immerzu auf der Wiese. Da saßen wir in der glühenden Sonne, aber Ingeborg fröstelte.
Wir gingen nach Hause, durch den Park, Ingeborg schmiegte sich an mich. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. In der Allee stand eine Statue, die das Schweigen darstellte, eine Frau, die zwei Finger an die Lippen legte. Die Blässe des Marmors hatte Ingeborg erschreckt. Am Abend erholte sie sich wieder. Karl speiste mit uns, wir waren guter Dinge, plauderten, lachten.
Aber am andern Morgen war Ingeborg krank.
Ich jagte in die Stadt und holte einen Arzt, depeschierte in die Hauptstadt. Der Weg führte durch den sommerstillen Wald, die Vögel zwitscherten. Mein Herz war unruhig, meine Ungeduld flog vor mir her. Ich jagte durch Dörfer und Ortschaften, die Leute drohten mit der Faust. Es kam auf ein Dutzend dieser Bauernkaffern nicht an.
Der Arzt verstand nichts. Auch Karl verstand nichts, oder er stellte sich so.
Ingeborg lächelte.
Es ginge vorüber, heute Abend wolle sie wieder aufstehen.
Niemand schien zu hören, daß sie hastig sprach, fast plappernd wie ein Kind, niemand schien den metallenen Glanz in ihrem Auge zu sehen.
Karl las vor. Ich hörte nicht, was er las, nur dann und wann trat ein Bild vor mein Auge, farb- und konturlos wie ein abgewaschenes Aquarell. Ingeborg schlief ein.
Ich saß allein bei Ingeborg im weißen Zimmer. Die Angst nagte an meinem Herzen. Goldene Dämmerung kam ins Gemach, Ingeborgs Haare glänzten wie Erz. Ihre Brust hob und senkte sich langsam, diese gleichmäßige Bewegung brachte Frieden in mein Herz. Unwillkürlich atmete ich im selben Takte, dann fiel es mir auf, wieder begann die Angst zu nagen. Es wurde dunkel, Ingeborgs Haare schimmerten, die Dämmerung senkte sich immer dichter über sie, es war, als entwiche sie mir. Ich zündete eine Kerze an. Da erwachte Ingeborg.
Sie blickte mich mit großen Augen an und es schien, als besänne sie sich.
„Wie spät ist es, Axel?“ fragte sie.
Der Abend sei eben gekommen.
„Dann muß ich noch lange schlafen,“ sagte Ingeborg. Aber sie schlief nicht wieder ein. Es sei heiß. Ihre Wangen glühten. Ich öffnete ein Fenster, ein kühler Wind wehte, wie nach einem Gewitter, ich mußte es wieder schließen, über den Himmel zogen schwere hängende Wolken, die die Wälder streiften. In der Ferne dampfte es, es regnete. Ich legte kalte Tücher auf Ingeborgs Stirne, aber im Augenblicke waren diese Tücher warm. Ingeborgs Augen waren feuchtglänzend, wie blaues und weißes Email.
„Nun bin ich krank,“ sagte Ingeborg und nickte müde. Sie schloß die Augen.
Die Nacht kam. Karl ließ fragen, ob er mir irgendwie behilflich sein könnte. Nein, danke. Langsam gingen die Minuten. Der Wind wurde stärker, er fauchte gegen die Scheiben, zuweilen murmelte er, als schüttele ihn die Kälte. Es rumorte in den Bergen und Wäldern von fernem, dumpfem Donner.
Es zogen Gedanken hin und her in meinem Kopfe, eine Stimme flüsterte in mir. — —
Das große gelbe Haus mit den vielen Zimmern lag ganz still, als wohne niemand darinnen als die Bilder an den Wänden und Erinnerungen.
Man hörte weder Türen noch Schritte, und der Hof lag ebenfalls ohne Laut wie am Sonntage, wenn das Gesinde in der Kirche war. Nichts rührte sich, kein Ruf, kein Schritt. Dieses Schweigen war hörbar und es kam mir vor als verdichte es sich von Stunde zu Stunde.
Ich setzte einige Uhren in Gang. Nun hörte man nichts als diese Uhren. Das Schweigen aber wuchs, es breitete sich immer dichter um das Haus. Alles schien zu lauschen auf einen Schritt in der Ferne, der näher kam.
Eine Stimme flüsterte in mir. Ich verschloß ihr mein Ohr. Ich wollte sie nicht hören.
Der Arzt aus der Hauptstadt traf ein. Er sagte, daß Ingeborg eine außergewöhnlich kräftige Natur habe. Da flüsterte die Stimme in mir lauter, es waren nun zwei Stimmen, die in mir flüsterten. Ich hörte sie, aber ich glaubte ihnen nicht. Ich ging umher und trug ein gleichmütiges, ja ein zuversichtliches Gesicht zur Schau.
Die Stunden waren endlos. Bis die Nacht kam, bis die Nacht verging! Es waren kühle stürmische Gewittertage, die Wolken fingen sich in den Bergen und fanden keinen Ausweg mehr. Langsam schleppten sie sich im Kreise und knurrten.
Ich schlief nicht. Ich spürte keine Müdigkeit, aber mein Gehör schlief ein. Ich ließ Ingeborg nicht aus den Augen, es gab Kissen zu richten, Fruchtsaft zu reichen, Eis aufzulegen. Ich ließ niemand ins Krankenzimmer außer dem Arzte. Er hatte im Schlosse Wohnung genommen.
Ich trug Ingeborgs fiebernden Körper ins Bad und zurück ins Bett, ich war kräftig, im übrigen war es meine Ingeborg, und niemand hatte ein Recht, sie zu pflegen außer mir.
Schlafen Sie doch! sagte der Arzt. Sie sind selbst krank! Nein! sagte ich.
Es kam eine Nacht, da saß Ingeborg plötzlich steif im Bette mit langem Gesichte, glitzernden Augen, und zählte an den Fingern etwas ab.
„Sieben Zettelchen, es sind sieben!“ rief sie mit der Stimme eines erschrockenen Kindes.
Ich erblaßte. Da war es!
Stundenlang phantasierte Ingeborg, bis sie ermattet in die Kissen zurückfiel.
Viele Stimmen schrien in mir, so laut, daß ich sie hören mußte. Sie ist verloren! schrien sie. Und eine schrie unausgesetzt: Ingeborg! Ingeborg! Und eine betete, betete wirre, entsetzte, hilflose Worte, immerzu.
Tag und Nacht waren die Stimmen in mir.
Pazzo heulte im Hofe. Er ahnte, daß die Herrin in Gefahr schwebte.
Ich taumelte hin und her in meinem Zimmer. Ich weinte nicht, ich klagte nicht, nein, ich betete nicht. Die Stimmen waren in mir. Es war nun auch eine Stimme in mir, die unausgesetzt weinte. Aber ich weinte nicht. Ich taumelte in meinem Zimmer hin und her.
Ich nahm ohne Gedanken ein Federmesser vom Schreibtisch und stieß es mir in die Hand. Ich spürte nichts, es blutete. Ich sah das Blut, ja, ich hatte mir das Federmesser in die Hand gestoßen, wann denn, warum denn?
Es kam noch eine Stimme in mich hinein, die schrie unausgesetzt: Hilfe, Hilfe! Sie rang die Hände, die Stimme rang die Hände. — — —
Ich habe gerungen mit Ingeborg, mit aller Kraft, sie war stärker als ein Mann, ich mußte sie zurückhalten, ich mußte ihr wehe tun. Sie jammerte, jammerte. Sie wollte in den Wald laufen. — — —
Ob etwa eine seelische Erregung vorhergegangen sei? fragte der Arzt.
Liebe, Liebe, mein Bester! — — —
Der Tag kommt und geht. Die Nacht kommt und geht.
Nun lebt kein Schweigen mehr im Hause. Nun lebt der Schrecken im Hause. Wo man hinsieht, kauert er, in allen Gesichtern kauert er und wo man hinhorcht, hört man ihn. Ingeborgs Rufen und Jammern wird für immer in den Sälen des Hauses bleiben.
Der Arzt mißt die Temperatur, zählt den Puls und gibt Befehle. Seine Mienen sind verschwiegen, er zuckt die Achseln.
Ich bin bleich und verstört, ich verstehe nicht, was man zu mir sagt. Mein Körper ist wie gelähmt, ich kann keine Miene mehr bewegen, aber ich schlafe nicht.
Auf einige Minuten überfällt mich hin und wieder der Schlaf, das ist alles. Ich blicke in den grauen Wald, über dem die geballten Wolken hängen, und der Schrecken greift in mein Herz. Ich blicke auf Ingeborg, die ohne Bewußtsein liegt, und es ist mir als presse eine Hand mein Herz zusammen wie eine Frucht.
Wie gut ist Karl! Er schläft nicht. Er sitzt nebenan im weißen Salon, einen großen Atlas auf den Knien und studiert Geographie. Es ist hübsch, wie ein Vogel über die Kontinente da unten zu fliegen, sagt er. Ich weiß wohl, daß ihn die Kontinente gar nicht interessieren, daß er leidet und es niemandem zeigen möchte. Und er beginnt stets von einem ähnlichen Falle zu sprechen, so oft er mich sieht.
„Meine Schwester — zwanzig Tage — welch ein Fieber, Axel! Heute lachen wir, tolles Zeug sprach sie.“
„Mut! Axel, schlafe! Wir wachen ja. Der Alte sagt, Ingeborgs Natur sei außerordentlich kräftig.“
„Es ist schon gut, danke,“ sage ich und begebe mich wiederum zu Ingeborg. Ich friere, meine Kleider sind durchnäßt, aber ich habe ja keine Zeit, sie zu wechseln. Sodann ist es ja auch höchst einerlei, ob meine Kleider naß sind oder nicht. Man mußte an einen Soldaten im Kriege denken, acht Tage keinen Schlaf, acht Tage im Schneegestöber mit zerschossenen Fingern, man mußte an einen Seemann denken, acht Tage Sturm. Meine Füße sind erstarrt, ich fühle den Boden nicht mehr, wenn ich gehe, bergauf, bergab scheine ich zu steigen, oft ist es mir, als ob ich auf den Knien ginge.
Ich weiß nicht wie lang mein Arm ist. Ich halte die Hand hinaus und ich glaube, mein Arm sei so lang, daß ich die Türe öffnen könnte, ohne vom Stuhle aufzustehen. Zuweilen denke ich, ich sei umgefallen und liege auf dem Boden, aber ich sehe doch, daß ich aufrecht stehe. Das Zimmer schwankt wie ein Schiff.
Aber sobald ich bei Ingeborg bin, sammeln sich meine Kräfte und ich verspüre weder Müdigkeit noch Schlaf.
Zuweilen erwachte Ingeborg und sie erkannte mich und sprach einige Worte.
Die Stimmen in mir jauchzten. Alle Stimmen waren zu einer geworden und diese jauchzte, jauchzte.
Ihre Stimme klang verändert, kindlich und ein wenig heiser. Häufig vermochte sie es nicht ihre Gedanken zu sammeln. Aber dann sprach sie durch einen Blick, eine Bewegung der Hand und ich wußte, was sie sagen wollte. Sie war blaß und schmal, die Haare umhüllten ihren Kopf und ihre Schultern.
„Ich bin wohl sehr krank?“ fragte sie. Ich lächelte und entgegnete ihr, daß es nun schon besser mit ihr ginge.
„Axel, ich möchte den Himmel sehen!“
Ich zog die Vorhänge zurück, es regnete, die Wälder lagen grau. Eine hohe dunkle Wetterwolke stand drohend am Himmel und ängstliche Vögel flatterten weiß wie Asche hin und her vor ihr.
„Wie geht es unserer kleinen Birke, Axel?“
„Sie ist traurig, daß sie dich nicht sehen kann, Ingeborg.“
„Was tut sie?“
„Sie steht im Regen, wie ein Kind, das nicht ins Haus kann und wartet. Ihr Stamm sieht schneeweiß aus, ihre Blätter hängen durchnäßt nach unten und regen sich nicht.“
„Ist unsere kleine Bank da?“
„Freilich, Ingeborg. Die Regentropfen zerspringen auf ihr.“
„Wie sieht sie aus?“
„Vielleicht wie ein gelber Hund, der an die Birke angebunden ist und den sein Herr vergessen hat.“
Ingeborg neigt den Kopf zur Seite und lächelt müde.
„Was ist auf der Straße zu sehen, Axel?“
„Tiefe Räderspuren, in denen das Wasser rieselt. Grauer Schlamm ist sie. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Man sieht so wenig, daß du glaubst auf dem flachen Lande zu wohnen.“
„Einen Vogel siehst du wohl nicht, Axel?“
„Doch, Ingeborg. Ein ganz kleiner sitzt dort auf einem Apfelbaum.“
„Er sitzt unter einem kleinen Dache aus Blättern und schaut dann und wann heraus, in den Himmel hinauf, ob es noch nicht bald zu regnen aufhört.“
Ingeborg blickt in eine unbestimmte Weite. Lange. Tränen treten in ihre Augen.
„Nein,“ sagt sie dann, „es ist unmöglich!“ Sie schüttelt langsam den Kopf; es ist als wiege sie ihn hin und her.
„Was meinst du?“
„Ich kann nicht sterben. Es ist unmöglich!“ Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Ein krankes, mattes Kindchen sei sie. Ich nehme ihre Hand. Es ist keine Kraft in den langen, abgezehrten Fingern.
„Ingeborg, ich liebe dich.“
Ingeborg nickt müde und lächelt.
„Ja,“ sagte sie, „ja,“ und blickt in die Weite.
Ich rufe Karl. Karl tritt ein.
„Hallo!“ ruft er. „Nun geht es ja wieder gut, Frau Ingeborg!“
Ingeborg lächelt und nickt.
„Ja,“ sagt sie und blickt in die Weite.
E s gab einen Tag, an dem sie noch nicht die Augen geöffnet hatte.
Die ganze Nacht hatte sie gefiebert und geredet und phantasiert, nun lag sie vollkommen erschöpft und still.
Ich saß neben dem Bette und beobachtete sie. Ihr Atem ging schnell und leicht, sie war durchsichtig blaß, mit bläulichen Schatten unter den Augen und in den Wangen. Ihre fahlen Lippen waren halb geöffnet und die langen Wimpern schwebten über den Augen, die als ein schmaler Spalt zu sehen waren. Der Puls am Handgelenk zuckte.
Am Vorhange spielte eine bleiche Sonne, es wurde wieder dunkel und abermals spielte die bleiche Sonne an den Vorhängen. Eine Uhr ticktickte. Sie hämmerte und von Zeit zu Zeit begann es im Gehäuse zu sausen und zu klingen. Zuweilen war es mir, als bewege ich mich sehr schnell von der Stelle, als säße ich in einem dahinfliegenden Zuge. Am Vorhange bewegten sich die Schatten von Blättern auf und nieder, sobald die Sonne schien, und dann und wann kamen sie so nahe, daß man deutlich ihre Form unterscheiden konnte. Es waren Lindenblätter mit langen Zähnen am Rande.
Ich sah auf das Zifferblatt der Uhr und entdeckte, daß der Minutenzeiger zuckte wie ein langsamer Puls. Alles im Zimmer begann zu zucken wie Ingeborgs Puls. Plötzlich blieb die Uhr stehen und ich erschrak. Schweigen erfüllte das Zimmer und die Schatten an den Vorhängen regten sich nicht mehr.
Es verging eine unendlich lange Zeit, die mit ganz sonderbaren Dingen angefüllt war. Die kleine dunkle Spalte unter Ingeborgs Wimpern veränderte sich nicht, ihre Lippen schienen erstarrt zu sein.
Ingeborg regte sich nicht mehr, sie lag ganz still und schien länger geworden zu sein. Ich sah immerfort diese kleine dunkle Spalte unter Ingeborgs Wimpern an, sie klaffte, sie war starr. Was ist das? dachte ich.
Ich konnte mich nicht bewegen, ich wollte aufstehen, aber ich war wie gelähmt, ich wollte rufen, aber ich konnte nur die Zunge gegen die Zähne drücken, nicht einmal die Lippen konnte ich bewegen. Ingeborg lag steif und still.
Da hörte ich eine Türe gehen, der Arzt trat lautlos ein. Karl stand unter der Türe, ich sah ihn stehen, obgleich ich nicht hinblickte. Der Arzt trat ans Bett und hob Ingeborgs Hand in die Höhe, diese Hand knickte im Gelenk ab und fiel leblos auf die Decke zurück. Der Arzt blickte mich an, ich nickte. Karl kam, strich über mein Haar, und wieder nickte ich. Der Arzt ging, Karl ging.
Ich begriff nichts. Ingeborg war tot? Nein, es konnte nicht sein.
Es entstand ein Flüstern im Zimmer nebenan, die Türe wurde ein wenig geöffnet und in der Spalte zeigte sich eine Menge Gesichter, die Mägde und Knechte waren es. Jemand schluchzte und einer machte: Pst! ganz leise.
„Klaget nicht,“ sagte ich und stand auf. „Ihr müßt nicht klagen, ihr müßt euern Schmerz mit Würde tragen, Freunde.“
Ingeborg war tot, aber ich empfand keinen Schmerz. Es schien, als sei mein Herz mit Ingeborg gestorben. Die Sonne flutete gegen die Vorhänge und Ingeborg lächelte friedlich, wie ein Kind, das vom Himmel träumt.
Ingeborg ist tot. Ein Mann trägt seinen Schmerz mit Würde.
Weinet nicht, ihr Knechte und Mägde. Ihr müßt euern Schmerz mit Würde tragen.
Man würde Ingeborg in die Erde versenken, oder man würde ihren Leichnam mit Salben durchtränken, um ihn gegen die Verwesung zu schützen. In der Ahnengruft drunten in der Kirche schliefen viele Frauen.
Weinet nicht ihr Knechte und Mägde.
Die alten Diener kamen in Festtagskleidern herauf und fragten, ob sie dem Herren irgendwie dienen könnten.
„Blumen, Blumen . . . . .“
In Ingeborgs Gemächern sieht man keinen Sessel mehr, keine Wand, keinen Teppich.
„Blumen, Blumen . . . . .“
Eine Bahre aus grünen Zweigen.
Ich denke nach. Nein, ich konnte Ingeborg nicht in die Erde betten. Ich konnte es nicht zugeben, daß sie verweste — nein, bei Gott, nein! Also mußte sie in die Gruft gebettet werden, mit Spezereien getränkt. Aber auch das ging nicht an. Ich hatte Mumien gesehen, die mich mit Schrecken und Abscheu erfüllten. Nein, nein. Auch das ging nicht.
Das Meer? Ein tiefes grünes schaukelndes Grab, ein dunkler immergrüner Wald mit leuchtenden Fischen und Korallenhecken. Aber da würden die Fische kommen. Ich sah, wie sie Ingeborgs Leib umkreisten, immer enger, immer enger —
Nein, nein, auch das ging nicht.
Es gibt nur eines: das Feuer! das Feuer! Ein Grab inmitten donnernder jubelnder wehender Flammen!
Und ich befehle Holz aufzuschichten für ein großes Feuer, das über die Berge leuchten sollte, damit alle es sähen. Auf der Wiese vor dem Hause.
„Tränkt das Holz mit Öl und Wohlgerüchen!“ Ein Teppich aus weißen Rosen bedeckte den Weg, wie ein Bach von Milch floß er aus Ingeborgs Gemächern, über die Treppe, über die Wiese.
Die Stunde kam heran, da sie Ingeborg auf die Wiese trugen und auf den blumenübersäten Scheiterhaufen legten. Ich stand dicht daneben und um Ingeborgs Grab herum standen Knechte und Mägde, abseits stand Karl mit großen leuchtenden Augen.
Der Himmel war grünlichblau wie im Frühling, ein frischer Wind blies, die Vögel sangen im Walde und in den alten Kastanien vor dem Schlosse.
Ich blickte auf Ingeborg, die schlank und schmal in einem Bette von Blumen lag.
Das Feuer züngelte, ich sah nichts mehr. Feuer, Feuer.
Die Flammensäule fiel in sich zusammen und ein dichter brauner Qualm hob sich aus der Aschenstätte, und löste sich auf in feinen Rauch, der über das glänzende Blau des Frühlingshimmels wie ein Schleier zog. Der Schleier zerriß und Stück um Stück zog über das Tal und es sah aus, als ob Schwärme von Zugvögeln hoch oben über den Himmel strichen.
Die Knechte und Mägde sahen dem Rauche nach und weinten still: dort oben zog die Herrin davon! Nie würden sie sie wiedersehn, nie nie mehr.
Sie standen noch immer im Kreise um diese Stätte wie am Morgen, da die Sonne aufging. Viele weinten, da und dort aber stand einer und lächelte: er dachte an die Herrin.
Karl stand und blickte unverwandt auf seine Brust herab. Da lag ein blondes Haar, das das Feuer zu ihm herübergeweht hatte. Er wagte es nicht, sich zu bewegen und sah unverwandt auf das blonde Haar auf seiner Brust.
Vor dem Aschenhaufen lag Pazzo und leckte sich die verbrannten Läufe ab, er heulte dazwischen leise, wobei er den spitzigen Kopf hob und in den Himmel emporblickte. Er hatte den Versuch gemacht in das Feuer zu springen.
Der Rauch wurde dünner und erstarb.
„Sammelt die Asche in silberne Becken!“ sagte ich und streckte die Hand aus. Diese Hand war die Hand eines Greises, welke Haut, krause Adern.
Und ich streute die Asche in den Wind, der sie entführte. So sollte Ingeborg zurückkehren in die Welt.
Der Wind würde die Asche in Blütenkelche streuen, Mädchen auf die roten Lippen, Zechern in die Becher, schlafenden Kindern in die offenen Mäulchen. Und so bald die Nacht käme, würde es zu flimmern anfangen, wie die Kerzen in den dunkeln Höhlen der Kirchen flimmern, in den Wäldern, über den Feldern, in den finsteren Gemächern, hoch in den dunkeln Wolken, tief im schwarzen Meere. Über die ganze Welt würde es flimmern. Ja.
Das war Ingeborg!
Ich wusch die Hände und kniete nieder. Ich breitete die nassen Hände vors Gesicht und weinte.
Ich weinte nicht aus Schmerz, ich weinte, weil ich Ingeborg verschenkt hatte. Ich hätte sie behalten können, seht, drunten in der Gruft der Kirche schliefen viele Frauen, aber ich gab sie her.
Und deshalb weinte ich und ich weinte so sehr, daß mir die Tränen wie Bäche über die Wangen stürzten.
Und während ich weinte, vernahm ich Ingeborgs Stimme, die mich tröstete. Sie rief.
„Axel, Axel!“ rief sie.
Da lächelte ich und nahm die Hände vom Gesicht und lauschte auf Ingeborgs Stimme.
Etwas berührte meinen Arm und ich richtete mich auf und wandte den Kopf.
Ingeborg saß aufgerichtet im Bette und blickte mich an. Die Haare hingen ihr über die schmalen Wangen und ihre Augen waren groß und verwundert auf mich gerichtet. Sie sah aus wie ein schlankes Mädchen von fünfzehn Jahren.
„Axel,“ sagte sie, „warum weintest du?“ Sie sprach mit kindlicher, hoher Stimme.
Ich hatte geträumt und dieser schreckliche Traum stand plötzlich wieder vor mir. O! Ich glitt in die Knie und legte mein Gesicht in Ingeborgs Schoß und schluchzte vor Glück.
„Ingeborg, Ingeborg!“
Ingeborg küßte mir die Haare. Sie atmete tief auf.
„Wie frisch fühle ich mich,“ sagte sie.
„Sage. Axel, warum weintest du? Ich hörte dich weinen, erwachte und sah dich sitzen. Du schliefest, aber die Tränen liefen dir über die Wangen. Sage es mir.“
„Nun weine ich, weil du dich besser fühlst, Ingeborg. Wie herrlich das ist! — Ich weinte, ja, ich träumte. Haha, es war ein konfuser Traum!“ Ich wollte irgend etwas ersinnen, aber nichts fiel mir ein. Das Blut stieg mir ins Gesicht. „Ich träumte etwas aus meiner Kindheit — ich zerbrach etwas — weiß Gott, was ich zerbrach — ich glaube es war eine Vase — was war es doch?“
Immer noch schwankten die Schatten der Blätter an den Vorhängen auf und ab, ich konnte nicht lange geschlafen haben.
„Ich möchte Pazzo sehen,“ sagte Ingeborg. „Welche Freude wird er doch haben.“
Ob sie sich nicht noch ein wenig gedulden wolle? Pazzo ginge es ausgezeichnet.
Geduldig fügte sich Ingeborg.
Es poltere immer. Was sei es doch?
„Gewitter ziehen in den Bergen.“
Wie schade es sei. Gewitter habe sie so gerne. Sie lachte. Ihr Lachen klang fieberisch und es erschreckte mich. Ein metallener Glanz zuckte in Ingeborgs Augen. Aber der war ein Narr, der verlangte, daß sie in einer Stunde gänzlich genas.
Es gäbe wohl auch später noch Gewitter.
Ja, auch das — Hahaha!
Ich gab ihr Fruchtsaft, ein Schlückchen Wein, und nötigte sie auch, ein halbes Ei zu essen. Die andere Hälfte verzehrte ich vor ihren Augen, um ihr zu zeigen, wie rasch so ein halbes Ei im Munde verschwindet.
Darüber konnte Ingeborg nicht genug lachen.
Dann fragte sie, ob Karl abgereist sei.
Nein, natürlich sei er noch hier.
Ob ich es ihr übel nehme, daß sie Bluthaupt einfach Karl nenne?
Aber Ingeborg?
Sie könne Karl gut leiden, haha.
Ich ging hinaus. Ich ging befreit, als habe ich eine schwere Last abgeworfen. Es zuckte alles an mir vor Freude.
„Es geht gut!“ sagte ich zum Arzte und lächelte triumphierend.
Der Arzt sah mich an. Es war ein eigentümlicher Blick, der mich sofort lähmte an allen Gliedern. Auch mein Lächeln lähmte er.
Ich verließ das Zimmer. Der Blick des Arztes weckte alle drohenden Stimmen in mir, alle, alle.
D oppelschlägiger Puls . . . . .
Fassen Sie sich!
Ich lief in den Park hinein, ich mußte in den Park hineinlaufen, auf eine Minute wenigstens.
Es war Nacht im Parke, der Wind warf die Wipfel hin und her. Stimmen waren in der Luft, all die warnenden, drohenden, unglückverheißenden Stimmen, die in meiner Brust geredet hatten, waren in der Luft, im Rauschen der Bäume, im Fallen der Tropfen. Dann erschien plötzlich Ingeborg in der Dunkelheit, sie lächelte, schwang einen Strauß und rief danderadei!
„Fassen Sie sich!“ Ich danke dem Arzte. Karl blickt mich an. Ich lächle, ja, seht ihr es denn nicht, ich lächle, spüre nichts, nein. Und Karl nimmt mich beiseite, drückt mich an die Brust und sieht mich an. „Mut, Axel! Du hast ja Macht über Ingeborg! Hoffe!“ Es gäbe etwas über der Wissenschaft und der Kunst eines Arztes. Worte, Worte!
Ich lächle, ich danke Karl durch einen Druck der Hand. Die Uhren fangen an zu reden, die Kerzen strecken sich zu Feuersäulen — das ist das Zimmer — auf jedem Gegenstande schimmern Ingeborgs Augen, die kleinste Schale ist gefüllt mit süßen Wundern. Ich gehe. Zerreiße du Himmel . . . .
Ich lief im Parke hin und her.
Wer konnte es fassen?
Ingeborg sollte sterben! Ingeborg, die liebliche, schöne Ingeborg!
Ingeborg, die die Sonne liebte und ihre Strahlen in der hohlen Hand sammelte, die die Bäume küßte und mit ihnen plauderte, Ingeborg, die betete und dankte mit den Blicken, die einem Falter nachsahen.
Ingeborg, die Liebe und Wärme in alle Herzen trug, die gütige, die sanfte Ingeborg! Nun sollte sie sterben.
Wer sollte das auch fassen können?
Still würde sie liegen, in die Erde würde man sie betten, da würde sie liegen, still in der schwarzen Finsternis, niemand würde sie mehr sehen! Konnten denn Ingeborgs strahlende Augen erlöschen? Nein, nein!
Niemand konnte das fassen.
Ich schüttelte den Kopf und tastete in die Finsternis hinein. Der Park brauste. In der Ferne bellte ein Hund, heißhungrig, fordernd, wie ein Raubtier. Er würde nicht früher aufhören zu bellen, ehe man seinen Hunger stillte. Ich kam an den Brunnen, und der Brunnen überschüttete mich mit Wasser. Dieses war Ingeborgs Brunnen, da saß sie —
Fassen, fassen! Ein Mann — ja, ein Mann faßte sich, ein Mann!
Der Schmerz packte mich plötzlich an den Schultern und warf mich aufs Gesicht nieder. Ich grub die Zähne in den Sand und schluchzte:
„Ingeborg! Ingeborg!“
Ich richtete mich auf in die Knie und schluchzte, die Rückseiten der Hände gegen die Augen pressend.
„Ingeborg! Ingeborg!“ schrie ich. „Ingeborg muß nun sterben, hört es all ihr Bäume, all ihr Menschen auf der Welt. Ingeborg muß fort!“
Die Wipfel brausten und die Stämme ächzten. Ein Schauer von Regen prasselte über den Park.
Ich raufte mir die Haare, fiel zu Boden und schlug mit Händen und Füßen. Ich jammerte — Mein Gott, mein Gott, was hast du denn vor mit mir?
Ich faßte mich. Weit und still — so weit und still wurde es plötzlich in mir — ich lächelte.
Ja gewiß, ich werde es nicht überleben. In derselben Stunde noch werde ich Ingeborg nachfolgen.
Ich stand auf. „Ich werde es nicht überleben,“ sagte ich vor mir hin.
Das war ein Trost! Ingeborg und ich, waren wir nicht eins?
Sie konnte nicht von mir gehen, ohne daß ich mitging, nein, unmöglich war das!
Ich wurde so ruhig, heiter, wie matt vom Glücke.
Ich ging langsam zurück durch die Allee. Sollte es so sein? Ich liebe das Leben, das Ingeborg mir schenkte, aber es sollte ja nicht sein . . . . .
Plötzlich standen Karls Augen vor mir in der Luft.
„Mut, hoffe! Du hast Macht über Ingeborg!“ Ich sah die Augen und sie bannten mich. Ihr Blick gab mir Kräfte, ihr Blick entzündete mein Gehirn. Aus der tiefsten Dunkelheit in mir rang sich etwas empor. Ich blieb stehen, mein Herz klopfte wie ein Hammer in der Brust. Die Augen, die vor mir standen, sprühten und plötzlich zerriß die Dunkelheit in mir.
Ich erschrak. Was meinten diese Augen? Was meinten —
Wie?
Ein wonnevoller, ein süßer Gedanke. Ein berauschender Gedanke!
Ich breitete die Arme aus. Karls Augen strahlten vor mir, was für Augen waren es doch?
Ein berückender, sinnverwirrender Gedanke! Eine Erlösung!
Eine Befreiung, eine Verkündigung!
Konnte denn Ingeborg von mir gehen, da ich doch eins mit ihr war? Wenn ich nun nicht wollte? Wenn ich nun nicht wollte! Ich hatte Macht über Ingeborg.
Das war ein berauschender, ein betäubender Gedanke! Ich glaubte an meine Kraft! Nein! Ich gab es nicht zu!
Ingeborg konnte nicht von mir gehen! — — —
Die Menschen wissen nichts. Dumme und anmaßende Wesen sind die Menschen. Sie behaupten, daß es keine Wunder gibt. Es kann Wunder geben. Sie behaupten, es gibt keinen Gott. Und es kann doch einen Gott geben.
Der Mensch ist mehr als ein Staat von Zellen. Es gibt Stunden, die dem Menschen die Augen eines Sehers und die Zunge eines Propheten geben. Stunden, in denen er an Dinge glauben muß, über die er lachte und über die alle vernünftigen Leute lachen.
In solchen Stunden glaubt er, daß Lazarus wieder zu den Lebenden zurückgerufen wurde, obgleich er schon tot war —
Was glaube ich heute? Ich weiß es nicht. Es liegt viel alltägliches Empfinden über jener Stunde, da ich an alle Wunder und an Gott glaubte, da ich mit Gott rang, ja, da ich mit Gott rang.
Ich besiegte ihn nicht, nein, wenn er nicht gewollt hätte, so hätte ich umsonst ringen können, aber vielleicht achtete er meinen Willen?
Ingeborgs kräftige Natur siegte. Man kann so sagen. Ich glaube es auch, ja, aber ich weiß, daß ich einst etwas ganz anderes glaubte.
Bin ich irrsinnig gewesen? Vielleicht. Vielleicht war all dieser Irrsinn gar nicht notwendig? Vielleicht wäre Ingeborg ganz allein genesen? Ich weiß es nicht. Es gab aber Stunden, da ich wußte, daß es kein Irrsinn war, nein, nimmermehr! Da ich wußte, daß Ingeborg nicht ganz allein genesen wäre.
Alles verwirrt sich in mir. Aber ich glaube, daß der Mensch nur in einer Stunde, nur einer einzigen Minute seines Lebens vielleicht, mehr ist als ein Mensch, viele, viele, ja die meisten Menschen erleben sie nie, diese einzige Minute. Und dann ist er wieder gewöhnlich und selbst über seine göttliche Minute urteilt er gewöhnlich.
Wäre Ingeborg tot gewesen, ich hätte sie wieder erweckt, ich hätte ihr Herz wieder in Bewegung gebracht, mit meinem Gedanken, mit meinem Glauben hätte ich sie wie mit Strahlen durchglüht, bis das Herz wieder geklopft hätte. Ich hätte nicht nachgelassen, nein, ich hätte gekämpft bis zum Tode oder bis zum Wahnsinn. Das weiß ich noch. Es war dies meine Stunde!
Ingeborg war nicht tot, aber der Arzt hatte sie aufgegeben. Sie lag lang ausgestreckt, die Augen geschlossen, ohne Kraft. Ihr Körper zitterte leicht im Fieber, vom Kopfe bis zu den Zehen lief das Zittern, herauf, hinunter. Ich saß bei ihr und hielt ihre Hände in den meinigen und dachte nichts als dies: Du darfst nicht von mir gehen! Der Gedanke erfüllte mich mit einer nie gekannten Macht, mein Gehirn war starr, meine Sehnen gespannt, wie Erz war mein ganzer Körper. Ingeborg verfärbte sich, das Fieber wechselte, der Frost schüttelte sie. Ich legte mich zu ihr, neben sie legte ich mich und wärmte sie mit meinem Leibe — ich dachte — immer das gleiche — —
Nein, ich kann es nicht wieder denken. Das ist dies, was man nicht ein zweites Mal denken kann — —
Ich habe gebetet, ich schäme mich nicht es zu sagen. Ich habe nicht zum Gott der Juden oder Christen gebetet, ich habe zu Gott gebetet, dem Einzigen. Der Schweiß stand auf meiner Stirne, er lief mir über das Gesicht. Schrecken, Angst — — —
Es sind geheime Kräfte in der ganzen Natur verborgen, die zog ich an mich, ich lenkte sie durch meine Brust, ich leitete sie in Ingeborgs Körper, den der Tod anfiel, sie, die Kräfte des Lebens, des Bewegens, des Wachsens.
Ich weckte Ingeborgs Seele, die schon entflohen war, ich rief sie zurück, ich ruhte nicht. Ich gab nicht nach. Ich betete und machte den starken Gedanken noch stärker, immer wieder stärker. Meine Seele und die Ingeborgs waren ein feines geheimnisvolles Gewebe geworden, es konnte zerreißen, ja, aber es konnte sich nicht lösen. Wir beide oder keines.
Ingeborg phantasierte, ihre Seele schwankte bis zum Grunde, hin und her wälzte sie sich. Ich sah Gott ins Auge, ich bat ihn, ich drohte ihm!
Ingeborg stieß hastige Worte hervor, eine fremde Sprache schien es mir. Es vergingen Stunden. Dann endlich vernahm ich ein Wort.
„Mutterchen,“ flüsterte Ingeborg.
Und ich legte meine Lippen an ihr Ohr und rief: „Mutterchen ist bei dir! Du bist meine kleine süße Ingeborg!“
Ich umschlang Ingeborg und küßte ihre Wange, die so heiß war wie ein glühender Stein. Ich liebkoste sie, streichelte sie, wiegte sie hin und her.
„Mutterchen ist ja da!“ Ich flüsterte und rief ihr alle kindlichen Kosenamen ins Ohr. So weich machte ich meine Stimme.
Ich beruhigte sie mit vielen Worten, wie eine Mutter ihr Kind beruhigt, und ich sagte ihr hundertmal, daß Mutterchen bei ihr sei.
Ich hatte Ingeborgs Seele gefaßt, ich ließ sie nicht mehr los. Ich lauschte verzweifelt, ich machte mein Ohr ganz scharf, spitzig, denn es war schwer aus den wirren Worten herauszuhören, was diesen fiebernden Kopf beschäftigte. Hin und her ging es. Wie ein Irrlicht in der Nacht irrte Ingeborgs Gedanke, dahin, dorthin, und es war übermenschlich schwer, ihm zu folgen und ihn für einige Sekunden festzuhalten. Die Schule, Graf Flüggens Schloß, der Wald, wirre Kindheitserlebnisse, Axel, Karl, der Park, die Statue in der Allee, Tiere, Pazzo.
So vergingen lange Stunden. Und wie ein Mensch einem Tollgewordenen durch Gassen, Felder, Hecken, Feuer und Wasser nachrennt und ihn zu haschen sucht, so folgte mein Gedanke dem irrenden Gedanken Ingeborgs.
Ich hörte wohl, daß der Regen gegen die Scheiben trommelte, daß der Wald brauste und der Donner rollte. Aber all das war in weiter Ferne.
Es gelang mir, Ingeborg beim Sonnenschein und den Blumen und den Vögeln festzuhalten. Ich ahmte das Rauschen der Bäume, das Pfeifen der Amseln, das Zirpen der Grillen nach, und das Lachen von Kindern, Frauen und Knechten.
Ingeborg wurde ruhiger. Ihr Blick haftete an meinen Augen und ich mußte die Augen scharf und stechend machen, um den glitzernden zitternden Blick Ingeborgs zu bannen. Ich sprach, lachte, rief und preßte Ingeborg an mich. Man sah es ja, daß ich Ingeborg festhalten konnte! Sie gehörte nun schon mir und ich ließ sie nicht mehr los. Meine Kräfte wuchsen, die Hoffnung ließ sie wachsen.
Ich wußte nicht, wie diese Nacht verging. Zuweilen polterte es, als stürze der Himmel zusammen, bläuliches Licht flog über die Wände, im Walde knatterte es. Es prasselte gegen Scheiben, als regne es Zähne, der Sturm setzte sich auf das Dach des Hauses, hopste wie ein Reiter darauf herum und johlte, er peitschte das Haus, daß es klatschte. Glas klirrte. Der Regen schwieg, der Wind schob das Haus vor sich her, hinein in den Wald, über den schwarzen kochenden brodelnden Wald flog der schreckenbleiche Mond, verfolgt und gebissen von langgestreckten Wolkenhunden. Wieder rauschte es, an den Scheiben floß das Wasser herunter.
Fieber, Schüttelfrost. Ich wärmte sie. Ich küßte sie. Ich sprach, ich lachte, schrie — — — Nein, ich solle nicht versucht haben, das Undenkbare wieder zurückzurufen. Es martert mich. Von allem, was ich früher und später erlebte, ist nichts entsetzlicher, nichts martert meine Gedanken so als die Erinnerung daran.
War es Irrsinn, was ich tat? Ich weiß es nicht.
Nein, es war nicht Irrsinn, nein — — —
Ich sprach von mir. Ich erzählte der empfindungslosen Seele von unserem Sommer, von unserer Liebe, unseren Nächten, stundenlang. Ingeborg wurde ruhiger. Dann geschah etwas — es war das Schrecklichste — —
Ingeborg blickte mich mit sprühenden Blicken an.
Sie flüsterte. „Karl — Karl!“ flüsterte sie.
Sie sprach von Angst und Liebe. Und ich beruhigte sie.
„Karl liebt dich ja. Bin ich nicht bei dir, Karl?“
Aber sie war voller Angst. Sie sprach und fieberte. Sie könne mir nie folgen, ich solle es doch nicht verlangen! Da sei ja auch Axel, und auch Axel liebe sie.
„Ach, gehe nicht, gehe nicht. Karl!“
„Karl wird immer bei dir bleiben, Ingeborg!“
Ingeborg weinte und lachte.
Ja, ja, aber Axel wird sie nicht fortlassen. Er wird sie in sein Zimmer sperren.
Nein, Axel habe es mir gesagt, er würde sie fortlassen, ganz gewiß. Wohin sie auch wolle. Er würde sie keineswegs in sein Zimmer sperren.
„Du bist schön, Karl! Ich liebe, liebe dich! Verrate es Axel nicht!“
Sie umschlang mich und mein Herz blieb mit einem Ruck stehen bei dieser Umarmung.
Ein violetter Blitz erhellte das Zimmer, zuckte unaufhörlich, aber es schien als wolle er nicht mehr erlöschen. Und Ingeborg küßte mich, während der Blitz um sie leuchtete, sie küßte mich fieberhaft rasch und es kam mir vor als küsse sie mich hundertmal. Ihr Gesicht war weiß wie Kreide und hell wie Brillanten waren ihre Augen. Plötzlich wurde es schwarze Nacht, der Donner knatterte, als springe ein diamantener Blick eine klingende Stahltreppe hinab, so klang er. Im Walde brach ein Baum entzwei und eine tiefe unheimliche Stille folgte dem Gesplitter. Dann rauschte es, als schütte man Schäffer von Wasser vom Dach auf die Straße.
„Ich verrate es Axel nicht, liebste Ingeborg. Nein, nein, kein Wort sage ich ihm.“
„O, o!“
„Du wirst immer bei mir sein, Ingeborg! Hörst du es! Hahaha, welch ein schönes Leben werden wir zwei haben. Sieh, so wird es sein, gib acht, ich werde dir die Hände und Wangen küssen, ich werde dich auf die Arme nehmen und in die Höhe heben — ich werde —“
Und ich sprach und sprach — wie schön sie es mit Karl haben solle.
Ingeborg lauschte auf mich. Sie atmete gleichmäßig und ihre Augen glitzerten nicht mehr.
„Schlafe nun, mein Mädchen, schlafe nun. Gute Nacht! süße Ingeborg, schlafe nun — der Regen rauscht — hörst du?“
„Schlafe, schlafe“ — — —
Der Tag graute. Die Lampe sah rot aus, blaues Licht sickerte durch die Scheiben.
Ingeborg lag still und atmete leise.
Sie schlief.
Ingeborg schlief.
Ach, käme doch die Sonne heute!
Stunden verrannen und die Sonne ging auf.
„Sonne, Sonne!“ rief ich leise und küßte den ersten Strahl. Ich öffnete das Fenster. Der Wind hat nachgelassen, wie gut das war. Die Luft war herrlich, naßgewürzt. Diese Luft würde Ingeborg vollends heilen. Vereinzelte Tropfen fielen aus dem Himmel. Sie glitzerten in der Sonne. Es regnete Honig. Die Straße war zerwühlt und Bäche stürzten den Berg hinunter. Die Wiese vor dem Hause war mit Schlamm und Sand überschwemmt.
O! die kleine Birke lag zerfetzt auf dem Rasen und die Bank, die ich mit Ingeborg zimmerte, war verschwunden, nur die Pfähle standen noch und ein Splitter des Sitzes hing an einem herab.
Weiter unten lag der Wipfel eines Apfelbaumes auf der Straße, wie in einem Bache lag er da. Ein Bauernknabe kletterte auf ihm herum.
Da begann Ingeborg wieder zu flüstern und zu sprechen und ich beruhigte sie wie in der Nacht. Das Fieber war nicht mehr so heftig, aber es nahm meine ganze Kraft in Anspruch.
So verging der Tag und die nächste Nacht, die voll wilder Schreie und Hilferufe war, als würden Leute drinnen im Walde erschlagen, und voller Stöhnen, als habe man Menschen an die Bäume genagelt.
Am andern Morgen fühlte ich mich aufgehoben und ich erkannte Karl. Sie hatten die Türe erbrochen.
„Ingeborg schläft,“ sagte er, „es geht besser!“ Er stützte mich und führte mich hinaus. Und ich hatte das Gefühl, als sei ich ein Greis, schneeweiße Haare, zitternde Füße, ein gekrümmter Rücken.
Es war ein Winken in mir, ein Leuchten, eine Drohung, eine drohende Faust wuchs aus meiner Seele, ich sah sie — aber ich lächelte —
Ich fühlte nicht mehr, was mit mir geschah.
J emand rüttelte meinen Arm und ich hatte das Gefühl, als sei ich ein Baum, der geschüttelt werde.
Ich schlug die Augen auf, so gut es ging, aber sie fielen mir sofort wieder zu.
Eine tiefe Stimme sprach, ich hörte meinen Namen und etwas von Ingeborg. Es war mir aber alles einerlei, nur Ruhe wollte ich haben, und ich sank wieder in eine wohltuende Finsternis und Erstarrung zurück. Man schüttelte mich nach langer Zeit wieder am Arm und diesmal hörte ich Karls Stimme. Karl sagte, daß es gut stünde mit Ingeborg. Es sei Zeit aufzuwachen. Ich öffnete die Augen und sah einen rothaarigen lachenden Kopf dicht vor mir. Es war Karl. Ich hatte wiederum vergessen, daß Karl eben zu mir sprach. Da schlief ich schon wieder. Wasser plätscherte und etwas Kaltes und Nasses fuhr über mein Gesicht. Ich duckte mich zusammen, aber das Nasse verfolgte mich, und ich schlief und dachte, daß das keine Neuigkeit sei, daß es gut stünde mit Ingeborg. Die Sperlinge pfiffen es am Dache. Doch war irgend ein Schrecken in mir, als ob etwas Furchtbares geschehen wäre. Dieser Schrecken weckte mich plötzlich auf.
„Wie geht es Ingeborg?“ fragte ich.
Es ginge vorzüglich. Sie schlafe ruhig.
Weshalb erschrak ich doch? dachte ich. Etwas Furchtbares muß geschehen sein, aber wenn es gut mit Ingeborg geht, was sollte dann noch Furchtbares möglich sein?
„Du hast drei Tage geschlafen, Axel,“ sagte Karl und lächelte gütig. Sein Lächeln war so schön und fein, daß es mir wie eine Liebkosung erschien.
Ich erhob mich mühsam. Ich war sehr müde und mein Kopf war wie mit Blei ausgegossen. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Aber Ingeborg war ja gerettet!
Ich saß auf dem Bettrande und lächelte. Ich vermochte das Glück nicht zu fassen.
Und Karl zog mir die Strümpfe an, der Dichter Karl Bluthaupt half mir in die Strümpfe! — — —
Freudenfeuer auf den Bergen! Tanz, Spiel und Gesang! Gold in die Hütten der Armen!
Zwei Tage und zwei Nächte brennt lichterloh ein Wald auf der Höhe, mein Wald. Die Feuerwehren aller Dörfer sind ausgerückt mit vielem Getute und Gerumpel. Laßt ihn brennen! Laßt ihn brennen! Lichterloh flammt der Wald durch die Nacht. Weithin muß man es sehen.
I ngeborg sitzt auf der Veranda, ein Tuch um die Schultern geschlungen. Sie ist bleich und man glaubt, das Blut in den Adern der Schläfen und der Hand laufen zu sehen. Mit staunenden großen Augen blickt sie in die Bäume, die in der Sonne eingenickt sind, auf die Wiese, die duftet und leicht schwankt im Schlafe, hinab ins Tal. Dort stehen kleine Pferde und Wagen und kleine Wesen sind beschäftigt, Heu auf die Wagen zu schichten. Zuweilen blitzt etwas auf, ein Beschläge, eine Gabel, eine Sense, feine verwehte Rufe dringen herauf.
Nach den Tagen voll ziehender Gewitter, folgten Wochen herrlicher Sonne, jener Sonne, die flimmernd rot und gleichmäßig über der Erde liegt, wenn der Sommer zu Ende geht.
Die Schwalben schossen schrillend in der Luft, bald schmal wie Fische, bald wirbelnd wie kleine Turbinen. Bald schwebten sie alle auf eine Stelle zusammen, bald verteilten sie sich blitzschnell nach allen Richtungen über das ganze Tal. Sie schrien, sie konnten wie ein Pfeil in die Höhe schießen, sie konnten wie ein Stein herunterfallen, um plötzlich die Flügel auszubreiten und ruhig zu schweben wie ein Raubvogel.
Und Ingeborg hat Tränen in den Augen, sieht sie die Sonne, und Tränen in den Augen, hört sie die Schwalben schreien.
„Ich bin ganz weich, wie ein Kind,“ sagt sie und eine Träne fällt auf ihre Hand. „Nie war mein Herz so voller Staunen und Dankbarkeit.“
Ich sitze bei ihr, plaudere oder schweige, je nachdem Ingeborg es wünscht. Schönere und leisere Stunden habe ich nicht erlebt als die Tage von Ingeborgs Genesung. Ich bin still vor Glück geworden und meine Brust ist immer voll von Tränen, ohne daß ich weinen könnte.
Ich und Karl sind bemüht, Ingeborg tausend Gefälligkeiten zu erweisen in einer Art, die wenig auffällt. Immerfort sind Ingeborgs Zimmer mit Blumen geschmückt und auf Teppichen weißer Rosen wandelt sie. Karl bringt von seinen Spaziergängen den ganzen Wald ins Haus, Sträuße von roten und schwarzen Beeren, die den Saft und den Wohlgeruch des Sommers bergen.
Ja, Karl ließ sich sogar dazu herbei, Ingeborg Stellen aus seinen Büchern vorzulesen, die sie besonders liebte. Seine ruhige Stimme, sein abgeklärtes Wesen wirken wohltuend auf Ingeborg, sie scheint kräftiger zu sein in Karls Nähe. Und wenn Karl lacht, so macht sie Miene herauszulachen und ihre Wangen bekommen Farbe.
„Hast du es gehört, Axel, heute sagte Herr Karl liebe Frau Ingeborg zu mir — haha! Er hat es noch nie gesagt.“
Ich räume die Mappen aus und bringe die herrlichsten Bilder zu Ingeborg, Bilder von denen man träumt, sieht man sie einmal, und lege sie vor ihr auf, wie ein Museum ist es. Oder ich spiele Klavier, alle Stücke die Ingeborg liebt, und durch die geöffneten Fenster dringt es wie eine warme liebkosende Welle, die sie badet wie die Sonne.
Müde ist Ingeborg vom Sehen. Sie schließt die Augen und legt den Kopf ins Kissen zurück und sagt „Erzähle Axel.“
„Wie war die Legende von dem erfrorenen Weinstock? Und die von den Liebenden auf dem Meere? Erzähle Axel, ersinne etwas.“
Ich blicke Ingeborg an und hundert Geschichten fallen mir ein. Und ich erzähle. Ich erzähle ihr die Geschichte von dem Priester mit dem silbernen Herzen, ich erzähle ihr die Geschichte von Karin, der um die halbe Erde wanderte um zu seinem Weibe zu kommen. Ich erzähle ihr die Geschichte von Hermann Ecke, dem Gutsherrn auf Entenweiher, den Eva verlassen hatte. Sie lebten glücklich, Eva und er, aber Eva ging von ihm zu einem andern. Warum? Niemand weiß es. Wird sie immer bei dem andern bleiben? Nein, sie wird wohl zurückkommen zu Hermann Ecke.
Und er wartet, Hermann Ecke, daß sie wiederkäme. Einen Garten legt er ihr an, eine Terrasse baut er ihr. Jahre vergehen. Wo ist Eva? Sie kommt nicht wieder. Aber er wartet und die Jahre vergehen. Lange Jahre war er traurig und niedergeschlagen, aber seht ihn jetzt, straff und aufgerichtet geht er einher mit leuchtenden Augen. Es fragt der Freund: Glaubst du denn, daß Eva wiederkommt? — Hahaha, antwortete Hermann Ecke. Sonst nichts. Hermann Eckes Haare werden weiß. Es fragt der Freund: Was wirst du sagen, wenn Eva wiederkommt?
Königin, werde ich sagen, erwidert Hermann Ecke, dein Thron steht bereit. Laß uns von den kommenden Tagen reden.
Traurig lächelt der Freund, Hermann Ecke hat den Verstand verloren.
Eine Lampe brennt in Evas Zimmer, Sträuße prangen fortwährend in den Vasen. Hermann Ecke steht jeden Abend auf dem Turm und blickt die Straße entlang, ob kein Wagen kommt. Nein, es kommt kein Wagen.
Der Freund sieht Hermann Ecke an und denkt: Bald stirbst du jetzt. Dein Herz ist schwach. Er sinnt.
Ja, Eva hat eine Schwester, die muß kommen, um ihm von Eva zu erzählen und ihm zu sagen, daß sie bald käme, Eva. Die Schwester kommt und spricht mit dem Freunde. Eva ist tot, arm und verlassen ist sie gestorben. Sagen sie ihm das nicht, Beste, spricht der Freund, sagen sie ihm, daß sie in Glanz und Glück lebe und viel gefeiert werde. Bald käme sie zu ihm.
Ja!
Da tritt er ein, Hermann Ecke. Und er richtet die Augen auf die Schwester — er rückt die Brille zurecht — siehst du es —? seine Augen füllt ein überirdischer Glanz. Er breitet die Hände aus — siehst du es? —
Evas Schwester! flüstert der Freund.
Hört es Hermann Ecke? Nein.
Er spricht: Königin, dein Thron steht bereit, laß uns von den kommenden Tagen reden!
Hermann Eckes letzte Worte waren das. — —
„Was sagst du dazu, Ingeborg?“
Ingeborg nickt, sie lächelt und ihre Wimpern zittern und werden feucht.
„Erzähle Axel! Ersinne etwas!“
Die Stunde ist golden, die Sonne segnet die Welt. Ein Lächeln liegt auf allen Dingen, selbst auf den Spitzen der Gräser. Die Wälder nahe und ferne sind wie hohe Wogen flüssigen Goldes. Ein goldener Himmel, und ein goldener Funkenregen, der zur Erde sinkt. Im Westen liegen schmale Wolken gleich großen glühenden Scheitern, darauf verbrennt die Sonne und ihr Feuer lodert über den Himmel. Goldene Blätter zittern im goldenen Himmel, man sieht die Zweige nicht, an denen sie hängen. Wie eine Grotte mit goldenen Säulen, gefüllt mit funkelndem Geschmeide ist der Wald drüben anzusehen. Dort gehen Pferde und ein Knecht, golden sind die Pferde, golden der Knecht. Ein goldener Wind weht und goldener Tau tropft von den Bäumen.
Ich sehe auf Ingeborg, deren Antlitz und Hände die Sonne durchleuchtet. Von der Farbe des alten Goldes ist das Haar und ein feines Gespinst von Feuer zittert darüber. Sie hat die Lider geschlossen, aber sie erscheinen so dünn, daß man die Augen darunter zu sehen vermeint. Ein müdes glückliches Lächeln schwebt auf ihrem schmalen Gesichte, wie es nur die Genesenden und die Wöchnerinnen haben und die Liebenden am Morgen einer trauten Nacht.
Pazzo liegt zu ihren Füßen und sie hat die Füße auf seine atmenden Flanken gestellt.
Und ich blicke auf Ingeborg und beginne mit leiser Stimme:
„Diesmal erzähle ich dir von einer schönen Königin, weil ich gerade an eine schöne Königin denke. Es ist die Königin, die sie „goldenes Herz“ nannten. Silvia hieß sie. Sie war Nicolo Dandoldis Weib, jung, Nicolo alt. Nicolo hieß der Einäugige mit dem siegreichen Schwert, im Volke der Schlaflose. Später der Wortbrüchige. Du wirst gleich hören weshalb. Er war sehr grausam, wie alle Könige in den Legenden und man sagte, wenn er soviele Ellen tief in die Hölle käme, als er Menschen getötet habe, würde er vom Lichte nicht mehr sehen, als eine Nadelspitze ausmacht.
Natürlich kommt auch ein Page darin vor, du wirst es gleich hören, Ingeborg. Der Page hieß „Auge“, denn schöne Augen hatte er, das wußten alle Frauen.
Schön sind deine Augen, sagte Silvia, als sie ihn zum erstenmal sah. Wie im Traume sprach sie. Goldenes Herz liebte Auge, und Auge liebte goldenes Herz.
Sie trafen sich im Garten der Frauen und saßen die Nächte hindurch unter den Büschen, im verschwiegenen Schatten, den der Palast über den Garten warf. Da saßen sie und plauderten, und ich wußte alles was sie einander sagten. Auch Ingeborg wußte es und sie lächelte. Wieviele Nächte saßen sie da! Aber der Priester umschlich sie und in einer Nacht, die herrlich und duftend war wie keine, da geschah es. Zur Zeit der ersten Kirschenblüte hatten sie sich zuerst gesehen, als die Kirschen sich röteten, war es schon geschehen um sie.
Sie sollten sterben.
Der König lud allen Adel ein, wie zu einem Feste, und sie saßen gekleidet in den Glanz eines vielhundertjährigen Reichtums in den Galerien. Von weitem mochten sie wohl erscheinen wie Körbe voller Blumen, die die Gärtner zum Verkaufe ausstellten.
Silvia und der Page wurden hereingeführt, da erbleichten alle und ihre Gesichter wurden so weiß wie die Kerzen, die die Mönche trugen. Als die beiden niederknieten und die Henker hinter sie traten, da wurde es so still, daß jeder sein eigenes Herz klopfen hörte.
Der König sah aus wie eine Reliquie aus gelbem Wachse, wie sie in den Kirchen zu sehen sind. Silvia sah so schön und rührend aus, daß im Herzen des Königs ein Kampf zwischen Liebe und Rachedurst entstand.
Und er rief: „Der Königin steht eine Bitte frei! Doch das Leben des Buhlen bleibt in meiner Hand“.
Es war stille und die süße Mädchenstimme der Königin sprach: „Ich bitte, daß man den Sklaven, der des Nachts so traurig am Lido singt, in seine Heimat sendet“.
Der König lachte heiser.
„Der Königin steht eine Bitte frei“, rief er abermals und seine Stimme keuchte.
Da bat goldenes Herz, daß man sie vor dem Geliebten töte. Sie wollte nicht hören, wie sein Haupt fiel.
Aber der Geliebte widersprach. Sie solle den Himmel länger sehen als er, sagte er. Lange Zeit stritten sie hin und her, jeder wollte zuerst sterben. Die Frauen in der Galerie weinten. Und abermals machte sich Silvia bereit zu sterben.
Da erhob sich der König und beugte sich über die Galerie und keuchte und rief: „Der Königin steht noch eine Bitte frei!“ Und er bohrte seine Blicke in Silvias Augen.
Aber Silvia sprach nicht die Bitte aus, die er erwartete.
„Ich bitte meine Schuld bekennen zu dürfen“ sagt sie.
Der König fiel in den Sessel zurück und nickte.
Es war ein eigentümliches Sündenbekenntnis, Ingeborg, du wirst es hören.
Silvia begann und sagte, daß sie jung wäre und die Muttergottes bäte, ihr zu vergeben, daß sie erst siebzehn Jahre alt wäre.
„Lieber hätte ich siebzig Jahre alt sein wollen, als ich Königin würde. Aber möge mir die Muttergottes gnädig sein, daß ich jauchzte, so jung zu sein, als ich den Geliebten erblickte. Denn bei den Wunden des Erlösers, wäre ich alt gewesen, aus Gram darüber wäre ich in derselben Nacht gestorben.“
Und sie erzählte, wie sie den Geliebten zum erstenmal sah.
„Er stand im Saale der gewebten Wände, wo so viele Herren und Frauen lautlos tafeln und lachen, daß man glaubt zwischen Gespenstern zu gehen und einem bange wird. Da sah ich ihn und er verneigte sich vor mir, und ich erschrak. Weiß nicht weshalb.
Schöne Augen hast du! sagte ich zu ihm. Bei Gott ich wußte nicht, was ich tat. Erst später fiel mir ein, was ich gesagt hatte.
Ziemt es sich für eine Königin, stehen zu bleiben und solche Worte zu sprechen? Gewiß nicht. Ich tat es.
Ich konnte nicht von der Stelle gehen, zitterte und lachte. Ziemt es sich für eine Königin zu lachen wie ein Kind? Aber ich tat es.
Ich traf ihn wieder an der silbernen Treppe, er legte Kissen in die Barke des Königs. Er war sehr blaß.
Weshalb bist du so blaß? fragte ich.
Und er erwiderte: Ich bin so blaß, weil ich ein Mädchen liebe und es ihr nimmermehr sagen kann.
Ich erschrak nicht — Haha — nein, denn ich wußte wohl, wer das Mädchen war.
Würdest du das Mädchen küssen, wenn du könntest?
Das würde ich bei Gott tun.
So küsse mich.
Er küßte mich. Freunde, es war am Tage, es war angesichts des Palastes, die Möven haben es gesehen, die Fische im Meer und Gottes tausend strahlende Augen, nur euch hat Gott die Augen versiegelt.“
Und ich erzählte, daß goldenes Herz fortwährend von dem Geliebten und ihrer Liebe gesprochen habe und nicht müde geworden sei, die Schönheit des Geliebten, seine Augen, seine Lippen, seine Hände, seine Stimme zu preisen und die Süßigkeit ihrer Liebe zu besingen. Ja, so sprach sie, daß die Mönche und Nonnen sich abwendeten.
„O, ihr Frauen dort oben!“ rief sie. „Seht mich Gefallene! Aber ich sage euch, nimmermehr möchte ich mit euch tauschen. Gerne würde ich sterben für jedes seiner Worte und für jede Wimper seiner Lider. Wie glücklich wäre wohl jede von euch, könnte sie diese Worte sprechen! Haha! Ihr würdet keine Reue empfinden, hätte er einmal nur seinen Arm um euern Nacken gelegt, die tiefste Hölle würdet ihr lieber ertragen, als daß ihr einen seiner Küsse entbehrtet. Ich weiß es, ja, ja, ja!“
Also sprach Silvia und sie konnte nicht aufhören von dem Geliebten zu sprechen und den Herrlichkeiten ihrer Liebe.
Sie sprach nicht, nein, sie jauchzte. Sie lachte und weinte während sie sprach und ihre Wangen rötete das Glück.
Auge aber weinte vor Seligkeit hinter der Kapuze, die sie ihm über den Kopf gezogen hatten, und er weinte so sehr, daß die Steine zu seinen Füßen dunkel wurden, trotzdem die Sonne brannte.
Die Gäste zitterten. Der König krümmte sich unter Silvias Worten und erstarrte, immer mehr.
Tiefe graue Furchen entstanden in seinen Wangen und an den Schläfen.
Dann machte sich Silvia wieder bereit zu sterben. Sie war so schön und ihr Antlitz so heiter, so strahlend, als würde sie dem Geliebten vermählt und ginge es nicht in den Tod.
Die Henker lauerten des Winkes, aber da hob der König wiederum die Hand.
„Halt! halt!“ rief er keuchend und sann nach. Und er wandte sich zu den Gästen. „Seht! Seht! Seht doch wie lieblich sie ist! Wie schön sie ist! Wer sah je ein solch schönes Weib?“
Und er beugte sich weit über die Brüstung und flüsterte: „Noch eine Bitte steht dir frei, herrlichste Silvia, jede Bitte, welche es auch sei — bei meiner Ehre!“
Die Gäste jubelten.
Was denkst du nun, daß Silvia bat? Ja, was gab es auch anderes zu bitten, wie?
Aber als sie die Lippen zu diesem Wunsche öffnete, überfiel den König plötzlich der alte Grimm.
„Tötet sie, tötet sie!“ keuchte er und bewegte die Arme, als schleudere er Steine auf sie.
Silvias Haupt sprang über das Schwert.
Und als sie Auges Haupt abschlagen wollten, da fanden sie, daß er schon tot war.
„Er ist schon tot, Herr!“ schrie der Henker. „Die Furcht hat ihn getötet.“
Die Furcht — —
„Was sagst Du dazu Ingeborg?“
Ingeborg schwieg. Ingeborg schüttelte den Kopf.
„Du mußt sie entkommen lassen, Axel, willst du?“
„Ja!“
Und ich erzählte von der Stelle an: die Gäste jubelten. Und Silvia sprach: „Bist du so gnädig, Herr, so lohne es dir Gott. Schenke uns beiden Leben und Freiheit“.
Der König lächelte und nickte.
Da schmetterten Posaunen und die Gäste jubelten, daß die Dächer der Galerien in die Höhe flogen, und alles ging zum Mahle. —
Ingeborg lächelte.
Es war eine goldene Stunde und die ganze Welt, die Wälder, das Tal, das Schloß, Ingeborg und ich und Pazzo zu Ingeborgs Füßen, alles war aus Gold, und der goldene Regen fiel immer noch langsam vom Himmel. Ich fühlte, daß mein Herz golden war und es begann leise zu klingen wie eine Glocke.
Ingeborg lächelte. Sie lächelte noch nicht wie früher.
„Schöner als all deine Legenden ist die von Axel und Ingeborg. Ingeborg war dem Tode nahe, aber Axel pflegte sie mit solcher Hingabe, daß sie genas und nicht sterben konnte. Gibt es eine schönere Geschichte? Nein, nein . . . . . .“
Diese Stunde war golden und meine schönste Stunde war es.
Schöner als deine Legenden ist die von Axel und Ingeborg . . . . .
O, Ingeborg. — — — — — — — — — — —
Die Tage gingen und Ingeborg wurde mit jedem Tage kräftiger und gesunder. Aber doch sprach sie noch nicht wie früher, aber doch lachte sie noch wie früher.
Müde war Ingeborg noch.
Ingeborg ging umher und sann. Stundenweit ging sie in den Wald und sann. Ihr Antlitz war gebräunt wie im Sommer, da die Sonne brannte.
Was sann Ingeborg doch?
Ich lag viele Nächte und schlief nicht.
Ingeborg war noch nicht die alte.
Die Vögel sangen nicht mehr wie früher. Die Felder waren gemäht.
Ich lag viele Nächte und schlief nicht. Aber am Tage überfiel mich oft die Müdigkeit und ich mußte schlafen. Ich fuhr oft aus dem Schlafe empor, Träume marterten mich. Ich träumte immer wieder und wieder von jener Nacht, da ich um Ingeborgs Leben kämpfte. Schrecken jagten durch meine Seele. Es erhoben sich Fäuste und schlugen mich nieder — und ich erwachte.
Ich vernahm Stimmen, drohende Stimmen, ich vernahm ein Brausen und das Brausen sprach: Du hast es gewagt!
Hatte ich etwas Böses getan?
Ich sah schlecht aus, als ob ich krank wäre. Zuweilen hatte ich auch Fieber.
Wie war meine Seele? Wie das Tal war sie, Sonne und Wolkenschatten, jagende Wolkenschatten, ich freute mich über die Sonne, ich griff nach ihr, wollte sie bannen, ich war glücklich, ich dachte nicht an die Schatten. Nein, ich wollte nicht an sie denken.
Ingeborg liebte mich. Sie küßte mich tausendmal. Aber ihre Lippen küßten anders, es war ein anderer Kuß.
E s gab eine fröhliche Nacht, eine Nacht voller Gesang, voller Lachen, voller Blicke, Küsse in der Luft.
Der Himmel tiefblau, Sterne, viele Sterne, Friede ringsum, heiliger Friede, im Walde, im Tale. Hundert Kerzen brennen in meinem Zimmer , wir feiern das Fest der Genesung.
Lachen, Gesang, fröhliche Worte und Wein.
Was geschah alles in dieser Nacht? Ich weiß es nicht mehr. Wir waren fröhlich und guter Dinge, hundert Kerzen brannten in meinem Zimmer. Wie ein flammendes Blumenbeet, weiße Stengel, brennende Blüten.
Es blitzte und funkelte, nie habe ich eine solche Helle wieder gesehen, solche Augen, solche Lippen, solche Hände, nie wieder.
Wir tranken, Ingeborg und ich und Karl. Karl lachte, trank auf Ingeborg, auf mich, auf alle Heiligen, die im Kalender stehen.
Er las eine kleine Geschichte vor, eine geniale, feine Arbeit. Sie hieß „Der Verschwender“.
Ich liebe die Verschwender, die Verschwender, die immer verschwenden, Gold, Gedanken und Gefühle, die alles, alles und immer verschwenden!
Ja, das war Karl! Ich hasse die Bürger, die Krämer, die Rechner, nieder, nieder mit den Bürgern, ja, nieder mit den Bürgern!
A bas, à bas!
Das war Karl.
Wir tranken auf das Wohl der Verschwender, wir tranken auf den Untergang der Bürger.
Ingeborg sang. Sie sang nie so schön wie in dieser Nacht, zum erstenmal dachte ich nicht mehr, daß es Ingeborg war, die da sang, es war eine Stimme, die Stimme einer Sängerin. Ich war fröhlich, leicht war mein Herz. Alles war vergessen, alle Schatten. Hatte ich an Schatten gedacht? Ich war wohl töricht.
Ingeborgs Blick suchte den meinigen, er sprühte Verführung. Ingeborg küßte mein Ohr, als ich am Flügel saß und Karl es nicht sehen konnte. Ich schrie leicht auf. Der Flügel kicherte und lachte.
Ich hörte Ingeborgs alte Stimme wieder, ich sah Ingeborgs alte Augen.
Karl sprühte von Ideen und wir lachten und staunten in einem fort. Er erzählte eine Geschichte von den Obdachlosen, traurige und abscheuliche Einzelheiten, aber er erzählte sie so, daß wir über alles lachen mußten.
Die Nacht verging.
Ein Hahn krähte. Da brachen wir alle in Gelächter aus, aber niemand hätte den Grund angeben können, weshalb wir lachten, denn der Hahn krähte wie ein ganz gewöhnlicher Hahn. Ich erhob mich.
„Freunde,“ sagte ich, „hört! Ich mache euch einen Vorschlag. Ihr seid Freunde, du Ingeborg und du Karl, ich wünsche, daß ihr Geschwister seid. Könnt ihr das, so nennt euch du!“
Ingeborg wurde verlegen. Ihr Blick flackerte. Karl sagte, daß er mir danke, das könnten sie ja einmal versuchen.
Und Ingeborg sagte: „Ja“ und lächelte.
„Gut!“ rief ich. „So küßt euch.“ Ich lachte. Es wurde still.
Welche Kinder sie doch waren, diese beiden!
Ingeborg blickte Karl an, und diesen Blick kannte ich. Ich hatte irgend ihn einmal gesehen, ja, es war droben auf der Höhe, damals als der Wind wehte.
„Nun, so küßt euch doch!“
Karl nahm Ingeborgs Kopf sanft zwischen die Hände und sah sie an. Er wurde bleich und seine Augen strahlten. Er sah schön aus, verlegen und triumphierend zugleich. Das war Karls wirkliches Gesicht. Und er küßte Ingeborg auf den Mund. Ingeborg errötete. Sie schloß die Augen.
Dann waren sie beide verschämt und still.
Solche Kinder waren sie.
„Man muß neue Kerzen aufstecken,“ sagte Ingeborg verlegen, und Karl goß sich das Glas voll und trank auf mein Wohl, mit verlegener Miene. —
Später befahl ich den Wagen und wir fuhren hinein in den Wald, der Tag kam herauf.
Ingeborg wurde still und schläfrig und schloß die Augen.
„Bist du müde, Ingeborg?“ fragte ich.
„Nein,“ sagte Ingeborg. „Ich bin gar nicht müde.“ Sie lächelte mit geschlossenen Lidern. — — — — —
Ingeborg geht herum und hat ein Lächeln auf den Lippen, Träume in den Augen. Wenn ich sie anrufe, so erschrickt sie und sie lächelt mir zu.
„Woran denkst du, Ingeborg?“
Ingeborg lächelt und geht.
„Ich sage es nicht, Axel,“ sagt sie und lächelt über die Schulter zurück.
I ngeborg sang und plauderte. Es war Ingeborgs alte Stimme. Ich hörte einen Schritt über den Korridor eilen, es war Ingeborgs alter Schritt. Ingeborg ging über die Wiese, ich rief sie an, sie wandte sich um, es war Ingeborgs alte Bewegung.
Ich war glücklich, wie im Sommer, ja, aber doch überfiel es mich mitunter, eine leise grundlose Angst, ein Gefühl des Schwindels. Ich dachte, es käme noch von jener Nacht her — ich war nicht mehr so gesund wie zuvor. Dann ereignete sich etwas. Es war an einem Nachmittag.
Ich ging durch den Park, Karl und Ingeborg zu suchen. Sie wollten ein wenig rudern auf dem See. Karl war mit seiner Arbeit fertig, er war unermüdlich im Vergnügen wie in der Arbeit, es mußte immer etwas geschehen. Immerzu war er unterwegs, sein Lachen klang herzlich und laut. Das Kind, das im Dichter steckt, beherrschte ihn in diesen Tagen.
Ich ging durch den Park, ja. Ich war nicht fröhlich, ich wußte nicht weshalb. Aber ich entdeckte, daß der Herbst kommen wollte. Welke Blätter hingen da und dort, die Wipfel waren so dicht, daß man nur kleine, schimmernde, helle Sternchen des Himmels sah, die Bäume hatten alle Kraft entfaltet.
Ein süßer, schwerer, welker Geruch fiel aus den Wipfeln, es roch fast wie in einem Sterbehause. Und es sauste immerzu im Parke. Das war das Sausen des Herbstes, so leise, so müde, so gleichmäßig.
Ein Vogel pipste in seinem Neste. Er wetzte den Schnabel hin und her. Das gab einen leisen, rührenden Ton, es klang als sei der Vogel allein und verlassen im Parke. Der Herbst war im Blute des kleinen Vogels, er wußte nicht, wovon er singen sollte.
Ich kam an den See, Ingeborg und Karl waren nicht zu sehen, der Kahn lag trocken am Ufer. Ich bog in einen schmalen Pfad ein, der mit Moos überzogen war, und überlegte, wo die beiden wohl stecken möchten, da sah ich unerwartet Ingeborgs Gewand durch die dichten Gebüsche schimmern. Ich freute mich. Sie sitzen in der Grotte, dachte ich und beschleunigte meinen Schritt.
Im Park gab es eine Grotte, ein überhängender Fels, ein kleiner klarer Tümpel darunter, in den von Zeit zu Zeit, in gleichen Zwischenräumen ein Tropfen fiel. Der Tropfen rief im Wasser und in der Grotte ein feines Klingen hervor. Das war eine schöne, geheimnisvolle Musik, die man nicht hören konnte, ohne schwermütig zu werden und über die Rätsel der Welt nachzudenken.
Ich freute mich, dort würde ich sie treffen, diese zwei, die ich so sehr liebte. Weshalb schlug mein Herz so sehr?
Ich hörte Ingeborgs Stimme, die einige Worte sprach. Das war unsagbar schön, die Stimme der Geliebten durch die Stille des Parkes zu hören.
Ich ging leise, vielleicht würde sie wieder sprechen.
Sie sprach wieder und es klang als spräche sie in bittendem Tone.
Ich hörte meinen Namen. Mein Herz begann laut zu pochen. Ich lächelte. Ich stand nicht weit von ihnen entfernt und sie wußten nicht, daß ich da stand. Wie schön würde es sein, ihre Worte zu vernehmen und gar, was sie über mich sagten. Dann wollte ich aus dem Gebüsche hervortreten, wie die Zauberer in den Märchen, und sagen: ganz dasselbe denke ich auch, Ingeborg, oder irgendetwas. Und ich freute mich auf ihre überraschten Gesichter und ihr Lachen.
Ich hörte den Wassertropfen in den Tümpel fallen und dann sprach Ingeborg, und es erschien mir plötzlich, als spräche sie ferne. Und doch stand ich nur wenige Schritte hinter ihnen. Ich sah Ingeborgs Nacken, einige Korallenperlen darauf, ich sah einen Hut, Karls Hut und daneben eine knochige, schmale Hand, die das Gras niederdrückte, Karls Hand.
„Was denkst du aber?“ sagte Ingeborg. „Liebst du mich denn nicht?“
Peng — fiel der Tropfen.
Und Karl antwortete mit ernster, gleichtönender Stimme:
„Ich denke an Axels vornehmes Herz und an die schwere Arbeit meines Lebens.“
Die Lider fielen mir zu und meine Arme wurden steif.
Es verging eine endlose Zeit, dann sprach Ingeborg wieder, noch leiser, noch ferner: „Aber was soll ich tun? Karl, Karl, rate mir doch! Ich ertrage es nicht länger. Ich liebe Axel, ja, gewiß, aber —“
Da gelang es mir, die gelähmten Hände an die Ohren zu pressen. Es wetterte dumpf in meinen Ohren, wie in der Nähe eines Dampfkessels. Leise und vorsichtig schlich ich fort, ich tänzelte fast auf dem glatten Moose. Meine Zähne schlugen aufeinander, der Schmerz fiel wie ein Beil in mein Herz.
Aber was soll ich tun? Karl, Karl, rate mir doch —
Ich eilte schneller, erreichte die breite Allee, es wehte zwischen den Bäumen.
Huh, wie blies der Wind so kalt!
Aber was soll ich tun? Karl, Karl —
Ich wünschte, dem Tode zu begegnen. Ich lief, ich taumelte, ich stöhnte — immer noch hielt ich mir die Ohren zu. — — —
Es liegt ein Mann in der Nacht und findet keinen Schlaf. Er wartet, ob sich nicht eine Türe rührt. Daran dachte ich. Nun wußte ich es.
Lange Zeit verging, dann kamen sie, Ingeborg und Karl.
„Wir haben einen wunderschönen Spaziergang gemacht,“ sagte Ingeborg hastig, „nicht, Karl?“
Karl erwiderte nichts.
Eine Lüge flackerte in Ingeborgs Stimme, ein Geheimnis schwieg in Karls Schweigen.
Ich lächelte, ich beherrschte mich.
„Hungrig werdet ihr sein, Freunde. Kommt!“ sagte ich.
Und ich ging voran und sie folgten mir, Ingeborg und Karl.
A m andern Tage reiste Karl ab, er ließ sich durch kein Zureden halten. „Ich muß, Axel!“ Ich ließ ihn ziehen, ich liebte ihn. Ingeborg war bleich, ohne Worte.
Die Felder sind gemäht. Die Wiesen sind braungrün. Die Sonne funkelt noch, aber ein leichter Wind weht immerzu, herauf aus dem Tale und verweht die Strahlen der Sonne.
Der Sommer verglüht, der Herbst kommt, bald werden die Krähen schreien, denke ich. Und ich sehe in Gedanken Schnee vom Himmel fallen.
Es ist schwül im Hause und doch zieht es, wo man geht. Die Hände und Füße frieren, ein kalter Atem streicht über den Rücken.
Es ist nun sehr stille geworden bei uns und die Uhren ticktacken, wohin man kommt.
Ingeborg sitzt am Fenster und blickt die Straße hinab, die ins Dorf führt.
Vor dem Hause auf der Wiese steht eine Birke, eine neue Bank, aber es ist eine andere Birke, eine andere Bank.
Ich lächle und sage zu Ingeborg:
„Wie stille ist es bei uns, gute Ingeborg!“
Es sei sehr stille, ja, erwidert Ingeborg und blickt lächelnd zu mir empor.
Ich gehe. Dieses Lächeln tut mir weh.
So vergeht der Tag.
Ingeborg sitzt am Fenster und blickt die Straße hinab, die zum Dorfe führt.
Ich setze mich zu ihr und sage: „Wie man doch Karl vermißt. Ein solch gütiger Mensch, ein solch herrlicher Mensch! Wie schön war er doch anzusehen, wenn er kutschierte! Wie ein griechischer Wagenlenker stand er im Wagen und ließ die Peitsche über den Pferden knallen und schrie, daß die Pferde scheuten und sein langes, rotes Haar flatterte im Winde um sein lachendes, verzücktes Gesicht.“
Ingeborg lächelt und blickt hinab über die düstern Buchenwälder, die sich leise wiegen.
Ingeborg lacht leise.
„Sonderbar war er vor allem, sonderbar in allem, was er tat. Erinnerst du dich, wie er am ersten Abend sagte, die Frauen seien ganz gute Geschöpfe, glaube er. Und er erzählte von einem armen Mädchen, das ihm eine Kravatte geschenkt habe? Wie hörte sich das an! Und zu gleicher Zeit schrieb er an einem Gedichte, zwölf Gesänge zur Verherrlichung der Frau — haha!“
„Ja, sonderbar war er, du hast recht, Ingeborg. Wer ist er doch? Ich habe nie eine Silbe der Klage von seinen Lippen gehört, nie einen Zug des Unmutes bei ihm gesehen. Und doch hat er so viel gelitten. Immer fröhlich ist er und immer schenkt er.“
Darauf spricht Ingeborg und sie zieht bedeutsam die Brauen in die Höhe: „Ein Weiser ist er und ein Kind. O, er ist ein Mensch! Ich habe eine Stelle in einem seiner Bücher gefunden, die heißt: Leiden mußt du können bis zur Verzweiflung und lachen bis zum Irrsinn, ohne zu verzweifeln, ohne irrsinnig zu werden. Das sagt viel von ihm.“
Und Ingeborg lächelt und sieht die Straße hinab und eine kleine Falte ist zwischen ihren Brauen zu sehen. Ihre Lider sind halb geschlossen.
Ich gehe. Diese kleine unterdrückte Falte zwischen den Brauen zerschneidet mir das Herz.
So vergeht der Tag.
Und Ingeborg ist blaß und ein eigentümlicher Schein ist in ihren Augen. Wo sah ich doch diesen Schein schon und diese erstarrte Miene?
Es fällt mir ein: damals auf der Höhe, an jenem Abend, bevor wir uns küßten.
Ingeborg lacht eigentümlich und sagt: „Weißt du, woher die Feuerlilie ihre Glut hat und die Amsel ihren Gesang?“
Nein, das wußte ich nicht. Wie sollte ich wissen, woher die Feuerlilie ihre Glut und die Amsel ihren Gesang hat? Ich hatte mich nie mit diesen Dingen beschäftigt.
„Karl weiß es!“
Karl weiß es. Bin ich ein Dichter? Nein. Karl ist ein Dichter und mußte es wohl wissen.
Ingeborg blickt an mir vorüber, hinunter auf die Straße, die zum Dorfe führt, und spricht:
„Karl hat eine neue Unsterblichkeitslehre gefunden. Wie groß ist ihm der Mensch. Mir verriet er es, mit niemand sprach er sonst davon.“
„Weißt du, wie man sich Zuneigung und Abneigung erklären kann? Er sprach von Geschlechterreihen und daß —“
Was weiß ich von diesen Dingen?
Der Tag vergeht, es weht vom Tal herauf. Grellgelbe Flecken bekommen die Wälder. Ein einzelner brennendroter Baum steht in der Ferne im grünen Walde.
Ich gehe herum und sinne. Ich gehe in die Ställe und sehe den Knechten nach. Ich spreche mit ihnen. Ich gehe in die Scheunen, wo die Futterschneidmaschine surrt. Es treibt mich herum.
Ingeborg! Ingeborg! Jeden Tag gehst du weiter weg von mir, Ingeborg. Bald werde ich dich nimmer sehen. Jeden Tag klingt deine Stimme ferner, es wird ein Tag kommen, da werde ich dich nimmer hören können. Eine fremde Sprache wirst du sprechen.
Eine große Traurigkeit breitet sich in meinem Herzen aus und alles will sie verdunkeln. O, Ingeborg, Ingeborg!
Es treibt mich herum. Ich fasse einen Baum an und sage zu dem Baume: O, Ingeborg!
Hin und her wandere ich. Ich kann mich keinen Augenblick mehr niedersetzen. Ich zernage mir die Lippen. Der Schrecken lähmt mich zuweilen, so daß mein Herz stille steht. Mein Gesicht ist erstarrt, es ist ganz steif geworden. Ich habe das Gefühl, als müßte ich in die Knie brechen. — Zuweilen habe ich es —
Es zerbröckelt etwas. Es zerbröckelt unaufhörlich, ich fühle es, ich höre es, es zerbröckelt um mich, in mir —
Ich schlafe nicht mehr. Ich liege immer, immer wach. In meinem Kopfe jagt es. Gegen Morgen sinke ich vor Mattigkeit in den Schlaf. Ich träume, daß ich weine. Ich höre mich weinen, ich erwache, meine Augen sind trocken, aber es weint in mir. Ich bin erstaunt, ich erschrecke, es weint immerzu in mir.
Ich sehe nicht gut aus. Ich sehe gealtert aus. Ich fühle, wie Ingeborgs Blick auf meinem Gesichte ruht. Ich fühle, daß alle Worte sie reuen, die sie über mein Gesicht sagte. Ich fühle es.
Ich spreche mit Ingeborg. So gütig wie möglich suche ich zu sprechen.
„Erinnerst du dich, wie wir unter dem Apfelbaum saßen, er blühte?“
Ingeborg schweigt.
„Der Sommer war doch schön, Ingeborg?“
Ja, er war schön, sagt Ingeborg mit einer teilnahmslosen, müden Stimme. Gereiztheit verbirgt sich darin.
Das hat mir wehe getan!
Ich gehe. Es treibt mich herum.
Hin und her gehe ich und überall stehe ich und plaudere ein paar Worte mit dem Gesinde.
„Hat sie noch ein wenig Sonne erwischt?“ sage ich zur alten Maria, die am Fenster sitzt und Strümpfe stopft. Ich spreche sanft und ich bin ergriffen, als spräche ich zu meiner Mutter. Ganz eigentümlich ist das.
„Ja, es ist heute warm. Bald wird der Winter da sein, ehe man sich umschaut.“ Sie glaube, daß heuer der Winter früh komme.
„Das glaube ich auch,“ sage ich. „Ich glaube sogar, daß es ein strenger Winter werden wird.“
Die Schlehen hätten so stark geblüht, ja.
Was sie da für einen Vogel habe. Ganz traurig sähe er aus. Er sänge wohl nicht.
„Ein Rotkehlchen, Herr. Singen tut es nicht, nein.“
Sie habe einen Kanarier gehabt, er sei gestorben. Sie glaube, er sei aus Furcht vor der Katze gestorben. Wenn sie das gedacht hätte, wäre die Katze nicht ins Zimmer gekommen. Aber sie könne keinen leeren Käfig sehen, bis ein neuer Kanarier zu haben wäre, wolle sie das Rotkehlchen behalten.
„Höre,“ sage ich, „schenke mir das Rotkehlchen. Ich besorge dir einen Kanarier. Die sind es seit jeher gewöhnt, in Käfigen zu sitzen und singen auch.“
Schon recht.
Ich nehme den Käfig und gehe zu Ingeborg. Ingeborg sitzt am Fenster und blickt in den Sonnenuntergang hinaus. Sanft geht der Tag zu Ende, mit gleichmäßiger Röte im Westen und zitternden Wölkchen am hohen Himmel. Ganz wie ein Frühlingstag. Die Luft weht lau, klingende Rufe zittern aus dem Tale herauf.
„Sieh,“ sage ich.
„O!“ sagt Ingeborg.
„Ein Rotkehlchen gehört in den Wald, nicht in den Käfig, Ingeborg, denke.“
Ingeborg sieht mitleidig lächelnd und voller Liebe auf das Vögelchen, als blicke sie einem armen, weinenden Kinde in die Augen. Eine schöne rote Brust hat der Vogel, in die er den klugen Kopf drückt. Seine Augen sind schwarz wie Beeren und spähen ängstlich.
Ich will sprechen, aber ich kann es nicht.
Auf der Wiese nahe der kleinen Birke steht ein alter Knecht, in zusammengeschrumpften Hosen und blauem Arbeitskittel, er ruft zu einem Bauern auf der Straße hinüber. Von einer Kirchweih erzählt er. Er lacht, aber er bewegt die Arme, als wolle er Streit anfangen.
„Es ist ein armes Vögelchen, ging gerne in die Freiheit,“ sage ich.
Ingeborg denkt, was meint er doch? Sie blickt mich an und ihre Lider zucken verlegen.
Der Knecht auf der Wiese lacht und ruft: „Alle Hohenfichtener sind dagewesen. Eine Hetze war es, haha!“
Hahaha — antwortet es von der Straße her. Und der Knecht bricht wiederum in Gelächter aus. Glücklich und jung lacht er trotz seiner grauen Haare.
„Siehe, Ingeborg, was ich mit solchen eingesperrten Vögelchen tue.“
Ich öffne den Käfig. Das Rotkehlchen steht unter der Türe, pfeift schüchtern und wendet das gereckte Köpfchen nach links und rechts. Glaubt man nicht, man könnte ohne weiteres fortfliegen, denkt es — zit zit! Es betrachtet sich die weite Welt und schüttelt die Flügel.
Ich lächle.
„Es will gar nicht gehen. Aber die Türe steht ja offen. Ich bin doch nicht so grausam, es zurückzuhalten —“
„Geh, kleiner Vogel, flieg!“
Zit! pipst der Vogel. Er blickt rasch zurück, dann gleitet er vom Gesimse und breitet die Flügel aus.
Er fliegt bis zur kleinen Birke, läßt sich nieder und beginnt zu schmettern. Dann schwingt er sich in die Höhe und fliegt hinein ins Tal, berauscht, in großen Bogen. Er begegnet einigen Schwalben und scheint ihnen etwas zuzurufen, denn die Schwalben ändern plötzlich die Richtung und geben ihm ein Streckchen das Geleite.
Ich vermag es nicht, Ingeborg in die Augen zu sehen, und so blicke ich dem kleinen Vogel nach, der in die Freiheit hinausflog. Bald sieht es aus, als fliege ein Schmetterling im geröteten Himmel.
Dann zittert nur noch ein Pünktchen über dem Tale, es tanzt auf und ab.
„Siehst du, ich bin doch nicht so grausam, ihn zurückzuhalten? Ich freue mich mit ihm über seine Freude.“
Da begegne ich Ingeborgs Blick. Sie hat verstanden.
Sie blickt mich an und ich sehe, daß sie irgendetwas tun möchte, um mir zu danken. Aber sie wagt es nicht.
Sie blickt mich nur an.
Wir geben uns die Hand.
Vor dem Hause erzählt der Knecht immer noch von der Kirchweih und dem Tanze in Rotenbuch.
Ich höre es, verstehe jedes Wort, obgleich mein Herz zerbricht.
I n jener Nacht lag ich ausgestreckt in meinem Zimmer und rührte mich nicht. Ich lag und blickte zur Decke empor und rührte mich nicht.
Da schlich es, es knisterte und rauschte. Ingeborg glitt neben mir auf den Boden.
Sie umschlang mich und küßte mich, sie küßte jede Stelle meines Gesichtes, meinen Hals, meine Hände. Sie weinte, ich hörte es nicht, aber ich spürte ihre Tränen. Sie badeten mein Gesicht, meinen Hals, meine Hände.
Mir war so wohl, so wohl. Ich dankte ihr. Ich wurde fröhlich, glücklich war ich. Mehr, mehr dachte ich.
Dann flüsterte sie: „Ich erinnere mich freilich daran, wie wir unter dem blühenden Apfelbaum saßen. An alles, alles erinnere ich mich, Axel. Ich werde nichts vergessen, nichts.“
Und sie erzählte von unserem Frühling, unserem Sommer immerzu, jede Einzelheit.
Mir war so wohl, so leicht . . .
N euer Morgen kam — er mußte kommen, die Sonne mußte aufgehen. —
Die Sonne geht auf und die Fenster des Schlosses strahlen, als sei es zu einem Feste beleuchtet.
Es ist kühl und im Tale ziehen Nebel. Feucht riecht der Wald, es glitzert und Tau perlt an den Gräsern. Spinnengewebe hängen an den Brombeerbüschen und zwischen den Halmen, und in jedem liegt ein ovaler Tautropfen wie in einer feingesponnenen Wiege.
Es rasselt, der Wagen fährt vor. Ich trete aus dem Hause, Pazzo folgt mir. Ich spreche mit dem Kutscher. Mägde schleppen das Gepäck.
Da kommt Ingeborg die Treppe herunter, sie knöpft sich die Handschuhe zu. Sie trägt einen breiten Hut und das ist auffallend, denn den ganzen Sommer über trug sie nie einen Hut. Der Hut verändert sie, der Reisemantel, fast wie eine Fremde sieht sie aus.
„Ein schönes Reisewetter, Ingeborg“, sage ich. Ich lächle, ich will es ihr leicht machen.
Ingeborg hat Tränen in den Augen.
„Verzeih, verzeih“, flüstert sie und beschwört mich mit den Blicken.
„Beruhige dich, Ingeborg!“
„Ich kann ja nicht anders. Es ist mein Schicksal!“
„Wohl weiß ich das.“
Die Pferde scharren mit den Hufen. Pazzo bellt und umkreist den Wagen. Der Kutscher sitzt steif und bereit zur Fahrt.
„Adieu, Ingeborg!“
„O, Axel!“
„Grüße Karl!“
„Ich danke, Axel!“
„Wenn du mich besuchen willst, ich freue mich immer über deinen Besuch, du weißt es.“
„Freilich, freilich besuche ich dich. Bald besuche ich dich.“
„Wenn du ausruhen willst, nirgends ist es stiller als hier, du weißt es.“
„Ich denke daran. Schreibe bald, Axel! Versprich es!“
„Ich werde schreiben.“
Hastig nestelt Ingeborg an den Handschuhen und zieht sie von den Händen.
„Lebewohl, Axel!“
„Ingeborg, lebewohl!“
Wir küssen uns. Ich stehe auf dem Trittbrett des Wagens und Ingeborg umschlingt mich mit den Armen. Unter dem Hoftore stehen Knechte und Mägde, die begreifen nichts.
Die Pferde ziehen an, der Wagen rollt die Straße hinab.
Pazzo heult kläglich, bellt, blickt auf mich.
Adieu! Adieu!
Ingeborg steht im Wagen und winkt mit dem Taschentuch.
Noch sehe ich ihre Augen deutlich und den bittenden Ausdruck des Antlitzes, das unter dem breiten Hute leuchtet. Golden schimmern die Lockenbüschel. Nun sehe ich die Augen nicht mehr, etwas Blasses schimmert unter dem Hute. Das weiße Tuch weht.
Der Wagen biegt um die Ecke, ganz klein ist er geworden.
Eine weiße Taube flattert im Walde, ein Beschläge blitzt, nichts ist mehr zu sehen. Wald, Wald, Wald —
Pazzo winselt und kläfft. Er springt an mir empor.
„Pazzo!“
Pazzo fliegt in großen Sprüngen den Berg hinunter. Das ist noch ein letzter Gruß, nicht?
Adieu, Ingeborg! — —
Ich habe einen Geschmack auf den Lippen.
N un ist Ingeborg fort. —
Ich sehe einen Mann, der die Stufen zum Hause emporsteigt. Er steigt und steigt, wieviele Stufen sind es doch? Er blickt nicht zurück. Er steht vor der Türe, öffnet sie, sie ist schwer. Er blickt nicht zurück. Er verschwindet im Hause. Er steigt die Stiege empor, er geht den langen weißen Korridor entlang. Er bleibt stehen, die Augen fallen ihm zu.
Dieses ist ein Mann, der alles was er besaß, verlor. Er erblaßt. Es sind zwei Worte an eine weiße Türe gekritzelt. Er sieht über sein Zimmer. Es ist sein Zimmer. Da sieht er nun, sieht in sein Zimmer und wagt es nicht, es zu betreten. Er wagt es nicht, nein! Dieses Zimmer ist leer, leer.
Schreien, lachen, niederstürzen? Wie? Nein, nichts von alldem. Ein Zittern in den Händen, ein Beben der Knie, das ist alles. Verzweifelte Gebärden in mir, tief in mir. Wirre, jagende Bilder in meinem Kopfe, sie zerbrechen, andere kommen, zerbrochene. Sie zerbrechen.
Ich setze mich in einen Stuhl. Ich lächle.
Ich habe einen Geschmack auf den Lippen. Adieu, adieu. Ich nehme Abschied. Tautropfen, bittende Augen, eine nackte Hand. Eine Stimme.
Sie schwebt über mir wie Gesang. Ich verneige mich vor der Stimme. Ich lächle. Ich stehe auf dem Trittbrett und lege meinen Arm um Ingeborg.
Wie verzweifelt das Lächeln hin und her irrte auf ihrem Antlitze? Und ihre Augen, die segneten, segneten! Gelobet seist du in alle Ewigkeit, Ingeborg! Ich liebe dich.
Mein Herz krampft sich zusammen, es wird dunkel in meinem Kopfe. Ja, nun ist sie fort. Ich habe alles verloren, was ich besaß.
Ich stehe auf. Es dreht mich im Kreise. Vor meinen Augen wird es schwarz. Soll ich niederstürzen? Dürfte ich es doch! Ein klein wenig. Einmal zusammenbrechen, schreien, eine Sekunde nur. Nein, ich tue es nicht, ich stehe aufrecht, ich kämpfe. Ich beginne zu wandern. Meine Wanderung beginnt.
Sie dauerte Wochen, Monate, nun begann sie.
In den Wald? Nein, da ist sie. Vielleicht gar in die weißen Zimmer? Wohin? In den Keller? Da ist sie auch.
Was ich gewesen bin, was ich war, was ich sein konnte, Sonne, Glück, Schönheit, Reichtum. Alles verloren. Vorbei das Wandeln.
Nein, ich brach nicht zusammen, ich schluchzte nicht, ich grub nicht die Nägel in die Schläfen. Das ist nicht wahr, ich tat es nicht. Ich zerriß ein Taschentuch in Streifchen, das tat ich, ja, das!
Ich wanderte. Wenn ich nur gehen durfte.
Auf der Straße waren die Spuren von Rädern und Hufen zu sehen. Fußspuren. Ich entdeckte meinen Schuhabdruck, ich entdeckte ihren Schuhabdruck. Ich sah ihn an. Ich fühlte beobachtende Gesichter hinter mir, deshalb ging ich. Morgen würde man diese Spur im Staube nicht mehr sehen. Sie hat sich in mein Gedächtnis eingegraben, oft träumte ich von der Spur im weißen Staube. Ich ging in den Wald, stand stille. Adieu, adieu, immerzu nahm ich Abschied. Ich ging zurück ins Haus, kam wieder zum Vorschein, stand wieder bei der kleinen Spur im Staube.
Der Wagen kam von der Station zurück. Der Kutscher sprang vom Bock und ein Knecht kam und spannte die Pferde aus.
Ich fragte den Kutscher: „Wo ist Pazzo?“
Der Kutscher hatte ihn nicht mehr gesehen. An der Station sah er ihn zum letztenmal. Weiß der Teufel wo der Hund steckt. Ja, weiß der Teufel — haha!
Dieser Wagen war fürchterlich leer. Ein elender Anblick war dieser leere Wagen. Glatt waren die Polster, nichts war auf den Polstern zu sehen.
Ein Knecht kam mit der Bürste.
„Laß es. Schiebe den Wagen in die Remise. Eine Decke darüber, so wie er ist. Der Wagen ist altmodisch, ich habe einen neuen bestellt.“
Ich trat ins Haus.
„Daß du mir etwas Ordentliches kochen läßt, Mütterchen,“ sagte ich zur alten Maria. „Ich habe einen schrecklichen Hunger, bin heute früh aufgestanden.“
Die alte Marie hatte etwas auf dem Herzen. Man sah es gleich an der Art, wie sie sich umwendete.
„Sprich nur.“
Auf wielange die Herrin fortreise?
Das könne man nicht so genau sagen. Vielleicht einen Monat, vielleicht ein Jahr. Sie sei nach Paris gereist.
„Nach Paris?“
„Ja, verstehst du, um das Singen zu lernen.“
Aber das könne sie doch schon.
„Mütterchen, haha, gelungen sprichst du daher. Wie kannst du über diese Dinge sprechen?“
Freilich könne sie schon singen, schön sogar, sehr schön. Aber es muß alles gelernt sein, heutzutage, auf den Schulen. Siehst du, du kannst sehr klug und gelehrt sein, warst du nicht auf vielen Schulen, so glaubt es dir kein Mensch und du hast nichts davon.
So ist es auch mit dem Singen.
Der Tag ging langsam. Ich hatte nichts zu tun. Langsam drehte sich der Schatten der kleinen Birke im Kreise. Pazzo war noch nicht da.
Also an der Station sahst du ihn zuletzt?
Ja, Herr.
Und dann nicht mehr?
Nein, Herr.
Ich stahl mich in die Remise. Ich lüftete die Decke, die über den Wagen gebreitet war. Bestaubt stand er da. Ich suchte in den Polstern, Staub um die Knöpfe, sonst nichts. Es war nichts zu finden.
Ich nahm den Hut und Stock und pfiff. Ich erinnerte mich, daß Pazzo ja nicht da war. Ich lächelte. Ich stieg die Straße hinab, dieselbe Straße. Deutlich konnte ich die Räderspuren herausfinden, auch Pazzos Spur. Er war gehetzt. Wie große Ausrufezeichen sahen seine Spuren aus. Ich kam an die Stelle, wo er den Wagen eingeholt hatte. Der Wagen hatte gehalten, Pazzo war in den Wagen gesprungen. Das sah ich alles aus den Spuren. Im Dorfe verschwand die Spur des Wagens, hinter dem Dorfe tauchte sie wieder auf. Sie zog mich durchs Tal, über den Berg hinüber, an Rote Buche vorbei. Da waren alle Läden geschlossen. Sie zog mich bis zur Station. Ich stand am Perron und blickte dem Geleise nach. Ein Beamter trat heraus und grüßte.
„Ich suche meinen Hund,“ sagte ich.
Ja, ach ja, dieser Hund. Es sei eine Wirtschaft gewesen. Der Hund wollte nicht außen bleiben. Er habe geheult und gewinselt. Die Fürstin wäre ganz ergriffen gewesen.
Soso.
Ich ging die Geleise entlang. Hier lag Sand, ich konnte Pazzos Spuren nicht entdecken. Diese Geleise. Sie glänzten. Ich berührte sie mit dem Finger. Ich sah ihnen nach. Sie erschienen mir so sonderbar. Sie zogen mich, zogen mich. Ich rollte auf ihnen dahin, flog, flog. Ich sah einen grellgelben riesigen Eichbaum am Bahndamm. Ich sah ihn mir an. Gewiß war er ihr aufgefallen.
Ich wurde zu einem Eisenbahnzug, sauste, flog durch die Wälder und Wiesen, die Wälder und Wiesen drehten sich mir entgegen. Wieder, da stand ich auf einer Station und sah auf einen Kopf hinter einer Scheibe. Ein runder, feiner Kopf, glatte goldene Haare, Lockenbüschel, die bis zur Schulter herabfallen.
Dann ging ich quer durch den Wald nach Hause. Immer stand ich auf dem Trittbrett des Wagens. Es jagte in meinem Kopfe. Meine Hände zitterten.
Ich hatte im geheimen gehofft, Pazzo anzutreffen. Er war noch nicht zurückgekommen. Nun, Geduld!
Ich hatte nicht daran gedacht, daß die Sonne untergehen würde, daß die Nacht heute kommen könnte. Aber alles ging seinen Gang, als wäre nichts geschehen. Plötzlich wurde alles rot, durchtränkt vom Blute der Sonne. Auch meine Hände. Friede und Schönheit überall, meine Brust tobte. Dann sah ich es mit Grauen dunkel werden, immer dunkler. Asche fiel auf die Erde. Finstere Schatten hoben sich aus den Wäldern, irrten hin und her und kauerten sich nieder. Es wurde still, so still wie es nie war. Schweigen, Schweigen. Nicht jenes Schweigen, das man noch hört, nein, ein tieferes unhörbares Schweigen, ein grauenhaftes Schweigen, das mich lähmte. Leer, alles leer.
Nun brach die Nacht an. Pazzo war noch nicht zurückgekehrt. Ich ging hin und her. Ich wartete, ja, worauf wartete ich denn? Ich wartete darauf, daß das Haus über mich zusammenbräche. Ich ging gedankenlos an den Flügel und schlug eine Taste an. Es war ein heller Ton, Ingeborgs Ton war es. Jeder Mensch hat seinen Ton. Mußte ich auch gerade Ingeborgs Ton unter den Finger bekommen.
Ich zündete eine Kerze an, aber die Flamme flüsterte, sie sprach, ein Gesicht erschien in der Flamme. Ich verlöschte sie wieder, viel zu viel wußte die Flamme.
Ich ging hin und her. Es war dunkel. Ich trat ans Fenster. Alles war schwarz. Selbst die Luft war schwarz. Die Sterne fielen vom Himmel und zersprangen auf den finsteren Äckern.
Mich fror.
Plötzlich sah ich ein Zimmer vor mir, eine Lampe war darin, zwei Menschen unter der Lampe, ein Gesicht rückte in den Lichtkreis. So deutlich sah ich es. Ich schloß die Augen.
Ja, Karl konnte Ingeborg haben, wenn Ingeborg nur wollte. Er ganz allein, ja. Er hatte nie ein Glück gekannt, Hunger und Sorgen und Nächte voller Arbeit, er hatte Ingeborg nötig. Dann war es Karl, der Dichter! Ich dagegen, wer war ich gegen Karl?
Ich würde auch allein leben können — ja auch allein, dachte ich und ging mit steifem Körper hin und her. Mich fror. Alles war leer, alles. Ich dachte an die Fußspur im Staube, an die Geleise in der Sonne. Ich sah wie jemand die Handschuhe abstreifte. Ich sah ein Gesicht, das in der Ferne entwich, ein Paar Augen, die kleiner und kleiner wurden. Ein Tuch flatterte im Walde.
Ich preßte die Finger auf die Augen und drückte die Daumen gegen die Schläfen. Ich saß und dachte, dachte, dachte immerzu.
Da hörte ich ein leises Wimmern, als ob ein Kind wimmere.
Ich erschrak.
Ich stand auf, räusperte mich und ging wieder auf und ab. Mein Glück, meinen Sommer im Kopfe, Ingeborg, jeden Schritt, jedes Lachen im Kopfe und das andere im Kopfe, so ging ich hin und her. Ich hatte ja seit einigen Tagen gewußt, daß das andere kommen würde, daß diese Nacht, da alles leer war, kommen würde, ich hatte es gewußt, meine Seele gewappnet — aber — —
Nein, nein, nein!
Ich stand in meinem Zimmer, preßte die Hände auf die Augen und sagte immer das gleiche Wort. Nein, nein, nein . . .
Die Nacht verging, der Tag graute.
Wie verging diese Nacht? Gott weiß es. Auch ich weiß es. Ich denke nicht daran. Ich habe mich nicht auf den Boden geworfen, ich habe mir nicht die Haare gerauft und die Brust zerfleischt, nein, wer dies behauptet, der lügt. Ich hatte nur etwas Blut am Kinn, das war alles.
Die alte Maria entdeckte es, ich hatte es nicht weggewischt. Ich lächelte, so gut es ging, es wollte nicht gut gehen, diesmal, nein, aber doch brachte ich es fertig.
„Ist Pazzo nicht gekommen?“ Nein.
„Der Schlingel!“ sagte ich und lächelte. Ich sah mein Gesicht dabei, wie ich es sagte, mein Lächeln. Meine Stimme hatte sich verändert.
Die alte Maria starrte mich an und ging rückwärts zur Türe hinaus.
Natürlich, ich konnte nicht wie ein Bräutigam aussehen. — — —
Erst einige Tage danach fand ich es: viele, viele meiner Haare waren weiß geworden. Ich war sehr betrübt darüber.
E s kamen die Tage des lauten Schmerzes.
Allmächtiger Geist über den Sternen, Vater der Menschen, habe Erbarmen mit mir. Ein neues Herz, ein neues Hirn! Ich flehe dich an, ein neues Herz, ein neues Hirn! Erbarme dich meiner! — —
Ein Gebet war in mir, meine Lippen flüsterten es nicht, meine Seele sprach es. Einst lag ich in der Nacht im Walde, da hörte ich, wie meine Seele es sprach, ich lauschte, ich verstand. Es waren diese Worte.
Ich dachte, ich könnte nicht unglücklicher werden, als ich in jener ersten Nacht war. Ich dachte, ich hätte den tiefsten Grund des Unglücks erreicht. Nein. Es sollte in die Tiefe mit mir gehen, jene erste Nacht war die erste Stufe, dann ging ich Stufe um Stufe abwärts, immer tiefer, immer tiefer.
Ich habe die Hände gerungen, ich lag Nächte hindurch im Walde und preßte die Zähne zusammen, ich irrte umher, durch Nacht und Regen, mit verwirrtem Sinn. Die Bäume woben sich zu Ingeborgs Antlitz, die Wälder, die Wolken, wo ich hinsah, da war es, da lächelte es, da schimmerte es. Ich sah es im Sternenhimmel. Und schloß ich die Augen, so war es in mir, in mir da funkelte Ingeborgs Antlitz in den Farben des Brillanten. Überall waren Rufe, überall ein Flüstern, ein Lächeln, Worte, Gesang.
Daß ich doch krank würde! Krank, lange Wochen und dann erwachte, erneuert, gesund — — o, o! Daß ich doch körperliche Schmerzen zu ertragen hätte, die mich vergessen ließen, was da innen so wehe tat.
Einmal hagelte es, ich weiß es, ich nahm den Hut ab, die Schloßen schlugen mich auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Lippen und Augen, es war wie eine Züchtigung, die der Himmel über mich verhängte. Das tat gut. Ich verstand viel, viel, was ich nie verstanden hatte. Die Klöster, wo sie kein Wort mehr sprachen, nur knieten, knieten, lange Gänge entlang rutschten auf den wunden Knien, ich verstand die Flagellanten, die sich den Rücken geißeln, die Einsiedler in den Wüsten. Das war eine Wonne, o, das war ja eine Wonne gegen all das andere, gegen das da innen.
Ich verstand die Trinker, die Verbrecher, die Elenden, die Verworfenen.
Ich erinnerte mich an Harry Usedom, wie er vor uns im Walde stand und mit den Fingern auf sein Herz trommelte. Ich erinnerte mich an Claire Davison, wie sie vor mir stand, einst, wie sie drei Worte sagte: Leben Sie wohl! Ich verstand sie nicht, nicht diesen Blick. Ich habe gesündigt an ihr, schwer gesündigt.
O, wenn dich einer liebt, so sei gütig und schonend gegen ihn, wandere, wandere, bis du ihn findest, wirf dich in die Knie und danke ihm!
Ich irrte umher. Tage und Nächte. Lange Tage kam ich nicht in mein Haus zurück. Lange Tage kam ich nicht in eine menschliche Wohnung. Ich war da tief drinnen im Walde. Ich redete mit mir, mit den Bäumen — —
Ein neues Herz, ein neues Hirn! Es betete in mir, betete — —
Ich habe Ingeborg oft gesagt, daß ich sie liebe. Nein, ich liebte sie nicht. Ich glaubte es, ja, ich log nicht, aber ich liebte sie in dem Augenblick erst, da sie mich verließ. Ich wußte nicht, was Liebe ist, nein. Nun wußte ich es. Ich fand kein Wort mehr für diese Liebe, die die richtige war. Flammen, Brausen, das war sie. Sie zerriß mein Herz. Es war, als schnitten Messer kreuz und quer in meinem Herzen. Das war sie.
Ich ging durch den Wald, es war Nacht, es brauste im Walde, die Blätter fielen.
Ich ging, ich ging neben Ingeborg einher. Ich sprach mit ihr. „Ich liebe dich,“ sagte ich, „Ingeborg, jetzt, ja, jetzt liebe ich dich! Jetzt bist du in mir, jetzt — keine Worte —“ Die Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich kniete nieder und drückte die Stirne in den Boden.
„Jetzt liebe ich dich, Ingeborg, jetzt.“ Es stach in mein Gesicht, Nadeln stachen und Ästchen, ich drückte die Stirne tief hinein, es schmerzte, ich hob das Gesicht, es war gespickt mit Nadeln.
„Jetzt liebe ich dich, Ingeborg! jetzt!“ — — —
Wenn aber Gott aus seinem Sternenwagen gestiegen wäre zu mir herab in den Wald, wo ich litt und verzweifelte, wenn er es getan hätte und gesagt: Ich will dir ein neues Herz geben, ein neues Hirn! Siehe, jetzt lösche ich alles aus, alles.
Nein, nein, mein Gott, tue es nicht!
Das hätte ich geschrien.
Die Tage gingen, ich wurde ruhiger.
Ja, es ist wahr, mein Herz zitterte noch, es war, als verändere es seinen Platz in der Brust, es war, als fräße etwas daran, als hinge etwas Schweres mit scharfen Zähnen an meinem Herzen, es ist wahr, ich erwachte oft des Nachts, weil ich weinte, ich schlief auch wenig, aber ich war doch ruhiger geworden.
Ich begegnete Harry Usedom im Walde.
Wir sahen uns an. Wir grüßten. Wir gingen aneinander vorüber.
T rauer erfüllte mein Herz. Eine schwere, tiefe Trauer, sie erfüllte mein Herz, stieg bis in den Hals, die Augen, ich dachte, es würden Tränen aus meinen Augen fallen, sobald ich den Kopf neigte. Deshalb neigte ich ihn nicht , ich ging aufgerichtet einher.
Das war der Herbst. Das Laub färbte sich, es war als schicke die Erde ihr Blut in die Äste, auszublicken, auszuspähen, da der lange Winterschlaf kommen sollte, wo sie nichts mehr wußte. Der Wind wehte, und das Laub fiel. Zuerst von den obersten Ästen, dann bis tief herunter. Die Bäume standen kahl, nackt, sie grämten sich, sie verzweifelten, sie resignierten. Sie lächelten in der matten Sonne, wie Sterbende lächeln. Es gab einzelne Blätter, die sich verzweifelt wehrten und nicht fallen wollten. Aber der Wind riß und riß und endlich riß er sie doch los und warf sie roh triumphierend in die Luft. Und mir war es, als höre ich die flatternden Blätter schreien. Die Vögel sammelten sich, sie schrien, lärmten und eines Tages schwangen sie sich in die Höhe und zogen fort.
Es wurde stiller, stiller. Auch die Grille zirpte nicht mehr des Nachts. Es war ein Weinen im Walde, ein unterdrücktes Schluchzen irrte in der Mitte des Waldes.
Von den Kastanien vor dem Hause fielen die Blätter, es knallte, eine Frucht zerplatzte auf den Stufen. Nun hingen nur noch einige Blätter daran, sie sahen aus wie verkrümmte, vertrocknete Hände. Das Haus stand kahl da, nackt, geschoren, bloßgestellt, es war größer geworden, größer und öder.
Das ganze Tal machte den Eindruck eines Zimmers, dem man Vorhänge, Teppiche und Bilder genommen hat.
Schmutziggraue Wolken schleppten sich über das Tal. Ich dachte an die schaumigen, weißen Wolken des Sommers, die über den blauen Himmel schwebten, Verzierungen gleichsam, ein Schmuck des Sommers. Ich dachte an den Herbst im vorigen Jahre, der mein Herz entzündet hatte mit seiner Glut, seinem Stolze, seinem jauchzenden Tode.
Ich war traurig, ich empfand nichts mehr, keine Farben, keine Gluten, es war auch alles schmutzig, müde, es war ein Herbst, der einen häßlichen, feigen Tod starb.
Ich ging durch den Park, der ganz ohne Laut dalag. Es war ein Friedhof, in dem ein großer Toter schlummerte. Ich kam vorüber an der Statue, dem Brunnen, an der Grotte stand ich ein Weilchen still. Der Tropfen fiel. Ich ging durch das Pförtchen hinaus in den Wald. Da war ein Pfad und ich lächelte und sagte: „Hier gingst du, gütige Ingeborg, in jenen Nächten —“
Ich sagte es mit sanfter Stimme und es tat mir wohl, es recht gütig zu sagen, als höre es Ingeborg, die Gute.
Ich legte die Handfläche an den Boden und streichelte ihn. Vielleicht huschte hier Ingeborgs Fuß darüber? Man kann es nicht sagen. Ich fand einen Kiesel, der in den Pfad getreten war. Vielleicht hatte Ingeborgs Fuß ihn in den Pfad getreten? Sollte ich ihn mitnehmen? Nein.
Aber ich wandte doch um und nahm ihn mit.
Vielleicht? Niemand kann es sagen.
Heilige Erde, heiliges Land, heiliger Wald! Ich kniete nieder und küßte den Boden des Waldes. Heiliges Land, hier wandelte ihr Fuß! heilige Bäume, an euch ging sie vorüber!
Und die Bäume, die der Herbst geschändet hatte, wiegten sich traurig hin und her und klagten leise. Sie trauerten mit mir und der ganze Wald flüsterte Ingeborgs Namen. Ich ging durch den Wald und lauschte. Es tat wohl, daß alles mit mir trauerte.
Ich erschrak, sah ich einen Stein, auf dem wir saßen, ich erschrak, sah ich einen Baum, den wir beide kannten. Ich freute mich, ich litt.
O hört, ich fand eine hohe, ernsthafte Edeltanne im Walde, worunter wir einst saßen, als es regnete. Ingeborg lugte aus dem Versteck hervor und haschte mit dem Munde nach Regentropfen. Ich liebe die kleinen Regentropfen, sagte sie. Und dann zählte sie alles auf, was sie liebte, während der Regen herabströmte und wir unter einem Wasserfall saßen.
Ich liebe die kleinen Regentropfen, Axel, ja. O, ich liebe Wind und Wetter, ich liebe Hagelschlag und Schnee, ich liebe die Sonne über alles, die Wolken, die Bäume und das Rauschen der Bäume, ich liebe über alles die Vöglein und ganz besonders die Johanniswürmchen, auch die Blitze, sie lachen mich ja an, und dich, dich, Axel, dich mehr als alles, alles, mehr als tausend Sonnen und mehr als alle Sternennächte und das wildeste Gewitter —
Ich ging vorüber an der Edeltanne und lächelte, aber ich mußte den Kopf zurückbeugen.
Es sang kein Vogel mehr im Walde, nein.
Ich ging bis an Graf Flüggens Schloß, sah das Tor mit den bemoosten Löwen, die die Wappen hinhielten, ich ging durch unser Birkenwäldchen, ich kam an unseren Apfelbaum. Kahl stand er. Braune, lederne Blätter baumelten an den Stielen. Im welken Grase lagen verfaulte Früchte.
Einst, im lichten Frühling, da schüttelte ich ihn und es fielen die Blüten über einen goldenen Scheitel — —
Ich ging auf die Höhe, wo die Bank stand. Das Tal lag da wie durch gelbes Glas gesehen. Welk und müde und leuchtend, wie das Antlitz eines Sterbenden, das ein eigentümliches Licht ausstrahlt. Die Wiesen waren braun und sumpfig, Herbstzeitlosen standen darauf. Die Gruben waren mit welkem Laube gefüllt, sie waren Gräber, der Sommer lag darin, Hoffnung und Freude des Sommers und sein Duft. Neben der Bank stand eine Distel, sie sah aus wie der graue Kopf eines alten, schmutzigen Weibes mit gesträubten Haaren. Die Felder waren gemäht. Die Stoppeln taten mir weh, es war mir, als ginge ich mit nackten Füßen über die Stoppelfelder. Ich dachte an den Frühling, da die Saat aufging, so jung so grün, sie kitzelte mein Herz, und dann, wie es wuchs und sie die grünen Fahnen aussteckte und schwenkte vor Freude. Dann kam die Zeit, da das Tal wie in einer großen Pfanne briet und jeder Punkt der Luft zu singen begann, da wurde der Weizen blinkend wie Messing und das Korn rot wie das Fell des Fuchses. Das war ein Grüßen und Nicken und Verneigen, wenn wir durch die Felder gingen! Und die Grillen zirpten in den Feldern, das klang als wären tausend winzige Schmiede tief in der Erde beschäftigt, feines Silber zu hämmern. Dann kamen die schlimmen Tage, die Sichel rupste und rauschte und eines Tages lagen die Ähren da, gefällt, steif, auf dem Gesichte, wie erschossene Soldaten. Das schmerzte uns beide sehr.
Ich stand im Winde, die Feder auf meinem Hute schnurrte, mitten im kahlen Herbste, und dachte an den Sommer und die Stoppeln schmerzten mich, wie Krüppel kamen sie mir vor.
Ich ging weiter.
Ich ging umher, besuchte alle Bänke, Steine, Lichtungen, die von Erinnerungen umschwebt waren. Es gab viele heilige Orte im Walde, solche, die ich nicht betrat, ich sah sie nur aus der Ferne an. Schwermütige Geheimnisse waren in meiner Brust.
Meine gewöhnlichen Wege waren das.
Dann wurde es dunkel, die Sonne verschwand bald und nach kurzem Abschiede hinter den Bergen.
Es war Herbst, Herbst. Der Wind wehte kalt. Gewiß würde es bald dunkel und kalt sein auf der Welt, auf lange, lange Wochen. Alle Dinge froren schon, die den Winter ahnten und die finsteren Nächte.
Es war lange bis zum Frühling.
Ich blickte in den Wald hinein, der braunschwarz in der Tiefe war. Ach, traurig sah es da drinnen wohl aus. Und ich dachte — wie ich darauf kam, weiß ich nicht — ich dachte — so kann es wohl sein: Unter einem faulen Pilz, da sitzt ein Zwerg im finstern Walde und er flickt zähneklappernd den Wintermantel aus Maulwurfspelz. Eine Schnecke leuchtete ihm.
Ich werde sterben, klagt die Schnecke.
Ich werde leben, erwidert der Zwerg und seine Zähne klappern. Ihr Schnecken habt es gut! Es ist lange bis zum Frühling!
Ich trat ins Haus. Vielleicht war auch ein Zwerg im Walde, ein grauer, müder Zwerg, der sich eigenhändig in die Erde einschaufelte.
Es war so stille im Hause und überall schien einer zu stehen, der etwas sagen möchte. Ich pfiff.
Eine Tür öffnete sich und der kahle Kopf der alten Maria erschien kugelrund in der hellen Spalte.
„Ich bin es,“ rief ich laut. „Hat man die Zeitungsannonce wegen Pazzos besorgt?“
„Ja, Herr.“
„Dann ist es gut. Er wird nun bald kommen, unser guter Pazzo. Haha. Gute Nacht, Mütterchen!“
„Gute Nacht auch, Herr.“
Nun kam die Nacht, die lange Nacht.
Ich schlief sehr wenig in diesen ersten Wochen. Ich saß in der Bibliothek und las. Ich spielte Klavier. Da kam dann Ingeborg aus allen Tönen, in allen Gebärden, es war schön, aber oft mußte ich aufhören.
Ich saß auf dem Fenstersims in den weißen Zimmern und wartete auf den Morgen. Ingeborg war um mich.
Ein Duft von Waldmeister war in den weißen Zimmern, er war mir früher nie so stark aufgefallen. Am Morgen, da wohnte die Frühsonne darin. Es tummelten sich Milliarden blitzender Fünkchen in den weißen Räumen, sie flogen mir in die Augen, so daß ich sie geblendet schließen mußte. Nachts da zitterte ein gespenstisches, mattes Licht über allen Dingen und die welken Sträuße in den Vasen und Krügen begannen zu duften. Ihr Geruch war der Geruch der Vergangenheit, man wußte: hier hat jemand gewohnt. Entblätterte Rosen lagen auf dem Boden, gelber Blütenstaub auf der Tischdecke. Ein feiner Geruch von Ingeborgs Gewändern und ihrem Nacken, ihren Haaren schwebte aus den toten Möbeln. Ich saß auf dem Fenstersims, im blauen Mondlicht und plauderte mit ihr. Ganz wie einst. Wir führten Gespräche und ich ahmte Ingeborgs Stimme nach, so gut es ging. Wir führten mitunter scherzhafte Gespräche, ich stellte mich ungeschickt, unwissend. Wir lachten. Wir plauderten.
„Der Mond ist ein Brief von Silber, den die Sonne an die Erdenkinder schreibt, weil sie verreist ist, Ingeborg.“
Alte Worte.
„Soll ich dir den Mond schenken, Ingeborg?“
Ingeborg lacht. „Ich schenke dir die Schmetterlinge von hundert Sommern, Axel. Willst du?“
Alte Worte.
Zuweilen schauere ich zusammen. Es ist so stille in den weißen Zimmern und ich spreche mit einem Gespenste.
Ich schlich herum in diesen Zimmern, schlich, flüsterte.
Ich betastete die Möbel. Es gab ein Kissen, in dem zuletzt ihr Kopf geruht hatte. Man sah es — — —
Diese Zimmer zogen mich immer wieder und wieder an! Hier war ihre Stimme, ihr Gesang! Oft fingen die Zimmer ganz deutlich zu singen an. Die Türe, die zum Schlafzimmer führte, stand halb offen, sie schien sich zu bewegen und noch leise zu knarren. Ich entdeckte Spuren ihrer Schritte auf den Teppichen, ich fand ein Löschblatt, auf das ein Tannenbaum gekritzelt war, eine Kuh, ein Monogramm, geflochten aus A und I. Auf einem Tische lag ein Buch Karls, viele Stellen waren mit feinen Strichen angemerkt. Ich fand auch ein goldenes Haar zwischen zwei Seiten. Wie erschrak ich da, als ich ganz plötzlich dieses goldene Haar fand!
Ich hatte es vielleicht geküßt, ja sicherlich, es war um meinen Nacken geschlungen gewesen. Diesen ganzen Tag wühlte ich in goldenen Haaren, ich badete mich darin, ich ließ sie über mein Gesicht streichen.
Ich fand eine Stelle in Karls Buch, die Ingeborg angestrichen hatte. Sie hieß: Wir sahen uns an. Deine Seele umschlang die meinige und sie wollten sich nicht mehr lassen und doch standen wir viele Schritte voneinander entfernt. Dann gingst du. Auch ich ging. Wahrhaftig, wie zwei Fische im Meer zogen wir aneinander vorüber. Das ist Menschenart.
Ich hörte Ingeborg seufzen. Ich entfloh.
Es sang in der Nacht. Herrlich sang es. Ich erwachte und lauschte. Die Stimme entfernte sich. Ich lächelte und preßte die Hände auf das Herz. — — —
In einer Nacht, da bellte ein Hund vor dem Hause. Ich sprang aus dem Bette. War es Pazzo? Nein, es war nichts zu sehen. Nun heulte es ganz tief im Walde. Ich kleidete mich an und lief in den Wald hinein. Ich pfiff.
Nichts regte sich als das Geräusch der fallenden Blätter.
E ines Nachmittags fielen zwei Menschen in mein Haus, zwei Menschen, die lachten und guter Dinge waren.
Harry Usedom mit dem schmalen hohen Frauenkopf und ein rothaariger Irrwisch mit Sommersprossen, treuherzigen Augen und einer kleinen Nase, eine Eggern-Weikersbach, Isabella hieß sie. Sie war eine Kusine von mir. Schülerin von Usedom, jetzt seine Frau.
„Er hat mich aus Verzweiflung geheiratet!“ sagte sie. Sie lachte, konnte keinen Augenblick still sitzen und schob ihren Hut hin und her auf dem Kopfe.
Harry Usedom sprach und sprach. Sie unterhielten mich beide, lachten, bestellten Kaffee und Wein und Kognak, und taten, als ob sie sich einnisten wollten. Ich merkte recht gut, daß sie gekommen waren, um mich zu zerstreuen.
„Wir werden dir den ganzen Mozart vorspielen, Axel.“
Ich versuchte fröhlich mit ihnen zu sein, mit ihnen zu plaudern, es ging nicht. Ich lächelte hie und da.
Isabella schlug Harry Usedom auf den Mund, wenn er keck wurde.
Nun, sie gingen wieder.
„Wir kommen jeden Tag, Axel! Nur keine Ausflüchte!“
Sie gingen, Isabella kam nochmals zurück.
Sie umschlang mich und schmiegte sich an mich. „Höre,“ sagte sie, „was ist doch mit dir? Wie siehst du aus? Du siehst ja wie eine Leiche aus! Ganz grün und wächsern. Axel, beichte!“
Ich lächelte.
„O, Axel, bessere dich. Was warst du für ein lustiger Kamerad, früher. Ich sagte zu allen Leuten, das ist gar nichts, da solltet ihr Axel sehen! Nun Adieu, du!“ — —
Ich besah mich im Spiegel. Ja, ich sah wie eine Leiche aus. Woher kam es? Kam es daher, daß ich immer mit einem Gespenste lebte? — — —
Sie kamen wieder, Usedom und Isabella, ich war nicht zu Hause. Sie luden mich nach Rote Buche ein. Sie schickten den Wagen, der mich abholen sollte.
Nein, ich ging nicht.
Merkten sie es denn nicht, daß ich keine Menschen sehen konnte?
D as Schloß lag im kahlen Bergwalde, im Regen, im Winde, geduckt unter den schleppenden Wolken, es sah verlassen aus. Es war still wie ein Haus, in dem jemand gestorben ist.
Die Tage waren lang und die Nächte noch länger. Es regnete und wehte, die Welt hatte ihre trübste Seele.
Diese Tage und Nächte waren nicht leicht zu ertragen.
In den schönsten Stunden, da träumte ich, daß Pazzo zurückkäme und ich mit ihm sprechen könnte, in den schönsten Stunden, da träumte ich von Ingeborg. Ein Rausch brauste durch die weiten Säle, die Blumen der Tapeten blühten wieder, die Gesichter an den Wänden lächelten wieder, es brannten viele Kerzen in meinem Zimmer und ich ging trunkenen Herzens hin und her. Es war Sommer.
Ingeborg lacht und fragt: „Wie oft wirst du mich heute noch küssen?“ Ich stehe vor ihr und meine Brust ist weit. „Tausendmal!“ sage ich. Und Ingeborg schlägt die Hände vors Gesicht, schüttelt sich und lacht.
Es ist Sommer und im Parke singen die Vögel, daß man glaubt, einer schüttele ein Bündel heller Schellen wie verrückt in der Hand.
Die Sonne funkelt. Hallo! Ein Regenbogen ist das Tor zu diesem Hause!
Die Kerzen erlöschen, eine um die andere, es wird dunkeler um mich und dunkler in meinem Herzen.
Ich sitze vor der letzten Kerze und sehe zu, wie sie kleiner wird. So vergeht die Zeit, sie schmilzt und man sieht es.
Ich bin allein, die Gäste gingen.
Und ich denke: schwer ist das Leben, es stellt schwierige Aufgaben. Suche dir ein Glück, o Mensch! Lebe ein Glück, o Mensch! Lächle wieder, nachdem du vor Glück geschluchzt hast, o Mensch!
Spricht das Leben und zuckt mit keiner Wimper.
In einer Nacht, da der Wind an den Scheiben rüttelte, verfiel ich auf den Gedanken, an Ingeborg zu schreiben. Ich schrieb die ganze Nacht hindurch und mein Herz wurde leichter. Ich schrieb:
Ingeborg, Ingeborg, warum hast du mich verlassen? Ja, warum? Habe ich dich nicht geliebt, war es nicht schön in diesem Frühling und Sommer? Ich frage dich, es soll kein Vorwurf sein, nein. Du sahst Karl, du sahst Karls wirkliches Gesicht, sein wirkliches. Dann mußtest du wohl. Ich schreibe an dich. Du wirst diese Briefe nie erhalten, aber es ist so verlockend schön, an dich zu schreiben.
Wüßtest du, wie einsam es bei mir ist. Nichts regt sich in den Zimmern. Ich schlage die Türen zu, ich pfeife, aber die Stille schlägt darauf um so furchtbarer über mich zusammen. Wüßtest du, was ich alles erdulde! Vielleicht kämst du auf eine Stunde zu mir. Vielleicht schriebest du mir ein paar Worte. Ja, du bist so gütig, du würdest es gewiß tun. Wüßtest du nur alles.
Ingeborg, sei gegrüßt! Ich denke immerfort an dich. Du mußt es mir nicht verübeln in diesen ersten Wochen. Sobald ich einmal nicht mehr Abschied von dir nehmen werde, wird es besser gehen.
Ingeborg, ich sehe dich. Du lächelst und aus deinen Augen springen Funken, hell wie die Funken, die aus einem Steine springen.
Ingeborg, du bist ein goldener, runder Ring, du bist eine goldene Kugel, ja, das bist du, denn die Kugel ist die Handschrift des Schöpfers, du bist wie die weiche Luft im Frühling, wenn der Schnee zerrinnt, Ingeborg. Du bist eine weiße Glockenblume voller Tau.
Wieviel schreibe ich dir doch, Ingeborg! Aber es ist erst zehn Uhr und die Nacht ist lang. Nun schreibe ich dir noch ein Stückchen.
Ingeborg, so fahre ich fort, ich fühle es, wenn du an mich denkst. Ich lese, aber da werde ich plötzlich unruhig, du stehst hinter mir, du streichst leise über meinen Scheitel und berührst die abstehenden Härchen, wohl fühle ich es.
Ingeborg, es kann sein, daß dein Antlitz in der Luft schwebt oder nur der Glanz deiner Wange, ein Lächeln deines Mundes. Ingeborg, höre, manche Nacht kommst du zu mir und legst mir zwei Tränen unter die Augenlider. Da erwache ich dann, denn die Tränen fangen an zu glühen, und ich finde sie auf meiner Wange.
Ingeborg, zuweilen sprichst du mit mir, du sprichst wie jemand, der sich abwendet und fortgehen will. Axel, so flüsterst du, weshalb gehe ich doch von dir? Wie schön war unsere Liebe!
Das Schicksal winkte.
Ich wollte dir nicht wehe tun. Axel.
Nein, nimmermehr, du Gute, wie könntest du es doch gewollt haben. Gehe hin und freue dich. Alles wird gut sein, lasse nur noch einige Tage verstreichen. Bis ich nicht mehr Abschied von dir nehme, weißt du — — —
Ingeborg, Ingeborg, fielen mir doch rasch zehntausend schöne Namen für dich ein!
Ingeborg kämmt sich die Haare. Ich denke daran.
Ingeborg liebte es, sich die Haare zu kämmen, sie konnte Stunden damit zubringen. Und ich konnte stundenlang zusehen.
Es waren so viele Haare! Es waren Bäche, sie rieselten, stürzten über ihre Schultern, über ihre Brust, wenn sie den Kopf schüttelte, so bewegten sie sich von oben bis unten, wie Flammen wehten sie. Sie konnten das Gesicht einhüllen, daß es wie aus einer Höhle blickte. Dann schimmerten die Augen so stolz und gütig.
Sie bändigte die freigelassenen Haare mit der Hand und drehte den Kopf nach links, während sie mit dem Kamme durch die Haare fuhr. Ich habe nie gesehen, daß sie den Kopf nach rechts gedreht hätte. Und es knisterte.
„Heute knistert es besonders stark!“ sagte Ingeborg. Die Haare lagen auf meiner Hand, ein Netz, ein Gespinst, sie waren weich, sie schmeichelten. Man konnte sich nicht denken, was es ist, Haare, nein, etwas ganz Wunderbares war es.
Dann wurden sie gefesselt und in den Nacken gewunden. Ich sah ihnen nach. Ingeborg kämmt sich die Haare. Ich denke daran. Stunden vergehen. Es ist eigentümlich, ganz unbedeutende Dinge können zu Ereignissen werden.
Aus einer Zeit, da ich einen gespitzten Mund küßte und ausrief: Alle Tage ist nun Hochzeit, du!
Ich habe einen Geschmack auf den Lippen.
Zuweilen vergeht er, aber er taucht immer wieder auf.
Ich fühle ihn des Morgens, wenn ich aufstehe und das ist mein ganzes Glück für den Tag. Es kann sein, daß ich den Geschmack auf den Lippen verliere, aber ich träume des Nachts von ihm, ich erwache, er ist auf meinen Lippen. —
Dann wage ich es nicht wieder einzuschlafen. — — —
Was soll ich tun? Soll ich lesen? Ich begreife ja keine Zeile. Soll ich Klavier oder Geige spielen? Ingeborg ist ja in jedem Tone. Soll ich den Wald ausrotten, eine Wiese entwässern, einen Kanal graben für die Schiffahrt und den Handel?
Soll ich fortreisen, in die Ferne, bis dorthin, wo die Bahn aufhört und dann wandern, wandern —?
Ja! aber wenn es Ingeborg einfiele, mich auf Edelhof zu besuchen? — — —
Ich mußte in dieser Zeit viel an die Geschichte von Hermann Ecke denken, den Gutsherrn auf Entenweiher, den seine Frau verließ.
Zur Zeit von Ingeborgs Genesung hatte ich sie Ingeborg erzählt. War es nicht sonderbar? Ahnte meine Seele voraus, was kommen sollte?
Ich mußte oft an die Geschichte denken von Hermann Ecke, der glaubte, daß Eva wieder zu ihm käme.
Einen Rosengarten legte er ihr an, er baute eine Veranda für sie. Immer frische Sträuße in den Vasen, eine brennende Lampe die ganze Nacht in ihrem Zimmer.
Hurtig, hurtig, ihr Leute.
Ja, nun konnte Eva kommen.
Sagt der Freund zu Hermann Ecke: Kommt sie auch? Hahaha, antwortet Hermann Ecke. Das ist alles, was er antwortet.
Freilich kommt Eva wieder. Herrliches habe ich erlebt, wird sie sprechen, alle haben mich angebetet.
Königin, dein Thron ist bereit — ah, ein Narr! Ja, Hermann Ecke ist ein Narr. Aber ein glücklicher Narr ist er. — — — — — — — — — — — — —
In einer Nacht schrie der Hirsch in den Bergen. Ich stand am Fenster und horchte auf seinen Schrei.
Da stieg er in meinem Herzen auf der Gedanke, zum erstenmal, ganz deutlich, fordernd und stark. Ich rang mit ihm. Wochen und Monate habe ich mit ihm gerungen, mit diesem Gedanken.
Ich war traurig, traurig.
Ich ging in Sack und Asche einher. Ich lachte nicht mehr, ich lächelte selten. Ich liebte es, zu tanzen und zu jubeln vor Freude, ich liebte es, prächtige Gedanken im Kopfe zu tragen, ich liebte es, mein Herz klopfen zu hören. Ja, in jenem Sommer, da waren Symphonien in mir, Symphonien, ohne Ende, ohne Ende.
Nun war ich aus meinem Reiche vertrieben, ein Bettler, der sich dahinschleppte, Hunger in den Augen.
Einst wandelte ich, jetzt kroch ich.
Möchte doch die Sonne erblinden, möchte doch die Welt zerfallen in Schutt, Schutt.
Die Hand des Schicksals hat mein Gesicht zerknittert, es erscheint mir fremd. Meine Augen sind zusammengerückt und sie stechen, eine tiefe Falte spaltet meine Stirn, meine Lippen hat die Bitternis gesäumt.
Ich bin unglücklich.
Es ist ein kleines Wort. Wehe, wenn du einmal nichts anderes mehr sagen kannst als dies.
I n der Nacht, da der erste Reif fiel, hatte ich einen herrlichen Traum. Ich träumte, Ingeborg stünde an meinem Bette. Ich sah sie stehen, es war wie im Sommer, der Mond schien durch die Kastanien und der Boden des Zimmers sah aus wie ein Spiegel, der in tausend Stücke zersprungen war. Auch Ingeborg glitzerte. Ich erwachte: da war es leer und kalt um mich. Ich stand auf und ging den Berg hinunter, über das Tal. Ich stieß auf Geleise. Die Geleise waren bereift.
Es kamen zwei glückliche Tage. Zwei Tage mit Wangen wie der Mai und leichten Füßen wie die Sonnenstrahlen.
An einem Tage kam Pazzo zurück. Am andern traf ein Brief von Ingeborg ein.
Ich stand am Fenster und blickte die Straße hinab. Die Straße herauf kam ein Jäger mit seinem Hunde. Nein, es war kein Jäger, er hatte kein Gewehr und ging auch nicht wie die Jäger gehen, es war ein Hirte mit seinem Hunde. Nein, es war auch kein Hirte, ein Bahnwärter war es, man sah es an der Mütze, und dieser Hund war nicht der Hund des Bahnwärters, dieser schleichende, magere Hund war ja Pazzo.
Ich riß das Fenster auf und pfiff. Der Hund stellte die Ohren, bellte matt und trabte müde heran.
„Kommen Sie herein! Herein, mein Freund!“ rief ich dem Bahnwärter zu.
Pazzo kam kläffend die Treppe herauf und sprang an mir empor. Er sah verändert, ja ganz entstellt aus. Dann winselte er und kroch um meine Füße. Er heulte kläglich, legte sich auf den Boden und schlug mit dem Schwanze.
„Was ist mit dir, Pazzo? Deine Augen sind ganz trüb.“
Der Bahnwärter trat ein.
„Paulus schreibe ich mich,“ sagte er. „Ich habe den Hund eingefangen. Er sprang hin und her mit den Zügen, immer am Bahndamm entlang.“
„Am Bahndamm? Jawohl. Ein guter Hund!“
„Ja, ein guter Hund. Aber er ist krank. Frißt nichts!“
„Das wird schon wieder werden, was, Pazzo?“ Pazzo schlug mit dem Schwanze und winselte.
Er sei immer am Bahndamm hin und her gelaufen. Barbeck von Unternzell habe gesagt: Hast du den Hund gesehen — ein weißer Jagdhund —
„Nehmen Sie Platz! — Wein! — Bitte, erzählen Sie.“ Der Mann, der sich Paulus schrieb, erzählte ausführlich von dem weißen Hühnerhund.
Er habe ihn in das Gärtchen eingeschlossen und auch eine Kiste für ihn hingestellt. Aber nun, ein schwieriger Fall! Wem gehörte dieser Hund, der nicht auf den Namen Waldmann oder Feldmann, Nero oder Packan hörte? Kein Halsband, nichts. Er mußte weit her sein, war vielleicht aus dem Zuge gesprungen. Nun, er wohne einsam, komme nur alle Sonnabend ins Dorf. Sagt der Wirt vom schwarzen Bären: Paulus, da steht es. „Nun, ich mache mich auf und bringe den Ausreißer gleich selbst her. Ich habe freie Fahrt.“
Die Erzählung währte lange Zeit, aber dann ließ ich mir noch ausführlich über Einzelheiten berichten.
Also was ich nun schuldig sei, fragte ich.
Der Bahnwärter schmunzelte, leckte den Schnurrbart und drehte die Mütze zwischen den Fingern.
Nun, der Hund habe keine Störung ins Haus gebracht. Gefressen habe er auch nicht viel. Er wolle halt sagen — er wolle es dem gnädigen Herrn selbst überlassen.
„Ein Vorschlag.“
„Sagen wir im ganzen fünf Mark.“
Ich lächelte. „Aber bitte —?“ sagte ich. Er sollte Pazzo nicht umsonst gepflegt haben!
„So sagen wir in Gottesnamen drei Mark. Ich versäume auch einen halben Tag. Verköstigung auswärts —“ Ich mußte lachen. Der Bahnwärter bekam einen roten Kopf.
Ich mußte immer mehr lachen. Da saß ich nun, zitterte vor Freude und er verlangte fünf Mark! Das war unerhört. Er hätte mein Vermögen verlangen können, ich hätte es ihm gegeben. „Erlauben Sie, mein Freund,“ sagte ich zu ihm, „es ist mir nicht zuviel, sondern zuwenig. Ich könnte Sie nun betrügen und fünfzig Mark geben — Sie würden zufrieden sein — aber es wäre Betrug. Denn dieser Hund da, jawohl dieser Hund da, ist kein gewöhnlicher Hund, nein!“ Ich erzählte nun, was das für eine Rasse sei, daß er mir schon über fünfzigtausend Mark an Prämien eingebracht habe, demnächst nach Amerika eingeschifft werde zu einer internationalen Hundeausstellung.
Es fiel mir schwer, nicht herauszulachen, denn das Gesicht des Bahnwärters wurde länger bei jeder Prämie. „Die beste Zeit des Hundes ist ja vorüber,“ schloß ich. „Er kann noch einige Prämien bekommen, ja. Ich würde ihn nicht für fünfzigtausend Mark hergeben. Ein Gerichtstaxator würde den Wert des Tieres auf etwa dreißigtausend Mark schätzen. Sagen wir zwanzigtausend. Nun haben Sie gerichtlich zehn Prozent des Wertes eines Fundgegenstandes zu beanspruchen, ich bin bereit, Ihnen zweitausend Mark auszubezahlen. Sind Sie damit zufrieden?“
„Nonono?!“
„Kein Scherz, ich kann Ihnen die Prämiierungs-Urkunden zeigen, wenn Sie es wünschen. Ich will Sie nicht betrügen.“ — Ich sprach leichthin, aber in überzeugendem Tone.
Der Bahnwärter lachte wie besessen, stand militärisch stramm, legte die Hand an die Mütze, warf mir Kußhände zu. Dann rannte er wie verrückt den Berg hinunter, er verlor dreimal die Mütze.
Wie er sich freute! Zweitausend Mark! Es gibt Leute, denen kannst du ganz Indien und das Paradies dazu schenken, und sie werden nicht einmal rot.
Ich riegelte die Türe ab.
„Pazzo, Pazzo!“
Ich warf mich auf den Boden und weinte und lachte vor Freude.
„Ja, Pazzo, du gute Seele, mein Freund. Du guter Pazzo — immer am Bahndamm entlang, hin und her —“
Pazzo leckte mir die Hand und das Gesicht ab und wedelte und bellte. Ich sah ihn mir an. Was wußte er alles. Hätte er reden können!
Er war nicht ganz gesund. Halb verhungert war er.
Aber nun war alles gut. Hahaha!
Pazzo war da, Pazzo! —
Gib einem Menschen Indien und das Paradies dazu, die tausend schönsten Frauen der Welt — ein Herz beginnt zu schlagen, wo sie dich berühren, an jeder Stelle deines Körpers — er errötet nicht einmal. Gib ihm eine Zeile, ein Wort von der Geliebten, er wird bleich vor Freude.
Ja, ein Brief kam, von Ingeborg. Ich saß in meinem Zimmer und pflegte Pazzo. Pazzo schlief ununterbrochen und wandte den Kopf zur Seite, wenn ich ihm Wein reichen wollte oder gehacktes Fleisch. Seine Augen waren rot unterlaufen. Aber bald würde er gesund sein und dann war eine schöne Zeit gekommen. Wir würden den Winter ertragen können zusammen, die Tage, die Nächte, alles.
Da kam ein Brief. Die alte Maria reichte ihn mir, sie tat, als sei es gar nichts besonderes — und ich las die Aufschrift: er war von Ingeborg —
Der Bote hat ihn nicht umsonst gebracht.
Freunde, Freunde, Freunde und liebe Leute allesamt auf der Welt. — Nein, stille, stille!
War das Ingeborgs Schrift? Ja, das war sie. Ruhte hier Ingeborgs Hand? Ja, ja. Ingeborgs Lippen haben den Brief zugeklebt.
Weißt du, wie das ist, wenn einem Unglücklichen eine Freude zuteil wird? Es ist eine Sonne um Mitternacht, es ist als ob Gott selbst zu ihm eintrete, es ist — — nein, stille!
Ich nahm den Hut und ging in den Wald. Pazzo? Aber Pazzo blinzelte nur und lugte und bewegte den Schwanz ein wenig. In den Wald. Denn der Brief mußte im Walde gelesen werden. Noch war er nicht dunkel genug, noch war er nicht schön genug. Hurtig!
Immer tiefer ging ich in den Wald hinein, den Brief in der Hand. Da begannen ringsumher Glocken im Walde zu läuten. Die Erde läutete und die Bäume.
Ihre Wipfel schwangen sich hin und her und läuteten.
Ich ging dahin, getragen von dem Summen der dumpfen, feierlichen Glocken, sie läuteten, läuteten. Und ich suchte mir ein verstecktes Plätzchen, streckte mich ins Moos und lauschte auf das sonderbare, summende, feierliche Läuten um mich her.
Schön war es, hier zu liegen und zu lauschen und Ingeborgs Brief anzusehen.
Hallo, Ingeborg!
Ingeborg schrieb nur wenige Worte. Ich solle ihr vergeben — — Hört, das ist Ingeborg! — Sie habe nicht gewagt, an mich zu schreiben — Hört ihr es? — Karl lasse grüßen, sie bitte um einige Kleinigkeiten. Ob sie mich nicht bitten dürfe, ihr das Medaillon mit dem Bilde ihrer Mutter zu schicken. Sie könne nicht leben ohne das Medaillon.
Viel zu tun habe sie. Gesangstunde. Karl arbeite fortwährend und nur ein Stündchen könnten sie am Abend zusammen sein. Aber sie sei sehr glücklich.
Das Medaillon sollte sie mit der nächsten Post bekommen. Ich trug es um den Hals, versteckt unter dem Kragen, aber sie konnte es haben. Was sie wollte, alles!
Schreibe bald, Axel.
Ja, heute noch wollte ich schreiben.
Ich bin tief in den Wald hineingegangen, Ingeborg, würde ich schreiben, der Wald begann zu läuten. Sonderbar war es, unvergeßlich. Ich habe mich sehr gefreut, wie habe ich mich gefreut!
Ja, ein herrlicher Brief würde es werden.
Hin und her streifte ich im Walde. Gab es heute einen glücklicheren Menschen auf der Erde? Nein, nein! Wer das behauptete, der kam nicht aus den finsteren Nächten hervor.
Vergessen waren die finsteren Nächte!
Den ganzen Nachmittag trieb ich mich im Walde umher und ich war ausgelassen wie ein Knabe. Hundertmal las ich Ingeborgs Brief. Immer noch läutete der Wald. Es war ein herrlicher Tag, der mit sanfter Dämmerung zu Ende ging.
Es begann zu rieseln im Walde, als regne es.
Ich kam auf die Bergstraße. Aus einer gelben, großen Wolke fiel der Regen in dünnen Schnüren durch die blaue Dämmerung. Blaue Adern zuckten über den Weg. Das Laub auf der Straße und zwischen den Bäumen erschien wie ein schöner Teppich.
Ein Schritt klang auf der Straße und ich wandte mich um. Ein schmächtiger Mann mit bleigrauem Gesichte und kurz geschorenen Haaren kam die Straße herauf. Seine großen Augen flammten. Er schwang den Hut in der Hand und ging langsam, wie von schwerem Unglück gebeugt. Aber als er näher kam, bemerkte ich, daß er nur langsam ging, um ein wenig zu ruhen. Er kam wohl weit her. Seine Schuhe waren ganz weiß vom Staube, mit schwarzen Sternchen darauf, vom Regen. Er hatte das verhärmte Gesicht eines Mönches und die leuchtenden Augen, die frei und klar in die Welt sahen, beleuchteten es.
„Grüß Gott!“ rief der Mönch und schwang den Hut.
„Grüß Gott!“ antwortete ich.
Der Wanderer blieb stehen und blinzelte.
„Ha!“ rief er, „ein herrlicher Regen! Wie! Diese Luft! Dieser Regen — der reinste Wein!“ Er blinzelte, nickte, drehte den kahlen Schädel nach links und rechts und blinzelte wiederum.
„So ein Baum! Was? Eine Buche! Weiß der Himmel, diese Welt ist ein einziges Wunder!“
Schön sei diese Welt, ja.
Ich lachte.
Der Wanderer setzte sich in Bewegung und ich ging neben ihm her.
„Diese Farben! Rot, gelb, grün, wie du sie nur denken kannst. Ungeheuer schön! Der Wald groß, frei, verstehst du, Freund, der Himmel so hoch! Obschon es regnet. Hoch! hoch! Gott, wie hoch ist dein Himmel!“
Er jauchzte und schwang den Hut.
„Gott, wie hoch ist dein Himmel!“ rief er und breitete die Arme aus.
Da sprang ein Eichhörnchen über die Straße.
„Teufel!“ schrie er. „Hast du es gesehen? Ein verteufeltes Tier, einen Schwanz wie eine Fahne! Und — ratsch! — wie geschickt den Baum hinauf. Rings herum — holla! Dort sitzt es. Siehst du? Ein Eichhörnchen. Weiß der Himmel, ein feines, listiges und kluges Tierchen. Hab viele Jahre keins gesehen. Ah! — ha — ha — es flog!! Flog von einem Baum zum andern, gute fünf Meter unter Brüdern!“
Schritt auf Schritt brach der bleiche kleine Mann in Ausrufe des Entzückens aus. Er sah aus, als sei er jahrelang krank gelegen und habe erst heute wieder die dumpfe Krankenstube verlassen.
„Ein Frosch, du! Wohin, mein Herr? Hoppla!“
Ich lachte. Ich konnte mich nicht genug wundern über den sonderbaren Wanderer und nicht genug freuen über seine Fröhlichkeit. Wahrhaftig, zu keiner gelegeneren Stunde hätte er mir begegnen können! Ich war heute aufgelegt zu einem Gespräche, lange Wochen hatte ich mit keinem Menschen mehr gesprochen.
Ob er krank gewesen wäre? fragte ich.
Ja, schwer krank. Aber nun sei er wieder gesund! Niemand glaube, wie glücklich er sei. Es gäbe keine glücklicheren Menschen auf der Welt.
„Wie?“
Der Wanderer blieb stehen und blinzelte und lachte. Es war sonderbar, zu sehen wie dieses verhärmte Gesicht mit den grauen Tränenfurchen lachte. Ein Strich waren die Augen und augenblicklich darauf große, leuchtende Räder.
„Sieh mich an, Freund! Ein Bild! Etwas Seltenes, sage ich dir. Weißt du, mit wem du gehst? Vielleicht hältst du mich für einen Narren? Kurz und bündig, sieh mich an, der glücklichste Mensch der Welt steht vor dir!“
Ich schlug ihn mit der flachen Hand auf die Schulter, daß der kleine Geselle fast in die Knie brach.
„Das trifft sich gut, Freund“ rief ich lachend aus und verbeugte mich tief. „Ich bin dein Bruder. Ebenfalls der glücklichste Mann der Welt!“
Hehehehe!
Hahaha!
Wir lachten und es schien als machten wir einander große Verbeugungen, so schüttelte uns das Lachen. Standen mitten auf der Straße, im Herbstwald, im Regen, und verneigten uns.
„Ja“ sagte ich, „glaubst du es nicht? Lieber Freund, was ich für ein Glück hatte! Ich bin ein Bahnwärter bei Unternzell. Sehe immer einen Hund am Bahndamm laufen, ich fange diesen Hund, Waldmann rufe ich, Feldmann, fange ihn wie gesagt und bringe ihn seinem Herrn. Hast du das Schloß gesehen, da drunten?“
„Ja, schönes Schloß!“
„Nun höre weiter. Ich bringe ihm den Hund. Was verlangst du, fragte er. Ganz kurz, wie die reichen Leute sprechen, er wollte eben ausfahren mit seiner Frau. Lieber, was er für eine schöne Frau hat, sage ich dir! Schlank, blond und ein gewinnendes Lächeln. Die Locken hängen über die Wangen, wie man es bei Kindern sieht. Augen hat sie, klein und frisch, hellblau wie Vergißmeinnichte. Eine Stimme wie ein Vogel. Wenn sie nur spricht — —“
„Also was verlangtest du?“
„Ich verlange also fünf Mark. War es zuviel?“
„Wielange hattest du den Hund in Pflege, darauf kommt es an.“
„Sechs Wochen!“
„Dann ist es nicht zuviel.“
„Was meinst du aber was passierte? Der Herr lachte gerade heraus. Und auch seine schöne Frau lachte. Noch nie habe ich eine Frau so lachen gehört. Du, Ingeborg, sagte der Herr, fünf Mark verlangt er. Die schöne Frau sagte darauf, daß ich verrückt sei. Und beide lachten. Was meinst du aber, daß sie mir gaben?“
„Zwanzig Mark?“
„Zweitausend!!“ Ich schrie es, daß der Wald hallte.
„Hoho! hehehe! Sachte, sachte!“ schrie der Kleine, ebenso laut.
„Ja, zweitausend Mark. Du kannst sie sehen.“ Ich zog meine Brieftasche heraus.
„Hier sind sie. Siehst du? Also keine Lüge. Du hast keine Vorstellung, was das für ein Hund war! Ein preisgekröntes Vieh, überall preisgekrönt. Nächstens kommt er nach Amerika.“
Sehr merkwürdig. Höchst eigentümlich.
„Ja, Glück muß der Mensch haben, so laufen ihm preisgekrönte Hunde ins Haus. Was sagst du jetzt, wenn ich behaupte, der glücklichste Mensch der Welt zu sein?“
„Gehen wir weiter,“ sagte der Wanderer, „im Gehen spricht sich’s ebenso gut. Selbst wenn ich annehme, daß es so ist, so ist dein Glück doch nicht so groß, wie das meinige. Es ist mehr äußerlicher Natur. Geld macht kein Glück. Du kannst dir viel schönes und nützliches dafür anschaffen, stimmt. Aber mein Glück sitzt tiefer, das sitzt mitten im Herzen, da zittert es, da drinnen, ja! Ich bin wiedergeboren, verstehst du, habe Leben und Freiheit, ich wandere durch die schöne Welt, wandere noch vierzehn Tage, dann bin ich bei meiner Frau, habe zwei Kinder, die nun schon in die Schule gehen. Ein Mädchen, ein Knabe. Das ist etwas anderes, nicht? Du hast alles vielleicht auch —“
„Gewiß, gewiß! Nur in die Schule gehen meine Kinder noch nicht. Hm. Ich verstehe dich schon, du hast deine Gesundheit wiederum, das Wiedersehen zu Hause nach langen Jahren, ja, aber trotzdem bin ich sehr glücklich, Freund, sehr glücklich. Sage, ist es bei dir ebenso, wenn ich glücklich bin, so möchte ich anderen gerne eine Freude machen.“
Eine allgemein menschliche Eigenschaft sei dies.
„Nun höre. Ich hätte ebensogut nur tausend Mark bekommen können. Wie wäre es, wenn wir teilten? Ich brauche das Geld nicht.“
Der Wanderer blinzelte und lachte. Er klimperte mit der Hand in der Tasche und es klang nach harten Talern.
Er schnalzte mit der Zunge. „Da, habe Geld, brauche keines,“ sagte er. „Ich bin so glücklich, daß das Geld bei mir keine Rolle spielt, Freund. Alles steht gut, meine Frau hat sich eine Strickmaschine angeschafft, ist sehr geschickt und fleißig.“
Ja, wenn er nun so stolz wäre —
„Lassen wir uns die Stimmung nicht verderben,“ sagte der Kleine, „weil wir doch die glücklichsten Menschen der Welt sind. Du hast ein gutes Herz, du bist auch glücklich, ja, denn sonst würdest du nicht so lächeln. Ich kenne Lachen und Lächeln der Menschen genau, ich war da, wo man selten lacht, verstehst du. Du bist so glücklich, daß du Scherze treiben mußt. Sieh, Bruder, ich sehe deine Hände an. Du bist kein Bahnwärter, nein —“
Haha!
„Nein. Hat ein Bahnwärter eine Brieftasche? Wo hast du das schon gesehen? Ein Bahnwärter spricht auch ganz anders. Ich bin Reisender und kenne die Bahnwärter also besser als du. Wer sollte auch so ein Narr sein, daß er zweitausend Mark bezahlt, wenn man ihm seinen Hund zurückbringt? Wir sind doch nicht in Amerika! Ich weiß wohl, daß du aus dem Schlosse da drunten bist, vielleicht der Herr selbst —?“
Ich lachte.
„Schlaukopf, Schlaukopf! Soll ich jedem sagen, weshalb ich glücklich bin?
Nun, dir kann ich es sagen, das mit dem Hunde war freilich Lüge. Aber ich will dir die Wahrheit sagen. Ich habe heute einen Brief von meiner Frau erhalten. Sie ist im Bad. Ein Kind hat sie geboren, einen Knaben!“
„Aha! Aha! Ja, das sitzt schon tiefer, das Glück! Gratulation, Gratulation!“
„Danke, danke!“
Ich mußte mich abwenden. Plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Wie dumm das war!
Der Kleine blinzelte. Er schüttelte eigentümlich den Kopf. „Was ist mit dir?“ sagte er. „Du bist so sonderbar — so sonderbar bist du — ei, ei —?“
„Es ist nichts,“ rief ich und lachte und warf den Kopf zurück in den Nacken.
„Desto besser. Es schien mir so — auch dein Lächeln ist so eigentümlich. Lebe wohl! Noch eines, eine Aufrichtigkeit ist die andere wert, Freund! Sieh mich nur an, mein Gesicht, meine geschorenen Haare. Wenn du nicht blind bist, so weißt du, aus welchem Krankenhaus ich komme. Vier Jahre! Es war ein schlechter und leichtsinniger Streich. Vorbei, vorbei — lebe wohl.“
Wir schüttelten uns die Hände.
Der Kleine stieg mit raschen Schritten ins Tal hinunter. Er wandte sich dazwischen um und jauchzte und schwang den Hut.
Und ich schwang den Hut und jauchzte Antwort.
Bald sah ich ihn nicht mehr, er tauchte in die Dämmerung unter.
Aber ich hörte noch lange Zeit den jauchzenden Gruß und ich antwortete, bis ich nichts mehr vernahm.
Ein herrlicher Tag!
D er Brief ist geschrieben, das Medaillon ist fortgeschickt. Viele Mühe hat mir dieser Brief gemacht. Nun, ich schreibe selten Briefe. Aber dieser Brief durfte nichts von Traurigkeit enthalten, es hat seinen Grund, er durfte auch nichts von Fröhlichkeit enthalten, es hat seinen Grund. So schrieb ich von Pazzo. Daß Pazzo sich verlaufen gehabt hätte, sechs Wochen strolchte er umher, aber jetzt wäre er hier. Aber er sei krank und verstört. Zuweilen knurre er sogar, wenn man ihn streichle, mürrisch sei er wie ein rechter Kranker. Er habe Falten zwischen den Augen bekommen, ein wirkliches griesgrämiges Gesicht. Aber ich hoffe, daß es nun bald eine Wendung zum guten nehme mit Pazzo. Und nun viele Grüße, viele, viele Grüße an euch, ihr lieben Freunde.
Ja, bei Gott, was sollte ich auch anderes schreiben? Der Brief ist geschrieben, das Medaillon ist fortgeschickt. Gerne hätte ich es behalten. Ich sah es mir gut an, bevor ich es einpackte. Ingeborg hatte Karl, hatte Gespräche und Lachen, ich hatte — nun, Ingeborg brauchte es. Gut.
Ich behielt nun nur noch ein kleines Väschen aus grünem Glase von Ingeborg zurück. Alles andere war eingeschlossen worden in Ingeborgs Gemächer. Diese Gemächer waren verschlossen für immer und die Schlüssel lagen in einem Schranke alter Kleider.
Ein neues Leben mußte begonnen werden!
Aber das grüne Väschen hatte ich zurückbehalten. Es stand auf dem Flügel und ich sah es an, so oft ich vorüberging. Es hatte Form und Farbe einer unreifen Zitrone, goldne Reifchen am Rande. Es war körnig wie rauhes Eis.
Die Tage gingen.
Ich dachte, daß vielleicht bald wieder ein Brief von Ingeborg käme. Ich habe deinen Brief und das Medaillon erhalten, so würde Ingeborg wohl schreiben. Ich saß in meinem Zimmer und blätterte in den Mappen, vielleicht kam der Brief, oder ich ging in den Wald und wenn ich zurückkehrte, lag der Brief da. Man konnte es nicht wissen.
Die Tage gingen. Trübe Tage. Der Wind heulte und warf schmutzige Blätter gegen die Scheiben, daß sie kleben blieben. Alles welke Laub kam aus den Wäldern auf der Wiese vor dem Fenster zusammen und führte Tänze auf. Es war eine hohe, wirbelnde Säule, die tanzte, sie tanzte in den Wald hinein. Die Bäume standen kahl und man sah plötzlich den Turm der Dorfkirche zwischen den Ästen. Die Herbstzeitlosen waren verwelkt und verfault, es gab keine Blumen mehr.
Eine große schwarze Krähe wiegte sich auf dem obersten Zweig einer Buche, der blaue Rauch kleiner Feuer stieg aus dem Walde.
Schwere Wolken schleppten sich über die Berge, sie blieben in den Wipfeln hängen und zuweilen regnete es Tag und Nacht in Strömen, so daß man glaubte, das Schloß würde fortschwimmen.
Oft trat die alte Maria ins Zimmer. Ich sah auf ihre Hände. Sie hielten ein Tablett, einen Teller für Pazzo, einen Schlüsselbund.
Nur Geduld, Geduld. Ingeborg hat viel zu tun. Sie schrieb es ja. Mein Tag ist ausgefüllt mit Gesangstudien. Ich habe einen sehr talentvollen Lehrer, den Komponisten Holger Hunt, er ist ein Bekannter von Karl. Gegenwärtig komponiert er eine Oper, Merlin heißt sie. Er ist sehr streng und ich muß viel arbeiten.
Einmal aber würde sie schon Zeit finden.
Ich verbrachte meine Tage in der Bibliothek. Ich hatte viel zu lernen, es gab der Wunder unzählige in den Büchern.
„Pazzo was ist mit dir?“
Pazzo liegt auf der Decke vor dem Kamin und öffnet die Augen. Er ist krank und ein starrer, gläserner Ausdruck liegt in seinem Blick. Er frißt fast nichts und ist schrecklich mager geworden. Und nun ist er so schwach, daß er kaum mit den Ohren zucken und den Schwanz bewegen kann.
Wenn ich ihn berührte, so sträubten sich die Haare auf seinem Rücken und er knurrte mürrisch. Niemand durfte in seine Nähe kommen und er fraß nur aus meiner Hand. Kam eine Dienerin, um Holz in den Kamin zu legen, so blies er zornig durch die Nüstern und zeigte die Zähne.
Der Zustand des Tieres machte mir große Sorge. Aber wiederum zerstreute mich die Pflege des Hundes und ich pflegte ihn, wie eine Mutter ihr Kind pflegt.
„Es wird schon gehen, nur Mut, Pazzo!“ sagte ich und kauerte auf dem Boden vor ihm. „Nur Mut, mein Liebling!“
Aber es ging nicht besser, nichts wollte helfen, und in einer stürmischen Nacht erhob sich Pazzo plötzlich und schlug laut an. Es war ein heiseres Kläffen, wild und hungerig.
Ich saß am Schreibtisch und las. Ich las in der Bibel, die Geschichte der herrlichen Esther, der Königin. Neben mir stand der Leuchter und mein Schatten fiel groß und phantastisch an die Wand.
Vielleicht hatte der Schatten Pazzo erschreckt, oder das Klappern der Zweige vor dem Fenster.
Und ich beruhigte Pazzo, indem ich freundlich auf ihn einsprach.
Aber Pazzo bellte abermals, scharf und feindselig, und dieser Laut war so fremdartig und entsetzlich, daß es mir kalt über den Rücken rieselte.
„Ruhe, Pazzo!“ rief ich.
Pazzo stand mager auf hohen, dünnen Beinen und seine Haare waren gesträubt. Seine Augen funkelten grün und gelb, wie die Augen von Katzen, denen man in dunkelen Gassen begegnet. Geifer hing aus seinem Munde und tropfte auf den Boden.
Das war . . . . .
Sobald ich mich bewegte, zog er die Nase in die Höhe, so daß der Oberkiefer blinkte. Er fauchte wie eine Katze.
Nun ist Pazzo toll geworden! dachte ich und der Schmerz wollte mich überwältigen. Es kam so plötzlich! Ich hatte Mühe mich zurückzuhalten und mich nicht vor dem Hunde niederzuwerfen und ihn zu umschlingen.
Da kam Pazzo gesenkten Hauptes, die Augen stechend wie Brillanten, auf mich zu. Es mußte sein.
Ich nahm das Buch vom Schreibtisch und schleuderte es ihm mit aller Gewalt an den Kopf. Pazzo sprang zurück und kläffte, daß es hallte.
Dann tat ich es. Ich nahm den Revolver aus dem Schubfache.
„Komm Pazzo, mein Liebling!“ sagte ich und zielte auf Pazzos Stirne. Die Tränen trübten meinen Blick.
Ich schoß, Pazzo sprang zur Seite, wankte und fiel zusammen. Er bekam noch eine Kugel durchs Ohr. Er zuckte, spreizte die Beine und bog den Kopf zurück. Er war tot, seine Augen starrten gläsern auf die Quaste eines Sessels, die baumelte. —
Das waren die Augen, die Ingeborg zuletzt gesehen hatten . . .
Eine Stimme im Hause schrie und kreischte. Ein Laufen in den Gängen. Dann kamen einige Mägde ins Zimmer gestürzt, dürftig gekleidet, ohne anzuklopfen. Sie starrten mich wie versteinert an.
„Tragt ihn hinaus,“ sagte ich, „verscharrt ihn.“
Sie nahmen Pazzos Körper und schleppten ihn aus dem Zimmer. Sein Kopf hing nach unten und er starrte mich an, bis er in der Türe verschwand. —
Er war ein solch schönes und treues Tier, so klug, liebenswürdig, höflich. Er hatte solch klare, vergnügte Augen, sein Fell war so weiß und weich. Und die Sprünge, die er machen konnte! Er schwebte in der Luft, flog, und er konnte sausen, daß seine Ohren wie weiße Fähnlein flatterten. Er hatte ein paar schwarze Kleckse an der linken Flanke — als habe jemand ein Tintenfaß nach ihm geworfen, so sagte Ingeborg. Er war so dankbar, bei einem Worte, da leuchteten seine Augen, und bei zwei Worten, da tanzte er, und bei drei Worten, da legte er sich einem zu Füßen und schlug mit dem Schwanze. — — —
Nun war ich allein. Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Das Leben war nicht leicht zu ertragen.
Ich schüttelte den Kopf und lächelte: Welch ein Winter! Ich mußte viel an Hermann Ecke denken, den Herrn auf Entenweiher, den Eva verließ.
Vielleicht hat Hermann Ecke auch einen Hund gehabt, der toll wurde? Nun kannte ich Hermann Ecke genau. Ja, ich sah ihn vor mir.
So, so, ja so sieht er aus! — Wenn du einem begegnest, fahl sein Gesicht, die Augenbrauen hochgezogen, groß und verwundert seine Augen und ohne Blick, ein wundes Lächeln auf den Lippen: Das ist er!
Da ist seine Geschichte. Ich schrieb sie, weil mich der Kummer niederdrückte.
Ein Mann wandert durch sein Haus und sinnt. Das ist Hermann Ecke. Was sinnt er doch? Es ist kalt in seinem Hause, er kann die Hände durch das Feuer strecken, ohne daß es wärmt. Es ist still. Die Nächte tragen Schrecken und Finsternis um das Haus gleich einem schwarzen Sarge, dem der Wind jammernd folgt.
Es ist Nacht, Hermann Ecke trägt eine Kerze in der Hand und wandert. Hin und her wandert er und sucht. Was sucht er doch?
Eva ist nicht hier, nein.
Eine Mücke summt im Zimmer. Hermann Ecke lächelt. Eine Mücke, sagt er und sieht der kleinen Mücke nach. Er kommt an einem Spiegel vorüber und schließt die Augen, er will sein Gesicht nicht sehen.
Er trägt ein Licht in der Hand, es flackert und Laute kommen aus der Flamme. Er erschrickt und wendet sich um, ein Schatten duckt sich hinter den Schreibtisch. Er geht weiter, aber er fühlt, wie sich der Schatten aus dem Verstecke reckt. Er sieht ihn wachsen, über die Wand, die Decke und eine dunkle lange Hand greift nach seinen Haaren, wie ein verkohlter Arm baumelt es über ihm.
Da schreit er.
Was ist Herr?
Nichts, danke.
O!
Hermann Ecke steht am Fenster und blickt auf die Straße hinab. Klingen nicht Schlittenglocken durch die Winterstille? Ein Wagen saust daher. Wohin? Zu Nachbar Dohn.
Kam da nicht ein Bote? Er taumelte vor Erregung und schwenkte ein Tuch in der Hand. Nein, es ist ein Betrunkener, der ein weißes Bündel trägt. Vielleicht kommt er von einer Hochzeit.
Ist es heute nicht, ist es morgen.
Überall ist er zu sehen, Hermann Ecke. Im Walde, im Felde, im Dorfe. Aber er lächelt nicht mehr, er ist bleich, und groß und verwundert blicken seine Augen. Er geht einher, als suche er etwas auf dem Boden.
Hermann Ecke geht zu den Knechten und Mägden in die Gesindestube, er will sich unterhalten mit ihnen. Er spricht und sie antworten. Immer mehr spricht er, immer weniger sprechen sie. Er sitzt und redet, redet. Alle sehen ihn an. Er geht.
Es ist dunkel, ein dunkler feuchter Abend, ohne Mond, ohne Sterne, feucht, schwarz, und nasser Schnee treibt über die Straße. Hermann Ecke geht ins Dorf hinab und tritt in die Schenke.
Junges Volk ist da versammelt. Knechte und Mägde. Die Dirnen legen die Köpfe gegen die Schultern der Burschen oder sie sitzen ihnen auf den Knien.
Ein Bursche in Hemdärmeln, den Hut im Nacken, spielt die Zither.
Guten Abend, ihr Leute, sagt Hermann Ecke.
Guten Abend.
Die Zither klingt und der Bursche singt. Er singt von einem Stier und einer scheckigen Kuh und daß eine Dirne dabeistand und sie lachte dazu.
So singt er, und die Mägde lachen, und die Burschen fassen sie um den Leib.
Da ist ein kleiner Bursche, ein Schneider, der den Mund weit aufreißt. Er behauptet keine Knochen zu haben. Er hat keine Knochen, prügeln kann man ihn, er spürt keinen Schmerz. Zwei packen ihn an den Händen und Füßen, schwingen ihn hin und her und schleudern ihn gegen die Türe, daß sie kracht. Er steht auf. Nichts hat er gespürt, er hat keine Knochen.
Die Knechte lachen, daß es dröhnt, und die Mägde kreischen.
Hermann Ecke lächelt. Er bezahlt und geht. Gottes Friede sei mit euch ihr guten Leute, spricht er.
Einige kichern und einer sagt: Amen!
Wenn sie alt geworden sind, so werden sie wissen, was es bedeutet, wenn einer sagt: Gottes Friede sei mit euch, ihr guten Leute.
Hermann Ecke wandert durch die holperigen dunklen Gassen des Dorfes. Wo ein helles Fenster ist, dahin schleicht er. Wie ein Dieb schleicht er um die Bauernhöfe und er blickt verstohlen in die erleuchteten Fenster. Eine Bäuerin knetet Teig und rollt ihn mit einem Holze aus, ein Bauer steht am Bette und entkleidet sich langsam. Eine junge Mutter badet ihr Kind, es strampelt, daß das Wasser gegen die Scheiben spritzt. Hin und her schleicht der Dieb und an dem hellen Fenster bleibt erstehen. Da sitzt ein Knabe und lernt. Er bewegt die Lippen und Hermann Ecke hört, daß er lernt. Dann versteht er des Knaben Worte. Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth und alle Lande — heilig, heilig ist der Herr Zebaoth und alle Lande sind seiner Ehre voll. Heilig, heilig — Mutter! ruft er plötzlich laut, es steht wer am Fenster!
Der Dieb verschwindet in die dunkelste Gasse.
An einem Zaune wispert es. Der Dieb steht hinter einem Holzstoß und hört, was die beiden dort wispern. Es ist dunkel, aber er sieht ihre Gesichter und ihre Hände. Der Bursche nestelt am Mieder des Mädchens, es schimmert aus dem Mieder. Da knackt ein Ästchen.
Hm, sagt der Bursche und läßt die Hände sinken und geht näher.
Der Dieb springt in den Wald hinein. Atemlos.
Hermann Ecke.
Hermann Ecke irrt hin und her. Er kniet im dunkeln Wald und spricht.
Ich knie hier. Ich knie hier ganz allein im Walde.
Die Tränen laufen ihm über die Wangen.
Ich knie hier, ganz allein —
Hermann Ecke.
Hermann Ecke, mein Bruder, härme dich nicht!
Hermann Ecke keucht und er gräbt die Nägel in seine Brust. Er schreit: Ewige Seligkeit allen Menschen und mir eine ruhige Stunde!
Willst du nicht Gift nehmen — Gift —?
Hermann Ecke, mein guter Bruder, verzweifle nicht!
Ein Vogel zwitschert vor Hermann Eckes Fenster und Hermann Ecke lächelt. Er denkt an alte Dinge. Der Vogel fliegt fort, nichts ist mehr zu hören.
Eva war ein solcher Vogel, denkt Hermann Ecke. Wenn ein Vogel vor deinem Fenster singt, so kannst du zuhören und dich freuen und dem kleinen Vogel danken. Du kannst ihn nicht halten, mit Worten und Bitten und feinem Kuchen nicht — er fliegt fort und singt vor einem andern Fenster.
Hermann Ecke kann kein Glück mehr finden, es ist vorbei.
Ihr Menschen, ihr Menschen, ich frage euch, was wißt ihr? Ihr habt Weib und Kind und könnt es küssen. Ich habe nichts als leere Zimmer. Auch habt ihr euer Glück nicht mit Eva gelebt! Was wißt ihr also?
Nichts wißt ihr!
Hermann Ecke, mein guter, guter Bruder . . .
Daß er nicht immer so verzagt und traurig blieb, das weißt du. Und wie er starb, weißt du auch.
Er starb den seligen Tod.
Hermann Ecke.
A ls der Schnee zu fallen begann, kam zu mir ein unglücklicher Mensch und weinte vor mir.
Es war die ausgelassene Isabella mit den brennendroten Haaren und den treuherzigen Augen.
Sie weinte, knetete das Taschentuch und weinte es naß.
„Ich habe im Scherz gesagt, er hat mich aus Verzweiflung geheiratet, es ist kein Scherz mehr. O, bin ich unglücklich! Ich habe einen Verrückten zum Manne. Er redet des Nachts im Schlafe, zankt sich mit einer Frau, nennt sie Lügnerin und weint und sagt Liebste, Schönste! Nein, Harry ist verloren, ich sehe es ein. Ich bin ein Surrogat, sonst nichts. Denke dir, ich bin ein Surrogat!“
Sie weinte, weinte.
„Harry ist verloren. Er ist schon seit Jahren verrückt. Wenn er lacht, so ist er betrunken, er trinkt zwanzig Gläschen Kognak an einem Tage! Er kann nicht mehr Geige spielen, sie würden ihn auslachen. Er war aber ein Phänomen! Seine Kompositionen sind nichts wert. Nur manchmal spielt er gut, da spielt er am Abend und ich sitze und höre ihm zu. Er blickt mich an. Ich spiele nicht für dich, sagen seine Augen. Und einmal da sprach er es auch aus — er wollte nicht, aber er sagte es —“
Sie weinte, weinte. Ich unterbrach sie nicht. „Ach, ein paar Wochen, da war es wunder — wunderbar schön! Er sagte, daß ich ihn gerettet habe. Aber nun — er ist tagelang fort, mit dem Automobil. Denke dir, er, der so nervös ist, daß er über keinen Steg gehen kann, jagt durch Nacht und Schnee. Wohin? Ich weiß es nicht. Dann kommt er zurück, dann lächelt er vor sich hin — seine Augen glänzen. Das, das kann ich nicht mit ansehen, dieses Lächeln, diesen Glanz — o!“
Sie weinte, weinte.
„Er ist solch ein guter Mensch, solch ein seelenguter Kerl — so mußte er werden. Ich habe ihn gesehen, vor Jahren, er spielte, ach, das war Jugend, leichter Sinn, Glänzen, Strahlen — und jetzt — —“
Ich fragte sie: „Weshalb verläßt du ihn nicht?“
Sie sah mich an. „Wie? Ja, ich liebe ihn ja!“
Dann sagte ich: „So sei so gut zu ihm als es dir möglich ist. Muntere ihn auf, reise mit ihm, reise wohin er will —“
„Ja, aber, hörst du, Axel, was bekomme ich aber für alle Liebe, ich?“
„Du kannst um ihn sein,“ antwortete ich.
Sie sah mich an. Sie verstand es nicht.
„Ich werde zugrunde gehen!“ weinte sie. — — —
Ein großer Zauberer hat ein Buch geschrieben, so süß und schön, daß wer es liest sterben muß. Alle lesen es, obgleich sie wissen, daß sie dann sterben müssen.
E s ging nicht besser mit mir, nein.
Ich dachte es zuweilen, aber ich täuschte mich. Ich arbeitete viel. Ja, ich kann sagen, nie in meinem Leben habe ich soviel gelesen und studiert wie in diesem Winter. Ich studierte ferne Länder, lernte ihre Sprachen, denn es konnte sein, daß ich bald dorthin reisen würde, wohin keine Geleise mehr laufen. Ich habe keinen eigentlichen Beruf, keine besonderen Anlagen und Talente, ich habe keine Lust und keine Zeit dazu. Ich bin aus altem Geschlechte, degeneriert, gehöre zu jener Klasse der Luxusmenschen, die allmählich ausstirbt. Ich wünsche es nicht; aber man wird bald nur noch Gemüse pflanzen und Rindvieh züchten, der Mensch wird praktisch.
Ja, ich habe viel gearbeitet.
Ich arbeitete, um mich zu vergessen. Ich ging auf die Jagd, wanderte mich müde, ich war ruhig. Aber plötzlich tauchte Ingeborg vor mir auf, so herrlich, so wunderbar — dann war die Ruhe vorbei, der Schmerz schüttelte mich und ich wußte, daß ich immer noch auf dem Grunde lag und nie mehr Frieden haben sollte da drinnen.
Ich schrieb viele Briefe an Ingeborg, ich sandte sie nicht ab, nur um Ruhe zu bekommen, schrieb ich sie.
Ich schrieb einen, der lautete:
Ingeborg, es ist ein finsterer Gedanke in mir, mit dem ich immerzu ringen muß. Er lockt mich, er gaukelt mir Dinge vor — er winkt und ruft — ich ringe mit ihm, es ist schwer, es ist ein verzweifelter Kampf!
Hilf mir! Jeden Tag bekommt der Gedanke mehr Kraft. Er lockt nicht mehr, er höhnt und spottet und lacht. Er triumphiert im geheimen.
Ich schrieb einen, der lautete:
Komme, Ingeborg, Ingeborg! Ich breite die Arme aus! Komme, hier ist deine Heimat.
Komme, komme, eine Pforte aus Rosen will ich bauen, jeder Baum im Walde soll eine lichte Flagge haben, tausend Kerzen zünde ich dir an in jedem Saale, ich will niederknien und deine Füße mit Tränen baden und mit Küssen trocknen. Ingeborg will ich sagen, bist du da? Gebenedeiet seist du, ich bin dein!
Komme, komme, Ingeborg, ich bin auf dem Grunde, ich kann nicht mehr, ich flehe dich an um ein Wort, ein einziges Wort.
Mit Tränen in den Augen schrieb ich diesen.
Dann schrieb ich einen, zerknirscht, bleich: Ingeborg, nicht von Liebe spreche ich heute zu dir.
Nein, ich will dir beichten, Ingeborg, beichten! Ich habe verbrecherische Wünsche, Ingeborg, verbrecherische Gedanken. Ich möchte meine Hand um deinen Gürtel legen und dich an mich pressen. Einmal noch! Ich möchte deinen Scheitel ansehen, leicht darüber streichen über deinen schönen, göttlichen Scheitel. Ich möchte dich auch auf den Mund küssen, nur einmal noch — einmal noch! Ja — haha — so bin ich nun! Ingeborg, einmal möchte ich noch meine Lippen auf deine Brust pressen — einmal noch möchte ich eine Stunde um Mitternacht bei dir sein —
Es ist auch ein böser Gedanke in mir aufgewachsen, ein Unkraut, ich kann nichts dafür, eine böse Hand säte es. Ich dachte: vielleicht hast du schlecht an mir gehandelt?
Da begann mein Herz zu klopfen und es klopfte so fürchterlich, einige Minuten lang, daß ich bestraft genug war. Verzeihe!
Ich liebe dich. Ich küsse oft meine Kissen, die Stelle — — —
Dann schrieb ich einen, ich schrieb ihn mitten im Schrecken: O, ihr Freunde, ihr! Wüßtet ihr es! Ich empfinde jeden Kuß, ich empfinde jeden Händedruck, jeden Blick. Er fällt mir wie ein glühender Tropfen auf mein Herz. Ich empfinde alles, alles, was martert ihr mich denn! Ihr quält mich zu Tode, zu Tode, zu Tode!!
Ich arbeitete, arbeitete, sah nicht links noch rechts, vergrub den Kopf in die Hände. Manche Zeile las ich zwanzigmal, ich zwang mich.
E s war Nacht im Walde, nur den Schnee sah ich. Es ging ein Schritt neben mir her. Es war in der Nähe meines Hauses. Es ging eine Stimme neben mir her. Sie flüsterte. Ich wollte sie nicht hören. Sie flüsterte: „Ich habe sie gesehen, sie trägt einen breiten Pelzkragen, grau ist er. Sie sieht so schön und eigenartig aus, daß alle Leute nach ihr blicken. Einer ging neben ihr her, er war groß, machte große Schritte. Er war rothaarig.“
Mein Atem stockte, mein Herz schlug. Ich lauschte, wollte aber doch nicht zuhören. Die Stimme lockte.
„Ich habe sie oft gesehen, oft. Ich sah sie auch mit Holger Hunt, dem Komponisten. Sie bewundert ihn, ich sah es an einem Blicke. Haha — ich betrachte sie, fahre ganz langsam, ich trage eine Brille, eine Kapuze, niemand sieht mich. Eine großartige Erfindung, das Automobil.“ Ich bog zur Seite. Die Stimme ging neben mir her. „Ich sah ihre Hand, sie streifte den Handschuh ab, um Geld aus dem Täschchen zu nehmen Ihre Hand war schneeweiß. Ihr Hals ist frei, auch im Winter. Ich hab ihr dicht in die Augen gesehen — Himmel! diese, diese Augen! — sie mußte warten, bis mein Wagen über die Straße gefahren war. — Haha, ich wollte Ihnen das schon längst erzählen, ich lief immer um Ihr Haus herum, traf Sie nicht. Ich gehe gerne um dieses Haus herum, ja, es ist so eigen, sich vorzustellen — gewiß — man kann sie nicht mehr vergessen, nein. Sie vergißt leichter, ha! Sie lebt tagweise. Stimmt es? Sie ist lieblich wie ein Kind und grausam wie ein Kind — sie lügt — sie kann keine Blume zertreten, aber einen Menschen zu Tode peinigen —“
Ich lief weg, hinein in den Wald.
Ich schickte einen Boten nach Rote Buche mit einem Briefe, darinnen stund: Ich gehe nur noch mit geladenem Gewehre im Walde!
Harry Usedom schickte mir eine Antwort: Vergebung, Vergebung, das wollte ich doch nicht.
Ich verachtete ihn. Aber ich vergaß nicht, wie berückend seine Geige einst im Walde klang, als er das weinende Glück spielte. —
Einige Wochen darauf erfuhr ich, daß Harry Usedom einen Selbstmordversuch gemacht habe. Er hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Er hatte sich schwer verletzt, aber es war nicht lebensgefährlich.
Es war als ob etwas über mich sänke, immerzu, immer dichter, ich wehrte mich, aber es lähmte mich, immer undurchdringlicher wurde es.
In Nacht und Grauen wird einer versinken, einer, ich weiß es!
E s ging in die Tiefe. So begann es — —
Ingeborg ist zurückgekehrt. Ist es möglich?
Ich saß im Zimmer und hörte weder den Wagen, noch Schritte. Da ging die Türe und Ingeborg stand auf der Schwelle.
Sie war in einen dicken Reisemantel gehüllt und ihr Gesicht verschwand fast ganz im Pelzkragen. Rot vor Frost war dieses Gesicht, ein kleines, erfrorenes, lächelndes Kindergesicht.
„Hahaha!“ lachte Ingeborg. „Kennst du mich nicht mehr?“ Ich begriff all das nicht. Ich stand auf und lächelte. Ich bewegte die Lippen, aber ich vermochte nicht zu sprechen.
Und Ingeborg lachte wieder und sagte, daß sie nun auf Besuch zu mir komme, wie sie es versprochen habe. Zwei Monate lang.
„Hahaha, ja, grüß Gott, Axel!“
Ich gebe ihr die Hand, ich kann noch nichts denken. Auf dem Pelze und den goldenen Locken Ingeborgs zerschmilzen kleine Schneesternchen. Ingeborgs Stimme ist kräftiger und tönender geworden.
„Grüß Gott! Ingeborg —“
„Ja, ja ja — Axel, Axel! Bekomme ich denn keinen Kuß? Küsse mich doch. Ich freute mich seit Wochen auf diesen Kuß.“
Mein Herz steht still. Ich küsse Ingeborg auf den Mund und verliere die Besinnung —
Da erwachte ich.
Ich lag im Zimmer auf der Ottomane. Es dämmerte. Auf den naßschwarzen Ästen der Kastanien lag Schnee, ein Sperling schaukelte auf einem Ästchen und Schnee stieb herab.
„Ich finde keine Ruhe mehr!“ flüsterte ich. Ich war totmüde, einige Tage und Nächte hatte ich nicht mehr geschlafen. So heimtückisch arbeitete es in mir, am Tage konnte ich mich betäuben, solange ich wachte, aber im Traum, da war ich wehrlos. Ich sprach mit mir. „Ich finde selbst im Schlafe keine Ruhe mehr — es bleibt mir nichts anderes übrig. Nein, ein Fürst tut es nicht, ein Bankier kann es tun — ein Fürst nicht. Ach, das sind einfältige Redensarten. Nun hat der finstere Gedanke doch gesiegt!“
Ich stehe auf, krame im Schubfache des Schreibtisches und verlasse das Haus. Blaue Winterdämmerung ringsum. Alles schläft, Bäume, Tiere, nur ich kann nicht schlafen. Bald werde ich es können. Der Schnee leuchtet blau, wie Stahl fast, die Abendkälte hat ihn mit einer dünnen Eiskruste überzogen, die unter den Schritten kracht. Ich gehe an der Statue vorüber, einen Eisbärenpelz hat sie um die Schultern geschlungen, als ging sie ins Theater. Pst! hat sie nicht pst! gerufen? Im runden Brunnen sprudelt schwarze Tinte, die eiskalt glitzert. Der Brunnen ist mit dickem Eise bedeckt wie mit Aussatz.
Ich eile durch den Park, zur Grotte, wo der ewige Tropfen fällt. Kupferrot steigt der Mond hinter den Stämmen empor, in Dunst gepackt. Der Schnee ist mit schmutzigem Blute getränkt.
Die Grotte ist still. Der Tropfen schweigt, der Tümpel ist gefroren. Ein toter Frosch ist im Eise zu sehen, er zeigt den gelben Bauch. Die Grotte ist mit Eis überzogen und eine Säule aus Eis, einer großen geronnenen Kerze ähnlich, hängt vom Felsen zum Tümpel.
Ich setze mich in den Schnee. Ich berühre einen Busch und Schnee stiebt über mich und fällt mir ins Genick, sodaß ich zusammenschaure. Ich nehme den Revolver aus der Tasche.
Alles ist Schnee und Eis.
Umsobesser, geht es mir durch den Kopf, ich konserviere mich besser, übrigens liegt dort auch schon einer. Schade, daß ich keine gelbe Weste anhabe! Wer hätte gedacht, daß die Geschichte so leicht ist?
Ich setze den Revolver an die Schläfe und schließe die Augen.
Tick! Der Revolver versagte. Ich blicke in die Trommel. Ich sehe die Kugel.
Und ich setze wiederum den Lauf an die Schläfe. Da berührt jemand meine Schulter und ich blicke mich um. Das verhärmte Gesicht des glücklichen Wanderers nickt traurig über mir.
„Bruder, Bruder,“ spricht er sanft und hebt den Zeigefinger mitleidig drohend empor, „es gibt weitaus schlimmere Dinge als ein Weib zu verlieren. Vier Jahre Kerker, Bruder, das ist hart. Ach, ohne frische Luft, ohne Himmel, ohne Freiheit, Bruder weitaus schlimmer ist dies!“
„Schere dich zum Teufel!“ schreie ich und presse den Revolver auf das Herz. Aber der Wanderer wirft sich über mich und umklammert mein Handgelenk. Ich keuche.
„Laß los!“ Ich ringe mit ihm. Ich nehme alle Kraft zusammen, ein Ruck noch und mein Arm ist frei —
„Laß los.“
Ich erwachte.
Ich lag immer noch auf der Ottomane. Ich schauderte zusammen.
Aber jemand stand im Zimmer, in einen dicken Mantel eingehüllt, einen großen Hut auf dem Kopfe. Er hatte ein rotes aufgeblasenes Gesicht mit heimtückischen kleinen Chinesenaugen. Er stand am Flügel, nahm das grüne Väschen in die Hand, steckte es ein und schlich sich hinaus.
Ich fuhr auf. Ich hörte wie eine Türe vorsichtig zugemacht wurde.
Jemand war eben im Zimmer gewesen. Der Knecht, den sie den Mönch nennen. Ja! Er hatte das Väschen gestohlen.
Ich blickte auf den Flügel: das Väschen war fort!! Träumte ich? Nein, ich träumte nicht mehr. Ich hatte zwei Träume hintereinander geträumt, den von Ingeborg, den von der Grotte. Das wußte ich genau und ich würde es nicht wissen, träumte ich noch. Ich sah ja, konnte mich anfassen, fühlen.
Das Väschen war fort! Lange Wochen stand es doch auf dem Flügel!
Ich rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinab, über den Hof. Groß und messinggelb stand der Mond über dem Walde in einem violetten Himmel. Der gelbe Schnee knarrte unter meinen flüchtigen Schritten. In den Ställen klirrten Ketten und die Pferde stampften.
Ich eilte ins Haus und riß die Türe zur Gesindestube auf. Da saßen sie alle im Tabaksqualm, Knechte und Mägde und flochten Strohbänder. Sie rauchten, lachten und erhoben sich, als ich eintrat.
Ich warf die Türe ins Schloß. Es wurde so stille, daß man hörte, wie die Kühe nebenan das Heu aus dem Barren rupften.
Dort stand auch er, der Mönch, im dicken Mantel, den er Sommer und Winter trug, und den großen Hut auf dem roten Kopfe. Wie immer schlug er den Blick zu Boden. Ich trat auf ihn zu und schüttelte ihn leicht am Arme.
„Da bist du ja!“ sagte ich und lachte höhnisch.
Der Knecht hob furchtsam die Lider und blickte erschrocken auf mich. Die Röte wich aus seinem Gesichte und die dicken Backen zitterten. Er senkte die Lider, schneeweiß lagen sie in seinem fahlen Gesichte.
„Schon lange habe ich ein Auge auf dich, du!“ sagte ich. Alle standen sie ringsumher erschrocken, mit großen Augen und geöffneten Mäulern.
„Ja ja,“ murmelte der Mönch. „Hole den Schandarm!“
„Du hast es getan? Wie?“
Der Knecht fiel in die Knie und sagte: „Ich habs getan. Ich bereue es. Zehn Jahre habe ich dran gewürgt.“
„Was tat der Mönch?“ fragte einer.
„Er hat gestohlen!“ rief ich. „Ein Väschen.“
Gestohlen? Nichts habe er gestohlen.
„Jetzt leugnet er wieder, hoho!“ rief ich und ich bewegte die Hand so schnell vor dem Gesichte des Knienden, daß sie dreißig Finger bekam. „Eben gestand er es ein, jetzt lügt er frech. Höre, du, ich lasse dich auspeitschen, daß dir Hören und Sehen vergeht!“
Aber da bekam ich Mitleid mit dem Knechte, der in seinem dicken Mantel vor mir kniete und den Kopf neigte. Er hatte sogar den Hut abgenommen, seine Haare waren weiß wie Mehl.
Ein armer Mensch war das. Wie schlecht bin ich doch geworden, daß ich ihn so anschreien konnte. Wie schlecht! Schlecht mußte ich also auch noch werden!
„Höre,“ sagte ich, „was fällt dir ein. Ich tue dir nichts. Gib nur das Väschen her. Hast du es vergraben? Sag es?“
„Ich habe das Ding nicht gestohlen.“
„Vor einer Minute hast du es aus meinem Zimmer gestohlen.“
„Herr, er war diesen ganzen Nachmittag und Abend mit keinem Fuß aus der Stube.“
Alle sagten es.
„Nicht? Nicht?“
Also hatte ich doch geträumt. Aber das Väschen stand ja nicht mehr auf dem Flügel.
Der Knecht erhob sich und setzte den Hut wieder auf den Kopf.
Und mir fiel ein, daß ich das Väschen heute morgen in den Schreibtisch geschlossen hatte, damit es die Magd nicht unglücklicherweise zerbräche.
Ich erbleichte. Stille war es.
„Verzeihe mir,“ sagte ich zu dem Knechte und verließ die Stube. Alle Augen folgten mir.
Ich stand im Hofe unter dem dunklen Himmel, aus dem die Sterne wie Eis heruntertropfen.
Meine Füße zitterten.
„Was ist das? Was ist das?“ flüsterte ich und ging müde ins Haus zurück. —
I ch erkrankte. Diese Reihe von Tagen, bis ich müde zusammenstürzte, bis ich liegen blieb und mich nicht mehr rührte, sie ist in meinem Gedächtnis ausgestrichen!
Ich erkrankte.
Wie lange lag ich krank? Ich weiß es nicht. Dann erwachte ich wieder. Eine Stimme flüsterte. „— Du Herr, der du Berge versetzen kannst und Mauern einstürzen mit dem Atem deines Mundes, nimm dich des armen Kranken an, auf daß er genese —“
Ich hob die Lider. Ich lag im Bette, am Fenster saß die alte Maria, eine große Brille auf der Nasenspitze und betete. Wie Stricke lagen ihre gebleichten Haare auf dem runden rosigen Schädel. Wo hatte ich dieses Rosige schon gesehen und dieses Kränzchen? Richtig, bei Spanferkeln, genau so, von hinten gesehen.
Und ich lag stille, es machte mir Freude zuzuhören, wie jemand mit seinem Gotte sprach, für mich, immerzu für mich. Ich kicherte beinahe, so schön hörte sich das an. wie Maria Gott pries, als wolle sie ihn durch Schmeicheleien willfähriger stimmen, und dann um meine Gesundheit flehte.
„Die Sonne steht still auf dein Geheiß —“ Tatata, dachte ich bei mir.
„— und Tote stehen auf, auf dein Wort —“ Tatata, dachte ich bei mir.
„Sieh auf den armen Kranken und schicke ihm Gesundheit —“
Nach Belieben, dachte ich bei mir. Es war mir so leicht ums Herz und ich war zum Scherzen aufgelegt. Ich schlief wieder ein und als ich aufwachte, war es Abend geworden. Maria saß bei einem Lichte und betete immer noch.
Und ich schlief wieder ein und erwachte am lichten Morgen.
Nun war ich gesund. Ich stand auf und kleidete mich an. Ich war gesund und frisch, wie neugeboren und wollte singen. Aber gerade in dem Augenblicke, da ich beginnen wollte, konnte ich nicht singen. Es war eine eigentümliche Traurigkeit in mir, die mich nicht singen ließ.
Was aber war das doch für eine Traurigkeit? —
Tiefer Winter. Tiefer Winter.
Säcke voll Schnee hat der Himmel über die Wälder geschüttet, die Bäume sind starr und glashart. Ein roter Mond geht auf, eine rote Sonne kriecht durch den dunstigen Tag. Wie Grotten aus blauem Eise sind die Nächte. Der Schnee knarrt, im Walde bellen die Füchse. Sonst regt sich nichts mehr. Die Kälte zerfrißt die Augen. —
Heute schien die Sonne durch den Dunst und das Tal glitzerte weithin vor Freude. Eine Ahnung vom Frühling zitterte tief in der Erde.
Ich sah in die Sonne, es war mir als müßte ich durchsichtig sein wie Glas. Sie wärmte so ganz anders als das lustigste Feuer. Und ich dachte, daß der Frühling schön sei. Ein blühender lachender Apfelbaum am Wege, eine lachende Sonne, eine lachende Wiese, ein Hirtenmädchen, das den Mund bis zu den Ohren verzieht und lacht, ganz wie die Sonne, das ist der Frühling.
Ich schlüpfte in die Lodenjoppe, zog die hohen Stiefel an, nahm den Stock und das grüne Hütchen und ging.
Ausgestorben liegt das Haus, ausgestorben liegen die Ställe und Scheunen, mit dicken Polstern weißen Schnees bedeckt. Sie sind in die Erde gesunken. Die Fenster sind schwarz. Vieh und Pferde sind verkauft, Mägde und Knechte sind fortgegangen.
Nun, ich hielt sie nicht. Sie wollten sich einen andern Dienst suchen. Zu einsam sei es hier oben im Bergwalde. Ich hielt sie nicht auf.
Nur die alte Maria ist bei mir geblieben. In Tücher eingehüllt sitzt sie in ihrem Kämmerchen, wie eine Kastanienverkäuferin in der kalten Straße. Sie wird alt und friert. Am Abend jedoch fällt ein gelber Lichtfleck auf den Schnee des Hofes, aus dem Fenster der Gesindestube. Wer ist noch in der Gesindestube?
Der Mönch. Hin und her geht er, im Mantel, den großen Hut auf dem Kopfe.
Er hat keine Ruhe. Er büßt für etwas. Wofür? Niemand geht das etwas an.
Ich schwinge den Stock und gehe hinein in den stillen Wald. Ich lächle. Ich rücke den Hut zurück und möchte lachen und singen. Aber sobald ich die Lippen öffne, um zu lachen und zu singen, hält mich etwas zurück. Ich weiß nicht was es ist.
Es ist ein eigentümliches Gefühl.
Was ist es doch für ein Gefühl? Rührung, Ergriffenheit, Traurigkeit, Freude?
Von allem ein wenig.
Zartblau ist der Schnee im Walde zwischen den fahlen gefleckten Stämmen der Buchen. Gelbe Wege, gelbe Streifen, das ist die Sonne. Der Himmel schimmert weiß. Die Wipfel der Bäume sind wie in dicke Watte gepackt. Ein Ästchen rührt sich, eine kleine weiße Schlange gleitet herab. Von vielen Büschen sieht man nur noch einzelne Zweigchen, die aus dem Schneehaufen hervorlugen. Über den Weg laufen Spuren von Rehen und Füchsen. Ein Häufchen Krähenfedern liegt im Walde. In der Ferne lacht ein Häher.
Die Gräben sind gefroren und wenn ich mit dem Stocke auf das Eis stoße, so fallen lange Scheiben splitternd ins bereifte Gras. Ein spiegelglatter Tümpel. Ich nehme einen Anlauf und sause darüber hinweg.
Es ist nicht kalt. Die Luft ist frisch und so oft man sie einatmet, glaubt man Eiswasser zu schlürfen.
Da liegt eine Wiese am Waldesrande, sieht aus wie das reinlichgedeckte Bett eines Riesen. Im Sommer stehen gelbe Blumendolden darauf, aus denen der Honig tropft.
Honigtröpflein heißt die Wiese.
Und ich denke an den Sommer. Schweiß, Honig und Feuer ist der Sommer, denke ich, und ein heißer Kuß im Traume.
Ich gehe durch den Wald, stundenlang, auf, ab, auf, ab. Ich muß tüchtig ausgreifen, der Weg bis zum Revier Otternbrücklein ist weit.
Einsam ist es, einsam und feierlich. Der weiße Tod haust im Walde.
Ich komme in fremdes Gebiet. Axtschläge fallen im Walde. Das ist wunderschön, so still, so feierlich und diese Axtschläge. Man glaubt das Herz des Waldes schlagen zu hören. Das Gefühl, daß ein Mensch in der Nähe ist, tut wohl. Man will nichts von ihm, man sieht ihn gar nicht und doch tut es wohl, zu wissen, daß dort einer ist.
Ja!
Da erschrecke ich und trete hinter einen Baum. Ein Wolf! Nein, ein Fuchs. In weitem Bogen zieht er vorüber, den dicken Schwanz durch den Schnee schleifend.
Ich lächle. Weshalb fürchtete ich mich? Nie in meinem Leben war ich furchtsam.
Ich greife tüchtig aus. Hochwald. Das ist Revier Otternbrücklein. Dort liegt die Hütte des Holzfällers.
Vater Giselher sitzt vor der Türe in dunkler Sonntagskleidung. Ernst ist sein Gesicht und er sieht weder nach rechts noch nach links. Seine derben Hände liegen auf den Knien, sie ruhen wie er.
„Guten Tag, Vater Giselher!“ rufe ich und schwinge den Hut.
„Guten Tag.“
„Ich kam lange nicht dazu, dich zu besuchen, Vater Giselher,“ sage ich. Ich komme in Verlegenheit.
Selbstsüchtig seien Jugend und Glück. Hätten nicht Augen und Ohren für andere.
Ja, er zürnt immer noch, weil wir den Pfarrer nicht nahmen, damals. Er blickt weder nach links noch nach rechts.
Aber der Tod gebiete Versöhnung. „Meinen Dank, daß du kommst. Tritt nur ein, da drinnen liegt sie.“
„Wer?“
Wer lag da drinnen?
„Ihr Tagwerk ist vollbracht. Vierzehn Kinder hat sie geboren und großgezogen. Ihre Pflicht ist erfüllt. Der Herr weiß was er tut.“
Ich atmete auf, ich trat in die Hütte. Es war düster hier, eine hohe Kerze brannte. Daneben schimmerte das friedlich schlummernde, hohlwangige Gesicht einer alten Frau. Die Frau lag langgestreckt in einem breiten, derben Sarge. Ihr Mund war einwärts gezogen und fast kreisrund, der Tod hatte alles spitzig gemacht, die Nase, die Backenknochen, das Kinn. Die Hände lagen im eingefallenen Schoße der Toten, gelb mit blauen Nägeln.
Um den Sarg herum saßen still, die Hände gefaltet, die Kinder der Toten. Es mochten ihrer wohl zehn sein, in allen Größen, Mädchen mit hellblonden abstehenden Zöpfchen und Knaben mit nußbraunen Gesichtern und wirren Haaren. Ein schlankes Mädchen von siebzehn Jahren saß auf einem Stuhl und stopfte einen Strumpf. Ihr zu Füßen kauerte ein kleines Kind, das mit Bohnen spielte. Alle hatten rote Ohren und rote Nasenspitzen, denn es war kalt in der Hütte. Sie wandten mir die Gesichter zu, als ich eintrat, aber sie regten sich nicht. Sie blieben still, die Hände gefaltet.
„Ich bin Ingeborgs Mann,“ flüsterte ich dem Mädchen zu, das den Strumpf stopfte. Ich schämte mich, dies zu sagen.
„Mutter ist tot — hohoho!“ schluchzte das Mädchen und große Tränen fielen auf den Strumpf herab.
Hohoho — weinten sie alle ringsum und sie hörten auf, als die Schwester aufhörte.
Das Kind am Boden kroch unter den Sarg, eine Bohne war fortgerollt.
Und die Tote lächelte friedlich im Lichte der einzigen Kerze.
Da liegt sie! Ingeborgs Mutter ist das!
Das ist ja Ingeborgs Mutter! Sie ist tot. Seht, die Ingeborg geboren hat, ist gestorben!
Ich konnte mich nicht halten, ich brach in Schluchzen aus.
Das ist ja Ingeborgs Mutter!
Ist das nicht die Stirne Ingeborgs? O, ja! Ach, das ist Ingeborgs Kinn!
Ich schluchzte und beugte mich über die Tote und streichelte ihre kalten feuchten Wangen.
Ingeborgs Mutter ist das ja!
„Ich muß mich schicken,“ sagte das älteste Mädchen. „Gleich werden sie da sein, um Mutter zu ho — ho — holen.“
Ob ich ihr nicht helfen wolle, Mutter den Strumpf anzuziehen.
O, ja, gerne wolle ich ihr helfen, Mutter den Strumpf anzuziehen.
Der Strumpf war naß von den Tränen des Mädchens. Ich betrachtete sie.
„Wie heißt du?“ fragte ich und lächelte leise. Es war so manches in diesem Gesichte —
„Maria — ach nun ist Mutter tot!“
„Willst du nicht zu mir kommen, Maria?“ flüsterte ich. Die Stimme wollte mir versagen. Ich hatte vergessen, daß eine Tote im Zimmer lag. „Mein Hauswesen führen?“
Sie brauchten sie hier.
Ich sah mir die Geschwister an. In jedem Gesichte fand ich etwas — etwas —
Vater Giselhers tiefe, ruhige Stimme wurde hörbar vor der Türe, Hüsteln und Sprechen.
Vater Giselher öffnete die Türe. „Tretet ein!“ Durch den Spalt sah man den Kopf eines Schimmels, daneben das runde frostrote Gesicht eines Bauernburschen. Eine Anzahl alter Männerchen und Weiberchen trat ein, so daß das Gemach voller Menschen war. Sie flüsterten, hüstelten und eine Frau begann zu weinen, es klang wie Gekicher.
Ein Greis sagte mit näselnder halblauter Stimme: „Da liegt sie nun, unsere Mutter Giselher.“
Und ein weißhaariges verwachsenes Mütterchen zischelte: „Einen schönen Tod hat sie gehabt,“ und alle nickten mit den Köpfen.
„Sie ruht in Gott.“
Vater Giselher schob sich durch die Gruppe. Er nahm ein dickes Buch zur Hand und stellte sich hinter die Kerze. Seine Gestalt war aufrecht wie immer, und sein bärtiger Kopf saß fest und gefaßt auf den breiten Schultern.
Klar und hell war sein Auge.
Und er schlug das Buch auf und begann zu lesen. Wir standen um den Sarg und hatten die Hände gefaltet, die Greise und Mütterchen, die Kinder, und auch ich hörte zu mit gesenktem Kopfe, mit gefalteten Händen, wie die andern.
„Es stehet geschrieben in Gottes Wort,“ las Vater Giselher, „in den Psalmen Davids, Psalm 39, Vers 6 bis 8: Siehe meine Tage sind einer Hand breit bei Dir und mein Leben ist nichts vor Dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sela. Sie gehen daher wie Schemen und machen sich viel vergebliche Unruhe, sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird. Nun Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.“
Vater Giselher schloß das Buch. „Ich hoffe auf dich! Brüder und Schwestern im Herrn — eitel sind unsere Hoffnungen dieser Erde, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.“ Vater Giselher sprach und sprach. Laut und markig klang seine Stimme und seine wasserblauen strahlenden Augen wanderten im Kreise umher.
Vater Giselher sprach lange von den Tugenden der Gestorbenen und der Herrlichkeit des himmlischen Reiches und Gottes hoher Gnade. Wenn er den Namen Gottes oder des Erlösers aussprach, so neigten die Männer und Weiber den Kopf.
Dann schwieg er und nach einer kurzen Pause begannen sie alle wie auf ein Zeichen das Vaterunser zu beten. Allen wurden die Augen naß, nur Vater Giselhers Auge blieb trocken.
Vater Giselher trat an den Sarg und sprach: „Ich sehe dich an und ich sehe dich nicht zum letzten Mal. Ich werde dich da droben wiedersehn, so wahr Gott ist, und Freude wird in unsern Herzen sein.“
Der Sarg wurde geschlossen und hinausgetragen und auf den Karren gelegt. Der Bauernbursche sagte: hüh! und der Schimmel wieherte und stampfte durch den Schnee.
Neben dem Sarge schritt Vater Giselher, das Trüpplein der Kinder folgte ihm, dann kam der Zug der alten Weiber und Männer und weit hinter allen ging ich.
Maria und das kleine Kind blieben in der Hütte zurück. „Adieu, Maria,“ sagte ich leise und sah sie an. Sie hatte goldene Haare und blaue Augen — —
Der Schimmel stampfte durch den Schnee und nickte bei jedem Schritte mit dem Kopfe, die Kinder trippelten und die alten zusammengeschrumpften Männer und Weiber humpelten und hinkten, in Tücher eingehüllt, hinter dem schwankenden Sarge einher.
Der Wald begann ringsum zu rauchen. Feiner Schnee fiel.
Es ging steil bergab.
Da kam aus der Tiefe das wehmütige Bimmeln einer Glocke.
Die Kinder begannen bitterlich zu weinen.
Und ich preßte die Hände vors Gesicht und weinte wie die Kinder. Ich weinte leise, damit mich niemand hörte. Leise und unaufhörlich, und je mehr ich weinte, desto leichter wurde es mir im Herzen und ich wähnte nimmermehr aufhören zu können zu weinen.
Vor mir her schwankte der Zug, die Greise und Mütterchen, die Kinder, der Sarg. Feiner Schnee fiel vom Himmel.
Aus dem Tale rief die Glocke.
Und ich weinte, weinte, immerzu und immer heftiger, weinte, weinte — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
D er Frühling kommt. Der Sommer kommt.
Wohnt denn niemand in diesem Hause? — Nein!
Scheiben sind zersprungen, die Dachrinne hängt über das Dach, viele Läden sind geschlossen und Sperlinge nisten darin.
Der Sommer geht. Es kommt der Herbst.
Wohnt denn niemand in diesem Hause? Nein!
Der Winter kommt. Still liegt das Haus im Walde.
Es kommen Leute, pochen, pochen —
Es wohnt niemand in diesem Hause.
Nein!
Wie dieses Jahr verging? Ich sage es nicht. Nein, ich sage es keinem Menschen, selbst Freund Karl nicht, nicht einmal mir. Es ist ausgelöscht, dieses Jahr. Ich habe alles, alles vergessen, ich weiß nichts mehr. Ich weiß, daß ich herum ging, sorgfältig gekleidet und rasiert, daß ich immer über Büchern saß. Was tat ich in den Nächten? Das habe ich vergessen. Ich legte ein Rosenbeet an im Parke, das kann ich gestehen, ich kann auch gestehen, daß in den weißen Zimmern des Nachts eine Lampe brannte. Zuweilen. Nicht in jeder Nacht. Ich kann auch gestehen, daß ich zuweilen des Abends zu den Giebelfenstern hinausspähte, die Straße hinunter und wartete, übrigens nicht jeden Tag. Es standen auch dann und wann frische Sträuße in den weißen Zimmern.
Ich kann auch gestehen, daß am 25. Mai Tag und Nacht eine Kerze in meinem dunklen Zimmer brannte und ich — nein!
Ich bin nicht über den Park hinaus gekommen, nicht aus dem Hause. Ich hatte keine Lust.
Die Türe des Hauses war abgeschlossen, niemand kam herein. Der alten Maria und dem Mönche hatte ich meine Befehle gegeben und sie gehorchten!
Ich sah alles, was die Bergstraße herauf kam. Nichts konnte mir entgehen.
Eines Tages kamen ein Herr in Reisekleidern und eine Dame mit brennend roten Haaren die Bergstraße herauf. Sie war ebenfalls in Reisekleidern. Ich sah sie kommen, stand hinter der Türe, Angst erfüllte mich. Sie pochten, pochten. Die Angst in mir wuchs, mein Herz stand still, ich hielt den Atem an. Nein, ich habe nichts mehr mit den Menschen gemein, ich kann nie mehr offen mit einem Menschen reden, selbst mit Freund Karl nicht, nie mehr.
Der Herr sagte: „Ist er doch verreist?“ Die Dame sagte: „Bestimmt nicht!“
Dann sagte der Herr: „Wir wollen es unter der Türe durchschieben. Er wird sich freuen darüber.“
Eine Weile verging, dann schoben sich Zeitungen herein. Die Spitzen dünner, weißer Finger erschienen. Die Dame sagte leise: „Er tut mir leid!“
Sie meinte mich . . . . Ich atmete wieder.
Es waren große englische Zeitungen. Eine Visitenkarte lag dazwischen. Wir kommen eben von London! Herzlichen Gruß!
Ich las diese Zeitungen: „Tristan und Isolde“ — „Merlin“ von Holger Hunt — — Ingeborg Hunt-Giselher.
Triumphe, Triumphe! —
Sonst geschah nichts in diesem Jahre. Doch, es kam ein Buch von Karl.
Karls neues Buch. Es hieß „Sturm“. Es waren knorrige Eichen, die brausten und knarrten, sich schüttelten und lachten. — Seht!
Das Jahr verging. Ich habe vergessen, wie. Dann sah ich wieder mit andern Augen in die Welt.
Der Frühling kam wieder! Abermals kam er.
E s ist Frühling.
Ich sitze auf der Treppe meines Hauses und rauche aus meiner kurzen Pfeife. Lustig wirbelt der Rauch heraus. Die Sonne scheint, die Welt ist grün. Grün und durchsichtig wie Glas ist die Wiese, das Laub der Buchen. Blau und durchsichtig wie Glas ist der Himmel. Die Sonne scheint. Die Vögel singen, Tau tropft aus den Bäumen.
Ich rauche die Pfeife und lächle.
Schön ist die Welt! Schön ist das Leben!
Da liegt das Tal, schimmernd und grün. Aus dem Walde drüben winkt eine kleine Fahne.
Die Apfelbäume blühen an der Straße. Ein Wegmacher scharrt auf der Straße, das Messingband auf seinem Hute funkelt wie ein Kronenreif.
Friede und Schönheit sanken vom Himmel auf die Erde, denke ich. Die Sonne schüttet brennenden Wein aus Kannen über die Welt, wie ehedem.
Ich lächle.
Die Bergstraße herab kommt ein Mädchen, ein schlankes Bauernmädchen, ein weißes Tuch um den Kopf geschlungen, ein Bündel in der Hand. Golden funkelt es unter dem Kopftuche.
Es nickt herüber zu mir, seine Zähne blitzen und seine Augen.
Kind, Kind, was funkelst du mit den Augen und lächelst? Gehst in den Wald und suchst nach einem Geliebten? Es ist Frühling, nimm dich in acht, Kind!
„Guten Morgen!“ ruft das Mädchen mit klingender Stimme und geht die Straße hinab.
Und ich stehe auf. Diese Stimme —
Habe ich plötzlich Feuer im Kopfe?
Und ich lächle und stoße einen Schrei aus, wie ein Falke, der sich im Äther wiegt.
Ich gehe ins Haus und reiße mir alle weißen Haare aus. — — — — — — — — — — — — —
Die Dämmerung sinkt über das Tal, alles ist still, das Dorf schläft.
Ich sitze auf einem Brunnen, der vor der Hütte steht, weit draußen vor dem Dorfe.
Der Brunnen plaudert und mein Herz bebt.
Ein Mädchen tritt aus der Hütte, mit einem Kruge in der Hand.
„Guten Abend, Maria.“
Das Mädchen schrickt zusammen und lugt unter dem Kopftuche hervor. Auf dem Kopftuche sind graue blasse Sterne zu sehen.
Golden funkelt es unter dem Tuche.
„Guten Abend, Herr Schwager.“
„Ein schöner Abend, Maria?“
„Ja!“
„Wie schön, Maria! Es ist Frühling. Ich bin hierhergekommen, um mit dir zu sprechen. Ein Wegmacher hat mir gesagt, wo du jetzt wohnst.“
Ob ich ihr etwas von Ingeborg zu sagen habe? „Nein, nein! Sprechen wir nicht von Ingeborg. Wir wollen von uns beiden sprechen, haha! Aber da du von Ingeborg sprichst, so kann ich dir schon etwas sagen. Sei stolz auf Ingeborg, hörst du, sie ist ja deine Schwester. Sie feiern sie, sie beugen die Knie vor ihr. — Aber sprechen wir nicht von ihr. Sprechen wir von uns!“
Marie läßt den Krug voll Wasser laufen und der Krug gluckst, lacht und singt, immer heller.
Was ich wolle?
Mit ihr sprechen!
Aus der Hütte ruft eine Stimme.
„Der Bauer ruft.“
Im Walde liegt eine kleine Wiese und Maria pflügt, eine Kuh zieht den Pflug.
Ich trete aus dem Walde, das Gewehr auf der Schulter.
„Da bin ich wieder,“ sage ich fröhlich. Unbefangen und jung mache ich meine Stimme.
Maria schweigt.
„Neulich kam der Bauer dazu — haha! Schön ist es heute, wie! Die ganze Welt brennt!“
Ich blicke unter das weiße Kopftuch Marias.
Ja, ich sei zu ihr gekommen, gerades Weges zu ihr, sage ich und lege sanft meine Hand auf ihre Schulter.
Maria sieht mich erschrocken an. Es glitzert in ihren Augen.
Ja ja, gerades Weges zu ihr!
„Ich liebe dich Maria, kannst es glauben!“
Maria senkt rasch den Kopf. Blaßblaue Sternchen sind auf dem weißen Kopftuche Marias zu sehen.
„Ich liebe dich, Maria — was sagst du dazu? Nie — nie habe ich ein Mädchen so sehr geliebt.“
Ich sage es ganz leise und lächle nicht mehr. Meine Augen sind feucht.
„Ich bitte Euch, Herr —“
„Haha, hörst du nicht, daß ich du zu dir sage? Du sollst in mein Haus kommen, die Herrin sollst du sein, Maria — sprich doch —“
Maria blickt mich an und ihr Gesicht ist so weiß wie das Kopftuch.
Es ist stille. Ein Vogel singt. In der Ferne bläst ein Hirt die Flöte.
Dü — düdüdü — düdü — hell klingt es, nach Liebe und Glück.
Maria weicht langsam zurück, als habe sie Furcht vor mir.
Ich lächle.
„Du bist ganz bleich, Maria. Ich habe dich erschreckt. Wie ungeschickt war ich doch.“
Sie solle mir doch die Hand geben.
„Nein, nein!“
Maria weicht zurück. Sie sinnt nach, sie sinnt so lange nach, daß mir bange wird. Dann sagt sie, und das Blut kehrt in ihre Wangen zurück:
„Ich bitte Euch, geht. Das kann ja nicht sein“ sagt sie hastig. „Seht doch, Herr, überlegt es Euch, ich bin eine Bauernmagd, Ihr seid ein Fürst, ein Schloß habt Ihr, Felder und Wälder —“
Maria spricht es gütig und sanft.
„Haha.“ Ich lache.
„Was den Fürsten anbelangt — so ist das — eine Form — das ist — und —“
Ich nicke und gehe. Ein Gedanke jagt durch meinen Kopf.
„Auf Wiedersehn, Maria!“ Ich verschwinde im Walde. Man muß nicht blöde sein gegen junge Mädchen. Frisch angepackt, immer los aufs Ziel!
Ich gehe nach Hause und schreibe einen Brief und siegle ihn mit dem Wappen.
Ich trete in den Hof, den Brief mit dem großen Siegel in der Hand. Ich gehe ans Fenster der Gesindestube und poche.
Der Mönch kommt heraus und nimmt den Hut ab.
Ich sage zu ihm: „Siehst du diesen Brief hier? Den trage in die Stadt. Er gehört an den Notar. Verliere ihn nicht, denn es steht auch für dich etwas darin. Ich habe dich einmal unrecht behandelt vor all dem Gesinde, ich habe es nicht vergessen — auch hast du Pazzo immer so freundlich gestreichelt. Ich habe es beobachtet. Auch die alte Maria habe ich nicht vergessen. Eile.“
Es ist Nacht. Dunkel liegt die Erde und hell ist der Himmel und er glitzert von Sternen.
Ich sitze auf der Bank unter der Birke und blicke auf das Schloß.
Ich lächle. Ein kleines Glück. Hörst du, was klopft in meinem Herzen?
Ich denke an eine kleine Hütte im Walde, an den Geruch des Düngers, an eine hübsche Kuh. An ein Gesicht beim Scheine der Kerze. Wie schön wird es sein, wenn ich dieses Gesicht ansehen darf!
Träume wiegen sich in meinem Kopfe. Wie lieblich sind die Frauen! Wenn sie nur guten Tag sagen! Wie das klingt! Wenn sie schlafen — es atmet unter der Decke, es atmet so!
Ich blicke auf alle Fenster des Schlosses. Noch ist nichts zu sehen. Aber plötzlich ist ein Zimmer beleuchtet, noch eines, wieder eines. Eine Scheibe klirrt und Rauch fährt heraus.
Das Schloß steht in Flammen.
Hunderttausend rote Derwische heulen und tanzen in den Sälen und auf dem Giebel.
Da wird die Türe aufgerissen und lautschreiend rennt eine Gestalt im Hemd heraus. Es ist die alte Maria. Sie schreit und läuft über die Wiese, die Straße, in den Wald hinein. Ihr Hemd leuchtet rot und weht um die dünnen nackten Beine.
Ich hatte gar nicht an sie gedacht.
Ein herrlicher, frischer Morgen. Rauch zieht über den Wald.
Ich trete aus dem Walde auf die Wiese, Maria pflügt.
„Da bin ich, Maria.“
Maria nimmt die Schürze vors Gesicht und bricht in Schluchzen aus. „O, Herr, Herr, was habt Ihr getan?“
„Siehst du es nun, daß ich dich liebe?“ frage ich leise. Ich bin das Gras zu ihren Füßen.
„O, Herr, Herr, was habt Ihr doch getan!“
Ratlos stehe ich da. Die Kuh dreht den Kopf und blickt mich an. Ein Vogel singt. Wie gestern bläst des Hirten Flöte in der Ferne.
„Höre, Maria,“ sage ich, „weine nicht. Welch gutes Herz hast du doch, Maria. Ich liebe dich, — nun —?“
Maria weint in die Schürze.
„O, Herr, Herr! Was habt Ihr doch nur getan!“
„So sei nur stille, Maria. Siehst du, eine Hütte werden wir haben, eine Kuh. Schön wird es sein. Wenn die Vögel singen, wenn der Regen rauscht —“
Maria schüttelt den Kopf.
Ich erblasse, ich fühle es. Wie? denke ich und erblasse.
Ich spreche.
„So sage, Maria, was ist dir? Kannst du mich nicht lieben? Ich sah es ja neulich deinen Augen an — Ingeborg — haha, wie sage ich, Maria —“
Maria schüttelt den Kopf.
„O, Herr, Herr.“
Ich stehe still. Meine Lippen zucken. Ich bin wie verzweifelt, einen Augenblick.
„Liebst du einen andern, Maria, sag es?“ frage ich leise. „Sage es offen.“
Maria nickt.
„Ja,“ sagt sie schluchzend, „was habt Ihr getan. Herr!“
„Nun, beruhige dich, Maria. Ja dann — —. Leb wohl. Maria gib mir die Hand. Willst du nicht?“
Maria nimmt eine Hand von der Schürze und reicht sie mir.
„Leb wohl, Maria.“
Ich gehe. Einige Schritte, dann kehre ich zurück. Ich habe etwas in der Tasche für sie.
Immer noch steht Maria da, die Schürze vor dem Gesicht und weint.
„Maria“, sage ich, „ich möchte dir wenigstens etwas schenken. Vielleicht gefällt es dir?“
Ich ziehe ein kleines grünes Väschen aus der Tasche.
„Da nimm es. Du kannst Blumen hineintun, die dir dein Liebster schenkt. Willst du es nicht nehmen?“
Maria nimmt die Hand von der Schürze und ich lege ihr das Väschen in die braune schöne Hand.
„Leb wohl, Maria!“
Maria weint.
Ich sehe sie mir noch einmal an — dann gehe ich in den Wald hinein.
Ich wende mich um, immer noch hat Maria die Schürze vor dem Gesichte.
Die Zweige verdecken sie.
Ich komme auf die Straße und wandere sie entlang, ins Tal hinunter. Die Sonne steigt über die Höhe.
Ich wandere und wandere. Viele Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Ich gehe immer weiter, immer weiter. Ich bin noch ein wenig traurig, aber es wird bald vorüber sein — — —
Ich schreite tüchtig aus — —
Nun lebe ich in der Steppe, wo die Sonne blendet und jedes noch so kleine Gräschen einen geschliffenen türkisblauen Schatten wirft.
Es ist Nacht geworden. Ich liege im Grase, die Arme unter dem Kopfe verschränkt und sehe den Sternen zu, die über den Himmel wandeln. Auch den Sternen im Nordwesten sehe ich zu.
Es ist Nacht, kein Laut in der Steppe, am Himmel glänzen feierlich und schön die Sterne. Tau fällt auf jede Kreatur.
Ende
Druck von W. Drugulin in Leipzig.
Frauenmacht. Roman. 6. Tausend. Geh. 2 Mk., geb. 3 Mk.
Das Buch vom Brüderchen. Roman. 10. Taus. Jeder Band geh. 3.50 Mk., geb. 4.50 Mk.
Die Komödie der Ehe. Roman. 6. Tausend.
Wald und See. Novellen. 4. Tausend.
Kampf der Seelen. Roman. 4. Tausend.
Alte Briefe. Novellen. 4. Tausend.
„ Frauenmacht “: Es sind Stellen in dem Buch, die sind zum jubeln, und Stellen von einer Schönheit der Wehmut, wie sie wohl nur der Verfasser des „Buches vom Brüderchen“ schreiben kann. Hier ist ein inniges Kunstwerk, durch das man nicht hindurchgeht, ohne bereichert und beglückt zu werden.
(Nationalzeitung, Berlin)
„ Das Buch vom Brüderchen “: Wie ein großer Dichter seinen tiefsten Schmerz durch seine Kunst verklärt, sehen wir hier mit Bangen und Andacht. Sterbendes Glück zeigt das hinreißende Buch, zeigt es so innig, warm und mit einer hoheitsvollen Ruhe, daß wir wie im Schatten der Ewigkeit wandeln.
(Deutsche Literatur- und Kunst-Zeitung)
„ Die Komödie der Ehe “: In engem Stimmungszusammenhang mit seinem entzückend feinen und wehmütigen „Buch vom Brüderchen“ führt der Dichter uns in die enge, aber unvergleichlich innig bewegte Welt einer Ehe, die seltsam zusammenfällt. Jedes Wort, das hier geschrieben ist, war sicher ein Blutstropfen, von der Gewalt und Tiefe der Stimmung, dieses ganzen köstlichen Duftes, kann man nicht erzählen.
(Breslauer Zeitung)
„ Wald und See “: Dieser schwedische Dichter hat die beneidenswerte Gabe, mit den schlichtesten und wahrsten und dabei ungemein poetisch wirkenden Worten den erhabenen Frieden des Waldes zu schildern und uns vollständig in den Bann seiner Geschichten zu ziehen: Wald und See und Menschen und der Himmel über ihnen: alles eine einzige wundersame Stimmung.
(Literarische Warte)
Die Serenyi. Novellen, 6. Auflage. Geh. 2 M., geb. 3 M.
Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe. 16. Aufl. Geh. 2 M.
Vom gastfreien Pastor. Novellen. 20. Aufl. Geh. 2, geb. 3 M.
Der römische Maler. Novellen. 6. Aufl. Geh. 2, geb. 3 M.
„ Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe “: Hier offenbart sich ein humoristisches Genie ersten Ranges. Hartleben macht keine Witze; keine scharfen, ausgeklügelten Wortspiele, keine raffiniert berechneten Situationen sollen die Kosten der Wirkung bestreiten. Es ist einzig und allein sein goldner Humor, der alles durchtränkt; ihn schlürfen wir hinunter wie einen edlen, klaren, schimmernd hellen Rheinwein besten Jahrgangs, und wohlige Behaglichkeit umfängt uns beim Genuß.
(Reichsanzeiger, Berlin)
„ Vom gastfreien Pastor “: In der fröhlichen Erzählung vom „Gastfreien Pastor“ hat Hartleben ein deutsches Seitenstück geliefert zur lustigen Maison Tellier von Maupassant. Bewundernswert ist die schalkhafte Feinheit, mit der er den Hauptwitz der Handlung so verschleiert hat, daß z. B. ein wirklich unschuldiges, weltunerfahrenes Mädchen die ganze Geschichte lesen könnte und so wenig als der arglose Pastor von Stolberg merken würde, was eigentlich passiert sei. Wir wollen niemand das überraschende Vergnügen, das dieser köstliche Schwank jedem Leser bereiten muß, dadurch wegnehmen, daß wir den Gang der Handlung andeuten.
(Berner Bund)
„ Der römische Maler “: Diese reizvollen, sprühenden Prosastücke, denen man es anmerkt, daß sie ihr Autor erst dann schrieb, als er das unabweisliche, drängende Verlangen darnach spürte, haben alle die seltene Eigenschaft, daß man sie ein halbdutzendmal lesen kann und jedesmal wieder sein Ergötzen daran findet. Hartleben ist einer der ungezwungensten und Humorvollsten unserer modernen Autoren.
(Ostdeutsche Rundschau)
Peter Camenzind. Roman, 33. Aufl. Geh. 3 Mk., geb. 4 Mk.
Unterm Rad. Roman. 15. Aufl. Geh. 3.50 Mk., geb. 4.50 Mk.
„ Peter Camenzind “: Es ist ein köstliches, lebensstarkes Buch, eines von den Büchern, die, nachdem wir sie gelesen, eine stille Gewalt über unsere Seelen üben. Diese Schöpfung von Hesse ist so reich und meist auch von so reifer Kunst, daß sie dem Besten, was seine Landsleute Keller und Meyer geschaffen haben, an die Seite gestellt werden darf.
(Der Tag, Berlin)
„ Unterm Rad “: Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch als der „Camenzind“, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem, heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei — ein klares Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.
(Münchener Neueste Nachrichten)
Friedrich Huch
Geschwister. Roman. 2. Aufl. Geh. 3.50 Mk., geb. 4.50 Mk.
Wandlungen. Roman. 2. Aufl. Geh. 2.50 Mk., geb. 3.50 Mk.
„ Geschwister “: Ein voller, inniger Kultus der Schönheit geht durch das ganze Werk, aus jeder Zeile spricht die tiefe Empfindung des Dichters, dessen Wesen reine Harmonie offenbart. Es tut unendlich wohl, einem solchen Geiste zu begegnen und seinen wohlgegliederten Sätzen zu lauschen.
(Allgemeine Zeitung, München)
„ Geschwister “: Es ist unmöglich, den Eindruck, den dieses seltsame Buch macht, in trockenen Worten wiederzugeben. Es ist zart, duftig und stimmungsvoll wie ein Gedicht.
(Neue Züricher Zeitung)
Beate und Mareile. Roman. Geh. 3 Mk., geb. 4 Mk.
Schwüle Tage. Novellen. Geh. 2 Mk., geb. 3 Mk.
„ Beate und Mareile “: Diese elegante Schloßgeschichte, ein sparsam, aber virtuos getöntes distinguiertes Aquarell, ist berückend in ihrer anspruchslosen Selbstverständlichkeit. Könnte man diese kondensierte, weltmännisch überlegene und dichterisch beseelte Geschichte — etwa in Pastillenform wie ein Medikament verabreichen, wäre die Anämie der deutschen Produktion behoben.
(Wiener Abendpost)
„Beate und Mareile“ ist das Werk einer vornehmen, im Psychologischen wunderbar feinfühligen, mit scharfer Beobachtungsgabe und künstlerischer Konzentrationsfähigkeit ausgerüsteten Begabung.
(Das literarische Echo)
George Meredith
Richard Feverel. Roman. Geh. 4 Mk., geb. 5 Mk.
Der Egoist. Roman. Geh. 6 Mk., geb. 7.50 Mk.
„ Richard Feverel “: Der Roman ist reich an Begebenheiten und glänzend beobachteten und gezeichneten Charakterbildern, unter denen sich namentlich Frauengestalten von rührender Schönheit und warmblütiger Leibhaftigkeit befinden.
(Königsberger Allgemeine Zeitung)
„ Der Egoist “: Ein künstlerischer Geist von unerschöpflicher Fülle greift hier in das Leben und zeigt es uns an dem kleinen Ausschnitte nur einer Familie, aber welch einen Strom von Bewegung weiß er auf diesem engen Hintergrunde zu entfesseln. Esprit, Satire, Humor, eine glänzende Fülle tiefer Lebensweisheit entstürzt seinem funkelnden Geiste und umhüllt und umspielt seine Gestalten, daß man zuletzt kaum mehr weiß, durch welche seiner künstlerischen Qualitäten dieser Philosoph und Dichter unsere Bewunderung am stärksten fesselt.
(Freistatt, München)
Buddenbrooks. Roman. 37. Aufl. Geh. 5 Mk., geb. 6 Mk.
Tristan. Novellen. 6. Aufl. Geh. 3.50 Mk., geb. 4.50 Mk.
Fiorenza. Drei Akte. 2. Aufl. Geh. 2.50 Mk., geb. 3.50 Mk.
„ Buddenbrooks “: Dieser Roman bleibt ein unzerstörbares Buch. Er wird wachsen mit der Zeit und noch von vielen Generationen gelesen werden; eines jener Kunstwerke, die wirklich über Tag und Zeitalter erhaben sind, die nicht im Sturm mit sich fortreißen, aber mit sanfter Überredung allmählich und unwiderstehlich überwältigen.
(Berliner Tageblatt)
„ Tristan “: Hält man den Tristan-Band mit den „Buddenbrooks“ zusammen, so hat man eine Verheißung für die Zukunft, deren sich unser Volk wohl freuen kann.
(Hannoverscher Courier)
Jakob Wassermann
Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. Roman. 9. Auflage. Geh. 6 Mk., geb. 7.50 Mk.
Alexander in Babylon. Roman. 3. Aufl. Geh. 3.50, geb. 4.50.
„ Alexander in Babylon “: Wassermann hat mit dieser Krankheitsgeschichte eines Riesengeistes ein Kunstwerk geschaffen, das weit hinausragt über die meisten historischen Romane alten Stils.
(Kreuzzeitung, Berlin)
„ Die Geschichte der jungen Renate Fuchs “: Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, „die alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal, ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen“. — Seit dem „Grünen Heinrich“ Kellers ist in deutscher Sprache kein so interessanter und tiefsinniger Roman erschienen.
(Die Zukunft)
Leonore Griebel. Roman. Geh. 3 Mk., geb. 4 Mk.
Der begrabene Gott. Roman. 2. Aufl. Geh. 4 Mk., geb. 5 Mk.
„ Der begrabene Gott “: wieder hat der einsame Lehrer im unbekannten schlesischen Dorfe ein Werk geschaffen, düster, tiefaufwühlend, von gewaltiger Tragik; wieder zeugt dieser neue Roman von dem Seherblick des Psychologen, der mit unheimlicher Notwendigkeit Charakter und Schicksale seiner Personen ineinander flicht, unerbittlich bis zur letzten erschütternden Katastrophe . . . . Die Sprache ist von einer seltsamen Glut; es klingt zwischen den Zeilen wie verhaltenes Schluchzen und man fühlt von Anfang bis Ende die starke und grenzenlose Liebe und Achtung, mit der der Dichter allem Hohen und Tiefen der Menschenseele nachspürt.
(Bremer Bürgerzeitung)
Emil Strauß
Der Engelwirt. Eine Schwabengeschichte. Geh. 3 Mk., geb. 4 Mk.
Freund Hein. Roman. 14. Auflage. Geh. 4 Mk., geb. 5 Mk.
Kreuzungen. Roman. 6. Auflage. Geh. 4 Mk., geb. 5 Mk.
Vielleicht war Straußens voriger Roman, der „ Freund Hein “, packender, vielleicht griff dies wahrhaft bedeutende Buch uns stärker und unmittelbarer ans Herz, weil es unmittelbarer aus eines echten Dichters tiefem Herzen kam. Ein Kunstwerk, ein ganzes, rundes, sind darum die „ Kreuzungen “, die Strauß nun folgen ließ, nicht minder; sie sind vielleicht in eigentlichstem Sinne mehr noch Kunstwerk, als „Freund Hein“, insofern gerade in ihnen eine völlig ausgeglichene, zielbewußt in sich ruhende objektive Gestaltungskraft bewunderungswürdig zutage tritt . . . Reifer noch geworden denn zuvor, steht Strauß jetzt beinahe goethisch über seinem Stoff; reifer nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch läßt er nun auch stärker jenen heimatlichen, souveränen Humor hervortreten, der in gelegentlichen Lichtern schon im „Freund Hein“ aufblitzte.
(Hamburger Fremdenblatt)
Im Original folgt auf Kapitel 24 noch einmal Kapitel 24. Dies und alle nachfolgenden
Kapitelnummern wurden stillschweigend korrigiert.
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