The Project Gutenberg eBook of Der Tor: Roman

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Title : Der Tor: Roman

Author : Bernhard Kellermann

Release date : January 20, 2013 [eBook #41882]

Language : German

Credits : Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER TOR: ROMAN ***

  

Der Tor

Roman
von
Bernhard Kellermann

Achte Auflage

S. Fischer, Verlag, Berlin
1913

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1908 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Erster Teil

Erstes Kapitel

J ener junge Mann, um den es sich hier handelt, ein schlichter junger Mann, wie es deren Tausende gibt, traf gerade zu einer Zeit in der kleinen fränkischen Stadt ein, als sich alle Welt in der größten Aufregung befand.

Ein Dienstmädchen nämlich, eine brave und beliebte Person, die jeder hundertmal mit ihren roten Backen und dem Mund voll weißer Zähne gesehen hatte, nahm sich das Leben. Sie war nicht zur Stelle, als man sie rief; man wartete, suchte und fand sie erhängt auf dem Speicher. Aber das war nicht alles. Dieses Dienstmädchen mit den roten Backen und weißen Zähnen, diese ordentliche, unschuldig aussehende Person hatte zuvor ein Kind geboren und es in ihrer Kammer versteckt. Sie hatte das Kind in ein Körbchen gebettet und in die Ecke hinter einen Schrank gelegt. Ein Gesangbuch lag dabei, ein goldenes Kreuzchen, ein silberner Ring mit einem winzigen blauen Stein. Das Kind war in ein weißes seidenes Tuch gehüllt. In die Wand, oberhalb des Körbchens, hatte sie eine Unmenge von Kreuzen geritzt, einen ganzen Friedhof. Plötzlich nun schrie das Kind jämmerlich in der Kammer der Magd. Ja, da schreit ja ein Kind, sagten die Leute, in ihrer Kammer! Und die Frau des Hauses, Frau Häberlein, die Gattin des Bezirksamtmannes, fand das Kind in der Ecke. Es war in ein seidenes Tuch eingehüllt, das die Frau des Hauses dem Dienstmädchen einige Wochen vorher zu Weihnachten geschenkt hatte. Ein fast neues, feines Tuch.

Die Stadt geriet mehr und mehr in Aufregung. Man riß die Fenster auf und rief: Was ist denn wieder? Ein Kind, sie haben ein Kind in ihrer Kammer gefunden! Zwei barmherzige Schwestern schwebten über den Marktplatz und verschwanden im Hause des Bezirksamtmannes. Sie trugen das Kind in das Waisenhaus.

Aber damit war es noch nicht zu Ende. Plötzlich hörte man ein Geschrei auf der Straße, ein schreckliches Geschrei, und man sah eine verschrumpfte, alte Frau, ein winziges Etwas von einer alten Frau, in großen Filzsocken durch die Straßen rennen. Sie lief in das Haus des Bezirksamtmannes, erschien wieder schreiend, lief zum Westtor und zurück zum Osttor, hin und her, und immer tauchte sie wieder auf und ihr Geschrei und entsetzliches Weinen schien überall zu sein und plötzlich dicht unter den Fenstern aus dem Erdboden zu dringen. Die Leute öffneten die Fenster: Beruhigen Sie sich doch! sagten sie. Sie sagten es mit eindringlicher, tiefer Stimme; sie sagten es weich und tröstend. Aber die kleine alte Frau sah nichts, hörte nichts. Sie schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, rannte Straße auf, Straße ab und schrie, schrie.

Vor dem Westtor gab es eine Szene. Hier kam ein Fleischergeselle auf einem Karren angefahren, in dem ein Rudel kleiner Schweine saß. Arbeiter, Handwerker stellten den Wagen und fielen mit den Fäusten über den Gesellen her. Der Bursche wehrte sich so gut er konnte und brüllte, daß man es bis in die Stadt hinein hörte. Die kleinen Schweine steckten die Schnauzen durch das Gitter und quiekten. Zwei Stadtsoldaten nahmen den Fleischergesellen in Schutz, man hätte ihn sonst erschlagen. Ich bin nicht schuld! schrie er. Sie führten ihn zur Sicherheit aufs Stadthaus. Auf dem Wege dorthin begegneten sie der alten, kleinen Frau, die in ihren Filzsocken hin und her rannte. Das ist er! riefen die Leute und deuteten auf den Burschen. Aber die schreiende Frau sah und hörte nichts, sie schrie und rannte weiter.

Man sprach den ganzen Abend und den folgenden Tag von nichts anderm als dem Dienstmädchen und dem Kinde und der kleinen schreienden Frau. Es gab förmliche Redeschlachten und erregte Szenen. Man verurteilte, verteidigte, mutmaßte, und in dem Abendzug, der von der Nachbarstadt zurückkehrte, wäre es beinahe zu einer richtigen Schlägerei gekommen. Da war ein Lehrer, ein entlassener Volksschullehrer, ein riesenhafter Mann mit einem schwarzen, wilden Kopf, der den Zorn aller Reisenden herausforderte. Er sagte, es wäre nun genug, immer nur dieses Dienstmädchen und nichts als dieses Dienstmädchen, eine solch alberne, beschränkte Person —

Kurz und gut, damit begann es.

„Genug nun von dieser albernen, beschränkten Person, die sich wegen eines Kindes und eines untreuen Geliebten aufhängt,“ schrie er. „Genug und abermals genug —“ Aber da erhob sich ein solcher Tumult in dem überfüllten Coupé, daß man nicht verstand, was er sonst noch sagte, trotzdem er mit einer ungeheueren tiefen Stimme wie eine Baßtrompete wetterte. Eine Bäuerin in Trauerkleidern, die bis jetzt ruhig dagesessen war, stand plötzlich auf und stieß eine Menge Schimpfwörter heraus, einen ganzen Strahl von Schimpfwörtern, allein ihre Stimme schnappte über, man hörte nichts als Gekreische. Sie schüttelte einen dünnen raschelnden Blechkranz in der Hand und machte Miene auf den Lehrer loszufahren; ein starker Geruch von Schmalz und saurer Milch drang aus ihren Kleidern. In der Mitte des Abteils saß ein jüdischer Viehhändler, ein dicker, fetter Kerl mit Brillantringen an den Händen und Stallmist an den Stiefeln, der vor Vergnügen auf- und abtanzte und mit den Händen seine kurzen, fetten Schenkel bearbeitete. Er lachte, daß ihm das Wasser aus den Augen sprang und stieß einen hohen gurgelnden Laut hervor, ähnlich einer Turteltaube, während er hin- und herschaukelte und die Leute zu beiden Seiten zusammendrängte. Im Nebenabteil hatte sich eine Dame erhoben, sie blickte über die Trennungswand, drehte den Kopf hin und her in einer bauschigen Boa aus schillernden Hahnenfedern und lächelte mit tief herabgezogenen Mundwinkeln. „Pfui!“ rief sie, „Pfui! Welch entsetzliche Roheit. Pfui!“

Der Lehrer stand ruhig im Lärm und lächelte. „Sie vergeben, meine Dame!“ wandte er sich mit einer Verbeugung zu dem Kopfe, der sich noch immer in der bauschigen Federboa hin und her drehte. „Aber ich denke, wenn dieses Dienstmädchen, diese Margarete Sammet oder wie sie heißen mag, mit Ruhe und Überlegung, mit Stolz —“

Aber man unterbrach ihn. „Ruhe! Ruhe!“

„Die Herrschaften müssen doch einräumen —“

Man räume nichts ein, gar nichts räume man ein! Alle schrien und der Lehrer lachte und zuckte die Achseln. Der jüdische Viehhändler schaukelte auf und ab, so sehr gurrte er, und schließlich bekam er einen brüllenden Hustenanfall, der jedes andere Geräusch verschlang.

In diesem Augenblick hielt der Zug und unwillkürlich wurden alle still. Aber sobald sich die Laterne in der Nacht draußen schwang und die Maschine heulte, begann der Lärm von neuem. Eine heisere Stimme arbeitete sich mühsam durch das Getöse.

„Davon war ja gar nicht die Rede!“ sagte ein Mann mit aufgeblähtem Hals, ein Schuhmachermeister, und riß die Augen so weit auf, daß man fürchtete, sie fielen heraus. „Wir sprechen vom Dekan, vom Pfarrer, von der Beerdigung.“

„Ich würde sie auch nicht beerdigen!“ sagte der Lehrer mit ruhigem Baß und der Kopf der Dame mit der Boa schnellte augenblicklich wieder empor.

„Schweigen! Schweigen!“

Der Viehhändler riß den Mund auf, um laut zu schreien, wurde aber im gleichen Moment vom Sitze geschleudert, die Bäuerin mit dem Blechkranz und alle auf der einen Bank flogen in die Höhe. Ein runder schwarzer Korb rollte aus dem Netz und fiel dem Händler auf den Rücken. Die Bremsen waren plötzlich angezogen worden, der Zug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt gehabt.

Es wurde still und eine Stimme in der Dunkelheit draußen rief: „Ja, weshalb schlafen Sie denn, wenn Sie mitfahren wollen, Sie! Ein solcher Tölpel — marsch!“ Die Coupétüre sprang auf und ein junger Mann wurde hereingeschoben. Hut und Mantel des jungen Mannes waren beschneit und mit Eiskörnern bedeckt, wie sie entstehen, wenn man sich lange in der Kälte aufhält. Er zog einen roten Reisesack nach sich, beugte sich zum Fenster hinaus und rief: „Vielen Dank, mein Herr!“ Der Zug fuhr wieder. Alle sahen auf den jungen Mann, dessen Augen von Schlaf, Ermüdung und Kälte gerötet waren. Er kniff die Augen zusammen, blickte durch die Wimpern, die auffallend lang und dicht waren, in den Tabaksqualm und schob sich behutsam mit seiner Reisetasche zwischen den Stiefeln, Knien, Packen und Säcken hindurch.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er leise, ohne die Lippen zu öffnen, „vielleicht erlauben Sie mir —“

Alle Augen folgten seinem Reisesack. Es war ein gestickter Reisesack. Auf einem abgewetzten roten Grund war eine Henne gestickt, die auf farbigen Eiern brütete. Sie hatte einen ziegelroten, flammenden Kamm und als Auge eine große schwarze Perle. Mit diesem roten Kamm und schwarzen Auge sah sie herausfordernd und zornig aus. Über ihr stand in weißen Perlen: Glückliche Reise. Der Viehhändler deutete auf den Reisesack und gluckste, und alle begannen plötzlich über die herausfordernd und zornig dasitzende Henne zu lachen. Nur der Lehrer blieb ernst, er sah sich aufmerksam den Reisenden an.

Der junge Mann fand ein schmales Plätzchen in der Ecke, er machte sich so dünn als möglich, nahm den Hut ab und legte ihn aufs Knie, knöpfte den Mantel eng zu und schloß sofort die Augen.

Der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals betrachtete mit einem raschen Blick die vom Schnee rotgebeizten Stiefel des jungen Mannes, dann ließ er wieder die aufgerissenen Augen von einem zum andern gleiten und schrie:

„Ist das nicht — meine Herren — hören Sie! Ist das nicht empörend! Der Dekan will sie nicht beerdigen. Nein, er will sie nicht beerdigen!“ wiederholte er und rollte die Augen.

Der Lehrer lachte belustigt.

„Schweigen Sie!“ schrie der Schuhmachermeister empört und deutete auf den Lehrer. „Ja, Sie, Sie sollen schweigen! Ich finde es unbegreiflich! Er beerdigt sie nicht. Wie einen Hund wird man sie einscharren, kein Glockengeläute, kein Gesang, kein Segen.“ Tränen traten in seine großen Augen. Er zog die Dose heraus und schnupfte. „Keine geweihte Erde!“ fügte er hinzu. Die Bauernfrau in Trauerkleidern jammerte. „Oh du lieber guter Himmelsvater —“

„Es wird sich nicht mit den Kirchengesetzen in Einklang bringen lassen,“ sagte der jüdische Händler, „so scheint es mir — die Kirchengesetze — eben —“

Hier begann der Schuhmachermeister sich vollständig zu verändern. Er schwoll an, sein Hals, sein Gesicht, er wurde dunkelrot, und mit den stierenden großen Augen hatte er Ähnlichkeit mit einem jener rotlackierten chinesischen Götzenbilder. Er sah aus, als wolle er den Händler vernichten, aber im letzten Momente schrumpfte er zusammen, er beugte sich zu dem Händler und reichte ihm mit übertriebener krampfhafter Freundlichkeit die Dose. „Mein Freund!“ zischelte er. „Mein Freund, Kirchengesetze, ich bitte Sie! Kirchengesetze hin, Kirchengesetze her. Gehen Sie zum Henker, mein verehrter Herr, mit Ihren Kirchengesetzen. Kirchengesetze? Ich will Ihnen —“

„Ich will Ihnen mal einen Fall erzählen,“ unterbrach ihn der Händler, die Prise Tabak auf dem Daumen.

„Lassen Sie mich mit Ihrem Fall in Teufelsnamen in Ruhe. Ich sage Ihnen, die Mutter, hören Sie, eine alte, kleine, eine arme kranke Frau, rannte wie verrückt herum und schrie, verrückt, ich wiederhole. Sie lief also ins Pfarrhaus, obwohl sie doch wissen sollte, daß unser Pfarrer gestorben ist. Sie klopft also, trommelt an die Tür, schreit, jammert. Er ist ja gestorben, der alte Hummel, sagten sie, ja, bei allen Heiligen, Sie wissen doch, daß er gestorben ist, vor einem Monat, Sie waren ja selbst bei der Beerdigung. Aber die Frau, hören Sie, sie verstand kein Wort, sie klopfte, pochte, hämmerte an die Tür. Sind Sie denn ganz verrückt, sagten sie, wie kann er aufmachen, wenn er tot ist? Es ist niemand da, keine Seele, der neue Pfarrer ist ernannt, aber er ist noch nicht da. Gehen Sie nach Weinberg, zum Dekan, er hat die Verwesung, gehen Sie dahin. Sie lief also nach Weinberg — sie lief eine Stunde weit im Schnee, geängstigt, gehetzt, verzweifelt — sie lief und lief — sie stellte sich vor das Haus des Dekans und schrie. Meine liebe Frau, sagt der Dekan — Gesundheit, Sie beniesen es — meine liebe, gute Frau, es tut mir leid. Hören Sie in Teufelsnamen, ich brauche also gar nicht erst Ihren Fall zu erfahren — lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Fall, lassen Sie mich in Ruhe und Frieden damit — diese verzweifelte Frau wirft sich ihm zu Füßen, jammert, schreit. Aber alles ist umsonst, für die Katze, alles. Meine liebe gute Frau, sagt der Dekan, ich kann nicht. Es ist unmöglich. Ja, wenn der Lebenswandel Ihrer Tochter — ich kann nicht — ich sage, der Lebenswandel Ihrer Tochter — es tut mir leid. Die alte Frau, eine Greisin, grau, alt, ein beklagenswertes Mutterherz, wirft sich ihm zu Füßen, beschwört ihn in des Heilands Namen, aber er sagt, liebe, gute Frau, trösten Sie sich — des Allmächtigen Wege sind unerforschlich —“

„Da sehen Sie eben die Vorschriften!“ sagte der Händler und nieste dröhnend, indem er Mund und Nasenlöcher und Augen läppisch aufsperrte und das Coupé mit sprühendem Dunst anfüllte.

„Die Frau Dekan hat der verzweifelten Mutter eine Tasse Kaffee angeboten, es sind gute Menschen — aber eine Tasse Kaffee macht ihr die Tochter nicht lebendig, eine Tasse Kaffee ist kein Trost für ein verzweifeltes Mutterherz, keine Einsegnung.“

Hier wurde der Schuhmachermeister von einem Herrn mit langem messinggelben Schnurrbart und großer Glatze, Postadjunkt Kaiser, unterbrochen. „Sie hat ihn zurückgewiesen, den Kaffee“, sagte er. „Die Frau Dekan hat es mir selbst erzählt. Mein Mann kann nicht, es ist unmöglich“, sagte sie.

Der Händler nieste zweimal, leckte sich den Bart und sagte:

„Die Kirchenverordnung meine Herrn, es steht fest, die Kirche muß einen Unterschied machen zwischen einem Selbstmörder und einem anständigen Menschen —“ Der Lehrer ließ ein lautes Lachen hören — „zwischen einem Mädchen, das außerehelich entbindet und einer, sagen wir, einer barmherzigen Schwester —“

Aber der Schuhmachermeister mit dem Blähhals fiel ihm ins Wort. „Hören Sie auf!“ zischte er und sein Gesicht schwoll an, als werde es von einer unsichtbaren Macht bis zum Zerplatzen aufgeblasen. „Was verstehen Sie? Ich sage, solch ein Jammer, eine alte arme Frau, die nahe daran ist, den Verstand zu verlieren, ja, vielleicht hat sie ihn schon verloren? — Sie kniet vor dem Pfarrhaus und schreit wie besessen, sie rennt in alle Häuser und bittet die Leute zu bezahlen — die Kosten zu bezahlen — ein jeder ein wenig, dann ginge es. Sie will ja alles zurückbezahlen —“

Die Stimme eines kleinen graubärtigen und sauber gekleideten Mannes, der sich bisher mit keinem Worte an dem Gespräche beteiligt hatte, sagte: „Der Herr Dekan wird recht wohl wissen, was zu tun ist!“ Die Stimme sprach so bestimmt und die Kinnladen des alten Herrn bewegten sich mit solcher Würde, daß alle auf ihn hören mußten. „Weshalb also ereifern Sie sich so, meine Herren? Die Kirche kann ihre Segnungen nur Gliedern derselben angedeihen lassen, die sich ihrer würdig zeigen. Ein Mädchen jedoch, das einen solch unzüchtigen Lebenswandel führte und zuletzt zu all den Sünden noch jene des Selbstmordes fügte, ist meines Erachtens dieser Segnungen unwürdig — unwürdig, voll und ganz —“

Der Lehrer, der in der Mitte des Abteils stand, funkelte mit den Brillengläsern und brach in ein lautes lustiges Lachen aus, der alte Herr hielt inne und starrte ihn mit offenem Munde an. Diese Pause benutzte der Schuhmachermeister. Er rollte die Augen und schrie zu allen gewendet:

„Sodann also rannte die alte Frau, dieses gepeinigte Mutterherz, zu dem katholischen Geistlichen. In des Heilands Namen, helfen Sie mir! Aber der geistliche Rat sagt, es tut mir leid, liebe Frau, gehen Sie zum Herrn Dekan nach Weinberg. Ich habe hier nichts zu tun!“ Er schlug die Hände zusammen und ließ die Augen fragend von einem zum andern wandern.

Der graubärtige Herr hatte sich von seiner Verblüffung erholt und nahm das Wort wieder auf. „Ich selbst habe Angehörige auf dem Friedhof liegen,“ sagte er, „ich glaube den Herrschaften bekannt zu sein — Messerschmied Ulrich, eingesessener Bürger und Magistratsrat — ich wünsche nicht, daß meine Angehörigen in der gleichen geweihten Erde ruhen mit einer Person — nun, ich habe nicht zu richten — aber es ist in Ordnung, was der Herr hier sagt: Es muß ein Unterschied herrschen! Wer unwürdig ist, ist unwürdig.“

O Gott, o Gott, jammerte die Bäuerin in Trauerkleidern.

„Hier!“ schrie der Schuhmachermeister, „hier sitzt sie! Hier sitzt eine Tante von ihr! Sie muß so etwas mit anhören!“

Der Händler sagte: „Ein Unterschied muß herrschen, das ist klar!“

Da erhob sich der Schuhmachermeister und schrie zornig: „Was verstehen denn Sie, wie? Sie als Israelit, was verstehen Sie?“ Das rief ein lautes Gelächter hervor. „Nein!“ fuhr der Schuhmachermeister fort und dämpfte die Stimme. „Ich kann dem Herrn Dekan nicht recht geben und auch Ihnen, Herr Rat Ulrich, auch Ihnen kann ich nicht recht geben, niemals, niemals!“ Er flüsterte.

Messerschmied Ulrich zuckte die Achseln. „Ich äußerte nur meine bescheidene Meinung!“ sagte er und ein böser Glanz kam in seine Augen. „Ich gebe dem Herrn Dekan vollkommen recht und kann auf keinen Fall dulden, daß man eine Behörde öffentlich in dieser beleidigenden Weise kritisiert. Das ist meine Meinung! Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!“

„Ja, Gott helfe ihm, Amen!“ sagte lachend der Lehrer. „Gott helfe dem Herrn Messerschmied Ulrich, eingesessenen Bürger und Magistratsrat und mache ihn selig, Amen! Er kann nicht anders! Er hat gestritten für die gute Sache und sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt! Gott helfe ihm! Hahaha! Aber die Wahrheit ist die, meine Herrschaften, daß morgen Hochzeit auf Schloß Bruck ist, der Dekan hält die Trauung. Hohe Herrschaften kommen von allen Himmelsgegenden, nach der Feier ist großes Diner, bei dem der Herr Dekan beileibe nicht fehlen kann. Das ist — hol’ mich der Teufel! — der Grund, weshalb er so standhaft und mutig die in der Erde ruhenden Bürger, Ulrich und Konsorten verteidigt. Im übrigen kann er nicht da und dort sein, das versteht sich von selbst.“

Der dicke Händler ließ wiederum den hohen gurrenden Laut hören, ähnlich einer Turteltaube, und sein Bauch begann zu zittern. Er zog ein gelbes Taschentuch heraus, eine Art Fahne, die für einige Zeit durchs ganze Coupé flatterte und einen Staubregen von Schnupftabak, Brotkrumen und andern Dingen ausstreute; dahinter verbarg er sich.

Aber, was der Lehrer doch daher schwätze! Der neue Vikar sei ja angekommen — he! — hier, Kaiser habe es erzählt!

„Ja, ich habe ihn gesehen!“ sagte der Adjunkt und wischte sich etwas unsicher den langen messinggelben Schnurrbart. „Auf Ehre! Er sieht wie ein Offizier in Zivil aus, schwarzer Schnurrbart, Zylinder. Im übrigen hat mir die Frau Dekan erzählt, daß es der neue Vikar ist. Aber ich bitte Sie, meine Herrn — das ändert an der Sache ja nichts. Der Dekan ist sein Vorgesetzter und er hat zu gehorchen, fertig!“

„Also, trotzdem ein Verweser da ist, trotz alledem, das ist ja — das ist ja —“ sagte ratlos der Schuhmachermeister.

Der Lehrer lachte. „Alterieren Sie sich nicht, mein Freund!“ sagte er. „Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß es dem Dienstmädchen ganz gleichgültig ist, ob man sie einsegnet oder nicht, ob man sie beerdigen wird wie einen eingesessenen, ehrenhaften Bürger oder nicht.“

„Wie? Wie?“

„Sie hat, was sie will. Sie ist tot. Basta! Und gesetzt den Fall, daß es einen Himmel gibt — was ich für meine Person nicht glaube — so ist es einerlei, ob sie erster, zweiter oder dritter Klasse beerdigt wird. Sie kommt hinein, ob ihr der Herr Dekan von Weinberg einen Empfehlungsbrief mitgibt oder nicht. Oder? Deshalb sage ich, ich würde sie auch nicht kirchlich beerdigen — ganz wie der Magistratsrat Herr Ulrich — ebenfalls nicht, nein!“

„Wie? Wie?“

„Nein, denn es ist ja absolut einerlei, absolut einerlei. Ich für meine Person verzichte freiwillig auf jede Einsegnung, ja, ich verbiete diesen Pfarrern, Vikaren und geistlichen Räten, sich überhaupt einzumischen. Ich will nicht einmal etwas zu tun haben mit dieser Gesellschaft!“

„Wie? Wie? Ja, da hört sich denn doch —“

Ein unbeschreibliches Getöse entstand. Einige sprangen auf, und der Kopf der Dame tauchte wieder hinter der Scheidewand empor und drehte sich empört hin und her. Der Händler schaukelte vor Vergnügen hin und her und der Schuhmachermeister saß wie niedergeschmettert da und starrte mit großen, leeren Augen auf den Lehrer.

Der Lehrer antwortete mit einem dröhnenden Gelächter.

Aber hier nahm die Sache plötzlich eine Wendung.

Zweites Kapitel

D er Messerschmied Ulrich nämlich stand auf. Er stand auf und trat auf den Lehrer zu. Sein Kinn und sein grauer Bart, der lang und schmal war und Ähnlichkeit hatte mit einem Zopfe, fingen an zu zittern, noch ehe er zu sprechen begann.

„Herr!“ sagte er dann. „Herr!“ sagte er dann. „Herr! Ich sage, Sie haben — Herr! — Sie gehörten früher einem Stande an, einem gebildeten Stande — ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten! Nein! Sie haben sich — erfrecht — jawohl, erfrecht, die mir teuern Toten auf dem Gottesacker zu bespei — bespeien, jawohl! — Aber nicht genug damit — Sie haben sich erfrecht, die Religion und ihre Priester zu verhöhnen. Das ist mir zuviel!“ Der Lehrer lächelte gutmütig, und der Messerschmied schöpfte tief Atem, wurde blaß und wiederholte einigemal keuchend: „Das ist mir zuviel!“ Und sein Bart zitterte.

Der Lehrer winkte nachlässig mit der Hand und sagte mit ruhigem Lächeln und gutmütigen Augen hinter den Brillengläsern: „Beruhigen Sie sich doch, Verehrtester! Sie können sich in Ihrer Gesundheit schädigen.“

Jedoch der Messerschmied Ulrich gehörte dem Stadtrat an und war überhaupt ein Mann, der keinen Spaß verstand.

„Wie?“ schrie er pfeifend. „Wissen Sie auch, mit wem — mit wem — Sie sprechen? Und erinnern Sie sich vielleicht, was Sie, wer Sie eigentlich sind?“

Der Lehrer lächelte und sein gleichsam von einem braunen Firnis überzogenes Gesicht nahm einen gütigen, väterlichen Ausdruck an. Seine Augen waren von verschiedener Größe, das größere betrachtete erstaunt den Messerschmied, das kleinere lachte ihn lustig an.

„Fragen Sie mich, junger Mann?“ sagte er endlich.

„Junger —!“

„Ich sage vergleichsweise: junger Mann,“ fuhr der Lehrer fort, „denn Sie sind ja mir gegenüber noch sehr jung, eine Art Säugling, möchte ich sagen, ja, noch ungeboren — in der Tat! Ich meine, ob Sie mich fragen?“

„Ob ich Sie frage?“ antwortete der Messerschmied und seine Stimme zitterte, als ob ihn jemand unausgesetzt auf den Rücken klopfe. „Ja, gewiß, ich frage Sie! Ich möchte das zu gerne wissen!“

Der Lehrer kämmte mit der Hand den langen, knisternden, schwarzen Bart und schüttelte den Kopf. „Wenn Sie mich nun fragen — und Sie fragen mich doch, nicht wahr? — so kann ich Ihnen wohl antworten, aber es tut mir leid für Sie, denn ich sage keine Schmeichelei: Sie sind eine Art Scherenschleifer und ich bin ein Edelmann!“

Es wurde ganz still und man hörte die Räder auf den Schienen stampfen. Der jüdische Händler gluckste leise.

Der Messerschmied tat zuerst gar nichts. Es schien, als ob er nichts gehört habe. Dann schüttelte er die Schultern, als sei ihm der Rock unbequem, er schnitt eine Grimasse, zischelte und plötzlich verbeugte er sich tief vor dem Lehrer. Er lachte meckernd und sagte mit wütender, zitternder Stimme:

„Gut! Sie mögen im Recht sein, Herr Edelmann — mein Herr Edelmann. Sie mögen zehnmal im Recht sein — aber, wenn Sie ein Edelmann sind — was hier von all diesen Herren niemand bezweifelt — ach, nein, nein, niemand bezweifelt es — ach, du gütiger Himmel, nein, nein! — so werden Sie gefälligst, Herr Edelmann, zuvor Ihre Schulden bezahlen. Nicht wahr, Sie werden zuvor Ihre Schulden bezahlen, mein Herr Edelmann. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie mir seit sechs Jahren — seit sechs Jahren! — neun Mark und fünfzig Pfennig schuldig sind! Bitte! Ich weiß nicht, wo Ihr Schloß liegt oder Ihr Besitztum — also, bitte sehr, bitte!“

Gelächter. Er streckte die bebende Hand hin und musterte mit übertrieben spöttischer Miene den Lehrer vom Kopf bis zum Fuße. Der Lehrer war ohne Kragen, ein Tuch war um seinen braunen Hals geschlungen. Wie sein Gesicht, so war seine ganze Kleidung verwettert und verwildert, seine Schuhe klafften und man sah die nackten Füße, die Ärmel waren an vielen Stellen zerrissen und mit unordentlichen Stichen zusammengenäht.

Der Lehrer blickte mitleidig lächelnd auf die bebende Hand des Messerschmieds und schüttelte den haarigen Kopf. „Ist das Ihr Ernst?“ fragte er voller Bedauern, im tiefsten Baß.

„Ja — hähä — das ist mein Ernst!“

„Wie leid es mir tut, daß Sie sich so in meine Hände liefern, mein Herr!“ sagte der Lehrer. „Aufrichtig gestanden, ja! Wie niedrig Sie doch denken, Geld, Schulden und dergleichen Geschichten mit dem Begriffe Edelmann in Verbindung zu bringen? Edelmann, mein Herr, das ist Noblesse, Weltgefühl, Kraft, Genialität — Dinge, von denen Sie noch gar nichts gehört haben, nicht mehr als ein Hering vom süßen Wasser. Aber nun hören Sie: Ich bezahle nie, nie mit Geld. Ich bezahle mit Liebenswürdigkeit, Geist, Humor.“

„Bitte, bitte!“ heulte der Messerschmied und schüttelte die Hand.

„— eine Münze, die für Sie gar nicht existiert, leider. Ich habe die halbe Welt durchwandert, ohne zu bezahlen, Tatsache! Ich habe tausend Freunde in der Welt, Edelleute, Fürsten — ich bringe Glück und frohen Sinn in jedes Haus — man empfängt mich mit Freuden, man entläßt mich mit Tränen in den Augen — ich kann den ganzen Heine, Schiller, Goethe und Shakespeare auswendig, jede Szene, die die Herrschaften nur immer wünschen — wollen Sie eine Probe? — Nun, wollen Sie eine Probe — he! Und nun Sie, ein geborener Scherenschleifer, der alle Schaltjahre einen Gedanken hat, eine krankhaft zur Menschenähnlichkeit aufgeblähte Blase, ein alter Hanswurst, der dreißigtausend Siriusfernen abseits aller Kultur geboren ist —“

„Bitte, bitte!“ heulte der Messerschmied unaufhörlich und schüttelte die ausgestreckte Hand, daß seine Gummimanschetten rasselten. Alles lachte, weniger oder mehr ungeniert, je nachdem man in freundschaftlicher Beziehung zu dem Magistratsrat stand. Aus dem Lachen des Viehhändlers hörte man die aufrichtige Freude eines fetten Menschen heraus.

Der Lehrer aber stand ruhig wie ein Turm inmitten des Gelächters, mit seinem verwilderten schwarzen Kopf, seinem nußbraunen Gesicht, seinen kindlichen gütigen Augen, und deklamierte lächelnd und in aller Ruhe mit einer solch tiefen Stimme, wie man sie noch nie gehört hatte.

„Aha, ich sehe schon, Sie bestehen auf Bezahlung!“ sagte er endlich. „Ich habe nun zwar keinen Pfennig in der Tasche, arm wie eine nackte, junge Ratte bin ich — ich werde Sie trotzdem bezahlen, hier im Augenblick werde ich Sie bezahlen, in diese Hand, Sie sollen sehen, Sie kostbare Versteinerung, teuerste Essenz der bürgerlichen Gesellschaft, Aushängeschild der Krämergilde, Sie werden es erleben, daß ich Sie bezahle. Ehe Sie sich auch nur den Geruch Ihrer Lieblingsspeise vorstellen können, wird das Geld auf Ihrer Hand liegen. Es ist Ihnen doch einerlei, woher ich es nehme?“

„Bezahlen, bezahlen, Herr Edelmann!“

„Gut! Wieviel, sagten Sie? Neun Mark und fünfzig Pfennig, wenn ich richtig hörte, nicht wahr? Schön. Sofort. Ich habe zwar keinen Heller in der Tasche — aber sofort.“ Er wandte sich an die Anwesenden. „Wer ist so freundlich, mir sofort neun Mark fünfzig Pfennig zu schenken — zu schenken?“ fragte er und verneigte sich.

Gelächter. „Bitte, bitte!“ wiederholte der Messerschmied, der sich dem Siege nahe wußte.

„Seine Münze ist außer Kurs!“ sagte der Viehhändler. „Hat er nicht selbst gesagt, daß er niemals bezahlt?“

„Schenken, schenken — meine Herrn?“

„Bitte, bitte!“ triumphierte der Messerschmied. „Sie großes Maul von einem Edelmann — Sie Vagabond von einem Edelmann (er sagte Vagabond), bezahlen Sie, haha — so etwas von — haha.“

„Geduld!“ sagte der Lehrer. „Sofort werde ich Sie befriedigen, verehrter Herr!“ Er musterte spöttisch die Gesellschaft und zog mit der Hand den schwarzen Bart herab, so daß seine roten Lippen zum Vorschein kamen. Sie sahen aus, als pfeife er. Er rief über die Scheidewand ins Nebenabteil hinüber — „neun Mark und fünfzig — schenken!“ Aber man lachte und sagte ihm Schmeicheleien.

„— so etwas von einem großen Maul von einem Edelmann — haha!“

Der Lehrer lächelte, er verlor nicht die Fassung. Er zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Aus Kieselsteinen läßt sich kein Likör abziehen, ich hätte das wissen sollen. — Aber Geduld, Edler, wenn ich nicht sofort bezahle, so sollen Sie sagen, ich sei eine Null, ein Loch, eine Einbildung, ein eingesessener Bürger.“ Damit wandte er sich an den jungen Mann, der in der Ecke schlief.

Der junge Mann saß mit geschlossenen Augen. Die Lippen halb geöffnet, den Hut auf den Knien, genau so wie er sich nach seinem Eintritt gesetzt hatte. Er hatte dunkelbraunes weiches Haar, eine hohe Stirne, die weit über die Augen vorsprang, sein Gesicht war fein, mager und lang, ohne Bart und von jener weißlichen Hautfarbe, wie man sie oft bei Rothaarigen findet. Sein Mund war knabenhaft und rot.

Der Lehrer näherte sich ihm und berührte seinen Arm mit der Fingerspitze.

Sofort schlug der Fremde die Augen auf, braune, sanfte Augen; nun sah sein Gesicht auffallend schön und strahlend aus.

Der Lehrer verbeugte sich und wiederholte seine Bitte: „neun Mark und fünfzig Pfennig, sofort. Wenn es dem Herrn möglich sein sollte.“

Gelächter.

Aber nun ereignete sich etwas, was alle verblüffte, nur den Lehrer nicht. Der Fremde lächelte, richtete sich ein wenig auf und griff in die Tasche und klimperte mit Geld. Es reichte nicht. Er errötete leicht, griff nach dem gestickten Reisesack und öffnete ihn, tauchte mit der langen Hand hinein und zog ein Taschentuch mit einem Knoten heraus. Den Knoten öffnete er und es fand sich ein zusammengefaltetes Stück Papier darin Diesem Papier entnahm er ein kleines Goldstück und gab es dem Lehrer.

„Danke!“ sagte der Lehrer und verbeugte sich. Er wandte sich an den Messerschmied. „Sie sehen, daß es noch immer Edelleute auf der Welt gibt. Bitte, Herr Messerschmied Ulrich!“

Alle saßen mit aufgerissenen Mäulern und Augen und begannen erst zu lachen, als der Messerschmied, der einen Augenblick nicht wußte, was er tun sollte, das Goldstück einsteckte und fünfzig Pfennig zurückgab. Diese fünfzig Pfennig überreichte der Lehrer dem Fremden, der sofort wieder die Augen schloß und sich in die Ecke zurücklegte.

In der letzten Station — Stadt Weinberg — stieg ein Herr mit glänzendem Zylinder und schwarzem gewichsten Schnurrbart ein. Adjunkt Kaiser grüßte und rückte höflich zur Seite. Das Gespräch stockte. Dann wandte sich der Viehhändler an den Herrn mit dem glänzenden Seidenhut.

„Verzeihen Sie mir die Kühnheit;“ sagte er mit schmeichlerischer Stimme. „Können Sie mir vielleicht Auskunft geben, ob man dieses Dienstmädchen, diese Selbstmörderin, kirchlich beerdigen wird oder nicht?“

Der Herr mit dem Seidenhut legte die Stirne in Falten und sagte kühl: „Nein — soviel mir bekannt ist — hat das Dekanat von einer Einsegnung Abstand genommen.“

Er zog ein Notizbuch heraus und blätterte darin, um weitere Fragen abzuschneiden.

Der Händler verneigte sich. „Danke!“ Und er flüsterte den andern zu: „Nein, nein.“

Der Schuhmachermeister nickte resigniert mit dem Kopfe und bot allen eine Prise an.

Der Zug verlangsamte die Fahrt und schließlich schlief er ein und regte sich nicht mehr. Als man hinaus sah, fand es sich, daß man weit draußen vor der Station stehen geblieben war. Man war angekommen. Der erste, der ausstieg, war der Herr im Zylinder, alle ließen ihm den Vortritt. Zuletzt stieg der Fremde mit dem gestickten Reisesack aus.

Es war düster und kalt; nur wenige Laternen brannten in der kleinen Station, die ganz im Schnee versank.

Drittes Kapitel

D er Fremde stieg aus und er wäre beinahe in den großen Filzhut gestiegen, den der Lehrer vor ihm bis zur Erde schwang. Er lachte laut und fröhlich.

„Sie konnten sich wohl vorstellen, daß ich nicht verschwinden würde, ohne Ihnen zuvor unter vier Augen gedankt zu haben!“ sagte er und half dem Fremden beim Aussteigen. Das heißt, er griff nach dem rechten, dem linken Arm, der Achselhöhle des Fremden, ohne ihn jedoch zu berühren. „Erlauben Sie Ihre Tasche — bitte — nur bis Sie richtig auf den Beinen sind.“

Der Fremde lächelte fein und gütig. „Danke, ganz und gar unnötig,“ sagte er. Er hatte schöne Augen, denn sie waren golden. Ihr klarer und leuchtender Blick machte den Lehrer einen Moment lang betroffen. Der Fremde sprach leise, als ob er sehr müde wäre. Er lächelte und sah den Lehrer an, wie wenn er ihn schon Jahr und Tag kennte. Der Lehrer betrachtete ihn eine Weile, er bog sogar den Kopf zurück, um ihn genau ansehen zu können; dann stürzte er sich wieder auf die Reisetasche. Er strömte über von Freundlichkeit und Diensteifer.

„Erlauben Sie, nur bis Sie über die Geleise sind!“

„Bitte, oh, ich kann ja selbst —“ sagte der junge Mann und zog mit einer geradezu lächerlichen Besorgnis die Tasche an sich, und verbeugte sich leicht gegen den Lehrer. Er blickte sich um. Er sah die Leute an, die über den beschneiten Bahnsteig eilten, er sah in die Höhe, nach rechts, nach links, er sog die Luft ein. Jede Kleinigkeit schien ihn zu interessieren.

Aber der Lehrer verneigte sich abermals, zog den Hut und ergriff endlich die Tasche. „Ich betrachte es als eine Auszeichnung, mein Herr!“ sagte er. „Welche Kälte, nicht wahr? Eine verfluchte, angenehme Kälte, bei allen Teufeln! — Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen,“ fuhr er fort, indem er unvermittelt seinem beweglichen, von vielen Falten durchzogenen Gesicht einen ernsten Ausdruck gab. „Das war eine echte Edelmannstat!“ Seine kindlichen Augen leuchteten.

Der Fremde sah umher. „Aber die Sache ist ja nicht der Rede wert,“ sagte er.

Der Lehrer lachte. „Da haben Sie recht! Klar gesehen ist es etwas ganz Selbstverständliches, ein Edelmann springt dem andern bei, ja, er springt jedem bei, der in der Klemme sitzt. Ganz einerlei wer es auch sei, und sei es der Teufel selbst. Aber trotz alledem, ich freue mich und danke Ihnen! Wenn Sie nun nicht dagewesen wären — nehmen wir an — oder keine zehn Mark gehabt hätten? — Hol’ mich der Teufel, wie wäre ich vor diesen Scherenschleifern und Schuhflickern dagestanden. Es juckt mich immer, sehen Sie, dieses Gesindel mit Worten niederzuschmettern, aufzudonnern — zum Beispiel, einmal wollte ein Lump von einem Gastwirt mich hinauswerfen, buchstäblich hinauswerfen aus seiner Bude. Er hetzte den Hund auf mich! Immer heran mit deinem gichtbrüchigen Hund, schrie ich und breitete die Arme aus — heran mit diesem Floh von einem Hund! — Was glauben Sie, was passierte? Es war eine Ulmer Dogge —“

„Nun?“ fragte der junge Mann lächelnd.

„Haha, er riß mich zu Boden, buchstäblich, wie einen Pfahl rannte er mich um — aber, bin ich gegangen? — Nein — werde doch vor keinem Hunde ausreißen — hahaha!“

Auch der Fremde lachte.

„Dann hören Sie, einmal, da donnere ich also, donnere vor Wichten und Schneidern und sage, ich bin ein Mann, der ein Pferd an den Zähnen in die Höhe hebt und einen Kilometer weit damit springt. Hebe den Tisch, sagen sie, hebe diesen Tisch. Ich hob diesen Tisch, ein schwerer Tisch, mein Herr, ich hob ihn und brach mir einen Zahn dabei aus — sehen Sie hier — sehen Sie in der Mitte, diesen schönen Zahn, auf den ich immer stolz war, brach ich mir ab — aber ich hob den Tisch! Entschuldigen Sie einen Augenblick!“ Er wandte sich ab und zog den Hut vor einer jungen Dame mit auffallend reichem schwarzen Haar und stolzem Profil, die, gefolgt von einem Diener in ledergelber Livree, die Geleise überschritt. Der Diener war mit Schachteln und Paketen beladen. „Guten Abend, gnädiges Fräulein!“ sagte der Lehrer und verbeugte sich mit großer Würde.

Die Dame aber schenkte ihm nicht die geringste Beachtung.

Der Lehrer lachte gutmütig und wandte sich an den Fremden. „Sie ist sehr stolz? Haben Sie es bemerkt?“ sagte er mit gedämpftem Baß. „Sie dankte mir nicht, aber ich grüße sie — erstens ist sie sehr schön und zweitens ist sie eine Freundin meiner Tochter Susanna! — Deshalb grüße ich sie und deshalb werde ich sie immer grüßen, wenn sie mir auch hundertmal nicht danken sollte. Denn, wer meiner Tochter Susanna nur zulächelt, den küsse ich auch schon, sehen Sie,“ fügte er mit einem leisen zutraulichen Lächeln hinzu. „Geben Sie acht, eine Schiene. Welche Rattenfalle von einem Bahnhofe, nicht wahr? Sie kommen in Geschäften in die Stadt, mein Herr?“

Der Fremde, der der Dame mit dem auffallend reichen schwarzen Haar nachblickte, sagte: „Ja, man könnte es so nennen.“ Und er nickte. Die Dame verschwand.

Der Lehrer berührte die Schulter des Fremden. „Verzeihung!“ Er lachte und sein lautes, gesundes Lachen hallte in dem schmalen nach Papier riechenden Gange wieder, den sie durchschritten. „Es war mehr eine Verlegenheitsfrage als Neugierde. Ich hoffe aber, ja, ich wünsche Ihnen ganz speziell, daß Sie nicht lange hier zu tun haben werden. Eine recht elende Stadt, von bürgerlichem Volke bewohnt. Ohne Würde, ohne schöne Gebärde, ohne Ziel und Wunsch, mit verächtlichen Maßstäben. Eine Grube voller Ausschuß, Scherben von Menschen, wie in den meisten kleinen Städten, wo die geistige Konkurrenz gleich Null ist und dickranzige Bürger jeden Gedanken in Grund und Boden hineinlächeln. Sind Sie Sammler von Abnormitäten, so werden Sie auf Ihre Kosten kommen. Gewissermaßen ein Museum von Bürgerlichkeit und Dummheit. Aber was wollen Sie, verehrter Herr: Ein Kork kann sich so schwer machen wie er will, er sinkt nicht unter! Dies ist wiederum eines meiner dreitausend Sprichwörter über den Bürger.“ Der Lehrer lachte zufrieden; dann fuhr er fort: „Da haben Sie zum Beispiel den geistlichen Rat, fett wie ein Schwein — aber, ich bitte Sie, welch prächtiges kluges Geschöpf ist ein Schwein im Vergleich zu ihm! Er treibt Teufel aus, am lichten Tag und verbrennt sie auf einem Spirituskocher. Da haben Sie wimmelnde Beispiele. Der Bürgermeister allein — von einer Essenz aus ihm gewonnen, würde ein einziger Tropfen hinreichen, ein Genie augenblicklich zu verblöden. Solch eine Stadt ist das! Geist ist alles, sehen Sie, auf Moral pfeife ich!“

Der Lehrer war wieder im Schwunge. Er zog den Hut in die Stirne, so daß sein halber Kopf darunter verschwand, sprach, gestikulierte, lachte, und je länger er sprach, desto glücklicher und zufriedener sah er aus. Er streckte die Arme bald gerade aus, bald gegen den Himmel, er wiegte sich hin und her und drehte sich auf dem Absatze.

Vor dem Bahnhofe wartete eine Art Wagen, einer großen Hutschachtel ähnlich, die ganz oben ein winziges Fensterchen hatte. Aus dem Fenster blickte das fette, zufriedene Gesicht des Viehhändlers, der sich im Zuge so gut amüsiert hatte. Eine Zigarre glimmte in seinem Munde und sein Gesicht füllte das ganze Fenster aus. Auf dem Bock des Wagens saß ein dunkles Bündel und dieses Bündel rief: „Weißer Elefant?“

„Nein, danke!“ antwortete der Fremde, der in der eisigen Luft heftig zu zittern begann. „Ist es denn weit zur Stadt?“

„Höhö! Eine halbe Stunde! Der Herr fahren also nicht mit? Hü!“

Die Hutschachtel rollte davon und die glimmende Zigarre des Händlers erlosch in der Nacht wie ein kleines Fünkchen.

Der Lehrer lachte herzlich. „Sie können sich doch denken, verehrter Herr,“ rief er aus, „daß der Bahnhof weit außerhalb der Stadt liegt! Man befürchtete, die Häuser würden einfallen. Ich werde mir erlauben, Ihnen in aller Eile eine Skizze von dieser Stadt zu entwerfen und Sie werden mir in einer Woche, nein, morgen schon sagen können, ob ich ein Talent zu Schilderungen habe oder nicht. Diese Stadt also —“

„Verzeihung!“ unterbrach der Fremde den geschwätzigen Lehrer. „Darf ich mir eine Frage erlauben? Hier in der Stadt hat sich ein Unglück ereignet, nicht wahr?“

„Ja.“

„So viel ich hören konnte, ein Mädchen hat sich das Leben genommen?“

„Ja — ja — richtig!“ Der Lehrer blickte den jungen Mann prüfend von der Seite her an. „Haben Sie denn nicht geschlafen?“ fragte er, ohne seine Überraschung verbergen zu können.

„Nein!“ Der Fremde lächelte fein. „Ich habe nicht geschlafen, ich habe jedes Wort gehört.“

„Ah!“ Das größere Auge des Lehrers erweiterte sich vor Erstaunen, das kleinere prüfte den Fremden mit einem langen scharfen Blick.

„Aber Sie haben sich schlafend gestellt?“ sagte der Lehrer langsam, gleichsam für sich; und er fügte rasch hinzu: „Ja, ich habe dies und jenes gehört. Interessiert Sie der Fall?“

Der junge Mann nickte. „Ich habe das allergrößte Interesse!“ sagte er.

Der Lehrer erzählte. „Was für merkwürdige Dinge auf der Welt passieren!“ schloß er. „Nicht wahr?“ Er lachte leise. Wenn man des Lebens komischen Spuk recht ins Auge fasse, murmelte er, indem er sich den schwarzen Bart strich, man müsse die Folgerung ziehen, daß Gott wahnsinnig sei.

Der Fremde blickte den Lehrer mit klaren, ernsten Augen an. „Sie kennen vielleicht die unglückliche Mutter des Mädchens?“

Der Lehrer erstaunte immer mehr. Er trat einen Schritt zurück und vermochte nicht sofort zu antworten. Aber er faßte sich und lächelte. „Diese kleine, alte Frau?“ sagte er und blickte den Fremden mit einer gewissen Scheu an, die immer wieder in seinen Zügen auftauchte, so oft er sie auch zu unterdrücken versuchte. „Sie ist eine Eierhändlerin, wissen Sie, geht herum in den Dörfern und kauft Eier ein, um sie in der Stadt zu verhandeln. Ein armes Dingchen, sie wohnt neben dem Armenhaus, dicht daneben, fast im Armenhaus selbst, im Hexengäßchen wohnt sie, jedes Kind kennt sie.“

„Danke!“ sagte der Fremde und streckte dem Lehrer mit einer offenherzigen Bewegung die Hand entgegen. „Danke Ihnen aufrichtig!“ Die Herzlichkeit in seiner Stimme besiegte die sonderbare Scheu des Lehrers vollständig. Ein Lächeln verklärte sein männliches, wildes Gesicht. Er streckte ihm beide Hände hin.

„Verehrter!“ rief er aus. „Verehrter! Es ist mir eine große Freude, Ihnen auf meiner Wanderschaft begegnet zu sein. Ich hoffe, das Glück wird nicht ohne Nachwuchs bleiben, das heißt, Sie verstehen mich wohl, ich hoffe, daß ich Sie wiedersehen werde. Vielleicht schenken Sie mir die Ehre Ihres Besuches? Ich bin in Acht und Bann, ohne jeglichen bürgerlichen Kredit, ein entlassener Volksschullehrer — sage es gleich, ohne zu befürchten, daß Sie das abhalten könnte mein Haus zu betreten.“ Und als der Fremde mit herzlichen Worten für die Einladung dankte und seinen Besuch zusagte, fügte er mit strahlendem Gesichte und aufrichtiger Freude flüsternd hinzu: „Ah, herrlich! Mein Heim ist bescheiden, aber die Flagge des Glückes flattert darüber. Sie werden Mütterchen kennen lernen, meine Frau! — Mütterchen, so heißt sie in der ganzen Stadt — haha — Sie werden sie kennen lernen, so klein wie sie ist! Ich bezahle Ihnen hundert Flaschen Wein, wenn Sie sich vorstellen können, wie klein sie ist und wie leicht! Oft, wenn ich in den Feldern herumliege, denke ich, wie klein ist sie doch — wie klein und leicht — wie ein Kork. Und Susanna werden Sie kennen lernen — meine Tochter — ein herrliches Geschöpf, herrlich an Körper und Geist — eine Art Heldin — nun, Sie werden sie ja sehen! Ich bin eben auf dem Wege zu ihnen, zu Mütterchen und Susanna, seit einem Jahre bin ich nicht mehr da gewesen — aber plötzlich hat mich die Sehnsucht gepackt, so daß ich sogar den Zug nahm, was seit sechs Jahren nicht mehr passierte, ich mache alles zu Fuß —“

„Sie arbeiten also auswärts?“ fragte der Fremde.

„Wie?“

„Sie arbeiten also auswärts, nicht hier am Platze?“

Der Lehrer gab seinem Kopfe einen Ruck und beugte das Ohr lauschend herab. „Ah!“ rief er, „arbeiten?“ Er schüttelte langsam den haarigen Kopf und seine Augen glühten. „Ich hasse die Arbeit! Ich bin ein freier Mann, ein Wanderer, wandere umher, jahraus — jahrein — in Sturm und Wetter, in Sonne und Tau — ein Bruder der Vögel, ein Freund der Bäume, ein Sohn der Sonne“ — hier legte er die Hand aufs Herz und seine Augen glänzten schwärmerisch — „ein Schrecken für alle eingesessenen Bürger! Ein Komet, der unterwegs ist, wenn Sie wollen. Nein, ich arbeite nicht, junger Freund, haha, was Ihnen doch einfällt!“ Er betrachtete den Fremden mit einem gönnerhaften, väterlichen Blick. „Meine Familie lebt in angenehmen Verhältnissen — sozusagen in sehr angenehmen Verhältnissen. Ich hoffe, Sie werden den Besuch nicht vergessen, gleich hier beim Bahnhof!“

„Auf keinen Fall.“

Der Lehrer sah den jungen Mann lange an, gleichsam, um sich sein Antlitz für alle Zeiten einzuprägen; er bewegte den Kopf in kleinen Rucken, um genauer zu sehen und tiefer in die Züge eindringen zu können. Dann schüttelte er leicht den Kopf.

„Sie sind ein eigentümlicher Mensch!“ sagte er leise. „Ich habe auch Ihr Gesicht noch nicht gesehen, alle anderen Gesichter habe ich ja tausendfach gesehen. Ich schätze es mir zur Ehre, Ihnen begegnet zu sein. Allezeit Ihr Diener!“ Darauf nahm er den Hut ab, drückte ihn gegen die Brust und verbeugte sich. „Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen zum Abschied vorstelle!“ sagte er in tiefstem Baß. „Heinrich Löwenherz, ein fahrender Gesell!“

Der Fremde nahm den Hut ab und verbeugte sich seinerseits.

„Richard Grau,“ sagte er.

Der Lehrer verschwand wie ein Phantom irgendwohin und der Fremde sah ihm mit einem nachdenklichen und erstaunten Blicke nach. Aber dieser Heinrich Löwenherz hatte eine schöne Empfindung in ihm zurückgelassen, und er nahm sich vor, ihn sobald als möglich aufzusuchen.

Viertes Kapitel

D ie kleine Stadt lag schon ganz ausgestorben. In den krummen Gassen brannten einige Laternen, halb zugeschneit, mit kleinen verrußten Petroleumlämpchen. Die alten buckligen Häuser standen stumm und vornüber gebeugt und erinnerten an im Stehen schlafende Pferde. Da und dort schimmerte ein helles Fenster. Der Schuhmachermeister Männlein saß friedlich über die Arbeit gebeugt, der Fleischer Keim hackte etwas auf einem Blocke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch Fräulein Karola Sperling, Modes, hatte noch Licht. Denn sicherlich war sie es, die da droben im Giebelzimmer wohnte.

Über den öden Marktplatz fuhr der Wind und kämpfte mit einem Zeitungsblatt, das offenbar die Absicht hatte, die Kirchgasse hinauf zu rollen. Aber der Wind zwang es, umzukehren, zerrte es an den Häusern entlang und ließ es endlich die Gasse, die zum Flusse führte und Fischergasse hieß, hinabflattern.

Sobald das Zeitungsblatt in der Fischergasse verschwunden war, tauchte der Fremde, der sich Richard Grau genannt hatte, aus der langen Gasse auf, den Reisesack in der Hand.

Er ging langsam auf das Hotel „Zum weißen Elefanten“ zu und sah sich das Hotel von oben bis unten aufmerksam an. Es war ein alter gelber Fachwerkbau, der die Fenster gerade da hatte, wo niemand sie suchte und sich im Gegensatz zu all den andern Häusern ringsum zurückbog. Rechts unten hatte es einen kleinen Erker, der sich auf eine kurze, plumpe Säule stützte. Aus dem Erker schimmerte Licht. Vor dem breiten Tor stand der Hotelwagen, der einer großen Hutschachtel ähnlich sah.

Die Aufschrift „Hotel zum weißen Elefant“ zog sich über die ganze Breite des mächtigen Hauses hin und zum Überfluß hing noch ein Schild über dem breiten Tore, ein kleiner, drolliger Elefant mit kurzen Stoßzähnen und geschwungenem Rüssel und listigem Schmunzeln, ähnlich jenen ausgestopften Exemplaren, die die Kinder an einem Stricke hinter sich herschleifen.

Der kleine weiße Elefant schwang sich im Winde und schmunzelte.

Grau stellte die Reisetasche ab und ordnete sein Halstuch. Es wird wohl besser aussehen! dachte er und suchte in den Manteltaschen nach den Handschuhen. Aber diese Handschuhe, dicke, warme Handschuhe, die er erst gestern gekauft hatte, waren nicht zu finden. Plötzlich hörte Grau auf zu suchen. „Aber natürlich!“ rief er aus und lächelte und sein Antlitz nahm einen glücklichen und träumerischen Ausdruck an.

Er räusperte sich und zog die Klingel. Ein kleines Fenster an der Wand fiel herab und eine hastige, sich überstürzende, ärgerliche Stimme fragte: „Wollen Sie Bier?“ Es hörte sich wie Gebell an.

Grau nahm den Hut ab. „Nein,“ sagte er, „ich will ein Zimmer — ein einfaches Zimmer, nicht zu teuer. Nur für diese Nacht.“

„Äh!“ bellte die Stimme und ein ärgerliches kleines Gesicht fuhr zum Fenster heraus. „Sie haben an der Gassenschenke geläutet, sehen Sie denn nicht die Fremdenglocke? Können Sie denn nicht lesen?“

Grau lächelte. „Natürlich kann ich lesen,“ sagte er, „entschuldigen Sie nur, wenn ich an der Gassenschenke geläutet habe —“

„Jajajaja!“ Der Wirt, ein x-beiniger Mann mit winzigem Kopfe kam heraus und musterte Grau. Er schlich im Halbkreis um ihn herum, wog den Reisesack mit den Blicken, betrachtete Graus alten Hut, abgetragenen Mantel, seine frostroten Hände und endlich machte er die Augen scharf und musterte sein Gesicht, das vor Erschöpfung bleich und ausgehungert und vor Kälte blau gefroren aussah.

„Treten Sie ein! Ins Gastzimmer!“

Nach all der Dunkelheit erschien das Gastzimmer festlich beleuchtet, obgleich nur eine einzige Hängelampe brannte. Alles erschien nahezu weiß, die Wände, der lange, mit Vasen, Papierblumen und Gipsfiguren barbarisch geschmückte Tisch, die Vorhänge, die Wände und selbst der Fußboden. Die Decke aber war braun. Es war wohltuend warm hier, und der Duft einer feinen Zigarette vermischte sich mit dem abgestandenen Geruch von Speisen und etwas Ranzigem. Aus dem Geruch schloß Grau, daß hier die unverheirateten Beamten der Stadt aßen, etwa zehn an der Zahl, die alle gut zu speisen liebten. Ihr durch die Tafel angeregtes Gespräch schien noch in der Luft zu hängen und irgendwo zu stecken, gleich dem Rauche der schweren Zigarren, die sie nach dem Essen pafften. Nun war das Zimmer öde. Irgendwo zirpte eine Spieldose eine Arie, und an einem Tischchen in einem Erker saßen eine Frau und ein junger Mann vor einer Batterie von Weinflaschen. Die Frau saß sehr unschön da, den Stuhl weit zurückgeschoben, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht in den Händen. Der junge Mann saß in seinem Stuhle, die Füße, an denen er abgeschabte Reitstiefel trug, weit von sich gestreckt und rauchte. An seiner weißen Hand blitzten Steine. Er kitzelte die Frau mit einer Reitpeitsche am Halse. Beide wandten das Gesicht zur Türe, als Grau eintrat und Guten Abend wünschte, die Frau tat es, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. Sie war blond und schön wie eine Puppe. Sie hatte auch das Puppenlächeln. Der junge Mann hatte ein fahles, langes Gesicht und seine schwarzen gescheitelten Haare spannten sich wie glänzender Atlas über den Schädel.

„Hö!“ schrie der junge Mann und sprang auf. Er eilte auf Grau zu, nahm die Reitpeitsche unter die Achsel, verbeugte sich wie ein Kellner und rieb sich die Hände, als wasche er sie.

„Was befehlen der Herr?“ fragte er mit einer für seine zwanzig Jahre außerordentlich tiefen und rauhen Stimme und lachte betrunken. In seiner Rocktasche zirpte die Spieldose.

Grau sah ihn mit erstaunten Blicken an. „Sind Sie der Kellner?“ fragte er, indem er sich, unangenehm berührt, abwandte und den Mantel auszog. Ein alter, etwas knapper, dunkelfarbiger Gehrock kam zum Vorschein. Die Ärmel waren mit schwarzen Borten eingesäumt und die Brustaufschläge zeigten etwas wie schwarze Seide. Da und dort schien der Stoff mit Tinte nachgefärbt zu sein.

Die blonde Frau lachte kichernd. „Aber, Herr Baron!“ rief sie mit einer Mischung von Vorwurf und Koketterie in der inhaltslosen, hohen Stimme und sah Grau mit ihren großen Augen neugierig an.

„Ich fühle mich hier zu Hause, Tante!“ sagte der junge Mann, den die Frau Baron nannte und lachte. „Deshalb, mein Herr, deshalb. Außerdem, weil Sie mir gefallen. Sagen Sie das eine, sind Sie kurzsichtig?“

Ja, er sei ein wenig kurzsichtig, entgegnete Grau höflich.

„Aha — deshalb. Deshalb sehen Sie einen so eigentümlich an. Wenn Sie nun nicht kurzsichtig wären, so wäre — aber Ihre Kurzsichtigkeit entschuldigt Sie, natürlich, haha — natürlich. Haben Sie schon den Trompeter von Säckingen gehört? Wie? Ja, wenn Sie ihn noch nicht gehört haben, sofort soll das Orchester antreten — sofort —“

Der Baron lachte und sprach auf Grau unausgesetzt ein. Er nahm die Spieldose aus der Tasche und zog sie auf. Der Blick seiner dunkelgrauen Augen war unsicher und flackernd, ruhelos und gequält. Grau erinnerte sich, diesen Blick bei einem Manne gesehen zu haben, der mit nackten Füßen auf Glasscherben tanzte, um sich zu vergessen, um sich selbst zu foltern — der Mann hatte wohl seinen Grund gehabt. — Auf der rechten Wange hatte der junge Mann einen kleinen Schmutzflecken und gerade dieser Schmutzfleck allein schien sein Gesicht brutal und betrunken zu machen, denn außerdem war es fein und regelmäßig, ja sanft.

„Hören Sie das Orchester? Behüt’ dich Gott — Onkel!“ schrie er den Wirt mit dem kleinen Kopf an. „Bringe mir den schwersten Wein, den du hast im Keller — schwarz muß er sein — sofort! Das heißt, du brauchst dich nicht zu beeilen. Du kannst wegbleiben, solange du willst, Onkel, wir brauchen dich ja nicht hier — keine Seele fragt nach dir! Herrgott im Himmel, Onkel, wie ein Floh kommst du mir heute vor, genau wie ein im Dienst ergrauter Floh —“

„Herr von Hennenbach, Herr Baron!“ rief die blonde Frau im Erker und kicherte in die Hände.

Der Wirt murmelte eine Verwünschung und näherte sich Grau. „Was wünschen der Herr? Abendbrot?“

„Ja, eine Kleinigkeit.“

„Schweinebraten, Schnitzel, Nieren —“

Grau winkte ab und schüttelte den Kopf. Der Wirt begann laut zu bellen. „Der Herr können auch Taube haben, Huhn —“

Grau machte ein hilfloses Gesicht. „Nein, danke,“ sagte er, „ich bin nämlich gar nicht hungrig, müssen Sie wissen. Vielleicht haben Sie etwas Wurst und Bier?“

Der Wirt entfernte sich mit einer ärgerlichen Grimasse.

Die Frau im Erker begann zu kichern und zu keuchen und plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus. Dann hustete sie und rückte den Stuhl. „Sie sollten nicht mehr trinken, Herr Baron, Sie Wildfang!“ kicherte sie.

„Ruhe, Tante, Ruhe!“ sagte der junge Mann rauh. „Ich trinke die ganze Nacht, morgen, übermorgen, die ganze Woche, ich habe meine Periode und muß mich betäuben —“

Plötzlich stand er vor Grau und verbeugte sich. „Darf ich den Herrn zu einer Partie Billard einladen?“

„Danke.“

„Einsatz zwanzig Mark. Ich gebe dem Herrn fünfzig Bälle auf hundert vor.“

„Ich bedaure, ich spiele nicht Billard.“ Grau sprach sanft und höflich.

Der Baron lachte. Also nicht einmal Billard spiele der Herr? „Sie waren wohl nie Student? Kann ich mir denken.“

„Doch, mein Herr!“

„Ja, du meine Güte, da haben Sie nicht Billard gelernt? Ich möchte schon wissen, was Sie dann in Ihrer freien Zeit taten?“

„Ich habe Stunden gegeben.“

„Aha! Das ändert die Sache allerdings. Aber hören Sie, ob Sie Billard spielen oder nicht, das ist ganz egal — ganz egal — Sie lernen es. Trotzdem Sie sehr kurzsichtig zu sein scheinen — trotzdem prophezeie ich Ihnen, daß Sie es in fünf Minuten können. Ich gebe Ihnen auf hundert Bälle neunzig vor — Einsatz zwanzig Mark —“

Grau lächelte. „Entschuldigen Sie —“

„Ich gebe Ihnen fünfundneunzig vor — neunundneunzig — hören Sie — und wenn Sie blind sein sollten — einen Ball werden Sie doch machen.“

„Nein, ich danke Ihnen vielmals. Ich bin zu müde.“

„Ah!“ Der junge Mann warf sich rittlings auf einen Stuhl am Tische. „Dann vielleicht — Dame, Domino — oder Schach oder Mühle, was Sie wollen — Sie können ja sitzen bleiben, wenn Sie müde sind — ja, Sie brauchen nicht einmal zu ziehen, ich ziehe für Sie — die Hälfte Steine gebe ich Ihnen — ja, Donner und Doria!“ rief er plötzlich aus und lachte laut und roh. Er hatte Graus Reisesack entdeckt. Er sprang auf und besah sich den Reisesack in der Nähe. Er lachte und bewegte die Reitpeitsche, als ob er die Henne kitzle. „Was für eine kostbare Sache!“ schrie er. „Wohl ein altes Stück?“

„Es dürfte ziemlich alt sein, ja.“ Grau lächelte, er änderte nicht den Ton der Stimme.

„Wohl ein — ein Familienstück — ein Erbstück?“

„Nein.“

„Nicht! Es sieht genau so aus. Was würden Sie sagen, mein Freund, wenn Ihnen jemand für die Tasche zwanzig Mark gäbe?“

„Ich verkaufe sie nicht,“ antwortete Grau geduldig.

Der Baron lachte laut heraus. Er lachte Grau ins Gesicht, dicht ins Gesicht und sagte: „Hundert Mark! In die Hand! Na?“

Hier erhob sich Grau und verbeugte sich. „Ich sehe, der Herr sind in guter Laune,“ sagte er, „ich verstehe das recht wohl, daß der Herr scherzen wollen, aber sollte es nicht jetzt genug sein?“ Er sah den Baron an und plötzlich veränderten sich seine Augen. Eine leichte Glut begann in ihnen aufzuleuchten und ihr Blick schien langsam in die flackernden Augen des Barons einzudringen, bis hinab in die Tiefe.

Der Baron blinzelte, wie um sich von einer Macht zu befreien. Er kniff die Lider zusammen und lachte.

„Aber, Herr Baron!“ kicherte die blonde Frau im Erker.

„Hundert Mark! Für die Tasche hier! Barzahlung? Nicht? Aber Herr, Herr, was ist mit Ihnen? Sie scheinen nicht allein kurzsichtig zu sein — aber hole mich der Teufel, ich darf Sie doch zu einer Flasche Wein einladen?“

„Ich danke Ihnen herzlich,“ sagte Grau und errötete, „ich habe keine Lust. Ich bin zu müde, danke!“

Der Baron lachte und schrie: „Dieser Herr errötet, Tante, wie ein junges Mädchen, wie ein Jüngferchen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Also, Sie schlagen die Einladung aus?“ wandte er sich wiederum an Grau. Er wartete ein wenig und sah Grau in die Augen; er wollte wieder zu sprechen beginnen, aber er zögerte und verlor von neuem unter dem Blicke Graus die Sicherheit. Einen Augenblick lang sah er überrascht aus, dann lachte er heraus und schrie: „Gut! Und wenn Sie mich auch noch so kurzsichtig ansehen, wissen Sie nun, was? — Hole Sie der Teufel!“ Er klappte die Reitstiefel zusammen und drehte sich um.

Grau zuckte die Achseln und winkte den Wirt heran. „Wo ist das Hexengäßchen, bitte?“ fragte er.

„Hexengäßchen? Hexengäßchen? Ja, was wollen Sie denn im Hexengäßchen, im Hexengäßchen?“

„Ich will jemand besuchen, der hier wohnt. Neben dem Armenhaus.“

„Armenhaus? Armenhaus?“

„Eine Frau Sammet möchte ich besuchen, eine Eierhändlerin. Sie wohnt doch da, nicht wahr?“

Nun verstand der x-beinige Wirt mit dem kleinen Kopf, der in Wirklichkeit mit den großen Augen, der langen, flachen Nase, dem kleinen Mund und dem verkümmerten Kinn dem Kopfe eines Flohs glich. „Der Herr kommen zur Beerdigung?“

„Ja,“ sagte Grau und schlüpfte in den Mantel, während ihm der Wirt den Weg beschrieb.

„Wenn er doch zum Teufel ginge!“ schrie der Baron mit einer zu Graus Verwunderung nahezu haßerfüllten Stimme.

Ah, wie traurig, dachte Grau, er ist unglücklich, und noch so jung!

Grau kehrte nach einer Viertelstunde unbefriedigt zurück und ging sogleich auf sein Zimmer. Er hatte die Eierhändlerin nicht zu Hause angetroffen.

Fünftes Kapitel

G rau schloß die Türe seiner Kammer und begann augenblicklich erregt mit sich selbst zu sprechen.

„Man nimmt sich doch nicht so rasch das Leben!“ sagte er und gestikulierte heftig. „Das Mädchen war doch so jung und gesund! Aus Scham allein hat sie es nicht getan, das glaube ich nicht. Nein, nie und nimmer! Es mußte noch etwas anderes mitspielen, eine Kränkung oder sonst etwas. Der Fleischergeselle leugnet. Man kennt den Verführer nicht. Ich werde ihn herausfinden, bei Gott, das werde ich!“

Er war todmüde und legte sich zu Bett. Er war einen vollen Tag unterwegs gewesen und hatte, um Geld zu sparen, noch dazu eine Strecke von fünfzehn Kilometern zu Fuß zurückgelegt, um einen Umweg der Bahnlinie abzuschneiden.

Dieses arme Mädchen! dachte er. Entsetzlich! Mit einem Seufzer der Lust empfangen, in Angst getragen, in Verzweiflung geboren und mit dem Leben bezahlt. Genug, genug!

Er schlief ein, wurde aber gleich darauf durch das Bimmeln einer dünnen Blechglocke geweckt.

Im Gastzimmer unter ihm rumorte die rauhe Stimme des jungen Barons. Hier und da bellte ärgerlich der kleine Wirt, und in nahezu gleichen Zwischenräumen ließ sich das leere Lachen der blonden Wirtin hören. Es hörte sich an wie der Ton einer kleinen dünnen Blechglocke, an der der Baron zog, wann es ihm gefiel. Einmal zog er zweimal nacheinander daran, ein andermal tat er nur einen kurzen, schrillen Ruck. Die Personen da drunten verkleideten sich, der Baron wurde zu einem Manne, der auf Flaschenscherben tanzte und seine Augen glühten.

Grau richtete sich im Bette auf. Er konnte nicht schlafen.

„Dieses arme Mädchen ist es ja nicht allein!“ rief er aus und schlug mit der flachen Hand auf die Bettdecke. „Da ist noch diese alte verzweifelte Mutter, die ganz von Sinnen hin- und herrannte und schrie. Da ist noch das arme verwaiste Kind! — Aber auch das ist noch nicht alles!“ fuhr er fort, wobei sich sein Herz zusammenkrampfte. „Tausende solch unglücklicher Mädchen gibt es, Tausende solch verzweifelter Mütterchen, Tausende solch verwaister Kinder! Tausende! Tausende! Tausende!“

Er befreite sich von diesem Gedanken.

Aber augenblicklich erschien an einer andern Stelle seines Kopfes ein Gefangener, der an der Wand der Zelle lehnte; es war Nacht, aber er schlief nicht, durch das kleine Gitter über seinem Kopfe drang ein fahles Licht, da stand er mit bleichem Gesichte, starrte vor sich hin und nagte an der Lippe. Wieder, da sah er in eine Kammer: Auf dem Bett lag eine tote Frau, eine Kerze brannte daneben, ein Kind saß auf dem Boden und lächelte ihm zu. Auf dem fahlen Gesicht der Toten stand mit erschreckender Deutlichkeit geschrieben: Ich wurde geboren und weiß nicht weshalb, ich habe gelebt, weiß nicht warum und weshalb bin ich doch gestorben? Nun aber kann ich den Weg zur Seligkeit nicht finden, ach! Dann sah er einen schlafenden Mann mit kurzen aschgrauen Haaren vor sich und er sah einen Gedanken, der im Haupte des Schlafenden wanderte. Der Gedanke wanderte hin und her, wie ein Licht, das in der Nacht wandert und vor verschlossenen Türen stehen bleibt. Plötzlich stand das Licht ruhig und loderte hell auf und der Schlafende erwachte verstört. Er schlüpfte in die Kleider, hastig, schlich sich aus dem Hause, verstohlen, und sein schneller Schritt verschwand in einer dunkeln Gasse. Aus der Ferne drang ein entsetzlicher Schrei.

Grau schrak zusammen. Den Schrei hatte die blonde Wirtin ausgestoßen. Aber es war kein Schrei des Schreckens, es war ein schrilles, ersticktes Lachen. Der junge Baron verabschiedete sich, das Tor fiel ins Schloß und durch das ganze Haus lief ein dumpfes Zittern vom Keller bis zum Boden. Der Wirt zankte, die Frau lachte gedämpft. Schritte schlichen hin und her auf knarrenden Dielen, bald unten, bald oben, an seiner Tür vorbei. Es war der kleine Wirt, der nachsah, ob alles in Ordnung war. Er flüsterte, tuschelte, zankte. Und wieder knarrte sein schleichender Schritt durch das ganze Haus.

Graus Züge fielen ein. All das Leid, das auf der Erde war! Er fühlte es, es lag wie eine Last auf seiner Brust, er hörte es, ja, er roch es! Dunkler und dunkler wurde es in seiner Brust und endlich erschauerte er von all der Finsternis, die in seinem Innern war. Er preßte die Hände vors Gesicht und zitterte und dieses Zittern kam nicht von der Kälte allein. Die ganze Erde schreit ja immerzu, dachte er, sie zittert und bebt ja unausgesetzt. Wenn sich das Schluchzen einer einzigen Nacht vereinigt, so tobt es lauter als das wilde Meer! Dieses leise Weinen in den Kissen, dieses Klopfen der Herzen, das Keuchen der Sterbenden, die Schreie der Gebärenden —

Ob man auch das Auge schließt, was hilft es, das verquälte Antlitz des Menschen ist überall, es dringt durch die Lider hindurch, ob man die Ohren verschließt, was hilft es doch?

Scheint nicht manchmal ein entsetzlicher Schrei durch die Nacht zu hallen, aller Menschen Stimmen, die sich zu einem einzigen Schrei der Anklage vereinigen, zu einem Schrei nach Erlösung?

Ein Schweigen noch furchtbarer als dieser Schrei ist die Antwort.

Grau saß regungslos im Bette und starrte vor sich hin. Und er sah Tausende von Menschen vor sich, die im Bette saßen und starrten und nur den Wunsch hatten, zu vergessen, zu schlafen, nicht mehr zu denken. Aber draußen in der finstern Nacht murmelte und tobte es und wollte nicht ruhig werden.

„Wenn man doch etwas tun könnte,“ sagte Grau und nickte und seine Augen brannten. „Nichts sollte mir zuviel sein, nichts! Aber man ist ja so arm — viel zu arm!“

Die Kerze erlosch, aber er regte sich nicht. Nun war es dunkel um ihn her und er starrte in dieses Dunkel hinein, seine Züge fielen ein, sie verzerrten sich. Er dachte, dachte, grub die Zähne in die Lippe —

Aber mit einem Male veränderte sich der Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen. Er blickte auf das Fenster, und Neugierde, Erstaunen, Verwunderung und Freude spiegelten sich in seinen Zügen.

Auf diesem Fenster jedoch war nichts Besonderes zu sehen. Es war eine schwarze Scheibe und vom Marktplatze, von irgendwoher fiel der Schein einer Laterne darauf, so daß feine Lichtbogen entstanden, wie man sie um den Mond sieht, wenn er einen Hof hat. Doch das war nicht alles. In diesem Lichtbogen lebte es! Es regte sich, es flimmerte, es zuckte darin. Feine Kristalle formten sich. Es war wie gesticktes Moos, wie feine zitternde Gräser, dann strebten schmale, wehende, glitzernde Pflanzen empor, dem Tang ähnlich, der auf dem Grunde des Meeres wächst. Weiße Korallenzweige wuchsen zwischen ihnen hindurch, verästelten sich feiner und feiner, etwas wie spitze Flossen tauchte auf, Sterne, deren Enden zitterten — und alles glitzerte und flimmerte als sei es aus Splittern von Brillanten gebildet.

Es war ein betörend schönes Bild, ein Wunder an Reichtum, Glanz und Formen, das eine unsichtbare Hand hier an das schwarze Fenster eines nichtigen Wirtshauses zeichnete.

Grau saß und seine Augen waren wach und hell und sahen zu, wie es sich formte, veränderte, wuchs. Auf seinen knabenhaften Lippen schwebte ein seltsames Lächeln und in seinen Augen war ein fremder Glanz. Er atmete wieder. Er atmete tief und befreit.

„Er schreibt! Er schreibt!“ flüsterte er leise und Freude erfüllte ihn und stummer Jubel. Gleichzeitig aber schämte er sich.

„Ich bin müde gewesen, er möge mir verzeihen!“

Grau schlief ein und er atmete tief und froh und lächelte im Schlafe. In seinen Traum kam ein alter kranker Bauernknecht mit entzündeten Augen, der eine zerrissene Jacke trug und dicke neue Handschuhe an den Händen hatte; er schwang die Hände vor ihm und lachte. „Deine Handschuhe sind warm, vergelt’s Gott!“ schrie er und nickte ihm zu.

Sechstes Kapitel

E s kamen viele Leute in Trauerkleidern und stiegen die beschneiten Stufen zu der kleinen Kirche mit dem weißen Turm empor. Es kamen Leute vom Land, Bauern, die ernste Gesichter machten und langsam daherstampften, es kamen immer mehr, auch die jungen Damen, die ein gutes Herz hatten, kamen; auch der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals kam, feierlich pustend, in einem engen Gehrock, mit frostroten Handgelenken, ein kleines Bukett aus Wachsblumen in der Hand. Es kamen immer mehr, in all den weißen Gassen wanderte es. Viele kamen aus Neugierde, natürlich. Der kleine Friedhof war ganz schwarz und alle drängten der Ecke zu, die den Namen Selbstmörderecke hatte. Es war sehr stille über dem Städtchen und die Sonne blendete.

Plötzlich hörte man ein Schluchzen, ein Schreien, und man sah, daß ein Sarg die Staffeln heraufgetragen wurde, ein roher Kasten. Man schaffte ihn aus dem Spital herauf. Hinter dem Sarge kam eine Gruppe von Frauen, die in der Mitte etwas Weißhaariges führten, das sich schüttelte und hin- und herwarf und sich auf die Staffeln werfen wollte und schrie.

Der Sarg kam heran und alle nahmen den Hut ab. Man räusperte sich, man hustete, man zog die Brauen zusammen und in den schwarzen Fäusten der jungen Damen erschienen blendendweiße Taschentücher. Die kleine Frau schrie ohne Aufhören, aber als sie an das Friedhoftor kam, schwieg sie plötzlich. Das aber war noch viel schrecklicher als ihr Geschrei. Sie wankte zwischen den Frauen einher, und alle wichen zurück, niemand wollte einem solch schrecklichen Jammer nahe kommen. Eine breite Gasse entstand.

Gestern sind ihre Haare noch grau gewesen, aber heute sind sie weiß. Aber diese Haare waren nicht nur weiß, das war es nicht allein, die Haare flatterten. Sie waren dünn und kurz und befanden sich in ununterbrochener Bewegung, immerzu stiegen einzelne Haare in die Höhe, kräuselten sich, sanken zurück, andere lösten sich und flatterten langsam in die Höhe.

Der gelbe Sarg wanderte durch die Menge, getragen von sechs Männern, es schien als stelze er auf diesen vielen dunkeln Beinen durch den Schnee, direkt auf das Grab zu, wie auf seine Höhle. Die weißhaarige Frau sagte etwas und machte mit beiden Händen Zeichen, daß man nichts zu befürchten habe. Dann ließ sie sich in die Knie nieder und küßte das Ende des gelben Sarges, küßte es mit gespitzten runzeligen Lippen, wobei sie die beiden Seitenwände des Sarges mit den Händen streichelte. Als die Träger sich anschickten, den Sarg hinabzulassen, begann die alte Frau zu lachen und mit den Fäusten auf ihre Stirn zu schlagen. Alle Leute wichen zurück und erblaßten. Der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals wurde blaurot im Gesicht und öffnete weit den Mund, die jungen Damen wandten sich ab und bissen in die Taschentücher.

Da begann es in der Luft zu schwirren, ein feines Sausen schwang sich in der Stille und es klang als fiele ein klingendes Becken hoch aus der Luft herab; die Glocken begannen zu läuten. Süß und feierlich klangen sie und alle Augen richteten sich auf den kleinen, weißgetünchten Turm, wo sie sich in den Luken schwangen. Es läutet! Ja, natürlich, es läutet, es läutet in der Kirche. Und alle Glocken läuteten, nicht nur die Beerdigungsglocke. Es gab einige, die sofort in den Turm hineingingen, wo der Kirchner und sein Gehilfe an den Stricken auf und abtanzten. Es läutet ja?

„Er hat es befohlen, der Neue!“

Die kleine verzweifelte Frau hörte auf zu lachen und lauschte, indem sie den weißen Kopf zur linken Schulter neigte und den Mund öffnete. Sie wandte sich nicht um, sie lauschte nur. Es war das große Geläute.

Die schmale Türe der Sakristei öffnete sich und der Vikar stieg die Stufen herab. Er war im Talar und auf seinem Arme lag ein Buch. Alle sahen ihn kommen und bildeten eine Gasse. Er schritt hindurch, den Blick auf den Boden geheftet. Er trat ans Grab und nahm das Barett ab.

Seine Haare waren braun und weich, mit einem Schimmer ins Rote, und alle konnten sehen, daß sein Gesicht lang und mager war.

Er schlug die Augen auf und sah nun aus, als ob er noch nicht zwanzig Jahre alt wäre. Er lächelte unmerklich und richtete den sanften, schimmernden Blick auf die weißhaarige Frau. Dann begann er zu sprechen. Es war totenstill und man hörte einen gedämpften Schritt im Schnee knarren. So leise sprach der Vikar, daß man ihn kaum verstand, seine Stimme zitterte und plötzlich blieb er stecken. Er schwieg eine lange Weile, errötete, aber er wandte den Blick nicht von der kleinen Frau ab. Dann fand er sich wieder zurecht und nun sprach er rasch und sicher bis ans Ende. Seine Stimme wurde nicht laut, aber sie schwebte doch klar und deutlich bis in jede Ecke des Friedhofes und ein feines, feierliches Echo antwortete von der Kirchenwand her.

Die Rede des Vikars war schlicht und nicht lang. Er sprach von den vielen Kränzen, die man der Verblichenen gebracht habe, und daß sie aus Nah und Fern gekommen seien, die sie kannten, so viele, viele seien gekommen, alle habe ihr Tod und ihr Schicksal erschüttert und in der Stadt und auf dem Lande trauere ein jeder um sie. Nun erst, da sie tot sei, wisse man, wie sehr man sie geliebt habe.

„Sie war jung und frisch und voll von Leben,“ sagte er, „ihr habt sie gekannt, ich habe nur von ihr gehört. Sie wandte sich ab von der Erde und starb den schwersten Tod, den es gibt.“

Der Vikar sprach davon, wie fleißig und treu sie gewesen sei, wie diensteifrig sie war und wie fein doch ihr Herz war.

„Es war so fein, ihr Herz,“ sagte er und lächelte leise, „sie starb an ihrem feinen Herzen. Sie glaubte auch, daß ihr alle sie mißachten würdet, sie fürchtete euren Blick, sie schämte sich vor euch. So fein war sie. Das aber wollte sie nicht. Da warf sie denn alles hin, was sie hatte, ihre Jugend, ihre Frische, ihre Erinnerungen, ihre Wünsche und alle Freuden, die auf sie warteten. Das alles warf sie hin. Viel zu viel war es, viel zu viel.“

„Viel zu viel war es, viel zu viel,“ wiederholte der Vikar, und das feine, klingende Echo rief: Zu viel, zu viel.

Da begann die alte Frau zu weinen, ihr Gesicht zog sich zusammen, nichts als braune Runzeln war ihr Gesicht, es sah wie eine Nuß aus.

Der Vikar blickte auf sie und lächelte. „Sie hat wohl Grund zu weinen,“ sagte er, „wer von uns allen würde nicht weinen an ihrer Stelle. Wir würden klagen wie sie und Worte könnten uns nicht trösten. Aber in ihrem Schmerze wird es wie eine feine Freude sein, daß die, um die sie trauern muß, so fein war und gut. Und sie wird ja ihr Kind haben! Es ist auch ein Mädchen, es wird wachsen, spielen, lachen, es wird etwas sein, das sie tröstet, nicht alles, aber doch viel, nicht wahr, viel!“

Nun sprach er ausschließlich zu der alten Frau und er sagte auch, daß ihre Tochter nun bei Gott sein werde, zu den feinsten Seelen werde sie gehören.

„Denn Gott versteht sich wohl besser auf Menschenseelen als wir,“ sagte er. „Er wird sagen: Ich habe gesehen, wie du gekämpft hast, wie du gerungen hast — ich habe alles gesehen, es ging über deine Kraft. Ich habe auch gesehen, daß du auf dem Wege zum Tode einem Kinde begegnetest und du hast es gestreichelt. Auch das habe ich gesehen, auch das. Ein Hund hat vor deinem Hause gebellt und du hast ihm Nahrung gegeben — damals warst du noch ein Kind — auch das habe ich gesehen und nicht vergessen, denke nicht, daß mir etwas entgeht und daß ich etwas vergesse — zittere nicht —“

Die alte weißhaarige Frau lauschte. Sie legte ein wenig den Kopf auf die Seite, ganz wie ein Vogel, der lauscht, und heftete die tränenwunden Augen auf die Lippen des Vikars; kein Wort sollte ihr entgehen, nichts, nicht das kleinste Wort. Sie begann leise und schmerzlich mit dem Kopfe zu nicken und die Tränen flossen langsam über ihr welkes Gesicht und tropften in den Schnee.

Der Vikar segnete die Tote ein und alle beugten die Köpfe, sein Blick ging über sie hin.

Unter all den Anwesenden befand sich ein Mann mit gelbem Gesicht und kleinem Spitzbart und dieser Mann war der einzige, der den Kopf nicht senkte. Er stand und lächelte und heftete die kleinen Mausaugen erstaunt und spöttisch auf den Vikar.

Der Vikar ging rasch durch die Menge hindurch und sein Talar verschwand in der schmalen Türe der Sakristei.

Die alte Frau folgte ihm und ging die Stufen empor. Aber hier geschah etwas Merkwürdiges. Auf jeder Stufe kniete sie nieder und küßte sie. Dann machte sie den Knöchel des Fingers ganz spitz und pochte an die Türe.

Sie blieb über eine Stunde in der Sakristei.

Siebentes Kapitel

G raus Hände zitterten: Nein, nein, er hatte nicht die rechten Worte gefunden, er hatte es nicht vermocht!

Er warf einen Blick in die kleine alte Kirche, wo er eine blitzblanke kleine Orgel entdeckte und an einem Fenster die Reste einer ehemaligen Bemalung. Ein herrliches Fleckchen Blau, ein Streifen von einem seltenen Weinrot. Dann ging er durch den gedeckten Gang und hinüber ins Pfarrhaus. Während er sich umkleidete, sah er sich in der neuen Wohnung um. Das Pfarrhaus war ebenfalls alt, klein, mit Winkeln und Erkern, Holzvertäfelungen und einer kleinen Wendeltreppe. Im Vorraum hing ein altes pechschwarzes Ölgemälde. An der Türe war eine große Glocke angebracht und zwar war sie so aufgehängt, daß sie gleichsam zu schwingen anfing, wenn man sie nur ansah.

Vorläufig war es für Grau noch ein Rätsel, was er mit all den Zimmern anfangen sollte.

Er öffnete eines der kleinen Fenster. Sonne, Stille, Weite! Unter ihm lag die Stadt und die weite Talebene. So unregelmäßig und klippig wie sich das Treibeis staut, so unregelmäßig und klippig drängten sich all diese hundert steilen Giebel und Dächer ineinander. Da und dort klafften Risse und Spalten, das waren die Gassen und kleinen Plätze. Über diese beschneiten Giebel war eine Unmasse von Türmchen und Dachreitern geschüttet. Aus den unzähligen Kaminen stiegen dünne opalisierende Rauchsäulen in die klare Winterluft. Hunderte von Fenstern und Scheiben blitzten und blendeten und farbige Fünkchen tanzten auf den Schneedächern.

Rings um die weiße Stadt war alles weiß. Auch der Fluß, der die Stadt die Höhe hinaufdrängte, war weiß, er war gefroren. Eine Menge von Kähnen, Barken, Fähren und Frachtschiffen mit Masten und Stangen lag fest im Eise und auf den Schiffen kletterten kleine Pünktchen herum, Kinder, die spielten.

Eine weiße Brücke spannte sich über den weißen Fluß. Dann begann die Ebene, weit und weiß dehnte sie sich, bis zu den Höhenzügen, ferne Wälder, kriechendem Moose ähnlich, waren über sie ausgestreut.

Ein feines Klingen schwang in der winterlichen Stille, es klang aus einer Schmiede. Die Pünktchen, die auf den Schiffen klettern, erwiderten es schrill.

Zwei Fenster gingen auf den Garten hinaus. Der Garten war klein, nahezu dreieckig und in zwei Terrassen angelegt. Er war angefüllt mit unberührtem, wie Seide schimmerndem Schnee, und in den Ecken lagen Büsche, Gestrüpp, Stickereien aus Schneekristallen und mit Schichten von Schnee bedeckt, die eigentümlichen Blütentellern ähnlich sahen. Gegen die Straße zu, die Höhe, war der Garten mit einem grünen Zaun abgegrenzt, auf den andern Seiten stieß er gegen Gärten. Da war ein Park, ein wahrer Wald alter, hoher Bäume, die tief im Schnee wateten; er konnte weit in ihn hinein sehen, denn die Mauer war niedrig. Zwischen den Stämmen der alten Bäume schimmerte ein langes weißes Gebäude, ein Herrschaftshaus. Die Mauer des andern anstoßenden Gartens war übermäßig hoch und sah düster aus wie eine Gefängnismauer. Über sie hinweg blickten die zwei trüben Fenster eines grauen alten Hauses, wie zwei düstere traurige Augen unter einer niedern vergrämten Stirn. Die übermäßig hohe Mauer aber bot einen ganz merkwürdigen Anblick dar. Sie war mit Glassplittern und Eisenspitzen gespickt und trug eine große Tafel, die man leicht von der Straße aus lesen konnte, mit der Aufschrift: Vor den Hunden wird gewarnt! Achtung, Selbstschüsse! Vorsicht! Fußangeln!

Grau lächelte. „Eigentümlich!“ sagte er.

Dann nahm er rasch den Hut und verließ das Haus, immer noch zitterten leise seine Hände. Wie töricht!

Grau begab sich in den „weißen Elefanten“ und trug den roten Reisesack in seine Wohnung hinauf. Auf dem Wege begegnete er jenem Mann mit dem gelben Gesicht, der ihm im Friedhof aufgefallen war. Der Mann strich an den Häusern entlang, blieb stehen, als er Grau gewahrte und ging dann geradeswegs auf ihn zu, als ob er ihn ansprechen wolle. Aber er tat es nicht, er machte plötzlich einen Bogen, blinzelte und verzog die Lippen zu einem saueren Lächeln. Er griff an den Hut und Grau grüßte hastig und freundlich.

„Ein schöner Tag!“ sagte er lächelnd. „Nicht wahr?“

Der Mann aber machte nur ein verblüfftes, ernstes Gesicht, zwinkerte und strich sich die Haare aus der Stirn, er grüßte nicht. Wie sonderbar! dachte Grau und vergaß die Begegnung nicht wieder.

Nach einer Weile sah man Grau wieder die Staffeln herabkommen, einen lächerlichen kleinen Zylinder auf dem Kopfe, eine Liste in der Hand. Er ging rasch und schwebend. Er schritt über den Marktplatz und trat beim Uhrenhändler Lux ein. Hier sprach er lange. Dann erschien der Uhrenhändler Lux im Fenster, eine goldene Uhr in der Hand, er ritzte, prüfte, zwängte ein Glas ins Auge und drehte die Uhr hin und her. Darauf verließ Grau heiter den Laden und der Uhrenhändler verbeugte sich hinter ihm.

Grau ging in den „weißen Elefanten“ und beglich seine Rechnung. Der x-beinige mürrische Wirt bellte wie am Abend, aber er gab sich Mühe zu lächeln. Hätte er gewußt, wer der Herr sei, so würde er ihm ein besseres Zimmer gegeben haben. „Bitte, bitte, ich habe prächtig geschlafen!“ Der Wirt verbeugte sich vor Grau und Grau verbeugte sich vor dem Wirt. Die blonde Frau sah übernächtig aus. Grau betrachtete sie mit einem eigentümlichen Ausdruck der Augen, und ein fades Lächeln kam auf ihr Puppengesicht und in ihre wasserblauen Augen. Grau errötete und ging.

Nun konnte man Grau mit seinem kleinen Zylinder, die Liste in der Hand, die Straße hinab gehen sehen. Er verschwand in den Häusern, verhielt sich einige Zeit darin und erschien wieder auf der Straße, um im nächsten Hause zu verschwinden. Ganz wie ein Briefträger.

Was Grau in den Häusern tat, ist sehr einfach zu erklären. Er klopfte an die Türe, zog den Zylinder, stellte sich vor und rückte mit der Liste heraus.

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, diese arme, alte Frau, sie ist im höchsten Grade bedürftig, der Kummer macht sie auf einige Zeit erwerbsunfähig — dazu die Unkosten — Grau, Vikar Grau — dann ist ja auch das Kind da, verzeihen Sie die Störung, ich bitte tausendmal um Entschuldigung!“

Überall brachte er das gleiche vor. Die Leute räusperten sich, putzten sich die Nasen, kamen in Verlegenheit — denn Grau stand geduldig wartend da, blickte sich lächelnd im Zimmer um und verbeugte sich ab und zu ein wenig mit der Liste in der Hand — sie fuhren hastig in die Taschen und klapperten mit Schlüsseln. Hier und da waren aber diese Schlüssel absolut nicht zu finden, und sie sprangen umher, rannten gegen Türen und Wände, aber die Schlüssel waren ganz einfach fort. Man wird die Spende ins Pfarrhaus senden.

„Schön, schön! Ganz nach Belieben, gnädige Frau. Darf ich Sie vielleicht bitten, Namen und Betrag einzuzeichnen, hier in diese Liste, Bleifeder habe ich, bitte hier. Es ist der Ordnung halber und dann ermutigt es die andern Herrschaften — denn wo ein Sperling ist, da sind auch schon zwei, wo zwei sind, sind drei, wo drei sind, da sind auch gleich hundert, nicht wahr? Hier, erlauben Sie gütigst, ein ungenannt sein wollender Wohltäter hat auf einen Schlag zwanzig Mark gezeichnet, Herr Bürgermeister Stürmer zehn Mark, Frau Tierarzt Hammer fünf, Frau Rentamtmannswitwe Ulzhöfer eine Mark — wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist — mit einem Tropfen kann man den Durst ja nicht löschen, aber in einer Ansammlung von Tropfen kann man recht schön ertrinken — danke, herzlichen Dank, gnädige Frau.“

„Vergessen Sie nicht zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, Herr Vikar!“

„Danke, auf keinen Fall! Ich danke Ihnen aufs herzlichste!“

Er kam in alle diese alten, krummen Häuser, in alle möglichen Stuben, zu allen möglichen Menschen. Jedes Haus roch anders, die Treppen knarrten anders. Die einen waren steil und dunkel und kletterten in eine Art von Turm hinauf, andere waren breit und licht, knarrten vornehm und führten auf weite, helle Vorplätze. Zuweilen stand man unvermutet dicht vor den Türen, es gab aber auch Treppen, auf denen man sich verirren konnte; sie liefen kreuz und quer, endeten im Boden oder führten auf einen Hof hinaus. All die Glocken, die Grau an diesem Tage läutete, hätten zusammen ein Konzert gegeben. Da waren schüchterne und anmaßende Glocken, gutgelaunte und mißgestimmte, winselnde und lachende, solche die knarrten und fauchten, bevor sie einen Ton herausstießen, andere, die bei der leisesten Berührung in ein übermäßiges Gebimmel ausbrachen, die einen beruhigten sich sofort wieder, die andern läuteten fleißig weiter; es gab freundliche Glocken, die sofort höflich sagten: Herein, herein! es gab ungastliche, die brummten: Geh weg, weg! Die Zimmer, in die Grau trat, waren weit und licht, oder düster, oder schmal wie ein Omnibus. Es gab eine Menge von interessanten Dingen zu sehen, eine Uhr aus Porzellan, einen Ofen, der merkwürdigerweise an der ungeschicktesten Stelle im Zimmer stand, dafür aber die zwölf Apostel auf den Kacheln zeigte, Schränke von unglaublicher Größe, förmliche Häuser, alte Waffen, Truhen, Zinnkannen, in jedem Zimmer wenigstens etwas.

Grau sah sich alles aufmerksam an und nichts entging ihm. In einem Hause rannten ihn zwei große Jagdhunde beinahe um, Kinder prügelten sich in einem andern und rollten ihm unter die Füße, das aber brachte ihn nicht aus der Fassung. „Bitte, bitte, ich bin ja der Eindringling, entschuldigen Sie — Grau, Vikar Grau.“ Er lächelte, verbeugte sich vor den jungen Mädchen, die steif wie Besen dastanden, vor den Männern und Frauen, den Dienstboten, ja vor den Hunden. An die Hausfrauen hatte er nach dem ersten Anliegen noch ein zweites. Nachdem er sie mit Worten, Entschuldigungsformeln, Redensarten und Sprichwörtern, die er selbst erfand, allen erdenklichen Liebenswürdigkeiten genügend bearbeitet hatte, um sie für sein erstes Anliegen günstig zu stimmen, rückte er noch mit einem andern heraus. Ja, nämlich, wo sie Eier, Butter und Schmalz bezögen? Es wäre am Platze, diese Eierhändlerin auch anderweitig zu unterstützen. — „Darf ich Ihre Adresse in dieses Notizbuch schreiben, wie? Die Frau wird sich erlauben, zu Ihnen zu kommen, ich habe alles mit ihr besprochen. Gut!“

Er hatte überall Erfolg. Die Leute waren anfangs ein wenig erstaunt, aber gegen so viel Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit konnten sie nicht aufkommen. Dann waren es auch Graus Augen, die sie alle ansehen mußten. Wie merkwürdig, dieser Mensch hatte goldene Augen. Auch seine Weise dazustehen, zu plaudern, zu lächeln, so unerhört herzlich, frei und fein — sie zeichneten!

Das Gerücht ging vor ihm her und er fand sie alle vorbereitet; die Türen waren entweder verschlossen oder sie öffneten sich sofort, als ob man dahinter gewartet habe. Fräulein Karola Sperling, die Modistin, die in der Stadt die „ewige Braut“ hieß, ließ ihn sogar durch ein Mädchen bitten, bei ihr vorzusprechen. Sie sah aus wie ein junges Mädchen und hatte weißblondes Haar, ihre Manieren waren verschämt und kokett und doch war sie über fünfzig Jahre alt. Ihr weißblondes Haar war an den Schläfen schneeweiß. Sie hatte den Bräutigam im Kriege verloren und trauerte seitdem um ihn. Sie erzählte Grau ihre ganze Lebensgeschichte, ein trauriges Idyll; sie zeigte ihm auch das Bildnis des Bräutigams, eines Offiziers, während sie lächelte und eine Träne verbarg. Zuletzt zeichnete sie dreißig Pfennig, nicht ohne zu erröten. Grau dankte ihr aufs herzlichste und hätte ihr am liebsten die Hand geküßt.

Ein feister, glänzender Herr mit einer großen Zigarre im Munde, die das ganze Zimmer mit Rauch angefüllt hatte, wies ihn dagegen kurz ab. Er gab prinzipiell nichts.

„Wieso?“

„Ja, zum Teufel — Pardon! — aber ich bin ein Feind von all diesen Dingen, Almosengeben und Unterstützungen und so weiter,“ sagte er und paffte, so daß er nahezu in der Rauchwolke verschwand!

„Ah!“ sagte Grau schüchtern. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn es brennt, so nimmt man Wasser und löscht und denkt nicht weiter. Man kann nicht weniger geben als Geld, mein Herr, glauben Sie mir. Ich habe einen Mann gekannt, der bei keinem Juden etwas kaufte, ja niemals mit einem Juden sprach — ebenfalls aus Prinzip! Was sagen Sie dazu? Hahaha! Aber könnten Sie nicht eine Ausnahme machen — diese unglückliche Eierhändlerin —“

„Ich habe weder mit Ihrem Manne noch mit der Eierhändlerin etwas zu tun!“

„Mehr als Sie glauben!“ Grau setzte sich auf einen Stuhl, obgleich ihn der feiste, glänzende Herr nicht zum Setzen aufgefordert hatte. „Weit mehr, als Sie glauben. Ich habe beobachtet, daß eine Schwalbe in einer Dachrinne festgeklemmt wurde, nun kamen hunderte von Schwalben —“ begann er lächelnd.

„Ich bin aber keine Schwalbe!“ unterbrach ihn der feiste Herr mit einer verzweifelten Gebärde und verschwand in der Rauchwolke.

„Mehr als Sie glauben, mein Herr!“ sagte Grau und stand auf. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie in Ihrer Arbeit gestört habe. Vielleicht könnten Sie aber Ihre Frau Gemahlin oder Ihre Haushälterin dazu bewegen, Eier und Schmalz bei dieser armen Frau —“

Der Herr brach in ein zorniges Lachen aus. „Hier!“ sagte er. „Hier nehmen Sie drei Mark, basta. Aber meinen Namen lassen Sie hübsch aus dem Spiele!“ Er warf ärgerlich die Münze auf den Tisch.

Grau verneigte sich. „Also ungenannt sein wollender Wohltäter — gut, danke! Sehen Sie, wie recht ich hatte, Sie sind doch eine Schwalbe, trotzdem!“

„Ich gebe Ihnen diese Kleinigkeit da,“ sagte der Herr und stand auf, „ehrlich gesagt, um meine Ruhe zu bekommen. Das ist der wahre Grund, der wahre!“

„Das glauben Sie nur!“ sagte Grau, merkwürdig lächelnd.

Der dicke Herr stutzte; er griff sich an den Kragen, dann lachte er, und zwar ein komisches Gemisch von zornigem und vergnügtem Lachen.

„Ich war vielleicht etwas geradeaus!“ sagte er lachend und seine Mienen hellten sich mehr und mehr auf. „Aber es ist mein Prinzip, stets unverblümt zu sagen, was ich denke! Ich bin ein Feind aller Verzärtelung und alles Damenhaften! Hom, hom! Ich bin auch ein Feind der Damen, ehrlich gestanden, hahaha! Ich bin auch ein Feind aller phrasenhaften Entschuldigungen, verdamm’ mich Gott! Aber ich bitte Sie, zum Zeichen Ihrer Nachsicht — Ihrer — ein paar meiner Zigarren zu rauchen. Bitte, bitte!“

Grau wollte ablehnen, aber der feiste Herr schüttelte erregt den Kopf und fuhr so energisch in die Zigarrenkiste, daß es aussah, als ob er Grau alle Zigarren auf einmal geben wollte. Je tiefer seine Hand aber in der Kiste wühlte, desto mehr mäßigte er seine Erregung und als er die Hand zurückzog, befanden sich nur vier Zigarren darin; er legte sie vor Grau auf den Tisch, merkwürdigerweise jedoch blieb eine Zigarre in seinen Fingern hängen und wanderte wieder in die Kiste zurück.

Grau dankte, nahm zwei Zigarren und ging. Der Herr begleitete ihn hinaus, bis ans Stiegenhaus, und verneigte sich laut lachend.

„Also, ich bitte nochmals um Entschuldigung, ich bin zuweilen sehr reizbar — hahaha — auf Wiedersehen, Herr Grau!“ Er lachte noch in das Stiegenhaus hinein, als Grau schon das Haus verlassen hatte.

Grau kam auch zu dem Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals. Hier mußte er eine Tasse Kaffee annehmen. Der Schuhmachermeister versprach, die Schuhe der alten Frau kostenfrei auszubessern, zu sohlen, zu flecken, auch eine Filzsohle wollte er hineinlegen. Übrigens bezog er Eier und Schmalz schon von ihr.

„Vergessen Sie ja nicht, zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, neben dem ‚Elefanten‘, das alte Haus — er ist der reichste Mann der Stadt!“

„Auf keinen Fall!“

Graus Liste wuchs. Es ging die Straßen links hinunter und rechts herauf. Er vergaß kein Haus. Auf diese Weise lernte er die ganze Stadt kennen; er machte die Bekanntschaft von vielen liebenswürdigen Menschen; viele Güte, die sich in einem Lächeln verriet, viel Stolz und Feinfühligkeit, die sich in einem Verstecken des Blickes offenbarte, ja, selbst Adel, den Grau in einer kleinen Bewegung der Hand entdecken konnte. Versteckte Schönheiten und viel Sehenswertes, so daß er sich für die geringe Mühe überreich belohnt fühlte. Seine Laune wurde noch besser. Endlich kam er zum x-ten Male auf den Marktplatz und ging auf Eisenhuts Haus zu.

Da lag dieses Haus, in dem der reichste Mann der Stadt wohnte, inmitten all dieser gepflegten, gestrichenen und mit Schnitzwerk und Erkern gezierten Häuser, grau, elend und verwahrlost. Ein kalter Hauch ging von ihm aus. Der Bewurf war an vielen Stellen herabgefallen und die nackte Mauer blickte hervor, es war geschwärzt von Ruß und lange, schmutzige Regenspuren liefen vom Dache bis zum Erdgeschoß herab wie Tränenspuren über ein altes, schmutziges Gesicht. Kinder hatten Gesichter an die Wand gemalt und unter einem riesigen Kopf mit spitziger Nase und zwei kleinen Augen auf der gleichen Seite des Gesichtes stand geschrieben: „Ich bin der Geizhals Eisenhut, bembele bembum —.“ Von der Türe war die Farbe gesprungen und sie sah fleckig aus wie ein Pilz und so staubig, als hinge der ganze Staub vom letzten Sommer daran.

Grau zog an einem Glockenring und eine Glocke im Hause bellte wie ein alter, heiserer Hund. Grau läutete drei-, viermal, die Glocke bellte und klaffte, aber niemand öffnete.

Vor dem Nachbarhause stand der Schlächtermeister Keim unter der Tür des Ladens, dick und wohlgenährt, eine Kappe auf dem Ohr. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und seinen Bauch erschütterte ein verhaltenes Lachen. Trotzdem es Winter war, glänzte er von all dem Fett, das er ausschwitzte, seine Schürze flatterte leicht und er erweckte durchaus nicht den Eindruck der Schwere trotz seiner Dicke. Er erinnerte an einen jener komischen Papierballone, die man zur Volksbelustigung an Jahrmärkten steigen läßt, und das Zittern des Bauches drückte gleichsam die Ungeduld des Ballons aus, in die Höhe zu segeln.

„Er ist da, er ist zu Hause!“ sagte der Schlächtermeister Keim und schon zitterte das Lachen in seinen dicken Backen. „Er ging soeben hinein.“

Grau läutete wieder.

„Unterdessen,“ sagte er zu dem Schlächtermeister, „ich komme in einer Angelegenheit, die nicht nur Herrn Eisenhut betrifft — Grau, Vikar Grau — Sie kennen diese alte Frau Sammet, diese Eierhändlerin, Herr Keim, nicht wahr, das ist Ihr Name — auf dem Firmenschild da —“

„Jawohl, Keim, so heiße ich.“

„Wer so prächtig aussieht wie Sie — hier ist die Liste — deswegen wird kein Auge weniger auf der Suppe schwimmen —“

In dem Gesichte des Schlächtermeisters, der vor Wohlgenährtheit nahezu platzte, verschwand augenblicklich jede Spur von Fröhlichkeit, ja, er sah plötzlich betrübt aus. Er hatte in letzter Zeit soviel gegeben, daß er wirklich nicht mehr konnte. Er rückte die Kappe vor, um sich hinterm Ohr kratzen zu können. Jeden Tag käme etwas Neues.

Grau sah ihn an und lächelte. „Aber wer so gütig aussieht wie Sie?“ sagte er. „Ich glaube ja gerne, daß Sie in der letzten Zeit stark in Anspruch genommen wurden, aber das ist doch ein besonderer Fall, nicht wahr?“

„Jeder Fall ist eben besonders.“ Der Schlächtermeister steckte die Hände in die Hosentaschen und schaukelte leise auf den kurzen schwammigen Beinen hin und her.

Grau lächelte. „Erlauben Sie,“ begann er von neuem, „würden Sie sich zu einer kleinen Gabe entschließen können, wenn ich Ihnen einen Scherz erzählte, über den Sie herzlich lachen müssen und den Sie Ihr ganzes Leben — ich sage, Ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen?“

Herr Keim bemühte sich ein ernstes Gesicht zu machen.

„Das kommt darauf an!“ sagte er und spuckte gleichgültig in den Schnee.

Grau sagte lächelnd: „Hören Sie, Sie heißen Keim, aber wenn Sie schon Keim heißen, so muß man zugeben, daß der Keim hübsch aufzugehen verspricht!“

Der dicke Fleischer brach augenblicklich in ein lautes Gelächter aus. Er hielt den hüpfenden, dicken Bauch mit den beiden Händen und schüttelte sich.

„Hahaha!“ lachte er und hustete, „hahaha!“

Grau wippte mit der Liste und Herr Keim gab zwei Mark.

Da rasselte etwas an der alten fleckigen Haustüre und ein Guckfensterchen, nicht größer als eine Streichholzschachtel, fiel herab.

Dieses Geräusch des herabfallenden Fensterchens kam Grau bekannt vor. Und nun schien es ihm, als ob er dieses Guckfensterchen selbst schon vorher gesehen hätte.

Ein Auge funkelte in dem Guckloch und eine zaghafte, hohe Fistelstimme fragte:

„Wer ist da?“

„Ist Herr Eisenhut zu Hause?“

„Nein!“ antwortete die Fistelstimme und Grau glaubte ein feines Kichern zu hören.

„Wann kommt er denn zurück?“

„Er ist verreist!“ Das Guckfensterchen schloß sich wieder.

Grau verließ die Türe mit einer eigentümlichen Empfindung. Wie merkwürdig! dachte er und die Fistelstimme klang ihm noch lange im Ohr, während er die Jungferntreppe hinaufstieg, eine Art von schmalem Kamin, der zwischen kahlen Hauswänden und Gartenmauern zur Höhe führte. Er wollte im Schlosse vorsprechen, jenem weißen Herrschaftshause, das er heute von seinem Fenster aus gesehen hatte.

Er ging durch den weiten Park, dessen Bäume so hoch waren, daß er sich winzig klein dagegen vorkam, und sann darüber nach, wo er das kleine Guckfensterchen schon gesehen habe. Jenes Geräusch, das es beim Herabfallen verursacht hatte, verfolgte ihn hartnäckig. „Es ist doch höchst einerlei,“ sagte er vor sich hin, „wo ich solch ein Guckfenster schon gesehen habe, was liegt viel daran? Aber trotzdem, trotzdem! Ich habe dieses Guckfenster schon gesehen oder vielmehr gehört, das ist es.“ Er schüttelte den Kopf und stand vor dem weißen Hause. Nun erst sah er, daß ein Flügel des Herrschaftshauses eingeäschert war bis auf den Grund. Die Brandstätte war abgeräumt, Gerüststangen waren eingerammt, aber man sah keine Handwerksleute.

Er stieg die Treppe hinauf, öffnete die schwere Türe und stand plötzlich vor einem pechschwarzen Neger, der eine Laterne auf dem Kopfe trug.

„Ach,“ ging es ihm durch den Kopf, „jetzt erinnere ich mich! Ich habe dieses Guckfensterchen schon gesehen in einem Hause, in dessen Flur eine alte Holzfigur stand, ein Heiliger. Die Arme des Heiligen waren abgeschlagen. Aber wo, wo denn?“

Der pechschwarze Neger war aus Bronze und von der Laterne hingen schwere Messingketten herab. Grau wollte eben an einer Türe pochen, als ein Diener hinter ihm fragte, was der Herr wünsche. Die Jacke des Dieners war gestreift und erinnerte an das Fell eines Zebras. Der Diener öffnete die Türe eines kleinen Salons und bat Grau zu warten.

Der Salon wurde von einem Sonnenstrahl erhellt, der sich durch die Gardinen zwängte. Die Möbel waren hell und niedrig und standen auf zierlichen weißen Beinen.

Grau wartete und wagte nicht zu atmen, so still war es hier und so vornehm. Er hätte sich gerne geräuspert, aber das ging wohl nicht gut hier. Da hörte er einen gedämpften Schritt und eine junge Dame erschien in der Türe.

Sie nickte und fragte: „Womit kann ich Ihnen gefällig sein?“ Sie sprach höflich aber kühl.

Grau erwiderte nichts. Er sah die junge Dame an. Sie hatte auffallend reiches Haar von tiefschwarzer Farbe und war von fremder, stolzer Schönheit. Sie stand im Schatten und ihr Gesicht sah lang und bleich aus. Ihre Augen waren klar und ernst. Aber das Merkwürdige daran war, daß sie heller aussahen als selbst die blassen, langen Wangen. Das kam von den schwarzen wie Atlas glänzenden Haaren, die fast die ganze Stirn bedeckten und von den langen glänzenden Wimpern, die die Augen einsäumten. Etwas von dem Glanze, der Kerzenlicht bei Tag eigen ist, war in diesen Augen.

„Womit kann ich Ihnen gefällig sein, mein Herr?“ wiederholte das Mädchen.

Grau brachte hastig seine Bitte vor, und die junge Dame erwiderte, daß sie mit ihren Eltern sprechen werde und ihm Bescheid zugesandt werden würde.

Grau verbeugte sich und sah noch einmal in dieses schöne, regungslose Gesicht und ging. Er vergaß ganz mit seiner Liste herauszurücken und zu fragen, wo die Herrschaften Eier und Schmalz bezögen.

Er ging rasch durch den Park hindurch und war so erregt, daß er nichts sah und nichts hörte, bis er wieder auf dem Marktplatze stand.

„In welche Stadt bin ich doch da geraten!“ flüsterte er. „Zuerst diese Sache mit dem Guckfensterchen und nun dieses Mädchen. Ich habe ja dieses Mädchen schon einmal gesehen, irgendwo und irgendwann, ich erinnere mich deutlich an dieses Gesicht und diese sonderbaren Augen.“

Er eilte weiter und erst nachdem er bis zum Flusse hinabgelaufen war, fiel ihm ein, daß er noch einen Besuch hatte machen wollen.

Achtes Kapitel

G rau sprach bei Frau Bezirksamtmann Häberlein vor, wo das Dienstmädchen zuletzt gedient hatte. Hier hielt er sich längere Zeit auf.

Die Frau des Hauses, eine Dame mit breiten Hüften, schmaler, fast zierlicher Büste, porzellanartigem Teint und viel äußerlicher Vornehmheit, empfing ihn mit übersprudelnder Herzlichkeit im Salon. Ihre Stimme bimmelte immerfort wie ein kleines helles Glöckchen, besonders hell, wenn sie lachte; sie konnte aber auch und zwar ganz unvermittelt, Teilnahme, Mitleid, Resignation, Ergebenheit, Schmerz, Trauer und sogar Verzweiflung ausdrücken, um gleich darauf wieder in Heiterkeit zu erklingen.

Frau Häberlein verheimlichte nicht, daß sie ein wenig verletzt sei, da Grau so spät erst zu ihr komme. Als Frau des Bezirksamtmannes spielte sie die Rolle einer Königin in der Stadt und jeder ankommende Beamte beeilte sich ihr augenblicklich unter tiefen Bücklingen seine Ergebenheit zu Füßen zu legen. Aber als Grau ihr mitteilte, daß er absichtlich zuletzt zu ihr gekommen wäre, um sich über das unglückliche Mädchen näher zu erkundigen, erklang das kleine Glöckchen ihrer Stimme um so lebhafter und heller. Mit Vergnügen!

Sie begann sofort eifrig zu sprechen, schien aber merkwürdigerweise Graus Anliegen zu vergessen. Sie sprach von ihrem Gatten, ihrem Vater — sie war von adeliger Abkunft — eine Menge Offiziere in bunten Uniformen und mit ordengeschmückter Brust tauchten auf, besonders ein General, ein Onkel von ihr, erfreute sich ihres Interesses, und schließlich wimmelte es in ihrem Gespräche von Herren und Damen wie in einem Ballsaal. Sie plauderte ohne Pause, mit vor Liebenswürdigkeit und Eifer glänzenden Augen, die sie nur gelegentlich von Grau abwandte, um sie einem schrägen Wandspiegel zuzuwenden, in dem sie sich selbst sprechen sehen konnte. Wie man einen Hasen mit Speck verziert, so war ihr Gespräch mit Worten und Zitaten aus allen lebenden und toten Sprachen gespickt.

Glücklicherweise mußte sie niesen und es gelang Grau ihr ins Wort zu fallen. Er erfuhr nun die näheren Umstände der Katastrophe, Einzelheiten aus dem Leben des Mädchens, nichts wesentlich Neues.

Ja, sie sei ein braves, ein sehr fleißiges Mädchen gewesen, ordentlich, reinlich, sparsam, ehrlich, frohsinnig — mit einem Wort — es sei sehr, sehr schade, daß sie so traurig enden mußte.

„Man sagt, ein Fleischergeselle soll der Vater ihres Kindes sein?“

Wie unangenehm ihr die ganze Angelegenheit sei — wie peinlich — bei all dem Bedauern mit dem armen Mädchen, natürlich — kein Mensch könne sich vorstellen — wie peinlich ihr die Angelegenheit sei. „Ja, so sagen die Leute, der Bursche aber leugnet es.“

„Er wollte wohl nichts mehr wissen von ihr?“

„Nicht eigentlich das. Er wartete oft stundenlang vor der Haustüre — Margarete klagte oft darüber — er belagerte das Haus, so daß ich meinen Gatten aufforderte es ihm zu untersagen.“

„In den letzten Monaten wartete er?“

„Ja, sogar in den letzten Wochen.“

Grau versank in Nachdenken. „Das ist sehr merkwürdig,“ sagte er. Er dachte nach und erinnerte sich erst wieder, wo er war, als Frau Häberlein sich leise räusperte.

„Entschuldigen Sie, gnädige Frau,“ sagte er, „darf ich noch fragen, wie lange das Mädchen in Ihrem Hause gedient hat?“

„Ein halbes Jahr. Genau ein halbes Jahr.“

„Und vorher?“

„Bei Herrn Eisenhut. Ach, solch eine heikle und penible Angelegenheit!“

Grau erhob sich. „Entschuldigen Sie die lange Störung, gnädige Frau!“ Er verbeugte sich. „Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet für Ihre gütige Aufklärung.“ Er ging, aber unter der Türe wandte er sich zurück und sagte: „Noch eine Frage, verzeihen Sie gütigst. Von welcher Farbe waren die Augen des Mädchens?“

Frau Bezirksamtmann Häberlein lächelte und sagte mit feiner Stimme, sie bedaure, so genau pflege sie ihre Dienstmädchen nicht zu betrachten.

„Ja, entschuldigen Sie gütigst. Aber Sie mußten es ja sehen, ohne zu wollen. Waren die Augen braun oder grau oder blau, erinnern Sie sich nicht?“

„Wenn ich mich recht erinnere, so hat sie braune Augen gehabt, dunkelbraune Augen, die im Dunkeln schwarz und glänzend aussahen. Sicherlich waren sie braun, ja, ich glaube ganz sicher zu sein.“

„Das stimmt mit der Aussage der Mutter des Mädchens überein,“ sagte Grau. „Danke.“

Die Sammlung hatte eine hübsche Summe eingebracht, Grau war zufrieden und lachte in sich hinein. Ordentlich habe ich abgegrast, dachte er. Er ging geradeswegs ins Waisenhaus.

Die Schwestern empfingen ihn mit wenigen feierlichen und gütigen Worten in den stillen Räumen, in denen sie sich ohne Laut bewegten. Er gab das gesammelte Geld ab, die eine Hälfte bestimmte er für die alte Frau, die andere Hälfte bat er für die Verpflegung des Kindes zu verwenden.

„Kann ich das Kind sehen?“ fragte er.

„Oh, recht gern können Sie das,“ lispelten die Schwestern und er sah das Kind. Er betrachtete es lange und aufmerksam. „Es kann ein schönes Kind werden,“ sagte er, „was für kluge, hellgraue Augen es doch hat! Ist es nicht auffallend zierlich gebaut? Aber es sieht kränklich aus, oder täusche ich mich?“

Ja, der Arzt sei ebenfalls nicht zufrieden, es liege an der Amme. Eine Schlossersfrau habe sich erboten, das Kind zu nähren, aber sie sei brustleidend.

„Nein, das geht freilich nicht. Ich werde nachfragen. Sie haben niemand im Hause, der das Kind stillen könnte?“ fragte Grau.

Die Schwestern lächelten und erröteten unter der weißen Haube. „O nein,“ flüsterten sie.

Grau sah sie erstaunt an. Dann errötete auch er und machte sich eiligst davon. „Du bist doch der größte Dummkopf der ganzen Welt,“ sagte er zu sich und lachte in sich hinein.

Am andern Morgen besuchte er zum Erstaunen der Leute alle drei Hebammen, die es am Platze gab, um nach einer geeigneten Amme zu fragen. Er war den halben Tag unterwegs, bis es ihm gelang, eine Magd dazu zu überreden, sich des verwaisten Kindes anzunehmen. Die Magd war derb und stark, sicherlich gesund und nach Graus Meinung imstande zwei, drei Kinder spielend zu stillen. Die Magd erklärte sich nach langem Sträuben bereit, aber nun stieß er unerwartet auf Schwierigkeiten bei der Dienstherrschaft.

Das waren zwei alte Leutchen, ein alter Rentier und seine Gattin, und sie wollten die Erlaubnis nicht hergeben. Sie waren ohnedies ärgerlich, daß das Mädchen, eine Verwandte von ihnen, in ihrem Hause geboren hatte, und wollten nicht, daß es noch weiter bekannt wurde als es schon war. Sie blickten einander an, der Alte, der eine Kappe mit einer Quaste auf dem kahlen Schädel trug, und seine Frau, eine verschrumpfte Greisin mit schneeweißem störrischen Haar und pfiffigem Lächeln, und sagten nein, ein für allemal nein. Da saß denn Grau zwei geschlagene Stunden auf einem harten Sofa und führte die Unterhandlung mit den beiden Alten, die noch dazu schwerhörig waren. Der Greis beschäftigte sich damit, aus einem Topfe Mehlwürmer hervor zu suchen für ein Rotkehlchen, das lustig in seinem Bauer trillerte. Dann zerdrückte er Hanfkörner mit einem Bügeleisen. Die Greisin tat nichts, sie saß da und blickte pfiffig lächelnd auf Grau.

Grau gab sich alle erdenkliche Mühe, aber die Alten rührten sich nicht. Endlich sagte der Alte mit der Quaste: „Wir sind ja katholisch, mein Herr, das Dienstmädchen aber ist ja protestantisch gewesen.“

Grau lachte. „Aber, du gütiger Himmel.“

Nun wollte der Greis den wahren Grund sagen. Er sagte: „Das wäre es ja nicht, Herr, aber es wird so bekannt — so bekannt überall — und wir wollten in aller Stille Gras über das Kind unserer Verwandten wachsen lassen.“

„Gut! Aber man muß sich doch des verlassenen Kindes annehmen, nicht wahr?“

Oh, da gebe es ja die schwere Menge, sagte die Greisin und lächelte pfiffig.

„Ganz einerlei! Man muß sich jedes einzelnen Kindes annehmen. Da ist nun der Herr beschäftigt, Hanf zu knacken und er hat extra Mehlwürmer gezüchtet und richtet jeden einzelnen her für sein Rotkehlchen wie einen Braten, man kann recht gut beobachten, mit welcher Sorgfalt er es tut — und nun ein Kind! Ein Menschenkind! Vielleicht wird etwas Besonderes aus ihm — das ist wie eine Lotterie, vielleicht ist es ein Treffer.“

Man gewinne nie etwas. Der Alte mit der Quaste gluckste. Er band sich eine grüne Schürze um und begann Schleißen zu schnitzen.

„Oh, erlauben Sie recht sehr, ich habe bei einem Tischler gewohnt, der gewann das große Los — er hat jetzt ein Karussell und ein Wachsfigurenkabinett, zieht umher und bläst die C-Trompete“ — nein, vielleicht sei es nur ein kleiner Treffer, oder gar kein Treffer, man müsse sich des Kindes unbedingt annehmen.

Die Alten sahen einander an, lächelten, glucksten und sagten: „Nein!“

Grau wechselte das Thema. Er sprach über alles mögliche, über die Zucht von Mehlwürmern und die Lebensweise der Rotkehlchen, über die Verkehrsverhältnisse in früherer Zeit und was für eine Sache das doch gewesen sei, mit Zunder und Stein Feuer zu machen. Die Alten lachten und glucksten und machten es ihm vor. Sie konnten es, ja, das war eine Freude, es zu sehen! In der ganzen Stadt gibt es vielleicht keinen mehr, der es kann! Alterchen ging, um Kaffee aufzutischen, das andre Alterchen nahm die grüne Schürze wieder ab, nachdem es genug Schleißen zum Anschüren geschnitten, und brachte aus einem Schranke ein Gläschen mit Öl, ein paar alte Schlüssel und krumme Nägel und ölte all das mit einer Taubenfeder behutsam ein.

Grau erkundigte sich, ob sie Söhne oder Töchter hätten. Ja, das hatten sie, einen Sohn, zwei Töchter. Nun wollte Grau gerne wissen, wo sie lebten, wie sie lebten, ob sie gesund und glücklich seien, welchen Beruf der Sohn und die Schwiegersöhne hätten, jede Kleinigkeit. Aber ehe sich’s die beiden Alten versahen, sprang Grau auf die Enkel über, ja, diese Enkelchen, nicht wahr? Sechs, oh du meine Güte! Die Greisin ging und brachte Photographien herbei und der Greis putzte sich die Hände an einer Zeitung, einem Ballen Putzwolle und einem wollenen Lappen und entnahm dem Schubfache ein Vergrößerungsglas, denn er mußte nun die Enkel ebenfalls genau sehen.

Grau fragte, wie alt die Enkel seien, wann sie geboren seien, ob sie krank waren, er mußte alles genau wissen. Er sah die Bilder an, lobte den trotzigen Zug eines Knaben, über den kleinen Zopf der Enkelin Babettchen wurde er ganz außer sich vor Freude. Er besang diese Enkel. Ja, so klug, so gesund, so blühend —

Die beiden Alten kicherten und glucksten.

Plötzlich sagte Grau: „Also, wie steht es jetzt mit der Amme? So ein armes, verwaistes Kindchen, nicht wahr?“

Die Alterchen erschraken — denn jetzt konnten sie ja nicht mehr, sie konnten nicht — sie sagten: „Ja.“

Grau schüttelte ihnen die Hände. Der Alte nahm die Kappe mit der Quaste ab und ließ es sich nicht nehmen, Grau an die Türe zu begleiten; sein kahler Schädel glänzte wie ein Feuerwehrhelm.

„Da fällt mir noch etwas ein,“ sagte Grau, „könnten Sie nicht im Frühling Ihr Rotkehlchen fliegen lassen, zum Beispiel?“

„Wie?“

Neuntes Kapitel

A ls Grau nach Hause kam, warteten drei Leute auf ihn. Zwei Dienstmädchen, die Geld brachten, das die Herrschaft gezeichnet hatte; dann stand noch eine kleine, elend aussehende Frau da, die ihn zu sprechen wünschte.

Sie war die Frau eines Flickschneiders, ihr Mann war krank und dazu waren noch fünf Kinder zu erhalten. Sie hatte nun gedacht, vielleicht könnte Herr Grau ihr helfen.

Grau freute sich über ihr Vertrauen. „Ich danke Ihnen!“ sagte er und drückte ihr die Hand und seine Augen leuchteten. „Bitte, treten Sie ein!“ Er plauderte mit der Frau, der es offenbar Erleichterung verschaffte, ihm ihr Herz auszuschütten. Sie war sehr arm, der Kranke hatte nicht einmal ein ordentliches Bett. Grau ermutigte sie und sprach mit ihr wie ein Freund. Dann ging er in die Küche hinaus, wickelte etwas Geld in Papier und übergab es der Frau. „Ich werde morgen früh kommen,“ sagte er. „Sagen Sie keinem Menschen etwas davon,“ fügte er flüsternd hinzu, „und kommen Sie heute abend mit einem Karren zu mir, ich habe den ganzen Keller mit Holz gefüllt. Auch ein Bettstück will ich Ihnen geben, es muß natürlich unter uns bleiben, denn die Sachen gehören ja zum Hause und nicht mir, es muß ganz im geheimen geschehen.“

Grau machte Feuer und packte eine Bücherkiste, die eingetroffen war, und den roten Reisesack aus. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die Bücher stellte er, ohne sie anzusehen oder zu ordnen in ein Gestell, der rote Reisesack enthielt nur weniges. Ein alter Anzug, etwas Wäsche, ein Pack beschriebener Papiere, Hefte, zwei zusammengerollte Bilder, ein Glasprisma, eine Tabakspfeife, eine verkorkte Flasche Rotwein und verschiedene Kleinigkeiten. Die Flasche Rotwein, die ihm ein Freund, ein Gefängnisdirektor, auf die Reise mitgegeben hatte, stellte er in die Ecke, die Tabakspfeife stopfte er und setzte sie in Brand. Die Pfeife war von jener Art, wie Jäger und Bauern sie rauchen. Der Kopf einer Gemse war auf den Porzellankopf gemalt.

Die Pfeife war kaum richtig im Gange, als es klopfte und der Fleischergeselle Anton Hammerbacher eintrat. Er war ein dicker, kleiner Mensch, trug eine Bluse, eine aufgerollte Schürze und gestickte Hausschuhe. Sein Gesicht war rund und freundlich, seine Backen leuchteten wie rote Äpfel, aber seine kleinen dunklen Augen waren scheu und verschlagen. Auffallend an ihm war, daß er immerfort den Mund zu einem breiten Lächeln verzog und sich vergeblich abmühte, ein ernstes Gesicht zu machen. Seine Hände waren vor Kälte aufgesprungen und das rote Fleisch sah hervor.

Er sagte, daß er hierher käme, weil es nicht mehr auszuhalten sei. Sie hätten ihn fast totgeschlagen, niemand verkehre mehr mit ihm, aus dem Kegelklub hätten sie ihn gestrichen und der Metzgerverein habe ihn ausgestoßen.

Grau rauchte die Pfeife. „Setzen Sie sich, bitte, nehmen Sie Platz,“ sagte er, indem er den Burschen von oben bis unten musterte. „Es ist mir sehr angenehm, daß Sie kommen, wenn ich offen sein will, ich habe Sie auch erwartet. Wenn Sie nicht gekommen wären, so hätte ich Sie aufgesucht. Sie haben ein Verhältnis mit Fräulein Margarete Sammet gehabt, nicht wahr?“

„Ja.“

„Wann hat es geendet?“

„Vorige Weihnachten.“

„Gut. Und warum? Haben Sie es abgebrochen oder das Mädchen? Erzählen Sie mir, wie es herging. Und erlauben Sie mir, daß ich unterdessen diese Sachen hier in Ordnung bringe. Sie können ganz frei reden, denn es wird alles unter uns bleiben, ich gebe Ihnen mein Wort.“ Grau streckte ihm die Hand hin.

Der Bursche mit den rotleuchtenden Backen begann zu erzählen. Grau unterbrach ihn.

„Ein Wort noch,“ sagte er. „Sie können mir alles sagen und Sie dürfen sicher sein, einen Freund und Ratgeber in mir zu finden. Lügen Sie nicht, denn es ist so lächerlich zu lügen und auch ganz und gar unsinnig, denn ich fühle es ja sofort, ich höre es am Ton Ihrer Stimme. Nun, bitte!“

Grau nagelte die zwei Bilder, die sich im Reisesack gefunden hatten, an die Wand, während der Bursche erzählte. Das eine Bild war ein Farbdruck nach einem wenig bekannten alten Niederländer; es stellte einen Heiligen dar, der in einer Landschaft saß und dachte. An seiner Seite saß ein kleines weißes Lamm. Der Heilige hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt und sein Gesicht zeigte einen so tiefen Ausdruck des Nachdenkens, daß es nahezu idiotisch erschien. Aber gerade dieses nachdenkliche, nahezu idiotische Gesicht liebte Grau an dem Bilde. Er liebte auch die nackten Füße des Heiligen, sie waren unschön, eckig, die Zehen aufwärts gestellt; aber auch diese Füße schienen nachzudenken. Nach Graus Meinung war dieses Bild eines der größten Meisterwerke psychologischer Darstellung. Das andere Bild war eine Radierung von Klinger, die Grau irgend einer Zeitschrift entnommen hatte: Ein nackter Jüngling, der mit verhülltem Gesicht vor dem offenen Meere im Grase kniet. Es war betitelt: An die Schönheit.

„Das heißt, sie fing an das Feine zu lieben, ist es nicht so?“ wandte sich Grau an den Burschen.

„Ja,“ sagte der Bursche. „Sie sagte, ich rieche wie das Schlachthaus. Sie kaufte mir einen Hut, weil ihr meine Mütze nicht gut genug war, sie konnte auch meine Bluse nicht mehr leiden. Ich habe mir dann alles neu gekauft, aber sie wollte trotzdem nichts mehr wissen von mir.“

„Man hat Sie aber im Sommer noch und im Herbst mit dem Mädchen gehen sehen, was sagen Sie dazu?“

Das sei wahr. Sie habe ihm einmal zugerufen auf der Straße, wie es ihm gehe. Darauf habe er sie gefragt, ob es nicht wieder wie früher zwischen ihnen sein könne.

„Was hat sie darauf geantwortet?“

„Sie hat gesagt, sie wolle es mir bald sagen.“

„Hat sie wirklich bald gesagt?“

„So ähnlich. Sie kann auch bald gesagt haben.“

„Und das nächste Mal, sagte sie es da?“

Der Bursche schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „aber sie war sehr gut zu mir. Ich habe mit ihr unter der Türe gesprochen. Es war ein sehr schöner Abend und ich sagte, ob wir nicht ein wenig spazieren gehen könnten. Wir gingen bis ans Tor aber da blieb sie stehen und sagte, sie müsse heim. Ich wußte nicht, was sie hatte. Sie weinte auch ein wenig.“

„Sie verstanden sie nicht mehr?“

„Nein.“

„Damals war sie schon sehr unglücklich!“ sagte Grau und nickte. „Verzweifelt war sie damals schon. Sie dachte, vielleicht kann er mir helfen, aber trotzdem sie schon ganz verzweifelt war, tat sie doch nichts Unehrenhaftes. Sie haben keine Unwürdige geliebt, mein Freund. Aus all dem, was mir die Leute erzählt haben, konnte ich mir ein Bild von Fräulein Sammet machen. Sie hätten wohl alles für sie getan?“

„Ja!“

Grau nickte. „Das ist schön von Ihnen und macht Ihnen alle Ehre. Halten Sie das Gedächtnis der Toten hoch!“

Plötzlich nun zog Grau einen Ring mit einem winzigen blauen Stein aus der Westentasche und hielt ihn Hammerbacher dicht unter die Augen. Er sah den Burschen mit scharfen, eigentümlichen Blicken an. Der Bursche saß verblüfft und sah fast erstarrt zu Grau empor.

Grau lächelte unmerklich.

„Ich habe schon mit ganz anderen Leuten gesprochen,“ sagte er leise und ließ den Burschen nicht aus den Augen, „mit Verbrechern und Mördern, aber sie konnten mir nicht auskommen, sie mußten die Wahrheit sagen. Und nun, haben Sie den Ring dem Mädchen gegeben? Sie wissen ja von welcher Bedeutung dieser Ring ist. Nun? Nein? Gut!“

Grau steckte den Ring wieder in die Westentasche, er lächelte und klopfte Hammerbacher auf die Schulter. Er fuhr in verändertem Tone fort: „Ich will Ihnen sagen, was ich denke, mein Freund. Wir brauchen kein Wort mehr über diese Angelegenheit zu sprechen. Ich habe das und jenes gesagt und gefragt um Sie zu prüfen, um ganz sicher zu gehen. Sie sind unschuldig, absolut unschuldig. Fräulein Sammet hätte sich ja auch nicht das Leben genommen, wenn Sie der Vater des Kindes wären. Es ist vielmehr so, irgend einer hat sie beschwätzt, einer aus einer höheren Schichte der Gesellschaft. Sie hat ihn geliebt, auch das weiß ich, ich sage Ihnen nicht, wieso ich es weiß. Und er, ein roher, ungebildeter Patron, hat das Mädchen auf dem Gewissen. Ich sah mir zum Beispiel auch Ihre Augen an, Herr Hammerbacher — aber das hat ja wenig zu sagen, ich könnte mich ja allein schon auf mein Gefühl verlassen. Ihre Nähe macht mich weder unruhig noch zweifelnd! Ich will Ihnen sagen, ich war früher Gefängnisprediger und Dutzende von Gefangenen haben mir geschworen, daß sie unschuldig seien. Sie haben geweint, sich fromm gestellt, wahnsinnig gestellt — man fühlt aber nur zu deutlich was Wahrheit und was Lüge ist. Aber hören Sie, unter diesen vielen Dutzenden war einer, der wirklich unschuldig war. Sein erster Blick sagte es mir! Er sollte zehn Jahre absitzen wegen eines Verbrechens, das er nicht beging — er ist nun frei. Doch, das alles gehört ja nicht hierher, ich will Ihnen nur sagen, daß von meiner Seite nicht der geringste Verdacht auf Sie fällt und daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, um Ihre Ehre zu verteidigen!“

Der Bursche verzog den Mund und zeigte seine großen schaufelförmigen Zähne.

Grau stopfte die Pfeife und steckte sie in Brand. Er setzte sich Hammerbacher gegenüber und sagte in vertraulichem Tone: „Nun sollen Sie mir aber einiges erzählen. Sie wissen ja, ich bin erst wenige Tage hier und weder mit den Verhältnissen der Stadt noch mit den Menschen hier vertraut. Ich bin nun nicht gerade neugierig — aber ich habe meine Gründe — die Unterredung bleibt natürlich ganz unter uns. Das versprechen Sie mir. Wo hat Fräulein Sammet zuerst gedient?“

„Bei einem Wirt in Weinberg.“

Grau stellte einige Fragen. „Und hierauf?“

„Bei Herrn Eisenhut.“

„Gut. Was für ein Mann ist das doch, dieser Herr Eisenhut, der Steinbruchbesitzer? Ist er nicht eine Art Sonderling, es scheint mir so.“

Herr Eisenhut erfreute sich keineswegs eines guten Rufes. Trotzdem er zwölf große Steinbrüche besaß, war er sehr geizig. Er hatte die merkwürdige Angewohnheit, Holz- und Kohlenstücke auf der Straße zu sammeln und seine Jagdtasche war stets gefüllt mit Tannenzapfen, wenn er von der Jagd zurückkehrte. Seine Dienstboten hielt er knapp und meistens besorgte er sein Hauswesen selbst, um Ausgaben zu ersparen. Man sagte ihm nach, daß sein Sinn für Reinlichkeit nicht besonders entwickelt sei. Zu all dem kam noch, daß er ein Trinker war und oft des Nachts auf allen Vieren nach Hause kroch; zuweilen war er auch am lichten Tage betrunken und taumelte durch die Straßen, gefolgt von einer Menge Kinder, die Spottverse sangen. Seine Furchtsamkeit war bekannt, er konnte zuweilen nachts mit einem Revolver in der Hand durch sein Haus streichen.

„Er ist nicht verheiratet?“ fragte Grau.

„Ach nein!“ Hammerbacher lachte laut auf. „Keine mag ihn, trotzdem er so reich ist. Er hat auch einmal Margarete einen Antrag gemacht.“

„Unmöglich!“

„So wahr ich dasitze! Sie hat es mir selbst erzählt. Er sagte: Du sollst ein seidenes Kleid haben, eine Uhr, Ohrringe, einen Wagen und in acht Tagen wollen wir Hochzeit machen, diese Damen vom Tennisklub sollen vor Neid grün und blau werden.“

„Ah! Er hatte wohl schlimme Erfahrungen gemacht?“

„Er soll sich einen Korb geholt haben, ja. Aber auch Margarete mochte ihn nicht. Sie ging aus seinem Hause.“

Grau stand auf und ging ans Fenster. Wie merkwürdig und wie einfältig, nun hatte ihn plötzlich ein Gefühl der Rührung ergriffen. Aber was in aller Welt sollte denn Ergreifendes an dieser Erzählung sein?

„Er hat wohl keine Freunde, Herr Eisenhut?“ fragte er endlich.

„Doch, er hat schon Freunde, die kommen zu ihm um zu trinken. Sie trinken oft die ganze Nacht hindurch bei ihm, das ist in der Stadt bekannt, sie schreien und brüllen bis zum Morgen. Wenn ich ins Schlachthaus fahre, gehen sie heim, sie sind dann alle betrunken und schreien und lachen. Sie heißen sich: ‚Der goldene Zirkel‘.“

„Dazu ist er also nicht zu geizig? Wie soll man das verstehen?“

„Er schickt ihnen am andern Tag die Rechnung.“

„Tut er das?“

„Ja, Margarete hat immer die Rechnungen herumtragen müssen, aber sie haben nur gelacht und nie etwas bezahlt!“

„Was für Leute sind das, die bei ihm verkehren?“

„Das? Das sind immer die gleichen. Das ist ein Arzt, der Doktor Nürnberger, ein Jude, der dicke Professor Richter von der Realschule, ein Adjunkt von der Post, Kaiser heißt er, dann der junge Herr von Hennenbach, vom Schloß, Amtsrichter Leutlein, ein Rechtspraktikant Schmitt —“

„Nun ja, ja —“ unterbrach ihn Grau. „Die Herren sind wohl zumeist Junggesellen?“

„Ja, man kennt sie alle hier in der Stadt. Margarete hat mir genug von ihnen erzählt. Manchmal, wenn sie betrunken sind, da —“

Grau unterbrach ihn. „Ich will das nicht wissen,“ sagte er.

„Herr Eisenhut hat mir einmal fünf Mark angeboten,“ fuhr der Bursche fort, „dafür sollte ich die Herren alle durchprügeln.“

Grau lächelte.

„Ja, für fünf Mark wollte er, daß ich mich zwei Monate einsperren lasse!“ Hammerbacher lachte. „Sie treiben oft ihre Späße mit ihm und da wird Herr Eisenhut rasend vor Zorn. Einmal da drohten sie ihm ihn zu erschießen. Sie nahmen Gewehre und Revolver, die er hat, und Herr Eisenhut rannte in den Garten hinaus, aber sie umzingelten ihn. Er hat sie Diebe und Räuber genannt. Er schrie um Hilfe, da sagten sie, wenn du dich entschuldigst, so wollen wir dich diesmal noch laufen lassen. Aber du mußt auch das Notizbuch herausgeben.“

„Was für ein Notizbuch?“

„Wo er hineinschreibt, was sie ihm schuldig sind. Dann hat er ihnen allen die Hände küssen müssen und sie haben furchtbar gelacht. Am andern Morgen habe ich das Fleisch gebracht und Eisenhut hat mich gefragt, ob ich mir fünf Mark verdienen will.“

„Sie haben aber abgelehnt?“

„Ja.“

„Vielleicht hatten Sie nicht den Mut dazu?“ fragte Grau und rauchte lächelnd.

Der Bursche antwortete mit einem kühnen Blick.

„Ich? — Oh, was das anbetrifft — aber ich riskierte zuviel.“

„Ein wenig Prügel hätten die Herren wohl verdient,“ sagte Grau; „wenn Ihnen Herr Eisenhut aber hundert Mark angeboten hätte?“

„Dann schon!“ sagte der Bursche und lachte.

Grau sah ihn an.

Er stand auf. „Ich darf wohl annehmen, daß Sie über unser Gespräch Stillschweigen beobachten,“ sagte er und gab Hammerbacher die Hand. „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihr Vertrauen. Ich denke es wird das beste sein, Sie durch eine Notiz in der Zeitung von dem Verdachte zu reinigen, nicht wahr? Das wäre wohl das klügste und wirksamste. Guten Abend, Herr Hammerbacher! Eine Frage noch, erlauben Sie, Herr Eisenhut steht ganz allein, wie? Leben seine Eltern nicht mehr?“

„Sein Vater ist tot, er ist vor Geiz verhungert. Herrn Eisenhuts Mutter lebt noch, aber sie ist nicht richtig im Kopfe.“

„Wohnt sie bei Herrn Eisenhut?“

„Nein. Sie wohnt bei einer Lehrersfrau beim Bahnhof draußen.“

„Sie wissen nicht wie die Lehrersfrau heißt? Heißt sie nicht Löwenherz?“

„Nein, ich weiß es nicht. Aber sie hat den Namen Mütterchen, weil sie so klein ist.“

„Ah, ja!“ rief Grau aus. „Herr Eisenhut wird wohl öfters hinaus kommen zu seiner Mutter?“

„Ja, ich sehe ihn oft hinausgehen.“

„Gut, danke Ihnen, mein Freund! Morgen werde ich die Notiz in der Zeitung bringen. Und vergessen Sie nicht, Herr Hammerbacher: Halten Sie das Andenken an Fräulein Sammet hoch!“

Grau schob nie etwas auf. Er setzte sich augenblicklich an den Tisch und warf folgende Notiz auf ein Blatt: „Der Fleischergeselle Herr Anton Hammerbacher hat sich auf dem Vikariate eingefunden und die Erklärung abgegeben, daß seine Beziehungen zu dem Dienstmädchen Fräulein Margarete Sammet seit Jahresfrist vollständig gelöst waren. Seiner Aussage ist unbedingter Glaube zu schenken. Grau, Vikar. —“

Nun wurde es Abend.

Zehntes Kapitel

D er Schnee im Garten draußen leuchtete stahlblau, die Nacht brach schnell herein und mit ihr kam die Kälte, die kahlen Bäume begannen zu glitzern.

Grau gab sich dem schönen Gefühle des Alleinseins hin. Er setzte sein Abendessen zu, Linsen, dann ging er wartend hin und her in seiner Stube und dachte an tausend Dinge. All diese vielen Menschen, die er in den letzten Tagen kennen gelernt hatte, welche Mannigfaltigkeit und welche Einheit trotzdem.

Die Linsen begannen zu duften. Herrlich! Welch wunderbare Produkte es doch auf dieser Erde gab, Linsen, Nüsse, Erdbeeren, die Birne, die Weintraube. Man brauchte Stunden dazu sie alle aufzuzählen, nur um die Namen aller Nüsse zu nennen, wie lange doch? Und schon von den Namen dieser Dinge geht ein Zauber aus, man sieht sie, man schmeckt und riecht sie, sie sind die Meisterwerke von Millionen großen Chemikern, jeder noch so unscheinbare Strauch hat gearbeitet mit aller Kraft, um seine Frucht herrlich zu bereiten in dieser Welt, da in die kleinsten Dinge der Wunsch nach Vollendung gehaucht ist.

Man spricht ja nur von den einfachsten Produkten, wie Eisenbahnzüge und Schiffe sie in jeder Stunde über Kontinente und Meere tragen — Eisenbahnzüge und Schiffsbäuche gefüllt mit Wohlgerüchen, Farbenräuschen und Formenwundern! Man spricht ja von nichts anderem, oder?

Spricht man hier zum Beispiel von den Steinen? Von den Kristallen, den Quarzen, den Topasen, Smaragden, Diamanten? Oder von Perlen, Korallen und Muscheln? Nein. Man kann ja nur an ein Ding denken, man kann ja nur in eine Richtung denken. Wenn man gleichzeitig in alle Richtungen denken könnte, in tausend Richtungen? Man hat zuerst an die Nüsse gedacht, dann an die Diamanten, aber wenn man gleichzeitig an alle Dinge denken könnte? An die Steine, die Pflanzen, die Tiere und alle, alle Dinge zu gleicher Zeit? An die Muscheln, den Sand, die Palmen, die Kirschblüte, die Orchidee, die Mammutfichte, den Seestern, den Sägefisch, die Wale, die Tiger und die Giraffen, an die Papageien und die Adler — an alles in seinem Wesen, seinem Charakter, seiner Form und Farbe, würde man nicht taumeln wie der Habgierige, auf den es Gold herabregnet?

Man spricht ja nur von den einfachsten und nächstliegenden Dingen.

Und doch da draußen existiert das alles, jetzt, in diesem Augenblick wehen die Palmenwälder, die endlosen Fischzüge ziehen durch die Flut, die Elefantenherden weiden, da und dort ist eine Insel, auf der sich Schwärme von Paradiesvögeln sonnen, da und dort glüht jetzt eine Wiese in der Sonne und Tausende von farbenprächtigen Faltern schaukeln sich, an einem fernen Flußufer stehen Armeen von Flamingos, die Wölfe heulen im Schneefelde, in diesem Augenblick öffnet die schönste purpurne Blume in irgend einem einsamen Gebirgstale den Kelch, einerlei wo, in dieser Sekunde funkelt der Gischt einer Woge im stillen Ozean in der Morgensonne — es ist schön das zu denken, es betäubt, berauscht. Hat man an alle Dinge gedacht, nein, nur an wenige. Hat man an die jüngsten Geschöpfe gedacht, die der Mensch selbst schuf? Die Geige, die sausenden Maschinen, menschliche Gehirne in Eisen, die großen Dampfer, die mit ihren Schrauben die Flut des Meeres peitschen? Es ist schön daran zu denken, es macht reich.

Aber man hat ja nur an die Oberflächen der Dinge gedacht, an das Sichtbare der Erscheinungen. Würde man erst in die Dinge hineinblicken, wie? Schon wie Zelle sich an Zelle gliedert, wie das Blut in den Adern rollt. Der Gedanke allein macht schwindlig.

Hätte man auch das getan, hätte man schon alles getan?

Man hätte ja nur an das gedacht, was auf der Erde ist, an nichts anderes, nicht an den Raum, die Sterne, die Geheimnisse, die sich zwischen Wesen und Wesen spinnen, nicht an die ungesehenen Ströme, die in jeder Sekunde aus unendlichen Fernen fluten und das Menschenherz erbeben lassen.

Es ist ja gut, daß man nicht an alle, alle Dinge in einer Sekunde denken kann —

Die Linsen waren gekocht und Grau setzte sich zur Mahlzeit nieder. Es war schön, allein zu sein. Er konnte denken an was er wollte, an alltägliche Merkwürdigkeiten, zum Beispiel an den Löffel, den Teller, an die Fliege dort auf dem Buche.

Draußen erwachte ein leiser Wind und Grau lauschte auf ihn. Bald hörte er ihn wie ein Geräusch, bald unterschied er kleine Melodien, die immer wiederkehrten und doch nie dieselben waren. Wie merkwürdig ist doch mein Ohr nur, dachte er. Etwas Merkwürdigeres kann ich mir kaum denken. Wie eine Orgel, in die der Wind fährt, wie eine Geige, wie eine Trommel, was man will. Dazu habe ich zwei Ohren, aber weshalb wohl zwei? Ich habe zwei Augen um rund zu sehen, vielleicht habe ich zwei Ohren um rund zu hören? Sollte es das sein?

Grau lächelte. Hat nicht jeder Punkt meines Leibes Augen und Ohren, sieht und hört nicht mein kleiner Finger?

Er lachte: Ah, ich denke für mich, ich spreche für mich, niemand schadet das etwas, das sind meine Gedanken und ich bin gerne bereit, die andern Leute zu vernehmen.

Meine Haare, zum Beispiel, welch geheimnisvolle Funktionen — genug!

Er winkte mit der Hand, als ob er jemand zum Schweigen auffordern wolle, und lächelte. Dann machte er sich an die Arbeit.

Zu den Mürrischen und Griesgrämigen wollte er reden, zu den Kleinherzigen, Eng- und Kaltherzigen, den Armen, den Geizhälsen und Ofenhockern. Es ist ja zuviel Armut in der Welt, meine Freunde, zuviel Geiz. Zuviel Zaghaftigkeit, Schwäche, Mißtrauen und Trägheit und Haß! Zuviel Hader und Zank!

Da bist du zum Beispiel, du Kleinherziger! Wenn du allein bist, so ist dein Herz mit Liebe angefüllt, du denkst, das werde ich tun und jenes, das wird ihn freuen — sobald du aber einen Menschen siehst, so mißfällt dir seine Stimme oder sein Anzug und deine Seele zieht sich zurück wie die Schnecke in ihr Haus. Habe ich dich entdeckt, Kaltherziger! Ich halte dich fest! Du sollst ihn ansehen, er hat gelitten, er hat gewartet, ja siehst du nicht, daß er gewartet hat im Wachen und im Schlafen, daß jemand zu ihm spräche, sich Mühe gäbe ihn zu verstehen.

Und du, Empfindlicher, der für jedes Wort empfindlich ist, das man ihm sagt, und so rasch die Laune verliert?

Und du, du Fauler, wie? Du bist dick und rund und deinem Gesichte sieht man die Gutmütigkeit an. Eine Bettlerin pocht an deine Türe und fleht, ach, denkst du, ich habe mich eben ein wenig ausgestreckt, ich würde ihr ja gerne etwas geben, aber ich bin müde, ich werde still sein und sie wird denken, es ist niemand zu Hause und wird fortgehen. Willst du denn dein ganzes Leben lang so faul bleiben? Sprich?

Die Menschen wußten ja nicht, welche Schätze in ihren Herzen lagen. Er war gekommen darin zu graben und die Schätze ans Licht zu heben.

Ein Mensch ohne Liebesfähigkeit, wie sollte er fähig sein, die Schönheit zu empfinden — oder jenes Größte zu fühlen, das Liebe und Schönheit einschließt und sich dem Menschen nur in seltenen, kostbaren Augenblicken offenbart?

Ja, wolle Gott ihm die Kraft verleihen, für die Griesgrämigen und Geizigen und Faulen die richtigen Worte zu finden! Was war es doch, das sein Herz so wild schlagen ließ, wenn er sich vorbereitete zu den Menschen zu reden, so wild, daß er stets glaubte, sterben zu müssen?

Bald war Grau in die Arbeit vertieft, und der Heilige an der Wand, dessen Füße sogar nachdachten, sah ihm zu.

Elftes Kapitel

S chon am nächsten Tage machte sich Grau auf den Weg, die Lehrersfrau zu besuchen, bei der Eisenhuts Mutter wohnte. Es traf sich so günstig, daß er von dem Lehrer zu einem Besuche aufgefordert worden war.

Es war kalt, aber die helle Sonne schmolz den Schnee auf den Dächern und wo man ging, fielen einem langsame schwere Tropfen auf die Hand, den Hut, die Schultern. Vor allen Häusern waren Kinder, Frauen und Männer beschäftigt, das Eis aufzuhacken; in der ganzen Stadt hackte und pickte es lustig. Ein heller gleichmäßiger Lärm erfüllte die Straßen, fast wie ein Singen. Und unwillkürlich begann Graus Herz mitzuklingen. Im ersten Stocke eines schönen alten Hauses blitzte ein Fensterspiegel und das war wie ein Winken, ein Grüßen und durchfuhr ihn wie ein Gruß des Lichtes von weither. Vor einer Schmiede stand ein Schimmel und Grau sah ihm einen Augenblick lang in die großen Augen, die wie zwei schwarze Zauberspiegel glänzten. Er streichelte die Schnauze des Pferdes und flüsterte ihm ins Ohr und der Schimmel wandte sich nach ihm um, als ob er verstanden habe.

Die Straße machte eine Biegung und tauchte vollständig in Sonne. Die Sonne blitzte in allen Fenstern, in all den Picken und Äxten, in all den Tropfen, die langsam und schwer von den Dächern fielen.

Grau suchte sich seinen Weg zwischen den arbeitenden Leuten; er hatte eine eigentümliche Art sie anzusehen, ihnen zuzulächeln und in die Augen zu blicken. Was ist doch so sonderbar an den Menschenaugen, jener Schein, frage ich? Nun, sie haben alle Sonne, Mond und Sterne im Blut, das ist jener Schein, nicht wahr? Aber was ist doch jenes Leuchten in den Menschenaugen, jenes besondere Leuchten?

Grau nickte den kleinen Knirpsen zu, die arbeiteten, daß sie schwitzten, und als ein junges Mädchen mit halboffenem Munde an ihm vorüberging, starrte er das Mädchen beinahe erschrocken an. Das Mädchen knickste hastig und wurde rot. Ja, dachte Grau, etwas Schönes ist ein junges Mädchen, ob es nun Sommer oder Winter ist; die Vögel, die Blüten, Kinder und junge Mädchen, das ist alles ein und dieselbe Sache.

Er blickte dem jungen Ding nach und wäre beinahe überfahren worden. Ein Jagdwagen fuhr rasch daher, der junge Freiherr von Hennenbach kutschierte.

Grau durchschritt den Torturm. Es war ein schöner Tag heute, das mußte man sagen! Er atmete die frische Luft ein und fühlte wie seine Augen klarer und sein Geist freier wurden. Es ist ja nur die Luft, dachte er, großer Gott im Himmel, nur die Luft, nichts als die Luft, die Vögel atmen sie, die Bäume und Menschen, aber was ist sie doch? Er blickte in die Höhe, da glitzerte die Luft als sei sie aus kristallhellen Sternen gebildet. Die Bäume der Allee streckten ihre Äste zitternd in diese helle, sonnige Luft empor.

Vor seinen Blicken breitete sich die weiße, weite Ebene aus. In ihrer Mitte lag der vom Rauch geschwärzte kleine Bahnhof und aus einer Lokomotive, nicht größer als ein Kinderspielzeug, stieg feiner brauner Rauch empor. Der Schnee lag unberührt auf den Feldern, nur da und dort hatte der Wind mit ihm gespielt, ein Feld klippiger kleiner Berge gebaut oder Wellen und Schleifen in ihn gezeichnet. Er lag weithin wie schimmernder weißer Samt, auf dem es glitzerte, als sei der Samt mit Brillanten bestickt. In der Ferne sah es aus, als beginne der Schnee zu brennen, farbige Feuerchen bewegten sich auf ihm hin und her; lichtes Grün, feuriges Rosa, Schwefelgelb.

Auf der Straße gingen drei junge Mädchen und ein hagerer, etwas schiefschultriger Mann, der ein Bündel Schlittschuhe trug. Sie hatten es nicht eilig und gingen ganz langsam. Die Mädchen sprachen und lachten mit klingenden Stimmen und der schiefschultrige Mann, der in einem gelben abgetragenen Überzieher steckte, ein rotbraunes Halstuch und einen kleinen spitzen Hut trug, meckerte dazwischen und sprach in hastigen, abgerissenen Sätzen.

Zwei der Mädchen gingen Arm in Arm und waren ganz gleich gekleidet, ihre Haare waren von schlichtem deutschen Blond, auch ihr Gang war der gleiche; sie gingen beide als schritten sie auf einem Seil. Offenbar waren es Schwestern. Das Mädchen, das an ihrer Seite schritt, war etwas größer, freier in allen Bewegungen; sie trug den Kopf wie ein stolzes Tier im Walde. Sie war gekleidet in ein langes flottes Jackett aus seidenhaarigem Pelz, eine kleine Pelzmütze saß auf dem auffallend reichen, schwarzen Haar, das in einen lockeren Knoten gebunden war. Ein dünner gelber Schleier floß um die Pelzmütze herum und flatterte lustig im Winde.

Grau sah wie sie sich dahin bewegten und etwas in der Art ihrer Bewegung ergriff ihn nahezu bis zu Tränen. Sie gingen mit der Seele der Frau, mit der schwebenden, wehenden Seele der Frau, die in die Weite strebt, wartet, späht, lockt und hofft. Der Mann an ihrer Seite dagegen ging nicht, er schlich. Seine Seele war zusammengedrängt, gefesselt, er blickte in sich hinein, er war beschäftigt mit sich selbst, ob er auch plauderte und lachte.

Grau holte die Gesellschaft ein und da der Weg nur zum Teil vom Schnee freigemacht war, mußte er sich hinter ihr halten. Er hörte, was sie sagten.

„Haben Sie die Geschichte von dem Manne gehört, der von der Doktorkutsche auf der Straße gefunden wurde, nachts, im Schnee?“ wandte sich das Mädchen mit den schwarzen Haaren an den Mann, der die Schlittschuhe trug. Sie sprach scharf, mit einem kaum hörbaren fremden Akzent.

„Adele!“ sagten die Schwestern leise und lächelten.

Der Mann mit den Schlittschuhen lachte meckernd. „Jä,“ sagte er, „ich habe diese Geschichte gehört, natürlicherweise habe ich sie gehört — am andern Tag — aber ich kann schwören —“

„Schwören Sie besser nicht!“ fuhr das Mädchen fort. „Wie leicht hätten Sie im Schnee erfrieren können.“

„Jä, wie leicht hätte ich im Schnee erfrieren können!“

„Sie sollten sich schämen, ich an Ihrer Stelle würde mich schämen.“

„Gewiß, Sie, ja Sie würden sich schämen, Fräulein von Hennenbach.“

„Sie ruinieren sich auch. Sie sind ein ganz origineller Mann, aber vollständig verwahrlost. Vielleicht sind Sie auch nur originell, weil Sie verwahrlost sind.“

Der junge Mann mit dem spitzen Hut lachte. „Wie geistreich!“ sagte er und lüftete ein wenig den Hut, indem er ihn bei der Spitze mit zwei Fingern anfaßte und in die Höhe hob. „Wie geistreich!“ meckerte er. „Wie geistreich!“

„Es ist nichts mit Ihnen anzufangen!“ sagte kühl das junge Mädchen und wandte sich den Freundinnen zu.

Eine Weile blieb es still, dann begann sie von neuem: „Lassen Sie sich’s gesagt sein,“ sagte sie, „daß ich meinem Bruder nicht mehr erlaube, Sie zu besuchen. Sie treiben es zu toll bei Ihren Gelagen. Das ist ja die reinste Lasterhöhle. Vier Nächte nacheinander hat er mit Ihnen durchgezecht. Es wird auch Hasard gespielt, nicht wahr? Heute nacht hat er zweihundert Mark dabei verloren.“

„Was hat er verloren?“

„Zweihundert Mark. Er hat sie heute von mir verlangt. Weiß Gott, es ist unrecht von Ihnen. Natürlich muß er bezahlen, wenn er sein Ehrenwort gegeben hat, aber es ist eine Sünde von Ihnen, er ist noch so jung.“

Der schiefschultrige Mann lachte laut heraus. „Aber es ist ja keine Silbe wahr von all dem, was Sie da sagen!“ rief er. „Keine Silbe, nicht eine einzige Silbe! Er war eine ganze Woche nicht bei mir, kein Mensch war bei mir. Wie kann er da zweihundert Mark verloren haben, wie denn? Ich habe nicht mit ihm gespielt, das schwöre ich Ihnen!“

„Schon gut! Sie werden es ja nicht eingestehen, Sie werden es leugnen. Das ist selbstverständlich. Ich werde Ihnen aber die Polizei ins Haus schicken, mein Herr! Daß Sie es nur wissen. So wahr ich hier gehe, das werde ich tun. Es ist Ihnen doch bekannt, daß Hasard polizeilich verboten ist, nicht wahr?“

Der Mann rasselte mit den Schlittschuhen, warf dem Mädchen einen bösen Blick zu, aber dann lachte er wieder. „Was Sie nicht sagen?“ rief er aus. „Ich bekümmere mich nicht um die Polizei. Sehen Sie, ich stecke jedem eine Flasche Wein in die Tasche und dann gehen sie wieder. Übrigens, Fräulein von Hennenbach, hat gerade Ihr Herr Bruder das Spiel eingeführt. Er brachte es von Monte Carlo mit.“

Es blieb einen Augenblick still, dann erwiderte das Mädchen: „Er war ja nie in seinem Leben in Monte Carlo, niemals!“

„Also hat er auch keine hundertundfünfzigtausend Mark dort verloren, wie? Also lügt er?“

„Er macht sich einfach lustig über Sie, das ist alles!“

Der junge Mann nahm den Hut ab und verbeugte sich. Er lachte.

„Herr von Hennenbach lügt nicht!“ rief er aus. „Herr von Hennenbach machen sich einfach lustig. Er macht sich lustig, ja, das muß man sagen, er lügt nicht, er macht sich lustig. Er sagt, er habe zweihundert Mark im Spiel verloren und er hat drei Tage vorher mich um genau zweihundert Mark gebeten, da er sie brauche. Ich habe sie ihm aber abgeschlagen — rundweg — ich gebe nichts mehr, keinen Pfennig, ich habe die schlimmsten Erfahrungen gemacht in der letzten Zeit!“

Grau watete nun durch den Schnee und beschrieb einen weiten Bogen um die Gesellschaft. Hinter ihm meckerte der junge Mann, er räusperte sich und rasselte mit den Schlittschuhen.

„Aber, nein!“ sagten die Schwestern vorwurfsvoll, und die junge Dame fügte in scharfem Tone hinzu: „Was denken Sie doch —?“

Doch der junge Mann lachte nur. Er sagte laut: „Alle Welt macht sich über mich lustig — ergo — weshalb soll ich mich denn nicht auch ein wenig lustig machen, wenn es mir einfällt! Wie? Bin ich etwas andres vielleicht als die andern Menschen? Ich erlaube mir das zu fragen! Man soll sich nur ein wenig in acht nehmen vor mir. Ich könnte eines schönen Tages einen Skandal heraufbeschwören und das wäre manchen Leuten nicht angenehm, nein!“ Er meckerte, aber er schien zornig zu sein.

„Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch!“ sagte eine der Schwestern.

Fräulein von Hennenbach aber sagte kurz: „Tun Sie doch, was Sie nicht lassen können, aber lassen Sie mich mit Ihren Anspielungen gefälligst in Ruhe!“

Darauf bat der Mann um Entschuldigung. Ein solch harmloser Mensch, wie er sei! Wenn er sich nur erlaube, zu scherzen —

Die Stimmen verloren sich. Grau war beim Bahnhof angelangt, blieb stehen und blickte sich um. Dem Bahnhof gegenüber stieg der Wald an; eine Hütte, gefüllt mit Brettern, Leitern, Balken, lag am Wege, dort stand ein dicker, niedriger Turm mit leeren Fensterlöchern — ein alter Wartturm — aber von einem Wohnhaus war nichts zu sehen. Allein dieser Lehrer, dieser Lehrer Löwenherz, hatte er nicht gesagt: Gleich beim Bahnhof?

Die Gesellschaft holte ihn ein. Die Mädchen standen still, führten flüsternd eine Beratung, dann sagte eine der Schwestern: „Suchen der Herr etwas?“

Grau zog den Hut. „Ja, ich suche ein Haus,“ sagte er.

„Hier sind keine Häuser,“ sagte der Mann mit den Schlittschuhen mit dünner Stimme und lächelte spöttisch. Grau hatte ihn schon gesehen. Er hatte ein gelbes Gesicht, einen kleinen Spitzbart und Mausaugen.

„Ja, hier scheinen allerdings keine Häuser zu sein,“ sagte Grau und blickte umher. „Aber man hat mich hierher gewiesen — ich suche das Haus eines Lehrers, eines gewissen Lehrers Löwenherz!“

„Löwenherz?“

Die jungen Mädchen blickten einander an. Sie besannen sich und schüttelten die Köpfe. Die Schwestern sahen einander so ähnlich, wie zwei rotbackige Äpfel auf einem Zweig. Man hätte sie nicht zu unterscheiden vermocht, wenn nicht die eine ein kleines braunes Mal auf der Wange gehabt hätte. Sie hatten frische, runde Gesichter mit roten Wangen, die etwas rissig von der Kälte waren, und nachdenkliche blaue Augen.

Fräulein von Hennenbach sah nicht so bleich aus wie neulich, als Grau in ihrem Hause vorsprach, ihre Wangen waren von einer feinen Röte überzogen, aber ihre Augen erschienen um so klarer und heller. Sie waren nahezu weiß.

Der Mann mit den Schlittschuhen begann plötzlich zu kichern und zu lachen. Er streckte wichtigtuerisch die spitze Nase vor. „Es ist der Lehrer!“ rief er aus. „Sicherlich ist es der Lehrer. Er heißt Lenz, mein geehrter Herr. Löwenherz! Was sagen die Damen dazu? Ein ausgezeichneter Einfall — Löwenherz!“

Fräulein von Hennenbach öffnete erstaunt die Lippen. „Ah, Susannas Vater!“ sagte sie, und die Schwestern fügten wie aus einem Munde hinzu: „Ach ja, Susannas Vater!“

„Ich erinnere mich, er sprach von seiner Tochter Susanna,“ sagte Grau.

„Das ist ganz in der Ordnung, er wohnt hier. Nur muß man durch den Turm gehen, bis zur Brücke. Der Herr hier hat im gleichen Hause zu tun.“

Sie gingen zusammen und schwiegen. „Ein schöner Tag!“ sagte Grau nach einer Weile. „Ja!“ antworteten die Mädchen wie aus einem Munde und sahen ihn alle an. Es war schön, wie sie alle die Gesichter zu ihm wandten, die außen gehende mußte sich etwas vorbeugen. Er sah in diese drei Paar Augen hinein. Aber es fiel ihm weiter nichts ein, was er den Mädchen sagen hätte können.

Von der Brücke aus konnte man ein kleines Häuschen im Felde liegen sehen. Dieses Häuschen lag ganz einsam, halb zugeschneit lugte es mit zwei trüben, kleinen Fenstern aus dem Schnee. Weit und breit war nichts zu sehen als Schnee, kein Baum, kein Strauch, nur einige Krähen bewegten sich langsam in einem Acker. Es lag da gleichsam ausgestoßen aus der Stadt, wie ein Siechenhaus, wie die Hütte des Abdeckers. Ein Zaun lief um das Haus herum wie ein Gitter, aus dem Kamin stieg ein Hauch von Rauch, den man nur mit scharfen Augen wahrnehmen konnte.

Dieses Haus sei es!

Grau nahm den Hut ab. „Ich danke, meine Damen!“ sagte er und verneigte sich vor den drei jungen Mädchen. „Bitte, bitte!“

Fräulein von Hennenbach blickte ihn an. Sie heftete ihre hellen, klaren Augen eine Weile auf Grau, dann sagte sie: „Wie schön Sie neulich gesprochen haben!“ Sie streckte ihm die Hand hin. Sie lächelte, aber ihr Mund und ihre Züge blickten trotzdem ernst.

Die Schwestern lächelten ebenfalls, Grübchen erschienen in ihren Wangen und ihre weißen, kleinen Zähne blitzten; sie richteten die Augen groß und leuchtend auf Grau.

Grau verbeugte sich verwirrt. Er wagte kaum, die Hand des Mädchens zu berühren. Er errötete und machte abermals eine verwirrte Verbeugung.

„Viele Grüße an Susanna, viele Grüße!“ riefen die Mädchen.

„Morgen kommen wir!“ setzten die Schwestern hinzu.

Der junge Mann lieferte die Schlittschuhe ab und ging an Graus Seite feldeinwärts. Sie wateten bis an die Knie im Schnee. Grau ging wie ein Träumender.

Wie merkwürdig, dachte er, wie merkwürdig! Und unwillkürlich wandte er sich nochmals nach dem Mädchen um. Nun fällt es mir ein, wo ich dieses Mädchen schon früher gesehen habe. Ich ging einst im Traume mit ihr über die Heide — damals unter dem Sternschnuppenregen. Es sind dieselben Augen und besonders ihre Art, den Kopf zu tragen — wie merkwürdig ist das Leben!

Er hörte kaum, was sein Begleiter sagte, obwohl er sich aus mehreren Gründen außerordentlich für ihn interessierte.

Zwölftes Kapitel

D er Mann mit dem gelben Gesichte und den Mausaugen begann sogleich zu sprechen; er sprach hastig und nahezu ohne Pause, bis sie das Häuschen erreicht hatten. Er kicherte und hüstelte, während er sprach, und er sah Grau immerzu mit seinen blinzelnden Augen an. Aber jedesmal, wenn Grau ihm den Blick zuwandte, tat er, als suche er etwas im Schnee. Er kicherte, auch als Grau einmal im Felde ausglitt.

Vorhin hatte er mit gezwungener Keckheit gesprochen, nun aber sprach er mit unterwürfiger, fast demütiger Stimme, nach der Art vieler Männer, die ihr Benehmen vollständig ändern, sobald sie die Gesellschaft von Frauen verlassen.

„Sie erlauben wohl, daß ich Sie begleite?“ begann er und lüftete den spitzen Hut. „Ja, ich habe gehört, auf welche Weise der Herr mit dem Lehrer zusammengetroffen sind, man hat es mir erzählt. Sie haben den Lehrer natürlich nicht gekannt, sonst wären Sie wohl etwas vorsichtiger gewesen. Ich muß Ihnen leider sagen, daß man sich mit den Leuten hier in acht nehmen muß. Sogar gebildete Herren, Ärzte, Professoren, sie versprechen Ihnen das Blaue vom Himmel herunter und halten — nichts. Man kann hier Geld zusetzen, du große Güte!“

„Kennen Sie Herrn Lenz?“ fragte Grau.

„Ja, und ob ich ihn kenne. Jedermann kennt ihn. Er kommt auch zuweilen zu mir, mitten in der Nacht kommt er angeschlichen. Er darf sich ja in der Stadt nicht blicken lassen.“

„Er darf sich in der Stadt nicht sehen lassen? Was heißt das?“

Der junge Mann zog einen kleinen Zigarrenstummel aus der Tasche und steckte ihn in Brand. „Er hat den Stadtverweis, mein Herr!“ sagte er vergnügt lächelnd und paffte. „Auch seine Familie, seine Frau, seine Tochter, niemand darf die Stadt betreten.“

„Ja, was hat er denn Schreckliches getan?“ fragte Grau und blieb stehen.

Der junge Mann lachte meckernd. „Er hat,“ sagte er flüsternd und kicherte — „er hat sie durchgeprügelt! Die Polizeidiener zuerst und dann den Bürgermeister. Weil sie ihn entließen. Er war ja Lehrer hier in der Stadt.“

„Warum wurde er denn entlassen?“

„Oh, er machte Streiche. Er hat auch oft getrunken, mehr als er vertragen konnte. Einmal lag er am Morgen betrunken auf dem Marktplatze, gerade als die Sonne aufging. Ich muß lachen, wenn ich nur daran denke! Denn ich habe ihn liegen sehen, bevor noch jemand kam, und gewartet und gedacht: Was für ein Spaß wird das werden! Er lag so komisch da, er lag da, als ob er eben einen großen Sprung machen wollte, so lag er da. Ich dachte, das wird einen hübschen Spaß geben. Dann kamen die Leute, die Kinder kamen, die in die Schule gingen, Frauen, Männer, aber er lag da und schlief, er war nicht wach zu bekommen. Was ich gelacht habe!“

„Deshalb also wurde er entlassen?“

„Nein, nein. Damals unterrichtete er das Töchterchen des Bürgermeisters, deshalb wurde er nicht entlassen. Auch seine Frau, die lief zum Bürgermeister, flehte und winselte, und deshalb ließen sie es hingehen. Aber später. Er hatte so eigentümliche Einfälle und er machte Streiche über Streiche. Er sagte zu den Kindern: Heute ist keine Schule, es ist zu schönes Wetter, geht hinaus in den Wald. Das ist aber doch keine Schule, nicht wahr? Oder er hat ihnen keinen Unterricht gegeben, er hat ihnen tagelang Märchen erzählt. Aber das tollste, was er gemacht hat, sehen Sie, das hat ihm auch den Hals gebrochen. Ja, er ging also mit der Klasse spazieren, er hatte die Mädchenklasse, an einem sehr heißen Tag im Juni. Da kamen sie nun an einen Bach, es war sehr heiß, wie gesagt, und was meinen Sie nun, was er tat? Er sagte: Alle auskleiden! Nun, Sie können sich denken, das ging hui, hui, das kam den kleinen Mädchen gerade recht, sie kleideten sich aus und plätscherten alle dreißig im Bach herum. Er, Lenz, er saß dabei und lachte. Plötzlich aber kam der katholische Geistliche, der geistliche Rat — ein fetter — ein etwas korpulenter Herr — er kam — und so war es, der Lehrer mußte gehen. Aber hören Sie, er ging nicht, er ging nicht!“

„Er ging nicht?“

„Nein, er sagte es, er sagte es zu mir. Ich werde nicht gehen, sagte er, ich lasse es darauf ankommen. Ich werde morgen Schule halten und werde sie hinauswerfen, wenn sie kommen. Tue das, sagte ich, welch einen Spaß wird das geben, einen unbezahlbaren Spaß. Er sagte auch, daß der Bürgermeister sich ein wenig in acht nehmen solle, außerdem könne er Prügel fassen. Ja, tue es, tue es, sagte ich, das wird ganz unsagbar drollig werden. Du nimmst dich meiner Familie an, ja? Ja, sagte ich, du kannst ruhig sein. Und hören Sie, Herr, er tat es, er tat alles. Er hielt Schule und sie wollten ihn aus dem Schulhaus weisen, aber er prügelte die Polizeidiener durch, dann ging er ins Rathaus und prügelte den Bürgermeister durch — vor all den Schreibern —“

Der junge Mann lachte und hustete.

„Ich habe niemals mehr gelacht. Solch ein Mensch — er mußte dann sitzen, lange, lange Monate, er verlor seine Stellung, sein bißchen Vermögen, alles, alles — hähähä — nun treibt er sich in der Welt herum und seine Frau und seine Tochter sie sitzen hier. Wir wollen hoffen, daß der Herr ihn antreffen.“

Sie näherten sich dem Häuschen und Graus Herz begann eigentümlicherweise zu pochen.

„Sie hat keine Pension?“ fragte er. „Die Frau?“

„Pension? Aber wieso denn Pension? Woher?“

„Hm. Sie hat auch kein Vermögen?“

„Hahaha, nein. Vermögen, um Gottes willen —!“

„Sie ist also arm,“ sagte Grau leise zu sich selbst. „Wie sagten Sie? Sie glauben also nicht, daß wir Herrn Lenz antreffen werden?“ fügte er hinzu und blickte den Mann mit dem Spitzbart an.

Der Mann mit dem Spitzbart zuckte zusammen. „Nein,“ sagte er verwirrt, „ich glaube es nicht. Er bleibt immer nur da, bis ihn seine Frau zusammengeflickt hat, dann geht er wieder. Ich habe auch gehört, daß er in Weinberg in einer Wirtschaft alle Fenster eingeschlagen hat, nun wird ihm wohl der Boden zu heiß geworden sein. Vielleicht ist er da, wer weiß es? Er ist sehr amüsant und er kann deklamieren — was er doch alles im Kopfe hat! Er kann Ihnen ganze Theaterstücke vorspielen. Er hat mir oft die ganze Nacht hindurch vorgespielt.“

„Sie lieben es wohl, ihm zuzuhören?“ fragte Grau lächelnd.

„Warum?“

„Nun, ich meine nur!“ sagte Grau und lächelte.

„Ja, ich liebe es!“ antwortete der Mann mit dem Spitzbart und errötete ein wenig und blinzelte. „Er deklamiert oft die ganze Nacht bei mir, bis er zu lachen anfängt —“

„Zu lachen?“

„Ja, zuletzt lacht er stets fürchterlich, so daß Sie Angst bekommen — dann wird er gefährlich — hier sind wir!“ Er öffnete das Gartentürchen und ließ Grau eintreten. Man hörte keinen Laut hier außen, auch das Haus lag ohne jedes Zeichen von Leben. Eine ganz besondere Stille und Einsamkeit herrschte hier und auch der Wind, der leise um die Wände des Häuschens strich, schien ein besonderer Wind zu sein.

Der Mann mit dem gelben Gesicht klopfte an die Haustüre. Sie warteten und standen einander gegenüber.

Grau sah sich seinen Begleiter aufmerksam an. Eigentlich war das Gesicht nicht gelb, es spielte in allen Schattierungen von Gelb bis Grau, gegen die Schläfen zu ins Grünliche. Es war von tiefen Furchen durchzogen, die fächerartig von den Augenwinkeln ausgingen und sich hart um den Mund eingruben. Diese Furchen waren grau und es schien als sei Schmutz in ihnen. Der Bart am Kinn sprang vor wie ein Geißbart; seine Haare waren von unbestimmter Farbe, sie schienen feucht und klebend zu sein und waren grau an den Schläfen, obgleich der Mann die Dreißig kaum überschritten hatte. Seine Augen waren leicht entzündet, klein und neugierig bewegten sie sich in dem getrübten Weiß hin und her. Die Lider zwinkerten unaufhörlich.

Dieses Gesicht verriet keinen bestimmten Charakter; Schüchternheit, Keckheit, Demut und Hochmut, Habgier, Bosheit und Argwohn, alles konnte man in diesen Zügen finden; aber Grau entdeckte ein Paar schöngezeichneter Lippen, die sich zusammenzogen und gleichsam hinter dem dünnen Schnurrbart versteckten, der in feuchten, kurzen Büscheln über den Mund herabhing.

Ihre Blicke begegneten sich und plötzlich hörte der Mann mit dem Geißbart auf zu blinzeln; das Blut stieg ihm in die Wangen, als ob er tief erschrocken wäre, dann erbleichte er. Er griff hastig an den Hut und sagte mit kaum hörbarer Stimme: „Eisenhut!“

Grau reichte ihm die Hand. Eisenhuts Hand war feucht und schlaff.

Eisenhut begann wieder zu blinzeln. Er legte sein gelbes Gesicht in Falten zu einem Lächeln, so daß man seine schlechten braunen Zähne sah, und sagte: „Danke, danke, es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Er sprach hastig, ruckweise, und man hätte sagen können, auch seine Stimme blinzelte.

Die Türe öffnete sich lautlos, und ein schmächtiges Mädchen, eine Hornbrille auf der großen Nase, stand im Rahmen.

Dreizehntes Kapitel

G uten Tag, Mütterchen!“ sagte Eisenhut zu dem schmächtigen Mädchen, das die Türe öffnete. Er deutete auf Grau und fügte geheimnisvoll hinzu: „Hier ist ein Herr vom Gericht, der etwas von Ihnen will!“

Mütterchen krümmte sich zusammen und lugte scheu durch die Brille, aber sie versuchte zu lächeln.

„Keineswegs!“ rief Grau aus und zog den Hut und trat näher. „Herr Eisenhut scherzt. Ich komme lediglich —“

Eisenhut lachte. „Nein,“ unterbrach er Grau, „haben Sie keine Angst, Mütterchen, es ist ein Herr, der Sie besuchen will, Herr Vikar Grau.“

Grau verbeugte sich und sagte, daß er so glücklich gewesen sei, Herrn Lenz kennen zu lernen, einen ausgezeichneten und interessanten Mann, Herr Lenz habe ihn zu einem Besuche aufgefordert.

Mütterchen öffnete den welken Mund, ging ein paar kleine Schritte rückwärts und verbeugte sich schüchtern und mädchenhaft. Sie war klein, schmal, hüftenlos wie ein Mädchen. Mit den pechschwarzen Haaren und der gebogenen Nase sah sie wie eine kleine zusammengeschrumpfte Jüdin aus. Sie starrte mit großen fragenden Augen, die wie bestaubter schwarzer Samt aussahen, zu Grau empor, dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Sie haben ihn gesehen?“ fragte sie leise und singend, und ihre Stimme zitterte. „Er ist nicht hier!“ Sie schüttelte traurig den Kopf, dann fügte sie ganz leise hinzu: „Er wird noch zu tun haben.“ Sie versuchte zu lächeln.

„Ja, er wird noch zu tun haben, auf ein Haar!“ rief Eisenhut boshaft aus und ging hinein ins Haus.

Mütterchen stand ratlos, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie zog den verblichenen türkischen Schal enger um die schmalen Schultern und blickte Grau hilflos an.

Aber Grau ging nicht.

Er sah Mütterchen an, die Türe, das Haus, er blickte auf die matten dunkeln Fenster, er wandte den Blick wiederum auf Mütterchen.

„Wie fatal, wie fatal!“ sagte er, und es hatte den Anschein als wolle er gehen. Aber er ging nicht. Er sann nach, errötete und begann plötzlich hastig zu sprechen. Ja, wie unangenehm es ihm doch wäre, den Herren nicht anzutreffen. Er habe sich so darauf gefreut mit ihm zu sprechen. Und vieles mehr.

„Könnte ich nicht auf ihn warten?“

„Warten?“

„Ja, warten, auf ihn warten!“ wiederholte Grau und sah aus, als horche er in sich hinein. Er blickte wiederum auf das Haus, die Fenster, und fügte hinzu: „Wäre es nicht möglich, daß er gerade jetzt käme? Aber natürlich, im Falle ich stören sollte? Gewiß erscheine ich Ihnen zudringlich, Frau Lenz.“

„Stören?“ Mütterchen lächelte und schüttelte den Kopf. „Der Herr stören keineswegs,“ flüsterte sie, „wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?“ Sie trat zurück und forderte Grau mit einer linkischen, rührenden Verbeugung auf einzutreten.

„Die Ehrung ist auf meiner Seite!“ sagte Grau freudig und verbeugte sich ehrerbietig vor Mütterchen. „Wie liebenswürdig von Ihnen, Frau Lenz!“

Mütterchen öffnete eine Türe zur rechten Hand. Das erste, was Grau sah, als er in das von verbrauchter warmer Luft erfüllte Zimmer eintrat, war der am Boden hinhuschende Schein eines Feuers und zwei glänzende, große Augen in einem fahlen, mageren Gesicht. Ein krankes, zwerghaftes Mädchen saß in einem Lehnstuhle, eine Decke über den Knien. Sie heftete unausgesetzt die großen Augen mit einem forschenden, starren Blick auf ihn. Das also ist Susanna, dachte Grau, von der der Lehrer sprach. Unwillkürlich wurde er kleiner, er duckte sich und sah nun nicht mehr so heiter aus.

„Hier ist ein Herr, Susanna,“ sagte Mütterchen leise. „Herr —?“

„Grau!“ Grau lächelte. Er ging auf die Kranke zu und begrüßte sie. Sie legte ihre kleine gelbe Hand in die seinige, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihm zu wenden. Sie machte auch einen Versuch aufzustehen, aber Grau erlaubte es nicht.

„Wie schön!“ sagte Susanna. „Seien Sie herzlich willkommen. Es ist so selten, daß uns jemand besucht, so daß es mir stets wie ein Traum erscheint. Ach, Mütterchen, gib dem Herrn einen Stuhl.“ Graus Herz begann zu pochen, als Susanna zu sprechen anfing.

Susanna sprach mit einer hohen dünnen Stimme und sehr leise. Wie Mütterchen so sang auch sie beim Sprechen ein wenig, aber ihre Stimme schien gleichsam durch eine Wand zu kommen. Ihre Augen aber glänzten wie schwarze Spiegel, während sie sprach, und sie sahen ihn unausgesetzt an. Die Lider schienen nicht zu zucken. Sie sah gealtert aus und doch sah man, daß sie jung und noch nicht zwanzig Jahre alt war. Sie hatte ein Gesicht wie ein seltsamer Vogel. Ihr Hals war dünn und gelb und zwei schmale Sehnen hielten den kleinen, abgemagerten, vorgebeugten Kopf. Die Augen lagen tief und füllten die ganzen Augenhöhlen aus. Die Haare waren schwarz und glatt über der niedrigen Stirne gescheitelt, zwei dünne, straffgeflochtene Zöpfchen hingen über die Ohren herab, in denen sie Ringe mit langen silbernen Quasten trug.

Grau bestellte die Grüße, die ihm die Mädchen aufgetragen hatten, und erzählte, welcher Zufall ihn hierher bringe.

„Die Schwestern werden Sie morgen besuchen,“ fügte er hinzu.

Susanna lächelte ein wenig. Es war ein kleines, glückliches Lächeln, das nur mühsam den langen Weg vom Herzen bis zu den Lippen zu finden schien. „Danke!“ sagte sie und blickte Grau an. „Ich habe auch schon von Ihnen gehört, Herr Grau,“ fügte sie hinzu, „und ich habe gewünscht Sie zu sehen — und nun sind Sie hier. — Wie eigentümlich ist doch das? Aber noch merkwürdiger ist es, daß ich mir gedacht habe, das muß Herr Grau sein, der mit Herrn Eisenhut über die Wiese kommt. Nicht wahr? Ich fühlte es. Ich weiß nicht warum.“ Sie sah Grau abermals aufmerksam an und drehte den Kopf etwas zur Seite, wie um besser seine Augen sehen zu können.

„Das ist eigentümlich!“ sagte Grau lächelnd. „Und doch hat jeder Mensch das so und so oft erlebt. Zum Beispiel als ich hier ankam, sah ich im Friedhof einen Herrn und als ich später von Herrn Eisenhut reden hörte, wußte ich, daß er jener Herr sein müsse, er und kein anderer.“

„Er war es auch?“

„Ja.“

„Merkwürdig. Vielen Dank für die Grüße, Herr Grau. Ich sah sie alle fünf über die Brücke gehen. Es waren die Schwestern Sinding von der Buchhandlung, sie sind Zwillinge, Klara und Maria Sinding. Sie sollten sie kennen, so gut sind sie, so treu und schlicht. Und dann war ja auch die andere dabei, nicht wahr?“ Susanna blickte fragend in Graus Augen. „Haben Sie die andere gesehen?“

„Fräulein von Hennenbach?“

„Ja, ja, ja! Haben Sie sie genau angesehen? Wie hat Sie Ihnen gefallen?“ Sie lächelte.

Sie war so gelb, so wächsern, so häßlich mit ihrer Hakennase, den eingefallenen Wangen und der niedern Stirn, aber sobald sie lächelte, sah man all das nicht mehr, man sah nur das Lächeln; es verzauberte ihre Wangen, daß sie jung und süß wurden, ihre Lippen kräuselten sich und enthüllten eine Reihe schneeweißer Zähne, die Augenbrauen zogen sich ein wenig an der Nasenwurzel in die Höhe, der Glanz ihrer Augen veränderte sich. Wenn sie darauf sprach, so war das Lächeln gleichsam in ihrer Stimme, sie wurde sanfter und singender. Mit dieser lächelnden Stimme wiederholte sie: „Nun, wie hat sie Ihnen gefallen?“

„Wie schön sie doch ist!“ sagte Grau und lächelte ebenfalls.

Susanna nickte ein paarmal. „Ja, wie schön sie doch ist!“ sagte sie. „Sie ist berückend schön, ja! Wenn die zu mir kommt — und sie scheut sich nicht zuweilen zu mir zu kommen, so stolz sie auch ist, wir sind Schulfreundinnen, müssen Sie wissen — wenn sie nun eintritt in das kleine Zimmer hier, so ist es mir, als wäre es Mai, Mai, und ich fühle mich gesund und stark und so reich werde ich plötzlich im Herzen. So schön ist sie! Ich liebe sie! Wie stolz sie geht! Ganz anders wie andere Menschen! Wie langsam sie den Kopf bewegt! Ich liebe es schöne Menschen zu sehen, ich liebe es, man fühlt sich selbst schön bei ihrem Anblick. Ich liebe Adele besonders. Wenn ich ein Mann wäre, so würde ich nicht eher ruhen, als bis sie mich wiederliebte. Nun es waren ja auch alle Männer der Stadt in sie verliebt!“

Grau lächelte. „Jetzt nicht mehr?“ fragte er.

„Freilich, aber sie hüten sich wohl es laut werden zu lassen,“ fuhr sie geheimnistuerisch fort, „denn sie hat sich über alle, alle lustig gemacht. Sie hat in Gesellschaft wieder erzählt, was sie zu ihr sagten — nun, das war ja vielleicht nicht recht von ihr — sie haben es alle wieder hören müssen, und dann — dann sagen sie auch, sie lege es darauf an, jeden Mann an sich zu ziehen — aber das ist ja immer so — auch er“ — sie flüsterte und deutete auf die Türe — „auch er, Herr Eisenhut, ist verliebt in sie, auch er!“

„Also deshalb!“ sagte Grau, und Susanna sah ihn fragend an.

„Susanna!“ sagte Mütterchen. „Wenn er es hört!“ Sie warf einen ängstlichen, argwöhnischen Blick auf Grau.

Susanna lachte leise und hustete. „Wie sollte er es hören können, Mütterchen, er kann es nicht hören und wenn er das Ohr an die Türe legt — Herr Grau wird ihm nichts verraten, du solltest dir deine Leute doch ansehen. Aber der Herr steht ja immer noch, Mütterchen, siehst du es nicht? Ach, nicht diesen Stuhl, mein Herr, er ist nicht fest auf den Beinen.“

Mütterchen hatte sich abgemüht einen großen Lehnsessel herbeizuschleppen und wartete bis Grau Platz nehmen wolle. Grau dankte und ließ sich nieder. Der Stuhl war alt und knarrte, einen Augenblick lang glaubte Grau bis auf den Erdboden zu sinken. Aber schließlich saß er und es sah aus, als ob er nicht tiefer sinken sollte. Nun stand Mütterchen wieder wartend in der Ecke; in das Tuch gehüllt, mit der Brille sah sie wie eine Eule aus.

Susanna lächelte, blickte auf ihre gelben kleinen Hände und blickte wieder auf Grau.

„Aber das ist es ja nicht allein, daß sie so schön ist!“ fuhr sie fort. „Es ist noch etwas anderes.“

„Sie ist gewiß sehr eigentümlich.“

Ja, ob er das gefunden habe?

„Ich glaube, man kann es recht gut an ihren Augen sehen,“ sagte Grau, der Susanna unausgesetzt in die Augen blickte.

„Nicht wahr! Ja, sie ist so eigentümlich. Sie ist wie eine Fremde und hat eine ganz andere Seele als wir andern alle. Es ist so schwer sie zu kennen, und niemals kennt man sie ganz, denn immer kommt etwas Neues zum Vorschein. Man kann nie wissen, was sie fühlt. Sie ist so verschlossen. Sie scheint sich weder zu freuen, noch scheint sie zu leiden, ja manchmal könnte man glauben, sie habe gar kein Herz. Aber sie ist ja nichts als Güte, nur ist sie ganz anders gut als andere Menschen. Sie ist auch sehr mutig, unerschrocken und kaltblütig. Hören Sie, als es gebrannt hat im Schloß — Herr Grau haben wohl gehört von dem Brande —“

„Ich habe die Brandstätte gesehen.“

„— was denken Sie, was sie tat? Sie ging beim ersten Alarm zu ihrer Mutter ins Schlafzimmer und gab ihr ein Schlafpulver in Zuckerwasser. Denn die Mutter Adeles ist leidend und wäre wohl vor Schrecken gestorben. Die Mutter hat es selbst den Schwestern Sinding erzählt. Ist das nicht bewundernswert?“

„Solch ein Gedanke!“ sagte Grau. „Wie rasch sie denkt!“

„Ja, so rasch denkt sie! Der Gärtner bemerkte das Feuer zuerst, er ging leise zu den Leuten und weckte sie, auch Adele. Sofort ging sie nun zu ihrer Mutter. Auch dann, während des Feuers, blieb sie so ruhig und gefaßt und gab an, was man tun sollte. Alle Leute hatten den Kopf verloren, auch die Feuerwehrmänner. Es brennt so selten hier, das ist der Grund.“

„Wann war denn der Brand?“ fragte Grau.

„Mütterchen, wann war es wohl?“

Mütterchen sagte: „Mitte August!“

„Und wie entstand das Feuer? Es hat ja einen ganzen Flügel zerstört, nicht wahr?“

Das wisse niemand. Susanna schüttelte den Kopf. „Niemand weiß es,“ sagte sie. „Ja, es hat einen ganzen Flügel zerstört und gerade den, der nicht bewohnt war. Kein Mensch wohnte darin, kein Dienstbote, niemand.“

„Welch ein Glück!“

„Ja, nicht wahr! Man hat wochenlang von nichts anderem gesprochen. Vielleicht war es ein Racheakt. Aber man weiß es nicht. Sie dachten an ein Dienstmädchen, das nicht richtig im Kopfe ist und das die Herrschaft entließ. Aber dieses Dienstmädchen war zu einer Hochzeit verreist, also konnte auch sie es nicht getan haben. Das Feuer muß von selbst entstanden sein.“

„Von selbst?“ Aber ein Feuer könne doch nicht von selbst entstehen? Grau schüttelte den Kopf.

„Doch, ganz von selbst! Durch Wolle oder Vorhänge oder irgend etwas. Es war furchtbar für die Familie. Denken Sie nur, all die alten kostbaren Möbel und Bilder, die verbrannt sind. Aber das ist es nicht allein. Sie müssen wissen, daß die Hennenbachs sich seit Jahren in Schwierigkeiten befinden. Oh, denken Sie doch, solch ein feines Haus! Der Freiherr war Major und ist ein Leben großen Stils gewöhnt, der Sohn, was er Geld brauchen mag —“

„Der Sohn?“ unterbrach sie Grau.

„Ja,“ erwiderte Susanna ein wenig überrascht. „Kennen Sie ihn?“

„Ich habe ihn ganz flüchtig kennen gelernt,“ antwortete Grau. „Was ist das für ein Mensch, ich interessiere mich für ihn.“

„Das? Ach, er ist ein sehr liebenswürdiger junger Mann, aber ein wenig — ein wenig —“

Grau lächelte. „Nun?“

Mütterchen in der Ecke sagte: „Er ist ein Leichtfuß!“

Susanna lachte leise: „Aber wie kannst du das doch behaupten, Mütterchen! Nun, ja, er ist ein wenig leichtsinnig, Herr Grau. Und er ist verschwenderisch. Die ganze Familie gibt das Geld leicht aus. Auch Adele braucht viel Geld, ja, sie wirft das Geld zum Fenster hinaus, kann ich Ihnen sagen. Und nun brach das Feuer aus! Sie waren hoch versichert.“

Susanna blickte Grau lange an. „Denken Sie, wie böse die Menschen sein können! Sie wissen, was ich meine!“ Susanna ballte die Fäuste.

„Ja,“ sagte Grau; „es ist übrigens recht gut möglich, daß das Feuer von selbst entstanden ist,“ fügte er hinzu, „durch Wolle, Späne oder irgend etwas.“

Susanna lächelte. „Aber hören Sie, es war doch ein Glück dabei. Ja, ein großes Glück. Nämlich er, der Major, er wollte keine Versicherung mehr bezahlen. Auch die Freifrau nicht. Der Beamte der Gesellschaft unterhandelte mit ihnen und da warf sich Adele ins Zeug und sagte, man müsse versichern. Die Freifrau hat es den Sindings-Mädchen erzählt. Wie gut, daß wir Adele nachgegeben haben, sagte sie.“

„Das war allerdings Glück im Unglück!“ sagte Grau.

„Aber ich wollte ja von Adele erzählen, wie eigentümlich sie ist,“ fuhr Susanna fort. „Denken Sie, sie hat keine Miene gerührt, als das Feuer ausbrach und niemals darüber gesprochen. Sie war der einzige Mensch in der Stadt, der nicht davon sprach, es war gerade, als ob nichts geschehen wäre. Auch den glücklichen Umstand, daß gerade sie es war, die auf die Erneuerung der Versicherung drang, ließ sie unerwähnt, zu keinem Menschen sprach sie davon. Auch als sie sich verlobte — sie hat sich mit einem Baron Kirchgang verlobt, aus einer sehr reichen und feinen Familie — ja, da hat sie ebenfalls keine Miene gerührt. So eigentümlich ist sie. Manchmal scheint es als ob sie aus einer andern Welt sei.“

Grau blickte Susanna an. „Vielleicht ist sie es auch, nicht wahr?“

„Wie?“

„Vielleicht ist sie aus einer andern Welt,“ sagte Grau mit eigentümlichen Lächeln.

„Ich verstehe nicht?“ sagte Susanna gespannt.

„Nun, vielleicht ist sie aus einer andern Welt als der Erde. Weshalb sollte das nicht möglich sein?“

„Ja, wieso sollte es möglich sein?“ fragte sie.

Grau zuckte die Achseln. „Ja, wieso sollte es nicht möglich sein?“ fragte er.

Susanna sah ihn lange an, sie lächelte verwundert, dann schüttelte sie leise den Kopf und wandte den Blick dem Fenster zu. Der Schnee schimmerte auf den Feldern.

„Ich werde jetzt mit Herrn Eisenhut reden, Susanna,“ sagte Mütterchen leise und wandte sich langsam der Küchentüre zu.

„Ja, tue das. Stelle es ihm vor, Mütterchen, nicht wahr? Du weißt ja, er hatte noch immer ein Einsehen.“

„Ja,“ sagte Mütterchen kleinlaut. Dann wandte sie sich an Grau. „Der Herr müssen mich einen Augen — blick ent — schuldigen —“

„Mütterchen ist sehr scheu,“ flüsterte Susanna. „Sie kann nicht sprechen, aber sie fühlt. Ich möchte Sie auch bitten, nicht vom Vater zu sprechen in ihrer Gegenwart. Sie leidet so. Er war hier, ich weiß es. Ich sah ihn zum Fenster hereinblicken, in der Nacht, und am Morgen, da sah ich die Fußspuren im Schnee. Mütterchen hat nichts gemerkt, das ist gut. Sie geht umher und denkt an ihn, aber sie spricht nichts. Manchmal, wenn es stürmt, beginnt sie zu weinen. Es ist solch schlimmes Wetter, sagt sie. Sonst nichts. Aber ich weiß, daß sie meint, Vater könnte draußen sein. So ist sie. Manchmal — ach, nicht oft — vielleicht zwei-, dreimal im Jahr, da sagt sie: ‚Wenn er doch einen Brief schriebe!‘ Dann kann sie nicht mehr schweigen, dann muß sie von ihm sprechen. Vater kommt so selten — so selten! Er hat eine unruhige Seele, aber er ist der allerbeste Mensch von der Welt.“ Sie hielt inne und lauschte gegen die Türe, hinter der man Stimmen hörte, sie zitterte ein wenig, dann sagte sie: „Ich hoffe, Sie werden noch ein Weilchen dableiben, Herr Grau, nicht wahr?“

„Mit dem größten Vergnügen,“ sagte Grau. „Ich liebe es, Ihnen zuzuhören. Aber ich muß meinen Mantel ablegen dürfen.“

„Natürlich, natürlich! Oh, denken Sie, wie ich mich gesehnt habe, mit jemand zu sprechen.“

„Verzeihen Sie einen Augenblick,“ unterbrach sie Grau, „da wir vorhin von dem jungen Herrn von Hennenbach sprachen — er ist wohl Student?“

„Ja. Weshalb?“

Grau lächelte. „Ich kann nicht verstehen, daß er hier ist, wenn er doch Student ist. Er lebt wohl immer hier bei seinen Eltern?“

„Ja. Er ist seit zwei Jahren an der Universität eingetragen, aber er war noch nie dort.“

„So, so. Er lebt also immer hier?“

„Ja, ja. Ich verstehe nicht —“

„Oh, bitte, es ist nur eine kleine Neugierde — aber sprechen Sie doch nun, bitte, Fräulein Lenz!“

Susanna lächelte, sah Grau an und fuhr fort: „Ja, ich freue mich, sprechen zu können. Ich führe zuweilen lange Gespräche mit mir selbst, ich spreche zu meiner Seele und meine Seele spricht zu mir. Und nun weiß ich ja nicht, wovon ich anfangen soll. Und denken Sie, wie ich mich gesehnt habe, einen fremden Menschen, einen neuen Menschen zu sehen!“

„Warum gerade das?“ Grau rückte den Stuhl näher heran.

Susanna kicherte. „Sie werden vielleicht lachen!“ sagte sie mit hoher Stimme. „Aber, nein, Sie werden es wohl verstehen. Ich liebe es, ein neues Gesicht zu sehen. Es ist mir fremd und gibt mir zu denken. Und ein neuer Mensch, hören Sie doch, was hat er alles gesehen und gehört! Die Menschen, die in unser Haus kommen, was haben denn die gesehen? Sie haben die Stadt gesehen, den Wald, die Dörfer ringsumher, alle Gesichter, die auch ich gesehen habe, alles, was sie gesehen haben, das kenne auch ich. Aber ein neuer, ein fremder Mensch! Er hat so viele Städte gesehen, ferne Städte mit wunderlichen Häusern und Türmen, und obwohl ich ja das nicht sehen kann, so ist es mir doch, als brächte er all das mit. Er hat fremde Menschen gesehen und mit ihnen gesprochen, all das scheine ich auch zu erleben, wenn er zu mir kommt. Er hat gesehen, wie sie kämpfen da draußen um all die neuen Ideen — all das fühle ich. Er hat Musik gehört, große Werke, große Künstler, das alles bringt er mit zu mir herein. Er ist ein Erlebnis, denn all die Zeitlang, die ich nun hier sitze oder liege — es ist ein Jahr und noch ein halbes dazu — habe ich nur sechs verschiedene Menschen hier bei mir gesehen — ja, sechs waren es.“

„Wie lange sind Sie denn schon leidend, Fräulein Lenz?“

„Es ist nun,“ sagte Susanna und blickte in die Weite, „es ist nun vier Jahre. Aber erst die letzten Jahre ist es so schlecht, daß ich nur im Sommer noch ein wenig im Freien gehen kann.“ Sie lächelte. „Trotzdem vergeht die Zeit sehr rasch für mich. Ja, mein Gott, wo kommen doch die Tage hin? Es ist so selten, daß ich mich langweile —“

„Wie gut das ist! Das ist gut!“ unterbrach sie Grau.

„So selten. Nur wenn es in meinem Kopfe leer wird, dann kann es geschehen, daß ich die Röschen der Tapete zähle, oder die Tassen im Glasschrank, oder ausrechne wieviele Fingerbreiten wohl von hier zur Türschwelle sein mögen.“

„Jeder Mensch hat solche Augenblicke!“

„Ja, das mag sein. Es ist selten. Zuweilen ist es mir erlaubt zu lesen. Die Sindings bringen mir Bücher und Adele, die alle Bücher hat, die es nur gibt. Da lese ich dann. Diese Ideen! Ich liebe die Ideen, müssen sie wissen, die neuen! Ja, wie ganz anders er doch die Welt betrachtet, denke ich. Ich liebe die Dichter! Siehst du denn alle Menschen, von denen er spricht, sage ich zu mir. Siehst du sie? Manchmal schüttle ich den Kopf: Nein, sage ich, das ist nicht wahr. Aber ich liebe die Dichter! Ich liebe die sanften, die zuweilen in den Büchern zu singen anfangen, so daß sie sagen: Ja, wie schön, wie schön ist das doch! Ich liebe die grausamen, die von wilden Herzen reden. Ich sitze und denke darüber nach, all das ist so fern, so fremd, aber ich denke, von jeder dieser Personen hast du ein kleines Etwas, von jeder, sie mögen schlecht oder gut sein.“

„Wie schön Sie das sagten!“ sagte Grau bewundernd und nickte.

Susanna fuhr fort: „Es ist schade, daß es mir verboten ist, viel zu lesen, denn sonst — ich würde ja Tag und Nacht lesen, ich tue alles leidenschaftlich, was ich tue. Aber dann kann ich ja dasitzen und zum Fenster hinaussehen. Mütterchen hat den Stuhl so gestellt, daß ich zur Brücke sehen kann. Es kann nichts in die Stadt gehen, es kann nichts aus der Stadt kommen, ohne daß ich es sehe. Ist das nicht herrlich! Es ist nun so schön und spannend, dazusitzen und zu warten bis etwas kommt. Lange Zeit kann verstreichen, aber plötzlich — sagen wir — taucht der nickende Kopf eines Pferdes auf. Ein Pferd! sage ich zu mir, und ich sehe das Pferd noch, wenn es schon weit fort ist. Aber dann kommt eine Bäuerin mit einem Korbe auf dem Rücken, oder es kommen Kinder. Ich denke, werden sie ins Wasser spucken oder nicht. Aber da haben Sie sie schon an der Brüstung — immer sehen Kinder interessante Dinge im Wasser — und sie müssen hinunterspucken. Auch ich mußte es tun — auch Sie?“

Grau lachte. „Ja,“ sagte er.

Susanna fuhr fort: „Dann kommt die gelbe Postkutsche. Sie kommt in der Frühe und kehrt spät am Nachmittage zurück. Ich freue mich, so oft ich sie sehe, denn sie kommt regelmäßig wie ein Freund. Es scheint auch, als sei ich persönlich mit ihr verknüpft, sie ist wie ein Mensch! Ich muß lachen, wenn ich sie sehe, und manchmal winke ich ihr auch. Abends kann ich sie jetzt nicht sehen im Winter, aber ich sehe, wie ein kleines Licht über die Brücke kriecht. Dann sehe ich den Schnee. Er schmiegt sich wie heute, er ist wie Sand, wenn es kalt ist — er glänzt, wenn es getaut hat und Frost darauf folgte. Er bewegt sich, wenn der Wind weht, und manchmal da sieht es aus als tolle ein närrischer weißer Pudel im Felde herum. Dann sehe ich die Wolken. Sie können mich froh und leicht machen, sie können machen, daß mein Blut schneller läuft, daß mein Herz stockt, und es gibt solche, vor denen ich mich leicht verneige, so drohend stehen sie da. Dann sehe ich die Pappeln an der Brücke. Sie sehen jetzt wie Besen aus, aber wenn es stürmt, so flattern sie wie Mähnen, und sie scheinen fürchterliche Angst zu haben. Fast immer sitzt eine Krähe dort oben auf der Spitze, sie sitzt und lugt aus und plötzlich fliegt sie fort. Aber sofort ist eine andere da, die ganz genau aussieht wie die erste, man könnte glauben, es sei immer die gleiche. Wenn es dunkel wird, warte ich auf den ersten Stern. Ich warte auf den Mond. Sie sehen, so vergeht die Zeit, selbst im Winter gibt es so vieles zu sehen. Aber dann werde ich oft müde und muß die Augen schließen, und wissen Sie, was dann geschieht?“

„Dann träumen Sie!“

„Ja, dann träume ich.“

„Was träumen Sie denn?“

Mannigfacher Art waren die Träume Susannas. Am liebsten aber träumte sie Musik. Ja, wenn sie nicht müde war, da träumte sie von Menschen; wie sie sprechen und denken und handeln, wie wunderlich sie sind; aber wenn sie zu müde dazu war, so träumte sie Musik.

„Ich würde zu gern hören, in welcher Weise Sie das tun, Fräulein Lenz. Ich bin etwas neugierig, ich muß es gestehen. Aber ich werde mich gewiß revanchieren, ich verspreche es Ihnen. Ich habe sehr viel erlebt und gesehen und das alles werde ich Ihnen erzählen. Aber vorläufig ist die Reihe an Ihnen.“

Susanna zögerte eine Weile. Sie hatte gesprochen und gesprochen, wie es oft Menschen tun, die lange allein gewesen sind mit ihren Gedanken. Nun erinnerte sie sich plötzlich, daß Grau ein Fremder war. Sie lächelte, aber Grau verstand es, ihr zuzureden.

Susanna blickte lange zur Seite, dann fuhr sie fort: „Es kann eine Abendwolke sein, die über den Himmel zieht und singt. Oder es kann sein — aber Sie werden es besser verstehen: Zuerst, da ist es eine kleine Melodie, das kleine Lied eines kleinen Vogels im Walde. Das ist die Flöte! Und es ist ganz leise. Es ist der kleine Vogel, der singt, und sein Lied schmeichelt den Bäumen. Sie beginnen sich zu wiegen und nun saust die Melodie des kleinen Vogels im ganzen weiten Walde. Das sind die Violinen! Sie wiederholen, sie verändern die Melodie des kleinen Vogels, aber sie hören immer den kleinen Vogel singen. Plötzlich ist es wie ein Schreck, wie eine Warnung, das ist die Klarinette, die warnt, das ist die Trompete, die mit einem Stoß den Schreck hervorruft. Nun kommt der Sturm, die Pauken und die Baßgeigen, er jagt daher, der Wald braust und wiederholt klagend und furchtsam das Lied des kleinen Vogels. Der aber ist ganz still. Der Sturm greift den Wald an, um den Vogel zu vernichten, aber der Wald verteidigt ihn. Der Sturm und der Wald kämpfen miteinander. Sie hören nur den kleinen Vogel lachen, denn er fürchtet sich nicht, er verspottet den Sturm. Das macht den Sturm rasend, er wütet gegen den Wald, aber endlich macht er sich grollend davon und die Bäume wiegen sich und sie hören den kleinen Vogel wieder wie am Anfang. — So ähnlich ist es, wenn ich Musik träume. Haha, ich kann es ja nicht in Worten wiedergeben — aber so ähnlich ist es, Sie müssen es sich eben ausmalen.“

Grau zitterte. Ein eigentümliches Zittern machte seinen ganzen Körper erbeben.

„Sie frieren?“ sagte Susanna und richtete sich auf.

Grau gab sich Mühe gegen das Zittern anzukämpfen, aber es half nichts. „Nein,“ sagte er und lächelte, „ich friere nicht. Keineswegs. Ich hatte einmal Fieber, ich kam einem Fieberkranken zu nahe und daher rührt das Zittern. Seien Sie ganz unbesorgt und sprechen Sie ruhig weiter. Ich habe die Musik gehört, Fräulein Lenz, ich habe alle Instrumente gehört, so gut haben Sie das beschrieben! Welche Melodie aber hat der kleine Vogel gesungen? Ich habe mir eine fröhliche, ein wenig kecke Melodie gedacht.“

„Fröhlich und ein wenig keck, ja. Es war ja nur ein Beispiel, weil Sie es wissen wollten. Es kann auch sein, daß er traurig singt und es regnet, die Regentropfen singen dieselbe traurige Melodie, die Blätter, der Wind. Es muß auch nicht gerade ein Vogel sein, es kann ein junges Mädchen sein, das man in einen schönen Garten eingeschlossen hat und das in der Sonne geht und singt.“

„Warum muß das Mädchen gerade eingeschlossen sein?“

„Das weiß ich nicht. Aber ich fühle es so. Es kann auch das Meer sein, das singt, oder Grotten oder eine Linde, in deren Zweigen Tausende von Vögeln hüpfen.“

Grau schüttelte langsam den Kopf und Susanna sah ihn fragend an.

„Nun haben Sie sich verraten, Fräulein Lenz,“ sagte er, „Sie sind ja ganz außerordentlich für Musik begabt. Sie komponieren ja im Kopfe!“

Susanna lachte leise und errötete.

„Haben Sie auch schon als Kind solche Träume gehabt?“

Ja, da hatte Susanna gehört, daß die Glocken nicht einfach läuten, sondern ein Lied singen, auch das Wasser, das man in einen Krug laufen ließ, es sang.

„Da haben wir es!“ Grau lachte. „Sie müssen Musik von Grund auf studieren. Spielen Sie ein Instrument? Nein? Das schadet nichts; Sie müssen unbedingt ein Piano haben!“

Susanna hörte ihm erstaunt zu, sie sah froh aus und sie lächelte und sagte mit hoher Stimme: „Ich kann aber doch nicht spielen!“

„Das? Was das anbelangt — da seien Sie ganz außer Sorge. Sie werden es sehr schnell lernen. Ich habe Ihre Hände betrachtet, die Glieder der Finger sind so fein, so fein und voll nervöser Kraft, ja, schön sind Ihre Hände, Fräulein Lenz. Oh, vergeben Sie mir, wenn das zu kühn ist. Es fällt mir natürlich gar nicht ein, Ihnen Schmeicheleien zu sagen, weder Ihnen noch sonst jemandem, nein, aber wenn etwas schön ist, warum soll ich es nicht beim Namen nennen — nicht wahr? Ja, Sie haben Hände zum Klavierspielen, in einem Vierteljahr werden Sie schon ganz prächtig spielen — nach einem Jahr oder zwei Jahren aber ausgezeichnet. Ich erbiete mich, Ihnen Unterricht zu geben. Meine Kenntnisse sind gering, aber für den Anfang, da kann ich schon zu gebrauchen sein, später, da wird sich ja alles finden —“

Susanna hörte ihm zu und lächelte. Sie erwiderte nichts darauf, aber ihr Blick wurde plötzlich düster. Dieser Blick sagte: Ja, was spricht er denn von Jahren und Jahren, sieht er denn nicht, wie es um mich steht?

Dann sagte sie leise: „Sie sind gut, Herr Grau. Zuweilen da blicken Sie so streng, aber Ihre Augen sehen immer gütig aus. Ich habe gehört, wie tatkräftig Sie sich der alten unglücklichen Frau Sammet angenommen haben — ich —“

Aber davon wollte Grau nichts wissen. Er lachte und sagte: „Das ist mein Privatvergnügen. Es macht mir Freude, das ist es. Ich habe ja im Grunde genommen nichts für die Arme getan. Eine Kollekte, das war alles. Habe ich mit dieser alten Frau gelitten, habe ich sie etwa an die Brust gedrückt, ihren Scheitel, ihre Wangen gestreichelt, ihre Stirn geküßt, hat man etwas derartiges etwa erzählt? Wie? — Habe ich ihr Handreichungen getan, da sie vor Schmerz nicht wußte wo aus und wo ein? Nein, all das habe ich nicht getan. Leider nicht. Es ist also nicht richtig, was Sie sagen. Ein Dame hier hat mir gesagt, ich hätte bei der Beerdigung schön gesprochen. Ich habe mich geschämt. Schön! Ach nein, schlecht, ein paar armselige Worte habe ich gesagt und die Scheu vor all den Zuhörern war größer als mein Mitgefühl mit der unglücklichen Mutter. Sie sind also im Irrtum —“

Da kam Mütterchen ins Zimmer. Susanna wurde unruhig und sagte: „Es muß heute schön draußen sein, der Schnee ist so weich.“

Mütterchen sah niedergeschlagen und entmutigt aus. Sie hatte feuchte Augen. „Er hat nein gesagt!“ flüsterte sie Susanna zu. Sie stellte eine Tasse neben Grau.

„Nein?“ jagte Susanna erschrocken. Sie blickte zu Boden, errötete, dann setzte sie hinzu, indem sie Mütterchens Hand streichelte: „Ach, Mütterchen, du mußt den Mut nicht sinken lassen. Du weißt, er will gebeten sein, er ließ sich stets nach einigen Tagen erweichen.“

„Ja,“ hauchte Mütterchen hoffnungslos und goß Kaffee in die Tasse.

„Ja, was tun Sie denn!“ schrie Grau erschrocken und sprang auf.

„Ein Täßchen Kaffee, wenn der Herr mir die Ehre antun wollen.“

Grau sah Mütterchen lange an, seine Augen glänzten. „Wie liebenswürdig von Ihnen,“ sagte er und drückte Mütterchen die Hand. „Ich breche in Ihr Haus ein, ich bin ein Fremder, das ist mir noch nie passiert, ich danke Ihnen!“ Er verneigte sich dankbar und setzte sich wieder.

Aber da war das Unglück schon geschehen. Durch die Küchentüre nämlich war ein freches braunes Huhn in die Stube spaziert und stolzte keck im Zimmer umher.

Mütterchen erstarrte vor Schrecken. „Da ist — nun — diese —“ Sie blickte starr und hilflos auf Grau. „Hsch, hsch — du ungezogene —“

„Putt — putt,“ machte Grau. „Ein schönes Huhn. Sie halten Hühner, Frau Lenz, seht an.“ Er blickte freundlich auf die Henne als sei sie ein Mensch.

„Ja, in der Küche — aber — der Herr müssen entschuldigen — mein ganzes Leben bin ich noch nicht so in Verlegenheit gebracht worden — wie mich diese ungezogene — hsch, hsch — Kreatur blamiert — Geh hinaus, Klatschbase.“

„Klatschbase, so heißt sie,“ erklärte Susanna, „weil sie so viel gackert.“

Klatschbase segelte endlich gackernd und schreiend zur Türe hinaus, nicht ohne vorher zu zeigen, daß sie ein echtes Huhn sei. „O — o —“ hauchte Mütterchen, aber Grau hatte es gar nicht bemerkt. Er sprach mit Susanna. Da habe sie recht, ein schöner Tag sei heute. „In der Stadt hacken sie das Eis auf,“ sagte er. „Es kann nun nicht mehr lange währen, bis der Frühling kommt.“

Susannas Augen glänzten. Sie blickte Grau erstaunt und lange an.

„Nun?“

„Als ob Sie erraten hätten, worauf ich warte!“ sagte sie langsam. „Denn die Wahrheit zu sprechen, ich sitze den ganzen Tag hier und warte auf den Frühling. Ich warte auf ihn, ich liebe ihn, mein Herz klopft, denke ich an ihn. Er ist mein Geliebter. Sie lieben ihn auch?“

Grau lächelte. „Ja, wer liebt ihn nicht?“ sagte er. „Es gibt auf der ganzen weiten Welt nicht einen einzigen Menschen, der ihn nicht liebt, er kann noch so mißmutig sein.“

Susanna fieberte bei dem Gedanken an den Frühling. Sie lächelte und atmete tief. „Oft denke ich,“ fuhr sie fort, „ob es sich nicht jetzt schon rührt da drinnen in der kalten Erde, ob nicht die Keime schon ein wenig erwachen und sich dehnen, all die tausend, tausend Keime da drunten. Denn hören Sie, sie müssen sich ja jetzt schon dehnen, denn haben Sie nicht plötzlich schon ein Schneeglöckchen im Walde angetroffen, wie? Also müssen sie wohl oder übel jetzt schon beginnen, nicht wahr? Ich freue mich auf all das, was jetzt kommt, denn der Winter war doch recht lang. Wenn er schon kommt, der Frühling! Guter Gott, wie weht es doch! Er haucht! Man spürt es an der Schläfe, vor allem an der Schläfe, da haucht es, als ob ein warmer Mund hauche. Wie warm es haucht! Denken Sie daran, wenn Sie hinaustraten und dachten, ja, was ist dies plötzlich, so warm? Dann fassen Sie etwas an, einen Ast, er ist feucht, er klebt! Das ist, wenn er kommt.“

Sie schwieg. Dann, nach einer langen Weile sagte sie — und es klang wie ein frohes Seufzen: „Dann wächst das Gras!“

Nein, dachte Grau, es klang nicht nur wie ein frohes Seufzen, nimmermehr wirst du das vergessen können, es klang wie eine Liebkosung, es klang wie ein Gebet. So eigentümlich sagte sie es, daß er einen Schmerz in der Brust empfand, einen leisen Stich. Er sprach nichts, er war still und blickte auf Susanna.

„Dann regnet es und Sie lachen!“ fuhr Susanna fort. „Es regnet und Sie lachen! Ja, regne nur, regne nur, denken Sie und lachen, denn jetzt kommt er. Sie schließen die Augen und schlafen und Sie träumen, wie es sich regt im Lande, die Wolken, die Erde, die Luft, alles ist in Bewegung. Die Luft ist süß wie Milch, das Wasser wie Wein, die Menschen sind freundlicher geworden. Im Walde da riecht es, der Schuh sinkt in den Boden, nasses, faulendes Laub. Dann kommt der erste Keim hervor, das erste Grün, die erste Blume. Kommen denn nicht die Tiere des Waldes zusammen, die Hasen und Rehe und Eichhörnchen, Igel und Füchse, die Raben und die Marder, diese erste Blume zu sehen? Wie aber sieht es unter den Hecken aus! — Ja, wie sieht es denn da aus?“ rief sie und lachte. „Aber das ist ja alles, wenn er nur im Anzuge ist —“

Plötzlich fiel etwas vor dem Fenster draußen herab, dann tanzte eine weiße Flaumfeder herab, zwei, drei kleine Federchen folgten, nun fielen einige Flocken zu gleicher Zeit und dann so viele, als ob man Hände voll Federchen in die Luft streue, die Luft war grau getüpfelt. Sie fielen immer dichter, sie wirbelten, tanzten, taumelten kreuz und quer, klebten an den Scheiben, und endlich schossen weiße und graue Streifen durch die Luft und verhüllten den Ausblick. Es schneite ordentlich. Sofort wurde es dunkel im Zimmer und Susannas Augen glänzten aus einem fahlen ledergelben Flecken.

Susanna aber sah es nicht, sie sprach vom Frühling, den Bächen, den Wiesen, den Wolken, vom Himmel, diesem blauen schimmernden Frühlingshimmel! Glanz und Herrlichkeit —

„Sie gehen in den Wald!“ sagte sie fiebrisch. „Sie gehen hinein wie in eine Kirche. Die Buchen stehen da, naß und fleckig, sie haben Knospen wie grüne Blüten überall, aber der Boden des Waldes ist von Anemonen gefärbt. Sie kommen an einen Hang, der ist ganz gelb: Das sind die Schlüsselblumen, sie kommen über die Wiese, da steht das Schaumkraut, so blau, so duftig. Sie kommen an einen Bach, der ist golden gesäumt, das sind die Dotterblumen, mit einem Griff können Sie einen ganzen Strauß pflücken, sie sind so saftig und innen glänzen sie wie Schmalz. Das Gras wächst und wächst und wächst, es wird immer länger, und wenn nun der Wind weht, so zittern die Gräser nicht mehr, sie schwingen sich, sie wiegen sich, ganze Wellen. Oft liege ich stundenlang hier und denke wie der Wind über die Wiese streicht und die Wiese gibt sanft nach. Wie schön wäre es, barfüßig im Grase zu gehen!“

Ihre Augen fieberten, ihre Wangen röteten sich. Sie lachte und hustete.

„Du sollst solche Gedanken gar nicht haben,“ sagte Mütterchen.

„Ich meine ja nur,“ sagte Susanna. „Lieben Sie die Margareten, Herr Grau?“

„Ja,“ sagte Grau. „Sie sehen so besonders reinlich aus.“

„Reinlich! Ja, ich sehe sie vor mir, alle, alle, alle Margareten sehe ich vor mir! Ich liebe die Blumen, sage ich Ihnen.“

„Das kann ich wohl merken, Fräulein Susanna!“ sagte Grau. „Oh — verzeihen Sie mir die vertrauliche Anrede, sie kam ganz von selbst auf meine Lippen.“

Susanna verneigte sich in ihrem Sessel. „Das ehrt mich!“ sagte sie und sah Grau erfreut an. „Ja, ich liebe sie!“ fuhr sie fort und rang ein wenig die kleinen mageren Hände. „Sie sind wie Kinder. So schön sind sie, so still und geduldig. Sie blühen auf und sterben, und niemand hat sie gehört, daß sie sich beklagten. Es scheint mir, die Menschen könnten viel von ihnen lernen. Dann tun sie auch niemand etwas zu leide, sie leben ja von Erde, Tau und Luft. Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint, und wenn es Abend wird, da schließen sie die Kelche und stehen schlafend da. Können Sie sich eine ganze Wiese oder einen Abhang vorstellen in der Nacht, alle Blumen haben die Kelche geschlossen und schlafen? Können Sie das? Ich kann es, denn ich beschäftige mich unausgesetzt mit solchen Dingen. Das alles habe ich von Mütterchen gelernt, nicht wahr, Mütterchen? Sie liebt die Blumen so sehr.“

Grau wandte Mütterchen den Blick zu, und sie sagte: „Früher, ja, früher da liebte ich sie.“

„Jetzt nicht mehr, aber —!“

Es gäbe so manches, sagte Mütterchen, nahm die Tasse und ging hinaus. Sie kam mit der gefüllten Tasse zurück und stellte sie neben Grau hin, ohne ein Wort zu sagen.

„Nein, aber ich protestiere!“ sagte Grau.

„Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen —“

Susanna aber fuhr fort vom Frühling zu sprechen. Draußen schneite und wehte es, aber sie sah es nicht. Sie sah wie die Blumen im Gärtchen draußen wuchsen, all die Nelken, Tulpen, Rosen und dieser Flieder von einer ganz seltenen blaßblauen Farbe. Februar, März, sagte sie, und zählte die Wochen an den Fingern ab.

Plötzlich schwieg sie. Sie blickte in die Weite und versank in Gedanken. Ihre schweren Vogellider sanken halb über die schwarzen Augen, die Lippen öffneten sich. Sie sprach mit sich selbst.

„Ich muß das grüne Gras noch einmal sehen, ich muß!“ flüsterte sie. Sie dachte nicht, daß Grau es hören könnte.

Grau erhob sich. Susanna erschrak.

„Oh, es ist spät?“ sagte er. „Es ist spät!“ Er griff in alle Westentaschen und suchte nach der Uhr, dann, als er sie nicht fand, schlüpfte er rasch in den Mantel. Es schien als könne es ihm nicht schnell genug gehen. „Es ist spät!“

„Sie müssen gehen?“

„Ja, bei Gott, ich muß. Ich werde wiederkommen, ich werde wiederkommen, wenn es die Damen erlauben, ganz gewiß —“

„Kommen Sie bald wieder!“

„Danke, danke! Ihnen habe ich tausendmal zu danken, Fräulein Susanna, es ist einer der schönsten Nachmittage meines Lebens gewesen — der schönste vielleicht! Ich werde keine Silbe vergessen von dem was Sie mir erzählt haben. Und wieviel habe ich Ihnen zu danken, Frau Lenz. Ja, ich muß, erlauben Sie mir, ich bin ein Fremder für Sie, ein Eindringling, aber mit welcher Freundlichkeit haben Sie mich aufgenommen!“

Er gab Susanna die Hand und sah sie lange mit leuchtenden Augen an. „Wie rasch wir Freunde geworden sind!“ sagte er.

„Ja!“

„Adieu, Fräulein Susanna!“

„Adieu, Herr Grau!“

Unter der Türe verbeugte sich Grau nochmals und wiederholte: „Adieu, Fräulein Susanna!“

Mütterchen stand nicht davon ab Grau hinauszubegleiten. Der Herr wisse ja nicht, wie man das Gartentürchen öffne.

Grau wehrte ab. „Sie können sich eine Erkältung holen, Frau Lenz. Wie es doch schneit!“ — Nein, nein, der Herr wisse ja nicht —

Draußen fragte Mütterchen, was er von Susanna halte?

„Oh!“ rief Grau aus, den Hut in der Hand, „ein prächtiges Geschöpf, ein ganz und gar wundervolles Mädchen. Sie hat mich entzückt, ganz unter uns gesagt!“

Mütterchen lächelte ein wenig. Ob der Herr sich nicht bedecken wolle? Sie frage, was er von ihrem Befinden halte.

„Eine Erkältung,“ sagte Grau scheu, mit einer Bewegung, als wolle er entfliehen, und blickte auf Mütterchen herab, in deren Haaren sich der Schnee ansammelte. „Eine schlimme Erkältung vielleicht — aber —“

Ob der Herr sich nicht doch bedecken wolle? Sie sei nun schon über zwei Jahre leidend. Sie sah Grau mit angsterfüllten Augen an.

Nun käme ja bald der Frühling! Luft, starke, stärkende Luft, Balsam für Kranke. „Was übrigens das Leiden anbetrifft, so kann ich Ihnen recht wohl sagen — und jedermann wird es Ihnen bestätigen — mit einem Leiden kann man alt werden. Ich selbst habe einen Herrn gekannt —“ Grau sprach noch scheuer und wich ein wenig zurück. „Übrigens der Frühling, die Sonne —“ Er konnte nicht weitersprechen. Die jungen Vögel werden sie ins Grab singen, dachte er.

Mütterchen verbeugte sich, aber sie sagte kein Wort, mit komischen Sprüngen lief sie ins Haus zurück.

Grau setzte den Hut auf und ging. Er blickte sich einigemal um, als ob er verfolgt werde. Sobald das kleine Häuschen im Düster untertauchte, begann er zu laufen, was er konnte, und entfloh durch den wirbelnden Schnee.

Vierzehntes Kapitel

S ie ist einer von jenen Menschen, für die man sein Leben lassen müßte!“ sagte Grau, der in seinem dunkeln Zimmer auf und ab ging. „Nur um ihr einen einzigen glücklichen Tag zu schenken, müßte man tropfenweise sein Blut hergeben!“ Es blieb lange dunkel in Graus Zimmer, dann machte er Licht und schrieb an Susanna einen langen Brief. Verehrte und bewunderte Freundin, schrieb er. Er trug den Brief zur Post. Vielleicht kommt der Briefbote selten in das kleine Haus da draußen vor der Stadt, dachte er und lächelte. Und morgen würde Susanna lesen, daß sie einen Freund und Bruder gefunden hatte.

Er fühlte sich froh und erleichtert, als er wieder die Staffeln hinaufstieg. Obwohl es empfindlich kalt war und der Schnee unter seinen Schritten knarrte, trat er nicht in das Haus, sondern er ging weiter, die Parkmauer entlang. Plötzlich stand er vor einem hohen eisernen Gitter und merkwürdigerweise pochte sein Herz, als er dieses Gitter sah. Der Park lag öde und kalt. Grau dachte an den Mohren aus Bronze, der drinnen in dem weißen Hause stand, an die Stille des Salons mit den zierlichen Möbeln und an den leisen Schritt, der sich plötzlich der Türe genähert hatte; dann kam sie. Ihre Stimme, ihre Augen — er ging weiter, diese Erinnerung schmerzte ihn. Er stieg die Höhe hinauf. Schnee, Düster und unheimliche Stille. Ein paar Lichter blinzelten im Tal, als ob die Kälte sie beize wie Augen, ein kleiner grüner Stern sprühte am Himmel, der fast schwarz aussah. Der Wald begann. In ihm war es noch stiller und ganz dunkel, aber es war wärmer zwischen den Bäumen, die ohne jedes Zeichen von Leben dastanden und sich gleichsam aneinander drängten.

Grau lauschte unwillkürlich, Scheu, Friede und Feierlichkeit erfüllten ihn inmitten des winterstillen Waldes, den ein Zauber in Erstarrung versetzt hatte. Die Herzen all der Bäume standen still und regten sich nicht mehr und schienen tot zu sein. Er ging leise, nur der Schnee ächzte unter seinen Schritten. Und er dachte an den großen Winterschlaf, den die Erde schlief, die Wälder schliefen, die Quellen, selbst ganze Völker im Norden schliefen, die Bären in den Höhlen. Aber Gott wird die Wimper heben und vom Süden wird der Tauwind kommen, die Bären werden die Tatzen lecken, der Schläfer wird vom Ofen kriechen, die Quellen werden sprudeln und die Wälder sich schütteln. Auch die erstarrten Herzen dieser Bäume werden wieder zu pochen beginnen: Denn da ist ja nichts Totes in der Welt. Was tot ist, ist nur scheintot und selbst der Stein am Wege, er schläft nur.

Grau blieb stehen. Ging nicht jemand an seiner Seite? Er lauschte. Nein. Aber hatte nicht eben eine feine Stimme in sein Ohr geflüstert? Es flüsterte und pochte. Es war sein Blut, das in seinem Körper strömte. Und mit einer Art von Schrecken lauschte er auf jenes Pochen, Pulsieren, Atmen in seinem Körper, das ihm Kunde gab von den geheimnisvollen Vorgängen, die ohne sein Wissen Tag und Nacht in ihm walteten. Die Zellen in ihm verschoben sich, änderten sich, er wußte es nicht, eine Stelle in seinem Körper mochte in großer Gefahr sein, die Blutkörperchen stürzten herbei, zu verteidigen, zu helfen, zu heilen, die Nerven zitterten, ein unausgesetztes Signalsystem war in Tätigkeit, er wußte es nicht. Die Blutwelle überschwemmte sein Gehirn, ein vergessener Ton erwachte, ein vergessenes Bild, ein Gedanke formte sich, ein Wunsch irrte hin und her, flackerte, leuchtete Monate und Jahre, bis er ihn entdeckte, oder er erlosch ungesehen, unbeachtet — und er wußte von all dem nichts! Er sprach, lachte, ging, er war nichts als Oberfläche, er lebte an der Oberfläche, während in ihm unausgesetzt eine Welt von Geheimnissen wirkte.

Plötzlich stand er vor einer Waldwiese, aus der ihm Kälte entgegenstürzte. Diese Wiese schien lebendig, bewohnt zu sein. Es war Licht auf ihr. Das Licht kam vom Mond, das Licht des Mondes von der Sonne — welches Licht, um des Himmels willen, war es doch, das ihn, den nichtigen Wanderer, hier grüßte? Aus welchen Zeiten, welchen Fernen kam es? Wie, wie, wie?

Er, der hier stand und nicht mehr war als eines der Millionen Schneesternchen, die auf einem Aste lagen, er wurde von Entsetzen gepackt, denken zu können und zu fühlen, daß er lebte.

Denn was Leben heißt, wer hat es doch je zu Ende gedacht? Niemand. Selbst der schnelle, scharfe Gedanke des Weisen, er erlahmt, er erschrickt, er kehrt entsetzt um.

Da ist zum Beispiel das Blut! Nicht seine Funktionen allein, die die wunderbaren menschlichen Apparate (ein Lob dem Menschen!) belauschen konnten. Ein Tropfen Wasser ist köstlich, wer ersann ihn? Eine Faser Eisen, köstlich, wer erdachte sie? Aber ein Tropfen Blut, wie —?! Das Blut verrichtet seine Arbeit — sein Schöpfer sagte: schaffe! und es gehorcht — aber es ist zugleich wie ein Volk, hat Gebräuche, Eigenschaften, Geschichte, denn das Volk es ist ja aus Blut erbaut, es ist ja nichts als die Vergrößerung des kleinen Tropfens. War nicht ein ewiges Vergehen in ihm, Grau, der durch den Wald ging, ein ewiges Vergehen und Erblühen? Von Eigenschaften und Fähigkeiten, von Völkern, Geschlechtern und Rassen, wer weiß, wann sie lebten, woher sie kamen? War nicht ewiger Kampf, Unterhandlung, Waffenstillstand dieser Geschlechter in ihm? Jene Rasse, die vom Osten kam, vielleicht erstarb sie in ihm in dieser Minute und übergab ihre Waffen an ein Geschlecht, das aus dem Norden kam, mit Ketten aus Bärenzähnen geschmückt? Woher sollte es doch kommen, daß ihn zuweilen namenlose Traurigkeit befiel, ohne jeden Grund? Namenloses Glück in ihm aufloderte wie ein Siegesgeschrei, ohne jeden Grund? Tod und Geburt in ihm wie in der Welt, Kampf und Sieg. Dieses Auf und Ab, dieses Gehen und Kommen, dieses Laut und Leise, Fragen und Befehlen, Erschrecken und Locken, wie wunderbar war es doch! Wie entsetzlich und wie köstlich schön!

Und doch — das war ja noch nicht das ganze Leben in ihm, nur ein kleines Stück, soviel wie ein Blatt vom Walde ist, nicht mehr, nicht weniger.

Die geheimnisvollen Lebenswellen, die ihn unausgesetzt umkreisten, durchdrangen, dieses Sausen des Lebens nah und fern, das Brausen der Sonne und der kräftespeienden Gestirne, das ihn erreichte.

Jene blitzartigen Offenbarungen einer verborgenen Welt, von der er ein Teil war, die sich öffnete und schloß in der gleichen Sekunde vor dem geblendeten Auge. Jenes Singen und Flüstern, Tag und Nacht? Oder erinnerst du dich nicht mehr, da du zwischen Schlaf und Wachen warst und deine Seele plötzlich in dir zu sprechen begann? Du erbebtest, Schreck und Freude erfüllten dich. Zu leicht, zu seicht, zu lau und flau bist du, sprach deine Seele. Und du antwortetest, gebannt von dem Unbekannten: „Ja, ja!“ Deine Seele sagte: „Tue dies, tue das!“ Und du sagtest: „Ja, ja, ich gehorche!“ Das ist der Weg, sagte deine Seele und du sagtest: „Ich werde ihn gehen!“

Und solltest du dich nicht mehr daran erinnern, an jenen Moment, da plötzlich ein Auge in dir leuchtete und dich von innen heraus anblickte. Das Auge blickte mit großem, majestätischem Glanz auf dich und war in dir — und du, du sprangst auf. „Ich bin ja allein!“ sagtest du laut, aber du glaubtest dir nicht. Hattest du den Mut, zu fragen: „Wer ist hier?“ Nein! Denn du fürchtetest ja, eine Stimme könnte dir antworten!

Nichts fürchten wir ja mehr, als daß sich jenes geheimnisvolle Leben, das wir ahnen, uns offenbarte.

Grau ging nach Hause; er schüttelte den Kopf, seine Augen waren groß und leuchtend. Der Mensch geht auf schwankendem Grunde, dachte er, noch mehr: er geht in der Luft.

Auf dem Rückwege kam er wieder an dem hohen, eisernen Gitter vorbei. Es war noch immer angelehnt. Über dem Park sprühte wie vorhin der kleine, grüne Stern. Und wieder rief sich Grau jene Szene in dem kleinen Salon ins Gedächtnis zurück und es schmerzte ihn, daß er nicht genug in jenes schöne, stolze Mädchenantlitz geblickt hatte, um es für alle Zeiten zu behalten.

Er schlief erst spät ein. Das Auge nimmt ein Bild mit aus dem Tage und das Bild erscheint im Traum. So träumte Grau in jener Nacht von dem Gitter des Parkes. Es war nur angelehnt. Er träumte, er stände davor und wartete. Ja, worauf wartete er doch nur? Da kam ein hohes, stolzes Mädchen aus dem Park hervorgegangen, es war jenes Mädchen mit den hellen Augen. „Hast du mich heute wiedererkannt?“ rief sie. Aber je näher sie kam, desto mehr veränderte sie sich. Es war Susanna, die kam; sie trug den kleinen grünen Stern auf der Hand und winkte ihm mit den Blicken, ihr zu folgen. Er zögerte — aber dann folgte er ihr.

Fünfzehntes Kapitel

G rau war nun in der ganzen Stadt bekannt. Das war kein Wunder, denn man sah ihn tagtäglich einigemal auf der Straße; über den Marktplatz konnte man überhaupt nicht gehen, ohne daß er aus irgend einer Gasse auftauchte. Immerzu hatte er zu grüßen, denn jedermann kannte ihn. Er grüßte alle Leute zuerst, auch Kinder und Schüler. Man konnte ihn überall sehen, hinter den dunkelsten Fenstern, die keine Vorhänge hatten, auf den breiten Treppen der reichen Leute, einerlei.

Er hatte viel zu tun. Wenn er am Morgen das Haus verließ, so hatte er schon einige Arbeitsstunden hinter sich. Er stand auf, sobald der Tag graute; voll von Interesse für alles, was den Menschen betraf, wünschte er alles kennen zu lernen, was der Mensch je gedacht und ersonnen hatte; dazu benutzte er die Morgenstunden. Der vorläufige Arbeitsplan war bei angestrengtester Tätigkeit in zehn bis zwölf Jahren zu bewältigen. Dann wollte er weiter sehen.

Er hatte Unterricht in den Schulen zu geben, Besuche zu machen. Keine Stunde des Tages ließ er unbenutzt. Er war wiederholt bei der alten Frau Sammet gewesen, im Waisenhaus, bei dem Arzt, der Susanna behandelte, auch sprach er häufig bei der „ewigen Braut“ vor, um mit ihr zu plaudern. Susanna besuchte er, so oft er frei war.

Trotzdem er täglich so vieles tat, hatte er doch stets Zeit. Niemals war er in Hast, stets ruhig. Sein Tag schien viel länger als der andrer Menschen zu sein.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß man in jeder Stadt einen Menschen hat, dem man immer wieder und wieder begegnet. In dieser Stadt schien es für Grau Eisenhut zu sein, den zu treffen ihm bestimmt war. Er begegnete ihm, so oft er das Haus verließ, ja, selbst im Walde hatte er ihn getroffen. Eisenhut ging hastig vorüber, grüßte, blinzelte und sah Grau stets mit sonderbar forschenden Augen an, argwöhnisch, ja, sogar furchtsam und scheu; zuweilen schüttelte er den Kopf, räusperte sich und lief weg, indem er Grau einen raschen Blick zuwarf, der keineswegs Sympathie ausdrückte. Manchmal kam es auch vor, daß er auf der Straße stehen blieb, Grau spöttisch lächelnd musterte und die Lippen bewegte, als spräche er mit sich selbst. Bei einer solchen Begegnung sprach ihn Grau an und fragte ihn, ob er nicht etwas tun wolle, um für Susanna ein Piano zu beschaffen. Aber Eisenhut blinzelte, lächelte, krümmte sich und begann von schlechten Zeiten zu sprechen, in solch winselndem, demütigem Tone, daß sich Grau angewidert abwandte. Er sah Eisenhut wieder und Eisenhuts Augen sprühten offenen Haß.

Grau war nicht erstaunt: Alles geht wunderbar, dachte er und lächelte in sich hinein vor Freude, dieser Mann ist mir sicher! Ja, es gab solch wunderliche Dinge auf dieser Erde!

Einmal sah er Eisenhut auf der Straße, gefolgt von einer Schar ausgelassener, johlender Kinder. Eisenhut taumelte am hellen Tage betrunken nach Hause.

Nur Geduld, das sollte bald anders werden! Nur etwas Zeit brauchte er dazu.

Graus erste Predigt war kläglich ausgefallen. So heiß war sein Herz gewesen, so groß hatte er sich alles gedacht, aber plötzlich hatte ihn Unsicherheit befallen: Würde er die rechten Worte finden, das auszudrücken, was ihn erfüllte, was er fühlte im Wachen und im Schlaf? — Er war unzufrieden mit sich. In den folgenden Predigten aber war es ihm besser geglückt.

Es erschien ein Tag mit einigen freien Stunden. Grau erstaunte und wußte nicht wie das zuging. Er spielte Orgel.

Er spielte ein paar Stunden lang und fühlte sich darauf wie neugeboren. Die Musik und die menschliche Seele, es ist ja gar kein Unterschied zwischen den beiden, sie sind Schwestern. Und wenn der Mensch Musik hört, so finden sich die beiden Schwestern, umschlingen sich, vertrauen sich einander an, ihre Sehnsucht, ihre Schmerzen, ihr Glück, ihre Hoffnung, liebkosen einander und küssen sich, und der Mensch fühlt Freude und weiß nicht warum.

Als Grau endlich aufhörte zu spielen, war er von Glück und Jubel erfüllt. Seine Hände bebten. All das Singen und Jauchzen der Orgel war noch in ihm. Seine Augen waren so licht, daß er ihren Schein fühlte. Die Sonne leuchtete am Himmel.

Nun wollte er zu Susanna gehen.

Er hatte sich lange Tage an der Freude gelabt, Susanna einen kleinen Hund zu schenken. Er sollte klein und schneeweiß sein und wie Zucker schimmern. Natürlich durfte er am Ende einige Flecken haben, etwa schwarze Pfoten oder einen halben schwarzen Kopf, das würde nichts schaden, am besten aber war er schneeweiß. Jedoch ein solcher Hund ließ sich nicht finden, trotz Graus eifriger Nachfrage, weder ein weißer noch irgend ein anderer. Somit war es mit seiner Freude nichts geworden.

Ja, wie doch heute die Sonne leuchtete! Grau machte einen Umweg, um sein Gesicht von der Sonne baden zu lassen. Wie die sanftesten warmen Hände berührte die Sonne seine Wangen, und wenn er die Lider schloß, so war es, als ob sich ein sanfter, warmer Finger auf seine Lider legte. Dann sah er Feuer.

Er lächelte einer jungen Mutter, die des Weges daherkam und ihr kleines, wie ein junger Eisbär aussehendes Kind an der Hand führte, freundlich zu. Die Frau errötete, sie mißverstand Graus Blick.

Der Himmel war blau und leuchtete. Jedermann hat schon gesehen mit welch blauer Flamme der Schwefel verbrennt, so stählern und durchsichtig blau war der Himmel. Grau blickte hinein, tiefer, tiefer — es lockte.

Ich bin ja nichts, dachte Grau, ein Nichts, eine Kleinigkeit, und doch habe ich die Gabe mich zu freuen, die Fliege selbst hat sie, jedes Wesen — und doch habe ich solch eine rätselhafte Sehnsucht in mir und doch durchschauert mich manchmal eine Ahnung von dem Großen, das irgendwo ist. Hast du Gott gesehen, frage ich dich? Nein. Und wenn du mich fragst, nein, nein, wie sollte ich doch? Aber ich fühle, oft bin ich gleichsam betäubt wie heute. Vergebt mir. Und doch, was könnte ich sagen, wenn mich einer fragte? Ich weiß ja nichts. Ist Gott ein Sausen, das durch die Welt fährt, oder ein Ton, ein ewig schwingender Ton, nach dem unsere Ohren haschen, oder ein Blick, der auf uns ruht, auf jeder Stelle unseres Leibes, dem Kopfe, der Fußsohle, Tag und Nacht, um Mitternacht und am Mittag? Oder ein Lächeln, ist er in jenem Lächeln, das zuweilen auf allen Dingen zu ruhen scheint, dem Grase selbst, dem glänzenden Felle des Stieres, dem Wasser. Weiß ich es denn? Es gibt so viele, die sagen, es gibt keinen Gott. Es ist möglich, aber die Welt ist göttlich schön. Ich strecke meine Hand in die Höhe, sie ist golden, das ist die Sonne, ich strecke meine Hand in die Höhe, sie ist silbern, das ist der Mond. Ferne da kniet ein Mann im Grase und betet und ungezählte Stirnen beugen sich in den Sand und preisen Gott in fremden Zungen. Trotzdem? Doch dann ist es der Mensch, der sich einen Gott geschaffen hat, des Menschen Sehnsucht ist dann Gott. Aber es ist ja nicht möglich, daß es keinen Gott gibt, nein, denn des Menschen Sehnsucht ist göttlich und wie göttlich schön ist die Welt. Was fühlst du, wenn du deine Hand anblickst? und wenn die Vögel im Walde singen — wie wird dir? Nun? warum dieses ewige Verlangen, diese Sehnsucht, dieses Brennen im Herzen, warum denn? Dieses Fieber? In uns, die wir nichts sind als Sandkörner, die vor dem Winde rollen. In diesem Sandkorn Gefühl, Wunsch, Ekstase.

Nein, niemand hat ihn gesehen, es ist wahr. Viele haben ihn geahnt. Jene glänzenden Antlitze im Dunkel! Viele sind aufgestanden und haben gesprochen, ihre Worte mögen unrichtig sein, sie konnten nicht ausdrücken, was sie fühlten, aber ihre Gebärde, vergeßt mir diese Gebärde nicht.

Grau blieb stehen und sah einen Hund an, der unter der Haustüre saß und in die Sonne empor blinzelte. In der Vorstadt trat er in einen dunkeln metergroßen Blumenladen ein und erstand eine kleine rote Tulpe. Als er bezahlen wollte, stellte es sich heraus, daß er kein Geld mehr hatte. Aber die Leute kannten ihn und es wäre fast eine Beleidigung gewesen, ihr Anerbieten, später zu bezahlen, zurückzuweisen. Während er noch zögerte, trat jemand in den metergroßen Laden ein und er roch ein feines Parfüm, das sich ohne Hindernisse in dem Raume bemerkbar machen konnte; die Blumen hier waren zumeist aus Wachs und Papier, und die wenig lebenden, die es hier gab, rochen nicht.

„Herr Grau?“ sagte eine schöne Stimme.

Diese Stimme drang sofort bis zu seinem Herzen.

Adele von Hennenbach schob den gelben Schleier in die Höhe und ihr schmales blasses Gesicht und die klaren hellgrauen Augen kamen zum Vorschein. Sie lächelte und blickte Grau freundlich an. An ihrem Arme hing die Schlittschuhtasche; sie war gekleidet wie neulich und aus dem flotten Pelzjackett stieg jenes feine Parfüm.

„Ich kann mir wohl denken, für wen diese Tulpe hier ist!“ sagte sie und blickte Grau mit einem leisen Lächeln an; sie betrachtete die Tulpe mit ein wenig geöffneten Lippen.

Grau kam in Verlegenheit, als ob sie ihn bei einer unschönen Handlung ertappt habe. Er lächelte und drehte an einem Knopfe seines Mantels. „Es macht mir Vergnügen, Susanna eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen, sie freut sich so,“ sagte er, sich gleichsam entschuldigend. „Sie gehen zum Eise, Fräulein von Hennenbach?“

Adele streckte sich ein wenig in die Höhe. „Ja,“ sagte sie, „man muß die letzten Tage noch benützen, es wird bald vorbei sein mit der Herrlichkeit. Ich habe mit Ihnen einige Worte zu sprechen, Herr Grau, wenn Sie nicht ungehalten sein würden, daß ich die Gelegenheit benütze?“

„Bitte.“ Er war hocherfreut. Sie verließen zusammen den Laden. Adele erkundigte sich nach den Formalitäten — es handelte sich um ihre Trauung. Dann plauderten sie.

„Wie froh Sie heute doch aussehen, Herr Grau!“ sagte Adele. „Ganz als ob Sie eine frohe Nachricht erhalten hätten!“

„Das habe ich auch!“ sagte Grau. „Aus weiter Ferne.“

„Diese arme Susanna,“ bemerkte Adele im Laufe des Gespräches, „wie es mir doch leid tut um sie. Sie hat nichts als Kummer gehabt, nicht ein Quentchen Glück, keine frohe Jugend, kaum ein wenig Freude. Wie klug und vornehm und bescheiden ist sie doch! Wie schade, daß sie krank ist, daß sie so häßlich ist, so mißgestaltet, ich bin traurig, so oft ich an sie denke. — Wollen wir den Weg zum Fluß hinunter gehen, Herr Grau? Es ist kaum ein Umweg.“

Sie gingen den Fluß entlang, an den beschneiten Schiffen vorbei, worauf die Kinder herumkletterten und schrien. Kleine Knirpse und Mädchen mit zerzausten Haaren liefen auf einer glatten Bucht Schlittschuh und schrien ebenfalls was sie nur konnten.

Grau schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht finden,“ erwiderte er, „daß Susanna häßlich ist. Ich muß freilich zugeben, daß ich beim ersten Anblick dachte, die Natur habe sie stiefmütterlich behandelt, nun aber erscheint sie mir schön.“

„Wirklich?“

„Ja, ich entdecke mehr und mehr Schönheit an ihr. Sie hat doch ganz wunderbare Augen! Haben Sie beobachtet, wie Susannas Augen Ihnen das Wort von den Lippen horchen, den letzten Sinn aus den Augen horchen, den das Wort nicht geben kann oder gibt? Wie ihre Augen antworten, noch bevor sie die Lippen öffnet?“ Er blickte mit schwärmerischem Lächeln auf Adele.

„Ja, ja.“

„Und dann ihre Hände! Haben Sie diese Hände genau betrachtet? Wie lebendig sie sind, wie sie alles miterleben, was Susanna erlebt. Und wie schön sie doch sind, Susannas Hände! Ja, bei Gott, sie sind außerordentlich schön! Ich schwärme, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit, seitdem ich Susanna zum erstenmal sah, schwärme ich für sie — ich gestehe es. Sie werden es ihr ja auch nicht wieder sagen,“ fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Adele sagte: „Wer weiß es?“

„Ich würde es nicht wünschen,“ sagte Grau. „Sie werden doch nicht am Ende glauben, daß ich gerade deshalb so aufrichtig bin?“

Adele schüttelte den Kopf und lachte. „Sie wissen, daß Sie es mit einer Frau zu tun haben!“ sagte sie scherzend. „Susanna würde all das wohl gerne hören, denn sie ist so stolz auf Ihr Lob. Sie haben ihr auch gesagt, daß sie eine Dichterin sei und Bücher schreiben könnte. Glauben Sie das wirklich?“

„Würde ich es sonst sagen?“ Grau nickte. „Ja, das glaube ich,“ sagte er. „Hat Ihnen Susanna schon die Geschichte erzählt, die sie über das Porzellandämchen in Mütterchens Glasschrank ersonnen hat? Die Abenteuer der Madame Ypsilon? Eine drollige und wunderschöne Sache! Als ich mein erstes Kind erwartete, beginnt die Geschichte dieser Porzellandame — haha!“

Adele kannte diese Geschichte. „Wenn es weht, vermeide ich es, auf die Straße zu gehen, erzählt Madame Ypsilon,“ sagte sie. „Ich habe gar keine Talente,“ fügte sie hinzu und schüttelte lächelnd den schönen, stolzen Kopf.

„Jeder Mensch hat seine Talente.“

Ja? Nun, dann möchte sie recht gerne wissen, welche Talente er ihr zuschreibe?

„Erstens,“ antwortete Grau und blickte sie an, „sind Sie sehr musikalisch, ich sehe das aus Ihrer Art unwillkürlich auf Geräusche und Töne der Straße zu reagieren, sodann sind Sie eine vorzügliche Tänzerin, an Ihrem Gange kann man das erkennen, mehr noch an der Art wie die Bewegungen Ihres Körpers eine Unregelmäßigkeit des Weges ausgleichen. Sie haben die Fähigkeit fremde und unmögliche Dinge zu träumen, vielleicht mitunter grausame Dinge.“

Adele sah ihn an. „Bitte, bitte!“ rief sie aus und lächelte.

„Ihre größte Gabe aber scheint mir zu sein,“ fuhr Grau fort, „unklare Situationen zu überblicken — zuweilen geht Ihr Blick so rasch hinter den Wimpern hervor und unvermittelt in die Weite — und rasch und unerschrocken zu handeln — sogar tollkühn,“ fügte er leiser hinzu.

„Ich habe mir vorgenommen, sobald ich Sie treffe, für meinen Bruder um Entschuldigung zu bitten,“ sagte Adele ablenkend. „Wegen jener Affäre im Elefanten.“

Grau lächelte und schüttelte den Kopf. Aber das sei doch nicht der Rede wert.

Adele blickte ihn erstaunt an. „Nicht der Rede wert?“ fragte sie. „Haben Sie denn keinen Streit mit ihm gehabt?“

„Nein, nein!“ Grau lächelte.

„Wie merkwürdig!“ sagte Adele. „Er hat mir erzählt, Sie hätten Billard zusammen gespielt, er habe gewonnen und es sei zu einem Wortwechsel — und fast zu Tätlichkeiten gekommen,“ fügte sie zögernd hinzu.

Grau sah sie an. „Das ist nicht wahr!“ sagte er ernst und leise, denn etwas beschäftigte seine Gedanken.

Adele öffnete erstaunt die Lippen. „So?“ sagte sie gedehnt. „Ich habe mich gewundert darüber — er hat mir eine ganze Geschichte erzählt. Auch die Geschichte mit der Flasche ist also — nicht wahr?“ Sie errötete flüchtig, „Ich habe bisher meinem Bruder alles geglaubt,“ sagte sie mit einem Tone von Verwunderung und Betrübtsein in der Stimme. Sie schwieg lange Zeit und dachte nach, dann wandte sie sich wiederum an Grau, der ebenfalls in Nachdenken versunken war. „Lassen wir das!“ sagte sie, indem sie ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben versuchte. „Man hat mir erzählt, daß Sie früher Gefängnisgeistlicher waren, Herr Grau? Das war wohl Ihre erste Anstellung?“

Aber Grau hörte nicht. Er hatte den Blick zu Boden gerichtet und seine Mienen drückten tiefes Nachdenken aus. Erst als Adele ihre Frage wiederholte, fuhr er verwirrt auf.

„Ich bitte um Verzeihung!“ sagte er verlegen. „Allein ich kann manchmal vollständig in Gedanken versinken. Nun hat mich eben eine Angelegenheit beschäftigt, die mich schon seit meiner Ankunft stark interessiert. Es gibt Dinge, die mich gar nichts angehen, aber meine Gedanken kaprizieren sich gerade darauf. Gefängnisgeistlicher, sagten Sie das? Ja, aber es war nicht meine erste Stelle. Zuvor war ich Lehrer an einem Blindeninstitut für Kinder.“

„Oh!“ Adele zog wie unter einem körperlichen Schmerze die feinen schwarzen Brauen hoch. Sie grüßte jemand auf der Straße, dann sagte sie: „Unter Blinden, wie furchtbar! Und noch dazu unter blinden Kindern! Wie schrecklich muß das sein!“

„Viel schrecklicher ist es noch blind zu sein,“ sagte Grau und blickte Adele an.

„Ja, entsetzlich!“ Adele richtete die hellen klaren Augen auf ihn.

„Stellen Sie sich vor, wie es ist blind zu sein, versuchen Sie es! Ja, ich habe es einmal versucht, ich kann Ihnen das ruhig erzählen, denn Sie denken vornehm, ich habe es einmal versucht und mich blind gemacht —“

„Was taten Sie?“ Adele sah Grau erschrocken an.

„Verstehen Sie es recht,“ fuhr Grau fort. „Ich habe mir eine Binde um die Augen gelegt — es war in jenem Institut — vier Tage lang — ich tat es aus Interesse — aus einer Art von Interesse, wenn Sie wollen, um meine blinden Lieblinge besser zu verstehen, vielleicht auch um ihnen gleich zu sein — kurzum, aber ich sage Ihnen gleich — doch es ist besser nicht davon zu sprechen. Entschuldigen Sie, Fräulein von Hennenbach.“ Er wurde plötzlich rot, dann fuhr er in anderem Tone fort: „Denken Sie daran, wie wir uns freuen, wenn nur ein bißchen Licht durch die Fensterladen sickert, wenn das Licht im Laube der Bäume spielt, wir Menschen leben ja vom Licht wie die Pflanzen, unsere Seele nährt sich davon. Jeder Sonnenaufgang, jedes Glitzern eines Sternes, es ist in uns, wir wären nicht die gleichen ohne diese Eindrücke und glauben Sie mir, Fräulein von Hennenbach, ein Mensch mit zehntausend Sonnentagen und zehntausend Sternennächten in seinem Leben ist ein ganz andrer als ein Mensch mit fünftausend nur.“

Ein Mann schlendert an ihnen vorüber, in hohen Stiefeln, das Gewehr auf dem Rücken. Es war Eisenhut. Er grüßte tief, blinzelte beide an und stieg hocherhobenen Hauptes vor ihnen her. Er nahm eine Zigarre aus dem Etui und steckte sie in Brand.

„Schönes Wetter, schönes Wetter!“ rief er und blinzelte.

„Ja, schönes Wetter!“ sagte Grau.

Aber Eisenhut blickte Adele an, er beachtete ihn gar nicht, und wiederholte: „Schönes Wetter!“

„Danach hat man Sie also zu den Gefangenen geschickt, Herr Grau?“ sagte Adele, die Eisenhut gänzlich ignorierte. Eisenhut blinzelte, reckte den Spitzbart in die Luft und zog mit seiner Zigarre ab, deren blauer Rauch regungslos über dem Wege schwebte.

„Es geschah auf meine Bitte hin,“ antwortete Grau.

„Übrigens hat mich in diesem Falle etwas ganz besonderes dazu getrieben, ich hatte eine Art Vision — oder —“

„Eine Vision?“

„Eine Art Vision, ja. Es ist übrigens kaum des Erzählens wert.“

Grau lächelte und blickte Adele an, deren Wangen allmählich ein frisches Rot überzog.

„Sie müssen mich recht verstehen,“ sagte Grau, „was heißt das schließlich, eine Vision, nicht wahr? Es ist eine Art Traum in halbwachem Zustande, nichts weiter. Einmal zum Beispiel, glaubte ich ein Sandkorn zu sein und ich sah das Leben all des kleinen Getieres zwischen den Gräsern, das Wachsen der Halme, wie Zelle sich an Zelle schloß — ganz wunderbare Lebensvorgänge —“

„Einmal nun, da schloß ich die Augen; ich war müde, aber ich schlief nicht und plötzlich sah ich einen Mann vor mir mit erdfahlem Gesicht, in der Kleidung eines Gefangenen. Er ging hin und her, vier Schritte vorwärts und vier Schritte zurück, so daß ich einmal sein erdfahles Gesicht sah, einmal seinen Rücken. Aber mit einmal war es nicht einer, es waren unendlich viele, vielleicht hundert. Wie Sie im Traume in Häuser hinein blicken können, durch Mauern hindurch, so sah ich in all diese Zellen hinein. Sie gingen hin und her, vier Schritte vorwärts, vier Schritte zurück, sie hatten alle erdfahle Gesichter und waren gekleidet wie Gefangene. Sie gingen hin und her, wie ein Tier in seinem Käfig, plötzlich aber blieben sie alle stehen, all die Hundert, sie blieben stehen und trommelten mit den Fäusten an die Wände. Nur einen Augenblick. Dann nahmen sie das Wandern wieder auf.

„Wie schrecklich!“

„Ja, in der Tat, in der Tat schrecklich!“ sagte Grau leise und schwieg eine Weile. Er fuhr fort: „Aber nach einer Weile standen all die Hundert wieder still, gerade in dem Moment, da sie kehrt machen wollten um mir den Rücken zuzuwenden — sie standen still, sage ich — und sahen mich an. Alle auf einmal! All die Hunderte von Augen, von toten erloschenen Augen, sie sahen mich an. Ein Traum, denke ich, ein Traum, nur ein Traum und klammere mich an den Gedanken, daß es ja nur ein Traum ist, während der Blick dieser entsetzlichen Augen auf mir ruht. Dieser Blick aber war kaum länger als ein Gedanke, dann lächelten all die erdfahlen Gesichter. Sie zogen die Münder ein wenig schief und sie lächelten alle das gleiche Lächeln: Spöttisch, überlegen, verächtlich — dann machten sie kehrt und wanderten wieder.“

Grau schwieg. Sie gingen eine Weile nebeneinander her und blickten beide auf den Boden. Als sie den dicken Wartturm durchschritten, wo ihre Schritte leicht widerhallten, sagte Adele: „Deshalb also gingen Sie dorthin?“

„Ja, deshalb, ich hatte keine Ruhe mehr.“

Adele atmete die frische Winterluft ein, und ihr Schleier flatterte plötzlich im Winde; denn die Höhe trat hier zurück und der Wind hatte freie Bahn. Ein paar Krähen flogen, tief mit den Flügeln schlagend, in einer Reihe über das Schneefeld und schrien. Bald tauchte auch das Dach von Susannas Häuschen auf.

„Ich hatte ja früher nie länger über diese Gefangenen nachgedacht,“ nahm Grau das Wort wieder auf, „aber jetzt mußte ich es tun. Es war besonders jenes Lächeln mit dem schiefgezogenen Mund, das mir zu denken gab. Ich sagte, sie lächelten spöttisch, überlegen, verächtlich, aber all das sagt nicht genug. Ihr Lächeln schien auszudrücken: Du bist auch einer von jenen Gedankenlosen.“

„Gedankenlosen?“

„Ja,“ sagte Grau, „und ich mußte immerzu an dieses rätselhafte Lächeln denken und schließlich kam es dahin, daß ich um jeden Preis wissen mußte, was es bedeute. Ich hatte mich ja mit solch falschen Anschauungen über Gefangene und Verbrecher getragen.“

„Wollen Sie mir nicht sagen, was für Menschen sie eigentlich sind?“ fragte Adele mit aufrichtigem Interesse.

Grau sah Adele an. „Was für Menschen?“ antwortete er und lächelte. „Sie sind genau wie andere Menschen, wie die Bürger dieser Stadt hier, wie ich, nur daß sie etwas getan haben, irgend etwas, das gegen einen Paragraphen des Gesetzes verstieß, daß sie nicht vorsichtig genug waren und daß man sie packte.“

Plötzlich erbleichte Adele. Sie lächelte und blickte in die Ferne, genau dahin, wo jetzt die Krähen flogen; sie sagte: „Ja — daß man sie packte, das ist ganz richtig, das ist wahr!“ Sie lachte ein wenig seltsam.

Grau sah sie mit einem raschen erstaunten Blicke an.

Dann aber fuhr er mit gleichmütiger, ja fast auffallend gleichmütiger Stimme fort: „Ich sehe, Sie interessieren sich für diese Unglücklichen, Fräulein von Hennenbach. Ich gestand Ihnen ja, daß auch ich mich mit falschen Anschauungen trug. Der größte Teil, das sind Leute, bei denen eine der allgemein menschlichen Eigenschaften, Eitelkeit, Hochmut, Trägheit Genußsucht, Sinnlichkeit, Habgierde, Verlegenheit, Gutmütigkeit, Leichtsinn, Leidenschaftlichkeit — (eine ungeheure Menge von allgemein menschlichen Eigenschaften zählte Grau auf, sie wollten gar kein Ende nehmen) — unglücklich stark entwickelt ist im Vergleich zur Willenskraft, stärker sogar als die Furcht vor dem Gesetze. Jener Anschauung, daß alle Verbrecher und Sträflinge geisteskrank oder seelisch defekt sind, stimme ich nicht bei. Im Gegenteil, Sie finden darunter einen nicht geringen Teil, der sehr gesund ist, gesunder oft als die freien Menschen. Ganz prächtigen Leuten können Sie dort begegnen, welche Kraft, Unerschrockenheit, welches Feingefühl, welcher Stolz! Die meisten natürlich sind krank, sie haben einen Tropfen krankes Blut im Körper, den der Arzt natürlich weder sehen noch nachweisen kann. Endlich kommen die schrecklichen Verbrecher, die als Teufel geboren wurden und eines Tages ein Verbrechen begehen, daß alle Zeitungsleser der ganzen Welt schreien: Er gehört geschlagen, gebrüht, die ärgste Folter müßte ersonnen werden!“

„Haben Sie solche gesehen? Was für Menschen mögen das wohl sein?“

„Ich habe vier solche gesehen, ja. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Sie sind ein Mysterium, uralte Raubtiernaturen, Finsternisseelen, blutige Gespenster — irgend eine schreckliche Kraft, ein entsetzlicher Geist haust in ihnen, ich weiß es nicht, ich habe das noch nicht zu Ende gedacht!“

Adele schüttelte den Kopf. „Nach all dem, nach Ihrer Auffassung vom Verbrecher,“ sagte sie, „die ja sehr gütig ist —“

Grau unterbrach sie. „Das Resultat von Beobachtungen, erlauben Sie, mein Gefühl spricht nicht mit.“

Nun wohl, seiner Anschauung gemäß müßte es unrecht sein, die Verbrecher zu bestrafen.

Grau blieb stehen. Er sah Adele an und sagte: „Natürlich! Das ist eins jener Dinge, die ich gar nicht verstehen kann. In hundert Jahren wird man diesen menschlichen Irrtum mit den gleichen Augen betrachten, mit denen man heute auf die mittelalterlichen Hexenprozesse blickt.“

„Aber —?“

Grau lächelte. „Die Gesellschaft!“ sagte er.

„Ich verstehe. Ich werde kein großes Geschrei machen, ich werde gar nicht von den Verbrechen sprechen, die die Gesellschaft in aller Ruhe begeht oder von den Verbrechen, die im Gesetz selbst enthalten sind. Die Gesellschaft will in Ruhe und Frieden die Arbeit der Kultur verrichten, nicht wahr? Störenfriede schafft sie aus dem Wege. Aber das ist nicht ganz richtig, der Gesellschaft ist es ja nur zum geringsten Teil um Kulturarbeit zu tun, zum allergeringsten Teil — denn die Gesellschaft ist ja eigentlich nichts anderes als ein Ring kleiner und großer Bankiers — es ist ihr vielleicht ein wenig um das Werk der Zivilisation zu tun, um den Export von Seifen und Gasmotoren und Kanonen — vielleicht nur um Bereicherung, aber auch das ist wohl nicht gerecht — sagen wir die Gesellschaft will leben, bequem und in Frieden. Deshalb also schafft sie sich Gesetze, nur weil sie bequem und in Gemütsruhe leben will — das Motiv steht nicht sehr hoch! Gut, sie kann also Störenfriede ausschließen — aber bestrafen, wieso? Vielleicht hat sie das Recht, Elemente, die ihre Gesetze nicht respektieren und sich dagegen verfehlten, zu erziehen — das aber ist alles!“

„Ja, aber ich verstehe nicht ganz?“ warf Adele ein.

Grau schüttelte den Kopf und lächelte. „Sie meinen, wenn jemand mir zum Beispiel hundert Mark stiehlt — ja, was habe ich dagegen? Werde ich ihn bestrafen? Nein, ich würde mich schämen, so großen Wert auf ein bißchen Besitz zu legen, ich würde es gar nicht vornehm finden — die Gesellschaft aber glaubt das Recht zu haben, einem Menschen, der einen alten Überzieher gestohlen hat, ein Stück seiner Seele zu stehlen. Ich begreife das nicht. Übrigens keine Einzelheiten. Müssen Sie nicht immer ein Auge schließen, wenn Sie auf die Gesellschaft blicken, oder beide Augen zuweilen, wie? Oder müssen Sie sich nicht schämen oder erwacht der Gedanke nicht in Ihnen, fortzugehen, weit fort, zu den Wilden auf eine Insel, wohin kein Schiff aus Europa kommt, wie? Europa, jenem Kontinente der bestechenden Theorien und der schmutzigen Praxis. Sie werden sagen, Ehre, Gut, Leben müssen beschützt werden. Gut — obgleich ich finde, daß unsere Zeit zu viel Wert darauf legt. Man wirft den Verbrecher in den Kerker, jahrelang — ohne zu bedenken, daß das grausamer ist als jedes Verbrechen. Der Verbrecher hat sich am Besitz, am Leben eines anderen vergriffen, aber nicht an der Seele, wohlgemerkt, das aber tut die Gesellschaft. Sie martert die Seelen, sie läßt sie vermodern und verfaulen. Dabei handelt die Gesellschaft mit klarer Überlegung — könnte man fast sagen — aber der Verbrecher —? Nun?“

„Nun werden Sie aber sagen: Wenn ein Mensch jedoch ein Teufel ist, nicht wahr? Ja, aber muß denn die Gesellschaft ebenfalls teuflisch sein? Was ist das anders als niedrige Rachsucht? Es mag ja Zeiten gegeben haben, wo all das am Platze war — aber heute? Das Leben wäre ja wohl nicht mehr so bequem und so ungefährlich, das mag sein. Aber wäre es nicht besser, wenn es ein wenig mehr gefährlich wäre und dafür gerechter? Übrigens haben schon viele Leute darüber nachgedacht und Reformen geschaffen, zum Beispiel in Amerika. Man kann nicht leugnen, daß es allmählich etwas lichter wird. Von der Todesstrafe will ich ja gar nicht sprechen.“

Adele dachte nach. Sie schüttelte den Kopf. „Wie soll man es aber anstellen?“ fragte sie. „Soll man die Verbrecher etwa alle auf eine Insel verschicken?“

„Nein, dann kämen ja auf dieser Insel alle Verbrecher und Kranken zusammen.“

Grau entwickelte ihr seine Gedanken. Arbeit und Schulen, Gelegenheit den Gefallenen gesund zu machen.

„Schulen?“

„Ja, Schulen, die ihn erziehen, die ihm die Augen öffnen, ihn auf ein höheres Niveau der Anschauung vom Leben, vom Menschen, der Gesellschaft stellen. Frische Luft, gute Nahrung, viele Bewegung, Spaziergänge in Wald und Feld. Die Arbeit kann ja hart sein, in Bergwerken, Steinbrüchen, das ist einerlei, aber sie darf nicht alle Zeit in Anspruch nehmen, kaum die Hälfte des Tages.“

Adele hatte noch eine Frage. Nämlich, wenn das alles nichts helfe und der Verbrecher rückfällig werde.

Wiederum Bergwerke, Steinbrüche, Schulen. Ja, wenn er wolle, könne er ja sein ganzes Leben in den Bergwerken arbeiten und täglich ein paar Stunden spazieren gehen.

Ob Herr Grau nicht glaube, daß dadurch die Ziffer der Verbrecher steige, bei dieser linden Behandlung?

Nein, nimmermehr glaube er dies! Das moralische und ethische Bewußtsein des Volkes würde gerade dadurch gehoben werden.

Hm. Ja, aber es gäbe Verbrecher, eigenartig angelegte Menschen, die nicht eine Spur von einer moralischen oder ethischen Anlage in sich hätten, es seien oft die schrecklichsten —

„Ein Landhaus für sie in einsamer Gegend, ein Stück Gartenland.“

„Ein Landhaus!“ Adele lachte unwillkürlich. Grau errötete. Er blickte sie an. „Nun, natürlich, eine Hütte,“ sagte er sanft, „da mögen sie hausen. Man kann sie nicht erziehen, man kann sie nicht bestrafen — aber sie sind aus dem Wege.“ Ja, die Gesellschaft müsse es sich schon einiges kosten lassen, wenn sie leben wolle, wie sie es wünsche.

Sie standen auf der Brücke. „Leben Sie wohl nun,“ sagte Adele. „Das Gespräch hat mich angeregt, ich danke Ihnen.“

„Ich danke Ihnen!“ wehrte Grau ab. „Nicht weil Sie mir so aufmerksam zuhörten, sondern für Ihr Interesse an diesem Gegenstand, Fräulein von Hennenbach.“ Das sagte er mit einem warmen Blick.

„Wie lange waren Sie denn bei den Gefangenen?“

„Leider nur ein Jahr.“

„Leider?“

„Ja. Ich wäre noch gerne bei ihnen geblieben, aber es hat sich nicht so gefügt.“

„Weshalb?“

Grau lächelte. „Die Wahrheit ist die,“ sagte er, „ich habe eine Broschüre geschrieben, die einiges Aufsehen erregt hat, und man hat mich zur Strafe versetzt.“

„Ah!“ Adele gab ihm die Hand.

Grau drückte Adeles Hand und sagte ganz unvermittelt: „Ich sehe Sie dann und wann in Ihrem Parke gehen, Fräulein von Hennenbach. Einmal da trugen Sie ein brennend rotes Kostüm. Sie kamen auch bis an die Mauer, es war ein japanisches Kostüm denke ich —“

Ja, es sei für den Liederkranzball am Faschingsmontag bestimmt. Sie liebe es sich zuweilen phantastisch zu kleiden.

„Einmal da gingen Sie ganz in Gold,“ fuhr Grau fort, „es sah aus als ginge ein Sonnenstrahl im Park spazieren, möchte ich beinahe sagen.“ Er sah Adele lange an und dann nickte er. „Ich denke zuweilen an Sie,“ sagte er aufrichtig mit einem Lächeln auf den knabenhaften Lippen, „ich wünsche, daß Ihr Leben reich und herrlich sein möge, denn Sie sind sehr schön! Ich habe stets ein eigentümliches Gefühl, wenn ich Sie sehe, Fräulein von Hennenbach, denn ich hatte einst einen sonderbaren Traum von einer Frau, der Sie sehr ähnlich sind —“

Adele errötete etwas und lächelte, um ihre Verlegenheit und Verwunderung zu verbergen. „Wollen Sie mir diesen Traum nicht erzählen?“

Nein, nein, das sei eine Geschichte für sich. „Leben Sie recht wohl.“ Er lächelte und verbeugte sich, dann nahm er den Blumentopf mit der kleinen roten Tulpe auf den andern Arm und stieg zu Susannas Häuschen hinab. Er hatte Mühe, gegen den Wind anzukämpfen, der heftig über die Felder blies.

Susanna hatte sich geschmückt.

Sechzehntes Kapitel

E in Sonnenstrahl leuchtete in Susannas Stube umher, als Grau eintrat. In Mütterchens Glasschrank, dessen Scheiben halb blind waren, wurde es auf eine Weile tageshell und man sah all die Teller und Tassen, die da standen. Auf dem Fensterbrett, dem Tisch und der Kommode standen Blumen, Tulpen, Hyazinthen und ein kleiner blühender Baum, der genau wie ein blühender Kirschbaum in kleinem Format aussah, die Blumen glänzten und lächelten als der Sonnenstrahl sie berührte und die roten Tulpen glühten als hauche man auf rote Glut.

In der Mitte ihres Gartens saß Susanna und lächelte. Der Sonnenstrahl beleuchtete ihr Gesicht und ihre Augen glänzten wie dunkles Kupfer. Sie hatte sich geschmückt.

Um die Ärmel ihres schwarzen Kleides hatte sie Spitzen genäht, um die Schultern hatte sie ein goldgelbes Seidentuch gelegt, es warf einen warmen Widerschein auf ihr schmales Gesicht. Hinter dem Kopfe lag ein weißes Kissen. Es mochte sein, daß sie sich schlechter fühlte, aber man konnte auch glauben, daß das weiße Kissen den Zweck habe, die schwarzen Haare mehr zur Geltung zu bringen. Diese Haare waren mit größter Sorgfalt frisiert, sie glänzten von irgend einer Salbe, die Zöpfchen, die über die Ohren herabhingen, waren zu Bändern geflochten, und man konnte sich recht gut vorstellen, wie lange solche kleinen müden Hände wohl dazu brauchten.

Sie lächelte als Grau eintrat und ihre Augen glänzten ihm entgegen. „Willkommen, mein Freund! Aber da haben Sie sich ja trotz meines Verbotes wiederum Ausgaben gemacht!“ Sie drohte ihm mit den Finger.

„Entschuldigen Sie nur, Fräulein Susanna!“ sagte Grau und lachte, indem er die kleine Tulpe auf den Tisch stellte. Er legte den Mantel ab, hauchte auf die Fingerspitzen, er stampfte auch mit den Füßen, ganz als ob er zu Hause wäre. „Welche Kälte, dieser Winter scheint kein Ende zu nehmen. Nun, wie geht es?“ Er gab ihr die Hand.

„Gut. Ich habe sehr gut geschlafen.“

„Ich danke Ihnen für Ihren Brief, Fräulein Susanna!“ sagte Grau und hielt Susannas Hand. „Welch ein schöner und unvergeßlicher Brief!“ Sie habe sich gedrungen gefühlt, ihm zu schreiben, denn sie vergäße so vieles zu sagen und manches lasse sich auch nicht erzählen. „Was gibt es neues?“ sagte Grau.

Endlich entzog ihm Susanna sanft die Hand.

„Sie sollten sich am Ofen wärmen,“ sagte sie mit ihrer hohen feinen Stimme, „Sie sehen ganz durchgefroren aus!“

„Ja, neues? Mütterchen hat Streit mit Herrn Eisenhut gehabt; zum hundertsten Male hat er gedroht, ihr zu kündigen.“ Dann die Blumen. „Die weiße Hyazinthe steht so matt da. Übrigens sie riecht am allerfeinsten. Sie riecht wie ein feiner Apfel, nur noch feiner. Die weißen haben überhaupt den feinsten Duft, die blauen oder roten, auch sie riechen fein, aber es ist nicht das gleiche. Betrachten Sie die gelbe Tulpe. Sie hat ihre meisten Tage gesehen, sie stirbt. Sehen Sie, wie sie verzweifelt den Kelch öffnet? Aber so riechen Sie doch daran — wie feinster Zimt, nicht wahr?“

„Hören Sie, welch prächtige Menschen es doch auf der Welt gibt!“ rief Grau aus. „Da haben Sie diese alte Frau Sammet. Was tut sie, diese arme Kirchenmaus? Heute kommt sie wieder zu mir und bringt zwölf Eier und ein halbes Pfund Butter. Ja, sage ich, was soll das eigentlich? Jetzt sind Sie erst vor acht Tagen dagewesen? Sie legt die Eier auf den Küchentisch und die Butter, aber sie rückt nicht mit der Sprache heraus. Es ist Montag, sagt sie. Sie nimmt auch kein Geld. Es ist Montag, sagt sie, sonst nichts. Also scheine ich jeden Montag meine zwölf Eier und das halbe Pfund Butter zu bekommen — ist Ihnen so etwas schon im Leben passiert?“

„Sie ist Ihnen so dankbar, die alte Frau,“ sagte Susanna, „sie weint, so oft sie von Ihnen spricht.“

„Ah!“ sagte Grau und lachte und wandte sich ab. „Da haben Sie es, sie ist ein altes Weib. Wofür, um Gottes willen, sollte sie mir zu danken haben? Nun rennt sie meilenweit in den Dörfern umher, um ihr bißchen Brot zu verdienen, und bringt mir jeden Montag zwölf Eier und ein halbes Pfund Butter — ja, vielleicht ist es ein Pfund, wer weiß es — für nichts, für rein nichts, solche Menschen gibt es unter der Sonne.“

„Sie soll jetzt eine große Kundschaft haben. Sie hat sich einen kleinen Handwagen angeschafft. Das alles hat mir Adele erzählt.“

„Fräulein von Hennenbach?“

„Ja, sie war hier. Sie hat viel von Ihnen gesprochen.“

„Wie freundlich von ihr.“

„Adele hat mir das seidene Tuch hier geschenkt, auf eine kleine Äußerung hin, auch die Spitzen hier. Ich habe nur gesagt, die Ärmel des Kleides sehen so kurz aus. Von ihr habe ich eine ganze Menge Neuigkeiten!“ Susanna lächelte schelmisch und wichtigtuend. In ihren pechschwarzen Augen glänzten goldene Funken, Reflexe des Seidentuches. „Sie haben die alte Frau Sammet auch aufgefordert im Pfarrhaus zu wohnen, ist es nicht so?“

Grau sah erstaunt auf. „Grundgütiger Himmel, welch eine Stadt ist das doch!“ sagte er. „Jeder Pflasterstein scheint ein Ohr zu haben. Ja, ich habe der alten Sammet dieses Anerbieten gemacht, weil ich vier Zimmer habe und weil ich dachte, sie könnte mir vielleicht ein wenig in der Wirtschaft helfen —“

„Aber Sie tun ja alles allein, nicht einmal die Stiefel lassen Sie sich von der Küstersfrau putzen.“ Susanna lachte.

Susanna lächelte. „Wenn Sie wüßten, was ich alles erfahren habe! Ja, bei Gott, das ist eine Stadt, jeder Pflasterstein scheint ein Dutzend Ohren zu haben, da haben Sie recht!“ Sie lachte und klatschte ein wenig in die Hände. Dabei verrückte sich das Kissen hinter ihrem Rücken und Grau eilte, ihr behilflich zu sein. Aber Susanna wurde dunkelrot und wehrte ab. Sie wollte nicht, daß er sehe, daß sie ausgewachsen war. „Es betrifft ihn, Herrn Eisenhut,“ fuhr sie leise fort, „er ist hier und Mütterchen spricht mit ihm — wegen einer Rechnung von zwölf Mark ist ein langwieriger Krieg zwischen den beiden ausgebrochen — es betrifft ihn. Sie wissen nicht, was ich meine? Nein? Wie klug Sie es auch angestellt haben, es ist doch bekannt geworden. Ja, zuerst haben Sie einen Schulknaben herausgefischt und ihm das Versprechen abgenommen, nicht mehr hinter Herrn Eisenhut herzulaufen und Spottlieder zu singen, auch das Versprechen, daß er niemandem etwas sagen sollte, daß Sie mit ihm sprachen — dann einen zweiten und dritten und auf diese Weise alle zusammen, aber es ist doch bekannt geworden.“

Grau zog die Brauen zusammen, seine Augen wurden groß, er sah niedergeschlagen und unglücklich aus. „Es ist also glücklich herausgekommen, wie?“ sagte er leise. „Ich hätte es mir denken können, wenn ich ein klein wenig mehr gedacht hätte, so hätte ich es mir — ja, es war ein schlechter Einfall. Auf diese Rangen ist kein Verlaß! Ich habe gedacht, sehen Sie, es war so, ich habe es gesehen, wie sie hinter Eisenhut herliefen und sangen. Er war ein wenig angetrunken. Sie sangen und schrieen und tanzten, grausam, wie Kinder sein können, die Polizei wollte sie verjagen, aber das gelang natürlich nicht, und nun sah ich, daß Eisenhut sich gegen alle umwandte und eine hilflose Gebärde machte. Diese Gebärde aber und vor allem sein Blick — nein, wie dumm ich es aber angestellt habe —“ Er schüttelte den Kopf und sah auf den Boden.

Susanna aber lächelte und begann von neuem: „Sodann sagen die Leute, Sie seien eine Art Freidenker und gar kein Geistlicher, wie er sein soll. Auch sagt man, Sie lebten in Feindschaft mit dem Dekan in Weinberg.“

Grau schien gar nicht zuzuhören. Er blickte zum Fenster hinaus. Der Schnee sah eigentümlich rot aus und die Wolken waren kupferrot und drohend. Aber rasch erblaßten die Farben und ein schweres düsteres Grau schlug über die Erde zusammen. Nun wurde das Feuer im Ofen lebendig und tauchte Susannas Gesicht in zarte huschende Glut.

Grau sah Susanna an und lächelte. „Wie schön das Feuer doch Ihr Gesicht macht,“ sagte er leise, gleichsam als spräche er für sich selbst. Dann sagte er: „Was ist doch mit der Bank, von der Sie in Ihrem Briefe schrieben? Sie nannten sie ‚meine‘ Bank, es muß also eine ganz besondere Bewandtnis mit der Bank haben? Wollen Sie mir nicht davon erzählen?“

Susanna zögerte. Aber dann feuchtete sie die Lippen mit der kleinen Spitze ihrer Zunge an und begann: „Wenn man um das Haus herum geht, über den Bach hinüber und dann die Höhe hinaufsteigt, so kommt man an diese Bank. Hier saß ich schon mit zwölf Jahren. Aber nur dann und wann. Später öfter und endlich saß ich jeden Abend dort, wenn die Sonne sank. Die Bank liegt so hoch! Von ihr aus sieht man ein Stückchen von der Stadt und das sieht so friedlich aus, jenes Stückchen, mit den alten Häusern und den vielen rauchenden Kaminen. Dann sieht man die breite Landstraße weit hinab ins Tal ziehen und man sieht auch das Bahngeleise. So hoch liegt die Bank, daß man über das Bahnhofgebäude hinweg noch die Waggons auf den Rangiergeleisen stehen sieht. Noch etwas gutes hat die Bank, sie liegt so versteckt, müssen Sie wissen, daß jemand nahe an ihr vorbei gehen kann, ohne einen zu sehen. Dann hat sie auch im Sommer ein ordentliches Dach aus grünen Blättern, so daß es nicht durchregnen kann. Das ist gut. Hier saß ich und blickte über das Land hinaus und träumte. Ich träumte — ja, mein Gott, ich träumte alle möglichen Dinge hier oben. Ich war jung, ich war fröhlich! Ich träumte und träumte, aber da wurde es ganz eigen mit meinen Träumen. Was war es doch, ja, was sollte es sein? Was wollte ich hier und was nagte an meinem Herzen? — Ich wartete! Ich wartete! Das war es, ich wartete und wußte nicht, worauf ich wartete. Ich wußte es lange nicht, hören Sie, so lange, vielleicht zwei Jahre lang nicht. Aber ich wartete und ich dachte: Ja, worauf wartest du denn eigentlich? Ich wußte nur, daß ich wartete. Was sollte denn kommen, wie und wann denn eigentlich? Nicht wahr? Aber ich saß da und wartete, wartete und die Sonne ging unterdessen unter. Ich glaube, es gibt keinen Menschen auf der Welt, der so oft in die untergehende Sonne blickte wie ich! Auf der Landstraße kam ein Wagen daher, ein Fußgänger, ein Trüpplein Kinder. Sonst nichts. Heute? Ist es das? Ich blickte hin und her, weit hinein ins Land, weit hinab die Straße. Nun war die Sonne gesunken, ich ging nach Hause. Aber etwas in mir wartete unausgesetzt, auch auf dem Weg nach Hause, auch zu Hause, aber richtig und bestimmt wartete ich eigentlich nur oben auf der Bank.“ Sie schwieg.

„Weiter?“ sagte Grau leise. Er saß und sah sie an.

Susanna feuchtete wieder die Lippen mit der Zungenspitze und fuhr fort: „Da saß ich Tag für Tag, da droben auf der Bank, sah die Sonne sinken, und wartete und wußte nicht, worauf ich wartete. So ging der Frühling und der Sommer und der Herbst und so ging der Winter. Ich wartete. Die Tage wurden lang, die Tage wurden kurz. Das konnte man so gut beobachten, am Expreßzug nämlich. Ich höre ihn auch jetzt noch jeden Nachmittag rauschen, aber ich kann ihn nicht mehr sehen, nur die kleine Postkutsche, die gelbe, die sehe ich jetzt. Im Sommer da war es lichter Tag, wenn er kam, er tauchte auf als kleiner Punkt zwischen den Feldern und roten Dächern der fernen Dörfer, flog heran und flog in die Ferne und ließ nichts zurück als einen kleinen Schreck und ein feines Klingen in der Luft. Im Frühling und Herbst da kam er in der Dämmerung, und im Winter da kann man ihn gar nicht sehen, nur ein feuriger Streifen fliegt vorüber und man hört ihn donnern, viel lauter als im Sommer. Da fing es immer mit den Träumen an, wenn ich ihn sah, und ich hatte Sehnsucht mit ihm zu fahren. Ich reise leidenschaftlich gern, aber ich bin nie weit gekommen und nur zweimal kam ich fort. Ich und Mütterchen zusammen, wir sollten einsteigen, wir zwei, unsere Billete in der Hand — er sollte ja extra für uns beide halten! Ja, großer Himmel, wie oft habe ich das gedacht! Wie viele Reisen haben Mütterchen und ich zusammen gemacht! Und denken Sie sich, daß der Zug extra für uns zwei anhalten sollte, alles würde erstaunt sein, die Beamten, die Leute, auch die Reisenden, daß er hält in dieser kleinen Stadt, nicht wahr, ausnahmsweise sollte er anhalten. Vielleicht würde nun kein Platz sein und ein freundlicher alter Herr würde sein Reisegepäck ins Netz legen und zu Mütterchen sagen: Wollen Madame nicht Platz nehmen? Vielleicht wäre es ein Franzose und er würde uns französisch ansprechen. Vielleicht aber würde nun noch nicht Platz für mich sein und der freundliche alte Herr würde die Zeitung zusammenlegen und sagen: Wollen Sie nicht meinen Platz nehmen? Mille merci, monsieur, würde ich sagen, ich stehe sehr gern und sehe zum Fenster hinaus. Der Zug kommt von Paris und geht nach Wien, und von Wien geht er weiter — immer weiter, bis Konstantinopel. Ja, bei Gott, wie viele Nächte schläft man wohl, bis er endlich, endlich hält? Nun, was gibt es da nicht zu träumen? Man konnte einmal nach Paris fahren, einmal aber nach Konstantinopel, wie man wollte. Paris, Paris, dachte ich, so weit ist es, so fern, es lockt, schon der Name, nicht wahr? Und ich dachte an Paris und ich stellte es mir vor wie eine Stadt, in der immer ein Feuerwerk ist und die Leute Feste feiern und in den Straßen ziehen, als ob jeden Tag ein König zu empfangen wäre. Welche Hüte sie dort tragen, welche Kleider, wie sie sich verbeugen, verneigen und alle fein und graziös sprechen und so schnell, daß niemand sie verstehen kann. Dann müßte es auch hohe spitze Türme haben, die in der Sonne funkelten, denn die Dächer der spitzen Türme waren vergoldet. Und die Museen so still, so kühl, grüne Grotten, und da müßten die Statuen aus Marmor stehen, so schön und so alt, und die sie meißelten sind lange tot. Von daher kommt der Zug, und er saust und saust und zuweilen heult er in großen Bahnhöfen und wenn Sie hinausblicken, so blenden Sie all die vielen Bogenlampen, die da hängen. Aber je weiter er nach dem Osten fährt, desto niedriger werden die Häuser und ich stellte mir die fremden Städte vor, viele, viele fremde Städte mit dicken, runden Türmen und roten und gelben Dächern. Sogar die Menschen stellte ich mir kleiner vor, dick mit runden Backen, in gelben und roten Kleidern. Wenn Sie nun hinhorchen, was sie sprechen, so verstehen Sie keine Silbe mehr, denn sie sprechen alle eine fremde Sprache. Plötzlich aber hielt der Zug und da sind wir nun. Da ist die Sonne, so viele, viele Sonne und — Palmen! Die Sonne ist wie ein heißer Nebel und wenn Sie gehen, so durchdringt Sie die Sonne und Sie fühlen, wie Sie warm werden und glühen durch und durch und plötzlich kommt ein neuer Geist über Sie. Können Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine?“

Sie blickte Grau an und wartete. Über ihr Gesicht huschte der Schein des Feuers. Sie zog das Tuch um die Schultern, als ob sie friere, und wandte die großen Augen dem Feuer zu. Sie lächelte.

„Können Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine, gerade diese Sonne?“ fragte sie, da Grau nicht antwortete.

„Ja,“ sagte Grau mit auffallend tiefer Stimme. Das aber war wahr, denn er sah diese Sonne vor sich, gerade diese Sonne — er, der so viel von Licht und Sonne träumte — er sah diese Palmen, in einem Nebel von Sonne zittern, genau wie Susanna es beschrieb.

Susanna lächelte und fuhr mit hoher, dünner Stimme fort: „Die Leute aber haben einen Turban auf, rot oder grün oder gelb, mit Edelsteinen übersät, und sie rauchen aus langen Pfeifen. Sie sehen aber so aus als ob sie in Teppiche gehüllt wären, und nun können Sie sich wohl vorstellen, wie das blitzt und funkelt, zumal wenn die Pfeifen aus Gold und Silber und mit Edelsteinen besetzt sind — und wie hübsch sich der Rauch aus dieser Unmenge von Pfeifen in der Sonne ausnimmt. Die Türme sind spitz wie Nadeln und funkeln ebenfalls, es gibt viele, viele Kuppeln aus farbigem Glas, die Sonne leuchtet und leuchtet durch alles hindurch, so daß alles durchsichtig aussieht, die Türme, die Kuppeln, die Leute, die Gesichter, die Palmen, die Kamele und Elefanten — denn da gibt es unzählige! — die Pfeifen — können Sie sich das vorstellen?“

Je mehr Susanna sprach, desto glänzender und größer wurden ihre schwarzen Augen, und je mehr sie von der Sonne sprach, desto mehr fröstelte sie. Zuweilen sprach sie ganz langsam und ihre kleinen abgezehrten Hände beschrieben alles mit, was sie erzählte. Wenn sie Turban sagte, so tat sie, als schlinge sie sich ein Tuch um die Stirne, sprach sie von den Pfeifen, so fuhr sie wagrecht von den Lippen aus mit den Fingerspitzen in die Luft, dann formte sie den Pfeifenkopf und darauf ließ sie die Finger emporwirbeln, daß man den Rauch ordentlich emporsteigen sah. Sprach sie von den Elefanten, so machte sie die Augen klein und listig und zeichnete sich einen langen Rüssel an die Nase. Meistens aber sprach sie hastig, wie im Fieber, und ihre eingesunkene schmale Brust arbeitete krampfhaft. Auf ihren Wangen erblühten giftige Rosen.

Sie fror. Sie legte die Fingerspitzen an die Wangen, ihre Augen fieberten, ihr Mund lächelte.

„Nun rennt einer auf uns zu und schreit und brüllt. Mütterchen bekommt Angst. Was will er nur? fragt sie, dieser Türke. Vielleicht will er deine Tasche tragen, Mütterchen. Ich fühle mich gar nicht wohl bei diesen Ungläubigen. Sage ich: Sie glauben an Gott wie wir, Mütterchen, und plötzlich spreche ich türkisch! Hören Sie, ich spreche türkisch! Ich öffne den Mund und es geht, ich verstehe, ich spreche. Haha — Mütterchen steht da und staunt, und die Türken paffen aus ihren Pfeifen und lachen über sie. Ich aber erkläre ihnen, daß das meine Mutter ist. Da nehmen sie alle die Pfeifen aus dem Munde, alle, alle, und verneigen sich bis zur — bis zur Erde —“

Susanna hielt inne und lauschte.

Man hörte Mütterchen in der Küche draußen mit Geschirr klappern. Man vernahm auch Eisenhuts Stimme. Er sagte etwas und Mütterchen machte pst, pst! Aber Eisenhut kümmerte sich nicht darum. Er sagte laut: „Ach was! Machen Sie doch keine solche Wirtschaft! Es ist sein Beruf Krankenbesuche zu machen, dafür wird er ja bezahlt, punktum.“ Er sagte es absichtlich laut, damit man es durch die Türe höre. Mütterchen schrie leise auf und sagte: Pst, pst! Eine Tasse klirrte am Boden und Eisenhut lachte belustigt. Er meckerte nicht, er lachte ganz anders als sonst.

Es war still im Zimmer und man hörte die kleine Uhr ticken und schnarchen, denn die kleine Uhr hatte die Angewohnheit zuweilen zu schnarchen, als ob sie aufatme.

Susanna errötete, ganz langsam stieg ihr das Blut ins Gesicht, während sie die großen Lider niederschlug, die an die Lider eines Vogels erinnerten. Sie saß still, bewegungslos und wagte kaum zu atmen.

„Wie geht es weiter mit Ihren Türken?“ fragte Grau.

Aber Susanna wandte ihm den Blick zu, mit einer hilflosen Bewegung der Hände flüsterte sie hastig: „Er hat getrunken, Sie hören es am Lachen. Er hat auch sein Gewehr dabei, da steht es zumeist schlimm um ihn. Dann kann er so boshaft sein, so schrecklich boshaft.“

Grau lachte. „Er wollte Mütterchen erschrecken, das tut mir leid,“ sagte er absichtlich laut. „Was seine Bemerkung anbetrifft, so weiß er recht gut, daß ich so etwas richtig auszulegen verstehe. Er weiß es recht gut, denn er ist klug, Herr Eisenhut!“

Eisenhut räusperte sich in der Küche.

„Freilich! Sie sind so vernünftig,“ hauchte Susanna. „Nun wird Mütterchen sich aber nicht ins Zimmer wagen?“

„Klingeln Sie ihr!“

Susanna klingelte und Mütterchen erschien zaghaft in der Türe. Sie trug ein Servierbrettchen in der Hand.

„Die Zeitung — die Zeitung, nehmen Sie die Zeitung nur mit!“ rief Eisenhut, dessen gerötetes Gesicht in der Türspalte erschien. Er beugte sich vor und legte ein Zeitungsblatt auf das Servierbrett. „Für ihn, für Herrn Grau!“ fügte er hinzu und lachte und zog die Tür zu.

Susanna wurde glühend rot. Mütterchen wagte Grau nicht in die Augen zu blicken. „Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?“

Grau dankte. Er wechselte einige Worte mit Mütterchen und Mütterchen schlich sich wieder hinaus.

„So ist es gut!“ sagte Susanna mit einem dankbaren Blick. „Nun ist sie glücklich! Was ist es denn mit der ‚Zeitung‘?“ fragte sie. „Was will er nur damit?“

Grau fand eine angestrichene Notiz: Der Geselle Anton Hammerbacher hat vor dem Vormundsgericht die Vaterschaft des Kindes der Dienstmagd Margarete Sammet eingestanden. An den Rand hatte Eisenhut geschrieben: „Seiner Aussage ist unbedingter Glaube zu schenken — hahaha! Eisenhut!“

Grau verbarg rasch sein Erstaunen.

„Aber Ihre Notiz in der Zeitung?“ sagte Susanna.

Grau zuckte die Achseln. „Man kann sich täuschen,“ sagte er, „aber kümmern wir uns nicht um diese Geschichten, Fräulein Susanna!“ Wie sonderbar, dachte er, deshalb hat wohl Herr Eisenhut getrunken, weil diese Notiz erschien! Ein merkwürdiger Mann! Er lächelte und wandte Susanna den Blick zu und sie mußte ihn ansehen. Susanna besann sich, was Graus Blick zu bedeuten habe.

„Sie haben nicht zu Ende erzählt.“

Susanna schüttelte den kleinen Kopf. Alle Lust habe sie verloren.

„Sie haben angefangen, Sie müssen fortfahren,“ beharrte Grau und sah Susanna in die Augen, „bis ans Ende müssen Sie erzählen. Sie sind übrigens plötzlich mit dem Expreßzug davon gefahren, und was ist aus Ihrer Bank geworden? Die haben Sie wohl ganz vergessen?“

Susanna sah ganz erschrocken aus. Ja, bei Gott, da habe sie gänzlich diese Bank vergessen! „Wie aufmerksam Sie doch zuhören?“ sagte sie und richtete sich auf. „Ich habe die Bank vergessen, das ist wahr. Ich — ja, lassen wir die Türken sein. Was wollte ich doch bei den Türken? Ich werde Ihnen erzählen, denn ich muß Ihnen alles sagen. Ich muß! Sprechen Sie, wie ist das: Sie sagen, erzählen Sie, Sie sagen ein kleines Wort und ich muß Ihnen folgen. Sie sehen mich an und ich muß. — Adele hat mir erzählt, Sie sind bei einem schwerkranken Flickschneider gewesen, der vor Schmerzen nicht schlafen konnte, und Sie haben zu ihm gesagt: ‚Schlafen Sie‘ und sahen ihn an. Da schlief er.“

Grau schüttelte den Kopf.

„Doch!“ sagte Susanna. „Die ganze Stadt spricht darüber, selbst die Ärzte, denn sie konnten ihn ja nicht mehr einschläfern.“

Grau lächelte.

„Er schlief ja fast schon, Fräulein Susanna. Da legte ich ihm die Hand auf die Stirn und sagte: Schlafen Sie — das ist alles.“

Susanna lachte und hustete. „Ich sagte ja ganz dasselbe, mein Freund, nichts andres. Es ist ja so merkwürdig mit Ihnen. Sie kamen zu mir herein und sofort begann ich zu erzählen, Dinge, die ich noch niemand erzählt habe, und doch waren Sie ein Fremder. Aber ja, ich will fortfahren, lassen Sie mich alles sagen. Es tut gut. Ich liebe es. Wir waren bei den Türken, nicht wahr? Bei den Träumen, ja.“

„Die Sie träumten, während Sie auf der Bank da droben saßen und warteten.“

„Ja, als ich wartete.“

„Sie warteten und wußten es lange nicht, worauf sie warteten. Vielleicht zwei Jahre lang wußten Sie es nicht.“

Susanna lächelte fein. „Wie gut Sie aufmerken!“ wiederholte sie. „Jedes Wort wissen Sie. Ja, damit fing ich an und dann vergaß ich es ganz und verlor mich in Träumen. Es passiert mir jetzt häufig, daß ich den Faden der Erzählung verliere, mein Gedächtnis wird sehr schlecht, auch ist es mir oft so schwer mich zu sammeln. Lassen Sie mich nachdenken. Ich wartete, sagte ich, ja, ich wartete und die Tage gingen, Frühling ging, Sommer ging, Herbst ging, Winter ging — die Jahre gingen und ich wartete. Jeden Abend saß ich da oben auf der Bank und wartete ohne zu wissen, worauf. Ich spann Träume, ich träumte all diese Dinge, von denen ich Ihnen erzählte, immer neues, immer mehr. Aber die Traume füllten mich nicht aus. Es blieb eine große Leere und diese große Leere habe ich fast wie eine Höhlung in mir, in der Brust, gefühlt, wie ein Loch, wo gar nichts war: Das war das Warten. Ich wartete immer sehnsüchtiger, aber nie war ich ungeduldig. Es gab manches in unserer Familie, nicht besonders viel, aber doch einiges. Wie Vater seine Stellung aufgab — da litt ich, für Vater, für Mütterchen, wir standen so allein, wir zwei, und mußten uns verkriechen und allein sein. Wir wollten es auch so. Es ging uns auch zeitweise etwas knapp. Aber ich sage Ihnen, ich habe nie Hunger gelitten, denn Mütterchen, hören Sie, sie kann ja auch aus nichts etwas machen und immer fand sie etwas. Ich war nie ungeduldig. Ich wartete und dachte, man müsse etwas Geduld haben. Es konnte nicht so bald kommen, wiederum aber konnte es doch schon morgen oder übermorgen da sein. Und ich sehnte mich und wartete. Und endlich, endlich, da wußte ich, worauf ich wartete. Ich wartete auf etwas Seltenes!“

Susanna hielt inne und sah Grau an. Ihre Augen waren groß und glühend. „Seltenes!“ wiederholte sie und sie sprach das Wort aus wie ein unheimliches fremdes tiefes Wort. Dann lächelte sie schmerzlich und indem sie ins Feuer starrte fuhr sie fort: „Auf etwas Seltenes und Großes! Nicht auf etwas Alltägliches, nein, auf etwas, das nicht jeden Tag zu den Menschen kommt, auf etwas Seltenes und Großes. Vielleicht so groß und selten, daß mein Herz es nicht ertrüge. Aber was würde wohl größer, süßer und seltener sein, als eben etwas, das unser Herz nicht ertrüge? Oh, so unfaßbar sollte es sein. Ich stellte mir das Unfaßbare, dieses Seltene vor. Es erfüllte mich, es blendete mich und oft schlug ich die Hände vors Gesicht und lachte und weinte: Weil es so groß, so herrlich, so blendend und so selten war. Aber ich wußte ja nichts davon?“

Susannas Stimme sank zu einem Flüstern herab, das Lächeln irrte hin und her auf ihren Lippen, sie senkte den Kopf. Sie fügte leise und singend hinzu: „Und ich träumte davon — wie es wohl sein würde — wenn das Seltene mich verklärte — wenn es mich niederbeugen würde mit seiner süßen Schwere — niederbeugen — wie der Tau — der Tau die kleine Glockenblume niederbeugt — wenn der große Tag erschien, da es kann —“

Susannas Stimme erstarb. Sie lächelte und blickte in das Feuer. Lange. Aber dann, mit einer plötzlichen, unerwarteten Bewegung schlug sie die Hände heftig vors Gesicht und krümmte sich zusammen. Sie krümmte sich wie unter einer Last, sie bog den Kopf und die Brust vor und ihre Stirne drückte sich auf die Knie. Ihre schmalen Schultern zuckten. Das geschah so schnell und mit solch schmerzlicher Leidenschaft, daß Grau erschrak und vom Stuhle auffuhr. Susanna krümmte sich tiefer und preßte die Stirn zwischen die Knie, ihre Schultern zuckten und sie begann am ganzen Körper zu beben. Plötzlich fing sie an zu husten. Sie hustete pfeifend und schrecklich, sie nahm eine Hand vom Gesicht und winkte Grau, hinauszugehen.

Grau verließ das Zimmer. Ihm schwindelte und sein Herz pochte laut in der Brust. Es war kalt hier außen, die Dämmerung war grau und des Winters trübes, vergrämtes Gesicht stand riesengroß über die Erde gebeugt.

Er ging wieder hinein. Susanna lächelte heiter. Sie war sehr bleich. Sie reichte ihm die Hand hin und sagte: „Vergessen Sie es. So töricht war es von mir. Wie konnte es doch so heftig über mich kommen! Es ist ja nicht so, schon lange ist es ja nicht mehr so.“

„Erzählen Sie weiter!“ sagte Grau leise und blickte Susanna an.

Und Susanna fuhr fort: „Es verging ein Jahr und wieder ein Jahr, Jahr um Jahr verging. Nein, es kam nicht! Und so ist es: Zuerst, da hat die Frage gesungen in mir. Es klang: Wann kommt es? Und ich bebte vor Sehnsucht und Freude der Erwartung. Ich stand auf dabei und mußte einige Schritte gehen. Die Zeit verstrich und nie kam es. Nun sang die Frage nicht mehr in mir. Nun war es ganz leise und ohne Musik: Wann kommt es? Und ich bebte wohl noch ein bißchen, aber es war nicht das alte Beben, ich stand auch nicht mehr auf, nein, ich fühlte wie die Füße mir etwas schwer wurden. Und jetzt? Jetzt weiß ich, daß es ein Traum war, der Traum eines jungen Mädchens, wie jede ihn träumt. Ja, aber doch denke ich zuweilen noch — zuweilen klingt es noch in mir: Es kommt doch, es kommt doch!“

Sie lächelte und blickte Grau an.

Und Grau sagte leise: „Warum sollte es nicht mehr kommen?“

Susanna schüttelte langsam den Kopf. Sie antwortete nichts. Dann schüttelte sie wieder den Kopf und sie sagte heiter: „Nein, ich glaube es nicht mehr, das ist es. Früher hoffte ich und ich glaubte, daß es käme, jetzt hoffe ich zuweilen noch — ach, selbst wenn man verzweifelt, hofft man ja noch — aber ich glaube es nicht mehr. Ich bin nicht unglücklich. Das kommt vielleicht von der Krankheit, daß ich nichts mehr wünsche. Einen Wunsch habe ich noch, wissen Sie welchen?“ Aber ehe Grau antworten konnte, fügte sie hinzu: „Ich möchte noch einmal die Blumen auf dem Felde sehen.“

Grau stand hastig auf und ging in der Stube umher. „Hören Sie, Fräulein Susanna,“ sagte er und lachte halblaut, „hören Sie, Fräulein Susanna,“ wiederholte er und lachte, „Sie sind bescheiden, das muß man sagen, zu bescheiden!“

Susanna betrachtete ihn erstaunt und folgte ihm mit den Blicken.

Grau ging an ihren Sessel heran und lächelte. „So übermäßig bescheiden brauchen Sie nun gerade nicht zu sein. Vielleicht werden Sie noch die Welt sehen, ja, wer kann es wissen, vielleicht werden Sie noch dieses Paris sehen, wo ein ewiges Feuerwerk knattert und die Statuen in den kühlen, grünen Grotten der Museen stehen und diese Sonne, die wie ein heißer Nebel ist, diese Muselmänner mit den Pfeifen. Sie und Mütterchen, wer kann es denn wissen? Und das, worauf Sie warten, das Seltene, ja, warum um alles in der Welt sollte es denn nicht mehr kommen? Nun sind Sie krank und müde, aber sobald es Frühling wird — meine Freundin, meine liebe Freundin?“

Susanna blickte ihn an und ihre Augen füllten sich langsam mit Traurigkeit. Sie schüttelte langsam den Kopf und lächelte mit den traurigen Augen. Sie sagte nichts.

„Sobald es Frühling wird,“ wiederholte Grau, und seine Augen nahmen einen bannenden Ausdruck an, „da werden Sie ganz anders denken!“ Er lächelte und begann im Zimmer umherzugehen. Sie sprachen nichts mehr. Die Uhr tickte und schnarchte und in der Küche draußen gackerten die Hennen, die gefüttert wurden. Grau stand am Fenster und blickte hinaus, der Schnee leuchtete in tiefem Violett. Er ging an den Glasschrank und blickte hinein, er betrachtete eine Photographie an der Wand. Von Zeit zu Zeit richtete er den Blick auf Susanna. Es wurde ganz dunkel im Zimmer. Plötzlich ging Grau auf Susannas Sessel zu. Es war so dunkel, daß er nur ihre Hände, ihr Gesicht und den Glanz der Augen sah. Er legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls und blickte Susanna lange an.

„Haben Sie da droben auf der Bank nicht auch von Liebe geträumt?“ fragte er flüsternd.

Susannas Blick wurde starr. Ihr Gesicht sah plötzlich viel dunkler aus, sie errötete. Sie regte sich nicht, sie sah ihn an.

Grau ging langsam weg; er trat ans Fenster. Hier stand er lange, dann verabschiedete er sich hastig. „Grüßen Sie Mütterchen, Susanna,“ sagte er. „Auf Wiedersehen.“ Er ging.

Als er das Gärtchen durchschritten hatte, blieb er am Türchen stehen und zögerte es ins Schloß zu werfen. Er blickte auf das Fenster und wartete. Da erschien ein kleines, fahles Gesicht an der dunkeln Scheibe, er warf das Türchen ins Schloß und ging rasch weg.

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

D er Liederkranzball bildete den Glanzpunkt des gesellschaftlichen Lebens in der kleinen Stadt und kehrte seit undenkbarer Zeit ebenso sicher wieder wie der Faschingsmontag. Die ganze Stadt lebte davon, ob man nun dabei war, am Hotel stand und die Masken hineingehen sah, oder nur die Berichte des „Gauboten“ las, der alle Reden, humoristischen Vorträge usw. ausführlich brachte, ganz einerlei. Für dieses Jahr hatte der „Gaubote“ als Programm angekündigt: Im Reiche der Mitte. „Nachdem am Sonntag ein lustiges Maskentreiben die sonst vom gewerblichen Fleiß widerhallenden Straßen unserer geliebten Vaterstadt erfüllte —“

Dieses lustige Maskentreiben bestand darin, daß ein paar Hanswurste mit Schweinsblasen knallten und ein als Frau verkleideter Schlotfegergeselle auf einem Fahrrade hin- und herraste, abgesehen von einigen Kindern, die als Tiroler, Rotkäppchen und Clowne verkleidet in den Straßen einherstolzierten.

Auch von dem Ball des Liederkranzes zu reden würde sich kaum lohnen, wenn sich dabei nicht einige recht sonderbare Dinge ereignet hätten.

Grau war von verschiedenen Seiten eingeladen worden, aber er hatte keine Lust, den Ball zu besuchen. Er verbrachte den Abend in der Gesellschaft von Susanna und Mütterchen.

Sie leerten jene Flasche Rotwein, die Grau von seinem Freunde, dem Gefängnisdirektor, seinerzeit auf die Reise mitbekommen hatte, sie tranken, lachten und plauderten und Mütterchen hatte ordentlich aufgekocht. Es war schon spät als Grau aufbrach um nach Hause zu gehen. Er schritt über den Marktplatz und plötzlich bemerkte er einen Burschen mit heller Bluse, einer niedrigen Kappe und einem starken Nacken; der Bursche stand gerade vor dem festlich beleuchteten „Elefanten“ und blickte ins Tor hinein. Es war Hammerbacher. Grau blieb stehen.

Er suchte Hammerbacher seit einigen Tagen, konnte ihn aber nirgends finden. So viel er hörte, hatte der Geselle seine Stelle verlassen und trank mit einigen Burschen in den Wirtschaften der Umgebung — seit jenem Tage, da die Notiz in der Zeitung gestanden hatte.

Grau war so erregt, daß er augenblicklich auf den Burschen zugehen wollte, aber er besann sich. Er ging über den Platz und beobachtete von hier aus den Burschen. Hammerbacher ging hin und her, wie ein Posten. Zuweilen stampfte er auf den Boden, um die Füße warm zu halten, und jedesmal, wenn er am Tore vorbei kam, blieb er eine Weile stehen und lugte hinein. Er schüttelte den Kopf, blickte auf die Uhr und begann wiederum seine Wanderung. Er wartete! Ja, natürlich, er wartete! Es gab nichts mehr zu sehen, kein Mensch stand mehr vor dem Hotel, es war überdies empfindlich kalt. Aber Grau wollte ganz sicher gehen, er ging unten am Platze eine halbe Stunde lang auf und ab, während Hammerbacher vor dem Hotel Posten stand. Ein merkwürdiger Gedanke stieg in ihm auf.

So rasch wie möglich eilte Grau nach Hause, kleidete sich um und nach einer kleinen Weile kam er wieder rasch die Stufen herab.

Die helle Bluse Hammerbachers leuchtete gerade unter dem Tore. Er wartete immer noch.

Grau berührte Hammerbachers Schulter und sagte: „Wünschen Sie, daß ich den Herrn herunterrufe, ich gehe gerade hinein?“

Hammerbacher fuhr herum, er blickte Grau erschrocken an, schlug die Augen nieder und nahm die Kappe ab. „Guten Abend.“

„Nun, wie steht es, soll ich den Herrn herunterrufen? Es ist nicht sehr angenehm zu warten in dieser Kälte, nicht wahr?“

„Welchen Herrn?“

„Wie gut wir uns verstehen!“ sagte Grau und blickte den Burschen scharf an. „Ist es nicht merkwürdig, wie gut wir uns verstehen?“

Hammerbacher lächelte verlegen. „Ich habe damals gelogen, als ich bei Ihnen war, aus Not — sie ließen mir keine Ruhe mehr — dieses Gestichel —“

Grau schüttelte den Kopf: „Wie konnten Sie nur so etwas tun?“ sagte er mit mildem Vorwurf. „Das hätten Sie nicht tun sollen, es hat Sie befleckt für immer. Nein, sagen Sie mir nichts, ich weiß wohl, wann Sie gelogen haben, Hammerbacher. Damals haben Sie nicht gelogen, denn damals konnten Sie gar nicht lügen, das wissen Sie recht wohl!“

Sie hätten ihm ja keine Ruhe mehr gelassen.

Grau schüttelte den Kopf. „Geben Sie sich weiter keine Mühe mehr!“ rief er zornig aus. „Ich habe mir recht wohl gedacht, daß Sie zu Dem und Jenem fähig sein könnten, deshalb habe ich Ihnen so dringend nahe gelegt das Andenken jenes unglücklichen Mädchens hoch zu halten. Seien Sie nur still! Ich will Ihnen das eine sagen, daß Sie von meiner Seite aus nicht das geringste zu befürchten haben werden. Aber ich werde nicht ruhen — ich werde nicht eher ruhen! — bis ich jenen Herrn gefunden habe, der Sie beschwätzt hat, um ihn an seine Pflicht zu erinnern. Sagen Sie ihm das! Leben Sie wohl — wenn Sie einmal einen Rat brauchen, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Es läßt sich noch alles in Ordnung bringen, überlegen Sie es!“

Grau stieg hinauf in den Saal, wo er mitten in den Trubel des Festes trat.

Der Saal war angefüllt von Menschen, er war so voll, daß man sich kaum bewegen konnte. Alles lachte, schrie, riß den Mund auf, alle waren in übermütiger, vom Tanzen und Trinken erregter Stimmung. Eine Menge von Chinesinnen und Chinesen in allen denkbaren Kostümen und Farben schob sich hin und her und wo man hinsah, erblickte man Zöpfe, Pfauenfedern, Schirme, Fächer, breite chinesische Hüte, in fortwährender Bewegung. Der Saal aber hatte sich verwandelt in eine chinesische Straße mit Tee-, Kaffee-, Sekt-, Wein-, Bier- und Verkaufsbuden; bunte schmale Tücher mit phantastischen Drachen und Schriftzeichen hingen von der Decke herab und überall brannten Lampione in allen Farben und Formen, klein, nicht größer als eine Faust, mächtig groß und dick wie ein Faß, glühend rot, zart und schimmernd und manche verblaßten vollständig in all dem Rauch und Dunst, der aus der lachenden, treibenden Menge emporstieg.

Grau hatte keine Zeit alles genau zu betrachten, er begann augenblicklich fieberhaft zu suchen.

Der erste Bekannte, den er sah, war Eisenhut. Er trug ein unglückliches, gelbes Kostüm, eine Art Sack mit weiten Ärmeln, eine gelbe runde Mütze und merkwürdigerweise einen hohen Stehkragen, in den er den Spitzbart drückte, so daß er wie ein Pinsel vorsprang. Er trug eine gelbe Maske, aber jeder mußte ihn sofort erkennen, an seinem Spitzbart, den tiefen Furchen um den Mund, der Körperhaltung. Er schlich sich durch die Menge und seine kleinen Augen lugten mit komischer Lebhaftigkeit aus den Schlitzen der Maske, er ging, als wolle er alles sehen und selbst nicht gesehen werden.

Einen Augenblick lang ruhten ihre Blicke ineinander, aber Grau blickte weg, als ob er ihn gar nicht kenne. Er wollte ihm die Freude nicht rauben. Zwei Chinesinnen stürzten auf Eisenhut zu und drängten ihm Zigaretten auf, aber Eisenhut machte eine ärgerliche Handbewegung und entfloh zu einer Weinbude, wo er rasch ein Glas Wein hinunterstürzte.

Die Menge kam aus irgend einem Anlaß in Bewegung und Grau wurde dicht ans Orchester gedrückt, wo ihm die Baßtrompete direkt ins Ohr plärrte. Er verlor Eisenhut aus den Augen. Plötzlich wurde er von zwei Seiten angepackt. „Herr Grau, Herr Grau!“

Es waren die Schwestern Sinding, die ihn bestürmten, Sie hatten glühendrote Wangen. In ihren losen Kostümen sahen beide etwas dick aus. Hahaha, also er sei doch hier! Welch ein Lärm, abscheulich, puh! Aber er sei wohl Nichtraucher?

„Wir haben Zigaretten zu verkaufen — buh, buh!“ Klara Sinding winkte der Baßtrompete still zu sein. „Es geht lustig zu! Ja, wir sind heute alle vergnügt!“

„Im Gegenteil, ich rauche leidenschaftlich gern!“ sagte Grau und er erstand ein Paket Zigaretten.

„Wie gefällt es Ihnen? Bitte, Feuer!“

„Ganz prächtig!“ sagte Grau und paffte. „Ganz herrlich ist das.“

Die beiden Mädchen sahen einander an und dann riefen sie wie aus einem Munde aus: „Aber wir haben ja ganz vergessen zu gratulieren! Herzlichsten Glückwunsch! Allerherzlichsten Glückwunsch!“

„Danke! Danke!“ Grau verneigte sich.

„Wir waren so überrascht, als wir es in der Zeitung lasen! Und wie sehr wir uns gefreut haben! Wie glücklich Susanna ist! Und Mütterchen erst! Mütterchen hat die Zeitung mit der Anzeige naß geweint! Ja, so herzlich haben wir uns darüber gefreut! Wir lieben Susanna!“ Hahaha — diese ganz abscheuliche Baßtrompete!

Sie plauderten und es trat noch eine Chinesin zu ihnen, ein hoch aufgeschossenes Mädchen mit vorstehenden langen Zähnen, die eine eigentümliche Art hatte den Kopf langsam auf den Schultern zu drehen. Dann rannte eine pechschwarze Jüdin heran, die Grau einen Fächer aufschwätzte, es kam noch eine Chinesin, die Orangen zu verkaufen hatte, ein kleines häßliches Mädchen mit stumpfer Nase und großen Ohren, eine andere, und schließlich stand ein ganzer Kreis von Mädchen um Grau herum. Alle lachten, schwätzten und sahen Grau an.

„Gestatten Sie, daß ich vorstelle — Fräulein Anna Mohr —“

„Keine Namen, keine Namen! Es ist ja Fasching!“ schrien die Damen.

Grau lachte und rauchte die Zigaretten. „Ich habe gar nicht gewußt, daß es so viele schöne Damen in der Stadt gibt?“ sagte er und sah alle der Reihe nach an. Sein Blick war ruhig und rein.

Die Mädchen lachten.

„Wir wollen ihn fragen —“ Aber ja! Sie wollten fragen, welche die schönste von ihnen sei.

„Welche ist die schönste von uns allen,“ sagte Klara Sinding, jene, die das kleine Mal auf der Wange hatte.

„Die schönste?“ Grau blies den Rauch durch die Lippen. Das sei eine sehr schwierige Frage. Er errötete ein wenig, denn alle blickten ihn an und ihre Gesichter sahen aus, als ob sie auf eine Gelegenheit warteten, herauszuplatzen mit Gelächter. Er sah eine nach der anderen an und fügte hinzu: „Das ist schwer zu sagen, denn ich kenne ja die Damen kaum. Aber Sie meinen — so nach dem ersten Blick zu urteilen — aber auch das ist schwer, denn sobald ich glaube jene Dame sei die schönste, springt mir etwas im Gesichte einer andern Dame in die Augen — ja, es ist unmöglich.“ Er blickte zuerst das kleine häßliche Mädchen mit der stumpfen Nase und den großen Ohren an und sagte: „Bei Ihnen, mein Fräulein, da sind es die Augen, es sind die schönsten silbergrauen Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe —“ das Mädchen errötete und lachte allen verlegen ins Gesicht — „bei Ihnen, mein Fräulein, sind es vor allem die Wangen, die so zitternd weich sind und von eigentümlichen Rot — bei Ihnen sind es die Brauen und die Schläfen —“

Die Mädchen lachten und schrien durcheinander und machten solchen Lärm, daß alles nach der Ecke blickte. Nein, das sei ja keine Antwort — aber nein — wir sollten ihn fragen wer die klügste von uns allen ist —! Sie fragten.

„Die klügste? Aber, bitte, meine Damen, das ist ja noch schwerer!“ Grau lachte. „Wenn ich aber nun etwas Bestimmtes sagen soll, so erkläre ich dieses Fräulein hier für die klügste von allen. “ Es war das kleine häßliche Mädchen. Gelächter. Die Damen klatschten in die Hände. Das kleine häßliche Mädchen sagte mit tiefer Stimme: „Ich war stets die Dümmste im Institut!“ Aber sie lächelte.

Grau lächelte ebenfalls. „Was sollte das beweisen? Ich werde den Damen eine Frage vorlegen und wir werden es gleich sehen. Hören Sie zu —“

Aber ja! Das würde ja schrecklich interessant werden.

„Wie hübsch er plaudert!“ flüsterte das hochaufgeschossene Mädchen der Jüdin ins Ohr. Die Jüdin ließ ihre Augen funkeln. „Ja,“ wisperte sie, „er ist so jung und schön. Siehst du, wie schüchtern er ist — er zittert immer ein wenig.“ „Pst, er hört dich.“

Die Mädchen brachen in heiteres Gelächter aus. Klara Sinding also würde eine Nadel nehmen und in die Bohnen stechen. „Es ist aber verboten, die Bohnen irgendwie mit der Hand oder sonst etwas zu berühren.“ Die jungen Damen öffneten die Münder und blickten einander verdutzt an: Ja, große Güte, da liegen nun zwölf Bohnen auf dem Tische, zwölf weiße Bohnen, alle ganz gleich, und unter ihnen ist eine Bohne aus Elfenbein, ganz wie die andern, wie könnte man sie doch herausfinden?

„Nun werden wir es gleich sehen, wer die Klügste ist!“ sagte Grau und lachte. Die Damen dachten angestrengt nach. Sie brachten die abenteuerlichsten Projekte vor, aber es stellte sich immer heraus, daß sie unbrauchbar waren.

Grau wandte sich an das kleine häßliche Mädchen. Sie schüttelte den Kopf. Sie habe ja von vornherein erklärt, daß sie die Dümmste sei.

„Ich werde Ihnen etwas helfen,“ sagte Grau lächelnd und blickte sie an. Plötzlich nun schrie das kleine Mädchen aus vollem Halse: „Ein Huhn!“

„Ein Huhn! Hahaha, ja, mein Gott —“ die Mädchen schüttelten sich vor Lachen. Wer sollte auch daran denken! Es sei das Ei des Kolumbus!

Das kleine häßliche Mädchen aber sagte ganz verwirrt: „Es ist ganz merkwürdig, ich habe ja gar nicht daran gedacht und plötzlich ist mir der Gedanke gekommen — gerade als Herr Grau sagte, er wolle mir ein wenig helfen —“ Sie blickte mit verwirrten, fast scheuen Augen auf Grau.

Grau lächelte. „Die Damen müssen mir den Scherz vergeben. Denn es war ja ein Scherz. Ich maße mir keineswegs an, Behauptungen solch kühner Art aufzustellen. Mein Beispiel ist ebenfalls schlecht gewesen, das erste beste, das mir in den Kopf gekommen ist, natürlich. Klugheit und Scharfsinn, rasches Denken und langsames Denken, das ist ja alles so verschieden — ich weiß das wohl, aber da sie mich nun gerade gefragt haben —?“

Das Orchester spielte die ersten Takte eines Walzers und die jungen Mädchen machten Miene auseinander zu stieben.

„Auf eine Sekunde noch!“ bat Grau; und nun lud er sie alle zu einer kleinen Feier bei Susanna ein. Er wollte ihnen mitteilen, wann die kleine Feier stattfinden sollte — Fräulein Sinding wäre vielleicht so gütig ihm die Adressen der Damen aufzuschreiben —?

Die Mädchen lachten, waren etwas verblüfft und sagten alle zu. „Ja, natürlich, natürlich.“ Sie schrien, was sie konnten.

Wirklich liebenswürdige Mädchen, sagte Grau ganz gerührt zu sich selbst, mischte sich in die treibende Menge und spähte nach links und rechts aus.

Er wanderte im Saale umher, blickte in den Tanzsaal, wo alles wirbelte und fegte, musterte jede Gruppe. Er begegnete einigemal Eisenhut, aber der schien es nicht zu sein, den er suchte, denn er hörte nicht auf umherzuspähen. Er begrüßte da und dort Bekannte, aber er ließ sich nicht in Gespräche ein. Über einer Gruppe von Köpfen, Hüten, Glatzen sah er etwas ungeheuer Schönes, eine feine Bewegung, eine feine Hand, kurz und huschend; das war Adele. Grau blieb stehen und blickte zwischen einem großen chinesischen Schirm und einer geschminkten Wange hindurch auf die Gruppe. Zufälligerweise schneuzte sich ein Herr und zufälligerweise einer jener Herren, die sich beim Schneuzen verneigen. So oft der Herr sich verneigte, sah er Adeles Gesicht. Sie lachte gerade heiter und übermütig.

Dann zwängte er sich wieder zwischen den Masken hindurch und spähte in jeden Winkel. Vielleicht doch unter den Tanzenden? Er stand an der Türe des Tanzsaales und blickte aufmerksam in jedes Gesicht.

Da berührte jemand leise seine Schulter und Adele stand vor ihm.

Zweites Kapitel

I n purpurroter Seide stand sie da. Mächtige, weitausgreifende Chrysanthemen waren in lackroter Farbe auf das Kostüm gestickt. Ihr Hals war frei, er war lang und weiß und ganz besonders nackt, die Linien ihrer weißen Arme verschwammen in den weiten hängenden Ärmeln und ihre schmalen Hände waren besät mit Ringen, sie waren gleichsam gepanzert mit flimmernden Steinen. Ihre schwarzen Haare waren zu einer Art lebendigem Helm geflochten, durch den ein silberner Pfeil sauste. Große gelbe Rosen schmückten das Haar, die Schulter, den Gürtel. Sie lächelte. Ihre Zähne waren so weiß, ihre Lippen so rot. Aber ihre Augen waren hell und tief wie zwei Quellen, auf deren Grund Licht brannte.

Ihr Anblick verwirrte ihn. Er lächelte. Er sah sie an und eine Weile ruhten ihre Blicke tief ineinander. Grau errötete langsam. Adele lächelte.

„Ich gratuliere Ihnen herzlich, mein Freund!“ sagte sie dann.

„Danke!“ Adeles Hand war brennend heiß.

„Susanna wird wohl sehr glücklich sein. War sie nicht ein wenig überrascht, als Sie um ihre Hand anhielten?“

Sie sei einigermaßen überrascht gewesen, ja. Es habe einen langen Kampf gekostet, bis sie einwilligte.

Adele blickte ihn mit einem eigentümlichen Blicke an. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, dann öffnete sie die Lippen zu einem schnellen Lächeln. „Heute ist Fasching!“ sagte sie. „Kommen Sie, wir wollen fröhlich sein. Ich bin in solch ausgezeichneter Stimmung. Sie sollen mir etwas erzählen, wollen Sie? Sehen Sie den Kiosk dort? Dort bin ich engagiert, wir machen Geld. Oh, wie heiß es ist! Und ich habe auch so viel Sekt getrunken.“ Sie preßte die Rücken der Hände an die langen flächigen Wangen und kühlte sie mit den Steinen. „Erzählen Sie mir Ihr schönstes Erlebnis, wir werden dabei umhergehen.“

Grau lächelte. „Mein schönstes Erlebnis erzähle ich nicht,“ sagte er „aber wenn ich Ihnen eines von meinen vielen schönen Erlebnissen erzählen darf? Ein kleines hübsches Erlebnis, wenn Sie wollen. Einmal fuhr ich des Nachts in einem Zuge und an meiner Seite saß ein junges Mädchen, ein auffallend schönes und zartes Geschöpfchen. Sie war sehr müde, immerfort fielen ihr die Augen zu und ihr Köpfchen schwankte hin und her. Ich dachte, wollte sie doch den Kopf an meine Schulter legen — und so geschah es. Plötzlich sank ihr Kopf an meine Schulter, sie schlief. Sie schlief die ganze Nacht an meiner Schulter und atmete so tief.“ Das erzählte er.

„Wie hübsch!“ sagte Adele und lachte. „Sehen Sie die Lauben und all die närrischen Leute? Wie gefällt Ihnen der Ball?“

„Prächtig!“

„Echte Provinz — haha! — echte, gute Provinz, Herr Grau. Ich glaube Sie sind noch nicht oft auf Bällen gewesen, wie? Ich werde Sie später meiner Mutter vorstellen, sie hat mich gebeten darum. Wir werden auch ein Glas Sekt zusammen trinken. Lassen Sie mich eines wissen, können Sie tanzen? Aber ich befürchte Sie können es nicht —“

„Doch,“ sagte Grau, „ich habe tanzen gelernt als ich zwölf Jahre alt war.“

„Unmöglich!“

„Zu Hause, ja. Meine Mutter gab mir Unterricht.“

„Ah! — Ja, das Kostüm ist echt, da haben Sie recht. Ein Onkel, ein Gesandter, hat es mir geschenkt. Auch der Fächer ist echt. Sie sind der erste, der das fragt, denn der Fächer ist ja so schlicht. Oh, welches Geschrei! Sie fühlen sich hier nicht heimisch, wie? Ich protegiere Sie ein wenig, wenn Sie mir das erlauben. Wollen wir jetzt tanzen? Ja! Kommen Sie!“

Sie legte ihre Hand in seinen Arm.

„Sie haben doch in den letzten Tagen soviel Orgel gespielt? Sie waren es doch, nicht wahr?“ fragte sie während sie sich geschickt durch die Menge bewegte.

„Ja, zuweilen kommt es über mich, dann muß ich ganze Tage spielen,“ antwortete Grau.

„Ich hörte es bis in mein Zimmer. Was haben Sie denn da? Einen Ring?“

Graus Finger spielten mit einem Ring, einem schmalen silbernen Reif mit winzigem blauen Stein. Das sei ein Ring, den er sozusagen gefunden habe. Sie habe ihn wohl nicht verloren? Er steckte den Ring wieder in die Westentasche.

Adele lachte. „Ich habe niemals einen solchen Ring gehabt,“ rief sie aus, „sicherlich gehört er einer Köchin. Weshalb sehen Sie mich denn so verwundert an?“

„Tat ich das?“

„Ja, zuweilen können Sie recht wunderlich sein!“

Als sie in den Tanzsaal kamen, war der Walzer gerade zu Ende und die erhitzten Paare strömten heraus. Die Herren wischten sich den Schweiß von der Stirne und grüßten Adele, die Damen wechselten ein paar Worte mit ihr und blickten erstaunt auf Grau, der Adele am Arme führte.

„Warten wir bis zum nächsten Tanze,“ sagte Adele und lächelte. „Hier ist es übrigens kühler. Guten Abend, Klara! Vielleicht könnte man sich auch einen Augenblick irgendwo hinsetzen, nicht wahr? Mein Gott, dieser Herr Eisenhut glaubt, man erkennt ihn nicht. Ist das nicht komisch? Dann werden Sie mir jene Geschichte, erzählen, die Sie mir schon solange schuldig sind.“

„Welche Geschichte? Jede Geschichte, die Sie wollen, natürlich, denn Sie sind so freundlich zu mir, daß ich mich gerne dankbar zeigen möchte, aber ich erinnere mich ja gar nicht —?“

Ein schmetterndes Trompetensignal erscholl und alles rannte in die chinesische Straße hinaus. Herr Bezirksamtmann Häberlein sprach einige Worte, die einen lauten Beifall wachriefen. Ein kleiner Mann mit weißer Künstlermähne trat auf die Bühne. Das war Herr Photograph Leistlein, der eine Extranummer zum besten gab.

Adele lachte. „Was für ein Unsinn! Es ist zu dumm. Sie lachen, weil Sie nicht begreifen können, daß die Leute über einen solchen Unsinn lachen können. Nun sind wir Gott sei Dank allein.“

Der Saal hatte sich geleert und nur zwei junge Mädchen gaben sich gegenseitig Anweisungen im Tanzen; sie hüpften hin und her und kicherten und quiekten. Eine Mauer von Rücken versperrte den Eingang zur chinesischen Straße, die in all dem Rauch wie ein Bild in einem blinden Spiegel aussah. Man hörte Herrn Leistlein in verschiedenen Stimmen sprechen, zuweilen unterbrach ihn rasender Beifall.

„Wie wohl das tut, diese Ruhe!“ sagte Adele und ließ sich auf eine kleine Bank nieder. „Sehen Sie doch, die vielen Lampione, wie hübsch! — Die Geschichte von jener Frau, der ich ähnlich sehe, Sie erinnern sich wohl?“

„Gewiß erinnere ich mich,“ antwortete Grau. „Ist es nicht merkwürdig, daß ich seitdem wieder von dieser Frau geträumt habe? Sie sieht Ihnen übrigens nicht so sehr ähnlich, es ist nur Ihre Art den Kopf zu tragen und vor allem Ihre Augen.“

Adele unterbrach ihn. „Sind denn so schreckliche Dinge in jenem Traume geschehen!“ rief sie lachend aus. „Setzen Sie, sich Herr Grau. Weshalb muß ich Sie erst dazu auffordern? Lassen Sie alles Zeremoniell beiseite, Sie sind auf einem Maskenball und sprechen mit einer Japanerin. Beginnen Sie mit dem Traum. Ein Traum, das war es doch?“

„Danke,“ sagte Grau und nahm neben Adele Platz. „Ja, es war ein Traum. Es war übrigens einer der schönsten und einer der merkwürdigsten Träume, der mir je geschenkt wurde. Es kommt ein Sternschnuppenregen darin vor und was diese Frau mir alles gesagt hat — ich träumte, ja, nun will ich endlich beginnen — ich träumte, daß ein Geist mich dahintrage.“

„Ein Geist?“ Adele stützte das Kinn in die Hand und blickte gerade aus. Sie hatte ein feines anliegendes Ohr.

„Ja. Ein Geist, der wie ein Wind sauste, er trug mich dahin über die Lande in schwindelnder Schnelligkeit durch Wolken hindurch, plötzlich näherten wir uns der Erde und flogen über schlafende Städte, riesige, schlafende Städte mit hohen steilen Häusern. Die Städte waren ohne Licht, ohne Laut, ungeheuer stumm und tot. Sie schliefen und wir flogen an einem Heer von Fenstern vorbei. Ich sah in all diese Fenster hinein und obgleich es dunkel war, sah ich sehr genau.“

„Was sahen Sie denn da?“ fragte Adele.

„Ich sah Kinder, die schliefen, Tausende und Tausende von schlafenden Kindern sah ich, alle schliefen sie, friedlich, müde, gesund, ihre Backen glänzten rot und ihre Münder standen halb offen, ich sah all diese kleinen Brustkörbe atmen, Millionen solcher Kinder habe ich gesehen, es war ja im Traum, gelbe, braune, weiße Gesichter, alle Rassen.“

Eine Lachsalve raste durch den Saal.

„Wie schön!“ Er möge doch fortfahren.

„Ja. Ich denke daran, wie schön es war, nie mehr habe ich soviel Frieden gesehen und auch nie mehr diesen Frieden gefühlt. Aber wie rasch es doch dahinging, mit welch rätselhafter Leichtigkeit ich an diesen Fenstern vorbeischwebte! Nun kamen immer neue Städte, plötzlich tauchten sie stets unter mir auf, riesenhaft und alle schrecklich stumm und tot. Als ich nun in eines der schwarzen Fenster blickte, sah ich zu meiner Überraschung ein kleines Licht im Zimmer brennen und einen Mann, der am Tische saß; er hatte reiches, aber ergrautes Haar.“

„Was tat er?“

„Er tat nichts. Er saß an dem Tische und starrte in das kleine Licht und lächelte seltsam. Ich zog an tausenden von Fenstern vorüber und überall sah ich den Mann mit den grauen Haaren und dem seltsamen Lächeln vor der kleinen Kerze sitzen. Ich sah nicht nur ihn. Ich sah auch andre und alle tausendfach. Ich sah eine Frau, die ein Licht in der Hand hatte und auf einem Stuhle saß. Aber sie las nicht, sie blickte über das Buch weg und lächelte, ebenfalls seltsam. Ich sah einen jungen Mann, der leise tanzte und einen Kuß in die Luft warf, er war sehr bleich und auch er lächelte seltsam, ich sah junge Mädchen, die die Lippen öffneten und ohne Laut sangen. Tag und Nacht könnte ich wohl erzählen, wollte ich all diese Menschen beschreiben, die ich gesehen habe. Alle waren sie allein mit einer kleinen Kerze, wach, während die andern schliefen, alle lächelten sie seltsam. Sie beschäftigten sich alle so sonderbar, lasen ohne zu lesen, sangen ohne zu singen, sie spielten, runzelten die bleichen Stirnen, lächelten, ihre Beschäftigungen waren mannigfacher Art, sie bauten Kartenhäuser, einer hatte ein dickes Buch in Zettel geschnitten und mühte sich damit ab es wieder zusammenzusetzen. Sie waren alle allein. Verstehen Sie?“

„Ah!“ sagte Adele und sah rasch auf. „Es waren die einsamen Menschen der Erde, die Sie sahen. Wie merkwürdig!“

Grau nickte. „Ja, ich denke es. Aber weit merkwürdiger ist es, daß ich wußte, was die Menschen dachten. Vergessen Sie nicht, daß es ein Traum war. Nun habe ich seitdem — es ist ja sechs Jahre her — die meisten dieser Gesichter in Wirklichkeit gesehen, oder es wird richtiger sein, im Traum sah ich alle Gesichter, die ich in der Wirklichkeit gesehen hatte, ein wenig verschieden vielleicht — kurz und gut, ich sage, ich sah die meisten dieser Gesichter in Wirklichkeit und es schien mir nun, als wisse ich, was sie ausdrückten. Ich sehe ein Gesicht auf der Straße und es erinnert mich an eines jener Gesichter im Traume — aber ich wollte das ja nicht sagen, Pardon.“

„Fahren Sie doch fort!“ sagte Adele.

Grau lächelte leise, schüttelte nachdenklich den Kopf und sagte: „Wie sonderbar aber ist es doch, daß wir im Antlitz des Menschen zu lesen wünschen! Daß uns jeder Mensch so sehr beschäftigt, daß wir wissen möchten, wie er ist!“

„Ja, wie eigentümlich ist das,“ sagte Adele und blickte Grau an. „Man sagt, an den Augen erkenne man den Menschen am besten. Wie meinen Sie?“

Grau lächelte. „An den Augen?“ sagte er. „Vielleicht. Ein wenig an den Augen, ein wenig am Gang, an den Händen, an den Ohren, an den Lippen. Ganz besonders an der Nase! Aber das alles kann trügen. An den Worten? Auch sie können trügen, sie verbergen den Menschen und der Mensch verbirgt sich hinter ihnen. Selbst wenn er die ehrliche Absicht hat, aufrichtig zu sein, er kennt sich ja selbst nicht, seine Worte sind alle ein wenig falsch, schief gleichsam — oder er ist ein großer Dichter. All das kann trügen. Vielleicht ist das Lächeln noch am zuverlässigsten — wie meinen Sie? — Das Lächeln, sagte ich, das unbewußte und kaum bemerkte, leiseste Lächeln. Vielleicht. Der Mensch kann lachen, schreien, weinen — und es kann sein, daß er nicht im Lachen, Schreien oder Weinen steckt, aber im Lächeln? Das Lächeln ist schwer zu heucheln, ganz wenig Menschen können es auch unterdrücken, es ist unkontrollierbar, es kommt und geht, schnell, es kann die ganze Niedrigkeit und den ganzen Adel eines Menschen ausdrücken, den ganzen wahren Schmerz, wahre Freude. Vor allem aber die Entwickelungsstufe des Menschen.“

„Haben Sie das ebenfalls aus jenem Traume?“ fragte Adele. „Aus dem Lächeln dieser Einsamen? — Hören Sie die Narren lachen, haha?“

„Gewissermaßen,“ fuhr Grau eifrig fort. „Gewissermaßen ja. Aber ich mache zu viele Worte. Ich sage, auch das Lächeln kann trügen, es bleibt Ihnen also nichts als das Gefühl. Vielleicht fühlen wir die Menschen! Der seelische Zusammenhang der Menschen ist vielleicht so stark, daß wir erschrecken würden, könnten wir ihn erkennen, ja, es ist möglich, daß zwischen den Menschen — zwischen den Seelen — überhaupt keine scharfe Trennung existiert — ich für meine Person glaube das — vielleicht können Sie an keinen Menschen denken, ohne daß er es fühlt, ja, ohne daß er weiß, was Sie denken. Nicht wahr? Wenn Sie ihn lieben, er wird es fühlen und wenn Sie nur auf der Straße aneinander vorbeigehen, er wird es fühlen, er wird Ihren Haß fühlen, alles, vielleicht überkommt ihn nur ein leises Behagen oder Unbehagen, vielleicht weiß er es nicht, aber seine Seele weiß es ganz genau. Jeder Mensch könnte Ihnen aus seinen Erfahrungen Beispiele erzählen und Sie selbst haben gewiß ähnliche Beobachtungen gemacht. Ich sage zum Beispiel, es begegnet Ihnen auf der Straße ein Mensch, er blickt Sie an, blinzelt, sieht weg. Sie denken: Das ist ein armer, einsamer und guter Mensch. Die Leute erzählen Ihnen alle denkbaren Schlechtigkeiten von ihm — jener Mensch selbst spricht mit Ihnen, ja er beleidigt sie und legt es fast darauf an, einen ungünstigen Eindruck auf Sie zu machen — und doch können Sie den Glauben nicht lassen — er ist einsam, arm, aber gut.“

Adele sah auf. „Sprechen Sie von einem bestimmten Menschen? Nein? Ich dachte, weil Sie sagten, er sieht Sie an, blinzelt —“

Grau antwortete ihr darauf nicht. Er lachte plötzlich und sagte: „Ich bin ja ganz vom Thema abgekommen!“

Auch Adele lachte. „Aber ja! Sie wollten von jener Frau erzählen?“

„Sofort. Die Reise ging an Fenstern, Fenstern und Fenstern vorüber, über all die schlafenden Städte hinweg, das erzählte ich, nicht wahr. Dann ging es über endlose Wälder und ich erinnere mich, daß vier Sterne am Himmel vor uns standen, vier Sterne in der Gestalt eines Quadrats. Wir kamen den Sternen näher und ich glaubte, wir würden durch sie hindurch fliegen, aber sie entfernten sich plötzlich wieder und standen ganz klein am schwarzen Himmel. Nun blickte ich plötzlich in ein Fenster und hier sah ich eine Frau, die vor einem Kaminfeuer saß. Sie hatte so reiches schwarzes Haar wie Sie und ihre Haut war ebenso weiß wie die Ihrige, sie trug die Haare in einem losen Knoten im Nacken, wie Sie es gewöhnlich zu tragen pflegen, sie hatte ebenfalls auffallend helle Augen. Aber trotzdem sah sie anders aus als Sie.“

„Was tat sie denn?“ fragte Adele gespannt und zog das Gewand an sich, da die beiden Backfische vorbeitanzten.

„Sie war damit beschäftigt, kleine Rosen anzufertigen,“ fuhr Grau fort. „Sobald eine Rose fertig war, sah sie die Rose unzufrieden an und warf sie in den Kamin. Die Rose verbrannte. Es sah aus wie ein brennendes Schiff. Es sah aus wie eine Wüste mit feuriger Sonne und eine kleine Karawane, ganz glühend, zog durch die Wüste. Es entstand ein brennender tanzender Bär, ganz klein, aus der brennenden Rose.“

„Wie amüsant!“ sagte Adele. „Die Dame hat sich ganz gut unterhalten.“

„Man sollte es glauben,“ fuhr Grau fort. „Plötzlich nun sagt die Frau leise und zaghaft: Herein! und zu meinem größten Erstaunen trat ich selbst ins Zimmer, obgleich ich doch gleichzeitig zum Fenster hereinblickte.“

Adele lachte. „Aber so pflegt es ja in den Träumen zuzugehen!“

„Ja. Ich trat ins Zimmer und die Frau sah mich an. Sie kam mir gewissermaßen wie ein Geist vor, nicht irdisch. Sie trug Ohrringe und eine silberne Kette um den Hals. Sie lächelte leise und dann rief sie mir ein Wort zu, das ich nicht verstand. Sie sagte etwas und auch das verstand ich nicht. Es war eine seltsame, fremde Sprache von unglaublicher Weichheit des Klanges. Sie warf alle Papierschnitzel, die sie auf dem Kleide hatte, ins Feuer und daraus entstanden eine Menge winzig kleiner goldener Vögel, die zwitschernd in den Kamin hinauf flatterten. Sie stand auf und sagte: Ich habe nicht gedacht, daß du heute kommst.“

„Verstanden Sie denn jetzt?“ unterbrach ihn Adele, die eifrig zuhörte, während ihre Blicke mechanisch den Tanz der Backfische verfolgten.

„Ja,“ antwortete Grau, „ich weiß übrigens nicht, ob sie sich der fremden Sprache bediente. Kurzum, ich verstand sie. Ich sah sie erstaunt an, denn ich hatte sie nie im Leben gesehen. Haben Sie mich denn erwartet? fragte ich. Sie sah mich lächelnd an, lange. Dann ging sie näher und legte ihre Hand auf meinen Arm und ich sah ihre Augen ganz dicht vor mir. Sie waren klar und hell, von unbestimmter Farbe und mit einem Schein als ob sie phosphoreszierten. Wie sagst du? fragte sie. — Ich wiederholte das gleiche. — Wie sagst du? Wiederum sagte ich: Haben Sie mich denn erwartet? Sie schüttelte den Kopf und sagte lächelnd, aber gleichsam verletzt: Kennst du mich denn nicht mehr? — Ich schüttelte den Kopf. Nein, sagte ich. Ich sah sie an und nun schien es mir, als ob ich sie schon gesehen hätte, alles verwirrte sich in mir; dann aber wußte ich, daß ich sie noch nie gesehen hatte. Ich sagte es. Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf die silberne Kette, die sie am Halse trug, und sagte: Kennst du auch die Kette nicht? — Nein. — Aber sie ist von dir! — Nein! — Ja, sie ist von dir, wir haben uns lange, lange Jahre gekannt und nun erkennst du mich nicht wieder. Nein, sagte ich. Sie sah mich trauernd an und schüttelte den Kopf. — Komm! sagte sie, und plötzlich gingen wir auf einer Heide, es war in grauer Nacht und ganz still —“

Im Saale bliesen die Trompeten Tusch und die Menge schrie rasend Hoch. Adele hielt sich die Ohren zu. „Wie schade!“ sagte sie, indem sie aufstand. „Nun kommen sie alle hierher. Wie merkwürdig ist doch der Traum?“

„Ja.“

Sie sahen einander an und fühlten beide eine auffallende Beklommenheit im Herzen, obgleich keiner sie dem andern verriet. Graus Augen leuchteten und seine Wangen röteten sich.

Die Gesellschaft strömte wieder in den Tanzsaal. Das Orchester begann. Sofort fingen die Paare an zu wirbeln und zu schleifen. Herren in Fräcken und Kostümen schossen hin und her nach der Tänzerin, Eisenhut kam aus der Türe und ging geradeswegs auf Adele zu und bat sie mit verstellter Stimme um einen Tanz. Er trug noch immer die Maske, obgleich jedermann sie schon längst abgenommen hatte. Adele gab ihm einen Korb und Eisenhut zog sich zurück. Er blickte noch einigemal um und dreht sich bald darauf am Arm einer roten Chinesin im Kreise. Nun näherte sich der Bezirksamtmann Häberlein mit tänzelnden Schritten und sicherer Miene, aber Adele forderte gleichzeitig Grau auf mit ihr zu tanzen.

„In dem Gewühle ist es ja ganz unmöglich zu erzählen,“ sagte sie. „Es kommen nun gewiß recht merkwürdige Dinge?“

„Ja, merkwürdige Dinge kommen nun.“

Adele lächelte. „Herrlich! Wie spannend das ist! Und nun, bitte!“

Grau tanzte leicht und sicher und Adele lobte ihn mit einem Blicke. „Halten Sie mich fester!“ sagte sie.

Es war eine Masurka. Die Pauken wirbelten, die Geigen wehten, es erschien Grau als spielten sie etwas vom Frühling und als die Flöten bliesen sah er förmlich die Blumen aus dem Rasen steigen.

Sie sahen einander an. Aber sie hatten noch keine Runde getanzt, als Adele inne hielt und erblaßte. Sie stand still. „Ich kann nicht mehr!“ sagte sie leise und heftete die Blicke auf Grau. Sie sah ihn erschrocken, scheu und erstaunt an, während sie sich mit einem Lächeln entschuldigte.

„Aber was ist Ihnen?“ fragte Grau.

„Ich kann nicht tanzen mit Ihnen, es macht mich schwindlig,“ sagte Adele. „Nichts, einen Augenblick nur.“ Sie sammelte sich rasch.

„Wie leid es mir tut, Fräulein von Hennenbach.“

Adele schüttelte den Kopf. „Es ist nichts,“ sagte sie, „es ist nur so merkwürdig —“ Sie sah Grau an. Sie schwieg lange Zeit und während sie schwieg, schien sie sich zu verwandeln. Ihre Lippen wurden schmal. Sie schien zerstreut zu sein.

„Kommen Sie!“ sagte sie und ging voran. Grau folgte ihr.

In der Türe kamen sie ins Gedränge und Adele blickte in Graus Augen und sagte unvermutet: „Sagen Sie mir eines, lieben Sie Susanna wirklich?“

Grau errötete leicht. „Wie?“ Dann blickte er Adele erstaunt an. „Gewiß liebe ich Susanna aufrichtig,“ erwiderte er.

Adele lächelte; sie schwieg. Sie streifte Grau wieder mit einem Blicke, dann raffte sie den Fächer auf und bewegte ihn in der glitzernden Hand. Sie blickte stolz über alle Köpfe hinweg. Ihr Blick, ihr Gang, ihr Lächeln, alles hatte sich verändert.

„Wollen Sie nun den Traum zu Ende hören?“ fragte Grau.

„Nein, nicht jetzt,“ erwiderte Adele höflich. Aber sie sah Grau nicht an. „Meine Mutter würde sich so sehr freuen, Sie kennen zu lernen,“ fügte sie hinzu, „darf ich Sie bemühen?“ Auch ihre Stimme hatte sich verändert.

Grau folgte ihr und dachte darüber nach, was der Anlaß zu ihrer Verstimmung sein könnte.

Drittes Kapitel

A dele wurde von den Herren, die die Sektbude belagerten, mit lautem Hurra begrüßt und mit schmeichelhaften Vorwürfen über ihr langes Wegbleiben überhäuft.

„Hoch, hoch, hurra!“ schrieen die Herren und schwenkten die Kelche. Adele hatte Mühe sich den Weg in den Kiosk zu bahnen.

Im Kiosk bedienten die feinsten Damen der Stadt. Die Frau des Bezirksamtmannes, Frau Häberlein mit dem porzellanartigen Teint, eine hohe Blondine, die etwas schielte und eine dicke Jüdin mit weißem mächtigen Busen. Die Damen hatten alle Hände voll zu tun, Flaschen zu entkorken, die Kelche zu füllen, zu trinken. Hier herrschte eine ausgelassene, fast wilde Stimmung und die Herren waren alle angeheitert.

Die Mutter Adeles saß in einem Stuhl, in Spitzen und Seide gehüllt, fein, durchsichtig, fast selbst nichts andres als Spitzen und Seide, sie hatte Adeles Augen; der Freiherr von Hennenbach stand in einem Kreise von jungen, fröhlichen Herren — es waren die Offiziere von Weinberg — er war größer als alle, grau und würdevoll, er rauchte eine große Zigarre und trug einen mächtigen Siegelring am Zeigefinger. Er hatte Augen wie ein Falke und änderte nie den Ausdruck des Gesichtes, ob er nun lachte, plauderte oder zuhörte. Seine Haare waren bis in den Nacken hinab sorgfältig gescheitelt und sahen aus wie eine schmale, graue Straußenfeder, die kokett über seinen hohen Schädel gelegt war.

Baron Kirchgang — Adeles Bräutigam — war ein schweigsamer, etwas ärgerlich aussehender Herr, dessen Schläfen ergraut waren. Sein Gesicht war rot, von verschwommenen Formen, als sei es mit kochendem Wasser verbrüht worden. Er wechselte einige nichtssagende Worte mit Grau. Als er an den Schenktisch trat, bemerkte Grau, daß sein linker Arm verkrüppelt war, er war kürzer als der rechte und lahm.

Grau sah sich unter all den Herren aufmerksam um.

„Ihr Herr Bruder ist nicht da?“ fragte er Adele.

„Er ist dagewesen,“ antwortete sie ihm, „er sitzt mit seinen Freunden im ersten Stock irgendwo und spielt. Wollten Sie ihn sprechen?“

„Ich dachte nur,“ sagte Grau. „Danke!“

Adele füllte ein Glas und reichte es Grau. Sie stieß mit ihm an und sagte lächelnd: „Auf das Wohl Ihrer Braut!“

Grau dankte. „Auf Susannas Wohl!“

Adele leerte das Glas und sah Grau einen Augenblick lang tief an. Er verstand ihren Blick nicht. Adele lachte und wandte sich den Gästen zu. Sie begann zu lachen und zu plaudern, aber ihre Stimme klang kühl und ihre Augen blitzten hart. Sie blickte nicht mehr auf Grau, ja sie sah stets an ihm vorbei, wenn sie dahin blickte, wo er stand. Sie lachte und schien heiter zu sein, aber ein unruhiger Glanz war in ihren Augen. Nur wenn sie auf ihre Mutter blickte, die nur Augen für die Tochter hatte, so änderte sich ihr Blick jedesmal. Mit tiefen, schwärmerischen Augen sah sie die Mutter an. Dieser Blick verriet alle ihre Liebe.

Gerade in diesem Augenblick näherte sich Eisenhut dem Kiosk. Er bahnte sich langsam und hartnäckig den Weg. Er zwängte sich zwischen zwei lachenden Mandarinen hindurch, puffte einen Herrn im Frack in die Seite, dann ging er um einen dicken Herrn herum, der sich nicht zur Seite drängen ließ. Endlich stand er am Schanktisch und man konnte seinem Munde ansehen, daß er zufrieden lächelte. Eine Weile stand er wartend da, die Damen waren alle beschäftigt. Er reckte den Hals aus dem hohen Stehkragen, bewegte die Lippen und seine kleinen lebendigen Mausaugen verfolgten durch die Schlitze der Maske jede Bewegung Adeles. Er räusperte sich, er hustete um sich bemerkbar zu machen, aber in all dem Getöse hörte man ihn gar nicht, niemand beachtete ihn.

Nun klopfte Eisenhut auf den Tisch.

Die schwarze Jüdin mit dem vollen weißen Busen wandte sich ihm zu. „Sofort, sofort, mein schöner Herr!“ rief sie. „Willst du eine Flasche, eine ganze Flasche? Nur zwanzig Mark!“

Eisenhut starrte auf ihren weißen Busen, er lächelte, dann sah er auf Adele und rief: „Eine ganze Flasche, jawohl. Zwanzig Mark, einerlei.“ Er sprach immerzu mit verstellter, quiekender Stimme.

Da drehte sich Adele rasch um und sagte: „Es ist Herr Eisenhut! Für ihn geben wir es nicht so billig. Er soll etwas besonderes tun!“

Eisenhut legte den Kopf auf die Seite und lächelte. Aber dann machte er sich ganz steif und quiekte mit verstellter Stimme: „Sind Sie auch sicher, daß es Herr Eisenhut ist?“

Adele lachte laut auf. Und alle Umstehenden lachten. Das könne ein Blinder sehen. Er könne ruhig die Maske abnehmen.

„Maske ab! Maske ab!“ schrieen die Herren.

Eisenhut meckerte und nahm langsam die Maske ab. Sein gelbes verlebtes Gesicht kam zum Vorschein, er lachte, strich sich den Spitzbart und gab dann allen ringsum schüchtern die Hand. Er verneigte sich auch gegen die Herren, die um den alten Freiherrn von Hennenbach herum standen. Man schrie und schüttelte ausgelassen seine Hand. Er ließ die Blicke herumwandern, zuletzt heftete er seine kleinen entzündeten Augen auf Adele.

„Wie merkwürdig, daß Sie mich sofort erkannt haben!“ sagte er. „Guten Abend, Fräulein von Hennenbach!“ Er machte auch einen schüchternen Versuch, ihr die Hand zu reichen.

Aber Adele sah die Hand nicht. Sie lachte. „Nun will ich Ihnen einschenken, ich werde es selbst tun, aber Sie müssen ein übriges tun, verstehen Sie, es gehört für die Armen, das wissen Sie ja. Sie werden für jedes Glas hundert Mark bezahlen, nicht wahr?

„Bravo! Bravo!“ riefen die Herren.

Eisenhut sah Adele an. Seine Augen wurden glänzend, gleichsam als ob sie erwachten. Dann lächelte er und zeigte seine schlechten, zerfressenen Zähne.

„Sie scherzen?“ sagte er.

„Scherzen? Nein, ich bin gar nicht in der Laune zu scherzen!“

Er betrachtete Adele, die mit dem Füllen des Glases beschäftigt war. Seine Augen glänzten, er blickte auf Adeles Haar, ihre glitzernden Hände, ihre Arme, er lächelte und für einen Augenblick erschien sein Gesicht friedevoll und schön, seine Wangen färbten sich. Adele füllte sorgfältig das Glas. Aber je mehr der Wein in dem schlanken Kelche stieg, desto mehr veränderte sich Eisenhuts Gesicht. Das Lächeln verschwand, der Friede und die momentane Schönheit, sie verschwanden, die vielen tiefen Linien und Falten erschienen wieder, die Stirn wurde niedrig, der Mund zog sich zusammen, die Farbe wurde gelb und alt. Dann wurde sein Gesicht fahl. Adele reichte ihm das Glas und er sah ihren Augen an, daß sie nicht scherzte.

„Fräulein von Hennenbach?“ stotterte er.

Über Adeles weiße Hand floß der Wein, über all die Ringe, die Steine. „Herr Eisenhut?“

„Hundert Mark? Hundert M—?“ fragte Eisenhut leise. „Hundert Mark — aber ganz unmöglich?“ Er lächelte beklommen.

Alle lachten über den Ausdruck seines Gesichtes, auch Adele.

Eisenhut raffte sich zusammen.

Er knöpfte das unglückliche gelbe Kostüm auf und fuhr hastig in die Rocktasche. Wie andere Leute eine alte Zeitung herausziehen, so zog er einen ganzen Pack von Banknoten aus der Tasche.

Gelächter! Ja, da sehe man, daß man es mit einem Millionär zu tun habe, hoho! Selbst die Offiziere von Weinberg wurden aufmerksam.

„Bitte, Herr Eisenhut!“ sagte Adele, da Eisenhut zögerte. „Ich werde sogar nippen an dem Kelche, aber legen Sie nur das Geld auf den Tisch!“ Sie lachte und nippte am Glase.

Eisenhut fühlte sich unbehaglich. Er blinzelte rasch hintereinander, lächelte, machte eine wegwerfende Handbewegung und legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch.

„Bravo! Ja, bravo und hoch Eisenhut!“

Eisenhut lächelte. Er nahm das Glas, erhob es gegen Adele und trank es leer. Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet und wurde mehr und mehr unsicher.

Adele füllte abermals Eisenhuts Glas. Sie lachte und sagte, daß sie wieder daran nippen werde und er werde wieder hundert Mark dafür bezahlen.

„Wieder?“ fragte Eisenhut mit zitternder Stimme.

„Sie werden sich wohl nicht erst lange besinnen, oder? Eine Kleinigkeit wie hundert Mark! Und noch dazu, wenn ich am Glase nippen werde.“

„Noch mehr?“ fragte Eisenhut in ungläubigem Tone. „Hundert Mark für die Flasche, wie? Man hat sie mir um zwanzig Mark angeboten, vorhin.“ Er deutete auf die Jüdin mit dem hohen Busen.

Haha! Ja, zwanzig Mark für gewöhnliche Menschen, aber für Millionäre da hätten sie ganz besondere Preise.

Eisenhut blinzelte. Er legte das Gesicht in Falten, drehte den Kopf hin und her. „Sie scherzt — Fräulein von Hennenbach scherzt!“ sagte er zu der lachenden Gesellschaft von Herren.

„Ich sagte schon, daß ich nicht scherze. Sehen Sie nicht, daß man sich schon über Sie lustig macht. Ich verkaufe Ihnen jedes Glas für hundert Mark, fülle es selbst, nippe daran, ich meine, da sollten Sie sich nicht lange besinnen.“

Es sei wirklich ein Skandal, es sei eine Schmach und eine Schande! Vorwärts Eisenhut — hahaha — schmeißen Sie den Bettel hin! Die Herren schrien und lachten und stießen sich gegenseitig an.

Eisenhut kämpfte mit sich. Er sah Adele an, die ihm das Glas kredenzte, ein Zittern lief durch sein Gesicht, er öffnete den Mund, blinzelte und fuhr wieder in die Rocktasche.

„Bravo! Hurra!“

Aber Eisenhut zögerte. Warum gerade er solch horrende Summen bezahlen sollte?

„Weil Sie der reichste Mann der Stadt sind!“ antwortete Adele. „Sie nennen sich ja selbst so bei jeder Gelegenheit und Sie sind es auch.“

„O — hoho!“ versetzte Eisenhut geschmeichelt.

„Wenn man zwölf Steinbrüche hat und den Schrank vollgestopft mit Wertpapieren, dann kann man doch ruhig solch eine Bagatelle bezahlen!“

Eisenhut streckte den Kopf vor. „Haben Sie denn — haben Sie denn diesen Schrank voller Wertpapiere gesehen? frage ich.“ Er lächelte eigentümlich und blickte Adele an.

Adele lachte laut und unnatürlich. „Selbstverständlich habe ich ihn gesehen. Sie haben mir ihn ja selbst gezeigt. Erinnern Sie sich, als ich in der Nacht zu Ihnen kam und zehntausend Mark bei Ihnen entlieh?“

Gelächter. Eisenhut starrte mit offenem Munde auf Adele.

„Aber genug nun! Ich habe an dem Glase genippt und sehen Sie her, ich nippe nochmals daran. Nun, nehmen Sie?“

Eisenhut nahm zögernd das Glas in die Hand. Bravo Eisenhut, hoch, hurra! Eisenhut, Eisenhut!

Aber Eisenhut trank nicht. Er schnitt Grimassen, er drehte den Hals als sei ihm der Kragen zu eng, er schwankte hin und her und blickte die Umstehenden, die lachten, plötzlich mit scharfen, bösen Blicken an. Gelächter.

„Bitte!“ sagte Adele und lachte. „Weshalb zögern Sie denn?“

Hier näherte sich Grau. Er sagte: „Fräulein von Hennenbach?“

Adele wandte ihm den Blick zu. Sie zog die Augen zusammen und sagte: „Bitte?“

In diesem Augenblick brach eine ungeheure Lachsalve auf Eisenhut ein. Er hatte die Scheine wieder in die Tasche gesteckt. Ja, er müsse doch ein Narr sein, ein vollständiger Narr müsse er sein! Hundert Mark für jedes Glas, die Herren bezahlen eine Mark dafür. Er verlor die Fassung und stellte das Glas so heftig auf den Tisch zurück, daß es zerbrach und der Wein über das Tischtuch floß. Eisenhut erschrak, einen Augenblick lang war seine Nasenspitze schneeweiß. Er bewegte die Lippen um etwas zu sagen, er blickte verwirrt auf Adele. Adele lachte und alle, alle lachten und stampften mit den Füßen und schrieen, was sie konnten.

Eisenhut bewegte heftig die Hände. „Bezahlt ihr!“ schrie er. „Bezahlt ihr! Ich bin kein solcher Narr! Ich habe bezahlt, hundert Mark. Bezahlt ihr, bezahlt ihr!“ wiederholte er lauter und wilder, um das Gelächter zu überschreien. Er beugte sich mit einer verzweifelten Gebärde über den Tisch, deutete auf das zerbrochene Glas, stotterte, aber er sagte nichts.

Er wandte sich rasch um und entfloh in seinem gelben Kostüm und mit seiner gelben Mütze, gefolgt von lautem, wildem Gelächter. Er verschwand in der treibenden Menge.

„Haha! Ein Prachtexemplar, dieser Eisenhut! Haha! Hoch Eisenhut, hurra!“

Im gleichen Augenblick war auch Grau verschwunden, und als Adele zu Baron Kirchgang blickte, mit dem er zuletzt geplaudert hatte, sah sie seinen Platz leer. Baron Kirchgang unterdrückte ein Gähnen.

Adele zog die Brauen zusammen und begann mit erneuter Ausgelassenheit zu scherzen, zu lachen und Sektgläser zu füllen.

Viertes Kapitel

E isenhut eilte dem Ausgang zu und war plötzlich spurlos verschwunden. Gleichzeitig wurde Grau von Dr. Nürnberger aufgehalten.

Dr. Nürnberger war ein junger Mann mit schwarzem Scheitel, niedriger Stirn, goldenem Kneifer; er war im Frack. Seine Manieren waren gewandt, seine Höflichkeit stets von leichtem Spott begleitet, seine geheuchelte Unterwürfigkeit abstoßend.

Er nahm den Kneifer ab und verbeugte sich vor Grau.

„Welches Vergnügen, Sie zu sehen!“ rief er mit etwas näselnder Stimme aus.

Grau erkundigte sich nach dem Kinde im Waisenhaus. Es gedieh prächtig. „Wie haben Sie Susanna bei Ihrem letzten Besuche angetroffen, Herr Doktor?“ fragte er dann.

Der Arzt verfolgte ein schönes Mädchen mit den Blicken und erwiderte: „Ja, was soll ich sagen? Ich habe leider keine Besserung beobachten können. Ich möchte fast sagen, im Gegenteil, der Zustand der Patientin hat sich verschlimmert. Der Körper leistet leider gar keinen Widerstand.“

Ob man nicht jetzt daran denken könne, die Kranke nach dem Süden zu bringen?

„Nein!“ Der Arzt schüttelte den Kopf und sandte dem schönen Mädchen, das zurückkehrte, ein Lächeln zu. „Man hätte es vor einem, zwei Jahren tun sollen — jetzt ist nicht daran zu denken. Sie würde die Reise nicht vertragen. Ich spreche offen, ich könnte die Verantwortung, die Dame jetzt reisen zu lassen, nicht übernehmen. Später vielleicht, sobald es Frühling sein wird.“ Doktor Nürnberger reichte Grau die Hand. Er lächelte und legte die niedrige fliehende Stirne in tiefe Falten. Er möchte ihm nicht leichtfertigerweise Hoffnungen erwecken — immerhin, im Frühjahr, ja, da könne man ja Entscheidungen treffen. „Guten Abend. Herzlich gefreut.“ Im Begriffe sich zu entfernen, wandte sich der Arzt, gleichsam überrascht von einem Einfall, zu Grau zurück und sagte in verändertem Tone: „Vielleicht darf ich Herrn Grau einladen, mit mir in eine Herrengesellschaft im ersten Stock zu kommen? Es geht sehr animiert dort zu — das heißt, vielleicht ziehen der Herr vor —“

„Sehr liebenswürdig!“ sagte Grau. Er sagte sofort zu und zwar mit einem Eifer, der den Arzt in Verwunderung versetzte. „Gewiß werde ich mich freuen, ich danke herzlichst, Herr Doktor!“

Sie verließen den Saal und stiegen eine Treppe empor. Grau werde hier die Intelligenz der Stadt kennen lernen, das heißt, präzis ausgedrückt, alle Elemente, die auf eine relative Intelligenz Anspruch erheben könnten; angenehme und gesellige Leute. Nur sei er außerstande, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen, im Falle der Ton nicht gerade jenem eines Salons entspräche. „Aber, bitte, ich liebe Ungezwungenheit,“ sagte Grau. — „Sie werden gewiß auf Ihre Kosten kommen, wenn Sie Ungezwungenheit lieben.“ — Sie gingen hin und her in breiten Gängen, die vom Tanzen im Saale drunten zitterten. Durch ein kleines Fenster konnte Grau hinab in die chinesische Straße blicken, es war ein hübsches Bild: Die wimmelnde Menge, die Lampione, der Rauch. Er sah einen Augenblick lang Adele, die gerade ihr Haar zurechtrückte. Sie wandte merkwürdigerweise im selben Moment den Blick zu dem kleinen Fenster, sie konnte ihn natürlich nicht sehen.

Sie weiß nicht alles, dachte Grau und ein leiser Schmerz griff an sein Herz. Er folgte dem Arzte, treppauf, treppab; dieses alte Haus war ein Labyrinth.

Endlich hörten sie den wüsten Lärm einer Herrengesellschaft und Dr. Nürnberger verbeugte sich und öffnete eine kleine Türe. Augenblicklich drang ihnen heiße Luft, Zigarrenrauch, der Geruch von Punsch, Lachen, Rufen entgegen und ein halbes Dutzend verschwimmender Gesichter wandte sich ihnen zu.

Grau machte die Augen scharf. Er entdeckte zuerst Eisenhuts Gesicht, daneben das bleiche schmale Antlitz des jungen Herrn von Hennenbach, auf dessen Knien die puppenschöne Wirtin saß.

Grau war erstaunt Eisenhut heiter und guter Dinge zu sehen.

Da saß er, eine Zigarre in der einen Hand, in der andern ein Glas, lächelte und plauderte.

„— die Stühle sind aus Leder, aus gepreßtem Leder. Ein Löwe in Gold ist auf die Lehne gepreßt.“

„Ja, aber der Minister, Eisenhut,“ unterbrach ihn jemand, „du wolltest doch von ihm reden?“

„Das Zimmer ist überhaupt ein Saal!“ fuhr Eisenhut fort und blinzelte. „Der Minister rauchte eine Zigarette.“

„Aber was sagte er denn?“

„Er sagte, ‚Herr Eisenhut, Sie haben also die Steine für die Brücke geliefert, schön. Ich werde an Sie denken.‘ Er klopfte mir auf die Schulter.“

„Also sollst du wohl einen Orden bekommen?“

Eisenhut lächelte. „Was ich bekomme, das weiß ich nicht. Aber er sagte: Ich werde an dich denken, Eisenhut.“

Haha! „Er duzte dich?“ Gelächter.

„Vielleicht hat er auch Sie gesagt, was weiß ich — seht an!“ Er hatte Grau bemerkt.

Die Herren waren in bunten Kostümen, einige im Frack und einer, Postadjunkt Kaiser, saß in weißen Hemdärmeln da. Sie spielten Karten. Sie erhoben sich mit vielem Tumult und warfen einander Blicke zu. Man war nicht sonderlich erfreut über den Gast, das konnte jeder sehen. Aber die Herren verbeugten sich höflich.

Grau sah sie mit freundlichen, leuchtenden Augen an. „Ich bedaure unendlich im Falle ich stören sollte,“ jagte er leise und verlegen, „Herr Dr. Nürnberger hatte die Liebenswürdigkeit mich einzuladen.“

Plötzlich schlug ein dicker Chinese mit einem großen gelben Schirm auf dem Rücken ein lautes Gelächter auf und einige fielen ein.

„Willkommen, Pfirsichblüte, im Reiche der Mitte!“ schrie der dicke Chinese und machte eine tiefe Verbeugung. Er drückte Grau die Hand und setzte hinzu: „Im bürgerlichen Leben heiße ich Richter, Professor Richter, Doktor der Naturwissenschaften.“

Der Arzt schob ihn beiseite. „Erlauben Sie doch, Professor,“ sagte er, „und geben Sie den Herren Gelegenheit ihrer gesellschaftlichen Pflicht zu genügen. Sie gestatten, die Herren, Herr Grau —“

Er machte Grau mit den Herren bekannt. Da waren Amtsrichter Leutlein, ein gutmütig aussehender Herr mit blaurasiertem Gesichte und spärlichem flaumigen Haar auf dem runden Schädel, Rechtspraktikant Schmidt mit scharfen stechenden Augen, vielen Schmissen, hohem Stehkragen, peinlich gestriegelt und gebügelt, Redakteur Heinrich, vom „Gauboten“, ein kleiner Mann mit struppigen schwarzen Haaren, der die Angewohnheit hatte, immer die Zungenspitze herauszustrecken und heiter auf seinen Bauch herabzulächeln, Assistent Pechmann, ein langer Mensch mit hellblauen träumerischen Augen, der junge Freiherr von Hennenbach, ein junger bartloser Lehrer, der so betrunken war, daß er leichenblaß aussah und die Augen weit aufreißen mußte um zu sehen.

Die Herren hatten alle ein wenig über den Durst getrunken. Sie lachten sonderbar, sie verbeugten sich zu tief oder schief, dem Rechtspraktikanten fiel der Kneifer von der Nase, Redakteur Heinrich setzte sich beinahe neben den Stuhl, als er sich niederließ. Ihre Augen waren scharf oder ausdruckslos, die Vorhemden zerknittert, fast jeder hatte irgend etwas Lächerliches an sich, einen Schmutzflecken, einen emporstehenden Haarbüschel, die Krawatte war in Unordnung oder das Kostüm so zugeknöpft, daß oben ein Knopf übrig blieb. Sie rauchten alle und es war solch ein Rauch im Zimmer, daß man kaum die Wände sah. Sie saßen um einen ovalen Tisch herum, über dem eine Hängelampe brannte. Auf dem Tisch herrschte ein wüstes Durcheinander und eine Manschette rollte darauf herum.

„— Herr Redakteur Heinrich, die Herren kennen sich, Pardon — auch Herr Eisenhut wird Ihnen schon persönlich bekannt sein —“

Eisenhut beachtete Grau nicht; er rief: „Spielen, weiter spielen, ich habe zwei Mark von der Bank gut! Keine unnötigen Pausen, meine Herren!“ Er trommelte auf den Tisch und lachte.

„Er ist in etwas ungenießbarer Stimmung heute, unser Herr Eisenhut,“ entschuldigte ihn der Arzt. „Herr von Hennenbach!“

Die Blicke der beiden tauchten ineinander. Grau lächelte nicht. Er verbeugte sich zurückhaltend, ja kühl, und Herr von Hennenbach blickte ihn verblüfft mit seinen grauen Augen an und zuckte mit den Mundwinkeln. Die schöne Wirtin raffte eilig einige Gläser auf und machte sich aus dem Zimmer.

„Spielen, weiter spielen! Keine unnötigen Pausen!“ wiederholte Eisenhut und goß Punsch in sein Glas. Seine Hand zitterte und er verschüttete das halbe Glas, als er es an den Mund führte. „Tante! Du besorgst jetzt die Sektbowle, auf meine Rechnung! Alles auf meine Rechnung!“

„Ruhe!“ rief ihm der dicke Chinese zu. „Einen Augenblick noch, ich nehme das Spiel sofort wieder auf — unser verehrter Gast — geben Sie ein Glas herüber, Doktor! — ich darf doch einschenken? — oder sollten Sie etwa Abstinenzler sein?“

Grau lächelte. „Nein.“ Er nahm Eisenhut gegenüber Platz.

Der dicke Chinese ließ sich an seiner Seite schwer in den Sessel fallen und mischte die Karten; er hielt den Schirm mit dem runden Schädel, rauchte eine Zigarre in einer langen Spitze, die er beim Sprechen von einem Mundwinkel in den andern schob. Sein Gesicht glänzte vor Vergnügen und Behagen. Er hatte kurzgeschorenes rotes Haar und seine feisten Backen waren mit goldenschimmernden Bartstoppeln bedeckt. „Fertig!“ rief er, und die Karten schlüpften blitzschnell aus seiner Hand. „Die Bank ist bereit. Herr Adjunkt Kaiser! Was setzen Sie? Bei allen Teufeln, mehr Aufmerksamkeit, meine Herren! Einsatz auf den Tisch! Endlich! Herr Großkapitalist Eisenhut? Sie spielen hoch, das läßt sich sehen, nur keine Knickerei, nur das nicht. Herr von Hennenbach — Herr — von — Sie wünschen noch eine Karte? Gut. Die Bank hat acht, acht! Hurra! Alle Gewehre aufs Rathaus — hahaha!“

Der feiste Chinese stieß ein rasselndes fettes Lachen aus und strich den Gewinst ein. Alle, außer dem Arzte, hatten verloren und schrien und fluchten.

Eisenhut lachte und warf dem Chinesen ein Zehnmarkstück zu. „Es ist alles einerlei!“ rief er und trommelte mit den Knöcheln auf den Tisch und blinzelte.

Der Chinese mischte, während das fette Lachen noch leise in seinem Halse rasselte und seinen ganzen Körper erschütterte, so daß der Schirm auf seinem Kopfe tanzte. „Sehen Sie, welch ein Geschäft, verehrter Herr!“ wandte er sich an Grau. „Dreiundzwanzig Mark bei einem einzigen Gang. Hurra! Darf ich Ihnen vielleicht eine Karte geben? Es ist ein sehr einfaches und höchst anregendes Spiel, absolut, ich betone, absolut unschuldig. Bakkarat, ist es Ihnen nicht bekannt? Könige und Damen gleich Null — übrigens durch die Praxis lernen Sie am schnellsten. Wollen Sie ein Spielchen wagen? Höchster Einsatz zwanzig Mark, niederster fünfzig Pfennig — staatlich konzessioniertes Spiel — Gewinn und Verlust gleichen sich stets aus. Nun?“

Grau lehnte ab. „Ich danke, ich habe kein Geld!“ sagte er. „Übrigens macht es mir großes Vergnügen, zuzusehen, lassen sich die Herren, bitte, gar nicht stören.“

Er könne auch auf Borg spielen. Nicht?

„Spione vor die Tür!“ sagte Eisenhut leise und räusperte sich! „Nicht wahr? Spione vor die Tür!“ wiederholte er und klopfte dem leichenblassen Lehrer auf den Arm. Der riß die Augen auf und sah ihn verständnislos an.

Das Spiel machte einige Runden. Der Chinese schrie und brüllte und trieb zur Eile. Am eifrigsten spielte Eisenhut. Er saß da, lächelnd, blinzelnd, er schrie, fluchte und trank mehr als alle andern. Er war erstaunt, das Glas immer leer zu finden, goß immerzu ein, schrie nach der Sektbowle! Ja, Himmel und Hölle: Die Sektbowle! Lustig sein, fröhlich sein! Hier und da wandte er den Blick auf Grau, der ruhig und heiter dasaß und mit seinen hellen Augen das Spiel verfolgte. Ihre Blicke begegneten sich dann und wann, und Eisenhut grub seinen Blick stets messerscharf in Graus Augen, verzog das Gesicht und wandte sich mit einem leisen inneren Lachen ab. Es schien, als ob ihn zuweilen ein Schwindelgefühl zu übermannen drohe, er heftete die Augen auf die Karten und zählte die Points unsicher und falsch.

„Sie werden doch wohl nicht betrügen, Eisenhut!“ schrie der Chinese. „Das ist ja eine Sieben! Oder sind Sie betrunken?“

„Noch nicht, noch nicht!“ kicherte Eisenhut. Da fiel ihm die Bank zu und er begann fieberhaft zu spielen. Nun schien nichts mehr für ihn vorhanden zu sein als dieser Tisch, der von verschüttetem Punsche tropfte und mit Asche und Zigarrenresten bedeckt war. Er beugte das Gesicht bis auf die Tischdecke herab, gab die Karten, mischte und ließ seine kleinen glitzernden Augen im Kreise wandern. Er lachte, wenn er gewann, und er lachte, wenn er verlor. Ja, er schien es darauf anzulegen zu verlieren. Er sah nichts mehr als die Hände, die nach den Karten griffen, Geld hin und her schoben, alle diese verknitterten, beschmutzten Manschetten, die Haare auf den Händen des Amtsrichters und den silbernen Armreif, den Herr von Hennenbach trug.

Nur zuweilen atmete er tief auf, schüttelte den Kopf, starrte vor sich hin, um sofort wieder das fieberhafte Wesen anzunehmen.

Herr von Hennenbach verlor. Grau sah, wie die Röte aus seinen Wangen wich und verstärkt wiederkehrte, als ihm plötzlich ein hoher Gewinn zufiel, um wieder langsam zu verschwinden, da zwei, drei erfolglose Einsätze den Gewinn zerstreuten. Er legte sich in den Stuhl zurück und suchte hastig in allen Westentaschen. Dann beugte er sich zu Eisenhut und flüsterte ihm ins Ohr. Aber Eisenhut meckerte, sah ihn mit einem schnellen haßerfüllten Blicke an und schrie: „Ich gebe nichts mehr!“ Darauf erhob sich Herr von Hennenbach und sagte: „Ich habe dich leise gefragt, du hast mir leise zu antworten!“

„Ich tue, was ich will!“ erwiderte blinzelnd Eisenhut und mischte rasend die Karten.

Herr von Hennenbach schnalzte mit der Zunge. „Ich bin bankerott!“ sagte er und verließ das Zimmer.

„Auf das Wohl Bismarcks, des Deutschen Reiches großen Baumeister!“ lallte Redakteur Heinrich und lud mit einem Schmunzeln das Glas auf dem Tische ein, ihm in die Hand zu laufen. Er gab sich einen Ruck und ergriff das Glas. „Auf das Wohl des Alten aus dem deutschen Eichenwalde, Ritter ohne Furcht und Tadel, des Deutschen Reiches eiserner Kanzler, Barbarossas Erwecker — alles hoch, hoch!“

Der Adjunkt in Hemdärmeln lachte. „Schreibe den Festbericht für dein Käsblatt und halte das Maul!“ sagte er.

„Hoch das Deutsche Reich, das Vaterland, hoch der deutsche Dichterwald und die Armee, die den Franzmann schlug! Alles hoch!“ fuhr der Redakteur schmunzelnd fort und plötzlich stand er auf und stand mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen, das Glas in der Hand, da. „Hochverehrte Festversammlung, meine Herren und Damen, Festgäste —“

„Keine Reden! Um Gottes willen!“

„— der einzige Mann, sage ich, der die Lage überblickt hat, fahre ich fort, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind, ein einig Volk, die erste Nation der Erde, bei deren Namen Klange die Erde erzittert — meine Herren! — Wir Deutschen fürchten Gott und sonst niemand in der Welt —“ er sank auf den Stuhl zurück.

„Was setzen Sie?“ schrie Eisenhut und schlug auf den Tisch, daß das Geld in die Höhe sprang.

„Meine Damen und Herren — fünfzig Pfennig — hoch die Fahne, sage ich, hoch! zum Kampfe gegen die rote und schwarze Gefahr, die des Reiches Wappenschild —“

„Schließen Sie endlich gefälligst die Klappe!“ sagte der dicke Chinese und lachte rasselnd. „Ihr Geschwätz versteht ja kein Teufel und gehen Sie in die Hölle mit Ihrer Politik, Verehrter — noch eine Karte Eisenhut, neun! — Doktor, vergessen Sie nicht unserm Gast einzuschenken —“

Der Redakteur fuhr flüsternd fort: „Laut statistischer Ziffern sind wir die stärkste Heeresmacht in Europa — ich fordere die Herren auf —“

„Sie langweilen unsern Gast!“

„Er ist unser!“ schrie der Redakteur und erhob das Glas gegen Grau. „Er ist unser, eine Stütze, ein Kämpe! Ja, wir müssen Brüderschaft trinken, unbedingt, eine Seele und ein Geist, der in uns lodert — wir sind im herrlichsten Fahrwasser mit unserer Politik. Die letzten Ergebnisse — was meinen Sie? Nicht, daß schon alles getan wäre — aber das Fahrwasser, das Fahrwasser, wie?“

„Ich bin leider nicht imstande, die gegenwärtige Lage zu überblicken,“ sagte Grau.

„Oh! Sofort —“

„Gehen Sie in die Hölle! sage ich, mit Ihrer Politik!“ schrie Professor Richter und schlug auf den Tisch. „Politisch Lied, ein garstig Lied! Es ist uns ja alles einerlei, der ganze Mumpitz ist uns schnuppe — schließen Sie ab! Lassen Sie sich, Herr Grau, um Gottes willen in kein Gespräch mit ihm ein, er tötet Sie, er tötet Sie buchstäblich.“

Aber der Redakteur mit den wilden Dichterhaaren gab sich nicht zufrieden. „Es ist die Begeisterung, die aus mir spricht!“ rief er aus. „Echte deutsche Mannesbegeisterung. Man muß die Turn- und Kriegervereine unterstützen. Ein starkes Volk, ein Volk von Helden — nieder mit den Sozialdemokraten, mit diesen schmutzigen Kerlen!“

„Warum nennen Sie sie schmutzig?“ fragte Grau leise lächelnd.

„Warum?“ Ob er schon einen von diesen Dreckhammeln mit sauberen Händen und einem reinen Kragen gesehen habe? „Sie sind dreckig und unzufrieden und faul und trinken Schnaps und sie wollen, daß wir Jauche pumpen und die Straßen kehren! Ja, warum lachen Sie da, Sie lachen doch, Herr Grau, oder täusche ich mich?“

„Ja, ich mußte lachen, entschuldigen Sie,“ sagte Grau.

„Sie stimmen mir also nicht bei?“

Grau lächelte. „Sie sprechen ja nicht im Ernste.“

„Im Ernste? Ich? Redakteur Heinrich?“

„Dann sind Sie nicht gerecht!“ sagte Grau.

„Gerecht? Ich? Der Herr behaupten — eiei!“ Der Redakteur lachte belustigt.

„Nun ja,“ begann Grau, „diese Sozialdemokraten sind doch zumeist Arbeiter. Sie arbeiten für uns, sie bringen Geld ins Land —“

Der Redakteur steckte die Zungenspitze heraus. „Aber dafür bezahlt man ja diese Kerle!“ schrie er, Grau ins Wort fallend.

„Dann gebe ich mich zufrieden,“ sagte Grau. „Wenn man sie nur bezahlt und auch sonst menschlich behandelt —“

Redakteur Heinrich rückte näher. „Also sind wir einig, nicht wahr, wir sind einig, haben uns wiederum gefunden! Hoch! Prosit! Sie sagen, Sie sind nicht imstande die Situation zu überblicken? Ich werde mir erlauben — Nummer eins, Nummer zwei und drei — nieder mit der Sozialdemokratie, die mit schmutzigen Händen die heiligsten Güter der Nation betastet — Nummer eins — man bezahlt sie und fertig damit, fort mit dem Gesindel — Nummer eins, sage ich, Nummer zwei — nieder mit den Juden, die das germanische Blut saugen — Sie lächeln, ja bitte, darf ich bitten — Sie lächeln — nun, ich denke Sie sind ja doch kein Jude, nicht wahr — oder? — hier, Herr Doktor Nürnberger, er ist Jude — aber er ist Antisemit — wie jeder gebildete anständige Jude, den der deutsche Geist bestrahlt hat — kurz und gut — ich spreche wie ein echter deutscher Mann spricht — Nummer drei, vier und fünf — nieder mit den Ultramontanen, die deutsches Geld nach Rom schleppen und die Tugend unserer Frauen und Töchter gefährden — Sie lächeln? Ist es etwa nicht wahr? Ja, mein Gott, ich wage es ja nicht, die Kirche, welche es auch sei — denn ich bin ja tolerant — mit meinem kleinen Finger anzutasten — Kirche und Thron — prosit! — hoch! — aber der Ultramon — Ultramon —“

Er quälte sich ab, das Wort auszusprechen, aber zur großen Heiterkeit aller brachte er es nicht fertig.

„Ultramon —“

Der Chinese lachte laut heraus. „Habe ich es Ihnen nicht gesagt, lassen Sie sich in kein Gespräch mit ihm ein. Er ist ein prächtiger Mensch, unser Redakteur Heinrich, aber sobald er ins Reden kommt wird er ungenießbar. Nun ist ihm Gott sei Dank ein Wort im Halse stecken geblieben. Er hat sich auf Sie geworfen, weil er mit uns kein Geschäft mit seinen Phrasen machen kann. Wir sind gar nicht für Politik, wir kümmern uns um nichts. Was liegt uns daran, was sie mit dem ganzen heiligen Bierstaat machen? Frage ich Sie? Hol mich der Teufel, nichts! Wir bezahlen unsere Steuern, weil wir müssen, fertig damit. Mögen sie da droben wirtschaften, wie sie wollen, das geht uns ja nichts an. Wie beliebt? Sagten Sie etwas? Nun, haben Sie keine Angst, welcher Partei Sie angehören, das weiß ich nicht, ich bekümmere mich auch nicht darum. Frei sind wir, frei, keine Parteifanatiker, wir tun unsere Arbeit, man bezahlt uns, fertig. Wir leben, wir sind Menschen. Partei ist Unsinn — wir alle hier sind Individualitäten — Aristokraten, basta! Ich setzte drei Mark, Eisenhut. Habe fünf!“

„Wie sagten Sie?“ fragte Grau, als ob er nicht gehört hätte.

„Ultramontanismus! Ultramontanismus!“ schrie laut triumphierend der Redakteur. Er hatte das Wort vor sich auf den Tisch geschrieben.

Der Chinese beugte sich zu Grau. „Individualitäten, Aristokraten, sagte ich, sind wir. Gehören zu keiner Partei. Wir alle, wie Sie uns hier sehen, und auch Sie, Herr Grau — wenn ich Sie recht kenne, nach all dem, was ich von Ihnen gehört habe — auch Sie sind Aristokrat und Individualität! Auf Ihre Gesundheit!“

Grau lächelte und schüttelte den Kopf. „Auf Ihr Wohlsein!“ sagte er. „Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung, aber Sie überschätzen mich ganz ungeheuer. Ich bin kein Aristokrat, bei Gott, nein, noch lange nicht! Ich würde es auch nicht wagen, mich eine Individualität zu nennen. Ich bin noch weit entfernt davon, zu jung, zu wenig reif; ich danke Ihnen vielmals, aber eine Individualität — sehr schmeichelhaft, allein —“

„Ha!“ schrie der Redakteur. „Prosit, Herr Grau! Ultramontanismus, Ultramontanismus, Prosit!“

„Aber?“ sagte der fette glänzende Chinese gedehnt und sah Grau mit den kleinen Augen an, die schimmernd in den fetten Backen schwammen. „Ich dachte —“

„Keine Gespräche, Professor,“ unterbrach ihn Dr. Nürnberger. „Keine Gespräche. Es nimmt kein Ende und kommt nichts dabei heraus zum Schlusse. Spielen Sie!“

„Ich spiele ja! Sehen Sie denn nicht, daß ich ganz verzweifelt spiele. Ah! wo bleibt denn deine Bowle, Eisenhut, machst immer ein großes Geschrei! — Sie sind ja zu bescheiden, verehrtester Herr,“ wandte er sich an Grau. „Nun, Sie können sich nennen wie Sie wollen, aber wir hier sind alle Individualitäten und Aristokraten.“

Er beschrieb mit der Hand einen Bogen, der die ganze Gesellschaft einschloß. Dann erhob er das Glas und fügte hinzu: „Und nun lassen Sie uns ein Glas auf unsere Zeit leeren, die Zeit der Aufklärung!“

Redakteur Heinrich schrieb eifrig an seinem Festbericht für den „Gauboten“, er kritzelte mit dem Bleistift einige Briefbogen voll, spielte dabei und horchte noch dazu immer mit einem Ohre auf das Gespräch an seiner Seite. Sobald jemand prosit sagte, schrie er ebenfalls prosit, und als er etwas von Aufklärung hörte, sprang er auf und schwenkte das Glas. „Aufklärung in Stadt und Land, prosit!“ schrie er.

„Nun?“ sagte der dicke Chinese zu Grau. „Sie trinken nicht, Sie scheinen nicht einverstanden zu sein mit mir?“

„Gewiß, ich trinke,“ sagte Grau. „Mein Glas ist leer — danke, Herr Doktor!“

Ob er nicht selbst sagen müsse, daß es eine Freude sei, in dieser, gerade in dieser Zeit zu leben: Eine Zeit der Entdeckungen, der horrendesten Entdeckungen, Erfindungen, eine Zeit der Ideen, ja zum Teufel, — einer gesegneten Zeit der Aufklärung, Abklärung und Erklärung, einer Zeit der Befreiung des Menschengeistes, einer neuen Zeit.

„Gewiß eine hochinteressante Epoche!“ warf Dr. Nürnberger ein. „Das Mittelalter liegt weit hinter uns!“

Eine Zeit der Wissenschaft, der Sieg der Naturwissenschaften über den Aberglauben, Chemie, Physik hoch! Wie beliebt?

Grau lächelte. „Gewiß, eine hochinteressante Epoche!“ sagte er.

Der Chinese sah ihn an. „Aber?“

„Wieso denn: Aber?“

„Sie akzeptieren also unsere Zeit ohne jeglichen Widerspruch, Herr Grau?“ sagte Dr. Nürnberger mit feinem ironischem Lächeln.

Die Herren verbargen ihm nicht, daß er sich in grellem Kontrast zu seinen öffentlichen Äußerungen befände.

Grau lächelte fein. „Ich akzeptiere unsere Zeit als eine hochinteressante Epoche, meine Herren,“ erwiderte er, „ohne ihr jedoch in allem zuzustimmen —“

„Ah — haha! Nun lassen Sie, bitte, hören!“ fiel ihm der Chinese ins Wort.

Grau sah ihn an, dann fuhr er fort: „Auf jeden Fall ist es mir unmöglich, Ihre kritiklose Begeisterung zu teilen, meine Herren. Ich wiederhole nochmals, die Epoche ist hochinteressant, trotzdem kann ich nicht in Entzücken geraten über unsere Zeit. Vielleicht verstehe ich die Zeit nicht recht, aber ich darf wohl meine Meinung sagen, nicht wahr? Sie sagen, wir hätten das Mittelalter hinter uns, ich glaube das nicht, ich glaube es nicht ganz.“

„Wie? Aber —“

„Lassen Sie Herrn Grau reden, Herr Professor!“

„Nein, ich glaube es nicht ganz. Sondern ich glaube, daß wir in vieler Beziehung tief im Mittelalter stecken. Die Welt ist etwas reinlicher geworden, ja, das ist gut, wir haben Bahnen und Schnelldampfer, auch das ist ganz hübsch, wir haben eine Menge neuer Dinge, aber sind es wesentliche, wertvolle Dinge? Ich sage nein. Entschuldigen Sie, es ist meine bescheidene Ansicht. Sie erlauben doch, nicht wahr? Es kommt mir so vor, wenn ich es sagen darf, ich blicke auf unsere Justiz, auf unsere sozialen Verhältnisse, die Stellung der Frau, auf eine Menge Dinge. Das Beil hängt noch über ganz Europa, ach, ich brauche mich ja nicht auf Einzelheiten einzulassen, es gibt keine Leibeigenen mehr, nein, auf dem Papier existieren sie nicht mehr, aber es gibt Millionen Sklaven des Kapitalismus, wir haben das alte Kastenwesen, privilegierte Stände — und selbst die aufgeklärten und vornehmen Menschen, die meisten wenigstens, die ich kenne — treten die Privilegien des Standes an, in dem sie geboren sind, ohne weiter darüber nachzudenken. Die gleichen, nahezu die gleichen Ideen regieren — mit dem einen Unterschied, daß sie jetzt hohle Formen geworden sind, während sie früher wirkliche Kräfte waren. Kurz und gut, ich könnte Ihnen hunderte von Dingen aufzählen, die um kein Haar anders sind als sie im Mittelalter waren — vielleicht sehen sie etwas anders aus und vielleicht sehen wir sie anders, weil wir dicht vor ihnen stehen. Aber — und nun hören Sie — ich glaube, es ist ja nur meine Ansicht — eines haben wir verloren: Die Überzeugung, die das Mittelalter besaß, die Tiefe, den ganzen Mystizismus, die wilde und schöne Atmosphäre. Ja, Sie lachen, Gott, wie gesund und gut Sie lachen können, das freut mich, Sie sind ein guter Mensch, lachen Sie ruhig, es ist ja nur meine Ansicht. Sie sprechen von unserer Zeit, nicht wahr, vor hundert oder achtzig Jahren sah es viel besser in der Welt aus glaube ich, besonders in Deutschland.“

„Halten Sie ein!“ unterbrach ihn der Chinese. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche: Nehmen Sie mir auch mein Lachen nicht übel. Ich lache und wir alle sind ja in guter Stimmung, hurra, hoch! Ja, wir sind alle gut aufgelegt. Eisenhut könnte die Bank nach und nach abgeben, er wird langweilig mit der Zeit! Wir brauchen — ja, was sagen Sie doch — tiefe Überzeugung, Mystizismus — ja, gehen Sie doch in die Hölle damit — Sie verzeihen meine starken Ausdrücke, es ist die Stimmung —“

„Bitte, bitte!“ sagte Grau lächelnd. „Ich verstehe sehr wohl —“

„Wir sind ja gerade froh, daß wir all das los haben, Hochwürden! Es macht mir Freude, Ihnen zuzuhören, mit Ihnen zu sprechen, aber was sagten Sie doch alles? Es scheint mir doch, daß Sie den modernen Zeitgeist wenig spüren und ein bißchen altmodisch sind, Herr Grau, hahaha!“

Grau lächelte. Er könne recht haben, vielleicht sei er ein wenig altmodisch. Mindestens sei er sehr langsam, sehr schwerfällig. Aber wenn Herr Professor sich etwas Mühe gäbe.

Professor Richter räusperte sich und nahm einen tiefen Schluck. „Wir sind moderne Menschen, mein Freund,“ sagte er. „Modern bis auf die Knochen. Ein moderner Mensch, haben Sie eine Vorstellung von einem modernen Menschen? Ich will es Ihnen sagen. Ein moderner Mensch, das ist ein Mensch dieser Zeit der Aufklärung, ein freidenkender, toleranter Mensch, dem es ganz einerlei ist, was der andere tut, er kann tun und lassen, was er will und soll schauen, daß er zurecht kommt, ein Mensch ohne Aberglaube und utopistische Träume und schwächliche Ideale, ein Mensch mit einem gesunden Egoismus und einer gesunden Sinnlichkeit, ein Mensch, der sich nicht schämt ein Mensch zu sein — bei allen Teufeln in der Hölle — eben ein Mensch mit gesunden Sinnen und kein Phantast, kein Mönch, kein Spießbürger — sondern ein Einzelwesen, ein Individuum — ja, zum Henker — das ist der moderne Mensch. Ich habe mich wohl deutlich genug ausgedrückt, wie?“

„Danke, ja!“ Grau sah den Chinesen an. „Lassen Sie mir etwas Zeit, ich muß all das überlegen. Ich denke sehr langsam, das ist es. Als ich jung war, fiel mir einmal eine Leiter auf den Kopf und seitdem muß ich langsam denken.“

„Die Leiter hat Ihnen doch weiter nicht geschadet, wie?“

„Nein, ich glaube nicht.“ Grau lächelte.

„Sie kennen Lombroso, nicht? So ein Anstoß von außen her kann zuweilen ein ganz gutes Resultat haben. Übrigens auf Ihr Wohlsein! Ich habe Sie vorhin unterbrochen.“

Grau lächelte und stieß mit dem Chinesen und Dr. Nürnberger an. „Es ist sehr angenehm in dieser Gesellschaft!“ sagte er. „Ich danke Ihnen nochmals, Herr Doktor, daß Sie die Freundlichkeit besaßen mich einzuführen. Sie haben mir erklärt was der moderne Mensch ist, Herr Professor. Erlauben Sie mir nun eine Frage, ich verstehe manches nicht. Zum Beispiel: Gesunder Egoismus und gesunde Sinnlichkeit, das sind ebenfalls solche Worte, die ich überall höre, ohne mir viel darunter vorstellen zu können. Ja, bei Gott, ich muß in Wirklichkeit ein altmodischer Mensch sein — haha — Sie haben am Ende doch recht — denn ich wünsche mir den Menschen gerade mit recht viel Träumen und Idealen — sie brauchen ja nicht schwächlich zu sein, da haben Sie recht, wenn sie nur hoch sind! — mit recht vielen Träumen und Idealen sagte ich, auch Phantast kann er sein, weshalb nicht? Welche Rechte hat Ihr moderner Mensch?“

„Er tut, was er will!“

„Was er will?“ sagte Grau leise und erstaunt. „Nun, aber er hat doch wohl Pflichten, Verantwortung —“

Der Chinese lachte. „Faule Fische! Er tut, was er will und jeder tut, was er will. Pflichten und Verantwortung, das sind ganz ekelhaft abgestandene Begriffe —“

Hm. Grau dachte nach. Er schüttelte den Kopf und lächelte. „Sie mögen recht haben, daß ich ein altmodischer Mensch bin, aber ich glaube nicht, daß der moderne Mensch so ist, wie Sie ihn beschreiben. Der moderne Mensch fühlt sich im Gegenteil mehr durchdrungen vom Gefühle der Verantwortung als der Mensch irgend einer andern Epoche. Oft scheint es als ob in ihm erst jenes Gefühl richtig erwacht sei.“

Der Arzt unterbrach ihn.

Man müsse ja nur den Mut und die Ehrlichkeit haben die Wahrheit zu sehen und zu sagen, warf er ein. Ein Blick in die Natur genüge, um jeden zu überzeugen, daß das Prinzip des Egoismus überall regiere. Ebenso im Menschen. Man fange an, das zu erkennen und —

„Erlauben Sie,“ sagte Grau, „das hat man schon vor Tausenden von Jahren erkannt. Es springt ja in die Augen und ist das Natürlichste. Aber seit Tausenden von Jahren haben sich nun die Weisen mit diesen Problemen beschäftigt, über Recht und Pflicht, den Einzelnen und die Gesamtheit, über Tugend und Laster — sie haben darüber nachgedacht, haben sich die Köpfe zerbrochen — die Allerweisesten der Menschen — ich bin ja ein Nichts im Verhältnis zu diesen Köpfen — aber mir erscheint nichts lächerlicher und kleinlicher als der Egoismus.“

In diesem Augenblick wurde die Sektbowle von der schönen Wirtin hereingetragen und mit lautem Hallo begrüßt. Der Redakteur ließ seinen Festbericht im Stiche und führte einen indianischen Tanz auf. Eisenhut pfiff auf einem Schlüssel und der Adjunkt segnete die Bowle mit feierlichen Gebärden. Herr von Hennenbach kam mit der schönen Wirtin herein und faßte sie um die Hüfte. Der leichenblasse Lehrer schlief in der Sofaecke, er erwachte bei dem Geschrei, blickte auf die Bowle, machte eine abwehrende Handbewegung und schlief weiter.

Die Bowle brachte neues Leben in die Gesellschaft. Man sang einen Rundgesang und stürzte sich dann mit neuem Eifer auf das Spiel. Eisenhut hielt noch immer die Bank. Er sah bleicher und erregter aus, schrie und lachte mehr als alle. Zuweilen lauschte er gegen die Türe, wenn die Musik hereindrang, dann bellte er, trommelte und sprach sinnloses Zeug.

„Ich werde jetzt mein Kostüm ausziehen!“ schrie er.

„Du bist ein Chinese auch ohne Kostüm!“ sagte der Adjunkt und der Witz fand großen Beifall.

„Vorsicht!“ sagte Eisenhut böse und deutete mit dem Zeigefinger auf den Adjunkten, aber augenblicklich lachte er wieder heiter.

Herr von Hennenbach nahm wieder am Spiele teil. Es schien als ob das Glück sich ihm zuwende. Er strich sich aufgeregt das schwarze, glänzende Haar aus der bleichen hohen Stirne und lachte.

„Es beginnt!“ rief er. „Nur los, Eisenhut! Ich brauche Geld! Noch eine Karte, wenn ich bitten darf. Ich setze zehn Mark!“

Aber er verlor, und obgleich Eisenhut unvorsichtig spielte, verlor der Freiherr fortwährend. Er wurde noch aufgeregter und erbleichte mehr und mehr. Er setzte nun stets zwanzig Mark.

„Zum Teufel!“ schrie er und lachte nervös.

Dann aber gewann er. Er gewann fünf-, sechsmal nacheinander und gebärdete sich laut vor Freude. „Endlich wendet sich das Blatt! Prosit, prosit allerseits!“

„Die Bank hat acht!“ rief Eisenhut.

„Neun!“ schrie Herr von Hennenbach und schlug auf den Tisch.

Eisenhut sah ihn an und lächelte hämisch. „Sehen lassen!“ sagte er.

Es waren nur sechs Points.

Freiherr von Hennenbach stand auf und stieß den Stuhl zurück und erbleichte. „Ich habe doch gezählt und gezählt!“ rief er. „Sehe ich nicht recht? Das ist ja eine Figur — aber das ist ja zum Teufelholen — bin ich denn bezecht?“

Eisenhut meckerte. „Du hast dich getäuscht, Kurt — setze dich — getäuscht hast du dich, das kann vorkommen.“

Rechtspraktikant Schmidt aber sagte scharf: „Man muß eben acht geben!“

„Wie beliebt, Herr Grau? Wir haben die Telegraphie, das Telephon, Bogenlampen, Blitzzüge, die Röntgenstrahlen — all das hat unsere Zeit geschaffen. Imponiert Ihnen das nicht ein wenig? Kinematograph, Phonograph, ja, was haben wir doch alles. Die eminente Entwickelung der Naturwissenschaften.“

Herr Grau möge sich auch an die Errungenschaften der modernen Physiologie, Bakteriologie, Chirurgie erinnern, bemerkte der Arzt.

Grau lächelte. „Ich sagte schon, daß das alles ganz groß ist,“ sagte er, „all diese Erfindungen, von denen Sie sprechen, wunderbar! Ich lege Ihnen sogar noch einen tieferen Sinn bei — sie sind in gewissem Sinne Offenbarungen — Verzeihung, ich spreche im vollen Ernste, meine Herren — aber —“

„Aber?“

„— trotz ihrer Größe und Wichtigkeit und Tiefe sind sie alle zusammen noch nicht imstande eine Kultur zu bilden. So groß sie sind, sind sie doch kein wesentlicher kultureller Faktor. Ich nehme an, ja, zum Beispiel, ein einziger Psalm von Salomo ist weitaus mehr wert als alle Fernsprechapparate und Dynamomaschinen zusammen —“

„Allen schuldigen Respekt vor Ihrem Salomo, aber —“

„Wir können ja auch sagen: Ein Gedicht von Heine, eine Kantate von Bach, ein Beethovenscher Akkord, ein Gedanke von Plato oder Goethe, wie Sie wollen.“

„Pardon,“ unterbrach ihn der Arzt, „glauben Herr Grau vielleicht, daß ein Goethescher Gedanke, um nur eines herauszugreifen, kulturell höher zu werten ist als zum Beispiel die Erfindung des Serums gegen die Tollwut oder die Entdeckung des Cholerabazillus?“

Grau sah ihn erstaunt an. „Aber natürlich!“ sagte er lächelnd. „Wir sprechen ja von Kulturwerten, nicht wahr?“

Hm!

Aber mit einem Serum könne man doch Tausende von Menschen heilen und ihr Leben retten?

Grau lächelte. „Haben Sie damit schon etwas zur Kultur beigetragen, Herr Doktor?“

„Hahaha!“ lachte der dicke Chinese und zog seine Karten auf.

Hier geschah es, daß Herr von Hennenbach auf Grau blickte. Wiederum ruhten die Blicke der beiden eine Weile merkwürdig fragend und suchend ineinander. Grau blickte den Freiherrn lange an. Und es war eigentümlich, der junge Mann erbleichte unter Graus Blick. Er erbleichte ganz langsam. Er wandte die Augen ab, um Grau sofort wieder anzusehen. Er legte die Karten auf den Tisch, starrte Grau an und drehte mechanisch den silbernen Reif um das Handgelenk. Dann gab er sich einen Ruck, verzog den Mund und griff nach seinem Glase und erhob es gegen Grau.

„Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!“ sagte er und lächelte.

Grau rührte sich nicht. Es war ein solcher Lärm, daß der Freiherr annahm Grau habe nicht gehört. Er wiederholte: „Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!“

Sah Grau nicht? Hörte er nicht? Er blickte ruhig und ohne eine Miene zu bewegen auf den jungen Mann.

„Auf Ihre Gesundheit, Herr!“

Grau sah und hörte nicht.

„Das ist doch unerhört!“ stammelte der Freiherr und erbleichte.

Niemand hatte dem Vorfall Beachtung geschenkt.

Professor Richter rückte näher an Grau heran, so daß jetzt Grau ebenfalls unter den gelben chinesischen Schirm zu sitzen kam.

„Also unsere Zeit findet keine Gnade vor Ihren Augen? Seht an, seht an!“ begann er von neuem.

Grau antwortete nicht zugleich. Er war müde von dem ewigen Geschwätz, übrigens beschäftigten ihn auch andere Gedanken, gerade jetzt.

„Bitte?“ sagte er. Er lächelte. „Gerade vor meinen Augen? Ich bin ja nicht befugt, zu urteilen und zu richten. Aber wenn Sie mich fragen, so kann ich wohl antworten, daß ich nicht ganz zufrieden bin. Man arbeitet, man sucht, ja, gut, ich müßte ein Tor sein, wollte ich das leugnen, unsere Zeit bereitet gewiß eine andere vor, die einen höheren Wert besitzt. Wie es gegenwärtig aussieht — nein, ich kann nicht zufrieden sein. Ganz und gar nicht. Vielleicht hat es noch nie eine Kultur gegeben, die so tief stand wie die Kultur unserer Zeit. Sie lächeln? Ja, erlauben Sie mir, so scheint es mir. Andere Zeiten und Völker hatten ja nicht die grandiosen Kulturvorbilder wie wir sie haben. Trotzdem. Eine gewaltige Bewegung, ein Rausch, eine Begeisterung, Ideale? Nun? Wo sind sie? In Europa? Der Träger der Kultur ist meines Erachtens in unserer Zeit nicht Europa. Auch das belustigt Sie? Ich äußere meine Ansicht selbst auf die Gefahr hin, daß ich mich vor den Herren lächerlich mache und immer mehr und mehr altmodisch erscheine. Es ist doch ein Gespräch, nicht wahr? Was weiter? Ja, so scheint es mir. Europa ist sicherlich das reinlichste und zivilisierteste Stück Erde, natürlich. Große Gefühlsströmungen — wir haben das Mittelalter gehabt, mit einem großen Rausch, Sehnsucht nach Erlösung, Befreiung, wie haben doch die Menschen damals gefühlt? Ich weiß, daß Sie den Mönchen gegenüber nicht freundschaftlich gesinnt sind — aber der Gedanke des Mönchtums war doch tief. Oder? Ich weiß, daß man allgemein den Gedanken kurzerhand abtut — aber wenn man nachdenkt? Er ist doch tief. Die Märtyrer — die Fakire und Derwische — zu welchen Taten sind sie fähig gewesen, und die Fakire vollbringen heute noch die unglaublichsten Dinge. Was ist Gefühl, was ist Mysterium, Wunder, Tiefe? Freundschaft, Liebe? Religiöses Empfinden? Sehen Sie sich um? Nun, gewiß, ich erscheine Ihnen vielleicht altmodisch, weil ich mich danach umsehe. Übrigens weiß ich wohl, daß all das noch existiert, aber nicht als Bewegung, als allgemeine Empfindung. Wir haben viel Anerkennungswertes in unseren Tagen, aber wissen Sie, woran es uns vor allem fehlt?“

„Bitte?“

„An seltenen Tugenden, großen Gefühlen und außerordentlichen Eigenschaften.“

„Hahaha. Fahren Sie fort! Auf das Wohl der Fakire und heulenden Derwische!“

Grau erhob das Glas. „Auf ihr Wohl!“ sagte er. Und er fuhr fort: „Wir haben in unserer Zeit eine Art von Bequemlichkeit, die mir bedenklich erscheint. Wenn ich richtig beobachte, so ist man im allgemeinen geneigt sich ohne jegliches tiefere Nachdenken den ärmlichsten und trivialsten Lebensanschauungen anzuschließen — zum Beispiel dem Materialismus, Atheismus und so weiter. Und wissen Sie warum? Weil es so einfach, so nüchtern ist, weil man nicht zu denken braucht und weil diese Anschauungen so gar keine Anforderungen stellen. Das erscheint mir so ärmlich und trivial und das ganze Leben ist so geworden, selbst die Literatur, sehen Sie sich die Literatur an, wie trivial ist sie doch zum größten Teil geworden, die Feste, jede Lebens- und Gesellschaftsform beinahe! Trotzdem,“ fügte er hinzu, „ist unsere Zeit wertvoll, weil sie mit ungeheurer, wenn auch verborgener Kraft, eine neue, grandiose Kultur vorbereitet!“

Hier aber brach ein lautes Geschrei aus. Der Lehrer nämlich war langsam vom Sofa geglitten und unter den Tisch gefallen. Er schlief und man hörte ihn laut schnarchen.

Auch Adjunkt Kaiser war eingeschlafen. Sein Kopf lag mit dem Kinn auf der Brust und die Oberlippe stand läppisch vor. Aber er hielt seine Karten tapfer in der Hand und öffnete immer ein Auge, sobald die Runde an ihn kam. Das erriet er stets. Die Stimmen der Spieler wurden leidenschaftlicher, rauh und betrunken. Zuweilen trat eine Pause ein, da alle anfingen müde zu werden. Dann hörte man das Wiegen der Musik im Saale, die Geigen, die Klarinetten, die Pauken. Manchmal kam die Musik bis dicht an die Türe, kicherte durch die Spalten, verschwand in der Ferne und wiegte sich heiter.

Dann sah Eisenhut auf und starrte zur Türe.

Da erhob sich Grau plötzlich und sagte: „Meine Herren, ich bitte um eine Minute Gehör. Ich finde Sie alle bei guter Laune und ich möchte die gute Stimmung benutzen, um Sie zu einem wohltätigen Werke zu animieren.“ Er zog den silbernen Ring mit dem winzigen blauen Stein aus der Westentasche. „Ich habe hier einen Ring,“ fuhr er fort, „den ich zu Geld machen möchte. Er gehört einer armen alten Frau. Vielleicht findet sich hier ein Liebhaber?“

Er lächelte und zeigte den Ring. Seine weißen hübschen Zähne blitzten.

Der dicke Chinese lachte zuerst und alle fielen in sein Lachen ein.

„Nein, Sie sind schon ein wenig sehr altmodisch — hahaha — alles was recht ist —“

„Der Ring ist freilich einfach und schlicht,“ sagte Grau, der leicht errötete, und zeigte den Ring im Kreise umher, „er gehörte Fräulein Margarete Sammet, die sich das Leben nahm — Sie erinnern sich gewiß alle — für die Mutter möchte ich ihn zu Geld machen. Natürlich gebe ich ihn nicht billig her, nicht allzu billig. Findet sich kein Liebhaber? Herr Redakteur Heinrich — oder vielleicht Sie, Herr Assistent Pechmann? Sie lachen, meine Herren, aber die Frau ist ja arm und hat Geld nötig. Herr Amtsrichter Leutlein, Herr Eisenhut?

Eisenhut blickte auf den Ring und blinzelte, dann sah er Grau ins Gesicht. Er wurde totenblaß und hörte auf zu blinzeln. Er schüttelte den Kopf. „Nein, danke!“ sagte er leise.

Grau verbeugte sich und lächelte. „Nicht? Wie schade! Aber vielleicht Sie, Herr von Hennenbach? Ich habe die Angelegenheit in die Hand genommen und möchte sie auch zu Ende bringen, deshalb. Vielleicht Sie, Herr von Hennenbach? Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?“ Grau beugte sich über den Tisch und zeigte den Ring. „Sie sind ja ein Liebhaber solcher Dinge, wollten Sie mir nicht einmal meinen Reisesack abkaufen? Sie erinnern sich, es war hier im Elefanten am Tage vor der Beerdigung des Dienstmädchens. — Ich habe Sie vorhin beleidigt, ich war unhöflich gegen Sie. Tragen Sie mir das nicht nach. Sie waren ja an jenem Abend ebenfalls nicht gerade freundlich gegen mich — vergessen wir es, wir sind quitt. Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?“

Grau spielte eine lächerliche Rolle. Alles belustigte sich über ihn.

Herr von Hennenbach begann augenblicklich laut aufzulachen. Er lachte, daß sich sein Gesicht rötete und hustete. „Danke, danke!“ rief er aus.

„Oh, aber ich denke, Sie verstehen sich auf die Schätzung eines solchen Ringes —“

Der Freiherr lachte immer noch.

„Für den Ring habe ich leider keine Verwendung,“ sagte er und lachte immerfort.

„Bitte sehr!“ Grau lächelte sonderbar. „Selbst Sie also nicht!“ sagte er und sah dem lachenden jungen Mann in die Augen.

Plötzlich jubelten alle und blickten zur Türe. An der Türe hörte man das Lachen von Mädchen, Adele und die Schwestern Sinding traten ein.

„Hurra! Hoch die Damen!“

Fünftes Kapitel

A h!“ schrien die Herren und fuhren in die Höhe. Der dicke Chinese schwang den Schirm wie eine Fahne und der Redakteur verneigte sich tief und ruckweise, daß sein wirres Haar über die Stirne flog. Hurra! Hoch die Damen! Hoch! Ein Stuhl klapperte auf dem Boden und ein Weinglas fiel auf geisterhafte Weise ganz langsam von selbst um und zerbrach. Adjunkt Kaiser schlief friedlich in seinen Hemdärmeln; da keine Karte mehr gekommen war, war er eingeschlafen.

Der Rauch wirbelte zur Türe hinaus, so sah es aus als kämen die Mädchen aus einer Wolke. Sie standen alle drei zögernd beisammen und hatten Furcht der Gesellschaft nahe zu kommen, die lärmend auf sie eindrang.

„Wir wollten einmal sehen, wie die Herren sich amüsieren!“ sagte Adele und blickte umher. Sie bewegte den Fächer in der Hand und der Ärmel ihres Kostüms fiel herab, so daß man ihren weißen vollen Arm sah. In dem roten Kostüm, mit den schwarzen Haaren, den hellen Augen sah sie imponierend und fremdartig schön aus. Rosen schmückten das Haar, die Schulter, den Gürtel. Sie lachte. Ihre Zähne waren so weiß, ihre Lippen waren so rot. Aber ihre Augen waren ohne Erbarmen, stechend und hart.

Sie blickte auf Grau, sah aber sofort weg, sie streifte Eisenhut mit einem raschen Blicke.

Eisenhut hatte sich langsam erhoben als Adele sichtbar wurde. Er reckte den Spitzbart vor, hörte auf zu blinzeln und machte die Augen scharf, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich im Zimmer stand. Er wurde fahl, richtete sein Kostüm, strich sich die Haare zurecht und starrte unausgesetzt auf Adele. Auf seinen Lippen erschien ein verzweifeltes Lächeln. Er ließ sich auf das Sofa nieder, langsam, um kein Geräusch zu machen, und versteckte sich hinter dem jungen Hennenbach, der mit Klara Sinding plauderte.

Plötzlich lachten alle. Der junge Lehrer nämlich, der unter dem Tische schlief, erwachte und machte sich auf allen Vieren aus dem Staube. Er kroch zur Türe, stieß sie mit dem Kopfe auf und verschwand.

„Ja, was ist denn das?“ schrien die Mädchen.

„Das ist unser Hund!“ sagte Herr von Hennenbach, der seine Trunkenheit geschickt hinter seinen sicheren gesellschaftlichen Formen verbarg. „Er geht um für die Damen zu bestellen!“

„Hahaha!“ lachten die Schwestern Sinding und Klara blickte Herrn von Hennenbach mit schwärmerischen, glänzenden Augen an; sie verriet sich mit einem Blicke.

Professor Richter ordnete geschickt wie ein Kellner die Gesellschaft. Gläser! Die Damen sollten sich zu Hause fühlen, höhö! Gläser für die Damen.

„Nein, keinen Wein, um Gottes willen!“ rief Adele. „Vielleicht könnte man ein Glas Selters haben.“

„Selters! Selters!“

Auch die Schwestern Sinding wollten nichts mehr trinken. „Selters, ja.“ Sie saßen mit glühenden Wangen da.

Adele lachte laut auf. „Hier ist er ja, unser Herr Eisenhut!“ rief sie und zeigte auf Eisenhut. „Bedenken Sie nur, meine Herrschaften, hundert Mark war ihm zuviel für ein Glas Sekt, an dem ich nippte!“

„Ah, oh — oho!“ riefen die Herren rings im Kreise.

Eisenhut bewegte die Lippen. Er blinzelte. „Ich habe ja — habe ich nicht hundert Mark bezahlt — ich wollte Ihnen die Hand geben —“

Aber Adele war grausam. Sie hörte ihn nicht, sie erzählte die Geschichte von den hundert Mark, die ganze Szene und ahmte Eisenhuts Erstaunen, Schrecken und Schwanken nach. Sie sprach sehr rasch und fächelte sich unaufhörlich Luft zu. Oh, wie entsetzlich heiß es sei! Ob man die Fenster nicht —

„Die Fenster auf — zum Donnerwetter! Für die Damen —“

Der Redakteur stand schon eine ganze Weile da, das Glas in der Hand und klappte mit den Lidern wie eine mechanische Figur. Offenbar hielt er eine Rede, aber niemand nahm Notiz von ihm.

„— des Lebens heitere Zierde — ehret die Frauen, sie flechten und weben — hoch die Damen! —“ murmelte er — „hoch! Ein Kranz schöner Jungfrauen, der des Festes Tafel schmückt — könnte ich jeder ein Kränzchen von Maienblumen auf das holde Haupt legen —“ Plötzlich liefen dicke Tränen über sein Gesicht. „Hoch die Damen, hoch!“

Die Herren fielen stürmisch ein.

Spielen? Ja, natürlich wollten sie spielen. Alle! Man stürzte sich kopfüber ins Spiel, schrie und lachte. Die Damen würden es sofort können, eine Kinderei! Der Adjunkt schlief immer noch. Amtsrichter Leutlein, der seine schläfrige Miene abgelegt hatte, tropfte ihm Wein auf die Glatze, und er erwachte. Er starrte lange Zeit geistesabwesend auf die Mädchen, dann sagte er feierlich: „Guten Abend!“

„Es ist ganz herrlich hier!“ rief Adele. „Kann ich dem Klub beitreten? Ein Glas Bowle nun, Herr Doktor, bitte.“

„Bowle, ein Glas Bowle, rasch!“ kommandierte der dicke Chinese.

„Ja, also, verehrter Herr Grau —“ Er müsse doch zugeben — selbst wenn er mit allem und allem unzufrieden sei — er müsse doch gestehen, daß die Wissenschaft in verschiedene Dinge Klarheit gebracht habe, eine ganz unglaubliche Anzahl von Vorurteilen, den schwärzesten Vorurteilen, habe sie zerstört, Aberglaube und naive Vorstellungen habe sie in Grund und Boden hineingeritten —

„Natürlich gebe ich das zu. Ich habe den allergrößten Respekt vor der Wissenschaft und ziehe den Hut vor ihren großen Männern. Wo habe ich denn behauptet, daß ich, ein kleiner und einfacher Mensch — das wäre ja geradezu kühn —“

„Gut, gut! Der ganze Wunderglaube, zum Beispiel, zum Teufel ist er! Pardon! Aber er ist zum Teufel, einfach wie weggeblasen. Kein Kind kann heutzutage mehr glauben, daß jemand Wasser in Wein verwandelt oder fünftausend Halunken mit einem Groschenkipf speist. He?“

„Natürlich, das ist Fabel!“

„Bravo, bravo! Also endlich —“

„Im übrigen,“ fügte Grau hinzu, „wer weiß, ob es nicht doch ein wahres Geschehnis ist? Wie schön ist aber jenes große Gefühl, jenes Verlangen nach dem Außerordentlichen, jene Sehnsucht nach dem Wunderbaren? Nicht wahr? Ergreifend ist das! Und oft glaube ich es auch, ich glaube es. Ich bin geneigt, das Unglaublichste zu glauben, gerade weil ich es nicht begreifen kann —“

„Nun aber, Verehrter, der gesunde Menschenverstand — wo bleibt da der gesunde Menschenverstand? Ich bitte, Ehrwürdiger, der gesunde Menschenverstand muß doch auch auf seine Rechnung kommen?“

Grau lächelte. „Der gesunde Menschenverstand?“ sagte er. „Was ist es eigentlich damit? Ich muß Ihnen gestehen, Herr Professor, daß mein Verstand, obwohl ich annehme, daß er vollständig gesund ist, mich sehr häufig im Stiche läßt. Derselbe gesunde Menschenverstand hat schon ganze Völker und Zeitalter betrogen. Legen Sie mir einen Kirschkern her und behaupten Sie, es wird ein Baum daraus werden mit Blättern, Blüten, Kirschen, verzeihen Sie, mein gesunder Verstand wird es nicht für möglich halten. Sagen Sie mir, die Erde fliegt mit einer ungeheuren Geschwindigkeit von so und soviel Meilen um die Sonne, ich werde sagen, entschuldigen Sie, mein gesunder Menschenverstand begreift das nicht. Ich werfe einen Stein, der Stein fliegt, ich begreife das nicht, nicht einmal das. Ich muß Ihnen leider gestehen, daß ich mich auf meinen gesunden Verstand nicht einmal bei den einfachsten Dingen verlassen kann, von komplizierteren gar nicht zu sprechen.“

Hm, hm.

„Aber Verehrter, Sie geben trotzdem zu, daß Ihr gesunder Menschenverstand den Wunderglauben abweist, nicht wahr? Man soll nur die Wissenschaft arbeiten lassen — Hölle und Tod! — sie wird ihr Werk der Aufklärung schon vollbringen. Auch die Schöpfung, wie die Bibel sie darstellt, das ist wohl eine Fabel oder nicht?“

„Natürlich ist das eine Fabel, aber —“

Redakteur Heinrich stand auf und drückte Grau die Hand. „Redefreiheit für jedermann! Wir sind unter uns!“ sagte er mit einem gönnerhaften Schmunzeln. „Sie können sich nach Belieben und ganz frei äußern, niemand wird ein Wort erfahren. Ein Wort, ein Mann!“

„Aha, die Damen haben Glück! Ich habe diesmal nicht gesetzt, Eisenhut, schreie nicht so! Ich erlaube mir die Behauptung auszusprechen, daß, wenn die Aufklärung, die Wissenschaft in alle Schichten und Poren des Volkes gedrungen ist — all der Zauber, Aberglaube und Irrtum werden wie Wachs schmelzen — ja was dann? — Ich erlaube mir zu behaupten, daß die Religion dann bankerott ist, einfach. Sie kann ruhig die Bude schließen, ruhig! Ich bitte wegen des starken Ausdrucks um Entschuldigung, aber es ist so, bei allen Teufeln, um kein Haar anders ist es.“

„Bitte,“ sagte Grau, „es ist ja nur eine Formsache, die nichts zu sagen hat. Also, das glauben Sie? Aber ich glaube, je mehr die Wissenschaft erkennen wird, desto mehr wird sich das religiöse Gefühl steigern, es wird nicht verschwinden, es wird im Gegenteil wachsen, ungeheuer anwachsen. Denn die Wissenschaft wird Wunder um Wunder aufdecken, es wird alles verwirrender und verwirrender, unfaßbarer werden. Der Gottesbegriff verliert natürlich die einfache naive Form, er wird sich mehr und mehr verfeinern, vergeistigen; je wissender und größer der Mensch wird, desto erhabener und größer und unfaßbarer wird sein Gott. Das Mysterium wird gewaltiger, je mehr man in dasselbe hineinsieht —“

„Ich glaube, es bereitet sich eine Zeit vor mit einem so tiefen religiösen Gefühl, daß es dem Wahnsinn gleich kommt.“

„Glauben Sie, Herr Grau! Wenn man aber einem Menschen begreiflich macht, daß vor etlichen Millionen Jahren der Mensch noch gar nicht existierte? Wie? Was denn, was denn? Gott?“

Grau sah ihn erstaunt an. „Wenn es jetzt keinen Menschen gäbe,“ versetzte er lächelnd, „so gäbe es allerdings kein menschliches religiöses Gefühl. Aber es handelt sich ja bei dieser Frage weniger um die Existenz des Menschen als um das Dasein Gottes. Ob der Mensch existiert und seit wann, das ist ja nebensächlicher Natur. “ Grau lächelte. „Es ist merkwürdig wie sehr Sie an die Naturwissenschaften glauben,“ fuhr er fort, „ich verehre die modernen Naturwissenschaften und verdanke ihnen zum größten Teil meiner Erziehung — allein so unumstößlich wahr sind ihre Thesen nicht, glaube ich. Vielleicht lacht man in einigen hundert Jahren über einen Anhänger der jetzigen Entwickelungslehre ebenso, wie man in unseren Tagen über jemand lacht, der noch glaubt, der Mensch sei von Gott aus Erde geformt worden. Bitte, erschrecken Sie nicht, ich selbst bin nicht dieser Meinung, sondern ich finde die Behauptungen der modernen Wissenschaft für höchst annehmbar. Aber was soll das sagen, nicht wahr?“

„Wie!“ Der dicke Chinese lachte und schrie. „Alles, alles mein Herr, alles! Ich bitte Sie, die Konsequenzen — die Konsequenzen! Fassen Sie die Konsequenzen ins Auge!“ heulte er triumphierend.

Erstens also sei — und zweitens —

Adele lachte. Sie hielt die Bank und gewann fortwährend.

„Nun auf das Wohl der Herren!“ rief sie und erhob das Glas. Sie sah wiederum Grau einen Augenblick lang eigentümlich an. Dann lächelte sie. „Auf das Wohl Susannas!“ sagte sie. „Auf gute Freundschaft!“ setzte sie hinzu und lächelte wieder.

„Auf gute Freundschaft!“

Eisenhut hatte keinen Wein im Glase und bis er es füllte, war es zu spät. Er sagte höflich: „Auf die Gesundheit der Damen!“ und stürzte das volle Glas hinunter. Dann lachte er. Nur Maria Sinding sagte: „Zum Wohlsein!“

„Es ist sehr unterhaltend hier!“ sagte Adele. „Alles Ernstes, ich will Mitglied des Klubs werden. Ja! ich will die kurzen Monate noch genießen.“

Wann denn die Hochzeit sei?

„Im Mai!“ antwortete Adele lachend. Dann schüttelte sie den Kopf. „Wer weiß es?“ fügte sie hinzu. „Niemand weiß es. Seht her, wieviel ich gewonnen habe! Ich habe Glück im Spiel! Faites vos jeux, messieurs!“

Professor Richter verlor endlich die Geduld. Ja, ein merkwürdiger Herr war dieser Herr Grau. Wie eine Katze fiel er stets auf die Füße. Nun er zugegeben hatte, daß der Mensch vielleicht nichts sei als das letzte Glied einer langen Entwickelungsreihe — ein Produkt der Auslese und Zuchtwahl — nun war alles noch viel wunderbarer für ihn. Er bewunderte den feinen Geschmack und Instinkt der Wesen, immer das Schönere und Zweckmäßigere auszuwählen, er bewunderte das Resultat. Nein! Man könne nicht mit ihm diskutieren.

Aber nach einer Weile begann Professor Richter von neuem die Diskussion. Er bearbeitete Grau nach allen Regeln und von allen Seiten. Die ganze moderne Wissenschaft ließ er aufmarschieren. Endlich — ach, endlich!

„Nun, verehrter Herr,“ murmelte er und rieb bedächtig die großen fetten Hände aneinander, „die Schlußfolgerungen sind höchst einfach. Ja, das ist ja erstaunlich, was Sie nun alles zugegeben haben, haha! Sie sind ja gar kein solch altmodischer Mensch, Donner und Doria — nein, Sie sind ja ganz modern. Und beschlagen sind Sie ebenfalls, nicht wahr, Doktor, wie er doch die Literatur kennt, unser Herr Grau! Aber nun erlauben Sie, daß ich zusammenfasse! Wenn Sie mir all das zugeben und behaupten all das ändere ja an der Sache nichts — wenn Sie mir zugeben, daß die Seele des Menschen aus der Tierseele entstanden ist, ein Komplex von Gehirnfunktionen — wenn Sie mir das zugeben, wenn Sie mir zugeben, daß jedes Empfinden von einem physiologischen Vorgange begleitet sein muß — so erlischt also die Seele — sie hört auf, sie ist fort und verschwunden, in die Binsen ist sie gegangen — in dem Augenblicke, da die Blutzirkulation im Gehirn stockt! Das ist doch logisch, nicht wahr? Ja, zum Henker, jeder Idiot begreift das. Aber dann leugnen Sie ja die Unsterblichkeit der Seele, haha! Vollständig, mein Verehrter, jawohl — Sie lachen — aber Sie taten es, gerade vor zwei Minuten. Prosit! Ja, prosit, Sie sind ein moderner Mensch, durch und durch, einen Orden sollen Sie haben!“

„Haben Sie gesehen, daß alle herblickten, als Sie das kleine Wort Unsterblichkeit aussprachen?“ entgegnete Grau. „Es fiel mir auf. Ja, das nur nebenbei. Was sagten Sie? Was habe ich doch getan? Aber auf Ihre Gesundheit, auf die Gesundheit der Damen — gewiß werde ich heute einen Rausch bekommen, so oft schenkt mir der liebenswürdige Herr Doktor ein! Ja, was habe ich doch nur getan, daß Sie so triumphieren, Herr Professor? Triumphieren Sie, bitte, nicht zu früh. Ja trotzdem, trotz alledem glaube ich an die Unsterblichkeit der Seele. Ich werde Ihnen nicht mit Gründen kommen, denn so unzulänglich meine Worte wären, so unwürdig wären Worte diesem Gegenstande. Auch finde ich es häßlich, jedes Geheimnis mit einem Worte zu vernageln. Wie würde es sich doch ausnehmen, wollte ich sagen, all die Millionen Schwingungen, Strahlen, die in jeder Stunde von Ihnen ausgehen und ja gewiß fortdauern müssen, sie zusammen — oder die Seele könnte sich irgend eines unbekannten Mediums bedienen — wie häßlich würde das doch klingen und nichts sagen obendrein. Nein, meine Herren, ich fühle es und ich denke auch, nie hätte ein Mensch diesen Gedanken fassen können, niemals, wenn es nicht etwas Wahres mit ihm wäre!“

Grau lächelte und einen Augenblick lang leuchteten seine Augen wie dunkles Gold.

„Ja,“ wiederholte er, „wie hätte doch solch ein Gedanke in den menschlichen Kopf kommen können, wenn er nicht wahr wäre!“

Aber da höre jede Diskussion auf. Herr Grau sei ein ganz modern denkender Mensch, aber sobald man gewisse Dinge berühre — haha!

„Diese Dinge lassen sich eben nicht diskutieren!“ erklärte Grau lächelnd.

Dr. Nürnberger rollte sich eine Zigarette und sagte: „Aber der Mensch hat ja auch den Gedanken der Sterblichkeit der Seele fassen können, also muß es auch damit eine gewisse Richtigkeit haben.“

„Gewiß,“ erwiderte Grau, „der Irrtum ist verzeihlich, denn wir sehen den Tod stets ringsum und es ist auch möglich, daß ein Teil — jener Teil, Herr Doktor — der Seele stirbt — — — — Aber sehen Sie doch, was ist mit Herrn Eisenhut?“

Eisenhut nämlich deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch und schrie unaufhörlich: „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ich lasse mir das nicht bieten!“

„Er läßt sich das nicht bieten!“ ahmte der Adjunkt Eisenhuts heulende und pfeifende Stimme nach.

„Bitte, bitte!“ sagte Adele und lachte gereizt. „Herr Eisenhut weiß es besser, natürlich!“

Jemand hatte Adele grausam genannt, weil sie Eisenhut soviel Geld abnähme. Sie hatte ganze Rollen von Geld vor sich liegen. Man könne doch sehen, daß Eisenhut es aufs Verlieren anlege.

„Er mag spielen, wie er will!“ antwortete Adele lachend. „Wenn es ihm Freude macht zu verlieren, so mag er ruhig verlieren. Ich für meine Person freue mich, wenn ich gewinne, und ich freue mich, wenn jemand verliert. Wer hat mich doch grausam genannt? Sie, Herr Assistent Pechmann? Danke! — Ja,“ fügte sie in scherzendem Tone hinzu, „gewissermaßen haben Sie recht, ich bin vielleicht grausam. Zum Beispiel, ich hasse die Kranken und die Krüppel, ob sie nun bucklig sind oder hinken, einerlei, und oft denke ich, man sollte sie eigentlich vergiften, das beste wäre es! Ist das nicht grausam? Und dann, schon als Kind war ich recht unangenehm, ich habe meine Amme in die Nase gebissen und später liebte ich es, den Mücken den Kopf abzureißen —“

Sie sagte es in scherzendem Tone und gab dabei die Karten; niemand beachtete es weiter, aber Eisenhut begann plötzlich sich ganz unsinnig zu gebärden.

„Das ist nicht wahr.“ schrie er und pochte auf den Tisch. Gelächter.

„Wie beliebt?“ fragte Adele und richtete die hellen Augen auf ihn.

Eisenhut schrie: „Niemals haben Sie Mücken die Köpfe abgerissen, das ist eine Lüge. Ich habe es in einem Buche gelesen!“

Jemand fragte, ob er denn überhaupt je ein Buch gelesen habe?

Der Redakteur streckte beide Hände gegen Eisenhut aus: „Friede sei mit dir!“ Aber der dicke Chinese schob ihn zur Seite und faßte Eisenhut an der Schulter. „Eisenhut!“ rief er. „Ruhig, oder du fliegst hinaus! Du brauchst Damen lügen zu strafen! Eine Dame lügt nie! Verstanden, du Erzlügner!“ Ja, die Damen müßten den unangenehmen Zwischenfall entschuldigen.

Eisenhut machte sich frei und erhob sich. Er war weiß wie eine getünchte Wand. Er atmete tief und versuchte zu lächeln. Seine Lippen zitterten, das Haar klebte an seiner Stirn. Er ließ die Augen im Kreise umherirren, von einem zum andern, und seine Lippen bebten stärker: Feinde, lauter Feinde!

„Wie sagen Sie?“ sagte er, stotterte er. „Ich stehe — ja, was soll das heißen — was soll das heißen! frage ich?“ Er rang die Hände und alle sahen ihm zu, wie zu einem Schauspiel. „Was soll das heißen,“ fuhr er zitternd und bleich fort. „Ich bin wohl kein Mensch? Alles was recht ist — es ist zuviel! Erzlügner? Wie — alles was recht ist — Sie — Sie haben — dieser Doktor dort, Herr Dr. Nürnberger — er hat Herrn Grau heraufgelockt. Dr. Nürnberger ist gegangen um Herrn Grau heraufzuholen, wir wollen ihm die Würmer aus der Nase ziehen, er sagte es, Professor Richter — es wäre ein Vergnügen, zum Scherz ein Gespräch mit ihm anzufangen — er hat es gesagt. Alles lügt hier, alles macht sich lustig hier, so ist es. Eine Dame lügt nie? Er sagt es, hier, Herr Professor Richter, aber vorhin hat er gesagt, jede Frau wäre ein Sack voll Lügen und die Frauen lügen so, daß sie sogar manchmal die Wahrheit sagen. Ich habe es gehört, alle haben es gehört —“

Alle Teufel! Ruhe!

Aber Eisenhut schrie nur um so lauter. „Das lasse ich mir nicht bieten. Erzlügner? Muß ich mir denn —“

„Hören Sie mal! Eisenhut!“ sagte Professor Richter und faßte Eisenhuts Arm. Aber Eisenhut stieß ihn zurück, er stieg auf das Sofa.

„Es hat gar keinen Sinn!“ sagte er. „Gar keinen Sinn — Fräulein von Hennenbach hat mich verhöhnt — vor allen Leuten — ich habe aber hundert Mark bezahlt für ein Glas Sekt — sie hat mir nicht einmal die Hand gegeben — dann zerbrach ich ein Glas — Ja, ich kam hierher und freute mich. Ich freute mich so sehr. Ich war allen dankbar, euch allen — aber wie begann es. Es begann mit den hundert Mark! Ich hasse euch alle, alle! Ich hasse euch, ihr Hunde und Lügner! Und auch Sie hasse ich, Fräulein von Hennenbach — mehr als alle! Bin ich geizig, bin ich schmutzig, ich? Wie? Ihr alle seid mir Geld schuldig, sechzehntausend Mark seid ihr mir alle zusammen schuldig — bin ich geizig? Ihr lacht?!“ Er fuhr rasch in die Tasche und zog den Pack Banknoten heraus. „Es ist mir alles einerlei — hier, ich zerreiße das Geld — alles, alles — nehmt es, ihr Bettler! — ich hasse euch!“

Man schrie, lachte und stieß Eisenhut vom Sofa herunter.

Adele sagte: „Lassen Sie ihn doch! Er klebt die Stücke ja morgen doch wieder zusammen.“

Eisenhut richtete die Blicke auf sie. Er schloß einen Augenblick lang die Augen und hatte das Aussehen eines Menschen, der das Gefühl hat, in die Tiefe zu stürzen. Er legte auch die Hände auf den Tisch um sich zu stützen.

„Sie sagen das!“ sagte er mit böse funkelnden Augen. „Sie! Nach all dem was vorgefallen ist!“

Adele stand auf. „Herr Eisenhut!“ sagte sie und erbleichte.

Eisenhut machte eine verzweifelte Gebärde. Er blickte Adele an und plötzlich änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes vollständig. Er errötete und wurde wieder bleich. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er rang die Hände und schrie: „Ich bin schlecht, schlecht, ich bin — seht alle her, wie schlecht ich bin! Ja, bei Gott, bei allen Göttern, verzeihen Sie mir, Fräulein von Hennenbach! Ha! Oh, was habe ich gesagt! Was habe ich gesagt? Was sollte denn vorgefallen sein? Daß Sie freundlich zu mir waren und mich einluden zum Tennis? Jeder weiß, daß nichts vorgefallen ist. Ich beleidigte Sie — ich wollte Sie beleidigen, das ist es! Sie müssen es vergessen. Sie haben recht, ich habe ja schon öfters Banknoten zerrissen und wieder zusammengeklebt. Sie sagten die Wahrheit — ja, bei Gott —“

„Eisenhut!“ sagte Grau.

Eisenhut blickte ihn an und suchte mit seinen glitzernden verzweifelten Blicken in Graus Augen. Dann lächelte er spöttisch. „Herr Eisenhut — ich bitte recht sehr!“ sagte er und deutete auf den Tisch. „Euch allen sage ich —“

Man lachte wiederum und schrie ihm zu doch endlich ruhig zu sein.

„Ich will nicht!“ keuchte Eisenhut.

Der dicke Chinese umklammerte Eisenhuts Arm und sagte: „Jetzt bist du ruhig, du bist ja vollständig betrunken!“

Eisenhut spie ihm ins Gesicht.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“ rief er. „Wer gibt Ihnen das Recht mich zu duzen, he? Ich fordere Sie zum Duell. Auf Pistolen fordere ich Sie, Sie Schuft!“

Alle Wetter! Ruhe!

Der Chinese sprang zurück und besann sich einen Augenblick. Er blickte auf die Mädchen, dann lachte er wütend.

Eisenhut aber schrie: „Haben Sie gehört, Sie Schuft und Heuchler! Haben Sie es gehört? Oder sind Sie zu feige, wie, wie, wie?“

„Ich nehme die Forderung mit Vergnügen an!“ sagte der Chinese und verbeugte sich vor Eisenhut. „Auf Kanonen oder Pistolen, wie Sie wünschen!“

Man nötigte Eisenhut sich zu setzen. „Er nimmt sie ja an, schreie nicht so!“

„Gewiß nehme ich die Forderung eines jeden Gentleman an!“ sagte Professor Richter mit ruhiger Stimme. „Aber Sie erlauben mir eine Frage, wo haben Sie Ihre Papiere?“

„Papiere?“ Eisenhut stotterte und tastete an seine Taschen.

„Als Offizier der Reserve und ehemaliger Korpsstudent bin ich dem Ehrenkodex unterworfen. Ich bitte Herrn Eisenhut um sein Universitätsmatrikel.“

Eisenhut öffnete den Mund und starrte dem Chinesen ins Gesicht.

Man lächelte und lachte ringsum.

„Ich sehe, Sie haben die Matrikel nicht in der Tasche, wer sollte sie auch immer mit sich herumschleppen,“ fuhr der dicke Chinese in aller Ruhe fort. „Natürlich bin ich kein Pedant. Ich will Ihnen nur eine einzige Frage vorlegen, eine kleine Prüfung gewissermaßen. Wir kennen einander und können auf schriftliche Ausweise verzichten. Übersetzen Sie mir den bekannten Satz: Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat. Bitte!“ Er stand mit den Fäusten in den Hüften und schnarrte die Sentenz herunter, daß es rasselte.

Eisenhuts Blick flackerte. Er errötete, er erblaßte, er blickte scheu auf Adele, ohne den Mut zu haben, sie anzusehen.

„Quae medica —“ stotterte er.

„Ein bekanntes Sprüchlein von Hippokrates,“ schnarrte der Chinese. „Das ist nicht zuviel verlangt.“

„Quae —“

Eisenhut sank auf das Sofa zurück.

Es war ganz still und plötzlich hörte man Grau lachen; er lachte heiter, belustigt, und noch niemals hatte man dieses Lachen von ihm gehört.

Er faßte Eisenhut am Arm und sagte: „Herr Eisenhut! Fallen Sie doch auf den albernen Scherz dieses Herrn hier nicht herein!“

„Fort!“ sagte Eisenhut. „Fort! Hinweg!“ Er stieß ihn zurück.

„Guten Abend!“ Grau verließ das Zimmer.

Eisenhut sprang auf. „Leben Sie wohl!“ sagte er zu allen. „Ich sage nicht mehr als leben Sie wohl!“

„Leben Sie wohl!“ wiederholte trocken der Adjunkt.

Eisenhut fixierte ihn und der dicke Chinese brach in lautes Gelächter aus.

Eisenhut schwankte zur Türe. Die Tanzmusik drang herein; man tanzte Française und Bezirksamtmann Häberlein rief mit lauter Stimme französische Kommandos. Er wandte den Blick auf Adele und sagte, indem er den Kopf senkte: „Leben auch Sie wohl, Fräulein von Hennenbach! Leben Sie wohl für immer!“

Adeles Lippen zuckten. Das sei das beste, was er tun könne.

Eisenhut lachte verzweifelt und verließ das Zimmer. Er taumelte, immerzu verzweifelt lachend, den Korridor entlang, er ging die Treppen hinab und lachte immerzu dasselbe verzweifelte Lachen.

Grau verließ vor ihm, dicht vor ihm, das Hotel und verschwand in der Richtung nach seinem Hause.

Sechstes Kapitel

E isenhut lief so schnell ihn die Füße trugen über den Marktplatz, und sein gelbes chinesisches Kostüm flatterte die Straße hinunter, die zum Flusse führte.

Es schneite fein; kleine Flocken, einzelne Kristalle gleichsam, fielen langsam und flimmernd herab und bedeckten den Boden mit einer sanften dünnen Schicht weißen Schnees.

Eisenhut überschritt mit großen flüchtigen Schritten die Steinbrücke und wo die Felder anfingen, begann er wieder zu laufen. Hier außen war die Nacht kalt und schwarz und der Wind hauchte über die Ebene. Eisenhuts dunkle Gestalt erschien auf einer Anhöhe, verschwand wieder, tauchte als Schatten auf dem nächsten Hügel auf und wurde kleiner und kleiner mit jeder Bodenwelle. Er lief wahnsinnig rasch und bald erschien es als ob ein Hund oder ein Fuchs sich rasch über die öde nächtige Ebene bewege und endlich im Düster verschwände. Seine Spuren schrieben eine ungeheure Kurve in den beschneiten Grund. Endlich wurden sie schnurgerade, sie liefen wie mit dem Lineal gezogen ferner und ferner in die Ebene hinein.

Eisenhut lief und lief, bis er erschöpft in den Schnee fiel und sich nicht wieder erhob.

Der Wind blies dicht über die Erde und feiner Schneestaub bereifte seine Kleider, seine Haare, seinen Bart. Er füllte die Falten seiner Kleider, die Vertiefungen zwischen Armen und Körper und errichtete einen kleinen Wall auf der einen Seite, der Wind blies und drehte sich im Kreise und begann die Arbeit auf der andern Seite. Bald lag er halb zugeweht in der öden lautlosen Ebene . . .

Als Eisenhut wieder die Augen öffnete, wußte er nicht sofort, was vorgefallen war. Er zwinkerte und der Schnee fiel von seinen Lidern, er schüttelte den Kopf und der Schnee fiel aus seinen Haaren. Ein Mann kniete bei ihm, schüttelte ihn, rieb, klopfte.

Eisenhut starrte ihn mit blöden Augen an. Er erkannte Grau.

Siebentes Kapitel

E isenhut und Grau kamen rasch über die Brücke gegangen. Eisenhut war in Graus Mantel eingehüllt und hatte Graus Hut auf dem Kopfe, er gab sich Mühe Grau zu folgen, der zur Eile trieb. Er zitterte und die Kälte schüttelte ihn am ganzen Körper. Zuweilen weinte er leise vor Erschöpfung.

„Eines begreife ich nicht,“ begann Eisenhut zitternd, es war das erste Wort, das er sprach, „wie konnten Sie mich finden, wie soll das ein Mensch begreifen?“

Grau lächelte. „Das ist sehr einfach, Herr Eisenhut. Ich habe gesehen, was vorfiel. Sie waren sehr erregt und deshalb folgte ich Ihnen. Das war kein Kunststück, ich konnte ja Ihre Spuren im Schnee sehen. So einfach ist das. Nur vorwärts!“

Eisenhut nickte, er lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich habe von einem großen Feuer geträumt,“ sagte er, „daran wärmte ich mich — ein helles, großes Feuer. Ich streckte die Hände hinein. Nun fällt mir alles ein — oh, wie schrecklich, ich hatte so furchtbar getrunken! Das große Feuer schrie meinen Namen. Eisenhut, schrie es, tanze, tanze! Ich tanzte und das Feuer lachte — hahaha — Eisenhut tanze! — da waren Sie es, der mich schüttelte! Nun fällt mir alles ein, ich bin nicht mehr betrunken — ich lief im Schnee, durch den Schnee — haha — ich wollte sterben, ja, aber nun lebe ich noch. Ich wollte sterben, als ich zur Brücke hinabrannte. Stürze dich ins Wasser, kopfüber — kopfüber, genau so dachte ich, kopfüber — aber das Wasser in der Mitte des Flusses glitzerte so kalt — all das Eis — vielleicht unter dem Eise schwimmen — niemals — ich lief weiter. Ich lief und warf mich in den Schnee, auf einer Anhöhe, da lag ich und es wurde kalt und ich fühlte wie ich einschlief. Nein! Ich sprang auf. Ich hatte alle Lust zum Sterben verloren. Sterben, warum? Aber ich konnte ja doch nicht mehr zurückgehen, konnte ich mich denn wieder sehen lassen? Ich hatte ja Abschied genommen — hatte ein großes Geschrei gemacht — also mußte ich wohl oder übel sterben. Das ist kein Vergnügen, das ist ein schauderhaftes Gefühl, sterben zu müssen und nicht zu wollen. Ich lief in die Nacht hinein, vorwärts, fort und schrie: Du bist zum Tode verurteilt, Eisenhut — es geschieht dir recht — zum Tode bist du verurteilt. Dieser Professor mit seinem Duell — ich hatte mich verabschiedet — von allen — lebewohl für immer — also vorwärts, vorwärts! Wie ich doch gefroren habe — eine fürchterliche Kälte — ich lief um warm zu werden. Ich wollte auch nicht mehr denken. Du bist zum Tode verurteilt, sagte ich und hatte wahnsinnige Angst. Ich wurde müde und setzte mich in den Schnee — nur ein bißchen ausruhen, ein klein wenig — aber ich hatte furchtbare Angst. Ich wurde schläfrig und alles wurde mir gleichgültig. Einerlei, einerlei, sagte ich, es geht dahin mit dir, Eisenhut, in die Hölle hinein. Ich lachte. Ich hatte eine Menge von Gedanken — wie ich im Schnee liegen würde, lang und steif — man wird dich finden, dachte ich. Alle würden es erfahren — man hat ihn gefunden — alle, aber nein, jetzt war nichts mehr zu ändern — es konnte ihnen leid tun — es war nichts mehr zu ändern, haha! Dann würde ich beerdigt werden und Sie — Sie werden die Rede halten. Ich dachte an alles und auch daran, daß die jungen Damen vom Tennisklub kämen. Aber da kam die Angst zurück. Nein! Ich werde nicht sterben. Ich hatte Angst! Wie dumm nicht zu wissen, was morgen ist. Nicht zu wissen, wie das und jenes enden wird — schon aus Neugierde konnte ich ja nicht sterben. Nein, nein — hihihi! Du gehst nach Hause, stellst dich ans Fenster und lachst, ja! Alles ist einerlei! Also ging ich nach Hause, ich rannte — im Nu war ich zu Hause — ah, ich war ja gar nicht weit gegangen gewesen — in meinem Zimmer saß eine Katze. Ich machte ein großes Feuer und setzte mich davor und wärmte mich — und ich vergaß alles, fühlte mich so wohl — aber plötzlich erwachte ich, ich richtete mich auf: Da lag ich ja im Schnee! Ich war gar nicht zu Hause? Das ist ja schrecklich, sagte ich mir, und zitterte und konnte nicht denken. Du bist ja gar nicht zu Hause. Bei allen Teufeln in der Hölle! Das ist toll, sagte ich, das ist — ich kroch ein wenig vorwärts, ich stand auf — ich laufe wieder — ich glaube immerzu zu laufen, ich sehe die Brückenlampe — ich erwache wieder und finde mich wieder im Schnee. Das ist entsetzlich! sage ich und schreie.“ — Hier begann Eisenhut wieder vor Erschöpfung leise zu weinen. — „Ich laufe und glaube ich laufe nach Hause und immer, immer finde ich mich wieder im Schnee. Da verzweifelte ich, ich schrie, ich schrie — aber ich hörte nicht mehr, ich hörte mich nicht schreien — ich lief, lief, lief — oh, wie schrecklich lief ich doch —“

Eisenhut lachte und weinte in einem und Grau hörte wie seine Zähne klapperten.

„Ich habe Sie beleidigt, Herr Grau, neulich, heute abend, ich wollte —“

„Lassen wir die alten Geschichten ruhen!“

Der „weiße Elefant“ war noch immer hell beleuchtet, die Musik wiegte sich in der Ferne, Lachen und Singen drang aus dem Torweg. Eisenhut hielt sich die Ohren zu.

„Ich darf doch ein wenig mit Ihnen eintreten?“ sagte Grau. „Nur, bis Sie ganz in Ordnung sind, Herr Eisenhut.“ Er sah Eisenhut lächelnd ins Gesicht.

Achtes Kapitel

E isenhut nahm eine demütige Haltung an. Er nickte und schloß die fleckige Tür mit dem kleinen Guckfensterchen auf. Er verneigte sich und sagte mit demütigen Augen und einer linkischen, rührenden Handbewegung: „Treten Sie ein in mein Haus!“

Im Hause war es ganz dunkel und es roch dumpf und feucht wie in einem Keller. Etwas raschelte und sprang über Graus Füße. „Es gibt Ratten hier, deshalb bewohne ich den ersten Stock,“ sagte Eisenhut und zündete eine kleine Talgkerze an.

Grau blickte sich gespannt um: In der Ecke stand eine alte Holzfigur, ein Heiliger, dessen Arme abgeschlagen waren.

Grau nickte. Ich bin aber noch nie in diesem Hause gewesen, dachte er und starrte die Figur an. Er war wie betäubt.

Eisenhut öffnete unterdessen ein hohes eisernes Gitter, das das Treppenhaus abschloß. „Eine alte Figur, die ich auf dem Speicher fand. Bitte!“

„Ja!“

Kaum hatte Grau einen Fuß auf die Stufen gesetzt, als es im ganzen Hause schrill zu läuten begann. „Das sind Alarmglocken. Ich wohne ganz allein im Hause.“

Vor Eisenhuts Zimmern im ersten Stock stand ein kleines braunes Hündchen mit einem Backenbart wie ein Oberkellner, und wedelte vergnügt mit dem Schweife und streckte die Zunge heraus.

„Sehen Sie her!“ sagte Eisenhut und schüttelte den Kopf. „Solch ein Hund!“ Er stampfte mit dem Fuße und rief: „Warum bellst du nicht, wenn ein Fremder kommt!“ Das Hündchen rannte entsetzt davon und kroch unter einen Diwan.

Eisenhut stellte die Kerze auf den Tisch und sank erschöpft auf den alten Lederdiwan. Er schloß die Augen und sah aus wie ein Greis. Er zitterte am ganzen Körper.

Das Zimmer war eine Art Halle und hatte eine gewölbte Decke und zwei breite Fenster in tiefen Nischen, der Boden war krumm und knarrte bei jedem Schritte; ein mächtiger hellbrauner Ofen in der Form eines Würfels, der auf vier Kugeln stand, der alte Lederdiwan, ein hoher zerrissener Sessel mit geschnitzter Lehne, ein großer schwarzer Schrank, einige Stühle, der Tisch, das war alles, was im Zimmer stand. Die Wände waren vollständig nackt, nur an dem Pfeiler zwischen den Fenstern hing ein Bild, jedoch bis zur Unkenntlichkeit vom Rauch geschwärzt. Die Fenster waren ohne Gardinen, das Zimmer kahl und unordentlich, man konnte glauben in einem Gefängnis zu sein.

Es war eisig kalt hier.

Plötzlich sah Grau Eisenhuts Augen auf sich gerichtet, Eisenhut verfolgte ihn mit den Blicken. Er lächelte spöttisch. Dann begann er zu sprechen, aber die Stimme versagte ihm, er räusperte sich und begann von neuem. „Weshalb gehen Sie denn nicht?“ fragte er heiser. Er zitterte.

„Davon ist nun gar nicht die Rede. Vor allen Dingen will ich Feuer anschüren,“ versetzte Grau. „Wo kann ich Holz finden? Sie müssen trachten ins Bett zu kommen, Herr Eisenhut.“

Eisenhut schloß wieder die Augen; er wiegte den Kopf hin und her und murmelte, daß er gewohnt sei, in den Kleidern zu schlafen.

Grau ging hinaus und suchte die Küche. Hier fand er einen großen Haufen von Tannenzapfen, Ästen, Stücken von Latten und Splittern von Bauholz. Das zerbrochene Rad eines Kinderkärrchens lag dabei, ein Peitschenstiel, ein unbrauchbarer Kochlöffel und viele Dinge, wie man sie auf der Straße finden kann. Auf ein Bord waren Kohlenbrocken gelegt, geordnet zu einem langen Zuge, Stückchen um Stückchen, einige Reihen. Ebenso entdeckte Grau auf einem Gesimse eine Sammlung alter Eisenteile, Schrauben, Nägel, Hufeisen, das Stück einer Eisenbahnschiene und einen Türdrücker.

Grau füllte den gelben Ofen mit Holz und machte Feuer. Dann kam er wieder aus der Küche zurück mit einem Kochtopf voll Wasser, mit Tellern, Messern, Brot und einem riesigen Stück Speck, das er in der Küche entdeckt hatte. Er stellte den Topf auf den Ofen, schnitt Brot und Speck und hantierte lautlos, während Eisenhut auf dem Diwan saß und zu schlafen schien. Zeitweise öffnete er ein Auge und lächelte spöttisch. Das kleine Hündchen streckte die Schnauze unter dem Diwan vor und verfolgte jede Bewegung Graus.

Der dicke Ofen begann zu prasseln und zu fauchen, manchmal knallte es wie Schüsse in seinem Innern und weißlicher dicker Rauch quoll aus den Fugen.

Es war lange still. Dann ging Grau hinaus und holte Gläser aus der Küche.

Eisenhut blinzelte. „Sie bemühen sich!“ sagte er leise. „Sie bemühen sich!“ Er lächelte spöttisch.

Grau lächelte und antwortete freundlich: „Die Mühe ist sehr gering, Herr Eisenhut. Wenn Sie mir einen Dienst erweisen wollen, so sagen Sie mir, bitte, ob ich nicht etwas Kognak finden kann.“

Eisenhut lächelte und deutete auf den alten schwarzen Schrank.

Dieser Schrank sah im Innern aus wie das Schaufenster eines Branntweinfabrikanten, er war angefüllt mit Flaschen von allen Größen und Farben und Formen, zierlichen Flakons, dicken Bocksbeuteln; Eisenhut schien auch Liebhaber von Phantasieflaschen zu sein, da stand eine Flasche aus zwei Kugeln, ein pechschwarzer Neger in rot-weiß-gestreifter Badehose und mit weißen lachenden Zähnen, und andere Sehenswürdigkeiten. Eine Menge von Kerzenstumpfen und Zigarrenresten, ein Revolver und ein Fernglas lagen in dem obersten Fach, das mit staubigen Weinflaschen vollgestopft war.

„Ah, das ist ja ganz prächtig,“ sagte Grau. „Hier haben wir alles was wir brauchen.“

Er bereitete Grog und stellte ein Glas vor Eisenhut. „Bitte,“ sagte er. Er blickte im Zimmer umher, schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Wie häßlich Sie doch wohnen, Herr Eisenhut! Ein Mann wie Sie, Gott stehe mir bei! Wie schön könnten Sie es hier haben, eine freundliche Farbe an den Wänden, Vorhänge, ein hübscher Teppich. Ein paar Bilder, die Sie erfreuen, so oft Sie sie ansehen, eine Uhr mit einem langen Pendel, die Ihnen die Zeit vormißt und etwas Lärm macht. Sie könnten es schön haben, daß es eine Freude wäre, zu Ihnen zu kommen.“

„Sie haben auch keine Bücher hier. Ein Bord mit schönen Büchern. Wenn Sie allein sind oder müde, dann könnten Sie sich in den Sessel setzen und lesen bei der Lampe. Ich liebe das sehr, ich für meine Person. Es gibt so herrliche Bücher. Die ganze Welt ist darin, alles was die Menschen gedacht und gefühlt haben. Sie können in der Gesellschaft von wirklich großen und außerordentlichen Menschen leben, die alle wie Freunde zu Ihnen sind. Sie finden Friede, Ruhe und Halt, Freude, Schönheit und Rat. Sehen Sie, hier an dieser Wand, da könnten die Bücher stehen. Ich werde mit Ihnen in den nächsten Tagen zum Buchhändler gehen. — Wollen Sie nicht den Grog trinken? Der wird Ihnen gut tun. Vielleicht wünschen Sie ihn ein wenig stärker?“

Eisenhut schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen.

„Seien Sie kein Narr! Ich will Ihnen die Schuhe ausziehen, es wird warm hier, alle Wetter! Das ist gut für uns beide.“ Grau zog ihm die Stiefel aus. Eisenhut richtete sich auf und blickte sich nach dem Hündchen um. Das kleine braune Hündchen verschwand blitzschnell unter dem Diwan und zerrte ein Paar alte Pantoffeln hervor.

„Was für ein hübsches und kluges Hündchen!“ sagte Grau. „Ich darf ihm doch etwas Speck geben? Du hast deine Sache ganz außerordentlich gut gemacht!“

Wä! Wä! Wäwä!

„Schon gut, schon gut! Siehst du, das hat mir gefallen, schleppst die Pantoffeln für deinen Herrn herbei und bist selbst so klein. Nun auf Ihre Gesundheit, Herr Eisenhut, auf unsere Gesundheit, raffen Sie sich auf, stärken Sie sich!“

Eisenhut schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin. Sein Auge war trübe und hoffnungslos. „Es ist alles vorbei!“ murmelte er leise und nickte. Er schlürfte langsam den heißen Grog, er zitterte immer noch. Grau machte ihm ein zweites Glas zurecht. „Nein, nein!“ sagte Eisenhut, aber er schlürfte auch dieses Glas. Es wurde warm und er hörte auf zu zittern.

Plötzlich stand Grau auf und legte seine Hand auf Eisenhuts Schulter und dann umarmte er ihn. „Ich bin als Freund zu Ihnen gekommen!“ flüsterte er.

Eisenhuts Schultern bebten.

Es war stille und die lange Ofenröhre ließ einen hohlen surrenden Ton hören. Vom Marktplatze herauf drang der fröhliche Lärm einer Gesellschaft, die sich verabschiedete. Gute Nacht, gute Nacht — huhu!

„Glauben Sie an die Hölle?“ fragte Eisenhut leise nach einer Weile.

„Nein.“

„Sie glauben nicht daran?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht daran glaube, ich fühle nicht so.“

„Gut. Aber Sie täuschen sich. Es gibt eine Hölle. Ja! Hören Sie wohl, es gibt eine Hölle, sage ich Ihnen! Die Erde ist die Hölle, das Leben ist die Hölle, ich bin die Hölle, sehen Sie her, hier, hier ist die Hölle. Meine Gedanken und meine Gefühle sind meine Hölle, meine Träume! Ich kann einen Hund vor mein Haus legen, daß niemand herein kommt, aber — frage ich Sie — kann ich einen Hund vor meinen Kopf und mein Herz legen? Wenn ich wache, da kann ich mich betäuben, ich kann Karten spielen, ich bringe vielleicht meine Gedanken los, aber wenn ich schlafe —? Sie träumen, daß ihr Körper mit Aussatz bedeckt ist, mit Geschwüren, mit einer Kruste aus Linsen, was ist das? Ist das ein Leben? Das ist die Hölle. Oder eine Spinne sitzt auf ihren Augen und saugt sie aus. Das ist entsetzlich!“

„Warum kann ich nicht sein wie andre Menschen, die fröhlich und guter Dinge sind? Warum kann ich nicht sagen: Ach, guten Tag, wie geht’s? und dabei lächeln? Ich fühle mich unbehaglich in Gesellschaft — ich hasse die Menschen! Aber warum hasse ich sie doch? Warum, warum? Habe ich mich selbst so geschaffen? Ich hasse die Menschen, das ist ebenfalls die Hölle. Ich sehe die Menschen lachen und fröhlich sein, es gibt mir einen Stich, ich höre, daß man einen Menschen lobt, daß man gut und bewundernd von ihm spricht, das kann ich nicht ertragen — ich schimpfe über ihn. Ich mache ihn schlecht. Ich glaube nicht an das Gute. Die guten Menschen, denke ich, sind alle Heuchler, sie hassen sich ja doch, alle zusammen, sie hassen einander wie Teufel. Ich glaube nicht an Gott, an nichts glaube ich. Ich freue mich, wenn es einem Menschen schlecht geht. Er bricht das Bein, ich lache und sage: Recht so, recht so, nur frisch darauf los Beine gebrochen, ich freue mich. Ich lese die Zeitung. Ein Eisenbahnunglück. Selbst das macht mir eine geheime Freude, obwohl die Leute mir ja ganz fremd sind. Haha — so bin ich, bei Gott. So kann ich nicht mehr leben, sterben kann ich auch nicht, denn ich liebe das Leben, schrecklich liebe ich es, obgleich es die Hölle ist. Wie soll ich es doch anpacken?“ Er schüttelte den Kopf. „Und ich bin so weit, daß es mir ein Vergnügen ist, Ihnen meinen Bankerott zu erklären, es macht mir Freude, Sie sehen zu lassen, wie gemein ich bin. Hören Sie zu, hören Sie geduldig zu. Ich liebe das Geld, offen und ehrlich gestanden. Das ist das einzige, sage ich zu mir, was du hast. Und sie beneiden dich darum, die andern. Sie kommen zu mir und wollen Geld. Nichts als Geld, keiner hat noch etwas andres von mir verlangt. Ich liebe das Geld und wenn ich es hergebe, so ist es nur, um mir den Menschen zu kaufen, er wird freundlich gegen mich, er lächelt, wenn er mich sieht. So ist es und um kein Haar anders. Ich will, daß die Menschen vor mir auf dem Bauch liegen. Wenn ein Mensch mir schmeichelt — nimm! nimm! er kann alles haben — ich glaube ihm ja nicht, aber es ist doch schön all die hübschen Worte zu hören — Herr Eisenhut hin und Herr Eisenhut her, vorwärts und rückwärts — wie geht es Ihnen, Herr Eisenhut, Sie sehen krank aus! Dieser Herr Eisenhut, was für ein nobler und feiner Mann ist er doch! Ja, wenn ich es glauben könnte, aber ich kann es ja nicht glauben. Ich glaube nichts. Sobald man mir etwas sagt, so verzieht einer in mir — hier, in meiner Brust, das Gesicht und grinst. Er spricht ja nicht die Wahrheit, denke ich. Ein nobler und feiner Mann! Aber weshalb könnte er es denn nicht wirklich meinen? ich habe ihm ja gar nichts getan. Sprechen Sie?“

„Weil er Sie wahrscheinlich nicht dafür hält, Herr Eisenhut!“

„Aber es gibt ja viele Lumpen und Hunde ringsumher — wie spricht man von ihnen? Man ist freundlich, Ja, man liebt sie. Man liebt sie, obgleich sie Lumpen und Hunde sind! Warum das? Warum liebt mich keiner?“

„Weil Sie die Menschen nicht lieben, Eisenhut!“

Eisenhut lächelte und seine Züge verzerrten sich. Er nickte. „Ich hasse die Menschen, es ist wahr! Aber ich gebe mir doch Mühe, das nicht sehen zu lassen.“

Grau lächelte und legte die Hand auf Eisenhuts Schulter. „Das hilft Ihnen nichts.“ sagte er. „Die Menschen fühlen es, obgleich Sie Liebe und Freundschaft heucheln.“

Eisenhut sah ihn an, er blinzelte nicht. „Sie fühlen es?“ Er blickte mit hilflosen Augen vor sich hin und gab dem kleinen Hunde einen Stoß auf die Schnauze, als er sich ihm zu Füßen setzte. Der Hund sah ihn erschrocken und erstaunt an und blickte auch auf Grau, was er davon halte? „Wenn ich daran denke, an alles denke, so ist mein Leben eine fortgesetzte Blamage gewesen,“ fuhr Eisenhut fort und stützte das verzehrte Gesicht in die Hände. „Ja, ja, dreimal ja! Eine einzige Blamage. Ich will gar nicht daran denken, wie die Bauern mich durchgeprügelt haben — das ist ja eine Kleinigkeit — aber ich mache den Mund auf — ich sage etwas, ich tue etwas — alles ist nichts als Blamage. Ich bin auch so unwissend — ich schäme mich — so unwissend — ich kann nicht richtig schreiben, einmal wollte ich einen Brief an eine Dame schreiben, ich konnte nicht, diese Sätze, Komma, Punkt, diese Wörter, man schreibt sie hin, sie haben keinen Sinn mehr, es ist zum wahnsinnig werden. Haha, wie haben sie gelacht, dieser Professor Richter und die ganze Bande — — ich spreche — alle lachen, die Herren und die Damen. Sie sprechen von einer Stadt und ich denke, sie liegt in Deutschland, aber die Stadt liegt in China. Alles lacht, alles! Ich lache mit und sage, ja, man kann sich täuschen. Aber ich liebe es, gebildet zu erscheinen, trotzdem ich nichts weiß, ich sage ein Wort französisch, ich streue ein lateinisches Wort ein — damit man glaubt, dieser Eisenhut kennt eine Menge Sprachen — aber ich wende ein fremdes Wort an und wieder lacht man. Das ist doch kein Vergnügen, oder?“

Aber das sei ja weiter nicht schlimm. Wenn er fühle, daß er unwissend sei, und darunter leide, weshalb lasse er sich nicht belehren.

„Glauben Sie? Glauben Sie, daß es nicht zu spät ist?“

„Wie alt sind Sie denn, um Gottes willen?“

„Dreiunddreißig.“

Grau lachte.

Eisenhut flüsterte: „Niemand weiß es. Ich habe gar keinen Unterricht genossen. Meine Mutter sagte, was brauchst du den Kram, du hast Geld. Lenz hat mich unterrichtet — aber was war es doch? Er spielte Karten mit meinem Vater — sie tranken und spielten — Ah, sagte Lenz, dein Sohn braucht nichts zu lernen, er saugt die Weisheit aus dem Leben und aus der Natur! Auf diese Weise habe ich gar nichts gelernt, könnte ich dem Lehrer den Schädel einschlagen! Ich habe nie den Mut gehabt, Unterricht zu nehmen, denn der Lehrer hätte ja gesehen, wie unwissend ich bin.“

„Das ist ja nebensächlich, das läßt sich leicht nachholen,“ warf Grau ein. „Mit einigem guten Willen.“

„Ja?“ sagte Eisenhut und nickte. „Das ist es ja nicht, es ist auch nur ein Stückchen. Aber alles zusammen, alles, alles. Ich könnte nicht einmal alles sagen, selbst wenn ich wollte. Solch schreckliche Dinge! Aber was sagen Sie dazu, wenn einem Menschen mit der Zeit alles gleichgültig wird? Hören Sie, ist es möglich, daß es einem Menschen gleichgültig ist, ob es Tag oder Nacht ist? Ich liege im Bett und wage nicht aufzustehen, nicht aufzuwachen, denn ich fürchte mich vor dem Tag, vor der Langeweile und dem Nichts. Was wird vorgehen, frage ich mich? Nichts, nichts! Weshalb soll ich aufstehen? Nun, ich stehe nicht auf, ich möchte im Bette liegen und schlafen, immerzu, bis ich sterbe. Aber auch das ist sinnlos. Ich stehe auf, und ich denke, warum bist du aufgestanden, hast ja nichts zu tun. Ich gehe auf die Straße und die Sonne scheint. Mein Gott, wie gut es ist, daß die Sonne scheint, denke ich. Ich freue mich, ich grüße die Leute. Das ist das Leben, denke ich, wenn die Sonne scheint und der Mensch fröhlich ist. Ich gehe ein wenig in der Sonne und freue mich nicht mehr. Es ist ja so einerlei, ganz einerlei, ob die Sonne scheint oder nicht. So gehe ich in das nächste Wirtshaus, setze mich hin, trinke Bier, esse Käse, sitze da, stundenlang und trinke — es ist mir ja alles einerlei. Ich kann ruhig hier sitzen, warum nicht? Mein Kopf ist leer, ich kann nichts denken. Aber ich kann träumen. Ich denke, ich gehe, gehe auf der Straße, da kommen sechs junge Mädchen daher, Arm in Arm und lachen mich an. Ich träume, ich gehe durch den Wald und eine Dame kommt daher und begrüßt mich und plaudert mit mir, ganz wie mit andern Herrn, ja, was will ich sonst? Nichts andres will ich sonst! Aber wenn ich der Dame in Wirklichkeit begegne, so grüßt sie kaum und läßt mich stehen. Haha, denke ich, so sind sie, und ich trinke. Oh, wenn sie doch zum Teufel ginge, sie und alle Mädchen, die immer lachen und vergnügt sind, alle, alle, mit ihr in die Hölle! Ich wünsche, daß sie krank wird und ihr die Haare ausfallen und ich freue mich — ja, wie häßlich wird sie doch aussehen? Niemand wird sie mehr ansehen — auch ich — nein, ich nicht, ich werde alles für sie tun, was sie will. Alles, alles, sie mag häßlich sein wie sie will. Aber das alles wird ja nie sein. Sie wird leben und fröhlich sein, alle, alle Menschen. Ich fluche den Menschen, auch meinen Freunden! Habe ich welche? — Mögen sie dahinfahren! Brauche ich Freunde, nein? Ich lache, alles ist ja gleichgültig und ich brüte vor mich hin — ja, nun ist mir wieder alles einerlei — alles — aber das ist noch schrecklicher, lieber noch Haß, noch Qual — Das ist das schrecklichste meiner Hölle, daß mir alles einerlei geworden ist!“ Er stand mit einer Gebärde des Ekels auf. — Seine Züge waren bleich und verfallen. Die Linien um seinen Mund waren tief und gaben dem Gesichte den Ausdruck eines trostlosen Lächelns, obgleich er keine Miene bewegte. Ein verzweifeltes stummes Lachen war für immer in sein Gesicht eingegraben. Seine Augen waren scharf und brannten in kranker Glut, wie die eines Irren. Er ergriff das Glas mit Grog, das Grau für ihn gerichtet hatte und stürzte es hinunter. Seine Hand zitterte.

„Ja!“ sagte er heiser wie ein Mensch, der lange geweint hat. „Laßt uns trinken! Geben Sie mir noch ein Glas, es ist so nicht auszuhalten. Alles peinigt mich! Dieses Zimmer, ich brauche es nur anzusehen! Dieses Sofa, dieser Stuhl, alles quält mich! In meinem Kopfe geht etwas herum, immer das gleiche! Haben Sie das schon erlebt, daß in Ihrem Kopfe immer das gleiche herumgeht, etwas das Sie foltert, wachen Sie auf, es ist da, gehen Sie zu Bett, es ist da. Es ist immer da, es weicht nicht mehr. Jemand lacht, es ist in seinem Lachen, sie trinken eine Flasche Schnaps, es ist in der Flasche. Es ist immer da! Sie werden ohnmächtig, aber je ohnmächtiger Sie werden, desto mehr ist es da! Sie werden wahnsinnig, aber dann ist es für immer da. Es quält mich, weil es immer da ist. Hier — hier — der Boden, der Stuhl, auf dem Sie sitzen, die Türschwelle — da ist es! Hören Sie! Es ist das Tollste, was Sie je gehört haben. Hören Sie?“

„Ich höre, sprechen Sie, Eisenhut!“ sagte Grau.

Eisenhut atmete tief und begann: „Eines Nachts da klopft es an meine Türe — ich muß es Ihnen sagen, ich muß! — es klopft, ich horche, es klopft an der Türe, die zum Garten führt. Ha! denke ich, wer, bei allen Teufeln, soll denn mitten in der Nacht an der Türe, der hintern Türe klopfen? Bum, bum! Die Haare stehen mir zu Berg, ich bekomme Angst und es siedet in meinem Kopfe. Ich sitze hier an meinem Tische wie aus Stein. Vielleicht sind es Diebe oder Mörder, die dich hinauslocken wollen? Nero beginnt zu kläffen. Pack, pack! sage ich, pack Nero, und öffne die Türe und er kollert die Treppe hinunter und bellt. Bum, bum! Ich gehe ins Schlafzimmer, nehme das Gewehr und öffne vorsichtig ein Fenster. Wer ist da! schreie ich laut, aus Angst schreie ich so laut. Jemand lacht leise im Garten. Ja, zur Hölle mit dir, wer kann denn im Garten lachen, das ist doch unerhört! Wer ist da? Es ist eine Dame, deren Stimme ich kenne.“ Hier hielt Eisenhut inne und blickte auf Grau. Ein Schatten fiel über sein Gesicht, nur das Kinn war beleuchtet und Grau sah, daß sein Mund lächelte, so wie der eines Menschen, der horcht und lächelt zu gleicher Zeit. „Es sind weder Diebe noch Mörder,“ fuhr er fort „es ist ja eine Dame, die du kennst. Sie hat mit mir zu sprechen. Was um alles in der Welt — es ist ja Nacht — tiefe Nacht! — Ich öffne. Sie tritt ein und lacht. Was ist das eigentlich mit den Hunden, vor denen gewarnt wird, und mit den Fußangeln und Selbstschüssen in Ihrem Garten, sagt sie und lacht als ob es heller Tag wäre. Bitte? Ja, das sei eine Finte, um das Gesindel abzuschrecken. Nichts ist wahr daran! Nun also, bitte? Sie habe mit mir zu sprechen. Bitte, sage ich, bitte, hier ist es finster ich bringe Licht, Licht, sofort, sofort, bitte, gnädiges Fräulein. Hier sitzt sie also, hier, mein lieber Herr, hier, wo Sie jetzt sitzen. Es ist zwei Uhr nachts, es ist Sommer. Geben Sie mir noch ein Glas Grog, ich muß trinken, ich freue mich. Sie sitzt hier, sie hat dringend mit mir zu sprechen. Es war am dritten Juni, nachts zwei Uhr. Sie kommt mit einer großen Bitte, sie weiß nicht, ob ich sie ihr erfüllen werde. Bitte, bitte, sage ich, mein gnädiges Fräulein — nein, sie will nichts trinken, sie hat es auch sehr eilig, es tut ihr leid, daß sie nicht immer liebenswürdig mit mir umging. Ich muß verzeihen, Launen, sie ist sehr launisch. So sprach sie, so freundlich und blickte mir in die Augen. Sie sagte einfach Eisenhut, nicht Herr Eisenhut, nein, gibt’s nicht, Eisenhut bin ich. Bitte, sage ich, wenn es in meiner Macht steht? Ja, es steht in Ihrer Macht, es ist so leicht für Sie, Eisenhut. — Eisenhut, einfach Eisenhut! — Sie hat ein hellrotes Tuch um die Schultern geschlungen und blickt mich an. Es hätten sich zu Hause Dinge ereignet, die unangenehmsten Dinge —. Geld! Auch sie wollte Geld von mir! Sie sind ja doch kein Geizhals, Eisenhut, sagte sie. Eine plötzliche Forderung — hm — ihre Mutter sei sterbenskrank, das ganze Haus, nun käme sie zu mir, sie habe Vertrauen zu meiner Güte. Güte? denke ich. Sie lügt, sie will Geld. Da sitzt sie nun, sie blickt mich an, sie tut ganz gleichgültig, spricht als ob sie vom Wetter spreche, aber sie bebt, sie bebt! Warum soll ich nicht helfen, denke ich, warum nicht? Die Familie ist verschuldet, das Geld ist verloren, ich kann es ebensogut einem Hunde zum Fressen geben — niemals wirst du auch einen Pfennig wieder sehen! — aber da sitzt sie ja, ich sehe wie sie innerlich zittert. Das freut mich — unsäglich! Da sitzt sie, früher, da sah sie mich nicht an, sie reckte die Nase in die Luft, sie ging wie eine Königin durch die Straßen und wir andern alle waren Hanswurste und Luft für sie. Aber da sitzt sie nun — weshalb soll ich nicht — wie? Wieviel ungefähr? Sie atmet zweimal tief, pickt mit dem Finger Brotkörnchen vom Tisch, sie lächelt, und sagt: zwanzigtausend Mark. Zwan—zig—tausend — sie hatte wohl den Verstand — nein, nein, nein. Ah, was die Leute doch denken. Esse ich Gansbraten und eingemachte Birnen? Ich esse nur einmal im Tage — nein! Da steht sie auf, sie legt mir die Hand auf die Schulter. Es ist so leicht für Sie, in einigen Monaten bekommen Sie es zurück. Ich stelle Ihnen einen Wechsel aus, einen Schuldschein, wie Sie wollen. Es wird alles geschäftsmäßig geregelt werden — nun spricht sie wie ein Bankier. Aber sie bebt ja doch! Sie sieht, daß ich zögere, sie fährt mir mit der Hand übers Haar, sie legt ihre Hand auf die meine. Hören Sie, sage ich zu ihr, hören Sie, gnädiges Fräulein, Sie wissen, daß ich Sie liebe, werden Sie meine Frau. Ich liebe Sie, Sie können tun was Sie wollen, nur daß ich Sie täglich sehen kann — denn ich will ja lieber Ihr Lakai sein, als der Mann einer der geschwollenen Krämerstöchter von hier. So sage ich und sie hört aufmerksam zu. Ich sage, Sie werden dann so viel Geld haben wie Sie nur wünschen. Alles wird Ihnen gehören, alles, eine Million und mehr! Haben Sie soviel? fragt sie und lächelt. Ja, sage ich, ich lüge nicht. Ich öffne die Türe und zeige ihr den Schrank, öffne ihn: Sehen Sie! Alles sollen Sie haben. Hören Sie, Eisenhut, sagte sie, es kann doch nicht so rasch gehen, ich muß es mir doch überlegen und wenn ich Ihre Frau werde, so werde ich es doch nicht Ihres Geldes halber. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter und lächelt. Ich möchte sie an mich ziehen, aber sie macht eine kleine Bewegung und ich tue es nicht. Ich sage zu ihr, daß ich ordentlich und gut werden würde — ich schwöre ihr, nicht mehr zu trinken. Sie soll befehlen und ich gehorche, blindlings. Ihr Lakai werde ich sein. Ja, sie wolle nachdenken. So schnell kann es ja nicht gehen, mein Freund — sagt sie — mein Freund, das ist ja ausgeschlossen. Sie müßten bei meinen Eltern um meine Hand anhalten, aber so — ich bringe Ihnen ja gewiß Freundschaft und Sympathie entgegen, obgleich ich immer launisch gegen Sie war — ob ich Sie aber heiraten kann, das muß ich mir doch überlegen. — Wann werden Sie mir Antwort sagen? — Morgen oder in den allernächsten Tagen. Gut, sage ich, dann will ich Ihnen das Geld mitbringen. Sie besinnt sich und setzt sich langsam nieder. — Das geht ja nicht, mein Freund, sagt sie! Morgen gibt es zu Hause eine Katastrophe, wenn die Forderung nicht eingelöst werden kann. Es ist ein Wechsel. Könnte es Ihnen nicht einerlei sein — ich komme morgen wieder zu Ihnen, ich verspreche es Ihnen. — Gut, ich zähle ihr die Scheine hin. Danke, sagt sie, und zählt das Geld sorgfältig nach — aber ich sehe, wie ihre Hand bebt. Sie geht. Über diese Schwelle hier ist sie gegangen. Sie geht wieder durch den Garten. Also morgen! sage ich. Ja, antwortet sie, wenn es mir möglich ist, sicherlich. — Am andern Tage gehe ich zum Schneider und lasse mir einen Frack anmessen. Sie heiraten wohl? Ja, vielleicht. Ich warte. Der Tag vergeht, sie kommt nicht. Ich warte einige Tage. Der Frack ist fertig. Ich probiere ihn an und der Gedanke kommt mir in den Kopf um ihre Hand anzuhalten. Ja? Sofort — vorwärts, — haha — vielleicht ist sie krank. Gut. Der Vater empfängt mich. Wie? sagt er. Ich spreche und er lacht. Na, sagt er, Herr Eisenhut, was fällt Ihnen doch ein — hahaha — er lacht — er lacht und sagt: Entschuldigen Sie, ich lache ja nicht — es ist ja höchst ehrenvoll — aber ich glaube, daß meine Tochter — hahaha! — daß meine Tochter, na, daß die Wünsche und Absichten meiner Tochter — übrigens, wer kennt die Frauen? Sie wird es Ihnen ja sagen. Konrad — meine Tochter soll kommen. — Sie kommt. Ich sehe sie nicht, aber ich höre ihren Schritt, obwohl Teppiche gelegt sind, höre ich ihn. Sie ist da. — Herr Eisenhut gibt uns die Ehre, gibt dir die Ehre — Sie ist totenbleich — sie sieht mich an und auch ihre Lippen werden blaß — sie hat Angst, ich werde sprechen — nein, Sie brauchen keine Angst zu haben, nein, so bin ich ja nun doch nicht — ich werde Sie nicht verraten. Sie lächelt, gibt mir freundliche und höfliche Worte. Sie sagt nicht Ja, sie sagt nicht Nein, sie sagt hmhm. Ich gehe. Der Diener lächelt ebenfalls. Soll ich dich aufs Maul hauen, du Affe? — Ich warte, ich denke, wie dumm, wie voreilig. Endlich treffe ich die Dame und sage: Nun? Wie steht es mit der Antwort? — Sie lächelt und sagt: Ja, was für Einfälle Sie doch haben, Sie kommen ins Haus — ich bin ja nicht wiedergekommen, war Ihnen das nicht klar genug? — Ich sage: Haha, was ist das! Sie haben aber versprochen zu kommen. Ja, sagt sie gleichgültig. Ich möchte Sie bitten weniger laut zu sprechen und sich weniger auffallend zu gebärden, Herr Eisenhut, wenn uns jemand beobachtet! — Nun sprechen Sie ja ganz anders, seht an, sage ich, neulich da konnten Sie viel freundlicher sein. Sie haben von Freundschaft und Sympathie gesprochen — was weiß ich — es war aber nur eine Falle, so ist es. Sie haben wohl auch nie im entferntesten daran gedacht, mich zu heiraten — wie? — Sie sieht mich an und lächelt verächtlich. Wenn Sie es wissen wollen: Nein! Ich bitte Sie nun — Was bitten Sie! schreie ich. Dann haben Sie mich einfach betrogen! — Sie stampft mit den Füßen und wird blaß. Bitte! sagt sie und sieht mich an als ob ich ein Lakai wäre. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein solch ungebildeter Mann wären! Außerdem wäre es mir nie in den Sinn gekommen Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Sie geht. — Ja, wie konnte ich auch so ungebildet schreien, denke ich, wie konnte ich mich so vergessen. — Ich kam mir vor wie ein Hund. Ich trank, schrecklich trank ich in dieser Zeit, ich wollte gar nicht mehr zur Besinnung kommen. Ich habe eine Dame beleidigt und liebe sie doch, ja zum Teufel mit mir! Ich trinke hier in dem gleichen Zimmer, wo sie mir das Haar streichelte. Ich bin ein ungebildeter Mann, jawohl, ganz richtig. Das ist wahr, sie hat es gesagt. Ich könnte mir die Haare ausreißen! Sie hätte mich ja nie um eine Gefälligkeit gebeten, wenn sie gewußt hätte, was für ein ungebildeter Mann ich eigentlich bin. Ja, es ist wahr, sie heuchelte mir etwas vor, sie machte mir Versprechungen — soll ein Mensch in der Welt aufstehen und das Gegenteil behaupten! — sie schmeichelte mir, sie nahm die Gefälligkeit von zwanzigtausend Mark mit sich, das tat sie — aber trotzdem! Und ich fluchte und trank, weil sie mich angelogen hatte, ich trank weil ich ein Narr war und ihr glaubte, ich trank, weil ich sie kränkte und am meisten trank ich, weil sie mich nun verachtete wegen meines ungebildeten Benehmens. Ich mag schon gar nicht daran denken — wie ich den Freiersmann spielte und mir einen Korb holte — Wie sollte ich je mit der Sache fertig werden, je ins Klare kommen? Ich sitze hier und trinke und deute auf den Tisch — hier hast du also auf der einen Seite eine Dame, die kommt, dich streichelt und heuchelt und verspricht und — ich deute auf den Tisch — hier hast du also einen Mann, der sich die Freiheit nimmt zu fragen, was denn eigentlich — hier hast du also — und hier — nein! Mein Kopf faßt das nicht. Wie ist es doch? Wer hat recht und wer hat unrecht. Wie ist es doch? Nein, ich bin zu dumm, um das je herauszubekommen. Aber Zorn kommt über mich, Wut, daß ich schreie! Hier hast du also, hier — und hier — ja, ich bitte einen vernünftigen Menschen mir zu erklären — wie? Ist es vielleicht ein Vergnügen — ich frage den Teufel! — ist es ein Vergnügen — einen Frack anzuziehen — wie — und ein alter Habenichts lacht — ist das ein Vergnügen — ich bitte weniger laut zu sprechen — wenn uns jemand beobachtet — wie? Gott im Himmel, wie soll ich das verstehen! — Ich hasse die Menschen! Was für eine Behandlung ist das? Ich hasse die Frauen! Ja, ich liebte jene Dame, es ist die Wahrheit, ich liebte sie. Aber nun hasse ich sie. Ich begegne ihr auf der Straße, ich grüße nicht, ich blicke sie nur durchdringend an. Ich gehe an ihr vorüber und ziehe einen Brief heraus, auf den ich mit haushohen Buchstaben Schuldschein schrieb — ich mache es so, daß sie es sieht. Ich hasse sie, sie könnte es Schwarz auf Weiß haben — ich treffe sie in der Buchhandlung und lasse den Brief fallen. Sie soll nur etwas Angst vor mir haben, jetzt, da ich sie hasse. Ich habe sie geliebt, was ist geschehen, daß ich sie jetzt hasse? Habe ich zu mir gesagt: Hasse sie, hasse sie! Nein! — Ich begegne ihr mit den Freundinnen, sie spricht das erste Wort, sie reicht mir die Hand. Sie spricht mit mir: Sie hat Angst. Gott im Himmel! denke ich, weshalb hat sie doch nur Angst? Nun spricht sie freundlich mit mir, sagt, ob ich nicht zum Tennis kommen wolle — nur weil sie Angst hat. Ja, weshalb sollte sie denn Angst haben? Vor mir? Ach, bei Gott, nein, sie braucht gar keine Angst zu haben, ich tue ihr nichts, nein. Es ist ja schrecklich, zu sehen, daß sie Angst hat. Denn ich liebe sie ja, ich hasse sie ja gar nicht, ich liebe sie! Ich blicke auf ihr Haus und weine. — Wie lächerlich, Angst zu haben, ich werde es ihr sagen, von einem Skandal kann ja gar keine Rede sein. — Ich laure auf den Wegen, bei ihrem Haus, endlich treffe ich sie. Ich nehme den Brief aus der Tasche, um ihr den Schuldschein zurückzugeben — sie sieht mich an und sagt: Man wird Sie bezahlen, haben Sie keine Angst, Herr Eisenhut. Aber ich bitte Sie mich gefälligst ungeschoren zu lassen, ich kann ja keinen Fuß mehr aus dem Hause setzen, ohne daß Sie dastehen. — Glauben Sie nun, ein Mensch wie ich, lächelt, gibt den Brief zurück, sagt ihr, daß sie unbesorgt sein möge? Glauben Sie das? Dann sind Sie auf falschem Wege. Ich bin nicht so. Nein. Was hat mich doch so wütend gemacht? Ich stehe da mit dem Briefe und also muß sie denken — deshalb spricht sie ja so — aber daß sie so spricht, ihre Haltung, ihr Blick — alles — was hat mich doch wütend gemacht, daß ich schreie: Nehmen Sie sich in acht vor dem Skandal! Ich schreie das, ich lache ganz gemütlich und gehe.

Ist das nicht um verrückt zu werden, wie? Nichts ist geblieben als Haß. Aus allem, was man tut, nichts bleibt als Blamage, Ekel und Haß! Ach, wie ich doch die Frauen hasse. Sie sind Schlangen, schön, wärmen sich in der Sonne und glitzern, denken böse und sind giftig! Man sollte sie alle einsperren, gehen daher und blähen sich auf. Nun, ich hasse sie! Ich hasse auch die Männer, aber die Frauen hasse ich auf eine ganz andere Weise! Ich sitze hier, bewerfe sie mit Schmutz und hasse sie. In manchen Stunden, da liebe ich sie ja. Sie sind schön, Gott im Himmel, sie sind ja schön, sage ich, schön und rührend sind sie. Ich bitte euch um Verzeihung, ihr Frauen auf der ganzen Erde, ich! Aber der Haß kommt zurück. Auch die Menschen liebe ich zuweilen, aber der Haß kommt zurück und zerfrißt mich wie Gift. Ist das ein Dasein? frage ich Sie, was für ein Leben soll das sein! Es ist ein Hundedasein, nichts als ein Hundedasein!“

Er lachte verzweifelt auf und schrie.

„Das ist das, hören Sir, Herr Grau, das ist das, nun habe ich es Ihnen erzählt, das, was mich quält — was nicht mehr von mir weicht, ich denke daran, fresse daran über ein halbes Jahr — immer wieder ziehe ich den Frack an — immer wieder — geht die Dame über diese Schwelle — immer wieder spricht sie mit mir oben im Walde — immer, immer, immer wieder — ah!“ Er vergrub den Kopf in den Händen.

„Halt!“ schrie er. „Sagen Sie nichts! Es ist noch nicht alles! Ich muß alles sagen, es muß heraus, ich muß es tun, Sie sollen wissen, wie es um mich steht. Glauben Sie denn, es sei eine Wonne so zu leben — mit all dem im Kopfe? Wie ist das alles gekommen? Weiß ich es? Wie ist es gekommen, daß alles sich in meinen Gedanken in Schmutz verwandelt? Jedes harmlose Wort — ich höre es, man spricht es — aber in meinem Kopfe verwandelt es sich zu einer Niedrigkeit. Was für Gedanken habe ich doch früh und spät — abscheuliche Gedanken, die kein Mensch ertragen kann, ich möchte weit fort von ihnen, aber es geht nicht. Nichts ist schrecklicher als eine verdorbene Phantasie — sie ist ein Gespenst, das alles häßlich und stinkend macht.“ Er schauderte zusammen und schüttelte sich wie gepackt vom Grausen. „Auch meine Phantasie ist eine Hölle!“

„Ich will nicht mehr!“ fuhr er fort und wiegte den Kopf auf den Schultern hin und her. „Ich will nicht — aber ich muß — ich muß Ihnen alles sagen. Warum? Haben Sie mich etwas gefragt? Haben Sie zu mir gesagt: Nun, Eisenhut, wie steht es mit dir? Was macht dir Qual? Nein! Nichts haben Sie gesagt. Aber ich sage Ihnen alles, ich reiße vor Ihnen das ganze Haus ein, damit Sie sehen, was darin ist. Ich verkaufe mich auf Abbruch vor Ihnen. Warum? Vielleicht, weil Sie mir helfen sollen? Oder? Warum denn? Ich habe Sie gesehen, ich habe gehört, was Sie sagten, damals bei der Beerdigung — ich habe an Sie gedacht. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr von Ihnen losreißen. Warum? Kenne ich nicht hundert Leute, an die ich nicht denken muß? Was ist das? Ich habe gedacht, wie schön und jung er ist und wie freundlich und gleichmäßig liebenswürdig gegen jedermann. Vielleicht ist er glücklich, vielleicht ist er gut und vielleicht hat er keine Hölle in der Brust, keine häßlichen Gedanken, schöne Gedanken vielleicht! Nein, er ist ein Dummkopf und ein Schwätzer, habe ich gedacht, er ist eine Art Idiot, ein Narr — so wie Professor Richter sagt. Aber trotzdem mußte ich an Sie denken. Ich träumte von Ihnen, ich sah in Ihre Fenster, ich mußte Ihnen immer begegnen, Sie immer ansehen. Ich ging um Sie herum, im Kreise, und kam nicht mehr los von Ihnen. Was ist das? Am ersten Tage, da begegnete ich Ihnen — ich richtete es so ein — ich tat, als ob ich grüßen wolle, ich grüßte nicht. Aber Sie grüßten und sagten: Ein schöner Tag oder was Sie doch sagten. Freundlich sahen Sie mich an. Ich aber lachte über Sie. Ich lachte und ich weiß nicht, warum ich lachte. Sie läuteten an meiner Glocke, am gleichen Tage, ich öffnete nicht. Ich dachte, aha, er hat eine Liste bei sich, er will Geld! Aber nicht deshalb allein öffnete ich nicht, nein — ich hatte Angst vor Ihnen, ganz plötzlich — eine eigentümliche unsagbare Angst. Seitdem mußte ich immer an Sie denken.“

„Ich träumte auch von Ihnen, ja! Ich träumte, einige Schurken hätten mich angeschossen. Ich lag da und stöhnte und mein Gaumen brannte. Ich preßte die Hand auf die Brust, das Blut schoß heraus, ich stand Todesängste aus — da ging die Türe auf und Sie kamen herein. Ich wurde sofort ruhig. Sie legten mir die Hand auf die Brust, da floß das Blut nicht mehr. Sie feuchteten den Finger an den Augen an, da war die Wunde geheilt. Das träumte ich von Ihnen und oft träumte ich von Ihnen.“

„Warum, warum? Seitdem ich Sie sah — weshalb doch? Ich verstehe ja das ganze Leben nicht mehr. Ich mußte an Sie denken und je mehr ich an Sie denken mußte, desto mehr haßte ich Sie, je mehr ich Sie haßte, desto mehr mußte ich an Sie denken. Wenn ich Sie nur sah, konnte ich wütend werden. Sie gehen dahin, so leicht — Ihre Augen sind so klar — alles zusammen — ich haßte Sie aber! Nun sitzen Sie da, ich erzähle Ihnen alles. Ich muß. Ich muß fortfahren, ich weiß nicht warum.“

„Sie sollen von diesen Schuften hören, diesem Professor Richter, dem Adjunkten, von Dr. Nürnberger — von mir und ihnen — alles sollen Sie hören. Weshalb verkehre ich mit diesen Leuten? Weil sie gebildet sind, weil sie angesehen sind! Oh, hätte ich sie nie kennen gelernt, diese Hunde, die alle so sind — so niedrig wie ich — die nichts glauben, nur lachen, nichts wollen, alles in den Schmutz ziehen — diese — nein, nein, nein, genug — einmal hat mich Dr. Nürnberger zum Duell herausgefordert, ich glaubte es sei ihm Ernst — ich — nein, nein, nein — genug — nichts mehr —“

Er schwieg und schloß die Augen und es sah aus als ob er ohnmächtig werden würde. Grau wollte ihm eben beispringen, aber da sah er, daß Eisenhut lächelte.

Er lächelte und ohne die Augen zu öffnen sagte er: „Es ist zu toll, es waren ja gar keine zwanzigtausend Mark, die die Dame holte. Es waren nur zehntausend! “ Er schüttelte den Kopf, blinzelte und begann zu Graus Erstaunen heiter zu lachen. „Ja,“ rief er aus, „wie toll! Es waren ja nur zehntausend Mark! Ich bildete mir ein, es seien zwanzigtausend gewesen, all die Zeit lang und endlich glaubte ich es selbst. Ha! Ha! Ha! Ja, bei Gott, so ist es mit mir! Ich lüge und manche Lügen wiederhole ich so oft, daß ich sie selbst glaube. Warum muß ich denn immerzu lügen? Das ist sonderbar! Ich komme in eine Wirtschaft und erzähle, daß ich soeben einen weißen Hirsch gesehen habe. Weshalb, warum, wozu? Hat mich jemand gefragt, wie? Können Sie mir das erklären?“

Grau antwortete: „Ich denke, Sie wollen sich interessant machen, Herr Eisenhut.“

Eisenhut nickte, gleichsam befriedigt über Graus Antwort. „Ja, das ist es. Ich habe mich schon wahnsinnig gestellt, ja sogar tot habe ich mich gestellt — sogar tot! Um Aufsehen zu erregen, um mich interessant zu machen. Deshalb lüge ich auch immerzu. Ich habe auch Sie einmal angelogen, als wir zu Mütterchen hinaus gingen. Daß Lenz mit den Mädchen im Sommer spazieren ging und sagte: Alle auskleiden. Das war eine Lüge. Ha! Ha! Ha! Wie kam ich doch darauf. Warum tat ich es doch! Ha! Ha! Ha!“

Grau unterbrach ihn, denn er sah, daß Eisenhut den äußersten Grad von Erregung erreicht hatte. „Ruhen Sie sich aus, Eisenhut, sprechen Sie nicht mehr!“ sagte er und führte ihn zum Sofa.

„Ja, ja!“ sagte Eisenhut. „Ha! Ha! Ha!“

Eisenhut schwieg. Dann lachte er wieder, sah Grau an und wurde plötzlich ernst. „Sie sind gewissermaßen der allerschrecklichste Mensch!“ flüsterte er. „Mir graut vor Ihnen, denn man kann Sie nie kennen, nie, nie!“

„Aber lieber Freund!“ sagte Grau. „Ruhen Sie doch ein wenig.“

Eisenhut nickte und schwieg.

Aber er begann von neuem und er sprach und flüsterte die ganze Nacht hindurch. Das Licht der Kerze erlosch und sie saßen im Dunkeln. Durch die Risse des Ofens flackerte der Schein des Feuers, das langsam erstarb. Er sprach aus der Dunkelheit, lachte, schrie, schluchzte, flüsterte. All die Qual, die in den Menschenherzen haust —

Grau zitterte, so daß er die Hände auf die Knie pressen mußte, um sich nicht zu verraten. Warum zitterst du? fragte eine Stimme in ihm. „Es ist so schrecklich, so schrecklich all das zu hören!“

Grau unterbrach ihn nicht; er sollte sich aussprechen. Die Scheiben der Fenster wurden blau und begannen zu glitzern. Lautlos kam der Tag. Nichts regte sich auf der Straße. Dann begann eine feine bimmelnde Glocke im Kloster zu läuten und der Gesang der Mönche hallte aus der Ferne.

Eisenhut saß zusammengekrümmt im Sessel und schwieg.

Grau saß still und blickte zu ihm hin. Die Fenster wurden hellblau und die Häuser gegenüber tauchten wie aus einem dicken Nebel auf.

Dann sagte Grau: „Sie haben viel gelitten, Eisenhut!“

„Ich bin verloren und schlecht, schlecht und verloren.“

Grau schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte er, „aber Sie haben zu viel gelitten! Sie sind nicht schlecht, nur schrecklich unglücklich sind Sie!“

Aber Eisenhut saß bleich, mit verzweifelten lechzenden Augen. „Kann ich denn so leben?“ fragte er und wollte aufstehen. Aber Grau drängte ihn sitzen zu bleiben. Er sah ihn an, reichte ihm die Hand und drückte sie. Er nickte und saß lange Zeit, die hellen freundlichen Augen auf ihn gerichtet.

„Geduld, Geduld!“ sagte er endlich. „Nun wird es ja schon Tag; die Sonne muß bald aufgehen. Sehen Sie doch, wie blau der Himmel wird, es wird ein schöner klarer Tag werden. Was soll ich Ihnen doch sagen, Eisenhut? Da sitze ich nun und beginne vom Wetter zu sprechen, weil ich nicht weiß, wie ich beginnen soll. Ich bin ja so unerfahren und jung, Sie müssen Nachsicht haben, ich bin ja sogar jünger als Sie, Eisenhut — wie anmaßend wäre es doch, wollte ich Ihnen Ratschläge geben. Sie haben Vertrauen zu mir gehabt und wie schön ist es doch, daß Sie ein solch unbedingtes Vertrauen zu einem Menschen haben konnten! Schön war es für mich, daß Sie mich damit auszeichneten und ich werde Ihnen das nicht mehr vergessen. Ich habe mich so gefreut darüber und ich danke Ihnen. Ich bin Ihr Freund, wenn Sie nur wollten. Ja, ich gehöre Ihnen ganz! Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken, es wird Sie stärken. Sind Sie müde? Nein? Ich denke mir, wie unglücklich und arm Sie doch sind. Aus all dem was Sie mir erzählten, konnte ich ja entnehmen, daß Sie niemals, aber auch niemals einen Freund gehabt haben.“

„Wir alle aber können nicht ohne Freunde leben!“

„Hören Sie, was Susanna einmal zu mir sagte. Sie sagte, wenn sie in den Büchern liest, so fühlt sie, daß sie von all den Gestalten, die in den Büchern vorkommen, etwas hat, ob sie nun schlecht oder gut sind. So empfand auch ich, als ich Ihnen zuhörte. Ich bin Ihnen so sehr ähnlich; von all Ihren Wünschen, Kämpfen, Schmerzen habe auch ich einen großen Teil. Ich will ja nicht sagen, daß ich genau so bin wie Sie, nein, jeder Mensch ist ja doch anders, aber so im allgemeinen? Mehr oder weniger sind alle Menschen wie Sie, Eisenhut. Ach, schütteln Sie doch nicht den Kopf, es scheint mir so, soweit ich die Menschen kenne Sie sind Ihnen alle verwandt. Sie sind allein oder fühlen sich allein, ganz wie Sie. Sie leiden unter dieser Einsamkeit, wie Sie. Sie haben Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft. Sie haben schlechte und häßliche und haßerfüllte Gedanken, jeder Mensch hat sie zuweilen. Sie lügen und posieren, um gesehen, gehört, beachtet zu werden, um interessant zu erscheinen. Ja, das tun fast alle. Fast alle sind so empfindlich wie Sie und wir alle fühlen einen Tropfen Essig stärker auf der Zunge als ein Pfund Honig. Alle sind so ehrgeizig, alle legen so großen Wert auf die Liebe und die Achtung der Menschen wie Sie — und das ist ja nur gut! Wir alle möchten nicht nur geliebt, wir möchten bewundert sein. Und das ist ja nur gut!“

„Das Leben ist gegen Sie unfreundlicher und nachsichtsloser gewesen als gegen andere, Eisenhut. Das hat Sie bitter gemacht und Sie sind nicht stark genug gewesen. Dann haben Sie in Ihrer Seele gewütet, wie haben Sie in Ihrer Seele gewütet, Eisenhut, wie ein Mörder! Ja, das haben Sie getan, verzeihen Sie mir, aber ich muß es sagen! Nun aber frage ich Sie, hat Ihre Seele sich das gefallen lassen? Nein, nein! Sie hat sich gewehrt dagegen und hat Sie gefoltert dafür und gepeinigt. Denn sie sagte sich: Genug, genug, wie geht er doch mit mir um? Ihre Seele ist ja gut, Eisenhut. Sie sind ja ein guter, wahrhaft guter Mensch! Das glauben Sie nicht? Seht an! Ich habe ja schon früher von Ihnen gehört und es ist wahr, ich habe viel, viel an Sie gedacht! Weshalb sehen Sie mich so an? Ja, das habe ich getan. Ich habe mich in Gedanken viel mit Ihnen beschäftigt. Sie taten es ja auch mit mir, nicht wahr? Ich habe gedacht, Eisenhut ist ein guter Mensch, den man viel quälte. Ein guter, aber einsamer Mensch ist er, ich schwöre Ihnen, ich habe das gedacht! Sie sind gut, sagen Sie, was Sie wollen. Sie hassen die Menschen, weil sie Ihnen zuvor so große Liebe entgegen brachten. Wie können Sie doch lieben! Haben Sie nicht gesagt — als Sie von jener Frau sprachen — ich blicke auf ihr Haus und weine? Sie vergeben mir wohl, daß ich es wage, Ihre intimsten Gefühle zu berühren. Ich will Ihnen ja nur beweisen, wie gut Sie in Wirklichkeit sind und wie wenig Sie sich selbst kennen. Das ist auch ein Fluch, eine Strafe für diejenigen, die in ihrer Seele wüten, daß sie sich selbst nicht mehr kennen. Sie haben gesagt: Die Sonne scheint, ich gehe auf die Straße, ich grüße die Leute — kurz und gut, ich könnte Ihnen ja an vielen, vielen Dingen zeigen, daß ich im Recht bin. Haben Sie nicht auch jener Dame, die in der Not zu Ihnen kam, geholfen?“

„Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie begangen haben. Sie haben jenen Fehler begangen, den die meisten Menschen begehen: Sie suchten Glück und Erlösung durch andere, durch Freunde und Freundinnen. Und Sie haben jenen Fehler begangen, den die meisten Männer begehen, sie suchten Glück und Friede durch die Frau. Ja, fragen Sie sich doch, sollten die Frauen vielleicht dazu da sein, daß wir uns bei ihnen ausruhen, erholen, daß wir von ihnen das Glück und die Freude entgegennehmen? Nein, wie unsinnig wäre das doch! Sie wollten, daß die Menschen Sie lieben, daß die Frauen Sie lieben, daß Sie sie lieben dürfen, nicht wahr? Dann wäre Ihnen geholfen. Aber wenn Sie zu einem Menschen kommen, so sieht er Sie an und fragt sich: Was wird er mir geben? Ich frage Sie, sind Sie reich, können Sie geben? Ja, Liebe, nicht wahr, wollten Sie denn nicht Liebe geben? Richtig, aber jene Liebe, die aus Ihrer eigenen Ohnmacht hervorgeht, Verzweiflung, weil Sie mit sich allein nicht leben können, weil Sie arm im Innern sind, Anlehnung wollten Sie, Halt! Wenn Sie in ein Wirtshaus gehen, essen, trinken und nicht bezahlen können, so wirft Sie der Wirt vor die Türe, Sie sind ein Zechpreller. Er hat keine Nachsicht mit Ihnen. Die meisten Menschen sind solche Wirte, die den vor die Türe werfen, der nicht bezahlen kann und den nicht hinein lassen, der arm aussieht. So sind die Menschen, sie müssen vielleicht so sein, denn sie sind ja selbst arme Wirte, keine reichen Herren, die Bettler speisen können.“

„Sie fragen mich nun — ja, sagen Sie, ich sehe doch, man liebt den oder jenen und was ist er im Grunde genommen, aber man nimmt ihn auf, man liebt ihn. Lieber Eisenhut, ich weiß das wohl. Man nimmt ihn auf, man liebt ihn um einer einzigen schätzenswerten Eigenschaft willen! Vielleicht kann er singen, oder Geschichten erzählen, oder er ist freigebig, er ist witzig, er ist drollig, er ist gütig oder er ist mutig. Wenn er nur eine einzige Eigenschaft hat, die ihn vor andern auszeichnet. Haben Sie eine solche Eigenschaft? Fragen Sie sich? Sie sind begütert, Sie sind ein reicher Mann und diese Eigenschaft hat Ihnen Einlaß gewährt. Aber das ist ja eigentlich keine Eigenschaft, nicht wahr.“

„Das sind harte Worte, verzeihen Sie mir. Sie wissen ja selbst, Sie leben nicht im Frieden mit sich. Ja, Sie sind so unzufrieden wie einer nur sein kann und haben ja selbst Ihren Bankerott erklärt. Aber Sie wollen, daß man Sie liebt! Freunde sind der Preis unserer Tugenden, Eisenhut.“

„Sie sagen, Sie hassen die Menschen, Sie glauben nicht an ihre Liebe und Güte und an das Edele in ihnen. Aber Sie wollen, daß man Sie liebt. Du guter Gott, was denken Sie denn, die Menschen fühlen ja Ihre geheimen Gedanken. Sie achten die Frauen nicht sehr, aber Sie wollen, daß die Frauen Sie lieben. Da kommen Sie nun zu den Frauen, Sie sprechen, Sie sind liebenswürdig, Sie sind freundlich — aber die Frauen? Die Frauen fühlen ja deutlich, wie Sie sonst über sie denken. Sie bleiben kühl. Ein anderer spricht dieselben Worte, lächelt das gleiche Lächeln, sehen Sie, wie die Augen der Frauen leuchten, wie freundlich sie ihn anblicken? Warum? Ja, die Frauen fühlen, er denkt immer so von uns. Das Gefühl eines Mannes können Sie am Ende täuschen, aber niemals das Gefühl einer Frau, denn sie sind alle Hellseherinnen.“

„Nun, Eisenhut? Eisenhut, Eisenhut, Eisenhut — ich bin ja Ihr Freund und mir müssen Sie alle diese grausamen Worte verzeihen. Weshalb bin ich Ihr Freund, Eisenhut? Weil ich Sie am besten kenne. Nun? sage ich. Sie fanden keine freundliche Miene bei den Menschen. Was taten Sie aber? Gingen Sie nach Hause und sagten Sie zu sich selbst: Ich bin ja wenig wert, ich habe den Menschen zu wenig zu geben. Ich bin nicht einmal ein guter Gesellschafter, denn ich weiß ja wenig und habe meine Kenntnisse nicht bereichert. Taten Sie das? Nein, ach, Sie taten es nicht. Sie klagten die Menschen der Härte und Lieblosigkeit und Schlechtigkeit an und begannen zu trinken. Sie suchten also Erlösung, Glück und Friede im Rausch. Das tun ebenfalls alle Menschen, die meisten, sie betäuben sich alle auf irgend eine Art. Aber der Rausch verfliegt, die Betäubung verfliegt und Ihre Seele schreit hungriger und durstiger als zuvor. Ihre Seele will Wahrheit, keine Lüge und Betäubung. Im Rausch, da können Sie einherschreiten wie ein König, aber der Rausch vergeht und Sie sind ein Bettler. Denn Sie sind ja kein wirklicher König gewesen im Rausche, nur als König verkleidet waren Sie. Ich weiß das alles, Eisenhut, ich, Ihr Freund, denn — all das habe ich an mir selbst erlebt.“

„Sie leben viel in der Nacht, Eisenhut. Wer erträgt das? Wissen Sie denn, wie gefährlich es ist mit den Geistern der Nacht zu leben, für den Menschen, der ja geschaffen ist zum Verkehr mit den freundlichen Wesen des Tages und des Lichtes?“

„Sie leben immer mit sich allein. Auch das ist gefährlich. Nur wenige Menschen können es ungestraft tun, denn der Mensch ist ja geschaffen zum Umgange mit seinen Brüdern.“

„Ihre Seele hat nach Eindrücken gehungert, Ihr Geist nach Erkenntnis? Haben Sie Ihre Seele gesättigt, Ihren Geist? Nein. Sie sind nicht der Mann, der zufrieden ist, seine Geschäfte zu verrichten, Geld einzukassieren und in Kneipen zu sitzen. Es ist gut, daß Sie das nicht befriedigt. Ihre hungernde Seele soll Sie quälen, das ist gut. Aber was tun Sie, Ihre Seele zu sättigen? Nichts, Eisenhut, da sitzen Sie in diesem Gefängnis, in diesen Fuhrmannskneipen, in dieser kleinen Stadt, wo das Leben still steht. Was würden all die andern Millionen Menschen tun, die so allein sind wie Sie, wenn sie nicht Spiel und Gesang, Musik und Poesie hätten? Es ist ja nicht genug, daß der Mensch ißt und trinkt und schläft, nein, er braucht ja viel mehr. Warum reisen Sie nicht, Eisenhut, hinaus in die Welt? Warum nicht? Wo täglich tausend neue Eindrücke Ihre Seele erquicken und ermutigen? Warum taten Sie das nie?“

„Da draußen kennt mich ja kein Mensch,“ antwortete Eisenhut.

Grau lächelte. „Lieber Freund,“ sagte er, „daran müssen Sie sich ja gewöhnen, nicht mehr gekannt zu sein. Sie müssen es lernen Ihr Leben zu leben, ohne daß Sie ein Schauspieler sind, der sich von andern bewundern läßt. Wenn Sie einen Ring am Finger tragen, so müssen Sie ihn nicht tragen für die andern, sondern weil es Sie freut Ihre Hand geschmückt zu sehen. Und wenn Sie glücklich sind und heiter und tanzen und singen, so müssen Sie nicht tanzen und singen, weil andere es sehen und hören und denken werden: Er tanzt, er singt, er ist guter Dinge. Sie müssen es tun für sich allein.“

Eisenhut schüttelte den Kopf. Er ging herum, er schüttelte den Kopf. Worte, Worte, was sollten ihm all diese Worte nützen, frage er? Diese Hölle von Leben —. Aber er war schon hoffnungsvoller gestimmt.

„Ja,“ sagte Grau, „es ist wahr, Sie haben die Hölle in sich und Sie sind sehr unglücklich. Ich weiß es und ich würde Ihnen gerne etwas abnehmen, könnte ich nur. Aber haben Sie nichts anderes als diese Hölle in sich, nichts anderes sonst?“

Grau griff sich an die Wangen. Er fühlte plötzlich, daß er Fieber hatte.

Eisenhut schlich an den Wänden entlang und schüttelte den Kopf. Hinter ihm ging das Hündchen; doch da Eisenhut sehr langsam dahin schlürfte, hatte es immer Zeit, sich nach jedem dritten Schritte seines Herrn zu setzen. Dann blickte es auf Grau und spitzte die Ohren. Eisenhut schüttelte den Kopf.

„Nein!“

Grau lachte leise. „Das ist ja nicht wahr!“ sagte er, „Sie haben ja selbst — ach, haben Sie nicht gesagt, Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint, Sie freuen sich, wenn Sie jene Dame im Walde treffen? Sie haben schöne Träume, wie das Leben sein könnte, Sie haben gewiß nicht nur häßliche Träume.“

Eisenhut lachte. Er träume oft, er fliege, es gehe dahin über die Lande — haha!

„Sehen Sie! Und auch wenn Sie wachen, haben Sie schöne Träume. Es gibt doch noch so viel Schönes für Sie!“

„Nein, nichts mehr.“

„Heute sehen Sie ja alles schwarz, Eisenhut. Aber Sie freuen sich doch über viele Dinge — wenn Sie zum Beispiel ein schönes Pferd sehen oder eine dicke hohe Eiche im Walde —“

„Ja, ja.“

„Sehen Sie! Ich könnte wohl stundenlang — stundenlang Dinge nennen, die Sie lieben. Es ist ja lange nicht so schlimm wie Sie es heute sehen, mein Freund, lange nicht so schlimm. Haben Sie denn keine Sehnsucht mehr? Kein Verlangen nach Glück, Freude, Friede? Wie?“

„Ja, doch!“

„Aber wer dieses Verlangen noch hat, der wünscht ja noch zu leben und das Leben ist ihm noch kostbar. Die Menschen, mein Freund, die mit dem Leben fertig sind, wünschen sich nichts mehr. Und nun muß ich Ihnen doch Ratschläge geben, obschon es mir anmaßend erscheint. Ich meine, vielleicht könnte ich Ihnen sagen, wie Sie es zu beginnen hätten — für den Anfang wenigstens — was meines Erachtens gut für Sie wäre. Sie brauchen das ja nicht zu befolgen — es ist ja nur meine Ansicht, die Ansicht eines jungen und unerfahrenen Menschen —“

„Ich befolge alles, alles!“ sagte Eisenhut. Er öffnete die Tischschublade und nahm eine Handvoll Zigarren heraus, die er Grau reichte.

„Danke, danke!“ sagte Grau. „Als ob Sie wüßten, wie leidenschaftlich ich rauche. Nun hören Sie —“

Grau entwickelte ihm seinen Plan. Vorerst müsse er seine Nerven kurieren, seine Gesundheit kräftigen. „Sehen Sie mich an, Eisenhut,“ sagte Grau und fuhr erst fort als Eisenhut stehen blieb und ihn ansah. „Hören Sie wohl! Sie müssen ein neues Leben beginnen, und jeder Mensch muß das von Zeit zu Zeit. Von Grund auf neu! In jeder Beziehung! Jeden Tag um sechs Uhr heraus, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends harte körperliche Arbeit in den Steinbrüchen, wie ein Taglöhner — einen Monat lang. — Wie? — Ja, das müssen Sie! Einen Monat lang! Punktum, darüber wird nicht mehr gesprochen. Sie müssen sich den Schlaf erarbeiten. Danach, zwei Monate lang jeden Vormittag von sechs Uhr bis zwölf Uhr harte Taglöhnerarbeit in den Steinbrüchen, nachmittags frei. Ich will Ihnen Bücher geben, Bücher empfehlen. Ich will Ihnen gern etwas behilflich sein. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen regelrechte Stunden, natürlich kann ich es nicht ganz umsonst tun. Ich verlange für die Stunde eine Mark. Das ist Ihnen nicht zuviel? Schön! Sobald Sie etwas sicherer sind, fort auf Reisen.“

„Wohin?“

„Das alles wird sich finden. Wir werden alles noch genau besprechen. Ich deute Ihnen vorläufig alles nur an.“ Grau lächelte, während er Eisenhut immerzu ansah.

„Ich werde alles tun — tun — tun — alles!“ sagte Eisenhut.

„Gut. Wir werden auch zu besprechen haben, wie Sie sich einzurichten haben. Wir werden Ihre Wohnung hübsch herrichten und ich werde häufig zu Ihnen kommen. Wir werden uns gut unterhalten. Am besten wird es sein, wenn Sie vorläufig nicht mehr mit Professor Richter und Konsorten verkehren. Die passen nicht zu Ihnen. Ah, sehen Sie doch, jetzt funkelt die Sonne auf den Dächern. Bist du müde?“

„Nein, nicht im geringsten.“

„Gut, dann lasse deinen Schlitten einspannen und wir fahren hinaus in irgend ein Dorf und frühstücken da. Bist du einverstanden damit?“

„Wie Sie wünschen, ich bin dabei.“

Grau lachte. „Hörst du nicht, daß ich Du sage, wie? Freilich, es ist unverschämt, denn ich bin ja der Jüngere. Aber was kümmern wir uns um solche Höflichkeitsregeln, haha, jetzt, da wir so gute Freunde geworden sind. Wenn du aber nicht willst —“

Eisenhut lächelte und blinzelte. „Zigarren? Zigarren haben wir. Wir können gehen und den Kutscher wecken.“

Vielleicht ist nie in seinem Leben jemand gut gegen ihn gewesen, dachte Grau.

Sie fuhren hinaus in den Winter, der aufsteigenden Sonne entgegen, die Schellen klingelten am Schlitten —

— — — — — — — —

Von diesem Ausflug kehrte Grau krank zurück. Er hatte sich in der Nacht vorher erkältet und fiel in ein heftiges Fieber, das mehrere Wochen lang anhielt. Eisenhut pflegte ihn wie ein Bruder.

Dritter Teil

Erstes Kapitel

G rau lag in leichtem Fieber und dachte über die Menschen nach. Diese Zwietracht in vielen Familien! Daran dachte er. Ein geistiges Band fehlte. Man sollte in den Abenden ein gutes Buch vorlesen. Geld? Nein. Es gibt Bücher zu lächerlichen Preisen. Der Sohn oder die Tochter liest vor, die andern arbeiten nebenbei — es ist ein Genuß! Gewiß, er mußte eine Broschüre schreiben: Wegweiser —

Grau erwachte.

Da standen die Fenster offen und die Luft war lau und würzig. Die Bäume grünten. Es war Frühling geworden.

Plötzlich erschien Adeles schönes Bild in seinem Geiste. Er lächelte und stand auf.

Die Stadt hatte sich vollständig verändert, grüne Wipfel und blühende Bäume ragten über Häuser und Mauern. Man blickte in eine Gasse hinein und sah einen kleinen blühenden Kirschbaum leuchten, man blickte durch einen Torweg und sah zu seiner Überraschung ein ganzes Beet von Tulpen brennen. An den Häusern und Erkern kletterte allerlei Rankenwerk empor, als wolle der Frühling die kleine alte Stadt in ein grünes Netz einspinnen.

Der Fluß strömte rasch und jung dahin und die Schiffe und Fähren zogen an der Stadt vorüber. Ein kleiner Kettendampfer heulte und schleppte eine Reihe flacher Frachtschiffe hinter sich her. Am letzten Schiffe schaukelte ein kleines Boot und darin saß ein Mann mit einer Pfeife im Munde. Im Schaukeln des Bootes war der Frühling und auch in der Art, wie der Mann im Nachen saß und auch im lustigen Rauche der Pfeife war der Frühling.

Die Ebene glänzte in der Sonne, die Dächer ferner Dörfer leuchteten; Burgen auf den Höhen und weite grüne Wälder.

Grau saß in seinem Garten, noch geschwächt und müde von dem langen Krankenlager und lächelte. Seine Seele in diesen Wochen der Genesung war empfänglicher, fröhlicher noch als sonst und voller Dankbarkeit.

Er lauschte, blickte umher und wunderte sich. Sein Herz klopfte. Zuweilen kam das Fieber zurück, ein leises, fast angenehmes Fieber, dann empfand er alles wie einen Traum. Eine wunderbare Frische stieg aus dem jungen Rasen und wehte von Adeles Park her, alles war so frisch und neu. Die Vögel zwitscherten in allen Wipfeln und zuweilen vereinigte sich das Klingeln all dieser kleinen Vogelstimmen zu einem einzigen schwingenden Ton: Der Frühling stand auf grüner Wiese und blies auf seiner Flöte einen betörenden Schmeichelsang.

Graus Blick glitt über die Stadt hinweg bis zu den kleinen Dörfern, die in der Ferne lagen. Da standen Häuser, vor den Häusern lagen Gärten. In den Gärten wuchsen Blumen, unter den Hecken Veilchen, auf den Hängen Schlüsselblumen. Die blauen Höhenzüge am Himmelsrande waren grün, hinter ihnen dehnte sich grünes Land. Grün, grün — die ganze Erde war nichts als eine grüne Insel, die im Äthermeere schwamm.

Im Tale arbeiteten Leute auf den Feldern, die Erde zu bestellen. Bei der großen Steinbrücke wimmelte es von Arbeitern, die einen neuen Bahndamm aufwarfen. Schaufeln und Picken blitzten in der Sonne. Auf einem Neubau kletterten die Zimmerleute im Dachstuhl und hämmerten, auf der Landstraße knarrten Wagen mit Steinen, die zum Ausbessern der Wege bestimmt waren.

War es nicht schön hier zu sitzen und zu sehen, wie der Mensch sich seine Wohnstätte bereitete?

Und Grau dachte daran wie klein die Erde vordem war. Eine flache Insel von einem Meere umbraust, über ihr der Himmel als Decke. So klein war die Erde und so klein war die Welt. Aber die Erde sprach: Entdecke mich! Und der Mensch spähte aus und die Erde wuchs. Die Erde ruhte nicht, und flüsterte und flüsterte und plötzlich stand ein Mensch auf, einer von den Schlaflosen, und sagte: Nach Ost und West, Nord und Süd kannst du wandern, die Erde hat kein Ende, sie ist ein Ball, um den Sonne, Mond und Sterne kreisen. Aber die Erde ruhte nicht, sie flüsterte und flüsterte und ein Mann erwachte in der Nacht und erschrak und sagte: Die Erde steht nicht still, sie bewegt sich! Und fand keinen Schlaf mehr. Die Erde wuchs und die Welt wuchs. Die Gestirne rückten auseinander, in erschreckende Fernen rückten sie, aber sie hörten nicht auf, den Menschen anzustarren und er ersann Mittel ihnen bis in die fernste Ferne zu folgen. Und mit jedem Tage wächst die Welt. Der Astronom schreibt die unfaßbare Ziffer nieder, in jeder Nacht starren hundert Rohre in den Raum, spähen und suchen — und morgen wird eine Depesche über die Länder fliegen: Die Welt ist gewachsen, abermals ist sie größer geworden!

Und mit jedem Tage wächst die Erde. Die Pioniere sind an der Arbeit. Wenn jener Mann zurückkehrt, der jetzt den Nachen durch den fernen Schilfwald stößt, wenn das Schiff im Norden nicht vom Eise zerdrückt wird: Sieg! Die Erde ist gewachsen, sie ist größer geworden! Erobere mich, spricht die Erde, ich bin dein!

Grau lächelte. Wahrhaftig, dachte er ergriffen, ich liebe den Menschen, den Entdecker, den Eroberer, den Pionier, den Rastlosen!

Und er sah zu, wie die Menschen im Tale arbeiteten und Schaufeln und Picken triumphierend in der Sonne blitzten.

Niemals hatte sich Grau reicher gefühlt als in diesem Frühling, niemals empfand er stärker die Wunder der Welt und verwebte er sich inniger mit ihnen. Unausgesetzt durchschauerte ihn das Gefühl lebendig zu sein, selbst in den Nächten. Er erwachte oft und hörte sein Herz pochen und Freude erfüllte ihn und er dachte: Und morgen und übermorgen und jeden Morgen beginnt ein neuer Tag.

Jedes kleinste Ding bekam Sinn und Beziehung. Das Leben war wie das Buch des Meisters, wo man es öffnet, Wahrheit, Schönheit, tiefes Gleichnis und tiefes Geheimnis — aber was ist das Buch des Meisters anders denn ein Gleichnis des Lebens?

Die Sonne ging unter und ein leiser Wind trug Duft und Wärme über die Stadt und berührte Graus Wangen. Grau errötete und wußte nicht warum. Er blickt sich um, ob niemand seine sonderbare Erregung beobachtet habe. Dann ging er zurück in sein Haus.

Selbst der Wind, dachte er, wie kostbar ist er? Ohne ihn wäre das Leben nicht das Leben und nicht so reich wie es ist. Der Wind und der Sturm, die Morgensonne und die Nachtfrische, die warmen Regentropfen und der Hagelschauer — sie alle erwecken ein geheimnisvolles Leben in uns, wir atmen, es rieselt in uns, es erfüllt uns, wir erschrecken, erschauern: Das ist das Leben.

Zweites Kapitel

D ie Wiese um Susannas Häuschen wurde grün, im Vorgärtchen platzten die Knospen. In all der Sonne sah das Haus freundlich und hübsch aus. Am Fenster sah man vom Morgen bis zum Abend ein kleines gelbes Gesicht.

Susanna saß den ganzen Tag am Fenster und lächelte.

Sie lächelte, als das erste Trüppchen Vögel über den Himmel steuerte und der Tauwind die Pappeln auf der Brücke schüttelte. Der Schnee sank in den Boden und das Eis zerging, sie lächelte. Es grünte, über Nacht regnete es grüne Flocken über die Pappeln auf der Brücke, an der Landstraße stellte der Frühling eine ganze Postenkette blühender Bäume auf. Susanna lächelte.

Nun konnte man die Fenster öffnen und Susanna trank die Luft, erschauerte und wurde bleich. Fühlst du? sagte sie und griff mit der Hand in die Luft, als greife sie etwas: Das ist die Luft!

Dann sah sie zu wie das Gras wuchs und die Blumen und sie bebte, wie wenn all die Gräser, all die Blumen aus ihrem eigenen Herzen wüchsen. — Aber doch war ihr Herz nicht so wie sie es wünschte:

„Geliebter, mein Geliebter und Freund, du Gütigster und Schönster von allen, ich liebe dich. Mein Geliebter und Freund, Glück in dein Herz, höre mich, du Gütiger mit den goldenen Augen, höre mich und sprich. Wie ist mein Herz? Ich weiß es nicht. Ich habe in den Büchern gelesen und mir mein Herz aus den Büchern gesucht, aber so ist es nicht, nein. Es ist nicht, wie ich will, es ist anders. Ich liebe dich! Es ist schön, es ist Frühling, das Gras wächst, die Blumen leuchten. Die Sonne liegt in meinem Gärtchen und ich danke ihr, daß sie auch an mein Gärtchen denkt, und ich sage mir, wollten sich doch die Schollen lockern und die Sonne hineinlassen, denn da unten will es auch Wärme haben. Ich danke der Luft, so süß ist sie. Ich lache, wenn ein Vogel vorüberfliegt.“

„Aber doch, mein Herz ist nicht so, wie ich es will, es ist anders.“

„Ich habe geweint, ich weine so oft! Ich habe geträumt, ich ginge in einer Wiese, schlank und schön und gesund und ich sang, ich erwachte und mußte weinen. Soll ich es nicht sagen? Soll man dem, den man liebt, seine Schwächen verhüllen, oder ist es ein Recht der Liebe, alles zu gestehen? Sprich! Würdest du nicht du sein, ich würde schweigen, ich könnte dich ja trotzdem lieben, aber ich würde es nicht wagen, dir alles zu gestehen. Aber du verstehst mein Herz und es nennt dich Freund. Ich bin glücklich, so sehr! Ich habe dich, ich bin froh. Ja, das Große ist gekommen, das Seltene ist gekommen, auf das ich so viele Jahre wartete, nun ist es ja doch gekommen, ich bin das glücklichste Mädchen der grünen Erde. Es ist ja gekommen das Seltene, da ich es nicht mehr glaubte und nicht mehr hoffte. Wie wunderlich ist das Leben! Nun ist es da. Ich habe gewünscht, noch einmal das Gras zu sehen und die Blumen. Da ist das Gras und da sind die Blumen. Ich bin glücklich, sehr! Ich sage zu meinem Herzen: Hast du nicht ihn? Und hast du nicht auch den Frühling? Ja, sagt mein Herz, ich bin ja froh. Es ist ja froh, es ist ja voller Freude — aber es ist nicht so, wie ich es will. Es ist traurig zur gleichen Zeit, traurig, traurig und weint in mir. Gibt es solch ein Herz wieder auf der Welt? Es jauchzt und es weint in derselben Stunde. Gütiger Freund, sprich! Es ist ja nicht so, mein Herz, wie ich es gerne möchte —“

„Eines weiß ich nun. Wenn du zu deinem Herzen sagst: Sei so, so, so! — es tut doch was es will, du kannst ihm nicht befehlen.“

„Kannst du zu deinem Herzen sagen: Sei nicht bange! Wenn es aber doch vor Angst zittert? Habe keine Furcht! Wenn es voller Angst ist? Denn die Angst quält mich, die Angst. Hörst du, es pocht, es pocht überall, mein Blut pocht, es pocht in meinen Fingern, es pocht in der Wand, der Decke. Dann schweigt es plötzlich und ich denke: Wollte es doch lieber wieder pochen! Das ist in den Nächten. Ich sage zu meinem Herzen: Sieh die Sterne, sieh den Himmel, fühle die Nacht des Frühlings. Es gibt ja nichts, was ich mehr liebe als die Frühlingsnacht, sagt mein Herz — und vergeht vor Angst. Fühle wie die Erde schläft, sage ich, ein Kind, so tief und schön — aber die Angst quält mich. Ist mein Leben vorüber, vorbei, vorbei, gegangen, gegangen? Sage nein! Denn wie könnte mein Leben vorüber sein, da es eben erst begann? Nein, nein, nein! Sage nein! mein Geliebter.“

„Gibt es Menschen, die die Sprache der Vögel verstehen? Vielleicht verstehst du die Sprache der Vögel und es ist eines deiner vielen Geheimnisse, die dir das Lächeln geben, das man nie auf andern Menschenlippen sieht! Ich liege hier und die Stare sitzen auf dem Kobel, den du mit Herrn Eisenhut gezimmert hast, sie sitzen da, blicken zu mir her und unterhalten sich über mich. Sieh doch die Stare, wie sie glänzen! sage ich zu meinem Herzen, höre sie, wie sie pfeifen — aber mein Herz lauscht starr vor Angst. Ist es denn möglich, daß die Stare wissen, wie schlimm es um mich steht? Ist es denn möglich, daß sie wissen, was in den nächsten Wochen sein wird? Nein, nein, bei Gott, all das ist ja unmöglich! Und doch? Es muß, es muß unmöglich sein, denn es ist schrecklich, was die Stare sagen!“

„Es ist nicht das allein! Wäre es nur das allein. Auch der Wind spricht, auch die Luft spricht. Der Wind flüstert und ich verstehe wohl, was er sagt. Er sagt dasselbe wie die Stare. Ich sage zu meinem Herzen: Fühle, wie fein der Wind schmeichelt, aber mein Herz glaubt es nicht: Höre was er spricht, sagt mein Herz. Ach, alles, alles sagt das gleiche, es ist ja immer das gleiche, selbst die Uhr sagt es, wenn sie ticktackt. Und der Wind sagt es in jeder Nacht. Hast du den Wind schon gesehen? Nicht laufen, nicht im Laub, im Getreide. So, eine Person, eine Gestalt. Ich habe ihn gesehen wie er am Fenster stand, ein graues dürres Männchen in weitem Mantel, voller Buckel und Höcker. Er hat einen Höcker auf der Brust, auf dem Rücken, seine Nase, seine Stirn, sein Ellbogen, alles ist ausgezogen zu Höckern.“

„Wärest du hier! Wenn du hier bist, so hat die Angst keine Macht über mich.“

„Ich sehe Gestalten. Oft stehen viele Gestalten in meinem Zimmer und sie blicken mich alle mit ihren fahlen Augen an, ohne Gefühl, ohne Interesse, gleichgültig. Sie regen sich nicht, sie sagen nichts, sie sagen auch nichts zu einander. Sie stehen und warten. Niemals könnte ich sagen, wo sie beginnen und wo sie aufhören, aber sie sind da. Merkwürdig — ich fürchte mich nicht vor ihnen. Es ist als müßten sie dastehen. Ja, ich habe zu ihnen gesprochen. Ich habe allen Mut zusammengenommen und habe gesagt: Was wollt ihr von mir? Seid ihr dahingeschiedene Seelen, wollt ihr mich begleiten, wenn ich von der Erde fortgehe? Aber sie regten sich nicht, sie standen wie zuvor und sahen mich an. Ich weinte. Denn ich kam mir so verlassen vor.“

„Zuweilen geht auch ein Schritt ums Haus und es ist mir, als ob jemand am Fenster stehen bliebe. Einmal erwachte ich mitten in der Nacht, ich hörte wie der Schritt anhielt und eine Stimme am Fenster hauchte: Bald —“

„Ich habe nachgedacht und ich fand es fürchterlich. All die Knaben, die am Morgen über die Brücke zur Schule gehen, all die Bauern, die Freundinnen, Klara und Maria und auch Adele — ja, auch sie! — und auch Mütterchen und auch du, mein Liebling — alle, alle! All die Menschen, die jetzt schlafen oder wachen, in einem Zuge fahren oder auf Schiffen segeln — alle werden eines Tages still liegen und sich nicht mehr regen. Auch du. Auch Mütterchen. Auch Adele. Und plötzlich stellte ich mir alle gestorben vor. Auch Adele. Sie sah so schön aus.“

„So sind meine Nächte und auch meine Tage sind so.“

„Es ist das Fieber, es ist die Angst —“

„So klein bin ich, so schwach. Ich bin glücklich! Glaube es mir. Adele sagte zu mir: Es muß dich glücklich machen, daß er dich liebt. Ja, ja, ja! sagte ich und es ist wahr. Aber mein Herz ist ja nicht so, wie ich will. Ich hatte mir vorgenommen mutig zu sterben, denn es muß ja sein, ich hatte mir vorgenommen zu lächeln und zu sprechen: Es ist leicht und süß zu sterben — aber nun — die Angst — die Angst!“

„Du aber sollst kommen und mir die Hand auf die Stirn legen, daß ich Ruhe habe!“

„Du kommst und mein Herz ist wie früher, da ich ein Kind und ohne Angst war. Ich höre die Vögel, ich sehe die Wiesen, ich lache. Sage nein, nein, nein! Du sagst es ja immer, du bist die Hoffnung und du bringst Mut. Die Ärzte wissen nichts, sagst du, ich glaube dir. Aber weshalb lächelt der Arzt, wenn er mit mir spricht? Brauchte er denn zu lächeln? Aber ich glaube dir, solange du bei mir bist, glaubt es mein Herz: Das macht mich ja gesund, wenn es mein Herz glaubt —“

„Süß ist es, an dich zu schreiben und ein Glück. Ich denke, ich darf ihm schreiben. Es gehen viele in der Straße und sehen sich nach ihm um. Liebt er Maria, liebt er Klara, liebt er Adele? Er liebt mich. Ich kenne dich nicht. Du klagst nie, wie sollte ich dich also kennen. Es fiel mir erst jetzt auf, daß du nie mit einem Worte geklagt hast, du sprichst nie von dir. Die Leute sagen, du seist ein Tor, ich aber weiß wohl, daß Sie Leute töricht sind. Oft erschrecke ich, denn ich kann dein Bild nicht festhalten, ich weiß nicht, wer du bist. Nur wenn du mir nahe bist, da weiß ich es, da frage ich nicht danach, da frage ich nichts, denn du bist gut: Komm und nimm die Angst von meinem Herzen — Susanna —“

Drittes Kapitel

W ie erstaunt war doch Susanna, als sich die Türe immer wieder und wieder öffnete und immer mehr junge Mädchen eintraten. Es wollte gar kein Ende nehmen. Noch mehr erstaunt war Mütterchen, die sich fein hergerichtet hatte. Ihre Augen standen immer voller Tränen und sie verlegte zum Unglück fortwährend die Brille. „Welche Freude — daß sie uns die Ehre schenken — an Susannas Ehrentage. “ — Vor der Türe hing ein Willkomm-Kranz — anders hatte es Mütterchen nicht getan. „Willkommen“ stand darauf und Mütterchen hatte darunter geschrieben: Zum Verlobungsfeste von Susanna Lenz. Sie war immer unterwegs, konnte sich keinen Augenblick niedersetzen, dazu hatte sie keine Zeit, immer flatterte ihre weiße Schürze aus und ein.

Aber es nahm ja kein Ende. Auf der Brücke gingen wiederum drei Mädchen. Grau hatte es gut verstanden, die jungen Mädchen an ihr Versprechen, zu einem kleinen Feste bei Susanna zu kommen, zu erinnern. Auch Fräulein Sperling kam, die „ewige Braut“. Grau hatte sie ganz besonders eingeladen. Sie kam mit Tränen in den Augen und lächelnden Lippen und nickte immerzu gerührt mit dem Kopfe.

Die Mädchen kamen in hellen Frühlingskleidern und glänzenden Augen und roten Wangen, und alle waren guter Laune. Sie zwitscherten und kicherten soviel wie ein ganzer Wald voller Vögel, wenn die Sonne aufgeht. Sie brachten alle Blumen mit, ganz als ob sie es ausgemacht hätten, und füllten das Zimmer damit an. Susanna saß in einem Garten. Auch Adele brachte Blumen, sie brachte einen großen Strauß von weißen Rosen. Die Schwestern Sinding hatten einen Kranz aus Veilchen geflochten, den sie Susanna auf den Kopf setzten und alle Mädchen klatschten in die Hände.

Außer Eisenhut waren noch ein Onkel und eine Tante gekommen, aus Weinberg. Die Tante war klein und rund, eine Schwester Mütterchens, sie sprach kreischend und hielt sich den dicken Leib beim Lachen. Sie hatte ein kleines und ein großes glotzendes Auge, das alle vergnügt anstarrte. Der Onkel kam im schwarzen Rock, mit einem hohen Zylinder. Er war Aushilfsbriefbote in Weinberg. Er war mürrisch und sah ärgerlich aus. Er sprach kein Wort und bewegte auch keine Miene, aber die Mädchen kümmerten sich nicht um ihn.

Das Zimmer war zu klein und Grau und Eisenhut zerlegten Mütterchens Bett und schafften es in die Küche. Aber als immer mehr Gäste kamen, mußte auch Susannas Bett hinausgeschafft werden. Die Gesellschaft nahm um den Tisch herum Platz auf Stühlen, Bänken, Hockern, Koffern. Endlich war alles in Ordnung und das Fest konnte beginnen.

Es begann. Es begann mit Kaffee und Kuchen, Lachen und Gesang. Hin und her gingen die Worte und das Lachen ging rings im Kreise. Was man sprach, das hätte niemand später sagen können, aber man unterhielt sich gut und ohne jede Pause.

Wie Susanna fühlte! Sie saß da mit strahlenden schwarzen Augen, inmitten all der Blumen, den Kranz auf den Haaren, inmitten all der jungen lachenden Mädchen. Sie blickte ringsum im Kreise, von einem Gesichte zum andern, lauschte, lächelte. Sie blickte Grau strahlend an und legte den Kopf an seine Schulter.

Er drückte ihr die Hand.

Als man die Weinflaschen entkorkte, stieß Mütterchen plötzlich einen Schrei aus: Ein bärtiger, wilder Kopf erschien am Fenster und eine tiefe Baßstimme sagte: „Guten Tag, allerseits!“ Es war der Lehrer.

Mütterchen rannte zur Türe hinaus und hing an seinem Halse.

Wie kam er doch hierher? „Ja, das ist ein Geheimnis, sozusagen! Ich habe eben ein Engagement von einem Theater gehabt — als König Lear zu gastieren — habe aber die Lumperei im Stiche gelassen, als ich von dem Feste hörte!“ Es war ihm glänzend gegangen auf seiner Wanderschaft, glänzend und fürstlich wie immer hatte er gelebt. Auf einem Herrensitz, bei einem Baron hatte er förmliche Festtage gehabt, eine Stadt, besser gesagt eine Art Marktflecken, wollte ihn zum Bürgermeister haben. Als ob das so einfach wäre —!

Ja, trotzdem er in zerrissenen Kleidern daher kam und eine bedenkliche Schramme an der Stirne hatte, war es ihm nie so gut gegangen, niemals hatten ihn seine Freunde so fürstlich aufgenommen. Hahaha!

Nun gab es leider einen kleinen Zwischenfall. Der Aushilfsbriefbote nämlich tat, als sehe er nicht, als Lenz ihm die Hand zum Gruße hinstreckte.

„Mein Name ist Pracht!“ sagte er. „Ich habe nie das Vergnügen gehabt, Sie zu kennen.“

„Oho! Du kennst mich nicht! Seht an! Mein Schwager! Seht an. Hier ist meine Hand!“

Aber Herr Pracht kannte ihn nicht.

Lenz streckte ihm die Hand hin.

„Genug, genug!“ sagte er und lachte herzlich. „Hier ist meine Hand! Frieden wollen wir schließen.“

Nein, Herr Pracht kannte Leute seines Schlages nicht. Hätte er gewußt —

„Unsinn!“ sagte Lenz und lachte. „Ich stelle mich also vor, Lenz ist mein Name, Herr Pracht!“

Herr Pracht lehnte ab. Er bedaure.

„Gut!“ sagte Lenz und lachte. „Die Herrschaften haben gesehen, daß ich diesen Herrn Pracht hier, diesen prächtigen Herrn ein Dutzendmal meine Hand hinstreckte und meine Gastfreundschaft anbot. Herr Pracht zieht es vor ins Freie zu gehen. Darf ich bitten, Herr Pracht!“

Lenz nahm den Aushilfsbriefträger am Genick, führte ihn hinaus durch den Garten, er öffnete ihm höflich die Türe und gab ihm einen Schwung, daß Herr Pracht in die Wiese flog und sein hoher Zylinder in das Gras kollerte.

Dann kam Lenz herein, lachte, rieb sich die Hände und bat die Gesellschaft wegen der kleinen Störung um Entschuldigung.

Er sprach und sprach, stand auf und sang, das Glas in der Hand, mit herrlicher Baßstimme ein Lied: Im tiefen Keller sitz’ ich hier. — Niemand konnte wie er im tiefen Keller sitzen, da war der Modergeruch des Kellers, der Widerhall riesiger Fässer — alles. Niemand konnte wie er den Wein im Glase anlächeln, mit einem verliebten gönnerhaften Lächeln, niemand konnte wie er mit solch königlicher Geste das Glas erheben.

Hierauf erzählte er eine absolut unglaubliche Geschichte von zehn Schwestern mit eisernen Nasen — sie machten dem Vater Stiefel aus Eisen und sandten ihn nach Freiern aus — eine Hexe vollständig aus Eisen — niemand könnte diese Geschichte wiedererzählen. Die Gesellschaft lachte herzlich und der unangenehme Zwischenfall war vollständig vergessen. Die Mädchen tranken und ihre Wangen wurden röter, ihre Augen glänzender. Sie sangen. Sie sangen alle Lieder, die sie kannten: Am Brunnen vor dem Tore — Als ich noch im Flügelkleide — Der Mai ist gekommen — Mütterchen hörte andächtig zu. Als die Fröhlichkeit den Höhepunkt erreicht hatte, sangen sie: Ich weiß nicht was soll es bedeuten —

Auch die „ewige Braut“ fühlte sich zu Hause unter den jungen Mädchen, sie sang indem sie den blondweißen Kopf hin und her auf den Schultern wiegte und man hörte sie stets noch die letzte Silbe hinausziehen, wenn alle schon zu Ende waren.

Dann lachte sie.

Eisenhut sang nicht, aber er lächelte.

„Singen Sie doch mit, Herr Eisenhut!“ rief Adele und sah ihn an. Eisenhut kam in Verlegenheit. „Ich habe Ihnen seinerzeit auf dem Balle so sehr unrecht getan,“ fuhr Adele laut fort, daß alle es hören mußten, „vergeben Sie mir!“

Eisenhut sagte: „Ach, das ist ja — haha — schon — so lange her — wie?“ Später erbot er sich ganz von selbst, die Kosten von Susannas Aufenthalt im Süden zu bezahlen, im Falle sie reisen sollte. Er flüsterte es Grau ins Ohr.

Es ging fröhlich in dem kleinen Häuschen her und als die Sonne unterging blendete sie all den jungen Mädchen ins Gesicht. All die singenden Lippen und strahlenden Augen glänzten und die Zähne der jungen Mädchen blitzten.

Susanna lächelte und während sie lächelte, schlief sie ein.

Die Gesellschaft schlich sich davon. Mütterchen steckte Grau ein kleines Paketchen in die Tasche. „Nimm!“ sagte sie geheimnisvoll. „Wie soll ich dir doch danken? Ein solch herrlicher Tag! Für mich und Susanna! Wie glücklich sie war!“

Viertes Kapitel

I n den Häusern zündete man die Lampen an und die Glocken läuteten den Abend ein, als die Gesellschaft in die Stadt eintrat. In den Straßen war es schon auffallend dunkel und merkwürdig warm. Kinder lärmten und die Leute standen vor den Häusern um die erfrischende duftende Luft zu genießen. Man hörte Stimmen in den noch dunkeln Zimmern, Worte, die gerufen wurden, die Familie des Schlächtermeisters Keim war um eine Talgkerze versammelt und nahm das Abendessen ein.

Am Marktplatze ging die Gesellschaft unter vielem Lärm und fröhlichem Lachen auseinander.

Grau und Adele gingen miteinander. Sie hatten den gleichen Weg.

„Wir haben ja den gleichen Weg!“ sagte Adele und sie sahen einander an und nickten. Sie waren beide beklommen und stiegen schweigend die Stufen hinauf. Über die Mauer des Friedhofes und aus Eisenhuts Garten hingen Zweige und Blüten, so daß sie durch eine Gasse von Blüten und Duft gingen. Es war schwül hier und dämmerig. Adele stand still und sog den Duft ein. „Es ist Jasmin.“

„Ja, es ist Jasmin!“ sagte Grau und wieder begegneten sich ihre Blicke.

Oben war es kühler. Sie atmeten auf.

Adeles Blicke gingen über die Stadt hin, in der es mehr blühende Bäume als Häuser gab. Aus dem Dunst der Dämmerung blinzelten Lichter und auf einem Dache lag ein fahler goldener Ton. Eisenhuts Garten war eine einzige lange Woge von Blüten, die gegen die Höhe anschäumte. Adele schüttelte den Kopf und deutete auf Eisenhuts Gartenmauer.

„Die Tafeln,“ sagte sie, „die Tafeln sind verschwunden. Vor den Hunden wird gewarnt, Vorsicht Selbstschüsse — Sie erinnern sich? Was ist doch mit Herrn Eisenhut vorgegangen? So artig und nett, wie er heute war! Was mußten Sie sich doch denken, als ich ihn auf dem Liederkranzball so schlecht behandelte?“

„Es ist wahr, Sie waren grausam gegen ihn.“

„Aber warum doch? Warum quälte ich ihn denn? Ich hatte zu viel Sekt getrunken und plötzlich kam es über mich. So häßlich war ich an jenem Abend. Und Eisenhut quälte ich, weil ich mich ihm gegenüber schuldig fühlte. Freilich, er erinnerte mich auch zu oft daran. Ich habe einmal schlecht gegen ihn gehandelt und er hat mir doch einen großen Dienst erwiesen — er lieh mir zehntausend Mark und wollte nicht einmal einen Schuldschein haben — aber ich will gar nicht davon sprechen. Ich habe auch noch andre häßliche Bemerkungen gemacht.“ Sie sah Grau prüfend an.

„Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was an jenem Abend gesprochen wurde,“ sagte Grau.

„Das ist gut,“ fuhr Adele fort, sie stockte. „Haben Sie denn Besuch, Herr Grau? Es sitzt jemand auf Ihrer Treppe,“ fragte sie.

Vor dem kleinen Hause Graus saß eine dunkle Gestalt und rauchte Pfeife. Es war ein kleiner alter Mann. Er erhob sich und machte eine Verbeugung.

„Ich rauche Ihre Pfeife, Herr Grau, mit Ihrer Erlaubnis,“ sagte er.

„Es ist ein alter Handwerksbursche,“ sagte Grau, „der vorläufig hier wohnt. Er saß eines Tages auf meiner Treppe, abends, als ich heim kam, fand ich ihn da. Er war krank und hatte Fieber. Man hatte ihm die Aufnahme in der Herberge verweigert, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich konnte ihm doch nicht gut ein Obdach verweigern, zumal er Fieber hatte, nicht wahr? Übrigens stört er mich nicht, ich habe ja so viel Raum.“

„Wie lange wohnt er schon hier?“

„Drei Wochen. Warum?“

„Ich meine nur. Ich habe gehört, Sie haben Ihr Bett verschenkt und behelfen sich selbst mit einem Strohsack?“

Grau lächelte. „Eine merkwürdige Stadt!“ sagte er. Sonst nichts.

„Eine Dame hat es erzählt. Das Bett gehört ja zum Pfarrhause, es gehört nicht Ihnen?“

„Ich werde ein neues Bett kaufen,“ sagte Grau. „Sagen Sie der Dame, sie könne ganz unbesorgt sein. Ich habe das Bett hergeliehen, einer armen Wöchnerin. Ja, mein Gott, ich kann doch da nicht erst lange fragen, wem das Bett gehört? Eine ganz merkwürdige Stadt!“ — Adele lachte leise.

Sie gingen schweigend an der Parkmauer entlang bis zum Gitter. Adele blickte hinein. Im Hause war ein Flügel beleuchtet und man hörte ein Klavier.

„Wir haben Gesellschaft,“ sagte sie, „die Offiziere von Weinberg.“ Sie sah zu den hellen Fenstern hinauf und lauschte. „Es ist Mama, die spielt.“ Sie blickte in den weiten Park hinein, dahin wo er ganz dunkel lag, und schüttelte den Kopf. Sie fröstelte. Sie blickte Grau lange an. Dann sagte sie mit einem Blick auf die hellen Fenster: „Ich habe keine Lust. Kommen Sie!“

Sie gingen weiter, den Weg entlang, der in den Wald führte. Es war ein Kiesweg und man sah ihn weit hinein in den Wald fließen, obgleich es hier ganz dunkel war. Zu ihren Häupten schlängelte sich eine schmale blaue Straße des Himmels und ein früher Stern wanderte darauf. Bald versank jeder Laut hinter ihnen und sie waren allein.

Zuerst hörten sie ihre Schritte auf dem Kies, aber das Ohr gewöhnte sich daran und lauschte auf die tiefe Ruhe des Waldes.

„Welcher Friede, fühlen Sie!“ sagte Grau leise.

„Ja, hier ist Friede!“ sagte Adele, deren Gesicht in der Dunkelheit zu leuchten anfing. Sie stand still und wandte die Augen auf Grau. Er sah ihre Augen, so hell waren sie. „Horchen Sie! Hören Sie das Klavier nicht mehr?“

„Nein.“

„Es ist Mama, die spielt. Ich höre es jetzt auch nicht mehr. Da sitzt sie nun, meine kleine Mama und spielt und wartet auf mich. Denn sie tut ja nichts andres. Sie wartet und die Herren lachen und plaudern. Sie sagt zu Konrad: Konrad, wenn meine Tochter kommt, melden Sie es mir sofort. Sie wartet und wird immer nervöser. Ich aber komme nicht.“

„Sollten Sie nicht umkehren?“ fragte Grau.

Adele schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte sie, „ich habe keine Lust. Ja, fühlen Sie doch den Frieden hier, Sie haben recht, wir wollen den Frieden hier fühlen. Wie es riecht! Als ob Sie Rinde abschälten. Haben Sie viel Frieden in sich? Ich nicht, nein, ich würde lügen, würde ich es behaupten. — Das heißt, es ist ja nicht so schlimm,“ fuhr sie mit freierer Stimme fort, „es ist nur der Frühling, weil alles so schön ist und die jungen Mädchen heute lachten so viel.“

Der Kiesweg war zu Ende. Sie gingen in einem Walde hoher Fichten. Der Boden war glatt von Nadeln und Moos und es roch hier nach Harz und Wurzeln.

Grau lächelte, und als ob Adele sein Lächeln gefühlt habe, blickte sie zu ihm her. Er sagte: „Wir gehen wie im Werke einer großen Orgel, zwischen all den schlanken Pfeifen. Als der Geist der Orgel gehen wir hier.“

Er sah, daß Adele lächelte; ihre hellen Augen glänzten.

„Warum sprechen Sie so eigentümlich?“ fragte sie.

„Sprach ich denn eigentümlich?“

„Ja, Ihre Stimme klang ganz verändert.“

Adele blickte zu den schwarzen phantastischen Wipfeln empor, die regungslos dastanden, wie aus Erz gegossen, und einen fahlen grauen Himmel sehen ließen, als beginne es zu tagen. Sie lächelte und sagte: „Aus unseren Orgelstunden ist leider nichts geworden. Sie erinnern sich, daß ich neulich bei Ihnen anfragte?“

Er stehe jederzeit zur Verfügung.

„Ich danke Ihnen aufrichtig,“ sagte Adele, „aber der Baron sieht es nicht gerne, mein Bräutigam. Ich weiß nicht warum, aber er hat solche Angst, die Leute könnten über mich sprechen. Und dann hat er es noch nie gehört, daß eine Dame Orgel spielte. Wüßte er, daß ich mit Ihnen hier gehe, so hätte er nichts dagegen, nein, aber er hätte Angst, jemand könnte es sehen. Er hält viel auf Etikette. Er denkt in jeder Beziehung frei und vornehm, aber er will nicht, daß die Leute über mich sprechen. Sie haben ihn doch kennen gelernt? Sind Sie in ein Gespräch mit ihm gekommen?“

„Wir haben nur ein paar nichtssagende Worte gewechselt.“

„Schade!“ sagte Adele. „Ich wünschte, Sie hätten mit ihm gesprochen, er ist sehr gebildet und klug. Freilich ist er ja meist zu müde zum Sprechen, er liebt es auch nicht, er ist schweigsam. Sie würden vielleicht den Eindruck bekommen, daß er etwas konventionell ist in seinen Anschauungen. Er könnte zum Beispiel nie einen Handwerksburschen beherbergen, niemals in seinem Leben — aber er ist —. Vor allem liebt er mich sehr, er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.“

„Sie werden ja nun bald heiraten?“

„Ja.“ Adele blickte auf den Weg. „Er, der Baron, drängt sehr. Auch fühlt sich Mama jetzt besser. Mir eilt es ja nicht so sehr — obgleich ich den Baron von ganzem Herzen liebe. Er besitzt eine Menge großer Eigenschaften, Sie würden das bald herausfinden — nun hört der Wald auf — lassen Sie uns nicht von diesen Dingen sprechen. Weshalb sehen Sie mich an?

Es ist ja langweilig für Sie, nur von meinen Angelegenheiten zu hören, Herr Grau. Deshalb. Wollen Sie mir nicht jenen Traum zu Ende erzählen, den Sie auf dem Ball begannen?“

„Gerne.“

Sie traten aus dem Walde und der Rücken der Höhe lag im Dämmerlichte vor ihnen. Im Tale zogen Nebel und die Stadt war in Dunst gehüllt. Einige Lichter flimmerten, und wo der Bahnhof lag, blinzelte eine Reihe von Laternen wie der Leichenzug eines armen Mannes. Der Himmel war fahl und einige matte Sterne schwebten darin. Sie gingen am Rande des Waldes entlang und kamen an eine Bank. Adele macht Miene sich niederzusetzen, aber sie ging weiter.

„Jene Frau und ich,“ begann Grau, „gingen über die Heide, es war graue Nacht und ganz still. Es war fahl wie jetzt, nur daß es dem Morgen zuging, es war aber stiller als jetzt, obgleich hier kein Laut zu hören ist. Trotzdem war es stiller. Die Luft war kühl, so wie sie ist, wenn der Morgen nahe ist, sie war gewürzt von all den Kräutern und Blumen, die in der Heide blühten. Wir gingen schweigend dahin, jene Frau, mit der Sie eine leichte Ähnlichkeit haben, und ich. Alles war wie ein Schatten und wir selbst schienen Schatten zu sein, die in der grauen Nacht dahingingen. Es standen viele Sterne am Himmel, aber sie leuchteten nicht. Plötzlich begann es zu sausen über unseren Häuptern und ein Heer von Sternschnuppen, ein ungeheurer Regen von Sternschnuppen jagte blitzschnell über den Himmel und verschwand hinter dem Horizonte. Es waren Milliarden von Sternschnuppen, der ganze Himmel war fegendes Feuer. Ich erschrak, denn ich hatte niemals so etwas Schönes gesehen. Warte, sagte die Frau an meiner Seite — und wieder fegten Milliarden von Sternschnuppen über den Himmel. Diesmal dauerte es lange Zeit, endlos schien der goldene Regen zu sein. Endlich hörte er auf und die letzten Funken versprühten am Horizonte. Mein Herz schlug heftig, ja, es schlägt jetzt sogar bei der Erinnerung an dieses schöne Schauspiel, das schöner war, als alles was ich im Wachen und im Traum gesehen habe.“

„Es wurde wieder fahl wie zuvor und die Frau sah mich lange an. Wie gefiel es dir? sprach sie. Ich nickte, ich sagte nichts.“

„Und weiter?“ fragte Adele.

„Wir wanderten zusammen,“ fuhr Grau fort, „und es schien als wanderten wir eine endlose Zeit in der grauen Nacht, aber ich wanderte dahin und fühlte mich glücklich an der Seite der schönen Frau. Die Frau sprach sehr gütig zu mir, aber ich weiß nicht mehr, was sie sagte, doch ich erinnere mich, daß sie sehr gütig zu mir sprach. Ich habe niemals im Leben diese Güte in der Stimme einer Frau gehört, aber im Traume hörte ich sie, niemals hatte ich die sanfte Hand einer Frau auf meinem Arm gefühlt, aber im Traume, da fühlte ich es. So sanft war sie! Wir wanderten über die Heide und mein Herz war fröhlich. Wir unterhielten uns in einer fremden Sprache, aber ich hatte keine Schwierigkeiten damit, ich verstand, ich sprach —“

„So ist es im Traume.“

„Ja. Der Boden war sanft unter unsern Füßen und wir konnten unsere Schritte nicht hören — wie jetzt, da wir über die Wiesen gehen. In der Heide blühten Blumen. Es war eigentümlich, ich sah sie erst jetzt, die ganze Heide war voll davon. Sie waren klein und niedrig und hatten Traumfarben. Sie waren Tulpen ähnlich, durchsichtige mattfarbene Kelche hatten sie. Aber in jedem dieser Kelche lebte — so schien es — ein Lichtgeisterchen, die Lichtgeisterchen umschwebten die Blumen, sie saßen auf dem Blütenrande, sie wirbelten hin und her. Plötzlich sah ich die ganze Luft von solchen Geisterchen erfüllt, die auf und nieder schwebten. Sieh, sagte ich zur Frau, sieh, und ergriff den Arm der Frau und deutete in die Luft —“ Grau erzählte so eifrig, daß er die Hand auf Adeles Arm legte und in die Luft deutete, als sei sie erfüllt von Wesen, Adele sah ihn lächelnd an — „sieh doch, sagte ich, sieh doch! Sie lachte leise. Ich habe vergessen, daß du ein Mensch bist, sagte sie, ein Blinder und Unwissender. Weißt du denn nicht, daß jeder Hauch der Luft erfüllt ist von Wesen? — Wir mußten einen schmalen Bach überschreiten und ich war sehr erstaunt zu sehen, daß sich über den Wellen des Baches Tausende von Quellengeisterchen tummelten, sie schwebten hin und her in der Bewegung der Wellen und über einem kleinen Strudel kreisten sie im Reigen, sie tanzten und lachten leise. Wie merkwürdig, dachte ich, deshalb ist es so eigentümlich berückend auf das Rieseln eines Baches zu lauschen? Ich beugte mich herab und beobachtete die Geisterchen, sie sahen mich alle mit kleinen lichtgrünen Augen an. Sie kamen mir so nahe, daß ich glaubte sie fühlen zu müssen, ein Geisterchen streifte meine Wange, ein anderes saß einen Augenblick lang auf meiner Lippe.“

„Plötzlich erschrak ich. Ein hohler, tiefer Ton, der stark tremulierte, erschütterte die Luft. Ich begann zu zittern, denn der Ton klang unheimlich, er klang bald in der Ferne, bald schrecklich nahe und ich zitterte, denn ich fühlte mich allein inmitten der Nacht und inmitten einer Welt, in der ich ein Fremder war. Warum zitterst du denn? sagte die Frau an meiner Seite, aber sie sprach gütig. Oh, ihr Menschen seid solch feige zitternde Gespenster, nichts wollt ihr verlieren, nicht einmal euer Leben. Wie lächerlich erscheint ihr doch den andern Wesen.“

„Wir gingen und sprachen und die Frau an meiner Seite sagte mir, daß ich einen schwachen Kopf habe und nie denken gelernt hätte, wie alle Menschen sähe ich nur die Oberfläche der Dinge. Ihr gebärdet euch alle überaus klug und wichtig, sagte sie, und euer Gehirn ist doch so schwach, daß es bei jedem kleinen Gedanken explodiert und der Gedanke ist noch dazu falsch. Weshalb lebst du, weißt du es? — Welche Angst hatte ich doch zu antworten! Ich lebe um meine Seele zur Harmonie und Schönheit zu entfalten, sagte ich. Die Frau lächelte. Wie oberflächlich ist das doch! sagte sie. So lebe ich vielleicht, um meine Seele zur Güte, zur Liebe und Wahrheit und Gerechtigkeit zu erziehen? Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Das ist ja alles so nebensächlich, sagte sie. Nun, sagte ich, ich lebe vielleicht um mich zu wundern? — Da faßte sie meinen Arm und sagte: Verhülle dein Gesicht! Ich tat es, ich sah wie sie rasch die Hände auf das Gesicht legte und verging, als sterbe sie. Ein Hauch fuhr über die Heide und der leise Gesang der Geisterchen ringsum vereinigte sich zu einem einzigen Ton, der wie ein leises Seufzen klang. Ich versank in eine Art Schlaf und als ich erwachte, ging ich wieder neben der Frau in der grauen Nacht.“

„Ich sah keine Blumen mehr, die Heide war eine gewöhnliche Heide und ich erkannte die Kühle und den Geruch vom Anfange unserer Wanderung wieder. Es ist Zeit, daß ich gehe, sagte die Frau, der Sternschnuppenregen ist vorüber. Leben Sie wohl. — Sie sprach wie eine Fremde.

Leben Sie wohl! sagte ich und zog den Hut.

Sie sah mich an und lächelte eigentümlich, sie stand ganz nahe.

Leben Sie wohl, wiederholte sie, Sie haben mich heute nicht wiedererkannt. Leben Sie wohl.

Leben Sie wohl.

Sie gab mir die Fingerspitzen der beiden Hände und sah mich an. Leben Sie wohl, flüsterte sie, bis wir uns wiedersehen!

Leben Sie wohl.

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Sie wissen nicht, was ich denke? Nein? Leben Sie wohl. — Sie ging und wandte sich noch einmal zu mir um und bewegte die Lippen. Sie verschwand, ich weiß nicht wohin. Ich stand in der Heide und blickte ringsum. — Das ist der ganze Traum,“ schloß Grau.

Adele blickte auf den Boden und lächelte. Wie seltsam! Welch ein schöner Traum! „Vielleicht haben Sie im Traume viele wahre Dinge erblickt, die wir in Wirklichkeit nicht sehen können? Wie seltsam!“ Sie standen am Gitter des Parkes.

Nach einer Weile sagte sie: „Was hat jene Frau doch gemeint, als sie sagte: Sie wissen nicht, was ich denke?“

Grau lächelte. „Wie kann ich es wissen?“

Adele schüttelte den Kopf und öffnete das Gitter, indem sie rückwärts ging. „Sie wissen es nicht? Vielleicht wollte sie, daß Sie fragen, wer sie sei, ob sie nicht mit Ihnen gehen solle? Irgend etwas. Oder vielleicht wollte sie, daß Sie sie zum Abschied küßten?“ Adele lächelte.

„Welch ein Gedanke!“ sagt Grau erstaunt und verwirrt.

Vielleicht habe sie das gedacht, vielleicht, man wisse es ja nicht, aber eine Frau war sie ja doch! Nicht wahr? „Ich muß jetzt ebenfalls gehen, Herr Grau. Leben Sie wohl!“ Adele nickte.

Grau zog den Hut: „Leben Sie wohl, Fräulein von Hennenbach.“

Adele ging immer mehr rückwärts, an das Gitter gelehnt.

„Leben Sie wohl,“ wiederholte sie und sie sahen einander lange an.

Grau schwindelte. „Gute Nacht und Dank für den Abend!“ sagte er mechanisch.

Adele wandte sich um und blickte über die Schulter zurück. „Leben Sie wohl — bis wir uns wiedersehen!“ sagte sie und Grau sah ihre schmalen Zähne schimmern. Sie ging hinein in den dunkeln Park. — — — —

Grau sah sie gehen und ihr helles Kleid im Dunkel untertauchen. Unter der Lampe des Eingangs leuchtete es wieder auf und verschwand.

Er schloß langsam das Gitter. Es konnte doch nicht die ganze Nacht hindurch offen stehen. Er blickte auf den Weg, wo sie gegangen war und schüttelte den Kopf: Sie wußte ja nicht alles, ja, beim Himmel, sie wußte ja nicht alles!

Wußte sie denn, daß er wach lag und nur an sie dachte? In ihrem Garten stand ein blühender Apfelbaum und ihn liebte er am meisten von allen blühenden Bäumen im Lande.

Wußte sie denn das?

Er sah sich immer wieder um und sah dieses Eisengitter an. Leben Sie wohl — bis wir uns wiedersehen! Hatte sie nicht die gleichen Worte gesprochen wie jene Frau im Traum?

Es rieselte im Laube, das Rieseln ging ringsum im Walde und die Gräser flüsterten. Wie ein Schauer rann es über die Erde und dieser Schauer des Frühlings durchrieselte auch ihn. Plötzlich war alles von fahlem Lichte erfüllt und der Wald zitterte im bleichen Scheine des Mondes, der über die Höhen heraufstieg. Grau ging langsam dem Monde entgegen und das Licht durchflutete ihn wie einen Baum. Ist alles Traum, ist alles Wunder? dachte er. Ich selbst ein Traum im Traume der Welt? Etwas wie Betäubung befiel ihn, er hatte das Gefühl, als ob er an einem Abgrund stände. Plötzlich roch er die Kräuter wie in jenem Traume, derselbe Geruch war es und vor seinem innern Auge erschien jene seltsame Frau und fragte, wie damals in mildem Vorwurf: Hast du mich heute nicht wiedererkannt! Er schloß die Augen, da sah er Adeles schmales Gesicht vor sich. Eine Stimme begann in ihm zu flüstern. Sie flüsterte Worte, die er nicht verstehen wollte. Lehne deinen Kopf an meine Schulter, flüsterte sie. Küsse mich, küsse mich tausendmal.

Grau wandte sich um und blickte auf Adeles Park.

„Ich werde ja schweigen,“ sagte er laut. Aber die Stimme ihn ihm fuhr fort zu flüstern: Küsse mich, küsse mich tausendmal —

Er lauschte und lächelte. „Ja, ja!“ sagte er.

Er stand und wartete bis alle Lichter in Adeles Haus erloschen. Die Luft war feuchtwarm, duftend und so stark, daß ihm die Brust bei jedem Atemzuge weh tat. Er dachte an Adele und der Gedanke an ihre Schönheit schmerzte ihn. Das letzte Licht erlosch und er ging weiter. Erst gegen Morgen kam Grau nach Hause. Das Herz war ihm schwer von schönen Träumen. Als er sich auskleidete fiel jenes Paketchen aus seiner Tasche, das Mütterchen ihm zugesteckt hatte.

Er öffnete es. Kleine gelbe Kinderschuhe waren darin.

Fünftes Kapitel

D er Himmel wurde höher und blauer, die Wolken weißer und schwebender, im Garten schrien die jungen Stare.

Susanna lag geduldig, ohne sich zu regen, denn sie sollte Kräfte zur Reise sammeln. Ihre Augen glänzten in tiefer Schwärze. Sie wurde schöner. Ihre Wangen füllten sich, die gelbe Farbe ihres Gesichtes verschwand, sie sah blaß aus und niemals erschienen ihre Haare so schwarz und ihre Augen so groß. Sie wurde schöner, alle waren überrascht, die sie sahen.

Aber ihre Stimme verfiel. Sie konnte nicht mehr in ihrer hohen singenden Stimme sprechen. Sie sprach leise und heiser und war kaum zu verstehen.

Sie lag ruhig da und horchte auf das Gezwitscher und Pfeifen der Stare. Sie lächelte, wenn die Starenmutter geflogen kam, eine Fliege im Schnabel, und all die kleinen gelben Schnäbelchen der jungen Stare in dem runden Loch des Kobels erschienen und ein kreischendes ungeduldiges Geschrei erhoben.

„Hörst du?“ sagte sie leise und heiser. „Wie glücklich diese Vögelchen sind! Hätte ich es mir denn träumen lassen, daß ich noch einmal das Pfeifen der Stare hören werde? Ach, oft weine ich vor Freude, am Morgen, wenn das erste Zwitschern irgendwo fern zu hören ist. Ich liege hier und denke, wie herrlich, wie rührend ist es doch! Die Lerchen trillern, da ist es noch ganz grau auf den Feldern und die Stare kreischen und pfeifen. Dann färbt sich der Himmel und ich rieche das Gras und die Bäche. Und ich kann es kaum erwarten bis es licht wird und ich das Gras sehen kann. Hast du die Knospen gesehen an meinen Rosenstöcken, ja? In ein paar Wochen, da wird alles blühen. Auch der Flieder. Wie ist doch sein Duft? Wie eine süße und traurige Geschichte. Könnte ich doch noch den Flieder blühen sehen und diese Luft einatmen, die dann sein wird! Diese Luft, die so schwer von Duft ist, daß sie sich kaum bewegen kann!“

Ihre Augen leuchteten und sie lächelte.

Geduld, Geduld! süße Susanna.

Es kamen Regentage und Susanna lag still. Sie hatte die Augen halb geöffnet, aber es schien als ob sie schlafe. Sie regte sich nicht, sie sprach kein Wort, lautlos und hastig arbeitete ihre kleine schmale Brust. Sie fieberte leicht und das Fieber legte einen Schleier um ihren Geist.

Aber sobald die Sonne die Wolken zerteilte, erwachte sie, sie öffnete die Augen und ihr Geist war frei. Verdunkelte sich der Himmel wieder, so verdunkelte sich auch ihr Antlitz, ihre Augen erloschen, sie lag ohne Bewegung und ohne Wunsch.

Grau saß immerfort an ihrem Bette. In der Küche sprach Lenz, fast ohne Pause. Es war ihm ganz einerlei mit wem er sprach und wovon, wenn er nur sprechen konnte. War er allein, so sprach er mit sich selbst: Da wären wir glücklich, alter Knabe, da wären wir glücklich, um Kohlen einzunehmen und den alten Kutter frisch zu lackieren. Noch ein paar Tage und wir stechen in das hohe Meer des Lebens hinaus — prosit! Ein schwarzer Panther in einer Küche — haha — bei Hühnern — hole mich der Teufel! Er erzählte sich selbst Geschichten, schmiedete Pläne und baute Luftschlösser. Er kam selten ins Zimmer und immer nur auf einige Minuten, lachte, plauderte und streifte Susanna mit scheuen Blicken. Häufig besuchte ihn Eisenhut, der gegenwärtig einen kleinen Rückfall hatte und schrecklich trank. Neulich waren ihm schon wieder die Kinder nachgelaufen. Er wich Grau aus.

Eines Tages verlangte Susanna Eisenhut zu sprechen. Eisenhut kam aus der Küche, mit gerötetem unrasierten Gesichte, blinzelnd und in guter Laune, ein wenig unsicher in seinen Bewegungen. „Nun, wie geht es? Vorzüglich, natürlich, hähä — wie zwei Turteltäubchen, ja —“

„Nein,“ sagte Susanna leise und heiser, „es geht nicht gut.“ Sie gab sich alle Mühe zu sprechen, aber man hörte kaum was sie sagte. „Setzen Sie sich hierher ans Bett, Herr Eisenhut. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Ganz nahe, ganz nahe. So, nun sind Sie nahe. Ach, Richard, mein Freund, du sollst dich einstweilen auf den Stuhl neben mich setzen. So, nun ist es gut. Ich wollte Ihnen danken, Herr Eisenhut!“

Eisenhut ertrug ihren Blick nicht. Er blinzelte, stammelte etwas; es sei doch nicht der Rede wert.

„Nein, viel, viel haben Sie getan, Herr Eisenhut!“ sagte Susanna und faßte Eisenhuts Hand. „Viel Gutes haben Sie Mütterchen und mir erwiesen. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn Sie nicht gewesen wären?“

Eisenhut legte das Gesicht in Falten, so daß es aussah, als beginne er zu weinen, aber er lächelte. „Was habe ich denn getan? Alles in allem, nichts, gleich Null, das ist es, was ich getan habe. Also bitte recht sehr, behalten Sie den Dank für sich. Nein, lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe gedacht, dieses Mütterchen kann ich gut brauchen. Diese arme Frau hat nichts zu nagen und zu beißen und wird alles für billiges Geld tun. So habe ich gerechnet, genau so. Ich habe Mütterchen dreißig Mark gegeben und dafür sollte sie meine Mutter pflegen und ernähren. Das ist alles, was ich getan habe. Und dann habe ich zuletzt monatlich fünfunddreißig Mark gegeben. Hier haben sie alles zusammen, fertig!“

Susanna lächelte. „Aber die Wohnung? Sie vergessen ja ganz die Wohnung. Nun? Nein, Herr Eisenhut, Sie waren ja stets so gütig. Es ist wahr, Mütterchen reichte nicht immer, dann mußte sie Schulden machen, beim Krämer, beim Fleischer und beim Bäcker. Und die Schulden wuchsen und wuchsen und Mütterchen verging vor Angst. Sagte ich zu Mütterchen: Sprich doch mit Herrn Eisenhut, er ist ja so gut. Ja, er ist so gut, das ist wahr, sagte Mütterchen und nahm all ihren Mut zusammen und sprach mit Ihnen. Ja, Sie wetterten und donnerten, aber eines Tages da lagen eben doch die zwanzig Mark auf dem Küchentisch und Sie haben kein Wort weiter gesagt, so sind Sie! So unendlich viel Gutes haben Sie uns erwiesen, Sie lieber Freund — ja, so nenne ich Sie — und Mütterchen spricht so oft von Ihnen und dankt Ihnen jeden Tag. Sie spricht nichts zu Ihnen, nein, das tut sie nicht, aber ihr ganzes Herz ist voll von Dank und sie geht hinaus um die Türklinke abzureiben, wenn Sie kommen, damit Sie sich nicht die Hände staubig machen.

„Eisenhut!“ sagte die Baßstimme des Lehrers an der Küchentüre; er klopfte ungeduldig und schob den bärtigen Kopf herein. Die Gläser seien gewärmt. Alles sei bereit, um das Fest zu feiern. Eben sei ihm auch ein Gedanke wie ein Blitz durch den Hirnschädel gefahren, eine geniale Idee, die das Weltenbild total umforme —

„Sofort,“ sagte Eisenhut, „ich habe einige Worte mit Susanna zu sprechen.“

„Ja, wenn du mit Susanna sprichst, so kann ich warten, drei Tage und drei Nächte, ohne zu murren,“ sagte Lenz und zog sich zurück. Er begann einstweilen ein Lied zu brummen.

„Haben Sie mir alles gesagt, Susanna?“

Nein, es sei erst die Einleitung. „Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges. Das Allerwichtigste, das es für mich gibt, Herr Eisenhut. Sie können es nicht erraten?“

Eisenhut versank in tiefes Nachdenken und lauschte auf das Lied, das der Lehrer in der Küche brummte: Es war einmal ein König, der hatt’ einen großen Floh —

„Ich habe in meinem ganzen Leben nichts erraten können,“ antwortete Eisenhut, der mühsam seine Ungeduld verbarg.

„Es ist so schwer, es zu sagen!“ flüsterte Susanna und streichelte Eisenhuts Hand. Sie streichelte die ganze Hand und dann jeden einzelnen Finger. „Nun?“ fragte sie und blickte ihn mit feuchten, pechschwarzen Augen an.

Nein, niemals könne er es erraten.

„Wir knicken und ersticken — doch gleich, wenn einer sticht —“ brummte Lenz in der Küche. „Bravo, bravo, das war schön! — So soll es jedem Floh ergehn!“

Susanna nahm Eisenhuts Hand in beide Hände und liebkoste sie auf beiden Seiten. Es handele sich um Mütterchen. „Seien Sie gut zu Mütterchen,“ flüsterte sie.

Eisenhut nickte.

Und Susanna fuhr flüsternd fort: „Mütterchen darf es nie erfahren, daß ich Sie darum gebeten habe, und auch Sie müssen verzeihen, daß ich es tat, lieber, guter Herr Eisenhut. Aber Sie wissen ja, Mütterchen kann nicht sprechen, sie kann nicht bitten. Sie kann nur hungern, leiden und in ihre Schürze weinen. Und Sie, ach, auch Sie, Herr Eisenhut, Sie sind ja gut, aber Sie wissen gar nie, wo es einem fehlt und wie Sie ihm helfen könnten. Was soll aus Mütterchen werden, wenn Sie ihr nicht etwas helfen?“

Grau sagte leise: „Mütterchen soll es gut haben. Dafür werden wir beide sorgen. Und du, sobald es besser geht —“

Das wisse sie, das beruhige sie. „Aber nun, wenn Herrn Eisenhuts Mutter stirbt — wir setzen den Fall, wolle sie noch recht lange leben, — ja — aber wir setzen den Fall — was dann?“ Sie habe nun gedacht, Herr Eisenhut habe ja doch ihre Reise nach dem Süden bezahlen wollen — das sei ja so fraglich, ob sie reise — ob er nicht das Geld vielleicht —

In der Küche brummte der Lehrer — ha! sie pfeift auf dem letzten Loch, als hätte sie Lieb’ im Leibe. — Als hätte sie Lieb’ im Leibe, wiederholte er im tiefsten Baß.

Eisenhut versprach, Mütterchen eine Rente fürs ganze Leben auszusetzen. „Hier, er ist Zeuge, Grau, ich habe es gesagt, morgen gehen wir zum Notar.“

Susanna nickte, sie zog Eisenhuts Hand an die Lippen und küßte sie inbrünstig, wobei sie die Augen schloß.

„Ja, nun ist alles gut!“ sagte sie und nickte und lächelte. —

Die Freundinnen kamen und brachten große Sträuße von Blumen mit, süße Weine und Kuchen. Sie kamen herein, jung und frisch und duftend, mit roten Lippen und den Schein der Sonne in den Augen. Sie lächelten, sprachen mit gedämpfter Stimme, aber sobald sie ein paar Minuten da waren, sprachen sie laut und lachten und erzählten wie schön es heute sei, Spaziergänge, Tennis, Radpartien, eine Leiterwagenpartie sollte gemacht werden —

„Ja?“ Susanna lachte und hustete. „Viel Vergnügen,“ sagte sie und lachte wieder und hustete mehr. „Recht viel Vergnügen!“

„Oh, ich liebe euch, viel Vergnügen, ja!“

Adele und Grau sahen einander an und sie erröteten beide.

„Komme zu mir, Adele,“ sagte Susanna. „Laß mich dein Kleid befühlen. Wie fein ist der Stoff, so zart und dünn. Laß mich deine Haut befühlen. Wie fein ist deine Hand, Adele. Aber wenn ich in deine Hand blicke — siehst du, Adele, warum ist Unfriede in deiner Hand? Ich blicke in Richards Hand. So viel Friede ist darin. Nun, was bedeutet es schließlich und was schadet es? Nicht wahr? Großer Unfriede, das ist das Leben und großer Friede, das ist das Leben. Aber was dazwischen liegt, das ist nicht des Lebens wert. Aber vielleicht — wer weiß es denn! — vielleicht ist es auch schön, im Grase zu liegen, zufrieden zu sein und nur eine Kuh zu sein, etwa. Oder es ist auch schön, in einem Gefängnis zu sitzen und zu leben. Nur zu leben. Oh, wie du duftest! Oh, wie du duftest! Es ist die Luft, es ist der Frühling und so jung bist du, das ist es auch!“

„Liebe Freundinnen, meine lieben Freundinnen, ihr guten Herzen! Wißt ihr was schön ist? Es ist schön euch anzusehen. Es wäre schön, mit euch Arm in Arm zu gehen. Nun kommt der Sommer, dann der Herbst, und sie singen in den Weinbergen, dann kommt der Winter und sie spielen in hellen Zimmern und tanzen, dann kommt wieder der Frühling, der Sommer, der Herbst, der Winter, der Frühling wieder, und wieder singen sie in den Weinbergen: Und ihr werdet leben! Euer Leben wird schön sein, deines Maria und deines Klara und deines Adele! Ach, Adele, wenn ich dich so ansehe, dir wird es ja nicht so leicht werden, ich fühle es, aber euch allen wird es ja nicht so leicht werden, vielleicht wird euch einmal ein Kind sterben und ihr werdet euch in Schwarz kleiden und man wird nichts von euerm Kopfe sehen als schwarze Schleier. Schmerzen werdet ihr haben, ja, aber auch das ist ja das Leben, nicht? Nur wenn nichts geschieht, auch kein Schmerz mehr — das ist der Tod. Ja, euer Leben wird schön sein und ich wünsche es so. Und wenn ich es verhindern kann, daß euer Kindchen stirbt — wenn ich da etwas vermag — nichts soll mir zuviel sein — oh, ihr Guten — so schön wird es sein, wenn ein Mann euch liebt — ich weiß es ja wohl und auch Adele weiß es — seht, sie wird rot, seht es, nein sei nicht böse. Adele — schön wird es sein, all die Geheimnisse, wie schön — und euere Kinder! Denn sicher werdet ihr Kinder haben, werdet sie waschen, baden, küssen, werdet sie kleiden und schlafen legen, all das. Es wird regnen und das wird euch gefallen, die Sonne wird scheinen und ihr werdet froh sein im Herzen. Ihr werdet fortgehen, hinaus und viele neue Menschen sehen und neue Länder, Blumen und Sitten, Tiere. Ich hätte so gerne einmal einen Löwen gesehen, hatte nie Gelegenheit, einen Löwen! Alles werdet ihr sehen. Da wird ein großer, heller Saal sein und alle kommen in Festtagskleidern, auch ihr seid dabei. Ich wünsche es. Konzerte werdet ihr hören und Theaterstücke werdet ihr sehen, Bücher werdet ihr lesen, schöne und kluge Bücher — ja, möge es so sein, möge es so sein. Es geschehen so viele herrliche Dinge in der Welt, heldenhafte und poetische Dinge, ihr werdet davon hören. Ich wünsche es! Ich wünsche es! Möge es so sein!“

„Nun Susanna, bald wirst du reisen und ebenfalls viel Schönes erleben.“

Susanna lächelte und sah mit eigentümlichen Augen auf die Freundinnen.

„Ja,“ sagte sie, „wie recht sie doch hat! Bald werde ich reisen, aber ich weiß nicht wohin. Du nimmst ein Billet nach Genf, du setzt dich in den Zug und steigst aus und bist in Genf. Aber ich werde nicht wissen, wo ich aussteige.“

Niemand wagte zu sprechen, so eigentümlich klang das, was Susanna sagte.

„Drum adieu!“ fuhr Susanna fort und im Augenblick hatte sie sich im Bette aufgerichtet. „Drum adieu, adieu!“

Sie winkte mit beiden Händen den Freundinnen zu, die Hände bewegten sich matt in den Gelenken.

„Drum adieu, adieu!“ sagte Susanna und lächelte und ihre Stimme klang, als sänge sie. „Drum adieu, adieu?“ wiederholte sie und winkte hinaus zum Fenster und hinauf zum blauen Himmel.

„Sagt allen Leuten, die ich kenne, adieu!“

Klara und Maria hatten Tränen in den Augen, Adele zog die Brauen zusammen und lächelte voller Pein.

„Aber Susanna —“ begann Klara.

Susanna lächelte und winkte mit der Hand ab.

„Ich weiß es nun,“ sagte sie und lächelte, „ich weiß es nun ganz bestimmt. Mit der Reise nach dem Süden ist es nichts, ich habe auch nie recht daran geglaubt, es ist zu spät. Seit heute nacht weiß ich es. Ja, da erwachte ich und siehe da, wie schön waren doch die Sterne! Wie schön und ich mußte weinen, denn ich sah drei Sterne, die mir besonders gefielen, weil sie so friedlich zusammen da droben wandelten. Ich öffnete das Fenster und sah ein Kind im Garten stehen. Wie kommt das Kind hierher? dachte ich und wunderte mich nur, denn vor Kindern fürchtet man sich ja nie. Das Kind hatte lange Beine, dünne hübsche Beine, es war ein Mädchen von acht, neun Jahren. Das Kind hatte gekräuseltes Haar, lauter winzige Löckchen, silberblond. Es stand bei dem Rosenstock dort und hauchte auf die Knospen. Ich sah ihm zu und dachte, was tut es? Ich sog die Luft ein, da roch ich Erde, Tau, Pfefferminzkraut und den Flieder. Denkt euch, ich roch ihn so deutlich und freute mich so sehr, bald wird er blühen. Nun, das Kind stand und hauchte auf die Rosenknospe, auf die oberste des Stockes in der Ecke, dann kam es auf mich zu und ich sah, daß es wirklich silberblonde Löckchen hatte. Es sah mich an mit hellen Augen, lächelte und grüßte mich, indem es den Kopf neigte, so langsam und stolz wie ein Mädchen von acht Jahren es tut. Dann verschwand es und ich blickte hinauf zu den drei Sternen. Heute morgen sagte mir Mütterchen, daß eine Rose aufgeblüht sei. Ja, sagte ich, ohne hinzusehen, die oberste Rose des Stocks in der Ecke. Ja, sagte Mütterchen und sie wunderte sich gar nicht, woher ich es wußte.“

Susanna schwieg und lächelte.

„Wie sonderbar der Traum ist!“ sagte Maria zu Adele.

Susanna schüttelte den Kopf. „Es ist ja gar kein Traum, es ist ja Wirklichkeit,“ sagte sie, sonst nichts.

„Wir müssen jetzt gehen.“

„Adieu, adieu! lebt wohl, alles Herrliche wünsche ich euch, ihr lieben Menschen. Ja, so viel Glück sollt ihr haben! Und vergebt mir, wenn ich ungerecht und launisch war und gelogen habe. Vergib besonders du mir, Adele!“

„Ach, Susanna —“

„Doch, doch, ich beneidete euch, besonders Adele beneidete ich, weil sie reich und vornehm und schön ist. Ich wünschte in meinem Herzen, es möge euch recht schlecht gehen, eine Woche nur, einen Tag nur, damit ihr fühlt wie es ist. Oft, oft! Aber nun wünsche ich euch ja Glück! Hört ihr es denn nicht?“

Sie sah Adele tief an. „Du bist mir so fremd!“ sagte sie zögernd. „Und erst seit einigen Tagen verstehe ich dich besser, ich fühle es, du bist nicht glücklich. Du bist zu stolz, um glücklich zu sein. Dein Leben freut dich nicht, nein. Du gehst wie betäubt und mit geschlossenen Augen deiner Zukunft entgegen. Glück, Glück sollst du haben! Ich danke dir, daß du nicht zu stolz warst, zu mir armem kranken Mädchen zu kommen. Glück! Glück!“

Adele küßte Susannas Hände.

„O, wie gut du bist!“ seufzte Susanna. „Ja, denkt alle nicht mehr an das Böse, das ich euch zufügte.“

Niemals habe sie ihnen Böses zugefügt.

„In Gedanken! In Gedanken fügen wir einander ja alle Böses zu. Und auch ich tat es. Gerade in den letzten Tagen habe ich einen bösen Gedanken gehabt. Ich habe gedacht, ja, auch sie werden einmal sterben müssen, auch sie. Nun sind sie jung und schön, aber einmal wird es auch an sie kommen. Das habe ich gedacht und es tat so gut das zu denken. Ich freute mich darüber — haha — ich habe gelacht dabei — auch sie, auch sie, alle, alle, alle werden sterben müssen! Vergebt mir! Lebt wohl, Lebt wohl!“

Die Freundinnen küßten ihr die Hand, Maria weinte in das Taschentuch.

„Wie lieb sie mich haben, die guten Geschöpfe, sieh nur!“ sagte Susanna zu Mütterchen, die mit einem Glase aus der Küche kam. Und sie drückte die Fingerspitzen in die Wangen und ihre Augen wurden noch größer und strahlender.

„Da gehen sie dahin!“ sagte sie und blickte den Freundinnen nach, die in hellen Kleidern durch die sonnige Wiese gingen.

„Lebt wohl!“

Sechstes Kapitel

L ebe wohl, mein Geliebter!

Lebe wohl, Mütterchen, kleines, hilfloses Mütterchen, lebe wohl! Die Blätter, die Halme, die Blumen, lebet wohl. Lebe wohl, Himmelsblau, ihr Wolken am Himmel, lebet wohl!

Susanna lag in den Kissen und ihre Augen wanderten hin und her, sie konnte nicht mehr sprechen, ihre Stimme war erloschen, aber ihre Augen sprachen.

So sommerlich still war es. Mütterchen schlich herum und selbst Lenz dämpfte die Stimme. Die Vögel zwitscherten und in der Ferne schlug ein Fink, immerzu, vom Morgen bis zum Abend. Nachts herrschte tiefes Schweigen, oft war es als schüttele sich ein Busch im Garten oder als zittere eine Wand, das war alles. Die Güterzüge schleppten sich in der Ferne vorbei und ein hohles dumpfes Echo rollte lange im Tal.

Grau saß am Bette. Er sah krank und übernächtig aus, in den letzten Wochen hatte er nicht mehr regelmäßig geschlafen. Seine Wangen waren hohl und sein Blick fieberte wie Susannas Augen, aber seine Lippen waren rot.

Susanna konnte nicht mehr sprechen, aber wenn man das Ohr an ihren Mund hielt, verstand man mühsam, was sie sagte. Sie hatte nur selten etwas zu sagen.

Sie sagte: „Heute nacht habe ich geträumt, ich ging im Walde, wie herrlich dunkel war es da! Grüne Dämmerung! Und alle Bäume waren so alt und standen regungslos da. Ich mußte denken, wie regungslos sie dastehen und ich fühlte, wie ich selbst steif wurde und anwurzelte am Boden wie ein Baum. Ich konnte kaum mehr atmen. Es war schön!“

Das war alles was sie an einem Tage sagte.

Sie sagte: „Wenn ich auf der Bank auf der Höhe saß und von dem Großen und Seltenen träumte, das kommen sollte, so dachte ich, es wird wohl ein Mann sein, der dich liebt. Wie du das erraten hast? Du sagtest: Haben Sie nicht auch von Liebe geträumt? Aber wie hätte ich denn das sagen können! Nicht? Und ich habe gedacht, er wird sagen, daß meine Hände schön sind — denn sie sind ja schön, nicht wahr? Du hast es gesagt und zu Adele sagtest du, ich habe Hände wie eine Japanerin. Das hat mich so glücklich gemacht!“ Sie lächelte, aber es schien, als ob ein allzu großer Schmerz sie überwältige, denn ihre Lippen zuckten und ihre Schläfen begannen zu zittern. Sie fuhr fort: „Denn was ein Mensch Schönes an sich hat, das möchte er entdeckt und bewundert haben von dem, den er liebt, und selbst das, was nicht schön und gut an ihm ist, das möchte er doch ein wenig schön und gut gefunden haben. Ist es nicht so? Das würde ihn glücklich machen. Und gewiß, er würde sich Mühe geben, daß es schön und gut werde. Wie wunderlich ist doch der Mensch! Je mehr ich über des Menschen Herz nachdenke, desto wunderlicher erscheint es mir. Wer könnte es je verstehen? Es ist wie ein Zauber, wenn man es betrachtet, verändert es sich und betrachtet man es nun, so hat es sich schon wieder verändert. Es lebt in uns wie ein fremder Gast in einem Hause, den man nie zu sehen bekommt.“

Sie lag still und lauschte. „Vater spricht!“ sagte sie mit den Lippen ohne Laut.

„So empfindlich bist du geworden, Eisenhut!“ sagte Lenz mit gedämpftem Baß in der Küche draußen. „Wie du aussiehst! Wie ein Fex. Er kann nicht in Heuschobern und im Walde schlafen, hast du es gehört, kleines Mütterchen — haha! Wie eine Prinzessin ist er. Aber wir können ja auch in Gasthäusern schlafen, in seidenen Betten. Trinke, sage ich dir, trinke. Ob du trinkst oder nicht, das hindert ja nichts an der Welt, die Welt bewegt sich so und so — aber wenn du trinkst, hast du vielleicht einen guten Einfall, einen Gedanken, der dich erleuchtet, deshalb trinke. Morgen lichten wir die Anker, Eisenhut, mitzunehmen brauchst du nichts, nur kein Gepäck schleppen. Heute da, morgen dort. So ist es angenehm zu leben. Die Menschen sind schön für einen Tag, zwei Tage, deshalb immerzu vorwärts, am dritten Tage werden sie ja doch schon häßlich. Habe ich etwa den Bürgermeisterposten angenommen, obgleich sie eine Deputation in die Scheune schickten, wo ich schlief, wie? Nicht um eine Million Jahresgehalt, mein Freund!“

„Hähä — für tausend Mark, für fünfhundert, für zweihundert,“ sagte Eisenhut kichernd.

„Nicht für eine Milliarde!“ entgegnete Lenz und schlug auf den Tisch.

„Pst, pst —“ sagte Mütterchen.

„Piepse ich nicht wie eine Maus? Nun — die Gegend war ja schön — Wein, Obst, schöne Mädchen — aber nicht für eine Milliarde —“

Susanna begann am ganzen Körper zu zittern und ihre Augen füllten sich mit Angst.

„Sieh mich an,“ sagte Grau und sie wandte ihm den Blick zu.

Grau lächelte. „Du hast recht, Susanna, wunderlich ist des Menschen Herz, ich will dir eine Geschichte erzählen — laß mich nur besinnen auf den Anfang und sieh mich nur an, es ist schön in deine tiefen schwarzen Augen zu sehen, süße Susanna, und zu plaudern — ja, eine Geschichte von einer alten Frau, ein Mann hat sie mir erzählt, der viel auf Reisen war. Aber sieh mich doch an und gib mir auch die Hand, so — es ist die Geschichte von einer Frau, einer Mutter von zweiundzwanzig Kindern. Haha, du lächelst, Susanna! Es ist aber so. Eine Frau in Persien, ich weiß nicht wo. Der Mann, der mir die Geschichte erzählte, wohnte bei dieser Frau, da sie siebzig Jahre alt war, er kannte die Schicksale von all den zweiundzwanzig Kindern. Es waren recht wunderliche und romanhafte Schicksale, das muß man sagen; und der Mann kannte sie alle, denn diese alte Frau sprach immerzu, vom Morgen bis zum Abend von ihren zweiundzwanzig Kindern. Am meisten aber sprach die Frau von ihrem Sohne — wie hieß er doch — Haffis, es ist ja nebensächlich, also Haffis — denn Haffis war ihr Lieblingssohn. Sie erzählte von Haffis und es war anzuhören wie ein Gesang. Was für ein Knabe dieser Haffis doch war! — Wie schön, wie stark, wie kräftig und kühn er doch war! Doch all das, diese Schönheit, Kühnheit, Stärke des Knaben, wer hätte annehmen können, daß sich das verhundertfachen würde als der Knabe zum Jüngling heranwuchs? Seine Mutter, jene siebzigjährige Greisin, sprach mit Feuer in den Augen von ihm, sie sprach von ihm wie von einem Gott, der auf die Erde herabgestiegen war. Man konnte mit einem schnellen Pferde drei Menschenleben lang in der Welt herumreiten, ohne wieder solch einen Jüngling wie Haffis zu finden. So schön, so stark, so kühn! Sie, die Mutter, hörte es mit eigenen Ohren, wie die Mädchen, die aus den Dörfern ringsum herbei kamen, vor dem Fenster Haffis wehklagten und seufzten vor unsinniger Liebe.“

„Es gab nur einen Haffis! Wie er ging, wie er zu Pferde saß!“

„Nun, wie ging er denn?“ fragte der Fremde, dem die Greisin von ihrem Sohne vorschwärmte, „ging er so, ging er so?“ Und der Fremde ging so stolz und herrisch wie nur möglich.

„Aber die Mutter lachte und schüttelte den weißen Kopf.“

„Niemals wirst du es fertig bringen zu gehen wie Haffis ging. Haffis ging wie der Hengst des Scheichs.“

„Nun, er, der Fremde, versuchte zu gehen wie der Hengst des Scheichs, aber es war doch nicht das richtige. Die Mutter lachte ganz einfach. Dem Hengst fehlen ja Nacken und Mähne! Niemals konnte der Fremde so gehen wie Haffis ging, das war ja selbstverständlich.“

„Es ist ganz natürlich, daß sich das Leben eines solchen Jünglings besonders glänzend gestaltete, nicht wahr? Haffis Leben gestaltete sich ganz wunderbar. Nämlich, das Auge des Scheichs fiel auf Haffis und er nahm ihn an den Hof. Haffis schlug Schlachten und warf die Feinde nieder. In der Heimat aber weinten sich die Mädchen die Augen blind und viele — das ist Tatsache, Susanna — viele sind aus Kummer und Sehnsucht gestorben. Die Mutter hörte in Gesängen die Taten des Sohnes preisen. Einmal sprengte ein Bote vor ihre Hütte, brachte Grüße und Geschenke und jagte wieder von dannen. Er durfte ja keine Minute versäumen, wenn er nicht seinen Kopf verlieren wollte. Am vierten Vollmond zieht dein Sohn hier vorbei, sagte der Bote, und am vierten Vollmond zog Haffis, der Gefürchtete, der Herrliche, der Göttliche, vorüber. Endlos war die Zahl seiner Kamele und Pferde und Frauen und Diener und seiner Lasten von Seide und Gold und Geschmeide. Das kann ich ja gar nicht schildern, Susanna, kein Mensch kann es, du mußt dir das selbst ausmalen. Der Zug reichte gerade von dem Punkte, wo die Sonne aus der Steppe steigt, bis zu dem Punkte, wo die Sonne in die Erde sinkt. An der Spitze ritt Haffis in Seide und Edelsteinen, er funkelte wie die Sonne. Haffis war ein dankbarer Sohn. Er sprang vom Pferde, küßte den Boden vor den Füßen der Mutter und sprang wieder in den Sattel und schon war er verschwunden.“

„Die greise Mutter konnte tagelang erzählen von der Pracht der Tiere und Geschmeide und Waffen, von der Schönheit der Frauen, die sich auf den Kamelen schaukelten. Sie berauschte sich noch in der Erinnerung an dem Anblick der Karawane.“

„Nun sollte man glauben, daß das genug sei? Aber nein. Haffis wuchs und wuchs und der Scheich gab ihm zuletzt die Tochter zur Frau. Sänger zogen umher und feierten ihn in Liedern. Er würde Scheich werden.“

„Wochen und Monate hindurch hat die Mutter dem Fremden von Haffis erzählt und die Zahl seiner Frauen und Diener wuchs ins Unglaubliche.“

„Aber nun ist die Geschichte bald zu Ende. Denn die alte Mutter sollte sterben.“

„Sie lag da und der Fremde wußte, daß es für sie keine Rettung mehr gab. Wie merkwürdig aber war es doch: Die alte Mutter, die sterbende alte Mutter, sie sprach mit keiner Silbe mehr von all den andern einundzwanzig Kindern — wieder lächelst du, Susanna! — sie sprach nur noch von Haffis, dem Lieblingssohne, seiner Schönheit, seiner Kraft, seinem Reichtum und seinem Ruhme. Wieder und wieder!“

„Dann kam der Tod und machte die Mutter fahl. Aber sie hatte noch etwas zu sagen, bevor sie starb. Der Fremde beugte das Ohr herab und sie flüsterte: Haffis war acht Jahre alt, da ertrank er im Fluß. — Und sie verfluchte den Fluß und starb.“

„So wunderlich ist des Menschen Herz, Susanna!“

Susanna lag still und blickte auf ein Stückchen Sonne, das auf dem Fensterbrett lag. Die jungen Stare schrien und sie erschrak. Wieder begann sie am ganzen Körper zu zittern und die Angst erfüllte wiederum ihre Augen.

Grau lächelte und nahm ihre Hand. „Willst du mich nicht anblicken, Susanna? Nun geht die Sonne unter und deine Augen bekommen einen kupfernen Glanz. Ja, wie wunderlich ist des Menschen Herz, Susanna. Unerklärlich tief und wundersam ist es in uns verborgen. Schlummern nicht unendliche Schönheiten darin? Träume, Gefühle, Liebe, Ergriffenheit, Schauer, deren Ursache wir nicht kennen, Ahnungen, deren Ziel uns unbekannt ist? Zuweilen ist das Menschenherz wie eine Orgel, es braust und singt in uns, zuweilen wie ein Dichter, es dichtet in uns, zuweilen wie ein erzürnter gütiger Prediger, es ruft, ruft. So tief und wundervoll ist es. — Nun will ich dir die Geschichte von einem Trinker erzählen, er trank schrecklich und machte alle unglücklich, seine Familie, aber was für ein Herz hatte er doch! Du sollst es hören!“

Eisenhut klopfte draußen auf den Tisch und fand irgend etwas ganz unmöglich, unfaßbar und unbegreiflich!

„Wir schneiden mit dieser Maschine deine Steine wie Butter!“ sagte Lenz und lachte. „Wie Butter! Ich habe diese Maschine extra für dich erfunden, Eisenhut. Ja, es war mir eine Freude, sie für dich zu erfinden. Ich tue das gern. Der Frau eines Gärtners — eines Freundes von mir, ich habe Freunde in allen Berufsklassen — habe ich einen Kinderwagen erfunden, der eine Gummibadewanne enthält — Kinderwagen, Badewanne, fahrbare Badewanne in einem Stück also. Ich liebe das und bin auch meinen Freunden gerne nützlich. Für dich habe ich diese Maschine erfunden, Eisenhut, wir stecken die Hände in die Hosentaschen und unsere Maschine arbeitet. Deine Arbeiter können Karten spielen oder sich die Schädel einschlagen zur Unterhaltung —“

„Ja, zum Teufel — eine Maschine — wer sollte das verstehen — unbegreiflich ist das!“ Eisenhut meckerte belustigt.

„Verstehen. Gut. Hier. Das ist eine eiserne Brücke. Hier hast du eine Kreissäge — Hebel auf! — Der Dampf fährt hinein und die Kreissäge — vier Meter Durchmesser — schneidet den Stein. Die Brücke steigt in die Höhe, sie schneidet Streifen, wir stellen die Kreissäge wagerecht — auf diese Weise schneiden wir deine zwölf Steinbrüche wie Butter — wie Butter —“

„Ausgezeichnet — unglaublich, aber ausgezeichnet!“

Eisenhut meckerte und Lenz lachte entzückt über seine Maschine.

„Wie schön!“ sagte Susanna, als Grau die Geschichte von dem Trinker erzählt hatte.

Sie lächelte und drückte Grau die Hand.

„Beuge dein Ohr — so — sage mir und verzeihe die Frage, ich weiß ja nicht, ob ich alles fragen darf?“

„Alles, alles, Susanna!“

„Wirklich alles, alles?“

„Ja!“

Susanna blickte Grau lange an. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich sage es nicht — doch ich frage es — ich frage nur — du sollst nicht antworten, hörst du! Würdest du mir versprechen — du sollst es ja nicht tun — ich frage bloß — würdest du mir versprechen, kein Mädchen nach mir zu küssen? Würdest du? Ich frage bloß, du versprichst ja nichts.“

„Ich würde es dir versprechen, Susanna, meine Freundin!“

„Wenn ich — es nun sagte?“

„Sage es, meine Geliebte!“

„Willst du mir versprechen — nein, nein, nein, laß es mich nicht sagen — nein, es macht mich glücklich, zu denken — nein. Vielleicht werde ich es ja doch tun? Aber nein, nicht dies. Ich wollte ja gar nicht dies fragen. Ich darf doch fragen was ich will, du hast es gesagt. Hast du?“

„Ja, Susanna!“

„So sage mir — wieviele Mädchen hast du schon geküßt? Nun?“

Grau lächelte.

Susanna lächelte und küßte flüchtig seine Hand. „Auf den Mund, wieviele? Fünf, sechs?“

Grau schüttelte den Kopf. Mehr? „Nein,“ sagte Grau lächelnd.

„Dann waren es wohl vier? Nicht? Dann waren es wohl drei? Ist auch das noch zuviel?“

Grau lächelte und Susanna wartete lange.

„Zwei?“

Grau schüttelte den Kopf.

„Eine!“

„Du hättest nicht fragen sollen,“ sagte Grau.

„Außer mir noch eine?“

Grau schüttelte den Kopf. Er errötete. „Warum hast du doch gefragt? Ich habe ja nie Gelegenheit gehabt, ein Mädchen näher kennen zu lernen. Ich sage ja nicht, daß ich nicht gewünscht habe, das oder jenes Mädchen zu küssen. Aber ich bin ihnen ja nicht näher gekommen — warum hast du doch nur gefragt!“ Susanna blickte ihn mit strahlenden und erstaunten Augen an. Ihr Blick veränderte sich seitdem nicht mehr, so oft sie ihn ansah. Häufiger als sonst zog sie Graus Hand an die Lippen.

Und plötzlich richtete sich Susanna auf und sagte: „Ich liebe dich. Du bist mein, bist du?“

„Ja,“ antwortete Grau.

Susanna hustete ein wenig, sie errötete und ihre Augen flammten.

„So versprich mir, zu keiner Frau mehr von Liebe zu reden!“

Grau zögerte nicht. Er versprach.

„Oh, oh!“ rief Susanna aus und warf sich in die Kissen und weinte.

Grau verstand sie nicht.

Lenz und Eisenhut lachten draußen in der Küche.

Mütterchen kam ins Zimmer und sagte: „Höre, wie sie lachen! Nun will er Klatschbase schlachten, für heute abend!“

Lenz wurde in den nächsten Tagen schweigsam. Er streckte sich, trieb sich herum, er blickte den ziehenden Wolken nach. Er reiste ab. Mütterchen hatte ihm den Rock zurecht geflickt und ein kleines Ränzchen gepackt.

„Nun denn, adieu!“ sagte Lenz laut und fröhlich zu Susanna. „Adieu, meine prächtige Susanna, meine Freunde erwarten mich! Ich bin diesmal lange dageblieben. Adieu und sieh, daß du bald ganz gesund wirst, mein schönes, herrliches Mädchen!“

Er ging. Mütterchen weinte den ganzen Tag. —

Grau hatte eine Unterredung mit Adele. Sie saß in der Laube an der Mauer und stickte. Sie sprachen von Susanna. Ja, es gehe zu Ende jetzt.

Adele sagte: „Ich gehe zuweilen des Abends oben auf der Höhe, die Abende sind so schön.“

„Ja,“ sagte Grau.

„Sie sind ja gegenwärtig so sehr in Anspruch genommen, nicht wahr. Aber ich würde gerne wieder mit Ihnen sprechen. Heute abend?“

Sie gingen zusammen auf der Höhe, bis der Mond aufging. Sie sprachen fast nichts. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Aber als sie sich trennten, sahen sie einander in die Augen.

Plötzlich fiel Grau das Versprechen ein, das er Susanna gegeben hatte, und er erbleichte so sehr, daß Adele es gewahrte.

„Weshalb sind Sie plötzlich so bleich geworden?“ fragte sie.

„Es ist nichts. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Grau.“ —

Am andern Tage starb Susanna.

Siebentes Kapitel

G rau schlief, da kam ein kleines Mädchen zu ihm ins Zimmer, es blieb an der Türe stehen und winkte schüchtern mit dem Zeigefinger. Aber er regte sich nicht, er war todmüde. Das Mädchen hatte hohe, schlanke Beine und einen silberblonden Lockenkopf. Es näherte sich und berührte mit geheimnisvoller wichtiger Gebärde seinen Arm: Grau erwachte.

Seine Brust war beklommen, er vermochte kaum zu atmen und konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Im Zimmer war es dunkel, aber durch den Spalt der Fensterladen konnte er hinaus in den Mittag blicken. Alles schlief in der roten Sonne, kein Zweig schwankte. Der Garten sah verändert aus und auch er schien ein Geheimnis zu wissen. Graus Beklommenheit wuchs zur Angst. Susanna! dachte er und verließ rasch das Haus.

Er ging so rasch, daß die Leute ihm erstaunt nachblickten. Die Kinder spielten vor den Häusern, sie schrien und lachten und eilten auf Grau zu. Aber er hatte heute keine Zeit. Er lächelte und winkte ihnen ab. Nun liefen sie rasch neben ihm her, tanzten vor seinen Füßen, lachten; es wurden ihrer immer mehr. Überall öffnete man die Fenster, um zu sehen, was es eigentlich gäbe. Aus allen Häusern kamen die Kinder heraus und aus allen Gassen.

Grau ging sehr schnell, aber die Kinder tanzten um ihn herum, es war ihnen ein leichtes zu tanzen und doch mit zu kommen. Sie schrien ihm zu, was sie spielten, was sie gegessen hatten, wohin sie gehen wollten und eine Menge Neuigkeiten.

Erst beim Tore blieben sie zurück und nur einzelne folgten ihm noch. Grau beschleunigte den Schritt noch mehr, der Schweiß stand ihm auf der Stirne. So oft ihn der Gedanke durchfuhr, daß er Susanna nicht mehr lebend anträfe, lief er ein Stück des Weges.

Von der Brücke aus sah man Susannas Haus in der Sonne liegen. Je weiter der Sommer fortschritt, desto tiefer schien das Häuschen in die Wiese zu sinken. Es war von Sonnendunst eingehüllt. Wer aber war das, der im Garten stand und mit einem leuchtenden Tuche winkte? Grau erschrak. Es war Susanna, so unmöglich es ihm auch schien.

Sie stand im Garten, weiß gekleidet, Eisenhut war bei ihr und Mütterchen mit der Brille lehnte am Pfosten der Türe. Susanna winkte und öffnete das Gartentürchen.

„Nun?“ rief sie mit hoher, feiner Stimme. „Was sagst du dazu? Ich habe so sehr gewünscht, daß du kämest, und nun bist du da!“

Sie war klein und niemals hätte er sich denken können, daß sie so klein war. Ihre schmalen Wangen waren von einer gleichmäßigen Fieberröte überzogen und ihre großen Augen leuchteten gespenstisch.

Eisenhut lachte. „Ich hätte gestern keinen Pfennig mehr für sie gegeben!“ rief er. „Sie sah aus als ob man sie sofort in den Sarg legen könnte, heute steht sie auf, zieht das weiße Kleid an und geht herum. So verrückt, wie?“

„Ich kann auch wieder sprechen!“ sagte Susanna und atmete tief. „Ich habe die ganze Nacht hindurch geschlafen und in meiner Brust ist etwas vor sich gegangen. So leicht und frei. Wie ich atmen kann, so tief! Oh, wie schön ist es doch zu gehen. Ich bin so müde in den Knien und das ist so schön!“

Grau drückte sie an die Brust. „Ja,“ hauchte er. Er fand keine Worte.

Susanna ging langsam in ihrem Gärtchen umher, besah die Rosen, den Mohn, die Nelken, die Halme und liebkoste die Blätter. Sie legte die Hände in das Gras und sagte, wie kühl doch das Gras sei. Wärme und Duft standen wie eine Mauer im Garten. Sie ging zu dem kleinen Fliederbusch, steckte das Gesicht hinein und ließ sich die Wangen von den Blütentrauben liebkosen.

Am Himmel türmten sich mächtige Wolken gleich phantastischen Ballen von feuerfarbener Seide, die an der Oberfläche rote Glut versengt hatte. Der Wind erwachte.

„Sieh, wie der Wind läuft!“ rief Susanna und deutete über die Felder. „Wie hurtig!“

Man sah ihn laufen. Er kam über den Hügel herab, strich über die Felder, wühlte sich ins Korn und schmiegte sich auf den Wiesen ins Gras wie ein Hund. Er kam rasch näher, die Blätter eines Haselstrauches begrüßten ihn, die Blumen am Wege verneigten sich: Er war da, warm, duftend, schwül und Susanna hustete als er zu ihr kam und ihr goldenes Brusttuch in die Höhe hob, gleichsam um zu fühlen, wie fein es war. Einen Augenblick und schon war er verschwunden.

Dann kam er von neuem über die Wiesen.

„Sieh doch, wie rasch er läuft! Vielleicht kommt ein Gewitter.“

Ein Zitronenfalter segelte über die Wiese und Susanna ließ ihn nicht aus den Augen, fieberhaft rückte sie den Blick hin und her. „Pst?“ sagte sie. „Sicherlich wird er den Flieder riechen und hierher kommen. Locke, locke!“ sagte sie zum Fliederbusch mit beschwörenden Blicken. Der Zitronenfalter gaukelte zuerst um eine Kleeblüte, dann kam er in den Garten herein und Susanna, ganz atemlos, streckte behutsam die Hand aus. Sie zitterte am ganzen Körper vor Erregung. Ihre Lippen zitterten, ihre Blicke sogar. Es war, als wolle sie die Natur fragen, ob sie ihre Liebe erwidere. Da setzte sich der Falter auf ihren Finger.

Ohne Regung stand Susanna und blickte lächelnd auf den Schmetterling, der seinen Rüssel auf ihren Finger setzte und mit den gelben Flügeln wippte. Sie streifte Grau mit einem triumphierenden Blick.

„Er sieht mich an!“ sagte sie leise. Der Falter flatterte in die Höhe und flog über das Dach, Susanna sah ihm nach bis er verschwand. Dann atmete sie tief auf.

„Das war schön!“ sagte sie leise. „Das war schön!“ Sie blickte mit einem langen Blick in die Weite. Die phantastischen Ballen feuerfarbener Seide wurden dunkel und da wo die Glut sie versengt hatte flatterten aschgraue unheimliche Schleier. Susanna lächelte und seufzte und ging ganz von selbst hinein ins Haus.

Mütterchen war verwirrt vor Freude. Ja, nun könne Susanna wieder aufstehen, oh, du guter Gott!

Grau sagte: „Es ist kein gutes Zeichen, Mütterchen!“ und legte ihr die Hand auf den Scheitel und sah sie an. Mütterchen erblaßte und zitterte.

Grau gab Eisenhut ein Zeichen mit den Augen und ging hinein zu Susanna.

Susanna lag mit geschlossenen Augen. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie schlug sofort die schwarzen Augen auf, in denen der Glanz verglühte. Sie lächelte müde. „Ach, so müde, so köstlich müde, aber meine Brust ist so leicht und frei. Das ist der Frühling, ja. Du hast es gesagt. Du und der Frühling, ihr zwei habt mich gesund gemacht. Wende deinen Kopf und sieh ins Licht! Ja, sie sind golden, deine Augen sind golden! Bald werde ich in den Wald gehen können. Ich höre Gesang, Lieder höre ich, wie ist das doch?“ Ihre Stimme klang fein und ferne; die Kräfte erloschen rasch.

„Wir werden zusammen in den Wald gehen, Susanna, du und ich!“ sagte Grau. Er sprach nun unausgesetzt. Davon wie es im Walde sein werde, wie alles sein werde, alles. Denn bald würden sie ja zusammenleben.

„Ja!“ Und Susannas Augen leuchteten nochmals auf, während ihre Wangen erblaßten, mehr und mehr. „Wie wird es sein?“

„Nun höre zu,“ fuhr Grau fort, „höre zu und sieh mich an. Ich will dir sagen wie es sein wird. Du wirst die Herrin im Hause sein und ich werde warten bis du mich rufst. Sage nichts und höre zu. Wenn wir drei Zimmer haben, so werden zwei davon dir gehören. Da wirst du wohnen. Du wirst eine Bibliothek haben, ganze Regale voll der schönsten und neuesten Bücher. Du wirst auch einen Schreibtisch am Fenster haben mit einem Stoß von weißem Papier darauf, damit du all deine klugen Gedanken aufschreiben kannst, wenn du Lust dazu hast. Ich werde an der Türe lauschen, wenn du schläfst, ich werde stehen und auf deine Atemzüge lauschen, und ich werde denken: Susanna schläft da drinnen. Ich werde hören, wenn du dich rührst. Ich werde nicht schlafen. Ich werde denken, es ist nicht die Zeit zu schlafen, ich muß hören, wie Susanna schläft, ich muß ihrem Atmen lauschen.“

„Oh! sprich, wie wird es sein!“ Tränen traten in ihre Augen.

„Dann werde ich hinausgehen und große Sträuße für dich pflücken, Susanna, aus all den Blumen, die du besonders liebst. Der Tau soll an den Blumen sein und ich werde die Sträuße auf deine Schwelle legen und der Tau wird daran sein. Dann werde ich warten und endlich werde ich dich sehen. Ich werde dir in die Augen blicken — wie ich es jetzt tue — und ich werde fragen, ob du gut geschlafen hast.“

„Sprich, sprich! Aber in den Nächten, wie wird es in den Nächten sein? Hast du daran gedacht?“ In Susannas Augen kam ein fremder Glanz und ihre Wangen wurden fahler und fahler.

„Ja, auch daran habe ich natürlich gedacht, Susanna. Laß uns das nicht sagen, die Nächte werden kommen. Es wird sehr stille sein in unserem Hause und im Garten wird ein Vogel singen und du und ich und ich und du und niemand sonst wird da sein.“

„Ja, wie oft, du Geliebter, habe ich daran gedacht, wie die Nächte sein werden! Hast du schon an Leidenschaft gedacht und die Küsse in stiller Nacht?“ flüsterte sie und die Tränen liefen über ihre Wangen.

„Ja, Susanna, meine süße Freundin. Oft habe ich an Leidenschaft gedacht und viele lange Nächte lag ich wach.“

„Wie ich, wie ich! Oft hat mein Blut getobt in den Adern und ich habe geträumt und geträumt — keine verrät es, aber alle, alle graben sie die Nägel in die Brust —.“

Grau blickte Susanna an und hielt sie in den Armen. Ihr Kopf lag an seiner Brust. Und er erzählte wie es sein werde. Plötzlich wurde es dunkel im Zimmer, der Wind pfiff und es donnerte in der Ferne. Es regnete, dann kieselte und schneite es. Im Nu waren die Felder weiß und das Gärtchen eingeschneit. Aber Susanna sah und hörte nichts, sie lauschte und Grau gab ihren Blick nicht mehr frei.

„— die Hände werde ich dir küssen, die werden so kühl und frisch wie der Morgen sein. Ich werde dir die Lippen küssen, die noch heiß vom Schlafe sind, die Rosen auf deinen Wangen werde ich küssen, die noch aus den Träumen darauf blühen. Susanna, Susanna! Ja, du hörst wohl, was ich sage? So wird es sein. Dann werde ich die Türe öffnen und sagen, siehe, Susanna, die Sonne will dich begrüßen. Und ich werde dich in den Garten führen: Siehe, Susanna, die Blumen wollen ihre Herrin grüßen. Alle Blumen werden sich verneigen und die Bäume werden rauschen. Ich aber werde nur dich ansehen, so wie ich es jetzt tue, Susanna, Susanna, nur dich! Ich werde deinen Namen nennen auch wenn du nicht bei mir bist. Vielleicht hast du einen kleinen Hund, den du liebst, und mit ihm werde ich mich unterhalten, solange du fort bist.“

Grau küßte Susannas Stirn.

„Ich liebe dich, werde ich sagen,“ fuhr er fort, „so wie ich es jetzt sage. Susanna, Susanna! Die Sonne wird aufgehen und ich werde es sagen, die Sonne wird sinken und ich werde es sagen. Der Frühling wird kommen — ich liebe dich, Susanna — der Sommer wird kommen ich liebe dich, Susanna — der Herbst, der Winter wird kommen: Ich liebe dich Susanna!“

Susanna seufzte glücklich und lächelte und schloß halb die Augen.

„Ich werde niederknien und sagen, ich liebe dich Susanna!“ flüsterte Grau. „Ich werde dich ansehen, mein Blick, mein Schritt, alles wird dir dasselbe sagen. Ich werde alt werden und meine Haare werden weiß werden — ich liebe dich Susanna, werde ich sagen — ich liebe dich, du Süßeste von allen —“

Susannas Lächeln erstarrte. Sie öffnete den Mund und ihr Kopf sank in den Nacken zurück. Sie regte sich nicht mehr. Grau blieb lange ruhig, dann ließ er Susanna langsam in die Kissen nieder. Sie lag und lächelte friedlich und schön. Sie schlief. Die Tränen trockneten auf ihren fahlen Wangen.

Grau saß lange Zeit regungslos und sah sie an. Seine Hände zitterten von der Erregung der letzten Stunde, es war über seine Kräfte gegangen. Dann wuchs die Trauer in seinem Herzen, eine schwere dumpfe Traurigkeit, die ihn niederbeugte. Er küßte Susannas kleine Hände.

Er hatte sie ja so sehr geliebt.

Es wurde blendend hell im Zimmer. Das Wetter war vorübergegangen und die Sonne schmolz rasch den Schnee, die ganze Welt glänzte und die kleine stolze Rose in Susannas Garten glitzerte im Tau, als ob sie vor Freude geweint hätte.

Mütterchen war ruhig, ja förmlich gleichgültig. Die Natur ist gütig und versenkt ein Herz, das der plötzliche Schmerz vernichten würde, in eine Art von Betäubung. Sie schien allein durch den Gedanken vollkommen beruhigt zu sein, daß Susanna gestorben war ohne es selbst zu fühlen.

Aber als die Dämmerung kam und Susanna noch immer so still und gleichmäßig lächelnd lag, begann sie leise zu weinen. Sie nahm Graus Hand, sah ihn bittend an und sagte: „Mache sie mir wieder lebendig!“

Grau schüttelte den Kopf. „Laß sie ruhen, Mütterchen, sie ist ja lebendiger und glücklicher als wir.“

Mütterchen war wieder ganz ruhig.

Achtes Kapitel

A n einem schönen wolkenlosen Sonntage wurde Susanna begraben. Die Sonne funkelte, die Luft zitterte vom Lärm der spielenden Kinder, alles trug Festtagskleider und die jungen Mädchen gingen alle in Weiß und wiegten sich und kicherten. Vor dem „weißen Elefanten“ konzertierte die Stadtkapelle.

Grau hielt eine schlichte Rede, er machte nicht im entferntesten solch schöne Worte wie seinerzeit bei der Beerdigung der Margarete Sammet. Die Freundinnen waren zur Bestattung gekommen, Adele und die Schwestern Sinding und einzelne von den Mädchen, die das Fest mitgemacht hatten. Auch Lenz kam. Er war bestaubt und erhitzt und kam gerade, als sie den Sarg hinabließen. Er trug einen hellen alten Sommerrock, war ohne Kragen und Binde, und hatte einen knotigen Stock in der Hand. Als ihn die Leute ansahen, räusperte er sich herausfordernd.

Er ging mit Grau ins Haus und drückte ihm die Hand. „Schön,“ sagte er, „schön hast du deine Sache gemacht, einfach. Kein Wort zu viel. Bei einer Susanna Lenz, der Tochter eines freien Mannes, braucht es keine großen Worte.“

„Wie hast du es denn erfahren?“ fragte Grau.

Lenz sah sich im Zimmer um und lächelte, als er den Heiligen an der Wand sah, jene Reproduktion eines alten Meisters. „Vorbei,“ sagte er, „vorbei ist es mit diesen Heiligen, in Frankreich schleift man die Kirchen. — Hast du ein Glas Wein oder Kognak, ich bin ganz ausgetrocknet? Nein? Es ist ja nicht gerade nötig. Ich habe es erfahren in Hirschhorn, einem kleinen Nest. Der Wirt sagte, ist deine Tochter gestorben? Nein, sage ich, meine Tochter stirbt nicht so schnell. Es ist eine Lehrerstochter gestorben, Susanna Lenz. Es gibt nur eine Susanna Lenz, also mußte sie es sein. Ich machte mich auf den Weg und hatte Tag und Nacht zu gehen um zur rechten Zeit einzutreffen. Als ich nachts durch den Wald ging, erschien mir Susanna — nein, es war natürlich nur eine Sinnestäuschung. Ich bin nicht traurig, nein, ich bin nur erstaunt, daß sie so schnell starb, an diesem bißchen Brustleiden. Ja, sie war prächtig, meine Tochter, eine Art Heldin, treu wie Gold, voll salomonischer Weisheit! Aber ich bin nicht traurig. Eine Schwalbe fliegt in der Luft, fällt herab und ist tot. Warum sollte es mit den Menschen anders sein? — Hier lief übrigens eben eine Maus über den Boden —“

„Sie lebt hier,“ sagte Grau.

„So?“ Lenz lächelte und stand auf. Er trat auf Grau zu und faßte ihn bei der Schulter. „Sieh mir in die Augen!“ sagte er in befehlendem Tone. „Antworte auf meine Fragen! Du hast Susanna immer gut behandelt? Hast ihr nie böse Worte gegeben?“

„Nein, ich glaube nicht!“ sagte Grau und sah Lenz an.

„Du hast sie nie gekränkt? Sprich die Wahrheit! Du hast sie nie beleidigt, bist ihr stets mit schuldigem Respekte entgegengetreten?“

„Ich glaube, ja!“

Der Lehrer drückte ihn an die Brust. „Dank!“ sagte er. „Dank! Ich liebte Susanna sehr!“ Er pfiff durch die Zähne und nahm Hut und Stock. „Fahre wohl, mein Sohn! Ich ziehe wieder hinaus und immer vorwärts, daß die Erscheinungen hinter mir zerrinnen. Die Welt ist weit, wir werden uns nicht wiedersehen. Aber was schadet es, wir werden trotzdem inniger verbunden sein, als Leute, die sich jahrelang gegenseitig die Kniescheiben einrennen, denn wir gehören ja zum internationalen Orden der Edelleute. Diesmal werde ich eine weite, weite Reise antreten! Zuvor aber will ich einen kleinen Spaziergang in den Straßen dieses Pfahldorfes machen — siehst du diesen Stock hier? — die Eingeborenen hier hassen mich und fürchten mich wie einen tollen Hund. Es ist ja Ironie, aber sie haben mich ausgewiesen aus ihrem Negerkral. — Ich werde hin- und hergehen und mich sehen lassen. Weh dem, der es wagt mir in den Weg zu treten, heute! Ich prügele ihn durch, wie es sich gehört! Dann werden sie sagen: Lenz ist ein Lump, er rauft am Beerdigungstage seiner Tochter! Ha! ha!“

Er lachte, warf den Kopf in den Nacken und ging.

Grau dachte mit Wehmut an Susanna, aber er war nicht traurig: Sie war ja nicht tot, sie war ja lebendiger als er.

Der Mensch ist wie ein Bote, dachte er, der eine Botschaft zu tragen hat; er weiß nicht was in der Botschaft steht, aber er trägt sie ans Ziel und sein Zweck ist erfüllt. Die Geburt ist nicht der Anfang der menschlichen Existenz, der Tod nicht ihr Ende. Ein Stück der unendlichen Bahn, die die Seele zu durchmessen hat, der Bahn der Weltkörper vergleichbar, ist das irdische Dasein. Ewig wechselt das Leben die Form und das Gegenwärtige ist nichtig klein im Verhältnis zum Unvergänglichen. Die Blumen von diesem Sommer, wo werden sie sein, die Völker, deren Könige sich heute brüsten, wo werden sie sein? Das große Gebirge, Sturm und Wetter werden es zerreiben, wo wird es sein, die Erde, wird sie nicht einst als eine winzige Wolke von Staub durch den Weltenraum ziehen, das Planetensystem, wo wird es sein? Vergangen, verweht, aber irgendwo am großen Werke des Lebens tätig, das ewig saust und braust.

Die nächsten Tage glitten still dahin und er fühlte an seiner Ruhe, daß Susanna jetzt glücklicher war. Zuweilen kam sie auf unerklärliche Weise in all seine Gedanken; nicht nur aus Menschen und Tieren, selbst aus den Bäumen, dem Grase, toten Dingen schien ihm etwas von Susannas Wesen entgegen zu dringen.

Sie schien stets um ihn zu sein, und seine Empfindung wurde so lebhaft, daß er sie einmal in der Dunkelheit des Zimmers stehen sah. Sie war schön und schlank. Ich bin es, sagte sie, ich bin immer bei dir. — Bist du es denn wirklich? fragte er. Sie antwortete: Weshalb zweifelst du?

Er sah sie lange an, sie verschwand und er blieb allein. Es war als ob er rings in Abgründe starrte, er erschauerte und stand auf. Wie lebhaft ich doch empfinde, dachte er und öffnete das Fenster: Sterne, Sterne und Friede in sanfter Nacht. Das war die Welt, der er angehörte.

Er lächelte und blickte auf Adeles Park. Die Bäume standen im Schlafe, aber sie bebten leise. Ein unbestimmtes Licht rieselte an ihnen herab und die höchsten Blätter wendeten sich langsam hin und her, als ob jede Blattseite dem Lichte der Sterne ausgesetzt werden sollte. Die weiße schmale Mauer glich einem Streifen von Linnen, das zum Trocknen aufgehängt war und sich im verblichenen Schatten einzelner Zweige leise zu bewegen schien.

Eine unwiderstehliche Macht trieb Grau hinaus. Aber in dem erhabenen Frieden der Nacht kam er sich wie ein Eindringling vor, wie einer, der das Gesetz der Natur, die die Nacht zum Schlafe bestimmt hatte, übertrat. Er dämpfte unwillkürlich seinen Schritt. Er ging bis an das Parktor und hier blieb er lange stehen.

Plötzlich erinnerte er sich an das Versprechen, das er Susanna gegeben hatte. Er neigte den Kopf. Ich werde halten, was ich versprochen habe! sagte er und ging langsam nach Hause.

Aber gerade als er einschlafen wollte, begann ein Vogel in Adeles Park zu singen und es klang, als sei es Adeles eigene Seele, die lockte. Er lauschte mit verhaltenem Atem. Schmerz erfaßte ihn. Er preßte die Hände auf die Augen und wiegte den Kopf hin und her. Singe nur, du kleiner Vogel! Singe nur! Endlich schwieg der Vogel still, aber Grau hörte ihn wieder im Traume zwitschern. Er träumte, er gehe mit Adele auf der Höhe und Adele sah ihn an mit traurigen Augen. Sprich doch! Sprich doch! sagte sie. Er aber schüttelte den Kopf. Ich kann nicht, antwortete er. Adele faßte seine Hand und bot ihm die Lippen. Er aber wandte sich ab und rief: Nein, nein! Und er entfloh in aller Hast, Adele rief hinter ihm. Da erwachte er wieder. Sein Herz brannte vor Sehnsucht, überall winkte und lockte es, es leuchtete wie Feuer vor seinen Augen.

Er stand auf und machte Licht und schickte sich an zu arbeiten, während die Stille der Nacht tiefer und tiefer wurde und der Tag langsam graute. Aber während er arbeitete, hatte er das Gefühl, daß sein Herz blute und nimmer aufhörte zu bluten.

Das Versprechen war gegeben, Susanna konnte es nicht mehr lösen, das Versprechen wird gehalten werden. Niemand hatte je erlebt, daß er ein Versprechen brach.

Aber seine Augen wurden brennend und seine Wangen hohl.

Er betäubte sich in rastloser Tätigkeit.

In jeder freien Stunde suchte er Mütterchen auf.

Verlassen lag Susannas Häuschen in der Wiese und obschon es im Dampfe der Sonne lag, so sah es doch elend aus. Mütterchen wohnte darin und eine blöde alte Frau, Eisenhuts Mutter. Alle Knospen brachen auf und die Blumen wuchsen in Susannas Garten bis zu den Fenstern empor. Aber das kleine Haus sah elend und öde aus. Verlassen war es. Die Luft im Zimmer war eine andere, das Zimmer selbst sah ganz verändert aus. Dieses leere Bett, die verwelkten Sträuße in den Krügen, ein paar bestaubte Bücher auf dem Tisch. Selbst die Farbe der Wände und Möbel schien sich verändert zu haben, auch der Schritt klang anders, wenn man durch das Zimmer ging.

All die schönen Träume Susannas waren aus dem Häuschen ausgewandert, all die freundlichen Wesen, die sie im Leben umgeben hatten, sie hatten das Haus verlassen.

Mütterchen saß still mit der Hornbrille auf der großen Nase in einer dämmerigen Ecke des Zimmers und besserte Susannas Strümpfe und Wäsche aus. Sie weinte nicht, sie saß da und stopfte und sprach mit Susanna. „Es wird Zeit sein dein Essen zu richten, Kindchen,“ sagte sie. „Huste nicht so viel, Susanna, es schadet dir ja.“

Zweimal kam sie am Abend zu Grau geschlichen und pickte an seine Türe: Ob er die Schuhe noch habe? Ja, dann sei es gut. Sie kam, setzte sich auf einen Stuhl und weinte. Diesem Schmerze gegenüber war Grau machtlos. Er war so tief und edel, daß Grau auch nicht den Versuch wagte, Mütterchen zu trösten, die durch die Nacht geschlichen kam, nur um bei ihm zu weinen. Erst jetzt schien es ihr bewußt zu werden, daß Susanna tot war.

Grau erfüllte seine Pflichten wie ehedem, abends kam Eisenhut zu ihm zur Stunde. Nach der Stunde plauderten sie eine Weile; sie stellten die Reiseroute zusammen, denn Eisenhut sollte nun bald reisen. Er hatte sich schon sechs große Lederkoffer angeschafft.

Zwischen den beiden hatte sich ein aufrichtiges Freundschaftsverhältnis gebildet. Das lange Krankenlager Graus hatte einen ganz ungezwungenen Verkehr zwischen ihnen herbeigeführt und Grau brauchte nicht mehr zu befürchten, Eisenhut scheu oder argwöhnisch zu machen oder ihn durch seine Bevormundung zu beschämen.

Er hatte Eisenhut vollständig in seine Macht bekommen und war imstande ihn mit einem einzigen Blicke zu beherrschen. Bis auf unscheinbare Dinge selbst dehnte er seinen Einfluß aus. Eisenhut mußte anders gehen, anders sprechen, den Leuten ins Gesicht sehen, er durfte nie Müdigkeit verraten oder unordentlich gekleidet sein.

Eisenhut gab sich alle Mühe. Die Arbeit in den Steinbrüchen hatte seine Gesundheit gestärkt und schon das Bewußtsein körperlicher Kraft machte ihn den Menschen gegenüber kühner und sicherer. Er kleidete sich ganz neu und selbst sein Haus war frisch gestrichen, die Wohnung eingerichtet. Er bekam Freude an Tätigkeit und zeigte den Eifer eines Schulknaben für alle Zweige des menschlichen Wissens. Er lachte fröhlich und fast kindisch, wenn sie in den Bildwerken blätterten und Grau erklärte.

An jedem Ersten erhielt Grau zwanzig Mark von ihm, die er für wohltätige Zwecke nach Gutdünken verwenden konnte. Dafür war ihm Grau sehr dankbar. Denn mit zwanzig Mark — wieviel konnte er doch damit ausrichten! Wenn er in eine Familie kam, wo es am Nötigsten fehlte und sprach und sprach und fünf Mark auf dem Tischrande liegen ließ!

Bald hoffte er Eisenhut für eine große Lebensaufgabe erzogen zu haben.

Wie? Ja, natürlich. Eisenhut wandelte sich nur allmählich um. Es war noch der alte Eisenhut mit dem gelben Gesicht, dem Spitzbart, den kleinen neugierigen Mausaugen, dem Geiz, dem Argwohn und kleinlichen Gedanken. Zuweilen hatte er auch Rückfälle. Er trank, verwahrloste und mied Grau. Aber immer kam er nach einigen Tagen zu Grau zurück und Grau fühlte zu seiner Freude, daß er ihn mehr und mehr in seine Gewalt bekam. —

Einmal hatte Grau in diesen Tagen auch eine Begegnung mit dem jungen Herrn von Hennenbach.

Es war in der Dämmerung und sie begegneten einander auf den Stufen, die zum Marktplatz hinabführten. Herr von Hennenbach grüßte höflich, auch Grau grüßte. Er blieb stehen und sah den jungen Mann an. Eine Weile standen sie so.

„Bitte?“ sagte Herr von Hennenbach und lächelte.

Grau sah ihn an.

„Sie verstehen mich nicht?“ flüsterte er.

Der Freiherr lächelte und zuckte die Achseln.

„Nein, Pardon — ich verstehe nicht, wirklich —“

Grau sah ihn an und näherte sich ihm noch mehr. „Ich will Ihnen noch einige Tage Zeit lassen!“ flüsterte er. „Aber nicht mehr viele!“

„Bitte? Ich kann nicht verstehen?“ stammelte Herr von Hennenbach — aber Grau war schon gegangen. —

Der Sommer war auffallend warm und Grau liebte es, seine freien Stunden in seinem Gärtchen zuzubringen, das eingekeilt zwischen den Nachbarsgärten mit den hohen schattigen Bäumen besonders sonnig aussah. Er pflegte ihn mit aller Sorgfalt. Er kannte hier jede einzelne Blume, ja fast jeden einzelnen Halm. Da konnte er stehen und stehen und sich umsehen und es kam ihm vor, als ob er im Kreise von Geschwistern weile.

Dieses kleine Stück Land erfüllte ihn mit Andacht.

Das waren ja seine Blumen und Halme, des großen Gottes Blumen und Halme, ersonnen von ihm, geliebt von ihm und auf dem kleinsten ruhte der Blick seiner tausend funkelnden Augen. Für ihn, den Unfaßbaren, war dieser Garten so viel wie der Lustpark einer Königin und sein gütiges Lächeln hatte auch ihn gesegnet, daß er ein einziges Wunder war. Es wimmelte von Leben, jeder Zoll des Bodens war bewohnt, belebt, lebendig, jede Scholle eine wimmelnde Stadt, jedes Krümchen ein Haus, jede Furche eine Straße.

Grau stand und schüttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Nicht die kleinste Fliege konnte er verstehen. Seht sie an, sie hat Augen, Organe, Flügel, sie weiß sich zu bewegen, sie fliegt. Seht den kleinen Käfer an, er hat es eilig, geht seinen Bedürfnissen nach, er hat zu tun, Tag und Nacht, Wünsche, Verlangen, Geschäfte, so klein er auch ist — er ist ein Kind des großen Gottes und der Unbegreifliche hat nicht vergessen, daß er lebt.

Grau stand und blickte in den Sommerhimmel empor. Er betete. Er betete ohne Worte und ohne Gedanken. Er sandte seine Seele der Heimat zu.

Diese Stunden in seinem Garten waren herrlich und reich. Die Luft schien erfüllt mit Geheimnissen und Liebe und er atmete Geheimnisse und Liebe mit jedem Atemzuge ein. Alle Dinge ringsumher sahen ihn an und sein Gedanke flüsterte immerzu. Er selbst dachte ja nicht, der Gedanke in ihm flüsterte und ruhte nicht. Siehst du den Baum? flüsterte der Gedanke: Äste, Verästelungen, Nerven, ganz wie du. Siehst du den Vogel fliegen? wisperte der Gedanke: Bist du nicht selbst ein Vogel? Hast du gesehen, wie junge Mädchen einen Abhang hinablaufen und die Arme bewegen gleich Flügeln, die Lebenslust auszudrücken? Wie ein Mensch dem andern Willkommen winkt? Siehst du die Katze? sprach leise der Gedanke: Was zieht dich zu ihr? Was zieht sie zu dir? Ihr seid ja alle das Gleiche, du und die Katze und der Baum — eine verschieden gestaltete, verschieden gefärbte Blume auf Gottes Acker nur ist der Mensch. Fühlst du die Lebenswelle? flüsterte der Gedanke: Sie kommt aus dem Unendlichen, da wo die Gestirne funkeln, sie umspült in jeder Sekunde die Erde, Millionen Leben erzittern, erblühen, sie jagt dahin, durch dich hindurch, durch die Wälder, das Meer, zur Sonne, zu den Sternen, zum fernsten Sterne, und ist hier und dort, jagt, jagt und hat keine Eile.

Und der Gedanke flüstert in ihm, flüsterte, lachte, sang —

Die Sonne ging unter und Grau ging hinein ins Haus und arbeitete. Die Arbeit ging vorwärts, Ungeduld und Jubel erfüllten ihn. Diese ‚Reden‘! Denn bald wollte er ja hinausziehen und zu den Menschen sprechen, zu den Tausenden, Tausenden!

Neuntes Kapitel

A n einem Nachmittage kam Adele zu ihm. Er schrieb gerade, als er ihren Schritt hörte und hielt die Feder an und erblich.

Sie war ohne Hut und ihre schwarzen Haare rahmten scharf das schmale Gesicht ein. Ihre Wangen waren von der Wärme gerötet, so erschienen ihre Augen noch heller und lebendiger. Ihre Lippen glänzten. Im Winter waren sie schmal und blaß, im Sommer geschwungen und rot, wie merkwürdig war doch das. Sie trug ein dünnes Kleid von der Farbe verblaßter Veilchen, eine große hellrote Koralle hielt es an der Brust zusammen. Kühle und Duft gingen von ihrem leichten Kleide aus.

Sie blieb lächelnd an der Türe stehen.

„Ich habe Sie wohl in der Arbeit gestört?“ sagte sie. „Sie schrieben gerade.“ Sie sah ihn mit klaren Augen an.

„Bitte, es ist eine höchst nebensächliche Sache, ich bitte Sie Platz zu nehmen. Sie befinden sich wohl?“

„Wie immer, danke!“ Sie sah sich um und öffnete halb den Mund, während sie Graus Zimmer betrachtete. Dann duckte sie den Kopf ein wenig und sah zum Fenster hinaus. „Wie eigentümlich ist es doch, den Park von hier aus zu sehen!“ sagte sie, ein wenig verlegen, da sie Graus Blick fühlte.

Sie schwieg und blickte Grau an, der totenblaß aussah.

Da saß sie und das Licht sprühte aus ihren Augen, das ewige Licht, das um Gottes Haupt wogt.

Ob eine besondere Angelegenheit sie zu ihm führe?

Adele lächelte fein. „Muß es denn eine besondere Angelegenheit sein, die mich zu Ihnen führt? Ich denke mir, daß Sie jetzt recht einsam sein müssen. Man sieht Sie ja gar nicht mehr. Sind Sie denn immer zu Hause?“

„Im Gegenteil, ich bin viel unterwegs.“

Pause. Adele sah ihn an. „Sie kommen mir verändert vor,“ sagte sie und schüttelte den Kopf. „Sind Sie krank? So entsetzlich bleich sehen Sie aus!“

„Nein, ich fühle mich wohl,“ antwortete Grau und dankte.

Adele blickte ihn prüfend an. „Sie sehen leidend aus,“ setzte sie hinzu, dann sprach sie von andern Dingen.

Grau war schweigsam. Er sah sie nur und lächelte. Aber er fand nicht den kleinsten Gedanken in seinem Kopfe.

„Wie wunderbar sind doch die Nächte jetzt!“ sagte Adele, aber sie brach plötzlich ab und lachte leise. „Aber sehen Sie doch, da sitzt ja eine Maus!“ rief sie aus.

„Es ist eine zahme Maus,“ sagte Grau und raffte sich auf. „Das heißt alle Mäuse sind ja zahm, aber diese Maus hier ist an mich gewöhnt. Sie heißt Mirza und lebt hier. Sie ist sehr klug und schön. Sie ist sehr zutraulich und oft wenn ich ruhig dasitze, knappert sie an meinen Schuhen.“

Adele lachte und sah Grau erstaunt an. „Mit einer Maus leben Sie?“ sagte sie.

„Es ist ja wohl nichts Wunderliches dabei?“ fragte er lächelnd.

Adele lächelte leicht. „Sie haben ja auch einen Hund, nicht wahr?“ forschte sie. „Man sieht zuweilen einen gelben zottigen Hund in Ihrem Garten.“

„Ja,“ erwiderte Grau, „aber er ist sehr untreu. Er läßt sich oft wochenlang nicht blicken. Es ist ein verwilderter Hund, dessen Herr gestorben ist, ein Waldhüter. Ich stelle ihm manchmal etwas Fressen hin. Wollen Sie sehen, wie klug diese Maus ist?“

„Ja!“

„Nun, sofort!“ Grau legte ein Stückchen Speck auf den Boden in die Nähe des Schrankes, unter dem die Maus sich aufhielt. Er stieß einen zirpenden Laut aus. „Vielleicht kommt sie nicht, weil Sie da sind.“

Die Maus hatte das Stückchen Speck bemerkt, sie streckte die spitzige Schnauze unter dem Schranke vor und lugte mit den runden, glänzenden Augen, die wie pechschwarze Perlen aussahen, auf den Speck und auf Adele zu gleicher Zeit. Dann kam sie näher, lief in einem Bogen um den Speck herum und huschte wieder unter den Schrank. Sie mußte sich blitzschnell umdrehen können, denn die spitzige Schnauze wurde zur selben Sekunde wieder sichtbar als der Schwanz verschwand.

„Sie hat einen Versuch gemacht,“ sagte Grau, „ob sie sicher sein könne. Nun aber werden Sie sehen, auf welche Weise sie den Speck fortschleppt!“ Er war plötzlich gesprächig geworden.

Die Maus kam wieder unter dem Schranke vor. Sie saß eine Weile vor dem Speck, dann beschrieb sie einen Bogen und saß nun so, daß der Speck zwischen ihr und dem Schranke lag. Sie wartete noch ein Weilchen, dann lief sie blitzschnell auf den Speck zu und verschwand mit ihm.

„Es wäre ihr zu gefährlich, mit dem Speck im Maule umzuwenden, haben Sie das beobachtet?“ erklärte Grau. „So klug ist sie.“ Er erzählte noch einige Geschichten von der Maus, dann war er wieder still.

Grau kämpfte mit dem Gedanken aufzustehen und zu sprechen: —! Aber er tat es nicht.

Plötzlich hatte Adele einen Brief in der Hand.

„Ich habe einen Brief für Sie,“ sagte sie leise, „er ist von Susanna.“

„Von Susanna?“ Er begriff es nicht. Er starrte Adele an.

„Ja, sie hat mir diesen Brief übergeben — wann war es doch? — in der Zeit, da sie still lag um Kräfte für die Reise zu sammeln. Da gab sie mir diesen Brief. Ich solle ihn eine Woche nach ihrem Tode abgeben — im Falle sie doch sterben sollte. Ich habe nun gewartet und gewartet, denn es schien mir grausam Sie durch den Brief — nun ich wartete. Aber nun hat mich Susanna sozusagen daran erinnert.“

Grau nahm das Messer vom Schreibtisch und schnitt den Brief auf. Er hielt inne und sagte nach einer Weile: „Sie hat Sie sozusagen daran erinnert?“

Ja, sie habe geträumt von Susanna und dem Briefe.

„Ich habe ja jeden Tag an den Brief gedacht und an Susanna und schob es doch von Tag zu Tag hinaus ihn abzugeben,“ sagte Adele. „Es ist also nicht zu verwundern, daß ich davon träumte. Ich habe geträumt, ich ginge mit Susanna zum Bade. Wir unterhielten uns und plötzlich sagte sie etwas von einem Briefe und ich lachte, denn ich wußte ja nichts von einem Briefe. Aber am Morgen erinnerte ich mich an den Traum und nahm mir vor, den Brief aus dem Hause zu schaffen.“

Grau sah Adele an.

Und Adele zuckte ein wenig die Achseln und fügte hinzu: „Ich wollte Ruhe haben. Ich liebe es nicht, an Verstorbene zu denken. Ich weiß nicht warum.“

Sie ging. Grau gab ihr das Geleite bis zur Gartentüre. Man fühlte, wie man sich durch die Wärme hindurch gleichsam Bahn brechen mußte, und Duft und Schwüle der Luft betäubten ein wenig. Adeles reiches Haar sprühte wie eine schwarze Flamme und hob sich scharf vom tiefblauen Himmel ab. Es war das einzige ringsumher, das schwarz war, denn alles war grün, golden und blau.

An der Türe sagte Grau: „Ich habe gehört, Sie reisen bald?“

Ja, bald ginge es fort. Adele lachte und blickte in die Luft empor, wo die Mücken über dem heißen Wege tanzten. „Es ist übrigens nicht ganz sicher, ob ich so bald reise,“ sagte sie. „Aber ich freue mich darauf, fortzukommen, hinaus in die Welt. Nur denke ich zuweilen —“

„Was denken Sie zuweilen?“

„Ich weiß nicht, ob ich für die Ehe geschaffen bin, denke ich zuweilen. Wenn ich den Baron nicht so sehr liebte, aber ich liebe ihn ja so sehr.“

Grau sah sie an. Schön und stark war sein Blick.

„Nun?“ fragte Adele.

„Es ist mir bange um Sie!“ sagte Grau und er wußte nicht wie ihm die Worte auf die Lippen kamen.

Adele öffnete die Lippen und erbleichte ein wenig. „Bange?“

„Ja!“ fuhr Grau fort — und plötzlich verlor er die Sicherheit, er wurde verlegen und setzte höflich hinzu: „Ich bitte Sie recht herzlich, den Schritt reiflich zu überlegen.“

Adele sah ihn an und ihr Blick senkte sich tief in seine Augen. Sie lächelte. Sie schüttelte leise den Kopf, als ob sie ihn nicht verstanden habe und sagte hauchend: „Adieu!“

„Ja, ich bitte Sie, den Schritt ja zu überlegen!“ wiederholte Grau.

Adele nickte ihm zu. „Adieu!“ sagte sie und ging langsam und stolz weiter, als ob nichts ihre Ruhe trübte.

Grau ging in großer Erregung ins Haus zurück. Wie kam es doch, daß ich plötzlich sprach! dachte er. Ich wollte es ja gar nicht. Adeles Gestalt verschwand zwischen den Zweigen und sein Herz pochte so laut, daß er die Hand auf die Brust legen mußte.

Nun war sie verschwunden! Er zitterte, mußte sich setzen, stand wieder auf, streckte die Hände nach den Büschen aus, hinter denen sie verschwunden war.

Erst nach langer Zeit gelang es ihm sich zu beherrschen. Er öffnete Susannas Brief und so bald er ihre Schrift sah, wurde er ruhig.

„Mein Geliebter,“ schrieb Susanna, „Du süßester aller Menschen! Wolle Gott, der Gott an den Du glaubst, Dich glücklich machen, glücklich und reich. Oft bete ich so.

Ich bin nun tot und wenn Du hundert Schritte gehst, so stehst Du an meinem Grabe. Du sollst es nicht tun, ich will nicht, daß Du oft an mein Grab gehst. Es ist so wenig Sinn darin, denke ich. Kannst Du denken, daß ich vor Dir stehe? Siehst Du meine Augen und kannst Du Dich an meine Züge erinnern? Das tue zuweilen! Kannst Du fühlen, daß ich diesen Brief mit Dir lese und meine Wange an die Deine schmiege, so wie ich es oft getan habe, wenn wir zusammen in den Büchern blätterten?

Du sollst nicht an mich denken. Zuweilen, aber nicht oft. Denke an mich, wenn Du fröhlich bist, aber nicht zu oft. Denke nicht an mich, wenn Du traurig bist.

Vielleicht siehst Du ein Mädchen und Du liebst es. Dann küsse sie und vergiß mich ganz. Ich will, daß Du glücklich bist und Glück um Dich streust.

So spricht mein Herz.

Ja, ich liebe Dich. Bei Gott, aufrichtiger könnte Dich keine Frau lieben! Ist es ein Wunder, daß ich über diesen Brief weine? Ich liebe Mütterchen, aber ich liebe Dich hundertmal mehr und kenne Dich doch noch nicht lange.

O, du süßester aller, aller Menschen! Wenn ich nur ein Herz hätte, so hätte ich alles gesagt. Aber ich habe zwei Herzen und sie wollen nicht das gleiche.

Mein zweites Herz, das möchte viele Dinge, die das erste Herz nicht wünscht. Es wünscht Dir ebenfalls Glück, aber es ist traurig, daß es dieses Glück nicht mit Dir leben kann.

Es hat gewünscht, daß Du einmal meine Brust küssen möchtest und nun wünscht es, daß Du recht oft die hundert Schritte zu meinem Grabe machen würdest und Dich niederwerfen und die Erde aufwühlen — das wünscht mein zweites Herz und es bebt vor Freude — obgleich mein erstes Herz es nicht wollte. Es wünscht, daß Du vor Kummer sterben solltest, ja, es wünscht, daß Du nie mehr eine Frau küssest, denn es will Dich ganz allein haben. Ganz, ganz allein.

Mein zweites Herz kennt eine Frau, vor der es zittert. Denn diese Frau könnte jede Erinnerung an mich auslöschen. Ich habe gesehen, wie Du diese Frau anblicktest, es saßen viele Mädchen in meinem Zimmer, aber Du blicktest jene Frau mit andern Augen an als alle. Mein erstes Herz wünscht, daß jene Frau Dich liebe, aber das andre zittert davor. Laß es ruhig sein und schweigen.

Laß mein erstes Herz sprechen: Lebe wohl, Du gütiger, und vergiß mich so, daß Du nicht mehr leidest. Sei glücklich und liebe, liebe alle Frauen, so viele du willst.

Ich bin tot, aber ich komme zu Dir noch einmal, um mit Dir zu sprechen.

Süß ist der Gedanke, süß und schön und er lockte mich. Es ist nicht wahr, was mein zweites Herz sagt: Komm aus dem Tode zu ihm um Gewalt über ihn zu haben, um ihn nicht frei zu lassen. Nein. Du sollst ja nur fühlen, wie sehr ich Dich liebe, daß ich noch nach dem Tode zu Dir zu sprechen wünsche. Das ist die Wahrheit.

Lieber, es ist all diese Tage ein Gedanke in mir, ich kämpfe mit ihm. Würdest Du mir schwören, zu keiner andern Frau mehr von Liebe zu sprechen? Mein zweites Herz flüsterte mir den Gedanken ins Ohr. Wenn ich schwach werden sollte und Du solltest mir das Versprechen geben — ach, verzeihe mir dann, ich bin es ja nicht, die das will — Du bist frei, es gibt kein solches Versprechen! Wie sollte es doch ein solches Versprechen geben!

Lebe wohl, ich küsse Dich zum letzenmal. Es ist schwer zu gehen, aber lebe wohl. Lebe wohl, ich winke, lebe wohl, Du siehst mich nicht mehr. Lebe wohl für immer! Deine Susanna.“

Grau saß und das Blut schoß ihm in das Gesicht. Dann tastete er sich hinaus, durch die Türe hindurch, in das Schlafzimmer, dessen Läden geschlossen waren. Hier warf er sich auf das Bett und weinte.

Als Eisenhut am Abend zur Stunde kam, fand er Grau in seiner Stube damit beschäftigt, Noten auf ein Blatt zu schreiben.

„Was tust du da?“ fragte Eisenhut.

„Ich schreibe ein kleines Lied,“ antwortete Grau und lächelte und Eisenhut wunderte sich über seine zitternde Stimme.

„Ein Lied?“

„Ja, ich habe es noch nie getan, es ist mein erstes.“

Zehntes Kapitel

W ie erstaunt war Adele doch, als sie das Gitter öffnete und plötzlich Grau im Dämmerlichte stehen sah. Er wartete hier, das konnte sie wohl sehen.

„Sie sind hier?“ sagte sie und gab sich Mühe ihre Überraschung zu verbergen. Sie sah ihn freundlich an und lächelte leise. Ein seidnes Tuch von roter Farbe lag lässig auf ihren Schultern.

Der Abend war soeben gekommen und er war herrlich; die Luft war warm und dicht und man konnte sie gleichsam mit den Händen greifen. Sie hüllte einen vollkommen ein wie ein warmes Bad. In der Stadt klangen Laute, Singen, Lachen, die Grillen zirpten, die Frösche lärmten in der Ferne, aber hier oben war es auffallend still. Obgleich die Schatten schon tief und verschwiegen lagen, so sah man doch noch Gesicht und Hände, gleichsam leuchtend. Grau sah jeden Zug in Adeles Gesicht und doch war es ringsum dunkel.

Er nahm den Hut ab.

„Ja, ich bin hier,“ antwortete er und trat näher. „Verzeihen Sie mir, es ist gewiß nicht schön vor einem Hause zu stehen und zu warten. Aber ich wollte nicht hineingehen. Ich warte schon seit vielen Tagen, Fräulein von Hennenbach, ich möchte mit Ihnen sprechen. Ich habe erfahren, daß Sie morgen reisen.“

Adele zog das Tuch fester um die Schultern. „Ja, morgen früh.“ Sie lächelte und schloß das Gitter. „Es ist ganz zufällig, daß ich ausgehe.“

„Ich wußte, daß ich Sie heute treffen würde!“

Adele sah ihn mit großen Augen an. „Bitte?“ sagte sie dann und das kleine Wort verriet ihre Bereitwilligkeit ihn anzuhören und alle Nachsicht. „Wollen wir ein wenig gehen?“

„Ja, gerne!“

Grau ging still neben ihr her. Adele atmete tief die Abendluft ein und blieb einen Augenblick unter einem Busche stehen, der auffallend stark roch. Er roch wie Vanille. Grau blickte zu Boden, dann sah er Adele an und begann: „Ich habe nachgedacht, ich finde keine Ruhe mehr.“ Er schwieg; wie sein Herz doch schlug! So konnte er nicht beginnen. Er sammelte sich und setzte hinzu: „Sind Sie entschlossen zu reisen?“

„Ja!“

„Wirklich entschlossen?“

„Ja, aber — und weiter?“

„Ich wollte Sie nur dies fragen,“ sagte Grau und senkte den Blick.

Adele schüttelte den Kopf und lächelte. „Ich glaube wohl zu wissen, weshalb Sie fragen, Herr Grau. Sie haben ja vor einigen Tagen schon eine Andeutung gemacht, die ich nicht mißverstehen konnte! Sprechen Sie, bitte, nicht mehr davon. Sagen Sie doch selbst, kann ich denn das anhören?“

„Ich habe Sie verletzt, verzeihen Sie mir!“ sagte Grau.

Adele lächelte.

„Ich will gerne heute noch ein wenig mit Ihnen plaudern,“ sagte sie leise. „Sie sind mein Freund und darüber bin ich froh. Aber Sie müssen solche Dinge nicht sagen. Ich freue mich, daß ich Sie noch zufällig getroffen habe, aber — nein, nein, nein, all diese Dinge.“

Grau wollte sprechen, aber sie ließ es nicht zu. „Sie sind so merkwürdig,“ sagte sie und lachte leise, gleichsam heiter, „Sie kümmern sich um mich, Sie ängstigen sich um mich — so sonderbar sind Sie manchmal.“

„Es ist vielleicht mein Fehler, daß ich mich zuweilen zu sehr um die Angelegenheiten anderer bekümmere,“ entschuldigte sich Grau.

Sie gingen bergan. Auf der Höhe schimmerte der Widerschein einer erblassenden Abendwolke im Laub der Bäume. Unter ihnen lag die Dämmerung wie ein weiches Dunkel. Es raschelte zuweilen in den Zweigen, das waren Vögel, die zur Ruhe gingen. Es knackte da und dort, aber je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto stiller wurde es. Die Stimmen des Tales waren erloschen und den Lärm der Frösche hörten sie nur noch einmal gedämpft, als sie einen kreuzenden Weg überschritten, der wie ein Kamin zur Stadt hinablief.

Dann begann Adele mit gleichmütiger Stimme zu sprechen. „Sie haben ja Urlaub genommen, Herr Grau,“ sagte sie, „ich habe es gelesen.“

„Ja, das habe ich getan,“ antwortete Grau und dachte an ganz andere Dinge. „Ich habe gemußt. Der Herr Dekan hat es mir nahe gelegt.“

Wie solle man das verstehen?

„Und doch ist es so. Übrigens, wenn der Herr Dekan nicht so liebenswürdig gewesen wäre, so könnte ich nun die größten Schwierigkeiten haben; bei der Behörde bin ich schlecht angeschrieben. Man setzte zuerst große Hoffnungen auf mich, aber ich scheine sie leider nicht zu erfüllen. Da kam diese Broschüre über die Gefängnisse, andere Flugschriften, das Begräbnis der Margarete Sammet, dann meine Predigten. Ich kann nichts anderes predigen als was ich glaube. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Dazu kam noch jene Affäre mit der Kollekte für innere Mission. Sie haben nicht davon gehört? Auf irgend eine Weise ist nämlich die Geschichte doch bekannt geworden, obgleich der Herr Dekan in liebenswürdiger Weise die Sache zu verdecken versuchte. Wie? Sehr einfach. Ich sollte die Kollekte abliefern, aber ich vergaß es, zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das passiert, etwas zu vergessen. Ich war in jener Zeit sehr beschäftigt. Kurz und gut, ich vergaß es und der Herr Dekan kam zu einer langen Auseinandersetzung. Er bemühte sich persönlich in mein Haus. Wegen der Gegenstände, die ich verschenkt und verliehen habe, obgleich sie zum Inventar des Pfarrhauses gehören, machte er wenig Worte. Hm, hm. Aber alle die andern Dinge, diese heillosen Dinge. Besonders die Pfingstpredigt im Freien. Zuletzt kam die Kollekte daran. Ja, bei Gott, ich hatte sie vergessen. Es waren vierzehn Mark. Ich wollte sie dem Dekan geben, ich hatte sie in eine Schachtel gelegt. Aber das Geld war fort, es war gar nichts mehr da. Nun sang zum Unglück der Handwerksbursche im Nebenzimmer und da wurde der Dekan ärgerlich. Es vertrage sich doch nicht gut mit meiner Würde, Handwerksburschen zu beherbergen — sagte er.“

„Ist denn der Alte noch immer zu Besuch?“

„Nein, ein anderer, ein Freund von ihm. Er hat ihn mir geschickt. Ebenfalls krank und die Papiere in Unordnung.“

Adele lachte leise. „Glauben Sie denn alles, was diese Leute Ihnen sagen?“

„Natürlich glaube ich es. Und die Papiere sind wirklich nicht ganz in Ordnung gewesen. Die Kollekte also war verschwunden. Ich habe das Geld am Abend zuvor in die Schachtel gelegt, muß es aber in Gedanken herausgenommen und verwendet haben — es war ja nicht mehr da. Der Dekan sagte: Nun, Sie haben den Betrag vielleicht verlegt — verlegt — senden Sie ihn mir bis morgen früh zehn Uhr, bitte. Er war sehr gütig, er hätte mir ja große Schwierigkeiten bereiten können. Eisenhut lieh mir das Geld gerne und damit war die Sache in Ordnung gebracht.“

„Nach dem Urlaub werden Sie aber wieder hierher zurückkehren?“ erkundigte sich Adele.

Grau lächelte. „Ich glaube es nicht, ich werde wahrscheinlich entlassen werden.“

Adele blieb stehen. „Sie werden entlassen werden?“

Grau lächelte wieder. „Ja,“ sagte er, „weshalb denn nicht? Ich mache zu viele Schwierigkeiten. — Übrigens, um offen zu sein, ich werde selbst um Entlassung einkommen. Ich kehre nicht mehr hierher zurück,“ setzte er leise, wie beschämt, hinzu. „Es gibt so viele Dinge, die sich mit meinen Anschauungen, trotz des besten Willens —“

Was er aber dann beginnen wolle?

Grau lachte leicht. „Das?“ sagte er, „Oh, das macht mir nicht die geringsten Bedenken. Ich finde auch in einem andern Beruf ein großes Arbeitsfeld. Ich werde Medizin studieren, ich trug mich schon früher mit dem Gedanken.“

„Also Arzt wollen Sie werden?“ rief Adele freudig aus. „Ich liebe die Ärzte. Was für ein Arzt?“

„Nun, ein guter Arzt, denke ich, für die, die krank sind,“ erwiderte Grau lächelnd.

Sie kamen an eine Lichtung und sahen tief unten die Stadt mit ihren blinzelnden Lichtern liegen. Man sah Adeles Park. Hier duftete es stark nach Honig. Ein Insekt schwirrte über den Kräutern.

„Wie hoch wir doch sind!“

„Ja!“

Sie stiegen höher und plötzlich sahen sie den Mond in einem Himmel so dunkelblau wie ein Kirchenfenster stehen. Er erschien wie ein bleiches Gesicht, das voll namenloser Sehnsucht immerzu in die ferne Sonne starrte. Sie kamen ganz auf die Höhe und Adele war überrascht, eine Ebene vor sich zu sehen. Sie hatte gedacht, es gehe hier wieder bergab. Im Mondschein lag ein kleines kalkweißes Dorf. Die Ebene sah auffallend hell aus im Licht des Mondes, die Grillen zirpten in den Feldern und ihr schrilles feilendes Gezirpe schien alles ringsum in Silber zu verwandeln. Einen Augenblick lang blickte Adele auf das kalkweiße, gespensterhaft aussehende Dorf, dann wandte sie sich wieder dem Walde zu. Hier war es warm und schwül. Der Mond lag in Streifen und silbernen Tümpeln im Walde und auf dem Wege und warf fortwährend ein glitzerndes Netz über Adele, gleichsam um sie darin zu fangen; sie aber schlüpfte jedesmal aus dem Netze heraus. Sie sah zu Boden.

Wie schön war es doch an ihrer Seite zu gehen!

Graus Seele füllte sich mit Heiterkeit. Er ging leicht und lautlos, er lächelte, und nie hatte er den Wald stärker gerochen. Er sah und hörte mit wacheren Sinnen. So schön war alles, solch feine Geräusche waren da drinnen in der Tiefe.

In seiner Seele begann es zu singen. Laß uns gehen durch die Wälder, laß uns wandeln in den Au’n! sang es in seiner Seele ganz von selbst. Er lachte leise und räusperte sich.

In seinem Kopfe wisperten die Gedanken — und sie flüsterten im Rhythmus der Schritte. Er wehrte ihnen nicht. Gib deinem Kinde Mondscheinnächte, flüsterten sie (weshalb sagten sie doch Kinde?), gib ihm Sonnenschein, Wald und Feld. Gib ihm den Anblick der Tiere. Es ist wichtig, wieviele Sonnentage es erlebte. Die Formen, die Farben, das Werk der Wurzeln, das Werk der Wipfel, sie bauen die Seele und machen sie reich. Von den Tieren lernt es Schönheit der Bewegung, Adel des Blickes, Fassung und Ruhe — ohne daß der Mensch es weiß — hahaha — der Mensch weiß ja nichts —

Er lachte leise. Wie merkwürdig das war! Er verlor alle Befangenheit und er fühlte wie seine Wangen vor Freude heiß wurden.

„Wie es duftet!“ begann er mit freier klarer Stimme. „Es riecht, als ob der Wald eine Pfanne voll Harz und Wurzeln wäre. So schön! Wie regungslos diese Fichten dastehen, nicht wahr? Und sehen Sie die Sterne, die durch die Wipfel blitzen? Da ist besonders ein großer, geschliffener Stern, der immer wieder auftaucht und im Walde umherleuchtet, als suche er etwas, etwa Sie. Eben wieder! Wie herrlich! Dann dieser Friede, bei Gott! Er durchdringt einen. Ich habe auch das Gefühl, als ob der Herr des Waldes in der Nähe wäre, der Geist des Waldes. Er schleicht neben uns her, belauscht uns, beobachtet uns, zuweilen glaubt man seine Augen sehen zu können, aber sobald man hinblickt, zieht er sich ins Dunkel zurück. Die Nacht ist wundervoll! Ja, diese Nacht ist so herrlich! Fühlen Sie? Sprechen Sie ein wenig, es ist so schön die Stimme einer Frau des Nachts im Walde zu hören. Ihre Stimme ist sehr schön und weich. Sie sprechen auch ein wenig eigentümlich, einen fremden Akzent —“

„Das ist gemacht,“ sagte Adele. „Ich liebe das Fremde!“ Sie lächelte und sah Grau an, dann blickte sie wieder zu Boden und fuhr fort: „Wie leid tut es mir nun doch, daß Sie auf dem Liederkranzball nicht in ein Gespräch mit dem Baron gekommen sind, Sie würden eine ganz andere Meinung von ihm bekommen haben. Er ist sehr gebildet und sehr klug und liebenswürdig. Freilich, er ist zumeist so müde, daß er nicht spricht. Er liebt das Herrische, er hat zwei schwere Duelle ausgefochten; wegen seines Armes konnte er ja nicht dienen, aber er ist trotzdem mit Leib und Seele Offizier. Ich liebe ebenfalls das Heldenhafte, Kampf und Krieg und was es auch sein mag. Das Leben aufs Spiel setzen, ein Leben unter Gefahr — ich liebe das! Der Baron ist ja nicht gerade schön, aber er sieht sehr gut aus, männlich sieht er aus, sogar etwas rauh. Aber so soll ein Mann aussehen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er etwas altmodisch denkt, das ist der Einfluß seiner Familie, seiner Mutter und Tanten — er sagt zum Beispiel, der Mann gehört auf die Jagd und die Frau ins Boudoir, der Mann ist der Beschützer der Frau und betet sie an, die Frau habe nichts anderes zu tun als schön zu sein und ihn zu lieben und ihre Kinder zu erziehen. Nun, Sie sagen gar nichts, Herr Grau?“

„Ich habe kein Recht, mich zu äußern,“ antwortete Grau ausweichend.

„So müssen Sie es nicht auffassen, Herr Grau.“ Adele lachte leise. „Es ist ja gut, wenn wir uns aussprechen, nicht wahr? Vielleicht tun Sie dem Baron doch unrecht —“

„Ich habe ja gar keine Meinung über den Baron,“ entgegnete Grau, „ich kenne ihn ja gar nicht. Es handelt sich ja auch nicht darum, ich glaube nur —“

„Nun?“

„Es ist vielleicht besser, wenn ich nichts sage. Ich habe kein Recht dazu.“

„Aber ich bitte Sie darum, Herr Grau.“

Grau schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Recht dazu, Fräulein von Hennenbach. Aber ich kann eines eigentümlichen Gefühls nicht Herr werden — ich fühle das, fühle das so unsagbar stark — daß in Ihrem Verhältnisse zu dem Baron etwas nicht in Ordnung ist. Verzeihen Sie mir, bitte. Vielleicht ist Ihre Neigung —“

„Ich liebe ihn sehr!“

„Aber vielleicht lieben Sie ihn nicht genug, um seine Frau zu werden?“

Adele blickte auf den weißen Stamm einer kleinen Birke, der im Mondlicht leuchtete, und sagte: „Ich liebe ihn, ja. Oft denke ich, ich liebe ihn nicht genug, aber je mehr ich ihn kennen lerne, desto mehr liebe ich ihn. Ganz abgesehen davon, zumeist sind sogenannte Vernunftehen glücklicher als Liebesheiraten — ich sage ja nicht, daß ich den Baron nicht liebe, aber —“

„Trotzdem erscheint es mir besser, an einer Liebesheirat zugrunde zu gehen als in einer Vernunftehe zufrieden zu werden,“ entgegnete Grau.

Adele lachte leise. „Sie sind ein Träumer!“ sagte sie. „Man nimmt die Ehe ja gar nicht so wichtig in meinen Kreisen.“

„Nicht?“ fragte Grau verwundert, beinahe erschrocken.

„O nein,“ sagte Adele und fröstelte, während ihre Lippen lächelten.

„Unmöglich!“ Grau schüttelte den Kopf. „Ich habe darüber nachgedacht,“ sagte er nach einer Weile, „und die Ehe gehört zu jenen Dingen, die ich nie zu Ende denken kann. Es gehört ein beispielloser Mut oder ein großer Leichtsinn dazu, eine Ehe zu schließen. Ja, denken Sie sich: Die Ehe! Sie sind nicht mehr allein, Sie sind zu zweien. Sie haben zu jemandem gesagt, wir wollen bis zum Tode zusammen durchs Leben gehen! Sie sind plötzlich ein anderer Mensch geworden. Es ist als ob Sie immerfort einen vornehmen Gast im Hause hätten. Sie waren vielleicht gut genug, um allein zu sein, aber jetzt finden Sie, daß Sie sich bessern müssen, in jeder Beziehung, da Sie den Gast im Hause haben. Wenn Sie allein sind und Sie haben einen schlechten oder kleinlichen Gedanken, Sie sind allein, versuchen Sie mit sich selbst fertig zu werden — nun aber? Wenn er wüßte, daß Sie diesen niedrigen Gedanken haben, würde er nicht von Ihnen gehen? Beleidigen Sie ihn nicht durch den niedrigen Gedanken oder ein armseliges, kleinliches Gefühl. Sie müssen Ihre Gedanken und Gefühle veredeln, nun, da Sie den Gast im Hause haben, gleichsam geschmückt wie zu einem Feste muß allezeit Ihre Seele sein. Sie konnten früher nachlässig und träge sein, aber jetzt wäre es ja eine Kränkung Ihres Gastes, Sie müssen dreifach eifrig sein. Sie müssen den Gast bewirten mit guten Gedanken und großen Gefühlen, Sie müssen seiner würdig zu werden trachten. Das Leben ist lang und Sie müssen doch jeden, jeden Tag und jede, jede Stunde und jede, jede Minute mit einer festtäglich geschmückten Seele vor ihn hintreten. Und jeden, jeden Tag, der kommt, müssen Sie neu sein, erneuert, denn Sie dürfen ja nicht still stehen, was würde Ihr Gast dazu sagen? Keinen unschönen Gedanken, kein unschönes Gefühl dürfen Sie mehr haben, ja nicht einmal eine unschöne Gebärde — keine Müdigkeit, kein Sichgehenlassen — es ist ja schwer, es ist ja unendlich schwer und Sie müssen alle Ihre Kraft zusammennehmen, um vor Ihrem Gaste bestehen zu können, um seine Nachsicht zu verdienen.“

„Ich denke, es ist, als ob die beiden, die bis zum Tode durchs Leben zusammen wandern — als ob die beiden eine Kathedrale zusammen errichten wollten — eine herrliche stolze Kathedrale aus Schönheit und Reinheit. Von dem Tage an, da sie einander begegneten, beginnen sie zu bauen. Nur mit den schönsten und reinsten Gefühlen können sie die Kathedrale errichten. Die beiden sind vielleicht im Leben schon da und dort angestreift — aber die Kathedrale, die Idee ihrer Ehe, die können sie ja herrlich und groß errichten. Und die beiden haben vielleicht nicht das Recht, diese heilige Kathedrale zu betreten, die sie bauten und schmückten, nein, vielleicht ist die Kathedrale nur ein großes kühles Heiligtum über der Wiege ihres Kindes!“

„Ach, es ist ja so schwer, so schwer!“ fügte Grau kopfschüttelnd hinzu. „Und denen, die es wagen, denen soll man Glück und Ausdauer wünschen! Ja, man soll für sie beten. All die Tausende, die es nicht wagen oder nicht wagen können, die sollen für die wenigen beten, die es wagen. Weil es so schwer ist — und so herrlich, es zu unternehmen.“

Adele sah lächelnd auf den Weg. „Wie Sie es doch auffassen!“ sagte sie leise. „Und die Liebe? Wie denken Sie darüber?“

Sie wandte Grau ihre hellen Augen zu.

Grau lauschte. „Hören Sie das feine Sausen, das rings im Walde geht?“ sagte er. „Hören Sie es? Bald ist es ferne, bald ist es ganz nahe bei uns. Es macht alles zum Traume, daß wir hier gehen, ist es nicht wie ein Traum? Sind wir nicht wie ein Traum im dunkeln Haupte des Waldes? Ich lebe und bin reich, weil ich hier mit Ihnen gehen darf. Sie hören mir zu, wenn ich spreche, wenn ich in meinen dürftigen Worten auszudrücken versuche, was ich empfinde, wie ich es empfinde, so geduldig und aufmerksam hören Sie mir zu. Ich danke Ihnen dafür, Fräulein Adele. Ich bin Ihr Freund und das macht mich glücklich. Sie sagten vorhin, es freue Sie, wie glücklich mich das gemacht hat!“

„Sie fragen, wie ich über die Liebe denke? Lassen Sie mir Zeit. Sehen Sie wie das Licht überall glitzert, es hängt in Tropfen an den Zweigen, es klettert an den Bäumen empor, bis in die feinsten Nadeln! Wie schön ist das! Ja, ich sage — Sie singen ein Lied, und es gibt ja wundervolle Lieder — Sie singen es und mitten darin bricht Ihre Stimme — denn plötzlich fühlten Sie, wie schön das Lied ist. So ist die Liebe! Es gibt im Werke der Orgel eine Stimme, die die menschliche Stimme heißt, ein süßer, flötender, lebendiger Ton, der durch alle andern Töne dringt, über ihnen schwebt — das ist die Liebe. Ich will Ihnen gern sagen, wie ich darüber denke — denn es ist ja so schön zu sehen, wie Sie zuhören.“

Grau schwieg eine lange Zeit und sah sie an. Er hatte plötzlich den Mut zum Sprechen verloren. Adeles Miene hatte ihn betroffen gemacht. Sie blickte auf den Boden, ihr Antlitz war kühl, fast abweisend, sie lächelte leise, fast spöttisch.

„Nun?“ sagte Adele und sah auf.

Aber Grau schwieg und blickte sie an.

„Sprechen Sie doch!“ sagte Adele ungeduldig. „Sprechen Sie doch. Es ist schön Ihnen zuzuhören und ich möchte gern wissen wie Sie über dies und jenes denken.“

Er sah, daß sie an der Lippe nagte.

„Was ist Ihnen?“ sagte er. „Ich spreche ja gern, aber was ist Ihnen? Sie erscheinen bedrückt, ja, fremd erscheinen Sie mir. Wollten Sie doch glücklich sein? Aber Sie sind ja nicht glücklich!“

Adele lachte leise. Ja, mein Gott, was tue es? Was schade es im großen und ganzen, daß sie nicht glücklich sei? Sie rechne stets damit unglücklich zu sein und zu werden, es müsse so sein. Ja, wenn man ihr hier das Glück herlege und hier das Unglück —

„So werden Sie das Glück wählen!“ sagte Grau.

„Wirklich?“ Adele sah ihn an. „Nein, nein, ich werde es nicht tun. Ich werde das Unglück wählen, es liegt in meiner Natur. Und sobald ich etwas Glück in mir fühle, zerstöre ich es ja doch! Ich würde das Unglück wählen —“ sie hielt inne und fügte zögernd und leise hinzu: „Oder würde ich das Glück wählen?“

„Sie würden es wohl tun!“ sagte Grau. „Denn alle — wie wir leben — wir mögen uns noch so gleichgültig und trotzig gebärden, wenn wir allein sind, verzehrt sich unser Herz doch vor Sehnsucht nach dem Glücke. Nein, nein, Sie sind in einem Irrtum über sich selbst befangen, wenn Sie das glauben.“

Adele nickte. „Ich bin in einem Irrtum — in einem Irrtum über mich selbst befangen,“ sagte sie. „Vielleicht, vielleicht? Oft scheint es mir selbst so, Sie haben recht. Oft scheint es mir, als ob ich meine Vision vom Leben verloren hätte. Was früher für mich groß und schön war — wüßte ich es doch noch! Ich habe mit so vielen Menschen gesprochen, jeder sagte etwas andres und keiner das gleiche, ich habe so viele Bücher gelesen und gelesen und gesucht — jeder große Geist hat mich überzeugt und mitgerissen — nun weiß ich gar nichts mehr. Wer bin ich eigentlich und was bin ich? Oft habe ich Sehnsucht nach Ruhe, nach dem Vergessen und oft bin ich müde und ich möchte mich fallen lassen — wohin ich auch falle. Ja, oft hab’ ich ein Verlangen nach unten — denn da ist kein Kampf mehr, es ist verlockend zugrunde zu gehen und gar nichts mehr zu sein. Oft habe ich diesen Wunsch, es ist die Wahrheit, ach, Sie brauchen mich nicht so entsetzt anzustarren und nicht den Kopf zu schütteln — ich kenne mich ja am besten. Wenn ich nun den Baron heirate, was schadet es? Zumal er mir ja sehr sympathisch ist. Sie können recht haben, es ist vielleicht nicht alles, wie es sein sollte und wie ich es mir wünsche, aber was schadet es, was liegt schließlich an mir? Nichts. Alle machen es so, denn alle werden nach und nach müde und geben sich auf und gehen nach unten. Vielleicht ist das ein Gesetz der menschlichen Natur? Ach, lassen Sie mich sprechen — ich liebe den Reichtum und der Baron ist reich. Ich habe unaussprechliche Furcht vor Armut und Dürftigkeit — grauenhafte Furcht und vor nichts habe ich solche Furcht wie davor, selbst vor dem Tode nicht. Ich liebe Bequemlichkeit, Luxus und Nichtstun. Ich bin ehrlich und sage Ihnen all das, es ist die volle Wahrheit. Oft denke ich an das Glück und an die Liebe — so fern ist es für mich — und ich denke, es ist nicht für mich, es liegt nicht in meiner Natur. Wenn ich eine junge Schwester hätte, die ich liebte, sie sollte es haben, das Glück und die Liebe, die Schönheiten des Lebens, sie und ich würde es mit ansehen. Für mich ist es ja nicht geschaffen. Ich höre Ihnen zu, ja, es lockt mich, aber ich glaube nicht daran, das ist es. Es ist alles so schön, zu schön, ich glaube nicht daran.“

Sie schwieg und brach einen Zweig in kleine Stücke. Die Stücke streute sie auf den Weg. Das letzte Stückchen wollte nicht brechen, sie bog es zwischen den Fingern, aber es brach nicht. Sie ließ es fallen.

Ihre Schritte glitten lautlos dahin, denn hier lagen Nadeln und der Weg war von Moos überwachsen.

Es hauchte hoch oben in den Wipfeln. Wie ein Bach im flachen Lande, mit vielen Inseln und Kanälen und Adern, so floß über ihren Häuptern der tiefblaue Nachthimmel dahin, kleine und große Sterne trieben darauf und glitzerten.

Nach langem Schweigen sagte Grau: „Wir Menschen fürchten uns ja nicht so sehr vor dem Unglück, aber es graut uns davor elend zu werden!“

Adele zuckte zusammen.

„Davor graut Ihnen ja so sehr!“ fuhr Grau eindringlicher fort, indem er Adeles Arm leise berührte. Ihr erschrockener Blick streifte ihn. „Tag und Nacht graut Ihnen davor. Nicht davor würde Ihnen grauen, etwas Schlechtes zu begehen, denn es wäre vielleicht Trotz und Wille und Tat darin, aber es graut Ihnen davor unterzusinken in Unwürdigkeit. Ich habe auch wieder von jener Frau geträumt, die Ihnen ähnlich sieht — der Traum erschreckte mich, warnte mich —“

Adele machte eine abwehrende, fliehende Bewegung. Aber Grau berührte wiederum ihren Arm.

„Begehen Sie kein Verbrechen an Ihrer Seele, Adele!“ flüsterte er.

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich doch!“ sagte Adele bleich. „Weshalb quälen Sie mich denn?“

Sie legte die Hände an die Ohren, als Grau wieder zu sprechen begann, und sah ihn mit zu schmalen Spalten zusammengezogenen Augen an.

Grau blickte sie an. Er war bleich vor Erregung.

„Verzeihen Sie!“ stammelte er. „Oh, was habe ich doch getan. Es ist ja so unrecht von mir.“

Er lächelte schmerzlich und fuhr leise fort: „Ich sehe Sie an, wie schön sind Sie doch! Wie Sie den Kopf tragen, Ihr Gang, Ihr Wandeln! Es steht ein großer Geist auf und alle Menschen lauschen auf ihn und sie sagen: Der Weltgeist spricht aus ihm. Sie sehen eine Rose an, die Rose ist schön, ein eigentümliches Gefühl erfaßt sie: Der Weltgeist ist in der Rose, er duftet aus ihr, er glänzt aus ihr. Ich sehe Sie an. Adele — der Weltgeist strahlt aus Ihnen! Sie sind seine Priesterin, geschaffen umherzugehen und die Menschen mit Ehrfurcht zu erfüllen vor seinem Werke. Ihre Bahn sollte wie die Bahn eines Gestirnes sein, erhaben und gewaltig und sichtbar allen Blicken. Das ist Ihre Mission, ich will Ihnen sagen, was Ihre Mission ist! Das ist sie! So fasse ich es auf, so scheint es mir. Jeder Mensch muß doch eine bestimmte Mission haben und das ist die Ihrige!“

Adele hatte die Hände halb sinken lassen und hörte ihm zu, den Blick in seine Augen gerichtet.

„Sie sind ein vollendetes Werk des Schöpfers und haben Ihre Mission zu erfüllen,“ setzte Grau hinzu, „und deshalb hat er Ihnen jenes schreckliche Grauen vor der Unwürdigkeit in die Brust gelegt.“

„Nein, nein —“ stammelte Adele und entfloh.

„Adele!“ sagte Grau und sie blieb stehen. Ihre Lippen bebten und sie sah ihn nicht an. Sie hatte abwehrend die Hände an die Brust gezogen und Grau ergriff ihre Hände.

Er sah sie an und lächelte wehmütig und scheu. „Sie sollen nicht vor mir fliehen,“ flüsterte er, „denn ich habe ja kein Arg im Herzen gegen Sie. Hören Sie: Einmal lag ich als Knabe in einer Wiese und alles war so wunderbar schön, so ganz anders schön, und ich hörte zum erstenmal eine Stimme in mir sprechen. Dieser Augenblick bestimmte mein Leben. Als ich Abschied nahm aus dem Blindeninstitut, da kamen alle meine Kinder und küßten mich auf die Wange. Alle waren blind und alle spitzten die Lippen und drückten sie heiß an meine Wange. Was ich damals fühlte! Seitdem änderte sich abermals mein Leben. Dies sind meine größten und schönsten Erlebnisse. Dann sah ich Sie — ich war ja so scheu Ihnen gegenüber, weil Sie so vornehm und schön gekleidet sind und weil Sie so schön sind. Aber daß ich Ihr Freund geworden bin, das ist das schönste und größte Erlebnis meines Lebens, Adele. Aus Ihnen strömte mir Kraft und mein Leben wird sich ändern, ich weiß es, vielleicht werde ich jetzt gut und gerecht werden. Ich danke Ihnen, Adele! Sie sollen mir vergeben, alles vergeben. Was ich jetzt sagte, was ich über Ihr Verhältnis zu dem Baron sagte, alles, alles, ich habe ja nicht das Recht dazu. Als Sie mir sagten, daß Sie reisen wollten, von diesem Augenblick an hatte ich nicht mehr das Recht zu sprechen. Sie wissen wohl warum, Sie wissen es recht gut.“

Adele zog ihre Hände zurück und blickte ihn erschrocken an, aber in ihren Augen begann es zu leuchten.

„Es ist nicht nötig, daß Sie mir antworten, ich werde Sie nichts fragen. Sie sollen nichts sprechen, kein Wort, ach, das will ich ja alles nicht. Reisen Sie! Reisen Sie ruhig. Ich möchte nicht auf Ihre Entschlüsse einwirken. Sie gehen, gut, ich bleibe. Sie sollen mir nicht antworten, ich frage nichts, aber ich will Ihnen alles sagen. Ich habe Sie geliebt, als ich Ihr Haar gesehen hatte, Ihren Gang. Das war als ich ankam hier, auf dem Bahnhof. Aber ich habe es nicht gewußt. Der Schnee lag auf dem Dache Ihres Hauses und er kam mir wie etwas ganz Besonderes vor. Im Frühling stand in Ihrem Garten ein blühender Apfelbaum und ihn liebte ich am meisten von all den blühenden Bäumen. Nie in meinem Leben werde ich ihn mehr vergessen, seine Gestalt, seinen Glanz in der Sonne, nie mehr, obgleich ich so viele blühende Apfelbäume gesehen habe. Damals wußte ich das schon! Wissen Sie, wie das ist, Sie sitzen ruhig und plötzlich steigt Ihnen das Blut zu Kopf, Ihr Kopf wird heiß, glühend heiß, und Sie wissen eigentlich nicht warum — ein Gedanke, eine Ahnung, die in Ihnen aufsteigt! So kam es über mich und dann wußte ich es. Ich habe nicht gegen das Gefühl angekämpft, nein, ich habe es nicht getan, denn tat es Ihnen weh, tat es Ihnen Unehre? Ich habe Ihren Namen nie ausgesprochen, aber er war in mir, er lebte in mir verborgen, wie ein Vogel im Walde lebt. Wenn Sie kamen, wenn Sie gingen, wie mir da war! Nie werde ich es sagen können. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang — und ich sagte guten Tag und Adieu, kleine Worte.“

Je länger Grau sprach, desto bleicher wurde er, desto verzückter wurde sein rasches Lächeln, desto glänzender und begeisterter sein Blick. Adele wich gleichsam mehr und mehr zurück, obgleich sie sich nicht von der Stelle bewegte, der Ausdruck ihrer Augen wechselte rasch, Freude, Schreck, Liebe, Scheu.

Aber Grau hielt ihre beiden Hände und sprach und sprach.

„Ich werde die Stelle in meinem Zimmer nicht mehr vergessen, wo Sie standen, immer werde ich Sie sehen und ob ich auch hundertmal im Tage hin- und herginge. Ich sage es Ihnen, ich muß, Sie brauchen mir nicht zu antworten. Sie haben mich ja so reich beschenkt —“

Plötzlich stockte er, er wurde totenbleich, er zitterte, er schloß die Augen und schwankte.

„Was ist Ihnen?“ fragte Adele.

Er lächelte und schüttelte den Kopf und öffnete wieder die Augen. Er atmete tief auf.

„Verzeihung,“ sagte er, „es war nur ein Augenblick — Antworten Sie mir nicht, ich frage nichts, ich will nichts — ich danke Ihnen, daß Sie zuhörten. Vergeben Sie mir. Reisen Sie! Reisen Sie und werden Sie glücklich.“

Adele faßte Graus Hände fester, sie schüttelte leicht den Kopf, schüttelte ihn immerzu, ein feines, frohes Lächeln erschien auf ihren Wangen.

„Nein, nein!“ flüsterte sie. „Ich werde nicht reisen, nein, nein.“

Elftes Kapitel

G rau ging mit Adele durch den stillen Wald.

„Liebe ist ja alles. Adele, Liebe ist ja überall, ohne Liebe ist ja nichts,“ sagte er und küßte ihre Hand.

„Sie ist so alt wie Gott und war im ersten Lichte und ist im Licht und ist das Beben des Lichtes. Sie hat alles durchdrungen und du findest kein Atom der Welt, das sie nicht durchdrungen hätte. Im Schlechten ein gehetzter Funke, im Guten ein Feuer.“

„Ohne Liebe gibt es ja kein Verstehen, ohne Liebe gibt es keine Wahrheit. Sie ist die Seele der Welt, das Geheimnis und sein Schlüssel. Sie ist das Ganze und der kleinste Teil.“

„Dein Leben ist mein Leben, Adele, dein Tod mein Tod, dein Tag mein Tag, deine Nacht meine Nacht,“ flüsterte er und küßte ihr die Hand. „Warte.“ Er bückte sich.

„Willst du nicht den Tau haben, Adele? Nimm ihn, öffne deine Hand, daß ich ihn aus den Blumen in deine Hand klopfe. Das ist der Tau, Adele!“

Adele lachte. Niemals lachte sie so glücklich.

„Ja, laß uns leben!“ rief sie aus. „Laß uns fröhlich sein und leben. Fliehe mit mir, ich will dein sein!“

— — — — — — — —

Der Tag nahte und Grau saß oben auf der Höhe auf einem Stein. Er regte sich nicht, er saß wie ohne Leben, er lächelte müde, seine Augen leuchteten.

„Es ist zuviel,“ flüsterte er, „es ist zuviel!“

Die Vögel begannen zu zwitschern. Er hörte es. Tau fiel ins Gras, kleine glitzernde Welten tropften von den Bäumen. Er regte sich nicht. Er lauschte.

Grau, Grau, der Glückliche! zwitscherten die Vögel. Er lauschte: Im ganzen weiten Walde zwitscherten Tausende von Vögeln: Grau, Grau, der Glückliche!

Die Sonne ging auf. Er sah sie kommen. Er lächelte. Feurige Wolken flogen im Osten herauf, Milliarden von Seelen standen auf den goldenen Wolken und winkten und fuhren dahin über die Erde. Das Gestirn erhob sich im Triumph. Da glänzte die Ebene, da glänzte die Welt.

Die Erde ist eine Freudenträne, die aus Gottes Auge fiel, dachte Grau und stand auf und badete sein Gesicht im Lichte.

Zwölftes Kapitel

G rau ging rasch und schwebend einher. Er hatte ein Gefühl, als sei seine Brust angefüllt mit Licht und blendender Helligkeit. Er spürte den Schein seiner Augen.

Alle Dinge kamen ihm verändert vor, schöner, verklärt, die Blumen leuchtender, die Haut der Kindergesichter heller, die Augen der Menschen strahlender. Als er durch seinen kleinen Garten schritt, der in der Frühsonne leuchtete, blieb er erstaunt stehen; er hatte ja nie zuvor gesehen, wie schön der kleine Garten eigentlich war. Alle Blumen schienen ihm zuzulächeln.

Er setzte sich augenblicklich nieder und schrieb fieberhaft einige Briefe. Ja, du guter Gott, was gab es doch alles zu tun! Verbindungen mußten angeknüpft werden, alles wollte ja vorbereitet sein. Er wollte arbeiten, arbeiten, Tag und Nacht wollte er arbeiten, es war ja eine Freude, eine Lust. Alles, alles mußte anders werden, sein ganzes Leben neu; keine Trägheit und Schlaffheit mehr, eifriger, reger, tätiger mußte er werden!

Dann hatte er eine Unterredung mit Eisenhut. Eisenhut verstand ihn nicht und fragte neugierig, aber Grau ließ sich nicht auf Erklärungen ein. Auf Eisenhut war in jedem Falle zu rechnen. „Danke, Eisenhut, Freund! Adieu!“

War es nicht sonderbar, daß heute alle Menschen lächelten? Da gingen sie dahin mit einem kleinen Glück im Herzen. Grau hatte Lust, ihre Hände zu erfassen, sie zu umarmen, er grüßte liebenswürdiger als je, sah ihn jemand an, so hatte er sofort ein freundliches Wort für ihn. Die Leute sahen ihm erstaunt ins Gesicht. Ein glückliches Lächeln lag auf seinen knabenhaften, roten Lippen, seine Augen leuchteten wie stille Feuer. Er hatte es sehr eilig und besuchte einen alten Tagelöhner, plauderte mit ihm, ermutigte ihn, dann sprach er mit einem Stadtrat, jenem Messerschmied Ulrich, dessen Bart Ähnlichkeit hatte mit einem Zopfe, um dem Tagelöhner einen Platz im Armenhaus zu verschaffen. Hierauf gab er zwei Stunden Unterricht in der Schule und als er damit fertig war, kaufte er für zwanzig Pfennig Kuchen und lud sich eigenmächtig bei der „ewigen Braut“ zum Kaffee ein. Er traf es günstig, Fräulein Sperling war in festlicher Stimmung. Auf dem Tische stand ein Strauß von Kornblumen, heute war der Geburtstag des Bräutigams. Sie plauderten und zuweilen lachten sie beide laut heraus. Fräulein Sperling legte den weißblonden Kopf auf die Seite und lächelte Grau kokett zu.

Immer noch stand die Sonne mitten am Himmel! Wollte denn dieser Tag kein Ende nehmen?

Aber endlich wurde es dunkel und Grau verschwand irgendwohin. Er wartete oben auf der Höhe. Da saß er am Rand des Waldes, breitete die Hände vors Gesicht und lachte und weinte.

Es war ja nicht auszudenken, dieses Leben, dieser Glanz vor ihm, dieser Reichtum, so unerwartet und plötzlich! Daß ihm, ihm, ihm dieses Glück beschieden wurde, warum, weshalb? Gerade ihm dieses verwirrende Glück? Er konnte nicht daran denken. Er konnte nicht an die Zukunft denken, nein, das blendete, er konnte nicht an die vergangene Nacht denken, nein, nein, das funkelte. Er hörte ja immer noch wie die Vögel heute morgen im Walde zwitscherten —

Adele kam nicht in der ersten Nacht, auch nicht in der zweiten und dritten. Aber Grau erhielt ein Billet. „Mama ist nicht wohl. Ich bin dein, warte!“ stand darin, sonst nichts.

Gewiß, er wartete!

— — — — — — — —

„Schöne Tage sind nun für dich gekommen, mein Herz,“ sprach Grau zu seinem Herzen. „Freude und Glück, du hast Gnade gefunden vor dem Schicksal. Jubele!“

Tag und Nacht pochte Graus Herz laut in der Brust.

„Es ist schön geradeaus zu blicken, nach oben und unten, alle Dinge sind freundlich. Es ist schön die Augen zu schließen und in die Brust hineinzublicken, wo es funkelt von Herrlichkeiten.“

Die Tage waren schön, und schöner noch waren die Nächte. Die Tage waren sonnig und heiß, die Nächte warm und nahezu silberweiß vom Mond und den vielen, vielen Sternen. Die Stadt lag ganz in Sonne gebettet und funkelte wie ein Schmuck in einem Blumenstrauß. Freundliche Wolken zogen langsam über den tiefblauen, glänzenden Himmel, oft blieben sie stundenlang an der gleichen Stelle stehen, es war gänzlich windstill. Manchmal regnete es, nur fünf Minuten lang, während die Sonne schien, dann war die Luft um so köstlicher und alle Düfte des Sommers erwachten um so stärker.

Es war so schön und Grau war so glücklich, daß er plötzlich zu sich sagte: Könnte ich mir nicht einige Tage Ferien geben, wie? Zwei, drei Tage, an denen ich nur das Notwendige verrichte? Ja, ja, weshalb nicht, gehen und wandern, schauen und fühlen.

Er ging und ging und war immerzu unterwegs. Bald ging er in einem Eichenwalde, den die Sonne vergoldete, bald zwischen den Kornfeldern, die sich schwer neigten, wieder da genoß er die leise Musik und Erquickung eines Baches, der sich durch die Wiesen schlängelte. Freude erfüllte seine Brust. Er fühlte sich gesegnet, beschenkt, geschmückt. Zuweilen nahm er Adeles Billet aus der Tasche, las es, nickte und steckte es wieder sorgfältig ein.

„Ich darf ja nicht daran denken,“ sagte er und lachte und schüttelte den Kopf. „Es ist ja zuviel!“

Grau ging auf der Höhe, die der Sommer geschmückt hatte, es sang und klang im Tale, und er dachte an all das fröhliche Leben auf der grünen Erde. Wie es wimmelte! Überall wimmelte es, in den Städten, den Werkstätten, den Bahnhöfen, den Schiffen, den Bergwerken. Und zu denken, daß es immerzu lacht und singt auf der Erde! Da ist die Schule zu Ende, da ist eine Hochzeit, dort ist ein Bankett, ein Ball, diese Stadt hat geflaggt und in jener ist ein Feuerwerk. All die Freude, die jetzt in diesem Augenblick auf der Erde ist! Immerzu lacht und singt es auf der Erde, es lacht, kichert, jauchzt, jubelt. Und weshalb sollten die Menschen auch etwas anderes sein als die Vögel im Walde?

Grau stieg hinunter durch ein schmales sanftes Tal. Das Gras hier war saftig und vom tiefsten Grün. Er ging nach Hause und legte sich in seinem kühlen, dämmerigen Zimmer zur Ruhe nieder. Augenblicklich schlummerte er ein und obwohl er schlief, empfand er lange noch die Köstlichkeit seines Schlafes. Dann kam ein großer Tonkünstler in seinen Traum, der sich vor eine Orgel setzte und spielte. Grau saß in einem hohen Stuhle und hatte nichts zu tun als zuzuhören. Plötzlich brauste die Orgel: Auf, auf! Und er fuhr empor. Ja, es war Zeit, die Sonne war im Begriffe zu sinken.

Die Sonnte brannte noch auf seinem Rücken, als er zwischen Obstgärten und Weinpflanzungen empor zur Höhe stieg. Aus dem Walde hauchte Schwüle, Grau legte sich am Rande in das erfrischend duftende Gras, stützte den Kopf in die Hand und begann augenblicklich zu warten, obgleich er wußte, daß Adele erst kommen konnte, wenn es ganz dunkel war.

Die Sonne glühte in den sanften Höhenzügen im Westen, die gleichsam zerschmolzen und sandte breite Garben von rotem Feuer über die Ebene. Der Fluß brannte. Die Stadt unten sah aus als sei sie aus einem Berge von dunklem Golde gegraben. Der Glanz erlosch, die Wälder auf den Höhen erröteten. Im Tale stieg blauer Rauch auf wie von einem Schusse, aber er verging nicht mehr, er verteilte sich, wurde dichter und endlich erfüllte der Nebel das ganze Tal. Alle Farben erblaßten, in der Ferne blitzte ein kleines Feuer, das heller und heller flackerte. Nun war es plötzlich still geworden. In der Stadt läuteten die Glocken und dann war es lange ruhig, bis die erste Grille zu zirpen begann.

Am Himmel flimmerte ein kleiner Stern, dann tauchte der Abendstern auf, groß und feierlich, wie eine Fackel, die vor der Nacht einherschritt. Und jetzt kam die Nacht.

In der Dunkelheit, da und dort, sprühte geheimnisvolles Licht, aus der Stille kamen merkwürdige Stimmen und Laute, der Wald dehnte sich, ein warmer Strom von Wohlgerüchen zog daher, die Luft füllte sich mit Leben. Grau bekam wunderliche Besuche, kleine Milben, das Silber des Mondes auf den Schwingen, Käfer, Spinnen und Falter, fein wie ein Stückchen Seide, ein Eckchen Samt. Der Himmel war plötzlich übersät von Sternen, der Mond ging auf.

Die Sommernacht funkelte.

Wenn du das nicht fühlst? dachte Grau. Vielleicht ist es einerlei ob du gut oder schlecht bist, aber wenn du das nicht fühlst? Es gibt ja soviel Gutes, das Gute wächst ja immerzu, eine Schlechtigkeit kann es nicht schmälern und Gott wird dir vergeben. Er wird dich vielleicht wieder und wieder den Weg des Fleisches schicken, bis deine Seele edel und reif geworden ist, er wird vielleicht dem Trotzigen vergeben und dem Zweifler und seinem Feinde vielleicht, aber wenn du das nicht fühlst? Wenn du kalt bist und spottest, vielleicht hätte er dir eher die große Missetat vergeben.

Es rauschte! War sie es, die kam?

Grau wartete. Sein Herz war so reich, daß er die Stunden nicht zählte. Er lag im Grase und atmete. Je tiefer die Nacht wurde, desto tiefer atmete er und endlich atmete er wie alles ringsumher, die Bäume, die Gräser.

Und er lächelte.

Zu denken an den gewaltigen Weltenatem! Wie?

Wir spüren ihn ja nicht, aber sein Hauch traf auch die Erde, deshalb atmete sie und alles, was auf ihr ist, die Luft, das Meer, das Feuer, die Tiere, alles, alles atmet.

Zu denken, daß das ganze Weltengebäude ewig zittert und bis in die kleinsten und fernsten Teile immerzu bebt von der großen schwingenden Kraft! Wir fühlen sie ja nicht, aber sie ist in allen Dingen. Wie die Sterne schwingen, so schwingt die Erde und wie die Erde schwingt, so schwingt das Blut in den Adern der Menschen.

Und überall pocht und pulst und bebt es! In den Urwäldern, den Sümpfen, wo es gurrt und miaut, in der Brust der Vögel und des Tigers, der auf Raub ausgeht, überall pocht es, die ganze Welt ist ja nichts als ein einziges großes pochendes Herz!

Zu denken, daß sie nichts ist als ein großes pochendes Herz! All, all das zu denken!

Grau schwindelte und er schüttelte den Kopf.

Da knackt es und Schritte kamen. Adele? Nein, es war ein Reh, das aus dem Walde trat um zu äsen, ein feines, junges Tier, das sich zierlich auf den dünnen Läufen bewegte.

Und wieder wartete er und ließ sich von seinem Glücke dahintragen. Es schaukelte ihn wie ein warmes, funkelndes Meer.

Er lauschte erstaunt: In seinem linken Ohre sang jemand ein Lied!

— — — — — — — —

Nahm es denn kein Ende, dieser Reichtum, dieses Glück? Zuweilen fuhr es über ihn dahin wie ein heißer, erstickender Sturmwind, zuweilen sang es ihm leise und fein wie eines Vogels Stimme, zuweilen lag es vor ihm ruhig und unendlich wie ein goldenes sanftes Meer.

Unaufhörlich spielten die Gedanken in seinem Kopfe, seine Augen waren schärfer geworden, seine Ohren feiner, sein Gefühl lebendiger. Er fühlte wie das Zittergras zitterte, er fühlte es, wie all diese kleinen wunderschönen Herzen des Zittergrases bebten, er fühlte wie der Zweig eines Baumes schwankte. Es war so schön in dieser Welt zu leben, wo alle Dinge so schön und sinnreich waren, selbst die unscheinbarsten. Da hast du die Blumen, ganz schlichte unscheinbare Blumen, sie haben die Farben der Sonne aufgesaugt und strahlen sie zurück, sie sind aber nicht nur schön, sie stehen nicht umsonst da, sie sind notwendig für die Quellen und die Luft; da hast du die Biene, sie geht nach Honig aus, aber sie ist nicht umsonst da, sie befruchtet die Blumen. Da hast du —. Alles, alles verschlingt sich, verwebt sich, jedes kleinste Ding hat Beziehung zu dem Ganzen, geheimnisvollen Zweck, es wirkt und dient, auch der Mensch, nichts anderes als ein Faden in dem rätselhaften Gespinst der Welt ist er. Er mag ein Unternehmer sein, der eine Eisenbahn baut, ein Erfinder, ein Künstler, ein Denker, einerlei — er arbeitet für Geld und Ruhm, ja, und doch dient und wirkt er, ob er will oder nicht, der Unternehmer, der die Bahn baut, dient der Verbrüderung der Menschen, der Erfinder spart ihnen Zeit, der Künstler verfeinert Sinne und Geschmack, der Denker vertieft ihren Sinn — alle, alle arbeiten sie für den kommenden Menschen, der die Sehnsucht und der Traum der Erde ist. Ein Faden im Gespinste der Welt ist der Mensch, verwebt mit dem was lebt und tot scheint, verwandt mit dem Grase und der Eiche, dem Pferde, der Luft und den Sternen.

„Weiter, weiter! Gehen und wandern!“

Der Wald war plötzlich zu Ende und Grau trat in die blendende Sonne. Er prallte zurück. Was war das, was mitten im Tale stand in der flimmernden Sonne? Ja, das war er, er, der Mensch, das Phantom Mensch! Seine Füße standen im Tal und sein Haupt reichte bis in den blauen Äther hinein. Sein Leib leuchtete in der dampfenden Sonne, seine Augen strahlten wie Sterne.

Die Erscheinung zerrann im Augenblick wieder. Grau schloß die Augen, eine ungeheure Erschöpfung lähmte seine Glieder. Er setzte sich in das Gras und lächelte. Wie herrlich war es doch gewesen? Wie wunderbar das Leuchten dieser erhabenen Augen, nie mehr würde er es vergessen! Ja, das war er, dachte Grau, der Mensch, das Phantom! Der Mensch mit seinen Gebräuchen und Sitten, seinen Städten, seinen Kathedralen und Tempeln, seinen Statuen und Gemälden, seinen Symphonien, seinen Geweben und Maschinen, seinen Wünschen, seiner Sehnsucht, seinen Religionen, seinen Hoffnungen, seinem Schmerz, seinem Wahnsinn, seiner Liebe und seinem Haß, stärker als der Elefant, schneller als der Vogel, mit köstlichern Gesängen als des Vogels Lieder sind.

Hast du dem Menschen schon ins Auge geblickt, wie es glänzt und dunkelt und blitzt unter der Wimper, die sich hebt und senkt, hast du schon gesehen wie sich seine Lippe schwingt? Ja, auch schön ist der Mensch.

Ich und du, wir sind ja nur zwei Halme am Rain, ein Volk wie ein Baum, der seine Zeit hat, aber der Mensch ist ein Phantom, das unvergänglich ist und wächst und wächst! —

Wie er in der Sonne stand, dachte Grau, ich sah ihn ja ganz deutlich, wie kühn, wie herrlich, nie mehr werde ich diese Erscheinung vergessen.

Er sprang auf. „Weiter, weiter, gehen und wandern, meine reichen Tage sind gekommen.“

Dreizehntes Kapitel

G rau erhielt einen Brief von Adele. „Warte! Mama ist besser, ich will mich ihr anvertrauen. Habe Geduld!“ Er traf die Schwestern Sinding auf der Straße und wechselte einige Worte mit ihnen. Zufällig kamen sie auf Adele zu sprechen.

„Wir trafen sie bei unserer Stickmamsell,“ sagten die Schwestern. „Sie soll ja in den allernächsten Tagen reisen.“

„So?“

Grau lächelte so eigentümlich, daß ihn die Mädchen erstaunt anblickten.

Ja, gewiß würde Adele in den allernächsten Tagen reisen, nur wußte niemand wohin und mit wem. Der Stadt stand eine kleine Überraschung bevor.

Grau war nicht ungeduldig, er wollte gerne warten, Wochen, Monate, Jahre, wenn es sein mußte, es war ja schön zu warten, er war dankbar, daß er es durfte.

Mit jedem Tage wurde sein Herz reicher, es frohlockte, es sang in seiner Brust. Er ging durch die Wiesen, die Felder, hinauf, hinab, bald waren seine Schuhe staubig, bald blank vom Grase. Er blickte ringsumher, seine Augen waren heller, goldener geworden in den letzten Tagen, er lächelte und seine Wangen waren rot, er sang leise vor sich hin, zuweilen lachte er und er hätte nicht sagen können, worüber er gelacht hatte. Ganze Strecken lief er dahin, den Hut in der Hand, die lächelnden Augen auf den Boden geheftet. Alle Dinge sprachen zu ihm, es strömte von allen Seiten auf ihn ein, unausgesetzt, und dabei pochte immerfort das Herz in seiner Brust, pochte und klopfte und zitterte. Reiche Tage waren das.

Wie aber waren Graus Nächte?

Diese warmen, feierlichen, funkelnden Nächte, nie würde er sie vergessen können! Wenn er oben am Waldrand lag und zu dem gestirnten Himmel emporblickte. Sterne hier, Sterne dort, Sterne überall. Es war kein Platz am Himmel leer. Da schimmerten sie, die großen Sternbilder spannten sich gewaltig aus, eine aus flimmernden Sternen gefügte mächtige Brücke stieg herauf, stieg empor, verschwand in den dunkeln Tannen. Aber wenn man hinein blickte in eine Gruppe von Sternen, so entdeckte man zwischen den kleinsten Sternen abermals Sterne, feine Fünkchen, Stiche. Da leuchteten große Sterne, die man mit Ehrfurcht anblickte, kleine, die man lieben durfte. Sternschnuppen fielen, oft kurz, gleichsam entschlüpft und wieder erhascht, oft lange Streifen, die hinter dem Horizonte verschwanden.

Grau konnte stundenlang in die Sterne blicken. Sie entzückten ihn. Sie zogen ihn an. Sie winkten ihm. Verwunderung und Staunen überkam ihn, Furcht, Schrecken, Grauen, Freude. Wie die Ameise im großen Walde, so war er unter den Gestirnen. Er konnte wandern, Millionen Jahre und würde ihnen nicht näher kommen. Auf tausenden von Planeten saß in dieser Stunde ein ihm verwandtes Wesen und starrte und starrte in die Gestirne, schwindelig vor Entzücken und Grauen. Schrecklich ist es für den Menschen an den unendlichen Raum zu denken. Fernen, Entfernungen, Leere, kein Laut, von den unverständlichen Lichtsignalen zahlloser Sternenheere durchzuckt. Er taumelt, er möchte schreien und doch denkt er wieder und wieder daran. Vielleicht aber tönen da draußen Melodien, vielleicht ist der Raum nicht leer, sondern von Geistern erfüllt. Vielleicht ist er die Wohnung Gottes und plötzlich könnte den Menschen die furchtbare Frage treffen: Was wagst du es?

Schrecklich ist es für den Menschen, ein Punkt am Rande der Unendlichkeit zu sein.

Grau zitterte. Er regte sich lange nicht. Scheu erfüllte ihn. —

Alle Nächte waren verschieden und jede Nacht erlebte Grau anders, eine Nacht machte ihn reicher als die andre. Jede Nacht hatte ihr besonderes Schweigen, ihren besonderen Geruch, ihre besonderen kleinen Laute. Der Wald war in jeder Nacht ein anderer. Bald flüsterte er, bald schüttelte er sich, er konnte sein wie ein Mensch, der im Traume: Ja, ja! murmelt, wie ein junges Mädchen, das im Traume kichert. Und er konnte schweigen, so tief.

Zuweilen hörte man tief im Walde einen hohlen Ton, als ob ein Stein ins Wasser falle. Knistern, Laute. Jemand ging im Moos, ein Schritt glitt in der Dunkelheit? Sang es nicht tief drinnen im Walde?

In einer Nacht wimmelte die Luft von Milben und Faltern, in der nächsten da war kein Leben, eine Nacht war still, kein Blatt regte sich, in einer andern da koste ein leiser Wind vom Abend bis zum Morgen mit dem Grase wie mit einer Geliebten.

Die Stadt mit ihren buckligen Dächern und blinzelnden Lichtern erschien wie eine große warzige Kröte an der Edelsteine funkeln. Da lag sie und kroch an den Fluß um zu trinken. Oft war die Ebene wie schwarzer, weicher Sammet, aber im Mondschein konnte sie sein wie ein See mit kleinen wandernden Silberwellen.

Einmal entlud sich mitten in der Nacht ein Gewitter. Gespensterhafte Wolken flogen daher, die vom Himmel bis zur Erde herabhingen und die Dächer der Stadt zu streifen schienen. Sie waren tiefschwarz, aber plötzlich zerrissen sie und Grau sah in eine riesige Schmiede hinein, wo wütende Schmiede arbeiteten. Die Funken sprühten, die Hämmer dröhnten, die Bälge heulten. Die Wolken jagen über die Höhe und nun rieselten die Blitze gleichsam über den Wald und Grau stand inmitten von Feuer. Das liebte er. Das Gewitter war kurz aber es hatte in Grau ein großes Erstaunen zurückgelassen, so daß er lange nichts andres denken konnte.

Wieder, da war die Nacht süß und träumerisch und Graus Herz war still und lächelnd und voller Liebe.

„Den Kindern Rosen auf die Wangen, wenn sie schlafen,“ dachte er, „und sonnige Wiesen, wenn sie wachen, den Geknechteten gütige Anwälte unter den Mächtigen der Erde, dem Verzweifelten einen Freund!“

„Ich möchte der Traum sein und des Nachts vor den geängstigten Menschen tanzen und spielen, ich möchte ein Vogel sein und mich auf die Gitterstäbe des Gefängnisses setzen und meine schönen Farben zeigen.“

„Ich möchte ja, daß das Korn selbst auf den Dächern der Häuser wachse und die Tannen Wein und Früchte tragen, damit es keinen Hungernden mehr gäbe.“

„Dann möchte ich Ströme von Freundschaft aussenden in die Lande, damit der Hader und Zank endigte.“

„Dann möchte ich Blitze von Sehnsucht aussenden, damit sich alle Herzen entzündeten zu friedevollem Wettkampfe. Das möchte ich!“

Und Grau, der im Grase lag und ein heiteres Herz hatte, winkte leise mit der Hand und sagte: „Allen, allen Menschen einen Gruß! Dir und dir! Dem Mißmutigen einen Gruß, von jeder Glocke, jeder Geige, jeder Flöte will ich ihm einen Ton schenken, von jedem Vogel ein Federchen, das er entbehren kann, von jeder Blume ein bißchen Duft: Damit er fröhlich werde! Dem Fröhlichen einen Gruß und dir, du schönes Mädchen, das jetzt lacht, einen Gruß, und dir, dem Schwarzen einen Gruß, der jetzt im heißen Schiffsbauche arbeitet und glüht im Feuerschein! Allen, allen einen Gruß!“

Die schönste Nacht aber war die letzte Nacht, da Grau wartete.

Er war betroffen, als er auf der Höhe ankam und sich umblickte. Das glänzte! Der Fluß, die Stadt, die Ebene, die Höhenzüge, alles glänzte!

Grau war betroffen und sein Herz stand still. Da stand er und staunte. Das war ja sein Glanz, des großen Gottes Glanz, der auf Feldern und Wäldern und Dächern und Graus Hand lag! Niemals hatte er diesen Glanz vorher gesehen. Das Firmament, war es nicht wie ein gleißendes Antlitz, das sich über die Erde beugte?

Gott?

Der Furchtbare, der Pflanzen und Getier träumte? Unfaßbare Formen, verwirrende Gebilde. Sein Gedanke ward zum Feuer, sein Atem zum Gesang, seine Blicke schleuderten die tanzenden Sterne in den Raum, sein Blick fiel auf die Erde und aus dem dunkeln Haupt der Erde sprang der Mensch. Das Heben seines Lides kann das All zerschmettern, das Senken seines Lides ein neues schaffen und alles kreist und blüht wie zuvor.

War er so? Er, er? Er, nach dem die menschliche Sehnsucht irrt wie ein Hund, der die Spur des Herrn sucht.

Ist er überall? Im Grase, im Baume, in der Katze, die über die Mauer schleicht und in mir? Blickt er ewig auf mich mit einem seiner ungezählten Augen? Oder blickt er aus mir, pocht er in mir, ist er ewig in mir, in jedem Gefühle, folgt er mir jetzt in meine Gedanken? Duftet er aus der Blume?

Ist er in den Sternen, im Licht?

Oder ist er fern von allem, fern, fern von der Erde und wirft nur in Millionen Jahren einen Blick auf sie.

Ist er in der Bewegung — oder ist er das Einzige, das ruht?

Es ist ja nicht mehr wie früher, da er in einem Garten mit den Menschen wandelte, oder im Donner redete oder auf einer Wolke dahin fuhr.

Wir können ihn ja nicht mehr denken — aber wäre er nicht weniger groß, wenn wir ihn denken könnten?

Er ist eine Sehnsucht!

Plötzlich erstarrte Grau: Ist es verboten an ihn zu denken?

Verboten, verboten? Die Sterne blickten ihn an, Glanz blendete ihn. Er zitterte, sein Herz stand still und das Blut glühte in seinem Kopfe. Er hatte Furcht, entsetzliche Furcht. Er erbleichte und verhüllte sein Gesicht.

Wozu fragen, wozu denken, wozu Worte? Niederfallen, knien, sich beugen, beten, das ist alles, es gibt nichts andres.

Grau ging hinein in den Wald, wo es ganz dunkel war.

„Vergebung!“ sagte er. Der Wald rauschte.

Durch die dunkeln Wipfel blitzte ein Stern. „Goldener Gott!“ flüsterte Grau. „Auch hierher folgst du mir?“ Er schloß die Augen — da fühlte er den Duft des Waldes. „Auch hierher? Das alles ist zu gewaltig für ein Menschenherz.“ Er roch den Duft nicht mehr, da begann sein Herz zu pochen, fürchterlich schlug es. „Auch hierher folgst du mir!“

Sein Herz stand still, da begann ein großes Auge in ihm zu funkeln. — Er kniete nieder und beugte das Haupt. —

Als Grau nach langer Zeit wieder aus dem Walde trat, war er ganz blaß und erschöpft. Er lächelte matt und seine Augen standen voll Tränen. Er hatte gebetet zu seinem Gotte und ihn um Kraft angefleht, Adele würdig zu werden.

Nun fühlte er sich stark und frei. Nie hatte er sich freier und glücklicher gefühlt.

„Komm, Adele!“ rief er. „Ich bin bereit! Komm!“

Vierzehntes Kapitel

A m andern Tage kam Adele zu Grau.

„Ich komme um mit dir zu sprechen,“ begann sie hastig und streifte Grau mit einem raschen, scheuen Blick. Ihre Wangen waren gerötet, aber plötzlich erbleichte sie. Sie nahm auf einem Stuhle Platz und beugte den Kopf, so daß ihr Gesicht fast ganz unter dem hellen Sommerhut, der mit großen weißen Federn geschmückt war, verschwand.

„Höre mich an, liebster Freund,“ fuhr sie nach einer Weile ruhig fort und wandte Grau den Blick zu, „ich werde dir alles sagen. Unterbrich mich nicht, laß mich sprechen, du wirst mich verstehen. Du hast gewartet, du lieber Freund, viele Nächte — ich konnte aber nicht abkommen. Es war ganz unmöglich. Mama fühlte sich nicht wohl. Und dann hat man mich auch förmlich bewacht. Sie wußten, daß ich nachts fort war, mein Gott, wie sie es herausgebracht haben, das weiß ich nicht. Auch der Baron wußte es, an seinen Blicken konnte ich sehen, daß er es wußte. Aber er machte nicht die kleinste Anspielung. Papa gab eine Einladung — ich konnte ja nicht gut wegbleiben? Jeden Abend gab es etwas anderes und dann fühlte ich mich auch stets bewacht. Einmal da kam das fürchterliche Gewitter. Du sollst alles hören! Du ahnst es gewiß. Ich sah es dir an, auf den ersten Blick. Es war schön, als wir oben im Walde gingen, so schön war es. Ich werde diese Nacht nicht mehr vergessen, nie mehr! Wie herrlich du gesprochen hast, über die Ehe und über alles, ja, ich werde es nicht mehr vergessen. Was für schöne und tiefe Gedanken wohl in deinem Kopfe sein mögen! Ich liebe das! Ich liebe dich auch, glaube nicht, daß ich dich nicht mehr liebe, oder daß ich dich weniger liebe. Nein, nein. Ja, wie wir doch zusammen gingen und sprachen wie wirkliche Freunde. Ich denke immer daran. Als du mir den Tau gabst, da lachte ich, ich fühlte mich so frei. Ja, da war ich glücklich, in diesem Augenblick! — Ich liebe deine Gedanken, ich liebe es wie du fühlst. Du hast mich förmlich berauscht. Und deine Augen! Sie waren so schön, sie sind so schön, wie waren sie doch? Wie am Liederkranzball, du sahst mich an und ich konnte nicht mehr tanzen. Man spricht hier viel von dir. Man sagt, du habest eine solch eigentümliche Macht über die Menschen. Eine Dame hier batest du um ein altes Bett, sie hatte gar kein altes, aber sie gab dir ein neues. Sie selbst hat es mir erzählt, sie konnte nicht anders. Es war dein Blick, sagte sie.“

„Es ist mir schwer zu sprechen, wenn ich in deine Augen sehe.“

„Aber doch muß es sein, doch mußt du alles hören.

Es war so wunderbar in jener Nacht, wie ein Traum war es. Ich liebe dich, es ist wahr. So deutlich empfinde ich es jetzt, da ich dir nahe bin. Ja, wie hast du mich doch geküßt, ich mußte immer daran denken. Du liebst mich, gewiß, aber ob deine Liebe nicht erblassen würde, wer sollte das wissen können. Ob unsere Liebe immer so groß und schön bliebe? Vielleicht würden wir nie wieder so empfinden können wie in jener Nacht. Es ist nicht möglich, denke ich, die Liebe hat ihre Zeit wie alles andere und dann ist sie vorbei. Ich weiß auch nicht, ob ich dich immer so lieben würde. Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich lieben kann? Sage nichts. Es ist wahr, ich liebe Mama, aber eigentlich liebe ich doch nur mich allein.“

Ihre Lippen bebten, sie fuhr fort: „Ich wollte mit dir fliehen, nur weit fort von allem, glaube mir, ich wollte es. Als wir die Abendgesellschaft im Garten hatten, da dachte ich nur an dich. Nun wartet er, dachte ich, er wartet! Ich habe nur an dich gedacht. Am nächsten Abend, da konnte ich nicht fort, weil ich mich bewacht fühlte. Ich habe mir alles überlegt. Es kam mir so schön vor, so wundervoll. Ich wollte jeden Abend zu dir kommen und doch bereitete ich nebenbei alles zur Abreise mit dem Baron vor. Dann dachte ich, ob ich das ertragen würde auf lange Zeit? Du bist du, aber ob ich das ertrage, immer in dieser reinen und schönen Welt zu leben, immer diese Gedanken zu haben? Nein, ich glaube nicht. Du hast mich berauscht, so war es. Schon als ich dich zuerst sah, hatte ich ein so eigentümliches Gefühl. Wenn ich doch wüßte, wie er ist, dachte ich. Es zog mich zu dir. Du hast mich trunken gemacht in jener Nacht. Ja, so könnte es sein, es könnte ja so sein, das wäre das Leben — aber ich bin ja nicht dafür geschaffen. Ich liebe dich, aber auch du bist nicht der Rechte für mich. Ich muß es sagen, verzeihe mir, ich will ja ehrlich sein. Du nicht und auch der Baron nicht. Sprich nichts, laß mich alles sagen.“

„Ich habe mich neulich auch über den Baron geäußert, ich habe gesagt, er ist beschränkt und in mancher Beziehung roh, das tut mir nun leid, denn er hat mir und meiner Familie nur Gutes erwiesen. Er hat andere Gedanken und vielleicht sind sie nicht so schön und groß wie die deinigen, er ist auch nicht herzlos, er verbirgt nur sein Herz. Doch wozu sage ich all das? Er ist mir nicht unsympathisch, das wolle ich sagen.“

Sie schwieg und wandte die hellen, von den schwarzen Wimpern umsäumten Augen dem Fenster zu und sah hinaus in den Garten. In Eisenhuts Kirschbäumen lärmten die Vögel. Ihr Blick ging in die Leere, sie sah nichts. Sie nagte an der Lippe. Dann wandte sie das Gesicht Grau zu und sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an. Sie lächelte schmerzlich. „Ich habe meinen Entschluß gefaßt,“ fuhr sie leise fort, „er ist nicht mehr zu ändern. Ich will dir sagen, warum du nicht der Rechte für mich bist. Du bist zu gut und fein. Du würdest mich nie zu etwas zwingen und ich würde nie Furcht vor dir haben. Ich sage ja nicht, daß ich das wünsche, aber du solltest ein starker Mann sein, vor dem man Furcht haben könnte! Verzeihe mir, es ist ja so schwer für mich, die richtigen Worte zu finden. Es wäre schön mit dir, ich fühle es, ich habe geträumt und geträumt, aber du bist doch nicht der Rechte.“

„So bleich bist du, totenbleich, aber du bist doch ruhig. Ich liebe dich, ach, glaube doch nicht, daß ich dich nicht mehr liebe! Du hast vielleicht größere Kräfte in dir und bist vielleicht viel stärker als all die andern, die sich so stark und hart gebärden. Du gebrauchst deine Kraft nur nicht. Aber trotzdem bist du nicht der Rechte — auch der Baron nicht. Aber es muß ja sein! Du sollst mein Freund sein, ja immer, immer werde ich an dich denken und davon träumen, wie es wäre, bei dir zu sein! Aber es ist ja unmöglich.“

„Ich sagte, ich will dein sein und vielleicht sollte ich es auch. Aber du bist nicht ganz der Richtige, nun sollte ich auch keinem andern gehören. Aber das geht ja nicht. — Ich kann dir ja nicht alles sagen! Wie es bei mir zu Hause steht! Mama sollte in Bäder, aber wir sind ja nicht so reich, mein Bruder verdient nichts, die Pension meines Vaters reicht nicht weit. Und ich, auch ich koste Geld — so töricht ist das Leben, alles, alles kostet Geld — und die Bäder, die Mama aufsuchen soll — es kann ja nicht sein. Versprich mir, es ruhig zu ertragen, sei groß und stolz! Es muß ja sein. Sage kein Wort dagegen, ich habe alles überdacht. Du selbst hast ja gesagt, der Baron sei ein sympathischer und guter Mann, nicht wahr. Er liebt mich, er wird alles für mich tun, vielleicht wäre ich ja mit dir glücklicher geworden. Aber es ist ja nicht möglich.“

„Es war nicht leicht für mich zu dir zu gehen und all das zu sagen — beinahe hätte ich dir nur einen Brief geschrieben. Ja, ich habe es getan, drei Tage schrieb ich daran — aber dann habe ich so große Sehnsucht gehabt, dich noch einmal zu sehen. Du bist so schön, das habe ich gedacht, als ich dich zum ersten Male sah. Wie deine Augen glänzen. Sie glänzen genau wie Susannas Augen, wenn sie Fieber hatte. Wie gut bist du auch gegen Susanna gewesen!“

Adeles Lippen bebten. „Lebe wohl!“ sagte sie.

„Es gibt ja keinen Ausweg. Du weißt nicht alles. Was könnte ich tun? Nichts würde etwas helfen. Es hat nichts geholfen, daß ich zu Eisenhut ging und mich vor ihm demütigte und ihn streichelte — wie ein Tropfen auf einen heißen Stein war es ja — es hat auch nichts geholfen, daß das Haus abbrannte — es mußte ja brennen! — es mußte ja brennen! — auch das hat nichts geholfen. Ich liebe Mama. Aber das ist nicht alles. Ich liebe mich! Ich habe Furcht vor der Armut, schreckliche Furcht vor der Dürftigkeit, das ist die Wahrheit. Ich habe auch den Wunsch alles zu zerstören und auch mich. Du bist so gut und schön, ich werde immer, immer an dich denken — aber es gibt keinen, keinen Ausweg mehr. Sage nichts, ich beschwöre dich, sage kein Wort dagegen, es gibt nichts anderes mehr. Um dich ist es mir schrecklich leid, um dich. Ich gewöhne mich an alles. Lebe wohl!“

Sie umschlang Grau und preßte ihm einen langen Kuß auf den Mund.

„Lebe wohl, Adele!“

Sie ging. Sie winkte noch den ganzen Zaun entlang, sie ging rückwärts und winkte. Sie war gegangen.

Grau war allein. Er setzte sich auf einen Stuhl. Da saß er und es wurde dunkel, er regte sich nicht. Die Glocken läuteten schrecklich.

Sein Gesicht hatte den Ausdruck des Staunens angenommen. Die Brauen waren in die Höhe gezogen, die Augen waren groß, der Mund stand halb offen.

Die ganze Nacht saß er so und als der Morgen kam, saß er immer noch auf dem Stuhl und sein Gesicht staunte.

Fünfzehntes Kapitel

G rau stand auf. Es ziemt einem Manne dem Schicksal ins Antlitz zu blicken ohne zu zittern, sagte er. Aber seine Knie bebten, ihm schwindelte. Nun erst fühlte er, daß seine Stirne glühte. Er hatte Fieber. Er legte sich auf das Sofa und blickte zur Decke empor. Er staunte. Sein Gesicht war erstarrt in einem großen, schrecklichen Staunen.

Die Schwestern Sinding stiegen die Stufen herauf und plauderten von Adele. „Wie ruhig und gefaßt sie Abschied nahm!“ sagte Marie Sinding, die ein wenig mit der Zunge anstieß.

„Ja, so merkwürdig ruhig. Sie lachte und plauderte bis der Zug fuhr. Sie beherrscht sich so. Wir sind nicht so — haha!“

„Nein, nein!“ Die Schwestern lachten.

Plötzlich sagte eine tiefe Männerstimme: „Was wird der Tennisklub als Hochzeitsgeschenk geben?“

Grau lag still. Er regte sich nicht. Er hörte wohl, was die Mädchen sagten, er lächelte nicht, er weinte nicht, er staunte. Gegen Abend schleppte er sich an den Schreibtisch und schrieb so gut es ging einen Brief an einen Gärtner, bei dem er einige Tage zubringen wollte. Dann versank er wieder in ein leichtes, fast angenehmes Fieber. Er lag einige Tage auf dem Sofa, er fieberte, schlief, aber selbst im Schlafe wich der Ausdruck des Staunens nicht aus seinem Gesichte.

Die Antwort des Gärtners traf ein. Grau packte langsam, mit Anwendung all der Klarheit, die ihm das Fieber noch ließ, seine Sachen, auch den roten gestickten Reisesack mit der zornig aussehenden Henne. Er füllte nochmals den Teller für seinen Kostgänger, den gelben, zottigen Hund und legte alle Speisereste unter den Schrank für die Maus. „Eine Maus findet ja immer etwas,“ murmelte er vor sich hin und wiegte langsam den Kopf hin und her, „sie ist auch klein und ißt nicht viel.“

Es ist Zeit, Zeit! flüsterte eine Stimme in ihm. Er antwortete: „Ja!“ und ging.

Er wollte Mütterchen Adieu sagen und wählte den Weg durch den Wald, hoch über der Stadt. Er ging langsam und trotzdem schmerzte seine Brust und glühte seine Stirn.

Die Sonne schickte sich an zu sinken, sie war verborgen hinter einer langen Wolke, deren Ränder gleißten, der Himmel war weinrot. Das Tal schien schon leise zu schlummern. Aber da zerschmolz der untere Rand der Wolke und die Sonne flammte plötzlich hell auf. Das Tal funkelte und erwachte wieder, wie ein Kind, das nochmals lebhaft wird, wenn die Mutter mit dem Lichte durchs Zimmer geht.

Grau nahm den Hut ab, er strich sich das feuchte Haar aus der Stirn und versuchte zu denken, das zu erfassen, was ihn so mächtig beschäftigte. Da stand er lange Zeit, die Brauen hoch gezogen, den Mund halb offen und starrte mit großen Augen in die sinkende Sonne. Endlich lachte er. Er lachte leise und fiebrisch und nickte. Unklare Gedanken zuckten durch seinen Kopf, daß das Tal da unten ein Altar sei, auf dem zur Ehre Gottes geopfert werde, daß die Menschen kleine wandernde Sonnenstäubchen seien und tausend Altäre bauten zur Ehre Gottes. Ach, er konnte ja nicht denken, aber er fühlte, daß etwas Herrliches in ihm war. Ihre Kunst, ihre Wissenschaft waren Altäre und sie opferten Tag und Nacht darauf.

Er sah sie wandern, zu Millionen, diese kleinen Sonnenstäubchen und opfern. Sie zerschmolzen, Königreiche und Völker und Rassen zerschmolzen, eine neue Rasse ging daraus hervor, eine herrliche Rasse. Neue Städte, neue Tempel, immer herrlicher und schöner. Ein Jubelbrausen künftiger Jahrtausende — Schönheit, Adel —

„Es ist ja alles gut, alles gut!“ sagte Grau und lachte. Er war nicht imstande zu denken, aber eine mächtige Freude durchströmte ihn. Er begann rasch den Weg hinab zu steigen und lachte immerzu vor sich hin.

So groß, so herrlich und unfaßbar schön war ja alles!

Auf der Brücke traf er einen Landstreicher, einen kleinen, alten Kerl mit rostroten Borsten auf dem Kopf und im Gesicht. Er war buchstäblich in Lumpen gehüllt. „Wohin geht die Reise?“ fragte Grau und gab ihm die Hand und lachte. „In die Stadt,“ antwortete der Vagabund, der nicht einmal ein Hemd an hatte, „ich will dort einen Herrn aufsuchen, den man mir empfohlen hat, einen Herrn Grau. Wissen Sie, wo er wohnt?“

Grau lächelte. „Er ist abgereist, heute!“ sagte er. „Aber was schadet es? Nehmen Sie, nehmen Sie!“ Er gab dem Landstreicher seinen Geldbeutel, sein Taschentuch, sein Messer. „Nehmen Sie, nehmen Sie! Es ist ja einerlei, daß er abgereist ist. Keinen Dank! Nehmen Sie! Haha!“ Er zog seinen Rock aus und warf ihn dem verdutzten Vagabunden in die Arme.

Dann lief er rasch davon in die Wiese hinein.

„Guten Tag, Mütterchen!“ rief er aus. „Ich komme um dir Adieu zu sagen. Da bin ich nun, siehst du?“

Mütterchen sah ihn zuerst teilnahmslos an, aber dann erstaunte sie, als sie gewahrte, daß er in Hemdärmeln gekommen war. Sie starrte ihn an. „Du gehst? Ja, wohin gehst du denn? Tritt ein!“

„Es geht fort, Mütterchen. Zu einem Gärtner, einem Freund von mir, ein seelenguter Mensch. Ich kann getrost zu ihm kommen, er schrieb es und er unterstrich getrost. Verstehst du, er unterstrich es! Da werde ich dann sitzen und die Blumen ansehen, er ist ja ein Gärtner, du begreifst wohl nicht, ein Gärtner ist er! Blumen, Treibhäuser — Er wartet auf mich. Morgen früh! Ein guter Mensch, Mütterchen, ich habe ihn im Gefängnis kennen gelernt. Verstehst du, er sah mich an und ich dachte, kein Mörder, nein! Er war verurteilt wegen Mords, aber es war ja nicht wahr. Ich wußte das sofort. Ich machte Eingaben, Eingaben, fortwährend Eingaben, der Prozeß wurde wieder aufgenommen — Lüge! Sein Schwager war es, er, sie machten ihn betrunken —“

„Ja, was ist dir denn?“ sagte Mütterchen erschrocken.

„Daher kennen wir uns. Er liebt mich und ich liebe ihn. Ich werde ihm nicht lästig fallen —“

„Warte!“ stotterte Mütterchen und ging in die Küche hinaus, um eine Erfrischung zu holen. Als sie zurückkehrte saß Grau im Sessel und schlief und flüsterte im Schlafe und lächelte. Eisenhut, der sein Gepäck zum Bahnhof gebracht hatte, kam und legte ihn zu Bett. Das Fieber brach heftig aus, es dauerte einige Wochen.

Sobald Grau aus dem Fieber erwachte, kehrte wieder der Ausdruck des Staunens in sein Gesicht zurück.

„Ich mache dir wohl viele Mühe, Mütterchen!“ flüsterte er. „Verzeihe!“

Nun lag er in Susannas Stube und sah durch das Fenster hinaus, bis zur Brücke, wo Susannas Pappeln standen. Zweimal im Tage kroch die gelbe Postkutsche über die kleine Brücke. Des Nachts schleppten sich die Güterzüge in der Ferne vorüber und der Expreßzug sauste jeden Nachmittag vorüber und sein Rauch hing lange in der Luft.

Häufig versuchte er aufzustehen; „Ich muß ja fort!“ sagte er. „Mein Gott, es gibt ja so viel zu tun!“ Aber seine Füße trugen ihn nicht. Dann lag er wieder ruhig und sah mit dem Ausdruck des Staunens vor sich hin.

Man mähte das Gras, es wuchs von neuem, man mähte es wieder, es verfaulte im Regen. Der Herbst kam.

Grau lag und fieberte. Er hatte nur wenig klare Tage. Dann schrieb er, aber er zerriß alles wieder, endlich schrieb er drei Briefe, zwei lange und einen kurzen.

„Hier,“ sagte er, „Eisenhut, nimm sie. Ich werde dir alles erklären. In diesem Brief befindet sich ein Schreiben an das Gericht. Du öffnest ihn in einem Jahre, wenn nicht Ereignisse eingetreten sind, höre wohl zu, Ereignisse, von denen in dem Briefe an dich die Rede ist. Vergiß nichts. Es ist eine alte Angelegenheit, die ich in die Hand nahm, als ich hier in der Stadt eintraf. Ich möchte sie zu Ende bringen.“

Grau lag im Fieber und er winkte Eisenhut heran und flüsterte: „Die Pioniere, siehst du, man muß sie loben. Sie sind immer da, wo die Menschheit noch nicht ist. Man verfolgt sie, haßt sie, sie sind entsetzlich dran, aber sie sind immer, immer am Werke. Sie sind Säemänner, Eisenhut, auch ich, auch ich, wollte solch ein Säemann werden. Im kleinen natürlich, im kleinen nur —“

„Still, still!“ sagte Eisenhut und legte ihm Eis auf die Stirn.

Grau schloß sofort die Augen. „Mein Bruder!“ flüsterte er und drückte Eisenhuts Hand. Als Grau schon sehr schwach war, richtete er sich eines Tages plötzlich auf und sagte erschrocken: „Eisenhut, deine Mutter?“ Er schwieg lange, dann fügte er hinzu: „Da ging ich ein und aus in diesem Hause und dachte nicht an sie. Stricken, Nähen, Gartenarbeit. Ihr geschwächter Geist, man kann ihn stärken — Gott verzeihe mir! — Versprich es mir, Eisenhut!“ Er umklammerte Eisenhuts Hand und sank lächelnd ins Kissen zurück, als Eisenhut ihm das Wort gegeben hatte.

Dann kam die Zeit, da Grau still lag und immerfort leise flüsterte und lachte. Er lebte mit einer schönen Frau mit hellen Augen und schwarzen Haaren am Meer. Er ging im heißen Sande und sammelte Muscheln. Er blickte ins Haus hinein, bald in dieses Fenster, bald in jenes: Sie war da! Er lachte und trommelte an die Fenster. Er schrieb ihren Namen riesengroß in den Sand.

Einmal ging er hinein in einen Wald. Es war Sommer. Die Sonne glühte in den grünen Wipfeln. Da ging er dahin und sang. Plötzlich wurde es totenstill im Walde, die Hitze wurde unerträglich und langsam fiel Blatt um Blatt, mit einem singenden, seufzenden Laut. Die Blätter fielen dichter und dichter, sie schrumpften zusammen, knisterten, wie versengt von der großen Hitze, fielen, fielen, regneten auf ihn herab, die Äste starrten kahl und immer mehr Blätter regneten und drohten ihn zu ersticken —

— Da erwachte er mit einem Schrei und fuhr auf. Sein Mund war voller Blut.

Tagelang lag er nun geschwächt und atmete nur leise.

Eisenhut kam ans Bett. „Worüber staunst du doch nur?“ fragte er. „Du staunst immer!“

Grau lag und staunte.

Dann kamen die Tage, da Grau schwer atmete und Mütterchen ihm immerfort die Stirne trocknen mußte.

Das war der Glutwind! Er trug ihn dahin und viele, viele trug er dahin. Es ging durch die kahlen Äste eines endlosen, verdorrten Waldes. Die Seelen jammerten. Wir kleinen schäbigen Seelen, Erbarmen! jammerten sie. Es fegte, Tag und Nacht, immerzu und endlich hoch über den Wipfeln des verdorrten Waldes, in balsamischer Luft. Tief unten jammerten die Seelen. Wir sind zu schwer, Erbarmen. Aber er flog und sauste und viele sausten mit ihm. Es wurde glühend heiß — er erwachte.

Sein Kopf war ganz klar. Er war durstig und seine Lippen brannten. Aber es war Nacht und er wollte Mütterchen nicht wecken. Er kühlte die Hände am Fenster und kühlte dann die Lippen.

Sofort versank er wieder. Er wanderte. Eine Felsenecke, wieder, wieder, eine endlose, schreckliche Wanderung. Ein Tor, eine Schlucht, ein furchtbarer Weg. Er kam in einen großen Felsenhof und hier waren viele Millionen Seelen und warteten. Wir sind die armen Seelen! beteten sie. Er wanderte und wanderte durch das Heer von Seelen hindurch und kam auf eine Heide. Hier ließ es sich gut ausschreiten.

Aber plötzlich warf ihn eine Stimme zu Boden.

„Mit Versprechungen hast du die Menschen getröstet und von Hoffnungen hast du gelebt!“ sprach die Stimme, die furchtbar klang.

„Ich wollte beginnen! Vergib mir armen kleinen Seele!“

„Wie das Schwirren von Pfeilen und ein Schall von Hörnern hätte deine Rede sein sollen, deine Zunge war Stroh! Ich habe Antrieb und Neigung in dich gelegt, ich habe über deine Seele Ahnungen geschleudert wie Hagelschauer über das Feld, ich habe gefunkelt in dir wie der Mond am schwarzen Himmel funkelt, ich stand am Wege als kleine Blume, aber du hast mich nicht gesehen! Ich kam zu dir und fand dich schlafend, ich habe meinen Gedanken auf dich geworfen wie einen Felsblock, aber du bist nicht aufgewacht. Auf deiner Zunge saß ich als süßes Lied, warum hast du nicht gesungen? Zehnmal in deinem Leben ging mein großer Verkünder an dir vorüber, du sahst ihn an, aber du hast ihn nicht erkannt?“

„Ich habe dich als Feuer entsandt und du bist als Asche wiedergekommen!“

„Sprich, elende Seele, wo sind deine Früchte, wenn ich dich schüttele? Sprich, sprich, elende Seele?“

Er begann zu stammeln, verwirrt zu reden. Er stotterte Entschuldigungen. Er suchte in seinem Kopfe, nichts fiel ihm ein. Nichts, nichts. „Erbarmen, Erbarmen!“ schrie er und krümmte sich.

„Sprich, sprich!“ sagte die furchtbare Stimme.

Da fiel ihm ein, daß er einst für ein krankes Kind ein Bilderbuch gemacht hatte, geschrieben, gemalt, Tag und Nacht hatte er gearbeitet.

Aber die furchtbare Stimme sprach: „Sprich, elende Seele!“

Grau stöhnte. Drei Tage und drei Nächte sprach diese Stimme und drei Tage und drei Nächte flehte, bat Grau.

Eisenhut trat ans Bett und fragte, ob er wach sei. Grau sah ihn mit Augen an, die nichts sahen.

„Erkennst du mich?“ fragte Eisenhut und lächelte, als ob er ihn lächelnd eher erkennen sollte.

Aber Grau sprach von einem Gefängnis und einem Gefangenen mit schrecklicher Sehnsucht nach seinem einzigen Kinde.

Eisenhut trocknete ihm die Stirne und kühlte sie mit Eis.

Nun war es ihm plötzlich leichter. Diese furchtbare Stimme war nicht mehr zu hören, und er ging in der Heide, wo es sich gut ausschreiten ließ. Er war fröhlich. Über die Heide kamen zwei Gestalten, sie kamen näher und er erkannte Susanna.

Er lief ihr entgegen und stürzte in die Knie: „Verzeihe, verzeihe, Susanna!“ rief er. „Verzeihe das Zuviel — ich habe dich ja geliebt — aber verzeihe das Zuviel!“

Susanna hob ihn auf. „Es ist alles gut,“ sagte sie leise und lächelte.

Da fiel sein Blick auf die andere Gestalt. Auch sie war eine Frau. Er erstaunte und richtete sich auf. Mit dieser Frau war er einst über die Heide im Sternschnuppenregen gegangen, nun war sie da.

„Bist du wieder du?“ sagte sie und sah ihn an.

Bei ihrem Blicke aber erhellte sich sein Inneres, es war ihm, als ob er sein ganzes Leben verstände. „Ach so!“ rief er aus und eilte ihr entgegen und weinte vor Glück.

In dieser Nacht starb Grau. Er starb als der Tag nahte und Eisenhut, der während der Wache eingeschlafen war, wurde durch das klagende Geheul eines Hundes geweckt. Er blickte auf Grau, und Grau sah so schön und friedevoll aus, daß Eisenhut sofort zu schluchzen begann. Er sah, daß er tot war.

Er fürchtete sich und ging hinaus, um den Hund zu vertreiben. Er warf Steine nach ihm, aber dieser gelbe, zottige Hund kümmerte sich nicht um Steine, er lief ihnen entgegen und heulte und winselte und gebärdete sich ganz unsinnig.

Als Mütterchen erfuhr, daß Grau gestorben war, sagte sie erschrocken: „Aber die Schuhe, wo hat er denn Susannas Schuhe?“

„Schwätzen Sie keinen solchen Unsinn!“ sagte Eisenhut ärgerlich. „Er wird die Schuhe wohl in seinem Koffer haben!“

Sechzehntes Kapitel

E s regnete, als man Grau begrub. Viele Leute waren gekommen, auch Fremde, die man noch nie gesehen hatte. Eine Menge Kränze und Blumen bedeckten Graus Sarg und noch Tage, ja Wochen nach seinem Tode trafen Kränze ein. Ein Gärtner hatte einen wunderbaren Kranz mitgebracht, man hatte noch nie zuvor solch einen Kranz in der Stadt gesehen. Auch Adele war gekommen.

Der Dekan von Weinberg hielt die Rede. Es war ein schöner Mann mit blondem Vollbart, der sich selbst stets einen echten Germanen nannte. Er prüfte, ob das Brett fest sei, das man wegen des Schmutzes gelegt hatte, und der Kirchner mußte die ganze Zeit einen Regenschirm über ihn halten.

Dicht am Grabe standen zwei fremde Offiziere, die Helme in der Hand. Sie hatten rötliches Haar und helle Augen und jeder sah, daß sie Graus Brüder waren.

Der Dekan sprach, er sprach von dem jugendlichen Eifer Graus, seiner großen Nächstenliebe, den himmlischen Herrschern und vielem anderen. Je mehr er sprach, desto spöttischer lächelte Eisenhut, schließlich räusperte er sich unverschämt und endlich hustete er. Der Dekan mit dem blonden Vollbart warf ihm zornige Blicke zu.

Der Dekan hatte geendigt, da trat Eisenhut ans Grab. Er hob die Hand, zum Zeichen, daß er sprechen wolle. Dann sprach er.

„Hochverehrte Anwesende —“ so sprach Eisenhut — „dieser Mensch, den wir heute begraben — er ist —“

Er konnte nicht fortfahren. Eisenhut war kein Redner. Die Leute sahen ihn erstaunt an und unterdrückten ein Lächeln.

Adele ging hinaus zu Mütterchen. Mütterchen saß allein in der Stube, die Hände im Schoß.

„Welche Freude!“ sagte sie. „Wenn Susanna wüßte, daß Sie mich besuchen!“

Adele setzte sich in den Sessel.

Sie sagte: „Wer hätte denn denken können, daß er krank war und daß es so schnell mit ihm zu Ende gehen könnte.“

Mütterchen seufzte. „Sie war immer ein schwächliches Kind.“

Nach einer Weile sagte Adele: „Hat er viel leiden müssen?“

Mütterchen antwortete lange nicht. Dann sagte sie: „Nein, sie hat einen sanften Tod gehabt. Sie wußte gar nicht, daß sie sterben sollte.“ Darauf nickte sie mit dem Kopfe und sagte mit leiser singender Stimme: „Susanna? Susanna?“

Adele schauerte zusammen; sie ging.

Auf der Brücke stand Eisenhut und wartete. Er zog den Hut, verbeugte sich und nahm einen Brief aus der Tasche.

„Ich habe einen Brief an Sie abzugeben, gnädige Frau,“ sagte er, „außerdem hätte ich es ja nicht gewagt Sie anzusprechen.“

Adele lächelte und gab ihm die Hand. „Sie sind es, Herr Eisenhut! Ich freue mich Sie zu sehen. Es war schön von Ihnen, daß Sie heute eine Rede — —“

Eisenhut sah sie überrascht an. Sie hatte sich sehr verändert, bleich sah sie aus und gleichsam um viele Jahre älter, auch ihre Stimme klang ganz anders. Sie begann laut zu sprechen, aber ihre Stimme sank rasch zu einem Flüstern herab, so daß man die letzten Worte nicht mehr verstehen konnte.

Sie nahm den Brief an sich.

„Er ist ja offen?“ sagte sie.

„Ja,“ entgegnete Eisenhut, „so hat er ihn mir gegeben.“

„Ah! Er tat es absichtlich. Aber sehen Sie doch, in dem Brief ist ja noch ein Brief? An meinen Bruder, ein solch dicker Brief! Was mag er doch mit meinem Bruder zu tun haben? Auch Maria Sinding erzählte mir, daß er sie einmal vor ihm warnte. Aber — nun gehen Sie mit mir und erzählen Sie mir von ihm. Sie sind ja um ihn gewesen, Sie waren ja sein Freund!“

Eisenhut erzählte was er wußte.

„Er hat auch einigemal Ihren Namen genannt, gnädige Frau.“

Adele lächelte und errötete flüchtig. „Wie hat er mich genannt?“ fragte sie.

„Er nannte Ihren Vornamen, gnädige Frau.“

Adele schwieg lange. Dann sagte sie: „Wer hätte denn denken können, daß es so kommen könnte!“

„Der Arzt sagt, Grau hätte die Krankheit von Susanna bekommen,“ sagte Eisenhut.

Sie standen am Gitter des Parkes und Adele gab Eisenhut die Hand. „Vielleicht sehen wir uns einmal irgendwo,“ sagte sie, „da Sie nun doch auf Reisen gehen. Vielen Dank noch. Vergessen Sie, daß ich Sie einst kränkte, ich denke jetzt ganz anders. Ich hoffe, es wird Ihnen gut ergehen, ein wenig besser vielleicht als mir. Leben Sie wohl!“ Sie hielt inne, dann fügte sie leise hinzu: „Er war ein solch guter Mensch!“

Sie lächelte und reichte Eisenhut die Hand zum Kusse und Eisenhut küßte ehrfürchtig ihre weiße Hand. Dann ging sie langsam hinein in den Park und es dauerte lange Zeit, bis sie an die Stufen kam, die sie langsam emporstieg.

Eisenhut reiste am andern Tage mit seinen Lederkoffern nach dem Süden ab. —

Das aber ist der Brief, den Grau an Adele geschrieben hatte:

„Hüte Deine Seele, meine Freundin, sie ist das Einzige, was Du besitzt, unerforscht ist das Leben, unerforschter der Tod. Es gibt kein Ende. Wieder und wieder werden wir einander begegnen in den Reichen.“

Ende

Werke
von
Bernhard Kellermann

Yester und Li

(Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane.)
Geb. 1 Mark, in Leinen 1,25 Mark.

Die Geschichte einer Sehnsucht ist es, die der Verfasser erzählt — einer zarten, zitternden, tastenden Sehnsucht. Einer so verzehrenden, wahnwitzigen, ungeheuerlichen Liebessehnsucht, wie sie nur ein Dichter, ein Auserwählter unter den Menschen zu einem auserwählten, seltenen, wundervollen Weibe empfinden kann. — Henri Ginstermann heißt er. Und sie heißt Bianka Schuhmacher. Ganz einfache, alltägliche Namen. Aber was für Menschen! Von einer, trotz ihres Temperaments, seltenen seelischen Keuschheit. Voll Rasse und fein gestimmter innerer Kultur. Ihre Seelen sind — ein triviales Bild zu gebrauchen — wie äußerst verfeinerte phonographische Platten. Jeder Hauch, jeder kleinste Eindruck bleibt in ihnen haften, läßt ihre Saiten schwingen in wunderbar zarten und rauschenden Melodien. Und zwischen diesen beiden Menschen schwebt eine innige, keusche, unausgesprochene Liebe. Beide wissen: sie ist hoffnungslos, diese Liebe. Und doch trägt sie jeder im Herzen, sorgsam, wie ein anvertrautes Gut, ein Heiligtum, einen köstlichen Schatz. In stummer Duldung klammert er sich an sein jämmerliches Leben, das ihn, den um unbesonnener Jugendstreiche willen Verstoßenen, Verfemten, so oft grausam geneckt. Seiner heiligen Sehnsucht zuliebe tut er es. Sein ganzes Sein und Wesen strömt in dies eine große Gefühl zusammen. Seine Liebe ist ihm das Leben. Alle seine intellektuellen und moralischen Kräfte werden davon aufgesogen, restlos, unwiederbringlich. Er treibt einen Kultus mit dieser Frau. Wendet seine ganze ärmliche Habe an, um ihre Gipsbüste mit kostbaren Blumen zu schmücken. Besingt sie in überschwänglichen, himmelhochjauchzenden Hymnen. Kleidet die Geschichte seiner Liebe in eine innige Erzählung von zartem Duft und feiner exotischer Farbigkeit! Yester und Li heißen darin die Liebenden. (Man erkennt Kellermann, den Freund japanischer Kultur.) Henri verfällt in Krankheit, in Tobsucht, ist dem Wahnsinn nahe. Er verschmäht die Liebe anderer Frauen. Alles um ihretwillen. Und macht doch allem ein Ende durch einen leisen, müden Verzicht. Wunderbar greifend ist dieser Schluß. Bianka hat ihm — fast wortlos — ihre Erwiderung seiner Liebe gestanden. Aber sie sehen die Unmöglichkeit ihrer Verbindung ein. Nach einem letzten Abschiedskuß reist sie ab. Und die „Geschichte einer Sehnsucht“ schließt mit dem schlicht-schönen Bild, daß Ginstermann Rosen auf die Schienen streut, über die der Zug die Geliebte entführt.

(Königsberger Allgemeine Zeitung)

Ingeborg

Roman. 18. Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark.

Frauen und Jünglinge, leset dies neue Buch — Ingeborg —, diesen zweiten Roman von Bernhard Kellermann. Die Liebe lebt darin und die Romantik. Und der Wald lebt darin und alle Jahreszeiten. Wahrhaftig, ein närrisches Buch, aber weise und klug bei aller Narretei, denn die unerforschlichen, unabänderlichen Lebensgesetze sprechen daraus. Jung ist es, ganz jung-jung, und das Blut macht es unruhig, es fiebert von Liebe. In einigen Märznächten, als der Föhn vor den Fenstern stürmte, habe ich es gelesen; mein Herz kam völlig aus dem Takt, und ich glaube nicht, daß der Föhn allein daran schuld war . . . Mit einer kindlich zarten und zugleich unerhört verfeinerten Gabe wird hier von den heiligsten und besten Dingen gesprochen. Ich will mich mit diesem Buche nicht allein freuen. Jedem möchte ich es in die Hände drücken, der überhaupt noch einen Roman lesen kann.

(Die Zeit, Wien)

Ganz trunken von Schönheit und Schmerz ist das Buch. Es schlägt Töne an, die man schwer vergißt . . . Selten ist etwas Glühenderes und Sanfteres geschrieben worden als die Schilderung dieser Liebe.

(Der Tag, Berlin)

Maßlos schön muß ich dieses Buch nennen. Ich habe vier Wochen daran genossen, so schön und schwer ist es an blühenden Wundern und quellenden Tränen. So schwer ist es an tiefem Leben, daß man Stufe um Stufe mitschreiten und Tropfen um Tropfen mitkosten muß, so voll ist es von Liebe und Blut aus einem großen, großen Herzen.

(Münchener Zeitung)

Das Meer

Roman. Zehnte Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark.

Ein kulturmüder Mann lebt einen Sommer hindurch auf einer bretonischen Fischerinsel. Er versinkt ganz in dem triftigen, urwüchsigen Dasein dieser einsamen Welt. Trinkt, flucht, liebt und haßt wie die Bewohner der Insel, die gleich abgeschlossen ist von den Moralbegriffen wie dem Rechtsempfinden der Welt da draußen. Alle Leidenschaften pulsen in jagendem Tempo, alle Gedanken schleichen in kriechender Beharrlichkeit. Liebe und Haß, Freundschaft, Verrat — es ist eine Urzeit, in der sich der Trieb in sich verwickelt, noch ungeteilt in das Zweigeschlechtliche, das Gute und Böse. Es ist die Epoche, in der sich langsam das erste Land aus der furchtbaren Unendlichkeit des Meeres hebt. Man soll vorsichtig sein — aber doch, hier darf man es aussprechen: Es ist ein Meister, der dies Buch geschrieben hat. Manchem wird die wilde Schönheit unverständlich bleiben, manchem wird auch die feinste Sprachkunst nicht darüber hinwegsetzen, daß es immer wieder nur das Meer ist — und nur das Meer, von dem er lesen muß. Wer sich aber in dies Werk ernstlich vertieft, dem wird es seine Mannigfaltigkeit wohl erschließen. Und er wird meine Freude darüber teilen, daß auch einem Deutschen der Entdeckerflug in die unbekannten Reiche der Natur gelungen ist, der bisher Männern wie Kipling oder Loti vorbehalten schien. Nur daß Kellermanns Empfindung, wärmer, seine Anschauungskraft stärker, seine Sehnsucht tiefer ist.

(B. Z. am Mittag, Berlin)

Man braucht nach „Ingeborg“ niemandem zu sagen, welcher Meister der Dichtkunst dieses Buch geschrieben hat. Nur wird man hervorheben dürfen, daß in den Tiefen dieses Werkes unterhalb seines großen künstlerischen Ernstes ein kostbares Lebenselement geschäftig ist und manchen wirbelnden Strahl zur Oberfläche schickt: der Humor, der leibhaftige Humor!

(Anhaltischer Staatsanzeiger, Dessau)


Druck von Wilhelm Hecker in Gräfenhainichen.

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):