The Project Gutenberg eBook of Kurze Aufsätze

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Title : Kurze Aufsätze

Author : Annette Kolb

Release date : November 21, 2013 [eBook #44251]

Language : German

Credits : Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KURZE AUFSÄTZE ***

  

KURZE
AUFSÄTZE
VON
ANNETTE KOLB.

MÜNCHEN 1899.
ZU BEZIEHEN DURCH
ULRICH PUTZE,
BRIENNERSTRASSE 8.

Bruckmann’sche Buch- und Kunstdruckerei, München.

INHALT.

1. Der Zufall Seite 5
2. Der Frosch " 15
3. Adam und Eva " 19
4. Le revenant " 23
5. L'Oracle " 29
6. Herbstlied " 33
7. Der Walchensee " 35
8. Die Heruntergekommenen " 39
9. Skizze " 43
10. Das Traumbuch " 49
Musikalisches:
11. Eine musikalische Betrachtung " 57
12. Nemesis " 63
13. Skizze über die Stellung des heutigen Pianisten " 67
14. Epilog " 75

DER ZUFALL?

W as giebt es unvermeidlicheres, berechneteres und dabei natürlicheres wie den Zufall?

Was ist abgefeimter und grausamer oder gütiger? Wir können ihn weder anklagen, noch ihm danken. — Nie können wir ihn überführen, ihm die Maske entreissen und sagen: »Dies hast du gewollt und über mich gebracht.« — Denn die natürlichste Verkettung der Dinge hat es herbeigeführt.

Was sollen wir mit diesem raffinierten Zufall anfangen, der unsere Schritte lenkt und doch nur als ein leerer Schleier in unsern Händen bleibt? — Am besten ist es wohl, ihm zu vertrauen; allein man lernt dies nur nach Jahren, und nach geprüften Jahren. Erst treibt es uns, ihn gewaltsam herbeizuführen, unsern Willen dem seinen gegenüberzustellen, und dann erst wird der Zufall so recht feindselig und allmächtig!

Was hängt er nicht alles an eine Begegnung? Ob wir eine Minute früher oder später in diese Gasse bogen, mag über eine unbeschreibliche Reihe von Unglückstagen entscheiden — sie von uns abwenden oder über uns bringen.

»Es giebt keinen Zufall!« — sagt Schillers Wallenstein. Aber damit sagte er schon zu viel; denn der Zufall entzieht sich uns so fern, dass er nicht einmal diese Behauptung ermöglicht.

Als ich in Paris anfing, mit dem Gedanken umzugehen, ich wäre am liebsten wieder zu Hause, erhielten wir eines Tages aus Marseille einen sorgfältig verpackten Schlüssel und einen Brief. Es war ein Angebot, die Wohnung einer Dame zu beziehen, währenddem diese im Süden weilte und ihr schöner Flügel wurde ganz besonders gerühmt, aber wir machten von all dem keinen Gebrauch, denn es kam so vieles dazwischen.

Da plagte mich eines Morgens ein unverkennbares Heimweh. Wir wohnten in einer jener engen Strassen, die den Himmel versperren und die Menschen zusammendrängen wie auf einem Schiff. Draussen war es regnerisch und schwül, und ich sehnte mich fort; da fühlte ich zufällig unter meinen Fingern den Schlüssel jener Wohnung, und um mich gewaltsam aus der Stimmung zu reissen, in der ich mich befand, machte ich mich zur Stelle auf den Weg nach diesem Hause. —

Als ich aber dort die ziemlich hochgelegene Wohnung betrat, lag sie in so rabenschwarzer Nacht, dass ich alsbald wieder hinunterging, um mir bei dem Concierge ein Licht zu verschaffen.

Dieser hatte indes seine Loge verlassen, und ohne auf ihn zu warten, zündete ich mir eine Kerze an und eilte wieder hinauf. —

Auch nicht ein Schimmer des Tageslichtes drang in diese Räume! Eiserne, verriegelte Läden schlossen es gänzlich ab, und der Lärm von Paris klang da gar seltsam herein, denn öde war es hier! — Als hätte ein Unglück die Bewohner plötzlich vertrieben, so dass sie alles liessen wie es war, nur dem Lichte wehrend, bevor sie flohen. Denn nichts war aufgeräumt. Im ersten Zimmer stand ein blauseidnes Bett aufgeschlagen und bestaubt, vom Baldachin hing eine lange Kordel zerrissen herab. Die Kerze beleuchtete nur immer dürftig eine einzige Stelle, aber im Vorübergehen sah ich Gegenstände verwahrlost herumliegen, zertrümmertes Krystall, zierliche Louis XV.-Möbel und einen offenen Schrank. Es war, als ob hier Diebe gehaust hätten, und als seien sie dann in der Hast über alles davongestiegen. So unheimlich war der Anblick all dieser Zimmer, dass ich, ohne mich länger umzusehen, den Salon suchte, wo der Flügel stehen musste, um dann schleunigst wieder fortzukommen. Ich entdeckte ihn denn auch, zwischen zwei Fenstern stehend und von einer Decke geschützt. Als ich diese zurückschob, hob sich ein Schwarm von vielleicht tausend Flöhen und stieb in gerader Linie auf mich los.

Ich fuhr zurück — wahrscheinlich zu rasch — die Kerze verlosch! —

Was dies für mich bedeutete, war mir sofort klar. Denn ich hatte im unverantwortlichen und unbegreiflichen Leichtsinn die Zündhölzer unten gelassen. —

Nie aber würde ich in dieser Finsternis die Hausthüre finden, und wenn ich sie fände, niemals unterscheiden — den Weg zurück wusste ich nicht. Es waren so viele Zimmer gewesen und kein Gang. Alles ineinand geschachtelt, wie es in französischen Wohnungen oft ist. Ich tastete nach dem Schlüssel, aber der Schrecken hatte mir alle Erinnerung benommen. Ich fand ihn nicht mehr.

Mit den Händen fuhr ich der Wand entlang bis zum Fenster, allein die Läden mussten einen eigenen Verschluss haben und schnitten mir in die Finger, ohne zu rücken. Behutsam ging ich vorwärts, vielleicht drang doch in irgend eine Kammer ein Schimmer von Licht und war von dort aus ein Zeichen möglich, aber überall war Finsternis und Staubgeruch als läge ich tief unter der Erde.

Der Concierge würde den Leuchter kaum vermissen, den ich unter vielen andern aus seiner Loge fortnahm, keinesfalls aber auf mich geraten und die Meinen hatten keine Ahnung wohin ich gegangen war, denn als ich von Hause fortging war ich allein gewesen. — So war zwar meine Rettung lange noch möglich, noch grösser aber die Gefahr, dass ich hier verschlossen und vergessen bliebe.

Meine Wanderungen nach der Hausthüre begannen von neuem. Griffe ich sie, so wollte ich dort stehen und rufen. Allein ich fand sie nicht!

Es liess sich keine Thüre von der andern erkennen, kein Zimmer, keine Kammer. Einige waren versperrt. Wie in einer Falle irrte ich blind umher und wurde immer unfähiger, mich zu orientieren; denn von den Räumlichkeiten hatte ich die Verhältnisse nicht entnommen, und der Ausgangspunkt war mir längs verloren.

So musste ich mich meinem Schicksal ergeben. Die Zeit verging, und wie rings um mich, so war es jetzt auch in meinem Herzen Nacht. Aber statt der Verzweiflung kamen mir da plötzlich Gedanken: Was für einen Sinn hätte denn ein solcher Abschluss? Welche Deutung konnte ich meinem Tode abgewinnen?

In meinem Leben konnte ich nichts entdecken, aber dies Leben selbst erschien mir da merkwürdigerweise wie ein arger Schuldbrief, und ich werde wohl nie mehr so tief und ruhig zu denken vermögen, wie in jenem so hoch über der Erde gelegenem Grab!

Wie spät es geworden sein mochte ahnte ich nicht. Immer wieder begannen meine finsteren Wanderungen, mein Tasten nach Thüren und mein Rufen. Meine eigne Stimme versetzte mich in solche Angst, dass es wie wahnsinnig in meinen Schläfen pochte. Den Hunger sah ich schon als meinen Gefährten, und heiss und blutig drang mir’s nun ins Gehirn. — Und wie betäubt stiess ich zuletzt gegen eine scharfe Kante und empfand etwas Kaltes unter meinen Händen.

Daraus schloss ich, dass ich mich wieder in einem Zimmer befand, denn dies fühlte sich wie ein marmorner Tisch. Ich fasste ihn mit der andern Hand: da durchzuckte mich jäh eine wilde, triumphierende Lebensfreude. Was da meine suchenden Finger ergriffen hatten, war — eine Zündholzschachtel!

Zitternd fachte ich eines an und starrte jetzt auf ein gespenstiges Wesen, das mit hohlen Augen unvergesslich auf mich blickte.

Allein bevor die Angst noch ihre Klammern auf mich legen konnte, gewahrte ich den hohen Spiegel, vor dem ich stand, woran die schmale Marmorplatte angebracht war, an die ich stiess. Lange Kerzen stacken da in Kandelabern, und mechanisch zündete ich sie an; von meinem eignen Bilde keinen Blick verwendend, denn wie von einem Drama war ich hier gefesselt.

Das Entsetzen auf meiner Stirne, die trostlose Ergebenheit meiner Züge, die Todesahnung war auf meinem Gesichte geblieben. Obwohl ich mich gerettet wusste, immer starrte ich noch wie eine Verlorene.

Was hinter diesen weitgeöffneten Augen vorgegangen war, wusste ich so wohl, der schon wie eingefallene Mund, warum er so bitter geschlossen war, das herabgezogene Kinn, der zurückgehaltene Grimm. — Und dabei war mir’s als erschaute ich das Selbsterlebte nun zum erstenmale.

So blieb ich vor dem Spiegel gebannt, bis meine Augen sich verkleinerten und die Farbe, als sei nichts geschehen, sich allmählich wieder einstellte. —

Der Raum, in dem ich mich befand, war ein kleines Durchgangszimmer, und die Begebenheit so einfach und natürlich!

Es hatte hier jemand eine Schachtel Streichhölzer vergessen. Weiter nichts!

Es war eben jener blinde und hundertäugige Zufall, jener unberechenbare Stern, der über unser Leben waltet und es erhält oder vernichtet.

Den Schlüssel, die Thür und den Weg ins Freie hatte ich nun bald gefunden; wieder hinab in das rege Paris.

Die Boulevards schimmerten im Abendrot, und die Knospen der Bäume waren nach dem Regen hold geschwellt.

DER FROSCH.

E in Frosch sass im nassen Grase, befriedigt und wohl aufgeblähet, denn er hatte eben gespeist, und da ihm das Verschmauste wohl bekam, so fühlte er sich nicht ungeneigt zu philosophieren, zwinkerte behaglich mit seinen feuchten Augen und dachte:

»Was ist doch die Welt so seriöse! — und machen sie alle so fatale Mienen, statt das Leben frisch zu nehmen wie es ist! Ich bin zufrieden, und mir geht es gut; auch nehme ich die Dinge wie sie kommen!«

Und obwohl er schon zu viel gegessen hatte, schnappte er noch im Übermute nach einer Fliege, die des Weges flog, und verzog dann sein breites Maul zu einem superiorem Lächeln: Es war doch wirklich alles zu dumm!

So hockte er froh an des Teiches Rand, blickte in die laue Luft und hiess die Weltordnung gut. Libellen hingen und schwirrten, dicke Waldschnecken schleppten sich fort, ein Vöglein jammerte und eine hagere Katze schlich umher. Alles beobachtete und genoss der Frosch als heitrer Skeptiker und Bon-vivant und plumpste dann wieder in den Teich.

Von Tag zu Tag aber gedieh er, zum Verderben zahlloser Mückchen, die enthusiastisch in der Sonne schillerten. — Kein Wunder, wenn sich der Frosch da »hatte« und seine Lebensanschauung sich zu einem immer insolenterem System abrundete!

Und unumwölkt floss sein Dasein dahin, denn jeder ist selbst seines Glückes Schmied.

ADAM UND EVA.

D ie Nacht senkte sich vor der Vertriebnen Augen, und nach harter Tagesmühe ruhten sie.

Trauer umfloss der Gefallenen Antlitz, und ob des Menschengeschlechtes drang eiserne Schwermut auf sie ein. Keine Thräne hatte noch das Weib; es barg und vertiefte sich das Weh der Erde in ihrem Schosse zur Melancholie, und wortescheu verblieb der Mann, als er sich hingewiesen sah an die harte, unbekannte Scholle, an die unerbittliche Sonne und dem süssen Mond; aber der Welt Zukunft und Not starrte in seinem Geist.

Dies Paar, ach! war der Atlas!

Das Echo seiner Qual durchdrang den hellen Sinn der Griechen, und eine Weltkugel wälzten sie dem GOTTE auf die Schulter, allein ein Menschenpaar ist es gewesen, das einst die Last des Werdens kostete und trug.

LE REVENANT.

U ne nuit je crus errer eu rève dans des siècles passés, et je vis des hommes et des femmes dans leur vie journalière. Je vis des enfants joner, un laquais endormi sur un siège, puis des fruits dans une coupe étrange et soudain sur un balcon trempé de pluie une jeune dame enveloppée dans une grande robe rose et une mante noire.

Mon esprit alors fut pris d’un vertige! — et sentant mon rève, je voulus m’en soustraire en le secouant; mais lui aussi-tôt, se faisant plus confus, devint si pesant, que le coeur oppressé, je le subis. —

Alors je me vis appuyé contre une fenêtre à ogives à la nuit tombante dans une salle. Brusquement tout au fond une porte s’entr’ouvrit, et un chien s’élança, de ces beaux chiens de chasse! il s’arrèta inquiet, les yeux flambants; puis d’un mouvement jeune et violent, fou de vie et de joie, il se retourna, se jeta vers la porte, et frappant le parquet bruyamment de sa queue, il attendit, guetta plutôt, pour s’élancer sur un homme qui entrait. —

Lorsque je vis cet homme qui entrait, je sentis mes lèvres trembler de tristesse. L’on eut dit la vie même, et c’était un mort! —

Ah! si vous l’aviez vu s’avancer d’un pas rapide en tournant vers sou chien une figure d’un contour si vif et d’une ciselure si étroite, que cette tête si noire se détachait des ténèbres comme une tache blanche, tant elle était ardente! l’illusion, je vous assure, vous eut gagné, tout comme moi: cas la vie affluait dans chacun de ses gestes; ses yeux étaient chargés et lourds comme certaines fleurs, et sur cette figure fougueuse, le regard était préocupé et rentré, comme pour se poser très-loin sur une vision qui revenait toujours, et faisait sourire malgré lui, sa bouche songeuse et cruelle! — La mort, me disai-je, la mort! —

Je me sentais si chétif près de cet être si beau, pourtant je vivais moi! n’était-ce pas mieux que ce splendide mirage?

La mort!? — mais ce mot même tombait vide devant un pareil revenant!

Ce fut alors, qu’il marcha droit vers la fenêtre, où je me tenais et que mes yeux purent plonger dans les siens pour, en chercher l’énigme. Mais hélas! qu’ils étaient loins, et comme mon coeur se serra! une grande douleur fit tomber mes paupières qui brûlaient, et je sentis alors s’approcher de moi, et m’envelopper comme l’haleine du Printemps; je crus respirer toutes les aubépines des bois, et sentir un ciel, des sapins, et des ruisseaux clairs: je vis une truite tachetée de rose, et de l’herbe fraîche et mouillée; et une si afreuse nostalgie passa dans mes veines, que j’étendis un bras éploré vers le spectre, dont la vie m’avait ainsi troublé. Mais lui, quoique sa main pesât sur mon épaule, son regard, qui semblait déborder, se détournait toujours. — Et, voulant jeter un cri d’ angoisse, qui ne fut qu’un souffle, je lui dis: «Je suis lá!» et tout mon être passa dans ces pauvres paroles! L’homme tressaillit, et changeant d’attitude, sa main tomba. Mais en ce moment même il y eut un bruit dans la cour, et je le vis se retourner, faire signe à son chien, et sortir. Ni l’un ni l’autre ne m’avaient vu. —

Et alors la Nuit se fit plus profonde, et mon coeur plus froid. Seul mon cerveau s’allumait et marcha.

Regarde! dit-il à mes yeux devenus fixes de terreur, regarde sous ces ténèbres croissans cette salle inconnue, et vois ces meubles bizarres! Que peuvent ils te rappeler?

Rien! sonna-t-il. Puis toutes les roues de mon cerveau s’ébranlérent avec une vitesse infernale, et j’entendis un glas frapper au fond de moi-même: LE REVENANT, C’ÉTAIT MOI!

1893

L’ORACLE.

E lle était grande et laide, une roche informe et nue, qu’elle hit éclairée ou à l’ombre, toujours triste.

Un homme s’y égara un soir, mais perdant pied aussitôt il mourut victime, lui fort et pensant, de cette grande chose inerte et brute, et personne ne la montait plus. Elle demenrait à l’ombre le plus souvent des grandes cimes autour, et le soleil ni la lune ne l’aimaient. Seule la neige s’y plaquait lourde et compacte!

Or en une nuit de lune et de Vent (le monde déjà était vieux) quelque chose remua au fond du rocher, et l’emplit soudain, comme d’un profond soupir. Ce ne fut qu’un instant! quelques caillons roulèrent et un peu de neige bleuâtre se détacha. Ce fut tout.

Mais en cet instant si vague, et d’infinie lourdeur — le rocher subit sa propre tristesse sourdement, comme la plante comme s’éveille l’aloès du fond de sa torpeur, c’est ainsi que sa propre Enigme vint saisir la montagne et lui révéla son Mystère, les liens occultes, qui la liaient aux longs chagrins et aux incurables misères, à tout ce qui est noir ou navrant dans la création.

Tout cela l’enveloppa comme d’une Ombre Géante. Et un accord vibra en ce domaine silencieux! Une source s’agita affolée! elle mouta brûlante et profonde jusque à l’ivresse, pour tarir aussitôt.

Mais la Terre — si rèveuse en ces nuits de Lune et de Vent tressaillit et appela. Alors des milliers d’ombres se dégagèrent des plis de Ténèbres et s’agitèrent autour du rocher éteint pour saluer l’Idée — le Symbole — l’Oracle enfin qui venait de parler.

1893

HERBSTLIED.

Herbstlich sinkt der Tag nun.

Herbstfarb’nes Licht, so sanft wie süsser Ton,

Zart wie bedeutsamer Traum,

Der uns beglückend streifte in der Flucht.

Ach weile, guter Herbst!

Dein ist der tönendste Ton im Jahr!

Musik der Dämmerung ist deine Stunde,

Beruhigte Leidenschaft dein tiefer Blick.

Ist Verfall dein Sinn?

Oder lächelst du über den Tod? —

DER WALCHENSEE.

D ie Berge zogen ihre hohen, sanften Linien in der bleichen Dämmerung. Ahnungsvoll schien jede Senkung, jede Matte, jeder Schatten, und stumm hielten die Tannen hart am Ufer Wacht. Und Luna zog langsam mit ihrem Gefolge weissgeballter Wolken hinter den Spitzen der Berge einher.

Kein Sternengefunkel störte noch des Himmels Ruh’! Und wie tief kündete sich da die Nacht, wie fern schien da Aurora, als käme nimmer der frühe Tau, noch die strahlende Sonne zurück.

»Ach!« seufzte da eines Menschen Stimme, »käme nimmer der Morgen!«

Doch plötzliches Entsetzen fasste ihn alsbald, und starre Angst trieb ihn dem Gestade entlang, war es ihm doch, als hätte er hier Schatten ins Bewusstsein gerufen und aufgescheucht, als sei ihm das verhängnisvolle Wort entfahren, das diesem See und dieser Natur geheimnisvoll zu Grunde lag, und als seufzte nun alles rings um ihn, von jeder Felswand rauschend und vom Strande wiederhallend, ein traumversunkenes und im Traum gefundenes Echo:

Ach, käme nimmer der Morgen!

Käme nimmer der Morgen!

DIE HERUNTERGEKOMMENEN.

A ls die Nacht hereingebrochen war und der kalte Zug durch die Fensterspalten blies, da wurde es auch stille in dem langen Gang, wo die Ahnenbilder hingen unverrückt an der dunklen Wand und die Finsternis über sich ergehen liessen wie über ihre Gräber. Allein die Nachkommen dieser längst verblichnen Leute wohnten noch in dem alten Schloss und fanden keine Ruhe, denn sie wollten und wünschten mit der wilden Kraft, die sie von den Vätern geerbt! Währenddem die Nacht sich immer tiefer senkte, schlief da Keins. Alle hofften, fürchteten und sehnten sich zu sehr in diesen alten Mauern, als dass der Schlaf sich ihnen rettend nähern konnte. Den hielt der Hass und den die Liebe, alle aber hielt der Lebensdrang, die Heftigkeit des Wunsches und die trübe Ahnung des Unerfüllbaren wach.

Die Väter hatten so froh genossen und so wilden Auges gelebt! Sie glichen sich alle in Miene und Blick, und Generationen hindurch verzehrten sich die schönsten Frauen in Liebe um dies Haus!

Das Glück aber hielt treue Wacht und zog goldene Gitter um seine Günstlinge.

Einem breiten glänzenden Strome glich dies Geschlecht, der schimmernd die schönsten Lande durchzieht, Wälder und hohe Gipfel, glänzende Städte und den ganzen Himmel lachend wiederspiegelt.

Zöge sich doch mein Herz nicht zusammen, als ich dieses Vergleichs gedenke! Denn nach hundert Jahren erlosch ein Stern: der herrliche Fluss rauschte weiter; da veränderte sich sein Bett. Hoch und furchtbar drangen kahle Felsenwände auf ihn ein, qualvoll türmte sich da das tiefe Gewässer und wütete gegen die hemmende Wand.

Sein schrecklicher Schall tönte betäubend durch die Welt. Unerbittlich aber verengten sich noch die Thore, und der Fluss brach sich heulend seine Bahn. Als wilder umdunkelter Bach stürzt er im Schatten dahin. —

SKIZZE.

V or Jahren fiel mir ein Buch in die Hände, dessen Titel ich mich nicht mehr entsinnen kann, es war eine Übersetzung aus dem Griechischen und mit vielen Anmerkungen versehen, wovon eine einen alten Spruch citierte, der mir immer im Gedächtnisse blieb. Die Worte erinnere ich mir nicht, nur den Sinn, und der war folgender.

»Nicht der Mann ist die Weisheit, nicht die Frau ist die Liebe: Die Frau ist Weisheit, der Mann ist Liebe. Des scheinbaren Umtausches sich nicht bewusst, sucht der Mann in der Frau seine eigne Liebe, die Frau im Manne ihre Weisheit wieder.«

Dieser Spruch schien mir nach und nach so manches Unerklärliche und Unvereinbare, das in jenen Beziehungen nicht zu begleichen schien, schärfer zu beleuchten.

Ein »ganzer Mann« wird einer Frau in so entscheidenden Punkten überlegen sein, dass nur die tiefere Weisheit des schwächeren Teils ein Gleichgewicht herzustellen vermag und in jener Weisheit allein die Möglichkeit liegt, den Blick dieses Mannes ganz wiederzuspiegeln.

Ist dieser Spiegel getrübt oder zu stürmisch oder zu seicht, so wendet der Blick sich ermüdet ab und sehnt und sucht nach andern Augen, die wieder versprechen und wieder enttäuschen.

Umgekehrt sehen wir oft ganz unbedeutende Männer von einem weiblichen Wesen dauernd gefesselt, von dem sie nie Kenntnis gewinnen können, in dem aber die Weisheit verborgen liegt, die sie mit dumpfer Sehnsucht erfüllt. Eine solche Frau, deren innere Entwicklung ihren eigenen Weg zu folgen bestimmt war, sieht oft zu ihrem stillen Befremden einen ihr so fremden Mann so treu an ihrer Seite.

Was nun mit jener Weisheit in dem alten Spruche gemeint war, ist sicher nicht die Lebensklugheit noch Schärfe oder Kraft des Geistes, denn die wohnen alle dem Manne viel thätiger inne. Sie wird wohl eher dem Meeresspiegel vergleichbar sein, der tiefer und beschaulicher wird, je mehr sich darin versenkt. —

Jeder kennt jenes eigentümliche Gefühl, das ihn angesichts der gleichgültigsten Dinge anwandeln kann, ihn zwingt, innezuhalten und Gedanken einzulassen, die von aussen auf ihn einzudrängen scheinen und deren Bewandtnis er noch nicht erfasst.

So stand ich einmal auf einem weiten, freien Feld und dachte an die Druiden, wie die Welt in ihnen wiederhallte, in sie drängend wie ein Strom, so dass sie ihr das Rätsel fast entrieten und, von ihrer Ahnung überwältigt, Wahrheiten stammelten — in undurchdringlichen Worten.

Da fiel mir — anscheinend schauerlich unzusammenhängend — der Don Juan ein!

War etwa hier ein Gegensatz? — War hier etwas , was sich deckte?

Ich weiss es nicht. — Aber mit einem Male begriff ich, wie sich der Zauber und die Tragik im Dasein zweier Geschlechter in jener dunklen Gestalt und ihren Opfern sublimieren konnte, und ich begriff den klärenden Schein, den Mozart um sie wob.

Trat in diesem Wesen irgend ein verborgenes Gesetz in Kraft und blieb das nie Erreichte auf weit abliegender Bahn und keinem füglichem Gebiet verwiesen? —

Lag etwa im Blicke der Veleda jene Ruh’, die Don Juan in jedem schönen Auge suchte, jenem andern Zuge folgend, der die Liebe so unendlich adelt? — Und lag seine eigne Gewalt in seiner eignen Sehnsucht? —

DAS TRAUMBUCH.

M an wirft mir so gerne vor, dass ich nicht schreibe! —

Aber erstens! — — —

Und zweitens gehört hiezu doch auch eine leidliche Erfindungsgabe, und ich bin nur deshalb so leichtgläubig, weil ich auf das Gegenteil von dem, was man mir sagt, von selbst gar nicht gerate, eine solche Veranlagung ist nicht eben produktiv!

Über Gegebenes, Menschen wie Dinge, kann ich lange und eindringlich nachdenken, nur muss ich sie haben! — Aus der Luft greife ich nichts, denn eine unübersteigbare Kluft trennt mich von jener Fähigkeit zu schaffen, die so beglückend und erhebend sein muss und wohl deshalb so selten ist.

Die einzige Genugthuung jedoch, welche mir diese endlich errungene Erkenntnis bot, war, dass ich mich frei sprechen konnte von aller Schuld, wenn keine Gedichte und keine Romane aus meiner Feder flossen, denn wie viel besser wusste ich als alle andern, dass ich keine zu stande brachte!

Als ich aber hierüber noch nicht im Reinen war und mir die Menschen so manches versicherten, was mich nicht überzeugen konnte und doch sehr verdross — fasste ich einmal einen verzweifelten Plan, den ich auf die äusserste Spitze treiben wollte und einem Mann von Fach zu eröffnen beschloss.

Ich liess mich bei ihm melden und erhielt einige Tage darauf ein zierliches Briefchen, worin er mich auf sein Landgut zu einer Unterredung berief.

Nun hatte ich nachts bevor, folgenden Traum: Ich, die nie im Leben geritten war, sass plötzlich hoch zu Ross, ritt andern Reitern, die mich beschworen einzuhalten, voran, liess mich dann langsam herabgleiten und stieg die Treppe zu unserm Hause hinauf.

Dann erwachte ich. — Da jedoch dieser Traum sehr lebhaft in meinem Gedächtnisse haften blieb, so schlug ich in meinem Traumbuch nach, ob eine Deutung darauf stünde und las folgendes: »Unterlasse nicht, was du vorhast!« Mir aber kam diese Weisung wirklich wie gerufen, denn schon lange wollte ich einen recht flagranten Beweis in Händen haben, der mich von meiner Leichtgläubigkeit endgültig kurierte. Derselbe Abend sollte mich ja noch belehren!

Dann verliess ich mein Haus und nahm den Zug.

Das Wetter war leuchtend, und zuletzt führte mein Weg auf einem schmalen Fusspfad durch ein hohes Kornfeld.

Ganz ergriffen hielt ich da inne; denn die Welt war an diesem Tage zu schön, ihr Schein zu unbeschreiblich!

Ovid’s Verwandlungen berührten mich mit einemmale als naturgemäss, und mir war, als würde ich selbst zu jenem singenden, summenden Kornfeld, so sehr entzückte mich gerade an dieser Stelle das goldene Leben unserer Erde.

Doch nur wenig Schritte trennten mich von der Besitzung, in der meine Autorität hauste, und nun erschien mir mein Plan erst recht in seiner ganzen Unausführbarkeit.

Eine Stunde später ging ich denn auch sehr gemessen denselben Weg wieder zurück: Zuerst war der Mann von Fach sehr ernsthaft drei Schritte zurückgewichen und hatte mich angestarrt. — Aber in sein langes herzliches und eindringliches Lachen musste ich am Ende doch einstimmen.

Träume! dachte ich nun und wurde nachdenklicher mit jedem Schritt, denn manches schien mir doch recht befremdend auf der Welt.

Wie kam es zum Beispiel, dass die Alten, diese klugen, spöttischen Griechen, denen die Wirklichkeit so voll genügte, solche Acht auf ihre Träume hielten, dass die Geschichte selbst sie uns ganz ernsthaft mit Daten und Thatsachen bringt? Vor jedem Schlachtenberichte stehen sie da als Avantgarde, und jeder Feldherr klügelt über den seinen!

Nun denke man sich nur einen modernen Geschichtsschreiber Napoleon’s oder Bismarck’s Träume und dann zum Schluss noch seine eignen verzeichnend. Und das mit der gebietenden Miene eines Plutarch!

Wäre es möglich, dass hier etwas dahintersteckte und es uns verloren ging?

Sonst dienen uns doch die Alten so gerne als Vorbild.

Wer aber würde sich heutzutage mit derlei befassen? Die eigentliche Bibliothek des Traumbuchs ist die Küche geworden und geschwätziges oder ungebildetes Volk beratschlagen es. Nur ich besass noch eins, kraft jener Erfindungsunfähigkeit, jener Sucht zu glauben, und auf glaubwürdiges zu lauern. Alle Exzesse und Irrtümer stehen da offen.

So dachte ich, von dem wogenden Kornfeld nicht länger impressioniert, im Dämmerlichte des sinkenden Tages einhergehend und eignem Grübeln.

Da plötzlich unerwartet, ungeahnt — stand vor meinen bestürzten Augen nicht das Gelingen meines Planes — eine andre Erfüllung, die meinen Traum wachrief wie mit einem langgedehnten Ruf, und wie einen kalten Hauch empfand ich meine eigne Blässe.

MUSIKALISCHES.

MOTTO: Wollen wir hoffen?

Richard Wagner, X. Band.

EINE MUSIKALISCHE BETRACHTUNG.

V or einem mit Plakaten reich übersäten Kioske innehaltend, sagte kürzlich einer zu seinem Freunde:

»Sieh doch die vielen Konzerte! Bis über die Wände hinaus klettern die Annoncen!«

»Das ist schön!« rief der andere. »Da hast du unser liebes kunstsinniges München!«

»Ja, da hast du’s!« brummte wieder der eine.

Und wie es so geht auf dieser Welt, als sie eine kleine Strecke weiter gegangen waren, fingen sie fürchterlich zu streiten an. In der Hitze jedoch gebieten wir selten über die überzeugenden Worte, selbst wenn wir im Rechte sind, und grad ein Philister hat da oft leichtes Spiel.

Hier siegte denn auch der, dem beim Anblick der vielen Plakate das Herz freudiger schlug, und selbstbewusst und heiter kehrte er nach Hause zur Gattin.

Aber wie verdrossen ging der andre heim! Fiel ihm doch jetzt erst alles ein, was er im Eifer nicht fand; und wie sicher gestaltet sich nun seine Rede in den dunklen Strassen!

Immer feuriger ging er einher, als müsste er Schritt halten mit seinen Gedanken, und sah recht närrisch dabei aus!

Hier sei auch mir eine Bemerkung gestattet: Wage ich mich zwar jetzt mit dem Sprüchwort: Kinder und Narren etc. vor, so werde ich allerdings dem Vorwurf grosser Alltäglichkeit nicht entgehen, bringt uns heute doch fast jeder Plato’s finstre Höhle (die Höhle, ach, du lieber Gott, in der wir alle so gemütlich sitzen!), oder citiert jene grosse Neuigkeit von dem grössten Tragiker, nicht wahr, der zugleich etc. . . . . Denn nur in solchen und ähnlichen Reminiscenzen ergehen sich nunmehr unsere gewandten Bücher und halten streng an die Devise unsres Jahrzehnts:

»Kaviar für Alle.«

Vollends Sprüchwörter!

Gut, so will auch ich das meine nicht zu Ende sagen, doch bitte ich euch, lasst uns hören, was der Narr erzählte:

»Wie alt«, rief er, »wie alt ist doch die Klage nach entschwundenen Zeiten! Kein Zauber beschwört Vergangnes herauf! Wie der Regen, den die Erde so begierig trinkt, um dann wieder trocken zu werden und hart, so verschwinden spurlos nicht geträumte, ach! erfüllte Ideale von der Welt!

Wer ist es gewahr, dass Schritt für Schritt das Licht fällt, dass Kühle und Dunkelheit überall einbrechen, dass rasch und unbemerkt eine Epoche von uns scheidet? — Erst wenn sie sich ganz unsern Augen entrückte, erst dann wird die Verlorne im wahren Relief vor uns stehen. Aber wie Walther von der Vogelweide um zartere Minne, so werden wir umsonst darum klagen! Und inzwischen stellen wir uns blind und taub und lassen die Verwilderung um sich greifen! Nur ein sehendes Auge sieht die verlöschenden Fackeln, und nur dem feinen Ohre ist das wirre Gekreische vernehmbar.«

(Schade, dass der Mann seine Reden nicht schön und symmetrisch aufzubauen wusste! Seine Gedanken machten wilde Sprünge, und kamen dann im Bogen wieder.)

»Wisst ihr,« rief er da plötzlich, »dass jener thatsächliche Plan, sich per Eisenbahn bequem auf die Jungfrau zu begeben, nichts anderes ist als ein Symbol unsrer Zeit?

Denn nichts Höheres bedeuten unsre täglichen Konzerte, unsre Drehorgelorchester, und unsre ganze nivellierte Kunst. Überall ist der Pöbel ausgebrochen, zwar ein wohlgenährter, gut gekleideter und siegreicher Pöbel, aber erst recht der des Coriolan!

Es haben uns doch die Besten gesagt und die wenig Grossen bewiesen, wie aristokratisch die Natur verführt, wie scheu und sparsam sie ihre vornehmste Blume, die der Kunst, auf ihren höchsten Gipfeln treibt, nur ganz Bevorzugten nach harter Mühe erreichbar.

Was deutet uns ein zusammengepresster staubiger Büschel Edelweiss, an einer Strassenecke schreiend feilgeboten? Aber steil wie das Edelweiss und geheimnissvoll wie die Aloë ist die Kunst! Pöbelhaft war es daher von uns, sie mit Gewalt erstürmen zu wollen, und ein grober und hässlicher Wahn lag dieser »Massenbewegung« zu Grunde. —

Denn als wir allesamt anfingen sie zu duzen, was war da natürlicher, als dass uns die Kunst entfloh? Ihren letzten müden Strahl, an dem wir zehren, halten wir nun für den »Morgenschein kommender Aeren!«, und keiner sieht, keiner weist auch nur von fern auf unsern deutlichen Verfall.

Ob wohl je die Menschen vor einem solchen Wendepunkt gestanden sind?

Ob ein ähnliches Phänomen die Griechen einst zu Grabe läutete? und ob nach Überwucherung der damaligen Kräfte ein ähnliches Schlingkraut die Erde überzog?

Wer wüsste es zu sagen!? Blühten nicht damals die Redner und Bildhauer plötzlich in frecher Überzahl, just wie jetzt Kapellmeister und Solisten?

Ehe man sich dann versah, verklang das ganze hohe Lied in Düsterkeit und Barbarei. Sind wir etwa wieder da angelangt? — Das wäre wohl auch hier die Frage!

»Aber nichts wiederholt sich«, murmelte der Mann.

Er war auf der Brücke angelangt, und der rasche Fluss schien ihm neue Einfälle zuzutreiben, denn er stand lange und sann, wie wohl der Mann beschaffen sein musste, der unsre abwärts gehende Fahrt zu hemmen vermöchte und neues Land eroberte.

Über diesen gewaltigen Geist dachte der gute Kerl lange nach und ging dann brav nach Hause.

NEMESIS.
Eine zeitgemässe Betrachtung.

D ass die Welt ihre grossen Menschen so vielfach verkannte, trug besonders für die Kleinen schlimme Folgen.

Denn die Grossen kommen über kurz oder lang darüber hinweg (sei’s nur, indem sie das Leben überwinden!), und ihre Landsleute halten dann frohlockend an ihre Namen als an ihr Eigentum fest; und starben diese Grossen im Elend, so trägt das Schicksal und der Einzelne die Schuld, denn die Allgemeinheit rettet sich ja stets.

Dass es das ewig selbe Spiel bleibt, übersieht man, und klüger wähnen sich die Menschen jedesmal geworden, wenn sie pietätvoll ihren grossen Toten Säulen, Monumente und Brunnen errichten.

Aber die Rache gräbt unermüdlich, und alles rächt sich tausendfach!

Weil der Flecken nun so klar am Tage liegt, wie taub und blind wir für unsre Helden waren — glaubt ihr, darum sei er getilgt und der urteilslose Unverstand samt seinen Folgen abgeschafft?

Ein Unterschied ist freilich da: der Vielbescholtne krankt nunmehr an seinem üblen Ruf, darf nicht mehr schelten — wagt es nicht — und lässt geschehen. Flugs dehnen sich da kleine Menschen himmellang, und bleibt die Menge scheu vor ihren Produktionen, so verzagen sie nicht mehr, denn die berühmtesten Vorbilder schweben ihnen vor, und die Tradition der Verkannten haben sie ja für sich!

»Wirklich?« fragen sie mit einem unendlichen Lächeln, »mein Werk gefällt euch nicht?«

Da blickt einer zaghaft zum andern, und einer nickt, und kleinmütig nicken sie alle, denn sie sind die junge Generation und büssen für den Unverstand der alten umgekehrt !

Das grosse eine Merkmal des Schönen, dass es zwanglos um sich greifen und unfehlbar, sei ihre Zahl vorerst noch so gering, die Herzen treffen muss — auf dieses eine Merkmal, das doch zugleich auch unsre eigne Würde rettet, auf dies pochen wir nicht mehr, denn unsre Augen sind nicht unschuldig genug, und unsre Vergangenheit ist zu sehr getrübt!

Den Lohn tragen wir nun davon! Auf dem schönen Erdreich, dem wir keine Frucht entnahmen, schiesst das Unkraut so munter wie nur je empor, und auf geweihtem Acker kauert dieselbe alte Schlange!

Und die grossen Menschen?

Je nun, man weiss vorerst nie, wo sie stecken, und sie haben nach wie vor ihre Müh’. Auch sind die Zeichen nicht günstig. Aber vielleicht wirft uns die Flut der Zeit wieder einen ans Land, der den Weg wüsste aus all den verschlungenen Pfaden heraus und sich zur Stunde grämt, weil ihn der breite Fluss des Irrtums überrauscht!

EINE SKIZZE ÜBER DIE STELLUNG DES KLAVIERS UND DER HEUTIGEN PIANISTEN.

E s ist in jüngster Zeit förmlich zur Redensart geworden, die Pianistenfrage kurz damit abzufertigen, indem man sagt. »Das Klavier interessiert mich nicht.« Was aber schlimmer ist wie Redensarten, und was mancher wohlgeschulte Pianist in München zu seinem bitteren Nachteil erfahren musste: Das Wort wird zur negativen That: er sieht nämlich sein Konzert mit knapper Not von Freunden und Bekannten, etlichen alten Leuten und den obligaten Kritikern besucht, die am nächsten Morgen ihr Bedauern über den »leeren Raum« zu Drucke bringen — und das eigentliche Publikum bleibt weg.

Der Künstler selbst wird diese seine moderne Unpopularität natürlich nicht ohne Erbitterung wahrnehmen und sich nicht sehr erbaulich über die alte Musikstadt und ihr gepriesenes Entgegenkommen äussern.

Nun gehe ich von jener alten paradoxalen Wahrheit aus, dass sich zwar in der Masse Irrtum und Unverstand wie von selbst potenzieren, dass aber trotzdem das Publikum in seinen Sympathien recht behält, und es sich jedenfalls der Mühe lohnt, nach dem Grunde zu forschen, wenn es sich einer öffentlichen Kundgebung gegenüber hartnäckig abgeneigt verhält. Ich möchte hierin für das Münchner Publikum sogar eine gewisse Unbeirrbarkeit beanspruchen, und gewiss birgt diese Stadt ein nennenswertes Kontingent wirklicher Musikkenner. Ohne mit dem Finger darauf weisen zu können, fühlt man es bei Gelegenheit deutlich durch, und dieses Kontingent sichert dort dem Grossen und Echten, selbst wenn es neu und ungewohnt ist, fast immer den Sieg.

Nun ist München merkwürdigerweise eine geradezu pianistenfeindliche Stadt geworden, und ohne die Gründe ihrer Abneigung lange zu analysieren, ist sie ihnen im vornherein abhold; ja, die Pianisten zählen dort allgemach zu den verdrossenen Typen, und es ist jetzt Mode, die einst so Gefeierten trotz ihrer bedeutsamen Haartracht zu ignorieren.

Da jedoch eine Abneigung, um sich selbst gerecht zu werden, stets motiviert werden sollte, so sei hier der Versuch gemacht, die eigentümliche Stellung zu bezeichnen, welche das Klavier heutzutage in künstlerischer Hinsicht einnimmt, und welche wir am besten gleich im voraus eine »schiefe Stellung« nennen wollen, um das Wort später erläutert zu sehen.

In der Musik sind wir anerkanntermassen das erste Volk der Welt. Was wir aber mit dem Klavier angefangen haben, oder vielmehr, was wir daraus werden liessen, damit ist wieder einmal ein Beweis geliefert, wie leicht, uns der simple gute Geschmack im Stiche lässt!

Wir Deutsche stehen überhaupt mit dem Geschmack und was er im höheren Sinne bedeutet: Formensinn und Grazie, auf etwas gespanntem, misstrauischem Fusse und fühlen uns nicht ungeneigt, dies alles als frivol zu taxieren. Kommt uns aber dann einmal der künstlerische Takt abhanden, so sind wir uns zwar wohl unsres künstlerischen Ernstes, aber eben weil wir des Taktes vergassen, unsrer Schwerfälligkeit nicht bewusst — und nur so ist es möglich, dass ein Übel, ein grober Irrtum, der sonst unsrer ganzen Richtung widerspricht, sich auf eine wirklich ungeheuerliche Art auswachsen und verbreiten konnte.

Auf besagte Weise ist nun in dem musikalischen Deutschland das Klavier von seiner ursprünglichen Bestimmung abgekommen, hat sich eine Stellung angemasst, die ganz und gar nicht die seine ist, und wurde, nachdem es auf diesem neuen Boden das Publikum eine Weile verblüffte, von demselben verpönt. —

Diesem beklagenswerten Verfall — die Folge rein äusserlicher Gründe — sollten wir nach Kräften entgegenwirken.

Unsre grössten Klassiker haben nicht umsonst in edler Würdigung dieses Instruments ihre herrlichen Meisterwerke dafür geschaffen. Aber leider ist es ebenso wahr, dass sie dabei kaum einen unsrer modernen Pianisten, wie sie jetzt landläufig sind, als Exekutant im Auge hatten, noch dass sie dieselbe Idee vom Klavierspiele hatten wie er! Eine ganz kleine Sylbe trennt hierin die alte von der neuen Zeit: Sahen unsre Meister im Klavier ein stets verfügbares! Mittel, die mannigfachsten reichsten Tongebilde auf dem dürftigen Holze zu resümieren und zur Wiedergabe zu bringen — ein ideales Abstraktum — ein unschätzbares Mittel zum Zwecke musikalischer Re produktion, so sieht hingegen der moderne Virtuos in seinem Instrument lediglich ein Pro duktionsfeld. Nicht Mittel ist es ihm, sondern Zweck, und zwar sich selbst will er produzieren! Über einen so unkünstlerischen Standpunkt ist weiter kein Wort zu verlieren.

Nennt man mir aber Franz Liszt als Beleg für die Berechtigung des modernen Pianisten, so werde ich erwidern, dass er eine Einzelerscheinung, ein ganz für sich gehendes musikalisches Phänomen vorstellt wie die Duse etwa für die Bühne, beide aber in dieser Hinsicht gleich wenig berufen, Bahnen zu eröffnen, denn es sind künstlerische Typen, deren Wert und Reiz eben in ihrer Eigentümlichkeit beruhen. Liszt’s Mähne auf einem anderen Köpflein ist ebenso unbefugt, als es vermutlich die Mimik der Duse bei einer anderen Schauspielerin wäre, denn auch diese findet ihre Berechtigung in einer ganz individuellen künstlerischen Beschaffenheit, aber gewiss nicht als künstlerisches Moment! —

Und dieser Vergleich, wenn er sich nicht vollkommen deckt, mag immerhin dazu dienen, den Fall näher zu beleuchten: So wie die grosse Tragödin ihre eigne Individualität auf der Bühne in tausend Nuancen schillern und erklingen lässt, mithin nicht die eigentlichen Heldencharaktere, wie sie unsre grossen Geister schufen, zur Gestaltung bringt, sondern auf dem nächsten, oft sogar dem nächstbesten Wege ihre ganz persönliche Empfindungsweise, ihre moderne Seele zur Mitteilung bringt, so verlässt auch der Pianist auf dem klassischsten aller Instrumente das ursprüngliche Gebiet, und nicht so sehr musikalische Werke, als seine eigne Person führt er uns vor, um sie unsrer Aufmerksamkeit aufzudrängen. Die moderne Klavierlitteratur ist nicht anders als im engsten Bündniss mit jenem Irrtum entstanden, den Virtuosen als Alleinherrscher vor seinem dadurch fraglich gewordenen Instrument hinzustellen, und beide hiemit zu vernichten.

Denn wie thatsächlich das schönste Klavier unter den Jonglerien und der schaudervollen Gewandtheit eines Virtuosen zur unmusikalischen Plage wird, so denkt man auch heute unwillkürlich bei dem Worte »Musiker« an einen Geiger, Cellisten oder Sänger und nicht sobald an den Pianisten, der mitsamt seinem Instrument und seiner pompösen Spezial-Litteratur aus diesem Bunde ausgetreten zu sein scheint, seitdem er sich auf dem kolossalen Irrtum einschiffte, ein eignes, selbständiges Gebiet — die künstlich angelegte Klaviersee, zu befahren wähnte, und nun auf einer Sandbank festgesessen liegt, von der er nicht sobald wieder flott fährt, es sei denn, dass ihn die Musiker selbst wieder zu Ehren bringen und aus dem unförmlichen, verunglückten Dampfer wieder jenes ideale Schifflein bauen, als welches es einst an einem mächtigen Baue festgeankert lag, und mit ihm und durch ihn das unendliche Meer der Töne zu befahren, die Fähigkeit erhielt. In diese seine ursprüngliche so edle und produktive Abhängigkeit sollten wir es zurückführen, da es in »Demut« so viel erreicht. Nur so könnte es seine alte Würde wieder erhalten, und in uns die alte Freude und die alte Begeisterung wieder erwecken.

EPILOG.

W as auch kommen mag auf dieser Welt, immer gestaltet sich eine Zeit neu und ungeahnt. Unsre Erde trägt keine Propheten, und nur durch ihre Unergründlichkeit sind die Orakel so wahr. Wer erträumte wohl je das nächste Geschlecht? Woran keiner dachte, das geschieht, wo der Fluss am ruhigsten floss, dort tritt er über.

Tausende von Jahren belehren uns nicht über ein einziges, das sich noch nicht entrollte, unzählige von Schicksalen lassen unser eigenes stets neu. Die Notwendigkeit schafft mit ihren blinden Augen zu Tage, andre Mächte fordern wieder, was ihr trotzt, und so liegt die Welt unausgefochten im Kampf.

Oft schon, glaube ich, wurde als das grösste Unheil des Christentums das Pharisäertum erwiesen, jene unheilvolle Macht, die von Grund auf, anscheinend auf alle Zeiten, den Charakter verunstaltete, den das neue Zeitalter erhielt. Wie unendlich viel, und wie unendlich wenig das Dogma verrät, diese These wurde nie aufgestellt, die Pharisäer umstanden das neue, wie das alte Testament; und so wurde es uns verdunkelt bis zur Unkenntlichkeit und entfremdet.

Jenes Unwesen selbst, verlor aber im Laufe der Zeit alle Macht; und da es tief in der Erde sitzt und in den Menschen wohnt, sann es auf eine neue Stätte. Wo aber fand es den Boden, den es nun zu sterilisieren, das Ding, das uns nun zu entfremden galt? Wo anders, als da, wo das Gute hingeflüchtet war, unangetastet, köstlich und steil, hoch über unsren Häuptern, und doch verborgen. Mit schlauem Zerstörungssinn erblühte es da inmitten der Kunst!

Gut meinende Seelen, die aber vom Schweigen des Pythagoras nichts ahnten, hatten selbst dem verderblichen Heere die schmale Bresche verraten und wurden die ersten Pfähle auf jenem schrecklichem »chemin battu«, den jetzt die Mode so verwegen und unbefangen betritt.

Hier müssen wir einen Augenblick zurückgreifen. Bekanntlich war es Grillparzer, der Beethoven’s Grabrede hielt; nun wurden ihm kurzsichtigerweise und nach Wagner’s Erscheinen folgende Worte daraus noch nachträglich verwiesen:

»Beethoven’s Nachfolger«, schloss der unmusikalische Dichter , wird von vorn anheben müssen, denn er selbst hat geendet, wo die Kunst endet.« Und dabei ahnte Grillparzer wohl gar nicht, wie wahr er sprach!

In der That hub Beethoven’s Nachfolger von vorne an und erklomm einen Berg, um auch er — und dies ist bedeutsam — zu enden, wo die Kunst endigt.

Wo sie aber zu Ende ist, dort behauptet wie eine wahnsinnige tote Karrikatur die heutige Musik ihren unredlichen Platz.

Wagner, dieser einfache Mann, der ohne Stil, nur von Gedanken gedrängt, sie so gross und unschuldig niederschrieb, hätte er doch den Missbrauch seiner tiefen, weittragenden Worte geahnt. — Mit Siegeln nur hätte er dann seine Bücher vermacht!

Denn die göttlich stillen Seen, die ein Adler erschaute, sind nun ihrer Einsamkeit entweiht und von der lauten Menge umlagert. Eine so schauderhafte Vulgarisation, eine so triviale Gier, hohe Gefilde zu umlärmen, hat sich ihrer bemächtigt, dass alles Urteil befangen liegt, und keiner seine eignen Worte mehr spricht. Die Halbgebildeten, die Ungebildeten, sie stürzen alle voran. In dieser eitlen Wut ist jedes Unterscheidungsvermögen gelähmt, einer ist der schwächere Abdruck des andern, und alle halten sich krampfhaft an dieselbe Schnur. Nie aber verklingt das letzte hohle Wort!

Ein Abhang im Schatten, ein Fels in der Dämmerung tönt voller als heutige Musik!

Ach! käme doch einer, der unsre Geheimnisse in ihre alten Schleier hülle, bis wir gelernt haben, sie wieder zu verschweigen.

Vielleicht werden wir dann die Früchte ernten, die wir so jäh herunterrissen, vielleicht gelangen wir dann auf Umwegen ans Ziel, vielleicht erschliessen sich uns dann neue Aussichten, ein neues Land und neue Bewandtnisse.

Betrachten wir es genau: Das hehrste Sujet der Menschheit haben unsre grossen Geister scheu umschifft, und ihre unbeschreiblich zarte Jüngerschaft haben sie nicht gesagt oder nicht zu sagen vermocht.

Wir aber wissen wohl in aller Stille, dass durch sie von Ferne eine Gestalt sich uns nähert, die uns so unerklärlich und unfassbar bleibt.

Wir fühlen in der beglückenden Harmonie eines Plato, in Shakespeare’s Tiefe, in Goethe’s Erhabenheit, im Fluge Beethoven’s, in Mozart’s Klang, in Wagner’s Blick, in der Sensibilität eines Schopenhauer (um einmal all die armen Abgedroschenen zu nennen!); wir fühlen, dass aus allen grossen Gemütern etwas ausgeht, was uns mit einer seltsamen Ahnung durchschauert betreffs eines, Gott sei Dank, noch nicht zu oft genannten Namens.

Aber welches Genie schwänge sich auf eine so schwindliche Brücke und ergriffe den intangibelsten aller Fäden?! —

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):