Title : Die Last
Author : Annette Kolb
Release date : November 23, 2013 [eBook #44258]
Language : German
Credits : Produced by Jens Sadowski
Copyright by Max Rascher Verlag A. G., in Zürich 1918
Buchdruckerei zur Alten Universität, Zürich
E s gibt Leute, welche die Worte: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ mit besonderer Vorliebe herausgreifen, andere wieder, welche meinen, Christus könne sich unmöglich so geäussert haben. Ich zweifle keinen Augenblick, dass er so sprach, so wenig ich glaube, dass er dabei an unsere heutigen Stickgase, Flatterminen und Sprengbomben dachte. Aber ich weiss eine Schlacht, zu der ich noch als ein Schatten jubelnd hinstürmen würde, tagte er endlich, der grosse europäische Bruch mit unseren Trollen, unseren Ab- und Unterarten und dem Tross der Seelenlosen, deren Triumph das heutige Chaos besiegelt. Denn eines Tages werden wir es vor uns herjagen, das Heer der böswilligen Toren wie der Unterworfenen, nicht länger gewillt, ihre Übermacht zu ertragen. Von langer Hand ist der Rache vorzuarbeiten, von jetzt ab schon und inmitten der unerhörten Niederlage noch, welche die Kinder des Lichts von den Söhnen der Finsternis erdulden. Ist das, was sich heute ereignet, etwas anderes als das erweiterte Bild desjenigen Krieges, der unablässig auf der Erde wütet, das Glück der Familien untergräbt und die Häuser niederreisst? Haben die Knechtischen jemals aufgehört, den Besonnenen zu verfolgen? Ist je ein Waffenstillstand zwischen ihnen gewesen? Liessen sie je ab, den Edlen zu bedrängen, auf dass er stürze oder sein Wirken wieder vereitelt werde? Kein Gesetz, nichts auf Erden störte sie je, das goldene Saitenspiel seines Herzens zu zerschlagen. Wir wissen genug. Wer brennenden Auges in diese Welt hineinsah, dem ist dieser Krieg kein Rätsel, noch die Worte desjenigen, dessen Kommen der Engelsruf verkündete: „Friede den Menschen, die guten Willens sind,“ und der doch gesagt hat: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Die weit verstreuten Menschen sind heute überall die Unterlegenen, die ihre Einigung noch nicht festlegten, um als das auserwählte Volk — furchtbar genug — den Fuss auf den Nacken der Schlechten, der Unentwickelten, der Unterarten zu setzen, nicht mehr willens, mit ihnen, die nichts so sehr scheuen wie ihre Namen, die Herrschaft über diesen Planeten zu teilen. Durch alle Nationen, alle ihre Schichten hindurch ist der Genius dieses Krieges, seinem Charakter entsprechend, der Würgengel der Besten gewesen, der besten Söhne überall, und der ungeborenen Söhne dieser Söhne. Fragt einen Arbeitgeber, wo immer Ihr wollt: seine besten Leute sind es, die er beklagt. Rache für sie, für alle Prediger in der Wüste, für alle jene Staatsmänner auch, die — hier und drüben — mit reinen Händen in diesen Krieg gerissen wurden, Rache für sie und ihren Gram. Ihre Erhebung und ihr Zusammenschluss ist die grosse Notwendigkeit. Man sage mir nicht, dass es unmöglich sei. Ein Ruf dringt schon durch das Getöse. Wie mit Feuerzungen ist schon die Luft von den Stimmen der Dichter erfüllt. Inmitten welcher Drangsal, welcher Todesnot, aus ihren Gräben, ihren Gräbern ach! haben sie nach der Herrschaft des guten Menschen gerufen.
„Sein ist die Kraft, das Regiment der Sterne.“
Und es gilt nicht von Utopien zu reden. Es gibt keine Utopien. Er wäre denn nur ein Utopist gewesen, der nicht gekommen ist, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, und der gesagt hat: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. “
I n einem Essay über die Markgräfin von Bayreuth schrieb ich vor einigen Jahren, der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung, wohl aber an literarischer Perspektive, und für die Realität des geschriebenen Wortes wohne ihr auch nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl inne wie dem Manne. Heute füge ich hinzu, ihr Interesse und ihr Verständnis für Presse wie für Parteiwesen sei in der Regel gering, und auf jene allerletzten Endes so gedankenlose Parole: right or wrong my country (an welche sich übrigens die überlegteren Engländer während des Burenkrieges nicht hielten), wäre die Frau nicht verfallen.
So wird sie denn nur wenig von bisheriger Politik verstehen, dafür um so mehr von der kommenden. Denn es ist ganz gewiss falsch, zu behaupten, man dürfe Politik nicht mit dem Gefühle treiben. Wie veraltet die ohne Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im Grunde schon war, hatten die zuletzt auf dem Plan erschienenen jungslavischen Völker sehr wohl erkannt, als sie jenen brüderlichen Balkanbund zu gründen beschlossen, welcher dann am Widerstand der europäischen Kabinette scheiterte. So dringen Schneeglocken verfrüht an die schneidende Luft und werden von der Härte des Winters getötet, aber die Ahnung des Frühlings lassen sie zurück.
Es klingt ja angesichts der Tatsachen so grotesk, dass man es kaum zu sagen wagt, aber die Welt ist besser geworden. Denn rohe Gewaltmittel, mögen sie sich noch so radikal durchsetzen, haben jedes Ansehen verloren. Es waren auch in der Tat schon Ansätze vorhanden zu der Erkenntnis, dass die Politik nicht mehr wie auf dem Schachbrett zwischen Spielern betrieben werden dürfte, und es dämmerte die Erkenntnis von der Unhaltbarkeit des Satzes: „In der Politik gibt es keine Moral.“ Mit richtigem Instinkt waren die Nationen durch überlebensgrosse Menschengestalten versinnbildlicht worden: Marianne, John Bull, Michel, Uncle Sam . . . Von hier aus zog sich mit vollkommener Deutlichkeit ein Weg zur Einsicht, dass den Beziehungen zwischen hochstehenden Völkern billigerweise genau dieselben Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen hochstehenden Menschen. Diese, statt sich zu überlisten und brutal zu übervorteilen, suchen sich im Gegenteil an Schonung, Grossmut und Rücksicht gegenseitig zu überbieten. Der Wetteifer um den Rücksitz hat als Ergebnis, dass man sich darin teilt; statt einander zu berauben, hilft man einander aus. Man gesteht sein Unrecht und wird vernommen statt verdammt.
Ich hätte mir vorstellen können — ich weiss nicht, ob ich es noch kann —, dass auf einer solchen Grundlage hin ein Dialog zustande gekommen wäre zwischen Michel und der unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. Ich könnte mir wahrhaftigen Gottes vorstellen, dass er — nach Art der Liebhaber — zu ihren Füssen hingerissen, in leidenschaftlicher Selbstanklage die elsässische Frage vor ihr zur Sprache brächte; ich könnte mir vorstellen, dass im Laufe dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich ergäbe, von wo ab beteuert würde, was verneint worden war . . . und in dieser Tonart lange hin und wieder so beharrlich! — bis die wunde Frage sich zwischen ihnen isolierte auf einen höheren Plan gehoben, langsam, über ihren Häuptern wie eine enthüllte Morgengabe schillerte . . .
Wem dies zu dumm ist, der begebe sich hinaus zu den vordersten Kampflinien, wo die gehegten Söhne holder Mütter wie Tiere jämmerlich verenden, und aus der Wut und Not ihrer Verlassenheit heraus den . . . Kriegskorrespondenten verfluchen, dessen Bericht (o würdiger Trumpf einer realpolitischen Presse!) mit ekler Schönfärberei ihre unnennbaren Martern unterschlägt. Bald nach Friedensschluss wird man sich zwar an den Kopf greifen über die heutige Welt; und dann wird vermutlich das andere Schlagwort aufkommen vom Antagonismus der weissen und der gelben Rasse; und dann wird sich der Himmel verfinstern von all den Schrecknissen; und dann werden die Überlebenden nicht mehr bestreiten, dass die europäische Psyche durch die Assimilierung der asiatischen eine unendliche Bereicherung, ja geradezu ihre letzte Vollendung erführe.
Und die grauenvollen Erfahrungen, die geopferten Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, Jahrhunderte werden notwendig gewesen sein, um diese Welt zu Anschauungen zu bekehren, welche sich der elementarsten Nachdenklichkeit aufdrängen. In so verzweifelt weiten Schleifen rückt die Menschheit ihrem Ziel entgegen. Warum? Welch ein Geheimnis!
Aber all diese Kriege , und die gewesenen sind ja nur Vorstufen zu einem letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der Stunde der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, welche von jeher Kriege verursacht und die schlechte Sache in der Welt betrieben oder die gute verdorben haben. Die Leute also, welche auf den ewigen Krieg schwören, mögen zufrieden mit mir sein; denn bevor jene Elemente (und es sind stets überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet werden, glaube auch ich an keinen dauernden Frieden.
A ndreas Latzko hat einen Aufruf an die Frauen veröffentlicht, welcher ebenso berechtigte wie unberechtigte Vorwürfe enthält.
Ich gebe vollkommen zu, dass heute ein Plädoyer zu ihren Gunsten schwer fiele. Nachdem in den ersten Augusttagen die Männer das Zeichen des grossen Umfalles mit einer Promptheit gegeben haben, die man noch tags zuvor für unmöglich hielt, wurden die Frauen von der Schwere dieses Sturzes mitfortgerissen.
Fast alle Zeitungen arbeiteten damals Tag und Nacht an der Herstellung vergifteter Pfeile in Form von Lügen und Verleumdungen und sandten sie mit fieberhafter Eile nach allen Richtungen aus. In Millionen von Aushängebogen wurden „die Feinde“ täglich neu als eine schlechtere Abart von Menschen dahingestellt.
Männer mit neun Gymnasialklassen und vier Universitätsjahren hinter sich, zur Unabhängigkeit des Denkens systematisch geschulte Männer waren es, welche solche Märchen verkündeten und kolportierten; es ist demnach anzunehmen, dass sie sie auch glaubten. Welche Gelegenheit für die Frauen zu beweisen, dass sie einsichtiger und besser seien, und wie gründlich wurde sie verscherzt!
„Anderthalb Jahrtausende, schreibt Latzko aber, haben an dem Bild der christlichen Frau gemodelt; jedes Jahrhundert hatte das Antlitz mit neuen Zügen vertieft, veredelt, verfeinert“ . . . sehr wahr und sehr schön. Aber der Verfasser des Aufrufs ist ein Dichter und hat als solcher Illusionen über die Menschheit.
Die Norm der Frauen taugt nicht viel mehr und nicht viel weniger als die Norm der Männer. Warum auch? Stammen sie nicht ebensowohl auch von ihren Vätern wie die Söhne auch von ihren Müttern ab? Wer war es nur, der einmal behauptete (ich glaube, ich bin es selbst gewesen!), dass wenn die Männer so leicht bei der Hand seien, um zwischen den Frauen und einer gewissen Abart schnatternder Vögel Vergleiche anzustellen, es ebensosehr das Wesentliche trifft, wenn zwischen den Männern und einem gewissen langohrigen Haustier eine Analogie gefunden wurde. Ich vermute, auf die erstere verfiel zuerst ein Mann, auf die letztere eine Frau. In Wahrheit sind beide Analogien sehr glücklich.
Latzko zitiert erbitterten Gemütes eine dumme Person, welche ihren zurückgekehrten Gatten mit unglaublich gefühlsrohen Fragen anwidert. Aber jener selbe Mann, oder jedenfalls sehr viele andere Männer waren ja zu Anfang vor Kriegsbegeisterung ganz ausser sich und hatten sich das Entsetzen und die Tränen ihrer Gattinnen ungeduldig verbeten. Ihrer Angst und Sorge überlassen, waren diese einzig auf ihre neu eingetrichterte Mentalität gestellt, die in der Tat in diesem Falle nichts anderes sein konnte als eine ungeheure Verdrängung mit all ihren Folgeerscheinungen. O der Fahnen, o der Siege, an denen die Armen sich so geschwätzig weideten, o der entsetzlich vielen Worte, mit denen sie ihre Bangigkeit zu betäuben suchten — den ganzen Tag — und als einzige Ablenkung für ihre tägliche Ungewissheit hatten sie dabei nur die täglichen Schauergeschichten der Zeitungen, diese Musterbilder der Roheit.
Also angeleitet und bei dem Gedanken an die Grausamkeit des Feindes und dem Schicksal ihrer Männer erstarrten und verrohten die Gemüter der Frauen. Heute ruft man ihnen zu: „Ach! seid wie früher! Gut und tränenreich! „Lüge, alles Lüge.“ Es ist nicht wahr! die Menschen zerfallen überall in gute, mittelmässige und schlechte! die Welt ist überall gleich!“
Ja, aber warum hätten die seit Jahrtausenden zur Unselbständigkeit des Denkens systematisch angehaltenen armen Dinger glauben sollen, dass Ihr sie belogt? Dass die Männer, zu welchen sie aufblicken sollten, Lügner waren, die noch dazu wussten, dass sie logen, oder nicht einmal wussten, dass sie logen?
„Lüge, alles Lüge?“ ja, aber wer hat denn gelogen? Und ist es an dem Lügner den Belogenen abzukanzeln? Nein ihr Herren! Wenn die Frauen versagten, so habt Ihr an ihnen die Saaten eurer Lügen geerntet. Wenn Latzko den Frauen zuruft: „Ich weiss, Ihr seid nicht alle so. Vielleicht sind Viele, ich glaube die meisten von Euch sind anders. Aber, wo seid ihr? Man hört Euch nicht!“ . . . so könnten sie ihm erwidern: „Wir sind da. Wo seid Ihr, dass Ihr uns nicht vernehmt, wenn wir unsere Stimme erheben? Aber wir sind noch ohnmächtiger wie ihr!“
Wer hat vielen von ihnen die Pässe verweigert, als sie in Holland tagen wollten, lang bevor Ihr an Stockholm dachtet. Wer hat vor diesem Kriege gewarnt, ein Lebensalter hindurch nichts anderes getan und wurde dafür von den Männern verhöhnt und zur lächerlichen Figur gestempelt? Wer hat die „dicke Berta“ der „Friedensberta“ vorgezogen, wenn nicht die allmächtigen Männer?
Denn das grosse Verbrechen der Menschheit, das ihr durch diesen Krieg ein Denkmal ewiger Schande setzte, bestand schon vorher. Gedankenlosigkeit, Trägheit des Geistes wie des Herzens, Sünde wider den Geist hat uns in den Abgrund gestürzt.
Menschen (würdig des Namens!), ob Männer oder Frauen, verbündet Euch! Schliesst Euch zusammen, und knechtet den geistigen Mob. Er ist es, der zur Herrschaft gelangte und sich triumphierend behauptet. Setzt ihn ab. Er ist der Feind. Erkenntnis ist Güte. Der Verfasser des Aufrufes gehört, seinem Werk wie seiner Gesinnung nach, zur auserwählten Klasse derer, welche den Kampf um die Vorherrschaft „bis zum siegreichen Ende“ führen müssen. So wenig zahlreich sie sind, wären sie, durch die ganze Welt hindurch geeinigt, mächtig genug, um ihr Tribunal zu eröffnen, das die Schlechten unterjochen würde und alle Mittelmässigen wie alle Esel und alle Gänse an den richtigen Platz verwiese. Gelingt es den Auserwählten nicht, durch alle Länder und über alle Grenzpfähle hin ihre Macht durch ihre Einigung zu sichern, so wird der Friede ohnmächtig und mit leeren Händen vorüberziehen.
N icht die so brennenden und viel erörterten Probleme der Rassen und der grossen Interessen, nicht Sieg oder Niederlage, selbst die fernerliegenden oder die unmittelbaren Ursachen des Krieges nicht, sondern was er bedeutet , das ist’s, was heute die Aufmerksamkeit der Nachdenklichen in immer steigendem Masse beschäftigt. Immer deutlicher geht für sie aus dem ungeheuren Trugwerk dieses Krieges, seiner Einsätze und seiner Schlagworte — der Triumph des Sklaven über den Freien hervor, und immer drohender die Forderung, dass dieser Triumph uns nicht nur eine Lehre und eine Warnung sei (denn dies genügt schon lange nicht mehr!), sondern dass wir uns selbst aus der gemachten Erfahrung jenes letzte Gericht erstehen lassen, von dem geschrieben steht, dass es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen, die guten Willens sind — und den anderen — entscheidet, ja! nicht die grosse Einigung, den grossen Bruch gilt es, als Lohn für alle die Opfer zu erzielen. Es muss die unlösliche, herrische und heilige Allianz der menschenwürdigen Menschen zustande kommen, um jene „Untermenschen“, welche schon Villiers de l’ Isle Adam mit so grossem Nachdruck beim Namen nannte, an die rechte Stelle zu weisen.
Nicht nur Europa, die Menschheit selbst steht heute vor ihrem gefährlichsten Wendepunkt. Ihr Niedergang ist unaufhaltsam, wenn jenen untergeordneten, allzu lange geduldeten Elementen, dasselbe Stimmrecht wie bisher verbleibt. Denn ihnen danken wir es, dass noch alle grossen und bahnbrechenden Ideen in Verwirrung ausarteten, und dass eine Sache um so sicherer verdarb, je edler sie war. Das Christentum selbst ist unter die Räder geraten, weil Unzulänglichkeit , und weil Niedertracht das grosse Wort zu führen in der Lage sind. Die Welt hat nichts zu hoffen, solange diese Gattung ihr Herrenrecht behält. Solange nicht ein neuer Korpgeist entsteht, wird die Menschheit wie ein Kranker sein, der sein Übel zu betäuben sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager dreht und wendet, oder, hoch aufgerichtet, nach Atem ringt, um doch nur eine illusorische Erleichterung zu finden. — So wird sie alle Regierungsformen, eine nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre Könige gegen Republiken eintauscht — oder umgekehrt —, es werden doch nur falsche Monarchien und falsche Republiken sein, und auch die Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen als einen Missbrauch der Macht.
Es gibt ja Leute, ich weiss, welche ganz ehrlich der Meinung sind, dieser Krieg sollte von Rechts wegen noch recht lange dauern. Die moralischen Ansichten, die sich dabei geltend machen, sind auch nur deshalb so heillos falsch, weil dieser Krieg eine auf Zurückentwicklung gerichtete Zuchtwahl ist und jede Schlacht die Zahl der Tauglichen herabsetzt zugunsten der Untauglichen wie der Schuldigen und der Profiteure. Letztere sind ja so fest entschlossen, dem Abgrund zu entrinnen, den sie offen halten oder bereiteten, dass ihre Spitzfindigkeit auch die strengste Kontrolle überlisten wird. Nichts scheuen ja diese Leute so sehr wie das Ende des Krieges, da sie wissen, dass seine Verlängerung sehr wohl mit ihrer Gnadenfrist zusammenfallen dürfte, und dass die Untersuchung gegen die Verantwortlichen so lange unterbleiben wird, als das Gemetzel der Unschuldigen anhält. Ach! Dies sollten jene Moralisten wohl bedenken, welche diesen Krieg bis ans letzte Ende geführt sehen möchten, auf dass er seinen endgültigen Garaus fände. Ach, was glauben sie denn? Glauben sie wirklich an einen Rückfall in diesen Zustand? Glauben sie allen Ernstes, dass nach einer solchen Erfahrung die Völker sich noch einmal narren liessen? Haben sie so wenig die Geschichte der menschlichen Irrtümer ergründet, und erkannten sie noch nicht, dass ihr normaler Verlauf (wie die Ärzte sagen) dem der Epidemien gleichkommt und darin besteht, dass ihre Keime anfänglich unter trügerischen Symptomen um sich greifen, um toll und mörderisch auszubrechen und endlich zu ersticken, indem sie triumphieren.
So erreichten die Religionskriege ihren Paroxysmus und verschwanden.
So ist durch die eklatante Torheit und Schmach dieses rückständigen Krieges die Rechnung der Kriege, wenigstens für die europäischen Völker, gemacht. Ich fürchte von der Zukunft kein Dementi für diese Behauptung. Nein! Die Welt fällt nicht zweimal in dieselben Irrtümer zurück. Aber wehe den Neuen! Wenn die rohen und bösartigen Elemente in diesen Tagen ihre Betriebsamkeit unendlich erhöhten und sich überall unendlich bösartiger und roher erwiesen, so sind dafür die Guten überall unendlich besser geworden. Ihre Einigung und infolgedessen ihre Machtstellung durch alle Länder hin hat der Welt noch immer gefehlt. Es gilt, ihre Reihen zu schliessen und ihre Solidarität zu organisieren im Hinblick einer letzten und unerbittlichen Fehde; — und es gilt den Frieden, weil der Kampf um die wahre Vorherrschaft nicht entbrennen kann, solange dieser Krieg noch besteht.
Und die Freiheit?
Wie aber könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, wenn nicht durch die Knechtung desjenigen Pöbels, der allerorts alle Klassen der menschlichen Gesellschaft, von den höchsten bis zu den sogenannten niedrigsten Schichten verheert. Hierarchien aber sind es ja gerade — weniger rudimentär und kindisch nur als diejenigen, welche man sich bisher aufoktroyieren liess. Hierarchien sind es, die auf neuer und gerechtfertigter Basis zu errichten sind. Geben wir uns keinen Täuschungen hin: die Klasse der Könige, der Fürsten und der Herren, ja der ganze Tross der kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden (nur so anders!) und alle wahren Adelsbriefe, die sich in unendlichen Fluktuationen aus der menschlichen Würde ergeben, existieren auch sie. In allen „Kreisen“ aber und durch alle Zeiten hin wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zu wahrer Ohnmacht verdammt, weil urteilslose oder niedrig gesinnte Elemente, die sich weder in Gleichheit noch in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht geniessen.
Echte Demokratien sind die Notwendigkeit: sie sind aber nur insofern nicht illusorisch, als sie aristokratisch sind. Man rede also für die Zukunft nicht von Utopien, sondern von neuen Gesetzbüchern und neuen Statuten.
„Je songe à une guerre de droit
ou de force, de logique bien imprévue.
C’est aussi simple qu’une
phrase musicale.“
(Rimbaud.)
J edes Innehalten ist heute vermehrte Unrast. Wir sind halbwegs Gebliebene, sofern wir Zeit unseres Lebens stillestehen. So ist es über uns verhängt, weil unsere Existenz mit so gewaltigen Umwälzungen zusammenfällt, dass Fragen, die gestern noch in ihren Anfängen steckten, plötzlich zu überhitzter Reife ans Licht gerissen wurden. Es sind aber Fragen, Erkenntnisse und Entdeckungen so schwieriger Natur, dass der einzelne, wie stark er immer sei, niemals imstande sein könnte, ihre Geltung durchzusetzen. Sie wäre nur möglich durch das kollektive Wirken ganz bestimmter, durch Erfahrungen aufmerksam gewordener Menschen, welche das Schicksal zusammenführte, damit sie die Tabelle ihrer Erlebnisse vergleichen. So bedurfte es der Konstellation einer Konstellation, um der Sinnfälligkeit einer Wahrheit so vorzuarbeiten, dass sie wie ein von jeher dagewesenes, aber noch nie vorher gesichtetes Sternbild zu voller Deutlichkeit gelangt.
Aber noch schwebt sie nicht über uns, diese heute schon nicht mehr wegzudenkende Wahrheit, sondern sie harrt noch unerlöst am Wegesrand, so alt sie ist. Von Natur aus gerät ja keiner auf sie, Erfahrung allein kann den Menschen darauf bringen, und noch immer stürzte er, ohne sie zu erkennen, über sie hin. Weil aber der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sie ein Gesicht erhalten soll und Augen, uns anzustarren, ergab sich eben jener Komplex von Erfahrungen, mit dem sich das grosse 2 × 2 = 5 dieser Welt so gründlich vornehmen lässt wie eine Haussuchung mit Hilfe richtiger Schlüssel.
Dass sich jene weit verstreuten paar Menschen mit den analogen Wahrnehmungen, den analogen Erlebnissen und der analogen Geistesart eines Tages begegneten, gehört zu den grossen sogenannten Zufällen des Lebens. Auf jeden Fall obliegt es ihnen, die Dinge, um welche es heute geht, in allen Tonarten und den weitausgreifendsten Steigerungen zu formulieren.
Erkenntnismässig ist ja ihr Weg vollkommen deutlich ausgestreckt, und schon sind alle Hochgefühle irgendwie von der Bewältigung seiner Fährnisse abhängig. — O Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! wie bezeichnend ist es, dass euer göttlicher Impuls euch nicht davor bewahren konnte, zum Kompendium aller Irrtümer zu werden! Die Menschen sind nicht gleich. Ihre schief aufgerichtete Gleichheit wird vornüber stürzen, mit ihrer Brüderlichkeit wird es so eine Sache sein wie bisher, und die auf krummer Axe gehobene Welt läuft Gefahr, endgültig ihren falschen Dreh zu nehmen, wenn nicht alle Anstrengungen geschehen, die missverstandene Brüderlichkeit und die misshandelte Freiheit nach einer anderen Himmelsrichtung und unter veränderten Gesichts punkten neu aufzurichten. Wie aus einer brennenden Stadt müssen wir heute diese Begriffe retten und aus dem zerfallenen Tor unserer Zeit mit ihnen fliehen. Wer die menschliche Gesellschaft in allen ihren Schichten kennen lernte, hat keine Illusionen mehr. Dass es einen Plebs im Adel gibt, macht den Pöbel um nichts schöner! Tausendfältige Ungleichheit ist eben das Prinzip, auf dem die Menschheit wie auf Sprossen anhebt. Ein Feststellen, ein Unterordnen der wahren, bis in die tiefsten Ursprünge zurückzuleitenden Ungleichheiten könnte allein die wahre Gleichheit zu ihrem Rechte bringen und nur in Wahrung der (ach so vorhandenen!) Distanzen könnte die Brüderlichkeit unverletzt aufleben. Hier liegt das Problem der künftigen Jahrzehnte, Jahrhunderte. Es ist der Sinn der Leiter, von welcher Jakob träumte, und wir leben heute wirklich nur noch um der Erläuterungen willen, welche diese Dinge verlangen.
S o hätten wir heute alles von der Methode jener glücklichen Spekulanten zu lernen, welche sich offenkundig als die weitaus schärfsten Psychologen erwiesen, indem sie irgend ein Präparat, eine Zahntinktur oder ein Extrakt dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, dass sie deren Bezeichnungen in grellen Riesenbuchstaben an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, sich gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden heften, selbst auf Bergeshöhen sich zwischen ihm und der Aussicht schieben, ja von Felswänden herab ihm unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! entgegenschreien.
Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände mit einer so vorbildlichen Hartnäckigkeit zu erzwingen? Durch ein ungeheures Preisausschreiben etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten Schule erginge, um auf Bildern oder Plakaten, mit beliebigem Raumverbrauch die Wirklichkeit zu illustrieren und zu illuminieren; allen Brücken und Wegen entlang sie immerzu neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren geistigen Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von Spekulanten voll ergründeten. Dass es keine intellektuelle Notwehr, dagegen einen hemmungslosen Mangel an Logik gibt, und dass wir lieber untergehen, als dass wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, bevor wir es erlebten. Wie hätte sonst über unsere Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter Regie über alle Grenzen hin in die Hände arbeiten? Dass sie dabei sehr ausdrücklich in Freunde und Feinde zerfallen, macht ihren stummen Pakt nur um so fester. Wir anderen aber, welche den entsetzlichen Humbug dieser „Feindschaft“ durchschauen, auf uns, die ihn gewähren lassen, auf uns fällt der Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die Schlechten, deren Tun im Einklang steht mit ihrem Wollen; auf uns, nicht auf die Knechte, welche sich zu unsern Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von ihnen knechten liessen! Sollte der Tag hereinbrechen, an dem es zu spät sein wird für unser Zusammengehen, so werden wir, die guten Willens sind, als die Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres besseren Wissens gebrach, dem Genius des Krieges, die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu reissen. Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn jener Sage, welche dem Drachentöter die Sprache der Vögel verstehen liess, als er vom Blut des erlegten Ungeheuers genoss.
So läge es in unserer Macht, das Elend des Weltkrieges zum Segen zu wenden, wenn wir aus den Trümmern, die er häufte, das Weltgericht mit letzter Anstrengung und letzter Entschlossenheit heben; mit ihm die grosse reinliche Scheidung, das Ende der Verkehrtheit, der falschen Gleichstellungen und des Gewühls; den Anfang jener neuen Hierarchie, nach der wir lechzen.
Uns aber, der kleinen, geschlagenen Avantgarde, welche der Krieg um ihre letzte Neugier brachte, wir, die seine Verwerflichkeit und Stupidität von jeher, lang bevor es ein Wort wie Defaitismus gab, kennzeichneten, uns steht heute das traurige Vorrecht zu, die neue Scheidung und den neuen Kampf hinauszurufen, bevor der Schutt der alten Zeit uns begräbt.
D ie Heftigkeit, mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, hindert nicht, dass sie schon unter dem Druck einer geradezu monströs gewordenen Langeweile aufziehen, und dass unser eigener Pathos mit der ganzen Öde eines Frohndienstes auf uns lastet.
Es kann jedoch sein, dass unser Gewissen oder unsere innere Stimme (wie man es nennen will) laut und unerbittlich die Forderung an uns stellt dies oder jenes noch zu sagen , bevor wir schweigen. Wer von uns wird nach dem Kriege noch von ihm reden? heute aber will ein désintéressement von den Dingen, die geschehen, erst erworben sein, denn unsere Zeugenschaft hat uns zu ihren Teilhabern gemacht, und auch wir haben verspielt.
Von allen, die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu dessen Grundlegung ich Steine herbeischleppe — so eilfertig und unter Hohngelächter gewiss! — denn wo fände ich Glauben? — Das Gerüst allein dürfte die Arbeit von Generationen sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht, ja, vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen Kathedralen sein Symbol. Aber worauf es ankommt: bei allen Opfern, die er erheischen wird, allen Kämpfen, die ihm bevorstehen, ist er möglich .
Bis zum heutigen Wendepunkt unserer Geschichte gehörte es zu ihren integralen Beständen, dass unseren vielgenannten „heiligsten Gütern“ niemals auch nur von ferne ein schützendes Patent zuteil wurde, je erhabener eine Idee, um so grauenhafter die Verbrechen, die in ihrem Namen geschahen, je tiefer eine Erkenntnis, desto grösser der Unsinn, der daraus entstand.
Die richtige Einsicht, dass es (merkwürdigerweise) niedrige und hohe Menschen gibt, führte folgerichtig zu Rang- und Standesunterschieden. Bei ihrer Aufrechthaltung aber gerieten jene Ungleichheiten, welche doch erst die Berechtigung solcher Klassifikationen bilden, immer mehr ausser acht, und bei dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte sich in immer gemeinerer Weise das Bestreben jene Distanzen, welche der Wert zwischen den einzelnen liegt zu ignorieren. Das Missverständnis artete immer wilder aus: der königliche Mozart speiste mit dem Gesinde, und ein lakaienhafter Kavalier warf ihn mit einem Fusstritt ohne weiteres vor die Tür. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen Revolution verdanken. Doch, als sie das falsche Spiegelbild in edler Empörung zerschlug, wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst recht nur eine halbe Massnahme getroffen.
Kein Missbrauch wurde an der Wurzel gefasst, vielmehr entrann der Missetäter froh durch die Tür. So brach die französische Revolution wie das Christentum, dem sie entsprang, in sich selber zusammen und wir sind heute wie bankrotte Leute, die von vorn anfangen müssen. Wir stehen wieder am Anfang aller Tage. Das heisst am Ende. Denn für das erkennende Auge sind ja die Menschen längst in jene zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben steht. Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke geglückt, und unsere Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, dürfte auch fernerhin ein frommer Wunsch verbleiben, solange wir jene dunkle und geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, dass die von schlechten Instinkten Gemeisterten so viel deutlicher die Hochgesinnten herausspüren, als diese sich unter sich erkennen. Wahrlich diese dunkle und rätselvolle Tatsache birgt Perspektiven von lockender Tiefe, und sie ziehen sich wie weite Zimmerflüchte nach allen Richtungen, reich an Verborgenheiten, hin. —
Es heisst vom Himmelreich, es litte Gewalt. Indessen sehen wir zu, wie die Hölle immer mehr das Erdreich verschlingt. Dass allerorts so und so viele darüber jammern, ja auch vernünftig darüber raisonieren, hilft uns keinen Schritt vorwärts. Denn wo bleibt unser Zustrom, wo insbesondere bleibt unsere Sichtung?
Um Machtfragen werden sich nach wie vor die Dinge drehen, und nach wie vor wird sich herausstellen, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt. Macht wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor Recht. Es ist Sache des Rechts, die Macht an sich zu reissen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine Exekutive zu befestigen, welche die aus Lüge, Feuer und Mord errungenen Vorteile verschmähen, und Lüge, Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, Feuer und Mord. Sache des Rechts ist es, die Bahn solcher Gewalthaber zu bereiten, und was mich angeht, so musste ich, um meiner eigenen Grabesruhe willen, diese zukünftigen, für ein feineres Ohr heute schon ödesten Gemeinplätze noch äussern, bevor ich schweige oder von etwas anderem rede.
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Epilog zu den Briefen an einen Toten | 3—4 |
August 1916 „Weisse Blätter“ | |
Ausblick | 4—6 |
Mai 1917 „Friedenswarte“ | |
Zum Aufruf an die Frauen | 6—8 |
26. August 1917 „Neue Zürcher Zeitung“ | |
Letzte Folgerungen | 8—11 |
22. Oktober 1917 „Neue Zürcher Zeitung“ | |
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit | 11—12 |
März 1918 „Friedenswarte“ | |
Wiederholungen | 12—14 |
Juli 1918 „Friedenswarte“ | |
Schlusswort | 14—15 |
Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):