The Project Gutenberg eBook of Kobolz: Grotesken

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Title : Kobolz: Grotesken

Author : Hans Reimann

Release date : January 7, 2014 [eBook #44610]

Language : German

Credits : Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KOBOLZ: GROTESKEN ***

  

KOBOLZ
GROTESKEN
VON
HANS REIMANN

KURT WOLFF VERLAG
LEIPZIG

Bücherei
Der jüngste Tag
Bd. 39/40

COPYRIGHT KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG 1917
GEDRUCKT BEI G. KREYSING IN LEIPZIG

«Memento vivere!»

BEDRUCKTES PAPIER

V OR mir liegt ein weißes Blatt Papier. —

O du weißes Blatt Papier!

Du liegst unter meinen Augen — wehrlos, unschuldig, schön. Glatt bist du und ohne Makel. Wie sollt’ ich dich beschreiben?

Ich beschreibe dich nicht.

Ich wage nicht, dich zu beschreiben.

Du bist so weiß!

O du weißes Papier!

Was ist dir!

Und was ist mir??

— — Ich starre auf das leere Blatt und lese Sätze — wie von meiner Hand geschrieben.

Bin ich irre? Spukt es mich an?

Ich lese Sätze, die ich nie geschrieben; ich lese Sätze, die ich nie gedacht.

Hier stehen sie gedruckt, wie ich sie sah.

Das Blatt jedoch ist weiß wie Schnee.

Vor meinen Augen flirrt’s.

Der grause Schrecken faßt mich an, mich schüttelt’s wie im Fieber:

Mit langen Beinen, ekel angehaarten, stolziert ein giftig grünes Hirngespinst quer über meinen weißen Bogen.

Und er, der eben leer, ist vollgekrakelt.

Mir bleibt es, in die Druckerei zu schicken, was drauf steht.

Ich tu’s.

LITERATUR

W IR alle sind sehr verdorben.

Wir lesen und fabrizieren Literatur, die an Intensität und Gesteigertheit nichts zu wünschen übrig läßt.

Ich empfehle zwecks Erholung und Reinigung der hirnlichen Zustände das folgende barbarische Mittel: kauft euch Dr. H. Loewes spanische Unterrichtsbriefe und lest darin! Lest darin, ohne spanisch lernen zu wollen!

Lest die Sätze:

«Die Welt ist groß. Ihr habt ein Stiergefecht in Sevilla gesehen. Der boshafte Räuber nimmt das Geld weg. Ich habe die Witwe des Generals geküßt. Das schöne Fräulein hatte einen unglücklichen Vater. Sie erzürnten den Zwerg, indem sie Bohnen in sein Gesicht warfen. Der Allmächtige erhält die Welt, welche er erschuf. Du gibst mehr Geld aus, als nötig ist. Seid immer fleißig und aufmerksam! Die Kartoffeln wurden im Jahre 1580 nach Europa gebracht. Wie kannst du über das Unglück anderer lachen?»

Je mehr ihr dieser weltgebornen Sätze leset, um so weiter werden eure Herzen von der modernen Literatur hinwegrücken!

(Oder etwa nicht??)

SCHERZHAFTE NOVELLETTE

D ER Schreibtisch liegt im Scheine der flackernden Kerze. Im Ofen knistert das Holz. Draußen ist kohlrabenschwarze Nacht.

Ephraim schreibt an einer Novellette, die folgendermaßen anhebt:

«Der Schreibtisch liegt im Scheine der flackernden Kerze. Im Kamine knistert das Holz. Draußen ist kohlrabenschwarze Nacht.»

Der Anfang dieser seiner Novellette hat vielerlei für sich. Vor allen Dingen ist er von unanfechtbarer Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit — bis auf den Kamin, der durch einen ordinären Ofen repräsentiert wird.

Ephraim kann nicht weiter. Er nimmt einen auf dem Tische befindlichen Zirkel (— neue deutsche Literaten, darunter auch meine Wenigkeit, brächten es nicht übers Herz, das simple «befindlich» anzuwenden, vielmehr würden sie sich eines aparten Zeitwortes wie etwa «Vagabundieren» oder «Dahinträumen» bedienen! —), spreizt dessen Schenkel, daß sie eine Gerade bilden, faßt ihn mit der Rechten und stochert in einem der hintersten Backzähne.

Der Mensch tut manches Unschöne, so er sich unbeobachtet glaubt.

Sodann erhebt sich Ephraim, bohrt mit beiden Zeigefingern in beiden Gehörgängen, lehnt sich rückwärts an die Tischplatte und schaut vor sich hin.

Mählich gewöhnen sich die Augen an das Halbdunkel des Stübchens und verweilen auf den Gegenständen.

Ephraim blickt auch auf das Fenster.

Draußen ist Nacht.

Ephraim blickt hinaus in die Nacht.

Er erschrak nicht, er zuckte nicht zusammen, er geriet nicht aus der Fassung, kein Muskel regte sich in seinem Angesicht, als er den Kopf sah.

Draußen stand ein Mann und hatte seine Pupillen stier auf Ephraim gerichtet.

Zwei Augenpaare bohrten sich ineinander.

Der in der Stube erschauderte.

Er schwankte. Sollte er tun, als habe er nichts bemerkt, und sich wieder an den Schreibtisch setzen, — oder sollte er . . . .

Ach wo, und er schritt zur Tür, öffnete sie, — zwei, drei Schritte, und er stand vor dem Fremden.

«Fedor Ignaz Deichsel» stellte sich dieser vor (die Stimme klang piepsig und dünn) und verbeugte sich trotz der Dunkelheit.

Es war also nicht Sherlock Holmes!

«Sehr erfreut!» entgegnete Ephraim, stellte sich seinerseits vor und lud den Fremden ein, näher zu treten.

Der Fremde folgte dem Dichter in die Stube.

Erst redeten sie keine Silbe — späterhin ging es recht lebhaft zu.

Erst standen sich die zwei wie die Pflöcke gegenüber — — zuguterletzt schlossen sie Brüderschaft.

Der Fremde war nämlich auch ein Dichter.

Er wollte eine Novellette schreiben und hatte sich das sehr schön ausgemalt: wie er den Mann in der Stube beobachten würde, um ihn abzukonterfeien und sein Tun zu schildern. Der Anfang, den er im Kopfe trug, lautete:

«Kohlrabenschwarze Nacht. Der Schreibtisch liegt im Scheine der flackernden Kerze . . .»

Weiter war er nicht gekommen, und es ist fraglich, ob er sich für «Ofen» oder «Kamin» entschieden hätte.

— Ich, ich schöpfe das Fett ab.

(Diese Malefizliteraten!)

DER NACHTWÄCHTER

A LS der Herr schlief, machten sich die Holzpantoffel auf die Wanderschaft.

Zuerst kamen sie in ein Dorf, wo die Hunde bellten. Dann kamen sie in ein Dorf, wo keine Hunde bellten. Dann kamen sie in ein Dorf, wo wiederum Hunde bellten. Und endlich kamen sie in ein Dorf, wo nicht ein Hund bellte.

Da gefiel es ihnen, und sie trippeltrappelten kreuz und quer durch alle Straßen und Gassen.

Da kam der Nachtwächter und erfüllte seine Pflicht, indem daß er tutete.

Die Pantoffel, zu jedem Schabernack aufgelegt, klapperten im Kreise um ihn herum.

Als der Nachtwächter die tanzenden Pantoffel sah und das Geklapper hörte, wunderte er sich nicht schlecht und glaubte, er habe einen sitzen.

Aber er hatte keinen sitzen, sondern es war wirklich wahr: die Pantinen hupften und sprangen und trampelten um ihn herum.

Da zog er seine Doppelkümmelflasche aus dem Busen und tat einen tiefen Zug, um sich zu stärken.

Als er die Holzdinger immer noch hupfen und springen sah, tat er auf den Schreck und als gründlicher Beamter einen zweiten Zug.

Als aber die Tüffel gar nicht aufhören wollten, ihn zu umklappern, pietschte er die ganze Buddel aus.

Was war die Folge?

Er taumelte stockbetrunken durch das Dorf und kam sich von hunderttausend Holzpantoffeln umhopst vor.

Er torkelte heimwärts und fiel seiner Frau Gemahlin angstschlotternd um den Hals.

Die Pantoffel hatten nun genug und trippeltrappelten mopsfidel zurück zu ihrem Herrn.

Der Nachtwächter jedoch — ein sogenannter Pantoffelheld — nahm die Schläge hin, die seine Frau Gemahlin ihm zugedachte.

*                    *
*

Moral: Bedudle dich! Aber bedudle dich heimlich und nicht ohne den triftigsten Grund.

GEFALLEN

W ER hätte es noch nicht mit Entzücken betrachtet, das reizende Gemälde «Vom Himmel gefallen»? Ein Baby, ein allerliebstes, in taufrischem Gefilde!

Und wer hat noch nicht mit liebevoller Genugtuung festgestellt, daß jenes Würmchen bei seinem Sturz vom Himmel nicht Hälslein und Beinlein gebrochen hat, sondern völlig unversehrt geblieben ist?

Reden wir nicht davon, begnügen wir uns vielmehr damit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich das vom Himmel gefallene Baby allem Anscheine nach pudelwohl fühlt auf dieser vom Himmel himmelweit verschiedenen Erdkugel.

Der Maler sah es, malte und ging seiner Wege; für ihn war die Sache abgetan.

Das Gemälde ward vervielfältigt — vervielzuviefältigt ! —, ward in den Kunsthandlungen ausgestellt und ward mit Entzücken betrachtet und wird es noch.

Um das (seinerzeit) vom Himmel gefallene Menschenkind kümmerte sich niemand. In taufrischem Gefilde saß es und freute sich seines Daseins.

Ach, wie edelmütig von den Herren Künstlern, den Lebensweg der vom Himmel Gefallenen und der anderweitig wunderkindlich Veranlagten idyllisch auf sich beruhen zu lassen und nicht aus der Schule des Lebens zu plaudern!

Wenn etwas am schönsten ist, wird’s gemalt und damit basta.

Aber ich will dem Maler jenes Würmchens einen groben Strich durch sein Werk ziehen und will ausplauschen, was geschah, und was sich begab.

Also das kleine Wesen saß und saß und freute sich des Lebens. Der Maler war längst über alle Berge.

Aber dann kriegte es Hunger, und dann wurde es müde, und dann kam die Nacht.

Es fror, daß Gott erbarm, und da machte es sich auf seine kleinen Strümpfchen und batterte in die Dunkelheit hinein.

Selbstverständlich gelangte es an den bekannten Abgrund, in den zu stürzen allerdings kein rettender Engel es verhinderte, oh nein: es purzelte hinein in den Abgrund, brach jedoch infolge seiner Übung im Fallen weiter nichts als das dritte Gliedchen des vierten Fingerchens des linken Patschhändchens.

Da lag es nun und plärrte ob des Wehwehchens, wie wenn es am Rost gebraten werden sollte.

Da kam der bekannte Köhler, der seine Hütte in weiser Voraussicht in nächster Nähe erbaut hatte, und nahm es und trug es heim und verband das Wehwehchen des dritten Gliedchens des vierten Fingerchens des linken Patschhändchens und bettete das Kindelein und wartete sein.

Die bekannten Jahre strichen ins Land, und die Köhlerstochter erblühte zur Jungfrau.

Und dann kam aber keineswegs der bekannte tugendhafte Prinz, um die schöne Köhlermaid heimzuholen, im Gegenteil, es kam niemand.

Und da niemand kam, sprach die Jungfrau zu sich selbst: «Ach wat!» und bestieg ihr Veloziped und fuhr bis zur Bahnstation, und dort setzte sie sich in die Eisenbahn und dampfte nach der Stadt und wurde daselbst Bardame und ergab sich, huh, dem bekannten liederlichen Lebenswandel.

Dies zu erfahren, ist zwar nicht hocherfreulich, doch ist es die Wahrheit.

Ich halte es für meine Pflicht und Schuldigkeit, meinen Lesern reinen Wein einzuschenken, und sei er noch so herb.

— So oft ich eines unschuldigen, wie vom Himmel gefallenen Menschenkindes ansichtig werde, denke ich an das Urbild jenes bekannten Gemäldes — an das Urbild, das erst vom Himmel und dann auf der Erde und somit in der Wertschätzung der lieben Mitmenschen fiel.

DIE DAME OHNE KOPF

(1)

A UF der Terrasse des Esplanade-Hotels in Biarritz.

Urban, Rüdiger und Martin, drei tadellos angezogene junge Herren, blicken auf das Meer hinaus.

Martin mahnt zum Aufbruch und zieht die Brieftasche. Er will bezahlen.

Rüdiger klopft mit dem Löffel an sein Teeglas.

Urban beobachtet absichtslos die Handbewegungen Martins.

Da fällt aus dessen Brieftasche eine Akt-Photographie.

Martin bückt sich, Urban bückt sich. Rüdiger dreht seinen Schnurrbart.

Martin hat die Photographie aufgehoben und steckt sie in ein Fach seiner Brieftasche. Er hat einen feuerroten Kopf.

«Was war das?» fragt Urban.

«Oh, weiter nichts!» gibt Martin zur Antwort.

Aber der eine Blick, den Urban auf die Photographie geworfen hat, hat genug enthüllt.

Urban ersucht den verlegenen Martin, ihm die Photographie zu zeigen.

Martin holt die Photographie heraus und reicht sie Urban hin. Mit dem Daumen verdeckt er den Kopf der Dame.

Rüdiger wirft einen flüchtigen Blick auf das Bild und putzt sodann umständlich seine Brillengläser.

Das Bild stellt eine Dame dar, die völlig nackt ist. Sie liegt rücklings auf einer Ottomane und hat die Beine hoch in der Luft gekreuzt.

Urban erkennt sofort seine Frau.

Martin nimmt den Daumen weg.

Die Dame hat keinen Kopf. Wo der Kopf sitzen müßte, hat die Photographie einen leeren Fleck.

«Wer ist das?» fragt Urban heiser.

«Ihre Frau!» antwortet Martin.

«Und wer hat die Aufnahme gemacht?»

«Der Herr Gemahl!»

«Ich denke nicht dran.»

«Ihre Frau hat’s gesagt.»

«Das ist gelogen. Ich weiß nichts von der Aufnahme.»

« Ich habe die Aufnahme gemacht!» mischt sich Rüdiger in das Gespräch, setzt seine Brille auf und schaut die beiden Herren an.

«Das finde ich großartig!» spricht Urban.

«Ich nicht» sagt Martin. «Rüdiger, Sie sind ein Schuft!»

«Jawohl» versetzt Rüdiger.

Beide stehen auf und gehen weg.

Urban zahlt und schlendert hinter den beiden her.

(2)

In den Dünen.

Rüdiger und Martin schießen sich.

Martin kriegt einen Schuß in den Kopf und ist auf der Stelle tot.

Rüdiger nimmt dem Toten die Photographie aus der Brieftasche und entfernt sich.

(3)

In den Dünen.

«Verschaffen Sie mir wenigstens eine Kopie von der Aufnahme!» sagt Urban zu Rüdiger. Er ist ihm nachgelaufen.

«Mit Vergnügen» gibt Rüdiger zurück und überreicht die Photographie, die er Martins Brieftasche entnommen hat.

«Danke!» sagt Urban.

«Bitte schön!» sagt Rüdiger.

Urban geht hierhin, Rüdiger geht dorthin.

(4)

In den Dünen.

Am Abend findet man Urban an derselben Stelle, an der Martin tot zusammengebrochen ist.

Er hat sich erschossen.

Die Kugel ist durch die linke Brust gegangen — mitten durch die Photographie in der linken Brusttasche.

(5)

Rüdiger heiratete trotzdem Urbans Witwe nicht.

(6)

Aber Urbans Witwe, die Dame ohne Kopf, heiratete trotzdem.

«SNEEWITTCHEN, DER APFEL IN»

I CH lebe unter dem Fluche, Grotesken zu schreiben.

Bringe ich die simpelsten, banalsten Dinge zu Papier — Dinge, die ich mit eigenen Augen sah und ohne irgendwelche «Ausschmückung» notierte —, so heißt es, sie seien «grotesk».

Nichts ist grotesk auf dieser Erde.

Selbstverständlich ist alles grotesk auf dieser Erde.

Aber es kommt darauf an.

Die Welt ist grotesk, und sie ist das Gegenteil.

Das Leben ist ernst, und es ist das Gegenteil.

Subjektiv genommen ist die Welt grotesk und das Gegenteil.

Subjektiv genommen ist das Leben ernst und das Gegenteil.

Aber objektiv genommen ist die Welt grotesk. Denn das Gemisch von Groteskem und Nicht-Groteskem, eben dies Gemisch ist grotesk.

Und das verflucht ernste Leben, das zu Zeiten so haarsträubend ulkt, ist grotesk.

Und auch das andere Leben, das so ulkig ist, kann zu Zeiten verflixt ernst sein. Und somit grotesk.

Ich komme vom Thema ab. —

Die Groteske «Sneewittchen, der Apfel in» ist lediglich der Überschrift wegen geschrieben worden. (. . worden??)

Diese Überschrift ist grandios!

Ehrenwort!

Mein Freund, der Dr. Kurt Lange, hat es bestätigt.

Diese Überschrift ist eine Parodie (für die Hartköpfe sei’s gesagt).

Die Überschrift ist derartig . . . . schön, daß es sich erübrigt, den Text dazu herzuschreiben.

Als guterzogener Mensch will ich wenigstens andeuten, um was es sich bei «Sneewittchen, der Apfel in» handelt. Oder vielmehr handeln sollte (es handelt sich gar nicht!).

Die Sache ist die: Sneewittchen kriegt von der Frau Königin einen Apfel angeboten. Zum Beweise dessen, daß er nicht vergiftet sei — na, wenn sie das schon sagt, da soll ein Mensch nicht stutzig werden! —, schneidet sie den Apfel (sie — die Königin) in zwei Hälften. Aber die eine ist doch giftig, und die andere nicht, und die giftige verspachtelt Sneewittchen.

Das ist ein dunkler Punkt.

Denn ein kleines bissel Gift wird mindestens in die ungiftige Hälfte gedrungen sein — — wenn sich ein halbgiftiger und halbungiftiger Apfel überhaupt anfertigen läßt!

*                    *
*

Nachwort: Das Tollste in «Sneewittchen» oder besser «‚Sneewittchen‘, das Tollste in» ist indessen die eigenartige Tatsache, daß die verschluckte Apfelhälfte — — ach, das ganze Märchen taugt nichts! Ich werde es revidieren und neu herausgeben unter dem Titel «‚Sneewittchen‘, ein für fortgeschrittene Kinder nach den Resultaten moderner medizinischer Forschung umgearbeitetes Märchen».

DOLL!

E S war einmal.

Zufolge einer hitzigen Wette ritt der wirklich, also ich sage Ihnen: wirklich feudale Graf Soundso in Lack und mit Einglas auf einer Kuh, also Ehrenwort: auf einer Kuh durch eine belebte Straße der preußischen Hauptstadt.

Doll, was?

Der Spaß kostete zwanzig Emm — Lappalie! —, der Graf mußte absitzen und wohl oder übel die Kuh nach Hause führen.

Was sagen Sie dazu?

Sie schütteln Ihren Kopf mit Recht.

NACHT IM HOTEL

I N der Nacht kroch mir etwas über das Gesicht. Davon wurde ich munter. Ich machte Licht und sah, daß es eine Raupe war. Sie hatte eine grasgrüne Hautfarbe und viele Borsten. Ich sprach zu ihr: «Du kommst mir ungelegen, Raupe! Warum störst du mich im Schlafe?» Die Raupe erwiderte: «Ich störe dich mitnichten im Schlafe; siehe denn, du träumst! Ich bin eine von dir geträumte Raupe. Oder, wenn du willst: Ich träume dir .» Ich wunderte mich ein wenig und sagte: «Wenn es sich so verhält, und du nur eine mir geträumte Raupe bist, so habe ich keine Veranlassung, dir zu zürnen. Aber verschone mich bitte und träume, wenn möglich, einem andern.» Die Raupe lächelte und kroch von hinnen.

Es mochte eine Viertelstunde verstrichen sein, da stach mich etwas. Davon erwachte ich und zündete Licht an. Da sah ich, daß es ein Floh war. Er hüpfte weg, aber ich sprach: «Zu deinem Besten will ich annehmen, daß nur ein geträumter Floh du bist; sonst möchte es dir übel ergehen, Freundchen. Laß gut sein und reize mich hinfort nimmer; ich könnte dir das Fell eklig über die Ohren ziehen.» Da kam der Floh aus dem Versteck hervor und entgegnete: «Ich bin kein geträumter Floh, mein Herr. Im Gegenteil: ich bin so ungeträumt wie überhaupt irgend möglich und liebe offene Karten. Darum sei Ihnen angesagt: Sie werden den Rest der Nacht in Schlaflosigkeit und Wut verbringen. Gott befohlen!» Ehe ich ihn greifen konnte, war er enthüpft. Ich lag lange wach und konnte nicht einschlafen. Endlich schlief ich.

Es mochte abermals eine Viertelstunde verstrichen sein, da hockte mir etwas auf der Brust. Davon erwachte ich. Als ich Licht anzündete, bemerkte ich mit Entsetzen, daß mir ein Känguruh zu schaffen machte. Es kauerte auf meinen Rippen und glupschte mich feindselig an. Ich sprach: «Es ist bereits das dritte Mal in dieser Nacht, daß man mich belästigt. Sie mögen geträumt sein oder nicht, ich habe nicht die geringste Lust, mich mit Ihnen zu befassen. Beehren Sie sonstwen mit Ihrem unerbetenen Besuche, aber nicht mich!» Sprach’s und drehte mich auf die andere Seite. Rasch schlief ich wieder ein. Mir träumte, daß ein Känguruh auf meiner Brust säße, das ich, um es loszuwerden, erdrosselte. Schwer schlug die Leiche zu Boden. Davon erwachte ich.

Im Zimmer lag die Leiche eines Känguruhs.

Im Waschbecken schwamm eine grasgrüne Raupe.

Ein Floh stach mich. Die Sonne schien durchs Fenster. Ich griff mir an den Kopf.

Es ist nicht geheuer auf der Welt.

KLEIN-ELLI UND DIE KRITIK

D IE zweijährige Elli wandte sich an den fünfjährigen Ferd mit den Worten: «Du, das eine kann ich dir sagen: So jung ich bin — mehr Lebenserfahrung als du habe ich auf jeden Fall!»

Ferd war platt.

Und darauf beruhte Ellis Spekulation: man braucht dem andern nur etwas himmelschreiend Überlegenes zuzuschleudern, und sofort hat dieser weniger Lebenserfahrung — vorausgesetzt, er fällt hinein.

Ferd war hineingefallen, und die zweijährige Elli war um eine Lebenserfahrung reicher.

*                    *
*

Ein Rezensent erklärte Obiges für Quatsch. Er dahlte von sinnloser Originell-sein-Wollerei-um-jeden-Preis und stellte mich als unzurechnungsfähig hin.

Ich gab die Rezension der zweijährigen Elli. Sie sprach: «Siehste, Onkel Reimann, ich hab’ dir’s gleich sagen wollen: schreib das nicht auf, die Kritiker erklären es doch für Quatsch. Hättste nur auf mich gehört.»

Das sah ich ein und faßte den Beschluß, wenigstens diese zweite Äußerung der zweijährigen Elli dem rezensierfähigen Publikum vorzuenthalten.

«O (JUHU!) JUHUGENDZEIT!»

Personen: Ein glücklich liebend Paar.

Ort der Handlung: Eine kleinste Hütte.

Zeit: Was denn sonst als Mai?

G EGEN Abend pürschte ich mich hinan.

Drinnen kicherte etwas.

Ich spitzte die Ohren.

Ein Ehrenmitglied der menschlichen Gesellschaft packt mich bei den Schlafittchen und zerrt mich weg.

Ich sagte: «Lieber Herr, unterlassen Sie das! Übrigens hätte ich mich als diskreter Mensch sowieso entfernt.»

Er gab mich frei und entschwand im Gebüsch.

Ich lagerte mich ins Kleefeld.

Aber es trieb mich, es trieb mich, es trieb mich hin zu jener kleinsten Hütte, worinnen etwas gekichert hatte.

Es war Nacht geworden.

Eine Lampe brannte.

Auf stummen Zehen schlich ich; ich schlich auf stummen Zehen zum Fenster hin, hin zum Fenster.

Das Ehrenmitglied war auch schon da und spionierte durch eine Klinze im Fensterladen.

Drinnen erlosch die Lampe.

Aber um uns lag grelle Helle: die zwiefache Gemeinheit strahlte aus unseren Augen.

Wir pusteten uns gegenseitig aus.

Da war es dunkel.

OFFENER BRIEF AN EINEN UNBEKANNTEN

S EHR geehrter Herr! Ich nehme mir die Freiheit, in aller Öffentlichkeit ein Schreiben an Sie zu richten, weil ich Sie nicht länger darüber im Unklaren lassen möchte, wie unsympathisch Sie mir sind.

Mit Erstaunen werden Sie fragen, welche Gründe um alles in der Welt mich, der ich Sie nicht kenne, bewegen, Sie einen mir unsympathischen Menschen zu heißen.

So hören Sie denn, daß ich nicht den winzigsten Grund habe, um so mehr, als ich Sie, wie gesagt, nicht kenne.

Trotzdem sind Sie mir in tiefster Seele und aus einem, wenn ich mich so ausdrücken darf, allgemeinen Gefühl heraus unausstehlich, und ich versichere laut, daß ich jeden Zug Ihres Wesens, jede Spur Ihres Seins widerlich finde, mögen Sie existieren oder nicht.

Ich bin überzeugt, daß Ihre sauber genähten Krawatten mir nicht minder auf die Nerven fallen würden als die Handbewegungen, womit Sie Ihrer jüngsten Tochter, wenn Sie eine hätten, über den Scheitel fahren, wenn sie einen hätte, und daß mich die Geschwulst hinter Ihrem rechten Ohre, gesetzt, Sie hätten eine, ebenso peinlich berühren würde wie die Art, in der Sie über Angelegenheiten der inneren Politik sprechen — wenn Sie darüber sprechen. Warum übrigens in drei Teufels Namen lassen Sie sich jene Geschwulst hinter dem rechten Ohre nicht endlich operieren — für den Fall, Sie haben eine?

Sie gelten mir, klipp und klar, in jedweder Hinsicht als vollendeter Typus eines Proleten — herrisch, ordinär, albern, rücksichtslos und seicht, wie Sie hoffentlich sind. Um das Maß voll zu machen, lieben Sie — Sie werden mich darin nicht enttäuschen — das Skatspiel und die Lektüre infamer Schmöker, die nicht angeführt sein mögen, und entrüsten sich womöglich als sogenannter Gegner des Fremdwortes, daß ich Wörter wie «Lektüre» und «infam» anwende.

Ich gebe zu, daß ich meinem Vorurteil, das am Äußerlichen haftet, allzu willfährig bin und besser daran täte, Ihr Inneres zu prüfen, muß indessen zu meiner Rechtfertigung erklären, daß ich die «Unsympathischkeit» auf den ersten Blick, die sich jederzeit in das Gegenteil verkehren könnte, bei weitem der «Sympathischkeit», um nicht zu sagen «Liebe» auf den ersten Blick den Vorzug gebe, welche kritischen Erschütterungen nur in seltenen Fällen standzuhalten vermag.

Mit Freuden bin ich bereit, mich mit Ihnen, den ich gottlob nicht kenne, und von dem ich nicht weiß, ob er überhaupt auf Erden wandelt, an drittem Orte zu treffen, um die wenig erquicklichen Beziehungen, die uns verknüpfen, in erfreulichere oder sogar erfreuliche zu verändern, obwohl ich meine Besorgnis nicht verhehlen möchte, daß Sie gerade bei naher Bekanntschaft und nach Preisgabe Ihres Inwendigen ein gräßliches Subjekt, unter Umständen sogar ein hierorts als «Mistvieh» zu bezeichnendes Individuum abgeben dürften, dem ich besser aus dem Wege trete.

Lassen wir es also zu beiderseitigem Vorteile bei der bestehenden Unbekanntschaft verbleiben, und bauen wir auf unser Vorurteil, das sicherlich wohl begründet ist, sei es auch nur gefühlsmäßig. «Unser» Vorurteil schreibe ich, da ich allzu gut weiß, wie wenig Sie Ihrerseits mich leiden mögen — mich, den es gibt.

Mit dem Ausdrucke vollkommener Hochachtung bin ich Ihnen, den es nicht gibt, ergeben und schließe mit dem Bemerken, daß die letztgebrauchte Redewendung eine leere Phrase ist und nichts weiter.

H. R.

DER OCHSE

Personen :
Hans
Kurt
Theo

« W AS stehst du da und sinnst?»

«Ich sinne nicht. Ich warte auf Theo.»

«Wartest du lange?»

«Ja, aber er kommt nicht.»

«Ich will dir helfen. Du weißt, daß der Ochse kommt, wenn man von ihm spricht?»

«Freilich.»

«Also laß uns von Theo sprechen.»

Hans und Kurt sprechen von Theo, damit der Ochse kommt.

Aber er kommt nicht.

«Du, unser Sprechen ist für die Katz’. Theo kommt nicht.»

«Nein, er kommt nicht.»

Theo kommt.

Hans und Kurt brechen gleichzeitig in die Worte aus: «Siehst du, er ist doch ein Ochse!»

«Wer?» fragt Theo.

«Du!» lautet die fröhliche Antwort.

Theo ist vom Gegenteil überzeugt.

VON DEM MANNE, DER AUSZOG, ERDBEEREN ZU SUCHEN UND PFIFFERLINGE MIT HEIMBRACHTE

E INE sehr schöne Geschichte.

Von mir.

Und außerdem eine sehr kurze Geschichte.

Aber auch kurze Geschichten können schön sein.

Ich liebe die kurzen Geschichten, die schön sind.

Dies ist eine.

Wenigstens meiner Meinung nach.

Also: ein Mann ging in den Wald, um Erdbeeren zu suchen. Sogenannte Walderdbeeren.

(Weil sie im Walde wachsen!)

Aber er fand keine.

Aber Pfifferlinge fand er.

Einen ganzen Sack voll.

Er ging heim mit seinem Sack voller Pfifferlinge oder Pfefferlinge.

In Sachsen sagt man «Gehlchen».

Die Sachsen müssen immer eine Extrawurst haben.

Na, und die schmorte er sich. [1]

Und aß sie.

Und die schmeckten sehr gut.

[1] Die Pilze, meine Verehrten!

In Sachsen sagt man «schmeckten sehr schön ».

Die schmeckten also sehr schön.

Und da freute sich der Mann schrecklich und vergaß völlig, daß er in den Wald gegangen war, um Erdbeeren zu suchen.

*                    *
*

Das ist die ganze Geschichte.

Ist sie nicht schön?

DIE WAHRHEIT

U M es ganz aufrichtig und ehrlich zu sagen, so halte ich — menschlich — jeden beliebigen Kaufmann für tausendmal wertvoller als irgendeinen Künstler.

Man wird mir diesen Satz nicht glauben — um so weniger, als ich heftig beteuere, ihn durchweg ernst zu meinen.

Aber: ich halte zehn gute Kaufleute, Gott straf mich, für tausendmal wichtiger — menschlich — als einen halben Gymnasiallehrer.

Auch diesen Satz wird mir niemand glauben.

Nun denn, ganz aufrichtig und ehrlich: ich halte weder Kaufmann noch Lehrer für wichtig, geschweige denn für wertvoll. Den Künstler erst recht nicht.

Dies ist voller Ernst und mein letztes Wort in dieser Sache. Punktum.

KEIN SCHÖNRER TOD IST AUF DER WELT . . .

A LS es 418 (418!) Tage lang, 418 Tage lang hintereinander, 418 Tage lang ununterbrochen hintereinander geregnet hatte, 418 Tage lang geregnet hatte, waren alle Wesen des Lebens überdrüssig.

Und der hochbetagte Bibliothekar Stibulke sprach zu seiner Frau:

«Rosa, weißt du was, wir ersäufen uns!»

Das war aber gar nicht mehr nötig; denn — siehe — in demselben Augenblicke wurde das Ehepaar von den eindringenden Fluten hinweggespült.

SERENISSIMUS JAGT SCHMETTERLINGE

S ERENISSIMUS jagt Schmetterlinge. Für seine Sammlung. — Hat eine Schmetterlings-Sammlung. — Lauter Schmetterlinge. Und Käfer. — Und Briefmarken. — Alles durcheinander. — Auch Strumpfbänder. Weibliche. — Souvenirs. — Namentlich Strumpfbänder. — Nebenbei auch einige Schmetterlinge. — Zwei oder drei. — Oder einen? — Ja, einen . Einen einzigen. Tja. Aber einen ganz seltenen! — Ein Mistpfauenauge. Oder so ähnlich. Ganz drolliges Viech. — Sieht aus wie en Käfer. — Tja. — Ist auch en Käfer. Heißt genau genommen Mistpfauenkäfer. — Oder so ähnlich. — Oder Mistkäfer. — Ja: Mistkäfer. — Geschmacklos. — Warum nich Guanokäfer? Oder Kloakenkäfer? — Tja. — Ein entzückender Kloakenkäfer. — Schillert in allen Farben. — Täuschend imitiert. — Sieht aus wie echt. Wie wenn er lebte. — Tja. — War ooch teuer genug! Zierte Lisas Strumpfbänder, die Katze. — Zwei waren es sogar. Eigentlich. Ursprünglich. — Na, der eine ist gerettet. — Apartes Andenken. An die verflossene Lisa. — Saßen auf dem Strumpfband, die beiden Käfer. Oder vielmehr: auf den Strumpfbändern. Auf jedem einer. — Lisa mußte zweie haben. — Dolles Weib. T, t, t, t. — Viel Geld gekostet. — Tja. — Na, egal. — War die Sache wert. — Süßer Käfer. — Hat Karriere gemacht. — Nach unten. — Bis in den Rinnstein. — Ooch en Kloakenkäfer geworden. Oder Mistkäfer. — Hähä, blendender Witz. — Jaja, feines Köppchen! — Tja. — Na, wolln ma sehn, was sich tun läßt.

Serenissimus stelzt über ein Stoppelfeld. Das Schmetterlingsnetz in der Hand.

Er will seine Sammlung bereichern.

Schmetterlinge jagen ist sein neuster Sport.

Serenissimus ist passionierter Schmetterlingsjäger.

Absolut einwandfrei edles Weidwerk.

Totschick! — Heissa, hussa!

Serenissimus stelzt über das Stoppelfeld. Mit sagenhaft elastischen Schritten.

Einem Schmetterling ist er auf den Fersen.

Einem Sauerkohlweißling.

Der schillert so angenehm rötlich.

Vielleicht gar en Rotkohlweißling?

Oder en Sauerkohlrötling?

Vertrackt schwierige Kiste, Schmetterlinge jagen.

Die Tiere flattern in der Luft herum.

Sind gar nich en bißchen zutraulich.

Na, wern den Kerl schon kriegen!

— Serenissimus stelzt über die Stoppeln. Dem Weißling hinterher.

Da geschieht etwas durchaus Unerwartetes.

Eine Dampfwalze kommt in rasendem Tempo auf Serenissimus zugeschossen. Wie ein Pfeil.

Serenissimus, der bei einem Haare den Weißling im Netz hatte, springt — juchopps — mit einem Fluch beiseite.

Himmelherrgottspappedeckel, Klabund und Wolkenbruch!!

— — — Die Dampfwalze prescht wie besessen an dem verdatterten Ferschten vorüber . . . .

Da bemerkt Serenissimus dort, wo die Dampfwalze ihren Weg genommen hat, einen rotgelben Tupfen: den zu Brei gequetschten Sauerkohlrotweißling.

Er hebt ihn auf und steckt ihn ins Netz.

Das Netz schultert er und geht heim. Serenissime.

So fing Serenissimus seinen ersten Schmetterling.

*                    *
*

Daraus geht hervor: Um einem Serenissimo dienstbar zu sein, scheuen die himmlischen Gewalten weder Kosten noch Mühe.

DAS ZIMMER

L INKS eine Wand. Rechts eine Wand. Vorn eine Wand. Hinten eine Wand. Oben die Decke. Unten die Diele. — In der linken Wand eine Tür, in der rechten Wand zwei Fenster, in der vorderen Wand nichts, in der hinteren Wand nichts. — An allen vier Wänden Tapete. — In der Mitte der Diele ein Tisch, darauf eine Vase. Um den Tisch drei Stühle. An der rechten Wand zwischen den Fenstern ein Büchergestell. An der linken Wand über der Tür ein Haussegen. An der vorderen Wand ein Ofen, ein Waschtisch, ein Bett, ein Spiegel. An der hinteren Wand ein Sofa, ein Schreibtisch mit Lehnsessel, ein Schrank; über dem Sofa ein großes Bild. An der Decke eine Lampe.

Dies ist ein Zimmer. —

Was ist ein Zimmer? — Ein Selbstmordmotiv.

Öde, kahl, ekel. — — —

Laß an den Fenstern Gardinen anbringen, und in der Dämmerstunde stell auf den Tisch die duftenden Reseden: — das Zimmer ist traut und wohnlich.

Und liegt ein sündhaft schönes Weib im Bett, der Teufel hole dich, wenn du das Zimmer nicht mit Lust beziehst.

HAND UND AUGE

(Ein Reise-Erlebnis)

Personen :
Die anmutige Dame
Der stattliche Herr

Ort :
Eisenbahn-Abteil 2. Klasse

D ER Herr: «Darf ich das Fenster öffnen?»

Die Dame: «Ja.»

Der Herr: «Stört es Sie, wenn ich eine Zigarette rauche?»

Die Dame: «Nein.»

Der Herr: «Darf ich fragen, wohin Ihre Reise geht?»

Die Dame: «Ja. Nach Danzig.»

Der Herr: «Wie sich das trifft! Ausgerechnet nach Danzig fahre auch ich

Der Herr: «Ist es Ihnen unangenehm, mit mir im selben Abteil fahren zu müssen?»

Die Dame: «Nein.»

Der Herr: «Fahren Sie gern Eisenbahn?»

Die Dame: «Nein.»

— —

Ein Gespräch kommt nicht zustande.

Es ist frostern im Abteil. Die Dame ist zugeknöpft. Der Herr versucht es mit einem Gewaltmittel:

«Schauen Sie», spricht er, «ich hab’ ein Glasauge!» und nimmt sein linkes Auge heraus.

Die Dame taut auf: «Ach!? — Ist das echt?»

«Jawohl — es ist ein echtes nachgemachtes Auge.»

«Gott, wie goldig!»

«Nicht wahr?»

«Und ohne das Auge sehen Sie gar nichts?»

«Nein, nicht das mindeste.»

«Und mit dem Auge?»

«Sehe ich auch nichts!»

«Ja, ist denn das Auge nicht durchsichtig?»

«Doch — aber womit sollte ich hindurchsehen?»

«Haben Sie das Auge verloren?»

«Ja — ein Fräulein hat es mir mit der Hutnadel ausgestochen.»

«Wie gemein!»

«Ich habe mich gebührend gerächt.»

«Inwiefern?»

«Ich habe das Fräulein geheiratet.»

Die Dame rückt ab und knöpft sich wiederum zu. Der Herr hat seinen Reiz zur guten Hälfte verloren. Er ist verheiratet!

Der Herr steckt sein Auge ein.

Die Dame — nach langer Pause —: «Sie tragen ja gar keinen Trauring?»

«Nein, warum? Ich bin ja nicht verheiratet.»

«Sie sagten doch . . .»

«Ein Scherz.»

«Aber das falsche Auge ist doch wenigstens echt , wie?»

«Völlig echt, meine Gnädige.»

«Darf ich es mal sehen?»

«Mit Vergnügen.»

Der Herr reicht der Dame das echte falsche Auge. Die Dame nimmt es in die linke Hand.

Sie faßt das Auge scharf ins Auge und spricht:

«Es ist täuschend imitiert. Besser als diese meine linke Hand.»

«Was ist mit der Hand?»

«Sie ist künstlich. Aus Marmor.»

«Seltsam. Ein falsches Auge in falscher Hand!»

«Ich finde das weniger seltsam, als wenn ein echtes Auge in einer echten Hand läge.»

«So? Wäre das seltsamer?»

«Es wäre nicht nur seltsamer, es wäre unmöglich

«Es ist nicht unmöglich. — Mein Auge ist kein Glasauge. — Das Auge ist mein wirkliches, echtes Auge.»

Die Dame läßt erschreckt das Auge fallen.

Das Auge blickt die Dame wehmutig an.

Die Dame greift gerührt mit ihrer Linken nach dem Auge — — — die Hand füllt sich mit Leben, Blut durchrinnt sie, Puls klopft auf.

Das Auge zwinkert bedeutsam.

Der Herr sieht die marmornen Finger der Dame sich regen; «Ihre Hand, Gnädige, scheint lebend zu sein!»

Die Dame krümmt die Finger — und ist selbst betroffen über die Verwandlung.

Sie streicht mit der Rechten über das Auge in ihrer Linken, und das Auge schläft ein.

Der Herr nimmt es und steckt es in seine Höhle zurück.

Die Dame kann nicht anders, sie drückt einen Kuß auf das Auge.

Der Herr küßt der Dame die linke Hand.

Das Auge öffnet sich und blickt dankbar.

Die Linke der Dame streichelt die Wange des Herrn.

« Danzig —!»

TROPFEN AUS HEITERM HIMMEL

A UF der Wiese steht ein Greis und will eine Kneippkur machen.

Er ist barfuß und barhaupt.

Über ihm hängt ein wunderschöner, blauer, wolkenloser Himmel.

Der Greis hält Ausschau nach einer Kuh, die fern am Waldrande Bedürfnis über Bedürfnis verrichtet.

Da tropft dem Greis etwas aufs Haupt.

Ein dicker Tropfen.

Der Greis greift mit der Hand auf seinen Schädel und wischt den Tropfen ab.

Dann lugt er auf zum Himmel.

Der Himmel glänzt in seidiger Bläue.

«Wie?» denkt der Greis, «ein Tropfen aus heiterm Himmel?»

Und er begibt sich von dem Flecke, auf dem er gestanden, weg und pflanzt sich anderswo auf.

Daselbst hält er wiederum Ausschau nach jener bedürfnisstrotzenden Kuh.

Er steht nicht lange — der Greis —, so kleckt ihm ein zweiter Tropfen aufs Haupt.

Aufschauend zum Himmel, wundert er sich ins Fäustchen und wischt sodann den nassen Tropfen sich vom Schädel.

Der Himmel lacht. Mit Recht.

«Wenn das so weitergeht,» denkt unser Greis bei sich, «das kann ja gut werden!»

Und er bleibt stehen, wo er steht.

Er will herauskriegen, wo die Tropfen herkommen; auch will er wissen, ob ihrer noch mehr herunterklecken.

Abermals wendet er sein Augenmerk nach jener fladenden Kuh und vergißt über sie das Tropfen.

Es währt nur kurze Zeit, so tropft dem Greis ein dritter Tropfen auf den Kopf.

Der Greis runzelt die Stirn und betrachtet den Himmel. Der thront unschuldig und engelisch-rein über der Szenerie.

Der Greis legt sich ins grüne Gras und läßt den Himmel nicht aus dem Auge.

Es kleckt kein Tropfen mehr vom Himmel.

«Aha,» denkt sich der Greis, «dies geschieht, weil ich Obacht gebe».

Und er paßt auf. Er wendet keinen Blick vom Himmel.

— — — — —

Auf der Wiese liegt ein Greis. Er hat eine Kneippkur machen wollen, aber er muß aufpassen, ob es tropft. Er ist überzeugt, daß in dem Augenblicke, wo er den Himmel außer acht läßt, ein Tropfen ihm aufs Haupt kleckt.

Der Greis schläft darüber ein.

Er träumt, daß ihm ein Tropfen auf den Kopf kleckt. Er stellt sich anderswohin, und ein zweiter Tropfen kleckt. Er bleibt stehen, und ein dritter Tropfen kleckt. Da legt er sich ins grüne Gras und spannt auf den Himmel. — Dies träumt der Greis.

Die Kuh möhkt plötzlich dicht bei ihm.

Davon erwacht der Greis, erhebt sich ächzend und begibt sich an die Kneippkur.

Ihm ist, als seien drei Tropfen auf seinen Kopf gekleckt.

Dies ist jedoch völlig unmöglich. Denn der Himmel ist blau, heiter und wolkenlos.

Hat der Greis geträumt?

DAS ALTER

Personen :
Der gutgelaunte Vorgesetzte
Der wie auf den Kopf gefallene Bewerber

D ER Vorgesetzte läßt den Bewerber eintreten und ersucht ihn, Platz zu greifen. Es entspinnt sich eine Unterredung, die auf einem gewissen halbtoten Punkt stehen bleibt: Der Vorgesetzte möchte Einzelheiten aus dem Privatleben des Bewerbers wissen. Er fragt zuvörderst nach dem Alter. «Wie alt sind Sie denn?»

«Ich werde 32.»

«Wie alt Sie sind?»

«Ich werde 32.»

«Ich will nicht wissen, wie alt Sie werden ; ich will wissen, wie alt Sie sind

Der Bewerber schweigt kopfscheu.

«Na wie alt sind Sie denn?»

«Ich bin 31 gewesen.»

«Guter Mann, hm, wenn Sie 31 gewesen sind, so sind Sie zur Zeit 32. Soeben behaupten Sie jedoch, Sie würden erst 32.»

«Ja, das stimmt.»

«Nee, das stimmt nicht. Wenn Sie 32 werden , können Sie nicht 32 sein

«Nein, so nicht, — ich bin nicht 32. Ich werde 32.»

«Schön. Demnach dürften Sie 31 sein.»

«Ja natürlich. Ich bin 31!»

«Also Sie sind 31. — Wann ist Ihr Geburtstag?»

«Am 5. April.»

«Das wäre heute in 6 Wochen?»

«Zu dienen.»

«Wie alt werden Sie heute in 6 Wochen?»

Der Bewerber, zaghaft und scheu: «32 . .»

«Richtig.»

«Ihr wievielter Geburtstag ist das?»

«Mein 32. selbstredend.»

«Durchaus nicht! — Ihr 33.!»

«Das verstehe ich nicht.»

«Nein? — Merken Sie auf: Als Sie zur Welt kamen, begingen Sie Ihren ersten Geburtstag. An jenem ersten Geburtstage waren Sie null Jahre alt. — Als Sie Ihren zweiten Geburtstag feierten, vollendeten Sie das erste Jahr, d. h. Sie wurden am zweiten Geburtstag ein Jahr alt. — Sehen Sie das ein?»

Der Bewerber, gänzlich verwirrt: «Oh ja!»

«Nun also. — Sie sind 30 gewesen , sind 31, werden 32 und feiern in Kürze den 33. Geburtstag.»

Der Bewerber bricht ohnmächtig zusammen.

Die Unterredung ist beendet.

ALLE WEGE FÜHREN NACH ROM

D IESES Sprichwort ist eine hundsgemeine Lüge.

Der Privatdozent Kladderosinenzagel mußte es am eigenen Leibe erfahren.

Er, den wir um der Kürze willen K. nennen wollen, machte sich an einem Ferientage auf die denn doch nicht mehr so eigentlich ganz naturfarbig genannt werden dürfenden Socken, um gen Rom zu fahrten.

Er, K., fußte auf dem Sprichwort: Alle Wege führen nach Rom.

K. wanderte, mit reichlichem Mundvorrate und einer leeren Thermosflasche ausgestattet, einen vollen Nachmittag lang.

Reiseziel: Rom.

Es führen aber mitnichten alle Wege nach Rom.

Der Weg , den K. einzuschlagen für ratsam befunden hatte, hörte plötzlich auf, ein Weg zu sein und verwandelte sich in eine Wiese, auf welcher notgedrungen sieben Kühe — die Verkörperung der fetten Jahre — sich an ihrem Anblicke und dem saftigen Grün weideten.

Und K. stand hinter einer Tafel, die von vorn zu besichtigen er nicht umhinkonnte.

Die Tafel bezog sich auf den Weg, welchen K. zurückgelegt hatte, und trug die Aufschrift: «Verbotener Weg».

In einem Lande, wo die Polizei so auf dem Damme ist wie in Deutschland, führt zwar mancher Weg nach Rom, aber er ist verboten.

K. mußte umkehren und sich des Planes, auf natürlichem Wege nach Rom zu gelangen, entschlagen.

«HÖHENLUFT»

Ein Roman aus den Tiroler Bergen
von
Paul Grabein

ist im Okt. 1916 als Ullstein-Buch — 1 M.! — erschienen. Ich habe das Buch gelesen — unter Aufgebot größter Energie. Ein paar Worte darüber und dazu.

Die Personen des Buches sind:

Karl Gerboth, Maler,
Hilde, seine Tochter,
Franz Hilgers, Maler,
Günther Marr, Leutnant.

Handlung: Franz hat seinen Jugendfreund Günther eingeladen. Günther leistet der Einladung — Erholungsurlaub — Folge. Auf Seite 19 trifft er, nach dem Dörfchen, in dem Franz wohnt, wandernd, eine Dame. Dies ist Hilde Gerboth. Sofort weiß man «alles», und es kommt auch tatsächlich «alles» so. Franz ist der einzige Schüler Karl Gerboths und Bräutigam eben jener Hilde, freilich, ohne daß diese darum weiß. Der alte Gerboth hat sich von der Welt zurückgezogen und schafft in aller Stille. Hilde wird von ihm behütet und betreut, daß es eine Art hat. Sie ist die Tochter einer Dame, die — als Gattin Gerboths — Temperament und etliches darüber hinaus besaß. Aus Angst, Hilde könne ihrer Mutter nachschlagen, läßt sie der alte Gerboth nicht von sich. Sie ist absolut naiv und ahnungslos. Sie weiß nicht Musik, Tramway, Kino, Theater, Börse, Bordell, Liebe, Geld, Börse (absichtlich 2 Mal) — kurz: was Leben ist. Das weiß sie nicht. Sie ist 20 Jahre alt. Und Franz ist ein Schwächling, ein thraniger, limonadiger Hampelmann. Er muß kurz nach Günthers Ankunft verreisen. Infolgedessen Solo-Szene zwischen Günther und Hilde. Aussprache — er schildert ihr die Welt und das Leben. Sie — die Freiheit lockt — verliebt sich in ihn. Sie will hinaus — in die sogenannte Welt. Sagt’s ihrem Vater. Der refüsiert. Hilde knickt zusammen. Günther trifft sie — tatsächlich durch Zufall! (Ich glaub’s! Wer noch?) — ein zweites Mal. Er redet ihr energisch zu. Franz kehrt zurück (aber das ging fix!) und erfährt durch Günther selbst, daß er, G., Hilde liebt und überhaupt: daß was los war. Franz zum alten Gerock oder Gehrock oder Gerboth: Höre mal, so und so — — und Gerboth spricht gründlich mit seinem Töchting. Klamauk. Sie will Franz nicht. Sie will Günther. Und in die Welt hinaus. Bon. Am Tag drauf hält Günther um ihre Hand an beim alten Klopstock. Der sagt Nein. Da sagt Günther: Dann heirat ich Ihre Hilde gegen Ihren Willen. Bumms. Aber der Alte — philosophisch! — gestattet eine letzte Aussprache zwischen Hilde und Günther, worin sie ihm erklärt, er dürfe hoffen, wenn er vor sie hinträte.

Am nächsten Tag reist Günther nicht ab, oh nein. Er kann nicht: eine richtige Lawine hat sich bemüht, herniederzugehen, und das ist ihr auch gelungen. Aber die gute Hilde, die irgendeinen Schafhirten hat retten wollen vom Hungertode, gerät mitsamst ihrem Freßkörbchen und dem Bernhardiner (aha!) in sie (die Lawinije) hinein.

Na, und Günther rettet sie selbstredend.

Na, und dann kriegen sie sich.

Na, und das ist ja die Hauptsache.

Das Buch schließt (auf Seite 253!) mit den Worten Günthers:

«Wagen wir es denn zusammen, Hilde!»

Und nun sind sie glücklich, und uns entpullert eine Träne.

Ich setze das Romänchen fort:

Am 12. Sept. 1916 fällt Günther in der Sommeschlacht (das Buch spielt nämlich direktemang im Weltkrieg).

Daraufhin begeht seine Frau einen ganz totsicheren Selbstmord.

Daraufhin kriegt ihr Vater einen geharnischten Schlaganfall.

Sela.

EHE

M ANN und Frau faulenzen auf dem Diwan. Der Mann ist am Einschlafen. Die Frau wird von Halbträumen umfangen.

Eine Fliege summt.

Die Glocken einer fernen Kirche baumeln.

— — — Der Mann ächzt, räkelt sich, fragt: «Sind das Glocken?»

Die Frau horcht. «Das sind doch keine Glocken. — Das ist eine Fliege.»

«Unsinn. Das ist doch keine Fliege. — Das sind Glocken.»

«Das ist eine Fliege.»

«Das sind Glocken.»

Beide horchen.

Der Mann: «Selbstredend sind das Glocken. — Warum wird denn geläutet?»

Die Frau: «Ich werde doch Glocken von einer Fliege unterscheiden können! Ich höre keine Glocken. Das ist eine Fliege.»

«Das sind Glocken.»

«Wenn ich dir sage, das ist eine Fliege.»

«Herrgott, das sind Glocken. Das ist doch keine Fliege!»

«Das ist eine Fliege!»

«Das sind Glocken

«Na, da bleib’ bei deinem Glauben.»

«So etwas Dummes! Ich bin doch nicht verrückt. Natürlich sind das Glocken. — Ganz deutlich.»

«Eine Fliege ist es.»

«Wo ich genau die einzelnen Glocken heraushöre.»

«Was du alles fertig bringst. — Ich höre bloß eine Fliege. — Warum sollten denn jetzt die Glocken läuten?!»

«Ja, das möchte ich eben gerne wissen.»

«Du kannst dich drauf verlassen, das ist eine Fliege.»

Beide horchen.

Die Glocken haben aufgehört, zu summen.

Auch die Fliege läutet nicht mehr.

Der Mann denkt: Ekelhaft. So macht sie’s immer. Bei jeder Gelegenheit. Da ist einfach nichts zu wollen. Zum Auswachsen. — Eine Fliege! Lachhaft. — Aber da kann sie niemand davon abbringen. Sie bleibt bei ihrer Fliege. Es ist eine Fliege. Und wenn die Glocken hier in der Stube vor ihrer Nase läuteten, — — es ist eben eine Fliege. Albern. Wenn sie sich etwas einbildet, bleibt sie dabei. — Selbstredend waren es Glocken. — — — Mir einstreiten zu wollen, daß es eine Fliege war . . . .

Er schläft.

Die Frau denkt: Wenn es nicht zufällig mein Mann wäre, ich konnte ihn ohrfeigen. Das Schaf. Immer recht haben. Immer recht haben. Muß er. — Ich höre deutlich die Fliege summen. Nein, es sind eben Glocken. — — Ich kann sagen, was ich will: er bleibt bei seinen Glocken. — Jetzt, um die Zeit Glocken! — — — So ein Schaf! — — — Aber das ist jeden Tag so. — — — Das Kamel . . . .

Sie schläft.

Sie träumt von einer Fliege, die hoch auf dem Kirchturme geläutet wird.

Der Mann träumt von Glocken, die ihm über das Gesicht krabbeln.

Ganz leise fängt die Fliege wieder an, zu summen.

Es klingt wie fernes Glockenläuten.

ICH BIN, ICH WAR

I CH bin eine Blume. Ich blühe auf der Heide.

Ich bin eine Blume und blühe auf der Heide.

Da kommt eine Kuh und frißt mich ab.

Nun bin ich eine Blume gewesen. Nun bin ich keine Blume mehr.

Wie bin ich traurig!

— — — — —

Ich bin eine Kuh und grase.

Niemand merkt mir an, daß ich traurig bin.

Grasen ist fade, Kuhsein ist fade; als Blume hatte ich es besser.

Aber muß man als Kuh nicht stoisch sein und tragen, was man aufgebürdet kriegt?

Geduldig sein und grasen und sich fassen, möh. —

Es ist schließlich gar nicht so traurig, Kuh zu sein.

Die Sonne scheint, die Wiese duftet, der Himmel bläut — und da soll ich traurig sein?

Ich bin lustig.

Aber es ist nicht die Blumenlustigkeit, die mich durchglüht, es ist die Lustigkeit der Kühe.

Ich mache mutwillige Sprünge und möhe und muhe.

Die Welt ist schön, muh.

Muh, schön ist die Welt.

Und ich bin doch traurig!

(Ich war eine Blume!!)

— — —

Da kommen zwei vermummte Kerle. Die fackeln nicht lange: Einer packt mich hinterrücks und ringelt mir den Schwanz zusammen, das tut weh. Der andere schlingt mir eine Kette ums Gehörn und knufft mich. Sein Spießgeselle peitscht auf mich ein. Ich weiß nicht, was gehauen und gestochen ist.

(Einst war ich eine Blume.)

Man führt mich hinweg von meiner Wiese. Ade, du Wiese, ade!

— — —

In der Abendstunde erreichen wir ein Gehöft.

Einst war ich eine Blume, ich denke dran.

Blume bin ich nimmer; bin eine armselige, wehrlose Kuh, muh.

(Hilft mir der Stoizismus etwas?)

Rasch tritt der Tod die Kühe an: Eine Ledermaske mit einem bösen Stirnbolzen wird mir aufgestülpt — — — ein Schlag, und ich stürze hin. Da hilft kein Muhen.

Mit einem Rohrstock pfählt man mir das arme Hirn. Das macht mich traurig. Oder lustig? Ich weiß nicht, ich glaube, ich bin tot.

Kuh bin ich gewesen.

Blume bin ich gewesen.

Ich entsinne mich wirr . . . es ist mir, ja . . . vor langer, langer Zeit — war ich ein Falter. Aber ich weiß es nicht.

Daß ich Blume war, weiß ich mit Sicherheit. Ich lege meinen Huf dafür ins Feuer.

Es ist vorbei.

Bin weder Kuh noch Blume mehr.

— — — — —

Bin Wurst. Salamiwurst. Ich koste das Pfund 1.80 M. [2] Ich bin erstklassige Ware, elektrisch hergestellt.

Den Stoizismus habe ich behalten. Dennoch stimmt es trübe, Wurst sein zu müssen, wenn man Blume hat sein dürfen.

Ich bin mir Wurst. Ich nehme es hin. Muh. (Eigentlich dürfte ich als Wurst nimmer muhen. Ich nehme das Muh als anachronistisch zurück.)

Ich habe keine Freude mehr auf der Welt.

Ich bin eine kalte Wurst. Nichts tangiert mich.

Wenn ich mein Leben überdenke, so muß ich frank gestehen: Wurst sein, das ist das Schlimmste nicht. Mensch sein ist weitaus schlimmer!

Doch Kuh sein, das ist schöner als Wurst sein.

Das Allerallerschönste freilich war: Blume sein, Blume gewesen sein, Blume sein gedurft zu haben.

Mir war’s verstattet.

[2] Wer’s glaubt.

Ich war Blume, ich war Blume!

O Blumen, ihr seid glücklicher als Kuh und Wurst!

O Blumen, nichts auf Erden ist glücklicher denn ihr.

O Blumen — —

*                    *
*

Vom wurstigen Standpunkt gesehen, ist es vielleicht das Vorteilhafteste, Kuh zu sein.

Die Kuh ist besser dran als die Blume.

Denn während eine Kuh sehr wohl Blumen fressen kann, kann eine Blume nichts fressen.

Und eine Wurst kann auch nichts fressen: nicht Kuh, nicht Blume.

Kuh gewesen sein gedurft zu haben ist also — mit Vorbehalt — noch erhebender als Blume gewesen sein gedurft zu haben.

Ich wünsch’ euch eine gute Nacht und mir, wieder Kuh werden zu dürfen.

MÄRCHEN

E S war einmal ein Frosch, der konnte sich gewaltig giften, wenn seine Frau zu ihm quakte: «I, sei doch kein Frosch!»

Infolgedessen quakte die Fröschin den Satz bei jeder Gelegenheit. Der Frosch getraute sich überhaupt nichts mehr zu äußern. Sagte er etwas, so mußte er als Antwort hören: «I, sei doch kein Frosch!»

Da raffte er sich auf und nahm seine Ehefrau ernstlich ins Gebet, sie solle es fürderhin gefälligst unterlassen, den albernen Satz zu quaken.

«I, sei doch kein Frosch!» stereotypte die Fröschin. Es war mit ihr nichts anzufangen.

Sie war in der Ehe verblödet.

Da verfiel der Frosch, der keiner sein sollte, auf einen Ausweg: Er kam seiner Frau mit der Redensart zuvor und apostrophierte sie, wo immer er ihrer ansichtig wurde, mit dem Satze: «I, sei doch keine Fröschin!»

Er antwortete mit nichts anderem als mit diesem Satze. Er sagte nichts als diesen Satz. Er verkehrte mit seiner Frau nur noch auf Grund und unter Zuhilfenahme dieses Satzes.

Die Fröschin zeigte sich der Situation nicht gewachsen und ersäufte sich.

Der Frosch war kein Frosch und holte sich eine andere heim.

Moral : Ihr Frauen, reizet eure Männer nicht zum Äußersten und lasset sie gewähren, selbst wenn sie Frösche sind.

AUF DER OALM, DOA GIBT’S EINEM ON DIT ZUFOLGE KOA SÜAND!

D IE weitverbreitete Meinung, auf der Alm gäbe es ka Sünd, hat ihren Ursprung in dem sprichwortgewordenen Liedertext: «Auf der Alm, da gibt’s ka Sünd».

Selbstverständlich gibt es auf der Alm a Sünd.

Das wäre ja noch schöner, wenn es auf der Alm ka Sünd geben täte!

Von ka Sünd kann gar keine Rede nicht sein.

A Sünd gibt’s überall — namentlich auf der Alm.

Ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten: Wenn es überhaupt a Sünd gibt, so vor allem auf der Alm.

. . . . . . . . . .

Plötzlich erschallt draußen unter meinem Fenster das Gerassel und Gebimmel der Feuerwehr.

Ich armer, schwacher Mensch unterbreche mein Schreiben und stehe eilends auf, um nachzusehen, wo es brennt.

. . . . . . . . . .

Es war weiter nichts.

Ein Pferd ist gestützt.

Ich kann also in meinem Schreiben fortfahren.

Aber ich habe, offen gestanden, nicht mehr die rechte Lust dazu und stecke es auf.

Ein ander Mal.

Der Zensor würde die Geschichte ohnehin gestrichen haben; denn es geht toll zu auf der Alm. Ich habe Beweise.

PETERLE

Ein Märchen

P ETERLE war ein gutes Kind und machte dennoch seinen Eltern großen Kummer.

Wie ist das möglich?

Es lag an Peterle.

Peterle hätte nicht soviel träumen sollen, bei Nacht nicht und bei hellerlichtem Tag nicht. Peterle träumte, wo sie ging und stand; wo sie lag und saß. Sie träumte immerfort. Nichts war mit ihr anzufangen, kein vernünftiges Wort mit ihr zu reden. Sie spielte nicht die Spiele ihresgleichen; sie spielte nicht mit anderen und nicht für sich allein — sie puppelte nicht einmal! Nein, von Puppen mochte sie gar nichts wissen.

Und was das Tollste ist: Peterle wollte durchaus ein Junge sein, obwohl sie doch ein Fräulein war. Sie behauptete, sie sei ein Junge namens Peterle, und damit holla! Sie und ein Mädchen — haha! «Ich bin ein Junge» verkündete sie jedem, der es wissen wollte, und beharrte eigensinnig auf diesem ihrem Vorurteil.

Peterle hatte ihre lustigen Seiten. Nicht nur die, daß sie ein Junge sein wollte, sondern vor allem ihre Person, ihre «Erscheinung», ihr «Äußeres».

Peterle war winzig klein, aber dafür dick wie ein Moppel. Sie hatte eine kurze, umgestülpte Nase, zwei wasserblaue Guckaugen und einen verschmitzten Mund. Aber das Putzigste an ihr war die Frisur: sie trug die spärlichen, bindfadendünnen Zöpfchen in zwei Schnecken prätentiös über die Ohren geringelt! Und die Zöpfe waren strohgelb.

Und doch war sie den Eltern ein Persönchen — Gegenstand kann man wohl nicht sagen — argen Kummers.

Während andere Eltern prahlten und Stolzes voll die Taten, Antworten und sonstigen Äußerungen ihrer «aufgeweckten» Kinder zum besten gaben, empfanden Peterles Eltern schmerzliche Beschämung, wenn sie von ihrem Mädelchen nichts aussagen konnten als: «Sie träumt.»

Peterle tat nämlich nichts als Träumen. Stundenlang saß sie hinterm Ofen oder auf dem Boden und träumte für sich hin. Wovon sie träumte, das erfuhr kein Mensch; denn sie teilte sich nicht mit, sondern behielt alles fein im Herzen.

Aber sie war nun schon fünf Jahre alt und sollte über ein dreiviertel Jahr bereits zur Schule.

Noch hatte sie große Ferien. Waren die erst einmal verstrichen, diese sechsjährigen großen Ferien, dann stand es bös.

Ach, es würden trübe Zeiten kommen für Peterle; denn war sie erst schulpflichtig, mußte die Träumerei ein Ende nehmen.

Die Eltern wußten sich keinen Rat und hätten ihr Kind am liebsten der Schule ferngehalten.

Da erschien eines Tages — und zwar an jenem, der jenem, an welchem sie ihr fünftes Lebensjahr vollendete, vorausging — dem Peterle eine Fee. Keine großartige, sondern eine ganz gewöhnliche Fee, wie sie täglich dutzendweise den braven Kindern erscheinen.

Diese Fee stellte dem Peterle einen Wunsch frei. Sie dürfe sich zu ihrem morgigen Geburtstage etwas wünschen — gleichviel was —, der Wunsch werde in Erfüllung gehen.

Peterle schwankte keinen Augenblick, obwohl sich tausend Wünsche auf ihre niedliche Zunge drängen wollten.

Sie wünschte sich das Schönste, das sie sich je hatte ersinnen können: Schnee. — Sie wünschte sich Schnee. — Sie wünschte, daß zu ihrem Geburtstage Schnee fiele.

Die Fee runzelte die Stirn, aber da sie sich keine Blöße geben wollte, sprach sie: «Es wird geschehen; was du wünschest. An deinem Wiegenfeste soll es schneen.»

Und verschwand, nicht ohne einen merklich holden Duft zu hinterlassen.

Klein-Peterle hüpfte nicht und tanzte nicht vor Freuden, sondern träumte weiter in sich hinein — wenn auch in einer mäßig aufgeregten Erwartung und Neugier. Sie träumte dem Geburtstage entgegen.

Die Fee setzte schleunigst alle Hebel in Bewegung; denn es war kein Kleines, des Peterles Wunsch zu erfüllen und Schnee fallen zu lassen.

Es sei eine kurze Unterbrechung verstattet: wann beginnt ein Geburtstag?

Zweifellos in der Sekunde, womit der Geburtstag selbst anhebt, mithin nach Ablauf der zwölften Stunde des Vortages.

Es hätte demzufolge unmittelbar auf den zwölften, mitternächtigen Glockenschlag desselben Tages, an dem die Fee bei Peterle vorsprach, zu schneen einsetzen müssen. Indes sind Feen und Kinder nicht so spitzfindig wie die Herren Juristen, die gewißlich zunächst untersucht haben würden, ob die Äußerung des Wunsches jenes Kindes namens Peterle (unvorbestraft, besondere Merkmale: prätentiöse Schnecken) die Bedingung in sich geschlossen habe, daß es den geschlagenen Geburtstag oder nur überhaupt am Geburtstage schneen solle usw., — und daher zerbrach sich die Fee ihren anmutig geformten Kopf nicht über Dinge, die das Kopfzerbrechen nicht verlohnen, sintemal ihr aus der eigenen Jugend wohl bewußt war, daß für jegliches Kind der Geburtstag dann anfängt, wenn es erwacht und sich der Tatsache, daß heut’ Geburtstag ist, bewußt wird.

Peterle erwachte erst gegen neun Uhr.

Ihr erster Blick fiel durch das Fenster auf die Straße hinaus.

Peterle jubilierte: Schnee!

Es schneete wirklich! Und zwar in glitzrigen, silbrigen Flöckchen, in zierlichen.

Peterle freute sich unbändig. Nicht, weil es schneete; auch nicht, weil die Fee den Wunsch erfüllt hatte, sondern, weil sie — Peterle — den Schnee (indirekt) selbst «gemacht» hatte.

Es war ihr Schnee, der da draußen fiel.

Sie ließ zu ihrem Geburtstage Schnee fallen.

Schnee — zu ihrem Geburtstage!

Ihr meint, das sei nichts Besonderes?

Oho, da muß ich sehr bitten: das ist etwas ganz besonders Besonderes!

Peterle ist nämlich am elften Juni zur Welt gekommen.

Nun stellt Euch vor: an einem elften Juni schneete es!

War das nicht Grund genug für Peterle, sich des Schnees zu freuen und den ganzen Geburtstag am Fenster zu kauern und in den Schnee zu gucken?

Ich denke doch.

Peterle saß denn auch am elften Juni unerschütterlich am Fenster und war glücklich über den vielen, vielen Schnee, der da vom Himmel heruntergeschüttet wurde.

— —

Es ist nichts mehr von Peterle zu erzählen. Sie hat ihren Schnee gehabt und weiter geträumt, bis sie zur Schule mußte. Und der Rohrstock des Lehrers erwies sich — bezüglich der Träumereien — als ein besserer Pädagog als die verhätschelnde Liebe der Eltern.

Es wäre vielleicht dem oder jenem Leser angenehm gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, daß Klein-Peterle Fieber gehabt hätte und an ihrem Geburtstage (nach Erledigung der «Schnee-Vision») ein Englein geworden sei. Sozusagen: der «tragische» Tod eines Kindes.

Oh nein! Peterle hat kein Fieber gehabt — und der Schnee war wirklicher, echter Schnee.

Meine Eltern wohnten damals in derselben Straße wie Peterles Eltern, und ich bin Zeuge — ich erinnere mich noch deutlich —, daß es im Jahre 18 . ., am elften Juni den lieben, langen Tag über ununterbrochen geschneet hat. Allerdings nur in unserer Straße und sonst nirgends. Das war damals ein allgemeines Verwundern und Kopfschütteln in Klotzsche — in Klotzsche hat sich der Schneefall begeben! —, und meine Eltern und wir alle haben nichts damit anzufangen gewußt, bis mir vierzehn Jahre später Peterle selbst von ihrem Geburtstagswunsche und der Fee berichtet hat.

Peterle ist nämlich meine Frau geworden. Aber eine Fee ist ihr nicht wieder erschienen. Ich glaube, daran bin ich schuld.

IM FLÜSTERTONE

Abziehbilderbogen

(1)

E IN Huhn steht auf dem Hofe und sieht aus, als habe es die Hände in den Hosentaschen.

Es blickt mich hühnisch an — mich, der ich schreibe, daß es aussieht, als habe es die Hände in den Hosentaschen.

Es weiß nicht, daß ich schreibe, es sähe aus, als habe es die Hände in den Hosentaschen.

Belassen wir es in seiner Nichtwissenheit!

(2)

Ein junger Mann, der zu den kühnsten Hoffnungen berechtigt, liegt im Bett und streckt die Füße über den Bettgiebel hinaus.

Er hat zweierlei Strümpfe an.

Einen schwarzen und einen grauen.

Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

(3)

Ein Auto pfeilt durchs Dorf und zermalmt einen Mistkäfer, den die Sehnsucht nach Erlebnissen in die weite Welt getrieben hatte.

Ist es, frage ich, ist es nicht töricht, wenn Ernst Zwibinsky der Ältere erklärt, um den Mistkäfer sei es nicht schade, und er hätte ja doch früher oder später ein Ende gefunden?

Wie wenig hat jener Zwibinsky den Sinn des Lebens erfaßt!

Laßt uns ihn gemeinsam verachten!!

(4)

Johanna Würmchen, sechsundvierzig Jahre alt und äußerst unbescholten, erhebt sich Punkt zwölf Uhr mitternachts, um den Sonnenaufgang nicht zu verpassen.

Der Kalender steht auf Dezember.

Hätte sich Johanna um sieben Uhr erhoben, wäre vollauf Zeit gewesen, zum Sonnenaufgang zurecht zu kommen.

Ich bitte um ihre Adresse, Wiederholungen obiger Unangebrachtheit vermeiden zu helfen.

(5)

Der europäischen Kultur und ihrer Begleiterscheinungen über und überdrüssig, dampfte Pippin, Edler von Krachgehirn, gen Hinterafrika, um sich zu barbarisieren.

In Vitzpatuchpoma betrat er Land und drang urwaldeinwärts.

Nach drei Nachtmärschen erreichte er eine primitive Hütte, woselbst er sich niederließ und mit Wohlgefühl schwängerte.

Da erklang aus der Hütte ein Grammophon: «Puppchen, du bist . . .»

. . . von Jean Gilbert, obwohl er bloß Max Winterfeld heißt und im Automobil komponiert.

Pippin, Edler von Krachgehirn, zögerte keine Sekunde, sich von der allergiftigsten Schlange bebeißen zu lassen.

(6)

Hinaus mit den Fremdwörtern!

Das war die Losung und nicht die Parole.

Endlich waren sie alle hinaus.

Draußen ist es kalt.

Die Fremdsprachen weigern sich, die Überläufer mit den fremden Gesichtern aufzunehmen.

Nun stehen sie herum, die Ausgetriebenen, nicht Fisch, nicht Fleisch, zwiefältig mißhandelt, — und verhungern.

Atze sie, deutscher Sprachverein, und laß den Frierenden wollene Strümpfe stricken!

(7)

Hier liegt die Tafel Schokolade.

Dort sitzt der Mensch und hat einen schmerzenden, hohlen Zahn. —

Darüber nicht zu lachen, ist der erste Schritt ins Christentum.

(8)

Der Laubfrosch Nepopomuk war ein gar sensibel besaitet Gemüt, hatte aber seinen Dickkopf für sich.

Kauerte, sofern Regen zu gewärtigen stand, auf der obersten Leitersprosse und blusterte sich in der grasigen Niederung seines Glashauses prophetisch auf, wenn sonnige Tage im Anzug waren.

Glaubt ihr, er habe damit die Dispositionen des großen Unbekannten, der jenseits der Wolken thront, über den Haufen geworfen?

Glaubt ihr das?

Meiner Treu, Der über den Wolken hat Wichtigeres zu tun, als Obacht zu geben auf kleine Nepopomuks.

Die Sonne scheint, und der Regen fällt — ohne das Hinzutun irgendwessen.

(9)

Drehorganist Schrimpf, der mit Onkel Rübezahl auf du und du steht, mußte vom Gebirge ins Tal hinunter, geriet in eine Herberge und erblickte in dieser einen pompösen, wandverzierenden Buntdruck, der keinen Geringeren als Hindenburg darstellte.

In Politicis und auch sonst mangelhaft beschlagen, erkundigte sich Schrimpf, wer das sei.

In Dalldorf interniert wurde der Herr Drehorganist.

(10)

Dem Konstantin Funkelpunze kleckte es, eine zur Ehe hitzig entschlossene Maid aufzugabeln und daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Die Ehe, die sich in welcher Hinsicht auch immer glücklich anließ, fiel buchstäblich ins Wasser, als der Dampfer, welcher den hochzeitsreisenden Funkelpunze benebst Gattin an Bord trug, havarierte und mit Mann, Maus, Kind und Kegel untersank.

Ein freundlicher Amerikafahrer fischte die junge, verheißungsvolle Ehe aus den Fluten und schickte sie mir per Flaschenpost.

Ich offeriere: Ehe, so gut wie ungebraucht, preiswert zu verkaufen.

(11)

Ein Schutzmann steht auf dem Altmarkte und teilt Gebärden aus.

Die Welt leert sich, der Schutzmann jedoch wankt und weicht nicht von seinem Posten.

Er berechtigt, wenn nicht alles trügt, zu der Frage, wozu er da ist.

Wozu, wozu, wozu ist der Schutzmann da?

Was ist überhaupt ein Schutzmann??

Ein Schutzmann, lieben Leute, ist dazu da, daß er da ist. Punktum.

DIE LORELEI

(Ein wirklich schönes Lied für den Loreleierkasten)

I CH weiß nicht, was es bedeuten soll,

Daß ich so geknickt bin.

Ein Märchen aus uralten Tagen,

Das geht mir wie ein Mühlrad im Kopf herum.

Den Fischer in seinem kleinen Kahne

Ergreift ein ganz wildes Weh;

Er sieht die Felsenriffe nicht,

Weil er zur Lorelei hinaufschauen muß.

Ich glaube, die Wellen verschlingen

Den Schiffer mitsamt seinem Kahne.

Und das hat mit ihrem Gesange

Selbstverständlich die Lorelei bewerkstelligt.

OHNE ÜBERSCHRIFT

A LLES das, was der Berliner hundsgemeinhin «Natua» benennt — o du bildschönes Wort! —, alles das machte Frühling.

Von dieser Veranstaltung sich auszuschließen brachte nicht übers eiweiche Herz der Skribifax H. R.

Er streifte die Krachledernen über, hängte eine sinnige Ader ein, vergaß des Bleistifts nicht, nicht des Papieres und kehrte seinen vier trockenen Pfählen den gerundeten Rücken.

In einem Forste angelangt, der den ausschweifenden Titel «Das Rosental» führt, sog er den würzigen Knofelduft ein, kurbelte sein Hirn an, drückte auf die Ader und brachte zu Papier folgende

Abhandlung :

A I Der Sachse sagt nicht : Dies dürfte der Fall sein .
Der Sachse sagt: ’s werd schon meejlich sinn .
II Der Sachse sagt nicht : Ich werde um 8 Uhr zuhause sein .
Der Sachse sagt: Um achte rum weer j heeme sinn .
B I Der Sachse sagt nicht : Sobald wir angelangt sind .
Der Sachse sagt: Wemmr da sinn .
II Der Sachse sagt nicht : Die Eier sind teuer.
Der Sachse sagt: De Eier sinn deier.

Wenn Sachsen — echte Sachsen, ächte Sachsen, Kaffee-Sachsen, Gaffee-Sachsen, Kümmel-Sachsen — gebildet scheinen wollen und sich einer schriftdeutschen, reinen Aussprache befleißen, so scheitern sie gern an dem knifflichen « Sinn ».

Dem Sachsen gelingen die gebüldeten Sätze:

«Die Eier sein deuer.»

«Wenn mir angegomm sein

Während der Berliner sich zu den Sätzen versteigen kann:

«Das dürfte der Fall sind

«Kann schon möglich sind

Ich persönlich möchte ebensowenig Sachse sind wie Berliner. Beide sein schlechter dran als der Süddeutsche, dem das neutrale san zu Gebote steht. —

Bei dieser Gelegenheit will ich nicht verfehlen, eines Vorfalls zu gedenken, der sich in einem Leipziger Buchladen zugetragen hat:

Eine Dame sächsischster Observanz tritt ein und verlangt pfeilgrad das neue Buch von Franz Würfel.

Sie hat Franz Werfel schriftdeutsch aussprechen wollen.

Nachdem H. R. diese Abhandlung niedergeschrieben hatte, sprach er vernehmlich in die linde Frühlingsluft hinein (oder hinaus?):

«Ich lasse mich kreuzweise vierteilen, wenn Kurt Wolff sich dazu hergibt, diesen Bockmist drucken zu lassen.»

Nachwort 1 :

Der Bockmist ist gedruckt worden.

Ihr habt ihn soeben gelesen.

Nachwort 2 :

Es steht zu erwarten, daß H. R. als ein Mann von Wort sein Wort hält und sich vierteilen läßt.

Nachwort 3 .

Man atme auf.

GESTERN NOCH AUF STOLZEN ROSSEN . . . .

J A also, ich weiß nicht, ach was, ich erzähl’s. Theo von Quarre liegt seit dritthalb Stunden im Bette und kann nicht einschlafen, Deubel nich noch mal.

(Ich habe das Gefühl, als ob ich die Geschichte besser in den Papierkorb schleuderte. Erstens ist sie langstielig, und zweitens hat sie keinen Schluß. Was meinen Sie zu dem Vorfalle?)

Theo steht auf (und denkt: «Wenn mich der Herr Verfasser man bloß noch eine Viertelstunde hätte liegen lassen, wäre ich todsicher eingeschlafen. Es ist scheußlich, über sich verfügen lassen zu müssen. Na, mir kann’s ja Gottlieb Schulze sein, was der Verfasser mit mir vor hat») und zieht Reitdreß an. Erfahrungsgemäß macht ihn der à tempo schlapp.

Die Reitstiefel pumpern durch die nächtlichen Räume, ohne auf Quarre anders als belebend zu wirken.

(Hier mache ich einen Punkt. Ein Zaudern erfaßt mich. Soll ich fortfahren?)

Quarre kommt sich vor wie ein pikfrischer Maimorgen.

Stunden vergehen (und ich täte vielleicht besser, mir die störenden Zwischenbemerkungen zu verkneifen), und Theo von Quarre zieht schließlich Galoschen über die Reitstiefel (du meine Güte, soll das etwa «humoristisch» sein? Ich lache!) und müht sich keuchend, das widerspenstige Ich in aberhundert Kniebeugen schlaff zu machen.

Der Körper will nicht, gut, so soll der Geist.

Theo öffnet den Bücherschrank und greift sich Felix Dahns unverwüstlichen «Kampf um Rom». Darin tummeln sich so viele Eigennamen, daß der Geist, breitgequetscht, in wirrer Konfusion entfleucht.

(Sinnlose Gehässigkeit!) (Das schöne Buch!) (Dämliche Unterbrechungen.) (Halt’s Maul!!) (Bitte fahren Sie fort:)

Aber auch die Lektüre verfängt nicht.

Theo schmeißt — der Morgen, grau wie alle Theorie (wieso?), graut grau in grau herauf — den «Kampf um Rom», komplett gebunden zum Vorzugspreise von 318 M., ein Barthaar eines echten Germanen gratis als Beigabe, sehr geeignet zu Geschenkzwecken, sollte auf keinem Büchertisch fehlen, hinter den Bücherschrank und spricht: «Wenn das bloß der Verleger nicht erfährt!» (Plumpe Verdrehung; denn der Verfasser vorliegender Geschichte ist es, der dies denkt!) (Weiter im Texte:)

Durch das Geräusch schrecklings aufgemuntert (und ohnehin sowohl wie sowieso) erhebt sich Hermann aus den Federn, der treue Diener des Herrn von Quarre. (Trauriger Mangel an Phantasie! Warum muß der Diener «Hermann» heißen? Archibald ist bedeutend ansprechender!!) Er (Hermann) sieht bekümmert nach dem Rechten und findet seinen Gebieterich in wabernder Verzweiflung. (Ich würde, was mich anlangt, ein anderes Beiwort wählen als wabernd. Mich bedünkt es, als gäbe der Herr Verfasser sich wenig Mühe. Er wird mit einer Stunde Nachsitzen bestraft werden.)

Theo will schlafen und kann nicht. Und kann nicht!

Sich bezechen, rät Hermann. Alkohol macht bleiernen Kopf.

Gut: Alkohol!

Theo gießt sich voll mit schweren Weinen, trockenen Sekten, süßen Schnäpsen und fühlt es, wie die Müdigkeit mit stumpfer Pranke ihm . . . (Ich hätte den Diener übrigens doch Archibald nennen sollen!) (Der Satz bleibt ein Fragment.)

Kurzum: der Alkohol tut seine Wirkung. Theo stürzt in den ledernen Schlund eines Klubsessels und verlangt, zu rauchen. (Hier will ich mir die Klammer einmal verkneifen.)

Hermann trägt Zigarren herbei. (Wie finden Sie «Archibald»? Ist «Archibald» nicht primafeinfein gegen «Hermann»?)

Theo steckt sich eine Pappspitze in das markante Gesicht und zündet sie unter schwerer Mühe an.

Pfui Geier!

Aha, es ist keine Zigarre drin.

Soso. Theo zwängt einen importierten Zigarro in die Spitze und zündet eben diesen an.

Er brennt nicht. Er kann nicht brennen. Die Spitze ist nicht abgeschnitten.

Theo erkennt dies (Gottlob, der Autor vergißt, Klammern zu machen!) und schwappt zunächst «immer mal wieder» ein Glas hinter die Binde und fährt sodann fort, rauchen zu wollen. Er knipst die Spitze ab (ja, hat denn die deutsche Sprache nur ein einziges Wort für Zigarrenspitze und Zigarrenspitze?) und bohrt die Zigarre in die Spitze (also in die Pappspitze!). Hermann (immer noch Hermann? Ich denke, der Hermann ist längst geändert in Archibald!) reicht das Streichholz dar, und Theo zieht — ah — famos — hupp! — fui Deibel! . . .

(Dies Fui Deibel wird ewig ungeklärt bleiben, da Theo über dem Fui Deibel einschlief. Ach so, das gehört ja gar nicht in die Klammer!)

Der Schlaf knebelt den Theo von Quarre beim Rauchenwollen, die Zigarrenspitze einschließlich der Zigarre (ohne Spitze) entschlüpft dem müden Munde . . . Theo schnarcht.

(Ei verfault. Jetzt sitz’ ich in der Patsche! Wenn ich nämlich den Herrn von Quarre schon schlafen lasse, hat sich die ganze Geschichte erledigt, und ich kann einpacken. Ich muß ihn wohl oder übel wieder aufwecken, so unmotiviert dies auch ist. Du liebe Zeit, was ist im Leben nicht alles unmotiviert! Motivieren tun nur die modernen Schriftsteller. Das Leben hat solche Mätzchen nicht nötig. Ich fahre fort:)

Theo schrickt auf.

Die brennende Zigarre ist ihm auf die Hand geglitten und hat ihm ein Brandmal zugefügt. (Dann hätte er dies jedoch, bitte sehr, augenblicklich wahrnehmen müssen! Hier stimmt etwas nicht. Wollen wir darüber hinwegsehen, damit der Verfasser zu einem Ende kommt.)

(Übrigens finde ich das Ganze schwülstig erzählt.)

(Hier tritt eine große Unterbrechung ein. Der Autor muß unbedingt einen drängenden Brief beantworten. Sie gedulden sich bitte einstweilen!) — — —

(Der Brief ist geschrieben. Der Verfasser hat sich in der Zwischenzeit die Hände gewaschen und frisches Wasser auf seine Mühle gefüllt. Es geht weiter:)

«Ja, ist denn die vertrackte Geschichte noch nicht zu Ende?» fragt Theo und langt eine zweite Importe aus der Kiste.

(So etwas Mähriges! Wo ist der Telegrammstil?)

(Der Telegrammstil: «Hier!»)

(Der Verfasser: «Komm, hilf!»)

Importe No. 2, beschnitten, in Hülse gesteckt. Hülse greift nicht. Schon Zigarre drin. Schweinerei! Hülse in Ofen, Zigarre ohne Hülse in Mund. Verkehrt herum angebrannt. Verflucht! Dritte Importe . . . .

(Meine Herren, so geht das auf keinen Fall weiter. Die Sache ist völlig unverständlich. Telegrammstil, schieb ab!)

Ich werde die Geschichte ganz einfach mit einem schönen Titel versehen und als eine Jugendleistung ausgeben. Ich werde behaupten, sie sei geschrieben worden, als ich noch aufs Gymnasium ging. Da wird man erstens Nachsicht üben, zweitens gedoppeltes Interesse bekunden, und drittens wird man sich freuen, zu erfahren, daß p. p. Verfasser ein gebildeter Mensch ist, indem daß er ein Gymnasium besucht hat.

Ach, ihr lieben Leute, ich sage euch ehrlich: ich wäre lieber Schneider geworden oder Tischlermeister oder Pianofortebauer. Beim Himmel, jedes Handwerk würde mir willkommen sein, jede Profession. So hat man nichts als sein bissel Bildung, das zu nichts nutze ist, es sei denn dazu, daß man auf sie schimpft.

Um auf den unvermeidlichen Theo zurückzukommen, so sei leichthin bemerkt, daß er, um definitiv einschlafen zu können, hundertsiebenunddreißig Schlafpulver zu sich nahm.

Daraufhin schlief er sechzehn Tage.

Hermann rasierte ihn allmorgens, ohne daß Quarre dadurch wäre gestört worden.

Und, um den guten Archibald (Sie wissen, wen ich meine!) nicht aus dem Spiele zu lassen, so sei gesagt, daß er als treubesorgter Diener seines Herrn und in der Furcht, es könne diesem (seinem Herrn) etwas Böses zustoßen (denn der lange Schlaf war in der Tat beängstigend!), kein Auge zutat — nicht bei Tage, nicht bei Nacht.

Nach den abgeschlafenen sechzehn Tagen schlief Theo von Quarre ohne Pause weiter, so müde war er durch das übermäßige Schlafen geworden.

Theo schlief ununterbrochen.

Hermann wachte ununterbrochen.

Und darin hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert.

Theo schläft.

Und Hermann wacht über den Schlafenden.

Dies — prophezeie ich — wird nicht eher anders werden (Hermann wird nicht eher schlafen können, als bis sein Herr aufgewacht ist, und Theo wird nicht aufwachen, ehebevor ich ihn nicht geweckt habe — und ich werde mich hüten, dies zu tun — was sollte ich auch mit dem wachen Theo und dem schlafenden Hermann beginnen?) jetzt ist es außergewöhnlich knifflig, den begonnenen Satz grammatikalisch richtig zu Ende zu führen, ach was, ich falle einfach aus der Konstruktion, der Theodor Körner hat’s ja auch des öfteren getan, sehen Sie, ich bin doch ein gebildeter Mensch; ich meine nämlich den «Zriny», den haben wir auf dem Gymnasium gelesen, ich mußte das «Volk» machen, das gab den größten Spaß — mit anderen Worten (wieso mit anderen?): Hermann wacht so lange und Theo von Quarre schläft so lange, bis mir eingefallen ist, wie ich die Geschichte schließen kann. Voraussichtlich wird mir nichts einfallen; denn just dies ist mein Einfall, daß die Geschichte ohne Einfall (auch e Einfall!) endet.

(Ich hätte doch «Archibald» schreiben sollen statt «Hermann»!)

VON DEN NAMEN

D ER ewige Ahasver stiert in die offene Welt und überläßt sich seinen Gedanken. Tausend Menschen schwimmen an ihm vorüber und achten seiner nicht. Aber Ahasver achtet ihrer und rührt nackte Herzen an. Etwelche sind gut, die meisten schlecht und faulig. Die Herzen leben und zucken und machen, daß die dazugehörigen Menschen leben und zucken. Ahasver denkt: Ihr bildet euch ein, zu leben, weil eure Herzen leben. Ihr bildet euch ein, Menschen zu sein. Aber ihr seid lediglich durch Zufall als Menschen lebig. Ihr könntet gewißlich ebensogut Nähmaschinen sein oder Wäscheklammern. So wahr mir Gott helfe, du eignest dich, mein Freund, vorzüglich zur Gießkanne. Warum bist du Mensch? Du weißt es nicht. Du steckst in deiner Haut und nimmst dich auf die leichte Achsel. Du mimst einen Menschen. Bist du einer? Du bist eine ausgefüllte Haut und gleichst allen andern, obwohl du Lehmann heißt und ein Lehmann bist. Weißt du, warum du Lehmann heißt? Weil dein Herz ein Lehmann ist, ein ganz ordinärer Lehmann. Deine Haut steht dir gut, sie ist blaß wie dein Herz. Du paßt in die Familie. Ihr gleicht euch wie ein Lehmann dem andern, wenn ihr auch nicht allesamt Lehmann heißt. Ich weiß es: Ihr heißt bloß teilweise Lehmann. Ein großer Prozentsatz eurer Häute läßt sich durch den Namen Ziergiebel tragen. Und die mit Ziergiebels verwandten Häute heißen geradezu Matterstock, Knebelsdorff und Hammer. Aber das Seltsamliche ist, daß die Matterstockischen auf den ersten Hieb in Matterstocks, Kirstes, Freudenbergs und Föllners zerfallen. Auch Rippers gehören zu deiner Sippe. Und die Freudenbergs sind verwurzelt in sogenannten Schröders, der Teufel mag wissen, wieso. Der eine Schröder ist ein berühmter Dichter und hat sich wohlweislich durch ein Pseudonym unkenntlich gemacht. Bruderherz, Bruderhaut: Bist du dessen eingedenk, daß es um dich herum lebt und heißt? Und daß ihr alle, die um dich und die mit dir und die neben dir, daß ihr alle verknäuelt seid ineinander? Und verenkelt und verschwippschwägert und verfilzt, ihr wißt nicht, wie? Und daß es Menschen gibt, die — beim Himmel — akkurat so heißen wie du und dennoch ganz anders aussehen und sind? Es gibt Menschen, Herr Bruder, die heißen wie du, und du schreitest achtlos an ihnen vorüber und schaust ihnen lauwarm in die Augen. Du gehst auf der Straße, fährst auf der Stadtbahn, betrittst einen Konzertsaal, und die Menschen um dich herum heißen Gelbstein, Mosler, Trautscholdt, Berlit-Boosen, van Delten, Kenne, Heinz, Kumpanini — — und du verspürst es nicht! Willst du es nicht verspüren, Herr Mensch? Und alle diese Menschen sind etwas, stellen etwas vor, üben etwas aus, betreiben ein Handwerk, ein Gewerbe, eine Tätigkeit, rackern sich ab, faulenzen, trinken Tee, gehen spazieren, sind kränklich — — und du wandelst an ihnen vorüber, ohne dessen eingedenk zu sein, daß sie aus dem nämlichen Holze geschnitzt sind wie du, Freund Mensch. Und was sind sie von Beruf? Schneidermeister und Balbiere und Photographen und Cellovirtuosen! Manche sind sogar Kaufleute. Ich kenne einen, der ist Kolonialwarenhändler. Der kauft en gros Waren ein und verkauft sie en detail. En gros kriegt er sie billiger, als wenn er sie en detail einkaufte. Verstehst du das? Auf der Berechnung, daß en detail kaufende Mitmenschen — die Nächsten — teurer bezahlen müssen, als er im Einkauf bezahlt hat, beruht seine Existenz. Seine Gattin heißt Rosamunde und kriegt jeden Monat einen neuen Hut. Ich werde auch Kaufmann werden. Das ist ein probates Mittel, Geld zu verdienen, und um Geld zu verdienen, ist man auf der Welt, nicht wahr, Herr homo sapiens? Es gibt aber auch Bonbonkocher und Seifensieder und Gußputzer und Salon-Feuerwerker und Geheimpolizisten und Papierzähler. Von weiblichen Berufen zu geschweigen. Ich kenne einen Papierzähler, das ist ein vernunftbegabtes Lebewesen mit Namen Kutzschebauch, und dieses Lebewesen steht seit seinem siebzehnten Lebensjahre tagaus, tagein im Donnergepolter der Maschinen und zählt Papier ab. Sechsunddreißig Jahre ist er alt. Er zählt täglich hunderttausend Bogen Papier. Er darf sich nicht verzählen. Er verzählt sich auch nie. Er hat keine Zeit dazu. Wenn er bei neunzigtausend ist und glaubt, sich verzählt zu haben, kann er nicht wiederum bei eins anfangen. Es ist unmöglich. Wenn es der Himmel fügt, erreicht das vernunftbegabte, papierzählende Lebewesen ein biblisches Alter. Sein Leben ist mehr als Mühe und Arbeit gewesen; es ist Stumpfsinn gewesen. Aber ein Leben ist es gewesen. Gelebt von jenem einzigen Kutzschebauch, der ausgerechnet Kutzschebauch heißt, Solltest du zufällig gleicherweise Kutzschebauch heißen, so zürne mir nicht. Ich will dir meinerseits gewiß nicht zürnen, ich verspreche es dir. Ich bin einsichtig genug anzuerkennen, daß es Kutzschebäuche geben muß. Aber ich habe nur dies eine Mal Nachsicht. Sei lieb und heiße das nächste Mal besser. Es gibt so viele schöne Namen! Gschwindbichler und Hühnerschlund, Fleischpinsel und Bettbetreff! Oder sind dir das keine schönen Namen? Felix Kutzschebauch, was sagst du zu dem Namen Telofonsky? Und zu Umschlauch? Ach, Felix Kutzschebauch, du hast das Gefühl dafür verloren! Ich will dich nicht befragen. Du heißest Kutzschebauch, als müßte dies so sein. Aber es muß nicht so sein, man kann der Kutzschebäuchigkeit oder, wenn du willst, der Kutzschebeleibtheit aus dem Wege gehen: Man kann sich umbringen. Ein vertrackter Name, ist das kein Selbstmordmotiv? Du lächelst, denn du bist arg weit entfernt, deinen Namen umzubringen. Im Gegenteil: Du stehst im Begriffe zu heiraten. Viele kleine Kutzschebäuche sehe ich die unschuldige Welt bewimmeln. Sie werden dermaleinst Papier zählen. Und deine Braut — eine geborene Nolke — gibt freudigen Herzens ihren Namen auf, um Kutzschebauch zu werden. Sie heißet Olga. Sie will gerufen werden. O Olga! Du siehst einer Olga verblüffend ähnlich. Dein Name steht dir gut, dein Name kleidet dich. O Olga Nolke, warte nur, balde hat es sich ausgenolkt, und du darfst glücklich sein wie dein künftiger Gatte. Tu, Felix Kutzschebauch, nube! Und vergiß die Fritzi und die Gerta und die Friedel, und wie sie alle geheißen haben — ohne eines Familiennamens bedurft zu haben. Die Fritzi ist die Fritzi, aber deine Olga ist die Olga Nolke. Kanntest du nicht dereinst eine Olga, deren Photographie du jüngst verbrennen mußtest, auf daß sie der Normalbraut nicht in die Hände falle? Hast du die beiden Olgas miteinander verglichen? Gegeneinander ins Treffen geführt? Gewägt? Und verspürst du es nicht, daß beide — Olga heißen müssen? Daß sie nicht anders heißen dürfen? Denn jegliche Frau sieht so aus, wie sie mit ihrem Rufnamen heißt. Und jeglicher Mann heißt so, daß man — sobald man weiß: er heißt so — überzeugt ist: er heißt mit Fug und Recht so . Jeglicher heißt richtig. Wir alle heißen, wie wir müssen. Ich kann nicht Cohn heißen, ob ich gleich Ahasver bin. Und Theodulf Schwertnagel ist Theodulf Schwertnagel. Name ist weder Schall noch Rauch. Ohne daß ich ihn dir schildere, ohne daß du sein Konterfei siehst, weißt du, wie einer aussehen muß, der Woldemar Lohengrin heißt. Im Anfang war der Name. Nota bene: Eigenname. Wisse das und heiße hinfort bewußt! Und bist du, der du mich Ahasver denken ließest, ein belangloser Schulze oder ein Meier oder Müller — dein Name hat dich! Drum lobsinge dem Schöpfer, daß du Schulze heißest oder Meier oder Müller. Es ist nämlich kein leichtes, Richard Wagner zu heißen. Als Richard Wagner darfst du nicht Bäckermeister sein. Und als Ludwig Ganghofer darfst du nicht Kassenbote sein. Es lebt ein Ludwig Ganghofer, der betreibt ein Friseurgeschäft. «Rasier, Friseur und Haarschneiden» steht über seinem Laden. Das ist recht trauriges Deutsch, aber der arme Mensch von diesem Friseur hat es besonders gut machen wollen. Es ist ein armer Mensch, das versichere ich. Wenn er seinen berühmten Namen, den ein anderer hat, in der Tageszeitung liest, so trifft ihn jedesmal ein robuster Schlaganfall. Der Name, den er hat, und der gar nicht sein ist, beutelt ihn und polkt ihn in Grund und Boden. Fühlst du es nach, Bruderherz, daß es seinen Haken hat, ein Ludwig Ganghofer zu heißen? Ich persönlich bedanke mich dafür und ziehe es vor, Ahasver zu sein.