The Project Gutenberg eBook of Aus einer kleinen Garnison: Ein militärisches Zeitbild

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Title : Aus einer kleinen Garnison: Ein militärisches Zeitbild

Author : Fritz Oswald Bilse

Release date : January 20, 2014 [eBook #44719]

Language : German

Credits : Produced by Norbert H. Langkau, Matthias Grammel and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS EINER KLEINEN GARNISON: EIN MILITÄRISCHES ZEITBILD ***

  


[iii]

Aus einer kleinen Garnison.

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Ein militärisches Zeitbild

von

Fritz von der Kyrburg.


signet




Braunschweig
Verlag von Richard Sattler
1903.


[v]

Inhaltsverzeichnis

Seite
Erstes Kapitel 1
Zweites Kapitel 27
Drittes Kapitel 78
Viertes Kapitel 125
Fünftes Kapitel 185
Sechstes Kapitel 233
Siebentes Kapitel 245
Achtes Kapitel 264

[S. 1]

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Erstes Kapitel.

In dem geräumigen, mit behaglicher Eleganz eingerichteten Wohnzimmer war Frau Clara König damit beschäftigt, die letzten Vorbereitungen zum Empfang ihrer Gäste zu treffen.

Denn heute war Musikabend, zu welchem sich einmal in der Woche die engeren Freunde des Hauses versammelten, soweit sie musikalisch waren. Diesmal aber hatte man noch einige Familien dazu gebeten, damit sich alle von der erfolgreichen Tätigkeit der »Künstler« überzeugen sollten.

Hier rückte die Hausfrau einen Stuhl zurecht, dort strich sie glättend über ein gesticktes Deckchen, welche sie in allen Farben und Geschmacksrichtungen selbst gefertigt. Sie prüfte die Lampen auf ihre Lebensfähigkeit, klappte Klavier und Harmonium auf und warf schließlich einen liebevoll sorgenden Blick nach den gefüllten Blumenvasen, ob sie auch ihren duftenden Inhalt von der vorteilhaftesten Seite zeigten. Denn darauf hielt sie sehr, nie fehlte auf [S. 2] dem Kamin und dem Erkersims ein Sträußchen oder frisches Grün, selbst nicht zur kalten Winterszeit.

Frau Clara war eine mittelgroße Dame von etwa dreißig Jahren, mit einer gefälligen Figur und einem hübschen, frischen Gesicht. Die munteren blauen Augen gaben ihm im Verein mit dem geschmackvoll frisierten Blondhaar einen jugendlich angenehmen Ausdruck.

Jetzt ließ sie sich in einen Sessel nieder, denn es war alles in bester Ordnung. Das war übrigens immer so.

Da teilte sich die Portiére zum Nebenzimmer, und ihr Gatte, ein großer Herr mit schwarzem Schnurrbart, trat herein, um auch seines Amtes zu walten. Ihm lag es nämlich ob, den Kronleuchter anzuzünden. Im Allgemeinen pflegte er pro Gast nur eine Flamme zu brennen, heute aber ließ er den ganzen Lüstre in festlichem Glanze erstrahlen, denn man erwartete viele Gäste, während nur 5 Flammen vorhanden waren. So brannte er denn den Wachsstock an, welcher praktischer Weise meist auf oder dicht neben dem Ofen zu finden war, schimpfte über die hohe Gasrechnung, entzündete die Flammen, schüttete einen Eimer Kohlen in den Ofen und warf ein Blatt Papier hinterher, daß er nicht puffen sollte. Dann ließ er sich gleichfalls in einen Sessel nieder.

Herr Albrecht König war seines Zeichens wohlbestallter [S. 3] Rittmeister. Die Schwadron hatte er in bester Ordnung, denn er widmete sich ihr mit großem Eifer und nie erlahmender Sorgfalt. Fand sich Zeit und Muße, so las er die »Deutsche Zeitung«, studierte den Kurszettel, arbeitete im großen, trefflich in Stand gehaltenen Garten des Hauses oder überwachte den Hühnerhof, dessen Eierertrag er für hohe Preise an seine Gattin verkaufte. Hatte er gar nichts zu thun, so führte er Schlachten mit seinem neunjährigen Sohne auf, hielt Weinproben ab oder übte Klavier, denn dieses Instrument verstand er fast meisterhaft zu spielen.

Ein Geräusch im Vorzimmer verkündete jetzt die Ankunft der ersten Gäste. Man vernahm einen langsam schleppenden Schritt und ein heftiges Schnauben. Die Tür ging auf, und herein trat Landrat von Konradi, ein wohlbeleibter Herr mit einem Klemmer auf der aristokratischen Nase, über den hinweg sein Blick jetzt forschend die Frau des Hauses suchte. Das Haar schien zwar ergraut, doch dunkel gefärbt, und böse Menschen wollten wissen, es geschehe für das schöne Geschlecht. Der Herr Landrat hatte nämlich keine Frau. Sein Ideal verkörperten ein gutes Diner und mehrere noch bessere Weinsorten, und, da beides im Hause des Rittmeisters zu finden war, kam er gern. Im Übrigen galt er für einen Gentleman.

[S. 4]

Während er sich gerade bemühte, der Hausfrau mit Entrüstung zu erzählen, wie ein von ihm bestellter Fasan in gänzlich ungenießbarem Zustande angekommen sei, öffnete sich wieder die Tür und Frau Rittmeister Kahle trat ein.

Von kleiner, zierlicher Figur, jedoch mit einem Gesicht, welches dem eines ungezogenen Knaben glich, war sie im Allgemeinen eine ganz niedliche Erscheinung, nur spielte ein beständiges Lächeln um den etwas großen Mund, und wenn sie ihn auftat, ließ sich eine unzarte, fast kreischende Stimme hören.

Ihr folgten drei jüngere Herren, als erster Leutnant Pommer. Man schätzte ihn allgemein wegen seines natürlichen offenen Wesens; schien er dadurch auch manchmal etwas derb, so wußte doch jeder, wie es gemeint war. Mit besonderer Liebenswürdigkeit begrüßte er Frau Kahle, und es sah fast drollig aus, wie der große, korpulente Mann mit dem Nippfigürchen kontrastierte.

Der zweite war der Leutnant Müller. Wer es nicht wußte, sah an der selbstgefälligen Miene und der steifen Haltung des Herrn, daß er der Regimentsadjutant sein müsse. Er galt für den Schrecken aller Hausfrauen, denn er war unersättlich und vernichtete mit Seelenruhe die dreifache Portion wie ein anderer Sterblicher. Legten seine Tischgenossen [S. 5] die Gabel aus der Hand, so langte er mit der Versicherung, daß er gerade dieses sehr gern äße, zum dritten Male zu.

Der letzte der Herren war Leutnant Kolberg, ein auffallend blaß aussehender junger Mann mit kühn emporgewirbelten Schnurrbartenden. Er führte ein unsolides Leben und rühmte sich einer bewegten Vergangenheit.

Während man der noch fehlenden Gäste harrte, bildeten sich einige Gruppen. Leutnant Kolberg war ebenfalls zu Frau Kahle getreten und maß sie von oben bis unten mit wohlgefälligen Blicken. Der Adjutant suchte von Frau König zu erforschen, was es zu essen gäbe, und als er es erfuhr, behauptete er sofort, es sei sein Leibgericht. Der Landrat plauderte mit dem Rittmeister über eine Weinreise, die sie gemeinsam zu unternehmen gedachten, um den Keller mit neuen Schätzen zu füllen.

Wieder ging die Tür auf, und herein schwebte eine ungeschickt gepuderte, aussagend korpulente Dame in einem schwarz und gelben Kleide, dessen Machart sich mit den unpassend zusammengestellten Farben in Geschmacklosigkeit überbot. Sie stürzte sofort auf Frau Clara zu, drückte ihr mit den rundlichen Fingern die Hand und gab ihrer Freude über die erhaltene Einladung Ausdruck. Den anwesenden [S. 6] Herren hielt sie die fleischige Rechte so dicht unter die Nase, daß diesen gar nichts anderes übrig blieb, als den obligaten Handkuß darauf zu drücken.

Es war Frau Rittmeister Stark, die jüngste Gattin im Regiment, wenn sie auch weit über fünfzig Lenze zählte.

Ihr folgte tänzelnden Schrittes der eben so rundliche Gemahl. Er trug einen schwarzen Spitzbart und einen langen Nagel am kleinen Finger, dessen Pflege täglich längere Zeit in Anspruch nahm.

Seine Stimme verriet, daß ihr Besitzer einem guten Trunk nicht abhold war.

Hinter dem Ehepaar tauchte plötzlich die Gestalt des Kommandeurs auf.

Alle traten ehrfurchtsvoll zur Seite und machten eine tiefe Verbeugung vor ihm, während er auf Rittmeister König und Gattin zuschritt. Die krummen Beine im Verein mit dem derben Gesicht gaben der ganzen Erscheinung des Obersten von Kronau nicht viel von dem, was man sich unter einem Regimentskommandeur vorstellt, in Civil hätte man ihn vielleicht für einen Agrarier gehalten, dessen Sprache den Masuren nicht verleugnen konnte. Auch blinkte ihm stets eine Träne im Auge, welche er, sobald sie ihm entsprechend groß erschien, durch eine stereotype Kopfbewegung [S. 7] seinem Gegenüber vor die Füße oder auf den Rock zu schleudern liebte.

Die ihm folgende Dame mit dem Gouvernantengesicht, in ein schlecht sitzendes perlgraues Kostüm mit rotem Sammetkragen gezwängt, war seine Gattin.

Fast zu gleicher Zeit erschien auch der noch fehlende Teil der Gesellschaft, an der Spitze Oberleutnant Borgert. Seine stechenden Augen ruhten nur selten auf dem, welchen er einer Ansprache würdigte, seine Figur war korpulent, dabei aber elastisch und schmiegsam. Hinter ihm stand der Oberleutnant Leimann, eine kleine, etwas gebeugte Erscheinung mit einem Buckelansatz und viel zu kurzem Halse. Zwischen den hochgezogenen Schultern saß ein birnenförmiger Kopf mit zwei kleinen Schweinsäuglein, welche meist unstät umherirrten oder so zusammengekniffen waren, daß man sie nicht sah. Das an einer Schnur hängende Einglas setzte er nie auf, denn er fürchtete, sich lächerlich zu machen.

Diese beiden Herren wohnten in einem Hause und waren eng mit einander befreundet. Vielleicht hatte sie ein chronischer Mangel an Kleingeld zusammengeführt, was ihnen jedoch kein Grund war, sich irgend einen Wunsch zu versagen, vielmehr lebten sie, als seien sie die Erben reicher Häuser.

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»Verzeihen Sie, gnädige Frau«, wandte sich Leimann an Frau König, »daß meine Gattin nicht mitkommt, sie hat wieder ihr altes Leiden, Sie wissen ja, Migräne!« Dabei machte er ein Gesicht, als glaube er selbst nicht recht daran. »Sie wird natürlich nachkommen, sobald sie sich besser fühlt.«

»Das tut mir sehr leid,« entgegnete Frau Klara liebenswürdig, »nun, hoffentlich hält das Kopfweh nicht lange vor! Es sollte mich freuen, Ihre Gattin bald begrüßen zu können.«

Als nun auch der kleine Leutnant Bleibtreu, ein besonderer Freund des Hauses und einziger Offizier in Rittmeister König's Schwadron, zur Stelle war, meldete der Diener, es sei angerichtet. So begaben sich denn die Herrschaften nach dem Eßzimmer und ließen sich an dem mit großer Sorgfalt gedeckten Tische nieder.

Anfangs herrschte Schweigen, erst als ein jeglicher seinen Teller gefüllt, kam die Unterhaltung allmählich in Gang.

»Das Wetter ist in den letzten Tagen so schön, daß man bald mit dem Netzspiel beginnen kann,« bemerkte Frau Oberst von Kronau.

»Gewiß«, erwiderte der Oberst mit vollem Munde, »ich werde nächste Woche eine Versammlung des Klubs anberaumen, und dann kann's losgehen!«

»Ach ja, entzückend,« rief Frau Stark begeistert, [S. 9] »ich spiele leidenschaftlich gern, Sie spielen doch alle mit, meine Herrschaften? Sie, meine liebe kleine Frau Kahle, waren ja schon früher eine der Eifrigsten. Und wie ist es mit Ihnen, Frau König?«

»Ich lasse es besser, denn es bekommt mir nicht.«

»Und Ihr Gatte?«

»Ich spiele nicht Tennis,« erwiderte der Rittmeister, »Sie wissen ja, ich kenne das Spiel gar nicht, aber ich sehe es ganz gern, wenn es von graziösen Damen gespielt wird.«

Frau Stark kniff die Lippen zusammen und sandte dem Rittmeister einen wütenden Blick. War das mit den »graziösen Damen« nicht auf sie gemünzt? Es geschah ihr aber ganz recht, denn es war geradezu lächerlich, wie die ältliche Frau stets die jugendliche spielen wollte, hatte sie doch noch in ihren alten Tagen einen Schwadronsgaul bestiegen, um reiten zu lernen, weil andere Damen es taten.

»Vom Civil werden sich wohl auch mehrere beteiligen«, ergriff der Oberst wieder das Wort, »ich lasse eine Liste herumgehen.«

Alle sahen sich ungläubig an, denn mit dem Civil hatte es der Oberst durch mancherlei Geschichten gründlich verdorben, man mied ihn, wo man konnte.

[S. 10]

»Ich spiele auch mit,« warf Landrat von Konradi ein, »vorausgesetzt, daß es nicht zu heiß wird. Nächste Woche habe ich aber noch keine Zeit, ich muß erst Erbsen legen, sonst wird es zu spät.«

»Allerdings,« rief König dazwischen, »sonst geraten sie nicht mehr ordentlich.«

»Wie? Erbsen geraten nicht? Erbsen geraten immer, wenn man es richtig anfängt,« entgegnete fast gereizt Frau Oberst.

»Das kann man doch aber nicht behaupten, gnädige Frau, da spricht doch vieles mit!«

»Nein, nicht im geringsten, Herr Rittmeister, es gibt ein Rezept, nach dem sie geraten müssen

»Da wäre ich doch neugierig, denn voriges Jahr sind mir fast alle Erbsen verdorben.«

»Sie müssen sie bei Mondenschein legen, und niemand darf dabei ein Wort reden, dann geraten sie immer, ich sehe es ja bei meinen. Ich bin aber nicht etwa abergläubisch, meine Herrschaften, aber es ist so.«

Wenn Frau Oberst etwas behauptete, war ein Widerspruch eigentlich ein kühnes Unterfangen, Leutnant Bleibtreu aber äußerte lachend:

»Wenn man dann bei Sonnenschein den Speck dazwischen säet, gibt es gleich Erbsen mit Speck.«

»Sie müssen es ja wissen, Herr Leutnant, spotten Sie nur, es ist doch so!« entgegnete die [S. 11] Frau Oberst giftig. »Übrigens nächste Woche habe ich auch noch keine Zeit, meine Gänseleberpastete ist noch nicht fertig!«

»Sie kochen sie selbst ein?« fragte interessiert der Landrat.

»Gewiß, ich koche immer sechs Töpfe, mein Mann ißt das Zeug so schrecklich gern.«

»Woher beziehen Sie denn die Trüffeln dazu? Ich suche nämlich gerade eine gute Quelle.«

»Was, Trüffeln? Es schmeckt ohne Trüffeln genau so gut, das ist nur Einbildung.«

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, das ist ja beinahe die Hauptsache an der ganzen Pastete!«

»Gott bewahre, ich nehme nie Trüffeln!«

»Gänselebern muß man bei einer Mondfinsternis kochen, gnädige Frau, dann werden sie schön dunkel!« bemerkte spöttelnd Leutnant Pommer.

»Ach, verhöhnen Sie mich nur! Ich weiß, wie es ist, und so bleibt es!«

So blieb es auch, denn keiner wagte noch eine Einwendung.

Frau Oberst mußte ihre fließende Rede unterbrechen, denn alle erhoben sich jetzt, um die eben eintretende Frau Oberleutnant Leimann zu begrüßen. Frisch und rosig, mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen, erschien sie in der Tür des Eßzimmers.

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»Seien Sie mir nicht böse, Frau König, ich hatte noch einige wichtige Briefe zu schreiben. Aber wollen die Herrschaften nicht Platz behalten?«

»Ich denke, Sie hatten Kopfweh?« hieß es von allen Seiten.

»Kopfweh? Ja richtig, das hatte ich auch. Man vergißt es ganz, wenn man so oft darunter leidet.«

Sie war eine schöne junge Frau von fünfundzwanzig Jahren und geschmackvoll gekleidet. Gegenüber von Oberleutnant Borgert nahm sie ihren Platz ein.

Das Gespräch erhielt jetzt eine allgemeinere Wendung, man redete von diesem und jenem und ließ sich auch die vorzüglichen Speisen schmecken, denn es gab »Labskaus«, das Spezialgericht aus Frau Clara's Küche. Der Adjutant hatte den Mund noch nicht geöffnet, außer um riesige Bissen hineinzuschieben. Ab und zu gab er durch einen unverständlichen Laut seinen Beifall zu erkennen. Er aß noch immer, als schließlich die Hausfrau die Tafel aufhob. Man wünschte sich gegenseitig »gesegnete Mahlzeit« und suchte die Nebenräume auf, wo den Damen Kaffee, den Herren Likör, Bier und Cigarren gereicht wurden.

Bald hatten sich wieder plaudernde Gruppen gebildet, während der Oberst den Ort für geeignet hielt, mit seinem Adjutanten eine dienstliche Angelegenheit [S. 13] zu erledigen. Dann begab er sich in's Nebenzimmer und begann ein lebhaftes Gespräch mit Frau Stark, aus welchem, da es halblaut geführt wurde, nur abgebrochene Sätze von Oberleutnant Borgert aufgefangen werden konnten.

»Sie müssen es erreichen,« hörte er die Dame flüstern.

»Hoffentlich geht zur Besichtigung alles gut,« gab der Oberst zur Antwort, »die Vorgesetzten sind seit dem letzten Mal auf Ihren Gatten aufmerksam geworden, im Stall fing es an, wo die Streu nicht den Wünschen der Herren entsprach.«

»Ich gehe jeden Morgen durch den Stall und pfeife die Unteroffiziere an. Aber freilich, wenn dann mein Mann zur Besichtigung wieder den Kopf verliert, kann ich nicht helfen. Das letzte Mal habe ich ja alles durch den Feldstecher mit angesehen, und es ging ganz gut bis zuletzt, wo das Abschwenken in Züge nicht klappte. Auch war sein Kommando falsch.«

»Nun, hoffen wir das Beste! Wenn man Major werden will, heißt es eben doppelt aufpassen, und stimmt etwas nicht, werden die Vorgesetzten gleich stutzig.«

»Es ist ganz gleich, Herr Oberst, mein Mann muß Major werden! Wenn Sie uns fallen lassen, dann......«

[S. 14]

»Seien Sie ohne Sorge, gnädigste Frau! ich habe ihm eine glänzende Konduite geschrieben, wenn ich es auch nicht verantworten kann, Sie sehen also, ich tue mein Möglichstes.«

»Das sind Sie mir auch schuldig, Herr Oberst, denn ohne mich wären Sie heute...... nun, Sie wissen ja.«

Rittmeister König trat hinzu.

»Reisen Herr Oberst nächste Woche mit an die Mosel zur Weinprobe? Herr Landrat von Konradi fährt auch mit. Es sollen tadellose Sorten zum Verkauf kommen.«

»Gewiß, mein lieber König, Sie wissen ja, bei so etwas bin ich immer dabei. Mit Ihnen gehe ich gerne proben, denn ich habe heute wieder gesehen, daß Sie eine tadellose Zunge haben.«

»Sehr schmeichelhaft für mich, Herr Oberst! Aber ich sehe, Herr Oberst rauchen nicht. Es steht alles in meinem Zimmer.«

Der Oberst schritt ins Nebenzimmer, wo er Frau Kahle mit Leutnant Pommer in der einen und mehrere junge Herren mit Frau Rittmeister König in der andern Ecke plaudern sah. Oberleutnant Leimann trat gerade aus dem Eßzimmer ein, hinter ihm seine Gattin mit mürrischer Miene, die sich aber sofort aufhellte, als Oberleutnant Borgert herantrat und seine Hausgenossin in's Gespräch zog.

[S. 15]

»Nun, was haben Sie denn wieder für wichtige Privatangelegenheiten, meine Gnädigste?«

»Ich? nichtsweiter! Mein Mann hat zur Abwechselung ein bißchen geschimpft, Sie kennen ja seine geschmacklose Art, über alles gleich grob zu werden.«

»Was gibt es denn aber schon wieder? Hat Ihnen der Auftritt heute Nachmittag nicht genügt?«

»Jetzt ist er wütend, weil ich mich mit Briefschreiben entschuldigt hatte, er hatte mich mit Kopfweh entschuldigt. Ich habe diese ewigen Korrekturen satt.«

»Das ist ein Scheidungsgrund, gnädige Frau,« scherzte der Oberleutnant. »Suchen Sie sich einen anderen Gatten, wenn Ihnen dieser nicht zusagt.«

»Sie haben gut Witze machen, Sie glauben gar nicht, wie mir manchmal alles zuwider ist.«

»Dann erst recht, gnädige Frau! Wählen Sie unter den Edlen des Landes! Ich kann Ihnen sogar gute Vorschläge machen.«

»Dann schießen Sie einmal los!« scherzte Frau Leimann mit schelmischem Augenaufschlag.

»Ich wüßte schon einen, wie wäre es zum Beispiel,..... nun, mit mir?«

»Der Vorschlag ließe sich hören, aber erst müssen Sie mir sagen, was Sie mir bieten können!«

»Setzen wir uns und bereden wir den hochwichtigen [S. 16] Fall!« sagte Borgert lachend, und sie ließen sich auf dem Divan nieder.

»Also, passen Sie auf! Ich biete Ihnen ein elegantes Heim, einen Wagen mit Pferden, eine Villa am Züricher See und ein Heer dienstbarer Geister!«

»Und wer bezahlt das alles?«

»Bezahlen? Wer tut denn das noch? Es ist gänzlich aus der Mode und geschmacklos, man verplempert damit das meiste Geld. Ich bezahle nie und lasse mir nichts abgehen wie Sie sehen.«

»Das ist ja alles sehr verlockend, aber noch habe ich ja meinen Mann,« scherzte Frau Leimann weiter.

»Gewiß, den haben Sie noch, aber Sie können sich ja einstweilen an mich gewöhnen.«

Frau Leimann nickte lächelnd und stützte den Kopf in die Hände, während sie träumerisch auf den Teppich sah.

Borgert wurde plötzlich ernst, und als die letzten Gäste ins Nebenzimmer verschwunden waren, suchten seine Augen die seiner Nachbarin.

»Was sehen Sie mich denn so an, Herr Borgert? Es kann einem ja Angst werden!«

»Ich denke so vieles, gnädige Frau, was ich nicht sagen darf. Im Scherz spricht man leicht über Dinge, die scheinbar nur ein solcher sind, in [S. 17] Wahrheit aber berühren uns diese Dinge oft tiefer.«

»Sie sprechen wieder in Rätseln, mein Lieber, und es ist wohl an der Zeit, daß wir ein anderes Thema wählen. Aber wollen wir denn nicht auch hineingehen? Man könnte sich wundern, uns so allein zu finden, und wieder klatschen.«

Dabei erhob sie sich, und als Borgert schnell noch ihre Hand ergriff, um sie zu küssen, machte sie keine ernstliche Anstrengung, ihm zu wehren, dann trat sie mit der Miene eines unschuldigen Kindes in das Wohnzimmer. Borgert aber blieb in dem matt erhellten Raume sitzen, zog einen Brief aus dem Aufschlag des Überrocks und las ihn. Dann steckte er das Papier mit einem unterdrückten Fluch wieder ein und versank in Nachdenken.

Im Nebenzimmer war es inzwischen lebendig geworden. Das Stimmen der Geigen, das Brummen eines Cellos und einige Klavier-Akkorde riefen alle Gäste herbei, denn jetzt sollte der musikalische Teil des Abends seinen Anfang nehmen.

Am Harmonium hatte Rittermeister König Platz genommen, während seine Gattin die Klavierbegleitung übernahm. Landrat von Konradi und Oberleutnant Leimann standen mit den Geigen bereit, Leutnant Bleibtreu hatte sich, das Cello zwischen den Knieen, im Hintergrunde niedergelassen. Die [S. 18] Zuhörer saßen erwartungsvoll in den kleinen und großen Sesseln, am Kamin, und um den mit Biergläsern besetzten Tisch herum.

Das Spiel begann, ein Trio von Reinhardt. Es klang gut, denn alle hatten ihre Partie fleißig geübt, und so machte der Vortrag einen angenehmen Eindruck. Nur der Landrat wiegte sich bei jedem Bogenstreich von einem Fuß auf den anderen und begleitete sein Spiel mit einem störenden Schnaufen. Auch Leimann gehörte zu den Musikern, welche man bei Ausübung ihrer Kunst nicht ansehen darf, um sich den Genuß nicht zu verderben, denn sein Kopf war jetzt ganz zwischen die Schultern gerutscht und seine noch mehr gebeugte Figur bot von hinten kein sehr harmonisches Bild. Der Cellist griff manchmal daneben, spielte dann aber die folgenden Töne um so kräftiger, damit man hören konnte, wie er sein Instrument beherrschte. — Dem Trio folgte je ein Solostück der beiden Geiger, sowie eine von Ehepaar König mit guter Technik und warmer Empfindung vorgetragene Rhapsodie von Liszt. — Zum Schluß waren alle des Lobes voll und jeder suchte durch ein kunstgerechtes Urteil sein Musikverständnis zu bekunden.

»Ach, mein lieber Leutnant Bleibtreu,« rief Frau Stark dazwischen, »Sie müssen mir auch Cellounterricht geben, ich spielte das Instrument [S. 19] in meiner Jugend, aber in der langen Zeit habe ich es ganz verlernt.«

Daß seit ihrer Jugend eine lange Zeit vergangen, wurde von keiner Seite bezweifelt, und König flüsterte Bleibtreu zu, sie könne mit ihren dicken Fingern einen einzelnen Ton ja gar nicht greifen.

Borgert war während des Spiels in den Durchgang zum Nebenzimmer getreten und schaute mit gelangweilter Miene den Gästen zu. Manchmal warf er einen forschenden Blick auf Frau Leimann, welche mit träumerischen, halb geschlossenen Augen weit in einem bequemen Sessel zurückgelehnt saß.

Die Spieler hatten jetzt auch am Tische Platz genommen, und die Unterhaltung begann von neuem über gleichgültige Tagesfragen, wobei Frau von Kronau den Löwenanteil nahm, denn ihr Mundwerk stand selten einen Augenblick still.

So verging rasch die Zeit, und als die Kaminuhr ½11 zeigte, schaute der Oberst verständnisinnig nach seiner Ehehälfte, welche sich darauf mit einem leichten Kopfnicken erhob und zur Frau des Hauses wandte.

»Liebe Frau König, es war reizend von Ihnen, uns den Genuß des heutigen Abends zu verschaffen, es ist aber so spät geworden, daß wir uns verabschieden müssen. Nochmals vielen Dank!« Dabei reichte sie ihr die Hand und schüttelte sie kräftig.

[S. 20]

»Wollen Sie denn wirklich schon gehen? Es ist ja noch nicht einmal 11 Uhr. Einen Augenblick können Sie doch noch bleiben!«

Als Frau König aber sah, wie auch der Oberst, Familie Stark und der Landrat von den übrigen Gästen Abschied nahmen, gab sie alle weiteren Überredungskünste auf, im Grunde ihres Herzens nicht unzufrieden, jetzt nur noch einen kleinen Kreis um sich zu behalten, bei welchem man nicht jedes Wort auf die Goldwage legen und fürchten zu müssen glaubte, der Oberst könne irgend etwas unpassend finden und am nächsten Tage zum Gegenstand einer dienstlichen Besprechung machen. Denn darin leistete er Märchenhaftes.

Nachdem die Herrschaften das Haus verlassen, rückten die Zurückgebliebenen ihre Stühle näher zusammen und ein frisches Glas Bier wurde gereicht.

Das anfängliche Schweigen ward durch Borgert unterbrochen.

»Haben Sie gesehen, wie diese Stark mit dem Oberst wieder geflüstert hat? Diese Manieren sollten sie doch zu Hause lassen, denn da scheint man ja nicht sonderlich penibel zu sein. Denken Sie, neulich stand ich dabei, wie Stark mit dem Pantoffel nach seiner Gattin warf, welche mich in einem schmutzigen Morgenrock empfangen hatte.« —

»Das ist noch gar nichts,« rief Leimann dazwischen, [S. 21] »als sie kürzlich in meiner Gegenwart wieder einen Krakehl miteinander hatten, brachte der Dicke seine Frau einfach mit den Worten: »Halt's Maul!« zum Schweigen.«

»Es scheint überhaupt dort manchmal nicht ganz friedlich zuzugehen,« entgegnete der Adjutant.

»Vorgestern hatte sich Stark im »Weißen Schwan« etwas festgetrunken, und als er so ziemlich blau war, kam seine Frau, machte ihm eine Szene und nahm ihn unter dem Gelächter der übrigen Gäste mit nach Hause. Dort werden sie sich nachher wohl nicht gerade geküßt haben.«

»Das kommt übrigens öfter vor, sie holt ihn sogar aus dem Kasino zum Essen und nennt ihn vor den Ordonnanzen einen Lüdrian,« warf ein anderer ein.

»Nun ja,« sagte König, »sie paßt eben auf ihren Mann gut auf, denn er will jetzt Major werden, oder besser gesagt, sie Majorin.«

»Aber das ist ja ganz ausgeschlossen,« rief Borgert entrüstet, »wenn dieser unfähige Patron Major wird, dann werde ich General. Es scheint ja allerdings, als ob der Oberst alles für ihn aufböte!«

»Dafür hat er seinen Grund!« entgegnete Leimann bedächtig.

»Wieso?«

[S. 22]

»Kennen Sie denn die Geschichte nicht? Die Spatzen pfeifen sie schon von den Dächern.«

»Nein, erzählen Sie, das ist ja rasend interessant!« Dabei rieb sich Borgert vergnügt die Hände und rückte etwas näher zu seinem Freunde heran.

»Voriges Jahr hatte der Oberst bekanntlich durch eine seiner berühmten Taktlosigkeiten einen Herrn vom Civil beleidigt. Dieser schickte ihm eine Forderung. Da wurde es dem guten Oberst doch etwas flau zu Mute, denn mit dem Munde ist er stets voran, hat er aber etwas zu riskieren, dann sitzt ihm das Herz in der Hose. Da ging seine Freundin, diese Stark, zu jenem Herrn hin und sagte, sie sei an der ihm zugefügten Kränkung schuld, indem sie eine unwahre Behauptung ausgesprochen habe. Sie hat dem Oberst also das Leben gerettet, denn der andere ist als unfehlbarer Schütze bekannt wie ein bunter Hund. Darum hat sie ihn jetzt ganz in der Tasche, und wenn sie ihm etwas befiehlt, gehorcht er wie ein Stubenhund. Was dabei herauskommt, sehen Sie ja alle Tage.«

»Aber das ist ja großartig,« rief triumphierend Borgert, »wissen Sie noch so Geschichtchen? Es ist überhaupt längst Zeit, daß man diese beiden aufgeblasenen Personen abhalftert. Er hat Manieren wie ein Bursche und sie wie eine Waschfrau, [S. 23] ich werde einmal herumhorchen und Material sammeln. Es ist eine Schande, daß man sich dieses Weib gefallen lassen muß.«

»Sie soll ja früher auch sonderbare Beziehungen zu einem adligen Herrn gehabt haben, man munkelt so etwas!«

»Von wem wissen Sie denn das wieder?«

»Mein Bursche hat es mir neulich erzählt, der ist aus ihrer Heimat.«

»Was Sie nicht sagen, da muß ich doch einmal gründlich nachforschen, denn das Geld für ein Auskunftsbureau ist sie ja doch nicht wert, diese.... Nun, ich kann das Wort nicht aussprechen, das mir auf der Zunge schwebt.«

»Dann wundert es mich aber, daß sie überall so großartig auftritt, wenn sie so viel auf dem Kerbholz hat.«

»Das ist eben ihre Manier!« entgegnete Müller wichtig.

»Dieselbe Sache wie mit dem Wagen. Den geschmacklosen Karren hat sie irgendwo aufgetrieben, setzt den Burschen im Cylinder und gelben Stiefeln hinten drauf, spannt zwei Schwadronsgäule ein und fährt den Leuten etwas vor. Dabei biegen sich die Axen, wenn die dicke Person darin sitzt. Daß sie täglich auch ein Dienstpferd reitet, dagegen sagt der Oberst nichts, obwohl in den Vorschriften [S. 24] beides streng verboten ist. Frißt ein anderer aber nur eine Kleinigkeit aus, so steckt er ihn drei Tage ein und kommt sich höllisch schneidig vor.«

»Der Oberst ist eben ein ganz pflaumenweicher Bruder, dabei schnurrt er wie gedruckt. Einem mir bekannten Herrn hat er erzählt, wie ausgezeichnet er mit dem Civil stände, und wie sein Tennisplatz belagert sei. Er spielt aber doch meist allein, wer sich vor diesen Leuten drücken kann, tut es doch sicher.«

»Ich wette, daß er vor der nächsten Versammlung des Tennisklubs eine dienstliche Besprechung ansetzt, dann hat er uns alle in der Falle.«

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Während dieser Unterhaltung hatte Frau Leimann mit leuchtenden Augen dem Oberleutnant Borgert zugehört, wie er in seiner gewandten Weise über den Oberst und Stark's zu Felde zog, der Rittmeister sog nachdenklich an seiner Cigarre und unterdrückte ein Gähnen, während seine Gattin in Gedanken versunken mit einer Quaste der Tischdecke spielte.

»Warum so ernst, meine Gnädige?« redete Borgert sie an.

»Ich dachte gerade darüber nach, wie Sie später über uns reden würden, wenn uns einmal [S. 25] irgend etwas auseinanderbringt!« erwiderte sie lächelnd.

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, Sie scheinen an meiner guten Erziehung zu zweifeln, trauen Sie mir so etwas zu? Und überhaupt, wie könnte........«

Er brach seine Rede ab, denn Frau Kahle hatte sich erhoben, um Abschied zu nehmen, mit ihr Leutnant Pommer, welchen sie um Begleitung bat, denn ihr Gatte befand sich auf einer Dienstreise.

Der Kreis war somit wieder etwas kleiner geworden, und als man von neuem um den Tisch Platz genommen hatte, bemerkte Borgert:

»Dieser Kahle mit dem Schusterjungengesicht könnten wir eigentlich einmal ein neues Kleid schenken, außer der verwaschenen Fahne, die sie immer trägt, scheint sie nichts zum Anziehen zu haben.«

»Sie sollten sie erst einmal im Hause sehen,« entgegnete wegwerfend Müller, »da sieht sie aus wie ein malproperes Dienstmädchen; das schmutzige Hauskleid einmal zu flicken, scheint sie auch keine Zeit zu haben, ihr Junge läuft ebenfalls immer herum wie so ein Gassenbube aus der Unterstadt. Außerdem kann der Bengel schon lügen, daß es eine Lust ist.«

[S. 26]

»Das hat er von seiner Mutter!« lachte Borgert, als ihn ein vorwurfsvoller, kalter Blick aus Frau Königs Augen traf und zum Schweigen brachte. So ward die Unterhaltung allmählich eintöniger. Der Rittmeister gähnte schon etwas deutlicher, und Leimann war ganz in seinem Sessel zurückgesunken und hielt nur noch mühsam die Augen auf, während seine Gattin eine äußerst gelangweilte Miene zeigte, wodurch ihre Züge alle Anmut und Schönheit verloren und alt, ja abgelebt erschienen. Müller verdaute noch immer, und so schien es an der Zeit, sich zum Aufbruch zu rüsten.

Unter lebhaften Versicherungen, wie reizend der Abend gewesen, trennte man sich, und der Rittmeister geleitete seine Gäste die Treppe hinab, um dann den Riegel an der Haustür vorzuschieben.

Als er wieder im Wohnzimmer stand, sagte er, die Gasflammen ausdrehend, zu Frau Clara: »Ein interessanter Abend! Vor diesen beiden Herren heißt es sich in Acht nehmen!«

[S. 27]

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Zweites Kapitel.

»Unteroffizier Meyer! Lassen Sie gefälligst den Mist aus dem Stalle schaffen, das ist ja eine schamlose Schweinerei! Was? die Stallwache ist nicht da? Dann machen Sie es selbst, es fällt Ihnen keine Perle aus der Krone. Vorwärts, dann bringen Sie mir das Parolebuch!«

»Zu Befehl, gnädige Frau.«

Frau Rittmeister Stark schritt, von zwei großen struppigen Hunden begleitet, mit langen Schritten im Stalle auf und ab. Sie trug ein schmutziggraues, schlechtsitzendes Reitkleid und einen runden Hut. In der Rechten hielt sie eine Reitgerte, welche sie manchmal sausend durch die Luft fahren ließ, daß sich die Hunde ängstlich hinter ihr verkrochen. Mit scharfem Blick musterte sie alles, die Streu, die Namentafeln über den Ständen der Pferde, und studierte eifrig das schwarze Brett, auf dem mit Kreide der Tagesdienst geschrieben stand. Hinter zwei Pferden, den einzigen beim Ausrücken zurückgebliebenen, machte sie Halt und schaute mit zornigen [S. 28] Augen auf das zottige, schlecht geputzte Fell der mageren Tiere, deren Kruppen mit den Hüftknochen ein gradliniges Dreieck bildeten. Dann hob sie dem einen Wallach den Hinterfuß und besah den Huf, holte ein Notizbuch aus der Rocktasche und notierte: »Remus Nr. 37 fauler Strahl, vorn links neues Eisen.« Darauf schritt sie die Treppe zum Heuboden hinauf. Dort lagen zwei Mann der Stallwache in süßem Schlummer, ohne das Eintreten der Schwadronsmutter zu bemerken. Wütend fuhr sie die erschrockenen Schläfer an:

»Faules Pack, schert Euch an die Arbeit, sonst mache ich Euch lebendig, ihr trägen Lümmels ihr!«

Und sie stürzten an die Futtermaschine, als stände der leibhaftige Teufel hinter ihnen. Dann stieg sie die Treppe hinab und ging Unteroffizier Meyer entgegen, welcher atemlos mit dem Parolebuche ankam. Er schlug die Sporen klirrend zusammen und hielt der Gestrengen das Buch vor.

»Halten Sie es gefälligst, während ich lese, oder meinen Sie, ich wollte mir die Finger an dem schmutzigen Umschlag fettig machen? Hier steht, daß morgen Revision des Sattelzeuges ist. Haben Sie alles in Ordnung?«

»Ich will den Herrn Wachtmeister fragen.«

»Vorwärts holen Sie ihn, aber Galopp!«

Der Wachtmeister war nicht sehr entzückt, daß [S. 29] man ihn in seiner Ruhe störte, denn die Zeit, während welcher sich die Schwadron auf dem Exerzierplatz befand, war für ihn die angenehmste des Tages. So saß er denn bei einer Tasse Kaffee seiner Ehehälfte gegenüber und rauchte behaglich die Morgenzigarre, als Meyer den Wunsch der »Gnädigen« überbrachte.

Zornig stampfte er auf und brummte:

»Was fällt nur diesem Frauenzimmer ein, sie tut gerade, als hätte sie etwas zu sagen! Es ist ein Skandal, daß man sich das gefallen lassen muß, aber tut man es nicht, gibt es Stank mit dem Oberst, der tanzt ja ganz nach ihrer Pfeife.«

Mißmutig schnallte er den Säbel um, stülpte die Mütze auf den kahlen Kopf und ging schimpfend die Treppe hinab. Langsam schlenderte er über den Kasernenhof dem Stalle zu und trat vor Frau Stark mit einem Gesicht, das sagen zu wollen schien: »Du kannst mir den Buckel herunterrutschen!«

Sofort fuhr sie ihn an:

»Wachtmeister, ist alles für morgen in Ordnung?«

»Ich denke, will aber heute Abend nochmals nachsehen.«

»Was, heute Abend? Sofort geschieht es, die Bummelei hat jetzt ein Ende. Außerdem verbitte ich mir Ihren brummigen Ton, sonst werde ich Sie dem Oberst melden. Bringen Sie mir jetzt mein Pferd.«

[S. 30]

»Das ist zum Fouragieren, alle Pferde sind mit ausgerückt, bis auf die beiden Lahmen dort!«

»Was? Mein Pferd zum Fouragieren? Was ist das für eine neue Frechheit! Lassen Sie es sofort holen, der Unteroffizier kann zu Fuß gehen.«

Da wandte sie sich um, als sie Schritte vernahm, und, den Oberleutnant Borgert erblickend, rief sie ihm in schmelzendem Tone zu:

»Ah, sehe ich recht, mein lieber Oberleutnant Borgert, nicht wahr? Schon so früh im Dienst? Ich wollte gerade den Pferden meines Gatten etwas Zucker bringen, sehe aber, sie sind nicht da, mein lieber Mann rückt immer so entsetzlich früh aus.«

»Ihr Interesse für die Schwadron muß ich loben, gnädigste Frau, habe Sie schon so oft bewundert, wenn Sie im Stalle Befehle erteilten.«

»Befehle? Ich richte nur dann und wann kleine Bestellungen an den Wachtmeister aus, wenn mein Mann etwas vergessen hat. Man muß sich doch auch etwas um die Schwadron kümmern.«

»Sie sind zwar die »Gefreite« Ihres Gatten, aber ich sehe, Sie führen das Regiment. Meinen Glückwunsch zu diesem Avancement!«

»O Sie kleiner Schäcker! Sie machen immer zu niedliche Scherze! Ich sehe Sie doch heute Abend im Kasino?«

[S. 31]

»Gewiß, gnädige Frau, wir haben bereits um 5 Uhr eine dienstliche Besprechung.«

»Ach richtig, das hätte ich fast vergessen. Sie wird nicht lange dauern, es gibt nur einige Kleinigkeiten.«

»Sie wissen.....«

»Aber gewiß, man interessiert sich doch auch ein wenig. Ich habe den Oberst auf Verschiedenes aufmerksam gemacht, das wird er wohl besprechen wollen.«

»Ich bin neugierig darauf! Doch da sehe ich gerade den Rittmeister König, mit welchem ich etwas zu erledigen habe. Guten Morgen, meine Gnädigste!«

»Adiö, mein Lieber, auf Wiedersehen!« Dabei hielt sie ihm die Hand vor den Mund, welche in einem schmutzigen Reithandschuh ihres Gatten steckte.

Während Frau Stark sich wieder dem Wachtmeister zuwandte, eilte Borgert dem Rittmeister König nach, der gerade in den Hof der dritten Schwadron einbog.

»Guten Morgen, Herr Rittmeister! Ich bitte sehr um Verzeihung, wenn ich störe, aber eine dringende Angelegenheit veranlaßt mich, eine Bitte vorzutragen.«

»Nanu, was gibt es denn,« fragte erstaunt der Rittmeister, »ist es denn etwas so Wichtiges?«

[S. 32]

»Heute Nachmittag wird der Oberst wohl wegen der Kasinorechnungen sprechen, und da wäre es mir vor den jüngeren Herrn außerordentlich peinlich, wenn er dabei meinen Namen nennen würde.«

»Aber ich kann Ihnen das Geld jetzt nicht geben, es war mir schon schwer, vor 8 Tagen die 100 Mark für Sie aufzutreiben.«

»Wenn ich trotzdem meine Bitte wiederhole, Herr Rittmeister, so tue ich es, weil ich mich in einer außerordentlich peinlichen Lage befinde. Habe ich nicht bis zum Abend 400 Mark, so erwachsen mir die größten Unannehmlichkeiten und unabsehbare Folgen.«

»Das ist ja alles ganz gut und schön, aber ich habe das Geld einfach nicht!« entgegnete König achselzuckend.

Einen Augenblick sahen beide schweigend vor sich hin, dann brachte Borgert zögernd hervor:

»Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte, Herr Rittmeister?«

»Nun, und der wäre?«

»Ich bitte aber das, was ich sage, nicht falsch zu verstehen! Könnte man nicht einstweilen die Schwadronskasse in Anspruch nehmen, da es sich nur um kurze Zeit handelt?«

»Aber um Gotteswillen, mein Lieber, was muten Sie mir zu! Ich kann doch keine Kasse angreifen!«

[S. 33]

»Ich fände darin insofern kein Vergehen, da Herr Rittmeister doch allein für die Kasse verantwortlich sind und ein Eingriff in die Kasse nicht vorliegt, sondern nur das Entnehmen eines Betrages, der sofort wieder ersetzt werden kann!«

»Nein, nein, das geht beim besten Willen nicht!«

»Aber ich bin völlig ratlos, Herr Rittmeister, was ich machen soll,« entgegnete Borgert in wehleidigem Tone.

König überlegte und drehte sinnend seinen Schnurrbart. Eigentlich wäre es schlau gewesen, sich diesen Mann, der mit seiner spitzen Zunge und seinem Einfluß auf das gesamte jüngere Offizierkorps unter Umständen einem sehr schaden konnte, wenn man einmal nicht mehr mit ihm stand, möglichst zu verpflichten. Die lumpigen 400 Mark lagen ja zu Hause im Schreibtisch, die hätte er ihm also ruhig geben können. Glaubte aber Borgert, das Geld entstamme der Schwadronskasse, so stand zu erwarten, er würde so bald nicht mit einem ähnlichen Anliegen kommen, wenn er die Schwierigkeiten sah und die unsauberen Wege, die man einschlagen mußte. So beschloß denn König, ihm das Geld aus eigener Tasche zu leihen, ihn jedoch in dem Glauben zu belassen, der Betrag sei der Kasse entnommen.

»Gut,« sagte er nach einer Weile, »Sie sollen [S. 34] das Geld haben! Wann können Sie es bestimmt zurückbezahlen?«

»In zehn Tagen ist alles glatt, Herr Rittmeister! Mein Wort darauf!«

»Schön, heute Mittag können Sie auf's Bureau kommen!«

»Meinen gehorsamsten Dank, Herr Rittmeister!«

»Bitte, bitte, hoffentlich war es das letzte Mal! Jetzt muß ich aber fort, die Schwadron ist schon lange draußen!«

Dabei reichte er Borgert die Hand, bestieg sein Pferd und ritt im Trabe zum Kasernenhof hinaus.

Borgert eilte erleichtert und freudigen Herzens seiner Wohnung zu, der Dienst begann heute erst um 10 Uhr. Er hätte den Mann umarmen mögen, er war doch ein furchtbar anständiger Kerl und half einem immer aus der Klemme! Zehn Tage hieß eine lange Zeit, da würde schon irgend jemand Rat schaffen!

Leimann wartete indes unruhig in Borgerts Zimmer, und als dieser jetzt freudestrahlend eintrat, wichen die Falten von seiner Stirn.

»Hat er es getan?« rief er dem Freunde entgegen.

»Natürlich, ohne Weiteres! Gehen Sie um elf Uhr auch zu ihm, Sie haben ja nur zweihundert Mark Rest von Ihrer letzten Gesellschaft her, er [S. 35] tut es glatt; was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.«

Und als am Mittag die beiden Freunde im Kasino bei einer Flasche Eckel saßen, sah man an Leimann's ausgelassener Heiterkeit, daß auch er keine Fehlbitte getan. —

tb

Pünktlich um fünf Uhr standen sämtliche Herren des Offizierkorps mit Säbel und Mütze im Lesezimmer des Kasinos, als der Oberst mit Dienstmiene eintrat und von den Schwadronschefs die Meldung entgegennahm, daß »Alles zur Stelle« sei.

»Meine Herren,« begann der Gestrenge, »ich habe Sie hierherbefohlen, um Einiges mit Ihnen zu besprechen. Ad 1. Ich möchte Sie ersuchen, bei Bällen und ähnlichen Gelegenheiten Tanzsporen zu tragen, damit unangenehme Zwischenfälle, wie vorgestern Abend, vermieden werden. Ein Herr, den ich nicht nennen will«, — dabei fixierte er scharf den Leutnant von Meckelburg — »hat nämlich mit seinen Sporen der Gattin des Herrn Rittmeisters Stark den ganzen Saum vom Kleide gerissen. Das darf nicht vorkommen, meine Herren, und ich werde künftig in ähnlichen Fällen Bestrafung eintreten lassen. Ferner ist es unter wohlerzogenen Menschen üblich, einer Dame nicht zuerst die Hand [S. 36] zu reichen. Tut es die Dame aber, dann erfordert wohl der gute Ton den in unseren Kreisen üblichen Handkuß. Daß einige von Ihnen, meine Herren, in diesem Punkt noch der Erziehung und Nachhülfe bedürfen, beweisen mir die diesbezüglichen Klagen einer Dame des Regiments.« Das bezog sich darauf, daß Leutnant Bleibtreu es kürzlich vorzog, Frau Stark gegenüber diese Höflichkeit zu unterlassen, da sie Handschuhe aus Hundeleder trug, welche noch dazu vom Regen durchnäßt waren.

Eine Träne zu Boden schleudernd, fuhr er fort:

»Ferner, meine Herren, verbiete ich Ihnen, eine andere Stadt ohne Urlaub aufzusuchen. Wer hinüber nach dem Nachbarort will, hat mich um Urlaub zu befragen, wenn der Weg auch nur ein paar Minuten weit ist. Sie wissen alle, daß zwei Herren des Regiments unter betrübenden Umständen ihren Abschied nehmen mußten, weil sie dort das Pflaster nicht vertragen konnten und Schulden in kaum glaubhafter Höhe gemacht haben.«

»Gestatten Herr Oberst eine Frage?« unterbrach ihn Rittmeister König.

»Bitte schön, Herr Rittmeister!«

»Gilt diese Bestimmung auch für die verheirateten Herren zum Besuch von Gesellschaften, Theater, Konzerten u. s. w.?«

»Natürlich, ich will über jeden von Ihnen genaue [S. 37] Kontrolle haben, wie oft er die Garnison verläßt. Zuwiderhandlungen werde ich unnachsichtlich nach dem Strafgesetzbuch bestrafen und zwar nicht als Übertretung, sondern als Nichtbefolgung eines gegebenen Befehls.«

Es entstand eine Pause, während welcher der Oberst sein Taschentuch herausholte und damit das linke Auge wischte.

Als er sich dann im Kreise umsah, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen, glaubte er in aller Gesicht Erstaunen und Empörung zu lesen.

Soweit war man nun also! Weil zwei leichtsinnige Vögel nicht Maß halten konnten, wurde das ganze Offizierkorps in diesem elenden Neste eingesperrt; die einzige Abwechslung, ein Konzert oder ein gutes Glas Bier, gehörte nun auch wie so vieles unter die Rubrik der frommen Wünsche. Denn wer hatte Lust, sich jeden Tropfen nachrechnen zu lassen, den er da drüben trank? Lieber ging man gar nicht hin. Fragte eine Dame des Regiments ihren Gatten, ob er nicht Lust habe, sie am Abend bei den Besorgungen in der Nachbarstadt zu begleiten, weil dort alles besser und billiger sei, so hieß es: Nein, ich darf nicht, ich muß erst fragen, wie ein Schuljunge seinen Lehrer, ob er einmal hinaus dürfe: Dafür bin ich Rittmeister und 15 Jahre im Dienst!

[S. 38]

So hatte denn der Oberst seiner Leistungsfähigkeit als Kommandeur und seinem Schneid ein neues Denkmal gesetzt, es fehlte jetzt nur noch, daß man um Erlaubnis bitten mußte, ein Glas Bier in der eigenen Garnison trinken zu dürfen. Aber das kam vielleicht noch später! — Daß der Oberst besonders den jüngeren Herren eine Gelegenheit gab, gegen einen Befehl zu handeln, wenn diese nach dem Dienst Vergnügungen nachgehen wollten, die sie in der Garnison nicht fanden, bedachte er nicht, er hatte ein neues Förderungsmittel der Disziplin und des militärischen Gehorsams in die Welt gesetzt. —

»Nunmehr, meine Herren,« fuhr der Oberst fort, »wollen wir zur Wahl des Kasinovorstandes schreiten, denn das laufende Jahr ist um. Sie, Herr Rittmeister Kahle, haben im vergangenen Jahre den Posten inne gehabt, und es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß die Art und Weise, wie Sie Ihres Amtes gewaltet haben, meinen vollsten Beifall gefunden hat. Wir alle, meine Herren, sind dem Herrn Rittmeister zu großem Danke verpflichtet, denn er hat unter Aufopferung des größten Teiles seiner Mußestunden alles daran gesetzt, das Kasino in die Höhe zu bringen, hat unser Vermögen vergrößert und zahlreiche sehr wohl bedachte Änderungen und Einrichtungen getroffen. [S. 39] Ich meine daher, wir können nichts Besseres tun, als Herrn Rittmeister Kahle zu bitten, das Amt zu behalten, denn es ist in unserem eigensten Interesse. Sollte aber jemand andere Vorschläge haben, dann wollen wir die Abstimmung durch Zettel vornehmen.«

Ein Beifallsgemurmel, wie es der Oberst nach seinen Worten noch nie vernommen, ging durch die Reihen, und so war denn Kahle für das weitere Geschäftsjahr als Kasinodirektor gewählt.

»Ich sehe davon ab,« setzte der Oberst noch hinzu, »die Bücher zu revidieren, denn ich bin sicher, daß ich alles in bester Ordnung finden würde. Aber noch eins, meine Herren! Es ist durchaus unstatthaft, daß die Herren Kasinorechnungen anwachsen lassen, wie es wieder der Fall ist. Die beiden Kontos mit den höchsten Beträgen sind allerdings heute bezahlt worden, aber ich werde rücksichtslos vorgehen, wenn nicht zum Ersten nächsten Monats alle Reste gedeckt sind. Richten Sie sich danach! Ich danke, meine Herren!«

Also schnell, Ihr Leutnants, hieß es nun, lauft zu einem Juden oder Wucherer und pumpt Euch Geld, denn Ihr habt alle ein paar Hundert Mark stehen, eine ratenweise Zahlung von Eurer Zulage gestattet man Euch nicht, sonst bekommt Ihr einen Klecks in die Konduite und das hängt Euch nach, [S. 40] bis Ihr alte Esel seid. Aus dem Nest hinaus dürft Ihr nun auch nicht mehr, laßt es Euch aber bei Leibe nicht einfallen, jetzt öfter im Kasino zu sitzen, dann bekommt Ihr höhere Rechnungen und werdet doch noch eingesperrt!

Inzwischen versammelten sich im Lesezimmer die Damen des Regiments und zwei Herrn vom Civil, denn jetzt kam der Hauptteil des Abends, die Vorstandswahl für den Tennisklub und die Verabredung der regelmäßigen Spieltage im Kasinogarten.

Frau König war als einzige nicht erschienen, ihr Gatte hatte sie unter einem Vorwand entschuldigt, denn jede Gelegenheit, wo sie mit den Damen des Regiments zusammen kommen konnte, mied sie nach Möglichkeit. Sie fühlte sich nicht heimisch unter ihnen; die inhaltlose, oft schrecklich langweilige Unterhaltung, welche sich meist um höchst gleichgültige Dinge drehte, war ihr ein Greuel, sie paßte auch gar nicht hinein in diese Gesellschaft und war nicht danach geartet, an einem nur auf Äußerlichkeiten und strengen Formen beruhenden Verkehr Gefallen zu finden. Ganz besonders aber war es ihr zuwider, wenn sie sah, wie man eben noch in der liebenswürdigsten Weise mit einander umging, um eine Minute später, wenn irgend einer sich empfohlen hatte, über ihn herzuziehen und kein [S. 41] gutes Haar an ihm zu lassen. Wenn sie nicht offen über alles urteilen und reden durfte — und das hätte ihr übel bekommen mögen — ließ sie es lieber ganz und blieb in ihren vier Pfählen.

Die Verhandlungen im Lesezimmer dauerten lange, jede der Damen hatte einen besonderen Wunsch, auch bedurfte es einer ausführlichen Ermunterungsrede seitens des neugewählten Vorstandes, mehrere noch zögernde Herren zum Beitritt zu bewegen. Daß die meisten von ihnen niemals zum Spiel erscheinen würden, war ja vorauszusehen — jetzt erst recht mochte keiner dem Oberst einen Gefallen tun — aber man hatte doch etwas mehr an Eintrittsgeldern.

Endlich öffneten sich die Flügeltüren zum Speisesaal, wo jetzt ein einfaches Abendessen eingenommen werden sollte. Die kreischende Stimme der Frau Oberst übertönte die Unterhaltung, in den Ecken standen einzelne Gruppen jüngerer und älterer Herren, die neuesten Bestimmungen seitens des Obersten einer scharfen Kritik unterziehend.

Die Rittmeister König und Hagemann scherzten in etwas derber Weise mit Frau Stark herum, Leutnant Pommer aber wich nicht von Frau Kahles Seite.

Nachdem die Tafel aufgehoben war, hatten die meisten Herren den lebhaften Wunsch, endlich diesem [S. 42] langweiligen Zusammensein, zu welchem man sie unter der Maske einer dienstlichen Besprechung herbeigenötigt hatte, entschlüpfen zu können. Da rief Frau Stark in den Saal hinein:

»Wie wäre es, Herr Oberst, wenn wir die Gelegenheit benutzten und ein kleines Tänzchen arrangierten? Es hat doch wohl niemand von den Herrschaften etwas vor? Ich fände es reizend, entzückend!«

Der Oberst besann sich einen Augenblick, dann erklärte er sich sofort mit Freuden bereit, denn ein Wunsch der Frau Stark hieß ein Befehl.

Die Herren waren wütend. So ein Blödsinn, bei der Hitze zu tanzen, es war doch viel vernünftiger, auf der Veranda in Ruhe ein Glas Bier zu trinken! Leutnant Specht aber ärgerte sich besonders, denn er wollte um zehn Uhr sein Verhältnis an der Bahn abholen. Er machte seinem Unmut Lust, indem er sich an Borgert wandte:

»Die alte Schraube ist verrückt mit ihrer Tanzerei, wir wollen sie aber heute bewegen, bis ihr der Schaum auf dem Buckel steht!«

Während der Saal ausgeräumt und zum Tanzen hergerichtet wurde, unternahm man eine kleine Promenade im Garten.

Der Halbmond leuchtete schwach vom Horizont [S. 43] herüber und ließ die Türme und Häuser der Stadt als nebelhafte Silhouetten erscheinen. In dem jungen Grün der Büsche klagte eine Nachtigall ihr Lied in die milde Luft hinein, während vom Saal her das Stimmen der Geigen dazwischen klang. Aus der Stadt tönten einige vom Winde oft jäh unterbrochene Akkorde einer Karoussellorgel durch den stillen Abend, dessen wohlige Ruhe ganz danach angetan war, den Menschen elegisch, träumerisch zu stimmen.

Oberleutnant Borgert gab indes einer Anzahl jüngerer Herren eine Gratisvorstellung auf dem Tennisplatz, indem er treffend Frau Stark nachahmte, wie sie die Bälle schlug und aufhob, und die Herren hielten sich den Bauch vor Lachen, so vorzüglich verstand der Oberleutnant seine improvisierte Rolle. Er beschloß erst sein Spiel, als er ganz drüben am Gartenrand ein weißes Kleid durch das Blattgrün schimmern sah.

Wer war das? So allein? Er mußte hinschleichen und die Ohren spitzen, vielleicht gab es da wieder etwas Interessantes.

Vorsichtig und geräuschlos huschte er über den Rasenteppich und versteckte sich hinter einem Fliederbusch. Wenige Schritte vor ihm stand Leutnant Pommer, welcher seinen Arm um Frau Kahles Taille gelegt hatte und eifrig leise auf sie einsprach. [S. 44] Schade, daß sie so flüsterten, aber verstehen konnte man doch manchmal einen Satz.

»Was macht es denn, Grete! Wenn er dich so behandelt, hast du ein Recht, dich schadlos zu halten. Er ist außerdem viel zu taperig, etwas zu merken! Und wenn du wüßtest, wie lieb, wie unendlich lieb ich dich habe!«

»Wenn du mich wirklich lieb hast, dann will ich nicht nein sagen, ich möchte so gern einmal wieder glücklich sein!«

Da umschlang der dicke Leutnant das kleine Persönchen mit seinen ungelenken Armen und küßte sie stürmisch auf Mund und Augen. Sie aber entwand sich ihm und huschte wie ein Reh über den Rasen dem Kasino zu, aus dessen weit geöffneten Fenstern jetzt der Walzer »Über den Wellen« in die Mainacht hinausklang. Pommer schlich auf der anderen Seite herum dem Hauptportal zu, auf daß man nichts merken sollte. Dann verließ auch Borgert sehr befriedigt seinen ehrenhaften Posten.

Im Saal ging es flott her. Am meisten tanzte Frau Stark, sie flog von einem Arm in den anderen und schwitzte dabei wie ein Soldat im Laufschritt. Besonders Leutnant von Meckelburg wurde immer wieder als Opfer vorgedrängt, er tanzte aber entsetzlich schlecht und konnte nicht in Takt kommen. [S. 45] Wenn die dicke Dame den kleinen Baron mit ihren prallen Armen gegen den gewaltigen Busen drückte, verschwand er fast ganz in den Falten des schwarz und gelben Kleides.

Schließlich konnte sie nicht mehr und ließ sich pustend in einen Sessel fallen, dabei fuhr sie mit dem Rücken der Hand über die Stirn, auf welcher erbsengroße Schweißperlen leuchteten. —

Leutnant Specht vergnügte sich auf seine Weise und tanzte mit vorgedrückten Knien, wie man es in den Amorsälen sieht.

Borgert stand in einer Ecke halb über Frau Leimann gebeugt, welche ermüdet auf einem Stuhle saß und sich Kühlung mit dem Taschentuch fächelte. Der Blick des Oberleutnants ruhte auf der Stelle, wo das Weiß des zarten Busens durch die Stickerei des Halsausschnittes leuchtete, und er sog mit gierigem Behagen den Duft ein, welcher dem jugendlich schönen Körper entströmte.

Im Lesezimmer füllten Ordonnanzen die schon oft geleerten Gläser mit kühler Maibowle, während eine Anzahl Herren um den runden Tisch herum saßen, einen Pfennigskat spielend.

Leutnant Specht benutzte den nächsten Walzer, sich französisch zu empfehlen, es war die höchste Zeit zum Zuge, und, da es zu spät zum Umziehen war, holte er seine Dame in Uniform ab. Sie [S. 46] trug drei kleine Packete mit Eßwaren, welche sie aus ihrer Tasche zur Führung des Haushaltes gekauft hatte.

In der Sophaecke saß gedankenvoll der Leutnant Bleibtreu. Er rauchte bedächtig seine Cigarre und hörte nur mit halbem Ohre den witzelnden Reden der Skatspieler zu. Er war nicht besonders guter Laune, denn es tat ihm leid, daß Frau König, die einzige Dame, mit welcher er sich gut unterhielt, nicht anwesend war; dann schweiften seine Gedanken nach der Heimat, wo jetzt die Wälder in ihrer jungfräulichen Sommerpracht standen und wo er so manche schöne Stunde verbracht hatte in den Armen der Natur und mit Menschen, die ihn liebten.

Wie ganz anders schien es doch hier! Lauter Menschen, denen man innerlich nie recht nahe kam, deren Interesse meist nur äußerlichen Dingen und Vergnügungen oft zweifelhafter Art gewidmet war. Zwar hatte man hier den Dienst, den man liebte, aber er genügte nicht, um einen Menschen zu befriedigen, dessen Lebensbedürfnisse nicht so eng begrenzt waren, wie die der meisten Kameraden. Nun sollte man noch jahrelang in dieser Umgebung leben, dazu fern von allem, was eine Abwechslung bot in dem ewigen Einerlei des Dienstes, unter Menschen, mit denen man im Verkehr nie über die Äußerlichkeiten des guten Tons hinauskam und die stets auf [S. 47] der Lauer lagen, wo sie aus den Schwächen ihres Nächsten Kapital zu schlagen vermochten.

Und das war Kameradschaft, die im deutschen Heere so viel gepriesene Kameradschaft!

Ein Zusammenleben unter gleichen Lebensbedingungen, der Zwang, mit einander leben und auskommen zu müssen, sich gegenseitig mit äußeren guten Formen bedienen und gemeinsam beim Dienst, im Kasino und zu allen möglichen Veranstaltungen zu erscheinen, das war es, was man unter Kameradschaft verstand.

Wo aber blieb das innerliche Sichanschließen, das gegenseitig Ineinanderaufgehen und das Bestreben des einzelnen, seinem Nächsten nur helfend und fördernd, nie aber mißgünstig und übelwollend zu begegnen? In diesem Punkte sank das schöne deutsche Wort zu einer leeren Phrase herab!

Gewiß gab es Fälle, wo Angehörige eines Offizierkorps sich auch wirklich innerlich verbrüderten, wo eine treue, zu jedem Opfer fähige Freundschaft die Herzen verband, aber zwei solche Kameraden im echten Sinne des Wortes waren ja so selten, eine so außergewöhnliche Erscheinung! Ging es einem gut und hatte man nichts verbrochen, so war man allen gut Freund, d. h. der Verkehr mit den Kameraden bewegte sich in liebenswürdigen Formen, man prostete sich zu, man scherzte, trank, vergnügte [S. 48] sich zusammen und erwies sich Gefälligkeiten, welche für den, der sie leistete, meist kein Risiko, keine Unannehmlichkeit, kein Opfer bedeuteten. Aber die Kameradschaft als solche fordert weit mehr! Befindet sich ein Kamerad auf schiefer Bahn, beweist er, daß es ihm hier und dort noch fehlt und kehrt er Seiten heraus, die anderen peinlich, unangenehm werden, oder hat er aus Unverstand, Unkenntnis, mangelnder Erziehung etwas Falsches, Tadelnswertes begangen, so weist man ihn höchstens, wenn es überhaupt geschieht, in schroffer Form auf seine Fehler hin, anstatt in liebevoller, freundschaftlicher Weise bemüht zu sein, die Schwächen seines Nächsten zu heilen, seine Eigenheiten zu berücksichtigen, seine Fehler mit den eigenen zu vergleichen, ja, man läßt ihn links liegen und behandelt ihn wie einen Menschen, der wenig oder gar nichts taugt und eben nicht »hineingehört«; nur dann drückt man ein Auge zu, wenn von dem Sünder noch ein Vorteil zu erwarten steht oder wenn er sich durch andere Verdienste und Leistungen besonders beliebt gemacht hat.

Wieviel besser war doch ein Civilist daran! Fand er keinen wahren Freund, so lebte er für sich, ohne gezwungen zu sein, bei allen Mahlzeiten und sonstigen Gelegenheiten mit Menschen zusammen zu sein, denen man innerlich fremd blieb.

[S. 49]

Im Dienst ist das eine andere Sache.

Solche Gedanken beschäftigten Bleibtreu, als Rittmeister König aus dem Saale kam und sich neben ihm auf dem Sopha niederließ.

»Das nennt der Mensch nun ein Vergnügen!« brummte er. »Wahrscheinlich wird man uns noch öfter mit solchen Festen langweilen, um uns zu ersetzen, daß wir nicht mehr nach der Stadt hinüber dürfen. Meine Frau wird schöne Augen machen, wenn ich ihr das erzähle!«

»Ich muß auch sagen, Herr Rittmeister, daß ich die heutige Verordnung haarsträubend finde,« stimmte Bleibtreu zu. »Hätte es der Oberst den Leutnants allein verboten, so wäre es hart und dabei noch ungeschickt, aber den Verheirateten gegenüber ist es eine tolle Bevormundung und eine beispiellose Rücksichtslosigkeit. Er fährt natürlich, so oft er Lust hat!«

»Solche Feste wie heute möchten ja noch angehen, wenn sie im allgemeinen Einverständnis oder auf vorherige Verabredung hin veranstaltet würden, aber nein, Madame Stark befiehlt und wir gehorchen! Denn es sollte einer kommen und sagen, er hätte etwas anderes vor, der Oberst würde ihn morgen ganz gehörig zurechtstutzen. Sie haben ja wieder ein kleines Exempel gehabt.«

»Nicht einmal trinken kann man, was man will,« fuhr der Rittmeister fort, »der Oberst braut einfach eine [S. 50] Bowle und wir bezahlen. Die kostet heute doch mindestens sechs Mark pro Mann. Er kann ja gar nicht wissen, ob ich nicht vielleicht nur für eine Mark trinken will, vielleicht Bier oder Selterswasser! Hinterher aber stellt er sich hin und raisonniert über die Kasinoschulden!«

»Sie haben recht, es wäre manchem dienlicher, wenn er etwas sparsamer lebte, z. B. diesem Borgert und wie sie alle heißen. Es ist traurig, daß unter den sämtlichen Herren noch nicht der dritte Teil zu rechnen versteht,« erwiderte Bleibtreu.

»Ja ja,« sagte König, »aber das ist einer der Krebsschäden unseres Standes. Es ist ja kaum glaublich, wie viele Offiziere alljährlich wegen Schulden um die Ecke gehen. Und wie kommt das? Warum können junge Leute in anderen Stellungen vernünftiger wirtschaften? Erstens, weil sie nicht gezwungen sind, mit Leuten zusammen zu leben, die in besseren Verhältnissen sind. Hat einer kein Geld, dann lebt er nach seinem Gusto und fühlt sich schließlich ganz wohl dabei. Aber im Kasino sitzt der Kapitalist neben dem armen Schlucker. Es ist leicht gesagt, die Reichen im Offizierkorps sollen ihre Lebensweise den Mitteln der ärmeren Kameraden anpassen. Ich kann aber doch unmöglich verlangen, daß ein Millionär zum Essen Wasser trinkt und auf eine elegante Wohnung oder schöne Pferde [S. 51] verzichtet, lediglich, um einen Kameraden mit fünfzig Mark monatlichem Zuschuß nicht zum Mittun zu verführen! Auf die Dauer gefällt dem Unbemittelten sein bescheidenes Dasein nicht mehr, wenn er sieht, wie besser gestellte Kameraden in Saus und Braus dahinleben, und das Ende: er macht eben mit. Geld braucht er nicht gleich, auf seinen bunten Kragen hin borgt man ihm, so viel er will. Geht es aber ans Zahlen, dann ist das Elend groß. Findet sich nicht ein rettender Engel in Gestalt eines Juden oder dergleichen, so geht er einfach über die Höhe. Und bei den Versuchen, Geld zu erlangen, kommt es oft zu unsauberen Machinationen. Vielleicht scharrt der Vater noch seine letzten Groschen zusammen und gewöhnt sich die Abendcigarre ab, um den Jungen über Wasser zu halten. Und gelingt es dem jungen Offizier wirklich, aus der Klemme herauszukommen, so fängt er bald von Neuem an in dem schönen Vertrauen, daß sich auch das nächste Mal eine offene Hand finden werde.«

»Dagegen läßt sich aber doch kaum etwas machen, jeder ist eben für sich selbst verantwortlich,« entgegnete Bleibtreu.

»Nichts machen ließe sich da?« rief der Rittmeister. »Ei gewiß. Man braucht nur ein Gesetz aufzustellen, etwa dahin lautend, daß die Schulden des Offiziers bis zum Rittmeister ausschließlich nicht einklagbar sind. [S. 52] Dann werden sich die Kaufleute schon vorsehen und nicht mehr ins Blaue hinein einem Leutnant von dreiundzwanzig Jahren borgen, dessen Verhältnisse sie gar nicht kennen. Einem Civilisten, der vielleicht dreimal so viel Geld hat, wie jener, borgt man nicht für hundert Mark, wenn man nicht genau weiß, wer und was er ist, wie er steht usw., aber an den Offizier drängen sich die Geschäftsleute geradezu heran, weil sie wissen, sie bekommen ihr Geld in den meisten Fällen, weil es sonst dem Schuldner an den Kragen geht.«

»Ich meine, es ist überhaupt die ganze Sonderstellung des Offiziers, die ihn zu einem kostspieligen Leben veranlaßt. Man sollte daher wenig Bemittelte einfach ausschließen,« versetzte Leutnant Bleibtreu.

»Das wäre übertrieben, aber energische Schritte sollte man tun gegen solches Luxustreiben,« fuhr König fort. »Es ist schön und wohlgemeint, wenn man verordnet: »je mehr Luxus und Wohlleben um sich greifen, umso mehr soll der Offizier auf eine einfache Lebensweise bedacht sein.« Das ist ein frommer Wunsch, man wird es aber niemals tun, wenn man bei anderen Klassen ein gesteigertes Wohlleben bemerkt, denn der Offizier hält sich rücksichtlich seiner bevorzugten gesellschaftlichen Stellung für verpflichtet, wie kein anderer, diesen Luxus wenigstens mitzumachen, wenn nicht gar zu übertreffen. Er hält sich eben für [S. 53] mehr wie andere, und der Leutnant sieht oft mit Verachtung, mindestens aber mit einem bedauernden Lächeln auf die herab, die sich durch ihrer Hände Arbeit oder durch geistiges Schaffen der Welt nützlich machen. Dieser Dünkel ist der Fluch unseres Standes und geeignet, Volk und Offizierkorps immer mehr von einander zu entfernen, während das Gegenteil zu wünschen ist, denn das Volk muß seinen männlichen Nachwuchs dem Offizierkorps zur Erziehung in die Hände geben. Wenn aber das Vertrauen zu ihm mehr und mehr schwindet, dann wird auch die Lust am Soldatsein, die damit Hand in Hand gehende Vaterlandsliebe, allmählich getötet. Man sollte den Offizier mehr geistig beschäftigen und ihm zeigen, was ihm in Vergleich zu anderen Ständen fehlt, und welchen Nutzen diese für den Staat bedeuten. Dann würde er die ihm von niemand streitig gemachten Prärogative und Privilegien dankbar anerkennen lernen, statt in ihnen einen Grund zur Selbstüberhebung zu erblicken.

Und in dieser haben noch andere Mängel ihren Ursprung. Sie ist schuld daran, daß so viele Offiziere in dem gemeinen Soldaten nicht den zukünftigen Vaterlandsverteidiger und Kameraden sehen, den sie fördern sollen, sondern nur den Gegenstand zahlreicher Mühen und reichlichen Ärgers. —

Und damit wird ein neues Übel in die Welt [S. 54] gesetzt. Der junge zwanzigjährige Mann fühlt mit innerem Mißbehagen diese Entfremdung von seinem Vorgesetzten. Er verliert allmählich die Lust an seinem bunten Rock, besonders, wenn die Vorgesetzten noch mit übertriebenen Anforderungen an ihn herantreten oder Ungerechtigkeit in der Behandlung walten lassen. Solange der Soldat unter dem Druck des Militarismus steht, wird er sich schwer hüten, seinen Ansichten Ausdruck zu verleihen, ist er aber der militärischen Fesseln los und ledig, wird sich meist sein vielleicht vorhandener Hang zum Sozialismus umso kräftiger entfalten, nach den Erfahrungen, die er in seiner Dienstzeit gemacht. Und das ist schlimm, wenn ein Hauptmittel zur Bekämpfung des in riesigem Wachsen begriffenen Sozialismus, nämlich die Dienstzeit der noch einer Beeinflußung und Belehrung zugänglichen jungen Leute, in ein Förderungsmittel umschlägt, und das tut es, solange man aus dem Offizierkorps heraus derartige Vorbilder als militärische Erzieher wirken läßt.«

»Sollten das alles nicht nur vorübergehende Erscheinungen sein, an denen der Offizierstand krankt?« warf Bleibtreu ein.

»Nein, das ist gerade das Traurige, es sind fest eingewurzelte Krebsschäden. Aber selbst diese könnten eingedämmt oder ganz und gar vernichtet werden, wenn man sich mit allem Ernst der Sache [S. 55] annehmen wollte, statt sich in dem Dünkel zu wiegen, daß ein deutsches Offizierkorps oben an stehe und keiner Reform bedürfe. Noch ist es Zeit zu retten, denn jene Mißstände haben noch keine Form angenommen, die eine Unterdrückung unmöglich macht, noch haben wir trotz aller Übel vortreffliche Leistungen zu verzeichnen, und der Ruf unseres Heeres im Ausland ist ein glänzender. Aber Eile tut not, man soll das Eisen schmieden, solange es warm ist. Eine Armee ist eben zum Kriegführen da, und deshalb muß sie unter einem dreißigjährigen Frieden leiden. Aber wir brauchen keinen Krieg, um jene Übel zu töten, sondern Männer mit Umsicht und einem klaren Kopf, die offen eingestehen, daß etwas faul ist im Staate Dänemark.«

König hatte sich ordentlich warm geredet. Er tat einen tiefen Zug aus dem Bierglase, das ihm soeben eine Ordonnanz gereicht, er hatte nämlich dem Oberst zum Trotz auf die Bowle verzichtet. Es war ihm Bedürfnis, sich ab und zu alles von der Leber herunter zu reden, was ihn bedrückte, und war das geschehen, so fühlte er sich wohl und frei.

Borgert hatte in der Nähe gestanden und den Ausführungen des Rittmeisters aufmerksam gelauscht, denn wenn zwei etwas zu reden hatten, fehlte er nie im Hintergrunde. Im Stillen lächelte er über [S. 56] diese beiden Grübler, welche offenbar die Vorteile, die sich ihnen boten, nicht zu würdigen verstanden. Warum dachten sie nicht wie er? Das Leben genießen, wie es kommt, und die Feste feiern, wie sie fallen! Das war sein Standpunkt, und deshalb schmeckte ihm der unbezahlte Sekt so gut! Er fühlte sich ganz wohl in diesem kleinen Nest, denn hier gab es mitunter ein kleines Skandälchen, das ihm in der früheren Garnison so sehr gefehlt. Als man aber seine Vorliebe für solche Art von Abwechslung entdeckt, schickte man ihn an die Grenze, wo er sich austoben konnte zu Nutz und Frommen seiner Kameraden.

Mit halbgeschlossenen Augen und überlegener Miene stand er an den Türpfosten gelehnt, als er sich plötzlich aufmerksam umsah.

Wo war denn der dicke Pommer? Er hatte ihn doch noch eben ziemlich betrunken zwischen den Damen herumstolpern sehen, jetzt war er fort. Und Frau Kahle? Richtig! Auch weg. Schnell auf die Suche also, vielleicht konnte er noch ein neckisches Schauspiel erleben.

So schlich er denn hinaus in den Garten, nachdem er die Cigarre zur Seite gelegt, damit sie ihn nicht verraten solle. Der Mond hatte sich diskret hinter dem Horizont versteckt, um nicht mit anzusehen, was da unten hinter den Büschen vor sich [S. 57] ging, nur matt erleuchteten seine Strahlen eine Wolkenschicht, welche über seinem Versteck schwebte.

Und richtig! dort saßen sie, eng aneinander geschmiegt, auf der schmalen Holzbank an der Gartenmauer. Die Nachtigall sang noch immer, nur etwas weiter in der Ferne. Pommer sprach konfuse Worte, ohne sich sonderlich Mühe zu geben, nicht laut zu sein, Frau Kahle lehnte mit dem Kopf an seiner Schulter und lauschte den Tönen der Liebe, die ihr Ohr seit dem ersten Jahre der Ehe nicht mehr vernommen. Ab und zu küßte der Leutnant schmatzend die kleinen Hände und den Mund der jungen Frau. Sein rechter Arm umschlang fest die zierliche Taille, und die große Hand ruhte auf ihrem wogenden Busen.

»Siehst du, Grete, geliebte Grete, du mußt dich freimachen von diesem Mann, er ist ein Tyrann, hat kein Gefühl und ist auch viel zu groß für dich!«

»Er ist ein guter Kerl, aber er versteht mich nicht! Ich muß jemand haben, der mich versteht und wirklich liebt. Ich will dir das Leben so schön machen, wenn du müde vom Dienst nach Hause kommst und du sollst es so gut haben!«

»Wie ich dich lieb habe, du kleiner, süßer Racker!«

»Ich dich auch, Hans! Und denke nur, das hat mich furchtbar gekränkt, mein Mann hat das [S. 58] ganze vorige Jahr mit der Frau vom Amtsrichter herumgeliebelt, die doch dazu gar nicht schön und schon ziemlich alt ist. Kürzlich ist er sogar der alten Hebamme nachgelaufen, die er nicht erkannte, weil sie ein Tuch um den Kopf trug. Sie hat ihn mit ins Haus gelockt und dann ganz ruhig ihr Tuch abgenommen. Dann sagte sie: »So, Herr Rittmeister, das werde ich Ihrer Frau erzählen, was Sie für ein Bürschchen sind!« Und sie hat es mir erzählt.«

»Das kannst du dir nicht gefallen lassen, Grete, das würde ich nie tun!« Dabei umschlang er sie mit sinnlichem Verlangen so fest, daß sie leise aufschrie.

Da tönte laut der Name des Offiziers vom Kasino herüber, man verlangte nach ihm.

Aus Furcht, auf seinem Ehrenposten gesehen zu werden, wenn das Paar sich jetzt erhob, schritt Borgert auf die beiden zu und sagte, als er vor dem verdutzten Liebespärchen stand:

»O Gott, bin ich erschrocken! Aber pardon, ich will nicht stören!« Dabei zog er sich schnell wieder zurück und eilte ins Kasino. Keiner ahnte natürlich, warum die vorher so gelangweilte Miene des Oberleutnants jetzt einen so pfiffigen, lächelnden Ausdruck zeigte. Jetzt wußte er genug und konnte sich noch ein Weilchen dem Tanze hingeben, es war doch gar zu schön, so ein reizendes Weib wie diese Leimann [S. 59] im Arm zu haben! Die wäre wohl noch eine Sünde wert gewesen!

Das Fest währte jetzt nicht mehr lange. Die Damen waren müde, besonders Frau Stark war halb zu Tode getanzt worden. Selbst Frau Oberst hatte genug und schwieg, was bei ihr als Seltenheit galt. Frau Leimann aber klagte plötzlich über Kopfweh und bat Borgert, sie nach Hause zu bringen, da ihren Gatten das heulende Elend, wie oft nach einer Bowle, gepackt hatte und er schluchzend im Garten umherstolperte.

Die Herren hatte fast alle der frische Maitrank überwältigt, und sie waren unangenehm laut, einige auch recht derb in ihren Scherzen geworden. Es war also Zeit, sich zu trennen, und so bestieg man die am Kasinotor seit zwei Stunden wartenden Krümperwagen. Die Kutscher mußten erst mit einigen Kosenamen und Püffen geweckt werden, sie waren müde von der anstrengenden Felddienstübung am Vormittag.

tb

Am nächsten Morgen um zehn Uhr lag der dicke Pommer noch in den Federn. Er hatte den Dienst verschlafen, und da es nun doch zu spät war, drehte er sich noch einmal um und schnarchte weiter.

Als er um elf Uhr erwachte, sah er erst blöde [S. 60] vor sich hin, dann fuhr die Rechte, die noch vor wenigen Stunden Frau Grete's Hand gedrückt, in das wirre Haar.

Donnerwetter, was brummte ihm der Schädel! Was war denn los gewesen? Ach richtig, die verdammte Bowle gestern Abend!

Aber da war noch etwas! Ein weißes Kleid flocht sich in der Erinnerung an den gestrigen Abend, und allmählich stand ihm verschwommen wieder alles vor Augen, was sich zugetragen. Er sah nach der Uhr. Was, schon elf vorbei?

Mühsam und keuchend kroch er aus dem Bett und in die Hosen hinein, dann machte er etwas Toilette. Es war ihm alles gleich heute, sein Kopf schmerzte ihn zu sehr, und dabei immer der Gedanke an das Ereignis von gestern! Es war unerträglich! Mißmutig ließ er sich auf einen Stuhl nieder, und als der Bursche vom Kaffeebrett den Löffel fallen ließ, fuhr er ihn wütend an:

»Dummes Schwein, mache nicht so einen Radau, sonst fliegst du vor die Tür.«

Pommer versuchte sich ganz genau die Ereignisse des gestrigen Tages vor Augen zu führen, und je mehr sie ihm ins Gedächtnis zurückkehrten, umso größer ward sein Entsetzen über seine Handlungsweise.

Was hatte er getan! Die Frau eines Kameraden [S. 61] verführen wollen, er, dessen Ansichten und Grundsätze sonst so streng waren, der doch fast als einziger bei den Kameraden etwas galt, wenn er ihnen schonungslos den Kopf zurechtsetzte, denn jedermann wußte, er redete nicht nur, sondern lebte auch nach dem, was er anderen predigte.

Sein früheres Leben ließ er an seinem Geiste vorüber ziehen. War da irgend ein schwarzer Punkt, ein Makel zu finden? Nein, rein und fleckenlos lag die Vergangenheit hinter ihm, und jetzt, nachdem er die Klippe der leichtsinnigen Jugendjahre unversehrt überwunden, lud er eine so schwere Schuld auf sich, er betrog einen Kameraden mit seiner Frau! Pfui!

Aber hatte sie ihm nicht selbst gesagt, daß sie unglücklich sei, von ihrem Gatten schlecht behandelt werde, sodaß sein Tun als entschuldbar, vielleicht sogar edel erscheinen durfte?

Nein und abermals nein, er hatte gefehlt, schwer gesündigt an dem Heiligsten, was ein Mann sein Eigen nennt.

Die ehrenhafte Gesinnung des Offiziers lag in hartem Kampfe mit ihm selbst, er zweifelte an der Lauterkeit seiner Gesinnung, und diese Qualen waren ihm eine Folter.

Das Blut stieg ihm zu Kopfe, es tanzte ihm vor den Augen, sterben hätte er mögen, nur schnell [S. 62] sterben, nachdem er so die Moral mit Füßen getreten und sein Gewissen mit einem Fluch belastet hatte, der ewig auf ihm ruhen mußte.

Aber wie hatte es nur kommen können, daß er sich so vergaß?

Der verdammte Sektfrühschoppen mit dem leichtsinnigen Saufaus, dem Borgert, und dann das schwere Türkenblut, das Müller zum Essen spendierte, weil er eine Wette verloren, und dann die unselige Maibowle am Abend, das alles hatte ihm, der selten ein Glas Wein zu trinken pflegte, den klaren Verstand geraubt! Die gemeinen Kerle, die das merkten und ihm immer mehr zu trinken gegeben hatten, wahrscheinlich weil er sie in der Trunkenheit amüsierte!

Freilich mochte er die kleine zierliche Frau gern leiden, sie war so ganz nach seinem Geschmack, niedlich, mollig und zutunlich. Oft verlieben sich große, starke Männer in kleine Frauen. Aber so etwas wie gestern war ihm doch nie in den Sinn gekommen, es war ihm unerklärlich. Er mußte hingehen und tausendmal um Verzeihung bitten, rückhaltlos seine Sünde eingestehen, das konnte seine Schuld etwas mindern, wenn auch nicht tilgen.

Da klopfte es an der Tür. Als wenn der Rachegeist schon selbst erscheinen müsse, fuhr der gequälte Mann zusammen und ließ ein dumpfes »Herein« ertönen.

[S. 63]

Oberleutnant Borgert trat über die Schwelle, den Helm in der Hand. Er schien etwas erstaunt, den Kameraden in diesem Zustande vorzufinden, dann aber nahm er ihn scharf ins Auge und sagte:

»Verzeihung, wenn ich störe, aber eine peinliche Angelegenheit veranlaßt mich, mit Ihnen zu reden.«

»Dienstlich oder privat?« brummte Pommer.

»Beides, wie Sie wollen,« antwortete Borgert dreist.

»Für Privatsachen bin ich jetzt nicht in Stimmung. Bitte lassen Sie uns den Fall ein andermal besprechen.«

»Bedaure sehr, ich wünsche den Fall jetzt zu erledigen. Sie wissen wohl, daß ich als Dienstälterer das Recht habe, Sie wegen einer Angelegenheit zur Rede zu stellen, wenn ich es für nötig halte.«

Pommer besann sich einen Augenblick. Er, der vor seiner Offizierslaufbahn drei Jahre die Universität besucht und dann in großen Bankhäusern tätig gewesen war, der das Leben von der ernstesten Seite kennen gelernt und die doppelte Erfahrung besaß, wie die meisten seiner Altersgenossen, er sollte sich von einem Menschen zur Rede stellen lassen, der nichts als trinken, schimpfen und Geld ausgeben konnte, der im Dienst eine Null war? Und zu dieser Handlungsweise war jener berechtigt, sie war dienstlich sanktioniert?

[S. 64]

Richtig, ja, es war so, jetzt fiel es ihm ein, daß er schon früher einmal über diese widersinnige Bestimmung nachgedacht und überlegt hatte, wie sehr jenes Recht gemißbraucht werden könnte, wenn es einem nur daran lag, einem jüngeren Kameraden ordentlich eins auszuwischen, ohne daß dieser sich wehren konnte. Alle durften sich also einem Jüngerem gegenüber jederzeit als Vorgesetzte aufspielen, wenn es ihnen eine Laune eingab! Wirklich großartig!! —

Ein spöttisches, grimmiges Lächeln ging über Pommers blasses Gesicht, dann antwortete er mit fester Stimme:

»Bitte, was steht zu Diensten?«

»Der Zufall führte mich gestern Abend in den Garten, wo ich etwas sah, das ich mir noch nicht erklären kann. Sie haben......«

»Jawohl, ich habe eine Dame, die Gattin des Rittmeisters Kahle geküßt, ihr von Liebe gesprochen u. s. w., das weiß ich.«

»Darf ich Sie um eine Erklärung bitten, wie Sie dazu kommen?«

»Ich war betrunken, sonst wäre es nicht vorgekommen!«

»Nun, Ihre Erklärung klingt ja ganz kurz und einfach, warum betrinken Sie sich, wenn Sie es [S. 65] nicht vertragen können und so wenig Herr Ihrer Handlungen bleiben?«

»Daß ich betrunken war, ist nicht nur meine Schuld, in erster Linie mußten andere.....«

Borgert schnitt ihm das Wort ab, um nichts zu hören, was ihn als Vorwurf treffen konnte. Mit ironischer Miene fiel er ein:

»Sie scheinen sich über die Schwere Ihrer Handlungsweise nicht ganz im Klaren zu sein, deshalb möchte ich Sie nochmals darauf hinweisen!«

»Ihrer Belehrung darüber bedarf ich nicht, ich weiß selbst, was ich......«

»Pardon, ich rede wohl, mein Verehrter, ich gestatte Ihnen nicht, mich zu korrigieren, denn ich bin gekommen, Sie zu korrigieren!«

Pommer wollte auffahren, aber die kalten Augen und der entschiedene, schneidende Tonfall der Worte des Oberleutnants geboten ihm Schweigen.

»Was Sie da getan haben, ist das schwerste Vergehen gegen die Kameradschaft, welches ich mir denken kann. Die Frau eines Kameraden anfassen, heißt einen Treubruch, fast ein Verbrechen begehen, welches mit Recht eine schwere Sühne fordert. Bedenken Sie nur, was Sie tun würden, wenn Sie Ihre Gattin in den Armen eines anderen fänden, ich glaube, Sie würden ihn sofort umbringen oder wenigstens nachher zum Zweikampf auf Leben und Tod [S. 66] herausfordern. Sie aber haben sich an einer verheirateten Frau vergriffen, an einem Etwas, das uns ein Nolimetangere, ein Heiligtum sein soll! Schon ein Händedruck, ein Blick kann zum Ehebruch werden, allein der geheime Wunsch, die Frau eines anderen zu besitzen, zu küssen! Können Sie dem Manne jetzt noch ehrlich ins Gesicht sehen, nachdem Sie ihn so hintergangen und betrogen haben? Ich könnte es nicht! Ich würde vor ihn treten, meine Sünde freiwillig eingestehen und ihm Genugtuung geben. Nie hätte ich von Ihnen geglaubt, daß Sie einer solchen Handlungsweise fähig wären, schämen Sie sich bis in den Grund Ihrer Seele! — Ich will Sie nun nicht ins Unglück stürzen und den Fall nicht weiter verbreiten, denn sonst dürften Sie verloren sein. Abgesehen von Ihrer Stellung würde Ihr Leben auf dem Spiele stehen. Ich erwarte aber von Ihnen, daß Sie noch heute der Dame einen Besuch machen, um Verzeihung bitten und sich vergegenwärtigen, was ich für Sie getan habe!«

Borgert reckte sich siegesgewiß in die Höhe und mit überlegenem Blick schaute er auf den armen Pommer herab, dessen erst widerwillige Miene allmählich den Ausdruck stiller Ergebenheit, eines großen Schuldbewußtseins angenommen hatte. Immer mehr war der große starke Mann auf seinem Stuhl zusammengesunken [S. 67] und sein leerer Blick starrte wie leblos zu Boden.

Zwei dicke Tränen blinkten ihm im Auge, der Mann weinte. Tat er es, weil seine Schuld ihm so schwer auf dem Gewissen lag, oder weil er vielleicht gar noch vor die Pistole des betrogenen Gatten treten mußte? Nein, gefehlt hatte er nun einmal, und er war Manns genug, die Folgen zu tragen. Feige war er nicht.

Aber er schämte sich! Und das Gefühl der Scham ist es, welches den Mann am meisten vor sich selbst erniedrigt.

Zugleich stieg ein warmes Gefühl der Dankbarkeit in ihm auf gegen den, welcher Zeuge seines Verbrechens gewesen, ihn aber jetzt, statt ihn der Kugel des Betrogenen zu überantworten, großmütig auf seinen Fehler hinwies. Und es war recht gewesen, was er gesagt hatte!

Da erhob sich der Offizier und reichte Borgert stumm die Hand, ihm fest ins Auge blickend. Borgert's Auge aber wich scheu nach der Seite und der Oberleutnant sagte gütig:

»Nun, trösten Sie sich nur! Machen Sie die Sache wieder gut und nehmen Sie sich künftig in Acht!«

»Ich danke Ihnen«, brachte Pommer mit tränenerstickter Stimme hervor. »Ich habe Ihr Wort, daß die Sache unter uns bleibt? Es ist nicht [S. 68] meinetwegen, aber der Dame soll man nichts nachsagen können:«

»Sie haben mein Wort, ich schweige!«

Und als er jetzt dem Oberleutnant mit dankerfüllten Blicken nachschaute, während er ihn verließ, glaubte er, über die Schwelle schritte ein Freund, dem er sein Leben danken müsse! —

Der großmütige Held war recht befriedigt von seiner Mission. Das war so ganz ein Fall nach seinem Geschmack! Zu riskieren gab es nichts dabei, im Gegenteil, er spielte die Rolle eines guten, rettenden Engels, der den Fehlern des Nächsten Verzeihung bot und ihn liebevoll auf den verlassenen Pfad der Tugend zurückgeleitete. Außerdem war es ja ein ganz amüsantes Schauspiel, einen Kameraden, der sonst als ganzer Mann dastand und den nichts rühren konnte, jetzt zu seinen Füßen zu sehen. Auch schien ihm ein glücklicher Gewinn, daß er Pommers Einfluß auf das gesamte jüngere Offizierkorps nun in seine Hand bekommen und sich dienstbar machen konnte. Schließlich fehlte auch das Pikante an der Sache nicht, denn er würde natürlich auch Frau Kahle demütigen und sie fragen, in welcher Weise die Sache ihre Erledigung gefunden habe. Wie freute er sich darauf, wenn die kleine Frau weinend vor ihm niedersank und ihn um Schweigen bat!

[S. 69]

Ein Liedchen trällernd, betrat Borgert sein Haus, gab dem Burschen Säbel, Mantel und Helm und stieg die Treppe zu Leimanns hinaus.

Er traf sie nicht allein. Der Regimentsadjutant war anwesend, er hatte heute schon um ½12 das Geschäftszimmer verlassen, weil der Oberst sich auf Jagd befand. Frau Leimann trat auch herein, und, da die beiden Herren gerade plaudernd zum Fenster hinaus auf die Straße sahen, wo Frau König mit Leutnant Bleibtreu vorbei ritt, küßte er der Angebeteten stürmisch beide Hände.

Die Herrschaften aber wollten sich vor Lachen ausschütten, als Borgert in der ihm eigenen witzigen Weise mit furchtbar drolligen Gesten und trefflichem Mienenspiel seine neuesten Erlebnisse zum Besten gab.

Inzwischen saß Pommer am Schreibtisch und machte in einem langen Briefe an seine Mutter dem gepreßten Herzen Luft. Dabei sang er dem neuen Freunde wahre Loblieder und rühmte seine vornehme Gesinnung in überschwänglicher Weise.

Er war jetzt ruhiger geworden, die Vorgänge des verhängnisvollen Abends erschienen ihm zwar immer noch in demselben Lichte, aber mehr vom Standpunkte eines Menschen betrachtet, der, im Innersten überzeugt, eine verwerfliche Tat begangen zu haben, sich sagen kann, daß nur durch einen [S. 70] unglücklichen Zufall, nicht aber aus verderbter Gesinnung oder Schlechtigkeit jener Fehltritt geschah.

Um die Mittagsstunde kleidete er sich fertig an, um Frau Kahle aufzusuchen, denn um diese Zeit pflegte der Gatte nicht zu Hause zu sein. Vielleicht wäre es ihm gleich gewesen, was ein Fremder mit seiner Frau zu verhandeln hatte, aber man konnte nicht wissen, es war besser so.

Klopfenden Herzens, mit dem Gefühl einer tiefen Reue und Beschämung, schritt er die teppichbelegten Stufen zu Frau Kahle's Räumen empor, und er hatte auch nicht lange zu warten, bis man ihn einließ.

Mit einem leichten Aufschrei eilte die Dame auf ihn zu, umschlang seinen Hals und küßte dem Widerstrebenden stürmisch den Mund.

»Wie danke ich dir, daß du kommst! Wie habe ich mich nach dir gesehnt! Jetzt bin ich wieder glücklich, da du bei mir bist. Mein Mann ist bis zum Abend fort, bleibe bei mir, Hans, ich kann nicht ohne dich sein!«

Bei diesen Worten hatte sie ihn neben sich auf den Divan gezogen und schloß ihm den Mund mit stürmischen Küssen.

»Die ganze Nacht habe ich ruhelos verbracht,« fuhr sie süß flüsternd fort, »ich konnte mein Glück nicht fassen, ich glaubte, es sei ein Traum, daß ich [S. 71] in dir ein Wesen gefunden habe, das ich lieben darf, das mich liebt. O, wie danke ich dir, du einzig Geliebter!«

Leutnant Pommer saß da wie versteinert. Er brachte kein Wort hervor und duldete schweigend die Liebkosungen der Frau. —

Wo waren seine Vorsätze geblieben, wozu war er hierher gekommen? Um sein Unrecht wieder gut zu machen, um seiner Reue Worte zu verleihen, um zu beichten, daß alles nur die Eingebung eines unseligen Augenblicks, die Tat eines vom Rausch verwirrten und entfesselten Gefühls gewesen sei!

Aber er konnte sich jetzt nicht anklagen, konnte nicht mit einem banalen Wort den Traum zerstören, welcher die liebende Frau umfing. Und was er vorher für eine Ehrenpflicht gehalten, erschien ihm jetzt unmöglich angesichts der lodernden Glut, die er im Herzen des Weibes entfacht. Lieber sterben, als jetzt eingestehen müssen, es ist alles nur Lüge, Schein, Laune gewesen. Dieser glühenden Liebe durfte er nicht mit einem Faustschlag antworten!

Und als der Kopf der ganz den Gefühlen ihres Glückes hingegebenen Frau an seinem Busen ruhte, in welchem das Herz zum Zerspringen klopfte, ging eine Wandlung in ihm vor: aus dem sonst so willensstarken Manne ward ein willenloses Opfer einer gewaltigen Macht: der Liebe. —

[S. 72]

Sein Blick streifte an der Gestalt des Weibes herunter, die ihn in ihren Armen hielt. Das leichte Morgenkleid ließ die Formen eines jugendlichen Körpers erkennen, die weißen Arme, von denen die Spitzen des Ärmels herabgeglitten waren, und der Duft, welcher von ihnen ausströmte, alles verwirrte und betäubte ihm den Sinn und ließ den letzten Rest Entschlossenheit in dem sonst so zielbewußten Manne ersterben. Und er umschlang das zitternde Weib mit wilder, sinnlicher Glut. — — —

Der Tag neigte sich schon seinem Ende zu, als Pommer die Tür des Hauses hinter sich schloß, in dem Frau Kahle wohnte.

Mit scheuem Blick, wie verstört, schritt er über die Straße und achtete nicht der Soldaten, die des Weges kommend, ihm die schuldige Ehrenbezeugung erwiesen, er wäre auch an Oberleutnant Borgert vorbeigegangen, hätte ihn dieser nicht mit einem über die Straße gerufenen Gruß aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Zögernd blieb er stehen und schaute wie geistesabwesend nach dem Kameraden, der jetzt über den Straßendamm auf ihn zukam.

»Guten Tag, lieber Pommer! Nun, was macht Ihr Kater?«

»Danke, danke, es ist gut, ich fühle mich ganz wohl, sehr wohl, und was ich noch sagen wollte,.... ich bin dort gewesen!«

[S. 73]

»Bei ihr? Na sehen Sie, das war vernünftig! Alles in Ordnung?«

»Natürlich, alles glatt, jawohl, alles in bester Ordnung.«

»Na, dann leben Sie wohl, ich muß weiter. Adieu!«

»Adieu! Und nochmals vielen Dank!«

»Aber ich bitte Sie! Es war gern geschehen, Sie haben wohl gesehen, daß ich es gut mit Ihnen meine!«

»Ja, wir wollen gute Freunde werden!«

Als Pommer in seiner Wohnung anlangte, glaubte er verzweifeln zu müssen. Was hatte er getan?! —

Statt das Vergehen vom gestrigen Tage durch ein offenes Bekenntnis seiner Schuld zu sühnen, war er noch tiefer in die Sünde hineingeraten, er hatte aus einem Fehltritt ein neues, weit größeres Verbrechen entstehen lassen, statt mit aller Entschlossenheit gegen seine Schwäche anzukämpfen. Und noch mehr! Er hatte einen Freund betrogen, sein Vertrauen, seine ehrenhafte, liebevolle Handlungsweise in gemeinster Weise mit Füßen getreten!

Aber es war zu spät! Jetzt gab es kein Befreien mehr aus den Ketten der Sünde, der Lüge, jetzt hieß es den einmal betretenen Pfad weiter schreiten, wie auch das Ende sein mochte. Und er [S. 74] suchte sich vor seinem Gewissen zu entschuldigen, daß die Macht des Zufalls, an der sein Wille sich gebrochen, ihn in seine jetzige Lage hineingezwungen habe.

tb

Wochen und Monate vergingen.

Das Paar traf oft zusammen, machte Spaziergänge im nahen Wäldchen, begegnete sich »zufällig« auf der Straße oder genoß, wenn der Gatte abwesend war, ein Schäferstündchen in Frau Gretes traulichem Boudoir.

Pommers Zuneigung zu dem pflichtvergessenen Weibe hatte ihn in der ersten Zeit ganz in ihren Bann gezogen. Doch war jener Reiz mehr sinnlicher Art gewesen, einer wahren inneren Liebe fand er sich nicht fähig zu einer Frau, deren seichte Moral, deren oberflächliche Anschauungen über die Pflichten einer Gattin und Mutter, deren rückhaltlose Hingabe an den ersten, welcher ihr seine Liebe gestand, ihren inneren Wert bald hatten erkennen lassen. Und so gab es Stunden, wo dem Manne der Verkehr mit der heißblütigen, hysterischen Frau allmählich überdrüssig schien, denn es fehlte der innere Kern, der moralische Halt dieses Verhältnisses, und wie bald ist der Mensch von Genüssen übersättigt die sich in regelmäßiger Folge wiederholen [S. 75] und nicht im Herzen wurzeln, wie sie allein uns auf die Dauer mit Freude erfüllen! So ward aus der Zuneigung mit der Zeit eine schroffe Abneigung, eine Art Ekel und Widerwillen gegen jene Frau, welche in seinen Augen mit jedem Tage an Wert verlor und den Mangel an weiblicher Tugend mehr und mehr erkennen ließ, sie war ihm nur noch das Weib, wie es als solches die Schöpfung dem Mann bot.

Und je mehr diese Empfindung in ihm wuchs, um so geringer galt ihm das Vergehen, welches ihm früher als ein ehrloses Verbrechen erschien und sein Gemüt bedrückte. Aber offen eingestehen, daß sie ihm nicht genüge, daß er an ihren Reizen keinen Genuß mehr finde, das konnte er nicht, es schien ihm unmännlich und undankbar, denn hatte er nicht auch schöne Stunden durch sie genossen? —

Schreiben mochte er nicht, das war zu gefährlich, denn kam dem ahnungslosen Gatten der Brief in die Hände, konnte die Sache noch ein übles Nachspiel haben, und das war sie nicht wert.

Hätte Pommer in Frau Gretes Innerem lesen können, wäre er ein Frauenkenner gewesen, so hätte er bald eingesehen, daß eine Lösung des Verhältnisses nur eines einzigen Wortes bedurfte, denn auch sie fand keinen Reiz mehr im Verkehr mit einem Manne, der ihr zu pedantisch, zu linkisch und [S. 76] unbeholfen vorkam, der sich auf jedes Schmeichelwort besinnen mußte und immer erst einen Rippenstoß brauchte, den gebotenen Genuß zu kosten. Sie liebte das Feurige, das stürmische Sichhingeben, ohne das ewige Grübeln über Recht und Unrecht! Wem sie ihre Liebe gab, der mußte mit vollen Zügen den Freudenbecher trinken und ihn von neuem begehren, war er in wilder Leidenschaft geleert!

Als dann Pommer eines Tages die Mitteilung erhielt, daß er unter Beförderung zum Oberleutnant versetzt sei, kostete es ihm keine große Überwindung, von Frau Kahle Abschied nehmen zu müssen.

»Ich gehe fort, wir sehen uns nicht wieder!«, hatte er mit kühler Ruhe gesagt.

Und sie stieß einen Schrei aus und sank wie niedergeschmettert auf den Divan.

Da hatte er leise die Tür geöffnet und war verschwunden. Sie aber schaute ihm durchs Fenster nach, und als er um die Ecke gebogen, schlug sie den Flügel auf und spielte einen lustigen Walzer von Strauß.

Da fiel ihr ein, man könnte sie herzlos nennen, wenn sie die Trennung so leicht überstände; und so schrieb sie einen acht Seiten langen Brief an Oberleutnant Borgert, indem sie den Schmerzen und [S. 77] Seelenqualen einer betrogenen, unglücklichen Frau beredten Ausdruck verlieh. —

So sehr waren ihre Worte von dem Empfinden eines wahren, tiefen Schmerzens durchweht und so rührend, tief ergreifend die Ausbrüche des Jammers um den verlorenen Geliebten, daß niemand sich denken konnte, das alles sei nur ein Schauspiel, die virtuos durchgeführte Rolle einer Ophelia oder Desdemona. —

Selbst die Herrn des Offizierkorps konnten eine stille Teilnahme nicht unterdrücken, als Borgert am Abend den Brief im Kasino verlas, nur einer rief mit verschmitzter, verständnisinniger Miene:

»Fauler Zauber!«

Wußte er das aus Erfahrung? —

[S. 78]

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Drittes Kapitel.

Am Spätnachmittag eines Herbsttages saß in seiner angenehm durchwärmten Stube der Vizewachtmeister Roth und mit ihm Sergeant Schmitz am Kaffeetisch.

Die Einrichtung des im ersten Stock der Kaserne gelegenen Raumes machte den Eindruck der Wohlhabenheit, und man hätte beim ersten Anblick glauben können, ein Mitglied der »oberen Zehntausend« habe hier sein Lager aufgeschlagen, wenn sich nicht das Meiste bei näherer Betrachtung als überladener, wertloser Putz entpuppt und darauf hingewiesen hätte, daß nur die Sucht, dem Raum einen gediegenen Geschmack zu geben, welcher gerade in der Einfachheit zu wirken sucht, diese tote Pracht geschaffen. Die grün und blau geblümte Tapete war durch große Bilder in schweren Eichen- und Goldrahmen stellenweise ganz verdeckt. Über dem Sopha aus rotem Plüsch hing eine Reproduktion von Lenbach's »Fürst Bismark«, rechts und links [S. 79] davon die Bildnisse zweier Pferde, in Öl gemalt. An der Wand gegenüber stand ein Klavier von schwarzem Holz mit silbernen Armleuchtern, obgleich weder der Vizewachtmeister Roth noch seine Gattin, eine frühere Ladenmamsell, in die Kunst des Klavierspielens eingeweiht waren. Doch mit diesem Klavier, auf welchem nur allsonntäglich ein junger Unteroffizier der Schwadron mit monotoner Akkordbegleitung die »Donauwellen« hervorzauberte, hatte es seine besondere Bewandtnis, und nie ruhte der Blick des Besitzers ohne einen gewissen Groll auf der schuldlosen »Drahtkommode«.

Im ersten Jahre ihrer Ehe nämlich hatte es die Frau Wachtmeisterin oft schmerzlich empfunden, nicht ein Klavier oder gar einen Flügel, das Kennzeichen einer »gebildeten« Einrichtung, ihr eigen nennen zu können, denn die Kollegin der zweiten Schwadron besaß ein Instrument. Sie bedauerte aber das Fehlen eines solchen umso mehr, als sie häufig behauptete, in ihrer Jugend Klavierunterricht genossen zu haben.

Roth sprach daher des öfteren mit Nachdruck gegenüber den vier Einjährigen der Schwadron von den Talenten seiner Lebensgefährtin auf musikalischem Gebiete, die nun elend verkümmern müßten, da er zur Anschaffung eines »Pianinos« nicht die nötigen Mittel besäße. Es hatte ihn daher kaum [S. 80] gewundert, als er eines Tages jenen »schwarzen Wimmerkasten«, wie er ihn nannte, in seinem »Salon« vorfand mit einer schriftlichen Widmung der gütigen Spender.

Als aber für die Einjährigen der Tag der Entlassung kam, kam für den entsetzten Wachtmeister ein großer Wagen, dessen Rosselenker die Weisung hatte, das für sechs Monate gemietete Klavier wieder abzuholen. Um nicht zum Gespött der Kameraden zu werden und auf flehentliches Bitten seiner Gattin kaufte Roth das Klavier auf Ratenzahlung von zehn Mark monatlich, und nun stand das unselige Instrument unbenutzt an der Wand, während die Rechnung dafür noch lange nicht abbezahlt war und es jeden Ersten einen köstlichen Goldfuchs verschlang. Daher die Wut des Wachtmeisters auf dieses Prunkstück seines Salons!

Über dem Klavier prangte ein gewaltig großer Stahlstich von Vernet's bekanntem »Leichenschmaus« in schwerem Brokatrahmen, an dessen Ecken je ein kleiner japanischer Fächer befestigt war.

Neben dem Klavier stand ein Vertikow aus Nußbaum und darauf sechs grüne Weingläser, diesmal ein bar bezahltes Geschenk früherer Einjähriger. Auch ein großer eichener Schreib-Tisch fehlte nicht, dessen Ecke von einem Vogelbauer mit gelbgefiedertem Bewohner zweckmäßig besetzt war, während ein [S. 81] Lineal, ein gewaltiges Schreibzeug aus Hirschhornstangen und ein Federhalter die berufliche Ausrüstung dieses Hausmöbels darstellten. Über dem Schreibtisch hing, von Rehgehörnen umgeben, ein großes Kaiserbild, darunter zwei gekreuzte Säbel und eine Kukuksuhr. Ein großer Blumentisch stand am Fenster, bei näherer Betrachtung aber ergab sich, daß die Blüten nicht in einem Gewächshause, sondern unter der Schere einer geschickten Blumenmacherin erblüht waren.

Den Boden bedeckten zwei weiße Felle und drei Teppiche, sowie ein echter Kelim unter dem Sophatisch, über dessen Kanten eine blaue Plüschdecke mit großen Quasten fast bis zum Boden herabhing.

Durch die beiden nach Osten gelegenen, mit schweren Portieren behangenen Fenster sah man heute dunkelgraue Wolkenmassen am Himmel dahintreiben, ein eintöniges, farbloses Meer, aus dem ab und zu kalte Regen- oder Hagelschauer sich lösten und, vom heulenden Winde getrieben, wie gewaltige Wogen über die Stadt und die öden Felder wälzten.

Wenn der Regen so gegen die Scheiben prasselte, und der Wind im Ofenrohre pfiff, dann fühlte man sich um so wohliger in der warmen Stube und bedauerte die Kameraden, welche jetzt draußen im Freien Dienst tun mußten.

Es war die Zeit, zu welcher das Regiment alljährlich [S. 82] seine Reservisten einzog und sie in den hinter der Kaserne gelegenen Baracken unterbrachte. Dann war es oft nicht angenehm, bei einem Hundewetter wie heute auf dem Exerzierplatz herumstehen zu müssen, und man beneidete die Rekrutenunteroffiziere, welche im Stall oder auf den Stuben Instruktion abhalten durften.

Einen Vorteil aber brachte die Reserve doch. Man bekam eine Zulage, und besonders Roth, der als Wachtmeister zur ersten Reserve-Eskadron kommandiert war, stand sich ganz gut dabei. Ferner sah man mitunter einen alten Bekannten älterer Jahrgänge wieder, auch frühere Einjährige befanden sich unter den Reservisten und hatten meist einen offenen Beutel, wenn sie sich dadurch den Dienst etwas erleichtern konnten.

Schmitz war Futtermeister der vierten Schwadron und ebenfalls zur Reserve kommandiert. Er versah sein Amt vortrefflich, wer sich davon überzeugen wollte, brauchte nur einen Blick auf die Pferde zu werfen, wie sie glänzten im Haar, wie schön rund und sauber sie im Stroh standen. Der Stall selbst war stets ein Muster von Sauberkeit, kein Strohhalm hing aus den Ständen heraus auf den blank gefegten Damm, die Wände waren schön weiß gekalkt und die Fenster klar und hell.

Wenn Schmitz den Stall zwischen den Pferdereihen [S. 83] hinabging, dann war es geradezu drollig anzusehen, wie alle Tiere seinen Tritt, seine Stimme kannten, wie sie die Köpfe nach ihm wandten und leise wieherten, wenn er den einen oder anderen seiner Lieblinge anrief. Da war das »Klärchen«, ein reizendes Füchschen, das ihm nachlief wie ein Hund und immer mit den Nüstern an seinen Taschen nach einem Stück Zucker schnüffelte, dann sich auf die Hinterbeine stellte oder bittend einen Vorderfuß erhob, und die »Ahnfrau«, ein altes kleines Pferdchen mit tiefschwarzem Glanzhaar, das wegen seines Alters aller Liebling war und oft mit Leckereien bedacht wurde.

Der besondere Stolz des Futtermeisters aber waren die zwölf Chinesen. Sie hatten den ostasiatischen Feldzug mitgemacht und waren dann in das Regiment eingestellt worden, schöne Pferde mit herrlichem Haar und kräftigen Knochen, wenn auch nicht alle so groß wie »Peiho«, »Wu« und »Kwangsü«. —

Die beiden Freunde saßen noch plaudernd am Kaffeetisch, als Frau Roth eintrat, eine mittelgroße Brünette mit kleinen Augen und einer gebogenen Nase. Ihr Gesicht hätte dem eines Vogels gleichen können, doch verlieh das wellige, kastanienbraune Haar dem an sich nicht schönen Kopf einen gewissen Reiz. Sie hielt ein Servierbrett, mit einer [S. 84] gestickten Serviette überdeckt, in den Händen, darauf stand eine Flasche Moselwein, drei Gläser und eine schmale Zigarrenkiste.

»Donnerwetter Roth, bei dir geht's heut aber mächtig üppig zu! So eine Feier lasse ich mir gefallen,« rief Schmitz erstaunt.

»Man hat nur einmal im Jahr Geburtstag, da kann man schon etwas springen lassen. Schenk' ein, Alte!«

Die Frau goß die Gläser bis zum Rande voll, daß sie fast überliefen. Ein freudiges »Prost« ertönte, und alle gossen auf einen Zug das edle Naß hinunter. Dann hoben sie noch einmal die Gläser zu einander und sahen sich an. Das hatten sie den Herren Offizieren abgelauscht.

Die beiden Männer zündeten sich eine Cigarre an, welche zur Feier des Tages eine Leibbinde trug, und füllten die Gläser von Neuem. Eine Stunde war ja noch Zeit bis zum Abendstalldienst, und vorher gab es nichts zu tun, denn Oberleutnant Specht, der die Reserve-Eskadron führte, kam des Nachmittags nie zum Dienst, man hatte also Ruhe.

»Fährst du Weihnachten auf Urlaub?« fragte Roth seinen Freund.

»Weiß noch nicht!« gab Schmitz achselzuckend zur Antwort. »Ich möchte ganz gern, ich bin jetzt zwei Jahre nicht aus dem Drecknest fortgekommen. [S. 85] Aber es lohnt sich auch gar nicht, für die paar Tage eine solche Reise zu machen, denn bis ich hier vom Ende der Welt nach Hause komme, brauche ich achtundvierzig Stunden, Rückreise ebensoviel, das macht vier Tage und mehr wie sechs gibt es nicht. Die Sache ist auch verflucht teuer!«

»Was kostet's denn?«

»Ziemlich dreißig Mark, und so viel hab' ich nicht übrig!«

Roth lachte höhnisch auf.

»Um die paar Kröten geht's? Lumperei!«

»Ja, du hast gut lachen, für dich spielen sie keine Rolle, aber für den, der sie nicht hat, z. B. mich!«

»Kann ich dir pumpen, Kleinigkeit!«

»Sag' mal, alter Freund, du hast wohl in der Lotterie gewonnen? Es geht immer so hoch bei dir her in letzter Zeit, alle Augenblicke fährst du 'nunter in die Stadt, rauchst 10 Pfennig-Cigarren und willst auch noch verpumpen! Du mußt mindestens geerbt haben!«

»Hab' ich auch, aber es ist keiner gestorben vorher!« lachte Roth übermütig. »Die Hauptsache ist, daß man ein bischen schlau ist und alles mitnimmt, was einem so über den Weg läuft!«

»Du hast wohl einen Juden totgeschlagen?«

»Nee, doch nicht ganz!«

[S. 86]

»Na wie meinst du's denn, ich verstehe dich nicht!«

Roth blinzelte nach seiner Frau hinüber und dann zu Schmitz, der mit neugierigen Augen dasaß. Seine Frau sollte also wohl nichts hören. Als sie aber gleich darauf aufstand, um eine neue Flasche Wein zu holen, begann Roth leise:

»Ich kann's dir ja sagen, aber.......« — dabei legte er bedeutsam den rechten Zeigefinger auf den Mund —, »Maul halten!«

»Selbstredend, ich bin der Letzte, der dich verklatscht!«

»Also, ich habe doch jetzt schon die zweite Reserve. Voriges Mal waren eine ganze Portion alte Einjährige dabei, reiche Bauernjungens. Du erinnerst dich doch an den dicken Kramer, das vollgefressene Schwein, dann den Roßbach, der zwölf Pferde zu Hause im Stall hat, und den Scheller, den Unterrocksjäger, und diese Gesellschaft? Die Kerls wissen nicht, wohin mit allem Geld, und da werde ich doch den Deubel tun, denen auch noch Löhnung, Bekleidungsgeld u. s. w. geben, auf die paar lumpigen Groschen kommt's denen doch nicht an. Der Scheller hat mir auch so nebenbei einen kleinen Verdienst zukommen lassen. Wie ich am letzten Abend vor der Entlassung nachsehe, ob alles in der Klappe liegt, da hat der Kerl eine Sau mitgenommen, und [S. 87] wie ich eben loslegen will, da sagt er mir ins Ohr: »Nischt sagen, Herr Wachtmeister!« Na, ich hab's Maul gehalten, und am nächsten Mittag stak ein blauer Lappen im Mantel.«

»Donnerwetter, Kerl, hast du Dusel! Wenn die Brüder nun aber später etwas verraten, wenn sie nicht befördert werden?«

»Sagt keines was, sie sind froh, wenn sie mit dem Kommiß nichts mehr zu schaffen haben.«

»Na, ich hätte Angst, es gäbe mal Spektakel!«

»Denkt nicht dran. Jetzt sind wieder da so ein paar fette Jungens, der reiche Metzgerjunge da aus Braunschweig und diese Brüder, klotzig reiche Kerls, sage ich dir. Soll ich denen die paar Mark auszahlen, damit sie's nachher versaufen? Nee, das besorge ich lieber selber. Na prost!«.

Die Gläser erklangen hell und im Augenblick waren sie wieder leer.

»Schmeckt dir das Zeug? Kostet drei Mark die Pulle!«

»Verflucht teuer, wo hast du das her?«

»Stammt noch vom vorigen Jahr, weißt du. Du kennst doch noch den Einjährigen Römer? Wie der nicht Unteroffizier werden sollte, habe ich mich ein bischen ins Zeug gelegt beim Chef, und da kriegte er die Tressen. Dafür hat er so eine Kiste Wein geschickt. Anständig, was?«

[S. 88]

»Das glaub ich wohl!«

»Siehst du, alter Freund, man muß immer praktisch sein. Bis voriges Jahr hatte ich doch die Menage, nicht? Der Metzger kam nun alle Augenblicke und sagte, es wären etwas zu viel Knochen, es hätte sonst nicht genug Gewicht. Ein paar mal war auch das Fleisch saumäßig schlecht, zu leicht oder zu sehnig. Als ich nun mal Dampf machte und mit Meldung drohte, sagte er: Nischt verraten, Sergeant, ich tu's nicht vergessen! Seit der Zeit lasse ich auch mein Fleisch da holen und er wiegt anständig, daß muß ich schon sagen. Vorgestern war es aber nichts wert, mein Fleisch, und da habe ich ihm, als er vorm Laden stand, gesagt: »Jungeken, Du weeßt doch noch?« Und gestern kam der tadellose Schweinebraten gratis und franko, den meine Alte heute gemacht hat. Ja, das summt sich, alter Freund, hier ein Rebbes und dort ein Profitchen.«

Schmunzelnd klopfte der Vizewachtmeister auf seine Hosentasche, in der ein gefüllter Geldbeutel klapperte, dann stürzte er ein Glas Wein hinunter.

»Trink doch, Kerl, Schmitz, du bist wohl schon voll?«

»Von wegen Vollsein, so schnell geht's nun doch nicht! Prost!«

In diesem Ton ging die Unterhaltung fort, und als die dritte Flasche leer war, hörte man beiden [S. 89] an, daß sie nicht mehr viel vertragen konnten. Die Augen stierten gläsern und die Köpfe waren hochrot von dem ungewohnten Weingenuß. Dabei tönte ihre Rede laut und polternd, besonders Roth brachte kaum noch einen richtigen Satz zusammen.

Plötzlich sah er nach der Uhr. Schon sechs! Also Zeit zum Abendstalldienst!

»Komm, Schmitz, wir müssen in den Stall, das Viehzeug hat Hunger!«

Sie erhoben sich wankend, Roth schnallte den Säbel um und beide polterten die Steintreppe der Kaserne hinab. Roth ließ dabei seinen Säbel schleppen, und es gab einen Mordsspektakel, wie die schwere Plempe von Stufe zu Stufe klappernd niederfiel.

Mancher steckte neugierig den Kopf zur Tür hinaus und als er die beiden angeheiterten Vorgesetzten gewahrte, dachte er: »die haben genug! Wenn einer von uns so besoffen in der Kaserne herumtorkelte, ginge es ihm gleich an den Kragen.«

Am Ausgange des Gebäudes trat der Gefreite Dietrich der vierten Schwadron an Roth heran:

»Ich möchte Herrn Wachtmeister bitten, für Stube X ein paar Kohlen herauszugeben, mein Beritt war zum Fouragieren und wir sind alle ganz naß geworden. Es ist kalt oben und die Sachen werden sonst bis morgen nicht trocken!«

[S. 90]

»Was! Kohlen? Geht zum Quartiermeister, ich habe für Euch Lümmels keine Kohlen!« lallte Roth.

»Der Quartiermeister ist in die Stadt und da haben Herr Wachtmeister doch den Schlüssel zum Keller!«

»Scher' dich weg, Ihr braucht nicht gleich Kohlen, wenn es ein paar Tropfen regnet. Legt Euch ins Bett, wenn Ihr friert, Schweinepack, gemeines!«

Der Gefreite stand zögernd einen Augenblick still, dann ging er mit wütendem Gesicht in die Kaserne.

Im Stall war es schon leer geworden, die Leute befanden sich bereits wieder in ihren Stuben, nachdem sie die Streu aufgeschüttelt und die Pferde getränkt hatten. Nur die Stallwache war noch anwesend.

Der eine von ihnen, ein Gefreiter, hatte sich im Civil einen so dicken Bauch gezüchtet, daß der Quartiermeister beim besten Willen keinen auch nur leidlich passenden Rock für den »vollgefressenen Reservehund« finden konnte, der Ärmste mußte also seine Übung im Drillichanzug als Stallwache ableisten. Der zweite war lungenkrank. Man merkte es erst eine Woche nach dem Eintritt und nun hatte es keinen Zweck mehr, den Mann noch zu entlassen, im Stall hatte er ja nichts auszustehen. [S. 91] Der dritte war ein halber Idiot aus der Polackei, grinste wie ein Irrsinniger stets vor sich hin und war im Dienst nicht zu gebrauchen, da er alle Vorgesetzten mit »du« anredete und stets zum Honneur die Mütze abnahm.

Der Futtermeister erschrack, als er merkte, daß die Futterzeit schon überschritten war, denn für seine Pflegebefohlenen sorgte er gut, das mußte ihm der Neid lassen. So rief er denn schnell die Stallwache heran und trieb sie mit einem: »Galopp, faules Zeug!« zur Eile an. Der kleine Futterwagen wurde mit Hafer und Hecksel gefüllt und auf die Stallgasse gefahren. Das Quietschen der Holzräder war den Pferden die liebste Musik am Tage. Als sie es vernahmen, kam Leben in die erst träge, mit hängenden Köpfen dastehenden Tiere, denn sie hatten schon gedacht, man habe ihre Abendmahlzeit vergessen. Jetzt sprangen sie wild in den Ständen herum, neckten und bissen einander, schlugen übermütig aus, und das Rasseln der Ketten mischte sich mit dem Wiehern und Quiecken der Pferde zu einem lauten Geräusch. Der »Napoleon« hatte solchen Hunger, daß er angesichts der Futterschwinge dem dicken Gefreiten aus übermütiger Freude vor den Bauch schlug, sodaß dieser den Hafer fallen ließ und mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände auf die getroffene Stelle preßte.

[S. 92]

Der Vizewachtmeister sah das und rief ihm zu:

»Vorwärts, heb' den Dreck wieder auf, deinem dicken Wanst schadet so ein Puff nichts!«

Der Gefreite aber machte keine Miene, dem Befehl nachzukommen, sondern hielt noch immer seinen Bauch fest, während ihm Tränen in die Augen traten. Da wankte Roth auf ihn zu, knuffte ihn mit der Faust in den Rücken und drückte ihn, seinen Hals von hinten umfassend, so tief nieder, daß dem armen Kerl das Blut zu Kopfe stieg, während er den verschütteten Hafer zwischen der Streu heraussuchte. Als er damit fertig war, gab ihm Roth noch einen Schubs, daß er gegen »Napoleons« Hinterbeine flog und diese in seiner Angst umklammerte, um nicht unter das Pferd zu fallen.

Das ging aber »Napoleon« über den Spaß. Erst kein Futter und dann noch solche Scherze! Er keilte mit beiden Beinen kräftig aus und schleuderte den armen Gefreiten auf die Stallgasse, wo er bewußtlos liegen blieb.

Roth erschrak. Zum Glück hatte keiner den Vorgang mit angesehen, denn Schmitz war mit den beiden anderen gerade am Ende des Stalles beschäftigt. So rief er denn die beiden Reservisten herbei und ließ den Bewußtlosen nach der Revierstube tragen. Fatal war ihm die Geschichte doch, [S. 93] denn der arme Kerl hatte ordentlich eine ins Gesicht gekriegt.

Als der Oberleutnant am nächsten Morgen fragte, warum der Gefreite ins Lazaret gekommen sei, antwortete Roth:

»Er ist ungeschickt an das Pferd getreten und hat es erschreckt, da schlug es aus und traf ihn an den Kopf!«

»So ein Esel,« schalt der Oberleutnant, »eigentlich sollte man den Kerl noch obendrein einsperren, daß er uns die Pferde verdirbt!«

Für heute Abend aber war dem Vizewachtmeister die Laune verdorben.

Im Stalle war es ruhig geworden, man vernahm nur noch ein Rauschen, als die vielen Pferdezähne den Hafer zermalmten.

Roth warf einen Blick in die Futterkiste.

»Gib den Rest dem »Zeus«, der ist so mager!« sagte er zu Schmitz.

»Nein, dem gebe ich nichts mehr, der hat genug, außerdem hat er heute morgen einen geschlagen. Das Vieh wird ja ganz verrückt, wenn es immer lahm im Stall steht und so eine Menge Hafer frißt!«

»Gib's ihm nur, er kann's vertragen!«

»Aber wozu denn, es ist doch Unfug!«

Der Wachtmeister wurde puterrot, nichts konnte ihn wütender machen als ein Widerspruch.

[S. 94]

»Gib ihm den Rest, sage ich!« polterte er Schmitz nochmals an.

Schmitz aber klappte den Deckel der Kiste zu und entgegnete kurz:

»Ich bin froh, wenn ich etwas sparen kann!« Damit zog er den Wagen fort.

Wütend brauste Roth auf:

»Sergeant Schmitz, Sie wollen meinen Befehl nicht ausführen? Ich werde Sie melden!« Damit ließ er den verdutzten Futtermeister stehen, ging schwankend, mit finsterer Miene durch den Stall nach seiner Wohnung, trank einen Schnaps zur Beruhigung der Nerven und warf sich in der Uniform aufs Bett.

Der Lungenkranke und der Pole steckten noch jedem Pferd eine Hand voll Heu in die Raufe und legten sich auf das Stroh in der Ecke des Stalles schlafen, Sergeant Schmitz aber ging bedächtig nach seiner Stube.

Am folgenden Mittag übergab die Ordonnanz der Reserve-Schwadron dem Regiment ein Schriftstück folgenden Inhalts:

Tatbericht.

Gestern gelegentlich des Abendstalldienstes erteilte der die Aufsicht führende Vizewachtmeister Roth dem Futtermeister Sergeant Schmitz einen Befehl, welchen dieser nicht ausführte. Als Vizewachtmeister [S. 95] Roth den Befehl nachdrücklich wiederholte, weigerte sich p. Schmitz nochmals, demselben Folge zu leisten. Der Vorfall geschah in Gegenwart der Stallwache, auch war Sergeant Schmitz nach Angabe des p. Roth betrunken.

Specht ,
Oberleutnant und Eskadronführer
der 2. Reserve-Übungs-Eskadron.

Der Futtermeister saß gerade beim Essen, als der etatsmäßige Wachtmeister an ihn herantrat, ihn für seinen Arrestanten erklärte und nach dem Arrestlokal brachte, wo er bis zur Aburteilung des Falles verbleiben sollte, denn man hatte sein Vergehen als »ausdrückliche Verweigerung des Gehorsams vor versammelter Mannschaft« bezeichnet. Als solche galten bereits die beiden Posten der Stallwache.

Mit Windeseile ging der Vorfall von Mund zu Munde, alle waren empört über die Handlungsweise Roth's, selbst die Offiziere erklärten einstimmig, einem solchen Vorgesetzten müsse man so bald als möglich den Laufpaß geben.

Roth aber kam sich groß vor und glaubte, eine Heldentat vollbracht zu haben. Außer Dienst war er ein Kamerad, der mit sich spaßen ließ, und kein Spielverderber, aber im Dienst, Teufel auch, da sollten sie ihn kennen lernen, da hatte jede Vertraulichkeit [S. 96] ein Ende, da hieß es: ich befehle und du gehorchst, sonst breche ich dir das Genick.

Sergeant Schmitz saß indes in seiner düsteren, kalten Zelle. Wie leblos stierte er den ganzen Tag auf die rauhen Steinfließen, er glaubte zu träumen, konnte und konnte nicht glauben, daß er wegen eines militärischen Vergehens hier hinter Schloß und Riegel säße. Hatte er nicht neun lange Dienstjahre hinter sich, in denen er sich tadellos geführt, ohne jemals bestraft worden zu sein?

Erst allmählich kam ihm der Ernst seiner Lage zum Bewußtsein, und damit wuchs ein glühender Haß heran gegen den Mann, welchen er für einen Freund gehalten, der ihm in einer Laune, unter dem Einfluß der Trunkenheit die Früchte seines bisherigen Lebens und damit die Zukunft zerstört hatte. Dem Schurken wollte er es zeigen, wenn er wieder auf freiem Fuße stand, niemand sollte es verborgen bleiben, welche grundgemeine Gesinnung dieser Hallunke hinter seinem schöntuerischen Wesen verbarg.

Daß man ihn vor ein Kriegsgericht stellen würde, schien ihm außer Zweifel, tatsächlich lag ja eine ausdrückliche Gehorsamsverweigerung vor, aber die Verhandlung mußte ergeben, daß die näheren Umstände dem scheinbaren Vergehen jedes erschwerende Moment benahmen und es sich sonach nur um einen [S. 97] Wortwechsel handelte, dem allerdings leicht ein dienstlicher Charakter untergeschoben werden konnte, wenn man das bis zu dem Augenblick der strafbaren Handlung bestehende und willkürlich abgebrochene freundschaftliche Verhältnis Roth's zu Schmitz außer Acht ließ.

Dieser Punkt aber mußte bei einer Verhandlung geschickt und eingehend beleuchtet werden, denn an ihm hing der Ausgang der Sache!

Sergeant Schmitz meldete daher beim Regiment, er erbitte die Gestellung eines Verteidigers und gleichzeitig die Erlaubnis, mit diesem in schriftlichen oder mündlichen Verkehr treten zu dürfen.

Er war aber nicht wenig erstaunt, als schon nach wenig Tagen die Mitteilung an ihn gelangte, ein Verteidiger könne von Militärgerichtswegen nur bei Aburteilung über Verbrechen gestellt werden, doch stehe der Annahme eines solchen auf eigene Kosten sowie eine Besprechung mit demselben während der Untersuchungshaft nichts im Wege.

Also auch das noch! Woher das Geld nehmen für einen Verteidiger? Und ohne den war geringe Aussicht auf Erfolg, er fühlte sieh dem redegewandten Roth und gar den Richtern gegenüber nicht gewachsen, er konnte nicht die Umstände ins richtige Licht setzen, wie sie ihm als Erklärung der Angelegenheit [S. 98] so wichtig erschienen. Es half also nichts, das Geld mußte beschafft werden!

Nach dreiwöchiger Untersuchungshaft wurde endlich der Termin anberaumt, an welchem die Hauptverhandlung stattfinden sollte. Schmitz glaubte dem Ausgange ruhig entgegensehen zu dürfen, hatte ihm doch selbst sein Verteidiger erklärt, eine ungünstige Wendung sei nicht zu erwarten, sobald man den Richtern von der Handlungsweise Roth's und den näheren Umständen ein klares Bild entworfen haben würde. Schmitz sah daher in dem für den Termin bestimmten Tag den Augenblick der Befreiung, der ihn von diesem einsamen, schauerlichen Dasein der letzten Wochen erlösen werde.

Selbst die ihm endlich zugestellte Anklageschrift vermochte seine Hoffnung nicht niederzudrücken, darin stand eben alles von der schroffsten Seite beleuchtet, damit man überhaupt eine Handhabe zur Anwendung der in Frage kommenden Gesetze habe.

Sie lautete:

»Wider den Sergeanten Ferdinand Julius Schmitz ist Strafantrag wegen Vergehens gegen §§ 94 des Militär-Strafgesetzbuches gestellt.

Wenngleich der Angeklagte behauptet, mit dem Vizewachtmeister Roth in einem besonders freundschaftlichen Verhältnis gestanden zu haben, so ist hierin kein Grund zu erblicken, der zur Nichtbefolgung [S. 99] eines Befehls im Dienst berechtigt. Vielmehr geschah die Gehorsamsverweigerung in Bezug auf einen zweimal mit Nachdruck gegebenen Befehl in Gegenwart der Stallwache, also vor versammelter Mannschaft.

Die Entschuldigung des Angeklagten, infolge Weingenusses in erregter Stimmung gewesen zu sein, ist kein Milderungsgrund, vielmehr ist in dem Umstand, daß die Tat auf Trunkenheit im Dienst zurückzuführen ist, ein Grund zur Erhöhung des Strafmaßes zu erblicken.

Aburteilung hat durch das Kriegsgericht zu geschehen.«

Das klang ja allerdings ganz gefährlich, wie wenn er ein Verbrecher schlimmster Sorte wäre, er, der sich neun Jahre vorwurfsfrei geführt. Er mußte fast lachen über diese Anschuldigung, sie enthielt eben nur eine ganz subjektive, einseitige Beurteilung des Falles.

Am 20. Oktober Mittags zwölf Uhr begann die Verhandlung.

Die Richter waren aus dem Sitz des Generalkommandos herübergekommen und saßen mit ernsten Gesichtern an dem langen Tisch, ein Major, ein Hauptmann, ein Oberleutnant, ein Kriegsgerichtsrat als Führer der Verhandlung und ein zweiter, welcher die Anklage erhob.

[S. 100]

Nachdem Schmitz nochmals den Sachverhalt geschildert, wurde Roth als Zeuge vernommen. Er stellte die Angelegenheit im grellsten Lichte dar, wollte nichts von einer Freundschaft wissen und leugnete auch auf das Entschiedenste, ebenfalls betrunken gewesen zu sein, wie es Schmitz behauptete. Als Zeugen seiner Nüchternheit hatte er den Lungenkranken und den Polen gewonnen, welch' letzterem er eingepaukt hatte, auf alle Fragen mit dem Kopfe zu schütteln, womit er auch Glück hatte, da die Fragen zufällig entsprechend gestellt waren. Schließlich beschwor der Vicewachtmeister mit fester Stimme die Wahrheit seiner Aussage.

Das war allerdings eine unerwartete Wendung. Schmitz hatte nicht erwartet, auch noch mit der Lüge kämpfen zu müssen, und seine Hoffnungen sanken beträchtlich, als er den Major mißbilligend mit dem Kopfe schütteln sah.

Es folgte sodann die Anklagerede des Kriegsgerichtsrats, die etwa wie die Anklageschrift lautete.

Sodann erhob sich der Verteidiger. Mit beredten Worten schilderte er nochmals den Vorgang, erwog die näheren Umstände, wies auf das ihm durch Zeugen bestätigte frühere Verhältnis der Gegner und schließlich darauf hin, daß sich der ganze Vorgang im Anschluß an eine Geburtstagsfeier zugetragen habe. Nach alledem, und mit Rücksicht auf [S. 101] die bisherige Führung des Angeklagten sei auf Freisprechung zu erkennen.

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück und es dauerte lange, bis die Herren mit ernsten Gesichtern wieder im Verhandlungszimmer erschienen.

Schmitz glaubte einen Augenblick die Besinnung verlieren zu müssen, als er das Urteil vernahm: zwei Monate Gefängnis!

Er sah sein Leben vernichtet. Umsonst waren die langen Jahre, die er mit Aufopferung seiner besten Kraft dem Vaterlande gedient; seine Zukunftspläne, nach zwölfjähriger Dienstzeit eine Anstellung am Bürgermeisteramt seiner Vaterstadt zu erhalten, waren mit einem Schlage vernichtet. Was würden seine Eltern, seine Geschwister sagen, was sollte aus seiner Braut werden?

Eine namenlose Wut packte ihn, den Mann hätte er auf der Stelle würgen können, der mit Gemeinheit, Lüge und Meineid sein Dasein zerstört und jetzt mit höhnischer Miene an ihm vorüberschritt. Ja, er hörte den Kommandeur zu dem ehrlosen Lumpen sagen: »So ist's recht, Roth, scharf im Dienst, so wünsche ich mir meine Unteroffiziere.«

Nun, die Rache sollte nicht ausbleiben. Schmitz wurde am 21. Oktober durch einen Wachtmeister auf Festung gebracht, wo viele Stunden der Selbstverleugnung und schwere Tage seiner warteten.

[S. 102]

So kam allmählich die Weihnachtszeit heran. Schnee bedeckte den Kasernenhof, alles lag öde, leblos und starr durch die grimmige Kälte der letzten Tage.

Ein großer Teil der Mannschaften hatte Urlaub für die Festtage erhalten, und ein jeder nahm im Dienst seine ganze Kraft zusammen, um nicht im letzten Augenblick der zu erwartenden Freuden beraubt zu werden.

Fast allabendlich fuhren die Herren des Offizierkorps, natürlich ohne Urlaub, nach der Nachbarstadt, um Weihnachtseinkäufe zu machen, denn nach Hause fahren wollte nur einer von ihnen, die anderen beabsichtigten eine kleine Feier im Kasino, wo sie sich gegenseitig kleine Geschenke zu machen gedachten.

Borgert und Leimann kehrten stets mit Packeten beladen zurück, sie kauften alles, was ihnen gefiel, Geld würde sich später einmal finden, denn jetzt pumpte ja jeder mit Freuden, wenn er nur seine Ware los wurde.

An den geschäftlichen Teil in der Stadt schloß sich meist ein kleines Gelage in einem guten Restaurant, und oft kam es vor, daß die Herren in recht angeregter Stimmung den letzten Zug zur Garnison bestiegen.

Eines Abends hatte auch der neue Riesling [S. 103] besonders gut geschmeckt, und alle langten ziemlich »blau« in später Nacht zu Hause an.

Der Regimentsadjutant fand ein Diensttelegramm in seiner Wohnung vor und mußte sich noch einmal, trotz der späten Stunde zum Regimentsschreiber begeben, um mit diesem über die Erledigung des Telegramms Rücksprache zu nehmen.

Starker Schneefall war eingetreten, und der scharfe Ostwind trieb die Flocken in wildem Wirbelspiel durch die kalte Luft, sodaß man die Augen zusammenkneifen mußte und nur mit Mühe den zugewehten Weg erkennen konnte.

Die Störung zu mitternächtlicher Stunde paßte dem bequemen Müller gar nicht und er schimpfte vor sich hin, als er die Allee zur Kaserne entlang schritt. Auch pflegte er in angeheitertem Zustand meist schlechte Laune zu haben, war händelsüchtig und brach gerne einen Streit vom Zaune, in dessen Verlauf er in unschöner Weise auf seine Sonderstellung als Adjutant und seine dabei gewonnene Diensterfahrung hinwies. Die Kameraden nannten es Größenwahn.

Durch die schneeerfüllte Luft sah man nur vor dem hellen Fenster der Wachtstube die dicken Flocken in wildem Spiele tanzen, drinnen aber schlief der Wachthabende und neben ihm zwei Gemeine.

Der Offizier vom Dienst war schon dagewesen [S. 104] und so hatte man es sich bequem gemacht, der Vorschrift entgegen Säbel und Helm abgelegt, den Rock geöffnet und eine warme Decke aus der Kaserne herbeigeholt.

Auf Posten stand der Gemeine Röse. Er hatte in dem Schilderhaus Schutz vor dem Unwetter gesucht und stand, den Säbel in der kalten Faust, an der Rückwand des schwarz und weiß gestrichenen Häuschens. Warum sollte er das nicht? Es war ja ausdrücklich gestattet!

Seine Gedanken weilten in der Ferne bei den Eltern und Geschwistern, die er in zwei Tagen zum ersten Male seit langer Trennung wieder sehen sollte. Wie freute er sich auf diese Stunde, da er nun als schmucker Kavallerist die Lieben daheim begrüßen, alte Freunde und im Stall den »Hans«, das brave Pferd, die blanken Kühe und die fetten Schweine wiedersehen durfte!

Aus seinen Gedanken schreckte ihn plötzlich ein lauter Ruf:

»Posten!«

Röse blinzelte durch die runde Luke an der Seitenwand des Schilderhauses, konnte aber niemand entdecken. Erst auf einen nochmaligen, laut durch die Winternacht hallenden Ruf trat er heraus und erkannte in dem undurchsichtigen Schneetreiben eine Gestalt, welche auf ihn zukam.

[S. 105]

»Warum präsentieren Sie nicht, Sie Schwein!« brüllte der Regimentsadjutant.

»Verzeihen Herr Leutnant, ich habe Herrn Leutnant nicht gesehen.«

»Halt' die Schnauze, verlogenes Aas, geschlafen hast du im Schilderhaus, eine Ewigkeit stehe ich hier und warte. Aber ich werde dir zeigen, du Bauer, was du zu tun hast!«

Damit schritt er vorbei und ließ Röse in starrem Schrecken stehen. Aus dem Regimentsgeschäftszimmer schrieb er folgende Meldung:

»Den von 12 bis 2 stehenden Posten fand ich bei einer Revision schlafend im Schilderhause vor. Derselbe trat erst nach zweimaligem Anruf heraus. Etwaige Einwendungen des Mannes, mich nicht gesehen zu haben, muß ich von vornherein als Unwahrheit bezeichnen, da ich genau bemerkt habe, daß er geschlafen hat.«

Die Meldung legte er auf den Arbeitstisch des Kommandeurs. Dann holte er den Schreiber aus dem Bett, verhandelte mit dem im Hemd auf dem kalten Korridor vor ihm stehenden Manne fast zehn Minuten und schritt dann seiner Wohnung zu. Er hatte jetzt sein Mütchen gekühlt und konnte ruhig schlafen. — —

Am Nachmittag des 22. Dezember kehrte Sergeant Schmitz aus dem Gefängnis zurück.

[S. 106]

Die früher so stolze, stramme Haltung hatte er verloren, sein Gesicht war bleich und der sonst so keck in die Höhe gewirbelte schwarze Schnurrbart hing strähnig um die Mundwinkel. Scheu sah er die ihm Begegnenden an, und wenn ein Soldat ihn grüßte, hielt er es für eine besondere Freundlichkeit, die ihm nicht zukomme, da er glaubte, in aller Augen zu lesen:

»Seht, das ist ein Bestrafter, ein Verbrecher!«

Als er sich beim Schwadronchef zurückmeldete, reichte ihm dieser die Hand.

»Tut mir leid, mein lieber Schmitz, daß ich Sie verlieren muß, Sie waren mir stets ein Untergebener, auf den ich stolz war und der seinen Dienst wie kein zweiter getan hat. Aber der Oberst hat befohlen, daß ich die Kapitulation mit Ihnen aufhebe und Sie sofort entlasse. Der Wachtmeister wird mit Ihnen das Nötige ordnen. Trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß Sie das Opfer einer gemeinen Gesinnung geworden sind, und so wünsche ich Ihnen alles Gute; wenn Sie mich brauchen können, bin ich stets mit Freuden bereit. Leben Sie wohl!«

Schmitz unterdrückte mit großer Mühe das Weinen, der Rittmeister aber ging dem Stall zu. Es ging ihm wirklich nahe, dieser nette, stramme Kerl, eine Stütze der Schwadron, um nichts und [S. 107] wieder nichts ins Unglück gestürzt und auf die Straße gesetzt! Es war eine Schweinerei!

So ging denn Schmitz zum Wachtmeister, der ihm seine Papiere und fünfzig Mark auf sein Sparkassenbuch übergab. Auch er drückte ihm bewegt die Hand.

»Haben Sie noch Invalidenansprüche, Schmitz?« fragte er darauf.

»Ich habe Rheumatismus seit dem Manöver, wo wir wegen Seuchenverdacht der Pferde drei Wochen biwakieren mußten!«

»Das haben Sie aber damals nicht gemeldet, und es ist schon fast 1½ Jahre her.«

»Gemeldet habe ich es nicht, weil ich mich nicht krank schreiben lassen wollte, ich mochte den Rittmeister mit den heruntergekommenen Pferden nicht sitzen lassen.«

»Ich werde beim Regiment sofort Meldung machen, Sie können ja einstweilen Ihre Sachen abgeben!«

So stieg denn Schmitz zu seiner Stube hinauf, packte die Montierungsstücke zusammen und schnürte seine paar Habseligkeiten in einen kleinen Koffer. Ehe er aber seine Uniform auszog, ging er in die Stadt und kaufte für 45 Mark einen Zivilanzug, einen Kragen und einen Hut. Schuhe besaß er noch.

Dann brachte er alle Uniformstücke dem Quartiermeister auf die Kammer, dem er auch seinen [S. 108] Extrarock, eine eigene Mütze und eine lange Hose für dreißig Mark verkaufte. Den Säbel wollte er als Erinnerung aufheben.

Jetzt kam das Schwerste, der Abschied von den Kameraden und den Pferden. Jeder hatte ein freundliches Wort für ihn, und mancher stumme Händedruck gab den schmerzlichen Gefühlen Ausdruck, mit denen man den lieben Kameraden scheiden sah. Selbst die Mannschaften drängten sich heran, um von ihm Abschied zu nehmen, er hatte sie zwar manchmal tüchtig vorgenommen, aber sie kannten ihn als einen anständigen Kerl, der sie nicht im Stiche ließ, wenn es darauf ankam.

Als der Mittagsstalldienst zu Ende war, ging Schmitz in den Stall. Kein Gang war ihm im Leben so schwer geworden, wie dieser, und als er die geliebten Tiere aus den eben gefüllten Krippen zu sich aufblicken sah, sobald sie seine Stimme hörten, da hätte er laut aufschreien mögen vor Weh und Schmerz.

Für »Klärchen« hatte er ein Stück Zucker mitgebracht und sowie er zu ihm in den Stand trat, suchte es gleich nach dem gewohnten Leckerbissen und bat mit gehobenem Fuß um einen zweiten. Er legte seinen Kopf an den sammetweichen Hals des Tieres, strich ihm kosend über die schönen Augen und die weichen Nüstern und küßte das Tier auf [S. 109] den Hals. Als er es verließ, glaubte er in dem traurigen Blick und den leisen Wiehern einen Abschiedsgruß zu empfinden. Auch von der alten »Marie« nahm er Abschied. Wie lange mochte sie wohl noch den Dienst aushalten? Zuletzt ging er zu »Napoleon«, dem Schmerzenskinde, aber auch er zeigte heute keine Spur der gewohnten Bösartigkeit, sondern sah den fremden Mann in Zivil mit fragenden Augen an.

Noch einen letzten Blick warf er auf seine Lieblinge, dann ging er mit unterdrücktem Schluchzen wieder der Stube zu, um seinen Koffer zu holen.

Im Eingang trat ihm der Wachtmeister entgegen.

»Mit Ihren Invalidenansprüchen ist es nichts, Schmitz, der Oberst hat gesagt, Sie hätten es gleich melden müssen, jetzt könnte jeder kommen. Dann hat er mir noch die Rechnung Ihres Rechtsanwaltes übergeben, der das Regiment um Eintreibung der Schuld ersucht hat. Es sind sechzig Mark, wenn Sie nicht zahlen können, soll eine Pfändung vorgenommen werden.«

Daran hatte Schmitz gar nicht mehr gedacht.

»In einer Stunde ist das Geld zur Stelle, Herr Wachtmeister!« sagte er nach kurzem Bedenken.

Darauf ging er der Stadt zu und trat bei einem Uhrmacher ein, legte seine silberne Uhr mit [S. 110] Kette auf den Ladentisch und fragte mit fester Stimme:

»Was geben Sie mir dafür? Ich brauche Geld!«

Der Uhrmacher besah mit spöttischen Augen das Stück und sagte dann achselzuckend:

»Zwanzig Mark, das ist aber reichlich Geld.«

Schmitz rechnete. Fünfunddreißig hatte er noch, zwanzig dazu machte fünfundfünfzig, es fehlten noch fünf Mark. Da streifte er entschlossen einen Ring vom Finger, das einzige Andenken an seinen verstorbenen Vater.

»Was ist Ihnen der wert?«

»Zehn Mark, mehr nicht!«

»Gut, geben Sie her, Sie haben es dafür!« Schmitz strich die drei Goldstücke ein, ging zur Kaserne, zahlte dem Wachtmeister sechzig Mark aus und holte seinen Koffer, um den Abendzug zur Stadt noch zu erreichen.

Wer den bleichen Mann mit dem kleinen Koffer gesenkten Blickes dahinziehen sah, ahnte nicht, daß es ein königlich preußischer Sergeant war, der jetzt eines ungeschickten kleinen Vergehens wegen, ohne einen Pfennig, aber mit Rheumatismus in allen Knochen und einer zertretenen Vaterlandsliebe im Herzen auf die Straße gesetzt war, um sich ein neues Lebensziel zu suchen, nachdem er seine beste Kraft, seine Gesundheit und seine Jugend dem Staat geopfert hatte.

[S. 111]

Auf der Anhöhe, von welcher aus man einen Blick auf die in ihrem weihnachtlichen Schneegewande ruhende Kaserne hatte, schaute er noch einmal hinunter und schüttelte drohend den Arm, einen wütenden Fluch ausstoßend.

Dann bestieg er auf dem Bahnhof einen Wagen vierter Klasse desselben Zuges, in welchem zahlreiche Soldaten singend und scherzend nach der Heimat fuhren, um dort im Kreise der Familie das Weihnachtsfest zu feiern. —

Der Abend des 24. Dezember war gekommen. Alle Welt, Tausende, Millionen waren heute glücklich, fühlten den Zauber, den das schönste aller Christenfeste selbst auf das härteste Gemüt ausübt, weil es heilige Erinnerungen in uns weckt. Es ist das hohe Fest der Liebe Gottes zum Menschen, der Liebe des Christen zum Nächsten. Und keiner ist es, den nicht der feierliche Klang der Weihnachtsglocken in eine weiche Rührung, eine stille Andacht versetzt: der mächtige König im Palast und der Arme in seiner Hütte, selbst der Verbrecher hinter der Kerkermauer, alle öffnen ihr Herz den Strahlen der Liebe, die es an diesem Abend durchleuchten.

tb

Friedrich Röse saß in der schlecht erwärmten Arrestzelle, in welcher er die 14tägige Strafe wegen Wachtvergehens verbüßte.

[S. 112]

Durch den mit Eisblumen bedeckten kleinen Lichtschacht sah er hinauf nach dem Fenster im ersten Stock der 3. Eskadron, wo ein Weihnachtsbaum im Lichterglanz erstrahlte. Schwermütig ernst ertönten die Klänge jenes ewig schönen Weihnachtsliedes, dessen Musik gerade in ihrer Eintönigkeit ergreifend wirkt. Fröstelnd saß er auf dem Rand der harten Holzpritsche, und eine Träne rollte über die Wangen hinab auf das Steinpflaster des Fußbodens. Wieder weilten die Gedanken daheim, aber nicht freudig, erwartungsvoll, sondern Verstimmung, Schmerz und Sehnsucht lagen in den Zügen des jungen Mannes.

Mit welcher Freude, welchem Eifer hatte er sich zum Militär gemeldet! Schon sein Vater, einst Wachtmeister der Gardekürassiere, schilderte das herrliche Soldatenleben in den schönsten Farben und hatte keinen größeren Wunsch, als seinen Jungen einmal als flotten Unteroffizier wiederzusehen.

Aber das gab es jetzt nicht mehr, er war bestraft mit strengem Arrest, gebrandmarkt für seine ganze Dienstzeit.

Die freudige Lust am Soldatenstande hatte sich mit einem Male in Haß und Ingrimm verwandelt gegen den bunten Rock, gegen alles, was Soldat sein bedeutete, mit einem Schlage war aus dem diensteifrigen, strebsamen Rekruten einer von den vielen geworden, die nur Soldat sind, weil sie es [S. 113] müssen und die den Tag der Entlassung als den ihrer Freiheit ersehnen.

Und warum war das alles?

Nicht weil er wissentlich seine Pflicht verletzt hatte, sondern weil es einem jener Herren Offiziere einfiel, die Laune seiner Trunkenheit an dem ersten besten Opfer auszulassen, das ihm in die Hände fiel. Und was der Herr in seiner Meldung behauptete, stand als bombenfeste Tatsache da, wer daran zweifelte, beging ein neues Vergehen, die Achtungsverletzung.

Röse hatte auf die bezügliche Frage seines Rittmeisters den Vorgang geschildert und seine Unschuld hoch und heilig beteuert, aber der Adjutant hatte hierauf erwidert, der Mann wolle sich jetzt herauslügen. Was er gemeldet habe, sei Tatsache.

Oder sollte er zugestehen: Ich habe dir Unrecht getan, habe mich geirrt, denn ich war betrunken und übler Laune? Fiel ihm gar nicht ein, er konnte sich diese Blöße nicht geben. Wie durfte er, der unnahbare, nie fehlende Regimentsadjutant eingestehen, sich geirrt zu haben? Er irrte sich eben nie, und was schadete es groß dem Kerl, wenn er die paar Tage brummte?

Was es schadete?

Daß es einen Apostel mehr gab, der verkündete, er sei als Soldat ein gepeinigter, in ein beschwerliches Joch gezwungener Mensch, der Spielball seiner [S. 114] Vorgesetzten gewesen, die ihre Laune an ihm ausließen, wie es ihnen behagte, daß unverdiente Härte und Ungerechtigkeit, gegen die es keine genügende Waffe gab, da zu finden gewesen seien, wo indviduelle Behandlung, Rücksicht und einsichtsvolle Überlegung am Platze wären.

Und was es weiter schadete?

Daß Jedermann, dem Röse in späteren Jahren seine Papiere vorlegte, die Achseln zuckte und dachte: »Du scheinst mir auch kein zuverlässiger Bruder zu sein, 14 Tage wegen Wachtvergehens, das ist übel!« — — — —

Gegen neun Uhr schreckte Röse ein Geräusch an der Tür aus seinen Gedanken. Ein Schlüsselbund klapperte, das Schloß schnappte und herein trat der Offizier vom Dienst, hinter welchem der Wachthabende stand.

Röse sprang auf, nahm eine militärische Haltung ein und meldete:

»Gemeiner Röse mit 14 Tagen wegen Wachtvergehens bestraft!«

Der Offizier schaute einen Augenblick in das Innere der dunkelen Zelle, ob er nicht etwa einen verbotenen Gegenstand außer der Schlafdecke und dem Wasserkrug entdeckte, dann wandte er sich zum Gehen. Da sagte Röse zögernd:

»Gestatten der Herr Leutnant eine Bitte?«

[S. 115]

»Wenden Sie sich an den Wachthabenden, wenn Sie etwas wollen«, entgegnete der Offizier kurz und tappte die Steintreppe hinunter, vorsichtig um sich schauend, daß er sich den grauen Mantel an dem staubigen Treppenhaus nicht beschmutze.

Der Wachthabende begleitete ihn bis zum Ausgang und kehrte dann zu Röse zurück.

»Was wolltest du denn?« fragte er wohlwollend.

»Ich wollte bitten, wenn ein Brief für mich da wär, daß ich ihn jetzt bekommen kann, Herr Unteroffizier!« antwortete Röse schüchtern.

»Ja, mein Junge,« lachte der Unteroffizier gutmütig, »das geht eigentlich nicht — erst absitzen, dann's Vergnügen.« Wie er aber Röse, der von seiner Schwadron war und den er gut leiden mochte, mit dem trübseligen Gesichte vor sich stehen sah, tat ihm der arme Junge leid. Es war doch eine harte Sache, hier den heiligen Abend verleben zu müssen und obendrein wegen einer solchen Lappalie, und schließlich sogar unschuldig. Er sagte daher freundlich zu Röse:

»Na ja, ich werde mal nachfragen lassen.«

Er verschloß die Zelle wieder und schickte einen Mann zu Röse's Berittführer mit der Bitte, doch einmal zu ihm zu kommen. Und als dieser herbeigekommen war, fragte der Wachthabende den Berittführer:

[S. 116]

»Ist ein Brief für den Röse da?«

»Ein Brief nicht, aber ein Packet habe ich für ihn vom Wachtmeister bekommen!«

»Weiß du was?« flüsterte der Wachthabende, »mach die Kiste auf und bring dem Kerl was rüber, das arme Luder tut mir leid.«

Der Berittführer nickte und verschwand, um bald mit einem Brief, einer Wurst und einem Stück Kuchen zurückzukehren. Der Wachthabende nahm alles in Empfang und stieg zu Röse hinauf. Gleichzeitig hieß er einen Mann mit einem Eimer Kohlen mit sich gehen.

Nach wenigen Minuten flackerte das Feuer in der Zelle wieder hell und Röse stand davor, um beim flackernden Schein den Brief der Eltern zu lesen. Dabei rannen ihm beständig die Tränen über die Backen. Dann versteckte er wie einen kostbaren Schatz Wurst und Kuchen hinter der Pritsche, hüllte sich in seine Decke ein und legte sich auf das harte Holzbett nieder.

Bald schloß der Schlaf die verweinten Augen, und im Traum saß Röse daheim unter'm Weihnachtsbaum im Kreise seiner Eltern und Geschwister.

Der 28. Dezember war ein Trauertag für die vierte Schwadron.

Die Leute, die erst am Abend vorher von Urlaub zurückgekehrt waren, gaben heute einem [S. 117] Kameraden das letzte Geleit: man trug den Gefreiten Dietrich zum Friedhof hinaus.

Er war stets ein schwächlicher Mensch gewesen. Damals aber, als er erhitzt und vom Regen durchnäßt in die kalte Stube kam und kein Feuer anbrennen konnte, weil ihm Roth die Kohlen verweigerte, packte ihm am selbigen Abend ein heftiges Fieber. Nach zwei Tagen stellte der Arzt Gelenkrheumatismus fest, der so stark auftrat, daß das Herz in Mitleidenschaft gezogen wurde und der Arme am ersten Weihnachtsfeiertage an Herzschlag starb.

Die tieferschütterten Eltern hatten zwar telegraphisch um Überführung der Leiche ihres einzigen Sohnes zum Heimatsort gebeten, doch da das Geld für einen Zinksarg und den Transport nicht kam, fand die Beerdigung auf dem Garnisonsfriedhof statt.

Am nächsten Tage wurde auch der vom Pferde geschlagene dicke Reserve-Gefreite aus dem Lazaret entlassen. Seine Verletzungen schienen zwar geheilt, doch war das ganze Gesicht durch die zurückgebliebenen Narben schrecklich entstellt und das linke Auge durch eine Operation entfernt worden, da man infolge der Verletzung desselben fürchtete, das andere Auge könnte in Mitleidenschaft gezogen werden.

So kehrte denn der Unglückliche als Halbinvalide mit einer monatlichen Pension von neun Mark in die Heimat zurück.

[S. 118]

tb

Der ehemalige Sergeant Schmitz saß am Sylvesterabend in seiner dürftigen Stube.

Er hatte sich, um der äußersten Not vorzubeugen, als Arbeiter einer großen Fabrik der Nachbarstadt verdingt und konnte so wenigstens seinen Lebensunterhalt verdienen. Er bewohnte ein mäßiges Zimmer im zweiten Stock eines Arbeiterhauses und wurde von der darin hausenden Familie gegen geringes Entgeld mit verpflegt.

Jetzt saß er am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Vor ihm stand ein Teller mit den Resten des kärglichen Abendbrotes, und eine kleine Lampe mit zerbrochenem Schirm warf einen matten, rötlichen Schein auf die am Tisch sitzende Gestalt und die ärmliche Einrichtung des kleinen Raumes. An der Wand stand ein eisernes Bett mit rot und weiß kariertem Bezug, und darüber waren Klinge und Scheide des Säbels übers Kreuz befestigt.

Auf einem kleinen Holzschemel stand eine Waschschüssel, daneben lag ein graues Handtuch. Das Feuer in dem kleinen Ofen war längst erloschen, nur einzelne klimmende Köhlchen lebten noch darin.

Wer den Mann da sitzen sah, konnte glauben, einen Schlafenden vor sich zu haben, aber Schmitz wachte, und in seinem Kopf jagten wilde Gedanken durcheinander. Er dachte an vergangene Zeiten, und je schroffer ihm seine jetzige Lebenslage von [S. 119] früheren Zeiten abzustechen schien, um so grimmiger wurde sein Haß gegen den, welcher ihn in seine jetzige Lage gebracht; er sann auf Rache, wie er jenen elenden Schurken strafen und brandmarken könne für seine gewissenlose, gemeine Handlungsweise.

Eine Weile noch saß er brütend da, dann erhob er sich mit finsterem Gesicht und trat an's Fenster, hauchte ein kleines Loch in die dicken Eisblumen und schaute hindurch nach der erleuchteten Uhr des Kirchturmes, aus dem jetzt das melodische Läuten der Glocken in die kalte Nacht hinaus drang, das Herannahen des neuen Jahres kündend.

Elf Uhr! Schmitz setzte seinen Hut auf, ergriff den Spazierstock, blies die Lampe aus und ging die dunkle Treppe hinab.

Auf der eisbedeckten Steinstufe vor der Haustür verweilte er einen Augenblick und lauschte dem dumpfen, feierlichen Glockenton. Sonst vernahm man keinen Laut, keinen menschlichen Tritt, nur ein fernes Rauschen wie ein Atem erfüllte die Luft, der Atem einer Großstadt in der Silvesternacht.

Schmitz schlug fröstelnd den Rockkragen hoch, steckte beide Hände in die Hosentaschen und ging, den Stock unter'm Arm, eiligen Schrittes dem Bahnhof zu, wo er für 20 Pfennig eine Fahrkarte nach seiner früheren Garnison erstand und den bereitstehenden Zug bestieg.

[S. 120]

Das kleine Städtchen lag wie ausgestorben in seiner schneeichten Hülle. Von der Kaserne flimmerten die hell erleuchteten Fenster wie Sterne herüber, und mitunter tönten abgebrochene Weisen eines Gesanges, oder einzelne Akkorde, vom Winde sanft getragen, klangen in die Nacht hinaus. In der Ferne summte es von dem Läuten zahlreicher Kirchenglocken, welche in den vielen umliegenden Dörfern und Flecken das neue Jahr begrüßten. Aus den hell erleuchteten Kneipen und Restaurationen aber ertönte lautes Reden, Lachen und Gesang fröhlicher Zecher, die dem neuen Jahr einen frischen Trunk entgegenbrachten.

Schmitz ging dem Stadtende zu, an welchem die Kaserne lag und machte vor einem Wirtshause Halt. Scheu blickte er um sich, ob Niemand ihn beobachte, dann stieg er auf den Rand der Mauer und schaute durch das angelaufene Fenster.

Richtig, dort saß der Roth, im Kreise einiger Unteroffiziere und Gefreiten, denn hier pflegte er allabendlich bis in die tiefe Nacht zu zechen oder ein Spielchen zu machen.

Vorsichtig stieg er wieder herab und schritt der Kaserne zu. Er bog in einen zu beiden Seiten mit beschneiten Hecken eingefaßten Richtweg und stellte sich an der ersten Biegung auf. Hier pflegte Roth auf dem Heimweg vorbeizukommen.

[S. 121]

Schmitz mußte lange auf seinem Posten ausharren, aber es war ihm wohl zu Mute.

Die bittere Kälte des Tages war um Mitternacht einer lauen Winterluft gewichen, ein sanfter Wind trieb seine Schneeflöckchen vor sich her und ließ die dürren Blätter der Buchenhecke rascheln. Unten, wo der schmale Weg in die Straße einbog, sah man mitunter eine Gestalt wie einen Schemen schwankenden Schrittes in dem Dunkelgrau der Nacht auftauchen und lautlos auf der weichen Schneedecke wieder verschwinden — Zecher, die nach reichlichem Trunk der Ruhe des Bettes bedurften. —

Schmitz fühlte keine Spur von Kälte, denn bei jedem neuen Schlag der fernen Turmuhr trieb ihm das Blut schneller durch die Adern, immer näher rückte der Augenblick, auf den er sich schon so lange gefreut.

Endlich, es hatte eben zwei Uhr geschlagen, nahte eine dunkle Gestalt.

Der Wartende drückte sich an die Hecke und faßte den Stock fester, das Herz klopfte ihm zum Zerspringen.

Schon war Roth auf wenige Meter herangekommen, das Gesicht fast ganz in dem hochgeschlagenen Mantelkragen versteckt, aber Schmitz erkannte den Wachtmeister genau, wie er, einen Gassenhauer vor sich hinpfeifend, mit schleppendem Säbel schwankenden Ganges daher kam.

[S. 122]

Als der Wachtmeister nur noch einige Schritte hatte, um neben Schmitz zu sein, trat dieser, den Stock auf der Schulter, breitbeinig vor seinen Gegner hin.

Roth stutzte einen Augenblick wie ein scheues Wild, dann sah er sein Gegenüber scharf an. Er erkannte ihn nicht.

»Was wollen Sie?« brachte er mit trockener Kehle hervor.

»Mit dir abrechnen will ich«, war die kurze Antwort, die dem Vizewachtmeister das Blut erstarren machte.

Einen Augenblick standen die beiden Männer einander gegenüber, da erkannte Roth seinen ehemaligen Freund.

»Ach, du bist es, alter Kerl, was willst du denn hier?« stieß er mit heiserer Stimme hervor.

»Das will ich!« schrie Schmitz und ließ seinen Stock sausend durch die Luft fahren. Der erste Schlag traf den Gegner mitten ins Gesicht.

Der zum Tod Erschrockene taumelte einen Augenblick, ehe er aber seinen Säbel ergreifen konnte, sauste ihm ein kräftiger Hieb nach dem anderen in's Gesicht, auf den Kopf, die Schultern und Hände.

Da stürzte er sich wie ein wildes Tier auf seinen Gegner. Schmitz aber holte aus und gab [S. 123] dem Wachtmeister eine schallende Ohrfeige, daß er rücklings zu Boden fiel.

»So, du ehrloser Hund, du feiges, dreckiges Aas, das war für deine gemeine Gesinnung und das ist für deine Lügerei!« Dabei gab er dem am Boden Liegenden einen derben Tritt und entfernte sich.

Im Gehen rief er noch spöttisch seinem Opfer zu:

»Jetzt darfst du mich wieder melden, du Schweinehund, aber dann habe ich so Verschiedenes zu erzählen!«

Nun war dem alten Futtermeister wieder wohl um's Herz, jetzt konnte er sein Schicksal ruhiger tragen, denn er wußte den Gegner gestraft. Die Rache ist doch süß!

Vizewachtmeister Roth mußte mehrere Wochen im Lazarett verbringen, bis seine Wunden im Gesicht und an den Händen geheilt waren. Er hatte angegeben, von einem betrunkenen Arbeiter überfallen worden zu sein und behauptete, ihn mit dem Säbel zu Boden gestreckt zu haben.

Daran wollte aber niemand recht glauben, denn es meldete sich weder ein verwundeter Arbeiter, noch war ein solcher durch Nachfragen bei den Ärzten der Umgegend festzustellen. Im Stillen wußte jeder, aus welchem Laden der verhaßte Wachtmeister seine Prügel bezogen hatte.

[S. 124]

Schmitz aber feierte in der Silvesternacht seine Rachetat durch einige Glas Bier, die er sich lange nicht geleistet hatte. Als er beim Schein der Lampe Blut an seiner Hand entdeckte, wischte er es ab wie das eines räudigen Tieres und warf sein Taschentuch in's Feuer. Dann rief er lustig:

»Noch eins, Herr Wirt!«

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[S. 125]

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Viertes Kapitel.

In den letzten Tagen des Januar herrschte in den Räumen des Offizierskasinos rege Tätigkeit.

Ein ganzes Aufgebot von Tischlern, Malern und Gärtnern war damit beschäftigt, die Zimmer und Korridore samt Veranda und Wintergarten in einen Festplatz mit zahlreichen Buden und Zelten umzuwandeln, damit Prinz Karneval in den ersten Tagen des Februar einen würdigen Einzug halten könne.

Unter dem Dach grünender Bäume waren buntbemalte, mit Plakaten aller Art bedeckte Schaubuden aufgeschlagen, in denen es köstliche Leckerbissen und allerlei Getränke, vom einfachsten Selterwasser bis zum echten Französischen, zu kaufen geben sollte, in einer anderen sollten einige als wilde Tiere frisierte Soldaten in Freiheit vorgeführt werden, ein drittes Zelt war als Bühne hergerichtet, auf welcher man durch Spezialitätenvorstellungen die Lachmuskeln der Festbesucher in Bewegung halten wollte. Zwei mit Bänken besetzte Rasenplätze luden zu den Genüssen einer Musikbande und echten [S. 126] Pilseners ein, während im Nebenzimmer ein Standesamt errichtet war, wo man sich unter Verabfolgung eines Glases Sekt für zehn Pfennig trauen und nach einer Stunde wieder scheiden lassen konnte.

Der große Speisesaal stellte den Hauptfestplatz dar. Auf einer mit Zweigen umkränzten Kanzel war Platz für ein Musikkorps, und die Trompeter des Regiments schweiften täglich in der ganzen Gegend umher, um irgendwo ein recht zerlumptes Musikantenkostüm aufzutreiben.

Sogar eine Photographierbude fehlte nicht, an deren Außenwand die verlockendsten Porträts und Gruppenbilder zu sehen waren.

Natürlich bildete die bevorstehende Festlichkeit den Hauptgesprächstoff während des Offiziersmittagstischs. Jeder wollte so originell als möglich angezogen erscheinen, und es war ein langes Hin- und Herberaten, bis man sich über das zu wählende Kostüm schlüssig wurde.

So kam der Tag des Festes allmählich heran. Am Nachmittag traf ein kleines Heer von Friseuren ein, und der Regimentsschneider zog mit seiner Nadelgarde von einem Herrn zum anderen, um noch Änderungen an den Kostümen vorzunehmen oder mit hülfreicher Hand einzugreifen, wo etwas nicht paßte.

Um sieben Uhr erwarteten die Ordonnanzen in [S. 127] schwarzen Kellnerfräcken die Festteilnehmer, und es währte keine halbe Stunde, bis die Herren und Familien des Offizierkorps mit ihren Gästen vollzählig erschienen waren.

Es bot ein buntes, farbenprächtiges Bild, wie sie alle in ihren mehr oder minder geschmackvollen originellen Verkleidungen durcheinanderwogten, während die Musik aus den verschiedenen Ecken des Festplatzes ihre Tanzweisen ertönen ließ. Dabei floß der Sekt in Strömen, und an einem Gartentische sah man sogar einen derben Bauern, den Knotenstock zwischen den Beinen, eine Portion Kaviar verzehren, während daneben ein Zirkusklown einen Hummer zerlegte.

Die drolligste Figur aber war der Kommandeur in seinem polnischen Bauernkostüm, mit der Pelzkappe auf dem Kopf. Wäre er in dieser Verkleidung auf dem Schweinemarkt in Pommern erschienen, hätte jeder Käufer einen bedeutenden Borstentier-Züchter in ihm vermutet, mit dem es sich lohnte, einen Handel anzufangen. Es machte ihm sichtlich auch keine Mühe, durch entsprechende Gebärden und Bewegungen die Treue seiner Rolle zu erhöhen.

Da der Sekt auf allgemeine Unkosten ging, war der Herr Oberst schon nach einer Stunde »veilchenblau«.

[S. 128]

Sein hoher Adjutant hatte nicht gut daran getan, die Verkleidung eines polnischen Juden zu wählen, denn auf diese Weise ersetzte er geschickt, was seinem Äußeren am waschechten Mauschel noch fehlte.

Frau König sah als Kammerzofe reizend aus, und ihre blauen Augen strahlten vor Vergnügen. Wäre es im Ernst gewesen, so hätte die niedliche blonde Dirn mit dem lebensfrohen frischen Gesichtchen sofort eine Stellung mit hohem Lohn gefunden. Dies erkannte auch der Jägerbursch, dessen Züge denen Bleibtreu's auffallend ähnlich waren, und er beschloß, mit dem sauberen Mädel »zu gehen«, um sich dann mit ihm zum Standesamt zu begeben. Erst das Ende des Festes machte einen Strich durch die so schönen »Flitterstunden« des jungen Paares und führte ihm die rauhe Wirklichkeit in Gestalt des zum Aufbruch mahnenden Gatten vor Augen.

Auch Frau Leimann erschien als Vierländerin nicht minder begehrenswert. Das Kostüm stand ihr gut, und Borgert weidete sich mit sichtlichem Behagen an der schönen Figur und den kleinen Füßchen seiner Hausgenossin.

Frau Kahle kokettierte als Blumenmädchen mit den jüngeren Herren, indem sie aller Augen auf den Ausschnitt ihres Kleides zog, an welchem sie [S. 129] eine herrliche Rose befestigt hatte. Auch sie spielte ihre Rolle vortrefflich, denn der Sekt ließ bereits eine befriedigende Wirkung erkennen. Leutnant Kolberg als Modegigerl hatte ihr bereits alle Blumen abgekauft und sie dann als »Arbeitslose« gänzlich mit Beschlag belegt.

Frau Rittmeister Stark allein paßte gar nicht in das Milieu des Festplatzes hinein. Die Wahl ihrer Gewandung hatte ihr heftiges Kopfzerbrechen verursacht, denn als Blumenmädchen oder Balletteuse zu erscheinen, schien ihr zu gewagt. Die Rolle einer Äpfel- oder Butterfrau fürchtete sie als zu naturgetreu, und so schwebte sie denn in einem schillernden Phantasiekostüm durch die Menge, das sie auf Befragen neckisch für das einer »Nixe in mittleren Jahren« erklärte. So hatte sie sich in eine Wolke rosa und mattgrüner Spitzen gehüllt, und der gewaltige Busen schien die Meereswogen darzustellen, während die bloßen Arme eigentlich mehr den Eindruck machten, als seien sie das Handwerkszeug einer »Kraftmenschin« oder Riesendame.

Drei jüngere Herrn bildeten ein vortreffliches Vagabunden-Kleeblatt, und man konnte glauben, die zerlumpten Gesellen hätten sich meuchlings von der Landstraße eingeschlichen, um einmal ein Fest der »oberen Zehntausend« mitzumachen. Die zu ihrer [S. 130] Rolle passende Trunkenheit hatten sie sich in kürzester Zeit angeeignet.

Leutnant von Meckelburg stand als Leierkastenmann unbeweglich in einer Ecke und konnte sich nicht entschließen, an dem lustigen Treiben teilzunehmen, dabei machte er ein Gesicht, welches nicht unmittelbar auf die Anwesenheit von Geist schließen ließ. Erst als er in späterer Stunde seine musikalische Dekoration in einem Winkel des Festplatzes verborgen, stellte sich allmählich etwas Geist ein, der aber dem Grunde einer geleerten Sektflasche entstammte.

Die Musik spielte die schönsten Tanzweisen und benutzte die Pausen zu intensivem Studium des Bierfasses, dessen Hahn aus dem Tannengrün ihres Podiums herauslugte.

Um 11 Uhr begann die Festvorstellung auf der kleinen dazu errichteten Bühne.

Ein Leutnant trug als Einleitung zwei prinkelnde Kouplets vor, indem er als anmutige Chansonette in einem reichlich dekolletierten Babykleidchen auf der Bühne herumhüpfte. Daran schloß sich die Aufführung einer Parodie auf Shakespeares »Hamlet«, in deren Verlauf sämtliche Mitwirkende durch Mord, Gift, Blitz, Hunger und Durst elendiglich zu Grunde gehen. Zum Schluß trat sogar der Souffleur auf die Bretter und gab, erschüttert durch [S. 131] die vor seinen Augen sich abspielenden Greuel, seinem inhaltlosen Leben durch freiwilligen Sturz in die Versenkung einen würdigen Abschluß.

So war die Stimmung immer anregender geworden und allmählich unterschied sich die Fastnachtsfeier des Offizierkorps nur noch durch den immer noch strömenden Sekt von dem Treiben auf einem wirklichen Festplatz zur Zeit der Dorfkirmes.

Leutnant Kolberg hatte sich inzwischen mit Frau Rittmeister Kahle in einer Laube niedergelassen und eine Rollschutzwand davorgestellt, um ungestört und ungesehen ein trautes Stündchen zu verbringen.

Eine kleine »Flirtation« war ihm Lebensbedürfnis, und, da die Garnison mit ihren soliden Bürgerstöchtern und ehrbaren Frauen seinen diesbezüglichen Ansprüchen nicht gerecht wurde, wollte er einmal hier sein Heil versuchen. Er wußte ja von Pommer her, wes Geistes Kind Frau Grete war und wollte nun auf diplomatischem Wege das Feld sondieren.

Die dazu erforderliche Zeit aber hatte er zu lange bemessen, denn schon nach einer Viertelstunde lag die kleine Frau wonne- und liebestrunken in seinen Armen und wehrte sich nicht im Geringsten, als der feurige Galan die Rose am Busen seiner neuen Geliebten einer eingehenden Besichtigung unterzog.

Das war doch ein anderer Kerl wie sein unbeholfener [S. 132] Vorgänger, der hatte Mut und Feuer, und sie malte sich ein Liebesleben mit dem neu eroberten Romeo in den glänzendsten Farben.

In einer anderen Laube saß Oberleutnant Leimann ganz allein und vergoß Bäche von Tränen. Das heulende Elend hatte ihn wieder pünktlich nach dem sechsten Glase gepackt.

Jeden tröstlichen Zuspruch wies er schroff zurück, und die Ordonnanzen wollten sich tot lachen, wenn sie den heulenden ungarischen Magnaten wie ein Häuflein Unglück auf einem Weinfaß sitzen und herzbewegend schluchzen sahen.

Seine Gattin fand die Situation höchst langweilig und beschloß daher, einen Migräneanfall zu bekommen. Sie nahm also mit müden Zügen in einer anderen Ecke Platz und bat den sofort hinzukommenden Borgert, sie nach Hause zu bringen.

Durch diesen Auftrag nicht unangenehm berührt, bot er der schönen Vierländerin den Arm, geleitete sie zur Garderobe, warf ihr den Pelzmantel über die Schultern und geleitete sie nach Hause.

Als sie vor der Tür des gemeinsamen Hauses standen, tat sie einen tiefen Seufzer und sagte leise:

»Die Luft hat mir gut getan! Es ist mir wieder wohl!«

»Also darf ich Sie wieder zum Kasino zurückbegleiten?« [S. 133] war Borgert's Antwort, und der Ton seiner Stimme verriet sichtliche Enttäuschung.

»Ach nein, wir wollen bei mir noch eine Tasse Kaffee trinken, das wird uns gut tun, ich habe auch gar keine Lust, wieder unter diese betrunkenen Menschen zu gehen, es ist ein widerwärtiger Anblick!«

»Ganz wie Sie wünschen, meine Gnädigste!«

Dabei schob er den Schlüssel in das Schloß, öffnete die Tür, und beide stiegen schweigend die dunkle Treppe hinauf.

Als sie im Zimmer angelangt waren, holte Borgert die Lampe herbei und zündete sie an. Er kannte genau den Platz, wo sie zu finden war. Dann griff er nach einer Zeitung und setzte sich träge in die Sofaecke.

Frau Leimann aber war im Nebenzimmer verschwunden, um nach wenigen Augenblicken wieder mit der Kaffeemaschine zu erscheinen, auch hatte sie das Fastnachtskostüm mit dem Morgenrock vertauscht, dessen weicher Faltenwurf sich kosend an die schönen Glieder schmiegte.

»So,« sagte sie, die Gardinen zuziehend, »jetzt sind wir endlich in unseren vier Pfählen, jetzt wollen wir noch ein Stündchen gemütlich plaudern!«

Dabei ließ sie sich ebenfalls auf das Sofa fallen, und Borgert's Augen hingen wie trunken an der [S. 134] jugendlich schönen Gestalt, die sich unter dem Stoff des Gewandes verriet.

»Endlich allein! könnte man eigentlich sagen,« scherzte Borgert, »hoffentlich kommt Ihr Gatte nicht zu bald nach, damit unser idyllisches Kaffeestündchen nicht gestört wird.«

»Mein Mann?« erwiderte Frau Leimann mit spöttisch emporgezogenen Lippen, »der kann bleiben wo er ist, wie ich ihn kenne, kommt er vor morgen früh auch nicht nach Hause. Ich habe den Menschen schrecklich satt! Ich kann ja zu Ihnen offen reden!«

»Ja, gnädige Frau, das sind eben die Freuden und Leiden des Ehestandes. Drum prüfe, wer sich ewig bindet, sagt Schiller, denn sonst gibt es eben ein Unglück!«

»Sie haben gut reden! Man kann doch in den paar Wochen, die man verlobt ist, nicht seinen Zukünftigen so kennen lernen, wie man es in der Ehe tut. Hätte ich das gekonnt, dann hätten wir nicht diese Dummheit begangen, uns zu heiraten. Denn ich bin ihm jetzt zu arm und er wird mir allmählich unausstehlich!«

»Darum heirate ich nie, ich lasse die Finger von diesem Hazardspiel!«

»Aber man ist doch schließlich dazu da!« erwiderte Frau Leimann fast gereizt, »man will doch [S. 135] später nicht als alte Jungfer zum Gespött der Leute werden.«

»Nach unseren Gesetzen und gesellschaftlichen Regeln hilft es eben nichts, gnädige Frau, da heißt es entweder heiraten oder ledig bleiben. Aber das ist entschieden eine Lücke in unserer Weltordnung. Wie wenige sind es, die, nach langjähriger Ehe vor die Frage gestellt, ob sie sich noch einmal heiraten würden, mit einem aufrichtigen »Ja« antworten könnten! Meistens würde man doch die Gelegenheit benutzen, auseinander zu laufen. Ich setze dabei also voraus, daß es eine Bestimmung gäbe, die nach beispielsweiser zehnjähriger Ehe diese trennen und den Gatten eine nochmalige gegenseitige Heirat gestatten würde.«

»Sie haben Recht, manche möchten schon nach den ersten Wochen wieder auseinander, aber sie müssen weiter neben einander her vegetieren, weil sie durch die sogenannte Ehe zusammengebunden sind.«

»Das wäre etwas voreilig gehandelt, gnädige Frau, denn viele Ehegatten müssen sich erst an einander abschleifen und ganz genau kennen, um sich schätzen zu lernen, wozu oft lange Jahre gehören, und dann kommt es doch häufig vor, daß sie in späteren Jahren recht gut miteinander auskommen, während sie früher wie Hund und Katze standen.«

[S. 136]

»Gewiß, aber wenn nach zehn Jahren keine Liebe da ist, dann kommt sie auch nicht mehr!«

»Das möchte ich beinahe auch glauben,« lachte Borgert, »man sieht eben, die Ehe ist keine zeitgemäße Einrichtung. Sie mag gut sein für zwei Menschenkinder, die äußerer Vorteile wegen, wie sie auch sein mögen, sich heiraten. Aber für Menschen, die nur zusammenkommen, weil sie glauben, sie lieben sich, ist es nichts, denn wenn die Liebe vorbei ist, ist die Ehe nur ein Martyrium. Und deswegen sollte es für solche, die sich näher treten wollen, eine andere Einrichtung geben, als sie dann gleich fürs ganze Leben aneinander zu fesseln!«

»Sie meinen also dann, an Stelle der Ehe sollte man die sogenannte »freie Liebe« einführen?«

»Gewiß, gnädige Frau, entweder das, oder, wenn dies aus irgend welchen Gründen nicht ratsam erscheinen sollte, eine Einrichtung schaffen, wie sie die Orientalen haben. Hat dort ein Mann sich an einer Frau gesättigt, wenn ich mich drastisch ausdrücken soll, so geht er einfach zur nächsten über, denn er darf sich ein ganzes Hans voll halten. Aber er wird einer einzelnen gar nicht so schnell überdrüssig, weil er eben Abwechslung in der Liebe haben kann. Und man kann doch keinen Menschen zwingen, sein ganzes Leben nur immer denselben oder dieselbe zu lieben!«

[S. 137]

»Da schiene mir denn doch die freie Liebe noch ratsamer, wenn Sie einmal die Einzelehe verwerfen wollen, denn sie wäre noch weniger durch Grenzen und Gesetze beengt, wie es die orientalische Ehe trotzdem ist.«

»Selbstverständlich, welchen Unsinn und widernatürlichen Zwang unsere Ehe bedeutet, sehen Sie, wenn Sie ihr Wesen einmal genau definieren. Was heißt Ehe? Ein Bündnis zwischen Mann und Frau, die sich lieben oder deren äußere Verhältnisse eine Verbindung ratsam erscheinen lassen. Dabei machen Kirche und Gesetz, manchmal auch nur letzteres allein, dieses Bündnis, Ehe genannt, zu einem rechtmäßigen.

Aber erstens: die sich lieben. Tun sie das immer und dann durch das ganze Leben? Nein, nur in der Minderzahl der Fälle bleibt eine etwa zu Anfang vorhandene Liebe bestehen, aber die Ehe ist von Gott und Natur dazu bestimmt, Liebende zu verbinden. Tut sie das nicht, ist es Unsinn.

Zweitens: eine Ehe zwischen äußeren Umständen gibt es auch nicht, denn um aus gemeinsamen Vorteilen, oder wie Sie es nennen wollen, Gewinn zu haben, ist Handel und Geschäft der richtige Weg, aber nicht die heilige Ehe.

Drittens: eine Ehe, in welcher die Liebe schwinden kann, ist ebenfalls hinfällig, denn man muß [S. 138] bei der Trauung dem Pfarrer, gewissermaßen also dem Stellvertreter Gottes, das eidliche Versprechen geben: wir wollen uns das ganze Leben in Liebe angehören. Dieser Eid ist also sofort in einen Meineid verwandelt, wenn die Liebe schwindet. Und wie kann man mich denn zwingen, etwas zu schwören, von dem ich noch gar nicht weiß, ob ich es zu halten im stande bin? Wider die Natur kann doch kein Mensch!

Der Begriff Ehe ist also abgetan.

Was haben nun weiter Gesetz und Kirche mit der Verbindung zweier Menschen zu tun, die sich lieben? Die Kirche gibt ihren Segen dazu und soll den Bund heiligen. Das ist aber überflüssig und lediglich eine Formsache, denn das Gefühl der Weihe, wie es die Trauung einflößen soll, haben zwei Menschen von selbst, die sich wirklich gern haben und den Entschluß fassen, sich zu verbinden.

Ferner, ein Gesetz muß es ja geben, denn es bildet die Norm für auseinandergehende Ansichten, und ohne Gesetz ist kein Staat, kein gemeinschaftliches Wirken zweier oder mehrerer Menschen denkbar. Die Liebe als solche aber, wie sie allein zwei Gatten zusammenführen soll, braucht keine Gesetze, denn diese sind von der Natur aufgestellt. Ein Gesetz schreibt Handlungen oder Unterlassungen vor, gibt Anhaltspunkte für das menschliche Zusammenleben [S. 139] und Wirken, Gefühle aber kann es nicht vorschreiben, also auch nicht rechtskräftig machen.

Zwei Menschen also, die sich wirklich lieben und fühlen, daß sie zusammen gehören, verbinden sich am natürlichsten durch die freie Liebe!«

»Aber warum sollen sie sich denn nicht heiraten, wenn sie unbedingt glauben, zusammen zu gehören?« warf Frau Leimann ein.

»Weil sie der Kirche keinen falschen Eid geschworen haben, wenn die Liebe einmal schwindet, auch können sie dann ruhig wieder auseinander gehen.«

»Aber dafür gibt es doch die Scheidung!«

»Gewiß, die gibt es. Eine Scheidung aber wirbelt meist so viel Staub auf und hat oft so nachteilige Folgen für die Beteiligten, daß sie lieber jahrelang in gegenseitigem Überdruß, oder gar in Haß und Verachtung neben einander leben, als sich zur Scheidung entschließen. Abgesehen von den großen gesetzlichen Schwierigkeiten einer solchen ist es aber auch meist schwer, die nun einmal verbundenen äußeren Umstände, Vermögen u. s. w. zu trennen.

Hört freie Liebe auf, so geht man stillschweigend wieder auseinander und führt nicht jahrelang ein widernatürliches Leben in einer sogenannten Ehe. Auch werden sich Mann und Frau, solange wahre [S. 140] Liebe zu einander vorhanden ist, nicht gegenseitig mit einem anderen betrügen, und damit wäre viel Unglück und Sünde aus der Welt geschafft.«

»Aber dann müßte ja jeder gesellschaftliche Familienverkehr aufhören, denn die Männer eines gemeinsamen Wirkungskreises, z. B. eines Offizierkorps oder die Beamten eines Gerichtes würden dann aus so verschiedenen Schichten der Gesellschaft oder des Volkes ihre Frauen wählen, daß diese gar nicht zusammen passen würden!«

»Das wäre kein Hinderungsgrund, gnädige Frau: die zu einander passen, könnten doch miteinander verkehren. Die übrigen bleiben sich eben gegenseitig fremd. Oder finden Sie es etwa schön, daß Frauen, die sich innerlich ganz fern stehen und bleiben, jeden Tag wie dicke Freundinnen zusammensetzen, weil es der gesellschaftliche Verkehr verlangt?«

»Das finde ich allerdings nicht schön, man braucht sich ja nur einmal unsere Damenkaffees zu betrachten.«

»Die Wahl der Frau in der freien Liebe ist an keine Gesellschaftsklasse gebunden, weil dann die Frau dem Manne eben nicht dazu dient, sich äußere Vorteile in Stellung oder pekuniärer Beziehung zu schaffen oder um mit ihr Staat zu machen, sondern nur für die Liebe, also für das engere Leben in Haus und Familie.«

[S. 141]

»Aber die Ehe ist doch eigentlich nur die Form für ein Naturgesetz, daß nämlich das Menschengeschlecht erhalten wird.«

»Stimmt, aber dieses Naturgesetz wird weit besser durch die freie Liebe als durch die Ehe gefördert. Nehmen Sie eine Ehe, in welcher die wirkliche Liebe der Gatten zu einander geschwunden ist, oder sie sich vielleicht sogar überdrüssig sind. Scheiden lassen wollen sie sich nicht, aber Kinder werden doch in die Welt gesetzt, eins nach dem anderen. Diese aber sind keine Kinder der Liebe, und ihre Erziehung, Charakter- und Gemütsbildung muß doch darunter leiden, wenn sie keine inneren Beziehungen, keine Herzens- und Seelenverwandschaft der Eltern empfinden, denn dahinter kommt ein Kind sehr bald. Aber auch die Kinderzahl würde sich in der freien Liebe verringern, denn ein Mann, der seine Frau wirklich lieb hat, macht keine Maschine aus ihr, und glauben Sie nicht, daß zum Glück einer Ehe schon zwei Kinder genügen? Jedes weitere bringt nur Last und Sorge. Wenn aber, besonders in niederen Volksklassen, die Kinderzahl abnimmt, ist auch gleichzeitig eines jener Grundübel beseitigt, die den Sozialismus fördern.«

»Nun nehmen Sie aber eine Ehe, die fünf Kindern das Leben gibt und setzen Sie statt der Ehe die freie Liebe: Der Mann wählt jedes Jahr [S. 142] eine andere Frau, das lassen Sie zwanzig Jahre so fortgehen und es gibt unter normalen Umständen zwanzig Kinder statt fünf. Was soll aus ihnen werden? Der Mann kann doch nicht jedesmal in sein neues Liebesverhältnis die jährlich wachsende Kinderzahl mitbringen und sie alle großziehen!«

»Betreffs der Kinder der freien Liebe könnte es ja ein Gesetz geben, welches dem Vater dieselben Verpflichtungen auferlegt, wie sie für außereheliche Kinder bestehen. Dann würde er sich schon einzurichten wissen, wenn er zu regelmäßigen, seinem Einkommen entsprechenden Geldopfern gezwungen wäre.«

»Und wenn der zweiten Frau nicht paßt, daß er das Kind des ersten Verhältnisses mitbringt?«

»Dann könnte man Erziehungshäuser in großem Styl errichten. Schon unter den jetzigen Verhältnissen wäre es oft gut, wenn ein Kind nicht bei den Eltern aufwüchse, die nicht harmonieren, und so dem jugendlichen Gemüt Eindrücke zu teil werden, die ihm nicht von Nutzen sind.

Indeß nennt man ja Kinder das Unterpfand der Liebe, sie würden das einmal eingegangene Verhältnis erhalten helfen.«

»Dann kämen wir also wieder auf die Ehe zurück!«

»Gewiß, aber auf eine Ehe, die wir jeden Tag selbständig lösen dürfen.

[S. 143]

Wir Menschen tun gut, uns in allem an die Natur zu halten, an ihr künsteln und bessern zu wollen, hat meist den entgegengesetzten Erfolg. Ein Tier tritt auch nicht vor den Altar oder den Standesbeamten, wenn es sich mit einem anderen paaren will. Sind sie von einander gesättigt, läuft das eine wieder nach Süden, das andere nach Norden.«

»Wir sind aber doch mehr wie Tiere!« lachte Frau Leimann.

»Dafür haben wir auch die Liebe, ein Tier kennt nur Triebe!«

Frau Leimann schwieg. Ein so ernstes Gespräch hatte sie lange nicht geführt und es machte ihr fast Mühe, dem Gedankengang zu folgen. Schien ihr auch mancher Punkt noch anfechtbar, im Grunde war es doch richtig mit dieser freien Liebe, und sie bedauerte beinahe, daß man in der Kultur noch nicht so weit gekommen sei. Das wäre eher nach ihrem Geschmack gewesen, als die Ehe mit so einem langweiligen, häßlichen Mann, wie ihr Gatte war, mit so unendlich vielen schlechten Eigenschaften. Sie besaß auch genügend Feingefühl, um mit dem schlauen Verstand einer Frau zu empfinden, wo hinaus Borgert mit Entwickelung dieser seiner Ansichten wollte. Sie warf daher ihr erhitztes Köpfchen auf, blinzelte verschmitzt den Apostel der freien [S. 144] Liebe von der Seite an und fragte mit erheuchelter Unbefangenheit:

»Nun, sagen Sie, wenn eine Frau schon verheiratet ist, also bereits durch eine Gesetzesehe gebunden, und kommt nun nachträglich zur Einsicht, daß die freie Liebe besser ist? Was dann?«

»Dann mag sie ihrer Einsicht folgen, nur darf sie es nicht so offenkundig vor aller Augen tun, da sie es eben nach den vorläufig noch bestehenden Grundsätzen über eheliche Treue nicht darf. Sie muß es machen wie die Pariserin.«

»Dann wird es aber Zeit, daß ich mich nach einem solchen heimlichen Romeo umsehe, denn mein Gesetzlicher wird mir allmählich unheimlich!« rief Frau Leimann belustigt.

»Kann ich Ihnen dabei behilflich sein, Gnädigste?« entgegnete Borgert ebenfalls scherzend.

»Sie würden es sich damit wahrscheinlich wieder leicht machen, denn, wenn ich mich recht entsinne, stellten sie sich schon einmal freundlichst zur Verfügung!«

»Womit ich auch in diesem Falle meine Dienste beginnen würde!«

»Dann könnte ich ja mit Ihnen einmal die neue Theorie probieren, schade, daß kein heimlicher Standesbeamter da ist. Aber nein, den haben Sie ja als überflüssig verworfen.«

[S. 145]

»Nein, den brauchen wir nicht, wir machen die Sache unter uns ab!« sagte Borgert scherzend.

»Bedarf es denn gar keiner Formalitäten?«

»Gewiß, sogar vieler, und zwar derselben wie beim Abschluß einer richtiggehenden Ehe!«

»Ach so, Sie meinen einen Händedruck und einen innigen, tränenfeuchten Blick?«

»Auch das gehört dazu.«

»Auch? Was denn noch? Ich habe so ein schlechtes Gedächtnis.«

»Ich will es Ihnen ins Ohr sagen, rücken Sie etwas näher!«

Frau Leimann rückte dicht neben Borgert und sagte, unbefangen scherzend:

»Das scheint ja eine große Heimlichkeit zu sein!« Sie beugte ihren Kopf zu Borgert hin, welcher in diesem Augenblick mit beiden Armen die schöne Frau umschlang, während seine Lippen die ihren suchten. Da schlang auch sie die Arme um den Mann, und lange hielten sie sich so umschlungen, während ein heißer, glühender Kuß all die verhaltenen Gefühle der Liebe auszuströmen schien, die lange beider Herzen erfüllt.

tb

Die Lampe war schon im Erlöschen begriffen, als ein unsicherer, schwerer Schritt auf der Treppe vernehmbar ward.

[S. 146]

»Er kommt!« stieß Frau Leimann erschrocken aus, »Du mußt dich eilen, daß er dich nicht hört!«

Eine letzte Umarmung, und Borgert huschte durch das Speisezimmer dem anderen Ende des Korridors zu, um über die Hintertreppe nach seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung zu gelangen. An der Tür aber zog er behend die Schuhe aus und tappte leise die dunkle Treppe hinab.

Frau Leimann aber blies die Lampe aus, stellte Borgerts Kaffeetasse unter das Sopha und legte sich wie schlafend in die weichen Kissen zurück.

Inzwischen hatte Leimann geräuschvoll die Korridortür geöffnet und trat jetzt in das Zimmer, wo die Gattin seiner harrte.

Einen Augenblick blieb er am Eingang stehen. Roch es hier nicht nach Zigarettenrauch? Dann tastete er mit den Händen nach dem Tisch, ergriff die Streichholzschachtel und zündete eine Kerze an. Da erblickte er seine Gattin auf dem Sofa.

Der Anblick rührte ihn. Hatte die treue Seele auf ihn gewartet, um ihm noch eine Tasse Kaffee anzubieten? Gewiß war sie vor Müdigkeit entschlummert und hörte ihn nicht, als er nach Hause kam. So trat er denn behutsam an das Sofaende und küßte seine Frau auf die Stirn.

Mit einem leichten Schrei fuhr sie empor.

[S. 147]

»Ach du bist es, Georg, wo bleibst du so lange?«

»Sei mir nicht böse, mein Engel, daß ich dich warten ließ, aber ich ahnte ja nicht, daß du meinetwegen aufbleiben würdest. Warum hast du dich nicht gelegt?«

Aus den Worten klang ein liebevoller Ton, sie schienen wie eine Entschuldigung, eine Bitte um Verzeihung; Frau Leimann aber wischte sich den Schlaf aus den Augen und erhob sich müde.

»Ich mußte doch auf dich warten, Georg, du warst wieder in einem schrecklichen Zustand. Als ich dich so sitzen sah, wurde mir so elend, daß ich es nicht mehr aushalten konnte, und ging nach Hause!«

»Allein, so spät, in der Nacht? Warum hast du dich nicht von einer Ordonnanz begleiten lassen?«

»Borgert hat mich bis an die Tür gebracht, er bot mir seine Begleitung an!«

»Dafür muß ich mich morgen bei ihm bedanken, er ist überhaupt immer sehr aufmerksam gegen dich! Wo ist er denn geblieben, ich habe ihn nicht mehr gesehen den ganzen Abend!«

»Er klagte über Kopfweh, hatte auch ziemlich genug, er wird wohl zu Bett gegangen sein.«

»Warum hast du ihm nicht noch eine Tasse Kaffee angeboten?«

[S. 148]

»Aber Georg, was sollen denn die Dienstboten denken, wenn sie mich um diese Zeit noch mit einem Herrn kommen hören, das geht doch nicht! Diese Marie spitzt und horcht überhaupt immer herum, daß man sich zusammennehmen muß, daß sie nicht einmal ein Wort auffängt. Ich möchte nicht wissen, was die über uns schon alles geklatscht hat!«

»Dann schicke sie doch fort, wenn du ihr nicht traust!«

»Das hätte ich längst getan, aber ehe sie ihren rückständigen Lohn nicht hat, kann ich ihr nicht kündigen.«

»Dann bezahle sie morgen!«

»Wovon? Hast du das Geld dazu?«

»Ich? Du weißt, daß ich von meinen paar Mark Gehalt für den Haushalt nichts hergeben kann. Hat deine Mutter denn diesen Monat noch nichts geschickt?«

»Nein, sie hat diesmal selbst nichts übrig!«

»Natürlich, das alte Lied!«

»Soll das vielleicht wieder ein Vorwurf sein? Du hast es ja gewußt, daß ich nicht reich bin, also tue mir den Gefallen, mich endlich mit deinen Anspielungen und Klagen zu verschonen, ich finde das allmählich langweilig und geschmacklos!«

»Ja, das willst du nicht hören! Du hättest [S. 149] früher einsehen müssen, daß eine solche Wirtschaft ohne Geld ein Unding ist! Jetzt haben wir jeden Tag die Schweinerei, heute kommt der Metzger, morgen der Bäcker, übermorgen die Waschfrau, alle wollen sie Geld. Ich kann es mir nicht aus den Rippen schneiden.«

»Warst du es nicht selbst, der mich nicht los ließ? Hast du nicht alle diese Bedenken ausgeschlagen und immer wieder auf eine Heirat bestanden?«

»Gewiß, aber du und deine Mutter mußtet so vernünftig sein, den Unsinn einzusehen, wenn ich es nicht tat. Deine Mutter wußte, was ein Haushalt kostet, ich aber nicht. Jetzt ist es zu spät.«

»Das sehe ich selbst ein, das brauchst du mir nicht unter die Nase zu reiben. Aber meine Schuld ist es nicht, denn wäre alles so geworden, wie es meine Mutter wollte, brauchtest du dich heute nicht über eine arme Frau zu ärgern. Du warst nicht der einzige, den ich hätte heiraten können.«

»Das hättest du damals gleich sagen können,« entgegnete ihr Gatte höhnisch, »es tut mir aufrichtig leid, wenn ich störend in deine Zukunft eingegriffen habe.«

»Du bist gemeiner, Georg, als ich dachte.«

»Die Wahrheit wollt Ihr Weiber niemals hören, wenn man euch nicht ewig Schmeicheleien [S. 150] sagt und schöne Töne vorflötet, seid ihr gleich auf den Fuß getreten!«

»Nun, ich bin von dir nicht gerade verwöhnt mit derartigen Liebkosungen!«

»Weil ich nicht weiß, wofür ich sie dir schuldig bin. Vielleicht dafür, daß ich heute nicht weiß, wie ich meinen Schuster bezahlen soll, statt daß ich auf der Kriegsakademie bin und ein anständiges Leben vor mir habe?«

»Schweig, du gemeiner Mensch, du hast kein Recht, mich zu beleidigen! Verlaß mein Zimmer oder ich verlasse das Haus!«

»Zu Befehl, meine Gnädigste! Angenehme Ruhe!«

Dabei schlug Leimann hinter sich die Tür ins Schloß, daß die Fenster zitterten und begab sich in sein Schlafzimmer.

Seine Gattin aber vergrub schluchzend das Gesicht in den Sophakissen und machte in einem Tränenstrom den Gefühlen des Hasses und der Wut gegen den herzlosen Gatten Luft. Ihr ganzes Inneres empörte sich gegen die Gefühlsroheit dieses Menschen, dem sie gefolgt war, weil er ihr auf den Knien schwor, nicht ohne sie leben zu können, und nun trat er die dargebrachte Liebe mit Füßen, entweihte alle heiligen Erinnerungen eines Frauenherzens, welche sich an den ernstesten Schritt ihres Lebens knüpfen und ihm in schweren Stunden eine [S. 151] Stütze, ein Halt sein sollen, um Unglück und Ungemach leichter ertragen zu können.

Und hatte sie noch vor wenigen Minuten, als Borgert sich aus ihren Armen befreite, etwas empfunden wie eine schwere Sünde, ein Verbrechen an der Heiligkeit der Ehe, eine Gewissenlosigkeit gegen den Ahnungslosen, so schien ihr jetzt ihre Handlungsweise eine gerechte Sühne und entschuldbare Folge für die brutale, herzlose Gefühlsroheit ihres Gatten.

Denn nie ist das Herz des Weibes mehr empfänglich für die verbotene Liebe eines fremden Mannes, als in dem Augenblick, da es in den letzten Zuckungen liegt von dem Todesstoß, den ihm der eigene Gatte gab.

tb

Der Morgen des jungen Tages vertrieb die letzten Festgäste aus dem Kasino. Ausnahmslos hatte der Sekt seine Wirkung getan, und man verließ den Festplatz in einer Stimmung, die darnach angetan war, die Grenzen des guten Tones immer mehr zu überschreiten.

Die nahe Turmuhr schlug fünf, als die letzten, Rittmeister Stark nebst Gattin und der Oberst, den seit drei Stunden wartenden Krümperwagen bestiegen, dessen Pferde, durch den anhaltenden Regen ganz steif geworden, sich kaum entschließen konnten, [S. 152] ihre Last in den Morgennebel zu ziehen. Erst als der Kutscher einen Puff erhalten und mit der Peitsche diesen an die armen Tiere weitergegeben hatte, kam das Gefährt ins Rollen und brachte die übermütigen Nachtschwärmer ihrer Wohnung zu.

Leutnant von Meckelburg und Oberleutnant Specht konnten zwar kaum noch auf den Beinen stehen, aber sie gingen getrost in die Kaserne, um von 5-6 Uhr Instruktion abzuhalten, nachdem sie sich schnell umgezogen. Specht vergaß sogar, seinen künstlichen Schnurrbart zu entfernen und erschien mit dieser an ihm ungewohnten Zierde der Männlichkeit vor seinen lächelnden Rekruten.

Die meisten andern Herren zogen es vor, erst ihren Rausch ein wenig auszuschlafen und ließen Dienst Dienst sein, vor 11 Uhr kam heute doch kein Rittmeister in die Kaserne.

Sie sollten mit ihrer Vermutung auch Recht haben. Rittmeister König allerdings war pünktlich um 7 Uhr zur Stelle und wohnte Bleibtreus Reitunterricht bei, um dann eine Zählung der Kammerbestände vorzunehmen. Sein Grundsatz war und blieb: Vergnüge dich, so viel du willst, aber Dienst ist Dienst.

Hagemann erschien erst gegen elf Uhr auf der Bildfläche, um seinen Kater von seinem Leibroß ein wenig spazieren tragen zu lassen. Stark dagegen [S. 153] zog es vor, ganz zu Hause zu bleiben. Dafür kontrollierte seine wackere Gattin, mit dem Notizbuch in der Hand, ob alle Reitlehrer bei ihren Abteilungen seien und notierte Kolberg als den ersten, der den Dienst »schwänzte«.

Um ½1 Uhr empfing sie den Besuch des Rittmeisters Hagemann, der sich entschuldigen wollte, weil er am gestrigen Abend infolge seiner sehr angeregten Stimmung der »Meernixe« einige unzarte Schmeicheleien gesagt hatte. Er hatte nämlich geäußert, sie müsse infolge ihres Fettgehaltes vorzüglich schwimmen können, wenn das Meer nicht vor der Fülle ihres Nixenleibes aus den Ufern träte.

Leimann ging ebenfalls eilig im Helm durch die Hauptstraße, um auch seinerseits für sein gestriges Benehmen um Entschuldigung zu bitten.

Erst der Abend fand die Mehrzahl der Herren bei einem solennen Dämmerschoppen im Kasino versammelt, wo man das Fest des vergangenen Tages besprach und in mehr oder minder würzigen Reden die einzelnen Teilnehmer einer Kritik unterzog.

Borgert verstand es dabei, in ganz besonders scherzhafter Weise das Neuste über den nicht mit anwesenden Kolberg und Frau Kahle zu berichten. Seinem Späherauge war nichts entgangen, er vermochte sogar zu sehen, was hinter einer Rollschutzwand geschah.

[S. 154]

Indessen saß der Geschmähte behaglich am warmen Ofen seines Zimmers, auf seinen Knieen aber Frau Kahle.

Sie hatte es vor Sehnsucht nicht aushalten können und war unter dem Vorwand, Besorgungen machen zu müssen, ihrem Gatten entwischt und im Schutze der Dunkelheit nach dem Ende der Stadt in den kleinen Garten geeilt, zwischen dessen hohen Kastanien das kleine von Kolberg bewohnte Häuschen stand.

Dieser Versuch, ein ungestörtes Schäferstündchen zu genießen, glückte so gut, daß es sich lohnte, ihn so oft wie nur möglich zu wiederholen. Es war auch besser so, als dieses langweilige Spazierengehen, denn in dem kleinen Nest paßte ein jeder auf und freute sich wie ein König, wenn er etwas zu erzählen hatte, was ein anderer noch nicht wußte. Selbst den Bäumen im Walde konnte man nicht trauen, war es doch schon vorgekommen, daß ein Unteroffizier aus der Krone einer Ulme herabstieg, an deren Fuß ein anderer sich mit seiner Braut vergnügte, und der Treulosen eine ausgibige Portion Prügel verabreichte.

Außerdem war die Witterung meist kalt und schlecht, und zur Liebe braucht man Wärme.

So aber merkte niemand etwas. Sie ging einfach aus, um Einkäufe zu machen, und dann waren [S. 155] nach Eintritt der Dunkelheit die Straßen meist so leer, daß sie kaum einem Menschen begegnete, wenn sie dem einsamen, abgelegenen Häuschen zuging.

Die Glücklichen rechneten nicht einmal damit, daß man vor dem Burschen auf der Hut sein müsse, er wurde eben jedesmal in die Stadt oder zur Kaserne geschickt. Er hatte aber bald heraus, daß diese regelmäßigen Sendungen am Montag und Donnerstag nur ein Vorwand seien, denn die Aufträge, die er dabei erhielt, waren oft recht sonderbarer und überflüssiger Art. So stellte er sich denn eines Tages hinter einem Baum und erblickte zu seinem nicht geringen Erstaunen die Gattin des Rittmeisters Kahle, die ungeniert zu seinem Leutnant hineinspazierte. Allmählich aber wuchs seine Neugierde, und er schlich sich dann regelmäßig unter das Fenster, um durch die dünnen Scheiben jedes Wort mitanzuhören, oder vom nächsten Baum aus einen Blick in das Innere des Zimmers zu werfen. Was er da sah, setzte ihn in Erstaunen, und er gab gelegentlich seinen Gedanken in der Kantine Ausdruck. Er fand dabei ein dankbares Publikum, denn alle lachten aus vollem Halse. Ihre Heiterkeit aber erreichte den Höhepunkt, als der getreue Bursche Kolberg's aus dem Portemonnaie eine in der Wohnung des Leutnants gefundene Haarnadel herauszog und dieselbe Kahles Burschen übergab [S. 156] mit der scherzenden Bitte, sie der Gnädigen zurückzuerstatten.

Kolbergs Bursche war dadurch ein interessanter Mann geworden, denn er erzählte weit fesselnder als der des Hauses Leimann. Letzterer wußte von seiner Gnädigen und Borgert ja auch so manches zu erzählen, doch seine Darstellungen waren lückenhaft, weil sich das Dienstmädchen weigerte, ihre weit interessanteren Beobachtungen zum Besten zu geben. Sie sparte sich dieselben auf als Trumpf für spätere Zeiten, wo man durch sie nicht nur den rückständigen Lohn, sondern vielleicht noch mehr herausschlagen konnte.

So vergingen mehrere Monate.

Das Geheimnis von dem Verhältnis Kolberg's zu Frau Rittmeister Kahle war allmählich in alle Kreise hindurchgesickert und der Gesprächsgegenstand in mancher Kneipe des kleinen Städtchens geworden. Selbst Kolberg's Kameraden wußten davon, aber keiner wollte es unternehmen, eine Sache, für welche man nicht greifbare Beweise in Händen hatte, aufzurühren, denn entweder stritten die beiden die ihnen zur Last gelegten Tatsachen ab, und dann war man der Blamierte, hatte die Ehre eines Kameraden und, was noch schlimmer war, die einer Dame des Regiments angegriffen, und das mußte böse Folgen haben, denn wer konnte wissen, ob der einzige Zeuge [S. 157] des Verhältnisses, Kolberg's Bursche, bei seinen Behauptungen bleiben würde, wenn man ihm auf's Leder kniete? Vielleicht — und das schien wahrscheinlich — würde er seine Erzählungen aus Furcht vor Strafe für sein heimliches Aufpassen widerrufen oder die Sache in einem anderen, unschuldigeren Lichte darstellen, vielleicht auch würde er aussagen, nichts gesehen zu haben.

Andererseits fürchtete man mit Recht, die Enthüllung der Sache könnte gewaltigen Staub aufwirbeln, die Verabschiedung eines Kameraden und das unvermeidliche Duell zur Folge haben. Dem Rittmeister Kahle aber wollte man wohl, weshalb ihm also solche unerquicklichen Weiterungen bereiten?

So blieb alles, wie es war, nur die Rederei nahm, besonders in der Stadt, einen derartigen Umfang an, daß Rittmeister König sich entschloß, dem Kommandeur privatim einen Wink zu geben.

Der Oberst aber fragte: »Melden Sie mir das dienstlich? Nein? Dann weiß ich nichts davon, ich werde mir die Finger an einer solch heikeln Geschichte nicht verbrennen.«

König verspürte auch wenig Lust, der Urheber einer großen Skandalgeschichte zu werden und nachher womöglich noch eine Forderung zu erhalten, er schwieg also ebenfalls.

So geschah denn von keiner Seite etwas, um [S. 158] dem Gerede ein Ende zu machen und etwas aus der Welt zu schaffen, was dem Regiment und dem gesamten Offizierkorps in hohem Grade schadete und geeignet war, sein Ansehen in schlimmster Weise zu schädigen. Wo man in anderen Kreisen der Bevölkerung bei gleichen Verhältnissen den Schuldigen zur Rechenschaft gezogen haben würde, duldete man einen jedem Anstands- und Ehrgefühl Hohn sprechenden Umstand, und das in einem Stande, der für sein Ansehen, die Unanfechtbarkeit seiner Sitten und seine bevorzugte Stellung im Vaterland die erste Stelle für sich beanspruchte.

Am schwersten traf dieser Vorwurf den Obersten von Kronau. Dieser Herr, der stets bereit war, mit aller Strenge rücksichtslos einzugreifen, wenn er etwas Ungehöriges oder Strafbares entdeckte und keine Milde kannte, wenn er dabei für seine Person nichts zu fürchten hatte, er duldete die Schande. Denn hier mußte er damit rechnen, daß ihm unter Umständen Unannehmlichkeiten entstanden. Entweder konnte man ihn einer falschen Anschuldigung zeihen, oder seine Stellung als Kommandeur erhielt einen Stoß, wenn die vorgesetzten Behörden Kenntnis von den Geschehnissen in seinem Regiment erhielten. Beides aber war durchaus nicht nach seinem Geschmack.

Es kam ihm daher als hochwillkommene Nachricht, [S. 159] als er ein Dienstschreiben erhielt, laut welchem der Rittmeister Kahle zum Major befördert und in eine Garnison Süddeutschlands versetzt wurde. Da war das ersehnte Ende dieser unseligen Geschichte, und er freute sich doppelt, nicht voreilig gehandelt zu haben, denn nun wurde die Sache durch eine günstige Wendung des Geschicks zum Abschluß gebracht.

Kahle war glücklich über die unerwartet schnelle Beförderung. Hatte er doch nun das schöne Ziel erreicht, dem er lange Jahre ernster Arbeit und redlichen Strebens gewidmet!

Jetzt konnte er ruhiger der Zukunft entgegensehen, denn nun die gefährliche Majorsecke überwunden war, schien ihm eine weitere aussichtsvolle militärische Laufbahn mit Rücksicht auf seine Fähigkeiten außer Zweifel. Dazu die schöne neue Garnison, was wollte er mehr?

Schon am Tage nach der Beförderung versammelte ein Liebesmahl das gesamte Offizierkorps im Kasino. Um den Scheidenden besonders zu ehren, hatte der Oberst Epauletten befohlen, und der neugebackene Major nahm sich besonders fein aus im Schmuck seiner Orden und Kandillen.

Als der zweite Gang vorüber war, erhob sich der Oberst und hielt dem scheidenden Kameraden eine herzliche Abschiedsrede, in welcher er der allgemeinen [S. 160] Beliebtheit und den hohen militärischen Tugenden Kahles Ausdruck gab, dann überreichte er ihm den üblichen silbernen Becher mit dem Namenszug des Regiments.

Kahle dankte mit gerührten Worten. Aus seiner Abschiedsrede klang die Freude über die Beförderung heraus, aber auch ein Schmerz, nach so langer Zeit in der Garnison die Kameraden und den Ort seiner Wirksamkeit verlassen zu müssen. Oft hatte er sich sehnlich fortgewünscht aus diesem weltvergessenen Städtchen, in dem es so viel Ärger gab, aber jetzt, da es ans Scheiden ging, schnitt es ihm doch wie ein leichter Schmerz in die Seele, auf immer von dort zu scheiden, wo er lange Jahre dem Vaterlande in Ehren gedient.

Die Herren waren alle vollzählig am Bahnhof versammelt, als der Major am nächsten Tage mit dem Mittagszuge abreiste. Nachdem er noch einmal allen Lebewohl gesagt, und der Oberst ihn geküßt hatte, nahm er Abschied von seiner Frau und dem kleinen Sohne. Es war ihm schwer ums Herz und es kostete ihm Mühe, eine Träne zu verbergen, die sich in sein Auge stahl.

Auch seine Ehe wollte er nun zu einem trauten Zusammenleben gestalten, auf daß mit den Freuden seiner neuen Stellung auch die eines gemütlichen Heims erblühten, und dieser Vorsatz ließ ihn besonders [S. 161] herzlich von der Gattin Abschied nehmen. Auch sie würde ihre kleinen Fehler ablegen, wenn sie in anderer Umgebung die oft empfundene Langeweile und Bitterkeit vergaß, die schönsten Jahre ihres jungen Lebens in einer kleinen Stadt an den Grenzen des Reichs verbringen zu müssen. Konnte sie sich erst wieder in der neuen schönen Garnison das Leben angenehm gestalten und neue Eindrücke in sich aufnehmen, dann würden die kleinen Reibereien und Feindseligkeiten in ihrer Ehe ebenfalls ein Ende nehmen, sie waren blos die Ausgeburt der Abgeschlossenheit und Langeweile, in der eine so lebenslustige Frau mißmutig und launisch werden mußte.

Bis die Räumung der Wohnung und der Umzug besorgt war, sollte Frau Kahle in der alten Garnison verbleiben, und Oberleutnant Weil nebst Gattin hatte sie gebeten, während jener Zeit als Gast bei ihnen zu verbleiben.

Mit Freuden nahm Frau Kahle die freundliche Einladung an. Hatte sie doch so wenigstens Gelegenheit, diese paar Tage mit Kolberg ordentlich zu genießen, denn jetzt brauchte sie niemand mehr Rechenschaft über ihr Tun und Treiben zu geben, ja sie konnte sogar unter dem Vorwand einer kleinen notwendigen Reise einen ganzen Tag und eine Nacht bei ihm weilen, denn für eine Trennung auf lange Zeit, vielleicht für immer, hieß es gründlich [S. 162] Abschied nehmen und den Freudenbecher der Liebe noch einmal bis zur Hefe leeren!

Eines Tages saß Familie Weil mit ihrem Gast am Kaffeetisch, als der Bursche einen Brief für Frau Kahle hereinbrachte, den der Briefträger soeben abgegeben. Sie öffnete denselben, überflog die wenigen Zeilen und steckte ihn leicht errötend in die Rocktasche.

»Frau Pfarrer Klein schreibt mir soeben, ich möchte sie doch heute noch einmal zum Kaffee besuchen, damit sie mich noch einmal sehen könne. Reizend liebenswürdig, nicht wahr? Ich will doch gleich hingehen, damit es nicht zu spät wird.«

Dabei erhob sie sich, trank im Stehen ihre Tasse aus und tänzelte mit einem »Auf Wiedersehen heute Abend« zur Tür hinaus. Wenige Minuten später sah Weil sie auch eilenden Schrittes nach der Stadt zu wandern.

»Sonderbar!«, sagte er dann zu seiner Gattin, »mit der hat sie doch früher nie verkehrt, die kennt man ja kaum. Das wird doch nicht irgend eine Finte sein?«

»Laß sie doch gehen, wohin sie will, Max,« entgegnete Frau Weil gleichgültig, »was kümmert's uns? In ein paar Tagen geht sie ja doch fort, und schließlich ist sie ja allein für ihre Handlungen verantwortlich!«

Weil aber schüttelte den Kopf und ging nach seinem Arbeitszimmer.

[S. 163]

Die Uhr zeigte schon acht, und Frau Kahle war noch immer nicht zurück. Man begann unruhig zu werden und sich um den Gast zu sorgen. War ihr etwas zugestoßen?

Das Dienstmädchen deckte im Nebenzimmer gerade den Tisch, als das Ehepaar seinen Vermutungen über die verschiedenen Möglichkeiten Ausdruck gab, welche das Ausbleiben ihres Gastes verursacht haben könnten.

»Minna,« wandte sich Frau Weil an das Dienstmädchen, »es ist am besten, Sie gehen einmal hin zu Frau Pfarrer Klein und fragen an, ob Frau Major Kahle noch da ist, ich habe keine Ruhe, bis ich weiß, wo sie ist.«

»Bei der Frau Pfarrer wird sie aber nicht sein, gnädige Frau,« entgegnete das Mädchen, »ich habe die gnädige Frau gegen halb Fünf oben in der Allee gesehen, als ich Milch holen ging, die Frau Pfarrer wohnt ja hinter der Kirche.«

»Dann hat es keinen Zweck, hinzuschicken,« sagte achselzuckend der Oberleutnant, »ich werde wohl recht behalten, es war nur ein Vorwand, um nicht zu sagen, wohin sie in Wirklichkeit gegangen ist. Ich denke mir mein Teil!«

»Was denkst du dir, Max,« fragte neugierig seine Gattin, »wo soll sie denn sein?«

»Beim Kolberg ist sie, ich wette meinen Kopf!«

[S. 164]

»Aber wie kannst du das sagen, Max, sie wird doch nicht...«

»Gewiß wird sie! Und sie ist es!«

Beide schwiegen, als das Mädchen wieder eintrat; es stellte den Teekessel auf den Tisch, zog dann aus der Tasche ein zusammengefaltetes Papier, und reichte es Weil mit hämischem Lächeln.

»Haben die Herrschaften das vielleicht verloren?«

Während Minna sich wieder zurückzog, starrte der Oberleutnant erst mit weit aufgerissenen Augen auf das Papier, dann lachte er höhnisch auf und hielt es seiner Gattin hin.

»Bitte, willst du dich überzeugen, hier hast du es schwarz auf weiß.«

Frau Weil nahm zögernd das Blatt aus seinen Händen und las:

»Erwarte dich heute halb Fünf, da morgen dienstlich beschäftigt.«

Über- und Unterschrift fehlten, aber es waren Kolbergs unverkennbare Schriftzüge.

»Jetzt haben wir die Geschichte! Dazu haben wir sie eingeladen, daß sie uns etwas vorlügt und an der Nase herumführt, und dann ihre tollen Geschichten weitertreibt! Habe ich nicht gleich gesagt, wir wollen es bleiben lassen? Aber du hast darauf bestanden, sie einzuladen. Hättest du auf mich gehört, [S. 165] bliebe es mir jetzt erspart, dieses Frauenzimmer vor die Tür zu setzen.«

»Um Gotteswillen, Max, das kannst du doch nicht, stecke den Brief ins Feuer!«

»Fällt mir gar nicht ein,« brauste Weil auf, »ich werfe sie zum Hause hinaus! Oder meinst du, ich hätte hier ein Absteigequartier für verdorbene Weiber? Sie kann sehen, wo sie unterkommt, ich danke gehorsamst für die Ehre, sie weiter als Gast zu behandeln. Und der Brief kommt nicht ins Feuer, sondern dahin, wohin er gehört, zum Ehrenrat!«

Weil ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen vergrabend. Sein finsterer Blick verriet Empörung und Entschlossenheit.

»Wenn ich Dir raten soll,« begann die Gattin zaghaft, »dann stecke den Brief in den Ofen und schweige die Geschichte tot. In zwei Tagen geht sie ja doch fort und dann ist so wie so alles zu Ende. Nur laß die Finger aus der Geschichte, denn du bekommst nur die tollsten Unannehmlichkeiten! Und dann denke doch an den armen Major!«

»Ich tue, was ich gesagt habe, dabei bleibt es, derartige Sachen verstehst du nicht zu beurteilen! Ich lasse mir nicht gefallen, daß diese Person ihre [S. 166] Wirtschaft mit dem Lumpen, diesem Kolberg, aus meinem Hause heraus fortsetzt. Soviel Anstandsgefühl muß sie sich noch gerettet haben, diese Geschichten jetzt bleiben zu lassen, solange sie bei anständigen Leuten zu Gaste ist. Eine Gemeinheit ist das, eine Schweinerei sondergleichen!«

Frau Weil gab es auf, noch weiter auf ihren Gatten einzureden, denn sie kannte seinen Zorn und seine Unerbittlichkeit, wenn er sich etwas vorgenommen hatte. Sie zog die Stirn in Falten und blickte sinnend in das rote Licht des Kamins, dessen flackerndes Feuer zitternde Schatten auf den Teppich warf.

»Es ist angerichtet!« meldete das Dienstmädchen.

»Sagen Sie, Minna, wo haben Sie den Brief gefunden?« redete der Oberleutnant sie an.

»Er lag auf dem Korridor unter dem Kleiderständer, er muß wohl jemand aus der Tasche gefallen sein.«

»Es ist gut, Sie können gehen!«

Schweigend setzte sich das Ehepaar zu Tisch. Weil machte ein böses Gesicht, und seine Gattin schaute mit hochgezogenen Augenbrauen nicht von ihrem Teller auf. Sie blickte erst mit ängstlicher Miene nach ihrem Manne hinüber, als die Korridortür geöffnet und Frau Kahle's Stimme hörbar wurde.

[S. 167]

»Sie kommt, Max! Mache um Gotteswillen keine Szene! Denke an die Dienstboten, die können alles hören!«

Weil aber antwortete nichts, blickte auch nicht nach der Tür, als diese sich jetzt auftat und Frau Major hereintrat.

Ihr Gesicht glühte, und die Augen schimmerten in feuchtem Glanz. Das blonde Haar war verwirrt und eine Nadel stahl sich aus dem großen Knoten am Hinterkopfe. Zwei Knöpfe der luftigen Sommerblouse standen offen, und aus der Öffnung schaute ein kleiner Zipfel zierlicher weißer Spitzen hervor.

»Guten Abend, meine Herrschaften!« rief die Eintretende mit heiterer Stimme dem Ehepaare entgegen, »verzeihen Sie meine Verspätung, aber Frau Klein forderte mich auf, mit ihr zur Stadt hinüber zu fahren und dadurch wurde es etwas spät. Es war reizend, wir waren im Kaffee und haben Besorgungen gemacht!«

Weil erhob sich steif und trat seinem Gast gegenüber.

»Gnädige Frau!« sagte er ernst und ruhig, »es ist unnötig und vergebliche Mühe Ihrerseits, uns über den Zweck Ihrer Abwesenheit heute Abend täuschen zu wollen. Der Brief, der am Nachmittag für Sie ankam und durch einen Zufall in unsere [S. 168] Hände gelangt ist, beweist in unzweideutiger Form, daß Sie das Ihnen gewährte Gastrecht in schändlicher Weise gemißbraucht haben. Darf ich Sie bitten, so bald als möglich, spätestens aber bis morgen früh, mein Haus zu verlassen. Heute Abend wollen Sie uns gütigst allein lassen.«

Er machte eine steife Verbeugung und ließ sich wieder am Tisch nieder.

Frau Kahle stand einen Augenblick wie versteinert im Halbdunkel des Zimmers, dann griff sie hastig nach ihrer Tasche. Die Hand suchte einen Augenblick, dann wandte sich die Frau Major schweigend dem Ausgange zu und ging nach ihrem Zimmer, dessen Tür sie heftig hinter sich zuwarf.

Nach dem Abendessen schritt der Oberleutnant zu seinem Schreibtisch, zündete die grünverschleierte Lampe an und setzte sich in den Sessel. Dann entnahm er einer Schublade einen großen Bogen weißes Papier, tauchte die Feder ein und legte beides vor sich hin.

Eine halbe Stunde saß er zurückgelehnt und blickte sinnend auf den weißen Bogen, dann ergriff er den Federhalter und begann zu schreiben.

Seine Gattin saß indes mit sorgenvoller Miene an dem großen Sophatisch, mit einer Stickerei beschäftigt, nur manchmal warf sie einen Blick zu [S. 169] dem Gatten hinüber, dessen Feder kratzend über das Papier eilte.

Endlich war das Schriftstück fertig. Weil lehnte sich in den Stuhl zurück und schaute wieder sinnend vor sich hin, dann las er es noch einmal langsam durch, faltete es zusammen und schob es mit dem gefundenen Brief in ein gelbes Kouvert, dessen Rückseite er ein Siegel aufdrückte.

Dann verschloß er das Schreiben in einer Schublade, blies die Lampe aus und nahm neben seiner Gattin auf dem Sopha Platz, um sich in die Zeitung zu vertiefen.

Frau Kahle reiste am nächsten Morgen mit dem Frühzug ab, wohin, wußte selbst der Bursche nicht, welcher den Koffer zur Bahn gebracht, denn sie hatte weder schriftlich noch mündlich ein Wort des Dankes oder der Entschuldigung hinterlassen.

Am Mittag desselben Tages wurde der ahnungslose Leutnant Kolberg zum Kommandeur bestellt und ihm von diesem eröffnet, daß gegen ihn das ehrengerichtliche Verfahren eröffnet und er bis auf Weiteres des Dienstes enthoben sei.

Das gab eine Aufregung im Offizierkorps! Im Stillen begrüßte es ein jeder mit Schadenfreude, daß die an sich so peinliche Angelegenheit nun doch noch weitere Kreise zog, denn kein einziger war dem verschlossenen Kolberg, der sich von allen Veranstaltungen [S. 170] im Kasino zurückzog, und der koketten Frau besonders gewogen. Es scheute sich daher niemand, am wenigsten Borgert, in der schroffsten Weise über Weil's Vorgehen zu urteilen und dabei an den Geschehnissen zwischen Kolberg und Frau Kahle die härteste Kritik zu üben. Man sprach von dem Kameraden in Ausdrücken, wie sie kaum in den Büchern des guten Tones zu finden waren, und nahm sich vor, »den gemeinen Ehebrecher und Duckmäuser« gründlich zu »schneiden«.

Der Oberst von Kronau hatte den größten Schrecken bekommen, als Rittmeister Stark, der Präses des Ehrenrates, am Morgen mit dem Schriftstücke Weil's erschienen war. Er überlegte hin und her, was zu tun sei, um der höchst peinlichen Affäre eine möglichst günstige Wendung zu geben. Aber sie war nun einmal beim Ehrenrat anhängig gemacht und mußte, der Vorschrift entsprechend, untersucht und durchgeführt werden. Er mußte sich daher darauf beschränken, über den Anstifter der unheilvollen Geschichte, den Oberleutnant Weil, zu fluchen und ihm eine möglichst schlechte Konduite vorzumerken.

Im Geiste sah er sich schon auf seinem Gute das Abladen eines Heuwagens überwachen.

Besonders hart traf der Schlag den armen Major Kahle. Er hatte nun erreicht, wonach er [S. 171] Jahre lang gestrebt und gerungen, und nun machte ihm diese gewissenlose Frau all sein Glück, all seine Erfolge zu schanden.

Wo sich seine Gattin aufhielt, ahnte er nicht, denn sie hatte es vorgezogen, sich nicht in seine Nähe zu begeben, da sie eines nicht sonderlich freundlichen Empfanges sicher war. Sie hatte daher den Sohn zu ihren Eltern geschickt, sich selbst aber in Berlin häuslich niedergelassen, wo sie die Zeit mit Briefen voller Vorwürfe an Kolberg und mit Herumflanieren tot schlug.

Kahle war fest entschlossen, seiner treulosen Gattin die Tür zu weisen, wenn sie es wagen sollte, einen Schritt in sein Haus zu tun; er leitete daher sofort die Scheidungsklage ein.

Was ihm aber weit mehr das Herz beschwerte, war der Gedanke an das nun unvermeidliche Duell. Weil seine Gattin ihn in gewissenloser, niedriger Weise hintergangen hatte, mußte er sich jetzt der Kugel des Verführers preisgeben, statt daß man den Elenden aus dem Offizierstande ausstieß und ihn in irgend einem Gefängnis über seine gemeine Handlungsweise nachdenken ließ.

Die Ehre seiner Frau sollte er durch einen Zweikampf retten!

Welch ein Unsinn! dachte er bei sich. Hat ein Weib überhaupt noch einen Funken Ehre, wenn es [S. 172] seinen Gatten betrügt und sich ganz dem ersten besten hingibt, der nach seinen Reizen Verlangen trägt? Eine ehrlose Kokotte war sie, nichts weiter, und für diese sollte er sein Leben in die Schanze schlagen! Was für eine lächerliche Komödie!

Und er sann darüber nach, ob und wie er einem Zweikampf aus dem Wege gehen könnte. Nicht aus Feigheit oder Furcht vor dem Tode, nein, feige war er nicht, aber er sah nicht ein, warum er die Früchte seines arbeitsreichen Lebens, die Zukunft seines Kindes und sein eigenes Leben auf ein wagehalsiges Spiel setzen sollte, weil ein anderer gemein und schurkisch gehandelt hatte. Es war doch denkbar, daß der Gegner ihn töten würde, wenn es zum Zweikampf kam. Dann hatte er, der Unschuldige, die härteste Strafe erlitten, die es für den Menschen geben konnte, den Tod, der Verbrecher aber ging frei aus und ließ einen anderen für seinen Frevel büßen.

Aber allmählich kam ihm zum Bewußtsein, daß es kein Mittel gäbe, einem Kampf mit tötlichen Waffen aus dem Wege zu gehen, denn, weigerte er sich, seinem Gegner eine Forderung zu übersenden, würde man ihn durch Beschluß eines Ehrengerichts verabschieden, weil er die Ehre seines Standes nicht zu wahren wisse, beteiligte er sich aber an einem Duell, so wurde er mit Festungshaft bestraft. Das [S. 173] letztere schien ihm das geringere von beiden Übeln, aber nun wollte er auch keine Rücksicht üben an dem Zerstörer seines Friedens, dem Manne, der sein Haus geschändet. Unter den schärfsten Bedingungen wollte er den Schurken zum Zweikampf fordern und ihn töten, oder der andere sollte ihm das Leben rauben, das ihm nun doch einmal verleidet war. — —

Die ehrengerichtlichen Verhandlungen nahmen mehrere Monate in Anspruch. Dabei kamen Dinge zu Tage, die zwar den jüngeren Herrn des Offizierkorps recht interessant und wissenswert erschienen, im übrigen aber auf Leutnant Kolberg und seine Auffassung von Ehre und Kameradschaft ein bedenkliches Licht warfen. Auch das Verhalten der Offiziere vor der Katastrophe mußte recht sonderlich erscheinen.

Anfangs hatten sich die Kameraden von Kolberg ganz zurückgezogen, man sah ihn auch nur gelegentlich in der Umgebung der Garnison, wenn er seine Pferde ritt.

Eines Tages aber war Borgert in Geldverlegenheit gewesen und hatte, da alle anderen Quellen allmählich ihre Zahlungen einstellten, als letzten Weg einen Pumpversuch bei Kolberg ausfindig gemacht. Dieser benutzte denn auch die Gelegenheit, Borgert sich zu verpflichten, denn er kannte dessen [S. 174] Einfluß auf die jüngeren Herrn. Er verschaffte sich daher schleunigst gegen Verpfändung seines Vollblutrappen die erbetenen tausend Mark und stellte sie Borgert zur Verfügung.

Der Dank blieb nicht aus. Schon nach wenigen Tagen hatte der Oberleutnant die gesamte Tischgesellschaft von den vorzüglichen kameradschaftlichen Eigenschaften Kolbergs und der lächerlichen Auffassung seiner Schuld seitens der Vorgesetzten derartig zu überzeugen gewußt, daß der vom Dienst Enthobene nicht nur ein gern gesehener Gast, sondern ein noch beliebterer Gastgeber wurde. Er renommierte dann beim schäumenden Sekt mit seinem bevorstehenden Duell, wo er dem »Dämelsack«, dem Kahle, ordentlich heimleuchten würde, und wurde so allmählich der Held des Tages, der mit kühnem Schneid sich eine Dame erobert hatte, während andere mit einer Straßendirne vorlieb nehmen mußten.

Er wurde jedoch etwas bescheidener, als er eines Tages Kahle's Forderung erhielt:

>15 Schritt Distanze, gezogene Pistolen mit Visier und Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit einer Partei<. Das hatte er nicht erwartet, die Aussichten des Zweikampfes für ihn waren somit nicht abzusehen, vollends, da der Major als guter Schütze galt und sein Ruf als trefflicher Nimrod weit über die Grenzen der Garnison hinausging.

[S. 175]

So wanderte er denn täglich in den Wald und übte sich im Schießen, um am Tage des Kampfes gewappnet vor den Gegner treten zu können.

Wenn er so eine Kugel nach der anderen in eine unschuldige Buche hineinknallte, kam ihm mitunter der Gedanke, daß er doch eigentlich den Major nicht treffen dürfe, da er an ihm gesündigt und ihn betrogen habe. Es war etwas wie das letzte Aufdämmern eines unter dem Druck moralischen Niederganges ersterbenden Pflichtgefühls, die Regungen eines schuldbeladenen Gewissens und das leise Empfinden der Gerechtigkeit, aber diese Regungen wurden von einem weit mächtigeren Gefühl erdrückt: dem neu erwachten, wilden Hang am Leben, der um so heftiger ihn ergriff, je mehr er sich in die Möglichkeit hineindachte, ein Leben lassen zu müssen, das ihm noch so viel des Schönen bot. Und eine innere Stimme rief in ihm: Du willst nicht sterben, leben willst du, leben! —

Und dafür war der beste Weg, den Gegner in den Sand zu strecken.

Vier Monate waren vergangen, bis das Ehrengericht das Urteil sprach. Es lautete auf Verabschiedung Kolbergs, doch wurde dem Bestätigungsgesuch an Seine Majestät ein solches um gnadenweise Wiedereinstellung des Verabschiedeten beigefügt.

Der Zweikampf wurde an sich ebenfalls genehmigt, [S. 176] doch nicht unter den von Kahle gestellten Bedingungen. Vielleicht fürchtete man, durch einen nach jenen Bedingungen unvermeidlichen blutigen Ausgang zu viel Staub aufzuwirbeln. Waren doch in letzter Zeit mehrere Fälle vorgekommen, bei denen der Tod eines der Duellanten die verhängnisvollsten Folgen für diejenigen hohen Vorgesetzten mit sich brachte, welche die Ausfechtung des Zweikampfes nicht aufgehalten oder die Bedingungen abgeschwächt hatten.

So lautete denn die neue Forderung auf 35 Schritt Distanz und einmaligen Kugelwechsel mit glatten Pistolen ohne Visier.

Kahle wurde also keine Gelegenheit gegeben, den Schänder seiner Hausehre zu strafen, weil die Herrn Vorgesetzten nicht ihre Haut dabei zu Markte tragen wollten. Denn dieser Zweikampf war nur eine Farce, ein blutiger Ausgang mußte lediglich ein unglücklicher Zufall sein.

Borgert war von Kolberg gebeten worden, ihm zu sekundieren, und der Oberleutnant willigte mit Vergnügen ein, denn einesteils spielte er gern die Rolle des ungefährdeten Zuschauers, andererseits glaubte er sich dadurch Kolberg zu verpflichten, die Rückzahlung der tausend Mark hatte somit noch ein Weilchen Zeit.

Ein Trinkgelage versammelte die Getreuen Kolbergs [S. 177] in dessen Wohnung, bevor er nach der Stadt in Süddeutschland abreiste, deren Umgebung der Schauplatz des Zweikampfes werden sollte. Er betrank sich dabei so, daß es dem Burschen schwer wurde, den Leutnant gegen Morgen aus den Federn zu bringen, damit er den Zug nicht versäume.

Borgert war es ebenso gegangen, er machte so, wie er auf dem Bahnhof stand, den Eindruck, als käme er gerade von einem Festgelage.

In diesem Zustande hatte er natürlich »vergessen«, sich Reisegeld einzustecken und nahm es großmütig an, als Kolberg ihm einen Hundertmarkschein in die Hand drückte. — —

Es war ein kalter Morgen, als zwei Wagen in flottem Trabe den Schießständen von Kahles Garnison zufuhren.

Die Sonne schaute gerade über den Bergrücken im Osten heraus und sandte ihre ersten flachen Strahlen auf die reifbedeckten Stoppelfelder. Friedlich lag die Natur in ihrem herbstlichen Kleide, auch im Walde herrschte tiefes Schweigen, nur manchmal unterbrochen durch das Herabfallen eines welken Blattes, wenn es seinen Weg raschelnd zwischen den Zweigen zu Boden suchte, zu seinem Totenbette.

Im ersten Wagen saßen Kolberg, Borgert und zwei Ärzte, im zweiten Kahle, sein Sekundant und die beiden Mitglieder des Ehrenrates, welche dem [S. 178] Zweikampf als Unparteiische beizuwohnen hatten. Unter dem Rücksitz lag der Pistolenkasten.

Von der Straße bogen die Gefährte in einen Seitenpfad ein, der so schmal war, daß das Geäst der rechts und links stehenden Bäume beständig gegen die Wagenfenster schlug.

An einem freien Platze machten sie Halt. Die Insassen stiegen aus und befahlen den Kutschern, an den Eingang des Waldes zurückzufahren und dort zu warten.

Die Herrn schritten sodann noch fünf Minuten einen kleinen Pfad entlang und versammelten sich auf dem Schießstand, der am weitesten in den Wald hinein gelegen war.

Der Pistolenkasten wurde auf einen Erdwall gelegt und von den Sekundanten die Waffen herausgenommen und geladen, dann übergab einer die Pistole dem anderen zur Prüfung.

Die Ärzte breiteten ihre Bestecke aus und legten einen großen Streifen Verbandsstoff bereit, während die Unparteiischen sprungweise die Entfernung abschritten und ihre Degen als Entfernungsmarken in den festgefrorenen Boden steckten.

Der übliche Ausgleichsversuch verlief erfolglos, und so nahmen denn die beiden Duellanten an je einem Degen Ausstellung.

Kahle sah bleich und übernächtig aus, er zitterte [S. 179] vor Kälte, und seine nervös zuckenden Züge verrieten heftige Erregung.

Kolberg dagegen schien beinahe zu lächeln und warf mit einer gleichgültigen Bewegung den Zigarettenstummel weg, den er bis dahin im Munde gehalten.

Einer der Herren erklärte in kurzen Worten die Kampfesordnung, daß der Schuß zwischen »Eins« und »Drei« fallen müsse und sagte dann nach kurzer Pause:

»Fertig!«

Beide Herren hielten die Pistole zu Boden gesenkt, um sie auf »Eins« gegeneinander zu erheben.

Gleichzeitig mit »Zwei« knallte Kahle's Schuß, und die Kugel schlug klatschend in die Rinde einer Buche, von der ein dürrer Zweig geräuschvoll zu Boden fiel. Durch die unruhig zitternde Hand war der Schuß fast einen Meter über Kolberg's Kopf hinweggegangen.

Dieser aber stand fest und unbeweglich und zielte bis zum letzten Augenblick, sodaß mit »Drei« auch der Hahn seiner Pistole niederschlug.

Kahle sah festen Blickes auf die kleine schwarze Mündung der Pistole seines Gegners, nach dem Schuß aber öffneten sich seine Augen weit, er taumelte und stürzte zu Boden.

Kolberg lief es kalt über den Rücken, als er den großen, starken Mann nach rückwärts fallen [S. 180] sah und er blieb wie gelähmt einen Augenblick stehen; dabei entfiel die Waffe seiner Hand.

Die übrigen Herren aber waren sofort neben dem Major, und die Ärzte rissen ihm den Rock auf.

Mitten auf der Brust sickerte ein starker Blutstrom aus einer kleinen Wunde.

Kahle hatte die Besinnung nur für einen Augenblick verloren. Er lag jetzt da, bleich und mit festem Blick auf die Herren in seiner Umgebung schauend. Und als Kolberg auch herantrat, dem Major die Hand entgegenstreckend, taumelte er wie von einem Schlage getroffen zurück, als ein kalter, abweisender Blick aus Kahle's gläsernen Augen ihn traf. Einen Augenblick stand er neben seinem Opfer, dann wandte er sich um und schritt in den Wald hinein, dem Ausgange zu.

Die Verwundung des Majors stellte sich als nicht lebensgefährlich heraus, doch hatte die Kugel die Lunge leicht verletzt, und es mußte lange dauern, bis der Kranke wieder genesen war.

Ein Wagen wurde herbeigeholt und der Major sorgfältig hineingehoben, die beiden Ärzte stiegen ebenfalls ein, der Sekundant nahm neben dem Kutscher Platz, und darauf ging es im Schritt nach der Stadt zurück, wo man den Verletzten sofort in's Lazaret zu bringen gedachte.

Kolberg's niedergedrückte Stimmung hielt nicht [S. 181] lange vor. Als er sich mit Borgert am Anfang der Stadt von den beiden Insassen des Wagens verabschiedet hatte, schlug ihm sein Begleiter auf die Schulter und sagte ermunternd:

»Machen Sie doch nicht so ein Gesicht, Menschenskind! Seien Sie froh, daß Sie mit heiler Haut davon gekommen sind! Daß Sie den armen Teufel gerade in die Brust getroffen haben, ist ja Pech, aber dafür können Sie nichts, denn er ist es ja, der Sie gefordert hat, nicht Sie ihn. Wir wollen jetzt frühstücken gehen, mir knurrt der Magen, ich bin nicht gewohnt, so früh am Morgen im Walde herumzustolpern.«

»Es tut mir leid, daß ich den Major so unglücklich getroffen habe, aber das wollte ich nicht,« erwiderte Kolberg mit ernster Stimme, »der Teufel soll die Weiber holen, die sind an allem schuld! Was mußte ich mich auch mit dieser Kahle einlassen!«

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, mein Lieber! Der Major ist selbst an allem schuld, denn er mußte seiner schönen Gattin besser auf die Finger sehen, dann wäre sie keine Dirne geworden. Heute hat sie den, morgen den, also haben Sie kein Verbrechen begangen, wenn Sie sich auch einmal mit ihr amüsiert haben. Man muß die Weiber behandeln, wie sie es verdienen.«

[S. 182]

Dem redegewandten Borgert gelang es allmählich, Kolbergs finstere Miene aufzuhellen, denn was er da sagte, leuchtete ihm ein, die herzlose Gemeinheit, die aus den Worten seines Begleiters sprach, fühlte er nicht heraus, da er selbst nicht besser war.

So gingen denn die Beiden zu ihrem Hotel, zogen Zivil an und begaben sich in ein Frühstückslokal, in welchem die Kellner mit verschlafenen Augen gerade die Stühle von den Tischen nahmen und die frühen Gäste voll Verwunderung betrachteten.

Mit einem Kognak fing es an, und mit Sekt endete es am späten Abend in einem Lokal mit Damenbedienung. Wer da die Leutnants in Zivil mit den frechen Kellnerinnen schäkern sah, konnte nicht im Unklaren darüber sein, daß sie die Ereignisse des Morgens überwunden und mit dem seelischen Gleichgewicht die gute Laune des gewissenlosen Menschen zurückerlangt hatten. —

Mit Jubel empfing man die beiden Helden des Kampfes in der Garnison, wo sie am Mittag des folgenden Tages eintrafen.

Eine Anzahl Herren standen auf dem Bahnhof zum Empfang bereit und begleiteten Kolberg nach seiner Wohnung, um den guten Erfolg mit einem Trunk zu feiern.

Die übrigen Herrn des Offizierkorps aber, besonders die älteren, fanden es gefühllos, daß Kolberg [S. 183] nach diesem traurigen Ereignis es nicht lieber vorzog, allein zu sein und über seine Handlungsweise nachzudenken; diese Feier vollends fanden sie roh und gemein.

Zwei Tage später traf auch die Urteilsbestätigung aus Berlin ein. Da das Wiedereinstellungsgesuch genehmigt war, wurde Kolberg nach einer anderen Garnison versetzt, denn hier konnte seines Bleibens nicht länger sein. Bevor er aber die Reise nach der schönen Stadt am Rhein antrat, führte ihn sein Weg zunächst auf Festung, woselbst er eine mehrmonatige Strafe »wegen Beteiligung an einem Zweikampf mit tötlichen Waffen« zu verbüßen hatte.

Der Major erholte sich nur langsam. Den beiden Stabsärzten, welche die neben der Wirbelsäule haftende Kugel entfernen wollten, war die Operation nicht ganz geglückt, die Kugel war zwar entfernt, aber es trat eine Entzündung der geöffneten Stelle ein, welche mit heftigen Schmerzen und hohen Fiebererscheinungen verbunden war.

Erst Ende Winters konnte der Major aus dem Lazaret entlassen werden, um dann als geistig und körperlich gebrochener Mann auch aus dem königlichen Dienste auszuscheiden, dessen Anstrengungen er nicht mehr gewachsen war.

Auch ihn hatte man zu einer dreimonatigen Festungshaft verurteilt, doch erfolgte schon nach [S. 184] zwei Tagen Begnadigung, denn den Bestimmungen des Gesetzes war Genüge getan.

So sah denn Kahle seine Lebensarbeit vernichtet. Er stand in den besten Jahren als kranker Mann vor der Frage, sich nach einem anderen Felde der Tätigkeit umzusehen, denn leben mußte er, und die schmale Pension reichte nicht aus, um ihm und seinem Sohne ein sorgenfreies Dasein zu ermöglichen.

Das gesamte Vermögen war durch die Scheidung wieder seiner Gattin zugefallen, denn sie hatte es mit in die Ehe gebracht.

Und warum geschah das alles? Weil er die »Ehre« seiner Gattin retten sollte! Ihr hatte er sich opfern müssen. —

Wie sehr Frau Kahle dieses Opfer wert gewesen, wurde dem Major erst vollends klar, als er hörte, seine ehemalige Gattin habe bei einem jungen Baron in Berlin die »Führung des Haushaltes« übernommen.

Kolberg aber saß längst am schönen Rhein und freute sich seines Lebens. —

[S. 185]

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Fünftes Kapitel.

In seiner eleganten Wohnung saß Oberleutnant Borgert am Schreibtisch.

Vor ihm lag ein mit Zahlen bedeckter Bogen, um ihn herum ganze Berge von Papieren, Zetteln und farbigen Kouverts.

Er ergriff ein Blatt nach dem anderen und notierte die darauf befindliche Zahl auf den vor ihm liegenden Bogen und er hatte schon die dritte Zahlenspalte begonnen, als er plötzlich innehielt und den Bleistift heftig auf die Tischplatte warf. Die Papiere packte er wie einen Haufen Unrat und steckte sie ins Feuer, wo sie sogleich in lodernden Flammen aufgingen und nach wenigen Augenblicken nur noch in ihrer kohlenden Asche knisterten.

Er hatte den löblichen Vorsatz gehabt, einmal alle Rechnungen, soweit er sie seiner sonstigen Gewohnheit entsprechend nicht einfach ungeöffnet in den Ofen gesteckt, zusammenzuzählen, um einen ungefähren Begriff von Höhe und Umfang seiner Schulden zu gewinnen.

[S. 186]

Aber es war nicht möglich, sich durchzufinden durch die endlose Menge von Tret- und Mahnbriefen, Klageschriften, Zahlungsbefehlen und Rechnungen. Soviel aber war ihm klar geworden: an eine Deckung der Schulden war nicht zu denken, denn die Höhe überstieg seine Vermutungen ganz bedeutend. Nicht weniger als elftausend Mark hatte er schon zusammengerechnet und dazu kam noch dieser Berg Rechnungen, die er eben in die Flammen geworfen.

Am meisten drückten ihn die siebenhundert Mark, die er dem Rittmeister König noch schuldete, aber auch einige andere Posten drückten ihn schwer, denn es waren Ehrenschulden und die erste mit 2300 Mark in kaum sechs Wochen fällig. Wo sollte er die herbekommen, ohne zu stehlen? —

Er begann zu überlegen. Die Möbel waren schon verpfändet, ein Pferd sogar schon zweimal, und auf das andere, seinen früheren Charger, würde er kaum noch dreihundert Mark bekommen, und das war nicht mehr wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Unter den Kameraden war keiner mehr, bei dem ein Pumpversuch Aussicht auf Erfolg geboten hätte, höchstens König. Aber dem schon wieder mit einer solchen Bitte kommen? Das ging nicht gut, erst mußten wenigstens die 700 Mark zurückbezahlt sein. Der einzige Rettungsanker [S. 187] war ein Darlehnsgesuch bei einem Berliner Dunkelmann, aber der Kerl ließ nichts von sich hören, obgleich er nun schon drei Wochen im Besitze einer Bürgschaft des Oberleutnants Leimann und einer Lebensversicherungspolice über 20000 Mark war.

Vorläufig half es eben nichts. Er wollte die künftig drängenden Gläubiger zu beruhigen suchen und nur denen, wenn möglich, etwas abbezahlen, welche entweder klagbar oder beim Regiment vorstellig wurden. Vielleicht fand sich mit der Zeit noch eine gute Quelle, ein glückliches Spielchen, ein großes Los oder sogar eine reiche Braut.

Diese Hoffnung ließ ihn seine gute Laune wieder gewinnen, er zündete sich eine Zigarette an und pfiff ein Liedchen vor sich hin, während er auf den schweren Teppichen auf- und abschritt.

Ein Geräusch auf dem Korridor ließ ihn aufhorchen. Er vernahm ein Stimmengeflüster und einige Tritte auf dem Flurteppich, dann klopfte es leise an die Tür.

Das ist gewiß Frau Leimann, dachte er bei sich, denn sie pflegte die Theestunde häufig bei ihrem Galan zu verbringen, weil dann der Gatte zum Dämmerschoppen ging.

Auf sein »Herein« aber trat eine einfach gekleidete Frau mit einem Korb unter dem Arm über [S. 188] die Schwelle. Ihrem noch jugendlichen Gesicht hatten Kummer und Sorgen den Stempel frühzeitigen Alters aufgedrückt, und sie schaute mit fast ängstlichem Blick auf den Oberleutnant, der im Zimmer stehen geblieben war und die Eintretende mit unverhohlenem Mißfallen betrachtete.

»Was wollen Sie schon wieder, Frau Meyer?« polterte Borgert sie an, »ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen keine Wäsche mehr gebe!«

»Entschuldigen Herr Oberleutnant, ich wollte fragen, ob Sie mir vielleicht heute die vierzig Mark geben können oder wenigstens einen Teil. Ich muß Geld haben, mein Mann liegt seit drei Wochen krank und kann nicht schaffen gehen!«

»Mit Ihrer ewigen Drängerei!« entgegnete Borgert schroff. »Kommen Sie heute abend wieder, ich muß erst wechseln lassen, jetzt habe ich keine Zeit.«

»Aber halten Sie diesmal Wort, Herr Oberleutnant, Sie haben mir nun schon so oft das Geld versprochen.«

Damit öffnete sie leise die Tür und ging hinaus, Borgert aber riß die Fenster auf und ließ die frische Herbstluft hereinströmen, der Geruch der armen Leute war ihm unausstehlich. Die rochen immer nach Schweiß und Moder! Er nahm aus dem geschnitzten Wandschrank eine Parfümflasche und [S. 189] spritzte den Inhalt auf die persischen Teppiche und die Polster der Sessel. Dann klingelte er dem Burschen.

Der Gerufene trat sogleich herein. Es war der Gemeine Röse, welchen der Rittmeister in der Front nicht mehr haben wollte, da er unzuverlässig sei und mit seiner mangelhaften Pflichtauffassung der Disziplin in der Schwadron schade.

»Was habe ich dir befohlen, du Schwein?« brüllte der Oberleutnant ihn an.

»Ich soll niemand unangemeldet hereinlassen,« erwiderte Röse schüchtern, »aber die Frau ging an mir vorbei und ich konnte sie nicht hindern.«

»Dann schmeiß das Aas hinaus, du schlappes Vieh, läßt du noch einmal jemand herein, ohne mich vorher zu fragen, dann haue ich dich hinter die Löffel, du Schwein!«

Dabei schlug er Röse mit beiden Händen ins Gesicht, öffnete die Tür und stieß ihn hinaus.

»Wenn das Weib heute Abend wiederkommt, dann sagst du, ich wäre ausgegangen!« rief er ihm nach.

Borgert hatte sich gerade mit einer Zeitung am Fenster niedergelassen, als die Flurglocke wieder ertönte. Es war ein kurzes, energisches Klingeln. Der Bursche trat ein und meldete mit verweintem Gesicht:

[S. 190]

»Ein Herr möchte Herrn Oberleutnant dringend sprechen!«

»Wie heißt er? Du sollst stets nach dem Namen fragen.«

Der Bursche ging hinaus und kam gleich wieder zurück.

»Er will mir seinen Namen nicht sagen, aber er müßte Herrn Oberleutnant unbedingt sprechen.«

»Ich lasse bitten!«

Einen Augenblick später trat ein Mann ein mit einer Ledertasche unter dem Arm und stellte sich vor: Gerichtsvollzieher Krause.

»Verzeihen Herr Oberleutnant, wenn ich störe, ich habe eine Zustellung für Sie. Bitte!«

Dabei entnahm er seiner Ledertasche ein dickes Kouvert und überreichte es Borgert, der aber die Fassung nicht verlor und freundlich entgegnete:

»Ah, ich weiß schon! Ist übrigens gerade gestern bezahlt worden, es handelt sich um eine kleine Summe, die ich meinem Schneider schulde!«

»Soviel ich weiß, Herr Oberleutnant, handelt es sich um eine Wechselklage der Firma Frölich u. Co., der eingeklagte Betrag beläuft sich auf viertausend Mark für gelieferte Möbel.«

»Ach, die Geschichte ist es! Das hätte der gute Mann sich sparen können, der Betrag ist vorgestern von meiner Bank abgeführt worden!«

[S. 191]

»Dann umso besser,« scherzte der Gerichtsvollzieher. »Ich habe die Ehre!«

»Adieu, Herr Krause, ich würde sagen, auf Wiedersehen, wenn Ihr Besuch nicht immer ein zweifelhaftes Vergnügen bedeutete.«

Als der Mann hinaus war, riß Borgert das Kouvert auf und überflog den Inhalt des Schriftstückes.

Das war eine fatale Geschichte! Die Möbel waren noch nicht bezahlt, aber schon verpfändet, obwohl in dem Kaufkontrakt ausdrücklich die Bemerkung stand, daß sie dem Lieferanten bis zur völligen Bezahlung als Eigentum verbleiben sollten.

Viertausend Mark! Eine Menge Geld! Er mußte mit Leimann sprechen, vielleicht war da noch etwas zu machen.

Plötzlich fiel ihm ein, daß der Gerichtsvollzieher ja gar nicht zum Garten hinausgegangen sei. Er rief daher seinen Burschen und fragte:

»Wo ist der Mann hingegangen?«

»Nach oben, Herr Oberleutnant.«

»Zu Leimann's?«

»Zu Befehl, Herr Oberleutnant.«

Nanu, was hatte er denn da oben zu schaffen? Steckten die etwa auch wie er in der Tinte? Das wäre ja böse, denn Leimann war immer noch so eine Art Rückhalt gewesen, indem er für versprochene [S. 192] Zahlungen Bürgschaft leistete oder die Gläubiger mit beruhigen half.

Inzwischen überreichte Herr Krause der zu Tode erschrockenen Hausgenossin eine Klage der Firma Weinstein u. Co., der sie vierhundert Mark für eine gelieferte seidene Robe schuldete.

Sie geriet in helle Verzweiflung und raste wie besessen im Zimmer auf und ab. Was war da zu tun? Woher das Geld nehmen? Sie wollte Borgert um den Betrag bitten. Aber, was sollte der von ihr denken? Würde er nicht alle Achtung vor ihr verlieren?

Einen Augenblick stand sie unschlüssig im Zimmer und drückte beide Hände gegen das klopfende Herz. Dann schritt sie entschlossen zur Tür und eilte die Hintertreppe hinab.

Sie fand Borgert sinnend in einem Sessel sitzen, und er erhob sich nicht einmal, als sie eintrat, sondern winkte ihr nur mit der Hand einen Gruß entgegen. Sie trat auf ihn zu und küßte ihm zärtlich die Stirn, dann setzte sie sich auf seinen Schoß, während er den Arm um die schlanke Taille legte und ihr fragend ins Antlitz schaute.

»Was für sonderbare Besuche empfängst du denn neuerdings?«, fragte er nach einiger Zeit halb scherzend.

»Ich? Besuche?«, brachte Frau Leimann verwirrt [S. 193] hervor, »ich habe niemand empfangen, wirklich nicht, niemand.« Dabei irrte ihr Blick unstät im Zimmer umher.

»Du hast niemand empfangen? Ei, ei, du kleine Lügnerin!«

»Aber was fällt dir ein, Georg, wer soll denn bei mir gewesen sein?«

»Nun, ich dachte nur, ein gewisser Herr Krause.«

»Woher weißt du das?« fuhr sie erschrocken auf.

»Ich weiß alles, mein Kind, selbst daß der Gerichtsvollzieher eben bei dir war.«

Frau Leimann schlug beschämt die Augen nieder und zupfte verlegen an ihrer seidenen Schürze.

»Nun, wenn du es weißt, brauche ich es dir nicht erst zu sagen. Ja, er war bei mir.«

»Und was wollte er?«

»Verklagt haben sie mich, um lumpige vierhundert Mark!« stieß die Frau mit weinerlicher Stimme hervor. »Ich bin verloren, wenn mein Mann das erfährt!«

»Er muß es aber doch bezahlen, wenn er dir etwas gekauft hat.«

»Er weiß von nichts. Ich mußte das Kleid haben, das rotseidene ist es, weißt du? Ich habe damals gesagt, meine Mutter hätte es geschickt, denn er hätte es mir abgeschlagen, haben mußte ich es [S. 194] aber, und da habe ich es auf meine Rechnung entnommen!«

»Das ist recht dumm, meine Liebe! Wie willst du das Geld schaffen?«

»Ich weiß es nicht! Kannst du mir nicht helfen?«

»Ich will zu den Leuten hingehen und um Aufschub bitten.«

»Das hat keinen Zweck, Georg, ich muß bares Geld haben, wenigstens tausend Mark, denn ich habe noch mehr zu bezahlen, die Schneiderin, den Friseur &c. Verschaffe mir das Geld, Georg, zeige mir jetzt, daß du mich so lieb hast, wie du immer sagst!«

»Ich?« lachte Borgert höhnisch auf, »du lieber Gott, ich weiß selbst nicht, wo ein noch aus!«

»Wieso? Hast du auch Schulden?«

»Wenn du dich vielleicht einmal in das Papier da drüben auf dem Schreibtisch vertiefen willst? Solche Dinger bekomme ich jeden Tag.«

Frau Leimann trat an den Schreibtisch, faltete die Bogen auseinander, und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf die Zahlen.

»Um Gottes Willen, Georg! Was soll daraus werden? Du warst mein einziger Verlaß, nun bin ich verloren!«

Sie sank schluchzend auf den Divan und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

[S. 195]

»Nur nicht gleich so ängstlich, du kleiner Furchthase, an den paar Hundert Mark stirbst du noch nicht!« tröstete sie Borgert, indem er ihr zärtlich über das blonde Haar strich, »ich will sehen, daß ich es machen kann, in einer Woche hast du tausend Mark.«

Statt einer Antwort schlang sie ihre Arme leidenschaftlich um Borgert's Hals und küßte ihm stürmisch Mund und Augen.

»Ich wußte es,« sagte sie dann, »daß du mich nicht im Stiche lassen würdest, du Lieber, du Guter!« Und sie zog den Oberleutnant neben sich auf den Divan hinab.

Er aber erhob sich, verriegelte die Tür und zog die Fenstergardinen zu. Es war traulicher so.

tb

Als Leimann gegen acht Uhr vom Dämmerschoppen nach Hause kam, fand er alle Zimmer dunkel und leer.

Auf seine Frage, wo denn seine Gattin sei, antwortete das Dienstmädchen:

»Die gnädige Frau ist ausgegangen.«

»Wohin?«

»Ich weiß nicht, Herr Oberleutnant!«

So zündete er denn eine Lampe an und ging nach dem Briefkasten, um zu sehen, ob mit der [S. 196] Abendpost etwas gekommen sei. Er fand zwei Briefe vor, Rechnungen, zusammen über sechshundert Mark.

Er brummte etwas vor sich hin und schloß die beiden »Wische« in seinen Schreibtisch ein.

Da gewahrte er ein großes gelbes Kouvert. Er hielt es für einen Dienstbrief und griff danach, um es mechanisch zu öffnen. Aber es war bereits geöffnet und seine Neugierde wuchs, als er drei große Bogen herauszog.

Mit stieren Augen schaute er in die Schreibmaschinenschrift, dann ließ er sich am Tisch nieder und las das ganze Schriftstück von Anfang bis zu Ende durch.

Also seine Frau auch? Das war ja eine reizende Überraschung! Wenn es mit ihrer eigenen Kasse so im Argen lag, dann war wohl von der Schwiegermutter nichts mehr zu erwarten, und mit dieser hatte er immer noch gerechnet. Wütend schleuderte er die Klageschrift in die Ecke und ging sinnend im Zimmer auf und ab.

Seine Gattin mochte wohl den Schritt ihres Mannes durch die Decke hindurch vernommen haben, denn sie trat jetzt mit glühenden Wangen ein.

»Entschuldige, Max,« sagte sie außer Atem, »ich hatte noch nötig bei der Schneiderin zu tun, ich bin furchtbar gelaufen, ich sah dich vor mir hergehen, konnte dich aber nicht mehr einholen.«

[S. 197]

»Was hast du wieder mit der Schneiderin zu tun?« herrschte Leimann sie an.

»Was soll ich anders da zu tun haben, als wozu sie da ist? Sie macht mir ein Reitkleid!«

»Bezahle gefälligst erst deinen alten Krempel, ehe du dir neues Flitterzeug machen läßt!« brüllte der Gatte.

»Was soll dieser Ton? Und wer sagt dir, daß ich meine Rechnungen nicht bezahle? Du denkst gewiß, es müßten andere gerade so in den Tag hineinleben, wie du.«

»Wenn du nicht willst, daß ich sehe, was dir der Herr Gerichtsvollzieher bringt, dann lege es mir nicht direkt unter die Nase!«

Frau Leimann begriff erst nicht recht, was er damit sagen wollte, da fiel ihr ein, sie hatte ja die Zustellung auf dem Schreibtisch ihres Gatten liegen lassen.

»Ich verbitte mir ganz entschieden,« fuhr sie empört auf, »daß du die Nase in meine Privatkorrespondenz hineinsteckst. Wenn der Brief offen auf dem Tisch lag, hattest du kein Recht, denselben zu lesen, ich mache deine Rechnungen auch nicht auf!«

»Mache was du willst, aber ich verbitte mir, daß du mir den Gerichtsvollzieher ins Haus schleppst.«

[S. 198]

»Das ist nicht schlimm, mein Lieber, dann weiß er wenigstens den Weg, wenn er nächstens zu dir kommt!«

»Halt den Mund, du Unverschämte, sonst werfe ich dich vor die Tür!«

»Vielen Dank für dein freundliches Angebot, aber ich gehe bereits von selbst.«

Sie ging hinaus, betrat ihr Schlafzimmer und legte sich zu Bett. Müde war sie aber noch gar nicht. Sie griff daher nach einem auf dem Nachttisch liegenden Buch und begann zu lesen.

Gerade darunter lag Borgert auch in seinem Bett und las ebenfalls.

Aber seine Gedanken waren nicht recht bei der Sache, es ging ihm doch etwas im Kopf herum, daß es ihn jetzt von allen Seiten packte. Denn wenn da noch viel hinzu kam, würde der Oberst eines Tages die sofortige Bezahlung aller Schulden verlangen, und, wenn er das nicht leisten konnte, ihn auffordern, seinen Abschied einzureichen. Das aber war eine faule Sache, denn was nun anfangen ohne einen Pfennig Geld, mit wenig oder gar keinen Kenntnissen und vielen Ansprüchen? Es mußte energisch etwas getan werden, und er wollte den nächsten Tag, einen Sonntag, dazu benutzen, noch einmal alle Möglichkeiten einer größeren Anleihe durchzugehen.

[S. 199]

Getröstet in der Hoffnung, daß sich doch noch irgend eine milde Hand auftun würde, schlief er ein, das Buch entfiel seinen Händen und die Lampe auf dem Nachttisch verlosch nach Mitternacht von selbst, da Borgert vergessen hatte, sie auszublasen.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war es schon zehn Uhr vorbei.

Borgert wurde wütend. Der halbe Tag war nun wieder zum Teufel und er hatte sich doch so viel vorgenommen! Hatte dieser Esel von Bursche ihn nicht geweckt? Dabei schmerzte ihn der Kopf und er fühlte sich matt und zerschlagen. Notdürftig angekleidet ging er zum Burschenzimmer und fand Röse einen Brief schreibend. Er fuhr auf, als der Oberleutnant eintrat.

»Warum hast du mich nicht geweckt, du Vieh?« donnerte er den Erschrockenen an.

»Ich habe Herrn Oberleutnant um sieben Uhr geweckt, aber Herr Oberleutnant wollte noch schlafen und sagte, ich brauchte nicht mehr zu kommen!«

»Das lügst du, du Schwein, ich will dich lehren, zu tun, was ich dir sage.« Dabei ergriff Borgert ein auf dem Bett liegendes Säbelkoppel und schlug damit heftig auf Röse ein.

Röse stand in militärischer Haltung und ließ die Mißhandlung ruhig über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das aber reizte Borgert [S. 200] noch mehr und so schlug er ihn noch einmal mit der Faust vor die Brust. Dann nahm er den angefangenen Brief vom Tisch, zerknitterte ihn und warf ihn in den Kohlenkasten.

»Geh hinaus zu Herrn Oberleutnant Leimann und sage, ich bäte ihn, in einer halben Stunde einmal bei mir vorzukommen.«

»Zu Befehl, Herr Oberleutnant.«

Borgert ging zurück nach seinem Schlafgemach, kleidete sich fertig an und betrat das Nebenzimmer.

Aber da stand ja schon der Kaffee! Ganz kalt schon! Also war Röse doch schon vorher im Zimmer gewesen? Nun, eine kleine Tracht Prügel schadete nichts, sie erhielt die Disziplin und den Respekt, wenn sie auch einmal zur unrechten Zeit kam. Denn sollte er Röse etwa jetzt um Verzeihung bitten? Das fehlte gerade noch.

Auf dem Schreibtisch lagen einige Briefe. Es waren drei Rechnungen und ein Brief seines Vaters.

Er öffnete ihn und las:

»Mein lieber Sohn!

Mit Bedauern habe ich aus deinem letzten Briefe ersehen, daß du wiederum größere Ausgaben hattest, die dich in Verlegenheit bringen, weil du nicht damit gerechnet hast. So gern ich dir das erbetene Geld schicken würde, ich kann es beim besten Willen nicht, denn du weißt, wie sehr ich selbst [S. 201] rechnen muß. Wenn dir mit 75 Mark etwas geholfen ist, so stehen sie dir zur Verfügung, wenngleich ich sie deiner Mutter zur Anschaffung eines Kleides versprochen hatte, welches sie schon lange nötig hat. Aber ich muß dir offen gestehen, daß es mir unverständlich ist, wie du mit den zweihundert Mark Zulage nicht auskommen kannst. Ich hatte in deinem Alter auch nicht mehr und habe jedes Jahr eine schöne Reise gemacht. Ich gebe dir den wohlgemeinten Rat, dich von deinen Kameraden etwas zurückzuziehen, damit deine Ausgaben geringer werden, beschäftige dich fleißig zu Hause und meide jede Gelegenheit, die dich zu Ausgaben verpflichtet, denen du nicht gewachsen bist. Wenn du offen erklärst, daß dir dieses und jenes zu kostspielig ist, so wird dich jedermann umso höher achten, wenn er sieht, daß du mit deinen Verhältnissen rechnest und nicht leichtsinnig in den Tag hinein lebst. Denn vornehm leben heißt in seinen Verhältnissen bleiben.

Schreibe mir bald, wie du die Angelegenheit geregelt hast und ob ich dir die angebotene Summe schicken soll. In der Hoffnung, daß dir keine Unannehmlichkeiten erwachsen, bin ich dein alter Vater.«

Als Borgert diese Zeilen gelesen, zerknitterte er das Papier und steckte es mit den ungeöffneten drei anderen Briefen in den Ofen. Dann ließ er sich [S. 202] mit einem Seufzer in einen Sessel nieder und blickte sinnend vor sich hin.

Da trat der Bursche ein und meldete Leimann.

Borgert ging dem Freunde entgegen, und als sie eingetreten waren, fragte dieser erregt:

»Nun, was haben Sie denn Wichtiges so früh am Morgen?«

Borgert stelle sich breitbeinig vor ihn hin und entgegnete mit geheuchelter Heiterkeit:

»Nun ja, mein Lieber, man hat so seine Sorgen. Ich bin nämlich so ziemlich am Ende und möchte Sie zu meinem Konkursverwalter ernennen.«

»Am Ende?« entgegnete Leimann erregt, »was wollen Sie damit sagen? Ist es in Geldsachen?«

»Sie haben recht geraten. Ich muß jetzt Geld haben, und zwar sofort, einen ganzen Sack voll, sonst bin ich erledigt.«

»Steht es denn so schlimm auf einmal? Sind neue Sachen gekommen? Sie sagten doch das letzte Mal, Sie seien nun vorläufig versorgt.«

»Gewiß sagte ich das, aber ich habe gestern einen Überschlag gemacht und gefunden, daß es keinen Ausweg mehr gibt, als einen großen Pump. Ich möchte also mit Ihnen einmal darüber sprechen, denn ich hoffe, daß sich noch Mittel und Wege finden lassen werden, um sich über Wasser zu halten!«

[S. 203]

Leimann schaute sinnend zu Boden und rieb sich das unrasierte Kinn. Dann entgegnete er achselzuckend:

»Wieviel ist es denn?«

»Zwölftausend Mark, kein Pfennig weniger, denn ich muß jetzt reine Bahn machen, ich habe diese langweiligen Mahnbriefe und Klagen satt!«

»Nun, und wie dachten Sie sich die Sache denn ungefähr?«

»Ich habe noch einige Adressen von solchen Geldmännern. Wenn Sie nochmals bereit wären, Bürgschaft zu leisten, so hoffe ich, daß wir zum Ziele kommen.«

»Bürgschaft? Bürgschaft? Ja, Sie haben gut reden, mein Lieber, aber schließlich muß man doch auch einen Hintergrund haben, wenn man immer gutsagen soll. Ich muß Ihnen offen gestehen, wenn Sie die dreitausend Mark von vorigem Monat nicht bezahlen können, dann bin ich mit meiner Bürgschaft hereingefallen.«

»Nun, das bedarf wohl keiner Auseinandersetzung, es ist absolut selbstverständlich, daß ich meinen Verpflichtungen nachkomme.«

»Daran zweifle ich durchaus nicht, aber ich kann Ihnen in der Tat keine Bürgschaft mehr leisten, ich wollte vielmehr Sie darum bitten, denn ich muß auch Geld haben.«

[S. 204]

»Ich bin gern dazu bereit, aber warum nehmen Sie denn auf Ihr Kommißvermögen nichts auf? Das ist doch der sicherste Weg.«

»Kommißvermögen? Auch haben, um etwas darauf aufzunehmen!«

»Aber worauf haben Sie denn geheiratet?« fragte Borgert erstaunt.

»Ich habe es nur vier Wochen besessen, dann hat es der zurückbekommen, der es mir geborgt hat, bis ich den Konsens hatte.«

Borgert schaute seinen Freund betroffen an, dann ging er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

»Nun,« begann er nach einer Weile von Neuem, »es ist gut, Sie leisten mir Bürgschaft und ich Ihnen.«

»Gut, das können wir, aber es ist doch eine gewagte Sache, denn wenn es einmal zum Klappen kommt und keiner hat einen Pfennig, dann wird es übel.«

»Der Fall kann gar nicht eintreten, mein Verehrter, denn wenn mir jetzt noch einmal geholfen ist, dann ist für später nichts zu fürchten. Ich werde heiraten.«

»Donnerwetter, haben Sie Schneid! Dann seien Sie aber in der Wahl Ihres Schwiegervaters vorsichtig, sonst ist es eine faule Sache. Ich kann davon ein Liedchen singen.«

[S. 205]

»Das versteht sich von selbst, auf leere Versprechungen heirate ich nicht. Unter einer halben Million ist mit mir kein Geschäft zu machen.«

»Na, da wünsche ich Ihnen viel Glück. Aber sagen Sie einmal, da fällt mir ein, wie wäre es denn mit König? Sollte der nicht ein paar tausend Mark herausrücken?«

»Daran dachte ich wohl auch schon, aber ob er es tut, scheint mir sehr zweifelhaft. Denn erst müßten wir ihm die alte Schuld bezahlen!«

»Nun, ein Versuch kostet ja nichts. Mehr wie nein sagen kann er nicht, ich werde sofort ein paar Zeilen an ihn schreiben.«

Leimann nahm am Schreibtisch Platz und zog einen Briefbogen aus der Schublade, Borgert entschuldigte sich indes für einige Augenblicke, da er mit dem Burschen etwas zu sprechen habe.

Er wollte die Zeit, während welcher Leimann schrieb, dazu benutzen, dessen Gattin guten Morgen zu wünschen, und so huschte er in den weichen Pantoffeln leise die Hintertreppe hinauf. Die Tür zum Ankleidezimmer fand er angelehnt. Auf den Fußspitzen trat er näher und erblickte Frau Leimann, wie sie vorm Spiegel stand. Das üppige Blondhaar hing ihr in langen goldigen Strähnen über die Schulter, bis an die Hüften hinab. Und als sie die Arme hob, um das Haar zu ordnen, fielen die weiten [S. 206] Ärmel des Morgenrocks bis an die Ellenbogen zurück und entblößten einen herrlichen weißen Arm. Das Bild war klassisch schön, ein echt malerisches Motiv!

Borgert stand einige Minuten still und betrachtete mit Verlangen die schöne Frau, die nicht zu ahnen schien, daß ein Fremder sie belausche. Plötzlich riß er die Tür auf, eilte auf Frau Leimann zu, küßte sie auf den Nacken, und huschte eben so schnell wieder zur Tür hinaus und die Treppe hinab. Geräuschvoll schritt er durch den Korridor, sprach mit dem Burschen einige Worte und trat dann mit unbefangener Miene in sein Arbeitszimmer.

Da Leimann noch schrieb, setzte er sich in einen Sessel, zündete eine Cigarrette an und blies den Rauch in einen durch das Fenster spielenden Sonnenstrahl hinein, in dem die blauen Wölkchen leuchteten und sich zu einem phantastisch verschlungenen Bande formten.

Jetzt war der Brief beendet, Leimann schob ihn in ein Kouvert, schrieb die Adresse darauf, und der Bursche mußte ihn sogleich an seinen Bestimmungsort besorgen.

»Das wird ziehen, denke ich!«, sagte Leimann befriedigt, als er vom Schreibtisch aufstand.

»Was haben Sie denn geschrieben?« fragte Borgert forschend.

[S. 207]

»Nun, ganz einfach, ich brauchte Geld für einen Kameraden und appellierte daher an seine schon so oft bewiesene freundschaftliche Gesinnung. Als Zeitpunkt für die Rückzahlung habe ich ihm drei Monate bezeichnet, und mein Wort für pünktliche Erledigung gegeben, denn Sie sagten ja, das Geld bis dahin schaffen zu können.«

»Aber gewiß kann ich das, wenn der Kerl nur jetzt etwas hergibt, das weitere findet sich dann schon.«

So plauderten sie eine halbe Stunde, als Röse mit der Antwort des Rittmeisters König zurückkam.

Leimann ergriff erst hastig den Brief, dann aber zögerte er, ihn zu öffnen. Unentschlossen schaute er auf die Adresse und sah fragend zu Borgert hinüber, der noch behaglich in seinem Sessel saß.

Oft harren wir sehnlich einer Nachricht, die uns freudige oder unangenehme Botschaft bringen kann. Wir können den Augenblick nicht erwarten, bis wir die Entscheidung in den Händen haben, dann aber wagen wir nicht, die Botschaft zu erfahren, denn sie könnte uns Enttäuschung bringen. Die Ungewißheit aber ist schöner, weil sie neben der Furcht vor Enttäuschung auch die Hoffnung auf Freudiges in sich schließt.

Schließlich riß Leimann das Kouvert auf und faltete den Brief auseinander.

Betroffen schaute er in die Schriftzüge. Borgert [S. 208] sah an dem Gesicht des Lesenden, der mit hochgezogenen Brauen und nervös zitternden Händen vor ihm stand, daß die Antwort König's nichts Erfreuliches brachte. Aber er war ruhiger, weniger betroffen, als Leimann, obgleich ihn selbst die Angelegenheit doch am ersten betraf. Es war ihm schon lange nichts Neues mehr, diese absagenden Antworten auf Darlehnsgesuche und ähnliche Schreiben, der Mensch gewöhnt sich eben an alles.

Sein Gesicht aber nahm einen zornigen Ausdruck an, als er jetzt selbst die Antwort las, nachdem sie ihm Leimann stillschweigend gereicht. Der Brief lautete:

»Zu meinem Bedauern bin ich nicht in der Lage, ihrem Wunsche nachzukommen. Einesteils kann und darf ich es nicht tun mit Rücksicht auf meine Familie, denn Summen von derartiger Höhe könnte ich nur aus der Hand geben, wenn mir eine unbedingte Sicherheit geboten wird. In Ihrer ehrenwörtlichen Versicherung für pünktliche Rückzahlung bedaure ich eine solche nicht erblicken zu können, da Sie sowohl, wie Oberleutnant Borgert die Ihnen vor Monaten geliehenen Beträge noch nicht zurückzuzahlen im Stande waren, obgleich Sie mir auch damals Ihr Wort auf Erledigung Ihrer Schuld binnen zehn Tagen gegeben haben. Außerdem scheint mir das, was ich in letzter Zeit über den [S. 209] Stand Ihrer wirtschaftlichen Lage gehört habe, durchaus nicht darnach angetan, eine Innehaltung Ihres Versprechens von heute zu gewährleisten.«

Borgert stand auf und schleuderte das Schreiben wütend zu Boden. Darauf trat er an's Fenster und schaute auf die Straße hinaus.

Keiner von beiden sprach ein Wort. Erst als sich ihre Blicke begegneten, fragte Leimann:

»Nun, was sagen Sie dazu?«

»Eine Unverschämtheit ist es, eine Gemeinheit!« brauste Borgert los, »was fällt dem Menschen ein, sich in unsere Privatangelegenheiten zu mischen? Es wäre unkameradschaftlich genug gewesen, uns eine Absage zu schicken, aber in diesem beleidigenden Ton! Das kann man sich nicht gefallen lassen!«

»Was wollen Sie machen?« entgegnete Leimann achselzuckend. »Wenn Sie gegen ihn auftreten, faßt er uns damit, daß wir ihm damals unser Wort gegeben haben, und das läßt sich nicht bestreiten, denn von mir hat er es sogar schwarz auf weiß. Es ist also schon das Beste, wir stecken diese Grobheit ruhig ein und schneiden den Kerl, dann wird er es schon merken!«

»Er hat anscheinend ganz vergessen, daß es uns ein Leichtes wäre, ihm den Hals zu brechen. Hat er nicht selbst gesagt, er wolle uns damals den Betrag aus der Schwadronskasse leihen? Ich meine, [S. 210] es könnte ihm nicht angenehm sein, wenn man von dieser Tatsache Gebrauch machte.«

»Das stimmt ja, aber Sie können ihm doch anstandshalber deshalb keine Geschichten machen, denn der Eingriff in die Kasse geschah in unserem Interesse.«

»Das ist mir gleich. Wenn er sich jetzt erlaubt, uns derartige Frechheiten ins Gesicht zu schleudern, dann will ich ihm zeigen, daß ich ihm mit gleicher Münze dienen kann!«

»Sie können aber doch unmöglich eine Meldung schreiben, König hätte Ihnen Geld geliehen, nachdem er in eine Kasse gegriffen habe. Das würde doch ein sonderbares Licht auf Sie werfen.«

»So ungeschickt werde ich es auch nicht anfangen. Das kann man hinten herum in die Wege leiten, und ich werde es einrichten, daß kein Mensch in mir den Urheber wittert. Aber eintränken will ich's dem Kerl schon.«

Beide schwiegen wieder, und wenige Minuten später empfahl sich Leimann, da er vor Tisch noch einen Gang zur Stadt zu tun habe.

Borgert blieb auch nicht mehr lange in seiner Wohnung. Er ging in's Kasino und ertränkte seine schlechte Laune in einer Flasche Heidsieck.

[S. 211]

tb

Als Borgert wenige Tage später des Morgens erwachte, merkte er zu seinem Schrecken, daß er wieder den Dienst verschlafen hatte. Er klingelte heftig nach dem Burschen, aber Röse erschien auch auf ein zweites Glockenzeichen nicht.

Borgert kleidete sich an und ging nach Röse's Stube. Er fand sie leer. Das Bett stand unberührt, darauf lag Uniform und Mütze des Burschen.

Erstaunt schaute er sich in dem kleinen Raume um, den eine stickige, dumpfe Luft, ein Geruch nach schmutziger Wäsche und abgetragenen Kleidern erfüllte. Wo sollte Röse so früh schon hingegangen sein, ohne ein Wort zu sagen? Hatte er Dienst? Aber nein, da lag ja seine Montur.

Borgert stand schon auf der Schwelle, um das Zimmer wieder zu verlassen, als er auf dem schmutzigen Tisch einen Zettel gewahrte. Er nahm ihn auf und sein Gesicht erblaßte, während er ihn las, denn er enthielt in ungelenker Schrift nur die Worte: »Ich empfehle mich bestens!«

Wie versteinert schaute Borgert auf das Blatt. Der Kerl war also desertiert!

Über den Grund konnte Borgert keinen Moment im Unklaren bleiben, und ein plötzliches Unbehagen erfaßte ihn bei dem Gedanken, man könne Röse aufgreifen. Dann würde alles zu Tage kommen, die schlechte Behandlung, die Mißhandlungen und so [S. 212] vieles, was Röse mit angesehen oder über seinen Oberleutnant erfahren hatte.

Wie geistesabwesend schritt er nach seinem Zimmer hinüber und setzte sich auf die Bettkante.

Er glaubte zu träumen, wild jagten ihm allerlei Gedanken durch den Kopf, und ein nervöses Zucken spielte um die blassen Lippen.

Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Ärger, Ungemach, Enttäuschung von allen Seiten, kein Lichtblick in die Zukunft, die sich jetzt mit einem Schlage drohend und schwarz vor seiner Seele malte!

Zum ersten Male durchzuckte ihn mit schrecklicher Gewißheit der Gedanke, daß er vor einer Katastrophe stand, welcher nichts mehr Einhalt gebieten konnte, wenn nicht ein Wunder geschah. Aber wo sollte das jetzt noch herkommen? Aller Glaube, alle Hoffnung zerflossen zu nichts in den wenigen Augenblicken, da ihm die ganze erdrückende Last seiner Schuld und Sünden, die ganze Wirrnis eines verfehlten Daseins zum Bewußtsein kam. Ein Schrecken, eine Schauer vor sich selbst und das Gefühl der Hilflosigkeit ergriff den Mann, den sonst nichts zu bewegen vermochte, der mit einer kalten, kein Mittel scheuenden Berechnung alle Schwierigkeiten und mißlichen Lebenslagen niederzukämpfen gewohnt war. Keiner tieferen Regung und edlen [S. 213] Gefühle fähig, war er bis jetzt den Lebensweg gewandelt, den Egoismus, rücksichtslose, gefühlsrohe Gesinnung und oberflächliche Lebensanschauung ihm gewiesen hatten.

Lange saß er so da, bleich, unbeweglich, den stieren Blick in's Leere gerichtet, nur das nervöse Spiel seiner Züge verriet, daß in der scheinbar leblosen Gestalt noch Leben saß: der seelische Kampf und innere Zwiespalt eines Menschen, der zu spät erkennt, wie er sein Leben gewaltsam zerstört und zertreten, dessen Hoffnung auf eine unverdiente Gnade des Geschickes noch im Ersterben nach einem rettenden Gedanken sucht, an den sich die geängstigte Seele klammern kann, wie ein Ertrinkender noch bis zum letzten Atemzuge mit den Wogen ringt, auch wenn er weit und breit kein helfendes Wesen erblickt.

Borgert war jetzt mit sich im Reinen, er hatte abgerechnet mit sich selbst und einem verfehlten, durch eigene Schuld vernichteten Leben. Er war entschlossen, die Folgen zu tragen, nun es kein Entrinnen mehr gab.

Mechanisch kleidete er sich an und ging zur Kaserne, um dem Rittmeister zu melden, daß er den Dienst versäumt habe.

Von Röse's Flucht wollte er vorläufig schweigen, denn wenn man jetzt sofort dem Deserteur nachspürte, [S. 214] war es so gut wie sicher, daß man in wenigen Tagen seiner habhaft wurde. Gab man ihm aber noch 48 Stunden Zeit, dann hatte er genügend Vorsprung, um sich in ein sicheres Versteck zu begeben, und dann blieb es Borgert erspart, von einem Kriegsgericht wegen Mißhandlung eines Untergebenen verurteilt zu werden.

Als er gegen Mittag seine Wohnung wieder betrat, fand er einen Brief vor. Es war die Antwort des Geldverleihers aus Berlin, welcher Borgert in kurzen Worten mitteilte, er könne ein Darlehn nicht gewähren, da die Erkundigungen sowohl über Borgert wie über den Bürgen Leimann eine außerordentlich ungünstige Wirtschaftslage bekundet hätten.

Borgert nahm die Nachricht fast gleichgültig auf, denn er hatte seit heute Morgen jede Hoffnung auf einen günstigen Zufall verloren und daher nichts anderes erwartet.

In's Blaue hinein, auf ein ehrlich Gesicht und schöne Worte gab kein Mensch einen Pfennig her, es hatte also gar keinen Zweck, sich noch weiter zu bemühen. Wenn es trotzdem vorher Leute gegeben hatte, die ihm Geld zur Verfügung stellten, so war es eben auf Leimann's Bürgschaft hin erfolgt, der seine Vermögenslage in so geschickter Weise in ein günstiges Licht zu stellen verstand, daß man ihm [S. 215] einfach Glauben schenkte, ohne lange Erkundigungen über ihn einzuziehen.

Matt und mit wirrem Kopfe legte sich Borgert auf den Divan nieder.

In's Kasino mochte er nicht gehen, denn er verspürte keinen Appetit und fühlte sich auch nicht in Stimmung, mit den Kameraden in gewohnter Weise zu scherzen und zu plaudern. Er mochte niemand sehen und hören, nur allein sein wollte er, ganz allein.

Sein Blick schweifte in dem eleganten Raum umher. Und als er so die schönen Bilder an den Wänden, die kostbaren eichenen Möbel und wertvollen Teppiche betrachtete, da schmerzte es ihn doch, daß all diese Pracht und Herrlichkeit nun ein Raub der Manichäer werden sollte. Sie würden sich zanken und streiten um den Besitz, ein jeder würde der erste sein wollen, wenn es galt, zu seinem Rechte zu gelangen.

Aber es half nichts. In wenigen Tagen mußte der Zusammenbruch erfolgen, eine Rettung war ausgeschlossen.

Doch was sollte dann aus ihm selbst werden? Daran hatte er noch gar nicht so recht gedacht. Sollte er sich jeden Stuhl unter dem Rücken hervorziehen und auf die Straße setzen lassen? Schließlich sperrte man ihn vielleicht noch ein? Die Zeit [S. 216] drängte, ein Entschluß mußte schnell, sofort gefaßt werden.

Eigentlich wußte er nicht recht, was er überhaupt in diesem elenden Sorgenleben noch zu suchen habe. Denn jetzt mit Schimpf und Schande abgehen, einen neuen Beruf erlernen und arbeiten müssen, das war gar nicht sein Geschmack. Verwöhnt und anspruchsvoll sich in eine einfache Lebensweise, eine bescheidene, vielleicht sogar untergeordnete Stellung hineinzuzwängen, das war ein fast unmögliches Ding. Dazu gehörte Energie, Selbstverleugnung und Arbeitslust, von alledem aber fühlte er nichts in sich. Sollte er sich einfach eine Kugel durch den Kopf schießen?

Aber nein, das war abgeschmackt, erforderte auch Mut, und den hatte er nur besessen, wenn er nichts riskiren konnte.

Und schließlich, wer sollte wissen, ob er nicht doch noch einmal das Glück zu fassen bekäme? Dann wäre Selbstmord eine übereilte Torheit gewesen. Das Leben konnte so schön sein, und nun kurzer Hand ein Ende damit machen? Nein, auf keinen Fall.

Lange grübelte er hin und her, es wollte ihm kein rechter Gedanke kommen.

Er dachte an seinen Burschen. Hatte der es nicht ganz schlau angefangen, um sich den Verhältnissen [S. 217] zu entziehen, die ihm nicht paßten? Der saß jetzt vielleicht ruhig und ungestört in einem stillen Winkel, wo es niemand einfiel, nach ihm zu fragen, wo er leben konnte, wo er lustig war.

Wenn er es nun auch so machte?

Je mehr in Borgert der Gedanke an eine heimliche Flucht Gestalt gewann, um so vortrefflicher schien ihm dieser Ausweg.

Unter neuen Menschen, in einem anderen Lande konnte er ein neues Leben beginnen, und wie lange würde es dauern, bis man ihn vergessen hatte! In einem Jahre nannte man seinen Namen vielleicht nur noch als den eines Mannes, der auch einmal existiert habe, im Übrigen würde sich niemand mehr um ihn kümmern.

Er war so sehr in seine Gedanken versunken, daß er es nicht mehr bemerkte, als die Tür aufging und Frau Leimann eintrat.

Sie sah blaß und ernst aus, das sonst so jugendlich schöne Gesicht schien gealtert, und die Augen zeigten einen bangen Ausdruck.

Borgert erhob sich nicht, sondern nickte nur, ohne ein Wort zu sagen, kaum merklich mit dem Kopfe. Dabei streifte sein Blick die Gestalt der Frau.

Sie schien ihm heute nicht begehrenswert, ganz anders sah sie aus wie sonst. Ihre Bewegungen schienen ihm schlaff und formlos, die Reize fand [S. 218] er nicht, an denen er sich so oft gesättigt. Das Haar war wirr und flüchtig geordnet, hinter den weichen Falten des lässig übergestreiften Morgenrockes verrieten sich nicht die vollen Formen, die Rundung der Glieder, die gesunde Fülle eines jugendlichen Weibes. Alt und verlebt kam ihm die ganze Erscheinung vor.

War es früher nur ein rein sinnliches Empfinden gewesen, das ihm die Frau so schön, so begehrenswert erscheinen ließ? Und war es heute die geistige und nervöse Abspannung, die jene Regung tötete, sodaß er die Reize des Weibes nicht zu erkennen vermochte?

Er wußte es nicht, zwei Eindrücke standen einander gegenüber: Die Frau, wie sie jetzt vor ihm stand, und das herrliche Weib, das er vor wenigen Tagen mit gelöstem Haar, mit nackten Armen und Schultern geschaut und geküßt.

Sie hatte sich neben ihn auf den Divan gesetzt und seine Hand ergriffen. Ihre Augen schauten bang in das Gesicht des Mannes, der so teilnahmslos, so gleichgiltig vor ihr lag.

»Du bist krank, Georg?« fragte Frau Leimann besorgt.

Er schüttelte nur den Kopf, ohne zu antworten.

»Aber so sage mir doch, was ist dir? Was fehlt dir?«

[S. 219]

»Nichts und alles,« gab Borgert gleichgiltig zur Antwort.

»Was soll das heißen, Georg? So sprich doch vernünftig!«

»Was soll ich viel reden, meine Liebe? Ich bin fertig. Sonst fehlt mir nichts!«

»Fertig! Womit? Wie soll ich das verstehen?«

»Mit allem, mit dem Leben und mit mir!«

»Du sprichst in Rätseln, Georg! So sage mir doch offen und klar, was ist geschehen!«

»Das Geld ist alle. Ich muß fort, sonst gibt es ein Unglück.«

Borgert fühlte, wie ein Zucken durch ihren Körper ging. Sie erwiderte nichts, sie wendete nur langsam ihr Gesicht ab und schaute nach dem Fenster hin.

Im Stillen war Borgert ihr dankbar, daß sie die Mitteilung so gefaßt entgegennahm und nicht nach Weiberart aufschrie oder schluchzend zu Boden sank.

Und als er das blasse Profil betrachtete, wie es sich gegen die hellen Fensterscheiben abhob, und eine Träne in ihren Augen flimmern sah, erfaßte ihn eine Rührung, ein Mitleid mit der Frau, und er zog sie in seine Arme.

Und als sie so dalagen in wortloser Umarmung, kam es leise über ihre Lippen:

[S. 220]

»So nimm mich mit, Georg!«

Betroffen fuhr Borgert auf:

»Um Gottes Willen, wie kommst du auf solche Gedanken? Wie darf ich das?«

»Ich bitte dich, Georg, laß mich mitgehen, ich halte es hier nicht länger aus.«

»Aber das ist undenkbar, Liebste! Ist es nicht Skandal genug, wenn ich allein verschwinde? Und dann dich noch mitnehmen? Unmöglich!«

»Dann gehe ich allein, ich will fort, ich muß!«

»Aber warum denn auf einmal, was ist denn passiert?«

Frau Leimann brach in ein heftiges Schluchzen aus.

»Geschlagen hat mich mein Mann, weil der Gerichtsvollzieher wieder bei mir war. Ich ertrage diese Behandlung nicht länger und dann..... dann ....... ich habe auch kein Geld für meine Schulden, es gibt ein Unglück.«

Borgert hatte Mühe, die erregte Frau wieder zu beruhigen.

Er überlegte. Eigentlich war der Gedanke gar nicht so unrecht. Wenn sie doch einmal fort wollte, dann konnte sie auch gleich mit ihm gehen, dann hatte er wenigstens einen Menschen bei sich, mit dem er reden konnte und noch manches mehr, einen, der sich in der gleichen Lage befand wie er selbst. Und als Frau Leimann ihn mit flehenden Augen [S. 221] ansah, schloß er sie wieder in die Arme und flüsterte leise:

»So komm mit! Morgen abend reisen wir!«

Lange hielten sie sich in inniger Umarmung umschlungen, dann aber entwand sich Borgert den Liebkosungen der Frau und drückte sie in einen Sessel nieder.

Er selbst nahm ihr gegenüber Platz und sagte:

»Nun müssen wir aber einmal ganz vernünftig über alles reden.

Erstens: Wie willst du fortkommen, ohne daß dein Mann etwas davon merkt?«

»Max fährt morgen früh nach Berlin, er hat dort dienstlich zu tun. Hat er dir's noch nicht erzählt?«

»Nein, aber das trifft sich ja ausgezeichnet. Nun weiter: Hast du Reisegeld?«

»Ja, meine Mutter hat heute dreihundert Mark geschickt, und ich habe nichts damit bezahlt, weil ich fest entschlossen war, abzureisen.«

»Dann bist du besser daran als ich, ich habe nämlich blos noch eine Mark, aber ich werde Rat schassen.

Drittens: Wie willst du unauffällig dein Gepäck zur Bahn schaffen lassen? Denn du kannst doch nicht mit einem Kleide ausrücken!«

»Ganz einfach, Georg! Bitte noch heute meinen [S. 222] Mann um den großen Koffer und sage, du müßtest nach Hause reisen. Dann packe ich alles hinein und der Bursche bringt ihn zu dir herunter. Er ist groß genug für uns beide!«

»Ich sage es ja immer«, entgegnete Borgert lachend, »es ist ein altes Sprichwort:

»In größter Not ein Frauenmund
Tut dir die schlausten Schliche kund!«

Das Rezept ist übrigens großartig und acceptiert.«

»Und mit welchem Zuge fahren wir?«

»Du fährst nachmittags, damit wir nicht zusammen abreisen, das würde natürlich auffallen. Ich komme mit dem Abendzuge nach. Wir treffen uns am besten in Frankfurt im Wartesaal, dort können wir dann alles weitere in Ruhe besprechen. Ich nehme natürlich drei Tage Urlaub, damit man mir nicht gleich jemand nachschickt.«

»Dann wären wir ja soweit einig. Ich komme morgen Vormittag herunter, sobald mein Mann fort ist, dann können wir ja noch einmal über alles sprechen. Jetzt muß ich hinauf.«

Noch ein inniger Kuß, und Frau Leimann wandte sich der Tür zu. Als sie Borgert von der Schwelle aus noch einmal zunickte, da gefiel sie ihm wieder. Das erhitzte Köpfchen mit den zerzausten Haaren und den leuchtenden Augen, es war doch wirklich reizend! Eine Art Wonne überkam ihn plötzlich bei [S. 223] dem Gedanken, daß er das entzückende Weib nun ganz besitzen, für immer um sich haben sollte, es würde ihm helfen, leichter über alles hinwegzukommen, was noch Unangenehmes bevorstand.

Borgert hatte mit einem Schlage seine gute Laune zurückgewonnen, es war ihm fast wohl zu Mute. Denn jetzt bekam die ganze Flucht einen anderen Anstrich. Man würde sagen, sie seien aus Liebe mit einander geflohen. Skandal und Gerede gab das auch noch zur Genüge, aber die ganze Geschichte schien ihm gewissermaßen vornehmer, interessanter und entschuldbarer, als wenn es hieß, er sei auf und davon gegangen, weil er sich vor Schulden und den Folgen unsauberer Machinationen nicht habe retten können.

Einen Augenblick allerdings mischte sich in diese Freude ein Mahnruf des Gewissens, das ihm verbot, ein neues Verbrechen zu begehen. Aber dieser Mahnruf klang so schwach und kraftlos, daß Borgert ihn kaum empfand. Die Hauptsache war ja doch, ihm bot sich eine Annehmlichkeit, ein Vorteil, den er sich nicht entgehen lassen wollte, lediglich mit Rücksicht auf andere. Die kamen doch erst in zweiter Linie!

Denn je stärker der Egoismus im Menschen vorherrscht, umso leichter überwinden wir alle Regungen, alle sentimentalen Grübeleien, welche uns [S. 224] vor einer Sünde warnen, wenn wir aus ihr einen Vorteil zu gewinnen glauben, und nur dann weichen wir vom rechten Wege ab. Deshalb sind die größten Verbrecher auch die größten Egoisten.

So wanderte denn Borgert wohlgemut der Stadt zu und betrat die Post, wo er ein Telegramm an einen Althändler in der Nachbarstadt sandte und diesen um einen Besuch am nächsten Morgen bat.

Darauf begab er sich nach seinem Hause zurück und ging zu Leimann's hinauf.

Er fand den Freund beim Kofferpacken.

»Nun, morgen soll die Reise los gehen, wie ich höre, ich erfuhr es erst heute Mittag!« sagte Borgert, ihm die Hand reichend.

»Ja, sehr entzückt bin ich gerade nicht, denn man ist in keiner Weise für eine solche Reise vorbereitet. Aber das ist ja immer so, erst im letzten Augenblick bekommt man seine Befehle, sodaß man gerade noch den Zug erreicht.«

»Trotzdem beneide ich Sie um die schöne Reise! Mir steht eine weniger angenehme bevor.«

»Wie, Sie wollen auch fort?«

»Ich will eigentlich nicht, aber ich muß!«

»Und wohin?«

»Nach Hause, morgen Nachmittag fahre ich.«

»Ah, ich verstehe, viel Glück und gute Verrichtung!«

[S. 225]

»Danke schön! A propos, können Sie mir einen Koffer borgen? Ich möchte gerne Verschiedenes mit nach Hause nehmen, und dazu ist der meinige zu klein.«

»Aber gewiß, mein Bursche kann Ihnen den großen Korb hinunterbringen, wird der genügen?«

»Natürlich, vollständig, besten Dank!«

Borgert merkte, daß sein Besuch nicht ganz gelegen kam. Leimann hatte schlechte Laune und ließ sich auch gar nicht in seiner Beschäftigung stören. Er war so mit seinen Gedanken dabei, daß er Borgert's Fragen kaum hörte, und so hielt es dieser für angebracht, sich zu empfehlen, mit dem Versprechen, zum Abendessen wieder heraufzukommen.

»Wann könnte ich wohl den Koffer haben?« fragte er im Weggehen.

»Sowie mein Bursche aus der Stadt zurück ist, besorgt er ihn hinunter. Also auf Wiedersehen!«

In seinem Zimmer ließ sich Borgert in einen Sessel nieder. Ihm war so wohl und frei, er hätte jauchzen mögen, denn einen Tag später war er den ganzen Krempel los und brauchte sich nicht mehr zu ärgern. Dabei diese nette Begleitung! Er wunderte sich, daß er auf diese Idee nicht früher gekommen war.

Da fiel ihm ein, daß er ja noch gar nicht an's Packen gedacht habe, er wollte wenigstens alles zurechtlegen, damit nichts vergessen würde.

[S. 226]

Er ließ seinen Blick durch den eleganten Raum streifen und überlegte, was wohl des Mitnehmens wert sei. Dann nahm er von dem Sofapaneel einen silbernen Becher, das Abschiedsgeschenk seines früheren Regiments, und stellte ihn im Nebenzimmer auf einen Tisch.

Ein Album, einige Photographien, ein Packet Briefe, 2 Reitpeitschen und 2 kleine Ölgemälde — Arbeiten seiner verstorbenen Schwester — das war alles, was er mitzunehmen gedachte. Alles übrige konnte stehen bleiben als Trost für die Gläubiger.

Als er gegen sieben Uhr bei Leimann's eintrat, fand er sie bereits bei Tisch.

Leimann machte ein finsteres Gesicht und schaute kaum von seinem Teller auf, als Borgert eintrat.

Seine Gattin saß mit rotem Kopf ihm gegenüber, aber sie berührte die Speisen nicht, sondern schaute nur angstvoll mitunter nach ihrem Gatten hinüber.

Den ganzen Abend kam keine Stimmung in das Beisammensein, und nicht einmal eine Flasche Eckel vermochte die sonst gewohnte Heiterkeit wieder wach zu rufen. Leimann hatte eben schlechte Laune, und dann war nichts mit ihm anzufangen.

Daher trennte man sich auch schon zu früher Stunde, und der Abschied der Freunde war kühler als sonst.

Frau Leimann aber hatte noch auf dem Korridor [S. 227] Gelegenheit, ihrem Geliebten einen flüchtigen Kuß auf die Wangen zu drücken, als ihr Gatte hineingegangen war, um ein Streichholz zu holen.

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Am nächsten Morgen war Borgert gerade erst ausgestanden, als schon der Althändler ankam.

Der Oberleutnant begrüßte ihn freundlich und bat ihn, einzutreten, dann vollendete er seinen Anzug und begann mit dem Juden zu verhandeln.

»Bitte, wollen Sie sich einmal mein Mobiliar ansehen,« sagte er, »ich gedenke die ganze Einrichtung, wie sie da steht, zu verkaufen, da ich versetzt bin, doch wollen Sie diesen Umstand vorläufig noch diskret behandeln. Wie viel würden Sie mir eventuell zahlen?«

Der Jude sah sich nachdenklich in dem Zimmer um. Er befühlte und beklopfte die einzelnen Stücke, prüfte Decken und Teppiche und musterte eingehend das kostbare Schnitzwerk des Bücherschrankes. Dann zog er ein Notizbuch aus der Tasche, schielte nach den einzelnen Stücken hin und notierte sich den Preis. Schließlich wandte er sich Borgert zu und sagte mit fragender Miene:

»Fünfzehnhundert Mark, Herr Oberleutnant, sofort auf den Tisch!«

»Was, fünfzehnhundert Mark?«, stieß Borgert [S. 228] enttäuscht hervor, »aber ich bitte Sie, ich habe fast zehntausend Mark für die Einrichtung bezahlt.«

»Tut mer leid, Herr Oberleutnant«, gab der Jude achselzuckend zu Antwort, »alte Sachen sind keine neie Sachen, mehr zahlt kein Mensch.«

»Das ist zu wenig, das ist ja fast geschenkt.«

»Nun, ich will Ihnen geben zweitausend Mark, aber keinen Pfennig darüber.«

Borgert setzte sich in den Schreibstuhl. Er überlegte, und während dessen schaute der Jude erwartungsvoll auf sein Gesicht.

»Gut, her mit dem Gelde, Sie haben den Krempel!« sagte Borgert nach einigem Besinnen.

Denn schien ihm der Betrag von zweitausend Mark auch ein Lumpengeld für diese kostbaren Möbel, so war es doch besser, er entschloß sich schnell für einen geringeren Preis, ehe der ganze Fluchtplan infolge Mangels an Geld ins Wasser fiel.

Schmunzelnd zog der Jude ein Papier aus der Tasche, schritt zum Schreibtisch und schrieb einige Worte auf das Blatt, welches er Borgert nun zur Unterschrift vorlegte.

Als der Jude wieder hinaus war und Borgert die beiden Tausendmarkscheine in der Hand hielt, schien ihm nun das letzte Hindernis zur Flucht beseitigt, denn bares Geld war die Hauptsache. Er faltete die Scheine zusammen und steckte sie in seine Börse, [S. 229] trat dann in's Schlafzimmer an den Kleiderschrank und entnahm demselben den Reiseanzug. Das übrige Civil packte er zu Frau Leimann's Kleidern in den Koffer, darauf die paar Sachen, die er sonst noch mitnehmen wollte, und ließ den Koffer sogleich zur Bahn besorgen.

Der Oberst zeigte wenig Lust, den Oberleutnant zu beurlauben, und erst auf nochmalige Vorstellung über die Dringlichkeit der Reise ließ er sich erweichen, einen dreitägigen Urlaub zu bewilligen. Er hoffte schließlich, Borgert würde mit seinem Vater übereinkommen und diese leidigen Geldgeschichten aus der Welt schaffen. Das konnte ihm ja nur angenehm sein, und so ließ er ihn reisen.

Leimann war inzwischen schon über alle Berge. Die beiden Freunde hatten nicht einmal ein letztes Lebewohl einander zugerufen. Seine Gattin aber war noch sehr beschäftigt. Es gab so vielerlei zu tun, hier ein Packet Briefe zu verbrennen, die weder der Gatte noch Georg lesen durften, dort noch einige Kleinigkeiten einzupacken, meist wertlose, unscheinbare Sächelchen, deren Wert die Erinnerung bedeutete.

Das Herz einer Frau hängt an solchen Dingen, die ihr schöne Augenblicke, liebe Bilder in der Erinnerung erwecken, und eher gibt sie dir den schönsten, im Laden gekauften Ring, als die trockene [S. 230] Blume oder das kleine Angebinde aus der Hand eines Mannes, welcher in ihrem Leben eine Rolle gespielt.

Den heimlichen Abschied von Bubi, dem kleinen zweijährigen Söhnchen, hatte sie sich tags zuvor schwerer vorgestellt, und sie empfand jetzt sogar eine Art Gewissensbisse, daß sie so leichten Herzens, ohne Träne, das einzige Kind im Stiche lassen konnte, das jetzt, mutterlos, einer ungewissen, vielleicht traurigen Zukunft entgegen ging.

Aber es war sonderbar! Vom ersten Augenblick an empfand sie eine gewisse Abscheu vor dem Kinde mit der breiten Nase, dem großen Mund und den winzigen, stechenden Augen. Schon nach wenigen Wochen zeigte sich eine ausgesprochene Ähnlichkeit mit dem Vater, und je mehr die Entfremdung der Gatten wuchs, umsomehr schwand der kleine Rest von Mutterliebe. Sie betrachtete das ewig schreiende, häßliche kleine Wesen lediglich als sein Kind, und sich selbst nur als das natürliche Mittel, um es zur Welt gebracht zu haben, und so war es gekommen, daß das arme Baby fast nur in der Küche oder der Mädchenstube sein Dasein fristete, gehütet und erzogen von den Dienstboten. Die Mutter bekam ihr Kind oft kaum eine Stunde am Tage zu sehen.

Es gibt ja Frauen, die, eitel und sich ihrer eigenen [S. 231] Schönheit wohl bewußt, es für eine Schmähung der Natur, für eine Strafe des Himmels halten, wenn sie häßliche Kinder zur Welt bringen, vor denen sie dann ihr ganzes Leben eine innere Abneigung empfinden und ihnen aus dem Wege gehen, wie dem Gedächtnis einer Kränkung, die ihrem Frauenstolze widerfuhr.

Ihr Gatte hatte es ja nicht anders um sie verdient, als daß sie ihn verließ, und deshalb empfand sie kaum das Bewußtsein einer Schuld, als sie um drei Uhr ein Abteil erster Klasse des Schnellzuges nach Frankfurt bestieg.

Denn welcher Mensch strebt nicht, seine Sünden und Vergehen vor sich selbst zu rechtfertigen, zu entschuldigen? Oberflächliche, selbstsüchtige Menschen bringen es in diesem Streben so weit, daß sie in dem größten Verbrechen häufig nur eine kleine Inkorrektheit erblicken, welche die Mitmenschen falsch, zu hart beurteilen, weil sie die Beweggründe nicht verstehen können. —

Zu diesen Menschen zählte auch Borgert. Dem Egoisten heiligt der Zweck die Mittel, und so schied er wohlgemut, voll innerer Genugtuung von der Garnison, den »Freunden« und seinen Pflichten, mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen über die, welche in der Beschränktheit ihres Geistes festhalten an Sitte und Hergebrachtem, und nicht den [S. 232] Mut haben, die Rücksicht auf andere über Bord zu werfen, wenn sie ihrem eigenen Vorteil auf der Spur sind.

Als die beiden am späten Abend in dem Speisesaal eines eleganten Hotels zusammen saßen, schien ihnen das Leben, die ganze Zukunft ein lichtes Bild mit wenig Schatten, und sie feierten bei einer Flasche französischen Sektes den ersten Tag ihrer jungen Ehe — der freien Liebe.

[S. 233]

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Sechstes Kapitel.

Die Flucht des Oberleutnants Borgert war nicht lange geheim geblieben.

Als er nach Ablauf des dreitägigen Urlaubs nicht zurückgekehrt war, und eine telegraphische Anfrage bei seinem Vater ergab, daß er das Elternhaus überhaupt nicht betreten habe, lag die Vermutung nahe, daß er sich durch Desertieren den Folgen seines bisherigen leichtsinnigen Lebens entzogen.

Freilich hatte außer Leimann niemand recht gewußt, wie schlecht es mit Borgert's Verhältnissen stand. Erst als der Jude die ihm verkauften Sachen abholen und der mit einer umfangreichen neuen Pfändung beauftragte Gerichtsvollzieher die bereits von ihm beschlagnahmten Gegenstände zurückhalten wollte, kam die Katastrophe und enthüllte mit einem Schlage das gesamte System, in welchem Borgert »gearbeitet« hatte.

Von Seiten des Gerichts ward das gesamte Eigentum des Oberleutnants mit Beschlag belegt, [S. 234] und ein Termin sollte entscheiden, in welcher Weise die einzelnen Gläubiger zu ihrem Rechte gelangen würden.

Stellte auch die wertvolle Einrichtung ein ziemliches Kapital dar, so war dieses doch nur der Tropfen auf einen heißen Stein, denn als von Gerichtswegen eine Aufforderung durch die Zeitung an alle diejenigen erging, welche noch Forderungen nachweisen konnten, gingen ganze Berge von Rechnungen ein, deren Gesamtbetrag sich über zwanzigtausend Mark belief.

Gleichzeitig verhängte der Gerichtsherr die Beschlagnahme des gesamten etwaigen Privatvermögens Borgert's, und die Staatsanwaltschaft folgte mit einem Steckbrief gegen den des Betrugs angeschuldigten Oberleutnant.

Die Wohnung hatte das Gericht versiegelt, selbst das arme Pferd im Stalle trug in der Mähne ein kleines Siegel, welches man mit einem Bindfaden kunstgerecht hineingeflochten hatte.

Wie ein Lauffeuer eilte die Kunde der neuesten Ereignisse durch die kleine Stadt und die Nachbarorte, auch in den Zeitungen las man kurze Notizen.

Der Oberst war ganz niedergeschlagen. Die schlauen Herren des Regiments wollten zwar diese Katastrophe schon lange haben kommen sehen — wie es ja bei allen Ereignissen Leute gibt, die [S. 235] ahnungslos ein Unheil neben sich erstehen sehen und dann, wenn das Unvermeidliche eingetreten, mit überlegenem Lächeln behaupten, sie hätten seit Jahren nichts anderes erwartet.

Der Oberst aber äußerte tieftraurig zu Rittmeister König, diese neue Wendung der Dinge sei der »letzte Nagel zu seinem Zylinder,« und man sah ihn fortan nur noch mit bekümmerter Miene seinen Geschäften nachgehen. Denn allmählich sah er klar, daß die sachgemäße Leitung eines Offizierkorps etwas anders angefangen werden müsse, und daß die Art seiner Regierung wohl den falschen Weg gewandert sei.

Daß Frau Leimann dem Oberleutnant gefolgt war, wurde erst nach einigen Tagen bekannt, als der von Berlin zurückgekehrte Gatte einen Brief erhielt, in welchem die Frau ihn um Verzeihung bat und beteuerte, sie habe nicht anders gekonnt.

So war denn Leimann doppelt gestraft. Vor aller Welt blamiert und belächelt ob seiner durchgegangenen Ehehälfte, mußte er jetzt schleunigst den größten Teil seines Besitztums verkaufen, um den Forderungen derer gerecht zu werden, bei welchen er für Borgert Bürgschaft geleistet, und dabei blieb ihm nur das Nötigste übrig.

Glaubte man anfangs durch Frau Leimann's Brief den Entflohenen auf der Spur zu sein, so [S. 236] war doch später das zahlreiche Aufgebot von Detektivs und Kriminalbeamten nicht im Stande, die Ausreißer zu fassen. Waren sie noch in Deutschland, oder im Auslande? Kein Mensch ahnte es.

Etwa zwei Wochen nach der Flucht wurde auch Röse eingeliefert. Man hatte ihn auf den erlassenen Steckbrief hin an der belgischen Grenze ergriffen.

Die Verhandlungen mit ihm ergaben, daß häufige Mißhandlungen seitens seines Oberleutnants die Triebfeder zu jenem Schritte gewesen waren. Milderte dies sein Strafmaß auch nur wenig, so bedauerte man doch allgemein den armen Soldaten, den Unbilden und schlechte Behandlung seiner Vorgesetzten ins Unglück gestürzt hatten. —

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In dem Ehescheidungsprozeß, welchen Leimann gegen seine Gattin angestrengt, kamen recht unliebsame Dinge zu Tage.

Die beiden Mädchen des Hauses, sowie der Bursche wußten Tatsachen zu berichten, bei denen sich Leimann's wenige Haare sträubten, die er noch auf dem Kopfe trug, und er begriff nicht, wie er so blind sein konnte, um den Verrat nicht zu sehen, mit dem man ihn im eigenen Hause betrog.

Die gerichtliche Scheidung wurde ausgesprochen, und Leimann reichte sein Abschiedsgesuch ein, weil er einesteils gezwungen war, sich einem einträglicheren [S. 237] Berufe zuzuwenden, andererseits, weil durch die gesamten Vorfälle sein Ruf derartig geschädigt war, daß dem weiteren Verbleiben in einem Offizierkorps erhebliche Bedenken entgegenstanden.

So nahm er denn eine Stelle als Reisender einer Weinfirma an, welche ihm den nötigsten Lebensunterhalt verschaffte. Den ohne dies fast aufgelösten Haushalt hob er ganz auf und übergab sein Kind zur Erziehung einer befreundeten Familie, wofür diese als Entgelt den Anspruch auf die kleine Pension des Oberleutnants zugesichert erhielt.

Fast gleichzeitig mit der Genehmigung seines Abschiedsgesuches wurde auch das Urteil über Borgert verkündet. Es lautete auf eine Gesamtstrafe von fünf Jahren Gefängnis, zehn Jahren Ehrverlust und Ausstoßung aus dem Heere, bewirkt durch Betrug, Fahnenflucht und Mißhandlung Untergebener in zehn Fällen.

Die Zeitungen veröffentlichten das Urteil, und somit war denn die tatenreiche Laufbahn jenes Mannes in seinem Vaterlande beschlossen.

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Indes saß im Bureau der großen Fabrik an einem der zahlreichen Schreibtische der ehemalige Sergeant Schmitz.

Die übrigen Angestellten hatten bereits ihre [S. 238] Plätze verlassen und waren gerade dabei, ihre Röcke von den Kleiderständern herabzunehmen, denn es hatte schon vor zehn Minuten Feierabend geläutet.

Schmitz aber ließ sich durch die laute Unterhaltung seiner Umgebung nicht stören, er schrieb emsig und war ganz vertieft in die langen Zahlenreihen, welche auf dem Bogen vor ihm geschrieben standen.

Der Raum hatte sich bereits geleert, und Schmitz wollte gerade einen neuen Bogen beginnen, als der Werkmeister Maurer eintrat.

Er war ein Mann von gedrungenem Körperbau, mit scharfen, stechenden Augen in dem blassen, ovalen Gesichte. Der Schnurrbart hing um die Mundwinkel, und der ganze Gesichtsausdruck hatte etwas Rohes, Grausames, und besonders jetzt, da der Mann aus dem Halbdunkel von der Tür herüberschaute, sah er wie ein Raubtier aus.

»Du kannst wohl wieder einmal nicht fertig werden? Kommst du bald?« redete er Schmitz an, welcher von seiner Arbeit nicht aufblickte, sondern nur kurz entgegnete:

»Im Augenblick, setz dich so lange!«

Die beiden Männer waren gute Freunde.

Noch vor wenigen Wochen stand Schmitz zwischen den Arbeitern vor der Drehbank und schob mechanisch ein Holzstück nach dem anderen zwischen die [S. 239] spitzigen Zähne des rotierenden Eisens. Und er hatte sich ganz gut eingelebt in diese geisttötende Beschäftigung, die ihm nicht viel Zeit zum Denken übrig ließ. Denn hier galt es mit allen fünf Sinnen bei der Sache zu sein, wenn man nicht den Verlust eines Fingers oder einer Hand beklagen wollte.

Man hatte aber bald in dem stillen, fleißigen Arbeiter den Mann entdeckt, dessen überlegene Ruhe und bestimmtes Auftreten ihn zu einem weiteren Wirkungskreise geeignet machten, und so ward denn Schmitz nach kurzer Zeit Aufseher der Maschinenhalle, in welcher er bis jetzt gearbeitet hatte.

Die übrigen Arbeiter freilich sahen mit neidischen Blicken auf den Emporkömmling, der erst eben auf der Bildfläche erschienen war und ihnen gegenüber nun schon als Befehlender sich aufspielte. Es fehlte daher nicht an spöttischen Bemerkungen, der alte Soldat aber wies jeden, der ihm zu nahe trat, mit kalter Ruhe in seine Schranken zurück.

Wenn er so des Morgens alle emsig bei der Arbeit sah, ging er manchmal zu Maurer hinüber, welcher im Maschinenhause beschäftigt war.

Und bei diesen allmorgendlichen Plaudereien entdeckte Maurer, ein gefürchteter Sozialdemokrat der Stadt, bald in Schmitz einen Mann, der leicht zu gewinnen war und der ein tatkräftiger Genosse [S. 240] zu werden versprach, wenn man ihn nur geschickt ins rechte Fahrwasser hineinlenkte.

Dieses Streben Maurer's ward umso mehr unterstützt, als Schmitz noch immer nicht den Groll gegen den Militarismus und die Staatsleitung, welche diesen groß gezogen, vergessen konnte. Ein tiefer innerer Grimm wühlte noch in ihm ob der Unbilden, die ihm die Früchte der besten Jahre seines Lebens zerstört.

So hatte er denn bald mit Leib und Seele zur roten Fahne geschworen, und aus dem königstreuen Soldaten war eine tatkräftige Stütze der sozialistischen Partei geworden.

Morgen sollte nun Schmitz eine Rede halten, vor einem großen Kreise seiner Gesinnungsgenossen, und deshalb wartete Maurer auf ihn, um noch einmal die wichtigsten Punkte mit seinem Freunde durchzusprechen.

Als Schmitz seine Arbeit fortgelegt und den Bogen im Schreibtisch verschlossen hatte, auf dem die Arbeitsliste der vergangenen Woche verzeichnet stand, schritt er mit Maurer hinab, und schweigsam wandelten die beiden durch die enge Gasse nach Maurer's Wohnung hin.

Aus einem Nachbarhause nahmen sie eine Kanne Bier mit, zündeten dann die Lampe an und begannen die Besprechung.

[S. 241]

Es handelte sich um ein neues Steuergesetz, welches besonders den arbeitenden Klassen zur Last fiel, und daher galt es, möglichst viele Gegner zu gewinnen, damit im Reichstag bei der letzten Lesung der Angelegenheit eine ausschlaggebende Majorität die Durchführung der Vorlage zum Scheitern brachte.

Bis nach Mitternacht waren die beiden Freunde in eifriges Gespräch vertieft. Und als sie sich trennten, waren ihre gleichschlagenden Herzen um ein Band reicher.

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Den ganzen folgenden Tag befand sich Schmitz in einer Art fieberhafter Unruhe. Es schien ihm doch eine sonderbare Wandlung mit ihm vorgegangen seit der kurzen Zeit, die er des Königs Rock nicht mehr trug. Vor einem Jahre noch war er Soldat des Kaisers, ein Mann, der geschworen, das Vaterland zu schützen und es fördern zu helfen, und heute? Einer von denen, welche man beschuldigt an den Grundfesten des Staatsgebäudes zu rütteln, um sich nach eigenen Gesetzen ein neues Gemeinwesen zu schaffen.

Doch als er am nämlichen Abend in stolzer Haltung die Rednertribüne betrat, und eine nach Hunderten zählende Menschenmenge dem neuen trefflichen Genossen Beifall rief, noch ehe er ein Wort gesprochen, da stieg ein nie empfundenes Gefühl des [S. 242] Selbstbewußtseins, ein unbestimmtes, gewaltiges Streben nach Großem in seiner Seele auf. Gefallen wollte er der versammelten Menge, sie hineinzwingen in den Bannkreis seiner Gedanken, daß alle ihm folgen mußten, willenlos, wie dem Hirten die Herde.

Mit fester Stimme begann er seine Rede. In großen Zügen schilderte er zuerst die Art des neuen Gesetzentwurfs und legte sodann die Folgen desselben für die arbeitenden Klassen dar.

Eine neue Steuer bedeute stets einen weiteren Schritt zur Verarmung der Mittellosen. Und diese neuen Ausgaben seien überflüssig, wenn man es unterließe, eine beständige Vergrößerung und fortwährende Ausrüstungsänderung der Armee vorzunehmen.

»Unsummen verbraucht der Staat alljährlich für das Militär«, sagte er, »kaum hat man Millionen für die Einführung eines neuen Geschützes, die Aufstellung eines neuen Regiments aufgewendet so erweisen sich diese Änderungen oft bald als nicht mehr zeitgemäß, und neue Summen von unglaublicher Höhe werden gefordert, um einen Irrtum oder eine Übereilung gut zu machen. Deutschlands Ruf und Machtstellung hat ihm die Armee erworben, und sein Heer ist es, um welche die Nachbarländer es beneiden, aber stehen wir denn nicht auf dem Gipfel der [S. 243] militärischen Macht, müssen wir denn den Militarismus so weit ausdehnen, bis er schließlich alle anderen Organe der Staatsmaschine erdrückt?

Wollte man nur einen Teil der Unsummen, die das Heer alljährlich verschlingt, anderen Gliedern des Reiches zuwenden, so würde es nicht nötig sein, den Bürger so unverhältnismäßig an seinem Einkommen zu kürzen. Dann wären wir ein reiches Land, der Bürger könnte den Wohlstand erreichen, die Industrie aufleben und mit neuen Kräften einen gewaltigen Aufschwung nehmen.

Will man aber nicht abgehen von dieser enormen Bevorzugung des Heeres,« fuhr Schmitz fort, »so soll man die dafür nötigen Summen denen abnehmen, die in Nichtstun oder geringer Arbeit Millionen zusammenscharren. So aber belastet man den Reichen nicht mehr wie den Arbeiter, der ein Stück des sauer erworbenen Brotes hergibt, um ein Kapital mit aufbringen zu helfen, dessen Nutznießung ihm versagt bleibt.

Denn welchen Segen bringt dem Bürger, dem Volke die Armee? Sie zieht seine Kinder heran, um sie in den besten Jahren der Jugend, in denen der Jüngling sich zum Manne entwickelt und sein Charakter reift, oft mit Ungerechtigkeit und Roheit zu behandeln und dann den einen als erbitterten Gegner der Staatsverfassung, manch anderen als Krüppel in's Leben zurückzuschicken. Und hat er auch die [S. 244] schönsten Jahre männlicher Arbeit, seine Gesundheit dem Staate geopfert, so schickt man ihn oft um einer Kleinigkeit willen hinaus in die Welt, wo er dann wie ein fortgejagter Hund nach Nahrung und einem neuen Herrn suchen muß.

Darum laßt uns die Staatsleitung zu zwingen suchen, das Geld, welches sie zwecklos ausgibt, nutzbringend auf bessere Ziele zu verwenden, damit das Volk für seine Opfer auch einen Lohn genießt!«

Die Worte des Redners, der an seine eigenen bitteren Erfahrungen gedacht hatte, waren von häufigen Rufen des Beifalls und der Zustimmung begleitet, als Schmitz aber von der Tribüne herabstieg, jubelte die begeisterte Volksmenge dem Manne zu, der die richtigen Mittel gefunden, ihr den Lebensweg zu ebnen.

So überzeugend hatten seine Worte geklungen, daß mancher, der noch nicht fest entschlossen war, welcher Partei er seine Gesinnung zuwenden solle, bedingungslos sich dem Manne anschloß, in dessen Bann ihn der heutige Abend hineingezogen.

Und so galt Schmitz mit einem Schlage als einer der tüchtigsten Anhänger der roten Partei, deren Macht in der großen Fabrikstadt immer weitere Kreise zog.

[S. 245]

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Siebentes Kapitel.

Vor dem Stabsgebäude des Regiments lehnte am eisernen Gitter Wachtmeister Krohn, der Regimentsschreiber.

Behaglich rauchte er seine Morgenzigarre und las die »Deutsche Zeitung«, welche der Briefträger soeben für den Oberst abgegeben. Mit der Arbeit eilte es nicht sonderlich, denn der Oberst war zum Exerzieren hinausgeritten, und an solchen Tagen pflegte auch der Adjutant den versäumten Nachtschlaf etwas gründlicher nachzuholen.

Krohn hatte sich gerade in den Inseratenteil der Zeitung vertieft, als Wachtmeister Schönemann mit schleppendem Säbel, eine Zigarette zwischen den Lippen, zu ihm herantrat. —

»Morjen, Herr Kommandeur!« redete er Krohn scherzend an, »was gibt's Neues? Ist die Blechschmiede noch nicht im Gang?«

»Nee,« antwortete der Gefragte gleichfalls scherzend, »die Schmiede sind noch unterwegs, es ist [S. 246] auch noch kein Blech von der Post gekommen. Übrigens, weißt du das Neueste? Ich hätt's fast vergessen!«

»Nee. Hab ich einen Orden gekriegt?«

»Das gerade nicht, aber König sitzt in Untersuchungshaft.«

»Was? König? Potzdonnerwetter! Was hat denn der ausgefressen?«

»Er soll so'n bißchen in die Schwadronskasse gegriffen haben. Hätte der reiche Kerl auch nicht nötig gehabt!«

»Deuwel ja, das hätte ich auch nicht gedacht, gerade von dem nicht! Wie ist denn das rausgekommen?«

»Habe keine Ahnung! Der Oberst muß wohl etwas erfahren haben. Er hat ihn gestern Nachmittag oben in sein Zimmer gerufen und ihm die Geschichte auf den Kopf zugesagt. Ich guckte durchs Schlüsselloch und sah, wie der arme Kerl ganz blaß wurde und gleich die Bücher holen wollte. Der Oberst ließ sich aber auf nichts ein und ließ ihn festsetzen!«

»Aber die haben doch sonst so gut zusammen gestanden?«

»Natürlich! Es muß eben was dran sein an der Geschichte, sonst hätte der Oberst die Sache vielleicht anders angegriffen, besonders, da er ja selbst [S. 247] verflucht auf der Kippe steht. Diese neue Schweinerei bricht ihm's Genick.«

»Na, ich glaub noch nicht dran, bis ich's Schwarz auf Weiß habe. So was tut König nicht! Der Oberst ist ja immer gleich aus Rand und Band und freut sich förmlich, wenn er einem an den Kragen kann. Das soll »schneidig« aussehen!«

»Na, wir werden's ja sehen!«

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Oberleutnant Borgert hatte es als seine letzte Aufgabe betrachtet, dem Rittmeister König für jenen Brief, mit welchem dieser sein Darlehnsgesuch abgewiesen hatte, ein Andenken zu versetzen.

Die ihm bekannte, vermeintliche Tatsache schien ihm ein geeignetes Werkzeug zur Rache, und so hatte er denn durch gelegentliche Bemerkungen im Kameradenkreise dafür gesorgt, daß das Gerücht immer mehr durchsickerte. Schließlich hatte die Rederei und der Klatsch solchen Umfang angenommen, daß nichts übrig blieb, als der Sache auf den Grund zu gehen.

König aber hatte keine Gelegenheit gefunden, sich selbst von dem ungeheuerlichen Verdachte zu reinigen, denn ihm gegenüber ließ man nie ein Wörtchen darüber fallen. Borgert hatte es fertig gebracht, eine allgemeine Mißstimmung gegen den sonst so beliebten Herrn zu erregen, und da dieser [S. 248] darauf nur mit einer kühlen Zurückhaltung antwortete, waren die Sympathien für ihn keineswegs gewachsen, vielmehr freute sich ein jeder im Stillen, daß es nun einen Sündenbock mehr gab.

Leutnant Bleibtreu hätte vielleicht seinen Schwadronschef rechtzeitig von dem umlaufenden Gerüchte in Kenntnis setzen können, aber da er sich gerade auf Urlaub befand und mit den gleichalterigen Kameraden keinen Briefwechsel pflegte, erfuhr er erst durch König selbst von dem traurigen Ereignis.

Gegen Gestellung einer hohen Kaution hatte man König aus der Haft entlassen, und so konnte er denn, vom Dienste suspendiert, in seiner Wohnung den Ausgang der Sache abwarten.

Anfangs war er fassungslos. Nach fünfzehnjähriger, vorwurfsfreier Dienstzeit beschuldigte man ihn eines gewissenlosen, gemeinen Vergehens, auf die Rederei eines moralisch verkommenen und von jedermann belächelten Menschen hin, der ihm nur zu Dank verpflichtet war.

Wo blieb das Vertrauen, die gute Kameradschaft, die man ihm sonst entgegen gebracht? War es nicht Pflicht der Vorgesetzten, diese für seine Verhältnisse höchst unwahrscheinliche Tatsache erst eingehend zu prüfen, bevor man aus ihr eine Beschuldigung formulierte, die geeignet war, seinen Ruf im Regiment und der ganzen Stadt völlig zu untergraben?

[S. 249]

Hatte schon seine Verhaftung die übertriebensten Gerüchte und Klatschereien in die Welt gesetzt, so mied man ihn jetzt förmlich als einen Verbrecher, einen Verfemten, und zeigte mit Fingern auf ihn und seine Familie.

Nur Bleibtreu war fest von der Unschuld seines Freundes überzeugt, er kannte den Mann zu genau, als daß er auch nur einen Augenblick an König's Schuld glauben konnte.

Er brachte dies zum Ausdruck, indem er täglich, offenkundig vor aller Welt, König's Wohnung aufsuchte und die Abende im Kreise seiner Familie verbrachte.

Er schloß sich ihm auf seinen einsamen Spaziergängen an und setzte diesen Umgang auch fort, als man ihn seitens des Regiments vor König warnte und ihm die Kameraden sein Verhalten dadurch lohnten, daß sie ihn ebenfalls mieden und eine feindselige Stellung gegen ihn einnahmen.

Alle Anfeindungen jedoch vermochten nicht, ihn in's Wanken zu bringen, er hätte es für feige und niedrig gehalten, einen Freund im Unglück zu verlassen, der ihn in guten Tagen zu Dank verpflichtet.

Auch das gesamte Unteroffizierkorps des Regiments war bis zum gemeinen Mann hinab empört über die Art und Weise, wie man einen beliebten Vorgesetzten ins Unglück stürzte, und dies kam zum [S. 250] Ausdruck durch häufige Besuche einzelner Untergebener bei dem Rittmeister.

Selbst das Zivil, welches sich vom Oberst und den Herren des Regiments fast ganz zurückgezogen hatte, war mit Ekel und Widerwillen erfüllt gegen diese unwürdigen Zustände, und bezeugte seine Sympathie für König in auffälliger Weise.

Durch alle diese Umstände lernte König allmählich etwas heller in die Zukunft blicken, er tröstete sich über seine Lage mit dem Gedanken, daß die Gerechtigkeit siegen und einst der Tag kommen müsse, da er mit jenen zu Gericht ging, die ihm und seiner Ehre nahezutreten sich unterfingen.

Aber es war eine lange Geduldsprobe, die man ihm auferlegte.

Wäre der Fall ein solcher gewesen, daß er die öffentliche Meinung interessiert, dessen Ausgang in weitesten Kreisen Spannung und Neugierde erregt, vielleicht ein Totschlag, eine Mißhandlung oder ein ähnliches schwerwiegendes militärisches Vergehen, so würde man sich beeilt haben, durch schleunige Aburteilung die öffentliche Meinung zu beruhigen.

Hier aber schien es keine Eile zu haben; der Mann mußte eben ruhig warten, bis man Zeit für seine Sache fand! Was machte es denn, wenn er Monate lang in Ungewißheit schwebte und diese lange Zeit dem [S. 251] Gerede übelwollender Leute immer von Neuem reichlichen Stoff zuführte?

So fand erst nach sechs Wochen das erste Verhör statt, in welchem König Gelegenheit gegeben wurde, die ganze Angelegenheit aufzuklären und seine Unschuld nachzuweisen.

Er sollte sich aber getäuscht haben in der Hoffnung, damit das Ende des Prozesses nahe sehen zu dürfen, denn jetzt forderte man die Bücher der letzten drei Jahre ein, um sie einer Prüfung zu unterziehen. Dazu brauchte der Gerichtshof volle drei Monate.

Das Urteil in der Hauptverhandlung lautete auf Freisprechung.

Es war erwiesen, daß ein Eingriff in die Kasse der Schwadron nicht stattgefunden, sondern ein solcher nur vorgespiegelt war, um die Schwierigkeiten weiterer Geldbeschaffung darzulegen und so weitere Darlehnsgesuche abschneiden zu können.

König selbst hatte einen anderen Ausfall des Urteils für ausgeschlossen gehalten. Im Kameradenkreise rief dasselbe aber Ärger und Enttäuschung hervor, Genugtuung und Freude dagegen bei allen denen, welche dem Hause König wohlgesinnt waren und die Wahrheit der dem Rittmeister zur Last gelegten Tatsachen von Anfangs her bezweifelten.

Als vier Monate später die Urteilsbestätigung [S. 252] eintraf, begannen die Verhandlungen von Neuem, denn jetzt war es der Ehrenrat, welcher die ganze Angelegenheit einer nochmaligen Prüfung unterzog, ob König vielleicht in irgend einem Punkte die Standesehre des Offiziers verletzt habe und somit seitens des Ehrengerichts etwa noch eine besondere Bestrafung verdiene.

Daß nunmehr eine ungünstige Wendung der Dinge nicht mehr zu erwarten stehe, sagte König die ruhige Überlegung, denn selbst für den Fall einer Bestrafung konnte diese nur auf das Mindestmaß hinauslaufen und bedeutete somit keinen nachteiligen Schaden.

Deshalb empfand der Rittmeister diese Zeit nicht mehr als eine Prüfung des Schicksals, als eine Zeit der Ungewißheit, des Zweifels, sondern er fühlte sich ganz wohl in dieser Ruhe und Zurückgezogenheit, nachdem er sich einmal an sie gewöhnt.

Im Kreise seiner Familie kam er leicht über die Mißstimmung hinweg, welche sich manchmal noch bei ihm einschlich, und er verbrachte den Tag mit seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Klavierspiel, oder bei sonstiger Unterhaltung.

Frau Clara hatte die schwere Zeit mit bewundernswerter Energie überstanden.

Erst die beliebteste Dame des Regiments, verehrt und geschätzt von allen, dann die Gattin des [S. 253] Mannes, auf den man mit Fingern wies als einen Spitzbuben — ein gewaltiger Schritt, wie er das stolze Gemüt einer Frau nur zu demütigen und zu verletzen vermag.

Und doch war sie es, die stets von Neuem Sonne in die bedrückten Gemüter scheinen ließ, die mit oft mühsam erkünstelter Fröhlichkeit die Wolken der Sorge und der Verstimmung vertrieb.

Selbst Bleibtreu gewann in der Nähe dieser reizenden Frau stets seine gute Laune wieder, wenn er einmal den Lebensmut ob dieser Wirrnis von Gemeinheit und Widerwärtigkeit verlor.

Eines Tages trat er besonders niedergeschlagen bei Königs ein. Schweigsam nahm er Platz am Abendtische, und selbst Frau König's muntere Reden vermochten diesmal nicht, die Wolken von seiner Stirn zu scheuchen.

Erst als man den kleinen Sohn des Hauses zu Bett gebracht und um den runden Tisch in König's Arbeitszimmer saß, schlug der Rittmeister dem Freunde auf die Schulter und sagte scherzend:

»Was machen Sie denn heute für eine Leichenbittermiene? Ist zu Hause der Hafer schlecht geraten?«

Über Bleibtreu's Gesicht ging nur ein trauriges Lächeln, aber er entgegnete nichts.

[S. 254]

»Nun sagen Sie doch, Mensch, was haben Sie denn?« begann der Rittmeister von Neuem.

»Mein Gesuch um Versetzung ist heute abschlägig beschieden worden,« entgegnete der junge Offizier mit bedrückter Stimme.

König entgegnete nichts, auch seine Gattin schwieg und schaute nur teilnahmsvoll auf ihren Freund.

»Und was gedenken Sie nun zu tun?« fragte der Rittmeister nach einer Weile.

»Ich habe heute meinen Abschied eingereicht.«

Einen Augenblick sah das Ehepaar betroffen den Sprecher an, dann aber streckte König seinem Freunde die Hand entgegen und sagte:

»Nun, daran haben Sie recht getan! Zwar bedaure ich Sie von Herzen, daß Sie sich jetzt in einem neuen Berufe einleben müssen, denn Sie sind noch jung, Ihr Leben ist noch lang. Aber ich verstehe die Beweggründe, welche Sie zu diesem Schritt veranlaßt haben. Sie haben als junger Offizier Dinge erlebt, die mich in meinen alten Tagen nicht weniger berühren, und ich kann es begreifen, wenn Sie die Achtung vor dem Berufe verloren haben, der Ihr bisheriges Leben ausgefüllt hat. Ich hätte Ihnen gewünscht, in einer anderen Garnison, unter anderen Verhältnissen und anderen Menschen erfahren zu können, daß es noch Offizierkorps gibt, in denen man leben und sich dieses Lebens freuen [S. 255] kann. Da Ihnen dies aber versagt ist, ist es das Beste, wenn Sie dem Soldatenstande den Rücken kehren. Ich selbst hätte Ihnen den Rat schon früher gegeben, hätte ich nicht Bedenken getragen, Sie zu einem Entschlusse zu drängen, den Sie später bereuen könnten. Um Ihnen zu zeigen, daß ich aus Überzeugung spreche, will ich Ihnen nur sagen, daß auch ich mich mit Abschiedsgedanken trage.«

Diesmal war es Bleibtreu, der mit weit aufgerissenen Augen auf den Rittmeister schaute.

»Aber warum denn?« brachte er erstaunt hervor, »Sie werden doch versetzt!«

»Gewiß, ich werde versetzt. Aber mir geht es wie Ihnen: meine Achtung vor dem Stande, dem ich fünfzehn Jahre in Ehren angehört habe, ist dahin. Zwar habe ich in früherer Zeit bessere Verhältnisse kennen gelernt, aber daß es in einem Offizierkorps Zustände geben kann, wie in dem unseren, das hat mir gezeigt, daß ich nicht hineinpasse. Wer verspricht mir, daß ich in einer anderen Garnison nicht Ähnliches erleben muß? Außerdem kann ich wohl mit Sicherheit voraussehen, daß man mich nicht in eine Residenzstadt stecken wird.«

»Und warum nicht?« fragte Bleibtreu.

» Semper aliquid haeret , mein Lieber, zu Deutsch: >etwas bleibt immer daran hängen<, außerdem steht mir noch eine Bestrafung seitens des [S. 256] Ehrengerichts bevor, also auch eine minderwertige Garnison.«

»Dann allerdings!« stimmte Bleibtreu bei.

»Sehen Sie,« fuhr König fort, »seit neun Jahren lebe ich nun in diesem elenden Nest. Der reine Bauer bin ich geworden! Ja, es ist wirklich so, wenn Sie auch lachen. Wenn man niemals mehr unter andere Menschen kommt — die paar Tage Urlaub spielen keine Rolle — weiß man kaum noch, wie man sich zu benehmen hat, und man lebt sich in nachlässige Formen und Gewohnheiten ein, die der Kamerad aus Berlin oder Hannover abscheulich finden würde. Der Kasinoton, den wir allmählich hier ganz normal und selbstverständlich finden, würde in einer anderen Garnison unmöglich sein, weil dort die Menschen mehr mit anderen, täglich mit neuen, zusammen kommen, und so stets auf gute Sitten angewiesen sind. Stecken aber dieselben Menschen das ganze Jahr zusammen, allein, für sich abgeschlossen, dann lassen die Formen nach, und man wird schrittweise ein Salonflegel.«

»Das ist ja nur natürlich, Herr Rittmeister! Man lebt hier wie in einem Taubenschlag beisammen, und jeder hat natürlich nichts Besseres zu tun, als seinem Nachbar auf die Finger zu sehen und sich in alles zu mischen, was er tut und läßt, weil ihn andere Dinge nicht beschäftigen, einfach [S. 257] weil es die in einer so kleinen Garnison gar nicht gibt.

Daraus entstehen dann diese ewigen Stänkereien, und dazu kommt, daß man in diese weltvergessenen Nester oft Elemente setzt, die man in einer anständigen Garnison nicht brauchen kann, aber nicht ganz hinauswerfen möchte. Alle Augenblicke hört man: strafversetzt nach Mörchingen, Lyck oder wie die Nester alle heißen.«

»Sehr richtig!« gab König eifrig zur Antwort. »Wer wo anders etwas verbrochen hat, kommt meist in eine Grenzgarnison, um ihn unschädlich zu machen. Man bedenkt aber nicht, das diese oft nicht einwandfreien Elemente unter einander mehr Unheil anrichten, als wenn sie zwischen einer mindestens gleich großen Zahl anständiger, tadelloser Kameraden lebten.

Fast alle Skandalgeschichten in Offizierkorps passieren an der Grenze in solchen Nestern, die meist erst dadurch bekannt werden, weil sie nur auf großen Landkarten stehen.

Hätten nun wenigstens die Offiziere hier Gelegenheit, ihren eigenen Wegen nachzugehen. Aber nein, sie sind gezwungen, fast nur im Kasino zu verkehren. Anderweitige Abwechslung, wie sie größere Städte in Hülle und Fülle bieten, gibt es nicht, und wer Lust hat, jeden Abend in derselben Kneipe [S. 258] dasselbe Bier zu trinken und dabei stets das Gewäsch derselben Menschen anzuhören, welches sich selten um anderes, als um langweiligen Stadtklatsch dreht? Das kann einer auf die Dauer nicht aushalten, denn die übrigen Kneipen des Ortes sind ihm verboten, weil sich Kreti und Pleti darin herumtreibt. Man geht also in's Kasino und trinkt aus purer langer Weile so lange, bis man genug hat, und dann entstehen die berühmten Skandalgeschichten. Bei diesem ewigen Zusammenhocken muß es ja zu Reibereien kommen, es sind doch schließlich alle verschieden geartete Menschen mit verschiedener Auffassung und Erziehung. In einer großen Garnison geht man nur ins Kasino, wenn man einen bestimmten Zweck damit verbindet, denn die Langeweile kann man sich hier anders vertreiben, als mit sinnlosem Gesaufe.

Und ist einer gar noch hinter den Weibern her, dann ist erst recht der Teufel los. Sie haben ja hier die schönsten Beispiele: In einer Großstadt bieten sich seinen Gelüsten genug von dieser Sorte an, hier aber fehlen solche Existenzen, man vergreift sich also an den Frauen der Kameraden.«

»Aber Offiziere müssen diese kleinen, meist sehr wichtigen Grenzgarnisonen doch auch haben!« warf Bleibtreu ein.

»Gewiß,« entgegnete König eifrig, »man soll [S. 259] nur nicht so viele Minderwertige dahin schicken, sondern in erster Linie einwandfreie Offiziere mit anständiger Gesinnung und tadellosem Vorleben.

Und das ganz besonders, wenn man diese Grenzgarnisonen als so wichtig bezeichnet, denn leichtsinnige Sumpfhühner werden in der Regel keine brauchbaren Offiziere sein, wenn man im Ernstfalle erhöhte Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit stellt.

Aber jeder hält es für eine ganz besondere Strafe oder wenigstens für ein gewaltiges Pech, an die Grenze zu kommen, und schon das verleidet ihm oft die ganze Lust am Soldatenspielen. Himmel und Hölle werden in Bewegung gesetzt, um ja in einer anständigen Garnison zu bleiben. Der Gardeoffizier oder der aus einem feudalen Regiment verlebt seine ganze Dienstzeit herrlich und in Freuden in einer Großstadt. Warum vertrauert unsereiner seine schönsten Jahre in so einem Drecknest?«

»Wahrscheinlich stößt man sich an den Kosten der Reisen durch viele Versetzungen, die dann doch eine bedeutende jährliche Mehrausgabe im Staatshaushalt bedeuten würden,« sagte Bleibtreu.

»Das ist kein Grund, wenn man ernstlich will, geht alles. Jährlich strömen hunderte von Offizieren zu allen möglichen Kommandos in Berlin zusammen. Wenn diese beendigt sind, kann man [S. 260] ja jeden in eine andere Garnison schicken, dadurch entstehen nicht mehr Kosten, als wenn er in sein Stammregiment zurückkehrt. Dafür kommen wieder andere Offiziere nach Berlin, und diese dann wieder in andere Garnisonen. So gleicht sich der Offizierersatz prächtig aus, für einen Offizier, den das X. Regiment zur Ausbildung nach Berlin schickt, bekommt es einen Ausgebildeten zurück, der früher in Y. gestanden hat. Außerdem könnte man alljährlich außer der Reihe noch eine Auswechslung vornehmen, und dafür an einer anderen Ecke etwas sparen.

Statt dessen aber besteht der Ersatz für Grenzgarnisonen, die außer vielleicht ein paar Kadetten keinen Nachwuchs an Fähnrichen haben, zum großen Teil aus Sündern und solchen, die sich in anderen Garnisonen unmöglich gemacht haben, abgesehen von höheren Offizieren, welche ein Grenzregiment für eine Auszeichnung halten, weil sie dann dem Feind am nächsten sind und zuerst draufhauen dürfen, wenn es losgeht.

Aber auch das ist nur noch eine Illusion. Heutzutage, wo die Aussichten auf einen Krieg immer geringer werden, steht der Vorzug, dem Feind am nächsten zu sein, nur noch auf dem Papier.

Bei dem jetzigen System müßte es Grundsatz sein, keinen Offizier länger als zwei, höchstens [S. 261] drei Jahre in einer Grenzgarnison zu belassen. Dann würde sich die Armee vor viel Schaden sichern, sowohl hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, als auch besonders ihres Rufes.

Außerdem wäre eine schreiende Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft.«

Bleibtreu nickte beistimmend, als König seine Ausführungen beendet hatte und sagte:

»Ich stimme Ihnen durchaus bei, Herr Rittmeister! Aber trotz alledem könnten Sie es doch noch einmal in einer anderen Garnison versuchen, denn nach einer so langjährigen Dienstzeit würde ich es an Ihrer Stelle doch wenigstens bis zum Rittmeister erster Klasse aushalten. Das ist noch eine Zeit von ein bis zwei Jahren, und dann haben Sie einen bedeutenden Pensionsvorteil. Ist die neue Garnison nicht nach Wunsch, so bleibt zum Abschiednehmen noch genügend Zeit!«

»Gewiß, Sie haben recht! Aber ich sagte Ihnen schon, daß ich jegliche Lust an meinem Berufe verloren habe.

Fünfzehn Jahre habe ich gearbeitet und gestrebt. Ich habe meine Pflicht stets zur Zufriedenheit der Vorgesetzten getan und manche Auszeichnung erfahren. Jetzt aber bin ich lahm gelegt und sofort tritt ein anderer an meine Stelle. Nach den Früchten meiner bisherigen Tätigkeit fragt kein Mensch, [S. 262] die Maschine bleibt im Gange, als hätte ich nie existiert. Und wenn man so gar keinen nachhaltigen Erfolg aus seiner Lebensarbeit sieht, das ist so niederdrückend, so beschämend! Der tüchtige Arzt, der Kaufmann, der Jurist wird vermißt, wenn er aus seinem Wirkungskreise scheidet, nach uns aber fragt niemand, wenn man nicht gerade ein großer Feldherr gewesen ist. Niemals könnte ich wieder mit innerer Lust und Aufopferung meinen Dienst versehen, und deshalb gehe ich lieber.«

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Das Ehrengericht des Regiments hatte auf eine »Verwarnung« erkannt, »wegen Gefährdung der Standesehre«. Als Erklärung wurde hinzugefügt, daß der Offizier sich nicht in die Gefahr begeben dürfe, seitens der Welt falsch beurteilt zu werden. Da dies im vorliegenden Falle aber geschehen sei, müsse man dem Rittmeister König seine Handlungsweise als inkorrekt und nachteilig für seine Ehre als Offizier vor Augen führen.

König las das Dienstschreiben mit spöttischem Lächeln, und am selben Abend lag sein Abschiedsgesuch beim Regiment.

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Wenige Wochen vorher hatte auch der Oberst ein Schreiben erhalten, aber von »oben«, und es steckte in einem blauen Umschlag.

[S. 263]

Er war darin bedeutet worden, daß man zwar seine trefflichen Verdienste anerkenne und zu würdigen wisse, nun aber für dieselben keine Verwendung mehr habe.

»Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« Man nahm daher keinen Anstand, dem Oberst seine Wünsche zu erfüllen, als er um seinen Abschied bat, da er die Beschwerden des Königlichen Dienstes nicht mehr auszuhalten vermöge.

So fuhr denn eines Tages ein gelbgestrichener Möbelwagen vor dem schönen Hause am Ende der Stadt vor, und man packte alles hinein, was des Mitgehens wert war.

Der Oberst aber zog mit Familie sang- und klanglos zum Bahnhof, nur der Bursche erschien, denn er war zum Koffertragen kommandiert. Im letzten Augenblicke kam auch noch atemlos die Kinderfrau an und forderte energisch den letzten Monatslohn.

Ein greller Pfiff, und der Schnellzug entführte einen Mann, der noch einmal mit traurigem Lächeln sein Auge über die Dächer der Stadt gleiten ließ, in welcher er fünf Jahre seine segensreiche Tätigkeit entfaltet.

In der nämlichen Woche reisten Bleibtreu und König ab, in welchen die Armee zwei tüchtige Soldaten und ergebene Anhänger verlor.

[S. 264]

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Achtes Kapitel.

Acht Uhr vorbei. An einem Dezemberabend. Die Läden der Geschäftshäuser wurden geräuschvoll geschlossen, aus allen Teilen der Straße tönte das Rasseln der Jalousieen, die man vor den blendend erleuchteten Auslagefenstern herunterließ.

Auf dem Asphalt wogte es von einer wortlos dahineilenden Menschenmasse. Hastend und jagend, als habe jeder einzelne etwas Versäumtes nachzuholen, schritten sie dahin, elegante Frauen, Männer im Arbeitsanzug, vornehm gekleidete Herren und der nicht enden wollende Schwarm junger Mädchen, welcher den Ladentischen und Kontors der Geschäftshäuser entströmte, vermischt mit jenen, die in langsamem Tändelschritt, von einer Woge aufdringlichen Parfums umgeben, ihre hoch aufgenommenen seidenen Röcke zur Schau tragen. Auf dem Fahrdamm sausten Cabs und Omnibusse in rastloser Folge dahin, elegante Pärchen, verschleierte Damen, Börsenbarone, Großkaufleute, Reisende und alle die [S. 265] ihrem Ziele zuführend, welche sich nicht mit dem Staub der Menge die Schuhe beschmutzen wollten, oder es besonders eilig hatten. Dazwischen ließ das Automobil seinen düsteren Klageruf erschallen, oder die Straßenbahn ihr Glockenzeichen, elegante Koupees rollten geräuschlos über den Asphalt, nur ab und zu bei dem weißen Licht der Läden oder Straßenlaternen einen Blick in ihr geheimnisvolles Innere gestattend.

Diese ganze Wirrnis des Großstadtstraßenlebens, dies bunte Gedränge, das eilige Hasten und Jagen, alles trug den Stempel des Strebens, der Arbeit, es war wie in einem Ameisenhaufen, wo jedes einzelne Tierchen rastlos seine Pflicht erfüllt, um in gemeinsamer, emsiger Arbeit ein gemeinnütziges Ganzes zu schaffen.

Um die Ecke nach einer schlecht erleuchteten Seitenstraße bog ein elegantes Paar und nahm seinen Weg auf dem von Papieren und Unrat aller Art bedeckten Fahrdamm, hindurch zwischen den zahllosen Wagen und Karren der Verkäufer.

Vor einem einfachen Hause machten sie Halt und stiegen die ausgetretenen Steinstufen hinauf. Der Portier schaute aus seinem Verschlag und grüßte kurz das Paar, welches aus dem Monopol-Hotel hierher übergesiedelt war und ihm so oft zu denken gab.

[S. 266]

Es war der ehemalige Oberleutnant Borgert und Frau Leimann.

Sie hatten ihre Schritte nach London gelenkt in der Hoffnung, hier vor einer etwaigen Verfolgung sicher zu sein und einen Unterhalt in dieser Millionenstadt zu finden, die so Manchem das tägliche Brot spendete.

Das Geld war schnell zur Neige gegangen, denn wer in guten Tagen nicht zu rechnen versteht, vermag es auch nicht in den Tagen der Not. Und so hatte sich Borgert nach einer Beschäftigung umsehen müssen, um dem Hunger vorzubeugen, wie schwer es auch dem verwöhnten, nur im Nichtstun groß gewordenen Manne wurde, sich zur Arbeit zu zwingen.

Aber in zwei Geschäfthäusern hatte man ihn wieder entlassen, und eben kehrte er von einem letzten erfolglosen Gange zurück.

Mutlos und verzweifelt warf er sich auf das schmale Sopha und bedeckte das Gesicht mit den Händen, während sich Frau Leimann in einen kleinen Stuhl vor dem Kaminfeuer kauerte.

Mit entgeisterten Augen schaute sie in die erlöschende Glut, — es waren die letzten Kohlen, welche ihre Wärme in den dürftigen Raum ergossen.

Beide sprachen kein Wort, und als Borgert [S. 267] endlich das Schweigen brach, fuhr die Frau erschreckt empor, wie aus einem angstvollen Traume.

»Was soll nun werden?« sagte er leise.

Frau Leimann antwortete nicht, sondern schaute wieder sinnend in das Kaminfeuer, und eine Träne leuchtete in ihrem Auge.

»Morgen müssen wir hinaus aus dem Hause, wenn wir nicht zahlen, und dann können wir auf der Straße schlafen!«

»Du mußt arbeiten, Georg!« entgegnete die Frau mit tränenerstickter Stimme, und sie versuchte einen energischen Ton in ihre Worte zu legen.

»Hab' ich es nicht versucht?« gab er achselzuckend zurück, »hat man mich nicht jedesmal wieder hinausgeworfen? Und es hat auch keinen Zweck, daß ich noch einmal einen Anlauf nehme, ich kann eben nicht arbeiten, ich habe es nicht gelernt.«

»Aber es muß etwas geschehen, wir müssen einen Ausweg finden!« rief die Frau verzweifelt. »Wenn du mich jetzt im Stiche lassen willst, so durftest du mich nicht mit in's Verderben locken!«

»Locken?« fragte Borgert spöttisch, »wer hat dich denn gelockt? Warst du es nicht selbst, die mich flehentlich bat, mitgehen zu dürfen, weil du es bei deinem noblen Herrn Gemahl nicht mehr aushalten konntest?«

»Wenn ich es tat, so mußtest du als Mann [S. 268] so viel Vernunft besitzen, mir mein Vorhaben auszureden!«

»Euch Weibern soll einmal einer etwas ausreden, was ihr Euch in den Kopf gesetzt habt! Jetzt trage ich natürlich allein die Schuld, Ihr Weiber seid ja nie an etwas schuld.«

»Lästere nicht, Georg, raffe dich zusammen und überlege, wie uns jetzt zu helfen ist. Es muß ein Mittel geben!«

»Hier ist es!« entgegnen Borgert und warf einen kleinen Revolver auf den Tisch.

Ein Schauer durchzuckte die Frau und einen Augenblick lehnte sie wie ohnmächtig an der Wand, während die weitgeöffneten Augen entsetzt auf das kleine Ding gerichtet waren, dessen Metall im Widerschein des Feuers leuchtete.

»Um Gottes Willen!« stieß sie atemlos hervor, »bist du von Sinnen?«

»Im Gegenteil«, erwiderte Borgert kühl, »es ist der einzige Weg, der uns erlösen kann, und nicht zum ersten Male kommt mir der Gedanke. Ist es nicht besser, diesem Hungerdasein und Hundeleben ein kurzes Ende zu machen, als sich vielleicht noch Jahre lang herumzuquälen in Not und Unsicherheit?«

Frau Leimann tat sinnend einen Schritt nach dem erlöschenden Feuer hin, wie wenn es sie anzöge, [S. 269] um mit seiner wohltuenden Wärme das erstarrte Blut in ihren Adern neu zu beleben. Ihr Blick hing wie gebannt auf einem vergilbten Stahlstich über dem Kaminsims, der das Festgelage eines alten englischen Königs darstellte. Wie geistesabwesend schaute sie mit gläsernen Augen auf das Bildnis, welches so recht die Freuden des Lebens zu malen schien. Sie merkte es nicht, als Borgert leise hinter sie trat.

Ein Schuß krachte und mit einem Aufschrei brach die Frau zusammen. Die linke Hand griff wie Hilfe suchend in den Feuerschein, und die kleinen blauen Flämmchen spielten ersterbend um die weiße Frauenhand, aus der mit dem Blute das Leben entwich.

Einen Augenblick starrte der Mörder mit entgeistertem Blick auf das leblose Weib, dann richtete er die Waffe gegen sich, und ein zweiter Schuß setzte seinem Leben ein Ziel: er büßte im Tode die vielfache Schuld, die ihm das Leben verleidet.

Als man nach vier Tagen auf einem entlegenen Friedhof, weit draußen am Themsestrand, die irdischen Reste des jungen Paares einscharrte, wußte niemand, wem auf der weiten Welt es angehörte: niemand ahnte das Drama seines Lebens und die Sünden, die ihm der Tod verzieh.

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[S. 270]


Druck von W. Hoppe, Borsdorf-Leipzig.


Transcriber's Note(s)
Notizen des Bearbeiters:

Inhaltsverzeichnis hinzugefügt.

Table of contents added.