The Project Gutenberg eBook of Ratsmädelgeschichten

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Title : Ratsmädelgeschichten

Author : Helene Böhlau

Release date : April 30, 2015 [eBook #48827]

Language : German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RATSMÄDELGESCHICHTEN ***

  

In demselben Verlage sind von Helene Böhlau weiterhin folgende Werke erschienen:

Herzenswahn. Roman. Ein Band, brosch. 3 Mk. 60 Pf., elegant gebunden 4 Mk. 60 Pf.

Neue Preuß. (Kreuz-) Zeitung : Es ist ein feines psychologisches Gemälde von der zartesten Stimmung.

Schlesische Zeitung : … Wie ein ergreifendes Gedicht liest sich denn auch „Herzenswahn“; keuscher und schöner ist kaum die undeutliche Sehnsucht eines jungen Mädchens nach hingebender, alles umfassender Liebe gemalt worden, wie in diesem Buche …


Reines Herzens schuldig. Roman. Ein Band, brosch. 6 Mk., elegant gebunden 7 Mk.

Illustrierte Frauen-Zeitung : Seit langem hat uns keine Erzählung so angesprochen, wie diese schlichte sich in dem engen Rahmen kleinstädtischen Getriebes abspielende Geschichte. Als echte Dichterin verschmäht H. B. starke Motive und äußerliche Wirkungen; sie wirkt von innen heraus, von Herzen zu Herzen, und immer ist der Eindruck nachhaltig und tief.


Im Trosse der Kunst und andere Novellen. Ein Band, broschiert 3 Mk. 60 Pf., elegant gebunden 4 Mk. 60 Pf.

Münchener Neueste Nachrichten : Der Verfasserin muß zugestanden werden, daß sie die von ihr gewählten Stoffe vortrefflich zu behandeln versteht; auch ist ihre Diktion fließend, so daß niemand bereuen wird, der Lektüre dieser Novellen einige Stunden der Muße gewidmet zu haben.

Neue Preuß. (Kreuz-) Zeitung : Helene Böhlau besitzt in hohem Maße die Gabe der Naturwahrheit. Ihre Geschichten sind so fest umrissen, daß man sich besinnt, ob man nicht den Urbildern schon begegnet sei … Die Verlagsbuchhandlung hat mit diesem Buche eine sehr dankenswerte Bereicherung der modernen Litteratur gebracht.

Helene Böhlau.
Ratsmädelgeschichten.

Die Mutter der Rathsmädel.
Nach einem Miniaturbild, gemalt von Dora Arnd , Freiburg i./B.

Ratsmädelgeschichten

von
Helene Böhlau,
Madame al-Raschid Bey.

Sechste Auflage.

J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. W.
Herzogl. Sächsische und Fürstl. Schaumb.-Lippische Hof-Verlagsbuchhandlung.

Alle Rechte, auch das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Hofbuchdruckerei von J. C. C. Bruns, Minden i. W.

Meiner Mutter gewidmet.


Inhalts-Verzeichnis.

Erste Geschichte. Seite.
Ein dummer Streich trägt zwei schönen Kindern einen guten Freund fürs ganze Leben ein 1
Zweite Geschichte.
Es geschehen Dinge, über die man sich in unsern Tagen verwundern würde 37
Dritte Geschichte.
Handelt von der alten Kummerfelden 107
Vierte Geschichte.
Die Ratsmädel laufen einem Herzog in die Arme 137
Fünfte Geschichte.
Das Damengärtchen 155
Sechste Geschichte.
Wie Frau Rat über das Leben, über Erziehung und über die ersten Liebesbriefe ihrer Töchter dachte 205
Letzte Geschichte.
Das Gomelchen 227

Erste Geschichte.
Ein dummer Streich trägt zwei schönen Kindern einen guten Freund fürs ganze Leben ein.

M itten im großen deutschen Reiche liegt ein weit und breit berühmtes Städtchen, Weimar im Thüringerlande. Da regierte, als meine Großmutter noch ein Kind war, ein sehr kluger und guter Fürst, der durch seine Güte und Weisheit große Dichter, die zu jener Zeit lebten, dazu vermocht hatte, bei ihm in seinem Städtchen zu wohnen. Und da er ein so überaus kluger Herr war, den jedermann liebte und verehrte, so kamen Dichter und Gelehrte gerne von allen Seiten, lebten in der Stadt des Fürsten und schrieben dort so herrliche Dinge, daß alle Welt darüber in Staunen geriet. Und noch jetzt ist das, was diese Männer damals gedacht und gedichtet haben, das Schönste, was wir kennen, und wird noch lange, lange Zeit das Schönste bleiben.

Von diesen Männern ist alles oftmals erzählt und genau beschrieben worden, und die Menschen werden in Jahrhunderten noch von ihnen reden. Aber neben ihnen wohnten in jenen Tagen gar viele Leute in der Stadt, von denen niemand mehr spricht. Die hatten auch ihre Freuden und Leiden, auch ihre guten Stunden, fühlten und empfanden tief, waren froh und litten, hatten auch Herzen wie jene. Sie sind gestorben und vergessen.

Ueber viele gute Leute waren damals schwere Zeiten hereingebrochen, Krieg und Not. Einige wenige leben noch, die von den vergangenen Zeiten zu erzählen wissen.

Von solchen habe ich es erfahren, daß damals in der engen, winkeligen Windischengasse in Weimar, die von jung und alt nur Wünschengasse genannt wurde, in einem hohen, schmalen Hause ein Herr Rat wohnte mit Frau und Kindern. Es waren zwei Buben, die in der Schule schon in den oberen Klassen saßen, und zwei jüngere Mädchen, welche Röse und Marie hießen und von den Nachbarsleuten, von den Gassenbuben und von jedermann die Ratsmädel genannt wurden. Und in der Wünschengasse und darüber hinaus war wohl keiner, der die Ratsmädchen nicht kannte und nicht recht wohl wußte, daß sie ein paar wilde Kreaturen waren, die ihrer Mutter Not machten. Spielten Röse und Marie mit den Schulbuben auf der Gasse, da that sich wohl ein Fensterchen in dem Hause auf, vor dem sie gerade ihr Wesen trieben, und eine Frau in großer Haube oder ein guter, alter Nachbar, der bedächtig das Wochenblatt las, rief hinaus : „Röse, binde deine Zöpfe zusammen! Marie, patsche nicht in den Pfützen! Wollt ihr wohl, Röse und Marie, oder es setzt etwas, wenn’s der Vater hört!“ An dergleichen Zurufe von seiten der Nachbarsleute schienen die Ratsmädchen gewöhnt. Es machte ihnen wenig aus. Im Gegenteil wurden sie desto lustiger, thaten, was sie wollten, machten ihre Sache in der Schule schlecht und waren in jeder freien Stunde auf der Gasse oder irgendwo vor der Stadt zu finden oder auch nicht zu finden. Sie hatten beide absonderlich dicke Zöpfe, die hingen ihnen schwer am Rücken herunter, und wenn sie miteinander in ihren Ginghamkleidern über die Straße schlenderten, und ein Gassenbube wollte mit ihnen Neckereien treiben, oder sie waren mit ihren guten Freunden in Streit geraten, da langten sie ihre Zöpfe vor und fuchtelten damit um sich her, daß so ein Vorwitziger, der mit ihnen angebunden, allen Respekt davor bekam. Denn ein fester, straff geflochtener Zopf hat schon seine Wucht, wenn er einem Bengel über Nase und Wangen fährt.

Die Zöpfe haben den beiden manchen Spaß eingebracht.

Röse und Marie konnten sich in ihr bräunlich blondes Haar, wenn sie es aufflochten, wie in einen Mantel wickeln. Und eine vornehme Dame, die Prinzeß Karoline, die den Herrn Rat und auch die Kinder kannte, ließ die beiden munteren Mädchen manchmal zu sich auf das Schloß kommen und hatte sie eines schönen Tages, um sich mit ihnen zu vergnügen, sich auf zwei Schemelchen setzen lassen, ihnen das Haar aufgeflochten und um sie herumgekämmt, daß es ihnen auch die Gesichter überdeckte, auch die Kleider und Füße und noch ein gut Stück auf der Erde hin lag. Darauf hatte sie allerlei vornehme Leute hereingerufen und sie raten lassen, was für wunderbare, glänzende Geschöpfe da vor ihnen kauerten. Der Anblick mochte ganz eigentümlich gewesen sein, so daß niemand recht wußte, was er davon halten sollte, bis die Ratsmädel verlegen aufstanden und sich das Haar aus den heißen Gesichtern strichen.

Die Ratsmädel, das wissen wir nun schon, waren ein paar lose Vögel. Sie hatten aber auch in der wunderlichen Zeit Dinge erlebt, von denen heutzutage kein noch so wilder Junge sich eine Vorstellung machen kann; von einem Mädchen gar nicht zu reden. — Eine gute Weile lang sah man täglich fremdes Kriegsvolk durch die Straßen ziehen und hörte Kanonen und schwerrollende Pulverwagen über das Pflaster fahren. Mit Herzklopfen lauschten die Leute im Städtchen auf den dumpfen Kanonendonner, der bis nach Weimar dröhnte, als bei Jena die furchtbare Schlacht geschlagen wurde, in der Napoleon den Sieg errang.

Und später, da gab es in der Wünschengasse oftmals russische Soldaten, Kosacken, die hatten dort ihr Lager aufgeschlagen. Die kauerten des Nachts auf Stroh und schnarchten, und ihre Pferde standen neben ihnen und ließen die Köpfe hangen. Damals haben die Ratsmädchen auch Plünderung mit erlebt. Als die Franzosen in Weimar wirtschafteten, haben sie gesehen, wie mir nichts, dir nichts, die Franzosen nahmen, was sie fassen konnten; — wie sie aus des Vaters Hause kamen und die schönen Schinken aus der Vorratskammer forttrugen, und diese Schinken hatten sie gar an rosa und blaue Schärpenbänder gehängt und so über die Schultern geworfen. Die Schärpenbänder aber waren die, welche die Mutter den Mädchen sonst Sonntags um die Kleider geknüpft hatte! Als Röse und Marie das vom Fenster aus gesehen, da kamen sie weinend zu ihrer armen Mutter gelaufen, die bleich im Lehnstuhl am Ofen saß, während der Vater sich draußen mit den Franzosen abplagen mußte.

An demselben Tage, an dem dies geschehen war, hockten die beiden wieder auf dem Fensterbrett. Sie waren allein im Zimmer. Da sahen sie, wie ein paar Franzosen in dem Konditorladen, der Rats gegenüber lag, sich zu schaffen machten. Dieser Konditorladen war den Mädchen von jeher als das Verlockendste erschienen, was es auf der Welt geben konnte. Er gehörte einer alten Frau Ortelli, und die Mädchen schauten mit Spannung durch die Scheiben, was die lärmenden, schwadronierenden Franzosen wohl vorhätten. Da sahen sie, und der Atem stockte ihnen, wie die Soldaten aus einem Kasten die schönsten Figürchen, bunte Männerchen und allerhand farbiges Viehzeug, „hast du nicht gesehen“, mit vollen Fäusten zur Thüre hinauswarfen, dabei lachten und schrieen.

Daß so etwas überhaupt möglich sei, hatten die Mädchen sich nicht träumen lassen. Ohne etwas darüber zu reden, sprangen sie beide wieder von ihrem Fensterbrett; Röse nahm ein blau-getupftes Tragkörbchen, das ihrer beider Eigentum war und hinter dem Ofen stand, und sie liefen stumm und eilig einmütig miteinander die Treppe hinab und sammelten unten die Zuckerfigürchen. Da war schon von den Herrlichkeiten manches von vorüberziehenden Soldaten und Pferden zerstampft und zertreten worden, aber wie Röse und Marie über dem Sammeln waren, half ihnen ein freundlicher Franzose, ein Soldat, dabei.

Sie hatten solche und andere ganz unglaubliche Dinge erlebt. Ein alter Kosack, der bei ihnen im Quartier lag und dem diese Mädchen gut gefielen, wollte ihnen einmal einen Spaß machen und hatte sie in seinem zweirädrigen Wagen, den er „Kibitka“ nannte, mit über Land genommen; und das war eine Fahrt gewesen, die sie ihr Lebtag nicht vergessen konnten. Das ging wie der Wind, wie der Blitz!

Der alte Kosack in seinem Pelzrocke hieb auf die Pferde ein, daß sie nur so rasten und daß die Funken sprühten; — so fahren die Kosacken! — und der zweirädrige Wagen stieß und flog, und die Mädchen klammerten sich an dem schmalen Holzsitze fest, und der Atem verging ihnen, so schnitt ihnen der Wind bei der Schnelligkeit, mit der sie fuhren, an den Gesichtern hin. Der alte Kosack lachte und sagte immer: „Nix, nix!“ und fuhr weiter und weiter, und die Bäume und Felder schwirrten nur so an ihnen vorüber, so schnell ging es, wie noch kein Mensch in Deutschland je gefahren war. Und als der Kosack sie endlich vor ihrem Hause abgesetzt hatte, da zitterten sie noch.

Dann einmal hatten ihre Brüder von einem anderen Kosacken ein Pferd um achtzehn Pfennige gekauft, das hatte der durstige Kerl los werden wollen, da er es wegen Futtermangels doch nicht behalten konnte. Wie die Brüder aber das Pferd mit heimbrachten, da gab es Zank bei Rats, und die armen Buben mußten ihren Gaul mit schwerem Herzen wieder fortschaffen. Aber so darunter und darüber ging es dazumal her, daß die Schuljungen für ein paar Pfennige zu einem Pferde kommen konnten, für soviel, wie sie jetzt wohl für ein Dutzend Schußkugeln anwenden.

Mit dem Essen und Trinken hingegen war es schlimmer bestellt, das nahm ihnen die Einquartierung vor der Nase weg. — Es gab, wenn die Soldaten im Hause lagen und mit am Tische aßen, eine braune Mehlbrühe, in die waren Fleischstücke und Brotstücke hineingeschnitten, die sich einander an Größe gleichkamen, aber es wurde damit wie folgt gehalten: die Fleischstücke für die Soldaten, die Brotstücke für Eltern und Kinder. — Das waren böse Zeiten! Die Mutter hatte den Kopf voller Sorgen und hatte Not und immer Not, das Essen zu schaffen, und wußte nicht, wo sie die Kleider hernehmen sollte; denn mit dem Gelde ging es knapp zu. Sie konnte auch nicht immer nach den Kindern sehen, wie sie es sonst wohl gethan hätte und konnte nicht nachkommen, ob es mit ihnen in der Schule gut stände.

So war es geschehen, daß die Mädchen ein bißchen wild aufwuchsen. Auch als die Zeiten wieder ruhiger wurden, blieben sie noch immer ein paar rechte Rangen, schwänzten die Stunden, so oft es sich thun ließ; wurden von dem Lehrer ihrer Faulheit wegen tüchtig abgestraft, machten sich aber wenig daraus; spielten in einem Wäldchen, das das Schänzchen heißt und nahe bei der Stadt liegt, die lustigsten Spiele mit allerlei Kindervolk; schrieen und lärmten und hatten nichts im Kopf, als wie sie ihre Tage recht munter hinbringen könnten. In dem Wäldchen war es eine Lust, wie sie lebten. Da gab es Gruben und Höhlen, dichtes Buschwerk und tausend Verstecke; dort hatten sie sich eingenistet und spielten Räuber nach Herzenslust, hatten dort ihre Schlösser und Burgen. Da gab es Krieg und Verteidigung, es wurde gefangen genommen und befreit, und Röse und Marie waren immer dabei. Eine Schande aber blieb es, wie wenig sie lernten, und daß sie sich nicht die geringste Sorge um ihre Faulheit machten.

Da wohnte in der Wünschengasse eine Jüdin, welche die Kinder unter dem Namen die dicke Nanni kannten. Sie hieß Nanni Veit und war eine ältliche Person, die sich um alles kümmerte, was die Nachbarn thaten. Sie war im ganzen gutmütig, nur etwas neugierig und schwatzhaft und stand in dem Rufe, reich und geizig zu sein. Die war auf die Ratsmädchen nicht gut zu sprechen; denn sie kannte auch Mariens und Rösens Lehrer. Und als sie wieder einmal eines schönen Tages ganz besonders ihren Aerger über die Mädchen gehabt hatte, da war sie zu der Frau Rat hinübergegangen. Die Frau Rat hatte die Jungfer in die gute Stube geführt, und Röse und Marie, denen es aus guten Gründen gar nicht recht wohl ums Herz war, daß die dicke Nanni bei der Mutter saß, lauschten an der Thüre und stießen sich gegenseitig vom Schlüsselloch weg. Was sie aber erlauschten, das waren schlimme Dinge.

Die dicke Nanni sagte, nachdem sie ihre Meinung über das Wetter ausgesprochen und bemerkt hatte, daß den Fruchtknospen nach heuer wenig Obst zu erwarten sei, „ja, Frau Rat, das ist nun so, und wenn Ihr es nicht übelnehmen wollt, da möchte ich Euch mit meines Herzens Meinung kommen. Da Ihr es nicht zu wissen scheint, daß Röse und Marie die Schule schwänzen, so wäre es gut, dächte ich, wenn Ihr es wüßtet, und deshalb habe ich mich heraufgemacht. — Ihr stellt Euch das nicht so vor, aber der Lehrer weiß sich nicht mehr zu helfen; da ist kein Auskommen. Ich sage Euch, Frau Rat“ — so ging es fort. Die Jungfer redete der guten Nachbarin zu, ein strengeres Regiment zu führen. „Die Mädchens würden nun zu groß.“

Bald mußten Röse und Marie vom Schlüsselloche weghuschen, denn der Vater kam die Treppe herauf und ging ernst und gemessen, wie es seine Art war, an den beiden vorüber, die sich ganz harmlos an das Fenster gestellt hatten, und ging auch in das Zimmer hinein. Nun wagten sie nicht wieder, zum Lauschen an die Thüre zu schleichen.

Sie gingen in ihr Kämmerchen, das eine Treppe höher lag, setzten sich miteinander auf Rösens Bett und kamen überein, daß es die dicke Nanni unten durchaus nichts anginge, wie sie es mit der Schule hielten, und daß es von ihr heimtückisch wäre, sie in eine so dumme Verlegenheit zu bringen. „So eine alte Klatsche!“ sagte Röse. Da hörten sie unten die Thüre gehen, faßten sich ein Herz und schlichen sachte oben die Treppe herab, so weit nur, um zu hören, was es gäbe, ohne daß man sie bemerken könnte. Und sie hörten, wie die Mutter mit ihrer eigentümlich weichen Stimme sagte, und jetzt klang die Stimme leise zitternd: „Ich danke Euch noch einmal, Jungfer Veit. Ihr meint es gut, und ich nehme es auch gut auf. Es sind böse Zeiten gewesen, und man hat noch schwer daran zu tragen. Ihr habt mir einen guten Rat mit der Concordia Loisette gegeben, ich werde es mir überlegen.“

„Was denn?“ sagte Röse zu Marien. „Was wollen sie denn mit der Jungfer Loisette?“ „Gar nichts!“ flüsterte Marie und atmete tief auf. Noch nie war die Stimme der Mutter Rösen und Marien so zu Herzen gedrungen, wie eben jetzt. Sie hatte geweint!

„Daran ist die alte Nanni schuld!“ dachte Marie und bog sich etwas über das Geländer. Da hörte sie, wie die Nanni sagte, etwas schnarrend, wie es ihre Art war: „Da habe ich heute eine Eile, kaum daß ich mir den Weg zu Euch, Frau Rat, absparen konnte; muß ich jetzt noch mit meiner Dorothee das Korn in die Mühle tragen, was denkt Ihr, und habe vorher noch die Wäsche zum Einsprengen zu bringen!“

„Geizdrache!“ rief Marie leise hinunter.

Und die Mutter sagte zu Nanni: „Ja, Jungfer Veiten, das solltet Ihr nicht thun, wozu haben denn die Müller die Ställe voll Esel? Ihr solltet doch das Korn nicht selber tragen.“

„Ja, ja, Frau Rat, wo es einen Groschen zu sparen giebt, da sollte man es wohl thun.“ Das sagte sie so etwas anzüglich, wie es ihre Art war. Und Röse und Marie hatten einen rechten Aerger auf sie; sie setzten sich nebeneinander auf der Treppenstufe zurecht und trauten sich nicht, hinunterzugehen.

In Weimar gab es zu jener Zeit gar viele Mühlen. Da war die Burgmühle, die Federwischmühle, die Lottenmühle, die Gassenmühle und noch manche andere. Damals kauften sich die Leute nicht fertiges Mehl, sondern ungemahlenes Korn, das die Bauern Markttags in die Stadt einfuhren, und jede Familie ließ sich des Jahres ein paarmal ihr Korn in einer jener Mühlen mahlen und bestellte sich den Müllerknappen, daß er das Korn abhole. Der kam dann und lud den Kornsack auf seinen Esel. Das war natürlich für die Kinder jedesmal ein Fest.

„So ein Geizdrache!“ sagte Röse wieder. „Schleppt das Korn selbst! Man sollte ihr doch einmal einen Streich spielen und ihr alle Esel über den Hals schicken.“

„Du bist klug,“ meinte Marie, „das möchte ich sehen, wie das anginge?“

„Wir bestellen sie,“ sagte Röse; „das soll keine Menschenseele verraten, daß wir sie bestellt haben.“

Da rückten die beiden Mädchen eng aneinander und flüsterten und zischelten und kniffen sich vor Freude in die Finger. Eine wurde übermütiger als die andere, und es dauerte nicht lange, da schlichen sie die Treppe hinab bis hinunter in den Hausflur und in dem Hausflur stießen sie sich vor lauter Unternehmungslust ein paarmal gegen die Thürpfosten; das war so ihre Art, sich miteinander zu vergnügen. Darauf liefen sie in bester Laune die Gasse hinunter auf den Markt und hatten alle Not und Sorge vergessen. Dort trafen sie einen Jungen, der ihr guter Freund war, den nahmen sie mit und vertrauten ihm alles. Dann schickten sie ihn in die Federwischmühle und warteten draußen vor der Thüre und ließen ihn dem Müller sagen: „Die Jungfer Veit in der Wünschengasse will um sechs Uhr mahlen lassen, einsäckiges Korn, und der Esel möchte kommen.“ Dann gingen sie in die Lottenmühle, in die Burgmühle, und überall mußte der Junge dieselbe Ausrichtung machen. Als sie aber vor der Gassenmühle standen, da sagte der Junge, er wolle lieber nicht hineingehen, denn es hätte mit Budang neulich etwas gesetzt, und da hätte er es abgekriegt. — Budang war der Sohn des Müllers, und der Müller hieß Loisette; dessen Vater war französischer Mundkoch am Hofe gewesen. Der Sohn hieß Heinrich und wurde von Jungen und Mädchen Budang genannt; weshalb, das war nicht recht bekannt. Wahrscheinlich hatten sie ihm einen französischen Namen geben wollen und kannten nur ein einziges Wort, das ihnen französisch vorkam, das war Pudding, das Gute, Süße, die Seltenheit, die mancher nur dem Namen nach kannte. So mochte wohl aus Pudding „Budang“ unter ihnen entstanden sein, denn sie sprachen alle sehr schlecht miteinander, gerade so, wie es auf den Weimarischen Gassen noch heute Mode ist.

Die Gassenmühle war ein wunderliches Haus, hatte den Giebel nach der Straße zu, die sehr abschüssig ist und der Bornberg heißt. In einen ganz kleinen, dunklen Hof führte ein schmales Pförtchen. Durch den Hof aber floß ein klarer Bach, der ein großes, düsteres Mühlrad trieb.

Die Gassenmühle hatte ein geheimnisvolles Aussehen, und man glaubte, daß es darin spuke.

In der Mühle wohnte der Müller Loisette mit seiner Schwester Concordia und dem Sohne Heinrich, der auf der Gasse Budang genannt wurde. Der war ein hübscher Junge und etwas älter, als die Ratsmädel, sehr zierlich, mit krausem Haar und dunklen Augen. Er hatte sich den Schulbuben und Mädchen gegenüber in Respekt gesetzt; wodurch, wußten sie auch nicht recht, aber sie hatten Respekt vor ihm. Er war ein vorzüglicher Schüler, ließ sich nichts zu Schulden kommen und wußte, wenn es darauf ankam, eine tüchtige Faust zu führen, so daß manche von ihm schon etwas verspürt hatten.

Er gehörte aber nicht zu dem Volke, das in dem Wäldchen sein Wesen trieb.

Jetzt standen also Röse, Marie und der Junge vor der Mühle und keines wagte sich hinein. Da kam der Mühlknappe aus dem feuchten, kühlen Hofe und stellte sich breitspurig vor die Pforte, um eine Pfeife zu rauchen. Röse trieb den Jungen an, seine Ausrichtung zu machen, so daß er wohl oder übel gehen mußte, um seinen Spruch dem Knappen zu sagen.

„Die Jungfer Veit in der Wünschengasse will mahlen lassen, einsäckiges Korn, und Ihr möchtet ihr einen Esel schicken, um sechs.“

„Jawohl,“ sagte der Knappe, „heute um sechs.“

Da schaute aber Budang zum Fenster heraus und guckte ein bißchen in die Luft und sah, ganz ohne etwas zu denken, die Ratsmädel stehen, erkannte den Jungen, dem er etwas aufgeblitzt hatte, und nickte ihm zu, als wollte er sagen: „Wir kennen uns schon.“

„Das war dumm, daß Budang guckte,“ sagte Marie. Und sie gingen nun langsam in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, wieder zurück. Als sie die Treppe hinauf stiegen, rief die Mutter gerade nach ihnen, und sie antworteten etwas kleinlaut. „Kommt gleich herauf und geht in die Stube,“ sagte die Mutter. Sie hatte eine Schüssel in der Hand und mochte wohl in der Küche noch zu thun haben. „Geht nur, ich komme gleich,“ sagte sie, als die Mädchen noch standen und unentschlossen auf die Schüssel blickten. Im Zimmer war niemand, und Röse und Marie drückten sich, etwas unbehaglich gestimmt, am Fenster herum. Röse spielte mit dem Fingerhut der Mutter, ließ ihn auf dem Fensterbrett hin und her rollen, bis er hinunterfiel, und Marie schnippte mit der Schere einen festen, schönen Zwirnfaden in kleine Endchen. Es wurde ihnen mit der Zeit beklommen zu Mute. Da kam endlich die Mutter herein und sagte: „Ich bin recht bekümmert Euretwegen. Ihr seid doch schon große Mädchen und solltet verstehen, daß es Eurer Mutter manchmal sauer wird, mit allem fertig zu werden; aber da müssen mir fremde Leute sagen, was für faule, ungeratene Kinder ich habe. Ihr macht mir das Herz recht schwer.“

Röse und Marie, als wären sie bis dahin blind gewesen, sahen mit einem Male, wie ihre Mutter so blaß war, und wie sich schon ein paar graue Fädchen durch ihr dichtes Haar zogen, und das bewegte sie. Sie sahen auch, daß ihre Augen rot geweint waren. Keine wagte etwas zu erwidern, aber beiden klopfte das Herz, und sie wünschten in diesem Augenblicke nichts weiter, als die Mutter möge nicht so traurig aussehen. Lieber hätten sie vom Vater einen gehörigen Sermon bekommen, der würde ihnen das Herz nicht so beschwert haben, wie die wenigen, ruhigen Worte der Mutter, die dieser so ganz aus der Seele kamen.

„Morgen,“ sagte die Frau Rat, „werdet Ihr zu der Jungfer Concordia Loisette gehen, die wird Euch Nähstunden geben und zweimal die Woche einen französischen Unterricht. Ich ermahne Euch zu nichts. Macht, was Ihr wollt! denn wenn Euch Euer Herz nicht sagt, was Ihr von heute ab zu thun habt, ist jede Rede unnütz.“ Damit ging die Mutter wieder an ihre Geschäfte.

„So! Das meinte sie vorhin auf dem Flur, wir sollen zu den Loisettens,“ sagte Röse und sah Marie bedenklich an. „Das hat uns die Veiten gut eingebrockt.“ Da schlug die Wanduhr in der Stube halb sechs, und beide sahen vor sich hin und schwiegen.

„Marie,“ sagte Röse kleinlaut, „in einer halben Stunde sind die Esel da.“ Wie sie Marien anblickte, sah sie, daß diese eine erbärmliche Miene zog, und daß ihr eine Thräne schon bis herunter an das runde Kinn gelaufen war. „Hast Du Angst?“ fragte Röse mit etwas unsicherer Stimme.

„Ja!“ sagte Marie schwer bedrückt, denn es war ein böses Zusammentreffen, der Mutter bedeutungsvolle Mahnung, die Aussicht, schon am nächsten Tage in der Gassenmühle zu Jungfer Loisette gehen zu müssen, und der Unfug, den sie gegen die Jüdin eingeleitet hatten. Wie bald konnten sie nun erwarten, daß die Müller von allen Seiten der Stadt sich in der Gasse vor dem Hause der Jungfer versammeln würden, und daß es da Hallo gäbe, das war vorauszusehen.

Röse, die eine ruhigere Gemütsart als ihre Schwester hatte und sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ, sagte: „Ach was! herauskommen wird es schon nicht, und was wird denn Großes dabei sein, einmal einen solchen Drachen zu ärgern. Wir gehen jetzt gleich hinauf zu Corniceliusens,“ das waren Beutlersleute, die der Jüdin gerade gegenüber wohnten, „und wenn es losgeht,“ fuhr die leichtsinnige Röse fort, „dann laufen wir hinunter in die Thorfahrt und gucken durch die Spalte.“ Sie machten sich also schnell auf die Beine, um noch hinüber zu den Nachbarn zu kommen. Diese freuten sich, als die Ratsmädchen bei ihnen eintraten, denn sie standen auf sehr gutem Fuße miteinander, und der Beutlermeister sagte zu seiner Frau: „Geh und hole doch von den Backpflaumen!“

Die Ratsmädchen waren schon oft so regaliert worden; aber heute konnten sie sich auch nicht zu einer einzigen entschließen; denn vor lauter Aufregung und Angst wurde ihnen das Schlucken schwer, und sie betrachteten die guten Pflaumen, als wären es Kieselsteine. Sie wagten nicht, an das Fenster zu treten, und stellten sich beide neben den Meister Cornicelius, der an einer Bauern-Lederhose arbeitete, mit seiner kurzen, festen Nadel und dem blankgewichsten Faden ausholte und in das Leder einstach, stetig und unaufhaltsam, als wäre er durch ein Uhrwerk aufgezogen und könnte erst aufhören, wenn dieses abgelaufen sei.

„Ja, ja, ja!“ sagte der Beutler und schaute während seiner Arbeit mit einem freundlichen Blick zu den Mädchen auf, die neben ihm standen und zusahen. „Für wen wird denn die Lederhose?“ fragte Röse, die es für nötig fand, etwas zu reden.

„Die ist auf Vorrat, Röschen,“ erwiderte der Beutler, ohne innezuhalten.

„Ja, was ist denn das?“ rief mit einem Male die Beutlersfrau und trat ans Fenster. „Kinder, kommt schnell einmal her!“ Den Ratsmädchen aber wurde es angst und bange; da hatten sie die Bescherung. Unten vor der Thüre der dicken Nanni waren die Müller mit samt den Eseln angelangt; die Jungfer war eben auch schon aus dem Hause getreten, und der Lärm ging los. Die Nachbarsleute rissen die Fenster auf, wer auf der Straße war, kam zugelaufen; es sammelte sich von allen Seiten, und Müller und Esel waren bald eingeschlossen von neugierigen Gaffern, mitten unter ihnen die dicke Nanni. Sie hatte ein weißes Linnen über dem Arme hängen, und die große Haube saß ihr schief auf dem Ohre.

Die war in Rage; der Tausend, das ging wie Semmelbacken! Da hatte, wer nur den Mund aufthat, ohne daß er ausgesprochen, seine Antwort und zwar eine doppelt gesalzene und gepfefferte. Die Meisterin öffnete jetzt das Fenster und drängte die Mädchen, damit sie ja alles sehen sollten, ganz vorne hin. Der Meister machte sich auch in die Höhe und stellte sich mit eingestemmten Armen hinter die Frau. So waren die Ratsmädchen gefangen und mußten, sie mochten wollen oder nicht, mit ansehen, was sie angerichtet hatten. Sie hätten es sich noch vor zwei Stunden nicht besser wünschen können. Jetzt aber hätten sie sich am liebsten verkriechen mögen. Die Herzen waren ihnen ganz gehörig schwer; denn so einen Straßenlärm veranlaßt zu haben, das ist keine Kleinigkeit. Aber so viel hörten sie aus all dem Zank unten heraus, daß die Jüdin sich von den Müllern selbst zum besten gehalten glaubte; sie hatte kein gutes Gewissen gegen die Müller. Diese mochten noch so sehr auf ihrem Rechte bestehen, sie hörte nicht darauf, sondern, nachdem sie ihrem Herzen Luft gemacht, stemmte sie den linken Arm in die Seite, schaffte sich, wie es ihre Art war, tüchtig Platz, verschwand in ihrem Hause und warf die Thüre hinter sich zu. Nun räsonnierten die Müller noch eine Weile untereinander, und erst nach und nach wurde der Menschenknäuel unter dem Fenster lichter; die Müller mit ihren Eseln zogen ab, und alles verlief sich.

„Da geht auch Budang!“ sagte Marie schüchtern zu Röse.

„Ja!“ sagte Röse.

Als die Mädchen miteinander die Treppe hinuntergingen, um nach Hause zu laufen, da stand, als sie aus der Thüre traten, Budang da, trat auf sie zu und sagte: „Das seid Ihr gewesen! Ich habe Euch wohl gesehen! Jetzt hier am Fenster und vorhin. Schämen solltet Ihr Euch!“ Jetzt trat er ihnen noch einen Schritt näher. „Wenn Ihr Jungens wär’t,“ sagte er mit zorniger, leiser Stimme, „da setzte es jetzt etwas; darauf könnt Ihr Euch verlassen!“

Damit ließ Budang sie stehen. Er sah nur noch, daß Marien die Thränen in den Augen standen, und es auch Röse schon um den Mund zuckte, aber was ging ihn das an.

Die Mädchen waren sehr betroffen, es hätte ihnen gar nichts Schlimmeres passieren können, denn Budang stand hoch in ihrer Meinung, und sie hatten nur immer ihren Ärger gehabt, daß er es nicht mit ihnen hielt. Sie waren ganz zerknirscht von Budangs offenbarer Verachtung, wie er sie gegen sie gezeigt hatte.

In einem trostlosen, reuevollen Zustande kamen sie zu Hause an; der wurde ihnen ganz unerträglich, so daß sie am liebsten laut geweint hätten, als bei Tische die Brüder von der Eselgeschichte erzählten und ihren Spaß daran hatten. Die Brüder bekamen aber von dem Vater einen starken Verweis. Er wolle nicht, daß seine Söhne sich an solchen Rüpeleien vergnügten, sagte er, und so etwas von Scham und Ärger, wie die Mädchen jetzt fühlten, war noch nie in ihnen aufgestiegen. So früh es nur anging, schlichen sie sich hinauf in ihre Kammer. Den andern Tag sollten sie zur Jungfer Loisette in die Mühle gehen und würden Budang begegnen; das stand ihnen mit Entsetzen den ganzen Abend vor der Seele. Sie konnten darüber nicht zum Einschlafen kommen, und Marie kroch vor lauter Angst zu Rösen ins Bette, legte den Arm um die Schwester, und so schliefen die beiden Schelme, als sie trotz aller Sorge und Not gar zu müde wurden, ein und schliefen bis in den hellen Morgen.

Das war eine schwere Stunde, als sie am anderen Tage nach der Vesperzeit, von der Mutter jede mit einer Näharbeit ausgerüstet, zu der Jungfer Loisette geschickt wurden. Als sie vor der Gassenmühle standen und sich nicht hineinwagten, hofften sie von Minute zu Minute, daß etwas geschehen würde, um sie zu retten. Röse hatte vor lauter Angst und Scham grausame Ideen, daß es ihr z. B. recht gewesen, wenn die Mühle mitsamt der Jungfer und Budang so vor ihnen in die Erde hineingerutscht wäre. — Aber was half’s; sie mußten sich entschließen. Zaghaft gingen sie durch das kleine Höfchen. Über das mächtige Rad rauschte der kalte, klare Mühlbach, und sie hörten das Mahlwerk klopfen und hämmern. Als sie in die Mühle traten, fühlten sie, wie die Dielen leise zitterten, denn alle Räder waren in Arbeit, und aus dem Mehlraum drang es wie feiner Staub, und das ganze Haus roch kräftig nach frischem, trockenem Mehl. Alles war rein und sauber, die Treppen schneeweiß, und die Mehl- und Kornsäcke lagen rings an den Wänden in Reih und Glied aufgeschichtet. Mit klopfendem Herzen stiegen sie die blanke Treppe zum ersten Stock hinauf, wo die Müllersleute wohnten. Röse faßte Mut und klopfte. „Herein!“ rief es. Röse öffnete, und sie traten beide in eine große, niedere Stube. Da kam ihnen die Mamsell Concordia Loisette entgegen; sie war ein feines Persönchen, sehr klein und schmächtig. Röse war fast schon größer, als sie. Die Mamsell Concordia hatte ein frisches Gesicht und lebhafte graue Augen.

„Nun, da kommt Ihr,“ sagte sie, „da wollen wir einmal sehen, wie es um Eure Näherei steht!“ Die Ratsmädchen aber achteten kaum auf das, was die Mamsell sagte, denn in der großen Stube am Ofen saß Budang an einem Tischchen und drehte ihnen den Rücken zu. Er nahm keinerlei Notiz von ihrem Eintreten.

Die Jungfer Concordia sah sich die beiden Ratsmädchen, die demütig und geduckt nebeneinander standen, lächelnd an und sagte, indem sie sich an Röse wendete: „Nun, wie ist es denn gekommen, daß sie Euch so Hals über Kopf hierher geschickt haben? Ihr habt es wohl ein bißchen arg getrieben?“

Da wurden die beiden rot bis hinter die Ohren und erwiderten nichts. Concordia hatte sie in einem scherzenden, lustigen Tone gefragt, der ihnen gut gefiel, und sie bekamen gleich eine gute Meinung von der Jungfer.

Concordia deckte den Tisch und setzte hübsche, bunte Tassen darauf, die große Kaffeekanne und ein Stück selbstgebackenen Kuchen.

„Das ist zum Schulanfang,“ sagte sie.

Daß es so zugehen könne, hatten die beiden armen Sünderlein sich nicht vorgestellt. Dann nahm Concordia noch ein Glas mit drei frischen Rosen, das im Fenster stand, und setzte es neben den Kuchen auf das weiße Tuch.

Den Mädchen wurde es ganz feierlich zu Mute.

Alle nahmen ihre Stühle, auch Budang, und setzten sich um den Tisch. Als die Jungfer eben eingießen wollte, da fiel eine von den drei Rosen aus. Sie hatte daran gestoßen, und die schönen rosa Blättchen lagen auf dem weißen Linnen. Die Jungfer nahm ein paar davon und streute sie in Rösens und Mariens Tassen, that ein Stückchen Zucker dazu, goß Milch darauf und sagte: „Das ist etwas sehr Gutes, dergleichen bekommt man nicht alle Tage. Nehmt Ihr auch ein Tröpfchen Kaffee dazu?“ Da nickten die beiden, und es gefiel ihnen trotz der Verlegenheit, in der sie sich befanden, außerordentlich.

Als Budang sah, daß seine liebe Tante Concordia so sehr freundlich mit den Mädchen war, stimmte ihn das gegen die Rangen auch milder, und er rückte ihnen die Kuchenschüssel hin. Da sahen sie ihn bedenklich an und wurden rot. Sie trauten ihm nicht recht. Die Jungfer aber, der diese Feier unversehens zu groß geworden war, sagte: „Eure Lehrer sollen ja recht unzufrieden mit Euch sein. Die Jungfer Veit sagte mir, daß ihr die Schule schwänzt und am faulsten von allen seid —? Ist das wahr?“

Da nickte Marie, und der gute Bissen blieb ihr im Munde stecken. „Nun, ich will Euch einmal etwas sagen,“ begann die Jungfer nach einer Weile und hatte eine Stimme, so hell, wie ein Glöckchen, „das geht nicht mehr, daß Ihr so faul seid; denn sehr bald werdet Ihr ganz große Mädchen. Zeigt doch dem Heinrich manchmal Eure Arbeiten; der weiß, ob sie schlecht sind oder gut. — Nicht, Heinrich?“ wendete sie sich an ihn. „Das thätest Du? Du siehst den beiden ihre Sachen manchmal nach?“ Da fühlte Heinrich sich geehrt und sagte: „Ja!“, machte aber eine kühle und gleichgültige Miene dazu.

Nun saßen sie mit der Lehrmeisterin über der Arbeit, und Budang war hinausgegangen, und sie hatten allerlei verfängliche Fragen betreffs des französischen Unterrichts, den sie bei der Jungfer beginnen sollten, zu bestehen. Als die Stunde zu Ende war und sie die Treppe hinuntergingen, da rief ihnen die Jungfer Concordia nach: „Geht nur, und laßt Euch von Heinrich sein Marmottchen zeigen; er wartet unten im Eselstalle.“

Richtig, da stand Budang und sagte ziemlich mürrisch: „Kommt nur herein, da ist etwas!“ Schüchtern folgten ihm die Mädchen. Das war eine Herrlichkeit in dem Eselstalle. Sechs Esel und ein kleines Eselchen mit einem lockigen, dicken Kopf, das ihnen über alle Maßen verrückt und fidel entgegensprang. — Was war doch der Budang für ein glücklicher Junge!

„Da seht die Esel,“ sagte er etwas spitzig und sah die Mädchen leicht spöttisch von der Seite an.

„Budang,“ begann Röse und nahm sich zusammen, „wir waren’s.“

Budang antwortete nichts. Das war den Ratsmädchen eigentlich sehr rätselhaft und etwas unheimlich. Aber er zeigte ihnen einen lebenden Hamster, den er im Eselstall in einer Kiste hatte und den er das „Marmottchen“ nannte und sagte ihnen, das sei ein französischer Name und hieße auf deutsch das „Murmeltier“. Er ließ sich das Hamsterchen in den Ärmel kriechen, aber er erlaubte nicht, daß Marie und Röse das Tier anfaßten, und alle drei machten im Eselstalle miteinander ab, daß Röse und Marie den nächsten Aufsatz mit Budang zusammen arbeiten wollten und bestimmten die Stunde dazu. Und wirklich half ihnen Budang so treulich dabei, daß Röse, die nebenbei gesagt, eine miserable Schrift hatte, vom Lehrer darunter gesetzt bekam: „Gut gedacht, aber schlecht geschrieben.“ Das war ihr nicht ganz angenehm, denn sie mußte Budang die Unterschrift zeigen. Budang lachte aber darüber.

So saßen die dreie, des Müllers Heinrich und die Ratsmädchen, wie es sich gerade traf, oben bei Rats im Dachstübchen, oder in der großen Stube bei der Jungfer Loisette miteinander und arbeiteten. Das ging anders wie früher, wo den Mädchen die Schule und alles, was damit zusammenhing, ein rechtes Ärgernis war. Budang hatte eine außerordentliche Lust zum Arbeiten, es ging ihm leicht von der Hand, und es machte Rösen und Marien den Eindruck, als vergnüge er sich damit. Nie war er schlechter Laune dabei und immer eigentümlich liebenswürdig. Die Ratsmädchen waren über diese Erfahrung erstaunt und sahen in Budang eine Merkwürdigkeit, von der sie nicht recht wußten, was sie davon halten sollten.

Einmal, als die Mädchen mit Budang über dem Arbeiten saßen, betrachtete sich Röse den Freund, der sich mit seinem Lockenkopf über das Buch gebeugt hatte, ernsthaft und kaute an der Feder. Budang saß ihr gegenüber, da fuhr sie mit ihrem Finger leise in sein dickes, blondes Haar, so daß er mitten in seinem Eifer aufblickte. „Budang,“ sagte sie noch immer nachdenklich, „Du willst wohl so ein großes Tier werden, wie wir hier so viele haben?“ Damit meinte Röse, die sich mit Vorliebe schlecht auszudrücken pflegte, die weltberühmten Dichter, von denen ich im Anfang erzählt habe und die zu jener Zeit in der Stadt wohnten. Budang verstand sie, denn er war an derlei Redensarten von ihr gewöhnt und sagte ernsthaft: „Ja, wer das könnte! — So dumm zu fragen. Du fragst doch manchmal wirklich dumm. — Ich werde Arzt!“ fügte er hinzu; und er wurde es später auch. „So?“ sagten die Mädchen, und wieder einmal erschien ihnen der Freund in einem anderen Lichte und außerordentlich verständig, daß er schon mit aller Ernsthaftigkeit vorsorgte und über Dinge bestimmt hatte, die ihn heute und auch morgen noch nichts angingen.

Budang war den Mädchen ein guter Lehrmeister, denn da er kaum älter war, als sie, trat ihnen sein Ernst, seine Güte, sein heitrer Fleiß recht nahe, und es kam ihnen vor, als wenn sich diese Dinge gut mit ihren Jahren vertrügen, denn bis jetzt hatten sie gemeint, mit ernster Arbeit und was damit zusammenhängt, habe es bei ihnen noch völlig Zeit. Von Budang hatten sie, ohne daß sie es recht wußten, mehr gelernt, als ihr lebelang vorher, und sie waren jetzt bald daran, aus zwei wilden, faulen Nichtsnutzen ein paar allerliebste Mädchen zu werden.

So ging der Sommer hin.

Anfang August wurde in Weimar, wie wohl auch anderwärts, ein Volksfest gefeiert, das Schützenfest. Auf einer Wiese vor der Stadt da waren Schaubuden errichtet, und in jeder war etwas Merkwürdiges und Närrisches zu sehen. Schon wochenlang vorher hatten die Herrlichkeiten, die es zu betrachten geben würde, die Gedanken der Ratsmädchen beschäftigt. Als endlich der Tag herankam, da holten sie die frisch gewaschenen weißen Kleider aus dem Schrank, die Mutter half ihnen bei dem Anziehen, und statt ihrer schwarzen Lederschuhe setzte sie ihnen grüne nagelneue Stiefelchen auf den Tisch und flocht ihnen in die langen Zöpfe grüne seidene Bänder.

So aufgeputzt stolzierten sie miteinander über den Markt, zunächst der Gassenmühle zu, mit der sie sich längst ausgesöhnt hatten. Budang guckte schon zum Fenster heraus und rief ihnen entgegen: „Kommt rasch herauf zur Tante Concordia, rasch! — Und Ihr habt ja grüne Bänder und habt auch grüne Schuhe!“ Da lachten die beiden über das ganze Gesicht, denn sie wußten gar wohl, weshalb die gute Mutter sie mit dem schönen Schuhwerk überrascht hatte. Es war ihnen sehr wohl und fröhlich ums Herz, und sie sprangen die Treppe hinauf. Oben stand Concordia und hielt zwei Kränze in die Höhe, die waren prächtig voll gebunden aus schönen rosa Malven.

Da rief Röse auf den ersten Blick: „Die Malven hat der Budang stibitzt! Ich weiß auch, wo er sie her hat. Über Goethes Garten, da stehen welche.“

„Dummes Zeug!“ sagte Jungfer Concordia. — Aber ich glaube beinahe, es war etwas Wahres daran, denn der Budang guckte so schlau. — Die Jungfer führte sie vor den Spiegel und drückte ihnen die Kränze fest in die Stirne und sagte mit ihrer glockenhellen Stimme: „Ihr seid doch prächtige Mädel, Ihr Ratsmädchen, und nun macht, daß Ihr auf das Schützenfest kommt!“

Auf der Vogelwiese war ein Gedränge, es schnurrte, lärmte und schrie von allen Seiten und schon von weitem. Wie sie mit Budang die breite Allee hinaufgingen und noch nicht recht wußten, wo sie ihren Groschen anbringen sollten, da sahen sie zwei Männer kommen: der eine, klein und untersetzt, auf der Brust einen prächtigen Stern, der andere von mächtiger Gestalt, stattlich im langen blauen Gehrock. Und alles machte den Männern ehrerbietig Platz. Budang und die Ratsmädchen wußten gar wohl, wer ihnen da entgegenkam. Der kleine war Karl August, der gute und weise Fürst, Großherzog von Weimar; der andere Goethe, der Dichter. Budang zog die Mütze und sagte: „Da kommen sie!“

Und da waren sie auch schon ganz nahe, und die Mädchen standen und knixten, und Budang wußte nicht, was für ein Gesicht er machen sollte, als Karl August Röse und Marie an die Hand faßte und sagte: „Ei, da seid Ihr ja auch, Ihr Mädchens. Kommt einmal mit! Und Du kannst auch mitkommen!“ wendete er sich an Budang, dem das Blut zu Gesichte stieg. Am Wege unter den Bäumen stand die kleine, grüne Jagddroschke von Karl August, die jedermann kannte. Der Großherzog rief den Kutscher und ließ die Kinder sich hineinsetzen, hob selbst die zierliche Röse in den Wagen und nickte ihr zu. „Nun zu!“ rief er. „Nun fahr Er die Bälge einmal tüchtig in die Runde und schaffe Er sie wieder hierher!“ Ganz so sagte er und nichts anders. Jetzt fuhren die dreie in der berühmten Droschke über die Vogelwiese und waren gar zufrieden mit sich und aller Welt; und die Mädchen freuten sich, daß Budang mit ihnen war; denn sie hatten ihn lieb und wußten, daß er es gut mit ihnen meinte. Und alle dreie hielten sich an den Händen, so halb aus Freude und halb, weil es sie verlegen machte, mitten durch die vielen Leute zu fahren, und sie saßen geputzt nebeneinander, und die Sonne schien, und alle schauten ihnen nach. Das war ein herrlicher Tag.

Die dreie aber blieben in guter Freundschaft ihr lebelang und gedachten der glücklichen Jugend, als sie miteinander alt geworden waren.

Und das alles hat mir meine Großmutter erzählt, und da ist kein Wort hinzugesetzt. Sie hat das alles miterlebt, denn das Ratsmädel, die Röse, ist meine liebe, gute Großmama.

Zweite Geschichte.
Es geschehen Dinge, über die man sich in unsern Tagen verwundern würde.

D as war eine schöne, urwüchsige Zeit, in der man zu Weimar lebte. Von allen vier Windseiten ging Frische, die ganz Deutschland durchwehte, auch über das kleine Nest.

Es war kurze Zeit nach Beendigung des Freiheitskrieges, kurze Zeit nach des großen Napoleons Sturz, und die Befriedigung, etwas erreicht und errungen zu haben, lag wie eine gute, gesunde Luft, die jeder zu seinem Wohl, zur Stärkung seiner Menschenwürde und Kraft einatmen konnte, über den Landen ausgebreitet. Den Gemütern, die jahrelang unter Druck und Not gelitten, die um ihr Hab und Gut und ihre Sicherheit sich geängstigt hatten, war in dieser Zeit, von der ich rede, auch der Rausch des Befreitseins und der Begeisterung geschwunden und hatte sich in das Gefühl einer allgemeinen Genesung umgewandelt. Und welche Frische, welche Hoffnungskraft erhebt sich in einem Menschen, der nach langer Trübsal, nach schwerem Drucke gesundend aufatmet! und ein ganzes Volk, das zu Leben wieder erwacht, welcher Reichtum, welche Überfülle an Freude, an Heiterkeit, an Leichtsinn entfaltet sich da!

Der Ausdruck von Elend, von Aufruhr, der einstimmig aus den Völkern sich erhebt, ist die gewaltige Sprache, die das Menschengeschlecht mit dem Schicksale spricht. Kein Donner der Elemente ist so großartig drohend, wie die einige Stimme des murrenden und in Elend gesunkenen Volkes. Und kein Ausdruck der Freude ist so mächtig, so herzerquickend, wie das Aufleben des zu neuem Behagen erwachenden Volkes.

Kein Sonnentag gleicht der heiteren, lebendigen Ruhe, die nach Angst und Kampf über Dörfern und Städten liegt; das Unbedeutendste ist in solcher Zeit Träger und Verkünder einer großen Errungenschaft.

Jede frohe Scene zeigt uns das Gedeihen von Generationen, zeigt uns, daß die alte, bewährte, auf hohe Ziele deutende Kraft des Menschengeschlechts wieder siegreich durchgedrungen ist.

In der kleinen Stadt Weimar aber hatte diese Kraft gerade in den Jahren der Bedrängnis ihre höchste Offenbarung gegeben; ungestört von den tiefgreifenden Unruhen ihrer Nation lebten in den Mauern des Städtchens die hervorragenden Menschen, die durch ihr Leben und ihr Wirken verkündeten, daß die Sterblichen Schöpfermacht in sich tragen, daß sie dem, was wir göttlich nennen, verwandt sind.

Aber nicht jene Großen sind es, von denen ich erzählen will, sondern denen wende ich mich von neuem zu, die, während die Gewaltigen für Ewigkeit und Ruhm lebten, unscheinbar sich ihres unscheinbaren Daseins freuten; denen neige ich mich zu, die vergessen sind; denen, deren Lieblichkeit, Hoffen und Träumen wie Blütenregen niedersank, im Niederfallen schon vergehend. Die beiden „Ratsmädel“ sind es, die Röse und Marie, mit den dicken Zöpfen, die aus jener vergangenen Zeit wieder auftauchen sollen, die beiden schelmischen Kinder, die in den Kriegsunruhen aufgewachsen sind, die in ihrer Kindheit, in der Wünschengasse, vor ihrem Hause die Franzosen haben kampieren sehen, die mit dem Kosacken, der bei ihnen im Quartier lag, in seiner Kibitka über die guten deutschen Felder in Weimars Umgebung geflogen, gesaust und gerasselt sind, denen die Plünderung des Städtchens zu allerlei merkwürdigen Erlebnissen verhalf — die beiden Mädchen, die in der unruhigen, sorgenvollen Zeit eine überschwänglich lustige, freie Kindheit erlebt hatten, die das Glück genossen, weniger, als es in ruhigeren Jahren der Fall gewesen wäre, erzogen, beobachtet und gebildet worden zu sein.

Zu welch einer fröhlichen, gesegneten Generation gehörten die beiden Ratsmädel, die mit ihren Kameraden und Kameradinnen ein sorgenloses, unbedrücktes Leben führten!

In aller Harmlosigkeit schwänzten sie die Schule und trieben ihren Schabernack, wie wir wissen, mit Nachbarn und Nachbarinnen.

Wie bedrückt und unfrei erscheint die Jugend in unseren Tagen, der das Harmloseste als Vergehen, jeder Freiheitsdrang, der sie einmal von ihrem ehrbaren Wege ablenkt, als schwer strafbar gekennzeichnet wird.

O, du arme heutige Jugend! Ahntest du, welchen Reichtum „Jugend“ im Anfange jenes Jahrhunderts umschloß, welchen Überschwall von Leben! Du könntest dich bitter beklagen, gekränkt und betrogen würdest du dir erscheinen, von Anfang an gealtert, in Pflichten eingezwängt! Welchen trübseligen Eindruck würden deine kärglichen Freiheitsstunden dir geben, die man klug und berechnend wie eine Medizin, nach Überanstrengung dir zugemessen hat, wenn du vergleichen könntest! Wenn du wüßtest, was ich weiß!

Ja, ein unbefangenes, menschenfreundliches Auge findet, trotz aller weisen, sachgemäßen Widerlegung, daß es dir, o Jugend, übel in unseren Tagen ergeht!

Doch auf und nieder bewegen sich die Ereignisse auf Erden, und es kommt eine Zeit, wo die Jugend wieder aufatmen kann.

So ruhig und bedächtig geht es nicht fort, wie jetzt.

Aus Bewegung, aus Kampf, aus Besorgnis der Erwachsenen, der Alten, werden ihr wieder unbeaufsichtigte, berückende Freiheitsstunden erstehen, — aber wann?

Jetzt zu jener vergangenen Zeit, die den jungen Herzen von damals ihre Wünsche, ihre Rechte, ihr Streben nach Wundersamem, Bedeutungsvollem im reichsten Maße erfüllte.

Röse und Marie waren, wie wir aus dem ersten Teil ihrer Abenteuer und Erlebnisse erfahren haben, noch zur rechten Zeit in die Hände der Jungfer Concordia geraten und zu der Freundschaft von deren Neffen, des guten, vortrefflichen Budang, ehe alle Aussicht, daß sie etwas lernten und ein paar tüchtige Mädchen wurden, bei ihnen verloren war. Ihr Budang hatte ihnen treulich geholfen, daß sie mit Ach und Krach bis zu einer höheren Klasse ihrer Schule gekommen waren. Was für ein guter, prächtiger Junge war doch dieser Budang! Seit die beiden Mädchen ihn kennen gelernt hatten, schien für sie gesorgt.

Sie arbeiteten unter seiner Leitung, machten mit ihm und seinen Freunden Streifzüge in die Umgegend. Die Mutter unserer beiden, die Frau Rat, konnte ruhig ihre Rangen dem ihr als ausgezeichnet bekannten Neffen der Jungfer Concordia überlassen.

Sie hatte damals mit Bedacht Concordia als Lehrerin ihrer Kinder ausgewählt und freute sich, wie heimisch Röse und Marie in der Gassenmühle, in der, wie wir wissen, Concordia mit ihrem Bruder, dem Müller, und dessen Sohn Budang hauste, geworden waren.

Ich will jetzt wie folgt beginnen:

Im Winter wurde bei Rats eine einzige Stube geheizt. In der stand der Arbeitstisch des Vaters, in der saßen die Mutter, die Brüder und die beiden Ratsmädel. — Alle Geduld miteinander übend, alle auf den Vater Rücksicht nehmend, alle so still und besonnen wie möglich.

Die Ratskinder waren an diese bedachtsamen Winterstunden gewöhnt, die ihre starken Lebensgeister zu dem außerordentlichsten respektvollen Schweigen herabdrückten.

Die Brüder arbeiteten während dieser Zeit. Man hörte das Kritzeln der Federn von Vater und Söhnen. Die Mutter und die Mädchen waren mit Näharbeiten beschäftigt.

Ein Flüstern, von dem Marie und Röse einen ausgedehnten Gebrauch machten, war gestattet.

Die beiden hatten sich unausgesetzt zu erzählen, trotzdem sie alles und jedes miteinander erlebten, oder gerade deswegen. Sie hatten jede ihre verschiedenen Auffassungen von den mancherlei Dingen, die sie tagsüber aufstöberten; denn, gottlob, die würdigen Stunden im Familienzimmer währten nicht lange, der Vater hatte durch sein Bürgermeisteramt viel außer dem Hause zu thun, und eine feste Regel war, um fünf Uhr etwa wurde Schicht gemacht; da drehte er den Schlüssel an seiner Schreibtischklappe um.

Mit diesem Tone strömten die Lebensgeister zurück in die Gemüter.

Die Augen leuchteten, Röse und Marie legten ihre Näharbeit beiseite, brachten dem Vater übereifrig den Pelz und Hut, denn der Bürgermeister machte jetzt seinen ihm zuträglichen Gang um die Stadt, um dann mit seinem alten Freunde, dem Kupferstecher Müller im „Elephanten“ sein behagliches Stündchen zu verschmauchen.

Kaum aber war er zur Thür hinaus, so langten Röse oder Marie hinter den großen Ofen; da hatten sie einen Stock, an dem ein weißes Tuch wie ein Fähnlein befestigt war, den steckten sie zum Fenster hinaus. Das geschah Abend für Abend und mochte seinen guten Grund haben.

Denn nicht lange währte es, da hörten die lauschenden Mädchen von ferne einen munteren, rhythmischen Pfiff, so energisch, so lustig, so voller Leben.

Es war eine charaktervolle Art zu pfeifen und immer gleichbleibend, nie mit einem Tone von der gewohnten Art abweichend. Mit diesem Pfiffe kündigte sich Budang an, der treue Kamerad.

Vorsichtig und freundlich steckte Budang, wenn das Signal gegeben war, den blonden Ruschelkopf zur Thüre hinein, um sich erst zu überzeugen, ob das Feld auch rein sei, das heißt, ob der Herr Rat auch wirklich nicht mehr an seinem Arbeitstische sitze.

„Nun komm nur,“ rief ihm dann die Mutter entgegen, und die Mädchen standen schon bereit, ihn zu empfangen. Darauf machte Budang, ehe er noch eintrat, ein Zeichen nach der Treppe zu, und zwei seiner Kameraden, die auf einer der oberen Stufen auf seinen Wink lauerten, traten mit ihm ein.

Der eine war Franz Horny, ein bildschöner Junge von siebzehn Jahren. Er wohnte an der Ecke der Wünschengasse und war von jeher ein guter Freund der Ratsmädel gewesen, bei denen er auch in Achtung stand. Sie hielten beide viel von seiner Fertigkeit im Zeichnen, hatten darin auch nicht unrecht und bewiesen Geschmack; denn Franz Horny bildete sich in der Folge zu einem guten Künstler aus, der in Amalfi in bester Jugend starb. Sein Bild hängt sonderbarerweise dort in einer Kapelle und wird als Heiligtum verehrt. Es mag aus Zufall dahin gekommen sein oder durch irgend ein wunderliches Geschick.

Man erzählt sich, daß der schöne, liebenswürdige Künstler in dem Orte, in dem er gestorben, eine abgöttische Verehrung von der Bevölkerung erfahren habe. Er soll ein merkwürdiger und einnehmender Mensch gewesen sein, dessen Schönheit und Talent auffallend waren. Dies habe ich von Friedrich Preller, dem Maler der Odyssee und dem Jugendfreunde Hornys. Zu der Zeit, als er mit seinen Kameraden die Winterabende bei den Ratsmädchen sich vergnügte, war er ein träumerischer, sanfter Junge, der von allen gern gesehen wurde.

Der zweite Gefährte, den Budang mitbrachte, war Schillers jüngster Sohn Ernst, frisch im Aussehen und Wesen, der seine freie Zeit gar zu gern in Rats behaglichem Familienzimmer verbrachte. Das erste, nachdem die Begrüßung vorüber, war, daß Budang sich zu seinen Gefährten wendete, die sogleich mit den Mädchen in ein lustiges Plaudern kommen wollten, und sagte: „Erst müssen sie zeigen, daß sie mit ihren Arbeiten fertig geworden sind.“

Budang war seiner, von Jungfer Concordia erhaltenen Aufgabe, die Mädchen zu überwachen, treu geblieben. Röse und Marie mußten ihm ihre Arbeiten bringen. Sie thaten es auch, wie etwas, was sich von selbst versteht, mit allem Ernste.

Nun setzte er sich, nahm die Hefte vor, und war etwas nach seiner Meinung gar zu unmöglich geraten, so mußten sich die beiden Faulpelze daran machen und unter seiner und Ernst von Schillers Leitung die Sache noch einmal schreiben.

Unangenehm war es für alle Teile, wenn sie ihr Pensum, wie die Arbeiten der Ratsmädel gelehrt benannt wurden, schlecht gelernt hatten. Da gab es ein äußerst langweiliges Überhören ohne Ende, ehe man an die beliebte Abendunterhaltung kam, und die Mädchen wurden von Budang hart angelassen. In einer Ecke mühte sich Ernst von Schiller, abwechselnd mit Budang, an Röse ab, die das Auswendiglernen so schwer zu stande brachte, daß es ein Skandal war, wie Röses Freunde sich über diesen Mangel ausdrückten.

Für Marie, deren Gedächtnis vorteilhafter ausgestattet sein mochte, genügte einfache Hilfe. Sie war ein für allemal Franz Horny zugewiesen, der sich seinem Amte mit Geduld und Bewunderung für das schöne Geschöpf unterzog.

Die Ratsmädel glichen zwei Knospen von lebensvollster Frische und Kraft. An ihnen mochte nichts Angekränkeltes sein, nichts, was nicht ebenmäßig sich entfaltet hatte, und nichts, was nicht auf eine noch viel lieblichere Vollendung hindeutete. Sie schienen mehr, als man gewöhnlich unter jugendfrisch versteht. Sie waren urwüchsig, eigenartig und harmlos, wie es junge, von Menschen unbehelligte Tiere sind.

Und unbehelligt waren sie, von aller Welt gern gesehen, die Freude der Wünschengasse; wer blickte ihnen nicht nach, wenn sie mit ihren langen, schweren Zöpfen, die noch vor kurzem so manchem Gassenbuben um die Ohren gesaust waren, die Straße hinabgingen? Sie bildeten den Stolz der Untergebenen ihres Vaters, „die Ratsmädel“, denen man allen Respekt erzeigen mußte.

Ja, ihr Ruf war bis ins Schloß gedrungen, wie wir wissen. Überall aber fühlten sie sich gleich wohl, gleich sicher, ob auf den Gassen, ob im Schloß, ob unter den würdigen Bekannten ihres Vaters, oder unter ihren guten Freunden und steckten bis über den Kopf in Wohlbehagen. Die urgesunden Geschöpfe! Wer aber hatte auch solche Freunde, wie unsere beiden?

Hatten sie die unumgängliche Überhörungsstunde, den Anfang der schönen Winterabende, hinter sich, und blickten Budangs Augen unter den dicken, blonden Locken nicht mehr so strenge auf Beantwortung seiner Fragen dringend, die den beiden oft sauer genug wurde, dann begannen die behaglichen, unvergeßlichen Stunden. Was aber thaten, was unternahmen sie an solch einem Abend? Sie spielten Lotto. Sie saßen eng aneinander gedrängt, die Mutter, die Brüder, die Mädchen, die Freunde und spielten Lotto um Pfeffernüsse vom Konditor Ortelli, den die Franzosen damals ausgeplündert hatten; aber mit welchem Eifer wurde gespielt, mit welchem Feuer! und wie wurde gelacht! Worüber sie wohl lachten? Über unschuldige Scherze, über eine Anekdote aus dem Leben der drei braven Jungen, über einen Ausspruch Rösens, die groß war in trocknen, vielsagenden Bemerkungen; darüber, daß Budang eine Locke über das Auge gefallen war, und er gerade durch den Ringel blickte. Dergleichen konnte Röse und Marie außer Rand und Band vor Lachen bringen, so daß die Mutter sie manchmal ermahnte, ja, sie aus dem Zimmer steckte, damit sie sich draußen in der Dunkelheit und Kälte einmal erst wieder auf sich selbst besinnen sollten. Sie kamen dann jedesmal in unverminderter Heiterkeit wieder herein und immer mit einer guten Idee, die ihnen wahrscheinlich bei der Abkühlung gekommen war.

Sie schlugen eine Verkleidung vor, einen Tanz. Sie kamen mit der Bitte zurück, die Freunde und Brüder sollten sie im Stuhlschlitten fahren.

Durch solch einen lebensvollen Vorschlag entstanden die schönsten Stunden. Er schien so ganz aus dem Herzen zu kommen, aus dem innersten Verlangen heraus, und wie er von Herzen kam, so ging er zu Herzen, so wurde er ausgeführt, so wurde er auch von der Mutter gestattet, die eine liebevolle Frau war und wohl wissen mochte, wie göttlich, wie unwiederbringlich, wie leichthinschwindend die Jugend ist.

So haben die Ratsmädel herrliche Winterfahrten gemacht, bei Sonnenuntergang, bei Mondschein; jede in einem Stuhlschlitten, Bruder und Freunde hinter sich, die sie in Windeseile durch die Straßen der Stadt fuhren. So zog das leichte, lustige, vergängliche Gesindel auch an dem Hause vorüber, in dem der lebte, der für die Ewigkeit schuf.

Sie fuhren über die hellen Lichtscheine, die aus den Fenstern Goethes auf den Schnee fielen, und dachten sich nichts dabei, wußten wohl kaum, daß sie vorübergefahren.

Was kümmerten sich unsere Ratsmädchen um „die großen Leute“ in Weimar. Mochten die thun und schreiben, was sie wollten, die Ratsmädchen hätten nie und nimmer mit ihnen tauschen mögen! So im Schlitten sitzen, von lieben Freunden geschoben zu werden, daß es ist, als sprühten Funken, und hinaus in den Mondenschein, unter bereiften Bäumen, auf glatter Schneebahn hinzufliegen, das ist Seligkeit, das ist Glück!

Und welche Streiche spielten sie, über die man jetzt Ach und Weh schreien würde, steckten Budang in Mädchenkleider und gingen mit ihm spazieren. Weshalb sie das thaten? Gott weiß es! Sie wußten es jedenfalls selbst nicht, thaten es grundlos, vergnügten sich herrlich, hatten alle dreie das Bewußtsein eines wunderbaren Geheimnisses, wollten sich über jeden, der ihnen begegnete, totlachen, brachten harmlose Spaziergänger durch ihr Gelächter in Verlegenheit, kauften sich bei Ortelli Kuchen, den sie, nachdem Budang zu Hause sich wieder ausgeschält hatte bei einem Täßchen Kaffee, das ihnen warm gestellt worden, verzehrten, im süßen Bewußtsein, eine Heldenthat ausgeführt zu haben.

In einem alten weimarischen Hause hatten sie zu jeder Zeit Zutritt, konnten dahin mitbringen, wen sie mitbringen wollten, und blieben immer willkommen, das war die Apotheke am Markte.

Der Apotheker stand mit Rats in Verwandtschaft. Er war ein gelehrter Herr, mit dem Titel Professor, und zu der weimarischen Apotheke durch seine Heirat gekommen; die Frau war Witwe des früheren Apothekers und hatte ihrem zweiten Manne das blühende Geschäft zugebracht.

Zu diesen Leuten gingen die Mädchen mit Vorliebe. Die Vettern und Basen im Hause paßten zu ihnen, und sie konnten immer sicher sein, dort eine wohlgemute Gesellschaft zu treffen. Die Frau Professor hatte die Genugthuung, wegen ihrer Kochkunst in der ganzen Bekanntschaft berühmt zu sein; so gab es auch für die beiden Schleckermäuler, die zu Gaste kamen, immer etwas Gutes zu schnabulieren, was ihnen zu jeder Zeit gelegen war; denn bei Rats ging es nicht hoch her.

Und was war diese Apotheke für ein sonderbares Haus! Ein alter, reichverzierter Erker schmückte es, den ein steinernes, verzwicktes Weiblein auf seinem Nacken zu tragen schien. Das alte Weib war unsern beiden von jeher rätselhaft und unheimlich erschienen. Ein langgestrecktes Gewölbe diente zum Apothekerladen. Dies Gewölbe war außerordentlich finster. Nur soweit die niedere Glasthür und das einzige Fenster Licht einließen, machte es einen behaglichen, wohlthuenden Eindruck; nur so weit schienen die verschiedentlichen Düfte, die aus ungezählten Büchsen und Büchschen, aus unendlichen Schiebkästen aufstiegen, angenehm und zuträglich zu sein. Die Mädchen hielten es für ausnehmend gesund, in der Apotheke tief Atem zu holen; und wenn einem der Apothekerkinder etwas fehlte, setzte es sich hinunter zu den Gehilfen und atmete fleißig.

Auch Röse und Marie hatten schon öfters solch eine Kur sich vorgeschrieben; aber sie hielten sich nur da auf, soweit das Tageslicht, unverfälscht durch Dämmerung, die sich weiter nach hinten in dem Raume ausbreitete, eindrang.

Das Gewölbe war an seinem letzten Ende fast dunkel. Bei dem Scheine eines Lämpchens hantierte dort ein widerwärtiger Gehilfe, vor dem Röse und Marie ebenso wie ihre Vettern und Basen eine außerordentliche Scheu hegten.

Aus seiner finstern Ecke drangen scharfe Gerüche, die durchaus nicht heilkräftig sein mochten. Der Gehilfe rieb, stieß im Mörser und rührte in mächtigen, weißen Schalen, die aus der Dämmerung gespenstisch herausleuchteten. Um diesen ältlichen Gesellen, der einen gar sonderbaren Blick hatte, spannen sich allerlei Sagen und Gerüchte. Man erzählte sich, daß dieser unheimliche Bursche in seinem kleinen, wackeligen Schreibpult, das im Gewölbe stand, ein Buch bewahre, in dem er den Sterbetag so manchen guten Weimaraners vierzehn Tage, bevor derselbe einträte, sich notiere, wie man sich seine Hemden auf den Wäschezettel aufschreibt.

Dies Verfahren des Gesellen hatte ihn mit einem furchterregenden Nimbus umgeben.

Unter den weimarischen Leuten würde sich ein jeder geweigert haben, das Medizinfläschchen oder Pulver, das er abzuholen kam, aus der Hand des fatalen Gehilfen in Empfang zu nehmen, denn man sagte, daß er es, ehe man hinter seine Schliche gekommen sei, mit einem unheilbringenden Lächeln überreicht habe. Was an dem Treiben des Gehilfen wahr sein mochte, hat wohl schwerlich jemand erfahren; denn ich weiß nicht, ob das Buch der dem Tode geweihten Weimaraner, das in der Apotheke geführt wurde, je zum Vorschein gekommen ist.

Der Gehilfe hatte jedenfalls ein einsames, unbehelligtes Leben. Wohl möglich, daß dies seiner Natur zusagte; es giebt ja sonderbare Käuze genug auf Erden.

Er hatte unbedingt etwas Hämisches, Spöttisches in seinem Wesen, machte den kleineren Apothekerskindern Grimassen, wenn er an ihnen vorüberging, und versteckte der ganzen jungen Gesellschaft den Syrup, nach dem sie allerseits großes Verlangen trugen, in die Giftkammer. Das verhinderte die Apothekerskinder durchaus nicht, mit Gästen und ohne Gäste auch dort ihren Syrup aufzuspüren und sich eine Güte daran zu thun. Sie wurden bei ihrem Treiben in der verhängnisvollen Kammer von dem Gehilfen im stillen beobachtet, und die unartige Bande bemerkte das gar wohl, und jedes dachte bei sich: „Da kann er lange warten, bis wir uns einmal vergreifen, der Esel.“ Sie kannten ihren Syrupstopf, Syrupus simplex !

Bei all und jeder Gelegenheit ging es im Apothekerhause festlich zu. War das Geschäft besonders gut und einträglich, das heißt, war das gute Weimar eine hübsche Zeit lang von irgend einer Krankheit gründlich heimgesucht, so lebten sie bei Apothekers besonders reichlich. Dann saß die Familie mit Kind und Kegel vergnügt und hilfreich bei einander, wenn zur Zeit irgend einer Epidemie mehr Hände im Geschäft gebraucht wurden, als gewöhnlich, um Papier zu Pulverpäckchen und zu den roten Flaschenkäppchen zuzuschneiden und allerlei nach Bedarf zu mörsern und zu reiben. Sie thaten das mit ganz besonderem Behagen, und schwerlich konnte man den braven Leuten nachsagen, sie hätten die guten Bissen mit dem Bewußtsein zu sich genommen, daß sie ihre vorzügliche Nahrung aus dem Verderben ihrer Mitbrüder zögen, wie die Bienen Honig aus den Giftblumen. Sie dachten so wenig über den Grund ihres Wohlstandes nach, wie es Millionen andere auch nicht thun, die sich durch das Elend und den Tod ihrer Mitgeschöpfe nähren. Wohin sollte unsere Ehrbarkeit, Würde und Vortrefflichkeit geraten, wenn wir darüber simulieren wollten! Gott behüte uns davor!

Apothekers verstanden es, festlich zu leben, und wohl den Kindern und Vettern und Basen, denen das Schicksal solch ein Haus zugänglich gemacht hat! Die können einer munteren Jugend gewiß sein.

Eines Nachmittags in der allerschönsten Zeit, in der das Pfund Kirschen zwei Pfennige kostete, war bei den guten Leuten die ganze Gesellschaft versammelt, Röse und Marie mit ihren drei Freunden Budang, Horny und Schiller, ferner die Wirte mit allen Kindern, der alte Kupferstecher Müller mit drei erwachsenen Sprößlingen, Müllersch Lotte, Müllersch Ernst und Müllersch Heinrich.

Die einstige Gouvernante des Prinzen Konstantin, eines Sohnes Karl Augusts, war auch zugegen. Die hielt mit der Apothekerin, die früher bei Prinzeß Karoline Kammerfrau gewesen, gute Freundschaft und war eine muntere, alte Person, die es sich nicht zweimal sagen ließ, wenn es irgendwo eine Feierlichkeit gab, bei der man sie gebrauchen konnte. Die Dame war ein Fräulein von Knebel.

Sie war bei Hofe und in der ganzen Stadt durch eine artige Geschichte, die man allenthalben von ihr erzählte, zu einer gewissen Berühmtheit gelangt.

Eine drollige Geschichte stirbt so leicht nicht aus, und Fräulein von Knebel hatte sich mit guter Manier darin gefunden, die Heldin einer Anekdote zu sein, die man nicht müde wurde, immer wieder bei guter Gelegenheit anzubringen.

Ihr Zögling, Prinz Konstantin, war einst in eine solenne Hofgesellschaft aus irgend einer knabenhaften Laune mit einem Purzelbaum zur Thür hereingekommen und hatte allgemeines Entsetzen erregt. Seine Erzieherin, die ihm folgte, war von dem etikettelosen Benehmen ihres Zöglings bis ins Innerste erstarrt, und die Herzogin Luise, die Mutter des kleinen Übelthäters, ging mit einem äußerst ungnädigen Blick auf Fräulein von Knebel zu, richtete ein paar das Benehmen des Prinzen rügende Worte an sie und erhielt von ihr mit pathetischer, unschuldsreiner Stimme zur Antwort: „Hoheit, von mir hat er das nicht gelernt!“

Man denke sich!

Und wer die tiefempfundene Antwort gehört hatte, dachte sich jedenfalls das ehrbare, würdige Fräulein als Vorbild des unartigen Prinzen, daher eine unbezwingliche Heiterkeit und die Langlebigkeit der kleinen Geschichte. So ist Fräulein von Knebel bei jung und alt, hoch und niedrig bekannt geworden. Sie war überall gern gesehen, konnte einen Spaß vertragen und ging selbst nicht allzu zart und respektvoll mit ihrer eigenen Persönlichkeit um.

An diesem Nachmittage war die Gesellschaft bei Apothekers eigentümlich beschäftigt. Auf dem großen Tisch stand ein Korb mit kleinen, losen Heften, die von den Anwesenden geklebt oder genäht wurden. Die weiblichen Hände befestigten die losen Blätter mit ein paar Stichen ineinander und die männlichen klebten schmale rote, blaue oder grüne Papierstreifen um den Rücken der kleinen Broschüren.

Was aber enthielten diese Bogen, daß man sie in so heiterer Vereinigung bei Wein und Kirschkuchen vergnüglichst miteinander heftete?

Sie enthielten nichts Geringeres, als ein getreues Konterfei in Kupferstich von zwei berüchtigten Spießgesellen, Niklas Sommer und William Becher, nebst deren kurz und bündig gefaßter Lebensbeschreibung, zu Nutz und Frommen für alle, die dieses Heftchen kaufen und lesen würden. Der alte Müller hatte die Porträts selbst in Kupfer gestochen, die Lebensbilder selbst verfaßt, Papier- und Druckkosten selbst getragen, und morgen sollten sie auf dem Markte, während über die genannten Delinquenten der Stab auf einem Gerüst, das jetzt schon stand, gebrochen wurde, zum Verkauf ausgeboten werden.

Der Kupferstecher war mit seiner Arbeit mit knapper Not halbwegs bis zum bestimmten Termin fertig geworden und hatte noch, um das Werk zu vollenden, die Hilfe seiner Nachbarn, der Apothekersleute und deren Freunde und Verwandte in Anspruch nehmen müssen.

So saß die Gesellschaft und heftete unter Lachen und in allerbester Stimmung schmausend die Lebensbeschreibung der beiden armen Tröpfe, die ihrem letzten Stündlein entgegensahen. Damals war die gute Zeit, in der man sich über gar viele Dinge weit weniger Skrupel machte, als in der unsern; das, was in aller Ordnung vor sich ging, wurde harmlos und unkritisch entgegengenommen. Man glaubte z. B. in der Wünschengasse allgemein, daß aus den Brotkrumen, die in den Honigtopf fielen, Ameisen entständen, und hütete sich deshalb natürlich, Brotkrumen hineinfallen zu lassen. Man glaubte tausend solche Dinge und befand sich wohl dabei.

Die beiden schlimmen Kerle waren von dem hochlöblichen Gericht verurteilt und mußten wohl oder übel den Lohn für ihre Thaten, den Tod, erleiden. Dagegen konnte nichts einzuwenden sein, es war eine abgemachte, durchaus erledigte Sache, die einfach und naturgemäß aussah, so daß hierbei nicht angebracht sein mochte, sich andern Gefühlen hinzugeben, als einem angenehmen Gruseln, das über diesen und jenen bei der munteren Arbeit wohl einmal hinlief. Bedenken über Todesstrafe oder sonstige humane Bestrebungen hatten die Apothekersleute und ihre Gäste wohl schwerlich berührt. Auch der Kontrast, der zwischen den beiden machtlosen Schelmen, die der Tod schon am Wickel hatte, und die ihre kurze Galgenfrist in einem von Gott und der Welt verlassenen Raume, von allem Troste und Verkehr abgesperrt verbrachten, und der lebensfrohen Sicherheit und Behaglichkeit, in der man hier beisammen saß, kam wohl keinem recht zu Sinnen.

Ernst von Schiller blätterte in dem Büchelchen und war mit des Kupferstechers Darstellung von William Bechers Gefangennahme nicht einverstanden. „Das soll ja eine tolle Geschichte gewesen sein, er muß sich verzweifelt gewehrt haben! Sie haben das ein bißchen kurz gehalten, und so etwas gefällt gerade.“

„Ja, das schreibe einer,“ sagte der alte Müller; „der Becher war ein Prachtskerl, das läßt sich nicht so leicht berichten, dazu gehört einer!“ Sie sprachen schon in der Zeitform, die das Vergangene beherrscht, von den noch für eine Weile, wahrscheinlich bis zum Übermaß bewußt Lebenden. Aber was gehen eine so allerliebste, unschuldige Gesellschaft die letzten Stunden, die Todesfurcht und alles menschliche Weh zweier armen, so gut wie schon gerichteten Sünder an!

Man lachte über den Eifer des Fräulein von Knebel, die mit einer wahren Vehemenz heftete und einen ganz erklecklichen Haufen der Diebs- und Mordsgeschichte vor sich aufgestapelt hatte, den sie eifersüchtig bewachte, daß nicht etwa eins oder das andere Heft entwendet wurde, um ihr den Ruhm zu nehmen, die größte Zahl gefertigt zu haben.

Fräulein von Knebel war eine Person, die alles und jedes mit ganzer Kraft betrieb.

Also hier sitzt die Familie mit ihren Gästen in Wohlsein beisammen, und man denkt mit Behagen an die beiden armen Sünder; die stecken miteinander in dem gar festen Stübchen, zu dem keine menschliche Hilfe mehr dringt.

Es liegt hoch oben in dem düstern Hause, das zu Strafe und Zucht der frechen, unklugen, unglücklichen und infamen menschlichen Kreatur, die sich nicht erziehen lassen will, erbaut wurde. Jetzt, in unseren Tagen, ist das Haus in ein ehrenwertes Landesgericht umgewandelt, und statt der Spitzbuben sitzen würdige Männer darin, ehrenwerte Landräte und Landrichter, die frei und fröhlich ein und aus gehen können, die mit Behagen die Sonne, ganz wie die seligen Spitzbuben einst, durch die vergitterten Fenster scheinen fühlen, die leben, atmen, ganz wie diese, nur daß sie durch ihre kluge und würdige Lebenswahl freie, angesehene Leute geblieben sind und bewahrt wurden vor straffälligen, verpönten, unklugen Sünden und Thorheiten, wie sie nur ein Unsinniger, ein Verzweifelnder fertig bringt.

Die beiden Spitzbuben aber, Becher und Sommer, saßen im Hause, als es noch seine Leute hinter Schloß und Riegel hielt; die Wolken zogen darüber hin und zogen auch über den Galgen, der auf zwei baumelnde Gestalten in aller Gemütsruhe wartete. Die beiden Spitzbuben kannten Weimars Umgegend, kannten den Galgen, sahen sich zappeln, sahen sich baumeln. Das Haar stand ihnen zu Berge, die Kniee schlotterten ihnen, die Zunge klebte am Gaumen, das Herz stieß und klopfte. Die Hände waren naß von kaltem Schweiß, und die Apothekergesellschaft dachte ihrer in Behagen bei dem Heften der Bogen, die den Tod, die letzte kommende Qual der armen Burschen schon schilderten; und als unsere Gesellschaft gerade im besten Heften und Kleben sich befand, jeder auch schon bei seinem zweiten und dritten Stück Kirschkuchen angelangt war, bei gutem Appetit, den muntere Arbeit förderte, da öffnete sich die Thüre, die von dem Zimmer aus direkt auf die Treppe führte, und herein trat vorsichtig, den Kopf zuerst durch die Thürspalte steckend, der unheimliche Geselle unten aus der Apotheke.

„Diener, meine Herrschaften,“ sagte er mit seiner knarrigen Stimme und grüßte mit der dürren Hand, die aus einem allzu kurzen Ärmel sonderbar hervorstand. „Ich wollte nur oben vermelden, daß es diesmal mit den Büchern nichts ist. Sie haben den einen begnadigt. ’s bleibt nur bei Sommern.“ Wie aus einem tiefen Traum plötzlich erweckt, starrte die Gesellschaft sprachlos den gefürchteten Todesverkünder an, der heute ausnahmsweise seine Rolle geändert und, wenn man recht gehört hatte, der Verkünder eines erfreulichen Ereignisses geworden war. Aber man mochte wohl nicht recht gehört haben, denn es war nach der Botschaft des Gehilfen ein augenscheinlicher, ungemütlicher Druck bei einigen Gliedern der Gesellschaft zu konstatieren, und zwar gehörten diese Glieder durchweg der Familie des Kupferstechers an. Die erste, die sich sammelte, war Fräulein von Knebel; die fragte den Gehilfen, der noch in der Thür stand: „Nun sag’ Er mal, wie ist das denn gekommen, und gerade Bechern?“

Der Gehilfe zuckte, wie es seine Art war, die Achseln und blickte spöttisch auf die Gäste, ohne etwas zu erwidern.

Nach einer Weile sagte er trocken: „Gesegnete Mahlzeit!“ und wendete der Gesellschaft langsam den Rücken, um aus der Thüre zu gehen.

„Das ist aber schrecklich!“ rief Anne Müller, die jüngste der Kupferstecherkinder, in enttäuschtem Ton, „da wird’s nun nichts.“

„Seht mir das blutdürstige Geschöpf an,“ sagte der Apotheker schmunzelnd. „Na, Anne,“ und er klopfte ihr auf die Schulter, da drangen dicke Thränen in Annas Augen und rannen ihr über die roten, runden Wangen.

„Teufel auch, was hat sie denn?“ fragte der Apotheker und blickte die Glieder der Kupferstecherfamilie der Reihe nach an. „Na, was habt Ihr denn?“ fragte er noch einmal; denn auch die andern Müllerskinder und selbst der behagliche, rundliche Freund Kupferstecher konnte eine gewisse Niedergeschlagenheit nicht verbergen. „Was habt Ihr denn mit Bechern gehabt, daß Euch seine Begnadigung so zu Herzen geht; das ist mir ja etwas ganz Neues, erzählt doch! — Kennt Ihr ihn denn?“

„I, bewahre,“ sagte der Kupferstecher, „das ist den Kindern ihre Sache; Anne, wollen wir’s sagen?“ wendete er sich an seine Tochter, deren Thränen noch immer reichlich flossen; „aber das merke Dir: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Erzähle!“

Anne blickte unter Thränen auf ihre Geschwister, die beide übellaunig und verdrossen dasaßen.

„Der Vater hatte mir’s geschenkt,“ begann Anne schluchzend und blieb im Anfange stecken, denn ihre Thränen machten ihr zu schaffen.

„Na,“ ermunterte sie der Vater. Anne war aber jetzt erst recht ins Weinen gekommen und schenkte der Aufforderung fortzufahren kein Gehör, so daß der Kupferstecher selbst das Wort nahm und sagte: „Man muß immer auf das junge Volk bedacht sein, das will sich bald so vergnügen, bald so. Ein armer Vater hat seine liebe Not! Vor ein Wochner sechse verehre ich meiner Anne zu ihrem Geburtstag die beiden kleinen Zeichnungen,“ der Kupferstecher schlug mit der Hand auf eins der Heftchen, „und sagte Anne, was ich damit vorhab, daß sie in Kupfer gestochen werden sollen u. s. w., und daß der Erlös, den ich damals dem armen Tierchen im voraus verehrte, zu einer Partie nach Schwarzburg bestimmt sei. Nun haben wir’s gehabt,“ sagte er und schlug sich auf die runden Kniee. „Jetzt können wir den ganzen Schwindel einpacken, und die armen Kinder sind um ihr Sommervergnügen gekommen.“

„Das weiß der liebe Himmel,“ rief die Apothekerin mitleidig und bewegt. „Wenn von oben etwas gethan wird, Gott sei’s geklagt, daß es immer am unrechten Platze geschieht!“ Anne heulte unaufhaltsam, und die beiden älteren Geschwister versanken in einen unergründlichen Mißmut.

Der Kupferstecher war aufgestanden und ging im Zimmer auf und nieder, hatte die Hände in der Erregung über dem Bäuchlein gefaltet und schnippte mit den Daumen. Fräulein von Knebel hatte sich ganz der christlichen Pflicht zu trösten hingegeben und karessierte Annen auf alle Weise, indessen die übrige Gesellschaft nachdenklich auf die Hefte blickte, die mit einem Male wert- und bedeutungslos vor ihnen lagen.

Der Kupferstecher blieb nach längerem Aufundniedergehen stehen und sagte mit einer komischen und bittersauren Miene: „Ich bleibe dabei, es hätte dem Kerl nichts geschadet, wenn sie ihn morgen mitsamt dem andern ins Jenseits spediert hätten.“ Er schnippte mit der Hand in der Luft. „Da haben wir uns hineingerannt, allein das Papier vier Reichsthaler, Druckkosten und dergleichen gar nicht gerechnet.“

„Ja, ja, ja,“ sagte der Apotheker und schüttete ein Glas süßen Weins hinunter.

Die Gesellschaft hatte ein stilles und bedrücktes Aussehen angenommen.

Da klang plötzlich die helle, frische Stimme unseres guten Ratsmädels, der Röse. „Ich wüßte schon, wie man es machen könnte,“ sagte sie ruhig.

„Na?“ fragte der Apotheker.

„Streicht doch den Bechern aus und verkauft nur Sommer, das schadet ja nichts, wenn Becher mit daran hängen bleibt.“

„Teufelsmädchen!“ rief der Kupferstecher überrascht. „Das läßt sich hören! Ja, wenn man Kopf und Herz auf dem rechten Flecke hat!“

„Hoch Röse!“ rief der Apotheker und schwang sein Gläschen. Neues Leben fuhr in die Gesellschaft. Blaustifte wurden geholt, es wurde gestrichen, gestrichen, gestrichen, der Begnadete wurde von dem Verurteilten, dem armen, geschieden, wie das ja überall auf Erden der Fall ist.

Die Geschwister blickten wieder munter ihrer Sommerpartie entgegen, die ihnen der Tod des armen Burschen, aller Berechnung nach, einbringen sollte. Nur Anne sagte als Nachklang ihrer Schwermut mit weinerlicher Stimme: „Wenn sie den andern nur nicht auch begnadigen.“

Röse wurde an diesem Abend außerordentlich gefeiert.

„Ein heller Kopf ist etwas wert,“ sang der Apotheker in allerlei schelmischen Melodieen und Variationen ihr zu. Röse war sein ganz besonderer Liebling.

Als am Abend die Gesellschaft nach Hause ging, mußten sie an dem Gerüste vorüber, auf welchem über dem armen Schelme Sommer der Stab am andern Morgen in aller Frühe gebrochen werden sollte.

Als die lustigen Leute in der unheimlichen Nähe standen, da wurden sie alle still und bedenklich.

Röse, die am Arme Budangs ging, sagte, indem sie sich fester an ihn hing: „Morgen wird Sommer doch auch, wie damals der andere, auf einer Kuhhaut nach dem Galgen geschleift?“

„Ja,“ sagte Budang.

„Ach, Budang,“ fuhr Röse nach einer Weile fort, „ich will wirklich immer recht gut sein!“

„Ja, das denke ich,“ sagte Budang lächelnd; „aber Du bist müde,“ fügte er hinzu, „Du hängst Dich ja ganz schwer an meinen Arm. Paß auf, ich will Dir noch etwas sagen.“

„Na,“ fragte Röse.

„Die Schillers-Mädchen und Ernst, Ihr, Horny und ich, wir sind miteinander zu Sperbers aufs Gut eingeladen. Wir wollen es jetzt noch auf dem Weg bereden.“

„So?“ sagte Röse, „das ist vom alten Sperber vernünftig, daß er endlich sich entschlossen hat.“

„Was hast Du denn zu versäumen?“ fragte Budang.

„Ich, daß ich nicht wüßte! Ich kann nur solch ein Zaudern nicht leiden. Vor vier Wochen läßt er es bei uns durch die Butterfrau sagen, und nichts wird dann wieder von ihm gehört.“

„Ernst,“ rief Budang, „wartet einmal.“ Ernst, Marie und Horny gingen vorauf und blieben auf Budangs Ruf stehen.

„Ihr seid wohl auch gerade im Sprechen?“ fragte Röse. „Wie machen wir es denn mit Sperbers?“

„Wir gehen, natürlich gehen wir,“ sagte Ernst von Schiller. „Wir wollten es nur oben bei Apothekers nicht bereden. Es paßt doch nicht, wenn wir halb Weimar dem alten Sperber auf den Hals bringen, und Müllers wären ruhig mitgegangen, die machen alles mit. Nein, wir wollen unter uns bleiben. Die Schwestern sind natürlich bereit und lassen Euch sagen, Ihr sollt Eure rotpunktierten, hellen Kleider mitnehmen. Sie machen es auch so.“

„Nun, und wann gehen wir?“ fragte Röse.

„Heut’ haben wir Freitag,“ erwiderte Marie, „da dächte ich, wir setzten Montag fest, da kommen wir um die Kirche, denn Sperber würde uns auf alle Fälle hineinstecken, der hält’s nun einmal mit seinem Pfarrer.“

„Und wir müssen so schon bei Pastors schlafen,“ fuhr Röse dazwischen. „Wir wissen es, wie es dort ist, nicht, Du?“ sagte sie lachend zu Marie.

„Ja, schade, daß Ihr nicht bei Sperbers unterkommen könnt,“ meinte Budang.

So waren sie bis vor Röses und Maries Haus gekommen. Großer Abschied, und die Mädchen tappten miteinander die dunklen Treppen hinauf.

Am andern Morgen sah die Mutter mit ihnen die rotpunktierten Kleider durch; beide bestürmten sie auf das innigste, liebenswürdigste und überzeugendste, sie wollten ein neues Band auf ihre großen Hüte, und sie bekamen es und waren glücklich.

Mittlerweile war der unglückliche Sommer auf seiner Kuhhaut dem Tode zugeschleift worden, und der Galgen trug seine Zierde zum letztenmal, denn Sommer war Weimars letzter Gehenkter.

Am Montag, himmelfrüh, brach von der Wünschengasse die Gesellschaft auf, unsere fünf guten Freunde, die beiden Schillerschen Töchter und ein kleines, mageres Pferdchen, das mit Ernst von Schiller in Beziehung stand, da es von ihm schon zu manchem Spazierritt gemietet worden war, wenn er einmal Lust bekam, auf Pferdesrücken sich dem Leben und seinen Gefühlen hinzugeben.

Jetzt war es mit Shawls, mit Päckchen und Körben beladen. Die rotpunktierten Kleider von den Ratsmädchen und den Schillerschen waren sorgsam dem guten Tiere anvertraut worden, und Ernst bekam von den Schwestern und von Röse und Marie wahrhaft begeisterte Erklärungen, die seine Klugheit, seinen ausgezeichneten Verstand betrafen.

Er hatte nämlich die Gesellschaft mit der Idee und deren Ausführung, das Pferdchen zu engagieren, überrascht. So zogen sie durch die morgenstille Stadt, dem langgestreckten Ettersberge zu, nach dem Gute des alten Sperber.

Welch schöne Verbindung von erster Jugend, herrlicher Morgenfrische, Aussicht auf ein paar gute Tage, allseitigem Wohlgefallen aneinander und Sorglosigkeit gab unsere Gesellschaft ab!

Sie hatten einen tüchtigen Marsch bis zum Gute des Herrn Sperber vor sich, und ein gutes Stück mußten sie über Felder, über schattenlose Wege gehen; aber ein frischer Wind wehte den ganzen Tag. Das Korn stand in Blüte und duftete, und die Sonne ließ die Wangen höher glühen; sie ließ die Züge der schönen Mädchen noch weicher, lebensvoller als sonst erscheinen.

Budang, ein großer Botaniker, war bemüht, die Gesellschaft auf allerlei Merkwürdigkeiten aufmerksam zu machen, und es dauerte nicht lange, so hatte das Pferdchen eine kleine Naturaliensammlung auf dem Rücken, und die Mädchen rote Mohnkränze auf den Köpfen.

Die Wege auf dem Ettersberg gaben dem Sammler reiche Ausbeute an allerlei Versteinerungen, und die Mädchen wußten es schon, es gab für alle zu schleppen, wenn sie mit Budang dort lustwandelten.

Gegen Abend erst gelangten sie zu ihrem Ziele, denn der Weg war durch allerliebste Aufenthalte, kleine Mahlzeiten, so viel als möglich verlängert worden.

Vor dem Gutsthore kam ihnen eine wohlbekannte Gestalt entgegen. Das war die Gutsbesitzerin selbst, die lustige, kleine Alte mit der großen, rosa Schürze, dem Schlüsselbunde, den nickenden Bändern an der Haube. Ein Windzug bewegte ihr die weite Schürze und ließ sie, bestrahlt von der Abendsonne, flattern und in unerhört Rosa-Farben-Tönen leuchten.

Die wartende Gestalt mochte auf die ankommenden Gäste einen verheißungsvollen Eindruck machen; denn mit Jubel und Winken und heiteren Lauten, mit noch durch die Entfernung unverständlichen Zurufen näherte man sich ihr.

Und ebenso schien sie erfreut zu sein, als die mit rotem Mohn bekränzten Mädchen, das Pferdchen, die drei Kameraden herankamen, denn sie schlug einmal über das andere Mal die Hände zusammen, man sah sie schon von weitem lachen, und als die Gäste so nahe waren, daß man wagen konnte, die Begrüßungsformeln etwas detaillierter und augenscheinlicher machen zu können, schwenkte die kleine, runde Frau ihr Schlüsselbund in der Luft und ließ es klingen und that dies mit außerordentlicher Geschicklichkeit, bog sich dabei mit dem Oberkörper hin und her, im Takte, je nachdem sie mit dem Schlüsselbunde, das sie wie eine Castagnette handhabte, klirrte und klapperte.

Die Gäste kamen schließlich laufend auf ihre Wirtin zu, und auch das Pferdchen wurde dazu veranlaßt, einen gelinden Trapp anzuschlagen. Nun allerausführlichste Begrüßung, Umarmung, jedes bekam seinen festen Kuß von der Frau Gutsbesitzerin.

„Nun, mein Alter wird Augen machen, wenn er Euch in den Kränzen sieht,“ sagte sie und betrachtete die Mädchen. „Seht nur einer, Klatschrosen! Ja, die Jugend! Die liebe Jugend! Die verdammten Klatschrosen! Und hier machen sie sich, ja, alles hat seinen Zweck auf Erden!“

Sie klopfte Röse auf die Wangen. „Aber habt Ihr denn gesehn,“ sie wies auf Rösens Kranz, „was das Zeugs dies Jahr gediehen ist? Da stecken ja die Felder voll zum Erbarmen. Na, der Alte wird Augen machen,“ schloß sie wieder. „Wo habt Ihr denn den Klepper her?“ begann sie aufs neue und klopfte dem Pferdchen auf die Schenkel, „der soll sich wundern, wie es ihm diese Tage gehen wird. Du alter Häckselsack,“ und wieder bekam das magere Viehchen einen freundlichen Klapps von seiner Wirtin, der gleichbedeutend war mit einer Anweisung auf ein paar tüchtige Metzen Hafer. Jetzt traten sie in den Gutshof ein.

Das war ein Gutshof! Jeder Mensch, dem Gott wohl will, sollte in schönen Jugendtagen einmal auf solch einem Gutshof ein paar Tage, ein paar Wochen gewesen sein, damit er wenigstens weiß, was Behagen, was Fülle, was Sauberkeit, Nützlichkeit, was gesunder, kräftiger Geruch, was schönes Vieh in gut gepflegten Ställen, was Wohlhabenheit und Stattlichkeit ist; damit er erst begreifen lernt, welche Harmonie zwischen dem schön geschichteten Misthaufen und der hohen, breiten Linde auf solch einem Hofe besteht, wie sie beide miteinander ein Ganzes bilden, einen einzigen Eindruck.

„Da kommt er ja, mein Alter,“ rief die muntere Herrin des schönen Hauses, und richtig, aus dem Laubengang, der um das Wohnhaus führte, trat der alte Sperber, der wunderlich gut zu seinem Frauchen paßte.

Auch er war eine kurze, rundliche Gestalt, wie es schien, behende, denn auch er bewillkommnete die Gäste schon von weitem mit den lebhaftesten Bewegungen, und wie die Frau das Schlüsselbund, so schwenkte er die große Tabakspfeife. Sein Gesicht hatte eine stark rötliche Färbung und leuchtete vor Behagen.

„Da kommt ja die Gesellschaft!“ rief der alte Sperber, als er schon unter der Bande stand. „Ihr habt’s gut gemacht, daß Ihr Euch Zeit genommen, unser Jochen Henner hat Euch ja vor so ein sieben Stündchen in Lützendorf getroffen, danach erwarteten wir Euch um eins, zwei herum.“

Der behagliche Alte zog seine dicke Uhr und hielt sie Budang unter die Nase. „Und was zeigt’s jetzt? Jetzt geht’s stark auf achte. Ihr mußtet dem Klepper wohl oft zureden, he? oder was habt Ihr denn eigentlich gemacht? Das ist ein miserables Vieh, wie kommt Ihr denn dazu?“

„Das ist Ernst sein Reitpferd,“ sagte Röse einigermaßen pikiert. Sie fand, daß das Pferdchen gar so übel nicht war, und daß sich Ernst oft sehr stattlich, wenn man nur den rechten Standpunkt hatte, darauf ausnahm.

„I, der Tausend, wohnt bei Euch in der Stadt ein närrisches Volk, wenn man das ein Reitpferd nennt! Meinetwegen!“

Er rief einen Knecht herbei und befahl ihm, „das Reitpferd“ in den Stall zu führen und abzuladen, und ging mit seinen frischen Gästen dem Hause zu.

„Schade, das ganze Gesindel kann nicht bei uns unterkommen, wir haben Euch beide, da — Euch beide“ — er wies auf Röse und Marie. „Ihr müßt eben zum Pfarrer, weil Ihr die Frau kennt; schlimm genug für Euch.“ Das murmelte er in den Bart und paffte blaue Wölkchen aus seinem Pfeifenkopf. „Sapperlotsches Volk, die Pastors,“ brummte er. „Aber jetzt wollen wir erst bei einander sitzen. Übrigens seid Ihr nur für die Nacht dort untergebracht. Am Tage werde ich mich hüten, Euch drüben zu lassen in dem Gewirre. — Teufel auch, es ist kein Spaß, dort unterkriechen zu müssen.“

„Uns macht es nichts aus, und wenn sie dort noch mehr hätten,“ versicherten die Mädchen. Es handelte sich hier um den großen Kindersegen des Pfarrhauses, das durch diesen Umstand für den Gutsbesitzer Sperber, der über alles seine Behaglichkeit und Ruhe liebte, etwas Unheimliches hatte.

Er verehrte den würdigen Pfarrherrn. Er war ihm ein angenehmer Begleiter, um mit ihm über Land zu gehen.

Sie spielten Tarok miteinander; doch bei allem, was er mit dem Pfarrer vornahm, mußte dieser durchaus von den Seinen isoliert sein. Ja, der alte Sperber vermied es sorgfältig — nur in den dringendsten Fällen machte er eine Ausnahme — sich nach des Pfarrers Frau und Kindern zu erkundigen. Er bestritt auch auf das heftigste und wiederholt gegen seine eigene Frau, daß er wisse, ob der Pfarrer zehn, dreizehn oder siebzehn Kinder habe, trotzdem er von der kleinen Gutsbesitzerin mit der Anzahl dieser armen Kinder auf das nachdrücklichste und eindringlichste, so oft er fragte, bekannt gemacht worden war. Er wollte es nicht wissen und damit basta!

Der Pfarrer hatte nach dem Tode seiner ersten Frau zur Lebensgefährtin eine Elementarlehrerin gewählt, die auch unsere Ratsmädel einmal unter der Fuchtel gehabt und die sich jetzt zur Beherbergung ihrer beiden früheren Zöglinge erboten hatte.

Als der Pfarrer dem Gutsbesitzer vor einigen Jahren seine in Aussicht stehende Verbindung mit dieser würdigen Person anzeigte, mit besonderer Hervorhebung eben dieser Eigenschaft, „der Würde“, sah der Gutsbesitzer ihn gleichgültig an, sagte: „ Bon “, pfiff ein Stückchen, um vielleicht anzudeuten, daß der gegenwärtige Augenblick ihm von außerordentlicher Gleichgültigkeit sei.

Das Gutsbesitzerpaar hatte den einzigen Sohn in der Kriegszeit verloren.

Er war fürs Vaterland gefallen, und die beiden Alten hatten den Verlust tapfer getragen. Das schöne Gut war ohne Erben; aber sie zeigten sich beide gelassen darüber, hatten ihre Einrichtungen getroffen, Stiftungen bedacht und trugen ihren Kummer nicht zur Schau, hatten sich wohl auch damit auf eine gottergebene Weise abgefunden und lebten in Wohlgefallen aneinander ganz behaglich.

Das Abendessen, das die junge Gesellschaft bei ihren Wirten erwartete, zeugte von ländlichem Überfluß an den Dingen, womit die Leute unten in Weimar sparsam umgehen mußten.

Röse und Marie hatten seit jeher den Eindruck von dem Gute des alten Sperber gehabt, als wäre in Wahrheit hier das Land, in dem Milch und Honig fließt.

Bis in die Baumblüte hinein erhielt die Frau Gutsbesitzerin die besten Äpfelsorten noch so frisch und schmackhaft wie um Weihnachten und konnte ihren Gästen immer Überraschendes, Ausgesuchtes vorsetzen. Die alte Sperber hatte ihre ganz besonderen Geheimnisse, hinter die sie niemanden so leicht kommen ließ. Sie buck berühmte Kuchen, und in welchen scheinbar unvertilgbaren Massen! Rats hatten so manche Kiste, vollgepackt mit verlockenden Dingen, zu allerlei Festen und zur Kirmeß von der Frau Pate, wie die Gutsbesitzerin in der Wünschengasse benannt wurde, geschickt bekommen.

Und das Bild der Frau Pate stand Marie und Röse vor der Seele, stets umgeben von den verlockendsten Produkten ländlicher Koch- und Gartenbaukunst.

Während des Abendessens war man äußerst heiter, der Abendglanz des sonnigen Tages, den die junge Gesellschaft in aller Muße im Freien zugebracht hatte, in sorglosem Behagen, lag noch über den Gesichtern ausgebreitet, und die Stimmung aller schien wie von klarer Sommersonne durchdrungen.

Nachdem sie allen Herrlichkeiten gründlich zugesprochen, spielten sie in der großen Laube vor dem Hause Pfänderspiele; zwei junge Leute, die auf dem Sperberschen Gute ihre Lehrjahre durchmachten, fanden sich noch zu den übrigen, und mitten unter der ausgelassenen Jugend vergnügte sich das Gutsbesitzerpaar auf das beste.

Die beiden Ratsmädel befanden sich in einem Taumel von Vergnügen. Der Gutsbesitzer that mit, als gehörte er zu dem jungen Volke und gewann bei den Pfändern auch wohl einen Kuß von den Mädchen.

Röse, der Schelm, war hellsehend genug, ihre Küßchen keineswegs für etwas Gleichgültiges zu halten.

Bei einer Gelegenheit, wo es zweifelhaft erschien, ob der Wirt solch einen artigen Gewinn gemacht hatte oder nicht, und man sich darüber stritt, sagte Röse, um die es sich handelte, zu Budang und Franz Horny: „Das nehmen wir bei dem guten Sperberchen nicht so genau, Ihr seid mir die Rechten, so zu streiten,“ damit sprang Röse auf und fiel dem alten Gutsbesitzer um den Hals und küßte ihn auf das anmutigste. „Du Prachtmädchen, Du,“ sagte der gute Sperber und drückte das liebe Geschöpf gerührt an sich. „Ja, so ein Töchterchen zu haben!“ murmelte er und strich Röse über das dichte blonde Haar. „Ja, meine Alte!“ und er nickte seiner Frau mit feuchten Augen zu.

Als Röse zu Marie und Budang trat, blickte die Schwester sie unzufrieden an. „Siehst Du, Röse,“ sagte sie, „was mußt Du denn den Leuten die Nase lang machen. Ich glaub’s wohl, daß sie sich für ihr Gut ein paar Mädchen wünschen oder auch ein paar Jungen. Nun hast Du den beiden das Herz schwer gemacht.“

„I, gar. Na, Budang,“ sagte Röse mit schon von Thränen unsicherer Stimme, „nun siehst Du einmal, wie Marie sein kann.“

Damit wendete sich Röse ab und huckte sich neben die Gutsbesitzerin auf ein Fußbänkchen, das dort stand, legte ihren Kopf auf die Kniee der kleinen Frau und ließ sich wie eine Katze streicheln und im blonden Haar krauen und knurrte dabei vor Behagen; vielleicht, um damit zu beweisen, daß sie sich trotz des Ärgers außerordentlich wohl befände.

„So macht sie’s,“ sagte Marie zu den drei Kameraden, „da mag zu Hause geschehen, was da will, und wenn sie eine um die Ohren gekriegt hat. Wir kennen das schon.“

Franz Horny fragte: „Dauert’s lange bei ihr?“

„Bewahre,“ teilte Marie ihm mit, „wenn wir irgend etwas Neues jetzt anfangen, da ist alles vorbei; aber hört nur!“

Wie Marie vorausgesagt hatte, so geschah es; als man mitten in einem neuen Spiele sich vergnügte, war unsere Katze glatt und munter wieder dabei. Nicht gar zu spät trennte man sich, denn die Ratsmädchen durften die Pastorsleute nicht aus dem Bette holen. Die Gutsbesitzerin trieb die beiden an, als es Zeit war, zu gehen, lud ihnen ihr Bündelchen auf und entließ sie mit der Weisung, vernünftig zu sein und dort die Wirtschaft nicht noch zu verschlimmern. Als sie durch den Pfarrgarten gingen, kam ihnen ihre frühere Lehrmeisterin entgegen. Sie schien vor dem Hause etwas zu lustwandeln.

„Da kommt Ihr ja,“ rief sie den Mädchen zu. „Ihr müßt aber mit unten schlafen, hat es Euch die Sperbern schon gesagt?“

„Ja,“ erwiderte Marie.

„Nehmt’s, wie es ist,“ fuhr die Pfarrerin trocken fort. —

Sie traten miteinander in den Hausflur ein; da drang aus einer halb offenen Thür, aus der ein matter Lichtschein in die Dunkelheit fiel, ein merkwürdiges Summen, Poltern, Kreischen, Quieken, Schimpfen, Rücken, Zischen und Huschen.

„Da schlafen die Kinder,“ teilte die Pfarrerin mit und öffnete die Thür vollends. Welcher Anblick! In einem durch eine Öllampe, die mitten im Zimmer von der Decke herabhing, dämmerig erleuchteten Raume bewegte es sich auf eine überraschende Weise. Überall schlüpften rosige, weiße Gestalten. Auf den Betten sprang es, auf der Diele schlüpfte es, und bei dem ersten Schritte in dieses Reich zupfte es schon von allen Seiten den Mädchen an den Röcken.

„Daß Euch doch gleich!“ rief die Pfarrerin und schwang in demselben Augenblick einen Stock, den wohl ein guter Geist ihr während ihres Eintrittes in die Hand gespielt haben mußte, denn kurz vordem wußten Marie und Röse, daß sie unbewaffnet gewesen war.

„Wollt Ihr wohl!“ rief sie, „Ihr Pack, geht in die Betten!“

Erheitert durch diese kräftige Anrede wurde dem Befehle der Pfarrerin auf schreiende, kreischende Weise nachgekommen. Sie gingen in die Betten.

Marie und Röse folgten den Bewegungen ihrer früheren Lehrmeisterin, wie diese sich über das eine und andere Bett bog: in jedem lagen zwei bis drei Pastorskinder für die Nacht verpackt. Sie sahen, wie die Herrin dieser Schlafstube Decken energisch feststopfte, bedeutungsvolle Püffe austeilte und auf alle Weise bemerklich zu machen suchte, daß sie Ruhe wünsche.

In unklaren, kurzen Redensarten teilte sie, wie es schien, Befehle aus, wie: „Fort, Du da aus dem Bett, fort da in das Bett! Das Bett bleibt frei!“

„Der haben sie schon übel mitgespielt,“ bemerkte Röse trocken zu Marie gewendet. „Sieh nur, wie verschlumpt sie ist. Du lieber Gott, sie war zwar unsere Lehrerin, aber leid thut sie mir doch!“

Es brauchte nur ein armer Sterblicher nach Rösens Meinung das Unglück gehabt zu haben, Mariens oder ihr Lehrer gewesen zu sein, so schien er ihnen für eine fühlbare Wiedervergeltung des Jammers, den er ihnen verursacht hatte, reif genug.

Aber dieses Maß, das über die arme Pfarrerin ausgeschüttet wurde, erschien selbst Rösen überreichlich.

„Ihr müßt schon hier fürlieb nehmen,“ sagte die Frau außer Atem. „Hier in dem Bett könnt Ihr schlafen.“ Sie wies auf ein breites Bett, das wahrscheinlich drei Pfarrerskinder, die nun enger zu einander gesteckt waren, den Gästen zuliebe hatten räumen müssen.

„Macht’s Euch bequem.“ Diesen kühnen Ausspruch in dieser Umgebung that die Pfarrerin auf eine sonderbare, fast spöttische Weise, als wollte sie sagen: „Mache es sich hier einer bequem!“

„Na, legt Euch nur hin, sie werden es ja gnädig heut Nacht machen … Daß Ihr mir die Mädchen nicht stört!“ rief die Pfarrerin mit Feldherrnstimme. „Hier den Fritze,“ sie zeigte nach einem Bette, „den laßt nur ruhig, der hat den Keuchhusten. Er macht es mit sich allein ab, das ist das beste. Schlafet wohl, ich muß hinauf zu den zwei kleinen Schreihälsen, wenn das nicht wäre, da hätte ich es anders mit Euch eingerichtet.“

Die Pfarrerin ging und ließ die beiden Mädchen mit der heimtückischen Gesellschaft allein. Kinder, die mit blinzelnden Augen warten, bis die Mutter glücklich zur Thür hinaus ist, um dann unter den Decken vorzuschlüpfen und einen Hexensabbath nach ihrer Art zu feiern, sind das heimtückischste, was man sich vorstellen kann.

Noch blieben sie ruhig, und die Mädchen begannen, sich auszuschälen, vorsichtig, lautlos, denn es verlangte sie durchaus nicht danach, das Schauspiel von vorhin, als sie eintraten, wiederholt zu sehen.

Sie saßen miteinander in ihren Röckchen auf dem Bettrand und flochten sich die Zopfenden fester; da regte es sich hinter ihnen, zwei Burschen und ein Schwesterlein huckten da, befühlten die Zöpfe der Gäste, und der kleinste Bube krabbelte vorsichtig mit den Fingerchen über Rösens Hals. —

„Da sind sie,“ sagte Marie seufzend, die sich durchaus nicht gern um ihren Schlaf bringen ließ.

Ja, da waren sie. Jetzt noch schweigsam, vorsichtig, etwas scheu; aber schon wichen diese mildernden Umstände. Das Bübchen, das zaghaft über Rösens Hals hingetippt hatte, schlug jetzt, in erwachendem Sicherheitsgefühl, mit der flachen Hand auf ihr weißes Fellchen los.

Die machte kurzen Prozeß, langte sich den kleinen Schelm vor und zog ihm ein paar Tüchtige über, denn sie fand es für vorteilhaft, sogleich ein Exempel zu statuieren. Statt der erwarteten Wirkung aber trat eine allgemeine Begeisterung über Rösens Handlungsweise ein.

Sie sprangen wie auf ein gegebenes Zeichen aus den Betten und bestrebten sich allesamt und sonders, auf das Lager der armen, müden Dinger zu gelangen. Sie überpurzelten sich, die größeren stießen die kleinen herab, die kleinen kniffen und bissen die größeren in die Beine.

Schon hatten einige der kleinen Gestalten ihre weißen Lümpchen verloren und umkrochen, umpurzelten, über und über rosig, die beiden guten, ratlosen Ratsmädchen.

Es schien bei Pfarrers, wie bei den alten Römern, Sitte zu sein, in der höchsten Regung der Begeisterung, wenn ein Schauspiel zum vollen Beifall aufforderte, ein Kleidungsstück nach dem andern in die Höhe zu werfen, bis die Begeisterung befriedigt, und die Kleider ein Ende erreicht hatten.

Hier war das Ende schnell erreicht. Eines nach dem andern warf sein Hemdchen den Mädchen an die Köpfe und freute sich seiner Nacktheit ganz augenscheinlich.

Der Lärm wuchs, die Lage der Mädchen wurde wahrhaft bedrohlich, denn es zerrte und riß an ihnen von allen Seiten.

Mit einem Male fing Fritzens Husten an. Der unglückliche Schlingel huckte sich an einem Bettpfosten nieder und würgte und keuchte zum Erbarmen. Marie machte sich von dem zudringlichen Schwarm los, wickelte den armen Jungen in ein Kittelchen ein, setzte ihn auf eine Bettdecke, daß er doch etwas Behaglichkeit hatte und ging zurück, Rösen zur Hülfe, die eben einen ungefähr achtjährigen Ruhestörer in der Mache hatte, ihn mit Schlapps und Bengel auf das freigiebigste traktierte. „Schlapps“ schien den Pfarrerskindern ein neues, verheißungsvolles Wort zu sein, denn im Chor wurde es freudig wiederholt. „Ihr seid selbst ein Schlapps!“ rief ein kleiner Dicker, zu den Mädchen gewendet.

„Ja, sie sind Schläppse!“ rief es von allen Seiten. „Das sind Schläppse!“

„Ihr seid ein unerhörtes Volk,“ räsonnierte Röse dazwischen; „das ist ja eine miserable Wirtschaft bei Euch.“

„Ja, Schlapps! Ja, Schläppse!“ schrie es wieder durcheinander, quikend, lachend, sprudelnd.

Jetzt schien der Höhepunkt, der diese Nacht unter den obwaltenden Verhältnissen zu erreichen war, erreicht zu sein. Der arme Fritz hustete, weinte und lamentierte aus vollem Halse, und die von menschlichen Leiden unbehelligten Bälger trieben ihre Ausgelassenheiten und Frechheiten unentwegt weiter, und zum Überfluß entwischten noch zwei, liefen zur Thür hinaus in den monddurchschienenen Garten. Röse ging ganz erschreckt in ihrem Röckchen den beiden Flüchtlingen nach, durch den Mondschein, über den großen Rasen im Garten. Der Tau rann ihr über die bloßen Füße, das Unbehagen, so nachts im Pfarrgarten zu stehen, trieb sie, umzukehren, ohne die Ausreißer mitzubringen, die sie wie Gespensterchen im Mondschein zwischen den Büschen hüpfen und aufschimmern sah. Sie war noch nicht lange wieder eingetreten und hatte kaum auf dem Bette neben Marien Platz genommen, als die Thür aufging und eine mächtige, gespenstische Gestalt in einem dunklen, faltigen Mantel und einer Schirmmütze eintrat. Neben dieser Gestalt tauchten in derselben Thür die beiden Ausreißer auf.

„Marsch, in die Betten,“ sagte das Gespenst in ruhigem, sachgemäßem Tone und auf eine Weise, als wäre es ihm nichts Neues, um diese Stunde hier ein und aus zu gehen. „Allons, allons, wird’s bald, Ihr boshaftes Volk!“

„Du, das ist der Nachtwächter,“ sagte Röse, „da hat er ja sein Horn.“

„Herr Jesses, ja,“ flüsterte Marie und schlüpfte unter die Decke.

Als alles in Frieden lag, wendete sich der Nachtwächter, der vollkommen unterrichtet zu sein schien, an Röse und Marie und sagte: „Die Jungfern sind da in etwas Schönes hineingeraten. Ich dachte mir es gleich, daß es heute Nacht schön hergehen würde und bin darum schon zeitig gekommen. Ich sah vorhin die Jungfer auch im Garten stehen und wußte schon, wie es hier zuging.“

„Kommt er denn jede Nacht herein?“ fragte Röse.

„Ja, ja,“ sagte der Nachtwächter, „sonst ging’s wohl nicht. Ich komme gar oft und schaue nach, Stunde für Stunde; aber nichts für ungut, ich werde mich schon vorsehen, daß die Jungfern jetzt schlafen können.“

So zog der Nachtwächter ab, und die Pfarrerskinder versanken in einen respektvollen Schlaf, den ihnen die würdige Erscheinung der hohen Obrigkeit eingeflößt hatte. Und auch Marie und Röse fanden endlich Ruhe und bemerkten nicht, wie allstündlich, bis die Sonne aufging, der Nachtwächter die Runde durch das große Schlafzimmer machte, die Decken der Pfarrerskinder zurechtrückte, wie er auch vor dem Bette der Ratsmädchen stehen blieb und wohlgefällig auf sie hinblickte. Sie hörten auch nicht, wie er jedesmal, wenn er aus dem Hause trat, in sein Horn tutete und sein Lied absang. Das war Bestimmung des Pfarrerpaares, das dadurch des Nachtwächters Umschau im Schlafzimmer kontrollieren konnte.

Er tutete aber auch an keiner Stelle des Dorfes mit der Befriedigung und dem schönen Bewußtsein der Pflichterfüllung, wie in dem Garten des Pfarrers.

Als der Nachtwächter nach seinem ersten Rundgange auf die Landstraße trat, stand der Mond in vollster Klarheit am Himmel, schimmerte über die Felder und über das Dörfchen, das in sanfter Ruhe im Silberlichte lag, in dem jetzt auch das unruhigste Haus, das dem Frieden des guten Dorfes Abbruch gethan, durch den Nachtwächter beruhigt und eingeschüchtert worden war.

Am frühen Morgen schlüpften die beiden Mädchen in die Kleider als hätten sie gestohlen und machten sich eiligst aus dem Staube, ehe alles im Haus zum Leben erwachte. Sie banden sich die Schuhe in ihrer Hast auf der Dorfstraße zu. Als sie in den Gutshof traten, kam ihnen Budang entgegen. „Na, wie habt Ihr denn geschlafen?“ rief er.

„Da schlaf’ einer,“ bekam er von Röse zur Antwort, „das sind ja miserable Zustände dort!“ Jetzt kam auch der alte Sperber auf sie zu, schlug die Mädels zum Morgengruß auf die runden Schultern:

„Pastors Kinder und Müllers Vieh

Gedeihen selten, — oder nie.“

fügte er belehrend hinzu.

„Das muß wahr sein,“ brummte Röse.

„Wenn das so bekannt ist, daß man sogar einen Vers darauf gemacht hat, da sollten die Pfarrer doch wahrhaftig lieber keine Kinder haben, wenigstens nicht so viele, wie Deiner drüben.“

„Da bin ich ganz Deiner Meinung,“ nickte der Gutsbesitzer nachdenklich.

„Ja, aber mit dem Vers, Röse, wenn Du wüßtest, wie wenig es nützt, ob auf das Ding ein Vers gemacht ist oder nicht. — Da unten, Eure Gesellschaft, frag sie nur, was es der Welt nützt, daß sie solche strafbare Massen zusammenschreiben — in dem verruchten Nest! Sie werden selbst sagen, wenn sie noch einen Tropfen gesunden Verstand übrig behalten haben, daß alles beim Alten bleiben wird. Was schwarz und weiß dasteht, hilft verflucht wenig; nur die Dinge sind die wahren, die aus den Tages- und Nachtstunden, wie aus ihrem Erdreiche selbst herauswachsen. Das andere Zeugs taugt nichts! Es ist gut, daß wir einmal darauf kommen, ich muß sagen, mir ist’s lieb, daß zwischen mir und Eurem verdrehten Weimar der gute, alte Ettersberg liegt. Bei Euch ist mir die Wirtschaft mit der Dichtersbagage nachgerade zu überschwenglich geworden! Das geht ja über unsereins hinweg, als wären wir bis aufs letzte im Preise gesunken! Na, mich hat Weimar lange nicht gesehen; fragt einmal, was dazumal, ehe der Schwindel bei Euch losging, der alte Sperber in Weimar galt, fragt einmal, ob er nicht überall der erste gewesen ist. Ja, das waren damals noch Zeiten! — Du lieber Gott!“ —

Der Gutsbesitzer ging gedankenversunken zwischen den beiden Mädchen.

„Na,“ sagte Röse begütigend, „wie die Zeit für den Herrn Paten bei uns vergangen ist, so vergeht sie auch für die andern.“

„Nur mit dem Unterschiede,“ setzte der Gutsbesitzer hinzu, „den alten Sperber haben sie bei Lebzeiten schon vergessen. Mit denen jetzt werden sie’s anders halten.“

„’s ist auch natürlich, Pate,“ meinte Röse. „Die haben auch ihren redlichen Plack gehabt, bis sie so weit gekommen sind. Wir wollen’s ihnen gönnen, du lieber Himmel, und wenn ich dächte, ich sollte mein lebelang wie unsere Weimarischen arbeiten, um schließlich berühmt zu werden. Proste Mahlzeit, ich würde mich bedanken!“

„Hör’ einmal, Röse,“ unterbrach Budang sie, „laß Horny so etwas hören, der hat so wie so gesagt, daß wir dich das nächste Mal nicht mit ins Theater nehmen, weil Du so unartig und unverschämt sprichst, und dann will ich den Jammer nicht sehen.“

„Wenn Ihr Röse nicht mitnehmt, geh ich auch nicht,“ bekam Budang von Marie zur Antwort, und die Sache war erledigt.

Ein überreichliches Frühstück versammelte die ganze Gesellschaft. Währenddem wurde beraten, was man weiter beginnen wollte, und schon im voraus gab der Tag, da alle Wünsche betreffs der Unternehmungen zusammenfielen, das heiterste und anmutigste Bild. Es war für den Nachmittag ein Gang auf des Paten große Wiesen verabredet, auf denen gerade Heuernte gehalten wurde. Sie zogen nach Tisch aus; die Gutsbesitzerin hatte ihnen einen Korb voll verlockender Gegenstände gepackt, die Ernst Schillers Reitpferd aufgeladen wurden. Das gute Tier mußte seine Motion haben.

Dieser fröhlichen Heufahrt, als sie am Nachmittage zur Ausführung kam, gab Röse einen ganz besonderen, interessanten Beigeschmack.

Auf des Paten Wiese war ein großer Teich, an dessen Ufer die Gesellschaft sich gelagert hatte.

Röse war wie besessen vor Vergnügen über das schöne Wasser, hatte sich platt an das Ufer gelegt und die Arme in den Teich gehängt, und diese hübschen, festen Arme „Fisch“ spielen lassen. — Zu dieser Vorstellung verlangte sie, daß alle zusehen müßten. — „Nun seht doch, seht doch!“ rief sie. „Wie sie in den Grund fahren, die beiden großen Hechte — da wird wohl etwas für ihren Schnabel stecken; — da, und nun sind sie wieder oben und plätschern.“ Und während sie das erklärte, spritzte sie um sich her, daß die hellen Wasserfunken über sie und die Zuschauer hinfuhren. Darauf sprang sie in die Höhe — um sich irgend eine andere Vergnüglichkeit auszudenken. Und nach unendlichem Gaukeln und Tollen platschte Röse von einem Steg, der zum Schöpfen in den Teich hinausgebaut war, wie es kaum anders zu erwarten stand, endlich ins Wasser.

Es wurde, während sie noch darin steckte, von Marie statistisch bewiesen, daß es das siebente Mal in Röses Leben war, daß man sie aus dem Wasser ziehen mußte. Marie litt auch nicht, daß einer der Kameraden sich hineinstürzte, um die Schwester zu retten.

„Wartet nur, ich will es schon sagen, wenn es nötig ist. Es wäre ja schade um die Anzüge.“

„Röse, stehst Du, hast Du denn Grund?“

„Ja,“ prustete Röse, die tüchtig getaucht war, und der das Wasser bis an das Kinn ging.

„Dann tapp vorwärts,“ kommandierte Marie mit aller Kaltblütigkeit. Die beiden hatten Routine und benahmen sich bei solchen Gelegenheiten tadellos.

„Hier ist verdammter Schlick am Boden! Pfui Kuckuck!“ schimpfte Röse.

„Warum bist Du ’rein gefallen!“ gab die Schwester zur Antwort. „Vorwärts!“

Budang und Ernst von Schiller zogen den Fisch schließlich zum Ufer hinauf.

„Nehmt Euch in acht, nehmt einen Stock, daß sie Euch nicht so sehr anfaßt!“ ermahnte Marie bei dieser Prozedur fortwährend. „Ihr habt keine Wäsche weiter mit.“

Da stand nun der arme Schelm, die Röse, in der warmen Sonne lebendig zwar, aber triefend und tropfend. Um die allerliebste Gestalt lag das dünne Kattunkleidchen wie ein Schleier, aus den Zöpfen rannen Wasserbächlein.

Ernst von Schiller war auf seinem geschmähten Reitpferd davon galoppiert, um ihr vom Gute Kleider zu holen.

Franz Horny, der zukünftige Maler blickte wie versunken auf Röse hin und sagte ruhig und träumerisch, wie es seine Art war, zu Budang: „Giebt es etwas Hübscheres, als unsere beiden Mädchen?“ Budang nickte ihm zu.

Inzwischen hatten sie Rösen ein Kämmerchen aus duftendem Heu aufgeschichtet, in dem sie aus ihren nassen Kleidern in trockene kriechen konnte, die durch Ernst von Schillers Bemühen und durch des Pferdchens Anstrengung schnell genug da sein mußten. Und so schnell, wie es sich irgend erwarten ließ, kam er auch angesprengt und schwenkte das punktierte Kleid lustig, wie eine Fahne. Als er Marie alles überreichte, sagte er in der lebendigen Erregung des schnellen Rittes: „Famos ist es, was für Unsinn die Leute sagen, wenn man mit einer unverhofften Nachricht kommt. Die Patin steht in der Thür, und ich rufe: Röse steckt im Wasser bis über die Ohren! Herr Jeß! schreit die Patin: Da ist sie gewiß naß? Damit war sie aber schon in vollem Trab ins Haus hinein und nach den Kleidern.“

Marie reichte der Schwester die Sachen in das Heukämmerchen von oben hinein. Und es dauerte nicht lange, da bohrte sich Röses freudestrahlendes Gesicht durch die duftende Wand.

„Ich bin jetzt schon ganz hübsch trocken!“ versicherte sie der Gesellschaft. „Es dauert gar nicht mehr lange, aber es geht so schwer, ich muß mich auf den Knieen anziehen, sonst gucke ich oben übers Heu heraus!“

„Na, mach nur,“ rief Marie, „und trödle nicht!“

Als Röse nun wieder im Schmucke des punktierten Gewandes, heiter und lustig wie ein Morgenstern, durch ihre Heumauer kroch, stieg die prächtige Laune höher und höher. Sie sprachen dem Äpfelwein der Patin auf das lebhafteste zu, verzehrten, was sich von ihrem Vorrat verzehren ließ, alles, bis auf Gläser und Teller, und verabredeten für den andern Tag abends einen Rettungsball zu Rösens Ehre. Die Volontäre auf dem Gute wollten sie veranlassen, noch einige Freunde und Mädchen aufzufordern, denn die Sache sollte außerordentlich werden.

Und es kam zu diesem Balle. Es kam zu allem Glanze dieses Balles, es kam noch zu den schönsten Stunden.

Die blumengeschmückten, hübschen Kinder tanzten bis in die stille Nacht mit ihren lieben Kameraden, schienen die fremden Gäste nur deshalb gewünscht zu haben, um desto ungestörter mit den Freunden zusammen sein zu können, und es war ihnen eine Erhöhung des Vergnügens, daß sich außer ihnen noch mehr festliche Gestalten im Garten und Haus bewegten. Durch ihre frohen Gäste bekamen sie wohl unbewußt die Bestätigung, daß das Leben wirklich schön, wirklich überreich sei. Was that es den Ratsmädchen, daß sie aus dem lustigen Treiben am späten Abend in das Schlafzimmer der Pfarrerskinder schlüpfen mußten, daß sie dort nachtsüber allerlei Abenteuer durchzumachen hatten, allerlei sonderbares Zeug und viel Geschrei und Gezänk.

Sie hatten sich auch bald in Respekt gesetzt durch tüchtige Püffe, die sie am Morgen von ihrem Bette aus, halb im Schlaf, jedem versetzten, der sich ihnen nähern wollte, und sie blieben unbehelligter.

Tagelang hatten sie schon auf dem Gute die Zeit überdauert, die sie anfangs bleiben wollten, da kam eines Morgens Franz Horny in den Pfarrersgarten gelaufen und pfiff vor dem Fenster des großen Schlafzimmers.

Die Mädchen hörten es und schlüpften eiligst in ihre Kleider und standen bald erwartungsvoll draußen vor der Thür.

„Macht Euch fertig,“ rief Franz Horny, mit der Miene, als käme er, etwas Herrliches zu verkünden. „Macht Euch fertig, wir gehen heut’ alle miteinander hinunter nach Weimar ins Theater. Wir wollen uns schon hineindrängeln, da seid ohne Sorge. Sie geben ein neues Stück von Goethe, den ‚Tasso‘.“

„Wir sind dabei,“ meinte Marie. „Und wer wollte Rösen erst nicht mitnehmen?“

„Laß sein! Die kommt natürlich mit. Flöten-Lobe wird uns schon wieder einlassen!“

„Flöten-Lobe?“ fragte Röse gedankenlos.

„Ja doch,“ antwortete Horny.

Daß es jedermann genau wisse: Etliche Thüren und Pförtlein im Theater wurden besonders geschlossen, und ein junger Musiker hatte die Aufsicht, er hieß Lobe, blies die Flöte, folglich „Flöten-Lobe“.

Diesen verband eine warme Freundschaft mit unseren Helden, und diese Freundschaft vermochte ihn, der Kasse des Theaters ein Schnippchen zu schlagen, so daß die leichtsinnige Gesellschaft auf Schleichwegen ihre Kunstgenüsse umsonst hatte, was bei einem Kunstgenuß von schöner und bedeutungsvoller Wirkung ist.

Wären die Ratsmädel auf bezahlte Theaterplätze angewiesen geblieben, da hätte es windig damit ausgesehen; aber deshalb, weil sie zwei schlimme Schmeichelkatzen waren und mit aller Welt anbanden, und weil sie so viele gute Freunde hatten, saßen sie im Theater, wann sie Lust spürten, hörten die herrlichsten Dinge, sahen vielberühmte Menschen — und gaben nie einen Heller dafür aus.

Heute also wurde ‚Tasso‘ gegeben. Das war unsern beiden recht. Besonders wohl weil sie fürs Leben gern etwas Neues sahen.

So verabschiedete sich die Gesellschaft mit tausend Dank und dem Versprechen, sehr bald zurückzukehren, von ihren Wirten und zog mit dem gepackten Pferdchen den Ettersberg hinab, Weimar zu, einem neuen Genusse entgegen. —

Frau Rat empfing ihre Kinder auf das liebevollste und zärtlichste, ging gern auf ihren Theaterplan ein, hatte dies und das an ihren Fähnchen auszubessern, denn so ein paar übermütige Tage nehmen den Sommerstaat ausgelassener Mädchen stark mit, und Frau Rat wollte, wenn die Kinder auch auf Hintertreppen und Schleichwegen ins Theater gelangten, daß sie ihr, wenn sie glücklich darin säßen, wenigstens keine Schande machten.

Sei Du gepriesen, Frau Rat!

Es soll Dich niemand schelten, der sich klüger dünkt und in rechtlichen Dingen korrekter zu denken gewohnt ist, als Du!

Budang und Franz holten die Mädchen ab, und die Mutter ermahnte noch zur Vorsicht, wegen des Erwischtwerdens.

„Da seien Sie außer Sorge, Frau Rat,“ sagte Budang, einigermaßen in seiner Ehre gekränkt. „Wenn die Mädchen mit uns sind, geschieht ihnen nichts. Wir haben sie noch jedes Mal durchgebracht.“

Und es ging auch diesmal vortrefflich. Flöten-Lobe hatte die Thüren aufgelassen, die zum Einschlüpfen erforderlich waren, und bald standen sie in dem heiligen Raume, zuerst sehr bescheiden in einem Eckchen; aber schon mit dem Vorhaben, sobald es thunlich, ein paar recht gute Plätze zu erwischen.

„Da ist er schon,“ sagte Franz Horny und blickte nach Goethes kleiner, düsteren Loge, unter der herzoglichen. Dort in der Dämmerung saß er.

Der Vorhang ging auf, und Schönheit, Reinheit und Vollendung strömte über die Seelen hin. Weihe umhüllte alle, andächtiges Schweigen erfüllte den Raum, und die Herzen der Schauenden schlugen in erhöhtem Leben. Die ernste Gestalt in der kleinen, dämmerigen Loge verschwand zu Zeiten, war dann wieder gegenwärtig. Welch ein Abend war dies, welch ein Empfinden, den Schöpfer solcher Größe, solcher Schönheit nahe zu wissen! Über unsere guten Freunde war alles Große, was sie hörten, erhebend, mächtig gekommen.

Sie waren alle verschönt und gaben ein Bild beseligter Jugend ab. Sie sprachen kein Wort, aber sie hatten das einige Gefühl, daß sie miteinander genossen und das Vertrauen zu einander, daß jeder verstand und jeder entrückt war.

Nach dem Ende der Vorstellung blieben sie an einer Thüre draußen auf dem Platze stehen.

„Ich will ihn heute noch einmal sehen,“ sagte Franz Horny leise zu den Mädchen. „Wir wollen hier warten.“ Und sie warteten. Ernst von Schiller hatte sich auch noch zu ihnen gefunden. Bald gingen sie einer mächtigen, schön schreitenden Gestalt nach, die in einen weiten Mantel gehüllt war; alle schweigend.

Sie gingen durch die Esplanade, die Frauenthorstraße und folgten der Spur des größten Menschen.

Sie sahen ihn die Stufen zu seinem Hause ruhig hinanschreiten. Sie sahen ihn eintreten und blickten hinauf nach den erleuchteten Fenstern.

So standen sie eine Zeitlang.

Marie sagte: „Hört einmal, weil alles jetzt gar so schön war, da wollen wir auch einmal etwas thun: in Wielands Garten blühen jetzt die Lilien, die ganze Partie um die Kaffeeküche ist voll davon. Von Iris haben sie auch ganze Klumpen in Blüte — und was man sonst noch findet. Ihr,“ sie wies auf die Kameraden, „Ihr sollt übersteigen und zusehen, was Ihr bekommen könnt. Wir sagen es Wielands einmal, oder sagen es auch nicht, wie es sich macht. Es wächst dort wie Unkraut. Die Blumen binden wir dann in zwei große Büschel an die Kettensteine hier vor der Treppe. Er wird sie morgen schon sehen, aber es müssen tüchtige Büschel sein, viel Grünes dazu. Bast zum Binden, daß wir sie an den Steinen festbekommen, der hängt in Wielands Kaffeeküche, links am Haken, hinter der Thür.“

Die Freunde waren einverstanden und machten sich in aller Begeisterung auf, um unschuldsvoll in Wielands Garten einzubrechen.

Ernst von Schiller, Budang und Horny kletterten glücklich über, warfen den Mädchen ganze Ladungen der frischesten, tauigsten Blumen zu und Zweige Bandgrasbüschel — Röse und Marie rafften und banden mit brennenden Wangen, was ihnen zufiel, zusammen — und ehe die drei glücklichen Diebe wieder zurückgestiegen waren, standen die Mädchen schon bereit, jedes mit einem Riesenwerk von einem sommerlichen Strauß in dem Arme.

„Der Tausend, so viel haben wir gelangt?“ rief Budang erstaunt.

So zogen sie denn wieder beladen zurück. Und bald duftete es um die Prellsteine an den breiten Stufen, die zur Hausthür führten, von dem Blumenopfer, das die begeisterten, von Lebensgenuß und Jugendkraft durchdrungenen Diebe gebracht hatten.

Während Röse sich noch an ihrem Strauß etwas zu schaffen machte, sagte sie: „Übrigens ist es kein Wunder, wenn es ihm,“ sie zeigte hinauf nach dem Fenster, „so gelingt. Wenn man einmal ein großer Mensch von Natur ist, da braucht man nur zu leben, und es macht sich von selbst, gerade so, wie sich bei uns nichts macht. Mir thut Ernsten sein Vater leid, daß er so früh hat sterben müssen.“

Ohne daß sie noch ein Wort dazu sprach, steckte sie eine Knospe, die sie aus dem großen Blumenreichtum brach, ihrem guten Freunde an die Brust.

Jetzt brachten die drei Kameraden die Mädchen nach Hause, und über die schönen Erlebnisse des Tages sanken die Träume.

Dritte Geschichte.
Handelt von der alten Kummerfelden.

S o ungebunden das Leben unserer Ratsmädel sich gestaltete, so geschah es doch, daß sie hin und wieder ernstlich angehalten wurden, etwas Vernünftiges zu treiben.

Die Mutter sah ihre Kinder als vollgiltige Geschöpfe an, deren Willen und Neigungen man berücksichtigen mußte. Gegen das Erlernen von fremden Sprachen und Musik hegten sie von früh an, wie gegen etwas völlig Überflüssiges und Zeitverderbendes, einen heftigen, unüberwindlichen Widerwillen, der nach manchem Versuch, die Mädchen anders zu überzeugen, geachtet worden war. Man hatte sie in der stark ausgesprochenen Neigung, ihren Geist von jenem Ballast frei zu halten, schließlich nicht mehr gehindert.

Frau Rat war der ruhigen Überzeugung, daß ihre Mädchen mit gesundem Menschenverstand genügend versorgt seien, so daß sie das Darum und Daran zur Not entbehren konnten, ja, daß man kaum bemerken würde, daß ihnen etwas, worauf andere großen Wert legen, abgehe. Sie dankte ihrem Gott dafür, daß die beiden Rangen zu Handarbeiten einige Neigung zeigten, und war froh, daß es sich mit ihnen so und nicht anders gestaltet hatte, denn hätten sie in Musik und Sprachen bis über die Ohren gesteckt und dabei ihrer Hände Arbeit verächtlich von oben herab behandelt, so wären sie für Frau Rat ein paar rechte Sorgenkinder geworden, denn diese baute alle Hoffnung für eines Mädchens Glück und Zufriedenheit auf deren Fleiß, Ordnungsliebe und kluge Selbstthätigkeit im Hause, mochte das Mädchen dann sein, wie es wollte, es würde sich sicher als Frau dem Manne doppelt nützlich machen, denn wo auch Schönheit, Leidenschaft vergeht, bleiben Ordnung, Behagen, Fleiß als liebgewordene Gewohnheit zurück und treten in volle Rechte ein. — Und Frau Rat erkannte bei allem Übermute und aller Unart ihrer Mädchen dennoch einen guten, vertrauenerweckenden Kern in ihnen. In guter Einsicht hatte sie neben dem kärglichen Schulunterricht, den die beiden genossen, für tüchtige Kräfte gesorgt, die ihnen Anweisung in der Kunst weiblicher Handarbeit erteilen sollten. — Da war zuerst die Jungfer Concordia, die mit aller Liebenswürdigkeit ihrer sanften Person auf unsere beiden eingewirkt hatte und ihnen auch mit mancherlei Kenntnissen unvermerkt beigekommen war.

Als Jungfer Concordia von Kränklichkeit oft heimgesucht wurde und die Mädchen nicht immer um sich haben konnte, riet dieselbe der Mutter, Röse und Marie zu der alten Kummerfelden zu thun, die in jeder Weise eine vertrauenerweckende Persönlichkeit sei.

Und so geschah es; unser Kapitel soll von der alten, wunderlichen Kummerfelden handeln und ihrer damals weit berühmten Nähschule. Die besagte Madame Kummerfelden war, wie männiglich bekannt, früher Schauspielerin gewesen und zwar eine große Künstlerin, vortreffliche Darstellerin der Julia und Ophelia. In Hamburg, Frankfurt, Leipzig und Weimar hatte sie einen guten Namen gehabt. Jetzt saß sie in einem kleinen Häuschen, das sie in Weimar den Entenfang nannten. „Entenfang“, weil es an einem Wassergraben lag, in dem die Enten der Flederwischmühle ihr Wesen trieben und vor einer Schleuse in der Nähe des Häuschens Halt machen mußten.

Die Schleuse, die in einem versteckten, von dichtem Buschwerk überwachsenen Winkel lag, hatte den Müller schon um manchen fetten Braten gebracht, denn verdächtiges Gesindel wußte von diesem Versteck aus die Enten, die sich dort gern aufhielten, da sich daselbst allerlei Vorzügliches für ihren Geschmack staute, zu beschleichen und wegzukapern.

So wohnte die Kummerfelden im Entenfang, und im Entenfang hielt sie ihre vielbesuchten Nähstunden. — Das kleine Haus, es steht noch, hatte sich jedenfalls ein närrischer Kauz vor langen Jahren nach seinem Behagen und Geschmack erbaut, und der Geschmack bewies, daß der Erbauer desselben einiges überflüssiges Geld besessen, denn auf die sonderbarste Manier hatte er an unmotivierte Stellen und Ecken des Häuschens kleine Säulen, die nichts trugen und stützten, anbringen lassen. Wo es ihm beliebt hatte, klebte an der Wand, auf einem Konsol oder irgend einem Vorsprung, ein Säulchen, auch über den Thüren standen sie zu dreien und vieren; alle hatte man, wie die Wände, gleichmäßig gelb übertüncht, und sie waren der Ärger der Kummerfelden, solange dieselbe das Häuschen bewohnte.

Sie hatte in einer erbosten Stunde berechnet, daß an die dreihundert Reichsthaler durch die verwünschten Säulen und Säulchen an den Wänden und in den Ecken verbaut waren, und dieser tote Schatz war ihrem praktischen Sinn ein wahrer Ekel.

Was ihr Haus aber lieb und wert machte, mochte eine Einrichtung sein, die sie für ihre Zwecke gar nicht besser wünschen konnte — und von der sie sich nicht ausreden ließ, daß der Erbauer des Häuschens diese schon in der Vorahnung ihrer künftigen Existenz darin habe treffen müssen.

Denn auch die Kummerfelden, wie jeder gute Sterbliche, hielt ihr eigenes Dasein für den Punkt, auf den alle Linien zuliefen. Die Einrichtung, die sie so erfreute und die allerdings großen Einfluß auf ihre Art zu leben und zu wirken hatte, war folgende: Die beiden Hauptzimmer des Hauses, ein größeres und ein kleines, lagen wohl nebeneinander, wie das gebräuchlich ist, aber sie lagen nicht auf gleichem Niveau, sondern von der kleinen Stube führten breite Stufen in das große Zimmer hinab. — Das war eine verzwickte Bauart — aber, wie es sich herausstellen wird, für die Zwecke unserer Kummerfelden wie erfunden.

Die Alte hatte in dem oberen kleinen Zimmer ihr Bett, das ein rotgeblümter Vorhang umschloß, und einen Schrank voll Raritäten; darüber hingen ihre Lorbeerkränze, die glückliche Jahre ihr eingebracht hatten, wie Erntekränze von der Decke herab.

Ferner hatte sie in diesem oberen Reich ihre Destillation. — Sie war die Erfinderin des Kummerfeldschen Wasch- und Schönheitswassers, das bis heute noch in jeder Apotheke Deutschlands und weit über Deutschland hinaus zu haben ist. — Und die Alte war der lebende Beweis, daß ihrer Erfindung zu trauen sei, denn trotz ihrer Jahre hatte sie ein frisches, blühendes Aussehen und hielt viel auf sich. Sie trug eine Haube mit Ohrenklappen und mächtigen Bändern, wie außer der ihren keine weiter im Städtchen anzutreffen sein mochte. Ihre Kleidung war von altem, bewährtem Schnitt, der von allerlei leichtfertigen Erfindungen längst überholt war, dem sie aber mit vollem Selbstbewußtsein treu blieb. Das Muster ihrer Kleidung mußte stets ein geblümtes sein; sie liebte es, einen freundlichen Eindruck zu machen, und ein geblümtes Kleid war ihr das erste Erfordernis, um solch einen Eindruck hervorzubringen.

Die Möbel der Kummerfelden verrieten samt und sonders, daß sie einer praktischen, zugleich lebhaften Person, die es mit dem Leben leicht nahm, angehörten. Die Kommode zum Beispiel gab Zeugnis davon. Diese stand auf drei Kugelbeinen, das vierte ersetzte seit einer Reihe von Jahren ein vorzüglich passender, roter, irdener Blumentopf und genügte beiden, der Kommode und der Kummerfelden, auf das beste. An einer lila Schnur, die mit einem Nagel an dem Kommodenrand befestigt war, hing eine zweizinkige Gabel herab, die als Brecheisen und Hebel dienen mußte, um den Schlüssel zu ersetzen.

Mit dieser stach die Kummerfelden mit einer ausgezeichneten, nie fehlenden Sicherheit in die drei Fächer hinein, ohne das Möbel jemals lebensgefährlich zu beschädigen, und jedes Fach zeigte, was dem Verfahren nach natürlich war, eine Stichfläche, ähnlich der, die den linken Zeigefinger einer fleißigen Näherin kennzeichnet.

Als Schmuck des Zimmers schien die Künstlerin ihre geblümten Gewänder zu betrachten, die in aller Unschuld und Fröhlichkeit an den Wänden umher hingen. Das machte den Eindruck, als liebe die Kummerfelden sie um sich versammelt zu sehen. Der einzige Stuhl des Zimmers stand vor dem Himmelbette, war ein Lehnstuhl mit großen Ohren und hatte ein außerordentlich freundschaftliches und gutmütiges Aussehen. Über dem Bette, von dem Himmel herab, hingen die auserwähltesten Lorbeerkränze, mit gewaltigen Schleifen, die jedenfalls aus tiefen Gründen diesen Ehrenplatz erhalten hatten. Außerdem aber hing über dem Bette ein rotseidener, verblichener Beutel, der das Schnupftuch für die Nacht barg, eine Ledertasche, in der sich zu jeder Zeit Zwieback und ein stärkendes Schlückchen befand. Die Kummerfelden litt, wie viele alte Damen, an momentanen Schwächezufällen, die zu Zeiten in merkwürdig kurzen Pausen wiederkehrten.

In einem anderen Beutel über dem Kopfkissen, der an einer Schnur sich bis auf das Bett herabziehen ließ, lag ein Gebetbuch und das Testament der alten Künstlerin.

In das Gebetbuch, an der Stelle, wo die Stoßgebete für das letzte Stündlein standen, hatte sie, der Vorsorge wegen, eine dicke Schnur gelegt, daß, wenn es einmal unvermutet ans Sterben kommen sollte, sie sich mit leichter Mühe zurecht finden und einigermaßen Trost verschaffen konnte.

Einsame Menschen müssen sich für die Nachtzeit in allen Dingen vorsehen, denn es lebt und stirbt sich beschwerlich allein, und die sonderbarsten, bequemsten und vorteilhaftesten Einrichtungen ersetzen zu manchen Stunden die kärglichste Gesellschaft nicht.

In dem oberen Stübchen blieb sie allein Herrin, kein fremder Fuß durfte es betreten, in dem unteren hingegen war das Reich ihrer Schülerinnen, ihrer Elevinnen, wie sie dieselben vorzugsweise gern benannte.

Da wurde genäht, gestickt, gestrickt und gestopft und endlos geplaudert.

Die Kummerfelden saß während der Unterrichtszeit auf der zweitobersten Stufe der Treppe, welche die beiden Zimmer miteinander verband, und hatte sich dort einen höchst behaglichen Sitz eingerichtet, mit Kissen und Polstern. Das Stück Stufe, das ihr zum Sitz diente, war von ihr selbst, um es sicher und bequem zu haben, etwas verlängert worden durch ein festgenageltes Brett; und von diesem Throne herab überwachte sie ihre Mädchen, von da herab tönten ihr munteres Lachen, ihre Verweise, ihre Aufforderung zu einem Gange ins Freie, wunderbare Erzählungen aus ihrem bewegten Künstlerleben. Von hier aus las sie ihnen vor, deklamierte sie ihre alten Rollen. Es war ein ganz prächtiger Platz, um die Schülerinnen zu überblicken. Die Kummerfelden hatte scharfe Augen, so leicht entging ihnen nichts. Sie kannte ihre Mädchen. Außerdem hatte sie eine ganz besondere Schlauheit angewendet, um genau zu wissen, was vorging. Sie hatte sich von jeher als schwerhörig angestellt, damit die unten ungestört alles und jedes laut miteinander plaudern konnten in dem Glauben, ihre Meisterin verstände nichts. Dabei waren aber die Ohren der Alten unter der Mütze wie Luchsohren so scharf, und sie lachte sich ins Fäustchen, wenn die von ihr Getäuschten ganz ungeniert und laut Dinge sprachen, die sonst wohl gar nicht in ihrer Nähe oder doch im Flüsterton verhandelt worden wären.

Doch hatte sie diesen Betrug nicht aus Bosheit, sondern aus wahrem Interesse an ihren Zöglingen ausgespielt und lachte manchmal in sich hinein über die närrische Welt, denn jede neue Generation, die auf ein Jährlein oder zwei bei ihr eingethan wurde, um zu lernen, benahm sich genau wie die vorhergehende. Eine jede behandelte mit unerhörter Wichtigkeit Dinge, von denen man der Art nach, wie die Mädels darüber sprachen, annehmen mußte, daß diese Dinge überhaupt zum allerersten und unwiderruflich letzten Male auf Erden stattfinden würden.

„Hört einmal, Ihr Sakramenter,“ rief die Kummerfelden von ihrem Throne herab eines Tages, als sie es ihr da unten zu toll trieben, es war zur Zeit, als auch die Ratsmädchen bei ihr saßen. „Hört einmal, Ihr da unterhaltet Euch doch nicht etwa von Liebesgeschichten? — Ihr macht mir gerade solche Gesichter.“

„I bewahre,“ rief eine Schülerin lustig, „was denkt die Madame!“

„Ei Du!“ murmelte die Alte in ihre große Haubenschleife hinein, „daß Dich doch! — Das lügt nun einmal, so lange die Welt steht!“ Damit beruhigte sich die Kummerfelden wieder, da sie doch nichts an der Welt ändern konnte.

„Aber,“ sagte sie, „im Falle Ihr einmal von Liebesgeschichten sprechen solltet, und weil wir einmal darauf gekommen sind, will ich Euch doch meine Geschichte mit dem Schauspieler Krakow erzählen. Es ist zwar nicht viel daran, aber doch genug, um zu sehen, daß man auf alles gewärtig sein muß im Leben.“

Und mit wahrer Herzenslust legte sie los und erzählte dies und das und von Hamburg und von Bremen und sprach eifrig: „Also denkt Euch! Ich verlobe mich mit besagtem Herrn Schauspieler. Er war ein recht schöner Mensch von guten Gaben, war auch nichts gegen ihn einzuwenden, daß ich wüßte. Zurückgelegt hatte er noch nichts, das hatte ich gethan und alles schien so leidlich in Ordnung.

Mir war von ihm ein goldener Ansteckekamm verehrt worden, und ich gab ihm eine perlengestrickte Börse. Sie liegt noch oben in meinem Schrankkasten, denn er mußte mir, wie er das einem anständigen Frauenzimmer nicht verweigern konnte, bei der Auflösung unserer Verbindung die Börse zurückgeben, und unsere Verlobung löste sich, durch Gottes Schickung, folgendermaßen:

Mein Verlobter übersandte mir zu meinem Geburtstag ein Körbchen mit Mandeln und Rosinen, dazu ein Verschen, über das Ihr staunen werdet, da es bis jetzo noch nicht zutrifft und recht zeigt, was für ein verräterischer und verleumderischer Mensch mein Verlobter war. Schickt mir also das Körbchen, und der Vers war so:

„Runzlich zwar, doch süße;

Nimm sie und iß se.“

Diesen Vers, wenn man das abgeschmackte Ding so nennen kann, verehrte er mir.

Natürlich ist das „runzlich, doch süße“ eine Anspielung auf meine Person gewesen. Ich war damals die jüngste nicht mehr und Witwe, doch weit entfernt von dergleichen, was er andeutete; was Ihr mir glauben werdet, wenn Ihr bedenkt, wie ich jetzt, nachdem so viele Jahre darüber vergangen sind, noch aussehe.“

„Aber weiter,“ sagte die Kummerfelden: „Ich konnte natürlich die Beleidigung nicht auf mir sitzen lassen und schrieb ihm den Absagebrief, wie es einem anständigen Frauenzimmer geziemt. Er hat ihn auch ohne weiteres angenommen und ist kurze Zeit darauf mit der Soubrette durchgegangen, so daß die ganze Angelegenheit den Anschein einer rechten Verräterei trug. Mir hatte das Schicksal in diesem Falle wohlgewollt, wenn man bedenkt, daß er sich später sein Lebtag mit der Soubrette geprügelt hat und daß er alles durchbrachte, was irgend sich durchbringen ließ. Ihr seht,“ fuhr sie fort, „daß es mit Liebesgeschichten seinen Haken hat. Schwatzt nicht soviel darüber, das lockt das Böse an. Nehmt’s, wie es kommt und grämt Euch nicht, wenn es nichts wird, der ganze Handel ist des Aufhebens nicht wert, das man darum macht. Nehmt Euch ein Exempel an mir, wie ich es mit dem Schauspieler Krakow machte. Alles kurz und bündig und keine Zerrerei, wenn es nichts wird. Kommt Ihr zu einer Heirat, mir soll’s recht sein; aber besser ist es allemal, es kommt nicht dazu; das heißt, wenn man ein resolutes Frauenzimmer ist und weiß, was man will. Und ich bin eine Verheiratete und sag das; merkt’s Euch: kein solch Ding von einer Jungfer, die von Angelegenheiten schnackt, die sie nicht kennt.“

Ob Madame Kummerfeld durch ihre Erzählung und ihre Ermahnungen in Wahrheit glaubte, Eindruck auf die übervollen Herzen um sie her zu machen? Wohl schwerlich.

Sie war zu sehr durch langjährige Erfahrungen von der Unverbesserlichkeit ihrer Schülerinnen überzeugt. Es mochte ein launiger Einfall sein, der sie dazu veranlaßt hatte, und übrigens stimmte sie mit den Schülerinnen im Grunde des Herzens überein; auch sie fand, daß es eine schöne Sache um das Lieben und Geliebtsein sei. Sie hatte auch das Ihre genossen, war aber seit lange vollkommen mit ihrer Herzensruhe einverstanden, wünschte es nicht besser und hatte ihren Spaß an denen, die noch mitten darin steckten oder gar eben erst begannen. Diesen liebte sie es, ein paar herbe Bissen, wie eben jetzt, vorzuwerfen.

Was brauchen die Mädchen zu wissen! Sie würden es schon erfahren!

Eine dumme, alte Gans, die es jungen Dingern läpperig macht!

Solcher Art waren die Ansichten der Kummerfelden.

Ja, man sollte sie einmal hören, wie unterschiedlich sie mit einem Mädchen sprach kurz vor dessen Hochzeit, und mit einem, bei dem vorderhand noch nichts in Aussicht stand. —

Die Kummerfelden war, wie alle klugen, liebevollen Leute, doppelzüngig im guten Sinn, und richtete deshalb im Verkehr mit den Mädchen gar wenig Unheil an; trotz ihrer Geschwätzigkeit.

Sie hatte für ihre Schülerinnen eine warme und teilnehmende Liebe, führte auch in ihrem Tagebuch für jedes der Mädchen eine Rubrik, in die sie ihre Wahrnehmungen und ihr Urteil über die Betreffende eintrug. Da standen auch die Ratsmädel kurz und bündig als ihre Lieblinge verzeichnet, ohne jeden weiteren Zusatz; den hielt die Kummerfelden in dem Falle, in welchem sie ihren höchsten Ehrentitel gab, für unnötig.

Was für liebenswerte Schuleinrichtungen und Gesetze hatte die prächtige Frau für ihre Mädchen gut geheißen und erfunden!

Einrichtungen, die so ganz dem Empfinden der Jugend angepaßt waren. Da gab es einen Lohn, der das lobenswerte Geschöpf, dem er zuerteilt wurde, mit heiligem Schauer überrieselte. Wer ganz vorzüglich gearbeitet und dies ununterbrochen eine Zeitlang durchgeführt hatte, diese Auserwählte durfte während einer Unterrichtsstunde in den weißen Schuhen der Julia, Shakespeares Julia, auf den Treppenstufen erhöht sitzen. Diese Schuhe hatte die Kummerfelden in ihrer guten Zeit als Julia im Sarge getragen. Keines der Mädchen konnte sich etwas Geheimnisvolleres als diese weißen, immer noch unverbrauchten Atlasschuhe denken, und die Glückliche, die sie tragen durfte, fühlte sich durch dieselben und durch die Art, wie die Kummerfelden sie ihr feierlich anlegte, aus den profanen Lebenskreisen gehoben. Mit den Schuhen der Julia an den Füßen, war dem Mädchen der Vorhang, der ihm noch vor der Welt des Schönen hing, ein wenig eingerissen. Julias Zauber, Julias Liebe, Julias selige Sprache sank auf sie nieder, und sie fühlte sich geweiht und allem anderen entrückt. Die Kummerfelden hatte die Schülerinnen wohl eingeführt in die Bedeutung dieser Attribute.

Sie hatte ihnen, von ihrem Sitzplatze auf der Treppe aus, ihre alte Rolle wiederholt deklamiert, so wie sie es sonst in ihren jungen, begeisterungsvollen Jahren gethan.

Und die Julia in der großen Haube mit Ohrenklappen, in dem geblümten Kleide, hatte die Zuhörerinnen ganz hingenommen und zu Thränen gerührt und tief erschüttert.

Welche zaubervollen Stunden verstand die Gute den Mädchen zu bringen, und wäre sie noch sonderbarer, noch bei weitem grotesker und befremdender gewesen, ihr gutes, reines Herz, ihre freundliche Gesinnung, ihr heller Geist wäre durch alles durchgedrungen und hätte sich durch jedes Hindernis hindurch offenbart.

Ein weiterer Ansporn für Fleiß und Betragen war von den Schülerinnen selbst ersonnen, von der Meisterin gut geheißen und hatte sich als Tradition von einer Klassengeneration auf die andere fortgeerbt. Die Mädchen waren immer mit Eifer dahinter her, daß soviel Hemden wie möglich zu gleicher Zeit fertig wurden. Das Zuschneiden und vollendete Nähen dieser wichtigen Kleidungsstücke lehrte die Kummerfelden mit Weihe und Gesetzesstrenge, denn es erschien ihr als oberstes und erstes Erfordernis weiblicher Bildung die untadelhafte Vollendung eines Hemdes. Ein Mädchen, das in dieser Wissenschaft nicht auf erwünschter Höhe stand, schien ihr ein Greuel, deshalb war es ihr recht, daß sich aus dem Empfinden der munteren Geschöpfe selbst eine Art Feier, die die Vollendung eines solchen Meisterwerkes begrüßte, herausgebildet hatte.

Die Mädchen sorgten nämlich dafür, wie schon gesagt, daß soviel Hemden wie möglich zu gleicher Zeit fertig wurden und richteten dies aus kluger Berechnung ein, damit jede nach der Lehrstunde ihr neues Hemd über das Kleid ziehen konnte, und alle miteinander zogen dann derart ausstaffiert im Zug durch die Straßen auf Umwegen nach Hause.

Wenn die weißangethane Schar, im Gefühle ihres Fleißes und einer schönen Errungenschaft, bei der Kummerfelden aufbrach, da blickte ihnen diese wohlwollend nach und freute sich über die Hemden, die sie übergezogen hatten. Weder bei ihr, noch bei den Schülerinnen kam ein Zweifel auf, ob dieser muntere Triumphzug auch ganz in den Regeln des Anstandes sich bewegte. Die Mädchen zogen im Schmucke ihrer vollendeten Kunstwerke unangefochten dahin, hörten, wie ein paar verständnisvolle Frauen, an denen sie vorüberkamen, sagten: „Herrjes, da sind die Kummerfeldschen schon wieder mit ihren Hemden fertig!“ Die Gassenbuben riefen ihnen nach:

„Kummerfeldsche Hemdenmätze!“

Man schaute ihnen nach, jung und alt; aber durchaus nur wohlgefällig. Die Einrichtung der Kummerfelden hatte den Charakter einer Sitte angenommen, und einer Sitte, sie mag noch so dumm sein, bezeugt jedermann Verständnis und Achtung.

Außerdem machte der Zug der Hemdenmätze Propaganda für die Nähschule. Das wußte die kluge Kummerfelden ganz wohl. Auf ihren Vorteil war sie sehr bedacht.

Doch mochte sie eine jener Frauen sein, bei denen jede Regung sich in Liebenswürdigkeit verwandelt, Berechnung in artige Laune und Schrullenhaftigkeit in Reiz. Sie war so glücklich, alle ihre Eigenschaften für andere angenehm gestalten zu können, es mochte wohl keines unter ihren Mädchen sein, dem sie nicht eine liebe Erinnerung durchs ganze Leben geblieben ist.

Wenn sich nach langen, langen Jahren, die über das Grab der Alten hingegangen waren, alte Weimaranerinnen auf der Straße begegneten, die in ihren jungen Jahren bei der Kummerfelden genäht und sich vielleicht seit jener Zeit kaum wieder gesprochen hatten, da stiegen ihnen so liebwerte Bilder auf, und die Gestalt der Madame hielt ihnen gleichsam ihre schöne Jugendzeit wie ein gutes Lieblingsgericht, an dem sie nun schon lange nicht mehr gekostet, wehmütig lächelnd entgegen.

Als unsere Röse eine alte, prächtige Frau geworden war, Großmutter und Urgroßmutter, da kam ihr einmal nachts die Erinnerung an eine wunderschöne Geschichte: „Die Abtei Balderoni“, die die Kummerfelden stückweis vorgelesen hatte und die sie nie zu Ende gebracht, denn sie war darüber gestorben. Und die Urgroßmutter dachte noch mit Bedauern daran, daß die Kummerfelden damals nicht hatte zu Ende kommen können.

Die Erzählung, die die junge Röse entflammt, und die Art des Vortrages, die sie hingenommen hatte, wirkte in der alten Frau, über die ein reiches Leben hingegangen war, in der dunklen, einsamen Nacht noch fort, und sie fühlte sich überströmt von Erinnerungen, die ein paar wenige noch mit ihr teilten.

Es war ein unbedingt durchdringender Eindruck, den die Nähmeisterin auf ihre Mädchen ausübte. Sie mochte vorschlagen, was sie wollte, man war immer dabei, ihre Ideen durchzuführen.

So veranstaltete sie Spaziergänge mit ihren jüngsten Schülerinnen, und zwar ging sie mit ihrer Schar in den Park zu bestimmten Stunden, während derer die Herrschaften dort zu promenieren pflegten. Da legte sich die Kummerfelden mit ihren Elevinnen in Hinterhalt, wie die Jäger auf den Anstand, und lauerte, ob sich etwas Fürstliches zeigen würde, und wenn sich etwas näherte, da kamen sie alle vor und gingen entgegen, und die Kummerfelden machte einen so ausgezeichneten, unübertrefflichen Knix, „kautzte so tief“, wie die Mädchen sich ausdrückten, daß sie immer erst nach einer langen Weile, wenn man schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, sie wiederzusehen, in die Höhe kam, mit einem unnachahmlichen, würdevollen Ausdruck, als wäre nichts geschehen.

Sie hatte übrigens während ihrer Versunkenheit alles um sich her bemerkt und besonders das, daß die Mädchen sich gewöhnlich ihr Vorbild nicht zu Herzen genommen und einen äußerst leichtsinnigen Knix zu stande gebracht hatten.

„Denkt Ihr denn,“ sagte sie dann aufgebracht, „daß ich die Knixerei für mich mache? Daß ich mir zur Übung auf die Herrschaften warte, Ihr Dummhüte? Das nächste Mal, wenn wir ihrer wieder habhaft werden, bitte ich mir Gehorsam aus, — hört Ihr? —! Ich könnte Euch ja auch vor Stühlen Eure Knixe machen lassen und weshalb nicht; aber ich bin nicht für etwas Halbes, erst, wenn man in der Patsche sitzt, weiß man, wie man sich benimmt. Also das nächste Mal aufgepaßt!“

Excellenz von Goethe bekam auch so manchen Knix von der Kummerfelden mit ihrer Schar. Für ihn hatte sie besonders weihevolle, doch nicht so tiefe Verbeugungen, wie für die Herrschaften in Bereitschaft. „Jedem das Seine,“ sagte sie. „Geistige Größe ist aller Achtung wert, so lange wir aber im Fleisch und nicht im Geiste wandeln, muß sie zurückstehen.“

„Im künftigen Leben ist das dann anders,“ versicherte sie ihren Zuhörerinnen. — „Dann kommen dergleichen Unsinnigkeiten nicht mehr vor. Hier müssen wir es mitmachen, und wer es nicht thut, zeigt, daß er keine rechte Auffassung und Würdigung des Lebens hat, weder des irdischen, noch des himmlischen.

Macht einer hier Verstöße, wird er sie auch dort machen, denn es kommt alles auf die Klarheit an, daß man die Dinge so ansieht, wie sie sind und wie sie hier angesehen werden müssen.

Wer das thut, ist ein kluger und anständiger Mensch, gegen den sich nichts sagen läßt.“

Das waren weise Regeln der Kummerfelden.

Sie war eine nachsichtige Frau und ließ um sich her Dinge geschehen, die eine andere verpönt haben würde.

Während der Nähstunden trieb sich nämlich vor den Fenstern des Entenfangs allerlei lose Gesellschaft umher.

Die Kummerfelden gebrauchte deswegen eine Vorsicht, sie setzte in die Nähe des Fensters immer die jüngsten, den Jahren nach die unschuldigsten, von denen sie wußte, daß sie noch keine Liebesgeschichten anzettelten.

Die Ratsmädel hatten diesen Vorposten inne; aber wie es so geht, in Ermangelung eines anderen Weges wurde so manches Briefchen geheimnisvoll durch das offene Fenster oder durch eine Spalte geschoben und von den Ratsmädchen der Besitzerin zugesteckt.

Röse und Marie selbst empfingen allerlei niedliche Sächelchen auf diesem Wege, eine Blume, ihre aus Papier ausgeschnittenen Namen: Marie und Therese (Budang war in dieser Kunst Meister), eine Düte mit allerfeinsten Malzbonbons, aber keine Briefchen; bis dahin hatten es unsere beiden noch nicht gebracht. Sie überreichten der Kummerfelden die schönsten der zugesteckten Bonbons, die sich dafür bestens bedankte und selbige ganz munter auf ihrem Throne zerknackte, denn sie hatte gute Zähne.

Das war die Kummerfelden mit ihrer Nähschule, ihrem Verständnis für die liebe Jugend, ihren kräftigen Ausdrücken und ihrer klugen, freundlichen Seele.

Durch Madame Kummerfeld hatte Röse eine wertvolle Bekanntschaft gemacht, nämlich die des Türmers Kesselring, der mit der Nähmeisterin in Verwandtschaft stand, und zu dem Röse verschiedene Male auf den Turm wegen einer Ausrichtung geschickt worden war. Er schrieb Noten und Manuskripte ab, und da die Kummerfelden noch immer ihre Verbindungen mit dem Theater hatte, konnte sie ihrem Vetter allerlei Arbeit vermitteln und besorgen, was sie getreulich that, und so wurde Röse verschiedene Male zu ihren Ausrichtungen benützt. Die hatte sich, wie sie es überall that, wo es ihr gefiel und wo sie sich wohl fühlte, auch bei dem Türmer Kesselring und seinen Leuten einzuschmeicheln gewußt und war auf der Höhe des Stadtkirchen-Turmes ein immer gern gesehener Gast. —

Der Türmer wartete des Amtes, das sein hoher Titel bezeichnet, war nebenbei Abschreiber, Schuhflicker, alles in einer Person, ein fleißiger Mann, der auch allen Grund zu seinem Fleiße haben mochte, denn es galt, für ein ganzes Häuflein Kinder, die in dem Turme eingenistet waren, zu sorgen. Kesselrings waren zufriedene und ordentliche Leute und machten sich das Leben so angenehm, wie es in ihrer Lage irgend möglich war, feierten ihren Weihnachten im Turmstübchen mit aller Festlichkeit, buken zu Ostern und Pfingsten große Kuchen, die sie durch die Turmwinde hinabließen, damit sie im Backhause vollendet würden. Sie leierten sie dann wieder gebacken herauf, daß ihnen der süße Geruch in die Nase stieg.

Röse, die diese Bekanntschaft merkwürdigerweise allein unterhielt, hatte bei den Türmern schon Weihnachten mitgehalten und alle anderen Festlichkeiten, auch die Taufe des jüngsten Türmerleins.

Wie merkwürdig geheimnisvoll und für ein junges Gemüt tief anziehend war ein Weihnachten auf dem Turm!

Wie in Wolken von fallendem Schnee umgeben, saßen die guten Leute und der Gast in dem behaglichen Stübchen bei dem brennenden Christbaum und einem Karpfengericht. Der Wind trieb die Flocken an die Fenster und verdeckte und überzog sie fast. Tief unten in der Stadt leuchteten Lichter durch den Schneenebel, kein Geräusch klang herauf — alles, was den Turm umgab, war Weichheit, Reinheit, Frische, und der Türmer Kesselring blies am offenen Fenster einen Choral in den sprühenden Schnee hinaus.

Und welches Behagen, welche Lebensfreude war in dem engen, hellen Raum, dem einzigen belebten Orte in solcher Höhe! Von Elementen umbraust, hockte es sich so behaglich da oben. Röse kauerte mit den Kindern in einer Ecke, und sie sahen dem Erlöschen der Lichter am Baume zu.

Da brannte eins noch hell, das Stümpfchen war verzehrt; es flackerte auf, es zischte ein wenig und flackerte wieder und flackerte noch einmal und glimmte dann; ein würziger Rauch wie von einem kleinen Opfer stieg auf, und noch ein Glimmen, und es war verlöscht — verlöscht für ein Jahr. Denn bis wieder die Lichter angezündet wurden, mußte ein Frühjahr hingehen, ein Sommer, — ein Herbst, ein langes, langes Leben.

Was konnte dazwischen geschehen? Die Frage that Rösens Herzen wohl; was kommen konnte, war nur Wiederholung von dem, was bis jetzt geschehen, und das war so gut, so schön gewesen!

Und wie unbeschreiblich war es bei Kesselrings; wie sonderbar sich die Karpfen auf Turmeshöhe und auf dem ärmlichen Tisch ausnahmen; so ganz fremdartig, weihevoll und feierlich, und wie sie dufteten, als wären es die schönsten Spiegelkarpfen, und waren doch so kleine, ruppige Dinger, denen man, um ihnen Wichtigkeit für den Magen zu verschaffen, eine tüchtige Portion Kartoffeln zur Begleitung beigeben mußte.

Sie thaten aber, so klein sie waren, ihre volle Schuldigkeit, brachten über alle, die um den Tisch saßen, herrlichste Weihnachtsgefühle, waren für aller Augen unantastbar vorzügliche Weihnachtskarpfen, an denen zu kritteln ein Vergehen gewesen wäre. Wie undeutliche, zum Herzen sprechende Offenbarungen lagen sie auf dem Tisch und verschwanden wie Erscheinungen in den rosigen Mündchen der Kinder, um nur Gräten und angenehme, süße Erinnerung an ihre Gestalt und ihr ganzes weihevolles Wesen zurückzulassen.

Der Pfefferkuchen, die Äpfel, die Nüsse, die unter dem Baume lagen, waren auch für alle Anwesenden nicht gewöhnlicher Pfefferkuchen — nicht gewöhnliches Obst, Gott bewahre! Das waren mystische Dinge, die Lebensfreude, die Überfülle bedeuten und gläubig und fröhlich hingenommen wurden. Weihnachten bei guten, armen Leuten ist etwas Wundervolles!

Auf dem Turm war die beschwerliche Einrichtung, daß jede Stunde zur Stadt herab getutet werden mußte, und nicht nur jede volle Stunde, sondern jede Viertelstunde mit größter Genauigkeit. Ein Uhrwerk gab es noch da oben nicht. Das war eine Einrichtung, die ganz nach Rösens Geschmack war.

Sie steckte oft ganze Nachmittage, ganze, lange Abende hindurch oben bei Kesselrings, zu keinem anderen Zweck, als um pünktlich den Lauf der Zeit der Stadt zuzublasen, dabei machte sie sich ihre Gedanken und kam sich unbeschreiblich wichtig vor. Und so manche Stunde, in welcher in der Stadt Weimar auf Dauer Hinstrebendes geschaffen wurde, so manche dieser Stunden hat ein schöner Mädchenmund vom Turme herab verkündet.

Vierte Geschichte.
Die Ratsmädchen laufen einem Herzog in die Arme.

F rau Rat hielt darauf, daß ihre beiden Mädchen alljährlich in den ersten Frühlingswochen eine Erholungskur gebrauchten, zur Kräftigung ihrer Gesundheit und Schönheit.

Sie hatte da einen harmlosen Kräuterthee von dem Vetter Apotheker ausgekundschaftet, den filtrierte sie in frühester Morgenstunde ihren beiden Schelmen ein und ließ sie danach in den frischen Morgen laufen. Sie war nicht dafür, daß man erst abwarte, bis Krankheit den Menschen überkommen und sich gar eingenistet habe, ehe man etwas zur Stärkung thue, sondern hielt es für klüger, dem Übel vorzubeugen, und fuhr auch gut dabei: denn ihre Mädchen gediehen zu ihrer vollen Zufriedenheit, und die jährliche Frühlingskur schlug vorzüglich bei ihnen an, sei das nun dem schönen Morgengenuß zuzuschreiben oder dem guten Appetit, den die beiden sich auf ihren Spaziergängen holten. Trotz der Einfachheit des Lebens bei Rats und mancher ärmlichen Einrichtung wurden unsere beiden in vielen Dingen auf das vorsichtigste gepflegt und behütet.

Frau Rat wußte die Schönheit ihrer Kinder zu schätzen und bestrebte sich, sie ihnen für eine gute Dauer zu kräftigen.

Denn diese Schönheit war deren einziges Erbteil, und Frau Rat wußte aus Erfahrung, welche Ruhe und Heiterkeit aus andauernder Schönheit entspringt.

So wurden unsere beiden von frühester Jugend an mit Bedacht gestriegelt und gebadet, wie zwei wertvolle Pferdchen. Die Mutter hat die Pflege des wunderbaren Haares ihrer beiden eigens übernommen, flocht und kämmte es selbst und wusch es ihnen regelmäßig mit Salzwasser, und das war kein kleines Opfer, das die vielbeschäftigte Frau brachte; aber sie hätte um keinen Preis die Pflege dieses großen Schatzes den leichtsinnigen, unverständigen Dingern selbst überlassen.

So geschah es durch die Fürsorge und Liebe ihrer guten Mutter, daß es eine Freude war, die wohlversorgten Kreaturen anzusehen, trotzdem sie sich auf Straßen und Gassen herumtrieben, mit allerlei Volk verkehrten, ein Leben führten wie ein paar lustige Buben und von jedermann als Ausbünde angesehen wurden, die wenig gelernt und so wenig behalten von aller Weisheit, die man in sie einzufüllen bestrebt gewesen war, daß es eine Schande blieb. Die Mädchen verdankten ihren Morgenspaziergängen mancherlei Gutes, das sie in ihrer Faulheit, wenn die Mutter sie nicht hinausgetrieben hätte, wohl schwerlich erfahren haben würden.

Während dieser Gänge tauchten sie beide in der Stille der unberührten Frühlingsherrlichkeit wahrhaft unter und wurden von der Reinheit der neu erwachten Natur durchdrungen. Sie lernten so das Schöne und Stille lieben, und die gute, sorgsame Frau Rat hätte die beiden Töchter nächst der Jungfer Concordia und der Madame Kummerfelden in keine bessere Schule schicken können, als in die frühe Stunde, die ein erlauchter Lehrer, der Frühling selbst, hielt. Sie kamen immer in einer etwas gesänftigten Stimmung zurück, von der sich Gutes hoffen ließ, und hatten noch dazu von außerordentlichen Erlebnissen, die andern Sterblichen selten oder nie begegneten, zu berichten. Fanden sie auch für ihre Mitteilungen meist wenig Glauben, so ließen sie sich doch durchaus nicht stören, ihre gemeinschaftlichen Gänge zu einem Quell für Wahrheit und Dichtung werden zu lassen; bald war ihnen, als sie mitten im Grünen saßen, ein wildes Karnickel in den großen Hut gelaufen, der neben ihnen lag, bald sonst sehr Ungewöhnliches passiert. Einmal, und das ist eine Geschichte, solcher unartigen Geschöpfe wert, da hatten sie, da sie nichts Besseres zu thun wußten, sich mit ihren Haaren zusammengeflochten und zwar so fest, dicht und verzwickt, daß sie sich schließlich nicht wieder auseinander bekamen und einen alten Herrn, der an ihnen vorüberging, bitten mußten, ihnen behilflich zu sein.

Sie konnten das Benehmen ihres Retters aus dieser Not gar nicht sonderbar und grotesk genug beschreiben, wie er den gewaltigen Knäuel, der die goldene Haarflut Mariens und die bräunlich-blond glänzende Rösens zusammenfaßte, verwundert und bedenklich in der Hand gewogen; wie er die beiden von oben bis unten betrachtet habe, wie wenn er sich vergewissern wolle, ob es auch bei ihnen ganz richtig sei. Röse berichtete auf das genaueste, wie der Herr neben ihnen gestanden. Sie hatten ihre Köpfe so eng aneinander geflochten, daß sie sich, als sie sich erhoben, kaum bewegen konnten, und sie erzählten lachend, wie er nach längerem, verwundertem Schweigen gesagt haben sollte: „Nun teilen mir die beiden holden Kinder aber mit, wie sie zu dem artigen, sie werden mir verzeihen, dummen Streich gekommen sind? Denn, bei Gott, es ist keine Kleinigkeit für ungeübte Hände, solch einen allerliebsten Knäuel auseinander zu bringen.“

Röse schnitt damit wohl etwas auf, daß sie darauf erwidert habe: „Man kommt auf die eine Dummheit geradeso wie auf alle andern auch, ich weiß nicht, wodurch eigentlich, mein Herr.“ Da habe der alte Herr, der eine gelbe Weste trug und ein rundes, weißes Gesicht hatte, sehr gelacht.

„Fremd war er,“ sagte Röse, „sonst hätten wir ihn gekannt. Jedenfalls mußte er irgend ein durchreisendes Licht sein, davon kommen ja gewöhnlich welche an. Ich machte auch so eine Andeutung, und nach seinem Gesicht, das er zog, zu schließen, werde ich nicht fehlgegriffen haben. Unser alter Herr hat übrigens gut daran gemußt, bis er die „Wirrschette“ (wie sie in Weimar sagen) einigermaßen auseinander bekam, und wir konnten uns nicht rühren, ohne daß er zauste, und er hatte geächzt und gelächelt und gestöhnt und um Vergebung gebeten ohne Ende.“

„Ei, was dem Menschen für sonderbare Dinge passieren können,“ hat er in allen Ausdrücken wiederholt.

„Wird es mir einer glauben, was mir hier auf meinem harmlosen Spaziergange passiert ist? Ich möchte mir von den beiden Demoisellen ein Beglaubigungsschreiben über das Begebnis überreichen lassen.“

„Das ist doch so merkwürdig nicht,“ hat Röse gesagt.

„So, so, so,“ murmelte der Fremde. „Was seid Ihr denn für schlimme Nixen, bringt Spaziergänger in Verlegenheit, alte, würdige Herren in Bedrängnis?“

„I bewahre,“ bekam er von Marie zur Antwort, „wie hätten wir sonst nach Hause kommen sollen?“

„Macht nicht solches dummes Zeug, Ihr Mädchens,“ hat sie der Herr in der gelben Weste ermahnt, „Ihr könnt ja in Teufels Küche kommen!“

Wie viel und wie wenig Glauben ihre Geschichtchen fanden, kümmerte sie beide nicht; sie erzählten sie dem, der sie hören wollte und nie kam es vor, daß eine die andere Lügen strafte. Sie hielten zusammen, und was die eine sagte, vertrat ohne weiteres die andere. Ob es wahr oder nicht wahr sein mochte, das stand in zweiter Linie, darauf kam es nicht an. Das erste Bedingnis blieb, daß sie einander beistanden wie ein paar echte, rechte Spießgesellen. Dies Vertrauen, das eine zur anderen hatte, mochte wohl auch der Grund sein, daß sie sich miteinander so wohl und sicher fühlten.

Da war es einmal, daß ein unbeschreiblicher Maimorgen über der Erde ausgebreitet lag, Nachtigallen schlugen im weimarischen Park, der Hollunder duftete, das junge Laub strömte sanfte, würzige Gerüche und strahlendes Farbenlicht aus. Auf den taufeuchten Wegen lag es wie ein Frühlingshauch, so daß sie unbetreten erschienen.

Auf den Wiesen an der Ilm schimmerte noch ein leichter Frühnebel, aber schon wärmte die Sonne und teilte all der zarten Frühlingspracht Kraft zum Ausdauern mit.

Auf dem breiten Parkweg laufen unsere beiden Frühaufsteher, Hand in Hand, und da sie sich immer und überall auf ihre Art vergnügen müssen, so laufen sie jetzt, da ihnen nichts Besseres einfällt, rückwärts wie die Krebse, dem wohlbekannten römischen Hause zu, das sonnbeschienen, weißbeleuchtet, von einem dunkeln Lebensbaum beschattet, säulengetragen, an des Parkes Hauptweg liegt. So trotten sie hin in allem Behagen und mit dem ganzen Eifer, den sie für jede Thorheit, auch für die geringste, anzuwenden gewohnt sind.

In dieser Morgenstunde sind sie vollends alleinige Herrinnen des Parkes und können thun und treiben, was ihnen beliebt.

Sie unterhalten sich über das Benehmen einer Gesellschaft Mädchen, die damals mitten darin im weimarschen Leben steckten, älter als die Ratsmädel waren und diese zu allerlei Vertraulichkeiten, zu Botengängen u. dergl. sich herangezogen hatten.

Wir werden von dieser Gesellschaft noch erfahren.

Jetzt plauderten unsere beiden über die Mädchen und räsonnierten über sie und ihre Liebeshändel, in die sie durch ihr Amt als Botengängerinnen manch einen Blick gethan hatten, und übten eine scharfe Kritik an allem, was diese Schönen betraf und was sie von ihnen erfahren und erlauscht hatten. Und wie sie so rückwärts mit auffallender Sicherheit, jedenfalls durch lange Übung errungen, klatschend und plaudernd hineilten, fühlten sie mit einem Male einen mächtigen Widerstand. Sie erschraken, guckten mit großen Augen und fanden sich in den ausgebreiteten Armen eines stämmigen Mannes, in den Armen ihres Landesherrn Karl August, der sie, als er sie so eifrig dahertraben sah, aufgefangen hatte.

„Schönen guten Morgen,“ sagte er ihnen, indem er sie festhielt, „Ihr seid mir schöne Kerle, Euren Herzog umzurennen. Wenn ich nun nicht so fest auf den Füßen stände, jetzt läge ich da, und Ihr kämt für die Unart direkt ins Zuchthaus. Donnerwetter, steht es denn mit Euch noch immer so schlimm? Ich hörte, Ihr wäret vernünftiger geworden?“

„Bis sieben Uhr ist das unser Park, Hoheit,“ erwiderte Röse schelmisch befangen, als Karl August sie frei gelassen, und beide knixten tief und a tempo nach dem Rezepte der alten Kummerfelden. Zum Glück waren sie nicht zusammengeflochten.

„I der Tausend, sind wir hübsch und schlau geworden. Gute Gaben für junge Frauenzimmer. Aus der Schule nun endlich?“

„Ja, bald, Hoheit!“

„Gratuliere! Das soll ja für Euch eine böse Zeit gewesen sein? Kondoliere noch nachträglich.“

„Wie man’s nimmt,“ meinte Röse. „Sie war so schlimm auch wieder nicht. Man muß die Dinge nicht schwer nehmen; dann sind sie nicht schwer.“

„So, Ihr betrügt den lieben Herrgott, Ihr Tausendsapperloter? Dann macht’s nur so fort. Seht Ihr, da sind wir ja schon.“ Sie standen vor dem römischen Haus.

„Habt Ihr schon gefrühstückt?“

„Noch nicht, Hoheit, wir haben erst Gesundheitsthee getrunken!“

„So fehlt Euch etwas? Wart Ihr krank?“

„Nein, uns fehlt gar nichts, wir trinken nur so.“

„Das läßt sich hören,“ sagte Karl August lachend. „Kommt mit und frühstückt bei mir.“

Die Mädchen sahen sich bedeutungsvoll an, ungefähr mit dem Ausdrucke, als wollten sie sagen: Da hätten wir ja wieder einmal etwas zu erzählen; aber dieser einverständliche Blick verhinderte sie nicht, sich wieder unterthänigst und vollendet zu verneigen und damit ihre Bereitwilligkeit anzudeuten, daß sie mit Vergnügen die Ehre annehmen würden.

„Dann also vorwärts; ich bin hungrig, bin auch solch ein Frühauf wie Ihr.“

Und sie gingen miteinander, der Fürst zwischen den beiden schönen Kindern, die Stufen zu dem weißen, in der Sonne leuchtenden Hause hinauf.

„Wir haben uns recht lange nicht gesprochen, dächte ich,“ fuhr er fort; „mein Gott, was das junge Volk heranwächst. Schade, daß es mit allen Dingen so schnell zu Ende geht, und es giebt Schönes! Kinder, es giebt Schönes auf Erden!“

Als sie miteinander bei dem Frühstück saßen, das Karl August seinen jungen Gästen zuliebe hatte durch allerlei Leckerbissen vervollständigen lassen, fragte er, nachdem sein Blick lange wohlgefällig auf den beiden geruht:

„Hat Goethe Euch kürzlich gesehen? Der hat auch seine Freude an den beiden Rangen. Darauf könnt Ihr Euch etwas zu gute thun.

Übrigens vortrefflich, daß ich daran denke. Ihr verderbt mir meine Gitterthür an der Wilhelmsallee; was fällt Euch denn ein; was macht Ihr denn da? Seid Ihr denn nicht klug, Euch dort zu schaukeln?“ Röse und Marie wurden feuerrot. „Dort haben wir Euch kürzlich vom Schlosse aus beobachtet. Goethe hat das Opernglas dazu benützt; er wollte wissen, was für zwei schöne Mädchen solche Gassenbubenstreiche ausführen. Schämt Ihr Euch denn gar nicht, ist denn das Thor zum Schaukeln da?“

Vor den Fenstern des Schlosses, da liegt eine schönbogige Brücke, die über die Ilm führt und die an ihrem Ende durch ein schmiedeeisernes Thor abgeschlossen werden kann.

„Unser Garten liegt ja gleich hinter dem Thor, Hoheit,“ entschuldigte Marie sich, rot übergossen, „da müssen wir manchmal auf den Schlüssel warten, wenn der Vater erst noch etwas zu thun hat, und was sollen wir dann solange machen? Wir haben uns von jeher dort am Gitterthor geschaukelt.“

„Meinetwegen thut’s auch weiter,“ sagte Karl August lachend. „Ich sehe es mir gerne an, besonders, wenn Ihr die weißen Kleider mit den blauen Schleifen anhabt, da macht es sich artig. Ein Ende muß es ja doch einmal nehmen.“

„Ach, das war neulich, am Sonntag Nachmittag,“ sagte Röse zu Marie gewendet. „Vollends Sonntag Nachmittag, da schaukeln wir uns oft dort, da weiß man so wie so nicht, was man anfangen soll.“

„Lesen thut Ihr wohl nie etwas?“ fragte Karl August.

Beide Mädchen blickten verlegen nieder.

„Kennt Ihr denn so einiges, was meine Leute hier zu stande bringen?“

„Wir kennen alles, Hoheit,“ sagte Röse erschreckt und doch erleichtert, immer noch mit niedergeschlagenen Augen.

„Aber gelesen haben wir nichts, nicht wahr?“

„Nein,“ sagten beide einstimmig und entschieden.

„Also durchs Schauspiel? gucke, gucke! Da geht Ihr wohl oft hinein?“

„Ja, Hoheit, immer!“

„Nun, diese Art Bildung muß für Eure Eltern aber doch eine gehörige Ausgabe sein?“

Da saßen sie beide, feuerrot, und blickten sich ratlos an.

„Hört einmal, Schelme, Diebsgesindel,“ sagte der Herzog freundlich, „haltet Ihr es denn wirklich für möglich, Scherz beiseite, daß man so Jahre lang immer glücklich mit der größten Regelmäßigkeit sich in das Theater einschleichen kann, ohne daß sie einen wenigstens einmal erwischen?“

Die Mädchen blickten sich besorgt und immer noch purpurrot an.

„Ich glaube, Ihr denkt es wahrhaftig! Ist denn Euch nie die Idee gekommen, daß Ihr von höherer Hand, als von Eurem Flöten-Lobe, auf den Schleichwegen beschützt wurdet? O! Ihr Schelme! Ihr Diebsgesindel!“ rief der gute Fürst, auf das herzlichste lachend. „Doch laßt es Euch gesagt sein, Ihr habt Euren Landesherrn mit seiner vollen Bewilligung hintergangen. Was denkt Ihr denn? Und hintergeht ihn nur ruhig und so guten Gewissens wie bisher weiter.“

Jetzt, wo ein schöner Dank am Platze war, wußten sie beide nichts Gescheidtes zu sagen.

„Laßt das, laßt das,“ sagte Karl August liebenswürdig. „Macht es nur so fort, ich und manch anderer haben unsern Spaß gehabt und werden ihn, so Gott will, noch lange haben, wenn wir Euch Gesindel sitzen sehen. Nehmt nur Eure Plätze so, daß ich kontrollieren kann, ob Ihr auch wirklich da seid. Ich sehe Eure vergnügten Gesichter gerne im Theater, auch wenn Ihr sie auf Schleichwegen und zum Schaden unserer Kasse hineintragt.“

Die drei plauderten noch lange miteinander.

Welch eine liebenswürdige Zeit war es, in die die schönen Jahre der Ratsmädel fielen! Alle, die damals jung waren, waren gesegnet jung.

Die Ratsmädchen ließen es sich wohlschmecken im römischen Hause.

Karl August zeigte und erklärte ihnen Bilder, die an den Wänden hingen, und Röse und Marie nahmen Gelegenheit, ihrem Gönner den Kameraden Franz Horny und dessen Talent zu empfehlen.

„Ihr haltet ihn also für begabt und vielversprechend?“ fragte der Fürst liebenswürdig spöttisch.

„Ja, Hoheit,“ sagten die Mädchen einmütig.

„Dann, wenn Ihr ihn dafür haltet, werden wir uns nach dem jungen Mann umsehen.“

Ein Adjutant machte eine Meldung, und Karl August wendete sich zu seinen Gästen.

„Wir müssen leider voneinander Abschied nehmen. Meine Räte kommen, jetzt muß regiert werden,“ sagte er lächelnd.

„Lebt wohl, Ihr beiden Prachtmädchen! Nach Eurem Franz Horny will ich mich einmal umschauen, lebt wohl!“

Wie von einem frischen Winde getrieben, liefen die beiden, als sie die Stufen des römischen Hauses überschritten, nach Hause, um zu erzählen.

Ob sie Glauben fanden oder nicht, das that nichts zur Sache. Was sie wußten, wußten sie. Sie waren Manns genug, sich darüber zu freuen, aus tiefstem Herzen vergnügt zu sein.

Fünfte Geschichte.
Das Damengärtchen.

J ene Gesellschaft lebenslustiger und gefeierter Mädchen, von denen unsere beiden geplaudert, während sie ihrem Herzog in die Arme liefen, hatten sie bei der alten Kummerfelden kennen gelernt. Als sie eines Tages bei der Nähmeisterin eintraten, gewahrten sie zu ihrem höchsten Erstaunen Personen versammelt, die sie nie dort zu sehen erwartet hätten, die „ganze heilige Klerisei“, mit welcher Bezeichnung sie den Bekanntenkreis einer älteren Cousine beehrt hatten. Zu diesem Kreise gehörten unter andern: Ulrike von Pogwisch, Ottilie von Pogwisch, Adele Schopenhauer, lauter geistreiche Frauenzimmer, die bei den Ratsmädchen eben deshalb nicht in allzu großer Achtung standen. Sie waren sich beide vollkommen darüber klar, daß es bei weitem schönere Amüsements auf Erden gäbe, als in verteilten Rollen zu lesen oder an geistreiche Freunde geistreiche Briefe zu schreiben, oder als „ in corpore “, wie sie in Weimar sagen, für den Besitzer einer schönen Seele zu schwärmen. Röse besonders machte sich nicht viel aus dieser Gesellschaft und wich den Mädchen, wenn sie bei der Cousine waren, aus, wie sie nur immer konnte.

So war es den beiden eine fatale Überraschung, diese Herrschaften bei der Kummerfelden anzutreffen. Röse blieb einen Augenblick ganz verblüfft in der Thür stehen. „Marie,“ flüsterte sie, „da wird’s Ernst. Sie wollen sich verloben. Umsonst thun die es nicht, daß sie in ihren alten Tagen noch nähen lernen.“ Die Mitglieder der geistreichen Gesellschaft waren so ein fünf bis sechs Jahre älter, als unsere Ratsmädel, und erschienen daher Röse und Marie als bedauernswert alte Geschöpfe. „Sie haben Goethens August jetzt fest, das sollst Du sehen!“ flüsterte Röse weiter, als sie eingetreten waren und Platz genommen hatten, „oder sonst einen von ihren Schöngeistern. Da wird nun drauf und dran nähen gelernt. Es ist ein Skandal, und wenn sie auch etwas wegkriegen, in einem Jahr haben sie’s sicher wieder vergessen. Dann sitzt August Goethe, oder wen sie jetzt haben, da und kann zusehen, wer ihm seine Sachen flickt. Die,“ sie blickte geringschätzend auf die von ihr besprochenen Mädchen, „die thun’s nicht, sie werden sich hüten.“

„Sie werden ihn ja doch nicht alle heiraten!“ sagte Marie.

„Nein, sie dürfen’s nicht,“ erwiderte Röse trocken; „aber verliebt sind sie alle. Alle, wie sie da sitzen, das ist bei ihnen eine Heidenwirtschaft. Meinetwegen!“

Ottilie von Pogwisch rief Röse und Marie so von oben herab zu:

„Na, was macht Ihr denn?“

„Hohlsäume,“ schmetterte Röse.

„Kommt nur,“ rief Ottilie, „und setzt Euch mit zu uns.“

„Gut,“ sagte Marie, und beide setzten sich unter die andern.

„Aber was wollt Ihr denn eigentlich hier?“ fragte Marie, als sie sich niedergelassen hatten.

„Wir, wir wollen Eure Kummerfelden studieren,“ erwiderte Adele Schopenhauer ziemlich ungeniert laut, da sie von der Schwerhörigkeit der Meisterin überzeugt war. „Wir sind vollkommen objektiv hier.“

„Das wird soviel heißen,“ erwiderte Röse, die es drängte, auf dieses geheimnisvolle Wort hin etwas Verständnisvolles zu entgegnen, „daß Ihr nichts lernen wollt hier?“

„Gewissermaßen, ja,“ bekam sie zur Antwort. „Es ist wenigstens Nebensache.“ Adele zog ein Heftchen aus ihrer Tasche, sie hatte schon damals ihre schriftstellerischen Anwandlungen, und sagte: „Wir sind auf Jagd nach Originalen; sie sollen jetzt mehr und mehr aussterben. Hier,“ sie schlug mit der flachen Hand auf ihr Büchlein, „hier wird eingetragen, was sie auch thun und sagen mag, das tollste Zeug. Wir wollen Eure Kummerfelden verewigen. Wenn Ihr es versteht, sie zum Schwätzen zu bringen, dann thut’s; je mehr, je besser!“

Die Kummerfelden, oben auf ihrem Sitz, hielt sich mäuschenstill, und Röse antwortete: „Pfui, schämt Euch, das ist ja miserabel, herzukommen, um sich über sie lustig zu machen; das leiden wir nicht, das ist betrügerisch. Lernt lieber etwas bei ihr, das ist gescheidter.“

Die Kummerfelden hörte den Mädchen von ihrer Höhe herab behaglich zu und schob eine Haubenklappe etwas vom Ohr, um noch besser zu lauschen. Röse räsonnierte auf das heftigste und verwarf das Vorhaben der gefeierten Mädchen als ganz abscheulich.

Am Abend schrieb die Kummerfelden in ihr Tagebuch: „Ob ich das Honorar, das die Frau Großmama (die Frau Großmama war die Gräfin Henkel) den beiden Pogwischs ausgesetzt hat, annehmen soll, ist mir zweifelhaft, da die Mädchens, und ebenso die Adele nichts profitieren werden.“ Von den Ratsmädchen aber schrieb sie folgendermaßen:

„Gott behüte die freundlichen, wenn auch oft unartigen Geschöpfe. Wahrheit ist Vornehmheit. Herz und Mund auf dem rechten Flecke haben, ist Glück für sich und andere. Gesundheit ist Schönheit und Frische Segen. Das sind meine Lieblinge!“

Durch den Verkehr bei der Kummerfelden wurden die Ratsmädchen in dem Hause bei Schopenhauers heimisch und fühlten sich auch dort wohl und zufrieden. Johanna Schopenhauer, die Mutter Adelens, schien unsere beiden für zwei allerliebste Figuren anzusehen, die ihren Salon zierten, in dem sich allabendlich bedeutende und berühmte Gäste einfanden.

So ließ sie die beiden oft durch Adele zu sich einladen, bald mit, bald ohne Rats, bat die Mädchen, ihr bei dem Umherreichen von Thee und Backwerk behilflich zu sein und erntete von allen Seiten Lob, daß sie die beiden Pagen sich zugelegt hatte.

So waren sie eines Abends auch zu Schopenhauers eingeladen; ihre Gönnerin hatte angeordnet, daß sie in weißen Kleidern kommen sollten, und als sie zu der ihnen bestimmten Stunde erschienen, wurden sie von Madame Schopenhauer und Adele in deren gemeinschaftliches Schlafzimmer geführt. Dort lösten sie ihnen die prächtigen Haare auf. Jedem von den Mädchen drückten sie einen dichten Rosenkranz, aus den schönsten Rosen, tief in die Stirne, und so verwandelten sich die zwei in Genien, wie sie nicht anmutiger gedacht werden konnten.

Adele war ganz hingenommen von dem reizenden Anblick und zeigte sich rückhaltlos liebenswürdig.

Während sie sich damit beschäftigte, die Reize der beiden Mädchen schön hervorzuheben, behandelte sie Röse und Marie in einer Art Schaffensfreude wie zwei Kunstwerke, die aus ihrer Hand hervorgegangen waren.

„So, jetzt sind sie fertig!“ sagte Madame Schopenhauer, als Adele sie ihr zur Prüfung vorgeführt hatte. „Nun stelle sie hinaus und sieh zu, wie es gelingt.“

Den beiden Mädchen wurde jetzt die Anweisung gegeben, draußen auf der erleuchteten Treppe Goethe zu erwarten, der nach längerer Zeit zum ersten Male wieder den Abend bei Madame Schopenhauer verbringen wollte.

Das fuhr den beiden doch etwas in die Glieder.

„Ach, du großer Gott!“ rief Röse in einem wahren Schreckenston.

„Hört einmal,“ antwortete Adele, „seid nicht dumm und verderbt uns unseren schönen Plan nicht. Ihr stellt Euch draußen auf die Treppe hin und wartet. Das könnt Ihr doch? Und wenn er kommt, sprecht Ihr kein Wort, faßt ruhig seine Hände und führt ihn zu uns herein und nehmt ihm erst vor der Thür seinen Mantel und Hut ab. Alles ganz ruhig und still; und wenn er mit Euch spricht, so antwortet ohne Scheu, Ihr seid ja nicht auf den Mund gefallen. Und nun allons, es wird nicht lange dauern!“

Damit nahm sie Marie an der Hand; Röse folgte, und sie führte beide zur Thüre hinaus.

Im Nebenzimmer waren schon Gäste versammelt. Man hörte eine lebhafte Unterhaltung. Als Marie und Röse draußen auf der Treppe standen, blickten sie sich verdutzt an.

„Du großer Gott!“ murmelte Röse noch einmal. Marie zeigte sich vollkommen gefaßt. „Er mag nur kommen,“ sagte sie so ruhig, etwa wie ein Jäger, der sich bereit gemacht hat, einen Bären gehörig zu empfangen. Jetzt ging die Hausthür. „Das ist er!“ flüsterte Röse.

Ungemein leichte, elastische Schritte hörten sie auf der Treppe. Der Ankommende mochte wohl zwei Stufen auf einmal nehmen.

„Das ist er nicht,“ sagten sie.

„Das muß Schopenhauers Kater sein,“ meinte Röse leise. „Paß auf! Daß er heute auch kommt, wundert mich!“

Der Ankommende war Arthur Schopenhauer, der Sohn Johannas und der Bruder Adeles.

Ein närrischer Gast, der mit aller Welt so übel wie möglich stand. Wenn er sich in den Gesellschaften seiner Mutter sehen ließ, gab er die sonderbarste Figur ab und brachte die gute, formgewandte Frau während seines Aufenthaltes in ihrem Salon aus aller geistreichen Würde und Fassung durch Paradoxen, unartige Angewohnheiten, beißende Urteile und Kritiken und berührte ihre an Almanachszartheit gewöhnte Seele durch aufrührerische Aussprüche auf das unangenehmste. Dieser Störenfried der schöngeistigen Theeabende seiner Mutter stürmte die Treppe herauf, prallte um ein Haar mit den Ratsmädchen zusammen, sah auf, starrte sie wie aus einem Traum erwacht an und sagte: „Bei Brahma! was ist denn los?“

„Wir sollen Goethe erwarten,“ antwortete Marie schüchtern.

„Das ist echte Weiberart! Können sie denn nicht aufhören drinn, den Alten zu beschwindeln?“ polterte Frau Johannas Sohn. „Wozu die Allotria? Es ist ihnen nicht Einhalt zu thun, den Weibern! Sind sie mit Gottes Hilfe soweit gekommen, daß sie unschädlich geworden sind, da suchen sie Krücken und Stützen, exerzieren sich ein Vikariat ein, um zu beschwindeln. So lernt’s auch nur beizeiten, Ihr Schippchen!“ damit war er an den beiden Mädchen vorübergestürzt.

„Grobian,“ sagte Marie.

„Grobian,“ wiederholte Röse, „hör mal, grob ist er, mir aber lieber, als alle zusammen drinnen mit ihrem Gethue, und garstig ist er auch, aber, flink und behende, und seine Augen sind nicht übel.“

„Mein Geschmack ist er nicht,“ erwiderte Marie kurz, „und ich kann nicht sagen, daß es mir recht wäre, wenn Du Dich in den gerade vergucktest.“

„Schaf, wer redet davon,“ war Rösens kräftige Antwort. Da ging die Hausthür unten wieder.

„Herrjes, das könnte er aber sein!“ flüsterte Röse.

Es bewegte sich ruhig, mächtig, majestätisch die Treppe hinauf, das waren andere Fußtritte, eine andere Gangart, als die heftige, stürzende des unliebenswürdigen Gastes von vorhin.

Röse hatte recht gehabt, er war es, Goethe war es.

Mit klopfendem Herzen standen die beiden schönen Geschöpfe auf der obersten Treppenstufe und blickten auf ihn, wie er langsam und bedächtig die Treppe herauf geschritten kam, den Schlapphut auf dem Kopf, um die mächtigen Schultern einen dunklen, faltenreichen Mantel.

Als er auf dem letzten Treppenabsatz angekommen war, blieb er stehen, blickte auf und gewahrte die beiden schönen Botinnen, die ihn erwarteten. Der Anblick erstaunte ihn. Er verharrte einige Momente im Anschauen der Mädchen.

„Artig! Anmutig, sehr anmutig!“ rief er aus.

Die Genien gingen ihm ein paar Stufen entgegen und, als wäre der Teufel in sie gefahren, so waren sie mit einem Mal verändert. Ihre Schüchternheit, ihre Angst war gewichen, jede Bewegung wurde begeisterte Hingebung und Grazie — und sie empfanden, als flögen sie Goethe selig entgegen.

Als sie die Arme ausstreckten, um seine Hände scheu zu fassen, schaute Goethe wie ergriffen auf die jugendlichen Gestalten und sagte mit eigentümlich mächtiger Betonung:

Dunkle Augen seh ich blinken

Unter dichtem Blumenkranze!

Darauf ergriff er die Hände der Mädchen, nickte ihnen freundlich zu und ließ sich hinauf geleiten.

Als er mit den beiden schönen Gestalten in das Zimmer seiner Freundin zu den Gästen eintrat, war bemerkbar, daß dieses Eintreten auf die Anwesenden eine wunderbare Wirkung hatte.

„Wie schön Sie Ihre Gäste empfangen, Frau Johanna.“ Mit diesen Worten begrüßte Goethe die Frau des Hauses. „Haben Sie Dank dafür.“

Das Zimmer, in das sie eintraten, war langgestreckt, fast ein Saal zu nennen, vierfenstrig. Die Wände mit der sonderbarsten Tapete bekleidet, welche die Geschichte des Joseph in Egypten grau in grau darstellte. Die Grube, in die die bösen Brüder ihren jüngsten gesteckt hatten, die Käufer des guten, verwöhnten Knaben, die Träume des Pharao, das Wiedersehen mit dem alten Vater, all dies war an den Wänden des Salons der Frau Johanna zu sehen. Der Saal ist unverändert geblieben noch bis vor einigen Jahren. Jetzt dient er einer Restauration, und die bösen Brüder, der alte Vater, der gute Joseph, die alle in dem Salon der Madame Schopenhauer auf die berühmten Leute, die sich dort bewegt haben, herabgeblickt hatten, sind mit rosa Ölfarbe übertüncht.

Diesen Abend wurden die Ratsmädchen außerordentlich gefeiert. Sie bewegten sich unter den berühmten und geistreichen Leuten wohlgemut und hörten von allen Seiten Artigkeiten. Goethe setzte sich eine Weile während einer kleinen Aufführung, die Adele, die Pogwischs und August von Goethe veranstalteten, zwischen die beiden Schwestern. Er erzählte ihnen, daß er sie gar wohl kenne und schon oft Freude an ihnen gehabt habe.

„Welche Fülle,“ sagte er und strich Marie über die goldschimmernde Haarflut, die reizend an ihrer schlanken Gestalt hinabfloß.

Röse und Marie bemerkten, daß Arthur Schopenhauer und Goethe an diesem Abend auf das eifrigste miteinander sich unterhielten.

„Du, Dein Kater sprüht Funken,“ sagte Marie zu Röse und zeigte auf Arthur Schopenhauer, aus dessen Zügen das Leben, während er sprach, wahrhaft leuchtete.

„Ich hab’s immer gesagt: das ist auch ein großes Tier,“ meinte Röse; „da wird ja wohl auch die Schopenhauerin einmal mit ihm zufrieden sein, wenn er sich mit Goethen so niedlich macht. Die Adele hat’s von mir zu hören bekommen, daß ich es unausstehlich finde, wenn sie an ihrem Bruder ewig herumnörgelt.“

Die beiden Damen Schopenhauer waren, wie stadtbekannt, in einer unausgesetzten Unzufriedenheit mit dem Sohne und Bruder Arthur, mißtrauten ihm in allen Dingen; seine Neigung zur Philosophie, sein Aufgehen darin erschien ihnen höchst sonderbar und wenig versprechend. Sie hielten nicht viel von seinen Bestrebungen, drängten sich ihm als Vorbilder auf und behandelten ihn nur als enfant terrible . „Alles an ihm ist beängstigend, selbst seine Wahrheitsliebe, mit der er einem wie mit einer Bürste unter die Nase fährt,“ sagte seine Mutter von ihm, und derlei Aussprüche der Mutter mochten wohl mit schuld daran sein, daß man ihm in ihren Gesellschaften wenig liebenswürdig entgegenkam. Er saß gewöhnlich allein und unbeachtet, auf das sonderbarste in einen Stuhl hineingeräkelt, und schien sich um niemanden zu kümmern.

An dem Abend aber, als er die Ratsmädchen auf der Treppe beinahe umgerannt hatte, näherte er sich ihnen: „Nun, Ihr Haareulen,“ sagte er, „wie geht’s? — Wie steht’s? Ihr seid ja gut ausstaffiert, sorgt nur dafür, daß es nachher, wenn Ihr eingefangen habt, was Ihr einfangen werdet, und die goldenen Fahnen davon geflattert sind,“ er schnippte leicht in Rösens Haar mit dem Finger, „daß es dann nicht gar zu übel um Euch und die, die mit Euch leben müssen, steht. In der Jugend geht alles an, die hat ihre Zwecke, da mag es sein; aber pfui Teufel, alte Weiber, da hat es seine Gefahr, da kann alles unerträglich sein. Denkt daran, daß Ihr alte Weiber werdet, und sorgt schon jetzt vor, daß es dann leidlich mit Euch auszuhalten sei. Schwatzt nicht, und wenn es jetzt noch so niedlich klingt, später ist es das nicht mehr, — ist unausstehlich, horrend! Seid anspruchslos, des Alters wegen. Anspruchsvolle alte Weiber, — grauenhaft! Soviel wie ein altes Weib geben kann, auf soviel hat sie Anspruch im Entgegennehmen, versteht Ihr? Verflucht wenig!“ Die Ratsmädchen hörten ihm verwundert und lächelnd zu. „Versucht“, brummte er, „ob Ihr es fertig bringt, Euer lebelang freundlich zu bleiben und mitleidig! Diese zwei Dinge können versöhnen. Nebenbei sparsam und fleißig. Was ich Euch hier sage, ist vernünftig und klug, wenn es Euch auch dumm vorkommt. Hört auf einen, der klüger ist, als der übrige Haufe, und Ihr bekommt’s nicht alle Tage zu hören! Mit der Jugend nimmt’s rasch ein Ende. Heut seid Ihr vierzehn und fünfzehn und nächstes Jahr sechzehn, dann kommt langsam siebzehn, achtzehn, neunzehn. Seid Ihr erst zwanzig, dann geht es mit Riesenschritten: fünfundzwanzig, dreißig, fünfunddreißig — fünfzig, hu!“ und der kleine Mensch mit dem großen Kopf schnitt eine greuliche Fratze.

„Unrecht hat er nicht,“ sagte Röse, als er wieder von ihnen gegangen war. „Aber wenn man sich denkt, daß es ein junger Mann ist, der so spricht, dann kommt einem die Sache doch närrisch vor.“

„Abgeschmackt,“ urteilte Marie.

„I gar, das nicht,“ bemerkte Röse tiefsinnig.

Und sie hatte sich die Worte des wunderlichen Menschen fürs Leben wohl gemerkt. Als die Jugend von ihr gewichen war, die goldenen Fahnen eingezogen, da blieb die reine Freundlichkeit, Anspruchslosigkeit zurück, eine unerschöpfliche Güte, mit der sie bis in das hohe Alter Haus und Familie, Kind und Kindeskinder, beglückte und rührte. Es blieb ein Wesen zurück, aus lauter Liebe gestaltet. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, ein altes Weib wurde unsere Röse nie; sie wurde so wenig alt, als Güte und Anspruchslosigkeit je alt werden können. Wir nennen sie noch heute unser „Gomelchen“. Der Name ist gekommen, ich weiß nicht wie. Er entstand, um etwas zu benennen, für das sich kein Name eingestellt hatte, für etwas, das lauter Heiterkeit, Liebe, Liebenswürdigkeit, Innigkeit, Frische und die Güte selbst ist. Sie wurde ein „Gomelchen“, wie schon gesagt, nie alt, kein Mütterchen, „ein Gomelchen“, nichts anderes. Der Philosoph hatte den herrlichen Mädchen wohl, weil er Mitleid mit ihnen fühlte, einen Zauberspruch fürs Leben mitgegeben, der sie vor dem Alter schützen sollte; diesen Spruch: „Immer an das alte Weib denken“, hat Röse zu jeder Zeit wohl im Herzen behalten.

Doch habe ich jetzt fünf, sechs, sieben Jahrzehnte vorgegriffen, in Zeiten hinein, die den Ratsmädchen an jenem schönen Abend bei Johanna Schopenhauer unendlich ferne lagen, in Zeiten hinein, in denen Enkel und Urenkel der beiden schönen Kinder ihr Wesen treiben. Die Unterhaltung aber des widerhaarigen Sohnes der geistreichen Mutter, die im Leben der Ratsmädel die besten Früchte getragen, diese Unterhaltung hat ihnen am selbigen Abend noch einen rechten Ärger gebracht. Sie waren während der Standrede, die ihnen der Philosoph gehalten, belauscht und zwar von Ottilie von Pogwisch und August von Goethe und wurden von beiden, die in vertraulichem Einverständnis zu sein schienen, gehörig damit gehänselt.

„Der hat Euch gut zugerichtet, das ist recht,“ sagte Ottilie. „Wenn’s nach mir ginge, er müßte Euch alle Tage predigen: ‚Ihr habt es vonnöten‘.“

„So,“ sagte Röse und wurde dunkelrot vor Ärger. „Und Ihr? Wer soll denn Euch thun?“

Sie hatte auf Ottilie von Pogwisch von jeher einen Ärger, sie brauchten nur in ein Gespräch miteinander zu kommen, so schwoll Rösen der Kamm.

„Ich habe übrigens mit Euch ein Hühnchen zu pflücken und die Adele auch, kommt einmal mit, Ihr Galgenvögel,“ sagte Ottilie gutlaunig.

Sie ging voraus, und die Ratsmädchen folgten ihr. August von Goethe flüsterte ihnen zu: „Laßt Euch nicht ins Bockshorn jagen, ich habe etwas verraten, was Ihr angerichtet habt, daß Ihr’s nur wißt.“

Es stellte sich eine sonderbare Thatsache heraus, daß nämlich die leichtsinnigen Ratsmädchen eine geringe Achtung vor der Unantastbarkeit eines wohlverwahrten Briefes hatten, ja, daß gerade die Verschlossenheit eines solchen Briefchens eine unwiderstehliche Aufforderung an sie enthielt, es zu öffnen.

Die geistreichen und unausgesetzt in schriftlichem Verkehr miteinander stehenden jungen Damen, die Pogwischs, die Schopenhauer und deren Freundinnen hatten Röse und Marie hin und wieder ein solches wohlverwahrtes Briefchen mitgegeben, das sie da oder dort abliefern sollten.

Diese Briefchen aber wurden von den beiden regelmäßig in dem wenig belebten Durchgang des Wittumspalais gelesen.

Was für ein sonderbares Gemäuer war dieser alte Durchgang und ist es noch, denn er wird wohl kaum seit jener Zeit eine Veränderung erlebt haben.

Von der Esplanade, der jetzigen Schillerstraße, die damals von alten, schönen Linden beschattet war, führte eine breite Treppe mit eisernem Geländer zu einer Gruppe tiefliegender Häuser hinab. Neben dieser Treppe in einem schattigen Gärtchen wächst ein schöner Muskateller-Birnbaum, der wie kein anderer voll blüht und voll trägt. Er stand schon damals und steht noch heute. Auf der Treppe fanden und finden die Schulkinder an frischen Julimorgen manch goldgelbes, zersprungenes Birnlein liegen, das der Wind über Nacht von dem Baum geweht hat.

Diese Treppe führte zu dem dunkeln Gang, der durch ein Nebengebäude des Wittumspalais geht und der wie geschaffen ist zum Lauern und Schlüpfen für Liebespärchen und Gassenbuben.

Dort hockten die beiden Rangen auf den Stufen und lasen mit außerordentlichem Hochgenuß die Herzensgeheimnisse, welche die Damen für gut erachteten, einander mitzuteilen. Und die Ratsmädchen fanden nichts auf der Welt so spaßhaft, so belustigend, als die pedantische Rechenschaft, die eine jede der Freundinnen der anderen von ihrem augenblicklichen Herzenszustande gab, so genau und ausführlich, daß es schien, als seien diese Frauenzimmer entschlossen, das Wesen der Liebe ein für allemal und endgültig zu ergründen.

Röse und Marie wußten aufs genaueste, wie es um Ottilie und August von Goethe stand. Sie hatten auch einen Brief von Adele an einen Verehrer befördert und natürlich gelesen, worin Adele zum größten Gaudium der Ratsmädchen diesem auf einen Heiratsantrag folgendermaßen erwiderte:

„Mein Herz ist nicht mehr frei; wollen Sie mit meinem Verstande vorlieb nehmen, so bin ich die Ihre.“

Als die Ratsmädel diese Antwort gelesen hatten, gerieten sie auf ihrer Treppe außer sich vor Vergnügen, und Röse rief: „Du, die ist praktisch; das sollte man sich merken; aber miserabel ist es doch, und wenn er darauf hereinfällt, ist er ein Esel, und es geschieht ihm alles recht.“

Zu Rösens außerordentlicher Befriedigung ging er aber nicht auf Adelens Vorschlag ein. Zu einer solchen behaglichen Stunde auf der Wittumspalais-Treppe, während welcher Röse und Marie sich mit Indiskretionen auf das harmloseste vergnügten, wurden sie in ihrem Treiben von August von Goethe belauscht und an die Pogwischs verraten.

Und jetzt, nachdem diese dem Sermon des jungen Schopenhauer, den er den beiden Mädchen hielt, gefolgt waren, erachteten sie es auch an der Zeit, ihrem Herzen Luft zu machen und beschuldigten Rösen und Marien einer niedrigen und strafbaren Gesinnungsart, so daß diese im Laufe einer Viertelstunde des Fatalen genug erfuhren und ganz erstaunt und betreten waren; wie schnell ein Übel dem andern sich anschließen kann.

Die Pogwischs hatten die Freude, die beiden Ratsmädchen, deren glücklicher Gleichmut den Anschein hatte, als wäre er nicht zu trüben, betreten und bedrückt vor sich stehen zu sehen. Sie blieben auch den ganzen übrigen Abend nachdenklich, hatten, wie es sich von ihnen erwarten ließ, keine Reue, aber einen außerordentlichen Ärger über die Pogwischs und einen noch größeren über August von Goethe, den Schwätzer.

„Ich möchte den Menschen wahrhaftig sehen, der in solche Zettel, wie wir sie herumtragen, nicht hineinsieht. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihn bewundern würde, ich mache mir nichts aus solchen widernatürlichen Dingen; aber der Goethe soll schon merken, daß er geklatscht hat!“ sagte Röse resolut.

August von Goethe brachte diesen Abend die beiden Mädchen nach Hause. Sie benahmen sich äußerst kühl und gehalten gegen ihn. Er erbat sich ihre Verzeihung, die sie ihm aber auf das entschiedenste verweigerten.

„Da kämen wir schön durchs Leben,“ sagte Marie, „wenn es mit einer Verzeihung abgethan wäre. Was bringt zu Ehren? — Sich wehren! Sie kennen das doch, Herr von Goethe?“ sagte Röse und wollte recht schnippisch sein. „Wenn das bei Ihren Freundinnen, oben bei Schopenhauers Mode ist, mir nichts, dir nichts zu verzeihen, bei uns ist es das nicht.“

„Nun, ich möchte doch wissen,“ sagte August von Goethe, „ob Ihr auch so streng mit Euren vielen guten Freunden seid, mit denen man Euch allerwegen sieht.“

„Viele gute Freunde?“ fragte Röse pikiert. „Wir haben drei. Da ist erstens Budang, zweitens Ernst von Schiller und drittens Franz Horny, das sind sie.“

„Drei, das ist eine schlimme Zahl, da muß einer traurig abziehen,“ sagte August von Goethe.

„So, wie meinen Sie das?“ fragte Röse. „Wir haben sie alle drei gleich gern, einen wie den andern.“

„Zum Beispiel verloben könntet Ihr Euch doch nicht mit allen dreien,“ sagte ihr Begleiter.

„Wenn Sie das so meinen,“ erwiderte Röse, „das geht freilich nicht; aber es sieht Ihnen recht ähnlich, daß Sie dergleichen, worauf kein Mensch kommen würde, denken. Ich möchte Budang sehen, wenn wir ihm das erzählen; der wird schön bös auf Sie sein; der ist sehr gegen dergleichen. Wir, Marie und ich, hassen auch Liebe und finden Leute abgeschmackt, die ewig nichts weiter im Kopfe haben, als das! Es gefällt uns gar nicht, daß Sie solche Vermutungen aussprechen, gerade von Ihnen gefällt uns das nicht, weil Sie selbst so viele gute Freundinnen hier haben.“

„Warten Sie nur, Herr von Goethe,“ sagte Marie, „wir haben Ihnen unsere besten Freunde am Schnürchen hergenannt, damit Sie nicht denken, es wären ihrer zwanzig. Wir werden Ihnen auch Ihre guten Freundinnen vorzählen, Sie sollen schon sehen, das werden wir Ihnen zur rechten Zeit thun.“

„Marie,“ sagte Röse, „was meinst Du denn?“

Da zwinkerte Marie ihr zu, auf eine Weise, die Röse den Mut gab, im vollen Vertrauen auf ihre Schwester, sich Herrn von Goethe lachend zuzuwenden und mit ihr im Chore zu sagen: „Ja, ja, wir werden Ihnen ein Weihnachtsgeschenk machen. Nun, gute Nacht, adieu, Herr August von Goethe!“

Als die Mädchen in ihrer Stube, oben unter dem Dache, angelangt waren, konnten sie sich vor Lachen und Vergnügen kaum halten; denn Marie hatte Röse ihren Plan, der ihr auf dem Wege so durch den Kopf gefahren war, mitgeteilt und hatte von Rösen vollkommene und freudige Zustimmung erhalten. Es wurde beschlossen, Herrn von Goethe zu Weihnachten mit einem sonderbaren Geschenk zu überraschen.

Seit langer Zeit waren sie mit keiner glänzenderen Idee beschäftigt gewesen, und die, welche jetzt in Maries Kopf aufgestiegen war, schien sie beide vollkommen zu beglücken; sie konnten lange nicht zur Ruhe kommen und auch deshalb nicht, weil das aufgelöste Haar die größte Mühe verursachte. Es war über die Maßen verwirrt und zerzaust, und sie mußten sich beistehen, um es auseinander zu bekommen. Frau Rat durfte beileibe nicht erfahren, daß man es ihnen wieder aufgeflochten hatte; sie war der Meinung, daß dieses Lösen und Herumflattern dem Glanz der schönen Flechten schade; auch liebte sie es nicht, wenn ihre beiden Mädchen sich als zwei Haarungetüme in der Gesellschaft zeigten.

Es war vor Weihnachten, eine prächtige Winterzeit! Der Schnee lag so hoch und so beständig, wie er seit Jahren nicht gelegen.

Die Winterfreuden hatten sich zu einer Mannigfaltigkeit herausgebildet, wie seit Menschengedenken nicht.

Von den wunderlichsten, altmodischen Schlitten wimmelte es im Städtchen; denn jeder alte Schlingel von einem Schlitten, den man in gewöhnlichen Wintern nicht auf die Beine gebracht hätte, weil es sich um ein paar Tage Schneebahn nicht gelohnt hätte, war leidlich ausstaffiert worden, und so närrisch bunt und wackelig, wie er war, sauste und flog er neben hübschen anderen, nagelneuen durch die Straßen. Die Gassenjungen hatten diesen Winter eine erstaunliche Geschicklichkeit erreicht, auf die Kufen zu springen und sich von den Schlitten mitnehmen zu lassen.

Unten an der Bibliothek, auf dem großen Rutschberge geschahen Wunder und Zeichen; denn die Käsehütschen, auf denen die Sakramenter, die Gassenbuben, die Eisbahn hinabrutschten, schienen diesen Winter zu ganz anderen Geschöpfen sich umgewandelt zu haben. Sie waren heimtückisch, in ihrer Schnelligkeit unerreichbar geworden, flogen hin, wie Schwäne, wie Schneegänse, von der Bibliothek an fuhren sie über die ganze Reitwiese weg, wie im Flug an dem alten Reithaus vorbei, bis auf die festgefrorene Eisdecke der Ilm. Ob sie es heut noch zu stande bringen? Kaum mochte es einen Weimaraner geben, der nicht davon zu berichten gehabt hätte, daß ihm eine Käsehütsche mit einem unverschämten Bengel darauf, die, wie vom Himmel gefallen, auf ihn zu wetterte, an die Beine gefahren sei, mit einer Wucht, wie eine wilde Bestie. Die Straßen wimmelten von Raben und Goldammern, wie noch keinen Winter. Alles hatte den Anschein von etwas Außerordentlichem. Man spürte den erregenden Einfluß eines gewaltigen, unhemmbaren Elements.

Mit geheimem Behagen sah man die Schneewälle, die an den beiden Seiten der schmalen Wegbahnen sich auftürmten, höher und höher werden. Es gab in Weimar Wohnungen und Häuschen, die buchstäblich eingeschneit waren.

So lustig und unternehmend das Leben auf den Straßen war, so behaglich und angenehm befand man sich in den vier Wänden. Es wurde geheizt „auf Teufelsholen“, wie man sich in Weimar ausdrückt, und es ging mächtig an die Holzvorräte.

Die alten Damen hielten Spielchen und Kaffees ohne Ende; die Abende in den Familien waren wunderhübsch, und die Weihnachtserwartungen schöner als je. Es schien mit den Schneemassen ein Geist der Gemütlichkeit mit herabgekommen zu sein.

An solch einem Winternachmittag bereitete die Kummerfelden sich zum Empfang von Gästen vor. Unten in der Stube, in der die Schülerinnen am Vormittag gehaust hatten, wurde ein Tisch gedeckt; die Kummerfelden in ihrem hellen, geblümten Kleid, die Prachthaube auf dem Kopf, eine Bernsteinkette um das Handgelenk, sprang die siebenstufige Treppe, die in ihr Schlafgemach führte, hurtig auf und ab, schleppte aus einem Schubfach Tassen hervor, aus einem Beutel silberne Löffel, stach mit der Gabel den Kommodenkasten auf, in welchem sie Zucker verwahrt hielt, trabte unentwegt auf und nieder und brachte allerlei aus allen Ecken herbeigeschleppt, schüttete endlich auch frischen Tabak in die Schnupftabaksdose und stellte diese mit auf den Tisch. Aus dem gestrickten Beutel über ihrem Bette wurden Äpfel gelangt, und im warmen Ofen stand bald der Kaffee fix und fertig.

„Nun könnten sie kommen, es wäre alles so weit,“ sagte die Kummerfelden und ließ sich auf eine Treppenstufe nieder, schlang die Hände um die Kniee und saß da wie der liebe Herrgott am siebenten Schöpfungstage, mußte aber so länger sitzen, als ihr lieb war; denn die Gäste kamen nicht ganz pünktlich, jedenfalls wegen des vielen Schnees.

Und während die Kummerfelden saß und lauerte, tappte bedächtig zwischen den hohen Schneewällen durch die Schützengasse, die damals noch „das Pförtchen“ hieß, eine respektable Frauengestalt, bog bei der Schleuse ein und trottete mit Filzschuhen, die den Eindruck von Kähnen machten, in denen die große Frau sich behaglich, ohne daß sie sich selbst dabei anzustrengen hatte, fortschaffen ließ. Die Filzschuhe führten sie durch den wieder neugefallenen Schnee weich und geräuschlos, wie es sich von solch einer Frau ganz unwahrscheinlich und gespenstisch ausnahm. Ein frischer, voller Schneewind fuhr gegen die steifen Falten ihres Mantels, ohne sie in Schwung bringen zu können. Der Mantel hätte seinem Schnitte, seiner Ausdehnung und seinem eisenfesten Stoffe nach gut den Überkragen für einen Winteranzug des Riesen Christophorus abgeben können. Gott weiß, aus welcher Zeit er stammen mochte! Er machte den Eindruck der Unvergänglichkeit. Die große Frau, die schwer und leise, in Wollmassen gehüllt, durch den Schnee geht, heißt Fabian, aber ihr Name, unter dem man sie in den weimarischen Gassen und Straßen kennt, ist nicht dieser ehrenwerte Name, den sie als Gattin des Zinngießers Fabian trägt; sondern für jung und alt heißt sie die Rabenmutter; nicht wegen eines hartherzigen Charakterzuges gegen ihre Kinder, sondern lediglich deshalb, weil sie Winter für Winter hinaus auf den Ettersberg wandert, um den Raben Futter auszustreuen.

Sie war, wie große, unbehilfliche Leute es oft sind, gut wie ein Kind. Das wußte jedermann von ihr. Ihre Freundlichkeit aber, mochte sie in Worten oder Werken bestehen, hatte etwas Gewaltsames.

Sie liebte es, sich für andere zu plagen, verstand es, mit allem und jedem auszuhelfen, mit Kinderzeug, wo es Not that, mit Koch- und Backrezepten, mit Heilmitteln und mit gutem Rat; wußte zu einem Prozesse oder sonstigen Rechtshändeln zuzureden oder abzureden, auch mit Gelegenheitsgedichten griff sie ein, wenn es verlangt wurde, und strengte ihr poetisches Empfinden bald zu Gunsten eines Briefträgers an, der einen Neujahrswunsch seinen Kunden überbringen wollte, bald zur Verherrlichung einer Hochzeit oder Kindtaufe; verfaßte Bettelbriefe für Bedürftige, grauenhaft zum Herzen sprechend, und verwendete so mit Freuden und in bester Laune ihre Kräfte für die Menschheit.

Während wir über sie berichten, kommt sie, umtanzt von großen Flocken, ihrem Ziele näher. Sie geht jetzt über den schmalen Steg, der über den Wassergraben führt, direkt auf den Entenfang zu, in dem die Kummerfelden sitzt und lauert.

Jetzt steht Frau Fabian vor dem Häuschen und lugt in das Fenster hinein.

Richtig, da sitzt die Kummerfelden noch immer auf der Treppenstufe, und da das Warten ein saures Geschäft ist, so sieht sie griesgrämig aus.

„Na,“ brummt Frau Fabian, als sie die Gastgeberin so sitzen sieht, „was fehlt ihr denn?“ Die große Frau fährt unter dem Mantel vor mit der Hand, die in einem Buckskinhandschuh steckt, an dem der Zeigefinger sich durchgearbeitet hat, so gründlich, daß der Handschuh seine Spitze vollkommen verloren, und der Finger aus einem sorgsam umsäumten Strumpf hervorsieht. Mit diesem Finger pocht die große Frau mit aller Wucht gegen die Fensterscheiben, so daß die Kummerfelden auffährt und mit beiden Händen vor Schreck nach ihrer Haube greift.

„Das ist die Fabianen,“ ruft sie und läuft, noch ganz desparat von dem Schreck, nach der Thüre, um zu öffnen. Ehe sie aber bis dahin gelangt, schellt es draußen, daß es der Ärmsten durch Mark und Bein dringt.

„Nun schellt sie auch noch, als ob sie nicht schon Lärm genug gemacht hätte!“ murmelte die Kummerfelden. Und als sie die Thür geöffnet, da steht ihr Gast großmächtig vor ihr und schüttelt den Schnee von der Kappe, von den Schultern, aus den Falten.

„Weeß Gott, en paar Schaufeln voll!“ sagte sie mit ihrer dicken, rollenden Stimme.

„Komm nur herein,“ ermahnt die Kummerfelden, „Du läßt mir ja die ganze Kälte ins Haus; Du warst wohl gar auf dem Ettersberge?“

„Na ob,“ bekam sie zur Erwiderung aus einem Sprühregen von Eisstückchen, Wassertropfen und Schnee heraus; die Fabianen schüttelte ihr Lori aus, wie sie ein schlangenartiges, langes Tuch zu benennen liebte, das sie so ein vier-, fünfmal um den Hals geschlungen trug, so daß ihr Hals dadurch ein runderes und kopfartigeres Ansehen bekam, als der Kopf selbst.

„Läufst Du denn immer noch herauf und fütterst die Raben?“ fragte die Kummerfelden und kehrte in die Stube zurück, um dadurch ihren Gast zu veranlassen, ihr zu folgen.

„Ja wohl,“ sagte diese und trat in die Wärme ein, „ja wohl. Über das arme Viehzeug! Dies Jahr sieht’s wahrhaftig elend genug aus.“

Jetzt nahm sie den Mantel ab und hing ihn über einen Stuhl am Ofen und stand nun dunkellilla, feierlich mitten in der Stube. „Gucke! — Gucke!“ sagte sie und hauchte in die roten Hände und betrachtete den Kaffeetisch. „Du hast ja gut aufgefahren! Wenn ich so von draußen komme, wo das Gevögel wegen eines verschimmelten Häppchens um sich hacken muß wie der Teufel, damit es andere nicht stibitzen, da hat es doch unsereins, weiß Gott, recht zufriedenstellend. Das arme Vieh! das arme Vieh!“ wiederholte sie und wiegte sich dabei von einem Fuße auf den andern, daß das Haus schütterte. Sie wollte sich den Frost aus den Füßen trampeln, wie es schien. Ihre großen Filzschuhe aber hatte sie manierlich draußen vor die Thür gestellt.

„Wenn die hohe Justiz,“ sagte sie immerfort trampelnd, „wenn die hohe Justiz auch einmal zur rechten Zeit ein Einsehen hätte! Ich bin doch überzeugt, daß sie irgend so einen armen Sünder sitzen haben, so einen Totschläger, Brudermörder oder sonst wen, oder wohl gar zwei, daß sie die nun jetzt richten thäten, wo sie noch Nutzen stiften können! Nä, da warten sie damit, und wenn sie die auch jetzt richten thäten — hängen lassen würden sie se doch nicht. Wir kennen die Justiz, nicht den Tropfen Menschlichkeit hat se in sich, nicht den Tropfen! und keen Verständnis von nichts!“

Die Kummerfelden sagte: „Ach was, Fabianen, Du bist doch manchmal ein rechter Husar in Deinen Ansichten.“

Frau Fabian beunruhigte sich darüber nicht, sondern sprang weiter von einem Fuße auf den andern, daß es der Kummerfelden schließlich schwindelnd wurde. Währenddem huschte draußen im Schnee und im Gestöber eine kleine Person dem Steg und dem Entenfang zu.

Sie huschte wie ein Rättchen so scheu, und hinter ihr her durch die Flocken und den Schneenebel da fuhr es huit, huit! Das waren Schneebälle. Die kamen angeflogen, bald von da, bald von dort, immer hinter ihr her, und kamen von den infamen Gassenbengeln, die nun einmal ein huschendes, altes Persönchen nie in Ruhe lassen können. Es ist schlecht von ihnen, aber sie lassen es nun einmal nicht. Das wußte die kleine Jungfer auch und sputete sich gewaltig. Ganz außer Atem zog sie endlich an der Schelle im Entenfang; aber wie zaghaft, wie bescheiden!

„Das ist die Jungfer Muskulus,“ sagte die Kummerfelden, „die zieht anders als Du, Fabian.“

„Hat seine Richtigkeit,“ erwiderte diese.

Sie saß schon über dem Kaffee und brockte; denn sie hatte nach ihrer Tour Appetit bekommen.

„Hat seine Richtigkeit,“ wiederholte sie noch einmal wohlgefällig, um gerade eine Pause im Schlucken auszufüllen. „Ene Frau,“ sagte sie, während die Kummerfelden die Jungfer hereinließ, „ene Frau,“ sie sprach so laut, daß die Kummerfelden es draußen auch hören konnte, „ene Frau, die acht Kinder hat und en unmündigen Mann, hörst Du, Kummerfelden, die acht Kinder un en unmündigen Mann … Ach Herrjes, was sag’ ich da?“ lacht sie voll und laut, „die zieht anders an der Schelle wie eine Jungfer. Übrigens,“ rief Frau Fabian unter Lachen und Schlucken, „es ist nicht so ohne! Man könnte so manches Mal sagen: acht Kinder un en unmündigen Mann. Es könnte es jede Frau sagen, wenn auch nicht immer acht Kinder!“

Die Kummerfelden fuhr mit mißbilligender Kopfbewegung zwischen diese Betrachtung. „Schrei doch nicht so, Du kannst es mir ja nachher sagen.“ Sie war damit beschäftigt, die Jungfer aus ihrer beschneiten Umhüllung zu wickeln.

Jetzt traten sie miteinander ein. Die Jungfer Muskulus trug eine schwarze Lockenperücke, die sie bis tief in die Stirne hineinzuziehen für gut fand, und jahraus jahrein einen Hut, geschmückt mit dem enormsten Veilchenkranz, so groß, daß er kaum hätte größer sein können.

Jetzt hingen Schneestücke in den seidenen Veilchen; die Gassenjungen hatten sie ihr zugerichtet.

„In einer Weile werden die Ratsmädchen da sein,“ sagte die Kummerfelden.

„Na,“ fragte die Fabian, „was wollen denn die?“

„Ja,“ lachte die Kummerfelden, „wegen denen seid Ihr eingeladen. Ihr sollt mir Euren Kaffee gründlich verdienen. Die Mädchen wollen Euch allerschönstens bitten, daß Ihr ihnen bei einer Angelegenheit helfen sollt.“

„Was ist denn los?“ fragte die Frau Fabian, „das wird eine schöne Pastete sein.“

„Es ist Ehre dabei einzulegen; es soll etwas zu Goethens kommen,“ bekam sie zur Antwort.

„Na nu?“ rief Fabian.

Nun schnitt die Kummerfelden ein geheimnisvolles Gesicht und that, als sei sie selbst nicht recht mit der Geschichte einverstanden.

Aber bald verriet sie sich, und es zeigte sich, daß sie Feuer und Flamme für den Plan war, — ganz wie die dummen Ratsmädel, und sie teilte mit, daß es sich darum handle, einen kleinen Garten zu fabrizieren aus Moos und mit einem Staket darum und einer Laube darin, gerade so einen Garten, wie die Jungfer Muskulus jeden Weihnachten welche geliefert habe, aber statt der Watteschäfchen, die sie hineinzustellen gewohnt sei, sollten Frauenzimmer in das Moos gesteckt werden.

„Diese Frauenzimmer … wartet,“ sagte die Kummerfelden, fuhr aber in ihrem Bericht nicht fort, sondern tappte die Treppe nach ihrem Heiligtum hinauf, kam mit einem Kästchen wieder zum Vorschein und stellte es vor die beiden Weiber hin.

Frau Fabian nahm den Deckel ab. „Potztausend!“ rief sie, „was sollen denn die? Das sind ja Puppen! — Püppchen!“

„Na, na, na!“ rief die Jungfer Muskulus, „darauf lasse ich mich nicht ein, das scheint mir denn doch bedenklich!“ Dabei rückte sie sich ihre dicke schwarze Perücke zurecht und machte eine auffallend mißtrauische Miene: „Das ist ja frevelhaft, Kummerfelden, Sie wollen doch nicht Ihren Spott mit der alten Excellenz treiben?“

„Sie sein ä Schaf, Muskulusen,“ antwortete die Kummerfelden, die, von Frau Fabian hingerissen, auch in das beglückende weimarische Idiom zu verfallen drohte.

„Wie werd’ ich einen Spott treiben? Vergessen Sie, was ich bin, ich bin Künstlerin.“

„Man vergißt das bei Dir vollkommen, das sei zu Deiner Ehre gesagt,“ brummte Frau Fabian.

„Die Muskulusen ist und bleibt ein Grünschnabel,“ fuhr die Kummerfelden fort, „und hat auch in nichts kein Einsehen, wie Du vorhin von der Justiz bemerktest, Fabian.“

„Das is mit den ledigen Frauenzimmern und wenn se auch ene Perücke tragen, so dick, wie en Fußsack, es is doch ewig was Halbes,“ bemerkte Frau Fabian gedankenvoll. „Nä, der Kummerfelden so was zuzumuten, daß sie de alte Excellenz nicht respektieren thäte!“

Jungfer Muskulus war unter ihrer Perücke feuerrot geworden.

„Na, nu, ’s is gut,“ sagte Frau Fabian. „Was kann ens dafür, wenn es unverehelicht ist? Es kann auch ens nichts dafür, wenn es en Buckel hat. Gewöhnlich,“ fuhr Frau Fabian fort, „haben die Kindsmädchen so ens fallen lassen; man kann nicht genug dahinter her sein. Na, was hast Du denn nun aber mit den Döckchen vor?“

„Das handelt sich nun eigentlich,“ sagte die Kummerfelden, „nicht um die alte Excellenz, sondern schon mehr um den jungen, um August von Goethe.“

„Na, sag’ ich’s nich,“ rief Frau Fabian, „die Kummerfelden macht sich in keiner Weise enes Verstoßes schuldig. Wenn’s auf August geht, dem thut’s nichts und schadet’s nichts, im Gegenteil. Er treibt’s zu arg, sag ich, und mit den Puppen, da scheint Ihr mir aufs rechte anzuspielen, auf die Frauenzimmer, meine ich.“

„Das ist’s,“ bemerkte die Kummerfelden, „ich möchte der Excellenz so ganz verblümt zu verstehen geben, daß es an der Zeit wäre, seinem August eine Frau auszusuchen, die dem gehörig auf dem Dache sitzt; denn das thut Not, wie wir wissen. Aber eine Geistreiche darf’s nicht sein; von der Eigenschaft haben sie genug hier.“

Frau Fabian fügte hinzu: „Nur nichts Scharfes mehr in die Lauge, meinte jene Köchin, die die Sauce versalzen hatte.“

„Fabian, mit Deinen Redensarten fährst Du einem immer dazwischen,“ rief die Kummerfelden ungeduldig. „Ich will Excellenz Goethe zu verstehen geben, daß er eine Frau wählen soll, die auf gute Wäsche hält, die sparsam ist, die nicht mit dreinredet und, wie gesagt, August gehörig — — —“ Hier zwinkerte die Kummerfelden mit den Augen. „Das sind die Ratsmädchen, die mich darauf gebracht haben, die hatten die Idee, August von Goethe ein Gärtchen mit allen seinen guten Freundinnen auszustaffieren. Ich weiß nicht, aber sie müssen etwas mit ihm gehabt haben — das schien mir so.“

„Die Krawatschen!“ rief Frau Fabian wohlgefällig, „und die Püppchens haben die Mädchen wohl selbst genäht?“

„Freilich,“ sagte die Kummerfelden lebhaft, „und die Hemden haben alle Zwickel, alles regelrecht.“

Jetzt packte Frau Fabian die Puppen aus. „Na nu, seht eins an, wer ist denn die?“

Sie hielt ein Püppchen in die Höhe, das ein rosa Kleid, dabei aber ganz zerrissene Strümpfe an hatte.

„Das ist ja die … na, Ihr wißt schon, das Mädchen hat ewig zerrissene Strümpfe an. Die Löcher gucken ihr über den Rand von ihren Schuhen, wie hier genau zu sehen ist. So eine Frau bringt Unglück ins Haus und wenn sie so schön wie ein Engel wäre und klug wie eine Schlange.“

„Und die Lange, mit der kleinen Feder in der Hand?“ fragte Jungfer Muskulus bescheiden.

„Das ist die Schopenhauern, die Adele,“ fuhr Frau Fabian sie an, „das sieht doch jeder klar. Mit der hat’s keine Gefahr nicht. Häßlichkeit entstellet immer, selbst das schönste Frauenzimmer. Mein Schatz wär se nich, die Schopenhauern. Na, nu die beiden Madams?“ Sie hielt zwei Püppchen in der Hand. „Das sind zwei verehelichte; wie das die Rackersmädchen herausgekriegt haben! Das ist die Madame so und so und das die Madame die und die. Wir kennen Euch! Wir wissen Gott Lob, wer Ihr sein sollt.“ Währenddem sie sprach, hielt sie beide Figürchen sich selbst nahe hin und redete so auf sie ein und drohte ihnen mit dem Zeigefinger. „Und die is wohl die rechte Braut, wie sie im Märchen sagen.“

Sie hob ein Püppchen in die Höhe, das, in einer weißen Schürze und mit einem Kochlöffel in der Hand, ein hausmütterliches Aussehen hatte.

„So ist’s,“ sagte die Kummerfelden. „Und nun, Fabian, wenn Du es wissen willst, nachher mußt Du die Verse dazu machen; Du mußt sagen, wen jedes Püppchen vorstellen soll, und wie es sich mit jeder verhält.“

„Gott soll mich bewahren!“ fuhr die große Frau auf, „das ist aber ene Zumutung. Verse, die sich gewissermaßen den goethischen müssen an die Seite stellen lassen, so beim Kaffee ’rauszuschütteln, wo die ganze Stube, mit Respekt zu sagen, voll weimarischer Gärmichel sitzt, — ich danke — und das sag’ ich, wenn ich darauf einginge, was Schlechtes dürfte Excellenz schon gar nicht kriegen, was sollte der denn von der Fabian denken?“

„Du darfst ’nauf in meine Stube gehen,“ sagte die Kummerfelden, „da setz’ Dich auf den Lehnstuhl vors Bette und bleib ruhig sitzen. Aber Du wirtschaftest mir dort nirgends herum, nicht wahr? Das kann ich nicht leiden. Weißt Du was, gehe nur gleich ’nauf. Bleistift und Papier liegen schon auf der Bettdecke. Du wirst schon was ’rauskriegen, ich weiß ja, wie Dir’s fleckt. Die Ratsmädchen werden auch gleich da sein; die freuen sich, wenn Du schon dabei sitzest. Proviant bekommst Du mit hinauf. Und wenn die Not groß ist, kriegst Du, na, Du weißt schon,“ die Kummerfelden zeigte auf ein Schränkchen, in dem sie ihr Schönheitswasser in Flaschen aufbewahrte. Aber nicht lauter Schönheitswasser allein.

Frau Fabian zog mit ihrer Tasse und einer großen Schnitte Kuchen die Treppe hinauf, und der furor poëticus stand schon deutlich auf der gefurchten Dichterstirn zu lesen.

Unterdessen näherten sich dem Entenfang, so frisch und leicht, wie die Schneeflocken, unsere zwei in allerbester Laune. Es giebt für junge Menschen nichts Schöneres, als im dichten Schneefall zu gehen, zu springen, zu wandeln, zu tollen. Geheimnisvoll, bedeutsam sinkt es leise, leise nieder, legt sich zart auf Falten und Gewänder und es ist, als ob vom Himmel Segen niederströme, Erfreuliches, Heiteres, Hoffnungsgefühle.

Die beiden Lustigen, die dem Entenfange zusteuerten, liefen durch den Schnee, schürften in der flockenweichen Decke mit den Füßen, daß es aufsprühte von Eiskrystallen um sie her. Sie überstürzten sich, fielen mutwillig in die frische, kalte Herrlichkeit der Länge nach hinein. Es fehlte nur noch, daß sie wie die vergnügten Hunde mit den Nasen in dem Schnee geschaufelt hätten.

Jetzt schellten sie auch am Entenfang, erst Röse, dann Marie, dann wieder Röse, wieder Marie, dabei lachend, bis die Kummerfelden sie einließ und ihnen sagte, indem sie die Mädchen auf die frischen Wangen klopfte: „Ohne Spielerei und Narrenpossen könnt Ihr doch auf der Gotteswelt nichts thun.“

Die Mädchen traten jetzt ein. Sie hatten einen Korb mit sich voll Moos und allerlei Gesparre.

„Ihr habt mich in eine schöne Lage gebracht, Ihr Racker!“ rief Frau Fabian den beiden aus ihrem Lehnstuhl heraus entgegen. „Ich sitz’ nun und schwitze, und das nennt die Kummerfelden einen zum Kaffee einladen.“

Röse und Marie wurden erst reichlich regaliert, dann ging’s an die Arbeit. Das Gärtchen wurde in Angriff genommen.

„Eure Verse sind in guten Händen,“ sagte Madame Kummerfelden, „so borstig die Fabianen auch ist, sie hat ein exquisites Herz, eine Außerordentlichkeit von einem Herzen. Solche Leute sind für die Poesie. Beileibe soll man keine Böshaftigen daran lassen, die stiften nichts als Unheil.“

„Und besser wird’s bei Ihnen drum noch lange nicht,“ schrie Frau Fabian von oben herab. „Mit dem erschten wäre ich so weit.“

„Na los!“ rief die Kummerfelden ganz erfreut.

Die große Frau trat vor auf die erste der sieben Stufen.

„Zeigt das Döckchen her mit den zerrissenen Strümpfen, auf die is es,“ rief sie.

Röse hielt das Figürchen in die Höhe, und die Fabianen begann mit gewaltiger Stimme:

„Meine Liebe ist stets auf den Strümpfen,

Reißt wohl zwanzigmal des Tags ein Loch.

Meine Liebe läßt sich nicht abstümpfen,

Auch verschmäht, lieb ich dich ewig doch!“

„Bravo!“ rief die Kummerfelden, „das macht Dir alle Ehre.“

„Wollt ich meinen,“ erwiderte Frau Fabian, lachte kurz auf und versank wieder in den Lehnstuhl.

Inzwischen wurde unten auf das lustigste gegessen und getrunken, geklebt und gepappt, und es entstand ein allerliebstes Moosgärtchen.

Die Kummerfelden sagte den Ratsmädchen, daß sie und Frau Fabian die Sache auf die Kappe nehmen würden. „Uns geschieht damit nichts. Ihr sollt es nur hineintragen und sagen: ‚Eine schöne Empfehlung von der Kummerfelden.‘“

Nach einer Weile war die Fabian wieder mit einem Vers zu stande gekommen und donnerte folgendes herab, für die kleine Figur mit dem Löffel:

„Führt der Weg zu Mannes Herz

Durch die Küche ohne Scherz?

Bist Du garstig oder schön,

Mädchen! Du mußt diesen gehn.

Herz, Verstand, für Haus und Küch’ —

Und — die Liebe findet sich.“

„Fabian, Du bist ein herrliches Weib!“ rief die Kummerfelden ganz begeistert der Freundin hinauf. „Es steckt ein Philosoph in ihr, ich hab’ es immer gesagt. Und ein Charakter ist sie, so manchen Groschen hätte unsere Fabian für Gelegenheitsverse einheimsen können, aber ihr Lebtag hat sie die Kunst, ohne Lohn zu beanspruchen, geübt, das kann keiner von all den Großen hier sagen, ja, ja, ne, ne!“

„Dank auch bestens,“ rief die Fabian herab, mit einem etwas zerstreuten Ausdruck, ungefähr, als hätte sie geniest, und die Kummerfelden hätte ihr Gesundheit gewünscht.

Das sonderbare Weihnachtsgeschenk für Vater und Sohn Goethe kam allmählich in einer wunderbaren Vollendung zu stande.

Die Mädchen bauten am Gärtchen, die Fabian an den Versen weiter; unter anderen entstand ein Vers auf zwei Flammen August von Goethes, auf die Frau eines Kammerrates und die des Polizeidirektors.

Diesen Vers in seiner Kraft, Würze und Knappheit, seiner umfassenden Keckheit, mit der er zwei Damen mit einmal erledigte und auf den Frau Fabian besonders stolz war, diesen Vers wollen wir hier nicht übergehen. Er lautete folgendermaßen:

„Ob Kammer oder Polizei,

Das steht noch zu erfragen,

Wir wollen es nun einmal

Mit allen beiden wagen.“

Man war vollkommen befriedigt; Frau Fabian trank drei bis vier Liköre zur Stärkung nach ihrer schweren geistigen Anstrengung und bekam eine außerordentlich gute Laune, eine Laune, wie nur die Fabian sie haben konnte, so ausdrucksvoll und kräftig, daß es eine Freude war, und daß der Tisch, an dem man saß, nicht aus dem Schüttern herauskam, teils, weil alle um ihn her unausgesetzt lachten, und weil die Fabian vor lauter Lebenskraft zur Bestätigung ihrer Meinung oftmals mit der Faust zwischen die Tassen schlug.

„I, der Tausend,“ sagte Mamsell Muskulus bewundernd, als die Frau einmal ihre Schultern statt des Tisches getroffen hatte, „wo sie hintrifft, da wächst kein Gras.“

Die kleine, scheue Muskulus war von jeder Kraftäußerung immer ganz von Bewunderung hingenommen, auch, wenn diese Kraftäußerung sich gegen sie selbst richtete. Die Ratsmädchen schafften das Gärtchen, die Puppen, die Verse noch an diesem selben Abend in die Wünschengasse, schleppten alles hinauf in ihre kleine Stube, verbargen es sorgfältig und vergnügten sich abends, als alles schlief, bei verschlossener Thür damit zu spielen, um allerhand Unsinn zu treiben, bis sie das Gärtchen endlich mit großem Stolz und vieler Vorsicht, daß sie von niemandem ertappt würden, am heiligen Abend in das Goethesche Haus trugen. Sie hatten ausgemacht, es unten, in der Leutestube mit einer schönen Empfehlung der Kummerfelden abzugeben; als sie aber die Hausthür öffneten, da kam ihnen der Geheimrat selbst entgegen. Sie blieben betroffen und verlegen mit ihrem verdeckten Werke stehen und hofften, er würde sie nicht bemerken und an ihnen vorübergehen.

Er erkannte sie aber augenblicklich und sagte: „Was bringen denn die Ratsmädchen da?“

„Excellenz,“ sagte Röse, „die Kummerfelden läßt schön grüßen und hier wäre etwas.“

„Für mich?“ fragte Goethe.

„Ja, für Euere Excellenz.“

„So tragt es hinauf, Ihr schönen Kinder, ich komme mit Euch.“

Goethe ließ sie vor sich her die breite und sanftansteigende Treppe hinangehen. Als sie oben angelangt waren, öffnete er ihnen selbst die Thüre, ließ sie in das lange, gelbe Gesellschaftszimmer eintreten. Es war schon dämmerig, und Röse und Marie war es doch recht beklommen zu Mute.

„Da haben wir’s,“ dachte Röse, „es ist doch, als kämen wir zum lieben Herrgott mit der Dummheit da an. Viel schlimmer würde es auch nicht sein, glaub ich.“ —

Goethe machte einen Tisch, auf dem einige Bücher lagen, frei. „So,“ sagte er, „da steht nun Eure geheimnisvolle Gabe, wollt Ihr das Tuch abheben?“

Marie enthüllte das Werk, und als Goethe das Gärtchen sah und die Überschrift über dem Thore gelesen hatte, lächelte er; es war noch eine Aufschrift hinzugekommen, die besagte, daß hier schöne Damen versammelt seien, daß Schönheit und Geist zwar angenehm, daß man aber die nützlichen Eigenschaften beileibe nicht gering achten möge.

„Das ist ja eine artige Idee,“ rief Goethe.

Und als er eins der Püppchen in die Höhe genommen und den Zettel gelesen hatte, welcher demselben an das kleine Maul befestigt war, lachte er, daß Röse und Marie ihn ganz verblüfft ansahen, denn nie hatten sie sich vorgestellt, daß der Goethe lachen könnte. Er war ihnen immer als ein majestätischer, etwas steifer, alter Herr erschienen.

„Nun, Kinder, sagt mir,“ fragte er, „wer die Verse gemacht hat.“

„Die Fabianen,“ antwortete Röse. „Hier nennen die Leute sie die Rabenmutter!“

„Ah die!“ sagte Goethe. „Da könnt Ihr berichten, daß ich mich allerbestens bedanke für ihre artigen Verse.“

Er hielt eben das Figürchen mit den zerrissenen Strümpfen und das Hausmütterchen in der Hand und betrachtete beide.

„Ich werde das allerliebste Ding meinem Sohne heut’ mitbescheren.“

Röses und Maries Achtung vor ihrem Kunstwerke war wieder sehr gestiegen, und sie fanden, daß es in Wahrheit ein wundervolles Gärtchen sei, und daß Goethens August seinen hübschen Ärger darüber haben würde.

Mit Frankfurter Brenden beschenkt, wurden sie von Goethe aufs freundlichste entlassen und liefen seelenvergnügt nach Hause.

Da ist noch viel Wunderbares passiert; aber wir wollen es hier von der alten Kummerfelden genug sein lassen. Ich hab noch so manches von ihr und der Rabenmutter geschrieben — in einem zweiten und wohl auch dritten Band der neuen Ratsmädel- und altweimarischen Geschichten — was mir mein liebes Gomelchen, das Ratsmädel, die Röse, von sich und andern Leuten, die zu der schönen, guten, altweimarischen Zeit lebten, erzählt hat. Ich hab da eine lustige Geschichte, wie die Ratsmädchen und die Kummerfelden von einem alten, sonderbaren Herrn Rat in seinem geheimnisvollen Garten geküßt worden sind und zwar, weil er alle drei nicht ausstehen konnte, und weiter: Wie sich die Kummerfelden einen alten Franzosen mit seiner Frau in dem Entenfang einlogiert hat und was die getrieben haben und dann: Wie Röse und Marie sich verliebt und verlobt haben und wie sie mit ihren Freunden Budang, Horny und Schiller bei Nacht und Sturm ausgezogen sind, um die Göchhausen spuken zu sehen, und eine düstere, rührende Geschichte von zwei Schwestern, die oben im alten Rödchen bei Weimar sich abgespielt hat; — und von Apothekers und Frau Rat Tiburtius und der Lawine — und die Geschichte vom ehrbußlichen Weiblein, das oben über Goethens Garten in einem Sommerhaus mit ihrem brummigen Gatten wohnte und diesem einen schlimmen Streich spielte — und von den behaglichen, spielerischen Leuten in der Marschallstraße, die in allen Dingen dem Schicksal über waren, und zuguterletzt, wie die Enkelin der Ratsmädchen zum Blaustrumpf wurde. —

Nun wollen wir hier nur noch erwähnen, daß die Fabian sehr entrüstet gewesen ist, als sie mit der Zeit erfuhr, daß der August von Goethe ihren guten Rat in den Wind geschlagen, indem er eine Frau nach seinem eigenen Geschmacke und gegen die Ansichten der Kummerfelden und der Rabenmutter gewählt hat.

Sechste Geschichte.
Wie Frau Rat über das Leben, über Erziehung und über die ersten Liebesbriefe ihrer Töchter dachte.

W ie zwei Vögel in einem herrlichen Garten harmlos leben, in dem die wunderbarsten Seltenheiten grünen, blühen und Früchte tragen, so lebten die beiden jungen Mädchen, Röse und Marie, in Weimar. Welche Wunder, welche Außerordentlichkeiten sich auch um sie her begaben, sie erachteten das überreich entfaltete Leben als nichts Erstaunenswertes, so wenig sie über ihre eigene Existenz erstaunten. Es war ganz in der Ordnung, daß gerade zu ihrer Zeit die Welt einmal gehörig in Gang kam. Sie hatten ihre Freude daran, daß es in Weimar so viel zu sehen und zu erfahren gab, daß im Theater alle Augenblicke etwas Neues, was man unter allen Umständen sehen mußte, zur Aufführung kam, daß Budang ihnen hin und wieder erklärte, sie lebten in einer Zeit, wie sie noch nicht auf Erden dagewesen sei, von der man in Jahrtausenden noch reden würde.

Das war den Ratsmädchen angenehm zu hören und trug das Seinige zu ihrem Selbstbewußtsein mit bei. Sie empfanden eine bewegte, schöne Atmosphäre um sich her und gediehen in ihr. Die verschiedensten Kreise der weimarischen Gesellschaft waren ihnen vertraut. Sie verkehrten, wie wir es wissen, im Salon der Madame Schopenhauer; ebenso gern aber steckten sie bei Kesselrings im Turm, bei Budangs Angehörigen, den Müllersleuten, und dann wiederum erschienen ihnen Apothekers als die Krone der Gesellschaft.

Die beiden thaten einen weiten Blick in das Leben schon in frühester Jugend und genossen das Gute, Lebensvolle, daß sich ihnen in den verschiedensten Verhältnissen darbot, in vollen Zügen.

Durch diese kluge, freie Erziehung spürten sie im freundschaftlichen Zusammenleben mit Leuten in weit voneinander getrennten Lebensstellungen überall das Menschliche als die Hauptsache heraus; die Verhältnisse verdeckten es ihnen nicht, wie es bei denen, die in einem engen Gesichtskreis erzogen wurden, wohl meist der Fall ist.

Es war selten, daß unsere beiden, wenn sie nach Hause zurückkehrten, von einem Spaziergange, einer Besorgung in der Stadt, einer Gesellschaft oder vom Markte, sie nicht erfüllt von der Freundlichkeit der Menschen waren, und mochte ihnen etwas Gutes durch das Marktweib, oder den Handwerkermeister, oder durch Karl August, oder gar Geheimrat Goethe selbst angethan worden sein, sie schienen nur eine Art von Dankbarkeit und Wohlwollen in sich zu haben, eine einzige Art, die für alle herhalten mußte.

Frau Rat hatte darüber ihre Freude. Sie war es, die so zu fühlen ihren beiden kleinen Gerechten gewünscht, die sie darauf hingeleitet hatte, und war dankbar, als sie ihre Wünsche sich erfüllen sah.

Die wenigsten Menschen kennen das, was man Lebensgenuß nennt, und alle guten Christen eifern mit Zorn, Predigen und Strafen dagegen, preisen Pflichterfüllung, Aufopferung, Enthaltsamkeit, Überwindung als etwas Nützlicheres, Beglückenderes und Schöneres an; statt aber gegen den verpönten Lebensgenuß zu eifern und überzeugungstreu zu predigen, sollte man der Menschheit zurufen: Genießt den Tag, genießt jedes Wort der Liebe, jede Freundlichkeit, jede Wärme, verzeiht über jedes Maß, um friedlich zu leben, nicht, weil es lobenswert ist, seid gut, nicht, weil ihr deshalb als vortrefflich angesehen werdet — nein, nur um friedlich und erfreulich zu leben; helft auch deshalb nur einander, denn es ist schön, es ist göttlich, zu leben, nicht grübeln, was danach kommt. Dunkle Frage an ein unverbrüchliches Schweigen gerichtet! Lernt zu leben! Das Sterben wird uns gelehrt ohn’ unser Dazuthun. Die Sünd’ mit glänzenden Farben malen und das Dasein in seiner Trockenheit, Pflichterfüllung darstellen, nach hohen Zielen strebend, das ist ein vielbeliebter Kunstgriff, um Rekruten für die Tugend zu werben. Und man wirbt auch damit. Ob es oft glückt? Ich weiß es nicht. Die aber, welche kräftig wollen, bleiben von dergleichen gut gemeinten Lehren im innersten Herzen unberührt. Wir wachsen wie das Getreide auf dem Felde; ist uns der Boden günstig, wachsen wir gut, ist uns der Boden ungünstig, wachsen wir schlecht. Wohl denen daher, die in gutem Boden stecken.

Die größte Wohlthat, die die Natur unseren beiden schönen Kindern zugeteilt hatte, war die gesunde Freisinnigkeit ihrer Mutter. „Überwindet Widerwärtiges,“ sagte sie ihnen, „nicht, weil es überwunden sein muß, sondern weil Ihr wißt, daß alles hier auf Erden wechselt und nichts Bestand hat, und es ist unklug und macht blind und einseitig, wenn wir uns von etwas ganz unterdrücken lassen. Die Ereignisse haben nicht das Recht dazu, dies zu thun, sie können es eigentlich gar nicht.“ Und weiter: „Strebt danach, alles schön zu thun, das ist besser, als gut; denn wenn Ihr nur die Dinge gut verrichten wollt, das ist nichts; eine gute That kann mürrisch und unliebenswürdig gethan werden. Thut, was Ihr thut, liebenswürdig und schön, dann werdet Ihr geliebt. Wenn ich Euch doch die Liebe zur Schönheit in die Herzen pflanzen könnte für alle Zeit, dann ließ ich Euch laufen, wohin Ihr wolltet. Die Liebe zur Schönheit ist die Liebe, die den Menschen am reinsten erscheinen läßt, die allerunschuldigste, denn sie läßt vieles, wie Überhebung, dummen Stolz, Härte, Wut nicht an ihn heran; die anderen guten Eigenschaften, die er sich aneignen kann, bringen ihm leicht eine schlimmere mit ein; da ist die Frömmigkeit, die bringt im Nu Überhebung. Man hat es oft, daß soviel Frömmigkeit, soviel Hartherzigkeit da ist und Verachtung der Nichtfrommen.“

So empfahl Frau Rat ihren beiden Mädchen die Liebe zur Schönheit an als moralischen Lebenshalt.

Und wenn viele Mütter Frau Rat verstehen würden und die anspruchslose Weisheit in sich aufnehmen könnten, ein heiteres, gutartiges, freundliches und kraftvolles Geschlecht sollte entstehen. Schönheit ist nur in Verbindung mit Kraft zu denken.

Frau Rat selbst war bewußt und unbewußt ganz durchdrungen von dieser leisen Liebe zur Schönheit.

Das Titelbildchen, das sie uns als ganz junge Frau zeigt, hat etwas von einer schönen Blume, ein Geschöpf, das man sich nur gepflegt, behütet, angebetet vorstellen kann; auf weichen Teppichen gehend, mit schönen Dingen umgeben, verwöhnt, verhätschelt, geliebkost.

Von alledem aber hatte sie nichts erfahren. Ein hartes Leben, einen älteren, überernsten Gatten, Kargheit, Arbeit von früh bis spät, das war ihr Schicksal.

Aber sie hat trotz alledem in ihrem Hause und unter ihren Kindern wie ein Licht geleuchtet und wie eine Blume geblüht. Ihre beiden Mädchen hingen an ihr mit einer Bewunderung und Liebe, als verständen sie die unbesiegbare Schönheit ihrer Mutter, die in jeder Bewegung, in jedem Wort noch lag, als Müdigkeit und Arbeit und Sorge Silberfäden in das Haar und Fältchen um Auge und Mund gezogen hatten. Das war keine Schönheit, die abgenutzt werden konnte, das war echt, echt wie Gold.

Röse und Marie waren von dem Wesen ihrer Mutter oft ergriffen und oft gebändigt.

Sie wurden wegen einer häßlichen Antwort, einer Unfreundlichkeit bestraft, während man ihnen manchen dummen Streich liebevoll hingehen ließ. Freiheit war ihnen in reichem Maße zugemessen; aber im gegebenen Augenblick hatten sie sich zu fügen und zwar in aller Liebenswürdigkeit.

Da war die wunderschöne Zeit herangekommen, die den Ratsmädchen die „ersten Liebesbriefchen“ einbrachte. Sie hatten diesen Augenblick schon geraume Weile voraus kommen sehen und waren nicht umsonst „Botengängerinnen“ gewesen, die die Herzensgeheimnisse der Geistreichen zwischen diesen aus und ein trugen.

Marie hatte einen glühenden und sehr schmeichelhaften Brief von einem jungen Rheinländer erhalten, der sich seit wenigen Monaten in Weimar aufhielt und von dem schönen Mädchen sich ganz bezaubert fühlte. Rösen hingegen war ein Gedicht zugesendet worden, das die Reize ihres Hutes behandelte, den ein holder Jüngling, der Verfasser der Verse, ihr bei einer Landpartie getragen und mit zu sich genommen hatte, aus Vergeßlichkeit, oder um Gelegenheit zu haben, seinem Herzen durch ein paar tiefgefühlte Reime Luft zu machen.

Beide, Röse wie Marie, waren über die ihnen zugedachte Sendung außerordentlich erfreut und vertrauten ihr Geheimnis Budang an, ließen ihn die Briefe lesen, fanden aber zu ihrem Erstaunen, daß Budang die Angelegenheit sehr kühl und von oben herab behandelte.

„Hört einmal, macht keine Dummheiten; es ist ein rechtes Elend, daß Ihr damit anfangt, was fällt Euch denn ein?“

„So,“ sagten Marie und Röse, „ich dächte, es wäre nun Zeit. Es giebt Mädchen, die in unserem Alter schon verlobt sind.“

„Jesus,“ rief Budang ganz erregt, „das fehlte noch! Jetzt denken die an so etwas! Ihr solltet Euch schämen!“

Röse und Marie aber lächelten, und Röse sagte ruhig: „Nein, das ist jetzt in der Ordnung, wir wollen auf alle Fälle heiraten, das haben wir miteinander besprochen. Früher waren wir dagegen. Neulich haben wir uns aber, als wir abends in der Wünschengasse auf und nieder gingen, darüber miteinander beraten. Marie will schon in allernächster Zeit sich verloben, sagte sie mir. Sie hält das für gut und hübsch, es sehr früh zu thun. Man bekommt dann mehr Ansehen, meint sie, und ich glaube, sie hat recht.“

„So albern wie heute,“ unterbrach Budang sie, „seid Ihr mir noch nicht vorgekommen, gerade jetzt dachte ich, wie hübsch vernünftig und ordentlich Ihr nach aller Mühe geworden seid, aber proste Mahlzeit. Die beiden Esel hätten wahrhaftig etwas Besseres thun können, als Euch die Zettel zu schreiben. Das beste ist, thut das Briefzeugs fort, daß es Euch nicht noch mehr die Köpfe verdreht, oder gebt es mir, ich hebe es Euch auf.“

„I, Gott bewahre,“ sagte Röse, „die Briefe bleiben bei uns in unserm Schränkchen.“

„Meinetwegen!“ brummte Budang.

Die Ratsmädchen besaßen jedes ein Schränkchen, braun gestrichen, aus Tannenholz und mit Rosen bemalt, in der Art, wie die altweimarischen Tischler den Blumenschmuck auf den Bauerntruhen und Betten zu stande brachten. Jedes war eine Elle hoch, nicht allzu tief, so daß sie außerordentlich handlich waren und bald dahin, bald dorthin von den Besitzerinnen geschleppt wurden, je nachdem sie eine Näscherei, ein Geheimnis verborgen hielten, und es den beiden wünschenswert erschien, die Schränkchen in sicherer Nähe zu haben. In diese Schränkchen also wurden die Liebesbriefe gesteckt, jede that den ihrigen in eine Bonbonschachtel.

Sie holten sie tagsüber wohl zehnmal heraus, beguckten sie sich gegenseitig und waren sehr zufriedengestellt. Aber wie es so geht: Marie erboste schließlich Rösen; sie hatte ihr gesagt, daß das Gedicht auf den Hut mit ihrem Brief nicht in Vergleich zu ziehen sei, hatte ihr die Vorzüge ihres Briefes und die Mangelhaftigkeiten des Gedichtes zu Gemüte geführt, so daß Röse mißlaunig wurde, und beide in eine Zänkerei verfielen, die sich eine gute Weile hinzog.

Frau Rat hatte ihnen vom Nebenzimmer aus zugehört. Als sie eintrat, sagte sie ruhig: „Was fällt Euch ein, Ihr Mädchens?“ Sie sahen ganz verwildert aus, und Röse rief: „Die Marie hat einen Liebesbrief im Schränkchen!“

„Herrgott!“ rief Marie ganz aufgebracht und schluchzend, „die Klatsche! Die hat auch einen!“

„So,“ sagte Frau Rat, „zeigt sie mir.“

Da brachten sie beide ihre Schränkchen gutwillig angeschleppt. „So, nun schließt sie auf.“

Sie schlossen sie auf, und jede nahm aus ihrer Bonbonschachtel den Liebesbrief und überreichte ihn der Mutter.

Diese gebot Rösen, ein brennendes Licht zu holen und that keinen Blick in die Zettel, die sie in der Hand hielt.

Sie war ganz ruhig und freundlich, strich Marien über die Wangen, die ihr von der Zänkerei glühend rot geworden waren.

Als Röse wieder mit dem brennenden Licht zaghaft eintrat und es auf den Tisch stellte, hielt die Mutter, ruhig lächelnd, die Briefchen über die Flamme.

Die beiden Mädchen schauten nun still zu, wie so merkwürdige Dinger verbrannten. — Und als die Mutter das verkohlte Papier auf den Tisch fallen ließ, und die Funken noch daran knisterten, betrachtete Röse und Marie die kleinen, verkohlten Haufen sehr interessiert, und als das letzte Fünkchen verlosch, sagte Röse: „Jetzt ist das Schulmeisterlein hinausgegangen.“

Es war bei ihnen ein beliebtes Spiel, Funken in einem verkohlten Papierknäuel verlöschen zu sehen.

Die munteren Fünkchen, welche sprühten und knisterten und vergingen, das waren die Schulkinder, die nach Hause liefen, und der letzte Funke war eben — „das Schulmeisterlein“.

Frau Rat lachte hell auf bei Röses Bemerkung, schloß das Kind in die Arme und küßte es, und alle drei waren seelenvergnügt. —

Um diese Zeit begab es sich, daß der Großherzog Karl August aus Wien von dem großen Kongreß, der den verworrenen Streit der Völker schlichten sollte, zurückkehrte.

Empfangsfeierlichkeiten wurden vorbereitet. Die Weimaraner schmückten ihre Häuser, Ehrenpforten wurden gebaut. Die Schützengilde, die Feuerwehr, die Innungen, die Schulen, alles beriet sich. Es war ein so wichtiges und emsiges Treiben im Städtchen, als sollten die Schützengilde, die Feuerwehr, die Innungen, die Schulen das Wohl des ganzen Reiches schaffen und erwägen.

Der Bürgermeister, unserer Ratsmädel Vater, hatte alle Hände voll zu thun. Frau Rat nähte für die beiden Kinder neue, weiße Kleider. Ihre Mädchen waren dazu ausersehen, dem heimkehrenden Fürsten in Gesellschaft noch anderer hübscher Geschöpfe Blumen und Lorbeerkränze von einer niederen Estrade aus auf den Weg zu streuen, während er vorüberritt.

Die Stadtverordneten, die Schützengilden, die Feuerwehr, die Innungen, die Schulen hatten die Bestimmung getroffen, daß die weißgekleideten Mädchen mit offenem Haar und in Kränzen den Fürsten begrüßen sollten. Die Ratsmädchen, weil sie so gut zu einander paßten und so hübsch nebeneinander aussahen, sollten ganz vornan stehen. Und Röse war das Amt überkommen, einen wunderschönen Lorbeerkranz Karl August gerad auf den Degengriff zu werfen, oder doch wenigstens auf sein Pferd, wenn es ihr mit dem Degen zu schwer würde.

Es war eine außerordentliche Ehre für sie, das sah sie selbst ein und that sich etwas zu gute darauf. Das Wetter am Einzugstage war schön und klar, die Luft kräftig und frisch, die Fahnen wehten in der Sonne, vom Winde bewegt. Es duftete nach Tannen und Grün von allen Häusern herab, vor jeder Thür. Musikbanden zogen durch die Gassen nach den verschiedenen Versammlungsorten des Einholungszuges. Es pfiff, trommelte, schrie, schimpfte, lachte, sang auf allen Straßen, daß es eine wahre Freude war. Die weißgekleideten Mädchen versammelten sich wie Züge weißer Tauben in der Esplanade. Die frische, sonnige Luft schien, wie sie die Fahnen regte, auch die Gemüter munter zu bewegen. Man war so lustig, so ganz feiertäglich und erwartungsvoll gestimmt.

Die Mädchen kletterten auf ihre Estrade, der Wind wehte in blondem, braunem Haar, in weißen, duftigen Falten, wehte über der hübschen Schar hin, wie über ein blühendes Feld, etwa wie über ein Mohnfeld, das in weißen, rosigen Farbentönen steht.

Alle Glocken begannen zu läuten, voll und schön. Die weimarischen Glocken sind von einem seltenen Wohlklang. Die eine haben sie im Dreißigjährigen Kriege gestohlen, von irgendwo ganz Besonderem her. Freudenschüsse klangen dumpf dazwischen. Da näherte sich der Zug. Den Mädchen auf der Estrade klopfte das Herz, denn der Augenblick war sehr feierlich.

Die Musik erklang, so eine recht herzhafte Musik.

Und als Karl August auf seinem Pferde von ferne zu sehen war, da reckten sich alle Hälse. „Du, Marie,“ rief Röse, „da reitet ja der Ottokar Thon neben ihm, — gucke, gucke! Marie, sieh doch!“ rief Röse, ganz bewegt von allem Festjubel, „das ist er! Du kannst Dich darauf verlassen. Er ist jetzt Adjutant, das muß er sein. Den haben wir aber in Jahren nicht gesehen! Er soll ja ganz etwas Besonderes geworden sein, ist Lützowscher Jäger, — Du weißt doch?“ —

„Ja, ja,“ sagte die Schwester etwas gedankenlos.

„Höre, Marie,“ rief Röse wieder, als die beiden Reiter herangekommen waren, „ich werfe dem Adjutanten meinen Kranz zu, das sollst Du sehen.“

„Du bist verrückt,“ sagte Marie, „da könntest Du in eine schöne Bredouille kommen — der Lorbeer ist für den Herzog.“

„I gar,“ sagte Röse.

Da ritt der Herzog eben der Estrade zu, und die Mädchen jubelten hoch auf, und der ganze Zug jubelte, und aus allen Fenstern ringsumher schrieen und riefen sie. Der Wind wehte Rösen und Marien das lange Haar, das sie so einhüllte, daß man nur ein Streifchen ihrer weißen Kleider sah, wie goldene Fahnen über die Schultern, dem Herzog entgegen, ganz, als hätte es sich der Wind so ausgedacht.

Das mochte ein sonderbar hübscher Anblick sein; denn Karl August schaute lächelnd und nickte zu den Mädchen hinauf, hielt sein Pferd an und sprach ein paar Worte zu seinem Adjutanten.

In dem Augenblick flog Rösens Lorbeerkranz auf Karl August zu und richtig, verfehlte ihn, weil ihr die Haarsträhnen über das Gesicht geflogen waren, daß sie nicht recht sehen konnte, und der Kranz blieb an dem Degenknauf des jungen Adjutanten hängen.

Da lächelte Karl August noch einmal, und als der junge Offizier den Kranz loslösen wollte, um ihn dem zu überreichen, dem er bestimmt war, da machte der Herzog eine Bewegung, die zu bedeuten schien: „Da, wo er ankam, laßt ihn nur.“

Der Adjutant war augenscheinlich verwirrt und wußte nicht, was er mit dem Kranze anfangen sollte; seine Blicke trafen die Spenderin der schönen Ehre. Er lächelte ihr zu und schaute sie an — und erkannte sie, die er, als sie ein kleines Mädchen war, in der Wünschengasse oft gesehen hatte.

Seine Eltern hatten Rats eine Zeit lang gegenüber gewohnt, und er erinnerte sich Rösens und Mariens wieder.

„Herrjeh,“ sagte Röse ganz glücklich. „Nun seht nur, jetzt reitet er mit meinem Kranz davon. Das war ja wirklich Ottokar Thon!“

„Na freilich,“ bestätigte Marie.

„Und wie er aussah! — nein, wie er aussah! — Früher haben wir ihn gar nicht groß angesehen, ich glaube, nicht einmal gegrüßt. Hast Du bemerkt, wie er rot wurde, als der Kranz auf ihn fiel; das hat er sich nicht träumen lassen, daß er so einen großen Lorbeer bekommen würde. Und hast Du auch gesehen, Karl August hat ihm den Kranz geschenkt!“

„Ja, ja!“ sagte Marie ganz lustig. „Du hast gut getroffen!“

„Höre, Marie,“ begann Röse wieder, während sie noch den beiden Reitern, dem Herzog und seinem Adjutanten, nachschauten. „So, wie der Ottokar Thon, als er wie im Traum auf den Kranz sah und dann auf uns, so gut hat mir noch nie ein Mensch gefallen, noch nie,“ wiederholte sie ernst. „Er gehört zu den Lützowschen Jägern,“ sagte sie noch einmal — „weißt Du? Aber wie streng er aussah.“

Sonnenklar wußte Röse, wer ihr gefiel und wer nicht, und war gewohnt, den ersten Eindruck, den sie von jemandem empfing, Marien sofort mitzuteilen.

Diesmal war aber der Eindruck glückverheißend, bedeutungsvoller, als sie sich vorstellte, denn jener junge Adjutant, der neben seinem Herrn bei dem Einzug dahinritt, der die Zeit des Kongresses mit ihm in Wien gelebt hatte, wurde Jahre darauf Rösens Gatte.

Sie war ein Glückskind; die erste Bewegung ihres jungen Herzens, das erste Sichhinneigen einem anderen Leben zu, war die Ankündigung einer schönen Zukunft. Und der erste Blick, mit dem sie der Geliebte angesehen, erschien ihr bis ins hohe Alter wie ein Wunder; „denn damals“, sagte sie, „wußte ich so klar wie das, daß er mir besser, als jeder Mensch bisher gefiel, auch das, daß wir einmal zu einander gehören würden.“ Davon erfahren wir aber erst Näheres und Breiteres im zweiten Bande.

Der ruhige Ernst, der auf den Zügen des jungen Mannes lag, als er unter Glockengeläut mit seinem Fürsten einritt, hatte seinen Ursprung in einer tiefen und klaren Liebe, die dieser junge, einfache Soldat zu seinem Vaterlande fühlte. Er hatte in Wien mit Trauer gesehen, wie weit der Weg noch sein mußte, ehe Deutschland würdig und groß dastehen konnte.

Er hatte in dem reichen Leben, den Reden und Versammlungen, den Festen und Feiern, den Plänen, wie ein Geheimnis, das man nicht verrät, um es nicht zu entweihen, seine Gedanken über die Möglichkeit, wie Deutschland erhoben werden könne, niedergeschrieben.

Lange Jahre nach seinem frühen Tode ist jene Niederschrift bekannt geworden, und staunend mußte man die Klarheit und Sicherheit dieses jungen, kräftigen Geistes erkennen, der damals in Dunkelheit klar und sicher Deutschland den Weg zur Größe vorschrieb, den es jetzt gegangen ist.

Ein Geschichtsschreiber, Heinrich von Treitschke, hat dem früh Gestorbenen ein Denkmal in seinem Werke gesetzt.

Er hat des jungen Adjutanten Tapferkeit, seine Klarheit und Sicherheit, seine geniale Voraussicht im Gegensatz zu der großen, allgemeinen Verworrenheit gepriesen und schließt die Worte, die er der Erinnerung an jenen kühnen, jungen Denker weiht, mit dem Ausspruche: „Wie unheimlich erscheint doch die schwerflüssige Langsamkeit der nationalen Entwicklung neben dem raschen Gedanken der kurzlebigen Einzelmenschen.“

Welche Fülle von Hoffenden, Denkenden und Strebenden geht über die Erde hin, scheinbar, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wir sehen es oft mit Trauer und Staunen. Und dennoch wirkt ein jeder; die Natur hält mit ihren Kräften haus.

Denke man sich einen schönen, mächtigen Wald, unübersehbar; göttliche Frische lebt in ihm. Es ist eine Welt für sich, eine herrliche Erscheinung, und er hat sich gebildet dadurch, daß unzählige große und kräftige und geringe Bäume, ungezählte Daseinskräfte, mächtige und zarte, sich zu einem Ganzen hier zusammenthaten, zu einem einzigen Begriff, der alles einzelne in sich begräbt.

So ist es auch im menschlichen Leben: um einen Begriff, eine Erfahrung zu schaffen, gehören Millionen, die diese Erfahrung an sich erprobten, die diesen Begriff durch ihr Aufgehen in demselben bildeten.

Wie ein Baum uns nie die Erscheinung eines Waldes geben kann, so würde der erste Tugendhafte uns nie den Begriff der Tugend geben können, der erste Leidende nicht den des Leidens, der erste Glückliche nicht den des Glückes, der erste junge Mensch nicht den der Jugend.

Ungezählte mußten gelitten haben, ehe die Welt von Leiden reden konnte; Millionen mußten glücklich gewesen sein, ehe das Bild des Glückes, Millionen mußten sündigen, ehe das Bild der Sünde entstand.

Ein Begriff ist der große Wald, in dem das einzelne aufgeht, um ein Ganzes bilden zu helfen. Und ich sage hier noch: Ungezählte mußten in Jugend erblühen und wieder dahinwelken, ehe wir von Jugend als von einer Glückseligkeit reden konnten.

Das Wort, der Begriff „Jugend“ ist das Grab, in das Jugend aus Jahrtausenden sank und ihr seliges Erbteil dem Worte überließ, so daß es Kraft hat, den, der es recht ausspricht, mit Wonne, Wehmut und allem Wundervollen, das je gefühlt ist, zu überschütten.

Und diese Zeilen, diese munteren, harmlosen Geschichtchen haben weiter kein Ziel, als das: dem reichgeschmückten Worte, an dessen Pracht und Zauber die Geschlechter der Erde von Anbeginn an wirkten, noch ein schimmerndes Flitterchen mehr anzufügen.

Letzte Geschichte.
Das Gomelchen.

E s sind viele, viele Jahre vergangen; unsere Ratsmädel sind alte Mütterchen. Ihre lustigen Spießgesellen sind alle dahin!

Beide Schwestern sind miteinander alt geworden, beide sind glücklich verheiratet gewesen, beide hatten Kinder und Enkel; Marie aber ist nun auch schon heimgegangen, nur Röse erlebt es, daß ihr die Urenkel in die sonnige Stube kommen und sich bei ihr erlustigen.

Ich habe schon, da Röse und Marie noch als lebensfrohe Dinger in Weimar ihr Wesen trieben, in diese Zeiten vorausgeschaut an dem Abend, als der junge Arthur Schopenhauer mitten in ihre Jugendpracht hinein sagte: „Hört einmal, Ihr Haareulen, denkt an das alte Weib; glaubt nicht, daß es so fortgeht; werdet gütig und mitleidig; schwätzt nicht; seid fleißig und sparsam, damit es später nicht allzu übel um Euch stehe.“

Ich habe auch erzählt, daß Röse vollkommen damit einverstanden war und das Benehmen des jungen, düsteren, närrischen Philosophen nicht gerade abgeschmackt fand. „Abgeschmackt“ war ein Lieblingsausdruck der Ratsmädel, mit dem sie sonst recht freigebig waren. Ist nun Schopenhauer, der viel Geschmähte, viel Verehrte und Mißverstandene, daran schuld, daß zwei so freundliche, kluge Altchen auf Erden lebten, so soll er gelobt sein — hat dies die Natur ohne sein Zureden auch zu stande gebracht, so soll sie ebenso gelobt sein; denn sie that etwas, wofür man ihr Dank schuldig ist. Sie hat gezeigt, daß dem Alter der Stachel genommen werden kann. Sie hat gezeigt, daß es so übel mit dem Altwerden nicht ist; daß das Alter anmutig sein kann; daß es Freunde, Heiterkeit und Lebensfreude einbringt, wie man es sonst nur der lieben, grünen Jugend zutraut. Der Name „Gomelchen“ ist der alten Frau, die früher das Ratsmädel war, wie eine weiche Federflocke angeflogen und an ihr haften geblieben. Aus Großmama wurde Gomama, aus Gomama Gomo — Gomelchen. Von den Lippen ihres ältesten Enkelkindes hat sie ihn zuerst gehört, und es war beinahe das erste Wörtchen, das dies Enkelkind sprechen konnte, war Name und Schmeichelname zugleich. Und so ist er geblieben, dieser Name — ein Leben lang immer in Liebe, immer in Zärtlichkeit ausgesprochen.

Ich bleibe bei dem Namen und meine, es sei genug, zu sagen und immer wieder zu sagen, daß sie Gomelchen heißt — und vergesse ganz, daß dieser Name für andere gar keinen Klang hat und das nicht sagt, was er mir sagt.

Mir selbst ist es, wenn ich ihn mir vorspreche, als glitte eine weiche Welle über mein Herz hin, als würde es behaglicher, wärmer im Zimmer; einen zarten Duft von Thee und schöner Sahne und Reseda und Hyacinthen meine ich zu spüren, einen Duft, der die Seele mit Wehmut und Erinnerung erfüllt. Es legt sich mir eine leichte, wohlthuende Hand auf die Stirn, ihre Hand. Die Fremde ist mir nicht mehr so fremd; Thränen treten mir in die Augen, und mein ganzes Herz will sich in Sehnsucht auflösen.

Wie lange ist es nun schon her, daß ich sie nicht sah, daß ich nicht mit ihr plauderte, wie lange! Und Gott mag es wissen, wann das Leben mich wieder zu ihr führt. Aber ich will von ihr erzählen, nicht von ihr träumen.

Ich will von ihr erzählen, darum, weil ich von den lustigen Jugendstreichen, den sonnigen Kindertagen berichtete, und weil es nichts Schöneres, Erfreulicheres, Hoffnungssichereres giebt, als zu sehen, wie das Schicksal es freundlich zuläßt, daß einer glückseligen Jugend ein kräftiges, gutes Dasein und ein lebensfreudiges Alter folgen kann.

Es wäre doch wirklich schade, wenn einer oder der andere annehmen könnte, daß aus meinen beiden prächtigen Ratsmädeln ein paar verkümmerte oder geschwätzige oder sonst unliebenswürdige, alte Weiber geworden wären — oder wenn es schöner klingt: „alte Damen“. Denn wie selten stehen Jugend und Alter im Einklang. Wie oft könnte man sich entsetzen, würde man das Zukunftsbild eines hübschen Mädchens voraussehen!

Um gut und würdig und schön zu altern, muß man schon etwas an sich haben, was man genial nennt. Ich weiß, was ich damit sagen will. Man muß ein großes Teil Liebe und Güte besitzen, ein so großes Teil, daß, wenn es vermessen werden könnte, vernünftige Leute meinen müßten, es wäre ein sträflicher Aufwand vom lieben Herrgott, einen unbekannten, unberühmten Menschen, der auf der Gotteswelt nichts Besonderes gethan hat, so üppig auszurüsten, und gar ein Weib — das wäre genug, um einen Fürsten auszustaffieren, der etwas Ordentliches, Nützliches damit hätte stiften können, Hospitäler, Besserungshäuser, Waisenhäuser, Vereine aller Art, Witwenkassen, Pensionen, Zuchthäuser, Nachtherbergen, Kaffee- und Theestuben und Armenküchen.

Um ein Menschenherz ganz mit Liebe zu beleben, daß es sein Lebtag alle Schicksalsschläge, alles, was das Dasein mit sich bringt, ohne Bitterkeit, Ungeduld und Härte über sich ergehen läßt, braucht es so viel an Liebe und Güte, daß Tausende sonst vortrefflicher Leute, die sich mit einem gebräuchlichen Anteil von Liebe begnügen, daran genug hätten.

Ein ganz guter, ganz liebevoller Mensch ist so selten wie ein großer Dichter oder Künstler, so selten wie ein großer Philosoph. Die Natur hat sich, wenn man die Legionen der Geschöpfe überschaut, die erwähnte Verschwendung nicht allzuoft zu Schulden kommen lassen, sonst würde die Welt ein anderes Ansehen haben. Ihr meint dennoch, daß es nicht in der Ordnung sei, wenn mit einer so großen Begabung an Liebe und Wohlwollen, die das so ausgezeichnete Geschöpf in die Reihe der Genies stellt, nicht weiter erreicht wird, als würdig, gut und freundlich zu altern. Das ist scheinbar sehr wenig und ist doch viel; traurig ist, daß die große Masse der Menschheit mit verkrüppelten, verhärteten Herzen Abschied von der Erde nimmt. Die Freundlichen, die Heiteren, die Gutes und Böses weichherzig ohne Sträuben aufnehmen, das sind die wahren Helden, nicht die, die dem Leben eckig und sparrig gegenüberstehen.

Nun kurz und gut. — Als unser Ratsmädel, die Röse, eine alte Frau geworden war, da wohnte sie und wohnt noch im Hause ihrer Tochter und hat da den oberen Stock inne. Ein Stübchen besonders, das ist so hell und freundlich, wie es wenige giebt. Durch ein großes Fenster scheint die Morgensonne herein und durch zwei Fenster die Mittagssonne. Blumen gedeihen da oben und Blatt- und Schlingpflanzen wie in einem Gewächshaus, und jahraus jahrein funkelt es hell auf glänzenden Blüten und Knospen. In diesem warmen, sonnigen Nest sitzt unser Ratsmädel, das Gomelchen, seit das Alter über sie gekommen ist, und wenn man sie sitzen sieht, ist nichts als Heiterkeit und Behagen zu spüren. Und was eigentlich heißt alt sein, sehr alt sein? Es heißt in tausend und millionen Fällen wohl nur: müde und mürbe gerüttelt sein vom Leben, abgestumpft von den tausendfachen Schmerzen, gewöhnt an die Eingriffe des Todes, gewöhnt an alles und jedes. Die Schauspiele, die hier auf Erden dargestellt werden, sind für die Alten gar zu oft gegeben worden; die jammervollsten rühren nicht mehr, die heiteren erfreuen nicht mehr, die komischen machen nicht mehr lachen. Und die Alten denken wohl alle wie jener, der kurz vor seinem Tode sagte: „Es wäre nun Zeit, daß die Welt unterginge!“

Sehr alt sein heißt, ganz vereinsamt sein, ganz in der Fremde leben. Alle guten Freunde, die von uns wußten, wie schön, wie jung, wie lebensvoll wir waren, die von uns wußten, wie wir litten und was uns Gutes geschah, sind abgefallen, ins Grab gesunken. Es ist niemand mehr da, der uns wirklich kennt; was haben die jungen, leichtsinnigen Geschlechter mit uns zu thun? — Sie meinen, die vor ihnen waren, die gälten nichts, die bedeuteten soviel wie Schatten und Träume. Ach, sie sehen ja nichts, was war, was gewesen! — Das sieht der Alte ganz allein — ganz allein, wie einer einen Geist erblickt, den die übrigen nicht gewahr werden.

Der Alte ist vereinsamt und bleibt vereinsamt; in seinem Herzen sitzt Sehnsucht und Wehmut. Was lohnt es sich, zu reden, denkt er; es versteht Dich doch keiner, es ist jeder mit sich und seiner Zeit vollauf beschäftigt. Nur im Traume sieht der Alte seine Zeitgenossen, — lauter Verstorbene. Es ist ein schwerer Stand, das hohe Alter.

Körperliches Leiden und körperlicher Verfall, Stumpfsinn und Bitterkeit bedrücken die Lebenskräfte; Verschlossenheit und Übellaunigkeit bringt es ein, und die Kluft, die den Alten von den neuen Geschlechtern trennt, wird immer weiter und weiter.

Von alledem aber, was hier steht und was ganz natürlich und unvermeidlich zu sein scheint, wie das Alter selbst und der Tod, ist bei dem Gomelchen, wie ich schon sagte, nichts zu finden.

Sie hat es nicht einmal zu dem gebracht, was man „Würde“ nennen möchte, die zusammengesetzt ist aus etwas vornehmer Steifheit, Unnahbarkeit, aus dem Unvermögen, sich lebendig zu rühren, aus dem Bewußtsein der eigenen Vortrefflichkeit, der reich gesammelten Erfahrung; nicht einmal zu der Würde hat sie es gebracht, die wie eine weich gepolsterte, schwerfällige Kutsche für die alten Leute bereit steht, in der sie sich bequem niederlassen und umherfahren können, und auf der zuvorderst ein kleiner Postillon sitzt und in sein Hörnchen bläst: „Vor dem grauen Haupte sollst Du aufstehen und das Alter ehren.“ Nicht einmal dazu hat sie es gebracht. Wenn im Haus etwas fehlt, ist sie die erste, die bereit ist, es zu schaffen.

„Laßt das nur, laßt das nur, das besorge ich; ich springe hinüber und bringe es in Ordnung!“ Dabei schaut sie nicht nach Wind und Wetter aus, langt nach ihrem Schlüsselbund, der unzertrennlich von ihr ist und mit dem sie wie mit einem Glockenspiel zu klingen versteht, — ehe man ihr Kommen merkt, hört man ihr Glöckchen schon — hat sie den Schlüsselbund, so schlägt sie ein Tuch um die Schulter, nicht etwa einen schönen Pelzsammetmantel, wie es eigentlich einer Frau Geheimrätin ziemte, den läßt sie hängen, wo er hängt — und macht so im Mützchen und Umschlagetuch ihre Verhandlung bei irgend einem Herrn Nachbar.

Sie ist eben immer noch das Ratsmädel; so wenig es der jungen, lustigen Röse in den Kopf gekommen wäre, eine Sammetmantille umzuhängen, um zu Madame Ortelli, die Bürgermeisters schräg gegenüber wohnte, zu laufen, so wenig fällt dies auch dem Gomelchen ein. Bis in die Fingerspitzen pulsierte Leben in ihr; wie sie ein Kommodenfach zuschiebt, wie sie näht und häkelt, wie sie die Hand giebt und einem über Wangen und Stirn streicht und wie sie die Treppen hinabläuft, das ist alles so lebendig, so leicht, so beweglich. Niemand auf Erden, glaube ich, versteht es, so zu bewillkommnen, wie sie.

Wenn wir Kinder verreist waren und zurückkamen, und der Wagen unten vor der Thür hielt, da schaute von oben aus dem zweiten Stock ihr Kopf heraus, mit einem Spitzenhäubchen umgeben und bräunlich blonden, aufgesteckten Locken an den Seiten. Im Nu war der Kopf verschwunden, und ehe wir aus dem Wagen gestiegen und zur Hausthür eingetreten waren, da stand das Gomelchen schon auf dem untersten Treppenabsatz mit ausgebreiteten Armen, als wenn sie zwei Flügel hätte und damit flatterte — so blieb sie stehen, und solche liebevoll glückselige Küsse und zärtliches Streicheln haben wenige Menschen im Leben gespürt, wie die, die dann auf dem Treppenabsatz bewillkommt wurden.

Wenn ich daran denke, daß ich wieder so von ihr empfangen werden könnte, so wird es mir, als freute ich mich auf einen ganz bestimmten, wunderschönen Frühlingstag. Soviel ich weiß, habe ich sie nie mißlaunig, nie unbereit zu helfen gesehen und immer fleißig und beschäftigt. Ich weiß auch nicht, daß sie je müde und angegriffen sich gezeigt hätte. Krank war sie manches Mal, schwer krank; aber kaum, daß die Krankheit gehoben, so kam sie auch wieder zu voller Lebensfreudigkeit und Anspruchslosigkeit.

Das Gomelchen ist die Jüngste im Haus, so heißt es immer. Sie ist es, die alle Augenblicke etwas vor hat. Bald geht sie ins Theater und thut es beinahe so begeistert und eifrig wie zu ihrer Ratsmädelzeit. Einschleichen freilich, das geht nicht mehr; dafür ist sie jetzt abonniert, vergißt aber regelmäßig, ihr Billet mitzunehmen, jedenfalls in Erinnerung an jene Zeiten, wo sie die Herrlichkeiten auch ohne Billet zu genießen verstand. — Ist es das Theater nicht, so geht sie zu guten Freunden oder sieht gute Freunde bei sich, oder fährt ein wenig über Land, um ihren Kaffee auswärts zu trinken. Gar oft spaziert sie so ganz allein und bringt dann immer etwas mit heim, einen Büschel schönes Gras, einen Strauß Feldblumen oder einen herbstlich bunten Zweig. Wie manchmal hat sie einer Enkelin solch einen selbstgepflückten Blumenschmuck in das Zimmer gestellt!

Wenn man hört, ein altes Mütterchen macht einen Gang in die Felder hinaus, spürt dort allerlei schönen Dingen nach und kommt mit Mohn und Kornblumen ganz beladen nach Hause, so scheint das absonderlich und erstaunlich zu sein. Bei dem Gomelchen aber ist dies ganz natürlich, es fällt niemandem auf, es wundert sich niemand darüber. Wenn sie einen mit ihren frischen, freundlichen Augen anschaut, vergißt man, daß sie eine alte Frau ist, daß sie alles Leiden, das auf der Menschheit liegt, wie andere alte Leute auch, durchkostet hat, daß sie alle teuren Zeitgenossen verloren und jetzt vereinsamt mit ihren Erinnerungen dasteht.

Und das Geheimnis, weshalb sie nicht gealtert ist wie die meisten Sterblichen, mag wohl sein, daß sie von jeher weit über ihr eigenes Interesse hinaus Herz für Menschen und Dinge hatte.

Der Freund, der am treuesten mit ihr im Leben ausgehalten, der sie erst vor kurzer Zeit verlassen hat, war ihr guter, alter Budang, ihr allererster Freund. Er, dem die Jungfer Concordia die beiden wilden Kreaturen anempfohlen, hat seine Ratsmädel nie aus den Augen verloren.

Uns Kindern war es immer ein wahres Fest, wenn der alte Herr Medizinalrat, den sie früher auf Weimars Gassen „Budang“ nannten, zu der Gomel heraufkam. „Das weiß der liebe Gott,“ sagte das Gomelchen, als ich, wie oft, bei ihr saß, und die Thür sich sachte aufthat, und ein weißlockiger Kopf hereinschaute, ein prächtiger Kopf mit lebendigen Augen, die Locken wie aus Silber und wie Wölkchen aufgeplustert; „das weiß der liebe Gott, gerade so, wie er mit seinem blonden Ruschelkopf in der Wünschengasse bei uns hereinschaute, ob die Luft auch rein und der Vater fort sei, so schaut der Alte auch jetzt durch den Thürspalt. Da red’ mir einer davon, daß die Menschen sich ändern!“

Der Alte aber blieb mit dem Kopf zwischen der Thüre stecken und deklamierte eine Stelle aus Shakespeare, die mit der augenblicklichen Situation in keinerlei Verbindung stand, den Monolog des Hamlet. Er sprach ihn englisch und das mit solcher Weihe und Hingebung, daß es einem wunderlich zu Mute wurde. Während er noch mitten darin war, trat er ein und ging dabei im Zimmer auf und nieder, der feste, kleine, zierliche Mann, der so sauber und frisch aussah wie aus dem Ei geschält. Er sah und hörte nicht, bis er seinen Monolog zu Ende gebracht hatte.

Darauf blieb er vor dem Gomelchen stehen und sagte: „Das ist groß! Das ist göttlich! — Siehst Du, Röse, weshalb bist Du so träg’ gewesen und hast nichts gelernt. Nun hast Du nichts davon verstanden. Meine Schuld ist es nicht; aber was für ein Leben hättest Du führen können, wär’ etwas mehr in Deinen Kopf hineingegangen. Hier“ — damit wies er auf mich, „die Kinder lernen doch hoffentlich, was Du nicht zu stande hast bringen können?“

Das Gomelchen strich der Enkelin zärtlich über den Kopf, sah ihren strengen Freund befangen lächelnd an und sagte: „Soviel ich weiß, sollen sie es auch nicht besonders weit gebracht haben. Die hier hat ihre Schularbeiten meistens bei mir gemacht und hat erschrecklich dabei gestöhnt.“

„Bei Dir?“ fragte der Medizinalrat frappiert, setzte sich nieder, stemmte beide kleinen Hände auf die Kniee: „Da mögt Ihr etwas Schönes miteinander zu stande gebracht haben! … Röse, die Kinder hier im Haus hast Du trotz der Erzieherin auf dem Gewissen,“ sagte er. „Ich habe es mir immer gedacht, daß es bei den Enkeln wieder durchbrechen müßte. Ich würde Dich geheiratet haben, aber ich hatte Respekt vor Euch!“

„Geh, schwätz nicht!“ sagte das Gomelchen lächelnd, „wir hätten Dich gar nicht genommen.“

„Übrigens,“ fuhr der Medizinalrat fort, „ich komme eigentlich heute, um Dir etwas zu sagen: Gestern bist Du vor mir hergegangen und hast Dich erschrecklich krumm gehalten, hast einen ordentlichen Buckel gemacht. Thu das nicht. Ich denke noch, wer ist denn die Alte da? Wo bist Du denn gewesen? Was hast Du denn gedacht? So nachlässige Haltung macht frühzeitig alt; ich habe es von jeher nicht leiden können, wenn Du Dich schlecht hieltest. Kummer braucht unsereins nicht mehr niederzudrücken, Gott Lob,“ sagte er heiter. „Wir wissen aus Erfahrung, daß auf die ganze Geschichte hier kein Verlaß ist; es kommt und geht und kommt und geht ohne Ende, und damit basta! Wer das oft mit angesehen, wie wir, den läßt es ruhig.“

„Bleib mir vom Hals, Du alter Philosoph, das ist ja Dein Ernst nicht — Du machst doch sonst keine Redensarten. So lang’ man ein Herz im Leibe hat, so lang’ bleibt alles neu, als geschähe es zum ersten Male, das ist meine Meinung,“ sagte das Gomelchen freundlich und behaglich. „Mir war es damals zu unserer jungen Zeit wohl und ich finde mich auch in der neuen Zeit zurecht. Eins ist schade jetzt für die Jungen; die Leute, dächt ich, machten mehr Wesens aus allen Dingen als früher, das junge Volk thut mir leid; oder kommt mir’s nur so vor, daß sie es so nicht mehr haben, wie wir es hatten? Herr, mein Gott, wenn ich an unsere lustigen Tage denke, wie wir Dich in Mädchenkleider gesteckt haben, wie wir miteinander Schlitten gefahren sind; wie kein Tag verging, an dem wir nicht etwas ausheckten — und sag doch selbst, ist da irgend etwas geschehen, an das wir nicht mit aller Ruhe und Freude zurückdenken könnten? — Doch gewiß nicht! Und wenn ich mir vorstelle, einen einzigen unserer Streiche, die wir miteinander verübten, ließe sich hier ein Mädel aus der höheren Töchterschule zu Schulden kommen, ich glaube, die alten Jungfern, die ihnen die Weisheit einfüllen und ihre Wege überwachen, schickten auf den Stadtkirchturm, um Sturm läuten zu lassen; der Direktor beriefe ein Ehrengericht, und das Mädel würde gebrandmarkt fürs Leben; warum? Weil sie rittlings auf der Käsehütsche den Bibliotheksberg heruntergerutscht ist. Siehst Du, Budang, ich habe ein warmes Herz für alle Welt; aber es giebt keine irdische Strafe, die ich einem Lehrer nicht gönnte. Und sie sind schlimmer geworden seit unserer Zeit. Wohin es noch kommen wird, ich weiß es nicht! Die Kinder heute werden vor lauter Weisheit und Furcht dumm und blöde.“

„Da hast Du recht, Röse,“ sagte der Medizinalrat. „Seitdem die Welt steht, hat sich eine tüchtige Portion von Bosheit und Dummheit abgelagert. Es giebt schreckliche Dinge in der Geschichte, Christenverfolgungen, Judenverfolgungen, Hexenprozesse, Autodafés; aber schlimmer war das nicht, als was die Leute heutzutage mit Erziehung und Bildung bei Mann und Weib anrichten.“

„Du bist ein lieber, guter Mensch!“ rief das Gomelchen ganz bewegt und klopfte dem alten Freund auf die Schulter. „Siehst Du, das ist mir aus der Seele gesprochen. Herr Gott, kommt denn nicht einmal ein vernünftiger Mensch, der dem Unwesen ein Ende macht!“

„Nun,“ sagte der Medizinalrat, „vielleicht einmal aus Deiner Verwandtschaft und Nachkommenschaft, wer kann’s wissen.“

„Na, mir sollte das recht sein, wenn ordentlich aufgeräumt würde. Das ist’s ja, die Leute jetzt wissen es gar nicht, wie schlecht es um sie steht; denn wer kann vergleichen? Hier sitzen so ein paar Alte, die es noch können. Und sag einmal selbst, was sind denn das für vertrocknete Ehrenmännchen und junge alte Jüngferchen jetzt? Jeder unschuldige Backfisch hat die ernstesten Ideen über seine Versorgung und arbeitet auf seinen Lebensabend hin — weißt Du, Budang, das gefällt mir nicht, das dauert mich.“ Frau Gomelchens Stimme wurde ganz bewegt.

„Laß das, Röse,“ sagte der Medizinalrat. „Du sollst nicht immer gleich oben hinaus und nirgends an sein. Was meinst Du denn, wenn die Kinder alle freigelassen und, wie Du es Dir früher auszumalen liebtest, alle Lehrer gehangen oder verbannt würden, so versichere ich Dich, solche Schwesterpärchen, wie Ihr wart, würden doch nicht zu Dutzenden umherlaufen. Ja, ja,“ sagte er und schaute die Enkelin mit seinen lebendigen Augen an: „Euer Gomelchen ist eine große Rarität — Gott behüt’ sie.“

Oft lang unterhielten sich die beiden von verflossenen Zeiten, lachten über Personen, die einst ihr Wesen in Weimar getrieben, nun aber längst zu Staub zerfallen waren. Was für sonderbare, liebenswerte, närrische und vortreffliche Leute tauchten da aus der Vergessenheit auf und kamen auf ein paar Augenblicke wieder zu einem Schimmer von Leben und Wirkung.

Die Zuhörerin, welche die guten Freunde oft bei ihren Unterhaltungen und Erzählungen hatten, war immer ganz Teilnahme. Es schien ihr dann, als sehne sich das Gomelchen nach der Vergangenheit. Das rührte und ergriff sie so tief, daß sie nicht wußte, was sie der Guten Liebes anthun sollte.

Einmal, nach einem Abend, als sie den Erinnerungen der beiden treuen Kameraden gefolgt war, hatte sie einen wunderlichen, aber hübschen Traum. Sie sah das Gomelchen in einem ihr wohlbekannten Zimmer. Die Thüre, die in den Garten führte, stand mit beiden Flügeln weit offen. Sommerluft, Sonne und ein weicher Reseda- und Levkoyenduft drangen ein. Da mit einem Male kam ein wunderschönes, blondes Mädchen vom Garten in das Zimmer gesprungen, ein Mädchen, ganz von Sommerluft und Sonne durchwärmt, belebt und rosig übergossen. Das war das Ratsmädel, die Röse, das Gomelchen, als es noch jung war! Und das schöne, glückliche Mädchen lief auf die alte Frau zu, schloß sie in die Arme, drückte sie an sich, dem ungestümen Geschöpf glitt der breiträndrige Hut vom Kopfe. Das Gomelchen aber machte sich die Arme frei, hielt das Mädchen von sich ab, nickte lächelnd mit dem Kopf, ganz in Nachdenken versunken, schaute sie von oben bis unten an und rief mit einer ganz unbeschreiblich zaubervollen Stimme, in der alle Wehmut eines lebensfreudigen, sehnsüchtigen Herzens zitterte: „Ach, was waren das doch für herrliche Zeiten!“

An einem Frühlingstage verlor das Gomelchen ihren alten, treuen Freund. Sie empfing die Nachricht mit aller Ruhe. Seit Wochen schon hatte sie seinen Töchtern bei der Pflege mit beigestanden und hatte gewußt, daß es mit ihm zu Ende gehen mußte. Die Töchter erzählten, daß die alte Frau oft stundenlang bis in die Nacht hinein am Bette des sterbenden Freundes gesessen, daß sie lange, lange die Hand des Kranken in der ihrigen gehalten, und daß auf beiden Gesichtern dann eine wunderschöne Ruhe gelegen habe.

Noch bis zum letzten Tage, wenn es irgend anging, haben sie sich wohlgelaunt unterhalten, verständnisvoll und wehmütig, wie es nur zwei so gute, alte Freunde miteinander thun können.

Als er gestorben war, hat sie bis zu seinem Begräbnis sein Haus nicht verlassen, hat seine Töchter getröstet und aufrecht erhalten, hat überall nach dem Rechten gesehen und ist des Tags wieder und wieder in das stille Zimmer getreten, in dem ihr treuer Freund lag, hat sich ihn immer wieder angeschaut, und ihr Herz mag wohl einen ergreifenden Abschied genommen haben.

Nach dem Begräbnis holte eine Enkelin sie aus dem Hause ihres guten Freundes Budang ab.

Frau Gomel nahm von den Töchtern Abschied. Die wollten sie gar nicht gehen lassen und waren ganz aufgelöst in Schmerz um ihren alten Vater, der der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Sie hätten die, die es so gut mit ihnen meinte, gar zu gern bei sich behalten. „Ihr müßt nicht so außer Euch sein,“ sagte das Gomelchen. „Gönnt ihm seine Ruhe, wie Ihr ihm sein Leben gönntet — das eine wie das andere muß sein. Schaut Euch die Welt mit seinen Augen an, dann habt Ihr ihn in Euch. — Vergeßt auch nicht, heute Abend hinunter in den Park zu gehen. Jetzt schlagen die Amseln, da hat er es nie versäumt, hinzugehen, so lange er gesund war. Geht nur — das wird Euch wohl thun. Zu unserer Zeit sind wir gar oft zum Amselschlag miteinander gegangen. Thut’s nur heut’ Abend und nehmt Euch hübsch zusammen. Ihr habt es ja immer gut mit ihm gemacht und könnt Euch zurückrufen, wie dankbar er war bis zum letzten Augenblick. Das ist ein Trost, den haben wenig Menschen. Den meisten mögen die bitteren Stunden, die sie einem Heimgegangenen zugefügt, mitten in den ersten Schmerz hinein in die Erinnerung kommen. Bei Euch braucht das nicht zu sein, Gott Lob. Lebt wohl, Ihr guten Mädchen,“ sagte das Gomelchen und schloß eine jede in die Arme. „Lebt wohl und seid recht gelassen, so wie er es gern sehen würde. Die Blätter fallen nun einmal im Herbste.“

Und immer wieder nahm das Gomelchen Abschied von den Töchtern ihres alten Freundes. Es war, als wenn sie versuchte, ob nicht das rechte Trostwort sich vielleicht doch einstellen würde. Auf dem Heimwege war sie ganz schweigsam. Als sie aber ihre Treppe langsam und matt hinaufstieg, sagte sie: „Siehst Du, nun ist alles abgethan. Nun lebt von meinen Guten keiner mehr; mit dem letzten, der sie kannte und liebte, sind sie mir alle noch einmal gestorben.“ Enkelin und Großmutter gingen miteinander in das sonnige Stübchen. Da legte sie sich nieder und schaute mit einem so geduldigen, freundlichen Ausdruck vor sich hin, der tief ergriff. „Die alte, alte Sonne, die scheint unentwegt,“ sagte sie und schaute auf das Lichtgefunkel, das auf den Blättern und Blüten und auf dem Teppich in Flecken und Ringen spielte. Kein Laut war im Zimmer zu hören. So blieben sie beide schweigsam.

„Hör einmal,“ sagte Frau Gomelchen freundlich, „zieh doch das oberste Kommodenfach auf und gieb mir einmal das Packet, das rechts liegt, heraus.“

Die Enkelin that so.

Gomelchen nahm es, öffnete es, da lagen zarte, gelbliche Spitzen in der Papierhülle. „Die hab ich Dir dieser Tage gekauft, Du hast ja so etwas gern,“ sagte sie liebevoll und faßte die Hand der Enkelin und sah sie an, so wehmütig, beinahe wie hilfesuchend.

Da schlang diese die Arme um sie, und das Gomelchen fragte freundlich: „Wenn Du irgend etwas für mich zu thun hast, das gieb nur her und sag mir nur alles, was Du vorhast und was Du denkst. Das ist mir die allergrößte Freude.“

„Ach, mein Gomelchen!“ flüsterte ihre gute Kameradin unter Thränen und hatte ganz die rührende, freundliche Seele verstanden.

„Und Ihr seid, der Budang und Du, immer gute Freunde gewesen, von damals an, als er Euch bei der Eselsgeschichte erwischte, immer gute Freunde und nie getrennt?“ fragte die Enkelin zaghaft nach einer Weile.

„Immer gute Freunde und nie getrennt, heut’ zum ersten Male getrennt,“ wiederholte das Gomelchen. „Als Student war er ein paar Jahr auswärts; einen Katzensprung weit, in Jena; aber da kam er alle Nasen lang. Es hat ihn nie in die Fremde gezogen. Ich reise erst nach meinem Tode, sagte er immer, wenn das Gepäck leichter ist — und ich glaube,“ fügte Frau Gomelchen lächelnd hinzu, „er reist jetzt — denn er hat stets durchgesetzt, was er wollte. Es war ein närrischer Kerl, ein ganz närrischer Kerl.“ Versunken in Erinnerung schaute sie vor sich hin. „Ein guter Jugendfreund, der einem durchs ganze Leben treu war, ist das beste, was es giebt. Da bleibt das Dasein uns immer heimisch; der weiß alles, kannte alles, hat alles mit erlebt; Du kannst Dir gar nicht denken, was für ein Trost es alten Leuten ist, wenn sie einen guten Freund fragen können: Weißt Du denn auch noch, wie damals der und der und die und die aussah — und was sie sagten und was sie thaten, und weißt Du denn auch noch, als die Häuser an der Ackerwand noch nicht standen, und unten der ganze Park Feld und Gestrüpp war, und wie sie in der Esplanade unter den alten Bäumen die Wäsche trockneten, und wo jetzt, auch in der Esplanade, der Goldschmied wohnt, als da noch der uralte Turm stand, in dem der Hufschmied steckte? Und erinnerst Du Dich noch an Mamsell Muskulusen, ihren Veilchenhut und an das großgeblümte Kleid der Kummerfelden und an Adele Schopenhauers Gesicht, wenn der Geist über sie kam, und an den Brunnenkopf, den alten Löwen, der ihr so ähnelte? Gott gebe Dir,“ sagte das Gomelchen, „daß Du einen guten Freund, ein gutes Herz Dein lebelang Dir nahe hast, dann ist das Altwerden so schlimm nicht.“

„Habt Ihr Euch denn nie miteinander verzürnt und habt nie Streit miteinander gehabt?“ fragte die Enkelin.

„Daß ich nicht wüßte,“ erwiderte das Gomelchen treuherzig. „Von dem Tage bei der Jungfer Concordia an, wo wir ihn zuerst länger sprachen, haben wir ihn, Marie und ich, immer ästimiert und voller Respekt behandelt. Zu Streit und Ärger hätte es nie mit ihm kommen können. Das ging alles so ruhig hin, man wußte nicht wie.“

„Und hat er denn nicht einmal zu einer von den Ratsmädchen eine wirkliche Liebe gefaßt?“ fragte die Enkelin.

„I, gar!“ antwortete das Gomelchen, genau in dem Ton, als sagte dies die junge Röse. „Er ist immer unser guter Freund geblieben; als wir uns verlobten, war er zwar nicht sehr erbaut davon, aber nur aus dem Grunde nicht, weil er uns noch für erschrecklich dumm hielt und weil er meinte, wir hätten noch mit dem „Unsinn“ warten können. Mein Mann und er sind dann ganz gute Freunde geworden, so daß der Budang oft sagte: Siehst Du, Röse, nun bin ich doch für die viele Mühe, die ich mir mit Euch gab, belohnt worden. Er wäre für meinen Mann ins Feuer gegangen!“

Da leuchteten Gomelchens Augen von Liebe und Stolz auf.

„Und hat denn der Budang nie eine Dummheit gemacht, ist denn sonst nie etwas zwischen Euch gekommen?“

„Das mag schon sein — ich werde mich schon manchmal über ihn geärgert haben; aber das vergißt sich, und ich habe immer über die Freundschaft meine eigenen Gedanken gehabt und die will ich Dir sagen, die kannst Du Dir merken. Siehst Du, man muß gegen einen Freund zu allererst wohlwollend sein, wohlwollend in jeder Hinsicht — Ärger darf gar nicht Platz greifen. — Wenn Du Dir vorstellst, jemand, den Du lieb hast, habe irgend eine Angewohnheit, die Dir nicht recht ist, und stellst Dir vor, daß er auf lange Zeit totkrank wird, Du fürchtest ihn zu verlieren, — da aber mit einem Male ist die Gefahr vorüber — er wird gesund, und Du hörst ihn zum ersten Male wieder so recht nach Herzenslust schnaufen, oder was er gerade für eine Art, die Leute zu ärgern, an sich hat — Du aber fühlst nur: Gott sei Dank, er schnauft wieder! und da hast Du auch keine Spur von Ärger darüber. So muß es sein. Du mußt, wenn Du jemanden liebst, immer im vollen Bewußtsein Deiner Liebe und der Sorge, ihn zu verlieren, leben, dann lässest Du nichts in Dir aufkommen, was Ärger und Unwille und Ungerechtigkeit ist.“

„Ach, Du liebes Gomelchen, wer ist noch so gut wie Du!“ rief die Enkelin und küßte ihr die Hände. „Das ist wahr, in Deiner Liebe zu den Menschen ist auch nicht ein Fünkchen Ärger mit hineingemischt; da ist wohl kein Schlingel schlimm genug, der nicht bei Dir Trost fände, wenn er zu Dir käme. Ich habe oft gedacht: Bei Dir giebt es Gute und Böse gar nicht, sondern nur Leute, mit denen man freundlich und hilfreich sein muß. Bist Du denn immer so gewesen, auch früher so gut?“

„Hör einmal, Du,“ sagte das Gomelchen, „Du bist eine rechte Schmeichelkatze, was hast Du denn mit Deiner Alten? Von der ist überhaupt nicht zu reden. Was machst Du denn für ein Aufhebens! Wenn ein altes Weib nicht so lieben dürfte, wie es die Leute lieben will, wer möchte da ein altes Weib sein! ich gewiß nicht!“ sagte das Gomelchen. „Wir Alten, Gott Lob, können lieben, wie wir wollen. Wir suchen auf Erden nichts mehr, glaub mir, keine Wichtigkeit mehr, auch keine Gerechtigkeit, nichts — gar nichts. Glaubst Du, der liebe Herrgott oben weiß etwas von Gerechtigkeit, von Härte, von Liebe, von Lieblosigkeit, von Würde oder von Vortrefflichkeit? Bei ihm da oben hört das dumme Zeug auf, der ganze Wirrwarr, alles Gezerre, aller Streit. Da ist ewige Ruhe und Stille. Und die Seele kommt zu ihm ganz unschuldig, wie der Wind und der Blitz. Nicht wahr, der Blitz ist doch unschuldig, wenn er in einen Baum gefahren ist, und der Wind ist unschuldig, wenn er im Meere gewirtschaftet hat? Oder ist er ein böser Blitz oder ein ungerechter Blitz — oder irgend etwas dergleichen? Wenn alles, was menschlich ist, von der Seele zurückgelassen, ist auch alles, was man so oder so nennt, von ihr fortgenommen, alles, was böse oder gut ist. Siehst Du, und wir alten Leute haben schon das meiste zurückgelassen. Die Seele ist schon freier in uns — das ist’s — und hin und wieder fühlt man’s auch ganz klar, in glückseligen oder schmerzlichen Augenblicken. Ach, mein Herzenskind,“ sagte das Gomelchen, „die ganze Welt steckt so voller Ungerechtigkeit, voller Zank und Streit, voller Wichtigthun und Widerstand, voller Verwirrung und Irrtum und Mißverständnis, daß ein armer Mensch bei seinem Freunde, zu dem er in Liebe und Vertrauen kommt, nichts finden soll als eine weiche Ruhe und Stille, wie die Seele sie bei ihrem Gott findet, bei dem das nicht ist, was wir gut und böse nennen — Frieden — Frieden. Nicht dasselbe Spiel, das überall getrieben wird, soll dem Armen auch bei dem Freund bereitet sein — auch nicht ein klein wenig davon. Mein Liebling, merke Dir das, denke nie, nimm Dir nie vor, daß Du Deinen guten Freund durch Deine Weisheit und Vortrefflichkeit bessern oder beeinflussen willst. Laß das den Lehrmeistern, den Gouvernanten, und wie all die ernsten Leute heißen; sei Du klüger. Das Leben macht seine Sache ganz ohne Dein Zuthun. Freunde sind nur da, um das, was das Leben anrichtet, vergessen zu lassen. Gott gebe Dir, daß Du verstehst, beglückend zu lieben.“

Da faßte das Gomelchen den Kopf der Enkelin mit beiden Händen und zog sie zu sich nieder, und in den Augen glänzten ihr helle Thränen: „Lieben, geliebt werden, mein Herz, ist das einzige Glück auf Erden. Meine selige Mutter wußte wohl, was sie meinte, als sie sagte: ‚Liebt das Schöne mehr, als das Gute.‘ Sie konnte die würdigen Leute nicht leiden. ‚Alle vortrefflichen Leute wissen, daß sie vortrefflich sind, und sind deshalb hart und hochfahrend und bösartig, weil sie glauben, die ganze Welt strafen zu müssen,‘ sagte sie; sei Du klüger. Meine Mutter hatte recht, anmutig die Thorheiten thun, die man nun einmal im Leben thun muß, ist besser, als daß man sie würdig und vortrefflich thut. Anmut läßt keine Herzensbosheit, keine Wut, kein Wichtigthun aufkommen. Gott behüte Dich, mein Kind … Weißt Du,“ sagte Frau Gomelchen, „Du könntest heute den Thee bei mir trinken, mir ist so vereinsamt zu Mute. Herr, mein Gott, ich weiß gar nicht, ob ich Dir es wünschen soll, alt zu werden. Das Abschiednehmen von den teuern Lieben, einer geht — und wieder einer geht — und wieder einer — und wieder einer — und der letzte geht — ’s gar zu jämmerlich. Mir ist’s grad’, als wäre ich die Hausherrin, die Wirtin; alle meine lieben Gäste, die so heiter waren, empfehlen sich, und ich bleib allein im Haus, und die Lichter gehen aus — und es wird öde und Nacht — und still.“

„Mein Gomelchen,“ rief die Enkelin bewegt. „Wir sind bei Dir! — Ich bin bei Dir, mit mir rede von alten Zeiten.“

„Ja freilich, mein Herz,“ sagte das Gomelchen und lächelte unter Thränen, „ich bin ein recht undankbares, altes Weib; aber es ist doch so; es wird zu viel im Leben dem Herzen wieder abgefordert, gar zu viel. Gottlob, daß es Freuden und Freunde giebt, die sich unmerklich vergessen. Das Leben ist eigentlich für unbegabtere, gefühllosere Geschöpfe, als wir sind, berechnet, oder für göttliche Geschöpfe, die über allem stehen, über dem Dasein selbst, über Tod und Abschied, über jeder Not und Qual; für solche mag es ein gutes Leben sein; aber die arme Mittelsorte! für solche Leutchen wie du und ich, für die ist’s schlimm, die haben mehr als die einen, und weniger, als die andern, und wissen sich nicht zu helfen, wenn’s auch so ausschaut, als wüßten sie’s. Nun geh nur, und laß es unten sagen, daß Du Deinen Thee bei mir trinken wirst, und komme auch gleich wieder.“

Und wie gerne kam die Enkelin! Eine Theestunde bei Gomelchen hat die Eigenschaft, Sorgen und Trauer weich mit Behagen zu überdecken. Zu dieser Stunde wagt sich kein Leid der Welt in das blumenduftende, hübsche Zimmer herein, in dem der Theekessel summt, und in dem das freundlichste Herz seine Gäste bewillkommnet, ein Herz, das jeden Schmerz, bis in das hohe Alter hinein, wie ein Kind ohne Bitterkeit überwinden kann, nicht düster, nicht verschlossen, ein Herz, das bis in das hohe Alter die Augen im selben Augenblick weinen und lächeln läßt.

Als die Enkelin wieder hereintrat, fand sie die liebe Frau gelassen, doch mit zitternder Hand damit beschäftigt, den Theetisch für sich und ihren Gast zu ordnen. Aus einer Büchse nahm sie Eingemachtes und füllte es in eine kleine Krystallschale, die sie der Enkelin vor ihren Platz stellte mit einer Miene, der man es ansah, wie gerne sie jemandem etwas zu gute that.

Die Enkelin schaute ihr zu, fiel ihr um den Hals und flüsterte: „Wollte Gott, es gäbe viele Ratsmädel und viele Gomelchen auf der Welt, dann würden die Leute, wenn sie jung wären, mehr lustige Streiche machen, und wenn sie alt geworden, da wäre es erst recht hübsch; da hätten sie solche wundervolle Blumenstübchen wie Du, und alle Welt liebte sie, und sie hätten so gemütliche Theetische, und jede Freude sähe bei ihnen doppelt wie Freude aus, und jeder Schmerz machte sie so unbeschreiblich rührend und liebenswert, wie er Dich macht, mein liebes, liebes Gomelchen“ — und die Enkelin hielt sie noch immer umfaßt. In beider Augen schimmerten Thränen, und sie setzten sich miteinander ganz einverständlich und voller Liebe zu einander hinter die summende Theemaschine, das Gomelchen in ihren weichen, gemütlichen Lehnstuhl. Die Lampe leuchtete unter dem großen rosa Schirm, und die Enkelin sagte: „Ich verstehe Dich, mein Gomelchen, das einzige, was auf Erden das Herz ruhig und glücklich macht, ist: Gut miteinander zu sein.“

Anmerkungen zur Transkription

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