Title : Der Weltkrieg, II. Band
Author : Karl Helfferich
Release date : May 10, 2015 [eBook #48921]
Language : German
Credits
: Produced by Peter Becker, Jens Nordmann and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This
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von
Karl Helfferich
II. Band
Vom Kriegsausbruch
bis zum uneingeschränkten
U-Bootkrieg
1919
Verlegt bei Ullstein & Co in Berlin
Alle Rechte
, insbesondere das Recht der Übersetzung,
vorbehalten
.
Amerikanisches Copyright 1919 by Ullstein & Co, Berlin
Inhalt
Vorwort | 9 |
Umfang und Art des Krieges | 11–47 |
Vorbemerkung 13 . Übermacht der Entente 14 . | |
Die militärische Gestaltung des Krieges | 15–22 |
Mobilmachung und erste Erfolge 15–17 . Marneschlacht 18 , 19 . Die Befreiung Ostpreußens 20 , 21 Österreich-ungarische Niederlagen 21 . Keine Aussicht auf ein rasches Kriegsende 21 . | |
Der Krieg und die deutschen Finanzen | 22–34 |
Bestrebungen des Reichsbankpräsidenten Havenstein 22 , 23 . Glaube des Auslandes an unsere finanzielle Unterlegenheit 24 , 25 . Geldmarkt und Börse unter der Einwirkung des Kriegsausbruchs 26–33 . Erste Kriegsanleihe 33 , 34 . | |
Der Krieg und die deutsche Wirtschaft | 34–47 |
„Wirtschaftlicher Generalstab“ fehlte 34–36 . England geht gleich zum Wirtschaftskrieg über 37–40 . Aussichten der Vergeltungspolitik 41 . Neuorganisation unserer Wirtschaftsverfassung 42–44 . Ansichten über die Dauer des Krieges 44 , 45 . Entstehung der Kriegswirtschaft 45–47 . | |
Die politische und militärische Entwicklung des Krieges bis zum Friedensangebot | 49–108 |
Vorbemerkung | 51 |
Die Türkei als Bundesgenosse | 52–64 |
Natürlicher Zwang für die Türkei zum Anschluß 52–54 . Dardanellensperre 55 , 56 . Notwendigkeit der Öffnung des Donauweges 57–60 . Versuch der Forcierung der Dardanellen durch die Entente 61–64 . | |
Italien | 64–71 |
Neutralität Italiens 64–67. Bülow in Rom 67–71 . Italiens Forderungen 68 , 69 . Italienische Kriegserklärung 69 , 70 . | |
Von der italienischen Kriegserklärung bis zum Eintritt Bulgariens in den Krieg | 71–91 |
Masurenschlacht 71 , 72 . Durchbruchsversuche der Entente 72–74 . Befreiung Galiziens und Eroberung Polens 74–76 . Diplomatisches Ringen auf dem Balkan 77–80 . „Lusitania“ versenkt 81 , 82 . Durchstoß nach der Türkei oder Ausnutzung des galizischen Sieges? 82–91 . | |
Vom Eingreifen Bulgariens bis zum rumänischen Krieg | 91–108 |
Entente-Offensive im Westen 91–93 . Eingreifen Bulgariens, Eroberung Serbiens, Besetzung Salonikis durch die Entente, Kapitulation Montenegros 93 , 94 . Verfehlter Angriff auf Verdun 95–97 . Österreichischer Vorstoß gegen Asiago und Arsiero, Brussiloff-Offensive, Somme-Offensive 1916 97–99 . Frage des einheitlichen Oberbefehls im Osten, Hindenburg Chef des Generalstabs des Feldheeres 99–103 . Rumäniens Kriegserklärung 104–106 . Niederwerfung Rumäniens 106–108 . | |
Finanzielle Kriegführung | 109–171 |
Reichsschatzamt | 111–115 |
Übernahme des Reichsschatzamts 111–114 . Falsche Sparsamkeit 114 , 115 . | |
Die Finanzierung kriegswichtiger Unternehmungen | 115–131 |
Stickstofffrage 115–122 . Reichsstickstoffwerke 122–124 . Stickstoffhandelsmonopol 124–127 . Kriegsrohstoff-Abteilung und Reichsschatzamt 127 , 128 . Handels-U-Boote 128–131 . | |
Kriegskosten und Sparsamkeit | 132–139 |
Entwicklung der Kriegsausgaben 132 , 133 . „Geld spielt keine Rolle“ 134–136 . Stabilität der Kriegsausgaben vom Frühjahr 1915 bis zum Herbst 1916. Legendenbildung über Geldverweigerung des Reichsschatzamtes 136–139 . | |
Die Kriegsanleihen | 139–153 |
Methoden zur Aufbringung der Mittel für die Kriegführung 139–142 . Der Gedanke der finanziellen Wehrpflicht 145 . Deutsche und englische Anleihepolitik 145–151 . Ungeheure Steigerung der Kriegsausgaben vom Herbst 1916 an 152 , 153 . | |
Kriegssteuern | 153–168 |
Kriegssteuern als Ergänzung der Anleihepolitik? Vergleich mit England 153–159 . Kriegsgewinnsteuer, Verbrauchs- und Verkehrssteuern im Reichstage 160–168 . | |
Finanzielle Vorschüsse an unsere Verbündeten | 168–171 |
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft | 173–282 |
Reichsamt des Innern | 175–183 |
Übernahme des Reichsamts des Innern 175–177 . Geschäftsbereich des Reichsamts des Innern, Kriegsrohstoffabteilung, Kriegsernährungsamt 177–183 . | |
Deutschland als belagerte Festung | 184–201 |
Skagerrak, Kreuzerkrieg 184 , 185 . Londoner Deklaration, Ausdehnung des Bannwarenbegriffes 185–188 . Die Nordsee von England zum Kriegsgebiet erklärt, Verhalten der Neutralen 188–191 . Kontrolle des neutralen Handels 191–196 . Rohstoffbezug aus den besetzten Gebieten 196–198 . Ernährungsschwierigkeiten bei den Verbündeten 198–200 . Ernteerträgnisse und Veränderungen des Viehbestandes in Deutschland 200 , 201 . | |
Der Wirtschaftskampf um die Neutralen | 202–221 |
Deutscher Gegendruck auf die Neutralen 202 , 203 . Reglementierung und Zentralisation der Ausfuhr und Einfuhr 203 , 204 . Wirkungen des planlosen Einkaufs 205 , 206 . Zentral-Einkaufs-Gesellschaft 207–209 . Planmäßige Verbindung von Ausfuhrgenehmigungen, Einfuhrgeschäften und Kreditabmachungen 210–215 . Günstige Gestaltung unserer Einfuhr 215–221 . | |
Die innere Kriegswirtschaft | 221–249 |
Die Technik im Dienste der Kriegswirtschaft | 222–227 |
Steigerung der wirtschaftlichen Kräfte 222 , 223 . Ersatzstoffe, neue Erfindungen 224–227 . | |
Umstellung der Unternehmungen und Umgruppierung der Arbeitskräfte | 227–232 |
Umstellung der Produktion 227 , 228 . Umgruppierung der Arbeiterschaft 228–231 . | |
Verbrauchsregelung und Volksernährung | 232–240 |
Höchstpreise, Rationierung, Beschlagnahme, Bewirtschaftung 232–234 . Kriegsgetreidegesellschaft 235–237 . Reglementierung und Syndizierung des Handels, Kriegswirtschaftliche Reichsstellen 238 . Übertreibung der Zwangswirtschaft 239 , 240 . | |
Bewirtschaftung der Rohstoffe | 240–249 |
Beschlagnahme und Bewirtschaftung 240 , 241 . Kriegsrohstoff-Gesellschaften 241–243 . Rationelle Ausnutzung der Höchstleistungsbetriebe, Zeitungsgewerbe 243–249 . | |
Hilfsdienstgesetz und Hindenburg-Programm | 249–282 |
Munitionskrisis 249–254 . Hindenburg-Programm, Hilfsdienstgesetz 254–259 . Kriegsamt und Durchführung des Hilfsdienstgesetzes 259–272 . Abkehrschein 273 , 274 . Lohntreiberei 275 , 276 . Kritik des Hindenburg-Programms und des Hilfsdienstgesetzes 276–278 . Transport- und Kohlenkrisis 278–281 . Finanzielle Überspannung 281 . Überschätzung der deutschen Volks- und Wirtschaftskraft 282 . | |
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg | 283–430 |
Kriegführung und Diplomatie als Mittel der Politik 285–288 . | |
Die Friedensfrage | 288–299 |
Langsame Gewöhnung an den Gedanken des Erschöpfungskrieges 288–290 . Bethmann Hollwegs Kriegsziele 290–292 . Deutschlands Friedensbereitschaft, Vernichtungswille der Entente 292–294 . Bemerkungen zur Politik des Kanzlers 294–299 . | |
Die erste Phase des U-Bootkriegs | 300–325 |
Tirpitz über die Möglichkeit eines U-Bootkrieges 300 . Bekanntmachung des U-Boot-Handelskrieges 301 , 302 . Der Kaiser über die Kriegführung 303 . Schonung der neutralen Schiffe 304 . Englands Abhängigkeit vom Schiffsverkehr 304–306 . Proteste der Neutralen 306 , 307. Deutsch-amerikanischer Notenwechsel 307–314 . Versenkung der „Lusitania“ 314–317 . „Freiheit der Meere“ 318–323 . „Arabic“ versenkt 323–325 . | |
Der verschärfte U-Bootkrieg | 325–338 |
Lansings Vorschlag über die U-Boot-Kriegführung an die Entente-Vertreter 325–328 . Wiederaufnahme der „Lusitania“-Angelegenheit 328 , 329 . Stellung der militärischen Führung und des Kanzlers zum uneingeschränkten U-Bootkrieg 329 , 330 . Verschärfter U-Bootkrieg 330 , 331 . Haltung Amerikas 332–335 . Forderung des uneingeschränkten U-Bootkrieges, Denkschrift des Admiralstabes 335 , 336 . Tirpitz' Rücktritt 337 . Reichstag und U-Bootkrieg 337 , 338 . | |
Der „Sussex“-Fall | 338–349 |
Note Wilsons 339–342 . Amerika oder Verdun? 343 . Deutsch-amerikanischer Notenwechsel 344–347 . Einstellung des verschärften U-Bootkriegs 347–349 . | |
Die Bemühungen Bethmann Hollwegs um einen amerikanischen Friedensschritt | 349–355 |
Ineinandergreifen der U-Boot- und Friedensfrage 349 , 350 . Bemühungen bei Wilson 351–353 . Gerards Reise nach Amerika, Wilsons Zurückhaltung 353–355 . | |
Der deutsche und der amerikanische Friedensschritt | 355–379 |
Presserede Greys 355 , 356 . Günstige militärische Position für einen Friedensschritt 356–358 . Antwort an Grey 359 359, 360 . Deutscher Friedensvorschlag an die kriegführenden Staaten 360–369 . Friedensnote Wilsons an alle Mächte 369–372 . Zustimmende Antworten Deutschlands und seiner Verbündeten, schroff ablehnende Antworten der Alliierten 372–379 . | |
Der uneingeschränkte U-Bootkrieg | 379–430 |
Keine amerikanische Bemühung zur Aufhebung der Blockade 379–381 . Wiederaufnahme der U-Bootfrage 381–383 . Verhandlungen im Hauptausschuß über den U-Bootkrieg, meine Stellungnahme gegen den U-Bootkrieg 383–390 . Zentrumserklärung und ihre Wirkung auf die Stellung des Kanzlers zu den militärischen Instanzen 390–394 . Gutes Ergebnis des U-Boot-Kreuzerkriegs vom Oktober 1916 an 395 . Admiralstab und Oberste Heeresleitung verlangen den uneingeschränkten U-Bootkrieg 395–399 . Festmahl der amerikanischen Handelskammer 399–403 . Neue Denkschrift des Admiralstabes 403–408 . Entscheidung für den uneingeschränkten U-Bootkrieg, Vorgänge in Pleß 408–412 . Meine persönliche Entschließung 412 , 413 . Wilsons Botschaft an den Senat 414–417 . Wilson ersucht um Mitteilung der deutschen Friedensbedingungen 417–419 . Überreichung der deutschen U-Boot-Note, Mitteilung der deutschen Friedensbedingungen 419–421 . Die Auffassung Bernstorffs 421–428 . Urteil über Wilson als Friedensstifter 428–430 . |
Das ungeheure Geschehen des Weltkrieges gliedert sich dem rückwärtsschauenden Blick deutlich in zwei große Abschnitte.
Der erste fand seinen Abschluß mit dem Verbluten der fast fünfmonatigen Offensive unserer Feinde auf den Schlachtfeldern der Somme, mit der Niederwerfung Rumäniens und mit dem Scheitern des Friedensvorschlages der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 wie des Friedensschrittes des Präsidenten Wilson vom 21. desselben Monats.
Die im Januar 1917 beschlossene Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges leitete hinüber zu dem zweiten Hauptabschnitt, der durch den Eintritt der Vereinigten Staaten in die Reihe der Kriegführenden sein Gepräge erhielt.
Der Darstellung des ersten dieser beiden großen Abschnitte des Krieges gilt der vorliegende Band (Band II des Gesamtwerkes).
Der letzte Band, enthaltend die Darstellung des Krieges bis zum Ausbruch der Revolution und zum Abschluß des Waffenstillstandes befindet sich bereits im Druck und wird in Bälde ausgegeben werden.
Berlin, im Juni 1919
Karl Helfferich
Ein ungeheures Schicksal war über das deutsche Volk hereingebrochen. Allein mit unseren österreichisch-ungarischen Verbündeten fanden wir uns gegenüber der russisch-französisch-englischen Koalition, die von vornherein durch Belgien, Serbien und Montenegro verstärkt war und der sich noch im Laufe des August auch Japan zugesellen sollte. Unser italienischer Dreibundgenosse dagegen lehnte es ab, den Bündnisfall als gegeben anzusehen, und erließ eine Neutralitätserklärung, die den französischen Ministerpräsidenten zu Worten hoher Freude und die französische Kammer zu einer stürmischen Ovation für die „lateinische Schwester“ veranlaßte. Auch Rumänien, das seit vielen Jahren durch eine geheime Militärkonvention mit uns verbunden war, hielt sich abseits; König Carol war nicht stark genug, gegen seine widerstrebenden Minister und die ententefreundliche öffentliche Meinung die Erfüllung der von ihm übernommenen Verpflichtungen durchzusetzen.
Die Übermacht der Feinde war erdrückend. Allein Rußland und Frankreich vermochten eine Truppenmacht ins Feld zu stellen, die der vereinigten deutschen und österreichisch-ungarischen erheblich überlegen war. Allein die britische Flotte war eine gewaltige Übermacht gegenüber den vereinigten Flotten Deutschlands und seines Bundesgenossen. Nicht minder war finanziell und wirtschaftlich das ungeheure Übergewicht auf der andern Seite, und schon die ersten Tage des Krieges zeigten, daß unsere Feinde, namentlich England, entschlossen waren, dieses Übergewicht bis zum äußersten auszunutzen.
Auch das stärkste Herz mußte sich von der Sorge bedrückt fühlen, wie das deutsche Volk sich der furchtbaren Übermacht sollte erwehren können. Es brauchte der ganzen Kraft, die nur das Bewußtsein der guten Sache verleiht, um die bangen Zweifel zu verscheuchen und die mutige Zuversicht zu schaffen, mit der das deutsche Volk in den Kampf um sein Dasein und seine Zukunft ging.
Die Straßen hallten wider von dem festen Tritte der Jungmannschaften und der Landwehrmänner, die, blumengeschmückt und vaterländische Lieder singend, ausmarschierten. Die Hoffnungen und die heißen Wünsche des ganzen deutschen Volkes begleiteten sie. Der Abschiedsschmerz und die Sorge um das Wiedersehen gingen unter in der Hingabe an das bedrohte Vaterland. Alles schien klein geworden, was bisher das Leben ausgefüllt hatte; es gab nur noch eines: die Verteidigung des [15] deutschen Bodens und der deutschen Volksgemeinschaft. In diesem Gedanken fand sich ganz Deutschland in erhebender Einheit zusammen, alle Stämme, alle Klassen, alle Parteien. Und diese Einheit, aus der höchsten Not des Vaterlandes geboren, erschien als Gewähr des Sieges.
Die Mobilmachung und der Aufmarsch unserer Truppen vollzogen sich mit der größten Ordnung und Präzision. Der Kriegsminister hat mir gegen Abschluß der Mobilisationsperiode erzählt, daß nicht eine einzige Rückfrage der Generalkommandos bei der Zentralinstanz erforderlich gewesen sei. Am 16. August, nach Vollendung des Aufmarsches, begab sich der Kaiser mit dem Großen Hauptquartier in aller Stille von Berlin nach Coblenz.
Inzwischen harrte das deutsche Volk mit atemloser Spannung der ersten Nachrichten von den Kriegsschauplätzen.
Mit besonderer Sorge blickte mancher nach der Nordsee in der Erwartung, daß die dort versammelte britische Flotte, das gewaltigste Geschwader, das je die Welt gesehen hatte, ohne Zögern zu dem so oft angekündigten Vernichtungsschlage gegen unsere junge Marine ausholen werde. Aber der erwartete Angriff erfolgte nicht. Die britischen Kriegsschiffe begnügten sich mit der Jagd auf wehrlose deutsche Handelsschiffe und dem Anhalten [16] neutraler Fahrzeuge, von denen sie im Widerspruch zu allem Völkerrecht deutsche Passagiere und deutsches Gut herunterholten. Dagegen lösten einige kühne Taten unserer Marine großen Jubel aus, so gleich in den ersten Tagen des Krieges der Durchbruch der „Göben“ und der „Breslau“ durch ein starkes feindliches Geschwader bei Sizilien und ihr Einlaufen in die Dardanellen, vor allem aber die Versenkung der drei englischen Kreuzer durch das U-Boot des Kapitänleutnants Weddigen.
Von den Kriegsschauplätzen zu Lande kam die erste wichtige Nachricht am Morgen des 7. August: ein von einer kleinen Truppe unternommener Handstreich auf Lüttich sei nicht geglückt. Um so freudiger wurde am Abend desselben Tages die Nachricht aufgenommen, daß die Festung Lüttich in unseren Händen sei. Das war der erste große Erfolg. Er war zu verdanken dem vor nichts zurückschreckenden Draufgängertum des damaligen Generalmajors Ludendorff und der alle bisherigen Begriffe übersteigenden Wirkung unserer 42-cm-Geschütze, die mit ihren Geschossen auf große Entfernungen die stärksten Panzertürme wie irdene Töpfe zerschlugen.
Nun war die erste Bresche gelegt. Es folgte der unaufhaltsame Vormarsch unserer Truppen durch Belgien, die Besetzung von Brüssel, die Einnahme von Namur und die Schlachten bei Mons, Charleroi, Dinant, Neufchâteau und Longwy, in denen unsere Armeen sich den Weg nach Frankreich bahnten; dann die wuchtigen Schläge, [17] die das britische Hilfskorps in viertägiger Schlacht von le Cateau und Landrecies über Cambrai und St. Quentin warf und großenteils vernichtete. Inzwischen hatte die Armee des bayrischen Kronprinzen die in das deutsche Lothringen eingedrungenen Franzosen zwischen Metz und den Vogesen gefaßt und in einer großen Schlacht geschlagen. Kleinere Mißerfolge, wie die Schlacht von Mülhausen, in der die geplante Abschnürung der französischen Truppen nicht gelang, taten dem erfreulichen Gesamtbilde keinen Eintrag. Unaufhaltsam schienen sich die gewaltigen deutschen Heeresmassen vorwärts zu wälzen und jeden Widerstand vor sich zu zerbrechen. Am 4. September konnte der Kaiser in Luxemburg, wohin inzwischen das Große Hauptquartier verlegt worden war, zu mir sagen: „Wir haben heute den fünfunddreißigsten Mobilmachungstag. Reims ist von unsern Truppen besetzt, die französische Regierung hat ihren Sitz nach Bordeaux verlegt, unsere Kavalleriespitzen stehen 50 Kilometer vor Paris!“
Freilich, als ich am Abend desselben Tages, vor meiner Rückreise in die Heimat, den Chef des Generalstabs des Feldheeres besuchte, erhielt das glänzende Bild, das ich mir aus den Berichten über die Siege und den Vormarsch unserer Truppen gemacht hatte, einen ernsten Schatten. Ich fand den Generalobersten von Moltke keineswegs in froher Siegesstimmung, sondern ernst und bedrückt. Er bestätigte mir, daß unsere Vortruppen 50 Kilometer vor Paris standen; „aber“ — fügte er hinzu — „wir haben in [18] der Armee kaum mehr ein Pferd, das noch eine andere Gangart als Schritt gehen kann.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Wir wollen uns nichts vormachen. Wir haben Erfolge gehabt, aber wir haben noch nicht gesiegt. Sieg heißt Vernichtung der Widerstandskraft des Feindes. Wenn sich Millionenheere gegenüberstehen, dann hat der Sieger Gefangene. Wo sind unsere Gefangenen? Einige zwanzigtausend in der Lothringer Schlacht, da noch zehntausend und dort vielleicht noch zwanzigtausend. Auch die verhältnismäßig geringe Zahl der erbeuteten Geschütze zeigt mir, daß die Franzosen sich planmäßig und in Ordnung zurückgezogen haben. Das Schwerste steht uns noch bevor!“
Die folgenden Tage brachten die große französische Gegenbewegung, die man sich gewöhnt hat, als die „Marneschlacht“ zu bezeichnen. Trotz taktischer Erfolge unseres schwer angegriffenen rechten Flügels endigten die Kämpfe mit einem strategischen Rückzuge. Unsere Generalstabsberichte zeigten in den kritischen Tagen eine Zurückhaltung, die unserm Volk den Ernst der Lage nicht zum Bewußtsein kommen ließ. Die damals bei uns noch nicht veröffentlichten französischen und englischen Heeresberichte der zweiten Septemberwoche strömten über von Siegesjubel. Namentlich die französischen Berichte ließen unsere Armeen in voller Auflösung und in unaufhaltsamer Flucht erscheinen. Auch die privaten Nachrichten, die von der Front ihren Weg nach der Heimat fanden, [19] lauteten nicht ermutigend. Es waren für den Wissenden sorgenvolle Tage und schlaflose Nächte.
Allmählich klärte sich die Lage. Unsere Armeen hatten eine stark befestigte Verteidigungsstellung zwischen Noyon, nördlich Reims und Verdun bezogen, an der sich der französische Gegenstoß endgültig brach. Französisch-englische Versuche, uns durch Überflügelung in der rechten Flanke zu fassen, wurden abgewiesen, wiederholten sich aber immer wieder, und zwar fortschreitend in nördlicher Richtung. Alle Versuche des Feindes, durchzubrechen und unsere rückwärtigen Verbindungen zu bedrohen, wurden in heftigen Kämpfen, so bei Bapaume und Albert, abgewiesen.
Mit der Einnahme von Antwerpen am 9. Oktober und der bald darauf folgenden Besetzung von Ostende war für unsern rechten Flügel eine starke Anlehnung an die Nordsee gewonnen. Aber unserem Versuche, mit dem Einsatz unserer besten Kraft an der Yser und bei Ypern die feindliche Front zu zerbrechen, die Heere der Verbündeten vom Meere abzudrängen und sie endgültig zu überflügeln, blieb, trotz des beispiellosen Heldenmutes unserer Freiwilligen-Regimenter und aller unsagbaren Opfer, der Erfolg versagt. Nachdem der Feind zur Unterstützung seiner erlahmenden Widerstandskraft das Meer ins Land hereingelassen und den größten Teil des Kampfgeländes in Sumpf und See verwandelt hatte, flaute im November nach einer letzten gigantischen Anstrengung [20] bei Ypern das furchtbare Ringen ab. Auch hier erstarrte der Kampf zum Stellungskrieg. Ebenso blieben unsere Versuche, auf unserm linken Flügel die Sperrfortkette Verdun-Toul zu sprengen, trotz einzelner Erfolge im ganzen fruchtlos. Der Feldzug auf dem westlichen Kriegsschauplatze war im November auf der ganzen Linie zum Stehen gekommen. Die Hoffnungen auf eine schnelle Entscheidung und ein baldiges Ende des Krieges mußten begraben werden.
Auch im Osten war inzwischen schwer gekämpft worden. Gleich nach Ausbruch der Feindseligkeiten hatte es sich gezeigt, wie weit die russische Mobilmachung an unsern Grenzen bereits vorgeschritten war. Unsere in Ostpreußen stehenden schwachen Kräfte wurden alsbald von einer großen Armee angegriffen und mußten, trotz heldenhafter Gegenwehr, wertvolle Teile der Provinz dem Feinde preisgeben. Sengend und brennend, plündernd und mordend ergossen sich die russischen Horden über das blühende Land. Das über Erwarten rasche Vordringen des Feindes, die verzweifelten Hilferufe der Einwohner und die Entrüstung über die russische Barbarei bestimmten unsere Oberste Heeresleitung, früher als ursprünglich geplant eine Gegenaktion in die Wege zu leiten. Der General von Hindenburg, der kurz vor dem Kriege seinen Abschied genommen hatte, wurde zum Führer der neuzubildenden Ostarmee ausersehen, der Generalmajor Ludendorff wurde zu seinem Stabschef ernannt. Dem [21] Genie der beiden sich gegenseitig auf das Glücklichste ergänzenden Feldherren gelang es, in den Schlachten bei Tannenberg und an den Masurischen Seen die gewaltige russische Übermacht vernichtend zu schlagen und unsere Ostmark vom Feinde zu befreien. Der Jubel in ganz Deutschland war grenzenlos. Die Namen Hindenburg und Ludendorff waren in aller Munde; ihre mit einem Schlage gewonnene Volkstümlichkeit ist während des ganzen Krieges von keinem andern Feldherrn oder Staatsmann auch nur annähernd erreicht worden.
Aber auch die ostpreußischen Schlachten führten, so groß der Erfolg war, keine Entscheidung herbei. Unsere österreichisch-ungarischen Bundesgenossen hatten im südlichen Polen und in Galizien schwere Niederlagen erlitten. Die Bukowina und der größte Teil von Galizien mußten preisgegeben werden, und die Russen schickten sich an, über den Karpathenkamm nach Ungarn einzudringen. Ein kraftvoller Vorstoß Hindenburgs gegen Warschau und der Österreicher gegen Iwangorod mußten abgebrochen werden. Schlesien erschien auf das Äußerste bedroht, und Ostpreußen erlebte einen zweiten Russeneinfall. Wenn es auch gelang, Ostpreußen zum zweitenmal zu befreien, die Gefahr für Schlesien abzuwenden und den Krieg erneut nach Polen zu tragen, so gestattete gegen die Wende des Jahres 1914 die Lage auf dem östlichen Kriegsschauplatz keine Täuschung darüber, daß auch von hier keine schnelle Entscheidung und kein baldiges [22] Kriegsende zu erwarten war. Was im ersten jähen Ansturm in West und Ost nicht geglückt war, den Feind vernichtend zu schlagen und ihn zu einem unser und unserer Verbündeten Dasein sichernden Frieden bereit zu machen, das konnte jetzt nur noch von zähem Kampf und entschlossenem Durchhalten erwartet werden. Vielen wurde es jetzt erst bewußt, vor welche Schicksalsprobe unser Volk gestellt war.
Während das Heer unsere Grenzen schützte und den Krieg in Feindesland trug, spannte auch die Heimat alle Kräfte an, um den Erfordernissen des Krieges gerecht zu werden. Mehr denn jemals zuvor war dieser Krieg von seinem Anbeginn an nicht nur ein Krieg der Waffen, sondern auch ein Krieg der Finanzen und der Wirtschaft aller beteiligten Völker.
Meine Stellung in der Direktion des größten deutschen Finanzinstituts gab mir Gelegenheit, auf diesem Felde mitzuarbeiten.
Schon in den Jahren vor dem Kriege hatte ich die Bestrebungen des Reichsbankpräsidenten Havenstein, das deutsche Geld- und Kreditwesen auf eine möglichst solide, auch gegenüber schweren Erschütterungen wirtschaftlicher [23] und politischer Art widerstandsfähige Grundlage zu stellen, in meinem Wirkungskreise nach Kräften unterstützt. Meine Kollegen in der Direktion der Deutschen Bank setzten in guter alter Tradition ihren Stolz nicht nur in die Ausdehnung der Geschäfte der Bank, sondern mehr noch in die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Liquidität ihres Standes; hier wurde die Berechtigung der Havensteinschen Bestrebungen nicht nur theoretisch anerkannt, sondern auch praktisch betätigt. Die seit dem Jahre 1905 sich überstürzenden politischen Krisen zeigten, wie notwendig es war, das gesamte deutsche Kreditwesen, das durch die ungestüme wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands auf das Stärkste angespannt war, krisenfest zu machen. In dieser Richtung lag die Verstärkung des Goldbestandes der Reichsbank als unserer nationalen Goldreserve, die Verbesserung der Zahlungssitten durch die Ausdehnung des Scheck- und Giroverkehrs, die Einschränkung der Festlegung der Bankdepositen in langfristigen und immobilen Krediten, die Beseitigung der Abhängigkeit des deutschen Geldmarktes von kurzfristigen Auslandskrediten, die innere Konsolidierung der großen Unternehmungen durch eine vorsichtige Dividenden- und Reservenpolitik.
Schon die Marokkokrisis von 1911 hatte gezeigt, daß diese Bemühungen nicht vergeblich gewesen waren. Das deutsche Geld- und Kreditwesen zeigte damals schon, im Vergleich mit Frankreich und selbst England, eine [24] erfreuliche Widerstandsfähigkeit. Die namentlich im Ausland, aber auch in Deutschland selbst verbreitete Auffassung, das deutsche Wirtschaftsgebäude sei ein Koloß auf tönernen Füßen, das deutsche Kreditsystem sei ein Kartenhaus, das beim ersten scharfen Windstoß zusammenbrechen müsse, hatte sich damals schon als überholt erwiesen. Freilich, unsere Gegner, namentlich die Franzosen, haben das nicht wahr haben wollen. Obwohl die Börse und der Geldmarkt in Paris und sogar in London, wie sich an den Kursen der Wertpapiere und den Geldsätzen ohne weiteres ablesen ließ, durch die Erschütterung der Marokkokrisis stärker in Mitleidenschaft gezogen wurden als bei uns, blieb nicht nur die öffentliche Meinung, sondern — von wenigen Ausnahmen abgesehen — auch der engere Kreis der Fachleute in Frankreich bei der vorgefaßten Meinung von unserer unbedingten finanziellen Unterlegenheit; ja es bildete sich die Legende, die Gefahr des finanziellen Zusammenbruchs habe es für Deutschland unmöglich gemacht, es auf einen Krieg ankommen zu lassen. Ich habe diesen Glauben an unsere finanzielle Unzulänglichkeit, der mir in ausländischen Kreisen immer wieder entgegentrat, stets als eine Verstärkung der dem Weltfrieden ohnehin schon drohenden Gefahren angesehen; denn dieser Glaube konnte in kritischen Situationen leicht dazu führen, unsere Gegner zu einer Überspannung ihrer Ansprüche und Zumutungen zu verleiten. Ich habe mich deshalb für verpflichtet gehalten, diesen [25] irrigen Vorstellungen entgegenzutreten, insbesondere dann, wenn sie, was vorkam, von Deutschland aus Nahrung erhielten. Noch kurz vor Ausbruch des Weltkrieges, im Juni 1914, habe ich im Vorwort zur vierten Auflage meines Büchleins über „Deutschlands Volkswohlstand“ ausgeführt:
„Es ist geradezu ein Weltinteresse, daß die Illusion verschwindet, durch Mittel der finanziellen Politik könne erreicht werden, was bisher weder durch militärische Macht noch durch Allianzen und Ententen zu erreichen war: die Niederkämpfung Deutschlands.“
Nun brach der Sturm des Krieges über die Welt herein und erschütterte den wirtschaftlichen Aufbau aller beteiligten Völker in seinen Grundfesten.
Schon seit dem Attentat von Sarajewo lag ein dumpfes Unbehagen über den finanziellen Märkten der Welt. Das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien und die ungenügende Antwort der serbischen Regierung, dazu die Stellungnahme Rußlands, das erklärte, „nicht indifferent bleiben zu können“, brachten das Ungewitter zum Ausbruch. Alles, was bisher an Werten als fest und sicher galt, geriet ins Schwanken. Bares Geld, womöglich blankes Gold, erschien als der einzige feste Pol in der Erscheinungen Flucht. Die Börsen wurden von allen Seiten mit Verkaufsaufträgen überschüttet; die Geldinstitute wurden mit Kreditanträgen und Wechseleinreichungen bestürmt; Kredite wurden gekündigt; bei den [26] Banken und Sparkassen drängte sich die Kundschaft, um Guthaben und Einlagen zurückzuziehen.
Es galt, alle Kraft einzusetzen, um die Sturmflut der Panik einzudämmen und der Besonnenheit wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen. Jetzt hatte sich zu bewähren, was Deutschland in den letzten Jahrzehnten an echter finanzieller Kraft gewonnen und an wirksamer finanzieller Organisation aufgebaut hatte. Die großen Berliner Banken und Bankiers, die sich seit Jahren in der sogenannten „Stempelvereinigung“ zusammengeschlossen und dort an ein einheitliches Handeln in allen Fragen von allgemeinem Interesse ihres Berufes gewöhnt hatten, vereinigten sich alsbald zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen, um in engster Fühlung mit der Reichsbank und der Seehandlung durch eine Intervention auf den Effektenmärkten, durch Aufrechterhaltung der Kredite und Schaffung erweiterter Kreditmöglichkeiten für Beruhigung zu sorgen und die Weiterführung einer geordneten wirtschaftlichen Tätigkeit zu ermöglichen. Jeden Vormittag versammelten sich in jener kritischen Zeit die Vertreter der an die „Stempelvereinigung“ angeschlossenen Finanzinstitute im Sitzungssaal der Deutschen Bank, um über die Lage und die gemeinschaftlich zu ergreifenden Maßnahmen zu beraten. Wir alle waren durchdrungen von der Überzeugung, daß in jener schweren Lage jede Ängstlichkeit und Engherzigkeit der in der deutschen Finanzwirtschaft führenden Stellen verhängnisvoll wirken müsse; daß nur [27] ein großzügiges und weitherziges Verhalten gegenüber den Erfordernissen der Stunde die Lage retten könne; daß schließlich den deutschen Banken ihr in langer Arbeit und in ernster Selbstbeschränkung gefestigter Stand es gestatte, jetzt in den Zeiten der Not vor den Riß zu treten und im Interesse des Ganzen große Risiken zu übernehmen. Die strengen Normen in ruhigen Zeiten haben ihren Zweck in der Sicherung der Bereitschaft für den kritischen Augenblick. Wenn das Pferd über den Graben soll, heißt es die Zügel locker lassen.
Der Erfolg der zweckmäßigen Organisation und des planmäßigen Eingreifens blieb nicht aus. Die finanziellen Grundmauern der deutschen Wirtschaft zeigten sich dem Sturm der Kriegspanik gewachsen; unsere finanzielle Widerstandskraft hielt jeden Vergleich aus mit derjenigen unserer Feinde, die sich auf einen viel älteren Reichtum stützen konnten und sich uns gegenüber bisher als die unbestritten Überlegenen gefühlt hatten.
Unsere Effektenmärkte zeigten in dem Kurssturz, der über alle Plätze bis hinüber nach Amerika mit elementarer Wucht hereinbrach, immerhin eine bessere Haltung als diejenigen Frankreichs und Englands. In der Zeit vom 17. bis 28. Juli 1914 — in den folgenden Tagen kamen an den meisten Plätzen keine ordnungsmäßigen Notierungen mehr zustande — stellte sich die Kursbewegung der maßgebenden Staatsanleihen Deutschlands, Frankreichs und Englands wie folgt:
Kurs vom | also | ||
17. Juli | 28. Juli | Rückgang | |
3%ige deutsche Reichsanleihe | 76,50 | 73,75 | 2,75 |
3%ige französische Rente | 82,62 | 77,25 | 5,37 |
2½%ige englische Konsols | 75,81 | 71,75 | 4,06 |
Der Kursrückgang in jenen kritischen Tagen war also bei den deutschen Staatspapieren erheblich geringer als bei den englischen und namentlich den französischen Anleihen. Dabei gaben die amtlichen Pariser Kurse das wahre Bild nicht annähernd richtig wieder. Der „Temps“ berichtete über den Verlauf der Pariser Börse vom 25. Juli, daß die Kammer der Kursmakler sich angesichts des starken Angebots von 3%iger Rente genötigt gesehen habe, die Notierung eines niedrigeren Kurses als 78 zu verbieten, obwohl Angebote zu 74 vorlagen.
Was hier in den kritischen Tagen unmittelbar vor Kriegsausbruch in Erscheinung trat, war nicht etwa nur ein Augenblickserfolg der deutschen Finanzen. Bis zum Frühjahr 1915 ging die 3%ige französische Rente um weitere 12–15% zurück, die deutsche 3%ige Reichsanleihe nur um 5½%. Während im Durchschnitt des Jahres 1910 die 3%ige französische Rente auf 98, die 3%ige deutsche Reichsanleihe nur auf 84 gestanden hatte, sank jetzt das französische Standardpapier unter den Kurs der mit gleicher Verzinsung ausgestatteten deutschen Staatswerte. Auch der Rückgang der englischen Konsols war bis zum Frühjahr 1915 mit 7% stärker als der Rückgang der deutschen Reichsanleihe, obwohl die britische Regierung [29] Mindestkurse dekretiert hatte, die damals im freien Verkehr um 3–4% unterschritten worden sein sollen.
Ebenso wie der Markt der Staatsanleihen, dessen Verhalten typisch war für das Verhalten der fest verzinslichen Werte überhaupt, zeigte auch der Markt der Dividendenwerte in Deutschland eine verhältnismäßig gute Widerstandskraft. So sanken, um nur ein Beispiel zu geben, die Aktien des ersten französischen privaten Bankinstituts, des Crédit Lyonnais, vom 18.–20. Juli 1914 von 1535 auf 1350 Franken, also um 12% ihres Kurswertes vom 18. Juli; in der gleichen Zeit sanken die Aktien der Deutschen Bank von 231,60% auf 218%, diejenigen der Diskontogesellschaft von 180,80% auf 170%, beide also um nicht ganz 6% des Kurses vom 18. Juli.
Stärker noch als in den Kursen kam die große Widerstandskraft des deutschen Kapitalmarktes in andern Erscheinungen zum Ausdruck. Die Pariser Börse war in der letzten Juliwoche genötigt, zur Vermeidung eines völligen Zusammenbruchs die Ultimoliquidation zwangsweise zu suspendieren. Ein ähnliches Börsenmoratorium wurde in London notwendig. In Berlin dagegen blieb die Börse, wenn auch unter Beschränkung auf den Kassahandel, bis zur Proklamation des Kriegszustandes in Tätigkeit, und die Juliliquidation wurde, im Gegensatz zu London und Paris, nicht hinausgeschoben, sondern dank der von den Banken gewährten Erleichterungen ohne nennenswerte Störung abgewickelt.
Auch dem gewaltigen Andrang nach baren Zahlungsmitteln hat das deutsche Bankwesen — abgesehen von einem vorübergehenden Mangel an Kleingeld — zu erträglichen Bedingungen genügen können. Die Reichsbank, unterstützt von den für den Kriegsfall vorgesehenen und alsbald in Wirksamkeit tretenden Darlehnskassen, zeigte sich allen Ansprüchen gewachsen. In den beiden Wochen vom 23. Juli bis 7. August 1914 stellte sie dem Verkehr für mehr als 2 Milliarden Mark Zahlungsmittel der verschiedensten Kategorien zur Verfügung, ohne mit ihrem Diskontsatz stärker als von 4% auf 6% in die Höhe zu gehen. In Frankreich und England dagegen sahen sich die Zentralbanken genötigt, empfindliche Restriktionen in der Diskontierung von Wechseln eintreten zu lassen. Die Bank von England mußte ihren Diskontsatz in den drei Tagen vom 23. zum 25. Juli sprungweise von 3% auf 10% hinaufsetzen. Während die Privatbanken in Deutschland, gestützt auf den Rückhalt, den ihnen die Reichsbank bot, anstandslos alle von ihnen verlangten Auszahlungen leisten, ihre Kredite aufrechterhalten und erweitern konnten, sahen sie sich in Frankreich und England alsbald vor ernsthaften Schwierigkeiten. In Frankreich ließen sich die Banken und Sparkassen die gesetzliche Ermächtigung geben, auf die bei ihnen stehenden Guthaben nur bescheidene Teilbeträge auszuzahlen. In England wußte man sich nicht anders zu helfen, als daß der auf den ersten Montag im August fallende „Bankfeiertag“ auch auf die [31] folgenden drei Tage ausgedehnt wurde, was praktisch einer Sperre der Bankschalter während der stürmischsten Tage gleichkam. Außerdem sah man sich in allen kriegführenden Ländern, außer Deutschland, und in zahlreichen neutralen europäischen und überseeischen Ländern genötigt, Moratorien einzuführen, teils für den Wechselverkehr, teils für den gesamten Bankverkehr, teils für alle Zahlungsverpflichtungen unter Privaten. In Deutschland dagegen kam man in eingehenden Beratungen aller beteiligten Instanzen zu dem Entschluß, von dem Erlaß eines Moratoriums abzusehen. Man begnügte sich mit Gegenmaßnahmen, die die deutsche Geschäftswelt vor der Wirkung der im Ausland erlassenen Moratorien schützten. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, im Einzelfall beim Vorliegen eines wirklichen Notstandes die Zahlungsfristen durch gerichtliches Urteil hinauszuschieben. Im übrigen wurde die Zahlungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch eine Reihe positiver Maßnahmen und Einrichtungen aufrechterhalten, die das Zusammenwirken der Reichsbank, der Darlehnskassen, der Genossenschaften und Sparkassen in wirksamer Weise ergänzten; so insbesondere durch die in freiwilligem Zusammenschluß der beteiligten Kreise geschaffenen Kriegskreditbanken und die Vereinbarungen der Bodenkreditinstitute über die Bevorschussung von Hypotheken.
Durch dieses ruhige, sichere und planmäßige Vorgehen gelang es, in wenigen Tagen der Erregung des Publikums [32] und der Kopflosigkeiten, wie sie in solchen Zeiten immer vorkommen, Herr zu werden und in der deutschen Geschäftswelt das Vertrauen in die finanziellen Grundlagen unserer Wirtschaft wiederherzustellen.
Ein Vorfall, der sich in den Tagen der ersten großen Aufregung bei der Deutschen Bank abspielte, zeigt, daß in solchen Lagen auf das große Publikum nichts beruhigender wirkt als ein festes und zuversichtliches Verhalten der Stellen, auf die sich die verängstigten Augen richten. Aus der Hauptdepositenkasse wurde nach der Direktion gemeldet, der Andrang des Publikums zu den Auszahlungsschaltern sei ungeheuer und geradezu lebensgefährlich; es müsse etwas geschehen, um für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Der Bescheid, der gegeben wurde, ging dahin, es seien alsbald zwei weitere Schalter für die Auszahlung zu öffnen und das dem Publikum bekanntzumachen. Die Wirkung war durchschlagend. Viele gingen beruhigt nach Hause, weil ihnen die Öffnung neuer Auszahlungsschalter die Sicherheit gegeben hatte, daß die Bank imstande und gewillt sei, jede Auszahlung zu leisten.
Schon vor der Beendigung der Mobilmachung und vor den ersten Siegesnachrichten fing das Publikum an, die in den Tagen der Panik abgehobenen Gelder wieder zu den Banken und den Sparkassen zurückzubringen. Auch die gewaltigen Geldsummen, die das Kriegsministerium im Laufe der Mobilmachung für die Beschaffung von Heeresgerät und Heeresausrüstung aller Art verausgabte, fanden [33] bald ihren Weg zurück zu den großen Sammelbecken des Geldverkehrs. An die Stelle der Geldklemme der ersten Wochen trat bald eine große Geldflüssigkeit, die es möglich machte, die Begebung einer ersten Kriegsanleihe schon für den Monat September ins Auge zu fassen.
In der Tat trat Deutschland als der erste unter allen kriegführenden Staaten mit einer Kriegsanleihe an den Markt. Es fehlte nicht an warnenden Stimmen, die einen Mißerfolg voraussagten. Das klägliche Ergebnis der im Jahre 1870 vom Norddeutschen Bund ausgeschriebenen Kriegsanleihe schwebte manchem als übler Vorgang vor Augen. Noch mehr Bedenken erregte der kühne Vorschlag des Reichsbankpräsidenten, die Kriegsanleihe in unbeschränktem Betrag aufzulegen, damit jedem Zeichner von vornherein die Zuteilung des vollen gezeichneten Betrages in Aussicht zu stellen und so auf jeden Anreiz zu spekulativen Zeichnungen und auf jeden Scheinerfolg, wie er in der Überzeichnung einer in limitiertem Betrag aufgelegten Anleihe leicht zu erzielen ist, bewußt und absichtlich zu verzichten. Ich hatte Gelegenheit, mit dem Reichsbankpräsidenten das Aktionsprogramm durchzusprechen und ihn gegenüber den Stimmen der Bedenklichen in seinen Absichten zu bestärken. Der Erfolg hat der Kühnheit recht gegeben. Das Zeichnungsergebnis war rund 4½ Milliarden Mark. Das war fast das Doppelte der bisher größten Anleiheaktion der Geschichte, der französischen Anleihe vom Juli 1872, die 2400 Millionen Mark erbracht hatte. [34] Dabei hatte sich die Einzahlungsfrist der französischen Anleihe vom Juli 1872 bis zum Herbst 1873, also auf etwa 15 Monate erstreckt, während der fast doppelt so große Betrag der ersten deutschen Kriegsanleihe nach den Zeichnungsbedingungen in zwei Monaten einzuzahlen war. Ferner war die große französische Anleiheaktion erst nach Abschluß des Friedens durchgeführt worden, die deutsche Anleihe dagegen wurde zu Anfang eines unabsehbaren Krieges gezeichnet. Und schließlich waren die Zeichnungen auf die französische Anleihe zu einem großen Teil auf fremden Märkten, namentlich auf dem Londoner Markte, erfolgt, während die 4½ Milliarden der ersten deutschen Kriegsanleihe so gut wie ausschließlich eine Leistung des auf sich selbst gestellten deutschen Volkes waren.
Die Sicherung der finanziellen Grundlagen unserer Wirtschaft und die Beschaffung der für den Krieg erforderlichen Geldmittel war so in den ersten Wochen des Krieges auf das beste eingeleitet.
Die finanzielle Mobilmachung war in Friedenszeiten gründlich vorbedacht und vorbereitet worden. Abgesehen von der planmäßigen Verbesserung und Kräftigung unserer Geld- und Kreditverfassung, die sich jetzt so reichlich [35] lohnte, lag der Organisationsplan bereit, nach dem unser Finanzwesen den Kriegsbedürfnissen angepaßt werden sollte. Auf dem Gebiete der Gütererzeugung und des Warenhandels waren ähnliche Vorkehrungen für den Kriegsfall nicht getroffen worden. Wohl hatte unsere Wirtschaftspolitik in ähnlicher Weise unsere gesamte Volkswirtschaft erstarken lassen und für den Kriegsfall tüchtig gemacht, wie unsere Geld- und Bankpolitik die finanziellen Grundlagen unseres Wirtschaftslebens. Vor allem war es vermöge unserer Wirtschaftspolitik gelungen, unsere landwirtschaftliche Erzeugung in den letzten Jahrzehnten vor dem Krieg in noch stärkerem Maße zu heben, als unsere Bevölkerung gewachsen war. Ebenso war die eigene Gewinnung der für den Krieg wichtigsten industriellen Rohstoffe, der Kohle und des Eisens, in einem Maße gesteigert und auch technisch vervollkommnet worden, daß eine Grundlage für die technisch-industrielle Durchführung des Krieges gesichert war. Auch hatten wichtige Erfindungen und neue Verfahren unsere nationalwirtschaftliche Selbständigkeit, die für das Durchhalten eines großen Krieges von besonderer Bedeutung ist, in einigen nicht unwesentlichen Punkten verbessert. Schließlich waren auf dem Gebiet der sozialen Organisation, insbesondere der Ausgestaltung der Arbeitsnachweise, Fortschritte erzielt worden, die für die Anpassung unserer Wirtschaft an die durch den Krieg von Grund aus geänderten Verhältnisse eine Erleichterung bedeuteten. Aber ein eigentlicher Organisationsplan für die [36] Bereithaltung, Beschaffung und Verteilung der für das Leben der Bevölkerung und die Durchführung des Krieges erforderlichen Nahrungsmittel und Rohstoffe, für die Umstellung unserer gewerblichen und kommerziellen Tätigkeit und für die Umgruppierung der Arbeitskräfte, wie sie der Krieg erforderlich machen mußte, war nicht vorhanden.
Aus den Kreisen des praktischen Wirtschaftslebens heraus war in den Jahren vor dem Ausbruch des Krieges wiederholt auf diese Lücke in unserer Bereitschaft hingewiesen und u. a. die Einrichtung eines „wirtschaftlichen Generalstabs“ zur Bearbeitung dieser organisatorischen Aufgaben verlangt worden. Es war aber nichts Durchgreifendes geschehen. Ich habe den Eindruck, daß man sich bei unseren amtlichen Stellen, denen die Bearbeitung unserer wirtschaftlichen Angelegenheiten anvertraut war, einmal über die seit Jahren über uns schwebende Kriegsgefahr ebensowenig Rechenschaft gab wie im allgemeinen in unserer öffentlichen Meinung; daß man ferner sich von den wirtschaftlichen Verhältnissen und Anforderungen eines modernen Krieges kein hinreichend greifbares Bild machen konnte, um danach organisatorische Vorbereitungen einzurichten; schließlich, daß man weder mit einem langen Kriege, noch auch mit einem ausgesprochenen Wirtschaftskriege ernstlich rechnete.
Nun war der Krieg da; und die Maßnahmen unserer Feinde, namentlich Englands, zeigten alsbald, daß dieser Krieg gegen eine gewaltige, uns fast von allen Seiten [37] umfassende Koalition kein bloßer Krieg der bewaffneten Streitkräfte, sondern auch ein Krieg der Volkswirtschaften, ja der ganzen Volksgemeinschaften sein werde.
Schon bei dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen lehnte es die britische Regierung ab, den Schutz, den nach der Haager Landkriegsakte das private Eigentum und die privaten Forderungen zu beanspruchen hatten, unzweideutig und uneingeschränkt anzuerkennen. Alsbald nach Kriegsausbruch erließ sie Verfügungen, die nach dem alten britischen Recht alle Zahlungen an die Bewohner der mit England im Kriege liegenden Länder unter Strafe stellten. Das Verbot wurde bald auf den gesamten Verkehr mit dem Feinde ausgedehnt. Ebenfalls schon in den ersten Tagen des Krieges wurden die Filialen deutscher Banken in London unter Staatsaufsicht gestellt, der bald die Anordnung der Zwangsliquidation unter Sequestration des Liquidationserlöses folgte. Im weiteren Verlauf wurden Zwangsverwaltung, Sequestration und Zwangsliquidation auch auf alle anderen Unternehmungen im Vereinigten Königreich, den Dominions und Kolonien, die Deutschen gehörten oder an denen deutsches Kapital in nennenswertem Umfange beteiligt war, ausgedehnt und namentlich in den überseeischen Gebieten in der rigorosesten Weise durchgeführt. Dazu kam die Aufhebung von Verträgen mit feindlichen Staatsangehörigen und der feindlichen Staatsangehörigen zustehenden Patentrechte.
Noch einschneidender waren die britischen Maßnahmen auf dem Gebiet des Seekrieges. Ohne sich durch die völkerrechtlichen Satzungen irgendwie beirren zu lassen, unterwarf England den gesamten Seeverkehr auch der Neutralen seiner Kontrolle in der Absicht, jede auch indirekte Zufuhr für Deutschland zu verhindern. Darüber hinaus zwang es den Neutralen in ihren eigenen Ländern eine Handelskontrolle auf, die in ihrer Wirkung die Blockade bis an die Landgrenzen Deutschlands tragen sollte.
Ganz offenkundig und ganz rücksichtslos ging England, von seinen Verbündeten unterstützt, von Anbeginn des Krieges an darauf hinaus, die Kriegführung der Land- und Seestreitkräfte zu ergänzen und zu unterstützen durch eine wirtschaftliche Erdrosselung des deutschen Volkes. Durch die Abschnürung der Zufuhr kriegswichtiger Rohstoffe sollte Deutschland wehrlos gemacht, durch die Abschnürung der Zufuhr von Nahrungsmitteln sollte Deutschland ausgehungert und zur Übergabe gezwungen werden. Dabei handelte es sich für England von allem Anfang an nicht nur um ein Kriegsmittel, sondern klar erkennbar um einen wesentlichen Kriegszweck: Deutschland sollte durch den wirtschaftlichen Druck nicht nur — unabhängig von den militärischen Operationen — zur Kapitulation gezwungen, sondern Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft, die England so unbequem geworden war, sollte den tödlichen Streich erhalten. Die Verfolgung und Vernichtung jeder deutschen geschäftlichen Betätigung, jeder deutschen [39] Wirtschafts- und Kulturarbeit in allen den Gebieten, die für den britischen Arm überhaupt erreichbar waren, gibt davon beredtes Zeugnis. Der britische Vernichtungswille kannte keine Schranke, weder in geschriebenen Satzungen, noch in der ungeschriebenen Völkermoral, weder im menschlichen, noch im göttlichen Recht. Alles was in den Bestrebungen der edelsten Geister der Menschheit bisher erreicht worden war, um die Kriegführung auf die bewaffneten Streitkräfte zu beschränken und die Leiden des Krieges von der nichtkämpfenden Bevölkerung fernzuhalten, erwies sich vor Englands Gewaltpolitik als eitel Schall und Rauch.
War schon der Krieg gegen eine rein militärisch so starke Koalition für Deutschland und seinen Verbündeten eine in diesem Ausmaß in der Geschichte aller Zeiten und Völker bisher unerreichte Kraftprobe, so wurde die Gefahr der Zermalmung durch die brutale Übertragung des Krieges auf das wirtschaftliche Gebiet ins Ungeheuerliche gesteigert. Deutschland war, wie kein zweites Land außer England selbst, in die Weltwirtschaft verwachsen. Es hatte im letzten Friedensjahr eine Einfuhr von 10,7 Milliarden Mark gehabt, hauptsächlich Rohstoffe und Nahrungsmittel; seine Ausfuhr, hauptsächlich aus Fabrikaten bestehend, hatte den Wert von 10,1 Milliarden Mark erreicht. Wenn wir auch infolge der glücklichen Entwicklung unseres Ackerbaues nur eines verhältnismäßig geringen Zuschusses an Brotgetreide aus dem Ausland bedurften, so war doch [40] unsere Viehwirtschaft, und damit die Versorgung unserer Bevölkerung mit Fleisch und Fett, in erheblichem Umfange auf fremde Zufuhren an Futtermitteln angewiesen. Von unseren großen Gewerbezweigen war die Textilindustrie, bis auf die geringe einheimische Erzeugung von Wolle und Flachs, von der Rohstoffzufuhr aus dem Auslande abhängig. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so schlimm, stand es mit der Lederindustrie. Kohle und Eisen hatten wir im eigenen Land; aber andere wichtige Metalle kamen vorwiegend, wie das Kupfer, oder ausschließlich, wie das Nickel, aus dem Ausland. Unsere Ausfuhr gab einem großen Teil unserer arbeitenden Bevölkerung lohnende Arbeit. Die Ernährung, Bekleidung und Beschäftigung eines großen Teiles unserer Bevölkerung, darüber hinaus die Ausstattung unserer Streitkräfte zu Land und zu Wasser mit Kriegsgerät, Munition und Proviant wurde durch die Unterbindung unseres Außenhandels auf das ernstlichste in Frage gestellt. Die gewaltigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die auch ein auf das rein Militärische beschränkter Krieg hätte mit sich bringen müssen, wurden ins Unendliche gesteigert.
Nahezu alles, was zur Überwindung dieser Schwierigkeiten und Gefahren zu geschehen hatte, mußte improvisiert werden.
Die Aussichten einer reinen Vergeltungspolitik waren schlecht. Wir konnten die Beschlagnahme deutscher Vermögenswerte, die Zwangsverwaltung und Zwangsliquidation deutscher Unternehmungen und die anderen gegen [41] deutsches Privatvermögen und deutsche Privatrechte gerichteten Maßnahmen mit den entsprechenden Gegenmaßnahmen beantworten und taten das auch. Aber was an feindlichem Privatvermögen und Privatrechten unserem Zugriff unterlag, war dem Werte nach nur ein Bruchteil dessen, was bei der weitverzweigten deutschen Betätigung in dem Machtbereich unserer Feinde der Willkür von Engländern, Franzosen und Russen ausgesetzt war. Der völkerrechtswidrigen Unterbindung unserer ausländischen Zufuhren konnten wir, da England die See beherrschte, zunächst nichts gegenüberstellen als unseren wiederholten eindringlichen Appell an die an der Aufrechterhaltung des Völkerrechts mit uns interessierten Neutralen; die U-Bootwaffe, deren Anwendung wegen ihrer Rückwirkung auf die Neutralen, besonders auf die Vereinigten Staaten, von Anfang an als zweischneidig angesehen werden mußte, kam als Mittel für eine Gegenblockade erst im weiteren Verlauf des Krieges ernsthaft in Betracht. Auch auf die sich dem britischen Druck so gefügig zeigenden uns benachbarten Neutralen konnten wir nur in sehr beschränktem Umfang einen Gegendruck ausüben. Ihre Abhängigkeit von unserer Kohle und unserem Eisen war nicht entfernt so groß und so empfindlich wie ihre Abhängigkeit von den unter Englands Kontrolle stehenden Zufuhren von Nahrungs- und Futtermitteln und an wichtigen überseeischen Rohstoffen. Immerhin gaben die uns zur Verfügung stehenden Mittel des Gegendrucks auf diesem Gebiet uns wenigstens einigen Spielraum.
Es kam darauf an, die bescheidenen Vorteile und Druckmittel, die uns zur Verfügung standen, in geschickten Transaktionen und Kombinationen nach jeder Möglichkeit auszunutzen, um die Erdrosselungsabsichten unserer Feinde zu vereiteln. Es kam weiter darauf an, einen Überblick über die im Inland vorhandenen Bestände der für das Durchhalten der Bevölkerung und der Kriegführung wichtigsten Nahrungsmittel und Rohstoffe zu gewinnen, die Erzeugungsmöglichkeiten dieser Stoffe oder geeigneter Ersatzstoffe nach Möglichkeit zu fördern, ihren Verbrauch zu kontrollieren und zu rationieren und auf die Preisbildung der für den Lebensunterhalt der Bevölkerung wesentlichen Waren einen Einfluß zu gewinnen. Das bedeutete nicht nur eine den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen anzupassende Umstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern eine Neuorganisation unserer Wirtschaftsverfassung im Sinne des Überganges von dem individualistischen System der freien wirtschaftlichen Betätigung und Initiative, das sich in der hinter uns liegenden Friedenszeit von selbst reguliert hatte, zu dem Versuch einer einheitlichen und planmäßigen Leitung der Gütererzeugung und Güterverteilung.
Die Aufgabe war ihrer Art nach völlig neu. Es gab keine Möglichkeit, sich an bereits erprobte Vorbilder und Methoden anzulehnen; alles mußte gewissermaßen aus dem Nichts heraus geschaffen werden.
Die Aufgabe wurde auch keineswegs in ihrem Umfange von Anfang an erkannt. Ich glaube, es gibt niemanden in [43] Deutschland, der von sich sagen kann, er habe von Anfang an mit einem so langen Kriege und einer so strengen, sich im Laufe des Krieges immer mehr verschärfenden Abschnürung Deutschlands von auswärtigen Zufuhren gerechnet. Die Ansicht, daß ein moderner Krieg nur von kurzer Dauer sein könne, wog in militärischen wie in wirtschaftlichen Kreisen vor. Dafür sprach die furchtbare Zerstörungskraft der modernen Kriegswaffen, die rasche entscheidende Schläge in Aussicht zu stellen schien; ferner die ungeheuerliche Entziehung von Arbeitskräften durch die auf der allgemeinen Dienstpflicht beruhenden Volksheere, eine Entziehung, die in ihrer Wirkung auf die Volkswirtschaft mit einem Generalstreik verglichen worden ist; dann die alle Summen, mit denen Finanzleute und Volkswirtschaftler bisher zu rechnen gewohnt waren, weit hinter sich lassenden Kosten; schließlich die Spekulation auf die menschliche Vernunft, die es nicht zulassen werde, daß die Völker Europas bis zur letzten Erschöpfung ihrer physischen und moralischen Kräfte, bis zur letzten Zerstörung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Werte sich gegenseitig vernichten würden.
Gerade von sehr maßgebender militärischer Stelle habe ich, während der Krieg bereits im Gange war, wiederholt die Meinung vertreten hören, daß das Kriegsende in nicht allzu ferner Zeit zu erwarten sei. Als ich im Monat November 1914 im Großen Hauptquartier zu Charleville im Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt den Vorschlag [44] machte, im Interesse unserer Kriegführung im Orient — die Türkei war in den letzten Oktobertagen an unserer Seite in den Krieg eingetreten — die an der Verbindung mit Syrien und Mesopotamien noch fehlenden Gebirgsstrecken der Bagdadbahn im Taurus und Amanus alsbald mit allen Mitteln auszubauen, erhielt ich die Antwort: Da die Fertigstellung dieser Strecken erst nach Jahr und Tag zu erwarten sei, liege kein militärisches Interesse an dem Projekte vor. Die Möglichkeit, daß wir uns Ende 1915 noch im Kriege befinden könnten, wurde nach den Eindrücken, die ich damals empfangen habe, überhaupt nicht ernstlich in Betracht gezogen. Einer ähnlichen optimistischen Auffassung begegnete ich noch im April 1915, als ich als Reichsschatzsekretär im Großen Hauptquartier weilte. Man setzte damals große Hoffnungen auf gewisse gerade eingeleitete militärische Operationen, und ich hörte die Hoffnung aussprechen, daß, wenn alles gut gehe, der Krieg in wenigen Monaten zu Ende sein könne.
Ebensowenig wie mit einem mehr als vierjährigen Krieg hat man die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit unserer Absperrung vom Ausland vorausgesehen. Auch wer England jede Art von Völkerrechtsbruch, namentlich in der Seekriegführung, zutraute, hat in den Anfängen des Krieges noch hoffen können, daß die Maschen des Wirtschaftskrieges weit genug bleiben würden, um uns zu gestatten, auf dem Weg über die uns benachbarten Neutralen uns wichtige Zufuhren zu verschaffen. Das Selbstinteresse der [45] Neutralen, namentlich der Vereinigten Staaten, erschien als ein Faktor, der in unsere Rechnung eingestellt werden konnte. In der Tat hat in den ersten Kriegsmonaten England auf dieses Selbstinteresse Amerikas einige Rücksicht genommen. Noch in einer Note vom 7. Januar 1915, mit der die britische Regierung eine Beschwerde der Regierung der Vereinigten Staaten beantwortete, betonte die britische Regierung, sie habe z. B. Baumwolle nicht auf die Konterbandeliste gesetzt und bei jeder Gelegenheit ihre Absicht festgestellt, bei dieser Praxis zu bleiben. In der Tat ist Baumwolle erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1915 von der britischen Regierung als Konterbande erklärt worden.
So entwickelte sich im Laufe des Krieges erst allmählich der ganze Ernst der Lage und damit die Erkenntnis der ganzen Größe der zu bewältigenden Aufgabe. Unsere Kriegswirtschaft ist nicht entstanden aus einem von vornherein die Aufgabe in ihrer Gesamtheit umfassenden einheitlichen Plan; sie ist allmählich herausgewachsen aus tastenden Versuchen und aus oft unzulänglichen, oft über das Ziel hinausschießenden Notmaßnahmen, mit denen die wirtschaftlichen Berufskreise und die staatlichen Gewalten den immer schwerer und dringender werdenden Anforderungen der Zeit gerecht zu werden suchten. An ihrem Anfange stand der unmittelbar nach dem Kriegsausbruch einsetzende Zusammenschluß großer an dem Bezug ausländischer Rohstoffe interessierter Kreise des [46] Gewerbes und Handels zur gemeinsamen Überwindung der sich auftürmenden gewaltigen Schwierigkeiten durch einheitliches Vorgehen und gemeinsames Tragen der mit einem Schlage so enorm gestiegenen Risiken (Zentraleinkaufsgesellschaft, Kriegsausschuß für Öle und Fette, Kautschukabrechnungsstelle u. a. m.); ferner die Errichtung der Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium zum Zweck der Sicherung und Beschaffung der kriegsnotwendigen Rohstoffe; dann gewisse Notmaßnahmen auf dem Gebiete der Ernährungspolitik, wie die — übrigens von der Vertretung der Landwirtschaft selbst angeregte — Festsetzung von Höchstpreisen für Brotgetreide, die Ausmahlungsvorschriften, die Schaffung eines einheitlichen Kriegsbrotes, die Verwendungsbeschränkung (Verbot der Verfütterung von Brotgetreide) und ähnliche Maßnahmen mehr. Von diesen Anfängen ausgehend, erstreckte sich die Kriegswirtschaft auf immer weitere Gebiete unserer ganzen Wirtschaft. Zu dem einen sich immer weiter ausdehnenden Kreis von Waren erfassenden System der Höchstpreise, Richtpreise und Preisprüfung kamen immer weitergehende Verwendungsbeschränkungen, Beschlagnahmen, Enteignungen, Ablieferungsverpflichtungen, Rationierungen des Verbrauchs durch Karten, Bezugsscheine und Verteilungsschlüssel, eine fortschreitende Zentralisation der Beschaffung und Bewirtschaftung von wichtigen Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Fabrikaten; weiterhin staatliche Eingriffe in den Aufbau einzelner Gewerbezweige im Wege [47] zwangsweisen Zusammenschlusses, verbunden mit Stillegungen und Produktionsregulierungen; schließlich der Versuch einer staatlichen Regulierung der wirtschaftlichen Arbeit durch das Hilfsdienstgesetz. Ergänzt wurde diese Entwicklung der kriegswirtschaftlichen Organisation durch die Mitwirkung der wirtschaftlichen Verbände des Unternehmertums und der Arbeiterschaft, durch die mit bewundernswerter Tatkraft und erstaunlichem Erfolg durchgeführte Anpassung der Gütererzeugung in Landwirtschaft und Gewerbe an die neuen Verhältnisse und an die gewaltigen Anforderungen des Krieges, durch die im Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik und wirtschaftlicher Tatkraft erzielten Fortschritte im Produktionsverfahren, die zu einer ungeahnten Steigerung der wirksamen Ausnutzung von Stoffen und Kräften führten und teilweise ganz neue Wege von bleibender Bedeutung erschlossen.
Ich werde im weiteren Verlaufe meiner Darstellung Gelegenheit haben, auf einzelne Teile der Entwicklung unserer Kriegswirtschaft, an denen ich persönlich mitzuarbeiten berufen war, des näheren einzugehen.
Die großen militärischen Entscheidungen der ersten Kriegsmonate hatten uns in die Verteidigung gebracht. Im Westen in einer festen, weit in das Feindesland ausholenden Linie, die im Stellungskrieg gehalten werden mußte. Im Osten in einem weiten freien Raum, der eine offensive Verteidigung im Bewegungskrieg gestattete. Starke feindliche Übermacht hier wie dort, dazu eine Übermacht, die — wenigstens soweit Rußland und das britische Imperium in Betracht kamen — durch vermehrten Kräfteeinsatz noch einer wesentlichen Steigerung fähig war. Und diese feindliche Übermacht konnte aus ihrer freien Berührung mit der gesamten Welt Ergänzung und Entlastung finden, während die Mittelmächte auf sich selbst gestellt waren.
Wir standen, wie am ersten Tage des Krieges, so nach den ersten gewaltigen Kraftproben vor der Gefahr, trotz allen Heldentums und aller Heldentaten erdrosselt und zermalmt zu werden. In dieser Lage hieß es, nach jeder möglichen Hilfe ausschauen, die uns aus der furchtbaren Umklammerung befreien konnte.
Während unser italienischer und unser rumänischer Bundesgenosse sich von Anfang an der Erfüllung ihrer Bundespflicht enthielten, während Japan seine zunächst erklärte Neutralität schon am 19. August durch sein an uns gerichtetes Ultimatum aufgab und sich der Koalition unserer Feinde anschloß, während die Neutralen abwartend und zumeist mit für uns recht kühlen Gefühlen beiseite standen, stellte sich die uns seit langem befreundete, aber niemals verbündete Türkei als ein willkommener und wichtiger Mitkämpfer ein.
Ich habe im ersten Teil dieses Buches die Belastungsproben skizziert, denen die deutsch-türkische Freundschaft seit der jungtürkischen Revolution ausgesetzt war, und denen sie sich gewachsen gezeigt hat. Deutschlands territoriale Uninteressiertheit an den Fragen des näheren Orients, sein positives Interesse an der Aufrechterhaltung der Unversehrtheit, der Unabhängigkeit, der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Erstarkung der Türkei war so offenkundig und trat in so konkludenten Handlungen zutage, daß auch die westmächtlich voreingenommenen jungtürkischen Politiker, sobald sie an der Macht und Verantwortung waren, sich wohl oder übel zu Deutschland hingedrängt sahen. Selbst das Vorgehen unseres österreichisch-ungarischen Bundesgenossen in der bosnischen [53] Frage und die tripolitanische Brutalität Italiens hatten die aus den wahren Interessen der Türkei erwachsende Wiederannäherung an Deutschland nicht hindern können.
Als der Krieg ausbrach, konnte in Stambul kein Staatsmann darüber im unklaren sein, daß im Falle eines Sieges der Entente Rußland nach Konstantinopel greifen und daß niemand ihm das verwehren werde. Zu oft und zu deutlich war in den letzten Jahren von Rußland her proklamiert worden, daß der Weg nach Konstantinopel über Berlin und Wien führe. Der Krieg war also von Anfang an, ob die Türkei beiseite stand oder ob sie eingriff, ein Krieg um die Existenz des türkischen Reiches. Die Türkei hatte die Wahl, ob sie durch ein Eingreifen an der Seite der Mittelmächte das ihrige zur Abwendung der Vernichtung tun oder ob sie in willenlosem Geschehenlassen ihr Schicksal hinnehmen wollte.
Die britische Politik versäumte nicht, der türkischen Regierung sofort mit Eindringlichkeit zu zeigen, wo ihr Platz in diesem Völkerringen sei. Schon am 2. August 1914 beschlagnahmte sie zwei von der Türkei auf Drängen des britischen Botschafters in England in Bestellung gegebene und im voraus bezahlte Kriegsschiffe.
Schon in jenen Tagen wurde zwischen dem deutschen Botschafter Freiherrn von Wangenheim und der türkischen Regierung ein Bündnisvertrag vereinbart, für dessen Zustandekommen sich auf türkischer Seite vor allem der Kriegsminister Enver Pascha einsetzte.
Am Abend des 10. August erschienen die beiden deutschen Kriegsschiffe „Göben“ und „Breslau“, die im Mittelmeer der feindlichen Übermacht glücklich entronnen waren, vor den Dardanellen. Sie erhielten die Erlaubnis zur Einfahrt; denn die türkische Regierung hatte die beiden Schiffe in Erwartung ihrer glücklichen Ankunft von der deutschen Regierung gekauft. Entrüsteter Protest der Ententemächte. Zusammenziehung eines Ententegeschwaders vor den Dardanellen. Darauf am 28. September Sperre der Dardanellen.
Für die deutsche Kriegspolitik war schon mit dieser Etappe ein wichtiger Erfolg erzielt. Die Verbindung der Westmächte mit Rußland durch die Ostsee war durch den Krieg zerschnitten. Wenn jetzt auch der Großhandelsweg durch die Dardanellen gesperrt war, so blieb nur noch der für umfangreiche Transporte infolge des Mangels an Eisenbahnen in Nordrußland nicht praktikable Weg über Archangelsk. Die Dardanellensperre machte die Unterstützung der Entente auf dem westlichen Kriegsschauplatz durch russische Mannschaften für lange Zeit unmöglich, sie schränkte die Möglichkeit der Versorgung Rußlands mit westmächtlichem Kriegsmaterial erheblich ein, und sie unterband die Belieferung Frankreichs und Englands mit russischem Getreide.
Es konnte fraglich erscheinen, ob es im deutschen Interesse lag, die durch drei Kriege geschwächte Türkei zu veranlassen, weiter zu gehen und aktiv in den Krieg einzugreifen. Die Möglichkeit, auf dem Wege über die Türkei [55] und mit Hilfe der Türkei das britische Reich an lebenswichtigen Punkten anzugreifen, etwa am Suezkanal oder gar über den Persischen Golf in Indien, hatte zwar in der englischen Agitation gegen die Bagdadbahn und leider auch in gewissen leichtfertigen deutschen Veröffentlichungen eine Rolle gespielt; aber bei nüchterner und sachkundiger Beurteilung mußte man die Durchführbarkeit und die Aussichten auch nur einer Aktion gegen den Suezkanal so lange als äußerst zweifelhaft betrachten, als einmal ein ungehinderter Verkehr zwischen den Mittelmächten und der Türkei nicht gesichert war und als ferner die Eisenbahnverbindung zwischen Konstantinopel und Syrien im Taurus- und Amanusgebirge noch die empfindlichen Lücken aufwies. Im übrigen bot die Türkei sowohl im südlichen Mesopotamien den Engländern als auch in Nordostanatolien den Russen wegen des Fehlens jeder Eisenbahnverbindungen gefährliche Angriffsflächen; ja, es war nicht einmal als unbedingt sicher zu betrachten, ob die Dardanellen, trotz der in den letzten Jahren durchgeführten Modernisierung ihrer inneren Befestigungsanlagen, einem energischen und nachhaltigen Angriff würden standhalten können. Auf den „Heiligen Krieg“, von dem manche die Revolutionierung Ägyptens und Indiens erwarteten, habe ich nach meiner Kenntnis des stumpf und unfanatisch gewordenen Islam niemals große Hoffnungen gesetzt, solange wir nicht selbst die Bewegung in jene Länder tragen konnten.
Diese Ansichten wurden auch in unserem Auswärtigen Amt geteilt, und man hat es deshalb wohl vermieden, die Türken zum Eintritt in den Krieg allzu eifrig zu drängen. Aber die Dinge drängten von selbst in dieser Richtung. Es zeigte sich bald, daß die Ententemächte sich mit der Sperrung der Dardanellen nicht abfinden und der Türkei nur die Wahl lassen würden, sich klipp und klar zu entscheiden. Die Wahl der türkischen Staatslenker war im voraus getroffen. Vergeblich bot die Entente der Türkei die Garantie ihres Besitzstandes; die Türkei hatte mit solchen Garantien zu schlechte Erfahrungen gemacht. Der Druck der Ententemächte verstärkte sich. Ende Oktober kam es bei der Einmündung des Bosporus in das Schwarze Meer, wo russische Kriegsfahrzeuge Minen legten, zu einem Zusammenstoß zwischen türkischen und russischen Seestreitkräften: die Kriegserklärung erfolgte aus dem Munde der Schiffsgeschütze.
Deutschland hatte einen politischen Sieg erfochten; es hatte zu einer Zeit, in der es in West und Ost in die schwersten Kämpfe gegen eine erdrückende Übermacht verstrickt war, einen Bundesgenossen gewonnen, dessen nicht zu unterschätzendes Gewicht auf der Wage des Völkerschicksals vielleicht den entscheidenden Ausschlag geben konnte.
Nun hieß es, das Gewicht des neuen Bundesgenossen in Wirkung setzen.
Der neue Bundesgenosse stand, von uns getrennt, auf einem ebenso wichtigen wie bedrohten Außenposten. Wenn [57] dieser Außenposten gesichert und die militärische wie die wirtschaftliche Kraft der Türkei für uns nutzbar gemacht werden sollte, dann mußten alsbald die Brücken zu dem neuen Mitkämpfer geschlagen werden. Der Weg zur Türkei führte, solange der Engländer das Mittelmeer, der Russe das Schwarze Meer beherrschte, in jedem Fall über Bulgarien, außerdem entweder über Rumänien oder über Serbien. Bulgarien stand uns mit wohlwollender Neutralität gegenüber. Aber Serbien stand mit noch ungebrochener Kraft gegen uns im Feld, und Rumänien nahm trotz seines Bündnisvertrages mit uns damals schon in so ungenierter Weise für die Entente Partei, daß es auch den völkerrechtlich durchaus einwandfreien Durchfuhren von uns zur Türkei und von der Türkei zu uns die unerhörtesten Schwierigkeiten in den Weg legte. Da ohne Krieg mit Rumänien die Überwindung des rumänischen Hindernisses unmöglich erschien und da niemand bei uns das Bedürfnis nach einem weiteren Kriegsgegner hatte, da ferner der serbische Landesteil, der den Donauweg zwischen Ungarn und Bulgarien blockierte, der sogenannte Negotiner Zipfel, eine Tiefenausdehnung von nur 50–60 Kilometern hatte, erschien der Weg vorgezeichnet: die Forcierung des unterhalb des Eisernen Tores gelegenen serbischen Donaukreises.
Für diese Lösung setzten sich Kanzler und Auswärtiges Amt bei der Obersten Heeresleitung, an deren Spitze damals bereits in Vertretung des schwer erkrankten [58] Generalobersten von Moltke der General von Falkenhayn stand, mit allem Nachdruck ein; es wurde jedoch stets die militärische Unmöglichkeit der Erfüllung dieser Forderung geltend gemacht. Als die Türkei, die damals schon an Munitionsmangel litt, immer stärker drängte, machte das Auswärtige Amt einen erneuten Versuch, zu dem auch meine Mitwirkung auf Grund meiner Kenntnis der Verhältnisse des näheren Orients herangeholt wurde. In Brüssel, wohin ich gerade von einem Besuch im Großen Hauptquartier zurückgekehrt war, erhielt ich am 28. November ein Telegramm des Unterstaatssekretärs Zimmermann, das mich ersuchte, beim Reichskanzler, beim Generalstabschef und nötigenfalls beim Kaiser selbst mit den stärksten Argumenten für eine sofortige Aktion zur Besetzung des Negotiner Kreises und Freimachung des Donauweges einzutreten. Ich entschloß mich, sofort wieder nach Charleville zu fahren. Als ich am Abend des 29. November dort ankam, stellte sich heraus, daß am Vormittag der Reichskanzler nach Berlin, der Kaiser und General von Falkenhayn nach dem östlichen Kriegsschauplatz abgereist waren. Ich wandte mich an den General Wild von Hohenborn, der damals den Generalquartiermeister vertrat. Er sagte mir, daß beim Generalstab wenig Neigung für die serbische Operation bestehe, da auf den Hauptkriegsschauplätzen jeder Mann gebraucht würde. Aus diesem Grund habe sich der General von Falkenhayn bisher gegenüber den Wünschen des Auswärtigen Amts ablehnend verhalten und zunächst nur [59] einmal den Obersten Hentsch zur Prüfung der Verhältnisse an Ort und Stelle nach dem Eisernen Tor geschickt. Aus den Darlegungen des Generals von Wild entnahm ich, daß man in den leitenden militärischen Kreisen die Voraussetzungen, unter denen allein die Türkei überhaupt erst aus einem stark exponierten Angriffspunkt zu einem wertvollen Verbündeten gemacht werden und außerdem Bulgarien für den Anschluß an uns gewonnen werden könne, nicht genügend würdigte. General von Wild versprach mir, meine Gesichtspunkte alsbald an den General von Falkenhayn zu telegraphieren. Es blieb aber bei der Ablehnung.
Es war für mich schmerzlich, zu sehen, wie statt dieser so dringlichen Öffnung des Donauweges, der uns in der Folgezeit viel schwere Sorgen erspart und unserer Gesamtaktion eine so viel wuchtigere Schlagkraft gegeben hätte, die österreichisch-ungarischen Truppen mit starkem Kräfteeinsatz Serbien am andern Ende anpackten. Von Bosnien aus rückte gegen Ende November eine starke Armee in Serbien ein und erzielte in heftigen Kämpfen gute Fortschritte. Am 2. Dezember, dem 66. Jahrestag der Thronbesteigung des Kaisers Franz Joseph, wurde Belgrad angegriffen und genommen. Aber bald stießen die österreichisch-ungarischen Truppen in dem unwegsamen westserbischen Gebirgsland auf große Schwierigkeiten. Schon am 9. Dezember waren sie gezwungen, den Rückzug unter Preisgabe vielen Materials und zahlreicher Gefangener anzutreten. Am 15. Dezember mußte auch Belgrad wieder geräumt [60] werden. Ich kann als Laie die Frage nicht entscheiden, ob nicht der gleiche Kraftaufwand, der hier nutzlos verpufft wurde, am Negotiner Donaubogen eingesetzt genügt hätte, um die Verbindung mit Bulgarien und der Türkei damals schon herzustellen und zu sichern. Zunächst war durch den österreichischen Mißerfolg diese Möglichkeit auf absehbare Zeit verschlossen. Erst zehn Monate später ist die damals schon so dringend empfohlene Aktion in Angriff genommen und durchgeführt worden.
In der Zwischenzeit mußte sich die Türkei, so gut es ging, behelfen, ohne uns über die Sperrung der Dardanellen hinaus einen wesentlichen Vorteil bringen zu können.
Ein Versuch Envers, im armenischen Hochland gegen das russische Kaukasusgebiet vorzustoßen, blieb mangels genügender rückwärtiger Verbindungen in den Anfängen stecken und führte schließlich infolge der feindlichen Haltung der armenischen Bevölkerung zu schweren Rückschlägen. An dem türkischen Ufer des Persischen Golfs setzten sich die Engländer mit indischen Truppen fest und bereiteten eine Operationsbasis für die Eroberung Mesopotamiens vor, ohne daß die Türken sie aus einer durch keine Eisenbahn überbrückten Entfernung von mehr als tausend Kilometern ernstlich daran hindern konnten. Ägypten wurde im Dezember 1914 zum britischen Protektorat erklärt, nachdem schon vor dem Eintritt des Kriegszustandes zwischen England und der Türkei die britische Regierung die ägyptische Regierung gezwungen hatte, den [61] Kriegszustand gegenüber den Mittelmächten zu proklamieren. Mehr als gelegentliche Patrouillen- und Bandenvorstöße gegen den Suezkanal, die keinerlei nachhaltigen Erfolg hatten, vermochten die Türken im Winter 1914/15 nicht zu unternehmen.
Dagegen machten die Verbündeten vom Februar 1915 an außerordentliche Anstrengungen, die Dardanellen zu bezwingen und so einen entscheidenden Stoß zu führen, der sowohl die Türkei ins Herz treffen, wie auch die unterbrochene Verbindung zwischen Rußland und den Westmächten wiederherstellen sollte. Letzteres erschien um so notwendiger, als die Russen gerade damals in der „Winterschlacht in den Masuren“ eine Niederlage erlitten, in der ihre Verluste an Menschen und namentlich Material so gewaltige waren, daß es in Frage gestellt schien, ob die russische „Dampfwalze“ sich ohne ausgiebige Nachhilfe von außen werde wiederherstellen lassen.
In England waren die Meinungen über die Zweckmäßigkeit des Dardanellenunternehmens geteilt. Churchill setzte es gegen allen Widerspruch durch, insbesondere auch gegen den Widerspruch des Lord John Fisher, des Ersten Lords der Admiralität.
Am 19. Februar begann eine mächtige Schlachtflotte die Außenforts der Dardanellen zu bombardieren. Damit war das Signal zu dem gewaltigsten Ringen gegeben, das diese seit dem Trojanischen Krieg so viel und heiß umstrittenen Meerengen je gesehen hatten. Die veralteten und [62] schwachen Forts am Dardanelleneingang wurden niedergelegt, und Anfang März konnte der Versuch, die starken Innenforts zu bezwingen, ins Werk gesetzt werden. Der Versuch scheiterte. Am 18. März büßten die Angreifer drei Schlachtschiffe ein, zwei englische und ein französisches. Man sah ein, daß ohne ein starkes Landungskorps nicht vorwärts zu kommen sei.
Ein solches mußte erst zusammengestellt und herbeigeholt werden; denn die wenigen Bataillone Senegalesen und Zuaven, mit denen man anfänglich auszukommen gehofft hatte, genügten nicht entfernt, und die griechische Hilfe, die man erwartete, blieb aus. Man griff auf die in Ägypten versammelten Truppen, hauptsächlich Australier und Neuseeländer, zurück. Am 25. April 1915 erfolgte die erste Landung auf der Halbinsel Gallipoli.
Die auf Gallipoli zusammengezogene türkische Armee leistete den Angreifern, die ihre Forts und Feldbefestigungen Tag und Nacht mit einem Eisenhagel aus Land- und Schiffsgeschützen aller Kaliber überschütteten, den zähesten Widerstand. Eine unerwartete aber wirksame Unterstützung erhielt sie durch deutsche U-Boote, die plötzlich vor den Dardanellen erschienen, vom 25. bis 27. Mai die drei britischen Panzerschiffe „Triumph“, „Majestic“ und „Agamemnon“ torpedierten und durch die beständige Bedrohung die großen Schlachtschiffe von der Halbinsel fernhielten. Aber eine schwere Sorge lastete auf den braven Verteidigern: der Munitionsmangel. Der tägliche [63] Verbrauch war bei aller Sparsamkeit enorm; Rumänien ließ keine Munition durch; Serbien hielt immer noch den Negotiner Donaubogen; unsere U-Boote konnten bei ihrem beschränkten Tonnengehalt höchstens Zünder und ähnliche Dinge, aber keine Granaten heranschaffen. Der Energie und Geschicklichkeit eines deutschen Seeoffiziers gelang es, in Konstantinopel eine behelfsmäßig ausgestattete Munitionsfabrik gewissermaßen aus dem Boden zu stampfen; aber deren Leistungsfähigkeit konnte nicht entfernt auf die Höhe des Bedarfs der Gallipoli-Armee gesteigert werden. Die Telegramme unseres Botschafters verlangten immer dringender die Öffnung eines Weges für ausreichende Munitionszufuhr. Wiederholt schien die letzte Stunde geschlagen zu haben. Mehr als einmal war nach heftigen Angriffen der Vorrat der Artilleriemunition so vollständig erschöpft, daß einem erneuten Angriff des Feindes der Erfolg sicher gewesen wäre. Churchill sprach damals das Wort: „Nur wenige Meilen trennen uns vom Ziel und vom endgültigen Sieg.“ Er wußte selbst nicht, wie nahe er oft an Ziel und Sieg war.
Endlich kam die Erlösung. Im Oktober 1915 reichten wir uns über Serbien hinaus mit Bulgarien die Hände, der Donauweg war frei, die Dardanellen und Konstantinopel waren gerettet. Die Entente mußte sich von der Aussichtslosigkeit weiterer Versuche überzeugen. Schon am 2. November 1915 nannte der britische Premierminister im Unterhaus das Dardanellenunternehmen „a disappointment [64] and failure“. Im Januar 1916 wurden bei Nacht und Nebel die letzten Reste des Landungskorps eingeschifft. Die Gräber von vielen Zehntausenden sind, wie die Tumuli von Troja, das Denkmal des gewaltigen Ringens.
Während uns in der Türkei ein neuer Bundesgenosse entstand, der das Kräfteverhältnis zwischen uns und der übermächtigen feindlichen Koalition immerhin zu unsern Gunsten verbesserte und uns einige Aussicht bot, aus der eisernen Umklammerung den Weg ins Freie zu gewinnen, rückte unser italienischer Dreibundgenosse, der mehr als drei Jahrzehnte hindurch die gute Zeit mit uns geteilt, sich dabei wohl befunden hatte und zu neuer Blüte erstarkt war, immer deutlicher von uns nach dem Lager der Entente hinüber.
Aus den Gründen, die ich im ersten Band dieses Werkes entwickelt habe, mußten die Mittelmächte für den Ernstfall eines Krieges mit einer England einschließenden Koalition damit rechnen, daß Italien sich auch bei einem unzweifelhaften Vorliegen des Casus foederis der Verpflichtung zur Waffenhilfe entziehen würde. Erwarten durfte man auf Grund der mehr als dreißigjährigen Gemeinschaft eine unzweideutige und wohlwollende Neutralität. Auch Bismarck hatte damit gerechnet, daß im Kriegsfall der Dreibundvertrag Italien zum mindesten abhalten werde, sich [65] zu unseren Feinden zu schlagen, daß er ferner Österreich-Ungarn gestatten werde, seine italienische Grenze zu entblößen, und daß er andererseits einige französische Armeekorps an den Seealpen binden werde.
Italien erklärte in der Tat eine freundschaftliche Neutralität. Aber seine Handlungen standen mit dieser Erklärung von Anfang an nicht in Einklang.
Die Mitteilung der Neutralität an Frankreich erfolgte in Formen, die dort einen Begeisterungssturm erregten und der französischen Regierung die Gewißheit gaben, daß sie ohne Gefahr den letzten Mann von der Alpengrenze abziehen und gegen die deutsche Armee ins Feld stellen könne. Dagegen holte Italien gegenüber den Mittelmächten den Artikel 7 des Dreibundvertrags hervor, der ihm für den Fall einer Machterweiterung Österreich-Ungarns auf dem Balkan eine Kompensation in Aussicht stellte. Indem Italien sich seiner Verpflichtung aus dem Dreibundvertrag entzog, machte es aus dem gleichen Vertrag Rechte geltend. Die Mittelmächte erkannten den Anspruch Italiens ausdrücklich an für den Fall, daß die im Bündnisvertrag vorgesehene Voraussetzung der Erweiterung der österreichisch-ungarischen Machtsphäre auf dem Balkan, die nach den Erklärungen des Wiener Kabinetts nicht in dessen Absicht lag, tatsächlich eintreten sollte. Gebessert wurde durch diese Anerkennung nichts.
Auch wirtschaftlich ließ Italien uns im Stich. Es erschwerte und verhinderte die Durchfuhr wichtiger [66] Stapelartikel nach Deutschland, ja sogar den Abtransport der bei Ausbruch des Krieges in italienischen Häfen mit Bestimmung für Deutschland bereits lagernden Güter. Die Aussicht, auf dem Wege über das verbündete, aber in diesem Krieg neutral bleibende Italien die gegen uns geplante Wirtschaftsblockade vereiteln zu können, mußte von vornherein aufgegeben werden.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier zu schildern, wie eine raffinierte Bearbeitung der italienischen Presse und Straße das Land für den Verrat an dem alten Bundesgenossen reif machte. Ich beschränke mich auf die Feststellung des Ergebnisses.
Bereits im Oktober 1914, als der plötzliche Tod San Giulianos, der noch im Jahre 1912 die Erneuerung des Dreibundvertrages unterzeichnet hatte, die Neubildung des italienischen Kabinetts nötig machte, trat die Abkehr von den Mittelmächten unverhüllt in Erscheinung. Nachfolger San Giulianos wurde Sidney Sonnino, ein Mann, von dem ein italienisches Wort sagt, er sei „mezzo Ebreo, mezzo Inglese“ — halb Jude und halb Engländer — und dessen Parteinahme für England allbekannt war. Am 3. Dezember sprach Salandra, der das Präsidium auch des neuen Kabinetts behalten hatte, in der italienischen Kammer die bedenklichen Worte von der „tätigen und wachsamen Neutralität“, der „stark gewappneten Neutralität“ und „den gerechten Ansprüchen“, die Italien zu verwirklichen habe. Diese Worte deuteten an und verhüllten zu gleicher Zeit, [67] was sich in den geheimen diplomatischen Verhandlungen abspielte: Das neue italienische Kabinett, umworben von Versprechungen und bedrückt von Drohungen der Entente, getrieben von dem sich immer mehr erhitzenden Nationalismus und Irredentismus der Straße, dabei dem Zug des eigenen Herzens folgend und fast mehr schiebend als geschoben, verlangte von Österreich-Ungarn die im Dreibundvertrag vorgesehene Kompensation unabhängig von dem tatsächlichen Eintritt der zu kompensierenden österreichisch-ungarischen Machterweiterung auf dem Balkan, lediglich auf Grund der damals von der österreichisch-ungarischen Armee eingeleiteten und dann so unglücklich verlaufenen neuen Operation gegen Serbien; es verlangte die Kompensation nicht, wie es dem Sinn des Vertrages entsprach, auf dem Balkan, sondern es richtete seine begehrlichen Augen auf Trient und Triest; es forderte schließlich nicht eine Kompensation für später, sondern sofortige Auslieferung der verlangten Gebietsteile.
Eine Gefühlspolitik hätte diese Zumutungen auf jede Gefahr hin mit Entrüstung zurückgewiesen. Aber Gefühlspolitik verbot sich für die Mittelmächte bei der ernsten Lage, in der sie sich befanden, von selbst. Es galt, Figuren zu opfern, um nicht mit Sicherheit das Spiel um die eigene Existenz zu verlieren.
Die deutsche Regierung schickte den Fürsten Bülow, der sich zur Verfügung gestellt hatte, als außerordentlichen Botschafter nach Rom, damit er als bester Kenner der [68] italienischen Personen und Verhältnisse mit seinem ganzen Ansehen und seiner ganzen diplomatischen Geschicklichkeit helfe, das Äußerste zu vermeiden.
Es bedurfte eines starken Druckes auf unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, um überhaupt die Grundlage für Verhandlungen zu schaffen und späterhin den Abbruch infolge der immer maßloser werdenden italienischen Ansprüche zu verhüten. Noch Ende Januar 1915 sagte der damalige Erzherzog-Thronfolger, der spätere Kaiser Karl, bei einem Besuch im Großen Hauptquartier unserem Kaiser, wie schwer es dem Kaiser Franz Joseph werde, sich vor den italienischen Zumutungen zu beugen. Kaiser Wilhelm hat mir Anfang Februar gesagt, er könne es als Souverän und Verbündeter nicht übers Herz bringen, auf den alten Kaiser in dieser furchtbaren Sache zu drücken. Er sei dem Baron Burian, der vor kurzem seinen Antrittsbesuch als neuernannter Minister des Auswärtigen gemacht habe, dankbar für den Takt, mit dem dieser es unterlassen habe, ihn auf die Trentinofrage anzusprechen. Die Aufgabe, Österreich-Ungarn zu den unvermeidlichen Zugeständnissen zu bewegen, müsse ihm von seinen Staatsmännern abgenommen werden.
Nur mit dem äußersten Widerstreben und bis aufs äußerste zögernd fand die Wiener Regierung sich bereit, die italienischen Forderungen zu diskutieren und schließlich in der Hauptsache zuzugestehen. Am 18. Mai 1915 hat der Reichskanzler von Bethmann Hollweg im [69] Reichstag die österreichischen Konzessionen mitgeteilt, deren Hauptpunkte waren:
1. Der von Italienern bewohnte Teil von Tirol wird an Italien abgetreten.
2. Ebenso das Westufer des Isonzo, soweit die Bevölkerung rein italienisch ist, sowie die Stadt Gradisca.
3. Triest soll zur freien Kaiserlichen Stadt gemacht werden, eine den italienischen Charakter der Stadt sichernde Stadtverwaltung und eine italienische Universität erhalten.
4. Die italienische Souveränität über Valona und die dazugehörige Interessensphäre wird anerkannt.
5. Österreich-Ungarn erklärt seine politische Uninteressiertheit an Albanien.
Das Deutsche Reich hatte dem römischen Kabinett gegenüber im Einverständnis mit der österreichisch-ungarischen Regierung die volle Garantie für die loyale Ausführung dieser Anerbietungen übernommen.
Aber Sonnino hatte sich schon im April der Entente gegenüber gebunden. Der volle Umfang der österreichischen Zugeständnisse wurde dem italienischen Volke und seiner Vertretung vorenthalten. Die beiden Kammern des italienischen Parlaments, deren Mehrheit friedensfreundlich war, ließen sich durch die bis zum Weißglühen erhitzte Straße einschüchtern und stimmten der Kriegserklärung zu, die von dem italienischen Botschafter am Pfingstsonntag, dem 23. Mai 1915, in Wien überreicht [70] wurde. „Die Erfüllung der nationalen Aspirationen gegen jede gegenwärtige und künftige Bedrohung“ wurde in diesem Dokument als der Kriegsgrund bezeichnet!
Deutschland gegenüber wurde eine Kriegserklärung nicht abgegeben. Auch Deutschland sah zunächst von einer Kriegserklärung ab und beschränkte sich auf den Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
Auch der Fürst Bülow hatte den Eintritt Italiens in den Krieg nicht mehr verhindern können. Ob es ihm gelungen wäre, wenn die Wiener Regierung eine größere Entschlußfähigkeit betätigt und rascher mit ihren Zugeständnissen hervorgetreten wäre, ist nachträglich wohl kaum zu entscheiden. Persönlich bin ich der Ansicht, daß die italienische Regierung, nachdem sie einmal den Weg des Verrats und der Erpressung betreten hatte, durch das Mißtrauen des Verräters und Erpressers zwangsläufig in den Krieg getrieben worden ist, und daß von jenem Augenblick an keine Diplomatie und kein Entgegenkommen den Krieg noch verhindern konnte. Auch nach allem, was mir Fürst Bülow über seine römische Mission erzählt hat, ist dieser Eindruck bei mir bestehen geblieben.
War so die Sendung des Fürsten Bülow zum Scheitern verurteilt, so hat der Fürst doch einen in seiner Tragweite kaum hoch genug zu veranschlagenden Erfolg erzielt: er hat es verstanden, die Entscheidung hinauszuschieben bis zu einem Zeitpunkt, in dem die Gestaltung der [71] militärischen Ereignisse unserem Bundesgenossen die Möglichkeit gab, dem italienischen Angriff eine Verteidigung entgegenzustellen. Noch in der letzten Aprilwoche 1915 hat mir der General von Falkenhayn auf meine Frage geantwortet, daß weder die Österreicher noch wir in der Lage seien, einem italienischen Angriff nennenswerte Kräfte entgegenzuwerfen. Die am 2. Mai einsetzende Schlacht bei Gorlice befreite Österreich-Ungarn von der russischen Gefahr und machte ihm rechtzeitig die Hände frei für die Abwehr des italienischen Überfalls.
Die Mittelmächte waren am Ende des Jahres 1914, wie wir gesehen haben, in die Verteidigung gedrängt, in eine feste Verteidigung im Westen, eine bewegliche im Osten. Es handelte sich für die Leiter ihrer Operationen darum, auch in dieser schwierigen Lage die Initiative zu behalten. Wie die Dinge lagen, konnte sich die Initiative nur im Osten entfalten.
Dort setzte sie bald nach Beginn des Jahres 1915 auf den breiten Flügeln der in gewaltigem Bogen von den Masurischen Seen über das westliche Polen und die Karpathen bis zur ungarisch-rumänischen Grenze geschwungenen Kampffront ein.
An der Karpathenfront gelang es, den Russen Czernowitz wieder abzunehmen und sie in schweren Winterkämpfen über die verschneiten Pässe zurückzuwerfen. Aber die Kraft der dort kämpfenden österreichisch-ungarischen Armee und der sie verstärkenden deutschen Truppen reichte nicht aus, um den Ausgang aus dem Gebirge zu erzwingen und das belagerte Przemysl zu entsetzen. In der zweiten Februarhälfte kam die Angriffsbewegung ins Stocken.
Dagegen führte die Umfassungsschlacht, die Hindenburg am 7. Februar gegen den rechten Flügel der russischen Front einleitete, zu einem vernichtenden Schlag, dessen Wucht selbst Tannenberg übertraf. Acht Tage nach dem Beginn des Ringens war die russische Armee im Raume von Augustow-Suwalki eingekreist, und wenige Tage darauf erreichte die „Winterschlacht in Masuren“ mit der Vernichtung der russischen Nordarmee ihren Abschluß.
Ostpreußen war jetzt endgültig von den Russen befreit und vor neuen Einbrüchen gesichert. Die Offensivkraft der russischen Gesamtarmee war durch die Zerschmetterung ihres rechten Flügels und den Verlust seines gesamten Kriegsmaterials auf das schwerste erschüttert. Bis in die Karpathen hinein empfanden die Armeen der Mittelmächte die Entlastung. Ihre Führer sahen den Weg zu einer umfassenden und entscheidenden Offensive geöffnet.
Inzwischen rüttelten an der Westfront Franzosen, Engländer und Belgier mit ihren farbigen Hilfsvölkern [73] unausgesetzt an den deutschen Stellungen, bald in Flandern, im Artois und in der Picardie, bald an der Aisne und in der Champagne, bald vor Verdun und in den Vogesen. Alle diese Vorstöße vermochten das deutsche Stellungssystem wohl da und dort leicht einzubeulen, aber nicht zu erschüttern, geschweige denn zu durchbrechen. Ja, die deutschen Truppen zeigten sich trotz der starken zahlenmäßigen Überlegenheit der Feinde zu kräftigen Gegenstößen fähig. Als sie gegen die Mitte des Januar 1915 in wuchtigem Gegenangriff die Franzosen von den Soissons beherrschenden Höhenstellungen herunterfegten, erzitterte Paris in Panik, und die Feldherren wie die Staatsmänner der Entente mußten sich Rechenschaft geben, daß die Träume vom September ausgeträumt waren, daß nur eine riesenhafte Anstrengung den deutschen Stellungsring würde sprengen können.
Eine solche Anstrengung versuchte der Marschall Joffre um die Mitte des Februar 1915. In breit angelegter Durchbruchsschlacht versuchte er die deutschen Linien in der Champagne zu zerreißen, zum mindesten aber dem in der Masurenschlacht schwer bedrängten russischen Verbündeten eine Entlastung zu verschaffen. Weder das weitere noch auch das engere Ziel wurde erreicht. Nach drei Wochen fast ununterbrochenen Ansturmes mußte das Unternehmen aufgegeben werden.
In den folgenden Monaten lag der Schwerpunkt der Kämpfe bei dem nordwestlichen Frontteil. Am 23. April [74] begannen unsere Truppen einen umfassenden Angriff auf die britischen Stellungen in der Gegend von Ypern. Jetzt, in der besser gewordenen Jahreszeit, wollte unsere Heeresleitung noch einmal den im Spätherbst mißlungenen Versuch machen, hier die feindliche Stellung aus den Angeln zu heben. Die Anfangserfolge waren vielversprechend. Es schien, als ob es gelingen sollte, die Ypernstellung in eine eiserne Zange zu nehmen. Aber auch diesmal blieb dem Heldenmut unserer Truppen der entscheidende Erfolg versagt. Dagegen setzten vom 10. Mai an Franzosen und Engländer mit schweren Angriffen gegen unsere Stellungen auf und an der Lorettohöhe ein. Abermals und dringender denn je brauchte das russische Heer eine Entlastung.
Denn am 2. Mai hatte mit der Schlacht bei Gorlice die gewaltige Aktion der verbündeten Armeen eingesetzt, für die die Karpathenkämpfe im Januar und Februar und auch die Winterschlacht in Masuren, trotz ihrer gewaltigen Dimensionen, nur eigentlich die Einleitung gewesen waren. Die russischen Linien in Westgalizien von der ungarischen Grenze bis zur Mündung des Dunajec in die Weichsel wurden im ersten Anprall an zahlreichen Stellen durchbrochen. Die westgalizische Front war zerschmettert, die südlich anschließende Karpathenfront kam ins Weichen, ebenso die im Weichselbogen stehenden russischen Linien. Vierzehn Tage nach Beginn der Offensive war der San erreicht und an mehreren Stellen [75] überschritten. Am 3. Juni wurde das nach langer Belagerung am 22. März gefallene Przemysl wiedererobert. Am 22. Juni wurde Lemberg den Russen entrissen.
Im Juli rückte der Schwerpunkt des Ringens nach Polen. Westlich der Weichsel wie zwischen Weichsel und Bug drängten unsere siegreichen Armeen gegen Norden. Gleichzeitig begann unsere Nordarmee, die inzwischen mit schwachen detachierten Kräften den größten Teil von Kurland erobert hatte, einen zermalmenden Druck von der Südgrenze Ostpreußens gegen die Narewlinie. Im August war die Frucht reif. Fast gleichzeitig fielen am 4. und 5. August Iwangorod im Süden und Warschau im Norden. Am 19. August folgte Kowno, am 20. Nowo-Georgiewsk mit einer unerhörten Beute an Artillerie und sonstigem Material. Am 26. August war Brest-Litowsk, der gewaltige Waffenplatz am Bug, in unserer Hand. Drei Wochen später waren unsere Truppen 180 Kilometer weiter östlich in Pinsk angelangt; das russische Heer war vor ihnen in den Pripjetsümpfen verschwunden. Die wolhynischen Festungen Luck und Dubno wurden eine leichte Beute. Im Norden wurde am 3. September das stark befestigte Grodno gestürmt. Am 18. September fiel Wilna. Aber leider blieb einem großartigen Umfassungsversuch Hindenburgs in Richtung auf Minsk der Erfolg versagt. Ende September 1915 hielten wir in einer Linie, die aus der Gegend Dünaburg in fast genau südlicher Richtung über Pinsk nach der Ostgrenze Galiziens führte. Hier war die [76] große, Anfang Mai eingeleitete Operation zum Abschluß gekommen.
Gewaltiges war in den fünf Monaten erreicht worden. Das Anfang Mai bis auf einen kleinen Rest von den Russen besetzte Galizien und der östliche Rand von Ostpreußen waren befreit, ganz Polen, Litauen und Kurland, dazu große Teile von Wolhynien und Weißrußland mit ihren starken Festungen waren erobert. Die große russische Armee, die größte, die wohl je die Welt gesehen, war geschlagen und auseinandergesprengt, große Teile von ihr waren vollkommen vernichtet. Mehr als eine Million Gefangener waren in unsern Händen geblieben. Die Verluste der Russen an Kriegsmaterial waren ungeheuer.
Und doch war Rußland nicht bezwungen. Seine Armee als Ganzes war zwar stark geschwächt, aber nicht vernichtet, sein Kriegswille war nicht gebrochen. Hinter der langgestreckten neuen Front begann es, aus seinem fast unerschöpflichen Menschenreservoir und mit der finanziellen und industriellen Hilfe seiner Verbündeten wie der neutralen Amerikaner sich ein neues Kriegswerkzeug zu formen; das es später bei den weiteren Entscheidungen mit Wucht in die Wagschale warf.
Während wir mit klopfendem Herzen dem Siegeslauf unserer Armeen folgten, stürmten schwere politische Sorgen auf uns ein.
Die Entente war nicht imstande, den wuchtigen Schlag, den wir militärisch gegen Rußland führten, durch einen Gegenschlag zu parieren. Die Loretto-Offensive brachte ihr zwar einigen nicht unwichtigen Geländegewinn; aber sie vermochte ebensowenig, wie im Februar und März die Champagne-Offensive, unsere Stellungen zu durchbrechen oder uns zu zwingen, die russische Armee freizugeben. Dafür suchte die Entente Entlastung auf diplomatischem Gebiete. Rumänien und Bulgarien wurden gleichzeitig in Bearbeitung genommen. Das Ziel war, einen neuen Balkanbund herzustellen, die Türkei endgültig von uns zu trennen, Konstantinopel und die Dardanellen durch eine vom Lande her mit der Ententeflotte und dem Landungskorps von Gallipoli zusammenwirkende Armee zu forcieren und gleichzeitig vom Osten und Südosten her einen umfassenden Angriff der vereinigten Balkanstaaten auf Österreich-Ungarn anzusetzen, der unserer Offensive gegen Rußland ein Ende setzen sollte. Zusammen mit dem vom Süden und Südosten zu führenden Einmarsch der italienischen Armeen sollte diese Aktion den Zusammenbruch der Donaumonarchie und das Ende des Krieges bringen. Mit allen Mitteln wurde darauf hingearbeitet, die beiden Balkanstaaten diesem Plane dienstbar zu machen. Geld wurde ebensowenig gespart wie Versprechungen.
Unsere Gegenaktion war besonders schwierig in Rumänien, wo mit dem Tode des Königs Carol die letzte Stütze der Mittelmächte gefallen war und der Hof, die [78] Regierung, die Armee und das Volk aus der Geneigtheit, im geeigneten Zeitpunkt mit der Entente zu gehen, überhaupt keinen Hehl mehr machten. Den Versprechungen der Entente, die den Rumänen Siebenbürgen und Ungarn bis zur Theiß in Aussicht stellte, vermochten wir nichts annähernd Gleichwertiges gegenüberzustellen. Auch wenn es gelang, die ungarische Regierung zu erheblichen Zugeständnissen an die ungarländischen Rumänen zu bewegen, auch wenn man die Rumänen auf Bessarabien hinwies, selbst wenn man ihnen die Bukowina anbot, was wollte dies besagen gegenüber der von der Entente eröffneten Aussicht auf ein im Umfang und der Bevölkerung verdoppeltes Großrumänien! Zwar feilschte man um Kleinigkeiten, so um das Banat, auf das auch Serbien Ansprüche erhob; aber diese Differenzen waren nicht das retardierende Element in den Entschlüssen der Bratianu und Take Jonescu, sondern einzig und allein die mangelnde Sicherheit des unbedingten Erfolges. Man wollte einer starken russischen Hilfe für die Moldau, einer Deckung gegen Bulgarien für die Walachei vergewissert sein, ehe man sich entschloß, einzugreifen. Demgegenüber gab es für die Mittelmächte nur ein Mittel, Rumänien draußen zu halten oder gar es auf ihre Seite zu bringen: wir mußten als die Stärkeren erscheinen und in der Lage sein, auf Rumänien einen unmittelbaren militärischen Druck auszuüben.
Auch in Bulgarien lagen die Verhältnisse für unsere Diplomatie nicht leicht. Zwar war der Haß gegen Serbien [79] und Rumänien groß. Serbien hatte sich im zweiten Balkankrieg den in den ursprünglichen Abmachungen Bulgarien zuerkannten Hauptteil von Mazedonien angeeignet. Die bulgarischen Mazedonier aber waren seit langem die eifrigsten und tätigsten bulgarischen Nationalisten und spielten in Sofia eine große und einflußreiche Rolle. Die Rumänen hatten durch ihre Intervention das Schicksal Bulgariens im zweiten Balkankrieg entschieden und den Bulgaren die südliche Dobrudscha abgenommen. Aber auch mit Griechenland, das die Mittelmächte neutral zu halten wünschten und bisher mit dem König und gegen Venizelos neutral gehalten hatten, und mit der Türkei, die an unserer Seite kämpfte, hatten die Bulgaren Rechnungen zu begleichen. Griechenland hatte sich nicht nur in dem auch von den Bulgaren begehrten Saloniki festgesetzt, sondern den Bulgaren im zweiten Balkankriege die wertvollen Gebiete von Serres, Drama und Cavalla abgenommen. Die Türkei, die nach dem ersten Balkankrieg auf die Linie Enos-Midia zurückgedrängt war, hatte den zweiten Balkankrieg benutzt, um sich Adrianopel sowie einen bis an die Maritza heran- und über die Maritza hinausreichenden Geländestreifen wiederzuholen. Auch das war eine noch nicht vernarbte Wunde. Die Entente bot den Bulgaren Mazedonien und Thrazien an, war aber hinsichtlich Mazedoniens durch serbischen und griechischen Widerstand, hinsichtlich einer allzu starken Annäherung an Konstantinopel durch russische Empfindlichkeiten behindert.
Spiel und Gegenspiel auf dem Balkan war in vollem Gange und schien der Entscheidung zuzudrängen, als Italien am Pfingstsonntag 1915 an Österreich-Ungarn den Krieg erklärte. Aus zuverlässiger Quelle hatten wir vorher Nachrichten über Abmachungen zwischen Italien und Rumänien erhalten, nach denen die beiden Staaten sich dahin verständigt hatten, gemeinschaftlich einzugreifen. Aber schon in den Wochen vor der italienischen Kriegserklärung war es klar, daß Rumänien noch zögerte. Es war wohl in erster Linie unser Sieg von Gorlice und seine Auswirkung, die Rumänien noch zur Zurückhaltung veranlaßten; aber die Lage Rumänien gegenüber blieb prekär.
Die Bulgaren zeigten sich zurückhaltend und warteten offenbar auf Anerbietungen, die wir ihnen in Rücksicht auf die Türkei nicht machen konnten. Auch die auf Kosten Griechenlands gehenden Wünsche konnten wir nicht erfüllen. In Athen kämpfte König Konstantin mit Venizelos einen schweren Kampf um die griechische Neutralität. Hätten wir Bulgarien damals die griechischen Provinzen an der Bucht von Cavalla versprochen, so hätten wir uns die bulgarische Unterstützung mit der Kriegserklärung Griechenlands erkauft. Wir drückten auf die Türkei, die Entente drückte auf Serbien und Griechenland, um die Voraussetzungen für ein Gewinnen Bulgariens zu schaffen. Oft schien die Entscheidung auf des Messers Schneide zu stehen. Aber auch hinsichtlich [81] Bulgariens hatte ich den Eindruck, daß den Ausschlag nur ausreichende militärische Garantien für den Erfolg seines Losschlagens geben würden. Nur wenn wir uns fähig und bereit zeigten, sofort mit der bulgarischen Armee wirksam zu kooperieren, konnten wir hoffen, den unerträglich werdenden Schwebezustand zu unsern Gunsten zu beendigen.
Die immer dringender werdenden Hilferufe von den Dardanellen erinnerten fast täglich an das, was auf dem Spiele stand.
Nach der Landung der Ententetruppen auf Gallipoli war eine Aktion gegen den Negotiner Kreis erneut in Erwägung gezogen worden. Angesichts des guten Verlaufs der Offensive in Westgalizien war die Oberste Heeresleitung mehr als bisher geneigt, die Aktion in Angriff zu nehmen. Die Kriegserklärung Italiens an Österreich machte den Plan abermals zunichte; denn jetzt mußte jeder anderswo entbehrliche Mann zur Abwehr des italienischen Angriffs herangezogen werden. Auch diese Aussicht auf eine Lösung mußte also vertagt werden.
Wenn die Lage überhaupt noch eine Verschärfung erfahren konnte, so durch die ernste Spannung unseres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten infolge der Torpedierung der „Lusitania“. Das Schiff war am 7. Mai versenkt worden; am 17. Mai, sechs Tage vor der italienischen Kriegserklärung, übergab Herr Gerard die Note, die im ernstesten Ton Genugtuung und Sicherheiten gegen die Wiederholung eines solchen Falles verlangte. Seit jenen [82] Tagen lag der schwere Schatten des Bruchs mit Amerika über unserm Schicksal.
Den Abend des 22. Mai, den Vorabend des Pfingstfestes, verbrachte ich bis spät in die Nacht hinein beim Kanzler. Wir waren allein auf dem großen Gartenbalkon. Eine wundervolle Mondnacht lag über dem Park. Der Kanzler schloß sich auf und sprach über seine Sorgen. Vom Fürsten Bülow waren Telegramme aus Rom gekommen; der Fürst hatte noch eine letzte, ganz schwache Hoffnung, aber das Gefühl sagte uns, daß der italienische Krieg unabwendbar sei. Wir konnten jetzt hoffen, daß es gelingen werde, den italienischen Angriff am Isonzo und an der Alpenfront aufzuhalten. Aber die Rückwirkung auf den Balkan? Wie lange würde in Rumänien das Schwanken, das seit unserer Gorlice-Offensive bemerkbar war, vorhalten? Wie lange noch würden die Türken ohne ausgiebige Munitionszufuhr die Dardanellen halten können? Welche Mittel gab es, Rumänien unter Druck zu halten und die Verbindung mit der Türkei herzustellen? Unser Angriff in Galizien hatte den San und damit einen gewissen Abschluß erreicht. Weiter östlich hatten die österreichisch-ungarischen Truppen überall die Karpathenausgänge erkämpft und standen in der Bukowina, am Pruth und an der rumänischen Grenze. Die Frage lag nahe, ob jetzt nicht die Möglichkeit gegeben sei, einen Teil unserer Ostarmeen heranzuziehen, um die Lage auf dem Balkan in unserm Sinne zu entscheiden. Der Kanzler sagte mir, daß General Falkenhayn eine Erneuerung der [83] Offensive in Galizien vorbereite und dafür seine Truppen brauche. Ich fragte nach dem strategischen und politischen Ziel; die Säuberung Ostgaliziens und die Befreiung Lembergs ständen nach meiner Ansicht politisch und schließlich auch militärisch doch weit hinter einer endgültigen Eingliederung des Balkans in unser politisch-strategisches System zurück. Der Kanzler entgegnete, nach Falkenhayns Ansicht sei die russische Armee furchtbar mitgenommen; der jetzt beginnende neue Angriff solle das Werk vollenden; beim Durchhalten dieses Programms hoffe die Oberste Heeresleitung in wenigen Wochen die russische Offensivkraft, zum mindesten für den Rest des Sommers, endgültig zu brechen; es sei für ihn, den Kanzler, auch wenn er weniger zuversichtlich denke als Falkenhayn, sehr schwer, dem siegreichen Feldherrn in den Arm zu fallen.
Am nächsten Vormittag sprach ich mit dem Unterstaatssekretär Zimmermann und einigen meiner Freunde vom Auswärtigen Amt über dieselbe Frage. Die italienische Kriegserklärung war inzwischen sicher geworden, und der Kanzler hatte sich entschlossen, am nächsten Abend mit Herrn von Jagow nach dem Großen Hauptquartier zu reisen. Mir schien von dem richtigen Entschluß in dieser kritischen Lage für den Ausgang des ganzen Krieges so viel abzuhängen, daß ich für meine Person nichts versäumen wollte. Ich übergab deshalb dem Kanzler vor seiner Abreise die nachstehende Niederschrift:
„Unsere Feinde werden, nachdem die Verführung Italiens zum Treubruch gelungen ist, alles daransetzen, um die Balkanstaaten, insbesondere Rumänien und Bulgarien, zum Eingreifen gegen uns zu bringen und dadurch gleichzeitig der Türkei das Ausharren an unserer Seite unmöglich zu machen. Das Gelingen dieser Bemühungen würde sofort die militärische Aufgabe aufs äußerste erschweren: das österreichisch-ungarische Staatsgebiet wäre nicht nur im Norden gegen die Russen und im Südwesten gegen die Italiener, sondern im weiten Bogen auch im Osten und Süden gegen die neuen Balkanarmeen zu verteidigen, während gleichzeitig die Öffnung der Dardanellen gestatten würde, den Russen und Rumänen Kriegsmaterial und eventuell Hilfstruppen in unbeschränkten Mengen zuzuführen.
„Es ist also nicht nur ein politisches, sondern auch ein militärisches Lebensinteresse, daß der Übertritt Rumäniens und Bulgariens in das Lager unserer Feinde verhindert wird.
„Ein solches Verhindern ist heute durch das Mittel bloßer Versprechungen oder auch sofortiger effektiver Zugeständnisse nicht mehr möglich. Versprechungen sind nach dem Treubruche Italiens noch stärker im Kurs gesunken, als sie es bereits waren; außerdem sind unsere Gegner in der Lage, alle unsere und Österreich-Ungarns Versprechungen zu übertrumpfen. Sofortige effektive Zugeständnisse könnten nur gegenüber Rumänien in [85] Betracht kommen (Bukowina, Siebenbürgen); aber der Appetit der Rumänen geht heute bereits so weit, daß er nicht befriedigt werden kann; irgendwelche Anerbietungen würden also nur eine Einladung zur Chantage sein und als Zeichen der Schwäche aufgefaßt werden und so die zu vermeidende Entwicklung vielleicht noch beschleunigen.
„Sowohl Rumänien wie auch Bulgarien werden sich unter diesen Umständen in ihrem Verhalten nur durch positive Ereignisse und Handlungen bestimmen lassen. Dabei wird das Verhalten der beiden Balkanstaaten sich gegenseitig beeinflussen: ein Vorgehen Rumäniens gegen uns wird der russenfreundlichen Partei in Sofia Oberwasser geben, während umgekehrt die Furcht vor einem Vorgehen Bulgariens an unserer Seite die Russenfreundschaft und Kriegslust Rumäniens dämpfen würde.
„Frage: Was hat zu geschehen:
1. um Rumänien von dem Eingreifen uns gegenüber zurückzuhalten?
2. um Bulgarien zu einem Eingreifen an unserer Seite zu veranlassen?
„ad 1. Bei dem nahezu sicheren Versagen aller Versprechungen und Zugeständnisse bleibt uns — außer der unter 2. zu besprechenden Sicherung über Bulgarien — nur der militärische Druck; wenn wir in der Lage sind, den Rumänen zu sagen: sobald ihr euch rührt, schlagen wir zu, ist die Situation gewonnen. Erscheinen [86] wir den Rumänen gegenüber als die Stärkeren und Fordernden statt als die Schwachen und Bittenden, so wird der Mut der Rumänen sich verflüchtigen; und selbst, wenn wir dann zum Losschlagen gegen Rumänien gezwungen sein sollten, können wir als Angreifer mit großer Sicherheit auf ein Mitgehen Bulgariens rechnen, während wir als schwache Angegriffene auch Bulgarien auf der andern Seite sehen würden.
„Die Frage ad 1 kommt also darauf hinaus: Können unsere Armeen in Galizien und der Bukowina jetzt schon eine den sofortigen Einmarsch in die Moldau gestattende Gruppierung erfahren?
„ad 2: Auch Bulgarien gegenüber wird mit Versprechungen allein (Mazedonien, Dobrudscha usw.) nichts auszurichten sein. Immerhin kann Bulgarien vielleicht stark beeindruckt werden durch den Hinweis auf die großen, vom Dreiverband den Rumänen gemachten Versprechungen (Ungarn bis zur Theiß), wodurch Rumänien endgültig die Vorherrschaft auf dem Balkan gewinnen würde. Sichere Wirkung ist aber auch bei den Bulgaren nur durch Handlungen zu erreichen. In erster Linie steht hier der Angriff auf den Negotiner Donauzipfel; hier ist die geographische Entfernung am kürzesten, und ein Losschlagen gegen Serbien würde den Bulgaren wegen Mazedonien eher liegen als ein Losschlagen gegen Rumänien im Falle unseres Einrückens in der Moldau. Eine Aktion gegen den Negotiner Zipfel [87] würde freilich die Bulgaren nur dann mit Sicherheit zum Losschlagen an unsere Seite bringen, wenn unsere Aktion raschen Erfolg aufweisen oder wenigstens von vornherein durch das Einsetzen ausreichend starker Kräfte den Erfolg sichern würde.
„Als wirksamstes Mittel, eine gegen uns gerichtete Balkankombination im Keim zu zerstören und Bulgarien zum Eingreifen an unserer Seite zu veranlassen, erscheint also nach wie vor eine ausreichend starke Aktion gegen den Negotiner Zipfel.
„An zweiter Stelle steht eine Gruppierung unserer Truppen in Galizien und der Bukowina, die in der kürzesten Zeit uns gestatten würde, einen starken Druck auf Rumänien auszuüben, nicht nur nach der negativen Seite des Stillhaltens hin, sondern auch nach der positiven Seite des Durchlassens von Munition usw. nach Bulgarien und der Türkei.
„Geschieht nicht in der allernächsten Zeit entweder das eine oder das andere, dann ist zu befürchten, daß trotz des schönsten Fortgangs unserer Operationen in Galizien der ganze Balkan gegen uns geht und die Türkei zur Kapitulation gezwungen wird. Dann wären die Früchte des galizischen Sieges verloren und alle die großen Opfer umsonst gebracht.
„Es ist also zwingend notwendig, auf das gewissenhafteste und sorgfältigste zu überlegen, wie der Fortgang der galizischen Operation — und natürlich auch [88] die Verteidigung gegen den italienischen Angriff — mit den unter 1 und 2 angeführten Aktionen in Einklang gebracht werden kann. Diese zwingende Notwendigkeit ist nicht nur eine politische; denn die politischen Entwicklungen von heute setzen sich morgen in militärische Zwangslagen um [1] .“
Der Kanzler schloß sich meiner Auffassung an. Im Großen Hauptquartier jedoch stellte man die Ausnutzung des galizischen Sieges bis zur äußersten Möglichkeit über alle andern Erwägungen.
Während unsere Armeen in Galizien neue Siege errangen, Lemberg befreiten und weiter gegen Osten vordrangen, blieb die Balkanlage im Schwebezustand. Bulgarien suchte sich mit der Türkei direkt zu verständigen; aber die Sondierung, ob die Türkei bereit sei, den Bulgaren Adrianopel und die Grenze Enos-Midia zuzugestehen, stieß in Konstantinopel, trotz der bedrängten Lage der Dardanellen, auf entrüstete Ablehnung. Insbesondere Enver Pascha, der Wiedereroberer Adrianopels, konnte sich mit der Herausgabe dieser Festung nicht abfinden. Djavid Bey, mit dem ich in jener Zeit über die Deckung des türkischen [89] Geldbedarfs verhandelte, sagte mir am 1. Juli, die Herausgabe von Adrianopel sei gänzlich ausgeschlossen, deutete aber an, daß die Maritza als Grenze möglich sei. Das war eine Grundlage für die diplomatische Verständigung; aber gleichzeitig wurde auch immer deutlicher, daß ohne eine militärische Aktion unsererseits auf dem Balkan Bulgarien nicht zum Marschieren zu bringen war.
Wieder trat in jener Zeit eine Pause auf dem galizischen Kriegstheater ein. Die Offensive nach Osten hatte sich ausgewirkt. „Die Lage ist unverändert“ lautete fast Tag für Tag der Heeresbericht über den südöstlichen Kriegsschauplatz. Aber auch jetzt konnte sich die Oberste Heeresleitung nicht entschließen, sich dem Balkan zuzuwenden. Das große Kesseltreiben gegen Polen von Norden und Süden her war bereits in Vorbereitung. Falkenhayn vertröstete den Kanzler auf die Beendigung dieser Aktion.
Der glänzende Feldzug in Polen füllte den Juli und August. Mit Hängen und Würgen hielten die Türken die Dardanellen, während in Sofia der Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg, unterstützt von dem Gesandten Grafen Oberndorff und Herrn von Rosenberg vom Auswärtigen Amt, mit König Ferdinand und seiner Regierung, im Großen Hauptquartier der General von Falkenhayn mit den bulgarischen Militärs über die politischen und militärischen Bedingungen des Zusammenschlusses verhandelten, nachdem unter unserer Mitwirkung eine Einigung zwischen [90] Bulgarien und der Türkei zustandegekommen war, die den Türken Adrianopel beließ, den Bulgaren aber die Maritza mit einem Geländestreifen auf dem östlichen Ufer zurückgab.
Den Bulgaren wurde ferner das bulgarische Mazedonien sowie das östliche Serbien bis zur Morawa zugesagt. Ihre Ansprüche auf das griechische Gebiet von Drama, Serres und Cavalla sollten nur dann praktisch werden, wenn Griechenland von seiner Neutralität zu Kriegshandlungen gegen unsern Verband übergehen sollte. Dafür behielten sich die Türken vor, im Falle einer bulgarischen Gebietserweiterung auf Kosten Griechenlands die jetzt von ihnen abzutretenden Gebiete von Bulgarien zurückzuverlangen.
Die Entente hat nicht vermocht, so lange wir ihr auch notgedrungen Zeit lassen mußten und so sehr sie alle diplomatischen Künste spielen ließ, den Anschluß Bulgariens an die Mittelmächte zu verhindern. Zwar war der griechische Ministerpräsident bereit, der Entente über den Kopf seines Königs hinaus einen großen Trumpf in die Hand zu geben, indem er zugunsten Bulgariens auf Serres, Drama und Cavalla gegen Entschädigung durch Smyrna und andere von Griechen bevölkerte Teile Kleinasiens verzichten wollte. Aber Serbien sperrte sich gegen die Ausdehnung der von den Westmächten in Mazedonien gewünschten Konzessionen; und den großen Trumpf, Konstantinopel, der bei den Bulgaren sicher gestochen hätte, [91] wagte man in Rücksicht auf Rußland nicht auszuspielen. So gewannen die Mittelmächte das Übergewicht.
Am 7. September konnten in Sofia alle Verträge unterzeichnet werden. Die Vorbereitungen für die gemeinschaftliche Aktion gegen Serbien wurden sofort eingeleitet.
Am 20. September donnerten zum ersten Male wieder seit langer Zeit an der serbischen Donau die Kanonen. Belgrad und Semendria wurden aus österreichischen und deutschen Geschützen beschossen. Es war nur ein Auftakt. Der wirkliche Angriff begann erst am 6. Oktober.
Vorher aber machte die Entente einen heroischen Versuch, auf der Westfront die Entscheidung des Krieges zu erzwingen.
Am 25. September 1915 meldete der deutsche Heeresbericht:
„Auf der ganzen Front vom Meere bis zu den Vogesen nahm das feindliche Feuer an Stärke zu und steigerte sich östlich von Ypern zwischen dem Kanal von La Bassée und Arras sowie in der Champagne von Prosnes bis zu den Argonnen zu äußerster Heftigkeit. Die nach der zum Teil 15stündigen stärksten Feuervorbereitung zu erwartenden Angriffe haben begonnen.“
Was mit dieser Generaloffensive erreicht werden sollte, besagte ein Armeebefehl des Generals Joffre vom 14. September, in dem es hieß:
„Auf dem französischen Kriegsschauplatz zum Angriff zu schreiten, ist für uns eine Notwendigkeit, um die Deutschen aus Frankreich zu verjagen. Wir werden sowohl unsere seit zwölf Monaten unterjochten Volksgenossen befreien, als auch dem Feinde den wertvollen Besitz unserer besetzten Gebiete entreißen. Außerdem wird ein glänzender Sieg über die Deutschen die neutralen Völker bestimmen, sich zu unsern Gunsten zu entscheiden, und den Feind zwingen, sein Vorgehen gegen die russische Armee zu verlangsamen... Der gegenwärtige Zeitpunkt ist für einen allgemeinen Angriff besonders günstig. Einerseits haben die Kitchener-Armeen ihre Landung in Frankreich beendet, und andererseits haben die Deutschen noch im letzten Monat von unserer Front Kräfte weggezogen, um sie an der russischen Front zu verwenden. Die Deutschen haben nur sehr dürftige Reserven hinter der dünnen Linie ihrer Grabenstellung... Es wird sich für alle Truppen, die angreifen, nicht nur darum handeln, die ersten feindlichen Gräben wegzunehmen, sondern ohne Ruhe Tag und Nacht durchzustoßen über die zweite und dritte Linie bis in das freie Gelände. Die ganze Kavallerie wird an diesen Angriffen teilnehmen, um den Erfolg mit weitem Abstand vor der Infanterie auszunutzen.“
Südwestlich von Lille, in der Gegend von Loos, erzielten die Engländer, in der Champagne die Franzosen ansehnliche Anfangserfolge. In der Champagne verloren wir die ganzen ersten Stellungen des III. Armeekorps, viele Gefangene und viele Geschütze. Aber weder im Artois noch in der Champagne erreichten die Feinde den Durchbruch. Es gelang uns, ausreichende Reserven heranzuführen und die Einbruchsstellen abzuriegeln. Die schweren Angriffe dauerten mit kurzen Unterbrechungen bis in die zweite Oktoberhälfte hinein, ohne unsern Feinden mehr zu bringen als unbedeutende lokale Geländegewinne.
Während Engländer, Belgier und Franzosen in diesen gewaltigen Anstürmen ihre Kräfte nutzlos erschöpften, kamen auf dem Balkan die Ereignisse ins Rollen.
Bulgarien mobilisierte. Rußland, unterstützt von Frankreich, stellte am 4. Oktober ein Ultimatum. Am 7. Oktober war der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Bulgarien und den Ententemächten vollzogen.
In den Tagen des letzten und stärksten Druckes auf Bulgarien bemächtigte sich die Entente des Hafens von Saloniki als Operationsbasis. Am 5. Oktober landete sie dort Truppen, angeblich auf Grund einer Aufforderung des Ministerpräsidenten Venizelos. Am gleichen Tage gab Venizelos seine Entlassung, nachdem ihm der für die unbedingte Aufrechterhaltung der Neutralität eintretende König erklärt hatte, „er könne der Politik seines Kabinetts [94] nicht bis zu Ende folgen“. Die Besetzung von Saloniki wurde von der Entente durchgeführt und aufrechterhalten gegen den formellen Protest der griechischen Regierung.
Am 6. Oktober überschritten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen an verschiedenen Stellen die serbischen Grenzflüsse Drina, Sawe und Donau. Zwei Tage später wurde Belgrad genommen. Semendria folgte. Der Vormarsch ins Innere Serbiens begann. Am 15. Oktober griff Bulgarien ein. Zehn Tage später war an der Donau die Verbindung zwischen den Truppen der Mittelmächte und Bulgariens hergestellt; der Donauweg war endlich frei. Am 6. November fiel die serbische Festung Nisch; die Eroberung des alten Serbien war damit abgeschlossen. Vier Wochen darauf wurde Monastir genommen. Mitte Dezember war Alt- und Neuserbien in den Händen der deutschen, österreichischen und bulgarischen Truppen. Mitte Januar 1916 besetzten die Österreicher die montenegrinische Hauptstadt. Wenige Tage später streckte Montenegro die Waffen. Der Abzug der Ententetruppen von den Dardanellen setzte das Siegel unter diese Ereignisse.
Aber es blieb die Ententebasis in Saloniki als Pfahl im Fleisch, und nördlich der Donau verharrte Rumänien in dauerndem Abwarten.
Ich halte es für einen der schwersten und verhängnisvollsten Fehler, die von unserer Seite während des Krieges [95] gemacht worden sind, daß wir, ehe wir auf dem Balkan ganze Arbeit getan hatten, uns mit unserer Hauptmacht wieder dem westlichen Kriegsschauplatz zuwendeten, um dort den Versuch zu machen, mit Verdun den wichtigsten Schulterpunkt des feindlichen Stellungssystems zu brechen.
Über die Gründe für diesen Entschluß und über die Art und Weise, wie er zustandegekommen ist, habe ich niemals volle Klarheit bekommen können. Die Vorbereitungen der Aktion gegen Verdun wurden mit solcher Heimlichkeit betrieben, daß es im Februar, kurz vor Beginn unserer Operationen, zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem General von Falkenhayn und dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg gekommen ist, weil letzterer außer dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts auch mich in den Plan eingeweiht hatte.
Ich selbst hatte am Neujahrstag 1916 Gelegenheit zu einer längeren Unterhaltung mit dem General von Falkenhayn in seinem Amtszimmer im Berliner Kriegsministerium. Von Verdun und einer größeren Offensive in Frankreich erwähnte er nichts; Hauptgegenstand unserer Unterhaltung war vielmehr die Aufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges, von der Falkenhayn, gestützt auf das Urteil des Admiralstabs, ein baldiges Ende des Krieges erwartete, während ich Zweifel gegen die Berechnung des Admiralstabs geltend machte. Meinerseits wies ich darauf hin, daß die Balkansituation einer weiteren Klärung [96] bedürfe. Insbesondere müßten wir uns vergewissern, wie wir mit Rumänien daran seien. „Nur wenn Sie der Donna Rumania den Arm fest um die Taille legen, wird sie sich entschließen, mit uns zu tanzen.“ Falkenhayn antwortete: „Sie gehören wohl auch zu den Leuten, die meinen, ich müßte nach Kiew marschieren?“ Ich antwortete, daß Kiew mir Hekuba sei, daß es mir vielmehr einzig und allein auf Rumänien ankomme, das wir nicht als ganz unsicheren Kantonisten im Rücken behalten dürften.
Am 23. Februar 1916 begannen, infolge des für die Artillerievorbereitung unmöglichen Wetters einige Tage später, als ursprünglich geplant, unsere Operationen gegen Verdun. Bereits zwei Tage später nahmen unsere Truppen das hochgelegene Fort Douaumont, den wichtigen Nordpfeiler der Außenbefestigungen von Verdun. Wir schienen den Erfolg in den Händen zu haben. Bei den Franzosen herrschte die schwerste Besorgnis; die Befehle zur Räumung der Stadt und des rechten Maasufers sollen damals gegeben, aber gleich darauf widerrufen worden sein. Während wir mit unserer schweren Artillerie nur langsam vorwärts kamen, verstärkte sich der französische Widerstand. Monatelang wogte der Kampf auf den Höhen und in den Schluchten rechts und links der Maas hin und her, ohne eine Entscheidung zu bringen. Die Verluste auf beiden Seiten waren gewaltig. Unsere Heeresleitung suchte sich und andere damit zu trösten, daß die französischen Verluste noch erheblich größer seien als die [97] unsrigen, ja daß dieses „Ausbluten der Franzosen im Sack von Verdun“ wichtiger sei als der Besitz der Festung selbst. Niemandem war bei diesem Troste wohl.
Gegen die Mitte des Jahres lief sich die Verdun-Offensive tot. Andere Kampfhandlungen von riesenhaftem Ausmaß, für die unsere Gegner die Initiative ergriffen, übertönten den verhallenden Kanonendonner an der Maas.
Mitte Mai hatten die Österreicher nach großen Vorbereitungen in Südtirol gegen die Italiener, die in den zwölf Monaten seit ihrer Kriegserklärung so gut wie nichts erreicht hatten, eine Offensive begonnen. Der Angriff entwickelte sich gut. Ende Mai waren die wichtigen befestigten Plätze Asiago und Arsiero in den Händen der Österreicher. Der Austritt in die Po-Ebene schien gesichert.
Da führte das russische Heer vom 5. Juni an auf der ganzen Front zwischen dem Pruth und dem Styrknie wuchtige Stöße gegen die nicht sehr starken österreichischen Linien. Sie schlugen eine weite und tiefe Bresche. Die wolhynischen Festungen fielen. Czernowitz und die Bukowina wurden wieder preisgegeben. Hunderttausende von Gefangenen und ungezähltes Material geriet in die Hand der Russen, die über die Leichtigkeit, mit der sie diesen großen Erfolg errangen, vielleicht selbst am meisten erstaunt waren.
Die Österreicher waren gezwungen, die wankende Front mit allen Mitteln zu stützen. Die so vielversprechende [98] Offensive gegen Italien wurde aufgegeben, um Truppen für den bedrohten Osten freizubekommen. Die Italiener konnten zu Gegenangriffen übergehen. Gegen Ende Juni mußten die Österreicher ihre Südtiroler Front zurücknehmen; am Isonzo mußten sie vor den erneut einsetzenden Offensivstößen der Italiener sich auf die Höhen östlich des Flusses zurückziehen und Görz preisgeben. Auch vom nördlichen Teil der russischen Front, den Hindenburg kommandierte, wurden Verstärkungen auf Verstärkungen nach dem Süden abgegeben, obwohl auch im Norden russische Angriffe begannen. Ja es wurden einige türkische Divisionen an der galizischen Front eingesetzt.
Die schweren Kämpfe an der Ostfront waren noch in vollem Gange, als die Ententeheere am 1. Juli im Westen zu einem alle bisherigen Offensivstöße weit übertreffenden Angriff ansetzten. „In einer Breite von 40 Kilometern,“ so berichtete unser Großes Hauptquartier am 2. Juli, „begann gestern der seit vielen Monaten mit unbeschränkten Mitteln vorbereitete englisch-französische Massenangriff nach siebentägiger stärkster Artillerie- und Gasvorbereitung auf beiden Ufern der Somme sowie des Ancrebaches.“ Von diesem Tage an waren unsere Truppen fünf volle Monate hindurch den wütenden Anstürmen der Engländer und Franzosen ohne Unterbrechung ausgesetzt. Der Feind hatte die starke Überlegenheit in der Zahl der Kämpfenden. Er hatte eine noch weit größere Überlegenheit im Material aller Art; denn die Industrie nahezu der [99] ganzen Welt arbeitete für ihn. Es ist eine kaum faßliche Leistung unserer Feldgrauen, daß sie, unaufhörlich überschüttet vom dichtesten Eisenhagel, in kaum aussetzenden Nahkämpfen mit der in unerschöpflichen Wellen anstürmenden weißen und farbigen Übermacht die eiserne Kette hielten und nur Schritt für Schritt dem ungeheuren Druck Raum gaben. Es ging fast über menschliche Kraft, aber es wurde durchgehalten.
In der Zeit der schärfsten Zuspitzung der militärischen Lage, als zu dem russischen Vorstoß die französisch-englischen Angriffe hinzukamen, weilte ich bei dem Feldmarschall von Hindenburg in Kowno. Ich hatte Gelegenheit, mit Hindenburg und seinen Offizieren die politische und militärische Lage eingehend zu besprechen. Der Eindruck, den ich gewann, war erschütternd. Hindenburg sagte mir am Abend des 3. Juli: „Wir haben hier oben im Norden überhaupt nur noch eine durchsichtige Kattunschürze. Ich habe, um das Loch bei den Österreichern zuzustopfen, alles weggegeben, was ich entbehren kann, und mehr als das. Es blieb mir nichts anderes übrig. Aber was ich weggegeben habe, sehe ich nicht wieder. Nun greift der Russe hier oben bei uns an, ich weiß nicht, was werden soll.“ Seine Mitarbeiter wurden deutlicher. Die verhängnisvollen Nachteile des Mangels eines einheitlichen Oberbefehls über die Ostfront mußte auch dem Laien einleuchten. Meine Zweifel an der Richtigkeit der im Osten befolgten Strategie, die ich seit den [100] Monaten Mai und Juni mit mir herumtrug, fand ich bestärkt. Wir standen vom Rigaer Busen bis zur rumänischen Grenze in einer weit auseinandergezogenen, wohl mehr als zwölfhundert Kilometer langen Front, die in ihren überwiegenden Teilen eines jeden natürlichen Schutzes entbehrte und gegen energische Offensivstöße einer an einem beliebigen Punkt zusammengeballten Macht kaum zu halten war. Im Westen hatten wir unsere beste Kraft in der Verdun-Offensive eingesetzt; nicht nur war es uns nicht gelungen, die große Schulterfestung zu bezwingen, auch der angebliche Erfolg des Ausblutens der Franzosen wurde durch die jetzt beginnende Somme-Offensive als Täuschung erwiesen. Dazu im Hintergrund die rumänische Gefahr, die durch den Zusammenbruch des Rumänien zunächst gelegenen österreichischen Frontteiles nahezu automatisch ausgelöst werden mußte.
Das dringendste Erfordernis der Stunde erschien mir die Vereinheitlichung des Oberbefehls über die gesamte Ostfront. In diesem Sinne telephonierte ich noch vom Osten aus am 4. Juli mit dem Reichskanzler.
Als ich am Sonntag, 9. Juli, nach Berlin zurückkehrte, schilderte ich dem Kanzler mündlich auf das Eindringlichste meine Wahrnehmungen und Eindrücke. Der Kanzler hatte, wie mir bekannt war, schon in einem früheren Stadium des Krieges und auch späterhin wiederholt die Frage des Oberbefehls aus dem Zweifel heraus, ob der General von Falkenhayn der richtige Mann an diesem [101] Platze sei, zur Sprache gebracht. Die militärischen Berater des Kaisers hatten jedoch damals mit Entschiedenheit an General von Falkenhayn festgehalten. Der Kanzler erzählte mir jetzt, daß der Kronprinz von Bayern neuerdings an den Grafen Lerchenfeld, der diesen kurz zuvor im Gefolge des Königs von Bayern in seinem Hauptquartier besucht hatte, einen Brief mit den heftigsten Vorwürfen gegen die Oberste Heeresleitung geschrieben habe. Auch andere hohe Offiziere seien jetzt zu der Ansicht gekommen, daß die Oberste Heeresleitung in ihrer derzeitigen Zusammensetzung den Schwierigkeiten der Lage nicht gewachsen sei. Der Kanzler hatte inzwischen bereits die Übertragung des Oberbefehls über die gesamte Ostfront einschließlich der österreichisch-ungarischen Truppen an den Feldmarschall von Hindenburg verlangt. Der Chef des Generalstabs der österreichisch-ungarischen Armee Conrad von Hötzendorff war alsbald mit dem Antrag befaßt worden, hatte aber zunächst abgelehnt. Einige Tage später hörte ich, daß der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza sich entschieden für die Übertragung des Oberbefehls an Hindenburg ausgesprochen habe. Am 18. Juli waren die Generale Conrad von Hötzendorff, von Falkenhayn und Ludendorff zur Besprechung der Angelegenheit in Berlin; eine Einigung kam nicht zustande.
Ich war in den folgenden Tagen in München und Stuttgart. Sowohl der König von Bayern wie der König von Württemberg sprachen sich mir gegenüber aus eigener [102] Initiative dafür aus, daß in der ungemein ernsten Lage auf den Feldmarschall von Hindenburg zurückgegriffen werden müsse. Der württembergische Ministerpräsident von Weizsäcker, dessen ruhiges und klares Urteil ich immer besonders schätzte, flehte mich geradezu an, der Kanzler müsse dem Kaiser die Augen öffnen. Weder Kaiser noch Reich könnten einen ernsten Rückschlag ertragen, wenn Hindenburgs Genie und Ansehen nicht voll in Wirksamkeit gesetzt werde.
Als ich nach Berlin zurückkam, lagen dort geradezu verzweifelte Berichte aus Wien vor. Auch Graf Andrassy, der gerade in Berlin anwesend war, erkannte an, daß die Zeit der Eitelkeiten und Rivalitäten vorbei sei und nur der einheitliche Oberbefehl Hindenburgs die Lage retten könne. Dazu kamen Nachrichten aus Rumänien, die darauf schließen ließen, daß Bratianu sich der Entente gegenüber zum Eingreifen unter gewissen Bedingungen verpflichtet habe, und daß der König zu schwach sei, um Widerstand zu leisten. Der Kanzler bestand telegraphisch auf der schleunigen Übertragung des Oberbefehls über die gesamte Ostfront an Hindenburg und reiste am 25. Juli selbst nach dem Großen Hauptquartier, um die Sache unter allen Umständen in Ordnung zu bringen. Am 2. August wurde denn auch amtlich publiziert: „Unter Generalfeldmarschall von Hindenburg wurden mehrere Heeresgruppen der Verbündeten zu einheitlicher Verwendung nach Vereinbarung der beiden Obersten Heeresleitungen [103] zusammengefaßt.“ Hindenburg hatte, wie mir der Kanzler nach seiner Rückkehr aus dem Hauptquartier erzählte, mit dieser Lösung, die ihm den Oberbefehl über die Ostfront von Kurland bis zu den Karpathen, einschließlich der österreichisch-ungarischen Armee gab, sich befriedigt und weiteres als zur Zeit unerwünscht erklärt.
Es kam jedoch bald zu ernsten Reibungen zwischen dem neuen Obersten Befehlshaber der Ostarmee und dem Chef des Generalstabs des Feldheeres, die sich auf die Frage „Falkenhayn oder Hindenburg?“ zuspitzten. Der Kanzler trat in Konsequenz seiner früheren Stellungnahme mit großer Entschiedenheit für die Ersetzung Falkenhayns durch Hindenburg ein, während die militärische Umgebung des Kaisers auch jetzt noch an Falkenhayn festhielt. Allerdings gehörte der Kanzler nicht zu den unbedingten Bewunderern des von dem Feldmarschall untrennbaren Generals Ludendorff. Ludendorff sei geneigt, seinem Temperament zu unterliegen und in ernsten Situationen übereilt zu handeln; so auch jetzt wieder, wo er, ohne den unpäßlichen Hindenburg zu fragen, ein Abschiedsgesuch abgeschickt habe, um es dann wieder anzuhalten. Auch in der Beurteilung der militärischen Lage in seinem Befehlsbereich habe er, der Kanzler, an Ludendorff mehrfach das Schwergewicht der inneren Ruhe und Sicherheit vermißt; er sei ihm zu sehr „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“. Die Lage ließ jedoch auch nach seiner Ansicht keine andere Wahl als die Ersetzung Falkenhayns durch Hindenburg-Ludendorff.
Inzwischen erfuhren die Dinge eine weitere Zuspitzung. Seit der zweiten Augusthälfte lauteten die Nachrichten aus Bukarest zwar unklar und widerspruchsvoll; aber im Zusammenhang mit der Gesamtlage hatte ich aus dem, was mir bekannt wurde, den Eindruck, daß Rumänien im Begriff sei, gegen uns loszuschlagen. Ich ließ mich in dieser Beurteilung, aus der heraus ich schon seit längerer Zeit auf den schleunigen Abtransport des von Deutschland gekauften rumänischen Getreides hingewirkt hatte, auch durch die lügnerischen Versicherungen des Ministerpräsidenten Bratianu und des rumänischen Königs nicht irremachen. Als mir am Sonntag, 27. August, der Kanzler gegen 11 Uhr durchs Telephon sagte — in Dingen, die nicht für alle Ohren bestimmt waren, pflegten wir französisch zu telephonieren —: „L'Italie nous a déclaré la guerre,“ antwortete ich: „Et la Roumanie suivra sur-le-champ.“ Im Auswärtigen Amt hatte man noch Zweifel. Abends um 11 Uhr teilte mir der Kanzler mit, daß die rumänische Kriegserklärung in Wien überreicht worden sei. Bei der ernsten Lage auf allen Kampffronten nahm der Kanzler die Nachricht sehr schwer. Es blieb uns natürlich keine Wahl, als die rumänische Kriegserklärung an Österreich-Ungarn sofort mit unserer Kriegserklärung an Rumänien zu beantworten. Noch in der Nacht wurde an die sämtlichen Bundesregierungen telegraphiert. Ich schlug vor, sofort auch mit den Parteiführern wegen Einberufung des Reichstags in Verbindung zu treten. Bei diesen regten [105] sich Bedenken, ob die nötige Geschlossenheit gewahrt werden könne, und die Einberufung unterblieb.
Die Telegramme aus dem Hauptquartier über die Möglichkeit der Gegenwirkung gegen den von den Rumänen seit Wochen und Monaten vorbereiteten Überfall lauteten wenig trostvoll. Es stand nur wenig Infanterie dort und fast gar keine Artillerie! Weder in Pleß noch in Teschen scheint man geglaubt zu haben, daß Rumänien doch noch losschlagen würde. Die Bulgaren hatten sich seit dem 20. August in eine Offensive gegen die Ententearmee vor Saloniki verbissen; in welchem Umfange und in welcher Zeit Truppen zur Verwendung gegen Rumänien herausgezogen werden konnten, war ungewiß. Zum Glück hatte sich die im Juni angesetzte russische Offensive gegen die galizische und wolhynische Front ausgelaufen und verblutet. Hätte Rumäniens Angriff einige wenige Wochen früher eingesetzt, zu der Zeit, als die österreichisch-ungarische Front im Zusammenbrechen war, dann hätte wohl nichts die Katastrophe aufhalten können.
Die rumänische Kriegserklärung und die dadurch geschaffene Erschwerung der militärischen Lage veranlaßte den Kaiser, den Generalfeldmarschall von Hindenburg nach Pleß zu berufen. Der General von Falkenhayn erhob gegen diese ohne sein Befragen erfolgte Berufung Einspruch, worauf der Kaiser ihm anheimstellte, seine Entlassung einzureichen. Als der Kanzler am Vormittag des 29. August im Großen Hauptquartier eintraf, war die [106] Ernennung Hindenburgs zum Chef des Generalstabs des Feldheeres und Ludendorffs zum Ersten Generalquartiermeister bereits vollzogen.
Ich reiste mit dem Staatssekretär v. Jagow am 30. August gleichfalls nach Pleß. Obwohl Bulgariens Haltung gegenüber der neuen Situation noch nicht geklärt war — Bulgarien hat an Rumänien erst am 1. September den Krieg erklärt — fanden wir eine zuversichtliche Auffassung der Lage. Vier deutsche Divisionen rollten bereits von der Westfront nach Siebenbürgen, weitere Verstärkungen wurden vorbereitet. Man werde zwar den Rumänen für ihre Operationen zunächst freie Hand lassen müssen, sie dann aber fassen und schlagen. Hindenburgs unerschütterliche Ruhe und Ludendorffs rasch zugreifende Bestimmtheit gaben den Besprechungen die Signatur. Wir alle verließen Pleß mit einem Gefühl der Erleichterung und Beruhigung.
Die Rumänen brachen, fast ohne Widerstand zu finden, tief in Siebenbürgen ein. Im Westen erneuerten Engländer und Franzosen mit einer alles bisher Dagewesene übertreffenden Wucht ihre Angriffe an der Somme, um uns das Abziehen von Truppen für Rumänien unmöglich zu machen. Aber trotzdem sie gegen Mitte September bis über die Straße Bapaume-Péronne hinaus vorstießen, ließen sich Hindenburg und Ludendorff, die sich inzwischen an Ort und Stelle vom Stand der Dinge überzeugt hatten, in ihren Dispositionen für den rumänischen [107] Feldzug nicht beirren. Während die Rumänen in Ungarn vordrangen, faßte sie der erste Stoß dort, wo sie ihn augenscheinlich am wenigsten erwarteten, zwischen der Donau und dem Schwarzen Meer in der Dobrudscha, und warf sie auf den Trajanswall zurück. Gegen Ende September war unser Aufmarsch auch in Ungarn vollendet. Am 29. September wurden die Rumänen bei Hermannstadt geschlagen, am 8. Oktober wurde Kronstadt wieder genommen, und in den folgenden Wochen wurden die rumänischen Truppen auf die Karpathengrenze zurückgedrängt. Die Operationen in der Dobrudscha, an denen außer bulgarischen und deutschen auch türkische Truppen teilnahmen, fanden ihre Krönung in der Einnahme des rumänischen Hafens Constanza (23. Oktober) und der am Eisenbahnübergang über die Donau gelegenen Stadt Cernavoda (25. Oktober). Schon in diesem Zeitpunkte war der Feldzug für Rumänien verloren, den Alliierten war der Trumpf aus der Hand geschlagen, der die Entscheidung des Krieges hatte bringen sollen.
In der ersten Novemberhälfte erkämpften sich die deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen die Ausgänge aus den Karpathen in die Wallachei. Am 25. November erzwangen sich deutsche und bulgarische Truppen von Süden her den Donau-Übergang. In der dreitägigen Schlacht am Argesfluß griffen die beiden Armeen von Norden, Westen und Süden das rumänische Heer umfassend an und brachten ihm die entscheidende Niederlage [108] bei. Als Frucht des Sieges fiel die Landeshauptstadt Bukarest am 6. Dezember in die Hand der Verbündeten. Wenig mehr als drei Monate hatten genügt, Rumänien niederzuschlagen und für uns die Lage wiederherzustellen. Auch die schweren Angriffe, die von der ersten Novemberhälfte an die Saloniki-Armee der Entente ausführte und die am 18. November die Bulgaren nötigten, Monastir wieder aufzugeben, vermochten das Schicksal Rumäniens ebensowenig zu wenden, wie die fortgesetzten heftigen Offensivstöße an der Somme.
Der Krieg war an einem großen Haltepunkte angelangt, der Freund und Feind nötigen mußte, sich auf sich selbst zu besinnen und Umschau zu halten, ob nicht vor der Einleitung neuer Kämpfe die Möglichkeit bestehe, die schwer leidenden Völker aus Blut und Tränen heraus zu dem ersehnten Frieden zu führen.
Fußnote:
[1] Auch Graf Czernin, damals noch österreichisch-ungarischer Gesandter in Bukarest, sah in jener Zeit eine Aussicht, Rumänien zu gewinnen. In einer Rede, die er am 11. Dezember 1918 in Wien gehalten hat, führte er aus, daß Majorescu, der Führer der rumänischen Konservativen, damals nicht abgeneigt gewesen sei, sich auf unsere Seite zu stellen; die rumänische Armee, die nach Bessarabien vorgestoßen wäre, wäre weit in den Rücken der zurückflutenden russischen Armee gekommen und hätte nach menschlicher Berechnung in Rußland ein Debacle herbeiführen müssen. Damals, wo es noch kein „Amerika“ am Horizont gab, hätte man nach einem solchen Erfolg vielleicht den Krieg beendigen können. Allerdings hätten damals die Rumänen als Preis für ihre Kooperation eine ungarische Grenzrektifikation verlangt, die von Ungarn glatt refüsiert worden sei.
Es war mir nicht beschieden, mit der Waffe für das Vaterland zu kämpfen. Infolge eines Unfalles hatte ich seit dem Jahre 1893, also bei Kriegsausbruch seit 21 Jahren, keine militärische Übung mehr gemacht und im Jahre 1899 als dauernd untauglich meine Entlassung als Reserveoffizier erhalten. Unter diesen Umständen mußte ich mich damit bescheiden, in dem Krieg, der von Anfang an nicht nur ein Krieg der Waffen, sondern auch ein Kampf der Finanzen und Volkswirtschaften war, auf dem Platze, auf den mich mein Lebensweg geführt hatte, mein Bestes zu tun.
Es waren keine kleinen Anforderungen, die der Krieg, namentlich in seinen ersten Wochen, an die Banken und ihre Leitungen stellte. Es hieß den Kopf oben behalten und mit äußerster Anspannung der Nerven und der Arbeitskraft die Vorkehrungen und Verfügungen treffen, die nicht nur für die Erhaltung des Kredits und der Zahlungsfähigkeit des eigenen Instituts, sondern auch für die [112] Erhaltung der finanziellen Grundlagen unserer gesamten Volkswirtschaft erforderlich waren. Es hieß gleichzeitig mitwirken an der Schaffung der Grundlagen unserer finanziellen Kriegführung und an dem Aufbau der Einrichtungen und Organisationen, die für die Mobilmachung unserer gesamten Volkswirtschaft und die Einstellung unseres Wirtschaftslebens auf den Krieg erforderlich waren.
Auch über meinen unmittelbaren Pflichtenkreis hinaus wurde ich von der Regierung und Obersten Heeresleitung herangezogen. So wurde ich alsbald nach der Besetzung Brüssels in das Große Hauptquartier gerufen und von dort nach Belgien gesandt, um dem zum Generalgouverneur ernannten Generalfeldmarschall von der Goltz und dem ihm als Chef der Zivilverwaltung beigegebenen Regierungspräsidenten von Sandt bei der Einrichtung der Okkupationsverwaltung, insbesondere bei der Ordnung der finanziellen Angelegenheiten (Bankenkontrolle, Kontributionsfrage usw.) behilflich zu sein.
Im Dezember 1914 stellte mich der Reichskanzler von Bethmann Hollweg vor die Frage, ob ich bereit sei, die Leitung des Reichsschatzamtes zu übernehmen. Er brauche an der Spitze der Reichsfinanzverwaltung einen Mann, der nicht nur mit dem deutschen Wirtschaftsleben, sondern auch mit den Finanzen und der Wirtschaft unserer Verbündeten, unserer Feinde und des neutralen Auslandes vertraut sei und außerdem über eine ungebrochene [113] Arbeitskraft verfüge. Er schätze die Person und die Verdienste des Reichsschatzsekretärs Kühn sehr hoch; aber Herr Kühn habe selbst wiederholt angedeutet, daß sein Alter und seine Gesundheit den durch den Krieg gewaltig gesteigerten und von Grund aus veränderten Anforderungen seines Amtes nicht mehr gewachsen seien.
Das Angebot des Kanzlers kam mir völlig überraschend. Der Gedanke widerstrebte mir, meine in mehr als achtjähriger Tätigkeit mir liebgewordene, mich ausfüllende und mich befriedigende Wirksamkeit in der Leitung der Deutschen Bank mit einer neuen, in wichtigen Teilen mir bisher recht fernliegenden Aufgabe zu vertauschen und meine freie Stellung gegen ein von Kanzler und Parlament abhängiges Staatsamt aufzugeben. Ich brachte andere Persönlichkeiten in Vorschlag, von denen ich annehmen durfte, daß sie der Aufgabe ebensogut und besser gewachsen sein würden als ich. Der Kanzler hatte gegen jeden meiner Vorschläge eine Einwendung, wollte auch alle die von mir genannten Namen mit seinen Beratern, insbesondere dem Reichsbankpräsidenten Havenstein, bereits diskutiert haben. Der einzige, der außer mir in Frage käme und den auch ich in erster Linie vorschlug, der Reichsbankpräsident selbst, habe in Rücksicht auf seinen geschwächten Gesundheitszustand auf das bestimmteste abgelehnt; er, der Kanzler, müsse von mir das Opfer verlangen. „Betrachten Sie das Reichsschatzamt als Ihren Schützengraben!“
Nach kurzer Bedenkzeit erklärte ich mich bereit, dem Wunsche des Kanzlers zu entsprechen. Am 1. Februar 1915 trat ich das neue Amt an.
Was mir an meiner neuen Behörde — in Erinnerung an die Erfahrungen aus meiner früheren Tätigkeit in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes — am wenigsten sympathisch war, das war der stark ausgeprägte Geist der Negation. Die für eine staatliche Finanzverwaltung bequemste Sparsamkeit, aber auch die zweischneidigste Sparsamkeit, ist der wahllose Widerstand gegen neue Ausgaben. Diese Art Sparsamkeit war mir in wenig angenehmem Gedächtnis. Große Unterlassungssünden, namentlich auf dem Gebiete des kolonialen Eisenbahnbaues und des militärischen Schutzes, die sich späterhin auch finanziell bitter rächten, hatten ihre Wurzel darin, daß die Bewilligungsscheu des Reichstages im Reichsschatzamt einen stillen, aber wirksamen Verbündeten besaß. Daß auch der Krieg die alte Tradition nicht ohne weiteres fortgeschwemmt hatte, davon konnte ich mich bald überzeugen. In den ersten Tagen meiner Amtstätigkeit wurde mir ein Schreiben an eine andere Behörde vorgelegt, in dem die Bewilligung der Gelder für einen mir durchaus vernünftig und notwendig erscheinenden Zweck kurzerhand abgelehnt wurde. Ich bat den Herrn, der die Sache bearbeitet hatte, um eine Begründung seines ablehnenden Standpunktes und erhielt die klassische Antwort: „Wir lehnen solche neuen Anträge grundsätzlich zunächst [115] einmal ab. Ist die Angelegenheit wirklich dringend, dann kommt die betreffende Behörde schon auf die Sache zurück, und dann kann man sich's überlegen.“
Ich suchte von Anfang an den Rahmen für die Tätigkeit des Reichsschatzamtes weiter zu spannen, als es der Überlieferung entsprach, und die im Kriege doppelt notwendige Sparsamkeit nicht so sehr in der grundsätzlichen Beschneidung der Anträge der anderen Ressorts, als vielmehr in der positiven Mitarbeit an der finanziell und wirtschaftlich zweckmäßigen Gestaltung des Notwendigen zu verwirklichen.
Schon in den Tagen meiner Vorbereitung für das neue Amt erhielt ich Gelegenheit, diese Auffassung meiner Aufgabe in einer Angelegenheit von außerordentlicher Bedeutung für Kriegführung und Volksernährung zu betätigen: in der Stickstofffrage .
Gewaltige Mengen von Stickstoffverbindungen wurden benötigt, einmal für Pulver und sonstige Sprengstoffe aller Art, ferner als unentbehrliches Düngemittel für die Erhaltung eines einigermaßen ausreichenden Ertrages unseres heimischen Bodens.
Unser Inlandsverbrauch an Stickstoffverbindungen hatte im letzten Friedensjahr rund 1400000 Tonnen mit einem [116] Gehalt an reinem Stickstoff von rund 240000 Tonnen betragen; davon wurden etwa 200000 Tonnen in der Landwirtschaft und 40000 Tonnen in der Industrie verbraucht. Unsere heimische Erzeugung von Stickstoffverbindungen war zwar in den letzten Jahrzehnten gewaltig gestiegen; die Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak als Nebenprodukt der Kokerei, unsere vor dem Kriege weitaus wichtigste Stickstoffquelle, war von rund 90000 Tonnen im Jahre 1893 auf rund 500000 Tonnen im Jahre 1913 gebracht worden. Aber trotzdem deckte die einheimische Erzeugung von Stickstoffverbindungen auch im Jahre 1913 nicht einmal die Hälfte des Inlandsverbrauches. Die größere Hälfte wurde aus dem Ausland bezogen, und zwar ganz überwiegend in der Form von Chilesalpeter.
Der Krieg brachte eine enorme Steigerung unseres Bedarfs und eine ebenso enorme Einschränkung unserer Versorgung. Der Stickstoffbedarf für militärische Zwecke überstieg sofort um ein Vielfaches die Mengen, die in Friedenszeiten von der Sprengstoffindustrie verbraucht wurden. Auf der anderen Seite kam die Zufuhr von Chilesalpeter, die in Friedenszeiten etwa die Hälfte unsres Gesamtbedarfs gedeckt hatte, mit dem Kriegsausbruch völlig in Wegfall, und die heimische Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak aus dem Kokereiprozeß erfuhr mit dem scharfen Rückgang der Kohlenförderung und Eisenerzeugung, der mit Kriegsausbruch einsetzte und nur allmählich überwunden werden konnte, gleichfalls eine starke Einschränkung. Es [117] war mit einem Ausfall von nicht weniger als zwei Dritteln unserer Friedensversorgung an Stickstoff zu rechnen. Der Zeitpunkt, in dem die vorhandenen Läger aufgebraucht sein würden, war abzusehen; die heimische Produktion an Stickstoffverbindungen hätte für die Landwirtschaft so gut wie nichts übriggelassen und selbst die Deckung des in gewaltigen Sprüngen anwachsenden militärischen Bedarfs nicht entfernt ausreichend gesichert.
Glücklicherweise waren Ersatzmöglichkeiten für die überseeischen Zufuhren vorhanden, und zwar in den von deutschen Gelehrten ausgearbeiteten Verfahren zur Gewinnung stickstoffhaltiger Verbindungen aus den unerschöpflichen Vorräten der Luft. In Betracht kamen einmal das von Geheimrat Haber erfundene Verfahren der synthetischen Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak, das von der Badischen Anilin- u. Sodafabrik in Ludwigshafen a. Rh. praktisch erprobt worden war; ferner das Frank-Carosche Verfahren zur Herstellung von Kalkstickstoff, nach dem in Werken zu Trostberg in Oberbayern und zu Knapsack bei Köln a. Rh. gearbeitet wurde. Die Produktion der Ludwigshafener Fabrik an schwefelsaurem Ammoniak betrug im letzten Friedensjahr etwa 30000 Tonnen mit einem Gehalt an reinem Stickstoff von rund 6000 Tonnen, die Produktion des Trostberger und des Knapsacker Werkes erreichte je 25000 Tonnen Kalkstickstoff mit einem Reingehalt von rund je 5000 Tonnen. Die Ludwigshafener Fabrik hatte noch im Frieden den [118] Ausbau ihres Stickstoffwerkes auf eine jährliche Leistungsfähigkeit von 150000 Tonnen schwefelsauren Ammoniaks in Angriff genommen.
Die vitale Bedeutung der Stickstofffrage mußte in die Augen springen. Die Heeresverwaltung und das preußische Landwirtschaftsministerium drängten auf den Abschluß von Vereinbarungen, die eine sofortige und ausgiebige Steigerung der einheimischen Stickstoffgewinnung sichern sollten. Die im Besitz der Verfahren befindlichen Unternehmungen stellten sich zur Verfügung und machten Vorschläge für die Aufbringung und Sicherstellung der sehr erheblichen Kapitalien, die zum Zweck der Errichtung der großen, die vorhandenen Stickstoffwerke um ein Vielfaches übertreffenden Neuanlagen zu investieren waren. Die Verhandlungen stießen auf allerlei Schwierigkeiten, namentlich in der Frage der Gewährleistung gegen den Verlust des in den neuen Fabriken festzulegenden Kapitals bei der Wiederkehr der Friedensverhältnisse und in der Frage der Normierung von Höchstpreisen für die Stickstoffverbindungen. Erst im Dezember 1914 kamen Verträge mit Ludwigshafen und Knapsack zustande, die gegen Gewährung von Darlehen des Reiches und Preußens eine Erhöhung der Produktion um 45000 Tonnen reinen Stickstoff vorsahen. Damit war aber nur erst der Heeresbedarf nach der damaligen, sich späterhin als viel zu niedrig erweisenden Schätzung annähernd gesichert, während für die durch den Stickstoffmangel auf das Schwerste bedrohte [119] Landwirtschaft noch nichts vorgesorgt war. Die Verhandlungen mit den Bayrischen Stickstoffwerken, in denen das Landwirtschaftsministerium eine Sicherung des Bedarfs an Stickstoffdüngemitteln erstrebte, waren auf dem toten Punkt: Die Stickstoffwerke verlangten für ihre Neuproduktion eine fünfzehnjährige Absatzgarantie zu einem wesentlich unter den Friedenspreisen liegenden Satze, die landwirtschaftlichen Vereinigungen waren aus sich heraus für die Übernahme einer solchen Absatzgarantie nicht stark genug, und die Finanzverwaltungen Preußens und des Reiches weigerten sich kategorisch, ihrerseits eine Absatzgarantie zu übernehmen; — sie waren auf Grund der Kriegskredite formal wohl zur Leistung von Ausgaben für Kriegszwecke, nicht aber zur Übernahme von Garantien befugt!
Als meine Ernennung zum Staatssekretär des Reichsschatzamts feststand, besuchten mich der preußische Landwirtschaftsminister Freiherr von Schorlemer und der preußische Finanzminister Herr Lentze, um mir die geradezu verzweifelte Lage der Stickstoffversorgung der Landwirtschaft darzulegen und sich meiner Unterstützung bei der Überwindung dieses Notstandes zu versichern. Die Situation war mir bereits bekannt, und ich war entschlossen, nicht nur meinerseits die Initiative zu der notwendigen weiteren Steigerung unserer Stickstoffgewinnung zu nehmen, sondern auch dem Reich in diesem neuen, nationalwirtschaftlich unschätzbar wichtigen und finanziell aussichtsreichen Industriezweige eine starke Position zu schaffen. Am Tage [120] nach meiner Besprechung mit den beiden Ministern, am 23. Januar 1915, fand, durch diese veranlaßt, eine Besprechung der beteiligten Ressortchefs statt, an der ich neben meinem noch amtierenden Vorgänger teilnahm. Ich entwickelte den Gedanken, daß die Reichsfinanzverwaltung durch die Bayrischen Stickstoffwerke eine große Kalkstickstoff-Fabrik für das Reich bauen lassen und gleichzeitig mit den Bayrischen Stickstoffwerken einen Betriebsvertrag abschließen solle, letzteren auf der Grundlage, daß der gesamte über einen bestimmten Satz für das Kiloprozent Kalkstickstoff hinaus erzielte Bruttoerlös dem Reich zufließen und dieses außerdem an dem verbleibenden Reingewinn aus dem Betriebe mit einem angemessenen Anteil beteiligt werden sollte. Dadurch wollte ich der betriebführenden Firma die Möglichkeit nehmen, eine Steigerung ihrer Gewinne in hohen Verkaufspreisen zu suchen, sie vielmehr darauf hinweisen, ihre Gewinnaussichten lediglich in Verbilligungen der Produktion zu erblicken, was ihr einen möglichst starken Anreiz zur technischen Vervollkommnung ihres Verfahrens geben mußte. Ich schlug ferner vor, durch ein Reichsgesetz dem Bundesrat die Ermächtigung zur Einführung eines Stickstoff-Handelsmonopols geben zu lassen, um die Position des Reiches in der Stickstoffindustrie zu verstärken und gleichzeitig eine Waffe gegen eine nach Friedensschluß zu erwartende Bedrohung der deutschen Stickstoffindustrie vom Auslande her rechtzeitig bereitzustellen.
Meine Vorschläge fanden die Zustimmung der Ressortchefs. Auch der Reichskanzler trat ihnen bei.
Auf dieser Grundlage schloß ich in den ersten Wochen meiner Amtsführung Verträge mit den Bayrischen Stickstoffwerken ab, in denen der schleunige Bau zweier Reichswerke mit einer jährlichen Leistungsfähigkeit von insgesamt 225000 Tonnen Kalkstickstoff und gleichzeitig die Bedingungen des Betriebs dieser Anlagen durch die Bayrischen Stickstoffwerke nach den von mir vorgeschlagenen Grundsätzen vereinbart wurden. Ferner verpflichteten sich die Bayrischen Stickstoffwerke zu einer Vergrößerung ihrer eigenen Fabrik in Trostberg. Außerdem schloß ich mit den Lonzawerken in Waldshut (Baden) einen Vertrag über die Errichtung eines weiteren Kalkstickstoffwerkes ab, und zwar gegen Gewährung eines Darlehns und mit der Auflage der Überlassung der gesamten Produktion zu bestimmten Preisen an das Reich oder den vom Reiche zu bezeichnenden Abnehmer. Insgesamt sollte durch diese Verträge die deutsche Stickstoffgewinnung eine Erhöhung um 300000 Tonnen Kalkstickstoff, gleich 60000 Tonnen reinen Stickstoffs, erfahren.
Die Ausführung wurde sofort in Angriff genommen. Schon während die Verhandlungen noch schwebten, waren die Stickstoffwerke ermächtigt worden, alle für den Bau der neuen Anlagen erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. Trotz der großen Schwierigkeiten in der Beschaffung von Arbeitskräften, Maschinen, Metallen und anderen [122] Rohstoffen gelang es, die beiden Reichswerke in den Monaten Januar und Februar des Jahres 1916 in Betrieb zu bringen. Da mit den Bauarbeiten erst im März und April 1915 hatte begonnen werden können, hatten also 9 bis 10 Monate Bauzeit genügt, um die gewaltigen Neuanlagen fertigzustellen.
Um von der Größe der in so kurzer Zeit für das Reich geschaffenen Werke einen Begriff zu geben:
Das Reichswerk Piesteritz bei Wittenberg a. d. Elbe, das für eine Jahresgewinnung von 150000 Tonnen Kalkstickstoff vorgesehen war, umfaßte nach dem ursprünglichen, inzwischen noch erheblich vergrößerten Ausmaß eine bebaute Fläche von 12½ Hektar. Sein jährlicher Elektrizitätsverbrauch war auf 500 Millionen Kilowattstunden berechnet; das ist rund doppelt so viel, wie die gesamte von den Berliner Elektrizitätswerken im Jahre 1914/15 nutzbar abgegebene elektrische Energie. Die Elektrizität wird in dem Bitterfelder Braunkohlenrevier erzeugt, mit einem Tagesverbrauch von 4400 Tonnen Braunkohle, und auf einer 22 km langen Doppelleitung mit einer Spannung von 80000 Volt zum Piesteritzer Werk geleitet, wo der Strom mit den größten Transformatoren, die bis dahin in der ganzen Welt gebaut worden waren, zunächst auf 6000 Volt, dann auf die Betriebsspannung umgeformt wird. Die elektrische Energie wurde den Reichswerken zum Satz von 1 Pfennig auf Grundlage der damaligen Kohlenpreise gesichert. Dieser Satz ist billiger, als er jemals zuvor in Deutschland für aus Kohle gewonnene [123] elektrische Energie gezahlt worden ist. Der tägliche Verbrauch des Werkes an Kalk war auf 300 Tonnen, an Koks auf 180 Tonnen berechnet. Kalk und Koks werden in mächtigen Öfen in starkem elektrischen Strom zu Karbid verarbeitet. Der Kalkstickstoff wird gewonnen durch die Verbindung des Luftstickstoffs mit dem gepulverten Karbid. Die Gewinnung des Luftstickstoffs erfolgt in Piesteritz auf zwei Wegen. Einmal durch Verflüssigung von Luft und Trennung des Sauerstoffs vom Stickstoff nach dem Linde'schen Verfahren; dann in einer Ersatzanlage, in der nach dem Verfahren von Frank-Caro Generatorgas mit Luft verbrannt und das entstehende Gemisch von Kohlensäure und Stickstoff in seine beiden Bestandteile zerlegt wird. Nach dem ursprünglichen Plane lieferte die Linde-Anlage stündlich 90000 Liter flüssige Luft und 9000 Raummeter Stickstoff, die Frank-Caro-Anlage stündlich 3000 Raummeter Stickstoff. An Kühlwasser verbraucht das Werk eine Menge, die dem Wasserverbrauch einer Stadt von 1,7 Millionen Einwohnern entspricht.
Die mit raschem Entschluß in Angriff genommene und über alle Kriegserschwernisse hinaus in so kurzer Zeit durchgeführte Errichtung der Reichswerke, deren Produktion schon der Frühjahrsbestellung des Jahres 1916 zugutekam, hat unsere Ernährungswirtschaft vor einer Katastrophe bewahrt. Aber der Heeresbedarf an Stickstoff wuchs in solchen Progressionen, daß die Reichswerke alsbald auch für die Sprengstoffherstellung herangezogen [124] werden mußten. Ich habe in der ersten Zeit des Krieges Schätzungen gehört, die den militärischen Bedarf an etwa 20%igen Stickstoffverbindungen auf 12000 bis 15000 Tonnen für den Monat bezifferten. Als ich in die Lage kam, über die Stickstoffbeschaffung zu verhandeln, war bereits von erheblich größeren Mengen die Rede. Zu Beginn des Jahres 1916 wurde mir der militärische Monatsbedarf auf etwa 40000 Tonnen beziffert, und schließlich sind wohl 100000 Tonnen im Monat erreicht und überschritten worden. Diese Entwicklung zwang mich und später meinen Nachfolger im Reichsschatzamt, den Grafen Rödern, für immer neue Erweiterungen und Neuanlagen zu sorgen, die leider zum Schaden der Landwirtschaft immer wieder von den alle Erwartungen weit übertreffenden Neuanmeldungen der militärischen Stellen überholt wurden. Soweit meine Kenntnis reicht, ist während des Krieges die deutsche Stickstoffgewinnung auf einen Umfang gebracht worden, der die gesamte Vorkriegsproduktion von Chilesalpeter (2,1 Millionen Tonnen) übersteigt und nahezu das Doppelte des normalen deutschen Jahresverbrauches an Stickstoffverbindungen ausmacht.
Im Reichstag fand ich mit meinem Ermächtigungsgesetz für die Einführung eines Stickstoff-Handelsmonopols wenig Verständnis. Die Kommission, der die Vorlage überwiesen wurde, ließ sich lange und interessante Vorträge von Sachverständigen halten, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl gleichzeitig Interessenten und als solche dem [125] Handelsmonopol abgeneigt waren. Sie vertiefte sich in eine unfruchtbare und in der Hauptsache unberechtigte Kritik dessen, was noch in der allerletzten Stunde getan worden war, während eine berechtigte Kritik sich gegen das hätte richten müssen, was lange genug versäumt und unterlassen worden war. Ich wies vergeblich darauf hin, daß die neue, so ungemein wichtige Industrie durch den Zusammenschluß der chemischen Fabriken und die von diesen mit der Ammoniakvereinigung unserer Montanindustrie getroffenen Vereinbarungen auf dem besten Wege zum Privatmonopol war; ferner, daß unter englischer Führung eine Vertrustung sowohl der Chilesalpeter-Gewinnung wie auch der ausländischen Luftstickstoff-Industrie drohte. Die Notwendigkeit, dem Reich in der neuen Industrie eine nach innen und außen hinreichend gesicherte Position zu schaffen, wurde nur von einer Minderheit erkannt. Die Kommission konnte sich schließlich weder zu einer Zustimmung noch zu einer glatten Ablehnung aufschwingen, und ich mußte mich entschließen, den endgültigen Austrag der Frage, der angesichts der unabsehbar gewordenen Verlängerung des Krieges an Dringlichkeit verloren hatte, einer gelegeneren Zeit zu überlassen.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich gemacht, als ich bei Gelegenheit des Erwerbs der bisher von dem amerikanischen Tabaktrust abhängigen deutschen Zigarettenfabriken durch ein deutsches Konsortium dem Reich die Option auf diese etwa ein Viertel der deutschen Zigarettenproduktion [126] darstellenden Fabriken zum Einstandspreis mit einem geringfügigen Zuschlag sicherte, und zwar ohne das Reich für den Erwerb dieser Option auch nur mit einem Pfennig zu belasten. Auch hier, wo es sich darum handelte, das Reich in einer für ein ertragreiches Monopol reifen Industrie zunächst einmal Fuß fassen zu lassen, fand ich kein Verständnis, mußte mich vielmehr im Hauptausschuß des Reichstags dafür angreifen lassen, daß ich es vorgezogen hatte, dem Reich die Möglichkeit des billigen Erwerbs dieser Fabriken zu sichern, statt die Fabriken ihrer Konkurrenz auszuliefern.
Heute, im Bann des Schlagworts „Sozialisierung“, denkt man anders, bis zur Übertreibung ins entgegengesetzte Extrem. Man wird wohl gerade auch der Stickstoffindustrie weit radikaler zu Leibe gehen, als das in meinen Plänen lag. Jedenfalls aber glaube ich, daß der Typ des gemischtwirtschaftlichen Betriebs, wie ich ihn bei den Reichswerken für das Zusammenwirken von Reich und privatem Unternehmertum in einem einheitlichen Betrieb geschaffen habe, den Vorzug vor manchen anderen Formen der „Sozialisierung“ verdient. Er sichert dem Reich die Kontrolle des Betriebs und den Vorteil aus Preiserhöhungen, die in den Produktionskosten nicht begründet und nur infolge der monopolartigen Stellung des Unternehmens oder auf Grund von Preiskonventionen erzielbar sind; er läßt auf der andern Seite dem privaten Unternehmer weitgehende Freiheit in der Gestaltung des [127] Betriebs und einen starken Anreiz, durch Vervollkommnung von Technik und Organisation, die ihm allein gestattet, seinen Gewinn zu steigern, die Produktion zu verbilligen.
Ich habe die Stickstoff-Angelegenheit eingehender dargestellt einmal wegen ihrer großen Wichtigkeit für die Kriegführung und die Abwehr der Hungersnot, dann als Beispiel dafür, wie ich die Aufgabe der Reichsfinanzverwaltung auffaßte. In ähnlicher Weise bin ich auf verwandten Gebieten vorgegangen. Das Betätigungsfeld, das ich vorfand, war allerdings dadurch stark eingeengt, daß in den fünf Kriegsmonaten, die vor dem Beginn meiner Amtsführung lagen, die Zivilbehörden, und mehr als alle andern das Reichsschatzamt, die Initiative auf den die Kriegführung berührenden wirtschaftlichen Gebieten der sehr tatkräftigen Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums überlassen hatten, die dann, ohne sich viel um die Zivilressorts zu kümmern, ihren Weg ging. Da außerdem das Kriegsministerium, unbehindert durch irgendwelchen Widerspruch, das Recht für sich in Anspruch genommen hatte, über die vom Reichstag für die Zwecke des Krieges bewilligten Kredite frei zu verfügen, ohne für die einzelnen Ausgaben die Zustimmung der Reichsfinanzverwaltung einzuholen, so fehlte es dem Reichsschatzamt sogar an einer vollständigen Übersicht über das, was im Kriegsministerium auf diesem für die deutsche Volkswirtschaft und die Reichsfinanzen so wichtigen Gebiete unternommen [128] wurde. Der Krieg, der rasches Handeln fordert, duldet keine Verzögerung dringender Entschlüsse durch das Aufwerfen und Durchkämpfen von Kompetenzkonflikten. Ich suchte deshalb die notwendige Fühlung und Zusammenarbeit auf gütlichem Wege und durch die Bereitwilligkeit zu positiver und aktiver Mitarbeit herzustellen, wie sie meine Behörde in der Stickstoff-Angelegenheit geleistet hatte. Ich fand hierfür sowohl bei den Leitern des Kriegsministeriums wie auch bei der Kriegsrohstoffabteilung Verständnis. Von den später im Einvernehmen und Zusammenarbeiten mit der Heeresverwaltung in Angriff genommenen Aufgaben erwähne ich die Schaffung einer großen deutschen Aluminiumindustrie auf Grund der während des Krieges entwickelten neuen Verfahren, die eine wirtschaftliche Herstellung von Aluminium auch aus deutscher Tonerde gestatten, während bis dahin nur das aus dem Ausland, hauptsächlich aus Frankreich, bezogene Bauxit als verwendbar galt. Ich habe den Abschluß der schwierigen Verhandlungen infolge meines Übertritts zum Reichsamt des Innern allerdings meinem Nachfolger im Reichsschatzamt überlassen müssen.
Erwähnen möchte ich ferner die Mitwirkung des Reichsschatzamts bei der Schaffung der Handels-U-Boote, von denen die „Deutschland“ vor dem Ausbruch des Krieges mit den Vereinigten Staaten zwei erfolgreiche Fahrten nach Amerika gemacht hat, während ihr Schwesterschiff, die „Bremen“, auf der ersten Reise verschollen ist.
Die enorme Knappheit und Teuerung von Kautschuk, Nickel und einigen anderen Stoffen, von denen für Kriegszwecke an sich nicht sehr erhebliche Mengen, diese aber unbedingt erforderlich waren, veranlaßten mich, bei der Marine Erkundigungen darüber einzuziehen, ob nicht U-Boote für die Heranführung dieser Stoffe verwendet werden könnten. Ich dachte zunächst an eine Übernahme der Materialien von neutralen Schiffen auf hoher See. Dieser Weg erwies sich technisch und auch in Rücksicht auf die mit allen Mitteln arbeitende englische Überwachung als nicht gangbar. Der vergrößerte Aktionsradius unserer U-Boote, der sich in Fahrten durch die Straße von Gibraltar nach Konstantinopel so glänzend bewährt hatte, ließ mich die Frage aufwerfen, ob nicht ein Anlaufen amerikanischer Häfen, in denen Kautschuk und Nickel bereitgestellt werden konnten, durch U-Boote, die ad hoc zu desarmieren gewesen wären, sich ermöglichen lassen würde. Auch dieser Gedanke stieß auf Schwierigkeiten; einmal war nicht mit Sicherheit vorauszusehen, ob die Vereinigten Staaten ursprünglich als Kriegsfahrzeuge gebaute U-Boote als Handelsschiffe anerkennen und behandeln würden; vor allem aber erklärte Herr von Tirpitz, von den großen und leistungsfähigen U-Booten keines entbehren zu können. Es blieb also nur übrig, U-Boote von vornherein als Handelsschiffe zu bauen.
Meine Gedanken begegneten sich mit denen des Bremer Großkaufmanns Lohmann, der mich Anfang September 1915 [130] besuchte. Lohmann ließ auf Grund unserer Unterhaltung von der Weserwerft in Bremen Pläne für ein Handelstauchboot konstruieren. Die Pläne waren Anfang Oktober fertig und wurden dem Reichsmarineamt vorgelegt, dessen Einverständnis wegen der möglichen Konkurrenz mit dem Bau von Kriegstauchbooten erforderlich war. Es ergab sich, daß zu gleicher Zeit auf Veranlassung der Firma Krupp die Germaniawerft in Kiel Pläne für ein Handelstauchboot ausgearbeitet hatte. Die Pläne der Germaniawerft sahen eine größere Tonnage vor; außerdem konnte die Germaniawerft für zunächst zwei Handelstauchboote eine Fertigstellung schon für April und Mai 1916 in Aussicht stellen.
Risiko und Gewinnaussichten des Unternehmens waren ungewöhnlich groß. Das Risiko wurde dadurch erleichtert, daß sich die Firma Krupp bereit erklärte, eines der beiden U-Boote unentgeltlich zur Verfügung zu stellen lediglich unter der Bedingung, daß dieses U-Boot auf seinen zwei ersten Reisen gegen Zahlung einer hoch bemessenen Fracht eine bestimmte Menge Nickel, die für Krupp in Amerika lagerte, nach Europa befördere.
Zur Durchführung des Unternehmens wurde zwischen Herrn Lohmann und mir die Gründung der „Deutsche Ozean-Rhederei G. m. b. H.“ vereinbart. Das Reich nahm der Gesellschaft das Risiko ab und behielt sich andererseits die großen Gewinnaussichten vor.
Im Juni 1916 konnte die „Deutschland“ in aller Stille ihre erste Reise antreten. Das Geheimnis war [131] vollständig gewahrt worden. Die Ankunft der „U-Deutschland“ in Baltimore am 10. Juli erregte in der ganzen Welt Sensation. Die englische Anzweifelung des Charakters der „U-Deutschland“ als Handelsschiff fand keinerlei Handhabe. Die Rückreise vollzog sich ungestört.
Auf der Ausreise hatte die „U-Deutschland“ Farbstoffe geladen, deren Verkauf in Amerika einen Reingewinn in der mehrfachen Höhe des Einstandspreises des Tauchbootes erbrachte. Auf der Rückfahrt nahm das Tauchboot mehrere hundert Tonnen Kautschuk und Nickel mit. Allein die Differenz zwischen dem Einstandspreis des Kautschuks und dem Preis, der damals in Deutschland für Kautschuk bezahlt werden mußte, erreichte eine stattliche Anzahl von Millionen und übertraf noch erheblich den Gewinn der Ausfahrt. Vor allem aber war durch die eine Reise der dringende Heeresbedarf an Rohgummi und Nickel für eine größere Anzahl von Monaten gedeckt.
Es wurde, noch ehe die „U-Deutschland“ zurückgekommen war, der Bau von weiteren sechs Tauchbooten beschlossen. Die Kosten waren im voraus durch den Gewinn der ersten Reise gedeckt. Die neuen U-Boote kamen als Handelsschiffe nicht mehr zur Verwendung. Vor ihrer Fertigstellung erfolgte der Bruch zwischen der Union und Deutschland. Die Schiffe wurden nun als Kriegstauchboote ausgebaut.
Neben der tätigen Mitarbeit an der Durchführung kriegsnotwendiger Maßnahmen und Unternehmungen durfte die Sparsamkeit in der Ausgabewirtschaft nicht vernachlässigt werden. Die täglichen Nachweisungen über die Inanspruchnahme der Reichshauptkasse waren in ihren gewaltigen Ziffern, die immerzu den Drang nach oben zeigten, eine immer wiederkehrende Mahnung.
Als ich das Reichsschatzamt übernahm, beliefen sich die bis dahin — also in den ersten sechs Monaten des Krieges — entstandenen Ausgaben auf rund 8650 Millionen Mark. Der Monat August hatte infolge der außerordentlichen Ausgaben für die Mobilmachung allein 2047 Millionen beansprucht, der September eine Ausgabe von 970 Millionen Mark, — er blieb der einzige Kriegsmonat, dessen Ausgaben den Betrag einer Milliarde nicht überschritten. Schon der Oktober hatte eine Steigerung der Kriegsausgaben auf 1262 Millionen Mark gebracht. Die Ausgaben des Januar 1915 schlossen mit 1545 Millionen ab. Für den Februar war ein ähnlicher Betrag, für den März ein bereits erheblich höherer Bedarf angemeldet. In der Tat haben die Ausgaben des März den Betrag von 2 Milliarden Mark noch um 35½ Millionen überschritten und damit die Kosten des Mobilmachungsmonats nahezu erreicht.
Bei allem meinem Vertrauen in die finanzielle Kraft Deutschlands erfüllte mich diese Steigerung mit ernster [133] Sorge. Die erste Kriegsanleihe hatte rund 4½ Milliarden erbracht. Aber wenn auch diese Summe das Ergebnis aller bisher dagewesenen Anleiheoperationen weit übertraf, so deckte sie doch nur etwa die Kriegsausgaben der ersten drei Monate und nur etwas mehr als das Doppelte der Kriegsausgaben des einen Monats März 1915. Als ich am 1. Februar 1915 das Schatzamt übernahm, waren an unverzinslichen Schatzanweisungen bereits wieder 4365 Millionen Mark im Umlauf, und dieser Umlauf stieg bis Ende März 1915 auf 7209 Millionen Mark. Auch wenn man für die im März 1915 aufgelegte zweite Kriegsanleihe ein noch wesentlich höheres Ergebnis erwartete, als es die erste Kriegsanleihe erbracht hatte, mußte man bei einem weiteren Steigen der monatlichen Kriegsausgaben mit einem für das finanzielle Durchhalten verhängnisvollen Anschwellen der Begebung von Schatzanweisungen und damit — da die Reichsbank der Hauptabnehmer war — mit einem lawinenartigen Anwachsen des Notenumlaufs, einer schrittweisen Wertverringerung unseres Geldes und einer entsprechenden Steigerung des allgemeinen Preisniveaus rechnen. Nur die peinlichste Sparsamkeit konnte einer solchen Entwicklung entgegenwirken.
Es war mir wie aller Welt bekannt, daß in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch die mit der Beschaffung von Heeresbedarf aller Art betrauten Stellen der Heeresverwaltung keineswegs überall sachgemäß vorgegangen waren, sondern vielfach geradezu kopflos gehandelt hatten. [134] Der dringende Bedarf gewaltigen Umfangs für Ausrüstung und Verpflegung unserer Truppen scheint in manchen darauf nicht vorbereiteten Bureaus geradezu eine Panik erzeugt zu haben. Unter dem Druck der Beschaffungsnotwendigkeit kam es zu der von mir späterhin überall auf das Schärfste bekämpften Parole: „Geld spielt keine Rolle“; es ist vorgekommen, daß den Lieferanten höhere Preise angeboten worden sind, als sie ihrerseits zu fordern sich für berechtigt hielten. Unter dem gleichen Drucke haben manche Beschaffungsstellen, statt mit dem Produzenten oder dem regulären Handel in Verbindung zu treten, sich mit Gelegenheits-Zwischenhändlern übelster Sorte, wie der Krieg sie gleich Pilzen aus dem Boden schießen ließ, in Geschäfte eingelassen, die das Reich über Gebühr belasteten und nicht die erforderliche Gewähr für eine sachgemäße Lieferung boten. Auch die Organisation der Beschaffung des Heeresbedarfs ließ manches zu wünschen übrig; es kam vor, daß sich verschiedene Beschaffungsstellen gegenseitig Konkurrenz machten und sich, ohne es manchmal selbst zu wissen, die Preise in die Höhe boten.
In allen diesen Punkten war zu Anfang des Jahres 1915 bereits vieles besser geworden. Nach der Aufregung und dem Durcheinander der ersten Mobilmachungszeit war Ruhe und Ordnung wieder eingekehrt. Die Organisation der Beschaffung war vervollkommnet worden. Namentlich auf dem Gebiete der Beschaffung von Nahrungs- und [135] Futtermitteln für die Armee hatte die schon im Laufe des August 1914 ins Leben gerufene Zentralstelle für Heeresverpflegung für eine sachgemäße und einheitliche Behandlung dieses gewaltigen Einkaufsgeschäftes gesorgt. Auch auf den übrigen Gebieten wurden neue Verträge gründlich geprüft und eine Nachprüfung der alten Verträge in die Wege geleitet, der Gelegenheits-Zwischenhandel nach Möglichkeit ausgeschaltet und direkte Abschlüsse mit den Produzenten angestrebt. Es war natürlich für die Finanzverwaltung unmöglich, alle die Abschlüsse und Geschäfte der Heeresverwaltung im einzelnen mitzubearbeiten oder auch nur zu kontrollieren; dazu hätte ein Heer von Beamten gehört, über das ich nicht verfügte und das in den Verhältnissen des Krieges auch nicht zu beschaffen war; außerdem hätte der Versuch zu einer kaum zu verantwortenden Erschwerung und Verschleppung der meist dringlichen Geschäfte geführt. Es blieb also nur eine allgemeine Einwirkung im Sinne einer zweckmäßigen Organisation und sachgemäßen Behandlung der Beschaffung des Heeresbedarfs, sowie die Mitarbeit bei einzelnen wichtigen Verträgen und die Kontrolle durch gelegentliche Stichproben.
Darüber hinaus betrachtete ich es als meine Aufgabe, die maßgebenden militärischen Stellen von der zwingenden Notwendigkeit einer eisernen Sparsamkeit zu überzeugen. Der verhängnisvolle Grundsatz: „Geld spielt keine Rolle“ mußte vom Kopfe her ausgebrannt werden. Nachdem [136] ich eine hinreichende Übersicht über die Verhältnisse gewonnen hatte, reiste ich Ende April 1915 in das Große Hauptquartier, um dort mit dem Chef des Generalstabs, dem Kriegsminister, dem Generalquartiermeister und dem Generalintendanten des Feldheeres über die Möglichkeiten der Erzielung von Ersparnissen zu beraten. Wir kamen in mehrtägiger Beratung zu dem Ergebnis, daß sowohl bei den sachlichen wie namentlich auch bei den persönlichen Ausgaben eine strengere Sparsamkeit sich ohne Beeinträchtigung der Kriegführung durchführen lasse. Insbesondere die offensichtlich auf einen kurzen Krieg zugeschnittene Kriegsbesoldungsordnung und ihre Anwendung bot Spielraum zu geldersparenden Korrekturen. Aber auch in der Materialwirtschaft wurde vielfach noch gar zu sehr aus dem Vollen geschöpft. Ich konnte in dieser Beziehung aus meinen Besuchen an der Front und vor allem aus einer Besprechung mit dem früheren Kriegsminister, General von Einem, damals Führer der Champagne-Armee, wertvolle Anregungen gewinnen.
Daß meine Bemühungen nicht ganz ohne Erfolg waren, zeigt die Entwicklung der Kriegsausgaben. Ich habe das Schatzamt verwaltet vom 1. Februar 1915 bis zum 1. Juni 1916. Die Ausgaben im März 1915 stellten sich, wie ich bereits erwähnte, auf 2035,5 Millionen Mark. In den meisten der folgenden Monate blieben die Ausgaben hinter dem Betrage von 2 Milliarden Mark zurück. Im März 1916 beliefen sie sich auf 2059 Millionen, also nur wenig [137] höher, als ein Jahr zuvor. Die folgenden Monate April und Mai erforderten 1,884 und 2,008,5 Milliarden Mark. Die Ausgaben sind also in den sechzehn Monaten meiner Verwaltung nicht irgendwie nennenswert weiter angewachsen: und dieses Ergebnis ist erzielt worden trotz der Ausdehnung der Kriegsschauplätze, trotz der weiteren Vermehrung des Effektivbestandes unserer Truppen, trotz der gestiegenen Preise für Nahrungsmittel und Rohstoffe und trotz der starken Ausdehnung der Fabrikation von Kriegsgerät und Munition.
Ich muß dabei hervorheben, daß ich niemals auch nur in einem einzigen Fall Wünschen oder Absichten des Kriegsministeriums auf Beschaffung von Kriegsgerät oder Munition entgegengetreten bin. Die Beurteilung des in dieser Beziehung für die erfolgreiche Führung des Krieges Notwendigen konnte ich um so beruhigter der ausschließlichen Verantwortung der zuständigen militärischen Stellen überlassen, als die an mich herantretenden Anträge den Rahmen unserer finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in jener ersten Phase des Krieges nicht überschritten. Nur ein einziges Mal bin ich als Reichsschatzsekretär in die Lage gekommen, einer unsere militärische Ausrüstung betreffenden Absicht Widerspruch entgegensetzen zu müssen, und dieser eine Fall ging nicht das Landheer an, sondern die Marine. Im Herbst 1915 wollte das Reichsmarineamt auf kaiserliche Anordnung für einen gesunkenen Kreuzer ein großes modernes Schlachtschiff [138] in Auftrag geben. Bei der auf drei bis vier Jahre veranschlagten Bauzeit war die Wahrscheinlichkeit, daß dieser kostspielige Neubau noch für den Krieg von Nutzen sein könnte, zum mindesten zweifelhaft. Außerdem hätte der Neubau große Anforderungen an die knappen Arbeitskräfte und Materialien gestellt und diese dem für alle Eventualitäten notwendigen U-Bootbau entzogen. Infolgedessen verweigerte ich meine Zustimmung und der Neubau unterblieb. Im übrigen habe ich den verantwortlichen militärischen Behörden für die Ausrüstung des Heeres mit Kriegsgerät und Munition durchaus freien Spielraum gelassen; in wichtigen Fällen, so in der Frage der Stickstoffbeschaffung und der Handelstauchboote, bin ich aus eigener Initiative, ohne militärische Anträge abzuwarten, mit Maßnahmen und Ausgaben vorgegangen, die der Kriegführung wesentlich zugutekamen.
Ich stelle diesen Sachverhalt hier fest, um einer Legendenbildung entgegenzutreten, die sich später, zur Zeit der Beratung des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst, herausgebildet hat. Damals wurde ausgestreut — ich habe nicht ermitteln können, von welcher Seite — die unbefriedigenden Zustände in der Munitionserzeugung, die sich um die Mitte des Jahres 1916 herausgestellt hatten, seien auf Geldverweigerungen des Reichsschatzamts zurückzuführen. Ich habe damals schon im Hauptausschuß des Reichstags in Gegenwart der Vertreter der für die Munitionsbeschaffung zuständigen militärischen Stellen [139] dieselbe Feststellung gemacht wie hier, daß in keinem einzigen Fall die Beschaffung von Kriegsgerät und Munition durch ein Eingreifen des Schatzamtes verhindert oder auch nur verzögert worden ist. Auf die tatsächlichen Zustände in der Munitionserzeugung um die Mitte des Jahres 1916 komme ich weiter unten im Zusammenhang mit dem Vaterländischen Hilfsdienst zurück.
Die ungeheuren Kosten des Krieges, die bisher in der Geschichte der Völker auch nicht annähernd ihresgleichen hatten — überschritt doch bereits im Jahre 1915 die durchschnittliche Monatsausgabe Deutschlands die deutschen Gesamtaufwendungen für den Krieg von 1870/71 — stellten die Finanzpolitik der kriegführenden Völker vor ganz neue Aufgaben und Probleme. Der gesamte Umlauf an metallischen und papiernen Zahlungsmitteln in Deutschland bewegte sich vor dem Kriege zwischen 4 und 5 Milliarden Mark. Der Krieg machte schon im Jahre 1915 die monatliche Beschaffung und Verausgabung von 2 Milliarden Mark erforderlich, ein Betrag, der gegen Ende des Krieges auf nahezu 5 Milliarden Mark angewachsen ist. Das gesamte jährliche Volkseinkommen Deutschlands hatte vor dem Kriege einen Betrag von 42 bis 45 Milliarden Mark erreicht. Die Kriegsausgaben [140] des Jahres 1915 stellten sich auf rund 23 Milliarden Mark, die Kriegsausgaben des Jahres 1918 auf 50,2 Milliarden Mark. Diese Gegenüberstellung läßt ermessen, was die Beschaffung und Verausgabung der für den Krieg erforderlichen Gelder für die deutsche Finanzwirtschaft und Volkswirtschaft bedeutete.
Drei grundsätzlich verschiedene Wege standen den kriegführenden Staaten zur Aufbringung der Mittel für die Kriegführung zur Verfügung und sind von allen kriegführenden Staaten gleichzeitig benutzt worden, allerdings in verschiedenem Maße und in einem sich während des Krieges erheblich verschiebenden Verhältnis:
1. Die Schaffung neuer Kaufkraft zugunsten des Staates im Weg des unmittelbaren Druckes von Papiergeld oder der Begebung von Schatzanweisungen gegen die Ausgabe neuer Banknoten oder gegen die Schaffung neuer Guthaben.
2. Die Aneignung vorhandener Kaufkraft durch den Staat im Wege der Begebung von Anleihen gegen vorhandene Zahlungsmittel.
3. Die Aneignung vorhandener Kaufkraft durch den Staat im Wege der Erhebung von Steuern.
Der erste Weg ist der bequemere aber gefährlichere; der zweite und namentlich der dritte Weg ist schwieriger aber gesunder. Der erstere Weg führt notwendigerweise zu einer sich fortgesetzt steigernden Überfüllung des Verkehrs mit Zahlungsmitteln (Inflation) und zu einer in der sich überstürzenden Steigerung aller Preise zum Ausdruck kommenden [141] Entwertung des Geldes. Der zweite Weg vermeidet diese Gefahr, aber er belastet, ebenso wie der erste, die Zukunft. Der dritte Weg schließlich, der sowohl die Inflation, wie auch die Belastung der Zukunft vermeidet, führt über solche Widerstände und Hemmungen wirtschaftlicher und politischer Natur, daß kein kriegführender Staat auf diesem Wege allein seinen Kriegsbedarf auch nur annähernd hat decken können.
Alle kriegführenden Staaten sahen sich zunächst auf den Weg der Schaffung neuer Kaufkraft für den Kriegsbedarf gedrängt. In der Hauptsache nahmen sie ihre Zentralbanken durch die Diskontierung kurzfristiger Schatzscheine gegen Noten oder Gutschrift in Anspruch. Sie konnten nicht anders; denn die gewaltigen Zahlungen für die Mobilmachung mußten geleistet werden, während die Geldmärkte in der ersten Panik die schwerste Klemme durchmachten, also Bargeld nicht nur nicht abgeben konnten, sondern für sich selbst benötigten.
Hunderte von Millionen, ja Milliarden neuen Geldes ergossen sich also in den ersten Wochen des Krieges über die Volkswirtschaft. Alles, was für das Heer zu liefern hatte, wurde bar bezahlt. Auf dem Wege über die Arbeitslöhne und die Gebührnisse für Offiziere und Mannschaften drang der neue Geldstrom bis in die kleinsten Kanäle des Verkehrs. Die Geldklemme der ersten Kriegstage wurde bald durch eine wachsende Geldflüssigkeit abgelöst. Wenn einer bedenklichen Inflation vorgebeugt werden [142] sollte, dann mußte durch eine Änderung der Geldbeschaffung der allzu reichlich fließende Quell der papiernen Scheine verstopft und die Hochflut neuer Zahlungsmittel aufgesaugt werden.
Die Begebung langfristiger Anleihen und die Ausschreibung neuer Steuern standen zu diesem Zweck zur Verfügung.
Man wählte bei uns den Weg der Anleihe (September 1914) und erzielte mit einem Zeichnungsergebnis von fast 4½ Milliarden Mark den bereits geschilderten Erfolg.
Als ich das Schatzamt Anfang Februar 1915 übernahm, war der Etatsentwurf für das kommende Rechnungsjahr im wesentlichen fertiggestellt. Es war darin ein neuer — dritter — Kriegskredit von abermals 5 Milliarden Mark vorgesehen, den ich auf 10 Milliarden Mark erhöhte. Steuern waren nicht vorbereitet. Der Reichsbankpräsident schlug mir für den März die Ausgabe einer zweiten Kriegsanleihe vor.
Mit dieser Situation hatte ich mich zunächst abzufinden. Steuergesetze lassen sich nicht aus dem Ärmel schütteln, namentlich nicht in einem Bundesstaat. Bis zum Zusammentritt des Reichstags standen nur wenige Wochen zur Verfügung. Da der Reichsetat in seinen ordentlichen Einnahmen und Ausgaben infolge der Übernahme der gesamten Ausgaben für Heer und Marine auf den Kriegsfonds balancierte, ja sogar noch die Aufrechterhaltung der planmäßigen Schuldentilgung gestattete, konnte die [143] recht schwierige und umstrittene Frage der Kriegssteuern für dieses Mal auf sich beruhen bleiben. Um so mehr kam es darauf an, die Anleihe zu einem vollen Erfolge zu führen.
Der Erfolg unserer ersten Kriegsanleihe und ihre Kursentwicklung nach der Zeichnung — der Kurs stieg alsbald über den Ausgabekurs von 97½% und erreichte zeitweise 100% — hatten gezeigt, daß die Anleihebedingungen richtig gegriffen waren. Ein Vergleich mit England, dem einzigen kriegführenden Staat, der außer uns schon im Jahre 1914 mit einer großen Anleihe an das Publikum herantrat, mußte diesen Eindruck bestätigen. Bei uns hatte man sich sofort entschlossen, den Kriegsverhältnissen durch die Gewährung einer 5%igen Verzinsung Rechnung zu tragen. England, das zwei Monate nach uns, im November 1914, eine Anleihe im Betrage von 350 Millionen Pfund Sterling auflegte, gewährte nur eine 3½%ige Verzinsung bei einem Ausgabekurs von 95%. Die Anleihe wurde vom Publikum nicht voll genommen; die englischen Großbanken mußten sich am letzten Zeichnungstage unter dem sanften Druck der britischen Regierung entschließen, 100 Millionen für sich zu übernehmen, um wenigstens den Anschein eines Erfolges zu retten. Der Kurs der Anleihe ging alsbald unter den Ausgabekurs (95%) und sank im Frühjahr 1915 bis 87½% herab. Der Mißerfolg war eingetreten, obwohl die Bank von England den Zeichnern weit größere Erleichterungen gewährte, als unsere [144] Darlehnskassen. Die Bank von England erklärte sich bereit, die Kriegsanleihe sofort bis zur vollen Höhe des Ausgabekurses zu einem Satz von 1% unter Bankdiskont zu bevorschussen, während unsere Darlehnskassen Beleihungen nur bis zu 75% und zu einem Satz von ¼% über Bankdiskont vornahmen.
Sowohl der eigene Erfolg wie der britische Mißerfolg konnten uns also nur bestärken, an dem im September 1914 gewählten Anleihetyp festzuhalten. Das war auch die Meinung aller Sachverständigen aus der Bankwelt, den Sparkassen und Genossenschaften, mit denen ich mich alsbald nach Übernahme des Schatzamtes in Verbindung setzte.
Notwendig erschien aber eine weitere Ausgestaltung der Werbetätigkeit. Der Ertrag der ersten Anleihe von 4½ Milliarden Mark mußte, um unsere Kriegsfinanzen flottzuerhalten, ganz erheblich übertroffen werden. Dazu war es erforderlich, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit für die Anleihe zu interessieren. „Es gilt“ — so habe ich in meiner Antrittsrede im Reichstag ausgeführt — „dem ganzen Volk klarzumachen, daß dieser Krieg mehr als irgendein anderer zuvor nicht nur mit Blut und Eisen, sondern auch mit Brot und Geld geführt wird. Für diesen Krieg gibt es nicht nur eine allgemeine Wehrpflicht, sondern eine allgemeine Sparpflicht und eine allgemeine Zahlpflicht. Der Verschwender notwendiger Lebensmittel und der Mammonsknecht, der sich nicht von seinem [145] Gelde trennen kann, ist um kein Haar besser als der Deserteur, der sich seiner Wehrpflicht entzieht. Unser Ruf, der Ruf der finanziellen Kriegsleitung, geht an alle, an Groß und Klein, und Schande über jeden, der sich taub stellt!“
Der Gedanke der finanziellen Wehrpflicht mußte hunderttausendfältig den Köpfen eingehämmert werden. Das war durch einige Ministerreden allein nicht zu erreichen, auch wenn diese von dem Standort der größten Publizität, der Tribüne des Reichstags, gehalten wurden. Es bedurfte vielmehr einer weitverzweigten, wohlgegliederten und engmaschigen Organisation über das ganze deutsche Land. In dieser Beziehung mußten die im September 1914 geschaffenen Anfänge ausgebaut werden.
Zunächst wurde der Kreis der Zeichnungsstellen erweitert; neben den Banken, Sparkassen und Versicherungsgesellschaften wurden sämtliche Kreditgenossenschaften und Postanstalten als Zeichnungsstellen aufgetan. Dann wurde im Zusammenwirken mit den Landesregierungen die Aufklärungs- und Werbearbeit organisiert: die Landräte, die Gemeindevorsteher, die Geistlichen, die Lehrer, nicht zum wenigsten die Zeitungen wurden für diese Arbeit mobilgemacht. Merkblätter, die alles Wissenswerte über die Kriegsanleihen enthielten, wurden in Millionen von Exemplaren verbreitet; Mustervorträge und für die Werbearbeit in Betracht kommendes Material wurden den örtlichen Propagandaorganisationen überwiesen. [146] Es war für den Reichsbankpräsidenten und für mich eine Freude zu sehen, mit welchem patriotischen Eifer überall die Werbetätigkeit aufgenommen wurde, und wie sich allerorten freiwillige Mitarbeiter zur Verfügung stellten.
Der Erfolg übertraf alle Erwartungen.
Die zweite Kriegsanleihe erbrachte ein Ergebnis von 9100 Millionen Mark, also mehr als den doppelten Ertrag der ersten Kriegsanleihe.
Die im September 1915 ausgegebene dritte Kriegsanleihe erzielte sogar einen noch größeren Erfolg: der gezeichnete Betrag erreichte die Summe von 12160 Millionen Mark.
Insgesamt wurden also im Jahre 1915 rund 21260 Millionen Mark auf dem Anleiheweg aufgebracht, während die Kriegskosten des Jahres 1915 sich auf 22965 Millionen beliefen. Die Kriegskosten des Jahres 1915 wurden also bis auf einen nicht erheblichen Bruchteil durch den Ertrag der Anleihen des Jahres 1915 gedeckt. Für die zweite Hälfte des Jahres 1915 war das Verhältnis noch günstiger: die Kriegsausgaben stellten sich auf 12091 Millionen, der Ertrag der Kriegsanleihe auf 12160 Millionen.
Als die Zeichnungsfrist der dritten Kriegsanleihe Ende September 1915 ablief, waren an kurzfristigen Schatzanweisungen begeben rund 10 Milliarden Mark. Der Ertrag der dritten Kriegsanleihe übertraf diese Summe um [147] rund 2 Milliarden Mark. Die Belastung des Reiches mit kurzfristigem Kredit war also durch die dritte Kriegsanleihe vollständig abgebürdet.
Die vierte Kriegsanleihe, die letzte in meiner Amtszeit als Reichsschatzsekretär, zeigte allerdings gegenüber der dritten einen leichten Rückgang: sie ergab 10768 Millionen Mark, also rund 1400 Millionen Mark weniger als die dritte, aber immer noch 1668 Millionen mehr als die zweite Kriegsanleihe. Das Ergebnis war zweifellos beeinträchtigt worden durch den damals heftige Formen annehmenden Streit um den U-Bootkrieg und den in die Zeichnungsperiode fallenden Rücktritt des Großadmirals von Tirpitz. Dem Ertrag der vierten Kriegsanleihe standen gegenüber die Kriegsausgaben des ersten Halbjahrs 1916 mit rund 11750 Millionen Mark. Die Kriegsausgaben waren also in diesem Halbjahr um rund eine Milliarde Mark höher als der Anleiheertrag. Als Ende März 1916 die Zeichnungsfrist auf die vierte Kriegsanleihe ablief, stellte sich der Betrag der vom Reich ausgegebenen kurzfristigen Schatzanweisungen auf 10400 Millionen Mark. Das Zeichnungsergebnis der vierten Kriegsanleihe mit 10768 Millionen Mark deckte also auch dieses Mal noch den Betrag der ausstehenden Schatzanweisungen.
Als ich am 31. Mai 1916 das Schatzamt verließ, stellten sich die Kriegsausgaben des Reiches auf rund 39780 Millionen Mark. Davon waren durch die vier Kriegsanleihen gedeckt rund 36 Milliarden Mark.
Kein anderer kriegführender Staat hat eine auch nur annähernd gleich erfolgreiche Anleihepolitik durchzuführen vermocht.
England sah sich nach dem ungenügenden Erfolg seiner ersten Kriegsanleihe vom November 1914 zunächst zur Geldbeschaffung im Wege des kurzfristigen Kredits genötigt. Im Juni 1915 legte es eine zweite langfristige Anleihe auf, dieses Mal mit einer nominellen Verzinsung von 4½%. Während man in Deutschland während des ganzen Krieges bei der von Anfang an gewählten 5%igen Verzinsung bleiben konnte, war England also gezwungen, bereits bei der zweiten Kriegsanleihe einen um 1% höheren Zinssatz zu gewähren als bei der ersten. Es hat späterhin bei der dritten Anleihe im Februar 1917 auf 5% gehen und einen Emissionskurs von 95% anbieten müssen, während Deutschland bis zuletzt für seine gleichfalls 5%igen Kriegsanleihen einen Ausgabekurs von 98% festhalten konnte. Die englische Kriegsanleihe vom Juni 1915 wurde dem Publikum durch allerlei Reizmittel schmackhaft gemacht; so wurde dem Publikum der Umtausch sowohl der ersten 3½%igen Kriegsanleihe als auch der 2½%igen Konsols zu bestimmten günstigen Sätzen gegen die neue 4½%ige Kriegsanleihe unter der Bedingung der gleichzeitigen Barzeichnung auf die neue Anleihe freigestellt; vor allem aber erhielten die Zeichner die Berechtigung, für den später praktisch gewordenen Fall der Ausgabe einer höher verzinslichen Anleihe die [149] 4½%igen Stücke ohne weiteres gegen Stücke der neuen höher verzinslichen Anleihe tauschen zu dürfen. Trotz aller dieser Reizmittel erreichte die Zeichnung, abgesehen von den Tauschstücken, nicht ganz 600 Millionen Pfund Sterling. Um dieses Ergebnis zu erreichen, mußten die Banken 200 Millionen übernehmen. Der Kurs der neuen Anleihe ging alsbald um einige Prozent unter den Ausgabekurs zurück. Der Markt war durch die verfehlte Operation derartig gestört und das Schatzamt war durch das für die Zukunft zugestandene Konversionsrecht derartig behindert, daß bis zum Februar 1917 eine neue Anleiheoperation überhaupt nicht zustande kam. Ende Mai 1916 hatte Deutschland 36 Milliarden Mark, England nur 19 Milliarden Mark durch die Begebung langfristiger Anleihen aufgebracht. Und obwohl England, im Gegensatz zu Deutschland, damals schon die Steuerschraube stark angezogen hatte, stellten sich seine kurzfristigen Verbindlichkeiten auf nicht viel weniger als 20 Milliarden Mark, während die unsrigen nur zwischen 4 und 5 Milliarden betrugen.
Frankreich kam erst im November 1916 mit einer Anleihe heraus. Sie war mit einer 5%igen Verzinsung ausgestattet und wurde zum Kurs von 88% begeben. Ihr Ergebnis belief sich, abgesehen von dem auch hier als Lockmittel zugelassenen Umtausch älterer niedriger verzinslicher Anleihen, auf rund 13,7 Milliarden Franken, also um etwa auf 12 Milliarden Mark. Man kann annehmen, [150] daß Frankreich um die Mitte des Jahres 1916 etwa zwei Drittel seiner Kriegskosten durch Inanspruchnahme kurzfristiger Kredite und Darlehen seiner Zentralbank hatte decken müssen.
Dabei waren sowohl England als auch Frankreich in einem Punkte wesentlich günstiger gestellt als wir: es stand ihnen die finanzielle Unterstützung der Vereinigten Staaten von allem Anfang an in wesentlich größerem Umfang zur Verfügung als uns. Die Sympathien der amerikanischen Finanzwelt und des Publikums waren ganz vorwiegend auf der Seite der Westmächte. Während England und Frankreich ohne jede Schwierigkeit die gewünschten Kredite erhalten und im Herbst 1915 sogar eine gemeinschaftliche Anleihe von 500 Millionen Dollar mit einem amerikanischen Finanzkonsortium abschließen konnten, hatten wir die größten Schwierigkeiten, auch nur die bescheidensten Beträge in Amerika aufzubringen. Gleich nach Beginn des Kriegs hatte die Reichsleitung den früheren Staatssekretär des Reichskolonialamts, Herrn Dernburg, nach Amerika geschickt, in der Hoffnung, durch seine Vermittlung in Amerika Geldquellen erschließen zu können. Aber auch seinen Bemühungen gelang es nicht, etwas Nennenswertes zu erreichen. Bald nach meiner Übernahme des Reichsschatzamtes gelang es allerdings, durch ein Bankhaus zweiten Ranges Schatzscheine wenigstens in dem bescheidenen Betrag von 10 Millionen Dollar unterzubringen. [151] Aber bald mußte der größte Teil davon wieder zurückgekauft werden, um eine für unsern Kredit bedenkliche Entwertung zu verhindern.
Es ist später gegen unsere Kriegsfinanzpolitik mitunter der Vorwurf erhoben worden, sie habe versäumt, Amerika rechtzeitig finanziell für uns zu interessieren, und es so geschehen lassen, daß die Vereinigten Staaten ein einseitiges Interesse an unsern Feinden genommen hätten. Der Vorwurf beruht auf einer Verkennung der wahren Sachlage. Als im März 1916 ein Abgeordneter im Hauptausschuß des Reichstags mich beglückwünschte, daß ich den Geldbedarf für den Krieg im Inland decken könne und nicht, wie die Engländer und Franzosen, nach Amerika gehen müsse, da antwortete ich, daß der Redner meine tugendhafte Enthaltsamkeit überschätze, und daß ich gern von Amerika Geld nehmen würde, wenn ich es nur bekommen könnte. Die Amerikaner haben im weiteren Verlauf des Weltkriegs nicht etwa deshalb für die Entente Partei genommen, weil sie dieser Geld gegeben hatten und uns nicht, sie hatten vielmehr der Entente Geld gegeben und nicht uns, weil sie von Anfang an in diesem Völkerringen mit ihren ganz überwiegenden Sympathien auf der Seite der Westmächte standen.
Trotzdem wir so viel stärker auf die eigne Kraft angewiesen waren als unsre Feinde, gelang es uns, mit unsrer Anleihepolitik den geschilderten Vorsprung zu gewinnen.
Aber auch bei uns in Deutschland hat sich die günstige Situation, die bei meinem Ausscheiden aus dem Schatzamt noch bestand, späterhin stark verändert. Unter der Einwirkung der seit dem Herbst 1916 ins Ungemessene wachsenden Kriegsausgaben hat sich, trotzdem jetzt das Erträgnis der Kriegssteuern hinzutrat, das günstige Verhältnis zwischen Kriegsausgaben und Anleihedeckung nicht aufrechterhalten lassen; die Reichsfinanzverwaltung hat sich vielmehr von Halbjahr zu Halbjahr immer weiter auf den bedenklichen Weg des kurzfristigen Kredits und der Inanspruchnahme der Reichsbank abgedrängt gesehen. Die Kriegsausgaben, die noch im August 1916 rund 1980 Millionen betragen hatten, überschritten im Oktober 1916 erstmals die Summe von 3 Milliarden. Seit April 1917 sind sie niemals wieder unter 3 Milliarden im Monat hinabgegangen, im Oktober 1917 überschritten sie den Betrag von 4 Milliarden und haben sich seit jener Zeit mit einer Tendenz zur weiteren Steigerung fast ständig über dem Monatsbetrag von 4 Milliarden bewegt. Im Oktober 1918 wurde die ungeheure Summe von 4,8 Milliarden Mark erreicht. Einem Gesamtaufwand für den Krieg von 23 Milliarden Mark im Jahre 1915 steht ein solcher von mehr als 50 Milliarden im Jahre 1918 gegenüber.
Mit diesem gewaltigen Anwachsen der Kriegsausgaben hielt die Steigerung des Ergebnisses der Kriegsanleihen nicht Schritt. Den höchsten Ertrag hat die achte Kriegsanleihe vom März 1918 mit 15 Milliarden Mark erbracht; [153] aber die durch diese Anleihe zu deckende Halbjahresausgabe stellte sich auf wesentlich mehr als 20 Milliarden Mark. Der Erlös dieser Anleihe ließ einen Betrag von 24 Milliarden kurzfristiger Schatzanweisungen ungedeckt, während zwei Jahre zuvor die vierte Kriegsanleihe die damals begebenen Schatzanweisungen noch restlos abgedeckt hatte. Jetzt hat sich, nach den Mitteilungen der Reichsfinanzminister Schiffer und Dernburg in der Nationalversammlung, der Betrag der ausgegebenen Reichsschatzanweisungen und Reichswechsel auf den ungeheuren Betrag von weit mehr als 60 Milliarden Mark erhöht!
Vom Herbst 1916 an ist also die Deckung unserer Kriegsausgaben auf die schiefe Ebene geraten und mit wachsender Beschleunigung abwärts gerollt.
Diese im Herbst 1916 einsetzende bedenkliche Entwicklung unserer Kriegsfinanzwirtschaft legt die Frage doppelt nahe, ob nicht früher und in stärkerem Maße, als es geschehen ist, neue Steuern zur Deckung der Kriegsausgaben hätten herangezogen werden sollen.
Heute, wo wir alle vom Rathaus kommen, wird diese Frage im Brustton der Überzeugung bejaht von Leuten, die im Rathause selbst noch ganz anderer Meinung [154] gewesen sind. Und diese Treppenklugheit erfreut sich des allgemeinen Beifalls.
Steuern als Mittel zur Deckung des Kriegsbedarfs haben mit der Aufbringung durch die Ausgabe langfristiger Anleihen den Vorteil gemeinsam, daß sie lediglich bereits vorhandene Kaufkraft aus den Händen Privater in die Hände des Staates legen, daß also die Volkswirtschaft sich nicht den Gefahren der Überflutung mit neuen Zahlungsmitteln aussetzt; daß ferner der Staat vor dem Damoklesschwert der kurzfristigen Verbindlichkeiten gewaltigen Umfangs bewahrt bleibt. Vor dem Anleiheweg hat der Steuerweg den Vorteil voraus, daß er die endgültige Lösung der Deckungsfrage darstellt, während die Anleihe die Deckungsfrage für Zinsen und Tilgung auf die Zukunft schiebt. Aber wenn es schon in normalen Zeiten ein anerkannter Grundsatz der staatlichen Finanzwirtschaft ist, daß neben der Steuer auch die Anleihe, also das Verschieben der Belastung auf die Zukunft, ihre Berechtigung hat, so kann im Kriege der Vorzug der endgültigen Deckung erst recht nicht ohne weiteres zugunsten der Steuern den Ausschlag geben. In der Tat hat kein kriegführendes Land auf dem Steuerweg allein seinen Kriegsbedarf aufgebracht oder auch nur einen erheblichen Teil seiner Kriegsausgaben gedeckt. Auch England nicht. Die britischen Minister haben sich zwar zu Anfang des Krieges auf die gute alte Tradition berufen, die Gelder für den Krieg soweit wie möglich durch Steuern zu beschaffen, was sogar in den langen und [155] kostspieligen napoleonischen Kriegen bis zu 45% der gesamten Kriegskosten gelungen war. Der Weltkrieg hat aber so enorme finanzielle Ansprüche gestellt, daß auch England, so stark es die Steuerschraube anzog, nur einen sehr bescheidenen Bruchteil der Kriegskosten durch Kriegssteuern zu decken vermochte. Bis zum Ablauf des Finanzjahres 1917/18 stellten sich die englischen Kriegskosten (ohne die bei uns in Deutschland auf den ordentlichen Etat genommenen und durch laufende Einnahmen gedeckten Zinsen der Kriegsanleihen) auf rund 120 Milliarden Mark, die steuerliche Deckung auf rund 15 Milliarden Mark [2] gleich 12½% der zu deckenden Kriegsausgaben. Dabei kamen von den 15 Milliarden Mark rund 7½ Milliarden Mark, also die Hälfte, auf die Kriegsgewinnsteuer.
Das Beispiel Englands zeigt also, wie bescheiden angesichts der enormen Kosten des Weltkrieges das Ziel bei einer Finanzierung eines Teiles der Kriegskosten durch Steuern gesteckt werden mußte.
Dabei lagen bei uns in Deutschland die Verhältnisse für die Ausschreibung von Kriegssteuern ungleich ungünstiger als in England.
Schon die bundesstaatliche Verfassung des Reiches bedeutete eine empfindliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Reichsfinanzverwaltung. Die Bundesstaaten beanspruchten das Gebiet der direkten Steuern als ihre Domäne und setzten einem Hinübergreifen des Reiches [156] auf dieses Gebiet starken Widerstand entgegen; nicht etwa nur die einzelstaatlichen Regierungen, sondern auch die einzelstaatlichen Landtage. Demgegenüber gab es wohl Druckmittel, aber keine Zwangsmittel. Auch die Druckmittel waren nur beschränkt anwendbar; denn über die Tatsache war nicht hinwegzukommen, daß die Einzelstaaten und neben ihnen die Kommunen und Kommunalverbände für die Deckung ihres im Kriege gleichfalls anwachsenden Geldbedarfs sich in der Hauptsache auf die direkten Steuern angewiesen sahen. Auf der andern Seite hatte die Erfahrung gezeigt, daß im Reichstag indirekte Steuern nur in Verbindung mit Reichssteuern auf Besitz und Einkommen Aussicht auf Annahme hatten. Dazu kam der doktrinäre Standpunkt der Sozialdemokratie, die indirekte Steuern grundsätzlich ablehnte. Da ohne eine starke Heranziehung indirekter Steuern auf Verbrauch und Verkehr ein praktisch durchführbares Steuerprogramm überhaupt nicht denkbar war — auch England hat im Krieg seine Verbrauchs- und Verkehrssteuern stark erhöht —, so drohte also von einem Versuch mit Kriegssteuern eine Gefährdung des seit dem 4. August 1914 behüteten „Burgfriedens“. Schließlich war zu berücksichtigen, daß die Abschnürung Deutschlands von der Außenwelt uns eine Reihe ergiebiger Steuerquellen verschlossen hatte, die England nach wie vor zur Verfügung standen. England konnte den Einfuhrzoll auf Kaffee, Tee und Kakao mit guter Wirkung erhöhen; bei uns gab es an diesen Genußmitteln [157] keine nennenswerte Einfuhr mehr. England konnte Bier und Branntwein mit großen Summen heranziehen; wir mußten die Herstellung von Trinkbranntwein verbieten und die Bierbrauerei auf das Äußerste einschränken. Der Spielraum für die als Domäne des Reiches anerkannte indirekte Besteuerung war also durch den Krieg selbst auf das Empfindlichste eingeschränkt. Darüber hinaus war dem deutschen Volk durch den britischen Wirtschafts- und Hungerkrieg eine so ungleich größere Belastung seines Lebens und seiner Wirtschaft auferlegt als unsern Feinden, denen außer den eigenen Hilfsquellen die finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung der überseeischen Welt, namentlich Amerikas, zur Verfügung stand, daß sich die Frage von selbst aufwarf: Ist es zu verantworten, und wie weit ist es zu verantworten, dem deutschen Volk während des Krieges selbst im Steuerwege Lasten aufzubürden, die es voraussichtlich erheblich leichter nach Wiederherstellung des Friedens würde bewältigen können?
Aber so groß diese Bedenken und Schwierigkeiten auch waren, ein unübersteigliches Hindernis für jedes Anziehen der Steuerschraube während des Krieges durften sie nicht bilden. Es war bei längerer Dauer des Krieges mit Zwangsmomenten zu rechnen, die kaum eine andere Wahl lassen würden, als neben den Anleihen auch die Steuern in Anspruch zu nehmen. Eines dieser Zwangsmomente war in verhältnismäßig naher Zeit mit Sicherheit zu erwarten: die Notwendigkeit, den ordentlichen Etat, dessen Belastung [158] durch die Zinsen der Kriegsanleihen stark zunehmen mußte, im Gleichgewicht zu halten. Wenn man will, ein formaler Gesichtspunkt, wie überhaupt die Ordnung etwas Formales ist. Aber dieser formale Gesichtspunkt gab wenigstens einen bestimmten Anhalt, während die Frage, welcher Prozentsatz der eigentlichen Kriegsausgaben durch Steuern gedeckt werden sollte, nur durch einen ganz willkürlichen Griff hätte entschieden werden können. Außerdem konnte von der steuerlichen Deckung der Anleihezinsen noch während des Krieges, die als ein lösbares Problem sich darstellte, ein immerhin recht wertvolles Zehrgeld für die Übergangszeit bis zur endgültigen Neuordnung der Reichsfinanzen erwartet werden, ein Zehrgeld, das um so nötiger erscheinen mußte, als für die Friedenszeit mit erheblich größeren Schwierigkeiten in der Aufnahme von Anleihen zu rechnen war als während des Krieges. Der Krieg bedeutete für zahlreiche Unternehmungen den Ausverkauf ihrer Bestände, ohne daß Neuanschaffungen möglich waren. Das für Neuanschaffungen nicht verwendbare Geld stand für die Kriegsanleihen zur Verfügung. Nach dem Friedensschluß mußte sich diese Sachlage ändern: die Unternehmungen würden — das war zu erwarten — flüssige Mittel brauchen, um ihre geleerten Bestände an Rohstoffen, Halbfabrikaten, Fertigwaren usw. wieder aufzufüllen, ihren technischen und maschinellen Apparat zu erneuern und zu ergänzen. Mit der Fortsetzung des Kreislaufs, in dem der größere Teil des als Kriegsausgabe vom Reich [159] hinausgegebenen Geldes als Einzahlung auf Anleihen an das Reich wieder zurückfloß, war also nicht zu rechnen. Auch konnte niemand erwarten, daß nach Friedensschluß die Anleihezeichnung in demselben Maße noch als patriotische Pflicht aufgefaßt werden würde wie während des Krieges. Um so wichtiger und unerläßlicher war es, rechtzeitig dafür zu sorgen, daß für die Übergangszeit bereits Neueinnahmen ausreichenden Umfanges zur Verfügung stehen würden.
Das zweite Zwangsmoment, das während meiner Verwaltung des Schatzamts praktisch noch nicht in Erscheinung trat, sich aber später in bedenklichem Umfang einstellte, war die volkswirtschaftliche Notwendigkeit, einer „Inflation“ und ihren verhängnisvollen Begleiterscheinungen entgegenzuwirken. Solange die Anleihebegebung die Kriegskosten annähernd deckte, lag keine Gefahr vor. Wenn aber, was vom Herbst 1916 an in steigendem Maße der Fall war, der Ertrag der Anleihen hinter den Kriegsausgaben zurückblieb, so entstand ein Vakuum, das nur durch Schaffung neuer Zahlungsmittel seitens des Staates, also um den Preis der Inflation, ausgefüllt werden konnte — oder durch ein starkes Anziehen der Steuerschraube. Zum mindesten lag dann angesichts der zersetzenden und verheerenden Wirkungen der Inflation die Notwendigkeit vor, durch das Mittel der Besteuerung nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten.
Nach diesen Erwägungen habe ich während meiner Amtszeit als Schatzsekretär die Finanzpolitik geführt.
Als ich den Haushaltsplan für 1915/16 beim Reichstag einbrachte, mußte ich von Kriegssteuern absehen, da, als ich wenige Wochen zuvor das Amt übernahm, nichts in dieser Richtung vorbereitet war; ich konnte von Kriegssteuern absehen, da noch keines der geschilderten Zwangsmomente vorlag. Ich habe späterhin häufig den Vorwurf gehört, ich hätte mich damals grundsätzlich gegen die Erhebung von Kriegssteuern ausgesprochen. Das ist ein Irrtum, der auch durch öfteres Wiederholen nicht zur Wahrheit geworden ist. Ich habe in meiner Etatsrede vom 10. März 1915 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Voranschlag für das kommende Rechnungsjahr ohne Kriegssteuern balanciere, obwohl nicht nur die Verzinsung der bis dahin aufgelaufenen Kriegsschulden auf den ordentlichen Etat übernommen, sondern auch die planmäßige Tilgung der alten Reichsschuld aufrechterhalten worden war. Ich habe hinzugefügt:
„Der zwingende Anlaß, aus Gründen der rechnungsmäßigen Balancierung des ordentlichen Etats zu neuen Steuern zu greifen, liegt also für uns nicht vor, jedenfalls zur Zeit noch nicht . Unter diesen Umständen haben die verbündeten Regierungen geglaubt, zur Zeit von der Einbringung von Kriegssteuern Abstand nehmen zu können.“
In den folgenden Monaten ließ ich in meinem Amt die in Betracht kommenden Kriegssteuern durcharbeiten. Für den 10. Juli 1915 hatte ich die bundesstaatlichen Finanzminister [161] zu einer Besprechung der finanziellen Lage eingeladen. Ich stellte auf dieser Versammlung auch die Frage der Kriegssteuern zur Erörterung. Die Finanzminister kamen in eingehender Aussprache zu einem Einverständnis darüber, daß dem Reichstag auch in der für den 10. August in Aussicht genommenen Tagung Kriegssteuern nicht vorgeschlagen werden sollten. Ich erklärte damals ausdrücklich, daß ich den Verzicht auf Kriegssteuern, der mir persönlich nicht leicht werde, nur dann würde durchhalten können, wenn nicht ein weiterer Winterfeldzug nötig werde.
Diesem Standpunkt getreu habe ich im Winter 1915/16 den Bundesrat und den Reichstag mit einer Anzahl von Steuervorlagen befaßt. Die zwingende Notwendigkeit lag jetzt vor; denn trotz der Übernahme der gesamten laufenden Ausgaben für Heer und Flotte auf den Kriegsfonds zeigte der ordentliche Etat einen rechnungsmäßigen Fehlbetrag von 480 Millionen Mark, dessen starke Erhöhung im wirklichen Ergebnis mit Sicherheit zu erwarten war.
Meine Vorschläge umfaßten:
1. Eine Kriegsgewinnsteuer.
2. Eine Anzahl von Verbrauchs- und Verkehrssteuern, nämlich eine Erhöhung der Tabakabgaben, einen Quittungsstempel, einen Frachturkundenstempel und Zuschläge zu den Post- und Telegraphengebühren.
Die Einbringung des Kriegsgewinnsteuergesetzes entsprach den Wünschen aller Parteien. Dagegen stieß jeder [162] weitere Schritt auf erhebliche Schwierigkeiten. Schon innerhalb des Kreises der Reichsleitung hatte ich es nicht leicht. Namentlich die Postzuschläge fanden bei dem Staatssekretär des Reichspostamts den stärksten Widerspruch, der schließlich nur durch eine Entscheidung des Reichskanzlers überwunden werden konnte. Die Parteien des Reichstags zeigten sich kühl oder feindlich. Der Führer der Nationalliberalen, Herr Bassermann, machte mir die eindringlichsten Vorstellungen, ich solle darauf verzichten, den Burgfrieden der Parteien auf eine Probe zu stellen, der er nicht gewachsen sei. Der Reichstag werde unter Umständen genötigt sein, über meine Vorlagen einfach zur Tagesordnung überzugehen. Ich hielt Herrn Bassermann entgegen, daß ein Burgfrieden, der nur um den Preis des Verzichts auf zwingende sachliche Notwendigkeiten aufrecht erhalten werden könne, ein fauler Friede sei, der mehr schade als nütze; ich sei entschlossen, meine Steuervorlagen einzubringen und mit ihnen, bei aller Geneigtheit, über Einzelheiten mit mir reden zu lassen, zu stehen und zu fallen. — Noch unmittelbar vor Torschluß kam der Zentrumsführer Dr. Spahn aus einer Sitzung seiner Fraktion zu mir, um mir gleichfalls dringend nahezulegen, die Steuervorlagen zurückzuziehen. Auf meine kategorische Ablehnung richtete er an mich die Frage: „Sind Sie wenigstens der Deckung durch den Kanzler sicher?“ Ich antwortete „Seiner Zustimmung unbedingt.“ Herr Spahn schüttelte bedenklich den Kopf und erzählte dann, in [163] der Fraktionssitzung habe ein Abgeordneter berichtet, er habe an einer Sitzung beim Reichskanzler teilgenommen, in der die Frage der Kriegssteuern besprochen worden sei; der Kanzler habe schließlich anerkannt, daß die Gefährdung des Burgfriedens durch die neuen Steuern vermieden werden müsse. Ich antwortete: „Der Abgeordnete heißt natürlich Erzberger, und die Sache ist Unsinn. Ich werde aber zu Ihrer Beruhigung den Sachverhalt sofort beim Reichskanzler selbst feststellen.“ Herr von Bethmann war über den Bericht des Herrn Erzberger empört. Herr Erzberger hatte ihn am Vormittag besucht und dabei auch die burgfriedlichen Bedenken gegen die Kriegssteuern vorgebracht. Herr von Bethmann hatte ihm geantwortet, das sei alles überlegt worden, und nach reiflicher Prüfung habe man sich zur Einbringung der Vorlagen entschlossen; dabei müsse es bleiben.
Und es blieb dabei.
Aber es wurde eine schwere Geburt.
Presse und Parlament zausten in der grausamsten Weise an meinem Steuerbukett herum. Die einen erklärten Kriegssteuern für überflüssig und schädlich, den andern war ich zu schüchtern. Die Sozialdemokraten riefen nach weiteren direkten Steuern, insbesondere nach einer Erneuerung des Wehrbeitrags und nach einer Reichserbschaftssteuer, und lehnten die Verbrauchs- und Verkehrssteuern trotz Krieg und Kriegsnot nach altem Friedensbrauch grundsätzlich ab. Alle fanden, meine Steuern seien Stück- und [164] Flickwerk; und damit hatten sie recht. Unrecht hatten sie nur, wenn sie von mir in diesem Stadium des Krieges ein „organisches Ganzes“ und eine „großzügige einheitliche Reichsfinanzreform“ verlangten. Es wäre Vermessenheit gewesen, im zweiten Kriegsjahr eine durchgreifende und endgültige Neuordnung der deutschen Finanzen schaffen zu wollen. Auch mein Nachfolger hat in seinen Steuervorlagen von 1917 und 1918 sich damit begnügen müssen, zu Notbehelfen zu greifen und die endgültige Neuordnung der Reichsfinanzen der Friedenszeit zu überlassen.
Die Verbrauchs- und Verkehrssteuern wurden mit Änderungen, wie sie nun einmal der Reichstag seiner Würde schuldig zu sein glaubte, im großen Ganzen angenommen. Die Änderungen, die der Reichstag an meinen Sätzen für die Postgebühren vornahm, hat er zwei Jahre später zum großen Teil wieder nach rückwärts korrigiert. Die Vorlage über den Quittungsstempel erfuhr eine gänzliche Umgestaltung: der Quittungsstempel wurde zu meiner Freude durch den Umsatzstempel ersetzt. Ich hatte im Schatzamt den Entwurf eines Umsatzstempelgesetzes in allen Einzelheiten ausarbeiten lassen, da ich den Umsatzstempel für eine sehr entwicklungsfähige Steuer hielt, und weil ich in ihm eine wichtige Ergänzung unseres Steuersystems erblickte. Ich habe darüber bei der zweiten Lesung der Steuervorlagen ausgeführt:
„Das Einkommen wird von den Einzelstaaten und Kommunen bei seinem Entstehen an seiner Wurzel als Einkommen gefaßt. Die Besteuerung und Verwendung des Einkommens liegt nun in der Weise beim Reich, daß derjenige Teil, der verbraucht wird, unter den Umsatzstempel fällt, und zwar proportional zum Verbrauch, und derjenige, der nicht verbraucht wird, also einen Vermögenszuwachs bildet, unter die Vermögenszuwachssteuer fällt.“
Wenn ich die Umsatzstempelvorlage nicht von vornherein einbrachte, so war für mich in erster Linie bestimmend die Befürchtung, daß diese Neuerung als allzu kühn abgelehnt werden würde. Den bereits dreimal vom Reichstag abgelehnten Quittungsstempel schlug ich vor, weil ich der Ablehnung so gut wie sicher war und dann wenigstens die Aussicht hatte, daß man mir aus dem Reichstag heraus als Ersatz die Umsatzsteuer präsentieren könnte.
So geschah's.
Der Abgeordnete Müller-Fulda erwies mir, ohne es selbst zu ahnen, den von mir erwarteten Gefallen.
Am schlimmsten verunstaltet wurde das Kriegsgewinnsteuergesetz.
Die Verteilung der Steuergebiete zwischen Reich und Einzelstaaten legte es nahe, die Kriegsgewinnsteuer als eine Steuer von dem während des Krieges eingetretenen Vermögenszuwachs zu konstruieren. Den Nachteil, daß bei dieser Konstruktion der Sparsame getroffen und der [166] Verschwender gewissermaßen belohnt wird, wollte ich dadurch wenigstens einigermaßen ausgleichen, daß ich für die Bemessung des Steuersatzes den Grad der Einkommensteigerung während des Krieges mitbestimmend sein ließ. Es war nicht ganz einfach gewesen, die Bundesregierungen, die jede Heranziehung der Einkommen durch das Reich als einen Einbruch in ihre steuerliche Domäne anzusehen geneigt waren, für dieses Zugeständnis zu gewinnen. Die Reichstagskommission setzte nun in ihrer ersten Lesung eine selbständige Steuer vom Mehreinkommen neben die Steuer auf den Vermögenszuwachs, und als die verbündeten Regierungen dagegen Einspruch erhoben, schüttete sie das Kind mit dem Bade aus und strich — zur großen Freude der einzelstaatlichen Finanzminister — jede Berücksichtigung des Mehreinkommens aus dem Gesetz heraus. Denn geändert mußte nun einmal werden, wenn nicht nach links, dann nach rechts!
Eine neue große Schwierigkeit entstand infolge des Kommissionsbeschlusses, gleichzeitig mit der Kriegsgewinnsteuer einen neuen Wehrbeitrag zu erheben. Freisinnige und Nationalliberale hatten sich den Sozialdemokraten angeschlossen, während Zentrum und Konservative dagegen stimmten. Die einzelstaatlichen Regierungen meldeten bei mir den schärfsten Widerspruch an. Die ganzen Steuergesetze drohten an dieser Differenz zu scheitern. Der Abgeordnete Schiffer machte nun den Vorschlag, neben der Kriegsgewinnsteuer eine einmalige Vermögensabgabe [167] von 1 0/00[**Promillezeichen] zu erheben. Am 11. Mai fand eine interfraktionelle Beratung statt, an der alle Parteien teilnahmen, außer den Sozialdemokraten, die wegen ihrer grundsätzlichen Opposition gegen die indirekten Steuern fernblieben. Die Konservativen lehnten den Schiffer'schen Vorschlag strikt ab. Darauf erklärte das Zentrum, daß es bei einem Kompromiß nur mitmachen werde, wenn alle bürgerlichen Parteien einschließlich der Konservativen sich einigten. Wenn diese Einigung nicht gelinge, werde nichts zustande kommen. Der bayrische Ministerpräsident Graf Hertling, der an jenem Tage in Berlin war, erklärte mir, er werde im Bundesrat unerbittlich gegen jeden solchen Kompromißgedanken stimmen; er sprach dabei mit einer Erregung, die außer Verhältnis zur Sache stand, über Unitarismus und Revolution. Die sächsische Staatsregierung beantragte am gleichen Tage die Befassung des Bundesrats mit den Kompromißverhandlungen. Ich beantragte beim Reichskanzler, die einzelstaatlichen Ministerpräsidenten und Finanzminister zur Besprechung der Angelegenheit auf den 15. Mai nach Berlin einzuladen. In diesen Beratungen setzte ich den Schiffer'schen Vorschlag mit einer Variante durch, die ihn den bundesstaatlichen Regierungen annehmbar erscheinen ließ: Die Vermögensabgabe sollte sich dadurch als eine einmalige, den Kriegsverhältnissen angepaßte Steuer charakterisieren, daß sie — ebenso wie die Kriegsgewinnsteuer auf den Vermögenszuwachs abgestellt war — auf die Vermögenseinbußen Rücksicht nahm, und [168] zwar in der Weise, daß sie sich für jedes Prozent Vermögensverlust um ein Zehntel ermäßigte, also bei 10% Vermögensverlust ganz in Wegfall kam. Bei einer starken Vermögensabgabe, wie sie jetzt wohl kommen wird, hat dieser Gedanke seine Berechtigung und verdient geprüft zu werden. Bei einer Vermögensabgabe von 1 0/00 war er eine Spielerei. Aber diese „Steuer auf entgangenen Verlust“, wie sie der badische Ministerpräsident von Dusch witzig taufte, hatte den Vorteil, die schmale Brücke zwischen kaum mehr ausgleichbar erscheinenden Gegensätzen zu bilden. Der Vorschlag wurde sowohl von den Bundesregierungen wie auch von den verschiedenen bürgerlichen Parteien angenommen, und damit war das Steuerkompromiß perfekt.
In den letzten Tagen meiner Amtstätigkeit als Staatssekretär des Reichsschatzamts wurden die Steuervorlagen vom Reichstag verabschiedet. Ich hatte die Genugtuung, daß es mir noch gelungen war, über starke Widerstände und Schwierigkeiten hinaus grundsätzlich die notwendige Ergänzung unserer Kriegsfinanzpolitik durch die Ausschreibung von Kriegssteuern durchzusetzen.
Es wäre hier noch ein Wort zu sagen über die finanzielle Unterstützung, die wir zu Zwecken der Kriegführung unseren Verbündeten haben angedeihen lassen.
Während wir von außen keine nennenswerte Hilfe erhielten, waren unsere sämtlichen Bundesgenossen auf unsere Hilfe angewiesen.
Österreich-Ungarn brachte die Gelder für die im Innern zu leistenden Kriegsausgaben im Wege einer bemerkenswert erfolgreichen Anleihepolitik und auch von Kriegssteuern aus eigner Kraft auf; von uns beanspruchte es lediglich sogenannte „Valutakredite“ zur Deckung seiner nicht unerheblichen in Deutschland und im neutralen Auslande zu leistenden Ausgaben. Diese Kredite wurden ihm in Abmachungen, die regelmäßig von Halbjahr zu Halbjahr abgeschlossen wurden, durch Vermittlung eines deutschen Bankenkonsortiums gewährt.
Bulgarien benötigte von uns nicht nur „Valutakredite“, sondern darüber hinaus auch einen großen Teil der Gelder für seine inländischen Kriegsausgaben. Ich habe im November 1915 mit dem bulgarischen Finanzminister Tontscheff die Verträge geschlossen, auf deren Grundlage unsere finanzielle Hilfe im Verlauf des Krieges gewährt wurde. Die Vorschüsse der deutschen Regierung schufen, soweit sie nicht unmittelbar zu Zahlungen in Deutschland oder im neutralen Ausland verwendet wurden, Guthaben, die als Grundlage für die Notenausgabe der Bulgarischen Staatsbank dienten.
Sehr schwierig und verwickelt gestaltete sich die Finanzierung des Geldbedarfs der Türkei; einmal weil die Türkei in weit größerem Umfang als Bulgarien auch [170] für die Beschaffung ihres inneren Geldbedarfs auf uns angewiesen war; ferner weil die Bevölkerung im Innern der Türkei an papierne Geldzeichen nicht gewöhnt war, sondern Hartgeld verlangte; schließlich weil das türkische Noteninstitut, die Kaiserlich Ottomanische Bank, die von englischem und französischem Kapital beherrscht war, passiven Widerstand leistete. Der erste Vorschuß an die Türkei für ihre inneren Bedürfnisse, der ihr unmittelbar nach ihrem Eintritt in den Krieg gewährt wurde, war bares Gold; es handelte sich dabei um fünf Millionen türkische Pfund. Dieser Weg war natürlich bei längerer Dauer des Krieges ungangbar; er hätte den Goldbestand unserer Reichsbank ausgepumpt. Als ich das Schatzamt übernahm, suchte ich deshalb nach andern Mitteln. Mein Vorschlag, entweder den passiven Widerstand der Ottomanischen Bank zu brechen oder an ihrer Stelle ein neues Noteninstitut unter deutscher Beteiligung zu errichten, scheiterte an dem hartnäckigen Widerspruch und am passiven Widerstand des Finanzministers Djavid Bey. So schlug ich vor, die Vermittlung der in der Türkei bei Einheimischen und Fremden den besten Kredit genießenden internationalen Administration der türkischen Staatsschulden in Anspruch zu nehmen. Die Staatsschuldenverwaltung gab nun auf Grund von in Berlin hinterlegten deutschen Reichsschatzanweisungen Zertifikate aus, die in der Türkei den Charakter als gesetzliches Zahlungsmittel erhielten. Die Vorschüsse der deutschen Regierung wurden also fortan [171] in der Hauptsache in der Form von Schatzanweisungen gewährt; nur ausnahmsweise und für besondere Zwecke wurden noch gewisse Beträge in Gold oder auch in Silber zur Verfügung gestellt.
Insgesamt hat der Betrag unserer Vorschüsse an die Bundesgenossen 10700 Millionen Mark betragen; davon sind rund 3900 Millionen Mark in bar gewährt worden, 6800 Millionen Mark durch Begebung oder Hinterlegung von Schatzanweisungen.
Fußnote:
[2] Siehe Prion , Steuer- und Anleihepolitik Englands während des Krieges, S. 24.
Während ich in dem ersten großen Abschnitt des Krieges durch meine Berufung an die Spitze des Reichsschatzamts unsere Kriegführung auf dem Gebiete der Finanzen zu leiten hatte und dabei in die Lage kam, gelegentlich auch an den großen wirtschaftlichen Aufgaben mitzuarbeiten, brachte mich die Ernennung zum Staatssekretär des Innern Ende Mai 1916 an die Spitze derjenigen Verwaltung, der nach der Friedensorganisation der Reichsbehörden die Bearbeitung der wirtschaftlichen Angelegenheiten des Reichs zustand.
Am 6. Mai ließ mir der Kanzler mitteilen, daß der bisherige Chef des Reichsamts des Innern, Stellvertreter des Reichskanzlers und Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums, Staatsminister Delbrück, auf seinem schon öfter bekundeten Entschluß, seinen Abschied zu nehmen, nunmehr bestehe und eine baldige Genehmigung seines Abschieds dringend wünsche. Delbrück war kurz vor Ausbruch des Krieges im Begriff, zur Wiederherstellung [176] seiner stark angegriffenen Gesundheit einen mehrmonatigen Urlaub zu nehmen; angesichts des Kriegsausbruches hatte er diese Absicht aufgegeben und nun fast zwei Jahre hindurch die gesteigerte Arbeitslast getragen, die der Krieg für seine Ämter mit sich brachte. Seit dem Beginn des Jahres hatte sich sein körperlicher Zustand verschlechtert. Ich hatte mehrfach bei wichtigen Beratungen für ihn eintreten müssen. Nunmehr stellte mich der Kanzler vor die Frage, ob ich als Stellvertreter des Reichskanzlers und als Staatssekretär des Innern die Nachfolge Delbrücks übernehmen wolle; für das Vizepräsidium des Preußischen Staatsministeriums, dessen jüngstes Mitglied ich damals war, richtete er die gleiche Anfrage an den Eisenbahnminister von Breitenbach.
Die Gründe, die mir Herr von Bethmann Hollweg darlegte, ließen mir keine Wahl, so schwer es mir auch wurde, das Reichsschatzamt zu verlassen und das neue, kaum zu bewältigende Amt auf mich zu nehmen. Viel stärker noch als bei der Übernahme des Schatzamts hatte ich das Gefühl des Sprungs ins Dunkle.
Für den Posten des Reichsschatzsekretärs fiel die Wahl auf den Grafen von Rödern, bis dahin Staatssekretär in Elsaß-Lothringen.
Am 22. Mai vollzog der Kaiser, der damals für kurze Zeit im Berliner Schloß Bellevue residierte, die Ernennungen. Die Kaiserin sagte mir, sie bewundere meinen Mut. Als ich antwortete: „Was man muß, das kann man auch,“ [177] setzte sie, fast etwas vorwurfsvoll, hinzu: „Mit Gottes Hilfe!“
Am 1. Mai trat ich das neue Amt an.
Zu dem Geschäftsbereich des Reichsamts des Innern gehörte damals die gesamte innere Politik, die Angelegenheiten des Bundesrats, die gesamte Sozialpolitik und die wirtschaftlichen Angelegenheiten. Letztere mit Einschränkungen. Schon vor dem Kriege waren die Angelegenheiten der auswärtigen Handelspolitik vom Auswärtigen Amt, das hierfür eine eigene handelspolitische Abteilung hatte, mit dem Reichsamt des Innern gemeinschaftlich bearbeitet worden. Gleich zu Anfang des Krieges hatten die Militärbehörden, insbesondere die Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums, einen wichtigen Teil der wirtschaftlichen Angelegenheiten, nämlich ungefähr alles, was mit der Ausrüstung und Versorgung des Heeres im Zusammenhang stand, an sich genommen. Der Belagerungszustand und die Art und Weise, wie das auf Grund des Belagerungszustandes den Generalkommandos zustehende Verordnungsrecht ausgelegt und gehandhabt wurde, gab den militärischen Stellen die Möglichkeit eines viel prompteren Zugreifens, als das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ vom 4. August den Zivilbehörden. Durch dieses Gesetz war der Bundesrat ermächtigt worden, „während der Zeit des Krieges diejenigen gesetzlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe gegenüber wirtschaftlichen Schädigungen als notwendig [178] erweisen“. Da aber der Bundesrat eine Körperschaft war, deren Mitglieder zu ihrer Abstimmung der Instruktion durch ihre Regierungen bedurften, war dieses Instrument — wenn es auch gegenüber der Notwendigkeit, den Reichstag zu befassen, eine wesentliche Erleichterung bedeutete — doch immerhin viel schwerfälliger als das Verordnungsrecht der Militärbefehlshaber. Im übrigen hat niemals eine formelle und scharfe Abgrenzung der Arbeitsgebiete der militärischen und zivilen Behörden stattgefunden. Vielfach griffen die Militärbehörden ein, wenn aus militärischen Gründen die prompte Erledigung einer wirtschaftlichen Frage notwendig war, und vielfach kamen Angelegenheiten, die von den militärischen Stellen in Angriff genommen worden waren, zur weiteren Bearbeitung an das Reichsamt des Innern zurück. Die erforderliche Einheitlichkeit und Kontinuität wurden durch die wechselseitige Beteiligung von Kommissaren aufrechterhalten.
Ein großer Teil der wirtschaftlichen Geschäfte des Reichsamts des Innern wurde jetzt gleichzeitig mit dem Wechsel im Staatssekretariat abgetrennt: die Ernährungsangelegenheiten.
Auf diesem Gebiete hatte sich eine straffere und schlagfertigere Organisation als notwendig herausgestellt. Abgesehen von der Notwendigkeit der Befassung des Bundesrats mit den Einzelheiten der auf diesem weitschichtigen Gebiet erforderlichen Verordnungen war an der [179] Vorbereitung und Ausführung der gesetzgeberischen Maßnahmen außer dem Reichsamt des Innern eine große Anzahl von Reichs- und Landesbehörden beteiligt. Die Einheitlichkeit der Ausführung wurde dadurch in gleicher Weise beeinträchtigt, wie die Schnelligkeit der Entschließung. Es erschien deshalb angezeigt, die Befugnisse des Reichskanzlers auf dem Gebiete der Volksernährung erheblich zu erweitern und ihm für die Ausübung dieser erweiterten Befugnisse eine besondere Zentralbehörde zur Verfügung zu stellen. Mit dieser Lösung erklärte ich mich vor der Übernahme des Reichsamts des Innern einverstanden. Gleichzeitig mit meiner Ernennung zum Staatssekretär des Innern, am 22. Mai 1916, wurde eine Bekanntmachung des Bundesrats über Kriegsmaßnahmen zur Sicherung der Volksernährung veröffentlicht, die dem Reichskanzler das volle Verfügungsrecht über alle Lebens- und Futtermittel und die zur Lebensmittel- und Futtermittelversorgung erforderlichen Gegenstände übertrug und ihn ermächtigte, alle zur Durchführung der Lebensmittel- und Futtermittelversorgung erforderlichen Bestimmungen zu treffen. Am selben Tage wurde durch Bekanntmachung des Reichskanzlers das Kriegsernährungsamt geschaffen und diesem die Ausübung der dem Reichskanzler auf dem Gebiete des Ernährungswesens zustehenden Befugnisse übertragen. Zum Präsidenten des Kriegsernährungsamts wurde der bisherige Oberpräsident von Ostpreußen, Herr von Batocki, ernannt.
Damit schieden die Angelegenheiten der Volksernährung aus dem Geschäftskreis des Reichsamts des Innern aus; beim Reichsamt des Innern blieb nur die Bearbeitung derjenigen Ernährungsangelegenheiten, die untrennbar mit den Fragen unserer Einfuhr und Ausfuhr zusammenhingen. Denn die Einfuhr von Nahrungs- und Futtermitteln aus dem Auslande konnte nur im engsten Zusammenhang mit allen den anderen wirtschaftlichen Fragen behandelt werden, die unser Verhältnis zu den einzelnen befreundeten oder neutralen Staaten betrafen.
Im übrigen wurde mir in meiner Eigenschaft als Stellvertreter des Reichskanzlers eine gewisse Mitwirkung auch bei den Geschäften des Kriegsernährungsamts vorbehalten; da der Präsident des Kriegsernährungsamts nicht zum Stellvertreter des Reichskanzlers im Sinne des Stellvertretungsgesetzes von 1878 ernannt wurde, blieb die Stellvertretung des Reichskanzlers in diesem Sinne bei mir. Angesichts des engen und unlösbaren Zusammenhanges der Ernährungsfragen mit der Gesamtheit der wirtschaftlichen Angelegenheiten erschien diese Regelung notwendig, um die Einheitlichkeit in der Kriegswirtschaftspolitik des Reichs nach Möglichkeit sicherzustellen und um zu vermeiden, daß die Zusammenfassung auf dem Sondergebiet der Volksernährung durch eine neue Zersplitterung auf dem Gesamtgebiet der Kriegswirtschaft erkauft werde. In der Praxis jedoch waren meiner [181] Einwirkung durch einen besonderen Umstand enge Grenzen gezogen. Dem Kriegsernährungsamt wurde der schon früher geschaffene Reichstagsbeirat für Volksernährung zur Seite gestellt, mit dem alle wichtigen Verordnungen und sonstigen Maßnahmen durchberaten wurden. Ich habe anfänglich den Versuch gemacht, die Beratungen des Ernährungsbeirats persönlich zu leiten und dadurch einen unmittelbaren Einfluß auf dessen Stellungnahme und Beschlußfassung zu gewinnen. Bei der Häufigkeit und Ausdehnung der Sitzungen des Ernährungsbeirats und bei der starken Inanspruchnahme meiner Zeit und Arbeitskraft durch meine übrigen Dienstgeschäfte ließ sich das aber nicht durchführen. Schon Ende Juli 1916 mußte ich mich entschließen, den Vorsitz dem Präsidenten des Kriegsernährungsamts zu überlassen. Nun kamen die Verordnungen und Bekanntmachungen zu mir zur Unterschrift, nachdem der Ernährungsbeirat bereits Stellung genommen hatte. Beanstandungen meinerseits bedeuteten infolgedessen die Wiederaufnahme eines schwierigen und langwierigen Verfahrens, oft genug in Fragen, die keinen Aufschub duldeten. Dieser Weg war natürlich nur in ganz wichtigen Fällen gangbar. Infolgedessen mußte ich mich oft genug wohl oder übel entschließen, meinen Namen unter Verfügungen zu setzen, die ich nicht für zweckmäßig halten konnte. Ich erinnere mich z. B. meiner Auseinandersetzungen mit Herrn von Batocki über die Zwangsbewirtschaftung der Eier, die ich für verfehlt hielt [182] und heute noch für verfehlt halte. Aber der Ernährungsbeirat hatte sich festgelegt und Herr von Batocki erklärte die Herbeiführung einer anderen Stellungnahme für ebenso unmöglich wie eine Regelung gegen die formell nur gutachtlichen Beschlüsse des Ernährungsbeirats. Solche Zwangslagen waren nicht selten. Die Ausgestaltung des Kriegsernährungsamts zu einem Staatssekretariat unter Übertragung der Stellvertretung des Reichskanzlers auf den Staatssekretär war die Lösung, die sich schließlich trotz aller in der Einheitlichkeit der Führung der Kriegswirtschaft begründeten Bedenken aufdrängte. In diesem Sinne wurde die Frage im Juli 1917 bei Gelegenheit des Übergangs der Kanzlerschaft an Herrn Michaelis und des Kriegsernährungsamts an Herrn von Waldow entschieden.
Das Geschäftsgebiet, das dem Reichsamt des Innern — abgesehen von den innerpolitischen Angelegenheiten — in den wirtschaftlichen Dingen verblieb, war auch nach der Abtrennung der eigentlichen Ernährungsfragen von kaum übersehbarer Ausdehnung. Seine Bewältigung wurde mit der Dauer des Krieges und mit der Verschärfung des Druckes der Wirtschaftsblockade von Monat zu Monat schwieriger. Dazu kam, daß der Personalbestand des Reichsamts des Innern auf das äußerste eingeschränkt war. Zu Kriegsbeginn hatte sich ein großer Teil der jüngeren Beamten für den Dienst mit der Waffe freigeben lassen. Andere mußten für die verschiedenen [183] Kriegsorganisationen und für die Verwaltung der besetzten Gebiete abgegeben werden. Ausreichend geschulter Ersatz stand nicht zur Verfügung. Die dem Amt verbliebenen Kräfte waren bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit belastet. Dazu kam die ständig wachsende Beanspruchung durch die parlamentarischen Verhandlungen. Während im ersten Halbjahr des Krieges nur 3 kurze Plenarsitzungen des Reichstags stattfanden, deren stenographische Berichte nur 23 Seiten umfaßten, im zweiten Halbjahr 9 Sitzungen mit 186 Seiten Bericht, fanden im sechsten Halbjahr des Krieges (1. Februar bis 1. August 1916) nicht weniger als 37 Vollsitzungen statt, deren stenographische Berichte auf 1280 Seiten anschwollen. Noch mehr Zeit und Kraft nahmen die parlamentarischen Kommissionen in Anspruch. Ich habe als Staatssekretär des Innern lange Zeiten hindurch meine eigentlichen Amtsgeschäfte in der Zeit vor neun oder zehn Uhr morgens und nach sieben oder acht Uhr abends erledigen müssen und oft erst spät nach Mitternacht die Arbeit verlassen können, um am nächsten Morgen zu früher Stunde wieder auf dem Plan zu sein; und ähnlich wie mir selbst, erging es meinen wichtigsten Mitarbeitern.
Mit diesem überlasteten Apparat mußten die gewaltigen Anforderungen bewältigt werden, die der Krieg in immer steigendem Maße an die wirtschaftliche Zentralbehörde des Reiches stellte.
Schritt für Schritt, mit ebenso unerbittlicher Folgerichtigkeit wie souveräner Verachtung des Völkerrechts und brutaler Rücksichtslosigkeit gegen die Neutralen, ergänzte und vervollkommnete die Entente unter Englands Führung die wirtschaftliche Einschnürung Deutschlands.
Die deutsche Handelsflagge war in den ersten Tagen des Krieges von den Weltmeeren verschwunden. Unsere Flotte genügte, um der britischen Flotte die Annäherung an unsere Küsten und die Einfahrt in die Ostsee zu gefahrvoll erscheinen zu lassen. Die Schlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 hat gezeigt, daß es England in der Tat auf einen Kampf mit unserer Hochseeflotte nicht ohne das größte Risiko für seine Flotte und damit für seine Existenz ankommen lassen konnte. Damit war eine nach den Regeln des Völkerrechts durchzuführende Blockade unserer Häfen unmöglich gemacht. Auf der anderen Seite aber war unsere Flotte nicht stark genug, um die britische Seemacht vor deren eigenen Stützpunkten zum Kampf zu stellen. So waren wir in der Nordsee und Ostsee eingeschlossen. England dagegen hatte die Meere frei, nachdem unsere wenigen zur Zeit des Krieges in den überseeischen Gewässern stationierten Kreuzer nach heldenhafter Gegenwehr und glänzenden Waffentaten, wie der Schlacht an der Coronelküste, der Übermacht der Feinde [185] zum Opfer gefallen waren. Einzelne Streifzüge von Hilfskreuzern, wie der „Möwe“ und des „Wolf“, konnten, so Hervorragendes sie leisteten, an der Tatsache nichts ändern, daß unsere Kauffahrteischiffe in deutschen und neutralen Häfen feiern mußten, während die Schiffe der Entente bis zum U-Bootkrieg ohne wesentliche Beunruhigung die Meere befahren konnten.
Da aber die Entente nicht in der Lage war, eine Blockade unserer Küsten aufzurichten und durchzuführen, blieb uns die Möglichkeit des Handelsverkehrs über See durch die Vermittlung neutraler Schiffe, soweit nicht die völkerrechtlichen Satzungen über die Bannware entgegenstanden.
England hat von Beginn des Krieges an alles darangesetzt, uns diese Handelsmöglichkeit zu zerstören und die Blockade unserer Häfen, zu der es marinetechnisch nicht in der Lage war, durch ein System der Schiffahrts- und Handelskontrolle zu ersetzen, das zwar allem Völkerrecht Hohn sprach, aber dem Zweck, uns vom Verkehr mit der Außenwelt abzuschnüren, besser angepaßt war, als es die wirksamste Blockade unserer Küsten hätte sein können.
Das Seekriegsrecht hatte auf der internationalen Konferenz, zu der die britische Regierung im Anschluß an die Haager Friedenskonferenz von 1907 eingeladen hatte, in der sogenannten „Londoner Deklaration“ vom 26. Februar 1909 eine neue Kodifikation erfahren. Die Bevollmächtigten der Signatarmächte, einschließlich der [186] britischen und französischen, hatten in den „Einleitenden Bestimmungen“ zur Londoner Deklaration ausdrücklich festgestellt, daß die Londoner Deklaration im wesentlichen den allgemein anerkannten Grundsätzen des internationalen Rechtes entspreche. Trotzdem hatte die britische Regierung die Londoner Deklaration bei Kriegsausbruch noch nicht ratifiziert. Die Regierung der Vereinigten Staaten richtete wenige Tage nach Kriegsausbruch an die kriegführenden Staaten die Anfrage, ob sie die Londoner Deklaration als maßgebend für die Seekriegführung anerkennen wollten; sie fügte hinzu, daß nach ihrer Ansicht die Annahme der Londoner Deklaration durch die Kriegführenden schweren Mißverständnissen, die andernfalls in den Beziehungen zwischen den Neutralen und den Kriegführenden entstehen könnten, vorbeugen würde. Während Deutschland und sein österreich-ungarischer Bundesgenosse alsbald die amerikanische Anfrage bejahend beantworteten, erklärte die britische Regierung, die Londoner Deklaration nur mit gewissen Modifikationen und Ergänzungen annehmen zu können. Schon die damals der amerikanischen Regierung mitgeteilten „Modifikationen und Ergänzungen“, wie sie in der Order in Council vom 20. August 1914 enthalten waren, bedeuteten in wesentlichen Punkten einen vollständigen Widerspruch zu den in der Londoner Deklaration niedergelegten, bisher allgemein anerkannten Grundsätzen des Seekriegsrechts. Insbesondere setzte die britische Regierung eine Reihe [187] von Gegenständen auf die Konterbandeliste, die in der Londoner Deklaration als Nichtkonterbande erklärt waren und die, da sie entweder überhaupt nicht oder doch nur sehr mittelbar für kriegerische Zwecke verwendbar sind, nach den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts nicht als Konterbande behandelt werden durften. Außerdem beseitigten die von der britischen Regierung erlassenen Bestimmungen in ihrer Wirkung die in die Londoner Erklärung aufgenommenen Regeln, nach denen die als „relative Konterbande“ bezeichneten Gegenstände nur dann als Konterbande behandelt werden sollten, wenn sie für den Gebrauch der Verwaltungsstellen oder der Streitmacht des feindlichen Staates bestimmt sind. Der für die Versorgung eines kriegführenden Staates bestimmte neutrale Handel mit Gegenständen der relativen Konterbande, insbesondere mit Lebensmitteln und industriellen Rohstoffen, wurde damit unterbunden, im Widerspruch nicht nur zur Londoner Deklaration, sondern auch zu dem vor der Londoner Deklaration von der britischen Regierung selbst anerkannten Völkerrecht. Die amerikanische Regierung hat später in einer ihrer vielen wirkungslos gebliebenen Protestnoten dem Londoner Kabinett eine Erklärung des Lord Salisbury während des südafrikanischen Krieges entgegengehalten, lautend: „Nahrungsmittel, auch wenn sie feindliche Bestimmung haben, können als Kriegskonterbande nur angesehen werden, wenn sie für die Streitkräfte bestimmt sind. Es ist nicht genügend, daß [188] sie geeignet sind, so verwendet zu werden. Es muß bewiesen werden, daß dies zur Zeit ihrer Beschlagnahme in der Tat ihre Bestimmung war.“
Die Order in Council vom 20. August wurde in der Folgezeit wiederholt verschärft, immer in der Absicht, Deutschland von jeder nicht nur Kriegszwecken dienenden, sondern auch für die Erhaltung seiner Bevölkerung wichtigen Versorgung durch die neutrale Schiffahrt abzuschneiden. Schließlich wurde durch eine Order vom 23. April 1916 der Unterschied zwischen relativer und absoluter Konterbande überhaupt aufgehoben. Die Liste der Bannwaren wurde immer länger, so daß es schließlich kaum mehr eine wichtige Warengattung gab, die nicht auf dieser Liste figurierte. Am 7. Juli 1916 sagten sich die britische und französische Regierung gänzlich von der inzwischen wie ein Sieb durchlöcherten Londoner Deklaration los.
Aber die Ausdehnung des Bannwarenbegriffs und die Verschärfung der Behandlung der Bannwaren genügten den Zwecken der britischen Regierung nicht entfernt. Das Anhalten und die Untersuchung der Schiffe auf hoher See war zu lästig und gefahrvoll, auf der anderen Seite nicht wirksam genug.
Anfang November 1914 teilte die britische Regierung den Neutralen mit, daß die ganze Nordsee als Kriegsgebiet anzusehen sei. Es sei nötig geworden, den Zugang zur Nordsee zwischen Schottland und Norwegen mit [189] Minen zu belegen; allen Schiffen, die mit Holland, Dänemark, Norwegen und den Ostseeländern verkehren wollten, wurde der dringende „Rat“ erteilt, den Weg durch den Kanal und die Straße von Dover zu benutzen, von wo ihnen ein sicherer Weg nach ihren Bestimmungshäfen angewiesen werden sollte.
Diese Mitteilung kam in ihrer Wirkung auf eine Blockade nicht nur der deutschen Küsten, sondern auch der neutralen Anlieger der Nord- und Ostsee hinaus. Der hierin liegende Verstoß gegen jedes Völkerrecht wurde verschärft durch eine weitere Erklärung der britischen und französischen Regierung vom 1. März 1915, daß sie von nun an das Recht beanspruchten, alle Schiffe anzuhalten und in einen ihrer Häfen einzubringen, die Güter führten, von denen vermutet werde, daß sie feindliche Bestimmung hätten, feindliches Eigentum oder feindlichen Ursprungs seien.
Die Neutralen protestierten, allen voran die Vereinigten Staaten. In einer Note vom 30. März 1915 machten sie mit Recht darauf aufmerksam, daß die Alliierten Rechte für sich beanspruchten, die sie nur bei einer effektiven Blockade, für die jede Voraussetzung fehle, in Anspruch nehmen könnten; so das Einbringen aller irgendwie verdächtigen Schiffe statt der Untersuchung auf hoher See; so das Vorgehen gegen jeglichen Handelsverkehr mit Deutschland, insbesondere auch gegen die Ausfuhr von Deutschland nach neutralen Ländern. Aber der Einspruch [190] der Vereinigten Staaten, der in einem langwierigen Notenwechsel mit der britischen Regierung bis zum Ende des Jahres 1915 mehrfach wiederholt wurde, blieb auf dem Papier. Ja die Behandlung der Schiffe, die nach einem Hafen eines Deutschland benachbarten neutralen Landes bestimmt waren oder aus einem solchen Hafen kamen, wurde später noch weiter verschärft, indem diesen Schiffen bei Strafe der Beschlagnahme auferlegt wurde, sich selbst in einem Hafen der Alliierten zur Untersuchung zu stellen.
Es ist nicht möglich, hier alle die einzelnen Maßnahmen zu schildern, mit denen die neutrale Schiffahrt davon abgeschreckt wurde, deutsche Häfen anzulaufen oder Waren irgendwelcher Art im deutschen Interesse zu befördern. Als bezeichnend erwähnen will ich nur noch den Gebrauch, den England von seiner Macht als Lieferant von Bunkerkohle machte. Seit Oktober 1915 durfte Bunkerkohle an neutrale Schiffe nur noch gegen die Übernahme von Verpflichtungen seitens der zu beliefernden Reedereien abgegeben werden, die diese völlig unter die Kontrolle der britischen Admiralität stellten. Als einige neutrale Reedereien sich dieser Erpressung dadurch zu entziehen suchten, daß sie auf englische Bunkerkohle verzichteten und dafür deutsche Bunkerkohle einnahmen, erklärte die britische Regierung, daß deutsche Bunkerkohle als Ware deutschen Ursprunges der Beschlagnahme unterliege.
Die Neutralen ließen sich den Druck, den England durch die rücksichtslose und völkerrechtswidrige Ausnutzung [191] seiner Herrschaft zur See auf sie ausübte, unter Protest gefallen. Die Deutschland benachbarten kleinen neutralen Staaten, die durch Englands Vorgehen nach Deutschland am schwersten betroffen wurden, verfügten weder politisch und militärisch, noch wirtschaftlich über genügende Machtmittel, um England und seinen Verbündeten einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Ja sie waren größtenteils in ihrer Volksernährung und in ihrem ganzen Erwerbsleben so sehr von überseeischen Zufuhren abhängig, daß sie sich sogar dazu pressen ließen, die völkerrechtswidrigen Maßnahmen der Alliierten gegen Deutschland auf ihrem eigenen Boden zu dulden oder gar zu unterstützen. Einzig und allein die Vereinigten Staaten wären in der Lage gewesen, zugunsten des Völkerrechts und der Menschlichkeit, der die Entwicklung des Völkerrechts in der Beschränkung der Kriegführung auf die bewaffneten Streitkräfte gerecht zu werden versucht hatte, ein Machtwort zu sprechen. Es hatte einige Male den Anschein, als ob die Vereinigten Staaten sich zu einem energischen Eintreten für die innerhalb bescheidener Grenzen völkerrechtlich gewährleistete Freiheit der Meere aufraffen wollten. Aber es blieb auch von dieser Seite bei papiernen Protesten.
Unterdessen machte England Anstalten, das „Verbot des Handels mit dem Feinde“, das es nach altem englischem Brauch alsbald nach Kriegsausbruch für seine Staatsangehörigen und Einwohner erlassen hatte und dem [192] seine Verbündeten beigetreten waren, auch den neutralen Ländern aufzuzwingen.
Mit diesem Versuch hatte es sogar in den Vereinigten Staaten einen gewissen Erfolg. Schon im Februar 1915 gelang es den englischen Bemühungen, die Ausfuhr von Wolle aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland zu unterbinden. Zu diesem Zweck gestattete England die Belieferung amerikanischer Bezieher mit Wolle aus den britischen Besitzungen nur noch durch die Vermittlung der Amerikanischen Textil-Alliance, die sich ihrerseits gegenüber dem britischen Handelsamt verpflichtete, die Ausfuhr von Wolle nach Deutschland durch die Auferlegung bestimmter Bedingungen an ihre Abnehmer zu verhindern. In ähnlicher Weise hat England die Ausfuhr von Kautschuk und Gummiwaren aus den Vereinigten Staaten unter seine Kontrolle gebracht. Die Vereinigten Staaten bezogen etwa 70% ihres Gummibedarfs aus britischen Besitzungen, 30% aus Brasilien, dessen Gummigewinnung und Gummihandel zu einem erheblichen Teil unter englischer Kapitalkontrolle stand. Diese Machtstellung hat England benutzt, um den amerikanischen Beziehern von Kautschuk die Verpflichtung aufzuerlegen, Gummi und Gummifabrikate nur auf dem Weg über England und nur mit britischer Genehmigung nach Europa zu liefern. Ja sogar ureigene amerikanische Erzeugnisse wurden dieser Kontrolle unterworfen. Nachdem England die Baumwolle zur Bannware erklärt hatte [193] (August 1915), gestattete es die Lieferung von Baumwolle an europäische Neutrale nur solchen amerikanischen Händlern, die Mitglieder der Liverpooler Baumwollbörse wurden und sich verpflichteten, Deutschland auch nicht mittelbar mit Baumwolle zu beliefern. Gleiches erreichte England hinsichtlich der amerikanischen Metalle, vor allem hinsichtlich des Kupfers. Diese Abmachungen mit dem amerikanischen Handel wurden ergänzt durch Abmachungen mit den wichtigsten Schiffahrtsgesellschaften, die sich verpflichteten, von ihren Verladern Sicherheit gegen jede Verletzung der britischen Vorschriften zu verlangen, wofür ihnen von der britischen Regierung Erleichterungen in der Handhabung der Kontrolle zugesichert wurden.
Handelte es sich gegenüber den Amerikanern noch um gütliche Vereinbarungen oder höchstens um einen sanften Druck, so ließ England die kleinen Neutralen die ganze Schwere seiner eisernen Faust fühlen.
Die überseeische Zufuhr der Deutschland benachbarten Neutralen wurde einer scharfen Kontingentierung unterworfen. Die jährlichen Kontingente für die einzelnen Waren wurden durch eine in Paris tagende Kommission von Vertretern Englands, Frankreichs, Italiens und Rußlands festgesetzt. Die hierdurch bewirkte knappe Bedarfsdeckung mußte allein schon eine Einschränkung der Wiederausfuhr nach Deutschland zur Folge haben. Aber damit begnügte sich die britische Regierung nicht; sie verlangte vielmehr in zahlreichen Fällen Ausfuhrverbote, und zwar [194] nicht nur für die über See eingeführten Waren, sondern auch für einheimische Erzeugnisse unserer neutralen Anlieger. Vor allem aber sicherte sich die britische Regierung die nahezu lückenlose Kontrolle über den Verbleib der ganzen überseeischen Einfuhr der uns benachbarten Neutralen durch die Errichtung besonderer Kontrollgesellschaften.
Als erste dieser Gesellschaften wurde schon im November 1914 die Nederlandsche Overzee Trust Maatschappij, meist NOT genannt, ins Leben gerufen. Beteiligt an der Gründung waren die großen holländischen Schiffahrtsgesellschaften und Banken, sowie einige Großhandelsfirmen. Die NOT traf Abmachungen mit der britischen Regierung, in denen diese zusagte, Schiffe mit an die NOT konsignierter Ladung unbeanstandet passieren zu lassen, während die NOT sich verpflichtete, für den ausschließlich inländischen Verbrauch der an sie konsignierten Artikel und der aus diesen hergestellten Waren zu garantieren. Die englische Regierung behielt sich ein weitgehendes Recht der Nachprüfung vor. Die NOT ihrerseits war verpflichtet, von den Importeuren, die sich ihrer Vermittlung bedienten — und andere als durch die NOT vermittelte Importe gab es bald nicht mehr — Sicherheit für den ausschließlich inländischen Verbrauch der Waren zu verlangen; der Importeur darf die Waren nur mit Zustimmung der NOT und nur unter der Bedingung weiter übertragen, daß der Erwerber gegenüber der [195] NOT dieselben Verpflichtungen übernimmt wie der Veräußerer.
In den Dienst der Kontrolle der Ausführung aller dieser Verpflichtungen sind durch allerlei Abmachungen die Reedereien, die Spediteure, die Lagerhäuser und Speichereien gestellt worden. Eine Durchbrechung dieser Kontrolle war um so aussichtsloser, als die holländische Regierung selbst durch eine Verschärfung der Grenzüberwachung und der gegen Schmuggel gerichteten Strafbestimmungen das Überwachungssystem der NOT ergänzte.
Im Herbst 1915 wurde in der Schweiz nach langen Verhandlungen mit England, Frankreich und Italien eine der NOT ähnliche Kontrollgesellschaft unter dem Namen „Société Suisse de Surveillance Economique“, kurz S. S. S. genannt, gegründet. In Dänemark übernahmen die Grosserer Societät und der Industrierat die Kontrollfunktionen, in Schweden die Gesellschaft Transito. In Norwegen wurde die Kontrolle durch ein Zusammenwirken der Regierungsorgane mit den britischen Konsulatsbehörden hergestellt.
Die letzte Ergänzung und Vervollständigung erhielt dieses System der Handelssperre durch die Postkontrolle und die Schwarzen Listen. Die rücksichtslos durchgeführte und systematisch ausgenutzte Postkontrolle, der gegen jedes Völkerrecht auch neutrale Schiffe auf der Fahrt von neutralem zu neutralem Hafen unterworfen wurden, brachte wertvolle Einblicke in die Handelsbeziehungen der Neutralen und damit neue Kontrollmöglichkeiten. Durch [196] die Schwarzen Listen wurden neutrale Kaufleute, die mit Deutschland Handel trieben oder auch nur des Handels mit Deutschland verdächtig waren, in bezug auf Handelsverbote usw. den feindlichen Ausländern gleichgestellt, also einem Handelsboykott unterworfen.
Alle diese Maßnahmen dienten dem einen Zweck, dem im schwersten Kampf stehenden deutschen Volk den Lebensatem abzuschnüren. Niemals in der Geschichte aller Zeiten und Völker haben brutale Gewalt und kaufmännisches Raffinement sich zu einem so gewaltigen Unternehmen zusammengetan. Die Napoleonische Kontinentalsperre war in ihrer Anlage, ihren Mitteln und in ihren Wirkungen ein Kinderspiel im Vergleich mit der Handels- und Hungerblockade, durch die England das große Land im Zentrum Europas zu einer belagerten Festung machte.
Unsere militärischen Erfolge vermochten diese Lage in manchen nicht unwesentlichen Beziehungen für uns zu verbessern, aber nicht von Grund aus zu ändern.
Die rasche Besetzung Belgiens und Nordfrankreichs brachte Gebiete in unsere Gewalt, die auch vom Standpunkt des Wirtschaftskrieges aus eine wesentliche Stärkung unserer Position bedeuteten; vor allem eine Stärkung unserer Rohstoffposition. Sowohl die Produktionsmöglichkeiten jener Gebiete wie auch die großen in jenen Gebieten lagernden Vorräte von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Fertigwaren waren eine wertvolle Ergänzung unserer [197] eigenen Bodenschätze und Warenvorräte. Ich erinnere nur an die Eisenerzvorkommen von Longwy und Briey, an die belgische Montanindustrie, an die großen Lager Antwerpens an Stapelartikeln aller Art, an die Bestände der Industriegebiete von Verviers und Roubaix-Tourcoing an Wolle und Wollwaren, von Gent und Lille an Baumwolle, Baumwollgarnen und Baumwollwaren. Im weiteren Verlauf des Krieges hat die Besetzung der polnischen Industriegebiete uns einen weiteren Zuwachs namentlich an Rohstoffen und Halbfabrikaten der Textilindustrie gebracht.
Dagegen hatte die Besetzung dieser Gebiete im Osten und Westen keine nennenswerte Erleichterung unserer Ernährungssituation zur Folge. Die dichte Bevölkerung Belgiens und Nordfrankreichs bedurfte selbst eines sehr erheblichen Zuschusses an Nahrungsmitteln; auch Polens Landwirtschaft hat im Frieden nicht ausgereicht, um die eigene Bevölkerung, die sich in den großen Industriezentren von Warschau, Lodz und Sosnowice stark zusammenballt, mit der erforderlichen Nahrung zu versehen. Litauen und Kurland vermochten bei der Rückständigkeit ihrer Landwirtschaft und ihrer dünnen, durch den Krieg noch weiter verminderten Bevölkerung das Bild nicht wesentlich zu ändern, obwohl unsere Militärverwaltung sich nach besten Kräften und mit Erfolg bemühte, die Produktion zu heben. Die Sorge um die Ernährung der Bevölkerung Belgiens und Nordfrankreichs [198] ist uns in der Hauptsache durch die unter amerikanischer und spanischer Leitung arbeitende „Relief-Commission“ abgenommen worden. Die Bedingung für die Versorgung dieser Gebiete mit amerikanischen Einfuhren war allerdings, daß wir uns verpflichteten, nicht nur die von der Kommission eingeführten Nahrungsmittel nicht für deutsche Zwecke zu beschlagnahmen, sondern auch die eigene landwirtschaftliche Erzeugung Belgiens für die belgische Bevölkerung vorzubehalten. Auf diese Weise sind wir zwar der schweren Wahl enthoben worden, entweder die dichte Bevölkerung der besetzten Gebiete durch Zuschüsse aus unseren eigenen knappen Beständen durchzuhalten, oder im Rücken unserer kämpfenden Truppen eine Bevölkerung von vielen Millionen allen Verzweiflungen des Hungers preiszugeben. Aber eine irgendwie nennenswerte Erleichterung gegenüber dem furchtbaren Druck der Hungerblockade haben uns die besetzten Gebiete nicht gebracht.
Auch unsere Bundesgenossen waren uns in diesem Punkte keine Hilfe.
Österreich-Ungarn hatte schon in den Jahren vor dem Kriege aufgehört, einen Überschuß an landwirtschaftlichen Produkten über den stark angewachsenen eigenen Bedarf hinaus zu erzeugen. Immerhin stand die Donaumonarchie in der Deckung ihres Nahrungsbedarfs durch die eigene Erzeugung wesentlich günstiger da als Deutschland. Trotzdem stellte sich bald heraus, daß Österreich-Ungarn [199] gegenüber der durch die Sperrung der Nahrungsmittelzufuhr geschaffenen Lage nicht dieselbe Widerstandskraft aufzubringen vermochte wie Deutschland. Die eigene Produktion ging stärker zurück und wurde weniger scharf erfaßt, der eigene Verbrauch wurde laxer kontrolliert und eingeschränkt als bei uns. In Energie, Organisation und Disziplin vermochte unser Verbündeter mit uns auch auf dem Gebiet der Volksernährung so wenig Schritt zu halten, daß wir, trotz unserer an sich ungünstigeren eigenen Lage, uns sehr bald gezwungen sahen, den Österreichern gelegentlich auszuhelfen.
Eine ähnliche Erfahrung machten wir später, nach der Niederwerfung Serbiens, mit Bulgarien. Auch dieses Bauernland, das im Frieden stets einen Nahrungsüberschuß erzeugte, sah seine landwirtschaftliche Produktionskraft durch den Krieg in einer Weise gelähmt, daß es nicht nur nicht in der Lage war, uns auszuhelfen, sondern selbst in große Ernährungsschwierigkeiten geriet, die schließlich zu dem Zusammenbruch der bulgarischen Armee wesentlich beigetragen haben.
Auch die Türkei, die schon in Friedenszeiten infolge der Rückständigkeit ihrer eigenen Landwirtschaft einen Getreidezuschuß aus Rußland brauchte, konnte uns keine Hilfe sein.
Dagegen haben allerdings sowohl Bulgarien wie namentlich die Türkei uns mit andern wichtigen Artikeln beliefern können, so mit Ölen und Fetten, mit Tabak, mit [200] Wolle, Baumwolle und Seide, mit Metallen. Freilich waren auch bei diesen Gütern die Mengen beschränkt, nicht nur wegen der an sich nicht sehr erheblichen Produktion, sondern vor allem wegen der geringen Leistungsfähigkeit der Verkehrsmittel. In Friedenszeiten haben jene Länder für ihre Ausfuhr und Einfuhr so gut wie ausschließlich den Seeweg benutzt. Jetzt mußte sich der Export der Türkei auf die eine eingleisige Eisenbahn von Konstantinopel über Sofia zusammendrängen, die zudem für militärische Zwecke fortgesetzt stark in Anspruch genommen war. Auch der Donauweg, der für den Verkehr mit Bulgarien und Rumänien in Betracht kam, war wenig leistungsfähig und mußte während des Krieges erheblich verbessert werden.
So waren wir für unsere Volksernährung im wesentlichen auf die eigene landwirtschaftliche Erzeugung und auf die Zufuhren gestellt, die wir im Kampf mit der britischen Hungerblockade doch noch aus den neutralen Ländern herausholen konnten.
Unsere Landwirtschaft selbst war durch den Krieg in eine schwere Lage gebracht. Die Entziehung der leistungsfähigsten Arbeitskräfte durch die Einberufungen zum Heer, die Verminderung des Pferdebestandes durch den militärischen Bedarf, die infolge der Verwendung der Stickstoffverbindungen zur Sprengstofffabrikation alsbald einsetzende Knappheit an Düngemitteln wurden in ihrer Wirkung noch gesteigert durch ungünstige Witterungsverhältnisse. So kam es, daß der Ernteertrag des [201] Jahres 1917 an Roggen und Weizen sich nur auf 9,2 Millionen Tonnen stellte gegen 16½ Millionen Tonnen in dem allerdings glänzenden Jahr 1913; daß in derselben Zeit die Gerstenernte von 3,6 auf 2,0 Millionen Tonnen, die Haferernte von 9,5 auf 3,6 Millionen Tonnen zurückging. Das Jahr 1916 brachte ein völliges Versagen der Kartoffelernte, die von 54 Millionen Tonnen in den Jahren 1913 und 1915 auf 25 Millionen Tonnen zusammenklappte. Die beiden folgenden Jahre ergaben 34,4 und 29,5 Millionen Tonnen.
Was die Viehzucht anbelangt, so hielt sich unser Bestand an Rindvieh bis in das Jahr 1917 hinein der Zahl nach ungefähr auf der Friedenshöhe. Aber die Knappheit an Futtermitteln, namentlich an Kraftfuttermitteln, führte zu einem starken Rückgang des Lebendgewichtes und vor allem der Milchergiebigkeit. Unser Bestand an Schweinen stellte sich am 1. Juni 1917 nur noch auf 12,8 Millionen Stück, gegen 25,7 Millionen am 1. Dezember 1913. Zu der Verminderung der Stückzahl kam auch hier eine starke Verminderung des Lebendgewichtes und damit der Fetterzeugung.
Diese wenigen Zahlen mögen genügen, um ein Bild davon zu geben, wie schwer und ernst es um die belagerte Festung stand und wieviel darauf ankam, den Druck der Handels- und Hungerblockade zu lockern und aus den neutralen Ländern alles, was immer erreichbar war an Nahrungsmitteln und Rohstoffen, hereinzuholen.
Die Mittel des Gegendruckes, die uns gegenüber dem Druck Englands auf die Neutralen zur Verfügung standen, waren bescheiden. Die Zeiten, in denen der Verkäufer im allgemeinen in der schlechteren Lage ist als der Käufer, in denen die Konkurrenz des Angebots meist größer ist als die Nachfrage, waren mit Kriegsausbruch vorbei. Von jetzt ab beherrschte der Warenhunger den internationalen Handel. Auch für die Neutralen war jetzt die erste Frage nicht mehr: „Was kann ich dir verkaufen?“ sondern: „Was kannst du mir liefern?“
Der Welthandel ist in der Hauptsache Seehandel. Da unsere Feinde die See beherrschten, konnten sie den Neutralen nicht nur die Erzeugnisse ihres eigenen Landes und ihrer weltumfassenden überseeischen Besitzungen je nach Belieben liefern oder vorenthalten, sondern darüber hinaus hatten sie es in der Hand, die Erzeugnisse der ganzen überseeischen Welt den europäischen Neutralen zu sperren. Sie haben von dieser Möglichkeit ohne jede Rücksicht auf das Völkerrecht den brutalsten Gebrauch gemacht.
Uns stand demgegenüber nur unsere eigene, durch den Krieg ebensosehr beeinträchtigte wie in Anspruch genommene Erzeugung zu Gebote. Darunter wichtige Dinge, wie Kohlen, Eisen und Stahl, Teerfarben, Arzneimittel, Kali und ähnliches. Aber einmal konnten wir auch von [203] diesen Dingen nur beschränkte Mengen abgeben; ferner waren Kohlen und Eisen immerhin der Konkurrenz von englischer und auch amerikanischer Seite ausgesetzt; schließlich ist der stärkste Druck immer noch der Hunger, den die Entente durch die Sperrung der Zufuhr an Nahrungs- und Futtermitteln in Wirkung setzen konnte. Es handelte sich darum, mit den wenigen Trümpfen, die wir in unserm Spiel hatten, das möglichste an Vorteilen herauszuholen.
Dazu war nötig die planmäßige Verfügung über unsere für die Ausfuhr verfügbaren Waren. Schon die unbedingte Sicherung des eigenen Bedarfs für Kriegs- und Wirtschaftszwecke hatte bald einzelne Ausfuhrverbote erforderlich gemacht. Die Notwendigkeit, unsere Ausfuhr als Mittel im Wirtschaftskampf um die Neutralen zu verwerten, machte es vollends unmöglich, die Ausfuhr und die Ausfuhrbedingungen in dem Belieben des einzelnen Produzenten oder Händlers zu belassen.
Nicht minder wurde eine Regelung der Einfuhr notwendig.
Wir konnten einmal die ohnedies gewaltigen Schwierigkeiten der Heranziehung ausländischer Zufuhren nicht dadurch ins Ungemessene steigen lassen, daß deutsche Aufkäufer auf den überlaufenen neutralen Märkten sich gegenseitig eine schrankenlose Konkurrenz machten, die Preise unvernünftig in die Höhe boten und die sonstigen Gegenforderungen des Auslandes maßlos erhöhten.
Wir mußten ferner mit unserer beschränkten Kaufkraft für ausländische Waren haushalten und die für uns beschaffbaren Beträge an fremder Valuta für den Ankauf der am dringlichsten benötigten Waren verwenden.
Schließlich ließ die Tatsache, daß die Einfuhr wichtiger Waren nur in bestimmten Mengen und nur gegen Zugeständnisse unsererseits auf dem Gebiete der Ausfuhr zu erreichen war, gar keine andere Wahl als eine planmäßige Regelung auch der Einfuhr.
Das sind die zwingenden Gründe, aus denen die vielgescholtene Reglementierung und Zentralisation unserer Aus- und Einfuhr entstand.
Diese zwingenden Gründe wurden, wie die ganze Tragweite des Wirtschaftskrieges, nicht von Anfang an voll erkannt. Aber immerhin zeigten weite und wichtige Kreise unseres Wirtschaftslebens schon in den ersten Tagen und Wochen des Krieges ein richtiges Gefühl für die Notwendigkeit einheitlichen Vorgehens beim Einkauf im neutralen Ausland. Die damals schon aus der Initiative unserer industriellen und kommerziellen Kreise geschaffenen Organisationen sind später ausgebaut und mit anderen, vielfach nach ihrem Vorbild geschaffenen Einrichtungen in den Dienst der Kriegshandelspolitik gestellt worden. Vielfach aber fehlte das Verständnis für die Notwendigkeit einer einheitlichen und planmäßigen Leitung unserer Einkaufs- und Verkaufsgeschäfte mit den Neutralen in einem geradezu erstaunlichen Maße. Es [205] blieb dann nichts übrig, als mit den Machtmitteln, die der Reichstag dem Bundesrat übertragen hatte, auch gegen den Willen der unmittelbar beteiligten Kreise durchzugreifen.
Schon als Schatzsekretär hatte ich in wichtigen und bezeichnenden Fällen Veranlassung, mich mit diesen Fragen zu befassen.
Die Einkäufe für den Bedarf des Feldheeres auf den neutralen Märkten, die damals noch einen verhältnismäßigen Überfluß an Fleisch, Fett, Butter und Käse hatten, erforderten sehr hohe und fortgesetzt steigende Summen. Die Ursache war, daß die mit dem Einkauf beauftragten militärischen Stellen auf diesen Märkten nicht nur mit dem Ausland, sondern auch mit deutschen Einkäufern der verschiedensten Art, mit Händlern, industriellen Werken, Kommunen, Einkaufsgesellschaften usw., ebenso mit Einkäufern für den österreichischen Heeres- und Zivilbedarf zu konkurrieren hatten. Man trieb sich gegenseitig die Preise hoch mit der Wirkung, daß die Verkäufer, je mehr die Preise stiegen, desto mehr auf weitere Preissteigerungen spekulierten und die Ware zurückhielten. Sehr schlimm lagen die Verhältnisse auf dem dänischen Buttermarkt. Ich setzte im Herbst 1915 die Zentralisation des Einkaufs unter Einbeziehung Österreich-Ungarns durch mit dem Erfolg, daß der Butterpreis, der bis auf 275 Kronen für 50 kg gestiegen war, in nicht allzu langer Zeit auf 152 Kronen zurückgebracht [206] wurde und außerdem die Ankäufe für Deutschland und Österreich-Ungarn erheblich gesteigert werden konnten. Für das Reich wurden monatlich eine ganze Anzahl von Millionen gespart, und für die Bevölkerung wie für das Heer wurde die Butterversorgung verbessert.
Noch weit schlimmer lagen die Dinge auf dem rumänischen Getreidemarkte.
Nachdem die überseeische Zufuhr von Getreide und Futtermitteln für uns abgeschnitten und für die europäischen Neutralen auf ein Mindestmaß eingeschränkt worden war, blieb uns und unsern österreichisch-ungarischen Verbündeten als einziges Land, aus dem größere Mengen bezogen werden konnten, das damals noch neutrale Rumänien. Die Jahre 1914 und 1915 brachten in Rumänien reiche Ernten, für die infolge der Dardanellensperre ein anderer Absatz als an die Mittelmächte zunächst nicht in Frage kommen konnte. Außerdem war Rumänien dem Druck des britischen Wirtschaftskrieges entrückt. Rein wirtschaftlich waren also die Voraussetzungen für den Bezug von Getreide und Futtermitteln, namentlich Mais, aus Rumänien durchaus günstig. Politisch allerdings war die Haltung Rumäniens von Anfang an zweifelhaft, und die rumänische Regierung mit ihrem ganzen Beamtenapparat, ebenso die rumänische Landwirtschaft und der rumänische Handel waren geneigt, die Notlage der Mittelmächte nach Kräften auszunutzen. Wir erleichterten ihnen dieses Spiel. Noch viel mehr als auf den dänischen [207] Buttermarkt stürzten sich der reelle und unreelle Handel, die Einkäufer der Militärverwaltung, wirtschaftlicher Unternehmungen, von Städten und Landwirtschaftskammern auf die rumänischen Vorräte. Die Rumänen verkauften zu immer höheren Preisen — ich glaube für Mais wurden schließlich an die tausend Mark für die Tonne bezahlt, — ließen sich bar bezahlen, legten aber dem Abtransport solche Schwierigkeiten in den Weg, vor allem indem sie die tatsächlich vorhandenen Transportschwierigkeiten ins maßlose übertrieben, daß so gut wie nichts aus Rumänien herauskam. Es lagerten schließlich in Rumänien etwa 700000 Tonnen Getreide im Ankaufswert von etwa 200 Millionen Mark, die von uns und unsern Verbündeten bezahlt waren, aber nicht abtransportiert werden konnten. Weitere große Mengen Getreide waren noch verfügbar, aber die Rumänen, die inzwischen ihrerseits den ganzen Getreideverkauf syndiziert hatten, verlangten unerschwingliche Preise und unerfüllbare Zahlungsbedingungen.
Auch hier konnte nur die Zentralisation des Einkaufs helfen, zugleich mit einer einheitlichen Disposition über die von uns für den Abtransport zur Verfügung zu stellenden Transportmittel.
Auf mein Betreiben wurde in schwierigen Verhandlungen die Zentralisation durchgesetzt und das Einkaufsgeschäft der Zentraleinkaufsgesellschaft, der später aus Unkenntnis und Unverstand so viel angefeindeten Z. E. G., übertragen. Die Zentraleinkaufsgesellschaft schloß sich [208] ihrerseits mit der österreichischen Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt und der ungarischen Kriegs-Produkten-Aktiengesellschaft zu einheitlichem Vorgehen zusammen.
Schon im September 1915, also noch vor Beginn des Feldzuges gegen Serbien, konnte mit dem Abtransport von Getreide begonnen werden.
Der rasche und glückliche Verlauf des serbischen Feldzuges hatte einmal die Wirkung, der Ententefreundschaft in Rumänien einen Dämpfer aufzusetzen; dann aber machte er den Donauweg für den Abtransport des rumänischen Getreides frei.
Es gelang nun der Zentraleinkaufsgesellschaft, im Dezember 1915 und im März 1916 mit der rumänischen Regierung Verträge abzuschließen, durch die den Mittelmächten rund 2,7 Millionen Tonnen Getreide zu erträglichen Preisen und Zahlungsbedingungen gesichert wurden. Die Verträge kamen zustande, obwohl die Ententeregierungen, vor allem die britische Regierung, mit allen Mitteln versuchten, den Abschluß zu vereiteln. Ein Versuch Englands, die rumänischen Getreidebestände durch Ankauf zu hohen Preisen und Einlagerung in Rumänien für die Mittelmächte zu sperren, kam zu spät und gelang nur in bescheidenen Grenzen.
Die großen Schwierigkeiten des Abtransportes wurden durch ein Zusammenwirken der Einkaufsgesellschaften mit dem Chef des deutschen Feldeisenbahnwesens und der österreichisch-ungarischen Zentraltransportleitung [209] überwunden. Die Durchfahrt durch das Eiserne Tor wurde verbessert und zweckmäßig organisiert. Die ungarischen Bahnen, auf denen der weitere Abtransport sich zum großen Teile zu vollziehen hatte, wurden durch Verlängerung der Ausweichgleise usw. leistungsfähiger gemacht. Die Zentraleinkaufsgesellschaft schuf sich in kurzer Zeit eine ansehnliche Donauflotte und sorgte für die nötigen Umschlags- und Umladeeinrichtungen.
Der Erfolg war, daß es gelang, bis zum Ausbruch des Krieges mit Rumänien das angekaufte Getreide abzutransportieren. Deutschland hat in dem kritischen Frühjahr und Sommer 1916 aus Rumänien Getreidezufuhren von mehreren hunderttausend Tonnen monatlich erhalten. —
War die Zentralisation der Einfuhr in den Händen weniger, nach kaufmännischen Grundsätzen arbeitender und nach einheitlichen Direktiven handelnder Organisationen eine unerläßliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Vorgehen auf den neutralen Märkten, so genügte sie doch für sich allein keineswegs, um einen Erfolg zu sichern. Die planmäßige Tätigkeit unserer Einkaufsorgane mußte Hand in Hand gehen mit der planmäßigen Verfügung über unsere Ausfuhr, und da sich bald zeigte, daß unsere Ausfuhr in ihrem Geldwert weit zurückblieb hinter der Einfuhr, die wir benötigten und uns, eine Lösung der Bezahlungsfrage vorausgesetzt, beschaffen konnten, so kam als Drittes hinzu die Beschaffung der für [210] die Bezahlung des Einfuhrüberschusses erforderlichen ausländischen Zahlungsmittel.
In der Ausnutzung unserer für die Neutralen willkommenen oder gar notwendigen Ausfuhrwaren für die Zwecke der Sicherung von Zufuhren an für uns notwendigen Rohstoffen und Lebensmitteln konnte nicht nach einer einheitlichen Schablone verfahren werden. Die Verhältnisse für ein Operieren mit unsern Ausfuhrwaren lägen in einem jeden der neutralen Länder anders. Der Grad ihrer Abhängigkeit von unserer Ausfuhr war ebenso verschieden wie der Grad ihrer Abhängigkeit von der Entente; und auch in den einzelnen neutralen Ländern erfuhr dieses Verhältnis während des Krieges fortgesetzt Verschiebungen.
In großen Zügen entwickelte sich unser Vorgehen so, daß in der ersten Zeit des Krieges vorwiegend einzelne Kompensationsgeschäfte mit unsern neutralen Nachbarn abgeschlossen wurden; d. h. wir machten einzelne wichtige Ausfuhrgeschäfte abhängig von bestimmten Gegenleistungen der Neutralen für unsere Versorgung. Unabhängig von diesen Warengeschäften, gelegentlich auch in Verbindung mit ihnen, wurde mit neutralen Geldinstituten über die Eröffnung von Krediten für die Bezahlung unseres Einfuhrüberschusses verhandelt. Es stellte sich nun bald heraus, daß der Weg des Einzelaustausches nicht immer vorteilhaft und nicht immer gangbar für uns war, vor allem aber, daß nur ein bescheidener Teil unseres [211] Einfuhrbedarfs durch einzelne Kompensationsgeschäfte gedeckt werden konnte. Man kam deshalb allmählich zu umfassenderen Abmachungen mit den neutralen Staaten, in denen man sich gegenseitig eine Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen bei der Handhabung von Ausfuhrgenehmigungen und Ausfuhrverboten zusicherte. Dabei handelte es sich für uns darum, durch ein weitherziges Entgegenkommen in unserer Ausfuhrpolitik den Widerstand der Neutralen gegen den Druck der Entente zu stärken, vor allem zu verhindern, daß die Neutralen sich dem Verlangen der Entente nach dem Erlaß von Ausfuhrverboten fügten, oder zu erreichen, daß bereits erlassene Ausfuhrverbote dauernd oder wenigstens für einen bestimmten Zeitraum wieder aufgehoben würden. Wenn auch diese Abmachungen insofern der Präzision des Einzelaustauschgeschäftes ermangelten, als Leistung und Gegenleistung nicht ziffernmäßig festgelegt war, so hatten wir doch eine wirksame Handhabe, um auf eine sinngemäße Ausführung zu dringen. Erfüllte ein neutraler Staat die Erwartungen nicht, auf Grund deren wir uns entgegenkommend gezeigt hatten, so waren wir in der Lage, unsere Ausfuhren nach diesem Staat entsprechend einzuschränken und damit einen Druck auszuüben. So hat die Schweiz im Spätsommer 1916 unter dem Druck Frankreichs und Englands die Ausfuhr aller Waren, die von der Entente zu Bannware deklariert worden waren, nach Deutschland eingestellt. Wir gingen, als alle unsere [212] Vorstellungen daran scheiterten, daß die Entente die Schweiz unter dem stärksten Druck hielt, auch unsererseits mit dem stärksten Druck vor, indem wir eine Ausfuhrsperre für Kohle, Eisenwaren und andere für die Schweiz unentbehrlichen Güter in die Wege leiteten. Der Erfolg war, daß schließlich eine für uns erträgliche Einigung zustande kam.
Solche Erfahrungen führten zu einem weiteren Fortschritt in der Gestaltung unserer Wirtschaftsbeziehungen zu unsern neutralen Anliegern. Die in ihrer Festsetzung von Leistung und Gegenleistung präzisen Einzelkompensationsgeschäfte waren nur beschränkt anwendbar und reichten nicht aus, um unsern Einfuhrbedarf zu decken; die umfassenderen Verständigungen über gegenseitige Berücksichtigung bei der Handhabung der Ausfuhrregelung waren nicht bestimmt genug, um für beide Teile Lieferung und Bezug auf eine wenigstens für einige Zeit gesicherte Grundlage zu stellen und plötzliche Störungen auszuschließen. Es handelte sich darum, die Vorteile beider Systeme zu verbinden und dabei, wenn irgend möglich, auch die immer schwieriger werdende Finanzierung unserer Bezüge sicherzustellen. Zu diesem Zweck schlug ich vor, den Versuch zu machen, mit unsern neutralen Nachbarn zu Abmachungen zu gelangen, die sich erstens auf einen bestimmten längeren Zeitraum erstreckten, zweitens für diesen Zeitraum bestimmte Leistungen und Gegenleistungen an den für jeden der [213] beiden Teile wichtigsten Ausfuhrgütern vorsahen, drittens gleichzeitig den Überschuß unserer Einfuhr über die Ausfuhr durch bestimmte Kreditvereinbarungen deckten. Auf dieser Grundlage wurde in der Folgezeit mit der Schweiz, mit Holland, mit Dänemark und mit Schweden verhandelt und abgeschlossen.
Daß die immer straffer durchgeführte Reglementierung und Zentralisierung unsrer Einfuhr und Ausfuhr, zu der als notwendige Ergänzung noch die Regelung des Verkehrs in ausländischen Zahlungsmitteln (Devisenordnung) hinzutrat, die Interessen zahlreicher Einzelner und wichtiger Berufsstände schädigte, daß bei der Durchführung manche übertriebene Härte, manche überflüssige Umständlichkeit, mancher vermeidbare Fehler mit unterlief, darüber habe ich nie einen Zweifel gehabt. Insbesondere der Handel, dessen Vermittlertätigkeit kaum mehr ein Arbeitsfeld fand, wurde schwer getroffen. Die Organisationen zur Durchführung der nun einmal durch die Kriegsverhältnisse uns aufgezwungenen einheitlichen und planmäßigen Regelung unseres Außenhandels mußten gewissermaßen aus dem Nichts heraus geschaffen werden. Das notwendige Personal — es waren bei der Zentraleinkaufsgesellschaft im Jahre 1916 weit über 4000 Angestellte — mußte aus allen Richtungen der Windrose zusammengeholt, eingegliedert und eingearbeitet werden. Umsätze, die bald in die Hunderte von Millionen, ja in die Milliarden gingen, waren zu bewältigen — kurz, das größte [214] Warenhandelsgeschäft, das die Welt je gesehen hatte, war aufzubauen und hatte zu arbeiten unter Verhältnissen und nach Methoden, die ohne Vorbild waren. Und über den Köpfen, die das alles zu leisten hatten, schwang der Krieg seine Hetzpeitsche. Alles drängte. Oft kam es für wichtige Entscheidungen und Maßnahmen auf Stunden an. Da hieß es manchmal nach dem alten militärischen Grundsatz zu handeln: Besser ein falscher Entschluß als gar keiner!
Alle Mängel und Unzuträglichkeiten, auch alle Kritik und alle Angriffe mußten um des Ganzen willen in Kauf genommen werden. Ja, es mußte von denjenigen, die vor der Kritik und den Angriffen Rede zu stehen hatten, sogar hingenommen werden, daß sie von der stärksten Waffe der Rechtfertigung und Verteidigung, dem Hinweis auf die erzielten Erfolge, überhaupt nicht oder nur im engen Kreise vertraulichster Beratungen Gebrauch machen konnten. Denn die Darlegung der erzielten Erfolge hätte unsern Feinden Einblicke in unsere Arbeit gegeben, die ihnen wirksame Gegenaktionen ermöglicht und damit die glücklich gesicherten Zufuhren wieder auf das schwerste gefährdet hätten.
Heute läßt sich ohne Gefährdung deutscher Interessen über diese Dinge sprechen, und ich gebe deshalb einige Tatsachen, die zeigen, in welchem Maße es uns gelungen ist, in dem schweren Kampf mit der Entente unsere Stellung auf den Märkten der uns benachbarten [215] Neutralen nicht nur zu behaupten, sondern sogar auf Kosten Englands zu verbessern.
Zunächst sei festgestellt, daß uns trotz der Handels- und Hungerblockade die Aufrechterhaltung unserer Einfuhr in weit höherem Maße gelungen ist, als während des Krieges wohl von allen nicht Eingeweihten angenommen wurde.
Unsere Einfuhr im letzten Friedensjahre, 1913, hatte den Wert von 10,8 Milliarden Mark erreicht. Unsere Einfuhr im Jahre 1915, als der Handels- und Hungerkrieg bereits im vollen Gange war, betrug immer noch 7,1 Milliarden Mark; im Jahre 1916 stellt sie sich auf 8,4 Milliarden, 1917 auf 7,1 Milliarden Mark. Freilich erscheint der tatsächlich eingetretene Einfuhrrückgang in diesen Ziffern zu gering; die Preissteigerung fast aller Waren, die auch im Jahre 1915 sich bereits geltend machte, verwischt das Bild der wirklichen Entwicklung. Immerhin bleibt, auch wenn man die Preissteigerung in Rechnung setzt, die Tatsache bestehen, daß uns trotz der Absperrung von der überseeischen Welt und trotz des Druckes, den die Entente auf die uns benachbarten Neutralen ausübte, eine recht ansehnliche Einfuhr verblieben ist. Eine Betrachtung der Einfuhrmengen einzelner wichtiger Artikel wird dies bestätigen.
Gleich hier möchte ich darauf aufmerksam machen, daß unsere Ausfuhr einen weit stärkeren Rückgang erfahren hat als unsere Einfuhr. Während im Jahre 1913 [216] unsere Ausfuhr mit 10,1 Milliarden Mark nur um rund 700 Millionen Mark hinter unserer Einfuhr zurückgeblieben war, sank unsere Ausfuhr im Jahre 1915 auf 3,1 Milliarden Mark, ließ also gegenüber der gleichzeitigen Einfuhr einen Fehlbetrag von 4 Milliarden Mark. Es gelang zwar, im Jahre 1916, trotz der schwierigen Verhältnisse und des immer wachsenden eigenen Bedarfs für Heer und Volk, die Ausfuhr auf 3,8 Milliarden Mark zu steigern; aber der Abstand gegenüber dem Einfuhrwert wuchs, da letzterer noch mehr gestiegen war, auf 4½ Milliarden Mark. Im Jahre 1917 stand der Einfuhr von 7,1 Milliarden eine Ausfuhr von 3,4 Milliarden gegenüber; der Einfuhrüberschuß betrug also 3,7 Milliarden Mark. Die großen und im Laufe des Krieges fortgesetzt steigenden Schwierigkeiten der Beschaffung von Zahlungsmitteln für das Ausland, die hieraus sich ergebende Steigerung der Wechselkurse der neutralen Länder und der Druck auf unsere eigene Valuta finden in dem jährlich mehrere Milliarden betragenden Passivsaldo unserer Handelsbilanz ihre Erklärung.
Wenn unsere Einfuhr sich in dem geschilderten Umfang aufrechterhalten konnte, so lag dies daran, daß die uns benachbarten Neutralen, zu denen bis Ende August 1916 auch Rumänien zu rechnen ist, den Ausfall der Einfuhr aus den feindlichen Ländern und den nur auf dem Seewege zu erreichenden Neutralen zu einem erheblichen Teil wettmachten; denn unsere Verbündeten, deren Hilfsquellen für den eigenen Bedarf durch den Krieg stark in [217] Anspruch genommen waren, vermochten uns in dieser Beziehung keine ziffernmäßig ins Gewicht fallende Hilfe zu gewähren. Während unsere Gesamteinfuhr sich von 10,8 Milliarden Mark im Jahre 1913 auf 7,1 Milliarden Mark im Jahre 1915 verringerte, stieg unsere Einfuhr aus den uns benachbarten Neutralen (einschl. Rumäniens) in derselben Zeit von 1,1 auf 3,5 Milliarden Mark. Im ersten Halbjahr 1916 stellte sich der Anteil dieser Neutralen an unserer Einfuhr sogar auf rund 70% gegen wenig mehr als 10% im Jahre 1913.
An einzelnen wichtigsten Gütern konnten uns die benachbarten Neutralen einen vollen Ersatz für den Wegfall der Einfuhr aus den feindlichen und den für uns gesperrten neutralen Ländern gewähren, ja sogar darüber hinaus unsere Gesamtbelieferung steigern. Das gilt vor allem für die Produkte der Viehzucht, die in den uns benachbarten Neutralen, vor allem in Holland und Dänemark, zu hoher Leistungsfähigkeit entwickelt war. So ist unsere Einfuhr von Schweinefleisch, einschließlich Schinken, von 21600 Tonnen im Jahre 1913 auf 98200 Tonnen im Jahre 1915 gebracht worden. In derselben Zeit stieg unsere Einfuhr von Butter, an der vor dem Kriege Rußland (Sibirien) zu mehr als der Hälfte beteiligt war, trotz des Wegfalls dieser wichtigsten Bezugsquelle, von 54200 auf 68500 Tonnen, während allerdings gleichzeitig die Einfuhr von Milch und Rahm eine starke Verminderung erfuhr. In derselben Zeit ist ferner die Einfuhr [218] von Käse von 26300 Tonnen auf 67300 Tonnen, also auf mehr als das 2-1/2fache der Friedenseinfuhr gebracht worden. Die Einfuhr von Salzheringen wurde von 1298000 Faß auf 2883000 Faß, also auf mehr als das Doppelte, gesteigert.
Natürlich waren die uns benachbarten Neutralen, denen wir diese wichtigen Zuschüsse zu unserm Kriegshaushalt verdanken, nicht in der Lage, ihre Erzeugung an allen diesen Dingen von heute auf morgen in einem Maße auszudehnen, das ihnen ohne weiteres eine so erheblich gesteigerte Belieferung Deutschlands gestattet hätte. Irgendwelche anderen Abnehmer, seien es die inländischen Verbraucher, seien es ausländische Bezieher, mußten zugunsten Deutschlands verkürzt werden.
So war es in der Tat. Und der verkürzte Bezieher war in der Hauptsache — England !
Das sei an einigen Beispielen illustriert.
Die Ausfuhr der Niederlande nach Deutschland und England an einigen wichtigen Artikeln, um deren Bezug die beiden Länder während des Krieges konkurrierten, hat sich folgendermaßen entwickelt [3] :
Holländische Ausfuhr nach | |||||||
Deutschland | England | ||||||
an Butter | im | Jahre | 1913 | 19000 | t | 7900 | t |
„ | „ | 1915 | 36700 | „ | 2500 | „ | |
„ | „ | 1916 | 31500 | „ | 2200 | „ | |
an Käse [219] | im | Jahre | 1913 | 16100 | „ | 19100 | „ |
„ | „ | 1915 | 36300 | „ | 8400 | „ | |
„ | „ | 1916 | 76200 | „ | 6800 | „ | |
an Schweinefleisch | im | Jahre | 1913 | 11000 | „ | 34000 | „ |
„ | „ | 1915 | 55100 | „ | 7600 | „ | |
„ | „ | 1916 | 25100 | „ | 10300 | „ | |
an Eiern | im | Jahre | 1913 | 15300 | „ | 5800 | „ |
„ | „ | 1915 | 25200 | „ | 7800 | „ | |
„ | „ | 1916 | 36400 | „ | 800 | „ |
Deutschland hat also seine Einfuhr aus den Niederlanden an diesen für die Volksernährung und Heeresverpflegung so wichtigen Dingen während des Krieges erheblich zu steigern vermocht, während gleichzeitig England eine starke Verminderung seiner Zufuhren hinnehmen mußte.
Ähnlich entwickelte sich der Kampf zwischen England und Deutschland auf dem dänischen Markte. Während von 1913 auf 1915 die dänische Ausfuhr von Butter nach England von 85300 auf 66300 Tonnen zurückging, vermochte Deutschland seine Zufuhr aus Dänemark von 2200 auf 25200 Tonnen in die Höhe zu bringen. An Schweinefleisch bezog England im Jahre 1913 rund 9400 Tonnen, 1915 nur noch 1900 Tonnen; Deutschland dagegen vermochte seine Bezüge von 3800 auf 17900 Tonnen zu steigern. Dänemarks Eierausfuhr nach England zeigte einen Rückgang von 30000 auf 18800 Tonnen, nach Deutschland dagegen eine Zunahme von 1200 auf 13000 Tonnen.
Auch in der Schweiz, in Schweden und lange Zeit hindurch sogar in dem England gegenüber gefügigen, von der Belieferung durch Deutschland kaum abhängigen Norwegen wurde unsere Position nicht nur behauptet, sondern sogar verbessert. Das gilt sowohl für wichtige Produkte der Viehzucht und der Fischerei, wie auch für einige Rohstoffe, die für unsere Kriegsindustrie von größter Bedeutung waren. So gelang es, die Zufuhr der für unsere Stahlfabrikation kaum entbehrlichen phosphorarmen schwedischen Eisenerze, sowie die Zufuhr von Ferrosilizium und andern wichtigen Ferrolegierungen aus Schweden aufrechtzuhalten; desgleichen erhielten wir aus Schweden gewisse Quantitäten von Kupfer; ferner große Mengen von Holzstoff, der uns angesichts der unzureichenden eigenen Gewinnung für die Herstellung von Nitrozellulose, daneben für die Herstellung von Textilose und Papier eine wesentliche Hilfe war. Norwegen war das einzige Land, das uns und unsern Bundesgenossen während des Krieges wenigstens mit bescheidenen Mengen des für die Kriegsindustrie unentbehrlichen Nickels belieferte; daneben erhielten wir von dort Kupfer und Schwefelkies sowie Rohkupfer, auch größere Mengen von Norgesalpeter. Die Schweiz half uns vor allem aus mit Aluminium.
Alles in allem: Wir haben zwar nicht vermocht, die britische Seesperre zu brechen, wir blieben während des ganzen Krieges von allen nur zur See erreichbaren Märkten abgeschnitten; aber Englands Versuch, auch die uns [221] benachbarten Neutralen in das System seiner Blockade einzubeziehen und damit die Blockade bis unmittelbar an unsere Landgrenzen heranzutragen, ist trotz des beispiellosen von der Entente angewandten Druckes gescheitert. Das neutrale Vorgelände unserer belagerten Festung haben wir in dem schweren Wirtschaftskampf siegreich behauptet.
Allerdings wurde auch dieses Vorgelände mehr und mehr verwüstet und unterhöhlt. England und seine Verbündeten scheuten sich nicht, den Druck ihrer völkerrechtswidrigen Maßnahmen auf unsere neutralen Anlieger so weit zu steigern, daß deren eigene Produktionsfähigkeit und Lebenshaltung auf das schwerste beeinträchtigt wurde. Namentlich die Leistungsfähigkeit der Viehzucht wurde durch die scharfe Rationierung der Zufuhr von Futtermitteln herabgedrückt; und wer immer von den Neutralen Brot benötigte, mußte sich von dem Hungertod durch immer weitere Zugeständnisse loskaufen.
Wir mußten deshalb vom Ende des Jahres 1916 an mit einem kaum aufzuhaltenden allmählichen Versiegen auch unserer letzten neutralen Bezugsquellen ernstlich rechnen.
Die territoriale Erweiterung unserer Wirtschaftsgrundlage durch die militärischen Erfolge, die uns die Besetzung und Verwaltung großer Flächen feindlichen Gebietes [222] ermöglichten, und unser erfolgreicher Kampf um die neutralen Märkte, die uns erreichbar geblieben waren, reichten nicht entfernt aus, Ersatz zu schaffen für die gewaltigen Zufuhren an Nahrungs- und Futtermitteln, an Rohstoffen, Halbfabrikaten und Fertigwaren aller Art, die uns durch den Krieg und durch die Abschneidung vom überseeischen Verkehr entzogen wurden und die bisher ein wesentlicher Teil des Untergrundes unserer Produktions- und Verbrauchswirtschaft gewesen waren. So ergab sich die Notwendigkeit, einmal den uns verbleibenden Spielraum für Produktion und Verbrauch durch die Anwendung neuer Methoden und die Gewinnung von Ersatzstoffen im Inland, sowie durch die intensive Nutzbarmachung der verfügbaren Arbeitskräfte nach jeder Möglichkeit zu erweitern; dann unsere Gütererzeugung und unsere Lebenshaltung auf die plötzlich so viel enger gewordenen Verhältnisse einzustellen und sie gleichzeitig den gewaltigen Bedürfnissen des Krieges anzupassen.
Wissenschaft, angewandte Technik und Unternehmungsgeist hatten sich in Deutschland seit den Zeiten eines Werner von Siemens zusammengefunden und in gemeinschaftlicher, sich ergänzender und fördernder Arbeit die deutsche Volkswirtschaft in den letzten Jahrzehnten zu den von aller Welt bestaunten und beneideten Fortschritten befähigt. Jetzt galt es, alle diese Kräfte zur [223] äußersten Leistung anzuspannen, um eine Aufgabe zu lösen, so schwer, wie sie niemals in der Geschichte einem Volke gestellt worden ist: Das Leben und die Wirtschaft eines Siebzig-Millionen-Volkes, die bisher auf der freien Verfügung über die Naturschätze und Naturerzeugnisse des ganzen Erdballes aufgebaut waren, unter den drängenden Anforderungen und gewaltigen Erschwernissen des Krieges durch die denkbar stärkste Ausnutzung der nach Art und Menge beschränkten Hilfsquellen des eigenen Landes aufrechtzuerhalten.
Es war, wie wenn die Not des Vaterlandes die Kräfte des deutschen Genius vervielfacht hätte. Überall mühten sich die besten Köpfe, um den Lebensspielraum, den uns der Feind mit brutaler Gewalt bis zur Erdrosselung einengte, durch die Macht schöpferischen Geistes zu weiten. Niemals sind in gleich kurzer Zeit neue Erfindungen und neue Verfahren in ähnlicher Fülle ausgedacht, ausprobiert und ins Werk gesetzt worden, ist die Nutzwirkung von Arbeit und Stoff in ähnlichem Ausmaß gesteigert und vervollkommnet worden. Und wenn schließlich trotzdem das erdrückende Übergewicht der Zahl und der Masse in diesem Völkerringen den letzten Ausschlag gegeben hat, so bleiben jene Leistungen doch für alle Zeiten ein unzerstörbarer Ruhmestitel deutschen Geistes und eine Gewähr für eine bessere Zukunft.
Es ist nicht möglich, hier eine ins einzelne gehende Darstellung, ja auch nur eine einigermaßen vollständige [224] Übersicht des auf dem weiten Gebiete der Steigerung unserer nationalen Produktionskraft Geleisteten zu geben. Nur einige der wichtigsten Fortschritte und Errungenschaften seien angedeutet.
Von der Schaffung gewaltiger Anlagen zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft, die uns überhaupt erst die Möglichkeit gaben, den ungeheuren und ständig wachsenden Bedarf unseres Heeres an Munition zu decken und daneben unsere Landwirtschaft mit dem unentbehrlichen Stickstoffdünger zu versehen, habe ich in anderem Zusammenhang bereits gesprochen. Ebenso von den Anlagen zur Gewinnung von Aluminium aus gewöhnlicher deutscher Tonerde. Ich hätte hier noch zu erwähnen, daß das Kalziumkarbid, das als Zwischenprodukt für den Kalkstickstoff gewonnen wird, auch Verwendung als Ersatz für fehlende oder knappe Stoffe anderer Art gefunden hat; so als Beleuchtungsmittel an Stelle von Petroleum und Spiritus, ferner als Ersatz für wichtige ausländische Metalle in der Stahlfabrikation, ja sogar als Hilfsstoff für die Herstellung von künstlichem Gummi und als Rohstoff für die Herstellung von Spiritus. Aluminium hat als Ersatz für das immer knapper werdende Kupfer, vor allem auch bei der Munitionsherstellung und in der elektrischen Industrie große Dienste geleistet. Die nahezu völlige Unterbindung der Zufuhr von Rohgummi wurde uns erträglich gemacht durch die während des Krieges erfundenen Verfahren zur Herstellung von künstlichem [225] Gummi und die Vervollkommnung der Regeneration von Altgummi. Wenn auch das künstliche Produkt nur für Hartgummi ein vollständiger Ersatz ist, so ist doch der Bedarf an Naturgummi durch diese Verfahren auf einen so bescheidenen Umfang beschränkt worden, daß wir während des Krieges unser Auskommen gefunden haben und weiter gefunden hätten.
Die Textilindustrie, und mit ihr die Bekleidung der deutschen Bevölkerung, ist vor einem Zusammenbruch bewahrt worden durch die zahlreichen Verfahren, die aus der Holzfaser neue Spinnstoffe geschaffen haben (Textilose, Papiergarne, Typhafaser, Zellulosegarn). Diese Verfahren haben ferner die Möglichkeit geschaffen, Landwirtschaft und Industrie mit Packmaterial und das Heer mit den im Stellungskrieg in so großen Mengen benötigten Sandsäcken zu versorgen. Das neu erfundene Verfahren des Nitrierens von Zellulose hat uns von der Baumwolle als Rohstoff für das rauchlose Pulver unabhängig gemacht.
Auf dem Gebiete der Landwirtschaft richteten sich die Anstrengungen, abgesehen von der bereits erwähnten Herstellung von Stickstoffdünger, auf die Beschaffung von Futtermitteln, da in diesen unsere Versorgung durch die Unterbindung der ausländischen Zufuhren am schwersten gefährdet war. Zunächst suchte man durch die möglichste Ausdehnung der Kartoffeltrocknung Futterstoffe zu erhalten, die bisher in großem Umfang durch Fäulnis [226] zugrunde gegangen waren. Das Trocknungsverfahren wurde im Laufe des Krieges auch auf zahlreiche andere bisher als wertlose Abfälle behandelte Erzeugnisse, so auf Rübenkraut, Kartoffelkraut und ähnliches mehr mit großem Erfolg ausgedehnt. Zu dem Trocknungsverfahren kam bald hinzu die künstliche Herstellung von Kraftfuttermitteln, vor allem die Herstellung von Mineralhefe (als Futterhefe und als Nährhefe) und die Herstellung von Strohkraftfutter im Wege der Strohaufschließung, schließlich die Herstellung von Kraftfutter aus Tierkadavern, Knochen und bisher unverwerteten Abfällen aller Art. In ähnlicher Weise ist unsere auf das äußerste bedrohte Versorgung mit Ölen durch die sparsamste Ausnutzung aller ölhaltigen Samen und Kerne sowie durch neue Verfahren der Ölgewinnung aus animalischen Stoffen und mineralischen Substanzen (Schiefer) nicht unerheblich aufgebessert worden.
Auf den meisten dieser Gebiete hatte das Reich, und vor allem das mir anvertraute Amt, anregend und zusammenfassend, fördernd und organisierend mitzuarbeiten. Kaum ein anderer Teil der Geschäfte, die ich als Reichsschatzsekretär und Staatssekretär des Innern zu leiten hatte, hat mir die gleiche innere Befriedigung gewährt, wie die mir leider nur in engen Grenzen mögliche Mitarbeit an diesen schöpferischen Leistungen, als deren äußersten Kontrast ich, je länger desto mehr, die endlosen und größtenteils fruchtlosen Parlamentsdebatten empfand. [227] Ich mag im Reichstag manchmal kurz angebunden und schroff gewesen sein; aber das war dann meistens der Ausfluß einer mühsam unterdrückten inneren Auflehnung gegen die Vergeudung von Zeit und Kraft in unfruchtbaren Debatten; während die dringendsten und wichtigsten Arbeiten warten mußten und zu Schaden kamen.
Neben der Steigerung der technischen Leistungsfähigkeit der Gütererzeugung ging einher eine Umstellung des ganzen Produktionsapparates auf die durch den Krieg total veränderten Bedürfnisse. Die Herstellung von Kriegsgerät aller Art in gewaltigen Mengen, daneben die Sicherung der Ernte traten mit Kriegsbeginn in den Vordergrund; auf der andern Seite waren große Zweige der Industrie und des Handels alsbald zu empfindlichen Einschränkungen gezwungen: alles, was für den überseeischen Export arbeitete, und alles, was auf überseeische Rohstoffe angewiesen war. In ganz großem Stil mußten Unternehmer, Angestellte und Arbeiter sich neuen Aufgaben und neuen Beschäftigungen zuwenden.
Das Unternehmertum vollzog die Umstellung aus eigener Initiative und im wesentlichen aus eigener Kraft mit einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit und Energie. Fabriken und Werkstätten, die stets nur der Herstellung von Waren des Friedensbedarfs gedient hatten, wandten sich, [228] angereizt durch gute Gewinnaussichten, der Fabrikation von Heeresgerät und Heeresausrüstung zu. Nicht nur Betriebe der Metallindustrie, auch Spinnereien und ähnliche Unternehmungen wurden in Geschoßdrehereien und Zünderfabriken umgewandelt. Neue industrielle Anlagen zur Fabrikation von Kriegsbedarf schossen wie Pilze aus der Erde.
Weit schwieriger war die Umgruppierung der Arbeiterschaft.
Die nächste Wirkung des Krieges, der unserer Volkswirtschaft Millionen der leistungsfähigsten Arbeiter entzog, war — eine erschreckende Arbeitslosigkeit! In einer Lage, in der alles darauf ankam, jede Arbeitskraft, die der Heeresdienst nicht in Anspruch nahm, für die Gütererzeugung nutzbar zu machen, sahen sich Hunderttausende zum Verlassen ihrer Arbeitsstellen gezwungen, ohne alsbald neue Arbeit finden zu können. Die zum großen Teil unvermeidlichen, zum Teil aber auch ohne Not überstürzten Betriebseinschränkungen und Betriebseinstellungen setzten Arbeitskräfte frei, die nicht ohne weiteres den Weg zu neuer Beschäftigung fanden, schon deshalb nicht, weil die technische Umstellung der Industrie eine gewisse Zeit erforderte. In welch erschreckendem Maße der Krieg den Arbeitsmarkt erschütterte, davon geben folgende Zahlen ein Bild.
Bei den Arbeitsnachweisen kamen auf hundert offene Stellen bei den männlichen Arbeitern im Juli 1914 [229] 158 Arbeitsuchende, im August 1914 dagegen nicht weniger als 248; bei den weiblichen Arbeitern kamen im Juli 1914 auf 100 offene Stellen 99 Arbeitsuchende, im August 1914 dagegen nicht weniger als 202.
Das Reich griff alsbald nach Kriegsausbruch ein, um sowohl im Interesse der Arbeiterschaft wie im Interesse der höchstmöglichen Leistung unserer Produktion die Umgruppierung der schaffenden Hände zu beschleunigen. Der Weg war eine den Kriegsbedürfnissen angepaßte Organisation des Arbeitsnachweises.
Das deutsche Arbeitsnachweiswesen vor dem Kriege litt vor allem an einer starken Zersplitterung. Neben den nicht bedeutenden gewerbsmäßig betriebenen Stellenvermittlungen arbeiteten ohne ausreichenden Zusammenhang nebeneinander: die von öffentlichen Körperschaften eingerichteten Arbeitsnachweise, die Arbeitgebernachweise, die Arbeitnehmernachweise und paritätische Arbeitsnachweise. Das Reichsamt des Innern gab diesen Organen gleich nach Kriegsausbruch in der „Reichszentrale für Arbeitsnachweise“ eine einheitliche Spitze. Die einzelnen Arbeitsnachweise übernahmen die Pflicht, sowohl die offenen Stellen wie auch die überschüssigen Arbeitsangebote an die Zentralstelle zu melden, um so einen Ausgleich zu ermöglichen. Schon am 9. August 1914 konnte die Reichszentrale ihre Arbeit aufnehmen. Sie hat sich nicht auf die Herstellung der Verbindung zwischen den einzelnen Arbeitsnachweisen beschränkt, sondern in wichtigen Fällen [230] unmittelbar eingegriffen; so vor allem gleich nach Kriegsausbruch bei der Beschaffung von Arbeitskräften für die Bergung der Ernte, für die in großem Umfang eingeleiteten Festungsarbeiten, für die reichseigenen Betriebe der Militär- und Marinebehörden und der von diesen beschäftigten Unternehmungen; ferner bei der Zuweisung von Kriegsgefangenen an die unter Mangel an Arbeitskräften leidenden Betriebe in Industrie und Landwirtschaft.
Ergänzt wurde die Tätigkeit der Reichszentrale und der Einzelnachweise durch die Schaffung von Arbeitsgelegenheit für die nicht ohne weiteres unterzubringenden Arbeitslosen, durch Einschränkungen der Arbeitszeit, das Verbot von Überstunden und von Nachtarbeit in gewissen Betrieben, durch eine den Arbeiterverhältnissen angepaßte Verteilung der Heeresaufträge, durch eine planmäßige Fürsorge für die Erwerbslosen.
Nachdem die erste große Umschichtung der Arbeitskräfte vollzogen war, änderte sich die Lage und damit die zu bewältigende Aufgabe. Die Einziehung der Millionen zum Heeresdienst und der steigende Bedarf an Heeresausrüstung ließ die Nachfrage nach männlichen Arbeitskräften rasch in die Höhe schnellen. Während im August 1914 auf 100 offene Stellen 248 Arbeitsuchende gekommen waren, brachte schon der April 1915 mit 100 Angeboten auf 100 offene Stellen den Ausgleich. In den folgenden Monaten überwog die Nachfrage nach männlichen Arbeitskräften das Angebot immer stärker: auf 100 offene Stellen kamen [231] im Oktober 1915 nur noch 85, im Oktober 1916 nur noch 64 Angebote.
Dagegen ging bei den weiblichen Arbeitskräften das Überangebot nur ganz allmählich zurück. Hier wirkte dem Überangebot keine Einziehung zum Heeresdienst entgegen; außerdem wurden durch Betriebseinschränkungen gerade solche Industriezweige am stärksten betroffen, in denen die weiblichen Arbeitskräfte überwiegen (Textilindustrie). Im Juli 1915, also ein Jahr nach Kriegsausbruch, standen 100 offenen Stellen immer noch 165 Arbeitsuchende gegenüber; dann kam infolge der gerade damals notwendig werdenden Einschränkung in der Textilindustrie eine weitere Steigerung des Arbeitsangebots bis auf 182 im Oktober 1915. Die Zahl für den April 1916 war 162, für den Oktober 1916 immer noch 135 Angebote auf 100 offene Stellen.
Zunehmender Mangel an männlichen Arbeitskräften, fortdauernder Überschuß an weiblichen Arbeitskräften — das drängte auf einen Ausgleich. Planmäßig wurde überall, wo es angängig war, die Männerarbeit durch Frauenarbeit ersetzt. In welchem Maße das gelungen ist, zeigt sich darin, daß nach den Arbeitsausweisen der Betriebskrankenkassen vom 1. Juli 1914 zum 1. Juli 1916 der Anteil der weiblichen Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der Arbeiter gestiegen ist:
in der Hüttenindustrie, Metallbearbeitung und Maschinenindustrie | von | 9 | auf | 19% |
in der chemischen Industrie | „ | 7 | „ | 23% |
in der elektrischen Industrie | „ | 24 | „ | 55% |
Allein vom 1. Juli 1915 bis zum 1. Juli 1916 weist die Krankenkassenstatistik eine Vermehrung der weiblichen Arbeitskräfte um 750000 Arbeiterinnen auf.
Wie die Frauen, so mußten auch die Jugendlichen in verstärktem Maße zur Arbeit herangezogen werden.
Um die Arbeitskraft der Frauen und der Jugendlichen für den Kriegszweck voll nutzbar machen zu können, hatte ein Gesetz vom 4. August 1914 dem Reichskanzler die Befugnis erteilt, Ausnahmen von den gesetzlichen Bestimmungen über den Schutz der weiblichen Arbeiter und der Jugendlichen zu gestatten. Die harte Notwendigkeit des Krieges machte in vielen Fällen eine Lockerung dieser Schutzbestimmungen erforderlich. Es wurde eben nicht nur auf den Schlachtfeldern gekämpft, sondern auch in den Arbeitsstellen der Heimat. Hier wie dort waren wir gezwungen, von dem wertvollen Kapital unserer Volkskraft zu zehren, um das Volksganze gegenüber dem Vernichtungswillen unserer Feinde zu erhalten.
Ihre höchste Steigerung hat die „Mobilmachung der Arbeit“ in dem Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst gefunden, auf das ich weiter unten in einem besonderen Abschnitt des Näheren eingehen werde.
Die erfolgreichen Bemühungen, unsere heimische Gütererzeugung durch technische und organisatorische Vervollkommnung und durch die Nutzbarmachung aller [233] Arbeitskräfte zu steigern, konnten wesentliche Erleichterungen unserer bedrängten Lage schaffen und das Äußerste abwehren, aber sie konnten uns nicht der Notwendigkeit entheben, die Verwendung der den normalen Bedarf nicht deckenden Nahrungsmittel und Rohstoffe zu regulieren.
Es war unmöglich, die Regulierung dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Dann hätte sich die Regulierung des Verbrauches der nur in unzureichenden Mengen verfügbaren Waren im Wege der Preisgestaltung vollzogen, in der Weise, daß eine scharfe Preissteigerung schrittweise die weniger zahlungsfähige Nachfrage ausgeschaltet hätte. Reichliche Versorgung der Wohlhabenden, Hunger und Elend der breiten Volksschichten wären die unvermeidlichen Folgen gewesen. Es kam alles darauf an, eine solche Entwicklung in sozialem Geist und mit Mitteln der sozialen Organisation zu verhindern. Die schwere materielle Bedrängnis, die der Krieg über unser Volk brachte, konnte nur dann ertragen und überwunden werden, wenn alle Volksgenossen mittragen halfen und jeder seinen Anteil an der notwendigen Einschränkung übernahm.
Die Festsetzung von Höchstpreisen allein konnte die Aufgabe nicht lösen. Eine gesetzliche Preisfestsetzung schaltet den Preis als Regulator von Angebot und Nachfrage aus, ohne einen andern Regulator an seine Stelle zu setzen. Ein niedriger Höchstpreis veranlaßt Erzeuger und Händler zur Zurückhaltung, ohne den Konsumenten zu der gebotenen Einschränkung seines Verbrauches zu nötigen. [234] Das System der Höchstpreise, durch das die Bevölkerung von einer allzu starken Verteuerung der Lebenshaltung bewahrt werden sollte, bedurfte mithin sofort, wenn es das Zusammenbrechen der Versorgung nicht geradezu beschleunigen sollte, der Ergänzung durch weitergehende Maßnahmen. Als solche kamen in Betracht die Regulierung des Verbrauchs durch Einschränkungen der Verwendung und durch Rationierung, ferner die Erfassung der Bestände und der Neuproduktion durch Beschlagnahme und Enteignung. Die vollständige Übernahme der Bewirtschaftung ist die äußerste Konsequenz.
Je elementarer das Lebensbedürfnis war, dem eine Ware zu genügen hatte, je offenkundiger die Knappheit der verfügbaren Bestände, desto dringender war das staatliche Eingreifen.
Auf dem Gebiet der Volksernährung hat demgemäß die Reglementierung mit dem Brotgetreide begonnen und hier zur Entwicklung eines Systems geführt, das für die Gesamtheit der Kriegswirtschaft von großem Einfluß geworden ist.
Neben den Höchstpreisen wurden hier schon im Oktober 1914 bestimmte Verwendungsbeschränkungen eingeführt. Das Verfüttern von Brotgetreide wurde verboten. Für das Ausmahlen von Brotgetreide wurden Mindestsätze vorgeschrieben. Für Weizenbrot wurde ein bestimmter Zusatz von Roggenmehl, für Roggenbrot ein solcher von Kartoffeln oder Kartoffelmehl vorgeschrieben. In der [235] Folgezeit wurden diese Bestimmungen verschärft und ergänzt.
Bereits im Januar 1915 ging man den entscheidenden Schritt weiter. Es wurde jetzt einmal der Brot- und Mehlverbrauch pro Kopf und Tag auf eine bestimmte Höchstmenge festgesetzt und zur Durchführung dieser Rationierung die Brot- und Mehlkarte eingeführt. Gleichzeitig wurde die Bewirtschaftung des in Deutschland vorhandenen Brotgetreides der im November 1914 aus privater Initiative gegründeten und jetzt weiter ausgebauten „Kriegsgetreide-Gesellschaft“ übertragen. Das Brotgetreide wurde für die genannte Gesellschaft beschlagnahmt, und die Gesellschaft wurde beauftragt, das beschlagnahmte Getreide aufzunehmen, zu lagern, vermahlen zu lassen und das Mehl mit Hilfe einer gleichzeitig geschaffenen Reichsverteilungsstelle zu verteilen. Die Verteilung der Mehlmengen über die Bäcker bis zu den Konsumenten wurde den Kommunalverbänden übertragen.
Ihre endgültige Form erhielt die Organisation durch eine Verordnung vom 28. Juni 1915. Die Kriegsgetreide-Gesellschaft wurde ersetzt durch die „Reichsgetreidestelle“, bestehend aus einer Verwaltungsabteilung und einer Geschäftsabteilung; die erstere wurde mit weitgehenden behördlichen Befugnissen ausgestattet, der letzteren wurde die kaufmännische Durchführung übertragen. Die neue Verordnung brachte insofern eine Abweichung gegenüber der bisherigen Regelung, als das Brotgetreide der Ernte 1915 nicht für die Reichsgetreidestelle, sondern für die [236] Kommunalverbände beschlagnahmt wurde, da diese als die geeigneten Organe für die Durchführung der Beschlagnahme und die örtliche Kontrolle erschienen. Den Kommunalverbänden wurde die Verpflichtung zur Lieferung des Getreides an die Reichsgetreidestelle oder an die von dieser zu bezeichnenden Stellen auferlegt.
Hier haben wir also klar herausgearbeitet die Kombination von Höchstpreisen mit strengster Verwendungsbeschränkung und Verbrauchsrationierung einerseits, Erfassung und Bewirtschaftung der Produktion und der Bestände andererseits.
Beim Brotgetreide hat sich diese Organisation alles in allem vorzüglich bewährt. Sie hat nicht nur eine ausreichende und regelmäßige Belieferung der deutschen Wehrmacht und der gesamten deutschen Zivilbevölkerung mit dem täglichen Brot sichergestellt, sondern sie hat diese Belieferung zu Preisen durchgeführt, die bald hinter denjenigen in allen andern Ländern, nicht nur der Kriegführenden sondern auch der Neutralen, nicht nur diesseits sondern auch jenseits des Ozeans zurückblieben. Das ist erreicht worden, obwohl Deutschland in Friedenszeiten auf Grund der Agrarzölle das Zentrum der höchsten Getreidepreise der Welt gewesen war, und obwohl nicht nur die ausländischen Zufuhren von Brotgetreide in Wegfall kamen, sondern auch die inländische Produktion infolge einer weniger intensiven Bodenbearbeitung und geringeren Düngung wesentlich hinter den Friedensernten zurückblieb.
Allerdings lagen beim Brotgetreide die Vorbedingungen für eine staatliche Bewirtschaftung besonders günstig. Bedarf und Bestände sind hier verhältnismäßig leicht festzustellen. Die Kontrolle ist verhältnismäßig einfach. Die Haltbarkeit und Transportfähigkeit von Roggen und Weizen ist verhältnismäßig gut. Qualitätsunterschiede spielen keine entscheidende Rolle. Alles Eigenschaften, die ein einheitliches Disponieren nach einem wohldurchdachten Plan erheblich erleichtern, und Eigenschaften, die bei den meisten andern Nahrungsmitteln fehlen oder mindestens nicht in dem gleichen Maße vorhanden sind.
Man hatte deshalb in der ersten Zeit des Krieges auch wenig Neigung, das beim Brotgetreide erprobte System der Bewirtschaftung auf die andern Kategorien von Nahrungsmitteln zu übertragen. Schon bei den Kartoffeln lagen die Verhältnisse für eine einheitliche Bewirtschaftung sehr viel weniger günstig. Die Bestände sind infolge der Einmietung der Ernte weniger leicht zu übersehen. Die Haltbarkeit ist geringer und stets unsicher. Die verschiedenen Sorten bilden eine weitere Erschwerung. Noch größer sind die Schwierigkeiten der zentralen Bewirtschaftung bei leicht verderblichen Nahrungsmitteln wie bei Gemüse und Obst. Ebenso bei Fleisch, Milch, Butter, Eiern, Fischen.
Man hat deshalb bei allen diesen Dingen, als sie anfingen knapp zu werden, eine gleichmäßige Verteilung zu [238] erträglichen Preisen auf andern Wegen zu erreichen versucht: durch Reglementierung oder Syndizierung des Handels, durch Abschluß von Lieferungsverträgen zwischen Kommunen und Händlern oder Produzenten, durch teilweise Beschlagnahmen oder durch Umlage von Lieferungsverpflichtungen auf Provinzen und Kommunen, durch Festsetzung von variabeln Richtpreisen, durch Preisprüfungsstellen und Kriegswucheramt. Aber der mangelhafte Erfolg aller dieser Maßnahmen drängte — trotz aller entgegenstehenden Schwierigkeiten — immer mehr zu der radikalen Lösung, wie sie beim Brotgetreide mit so viel Erfolg verwirklicht worden war. Auf fast allen Gebieten des Ernährungswesens kam man von Teileingriffen zur zentralen Bewirtschaftung, die nach dem Vorbild der Brotgetreide-Organisation in die Hand von Reichsstellen mit Verwaltungsabteilungen für die behördliche Tätigkeit und Geschäftsabteilungen für die kaufmännische Tätigkeit gelegt wurde. So bekamen wir die Reichskartoffelstelle und Reichshülsenfruchtstelle, die Reichsstelle für Gemüse und Obst und die Reichszuckerstelle, die Reichsfleischstelle und die Reichsstelle für Speisefette, die Reichsverteilungsstelle für Eier und den Reichskommissar für Fischversorgung. Viele von diesen Reichsstellen umgaben sich für die kaufmännische Durchführung ihrer Aufgaben mit einem Kranz von Kriegsgesellschaften für alle möglichen Spezialgebiete, für Sauerkraut, wie für Teichfische und Aale.
Ich habe der Ausdehnung der Zwangswirtschaft auf Gebiete, die sich ihrer Natur nach für eine staatliche Bewirtschaftung nicht eignen, mehrfach Widerstand entgegenzusetzen versucht. Ich bin auch heute noch der Meinung, daß auf manchen Gebieten die Zwangswirtschaft weit mehr geschadet als genutzt hat, daß sie die Produzenten verwirrte und verärgerte und so die Produktion lähmte, daß sie große Mengen leicht verderblicher Nahrungsmittel, die im Weg des privaten Handels leicht und sicher dem Verbrauch zugeführt worden wären, verkommen ließ, sodaß in der Endwirkung Erzeuger und Verbraucher zu kurz kamen. Den allergrößten Nachteil aber sehe ich darin, daß die Überspannung des Systems der zentralen Bewirtschaftung den wucherischen Schleichhandel geradezu großzüchtete. Wenn auf der einen Seite die Kontrollmöglichkeit gering, auf der andern infolge der Übertreibung des Systems die Versuchung zu seiner Durchbrechung übermächtig ist, dann gibt es kein Halten. Auch nicht durch Strafen. Im Gegenteil, indem die Strafen das Risiko des Schleichhandels erhöhen, steigern sie die Schleichhandelspreise. Nach meiner Überzeugung wäre hier weniger mehr gewesen. Aber jeder Widerstand war vergeblich. Ein gewisser Ressortfanatismus in den Abteilungen des Kriegsernährungsamts und den diesem angegliederten Reichsstellen, der, vielleicht unbewußt, auf eine Erweiterung der eigenen Machtbefugnisse hinausging, wäre an sich noch zu bändigen gewesen, wenn er nicht noch geschoben und [240] gedrängt worden wäre durch den parlamentarischen Beirat des Kriegsernährungsamtes, in dem die Anhänger der alles erfassenden staatlichen Bewirtschaftung stark überwogen.
Auf dem Gebiet der industriellen Rohstoffe führte die gleich zu Beginn des Krieges eingerichtete Kriegsrohstoff-Abteilung des Kriegsministeriums.
Hier mußten mit raschem Zugriff die vorhandenen Bestände an nicht beliebig vermehrbaren kriegswichtigen Rohstoffen für die Heereszwecke sichergestellt werden. Es handelte sich vor allem um die in Deutschland nicht vorkommenden oder nur in beschränktem Umfang zu gewinnenden Mineralien, die sogenannten „Sparmetalle“, und um die Textilrohstoffe.
Die Erfassung erfolgte zunächst im Weg der Beschlagnahme. Mit der Beschlagnahme, die noch nicht gleichbedeutend mit Enteignung ist, wird dem Eigentümer das Recht der beliebigen Veräußerung und Verarbeitung des beschlagnahmten Materials entzogen. In zahlreichen Fällen hat die Kriegsrohstoff-Abteilung von einer Enteignung abgesehen und lediglich die Verwendung reguliert und kontrolliert. In andern Fällen sah sie sich zu der Überführung der Bestände in Staatseigentum veranlaßt. Die Notwendigkeit hierzu lag besonders dann vor, wenn nicht nur auf die Vorräte der Industrie und des Handels, sondern auch auf die bereits in den Gebrauch übergegangenen [241] Bestände von Haushaltungen, Betrieben usw. zurückgegriffen werden mußte, wie bei Kupfer und Kupferlegierungen, Nickel, Zinn.
Für die Verteilung und die Verwendungsregulierung waren die auf Grund der Bestandsaufnahmen und Bedarfsanmeldungen aufgestellten Wirtschaftspläne maßgebend. Bei der Aufstellung dieser Wirtschaftspläne hieß es, sich nach der Decke strecken, den angemeldeten Bedarf nach seiner Dringlichkeit klassifizieren, nach Ersatzmöglichkeiten suchen und jedenfalls so zu disponieren, daß in der Lieferung der notwendigen Heeresausrüstung keine Stockung eintreten konnte.
Wie auf dem Gebiet des Ernährungswesens, so waren auch hier die zu lösenden Aufgaben teils behördlicher, teils kommerzieller Natur. Die Anordnungen von Bestandserhebungen, Beschlagnahmen und Enteignungen, die Festsetzung der Preise, die Aufstellung der Wirtschaftspläne und der Verteilungsschlüssel konnten nur von einer Behörde ausgehen, die sich dabei natürlich der Beratung der beteiligten Industrie- und Handelskreise bedienen mußte. Dagegen war die Abnahme und Bezahlung der zu beschaffenden Materialien sowohl im Inland, wie namentlich auch in den besetzten Gebieten, in den Ländern unserer Bundesgenossen und der uns zugänglichen Neutralen, ferner die Verfrachtung, Einlagerung, Sortierung ein kaufmännisches Geschäft großen Stils, für dessen Bewältigung besondere Organe aus den beteiligten Wirtschaftskreisen geschaffen [242] werden mußten, die sogenannten „Kriegsrohstoff-Gesellschaften“.
Schon die Erfassung der kriegswichtigen Rohstoffe für den Heeresbedarf griff stark ein in die Versorgung der Zivilbevölkerung. Das gilt vor allem für die Erfassung der Faserstoffe und des Leders. Für die Verteilung des von der Heeresverwaltung für die Versorgung der Zivilbevölkerung freigegebenen Leders mußte im Frühjahr 1916 eine besondere Organisation geschaffen werden. Noch stärker wurde die Versorgung der Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen, als es sich notwendig zeigte, im Heeresinteresse die Hand auch auf Fertigfabrikate der Textilindustrie zu legen. Nachdem am 1. Februar 1916 die Heeresverwaltung die Beschlagnahme der Anzugstoffe, Futterstoffe, Wäsche, Unterkleider usw. verfügt hatte, wurde eine umfassende Regelung der Versorgung der Zivilbevölkerung mit Kleidung und Wäsche unaufschiebbar. Zu diesem Zweck wurde die „Reichsbekleidungsstelle“ ins Leben gerufen, der die dornenvolle Aufgabe zufiel, die notwendig gewordene Einschränkung des Verbrauches im Wege des der Lebensmittelkarte nachgebildeten, auf dem Gebiet der Bekleidung aber viel schwerer anwendbaren Bezugsscheins durchzuführen und gleichzeitig für die weitestmögliche Nutzbarmachung des hier besonders wichtigen Altmaterials an Stoffen und Kleidern zu sorgen.
So entstanden, gerade in der Zeit, in der ich das Reichsamt des Innern übernahm, für die Zivilverwaltung auch [243] außerhalb des Gebietes der Volksernährung neue große Aufgaben.
Diese Aufgaben wuchsen, als die immer stärker werdende Knappheit der Rohstoffe und der Arbeitskräfte eine Beschränkung auf die Regelung des Verbrauchs nicht mehr angängig erscheinen ließ.
Schon die Verteilung der allzu knapp gewordenen Rohstoffe auf die einzelnen Betriebe durch die Kriegsrohstoff-Abteilung hatte einen starken Einfluß auf die Betriebe selbst ausgeübt. Es waren zwei verschiedene Wege gangbar: entweder die Verteilung auf sämtliche vorhandenen Betriebe nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit, was zur Folge haben mußte, daß alle Betriebe des betreffenden Industriezweiges nur teilweise beschäftigt wurden; oder die Zuweisung des Rohstoffs an einzelne besonders leistungsfähige Betriebe bis zur Vollbeschäftigung unter Stillegung der weniger leistungsfähigen. Wirtschaftlich rationeller ist das zweite System; denn es ermöglicht die gleiche Leistung bei geringerem Aufwand von Arbeit, Kohle usw. Dagegen sprachen gewisse soziale Rücksichten für das erstere System, da dieses keinen Betrieb gegenüber den andern in Nachteil brachte und die Entlassung von Arbeitern durch Kürzung der Arbeitszeit vermeiden ließ.
Solange kein Mangel an Arbeitskräften und keine Knappheit an Kohlen bestand, mochte man dem ersteren System den Vorzug geben. Das ist in der Tat in der ersten Periode der Kriegswirtschaft ganz vorwiegend geschehen. [244] Vor allem in der mit Rohstoffen besonders knapp versehenen Textilindustrie, ebenso in der Schuhwarenindustrie hielt man auf eine gleichmäßige Verteilung der Beschäftigung; das bedingte eine wesentliche Verkürzung der Arbeitszeit, die unter Gewährung von Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln zu den Arbeitslöhnen durchgeführt wurde.
Als aber der wachsende Bedarf an Kriegsgerät die Nachfrage nach Arbeitskräften immer mehr steigerte, als die äußerste Sparsamkeit mit Kohle und andern Betriebsstoffen immer dringlicher wurde, ließ sich der Übergang zu dem wirtschaftlich rationellen System der Vollbeschäftigung der Höchstleistungsbetriebe und der Stillegung der weniger leistungsfähigen Unternehmungen trotz aller sozialen Bedenken nicht mehr vermeiden. Den entscheidenden Umschwung brachte das sogenannte „Hindenburg-Programm“ in Verbindung mit dem Hilfsdienstgesetz und die im Winter 1916/17 scharf einsetzende Kohlenknappheit.
Schon vorher aber erschienen mir Eingriffe in die Struktur einzelner Industriezweige im Interesse der Steigerung der Nutzwirkung aller Kräfte und Stoffe und der Vermeidung unwirtschaftlichen Arbeits-, Kapitals- und Materialaufwandes angezeigt.
Zunächst wurde angesichts des Mangels an Arbeitskräften im Kalibergbau ein Verbot des Abteufens von neuen Schächten erlassen (8. Juni 1916). Dann wurden Neubauten und Erweiterungsbauten von Zementfabriken [245] beschränkt (29. Juni 1916), um den angesichts der Nichterneuerung der Syndikatsverträge zu befürchtenden irrationellen Arbeits- und Kapitalaufwand für den Bau neuer oder die Vergrößerung bestehender Werke zu verhindern. In der gleichen Richtung zielten meine Bemühungen bei den Bundesregierungen und Generalkommandos, eine Zurückstellung aller nicht kriegswichtigen Hoch- und Tiefbauten behufs Freisetzung von Arbeitskräften und Ersparnis von Material zu erreichen. Schließlich erwähne ich die Durchführung des wirtschaftlich rationellen Prinzips der Beschäftigung einer Auswahl leistungsfähiger Fabriken in der Seifenindustrie, die im Frieden nicht weniger als 2000 Betriebe überwiegend kleinster Art beschäftigt hatte. Von diesen wurden jetzt nur ganz wenige leistungsfähige Betriebe mit Fetten weiter beliefert, während die stillgelegten Betriebe das Recht erhielten, von den arbeitenden Fabriken Fertigprodukte zu Vorzugspreisen zu beziehen und mit ihren eigenen Packungen in Verkehr zu bringen (Verordnung vom 21. Juli 1916). Eine ähnliche Regelung wurde für die Schuhindustrie in die Wege geleitet.
Bei einem wichtigen Gewerbe allerdings mußte ich aus zwingenden Gründen des öffentlichen Wohles im entgegengesetzten Sinne, zum Zweck der Erhaltung gerade der kleinen und weniger leistungsfähigen Betriebe, eingreifen: beim Zeitungsgewerbe.
Es war die wachsende Knappheit der Rohstoffe der Papierfabrikation, und späterhin auch der Kohle, die auf [246] diesem Gebiet ein Eingreifen nötig machte. Die Bemühungen, die Beschaffung und Verarbeitung der Rohstoffe in ausreichendem Umfang zu sichern, hatten keinen vollen Erfolg. Es fehlte in Deutschland an Arbeitskräften für den Einschlag von Papierholz; der Bedarf des Heeres an Holz für die Schützengräben usw. nahm immer größeren Umfang an, und der Bezug von Papierholz, Zellstoff und Druckpapier aus dem Ausland wurde durch Ausfuhrverbote erheblich eingeschränkt. Um das Papier konkurrierten mit den Zeitungen neue wichtige Industrien: einmal die Fabrikation von Papiergarn, von dem immer wachsende Quantitäten benötigt wurden, vor allem für die Herstellung von Sandsäcken für die Schützengräben; dann die Verwendung von Papier im Nitrierverfahren zur Herstellung von rauchlosem Pulver.
Die aus diesen Verhältnissen sich ergebende starke Erhöhung der Rohstoffpreise und damit der Druckpapierpreise traf das Zeitungsgewerbe um so schwerer, als seine finanziellen Grundlagen durch den Ausfall von Einnahmen aus Inseraten ohnedies erschüttert waren. Um das Forterscheinen der Zeitungen, namentlich auch der am schwersten bedrohten mittleren und kleineren Zeitungen, zu ermöglichen, entschloß ich mich im Frühjahr 1916 noch in meiner Eigenschaft als Reichsschatzsekretär, Reichszuschüsse zur Verbilligung des Druckpapierpreises zu bewilligen.
Aber damit war nur der finanzielle Teil der Schwierigkeiten überwunden, nicht aber die Knappheit an Druckpapier, [247] die trotz aller Gegenmaßnahmen so stark wurde, daß der Wettbewerb um die verfügbaren Mengen einen Teil der Presse einfach auszuschalten drohte. Eine planmäßige Einschränkung des Verbrauchs von Druckpapier durch das Reich war um so mehr geboten, als dafür gesorgt werden mußte, daß die recht erheblichen Reichszuschüsse zur Verbilligung des Zeitungspapiers ihren Zweck der Erhaltung der deutschen Presse in ihrer Gesamtheit erfüllten und nicht nur den im freien Wettbewerb um das Papier stärkeren Zeitungsunternehmungen zugutekämen.
Als Organ für eine sachgemäße Regelung wurde im April 1916 die „Kriegswirtschaftsstelle für das deutsche Zeitungsgewerbe“ geschaffen und zunächst mit der Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse von Bedarf und Versorgung betraut. Nachdem ich das Reichsamt des Innern übernommen hatte, wurde der Kriegswirtschaftsstelle ein Beirat, bestehend aus Vertretern des Zeitungsgewerbes und der Papierindustrie, beigegeben. Die notwendig gewordene Kontingentierung des Papierverbrauchs der einzelnen Zeitungen wurde unter Mitwirkung des Beirats durchgeführt. Eine gleichmäßige Einschränkung aller Zeitungen um einen bestimmten Prozentsatz ließ sich dabei nicht ermöglichen, weil die kleinen und mittleren Blätter, die nur in einem bescheidenen, kaum zu verkürzenden Umfang erschienen, durch den notwendigen Abstrich einfach zum Tode verurteilt worden wären, während die Zeitungen mit einer Tagesausgabe von vielen [248] Druckseiten eine stärkere Einschränkung eher ertragen konnten. Die kleine und mittlere Lokalpresse mußte aber aus naheliegenden und zwingenden Gründen unter allen Umständen am Leben gehalten werden. Die gegebene und auch von dem Beirat mit großer Mehrheit gebilligte Lösung war eine gestaffelte Kontingentierung, die den Verbrauch der in größeren Ausgaben erscheinenden Zeitungen stufenweise stärker einschränkte als den Verbrauch der Blätter mit kleiner Ausgabe.
Ich bin wegen dieser Regelung späterhin, als infolge der Kohlennot die Kontingentierung schärfer angespannt werden mußte, von einem Teil der großen Presse heftig angegriffen worden; ja eine Anzahl Berliner Organe hat sich damals zu einer Art Streik gegen mich zusammengetan und verabredet, von meiner im März 1917 im Reichstag zum Etat des Reichsamts des Innern gehaltenen Rede über unsere Kriegswirtschaft keinerlei Notiz zu nehmen. Heute denkt wohl mancher von denen, die mich damals so scharf befehdeten, etwas milder; denn es ist mir nicht bekannt, daß nach meinem Ausscheiden aus dem Reichsamt des Innern eine bessere Lösung der Druckpapierfrage gefunden worden wäre.
Die Zeitungsangelegenheit war ein Sonderfall ganz eigener Art. Die Presse als Ganzes konnte ihre Funktionen, die im Kriege noch so viel bedeutungsvoller waren als im Frieden, nur dann erfüllen, wenn auch ihre über das ganze Land verteilten kleinen Organe erhalten blieben. Die Erzielung [249] einer stärkeren Nutzwirkung von Kräften und Stoffen im Wege einer Konzentration der Produktion in wenigen besonders leistungsfähigen Betrieben verbot sich also hier durch die Natur der von der Presse zu vollbringenden Leistung. Überall aber, wo solche besonderen Verhältnisse nicht vorlagen, verlangten die immer gewaltiger anwachsenden Ansprüche des Krieges geradezu gebieterisch, daß aus Menschen und Stoffen das Höchstmaß von Nutzwirkung herausgeholt werde. Die Entwicklung drängte also zu der Verwirklichung der Grundsätze hin, die gegen Ende des Jahres 1916 im „vaterländischen Hilfsdienst“ eine gesetzliche Formel gefunden haben.
Die aus der allgemeinen Lage sich ergebende Notwendigkeit der äußersten Anspannung aller Kräfte wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 verstärkt durch eine ernste Krisis der Munitionserzeugung.
Mit bewundernswerter Umsicht und Tatkraft hatte die deutsche Eisenindustrie gleich nach Beginn des Krieges die gewaltige Aufgabe der Versorgung unseres Heeres mit Kriegsgerät aller Art in Angriff genommen und bewältigt. Der Verbrauch an Munition, namentlich an Artilleriemunition, überstieg von Anfang an alle Begriffe. Die vorhandenen Bestände waren rasch aufgebraucht, die [250] bestehenden Einrichtungen für die Herstellung von Artilleriemunition vermochten mit dem riesenhaften Bedarf nicht entfernt Schritt zu halten. Im September und Oktober 1914 machte die Munitionsversorgung des Heeres eine schwere Krisis durch, die unsere militärischen Operationen auf das äußerste beeinträchtigte, ja verhängnisvoll zu werden drohte. Alles, was in der deutschen Eisenindustrie irgendwie der Herstellung von Granaten dienstbar gemacht werden konnte, wurde herangeholt. Man half sich mit Graugußgranaten, die zwar gegenüber den Stahlgranaten geringwertig sind, aber rasch in großen Mengen hergestellt werden konnten. Gleichzeitig wurden die Einrichtungen für die Herstellung von Stahlgranaten in einem Maße ausgebaut, daß nach verhältnismäßig kurzer Zeit für diese Fabrikation mehr als 90 Werke zur Verfügung standen, gegenüber 7 bei Kriegsausbruch. Auch die Belieferung dieser Werke mit Rohstahl gestaltete sich befriedigend. Zwar hatte unsere Eisen- und Stahlerzeugung unmittelbar nach Kriegsausbruch einen schweren Rückgang erfahren. Die Flußstahlerzeugung war von 1628000 Tonnen im Juli 1914 auf 567000 Tonnen im August herabgesunken. Aber den Anstrengungen der Industrie und dem verständnisvollen Entgegenkommen der Heeresleitung in der Freigabe von Arbeitskräften war es gelungen, die Stahlerzeugung bald wieder zu heben; im Sommer 1916 erreichte sie etwa 1400000 Tonnen im Monat, also etwa 85% der Friedenserzeugung. Eine besondere Förderung hatte die Herstellung [251] der Stahlgranaten dadurch erfahren, daß es gelungen war, als Rohmaterial Thomasstahl an Stelle des immer knapper werdenden Siemens-Martin-Stahls zu verwenden.
Die Klagen über ungenügende Munitionsversorgung waren so allmählich verstummt. Lange Zeit hindurch schien die Munitionserzeugung den Bedarf des Feldheeres ausreichend zu decken. Noch im Mai 1916 versicherte mir der damalige Kriegsminister, General Wild von Hohenborn, als ich mich bei ihm über die Wirkungen des gewaltigen Munitionsverbrauches vor Verdun erkundigte, daß unsere Munitionsvorräte und unsere Munitionserzeugung jeder Eventualität gewachsen seien.
Da begann am 1. Juli die Schlacht an der Somme, die erste ganz große Materialschlacht. Engländer und Franzosen entwickelten eine Überlegenheit an Artillerie und Munition, von der man sich bei uns offenbar weder bei der Obersten Heeresleitung noch beim Kriegsministerium und der Feldzeugmeisterei eine auch nur annähernde Vorstellung gemacht hatte. Wie wenig unsere maßgebenden militärischen Kreise mit einer solchen Steigerung des Munitionsbedarfes gerechnet hatten, ergibt sich daraus, daß die Feldzeugmeisterei keinerlei Eile zeigte, die am 30. Juni 1916 ablaufenden Verträge über die Lieferung von Granaten aus Thomasstahl zu erneuern, obwohl der Vorstand des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute schon Monate vorher auf den Ablauf der Verträge hingewiesen und auf rechtzeitige Erneuerung gedrängt hatte. Als die Entscheidung ausblieb, [252] richtete der Vorstand des genannten Vereins im Juni noch einmal eine dringende Anfrage an die Feldzeugmeisterei und erhielt darauf am 2. Juli die Antwort, eine Weiterlieferung von Thomasstahl für die Granatfabrikation sei nicht beabsichtigt. Vierzehn Tage später, am 16. Juli, erhielt der Verein ein dringendes Telegramm des Inhalts, es liege die zwingende Notwendigkeit vor, Geschosse aus Thomasstahl in großen Mengen zu beschaffen; es werde umgehende Feststellung der Höchstmengen, die geliefert werden könnten, erbeten. Drei Tage darauf fand eine Versammlung der Thomaswerke statt, bei der die Militärbehörde den dringendsten Monatsbedarf an Thomasrundstahl für die Granatenfabrikation auf ein Vielfaches dessen bezifferte, was die Thomaswerke leisten konnten. Außerdem ergab sich, daß es in den dringenden Bestellungen der Militärbehörden auf die verschiedenen Arten von Stahlerzeugnissen — Granaten, Wurfminen, Minenwerfer, Draht usw. — an der erforderlichen Einheitlichkeit fehlte, so daß die einzelnen Stellen sich in der Nachfrage nach dem Rohmaterial gegenseitig Konkurrenz machten.
Die neuen Anforderungen der Heeresverwaltung übertrafen in ihrem Umfang bei weitem alles bisher Dagewesene. Die Stahlindustrie zeigte sich sofort bereit, jede andere Arbeit, auch die Lieferungen an das neutrale Ausland, zurückzustellen und die zur Bewältigung des neuen Munitionsbedarfes erforderliche Umstellung ihrer Betriebe, die an Umfang selbst die Umstellung der Industrie zu Anfang [253] des Krieges übertraf, mit jeder möglichen Beschleunigung durchzuführen. Über die Voraussetzungen — Freigabe der erforderlichen Facharbeiter und der notwendigen Rohstoffe, einheitliche Disposition in den Bestellungen der Heeresverwaltung auf Stahlerzeugnisse, Zurückstellung des Bedarfs für andere Zwecke, z. B. des Schienenbedarfs des Eisenbahn-Zentralamts — war für den 18. August eine abschließende Besprechung im Kriegsministerium vereinbart. Die Besprechung verlief ohne positives Ergebnis, da, wie mir von Teilnehmern an der Beratung mitgeteilt worden ist, weder der den Vorsitz führende Vertreter des Kriegsministeriums, ein Major, noch der Vertreter der Feldzeugmeisterei und des Ingenieurkorps genügend orientiert waren.
In diesem Stadium wurde ich zum erstenmal mit der Angelegenheit durch Vertreter der Industrie befaßt. Ich erteilte den Herren, die über die Behandlung dieser unabsehbar wichtigen Frage auf das äußerste erregt waren, den Rat, sich alsbald an den stellvertretenden Kriegsminister — der Kriegsminister selbst befand sich im Großen Hauptquartier — zu wenden, in der Überzeugung, daß dieser sofort durchgreifen würde. Ich stieß mit diesem Rat auf Bedenken und Zweifel, aber die Herren sagten zu, den Vorschlag alsbald an ihre Verbände weiterzugeben. Wenige Tage darauf erhielt ich die Nachricht, man habe meinen Rat insofern befolgt, als man den Kriegsminister telegraphisch gebeten habe, in der Munitionsangelegenheit [254] alsbald zwei Vertreter der Eisen- und Stahlindustrie im Großen Hauptquartier zu empfangen. Die Antwort habe gelautet, der Kriegsminister sei zur Zeit an der Ostfront festgehalten und gebe anheim, bei dem stellvertretenden Kriegsminister in Berlin vorstellig zu werden. Ein erneutes persönliches Telegramm des Herrn Krupp von Bohlen und Halbach an den Kriegsminister hatte die erneute Verweisung an dessen Stellvertreter zur Folge.
Der Verein Deutscher Eisenhüttenleute legte nun seine Auffassung der Lage und seine Vorschläge in einer vom 23. August 1916 datierten Denkschrift nieder, die dem Kriegsminister und wohl auch andern maßgebenden militärischen Persönlichkeiten zugestellt wurde. Auch mir wurde auf meinen Wunsch ein Exemplar überlassen. Schon vorher hatte ich dem Reichskanzler, der im Begriff war, nach dem Großen Hauptquartier zu reisen, über die Angelegenheit Vortrag gehalten und ihm anheimgestellt, den Chef des Generalstabs — damals noch General von Falkenhayn — und den Kriegsminister auf den Ernst der Lage und auf die Notwendigkeit einer Reorganisation der Materialbestellung hinzuweisen.
Wenige Tage darauf war der General von Falkenhayn als Generalstabschef durch den Generalfeldmarschall von Hindenburg ersetzt. Als der Kanzler am 28. August, noch ohne Kenntnis des Wechsels, abermals nach dem Hauptquartier fuhr, gab ich ihm die mir inzwischen zugegangene Denkschrift des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute mit. [255] Der Kanzler fand den Generalfeldmarschall und den General Ludendorff bereits orientiert und fest entschlossen, durchzugreifen. Am 31. August richtete der Feldmarschall an den Kriegsminister ein Schreiben, in dem er das stärkste Kraftaufgebot zur Steigerung der Munitions- und Waffenherstellung verlangte. Dem Kanzler gab der Feldmarschall eine Abschrift.
Ich schrieb darauf an den General Ludendorff am 3. September 1916 einen Brief, in dem es hieß:
„Ich bin über die auf diesem Gebiet vorliegenden großen Schwierigkeiten durch unsere Industriellen unterrichtet. Mein Eindruck ist, daß die volle Leistungsfähigkeit unserer Industrie nur dann ausgenutzt werden kann, wenn
1. | die nötigen Facharbeiter aus der Front der Industrie schleunigst zur Verfügung gestellt werden, |
2. | die Vergebung der Aufträge vereinheitlicht wird, |
3. | der zu schaffenden Zentralstelle ein Mann ersten Ranges aus unserer Eisenindustrie beigegeben wird. |
… Ich empfinde es als große Erleichterung von einer drückenden Sorge, daß die Oberste Heeresleitung diese wichtige Angelegenheit nunmehr in die Hand genommen hat. Die Oberste Heeresleitung ist die einzige Stelle, die auf das Kriegsministerium in dieser Sache mit der Sicherheit des Erfolges einwirken kann.“
Etwa zwei Wochen später erhielt der Kanzler ein Schreiben des Feldmarschalls, in dem dieser unter [256] nachdrücklichem Hinweis auf den Ernst der Lage und auf die Notwendigkeit der Sicherung eines ausreichenden Heeresersatzes wie der Steigerung der Leistungen unserer Kriegsindustrie eine Reihe von Vorschlägen zur Erwägung stellte, deren wichtigste waren: Ausdehnung der Wehrpflicht auf alle Deutschen männlichen Geschlechts vom vollendeten fünfzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr und Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Frauen.
So sehr ich von der Überzeugung durchdrungen war, daß eine intensivere Ausnutzung der vorhandenen Arbeitskräfte dringend notwendig geworden war, so wenig konnte ich mich von der Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit der von der Obersten Heeresleitung vorgeschlagenen Eingriffe überzeugen. Die Ausdehnung der Wehrpflicht nach unten aus Gründen des Heeresersatzes schien mir schon deshalb überflüssig, weil das bestehende Wehrgesetz, das die Wehrpflicht vom vollendeten 17. Lebensjahre beginnen ließ, hinsichtlich der beiden jüngsten Jahrgänge überhaupt noch nicht ausgenutzt war. Auch von der Ausdehnung nach oben — jedenfalls von einer Ausdehnung über das fünfzigste Jahr hinaus — eine Ausdehnung bis zum fünfzigsten Jahr hielt ich für diskutabel — vermochte ich mir gleichfalls für den Heeresersatz keinen Vorteil zu versprechen, der einigermaßen im Verhältnis zu den Härten und Nachteilen einer solchen Maßnahme gestanden hätte. Wollte man aber die Ausdehnung der Wehrpflicht nach oben und unten lediglich als Verschleierung einer Arbeitspflicht, [257] so schien mir dieser Weg nicht zweckmäßig; man hätte die neuen Wehrpflichtigen alsbald für die Arbeit in die Heimat wieder reklamieren müssen, und die mit den Reklamierten schon damals vorliegenden Erfahrungen waren nicht gerade ermutigend. Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für die Frauen sollte die Möglichkeit geben, männliche Arbeit in weiterem Umfange als bisher durch weibliche zu ersetzen. Ich hatte den Eindruck, daß die Oberste Heeresleitung, als sie diesen Vorschlag machte, weder darüber im Bilde war, in welchem Umfang der Ersatz männlicher durch weibliche Arbeitskräfte bereits gelungen war — ich habe oben dafür einige Zahlen gegeben —, noch auch darüber, daß immer noch auf dem Arbeitsmarkt ein starker Überschuß des Angebots weiblicher Arbeitskräfte über die Nachfrage bestand. Das Problem lautete hier nicht: Wie kann man mehr weibliche Arbeitskräfte verfügbar machen? — sondern umgekehrt: Wie kann man für die verfügbaren weiblichen Arbeitskräfte geeignete Arbeit schaffen? Auch schien mir der Urheber des Vorschlages der Obersten Heeresleitung die wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Unzuträglichkeiten eines Arbeitszwanges für das weibliche Geschlecht nicht genügend zu würdigen.
In dem Ziel, die männlichen Arbeitskräfte weit stärker als bisher auf die kriegswichtigen und lebenswichtigen Betriebe zu konzentrieren und die Männerarbeit in noch weiterem Umfang als seither durch Frauenarbeit zu [258] ersetzen, stimmte ich mit der Obersten Heeresleitung überein. Aber von dem vorgeschlagenen Weg vermochte ich — abgesehen von der Frage nach der Möglichkeit seiner gesetzgeberischen Verwirklichung — bei zweifelhaftem Nutzen nur ganz schwerwiegende Nachteile und Störungen zu erwarten. Der Weg, der mir gangbar erschien, war die konsequente Weiterführung und Verallgemeinerung der bereits für einige Industrien in Angriff genommenen Konzentration und rationellen Nutzbarmachung der verfügbaren Arbeitskräfte, und zwar unter möglichster Förderung der weiteren Ersetzung von Männerarbeit durch Frauenarbeit im Wege der Einwirkung auf alle irgendwie für weibliche Arbeitskräfte in Betracht kommenden öffentlichen und privaten Betriebe. Auch die militärischen Behörden und Betriebe sowohl in der Heimat wie in den besetzten Gebieten schienen mir eine Überprüfung nach dieser Richtung hin sehr wohl zu vertragen.
In diesem Sinne habe ich den Reichskanzler beraten, und in diesem Sinne hat der Reichskanzler dem Generalfeldmarschall geantwortet.
Es knüpfte sich daran eine weitere Erörterung, in deren Verlauf die Oberste Heeresleitung in einem Schreiben des Feldmarschalls vom 10. Oktober, das General Gröner am 14. Oktober dem Reichskanzler überbrachte, einen neuen Vorschlag machte.
In diesem Schreiben setzte der Feldmarschall auseinander, daß die bisher getroffenen Maßnahmen zur Steigerung [259] der Leistungen unserer Industrie (Einrichtung des Waffen- und Munitionsbeschaffungsamtes und des Arbeitsamtes im Kriegsministerium) nicht zum Ziele führen würden. Erfolge würden auch in Zukunft dadurch vereitelt werden, daß diese Ämter nicht die erforderliche Selbständigkeit und Befehlsgewalt hätten, um schnell und lediglich nach großen sachlichen Gesichtspunkten zu handeln, die Ausführung zu überwachen und nötigenfalls auch durchsetzen zu können. Auch das Kriegsernährungsamt leide unter den gleichen Mängeln. Die unbedingt notwendige Änderung sei nur zu erreichen, „wenn wir uns zunächst auf Maßnahmen beschränken, die lediglich durch Kaiserlichen Erlaß, ohne Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften, getroffen werden können“. Der Entwurf einer Allerhöchsten Kabinettsorder war beigefügt.
Dieser Entwurf sah die Einrichtung eines „Obersten Kriegsamtes“ vor, dem die Leitung aller mit der Kriegführung zusammenhängenden Angelegenheiten der Beschaffung, Verwendung und Ernährung der Arbeiter, sowie die Beschaffung von Rohstoffen, Waffen und Munition übertragen werden sollte. Das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, das Arbeitsamt und die Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums sollten dem „Obersten Kriegsamt“ unterstellt werden. Ferner sollte das „Oberste Kriegsamt“ die Maßnahmen des Kriegsernährungsamts für die Versorgung der Arbeiter überwachen. [260] Letztere Regelung war als eine vorläufige gedacht, die gänzliche Einfügung des Kriegsernährungsamtes in das „Oberste Kriegsamt“ sollte weiterer Erwägung vorbehalten bleiben.
Mündlich sagte General Gröner bei der Übergabe dieses Schreibens dem Reichskanzler: General Ludendorff habe den Gedanken des Arbeitszwanges noch nicht ganz aufgegeben; er, Gröner, sei für seine Person dagegen, halte aber Einschränkungen der Freizügigkeit der Arbeiter, ähnlich wie in England, für nötig.
Die Errichtung eines Kriegsamts, bei dem alle Angelegenheiten der Beschaffung von Waffen und Munition, einschließlich der Arbeiter- und Rohstofffragen einheitlich zusammengefaßt werden sollten, lag in der Richtung der in meinem Schreiben an den General Ludendorff vom 3. September gegebenen Anregung. Zweifelhaft war die Zweckmäßigkeit einer völligen Lostrennung des Kriegsamts vom Kriegsministerium. Nach weiterer Prüfung entschieden sich die militärischen Stellen dahin, das Kriegsamt nicht als „Oberstes Kriegsamt“ selbständig neben das Kriegsministerium zu stellen, sondern es mit weitgehender Selbständigkeit im Verbande des Kriegsministeriums zu belassen. In diesem Sinn wurde am 1. November 1916 die Errichtung des „Kriegsamts“ durch Allerhöchste Order verfügt. Gleichzeitig wurde der General Gröner zum Chef des Kriegsamts ernannt und General Wild von Hohenborn als Kriegsminister durch General von Stein ersetzt.
Noch ehe diese Änderungen veröffentlicht waren, am 28. Oktober, teilte General Gröner dem Reichskanzler mit, daß die Oberste Heeresleitung — entgegen der im Schreiben des Feldmarschalls an den Reichskanzler vom 10. Oktober ausgesprochenen Absicht, zunächst von Maßnahmen, die eine Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften nötig machten, abzusehen — auf die früheren Vorschläge in der Form zurückgreifen wollte, daß für alle männlichen Deutschen vom vollendeten 15. bis zum 60. Lebensjahr, sowie für die Frauen eine Arbeitspflicht eingeführt werde.
Am folgenden Tage fand beim Reichskanzler unter Zuziehung des Generals Gröner eine Besprechung mit den beteiligten Ressortchefs über diesen Gedanken statt. General Gröner begründete die Notwendigkeit der Arbeitspflicht, gegen die er sich dem Reichskanzler gegenüber noch vierzehn Tage zuvor für seine Person ausgesprochen hatte, mit dem gewaltigen Bedarf an Arbeitskräften zur Durchführung des neuen großen Waffen- und Munitionsprogramms, des „Hindenburg-Programms“. Ich hörte bei dieser Gelegenheit zum erstenmal von den gigantischen Dimensionen dieses Programms, das aufgestellt und mit der Industrie größtenteils bereits vereinbart war, ohne daß die militärischen Stellen in dieser so tief in das gesamte Wirtschaftsleben einschneidenden und in ihrer Durchführbarkeit von schwer zu übersehenden wirtschaftlichen Voraussetzungen abhängigen Angelegenheit mit mir als dem [262] Chef des wirtschaftlichen Reichsressorts in Verbindung getreten wären. Es ergab sich, daß auch der Eisenbahnminister von Breitenbach und der Handelsminister Sydow zu der Feststellung des Programms nicht herangezogen worden waren, obwohl dessen Durchführung, die enorme Transporte für Neubauten industrieller Anlagen größten Stils nötig machte und den Verbrauch der Kohle gewaltig steigern mußte, von der Leistungsfähigkeit unserer Eisenbahnen und unserer Kohlenproduktion ebenso abhängig war wie von der Möglichkeit der Beschaffung ausreichender Arbeitskräfte. Beide Minister äußerten, ebenso wie ich, die ernstlichsten Zweifel an der Durchführbarkeit des „Hindenburg-Programms“ und wiesen auf die verhängnisvollen Folgen einer solchen Überspannung hin.
In Sachen der Arbeitspflicht brachte General Gröner nur den allgemeinen Gedanken und den dekorativen Namen „Vaterländischer Hilfsdienst“ mit. Keine bestimmte Formulierung und keine Ausgestaltung im einzelnen. Die Aussprache enthüllte die außerordentlichen Schwierigkeiten der Verwirklichung des Gedankens der Arbeitspflicht. Sollten die Arbeitspflichtigen wie die Wehrpflichtigen in Stammrollen eingetragen, zu Arbeiterbataillonen formiert und in bestimmte Betriebe kommandiert werden? Jedermann sah ein, daß dies unmöglich war. Weitaus der größte Teil der künftighin Arbeitspflichtigen war bereits in Betrieben und Beschäftigungen tätig, die als wichtig für die Kriegführung und Volksversorgung anzusehen waren. [263] Es hätte keinen Zweck gehabt und nur die schwersten Störungen verursacht, wenn man diese hätte aus ihrer Tätigkeit herausreißen wollen, um sie dann derselben Tätigkeit oder einer anderen, aber nicht wichtigeren, wieder zuzuführen. Der Sinn der Arbeitspflicht konnte doch nur sein, diejenigen heranzuholen, die bisher entweder überhaupt nicht arbeiteten oder in für Kriegführung und Volksversorgung unwichtigen oder weniger wichtigen Beschäftigungen tätig waren, oder schließlich in an sich wichtigen, aber mit Arbeitskräften übersetzten Betrieben arbeiteten. Das Erfassen dieser Arbeitskräfte und ihre Überweisung an wichtige Arbeit war zu organisieren. Ferner bedurfte der Zwang, eine zugewiesene Arbeit anzunehmen, zu seiner Ergänzung einer Kontrolle des Verlassens einer kriegswichtigen Arbeit, also einer Beschränkung des Arbeitswechsels. Und diese weitgehenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit machten ein geordnetes Verfahren und einen Rechtsschutz für die dadurch betroffenen Personen nötig. Vorauszusehen war ferner, daß bei der parlamentarischen Behandlung eines Arbeitspflichtgesetzes die alten sozialen Wünsche nach Arbeitsausschüssen, Schlichtungsstellen und Einigungsämtern und die politische Forderung nach unbeschränkter Koalitionsfreiheit sich Geltung verschaffen würden.
In der grundsätzlichen Frage konnte ich mich den Gründen, die General Gröner für die Statuierung einer Arbeitspflicht darlegte, nicht entziehen, obwohl ich den [264] praktischen Nutzeffekt der Arbeitspflicht erheblich geringer einschätzte als die militärischen Stellen. Aber angesichts der schweren Bedrängnis, in die wir geraten waren, konnte auf keine irgend mögliche Verbesserung in der Nutzbarmachung von Arbeitskräften verzichtet werden. Die Arbeitspflicht der Jugendlichen von weniger als 17 Jahren und der Frauen ließ General Gröner angesichts der von allen Seiten geltend gemachten Einwendungen fallen.
Ich übernahm es, einen Entwurf ausarbeiten zu lassen, der als Grundlage für die weitere Erörterung dienen sollte.
Das war am Sonntag, dem 29. Oktober. Obwohl ich damals neben meinen anderen Geschäften durch die Reichstagsverhandlungen über Belagerungszustand und Zensur, durch den Bundesratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten, der am 30. Oktober tagte, und die damals vor der Entscheidung stehende polnische Frage auf das äußerste in Anspruch genommen war, konnte ich die Grundzüge des Entwurfs schon am Donnerstag, 2. November, mit General Gröner besprechen und mit diesem vereinbaren, daß vor weiterem die Angelegenheit in der folgenden Woche vertraulich mit Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmer-Organisationen durchberaten werden sollte. Zudem hatte der Kaiser sich der Auffassung des Kanzlers angeschlossen, daß vor einer öffentlichen Behandlung der Frage der Arbeitspflicht die Wirkung des damals schon bei unseren Verbündeten angeregten Friedensvorschlags abgewartet werden sollte.
Am 4. November war der Reichstag vertagt worden. Am Vormittag des 6. November schickte mir der Kanzler ein Telegramm des Vertreters des Auswärtigen Amts im Großen Hauptquartier, der General Ludendorff erkläre, das Hilfsdienstgesetz dulde keinerlei Aufschub; er werde diesen Standpunkt mit allem Nachdruck bei Seiner Majestät vertreten. Schon am Nachmittag erhielt der Kanzler ein Telegramm des Kaisers, in dem dieser in ungewöhnlich schroffer Form die sofortige Erledigung des Hilfsdienstgesetzes befahl. Auch in den folgenden Wochen, während mit Hochdruck an dem Gesetz gearbeitet wurde — der Entwurf wurde am 10. November nach der Beschlußfassung des Preußischen Staatsministeriums dem Kaiser zur Genehmigung vorgelegt und alsbald nach Eingang der Kaiserlichen Order, am 14. November, bei dem inzwischen bereits vertraulich orientierten Bundesrat eingebracht — wiederholte sich dieses ungestüme Drängen aus dem Großen Hauptquartier. Es ist mir heute noch unbegreiflich, was für einen Sinn dieses Drängen haben sollte. Die Durchführung des Gesetzes bedurfte in dem gerade erst neu errichteten Kriegsamt umfassender Vorbereitungen, die unbeschadet der verfassungsmäßigen Behandlung des Entwurfs sofort in Angriff genommen werden konnten und in Angriff genommen wurden. Auch bei der besten und gründlichsten Vorbereitung konnten die Wirkungen des Gesetzes sich nicht auf Tag und Stunde, sondern erst im Laufe längerer Zeit fühlbar machen. Andererseits war das Gesetz [266] von solcher Tragweite für unser ganzes Wirtschaftsleben und für die Verhältnisse eines jeden einzelnen Staatsbürgers, daß ich für die Durchberatung mit den in erster Linie beteiligten Wirtschaftskreisen, für die Beschlußfassung der Verbündeten Regierungen und für die Vorbereitung der parlamentarischen Behandlung die nötige Zeit in Anspruch nehmen mußte.
Jedenfalls war ich für meine Person nicht gewillt, das fortgesetzte Drängen hinzunehmen. Ich erklärte dem Kanzler, daß ich dafür dankte, unter der Hetzpeitsche des Großen Hauptquartiers zu arbeiten, und bat ihn, dem Kaiser mein Entlassungsgesuch zu unterbreiten. Der Kanzler selbst hatte den Eindruck, daß die unverkennbare Animosität des Großen Hauptquartiers sich in der Hauptsache gegen seine Person richte. Er reiste nach Pleß, um eine Aussprache mit dem Kaiser und dem Feldmarschall herbeizuführen und danach seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Diese Aussprache reinigte für kurze Zeit die Atmosphäre; eine wirkliche Klärung brachte sie nicht. Der Kanzler selbst kehrte aus Pleß zurück mit dem Gefühl eines von Einzeldifferenzen unabhängigen, auf die Dauer unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen sich und der Obersten Heeresleitung.
Das Hilfsdienstgesetz wurde am 21. November vom Bundesrat angenommen und dem für den 25. November wieder einberufenen Reichstag vorgelegt. Schon zwei Tage zuvor begann der Hauptausschuß auf Grund der von mir mit [267] den Fraktionsführern getroffenen Abrede in freier Diskussion die Beratung des Gesetzentwurfs. In Sitzungen, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend dauerten, wurde das Gesetz in der eingehendsten Weise durchgearbeitet. Der Reichstagsausschuß verlangte, wie ich das nicht anders erwartet hatte, daß alle die nach dem Entwurf dem Bundesrat vorbehaltenen Einzelbestimmungen über die zur Durchführung des Gesetzes zu schaffenden Organe und Instanzen sowie über den Rechtsschutz für die Arbeitspflichtigen — Bestimmungen, die in Form von „Richtlinien“ der Begründung des Entwurfs beigefügt waren — in den Text des Gesetzes selbst aufgenommen würden. Dazu kamen alle die vorausgesehenen und manche nicht vorausgesehenen sozialpolitischen und politischen Anträge, die auf ein mit dem Zweck des Gesetzes verträgliches Maß in schwieriger Diskussion zurückgeführt werden mußten. So erfüllte sich die von einem Vertreter der Obersten Heeresleitung bei der ersten Besprechung mit den Gewerkschaften ausgesprochene Hoffnung, der Reichstag werde das Gesetz als eine patriotische Großtat auffassen und ohne Diskussion en bloc annehmen!
In Tages- und Nachtarbeit wurde der Entwurf so weit gefördert, daß der Hauptausschuß schon am Abend des 28. November die Beratung abschließen konnte. In den folgenden Tagen erledigte das Reichstagsplenum die Vorlage in Dauersitzungen. Die zweite Lesung am 30. November begann um 12 Uhr mittags und endigte kurz vor [268] 12 Uhr nachts. Am Nachmittag des 2. Dezember wurde das Gesetz in dritter Lesung vom Reichstag mit 235 gegen 19 Stimmen der Unabhängigen Sozialdemokraten bei 8 Stimmenthaltungen angenommen.
Bis zum letzten Augenblick waren einzelne wichtige Bestimmungen schwer umstritten. Meine Stellung war gegenüber dem Reichstag eine ungewöhnlich schwierige infolge des Umstandes, daß zwischen den einzelnen Stadien der Reichstagsberatung nicht die genügende Zeit lag, um eine Stellungnahme der Verbündeten Regierungen zu weitgehenden Abänderungen und Ergänzungen der Vorlage herbeizuführen. Dadurch war ich gezwungen, in Wahrung des gesetzgeberischen Rechtes des Bundesrats auch gegenüber Anträgen Zurückhaltung zu zeigen, die ich an sich für erträglich hielt und die ich bei den Verbündeten Regierungen gegen manche mir bekannte Widerstände zu befürworten entschlossen war. Ich mußte in solchen Fällen, wie ich es im Reichstag ausdrückte, den Verbündeten Regierungen gewissermaßen „das Protokoll offen halten“. Der Reichstag hat für solche Situationen, die sich aus der Stellung der Mitglieder der Reichsleitung als Vertreter der Verbündeten Regierungen ergaben, stets nur geringes Verständnis gezeigt. Im vorliegenden Fall kam für mich noch die besondere Erschwerung hinzu, daß der General Gröner, der als Chef des Kriegsamts mit mir die Vorlage zu vertreten hatte, in der nur einem Soldaten gestatteten Unbefangenheit auf eigene Faust verhandelte und [269] Zugeständnisse machte, oft genug, ohne mich auch nur von seinen Besprechungen und Zusagen zu unterrichten. Es ist mir in der Kommission passiert, daß mir ein sozialdemokratischer Abgeordneter unter vier Augen sagte: „Wir verstehen Sie nicht; Sie wehren sich hier gegen Dinge, die uns der General Gröner längst zugestanden hat!“
Noch in der dritten Lesung kam es zu einer kritischen Zuspitzung. Am Abend vorher wurde mir mitgeteilt, daß die Nationalliberalen auf Drängen des Abgeordneten Ickler, der in den Eisenbahner-Organisationen eine führende Rolle spielte, einen Antrag einbringen wollten, der die Erstreckung der in den Beschlüssen zweiter Lesung vorgesehenen Arbeiterausschüsse und Schlichtungsstellen auch auf die Staatseisenbahnen vorsah. Der preußische Eisenbahnminister und mit ihm das gesamte preußische Staatsministerium hatten, schon als in den Kommissionsberatungen dieser Gedanke von sozialdemokratischer Seite in die Erörterung geworfen wurde, eine solche Erstreckung für unannehmbar erklärt. Der Widerstand des Eisenbahnministers richtete sich vor allem gegen die Schiedsstellen, die für das Verhältnis zwischen Eisenbahnverwaltung und Eisenbahnangestellten und Arbeitern eine dritte außerhalb stehende Instanz geschaffen hätten. Dagegen gelang es mir, von Herrn von Breitenbach die Zusicherung zu erhalten, daß die bei der Eisenbahn bereits bestehenden Arbeiterausschüsse entsprechend den aus der Mitte des Reichstags geäußerten und in einer Resolution [270] niedergelegten Wünschen ausgebaut werden sollten. Auf Grund dieser Zusage gelang es, die Nationalliberalen noch vor Beginn des Sitzung zur Zurückziehung des bereits gedruckten Antrages Ickler zu bestimmen. Die Sozialdemokraten, die bisher einen solchen Antrag nicht gestellt hatten, erhielten jedoch von dem gleich wieder zurückgezogenen Antrag Ickler Kenntnis und nahmen diesen nun ihrerseits auf. Als bereits der Abgeordnete Legien zur Begründung des Antrags sprach, trat der Abgeordnete Ickler zu mir heran und sagte mir, daß, nachdem die Sozialdemokraten den Antrag gestellt hätten, seine Freunde nun doch für den Antrag stimmen müßten. Da die Haltung eines Teiles des Zentrums zum mindesten zweifelhaft war, was mir der Abgeordnete Spahn bestätigte, konnte die Annahme des Antrags, wenn überhaupt noch, dann nur durch eine klare Stellungnahme meinerseits und einen Hinweis auf die möglichen Folgen eines solchen irreparabeln, weil in der dritten Lesung gefaßten Beschlusses verhindert werden. Ich nahm deshalb nach Legien das Wort, teilte zunächst die Zusicherung des preußischen Eisenbahnministers hinsichtlich der Arbeiterausschüsse mit, entwickelte kurz die Gründe gegen eine Ausdehnung der Schiedsstellen auf die Eisenbahnen und fügte hinzu: „Deshalb muß ich hier, so leid es mir tut, sagen, daß, wenn der Antrag, wie er hier gestellt ist, angenommen wird, dann in der Tat das Gesetz gefährdet ist. Dieses Wort habe ich bisher noch nicht ausgesprochen; in diesem Punkte muß ich es leider tun.“
Diese Erklärung trug mir im Reichstag und in der Presse die heftigsten Angriffe ein. Sie hatte aber die Wirkung, daß ein Teil der Abgeordneten, die andernfalls für den sozialdemokratischen Antrag gestimmt hätten, vor allem die Nationalliberalen um Ickler und die den Arbeiterorganisationen nahestehenden Zentrumsabgeordneten, sich auf die zu diesem Thema vorliegende Resolution zurückzogen und gegen den Antrag stimmten, der auch jetzt nur mit einer Stimme Mehrheit, mit 139 gegen 138 Stimmen, abgelehnt wurde. Ich war bei der Besetzung des Hauses auf eine Annahme des Antrags gefaßt und hatte bereits meine Akten gepackt, um sofort zum Kanzler zu fahren und meine Entlassung zu nehmen.
Mir persönlich wäre diese Lösung eine Erleichterung gewesen. Die das Maß menschlicher Kraft übersteigende Arbeitslast, die sich in den letzten Wochen ins Unerträgliche gesteigert hatte und durch die Reibungen mit dem Großen Hauptquartier auf der einen Seite, mit dem Reichstag auf der anderen Seite, noch eine besondere Würze erhielt, hatte mir die Freude an meiner Amtstätigkeit zerstört und mir auch körperlich stark zugesetzt. Neue schwere Reibungen und Konflikte sah ich voraus. Die Erfahrungen bei der Beratung des Hilfsdienstgesetzes hatten mir gezeigt, daß ich bei einem großen Teil des Reichstags, insbesondere bei den Sozialdemokraten, mit einer unüberwindlichen Voreingenommenheit zu kämpfen hatte. Man sah in mir, zu dessen Geschäftsbereich vor allem auch die [272] Sozialpolitik gehörte, stets den früheren Bankdirektor und infolgedessen den Vertreter kapitalistischer Weltanschauung und kapitalistischer Interessen, ohne mir den mildernden Umstand zuzubilligen, daß auch ich nicht in einer goldenen Wiege gelegen habe, sondern aus immerhin bescheidenen Verhältnissen lediglich durch eigene Arbeit vorwärtsgekommen war. Andererseits lehnte sich, je länger desto mehr, mein in neun Jahren großer geschäftlicher Tätigkeit an praktische Arbeit gewohnter Sinn gegen die Arbeitsmethoden des Reichstags auf, der immer wieder in endlose Debatten und öde Parteipolitik zurückfiel, während draußen Stunde für Stunde um Leben und Tod der Nation gerungen wurde und uns allen die Not des Vaterlandes auf den Nägeln brannte. Auch in der Unerquicklichkeit des Verhältnisses zum Großen Hauptquartier sah ich keine Besserung. Über die wachsende Schwierigkeit des vertrauensvollen Zusammenwirkens konnte es mich nicht hinwegtrösten, daß der Kaiser nach der Erledigung des Hilfsdienstgesetzes mir sein unvermindertes Vertrauen durch die Übersendung seines Reiterbildes mit einer anerkennenden Widmung zu erkennen gab. Aber in allen diesen Schwierigkeiten überwog doch schließlich das Gefühl, daß persönliche Empfindungen vor der harten Pflicht zurücktreten mußten, und daß die Pflicht von mir verlange, auszuharren und weiterzukämpfen.
Die Durchführung des Hilfsdienstgesetzes wurde durch das Gesetz selbst dem Kriegsamt übertragen, dem ein aus [273] fünfzehn Mitgliedern bestehender Ausschuß des Reichstags, ausgestattet mit weitgehenden Befugnissen, zur Seite gestellt wurde. Damit waren meiner unmittelbaren Einwirkung auf die Durchführung des Gesetzes enge Grenzen gezogen.
Von erheblicher Bedeutung für die Durchführung ist die Fassung geworden, die der Reichstag dem § 9 des Gesetzes gegeben hatte.
Der Paragraph behandelt die als Ergänzung zur Arbeitspflicht erforderliche Beschränkung des Arbeitswechsels. Ein Arbeitswechsel sollte nur gestattet sein vermittels eines von dem bisherigen Arbeitgeber ausgestellten „Abkehrscheines“. Gegen die Verweigerung des Abkehrscheines sollte die Berufung an eine paritätisch zusammengesetzte Kommission statthaft sein, die den Abkehrschein bei Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ für das Ausscheiden auszustellen hatte.
Diese Regelung war bereits in den der Vorlage beigegebenen Richtlinien enthalten. In der Kommission wurde ein Zusatz beantragt, daß als „wichtiger Grund“ für das Ausscheiden „insbesondere die Möglichkeit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen“ zu gelten habe. Gegen diesen Zusatz wurden nicht nur von mir, sondern auch aus der Mitte der Kommission, namentlich auch von den Abgeordneten von Payer und Dr. Schiffer, starke Bedenken geltend gemacht. Die einseitige Hervorhebung der Verbesserung der Lohnverhältnisse als „wichtiger Grund“ für den [274] Arbeitswechsel schien mir mit dem Zweck des Gesetzes, im Interesse der möglichsten Steigerung der Produktion den Arbeitswechsel einzuschränken, im Widerspruch zu stehen. Ich führte damals in der Kommission aus:
„Nach meiner Ansicht werden durch eine solche gesetzliche Bestimmung die Leute geradezu mit der Nase darauf gestoßen, daß sie sich überlegen, wo sie bessere Arbeitsbedingungen finden. Statt den Arbeitswechsel zu verhindern, fürchte ich, daß durch eine solche einseitige Definition das Gegenteil erreicht wird, daß Unzufriedenheit in die große Masse der Arbeiter hineingetragen wird, die an einen Arbeitswechsel bisher gar nicht denken.“
Der Abgeordnete von Payer sprach geradezu von einer Entwertung des ganzen Gesetzes durch eine so einseitige Hervorkehrung der Lohnfrage.
Schließlich einigte sich die Mehrheit der Kommission auf einen Zusatz, lautend:
„Bei der Entscheidung der Frage, ob ein ‚wichtiger Grund‘ vorliegt, ist auf die Bedürfnisse des vaterländischen Hilfsdienstes Rücksicht zu nehmen. Als wichtiger Grund soll insbesondere eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen im vaterländischen Hilfsdienst gelten.“
Hier war wenigstens die Rücksicht auf den Zweck des Gesetzes im ersten Satz vorangestellt.
Im Plenum des Reichstags jedoch wurde die Streichung des ersten Satzes beantragt und gegen meinen Widerspruch angenommen.
Die seither gemachten Erfahrungen haben meine Befürchtungen leider gerechtfertigt. Die heute allgemein, auch von den Sozialdemokraten, beklagte ungesunde Lohntreiberei ist von der Kriegsindustrie ausgegangen, und in der Kriegsindustrie hat ihr der vom Reichstag beschlossene Zusatz geradezu den Boden bereitet.
Auf diesem Boden mußte die Lohntreiberei um so üppiger ins Kraut schießen, als das Kriegsamt mehr und mehr dazu überging, Lieferungsverträge abzuschließen, bei denen die Preisfestsetzung offen blieb und nach Abschluß der Lieferung auf Grund der Gestaltung der Materialpreise und Löhne erfolgen sollte. Durch Verträge dieser Art wurden die Unternehmer geradezu angereizt, sich gegenseitig in den Arbeitslöhnen zu überbieten. Denn die Lohnsteigerung wurde ja nun nicht mehr von ihnen selbst getragen, sondern von dem geduldigen Staat; ja die Lohnsteigerung brachte ihnen geradezu einen Vorteil, da ihr Gewinn im Verhältnis ihres Aufwandes für Material und Löhne stieg. Das Kriegsamt hat später in einer besonderen Denkschrift über dieses verheerende System bewegliche und berechtigte Klage geführt. Es hat dabei nur den einen nicht ganz unwichtigen Umstand übersehen, daß nämlich die Anwendung und die Abstellung dieses Systems lediglich Sache seiner eigenen Zuständigkeit und Verantwortung war.
Von der Lohnfrage abgesehen war die Wirkung des Hilfsdienstgesetzes in ganz besonderem Maße davon abhängig, wieweit es gelang, auf organisatorischem Weg durch eine [276] rationelle Gestaltung der einzelnen Produktionszweige, insbesondere durch Zusammenlegung und Stillegung von Betrieben, bisher ohne erhebliche Nutzwirkung gebundene Arbeitskräfte freizusetzen und für wichtige Arbeit verfügbar zu machen. Darüber ist schon bei den Verhandlungen des Hauptausschusses, dann in den Verhandlungen des dem Kriegsamt zur Seite gestellten Fünfzehnerausschusses unendlich viel gesprochen worden. Die praktische Arbeit hat mit den theoretischen Worten leider nicht gleichen Schritt gehalten. Das Reichsamt des Innern war bald genötigt, diese dem Kriegsamt übertragenen Angelegenheiten allmählich wieder in seine Hand zu nehmen.
Ein abschließendes Urteil über die Wirkung des Hilfsdienstgesetzes ist mir heute noch nicht möglich, da mir das hierfür erforderliche Material nicht zugänglich ist. Mein Eindruck geht jedoch dahin, daß seine Wirkung jedenfalls weit hinter den Erwartungen der Obersten Heeresleitung zurückgeblieben ist, ja daß, alles in allem genommen, der Nachteil den Vorteil aufgewogen hat. Dies gilt auch von der Wirkung auf die Volksstimmung. Der große patriotische Aufschwung, den die Urheber des Gesetzes von der Verkündigung der allgemeinen Dienstpflicht für das Vaterland erwarteten, ist nicht eingetreten; dagegen haben die Radikalsten der Radikalen das „Arbeitszwangsgesetz“ als zugkräftigen Agitationsstoff ausgenutzt. Ein entschiedenes, aber besonnenes Fortschreiten auf dem bereits betretenen Weg der Einschränkung des Arbeitsaufwandes für weniger [277] wichtige Zwecke und der rationellen Nutzbarmachung der Arbeitskräfte in den für den Krieg und die Volksversorgung wichtigen Zweigen hätte uns wohl weiter geführt als die große Aufmachung des „Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes“.
Eines steht leider fest: Auch mit dem Hilfsdienstgesetz ist es nicht gelungen, das „Hindenburg-Programm“ auch nur annähernd zur Durchführung zu bringen. Es trat vielmehr ein, was dem neuen Chef des Kriegsamts schon in jener ersten Besprechung beim Reichskanzler am 29. Oktober 1916 mit allem Nachdruck entgegengehalten worden war: das Hindenburg-Programm scheiterte nicht nur an der Arbeiterfrage, sondern auch an der Transport- und der Kohlenfrage, und schlimmer als das: es brachte nicht nur unsere Arbeitsverhältnisse, sondern auch unsere Transport- und Kohlenverhältnisse in eine schlimme Verwirrung.
Schon Anfang Februar 1917 sah sich die Oberste Heeresleitung genötigt, gegenüber der Industrie den Wunsch auszusprechen, es möchte der Weiterbau aller derjenigen Fabriken, die nicht schon innerhalb der nächsten drei bis vier Monate fertig würden, zunächst einmal zurückgestellt werden. Die Schwierigkeiten, namentlich die Transportschwierigkeiten, waren damals so groß geworden, daß kein einziger der 40 Hochöfen, die vollständig betriebsfähig, aber kalt bereitstanden, hatte angeblasen werden können. Eine Entlastung der Werke zugunsten des Eisenbahnbedarfs war zur Vermeidung einer Katastrophe unabweisbar geworden.
Aber auch die schon damals vorgenommene erhebliche Einschränkung des Programms genügte noch nicht, das Gleichgewicht mit unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit herzustellen. Die Transportkrisis, verschärft durch einen ungewöhnlich harten Winter, der für viele Wochen die Wasserstraßen unbenutzbar machte und das Eisenbahnmaterial stark beanspruchte, hielt an. Die Kohlenkrisis wurde von Woche zu Woche bedenklicher. Wie man dem Eisenbahnbedarf auf Kosten der Munitionserzeugung freieren Spielraum geben mußte, so wurden auch auf dem Gebiet der Kohlenförderung und des Kohlenverbrauches einschneidende Maßnahmen nötig.
Die Sorge für die Kohle hatte zunächst das Kriegsamt an sich genommen. Der „Kohlenausgleich“ des Kriegsamts, der zu einer großen Organisation ausgebaut worden war, stand im Februar 1916 vor der Unmöglichkeit, seine Aufgabe zu bewältigen. General Gröner wandte sich an den preußischen Handelsminister und an mich, um mit uns über die zu ergreifenden Maßnahmen zu beraten. Es wurde ein Reichskommissar für Kohle eingesetzt und mit selbständigen und weitgehenden Befugnissen ausgestattet, vor allem mit der Befugnis der Beschlagnahme der Kohle und der Zuteilung an bestimmte Empfänger. Zur Aufrechterhaltung der unbedingt notwendigen engen Fühlung mit den militärischen Stellen wurde der Kohlenkommissar dem Kriegsamt „angegliedert“, blieb jedoch der Aufsicht des Reichskanzlers unterstellt.
Es stellte sich bald heraus, daß die Aufgabe des Kohlenkommissars, für eine ausreichende Deckung des Kohlenbedarfs, vor allem des dringlichen Kohlenbedarfs, zu sorgen, bei den damals obwaltenden Verhältnissen unlösbar war. Zwar war die Kohlenförderung nach dem Rückschlag zu Beginn des Krieges bald wieder in die Höhe gebracht worden. Die Steinkohlenförderung stand nicht mehr weit hinter der Friedensproduktion zurück, und die Braunkohlenförderung hatte die Friedensproduktion sogar überschritten. Aber abgesehen von der schlechteren Qualität der mangelhaft aufbereiteten Kohle waren die Eisenbahnen bis in das Frühjahr 1917 hinein nicht in der Lage, die geförderten Mengen abzutransportieren; Hunderttausende von Tonnen mußten auf die Halde gestürzt werden. Und auch später, als die Wagengestellung wieder ausreichte, um die gesamte Förderung zu bewältigen, zeigte sich, daß allein die Dringlichkeitsliste der militärischen Stellen infolge der enormen Ansprüche des Waffen- und Munitionsprogrammes größere Kohlenmengen umfaßten, als bei damaligem Stand der Belegschaften überhaupt gefördert werden konnten. Die Erhebungen des Kohlenkommissars, der für das Jahr 1917 eine Bilanz aufzustellen versuchte, ergaben bei einer Steinkohlenförderung von rund 160 Millionen Tonnen und einem Bedarf von 183 Millionen Tonnen einen Fehlbetrag von nicht weniger als 23 Millionen Tonnen. Eine Nachprüfung der Ersparnismöglichkeiten ergab, daß die Verwendungszwecke außerhalb [280] der Kriegsindustrie (hauptsächlich für Eisenbahnen, Hausbrand, Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, Ausfuhr auf Grund abgeschlossener Kompensationsverträge) entweder keine oder nur eine im Verhältnis zu dem Fehlbetrag geringfügige Einschränkung vertrugen. Insbesondere habe ich mich dafür eingesetzt, daß der Hausbrand, der mit 14 Millionen Tonnen ohnedies schon sehr niedrig veranschlagt war, unter allen Umständen sichergestellt werden müsse. Wir standen also vor der Alternative: entweder weitere Einschränkung des Rüstungsprogramms oder Steigerung der Kohlenproduktion, die nur durch die Freigabe einer großen Anzahl von Bergarbeitern aus der Front erzielt werden konnte. Es handelte sich also im wesentlichen darum, den Bedarf an Waffen und Munition und den Bedarf an Mannschaften gegeneinander abzuwägen. Das war Sache der Obersten Heeresleitung, die allein darüber entscheiden konnte, an welchem Punkt diese beiden Interessen ihren Ausgleich finden sollten. Ich mußte mich darauf beschränken, den militärischen Stellen die engen Grenzen der zivilen Ersparnismöglichkeit und die damit unausweichliche Alternative: entweder ausgiebige Freigabe von Mannschaften für den Kohlenbergbau oder weitere empfindliche Einschränkung des Hindenburg-Programms, mit aller Eindringlichkeit klarzumachen. Das ist von mir namentlich auch in einer eingehenden Besprechung mit dem General Ludendorff im Juni 1917 geschehen.
Die Heeresverwaltung hat sich schließlich zu weitgehender Freigabe von Mannschaften auf der einen Seite, zu einer neuen Einschränkung des Hindenburg-Programms auf der andern Seite entschlossen. Der ungeheure Druck der Tatsache, daß jede Tonne Steinkohle, die ohne zwingende Notwendigkeit verbraucht wurde, eine Minderung der Versorgung des kämpfenden Heeres mit Kampfmitteln darstellte, nötigte gleichzeitig zu der äußersten Einschränkung des Kohlenverbrauches auf allen übrigen Gebieten.
Auch unsere finanzielle Kraft wurde durch die Überspannung des Waffen- und Munitionsprogramms über Gebühr in Anspruch genommen. Die monatlichen Kriegsausgaben, die noch im August 1916 sich unter dem Betrag von 2 Milliarden Mark hielten, überschritten im Oktober 1916 bereits den Betrag von 3 Milliarden Mark. Ein Jahr später wuchsen sie über die vierte Milliarde hinaus, und im Oktober 1918 haben sie den Betrag von 4 Milliarden 800 Millionen Mark erreicht. Es ist also auch nach der Einschränkung des Hindenburg-Programms nicht mehr gelungen, den immer stärker anschwellenden Strom der Kriegsausgaben wieder einzudämmen.
Der Reichsfinanzminister Dr. Schiffer hat im Februar 1919 in der Nationalversammlung das Hindenburg-Programm ein „Programm der Verzweiflung“ genannt. Diese Bezeichnung ist nicht zutreffend. Den Herren, in deren Kopf das Programm entstand, das sie mit dem Namen Hindenburgs ausstatteten, war die Verzweiflung fremd. Ihr Programm war [282] ein Programm der Selbstüberschätzung und der Überschätzung der deutschen Volks- und Wirtschaftskraft. Bei ruhiger Überlegung des Notwendigen und sachlicher Prüfung des Möglichen hätte es sich vermeiden lassen, Mengen von wertvollem Material und noch wertvollerer Arbeitskraft in industrielle Ruinen zu stecken, die aus Mangel an Menschen und Kohlen teils nie vollendet, teils nie in vollem Umfang in Betrieb genommen worden sind. Man hätte mit weniger Arbeitskräften und Material erheblich mehr für die Ausrüstung des Heeres geleistet und unserer Wirtschaft Störungen und Erschütterungen erspart, die letzten Endes an die Wurzeln der Widerstandskraft unseres Volkes gingen.
Fußnote:
[3] Für 1917 und 1918 stehen mir die Ziffern nicht zur Verfügung.
Das berühmte Wort des Generals von Clausewitz: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln“ will nicht besagen, daß während des Kriegszustandes der Krieg die Politik ersetze. Clausewitz selbst hat die Auffassung abgelehnt, als „ob der Krieg von dem Augenblick an, wo er durch die Politik hervorgerufen ist, an ihre Stelle treten, als etwas von ihr ganz Unabhängiges sie verdrängen und nur seinen eigenen Gesetzen folgen“ könnte. Er hat ausdrücklich betont, daß, da der Krieg von einem politischen Zweck ausgeht, dieses erste Motiv, das ihn ins Leben gerufen hat, auch die erste und höchste Rücksicht bei seiner Leitung bleiben muß, daß die Politik also den ganzen kriegerischen Akt durchziehen und einen fortgesetzten Einfluß auf ihn ausüben werde, wozu er allerdings die Einschränkung macht: „soweit es die Natur der in ihm explodierenden Kräfte zuläßt“. Aber die Politik muß nicht nur die höchste Rücksicht bei der Leitung des Krieges bleiben, wie es dem [286] Verhältnis von Zweck und Mittel entspricht, sondern es muß ihr auch freistehen, neben dem außerordentlichen Mittel des Krieges, d. h. der militärischen Gewaltanwendung, sich aller anderen ihr während des Kriegszustandes überhaupt noch zu Gebote stehenden Mittel zu bedienen. Wenn man diese anderen Mittel nichtkriegerischer Art unter dem Namen der „Diplomatie“ zusammenfaßt, so heißt das: Die Diplomatie als Mittel der Politik ist durch den Kriegszustand nur so weit ausgeschaltet, als ihre praktische Anwendung durch den Kriegszustand unmöglich gemacht ist; im übrigen gehen auch während des Kriegszustandes die kriegerischen und diplomatischen Aktionen als Mittel der Politik nebeneinander her. Aufgabe der Staatslenker — und zwar eine meist nur mangelhaft gelöste Aufgabe — ist es, für die Einheitlichkeit und das planmäßige Ineinandergreifen der beiden Arten von Mitteln zu sorgen, die Mittel dem Zweck anzupassen und, soweit es sich als nötig herausstellt — denn die Politik bleibt die Kunst des Möglichen — den Zweck nach den Möglichkeiten, die ihr die Mittel bieten, zu modifizieren — das was man kurz die „Einheit von Politik und Kriegführung“ nennt.
Der Krieg, der im Sommer 1914 über uns hereinbrach, war für uns die Fortsetzung der Politik der Verteidigung unseres Rechtes auf nationale Existenz und auf friedliche Entfaltung unserer Volkskraft gegenüber einer Koalition, die uns schon vor Kriegsausbruch dieses Recht auf dem [287] Wege der diplomatischen Einkreisung zu verkümmern gesucht hatte. Gegenüber einer uns und unsern Verbündeten an Menschen und Machtmitteln weit überlegenen Koalition. Gerade die Übermacht der Feinde war für uns in besonderem Maße eine Nötigung, jedes für die Erreichung unseres Kriegszwecks geeignete Mittel in Wirksamkeit zu setzen, sowohl auf den Gebieten der eigentlichen Kriegführung wie auf dem Gebiete der Diplomatie. Gleichzeitig brachte diese Nötigung zur äußersten Anspannung aller Mittel in verstärktem Maße die Gefahr, daß die Einheit von Politik und Kriegführung verlorengehe. Wenn wir den Krieg nicht nur militärisch, sondern auch diplomatisch zu führen hatten, wenn wir angesichts der Gefahr, von der feindlichen Übermacht militärisch und wirtschaftlich erdrückt zu werden, genötigt waren, mit diplomatischen Mitteln Friedensmöglichkeiten zu erschließen und einem weiteren bedrohlichen Zuwachs für die feindliche Koalition vorzubeugen, so konnten sich daraus Konflikte ergeben mit der Notwendigkeit der Einsetzung aller militärischen Erfolg versprechenden Kriegsmittel.
Diese Konfliktsgefahr ist praktisch geworden in der Frage des U-Bootkriegs.
Seit jenem Tirpitz-Interview vom Dezember 1914 hat die Hoffnung, mit unsern U-Booten England, die Seele und den Zusammenhalt der feindlichen Mächtekoalition, zu Tode treffen und damit den Krieg in kurzer Zeit zu einem [288] guten Ende führen zu können, immer höhere Flammen geschlagen. Aber schon die ersten Versuche, dieses Kriegsmittel einzusetzen, zeigten seine Zweischneidigkeit; sie offenbarten die Gefahr, daß die Anwendung dieses Kriegsmittels die Neutralen, vor allem die Vereinigten Staaten, veranlassen könnte, sich auf die Seite unserer Gegner zu schlagen. Dadurch mußten nicht nur die Aussichten, ohne die kaum erreichbare völlige Niederwerfung unserer Feinde zum Frieden zu kommen, aufs äußerste beschränkt werden, sondern auch die feindliche Koalition eine Verstärkung erfahren, die zu unserm Verhängnis zu werden drohte.
So begleitete der Widerstreit von Friedensbemühung und U-Bootkrieg vom Ausgang des Jahres 1914 an das gewaltige Ringen an den Fronten und die aufopfernde Kriegsarbeit in der Heimat, er führte zu den schwersten Konflikten zwischen den für das Schicksal Deutschlands verantwortlichen Männern und wühlte unser Volk bis in seine Tiefen auf.
Vor dem Krieg war die herrschende Meinung bei unsern Militärs und Diplomaten, unsern Praktikern und Gelehrten der Volkswirtschaft, daß ein moderner Krieg nur von kurzer Dauer sein könne. Der Generalfeldmarschall Graf von Schlieffen hat im Jahre 1909 sich dahin [289] ausgesprochen, ein sich hinschleppender Krieg sei „zu einer Zeit unmöglich, wo die Existenz der Nation auf einem ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie begründet ist und durch eine rasche Entscheidung das zum Stillstand gebrachte Räderwerk wieder in Lauf gebracht werden muß. Eine Ermattungsstrategie läßt sich nicht treiben, wenn der Unterhalt von Millionen den Aufwand von Milliarden erfordert.“ Schon die ersten Monate des Weltkriegs haben diese Theorie widerlegt. Als nach dem ersten gewaltigen Zusammenprall der Armeen in West und Ost die erwartete Entscheidung ausblieb, da brachen die Wirtschaft und die Finanzen der kriegführenden Länder unter der Wucht des Krieges nicht zusammen, sondern stellten sich mit erstaunlicher Anpassungsfähigkeit auf die außerordentlichen Verhältnisse des Krieges ein. Sowenig wie die moderne Waffentechnik eine rasche Entscheidung herbeizuführen vermochte, ebensowenig war für uns oder unsere Gegner eine wirtschaftliche oder finanzielle Zwangslage entstanden, die stark genug gewesen wäre, um dem Krieg ein rasches Ende zu diktieren. Ermattungsstrategie und Erschöpfungskrieg waren greifbare Möglichkeiten geworden, die alle kriegführenden Staaten in ihre Rechnung einzustellen hatten.
Nur widerstrebend und langsam gewöhnte man sich bei uns an diesen Gedanken. Als aber auch die großen militärischen Aktionen des Frühlings 1915 keine Entscheidung brachten, als mit Italien eine neue Großmacht gegen die [290] Mittelmächte ins Feld trat, da hatte man sich endgültig mit der Wahrscheinlichkeit einer langen Kriegsdauer abzufinden.
Die Aussicht auf einen sich lange hinschleppenden Ermattungskrieg war für uns nichts weniger als günstig. Je länger der Krieg dauerte, desto geringer mußte unser Vorteil der besseren und bereiteren Kriegsorganisation werden, desto stärker und wirksamer konnten unsere Feinde ihr über die Erde zerstreutes und mangelhaft organisiertes Übergewicht an Menschen und Machtmitteln gegen uns ins Spiel werfen, desto schwerer mußte schließlich für uns der Nachteil der wirtschaftlichen Einschnürung ins Gewicht fallen. Wenn also die militärischen Entscheidungen in ungewisse Ferne rückten, wenn wir auf dem Felde des Wirtschaftskriegs durch unsere geographische Lage und die Seeherrschaft des Feindes in die Verteidigung gebannt waren, wenn wir schließlich das einzige Mittel, mit dem wir denkbarerweise der feindlichen Übermacht den Lebensatem abschnüren konnten, aus Zweifeln an seiner durchschlagenden Wirksamkeit und aus Befürchtungen wegen seiner Rückwirkungen auf die Neutralen nicht in Anwendung zu bringen vermochten, so ergab sich daraus die stärkste Nötigung für die Leiter unserer Politik, nach Friedensmöglichkeiten zu suchen.
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg und, ich glaube sagen zu können, auch der Kaiser haben frühzeitig diese Lage erfaßt. Seit ich durch meine amtliche Stellung [291] mit Herrn von Bethmann in nähere Fühlung gekommen war, konnte ich beobachten, wie die eine Frage: Wo ist ein Weg zum Frieden? ihn unausgesetzt und auf das Innerlichste beschäftigte. Seine große Sorge war, es könnte dahin kommen, daß wir erst im Zustand der Erschöpfung unserer Kraft und unserer Hilfsmittel zu Friedensverhandlungen gelangten und dann gezwungen sein würden, die Bedingungen unserer Gegner anzunehmen. Von dieser Sorge hat mir der Kanzler zum ersten Male bereits im April 1915 eingehend gesprochen, und er ist im weiteren Verlaufe des Krieges bei jeder vertrauensvollen Aussprache darauf zurückgekommen. Weder unsere militärischen Erfolge, die er hinsichtlich ihrer kriegsentscheidenden Wirkung immer skeptisch beurteilte, noch die überraschenden Beweise unserer wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit vermochten den Druck von ihm zu nehmen. Er war deshalb der Ansicht, daß wir es nicht verantworten könnten, eine Friedensmöglichkeit an übertriebenen Kriegszielen scheitern zu lassen. Das Kriegsziel war für ihn die Erhaltung unseres territorialen und wirtschaftlichen Besitzstandes. Wenn es die Gesamtlage beim Eintritt in Friedensverhandlungen gestattete, darüber hinaus Sicherungen für die Zukunft und eine Stärkung unserer wirtschaftlichen Position zu erreichen, so würde Herr von Bethmann diesen Vorteil wahrgenommen haben. Ich bin aber überzeugt, daß er an keiner einzigen Forderung, die über die Erhaltung unseres vorkriegerischen Besitzstandes hinausging, den Frieden hätte scheitern lassen.
Von dieser Grundauffassung ausgehend hat Herr von Bethmann unablässig ausgespäht, wo sich ein Anknüpfungspunkt biete und wo bei unsern Feinden eine Geneigtheit, vom Frieden zu sprechen, sich zeige. Die Reden und sonstigen Kundgebungen der feindlichen Staatsmänner sah er in allererster Linie daraufhin an, was aus den Worten und zwischen den Worten an Bereitschaft zu einer Verständigung herauszulesen sei. Seine eigenen Kundgebungen waren darauf eingestellt, den Gegnern unsere Bereitschaft zu Verhandlungen zu erkennen zu geben. Den Eroberungs- und Vernichtungszielen der Gegner pflegte er unser Verteidigungs- und Sicherungsziel entgegenzusetzen. „Noch wird der Vernichtungskrieg gegen uns betrieben,“ sagte er am 9. Dezember 1915 in Beantwortung einer sozialdemokratischen Friedensinterpellation unter Hinweis auf kurz vorher gehaltene Kriegsreden der Herren Asquith, Briand und Ssasonoff. „Damit müssen wir rechnen. Mit Theorien, mit Friedensäußerungen von unserer Seite kommen wir nicht vorwärts und nicht zu Ende. Kommen uns unsere Feinde mit Friedensangeboten, die der Würde und Sicherheit Deutschlands entsprechen, so sind wir allezeit bereit, sie zu diskutieren... Für die deutsche Regierung ist dieser Kampf geblieben, was er von Anfang an war und was in allen unsern Kundgebungen unverändert festgehalten wurde: der Verteidigungskrieg des deutschen Volkes.“
Jeder feindliche Staatsmann, der diese und ähnliche Kundgebungen des Reichskanzlers mit dem gleichen [293] heißen Bemühen, einen Weg zum Frieden zu finden, gelesen hätte, wie die Reden der feindlichen Staatsmänner in Berlin unter die Lupe genommen wurden, hätte daraus folgern müssen — und dieser Schluß ist von den feindlichen Staatsmännern sicher auch gezogen worden —: Deutschland ist bereit zu einem Frieden, der seiner Würde und seiner Sicherheit Genüge tut. Das Hindernis für Friedensverhandlungen, ja für eine deutsche Initiative zu Friedensverhandlungen, lag ausschließlich in den Erklärungen der Staatsmänner der Entente, die als Kriegsziel aufstellten: die Vernichtung des sogenannten „preußischen Militarismus“, die Zertrümmerung der deutschen Wirtschaftsmacht, die Abtrennung Elsaß-Lothringens oder gar des ganzen linken Rheinufers und unserer Ostmarken, dazu ähnliche Eroberungs- und Annexionswünsche gegenüber unsern Verbündeten.
Wenn also keine Friedensbesprechung zustandekam, so lag das nicht — die weitere Entwicklung hat das klar erwiesen — an der Schwerhörigkeit der Entente-Staatsmänner, sondern lediglich daran, daß die Entente-Staatsmänner auf ihren mit der Sicherheit, dem Bestand und der Würde Deutschlands nicht zu vereinbarenden Kriegszielen beharrten. Die führenden Staatsmänner der Entente waren und blieben fest entschlossen, den Krieg bis zur Niederwerfung Deutschlands, bis zu dem „knock out blow“ Lloyd Georges durchzuführen, und sie hatten — von vorübergehenden Schwankungen abgesehen — von Anfang bis zum Ende das feste Zutrauen, daß es ihnen [294] gelingen werde, ihre Vernichtungs- und Eroberungsziele zu erreichen. Daran, nicht an mangelnder Friedensbereitschaft der deutschen Regierung oder des deutschen Volkes, nicht an mangelnder Deutlichkeit in der Umschreibung unserer Kriegsziele und nicht an dem Unterlassen von Anknüpfungsversuchen durch unsere Diplomatie, ist das Zustandekommen von Verhandlungen über einen „Verständigungsfrieden“ gescheitert. Daran gescheitert sind auch alle die Sondierungen und Anknüpfungen, die außerhalb der offiziellen Regierungskundgebungen versucht worden sind, durch Staatsoberhäupter und Diplomaten, durch Kaufleute und Industrielle, durch die sozialistischen Parteien der kriegführenden und neutralen Länder.
Der Reichskanzler hatte in der Friedensfrage einen schweren Stand. Daß die Forderungen der Militärs bei Friedensschlüssen meist weiter gehen, als die politischen Staatsleiter durchsetzen und verantworten können, ist eine alte Erfahrung, die sich auch jetzt wieder erneuerte. Zu den „Grenzregulierungen“, die unsere Armeeführer für notwendig erklärten, kamen die Forderungen der Marine auf Sicherung der flandrischen Küste. Aber der Kampf um die Kriegsziele blieb nicht auf die Beratungszimmer der Verantwortlichen beschränkt, er ergriff und zerriß mehr und mehr das ganze Volk.
Die glänzenden Waffentaten unserer Armeen und ihrer Führer, die Eroberung und Besetzung weiter Teile feindlichen Landes in West und Ost bestärkten Volk und Heer [295] in ihrem zuversichtlichen Glauben an einen siegreichen Ausgang des Krieges. Daß trotz aller der großen Erfolge auf den europäischen Kriegsschauplätzen der Krieg für uns nicht nur seinem Ursprung nach ein Verteidigungskrieg war, sondern auch in seiner ganzen militärischen, maritimen und wirtschaftlichen Entwicklung ein harter, in jedem Augenblick schwer umstrittener und in seinem Ausgang unsicherer Verteidigungskrieg geblieben war, darüber täuschten sich weite Volkskreise hinweg. Die Riesenleistungen von Heer und Volk verlangten, so dachten und sprachen viele, einen entsprechend großen Siegespreis und gestatteten gleichzeitig, einen solchen Siegespreis heimzubringen, wenn nur nicht nach dem alten Blücherwort die Feder verderbe, was das Schwert gewonnen habe. In der Haltung des Kanzlers, der sich weigerte, sich auf die großen Kriegsziele festzulegen, der wieder und wieder zu erkennen gab, daß er für einen Frieden, der sich auf den Zweck des Verteidigungskriegs beschränke, zu haben sei, sahen diese Kreise Kleinmütigkeit, Mangel an Siegeswillen und eine für den Ausgang des Kriegs gefährliche Herabstimmung der Zuversicht des deutschen Volkes. Die schweren Angriffe, denen Herr von Bethmann Hollweg in dieser Richtung ausgesetzt war, sind in aller Erinnerung. Von der andern Seite her wurde mit der Dauer des Kriegs ein immer stärkerer Druck auf den Kanzler ausgeübt, klar und deutlich vor aller Welt festzustellen, daß Deutschland sich mit einem Frieden ohne jede [296] Gebietserwerbungen und Entschädigungen begnüge. Man warf ihm vor, daß er durch die Verweigerung einer solchen ganz ausdrücklichen und bindenden Erklärung zur Verlängerung des Krieges beitrage und die Stimmung des Volkes, das zur Verteidigung, nicht aber zu Eroberungen ins Feld gezogen sei, unterwühlen helfe.
Herr von Bethmann selbst hat noch im Mai 1917 seine Stellung zu diesem Ansturm aus zwei entgegengesetzten Richtungen folgendermaßen umschrieben (Reichstagssitzung vom 15. Mai 1917):
„Auch heute sehe ich bei England und bei Frankreich noch nichts von Friedensbereitschaft, noch nichts von Preisgabe ihrer ausschweifenden Eroberungs- und wirtschaftlichen Vernichtungsziele... Glaubt denn bei dieser Verfassung unserer westlichen Feinde jemand, durch ein Programm des Verzichts und der Entsagung diese Feinde zum Frieden bringen zu können? Und darauf kommt es doch an! Soll ich diesen unseren westlichen Feinden geradezu eine Versicherung geben, die ihnen gestattet, ohne jede Gefahr eigenen Verlustes den Krieg ins Ungemessene zu verlängern?... Oder soll ich das Deutsche Reich nach allen Richtungen hin einseitig auf eine Formel festlegen, die von der Gesamtheit der Friedensbedingungen doch nur einen Teil erfaßt, die einseitig die Erfolge preisgibt, die unsere Söhne und Brüder mit ihrem Blut errungen haben, und die alle übrigen Rechnungen in der Schwebe läßt? Eine solche Politik lehne ich ab.... Und soll ich etwa umgekehrt ein Eroberungsprogramm aufstellen? Auch das lehne ich ab. Nicht um Eroberungen zu machen, sind wir in diesen Krieg gezogen und stehen wir jetzt im Kampf fast gegen die ganze Welt, sondern ausschließlich, um unser Dasein zu sichern und die Zukunft der Nation fest zu gründen. Ebensowenig wie ein Verzichtprogramm hilft ein Eroberungsprogramm den Sieg gewinnen und den Krieg beenden. Im Gegenteil! Ich würde lediglich das Spiel der feindlichen Machthaber spielen, ich würde es ihnen erleichtern, ihre kriegsmüden Völker weiter zu betören und den Krieg ins Ungemessene zu verlängern.“
Der Reichskanzler konnte mit solchen Erklärungen weder nach rechts noch nach links befriedigen. Und doch bin ich auch heute noch der Meinung, daß seine Haltung die richtige, ja die einzig mögliche war. Entweder waren unsere Feinde bereit, auf ihre Eroberungs- und Vernichtungsziele zu verzichten, dann boten die wiederholten Erklärungen des Reichskanzlers über unsere grundsätzliche Bereitwilligkeit, uns mit der Erreichung unseres Verteidigungszieles zu begnügen, eine hinreichende Grundlage für die Einleitung von Friedensverhandlungen. Oder aber die Feinde waren — und so lagen die Dinge in Wirklichkeit — nicht bereit zu einem Verzicht auf ihre Eroberungs- und Vernichtungsziele, dann konnte auch eine Bekanntmachung aller Einzelheiten unseres Friedensprogramms nicht zu Friedensverhandlungen führen, sondern nur, wie jede einseitige Festlegung, dem Gegner [298] für jede weitere Entwicklung den Vorteil der freien Entschließung bei begrenztem Risiko, uns den Nachteil der gebundenen Hand bei unbegrenztem Risiko geben.
Aber das waren schließlich Fragen der Taktik, über die man streiten kann und leider sehr viel, sehr heftig und sehr öffentlich gestritten hat.
In der Sache selbst glaube ich folgendes sagen zu können:
Wenn in irgendeinem Zeitpunkt des Krieges sich die Möglichkeit ergeben hätte, zu einem Frieden zu kommen, der uns in den großen Linien unseren vorkriegerischen territorialen und wirtschaftlichen Besitzstand belassen hätte, so wäre der Friede dagewesen; er wäre an keiner von uns geforderten Entschädigung und Grenzregulierung, auch nicht an irgendwelchen deutschen Forderungen in bezug auf Belgien gescheitert, wenn unsere nach diesen Richtungen gehenden Wünsche sich nur um den Preis einer Fortsetzung des Kriegs hätten durchsetzen lassen. Dies ist meine Überzeugung, wenngleich zwischen den an der Entscheidung beteiligten Persönlichkeiten das letzte Wort noch nicht gesprochen war und ohne die genaue Kenntnis der Lage im Augenblick wirklicher Verhandlungen auch gar nicht gesprochen werden konnte. Wer jemals große und wichtige Verhandlungen zu führen gehabt hat, der weiß, daß die letzten Entschlüsse nicht vor , sondern während der Verhandlungen gefaßt werden, und zumeist in einem Zeitpunkt, der dem Ende der Verhandlungen wesentlich näher liegt als ihrem Anfang; daß [299] die letzten Zugeständnisse niemals durch Überredung in Erörterungen über noch unpraktische Eventualitäten, sondern stets nur unter dem unmittelbaren Druck der Verantwortlichkeit für das Ja oder Nein zustandekommen. Ich bin sicher, daß kein Kanzler, weder Bethmann noch Michaelis noch Hertling, unmittelbar vor die Wahl zwischen einem Status-quo-Frieden oder einer unabsehbaren Fortsetzung des Krieges gestellt, etwas anderes gewählt haben würden als den Frieden; und ich bin ebenso sicher, daß der Kaiser eine solche Entscheidung gebilligt und durchgehalten hätte, auch gegen die stärksten Widerstände anderer Ratgeber und gegen eine heftige Auflehnung starker politischer Strömungen. Denn so wenig der Kaiser den Krieg gewollt hat, auch wenn sein Auftreten mitunter einen kriegerischen Eindruck machte, so sehr litt der Kaiser unter dem Krieg und wünschte er für sich und für das deutsche Volk den Frieden. —
Das Scheitern aller unserer Bemühungen, im Wege einer Verständigung zum Frieden zu gelangen, mußte unvermeidlich einen starken Einfluß auf unsere Kriegführung ausüben, insbesondere auf die Entscheidungen in der heiß umstrittenen Frage des U-Bootkrieges. Je deutlicher die Abgeneigtheit unserer Feinde zu Friedensverhandlungen zutage trat, desto mehr Gewicht mußte bei uns die Forderung gewinnen, daß jedes verfügbare Kriegsmittel unter Hintanstellung aller anderen Rücksichten zur Niederkämpfung des Feindes eingesetzt werde.
In der Frühe des 22. September 1914 versenkte „U 9“ unter dem Kommando des Kapitänleutnants Weddigen im Laufe einer einzigen Stunde die drei britischen Kreuzer „Abukir“, „Hogue“ und „Cressy“. Die drei Torpedoschüsse hallten über die ganze Welt. In England weckten sie ernste Besorgnis, ja Bestürzung. In Deutschland lösten sie überschwengliche Hoffnungen aus: man begann in dem U-Boot die Waffe zu sehen, die bestimmt sei, die britische Seetyrannei zu zerschlagen.
Diese Hoffnungen erhielten einen starken Antrieb, als der Admiral von Tirpitz am 21. Dezember 1914 gegenüber einem Vertreter der amerikanischen „United Press“ von der Möglichkeit eines U-Bootkriegs gegen die feindlichen Handelsschiffe sprach, durch den England an seiner verwundbarsten Stelle, der Zufuhr von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, getroffen werden könne. Jedermann sagte sich, daß die höchste Marineautorität einen solchen öffentlichen Hinweis nur geben könne, wenn die Wirksamkeit der U-Bootwaffe gesichert sei und wenn hinter der Drohung die Tat stehe. Die völkerrechtlichen Bedenken hatte England in der deutschen öffentlichen Meinung im voraus zerstört durch seine völkerrechtswidrige Handels- und Hungerblockade, insbesondere durch die schon am 3. November 1914 erfolgte Erklärung der ganzen Nordsee zum Kriegsgebiet.
Als ich am 1. Februar in die Reichsleitung eintrat, stand die Erklärung des U-Boot-Handelskrieges unmittelbar bevor. Es war eine Bekanntmachung vorbereitet, in der die Gewässer um Großbritannien und Irland als Kriegsgebiet erklärt wurden; vom 18. Februar 1915 an sollte jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene feindliche Kauffahrteischiff zerstört werden. Die Bekanntmachung fügte hinzu, daß es nicht immer möglich sein werde, die dabei der Besatzung und den Passagieren drohenden Gefahren abzuwenden; daß ferner auch neutrale Schiffe im Kriegsgebiet Gefahr liefen, da es angesichts des von der britischen Regierung am 31. Januar angeordneten Mißbrauchs neutraler Flaggen und der Zufälligkeiten des Seekrieges nicht immer vermieden werden könne, daß die auf feindliche Schiffe berechneten Angriffe auch neutrale Schiffe treffen.
Neben der Bekanntmachung war eine begründende Denkschrift vorbereitet, die am 4. Februar 1915 mit der Bekanntmachung den neutralen und den feindlichen Mächten zugestellt worden ist. Die Denkschrift legte zunächst in großen Zügen dar, wie England in seiner Seekriegführung sich über alles Völkerrecht hinaussetze, um durch eine Lahmlegung auch des legitimen neutralen Handels das deutsche Volk auszuhungern; sie wies dann darauf hin, daß die neutralen Mächte sich den völkerrechtswidrigen Maßnahmen der britischen Regierung im großen und ganzen gefügt hätten, daß sie sich mit theoretischen Protesten abzufinden und die von England für seine [302] völkerrechtswidrige Seekriegführung angerufenen britischen Lebensinteressen als eine hinreichende Entschuldigung für jede Art von Kriegführung gelten zu lassen schienen; solche Lebensinteressen müsse nunmehr auch Deutschland für sich anrufen und die britische Kriegsgebietserklärung damit beantworten, daß es die Gewässer rings um Großbritannien und Irland als Kriegsschauplatz bezeichne und der feindlichen Schiffahrt daselbst mit allen verfügbaren Kriegsmitteln entgegentrete. Weiter wurden in der Denkschrift die Neutralen aus den schon in der Bekanntmachung angegebenen Gründen gewarnt, feindlichen Schiffen, die das Seekriegsgebiet beführen, Mannschaften, Passagiere und Waren anzuvertrauen, und es wurde ihnen dringend empfohlen, auch für ihre eigenen Schiffe das Einlaufen in das Seekriegsgebiet zu vermeiden; „denn wenn auch die deutschen Seestreitkräfte Anweisung haben, Gewalttätigkeiten gegen neutrale Schiffe, soweit sie als solche erkennbar sind, zu unterlassen, so kann es doch angesichts des von der britischen Regierung angeordneten Mißbrauches neutraler Flaggen und der Zufälligkeiten des Krieges nicht immer verhütet werden, daß auch sie einem auf feindliche Schiffe berechneten Angriff zum Opfer fallen.“
Die letzte Zustimmung von Kaiser und Kanzler stand noch aus. Beiden ist sie nicht leicht geworden. Die Gefahr, daß dieser Art Kriegführung friedliche Passagiere, auch Frauen und Kinder zum Opfer fallen könnten, dazu [303] die Aussicht auf Verwicklungen mit den Neutralen, insbesondere mit den Vereinigten Staaten, stand beiden vor Augen. Ein Zufall hatte es gefügt, daß ich zwei Monate zuvor einen Einblick in die Auffassung des Kaisers hatte tun können. Ich war am Abend des 25. November 1914 in Charleville zur kaiserlichen Tafel befohlen. Der Kaiser brachte die Nachricht mit, daß sich der Untergang des auf eine deutsche Mine gelaufenen britischen Überdreadnought „Audacious“ bestätige. Bei Tisch bemerkte ein hoher Marineoffizier — nicht der Admiral von Tirpitz —, um ein Haar sei auch der englische Riesenpassagierdampfer „Oceanic“ auf eine Mine gelaufen. Der Kaiser antwortete: „Gott sei Dank, daß es nicht dazu gekommen ist!“ Auf eine etwas erstaunte Geste des Admirals richtete sich der Kaiser hoch auf und sagte mit lauter Stimme: „Meine Herren, denken Sie immer daran: unser Schwert muß rein bleiben. Wir führen keinen Krieg gegen Frauen und Kinder. Wir wollen den Krieg anständig führen, einerlei, was die andern tun. Merken Sie sich das!“
Ermöglicht wurde dem Kanzler wie dem Kaiser die Zustimmung zu der Erklärung des Tauchbootkrieges in den Gewässern um England durch die Anweisung, daß neutrale Schiffe im Seekriegsgebiet geschont werden sollten. Man war sich klar darüber, daß die Wirkung des U-Bootkriegs dadurch beeinträchtigt werde; aber aus Gründen der Humanität wie zur Vermeidung schwerer Konflikte mit den Neutralen hielt man diese Einschränkung für unerläßlich. [304] Es ist späterhin mitunter behauptet worden, der Reichskanzler sei nachträglich der Marine mit dieser Einschränkung in den Arm gefallen und habe dadurch die von der Marine erwartete Wirkung jenes ersten U-Bootkriegs vereitelt. Diese Annahme ist unrichtig; wie sich schon aus dem Text der Bekanntmachung und der Denkschrift vom 4. Februar 1915 ergibt, war die Anweisung an die U-Boote, „Gewalttätigkeiten gegen neutrale Schiffe zu unterlassen“, schon bei der Ankündigung der neuen Seekriegführung gegeben.
Die Marine rechnete auf einen raschen Erfolg. Zwar war die Zahl und die Leistungsfähigkeit der verfügbaren U-Boote gering; aber man hoffte auf eine starke Wirkung durch Abschreckung.
Wenn es gelang, den Schiffsverkehr der britischen Inseln erheblich zu beeinträchtigen, so war damit in der Tat England an den Wurzeln seiner Lebenskraft gefaßt. Denn noch ungleich viel mehr als Deutschland waren die britischen Inseln in die Weltwirtschaft hineingebaut. Nicht nur die Industrie, sondern auch die Volksernährung des Vereinigten Königreichs war in weit höherem Maße, als das in Deutschland der Fall war, von reichlichen und ungestörten überseeischen Zufuhren abhängig. Deutschland hatte in seiner Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte die Förderung seines Außenhandels in Einklang gebracht mit der Erhaltung und der Entwicklung seiner heimischen Urproduktion. In den Gesamtwerten unseres Außenhandels [305] waren wir England nahe gerückt; aber wir hatten gleichzeitig unsere Eigenproduktion, insbesondere an den wichtigsten Nährfrüchten, in noch stärkerem Verhältnis gesteigert, als unsere Bevölkerung sich vermehrt hatte.
England dagegen hatte im Vertrauen auf seine Seeherrschaft sein Wirtschaftsleben, vor allem auch seine Volksernährung, immer mehr auf die überseeische Zufuhr eingestellt und seine Landwirtschaft verkümmern lassen. Seinen Bedarf an Brotgetreide hatte England in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch zu drei Vierteln bis vier Fünfteln, seinen Bedarf an Butter zu nahezu zwei Dritteln, an Fleisch zu etwa zwei Fünfteln durch überseeische Zufuhren decken müssen. Außerdem war sein Kohlenbergbau auf starke Zufuhren von Grubenholz, seine Eisen- und Stahlindustrie auf starke Zufuhren fremder hochhaltiger Eisenerze angewiesen. Seine große Textilindustrie war von ausländischen Rohstoffen abhängig. Das für die Kriegführung so wichtige Petroleum und die Petroleumprodukte, wie Benzin, mußten über See zugeführt werden. Die Gesamteinfuhr Großbritanniens im letzten Friedensjahr stellte eine Menge von rund 57 Millionen Tonnen dar. Davon kamen auf Nahrungs- und Genußmittel rund 20 Millionen Tonnen, also ein starkes Drittel, auf Holz nahezu 16 Millionen Tonnen, auf Eisenerz rund 7½ Millionen Tonnen, auf alle andern Waren zusammen rund 13½ Millionen Tonnen. Eine erhebliche Einschränkung des Schiffsverkehrs nach den britischen [306] Inseln mußte also diejenigen Kategorien treffen, die für die Volksversorgung und die Kriegführung unentbehrlich waren und für die Ersatz im eigenen Lande entweder überhaupt nicht oder nur langsam und nur innerhalb enger Grenzen beschafft werden konnte.
In der Ausfuhr überwogen der Menge nach die Kohlen. Von einer Gesamtausfuhrmenge des Jahres 1913 in Höhe von rund 92 Millionen Tonnen entfielen auf die Kohlenausfuhr allein rund 78 Millionen Tonnen, auf alle andern Güter nur rund 14 Millionen. Volkswirtschaft und Kriegführung der Verbündeten Englands waren auf die britischen Kohlen doppelt stark angewiesen, seit Deutschland das belgische und nordfranzösische Kohlenbecken besetzt hielt.
Das alles waren Momente, die den U-Boot-Handelskrieg als eine wirksame Repressalie gegen den britischen Handels- und Hungerkrieg erscheinen ließen, immer vorausgesetzt, daß es gelingen würde, den Schiffsverkehr von und nach den britischen Inseln ausgiebig und in fortgesetzt steigendem Maße abzudrosseln.
Wie sich die Neutralen zu dieser neuen Art des Seekriegs verhalten würden, war allerdings unsicher. Durch die an die U-Boote gegebene Anweisung, neutrale Schiffe auch im Seekriegsgebiet nicht anzugreifen, hatte man eine Rücksicht auf die neutralen Interessen gezeigt, als deren Wirkung man erwartete, die Neutralen würden sich unserm U-Boot-Handelskriege gegenüber ebenso mit [307] formellen Protesten begnügen, wie sie das England gegenüber aus Anlaß der von diesem begangenen, auf Kosten der Neutralen gehenden Völkerrechtsverletzungen, insbesondere aus Anlaß der Erklärung der Nordsee zum Kriegsgebiet, getan hatten. Über die Haltung der Vereinigten Staaten hatte der Unterstaatssekretär Zimmermann den Botschafter Gerard sondiert und den Eindruck gewonnen, daß mehr als ein papierner Protest auch von der Regierung in Washington wohl nicht zu erwarten sei.
Die Proteste kamen in der Tat.
Der amerikanische Einspruch, den Herr Gerard am 12. Februar 1915 überreichte, war, bei aller Höflichkeit in der äußeren Form, sehr bestimmt und unzweideutig in der Sache. Die amerikanische Note wies die Kritik zurück, die in der Denkschrift der deutschen Regierung vom 4. Februar an ihrer angeblich nicht neutralen Haltung geübt worden sei. Sie habe gegenüber allen Übergriffen der andern kriegführenden Nationen eine Haltung eingenommen, die ihr das Recht gebe, „diese Regierungen in der richtigen Weise für alle eventuellen Wirkungen auf die amerikanische Schiffahrt verantwortlich zu machen, die durch die bestehenden Grundsätze des Völkerrechts nicht gerechtfertigt sind“. Zu den von der deutschen Admiralität angekündigten Maßnahmen bemerkte die Note, die amerikanische Regierung glaube das Recht, ja die Pflicht zu haben, die deutsche Regierung zu ersuchen, sie möchte vor einem tatsächlichen Vorgehen die kritische Lage [308] erwägen, die in den beiderseitigen Beziehungen entstehen könnte, falls irgendein Kauffahrteischiff der Vereinigten Staaten zerstört oder der Tod eines amerikanischen Staatsangehörigen verursacht werde. Die amerikanische Regierung würde in solchen Handlungen kaum etwas anderes als eine unentschuldbare Verletzung neutraler Rechte erblicken können und sich genötigt sehen, die deutsche Regierung für solche Handlungen ihrer Marinebehörden streng verantwortlich zu machen und alle Schritte zu tun, die zum Schutz amerikanischen Lebens und Eigentums und zur Sicherung des vollen Genusses der amerikanischen Rechte auf hoher See für die Amerikaner erforderlich seien. Die amerikanische Regierung hoffe, daß die deutsche Regierung die Versicherung geben könne und wolle, daß amerikanische Staatsbürger und ihre Schiffe auch in dem Seekriegsgebiet in keiner andern Weise als im Wege der Durchsuchung durch deutsche Seestreitkräfte belästigt werden sollten.
Die amerikanische Regierung stellte sich also schon in dieser Note auf den Standpunkt, daß sie ihrer Neutralität Genüge getan habe, wenn sie für die Amerikanern aus Völkerrechtsverletzungen erwachsenden Nachteile die Regierung, von der die Völkerrechtsverletzung ausging, „in der richtigen Weise“ verantwortlich machte. In welcher Weise, darüber gestand sie Deutschland keine Kritik zu. In Wirklichkeit hatte sie sich bisher gegenüber England auf die Forderung von Schadenersatz beschränkt, [309] jedoch keinen ernstlichen Versuch gemacht, die britische Regierung zur Einhaltung der völkerrechtlichen Normen zu bestimmen. Deutschland gegenüber kündigte sie an, daß sie nicht nur die deutsche Regierung für jede Schädigung, die sich aus der Durchführung der am 4. Februar angekündigten Maßnahmen ergeben sollte, verantwortlich machen, sondern auch „alle Schritte“ zum Schutz des amerikanischen Lebens und Eigentums und zur Sicherung der amerikanischen Reisefreiheit auf den Meeren tun werde.
Schon damit hatte der U-Bootkrieg ein ernsteres Gesicht angenommen, als man es bei der Hinausgabe der Erklärung vom 4. Februar erwartet hatte. Denn für die weitere Entwicklung des Krieges kam es weniger darauf an, ob die Haltung der Regierung der Vereinigten Staaten gerecht und billig war, als darauf, welche Haltung diese praktisch einzunehmen entschlossen war. Und nach dieser Richtung hin eröffnete die amerikanische Note keine allzu guten Aussichten.
Die Reichsregierung gab auf die Note am 16. Februar eine ausführliche Antwort. Sie legte zunächst dar, daß die angekündigte Maßnahme in keiner Weise gegen den legitimen Handel und die legitime Schiffahrt der Neutralen gerichtet sei, sondern lediglich eine durch Deutschlands Lebensinteressen erzwungene Gegenwehr gegen die völkerrechtswidrige Seekriegführung Englands darstelle. Die Neutralen hätten bisher die völkerrechtswidrige [310] Unterbindung ihres Handels mit Deutschland trotz ihrer Proteste nicht zu verhindern vermocht. Dadurch sei der Zustand geschaffen worden, daß einerseits Deutschland unter stillschweigender oder protestierender Duldung der Neutralen von der überseeischen Zufuhr auch solcher Güter, die niemals Kriegskonterbande waren, abgeschnitten sei, während England unter Duldung der neutralen Regierungen sogar mit solchen Waren versorgt werde, die stets und unzweifelhaft als Konterbande galten. Insbesondere wurde auf die Munitions- und Waffenlieferungen aus den Vereinigten Staaten an die Entente hingewiesen. „Die deutsche Regierung,“ so fuhr die Note fort, „gibt sich wohl Rechenschaft darüber, daß die Ausübung von Rechten und die Duldung von Unrecht seitens der Neutralen formell in deren Belieben steht und keinen formellen Neutralitätsbruch involviert; sie hat infolgedessen den Vorwurf des formellen Neutralitätsbruchs nicht erhoben. Die deutsche Regierung kann aber — gerade im Interesse voller Klarheit in den Beziehungen beider Länder — nicht umhin, hervorzuheben, daß sie mit der gesamten öffentlichen Meinung Deutschlands sich dadurch schwer benachteiligt fühlt, daß die Neutralen in der Wahrung ihrer Rechte auf den völkerrechtlich legitimen Handel mit Deutschland bisher keine oder nur unbedeutende Erfolge erzielt haben, während sie von ihrem Recht, den Konterbandehandel mit England und unsern andern Feinden zu dulden, uneingeschränkten Gebrauch machen. Wenn es das formale Recht der [311] Neutralen ist, ihren legitimen Handel mit Deutschland nicht zu schützen, ja sogar sich von England zu einer bewußten und gewollten Einschränkung dieses Handels bewegen zu lassen, so ist es auf der andern Seite nicht minder ihr gutes, aber leider nicht angewandtes Recht, den Konterbandehandel, insbesondere den Waffenhandel, mit Deutschlands Feinden abzustellen [4] . Bei dieser Sachlage sieht sich die deutsche Regierung nach sechs Monaten der Geduld und des Abwartens genötigt, die mörderische Art der Seekriegführung Englands mit scharfen Gegenmaßnahmen zu erwidern. Wenn England in seinem Kampf gegen Deutschland den Hunger als Bundesgenossen anruft, in der Absicht, ein Kulturvolk von 70 Millionen vor die Wahl zwischen elendem Verkommen oder Unterwerfung unter seinen politischen und kommerziellen Willen zu stellen, so ist heute die deutsche Regierung entschlossen, den Handschuh aufzunehmen und an den gleichen Bundesgenossen zu appellieren; sie vertraut darauf, daß die Neutralen, die bisher sich den für sie nachteiligen Folgen des englischen Hungerkriegs stillschweigend oder duldend [312] unterworfen haben, Deutschland gegenüber kein geringeres Maß von Duldsamkeit zeigen werden, und zwar auch dann, wenn die deutschen Maßnahmen, in gleicher Weise wie bisher die englischen, neue Formen des Seekriegs darstellen.“ Die Note wiederholte dann, daß die Befehlshaber der deutschen U-Boote angewiesen seien, Gewalttätigkeiten gegen amerikanische Handelsschiffe, soweit sie als solche erkennbar seien, zu unterlassen, und machte zur Vermeidung von Verwechslungen den Vorschlag, die amerikanische Regierung möchte ihre mit feindlicher Ladung befrachteten, den britischen Kriegsschauplatz berührenden Schiffe durch Konvoyierung kenntlich machen, über deren Durchführung die deutsche Regierung alsbald zu Verhandlungen bereit sei. Zum Schluß führte die Note aus: „Sollte es der amerikanischen Regierung vermöge des Gewichts, das sie in die Wagschale des Geschickes der Völker zu legen berechtigt und imstande ist, in letzter Stunde noch gelingen, die Gründe zu beseitigen, die der deutschen Regierung ihr Vorgehen zur gebieterischen Pflicht machen, sollte die amerikanische Regierung insbesondere einen Weg finden, die Beachtung der Londoner Seekriegsrechts-Erklärung auch von seiten der mit Deutschland Krieg führenden Mächte zu erreichen und Deutschland dadurch die legitime Zufuhr von Lebensmitteln und industriellen Rohstoffen zu ermöglichen, so würde die deutsche Regierung hierin ein nicht hoch genug zu veranschlagendes Verdienst um die humanere Gestaltung der [313] Kriegführung anerkennen und aus der also geschaffenen neuen Sachlage gern die Folgerungen ziehen.“
Diese Note, die von dem formalen Recht an den Geist des Rechtes appellierte und einen Weg zur Wiederherstellung einer menschlichen Kriegführung zeigte, hatte zunächst einen Erfolg. Am 22. Februar wandte sich die amerikanische Regierung in einer gleichlautenden Note an die deutsche und an die britische Regierung mit einem Vorschlag, dessen wesentlicher Inhalt war: Unterseeboote sollen gegenüber Handelsschiffen nur zur Durchführung des Rechtes der Anhaltung und Durchsuchung verwendet werden; neutrale Flaggen dürfen von Handelsschiffen der kriegführenden Staaten nicht benutzt werden. England wird Nahrungs- und Genußmittel, die für Deutschland bestimmt sind, nicht anhalten, wenn sie an Agenturen in Deutschland adressiert sind, die von den Vereinigten Staaten für den Empfang und den Weiterverkauf an die Zivilbevölkerung bezeichnet sind.
Die deutsche Regierung antwortete bereits am 28. Februar, daß sie in der amerikanischen Anregung eine geeignete Grundlage für eine Lösung zu erkennen glaube. Sie erklärte sich ausdrücklich bereit, die Tätigkeit der U-Boote gegenüber Handelsschiffen auf das Anhalten und die Durchsuchung zu beschränken, falls der Flaggenmißbrauch abgestellt werde und die von der amerikanischen Regierung vorgeschlagene Regelung der Lebensmittelzufuhr nach Deutschland zustandekomme, mit der sie [314] ihrerseits sich einverstanden erklärte. Sie schlug lediglich eine Ergänzung vor hinsichtlich der Zufuhr von Rohstoffen, die der friedlichen Volkswirtschaft dienten.
Die britische Regierung dagegen lehnte am 13. März 1915 die amerikanische Anregung ab mit der Motivierung, daß Deutschland die in dem amerikanischen Vorschlag gleichfalls enthaltene Anregung über die Beschränkung der Anwendung von Seeminen nicht vorbehaltlos angenommen habe, womit es sich für die britische Regierung erübrige, eine weitere Antwort zu geben.
Damit war die amerikanische Vermittlungsaktion erledigt.
Indessen kam die amerikanische Regierung nicht eher wieder auf die deutsche U-Bootnote vom 16. Februar 1915 zurück, als bis praktische Fälle vorlagen, daß amerikanische Schiffe und das Leben amerikanischer Staatsbürger durch den U-Bootkrieg vernichtet wurden. Ein erster solcher Fall ereignete sich am 28. März 1915, indem bei der Versenkung des englischen Passagierdampfers „Fallaba“ ein amerikanischer Staatsangehöriger das Leben verlor. Am 28. April griff ein deutsches Flugzeug versehentlich das amerikanische Schiff „Cushing“ an. Am 1. Mai wurde das amerikanische Schiff „Gulflight“ versenkt, wobei zwei amerikanische Staatsbürger ums Leben kamen. Schließlich wurde am 7. Mai der große englische Passagierdampfer „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot torpediert; mehr als hundert Amerikaner, [315] darunter viele Frauen und Kinder, fanden ihren Tod in den Wellen.
Die Erregung in Amerika war ungeheuer. Sie wurde auch nicht gedämpft dadurch, daß die deutsche Botschaft in Washington durch eine Anzeige in den amerikanischen Zeitungen ausdrücklich vor der Benutzung der englischen Passagierdampfer zu Fahrten in das Kriegsgebiet gewarnt hatte. Im Gegenteil! Die amerikanische Regierung bezeichnete es als „eine überraschende Regelwidrigkeit“, daß die deutsche Botschaft sich mit einer solchen Warnung vor der Ausübung eines guten amerikanischen Rechts durch die amerikanische Presse an die amerikanische Öffentlichkeit gewendet habe. Die Erregung wurde auch nicht gedämpft durch den deutschen Hinweis darauf, daß die „Lusitania“ bewaffnet gewesen sei und große Mengen von Munition an Bord gehabt habe — diese Angaben der deutschen Regierung wurden von der amerikanischen Regierung, deren Behörden das Schiff ausklariert hatten, bestritten.
Die amerikanische Regierung ließ am 15. Mai in Berlin eine Note übergeben, in der sie die ernstlichsten Vorstellungen erhob. Über die vorliegenden Einzelfälle hinausgreifend, stellte sie fest, daß der U-Bootkrieg gegen Handelsschiffe ohne Mißachtung nicht nur des Völkerrechts sondern auch der Regeln der Billigkeit, der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit nicht durchführbar sei. Sie könne im übrigen nicht glauben, daß die [316] U-Bootkommandanten ihre ungesetzlichen Handlungen anders als unter einem Mißverständnis der von der deutschen Marinebehörde gegebenen Befehle getan haben könnten. Sie verlangte von der deutschen Regierung Mißbilligung der Handlungen der U-Bootkommandanten, Genugtuung für den angerichteten Schaden, schließlich sofortige Maßnahmen zur Verhinderung weiterer ähnlicher Vorfälle. „Die Kaiserliche Regierung,“ so schloß die Note, „wird nicht erwarten, daß die Regierung der Vereinigten Staaten irgendein Wort ungesprochen oder eine Tat ungeschehen lassen wird, die notwendig sein sollten, um ihrer heiligen Pflicht zu genügen, die Rechte der Vereinigten Staaten und ihrer Bürger zu wahren und deren Ausübung und Genuß zu gewährleisten.“
An diese Note schloß sich eine diplomatische Korrespondenz an, in der die amerikanische Regierung immer schärfer ihren Standpunkt herausarbeitete, daß nur tatsächlicher Widerstand eines Handelsschiffes oder sein fortgesetztes Bestreben zu entfliehen, nachdem Befehl zum Anhalten zwecks Durchsuchung ergangen ist, dem Kommandanten eines Tauchbootes das Recht gebe, das Leben der an Bord befindlichen Menschen in Gefahr zu bringen; die deutsche Regierung dagegen nahm den Standpunkt ein, sie könne nicht zugeben, daß amerikanische Bürger ein feindliches Handelsschiff durch die bloße Tatsache ihrer Anwesenheit an Bord zu schützen vermöchten. Des weiteren wurde die Frage der Bewaffnung und [317] Munitionsladung der „Lusitania“ erörtert. Schließlich wurden von deutscher Seite Vorschläge gemacht, die den freien Verkehr ausreichend kenntlich gemachter und vorher angesagter amerikanischer Passagierdampfer mit England sichern sollten. Dieser letztere Vorschlag wurde von der amerikanischen Regierung in einer Note vom 23. Juli 1915 kategorisch zurückgewiesen, da er geradezu eine Vereinbarung für die teilweise Aufhebung jener Grundsätze enthalte, auf deren Anerkennung durch Deutschland die amerikanische Regierung bestehen müsse. Schärfer als jemals bisher lehnte es die amerikanische Regierung ab, ihre Politik gegenüber Großbritannien mit der deutschen Regierung zu diskutieren und dem Verhalten Englands gegenüber Deutschland für die Erörterung zwischen Amerika und Deutschland über die Frage des U-Bootkrieges irgendeine Erheblichkeit zuzubilligen. „Wenn ein Kriegführender einem Feinde gegenüber nicht Vergeltung üben kann, ohne Leben und Eigentum Neutraler zu schädigen, so sollten sowohl Menschlichkeit wie Gerechtigkeit und die angemessene Rücksicht auf die Würde der neutralen Mächte gebieten, daß das Verfahren eingestellt wird.“ Das Verlangen nach Mißbilligung des Vorgehens der deutschen Seeoffiziere bei der Versenkung der „Lusitania“ und auf Ersatz für den entstandenen Schaden wurde mit Nachdruck wiederholt, und der Schluß der Note enthielt die Wendung, daß die amerikanische Regierung eine Wiederholung von Handlungen von Kommandanten deutscher [318] Seestreitkräfte, die eine Verletzung der Rechte amerikanischer Bürger darstellten, als „vorsätzlich unfreundliche Handlung“ betrachten müßte.
Die scharfe Note der amerikanischen Regierung vom 23. Juli 1915 enthielt jedoch in Anknüpfung an die in der vorhergegangenen deutschen Note zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf Wiederherstellung der Freiheit der Meere einen Passus, der zu dem kriegerischen Ausklang in einem merkwürdigen Gegensatz stand. Dieser Passus lautete:
„Die Regierung der Vereinigten Staaten und die Kaiserlich deutsche Regierung kämpfen für das gleiche große Ziel und sind lange zusammen eingetreten für Anerkennung eben jener Grundsätze, auf denen die Regierung der Vereinigten Staaten jetzt so feierlich besteht. Sie kämpfen beide für die Freiheit der Meere. Die Regierung der Vereinigten Staaten wird fortfahren, für diese Freiheit zu kämpfen, von welcher Seite auch immer sie verletzt werden möge, ohne Kompromiß und um jeden Preis. Sie ladet die Kaiserlich deutsche Regierung zu praktischer Mitarbeit ein, im jetzigen Augenblick, wo diese Mitarbeit am meisten durchsetzen kann und dieses große Ziel am schlagendsten und wirksamsten erreicht werden kann. Die Kaiserlich deutsche Regierung hat der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß dieses Ziel in gewissem Grade sogar vor dem Ende des gegenwärtigen Krieges erreicht werden könnte. Dies kann geschehen. Die Regierung der [319] Vereinigten Staaten fühlt sich nicht nur verpflichtet, auf diesem Ziel, von wem auch immer es verletzt und mißachtet werden mag, zum Schutz ihrer eigenen Bürger zu bestehen; sie ist auch auf das höchste daran interessiert, dieses Ziel zwischen den Kriegführenden selbst verwirklicht zu sehen, und hält sich jederzeit bereit, als gemeinsamer Freund zu handeln, dem der Vorzug zuteil wird, einen Weg vorzuschlagen.“
Neben die kaum verhüllte Drohung mit dem Abbruch der Beziehungen für den Fall einer weiteren Schädigung der von der amerikanischen Regierung für ihre Staatsangehörigen beanspruchten Rechte durch unsern U-Bootkrieg war also die Bereitschaft zu einer Kooperation mit uns zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere, und zwar noch während des Krieges, gesetzt. Damit war die deutsche Politik vor eine Entscheidung von größter Tragweite gestellt.
Obwohl ich als Schatzsekretär nicht unmittelbar an der Behandlung dieser Fragen beteiligt war, hatte ich doch, auch abgesehen von gelegentlichen Aussprachen mit dem Kanzler und meinen Freunden im Auswärtigen Amt, gewisse Berührungspunkte mit dem durch den U-Bootkrieg berührten Fragenkomplex.
So war ich seit einiger Zeit mit der Frage der Baumwolleinfuhr aus den Vereinigten Staaten befaßt worden. Persönlichkeiten, die im deutschen Baumwollhandel eine große Rolle spielten, hatten Fühlung mit ihren amerikanischen [320] Geschäftsfreunden genommen und standen mit diesen in Verhandlungen wegen des Abschlusses über einen sehr großen Posten zu einem festen Preise. Die großen und einflußreichen amerikanischen Baumwollinteressen waren durch die Unterbindung des Absatzes nach Deutschland empfindlich geschädigt. Für uns handelte es sich darum, diese Interessen zu unsern Gunsten mobilzumachen und mit ihrer Hilfe nicht nur eine Belieferung Deutschlands mit amerikanischer Baumwolle durchzusetzen, sondern womöglich die amerikanische Politik zu einem tatkräftigen Handeln für die Wiederherstellung der Londoner Deklaration zu bewegen. Die Finanzierung des Riesengeschäftes, um das es sich handelte, ließ den deutschen Interessenten die Rückendeckung durch das Reich erforderlich erscheinen, und so kam die Sache an mich. Die jetzt von der amerikanischen Regierung angebotene Zusammenarbeit für die Wiederherstellung der Freiheit der Meere erregte infolgedessen mein besonderes Interesse.
Außerdem war die Gestaltung unseres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von besonderer Wichtigkeit für die finanzielle Kriegführung. Auch bisher schon hatten die Banken der Vereinigten Staaten den Ententeländern — in viel bescheidenerem Maße auch uns — einige Unterstützung im Wege kommerzieller Kredite und der Übernahme kurzfristiger Schatzanweisungen gewährt. Aber diese finanzielle Hilfe hatte sich, zumal da der Präsident Wilson zunächst die Aufnahme öffentlicher Anleihen [321] zugunsten eines kriegführenden Staates als neutralitätswidrig erklärt hatte, in engen, weit unterhalb der Leistungsfähigkeit der Union liegenden Grenzen bewegt. Niemand konnte zweifeln, daß ein Hinübertreten der Vereinigten Staaten auf die Seite unserer Gegner den vollen Einsatz ihrer gerade während des Krieges gewaltig angewachsenen Finanzkraft zugunsten der Entente bringen würde. Für die Entente war daraus eine wesentliche Erleichterung nicht nur der finanziellen, sondern auch der wirtschaftlichen Kriegführung, für uns eine entsprechende Erschwerung zu erwarten.
Aber auch ganz unabhängig von den Interessen meines speziellen Ressorts wollte es mir als ein geradezu verhängnisvoller Fehler erscheinen, es wegen des U-Bootkrieges zum Bruch mit den Vereinigten Staaten kommen zu lassen und die von Wilson gebotene Hand zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere, „von wem auch immer sie verletzt und mißachtet werden mag“, zu übersehen oder auszuschlagen. Sowohl wirtschaftliche Gründe als auch die politische Lage, insbesondere die kritische Situation auf dem Balkan, von deren Entwicklung das Schicksal der Dardanellen und der Türkei abhing, schienen mir keinen Zweifel über den richtigen Weg zu lassen, zumal da der Erfolg des U-Bootkriegs nicht entfernt den Erwartungen entsprach.
Ich legte dem Kanzler meine Gesichtspunkte zuerst mündlich und dann, am 5. August 1915, auch schriftlich [322] dar. Mein Vorschlag ging dahin, der amerikanischen Regierung zu antworten: Wir akzeptieren die angebotene Kooperation zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere. In der Voraussetzung, daß die amerikanische Regierung gewillt ist, alsbald wirksame Schritte bei der britischen Regierung zu unternehmen, um diese zur Aufgabe ihrer völkerrechtswidrigen Seekriegführung zu veranlassen und sie zur strikten Beobachtung der Londoner Deklaration zurückzuführen, sind die U-Bootkommandanten unter Aufrechterhaltung unseres grundsätzlichen Standpunktes angewiesen worden, bis auf weiteres den U-Bootkrieg in einer der amerikanischen Auffassung Rechnung tragenden Weise zu führen; wir behalten uns alles vor für den Fall, daß die gemeinsame Aktion nicht innerhalb einer angemessenen Zeit den gewünschten Erfolg herbeiführt.
Dieses Vorgehen hätte den Vorteil gehabt, für die nächste für die Entscheidungen auf dem Balkan so wichtige Zeit die bedrohlichen Differenzen mit Amerika praktisch auszuschalten und dem Präsidenten Wilson freie Hand für die von ihm in Aussicht gestellte Aktion gegen England zu geben, ohne uns für die Dauer die Hände zu binden.
Mein Vorschlag fand jedoch beim Auswärtigen Amt keine Unterstützung, und der Chef des Admiralstabs nahm in einem Immediatbericht an den Kaiser mit großer Entschiedenheit gegen meine Anregung und deren Begründung Stellung. Der Kaiser stimmte zwar meiner Replik zu, in [323] der ich meine Auffassung unter eingehender Begründung aufrechterhielt; aber in der Zwischenzeit hatte sich die Lage erheblich verschärft durch die am 19. August ohne Warnung erfolgte Torpedierung des auf der Ausfahrt von England nach Amerika begriffenen Passagierdampfers „Arabic“; abermals fanden bei dieser Versenkung amerikanische Staatsangehörige den Tod.
Glücklicherweise war schon vor der Torpedierung der „Arabic“ eine Weisung an die U-Bootkommandanten ergangen, daß „Liners“ nur nach vorhergegangener Warnung und nach Rettung der Nichtkombattanten versenkt werden sollten, es sei denn, daß ein Schiff zu fliehen versuche oder Widerstand leiste. Der Kommandant des U-Bootes, das die „Arabic“ versenkte, hatte sich in dem Glauben befunden, daß die „Arabic“ Anstalten machte, sein U-Boot zu rammen. Die an die U-Bootkommandanten ergangene Weisung wurde nun der amerikanischen Regierung mitgeteilt. Im weiteren Verlaufe der Verhandlungen, die hart an den Krieg heranstreiften, bestätigte Graf Bernstorff am 5. Oktober 1915 dem Staatssekretär Lansing, daß die an die U-Bootkommandanten erteilten Befehle so bestimmt lauteten, daß eine Wiederholung ähnlicher Zwischenfälle wie des Arabic-Falles als ausgeschlossen gelte. Gleichzeitig erkannte die deutsche Regierung an, daß der Angriff auf die „Arabic“ den erteilten Befehlen nicht entsprochen habe, daß sie den Vorgang nicht billige und ihn bedaure; dem Kommandanten des U-Bootes sei [324] eine dahingehende Eröffnung gemacht worden. Auch zur Gewährung einer Entschädigung erklärte sich die deutsche Regierung bereit. Natürlich konnten, wie sich jetzt die Lage gestaltet hatte, an diese Mitteilung keine weiteren Bedingungen oder Voraussetzungen bezüglich der von Amerika gegenüber England zu unternehmenden Schritte geknüpft werden. Die Gelegenheit, in die von Wilson gebotene Hand einzuschlagen und eine ernsthafte Probe auf seine Bereitwilligkeit zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen gegen Englands Seekriegführung zu machen, war uns also durch die Versenkung der „Arabic“ aus der Hand genommen. Eine endgültige Klärung war auch nicht herbeigeführt; insbesondere betonte Lansing, daß die „Lusitania“-Angelegenheit für die amerikanische Regierung noch nicht erledigt sei. Aber die unmittelbare Gefahr schien abgewendet. Darüber hinaus raffte sich jetzt die amerikanische Regierung zum erstenmal seit langer Zeit zu einem energischen Schritt gegenüber der Entente auf. In einer sehr ausführlichen Note vom 5. November 1915 legte sie die Völkerrechtswidrigkeit der von der Entente unter Englands Führung beliebten Seekriegführung dar und erklärte, daß die Vereinigten Staaten ohne Zaudern die Aufgabe der Vorkämpferschaft für die Rechte der Neutralen zu übernehmen und der Erfüllung dieser Aufgabe ihre ganze Energie zu widmen entschlossen seien.
Im eigenen Lager hatte die Frage unseres Verhaltens zu Amerika zu einer ernstlichen Krisis geführt. Nachdem [325] der Kaiser sich auf den vom Reichskanzler vertretenen Standpunkt gestellt hatte, reichte der Admiral von Tirpitz seinen Abschied ein, der aber vom Kaiser nicht angenommen wurde (Anfang September 1915). Dagegen wurde an Stelle des Admirals Bachmann der Admiral von Holtzendorff zum Chef des Admiralstabs ernannt; gleichzeitig wurden durch eine Kaiserliche Order die Kompetenzen zwischen Reichsmarineamt und Admiralstab neu abgegrenzt. Ein zweites Abschiedsgesuch des Admirals von Tirpitz folgte, das abermals abgelehnt wurde.
Am 18. Januar 1916 machte Herr Lansing den Vertretern der Ententemächte in Washington einen — später als inoffiziell bezeichneten Vorschlag — über die U-Bootkriegführung, der im wesentlichen auf folgendes hinauskam:
Er erkannte an, daß die U-Boote sich als wirksam in der Bekämpfung feindlichen Handels erwiesen hätten und daß infolgedessen ihre Benutzung zu diesem Zweck den Kriegführenden nicht ohne weiteres verwehrt werden könne. Es handele sich also darum, eine Formel zu finden, die den U-Bootkrieg, ohne seine Wirksamkeit zu zerstören, in Einklang mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts und den Grundsätzen der Menschlichkeit bringe. Sein Vorschlag sei: Einerseits sollten die U-Boote gehalten sein, nur in den Formen des „Kreuzerkriegs“ gegen [326] Kauffahrteischiffe vorzugehen, d. h. sie nicht zu versenken, ohne sie zum Halten aufgefordert, nach Konterbande durchsucht und die Mannschaft und Passagiere in Sicherheit gebracht zu haben. Auf der anderen Seite sollten die Kauffahrteischiffe keinerlei Bewaffnung führen dürfen. Zur Begründung dieses Vorschlags führte Lansing an, daß angesichts der Konstruktion der U-Boote eine auch nur leichte Bewaffnung den Handelsschiffen eine Überlegenheit gebe; jede Bewaffnung eines Kauffahrteischiffes habe unter diesen Umständen den Charakter einer Bewaffnung zu Offensivzwecken. Das Schreiben schloß: „Ich möchte hinzufügen, daß meine Regierung das Argument verständlich findet, daß ein Kauffahrteischiff, das irgendeine Bewaffnung trägt, angesichts des Charakters des Tauchbootkriegs und der Schwäche der U-Boote in der Verteidigung, sowohl von den Neutralen wie von den Kriegführenden als Hilfskreuzer zu betrachten und zu behandeln ist, und daß meine Regierung ernstlich erwägt, ihre Beamten dementsprechend zu instruieren.“
Diese Anregung sah aus wie ein schwerer Vorstoß gegen die Seekriegführung der Entente. Die Entwaffnung aller Handelsdampfer und ihre Verpflichtung, ohne Gegenwehr auf Anruf anzuhalten, sich untersuchen und nach Feststellung der feindlichen Nationalität oder des Vorhandenseins von Konterbande sich versenken zu lassen, hätte das Vorgehen der deutschen U-Boote gegen den Seehandel der Ententeländer nahezu gefahrlos gemacht und seine [327] Wirksamkeit bedeutend gesteigert. Die Ablehnung dieser Anregung durch die Ententemächte mußte deshalb erwartet werden. Aber für diesen Fall stand am Schluß des Lansingschen Schreibens die Drohung, daß die amerikanische Regierung künftighin bewaffnete Handelsschiffe als Hilfskreuzer ansehen und behandeln werde. Das hieß nicht nur, daß die bewaffneten Handelsschiffe bei ihrem Aufenthalt und ihrem Verkehr in den Häfen der Vereinigten Staaten den für Kriegsschiffe maßgebenden Beschränkungen unterliegen sollten, sondern auch, daß die Regierung der Vereinigten Staaten sich jedes Einspruchs gegen die Versenkung solcher bewaffneten Handelsschiffe durch deutsche U-Boote begeben hätte, auch wenn die Torpedierung ohne Warnung und ohne die Rettung der Schiffsbemannung und Passagiere erfolgte.
Die Entente war also in der Tat vor ein schweres Dilemma gestellt. Hätte die Regierung der Vereinigten Staaten den Lansingschen Gedanken sich zu eigen gemacht und festgehalten, so gab es für die Entente nur den einen Ausweg, durch die Rückkehr zur Londoner Deklaration sich die Beschränkung des U-Bootkriegs auf die Methoden des „Kreuzerkriegs“ zu erkaufen. Zielte Lansings Brief an die Ententevertreter nach dieser Richtung? Sollte er eine drastische Ergänzung der noch immer unbeantworteten Note der amerikanischen Regierung vom 5. November 1915 sein, die so scharf gegen die Methoden der britischen Seekriegführung Stellung genommen hatte?
Ich vermag auf diese Frage auch heute noch keine Antwort zu geben; denn ich hatte weder damals, noch habe ich heute genügend Einblick in das, was jenseits des Atlantischen Ozeans vorging. Und die weitere Entwicklung der Dinge selbst gab nicht nur keine Antwort, sondern stellte uns vor ein Rätsel.
Nachdem nämlich Lansing am 18. Januar 1916 jenen Brief an die Ententevertreter gerichtet hatte, nahm er Ende Januar gegenüber dem Grafen Bernstorff die „Lusitania“-Frage, die bei der Erledigung des „Arabic“-Falles ausdrücklich in Schwebe gelassen worden war, wieder auf. Er verlangte nicht nur eine Entschädigung, sondern auch die ausdrückliche Erklärung, daß wir diese Entschädigung „in Anerkennung der Ungesetzlichkeit (illegality)“ der Versenkung der „Lusitania“ gewährten. In einem solchen Zugeständnis sah man bei uns nicht nur eine uns angesonnene Demütigung, sondern auch einen endgültigen und vorbehaltlosen Verzicht auf die schärfere Form des U-Bootkriegs, zu dem man sich um so weniger entschließen konnte, als keinerlei Sicherheiten irgendwelcher Art für eine Zurückführung des Seekriegs unserer Feinde auf die Normen des Völkerrechts vorlagen. Lansing bestand jedoch mit der größten Hartnäckigkeit und Schärfe auf seiner Forderung. Die Lage erfuhr abermals eine kritische Zuspitzung bis hart an den Abbruch der Beziehungen. Am 5. Februar 1916 veröffentlichte das Wolffsche Bureau eine Unterredung des Unterstaatssekretärs Zimmermann mit dem [329] Berliner Korrespondenten der „Associated Press“, in der er u. a. sagte: Er wolle den Ernst der Lage nicht verhehlen. Deutschland könne keinesfalls die Ungesetzlichkeit der Kriegführung der U-Boote in der Kriegszone anerkennen. Die ganze Krisis sei auf die neue Forderung Amerikas zurückzuführen, daß Deutschland die Versenkung der „Lusitania“ als eine völkerrechtswidrige Tat anerkennen solle. Deutschland könne die Waffe der U-Boote nicht aus der Hand legen. Wenn die Vereinigten Staaten es zum Bruch kommen lassen wollten, könne Deutschland nichts mehr tun, um dies zu vermeiden.
Der Reichskanzler bestätigte in einer Unterredung mit dem Vertreter der „New York World“ die Zimmermannschen Erklärungen.
Während unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten diese neue und unerwartete Zuspitzung erfuhr, kam es bei uns im Innern zu heftigen Kämpfen über den U-Bootkrieg.
Der Admiralstab nahm unter seinem neuen Chef gegen Ende 1915 erneut Stellung zugunsten der Aufnahme des durch keinerlei Einschränkungen gehemmten U-Bootkriegs. Von einem rücksichtslos durchgeführten U-Bootkrieg erwartete er binnen eines halben Jahres die Niederkämpfung Englands und damit die siegreiche Beendigung des Krieges. Gegenüber dieser Aussicht müßten alle andern Erwägungen, auch die Rückwirkung des uneingeschränkten U-Bootkrieges auf die Vereinigten Staaten, zurücktreten.
Der Chef des Generalstabs, General von Falkenhayn, war um die Jahreswende für den uneingeschränkten U-Bootkrieg so gut wie gewonnen. Er hoffte auf eine Niederkämpfung Englands in wenigen Monaten.
Auch die politischen Parteien und die Presse nahmen in jener Zeit immer schärfer in der Frage des U-Bootkrieges Stellung. Die Marinebehörden entfalteten eine starke propagandistische Tätigkeit zugunsten des uneingeschränkten U-Bootkrieges, die sichtlich Einfluß auf die Meinungsbildung der politischen Kreise und des Publikums gewann.
Der Kanzler leistete dem starken Druck Widerstand. Wenn schon die Differenzen über die Erledigung der „Lusitania“-Frage so hart an den Bruch zwischen Amerika und uns heranführten, so erschien der Bruch und ihm folgend der Krieg sicher für den Fall der Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges. Dafür war der Kanzler nicht geneigt, die Verantwortung zu übernehmen.
Dagegen einigten sich die maßgebenden Persönlichkeiten Anfang Februar 1916 auf den sogenannten „verschärften U-Bootkrieg“, nämlich die Versenkung der bewaffneten feindlichen Handelsschiffe ohne Warnung und ohne Rücksicht auf die Mannschaften und Passagiere.
Der deutschen Marine waren auf verschiedenen britischen Handelsschiffen Instruktionen in die Hand gefallen, aus denen sich ergab, daß die bewaffneten Schiffe nicht etwa die Angriffe deutscher U-Boote abwarten und [331] sich gegen diese verteidigen, sondern, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot, angriffsweise gegen die U-Boote vorgehen sollten. Die deutsche Regierung zog hieraus die Konsequenz, daß die mit Geschützen bewaffneten feindlichen Kauffahrteischiffe kein Recht mehr darauf hätten, als friedliche Handelsschiffe angesehen zu werden. Sie teilte diese Auffassung am 8. Februar 1916 den neutralen Regierungen in einer Denkschrift mit, die mit der Ankündigung schloß, daß die deutschen Seestreitkräfte nach einer kurzen, den Interessen der Neutralen Rechnung tragenden Frist den Befehl erhalten würden, solche Schiffe als Kriegführende zu behandeln.
Über die Zweckmäßigkeit dieses Schrittes konnte man verschiedener Meinung sein; schon deshalb, weil die Erkennbarkeit der Bewaffnung eines Handelsschiffes durch das Periskop eines U-Bootes eine recht zweifelhafte Sache war und Irrtümer ganz unausweichlich erscheinen mußten. Ich konnte den Eindruck nicht loswerden, daß die Herren von der Marine „verschärften U-Bootkrieg“ sagten, aber den „uneingeschränkten U-Bootkrieg“ meinten. Das konnte nicht gut gehen. Außerdem hätte ich vorgezogen, zunächst einmal die „Lusitania“-Angelegenheit zu erledigen, statt die so stark zugespitzte Lage durch eine neue Maßnahme von solcher Tragweite zu komplizieren. Ich war jedoch an den Verhandlungen, die zu der Proklamierung des „verschärften U-Bootkrieges“ geführt hatten, nicht beteiligt worden und erfuhr die vollendete Tatsache — [332] durch eine in der Pressekonferenz von dem Marinevertreter gemachte Mitteilung.
Immerhin war der „verschärfte U-Bootkrieg“ begründet in einer Auffassung, die mit der von Lansing in seinem Schreiben vom 18. Januar an die Ententevertreter entwickelten im wesentlichen übereinstimmte. Diese Tatsache war, so durfte man annehmen, immerhin geeignet, den „verschärften U-Bootkrieg“ auch in den Augen der amerikanischen Regierung als vertretbar erscheinen zu lassen.
Diese Hoffnung erschien um so mehr berechtigt, als sich damals in den Vereinigten Staaten in der öffentlichen Meinung und in den Kreisen des Kongresses eine Strömung zeigte, die sich gegen den Gedanken eines Krieges zwischen Amerika und Deutschland auflehnte und zum Zweck der Verminderung der Kriegsgefahr die Forderung aufstellte, die amerikanische Regierung möchte die amerikanischen Bürger vor der Benutzung bewaffneter feindlicher Handelsschiffe warnen oder gar ihnen das Reisen auf bewaffneten feindlichen Schiffen verbieten. Im Senat wie im Repräsentantenhaus wurden sogar Anträge in diesem Sinne eingebracht.
Um so auffallender war es, daß die amerikanische Regierung nunmehr gegen die deutsche Auffassung des Charakters und der Wirkungen der Bewaffnung von Handelsschiffen, die sich so nahe mit der von Lansing kundgegebenen berührte, mit aller Schärfe Stellung nahm. Der Präsident Wilson selbst griff ein, indem er am 24. Februar 1916 [333] einen Brief an den Senator Stone, den Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, richtete und veröffentlichte, in dem er sich auf den Standpunkt stellte, daß die Ankündigung des verschärften U-Bootkrieges in so offenkundigem Widerspruch zu den erst vor kurzem gegebenen ausdrücklichen Versicherungen der Mittelmächte stehe, daß er erst weitere Erklärungen abwarten müsse. Er fügte hinzu: Er könne keinerlei Verkürzung der Rechte der amerikanischen Staatsbürger hinnehmen; die Ehre und Selbstachtung der Nation sei im Spiel; Amerika wünsche den Frieden und werde ihn um jeden Preis erhalten, nur nicht um den Preis seiner Ehre; den Amerikanern die Ausübung ihrer Rechte verbieten aus Furcht, man könne gezwungen sein, für diese Rechte einzutreten, würde in der Tat eine tiefe Demütigung sein und außerdem nicht nur ein stillschweigendes, sondern sogar ein ausdrückliches Sichabfinden mit der Verletzung der Rechte der Menschheit und ein bewußter Verzicht Amerikas auf seine bisher stolze Stellung als Wortführer für Gesetz und Recht. Amerika könne nicht nachgeben, ohne seine eigene Ohnmacht als Nation zu erklären und seine unabhängige Stellung unter den Nationen der Welt aufzugeben.
Am 3. März 1916 beschloß der Senat mit 68 gegen 14 Stimmen die Erörterung der Resolution Gore, die das Reisen auf bewaffneten feindlichen Handelsschiffen für Amerikaner verboten sehen wollte, auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
Drei Wochen später, am 25. März, veröffentlichte die amerikanische Regierung ein Memorandum über ihre Stellung zur Frage der Behandlung bewaffneter Handelsschiffe in neutralen Häfen und auf hoher See. Das Memorandum kam auf Grund sehr kasuistischer Deduktionen zu dem Schluß: Eine neutrale Regierung könne in ihren Häfen ein bewaffnetes Handelsschiff auf Grund der Präsumption behandeln, daß es zum Angriff bewaffnet sei und infolgedessen den Charakter des Kriegsschiffs habe; dagegen müsse ein Kriegführender auf hoher See auf Grund der Präsumption vorgehen, daß das Handelsschiff zu Verteidigungszwecken bewaffnet sei und infolgedessen den Charakter als Kauffahrteischiff habe. Der Status eines bewaffneten Handelsschiffes auf hoher See als eines Kriegsschiffes könne nur auf Grund beweiskräftiger Evidenz seiner Angriffsabsicht festgestellt werden.
Zwei Tage zuvor, am 23. März, hatte die britische Regierung die Lansingsche Anregung vom 18. Januar als unvereinbar mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts und mit bestimmten Klauseln der Haager Konvention abgelehnt.
Das merkwürdige Zwischenspiel des Lansingschen Vorschlags blieb unaufgeklärt. Wir hatten jetzt bei der Führung des verschärften U-Bootkrieges gegen die bewaffneten Handelsschiffe mit demselben Widerstand Amerikas, ja mit einem noch ausgesprocheneren Widerstand zu [335] rechnen, wie bei unserm ersten Tauchbootkrieg. Jeder Tag konnte mit einem neuen Zwischenfall die Krisis akut machen und uns vor die Wahl zwischen dem Krieg mit Amerika oder der Einschränkung des U-Bootkrieges auf die völkerrechtlich einwandfreien Formen des Kreuzerkriegs stellen.
In dieser Lage wuchs bei uns die Forderung nach dem uneingeschränkten U-Bootkrieg zu einem wahren Sturm auf den Reichskanzler an. Die Marine, die den „verschärften U-Bootkrieg“ durchgesetzt hatte, dachte nicht daran, sich damit zufriedenzugeben. Der Admiralstab hatte eine umfangreiche Denkschrift über die englische Wirtschaft und den U-Bootkrieg ausarbeiten lassen, die auf Grund eines weitschichtigen statistischen Materials, aber in ganz dilettantischer Beweisführung, den Nachweis zu erbringen versuchte, daß der „uneingeschränkte U-Bootkrieg“ im Laufe längstens eines halben Jahres zu dem Erfolge führen würde, England auf dem Wege der Unterbindung des Seeverkehrs zum Frieden zu zwingen. Zu der Denkschrift wurden von zahlreichen hervorragenden Persönlichkeiten aus den Kreisen der Industrie, des Handels und der Bankwelt Gutachten eingefordert, die bei der klugen Auswahl der Befragten sich durchweg mit mehr oder weniger vorsichtigen Vorbehalten den Folgerungen der Denkschrift anschlossen. Die Bearbeitung der Presse und der öffentlichen Meinung zugunsten des uneingeschränkten U-Bootkrieges war um so wirksamer, als [336] es unmöglich war, die zugunsten des U-Bootkrieges in Umlauf gesetzten Behauptungen und Beweisführungen zu widerlegen, ohne geradezu Landesverrat zu begehen.
Ich hatte mich damals im Auftrage des Reichskanzlers eingehend mit der im Admiralstab ausgearbeiteten Denkschrift befaßt und mußte auf Grund der mit dem ersten U-Bootkrieg gemachten Erfahrungen, der noch verhältnismäßig intakten wirtschaftlichen Reserven Englands, der ausgezeichneten Welternte, namentlich auch der Rekordernten der England zunächst gelegenen Versorgungsgebiete, des Umfangs des England noch zur Verfügung stehenden Schiffsraumes usw. zu dem Schlusse kommen, daß auch bei voller Leistung der vom Admiralstab in Aussicht gestellten Versenkungen keinerlei Gewähr für eine Niederzwingung Englands innerhalb eines absehbaren Zeitraumes gegeben sei. Auf der andern Seite konnte ich nicht umhin, die Gefahren eines Krieges mit Amerika wesentlich höher zu veranschlagen, als dies von seiten der Befürworter des uneingeschränkten U-Bootkrieges geschah.
In der ersten Märzhälfte kam auf Betreiben der Marine die Frage des uneingeschränkten U-Bootkrieges im Großen Hauptquartier erneut zur Entscheidung. Der Reichskanzler drang mit seiner Ansicht durch. Es scheint, daß auch der Chef des Admiralstabs und der Chef des Generalstabs sich dem Gewicht seiner Gründe nicht entziehen konnten. Der Kanzler bestand bei dieser Gelegenheit [337] auch auf einer Abstellung der von der Marine ausgehenden Propaganda zugunsten des uneingeschränkten U-Bootkrieges. Der Kaiser verfügte die Lostrennung der Nachrichtenabteilung vom Reichsmarineamt und ihre Angliederung an den Admiralstab. Diese Maßnahme gab die unmittelbare Veranlassung zum Rücktritt des Großadmirals von Tirpitz. An seiner Stelle wurde der Admiral von Capelle, der in der U-Bootfrage die Auffassung des Reichskanzlers teilte, zum Staatssekretär des Reichsmarineamts ernannt.
Die Budgetkommission des Reichstages beschäftigte sich Ende März in vertraulichen Sitzungen mit der U-Bootfrage. Auch die Konservativen und derjenige Teil der Nationalliberalen, die mit Entschiedenheit für den uneingeschränkten U-Bootkrieg eintraten, nahmen schließlich davon Abstand, eine dahingehende Entschließung zu beantragen. Es kam nach langen Verhandlungen zwischen den Parteien eine Resolution zustande, die lautete:
„Nachdem sich das Unterseeboot als eine wirksame Waffe gegen die englische auf die Aushungerung Deutschlands berechnete Kriegführung erwiesen hat, gibt der Reichstag seiner Überzeugung Ausdruck, daß es geboten ist, wie von allen unsern militärischen Machtmitteln, so auch von den Unterseebooten denjenigen Gebrauch zu machen, der die Erringung eines die Zukunft Deutschlands sichernden Friedens verbürgt, und bei Verhandlungen mit auswärtigen Staaten die für die Seegeltung [338] Deutschlands erforderliche Freiheit im Gebrauch dieser Waffe unter Beachtung der berechtigten Interessen der neutralen Staaten zu wahren.“
Man einigte sich ferner dahin, daß eine Besprechung der U-Bootfrage im Plenum des Reichstages unterbleiben solle.
Inzwischen kam, was kommen mußte.
Die Versenkungen von Schiffen mit Amerikanern an Bord häuften sich. In der Zeit vom 27. März bis zum 1. April hatte der amerikanische Botschafter an unser Auswärtiges Amt, in Vorbereitung weiterer Schritte, in nicht weniger als fünf Fällen die Anfrage zu richten, ob die Versenkung durch ein deutsches Tauchboot erfolgt sei. Der schlimmste dieser Fälle war die am 24. März 1916 ohne Warnung erfolgte Torpedierung des unbewaffneten Passagierdampfers „Sussex“, der dem Passagierverkehr über den Kanal diente. Von mehr als 300 Passagieren fanden etwa 80 ihren Tod, darunter auch eine Anzahl Amerikaner. Der Kommandant des für die Torpedierung in Betracht kommenden U-Bootes gab an, einen Minenleger der neuen britischen „Arabis“-Klasse torpediert zu haben. Ort und Zeit stimmte mit der Torpedierung der „Sussex“ überein, und die im Rumpf der „Sussex“ vorgefundenen Stücke eines deutschen Torpedos stellten den Sachverhalt außer allen Zweifel.
Mit dieser Katastrophe, deren Umfang nahezu an die Versenkung der „Lusitania“ heranreichte, stand unser Verhältnis mit Amerika vor dem Biegen oder Brechen. Die Haltung der Vereinigten Staaten ließ darüber keine Unklarheit. Nachdem unsere ursprüngliche, auf den Angaben des U-Bootkommandanten beruhende Aufstellung, daß das versenkte Schiff mit der „Sussex“ nicht identisch sei, widerlegt war, übergab der amerikanische Botschafter am 20. April dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes eine Note, deren Bedeutung noch dadurch besonders unterstrichen wurde, daß der Präsident Wilson sie unmittelbar vor ihrer Übergabe in einer von ihm persönlich verlesenen Botschaft dem Kongreß zur Kenntnis brachte.
Der wichtigste Inhalt der Note war:
Der tragische Fall der „Sussex“ stehe leider nicht allein; er sei nur ein Fall, wenn auch einer der schwersten und betrübendsten, für die vorbedachte Methode, mit der unterschiedslos Handelsschiffe aller Art und Bestimmung zerstört würden. Die deutsche Regierung habe offenbar keinen Weg gefunden, ihren Tauchbooten die von ihr zugesagten Beschränkungen aufzuerlegen. „Immer wieder hat die Kaiserliche Regierung der Regierung der Vereinigten Staaten feierlich versichert, daß zum mindesten Passagierschiffe nicht in dieser Weise behandelt werden würden, und gleichwohl hat sie wiederholt zugelassen, daß ihre U-Bootkommandanten diese Versicherung ohne jede Ahndung mißachteten. Noch im Februar dieses Jahres machte [340] sie davon Mitteilung, daß sie alle bewaffneten Handelsschiffe in feindlichem Eigentum als Teil der Seestreitkräfte ihrer Gegner betrachten und als Kriegsschiffe behandeln werde, indem sie sich so, wenigstens implicite, verpflichtete, nichtbewaffnete Schiffe zu warnen und das Leben ihrer Passagiere und Besatzungen zu gewährleisten; aber sogar diese Beschränkung haben ihre U-Bootkommandanten unbekümmert außer Acht gelassen.“ Die Regierung der Vereinigten Staaten habe viel Geduld gezeigt und die Hoffnung nicht aufgeben wollen, daß es der deutschen Regierung möglich sein werde, den U-Bootkrieg mit den im Völkerrecht verkörperten Grundsätzen der Menschlichkeit in Einklang zu bringen; sie habe den neuen Verhältnissen, für die es keine Präzedenzfälle gebe, jedes Zugeständnis gemacht und sei gewillt gewesen, zu warten, bis die Tatsachen unmißverständlich und nur einer Auslegung fähig geworden seien. Dieser Zeitpunkt sei jetzt gekommen. Wenn es die Absicht der deutschen Regierung sei, den U-Bootkrieg gegen Handelsschiffe fortzusetzen ohne Rücksicht auf das, was die amerikanische Regierung als die heiligen und unbestreitbaren Normen des Völkerrechts und die allgemein anerkannten Gebote der Menschlichkeit ansehen müsse, so gebe es für die amerikanische Regierung nur einen Weg: „Sofern die Kaiserliche Regierung nicht jetzt unverzüglich ein Aufgeben ihrer gegenwärtigen Methoden des U-Bootkrieges gegen Passagier- und Frachtschiffe erklären und bewirken sollte, [341] kann die Regierung der Vereinigten Staaten keine andere Wahl haben, als die diplomatischen Beziehungen zur deutschen Regierung abzubrechen.“
Zur Zeit der Übergabe dieser Note befand sich der Kanzler im Großen Hauptquartier. Er reiste alsbald nach Berlin zurück, um die Lage zu besprechen. Am Ostersonntag und Ostermontag (23. und 24. April) fanden ausgedehnte Konferenzen statt, in denen der Staatssekretär des Reichsmarineamts, Admiral von Capelle, im Gegensatz zum Chef des Admiralstabs, Admiral von Holtzendorff, die Auffassung vertrat, daß die Zurückführung des U-Bootkrieges auf die Formen des Kreuzerkrieges keine allzu starke Beeinträchtigung der Wirksamkeit der U-Boote bedeute; der weitaus größte Teil der Versenkungen erfolge jetzt bereits vom aufgetauchten Boot durch Artilleriefeuer, und mit der fortschreitenden Vergrößerung des U-Boottyps und der Verstärkung der artilleristischen Ausrüstung der U-Boote werde sich in Zukunft das Verhältnis zugunsten der Versenkungen durch Artillerie noch verstärken. Diese Darlegungen erleichterten uns den ohnehin kaum vermeidbaren Entschluß, den U-Bootkrieg mindestens zeitweise auf die Formen des Kreuzerkrieges zu bringen. Ich griff dabei auf meinen Vorschlag vom August 1915 zurück, einen Zusammenhang zwischen diesem Zugeständnis und den damals von Wilson angebotenen Bemühungen zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere zu konstruieren. Es erschien fraglich, ob dieser [342] Zusammenhang in Form einer „Bedingung“ oder einer „Voraussetzung“ für unser Zugeständnis oder in Form einer bloßen „Erwartung“ hergestellt werden sollte. Die Entscheidung zugunsten der letzteren Auffassung gab schließlich eine vertrauliche und freundschaftliche Mitteilung des spanischen Botschafters, der erklärte, die bestimmte Überzeugung gewonnen zu haben, daß ein an Bedingungen oder Voraussetzungen geknüpftes Nachgeben von der amerikanischen Regierung als ungenügend werde angesehen werden und zum alsbaldigen Abbruch der Beziehungen, dem der Krieg folgen werde, führen müsse.
Der Kanzler reiste am 25. April nach dem Großen Hauptquartier zurück, während das Auswärtige Amt den Text der Antwortnote in Arbeit nahm. Der amerikanische Botschafter hatte dem Kanzler vor seiner Abreise den Wunsch, oder mindestens in einer einem Wunsch gleichkommenden Form die Bereitwilligkeit ausgedrückt, nach dem Hauptquartier zu reisen und dem Kaiser persönlich Aufklärung über den amerikanischen Standpunkt zu geben. In der Tat erhielt Herr Gerard am 28. April eine Einladung, nach dem Hauptquartier zu kommen. Er wurde dort am 1. Mai in Gegenwart des Kanzlers vom Kaiser empfangen, der mit ihm die deutsch-amerikanischen Beziehungen und die U-Bootfrage durchsprach, um auf diese Weise ein unmittelbares Bild der amerikanischen Auffassung zu gewinnen.
Die Erledigung der U-Bootfrage in dem in Berlin besprochenen Sinn war inzwischen im Hauptquartier auf eine große Schwierigkeit gestoßen: der General von Falkenhayn, der noch acht Tage zuvor dem Kanzler gegenüber sich dahin ausgesprochen hatte, daß auch nach seiner Ansicht ein Konflikt mit Amerika vermieden werden müsse, trat jetzt beim Kaiser gegen die Beschränkung des U-Bootkrieges auf die Formen des Kreuzerkrieges ein; er müsse auf die Fortsetzung der Aktion gegen Verdun verzichten, wenn der U-Bootkrieg suspendiert werde, und zwar, weil selbst ein voller Erfolg der Verdun-Aktion die Opfer nicht lohne, wenn die Suspendierung des U-Bootkrieges den Engländern Luft gebe und den Franzosen die Hoffnung auf weitere englische Hilfe lasse. Der Kaiser war durch diese Auffassung Falkenhayns stark beeindruckt und sagte am 30. April dem Kanzler: „Sie haben also die Wahl zwischen Amerika und Verdun!“ Der Kanzler war über diese Alternative auf das äußerste erregt. Der Gedanke, vor der Geschichte als derjenige dazustehen, durch dessen Schuld hunderttausend Mann vor Verdun umsonst geopfert worden seien, schien ihm ebenso unerträglich, wie die Verantwortung für den Bruch mit Amerika. Er ließ mich über die Sachlage telephonisch informieren und bat mich, sofort nach dem Hauptquartier zu kommen.
Ich traf am nächsten Tage, 1. Mai, im Laufe des Nachmittags in Charleville ein und fand die Lage bereits geklärt. Der Chef des Admiralstabs hatte sich den [344] politischen Gründen des Kanzlers unterworfen. Der Kaiser hatte sich dem Kanzler gegenüber dahin geäußert, daß der Bruch mit Amerika vermieden werden müsse, und sich mit dem vom Kanzler vorgeschlagenen Vorgehen einverstanden erklärt.
Am nächsten Abend sprach sich der Kaiser nach Tisch mir gegenüber eingehend über die U-Bootfrage aus. Ich hatte den Eindruck, daß ihm die Entscheidung einen schweren Stein vom Herzen genommen habe. Er sprach witzig und geistreich über seine Unterhaltung mit Herrn Gerard. Wenn man Politik machen wolle, müsse man vor allem wissen, worauf es dem anderen ankomme; denn Politik sei nun einmal ein zweiseitiges Geschäft. Gerards Äußerungen hätten ihm bestätigt, daß Wilson eine Leiter zu der neuen Präsidentschaft suche. Da wollten wir ihm lieber die Friedensleiter hinstellen als die Kriegsleiter, die uns schließlich auf den eigenen Kopf fallen werde.
Unsere Antwortnote wurde am 4. Mai dem amerikanischen Botschafter überreicht. Sie stellte gegenüber dem Appell der Unionsregierung an die geheiligten Grundsätze der Menschlichkeit und des Völkerrechtes fest, „daß es nicht die deutsche, sondern die britische Regierung gewesen ist, die diesen furchtbaren Krieg unter Mißachtung aller zwischen den Völkern vereinbarten Rechtsnormen auf Leben und Eigentum der Nichtkämpfer ausgedehnt hat, und zwar ohne jede Rücksicht auf die durch diese [345] Art der Kriegführung schwer geschädigten Interessen und Rechte der Neutralen. Bei dieser Sachlage könne die deutsche Regierung nur erneut ihr Bedauern darüber aussprechen, daß die humanitären Gefühle der amerikanischen Regierung, die sich mit so großer Wärme den bedauernswerten Opfern des U-Bootkrieges zuwendeten, sich nicht mit der gleichen Wärme auch auf die vielen Millionen von Frauen und Kindern erstreckten, die nach der erklärten Absicht der englischen Regierung in den Hungertod getrieben werden sollten. Die deutsche Regierung, und mit ihr das deutsche Volk, hätten für dieses ungleiche Empfinden um so weniger Verständnis, als sie zu wiederholten Malen sich ausdrücklich bereit erklärt habe, sich mit der Anwendung der U-Bootwaffe streng an die vor dem Krieg anerkannten völkerrechtlichen Normen zu halten, falls England sich dazu bereit finde, diese Normen ebenfalls seiner Kriegführung zugrundezulegen. Wenn die deutsche Regierung sich trotzdem zu einem äußersten Zugeständnis entschließe, so sei für sie entscheidend der Gedanke an das schwere Verhängnis, mit dem eine Ausdehnung und Verlängerung dieses grausamen und blutigen Krieges die gesamte zivilisierte Menschheit bedrohe. Das Bewußtsein der Stärke hat es der deutschen Regierung erlaubt, zweimal im Laufe der letzten Monate ihre Bereitschaft zu einem Deutschlands Lebensinteressen sichernden Frieden offen und vor aller Welt zu bekunden. Sie hat damit zum Ausdruck gebracht, daß es nicht an [346] ihr liegt, wenn den Völkern Europas der Friede noch länger vorenthalten bleibt. Mit um so stärkerer Berechtigung darf die deutsche Regierung aussprechen, daß es vor der Menschheit und der Geschichte nicht zu verantworten wäre, nach einundzwanzigmonatiger Kriegsdauer die über den U-Bootkrieg entstandene Streitfrage eine den Frieden zwischen dem deutschen und amerikanischen Volke ernstlich bedrohende Wendung nehmen zu lassen. Einer solchen Entwicklung will die deutsche Regierung, soweit es an ihr liegt, vorbeugen. Sie will gleichzeitig ein letztes dazu beitragen, um — solange der Krieg noch dauert — die Beschränkung der Kriegführung auf die kämpfenden Streitkräfte zu ermöglichen, ein Ziel, das die Freiheit der Meere einschließt, und in dem sich die deutsche Regierung mit der Regierung der Vereinigten Staaten auch heute noch einig glaubt. Von diesem Gedanken geleitet, teilt die deutsche Regierung der Regierung der Vereinigten Staaten mit, daß Weisung an die deutschen Seestreitkräfte ergangen ist, in Beobachtung der allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätze über Anhaltung, Durchsuchung und Zerstörung von Handelsschiffen auch innerhalb des Seekriegsgebietes Kauffahrteischiffe nicht ohne Warnung und Rettung der Menschenleben zu versenken, es sei denn, daß sie flüchten oder Widerstand leisten.“
Der Schluß der Note sprach die Erwartung aus, „daß die neue Weisung an die deutschen Seestreitkräfte auch in den Augen der Regierung der Vereinigten Staaten jedes [347] Hindernis für die Verwirklichung der in der Note vom 23. Juli 1915 angebotenen Zusammenarbeit zu der noch während des Krieges zu bewirkenden Wiederherstellung der Freiheit der Meere aus dem Wege räumt“; die deutsche Regierung zweifle nicht, daß die amerikanische Regierung nunmehr bei der britischen Regierung die Beobachtung der völkerrechtlichen Normen der Seekriegführung verlangen und durchsetzen werde. „Sollten die Schritte der Vereinigten Staaten nicht zu dem gewollten Erfolge führen, den Gesetzen der Menschlichkeit bei allen kriegführenden Nationen Geltung zu verschaffen, so würde die deutsche Regierung sich einer neuen Sachlage gegenübersehen, für die sie sich die volle Freiheit der Entschließung vorbehalten muß.“
Die Note brachte also die Zurückführung des U-Bootkrieges auf die völkerrechtlich anerkannten Formen des Kreuzerkrieges. Das Zugeständnis wurde jedoch nicht für alle Zeit gemacht; vielmehr behielt sich die deutsche Regierung freie Hand vor für den Fall, daß es Amerika nicht gelingen sollte, England zu einer Anpassung seiner Seekriegführung an das Völkerrecht zu bewegen.
Damit war bis auf weiteres die Krisis in unserem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten beigelegt.
Mehr war nicht erreicht.
Daß seit dem verflossenen Juli Wilsons Bereitwilligkeit, mit uns zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere zu kooperieren, zum mindesten stark abgeflaut war, [348] zeigte die amerikanische Antwort auf unsere Note. Diese vom 10. Mai 1916 datierte Antwort nahm Notiz von unseren Erklärungen und fügte hinzu:
„Die Regierung der Vereinigten Staaten hält es für notwendig, zu erklären, daß sie es für ausgemacht ansieht, daß die Kaiserliche Regierung nicht beabsichtigt, zu verstehen zu geben, daß die Aufrechterhaltung der neu angekündigten Politik in irgendeiner Weise von dem Verlauf oder Ergebnis diplomatischer Verhandlungen zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten und irgendeiner anderen kriegführenden Regierung abhänge, obwohl einige Stellen in der Note der Kaiserlichen Regierung vom 4. d. M. einer solchen Auslegung fähig sein könnten. Um jedoch die Möglichkeit eines Mißverständnisses zu vermeiden, teilt die Regierung der Vereinigten Staaten der Kaiserlichen Regierung mit, daß sie keinen Augenblick den Gedanken in Betracht ziehen, geschweige denn erörtern kann, daß die Achtung der Rechte amerikanischer Bürger auf hoher See von seiten der deutschen Marinebehörden in irgendeiner Weise oder im geringsten Grad von dem Verhalten irgendeiner anderen Regierung, das die Rechte der Neutralen und Nichtkämpfenden berührt, abhängig gemacht werden sollte. Die Verantwortlichkeit in diesen Dingen ist getrennt, nicht gemeinsam, absolut, nicht relativ.“
In welchem Maße die Westmächte von der deutsch-amerikanischen Spannung glaubten profitieren zu dürfen, [349] ergibt sich daraus, daß die britische Regierung am 24. April 1916 die amerikanischen Vorstellungen vom 5. November 1915 wegen der Völkerrechtswidrigkeit der britischen Seekriegführung durchweg ablehnend beantwortete und daß am 7. Juli 1916 die britische und französische Regierung gemeinsam den neutralen Mächten mitteilten, daß sie sich an die bisher schon von ihnen immer weiter durchlöcherte Londoner Deklaration nicht mehr für gebunden hielten.
Im weiteren Verlauf der Dinge griffen U-Bootfrage und Friedensfrage ineinander über. Es scheint mir, angesichts des falschen Bildes, das bei manchen Politikern und wohl auch in einem großen Teile der öffentlichen Meinung von den wechselseitigen Beziehungen dieser beiden Fragen entstanden ist, am Platze zu sein, daß ich versuche, die verschlungenen Fäden, soweit ich es vermag, zu entwirren.
Schon bei den Berliner Besprechungen über die an die amerikanische Regierung zu gebende Antwort auf die U-Bootnote vom 20. April entwickelte der Reichskanzler den Gedanken, unser kaum mehr zu vermeidendes Zugeständnis nicht nur zur Beseitigung der akuten Konfliktsgefahr, [350] sondern womöglich zur Anbahnung des Friedens zu benutzen. Die in der letzten Zeit nach verschiedenen anderen Richtungen hin ausgestreckten Fühler hatten kein Ergebnis gehabt oder drohten ergebnislos zu bleiben. Dem Präsidenten Wilson traute der Kanzler zu, daß es ihn reizen könne, die große weltgeschichtliche Rolle des Friedensstifters zu spielen. Auf diesen Gedanken des Kanzlers geht der oben wiedergegebene Hinweis auf unsere wiederholt gezeigte Friedensbereitschaft in unserer Note vom 4. Mai zurück. Der Kanzler hat auch in Unterhaltungen mit Herrn Gerard diesen Punkt berührt. Herr Gerard erzählt in seinem Buch, der Kanzler habe ihm bei seinem Abschied vom Großen Hauptquartier gesagt: „Ich hoffe, daß, wenn wir jetzt diese Sache in Ordnung bringen, Ihr Präsident groß genug sein wird, die Frage des Friedens aufzunehmen.“ Herr Gerard erzählt weiter, daß auch späterhin der Kanzler bei verschiedenen Gelegenheiten ihm vorgeführt habe, daß Amerika etwas für den Frieden tun müsse, und daß, wenn nichts geschehe, die öffentliche Meinung in Deutschland sicherlich die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges erzwingen werde.
Mir gegenüber hat der Kanzler von einem Schritt bei Wilson, um diesen zu einer auf den Frieden gerichteten Aktion zu bestimmen, zum ersten Male gesprochen, als ich am 31. August 1916 nach der Kriegserklärung Rumäniens und nach der Ernennung Hindenburgs zum Chef [351] des Generalstabs des Feldheeres zusammen mit dem Staatssekretär von Jagow im Großen Hauptquartier eintraf. Der Kanzler, der schon zwei Tage vorher nach Pleß gereist war, entwarf uns ein Bild der Lage, die er trotz der Zuversicht Hindenburgs und Ludendorffs als außerordentlich schwer ansah. Wir müßten alles tun, um zum Frieden zu kommen. Der einzige Weg, den er überhaupt noch sehe, führe über Wilson, und dieser Weg müsse, auch wenn die Aussichten ungewiß seien, beschritten werden. Wilson habe allein bei unseren Gegnern die große Position, die für einen wirksamen Friedensschritt nötig sei. Wir müßten Wilson sagen, daß wir bereit seien, Belgien herauszugeben, unter dem Vorbehalt, unsere Beziehungen zu Belgien nach dessen Restitution durch unmittelbare Verhandlungen zu ordnen.
Der Gedanke wurde zwischen dem Kanzler, Herrn von Jagow und mir eingehend erörtert. Mir schien gegen eine Anrufung Wilsons zu sprechen, daß dieser im bisherigen Verlaufe des Krieges eine stets wachsende Voreingenommenheit zugunsten der Westmächte und ein geringes Verständnis für unsere deutschen Verhältnisse und Lebensbedürfnisse gezeigt hatte; sein Verhalten seit dem Beginn des Jahres 1916 schien mir keinen Zweifel mehr an seinen Gesinnungen uns gegenüber zu gestatten. Auch fürchtete ich, daß Wilson, wenn wir ihm die Friedensvermittlung in die Hand gäben, uns vor eine internationale Konferenz führen würde, in der unsere Feinde über uns zu Gericht [352] säßen. Von der maßlosen Unpopularität einer Anrufung Wilsons als Friedensvermittler sprach ich nicht; ich wußte, daß der Kanzler sich darüber ganz im klaren war, daß aber solche Erwägungen ihn nicht bestimmen würden. Eine Verständigung mit Rußland auf Kosten Polens, über dessen künftigen Status der Kanzler und Jagow kurz zuvor in Wien verhandelt hatten, nötigenfalls sogar unter Zugeständnissen in dem von den Russen wieder besetzten Ostgalizien, zu denen sich unser österreichisch-ungarischer Verbündeter, wenn es nicht anders gehe, bereit finden müsse, erschien mir immer noch als der für uns günstigste Weg zum Frieden. Der Kanzler glaubte jedoch nach dieser Richtung hin kaum mehr eine Hoffnung zu sehen, nachdem alle Sondierungen gescheitert waren, auch die im Einverständnis mit unserm türkischen Bundesgenossen gemachten Andeutungen einer den russischen Wünschen entgegenkommenden Regelung der Meerengenfrage. Herr von Jagow pflichtete dem Kanzler bei.
In der Tat ließ der Kanzler in der ersten Septemberwoche an den Grafen Bernstorff nach Washington telegraphieren, um ihn ganz persönlich um seine Ansicht über Wilson als Friedensvermittler zu befragen. Graf Bernstorff antwortete, daß vor der Anfang November stattfindenden Präsidentenwahl von Wilson nichts zu erwarten sei; werde er wiedergewählt, wofür die Wahrscheinlichkeit spreche, dann werde er wohl die Friedensvermittlung in die Hand nehmen, da er überzeugt zu sein scheine, Amerikas [353] Interesse verlange, daß keine der beiden Mächtegruppen zu Boden geworfen werde.
Herr Gerard will dann im Laufe des September von Herrn von Jagow gedrängt worden sein, mit seiner Frau, die für kurze Zeit nach Amerika gehen wollte, zusammen zu reisen, um den Präsidenten zu bestimmen, etwas für den Frieden zu tun. Wie weit das richtig ist, vermag ich nicht zu sagen.
Jedenfalls war der Eifer des Präsidenten, auf unseren Wunsch einen Schritt zur Herbeiführung des Friedens zu unternehmen, nicht allzu groß, obwohl er bei den Präsidentenwahlen für sich als den „Friedensmacher“ Propaganda machen ließ. Auch nachdem er Anfang November wiedergewählt worden war, beeilte er sich nicht, irgend etwas zugunsten des Friedens zu tun oder auch nur die deutsche Regierung in irgendeiner Weise wissen zu lassen, daß er beabsichtige, mit einem Friedensschritt in naher Zeit hervorzutreten. Der amerikanische Geschäftsträger in Berlin, Herr Grew, wich jeder Sondierung aus, indem er die Frage des zwangsweisen Abtransports der belgischen Arbeitslosen, bei dem bedauerliche Mißgriffe vorgekommen waren, zum Mittelpunkt der deutsch-amerikanischen Beziehungen machte. Herr Gerard berichtet in seinem Buche, daß er den Präsidenten Wilson gesprochen habe, ehe er am 4. Dezember die Rückreise nach Deutschland antrat. Sein Eindruck sei gewesen, daß der Präsident vor allem anderen wünschte, Frieden zu halten und Frieden zu [354] machen. „Natürlich,“ so fährt Herr Gerard fort, „war diese Frage des Friedenmachens eine sehr heikle. Ein direktes Angebot von unserer Seite konnte uns derselben Behandlung aussetzen, die wir Großbritannien während des Bürgerkrieges angedeihen ließen, als Großbritannien Eröffnungen zum Zweck der Herbeiführung des Friedens machte und die Nordstaaten eine Antwort gaben, die darauf hinauskam, daß die britische Regierung sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern solle, daß sie keine Einmischung dulden und weitere Eröffnungen als unfreundliche Handlungen betrachten würden. Die Deutschen haben diesen Krieg begonnen ohne irgendeine Befragung der Vereinigten Staaten, und dann schienen sie zu denken, daß sie ein Recht hätten, zu verlangen, die Vereinigten Staaten sollten Frieden für sie machen zu solchen Bedingungen und zu solcher Zeit, wie es ihnen, den Deutschen, gut scheine; daß ferner, wenn wir das nicht täten, sie das Recht hätten, alle Regeln der Kriegführung zu verletzen und Bürger der Vereinigten Staaten auf hoher See zu ermorden. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß der Präsident geneigt war, in der Herbeiführung des Friedens sehr weit zu gehen.“
Aus diesen Ausführungen des Herrn Gerard ergibt sich das eine mit Sicherheit, daß der Präsident Wilson, als Herr Gerard am 4. Dezember 1916 Amerika wieder verließ, sich noch zu keinem bestimmten Schritt zugunsten des Friedens entschlossen hatte und daß Herr Gerard keine Antwort [355] auf die von Herrn von Bethmann und Herrn von Jagow gemachten Eröffnungen mit auf den Weg bekam. Ferner geben die Bemerkungen des Herrn Gerard einen Einblick in den Geist, in dem unsere Anregung, der Präsident möchte eine Initiative zugunsten des Friedens ergreifen, zum mindesten von Herrn Gerard aufgefaßt worden ist.
Am 23. Oktober 1916 hielt Lord Grey bei einem Pressefestmahl eine auffallende Rede. Er beschäftigte sich zunächst wieder einmal mit den Kriegsursachen, wobei er wiederum alle Schuld auf Deutschland abzuwälzen versuchte; dann ging er mit einer Verbeugung vor Wilson und Hughes, den beiden amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, über zu einem Hymnus auf Völkerbund und Schiedsgerichte als die Pfeiler des Systems, das in Zukunft die Entstehung neuer Kriege verhindern müsse.
Der Bericht über die Rede lag in Berlin am 25. Oktober vor. Der Kanzler war durch die Rede stark beeindruckt. Er fand sie sehr geschickt auf die Mentalität der Neutralen, insbesondere der Amerikaner, zugeschnitten, aber auch auf die Stimmung der kriegführenden Völker, die sich aus dem Zerstören und Morden nach einem besseren Zustand des Zusammenlebens der Völker sehnten. Der Krieg habe [356] die Idee eines Völkerbundes und der Schiedsgerichte ohne Zweifel mächtig gestärkt. Auch nach seiner Ansicht gehöre dieser Idee die Zukunft. Er habe das Gefühl, daß in dieser Sache die deutsche Politik nicht beiseite stehen dürfe. Er müsse jedenfalls in diesem Sinn auf die Rede Greys antworten.
Mir schien die Frage der Verhinderung künftiger Kriege so lange im zweiten Rang zu stehen, als die Frage der Beendigung des jetzigen Krieges noch nicht gelöst sei. Die beste Antwort auf Grey schien mir eine solche zu sein, die Grey auf diese praktische Frage stellte. Zwei Tage zuvor war Constantza von unsern Truppen genommen worden; am Vormittag hatte ein Telegramm die Einnahme von Cernavoda gemeldet. Der rumänische Feldzug näherte sich seinem Ende. Unsere Feinde waren im Begriff, abermals eine Hoffnung zu verlieren. Der Winter, und damit der dritte Winterfeldzug, stand vor der Tür. Wenn irgendein Zeitpunkt seit Beginn des Krieges die Regierungen und die Völker zum Nachdenken stimmen mußte, ob es sich lohne, den Krieg fortzusetzen, so war es der jetzige. Ich empfahl, zu überlegen, ob die Gesamtlage uns nicht das Recht und die Pflicht gebe, ein offenes Friedenswort zu sprechen, auf das unsere Feinde antworten müßten; etwa die Aufforderung an die Kriegführenden, zu einer Besprechung über die Möglichkeit eines Friedens zusammenzutreten, der Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit aller wahre.
Der Kanzler erwärmte sich für den Gedanken und entschloß sich, sofort zum Kaiser zu fahren, der damals in Potsdam weilte. Im Begriff ins Auto zu steigen, erhielt er die Nachricht von dem erfolgreichen Vorstoß der Franzosen vor Verdun auf das Fort Douaumont. Das war ein Dämpfer auf die rumänische Freude, aber mit solchen Zwischenfällen muß man im Kriege immer rechnen.
Der Kaiser war sofort einverstanden. Der Kanzler reiste noch am gleichen Abend nach dem Großen Hauptquartier, um sich mit dem Generalfeldmarschall von Hindenburg zu besprechen. Der Feldmarschall wollte sich nicht gegen die Anregung stellen und erklärte, er könne jedenfalls keine Aussicht eröffnen, daß nach Beendigung des rumänischen Feldzugs, die in einigen Wochen zu erwarten sei, im Winter oder im nächsten Frühjahr ein entscheidender, den Frieden militärisch erzwingender Schlag geführt werden könne.
Nun wurde der Gesandte von Stumm nach Wien geschickt, um das Einverständnis unseres österreichisch-ungarischen Bundesgenossen zu sichern. An der grundsätzlichen Zustimmung war um so weniger zu zweifeln, als Baron Burian, wie mir der Kanzler sagte, selbst schon bei früheren Gelegenheiten ein ähnliches Vorgehen angeregt hatte.
Nachdem auf dieser Grundlage der Kanzler dem Kaiser nochmals vorgetragen hatte, schrieb der Kaiser an den Kanzler nachstehenden eigenhändigen Brief:
„Neues Palais, 31. 10. 16.
Mein lieber Bethmann!
Unser Gespräch habe ich noch nachher gründlich überdacht. Es ist klar, die in Kriegspsychose befangenen, von Lug und Trug im Wahne des Kampfes und im Haß gehaltenen Völker unserer Feinde haben keine Männer, die imstande wären, die den moralischen Mut besäßen, das befreiende Wort zu sprechen. Den Vorschlag zum Frieden zu machen, ist eine sittliche Tat, die notwendig ist, um die Welt — auch die Neutralen — von dem auf allen lastenden Druck zu befreien. Zu einer solchen Tat gehört ein Herrscher, der ein Gewissen hat und sich Gott verantwortlich fühlt, und ein Herz für seine und die feindlichen Menschen, der unbekümmert um die eventuellen absichtlichen Mißdeutungen seines Schrittes den Willen hat, die Welt von ihren Leiden zu befreien. Ich habe den Mut dazu, ich will es auf Gott wagen. Legen Sie mir bald die Noten vor und machen Sie alles bereit.
Wilhelm I. R.“
Die folgenden Wochen waren ausgefüllt mit Verhandlungen mit unseren Verbündeten über die Grundlinien der bei einer Friedensbesprechung zu erstrebenden Ziele, über die Art des gemeinschaftlichen Vorgehens, über den Text der über unsere Friedensbereitschaft zu erlassenden Kundmachung oder der an die Alliierten zu übergebenden Note.
In der Zwischenzeit antwortete der Reichskanzler im Hauptausschuß des Reichstags am 9. November 1916 auf die Rede Greys. Er widerlegte Greys Darstellung der Schuldfrage und stellte sich mit viel bemerktem Nachdruck auf den Boden des Völkerbundes und der Schiedsgerichte. Von dem geplanten Vorschlag zu Friedensverhandlungen sprach er noch nicht. Mit unseren Verbündeten hatte man sich dahin geeinigt, daß der Friedensschritt unternommen werden sollte, sobald durch den in kurzem zu erwartenden Fall von Bukarest die Abwendung der rumänischen Gefahr für jedermann offenkundig geworden sei.
Daß irgendwelche Rücksichten auf den Präsidenten Wilson ein Hindernis für einen unmittelbaren Friedensschritt sein könnten, ist mir gegenüber in den vielfachen Besprechungen, die in dieser Angelegenheit stattfanden, von keinem der Herren, die an der Sondierung Wilsons beteiligt waren, jemals erwähnt worden. Bisher war auf die schon Anfang Mai von Herrn von Bethmann gegenüber Herrn Gerard gemachte Andeutung keinerlei Antwort erfolgt. Das Anfang September an den Grafen Bernstorff gerichtete Telegramm hatte diesen auch nicht etwa beauftragt, bei Herrn Wilson oder der amerikanischen Regierung irgendeinen Schritt zu unternehmen, der die deutsche Regierung in ihrer eigenen Bewegungsfreiheit hätte binden können, sondern ihn nur um eine persönliche Meinungsäußerung über Wilsons Geneigtheit zu einem [360] Friedensschritt ersucht. Die Möglichkeit, daß Wilson nach seiner am 6. November 1916 erfolgten Neuwahl zum Präsidenten irgend etwas zugunsten des Friedens tun werde, konnte uns, solange mit uns keine Vereinbarungen darüber getroffen oder uns nicht wenigstens die bestimmte Absicht eines Vorgehens mitgeteilt war, nicht das Recht der eigenen Initiative beschränken noch uns der Verpflichtung überheben, nach anderen Wegen, die zum Frieden führen konnten, Ausschau zu halten und einen uns geeignet erscheinenden Zeitpunkt unsererseits für eine Friedensaktion zu benutzen.
In der Tat geht aus der oben wiedergegebenen Stelle des Gerardschen Buches hervor, daß Herr Wilson am 4. Dezember, also vier Wochen nach seiner Wiederwahl, jedenfalls noch keinen bestimmten Schritt zugunsten des Friedens ins Auge gefaßt hatte und sich seinerseits uns gegenüber in der Friedensfrage in keiner Weise gebunden fühlte.
Ich erwähne dies ausdrücklich, weil späterhin bei uns in Deutschland behauptet worden ist, die deutsche Politik habe dem Präsidenten Wilson gegenüber ein doppeltes Spiel gespielt, indem sie ihn zuerst um eine Friedensvermittlung ersucht habe, und dann, nachdem Herr Wilson sich hierzu bereitgefunden, mit einer eigenen Aktion vorgegangen sei.
Persönlich erschien es mir für die deutsche Regierung durchaus erwünscht, die Initiative zum Frieden in der [361] eigenen Hand zu behalten; denn ich konnte das Unbehagen gegenüber dem Gedanken einer Führung Wilsons in den Friedensangelegenheiten nicht überwinden. Außerdem konnte ich mir, so wenig es mir lag, im Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen, nicht verhehlen, daß die Stimmung in Heer und Volk gegen Amerika ein immer ernstlicheres Hindernis für eine amerikanische Friedensaktion geworden war. Es kam schließlich doch auch darauf an, daß der erste Schritt zum Frieden vom eigenen Volk möglichst einmütig unterstützt und nicht von vornherein aus Gefühlen heraus, deren Berechtigung nicht abzustreiten war, einer starken Anfeindung ausgesetzt wurde. Die Tatsache, daß Amerikas Verhalten gegenüber dem deutschen Volke in dem Kampf um sein Dasein nur eine formelle Neutralität, in der Sache aber eine starke Begünstigung unserer Gegner war, lag klar vor jedermanns Augen. Wilson war uns bei der Ausnutzung unserer U-Bootwaffe gegen England in den Weg getreten. Das war sein formelles Recht; aber die Ausübung dieses Rechtes uns gegenüber involvierte zum mindesten die moralische Verpflichtung, auch England gegenüber mit gleich scharfen Mitteln auf der strengen Beobachtung des Völkerrechtes zu bestehen. Seit länger als sechs Monaten hatten wir in der U-Bootfrage nachgegeben; aber die amerikanische Regierung hatte noch keinerlei Anstalten gemacht, nun auch England auf den Boden des Völkerrechtes zurückzuführen. Die Erbitterung bei uns wurde [362] gesteigert durch immerzu wachsende Mengen von Kriegsgerät und Munition, die Amerika der Entente lieferte. Die Gerechtigkeit, die Herr Wilson noch im Februar 1914 dem Mexikaner Carranza hatte zuteil werden lassen, indem er angesichts der materiellen Unmöglichkeit der Waffenlieferung an den von der Küste abgeschnittenen Carranza auch die Waffenlieferung an dessen Gegner Huerta verbot, enthielt er Deutschland und seinen Verbündeten vor. Die völkerrechtliche Sophistik, mit der die Regierung der Vereinigten Staaten diese „Papierneutralität“ begründete, wollte unserem Volke nicht in den Kopf. Zumal der Feldgraue, den amerikanische Geschosse überschütteten, sah nur die gewaltige Unterstützung, die Amerika einseitig unseren Feinden gewährte.
Am 6. Dezember 1916 fiel Bukarest. Damit war der Zeitpunkt für die Friedensaktion gekommen.
Am 12. Dezember übergab der Reichskanzler den Vertretern der neutralen Mächte, die den Schutz unserer Interessen in den uns feindlichen Staaten übernommen hatten, eine Note mit dem Ersuchen um Übermittlung an die mit uns im Kriege liegenden Staaten. Das gleiche geschah um dieselbe Zeit in Wien, Konstantinopel und Sofia. Dem Reichstag machte der Reichskanzler, nachdem tags zuvor die Parteiführer verständigt worden waren, alsbald Mitteilung von dem vollzogenen Schritt. Nach einem kurzen und wirksamen Überblick über die Lage führte er aus:
„Nach der Verfassung lag am 1. August 1914 auf Seiner Majestät dem Kaiser persönlich der schwerste Entschluß, den je ein Deutscher zu fassen gehabt hat, der Befehl der Mobilmachung, der ihm durch die russische Mobilmachung abgerungen wurde. Während der langen und schweren Kriegsjahre bewegte den Kaiser der einzige Gedanke, wie einem festgesicherten Deutschland nach siegreich gefochtenem Kampfe wieder der Friede bereitet werde. Niemand kann das besser bezeugen als ich, der ich die Verantwortung für alle Regierungshandlungen trage. Im tiefsten sittlichen und religiösen Pflichtgefühl gegen sein Volk und darüber hinaus gegen die Menschheit hält der Kaiser jetzt den Zeitpunkt für eine offizielle Friedensaktion für gekommen. Seine Majestät hat deshalb in vollem Einvernehmen und in Gemeinschaft mit seinen hohen Verbündeten den Entschluß gefaßt, den feindlichen Mächten den Eintritt in Friedensverhandlungen vorzuschlagen.“
Der Kanzler verlas nunmehr die Note, die angesichts ihrer Bedeutung für die Friedensfrage hier im vollen Wortlaut Platz finden möge:
„Der furchtbarste Krieg, den je die Geschichte gesehen hat, wütet bald seit zwei und einem halben Jahre in einem großen Teil der Welt. Diese Katastrophe, die das Band einer gemeinsamen, tausendjährigen Zivilisation nicht hat aufhalten können, trifft die Menschheit in ihren wertvollsten Errungenschaften. Sie droht, den [364] geistigen und materiellen Fortschritt, der den Stolz Europas zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bildete, in Trümmer zu legen.
„Deutschland und seine Verbündeten, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei, haben in diesem Kampfe ihre unüberwindliche Kraft erwiesen. Sie haben über ihre an Zahl und Kriegsmaterial überlegenen Gegner gewaltige Erfolge errungen. Unerschütterlich halten ihre Linien den immer wiederholten Angriffen der Heere ihrer Feinde stand. Der jüngste Ansturm im Balkan ist schnell und siegreich niedergeworfen worden; die letzten Ereignisse beweisen, daß auch eine weitere Fortdauer des Krieges ihre Widerstandskraft nicht zu brechen vermag, daß vielmehr die gesamte Lage zur Erwartung weiterer Erfolge berechtigt.
„Zur Verteidigung ihres Daseins und ihrer nationalen Entwicklungsfreiheit wurden die vier verbündeten Mächte gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Auch die Ruhmestaten ihrer Heere haben daran nichts geändert. Stets haben sie an der Überzeugung festgehalten, daß ihre eigenen Rechte und begründeten Ansprüche in keinem Widerspruch zu den Rechten der anderen Nationen stehen. Sie gehen nicht darauf aus, ihre Gegner zu zerschmettern oder gar zu vernichten.
„Getragen von dem Bewußtsein ihrer militärischen und wirtschaftlichen Kraft und bereit, den ihnen aufgezwungenen Kampf nötigenfalls bis zum äußersten [365] fortzusetzen, zugleich aber von dem Wunsch beseelt, weiteres Blutvergießen zu verhüten und den Greueln des Krieges ein Ende zu machen, schlagen die vier verbündeten Mächte vor, alsbald in Friedensverhandlungen einzutreten. Die Vorschläge, die sie zu diesen Verhandlungen mitbringen werden und die darauf gerichtet sind, Dasein, Ehre und Entwicklungsfreiheit ihrer Völker zu sichern, bilden nach ihrer Überzeugung eine geeignete Grundlage für die Herstellung eines dauerhaften Friedens.
„Wenn trotz dieses Anerbietens zu Frieden und Versöhnung der Kampf fortdauern sollte, so sind die vier verbündeten Mächte entschlossen, ihn bis zum siegreichen Ende zu führen. Sie lehnen aber feierlich jede Verantwortung dafür vor der Menschheit und der Geschichte ab.“
Am gleichen Tage wurde ein Kaiserlicher Armeebefehl erlassen, der lautete:
„Soldaten! In dem Gefühl des Sieges, den Ihr durch Eure Tapferkeit errungen habt, haben Ich und die Herrscher der treu verbündeten Staaten dem Feinde ein Friedensangebot gemacht. Ob das damit verbundene Ziel erreicht wird, bleibt dahingestellt. Ihr habt weiterhin mit Gottes Hilfe dem Feind standzuhalten und ihn zu schlagen.“
Die Aufnahme, die der Friedensvorschlag in Deutschland fand, war nicht einheitlich zustimmend. In den [366] konservativen und überwiegend auch in den nationalliberalen Kreisen fürchtete man, der Vorschlag könne im Ausland als Schwächezeichen ausgelegt werden und die Wirkung unserer Siege in Rumänien beeinträchtigen. In den Kreisen derjenigen, die an sich den Friedensvorschlag als einen ernsthaften Versuch, Deutschland und die Welt von dem Elend des Krieges zu befreien, aufrichtig willkommen hießen, bemängelte man vielfach, daß in dem Vorschlag unsere konkreten Friedensbedingungen nicht aufgezählt waren.
Beide Ausstellungen halte ich auch heute noch für unberechtigt.
Es handelte sich darum, entweder zum Frieden zu kommen, oder vor der ganzen Welt, sowohl vor dem eigenen Volke, wie vor den Völkern der Neutralen und unserer Feinde die Verantwortlichkeit für die Fortdauer des Krieges festzustellen. Wenn der Krieg weitergehen sollte, dann brauchte vor allem unser eigenes Volk angesichts des ungeheueren auf ihm lastenden Druckes eine moralische Rückenstärkung in dem Bewußtsein, daß es nicht an uns lag, wenn Friedensverhandlungen nicht zustandekamen. Die Gefahr, daß unsere Feinde unser Angebot als Schwäche auffassen könnten, durfte demgegenüber nicht den Ausschlag geben; durch die Wahl des Zeitpunktes war zudem dieser Gefahr nach Möglichkeit vorgebeugt worden.
Eine öffentliche Enthüllung unserer einzelnen Friedensbedingungen wäre, solange die grundsätzliche Bereitwilligkeit [367] unserer Feinde, mit uns über einen Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit unseres Volkes wahrenden Frieden zu sprechen, nicht vorlag, das Gegenteil von Zweckmäßigkeit gewesen. Wir hätten uns ganz einseitig festgelegt, uns dadurch gegenüber unseren Gegnern stark in Nachteil gesetzt und jede Verhandlung über die einmal öffentlich genannten Punkte außerordentlich erschwert. Es ist leicht, über die „Geheimdiplomatie“ zu schelten. Aber solange die menschliche Natur sich nicht von Grund aus geändert hat, wird der Zweck einer jeden Verhandlung, nämlich die Verständigung, in vertraulichen Beratungen stets leichter zu erreichen sein, als wenn der Ringkampf der Verhändler sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielt. Wenn unsere Feinde überhaupt Neigung hatten, mit uns über einen Frieden zu sprechen, so mußte es ihnen genügen, daß unsere Friedensnote klar aussprach: Der Krieg ist für uns ein Verteidigungskrieg geblieben; für uns kommt es darauf an, Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit unserer Völker zu sichern; unsere Rechte und Ansprüche stehen in keinem Widerspruch zu den Rechten der anderen Nationen.
Aber die Neigung, mit uns über den Frieden zu sprechen, bestand bei unseren Feinden nicht. Die Ziele, die sie verfolgten und unbeachtet aller Opfer und Rückschläge zäh im Auge behielten, waren mit der Verteidigung unseres Besitzstandes, mit der Wahrung unserer Ehre, unseres Daseins und unserer Entwicklungsfreiheit nicht vereinbar. [368] Ihre Regierungen fürchteten, durch jede Einleitung eines Friedensgesprächs den auf unsere Niederwerfung gerichteten Kriegswillen zu schwächen, und deshalb hatten sie es ungemein eilig, unseren Vorschlag schroff zurückzuweisen.
Schon am Tage nach unserem Friedensvorschlag, am 13. Dezember 1916 erklärte der französische Ministerpräsident Briand unsere Aufforderung zu Friedensverhandlungen für ein Manöver, um unter den Alliierten Uneinigkeit zu säen, die Gewissen zu verwirren und die Völker zu demoralisieren. Am 16. Dezember wies der neue russische Minister des Auswärtigen, Herr Pokrowsky, den Friedensvorschlag der Mittelmächte „mit Entrüstung“ ab und stellte ihm das Ziel gegenüber, „das uns allen am Herzen liegt: die Vernichtung des Feindes;“ alle die unzähligen Opfer würden umsonst gebracht sein, wenn man mit einem Feind, dessen Kräfte zwar geschwächt, aber nicht gebrochen seien, einen „vorzeitigen Frieden“ schließe. Am 18. Dezember beschwor der italienische Minister des Auswärtigen, Herr Sonnino, die Kammer, nichts zu beschließen, was die Vermutung zuließe, daß Italien in der Aufnahme des von Deutschland gemachten „hinterlistigen Schrittes“ eine von seinen Verbündeten verschiedene Haltung einnehmen könnte. Am Tage darauf sprach Lloyd George, der inzwischen Herrn Asquith als Ministerpräsident ersetzt hatte, in der gewohnten Weise über den preußischen Militärdespotismus und verlangte als [369] Voraussetzung für irgendwelche Friedensgespräche von Deutschland „vollständige Wiederherstellung, volle Genugtuung und wirksame Garantien“.
Nun erschien auch der Präsident Wilson auf dem Plan.
Am 21. Dezember 1916 übergab der amerikanische Botschaftsrat in Berlin dem Staatssekretär Zimmermann eine Note, die gleichlautend auch den übrigen kriegführenden Staaten zugestellt wurde.
Die Note enthielt eine Friedensanregung. Der Präsident der Vereinigten Staaten schlug vor, „daß baldigst Gelegenheit genommen werde, von allen jetzt kriegführenden Staaten ihre Ansichten über ihre Bedingungen zu erfahren, unter denen der Krieg zum Abschluß gebracht werden könnte und über die Vorkehrungen, die gegen die Wiederholung des Krieges oder die Entfachung irgendeines ähnlichen Konfliktes in der Zukunft zufriedenstellende Bürgschaft leisten könnten, so daß sich die Möglichkeit biete, sie offen zu vergleichen. Dem Präsidenten, so fuhr die Note fort, ist die Wahl der zur Erreichung dieses Zieles geeigneten Mittel gleich. Er ist gern bereit, zur Erreichung dieses Zweckes in jeder annehmbaren Weise seinerseits dienlich zu sein oder sogar die Initiative zu ergreifen; er wünscht jedoch nicht, die Art und Weise und die Mittel zu bestimmen. Jeder Weg wird ihm genehm sein, wenn nur das große Ziel, das er im Auge hat, erreicht wird.“ Die Note wies dann darauf hin, daß die allgemeinen Ziele der beiden kriegführenden Parteien nach [370] den von ihren Staatsmännern abgegebenen Erklärungen dem Wesen nach die gleichen seien. Das Interesse der Vereinigten Staaten an den künftigen Maßnahmen zum Schutz des Völkerfriedens sei ebenso groß, wie das irgendeines anderen Volkes. Das amerikanische Volk und seine Regierung sehnten sich danach, bei der Erreichung dieses Zieles mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln mitzuwirken. Aber erst müsse der Krieg beendet sein. Die konkreten Ziele, für die der Krieg geführt werde, seien niemals endgültig festgestellt worden. Der Welt bleibe es überlassen zu vermuten, „welche endgültigen Ergebnisse, welcher tatsächliche Austausch von Garantien, welche politischen oder territorialen Veränderungen oder Verschiebungen, ja selbst welches Stadium des militärischen Erfolges den Krieg zu Ende bringen würde“. Der Präsident schlage keinen Frieden vor, er biete nicht einmal seine Vermittlung an; er rege nur an, „daß man sondiere, damit die Neutralen und die kriegführenden Staaten erfahren, wie nahe wohl das Ziel des Friedens sein mag, nach dem die ganze Menschheit mit heißem und wachsendem Begehren sich sehnt“.
Dies war der sachliche Kern des Wilsonschen Friedensschritts.
An der Einkleidung dieses Kerns war bemerkenswert einmal die wiederholte starke Betonung des Interesses der Vereinigten Staaten an der baldigen Beendigung des Krieges, das sich schon daraus ergebe, „daß sie [371] offenkundig genötigt wären, Bestimmungen über den bestmöglichen Schutz ihrer Interessen zu treffen, falls der Krieg fortdauern sollte“; ferner eine Bemerkung über das Verhältnis der Wilsonschen Anregung zu dem Friedensschritt der Zentralmächte. Der Präsident, so führte die Note aus, habe sich schon lange mit dem Gedanken seines Vorschlages getragen. Er mache ihn jetzt nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, weil es den Anschein haben könnte, als sei er angeregt von dem Wunsch, im Zusammenhang mit dem jüngsten Vorschlag der Zentralmächte eine Rolle zu spielen. Tatsächlich sei der Gedanke des Präsidenten in keiner Weise auf diesen Vorschlag zurückzuführen, und der Präsident hätte mit seinem Vorschlage gewartet, bis der Vorschlag der Zentralmächte beantwortet worden wäre, wenn seine Anregung nicht auch die Frage des Friedens beträfe, die am besten mit anderen dahingehenden Vorschlägen erörtert werde. Der Präsident stellte also die Unabhängigkeit seiner Anregung von dem Vorschlag der Zentralmächte fest, empfahl aber eine gemeinschaftliche Erörterung.
In der Sache kam die Anregung des Präsidenten Wilson auf das gleiche Ziel hinaus, das den Mittelmächten bei ihrem Friedensschritt vorgeschwebt hatte: ein gegenseitiger Austausch der konkreten Friedensbedingungen. Dieser Austausch mußte, wenn eine einseitige Festlegung des einen oder anderen Teiles vermieden werden sollte, Zug um Zug erfolgen, nach der Ansicht der Mittelmächte am [372] besten in der elastischeren Form eines unmittelbaren und persönlichen Gedankenaustausches der kriegführenden Mächte.
Dem entsprach die Antwort, die wenige Tage nach Überreichung der amerikanischen Note von den Mittelmächten erteilt wurde. Die deutsche Antwort vom 26. Dezember 1916, die derjenigen unserer Verbündeten inhaltlich entsprach, lautete wie folgt:
„Die Kaiserliche Regierung hat die hochherzige Anregung des Herrn Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Grundlagen für die Herstellung eines dauernden Friedens zu schaffen, in dem freundschaftlichen Geiste aufgenommen und erwogen, der in der Mitteilung des Herrn Präsidenten zum Ausdruck kommt. Der Herr Präsident zeigt das Ziel, das ihm am Herzen liegt, und läßt die Wahl des Weges offen. Der Kaiserlichen Regierung erscheint ein unmittelbarer Gedankenaustausch als der geeignetste Weg, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen. Sie beehrt sich daher, im Sinne ihrer Erklärung vom 12. d. M., die zu Friedensverhandlungen die Hand bot, den alsbaldigen Zusammentritt von Delegierten der kriegführenden Staaten an einem neutralen Orte vorzuschlagen. Auch die Kaiserliche Regierung ist der Ansicht, daß das große Werk der Verhütung künftiger Kriege erst nach Beendigung des gegenwärtigen Völkerringens in Angriff genommen werden kann. Sie wird, wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, mit [373] Freuden bereit sein, zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika an dieser erhabenen Aufgabe mitzuarbeiten.“
Auch durch Wilsons Friedensanregung ließen sich die alliierten Regierungen in ihrem Willen, Friedensgespräche zurückzuweisen und den Krieg fortzusetzen, in keiner Weise beeinträchtigen; nur eine kurze Verzögerung in der von Herrn Briand voreilig für den 20. Dezember angekündigten Antwort der Entente auf unseren Friedensvorschlag ist wohl durch den in London und Paris schon am 19. Dezember bekannt gewordenen Friedensschritt Wilsons herbeigeführt worden. Aber in dem Inhalt der Ententeantwort, die am 30. Dezember von Herrn Briand dem amerikanischen Botschafter in Paris zur Weitergabe an die Zentralmächte überreicht worden ist, hat Wilsons Eingreifen nichts geändert: schroffer und höhnischer abweisend konnte keine Antwort lauten. In tendenziöser Darstellung versuchte sie wieder einmal den Nachweis, daß der „Krieg gewollt, hervorgerufen und verwirklicht worden sei durch Deutschland und Österreich-Ungarn“. Nachdem Deutschland seine Verpflichtungen verletzt habe, könne der von ihm gebrochene Friede nicht auf sein Wort gegründet werden. Eine Anregung ohne Bedingungen für die Eröffnung der Verhandlungen sei kein Friedensangebot. Die durch die Kriegserklärung Deutschlands verursachten Verwüstungen, die zahlreichen Attentate, die Deutschland und seine Verbündeten gegen die Kriegführenden [374] und gegen die Neutralen verübt hätten, verlangten Sühne, Wiedergutmachung und Bürgschaften. Deutschland weiche listig dem einen wie dem anderen aus. Der durch die Zentralmächte gemachte Vorschlag sei in Wirklichkeit nichts als ein Kriegsmanöver, das einen deutschen Frieden aufnötigen solle und beabsichtige, die öffentliche Meinung in den alliierten Ländern zu verwirren. „In voller Erkenntnis der Schwere, aber auch der Notwendigkeiten der Stunde lehnen es die alliierten Regierungen, die unter sich eng verbunden und in voller Übereinstimmung mit ihren Völkern sind, ab, sich mit einem Vorschlag ohne Aufrichtigkeit und ohne Bedeutung zu befassen.“
Da diese Antwort, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ, mehr als eine Woche nach dem Friedensschritt des Präsidenten Wilson erfolgte, mußte nicht nur der Friedensvorschlag der Zentralmächte, sondern auch die Friedensanregung Wilsons als gescheitert betrachtet werden. Wieder einmal stellte sich heraus, daß die feindliche Koalition nicht bereit war, über Frieden zu sprechen, solange sie nicht in der Lage war, den Frieden nach ihrem Belieben zu diktieren. Von dem Geist, der bei den Machthabern unserer Feinde trotz des rumänischen Rückschlags herrschte, gibt Zeugnis ein Tagesbefehl des Zaren an die russische Armee und Marine vom 25. Dezember 1916, in dem als russisches Kriegsziel aufgestellt wurde „der Besitz Konstantinopels und der Meerengen, sowie [375] die Schaffung eines in allen seinen drei gegenwärtig getrennten Teilen freien Polens“.
Immerhin konnte man gespannt sein auf die Antwort, die unsere Feinde auf die Friedensanregung Wilsons geben würden. Denn hier stand ihnen nicht ein Feind gegenüber, den sie auf Tod und Leben zu bekämpfen entschlossen waren, sondern der Repräsentant der stärksten neutralen Macht, dessen Haltung für den Ausgang des Krieges von entscheidender Bedeutung werden konnte.
Es dauerte drei volle Wochen, bis die Alliierten sich über eine Antwort an Wilson geeinigt hatten; erst am 10. Januar 1917 wurde diese von Herrn Briand dem amerikanischen Botschafter in Paris ausgehändigt.
Die Antwort enthielt viele schöne Worte an die Adresse des Herrn Wilson und über den künftigen Völkerfrieden. In der Sache aber war sie gegenüber der Wilsonschen Anregung eine kaum weniger unverhüllte Ablehnung, wie die Antwort an die Zentralmächte.
„Die Alliierten empfinden,“ so hieß es in der Note, „ebenso tief wie die Regierung der Vereinigten Staaten den Wunsch, möglichst bald diesen Krieg beendet zu sehen, für den die Mittelmächte verantwortlich sind und der der Menschheit grausame Leiden auferlegt; aber sie sind der Ansicht, daß es unmöglich ist, heute bereits einen Frieden zu erzielen, der ihnen die Sühnen, Wiedergutmachung und Bürgschaften sichert, auf die sie ein Recht haben infolge des Angriffs, für den die Mittelmächte die [376] Verantwortung tragen und der gerade darauf abzielt, die Sicherheit Europas zugrundezurichten.“ Nach langen Beschwerden über die völkerrechtswidrige und grausame Kriegführung der Mittelmächte, die zu einem ständigen Hohn auf Menschlichkeit und Zivilisation geworden sei, erklärte die Note, die den Mittelmächten durch Vermittlung der Vereinigten Staaten überreichte Antwort auf deren Friedensvorschlag vom 12. Dezember 1916 beantworte die von der amerikanischen Regierung gestellte Frage. Im übrigen seien die Kriegsziele der Alliierten wohlbekannt; sie seien mehrfach in Erklärungen der Oberhäupter der verschiedenen Regierungen dargelegt worden. „Diese Ziele werden in den Einzelheiten mit allen Kompensationen und gerechtfertigten Entschädigungen für den erlittenen Schaden erst in der Stunde der Verhandlungen auseinandergesetzt werden. Aber die zivilisierte Welt weiß, daß sie alles Notwendige einschließen und in erster Linie die Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros, die ihnen geschuldeten Entschädigungen, die Räumung der besetzten Gebiete von Frankreich, Rußland und Rumänien mit den gerechten Wiedergutmachungen, die Reorganisation Europas, Bürgschaft für einen dauerhaften Frieden, die Zurückgabe der Provinzen und Gebiete, die früher den Alliierten durch Gewalt oder gegen den Willen der Bevölkerung entrissen worden sind, die Befreiung der Italiener, Slawen, Rumänen, Tschechen und Slowaken von der Fremdherrschaft, die Befreiung der Bevölkerungen, [377] die der blutigen Tyrannei der Türken unterworfen sind, und die Entfernung des Osmanischen Reiches aus Europa, weil es zweifellos der westlichen Zivilisation fremd ist.“ Die Note fügte hinzu, es sei selbstverständlich niemals die Absicht der alliierten Regierungen gewesen, die „Vernichtung der deutschen Völker und ihr politisches Verschwinden“ anzustreben; sie wollten nur die Sicherung des Friedens auf der Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und der unverletzlichen Treue, welche die Regierung der Vereinigten Staaten stets beseelt habe.
Eine besondere Verschärfung erfuhr die Ablehnung irgendwelcher Friedensgespräche mit den Zentralmächten durch die Verwahrung gegen eine Gleichstellung mit diesen. „Mit Genugtuung,“ so hieß es in der Note, bdquo;nehmen die Alliierten zur Kenntnis, daß die amerikanische Mitteilung in keinem Zusammenhang steht mit dem Schritt der Mittelmächte; sie zweifeln nicht an dem Entschluß der amerikanischen Regierung, selbst den blassen Anschein einer auch nur moralischen Unterstützung der verantwortlichen Urheber des Krieges zu vermeiden. Die Alliierten Regierungen halten es für ihre Pflicht, sich in der freundschaftlichsten aber klarsten Weise gegen eine Gleichstellung auszusprechen, welche auf öffentlichen Erklärungen der Mittelmächte beruht und in direktem Widerspruch zur offenkundigen Sachlage steht, sowohl bezüglich der Verantwortlichkeiten in der Vergangenheit wie betreffs der Bürgschaften für die Zukunft. Präsident [378] Wilson hat durch ihre Erwähnung gewiß nicht beabsichtigt, sich ihnen anzuschließen.“
Schallender konnte die Friedenstür nicht zugeworfen werden. Wenn sich die Alliierten bei Herrn Wilson verbaten, von ihm mit den Mittelmächten auf gleichem Fuß behandelt zu werden, so war das eine in ihrer Schärfe kaum zu übertreffende Zurückweisung aller guten Dienste, die ein Dritter zur Herbeiführung einer Verständigung zwischen den beiden kriegführenden Gruppen überhaupt anbieten konnte.
Sachlich bedeuteten die von den Ententeregierungen kurz umrissenen Friedensbedingungen nichts anderes als die völlige Zertrümmerung der Türkei, die völlige Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Verstümmelung und Erniedrigung Deutschlands. Die Alliierten hatten recht, wenn sie feststellten, daß es unmöglich sei, einen diesen Wünschen entsprechenden Frieden jetzt schon zu erzielen; denn nur von einem völlig niedergeworfenen Gegner konnten sie annehmen, daß er solche Bedingungen auch nur einen Augenblick zur Diskussion stellen lassen würde.
Der Fall lag also klar: Die Mittelmächte waren bereit, über einen Frieden zu sprechen, der ihr Verteidigungsziel erfüllte und Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit ihrer Völker sicherte; die Entente lehnte eine Verhandlung auf dieser Grundlage mit der offenen Begründung ab, daß sie auf der Zertrümmerung, Verstümmelung und [379] Erniedrigung der Mittelmächte bestehe, ein „Friedensziel“, für das auch nach ihrer Auffassung die Mittelmächte noch nicht reif waren.
Wie Herr Wilson sich zu dieser Antwort stellte, werden wir später sehen.
Die deutsche Note vom 4. Mai 1916 hatte den U-Bootkrieg auf den Kreuzerkrieg zurückgeführt und dadurch den Frieden mit Amerika erhalten. Damit war die äußerste Erschwerung vermieden worden für eine Zeit, die uns erst den gewaltigen Stoß der Russenoffensive in Wolhynien und Galizien und die erfolgreiche Erneuerung der italienischen Offensive am Isonzo, dann die an Einsatz und Dauer alles übertreffenden Angriffe der Franzosen und Engländer an der Somme und schließlich den rumänischen Überfall brachte.
Wir hatten uns Amerika gegenüber für die Führung des U-Bootkrieges freie Hand vorbehalten für den Fall, daß unsere Erwartung, es möchte der Regierung der Vereinigten Staaten gelingen, die Beobachtung der völkerrechtlichen Normen der Seekriegführung auch bei England durchzusetzen, sich nicht erfüllen sollte.
Die Erwartung erfüllte sich nicht. Von irgendwelchen ernstlichen Versuchen der amerikanischen Regierung, England und die übrigen Ententemächte zur Aufgabe [380] ihrer völkerrechtswidrigen Handels- und Hungerblockade zu veranlassen, ist in der Folgezeit nichts bekannt geworden.
Die Propaganda zugunsten des uneingeschränkten U-Bootkrieges war unter dem Eindruck der unmittelbaren Gefahr des Bruches mit Amerika vorübergehend abgeflaut. Im Laufe des Sommers kam sie neu in Gang. Auch die Marine begann, die Frage des U-Bootkrieges wieder aufzunehmen, zumal da der gewaltige Einsatz von Material in der Sommeschlacht die Erwägung nahelegte, ob nicht unseren Feinden die Zuführung dieses Materials durch eine wirksamere Gestaltung des U-Bootkrieges einigermaßen verknappt werden könnte. Auch von dem Admiral von Capelle, der im Frühjahr noch mit aller Entschiedenheit die Meinung vertreten hatte, daß die auf den unbeschränkten U-Bootkrieg gesetzten Hoffnungen seiner Befürworter übertrieben seien und daß angesichts des zweifelhaften Erfolges die politischen Bedenken den Ausschlag geben müßten, hatte ich den Eindruck, daß er mehr und mehr auf den Standpunkt kam, wenn jetzt die Oberste Heeresleitung den unbeschränkten U-Bootkrieg zur Entlastung der schwer kämpfenden Westfront verlange, dann werde die Marine ihre Hilfe nicht verweigern können, auch wenn man diese Hilfe bescheiden veranschlage.
Inzwischen war der U-Boothandelskrieg um England herum gänzlich oder fast gänzlich eingestellt worden, [381] während er im Mittelländischen Meer mit leidlichem Erfolg in den Formen des Kreuzerkrieges fortgesetzt wurde. Die Versenkungen gingen nach den Angaben des Admiralstabs von 225000 Tonnen im Monat April 1916 auf 101000 Tonnen im Juni 1916 zurück.
Gegen Ende August 1916 nahm der Chef des Admiralstabs die U-Bootfrage offiziell wieder auf. Er teilte dem Reichskanzler mit, daß er nach genauer Prüfung der Verhältnisse die Überzeugung gewonnen habe, daß jetzt der Zeitpunkt für die Aufnahme des uneingeschränkten U-Bootkriegs gekommen sei, und beantragte eine alsbaldige Beratung der Angelegenheit.
Diese Beratung fand am 31. August 1916 im Großen Hauptquartier zu Pleß statt. Es nahmen an ihr teil der Reichskanzler, der neuernannte Chef des Generalstabs Generalfeldmarschall von Hindenburg, General Ludendorff, der Chef des Admiralstabs Admiral von Holtzendorff, Admiral von Koch, der Kriegsminister General Wild von Hohenborn, der Staatssekretär des Auswärtigen Amts von Jagow und ich als Staatssekretär des Innern und Stellvertreter des Reichskanzlers. Die gesamte politische, militärische und wirtschaftliche Lage wurde auf das genaueste durchgesprochen, ebenso die technischen Möglichkeiten und die militärischen und wirtschaftlichen Wirkungen des U-Bootkrieges. Die Lage wurde in erster Linie beherrscht durch die rumänische Kriegserklärung und den Einmarsch starker rumänischer Truppen nach [382] Siebenbürgen. Alle Truppen, die wir irgendwo verfügbar machen konnten, mußten gegen Rumänien geworfen werden. Gegenüber Eventualitäten, wie sie ein Bruch mit Amerika und ein starker kombinierter Druck der Entente und der Vereinigten Staaten auf die uns benachbarten Neutralen hervorrufen konnten, war nichts vorgekehrt und konnte in der nächsten Zeit nichts vorgekehrt werden. Unter diesen Umständen sprachen sich die Generale von Hindenburg und Ludendorff dahin aus, daß bis zur Erledigung der rumänischen Gefahr die Oberste Heeresleitung eine Verantwortung für die Einleitung des uneingeschränkten U-Bootkrieges nicht übernehmen könne.
Der Verlauf der Beratung ließ keinen Zweifel daran bestehen, daß die beiden Generale an sich dem uneingeschränkten U-Bootkrieg zuneigten. Es war zu erwarten, daß sie auf die Frage zurückkommen würden, sobald dies der Verlauf der militärischen Operationen in Rumänien gestattete. Die öffentliche Meinung war durch die unausgesetzte Bearbeitung seitens der Befürworter des uneingeschränkten U-Bootkrieges immer mehr für die Überzeugung gewonnen worden, daß wir mit den U-Booten eine Waffe in der Hand hätten, die uns bei richtiger Anwendung gestatte, binnen weniger Monate England auf die Knie zu zwingen und damit allen den Opfern und Leiden des Krieges ein Ende zu machen. Auch in den Reichstagsparteien, die bisher in der U-Bootfrage Zurückhaltung gezeigt hatten, so im Zentrum und bei den [383] Freisinnigen, blieb die U-Bootkrieg-Propaganda nicht ohne Wirkung.
Dies zeigte sich, als Anfang Oktober 1916 der Hauptausschuß des Reichstages sich erneut mit der U-Bootfrage befaßte.
Die Stimmung des Ausschusses war gegenüber dem Monat März, in dem die letzte U-Bootdiskussion stattgefunden hatte, merkbar verändert. Zudem glaubte der Ausschuß aus der Rede, mit der Herr von Bethmann die Erörterung einleitete, und noch mehr aus der Rede des Admirals von Capelle, die auf die Kanzlerrede folgte, eine Verminderung des Widerstandes gegen den uneingeschränkten U-Bootkrieg herauslesen zu können. Auch wirkten auf die Urteilsbildung der Abgeordneten einige sachliche Momente stark ein, die zweifellos die Aussichten eines Erfolges des uneingeschränkten U-Bootkrieges verbessert hatten, so die wesentliche Vermehrung der Anzahl und die erhebliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit der U-Boote seit Jahresbeginn, ferner die Bedrohung der Versorgung Englands mit Brotgetreide durch eine mäßige Ernte im eigenen Lande und eine maßlos schlechte Ernte in den Vereinigten Staaten und Kanada. Dazu kam die wachsende Erbitterung gegen die Vereinigten Staaten, die unsere Gegner in immer größerem Umfang mit Kriegsmaterial unterstützten, ja ihnen dadurch die Sommeschlacht in ihren ungeheuren Abmessungen überhaupt erst möglich machten, und die, nachdem wir uns [384] ihrem Druck in der U-Bootfrage gefügt hatten, augenscheinlich keinen Finger rührten, um England, das seinen Hungerkrieg gegen uns und die uns benachbarten Neutralen immer mehr verschärfte, auf den Boden des Völkerrechts zurückzuführen. Ich hatte einen schweren Stand, gegenüber der hierdurch erzeugten Stimmung für Besonnenheit und Erwägung der uns aus einem Übergang zum uneingeschränkten U-Bootkrieg drohenden Gefahren einzutreten.
In meinen Erwiderungen auf Ausführungen aus der Mitte der Kommission bemühte ich mich, die Sachlage mit aller Ruhe und Objektivität darzustellen. Ich gab ohne weiteres zu, daß durch die Gestaltung der Welternte des Jahres 1916 die Möglichkeit gewachsen sei, Englands Ernährung durch den U-Bootkrieg zu erschweren, vielleicht sogar zu gefährden. Englands eigene Ernte an Brotgetreide hatte im Jahre 1916 nur 6 Millionen Quarters, gegen 8,7 Millionen Quarters im Vorjahre ergeben. Die Weizenernte der Vereinigten Staaten und Kanadas wurde für 1916 auf nur 21½ Millionen Tonnen geschätzt gegen 37½ Millionen Tonnen im Vorjahre. Dabei hatte England im abgelaufenen Erntejahre aus diesen beiden zunächst gelegenen Gebieten nicht weniger als 88% seines Einfuhrbedarfs gedeckt. Ein Zurückgreifen auf Argentinien oder gar auf Indien und Australien war angesichts des fühlbaren Mangels an Frachtraum außerordentlich erschwert; denn der Frachtweg aus diesen Gebieten nach England [385] war zwei- bis dreimal so lang wie der Frachtweg aus Nordamerika, die Heranführung derselben Getreidemenge erforderte also den zwei- bis dreifachen Schiffsraum. Die sichtbaren Getreidevorräte Englands waren in der zweiten Septemberhälfte 1916, nach Einbringung der englischen Ernte, zum erstenmal niedriger als zur gleichen Zeit des Vorjahres; sie betrugen 8,6 gegen 10,6 Millionen Quarters, während sie sich zu Anfang Mai 1916 um 1,8 Millionen Quarters höher gestellt hatten als Anfang Mai 1915.
Aber ich konnte nicht umhin, diesem für den Erfolg des uneingeschränkten U-Bootkrieges günstiger gewordenen Moment gewichtige Zweifel entgegenzustellen.
Schon auf dem Gebiet der Brotgetreideversorgung Englands durften die großen amerikanischen Bestände aus der vorjährigen Ernte nicht vernachlässigt werden. Ob es möglich sein würde, die Zufuhren aus diesen Beständen und der allerdings knappen neuen Ernte im Wege des uneingeschränkten U-Bootkrieges so weit zu verringern, daß sie zur Ergänzung des in England liegenden, für mindestens 4½ Monate genügenden Bestandes nicht ausreichen würden, war zum mindesten eine offene Frage.
Ebenso mußte ich den Berechnungen entgegentreten, die beweisen sollten, daß eine monatliche Versenkung von 600000 Tonnen Handelsschiffsraum genügen werde, um England innerhalb einer bestimmten Zeit — es wurde von 6 bis 8 Monaten gesprochen — auf die Knie zu zwingen oder wenigstens mürbe zu machen. Ich stellte fest, daß [386] die britische Handelsflotte (ohne diejenige der Dominions und Besitzungen) nach den letzten Ausweisen im Juni 1916 noch 18825000 Bruttotonnen stark war. Ich gab zu, daß davon etwa 7 Millionen für militärische Zwecke in Anspruch genommen seien und daß die für den privaten Handelsverkehr verbleibenden rund 12 Millionen im Laufe von 6 bis 8 Monaten durch den uneingeschränkten U-Bootkrieg auf 8 Millionen Tonnen verringert werden könnten. Aber ich gab zu bedenken, daß die britische Handelsflotte vor dem Kriege fast die Hälfte der gesamten Handelsflotte der Welt ausgemacht hatte, daß sie nicht nur für England, sondern für die halbe Welt die Seefrachten besorgt hatte, daß Deutschlands Handelsflotte, nach England die größte der Welt, vor dem Kriege gerade erst über 5 Millionen Bruttotonnen hinausgewachsen war und daß wir mit diesen 5 Millionen Tonnen über unsere eigene Versorgung hinaus uns gleichfalls einen ansehnlichen Anteil am internationalen Frachtverkehr hatten sichern können. Dazu kam für England die Möglichkeit, im Notfall auf den für militärische Zwecke in Anspruch genommenen Frachtraum zurückzugreifen. Ich zog daraus die Folgerung: „Niemand in der ganzen Welt wird mit Sicherheit behaupten können, England werde nach sechs oder acht Monaten wegen Frachtraummangels nicht mehr in der Lage sein, weiterzukämpfen.“
Ferner warnte ich davor, die britische Zähigkeit, die Möglichkeit für die Engländer, sich in ähnlicher Weise [387] einzuschränken, wie wir es hatten tun müssen, schließlich die britische Fähigkeit, zu organisieren, allzu niedrig einzuschätzen.
Vor allem aber hob ich die Gefahren eines Bruches und Krieges mit den Vereinigten Staaten hervor. Aus der Mitte des Ausschusses wurde die Ansicht geäußert, daß Amerika wegen des U-Bootkrieges nicht mit uns brechen oder jedenfalls nicht Krieg mit uns machen werde. Demgegenüber führte ich aus: „Ich habe im Laufe der Zeit von allen den Leuten, die aus Amerika herübergekommen sind und die ich gesehen habe, nie eine andere Ansicht gehört als die: Wenn ihr den rücksichtslosen U-Bootkrieg anfangt, dann habt ihr den Bruch und den Krieg mit Amerika.“
Den immer wieder hervortretenden Zweifeln, ob Amerika, wenn es uns den Krieg erkläre, der Entente erheblich mehr nutzen und uns erheblich mehr schaden könne wie jetzt schon im Zustand der sogenannten Neutralität, konnte ich nicht beitreten. Ich legte dar, daß die finanzielle Hilfe, die von den Amerikanern den Ententemächten bisher nur in verhältnismäßig engen Grenzen und zu recht schweren Bedingungen gewährt worden war, ohne weiteres einer ganz erheblichen Steigerung fähig sei; daß ferner die amerikanische Stahlproduktion, die mit 40 Millionen Tonnen jährlich fast dreimal so groß war wie die unserige, den Amerikanern im Falle ihres Eintritts in den Krieg eine gewaltige Steigerung ihrer Erzeugung von Kriegsgerät [388] und Material ermögliche; daß schließlich die Gefahr der Unterstützung der Entente durch Truppensendungen kein Hirngespinst sei. „Die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben,“ so führte ich aus, „liegen doch zum großen Teil darin, daß die andern die große Überlegenheit an Menschenmaterial haben. Glauben Sie unsere Position dadurch zu verbessern, wenn Sie ein kultiviertes Land mit einer starken, kräftigen Rasse, mit mehr als 100 Millionen Einwohnern auf die andere Seite werfen?“ Auch die Hoffnung, daß es unsern U-Booten gelingen werde, Munitions- und Mannschaftstransporte von Amerika nach dem westlichen Kriegsschauplatz zu verhindern, konnte ich nicht ohne Widerspruch lassen, obwohl ich wußte, daß diese Hoffnung von maßgebenden Persönlichkeiten in der Marine geteilt wurde. „Mein Optimismus geht jedenfalls nicht so weit, zu bezweifeln, daß Amerika im Kriegsfall beträchtliche Mengen von Truppen herüberschaffen kann, auch angenommen, daß wir manchen Transportdampfer versenken. In Saloniki sollen noch 400000 Mann und mehr stehen. Diese ganze Armee ist antransportiert worden und erhält ihren Nachschub an Ersatz, Munition und Proviant, trotzdem unsere U-Boote ihre Tätigkeit im Mittelmeer ausüben. Die Truppentransportdampfer sind eben auf ihrer Fahrt viel besser gesichert als andere Dampfer.“
Auch die Wirkungen eines Krieges mit Amerika auf unsern späteren Wiederaufbau bat ich zu berücksichtigen. Die Wiederherstellung unserer Außenbeziehungen nach [389] dem Krieg sei viel schwerer, als die meisten es sich denken. „Wenn aber die Neutralität überhaupt aufgehört hat, dann kann dasjenige, was heute die Entente träumt, Wirklichkeit werden, nämlich der Wirtschaftskrieg nach dem Krieg; dann mögen wir noch für Jahre der boykottierte Hund sein, dem kein Mensch auf der ganzen Welt ein Stück Brot gibt.“
Vor allem aber müßten wir uns eines vor Augen halten: „Wenn die Karte des rücksichtslosen U-Bootkriegs ausgespielt wird und sie sticht nicht, dann sind wir verloren, dann sind wir auf Jahrhunderte hinaus verloren.“
Meine Ausführungen machten wohl einigen Eindruck, vermochten aber nicht, einen entscheidenden Erfolg zu erzielen. Ich hatte Veranlassung, in der Diskussion mehrfach auf meine Bedenken zurückzukommen und den eifrigen Verfechtern des uneingeschränkten U-Bootkriegs zu sagen: „Wir wollen doch klar sehen, wir wollen doch genau wissen, wie die Dinge liegen; und sollte der U-Bootkrieg gemacht werden, so soll niemand da sein, der nachher, wenn die Sache etwa schief geht, sagen kann: Ja, wenn man dies und jenes uns gesagt hätte, wenn diejenigen, die an verantwortlicher Stelle stehen, auf dies und jenes hingewiesen hätten.“
Der Kanzler konnte sich darauf berufen, er befinde sich in der Beurteilung der Sachlage in Übereinstimmung mit der Obersten Heeresleitung. Diesem Umstand war es mehr als allen Gründen zu verdanken, daß im Hauptausschuß [390] ein ausdrücklicher Mehrheitsbeschluß zugunsten des uneingeschränkten U-Bootkrieges verhindert werden konnte. Aber wenn auch kein förmlicher Beschluß zustande kam, so konnte doch der Verlauf der Debatte keine Zweifel daran lassen, wie die Mehrheit der Kommission zu dem U-Bootkrieg stand. Vor allem fiel ins Gewicht, daß die Zentrumsfraktion, die bisher in ihrer großen Mehrheit den Kanzler in seiner Stellungnahme zum U-Bootkrieg gedeckt hatte, folgende Erklärung am 7. Oktober 1916 zu den Akten des Hauptausschusses gab:
„Namens sämtlicher [5] Fraktionsmitglieder der Zentrumsfraktion im Ausschuß für den Reichshaushalt ist folgende Erklärung abgegeben worden:
„Für die politische Entscheidung über die Kriegführung ist dem Reichstag gegenüber der Reichskanzler allein verantwortlich. Die Entscheidung des Reichskanzlers wird sich dabei wesentlich auf die Entschließung der Obersten Heeresleitung zu stützen haben. Fällt die Entscheidung für die Führung des rücksichtslosen Unterseebootkrieges aus, so darf der Reichskanzler des Einverständnisses des Reichstags sicher sein.“
Diese Erklärung der bei den Parteiverhältnissen des Reichstags ausschlaggebenden Fraktion war nicht nur eine Blankovollmacht, sondern geradezu eine Aufforderung an den Reichskanzler, in der U-Bootfrage den Entschließungen der Obersten Heeresleitung zu folgen. Die Oberste [391] Heeresleitung, der natürlich der Gang der Verhandlungen im Hauptausschuß und die Zentrumserklärung nicht verborgen blieben, wußte nunmehr, daß der Reichskanzler, wenn er einem Verlangen der Obersten Heeresleitung nach Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges künftighin sich widersetzen sollte, nicht mehr auf die Deckung durch den Reichstag würde rechnen können.
In der für die weitere Entwicklung des Krieges entscheidenden Frage war damit die Stellung des verantwortlichen Leiters der deutschen Politik gegenüber der Obersten Heeresleitung in einer geradezu verhängnisvollen Weise geschwächt.
Jeder Krieg birgt den Keim von Konflikten zwischen der militärischen Gewalt und der politischen Leitung in sich. Der Krieg als „Mittel der Politik“ ist ein gewaltsames und herrschsüchtiges Mittel, das, einmal in Wirkung gesetzt, eigenen Gesetzen zu folgen sucht. Es bedarf einer starken Willenskraft und einer starken Autorität der politischen Leitung, um Herr über den ungebärdigen Diener zu bleiben und zu verhindern, daß das Mittel den Platz des Zweckes usurpiert. Wenn die Gefahr solcher Konflikte in irgendeinem Lande besonders groß war, dann in Deutschland. Eine eiserne militärische Erziehung hatte unser Volk aus Zerrissenheit, Ohnmacht und Elend zu Einheit, Macht und Wohlstand emporgeführt, hatte unser Land, das Jahrhunderte hindurch das Schlachtfeld fremder Völker gewesen war, befreit und gesichert, hatte die [392] Grundlagen geschaffen, auf denen unser Volk in friedlicher Arbeit sich ein wohnliches Haus bauen konnte. Die Leidensgeschichte von Jahrhunderten war es, die unserm Volk die Achtung vor der militärischen Macht und ihren Vertretern anerzogen hatte. Mehr noch als unser Volk stand die Hohenzollerndynastie, deren Oberhaupt uns die Reichseinheit verkörperte, auf der militärischen Tradition. Auch ein an sich durchaus friedlich gerichteter Charakter wie Wilhelm II. war in den großen militärischen Überlieferungen seines Hauses befangen; ja man kann sagen, je weniger er innerlich Krieger und Feldherr war, desto stärker stand er unter dem Bann derjenigen, die Soldatengeist und Feldherrntum kraftvoll verkörperten.
Die schweren Konflikte, die ein Bismarck, trotz seiner überragenden Persönlichkeit und seiner bei König und Volk fest begründeten Autorität, im Deutsch-Französischen Krieg mit den militärischen Gewalthabern durchzukämpfen hatte, sind bekannt. Dabei dauerte dieser Krieg knapp neun Monate. In dem von Jahr zu Jahr sich hinziehenden Weltkrieg verfügten wir über keinen Staatsmann, dessen Autorität auf dem festen Fundament politischer Großtaten begründet war und dessen Persönlichkeit auf Volk und Kaiser eine bismarckische Wirkung auszuüben vermochte. Dagegen erstrahlte seit der Tannenberger Schlacht das militärische Doppelgestirn Hindenburg und Ludendorff in vollstem Glanz. Das deutsche Volk ist, trotz all des Schrecklichen, das wir jetzt erleben, im [393] Grunde seines Wesens autoritätsbedürftig. Seine ganze Hingabe und seine ganze Hoffnung setzte es auf die beiden Generale, die gleich zu Anfang des Krieges in einer Waffentat ohnegleichen das ostpreußische Land von den russischen Horden befreit hatten und die im weiteren Gang des Krieges mehr als alle andern Feldherrn durch ihre gewaltigen Schläge die Begeisterung des deutschen Volkes an sich fesselten. Dazu kam der Eindruck der menschlich großen Persönlichkeit des Feldmarschalls und der eisernen Willenskraft wie des lodernden Temperaments des Generals Ludendorff. Als der Kaiser Hindenburg den „Heros des deutschen Volkes“ nannte, da sprach er aus aller Herzen und vor allem aus seinem eigenen. Gegen Ludendorff hatte er eine gefühlsmäßige Abneigung, aus der heraus er sich ursprünglich gegen die Berufung der beiden an die Spitze der Obersten Heeresleitung sträubte. Auch späterhin ist er mit Ludendorff nie warm geworden, ja er hat mitunter bei vertraulichen Unterhaltungen in heftiger Aufwallung seinem Unmut über Ludendorff Luft gemacht; aber gleichwohl stand er im Banne von Ludendorffs Willensstärke, und vor allem unterwarf er sich der Überzeugung, daß Hindenburg und Ludendorff, die untrennbar waren, in der Leitung der militärischen Operationen unersetzlich seien.
Es war eine Wirkung und gleichzeitig eine Verstärkung des Übergewichts der Heeresleitung über die politische Leitung, wenn jetzt die stärkste Fraktion des Reichstags [394] eine Erklärung abgab, die unzweideutig die Entscheidung über die Schicksalsfrage des U-Bootkriegs in die Hände von Hindenburg und Ludendorff legte.
Wer Ludendorffs Persönlichkeit kannte, der mußte wissen, daß die Forderung der Obersten Heeresleitung auf Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht lange auf sich warten lassen würde. Und dann wurde, das stand jetzt, wo der Kanzler auch des parlamentarischen Rückhaltes beraubt war, für jeden Kenner der Persönlichkeiten und Verhältnisse so gut wie unumstößlich fest, der U-Bootkrieg gemacht. Nichts war mehr stark genug, dies zu verhindern. Der ganze Ingrimm darüber, daß wir seit mehr als zwei Jahren ohne Gegenwehr den schändlichen Hungerkrieg Englands über uns hatten ergehen lassen müssen, während wir nach den Erklärungen der höchsten Marine-Autoritäten über ein sicheres Mittel verfügten, den Hungerkrieg zu brechen, auf einen Schelmen anderthalb zu setzen und dem Kriegsjammer in kurzer Zeit ein Ende zu machen — der ganze Ingrimm darüber, daß Amerika uns den Gebrauch dieser Waffe verwehrte, während es den Hungerkrieg des Feindes gewähren ließ und die Ententearmeen zu ihren furchtbaren Offensiven mit Kriegsgerät und Munition ausstattete — dieser Ingrimm war nicht mehr zu bändigen und zu halten in dem Augenblick, wo Hindenburg und Ludendorff den von der Reichstagsmehrheit im voraus gebilligten uneingeschränkten U-Bootkrieg vom Kanzler verlangten.
Es gab nur einen Ausweg, und das war die Herbeiführung von Friedensverhandlungen; ein Ausweg, den auch — wie oben dargestellt — in jener Zeit die Entwicklung der gesamten Kriegslage nahelegte und für den es gelang, sowohl die Oberste Heeresleitung wie vor allem auch den Kaiser zu gewinnen.
In der Zwischenzeit konnten die Wirkungen des U-Bootkriegs auch innerhalb der in den Formen des Kreuzerkriegs gegebenen Beschränkung wesentlich gesteigert werden. Der Admiralstab hatte — wie oben erwähnt — nach dem Abschluß der Verhandlungen mit Amerika über den Sussex-Fall den U-Bootkrieg gegen Handelsschiffe in den britischen Gewässern gänzlich eingestellt und die U-Boote in der Nordsee nur noch zu rein militärischen Zwecken verwendet. Im Oktober 1916 entschloß sich der Admiralstab trotz der Erschwerungen, die der Kreuzerkrieg für U-Boote gerade in den britischen Gewässern wegen der vervollkommneten Abwehrmaßnahmen bot, auch dort den U-Bootkrieg gegen Handelsschiffe in den Formen des Kreuzerkrieges wieder aufzunehmen. Der Erfolg war ansehnlich. Die im U-Bootkrieg versenkte Tonnage stieg von 101000 Tonnen im Juni und 103000 Tonnen im Juli auf 394000 im Oktober und 416000 im Dezember 1916.
Aber der Admiralstab ließ sich mit diesen Erfolgen nicht genügen.
Zunächst drängte er darauf, daß der „verschärfte U-Bootkrieg“, d. i. der uneingeschränkte U-Bootkrieg [396] gegen die bewaffneten feindlichen Handelsschiffe wieder aufgenommen werde. Er wußte für diesen Gedanken auch die Oberste Heeresleitung zu gewinnen, die mit ihrer Forderung dringend wurde, nachdem die leitenden Staatsmänner der Entente sich in ihren unmittelbar auf unsern Friedensvorschlag folgenden Reden scharf ablehnend ausgesprochen hatten. Eine amtliche Antwort der Ententemächte auf unsern Vorschlag lag noch nicht vor; der Friedensschritt des Präsidenten Wilson war gerade erst erfolgt. Die elementarste politische Klugheit gebot, einstweilen noch stillzuhalten, auch wenn man sich nach den Reden der feindlichen Staatsmänner damit abfinden mußte, daß es nicht zu Friedensverhandlungen kommen werde.
Am Abend des 28. Dezember 1916 reiste der Kanzler mit dem Staatssekretär Zimmermann und mir nach dem Großen Hauptquartier. Wir besprachen auf der Fahrt die U-Bootfrage. Die Oberste Heeresleitung hatte die sofortige Absendung einer Note an die Vereinigten Staaten über die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs gegen die bewaffneten Handelsschiffe ohne jede Rücksicht auf irgendwelche Friedensaktionen verlangt. Nun stellte sich auch Zimmermann auf den Standpunkt, daß ein solcher Schritt nicht länger verschoben werden dürfe; er schlug vor, höchstens bis zum 2. Januar 1917 zu warten. Ich setzte mich auf das entschiedenste zur Wehr. Die Wirkung des vorgeschlagenen Schrittes auf Amerika mußte nach allem, was vorangegangen war, dieselbe sein, wie [397] diejenige einer Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges überhaupt. Wir zerschlugen mit eigenen Händen den letzten Rest einer Aussicht unserer eigenen und der Wilsonschen Friedensaktion; wir setzten uns darüber hinaus dem Verdacht aus, daß es uns mit unserm Friedensvorschlage gar nicht ernst gewesen sei und daß wir einen Erfolg des Wilsonschen Schrittes verhindern wollten, wenn wir jetzt, ohne eine Antwort abzuwarten und die Friedensaktion sich auswirken zu lassen, eine Maßnahme ergriffen, von der wir uns sagen mußten, daß sie jede Friedensmöglichkeit vernichten und gerade unter diesen Begleitumständen mit Sicherheit nicht nur den Bruch, sondern den Krieg mit Amerika herbeiführen mußte. Der Kanzler stimmte mir bei, und auch Zimmermann schien überzeugt.
In Pleß fanden wir bei dem Feldmarschall und dem General Ludendorff — der Kaiser war nicht anwesend — einen Empfang, der mit dem Worte „eiskalt“ noch milde bezeichnet ist. Die Differenzen der letzten Zeit — was mich betrifft vor allem über die Behandlung des Hilfsdienstgesetzes — hatten offenbar eine starke Verstimmung hinterlassen. In der Sache erkannten die beiden Generale unsern Standpunkt in der Frage der bewaffneten Handelsschiffe nach kurzer Erörterung als berechtigt an. Ich hatte den Eindruck, daß sie auf dieses Zwischenstadium keinen allzu großen Wert legten, daß es ihnen vielmehr auf die baldige Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges ankomme. In dieser Frage erklärte der Kanzler, seine [398] Haltung von der endgültigen Stellungnahme der Entente zu dem Friedensschritt der Mittelmächte und Wilsons sowie von der weiteren Entwicklung der Gesamtlage abhängig machen zu müssen. Er könne sich jetzt noch nicht festlegen. Die Sache werde im gegebenen Moment zu prüfen sein, und wenn dann eine Übereinstimmung zwischen der Obersten Heeresleitung und ihm nicht zu erzielen sei, werde der Kaiser zu entscheiden haben. Materiell wurde diese Frage nicht eingehend behandelt. Ich begnügte mich auszuführen, daß der uneingeschränkte U-Bootkrieg sicherlich England erheblich schädigen werde, daß aber niemand mit Sicherheit behaupten könne, daß England innerhalb einer bestimmten Zeit zum Frieden gezwungen werde; trotz der schlechten Welternte bleibe das Risiko für uns enorm.
Wenige Tage nach unsrer Rückkehr nach Berlin traf die Antwort der Entente auf unsern Friedensvorschlag ein. Der Kanzler hatte das berechtigte Gefühl, daß diese Antwort trotz aller ihrer Schroffheit eine vorsichtige Behandlung erfordere. Wenn schon unsere Bemühungen um den Frieden scheiterten, so mußte wenigstens vor aller Welt klargestellt werden, daß die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges ausschließlich auf die Entente falle. Ich habe Grund zur Annahme, daß der neue österreichisch-ungarische Minister Graf Czernin, der kurz zuvor Herrn von Burian ersetzt hatte und der am 8. Januar gleichzeitig mit dem Staatssekretär Zimmermann im Großen Hauptquartier weilte, derselben Ansicht war. Zu [399] einer vorsichtigen Behandlung mahnte, abgesehen von allen andern gewichtigen Gründen, auch die Haltung Bulgariens, das sich wegen einer Differenz mit unserer Obersten Heeresleitung über die Dobrudscha verstimmt zeigte und dessen Ministerpräsident sich beeilt hatte, auf die Antwort der Entente in der Sobranje zu erklären, Bulgariens Ansprüche seien bescheiden und würden von der Entente — die Bulgarien in ihrer Antwort nicht erwähnt hatte — als legitim anerkannt.
In dieser schwierigen und aufs äußerste gespannten Lage fand am Abend des 6. Januar 1917 im Hotel Adlon das später vielbesprochene Festmahl der amerikanischen Handelskammer zu Berlin zu Ehren des aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrten Botschafters Gerard statt. Das Festmahl war seit längerer Zeit angesagt, und der Staatssekretär Zimmermann hatte es übernommen, bei dieser Gelegenheit eine Ansprache zu halten. Da jedoch Graf Czernin mit Zimmermann am Morgen des 6. Januar aus dem Großen Hauptquartier nach Berlin gekommen war und Zimmermann denselben Abend mit dem Grafen Czernin bei dem österreichisch-ungarischen Botschafter zubringen mußte, ersuchte mich der Reichskanzler, an Stelle Zimmermanns bei der Begrüßungsfeier der amerikanischen Handelskammer zu sprechen. Ich entledigte mich dieser Aufgabe in einer mit dem Reichskanzler und Zimmermann vereinbarten Ansprache, in der ich nach einigen höflichen Wendungen für die Bemühungen des Botschafters, mit dem Studium der [400] deutschen Sprache auch in den Geist des deutschen Wesens einzudringen, die meist seit langen Jahren in Deutschland ansässigen Mitglieder der amerikanischen Handelskammer als Zeugen dafür anrief, „daß unser einziger Ehrgeiz war, im friedlichen Wettbewerb der Völker durch Arbeit und Tüchtigkeit uns emporzuringen, durch Hebung unseres geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Standes uns unsern Platz in der Welt zu gewinnen und zu behaupten“. Nach einigen Worten über den „Militarismus“ Deutschlands und seiner Feinde fuhr ich fort:
„Ich hätte noch manches hinzuzufügen, was Ihr und unser Herz bewegt. Aber als Gast an einem neutralen Tische will ich nicht über Dinge reden, die die Welt entzweien. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich Ihrer Neutralität zu nahe treten, als wollte ich bei Ihnen für unsere Sache werben. Sie wissen, wir verlangen von den Neutralen nichts, keine Hilfe, keine Begünstigung, nichts als Neutralität. Freilich eine Neutralität, die beide Parteien mit gleichem Maße mißt, beiden Parteien in gleichem Maße Achtung erweist angesichts eines Völkerringens auf Leben und Tod, wie es die Welt noch nicht gesehen. Als Kaufleute, die seit langen Jahren unter uns leben, haben Sie Verständnis für unsere Sinnesart und unsere Lebensnotwendigkeiten. Sie bilden für dieses Verständnis eine Brücke über den Ozean. Ich bin überzeugt, daß diese Brücke von Nutzen sein wird jetzt bei der Fortdauer des Krieges, wie sie durch die Zurückweisung der [401] vorgeschlagenen Friedensverhandlungen notwendig wird, und auch späterhin, wenn es gilt, die Fäden des geistigen und wirtschaftlichen Verkehrs zwischen unsern Ländern wieder aufzunehmen und fortzuspinnen.“
Ich schloß mit dem Wunsche, daß die friedlichen Schiffe des Kaufmannes bald wieder zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten das jetzt gefesselte, künftighin freie Meer befahren möchten zum Wohle der beiden Länder und Völker.
Auf diese jedenfalls nicht überschwengliche Begrüßung, die einen ernsten Hinweis auf die dunkle Wolke enthielt, die seit langer Zeit über dem Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika lag, antwortete Herr Gerard in einem auffallend herzlichen und freundschaftlichen Tone. Seine Ansprache gipfelte in der Versicherung, daß die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland niemals besser gewesen seien, als in diesem Augenblick, und daß die Fortdauer dieser ausgezeichneten Beziehungen gewährleistet sei, solange Männer wie Bethmann Hollweg, Helfferich, Zimmermann, Hindenburg, Ludendorff und Holtzendorff die Geschicke Deutschlands leiteten.
Noch am späten Abend erschien der Staatssekretär Zimmermann. In kurzer Rede sprach er die Überzeugung aus, daß die freundschaftlichen und vertrauensvollen Beziehungen, die ihn mit dem amerikanischen Botschafter schon vor dessen Reise verbunden hätten, sich weiter so [402] freundlich gestalten würden, wie der Botschafter es ausgedrückt habe.
Die Veranstaltung und die bei ihr gehaltenen Reden haben damals großes Aufsehen erregt. Ich bin in der Presse und später auch im Hauptausschuß des Reichstags heftig angegriffen worden, daß ich überhaupt bei der Empfangsfeier für Herrn Gerard erschienen sei, und wenn schon — daß ich mich dem Ehrengast gegenüber höflich und nicht wie ein Hausknecht benommen habe. Der politische Unverstand, der uns Deutsche auszeichnet, ist mir selten klarer zum Bewußtsein gekommen als bei dieser Gelegenheit. Jedermann mußte fühlen, daß es in jener Zeit um die letzte Entscheidung darüber ging, ob es gelingen würde, Amerika aus dem Krieg zu halten. Und wenn auch mit einem „after dinner speech“ keine großen Wirkungen erzielt werden können, so wäre eine so offenkundige Brüskierung des amerikanischen Botschafters wie das Fernbleiben von jener Veranstaltung oder das gegen jede amerikanische Auffassung verstoßende Stummbleiben das sicherste Gegenteil der Wahrung unserer Interessen gewesen. Es kam nur darauf an, mit der gebotenen Courtoisie die Wahrung unseres Standpunktes und unserer Würde zu verbinden. Ich glaube, diesem Gebot der Lage gerecht geworden zu sein.
Für die Überschwenglichkeit des Herrn Gerard trifft mich keine Verantwortung. Sie hat mich an jenem Abend erstaunt. Mein Erstaunen ist gewachsen, nachdem ich [403] in dem Buch des Herrn Gerard gelesen habe, daß dieser bereits vor jenem Abend zuverlässige Mitteilungen darüber bekommen haben will, daß die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges beschlossene Sache sei. Wenn dies der Fall war, wenn Herr Gerard infolgedessen zu der Feier vom 6. Januar mit der Sicherheit kam, daß der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland bevorstehe, wie konnte er dann von den Beziehungen zwischen den beiden Völkern, die niemals besser gewesen seien, in so hohen Tönen reden?
An jenem Abend war über die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges noch keinerlei Beschluß gefaßt. Persönlich hatte ich noch die Hoffnung, daß man vor jeder Entscheidung die Auswirkung der deutschen und der amerikanischen Friedensaktion abwarten werde.
Aber allerdings — die Entscheidung sollte rascher erfolgen, als ich damals nach dem Ergebnis der Besprechung im Großen Hauptquartier vom 29. Dezember erwartete.
Am 8. Januar erhielt der Kanzler vom Feldmarschall von Hindenburg eine telegraphische Mitteilung, die ihn bat, alsbald nach dem Großen Hauptquartier zur erneuten Besprechung der U-Bootfrage zu kommen; die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges könne keinesfalls über den 1. Februar hinaus verschoben werden. Kurz vorher hatte der Chef des Admiralstabs dem Kanzler eine neue Denkschrift übergeben, die er auch mir mit einem [404] Schreiben vom 6. Januar zustellte. Die Denkschrift selbst war schon vom 22. Dezember datiert. Sie bezifferte den für die Versorgung Englands noch zur Verfügung stehenden britischen Schiffsraum auf höchstens 8 Millionen Bruttotonnen und berechnete, daß man neben einer monatlichen Versenkung von 600000 Tonnen mit einer Abschreckung von mindestens zwei Fünfteln der auf England fahrenden neutralen Tonnage mit Sicherheit rechnen könne. Dadurch werde der Seeverkehr Englands im Laufe von fünf Monaten um 39 vom Hundert verringert, und eine solche Verringerung werde England nicht ertragen können. Der U-Boot-Kreuzerkrieg dagegen werde in derselben Zeit, auch wenn die bewaffneten Handelsschiffe freigegeben würden, nur 18 vom Hundert des britischen Seeverkehrs in Wegfall bringen können, und das werde nicht genügen, um England zum Frieden zu bringen. Zwar sei der Krieg mit Amerika eine so ernste Angelegenheit, daß alles geschehen müsse, um ihn zu vermeiden; aber die Scheu vor dem Bruch dürfe nicht dazu führen, im entscheidenden Augenblick vor dem Gebrauch der Waffe zurückzuschrecken, die uns den Sieg verheiße. Um rechtzeitig vor der neuen Ernte die nötige Wirkung erzielen zu können, müsse der uneingeschränkte U-Bootkrieg spätestens am 1. Februar beginnen. Ein energisch und mit aller Kraft geführter Schlag gegen den englischen Schiffsraum verspreche unbedingt sicheren Erfolg. Er, der Chef des Admiralstabs, stehe nicht an zu erklären, daß wir, wie die Verhältnisse jetzt lägen, mit dem [405] uneingeschränkten U-Bootkrieg England in fünf Monaten zum Frieden zwingen könnten.
Der Eindruck dieser Denkschrift auf den Kanzler wurde verstärkt durch Mitteilungen, die ihm eine Autorität ersten Ranges unserer Hochseeflotte über ihre absolute Zuversicht auf den Erfolg des uneingeschränkten U-Bootkrieges in diesen gleichen Tagen machen ließ.
Der Kanzler entschloß sich, noch am Abend des 8. Januar nach dem Großen Hauptquartier zu reisen. Vor seiner Abreise besprach er die Lage mit Zimmermann und mir. Ich machte starke Ausstellungen an den Berechnungen des Admiralstabes. Außerdem aber waren wir alle drei uns darüber einig, daß vor allem weiteren das Auswirken der Friedensaktion, zum mindesten die Antwort der Entente an Wilson, abgewartet werden müsse.
Mir war klar, daß der Kanzler beim Durchsetzen dieses Standpunktes einen schweren Kampf würde durchkämpfen müssen, und ich machte mir Vorwürfe, daß ich nicht mit aller Entschiedenheit darauf bestanden hatte, ihn nach dem Hauptquartier zu begleiten. Die Sache ließ mir keinen Schlaf. Ich arbeitete in der Nacht noch einmal die ganze 37 gedruckte Folioseiten starke Denkschrift des Admiralstabs durch und schrieb ein ausführliches Telegramm an den Kanzler, in dem ich die meines Erachtens für die Beurteilung des Erfolgs des uneingeschränkten U-Bootkriegs entscheidenden Punkte zusammenfaßte, und das ich am [406] Morgen dem Kanzler durch Fernschreiber nach Pleß übermitteln ließ.
In diesem Telegramm bezweifelte ich zunächst die Berechnung des Admiralstabs, daß in fünf Monaten der Seeverkehr Englands durch den uneingeschränkten U-Bootkrieg um 39 vom Hundert, durch den U-Boot-Kreuzerkrieg nur um 18 vom Hundert eingeschränkt werde. Ich wies darauf hin, daß im Falle des gerade infolge des uneingeschränkten U-Bootkriegs zu befürchtenden Eintritts der seefahrenden Neutralen in den Krieg die abschreckende Wirkung des U-Bootkriegs auf die neutrale Schiffahrt mindestens zu einem erheblichen Teil aufgehoben werden würde. Ein Beweis, bei welchem Prozentsatz der Einschränkung des britischen Seeverkehrs England nicht mehr durchhalten könne, sei natürlich nicht zu erbringen. Die Angaben der Denkschrift über die Versorgung Englands mit Brotgetreide erkannte ich als vorsichtig an mit dem Hinweis, daß angesichts der knappen Zufuhrmöglichkeiten die britischen Bestände im Laufe des Januar und Februar unaufhaltsam weiter abnehmen würden. Ich gab jedoch zu bedenken:
„Hat der uneingeschränkte U-Bootkrieg den Eintritt Amerikas in den Krieg gegen uns zur Folge, so ist Amerika an dem Siege Englands wie an einer eigenen Sache interessiert. Ist eine Niederlage Englands nur durch ausreichende Getreideversorgung abzuwenden, so muß und kann Amerika zu diesem Zweck ein Opfer bringen, an das es als neutraler Staat nicht denkt: die Einschränkung des eigenen [407] Getreideverbrauchs zugunsten Englands. Die Einschränkung braucht keineswegs durch eine Rationierung des amerikanischen Brotverbrauchs zu erfolgen; es würden große Käufe evtl. Zwangsankäufe der amerikanischen Regierung den Zweck wohl erreichen können. Da die Union mehr als doppelt so viel Einwohner hat wie England, ist jede Beschränkung des Getreideverbrauchs pro Kopf des Amerikaners eine mehr als doppelt so große Zulage pro Kopf des Engländers. Wenn das Schicksal des Krieges davon abhängt, halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß Amerika eine zehnprozentige Einschränkung seines normalen Verbrauchs zugunsten von England durchführen könnte, womit 1,7 Millionen Tonnen, gleich einem englischen Bedarf von drei Monaten, freigemacht würden. Auch wenn hiervon auf dem Weg nach England die Hälfte versenkt würde — ein Prozentsatz, der weit über die vom Admiralstab berechneten Möglichkeiten hinausgeht —, wäre ein solches Vorgehen für England eine wertvolle, vielleicht die entscheidende Hilfe. So paradox es klingt, ist also die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der uneingeschränkte U-Bootkrieg gegenüber dem U-Boot-Kreuzerkrieg in seiner Endwirkung speziell die englische Versorgung mit Brotgetreide nicht verschlechtert, sondern verbessert.“
Ob es beim uneingeschränkten U-Bootkrieg möglich sein werde oder nicht, die Neutralen draußen zu halten, werde sich in einigen Wochen, wenn die Antwortnote der Entente an Wilson vorliegt, besser übersehen lassen als [408] jetzt. Zu überstürzten Entschlüssen liege keine Veranlassung vor. Denn augenblicklich arbeite in Sachen der Versorgung Englands die Zeit nicht gegen, sondern für uns. Der Januar und Februar seien aus natürlichen Gründen der Jahreszeit stets ungünstige Monate für die britische Getreideeinfuhr. Dieses Mal habe die Absenkung der britischen Einfuhr infolge der schlechten amerikanischen Ernte sogar schon im Dezember begonnen; trotz der größten Anstrengungen Englands habe die Getreideeinfuhr der vier Dezemberwochen nur 1410000 Quarters erreicht gegen 1955000 Quarters im Vorjahr. Wenn wir aus den oben entwickelten Gründen die Entscheidung über den uneingeschränkten U-Bootkrieg noch um einige Wochen aussetzten, so hätten wir alle Aussicht, daß sich inzwischen die bereits knappen britischen Getreidebestände noch erheblich weiter verringerten. Je niedriger der Bestand beim Beginn eines uneingeschränkten U-Bootkrieges, desto rascher und sicherer werde der Erfolg sein.
Auch dieser letzte Versuch, wenigstens eine Vertagung zu erreichen, änderte nichts mehr an der Entscheidung.
Der Kanzler kam unerwarteterweise schon in der Frühe des 10. Januar aus Pleß zurück. Er schickte mir den Chef der Reichskanzlei, der mir sagte: „Der Rubikon ist überschritten.“
Ich war durch diese Mitteilung auf das schwerste erschüttert.
Nach kurzer Aussprache bat ich Herrn Wahnschaffe, dem Kanzler zu sagen, daß ich bei aller Treue und Ergebenheit für seine Person diesen Weg nicht mitgehen könne und meine Entlassung nehmen würde. Wahnschaffe erwiderte, mein Abgang würde für mich selbst natürlich der bequemste Ausweg sein. Der Kanzler seinerseits habe aus Gründen zwingender Natur davon Abstand genommen, auf seiner ursprünglichen Ansicht, den Abschied zu nehmen, zu beharren. Der Kanzler habe den Wunsch, sich mit mir persönlich über alles auszusprechen, und lasse mich bitten, bis dahin keine Entschlüsse zu fassen.
Ich sah den Kanzler an diesem und an dem folgenden Tage nicht. Ich ging erst zu ihm, als er mich am Abend des 12. Januar zu sich bitten ließ.
Er schilderte mir die Vorgänge in Pleß. Schon bei der Ankunft habe ihm der Chef des Marinekabinetts, Admiral von Müller, mitgeteilt, der Kaiser habe sich nach schweren inneren Kämpfen zu der Überzeugung durchgerungen, daß der uneingeschränkte U-Bootkrieg nicht zu vermeiden sei. In der Beratung am Vormittag beim Generalfeldmarschall habe dieser mit dem General Ludendorff auf das eindringlichste verlangt, daß das an allen Fronten in schweren Kämpfen stehende Landheer moralisch und materiell durch den uneingeschränkten U-Bootkrieg Unterstützung erhalte. Im Westen sei für das Frühjahr mit einer neuen Offensive der Franzosen, Engländer und Belgier zu rechnen, die an Wucht sogar die Somme-Offensive [410] des verflossenen Halbjahres übertreffen werde. Jede Möglichkeit der Einschränkung der Zufuhr von Material und Mannschaften an den Feind müsse unter allen Umständen wahrgenommen werden. Zeit sei nicht zu verlieren. Wenn der uneingeschränkte U-Bootkrieg nicht zum 1. Februar eröffnet werde, könnten sie, die beiden Generale, die Verantwortung für den Gang der militärischen Operationen nicht übernehmen. Auf der andern Seite seien sie bereit, die Verantwortung für alle militärischen Folgen des uneingeschränkten U-Bootkrieges zu tragen, auch für die Folgen eines Eingreifens der europäischen Neutralen und Amerikas. Dem Eingreifen Amerikas legten sie übrigens keine allzu große Bedeutung bei.
Der Chef des Admiralstabs habe sich mit seinen bekannten Argumenten mit der größten Entschiedenheit für die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs am 1. Februar eingesetzt.
Angesichts der Bestimmtheit, mit der Hindenburg und Ludendorff die Entlastung der Fronten durch den sofortigen Beginn des uneingeschränkten U-Bootkriegs als unerläßlich bezeichneten und mit der sie die Verantwortung für alle militärischen Folgen des U-Bootkriegs auf sich nahmen, und angesichts der Sicherheit, mit der nicht nur der Chef des Admiralstabs, sondern auch die Hochseeflotte und der früher dem uneingeschränkten U-Bootkrieg abgeneigte Staatssekretär des Reichsmarineamtes innerhalb weniger Monate den vollen Erfolg des uneingeschränkten [411] U-Bootkriegs in Aussicht stellten, ja gewährleisteten, habe er, der Kanzler, sich die Frage vorlegen müssen, ob er vor seinem Gewissen berechtigt sei, dem Kaiser zu raten, dem Antrag der Obersten Heeresleitung und des Admiralstabs nicht zu entsprechen. Sein nächster Gedanke sei gewesen, seinen Abschied zu erbitten und zu der auf abends 6 Uhr beim Kaiser angesetzten Besprechung nicht mehr zu erscheinen. Von dieser Absicht habe er auch dem Chef des Zivilkabinetts Mitteilung gemacht. Er habe sich jedoch, so schwer es ihm gefallen sei, überzeugen müssen, daß er sich auf diese Weise nicht der Verantwortung entziehen dürfe. Nachdem die Oberste Heeresleitung die Frage so gestellt habe, daß der uneingeschränkte U-Bootkrieg unvermeidlich geworden sei, und nachdem er dessen Verhinderung, wenn sie überhaupt noch möglich gewesen wäre, nicht auf seine Verantwortung habe nehmen können, sei er verpflichtet, alles zu tun, um dem U-Bootkrieg zum Erfolg zu verhelfen. Dazu gehöre, daß sich das deutsche Volk und unsere Verbündeten geschlossen hinter den U-Bootkrieg stellten. Wenn er wegen der Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs seinen Abschied nehme, so werde das einerseits die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht verhindern, andrerseits den inneren Streit über den U-Bootkrieg, der mit dem endgültigen Entschluß, den U-Bootkrieg zu machen, verstummen müsse, geradezu auf die Spitze treiben, ja die innere Front gänzlich zertrümmern; es werde ferner die Zustimmung unserer Bundesgenossen für den [412] uneingeschränkten U-Bootkrieg und damit unser Bündnissystem selbst auf das äußerste gefährden. Auch ich müsse mir die Gewissensfrage stellen, ob ich mit der Einreichung meines Abschieds eine Demonstration machen dürfe, die an der bereits für den 1. Februar befohlenen Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht das mindeste ändere, dafür aber Verwirrung in die eigenen Reihen und in die Front unserer Bundesgenossen tragen, bei uns das Vertrauen in den Erfolg des U-Bootkriegs schwächen und bei unsern Gegnern und den Neutralen von vornherein Zweifel an unserm Erfolg hervorrufen müsse; dies lediglich auf mein persönliches Urteil hin, mit dem ich nachgerade unter den kompetenten Ratgebern der Krone isoliert sei, und angesichts der Tatsache, daß doch auch nach meiner Auffassung die Aussichten eines Erfolges des U-Bootkriegs sich erheblich gebessert hätten. Ich müsse mir diese Gewissensfrage um so mehr vorlegen, als es sich in erster Linie um eine Angelegenheit der auswärtigen Politik und der Kriegführung handele, also um eine Frage, die nicht in das Gebiet meiner Verantwortlichkeit falle.
Es war für mich die schwerste Entscheidung meines Lebens.
Sie wurde mir etwas erleichtert dadurch, daß der Kanzler mir die gerade durch Wolff veröffentlichte Antwortnote der Entente an den Präsidenten Wilson zeigte, die durch die Maßlosigkeit der angedeuteten Kriegsziele und die Unverschämtheit der Weigerung, sich mit Deutschland auf gleichen Fuß stellen zu lassen, jede Friedensmöglichkeit [413] verschüttete und jeden halbwegs unbefangenen Beurteiler von unserm Recht zur äußersten Notwehr überzeugen mußte.
Sie wurde mir erschwert durch die Erwägung, daß es hier nur ein Entweder — Oder gebe: Entweder protestieren und gehen, oder bleiben, dann aber die einmal gefallene Entscheidung hinnehmen, sich auf ihren Boden stellen und auf diesem Boden kämpfen, wie der General seine Schuldigkeit tut, auch wenn er bei der Feststellung des Operationsplanes seine Ansicht nicht durchgesetzt hat.
Ich schied von dem Kanzler mit der Zusage, daß ich ihm helfen würde, die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs vor dem Reichstag soweit zu vertreten, wie es mir nach Lage der Dinge möglich sei.
Der im Großen Hauptquartier gefaßte Beschluß war dahin gegangen, daß in einem näher umschriebenen Sperrgebiet um die britischen Inseln und im Mittelmeer vom 1. Februar an der uneingeschränkte U-Bootkrieg gegen jeglichen Seeverkehr geführt werden sollte. Der Beschluß war bis zum letzten Augenblick geheimzuhalten. Erst am 31. Januar sollte der uneingeschränkte U-Bootkrieg den Neutralen angekündigt werden, jedoch mit der Maßgabe, daß neutrale Schiffe, die am 1. Februar auf der Fahrt nach Häfen im Sperrgebiet sein sollten, während einer „angemessenen Frist“ geschont werden sollten.
Ich fand diese Art der kurzen Ankündigung ebenso sinnlos wie provozierend. Aber die Marine hatte auf dieser Inszenierung aus „marinetechnischen Gründen“ [414] bestanden, und die Befehle waren, als ich davon erfuhr, schon hinausgegangen.
Mit Spannung wartete ich nun, wie Herr Wilson sich bis zur Bekanntgabe der Eröffnung des neuen U-Bootkriegs zu der unerhörten Antwort der Entente auf seine Friedensanregung stellen werde. Hier lag vielleicht noch ein kleiner Funken von Hoffnung.
Am 22. Januar richtete der Präsident Wilson an den amerikanischen Senat eine Botschaft, die er noch am selben Tage den Regierungen der Kriegführenden übermitteln ließ. Die Botschaft gewährt in die Sinnesart und den Gedankengang ihres Urhebers, in dessen Hände der Gang der Geschichte damals das Schicksal des alten Europa gelegt hatte, einen wichtigen Einblick.
Die Botschaft begann mit einer Zensur der Antworten, die die beiden kriegführenden Gruppen auf die Friedensanregung des Präsidenten gegeben hatten: „Die Mittelmächte erwiderten in einer Note, die einfach besagte, daß sie bereit seien, mit ihren Gegnern zu einer Konferenz zusammenzutreten, um die Friedensbedingungen zu erörtern. Die Mächte der Entente haben viel ausführlicher geantwortet und, wenn auch nur in allgemeinen Umrissen, so doch mit genügender Bestimmtheit, um Einzelfragen einzubeziehen, die Vereinbarungen, Bürgschaften und Wiederherstellungen angegeben, die ihnen als die unumgänglichen Bedingungen einer befriedigenden Lösung erscheinen. Wir sind dadurch der endgültigen Erörterung des Friedens, [415] der den gegenwärtigen Krieg beenden soll, um so viel nähergekommen.“
Dem Präsidenten fehlte also jedes Verständnis dafür, daß die von den Ententemächten angedeuteten Bedingungen derart waren, daß die Entente selbst eine Erörterung dieser Bedingungen bei dem damaligen Stande des Krieges für ausgeschlossen hielt. Die Ausführlichkeit, mit der die Entente ihr Eroberungs- und Vernichtungsprogramm entwickelt und eine Friedensdiskussion mit den Mittelmächten abgelehnt hatte, war ihm sichtlich wertvoller als die Knappheit, mit der die Mittelmächte sich zur Erörterung eines Friedens, der lediglich Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit ihrer Völker sichern sollte, bereit erklärt hatten. Die Bekundung einer so merkwürdigen Befangenheit war eine Bestätigung aller Bedenken, die bisher gegen eine Wilsonsche Friedensvermittlung laut geworden waren, und gleichzeitig eine Warnung für die Zukunft, die später im entscheidenden Augenblick leider nicht genügend beachtet worden ist.
Im Anschluß an diese kurze, für die Frage der Friedensverhandlungen allein unmittelbar wichtige Einleitung entwickelte Wilson ausführlich seine Ideen über das künftige Zusammenleben der Völker. Dem Frieden müsse eine Neuordnung der Völkergemeinschaft folgen, an deren Aufbau die Vereinigten Staaten sich unter allen Umständen beteiligen müßten. Die Grundlage für diesen Neubau werde durch den Friedensschluß gelegt, der dem [416] Völkerkrieg ein Ende zu machen habe. Die Hauptfrage sei: Ist der gegenwärtige Krieg ein Kampf um einen gerechten und sicheren Frieden oder nur für ein neues Gleichgewicht der Kräfte? Nicht Gleichgewicht, sondern Gemeinsamkeit der Macht sei notwendig, nicht organisierte Nebenbuhlerschaft, sondern organisierter Gemeinfriede. Es müsse ein Frieden werden ohne Sieg. Ein Siegfrieden würde von dem Unterlegenen als Demütigung, als Härte, als unerträgliches Opfer empfunden werden und einen Stachel, Rachsucht und bitteres Gedenken hinterlassen, auf dem das Friedensgebäude wie auf Flugsand ruhen würde. Nur ein Friede unter Gleichen verspreche Dauer. Die Gleichheit der Nationen müsse eine Gleichheit der Rechte sein, ohne Unterschied zwischen Großen und Kleinen. Das Recht müsse gegründet sein auf die gemeinsame Kraft, nicht auf individuelle Nationen. „Die Menschheit hält jetzt Ausschau nach der Freiheit des Lebens, nicht nach dem Gleichgewicht der Macht.“ Neben der Gleichberechtigung der organisierten Völker sei für einen dauernden Frieden erforderlich, daß die Regierungen ihre Macht von der Zustimmung der Regierten ableiteten. Er halte es z. B. für ausgemacht, daß die Staatsmänner überall über die Herstellung eines einigen, unabhängigen, selbständigen Polen einig seien. Soweit wie möglich, sollte überdies jedes große Volk eines direkten Ausganges zu den Heerstraßen der See versichert sein, wenn nicht durch Gebietsabtretung, so durch Neutralisierung der Zugangswege. [417] Die Seewege selbst müßten gleichfalls sowohl durch gesetzliche Bestimmung, wie auch tatsächlich frei sein. „Freiheit der Meere ist eine Conditio sine qua non für den Frieden, für Gleichheit und Zusammenarbeit.“ Wilson sprach dann weiter von der Notwendigkeit der Rüstungsbeschränkungen zu Wasser und zu Land. Die Rüstungsfrage sei am unmittelbarsten und einschneidendsten mit dem künftigen Geschick der Völker und des Menschengeschlechtes verknüpft.
Das waren Gedanken von einer großen Konzeption und hohem idealem Flug. Aber ihre Verwirklichung war abhängig, wie das Wilson auch selbst ausgeführt hat, von der Lösung der unmittelbar praktischen Frage der Beendigung des Weltkrieges. Und in diesem Punkte brachte Wilsons Botschaft weniger als nichts; denn sie enthüllte nur seine völlige Verständnislosigkeit für unsere und unserer Verbündeten Lebensrechte und Lebensbedürfnisse und für das Ungeheuerliche der Forderungen der Entente, die nach deren eigenem Eingeständnis nicht durch einen Frieden ohne Sieg, sondern nur nach völliger Niederwerfung der Mittelmächte erreichbar waren.
Allerdings schien es noch einmal, in allerletzter Stunde, als wolle und könne Herr Wilson einen Ausweg finden.
Am Sonntag, 28. Januar 1917, ließ mich der Kanzler noch abends gegen 10 Uhr zu sich bitten. Es war ein Telegramm des Grafen Bernstorff eingegangen, das nach meiner Erinnerung folgenden Inhalt hatte: Oberst House [418] habe ihm im Auftrag des Präsidenten Wilson mitgeteilt, der Präsident gebe trotz der Ablehnung der Entente die Hoffnung nicht auf, den Frieden zustandezubringen, und sei bereit, seine Bemühungen nach dieser Richtung wieder aufzunehmen. Diese seine Bemühungen würden ihm wesentlich erleichtert werden, wenn wir uns bereit fänden, ihm unsere Friedensbedingungen mitzuteilen. Graf Bernstorff bat, unter diesen Umständen die ihm zur Übergabe am 31. Januar bereits übermittelte Note, enthaltend die Ankündigung des uneingeschränkten U-Bootkriegs, vorläufig einbehalten zu dürfen, und empfahl, dem Wunsche des Präsidenten Wilson nach Mitteilung der Friedensbedingungen zu entsprechen.
Der Kanzler, der hier noch einmal die Hoffnung aufleuchten sah, es könne der Krieg mit Amerika vermieden und vielleicht sogar der Friede erreicht werden, war in einer Erregung, wie ich sie nie an ihm gesehen habe. Er war entschlossen, Wilson durch Bernstorff in großen Umrissen die Friedensbedingungen mitzuteilen, die wir für den Fall des Zustandekommens der von uns vorgeschlagenen Friedensverhandlungen als unsern Vorschlag mitbringen wollten. Schwierig lag die von Bernstorff erbetene Einbehaltung der U-Bootnote; denn die U-Boote waren längst nach ihren Stationen, die zum Teil weit im Westen Irlands lagen, unterwegs und wahrscheinlich nicht zu erreichen.
Der Kanzler entschloß sich, noch am gleichen Abend mit dem Staatssekretär Zimmermann nach dem Großen [419] Hauptquartier zu reisen. Dort wurde ein Antworttelegramm an den Grafen Bernstorff vereinbart des Inhalts, daß wir die neue Initiative des Präsidenten auf das freudigste begrüßten und den Botschafter ermächtigten, dem Präsidenten die Grundzüge unserer Friedensbedingungen, wie sie bei unserm Friedensvorschlag vom 12. Dezember 1916 ins Auge gefaßt waren, zu seiner persönlichen Information mitzuteilen. Dies solle gleichzeitig mit der Übergabe der U-Bootnote geschehen. Die Zurückhaltung der letzteren sei unmöglich, da die Boote mit den Befehlen sich bereits auf ihren Stationen befänden und für einen Gegenbefehl größtenteils nicht erreichbar seien. Wir seien jedoch bereit, den neuen U-Bootkrieg alsbald einzustellen, wenn es den Bemühungen des Präsidenten gelungen sein würde, eine Erfolg versprechende Grundlage für Friedensverhandlungen zu sichern.
Die dem Präsidenten Wilson mitgeteilten Bedingungen, die wir zur Grundlage von Friedensverhandlungen zu machen beabsichtigten, waren die folgenden:
Zurückerstattung des von Frankreich besetzten Teiles von Ober-Elsaß.
Gewinnung einer Deutschland und Polen gegen Rußland strategisch und wirtschaftlich sichernden Grenze.
Koloniale Restitution in Form einer Verständigung, die Deutschland einen seiner Bevölkerungszahl und der Bedeutung seiner wirtschaftlichen Interessen entsprechenden Kolonialbesitz sichert.
Rückgabe der von Deutschland besetzten französischen Gebiete unter Vorbehalt strategischer und wirtschaftlicher Grenzberichtigungen sowie finanzieller Kompensationen.
Wiederherstellung Belgiens unter bestimmten Garantien für die Sicherheit Deutschlands, welche durch Verhandlungen mit der belgischen Regierung festzustellen wären.
Wirtschaftlicher und finanzieller Ausgleich auf der Grundlage des Austausches der beiderseits eroberten und im Friedensschluß zu restituierenden Gebiete.
Schadloshaltung der durch den Krieg geschädigten deutschen Unternehmungen und Privatpersonen.
Verzicht auf alle wirtschaftlichen Abmachungen und Maßnahmen, welche ein Hindernis für den normalen Handel und Verkehr nach Friedensschluß bilden würden, unter Abschluß entsprechender Handelsverträge.
Sicherstellung der Freiheit der Meere.
Die deutsche Regierung erklärte sich ferner bereit, auf der Basis der Senatsbotschaft des Präsidenten Wilson an der von ihm nach Beendigung des Krieges angestrebten internationalen Konferenz teilzunehmen.
Das Telegramm an den Grafen Bernstorff ist am 31. Januar 1917, unmittelbar nach Überreichung der U-Bootnote an Herrn Gerard, den Mitgliedern des Hauptausschusses des Reichstags in geheimer Sitzung mitgeteilt worden. Auch die Mehrheitssozialdemokraten erkannten es als einen Versuch an, die Vereinigten Staaten dem Kriege [421] fernzuhalten und den Weg zum Frieden offenzuhalten. Die Grundlinien unseres Friedensprogramms gaben wegen ihrer Bescheidenheit Anlaß zur Kritik. Die Sprecher der beiden konservativen Parteien, der Nationalliberalen und des Zentrums, wenn ich mich recht erinnere, auch der Freisinnigen, sprachen den Wunsch aus, der Kanzler möge sich, wenn es nun doch noch zu Friedensverhandlungen kommen sollte, nicht an dieses Programm für gebunden halten.
Es kam nicht zu Friedensverhandlungen, sondern sofort nach Überreichung der Note zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reiche und einige Wochen später zur Kriegserklärung.
Ich habe mich bemüht, im Vorstehenden die verwickelten Zusammenhänge zwischen den Friedensbemühungen, denjenigen der Reichsregierung wie denjenigen Wilsons, und dem U-Bootkrieg zu entwirren und klarzulegen. Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich die Vorgänge dargestellt, wie ich sie im Werden gesehen habe. Ich weiß, daß andere, darunter auch solche Persönlichkeiten, die jene tragische Entwicklung handelnd miterlebt haben, nicht in allen Punkten mit meiner Auffassung der Geschehnisse übereinstimmen, ja in wesentlichen Punkten von meiner Auffassung abweichen. Das gilt vor allem von dem Grafen Bernstorff, der als Botschafter in den Vereinigten Staaten auf seinem Posten jenseits des Atlantischen Ozeans [422] die Friedensbemühungen und die zum Krieg mit Amerika führende Entwicklung mitgemacht hat.
Graf Bernstorff war damals und ist wohl heute noch nicht nur davon überzeugt, daß der Präsident Wilson in jener Zeit ehrlich den Frieden wollte, sondern auch daß er den beiden kriegführenden Parteien ohne Voreingenommenheit gegenüberstand und bereit war, einen für uns annehmbaren und erträglichen Frieden durchzusetzen. Die Friedensbemühungen des Präsidenten Wilson hätten nach seiner Überzeugung zum Erfolg geführt, wenn nicht wir, die wir doch selbst den Präsidenten fortgesetzt zur Friedensvermittlung gedrängt hätten, in dem Augenblick, wo der Erfolg reifte, mit dem uneingeschränkten U-Bootkrieg dem Präsidenten geradezu ins Gesicht geschlagen, jede Friedensmöglichkeit zerstört und Amerika zum Krieg gegen uns gezwungen hätten.
Ich selbst habe bis zur letzten Möglichkeit dafür gekämpft, daß die Entscheidung über die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges vertagt werde, bis sich die Auswirkung unseres Friedensschrittes wie desjenigen des Präsidenten Wilson vollkommen übersehen lasse. Wenn ich der Auffassung des Grafen Bernstorff entgegentrete, so plädiere ich also gewiß nicht in eigener Sache, sondern lediglich im Interesse der Aufklärung und der geschichtlichen Wahrheit.
Ich will dem Präsidenten Wilson den ehrlichen Willen, einen nach seiner Ansicht gerechten Frieden herbeizuführen, nicht abstreiten. Aber ich kann ihm weder [423] zubilligen, daß er in der Herbeiführung des Friedens einen besonderen Eifer an den Tag legte, noch daß er — bei allem subjektiven Bestreben nach Gerechtigkeit — den beiden kriegführenden Gruppen objektiv dasselbe Maß von Verständnis und Wohlwollen entgegenbrachte.
Anfang Mai 1916 hat nach des Botschafters Gerard eigenem Bericht der Reichskanzler von Bethmann Hollweg diesem gegenüber die Hoffnung ausgesprochen, der Präsident Wilson werde nunmehr groß genug sein, sich der Sache des Friedens anzunehmen. Damals war es noch ein halbes Jahr bis zur Präsidentenwahl; das Bevorstehen der Präsidentenwahl konnte also noch kein ernstliches Hindernis für eine Friedensaktion sein. Aber der Präsident tat nichts für den Frieden. Er steckte unser Zugeständnis der Einstellung des uneingeschränkten U-Bootkriegs ein und versuchte nicht einmal irgendeinen ernsthaften Schritt, um England zur Rückkehr auf den Boden der völkerrechtlichen Normen des Seekriegsrechts zu veranlassen. Die deutsche Politik ist dabei gewiß nicht frei von Fehlern gewesen. Präsident Wilson hätte sich vielleicht anders verhalten, wenn die Zurückführung des U-Bootkriegs auf die Formen des Kreuzerkriegs nicht erst im Mai 1916 erfolgt wäre, nachdem die durch die Versenkung der „Lusitania“ geschaffene kritische Lage durch die Torpedierung der „Arabic“ und schließlich der „Sussex“ — um nur die wichtigsten Fälle zu nennen — eine heillose Erschwerung erfahren hatte, sondern nach meinem leider nicht befolgten Vorschlag schon [424] im Juli-August 1915 in Beantwortung des Angebotes des Präsidenten, mit ihm zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere noch während des Krieges, gegen wen es auch sei, zusammenzuwirken. Aber sei dem, wie ihm wolle — die Tatsache bleibt bestehen, daß der Präsident Wilson auf die von deutscher Seite schon Anfang Mai 1916 gegebene Anregung, sich der Sache des Friedens anzunehmen, viele Monate hindurch nichts tat, nicht einmal eine Zusage gab, daß er etwas tun werde, daß er schließlich mit einem Friedensschritt erst hervortrat, nachdem Deutschland und seine Verbündeten ihrerseits den Friedensvorschlag vom 12. Dezember 1916 gemacht hatten.
Daß der Präsident Wilson in Sprache, in Lebensauffassung und Weltanschauung dem angelsächsischen Kulturkreis angehört und infolgedessen innerlich unsern Feinden nähersteht als uns, ist kein Vorwurf gegen Herrn Wilson, war aber für uns eine Tatsache, die wir ungestraft nicht übersehen durften. Daß Herr Wilson objektiv nicht mit dem gleichen Maße messen konnte, hatte sich bald nach Kriegsausbruch in dem ersten Depeschenwechsel zwischen dem Kaiser und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gezeigt. Seit den Verhandlungen mit dem Präsidenten vom Oktober-November 1918 über die Herbeiführung eines Waffenstillstandes und die Anbahnung von Friedensverhandlungen sollte auch dem größten deutschen Verehrer Wilsons klar geworden sein, daß dieser Mann nicht imstande ist, sich von Vorurteil und Voreingenommenheit [425] uns gegenüber zu befreien. Was wir von Herrn Wilson an gerechter Würdigung unserer nationalen Ehre und Lebensbedürfnisse zu gewärtigen hatten, war schon geradezu überwältigend zum Ausdruck gekommen in seiner Botschaft an den Senat vom 22. Januar 1917. In dieser Botschaft tat er unsere Bekundung der Bereitwilligkeit zu einem Frieden, der unser Verteidigungsziel verwirklichen und Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit unserer und unserer Verbündeten Völker sichern sollte, kurzerhand ab mit der Behauptung, wir hätten auf seine Friedensanregung „einfach“ unsere Bereitwilligkeit erklärt, mit unsern Gegnern zu einer Konferenz zusammenzutreten, während er die „viel ausführlichere“ Antwort unserer Gegner, die nichts weniger als die Zerstücklung Österreich-Ungarns und der Türkei und die Verstümmelung Deutschlands verlangte, als einen Schritt bezeichnete, der die endgültige Erörterung des Friedens „so viel näher“ gebracht habe!
Wenn Graf Bernstorff trotz dieser Unzweideutigkeit auch noch in der letzten Januarwoche des Jahres 1917 der Ansicht war und heute noch, wie es den Anschein hat, der Ansicht ist, daß Wilson damals im Begriff gewesen sei, sich für einen für uns annehmbaren und erträglichen Frieden einzusetzen und sich dafür mit Erfolg einzusetzen, so ist das nur erklärlich durch die nachhaltige Wirkung von Suggestionen, denen er seit zwei Jahren ohne das Gegengewicht einer auch nur einigermaßen ausreichenden Fühlung mit der Heimat ausgesetzt war. Der Briefverkehr [426] und jede Art persönlicher Fühlung zwischen Berlin und der deutschen Botschaft in Washington war völlig abgebunden. Die Benutzung unserer eigenen amerikanischen Stationen für drahtlosen Verkehr hatte uns die Regierung der Vereinigten Staaten bald nach Kriegsausbruch für jede Art von Chiffretelegrammen unmöglich gemacht, während die britischen Kabel unbeschränkt unsern Feinden zur Verfügung standen. Die Möglichkeit, durch Vermittlung der amerikanischen Botschaft in Berlin und der amerikanischen Regierung in Washington Chiffretelegramme an unsern Botschafter gelangen zu lassen, wurde nur innerhalb der engsten Grenzen gewährt. So ist es schließlich zu verstehen, daß unserer Vertretung jenseits des großen Wassers der Kontakt mit dem um seine Existenz ringenden deutschen Volke und das Augenmaß für das uns Notwendige und Erträgliche verlorenging.
Jedenfalls stand für uns in der Heimat um die Mitte des Januar 1917 fest, daß sowohl die deutsche wie auch die amerikanische Friedensaktion an dem unerbittlichen Eroberungs- und Vernichtungswillen unserer Feinde gescheitert seien. Den Temperamentvolleren genügten zur Bestätigung dieser Überzeugung bereits die Reden, mit denen die feindlichen Staatsmänner in den unmittelbar auf den 12. Dezember 1916 folgenden Tagen unsern Friedensvorschlag mit Spott und Hohn zurückwiesen, jedenfalls aber die Antwortnote, die uns die Ententemächte am 31. Dezember 1916 überreichen ließen. Für die [427] Vorsichtigeren war jeder Friedensversuch erledigt mit der ungeheuerlichen Antwort, die Herr Briand namens der Ententeregierungen am 10. Januar 1917 auf den Friedensschritt des Präsidenten Wilson dem amerikanischen Botschafter in Paris übergab. Die Senatsbotschaft des Präsidenten Wilson vom 22. Januar 1917 konnte diesseits des Atlantischen Ozeans nicht als eine Fortsetzung der Friedensbemühungen, sondern lediglich als eine nur aus unheilbarer Voreingenommenheit erklärliche Parteinahme des Präsidenten Wilson zugunsten unserer Feinde aufgefaßt werden. Niemand in unseren leitenden Kreisen, auch ich nicht, der ich mich bis zur Entscheidung und über die Entscheidung hinaus gegen die alsbaldige Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs eingesetzt hatte, konnte nach diesen Vorgängen noch der Meinung sein, daß man jenseits des Atlantischen Ozeans die Friedensaktion als noch nicht erledigt ansah und an ihre Fortsetzung dachte.
Erst das am 28. Januar abends hier eingegangene Telegramm des Grafen Bernstorff zeigte, daß Präsident Wilson einen erneuten Friedensschritt zu machen beabsichtigte. Auf dieses Telegramm hin ist, soweit ich es beurteilen kann, von deutscher Seite das nach Lage der Dinge überhaupt noch mögliche geschehen, um dem Präsidenten Wilson freies Feld für diesen neuen Versuch zu geben. Der Präsident hat es aber vorgezogen, trotz der Mitteilung der von uns als Grundlage für die erste Friedensaussprache ausgearbeiteten Bedingungen und trotz unserer [428] Bereitwilligkeit, den uneingeschränkten U-Bootkrieg alsbald wieder einzustellen, wenn es ihm gelungen sei, erfolgversprechende Grundlagen für Friedensverhandlungen zu sichern, brüsk jede weitere Verhandlung abzuschneiden und die diplomatischen Beziehungen mit uns ohne jede weitere Begründung abzubrechen.
Es mag als ein müßiges Fragen erscheinen, ob es dem Präsidenten Wilson, falls die Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht in jenen kritischen Tagen erfolgt wäre, gelungen wäre, den Frieden herbeizuführen, oder ob wenigstens die Vereinigten Staaten in diesem Falle dem Krieg ferngeblieben wären. Aber diese Fragen haben unser ganzes Volk so sehr in seinen Tiefen erregt, daß es mir ein Bedürfnis ist, auch hierüber ein Wort zu sagen.
Ich halte es für ausgeschlossen, daß die von Wilson gegen Ende Januar 1917 ins Auge gefaßte neue Friedensaktion zu einem für uns annehmbaren Frieden hätte führen können. Die von der Entente aufgestellten Bedingungen, an deren Ernsthaftigkeit wir nicht zweifeln können, waren derart, daß nur ein gänzlich niedergebrochenes Deutschland sie annehmen konnte. Wer hätte es damals in Deutschland wagen können, Elsaß-Lothringen mit weiteren Teilen des linken Rheinufers und unsere Ostmarken preiszugeben, dem deutschen Volk eine gewaltige Kriegsentschädigung aufzuladen, uns für die Zukunft unter die Vormundschaft der Entente zu stellen, dazu unsere Bundesgenossen in der schnödesten Weise der [429] Zertrümmerung preiszugeben? Auch nur ein Status-quo-Frieden wäre nur unter den schwersten inneren Kämpfen durchzufechten gewesen; er wäre durchgefochten worden, aber was darüber hinausging, war schlechterdings unmöglich. Nur wenn der Präsident Wilson bereit gewesen wäre, mit dem ganzen Schwergewicht der amerikanischen Macht auf die Ententemächte zu drücken, um sie zu einer völligen Sinnesänderung zu zwingen, und nur wenn er bei einem solchen Vorgehen die Unterstützung des amerikanischen Volkes und seiner Vertretung gefunden hätte, wäre Aussicht gewesen, zum Frieden zu kommen. Dazu war aber Wilson, der in seiner Senatsbotschaft vom 22. Januar 1917 die unerhörten Kriegsziele der Entente als diskutabel behandelte, ganz offensichtlich nicht bereit, ebensowenig Volk und Kongreß der Vereinigten Staaten. Viel näher lag die Wahrscheinlichkeit eines amerikanischen Druckes auf uns und unsere Verbündeten.
Diese Wahrscheinlichkeit lag um so näher, als sich in der am 21. Dezember 1916 in Berlin überreichten Friedensnote der amerikanischen Regierung der Passus fand, daß die Interessen der Vereinigten Staaten durch den Krieg „ernstlich in Mitleidenschaft gezogen seien“, und daß das Interesse der Union an einer baldigen Beendigung des Krieges sich daraus ergebe, daß „sie offenkundig genötigt wäre, Bestimmungen über den bestmöglichen Schutz ihrer Interessen zu treffen, falls der Krieg fortdauern sollte“. Diese kaum verhüllte Drohung wurde noch deutlicher [430] gemacht durch ein Interview, das der Staatssekretär Lansing bald darauf Vertretern der amerikanischen Presse gewährte und in dem er mit unzweideutigem Hinweis auf Deutschland sagte, Amerika stehe nahe am Krieg.
Es ist also auf der einen Seite so gut wie ausgeschlossen, daß der Präsident Wilson, auch wenn wir damals den uneingeschränkten U-Bootkrieg nicht gemacht hätten, der Welt den Frieden gebracht hätte. Auf der andern Seite ist es nicht völlig ausgeschlossen, daß gerade aus der Fortsetzung der Wilsonschen Friedensaktion der Krieg zwischen Amerika und Deutschland entstanden wäre, der nun aus der Veranlassung des U-Bootkriegs entstanden ist.
Ich bedaure es, daß die Sachlage, die im Januar 1917 zur Klärung drängte, infolge der überstürzten Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs wohl niemals in einer den letzten Zweifel ausschließenden Weise wird aufgehellt werden können. Für mich selbst steht aus dem Miterleben jener kritischen Epoche unerschütterlich fest: Wilsons geschichtliche Mission, der Welt zu einem Frieden unter Gleichen zu verhelfen, ist gescheitert an seiner Verständnislosigkeit für unsere Lebensrechte und Lebensnotwendigkeiten, gescheitert nicht erst in den schwarzen Oktober- und Novemberwochen 1918, sondern schon um die Wende der Jahre 1916 und 1917.
Diese Ausführungen waren niedergeschrieben und gedruckt vor der Bekanntgabe der unter Wilsons Mitwirkung zustandegekommenen Friedensbedingungen der gegen uns verbündeten Mächte. Diese Bedingungen sind eine Bestätigung des oben ausgesprochenen Urteils.
Fußnoten:
[4] Die amerikanische Regierung hat später wiederholt behauptet, ein Verbot der Waffenausfuhr an Kriegführende wäre, da eine Waffenlieferung nach Lage der Verhältnisse ausschließlich für die Entente in Betracht komme, ein Verbot also ausschließlich die Entente schädige, eine unneutrale Handlung. Die deutsche Regierung dagegen konnte sich für ihren Standpunkt, daß die Duldung der Waffenausfuhr gerade weil sie ausschließlich der Entente zugutekomme, ein unneutrales Verhalten sei, auf Präsident Wilson berufen, der im Februar 1914 als Begründung des Verbots der Waffenlieferung für die beiden sich in Mexiko bekämpfenden Parteien erklärt hatte: „Da Carranza keine Häfen hat, Huerta dagegen über Häfen zur Waffeneinfuhr verfügt, ist es unsre Pflicht als Nation, beide auf gleichem Fuße zu behandeln, wenn wir den wahren Geist der Neutralität beobachten wollen und nicht eine reine Papierneutralität.“
[5] Im amtlichen Original gesperrt gedruckt.
Als erster Teil dieses Werkes ist erschienen
Karl Helfferich
Die Vorgeschichte des Weltkrieges
Geh. 5 Mark, geb. 7.50 Mark
Ein dritter Band (Schlußband) erscheint demnächst
Verlag Ullstein & Co, Berlin
POLITISCHE BÜCHER
Sozialisierung oder Sozialismus?
von
Dr. August Müller
Preis 3 Mark
Zwei Forderungen hat unsere revolutionäre und doch so gedankenarme Zeit in den Vordergrund des politischen Interesses gestellt: die Sozialisierung und das Rätesystem. Dr. August Müller, dessen Laufbahn vom Handarbeiter über den Journalismus und späteres akademisches Studium zum Vorstandsmitglied des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine und schließlich zum Unterstaatssekretär führte, gibt hier aus seiner reichen Erfahrung eine höchst beachtenswerte Kritik der beiden Revolutionsideale.
Die französische Revolution von 1789
Eine Mahnung an die Gegenwart
von
Hans Wilhelm Hollm
Preis 2 Mark
Diese Schrift führt von unserer Zeit in die Epoche der Weltgeschichte, die die französische Revolution entstehen sah. Sie will warnen vor der ungeheuren Gefahr des Terrors, und sie zeigt den Weg zu einem Neuaufbau der in ihren Grundfesten erschütterten deutschen Kultur.
Die Großmächte
Richtlinien ihrer Geschichte — Maßstäbe ihres Wesens
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Martin Spahn
Preis 5.50 Mark
In allen diesen Fragen der tieferen ursächlichen Verankerung des Weltgeschehens bietet die neueste Schrift des Straßburger Historikers und Politikers Martin Spahn reiche Aufschlüsse. Das Werk... gehört zu den tiefsten und gehaltsamsten Erzeugnissen der unter der Einwirkung des Krieges entstandenen Literatur.
Kölnische Volkszeitung.
VERLAG ULLSTEIN & CO, BERLIN
MÄNNER UND VÖLKER
Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie
von
Paul Kampffmeyer
Süd-Tirol
vom Brenner bis zur Salurner Klause
herausgegeben von Dr.
Karl Grabmayr
Englische Staatsmänner
von
Sil-Vara
Französische Staatsmänner
von
Max Nordau
Russische Köpfe
von Professor Dr.
Theodor Schiemann
Die Träger des deutschen Idealismus
von Professor
Rudolf Eucken
Jeder Band 3 Mark
VERLAG ULLSTEIN & CO, BERLIN
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