The Project Gutenberg eBook of Die Träger des deutschen Idealismus

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Title : Die Träger des deutschen Idealismus

Author : Rudolf Eucken

Release date : July 12, 2015 [eBook #49428]

Language : German

Credits : Produced by Norbert H. Langkau and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE TRÄGER DES DEUTSCHEN IDEALISMUS ***

  

Anmerkungen zur Transkription

Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet .

Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so ausgezeichnet .

Weitere Anmerkungen zur Transkriptions finden sich am Ende des Buches .


Männer und Völker

Die Träger
des deutschen Idealismus


Die Träger
des deutschen Idealismus

Von
Rudolf Eucken

Signet

Weihnachten 1915
Verlag Ullstein & Co, Berlin


Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Amerikanisches Copyright 1915 by Ullstein & Co Berlin.


Meinen lieben Söhnen
Arnold und Walter,
die beide im Felde stehen


9

Zum Geleit

Dies Buch will kein Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung sein, es möchte allen Gliedern des deutschen Volkes dienen, welche die Erfahrungen unserer gewaltigen Zeit mit voller Seele teilen. Ungeheures geht bei uns vor, Ungeheures müssen wir wirken und leiden, Ungeheures fordert von uns die eherne Gegenwart. Um dem gewachsen zu sein, bedürfen wir nicht nur seelischer Kraft, sondern auch eines freudigen Vertrauens auf unser Volk, auf seine Tüchtigkeit und seine Größe. Kann nun überhaupt die Vergegenwärtigung dessen, was an Großem bei uns und von uns geschah, solches Vertrauen stärken, so gebührt dabei auch den Denkern ein Platz, welche wir als Träger des deutschen Idealismus verehren. In schweren Zeiten haben sie vom Grunde ihrer Seele her eine geistige Welt entwickelt, welche bei aller Sorge für die Menschheit an erster Stelle deutsche Überzeugung und deutsche Gesinnung bekundet, sie zeigen uns deutlich die Tiefe und den Reichtum des deutschen Wesens, sie zeigen 10 nicht minder deutlich, daß es darauf gerichtet ist, das Ganze des menschlichen Lebens zu heben, mehr aus dem Menschen zu machen, ihn durch die Entfaltung einer Innenwelt auch dem All enger zu verbinden. Ihr nun, die ihr kämpft, und auch ihr, die ihr leidet, ihr sollt sehen und wissen, daß das, wofür ihr kämpft und leidet, etwas Großes, etwas Einzigartiges, etwas Unentbehrliches ist, ihr sollt das erkennen nicht aus lehrhaften Reden, sondern aus dem Bilde der Männer selbst, die ihr Leben an höchste Ziele setzten, die auf ihrem Gebiet ebenfalls tapfere Kämpfer waren, und denen das Streben nach Wahrheit eine viel zu ernste, viel zu aufregende Sache war, als daß Sorge und Schmerz sie hätten verschonen können. Möchte die Vergegenwärtigung ihrer Lebensarbeit euch in eurem Ringen wohltuend sein, möchte sie euch in dem Vertrauen bestärken, daß unsere deutsche Sache mit all dem Hohen und Heiligen, was sie enthält, zum Siege gelangen muß. Auch werdet ihr sehen, daß jene Männer den Kampf für das Vaterland vollauf zu würdigen wußten; ihr seid ihre Erben, ihr dürft euch ihnen innerlich nahe fühlen.


Dies unserer Arbeit gesteckte Ziel entscheidet auch über ihre Wege, es setzt der Erörterung bestimmte Grenzen sowohl in der Auswahl des Stoffes als in 11 der Art der Behandlung. Über das Nähere dieser Abgrenzung läßt sich verschiedener Meinung sein, darüber streiten wir nicht, wir geben nichts anderes als unsere eigene Überzeugung von diesen Dingen, indem wir meinen, daß eine solche Schrift entweder persönlicher Art sein muß oder überhaupt keine Berechtigung hat. So sei denn dieses Bild der Hauptträger des deutschen Idealismus kämpfenden und suchenden Seelen zu freundlicher Betrachtung empfohlen.

Jena , im zweiten Jahre des großen Krieges.

Rudolf Eucken.


13

Inhalt

Seite
Zum Geleit 9
Von Meister Eckhart bis Kant 15
Kant 27
Fichte 73
Die Romantik 111
Schelling 123
Schleiermacher 161
Hegel 189
Zeitgenossen Hegels 227
Rückblick und Ausblick 233
Sachregister 249

15

Von Meister Eckhart bis Kant

17

Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung hat Kant zu bilden. Denn so viel Schätzbares schon vor ihm auch in der Philosophie geleistet war, es ist uns das heute mehr ein Gegenstand gelehrter Forschung als ein Quell ursprünglichen Lebens.

Meister Eckhart

Kant vornehmlich hat die geistige Atmosphäre geschaffen, innerhalb derer der deutsche Idealismus seine eigentümliche Gestalt und seine hinreißende Kraft gewonnen hat; alles Spätere hat sich an ihm und von ihm aus entwickelt. Immerhin bedarf es einiger Worte der Erinnerung daran, daß die Denkarbeit der Deutschen nicht eine Leistung von gestern auf heute ist, wie unsere Gegner oft sagen, daß sie vielmehr von der Höhe des Mittelalters her an der Kulturbewegung einen stattlichen Anteil genommen hat. Dabei ist namentlich wertvoll, daß sie auch auf das Ganze unseres Lebens von alters her erhöhend gewirkt hat. Es geschah das vornehmlich nach zwiefacher Richtung: in einer geistigen Durchleuchtung und seelischen Annäherung der Religion, und in einer hohen Fassung und Schätzung des Erkennens selbst; beides hängt eng miteinander zusammen und entspringt derselben Hochhaltung der Innerlichkeit als der Hauptstätte von Leben und Wirken. 18 Eine Verinnerlichung der Religion war das leitende Ziel der Mystik, diese aber findet ihre Höhe in der philosophischen Arbeit Meister Eckharts († 1327). All sein Denken ist darauf gerichtet, die Seele Gott unmittelbar zu verbinden, sie ganz und gar auf ihren göttlichen Ursprung als auf ihr wahres Wesen zurückzuführen, ihr in Ablegung aller unterscheidenden Besonderheit eine unvergleichliche Größe und Seligkeit zu erringen. Dazu aber bedarf es energischer Erkenntnisarbeit. Denn wohl hängt unser Wesen daran, daß Gott uns nahe und gegenwärtig ist, aber zur vollen Einigung mit ihm bedarf es der Arbeit des Erkennens. »Nicht schon davon sind wir selig, daß Gott in uns ist, sondern daß wir ihn erfassen und erkennen, wie nahe er uns ist. Denn was hülfe es einem Menschen, wenn er König wäre und wüßte es nicht?« Die dazu nötige Umwälzung aber, die Eckhart mit gewaltiger Kraft und in wunderbarer, deutscher Sprache anregt, ist nicht möglich ohne eine mutige Losreißung von allem Äußeren und eine völlige Wendung des Lebens ins Innere. »Will die Seele Frieden und Freiheit des Herzens in einer stillen Ruhe finden, so muß sie wieder heimrufen allen ihren Kräften und sie sammeln von allen zerstreuten Dingen in ein inwendiges Wirken.« So hat denn auch das Wort »Gemüt« als Bezeichnung für das innerste Heiligtum der Seele, die Abgeschiedenheit von aller Außenwelt, das »Fünklein« Gottes in uns, den auszeichnenden Sinn erhalten, in dem Fichte die Deutschen das 19 Volk des Gemütes genannt hat. Diese Innerlichkeit erhebt die Religion über alle äußeren Formen und Einrichtungen, aber sie soll diese nach Eckhart nicht zerstören, sie wirkt bei ihm innerhalb der kirchlichen Ordnung, nicht gegen sie; dabei aber bleibt es, daß alles Äußere nur als Gefäß des inneren Lebens irgendwelchen Wert besitzt, und daß bei ihm volle Freiheit der Gestaltung herrschen muß. Denn nicht allen Menschen ist derselbe Weg gewiesen, »was des einen Leben, das ist des anderen Tod«.

Die mystische Bewegung konnte unmöglich die Höhe Eckharts dauernd behaupten, aber sie hat als ein, wenn auch oft verborgener Nebenstrom das deutsche Leben durch die Jahrhunderte treu begleitet und durchgängig zur Freiheit und Verinnerlichung gewirkt, sie hat auch auf protestantischem Boden Wurzel geschlagen und hier die merkwürdige, ja rührende Gestalt Jakob Böhmes (1575–1624) hervorgebracht, der als schlichter Schuhmachermeister schwerste Probleme in einer Weise behandelt hat, die immer von neuem tiefsinnige Geister zu ihm zurückrief. Schwer ringen sich bei ihm die Gedanken zu voller Klarheit auf; wo das aber gelingt, da erscheint eine großartige Kraft und Einfalt. Sein philosophisches Hauptproblem ist der Ursprung des Bösen, und wenn ihn dies Problem zu höchst gewagten Spekulationen führt, so hat es ihn die Gegensätze der Welt vollauf würdigen und in großen Zügen schildern lassen. So heißt es z. B.: »Um die Morgenröte 20 scheidet sich der Tag von der Nacht und wird ein jedes in seiner Art und Kraft erkannt. Denn ohne Gegensatz wird nichts offenbar, kein Bild erscheint im klaren Spiegel, so eine Seite nicht verfinstert wird. Wer weiß von Freuden zu sagen, der kein Leid empfunden, oder vom Frieden, der keinen Streit gesehen oder erfahren hat?«

Dieselbe Gesinnung aber, welche aus der Seele eines schlichten Mannes quillt, fand auf der Höhe der wissenschaftlichen Arbeit volle Schätzung. Wir denken hier vornehmlich an Leibniz. Er, der weltumspannende und weltdurchdringende Forscher, nähert sich in tiefster Seele der Mystik, wie das namentlich seine deutschen Schriften zeigen. Aus ihrer Denkweise stammen z. B. die Worte: »Gott ist das Leichteste und Schwerste, so zu erkennen, das Erste und Leichteste in dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens.«


Deutsche und englische Denkart

Es stellt sich aber die deutsche Philosophie über die Mystik hinaus eigentümlich zur Religion, wesentlich darin verschieden von der Philosophie benachbarter Völker. Die englische Philosophie neigt dahin, Religion und Wissenschaft voneinander gänzlich zu trennen, sie gestattet es, hier und dort grundverschiedene Richtungen einzuschlagen; die französische stellt beide Gebiete leicht in schroffsten Gegensatz und zwingt, zwischen ihnen zu wählen; die deutsche möchte jedem sein Recht zuerkennen, beide aber in eine innere Verbindung 21 bringen und das eine durch das andere fördern. Diese Denkart mag manche Gefahren enthalten, aber sie wirkt dahin, die Religion ins Weite, Freie und Innerliche zu bilden, in die Philosophie aber die Sorge um die höchsten Wesens- und Lebensfragen der Menschheit einzuschließen.


In anderer Richtung wirkte die deutsche Denkarbeit zur Erhöhung des Lebens durch die Art, wie sie das Erkennen selbst verstand. Es gilt ihr nicht als ein Mittel für außer ihm liegende Zwecke, sondern als ein völliger Selbstzweck, es trägt reinste Freude und Befriedigung in sich selbst, es liegt nicht in einer Reihe mit anderen Tätigkeiten, sondern es bildet die beherrschende Höhe des ganzen Lebens, von der nach allen Seiten hin Erleuchtung und Kräftigung ausgeht. Hier erscheint ein starker Gegensatz deutscher und englischer Art. Die englischen Denker neigen dahin, das Wissen als bloßes Mittel und Werkzeug für das praktische Leben zu behandeln, es genügt ihnen ein Erkennen, das dem Handeln gangbare Wege zeigt, so fehlt ihnen auch ein Antrieb, es über diese Grenze hinaus zu verfolgen, sie haben eine starke Scheu vor aller Metaphysik. Das schützt sie vor manchen Gefahren, aber es raubt ihnen zugleich die Größe eines Denkens, das die Menschenseele mit dem Ganzen der Welt und seiner Unendlichkeit ringen läßt und sie in solchem Ringen über das bloße Alltagsleben hinaushebt. Die Deutschen dagegen sehen eben in dem, was 22 die Engländer eine Überspannung menschlichen Vermögens schelten, die tiefste Seele der Forschung, sie können nicht ruhen und rasten, bevor sie einen inneren Zusammenhang des Menschen mit dem All ergründet haben; so ist der Deutsche von Haus aus Metaphysiker, und er bleibt es selbst da, wo er eine Kritik an der überkommenen Metaphysik übt, wie das vornehmlich bei Kant geschieht.


Nikolaus von Kues–Kepler

Diese deutsche Schätzung des Erkennens teilen alle Höhen philosophischer Arbeit. Gleich bei demjenigen deutschen Denker, der die Philosophie der Neuzeit überhaupt eröffnet, bei Nikolaus von Kues (1401–1464) erscheint sie in klaren Zügen. Hier heißt es: »Immer möchte der Mensch was er erkennt mehr erkennen und was er liebt mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Erkenntnisverlangen nicht stillt.« Eine ähnliche Denkweise beherrscht Keplers Streben und läßt ihn seinem astronomischen System eine philosophische und künstlerische Grundlage geben; läßt sich endlich höher vom Erkennen denken, als es Leibniz tut, wenn er meint, »die ganze Erde könne unserer wahren Vollkommenheit nicht dienen, es sei denn, daß sie uns Gelegenheit gibt, ewige und allgemeine Wahrheiten zu finden, so in allen Weltkugeln, ja in allen Zeiten und mit einem Wort bei Gott selbst gelten müssen, von dem sie auch beständig herfließen«? So nur einige hervorragende Stimmen aus der Reihe der deutschen Denker.

23

Solcher Schätzung ist untrennbar verbunden eine eigentümliche Gestaltung der Erkenntnisarbeit. Sie wird nicht darauf beschränkt, die Eindrücke der Umgebung aufzunehmen, zu ordnen und aufzuschichten, sondern sie erzeugt eine Bewegung von innen heraus und besteht darauf, alle Wirklichkeit in diese Bewegung hineinzuziehen; so will sie die Dinge von innen her fassen und bis zum tiefsten Grunde durchleuchten; in solchem Streben schafft sie große Gedankenwelten, in denen die Bewegung vom Ganzen zum Einzelnen geht und eine durchgehende Entwicklung alle Mannigfaltigkeit zusammenhält. Ohne Zweifel liegen große Gefahren auf diesem Wege, aber es sind Gefahren der Größe, nicht der Kleinheit.


Leibniz

In einer Umgebung, die eine hohe Schätzung des Erkennens und einen festen Glauben an die Macht des Denkens in sich trug, ist Immanuel Kant (1724–1804) aufgewachsen. Es war der Geist Leibnizens, der, durch Wolff schulmäßig auf Flaschen gezogen und dabei vielfach verdünnt, die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschte. Diese Philosophie bildet die wissenschaftliche Höhe der gesamten Aufklärungszeit. Sie teilt mit dieser Zeit das unbedingte Vertrauen auf das Vermögen der Vernunft, aber sie faßt die Vernunft möglichst weit, so daß nichts von ihr unberührt bleibt, und daß sich die schroffsten Gegensätze durch ihr ausgleichendes Wirken versöhnen. Leibniz ist ein Denker des Sowohl – als auch, nicht des Entweder–oder. 24 Durch und durch moderner Mensch, möchte er zugleich allen früheren Epochen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, Vernunft und Geschichte verbleiben ihm nicht in vorgefundener Entzweiung, sondern der Gesamtbefund der Geschichte wird als ein Werk der Vernunft verstanden, auch Religion und Vernunft werden zu engem Bündnis verknüpft. Indem er den Kern der Wirklichkeit in das Innenleben setzt und geistige Macht die Welt beherrschen läßt, wahrt er zugleich vollauf die selbständige Art der Natur; die unendliche Vielheit der Welt entzückt und beschäftigt ihn, aber zugleich bleibt sein Streben fest auf eine allumfassende Einheit gerichtet; er deckt überall Leben und Bewegung auf, aber er sucht zugleich eine ewige Wahrheit, die alle Bewegung trägt und zusammenhält. Um das Denken der Überwindung so schroffer Gegensätze für fähig zu halten, muß er sein Vermögen aufs höchste schätzen; indem er die kühnste Behauptung nicht scheut, ja am Spiel der logischen Phantasie aufrichtige Freude hat, erscheint er als der Hauptdenker der Barockzeit, als ein Ausdruck ihres schrankenlosen Kraftgefühls, ihrer Lust an gewagten Konstruktionen, aber auch ihrer unbegrenzten Bewegungsfülle. Sein ganzes System läuft in eine künstliche Hypothese aus, in die Hypothese der prästabilierten Harmonie, wonach Gott die Welt so eingerichtet habe, daß jedes Wesen sich lediglich aus sich selbst entwickele, sein Vorstellungsreich aus sich selbst erzeuge, daß dieses Vorstellungsreich aber ganz 25 und gar dem wirklichen Weltgeschehen und der Stellung des Einzelwesens in ihm entspreche. Solche Künstlichkeit hat Leibniz viel Widerspruch eingetragen und die Wirkung seiner Gedanken gehemmt, aber die künstlichen Bildungen waren hier oft Hebel großer und fruchtbarer Wahrheit. Hier nämlich entspringen die Grundgedanken, welche das Schaffen unserer großen Dichter tragen, von hier aus wirkt die Idee einer in sich selbst gegründeten und zugleich weltumspannenden Persönlichkeit als eines Ebenbildes Gottes, von hier aus die einer Entwicklung von innen heraus und eines stetigen Fortschritts ins Unendliche, von hier aus wirkt ein fester Glaube an die Vernunft der Wirklichkeit und zugleich ein freudiges Lebensgefühl, eine Lust am Wirken und Schaffen, die einen verklärenden Glanz auch auf die Welt um uns wirft und ihr Ganzes als die beste aller möglichen Welten erscheinen läßt. Der wissenschaftlichen Arbeit aber hat Leibniz zusammen mit dem Zuge ins Weite einen starken Antrieb zu gründlicher Klärung und eindringender Analyse gegeben, seine Forschung zuerst hat die Unendlichkeit des Kleinen zur Geltung gebracht. Es ist viel logische Zucht von ihm ausgegangen; wie diese Zucht das 18. Jahrhundert durchdrang, so ist auch Kant in ihr aufgewachsen und ohne sie nicht zu denken.


27

Kant

29

Vor einer Befassung mit Kants Gedankenwelt sei mit einigen Worten seines Lebenslaufes gedacht, steht er doch in enger Beziehung zum Charakter seiner Arbeit. Kant (1724–1804) hat sich aus schlichtbürgerlichen Verhältnissen unter mannigfachen Hemmungen langsam emporgearbeitet, er hat auch seine geistige Eigentümlichkeit weniger als ein Geschenk der Natur empfangen, als sie sich mühsam durch Zweifel und Kämpfe hindurch errungen; er entspricht insofern der gemeinsamen deutschen Art, deren Größe weniger in leichter und glatter Naturbegabung als in treuer Arbeit und in unermüdlichem Vordringen zu höchsten Höhen liegt. Auch Kants Leben war Arbeit, harte Arbeit, aber eine Arbeit, die in die letzten Tiefen zurückgriff und den Gesamtstand des Lebens verändert hat. Sein tägliches Leben verlief in streng geordneter und vorsichtig abgemessener Weise; so sehr er ein offenes Auge für alle Mitteilung der Zeit und Umgebung hatte, es trieb ihn nicht in die Weite, um neue Eindrücke aufzunehmen – er hat seine ostpreußische Heimat nie verlassen –, noch weniger trieb es ihn zum Eingreifen in das praktische Leben, sondern all sein Mühen ging in höchster Konzentration dahin, die 30 große Umwälzung, die sich seinem Denken erschlossen hatte, zu voller Klarheit herauszuarbeiten und nach allen Hauptrichtungen durchzubilden. Mag vieles in der Einrichtung seines bürgerlichen und häuslichen Lebens dem ersten Anblick klein und pedantisch scheinen, es hebt sich durch die Erwägung, daß es pflichtgemäß einer großen Aufgabe diente, die unermeßliche Arbeit forderte. Beim Eintritt in sein achtzigstes Lebensjahr schrieb Kant in sein Tagebuch das Psalmwort: »Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.«


Gewissenhaftigkeit der Arbeit, peinliche Sorgfalt im kleinen, das ist auch ein Hauptzug der Kantischen Philosophie. Der völlige Bruch mit der Vergangenheit und die Eröffnung neuer Bahnen legte die Versuchung nahe, lediglich weite Ausblicke zu entwerfen und sich mit flüchtig hingeworfenen Umrissen zu begnügen. Nichts liegt Kant ferner als das. Die neuen Gedanken werden nicht bloß skizziert, sondern aufs genaueste bis ins einzelne durchgearbeitet und damit zugleich geprüft, alles Schwelgen im Allgemeinen, alles prunkhafte Pathos ist Kant so zuwider wie nur möglich, mit großer Entschiedenheit verbittet er sich eine Bezeichnung seines Systems als eines »höheren« Idealismus. »Beileibe nicht der höhere. Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch großen Männer, um welche beide gemeiniglich viel 31 Wind ist, sind nicht für mich. Mein Platz ist das fruchtbare Bathos (die fruchtbare Niederung) der Erfahrung.« In dem, was einfach scheint, ein schweres Problem zu entdecken und dem Schlichten eine Größe zu geben, das ist eine besondere Stärke Kants.


Der Pflichtgedanke

Wenn das deutsche Volk heute eines Kant gedenkt und sein Lebenswerk in höchsten Ehren hält, so hebt sich aus der Fülle seiner Leistung ein Gedanke mit überwältigender Kraft und Klarheit hervor, das ist der Gedanke der Pflicht: Kant ist dem deutschen Volke vor allem der Lehrer, der Prophet der Pflicht, es entspricht der allgemeinen Überzeugung, wenn auf seinem Grabe als bezeichnend für sein Leben und Werk die Worte angebracht sind: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«


Aber war denn der Pflichtgedanke etwas so Großes und Neues, daß seine Verfechtung dem Denker eine so überragende Stellung geben und sein Wirken so eindringlich machen konnte? Der Gedanke der Pflicht ist von jeher tief in die menschliche Seele eingegraben, und weder an wissenschaftlicher Fassung noch an allgemeiner Anerkennung hatte es ihm bis dahin gefehlt. Schon vor 32 Jahrtausenden haben die Stoiker den Begriff wissenschaftlich formuliert, die Aufklärungszeit hatte ihn neu in den Vordergrund gerückt, und eben der Staat, dem Kant angehörte, hatte den Pflichtgedanken durch Gesetz und Übung kräftig verkörpert. Kein Geringerer als Friedrich der Große hat gesagt, die Wissenschaften müßten als Mittel betrachtet werden, um uns fähiger zur Erfüllung unsrer Pflichten zu machen ( les sciences doivent être considérées comme des moyens qui nous donnent plus de capacité pour remplir nos devoirs ).


Wie kommt es nun, daß uns beim Pflichtgedanken vornehmlich Kant vor Augen tritt, und daß das deutsche Volk den Kern seines Wirkens in der Verfechtung dieses Gedankens findet?

Unsre Antwort darauf ist folgende: Kant hat zunächst den Begriff der Pflicht in vollster Schärfe erfaßt, er hat ferner ein schweres Problem in ihm entdeckt und es klar herausgestellt, er hat endlich dies Problem in durchgreifender Weise gelöst. Dies aber konnte er nicht, ohne ein Ganzes der Gedankenwelt auszubilden und die Pflichtidee als die Höhe einer das ganze Leben umfassenden Bewegung zu verstehen.


Pflicht und Neigung

Kant hat die Pflichtidee in denkbarster Schärfe gefaßt. Die Pflicht ist nur echt, wenn sie völliger Selbstzweck ist, wenn wir sie lediglich ihrer selbst wegen tun, sie darf sich nicht auf unsre Neigungen gründen, nicht als Mittel für unser Glück behandelt 33 werden. Wo immer das geschieht, da ist der Begriff der Pflicht verfälscht, und das Handeln kann aus ihm keine Stärkung ziehen. »Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigentümliches Gesetz, auch ihr eigentümliches Gericht, und wenn man beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleichsam als Arzeneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und tun sie es nicht, so wirkt das erste gar nicht.« Deshalb brauchen wir nicht unsere Neigungen als schlecht zu verwerfen, aber aus ihnen kann nun und nimmer pflichtmäßiges Handeln entspringen, wir müssen auch direkt gegen unsere Neigungen handeln können und dürfen erst, wo das geschieht, vollauf der Pflichtmäßigkeit unseres Handelns gewiß sein. Die Pflicht muß direkt auf unseren Willen wirken, wir aber müssen zu ihr das Verhältnis der Achtung haben: »die einzig sittliche Triebfeder ist die Achtung für das Sittengesetz«.


Menschenwürde

Läßt sich das alles erwägen und in seiner vollen Stärke anerkennen, ohne daß ein schweres Problem darin erscheint? Kant selbst hat es in folgende Worte gefaßt.

»Pflicht! Du erhabener großer Name –, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Wertes ist, den sich 34 Menschen allein selbst geben können?« Was bedeutet die Pflicht, die so gebieterisch zu uns spricht und so gänzliche Hingebung fordert, wie kann sie sich selbst rechtfertigen? Die Pflicht bringt an uns ein Gebot, das keinen Widerspruch duldet, aber dies Gebot kann unmöglich uns von draußen auferlegt sein, kann unmöglich einen Befehl einer außer uns befindlichen Macht bedeuten. Denn ein solcher Befehl könnte nur durch die Vorhaltung eines Lohnes oder die Androhung einer Strafe wirken; eine daraus entspringende Handlung würde aber lediglich durch den Gedanken an ihre Folgen bestimmt sein und damit ihren moralischen Charakter verlieren. Wer an Lohn denkt, der hat seinen Lohn dahin. So kann das verpflichtende Gesetz nur aus unsrem eignen Wesen stammen, wir selbst müssen die Gesetzgeber sein. Aber wenn das möglich sein soll, so müssen wir uns selbst völlig anders verstehen, als wir es bis dahin taten. Wir dürfen nicht bloß Naturwesen sein und den Verkettungen der Natur unterliegen, es muß in uns eine höhere Art, ein selbständiges Leben wirken, das sich selbst seine Gesetze gibt und in ihrer Durchführung das höchste der Ziele findet. Dies aber ist in der Tat der Fall, es erscheint in uns eine praktische Vernunft, nicht als etwas von draußen Herangebrachtes, sondern als die Tiefe unsres eignen Wesens, als unser wahres Wesen. In dieser Vernunft aber liegt die Forderung, daß das Handeln sich ganz unter die Form der Allgemeinheit stelle; das Pflichtgebot, nach Kants 35 Ausdruck der kategorische Imperativ, lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann,« oder auch in der Wendung zum Menschen: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Der Mensch gewinnt dadurch nicht bloß einen Wert, sondern eine unvergleichliche Würde, daß er in freier Entscheidung jenes Gesetz der Vernunft als sein eignes ergreifen und ganz und gar als selbständiges Glied einer allgemeinen Ordnung handeln kann. Die Freiheit ist die unerläßliche Voraussetzung des Pflichtgebots und aller Moral, wir müssen können, wo wir sollen, »du kannst, denn du sollst«. Als eine Erweisung der Freiheit und als ein völliger Selbstzweck hebt sich damit das moralisch Gute über alle andern Güter unvergleichlich hinaus. Aus solcher Gesinnung fließen die Worte: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille.« »Alles Gute, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als Schein und schimmerndes Elend.«


Persönlichkeit

So ist es auch das Moralische, das allein den Menschen wesentlich mehr sein läßt als das Tier. Denn »über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum 36 Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. Wie sich hier von der Moral und der ihr eignen Freiheit her das Gesamtbild des Lebens vertieft, das zeigen Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter; sie verdanken die hohe Schätzung, die wir alle ihnen zollen, an erster Stelle Kant. Denn Persönlichkeit hatte im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein nur die allgemeinere Bedeutung eines vernünftigen Einzelwesens ( rationalis naturae individua substantia ), erst Leibniz suchte dem Begriff eine präzisere Fassung zu geben, er fand sie in dem Vermögen des Menschen, in den verschiedenen Zeitpunkten das Bewußtsein der Identität zu bewahren; nur das schien ihm eine moralische und eine juristische Verantwortlichkeit möglich zu machen, nur daraus schöpfte er die Überzeugung von einer persönlichen Unsterblichkeit. So stand hier beim Begriff der Persönlichkeit das Intellektuelle voran, erst Kant wendet ihn ins Moralische.

Persönlichkeit bedeutet ihm nämlich »Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur«, das, »was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke, unter sich hat.« Ja, es wird wohl bei ihm von der Tierheit und Menschheit in uns noch die Persönlichkeit unterschieden; der Mensch 37 ist zunächst ein lebendes, dann ein lebendes und zugleich vernünftiges, als Persönlichkeit endlich ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen.


Eine ähnliche Verschiebung ins Moralische und zugleich ins Freitätige hat der Begriff des Charakters durch Kant erfahren. Im Anschluß an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes bezeichnete vor ihm Charakter jede ausgeprägte seelische Beschaffenheit; es kann in diesem Sinne verschiedene Charaktere geben, gute sowohl als böse; keinen Charakter haben, das heißt, nicht scharf ausgeprägt sein. Der Charakter erschien hier vorwiegend als eine Gabe der Natur. Kant dagegen unterscheidet deutlich zwischen einem physischen und einem moralischen Charakter. Jener zeigt nach Kant an, was sich aus dem Menschen machen läßt, dieser dagegen, was er aus sich selbst zu machen bereit ist. »Einen Charakter schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die es sich durch seine eigne Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« In diesem Sinne wollte Kant nicht sagen, der Mensch habe diesen oder jenen Charakter, sondern er habe überhaupt einen Charakter, »der nur ein einziger oder gar keiner sein kann«.

Schon allein durch diese Begriffe, die in aller Munde sind, ist Kant tief in das deutsche Leben eingedrungen.

38

Überall erscheint dabei die engste Verbindung von Freiheit und Gesetz, und zugleich erscheint Kant als ein Durchbildner und Vollender dessen, was im deutschen Wesen angelegt ist.

Freiheit ist uns nicht eine Abwerfung aller Bindung, ein Heraustreten aus allen Zusammenhängen, ein Gestalten des Lebens möglichst nach eignem Belieben, sondern sie ist ein Aufnehmen der Vernunftzwecke und der allgemeinen Ordnung in den eignen Willen, die freie Bindung an ein selbstgewolltes Gesetz; darin liegt eine Selbstverneinung, aber mehr doch eine Selbstbejahung. Der Gehorsam gegen ein solches selbstgewolltes Gesetz kann keinen Druck erzeugen, nicht einengend auf uns wirken, vielmehr wird er unser Wesen erweitern, uns fester auf uns selbst stehen lassen. Daß die Fremden das nicht verstehen und den Gehorsam des freien Mannes blinde Unterwürfigkeit schelten, das ist eine gröbliche Verkennung der Wahrheit, eine Verkennung, die ihrerseits eine klägliche Flachheit bekundet. Kant aber ist es, der den deutschen Begriff der Freiheit aus dem tiefsten Innern unsres Wesens begründet und ihn zum festen Grundstein des menschlichen Lebens gemacht hat.


Freiheit und Kausalgesetz

Aber alle Schätzung der Gesinnung, die in solchen Lehren hervortritt, enthebt uns nicht der Frage, wie es mit der Wirklichkeit der Freiheit steht, ob diese nicht auf den Widerspruch der ganzen Weltordnung stößt, da sie die in ihr waltende Gesetzlichkeit aufs 39 schroffste zu durchbrechen scheint. Dies nun ist das Große an Kant, daß er der Freiheit einen sicheren Platz im Ganzen der Welt erstreitet, ja daß er sie zur Seele der ganzen Wirklichkeit macht. Das aber kann nicht geschehen ohne eine völlige Umwandlung ihres gewöhnlichen Bildes, das verlangt im besonderen eine gründliche Auseinandersetzung mit dem großartigen Bilde, das Spinoza entworfen hatte, und das eben um die Zeit Kants die Gemüter überwältigend fortriß. Bei Spinoza wird die Welt ein lückenloser Kausalzusammenhang, der einfachen und unwandelbaren Gesetzen folgt, jeder einzelne ist hier in seinem Tun und Lassen ganz und gar durch seine Stellung im Ganzen bestimmt, der Mensch ist ebensowenig frei, wie es ein geworfener Stein sein würde, wenn er während des Fliegens ein Bewußtsein erhielte. Wird das konsequent durchgedacht, so verschwindet alles Gut und Böse, so bleibt nur Notwendigkeit; alles Urteilen hat dann einem bloßen Feststellen der Tatsächlichkeit zu weichen. Diese Lehre ist aber nicht private Meinung eines einzelnen Denkers, sie ist die volle Durchbildung einer Überzeugung, die namentlich von der mechanisch-mathematischen Naturwissenschaft vertreten wurde und dadurch zu großem Einfluß in der Neuzeit gelangt war; das Kausalgesetz, das jene beherrscht, ward bei Spinoza zum Weltgesetz erhoben. Nun aber hatte eben an diesem Punkt Kant aus rein wissenschaftlichen Erwägungen eine Gegenbewegung aufgenommen, die der schottische Philosoph 40 Hume (1711–1776) begonnen hatte, die freilich nicht gegen das Kausalitätsgesetz selbst, wohl aber gegen seine Gültigkeit als ein den Dingen innewohnendes und den Weltlauf beherrschendes Gesetz gerichtet war.


Hume und Kant

Hume, ein klarer und kritischer Kopf, untersuchte den Ursprung des Kausalgesetzes und fand dabei das Ergebnis, daß er unmöglich in der Erfahrung, der Wahrnehmung der Dinge liegen kann. Denn der innere Zusammenhang des Geschehens, die Abhängigkeit des einen vom anderen, den jenes Gesetz behauptet, ist unmöglich von draußen her mitzuteilen, die Erfahrung zeigt uns nie mehr als ein Neben- und Nacheinander. So läßt sich die Kausalverknüpfung nur als ein Werk des Menschen verstehen, und zwar denkt sich das Hume in folgender Weise. Oft wiederholen sich bei uns Vorstellungen in gleicher Folge, und wir gewöhnen uns an diese Folge; treten nun wiederum die ersten Glieder der Reihe ein, so erwecken sie in uns mit zwingender Kraft das Bild der späteren; diesen Zusammenhang mit seinem Zwang tragen wir nun fälschlich in die Dinge hinein und glauben sie durch ein inneres Band verbunden, während nur unsre Vorstellungen sich verkettet haben. Bei solcher Fassung verliert die Kausalverknüpfung ihre Geltung als Weltgesetz, sie wird ein Vorgang in der einzelnen Seele, und da die Vorstellungsfolgen sich nur durch Erfahrung bilden, so kann die Kausalbetrachtung den Bereich der 41 Erfahrung nie überschreiten; da ferner die Art der Verkettung ganz und gar eine Sache der einzelnen Individuen ist, so gibt es keine ihnen überlegene sachliche und allgemeine Wahrheit, und Wissenschaft in dem Sinne, wie sie bisher angenommen war, wird schlechterdings aufgehoben. Diese Verschiebung des Kausalgesetzes vom Objekt ins Subjekt, vom Weltall in die Einzelseele, versetzte Kant in gewaltige Aufregung und nachhaltige Bewegung. Daß die Kausalverknüpfung uns nicht von draußen zugehen könne, das schien auch ihm unbestreitbar. Aber wenn er in der Verneinung mit Hume zusammenging, so fand das von diesem gebotene Ja mit seiner Zerstörung strenger Wissenschaft bei Kant den härtesten Widerstand. Die Wirklichkeit einer solchen Wissenschaft als eines Systems allgemeingültiger Wahrheiten galt ihm schon durch die Tatsache der Mathematik als allem Zweifel enthoben, sie dünkte ihm eine unantastbare Wahrheit. Aber wie nun diese Wahrheit mit der Aufhebung der Kausalverknüpfung als eines Weltgesetzes in Einklang bringen? Dieser Widerspruch, dem ein schwächerer Geist erlegen wäre, hat Kant auf einen neuen Weg geführt und ihn in dessen Verfolgung die Höhe seiner wissenschaftlichen Leistung erreichen lassen.


Je mehr sich seiner Arbeit das Problem vertiefte, desto deutlicher wurde ihm, daß die Entscheidung letzthin an der Fassung des Wahrheitsbegriffes hängt. Wie ist Wahrheit, wissenschaftliche 42 Wahrheit zu verstehen? Von alters her wurde sie als eine Übereinstimmung unsres Denkens mit einer unabhängig von ihm vorhandenen Wirklichkeit verstanden, und wenn auch der Lauf der Zeiten die Wege zu diesem Ziele erheblich verändert hatte, das Ziel selbst blieb bestehen und kam somit auch an Kant. Er aber erkannte mit eindringender Schärfe, daß es in dieser Fassung schlechterdings unerreichbar sei, daß also, wenn alle Wahrheit an ihm hänge, auf sie ein für allemal zu verzichten sei. Das vornehmlich aus dem Grunde, weil, wenn unsere Begriffe einer Bestätigung von draußen bedürften, wir nie zu allgemeinen und notwendigen Sätzen gelangen könnten, wie die Wissenschaft sie verlangt, da die Erfahrung uns immer nur Einzelnes und Tatsächliches darbieten kann. Überhaupt aber wäre nie auszumachen, wie weit unsre Begriffe zu dem Tatbestand stimmten, den sie uns übermitteln möchten. Kurz, die Skepsis wäre unüberwindlich, wenn Wahrheit Übereinstimmung unsres Denkens mit den Dingen bedeutet.


Dinge und Begriffe

Um solchen Schiffbruch der Wissenschaft zu vermeiden, gibt es nach Kant nur einen einzigen Weg: es müssen sich nicht unsere Begriffe nach den Dingen, sondern es müssen sich die Dinge nach unsern Begriffen richten, d. h. wir erkennen Dinge nur so weit, als sie in unsere Anschauungs- und Denkformen eingehen. Diese Verlegung des Schwerpunkts aus dem Objekt ins Subjekt, die 43 kopernikanische Wendung, wie Kant selbst sie genannt hat, ergibt aber eine Wissenschaft und eine wissenschaftliche Erfahrung nur, wenn das Subjekt wesentlich anders verstanden wird, als Hume es tat. Vom Stande der Einzelseele greift Kant auf ein geistiges Gefüge zurück, das allen Menschen gemeinsam ist und das aller Arbeit trägt. Er erörtert zunächst, was für Wissenschaft und wissenschaftliche Erfahrung nötig ist, und er zeigt dann Punkt für Punkt, wie dieses geleistet wird; er zeigt, wie jene Leistungen, über deren Tatsächlichkeit ihm kein Zweifel besteht, möglich sind, d. h. was von rein geistiger Tätigkeit, von dem, was er a priori nennt, in ihnen steckt. Es erhellt dabei namentlich, daß alles, was an den Erkenntnissen Form ist, nicht von draußen stammen kann, sondern vom Geiste selbst geliefert werden muß; zu einer gewaltigen Aufgabe wird es damit, die Grundformen aufzusuchen, welche alles Erkennen tragen. In seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant das mit staunenswerter Energie und mit unermüdlicher Sorgfalt getan; das Gesamtergebnis ist ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit. Denn nun wird gewiß, daß wir die Ordnung, die wir in der Natur als den Dingen innewohnend vorzufinden glaubten, selbst ihr geliehen haben, daß wir in der wissenschaftlichen Forschung nur unser Eigentum wieder an uns nehmen. So erklärt sich das stolze Wort Kants: »Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«

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Aber wenn so dem Geist ein hohes Vermögen zuerkannt wird, Kant ist nicht minder darauf bedacht, seine Grenzen sorgfältig zu wahren. Unser menschliches Denken hat nicht das Vermögen zu schaffen, es vermag nicht aus seiner Bewegung eine Wirklichkeit zu erzeugen, sondern die architektonische Tätigkeit der Vernunft bedarf eines Stoffes, den die Gegenstände als Dinge an sich geben müssen, »alles Denken muß sich zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.« Sinnlichkeit und Denken müssen zusammenwirken, um Erfahrung hervorzubringen. »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«


Erfahrung und Denken

Ein Denken, das über die Erfahrung hinausstrebt und eigne Wege gehen will, wie es nach Kants Überzeugung die herkömmliche philosophische Spekulation versuchte, fällt unvermeidlich ins Leere. Wie Kant demgegenüber seine Aufgabe faßt, das hat er in mannigfachen Bildern ausgedrückt, die seine Darstellung durchflechten. Er will vor dem Gerichtshof der Vernunft unerbittlich zerstören, was eine ihre Kräfte überspannende Vernunft sich zu Unrecht angemaßt hat; er will das Gebäude der Wissenschaft auf festem Grunde und nach einem klaren architektonischen Riß erbauen; er will der Spekulation die Flügel beschneiden, mit der sie 45 hoffte sich in den leeren Raum aufschwingen zu können.


Seine Aufgabe hat Kant in drei Hauptabschnitten durchgeführt, deren jeder eine eingreifende Umwandlung der überkommenen und eingewurzelten Denkart vollzieht. Der erste zeigt, daß die Formen der sinnlichen Anschauung Raum und Zeit nicht Eigenschaften der Dinge sind, sondern lediglich der menschlichen Seele angehören, welche die Erscheinungen mittels ihrer zusammenfügt. Es wird gezeigt, daß sie unmöglich aus den Eindrücken der Sinne hervorgehen können, daß sie vielmehr von diesen vorausgesetzt werden, auch daß sie sich nicht durch Abstraktion aus ihnen ableiten lassen, sondern als ein Ganzes alle Mannigfaltigkeit in sich fassen; auch die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit der geometrischen und der arithmetischen Sätze wird als Zeugnis für die Subjektivität von Raum und Zeit verwandt; jene wäre unmöglich, wenn diese unabhängig von uns vorhandene Dinge wären, zu denen uns erst die Erfahrung einen Zugang verschaffen könnte.


Der zweite Hauptabschnitt zeigt, daß unser Bild der Welt eines Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Denken bedarf, daß aber das Denken die Grundformen liefert, die Elemente wie das Gefüge. Hier findet sich auch gegenüber Hume eine neue Behandlung des Kausalitätsproblems; so entschieden Kant die Kausalität den Dingen selbst 46 fernhält, sie ist ihm keine Gewöhnung des bloßen Individuums, sondern ein Grundgesetz unseres Denkens, das nur mit ihrer Hilfe den Verlauf des Geschehens in eine feste Ordnung bringt. Dieser Abschnitt ist über die einzelnen Punkte hinaus darin bedeutend, daß er zeigt, wie auch das Bild der sinnlichen Welt auf logischer Arbeit ruht und an jeder Stelle ihrer bedarf, er gibt damit der Erziehung für die Bildung der Sinne wertvollste Anregung, ferner zerstört er für die Wissenschaft ein für allemal den Materialismus mit seiner plumpen Gleichsetzung von sinnlicher Handgreiflichkeit und echter Tatsächlichkeit, indem er das Hervorgehen unsres Weltbildes aus Gedankenarbeit deutlich vor Augen stellt.


Letzte Wahrheiten

Der letzte Hauptabschnitt zeigt endlich, daß ein unabweisbares Verlangen, zum Bedingten ein Unbedingtes zu suchen, die Mannigfaltigkeit auf eine letzte Einheit zurückzuführen, das Denken über das Gebiet der Erfahrung hinaustreibt, daß es ihm aber schlechterdings unmöglich ist, in dem Jenseitigen festen Fuß zu fassen und zu letzten Wahrheiten vorzudringen. An drei Punkten erfahren wir solchen Widerspruch in unserer eignen Vernunft: bei der Seele, beim Weltall, beim Dasein Gottes. Wohl wird im Leben alle Mannigfaltigkeit seelischer Vorgänge von einer Einheit des Bewußtseins getragen, aber wir dürfen deshalb nicht diese Einheit von jenem Zusammenhang ablösen und von ihr auf das Wesen der Seele oder auf eine Unsterblichkeit 47 schließen; davon auf spekulativem Wege etwas zu erkennen, ist uns schlechthin versagt.


Ein unabweisbares Verlangen unserer Vernunft nach Einheit drängt uns dazu, die mannigfachen Erscheinungen um uns zum Ganzen einer Welt zusammenzuschließen, und wir können dann nicht umhin, über den Ursprung und das Gefüge dieses Ganzen Behauptungen aufzustellen. Aber bei solchem Unternehmen verwickeln wir uns in entgegengesetzte Thesen, deren jede wohl die andere widerlegen, nicht aber die eigene Wahrheit dartun kann. Das spricht zum allgemeinen Bewußtsein am deutlichsten bei der Frage, ob die Welt in Raum und Zeit begrenzt oder ob sie unbegrenzt ist. Eins von beiden scheint notwendig, und doch können wir uns für keins entscheiden. Denken wir nämlich die Welt in Raum und Zeit begrenzt, so wird ihr Bild unerträglich klein; denken wir sie unbegrenzt, so wird es unerträglich groß; solche Unmöglichkeit einer Entscheidung darf als ein sicheres Zeugnis dafür gelten, daß Raum und Zeit nicht von uns unabhängige Größen sind, sondern nur menschliche Anschauungsformen.


Das letzte Problem ist das Dasein Gottes. Ein Verlangen unserer Vernunft nach einem letzten Abschluß macht uns zur Bejahung jener Frage geneigt; aber jede nähere Prüfung zeigt, daß wir damit den eignen Kreis überspringen, subjektive Antriebe in objektive Notwendigkeiten verwandeln, 48 den Gebilden unseres Denkens eine Selbständigkeit gegenüber diesem Denken verleihen.


So gibt uns die reine Wissenschaft keine Antwort auf die Fragen, die unsere Seele zu beschäftigen nimmer aufhören können; auch der Lauf der Zeit kann daran nichts ändern, da alle Fortschritte des Erkennens innerhalb des bezeichneten Rahmens bleiben, ihn weder überschreiten noch verändern können.


Das Ganze unseres intellektuellen Vermögens, wie es sich aus Kants Untersuchung ergibt, stellt sich in zwiefacher Beleuchtung dar: es ist groß innerhalb der Erfahrung, in dem Aufbau ihres weitverzweigten Gefüges, in seiner völligen Durchdringung mit Denkarbeit, es ist klein, sobald es sich über die Erfahrung hinauswagt und letzte Gründe der Wirklichkeit erforschen will.

Das eine wie das andere wirkt aber dahin, dem Reich der Moral freien Platz zu schaffen und ihm einen besonderen Wert zu verleihen. Die ganze sinnliche Welt kann jetzt nicht mehr als letzte Wirklichkeit gelten, deren Gesetze auch unser Handeln beherrschen, sie hat sich in ein Reich der Erscheinungen verwandelt, das vornehmlich von uns selbst gebildet ist. So bedeutet auch die Kausalverkettung nicht mehr ein Weltgesetz, das keine Freiheit des Handelns duldet, für die Freiheit ist jetzt freier Raum gewonnen. Auch das Unvermögen der Spekulation gegenüber 49 den letzten Fragen ist insofern dem Handeln günstig, als es von ihr keine bindenden Ziele empfangen kann, sondern soweit es ihrer bedarf, sie aus eignem Vermögen aufbringen muß.


Das Reich der praktischen Vernunft

Auch die Gesamtstellung der praktischen Vernunft im Lebenswerke Kants wird durch die Erfahrungen der Erkenntniskritik aufs wesentlichste verbessert. Diese Erfahrungen fassen sich zusammen in eine Befreiung des Menschen vom Druck einer ihm entgegenstehenden Welt, er braucht nicht eine Übereinstimmung mit einer solchen Welt zu suchen, er bildet sich seine Welt aus den Kräften und nach den Gesetzen seines eigenen Wesens. Das war ein großer Gewinn an Freiheit und Selbständigkeit, er brachte den Menschen in ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit. Aber es verblieb bei allem Gewinn eine feste Schranke darin, daß das Denken nur in Beziehung auf Sinnlichkeit in fruchtbare Arbeit kam, daß Dinge an sich seiner Tätigkeit den Stoff darbieten mußten. So drängt es notwendig weiter zu dem Gedanken, ob es nicht eine Tätigkeit gibt, die unabhängig von solcher Beschränkung aus sich selbst heraus eine Wirklichkeit bilden könnte; eine solche Tätigkeit müßte als die Vollendung des Lebens gelten, sie würde nichts Dunkles, nichts Unaufhellbares in sich tragen. Nun aber liegt eine solche Tätigkeit, ein solches Wirken aus reiner Selbsttätigkeit vor in der Moral und ihrem Reiche der praktischen Vernunft. So darf diese als die letzte Tiefe der Wirklichkeit gelten, 50 und da bei ihr das Wirken der Vernunft nicht wie beim Erkennen an besondere Bedingungen des Menschen geknüpft ist, so beschränkt sich auch ihre Geltung nicht auf den Menschen, sie muß für alle Vernunftwesen gelten, sie hat eine unbedingte Gültigkeit. Damit rechtfertigt sich vollauf die Hochschätzung, mit der Kant die Moral behandelt, diese hat sich nun wirklich als der Kern des Menschenwesens erwiesen und zugleich zu einer Entwerfung von Weltausblicken fähig gezeigt. Denn in der hier gebotenen Fassung ist die Moral nicht ein besonderes Gebiet innerhalb einer weiteren Welt, sondern sie ist der Ursprung einer neuen Welt, und diese Welt bildet die Tiefe der gesamten Wirklichkeit. Die Moral schafft sich gegenüber der Natur ein eignes Reich, ein Reich der Freiheit, das sein Recht und seinen Wert ganz und gar in sich selbst hat und keiner Bestätigung, keiner Befestigung von außen her bedarf; es ist nunmehr vollauf verständlich, wie sehr der Mensch durch sein selbständiges Teilnehmen an diesem Reich der Freiheit gehoben wird, wie er ganz davon erfüllt sein muß.


Die drei Grundüberzeugungen

Solche Erhebung der Moral zu einer weltschaffenden Größe bringt es mit sich, daß sich aus ihr auch Grundüberzeugungen vom Ganzen der Wirklichkeit entwickeln, Grundüberzeugungen, praktische Ideen, die keine theoretischen Lehrsätze sind und nicht als solche verwandt werden dürfen, die aber dem pflichtmäßig handelnden Menschen unbedingt gewiß sind; sie sind Sache des Glaubens, 51 aber eines Glaubens, an dem aller Wert des Menschen hängt, und der sich von einem dogmatischen Glauben aufs deutlichste unterscheidet. Der erste Punkt dieses moralischen Glaubens ist die Idee der Freiheit, die allein Moral überhaupt möglich macht, Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung des vernünftigen Willens; der zweite die Idee der Unsterblichkeit, da die notwendige Forderung einer vollendeten Heiligkeit des Wandels sich innerhalb des Erdenlebens unmöglich erfüllen läßt, ein schlechthin Unmögliches aber nie die volle Kraft der Seele gewinnen könnte; der dritte die Idee Gottes, als des Trägers einer naturüberlegenen Ordnung, die das Glück zur Glückswürdigkeit in das rechte Verhältnis bringt. Von diesen Ideen ist aber die erste als die grundlegende die weitaus wichtigste, die anderen dienen mehr zur Ausführung und zur Hilfe. Im Grunde ist es der Glaube an das in uns gegenwärtige Wirken einer Welt der Freiheit gegenüber aller bloßen Natur, der Kant eine volle Gewißheit und freudigen Lebensmut gibt. »Die Idee der Freiheit ist die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist.«


Das moralische Gesetz in uns

Wie sich ihm mit dem allen unser Verhältnis zu den großen Lebensfragen darstellt, darüber spricht er sich an einer Stelle der Praktischen Vernunft aus, die für das Ganze seiner Denkart zu bedeutend und zu bezeichnend ist, als daß wir auf eine Anführung verzichten möchten. Er sucht zu zeigen, 52 daß eine nähere Einsicht in die tiefsten Gründe der Wirklichkeit unserem moralischen Handeln leicht gefährlich werden könnte. »Statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen. – Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst emporarbeiten darf, um Kraft zum Widerstande gegen Neigung durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln, so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existieren.

Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir, mit aller Anstrengung unserer Vernunft, nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit 53 zu verheißen oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt; so kann wahrhafte sittliche, dem Gesetze unmittelbar geweihte Gesinnung stattfinden und das vernünftige Geschöpf des Anteils am höchsten Gute würdig werden, das dem moralischen Werte seiner Person und nicht bloß seiner Handlungen angemessen ist. Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ.«


Zeigt diese Stelle einmal, wie tief eine religiöse Überzeugung in Kants Gemüte wurzelt, so bekundet sie nicht minder die eigentümliche Art des von ihm entwickelten Idealismus. Bisher suchte die Philosophie aus dem Ganzen der Weltanschauung dem Leben seine Richtung zu geben, es hatte seine Ziele und Güter aus der mit dem All befaßten Wissenschaft zu empfangen. Darin vollzieht nun Kant eine völlige Umkehrung. Ein spekulatives Eindringen in die letzten Gründe ist nach seiner Überzeugung dem Menschen schlechterdings versagt, aber deshalb brauchen wir nicht auf allen Sinn der Wirklichkeit zu verzichten, wir finden ihn 54 und zugleich die Richtung des Lebens vom Handeln her, von einem Handeln, das sich selbst zu einer Welt erweitert, aus seiner Tätigkeit eine Welt der Freiheit hervorbringt.

Ein Idealismus, der daraus hervorgeht, scheint unserem Denker weit kräftiger und lebensvoller als einer, der einer verwickelten Weltanschauung entspringt; auch hat er den Vorteil, sich auf etwas zu gründen, was jedem Menschen nahe und gegenwärtig ist, was daher jeder ohne viel gelehrtes Wissen bei sich beleben kann. Es ist der Mensch als Mensch, den diese Denkweise aufruft.


Nachdem so die Weltmacht der Moral völlig gesichert ist, darf sie ihr Maß an das vorgefundene Dasein legen, darf sie den ganzen Umkreis des Lebens an sich zu ziehen und von sich aus zu gestalten suchen. Sie wird dabei vor allem eine völlige Unabhängigkeit vom Stande der Menschen wahren, nicht ihre Vorschriften danach einrichten und darauf herabstimmen, was im Durchschnitt getan wird; für »höchst verwerflich« wird es erklärt, »die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird«. Die Moral hat ihr Gesetz und ihr Gericht in sich selbst, das Tun und Treiben der Menschen ändert daran nicht das mindeste. »Wenn ein jeder löge, wäre deswegen das Wahrreden eine bloße Grille?«

Das radikale Böse

Bei solcher Unabhängigkeit der Moral kann es in keiner Weise erschrecken und niederdrücken, 55 wenn der Mensch sich in weitem Abstande von ihr befindet. Das aber ist nach Kants Überzeugung in der Tat der Fall. Sein Urteil über den moralischen Stand der Menschheit ist wenig günstig. Er beklagt vor allem die Unlauterkeit des Menschen, seinen Mangel an Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, er findet in ihm einen Hang zum Bösen, der nicht zu vertilgen, sondern nur zu überwiegen ist, er meint, daß das Böse nicht bloß in den Neigungen, sondern im Willen liege, indem man jenen nicht widerstehen wolle. So hat Kant die Lehre von einem »radikalen« Bösen, und er spricht wohl von einer Bösartigkeit der menschlichen Natur; auch seine näheren Ausführungen zeigen ein starkes Mißtrauen gegen die moralische Haltung des Menschen. »Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.«

Da dies aber seine Hochschätzung des Menschenwesens als eines Trägers sittlicher Freiheit in keiner Weise vermindert, so entsteht eine starke Spannung, und es erklärt sich auch, wie Kant weniger darauf bedacht ist, eine Verständigung zwischen der sittlichen Forderung und dem Menschen der Erfahrung herbeizuführen, als das sittliche Gesetz in seiner vollen Reinheit und Strenge aufrechtzuhalten; alle Laxheit, alle Neigung zu Kompromissen findet bei ihm entschiedenste Ablehnung.

Es bringt ihm daher echte Moral einen fortwährenden Kampf mit sich, einen Kampf zwischen Neigung und Pflicht, zugleich aber eine hohe Schätzung der Tapferkeit, wie er denn die Tugend geradezu 56 als moralische Tapferkeit bezeichnet, deren Fahne es hochzuhalten gilt. So ist das Leben, das hier entsteht, wahrlich nicht leicht und bequem, es verlangt unaufhörliche Anspannung aller Kraft, es verlangt fortwährende Selbstüberwindung, aber es erlangt in dem allen auch eine unvergleichliche Größe und Freude, es hat seinen Lohn in sich selbst, braucht ihn nicht von draußen her zu empfangen, es hebt über das gewöhnliche Glück hinaus und trägt in sich selbst eine hohe Befriedigung.


Wenn Kant von der Moral als der herrschenden Macht alle Lebensgebiete gestaltet, so mag das eine große Gefahr für die Entfaltung der Eigentümlichkeit dieser dünken. In Wahrheit ist eine Verengung nicht zu leugnen, da Kant die Moral lediglich auf das Verhältnis zu Menschen beschränkt, nur Pflichten des Menschen gegen Menschen kennt. Andererseits verhindert die hohe Fassung der Moral als eines Reiches der Freiheit und Selbsttätigkeit mit Sicherheit ein Sinken zu einem bloßen Moralismus, der alles nur daraufhin ansieht, wie weit es der Besserung der Individuen nütze; die Moral greift hier weniger in den näheren Bestand der Gebiete ein, als sie ihrem Ganzen die Richtung auf höchste Zwecke, auf jenes Reich der Freiheit gibt; so wirkt sie konzentrierend, klärend und kräftigend auf den ganzen Umfang des Lebens.


Kant und die Religion

Am wenigsten erlangt wohl ihr volles Recht die Religion, wenn sie als »die Erkenntnis aller 57 unsrer Pflichten als göttlicher Gebote« verstanden wird. Denn streng genommen würde sie damit ein bloßes Mittel zur Verstärkung der Moral, und es wäre dabei nicht einmal gewiß, ob das bloß eine Hilfe für menschliche Schwäche wäre, die ein Starker wohl auch entbehren könnte, oder ob sie eine Wahrheit aus eigenem Rechte besitzt. Was aber den Inhalt betrifft, so liegt nach Kant in der Religion aller Wert am Tun. Dabei läßt sich vollauf anerkennen, daß der eigentümliche Charakter der Religion wenig zur Geltung kommt, und doch die Energie bewundern, mit der die moralische Seite der Religion hervorgekehrt, allem Scheinwesen in ihr widerstanden, ihr Leben vor allem in unmittelbare Gegenwart gestellt wird. Bezeichnend sind hier die Worte: »Alles was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes,« und die anderen: »daß ein Geschichtsglaube Pflicht sei und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube.« Es ist aber »Aberglaube der Hang, in das, was als nicht natürlicherweise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären läßt, – es sei im Physischen oder Moralischen«. Kant ist darum besorgt, daß die Selbständigkeit der Moral durch ihre Verkettung mit der Religion Schaden leide; so dringt er mit höchstem Eifer darauf, daß nicht die Moral auf die Religion, sondern die Religion auf die Moral gegründet werde. Kants persönliche Religion war 58 ohne Zweifel weit reicher und tiefer als die von ihm in Begriffe gefaßte, ein Bewußtsein der Abhängigkeit von einer höheren Macht und ein Vertrauen auf diese Macht geht durch alle seine Schriften. Ein bloßer Moralist konnte nicht sagen, daß, wenn man von einem letzten Zwecke der Welt sprechen dürfe, er nicht in der Glückseligkeit der vernünftigen Wesen zu suchen sei, sondern in der Ehre Gottes.


Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit

Zu größerem Reichtum entfaltet sich die moralische Grundanschauung Kants in der Gestaltung des menschlichen Zusammenseins. Hier haben sich in allen Verhältnissen die beiden Tugenden zu bewähren, die ihm als die höchsten gelten: Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Die Pflicht der Wahrhaftigkeit geht in erster Linie nicht gegen andere, sondern gegen uns selbst, in der Lüge und Unaufrichtigkeit schaden wir vornehmlich uns selbst, indem wir dadurch die Achtung zerstören, die wir uns selbst als einem moralischen Wesen schulden. Zur Pflicht der Wahrhaftigkeit gehört auch, daß wir überall aus selbständiger Entscheidung und eigner Überzeugung handeln, auch uns davor hüten, blinde und äußere Bekenntnisse nachzusprechen. Gewiß schützt auch strenge Gewissenhaftigkeit uns nicht vor Irrung, aber diese trifft dann nicht unsere Gesinnung. »Es kann sein, daß nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren), aber in allem, was er sagt, muß er wahrhaft sein.«

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Das Verhältnis der Menschen untereinander werde aber durch die Idee der Gerechtigkeit bestimmt, sowohl im privaten Verkehr als im Staate als im weltbürgerlichen Verkehr der Völker. Wie hoch Kant von der Gerechtigkeit denkt, das zeigen die Worte: »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben«; von der Ungerechtigkeit aber sagt er: »Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit, alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen.«

Demnach empfiehlt es sich, das Verhältnis von Mensch zu Mensch mehr auf Gerechtigkeit und gegenseitige Achtung als auf Liebe zu stellen. Liebe kann nicht geboten werden, und Mitleid ist kein großes Gegenmittel gegen den Eigennutz. Es fällt hier stark ins Gewicht, daß Kant wenig von den Neigungen des Menschen hält und sie viel zu veränderlich findet, um auf sie unser Leben zu bauen.

Aus der Selbstachtung aber, die ich als Glied eines Reiches der Freiheit haben darf, geht unmittelbar eine Achtung auch der anderen hervor; umgekehrt läßt sich sagen, daß, wo diese Achtung fehlt, es im Grunde auch an echter Selbstachtung gebricht. »Der Hochmütige ist jederzeit im Grunde seiner Seele niederträchtig.«


Kants Staatsideal

Im Staatswesen aber wirkt die Kantische Grundüberzeugung zur Voranstellung der Ideen Recht und Freiheit. Die hohe Schätzung der Freiheit, welche Kant im Ganzen des Lebens bekundet, 60 muß natürlich auch hierher wirken; vom Recht aber sagt er, daß es der Augapfel Gottes auf Erden sei. Der enge Zusammenhang von Recht und Freiheit erhellt aus der Definition des Rechts als »des Inbegriffs der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. Den Staat aber definiert er als eine »Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen«. So ist der Staat hier vor allem Rechtsgemeinschaft, er gilt als von den Individuen her entstanden; mag Kant seine Entstehung aus einem Vertrage als Faktum bekämpfen, als Idee hält er sie fest. So kann hier von einem nationalen Staate, auch von einem Kulturstaate nicht die Rede sein; diese Begriffe blieben einer späteren Entwicklung vorbehalten. In die nähere Ausführung wirken Gedanken ein, welche die Französische Revolution, namentlich ihr Beginn, auch in Deutschland weiten Kreisen zugeführt hatte. Die Forderungen der Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit spielen bei Kant eine große Rolle, aber er hat sie ethisch vertieft und auch in der näheren Ausführung maßvoll gestaltet. Sein politisches Ideal ist eine Repräsentationsverfassung, »alle wahre Republik ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System im Volke«. Bei aller Freiheitsliebe hat er wenig Sympathie für die Demokratie, er sieht in ihr eine Gefahr für die Freiheit des einzelnen, die ihm besonders am Herzen liegt, »Volksmajestät« erklärt 61 er für einen »ungereimten Ausdruck«. Eine nahe Verwandtschaft mit den Lehren des englischen Liberalismus ist in diesem Aufbau des Staates von den Individuen her nicht zu verkennen, aber solche Verwandtschaft darf erhebliche innere Unterschiede nicht übersehen lassen. Dort ist es der Mensch, wie er leibt und lebt, dem die Freiheit und mit ihr ein hoher Wert zuerkannt wird, bei Kant ist es die Persönlichkeit als Glied einer sittlichen Welt; dort ist das höchste Ziel das Wohlergehen der Gesellschaft, bei Kant dagegen die Begründung eines Reiches der Freiheit und Gerechtigkeit auf dem eigenen Boden der Menschheit; dort mußte man, um die eigenen Ziele erreichbar zu finden, den Menschen moralisch vortrefflich denken und ihn damit idealisieren, bei Kant verhindert, wie wir sahen, alle Hochschätzung der Vernunft im Menschenwesen nicht die volle Anerkennung schwerer Mängel und Schäden. Es hängt damit eng zusammen, daß seine Art der Freiheit keine Weichheit kennt, vielmehr einen strengen Charakter hat; dafür ist z. B. bezeichnend die entschiedene Verteidigung der Todesstrafe als einer Forderung der Gerechtigkeit.


Das Verlangen einer Ordnung der menschlichen Verhältnisse aus der Idee der Gerechtigkeit hat Kant auch auf das Verhältnis der Völker ausgedehnt und auch für die äußere Politik eine Leitung durch die Idee des Rechts verlangt. Hier stößt er besonders hart mit den Durchschnittsverhältnissen 62 und auch mit den Durchschnittsmeinungen zusammen, aber hier zeigt er auch besonders deutlich die unbeugsame Festigkeit seiner Überzeugung, sein Vermögen, unbeirrt durch allen Widerspruch mit ruhiger Kraft den eigenen Weg zu verfolgen. Mit größter Energie tritt er dafür ein, daß nie das Recht der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepaßt werde. Was eine vom Rechte absehende Politik an äußeren Vorteilen etwa gewinnen lassen kann, das wiegt nach seiner Überzeugung weitaus nicht den Schaden auf, der aus der Geringachtung dessen hervorgeht, was dem menschlichen Leben allein einen Wert zu geben vermag. Wohl ist, so meint er, Ehrlichkeit nicht immer die beste Politik, aber sie ist besser als alle Politik. Politiker, die nur auf den Erfolg ausgehen und sich dabei ihrer Menschenkenntnis rühmen, mögen die Menschen kennen, nicht aber kennen sie den Menschen und was aus ihm gemacht werden kann.


Der ewige Friede

Aus solchem Zusammenhange ist auch die Schrift vom ewigen Frieden zu verstehen, der das 18. Jahrhundert von früh an beschäftigt hatte, der aber von Kant mit besonderem Nachdruck vertreten wird. Er entwickelt diesen Gedanken nicht bloß in jener Schrift, er verficht ihn eifrig auch sonst, er erklärt dabei den Krieg als »das größte Hindernis des Moralischen«, er stellt die Forderung, den Krieg erstlich nach und nach menschlicher zu gestalten, ihn darauf seltener zu machen, ihn endlich als Angriffskrieg ganz verschwinden zu lassen.

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Sein Ideal ist ein »allgemeiner Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird)«, nur er vermöge einen wahren Friedensstand herbeizuführen. Die Schwierigkeiten dessen entgehen Kant freilich nicht, in seiner Rechtslehre führte ihn ihre Erwägung sogar dahin, den ewigen Frieden eine »unausführbare Idee« zu nennen. Aber er bleibt ihm doch das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts, und für ausführbar erklärt er die »politischen Grundsätze, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten einzugehen, als zur kontinuierlichen Annäherung zu denselben dienen«. An einer anderen Stelle erklärt er, der ewige Friede sei »keine leere Idee, sondern eine Ausgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt«.


Beim Fortschrittsgedanken, der uns hier begegnet, ist Kants Stellung eigentümlich genug. Seine Geringschätzung der moralischen Beschaffenheit des Menschen, namentlich seine Überzeugung von der tiefen Wurzel des Übels, macht es ihm schwer, einen Fortschritt anzunehmen, spricht er doch von einem »traurigen Anblick, nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander selbst antun«. So erklärt er es für unmöglich, daß der Fortschritt zum Besseren »durch den Gang der Dinge von unten 64 hinauf« erfolge. Andererseits kann er nicht auf den Fortschritt gänzlich verzichten, da ohne eine Hoffnung besserer Zeiten »eine ernstliche Begierde, etwas dem allgemeinen Wohl Ersprießliches zu tun, nie das menschliche Herz erwärmt hätte«. So müssen wir notwendig auf einen Fortschritt zum Besseren hoffen, aber er ist nicht sowohl von dem zu erwarten, was wir tun, »sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden. Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zweckes erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Teile geht.« Ähnlich sagt Kant an einer anderen Stelle, daß die Hoffnung des »Fortschreitens nur in einer Weisheit von oben herab« begründet sei.

So sehen wir Kant auch bei diesen Fragen eigene Wege verfolgen.


Das Reich des Schönen

Die Energie, welche Kant an die moralische Aufgabe setzt, und der schwere Ernst, den er dem menschlichen Leben gibt, könnten erwarten lassen, daß er das Reich des Schönen geringschätzig oder doch nebensächlich behandelt hätte; die stoische Gesinnung, der doch Kant eng verwandt ist, war im allgemeinen der Kunst wenig hold. In Wahrheit steht es bei ihm völlig anders. Er hat nicht nur im einzelnen viel Interesse für künstlerische Leistungen und Probleme, er sucht auch das gesamte Reich des Schönen 65 in seine Gedankenwelt aufzunehmen und es tiefer in der Seele zu begründen. Mag er schließlich das Schöne dem Guten als »Symbol des Sittlichguten« unterordnen und den Geschmack als ein »Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen« verstehen, in die Erörterung selbst greift das wenig ein, sie behandelt das Schöne als ein eigenes Reich und befreit dies von herkömmlicher Vermengung mit anderen Gebieten. Das Schöne wird weit über das Angenehme der Sinne hinausgehoben und schon dadurch von ihm deutlich geschieden, daß das Angenehme Sache des Einzelnen ist, während das Schöne als Gegenstand eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird. Gegen das Gute aber grenzt es sich dadurch ab, daß das Gute vermittelst der Vernunft durch den bloßen Begriff gefällt und mit Interesse verknüpft ist, während das Wohlgefallen am Schönen interesselos ist und ohne Begriffe entsteht. Dieser Anspruch des Schönen auf Allgemeingültigkeit wird für Kant ein großes Problem und führt ihn wiederum zu einer Verschiebung von der Außenwelt in die Seele; das Schöne liegt nicht in den Dingen, sondern es hat seinen Ursprung im Geiste, wir erfahren in ihm nicht eine Harmonie der Dinge, sondern eine Harmonie unserer eigenen Geisteskräfte; auch hier ist es die Form, worin die geistige Leistung besteht, auch hier wird damit das Erlebnis über einen niederen Seelenstand hinausgehoben. Wie das Gute eine Überlegenheit gegen alle Neigung besaß, so wird das Geschmacksurteil als völlig unabhängig von Reiz und Rührung erklärt 66 und ganz und gar auf die Form gerichtet; es entspringt nicht aus der Lust, sondern es geht ihr vorher. Auch damit gewinnt das Leben an Selbständigkeit, es befreit sich am Sinnlichen selbst durch die Macht der Form vom Drucke bloßer Sinnlichkeit. So wird dieses Reich ein unentbehrliches Bindeglied zwischen dem erhabenen Reich der Moral und der bunten Fülle des sinnlichen Daseins, und das Ganze gestaltet sich letzthin zu einem Gewinne der Freiheit. »Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen gar zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar darstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt.« Solche Emporhebung des Schönen über alle niedrige Lust, solche Anerkennung seiner Selbständigkeit, solche Verlegung seines Ursprungs in die innere Werkstatt des Geistes wirkten zusammen dahin, unsere großen Dichter mit Kant zu verbinden und sie mit größter Schätzung seiner zu erfüllen; so konnte auch Goethe trotz vielfachen sonstigen Gegensatzes die großen Hauptgedanken der Kritik der Urteilskraft seinem eigenen Schaffen, Tun, Denken »ganz analog« finden. Die Behandlung des ganzen Gebietes empfängt aus solchem Verstehen von innen her den Antrieb, die inneren Bedingungen und das innere Gewebe des Schaffens zu voller Klarheit herauszuarbeiten.

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Schön und Erhaben

Wie sich damit der Anblick verwandelt, das zeigt mit besonderer Deutlichkeit die Behandlung des Erhabenen, dem Kant von früh an viel Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Das Gefühl des Erhabenen enthält augenscheinlich einen Kontrast. Diesen Kontrast erklärte man bisher als einen Zusammenstoß von menschlichem Vermögen und Außenwelt, Kant aber verlegt ihn ganz und gar in die eigene Seele des Menschen. »Erhaben ist die Natur in denjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit mit sich führt. Dieses letztere kann nun nicht anders geschehen als durch die Unangemessenheit selbst der größten Bestrebung unserer Einbildungskraft in der Größenschätzung eines Gegenstandes.« Wenn aber so das Erhabene daraus entsteht, daß die ganze Macht der Einbildungskraft den Ideen der Vernunft unangemessen befunden wird, so liegt die wahre Erhabenheit nicht im Naturobjekte, sondern im Gemüte des Urteilenden. Damit ist wiederum der Schwerpunkt des Lebens in die Innenwelt verlegt.


Kants einzigartige Größe

Zum Rückblick und Abschluß seien nur einige Worte gestattet. Wie immer man sich zu den einzelnen Problemen stellen mag, eine einzigartige Größe Kants wird kein Unbefangener bestreiten. Eine ungeheure Kraft erweist sich darin, alle Wissensgebiete nicht nur, sondern auch alle Lebensinteressen der Menschheit mit offnem Blick zu umspannen und sie doch zur Einheit zusammenzuzwängen, 68 zugleich aber ihnen den eigenen Stempel aufzuprägen. Kant stand überall auf dem Boden strenger, ja strengster Wissenschaft, aber die Wissenschaft ist ihm, um einen Ausdruck von ihm selbst zu gebrauchen, »die enge Pforte geworden, die zur Weisheitslehre führt«. Das Ganze seines Werkes ist bei aller Ruhe und Gründlichkeit seiner Arbeit voll innerer Bewegung, verschiedene Strömungen entstehen und scheinen zunächst einander zu widerstreiten, aber es gelingt, sie nicht nur miteinander auszugleichen, sondern sie zu gegenseitiger Verstärkung zu verbinden. Ein wunderbares Gleichgewicht der Stimmung entsteht daraus, daß dem Menschen nicht nur sowohl eine Größe als eine Grenze zuerkannt wird, sondern daß beides aufeinander angewiesen wird und sich gegenseitig zu fördern vermag: nur die Grenze unseres Wissens macht die Größe unseres Handelns möglich, und diese Größe selbst gibt der Begrenzung einen Wert. Dem entspricht auch der Ton der Darstellung: durchgängig schlicht, klar bestimmend, scharf scheidend, besonnen abwägend, nicht selten schulmäßig schwerfällig; dann aber auf den Höhepunkten ein Durchbrechen eines reinen und echten Enthusiasmus und zugleich eine ergreifende Wärme und Einfalt der Darstellung. Überall der vollste Ernst, die lauterste Wahrhaftigkeit, das Ganze wie ein offnes Bekenntnis von den höchsten Dingen. Als Gesamtergebnis eine Befreiung des Menschen vom Drucke der Außenwelt, eine unermeßliche Steigerung seiner Tätigkeit, aber nicht in der Richtung nach außen hin, sondern in der 69 gegen sich selbst, eine Vertiefung des Seelenlebens, ja eine Entdeckung und Belebung einer ganzen Welt in der Seele. Zugleich ein gewaltiger Ansporn des Lebens, ein Aufruf zur Erringung seines eigenen Wesens und zum unermüdlichen Kampf gegen alles, was draußen und mehr noch drinnen unseren höchsten Aufgaben widersteht. Kant hat mehr in dem Menschen sehen gelehrt und mehr aus dem Menschen gemacht. Das können nur große Denker, und er ist einer der größten. Uns Deutschen aber hat er, ohne daß er viel vom deutschen Wesen sprach, den eigentümlichen Idealismus ausgebildet, auf den unser Wesen angelegt ist. Das ist ein anderer Idealismus als der indische mit seiner Verflüchtigung der Welt und seinem Ersehnen tatloser Ruhe, ein anderer auch als der griechische mit seiner Schätzung der Welt als eines herrlichen Kunstwerkes und seiner Erfüllung des Lebens durch die lustvolle Anschauung der ewigen Zier. Vielmehr ist es ein herber und kräftiger Idealismus, ein Idealismus der Tat, der die Welt um uns voller Verwicklung findet, der aber in uns das Vermögen entdeckt, eine neue Welt zu entfalten, der in solcher Entfaltung eine schwere Aufgabe findet, aber dabei auch eine innere Erhöhung erfährt und aus ihr stark genug wird, allen Gegnern draußen und drinnen zu trotzen und mutig den Kampf gegen die Unvernunft unseres Daseins aufzunehmen. Dieser Idealismus, der von alters her in uns Deutschen wirkt, hat durch die Befreiungstat Kants auch einen festen wissenschaftlichen Boden erhalten; auf 70 diesem Boden haben die Nachfolger weitergebaut, und auch wir wollen ihn nicht verlassen.


Kant und Schiller

Die gewaltige Wirkung Kants bedarf keiner Schilderung; daß er nicht nur die Philosophie in eine neue Bahn getrieben, sondern auch das allgemeine Leben aufrüttelnd, vertiefend, befestigend ergriffen hat, das steht uns deutlich vor Augen. So sei nur mit einigen Worten seiner Förderung unseres größten dramatischen Dichters gedacht. Bei Schiller kam einer Philosophie der Tat ein starker Trieb zum Handeln aus der eignen Natur entgegen, aber dieser Trieb erhielt durch die Berührung mit jener Philosophie eine Läuterung und Veredlung. Mit ganzer Seele stand Schiller zur kantischen Freiheitslehre, zu seiner Erhebung des Menschen über allen Mechanismus der bloßen Natur, zu seiner Erweckung eines stolzen Selbstbewußtseins des Menschenwesens als eines Gliedes des Reiches der Freiheit. Ebenso wie bei Kant verhindert aber auch bei Schiller der feste Glaube an menschliche Größe nicht eine unbefangene Würdigung all des Trüben und Schlechten, was nicht nur die Verhältnisse draußen, sondern auch die menschlichen Gesinnungen zeigen. Auch Schiller gewinnt eine Sicherheit und Freudigkeit gegenüber dem tiefen Dunkel des Lebens nicht durch eine bequeme Verständigung mit der Welt, die uns umgibt, er gewinnt sie durch die Erhebung in ein der Seele gegenwärtiges Reich der Vernunft, das den Menschen der Welt überlegen 71 macht und eine neue Schätzung der Güter einführt. So teilt Schiller mit Kant auch die gewaltige Kraft der Aufrüttelung und Bewegung, die tapfere Gesinnung, den Antrieb zu Kampf und Sieg. Was Goethe von sich bekannte, Schiller habe ihn auf sich selbst zurückgeführt und ihm eine zweite Jugend verschafft, das gilt über die einzelne Persönlichkeit hinaus für das Ganze des deutschen Volkes: der große Dichter, der durch die Schule des großen Denkers gegangen ist, kann auch auf die kommenden Geschlechter zur Befreiung, Befestigung, Verjüngung wirken. Seine Kunst ist uns vielfach ferngerückt, seine Denkweise muß uns bleiben.


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Fichte

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Keiner von unseren großen Denkern berührt sich so eng mit der politischen Lage und den nationalen Fragen der Gegenwart wie Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Er hat den jähen Zusammenbruch des alten Staatssystems in tiefer Erschütterung miterlebt, er hat dann sofort seine ganze Kraft in den Dienst eines Neuaufbaues gestellt, und er hat in seinen im Winter 1807/08 gehaltenen Reden an die deutsche Nation sein Volk sowohl aufgerüttelt als ihm festen Mut eingeflößt. Er konnte das, weil auch die schwersten Ereignisse nicht im mindesten seinen Glauben an unser Volk und seine Zukunft erschütterten, er fand Glauben und er erweckte Glauben, weil ein solcher aus seiner Seele quoll; sein felsenfestes Vertrauen auf eine siegreiche Auferstehung des deutschen Volkes hat er in einer Zeit verkündet, wo Berlin noch von französischen Truppen besetzt war, und wo bisweilen der Trommelschlag ihrer vorüberziehenden Bataillone die Stimme des Redners übertönte. Mit solcher Kraft und solcher Wirkung zu seinem Volke sprechen konnte er aber nur, weil hinter seinen Worten eine charaktervolle Persönlichkeit und auch eine selbständige Gedankenwelt stand; an die Ausbildung dieser hatte er die Arbeit seines ganzen Lebens gesetzt; erst ein 76 Einblick in diese Welt und eine Vergegenwärtigung der Persönlichkeit, die sie schuf, läßt uns die volle Wucht seiner nationalen Arbeit verstehen.


Leben und eigentümliche Art

Fichte, der Sohn eines Leinewebers aus der Lausitz, hatte sich aus dürftigen Verhältnissen mühsam und unter vielfachen Sorgen emporgearbeitet. Aber er war eine starke Natur; was die Not des Lebens ihm an äußerer Abhängigkeit auferlegte, das hat seine innere Unabhängigkeit, ja Überlegenheit nicht im mindesten angetastet. Wie er auch im Dienen zu herrschen verstand, das zeigt zum Beispiel die Tatsache, daß er in Zürich als Hauslehrer in einer bürgerlichen Familie die Mutter der Kinder zwang, jeden Sonntag anzuhören, welche Erziehungsfehler im Laufe der Woche begangen seien. Schwerer aber als alle äußeren Kämpfe waren Verwicklungen in seiner Seele, war ein ungelöster Widerspruch zwischen seinem Denken und seinem Streben. Aus tiefster Natur heraus trieb es ihn zu rastlosem Wirken und ließ ihn für solches Wirken volle Freiheit verlangen; sein Verstand aber war dem Spinozismus verfallen, der ihm die Welt als eine strenggeschlossene Verkettung von Ursachen und Wirkungen vorhielt und daher der Freiheit nicht den mindesten Platz gewährte. Aus diesem Zwiespalt erlöste ihn die Kantische Philosophie, er fand in ihrer Erweisung der Kausalität als einer bloßmenschlichen Anordnung der Wirklichkeit eine Rettung der Freiheit auf dem eigenen Boden der Wissenschaft, er ergriff sofort mit feurigem Eifer 77 das Ziel, diese Philosophie zu verkünden und zugleich sie weiter auszubauen.


Denn nach einem solchen Ausbau drängte allerdings die eigentümliche Art seiner Seele und zugleich das Verlangen seines Denkens. Seine Art war von der Kants in wesentlichen Stücken verschieden. Kant ging im Forscherleben auf; wohl hielt er der Menschheit mit zwingender Kraft ein Reich der Freiheit vor und vertiefte damit aufs wesentlichste ihr Leben, aber die ungeheure Arbeit der geistigen Umwälzung, die er vollzog, beherrschte ihn viel zu ausschließlich, als daß es ihn irgendwie zu einer praktischen Tätigkeit, einem Eingreifen in den Befund der Dinge hätte drängen können. Wie ferner seine Arbeit mit aller vordringenden Kraft höchste Sorgfalt und Besonnenheit verband, so war er peinlich darauf bedacht, die dem Menschen neu eröffnete Größe gewissenhaft abzugrenzen; die Selbsttätigkeit der Vernunft fand beim Erkennen eine feste Schranke, indem hier ein unerforschliches Reich der Dinge den unentbehrlichen Stoff zu liefern hatte; alles ward hier aufs sorgsamste abgewogen, eben die Ausgleichung der verschiedenen Interessen, die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen ihnen, bildet eine unbestreitbare Höhe der Kantischen Leistung.


Fichtes eigentümliche Art drängte nach wesentlich anderer Richtung, jene überlegene Weisheit konnte ihm nicht das letzte Wort bedeuten. So groß 78 seine Denkkraft war, in ihm überwog der Trieb des Handelns, riß das Denken mit sich fort, ja verwandelte es selbst in ein Handeln, in ein Aneignen, Umwandeln, Beherrschen der Gegenstände. So sucht Fichtes Denken einfache, gerade Linien, es entwirft große Umrisse und geht rasch über das Einzelne weg, mit unerbittlicher Konsequenz verfolgt er seine Bahn, wird durch keine Versuchung abgelenkt, wirft alles nieder, was ihm den Weg versperrt. Sein Ja verficht er mit männlicher Unerschrockenheit und ohne die mindeste Einschränkung, sein Streben geht stets auf etwas Ganzes, Letztes, Unbedingtes, er liebt das Wort »schlechthin«, er haßt das »gewissermaßen«; »ich bekenne, daß ich dies ›gewissermaßen‹ und ihre ganze Familie nicht liebe. Weißt du etwas Gründliches und willst du es uns sagen, so rede bestimmt und ziehe statt deines ›gewissermaßen‹ eine scharfe Grenze; weißt du nichts oder getraust du dich nicht zu reden, so laß es ganz sein. Tue nichts halb!«

Sein Interesse ist ganz überwiegend dem Menschen und dem Menschenleben zugewandt, hier will er bessern und bekehren, umwandeln und erneuern, die übrige Welt bleibt ihm bloße Umgebung. Solches Drängen zum Wirken fordert gerade Linien und entschiedene Antworten; der reine Denker kann Fragen offenlassen und in der Zurückhaltung selbst eine Größe erweisen; wer die Menschen zum Handeln aufruft, der darf nicht zwischen verschiedenen Zielen schwanken und auch nicht auf halbem Wege stehenbleiben.

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Das »Ich«

Aus solcher geistigen Art empfand Fichte die Kantische Begrenzung als eine unerträgliche Einengung, ja er glaubte erst die volle Konsequenz der Kantischen Bewegung zu ziehen, Kant selbst erst recht zu verstehen, wenn er alle solche Schranken niederriß, den Begriff der Dinge an sich gänzlich strich, die geistige Tätigkeit zu schöpferischem Wirken aufrief und alle Wirklichkeit als ihr Erzeugnis zu verstehen suchte.

Er konnte das natürlich nicht, ohne im Menschen ein ursprünglicheres und kräftigeres Leben aufzudecken, als das unmittelbare Seelenleben zeigt, er fand das im »Ich«, das ihm nicht einen ruhenden Punkt, sondern ein tätiges Prinzip, ein aus sich selbst bewegtes und zu sich zurückkehrendes Handeln bedeutete, es war ihm nicht das einzelne Individuum, sondern als »reines« Ich, als »absolutes« Ich, als »Intelligenz« eine alle Individuen durchdringende, bewegende, weitertreibende Macht. Diese Macht sollte mit ihrer durch Satz und Gegensatz fortschreitenden Bewegung in sicherem Zuge die ganze Wirklichkeit erzeugen; die Welt aber, die als scheinbar in sich selbst beruhend uns gegenüberliegt, sollte in diese Tätigkeit zurückgenommen, dadurch erst wahrhaft durchleuchtet und in ein Reich der Vernunft verwandelt werden.


Die nähere Ausführung dessen kann uns hier nicht beschäftigen, zur gerechten Würdigung des Unternehmens sei nur daran erinnert, daß es einer Zeit angehört, die ganz an den Problemen des Menschenlebens 80 hing und das Weltall mit feiner Natur ganz im Hintergrunde beließ; nicht minder sei dessen gedacht, daß die philosophische Arbeit von hier aus stärkste Antriebe zu einem systematischen Zusammenhange und zur Anerkennung einer durch den Gegensatz fortschreitenden Bewegung empfangen hat. Soll doch die »Wissenschaftslehre«, welche die Lehre von einem absoluten Ich in ihre Konsequenzen zu entwickeln hat, »für alle möglichen Wissenschaften die Grundsätze und die systematische Form begründen«.

Wir beschränken uns auf die Darlegung der Hauptantriebe, welche die Gestaltung des Lebens von dieser Lehre empfangen hat.

Das Wollen als Hauptkraft der Seele

Zunächst erscheint es als ein unermeßlicher Gewinn, wenn nicht von einer Tatsache, sondern von einem Handeln begonnen wird. »Geht die Philosophie von der Tatsache aus, so stellt sie sich in die Mitte des Seins und der Endlichkeit, und es wird ihr schwer werden, aus dieser einen Weg zum Unendlichen und Übersinnlichen zu finden; geht sie von der Tathandlung aus, so steht sie gerade auf dem Punkte, der beide Welten verknüpft, und von welchem aus sie mit Einem Blick übersehen werden können.« Zugleich wird gezeigt, daß unser Handeln und Wollen nicht von den Systemen unserer Vorstellungen, sondern daß das System der Vorstellungen von unserem Triebe und unserem Wollen abhängt. So wird das Wollen zur Hauptkraft der Seele, zur Kraft, welche letzthin auch über die Richtung des Denkens entscheidet. »Die Sphäre unserer 81 Erkenntnis wird bestimmt durch unser Herz; nur durch unser Streben umfassen wir, was je für uns dasein wird.« Namentlich ist der Hauptgegensatz in der Stellung zur Welt, wie er nach Fichtes Ausdruck in Dogmatismus und Idealismus vorliegt, nach ihm nicht durch wissenschaftliche Erörterung zu entscheiden, sondern er fordert eine Entscheidung des ganzen Menschen. Der Dogmatismus anerkennt eine gegebene Welt und macht sich zugleich von ihr abhängig, der Idealismus hebt über alle solche Bindung hinaus, versteht alle Wirklichkeit aus dem Handeln der Intelligenz und gewährt uns zugleich volle Freiheit. An dieser entscheidenden Stelle gilt das Wort: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.«


Das Ziel der Ziele wird hier Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen, das aber nicht als eine Sache blinden Naturtriebs, sondern als eine Forderung und eine Pflicht. Es gilt unser empirisches Ich dem absoluten Ich unterzuordnen und dieses in jenem möglichst rein darzustellen, unser ganzes Leben verwandelt sich damit in eine Aufgabe und eine Pflicht, eine Pflicht an erster Stelle nicht gegen andere, sondern gegen uns selbst, in einen unablässigen Antrieb zur Erringung unseres echten Wesens, zur Abschüttelung alles dessen, was uns beengt und niederdrückt, zur Ausbildung voller Freiheit und Selbständigkeit. Daher ist die Pflicht kein von draußen auferlegtes Gebot, keine bloße Polizei 82 des Lebens, sondern die stärkste Lebensbewegung selbst, ein mutiger Aufstieg zur eigenen Höhe.


Selbsttätigkeit

Damit erhält der Mensch den Antrieb, nichts von dem, was er draußen um sich findet, unbesehens und gutgläubig hinzunehmen, vielmehr werde alles gewissenhaft geprüft und nichts geduldet, was nicht aus unserm eigenen Denken und Leben hervorgeht und nicht vor der Vernunft sein gutes Recht zu erweisen vermag. Auch in unserm Innern bleibe nichts in trägem Schlummer, werde nichts bloß gewohnheitsmäßig fortgeführt, sondern alles werde belebt, alles unter der Leitung der Vernunft zu möglichst kräftiger Betätigung aufgerufen. Als Quelle aller Laster erscheint hier die Faulheit, als das »radikale Übel« die Trägheit; eine starre Routine aber, welche die Steigerungsfähigkeit menschlichen Vermögens verkennt, wird gewarnt, die Stärke, die ein großer Entschluß geben wird, nicht nach der zu beurteilen, die wir alle Tage haben. Aller ängstlichen Berechnung des Vermögens stellt Fichte die Überzeugung entgegen, daß der Mensch kann, was er soll, und daß er nicht wahrhaft will, wenn er sagt, daß er nicht kann. In diesem Gedankengange erscheint als der Zweck des Erdenlebens der Menschheit der, daß sie alle Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte, und die Kultur wird definiert als »Übung aller Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit, der völligen Unabhängigkeit von allem, was nicht wir selbst, unser reines Selbst ist«. Solcher Überzeugung 83 wird alles wertvoll, was die Tätigkeit zu steigern verspricht, so das Bedürfnis, so selbst der Schmerz, indem er zur Tätigkeit reizt.

Als selbstverständlich erscheint dabei die Forderung, daß der Mensch aus eigener Entscheidung handle und sich nicht durch etwas Fremdes bestimmen lasse; »sei dir selbst alles oder du bist nichts«; »wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos«. Nur eigene Freiheit führt zur Moralität. In unverkennbarem Hinblick auf Kant und in deutlicher Scheidung von ihm wird die Formel aufgestellt: »Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken kannst«; vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst bildet das höchste Ziel.

Aber die Begründung des Menschen auf sein eigenes Wollen und Wesen bedeutet für Fichte nicht eine Isolierung, nicht eine Absonderung von andern Menschen. Wie es Fichte persönlich in allem, was er dachte und tat, zum Menschen und zum Wirken auf den Menschen trieb, so verficht er auch als Philosoph die Überzeugung, daß der Mensch, als Vernunftswesen, nur unter Menschen ein Mensch wird.

Die menschliche Gesellschaft ist recht gefaßt nicht eine Hemmung, sondern eine Förderung der Freiheit und Selbsttätigkeit, sie sei aber gefaßt als »die Beziehung der vernünftigen Wesen aufeinander«, ihr Charakter ist »Wechselwirkung durch Freiheit«. Es entwickelt sich hier das Verhältnis des Rechts. Es kann nämlich das endliche Vernunftwesen nicht noch andere endliche Vernunftwesen außer sich annehmen, 84 ohne sich zu diesen in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen, und dies eben nennt man das Rechtsverhältnis. »Ich kann einem bestimmten Vernunftwesen nur zumuten, mich für ein vernünftiges Wesen anzuerkennen, inwiefern ich es selbst als ein solches behandle.« So muß ich meine Freiheit so weit einschränken, daß seine Freiheit möglich wird. Jede Person hat das Recht, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein. Das Recht entspringt nicht aus dem Staat, sondern aus unserer vernünftigen Natur; der Staat erscheint als ein besonderes Mittel zur Herstellung einer vollkommenen Gesellschaft. »Die Übereinkunft über die gemeinschaftlichen Rechte in der Sinnenwelt heißt der Staatsvertrag, und die Gemeine, die übereingekommen ist, der Staat.« Da der Staat ein bloßes Mittel ist, kann er nicht als Selbstzweck gelten und von bleibender Dauer sein; es heißt daher: »der Staat geht, wie alle menschlichen Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigene Vernichtung aus; es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen«.

Der Rechts- und Freiheitsstaat

So entsteht der Rechts- und Freiheitsstaat, der vor allem den Schutz der Selbständigkeit der Individuen zum Ziele hat. Es liegt in der Idee dieses Staates, daß jeder als Staatsbürger an der Gesetzgebung mitwirke, denn nur so wird das Gesetz sein eigener Wille und erlangt für ihn eine verpflichtende Kraft. »Kein Mensch kann verbunden werden ohne durch sich selbst.« Wir dürfen nicht aus unsrer Art andere beglücken wollen, sondern 85 jeder hat sich selbst zu kultivieren. Niemand darf sich von der Gemeinschaft absondern und einen Staat im Staate bilden wollen, niemand überhebe sich über andre; »jeder, der sich für einen Herrn anderer hält, ist selbst ein Sklave«. Unterschiede der bürgerlichen Stellung sind unvermeidlich, aber sie haben zurückzutreten vor der »Gleichheit alles dessen, was menschliches Angesicht trägt«. Aus solcher Überzeugung erörtert Fichte die Frage, ob, wenn ein Mensch in Lebensgefahr gerät, ein jeder, wie immer seine bürgerliche Stellung sei, auch unter Einsetzung seines eigenen Lebens zur Hilfe verpflichtet sei. Fichte bejaht diese Frage bedingungslos, da vor dem höchsten Gesetz Menschenleben von gleichem Werte sei; er billigt durchaus das dem Prinzen Leopold von Braunschweig, der 1785 bei Rettung Überschwemmter in der Oder ertrank, zugeschriebene Wort: »Hier gilt es Menschenleben; was bin ich da mehr als ihr?«


Schon in solcher warmen Schätzung des Menschen überschreitet Fichte den herkömmlichen Rechts- und Freiheitsstaat, er tut es weiter mit seiner Forderung, dem Gelehrtenstand solle die oberste Aufsicht über den Fortgang des Menschengeschlechts und die Beförderung dieses Fortgangs anvertraut werden, er tut es am meisten in der kräftigen Betonung der sozialen Aufgaben, wie wir es heute nennen würden. Die Selbständigkeit der Persönlichkeit fordert nach seiner Überzeugung, daß jeder Staatsbürger ein Eigentum habe; verlangt wird 86 ferner, daß jeder arbeite und daß er von seiner Arbeit leben könne; »jeder muß das Unentbehrliche haben, das ist unveräußerliches Menschenrecht«: entstehen dabei Verwicklungen, so müssen die einen, die in Luxus leben, Entbehrliches aufgeben, damit die andern Unentbehrliches haben.

Vielleicht haben nach dieser Richtung die Jugenderfahrungen Fichtes mitgewirkt, jedenfalls bekundet die Wärme, die er gerade bei diesen Fragen zeigt, wie sehr sie seine Seele bewegen.


Wir werden sehen, wie diese Richtung ihn später zu einem eigentümlichen Staatsideal geführt hat, müssen aber zunächst einer durchgehenden Verschiebung seiner Denkart gedenken, die keineswegs einen Abfall von seiner Hauptrichtung bedeutete, die aber eine Seite an ihr vor der anderen mehr hervortreten ließ. Mit ganzer Kraft erfaßt Fichte Freiheit und Selbsttätigkeit als die höchsten Güter, ja als die einzig wahren Güter. Aber diese Freiheit war ihm nicht eine Eigenschaft des bloßen Menschen, sondern des Menschen als eines Trägers der Vernunft, als eines Gliedes des Reiches der Freiheit; die Vernunft aber ist etwas Ganzes und Gemeinsames, so schließt das Streben nach Vernunft auch die Sorge für das Ganze und Gemeinsame ein. Daher konnte er sagen, der moralische Endzweck jedes vernünftigen Wesens sei Selbständigkeit der Vernunft überhaupt, sei Moralität aller vernünftigen Wesen. So konnte es schon in dieser ersten Epoche heißen: »Die wahre Tugend besteht 87 im Handeln, im Handeln für die Gemeine, wobei man sich selbst gänzlich vergesse.«


Der Vorwurf des Atheismus

Diese Gemeinsamkeit der Vernunft, ihre Einheit, sowie das Angewiesensein jedes Einzelnen darauf, hob sich aber noch weit mehr hervor, seit Fichte sich in heftigen Kämpfen gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen hatte. Fichte war im Grunde seines Wesens eine tiefreligiöse Natur, er hatte durch sein ganzes Leben einen festen Glauben an eine unmittelbare Leitung seiner Geschicke durch eine Vorsehung. Aber er begründete und entwickelte seine Überzeugungen mit philosophischer Freiheit nach eigener Art, und diese Art konnten Fernerstehende oder gar unfreundlich Gesinnte leicht mißdeuten. Ihm war das Göttliche die moralische Ordnung, die wir annehmen müssen, er lehrte aber in dieser Epoche kein besonderes Wesen als die Ursache jener Weltordnung. Das klang wie Atheismus, war es aber im Zusammenhange seiner Gedankenwelt nicht, da er überhaupt kein Sein jenseits der Tätigkeit gelten ließ, sondern es ganz in diese aufnahm. Er wollte nicht die Seele leugnen, wenn er sagte: »Deine Seele ist nichts als dein Denken, Begehren, Fühlen selbst«; so wollte er auch nicht die Gottheit leugnen, wenn er sagte: »Gott ist nichts als das notwendig anzunehmende Schaffen, Erhalten, Regieren selbst.« Aber das Mißverständnis war erklärlich, und Fichte hatte harte Angriffe abzuwehren. Solche Abwehr führte aber dazu, früher im Hintergrunde stehende Überzeugungen 88 mehr hervorzukehren und damit, wenn auch unbewußt, eine Verschiebung zu vollziehen. Mit höchster Energie verficht er von nun an die Überlegenheit des Gottesgedankens. »Die übersinnliche Welt ist unser Geburtsort und unser einziger fester Standpunkt, die sinnliche Welt ist nur der Widerschein der ersteren. Du glaubst nicht an Gott, weil du an die Welt glaubst, du erblickst vielmehr eine Welt lediglich darum, weil du an Gott zu glauben bestimmt bist.« In diesem Zusammenhange fällt auch das Wort, die Welt sei nur das »versinnlichte Materiale unserer Pflicht«. So sehr er daran festhält, daß Moralität und Religion eins sind, beides ein Ergreifen eines Übersinnlichen, das erste durch Tun, das zweite durch Glauben, so wird ihm Gott doch mehr als eine moralische Ordnung, er erscheint als »selbsttätige Vernunft«, auch als Wille, in dem unser Wille wirkt, und von dem die Stimme des Gewissens kommt; es entwickelt sich damit weit mehr ein persönliches Verhältnis, eine Hingebung an die höhere Macht, ein Voranstellen der Liebe vor das Handeln, eine weichere und innigere Gemütsstimmung. So entsteht eine moderne Mystik und findet in der Anweisung zum seligen Leben einen glutvollen Ausdruck. Das menschliche Leben erscheint hier als vom göttlichen getragen, das unmittelbar in der Seele gegenwärtig ist, das aber ergriffen und angeeignet werden muß, wenn der Mensch vollen Anteil an göttlicher Liebe und Seligkeit gewinnen will. Der Zustand der Seligkeit aber ist für Fichte nichts anderes als die Zurückziehung 89 unsrer Liebe aus dem Mannigfaltigen auf das Eine. Diese Seligkeit sollen wir ja nicht erst im Jenseits suchen und damit die Religion in ein bloßes Harren und Hoffen verwandeln, da uns das Göttliche nie näher kommt als es schon hier und heute ist. »Durch das bloße Sichbegrabenlassen kommt man nicht in die Seligkeit.« Die Religion erhebt ihren Jünger unmittelbar über die Zeit und Vereinzelung und versetzt ihn in den Besitz der ewigen Einheit. So heißt es denn:

Das Ewig-Eine
Das Ewig-Eine
Lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen.
Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet,
Dein Ich ist sie; es sterbe was vernichtbar,
Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben.
Durchschaue was dies Sterben überlebet,
So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar,
Und unverschleiert siehst du göttlich Leben.

Eine Religion, die so auf das Grundmenschliche, einem jeden in innerer Erhebung unmittelbar Zugängliche gerichtet ist, kann sich nicht auf historische Daten und auf sinnliche Wunder stützen. Mit vollem Eifer dringt Fichte darauf, daß die Anerkennung der höheren Welt unabhängig gemacht werde vom historischen Glauben und von der Gemütslage der einzelnen Menschen. Selig, so meint er, macht nicht das Historische, sondern nur das Metaphysische. Beides sei deutlich auseinandergehalten. »Man sage nicht, was schadets, wenn auch auf dieses Historische gehalten wird. Es schadet, 90 wenn Nebensachen in gleichen Rang mit der Hauptsache gestellt oder wohl gar für die Hauptsache ausgegeben, und diese dadurch unterdrückt und die Gewissen geängstigt werden, zu begreifen und zu glauben, was sie unter solcher Anweisung nimmermehr glauben können.« Gewiß ist echter Religion das Wunder unentbehrlich, aber der Denker kann dieses nicht in einmaligen geschichtlichen Ereignissen, sondern nur in fortlaufenden Bekundungen göttlichen Lebens finden. »Diese Wunder in der Sinnenwelt (vom Himmel) leugne ich entschieden, lehrend übrigens einen lebendigen und wirkenden Gott in der Geisterwelt. Daß er allen, die zu ihm sich nahen, ein neues Herz schafft, ist sein ewiges großes Wunder.«


Das Bild, das Fichte aus solchen Überzeugungen vom Stande der Menschheit entwirft, kann nicht wohl günstig sein. Freilich hat er es immer abgelehnt, den Menschen als von Natur verderbt, als einen ganz und gar auf übernatürliche Rettung angewiesenen Sünder zu betrachten, aber wenn er ihn nach seinen Maßstäben mißt, so findet er ihn matt, träge, schwankend, überall zur Halbheit und Bequemlichkeit geneigt, in weitem Abstand von dem, was die Idee der Menschheit fordert. Den Glauben an diese Idee kann ihm aber alle Unzulänglichkeit des vorgefundenen Standes nicht im mindesten erschüttern. »Von der unmittelbaren Wirklichkeit kann man oft nicht schlecht genug denken. So niedrig man oft ihr Bild nimmt, so übertrifft 91 es doch die Erfahrung. Wer aber von der Menschheit nach ihrem allgemeinen Vermögen schlecht denkt, der lästert die Vernunft und verurteilt nebenbei sich selbst.« Auch an der eigenen Zeit findet Fichte wenig Gefallen. Sie läßt, wie er meint, nur die sinnliche Existenz der Individuen gelten, macht das Verständnis dieser zum Maßstab aller Wahrheit und entbehrt lebendiger und belebender Leitgedanken. Vor trübem Verzagen aber schützt unsern Denker nicht nur seine prinzipielle Überzeugung, sondern auch seine Fassung der Geschichte. Er glaubt nämlich in ihr eine aller Irrung der einzelnen überlegene Bewegung zu finden, eine Bewegung zu dem Ziel, daß die Menschheit alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte, daß sie sich in Freiheit zu dem mache, worauf die Natur sie angelegt hat. Eine derartige Bewegung sucht er in ihren Hauptzügen näher aufzuweisen. Sie begann mit einem Unschuldsstande; dieser mußte zugunsten der Freiheit verlassen werden; die nächste Betätigung dieser war ein Abfall, aber aus ihm ringt der Mensch sich wieder empor, um dann in unablässigem Fortschritt jenes Ziel einer freien Vernunft zu erreichen. Auch das Ideal eines ewigen Friedens wird in solche Hoffnung eingeschlossen.


Die Bestimmung des Menschen

Ein Gesamtbild des menschlichen Lebens entwirft Fichte in der Schrift: »Die Bestimmung des Menschen«, die sich nicht an Fachphilosophen wendet, sondern Leser aller Kreise anziehen, 92 erwärmen und »kräftig von der Sinnlichkeit zum Übersinnlichen fortreißen« möchte. In schwungvoller, bisweilen ans Rhetorische streifender Darstellung wird hier zunächst der Gegensatz eines an die gegebene Welt gebundenen Spinozismus und einer Lebensführung aus Selbsttätigkeit vor Augen gestellt, dann aber ein Überblick des Lebens von der letzteren Überzeugung aus gegeben.

Dem Spinozismus entsteht und entwickelt sich auch der Denkende nach Naturgesetzen, die Freiheit ist bloßer Schein, »der Tugendhafte ist eine edle, der Lasterhafte eine unedle und verwerfliche, jedoch aus dem Zusammenhange des Universums notwendige Natur«. Der Freiheitslehre aber gilt die Überzeugung: »Von dem Bedürfnis des Handelns geht das Bewußtsein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt vom Bewußtsein der Welt das Bedürfnis des Handelns; dieses ist das erste, nicht jenes, jenes ist das Abgeleitete. Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind, die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft.« Aus dem übersinnlichen Wesen des Menschen schöpfen wir nicht nur Mut und Kraft für das Leben, sondern auch eine felsenfeste Überzeugung von unserer Unsterblichkeit. »Aller Tod in der Natur ist Geburt, und gerade im Sterben erscheint sichtbar die Erhöhung des Lebens. Es ist kein tötendes Prinzip in der Natur, denn die Natur ist durchaus lauter Leben, nicht der Tod tötet, sondern das lebendigere Leben, welches, hinter dem alten verborgen, 93 beginnt und sich entwickelt. Tod und Geburt ist bloß das Ringen des Lebens mit sich selbst, um sich stets verklärter und ihm selbst ähnlicher darzustellen.«


Der geschlossene Handelsstaat

Auch die spätere Epoche Fichtes zeigt im einzelnen manche Bewegung, doch müssen wir uns hier auf das beschränken, was das politische und nationale Leben betrifft. Hier sind Wandlungen besonders greifbar, es erfolgt dabei eine immer weitere Entfernung von dem Rechts- und Freiheitsstaat des Anfangs, freilich unter entschiedener Wahrung der Selbsttätigkeit und des gleichen Rechtes aller Menschen. Eine merkwürdige Erscheinung ist zunächst »der geschlossene Handelsstaat« (1800), der das ganze wirtschaftliche Leben der Menschen auf eine neue Grundlage stellen und damit eine wesentliche innere Hebung des Ganzen herbeiführen möchte. Gleich zu Anfang äußert Fichte sich dahin, die Zurückweisung des falschen Satzes, der Staat sei unumschränkter Vormünder der Menschheit für alle ihre Angelegenheiten, habe zu einem ebenso falschen Gegensatze geführt, zu einer zu engen Beschränkung der Pflichten und der Rechte des Staates. Im besonderen genüge es nicht, daß der Staat einen jeden in seinem Eigentum schütze, er müsse vielmehr zuerst dafür sorgen, daß jeder ein Eigentum habe; dann erst könne er ihn darin schützen. Fichte erklärt es für den wahren Zweck des Staates, allen zu demjenigen zu verhelfen, was ihnen als 94 Teilhabern der Menschheit gehört, es gehört dazu aber nach seiner durchgehenden Überzeugung ein gewisses Eigentum, sowie auch das Recht, so echt menschlich auf der Erde zu leben, als es die Natur nur irgend gestattet. »Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt und nach der notdürftigsten Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist. Er soll nicht gerade mit seinem Lasttier essen, sondern seine Speise soll von desselben Futter, seine Wohnung von desselben Stalle sich ebenso unterscheiden, wie sein Körperbau von jenes Körperbau unterschieden ist. Dies ist sein Recht, darum weil er nun einmal ein Mensch ist.« So ist es Fichte, der aus der hohen Schätzung, welche der deutsche Idealismus dem Menschen als Menschen zollt, auch die sozialen Konsequenzen zieht.


Organisation der Arbeit

Das Mittel aber, das Fichte zur Erreichung jenes Zweckes für notwendig hält, bezeichnet schon der Titel der Schrift »Der geschlossene Handelsstaat«. Der Denker möchte die verschiedenen Staaten wirtschaftlich ganz auf sich selber stellen, den einzelnen Bürgern einen Handel mit dem Ausland streng verbieten, ein Landesgeld einführen, das nur innerhalb des besonderen Staates gilt; 95 weiter will er innerhalb der Staaten die Arbeit organisieren, der Staat soll ihre Verteilung gewissenhaft überwachen und sowohl dafür sorgen, daß ein Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion erhalten bleibt, als auch dafür, daß jeder einzelne den ihm zukommenden Besitz erhält und ein menschenwürdiges Auskommen findet.


In diesem Zusammenhange wird eine Forderung erhoben, für die wir Deutschen gerade in der gegenwärtigen Kriegslage ein entgegenkommendes Verständnis haben. Fichte verlangt nämlich zur vollen Unabhängigkeit des Landes, daß möglichst alle notwendigen Waren innerhalb seiner Grenzen hervorgebracht werden, er fordert uns auf, wenn gewisse Rohstoffe sich nicht in unserem Klima erzeugen lassen, stellvertretende Stoffe anzubauen und zu veredeln. »Fast jedes Klima hat seine eigenen Stellvertreter für jedes ausländische Produkt, nur daß der erste Anbau die Mühe nicht lohnt.« So hält er z. B. einen Ersatz für Baumwolle für ganz wohl möglich. »Tragen nicht mehrere Grasarten, Stauden, Bäume in unseren Klimaten eine wohl ebenso feine und durch Kultur sehr zu veredelnde Wolle?« Wir wissen, wie dies Problem auch die Gegenwart beschäftigt; was Fichte überhaupt erstrebt, die Herstellung einer vollen wirtschaftlichen Selbständigkeit unseres Staates, das zu suchen hat uns die Not des Krieges gezwungen.

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Fichte kann die Staaten nicht so scharf gegen einander abschließen, ohne daß auch die Frage eines eigentümlichen Nationalcharakters auftaucht. Das Bedenken, daß durch solche gegenseitige Abschließung die Vielseitigkeit der Bildung Schaden leide, weist er energisch zurück. »Wohl: wenn wir nur erst Völker und Nationen wären, und irgendwo eine feste Nationalbildung vorhanden wäre, die durch den Umgang der Völker miteinander in eine allseitige, rein menschliche übergehen und zusammenschmelzen könnte. Aber, so wie mir es scheint, sind wir über dem Bestreben, alles zu sein und allenthalben zu Hause, nichts recht und ganz geworden und befinden uns nirgends zu Hause.« Das stimmt zu dem Bilde, das Frau v. Staël in ihrem Buch über Deutschland von den Deutschen jener Zeit entwarf. Auch sie meinte, der Deutsche kenne alle Zeiten, nur nicht die Gegenwart, er sei überall zu Hause, nur nicht bei sich selbst.


Fichte erwartet übrigens zuversichtlich vom Allgemeinwerden des vorgeschlagenen Systems einen ewigen Frieden zwischen den Völkern, da sie sich dann gegenseitig gar nicht mehr stören würden. Für einen inneren Zusammenhang der Menschheit aber wird die Wissenschaft Sorge tragen. »Es gibt nichts, das allen Unterschied der Lage und der Völker rein aufhebe und bloß und lediglich dem Menschen als solchen, nicht aber dem Bürger angehöre, außer der Wissenschaft. Durch 97 diese, aber auch nur durch sie, werden und sollen die Menschen fortdauernd zusammenhängen, nachdem für alles übrige ihre Absonderung in Völker vollendet ist. Nur diese bleibt ihr Gemeinbesitz, nachdem sie alles übrige unter sich geteilt haben.«


Wie weit hat sich hier der Denker von dem Rechts- und Freiheitsstaat des Anfangs entfernt! Die Sorge, daß jeder einzelne zur Entfaltung seiner Kräfte und zu einem menschenwürdigen Dasein gelange, überwiegt augenscheinlich die um die Freiheit seiner Bewegung.


Die Wendung zum Kulturstaat

In anderer Richtung erscheint bei Fichte eine Wendung zum Kulturstaat, so namentlich in den »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters«, die bis nahe zu der politischen Katastrophe von 1806 reichen, und deren Fortsetzung ursprünglich die Reden an die deutsche Nation bilden sollten. Mit größter Energie werden hier Selbstsucht und Eigensinn der Individuen bekämpft, ihnen gegenüber wird die Gattung für das einzig wahrhaft Existierende erklärt. »Individuen verschwinden vollends vor dem Blick des Philosophen und fallen ihm alle zusammen in die Eine große Gemeine.« »Es gibt nur Eine Tugend, die, sich selber als Person zu vergessen, und nur Ein Laster, das, an sich selbst zu denken.« Solche Schätzung der Gattung bringt auch eine größere Schätzung der Geschichte mit sich, als wir bisher bei Fichte fanden; hier erscheinen die Menschen als durch die Arbeit früherer 98 Zeiten gebildet. »Alles Große und Gute, worauf unsere gegenwärtige Existenz sich stützt, ist lediglich dadurch wirklich geworden, daß edle und kräftige Menschen allen Lebensgenuß für Ideen aufgeopfert haben, und wir selber mit allem, was wir sind, sind das Resultat der Aufopferung aller früheren Generationen und besonders ihrer würdigsten Mitglieder.«


Nunmehr erscheint der Staat nicht mehr als ein »fast nur juridisches Institut«, nunmehr erscheint er nicht »als auf Individuen beruhend und aus ihnen zusammengesetzt, er ist ein unsichtbarer Begriff, nicht die Einzelnen, sondern ihr fortdauerndes Verhältnis zu einander«. Als die Aufgabe des Staates wird hier die Richtung aller individuellen Kräfte auf den Zweck der Gattung erklärt, dieser aber ist »Kultur« als »Einrichtung aller Verhältnisse nach dem Vernunftgesetz«. Die Individualität hat in dem vollkommenen Staate ganz in die Gattung aufzugehen, aber ein jeder erhält seinen Beitrag zur allgemeinen Kraft durch die Kraft aller übrigen verstärkt zurück. Doch ist das nicht so zu verstehen, daß der Staat alle Kulturarbeit direkt auf sich nehmen solle, sondern es handelt sich mehr um die Herstellung der Bedingungen für eine freie Erzeugung der Vernunft; ausdrücklich wird erklärt, daß die »höheren Zwecke der Vernunftkultur: Religion, Wissenschaft, Tugend«, nie Zwecke des Staates werden können. Auch hier wird von dem Kriege noch mit großer 99 Abneigung gesprochen, es heißt dabei: »Krieg ist nicht nur, wenn Krieg geführt wird, sondern die allgemeine Unsicherheit aller vor allen und die daraus erfolgende immerwährende Bereitschaft zum Kriege ist auch Krieg und hat für das Menschengeschlecht fast dieselben Folgen als der geführte Krieg.« Daß der ewige Friede endlich »einmal kommen muß«, wird hier zuversichtlich erwartet.


Weltbürgersinn

Wie kühl sich der hier verfochtene Kulturstaat zur Nation und zum Volkstum verhält, das zeigen die Worte dieser Schrift: »Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten Europäers? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur in Europa steht.« Es wird dann ausgeführt, wie Staaten sinken und steigen, wie aber den Denkenden auch ein Sinken seines Staates nicht erschrecken könne. »Mögen dann doch die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie behalten, was sie wollten und was sie beglückt: der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Kraft. Und in diesem Weltbürgersinne können wir dann über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen für uns selbst und für unsere Nachkommen bis an das Ende der Tage.«

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Ein so abstrakter Kosmopolitismus beherrschte damals die Höhe des deutschen Geisteslebens; kann irgend etwas zwingender als dieses Beispiel beweisen, daß die große Katastrophe unerläßlich war, daß das deutsche Volk erst durch die Schule des Leidens gehen mußte, um sich selber zu finden?


Die Reden an die deutsche Nation

Als die Katastrophe kam, hat Fichte nicht nach jenen Worten gehandelt, er hat aufs treueste zu seinem Volke gestanden, er hat die allgemeine Not als seine persönliche erlebt und empfunden, er hat sich aber nicht mit Klagen und Jammern begnügt, sondern er ist ungebeugten Muts sofort an das heilige Werk gegangen, sein Volk wieder aufzurichten, er ist ihm in Wahrheit ein fester Halt und ein weitschauender Führer geworden. Seine Reden an die deutsche Nation verkörpern wohl aufs beste die Gesinnungen und die Überzeugungen, welche damals die aufstrebenden Seelen durchwogten; auch hat hier wohl zuerst der nationale Gedanke eine prinzipielle philosophische Begründung erhalten.


So sehr die Reden sich an die unmittelbare Gegenwart wenden, sie bekunden durchaus die Art unseres Denkers, auf die tiefsten Wurzeln zurückzugehen und von innen her aufzubauen. Das entscheidende Heilmittel sieht er in einer gänzlichen Veränderung des bisherigen Erziehungswesens. Es gilt mehr Bildung des Willens und des Charakters, mehr Bildung in der Gemeinschaft 101 und für die Gemeinschaft, es gilt die Herstellung einer Nationalerziehung nicht für einzelne Stände, sondern für alle miteinander, so daß auch der Gelehrte durch diese Nationalerziehung hindurchgehen muß. Der Zögling ist dabei in unablässige Tätigkeit zu versetzen, die Selbstsucht schon im Keim auszurotten, alles dunkle Gefühl in Erkenntnis aufzulösen, das Erkenntnisvermögen aber nie anzuregen, ohne auch Liebe für den Gegenstand des Erkennens zu erwecken. Eine derartige Umwälzung der Erziehung ist nicht von den Familien, im besonderen den Müttern, zu erwarten; so müssen die Kinder von ihnen entfernt und Erziehungsanstalten überwiesen werden. Solche Forderung der Nationalerziehung durchzuführen ist an erster Stelle der Staat berufen, so fällt ihm hier eine neue Aufgabe zu und läßt ihn als unentbehrlich für die höchsten Ziele der Menschheit erscheinen. Entschieden tritt Fichte hier denen entgegen, welche durch eine bloß literarische Bildung die Erhaltung der Nation gesichert glaubten.

Bei allem schroffen Radikalismus enthalten diese Erziehungsgedanken ohne Zweifel wertvolle Anregungen, die teilweise von Friedrich Fröbel weitergeführt worden sind, und die uns auch heute noch manches zu denken geben. Aber nicht dabei können wir hier verweilen, uns muß im besonderen die Fassung und die Begründung der nationalen Idee beschäftigen, welche diese Reden bringen. Es ist ein streng geschlossener Gedankengang, in dem 102 Fichte sowohl die Bedeutung der Nation überhaupt als seine Schätzung des deutschen Volkes und seinen Glauben an dessen Weltaufgabe entwickelt und rechtfertigt; die einzelnen Punkte sind dabei folgende:

1. Der Mensch kann nichts wahrhaft lieben, das er nicht als ewig erfaßt;

2. unter normalen Verhältnissen ist eine Ewigkeit nicht erst im Jenseits, sondern schon auf Erden zu suchen;

3. eine irdische Ewigkeit als dauerndes Fortwirken in der Zeit gibt dem Menschen allein sein Volk, seine Nation, als eine eigentümliche Verkörperung und Befestigung des allgemeinen Geisteslebens;

4. das deutsche Volk hat eine solche ausgeprägte Nationalität, und zwar eine von höchster Bedeutung, ja Unentbehrlichkeit für das Ganze der Menschheit;

5. solche Unentbehrlichkeit gibt das feste Vertrauen auf eine Überwindung aller Gefahren und ein siegreiches Auferstehen der deutschen Nation.

Zur näheren Ausführung dieser Punkte sei folgendes bemerkt. Die Unentbehrlichkeit eines Ewigen für unser Leben und Streben begründet Fichte in folgender Weise: »Die Liebe, die wahrhaftig Liebe sei und nicht bloß eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht und entzündet sich und ruht allein in dem Ewigen. Nicht einmal sich selbst vermag der Mensch zu lieben, es sei denn, daß 103 er sich als Ewiges erfasse; außerdem vermag er sich sogar nicht zu achten noch zu billigen. Noch weniger vermag er etwas außer sich zu lieben, außer also, daß er es aufnehme in die Ewigkeit seines Glaubens und seines Gemüts, und es anknüpfe an diese.«


Ewigkeit der Nation

Eine solche Ewigkeit dürfen wir aber nicht erst jenseits des Grabes suchen. Denn wenn in besonderen Wendepunkten der Zeiten die Religion das Recht und die Pflicht hat, den Menschen gänzlich über das irdische Leben hinauszuheben, so bleibt »der natürliche, nur im wahren Falle der Not aufzugebende Trieb des Menschen der, den Himmel schon auf dieser Erde zu finden und Ewigdauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk, das Unvergängliche im Zeitlichen selbst zu pflanzen und zu erziehen«. Wohl ist die Religion auch der Trost des widerrechtlich zerdrückten Sklaven, aber vor allen Dingen ist dies religiöser Sinn, daß man sich gegen die Sklaverei stemme, und, so man es verhindern kann, die Religion nicht bis zum bloßen Troste der Gefangenen hinabsinken lasse.

Eine Ordnung der Dinge aber, die fähig wäre, auf dieser Erde Ewiges in sich aufzunehmen, ist die besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung, aus welcher der Einzelne mit allem seinem Denken und Tun und mit dem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist, das Volk, von welchem er abstammt, und unter welchem er 104 gebildet wurde, und zu dem, was er jetzt ist, heraufwuchs. So gründet sich »der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigentümlichkeit desselben. – Diese Eigentümlichkeit ist das Ewige, dem er die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge, in die er sein Ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn sie allein ist ihm das entbindende Mittel, wodurch die kurze Spanne seines Lebens hienieden zu fortdauerndem Leben hienieden ausgedehnt wird. – Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzen des wechselnden Daseins hat für ihn ja ohnedies nie Wert gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des Dauernden; aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muß er sogar sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von jeher gemocht hat.«


Das Volk des Gemütes

Und nun das deutsche Volk! Fichte ist der erste, der es das Volk des Gemütes genannt hat. In dem, was er dafür an Beweisen anführt, mag manches angreifbar sein, so namentlich seine Erörterungen über die Sprache, aber im Grundgedanken trifft er gewiß den Kern der Sache. Er findet die Größe des deutschen Volkes in der vollen Ursprünglichkeit seines Schaffens, in dem 105 Leben und Wirken von innen heraus, in dem Bewegen der letzten Tiefen. Aus solcher Art »wird der deutsche Geist neue Schachten eröffnen, und Licht und Tag einführen in ihre Abgründe, und Felsmassen von Gedanken schleudern, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen erbauen.«


Als Zeugnisse solcher Innerlichkeit nennt er die deutsche Behandlung der Religion mit ihrer tiefernsten Sorge für die Rettung der Seelen. Dabei hat er besonders Luther vor Augen, den er weniger konfessionell als in seiner reinmenschlichen Größe faßt. Ihm widmet er folgende Worte: »Ihn ergriff ein allmächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil, und dieser ward das Leben in seinem Leben, und setzte immerfort das Letzte in die Wage und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert. Mögen andere bei der Reformation irdische Zwecke gehabt haben, sie hätten nie gesiegt, hätte nicht an ihrer Spitze ein Anführer gestanden, der durch das Ewige begeistert wurde; daß dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos entgegenging, ist natürlich und durchaus kein Wunder. Dies ist nun ein Beleg von deutschem Ernst und Gemüt.«

Ein anderes Zeugnis liefert die deutsche Philosophie mit ihrem Verlangen, die Wirklichkeit von innen her zu verstehen und den Menschen über 106 das sinnliche Dasein hinauszuheben. Denn »wo selbständiger deutscher Geist sich regte, da genügte das Sinnliche nicht, sondern es entstand die Aufgabe, das, freilich nicht auf fremdes Ansehen zu glaubende, Übersinnliche in der Vernunft selbst aufzusuchen und so erst eigentliche Philosophie zu erschaffen, indem man das freie Denken zur Quelle unabhängiger Wahrheit machte«. Dafür beruft er sich auf Leibniz wie auf Kant, dahin rechnet er auch sein eigenes Streben. – Als weiteres Zeugnis wird die Blüte des deutschen Bürgertums in den Reichsstädten des Mittelalters angeführt, das somit, hier wohl zuerst, auch die Schätzung eines Philosophen findet. Indem er endlich die Hauptaufgabe der eignen Zeit in die Erziehung der Nation zum Menschen setzt, darf er sich auf Pestalozzi als auf ein leuchtendes Vorbild deutscher Gesinnung und deutscher Art berufen. »Er hat ein mühevolles Leben hindurch im Kampfe mit allen möglichen Hindernissen – gerungen nach einem bloß geahnten, ihm selbst durchaus unbewußten Ziele, aufrechtgehalten und getrieben durch einen unversiegbaren und allmächtigen und deutschen Trieb, die Liebe zu dem armen verwahrlosten Volke.«


Die Nation als Glied der Menschheit

Ein Volk, das solche Gaben und Aufgaben in sich trägt, ist der Menschheit unentbehrlich, es kann und wird nicht untergehen. Aber die Geschicke vollziehen sich nicht ohne uns und unser Wirken, es bedarf, mit solcher Mahnung schließt 107 Fichte die Reden, unserer eigenen höchsten Kraftanspannung, um die drohenden Gefahren zu überwinden. »Ist in dem, was in diesen Reden dargelegt worden, Wahrheit, so seid unter allen neueren Völkern ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt und denen der Vorschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen ist. Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zugrunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechtes auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zugrunde.« Eine solche Aufforderung trägt bei allem Ernst in sich unmittelbar die Gewißheit ihrer Erfüllung. Klar ist dabei, daß Fichte die Nation stets als Glied der Menschheit faßte, wie er denn auch in der Wendung zum Nationalen das Weltbürgertum keineswegs aufgab, und daß er in der Nation weniger einen fertigen Besitz als eine große Aufgabe sah. Ein hochmütiger, dabei träger Rassendünkel liegt ihm, der alles auf Tat und eigenes Erringen stellt, so fern wie nur irgend möglich.

Was Fichte weiter an politischen Gedanken äußerte, das steht unter dem Einfluß der Vorbereitung und des Beginns der Freiheitskriege. Immer blieb er ein Mahner zur Freiheit und Selbständigkeit, auch seine letzten Schriften verfechten die Gleichheit alles dessen, was menschliches Angesicht trägt. Aber zugleich findet die Nation und ihre Geschichte mehr Würdigung, auch der wahrhafte Krieg, d. h. ein Krieg, den 108 ein Volk zur Rettung seiner Selbständigkeit führt, wird mit aller Energie verteidigt. Dann nämlich ist »die allgemeine Freiheit und eines jeden bedroht; ohne sie kann er leben gar nicht wollen, ohne sich für einen Nichtswürdigen zu bekennen. Es ist darum jedem für die Person und ohne Stellvertretung – denn jeder soll es ja für sich selbst tun – aufgegeben der Kampf auf Leben und Tod.« Wird ein solcher Krieg verkündigt, »so soll dem Erleuchteten sich das Herz erheben beim Anbruche seines Vaterlandes, und er soll es begierig als vollen Ernst ergreifen«. So wäre Fichte 1813 am liebsten selbst mit ins Feld gezogen, so hat er nach bestem Vermögen als Landwehrmann Dienst getan, ja er ist, wenn auch indirekt, als ein Opfer des Krieges gefallen, indem er von einer schweren Seuche angesteckt wurde, die seine Frau bei der Pflege erkrankter Verwundeter befallen hatte. Noch seine letzten Phantasien beschäftigten sich mit dem Vaterland und dem Vordringen der deutschen Heere.


Der wahrhafte Krieg

Unter solchen Kämpfen und Stürmen verblaßte die Idee eines ewigen Friedens, die er früher begeistert verkündigt hatte. Wie weit er davon abgerückt war, das zeigt im besonderen eine merkwürdige Abhandlung über Macchiavelli, in der er sich ganz in dessen Ansicht von der Bösartigkeit der Menschen versetzt und zugleich in die Notwendigkeit, die Politik nach solcher Art zu bemessen. Hier heißt es: »Die Zeitphilosophie war 109 in der letzten Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts gar flach, kränklich und armselig geworden, darbietend als ihr höchstes Gut eine gewisse Humanität, Liberalität und Popularität, flehend, daß man nur gut sein möge und dann auch alles gut sein lasse, überall empfehlend die goldne Mittelstraße, d. h. die Verschmelzung aller Gegensätze zu einem dumpfen Chaos, Feind jedes Ernstes, jeder Konsequenz, jedes Enthusiasmus, jedes großen Gedankens und Entschlusses und überhaupt jedweder Erscheinung, welche über die lange und breite Oberfläche um ein weniges hervorragte, ganz besonders aber verliebt in den ewigen Frieden.«

So sind die gewaltigen Bewegungen der Zeit an Fichte nicht spurlos vorbeigerauscht, aber auch in den Verschiebungen seiner Ansichten wahrte er treu sein eigenes Wesen, und in alle Ziele, die er verfolgte, legte er ganz dieses Wesen hinein. In ihm war ein stürmischer Eifer, ein rücksichtsloses Vorwärtsdrängen, aber auch eine große Liebe, eine Liebe namentlich zu den schwer kämpfenden Gliedern des Volkes; von aller Menschenfurcht frei, bildet er durch sein Leben und Wirken ein deutliches Zeugnis dafür, was eine Persönlichkeit vermag, die lediglich auf sich selber steht und mit ganzer Hingebung ausführt, was Natur und Geschick ihr gebietet. Daß er überall auf einfache Grundzüge und auf einfache Ziele drang, war und bleibt ein hohes Gut für unsere deutsche Art, die leicht zur Kompliziertheit neigt, auch die gewaltige Kraft der Bewegung, 110 die von ihm ausgeht und der uns leicht anhaftenden Schwerfälligkeit entgegenwirkt, ist heute noch nicht erloschen. Die Geschichte der Philosophie rechnet ihn zu den führenden Geistern, dem nationalen Leben unseres Volkes aber darf er wie ein treuer Eckart gelten, als ein unermüdlicher Mahner zur Hingebung an die Gemeinschaft, zur Aufbietung aller Kräfte, zur Wahrung eines festen und freudigen Glaubens an unser Volk auch inmitten schwerer Gefahren und Nöte. Eine große Krise wies ihm die Aufgabe zu, sein Volk zu wecken und zu sammeln, er hat diese Aufgabe durch sein ganzes Wirken und Sein in hervorragender Weise gelöst, dem Aufstieg deutschen Wesens bleibt sein Name unzertrennlich verbunden. Er war bei allen Härten seiner Art ein ganzer Mensch, eine markige Persönlichkeit, ein Lehrer seines Volkes in großem Stile; so konnte man mit Recht auf sein Grabmal die Worte setzen: »Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.«


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Die Romantik

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Die Schätzung der Romantik ist neuerdings umgeschlagen; ein Beispiel dessen, wie mit den Wandlungen des eigenen Lebens sich auch die Bilder vergangener Zeiten verändern. Es ist noch nicht lange her, da war die Romantik in Acht und Bann getan, und Romantiker galt fast als Scheltwort; nun haben Verschiebungen im eigenen Leben uns jener Zeit innerlich näher gebracht und uns mehr Verständnis für sie gegeben. Es hat aber der Versuch einer unbefangenen Würdigung der Romantik große Schwierigkeiten: nicht nur widersteht ihre eigentümliche Natur einer scharfen begrifflichen Fassung, sondern es verhindert auch die Fülle verschiedener Gestalten und das Wirken verschiedener Strömungen in ihr ein einfaches gemeinsames Bild. Immerhin darf unsere Arbeit jene Erscheinung nicht unbeachtet lassen, da sie sowohl in engem Zusammenhange mit philosophischen Bewegungen steht, als auch auf die geistige Entwicklung unseres Volkes, im besondern die Ausbildung seines nationalen Sinnes, nicht unerheblich gewirkt hat.


Voraussetzung und Ausgangspunkt der Romantik ist die Befreiung des Menschen vom Druck einer ihn bindenden Welt, wie sie Kant und im Anschluß an ihn Fichte vollzogen hatten. Aber diese 114 Befreiung nimmt jetzt eine völlig andere Richtung als bei jenen. Dort war die Befreiung zugleich die Aneignung einer allgemeinen Vernunft und die Unterordnung unter das selbstgewollte Gesetz, zum Kern des Lebens wurde damit das moralische Verhalten des Menschen, das Individuum empfing seine Bedeutung von der Gesamtordnung her und durch sein Wirken für diese. Der Romantik dagegen wird das Individuum zum Selbstzweck, das Individuum, das, als geistig begabt und künstlerischen Schaffens fähig, alle Bindungen löst, alle Zusammenhänge aufgibt, sich lediglich auf sein eigenes Vermögen stellt; statt der moralischen Lebensführung entwickelt sich hier eine künstlerische, die moralische Persönlichkeit weicht hier der schöpferischen, möglichst ins Geniale gehobenen Individualität, die in der Ausbildung und Verfechtung ihrer eigenen Art eine stolze Freude findet.


Romantische Stimmung

Das ergibt mannigfache Folgen für das Verhältnis des Menschen zu anderen wie zu sich selbst. Kants und Fichtes moralische Weltanschauung verkündete die Gleichheit alles Menschenwesens und fand das Große vornehmlich in dem, was uns allen gemeinsam ist, die ästhetische der Romantik hingegen kehrte möglichst die Unterschiede hervor und hob das künstlerische Subjekt scharf von seiner Umgebung ab, – der Romantik namentlich ist das Wort »höher« ein Lieblingsausdruck geworden, »höheres« Leben, »höhere« Bildung, »höhere« Sittlichkeit usw. –; waren jene Denker darin 115 stark, in dem Einfachen und Schlichtmenschlichen Großes aufzudecken, so überwog hier die Neigung, auf das alltägliche Dasein wie auf etwas Niederes herabzusehen, das prosaische »Philistertum«, auch die »Beschränktheit häuslicher Frauen« (Fr. Schlegel) zu verspotten, gern in fremde Regionen zu fliehen, entlegene Vorgänge aufzusuchen, dem Außergewöhnlichen, Geheimnisvollen, Wunderbaren besondere Schätzung zu zollen. Was unmittelbar bei uns vorgeht, wird gern als ein Symbol einer verborgenen tieferen Welt betrachtet, die in unser Dasein hineinragt, sich uns aber nur in gewissen Andeutungen und Ahnungen zu erkennen gibt.

Die Führer der moralischen Lebensgestaltung fanden den Kern der Seele im Wollen, dies Wollen aber konnte nicht fest und kräftig sein ohne volle Klarheit und Bewußtheit, so war alles Unbewußte als eine niedere Stufe zu überwinden; den Romantikern dagegen lag jener Kern im Befinden des Subjekts, im freischwebenden Gefühl, der in Begriffe unfaßbaren »Stimmung«, die hier zuerst selbständig auftritt; das Unbewußte erscheint hier nicht als etwas Niederes und Abzulegendes, sondern als der Urquell des Lebens, aus dem es unablässig schöpfen muß, und von dem aus es sich immer wieder zu erneuern hat. Absichten zu haben und nach Absichten zu handeln, das erscheint hier als etwas Niederes; zur Forderung wird vielmehr, »sich ohne alle Absicht auf dem inneren Strom ewig fließender Bilder und Gefühle frei zu bewegen« (Fr. Schlegel). Alle Geschlossenheit des 116 Wesens dünkt hier eine bloße Enge, der freien Bewegung und dem Spiel der Phantasie wird unbegrenzter Raum gelassen.


Romantische Kunst

Auch die Gestalt, welche das künstlerische Schaffen hier annimmt, bildet einen entschiedenen und vollbewußten Gegensatz zu einer anderen Art. Die von dem freischwebenden Subjekt getragene und vornehmlich auf sein Ergehen gerichtete romantische Kunst weiß sich grundverschieden von der klassischen mit ihrer Richtung auf den Gegenstand und mit ihrem Streben, zu ihm das rechte Verhältnis zu finden. Diese ist durchgängig auf Maß und Grenze bedacht, sie will alles einzelne straff zusammenfassen und zum Ganzen einer Wirkung verbinden, sie erstrebt einen klaren Aufbau unter sicherer Abwägung aller Verhältnisse, sie findet ihr Vorbild vornehmlich in der Höhe der griechischen Plastik. Die romantische Kunst hingegen verwirft alle feste Begrenzung, sie sucht das Unendliche und schwelgt in ihm, ihr verlaufen die Linien oft ineinander, und über der Erregung einzelner starker Eindrücke kommt sie nicht zu einem gegliederten Aufbau, die Lieblingsform ihrer literarischen Äußerung bildet der Aphorismus; zur Höhe der Kunst wird hier die Musik, in ihr hat die romantische Denkart den vollendetsten Ausdruck gefunden.


So gewiß sich im seelischen Leben und im geistigen Schaffen der Romantik eine bedeutende Art bekundet, es liegt hier Gesundes und Ungesundes 117 oft nahe beieinander, und echtes Schaffen verschlingt sich oft mit erkünstelter Überspannung. Das Streben, alle festen Begriffe zu überspringen und im Gefühl sich der Wirklichkeit unmittelbar zu verbinden, mit ihr eins zu werden, ganz in sie überzufließen, ergibt leicht nicht nur eine Formlosigkeit und Verschwommenheit, sondern auch ein Zurücksinken in Sinnlichkeit, und zwar eine Sinnlichkeit nicht naiver Art; die Romantik erweist das gute Recht der Mahnung Plotins, daß wer über die Vernunft hinausstrebt, leicht aus ihr herausfällt. Auch die hier waltende Neigung des Individuums, sich vornehmlich mit sich selbst und mit seinem Zustande zu befassen, führt leicht zu einer Verkünstelung des Lebens, indem es immer wieder hinter sich selbst zurücktritt, das Fühlen fühlen, das Genießen genießen möchte; nahe liegt dabei auch ein Aufwuchern persönlicher Eitelkeit. Aber so hoch wir solche Fehler und Schwächen anschlagen mögen, die förderlichen Wirkungen der Romantik auf das deutsche Leben dürfen sie uns nicht vergessen lassen. Den Romantikern verdanken wir eine wesentliche Verstärkung des künstlerischen Elements im deutschen Leben, sie haben den Geschmack auch weiterer Kreise gehoben, sie haben die literarische Kritik bei uns eingebürgert, sie haben wie kaum eine andere Bewegung unsere Sprache bereichert, indem sie ihr mehr Rhythmus und musikalischen Klang, mehr Anschaulichkeit und mehr Farbe verliehen. Sie haben mit ihrer künstlerischen Kultur die schon alternde Aufklärung 118 von der Höhe des Lebens vertrieben und ihre Schranken voll zur Empfindung gebracht; ihnen verdanken wir, daß der Begriff der »Bildung« vom Körperlichen aufs Geistige übertragen ward und damit ein neues Lebensideal entstand, auch eine neue Zusammenfassung der Menschen (»die Gebildeten«). Auch hat die Romantik, namentlich in ihrem weiteren Verlauf, uns weitere Blicke in die Welt, in Natur und Geschichte eröffnet. So hat sie uns in der Natur neue Seiten erblicken lassen, starke Farben sowohl als das Dämmerlicht, den Reiz des tiefen Waldes wie der träumerischen Mondnacht, sie hat uns damit namentlich die vaterländische Natur seelisch nähergebracht. Aber zugleich hat ihre bewegliche Phantasie uns ferne Länder und Zeiten vor Augen gerückt und sie mit anschaulicher Frische zu uns wirken lassen.


Staat und Vaterland

Zu den Problemen von Staat und Vaterland verhielt der Beginn der Romantik sich sehr kühl, konnte doch Friedrich Schlegel sagen: »Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfere dein Innerstes in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung.« Eine Wandlung darin erfolgte durch einen Anschluß an die historische Denkart, die um dieselbe Zeit zum Durchbruch kam und die Gemüter überwältigend fortriß. Es vollzog sich damit eine eingreifende Wandlung des Denkens und Lebens für den Gesamtstand der Menschheit. Die Neuzeit hatte ihren 119 eigentümlichen Charakter in möglichster Losreißung vom Druck einer tausendjährigen Überlieferung und in Entfaltung einer zeitüberlegenen Vernunft gefunden, diese Vernunft wurde ihr ein Gerichtshof, vor dem alles Bestehende sein Recht zu erweisen hatte, sie wurde ihr auch eine Macht der Gestaltung des Lebens aus der gemeinsamen Menschennatur und aus allgemeinen Begriffen. Auch die Behandlung der Geschichte trat damit unter die Herrschaft der Vernunft, diese prüfte jene daraufhin, was aus ihr zu gewinnen, namentlich aus ihr zu lernen sei; solche direkte Beziehung auf das eigene Streben und die Frage nach dem Nutzen hinderten eine reine Betrachtung und unbefangene Würdigung der Vergangenheit. Darin erfolgt nun um die Wende der Jahrhunderte und darüber hinaus eine große Veränderung. Die Geschichte befreit sich von jenem ihr auferlegten Joch und bringt ihren Tatbestand zu ungehemmter Wirkung. Unabweisbar wird nun die Forderung, sich offenen Sinns in die früheren Epochen zu versetzen, sie bei sich selbst zu erfassen, aus sich selbst zu verstehen, nach eigenem Maße zu messen. Damit tritt zugleich die Individualität der verschiedenen Zeiten und Völker in den Vordergrund, die Menschheit findet sich weit reicher, als sie bis dahin dachte, eine unermeßliche Fülle des Lebens eröffnet sich ihrem Blicke. Ja, es erwächst daraus, nicht ohne Hilfe romantischer Denkart, eine neue Philosophie der Geschichte, eine neue Fassung des Verhältnisses von 120 Gegenwart und Vergangenheit. Die Geschichte erscheint nunmehr als eine zusammenhängende Bewegung, die, aller menschlichen Absicht und Reflexion weit überlegen, aus eigenen Kräften und nach eigenen Gesetzen in stillem Wirken und Weben sicher vorwärtsschreitet. Die Dinge scheinen hier aus eigener Natur zu werden und aus bewußtlosem Triebe zu wachsen; wie bei einem lebendigen Wesen scheint hier ein Bildungsgesetz des Ganzen alle Gestaltung des Einzelnen zu beherrschen. An diesen Strom des geschichtlichen Werdens sich anzuschließen wird auch der Gegenwart geboten, da sie damit erst einen festen Grund und eine sichere Richtung gewinne. Indem diese »organische« Denkweise auch die Verzweigung des geistigen Lebens ergreift, Staat, Recht, Sprache, Kunst usw., scheint durchgängig eine reinere und reichere Tatsächlichkeit und ein mit ihr gesättigtes Leben aufzusteigen. Überall soll der Mensch die Verhältnisse nicht mehr nach seinen Zwecken meistern, sondern sich selbst in der Hingebung an das große Werk der Geschichte innerlich erweitern, seinem Leben und Schaffen mehr Individualität und mehr seelische Nähe verleihen. So soll er z. B. das Recht nicht aus abstrakten Begriffen erschließen, sondern aus den Zeugnissen des Volksgeistes schöpfen, welche die Vergangenheit uns zuführt.


Geschichtliche Denkweise

Gewiß hat diese Sache zwei Seiten, jene geschichtliche Denkweise hat unverkennbar auch große Gefahren: zunächst läßt sich bezweifeln, ob die Geschichte 121 aus unbewußtem Wirken heraus einen sicheren Fortgang hervorbringt, ob sie eine durchgehende Vernunft in sich selber trägt; gewichtiger noch ist das Bedenken, ob jene Fassung der Geschichte nicht das Recht der lebendigen Gegenwart arg verkümmere, ob sie den Menschen nicht in ein zu kontemplatives, tatloses Verhalten zur Wirklichkeit bringe. Aber so hoch wir diese Gefahren anschlagen mögen, sie können uns nicht daran hindern, die gewaltige Bereicherung anzuerkennen, die das gemeinsame Leben dieser romantisch-historischen Denkweise schuldet. Im besondern wir Deutsche verdanken ihr viel. Unsere große mittelalterliche Vergangenheit war wie verschüttet und begraben, unsere Kultur erschien als eine von heute und gestern, wesentliche Züge unserer Art verkümmerten dabei stark, unser Leben drohte in eine zu enge Bahn zu geraten. Wie wenig wußte man z. B. von der reichen Literatur jener Zeit, wie war ihre große Kunst halb verschollen! Nun wurden die zerrissenen Fäden wieder angeknüpft, nun gewann unser Leben wieder weitere Zusammenhänge, nun fühlten wir festeren Boden unter den Füßen, nun wurde unsere eigene Art uns mehr erschlossen, und mit der genaueren Kenntnis wuchs auch die Liebe zu unserem Volk, wuchs auch der Stolz auf seine Geschichte, auch die Freude an der heimatlichen Natur mit ihren großen Erinnerungen. Diese besonderen Erfahrungen ruhen aber auf Wahrheiten allgemeinerer Art, die auch für die Philosophie nicht verloren sein konnten.


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Schelling

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Während Fichte uns heute mit lebendiger Kraft zugegen ist und höchste Verehrung genießt, hat Schelling (1775–1854) mit überwiegender Ungunst zu kämpfen, die Gegenwart pflegt mehr bei dem zu verweilen, was in seiner Leistung verfehlt oder doch angreifbar ist, als bei dem, was in ihr an Großem und Fruchtbarem liegt. Sie erinnert sich seiner Naturphilosophie und verwirft sie als eine kecke Überhebung des Denkens, als eine Vergewaltigung wissenschaftlicher Forschung; sie erinnert sich auch seines späteren Versuchs, das Böse von Gott her zu erklären und alle Mannigfaltigkeit der Religionen in eine einzige, im Christentum gipfelnde Bewegung zusammenzufassen; auch hier erscheint das Verfahren als gewaltsam und dem Befunde der Wirklichkeit widersprechend. Solcher Tadel hat guten Grund, aber man sollte nicht versäumen, den Mann aus dem Ganzen und aus seiner eigenen Art zu sehen und zu verstehen; wo das geschieht, da wird auch das Große und Fruchtbare seines Lebenswerkes sein Recht erhalten, auch das Verfehlte in eine andere Beleuchtung treten, da wird zugleich verständlich werden, weshalb von den großen Denkern jener Zeit keiner unserem größten Dichter näher stand als Schelling.

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Schelling und Fichte

Schelling ist von Fichte sowohl in der persönlichen Art als in der Richtung des Denkens grundverschieden. War Fichte fast ausschließlich mit dem Menschen als handelndem Wesen befaßt, und bildete ihm die übrige Welt einen bloßen Hintergrund, so ist Schelling von Anfang an auf das Ganze der Welt gerichtet, ihm faßt es sich zu einer lebendigen Einheit zusammen, aus der Verbindung damit muß der Mensch sich selbst verstehen, nur daraus kann er seinem Leben einen Inhalt und eine Größe geben; Fichte war ganz davon erfüllt, den Menschen moralisch aufzurütteln, ihn zu heben und umzuwandeln, er rief ihn zu unermüdlicher Tätigkeit auf, Schelling dagegen gab ihm mehr Verkettung mit der Welt, ein innigeres Verhältnis zu den Dingen, ihm ward die Höhe des Lebens ein künstlerisches Schauen und möglichst auch Schaffen der Wirklichkeit; drängte Fichte mit stürmischer Gewalt in eine bessere Zukunft hinein, so fesselte Schelling der Blick in die Geschichte und das Verlangen, die Welt aus ihrem Werden zu verstehen und zugleich dem Leben eine größere Tiefe zu geben; wirkt Fichte vornehmlich durch die strenge Geschlossenheit seiner Art, so tut es Schelling durch seinen Reichtum und seine Beweglichkeit; wohl geht ein gemeinsamer Grundcharakter durch all sein Wirken hindurch, aber im Nähern der Richtung und Arbeit ist Schelling immer im Fluß geblieben, er hat immer neue Einflüsse aufgenommen, sich selbst immer neue Probleme gestellt; wo immer er aber wirkte, da hat er nicht nur eine Fülle von Anregungen 127 ausgestreut, sondern da hat er das Ganze der Behandlung ins Große und Weite gehoben, da hat er gewaltige geistige Kraft gezeigt. Im Wirken auf die Gesinnung der Menschen steht er weit hinter Fichte zurück, im Wirken auf den Stand der Kultur und des Geisteslebens ist er jenem weit voraus.


Eine nähere Verfolgung der verschiedenen Phasen seines Denkens gehört in die Geschichte der Philosophie, wir dürfen uns nach einer kurzen Charakteristik der Gesamtart auf die Gebiete beschränken, in denen seine Arbeit das gemeinsame Leben stärker bewegt hat, es sind das aber die Gebiete der Natur, der Kunst, der Religion; sie alle waren jederzeit seinem Denken gegenwärtig, aber seinen Schwerpunkt hat es nach und nach vom einen ins andere verlegt. Den Höhepunkt bildete eine künstlerische Erfassung des Weltalls und eine entsprechende Gestaltung des Lebens, hier vor allem hat Schelling zündende Ideen entwickelt und hohe Ziele vorgehalten, die auch der Gegenwart nicht veraltet sind.


Die Gesamtart Schellings wird dadurch bezeichnet, daß sich ihm das Leben mehr vom Subjektiven ins Objektive, vom Einzelnen ins Ganze verschiebt; die Welt wird ihm zur Entfaltung einer begründenden und durchwaltenden Einheit, die Dinge erkennen, das bedeutet ihre Stellung im Weltall bestimmen, sie nach Schellings Ausdruck »konstruieren«, 128 das Leben schöpft seinen Geistesgehalt aus einem Erfassen und Erkennen des Ganzen. Dabei ist kein Zweifel daran, daß der Mensch sich in die Welteinheit versetzen und von ihr aus sein Leben führen könne. »Alle anderen Geschöpfe sind von dem bloßen Naturgeist getrieben und behaupten durch ihn ihre Individualität; im Menschen allein als im Mittelpunkt geht die Seele auf, ohne welche die Welt wie die Natur ohne Sonne wäre.« »Im Menschen allein erscheint das ganze volle Sein ohne Abbruch.« Solcher Überzeugung kann es nicht vermessen scheinen, daß der Mensch versuche, die Welt von innen her zu verstehen, vielmehr gilt dieses als seine Hauptbestimmung, und nur dies gibt seinem Leben und Handeln rechten Wert. Freilich tut dazu eine große Umwandlung not, am eignen Wesen und an der Art der Betrachtung, der Mensch darf nicht seine kleinmenschlichen Absichten den Dingen aufdrängen wollen, er darf sie nicht nach seinen subjektiven Einfällen drehen und deuten, sondern er muß sie in voller Hingebung nur bei sich selber schauen, sein Denken muß sich ganz ihrer Notwendigkeit fügen, es von ihr erfüllen und treiben lassen. Hat es aber den Zusammenhang mit den tiefsten Gründen erreicht, so darf es wagen, von ihnen aus die Welt zu entwickeln, die Wirklichkeit zu »konstruieren«.


Schellings Gesamtart

Solche Forderung einer Versetzung vom Einzelpunkt in das All zeigt eine enge Verwandtschaft mit Spinoza, hier wie da ein kosmischer Sinn, 129 ein Sehen alles Einzelnen im Großen und Ganzen. Aber es besagt einen erheblichen Unterschied, daß die Welt sich bei Schelling nicht wie bei jenem in beharrendem Gleichgewicht befindet, sondern daß sie ein fortschreitendes Leben, eine Selbstoffenbarung des Absoluten bildet, daß wir demnach das Werden von den ersten Anfängen her entrollen, uns in die schaffenden Gründe versetzen müssen, um die Wirklichkeit zu verstehen. Damit tritt die Geschichte und eine geschichtliche Betrachtung großen Stiles in den Vordergrund; das Bild des Geschehens erhält dadurch eine besondere Spannung, daß auch das Einzelne eine gewisse Selbständigkeit erlangt, und daß damit die Bewegung zu einem unablässigen Kampf zwischen Freiheit und Notwendigkeit wird. Das gibt der Geschichte bei ihrer Größe auch eine herbe Tragik, da schließlich doch die Notwendigkeit des Objektiven über die Freiheit des Subjektiven siegen muß.


Weiter aber ist wesentlich, daß hier das Leben des Alls in den beiden einander ergänzenden Reihen von Natur und Intelligenz, von Realem und Idealem, von Bewußtlosem und Bewußtem verläuft. Solche innere Verwandtschaft von Denken und Natur läßt es nicht als unmöglich erscheinen, von jenem aus einen Weg in das Innere der Natur zu finden, wie das die Naturphilosophie versucht.


Naturphilosophie

Diese Naturphilosophie ist nur aus der eigentümlichen Lage jener Zeit heraus zu verstehen und gerecht 130 zu würdigen. Die aufsteigende Bewegung des deutschen Lebens hatte ein starkes Kraftbewußtsein des Menschen erzeugt, sein Geist fühlte sich als Bildner und Schöpfer der Wirklichkeit; es war nicht zu verwundern, daß der vordringende Zug des Lebens auch die Natur ergriff und sie von innen her aufzuhellen, ja sie in eigenes Leben zu verwandeln unternahm. Solches Unternehmen aber brachte notwendig einen harten Zusammenstoß mit der herrschenden mechanischen Lehre. Diese hatte bei Beginn der Neuzeit die Natur von der Umstrickung und Entstellung durch menschliche Begriffe befreit und sie zuerst aus sich selbst, aus ihren eigenen Kräften und Gesetzen, zu erklären unternommen; dabei war alles seelische Element aus ihr als etwas Fremdes vertrieben, war auch das Problem des Lebens weit zurückgestellt. Das 18. Jahrhundert hatte diese Bahn in der Hauptsache weiter verfolgt, es zeigte eine besondere Stärke im Scheiden und Klassifizieren des Tatbestandes, seine Arbeit war tüchtig, aber nüchtern und trocken. Nun kam eine künstlerische Bewegung auf, stellte das Leben voran und bestand auf einem Verstehen der Welt von innen her; daß ihr bei der Natur jene mechanische Erklärung im Wege stand, daß sie auch für ihre Verdienste kein entgegenkommendes Verständnis hatte, das zeigt uns mit besonderer Deutlichkeit Goethe und sein kühles, ja wohl auch feindliches Verhältnis zu den Führern jener mechanisch-exakten Lehre. Schelling nun war es, der jenem künstlerischen Verlangen eine 131 philosophische Verkörperung gab, der in systematischer Ausführung die Natur als ein inneres, auf sich selbst beruhendes und aus sich selbst bewegtes Ganzes zu erweisen suchte. Den Schlüssel zu einem solchen Verständnis bot ihm seine Überzeugung von der engen Zusammengehörigkeit von Intelligenz und Natur, die Überzeugung von ihrer gemeinsamen geistigen Wurzel. So scheint kühnem Mut sich ganz wohl ein Weg ins Innere der Natur eröffnen zu können. »Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer, wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch die Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten.«


Zur Verstärkung seiner eigenen Stellung ist Schelling unablässig bemüht, der mechanischen und atomistischen Lehre ihre Schranken vorzuhalten. Er meint, durch die atomistische Erklärung erführe man nur, wie es dieser oder jener Physiker machen würde, wenn er die Natur zu schaffen hätte. Wohl sei die mechanische Physik innerhalb ihrer Grenzen »ein Meisterstück des Scharfsinns und der mathematischen Präzision«, ihre Prinzipien aber seien grundlos. Ihr Hauptfehler sei, die Natur nur als etwas Starres, Gegebenes, in einzelne Teile Zerlegtes zu betrachten; »erhebt 132 man sich über den Standpunkt des Gegebenseins und zur Idee des Universums, so fällt alle Atomistik zusammen.« »Daß die Materie aus Teilen bestehe , ist ein bloßes Urteil des Verstandes. Sie besteht aus Teilen, wenn und so lange ich sie teilen will. Aber daß sie ursprünglich, an sich, aus Teilen bestehe, ist falsch.« Auch der Begriff der »Erfahrungswissenschaft« reizt ihn zum Widerspruch, leicht trage dabei, so meint er, der Forscher seine eigene Lehre in die Empirie hinein und gebe jene dann als ihm aus ihr entgegengebracht. »Daß nur jene warmen Lobpreiser der Empirie, die sie auf Kosten der Wissenschaft erheben, dem Begriff der Empirie treu uns nicht ihre eigenen Urteile und das in die Natur Hineingeschlossene, den Objekten Aufgedrungene für Empirie verkaufen wollten, denn so viele auch davon reden zu können glauben, so gehört doch wohl etwas mehr dazu, als viele sich einbilden, das Geschehene aus der Natur rein herauszusehen und treu, so wie es gesehen worden, wiederzugeben.« So ähnlich hätte auch Goethe sprechen können.


Die Natur als Organismus

Jener »blinden und ideenlosen Art der Naturforschung« setzt Schelling seine Naturphilosophie als eine »höhere« Erkenntnis entgegen. Diese Erkenntnis verlangt zunächst, daß der Natur ein Leben aus sich selbst, eine volle Selbständigkeit zuerkannt werde. »Die Natur ist nicht bloß Produkt einer unbegreiflichen Schöpfung, sondern diese Schöpfung selbst, nicht nur die Erscheinung oder 133 Offenbarung des Ewigen, sondern zugleich das Ewige selbst.« Eben das sei ihr eigentümlich, daß hier das Produkt zugleich ein Produzierendes sei, daß sie mit sich selbst in Wechselwirkung stehe; eben darin erweise sie sich als ein lebendiges Ganzes, als ein Organismus. »Hätte die Natur nur mechanisch sich gebildet, so wäre sie nicht sowohl Produkt als bloße mechanische Zusammensetzung aus dem schon Vorhandenen. Ist die Welt bloß mechanisch zusammengesetzt, so muß alle spezifische Differenz schon vorausgesetzt werden. Ist aber die Welt nicht mechanisch, sondern durch organische Entwicklung aus Einer ursprünglichen Synthesis entstanden, so ist alle Qualitätsverschiedenheit im Universum selbst schon Produkt des allgemeinen Organismus.« Der allgemeine Organismus, so meint Schelling, muß allen besonderen vorangehen; »nicht das Ganze kommt aus den Teilen, sondern die Teile mußten aus dem Ganzen entspringen.« »Der Organismus ist nicht die Eigenschaft einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge sind ebensoviele Beschränkungen oder einzelne Anschauungsweisen des allgemeinen Organismus.« Das ist ein Versuch zur Umkehrung der gesamten modernen Naturwissenschaft, ein Wiederbeleben der Antike und der Renaissance.


Aus dem allgemeinen Begriff der Natur wird dann zu erweisen gesucht, daß ein Gegensatz von Prinzipien notwendig sei, um sie in beständiger 134 Tätigkeit zu erhalten und sie zu verhindern, sich in ihrem Produkt zu erschöpfen; damit wird es »erstes Prinzip einer philosophischen Naturlehre, in der ganzen Natur auf Polarität und Dualismus auszugehen«, ihr Schaffen schreitet durch den Gegensatz von Positivem und Negativem, von Anziehung und Abstoßung fort.

Die einzelnen Formen erscheinen dabei als verschiedene Stufen ein und derselben Organisation, es scheint der schöpferischen Natur bei allen verschiedenen Gestaltungen ein gemeinsames Ideal vorzuschweben, dem das Produkt allmählich sich nähert, jene Gestalten erscheinen als Abkömmlinge ein und desselben Stammes. Das ergibt den Gedanken, daß die höheren Stufen die niederen haben durchlaufen müssen, und damit eine Entwicklungslehre; diese unterscheidet sich aber von der Darwins deutlich dadurch, daß hier das Hervorgehen des Höheren aus dem Niederen als ein Werk der schöpferischen Gesamtnatur, nicht als direkte Abstammung verstanden wird. Überhaupt legt Schellings Fassung der Natur mehr Wert darauf, daß die einzelnen Erscheinungen mit dem Ganzen, als daß sie untereinander zusammenhängen.


Das sind Gedanken beachtenswerter Art, wie immer man sich zu ihnen stellen mag. Aber sobald sie zu näherer Ausführung kommen, sich zu einem System verdichten und zugleich versuchen, den ganzen Befund der Natur durch eine in Gegensätzen fortschreitende Bewegung bis ins 135 einzelne hinein zu »konstruieren«, wird das Unzulängliche, ja Verkehrte des Unternehmens augenscheinlich; es wurde das nicht erst später erkannt, sondern schon von der Mehrzahl der Zeitgenossen. Der Versuch ward nicht nur mit untauglichen Mitteln ausgeführt, er enthielt von Haus aus eine Überspannung menschlichen Vermögens sowie eine Verkennung der eigentümlichen Art der Natur, wie die Erfahrung sie uns zeigt: es war ein Versuch, eine künstlerische Fassung der Natur, die als solche ein gutes Recht hat und die Seelen immer wieder anziehen wird, der Wissenschaft aufzudrängen. Unvermeidlich führt ein solcher Versuch zu einer fortwährenden Vermengung von Spekulation und Tatbestand, leicht auch zu einem Spiel mit leeren Begriffen.


Entwicklungslehre

Daß die Kühnheit des Unternehmens auch eine Größe bekundet, läßt sich dabei vollauf anerkennen, sowie auch dieses, daß wertvolle Anregungen von hier ausgegangen sind. Diese Gedankenbewegung drängt dahin, eine Einheit der Naturkräfte aufzusuchen, sie bereitet mit ihrem Influßbringen der Natur eine wissenschaftliche Entwicklungslehre vor, sie stellt das Problem des Lebens mehr in den Vordergrund, sie hält der mechanischen Lehre mit gutem Recht ihre Schranke vor, sie ist mit dem allen ein Stück der deutschen Geistesentwicklung, das sich unmöglich ignorieren läßt. Begreiflich ist es, daß diese Lehre am ehesten bei künstlerisch gesinnten Geistern Anklang fand, wofür Goethe uns als 136 Zeugnis dienen darf. Wenn er in späteren Jahren meinte, seiner früheren Naturauffassung habe »die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung gefehlt«, wer dürfte diese Gedanken mehr bei ihm angeregt haben als Schelling? Endlich haben wir bei Schelling nicht bloß die Naturphilosophie, sondern auch seine Gesamtauffassung des Verhältnisses von Natur und Geist zu beachten. Er hat die Natur uns nähergerückt und sie uns höher schätzen gelehrt, er hat das sinnliche Element in den Zusammenhängen von Welt und Leben mehr zu Ehren gebracht und damit einer dem deutschen Leben drohenden Abstraktheit entgegengewirkt; sagt er doch geradezu, »daß in Sachen der Wissenschaft, der Religion und Kunst so wenig als in weltlichen Geschäften je ohne überwiegende Naturkraft etwas Großes vollbracht worden, und daß die erhabensten Äußerungen der Seele ohne eine kräftige Sinnlichkeit tot und unwirksam für die Welt sind.«


Die Kunst

Auch auf die wissenschaftliche Arbeit ist von hier aus dahin gewirkt, den Zusammenhang und die gegenseitige Bedingtheit von Geistigem und Sinnlichem, von Seelischem und Körperlichem mehr zur Anerkennung zu bringen. Endlich hat die Darstellung Schellings mehr sinnliche Kraft und Fülle, mehr künstlerische Anschaulichkeit, mehr sprudelnde Frische als die irgendeines anderen jener großen Denker.

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Später trat in der Arbeit Schellings die Natur vor der Kunst zurück, aber es war das kein Verlassen, sondern ein Weiterverfolgen des eingeschlagenen Weges. Natur und Intelligenz waren für Schelling zusammengehörige Seiten eines einzigen Alls, die den Gegensätzen überlegene Einheit wird jetzt mehr hervorgekehrt und die Hauptaufgabe darin gesetzt, diese Einheit dem Denken und Leben zu voller Gegenwart zu bringen. So entsteht eine Identitätsphilosophie. Das Organ aber, mit dem wir diese Einheit erfassen, ist die Kunst, das Kunstwerk bringt eine Synthese von Natur und Freiheit; indem es den Gegensatz von bewußter und bewußtloser Tätigkeit aufhebt, erlangt es den Charakter einer bewußtlosen Unendlichkeit. Kunst und Philosophie sind einander nahe verwandt. »Nehmt der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu sein, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu sein und wird zur Kunst. – Die Philosophie erreicht zwar das Höchste, aber sie bringt bis zu diesem Punkt nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen. Die Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, nämlich zur Erkenntnis des Höchsten, und darauf beruht der ewige Unterschied und das Wunder der Kunst.« Von einem Wunder der Kunst hat Schelling auch sonst gern gesprochen, er nennt die Kunst »die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten 138 überzeugen müßte«. Das Wunder aber besteht ihm in der Erhebung des Bedingten zum Unbedingten. Zur höchsten Aufgabe wird nunmehr, alles einzelne in der Einheit zu sehen, Denken und Sein im Ewigen vereinigt zu erblicken, so daß weder der Begriff als die Wirkung des Dinges, noch das Ding als die Wirkung des Begriffs verstanden werde, sondern beides unmittelbar zusammengehe.


Auch Sittlichkeit wie Religion verlangen eben dieses, das Leben ganz und gar in die Einheit zu stellen und sich von ihr führen zu lassen. Wir müssen wissen, daß nicht wir handeln, sondern daß eine göttliche Notwendigkeit in uns handelt, wie denn auch alle großen Männer »gewissermaßen Fatalisten« waren. Das Böse besteht darin, daß der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst sein will. Von der Religion heißt es: »Wahre Religion ist Heroismus, nicht ein müßiges Brüten, empfindsames Hinschauen oder Ahnen. Diejenigen nennt man Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar zum Handeln wird, die im großen und ganzen gehandelt haben ohne Bekümmernis um das Einzelne.« Dabei ist Schelling stets darauf bedacht, das Handeln in engstem Zusammenhang mit dem Erkennen zu halten, da an diesem doch letzthin alle innere Erhebung hängt, »die Sittlichkeit, welche vom Intellektualen sich trennt, ist notwendig leer, denn nur aus diesem nimmt sie den Stoff ihres Handelns«.

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Künstlerische Kultur

Wie sich von da aus ein Ideal künstlerischer Kultur in großem Stile entwickelt, das zeigen die Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, eine Schrift reich an großen Ideen und feinsinnigen Bemerkungen. Es hat diese künstlerische Kultur nichts zu tun mit einem Ästhetizismus, der den Genuß des bloßen Subjekts zum Ziel der Ziele macht, wie denn auch Schelling der Romantik nicht zu nahe gerückt werden darf, vielmehr ist hier die Kunst der Weg, den Menschen in einen inneren Zusammenhang mit den Tiefen des Alls zu bringen und ihn damit zu seinem wahren Wesen zu führen. Die Macht des Wissens wird hier aufs höchste geschätzt, die Bildung zum vernunftmäßigen Denken als die einzige zum vernunftmäßigen Handeln erklärt, auch der Wissenschaft das Vermögen zugesprochen, die Erfahrung vorauszunehmen, die den Menschen nicht ohne vielen Verlust der Zeit und der Kraft erzieht. Aber das Wissen sei dabei richtig gefaßt, es ist nicht ein Anhäufen bloßer Gelehrsamkeit, auch nicht ein Sichabschließen in einzelne Fächer, es ist vielmehr recht verstanden geistiges Schaffen. »Alle Regeln, die man dem Studium vorschreiben könnte, fassen sich in der einen zusammen: Lerne nur, um selbst zu schaffen. Nur durch dieses göttliche Vermögen ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine.«

Die Philosophie als die Grundwissenschaft ist die Wissenschaft von den Ideen, Ideen aber sind hier nicht bloß menschliche Begriffe, sondern geistige 140 Mächte, in denen der tiefste Grund der Wirklichkeit sich offenbart und zu uns spricht; die Ideen allein geben dem Handeln Nachdruck und sittlichen Wert.


Der Sinn der Geschichte

Gemäß der Grundanschauung Schellings von der Selbstentwicklung des Alls steht hier die Philosophie in engem Zusammenhang mit der Geschichte, diese wird hier, in weitestem Sinn genommen, zur Hauptstätte des Geschehens. Der Denker kann aber die Geschichte in so großem Sinne nicht fassen, ohne zwischen ihr und Historie deutlich zu scheiden; jene eröffnet uns die großen Grundzüge des Werdens, sie ist mehr Philosophie der Geschichte, als was sonst Geschichte heißt. Dieses, als das Bild der geschichtlichen Erfahrung vom Menschen aus, wird hier als Historie bezeichnet. Geschichte in jenem Sinne ist »weder das reine Verstandes-Gesetzmäßige, dem Begriff Unterworfene, noch das rein Gesetzlose, sondern was mit dem Schein der Freiheit im Einzelnen Notwendigkeit im Ganzen verbindet«. So verstanden tritt die Geschichte in eine enge Verbindung mit der Religion, die Bewegung der Menschheit zerlegt sich in drei Perioden, die der Natur, des Schicksals, der Vorsehung. Von hier findet das Christentum, welches in der Geschichte die Epoche der Vorsehung beginnt, hohe Anerkennung. »Die bewußte Versöhnung, die an die Stelle der bewußtlosen Identität mit der Natur und an die der Entzweiung mit dem Schicksal tritt und auf einer höheren Stufe die Einheit 141 wiederherstellt, ist in der Idee der Vorsehung ausgedrückt.« Während die alte Welt die Einheit als das Sein des Unendlichen im Endlichen faßt, ist der erste Gedanke des Christentums die »Versöhnung des von Gott abgefallenen Endlichen durch seine eigene Geburt in die Endlichkeit«. Dem Christentum ist die Geschichte wesentlich, nur muß dann die Geschichte in einem weit höheren Sinne gefaßt werden, als es gewöhnlich geschieht. »Die christlichen Religionslehrer können keine ihrer historischen Behauptungen rechtfertigen, ohne zuvor die höhere Ansicht der Geschichte selbst, welche durch die Philosophie wie durch das Christentum vorgeschrieben ist, zu der ihrigen gemacht zu haben.« Schelling erklärt es von hier aus als bedenklich, das Christentum starr an seine Anfänge zu binden und in ihm nicht eine Idee anzuerkennen, welche davon unabhängig durch alle Zeiten zu wirken vermag. Überhaupt verlangt er eine Befreiung seiner ewigen Wahrheit von vergänglichen Formen: »Der Geist der neuen Zeit geht mit sichtbarer Konsequenz aus Vernichtung aller bloß endlichen Formen, und es ist Religion, ihn auch hierin zu erkennen.«


Was die Historie anbelangt, so führt Schelling den härtesten Kampf gegen eine lehrhafte Geschichtschreibung, welche eine subjektiv-menschliche Betrachtungsweise in die Geschichte trage, da doch selbst unter dem Heiligsten nichts sei, was heiliger wäre als die Geschichte, dieser große Spiegel des Weltgeistes, dieses ewige Gedicht des göttlichen 142 Verstandes. Die echte Behandlung der Geschichte muß eine künstlerische sein. »Die Kunst ist es, wodurch die Historie, indem sie Wissenschaft des Wirklichen als solchen ist, zugleich über dasselbe auf das höhere Gebiet des Idealen erhoben wird, auf dem die Wissenschaft steht.« »Der absolute Standpunkt der Historie ist demnach der der historischen Kunst.« Indem bei solcher Betrachtung die einzelnen Handelnden bei aller subjektiven Freiheit als Werkzeuge und Mittel einer höheren Notwendigkeit erscheinen, die sich hier als Schicksal darstellt, »kann die Geschichte die Wirkung des größten und erstaunenswürdigsten Dramas nicht verfehlen, das nur in einem unendlichen Geist gedichtet sein kann«. Wir brauchen nur an Ranke zu denken, um uns zu vergegenwärtigen, welchen Einfluß diese Fassung der Geschichte und der Geschichtschreibung auf die wissenschaftliche Arbeit gewonnen hat.


Mit der Historie verbindet Schelling eng die Jurisprudenz als die Wissenschaft vom Staate. Denn der Hauptgegenstand der Historie im engeren Sinne ist ihm die Bildung eines »objektiven Organismus der Freiheit oder des Staates«. Auch der Staat wird hier über das Vermögen und die Zwecke des bloßen Menschen hinausgehoben, auch er ist eine Darstellung des absoluten Organismus und hat daher seinen Zweck in sich selbst.


Bildende Kunst und Natur

Schellings Art, künstlerische Probleme zu behandeln, erscheint in besonders fesselnder Gestalt 143 in der Abhandlung über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. Wie aus überströmendem Reichtum streut hier der Denker eine Fülle packender und klärender Gedanken aus, Gedanken über Form, Anmut, Charakter, Seele im Schaffen der bildenden Kunst, er verficht dabei die Behauptung, daß nur durch die Vollendung der Form die Form vernichtet werden könne, er findet dieses Ziel der Kunst im Charakteristischen erreicht. »Die äußere Seite oder Basis aller Schönheit ist die Schönheit der Form. Da aber Form ohne Wesen nicht sein kann, so ist, wo nur immer Form ist, in sichtbarer oder nur empfindbarer Gegenwart auch Charakter. Charakteristische Schönheit ist daher die Schönheit in ihrer Wurzel, aus welcher dann erst die Schönheit als Frucht sich erheben kann; das Wesen überwächst wohl die Form, aber auch dann bleibt das Charakteristische die noch immer wirksame Grundlage des Schönen.« »Die Schönheit der Seele an sich, mit sinnlicher Anmut verschmolzen: diese ist die höchste Vergöttlichung der Natur.« Nach einer Darstellung und Vergleichung der Eigentümlichkeit der antiken und der modernen bildenden Kunst in Plastik und Malerei wendet er sich zur eigenen Zeit und spricht auch für sie zuversichtliche Hoffnungen aus, stets die Überzeugung bekennend, daß die Schicksale der Kunst von den allgemeinen Schicksalen des menschlichen Geistes abhängig sind. Wenn die Kunst nur aus der lebhaftesten Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte entspringt, die Begeisterung 144 genannt wird, wenn es ohne einen großen allgemeinen Enthusiasmus keine öffentliche Meinung, keinen befestigten Geschmack gibt, so bedarf auch das künstlerische Schaffen unserer Zeit einer solchen Begeisterung. »Warum sollten wir aber eine solche nicht für sie erwarten können, da doch in ihr eine neue Welt sich bildet, die allen bisherigen Maßstäben entwächst? Sollte nicht jener Sinn, dem sich Natur und Geschichte lebendiger wieder aufgeschlossen, auch der Kunst ihre großen Gegenstände zurückgeben?« Es bedarf dazu aber einer Veränderung in den Ideen, es bedarf eines neuen Wissens, eines neuen Glaubens, um die Kunst zu der Arbeit zu begeistern, »wodurch sie in einem verjüngten Leben eine der vorigen ähnliche Herrlichkeit offenbarte«. So gilt es nicht rückwärts, sondern vorwärts zu schauen und der eigenen Kraft zu vertrauen. Dafür ist Schelling stets eingetreten, daß die Befassung mit der Geschichte die eigene Aufgabe der Gegenwart in keiner Weise schädigen dürfe. »Aus der Asche des Dahingesunkenen Funken ziehen und aus ihnen ein allgemeines Feuer wieder anfachen wollen, ist eitle Bemühung.« Solche Hoffnung einer Neubelebung der Kunst setzt Schelling namentlich auf Deutschland. »Dieses Volk, von welchem die Revolution der Denkart in dem neueren Europa ausgegangen, dessen Geisteskraft die größten Erfindungen bezeugen, das dem Himmel Gesetze gegeben – er denkt dabei an erster Stelle sicherlich an den von ihm aufs höchste geschätzten Kepler – und am tiefsten von 145 allen die Erde durchforscht hat, dem die Natur einen unverrückten Sinn für das Rechte und die Neigung zur Erkenntnis der ersten Ursachen tiefer als irgendeinem anderen eingepflanzt, dieses Volk muß in einer eigentümlichen Kunst endigen.«


Das deutsche Volk

Die besondere Art und Begabung des deutschen Volkes hat Schelling oft beschäftigt, freilich ganz überwiegend vom Standpunkt der Philosophie und der eigenen Arbeit aus. Am eingehendsten geschieht das in einem Fragment aus dem handschriftlichen Nachlaß »Über das Wesen deutscher Wissenschaft«. In der deutschen Wissenschaft sieht Schelling »das wahre Innere, das Wesen, das Herz der Nation«. Zeugnisse dieser Behauptung sind die religiösen und wissenschaftlichen Revolutionen, mit denen dieses Volk allen anderen vorangegangen, und in denen es ein Interesse des Gemüts und Geistes für den Grund aller Erkenntnis an den Tag gelegt hat, wie keine andere Nation je getan. »Zu eigentümlich von Gemüt und Geist ist dieses Volk gebildet, um auf dem Weg anderer Nationen mit diesen gleichen Schritt zu halten. Es muß seinen eigenen Weg gehen, und wird ihn gehen, und sich nicht irren noch abwenden lassen, wie es immer vergebens gesucht wurde.« Als die Geburtsstunde der deutschen Wissenschaft betrachtet Schelling die Zeit der Reformation, er sieht in der konfessionellen Spaltung, welche sie brachte, kein Unglück, da er hofft, daß der deutsche Geist »die Einheit, die er als einen Zustand 146 erkenntnislosen Friedens verließ, auf einer höheren Stufe als bewußte Einheit, in größerem Sinn und weiterem Umfang einst wiederherstellen werde«. Die deutsche Wissenschaft hat die Aufgabe, »die Lebendigkeit aller Dinge und der ganzen Natur anschauend, sich bis zu dem Urquell aller Ichheit, dem zu erheben, von dem alles andere Ich in der Absonderung nur Schatten und Schein, in der Einheit betrachtet das lebendige Teil und reale Ebenbild ist«. Nach dieser Richtung haben Kepler und Leibniz, Jakob Böhme und Hamann gewirkt; seine höchste Höhe erreichte aber dies Streben in der Bewegung, die mit Kant begann. »Das Urteil der Geschichte wird sein, nie sei ein größerer äußerer und innerer Kampf um die höchsten Besitztümer des menschlichen Geistes gekämpft worden, in keiner Zeit habe der wissenschaftliche Geist in seinem Bestreben tiefere und an Resultaten reichere Erfahrungen gemacht als seit Kant.« Als die Vollendung dieser Bewegung betrachtet Schelling seine eigene Philosophie.


Die Aufgabe des deutschen Geistes

Als besonders charakteristisch für den deutschen Geist erscheint seine Richtung auf Metaphysik und das eng damit verbundene Verlangen, Religion und Wissenschaft zur Freundschaft zusammenzubringen. »Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, aber ihrer Eigentümlichkeit gemäß nach Religion, die mit Erkenntnis verbunden und auf Wissenschaft gegründet ist.« Von der Metaphysik spricht Schelling in 147 höchsten Tönen, er meint, alles Hohe und Große in der Welt sei durch etwas geworden, das im allgemeinsten Sinne Metaphysik heißen könne. Metaphysik aber beruhe auf dem Talent, ein Vieles unmittelbar in Einem und hinwiederum Eines in Vielem begreifen zu können, mit einem Wort »auf dem Sinn für Totalität«.

Selbst den Krieg bringt Schelling in Verbindung mit der Metaphysik in diesem weiteren Sinne. »Es gibt keinen rechtlichen Krieg, als der um der Idee willen geführt wird, d. h. der religiös ist. Nicht als Maschine, die von Willkür bewegt wird, sondern dem Gesetz Gottes und der Natur gehorchend, die den Krieg eingesetzt haben, soll der Streiter siegen oder fallen.« Unumwunden legt Schelling dar, wie gerade dem Deutschen große Gefahren drohen, wie er sich besonders leicht der Tiefe des eigenen Wesens entfremde, aber das erschüttert nicht sein Vertrauen, daß er sich immer wieder zu sich selbst zurückfinden wird, und daß er vornehmlich jetzt sich vor einem neuen Aufstieg befindet. »Wiedergeburt der Religion durch die höchste Wissenschaft, dieses eigentlich ist die Aufgabe des deutschen Geistes, das bestimmte Ziel aller seiner Bestrebungen. Nach der notwendigen Zeit des Übergangs und der Entzweiung nehmen wir dieses durch die religiöse Revolution eines früheren Jahrhunderts begonnene Werk an eben dem Punkte auf, wo es verlassen wurde. Jetzt fängt die Zeit der Vollführung und Vollendung an.«

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Endlich sucht er aus dem Gedanken, daß die Weite des Wesens und die Offenheit selbst für Widersprüche eine eigentümliche Größe des Menschen sei, einen Vorzug deutscher Art zu begründen. »Man hat es oft bemerkt, daß alle übrigen Nationen von Europa durch ihren Charakter viel bestimmter sind als die deutsche, welche daher wegen ihrer allgemeinen Empfänglichkeit als die Wurzel, wegen der in ihr liegenden Kraft der Vereinigung des Widerstreitenden wohl als die Potenz der anderen Nationen betrachtet werden könnte. Sollte nicht das Los des Deutschen darin das allgemeine des Menschen sein, daß auch er die verschiedenen Stufen, welche andere Völker gesondert darstellen, allein alle durchliefe, um auch am Ende die höchste und reichste Einheit, deren die menschliche Natur fähig ist, darzustellen?«


Die Wendung zur Religion

Wie in dieser Schilderung des deutschen Wesens das Verhältnis zur Religion das Bild wie die Schätzung beherrscht, so wird bei Schelling überhaupt immer mehr die Religion zur Seele des Strebens. Es besagte das eine große Wendung, die keinen völligen Bruch mit der bisherigen Überzeugung darstellt, die aber doch eine Ablenkung von ihr vollzieht. Die Religion bedeutete immer dieser Philosophie sehr viel, da ihr Grundcharakter ein Versuch des Sehens und Verstehens der Wirklichkeit aus der sie begründenden Einheit ist; so haben auch die früheren Schriften viel Beziehung 149 zur Religion. Aber das Verhältnis von Gott und Welt stellte sich früher und später sehr verschieden dar, es war ein weit stärkeres Hervortreten des Problems des Bösen, das diese Wandlung bewirkte. Früher galt Schelling die Welt als eine ungetrübte Offenbarung der ewigen Einheit, und das Böse war nur ein Versuch, ein vergeblicher Versuch des Endlichen, sich dem Unendlichen entgegenzuwerfen. Jetzt aber wird das Böse weit tiefer in den Kern der Wirklichkeit zurückverlegt und als eine »positive Verkehrtheit der Prinzipien« erklärt, ernst und nachdrücklich wird jetzt zu seiner vollen Würdigung aufgefordert. Schelling meint, man müsse das Böse mit dem Herzen ignorieren, nicht mit dem Kopf; er erklärt es für einen großen Irrtum, das gute Prinzip ohne das Böse erkennen zu wollen. Denn »wie in dem Gedicht des Dante geht auch in der Philosophie nur durch den Abgrund der Weg zum Himmel«. In Wahrheit bestimmt dieser Punkt durchgängig mehr als irgendwelcher anderer die Hauptrichtung des geistigen Strebens. Seit Jahrtausenden besteht ein harter Kampf der erlesensten Geister darüber, ob das Böse der Welt, das keine unbefangene Betrachtung leugnen kann, sich in eine Vernunftordnung irgendwie einfügen und dadurch für die letzte Betrachtung zum Verschwinden bringen lasse, oder ob es sich starr behaupte, ein rationales Bild der Wirklichkeit hindere, damit aber das Streben und Denken entweder zur Verzweiflung oder zum Suchen neuer Ordnungen 150 treibe. Der deutsche Idealismus stand im großen und ganzen zu der ersteren Überzeugung. Allerdings hatte er nichts mit jenem flachen Optimismus gemein, den sich Welt und Leben ohne weiteres bequem zurechtlegt, er erkannte mit voller Klarheit die Schäden des nächsten Standes, er forderte mit größtem Ernst eine Erhöhung oder gar Umwälzung seiner, er hat stets mit voller Entschiedenheit alles Idealisieren des Daseins als eine Unwahrheit abgelehnt. Aber er stand zugleich zu dem Glauben, daß geistige Kraft den Schäden gewachsen sei, daß eine überlegene Vernunft im menschlichen Leben walte und sich durch volle Aufbietung unseres Vermögens auch in eigenen Besitz verwandeln lasse. Alle Schäden der Menschen erschütterten nicht die Überzeugung von einer Größe und Würde des Menschen. Aus solcher Überzeugung wurde dann das Bild unserer Welt entworfen.

Das alles verschiebt sich nun bei Schelling, und indem es sich verschiebt, treten ganz andere Seiten der Wirklichkeit in den Vordergrund und entstehen ganz neue Probleme.


Das Böse in der Welt

Schelling findet das Böse schon in der Natur, in durchgehenden Hemmungen und Verunstaltungen ihres Lebens, auch in der allesbeherrschenden Macht des Todes. Es steigert sich weiter im Bereich des menschlichen Lebens, im besonderen ist es das Sinnlose des unaufhörlichen Kommens und Gehens, was den Denker bedrückt und weitertreibt. 151 »Die ganze Natur müht sich ab und ist in unaufhörlicher Arbeit begriffen. Auch der Mensch seinerseits ruht nicht, es ist, wie ein altes Buch sagt, alles unter der Sonne so voll Mühe und Arbeit, und doch sieht man nicht, daß etwas gefördert, wahrhaft erreicht werde, etwas nämlich, wobei man stehen bleiben könnte. Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, um selbst wieder zu vergehen. Vergebens erwarten wir, daß etwas Neues geschehe, woran endlich diese Unruhe ein Ziel finde; alles was geschieht, geschieht nur, damit wieder etwas anderes geschehen kann, das selbst wieder gegen ein anderes zur Vergangenheit wird, im Grunde also geschieht alles umsonst, und es ist in allem Tun, in aller Mühe und Arbeit der Menschen selbst nichts als Eitelkeit: alles ist eitel, denn eitel ist alles, was eines wahrhaften Zweckes ermangelt.« An diesen Schäden hat die Gegenwart besonders zu tragen, da ihr ein innerer Halt verloren gegangen ist. Es haben sich nämlich die überkommenen Überzeugungen, welche das Leben trugen, gelockert und ihre ursprüngliche Kraft verloren, aber das wagt man sich nicht zu gestehen. »Aus Furcht, den behaglichen Zustand zu zerstören, vermeidet man der Sache auf den Grund zu sehen oder es auszusprechen, daß die moralischen und geistigen Mächte, durch welche die Welt, wenn auch bloß gewohnheitsmäßig, noch zusammengehalten worden, durch die fortschreitende Wissenschaft längst untergraben sind.«

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Indem solche Eindrücke Schelling dahin treiben, das Böse in die tiefsten Gründe der Wirklichkeit zu versetzen und es als einen Abfall von Gott zu verstehen, treibt ihn sein Erkenntnisverlangen, solchen Abfall irgendwie begreiflich zu machen und demgemäß den Weltanblick zu gestalten. Das Hauptproblem liegt darin, daß das Böse letzthin nur aus Freiheit stammen und daher eine von Gott unabhängige Wurzel haben muß, daß andererseits aber nichts gänzlich außer Gott gesetzt werden kann. Diese Verwicklung treibt unseren Denker zu kühner Spekulation in der Art eines Jakob Böhme. Das Böse soll aus einem dunkeln Naturgrunde stammen, der nur eine Stufe einer weiteren Bewegung bedeuten sollte, der aber sich selbständig gemacht hat, nun den Fortgang hemmt, nun die Lebenskräfte in seine Dienste zieht und ihren wahren Zielen entfremdet. Damit hat das Böse eine unheimliche Macht erlangt, von der nur eine überlegene Hilfe, eine Offenbarung göttlicher Macht uns und die Welt erlösen kann.


Dieser Gedankengang ist begreiflich, wie immer man sich zu ihm stellen mag, die nähere Ausführung ist aber so gewagt, so wunderlich, sie entspricht so wenig der von Kant verlangten kritischen Selbstbesinnung des Menschen, daß ein derartiges Verfahren uns heute ganz fremd geworden ist. Solche Ablehnung braucht aber nicht die Anerkennung dessen zu hindern, daß hier manche 153 bedeutende Gedanken entwickelt sind, manches in neue Beleuchtung gestellt ist. Besondere Beachtung findet jetzt das Problem der Freiheit, ihr Zusammenhang mit dem Ganzen der Weltansicht wird dem Denker zu einer »notwendigen Aufgabe, ohne deren Auflösung der Begriff selber wankend, die Philosophie aber völlig ohne Wert sein würde«. »Denn diese große Aufgabe allein ist die unbewußte und unsichtbare Triebfeder alles Strebens nach Erkenntnis von dem Niedrigsten bis zum Höchsten; ohne den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit würde nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in den Tod versinken, der jenen Wissenschaften eigen ist, in welchen er keine Anwendung hat.«

Wollen als Grundlage aller Natur

Solcher Schätzung der Freiheit entspricht es, daß als Grundkraft der Seele hier mit großer Bestimmtheit das Wollen verkündigt wird, ja daß es heißt, »Wollen ist die Grundlage aller Natur.« Auch Fichte hatte das Wollen als die Hauptkraft des Lebens erklärt, aber es war das bei ihm das von Vernunft erfüllte und auf Vernunft gerichtete Wollen; Schelling dagegen bringt das Dunkle, Triebhafte, Dämonische in ihm zur vollen Anerkennung; ihm wird damit das Leben nicht eine sichere Fortentwicklung, sondern ein beständiger Kampf zwischen Höherem und Niederem, fortwährend bedarf es eines Ringens mit der dunkeln Tiefe unserer Natur, fortwährend gilt es, das in uns bewußtlos Wirkende durch 154 freie Tat zum Bewußtsein zu erheben. Zugleich aber glaubt Schelling einen kräftigeren Begriff vom Guten zu gewinnen und das Ganze des Lebens zu vertiefen. »Ein Gutes, wenn es nicht ein überwundenes Böse in sich hat, ist kein volles lebendiges Gute.« »Die aktivierte Selbstheit ist notwendig zur Schärfe des Lebens; ohne sie ist nur völliger Tod, ein Einschlummern des Guten. Wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben.« Damit soll auch der Begriff der Persönlichkeit mehr Gehalt und Kraft gewinnen, ihm ist eigentümlich eine innere Bewegung, welche die Natur des Selbst durch Freiheit zur Geistigkeit erhebt. Der Begriff des Geistes aber fällt nach Schelling nicht schon mit dem des Guten zusammen. Denn auch in den Geist reicht der Zwiespalt hinein, der die Welt auseinanderreißt, auch innerhalb des Geistes müssen wir kämpfen, ja »die höchste Korruption ist auch die geistigste«. Auch beim Gottesbegriff erstrebt Schelling eine Überwindung abstrakter Fassungen, die mit einem bloßen Allgemeinbegriff das Wesen zu treffen glaubten, und eine Kräftigung des Gehalts; in dieser Hinsicht heißt es: »Nicht die Vernunft ist die Ursache des vollkommenen Geistes, sondern nur, weil dieser ist, gibt es eine Vernunft.« »Das allgemeine Wesen existiert nur, wenn das absolute Einzelwesen es ist.« Auch verlangt Schelling eine möglichst anthropomorphe Fassung des Gottesbegriffes, da nur ein lebendiger und uns naher Gott Hilfe und Rettung bringen könne.

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Gott und der Weltprozeß

Auf eine solche Rettung aber vertraut Schelling felsenfest, und er begründet sein Vertrauen durch seine Fassung der Geschichte und des gesamten Weltprozesses, die auf eine solche Rettung angelegt sind. Es gilt nur, daß der Mensch die großen göttlichen Taten erkenne und sein eigenes Leben dadurch erfüllen lasse, daß er eintrete in die Bewegung der Welt, in den Kampf um ihre Vollendung. Diese Überzeugung läßt ihn auch die Zeichen der Zeit trotz alles Ernstes günstig deuten. »Je greller man den Unfrieden, die Zerwürfnisse, die Auslösung drohenden Erscheinungen unserer Zeit schildern mag, desto gewisser kann der wahrhaft Unterrichtete in diesem allen nur die Vorzeichen einer neuen Schöpfung, einer großen und belebenden Wiederherstellung erblicken, die allerdings ohne schmerzliche Wehen nicht möglich war, der die rücksichtslose Zerstörung alles dessen, was faul, brüchig und schadhaft geworden, vorausgehen mußte.« Der Philosophie, im besonderen seiner eigenen, teilt Schelling dabei eine große Rolle zu.


Eine weite Kluft zwischen den hier so eindringlich geschilderten Schäden der menschlichen Lage und dem empfohlenen Heilmittel ist unmöglich zu verkennen. Wie kann eine Veränderung der Weltanschauung so viel erreichen lassen? Schelling selbst sucht den Einwand abzuwehren, daß die Philosophie solcher Aufgabe nicht gewachsen sei, es müsse, so meint er, nur eine starke 156 Philosophie sein, »eine solche, die mit dem Leben sich messen kann, die ihre Kraft aus der Wirklichkeit selbst nimmt und darum auch selbst wieder Wirkendes und Dauerndes hervorbringt.« Aber es bleibt doch dabei, daß ein Wandel der Begriffe ohne weiteres auch einen Wandel der Gesinnung mit sich bringen soll; was aber ist das anderes als Rationalismus, und zwar ein Rationalismus, der um so mehr zum Widerspruch reizt, als er eben das für irrational Erklärte rational zu verstehen sucht? Schellings Versuch, das Christentum als den Kern und Sinn der ganzen Wirklichkeit zu erweisen, ist ein großes Wollen unmöglich abzusprechen, aber die Ausführung zeigt dasselbe Überspringen der menschlichen Schranken und dieselbe Vergewaltigung des Tatbestandes im Gebiet der Geschichte, wie in dem der Natur die Naturphilosophie.


Philosophie der Mythologie

Dasselbe gilt von Schellings Philosophie der Mythologie, welche die ganze Fülle der geschichtlichen Religionen als eine aufsteigende Stufenfolge mit dem Christentum als Höhe- und Zielpunkt zu verstehen sucht. Auch hier blitzen glänzende Gedanken auf, auch hier fehlt es nicht an packenden Schilderungen. So ist es namentlich anziehend, wie Schelling sich mit dem Pantheismus auseinandersetzt, der in seiner eigenen Natur so tief wurzelte, und über den ihn doch der Fortgang seines Strebens zwingend hinaustrieb. »Der Pantheismus in seiner bloßen Möglichkeit ist 157 der Grund der Gottheit und aller wahren Religion. – Der Monotheismus ist nichts anderes, als der esoterisch, latent, innerlich gewordene Pantheismus. – Nichts hat je über die Gemüter der Menschen wahre Gewalt erlangt, dem nicht eigentlich dieser, zur Ruhe gebrachte und befriedigte (zum Frieden gebrachte) Pantheismus zugrunde lag.«


Der Abschluß der äußeren Laufbahn Schellings war wenig glücklich. Unter großen Erwartungen wurde er 1841 nach Berlin berufen, um Zeitströmungen zu bekämpfen, die man für bedenklich hielt. Auch er selbst steckte das Ziel sich hoch, hoffte er doch »eine Burg zu gründen, in welcher die Philosophie von nun an sicher wohnen soll«. Das Ergebnis war eine Enttäuschung; es kamen noch andere Gründe hinzu, Schelling zur Einstellung seiner Tätigkeit zu bewegen. Leider beherrscht dieser Ausgang noch immer zu sehr die gesamte Schätzung des Mannes.


Anregungen und Ergebnisse

Denn darüber kann kein Zweifel sein: Schelling gehört in die erste Reihe unserer großen Denker, und das deutsche Geistesleben verdankt ihm viel. Aber es liegt das mehr in Anregungen als in fertigen Ergebnissen. Wenn gesagt ward, daß oft die Werke größer sind als die Menschen, oft aber auch die Menschen größer als ihre Werke, so gilt letzteres besonders von 158 Schelling. Reichste geistige Gaben trafen bei ihm zusammen, mit gewaltiger Kraft hat er alles behandelt, was er ergriff. Alle Kleinheit lag ihm fern, er wußte alles ins Große zu heben und aus dem Ganzen zu sehen. Er widerstand aller Verengung des Lebens nach besonderen Richtungen hin, er steht sicher über dem Gegensatz eines Moralismus und Ästhetizismus, er hat auch bei der Wendung zur Religion dem Denken volle Freiheit gewahrt und eine »christliche« Philosophie entschieden abgelehnt, er hat dem menschlichen Leben eine metaphysische Tiefe gegeben, das Geheimnisvolle in ihm stark empfunden und kräftig zur Darstellung gebracht. Auch daß er selbst stets im Suchen verblieb, gibt seiner Untersuchung eine eigentümliche Frische und Ursprünglichkeit, hält ihr alles Lehrhafte fern. Daß aber solche Größe in seinen Werken nicht zu entsprechendem Ausdruck kam, das lag vornehmlich an einem Widerspruch zwischen seinem Wesen und seinem Wollen, einem Widerspruch, den man wohl als tragisch bezeichnen kann. Sein Wesen macht ihn stark in der künstlerischen Intuition, im Sehen und Beleben großer Umrisse, im kraftvollen Anschlagen der Grundstimmungen einer Gedankenwelt, dabei ergreift er uns oft mit zauberischer Gewalt; sein Wille aber drängte ihn zu einem systematischen Aufbau, zu einem Durchbilden und Gliedern bis ins einzelne hinein, und dabei versagte seine Kraft.

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Aber es bleibt dabei, daß er die verschiedenen Gebiete und Probleme des Lebens mit einer Frische und Anschaulichkeit uns nahebringt wie kein anderer unserer großen Denker, der schwächste Systematiker ist er zugleich der mächtigste Künstler unter allen. Er hat das Lebensproblem der Menschheit auf eine Höhe gehoben, die noch immer belebender Wirkungen fähig ist. So wollen wir dieses Große bei ihm suchen und uns seiner erfreuen; bei seinen Irrungen aber wollen wir des Wortes gedenken, das er selbst in seiner Berliner Antrittsvorlesung sprach: »Hat einer mehr geirrt, so hat er mehr gewagt, hat er sich vom Ziel verlaufen, so hat er einen Weg verfolgt, den die Vorgänger ihm nicht verschlossen hatten.«


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Schleiermacher

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Schleiermachers (1768–1834) geistige Art teilt mit der Schellings manche Züge. Auch er stand zu Beginn seiner Laufbahn den Romantikern nahe, auch er hat seine Selbständigkeit gewahrt und ist später weit über jene hinausgewachsen; auch sein Denken zerlegt die Welt in Gegensätze, aber es will sie umspannen und sie ohne Verwischung ihrer Unterschiede zusammenhalten, so namentlich Denken und Sein, Reales und Ideales, Natur und Geist, Freiheit und Notwendigkeit; auch in ihm wirkt stark eine künstlerische Art, läßt ihn das Mannigfache zusammenschauen und beherrscht auch seine Darstellung. Aber zugleich bleiben beträchtliche Unterschiede. Es fehlt Schleiermacher das Gigantische und Umwälzende, aber auch das Gewagte und Gewaltsame des Schellingschen Verfahrens; Schleiermacher stellt sich nicht kühn und keck der Welt gegenüber, um sie nach seinen Entwürfen umzugestalten, sondern er versetzt sich liebevoll in die Dinge hinein und sucht sie bei sich zu beleben, um dann eine fruchtbare Wechselwirkung mit der eigenen Seele herzustellen. Er schmiedet die Gegensätze nicht mit diktatorischem Gebot zu einer Einheit zusammen, aber er bringt sie in ein Verhältnis gegenseitiger Beziehung und 164 Förderung, er verbindet sie zu einem seelenvollen Gewebe; er führt weniger in stürmischem Zuge das Leben auf neue Bahnen, als er mit hingebender Betrachtung mehr in ihm entdeckt, mehr aus ihm macht, seinen ganzen Umfang liebevoll klärt und veredelt. So ist er durchaus ein Denker eigener Art und will als solcher gewürdigt sein.


Geistesart und Lebensarbeit

Auch seine Lebensarbeit setzt die Kantische Befreiung des Menschen von einer fremden Welt voraus, auch im Hinausgehen über Kant hat sie diese Grundlage festgehalten. Aber wenn auch für Schleiermacher damit das Subjekt in die erste Linie trat, so hat er ihm ein eigentümliches Verhältnis zur Wirklichkeit gegeben, das ihn von den Romantikern deutlich scheidet. Er hat den Hauptstandort des Lebens in der Innerlichkeit der Seele gesucht, er hat hier nicht nur ein stilles Heiligtum, sondern auch einen festen Halt gegen die Nöte und Wirren des Lebens gefunden. Solches Zurückgehen auf die Tiefen der Seele bedeutet ihm aber keine Flucht vor der Welt, kein Sichverschließen in eine einsame Klause, sondern in der Seele selbst hat er eine Welt gefunden und diese Welt mit aller Kraft zu beleben gesucht und verstanden. Ihn durchdringt ein fester Glaube an ein Ganzes der Menschheit, das in jeder Seele unmittelbar gegenwärtig ist und das Leben des einzelnen trägt, aber nicht nur muß dieser das Bild der Menschheit in sich erst zu voller Anschauung bringen, er hat auch innerhalb des 165 Ganzen eine besondere Art zu entwickeln, das Ganze in eigentümlicher und unvergleichlicher Weise in sich selber darzustellen. Damit erhält die Seele eine große Aufgabe und eine fortlaufende Bewegung im eigenen Bereich, sie fällt um so weniger aus der großen Wirklichkeit heraus, als die Menschheit und die ihr innewohnende Vernunft für Schleiermacher die Tiefe der Welt zu bilden scheint. Zugleich entsteht ein eigentümliches Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Aufs entschiedenste wird hier abgelehnt, das Individuum als ein bloßes Mittel für die Gemeinschaft zu behandeln und sein Tun einer allgemeinen Formel zu unterwerfen, aber es wird auch nicht nach Art der Romantik als ein völliger Selbstzweck erklärt und selbstbewußt von seiner Umgebung abgehoben, es bleibt als eine eigentümliche Darstellung des Ganzen von diesem umfaßt und auf es angewiesen, von ihm aus empfängt es sein Maß. Diese Ausgleichung der Gegensätze ist für Schleiermacher auch zu einer persönlichen Wahrheit geworden: er hat in allen Lebenslagen den größten Wert auf die Gemeinschaft gelegt, sie zu heben und zu stärken gestrebt, aber er hat sich zugleich die vollste Unabhängigkeit innerhalb der Gemeinschaft gewahrt und ist mannigfachen Anfechtungen gegenüber tapfer und treu den Weg seiner eigenen Überzeugung gegangen. Überhaupt verband sich in seinem Leben in bewunderungswürdiger Weise mit Zartheit und Innigkeit des Gefühls eine große Kraft und 166 Mannhaftigkeit des Handelns, die künstlerische Anmut seiner Darstellung darf uns diesen festen Kern seines Wesens ja nicht übersehen lassen. Er ist, als Ganzes genommen, wohl die anziehendste Persönlichkeit im Kreis unserer großen Denker.


Seine Wirkungen auf das gemeinsame Leben gehen nach dreifacher Richtung: er hat das Ganze des Seelenlebens befestigt und vertieft, er hat der Religion zuerst eine volle Selbständigkeit auch in der Wissenschaft erkämpft, er hat die Moral vor drohender Verengung zu bewahren und mit dem Ganzen des Lebens eng zu verknüpfen gesucht.


Vertiefung des Seelenlebens

Jene Vertiefung des Seelenlebens erfolgt in hartem Kampf mit der alternden Aufklärung, Schleiermacher zeigt hier mit besonderer Klarheit, nach welcher Richtung damals die Sehnsucht der Besten ging. Es galt, dem Leben einen Sinn und Wert bei sich selbst zu erringen, es von aller niedrigen Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit zu befreien, in welche die Zeitumgebung es hatte sinken lassen. Die Bewegung dagegen findet ihren bedeutendsten und schönsten Ausdruck in Schleiermachers »Monologen«. Sie beginnen mit einem Preise eines Lebens aus einem vollen Beisichselbstsein der Seele. Hier allein im innersten Handeln erfolgt eine Erhebung von der Notwendigkeit zur Freiheit, von dem Wandel der Zeit zur Ewigkeit. »Auf mich selbst muß mein Auge gekehrt sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen 167 zu lassen als einen Teil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn herauszugreifen und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln.« Das aber nicht in Losreißung, sondern im Zusammenhang mit dem All; verstehen wir es nur nicht als bloß körperliche Masse, sondern »was Welt zu nennen ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß aufeinander, ihr gegenseitiges Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit«. »Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spiegel.« Diesem unendlichen All der Geister hat sich das Endliche und Einzelne einzufügen und Wirkungen von ihm zu empfangen. Aber im eignen Innern bleibt es frei, die Freiheit ist in allem das Ursprüngliche, das Erste und Innerste. Ihre Aufgabe ist es, »die Menschheit in mir zu bestimmen, in irgendeiner endlichen Gestalt und festen Zügen sie darzustellen und so selbstwerdend Welt zugleich zu bilden«. Indem sich so Endliches und Unendliches in uns verbindet, wird die Selbstanschauung unmittelbar auch zu einer Anschauung der Menschheit, und der Gedanke der Menschheit wiederum führt zum unermeßlichen Gebiet des reinen Geistes. Im Anschauen seiner selbst findet der Geist Unsterblichkeit und ewiges Leben, daher heißt es: »Beginne schon jetzt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was kommen wird, weine nicht um das, was vergeht, aber sorge, dich selbst nicht zu verlieren, und weine, wenn du dahin treibst im 168 Strome der Zeit, ohne den Himmel in dir zu tragen.«


Um aber jenes Ziel zu erreichen, gilt es vor allem, das Bewußtsein der Menschheit in sich selbst zu voller Klarheit zu wecken und es das Handeln leiten zu lassen, damit sich das Leben mit voller Sicherheit über das sinnlose tierische Dasein zur Höhe der Vernunft erhebe. Aber so notwendig solche Erweckung eines Allgemeinen in uns ist, sie allein gibt unserem Leben noch keinen rechten Sinn, dazu wird gefordert, daß jeder Mensch auf eigene Art, in neuer eigener Mischung der Elemente die Menschheit darstellt. Dies Ausbilden einer Besonderheit ist alles eher als eine Absonderung von anderen Menschen. Denn »wer sich zu einem bestimmten Menschen bilden will, dem muß der Sinn geöffnet sein für alles, was er nicht ist«. »Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn.« Zur Ausbildung eines solchen Sinnes bedarf es aber vor allem der Liebe. »Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigene Bildung keine Vollendung in der Liebe: eins das andere ergänzend, wächst beides unzertrennlich fort.«


Vertiefung des Gemeinschaftslebens

Eine derartige Gesinnung drängt auch zur Gestaltung der Welt. Ihr kann aber nicht eine bloße Verbesserung der Außenwelt genügen, auch nicht eine bloße Veränderung der Organisation des Zusammenlebens, sie muß eine innere Erhebung der 169 geistigen Gemeinschaft zu echter Bildung erstreben; dabei aber stellen sich sofort Gefahren ein, denen es entgegenzuarbeiten gilt. Jene Gemeinschaft nämlich bedarf zum Zusammenhalten bestimmter Mittel und Ordnungen, wie der Sprache und der Sitte; diese aber bedrohen leicht das Eigenleben mit einer Verkümmerung. Aber dem läßt sich widerstehen und nach einer Ausgleichung streben, wenn nur das eigene Innere zu voller Kraft belebt ist. »Harmonisch in einfacher schöner Sitte leben kann kein anderer, als wer die toten Formeln hassend eigene Bildung sucht und so der künftigen Welt gehört; ein wahrer Künstler der Sprache kann kein anderer werden, als wer freien Blickes sich selbst betrachtet und des inneren Wesens der Menschheit sich bemächtigt hat.«


So liegt schließlich die Lösung aller Aufgaben in uns selbst, in dem, was wir aus uns machen; streben wir nur immer mehr zu werden, was wir von Haus aus sind. Die Unabhängigkeit, die wir damit gewinnen, befreit uns auch von den Schranken, welche das Geschick uns setzt. Denn in uns waltet die Götterkraft der Phantasie, sie stellt den Geist ins Freie, sie hebt ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung hinaus, sie macht uns fähig, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, das Fremde in Nahes, das Zukünftige in Gegenwart zu verwandeln.


Ein solches Leben von innen heraus, ein solches Bilden seiner selbst wird durch den Gedanken an 170 Alter und Tod nicht im mindesten eingeschüchtert. An uns selbst liegt es, Mut und Kraft durch das ganze Leben zu wahren. »Ein selbstgeschaffenes Übel ist das Verschwinden des Mutes und der Kraft; ein leeres Vorurteil ist das Alter.« Aus dem Bewußtsein der inneren Freiheit und ihres Handelns entspringt ewige Jugend und Freude. Wer im Alter klagt, daß ihm die Jugend fehlt, dem hat in der Jugend das Alter gefehlt.

»Das ist des Menschen Ruhm, zu wissen, daß unendlich sein Ziel ist, und doch nie stillzustehen im Lauf, zu wissen, daß eine Stelle kommt auf seinem Wege, die ihn verschlingt, und doch an sich und um sich nichts zu ändern, wenn er sie sieht, und doch nicht zu verzögern den Schritt. Darum ziemt es dem Menschen immer in der sorglosen Heiterkeit der Jugend zu wandeln. Nie werd' ich mich alt dünken, bis ich fertig bin; und nie werd' ich fertig sein, weil ich weiß und will, was ich soll.« So verbleibt nichts, das die Festigkeit und die Freudigkeit des Lebens erschüttern könnte, das aus ursprünglicher Innerlichkeit hervorgeht; auf modernem Boden hat Schleiermacher so das Innenleben in sich selbst zu begründen gesucht und damit unser Dasein bereichert.

Selbständigkeit der Religion

Am stärksten hat er in das allgemeine Leben eingegriffen durch sein Wirken auf dem Gebiete der Religion. Ist er es doch gewesen, der dieser zuerst in der Denkarbeit eine volle Selbständigkeit erstritten und sie zugleich in ihrer unterscheidenden Eigentümlichkeit vollauf 171 zu entwickeln unternommen hat. Daran fehlte es bisher. Bis in die Neuzeit hinein war die Religion viel zu sehr an die kirchliche Form gebunden, viel zu sehr geschichtliche Tatsächlichkeit, um sich um ihren allgemeinen Begriff und seine Begründung viel zu kümmern, das Denken war ganz von der besonderen Gestalt eingenommen. In der Neuzeit wurde das anders, aber wo ein Bedürfnis nach wissenschaftlicher Rechtfertigung der Religion entstand, da suchte man es zunächst von der Weltanschauung her zu befriedigen; für weitere Kreise war es namentlich die in der Welt bemerkte, aber aus ihren eigenen Zusammenhängen anscheinend unerklärbare Zweckmäßigkeit, die den Schluß auf das Dasein eines höheren Wesens als des Urhebers zu rechtfertigen schien. Als die Unzulänglichkeit dieses Verfahrens zum Bewußtsein kam, stellte sich ihm der Versuch entgegen, die Religion auf die Moral zu gründen, die großartigste Ausführung dessen gibt uns Kant. Aber die Dürftigkeit einer Religion, welche lediglich der Moral zu dienen hat, konnte ihm selbst und seinen Zeitgenossen nur entgehen, weil die Persönlichkeit unter dem Einfluß der religiösen Überlieferung aus den Begriffen weit mehr machte, als wissenschaftlich dargetan war; eine Selbständigkeit der Religion und zugleich die Entwicklung eines eigentümlichen Lebens ward damit nicht erreicht. Dies Verdienst blieb Schleiermacher vorbehalten, er hat hier nicht nur die Einsicht gefördert, sondern das religiöse Leben 172 selbst aufs wesentlichste vertieft. Seine Überzeugungen haben sich naturgemäß im Verlauf seines Lebens vielfach weitergebildet, zwischen seinen in vollster Jugendfrische gehaltenen Reden über die Religion und dem Augenblick, wo er auf seinem Sterbebett sich und den Seinigen das heilige Abendmahl reichte, liegt viel Bewegung. Aber der Grundzug blieb in allen Weiterbildungen unverändert, das Streben, im Innersten der Seele, im reinen Gefühl der Religion eine sichere Stätte zu bereiten und hier einen zuverlässigen Maßstab für alles zu finden, was die Überlieferung an uns bringt. Unsere Schilderung folgt zunächst der ersten Auflage jener Reden, da sie die eigentümliche Art des Mannes im ursprünglichsten Hervorbrechen zeigt. Daß er über Religion zu den »Gebildeten unter ihren Verächtern« spricht, grenzt sein Unternehmen schärfer ab, als der heutige Sprachgebrauch annehmen läßt. Denn die Ausdrücke »Bildung« und »gebildet« waren eben erst vom Körperlichen aufs Geistige übertragen worden, und sie bezeichneten zunächst die Anhänger der sich wider die Aufklärung erhebenden neuen künstlerischen Denkart, es waren also die Modernen seiner eigenen Zeit, welche Schleiermacher für die Religion zu gewinnen suchte; so stellt er ihre Verfechtung ganz auf den Boden der neuen Zeit.


Das Wesen der Religion

Zunächst gewinnt er seiner eigenen Überzeugung freien Raum durch ein Abweisen unzulänglicher 173 Fassungen. Es gilt eine Abgrenzung der Religion sowohl gegen Metaphysik als gegen Moral, es gilt eine Abweisung der landläufigen Art der Religion, welche aus ihr ein bloßes Gemisch von Metaphysik und Moral machte, es gilt aber auch eine Auseinandersetzung mit dem tiefergehenden Versuche Kants, die Religion auf die Moral zu gründen. Schleiermacher meint, daß, so gut die Moral eine Unabhängigkeit von der Religion verlangen dürfe, ebensowohl man dieser eine solche zugestehen müsse; es sei eine Verachtung der Religion, sie in ein anderes Gebiet zu verpflanzen und da dienen zu lassen. Das Nein führt dann rasch zum Ja: »Die Religion begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertigzumachen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. Sie will im Menschen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung.« »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.« Im Anschauen erfolgt nach Schleiermacher ein Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, ein ursprüngliches und unabhängiges 174 Handeln des ersteren wird vom letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen und zusammengefaßt. Was wir anschauen, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf uns; das Universum aber ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns in allem, was es hervorbringt, und es handelt damit auf uns; alles Einzelne nun als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinzunehmen, das ist Religion. »Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion.« Mit der Anschauung aber ist untrennbar ein Gefühl verbunden. »Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung, noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich eins und ungetrennt sind.« Wenn Schleiermacher es als einen gänzlichen Mißverstand verwirft, daß die Religion handeln solle, so steht sie darum nicht gleichgültig neben dem Handeln. »Bei ruhigem Handeln, das aus seiner eigenen Quelle hervorgehen muß, die Seele voll Religion haben, das ist das Ziel des Frommen.« »Die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten, er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion.« Für die nähere Gestaltung bleibt dem Individuum freier Raum, denn das Universum läßt sich in verschiedener Art anschauen, daher soll keiner seine besondere Art dem anderen aufdrängen 175 wollen. »Im Unendlichen steht alles Endliche ungestört nebeneinander, alles ist eins und alles ist wahr.«


Anschauung und Gefühl

Wie aber kommen wir zu solcher Anschauung des Universums und dem ihr verbundenen Gefühl? Die äußere Natur kann weder mit ihrer Größe noch ihrer Schönheit sie erzeugen, sie wirkt nur dann religiös, wenn Religion schon vorhanden ist; den Stoff für diese finden wir vielmehr in der Menschheit. »Um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.« In der Menschheit und ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit ergreifen wir »die Harmonie des Universums, die wunderbare und große Einheit in seinem ewigen Kunstwerk«. Jedes Individuum ist seinem inneren Wesen nach ein notwendiges Ergänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit. Jeder ist zugleich ein Kompendium der Menschheit, jede Persönlichkeit umfaßt in einem gewissen Sinne die ganze menschliche Natur. Noch über die Menschheit dringt der Gedanke insofern hinaus, als die Menschheit mit ihren Veränderungen und ihrem Werden nicht selbst das Universum sein kann, vielmehr wird sie sich zu ihm verhalten, wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten. Solche Ahnung von etwas außer und über der Menschheit enthält jede Religion, aber dies ist auch der Punkt, wo ihre Umrisse sich dem gemeinen Auge verlieren.

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So wenig die Anschauung des Universums unmittelbar auf das Handeln wirkt, sie erzeugt Gefühle, welche das Ganze des Lebens erhöhen. So erzeugt sie Ehrfurcht und Demut, so auch Liebe und Zuneigung zu den Brüdern, ohne deren Dasein wir einer Anschauung der Menschheit entbehren müßten. Die Anschauung des Unendlichen stellt ferner das Gleichgewicht und die Harmonie des menschlichen Wesens wieder her, welche unwiederbringlich verlorengehen, wenn jemand sich, ohne zugleich Religion zu haben, einer einzelnen Richtung der Tätigkeit überläßt.


Solche Überzeugungen ergeben eine eigentümliche Stellung zu den Dogmen und Lehrsätzen der Religion, auch zu den Ideen Gott und Unsterblichkeit; diese alle werden im universalsten Sinne gedeutet. »Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.«


Religiöse Gemeinschaft

Eine Religion solcher Art ist nicht lehrbar, es gilt nur die Hemmungen zu entfernen, welche der von ihr verlangten Anschauung des Universums entgegenstehen. Eine solche Hemmung bildet namentlich eine bloß verstandesmäßige Betrachtung der Dinge, welche nicht nach ihrem Was und Wie, sondern nur nach ihrem Woher und Wozu fragt, eng verbunden damit ist die Richtung auf den bloßen 177 Nutzen; auch die Gefahr liegt nahe, daß der Mensch unter den Druck mechanischer und unwürdiger Arbeit gerate und damit die Ruhe und Muße verliere, in sich die Welt zu betrachten. Eine Hilfe erwartet Schleiermacher namentlich von der religiösen Gemeinschaft, denn zur Gemeinschaft drängt die Religion, wie er sie faßt, mit Notwendigkeit. »Ist die Religion einmal, so muß sie notwendig auch gesellig sein.«

Nur bedeute uns die Gemeinschaft keine Gleichförmigkeit in der Religion. Es gibt verschiedene Arten, das Universum anzuschauen, ihrer Entwicklung ist freier Platz zu lassen, auch die Religion selbst muß sich individualisieren. Bei Erörterung der verschiedenen Gestaltungen der Religion verwirft Schleiermacher mit großer Entschiedenheit die Vernunftreligion, von welcher die Aufklärungszeit so viel erwartete, ihm gilt sie als ein bloßer Schatten, als eine magere und dünne Religion. Auch allgemeine Begriffe, wie Pantheismus oder Personalismus, erzeugen aus eigenem Vermögen keine lebensvolle Gestalt, das geschieht lediglich in geschichtlichen, positiven Religionen, welche in bestimmter Art die unendliche Religion im Endlichen darstellen. In ihnen allein erscheint alles wirklich und kräftig, nur hier hat jede einzelne Anschauung ihren bestimmten Gehalt und ein eigenes Verhältnis zu den übrigen, jedes Gefühl seinen eigenen Kreis und seine besondere Beziehung. Ein solches »Individuum der Religion« kann nicht anders entstehen als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür zum Zentralpunkt der Religion 178 gemacht und alles darin auf sie bezogen wird. Dazu bedarf es großer Führer, aber auch eines weitverbreiteten Verlangens, das durch sie eine Befriedigung findet. Von hier aus erhält Schleiermacher die Aufgabe, bei den einzelnen Religionen zu zeigen, wie sich bei ihnen die Anschauung des Unendlichen eigentümlich darstellt und ihnen damit eine ausgeprägte Individualität verleiht. So zeigt er es beim Judentum, so namentlich eingehend beim Christentum. Die unmittelbare Anschauung des Christentums ist ihm »die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und die Art, wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt und der größer werdenden Entfernung Grenzen setzt durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind. Das Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das sind die beiden unzertrennlich miteinander verbundenen Seiten dieser Anschauung, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen Stoffs im Christentum und seine ganze Form bestimmt.«

Das Christentum

Durch die Fortdauer dieses Gegensatzes wird der durchgehende Charakter aller seiner religiösen Gefühle heilige Wehmut; diese Empfindung erfüllte auch den Stifter des Christentums, von dem Schleiermacher mit tiefster Empfindung und aufrichtiger Ehrfurcht ein ergreifendes Bild entwirft. Was in ihm an Grundanschauung hervorbrach, wie überhaupt 179 die Grundanschauung jeder positiven Religion, ist an sich ewig, aber sie selbst und ihre ganze Bildung ist vergänglich. Veränderungen sind nicht nur möglich und statthaft, sondern bei dem Fortschritt der Menschheit unerläßlich: »Das große Werk der geistigen Schöpfung dauert noch fort«; eine solche Weiterbildung fordert Schleiermacher auch für die eigene Zeit, »welche so offenbar die Grenze ist zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge«. Wiederholt weist er darauf hin, daß die große Umwälzung der Reformation das Dogma völlig unverändert gelassen hat.


Die hier der Religion gegebene Gestalt wird in den späteren Schriften weiterentwickelt, in der Grundrichtung aber festgehalten. Der Begriff der Anschauung tritt zurück vor dem des Gefühls, das Gefühl aber wird dahin vertieft, daß es nicht ein besonderes Seelenvermögen neben anderen bedeutet, sondern vielmehr die tiefste Wurzel alles Seelenlebens, das »unmittelbare Selbstbewußtsein«, die »ursprüngliche Einheit oder Indifferenz des Denkens und Wollens« bildet; nur im Gefühl scheint der Mensch der Welt unmittelbar verbunden zu sein und ihre Wirkungen ungetrübt aufzunehmen; die Religion aber entspringt aus dem Gefühl der unbedingten Abhängigkeit. Wie die Religion in dieser Fassung eine volle Selbständigkeit auch gegen die Philosophie besitzt, so entwickelt sie auch ihren eigenen Gedankenkreis, sie bringt nicht Behauptungen von der Welt, sondern Beschreibungen der frommen Gefühle, sie kann daher mit der Philosophie 180 in keiner Weise zusammenstoßen. Auch in den späteren Werken, die einen engeren Zusammenhang mit dem geschichtlichen Christentum suchen, bleibt es dabei, daß die Religion ihre Größen nicht von draußen entlehnt, sondern sie bei sich selbst erzeugt. Wenn in der christlichen Glaubenslehre, dem größten systematischen Werke Schleiermachers, das Wesen der Frömmigkeit darin gesetzt wird, »daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind,« so wird hinzugefügt, »wenn schlechthinige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserem Satze gleichgestellt wird, so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist.« So ist dies Abhängigkeitsgefühl in keiner Weise durch ein vorhergehendes Wissen von Gott bedingt.


Solche Fassung der Religion macht es möglich, wie schon die Reden deutlich zeigten, mit der Ergreifung der Wirklichkeit unter der Form der Ewigkeit, auf welcher die Religion bestehen muß, eine geschichtliche Betrachtungsweise zu verbinden, der Verschiedenheit der Zeiten ihr volles Recht zu gewähren, ohne einem haltlosen Relativismus zu verfallen. Es leuchtet ein, wie mächtig das für eine Verständigung der Religion mit der Wissenschaft und dem Ganzen des Kulturlebens ist. Auf eine solche Verständigung 181 beider Gebiete hat Schleiermacher stets mit größtem Eifer gedrungen, er hat in dieser Richtung stark auf das deutsche Leben und darüber hinaus gewirkt.


Die Religion im Ganzen des Kulturlebens

Gewiß steht diese Fassung der Religion manchem Zweifel offen, im besonderen mag sich die Frage erheben, die so oft in der geistigen Arbeit auftaucht, ob die Persönlichkeit nicht größer war als das Werk, ob Schleiermachers innerliche und reiche, dazu in geschichtlichen Zusammenhängen wurzelnde Persönlichkeit in die Lehren und Begriffe nicht mehr hineingelegt hat, als sie an sich selbst enthielten. Aber unberührt von solchen Fragen und Zweifeln bleibt sowohl die Tatsache, daß er zuerst der Religion in der Wissenschaft und im allgemeinen Geistesleben einen selbständigen Platz erstritten hat, und das von innen heraus, vom eigenen Leben des Menschen her, als die andere, daß die Wiederbelebung der Religion bei uns ihm außerordentlich viel verdankt: er nimmt hier eine führende Stellung ein. Das uns Deutschen eigene Verlangen, bei den letzten Fragen des Menschenlebens Tiefe und Freiheit miteinander festzuhalten, hat er wie kein anderer erfüllt. Auch sei in seinem Bilde stets gegenwärtig gehalten, daß das Abhängigkeitsgefühl, das seine Religion beherrschte, durchaus keine Gedrücktheit des Gemütes noch auch eine matte Ergebung in alle Schlechtigkeit des Weltlaufs erzeugte, vielmehr zog Schleiermacher aus jenem Gefühl den freudigsten Mut zum Handeln und eine unbeugsame Kraft, sich allen Widerständen gegenüber zu behaupten. Wie bei so 182 vielen religiösen Naturen war auch bei ihm das Bewußtsein eines Getragenwerdens von weltüberlegener Macht eine Quelle starken und zuversichtlichen Wirkens in der Welt und einer Standhaftigkeit in allen Lebenslagen.


Pflichten, Güter und Tugenden

Eine Vermengung von Religion und Moral hat Schleiermacher stets bekämpft, aber die Gesinnung, welche seine Religion durchdringt, hat ihn auch die Moral aufs erheblichste fördern lassen, auch hier regte die Lage der Zeit zu bedeutendem Wirken an. Aus der moralischen Verweichlichung hatte Kant die Zeit aufs gründlichste aufgerüttelt, aber nun entstand die Gefahr, daß die Moral das Recht anderer Lebensaufgaben verkümmere und auch bei sich selbst in eine zu enge Bahn gerate; dieser Gefahr hat Schleiermacher durch Lehre und Tat energisch entgegengewirkt. Gewiß läßt sich bestreiten, ob er in seinen Begriffen die eigentümliche Art der Moral mit genügender Schärfe gefaßt und ihre Aufgabe deutlich genug abgegrenzt hat, aber auch wer hier von ihm abweicht, muß ihm große Verdienste auch auf diesem Gebiete zuerkennen: er hat die Moral sowohl den Prinzipien nach in universalster Weise gefaßt als auch sie in die einzelnen Lebensgebiete ebenso kräftig wie geschickt hineingearbeitet, er hat auch das Alltägliche in ihrem Lichte sehen gelehrt. Universal ist seine Behandlung der Moral, indem er diese von der Einseitigkeit des Pflichtgedankens befreit und auch den Gütern und Tugenden ihr volles Recht gewährt – er hat überhaupt 183 diese Einteilung erst aufgebracht –; sie ist universal, indem er das ganze Leben in die ethische Betrachtung hineinzieht und das Sittliche nicht als ein besonderes Gebiet, sondern als ein Naturwerden der Vernunft versteht; sie ist endlich universal, indem sie sich zur besonderen Aufgabe macht, Vernunft und Individualität, Ganzes und Einzelnes zu vollem Ausgleich zu bringen. Darin vornehmlich findet Schleiermacher das Eigentümliche seines Strebens gegenüber der Einseitigkeit Früherer, welche entweder das Ganze dem Einzelnen oder den Einzelnen dem Ganzen aufgeopfert haben, dort zu epikureischem Genuß, hier mit rauhem Pflichtgebot. Immer verficht er das gute Recht der Individualität, aber immer schätzt er das Individuum nur als eine Verkörperung des Ganzen. »Das Gesetztsein der an sich selbst gleichen und selbigen Vernunft zu einer Besonderheit des Daseins«, das bleibt der Grundstein seiner Überzeugung und zugleich der Quell eines eigentümlichen Lebens.


Weiter aber hat Schleiermacher eine besondere Stärke darin, alle Lebensverhältnisse in eine ethische Beleuchtung zu stellen, und damit auch das zu vertiefen, ja zu heiligen, was leicht der bloßen Oberfläche des Lebens anzugehören scheint. Über Ehe, über häusliches Leben, über Erziehung usw., auch über gesellige Umgangsformen ist kaum je treffender und edler gesprochen worden als von Schleiermacher. In höchstem Maße schätzt er aber Staat und Vaterland, er erweist sich in ihrer Verfechtung 184 als einen der tüchtigsten und mutigsten Vorkämpfer unseres Volkes vor und in den Freiheitskriegen. Mit Unrecht wird das Große, das er in dieser Richtung gewirkt hat, hinter die Leistung Fichtes ganz und gar zurückgestellt; man kann diesen sehr schätzen und muß es dennoch unrichtig finden, wenn er als der einzige geistige Führer der Befreiungskriege hingestellt wird, da Schleiermachers Wirken dem seinigen durchaus ebenbürtig war.


Beteiligung am bürgerlichen Leben

Schleiermacher brauchte nicht erst durch die Katastrophe von Jena aus dem Weltbürgertum aufgerüttelt zu werden wie Fichte, er hat sich schon vorher als sein Gegner bekannt, er hat gemäß seiner Richtung auf Individualität und Mannigfaltigkeit stets sowohl den allgemeinen Gedanken der Nation als seinen besonderen Staat in hohen Ehren gehalten. Kurz vor jener Schlacht bekennt er die Überzeugung, jedes Volk solle durch seine besondere Einrichtung und Lage eine besondere Seite des göttlichen Ebenbildes darstellen; der Sache der Menschheit dienen könne man nur, wenn man vom Wert des eigenen Volkes überzeugt sei. »Nur wer die Bestimmung des eigenen Volkes kennt, wird die rechte Freude haben an der Sache der Menschheit.« So hat er wiederholt schöne Worte gesprochen über die Bedeutung eines Volkes, zugleich hat er Pflichten des einzelnen daraus abgeleitet. »Ein Volk ist ein ausdauerndes Gewächs in dem Garten Gottes; es überlebt manchen traurigen Winter, der es seiner Zierden beraubt, und oft wiederholt es seine 185 Blüten und Früchte.« »Ein Volk soll eine lange Reihe aufeinanderfolgender Geschlechter aufs engste verbinden, die alte heilige Gemeinschaft ihr Recht in jedem Gemüt ausüben und das Gemeinwesen jedem wichtiger sein als alles, was sich auf sein persönliches Wohl bezieht.« Demgemäß hat Schleiermacher eine allgemeine Beteiligung am öffentlichen Leben für eine Pflicht im besondern auch des Christen erklärt. Er findet es, so spricht es eine Predigt von 1809 aus, dem Christentum widersprechend, nur um der Strafe willen untertan zu sein und nur zu gehorchen, um ein Übel zu vermeiden. Denn das Wesen der Frömmigkeit sei Selbständigkeit und fester Mut – wer aber nicht aus Lust und Liebe sich am bürgerlichen Leben beteilige, der verliere diesen Geist. Solcher Schätzung des Volkes und eines politischen Wirkens entsprach die entschiedenste Absage an den Kosmopolitismus jener Zeit. Schon vor der großen Katastrophe mahnte Schleiermacher: »Wer anstatt auf sein Volk und mit seinem Vaterlande zu wirken, sich weiter ausstreckt und es gleich auf das Ganze des menschlichen Geschlechts anlegt, der wird in der Tat erniedrigt, anstatt erhöht zu werden. Denn wer jene große Haltung, jene mächtige Hilfe verschmäht, kann doch auf das Ganze unmittelbar nicht anders wirken, als indem er als einzelner auf einzelne wirkt.« Mit großer Energie verwirft er »die gemeine Rede, die, dem Himmel sei Dank, noch jung ist und nur einer schlechten erschlafften Zeit angehört, daß die wissenschaftlich Gebildeten am 186 wenigsten ein Vaterland hätten«. Dem setzt er die Worte entgegen: »Alle, die Gott zu etwas Großem berufen hat in dem Gebiete der Wissenschaften, in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und dieses fördern, heilen, stärken wollten.« Auch den Krieg für das Vaterland findet er mit seiner religiösen Überzeugung ganz wohl vereinbar: »Wo Gott ist, ist Friede; wo das Göttliche sich erst bildet, Streit.« »Gott kämpft immer gegen das Böse und bleibt ein Gott des Friedens.«


Solche Schätzung hat Schleiermacher naturgemäß an erster Stelle seinem eigenen Volk und Vaterlande gezollt. Schon in einer wenig beachteten Stelle der Reden über die Religion (1799) hat er das »väterliche Land« im Gegensatz zu England und Frankreich als eine besonders geeignete Stätte »für heilige und göttliche Dinge« gepriesen; als dann die schwere Erschütterung kam, hat er seine nationale Überzeugung noch kräftiger bekannt und inmitten aller Wirren und Zweifel sie unerschütterlich festgehalten.

In einem Augenblick, wo nach der großen Katastrophe alle Aussicht auf einen Aufstieg zu verschwinden schien, schrieb er die Worte: »Niemals kann ich dahin kommen, am Vaterland zu verzweifeln. Ich glaube zu fest daran, ich weiß es zu bestimmt, daß es ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes ist. Es ist möglich, daß alle unsere Bemühungen vergeblich sind und vorderhand harte und drückende Zeiten eintreten – aber das 187 Vaterland wird gewiß herrlich daraus hervorgehen in kurzem.« In solcher Gesinnung hat Schleiermacher in den Jahren der Vorbereitung und der Erhebung aufs kräftigste gewirkt, er hat auch politische Sendungen übernommen, besonders aber hat er weiteste Kreise durch seine Predigten in Berlin bewegt, von denen nach allgemeinem Zeugnis eine gewaltige Kraft der Befestigung und der Erneuerung ausgegangen ist. Den Höhepunkt dieses Wirkens bildete seine Predigt am 28. März 1813 bei der Feier des Kriegsanfanges. Ihm zu Füßen saßen die Freiwilligen, die ihre Gewehre draußen an die Wand der Kirche gelehnt hatten. Von der Wirkung dieser Predigt wird berichtet: »Und als er zuletzt noch mit dem Feuer der Begeisterung die zum Kampfe gerüsteten edeln Jünglinge anredete, dann an deren großenteils anwesende Mütter sich wandte – da durchzuckte es die ganze Versammlung, und in das laute Weinen und Schluchzen derselben rief Schleiermacher sein versiegelndes Amen.«


Volk und Vaterland

Schleiermacher hat sich dabei Volk und Vaterland stets in engster Verbindung mit dem Staate und seiner Verbindung der Kräfte zu einer dauernden Einheit gedacht. Besonders dem preußischen Staate war seine treue Hingebung zugewandt, und von ihm hat er alles Heil für Deutschlands Zukunft erwartet. Wie klar er in diese Zukunft sah, das zeigen Äußerungen vom 12. Juni 1813 (in einem Briefe an Friedrich Schlegel): »Nach der Befreiung ist mein höchster Wunsch auf ein wahres 188 deutsches Kaisertum, kräftig und nach außen hin allein das ganze deutsche Volk und Land repräsentierend, das aber wieder nach innen den einzelnen Ländern und ihren Fürsten recht viele Freiheit läßt, sich nach ihrer Eigentümlichkeit auszubilden und zu regieren.« Österreich ward dabei ausgeschlossen. So sah Schleiermacher das Werk des Mannes voraus, der später unter seinen Konfirmanden war.


Alles zusammen rechtfertigt es vollauf, daß wir auch Schleiermacher zu den Hauptträgern des deutschen Idealismus rechnen, ihn als solchen achten und ehren. Uns Deutsche treibt unsere Natur mit gleicher Stärke sowohl zum Aufbau einer unsichtbaren Welt im Reiche des Gedankens und Gemütes als zu einem kräftigen Wirken und Schaffen in der sichtbaren Welt; daß beides nicht nur aufs beste vereinbar ist, sondern sich gegenseitig zu fördern vermag, das zeigt uns die Persönlichkeit und das Lebenswerk Schleiermachers.


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Hegel

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Unter den Nachfolgern Kants hat auf das Ganze des Geisteslebens niemand größeren Einfluß geübt als Hegel (1770–1831), zeitweilig hatte er auch Kant in den Hintergrund gedrängt; rasch ist dann ein jäher Rückschlag gekommen, aber wenn Hegel längere Zeit überwiegend Widerspruch und Ablehnung fand, so hat er niemals aufgehört, auf das Kulturleben stark zu wirken; das wird neuerdings immer mehr anerkannt, und es wächst zugleich das Verlangen nach einer unbefangenen Würdigung des zweifellos hervorragenden Denkers.


Hegel ist im Kreise der deutschen Denker vornehmlich der Logiker und Systematiker, in sicherem und ruhigem Fortgang hat er seine Gedankenwelt herausgearbeitet und seine Art der Betrachtung über alle Gebiete ausgedehnt. Man muß bis Aristoteles zurückgehen, um ein System zu finden, das so sehr alle Verzweigung des Lebens in seine Beleuchtung gestellt hat; ja in der Straffheit der Anordnung dürfte Hegel selbst Aristoteles übertreffen. Dagegen fehlt ihm dessen ruhige, alle Fülle des einzelnen liebevoll aneignende und in ihrer Eigentümlichkeit anerkennende Art, eine starke Gewaltsamkeit ist bei Hegel nicht zu verkennen. 192 Aber es bleibt die Größe und der Reiz der Gestaltung der gesamten Gedankenwelt aus einem einzigen Guß, dazu erhalten in dieser Gestaltung Bewegungen eine philosophische Verkörperung und Steigerung, welche dem Ganzen der modernen Kultur eigentümlich und wesentlich sind. Hegel selbst ist ein wichtiges Glied der allgemeinen Kulturbewegung, schon deshalb verlangt und verdient er eine eingehende Würdigung.


Hegel und Kant

Auch Hegel läßt sich nur von Kant aus verstehen. Kant hatte das Denken und mit ihm das Erkennen über die bloßen Individuen hinausgehoben, er hatte ihm eigne Gesetze und Kräfte zuerkannt, ja er hatte in ihm das Vermögen eines Weltbildens aufgedeckt. Aber nach seiner Überzeugung blieb bei Entwicklung dieses Vermögens das Denken an einen fremden Stoff gebunden, bei Ablösung davon schien es in völlige Leere zu fallen. Allem Streben des Menschen, die letzten Tiefen der Wirklichkeit zu ergründen, ward damit eine unüberwindliche Schranke gesetzt. Hegel glaubte, diese Schranke überschreiten, das Denken von der Bindung an den Stoff befreien, es ganz auf sich selber stellen und in ein Erzeugen der Wirklichkeit verwandeln zu können. Es schien ihm das dadurch erreichbar, daß er das Denken nicht als eine geschlossene Größe, sondern als ein Werdendes, als ein Sichselbersuchen und -vollenden, als einen aus sich selbst fortschreitenden Prozeß verstand, einen Prozeß, der im Hindurchgehen durch Satz und Gegensatz 193 immer mehr Gehalt gewinnt und schließlich die ganze Welt als sein eignes Werk erkennt. Die Philosophie wird hier zur Beschäftigung des Denkens mit sich selbst, von allgemeinsten Umrissen beginnend scheint es dadurch fortzuschreiten, daß es Widersprüche sowohl aus sich hervortreibt als sie überwindet, daß es somit auseinander geht und sich wieder zusammenfaßt; die Logik, welche seine Gesetze ermittelt, scheint nicht neben der Wirklichkeit zu stehen, sondern ihre innerste Seele und ihre treibende Kraft zu bilden; »es ist ihr nicht um ein Denken über etwas, das für sich außer dem Denken zugrunde läge, zu tun, um Formen, welche bloße Merkmale der Wahrheit abgeben sollten, sondern die notwendigen Formen und eignen Bestimmungen des Denkens sind der Inhalt und die höchste Wahrheit selbst.«

Von der Welt aus angesehen hat die Philosophie die Aufgabe, die Zerstreuung des ersten Anblicks zu überwinden, alle Mannigfaltigkeit aus der Entfaltung eines Ganzen zu verstehen, alles scheinbar Ruhende in Fluß zu bringen, die verschiedenen Seiten und Beziehungen der Dinge als gegenseitig bedingt und aufeinander angewiesen zu begreifen, die bloße Tatsächlichkeit in Notwendigkeit zu verwandeln. In dem »bunten Spiel der Welt, als des Inbegriffs des Existierenden, zeigt sich zunächst nirgends ein fester Halt, alles erscheint hier nur als ein Relatives, bedingt durch anderes und ebenso anderes bedingend.« Die Philosophie gewährt diesen Halt, sie läßt vom Ganzen 194 her sehen und aus seiner Bewegung alles einzelne verstehen. »Das Wesen ist das Ganze, das Ganze aber ist nur das sich durch seine Entwicklung vollendende Wesen.«

Daher ist Wahrheit des Erkennens hier nicht eine Übereinstimmung mit der Welt, wie sie um uns liegt, sondern zu ihrer Erreichung bedarf es einer Umwandlung und Durchleuchtung dieser Welt; die Welt denken heißt hier »ihre empirische Form umändern und sie in ein Allgemeines verwandeln«.

Dies Allgemeine bedeutet hier nicht eine bloße Gemeinschaft gewisser Eigenschaften, sondern ein unendliches Gesamtleben, das die Welt in sich trägt und sie aus sich heraus entwickelt. »Das wahrhafte unendliche Allgemeine ist schöpferische Macht.« Daß dieses Unendliche, das Ganze und Allgemeine, als das wahrhaft Seiende anerkannt werde, nicht aber das Endliche als solches gelte, da es in Wahrheit nur in jenem ist, darin wird hier der Idealismus der Philosophie gesetzt.


Denken und Wirklichkeit

Indem so das Denken bei sich selbst eine Geschichte gewinnt, es zugleich aber als der Kern aller Wirklichkeit gilt, trägt es in alle Gebiete eine geschichtliche Bewegung hinein, und zwar eine Bewegung, die sich nicht in ruhigem Aufstieg allmählich, sondern durch Gegensatz und Kampf hindurch in großen Umwälzungen vollzieht. Aus dem Ja wächst alsbald ein Nein hervor, über These und Antithese treibt es hinaus zu einer überlegenen Synthese, aber aus dieser entsteht 195 bald wieder ein Gegensatz, und so geht es weiter und weiter, bis endlich das Denken sich völlig durchgebildet und sich zugleich des ganzen Umfangs der Wirklichkeit bemächtigt hat und in ihr sein eignes Werk erkennt.


Diese Fassung des Denkens muß auch Hegels Verfahren gegen das Kants aufs wesentlichste verändern. Kant beginnt von Gesamtleistungen, vornehmlich der Bildung einer Erfahrung, als unbestreitbaren Tatsachen, und ermittelt dann, was an geistigem Vermögen in diesen Tatsachen steckt, seine Methode ist daher analytisch-regressiv; die Hegels dagegen ist synthetisch-progressiv, sie hat ihre Stärke darin, die Begriffe einander zu verketten, alles Starre in Fluß zu bringen, vom einen zum andern überzuleiten, an jedem Punkt die Bewegung des Ganzen gegenwärtig zu halten.

Dieses Selbständigwerden des Denkens und sein weltbildendes Schaffen aus eignen Gesetzen und Kräften stellt an den Menschen eigentümliche Forderungen. Er hat sich jener Bewegung unbedingt unterzuordnen und ihren Notwendigkeiten willig zu folgen, er muß sich hüten, seine eignen Meinungen und Zwecke in sie hineinzutragen und dadurch ihr Bild zu verzerren. In solcher freien Unterordnung unter den Lauf des Ganzen besteht alle echte Moral. Hat aber der Mensch die Unterordnung vollzogen und sich ganz in die Bewegung des Denkens versetzt, so darf er volles Vertrauen daraus haben im Reiche der Wahrheit zu 196 stehen. Denn die in uns waltende Vernunft ist Vernunft überhaupt, ist das Göttliche im Menschen, nicht etwas Bloßmenschliches. »Der Geist, sofern er Geist Gottes ist, ist nicht ein Geist jenseits der Sterne, jenseits der Welt, sondern Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig und als Geist in allen Geistern.« So dürfen wir nicht nur guten Mutes bei der Erforschung der Wahrheit sein, wir müssen es sein, um unsere Kraft voll einzusetzen: »Der Mut der Wahrheit, Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums, der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken. Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mut des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen.«

Größe und Macht des Geistes

»Was im Leben wahr, groß und göttlich ist, ist es durch die Idee; das Ziel des Philosophen ist, sie in ihrer wahrhaften Gestalt und Allgemeinheit zu erfassen. Die Natur ist darunter gebunden, die Vernunft nur mit Notwendigkeit zu vollbringen; aber das Reich des Geistes ist das Reich der Freiheit. Alles was das menschliche Leben zusammenhält, was Wert hat und gilt, ist geistiger Natur, und dies Reich des Geistes existiert allein durch das Bewußtsein von Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Ideen.«

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In diesem Zusammenhange stellt sich das Geschick alles einzelnen, des Individuums, eines Volkes, eines Zeitabschnittes, höchst eigentümlich dar. Sie sind bloße Stücke der Bewegung, die durch sie hindurch sich vollzieht, sie dürfen davon abgesondert nichts sein und bedeuten wollen; über sie geht mit Unerbittlichkeit der Lauf des Ganzen hinweg, eben in dem Augenblick, wo etwas seine höchste Reife erreicht, beginnt sein Untergang; nachdem es sein Werk getan, hat es kein Recht weiter fortzubestehen. So verknüpft sich Werden und Vergehen, und es wird das Leben ein unablässiges Sterben. Aber dies Sterben ist keine völlige Vernichtung, das äußere Verschwinden kein gänzlicher Untergang. Denn was »aufgehoben« d. h. vernichtet wird in seinem besonderen Sein, das wird »aufgehoben«, d. h. bewahrt als ein Stück und eine Stufe des Ganzen, innerhalb seiner wirkt es zeitüberlegen fort. So brauchen wir uns nur in das Ganze zu versetzen, um eine Auferstehung des Gestorbenen zu erleben und in einen bleibenden Besitz zu verwandeln, was äußerlich vorüberzog und scheinbar als Vergangenheit hinter uns liegt. So ist die altgriechische Welt äußerlich untergegangen aber sie ist darum nicht gänzlich erloschen, sie wirkt mit ihrer Wahrheit und Schönheit innerhalb unseres eignen Lebens fort und ist ihm gegenwärtig zu halten, sie ist die unentbehrliche und die beharrende Voraussetzung aller weiteren geistigen Arbeit. So gewiß demnach die geistige Bewegung innerhalb der Zeit 198 verläuft, sie wird keineswegs der bloßen Zeit ausgeliefert, sie erhebt sich immerfort über sie und erreicht eine Betrachtung der Welt »unter der Form der Ewigkeit« ( sub specie aeternitatis ).


Die Vernunft der Wirklichkeit

Wie hier durchgängig ein fester Glaube an die Vernunft der Wirklichkeit waltet, so wird zur Hauptaufgabe der Philosophie, diese Vernunft zu voller Klarheit herauszustellen; sie soll nicht belehren, wie die Welt sein soll, sondern sie soll sich in sie versetzen, die Dinge aus sich selbst und ihren Zusammenhängen verstehen und dadurch eine Versöhnung mit dem Ganzen der Wirklichkeit vollziehen. Das vor allem bildet die Stärke der Hegelschen Art, die Welt mit ihrem Geschehen bei sich selbst zu erfassen und in sich selbst zu vertiefen, überall geistige Inhalte, eigne Triebkräfte, innere Notwendigkeiten aufzudecken, dem Menschen durch das Teilgewähren daran eine Befreiung von kleinmenschlicher Art und eine innere Größe zu verleihen, zugleich aber bei allem Ernst eine feste und freudige Lebensstimmung zu erzeugen.

Dabei erhält die Philosophie ein eigentümliches Verhältnis zur Gesellschaft und zur Geschichte. Die Philosophie ist nicht das Erzeugnis eines bloßen Individuums, sondern sie ist »ihre Zeit in Gedanken gefaßt«; sie bildet in der Entwicklung der Zeiten nicht den Anfang, sondern den Abschluß, »als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertiggemacht 199 hat«. »Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« Ein aufrüttelndes und erneuerndes Wirken wird der Philosophie damit abgesprochen, sie hat nur zum Bewußtsein zu bringen und damit zu vollenden, was im Grundbestande schon vorliegt. Wir dürfen sagen, daß das mehr dem Bilde der alten als dem der neueren Philosophie entspricht.

Schon dies Wenige zeigt das Hegelsche System als ein gewaltiges Werk von großer Kraft und Geschlossenheit, als eine geistige Bewegung, welche die ganze Wirklichkeit ergreift und nach ihren Maßen gestaltet. Ob die Größe nicht durch eine starke Einseitigkeit erkauft wird, ja ob das Gesamtunternehmen nicht überkühn, nicht ein gefährlicher Ikarusflug ist, das läßt sich sehr wohl fragen. Verkürzt nicht das hier waltende Sehen aus dem Ganzen unbillig die Individualität der einzelnen Bildungen? Ist es nicht eine Überhebung der Menschheit, ihr Geistesleben ohne weiteres als absolutes zu behandeln? Ist Geistesleben nicht weit mehr als Denken, ja kann das Denken lediglich aus eigner Kraft überhaupt einen Inhalt erzeugen? Würde es nicht, streng auf sich selbst beschränkt, in ein Reich bloßer Schatten und Schemen führen? Und entgeht Hegel dieser Gefahr nicht bloß dadurch, daß den logischen Größen unablässig und unvermerkt aus dem Reichtum der Überlieferung und Umgebung Leben und Inhalt zuströmt?

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Auch die Sprache Hegels verrät, daß seine Gedankenwelt verschiedene Schichten enthält. Ihre durchgehende Art ist sehr abstrakt, bloße Neutra »das Allgemeine«, »das Unendliche«, »das Einzelne« spielen z. B. in ihr eine große Rolle, sie kann in solcher Abstraktheit ermüden, ja zum Unwillen reizen. Aber dann kommen immer wieder Stellen, wo kräftigere Töne aus dem Innern der Seele zum Durchbruch kommen, die Gedanken erhalten dabei oft eine so anschauliche Verkörperung, eine so treffende Zuspitzung, eine so durchschlagende Kraft, daß sie in dieser Form zu weitester Verbreitung gelangt sind. Deutlich erkennen wir hier, daß Hegels Gedankenwelt einen tieferen Hintergrund hat, den sie selber nicht erklärt. – Solche Bedenken seien nicht gering genommen, aber sie lassen alle miteinander eine gewaltige Größe des Mannes unangefochten. Sehen wir auch von den vielfachen Wirkungen ab, die er auf das Ganze des Kulturlebens ausgeübt hat, seine energische Verwandlung der ganzen Wirklichkeit in einen einzigen aus eigner Kraft bewegten und weitergetriebenen Gedankenprozeß unternimmt eine Lösung des Wahrheitsproblems, mit der sich jedes tiefergehende Streben auseinanderzusetzen hat.


Der Staat

Unsre Durchwanderung des hier gebotenen weiten Gedankenreiches muß sich auf die Gebiete beschränken, wo die Stärke des Mannes liegt, und von wo fruchtbare Anregungen auf das gemeinsame Leben ausgegangen sind. Dahin gehört vor 201 allem das geschichtlich-gesellschaftliche Zusammensein. Zunächst ist es der Staat, der Hegel eine höhere Schätzung verdankt. Gewiß war er nicht der einzige und nicht der erste, der nach dieser Richtung gewirkt hat, die Abwendung von dem bloßen Rechtsstaat, der das Wirken des Staates auf den Schutz der individuellen Kreise beschränkte, den Lassalle später als einen »Nachtwächterstaat« verspottet hat, lag im Zuge der Zeit. Aber Hegel hat diesen Zug energisch vertieft und aus dem Ganzen einer Gedankenwelt begründet; es wirkte dahin namentlich seine Überzeugung von der unmittelbaren Gegenwart des Geistes in unserer Welt. Auf das Staatsleben zunächst bezieht sich sein Wort, daß das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich sei; so hat er hier diese Überzeugung auch mit besonderer Gründlichkeit durchgebildet.


Mit großer Entschiedenheit verwirft er die übliche Neigung, am Staate herumzumäkeln und einzelne mißliebige Erscheinungen sein Gesamtbild bestimmen zu lassen, das dann natürlich arg verzerrt wird. Dem setzt er die Erwägung entgegen: »Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums, übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer doch ein lebender Mensch; das Affirmative, das Leben, besteht trotz des 202 Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun.« Wir verkennen das Große, was der Staat für uns bedeutet, leicht deshalb, weil »die Gewohnheit das unsichtbar macht, worauf unsre ganze Existenz beruht«. Um gerecht gegen einen Staat zu sein, müssen wir seinen Gesamtcharakter zu erfassen suchen und von ihm her die einzelnen Äußerungen als notwendig verstehen, nicht aber unsere Sondermeinungen und Sonderwünsche das Urteil bestimmen lassen. Der Staat ist es nach Hegel, in dem sich der Geist zu wirklicher Gestalt und Organisation entfaltet, in ihm erst kommt die sittliche Idee zur Wirklichkeit, er erst gewährt einen festen Boden für geistige Kultur, für Wissenschaft, Kunst usw. So kann es nicht befremden, wenn Hegel verlangt, man solle den Staat wie ein »Irdisch-Göttliches« verehren.


Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« entwickeln den Grundgedanken bis ins einzelne hinein und stellen die Verhältnisse überall in ein eigentümliches Licht. In sicher aufsteigendem Zuge führt das Werk von Stufe zu Stufe bis an den Punkt, wo der einzelne Staat ein Glied der weltgeschichtlichen Bewegung wird. Auch dieses Gebiet zeigt eine Bewegung durch den Gegensatz hindurch, im besonderen hat bei Hegel hier wie auch in der Behandlung der Geschichte der Gedanke größten Einfluß, daß der Ausgangspunkt der Entwicklung eine noch ungeschiedene Einheit von Subjekt und Objekt zeige; auf der zweiten 203 Stufe reißt das Subjekt sich los und stellt sich dem Objekt entgegen; auf der dritten wird eine Versöhnung erreicht, indem das Objekt selbst in die geistige Tätigkeit aufgenommen und aus ihr gestaltet wird.


Das Recht

Als die Hauptstufen des gemeinsamen Lebens unterscheidet Hegel Recht, Moralität, Sittlichkeit. Das Recht steht im Dienste der Freiheit, es gibt dem freien Willen zuerst ein Dasein, aber es gibt ihm das im Bereich des Äußeren und enthält daher die Möglichkeit eines Zwanges. Beim Strafrecht hat namentlich Hegels Versuch, die prinzipielle Berechtigung des Strafens zu erweisen, viel Beachtung gefunden, obwohl er mehr in der Form als in der Sache Neues bringt. Hegel bezeichnet die Strafe als die Negation der Negation, der Verbrecher hat die Rechtsordnung negiert, nun negiert diese ihn durch die Strafe und stellt dadurch ihre erschütterte Macht wieder her.

Vom Rechte, das als strenges Recht nicht nach dem Grundsatze und der Absicht des Handelnden fragt, scheidet Hegel die Moralität, welche die Frage nach der Triebfeder des Willens wie nach dem Vorsatze stellt; sie bringt eine Schätzung des Wertes des Menschen nach seiner inneren Handlung. Damit entsteht das Recht der subjektiven Freiheit, ihr Hervortreten bildet nach Hegel den Wendepunkt zwischen Altertum und moderner Welt. »Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen 204 wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden.« Es entsteht aber auf der Stufe der bloßen Moralität die Gefahr, daß das Subjekt sich dem Objekt entgegensetze und in der Absonderung seine Befriedigung suche, auch sein eigenes Vermögen überspanne; auch das liegt hier nahe, große Taten der Weltgeschichte aus bloß subjektiven Beweggründen zu erklären und sie damit herabzuwürdigen; über dem Subjektiven das Substantielle zu übersehen, das sei die Ansicht »der psychologischen Kammerdiener, für welche es keine Helden gibt, nicht weil diese keine Helden, sondern weil jene nur die Kammerdiener sind«.

Die Probleme des Gewissens und der Pflicht, auch des Bösen und der Schuld werden hier mit weitem Blick und aus großer Tiefe behandelt.


Die Sittlichkeit

Eine Einigung des Guten im subjektiven und im objektiven Sinne bringt die Sittlichkeit, Form und Gehalt des Willens stimmen hier zusammen, hier erst erreicht das Leben einen festen Grund. »Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben, denn dem Rechte fehlt das Moment der Subjektivität, das die Moral wiederum für sich allein hat, und so haben beide Momente für sich keine Wirklichkeit.« In der Sittlichkeit wird die Stufe erreicht, wo die Freiheit zu fester Gestaltung gelangt, das Leben beharrende Zusammenhänge bildet und dadurch den Menschen sicher über das kleine Ich 205 hinaushebt; solche Zusammenhänge sind aber Familie, Gesellschaft, Staat. Bei der Familie findet Hegel zum Preise der Liebe hohe Werte, sie sei ein Gewinnen des Selbst in einer anderen Person, die wiederum dasselbe in mir erreicht. Damit erscheint die Liebe als der »ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann«, aber wie das Hervorbringen, so ist sie auch die Auflösung des Widerspruchs, dieses aber als sittliche Einigkeit. Gesellschaft und Staat hat Hegel mit aller Deutlichkeit voneinander geschieden, jene erscheint als der Inbegriff der Verhältnisse, welche die einzelnen im gegenseitigen Verkehr zueinander ausbilden können; fiele der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, so wäre das Interesse der einzelnen als solcher der letzte Zweck. Der Staat dagegen enthält eine feste Organisation des gemeinsamen Willens und hat damit seinen Zweck in sich selbst. Er baut sich in den Stufen des inneren Staatsrechts, des äußeren Staatsrechts, der Weltgeschichte auf. In der inneren Verfassung verficht Hegel die konstitutionelle Monarchie, da in der Person des Monarchen die Persönlichkeit und Souveränität des Ganzen erst voll zum Ausdruck komme und hier die notwendige Umsetzung des gemeinsamen Strebens in bestimmte Willensentscheidung erfolge. Auf die Individualität des Monarchen komme es dabei weniger an. »Es ist bei einer formellen Organisation nur um die Spitze formellen Entscheidens zu tun, und man braucht zu einem Monarchen 206 nur einen Menschen, der ›Ja‹ sagt und den Punkt auf das i setzt; denn die Spitze soll so sein, daß die Besonderheit des Charakters nicht das Bedeutende ist.« So erscheint auch hier die Geringschätzung des Individuellen, die Hegel eigentümlich ist; überhaupt erklärt er für das politische Gebiet den öffentlichen Zustand für um so vollkommener, »je weniger dem Individuum für sich nach seiner besonderen Meinung zu tun übrig bleibt«. Es stimmt dazu die Art, wie Hegel das Verhältnis des großen Mannes zu seiner Umgebung faßt. Daran zweifelt er nicht, daß die großen Wendungen der Weltgeschichte keine Wirkungen der Masse sind, sondern sich in einzelnen hervorragenden Individuen vollziehen, aber diese Individuen sind groß nicht durch das, was sie an Besonderem haben, sondern durch das, was sie an Bewegungen der Gemeinschaft zum Bewußtsein bringen. »In der öffentlichen Meinung ist alles Falsche und Wahre, aber das Wahre in ihr zu finden, ist Sache des großen Mannes. Wer, was seine Zeit will, anspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit.«

Hegel will eine Volksvertretung, aber sie soll weniger in den Gang des Staatslebens eingreifen als dahin wirken, es auf eine höhere Stufe des Bewußtseins zu heben. Sein Ideal ist die Herrschaft der Intelligenz, und eine solche scheint ihm in unserer Zeit am ehesten ein philosophisch gebildetes Beamtentum zu bieten. Augenscheinlich schweben ihm dabei die damaligen Verhältnisse 207 des preußischen Staates vor, die er in verklärendem Lichte sah, gemäß seiner Neigung, das Wirkliche als ein Vernünftiges zu verstehen.


Der Krieg

Bei den äußeren Verhältnissen verteidigt Hegel mit großer Entschiedenheit den Krieg, das aber in engem Zusammenhang mit seiner philosophischen Grundüberzeugung. Er versteht die Weltgeschichte als in unablässiger Fortbewegung begriffen, und das Hauptmittel des Fortschritts ist ihm der Kampf; das gilt nicht nur für das geistige Schaffen, sondern auch für das staatliche Leben. Jedes einzelne Volk ist nur ein Teil des Ganzen, im Ganzen aber verschiebt sich unablässig die Kraft des Lebens und verlegt sich von einem Volk in ein anderes; das kann nicht ohne Zusammenstoß und harten Kampf geschehen, so wird der Krieg ein Mittel, das Leben in frischem Fluß zu halten und seinen Fortgang zu befördern, »er hat die höhere Bedeutung, daß durch ihn die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede versetzen würde.« Zur Ausführung fügt er hinzu: »Im Frieden dehnt sich das bürgerliche Leben mehr aus, alle Sphären hausen sich ein, und es ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen; ihre Partikularitäten werden immer fester und verknöchern.«

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In engem Zusammenhang mit dieser Stellung zum Kriege steht die Hegelsche Fassung des Verhältnisses von Moral und Politik. So wenig er die Politik aus der Moral herausfallen lassen möchte, so meint er, daß beim Staate mit seinen eigentümlichen Aufgaben die Moral selbst eine andere werde als in den privaten Verhältnissen. Das Wohl des Staates habe eine ganz andere Berechtigung als das Wohl der einzelnen, und zwar habe der Staat sein Recht in seiner »konkreten Existenz«, und es könne »nur diese konkrete Existenz, nicht einer der vielen für moralische Gebote gehaltenen allgemeinen Gedanken Prinzip seines Handelns und Benehmens sein«.


Die Weltgeschichte

Das Leben des einzelnen Staates mündet nach Hegel ein in die Gesamtbewegung der Weltgeschichte. Denn nach seiner Überzeugung ist immer ein einzelnes Volk der Träger der jeweiligen Entwicklungsstufe des Ganzen. Dieses auf der Höhe befindliche Volk hat dann ein absolutes Recht gegen andere, freilich nur insofern es der allgemeinen Bewegung, der »Idee des Weltgeistes« dient. Hegel meint, daß eine solche Höhe einem Volk nur ein einziges Mal beschieden sei.


Die nähere Fassung des weltgeschichtlichen Prozesses bildet eine der Höhen der Hegelschen Gedankenarbeit; seine immanente Art, die Welt zu betrachten, findet hier einen besonders großartigen Ausdruck. Mit fester Energie weist Hegel 209 diejenigen ab, welche in respektierender Betrachtung nützliche Lehren aus der Geschichte ableiten möchten; er verurteilt das mit den Worten: »Was die Erfahrung und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt hätten. Jede Zeit hat so eigentümliche Umstände, ist ein so individueller Zustand, daß in ihm aus ihm selbst entschieden werden muß und allein entschieden werden kann.« Eine Voraussetzung allerdings hat die Philosophie an die Geschichte als ihre denkende Betrachtung heranzubringen, die Voraussetzung, daß eine Vernunft in ihr walte, daß es auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei; nur wenn wir Vernunft in ihr suchen, kann sie uns Vernunft offenbaren; »wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an; beides ist in Wechselbestimmung.« Zugleich bekämpft er sowohl diejenigen, welche zwar an eine Vorsehung für die einzelnen Individuen glauben, nicht aber an eine solche für das Große und Ganze, sowie auch diejenigen, welche sich bei dem allgemeinen Gedanken einer weltgeschichtlichen Vorsehung begnügen und nicht eine nähere Ausführung dieses Gedankens wagen. »Wir können nicht bei jener, sozusagen, Kleinkrämerei des Glaubens an die Vorsehung stehen bleiben und ebensowenig bei dem bloß abstrakten, unbestimmten Glauben, der nur zu dem Allgemeinen, daß es eine Vorsehung gebe, fortgehen 210 will, aber nicht zu den bestimmteren Taten derselben. Wir haben vielmehr Ernst damit zu machen, die Wege der Vorsehung, die Mittel und Erscheinungen in der Geschichte zu erkennen, und wir haben diese auf jenes allgemeine Prinzip zu beziehen.«


Der Kern der Geschichte

Hegels Lösung der großen Frage nach dem Sinn und dem Verlauf der Geschichte ist aber folgende: Den Kern der Geschichte bildet die Bewegung des Geistes, das Wesen des Geistes aber ist die Freiheit, Freiheit im Sinne des Beisichselbstseins, nicht im Sinne einer Wahlfreiheit, »Freiheit ist nur da, wo kein anderes für mich ist, das ich nicht selbst bin«. Das Bewußtsein einer solchen Freiheit aber hat der Geist erst zu erringen, und dies eben ist es, was in der Geschichte erfolgt. »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«; ja als der Endzweck der Welt erscheint damit »das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit«.

Hier besonders kommt zur Geltung, daß der Aufstieg nicht in ruhigem Fortgang, sondern durch schroffe Gegensätze und härtesten Kampf hindurch erfolgt. »Die Entwicklung, die in der Natur ein ruhiges Hervorgehen ist, ist im Geist ein harter unendlicher Kampf gegen sich selbst. Was der Geist will, ist seinen eigenen Begriff zu erreichen, aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll von Genuß in dieser Entfremdung seiner selbst.« »Die Entwicklung ist auf diese Weise nicht das harm- und kampflose bloße Hervorgehen, 211 wie die des organischen Lebens, sondern die harte unwillige Arbeit gegen sich selbst.«


Große Menschen

So gewiß die Träger dieser Bewegung die Menschen sind, sie dient nicht ihrem Befinden, und nicht ihre Absichten sind es, welche den Weltlauf bestimmen. Vielmehr sind die Menschen nur Mittel und Werkzeuge der Bewegung des Geisteslebens, sie dienen ihm auch dann, wenn sie nur ihre eignen Zwecke zu fördern glauben. »Sie vollbringen ihr Interesse, aber es wird noch ein Ferneres damit zustande gebracht, was auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrer Absicht lag.« »Die Leidenschaften zerstören sich gegenseitig, die Vernunft allein wacht, verfolgt ihren Zweck und macht sich geltend.« So spricht Hegel auch von einer »List« der Idee. Aus dem allgemeinen Getriebe aber heben sich als große Menschen solche hervor, welche die allgemeine Notwendigkeit zu ihrer eignen Lebensaufgabe machen. »Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigne partikularen Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. Dieser Gehalt ist ihre wahrhafte Macht.« Diese Menschen aber kommen nach Hegel eben zu der Zeit, welche ihrer bedarf. »Wir müssen überzeugt sein, daß das Wesen die Natur hat durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen, und daß es nur erscheint, wenn diese gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint noch ein unreifes Publikum findet.« Wie Hegel in dem allen der weltgeschichtlichen Bewegung eine 212 Überlegenheit gegen die Zwecke der Individuen zuerkennt, so verlangt er auch für ihre Beurteilung einen anderen Standort als den der privaten Moral. »Die Weltgeschichte bewegt sich auf einem höheren Boden, als der ist, auf dem die Moralität ihre eigentliche Stätte hat, welche die Privatgesinnung, das Gewissen der Individuen, ihr eigentümlicher Wille und ihre Handlungsweise ist; diese haben ihren Wert, Imputation, Lohn und Bestrafung für sich.« »Die Taten der großen Menschen, welche Individuen der Weltgeschichte sind, erscheinen so nicht nur in ihrer inneren bewußtlosen Bedeutung gerechtfertigt, sondern auch auf dem weltlichen Standpunkte. Aber von diesem aus müssen gegen welthistorische Taten und deren Vollbringer sich nicht moralische Ansprüche erheben, denen sie nicht angehören. Die Litanei von Privattugenden der Bescheidenheit, Demut, Menschenliebe und Mildtätigkeit muß nicht gegen sie erhoben werden.« Gewiß liegt in solchem Gedanken eine Wahrheit, aber die Art, wie Hegel ihn überspannt, enthält augenscheinlich die Gefahr, die Moral der geistigen Kraft gänzlich unterzuordnen; er sah in der Moral nicht wie Kant die Quelle einer neuen Welt, sondern nur die subjektive Gesinnung des einzelnen, und daß diese nicht die bewegende Kraft der Weltgeschichte bildet, daran läßt sich nicht zweifeln. Wie hier, so ist überhaupt die Größe Hegels eng mit starker Einseitigkeit verquickt; wer ihn richtig beurteilen will, hat beides miteinander gegenwärtig zu halten.

213

Die nähere Durchführung des Grundgedankens hat darzutun, daß alle Mannigfaltigkeit des Geschehens der Entwicklung des Geistes zum Bewußtsein der Freiheit dient. Das ist nun nicht wohl möglich ohne eine energische Zusammendrängung und vielfache Gewaltsamkeit, die Individualität des Geschehens findet bei weitem nicht ihr gebührendes Recht. Aber andererseits erweist sich eine gewaltige Kraft in dem Vermögen, ausgedehnte Gebiete zu strenger Einheit zusammenzufassen und mit knappen, oft sehr treffenden Worten zu charakterisieren. Auch sei bei der Beurteilung gegenwärtig, daß sich damals das Bild der Geschichte unvergleichlich enger und einfacher ausnahm als in der Gegenwart. Den Mittelpunkt bildete dort das Verhältnis des Altertums zur Neuzeit durch das Christentum hindurch; das Leben des Orients mit all seinem Reichtum wurde als eine bloße Vorstufe angesehen, es war das die Zeit des stolzen Selbstbewußtseins Europas, die Zeit, der Europa als einziger Sitz höherer Bildung galt, und wo man, um mit F. A. Wolf zu reden »Asiaten und Afrikaner als literarisch nicht kultivierte, nur zivilisierte Völker« von der höheren Bildung ausschloß. Demgegenüber hat Hegel schon eine größere Weite.


Seinem Gesamtverfahren gemäß zerlegt Hegel die Geschichte in drei Hauptperioden: das Versenktsein des Geistes in die Natürlichkeit, das Heraustreten in das Bewußtsein seiner Freiheit (aber noch mit der unmittelbaren Natürlichkeit als einem 214 Momente behaftet), das Selbstbewußtsein und Selbstgefühl des Wesens der Geistigkeit. In der näheren Entwicklung nimmt die Religion eine hervorragende Stelle ein, erst die Anerkennung einer höheren Ordnung gibt nach Hegel dem Menschen einen Wert bei sich selbst. So sagt er (zunächst im Hinblick auf die Neger): »Daraus, daß der Mensch als das Höchste gesetzt ist, folgt, daß er keine Achtung vor sich selber hat, denn erst mit dem Bewußtsein eines höheren Wesens erlangt der Mensch einen Standpunkt, der ihm eine wahre Achtung gewährt.« In allen verschiedenen geschichtlichen Gestaltungen der Religion bemüht sich Hegel einen Vernunftgehalt aufzuweisen. »In jeder Religion ist göttliche Gegenwart, ein göttliches Verhältnis, und eine Philosophie der Geschichte hat in den verkümmerten Gestalten ein Moment des Geistigen aufzusuchen.« Aber zugleich tritt er aufs entschiedenste dafür ein, daß die Religion nur zusammen mit der geistigen Arbeit, nicht von ihr abgelöst, segensreich wirken könne. In der Absonderung vermöge die Religion die Leidenschaften und Begierden nicht zu bezwingen. »Damit das Herz, der Wille, die Intelligenz wahrhaft werden, müssen sie durchbildet werden, das Rechte muß zur Sitte, zur Gewohnheit werden, die wirkliche Tätigkeit muß zu einem vernünftigen Tempel erhoben sein, der Staat muß eine vernünftige Organisation haben, und diese macht erst den Willen der Individuen zu einem wirklich rechtlichen. Das byzantinische Reich ist ein großes Beispiel, wie die 215 christliche Religion bei einem gebildeten Volke abstrakt bleiben kann, wenn nicht die ganze Organisation des Staates, der Gesetze nach dem Prinzipe derselben rekonstruiert wird. Das Christentum war zu Byzanz in den Händen des Abschaums.«

Die germanische Welt

Die Höhe und den Abschluß der geschichtlichen Entwicklung findet Hegel in der »germanischen Welt«; die Neuzeit habe hier die Aufgabe, die Innerlichkeit des Geisteslebens, die durch das Christentum eröffnet, aber zunächst im Gegensatze zur Welt verblieben sei, dieser zuzuführen und ihre ganze Weite damit zu durchdringen.

Das Ganze klingt in eine befriedigte, ja freudige Stimmung aus. »Die Entwicklung des Prinzips des Geistes ist die wahrhafte Theodizee, denn sie ist die Einsicht, daß der Geist sich nur im Elemente des Geistes befreien kann, und daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur von Gott kommt, sondern Gottes Werk selber ist.«


Im geistigen Schaffen, im Reich des »absoluten Geistes«, wie Hegel es nennt, unterscheidet er drei Hauptgebiete: Kunst, Religion, Philosophie. Alle haben zum Inhalt dieselbe Wahrheit, aber sie stellen diese in verschiedener Weise dar und bilden dabei eine Stufenfolge. Die Kunst gibt die Wahrheit in der Form der sinnlichen Anschauung, die Religion in der der Vorstellung und des Gefühls, die Philosophie als die Vollenderin des Ganzen in der des reinen Denkens. In jedem der Gebiete aber wird eine Bewegung aus eigner Kraft und 216 sachlicher Notwendigkeit aufzuweisen gesucht, die durch Satz und Gegensatz verläuft. So treten alle Gebiete geistigen Lebens in dasselbe Licht und verbinden sich zu einem großen Ganzen, überall ist es der Gedankengehalt, der sie beherrscht und gestaltet; ob sie dabei ihre Individualität vollauf zu wahren vermögen, ob überhaupt das Leben damit nicht in eine zu enge Bahn geleitet wird, das ist eine andere Frage. Namentlich der Religion wird es hier schwer gemacht, eine Selbständigkeit gegen die Philosophie zu behaupten.


Indem Hegel das Schöne als »eine bestimmte Weise der Äußerung und der Darstellung des Wahren« faßt, stellt er die Aufgabe, überall einen Gedankengehalt aufzusuchen und alles künstlerische Schaffen von da aus zu verstehen; die Kunst befreit durch ihre Darstellungen innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich von der Macht der Sinnlichkeit. Durch solches Verlangen eines Gehalts tritt Hegel in einen geraden Gegensatz zu denen, welche die Form für das Wesentliche am Kunstwerk erklären und in ihr den Grund des Gefallens am Schönen finden. Hegels Fassung enthält den Antrieb, die Kunst mit dem Ganzen des geistigen Lebens in einen engen Zusammenhang zu bringen und auch in ihr eine der Gesamtbewegung des Geistes entsprechende Entwicklung durch Satz und Gegensatz aufzuweisen. Das hat er in Wahrheit durch ebenso ausgebreitete wie tiefeindringende Arbeit getan, seine Forschungen zur Ästhetik sind das Bedeutendste, 217 was unsere Literatur auf diesem Gebiete besitzt. Daß die Wirkung dieser Lehre oft minder günstig war, indem sie zum Aufstöbern eines Begriffes, eines »Grundgedankens« in den Kunstwerken drängte und dabei viel unerquickliches Räsonnement hervorrief, ist nicht ohne weiteres dem Denker selbst zur Last zu legen.


Religion

Besonders tief hat Hegels Arbeit in die Behandlung der Religion eingegriffen. Er bringt ihr die höchste Schätzung entgegen, er hat sich von früh an mit ihren Problemen eifrig befaßt, auf keinem anderen Gebiet erreicht seine Sprache eine solche Wärme wie hier. Die Religion ist ihm im allgemeinsten Sinne »Beschäftigung mit Gott«. »Als Tätigkeit tut sie nichts anderes als die Ehre Gottes zu manifestieren, die Herrlichkeit desselben zu offenbaren. Die Völker haben dann dies religiöse Bewußtsein als ihre wahrhafte Würde, als den Sonntag des Lebens angesehen; aller Kummer, alle Sorge, diese Sandbank der Zeitlichkeit, verschwebt in diesem Äther, es sei im gegenwärtigen Gefühl der Andacht oder in der Hoffnung. In dieser Region des Geistes strömen die Lethefluten, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, alle Härten, Dunkelheiten der Zeit zu einem Traumbild gestaltet und zum Lichtglanze des Ewigen verklärt.« Seine wissenschaftliche Erörterung und Begründung der Religion hat sich zunächst nach zwei Richtungen hin zu rechtfertigen: einmal gegen eine bloß historische Behandlung, 218 dann aber gegen eine Begründung der Religion auf das Gefühl, wie Schleiermacher sie unternommen hatte. Der bloß historischen Betrachtungsweise hält Hegel entgegen, es sei ein unabweisbares Bedürfnis der Gegenwart, die Religion nicht auf bloße Autorität hinzunehmen, sondern »durch denkende Vernunft Gott zu erkennen«. »Die Vernunft ist der Boden, auf dem die Religion allein zu Hause sein kann.« Auch könnten unmöglich der historische Glaube und die philosophische Forschung ruhig nebeneinander stehen bleiben. »Wäre das Erkennen der Religion nur historisch, so müßten wir solche Theologen wie Kontorbedienten eines Handelshauses ansehen, die nur über fremden Reichtum Buch und Rechnung führen, die nur für andere handeln, ohne eigenes Vermögen zu bekommen.« Auch sei es eine Verkehrung der Philosophie, sie als nur mit der Welt befaßt, als »Weltweisheit« und göttlichen Dingen fremd darzustellen, im Gegenteil habe die Philosophie Gott zum Gegenstande und eigentlich zum einzigen Gegenstande: »Auch die Philosophie hat keinen anderen Gegenstand als Gott, und ist so wesentlich rationelle Theologie, und als im Dienst der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst.« Es sei dabei freilich nicht vergessen, daß Hegel den Gottesbegriff ganz im Sinne seiner eignen Philosophie versteht und damit die ganze Religion wesentlich umgestaltet. »Gott ist das an und für sich schlechthin Allgemeine.«

Religion und Vernunft

In anderer Richtung bekämpft Hegel die Begründung 219 der Religion auf das bloße Gefühl, wobei er aber die eigentümliche Fassung des Gefühls bei Schleiermacher verkennt und diesem in seiner Kritik entschiedenes Unrecht tut. Die Zurückführung des Glaubens auf das Gefühl würde, so meint er, jenen ganz subjektiv machen, das Gefühl habe den zufälligsten Inhalt, »es sproßt die königlichste Blume auf demselben Boden neben dem wucherndsten Unkraut auf«. Nach Hegel empfängt das Gefühl seine Wahrheit erst durch den Gedanken: »Der wahre Nerv ist der wahrhafte Gedanke; nur wenn er wahr ist, ist das Gefühl auch wahr.« Damit wird das Gefühl nicht verworfen, aber es hat seinen wahrhaften Inhalt erst von der Philosophie zu empfangen.

Der Inhalt der Religion ist nun bei Hegel, wie sich schon zeigte, derselbe wie der der Philosophie, nur gibt die Religion die Wahrheit in der Form der Vorstellung, die Philosophie in der Form des Begriffs, des reinen Denkens; dort stehen die einzelnen Sätze als Tatsachen unmittelbar nebeneinander, hier werden sie als zusammenhängend und notwendig dargetan. Die Religion ist für alle Menschen, nicht aber die Philosophie. So hat denn die Philosophie »die Vernunft zu versöhnen mit der Religion und diese in ihren mannigfaltigen Gestaltungen als notwendig zu erkennen«. Der gemeinsame Inhalt von Philosophie und Religion ist nach Hegel, »sich als einzelner als das Allgemeine zu setzen und sich als einzelner aufhebend sein wahrhaftes Selbst als das Allgemeine zu finden«; 220 so wird Religion »Beziehung des Geistes auf den absoluten Geist«; da aber diese Beziehung schließlich innerhalb des absoluten Geistes liegt, das Endliche letzthin in Gott ist, so ist Religion im höchsten Sinne nicht ein Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern ein Verhältnis Gottes zu sich selbst. »Gott setzt das andere und hebt es auf in seiner ewigen Bewegung.« Die Religion ist letzthin »die Idee des Geistes, der sich zu sich selbst verhält, das Selbstbewußtsein des absoluten Geistes«. Durch den Weltprozeß hindurch erfolgt hier eine Selbsterfassung und Selbstvollendung Gottes, wie denn Hegel auch geradezu sagt: »Ohne Welt ist Gott nicht Gott.«


Das Christentum

Diese »Religion des absoluten Geistes« sucht dann Hegel als identisch mit dem Christentum, als eine Erhebung des Christentums zu voller philosophischer Klarheit nachzuweisen; die christliche Lehre von der Erlösung durch ein Eingehen Gottes in die Welt, von einem Ausgehen und Zurückkehren zu sich selbst, ist dabei der verbindende Gedanke. Eine große Künstlichkeit dieses Verfahrens ist nicht zu verkennen, doch werden zugleich bedeutende Gedanken entwickelt. Ein solcher ist, entsprechend der Hegelschen Art vom Ganzen her zu verstehen, daß auch in der Religion an der einzelnen Stelle nichts geschehen kann, was nicht im Ganzen begründet und von dort zugeführt ist. »Daß der Gegensatz an sich aufgehoben ist, macht die Bedingung, Voraussetzung aus, die Möglichkeit, daß das Subjekt auch für sich ihn aufhebe.« »Nur vermittels dieses 221 Glaubens, daß die Versöhnung an und für sich und gewiß vollbracht ist, ist das Subjekt fähig, imstande, sich selbst in diese Einheit zu setzen. Diese Vermittlung ist absolut notwendig.« Ferner verficht Hegel mit großer Entschiedenheit die Unabhängigkeit der Substanz der Religion von sinnlichen Zeichen und Wundern. »Die Beglaubigung des Sinnlichen, sie mag einen Inhalt haben, welchen sie will, bleibt unendlichen Einwendungen unterworfen«; »was für den Geist Wahrheit haben, was er glauben soll, muß nicht sinnliches Glauben sein; was für den Geist wahr ist, ist ein solches, für welches die sinnliche Erscheinung heruntergesetzt wird. Indem der Geist vom Sinnlichen anfängt und zu diesem seiner Würdigen kommt, ist sein Verhalten gegen das Sinnliche zugleich ein negatives Verhalten.« So ist die sinnliche Geschichte für den Geist nur Ausgangspunkt, über den es fortzuschreiten gilt. Ferner dringt Hegel auch in diesen Ausführungen stets darauf, die Religion als eine Sache nicht der Vergangenheit und des gelehrten Wissens, sondern der lebendigen Gegenwart zu behandeln. »Was der Geist tut, ist keine Historie; es ist ihm nur um das zu tun, was an und für sich ist, nicht Vergangenes, sondern schlechthin Präsentes.«


So enthält auch Hegels Religionsphilosophie wertvollste Anregungen. Aber daß diese Religion eines Ausgehens und Zurückkehrens der Gottheit zu sich selbst der christlichen Religion nur durch recht künstliche Deutung gleichgesetzt werden kann, daran 222 läßt sich nicht zweifeln; alle Größen sind dabei verschoben, alles ist vom Moralischen ins Intellektuelle umgedeutet.


Die Philosophie

Den Gipfel des Lebens findet Hegel in der Philosophie, sie ist eine Erfassung der Wahrheit in der Form des Denkens, sie ist »der sich in Geistesgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen«. Ihre Entwicklung aber liegt in ihrer Geschichte, sie ist nichts besonderes neben dieser. Nur muß die Geschichte in ein Ganzes zusammengefaßt und vom Gedanken durchleuchtet werden. Die Lehren der einzelnen Denker sind nicht bloße Meinungen und Einfälle der Individuen, sondern in dem, was an ihnen wahr ist, sind sie notwendige Stufen des Gedankenprozesses. Diese Überzeugung drängt dahin, den Platz jeder einzelnen Leistung innerhalb des Ganzen aufzusuchen, sein Hervorgehen und sein Einmünden in das Ganze darzustellen, auch bei den einzelnen Denkern in aller Mannigfaltigkeit eine Hauptidee zu erkennen und diese mit voller Klarheit herauszuheben; alles Nebensächliche wird dabei energisch abgestreift. Der Fortschritt der Bewegung erfolgt aber wieder nach dem Gesetze des Gegensatzes, mittels eines Hindurchgehens durch These und Antithese, bis endlich eine allumfassende Synthese gewonnen wird. Diese glaubt Hegel aber in der Gegenwart erreicht. So kann es nicht als vermessen erscheinen, von hier aus den ganzen Bereich der Vergangenheit aufzuhellen und den Wahrheitsgehalt jeder besonderen Leistung festzustellen. 223 Das Ganze erscheint damit als ein »in sich zurückkehrender Kreis, der seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht«. »Jeder Schritt des Fortgangs ist auch eine Rückannäherung an den Anfang.« Ein solches Insichzurückkehren erscheint Hegel als die wahre Unendlichkeit, während er die schlechte Unendlichkeit einer ins Endlose fortlaufenden geraden Linie vergleicht.

In jener wahren Unendlichkeit erreicht das Leben ein volles Beisichselbstsein und zugleich inmitten der unablässigen Bewegung ein sicheres Ruhen in sich selbst.


Auch in diesem Abschluß zeigt Hegel eine gewaltige Kraft des Denkens mit gewagter, höchst angreifbarer Behauptung aufs engste verbunden. Es erfolgt hier eine kräftige Gegenwirkung gegen ein Auseinanderfallenlassen der Gedankenbewegung in zerstreute Einzelleistungen, auch gegen ein Gleichsetzen von Haupt- und Nebensachen und ein Verweilen bei diesen; bloße Gelehrsamkeit wird von Hegel wenig geschätzt, er meint, daß sie »da immer am breitesten sich ausdehnt, wo am wenigsten zu holen ist«. Indem eine Gesamtbewegung alles umfaßt, alles einzelne aus sich hervortreibt und in sich zurücknimmt, wird ein packendes Bild geboten. Aber auch die Gefahren dieses Verfahrens liegen deutlich zutage, an Widerspruch konnte es nicht fehlen.


Es ist nicht leicht, zum Ganzen der Hegelschen Gedankenwelt Stellung zu nehmen. Da alle Mannigfaltigkeit 224 einem einzigen Grundgedanken dient, so scheint die Sache damit auf ein schroffes Entweder – Oder zu kommen: entweder völlige Billigung oder völlige Ablehnung. Die nähere Erörterung dieser Frage ist eine Sache der Philosophie, sie wird dabei die Mahnung Hegels gegenwärtig zu halten haben, daß Systeme nur durch Systeme zu widerlegen sind. – Unsere Würdigung kann sich nur an die geschichtlichen Wirkungen halten, diese aber waren unbestreitbar groß. Die hier mit gewaltiger Energie erhobene Forderung, eine den Meinungen und Zwecken der Menschen überlegene sachliche Wahrheit anzuerkennen und ihren Forderungen nachzukommen, sich in die Dinge selbst zu versetzen und sie aus sich selbst zu verstehen, hat stärkend und erhöhend auf die geistige Arbeit gewirkt. Die Voranstellung des Ganzen vor alles Einzelne, das Sehen vom Ganzen her, hat der wissenschaftlichen Forschung fruchtbare Anregungen gegeben, indem sie überall auf ein Begreifen des Einzelnen aus den Zusammenhängen drang und die Individuen als einen Ausdruck ihrer Zeit zu verstehen suchte; sie hat noch mehr auf politischem und sozialem Gebiet gewirkt, indem sie die Aufgabe des Ganzen vor alle Interessen der Individuen zu stellen und die Macht wie den Wirkungskreis des Ganzen zu steigern antrieb; aus Hegel haben nicht nur die sozialdemokratischen Theorien geschöpft (Marx, Engels, Lassalle), man kann sagen, daß seine Auffassung den geistigen Hintergrund des gesamten sozialen Wirkens des modernen Staates bildet. Daß 225 Hegel in aller Mannigfaltigkeit des Nacheinander eine durchgehende Bewegung aufwies, in ihr einen Fortschritt aus eigener Kraft verfocht, alle Erscheinungen in ein Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit brachte, alles sich gegenseitig suchen, tragen, fördern ließ, das hat nicht nur im Ergebnis vieles gewinnen lassen, es hat auch die Art des Denkens geschmeidiger und flüssiger gemacht, es hat ihm eine freiere Stellung zum Stoffe gegeben. Daß Hegel die ungeheure Macht der Verneinung im menschlichen Leben, die aufrüttelnde und weitertreibende Macht des Widerspruches in ihm vollauf zur Anerkennung brachte, das hat einen großen Ernst in die Behandlung der Dinge gebracht, aber da seinem Nein immer auch ein Ja gegenwärtig war, zugleich eine innere Erhebung. Es ist ein großartiger Versuch, in der Wirklichkeit durch Schmerz und Leid hindurch das Walten einer Vernunft zu enthüllen, ein großartiger Versuch auch, mit voller Hingebung an die Bewegung der Zeit eine Betrachtung zeitüberlegener Art zu verbinden und damit den Lebensdrang bei sich selbst zur Ruhe zu bringen. Wohl ist hier das letzte Ziel eine Versöhnung mit dem Ganzen der Wirklichkeit, aber diese fordert eine so völlige Umwandlung des nächsten Anblicks der Dinge und kostet so viel Arbeit und Opfer, daß sie mit dem landläufigen Optimismus nicht das mindeste gemein hat.


Hegels Nachwirkung

Hegel hat immer darauf gedrungen, die Philosophie nicht als das Werk der bloßen Individuen, sondern als einen Ausdruck der Zeit, als eine Offenbarung 226 ihres Strebens und Wollens zu verstehen. Auch von seiner eigenen Philosophie läßt sich sagen, daß sie Hauptbewegungen der Zeit die höchste wissenschaftliche Fassung gibt. Die Neuzeit bekennt die höchste Schätzung des Denkens und Erkennens, bei Hegel wird es zu weltschaffender Macht erhoben und soll wie ein Sauerteig alle Verhältnisse durchdringen; die Neuzeit trägt in sich einen starken Fortschrittsglauben, bei Hegel erhält er die tiefste Rechtfertigung aus dem Ganzen einer großen Gedankenwelt; die Neuzeit enthält einen kräftigen Lebenstrieb, von ihm aus sieht sie Vernunft in die Welt hinein und neigt zur Bejahung des Lebens; diese Bejahung kann keinen großartigeren Ausdruck finden, als sie bei Hegel gefunden hat.


Das alles hat auch eine Gegenseite. Punkt für Punkt ist es Zweifeln und Einwendungen ausgesetzt; diese möge jeder bei sich selbst erwägen und danach seine Stellung zu Hegel nehmen. Das aber läßt sich von allen verlangen, daß sie auch ihm selbst gegenüber die Forderung erfüllen, die er uns immer von neuem ans Herz gelegt hat: aus dem Ganzen zu sehen und die Dinge nicht nach einem fremden Maßstab zu messen, sondern sie aus ihrem eigenen Wollen und Wesen zu verstehen.


227

Zeitgenossen Hegels

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Aus der Reihe der deutschen Denker haben wir nur eine beschränkte Auswahl geboten, wir glaubten uns dabei an diejenigen halten zu sollen, von denen eine Kraft der Lebensbejahung ausgeht, und die damit zu weiteren Kreisen sprachen, nicht bloß zur gelehrten Zunft. Aber es bleibe nicht unerwähnt, daß neben den geschilderten Denkern in der Bewegung, die mit Kant begann, andere hervorragende Männer stehen, die, ebenfalls Idealisten, entweder andere Wege gingen oder in ihrem Wirken nicht so weite Kreise gewannen. Wenigstens einige davon seien hier angeführt.


Die Pädagogik. Schopenhauer. Fries

Waren die Denker, die wir schilderten, an erster Stelle damit befaßt, große Weltbilder zu entwerfen und von ihnen her das menschliche Leben zu deuten, so widerstand Herbart entschieden dieser »kosmischen« Art, mit eindringender Schärfe und Klarheit durchforschte und zergliederte er in unermüdlicher Arbeit das menschliche Gedankengewebe, suchte er mehr Anknüpfung an das unmittelbare Seelenleben und wies in ihm einfache Gesetze, feste Verkettungen, durchgehende Zusammenhänge auf; er hat damit namentlich der Erziehungslehre wertvollste Dienste geleistet. Herbart ist es, welcher der Pädagogik 230 zuerst eine eigene Begriffswelt schuf und sie damit erst zu einer strengen Wissenschaft erhob. Sein Einfluß geht in dieser Richtung durch die ganze gebildete Welt.


So verschieden die von uns betrachteten Denker waren, sie gelangten schließlich alle zu einer Lebensbejahung, sie alle glaubten mit Sicherheit eine Vernunft unserer Wirklichkeit dartun zu können. Dem widerspricht mit großer Energie und in krystallklarer Sprache Schopenhauer, insbesondere bildet er ein volles Gegenstück zu Hegel. Suchte Hegel alle Mannigfaltigkeit durch die Arbeit des Denkens zu verketten und die Welt in ein wohlgegliedertes Begriffsreich zu verwandeln, so folgt Schopenhauer dem unmittelbaren Eindruck und der nächsten Empfindung der Dinge, weniger ein logisches Gefüge als eigentümliche Stimmungen halten mit starken Schwingungen seine Gedankenwelt zusammen; wollte Hegel das Wirkliche durchweg als ein Vernünftiges erweisen und durch das Denken mit der Welt versöhnen, so steht Schopenhauer ganz und gar unter dem Eindruck einer tiefen Unvernunft des Daseins und weiß sie packend zu schildern; als höchste Aufgabe der Philosophie erscheint hier die, eine Befreiung von dieser elenden Wirklichkeit, eine Erlösung einzuleiten. Damit treten ganz andere Seiten der Welt in den Vordergrund: es wird namentlich das Dunkle, das Triebhafte, das Unbewußte in ihr hervorgekehrt; das Böse erscheint hier nicht als eine bloße Minderung 231 des Guten, sondern als eine positive Macht; mehr Geheimnis umhüllt damit den Kern der Wirklichkeit. Ein Zusammenhang mit der Romantik ist unverkennbar, nur ist hier alles mehr ins Negative, aber auch ins Gewaltige gewandt. Indem eine Tiefe hinter der Welt, eine völlig andere Art des Seins mehr geahnt als wissenschaftlich ergriffen wird, erfolgt ein entschiedener Bruch mit einer niederen Lebensgier und den Gütern, die für sie gelten, es erfolgt eine kräftige Aufrüttelung, eine gänzliche Umkehr wird gefordert, eine Annäherung an eine religiöse Lebensgestaltung vollzogen.


Auch des edlen Fries sei gedacht, der die Kantische Erkenntnislehre zur Psychologie in engere Beziehung setzte, nach Wissen, Glauben und Ahnen drei Arten des Erkennens und zugleich drei Hauptgebiete des Lebens voneinander schied und jedes in seiner Eigentümlichkeit zu würdigen suchte, der dabei Religion und Kunst in enge Verbindung brachte. Bei aller Zartheit der Empfindung war er zugleich ein fester Charakter, ein tapferer Vorkämpfer deutscher Einheit.


Endlich sei auch das nicht vergessen, daß der philosophischen Bewegung die Führer der deutschen Erziehung getreulich zur Seite standen, daß sie den deutschen Idealismus nach einer besonderen Richtung hin aufs glücklichste entwickelt haben. Sie alle waren einig in der allgemeinsten Fassung des Erziehungsideales. Der Mensch soll nicht für 232 einen außer ihm liegenden Zweck, sondern er soll für sich selbst und zwar zur Selbsttätigkeit, zur Persönlichkeit erzogen werden. Darin liegt zugleich die Anerkennung des Selbstwertes und der Überlegenheit einer Innenwelt, auch eine eigentümliche Schätzung menschlicher Güter; auch wächst in diesen Zusammenhängen die Bedeutung der Erziehung und des Unterrichts weit über die gewöhnliche Fassung hinaus. Denn sie beschränken sich nun nicht mehr darauf, den vorhandenen Kulturbesitz dem neu heranwachsenden Geschlechte mitzuteilen, sondern sie möchten im Zurückgehen auf die ersten Anfänge, die das Leben im ursprünglichen Aufquellen zeigen, den Gesamtstand der Menschheit zu größerer Einfalt und Wahrheit führen, sie bekämpften die »Fremdheit der Bildung« (Fröbel), sie suchten die Grundüberzeugungen aus dem Leben selbst zu entwickeln; so sah Pestalozzi im »reinen menschlichen Gefühl für Dank und Liebe die Quelle des Glaubens« und schöpfte aus dem »reinen Kindersinn der Menschheit« die Hoffnung ewigen Lebens. Demnach haben diese Männer als Reformatoren der Erziehung zugleich zur Veredlung des Lebens gewirkt und gehören daher auch in die Reihe der deutschen Idealisten.


233

Rückblick und Ausblick

235

Die deutschen Idealisten waren keineswegs bloße Kinder ihrer Zeit, Dolmetscher ihres Strebens, sie fühlten sich vielmehr mit jener oft in schroffem Widerspruch, sie haben sie oft hart gescholten und haben sich in ihrem Wirken weit über sie erhoben. Aber wenn ihre Lösung der Probleme den Durchschnitt der Zeit weit überstieg, so empfingen sie die Probleme aus der geistigen Atmosphäre, die sie umfing, sie stehen insofern doch mit ihrer Zeit in Zusammenhang. Es war das aber eine Zeit, die vorwiegend mit dem Individuum und seiner Erhöhung beschäftigt war, die in Kunst, Literatur und Philosophie den Hauptinhalt des Lebens sah und zugleich über die sichtbare Welt hinaus zu einer unsichtbaren strebte; diese Zeit hatte wenig Einsicht in die Natur und vermochte wenig ihr gegenüber, auch die politischen, sozialen, ökonomischen Verhältnisse enthielten damals wenig, was aufstrebende Geister anziehen konnte. Bei aller Größe, welche eine so geartete Zeit auf ihren Höhepunkten erreichte, und bei aller Verinnerlichung, die sie dem gemeinsamen Leben brachte, ist bei ihr eine starke Einseitigkeit nicht zu verkennen; einem gesunden und kräftigen Volk konnte dies Leben auf die Dauer unmöglich genügen.

236

So kam denn ein Umschlag zur sichtbaren Welt und bemächtigte sich der Gemüter. Es kann etwa die Zeit um 1830 als der Punkt gelten, wo die Wendung deutlich hervortritt. In der Weltanschauung verdrängt die Naturwissenschaft mehr und mehr die Philosophie, und aus der Naturwissenschaft geht die Technik hervor, welche das gesamte Leben des Menschen wesentlich umgestaltet, es bereichert, kräftigt, beschleunigt, geradezu neue Menschen bildet. Wohl gingen mit den großen Erfolgen große Probleme Hand in Hand – denken wir nur an die soziale Frage –, aber wie die Erfolge, so ketten auch die Probleme den Menschen immer fester an die sichtbare Welt und gewinnen ihr seine Kraft und seine Gesinnung. Ferner entwickelt das menschliche Zusammensein Fragen und Aufgaben bedeutendster Art: politische Freiheit, nationale Einheit und Selbständigkeit, möglichste Hebung alles dessen, was menschliches Angesicht trägt, beherrschen und bewegen die Gemüter. Dazu die Beziehungen und der Kampf der Nationen, das Streben von Handel und Industrie, die ganze Welt zu umspannen; in dem allen ist die sichtbare Welt dem Menschen unvergleichlich mehr geworden; die Deutschen aber haben sich an dieser Bewegung nicht nur eifrig beteiligt, sondern sie sind immer mehr in die erste Linie getreten und haben sich dadurch viel Neid und Haß mißgünstiger Nachbarn zugezogen.


Die Wendung zur sichtbaren Welt

Solches Wirken zur sichtbaren Welt war kein Abfall der Deutschen von ihrer echten Art, wie die 237 Gegner es darzustellen lieben, sondern man braucht nur einen flüchtigen Blick auf die ältere deutsche Geschichte zu werfen, auf die Blüte der deutschen Städte, auf Hanse und Ritterorden, um zu sehen, wie tüchtig und leistungsfähig die deutsche Arbeit war, wie großartig sich das deutsche Wirken auch in der sichtbaren Welt ausnahm. Nur besondere geschichtliche Ereignisse haben diese Seite unseres Wesens zeitweilig zurückgedrängt und uns die sichtbare Welt als minder bedeutend dargestellt. Wenn wir das nun glücklich überwunden haben und wieder mit frischer Kraft und freudigem Mut die sichtbare Welt ergreifen, so werden wir damit uns selbst nicht untreu, sondern wir nehmen eine zeitweilig verkümmerte Seite unseres Wesens wieder auf.

Aber es bleibt eine Gefahr, die Gefahr, daß dies Neue uns ausschließlich beschäftige, die Richtung des Lebens allein bestimme, die Innerlichkeit, die bisher unser Stolz und unsere Größe bildete, zurückdränge oder doch minder schätzen lasse; es besteht oder bestand die Gefahr einer Störung des Gleichgewichts unseres Lebens, die Gefahr eines Abhängigwerdens vom Äußeren, eines Verkümmerns unserer Seele, eines Materialismus in der Gestaltung des Lebens und schließlich auch in der Weltanschauung. So waren für einige Zeit auch die großen Idealisten sehr in den Hintergrund getreten, sie erschienen vielen als bloße Schwärmer, die bei aller geistigen Kraft das Streben doch in die Irre führten. Auch dagegen ist aber bald ein Rückschlag gekommen, 238 denn das deutsche Volk, das Volk des Gemütes, kann seine Innerlichkeit nicht lange verleugnen; so kam schon vor dem Krieg eine Bewegung zu ihrer Verstärkung auf, und die Aufgaben und Erfahrungen des Krieges haben das weiter gefördert. Denn für seinen Aufruf zu höchsten Leistungen und sein Auferlegen schwerster Opfer kann er die Gesinnung des ganzen Menschen nur gewinnen, wenn diese hohe Ziele einer unsichtbaren Welt anerkennt und andere Güter in Ehren hält als die der sinnlichen Lebenserhaltung. Wer aus ganzer Seele willig und freudig Tag für Tag sein Leben für das Vaterland in die Schanze schlägt, der hat mehr Idealismus als alle Philosophie zu geben vermag. Aber gerade weil er für sich selbst des Grundgedankens gewiß ist, wird er gern Gesinnungsgenossen suchen, die ihm eine Bekräftigung und weitere Ausführung jenes Gedankens verheißen; solche aber findet er in den Trägern des deutschen Idealismus.


Sehen wir, wie sie uns erscheinen, wenn wir sie heute betrachten und zu unseren eigenen Aufgaben in Beziehung setzen. Daß wir sie jetzt aus einer gewissen Ferne sehen, macht es uns möglich, von allem Kleinen und Bloßmenschlichen abzusehen, das auch ihnen anhaftet, die unterscheidenden Züge vor den gemeinsamen zurückzustellen oder sie doch ihnen unterzuordnen; die einzelnen Leistungen verbinden sich uns mehr zu einer Gesamterscheinung, als es in der eigenen 239 Zeit geschehen konnte, wo die Unterschiede stärker empfunden wurden und leicht zu schroffem Gegensatz führten.


Der Mensch kein bloßes Naturwesen

Alle die Männer, die wir betrachteten, stehen zu der Überzeugung –– und das eben macht sie zu Idealisten –, daß der Mensch, wenn auch aus der Natur erwachsen, mehr als ein bloßes Naturwesen ist, und daß sein Leben nicht in die natürliche Selbsterhaltung aufgeht, daß vielmehr in ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit durchbricht, eine neue Welt erscheint, ihm eine eigentümliche Würde und Größe verleiht und seinem Handeln hohe Ziele vorhält. Das aber, was nach ihrer Überzeugung den Menschen veredelt und deutlich von aller Natur abhebt, ist die Freiheit, das Vermögen einer Gestaltung des Lebens aus Selbsttätigkeit; sie fassen diese Freiheit verschieden, indem sie bald mehr als Willensentscheidung, bald mehr als geistige Bewältigung der Wirklichkeit verstanden wird; darin aber sind sie alle einig, daß in der Freiheit eine neue Ordnung der Dinge erscheint, die dem Leben einen neuen Inhalt gegenüber dem nächsten Dasein gewährt und aus ihm eine neue Welt geistiger Größen und Güter hervorgehen läßt. Es ist das Teilhaben an dieser Welt, ja das Miterzeugen dieser Welt, was den Menschen weit über die Grenzen der Natur hinaushebt, ihm ein ursprüngliches und unendliches Leben eröffnet. Die neue Welt, die so aus geistiger Arbeit aufstieg, blieb jenen Männern aber nicht getrennt 240 von der nächsten Welt, vielmehr bestanden sie eifrig darauf, sie mit dieser in enge Verbindung zu bringen und diese erhöhend und veredelnd möglichst in sie hineinzuziehen; dabei kamen freilich die Denker zu einem verschiedenen Ergebnis, den einen verblieb ein Gegensatz und damit eine große Spannung, die anderen glaubten, die neue Stufe zu einem reinen Siege bringen und dadurch eine volle Versöhnung mit der Wirklichkeit erreichen zu können, aber gemeinsam ist allen das Zusammenbringen und Aneinanderhalten zweier Welten, gemeinsam das freie Schweben der geistigen Arbeit zwischen, ja über beiden Welten, gemeinsam das Streben, die höhere Welt zum Siege über die niedere zu bringen, gemeinsam die Verwandlung des Lebens in ein Wirken und Schaffen größten Stiles, gemeinsam die Hochschätzung der Tat. Ein hochgemutes Wirken gibt dem Ganzen des menschlichen Lebens und Seins einen hohen Wert; so wenig jene Denker an dem vorgefundenen Stande der Dinge Gefallen fanden, so viel Hemmung, Dunkel und Schmerz sie in ihm erkannten, die geistige Arbeit fühlte sich allem Widerstand gewachsen, ja überlegen, und alle Schwere des Kampfes, aller tiefe Ernst hemmte nicht einen freudigen Lebensmut, nicht ein festes Vertrauen auf einen Sinn des Lebens und eine Bedeutung menschlicher Arbeit.

Indischer und griechischer Idealismus

Alles miteinander ergibt einen eigentümlich deutschen Idealismus, der sich vom indischen wie 241 vom griechischen aufs deutlichste unterscheidet. Der indische Idealismus erklärt die ganze Welt mit ihrem rast- und sinnlosen Wandel für ein Reich des Scheins, an den sich das Herz des Menschen nicht hängen dürfe, er eröffnet, im Gegensatz dazu, eine Einheit göttlichen Seins, in der eine unwandelbare Ruhe herrscht und der wilde Lebensdrang erlischt. Hier gibt es keine Zurückwendung zur Welt und keinen Versuch, sie für die Vernunft zu gewinnen, im besonderen den Stand der Menschheit durch die Arbeit der Weltgeschichte zu heben. – Der griechische Idealismus dagegen sieht in der Welt ein wunderbares Kunstwerk, einen herrlichen Kosmos, dessen Anschauung reinstes Glück verheißt; wohl bedarf es zu ihrer Erringung energischer geistiger Arbeit, aber diese hat nur Vorhandenes aufzudecken, nicht eine Wandlung herbeizuführen. Denn so gewiß der einzelne immer wieder zur Höhe jener Anschauung aufklimmen muß, die Welt als Ganzes bedarf keiner Veränderung, in unbeirrtem Rhythmus des Steigens und Fallens verläuft hier das Leben des Alls von Ewigkeit zu Ewigkeit. Auch hier entsteht keine Geschichte, keine weltgeschichtliche Arbeit. – Anders im deutschen Leben. Eine neue Welt steigt ihm auf, eine Welt der Freiheit und Tat, eine Welt selbständiger Innerlichkeit, sie ist in sich selbst begründet, nicht auf fremde Hilfe angewiesen, aber sie hat sich dem Menschen erst voll zu entwickeln, und sie kann das nicht, ohne mit der vorgefundenen Welt in Beziehung zu treten, 242 sie weiterzubilden, sie möglichst in sich aufzunehmen. So gibt es unendlich viel zu tun, es gilt die Aufbietung aller Kraft, es gilt einen gewaltigen Kampf; damit gewinnt auch die Geschichte, sowohl von innen heraus als im Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung, den höchsten Wert, die Welt wird zur Werkstatt des Geistes.


Der deutsche Idealismus

Solcher Zusammenhang ergibt auch eine eigentümliche Schätzung der Lebensgüter. Allen Arten des Idealismus, dem indischen, griechischen, deutschen, ist gemeinsam die Erhebung über die Güter der sinnlichen Lebenserhaltung und des sinnlichen Lebensgenusses, überall hebt sich ein Gutes als unbedingter Selbstwert von dem Nützlichen und Angenehmen des bloßen Menschen ab. Aber dies Gute gewinnt dem deutschen Idealismus dadurch einen eigentümlichen Charakter, daß hier die Belebung selbständiger Innerlichkeit, die ethische Tat, die Treue der Hingebung an das Werk des Ganzen die höchste Schätzung erhält. Die Führer des Idealismus geben dem einen verschiedenen Ausdruck, aber im Grunde stehen sie alle zu dem Bekenntnis Kants: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« So sehen sie in diesem allein das, was unser menschliches Leben bei aller Mühe und Arbeit lebenswert macht, ja es über den ganzen Bereich von Mühe und Arbeit hinaushebt. 243 Zugleich gewinnt hier der Gedanke der Pflicht eine überragende Stellung. Die geistige Bewegung, welche unser Leben von den Niederungen zur Höhe führt, den Menschen zum Menschen macht, ist nicht eine Privatangelegenheit des Individuums, und sie entwickelt sich nicht in bequemem Fortgang aus dem gegebenen Stande heraus, sondern sie hebt den einzelnen in große Zusammenhänge und hält ihm deren Aufgaben als heilige Forderungen vor. Aber diese Forderungen werden ihm kein drückender Zwang, da er als geistiges Wesen jene Zusammenhänge in seinen eigenen Willen aufnimmt und daher im Grunde nicht fremden Geboten, sondern seiner eigenen Entscheidung folgt; der Gehorsam selbst und er vor allem bekundet hier seine Freiheit.


Wie der deutsche Idealismus die Moral eigentümlich gestaltet, so hat er auch ein eigentümliches Verhältnis zur Religion. Sie ist ihm ein wesentliches Stück, ja der innerste Kern des Lebens. Denn wie könnte der Mensch den Aufbau einer neuen Welt unternehmen und sie in einen unerbittlichen Kampf mit der ganzen Umgebung führen, wüßte er sich nicht von überlegener Macht getragen und geleitet, empfände er nicht alles, was in seinem eigenen Leben wahrhaft groß und edel ist, als ihr Werk, ihre Gabe und Gnade? Ohne Religion findet die dem Deutschen unentbehrliche Innerlichkeit nicht den Weg zu einer Innenwelt und zugleich keine Befestigung, all sein Streben 244 zur Höhe schwebt dann haltlos in leerer Luft. Aber eben weil der deutsche Idealismus die Religion so eng mit dem Leben verbindet, muß er darauf bestehen, daß sie sich von diesem aus entwickele und sich in seiner Förderung erweise. Der deutsche Idealismus verlangt eine Begründung der Religion auf das, was jedem unmittelbar gegenwärtig ist und sich von ihm erleben läßt, er bindet die Religion nicht starr an die Satzungen der Vergangenheit, er verlangt eine Gestaltung aus lebendiger Gegenwart, einer Gegenwart freilich nicht des wechselnden Augenblicks, sondern eines zeitüberlegenen Schaffens. So gewiß der deutsche Idealismus ferner die unsichtbare Welt der Religion über die sichtbare Welt hinaushebt, er will keine Absonderung von ihr, die Weltüberlegenheit bedeutet ihm nicht eine Flucht vor der Welt; nach seiner Überzeugung gilt es, das Göttliche auch in dieser Welt kräftig zur Wirkung zu bringen und »Ewigdauerndes zu verflößen in das irdische Tagewerk«.


Der Reichtum des deutschen Idealismus

Wenn in dem allen der deutsche Idealismus eine durchaus eigentümliche Lebensgestaltung verficht, so verleiht er der gemeinsamen Grundüberzeugung recht verschiedene Gestalten, er bildet sie nach sehr verschiedenen Richtungen aus: die einen finden den Schwerpunkt des Lebens in der Richtung der Gesinnung und der moralischen Haltung der Persönlichkeit, die anderen beim Kulturaufbau mit seiner sachlichen Arbeit; der eine stellt 245 das praktisch-politische Leben, der andere die Kunst, der andere die Religion voran; jeder einzelne aber hat in sein Werk seine ganze Persönlichkeit hineingelegt und gibt seiner Arbeit die Wucht einer geistigen Selbsterhaltung. Jeder hat dabei seine Eigentümlichkeit auch seiner Sprache mitgeteilt, ihr einen hohen Schwung und einen ausgeprägten Charakter gegeben, jeder einzelne spricht zu uns in einer unvergleichlichen Weise, jeder vermag zu uns ein persönliches Verhältnis zu gewinnen. Dieser Reichtum ist ein großer Vorzug des deutschen Idealismus, er behütet die Gemeinschaft der Grundüberzeugung vor aller Enge und Einseitigkeit.


So ist das Ganze des deutschen Idealismus ein kostbarer Besitz unseres Volkes, ein Besitz freilich, der als ein geistiger sich nicht mühelos übertragen läßt, sondern den es immer wieder neu zu erringen gilt. Aber wie er aus deutschem Wesen geboren ist, so kann deutsches Wesen besonders leicht den Weg zu ihm finden, sich an ihm verjüngen und erhöhen.


Solches verjüngende und erhöhende Wirken vermag er namentlich in einer Zeit großer Gefahr und höchster Spannung zu üben, wie es die Gegenwart ist. Eine solche Zeit wirft mit ihren Aufgaben, Gefahren und Nöten den Menschen auf sein innerstes Wesen zurück, sie rüttelt ihn zwingend auf aus dem stumpfen Dahintreiben des Alltags, sie hält ihm eindringlich das große Entweder–Oder 246 vor Augen, das alles menschliche Leben durchdringt, sich ihm sonst aber leicht verdunkelt, sie treibt ihn zu einer klaren Entscheidung über dieses Entweder–Oder. Es handelt sich nämlich darum, ob der Mensch ganz und gar darin aufgeht, sinnliche Natur zu sein, bloß einer sinnlichen Welt anzugehören und daher auch nur sinnliche Güter zu schätzen, oder ob sich seinem Innern eine Geisteswelt offenbart, ein neues Leben in ihm pflanzt, ihn zu einem neuen Sein emporhebt, ihm zugleich auch alle Größen und Güter verwandelt. Sich für das erstere entscheiden, das heißt allen Sinn des Lebens zerstören, das heißt auch das Große unerklärlich machen, was heute in Kampf und Opfer alltäglich um uns geschieht. Das zweite ist unbedingt notwendig, da der Mensch unmöglich sich selbst vernichten kann; aber seine Bejahung hat ungeheure Schwierigkeiten draußen und drinnen zu überwinden, sie fordert geistige Stärke, sie fordert Heroismus der Gesinnung. In solchem Heroismus aber können uns jene großen Denker stärken, stärken nicht nur durch ihre Lehren, sondern durch ihr ganzes Leben und Wesen. Auch sie waren tapfere Helden, auch sie haben einen harten Kampf zu führen gehabt und haben ihn siegreich bestanden; so sind sie uns Zeugen der Macht und der Gegenwart jener Welt, die sich mit mächtigen Wirkungen auch in der Gegenwart offenbart.


Die Aufgaben unserer Zeit

Wenn wir mit ihrer Hilfe die Aufgaben unserer Zeit in dem großen Zusammenhange einer Weltüberzeugung 247 sehen, so verheißt das eine Vertiefung des Lebens und eine Steigerung der Kraft. Denn der Kampf für das Vaterland erscheint dann zugleich als ein Kampf für die idealen Güter der Menschheit, für eine Aufrechterhaltung einer höheren Welt in unserem Bereich; Kämpfende sowohl als leidende erscheinen dann als Mehrer des Reiches des Geistes. Trägt eine unsichtbare Welt unser menschliches Leben, und gibt erst die Beziehung auf sie unserem Handeln und unseren Schicksalen einen Wert, so verändert und vertieft sich wesentlich auch der Anblick dessen, was wir heute erfahren: auch was äußerlich untergeht, kann für eine ewige Ordnung der Dinge unmöglich verloren sein, und auch schwerste Verluste können nicht zur Verzweiflung treiben, wenn aus dem Leid eine seelische Vertiefung hervorgeht, und im Schmerze selbst sich eine höhere Welt mit lebendiger Gegenwart offenbart. So muß die Verknüpfung mit den letzten Überzeugungen zur Veredlung der Arbeit, zur Heiligung des Schmerzes wirken, und wenn uns alle dabei die Gemeinschaft einer geistigen Welt zusammenhält und miteinander fühlen läßt, so werden wir aufrichtige Ehrfurcht den Helden, aber vielleicht noch größere Ehrfurcht denen zollen, die im Leide sich tapfer erweisen und ihren Glauben wahren. Sie fördern und heben damit unser aller Leben.

Der Idealismus des Gedankens hatte höchste Schätzung für die Tat, ja er wollte das ganze Leben in eine fortlaufende Tat verwandeln; jetzt hat das 248 Geschick das ganze deutsche Volk dazu aufgerufen, einen Idealismus der Tat zu erweisen; es hat einen solchen in Wahrheit erwiesen, es hat dieselbe Gesinnung in lebendige Wirklichkeit umgesetzt, aus der jene Denker unsterbliche Werke schufen. Gehen Idealismus des Gedankens und Idealismus der Tat bei uns zu einem festen Bündnis zusammen, so liegt vor unserem Volke eine herrliche Zukunft, und alles Schwere des gegenwärtigen Kampfes erleichtert sich, wenn er uns zur Pforte einer solchen Zukunft wird.


Signet

Ullstein & Co
Berlin SW 68


249

Sachregister

250

Bildung , Entstehung dieses Begriffs: Romantik 118, Schleiermacher 172.

Böses , sein Ursprung und seine Ausdehnung: J. Böhme 19, Kant 55, Fichte 82, Schelling 149 ff., Schopenhauer 230.

Charakter , näher bestimmt durch Kant 37.

Christentum , Fassung seines Wesens: Schelling 140 ff., Schleiermacher 177 ff., Hegel 220.

Denken , verschiedene Fassung seines Vermögens: Kant 44, Hegel 192.

Deutsches Volk und deutsche Art , eigentümliche Größe: Fichte 104 ff., Romantik 121, Schelling 144 ff., Schleiermacher 186 ff.

Entwicklungslehre : Schelling 134, Hegel 194, 197, 210, 222.

Erkennen : deutsche Schätzung 21, Schelling 139, Hegel 192 ff.

Ewiger Friede , erstrebt: Kant 62, Fichte 96, 99; abgelehnt: Fichte 108, Hegel 207.

Fortschritt der Menschheit : Kant 63, Fichte 91, Hegel 210 ff.

Freiheit , Fassung und Schätzung dieser Idee: Kant 35, allgemeine deutsche Art 38, 243, Fichte 86, Schelling 153, Schleiermacher 166 ff., Hegel 210.

Gefühl , verschiedene Fassung und Schätzung: Romantik 115, Schleiermacher 172, Hegel 219.

Gegenwart , ihre Beurteilung: Fichte 91, Schelling 151, Schleiermacher 179, Hegel 215, 222.

Geschichte , ihre Fassung und Bedeutung: Kant 63 ff., Fichte 91, 97, Romantik 120, Schelling 129, 140, Hegel 197, 202, 209, 213.

Geschichte, unterschieden von Historie : Schelling 140.

Geschichtliche Denkart , ihr Aufkommen 119 ff.

Geschichtliches in der Religion , verschiedene Schätzung: Kant 57, Fichte 89 ff., Schelling 140 ff., Schleiermacher 177 ff., Hegel 218, 221.

Gesellschaft und Individuum : Fichte 97 ff., Schleiermacher 168 ff., 175, 183, Hegel 206.

Gesellschaft und Staat , ihr Verhältnis: Fichte 84, Hegel 205 ff.

Gleichheit der Menschen : verteidigt von Fichte 85, verworfen von der Romantik 114.

Gottesidee , Fassung und Begründung: Kant 47, 51, 52, Fichte 88, Schelling 154, Schleiermacher 180, Hegel 194, 196, 218.

Handeln , Kern des Lebens: Fichte 80, 92.

Historische Kunst : Schelling 142.

Idealismus , seine Fassung: Kant 69, Fichte 81, Hegel 194, gemeinsame deutsche Art 238, 251 Unterschied von indischen und vom griechischen Idealismus 241.

Individualität , ihre Hochschätzung: Romantik 114, Schleiermacher 175.

Krieg : verworfen von Kant 62, Fichte 96, 99; anerkannt von Fichte 107, Schelling 147, Schleiermacher 186, Hegel 207.

Kultur , definiert von Fichte 82.

Kulturstaat : Fichte 97.

Kunst , ihre Stellung und Bedeutung: Kant 64 ff., Schelling 137 ff., 143, Hegel 215 ff.

Lebensalter : Schleiermacher 170.

Mensch , sein Auszeichnendes: Kant 36 ff., Schelling 128, 139.

Moral , ihre Fassung und Schätzung: Kant 35, 48 ff., Fichte 81 ff., Schelling 138, Schleiermacher 182 ff., Hegel 195; gemeinsame deutsche Art 242 ff.

Moral und Politik , ihr Verhältnis: Kant 62, Fichte 88, Hegel 208, 212.

Moral und Religion : Kant 57, Fichte 88, Schleiermacher 173 ff.

Moral , unabhängig vom Zustand der Menschen: Kant 54, Schiller 70, Fichte 90.

Nationale Idee , ihre philosophische Begründung: Fichte 101.

Nationalerziehung : Fichte 100 ff.

Naturphilosophie , Schelling 129 ff.

Organische Auffassung : der Geschichte: Romantik 120; der Natur: Schelling 132 ff.; des Staates: Schelling 142.

Persönlichkeit , Fassung und Bedeutung: Leibniz 25, Kant 36, Schelling 154.

Pflicht , ihre Größe: Kant 31 ff., Fichte 81, 88.

Phantasie , ihre befreiende Kraft: Schleiermacher 169.

Philosophie , ihre Aufgabe: Schelling 139, Hegel 197 ff., 198 ff., 222 ff.

Recht : Kant 60, Fichte 83 ff., Hegel 203.

Religion , ihre Fassung und Schätzung: gemeinsame deutsche Art 18 ff., Kant 56, Fichte 87 ff., Schelling 138, 148, Schleiermacher 171 ff., Hegel 214 ff., 217 ff., Deutscher Idealismus überhaupt 243.

Sinnliches , seine Bedeutung anerkannt: Schelling 136.

Soziale Aufgaben : Fichte 85.

Staat , als Rechtsstaat: Kant 60, Fichte 83 ff.; als sozialer Staat: Fichte 93; als Kulturstaat: Fichte 100 ff.; als »Darstellung des absoluten Organismus«: Schelling 142; als absoluter Staat: Hegel 201 ff.

Unbewußtes , geschätzt: Romantik 115, Schelling 137.

Unsterblichkeit , Stellung zu diesem Problem: Kant 47, 51, Fichte 92, Schleiermacher 167, 176.

Volk und Menschheit : Fichte 96, 99, 107, Schleiermacher 184 ff., Hegel 208.


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Die Schlagwörter der Seitentitelzeile wurden in Randnotizen umgewandelt und passend zugeordnet.

Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert.

Korrekturen:

S. 222: Einfäle → Einfälle
bloße Meinungen und Einfälle der Individuen