The Project Gutenberg eBook of Die Innerste: Erzählung

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org . If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title : Die Innerste: Erzählung

Author : Wilhelm Raabe

Release date : November 13, 2015 [eBook #50445]

Language : German

Credits : Produced by Norbert H. Langkau, Jana Srna, Jens Sadowski,
and the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE INNERSTE: ERZÄHLUNG ***

  

Wilhelm Raabe
Bücherei
Erste Reihe
Band 12

Wilhelm Raabe
Bücherei

Erste Reihe:
Kleinere
Erzählungen

Zwölfter Band

Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm

Wilhelm Raabe

Die
Innerste

Erzählung

Dritte Auflage
11.-16. Tausend

Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm

Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig

Die Innerste

Erstes Kapitel.

D iese Geschichte handelt von einem Bach und zwei Mühlen und ist wahr. Es hat sich alles so zugetragen, wie es erzählt werden wird: wer da meint, daß es anders hätte zu Ende gehen können, der erzähle es anders.

Es waren drei Fräulein vor etwa hundertundzwanzig Jahren, und sie leben heute noch und heißen die Leine , die Ihme und die Innerste . Sie sind im Laufe der Zeiten reguliert worden; aber hübscher sind sie nicht dadurch geworden. Vor hundertundzwanzig Jahren war ihnen allen dreien nicht zu trauen; doch die Innerste war die schlimmste und ist es bis auf den jetzt vorhandenen Tag geblieben. Wenn wo das alte Wort Gültigkeit hat, daß schlechter Umgang gute Sitten verdirbt, so ist es in diesem Falle.

Man sagte wohl im Lande umher: „Die Leine ist falsch! Die Leine ist ein böses Wasser! Die Leine ist tückisch!“ und es war ein gut Stück Verleumdung in jeglichem landläufigen Diktum. Die Leine war nicht besser, als sie war; aber von Natur aus war sie jedenfalls besser als ihr Ruf. Von Natur ein braves Wasser, ein gutes Wasser, ein gutmütiges Wasser, wurde sie durch die Innerste verdorben.

Im Hildesheimschen Amt Rethen vereinigt sich die Innerste mit der Leine, und nachher ist’s freilich zu Ende mit den guten Sitten der letzteren, und die Stadt Hannover hat zweifelsohne mancherlei zu erzählen von ihrer üblen Laune und Heimtücke.

Von der Ihme brauchen wir eigentlich nichts zu erzählen. Reißend und sumpfig zugleich, voll von Wirbeln und Drehkuhlen, faulen Bäumen, Pfählen und Klötzen, stinkend von den Flachsrotten der Anwohner und überall sehr trübe, lassen wir sie laufen und sagen nur noch, daß auch ihre schlechten Eigenschaften die arme Leine auf ihre Rechnung zu nehmen hat, nachdem sie, die Ihme oder der Ricklinger Bach, vom lieblichen Deister heruntergekommen ist, die freundlichen Dörfer Bredenbeck und Vörie und die Landwehrschenke im Amt Kalenberg passiert und gleichfalls ihre Sehnsucht nach der Stadt Hannover befriedigt hat. Wer mehr von dem Wasser wissen will, schlage nach in Grupens hannöverschen Altertümern.

Jetzo wenden wir uns zur Innerste.

Von ihrem Ursprunge mitten im wilden Harzgebirge an bis zu ihrer Ausmündung im Amt Rethen verschlechtert sich ihr Charakter von Schritt zu Schritt, und alle Glocken und alle Pfaffengesänge von Hildesheim treiben ihr die bösen Teufel nicht wieder aus. Selten aber auch geriet ein unschuldig hellblickend, klaräugig Bergwässerlein und Quellnixlein sofort bei seinem Austritt aus dem dunklen Schoß der Erde in so schmutzige Hände und an solch schwarz schweflicht Handwerk als diese arme hercynische Najade oder Nymphe. Wahrlich, ihr sind niemals Öl, Wein, Milch und Blumen geopfert worden! Wildemann nimmt sie beim Schopfe, Lauthenthal und Langelsheim mit ihren Hütten und Pochwerken tun ihr alle erdenkliche Schmach an, und so ist es kein Wunder, daß sie bei Ringelheim schon vollständig verderbt ist und bei Himmelstür frech, boshaft und scheußlich in die Ebene hervorgeht, und daß trotz allen Hildesheimschen Pfaffengesängen und Glockenklängen bei Sarstedt die schlimmsten Gerüchte von ihr im Schwange sind. Es hilft ihr nichts, daß sie da zur Leimoniade, zur Wiesennymphe wird: wild, heimtückisch und blutdürstig bleibt sie. Mit dem Auswurfe des Harzes, dem verderblichen Puchsande geschwängert, bleiben ihre Begierden unordentlich und wird sie von Zeit zu Zeit von unheimlichen Gelüsten ergriffen, und dann schreit sie.

Der Erzähler hörte sie schreien, der junge Müller Albrecht Bodenhagen gleichfalls. Nun aber wollen wir von der einen Mühle reden und nachher von der andern.

Zwischen Groß-Förste und Sarstedt war die eine Mühle gelegen, heute ist sie nicht mehr vorhanden. Die Gebäude sind längst niedergebrochen, der Garten ist wieder zur Wiese geworden; wo die junge Müllerin unter dem Flieder saß und spann, wächst manneshohes Schilf. Die Innerste ärgert sich hier nicht mehr an dem lustigen Rade, das sich sonst an dieser Stelle drehte; sie hat sich über ganz andere Dinge zu erbosen; der harzische Bergmann quält sie nicht allein mehr; es ist manche nichtswürdige Fabrik an ihrem Laufe entstanden seit dem Jahre 1760, und von Rechts wegen müßte sie heute da heulen, wo sie sonst nur schrie.

Im Jahre 1760 drehte sich das Rad, klapperte das Werk und war alles im Gange, wie das Säkulum selber. Es war eine muntere Zeit. Eine vollständige Tressenbesetzung für eine Mannsperson kostete, wenn man sie billig kaufte, ihre sechsundsiebzig Reichstaler; aber kaum der dritte Teil der meisten Städte war bewohnt, und zwei Teile bestanden aus wüsten Stellen und leeren Häusern. Zwar führte jedermann seinen Haushalt wie die Patriarchen im Alten Testamente, ein jeglicher zwischen seinen eigenen vier Pfählen mit eigenem Acker, Garten und Vieh; aber es war denn auch danach. Nur einige Mal in der Woche kochte man und fraß sich durch die schwere Zeit an Brei, Hülsenfrüchten und gemeinen Kohlarten. Wer sich recht gütlich tun konnte, hielt sich zum Neide der Nachbarn an das eingeschlachtete, entweder geräucherte oder gepökelte Fleisch, wer aber ganz und gar sardanapalisch schlampampen wollte und nach frischem Fleische lechzte, der hatte sich mit einem gleichen Schwelger zum Ankauf eines Stück Viehs zu einigen. Auf gut Glück schlachtete kein Metzger.

Das war die gute alte Zeit, wo niemand von dem andern etwas nötig hatte, die gute alte Zeit des Siebenjährigen Krieges, wo man, wenn die Einquartierung es litt, sich früh zu Bett legte und spät wieder aufstand, und wo man bei festlichen Gelagen Honigkuchen in eine Schale Branntwein brockte und je nach der politischen Meinung entweder den König Fritz oder die Kaiserin-Königin hoch leben ließ in dem olympischen Göttertranke; immer selbstverständlich dabei vorausgesetzt, daß die Einquartierung nicht hinderlich dabei in den Weg trat und den bürgerlichen Nektar in die eigene ausgepichte Kriegsgurgel hinüberfließen ließ.

So war es in Hannover, so war’s in Göttingen und in Hildesheim, und so war’s auch in Sarstedt an der Innerste. Trotz allem eine wunderlich real-geheimnisvolle Zeit voll seltsamer Schwingen und Flüge! Wer da etwa glauben möchte, daß heutzutage hinter den Stirnen und unter den Schädeln mehr in den Menschenköpfen vorgehe als damals, der irrt sich bedeutend. Ja wahrlich, jeder gegenwärtige Augenblick ist stets ein novus homo , ein Emporkömmling; und die Vergangenheit, selbst mit dem Zopf und der Beutelperücke und im Reifrock auf den hohen Stöckelschuhen, erscheint merkwürdig als der vornehme Herr und die erlauchte gnädige Dame. Sie tun aber meistens so, als lachten sie darüber, die Leute des Tages, und beweisen gerade durch ihr Lachen nur die niedrigere Beschaffenheit ihres Standes. Wer wahrhaft vornehm ist, hat immer Respekt, wo er hingehört, der Pöbel nicht.

Die Franzosen waren im Lande, und der Herzog Ferdinand lag gegen sie zu Felde. Bei Bergen war er von Broglio zurückgedrängt worden, und bei Minden sollte er über Contades siegen. Zwischen den beiden Schlachten, also im Jahre 1759, und gerade in der schönsten Sommerzeit hebt unsere Historie an.

Zweites Kapitel.

D amals saß noch ein alter Müller mit seiner ebenso alten Müllerin in der Mühle und der nachherige Herr war noch in der Fremde — fern und verschollen, wenn er noch lebte. Die ihn genau gekannt hatten, erwarteten ihn gar nicht zurück; es gab mehr als einen handfesten Galgen in der Welt, und mehr als ein würdiger, ehrenfester Sarstedter Bürgersmann legte, wenn die Rede auf den Jungen aus der Mühle, Albrecht Bodenhagen, kam, den Finger an die Nase und gab seine Meinung dahin ab, daß niemand wissen könne, wo der sich im Winde drehe; daß er sich aber im Winde drehe, das sei sicher.

Der brave Albrecht hatte es seinerzeit in der Stadt und der Umgegend, weit über Groß-Förste hinaus, nicht danach gemacht, daß man sich nach ihm sehnte, und die alten Eltern wußten nichts von dem einzigen Sohn. Seit dem Beginn des Krieges hatten sie ihn nicht zu Gesicht gekriegt. Eines Morgens hatte er seine Pelzmütze geschwenkt.

„Vivat Fridericus! Adjes, Herr Vater! Adjes, Frau Mutter! Aushalten tu ich’s nicht länger zu Hause. Wär’ ich nicht zu gut gewesen, so hätt’s der Herr Vater nicht zu schlimm mit mir gemacht. Adjes!“

Und dann war er mit einem Sprunge über die nächste Hecke weg gewesen, und die Sarstedter Jungfern hatten mit den Eltern das Nachsehen nach dem angenehmsten Junggesellen der Gegend gehabt. Nachher sind nur Gerüchte über ihn und sein Verbleiben nach Hause gekommen, und es stand jedem frei, dieselbigen zu glauben oder nicht.

Da hat mit ihm einer in einem berüchtigten Freibataillon Schulter an Schulter gestanden; ein anderer hat mit ihm nach der Schlacht bei Leuthen vor Schweidnitz gelegen, und wieder ein anderer hat ihn Spießruten laufen sehen im Lager vor Olmütz. Ein Vierter jedoch, und der war, wie viele meinen wollten, der einzige Glaubwürdige — Barthold Dörries aus Dielmissen behauptete, Albrecht Bodenhagen habe freilich zuallererst sein Glück in dem preußischen Freibataillon probiert, doch nicht lange. Nach Kollin sei er desertiert, und droben im Harz zwischen Wildemann und Lautenthal, gleichfalls an der Innerste, sei auch eine Mühle gelegen, und die Tochter daselbst, die wisse vielleicht am meisten von dem Albrecht! Er — Barthold Dörries — habe auf der Wanderschaft daselbst das Handwerk angesprochen und eine Nacht allda genächtiget, aber kein Teufel kriege ihn wieder unter das Dach, denn da könne man zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang mehr erleben als in einem ganzen Feldzug des Königs Fritz, zwischen dem ersten Aufbruch aus den Winterquartieren und der letzten Schlacht vor dem ersten Schnee.

Dem Meister und der Meisterin sprach der gute Müllerknappe nicht hiervon, denn der Alte hatte ihm beim ersten Wort das Maul verboten, wohl aber erzählte er den Mühlgästen, die ihm ein offenes Ohr liehen, und das taten sie alle, wenn die Rede auf den tollen Albrecht kam. Das ging denn wie der Laufer um das Mühleneisen, und wenn nur der Bodenstein irgend feste lag, so gab’s ein erklecklich fein Mehl.

Es war ein feiner Meisterssohn, dieser Barthold, und mit Grausen war er aus dem wilden Harz hervorgekommen. Wie gesagt, verschwur er sich am Schlusse jeder Rede jedesmal hoch und teuer, daß ihn nie wieder einer in die wüsten Berge unter das wüste Volk da kriegen tun täte. Von der Waldmühle, ihren Leuten und Gästen aber erzählte er, daß dem Hörer die Haare sich sträubten — und da — da sollte dieser Albrecht Bodenhagen immer noch sitzen, und die Müllerstochter, die rothaarige Doris Radebrecker, sollte sein Liebchen sein!

„Das ist freilich ein Ort für den bösen Jungen!“ murmelten die Leute aus dem Mühlenbann zwischen Sarstedt und Groß-Förste und sahen mit melancholischem Kopfschütteln auf den alten Vater und die alte Mutter Bodenhagen, und die Gerüchte wurden immer schlimmer.

Nun stand einmal im Juli des Jahres 1759 der alte Müller Bodenhagen an seinen Gartenzaun gelehnt und sah verdrossen auf die leise an demselben hinfließende Innerste, und schien die Blasen zu zählen, die vom Grunde des Flüßchens emporstiegen, zerplatzten und anderen Platz machten. Es sollen aber diese Luftblasen von dem Atem der Wassergeister in der Tiefe herrühren, und was viele Leute auf Hörensagen hier weiter sprechen, das wußte der alte Christian Bodenhagen ganz genau. Er sprach aber nicht gern davon und zog meistens ein finsteres Gesicht und verlor sich hinter dem Dampf seiner schwarzen Tonpfeife, wenn die Rede darauf kam. Er kannte sein Mühlwasser genau und wußte, daß nicht mit ihm zu spaßen war.

Die Morgensonne schien, die Lerchen sangen in der blauen Luft, auf den Wiesen lag das Heu in Haufen, und der leichte Wind trug den Duft her; doch die Wassergeister schienen schwere und heftige Atemnot zu haben. Die Blasen perlten in Stößen auf, und der Meister Bodenhagen zog seinen Atem gleichfalls bedrückt aus der Tiefe der Brust herauf und stieß ihn in Seufzern von sich. Sein altes Weib hatte ihm wieder mal des verlorenen Sohnes wegen von Mitternacht an den doch schon so kümmerlichen Schlaf ganz verscheucht und dann sich natürlich an ein gesundes Schnarchen gegeben und ihn wachen lassen.

„Und kann ich denn dafür?“ murmelte er jetzo. „Liegt es nicht seit der Schwedenzeit auf dem Dach und dem Rade? Ich habe nicht gezählt, wie viele Räder die Innerste dreht, vom Ursprung an bis zum Eingang in die Leine; aber daß sie auf dieses seit vielen hundert Jahren trotz aller guten Nahrung einen besonderen Groll hat, das weiß ich, und mein Vater und mein Großvater haben ihn auch verspüren müssen. Sie sagen, seit der Schlacht bei Lutter am Barenberge, allwo der General Tilly und der König von Dänemark aneinander waren, hat sich alles geheime Volk in Wasser, Wald und Luft hier in der Gegend mit dem Menschen überworfen. Gott soll mich behüten, darauf nachzusagen, aber die Bodenhagen-Mühle weiß das Ihrige davon. Vor der Bataille soll dieses alles nicht gewesen sein. Zwerg, Nix und Waldspuk hat wohl auch sein Wesen getrieben, aber mit Gutmütigkeit und im Spaß. Nachher erst sind sie giftig geworden — sie mögen wohl ihre Gründe gehabt haben — und begnügen sich nicht mehr mit dem bloßen lustigen Schabernack; sondern —“

Er brach ab und sah sich scheu um und legte die Hand auf den Mund. Beinahe hätte er von dem Herzeleid gesprochen, was insbesondere die Innerste ihm und seinen Vorfahren in der Mühle angetan haben sollte; allein er besann sich noch zur rechten Zeit und schwieg. Es ist gewissen Mächten gegenüber stets sicherer, zu schweigen, als sich zu beklagen; aber recht hatte der alte Meister doch in betreff der Charakterveränderung des geheimnisvollen Volkes seit dem Dreißigjährigen Kriege.

Schon lange ging man nicht mehr mit einem bloßen Grusel oder gar einem behaglichen Lächeln zu Bett, wenn man am Winterabend hinter dem warmen Ofen ein neues Histörchen von ihm vernommen hatte. Seit der Schlacht bei Lutter am Barenberge, wo die Liguisten den Dänenkönig klopften und sein Heer ausreuteten, und gar seit der Schwedenzeit hatte sich das gründlich zum Schlimmen und Bösen geändert. Mit der Menschennatur verwandelte sich in jener greulichen Zeit auch der Sinn der Geister in allen Elementen. Wo sie schalkhaft gewesen waren, wurden sie nun boshaft. Ihr spaßig Lachen wurde zu hämischem Grinsen, und wie der Mensch fanden auch die Geister nunmehr ihre Lust an der Grausamkeit, dem Elend, dem Verderben. Es war die Axt an alles harmlose Behagen gelegt worden, und die Leine und die Ihme sahen viel zu viele niedergeschlagene Wälder und verbrannte Wohnstätten der Menschen an ihrem Wege, um bleiben zu können, was und wie sie waren. Was aber die Innerste anbetraf, so gab ein Müller Bodenhagen die Überlieferung, daß ihr nicht zu trauen sei, weiter an den andern. Es ging kaum ein Jahr vorbei, ohne daß man sie schreien hörte — kein Auftauen des Winterschnees, ohne daß sie das Land weit und breit überflutete. Die Leute in der Mühle jedoch hielten das Schreien für das Schlimmere und Unheimlichere.

Gegenüber dem Mühlengarten zog sich am andern Ufer ein ziemlich dichtes, ineinander geflochtenes und gewirrtes Erlen- und Weidengebüsch hin, und gerade dem Orte gegenüber, allwo der alte Meister Bodenhagen an seinem Zaune lehnte, hatten die Wirbel das Erdreich unter einem knorrigen Stamme weggespült, der Baum hatte sich gesenkt, lag mit dem Gezweig im Wasser und streckte sein verworren Wurzelwerk in die Luft: die Nixen spielten auch den Baum- und Buschnymphen ihre Streiche, wo sie es konnten.

„Guten Morgen, Herr Vater!“ sprach es plötzlich von dort herüber, und der Alte, von den Wasserperlen der Innerste mit einem heftigen Schrecken in die Höhe sehend, hielt sich mit beiden Händen am Zaune.

„Schmeckt Ihm sein Pfeifchen wie sonsten? Es soll mich freuen,“ erscholl es wieder, und die Pfeife wäre fast dem Munde des Müllers Bodenhagen entglitten. Er griff aber doch noch danach, wie der Held der Pfeffelschen Ballade, und legte die zitternde linke Hand über die Augen — traute ihnen noch immer nicht und starrte wortlos über sein Mühlenwasser nach dem Weidenstamm hin.

Da saß auf dem klumpigen Wurzelwerk, das in der Tat einen recht bequemlichen Sitz bildete, ein Mensch, der sich immer noch nicht wie ein Phantom in dem flimmernden Sonnenschein auflösete oder in das Wasser, aus dem er auch vielleicht aufgestiegen sein konnte, zurücksank. Ein Mensch, ein richtiger Mensch, aber nicht gar erfreulich anzuschauen! Er trug einen zerlumpten blauen Rock mit schmierigen roten Aufschlägen, Kragen und Futter; er trug gelblich-schmutzige Kniehosen und zerfetzte Gamaschen; und den dreieckigen alten Soldatenhut trug er schräg über das eine Auge gedrückt, über dem andern eine Binde. Wie der greise, weiße, reinliche alte Müller hielt er auch eine Tonpfeife zwischen den Zähnen, und jetzo legte er militärisch grüßend die Hand an den Hut und rief von neuem über die Innerste :

„Ich wünsche dem Herrn Vater den allerschönsten guten Morgen und rekommandiere mich fürs geschlachtete fette Kalb. Ich bin’s, Herr Vater, und frage an, ob Er und die Frau Mutter was dagegen einzuwenden haben, daß ich über den Steg laufe und den lieben Eltern mit Tränen in die Arme renne?“

Der Alte stieß ein Gestöhne aus; aber zu antworten vermochte er noch nicht.

„Nun, wie ist’s?“ fragte der Blaurock von jenseits her. „Soll es heißen: Pardon, Grenadier; oder gebt Ihr kein Quartier? Hunger, Durst und einen zerschlagenen Kopf bringe ich mit, ich komme aus dem Westfalenland, und es ist uns als wie den hohen Alliierten und dem Herzog Ferdinand herzlich schlecht ergangen. Sage Er Quartier, Herr Vater — ich bringe zu allem übrigen ein gebessert Gemüte und weiß nun aus der Erfahrung, daß es zu Hause bei der Frau Mutter am besten ist. Mache Er ein Ende, Vater, und lasse Er mich wieder ein; es ist mein blutiger Ernst, und ich habe beides satt, den Krieg wie das Wandern!“

„Ist Er es? Oh!“ ächzte der Alte; aber er antwortete den Fragen von dem anderen Ufer der Innerste auch jetzt noch nichts. Er ließ den Zaun los und drehte sich um und wackelte dem Hause zu durch den engen Gartenweg, beide Hände mit ausgespreizten Fingern vor sich hinstreckend, als müsse er seinen Weg durch eine dicke Finsternis tasten. Aus dem Garten trat er in die Küche, wo seine graue Frau am Herde wirtschaftete, und er setzte sich stumm auf die Bank neben dem Herde, und die Müllerin ließ erschreckt ihren Topf und Löffel und schrie:

„Jesus Christus, Vater, was ist? was ist los? was ist geschehen?“

„Ja, Vater, Vater, Vater!“ murmelte der Müller Bodenhagen; und drüben auf dem Weidenstamme hob der zerlumpte Kriegsmann den Dreiecker vom wirren Haarwulst, ließ ihn wieder fallen und sagte zwischen den Zähnen:

„Kotz Kreuz und tausend Schwadronen, hab’ ich nun eine Antwort oder nicht? Da geht der Dampf aus dem Schornstein, und ich meine, den gebratenen Speck bis hierher zu riechen. Hu, Speck und Eier, und gestern ist auch der Tag gewesen, allwo wir frisch backen! Der Teufel, im Lager zu Pirna konnte kein Sachs mehr Wehmut ausstehen, als ich anjetzt auf dieser hohlen Weide! Nun hält er Kriegsrat drinnen mit der Alten. O, Albrecht Bodenhagen, wie bist du heruntergekommen seit der Bataille bei Bergen!“

Er starrte auch in das Wasser nach den aufsteigenden Blasen und Perlen, und mit einem Male setzte er finsteren Auges die Zähne fester auf die Lippen, daß ihm das Pfeifenrohr zerbrach, und murmelte:

„Und da ist die Innerste wieder! Wie wär’s, wenn ich noch einige Tagemärsche dran aufwärts rückte und den Speck in der Pfanne an einem anderen Ort in die Naslöcher zöge? O, heulen möchte man, daß man so wenig geschickt ist für den Krieg und das Wandern. Sie würden alle lachen, wenn sie das wüßten!“

In diesem Augenblick ließ sich ein Weibergeschrei aus der Mühle vernehmen, und der Mensch auf der Weide stotterte:

„Die Alte! das war die Alte! jetzt weiß die Alte, wie weit es am Tage ist!“

Und es war so. Die Alte war’s, und die Alte wußte, wie weit es am Tage war. Sie kam durch den Garten, so hastig, als es ihr ihre fünfundsechzig Jahre erlauben wollten, sie streckte auch die Arme weit vor sich hin, doch durch eine Finsternis brauchte sie sich nicht zu tasten.

„Mein Sohn! mein Kind!“ kreischte sie; und drüben hatte der Soldat den preußischen Infanteristenhut abgenommen und hielt ihn in den Händen, und der Pfeifenstummel war ihm entglitten und in die Innerste gefallen.

„Frau Mutter, wenn Sie Gnade für Recht ergehen lassen will, und wenn der Herr Vater damit zufrieden ist, so komme ich über den Mühlensteg. Ich hab’ es satt in der weiten Welt, und den Krieg um Schlesien sollen sie unter sich allein ausmachen, und den Colignon, den Werber, den soll der blutige Teufel holen. Frau Mutter, will Sie mir heute wieder mit einen Teller auf den Tisch setzen? Den Geruch Ihres Specks, Frau Mutter, halte ein anderer aus, ohne zu schluchzen wie ein Kind: ich heule Ihr geradeweg was vor, wenn der Herr Vater mich nicht über den Steg am Mühlenschütt kommen läßt und mich weiter schickt zum Träberfressen und Schweinehüten oder zum General Freytag.“

Der Vater Bodenhagen zeigte sich nicht wieder vor dem Hause; aber Mutter und Sohn begegneten einander auf dem Mühlensteige, und zwischen ihnen beiden war alles in Richtigkeit, und als ob nie etwas vorgefallen sei, was dem schlimmen Jungen, dem Albrecht, einen häuslichen Verdruß bei seiner Heimkehr aus dem Felde und von der Wanderschaft hätte einbringen können. Als sie jedoch Hand in Hand und die Alte in Tränen in die Stube traten, da saß der Alte am Tisch, drehte der Tür den Rücken zu und hatte die Faust auf die Tischplatte gelegt. Er wandte sich nicht um bei ihrem Eintritt.

„Mit Permission, Herr Vater —“

„Er Halunk!“ murrte der Alte. „Wenn Er es wirklich ist, so sage Er mir, wer ihn gerufen hat? Hat sich der Herr wirklich nicht in der Tür geirrt?“

Die alte Frau legte ihrem Ehemanne die Hand auf die Schulter:

„Ich habe ihn gerufen in meinen bangen Nächten; er muß es mitten unter dem Volk gehört haben.“

„Der Vagabonde — der Landläufer!“

„Und er ist zurückgekommen mit schleppendem Fittich und hat sich nicht in der Tür geirrt. Sieh dich um, Bodenhagen, sieh ihn an, Vater. Hab’ ich ihn mit meinen Tränen hergeweint, so hast du in deinem Ärger nach ihm geschnarrt. Sieh dich um, Alter.“

Und der Müller Christian Bodenhagen sah sich um nach seinem lieben Söhnchen und zwar trotz seinem Alter mit den munterst funkelnden Augen.

„Das ist das Wort! In meinem Ärgernis hab’ ich nach dem Strolchen, dem schwachmütigen Lumpen auch gerufen und es kaum erwarten können, daß es so käme, wie es heute endlich gekommen ist! Ho, wirklich, er ist’s, und ganz so, wie ich ihn mir im Traum und Wachen phantasiert habe, der Haas im Marderpelz! Alte, Alte, wenn ich den Schlingel nicht zu genau kennte, so würde er mir wahrhaftig nicht über die Innerste gekommen sein. Das ist der Milchtopf auf dem Feuer — er kocht über und es stinkt. Du rückst ihn ab von der Glut, und er gibt sich fein zur Ruhe. O, du jammerhafter Wischlappen, was hattest du im Felde beim König Fritz und dem Prinzen Ferdinand zu suchen? Du Großmaul, haben sie dir nach Verdienst den Buckel zerbläut und dich heulend zu Vater und Mutter heimgeschickt? Ich habe es so gewußt, mein Sohn, verlaß dich drauf. Du bist mir nicht als etwas ganz Neues drüben am Wasser aufgegangen; und weil dem so ist — deshalb — sei gesegnet dein Eingang!“

Er hatte sein spanisch Sonntagsrohr neben der alten knochigen harten Hand auf dem Tische liegen, und jetzo war er aufgesprungen, und es erhub sich ein Tanz, beinahe noch lustiger und wilder, als er am kommenden ersten August bei Minden zwischen dem Herzog von Braunschweig und dem französischen Marschall Contades aufgeführt werden sollte. Die Mutter Bodenhagen flüchtete sich schreiend in eine Ecke; das Haus- und Mühlengesinde lief entsetzt zu Hauf — der Meister Christian schlug brav zu und kümmerte sich nicht, wohin er traf. Den wilden Albrecht aber mußte die Schlacht bei Bergen und der darauf folgende Hunger wahrlich tief heruntergebracht haben. Er wehrte sich kaum anders als durch ein ununterbrochen Ausweichen rund um den Tisch herum.

Sie wußten im achtzehnten Jahrhundert, selbst in der rand- und bandlosesten Zeit des Siebenjährigen Krieges, immer noch in der richtigen Art und Weise mit den verlausenen Herren Söhnen umzugehen, die Herren Väter. Sie hatten es gelernt von Seiner königlichen Majestät in Preußen, Friedrich Wilhelm dem Ersten, und waren imstande, Seine Majestät König Fritz den Zweiten als glorreiches Exemplum hinzustellen und sich des weiteren und breiteren darüber zu ergehen, daß der das hispanische Rohr selber fühlen müsse, welcher es einmal selber führen und andere, als z. B. die Kaiserin Maria Theresia und den französischen König Louis, fühlen lassen wolle.

Drittes Kapitel.

E s war der gutmütige und handfeste Mühlknappe Barthold Dörries aus Dielmissen, der dem zornigen Hausvater endlich den Stab Wehe entrang und den Haussohn vor dem Schicksal errettete, zu fein gemahlen zu werden. Auch das übrige Gesinde sprang endlich zu; dann kam die Mutter und am andern Morgen die ganze umliegende Landschaft zu Worte. Letztere behielt es längere Wochen hindurch über die Vorgänge in der Sarstedter Mühle.

Es gibt nicht wenige Leute, die, wenigstens zu einer gewissen Lebenszeit, einen schlimmen Ruf für besser als gar keinen halten; allein es gehört Charakter dazu, diese Ansicht bis zum Ende festzuhalten, und solche Seelenstärke besitzen freilich nicht alle. Albrecht Bodenhagen besaß sie sicherlich nicht.

Er hatte genug des Ruhmes oder Rufes und gab, wie man das nennt, klein bei; und auch darüber machte die Umgebung dann natürlich wieder ihre Glossen.

Selten sind zu irgendeiner Zeit so viele Kornsäcke nach der Mühle an der Innerste getragen und gefahren worden als in jenen Tagen. Ein jeglicher wollte den verlorenen Sohn sehen, ein jeglicher gern ein Wort mit ihm reden, und manch einer kam zu seinem Zweck zum großen Verdruß des Heimgekehrten, dem beides ein Greuel war, das Vermahnen sowohl als das Beglückwünschen, und der jedem Gevatter und jeder Gevatterin unter dem wachsamen Auge des Herrn Vaters still zu halten hatte. So blühte mit dem Geschwätz das Geschäft, und die Räder drehten sich, und der Laufer drehte sich auch, und die Innerste quirlte lautlos ihr schmutzig Wasser vorbei und nach Sarstedt, um jenseits der Stadt andere Mühlen zu treiben und auf anderer Leute Angelegenheiten tückisch Achtung zu geben. Das geht uns aber nichts an.

An einem Donnerstage war Albrecht nach Hause gekommen, und am Sonnabend kam nach alter fester Sitte der Balbierer von Sarstedt, um dem Meister Christian den Wochenbart abzunehmen. Stumm und mürrisch ließ sich der Alte an der Nase ziehen, drehen und wenden und das Messer gewähren; aber nachdem das glattmachende Werk an ihm vollendet war und er den Schaum abgetrocknet hatte, winkte er dem Sohn auf den Stuhl, und der kriegerische Schnauzbart desselben fiel dem Messer geradeso zum Opfer wie die Wochenstoppeln des Vaters. Der tapfere Kriegsmann ging mit einem ganz anderen Gesicht aus der Prozedur hervor, und die Hausgenossenschaft wie die Umgegend hatten von neuem Grund, sich zu verwundern.

Es war doch etwas an dem Wort des Alten vom Hasen im Marderpelze! Eine gar gutmütige und augenblicklich gar melancholische Menschenvisage kam hinter dem grimmen Bart zum Vorschein. Es fehlte weiter nichts als eine weiße gestrickte Zipfelkappe zu einer weißen Müllerjacke, und als am Sonntagmorgen die Mutter mit Freudentränen im Auge dem Söhnchen beides brachte, und er mit der Kappe über den Ohren zur morgendlichen Biersuppe schlich, da mangelte nichts an der Verwandlung zum Besseren, und die Böswilligsten und Mißtrauischsten mußten zugestehen, daß sie doch wohl an dem „wilden“ Bodenhagen sich geirrt haben könnten. Nun fehlte bald wenig, daß der verlorene Sohn durch das halbe Fürstentum Kalenberg und das ganze Fürstentum Hildesheim als ein Muster aufgestellt worden wäre. Entrüstete Väter und betrübte Mütter waren jetzo um so geneigter Beifall zu nicken, als sie vordem den braven Albrecht als schlechtes Exemplum für ihre eigenen wilden Sprößlinge verwünscht hatten. Auch die Jungfern in der Stadt und auf dem Lande guckten auf und hin, und manch ein Mägdelein machte sich ein Geschäft in der Mühle, das ein anderer ebenso gut oder besser hätte ausrichten können.

Am 1. August fiel die Schlacht bei Minden, und am 12. desselbigen Monats die bei Kunersdorf vor, in welcher es dem alten Fritz so herzlich schlecht erging. Nach der letzten Bataille verschwand eines Tages der Knappe Dörries aus der Mühle; er war nach Pattensen auf den Jahrmarkt gezogen, sich einen vergnügten Tag zu machen und eine neue Mütze zu kaufen. Beides soll er zustande gebracht haben, dem Gerüchte nach; aber auf den vergnügten Tag folgte auch eine kreuzlustige Nacht; der gute Barthold ist nicht nach der Mühle zurückgekommen; der Oberst Colignon hatte auch ihn, und schon am 21. November hat ihn bei Maxen ein Stück von einer Haubitzgranate des Feldmarschalls Daun zu den übrigen auf den Boden gelegt. Es war schade um ihn, und der König Friedrich ist nachher auch sehr ergrimmt darob auf den Herrn General von Fink gewesen, hat ihn vor ein Kriegsgericht gestellt und auf die Festung gesetzt, aber den guten Barthold nicht wieder lebendig dadurch gemacht.

Meister Christian Bodenhagen in der Mühle an der Innerste nahm keinen andern an seiner Statt an. Er hatte ja seinen Sohn zurück und konnte ihm aufladen, was ihm beliebte; und Vater, Mutter und Kind waren und blieben allein und feierten Weihnachten im engsten Familienkreise. Man hat diesmal aber nicht gesehen, daß sie einen Tannenbaum mit goldenen Äpfeln und Nüssen behängten und mit Lichtern besteckten. Es wäre auch schade um den Baum gewesen, denn in diesem Jahre schwamm der ganze Torgauer Wald die Elbe hinunter nach Hamburg und durch des Obersten Colignons Werbetaschen so nach und nach in die Taschen von sechzigtausend neuen Rekruten. Und was an gutem Holz in den Lagern von Dresden, Freiberg und Dippoldiswalde in den Brandhütten der Österreicher und Preußen in Rauch aufging während des harten Winters, ist von der gütigen Mutter Natur auch erst lange Zeit nachher ersetzt worden.

Um Weihnachten drehte sich das Rad noch; aber dann kam der Frost, die Innerste wurde zu Eis, und die Mühle stand still. Da hat man Zeit gehabt, allerlei miteinander zu überlegen, und über allerhand Vergnügliches und Zärtliches zu einem festen Beschluß zu kommen. Bald hat man es weit und breit gewußt, daß der Vater Bodenhagen mit großem Nachdruck von dem Sohne verlangt habe, er solle ihm nun auch eine junge Frau ins Haus bringen und zwar schon zu Ostern des kommenden Jahres. Rundum haben die Jungfern aufgehorcht; aber auch nicht wenig die Näschen gerümpfet, als sie zu dem übrigen vernahmen, daß sie keine Stimme bei dem Handel haben sollten, daß derselbige schon so gut wie abgemacht und durch Handschlag zwischen den Eltern besiegelt worden sei; daß der Albrecht ja gesagt habe, ohne sich lange zu zieren und zu besinnen, und daß die Braut zu Groß-Förste sitze und wirklich niemand anderes sei als Lieschen Papenberg, des Brinksitzers Papenberg einzige Tochter!

Das hatten sie nicht erwartet, die Jungfern in der Stadt Sarstedt und sonst im Fürstentum Hildesheim. Nun hatten sie sich zum zweiten Male in dem Albrecht Bodenhagen geirrt, aber voraus zu sehen war’s doch gewesen; denn ein Mensch, der so fortlief in die Welt und so wiederkam und so weichmäulig und so weiß, so hammelweiß vom Mehlstaub über die Gartenhecke greinte, dem konnte man alles zutrauen, selbst den schlechtesten Geschmack im Lande, weit über den Deister hinaus und bis tief hinein in die Lüneburger Heide.

So dachten und zischelten die Jungfern hinter den Türen, auf den Dorfgassen, am Brunnen und hinter den Spinnrädern; aber die Eltern dachten anders und nannten den Meister Christian einen Hauptkerl, der es verstehe, einen Windhund an die Leine zu nehmen, und auf die Haus- und Staatsräson fast ebensogut ausgelernt habe wie der preußische König Fritz und sein Herr Vater Friedrich Wilhelm.

Man hat auch das Lieschen gefragt, wie ihr denn eigentlich nun zumute sei? und sie hat den Schürzenzipfel an den Mund genommen und gemeint, das sei eine dumme Frage. Dabei aber hat sie gekichert, und die Fragerin hat auch nichts weiter gewußt, als gleichfalls zu kichern, ist jedoch hingegangen und hat, drei Häuser weiter, erzählt: ihr sei eben eine Gans über den Zaun geflogen, der sei sie nachgelaufen bis auf Papenbergs Hof, und da habe sie sich beinahe vergriffen und das Lieschen dafür am Flügel genommen; solch ein kurios Gegacker sei seit Erschaffung der Welt nicht erlebt worden, und auf die Hochzeit sei das ganze Freikorps des Obersten Bauer geladen, dazu aus Böhmen viele schöne Fräulein; wer aber zu allererst gebeten sei, das sei die Müllerstochter oben im Harz, die auch an der Innerste sitze und tagtäglich ihre Grüße mit dem Wasser herunterschicke, wie der arme Barthold Dörries das ja hundertmal erzählt habe. Dem sei nun, wie ihm wolle, gelacht mußte Lieschen Papenberg haben: wer das Mädchen lachen sehen wollte, der konnte überhaupt leicht dazu kommen. Es war ein fröhliches Ding von den Kinderschuhen an gewesen, brachte von Natur ein vergnügt geduldig Herz mit zu allem, was die Frauen erleben können auf dieser Erde; die Innerste hüpfte da oben in den Bergen, an ihrem Geburtsorte im Walde nicht unschuldiger, klarer und lieblicher in die Welt hinaus.

Gegen Ende Februars, als es in Schlesien und Sachsen wieder lebendig wurde und überall das Eis aufging, schrie die Innerste im neuen Jahre 1760 zum ersten Male, aber die junge Braut hat sie damals noch nicht schreien hören.

Viertes Kapitel.

E s war ein Sonntag, und die Kirche war überall zu Ende im Lande. Der Tag war regnerisch, doch konnte man gerade nicht sagen, daß es regne; es war eben ein Tag im Hornung, und man mußte das Wetter nehmen, wie es sich gab. Der junge Müller befand sich allein zu Hause, beide Alten mit den Mägden waren nach Sarstedt zur Kirche und konnten kaum vor Mittage zurück sein. Das Rad war gestellt, und der junge Müller lag faul auf der Bank am Ofen und hörte der Uhr zu, die hinter seinem Kopfe im Winkel tickte. Die Hauskatze saß zu seinen Füßen auf der Bank und putzte sich über die Ohren; denn es war Feiertag, und dazu sollte am Nachmittage Besuch kommen: Jungfer Lieschen mit Vater und Mutter, der Vetter und die Base aus Harsum, ja, auch die Verwandtschaft aus Groß- und Klein-Algermissen wollte kommen, und am Abend sollte es hoch hergehen in der Mühle.

Der Haushund kam von Zeit zu Zeit und leckte dem Träumer auf der Bank die Hand; dann sagte der junge Müller:

„Nieder, Laudon! Gib dich zu Ruhe; ich habe mich auch zu Ruhe geben müssen.“

Er gähnte schläfrig, und doch zogen ihm allerlei bunte Bilder durch den Kopf. Da dachte er, daß er nun bald ein junges Weib haben werde, und lächelte. Dann fragte er sich, wie es dem Alten und der Alten wohl auf dem Altenteil gefallen werde, und kratzte sich hinter dem Ohre. Nun richtete er sich auf dem Ellenbogen halb empor und drehte sich gegen das Fenster, um nach dem grauen Gewölk zu sehen, und da mußte er an die Kriegsvölker im Westen und Osten denken, mit denen er’s vor einem Jahre noch hatte Frühjahr werden sehen, — es war ihm, als höre er fern die Trommeln und die Trompeten, und auf einmal die ersten Schüsse von den Vorposten her. Er schüttelte sich, schob von neuem die Hände unter den Hinterkopf und seufzte:

„Uh!“ —

Mit einem Male aber setzte er sich aufrecht, daß die Katze erschreckt von der Bank sprang und Laudon am Ofen verwundert den Kopf erhob. Es war so still in der Stube, daß man außer dem Picken der Uhr nichts weiter hörte, als dann und wann ein lauteres Rauschen der Innerste, und die Innerste war’s eben, die den jungen Müller Albrecht Bodenhagen so jach aufgejagt hatte. Er war in seinen schläfrigen Phantasien, anfangs ohne darauf zu achten, an dem Wasser hinaufgeschritten, und plötzlich —

Der Hund stand und bellte gegen die Tür, und der Müller sah verstört darauf hin; es hatte gepocht, und es pochte jetzt noch einmal.

„Herein!“ rief Albrecht, doch es kostete ihm Mühe, das kleine Wort hervorzubringen. Mit stieren Augen sah er auf die Tür —

Bon jour! “ sagte der eintretende Besuch, den Hut abnehmend, und zwar mit der linken Hand. Rechts trug er nur einen an die Jacke geknöpften Ärmel. „ Bon jour! Richt’ euch! Na, Musketier, hat Er’s so schnell verschwitzt, wie der Soldat sich gegen seinen Vorgesetzten zu behaben hat? Tausend Donnerwetter, soll ich Ihm die Hände an die Naht bringen, Musketier Bodenhagen? Ja, ja, so sieht die Kuh das neue Tor an, aber Seinen alten Unteroffizier sollte Er doch noch kennen, Albrecht! Schockschwerenot, da sieht man wieder, was es nützt, mit einem Esel Freundschaft zu schließen und an tausend Beiwachtfeuern ihn zu Sittsamkeit und Tugend anzuhalten! Kerl, so dumm sah Er nicht aus, als ich Ihn zum ersten Mal in Reih’ und Glied stellte. Na, geht Ihm endlich ein Licht auf, Kamerad? Es hat mich lange nichts so sehr gefreut! Guten Morgen, Albrecht; es ist wirklich ein Pläsier, daß du endlich den Mund zumachst. Ich bin es und — da bin ich und verhoffe, daß du es für einen Affront genommen hättest, wenn ich heute an deiner Tür vorbeimarschiert wäre, ohne vorzusprechen. Ich bleibe auch zu Mittag und nehme mit einem Strohsack zur Nacht vorlieb: Du weißt, verwöhnen tut unsereinen weder Seine königliche Majestät, noch Seine herzogliche Durchlaucht; aber ein Vivat wirft’s doch noch für beide ab; vorzüglich wenn das Getränk danach ist. Gewehr ab! Rührt Euch! Musketier, auf das Wiedersehen hattest du dich wohl auch nicht eingerichtet, als die Glocke heute morgen in die Kirche läutete?“

Er hatte den Hut auf den Tisch geworfen und sich in den Sorgenstuhl des Meisters Christian. Der junge Müller Bodenhagen stand vor ihm:

„Ist Er es denn wirklich, Korporal? Bist du es wirklich in Fleisch und Blut, Jochen?“

„In Fleisch und Blut bis auf das, was bei Minden liegen geblieben ist, Joachim Brand aus der Bergstadt Grund im Harz; königlich preußischer und kurfürstlich hannoverscher Korporal auf der Retraite, und bis auf das Stück von ihm, das bei Minden liegt, immer noch dein guter Freund und Kamerad, Musketier Bodenhagen.“

Der junge Müller sah sich um. Rechts über die Schulter und links.

„Das ist freilich Sonntagsbesuch, auf den ich mich nicht eingerichtet hatte, Korporal,“ stotterte er; aber der Einarm lachte:

„Will’s Ihm glauben, Albrecht; aber das muß ich sagen, warm sitzt Er und propre. Ist das das Nest, aus dem Er aufgeflogen ist, um mit uns zu ziehen? Da kann ich es dir freilich nicht verübeln, daß du dich beizeiten wieder aus dem Pulverdampf in den Mehlstaub verzogen hast! Was sieht Er mich so jammerhaft an, Musketier?“

Der junge Müller sah in der Tat den Kriegskameraden ein wenig kläglich und verlegen an. Die Uhr im Winkel hob eben aus und tat ihre zwölf Schläge: lang konnt’s nicht mehr dauern, so waren die beiden Alten aus Sarstedt zurück; und was der Alte zu dem verwilderten Gaste mit dem leeren Ärmel sagen würde, das wußte der junge Meister fürs erste noch nicht zu sagen. Er erinnerte sich nur mit merkwürdiger Deutlichkeit seines eigenen Empfangs zu Hause nach der Rückkehr aus dem Felde und blickte jetzo nach dem Winkel neben der Uhr, aber einen Trost gewährte es nicht, daß das spanische Rohr daselbst nicht an seinem gewohnten Platze lehnte. Der Meister Christian führte es mit sich, würdig war er daran zur Kirche geschritten, und unbedingt brachte er es wieder mit heim; er hielt etwas auf den Stab, den er bereits von seinem Vater ererbt hatte und noch um eine Generation weiter zu geben hoffte.

„Ich sehe dich nicht jammerhaft an, Jochen,“ sagte der junge Müller. „Aber mein Vater und meine Mutter —“

„Hoho,“ lachte der andere, „steckt’s da? Die halten das liebe Söhnchen wohl fest am Bande? Sie haben wohl nicht Lust, es zum zweiten Mal im weiten Felde zu suchen? He, Albrecht, Bruder, da laß du mich nur sorgen; aus dem Quartier geh’ ich bis morgen früh nicht. Schaff zu trinken; den Hunger heb’ ich mir zu Tisch auf! Nestküchelchen, Füsilier Bodenhagen, Bruderherz, sind wir darum in so erschrecklichen Bataillen gestanden, um uns zu Hause den Suppenlöffel ums Ohr schlagen zu lassen? Mordieu , her mit der Flasche — schaff einen Schnaps; oder ich hetze deinen eigenen Hund auf dich! wie heißt denn der Köter?“

„Schrei nur nicht so, Jochen. Hierher — ruhig, Laudon! will er Ruhe halten, Laudon? O Jochen, tu mir die Liebe an —“

„Laudon heißt das Beest? Nenn es Sackville, Kamerad! Feig und niederträchtig genug sieht die Kreatur zu dem Namen aus! Hetz sie nur auf den Zeltkameraden, Bruder Albrecht! He, Sackville! He, Sackville! faß an, pack an, Lord Sackville! Mit meinem leeren Ärmel wehr’ ich mich! Siehst du, da verkriecht sich der Kujon unter der Bank, und da — dort verkriecht sich der Broglio aus der Affäre, und da lieg’ ich im Sumpf, und der Arm ist zum Teufel. Sackville, hoho, Sackville, Mylord Sackville! so zieh’ ich als ein Invalid mit dem Bettelsack aus dem Feldspital nach Hause, und mein bester Freund fürchtet sich vor der Rute hinterm Spiegel. Pfui, Satan; ich spucke aus und wünsche dir alles Glück bei deinen Mehlsäcken, Albrecht Bodenhagen. Adjes, und wenn du es gar nicht mehr aushalten kannst, laß dich beim Sackville unter die englische Kavallerie anwerben, und deinem Hundevieh tu’ ich Abbitte, das ist viel zu gut für den Namen. Gott befohlen, Müller, und die englische Krankheit in deine Knochen!“

Er hatte den Hut aufgestülpt und wollte eben zornig zur Tür hinaus, als sich dieselbe öffnete, das heißt, als sie weiter aufgemacht wurde. Es hatte seit mehreren Minuten bereits jemand da dem Dinge zugehört. Der alte Meister Christian stand auf der Schwelle, und hinter ihm stand angsthaft seine Hausehre und hielt ihn am Rockschoß; es wies sich jedoch sonderbarerweise aus, daß das gar nicht notwendig war.

Der Invalide von Minden rannte an den Meister an und fuhr zurück.

„Wo will Er hin?“ fragte der Greis. „Halt da! Daß Er das große Maul gleich allen übrigen aus dem Kriegselend mitbringt, weiß ich schon. Erwartet Ihn etwa auch zu Hause ein alter Vater und eine Mutter, die Jahre lang allnächtlich ihr Kissen in ihren Tränen wäscht? Die Rute hinterm Spiegel? Ei, ei, führt nicht der König gerade darum den Krieg, um der ganzen Welt zu zeigen, daß die Rute immer noch hinter dem Spiegel stecke? Lege Er Seinen Hut hin, Musje, sage ich; Er kann bleiben in der Mühle bis morgen und auch noch einen Tag länger, wenn’s Ihm beliebt. Auf den Jungen da aber hatte Er nicht so hineinzuräsonieren das ist mein Junge, und den hab’ ich abzurichten! Marsch in die Küche, Mutter, wir haben einen Gast zu Tisch, und wir haben auch heut abend einen Gast mehr. Hänge Er Seinen Hut da an den Nagel, Kamerad — da, stell meinen Stock in die Ecke, Albrecht, und leg mein und der Mutter Gesangbuch ins Schaff. Setze Er sich, Kamerad, und lasse Er mich von Sich und Seinen Umständen ein Weiteres wissen.“

Der Korporal schüttelte mit einem eigentümlichen Blick auf den früheren Kriegsgenossen dem Alten die Hand.

„Er ist mein Mann, Müller! Nehme Er vorlieb mit der Linken; ich würde Ihm nur zu gern die Rechte geben, wenn’s anginge. Mit Seinem Jungen da darf Er natürlich machen, was Er will. Ich bin auch nicht umsonst sein Unteroffizier gewesen und weiß, wie er traktieret sein muß. Hänge Er auch meinen Hut an den Nagel, Musketier Bodenhagen.“

Der „Junge“ tat verdrossen, was ihm geheißen worden war, trieb sich kläglich-mürrisch noch einen Augenblick in der Stube herum und ging dann hinaus und durch den Garten an den Zaun. Er stützte beide Arme auf den Zaun und sah die mürrische Innerste vorbeifließen.

„O Jemine,“ seufzte er, „jedermann hat seinen Willen mit mir, und wie ich auch aufwerfen mag, es ist doch, als ob sie alle Bescheid in mir wüßten. O je, es ist doch ein miserabel Dasein — die ganze Welt hunzt an einem herum, und nichts, gar nichts hat es genützet, daß man sein Leben dran setzte, der wilde Albrecht zu heißen. Der Krieg hat mich kaput gemacht — und der tolle Albrecht, der wilde Bodenhagen ist zahm genug geworden. Ohne die Alte sollte mich die Innerste schon längst mit sich weggenommen haben. Und jetzo krieg ich auch ein junges Weib —“

Sie riefen ihn vom Hause her, und ohne sein letztes Wort zu Ende zu bringen, schlich er zurück, fand die Suppe auf dem Tische stehend und den Korporal Brand im besten Einvernehmen mit dem Vater und der übrigen Hausgenossenschaft daran sitzend. So setzte er sich auch, tat den Mund nur zum Essen auf und hörte den Jochen von der Schlacht bei Minden erzählen; nach dem Essen aber, als der Alte schlief, stand er abermals am Zaun an der Innerste, doch diesmal mit dem Korporal Jochen an seinem Ellenbogen, und sah hin auf den aufgeweichten Feldweg, der von Groß-Förste auf die Mühle zuführte durch die Felder und Wiesen, und auf welchem die Verwandtschaft mit der jungen Braut jetzt herangezogen kommen sollte. Der Korporal aber redete ihm ins Gewissen.

Fünftes Kapitel.

K erl,“ sagte der Korporal Jochen Brand, „nun sage mir mal, was das mit dir ist? Setze allen Respekt zur Seite; mein Korporalstock liegt mit meinem Arm ruhig bei Minden; tu dir keinen Zwang an; sprich dich aus, wie dir’s ums Herz ist; es deucht mir, die Marschroute sei mir nur deshalb so vorgeschrieben worden, um dir die Beichte zu hören, als ob ich mein Lebtag nichts anderes gewesen sei als ein Hildesheimscher Kanonikus.“

„O Jochen!“ seufzte der junge Müller.

„Als ein Hildesheimscher Kanonikus! Kerl, wenn es auf die Kanonen ankommt, so hast du die auch oft genug singen hören im freien Felde und hinter Wall und Schanze — schäme dich, die Ohren hinter der Front und gar in solch einem Quartier wie dieses also hängen zu lassen. Und deine gesunden Gliedmaßen hast du gleichfalls nach Hause mitgebracht, und freien sollst du das properste Mädchen im Lande — Himmeldonner, Kamerad, setze mich an deinen Platz und sieh dir dann das Gesichte an, was ich dann machen werde! Aber so ist’s, das Gute auf Erden wird immer an die Unrechten weggeworfen; wenn nicht dann und wann so ein Richtiger das Pläsier hätte, so einem unverdienten Glückspilz in seiner Fortun’ beizuspringen und mit Trost aufzurichten, so wär’ es gar nicht länger auszuhalten in der Welt. Das hätt’ kein Lutherscher und päpstlicher Pfaff besser gesagt: also heraus damit, Bodenhagen, wo fehlt’s Ihm? Wo kann der einarmige Invalide Jochen Brand aus Grund seinen Trosthebel ansetzen?“

Der melancholische junge Müller sah nach der Mühle hin; dann von neuem auf den Weg nach Groß-Förste, und dann faßte er den Kriegskameraden am heilen linken Arm und fragte leise:

„Sieht Er’s mir wirklich auch nicht mehr an, daß sie mich hier rundherum auf drei Meilen Weges den tollen Bodenhagen nannten, Korporal?“

„Ne!“ sprach der Korporal, ohne sich nur den kürzesten Augenblick auf die Antwort zu besinnen.

„Dann will ich Ihm sagen, was schuld daran ist; das Wasser — da — das schlechte schlimme Wasser ist schuld daran! Die Innerste ist’s! Kennt Er die Innerste, Korporal Brand?“

Der Korporal machte seinen Arm so sacht als möglich von dem Griffe seines Kameraden los.

„Ob ich die Innerste kenne?“ fragte er in der festen Überzeugung, daß sein voreinstiger Zeltgenosse zu allem übrigen auch verrückt geworden sei.

„Die Innerste! das böse Wasser! die schlimme Innerste!“

„Kotz Blitz?“ schrie der andere. „Musketier Bodenhagen, treibe Er nicht Seinen Spaß mit Seinem Korporal! Wenn auch der Stock mit dem rechten Arm bei Minden liegt, so hab’ ich mich doch allmählich auf den linken einexerziert, und ich weiß von Seinem Herrn Vater, daß ein spanisch Rohr immer noch seine Wirkung auf Ihn tut. Was meint Er zu einem Knittel hier aus dem Zaune? Rede Er Vernunft, oder ich wecke Seinen Herrn Vater, und auf ein Wort mit der Jungfer Braut soll’s mir auch nicht ankommen.“

„Nimm du endlich Vernunft an, Jochen,“ sagte Albrecht Bodenhagen. „Du hast jetzt dein Vergnügen an mir lange genug gehabt und kannst recht gut, ohne dir was zu vergeben, das Maul halten. Daß du mein Korporal gewesen bist, das ist richtig; daß du mich nicht schlimmer traktiert hast als die anderen Kerle, mag auch seine Richtigkeit haben —“

„Mag auch seine Richtigkeit haben? Bursch, wie einen Prinzen hat man dich unter der Fuchtel gehalten. Der alte Fritz zu Küstrin hat’s nicht viel besser gehabt! Hab’ ich dich nicht auf dem Buckel getragen wie eine Mutter ihr Kind?“

„Das weiß der liebe Himmel!“ ächzte der junge Müller. „Aber es mag sein, wie’s will, als du mir heut morgen in die Stube rücktest, ist es mir wahrhaftig nur ein freudiger Schrecken gewesen, und ich habe gedacht, da ist doch zuletzt doch einmal wieder eine Seele, mit der du das Deinige reden kannst, Bodenhagen. Verschossen ist die blaue Montur zwar, aber dein Kamerad war er doch! will Er mich nun reden lassen oder nicht, Korporal Brand?“

Der Korporal Brand legte seinen gesunden Arm dem niedergeschlagenen Müller um den Nacken.

„Bruderherz, rede frei hin. Von einem Narren kann man eben nicht verlangen, daß er Spaß verstehe, und so ist’s auch von dir nicht zu pretendieren. Sonst aber weißt du wohl noch, daß in unserem ganzen hochlöblichen Regiment nur der Oberst ein Schnupptuch in der Tasche führte; das ganze übrige Korps, Offiziere, Unteroffiziere, Trommler, Pfeifer und Gemeine schnaubten sich nach Adams Art: also daß ich ein Taschentuch der Rührung wegen an die Augen bringe, kannst du beim Satan nicht verlangen. Jetzo mach ein Ende und deinem Herzen Luft! wo steckt’s? wo quält dich dein jung Leben? was hat dir die Innerste, das Wasser, das deines Vaters Rad so nahrhaft treibt, zuleide getan?“

„Ehe ich zu euch zum Regiment kam, Jochen,“ flüsterte der Müller, „war ich droben bei euch im Harz. Ich hatte dem Alten wohl mein Vivat Fridericus über den Bach zugeschrien; aber Ernst ist’s mir nicht damit gewesen. In die lustige weite Welt wollt’ ich, und so bin ich hinaufgekommen bis Wildemann, Korporal. Kennst du die Buschmühle zwischen Wildemann und Lautenthal, Jochen Brand?“

Der Einarm trat einen Schritt zurück und tat einen langen, verständnisvollen Pfiff.

„Hui — die Radebreckers Mühle! Da also liegen die Kroaten im Busch? Alle Hagel und Wetter, Musketier Bodenhagen, da möchte ich wirklich zurückfragen, ob Er denn ganz und gar Bescheid in der Buschmühle weiß?“

Der Müller nickte, über die Schulter scheu nach seines Vaters Hause blickend, und der Korporal fuhr fort:

„Das Wasser, das vom Stein auf das Rad springt, drehte es schon selten genug, als ich da aus und einging. Sie haben andere Dinge zu schaffen, als sich um ihr Mühlenwerk zu kümmern. Seit sechs Jahren stehe ich im Felde; aber vor sechs Jahren spukte und stank es dort bedenklich, und Doris Radebrecker war ein sechzehnjährig Ding. Die Werber holten mich aus dem Forst am Hübichenstein und legten mir statt der Jägerbüchse des Königs in Preußen Kommißflinte auf, sie hätten mich vielleicht noch bequemlicher in der Buschmühle gefunden.“

„Mich faßte dort des Obersten Colignon Werbeoffizier vor dritthalb Jahren, und damals war die Innerste, die Doris wollt’ ich sagen, so zwischen Neunzehn und Zwanzig.“

„Wem möchte ich nun am liebsten die Knochen zerschlagen, dir oder ihr?“ murmelte der Invalide; dann aber lachte er von neuem, wenngleich ein wenig grimmig, und rief, seinen leeren Ärmel schüttelnd:

„Nur weiter, du Armsündergesichte!“

„Als ich von hier, vom Hause, fortlief und dem Alten zuschrie, daß ich in den Krieg ziehe, da meinte ich für ganz gewiß, daß ich ihm was vorlöge. Aber gelogen hab’ ich zuletzt doch nicht, wie Ihm bekannt ist, Korporal; unter dem Stocke des Alten weg bin ich unter den Seinigen geraten, Korporal Brand; aber in der Buschmühle bin ich bekannt, und wie ich in den Krieg gekommen bin, davon weiß Doris Radebrecker in aller Welt am besten auszusagen.“

„Und da mein Marsch dort vorbeigeht nach Grund, so will ich vorsprechen und mich des weitern erkundigen, Meister Albrecht,“ sprach der einarmige Invalide mürrisch. „Sonst aber gebe ich Ihm recht: wer die Doris aus der Sägemühle zwischen Lautenthal und Wildemann kennen gelernt hat, der weiß sein übrig Leben davon zu erzählen, wenn er nicht lieber den Mund hält zu seinem eigenen Besten.“

„Laß sie nicht wissen, daß ich wieder zu Hause sitze!“ flüsterte Albrecht Bodenhagen angsthaft. „Bei unserer Kameradschaft in Not und Tod, Jochen, wenn du da vorsprechen mußt — und ich weiß es ja, daß du jetzo es nicht lassen kannst, und wenn der Strick drauf stünde, rede nicht von mir. Da kommt die Verwandtschaft aus Groß-Förste; ich bin versprochen worden mit dem Lieschen von Papenbergs Hofe, und zu Ostern ist die Hochzeit. Sag der Innerste, der Doris, ich läge bei Bergen vor der Stadt Frankfurt mit den anderen — sechshundert in einer Grube! Sag ihr, ich sei desertiert, und du habest mich zu Hameln auf Fort George Spießruten laufen sehen — sag ihr, ich sei verendet mit einer zerbissenen Bleikugel zwischen den Zähnen unter den Haselruten. Sag ihr, du habest selber mit zugehauen am Wesertor, hinter dem Hamelnschen Wall —“

„Lüg ihr ins Blaue und Rote hinein, bis du schwarz wirst; — o Kamerad, wenn ich dich jetzt ansehe und mir denke, daß sie dich hier den wilden Bodenhagen nannten, so kommt mir, der Innerste zum Trotz, ein Lachen an. Jetzo weiß ich aber doch, weshalb es bei jeglicher Affäre meine Pflicht gegen den König von Preußen war, dich im Feuer stets mit dem Flintenkolben zum Gradestehen zu animieren! Hm, die Innerste! sie sagen, daß die Innerste dann und wann schreie und dann jedesmal ein Lebendiges für ihren Hunger verlange. Da kommt richtig die Vetter-Michelschaft von Groß-Förste an, und jetzo will ich Seinen jetzigen Schatz mit meinen Augen sehen, Musketier Bodenhagen, und Ihm dann meine letzte Meinung gewißlich nicht vorenthalten. Verlaß Er sich darauf; ehe ich hier aus meinem Quartier abmarschiere, werde ich Ihm meine Meinung sagen, grad als ob ich sie Ihm in einem Testamente vermache. Wer aber hätte es denken können, daß beim ersten Ausrücken aus dem Spital die liebe Doris — Doris Radebrecker wieder die erste sein würde, mir das Lachen zu vertreiben und von vornherein den Spaß am ewigen Urlaub zu verderben. Wie wird sie lachen, wenn sie mich anmarschieren sieht mit dem einen Fittich! Mordieu , wenn man nicht seine eigene Vetternschaft in Grund sitzen hätte, so wär’s freilich besser, ungehohneckt bei Bergen oder hinterm Hamelnschen Wall seine fünf Fuß tief unterm Erdboden zu liegen.“

In diesem Moment hörte man jenseits der Innerste zwischen den kahlen Erlen und Weiden im Gebüsch ein hell und lustig Mädchenlachen. Die Verwandtschaft suchte sedate ihren Weg über den Mühlensteg; doch die junge hübsche Braut, das Lieschen Papenberg von Papenbergs Hofe, stand mit einem Male auf jenem Weidenstamme, auf dem im vorigen Sommer der heimkehrende verlorene Sohn saß, als wir ihn zum ersten Male zu Gesicht bekamen. Sie stand lachend und hell unter dem grauen Himmel vor dem schmutzig schleichenden Wasser und winkte:

„Wir sind da! wir sind da, Albrecht! Hol über, hol über!“

„Eine saubere Jungfer, um die man schon einen Sprung in das Wasser tun kann, Musketier Bodenhagen,“ sagte der Korporal, höflich den Hut vor der lachenden Braut ziehend. Es war wahrlich ein bildsauberes Mädchen, und es stand zierlich in seinem Sonntagsstaat, und es war, als ob ein fröhlicher Schein von ihm ausgehe in der grauen Umgebung an dem trüben Februartage; die Innerste aber spiegelte nicht das hübsche, zierliche Bildnis wieder, sie kroch schlammig und heimtückisch hin, mürbe, schmutzige schwarze Eisstücke treibend. Und plötzlich regte sich der Stamm, auf welchem die junge Braut stand. Fort und fort hatte die Innerste unter ihm genagt, und er sank tiefer gegen ihren Spiegel, und sie verschlang ihn jetzt, daß nur der allerletzte Wurzelstumpf noch vorragte. Mit einem Schreckensschrei sprang das Mädchen von diesem hinab und stand auf festem Boden; auch die beiden Männer am Zaun hatten einen Angstruf ausgestoßen und eilten rasch durch den Garten nach dem Mühlenstege, der kommenden Freundschaft entgegen.

„Da hättest du mich beinahe aus der Innerste auffischen müssen! Weshalb holtest du mich auch nicht herüber, Albrecht?“ rief die junge Braut schmollend.

„Die Innerste ist eine Kanaille, Jungfer Papenberg!“ sagte der Korporal Brand, und der junge Müller sagte:

„Dieses hier ist mein allerbester Freund in der ganzen Armee des Prinzen Ferdinand, Vater Papenberg. Er heißt Jochen Brand und ist aus der Bergstadt Grund im Harz. Den Weidenstrunk hol’ ich morgen mit dem Frühesten aufs Trockene, Lieschen. Er soll nicht wieder einen Menschen in die Versuchung führen. Aber jetzt kommt nur alle herein, wir wollen uns einen pläsierlichen Tag machen.“

Sie machten sich in der Tat einen guten Tag; seit langen Jahren hatte die alte Mühle nicht einen gleichen erlebt. Selbst der Meister Christian legte ein Feiertagsgesicht an, wie es die Mutter Bodenhagen seit ihres Sohnes Geburt nicht an dem Eheherrn gesehen hatte.

Der Vater Papenberg, seiner Natur nach ein vierschrötiger grober Bauersmann und sozusagen acht Tage in der Woche ein Flegel, hatte so fein und zutunlich wie heute auch seit langem nicht den Qualm aus seiner Tonpfeife der Stuben- und Tischgenossenschaft ins Gesicht geblasen. Es war ein jeglicher auf seinem Schick, und weder unter den Vettern noch unter den Basen ging das Wort aus, wenn auch der Witz dann und wann nicht allzu hell durch die Unterhaltung glänzte.

Und man hatte im Jahre 1760 allerhand Stoff, um darüber zu diskurrieren; der alte Fritz und sämtliche Völkerschaften Europas sorgten dafür.

Hier war denn der einarmige Invalide von Minden, der Korporal Jochen Brand, an seiner Stelle. Sie hörten ihm mit Erstaunen zu, und was er sagte, war auch meistens höchst erstaunlich. Da war kein Kriegsrat, in welchem er nicht mitgesessen zu haben schien. Wenn man ihn hörte, so verwunderte man sich nur, daß er heute hier in der Mühle an der Innerste am Tische sitze und nicht in einer der beiden großen Staatsmühlen zu Berlin oder Wien am Trichter oder Beutelkasten; und daß ihn der französische König und seine Hauptstaatsdame, die Madame Pompadour, nicht auch schon längst nach Versailles geholt hatten, das war gleicherweise unbegreiflich.

Im Winkel hinter dem Ofen saß aber Albrecht mit dem Lieschen. Sie sprachen am wenigsten, und ob sie alles, was die anderen sagten, vernahmen, das ist auch die Frage. Die Mannsleute rauchten allesamt, und so verschwand, als nun gar noch die Dämmerung dazu kam, das Brautpaar in seinem Winkel fast vollständig aus dem Gesichte der Verwandtschaft.

Weidlich aß und trank die Verwandtschaft, und der Meister Christian ging stets selber in den Keller nach dem Bier. Als aber die Blechlampe angezündet auf den Tisch gestellt wurde, da half es wenig, daß man den Docht mit dem an dem Kettchen hängenden Drahthaken soweit als möglich hervorzog; sie gab wohl auch ihr Teil Qualm zu dem vorhandenen Tabaksdampf her, aber die Helligkeit, die sie hervorbrachte, wollte wenig bedeuten. Doch aber hatte das rote Pünktchen in dem Nebel eine andere Wirkung: das Gespräch kam von Krieg und Kriegsnot auf das, was dergleichen blutig und brandig Elend vordeutet, als wie Kometen, Feuerkugeln, feurige Reiter und Wagen im Gewölk, greuliche Veränderungen an Sonne und Mond, wie jeder davon zu sagen wußte und solches erlebt hatte, sowohl vor dem Ausbruch des jetzigen Krieges, wie vor dem Angang des ersten und des zweiten schlesischen. Wußte doch sogar ein Altvater noch von den Wundern zu erzählen, die sich zur Zeit des vorigen französischen Königs im spanischen Sukzessionskriege und vor der Schlacht bei Belgrad ereignet hatten.

Davon war der Sprung klein auf das, was ein jeglicher für sein eigen Leben und Wesen an solchen Dingen als Mahnung und Warnung und Vorsage gesehen und gehört hatte, und der Vetter Hans aus Harsum meinte:

„Da hat der Gevatter Bodenhagen wohl auch hier lange genug auf dieser Mühle gesessen, um davon nachsagen zu können.“

Ein Murmeln ging um den Tisch, und dann wurde es still; es war, als horche jeder nach den dunklen Fenstern, und es war auch, als rausche die Innerste lauter als sonst durch die Nacht.

Die Mienen des alten Müllers hatten sich mit einem Male wieder verfinstert.

„Wenn es Ihm recht ist, Gevatter,“ sagte er, „so lasse Er das auf sich beruhen. Ich bin im Frieden mit meinem Mühlwasser und will darin bleiben. Wir sind manches Jahr gut miteinander ausgekommen, die Innerste und ich, und es verdrießt mich, wenn Einer seine Zunge dazwischenstecken will.“

„Nun, nun, Gevatter Bodenhagen,“ sagte ein anderer, „manchen Possen hat sie dir doch gespielt im Laufe der Zeiten, und wir mit unseren Wiesen und Äckern sind auch nicht leer ausgegangen. Schreien hab’ ich sie freilich nicht hören, und unter den hannoverschen Herrschaften, die im Sommer zu uns am Sonntage aufs Dorf gefahren kommen, ist auch mal einer, ein Hofrat und grausam gelehrter Professor aus Göttingen gewesen, der hat gesagt, das sei eitel dumm Zeug, denn —“

Ein Faustschlag des alten Müllers auf den Tisch und ein zorniger Blick auf den Redner schlossen dem letzteren den Mund.

„Wer die Innerste nicht hat schreien hören, der soll Gott danken!“ sprach der Meister Bodenhagen. „Und jetzt ist’s zu Ende mit dem Geschwätz darüber,“ fügte er hinzu.

Es war aber noch nicht zu Ende; dafür war der Korporal Jochen Brand als vielerfahrener Gast in der Mühle an diesem Abend vorhanden.

„Wir hatten einmal einen Schwaben im Bataillon, der hat sich hoch verschworen, daß man jeden Quell, Brunnen oder Bach totmachen könne, daß er nie wieder aus der Tiefe heraufkomme. Man müsse einen kupfernen Kessel auf den Grund der Quelle eingraben, sagte er, und Quecksilber hinein in den Born schütten, davon vergehe das Wasser; in seiner Heimat habe vor alten Zeiten ein reicher Graf so einmal einen großen Fluß zum Absterben gebracht, weil sein Töchterlein hineingefallen und vertrunken sei. Wem also die Innerste nicht gefällt, der mag morgen mit mir an ihr hinaufsteigen bis zu ihrem Ursprung im Harz und das Mittel probieren. Dem Müller hier wär’ freilich trotz allem wenig damit gedient, wenn ihm plötzlich das Wasser Empfehle mich! sagte. Du da in der Ecke, Kamerad, da müßte dich doch die Jungfer Lieschen reineweg ans Spinnrad setzen, wenn dir so zwischen heut und morgen das Mühlrad stecken bliebe. Nicht wahr, Jungfer im Winkel, da soll die Innerste doch lieber schreien, so viel sie will?“

Es kam ein Kichern aus der dunklen warmen Ecke hinter dem Ofen.

„O ja!“ rief Lieschen Papenberg; doch ein verdrossener Laut klang dazwischen, und der junge Müller sagte mürrisch:

„Ich meine, was mein Vater meint, Jochen Brand, von wegen des Wassers. Laß es laufen, wie es will! Hier den Krug bring’ ich dir, Jochen; tu Bescheid und sag uns einen feinen Spruch dazu.“

„Das ist das Richtige!“ rief die Verwandtschaft rund um den Tisch, und der Korporal ließ sich nicht lange nötigen. Er erhob sich, legte seinen leeren Ärmel auf der Brust zurecht und hob den Steinkrug mit der weißen Tulipane auf blauem Grunde in der heilen Linken.

„So tu’ ich denn diesen Spruch mit Verlaub und Gunst der ganzen anwesenden hochlöblichen Kumpanei:

Vivat, der König Fritze soll leben

Und die Jungfer Liese auch daneben;

Und flöss’ die Innerste voll rotem Wein,

Sollt’ sie nach mir nicht lange schrein.

Was aber ein gut Wasser ist,

Sich immerdar bergab ergießt,

Und bis dieser Bach zurücke wird gehn,

Soll immer hier das Rad sich drehn.

Nun höret mich an, ihr lieben Leute,

Prinz Ferdinand soll leben heute;

Und wird die Braut erst Frau genannt,

Rückt ein zur Taufe Jochen Brand!“

Er war noch nicht fertig; denn wenn er einmal so angefangen hatte, konnte er selten ein kurzes Ende finden; diesmal aber kam er nicht weiter.

Der alte Müller, der mit aufgestemmten Armen, das Kinn in der Hand, behaglich nickend zugehorcht hatte, fuhr mit einem Male zusammen, hielt sich mit beiden Händen am Tische und tat einen Ruck an demselben, daß die Krüge und Gläser auf ihm erklirrten und übereinander fielen. Er stand auf den Füßen, aber nicht fest; er horchte. Die Weiber rundum kreischten auf, und die alte Müllerin faßte zitternd den Arm ihres Mannes:

„Jesus Christus, Bodenhagen?!“

„Still!“ flüsterte der Greis abwehrend, und nach einer Pause, während welcher man nichts hörte als das Picken der Uhr, das leise Schnaufen des am Ofen schlafenden Hundes und das Rauschen des Mühlwassers draußen, sagte er feierlich mit einem gewissen ängstlichen Grimm in der Stimme:

„Wer will nun noch dagegen reden? Wollt Ihr Euch nun auf Eure eigenen Ohren verlassen, Gevatter Schulze, oder im kommenden Sommer wieder auf Euren Göttingenschen Hofrat? Wer hat es eben nicht gehört?!“

Sechstes Kapitel.

N un hätten wohl auch wir in diesem Moment gern den gelehrten Professor aus Göttingen hier in der Stube des Müllers an der Innerste gehabt. Wir malen ihn uns wenigstens hinein und sehen ihn leibhaftig vor uns in dem Kostüm von Anno 1760, schwarz, mit wohlgeordneter Perücke, tadellosem Kragen und wohlgefälteter Hemdkrause, den Hut und Stock unterm Arm, die zierlich geöffnete Dose in der Linken und zwischen dem Daumen und Zeigefinger der Rechten die zierliche Prise. Er ist kurfürstlich hannoverscher Untertan, aber er hält die Illusion fest, zugleich königlich großbritannischer zu sein; — er tut sich nicht wenig auf die letztere, etwas zweifelhafte Eigenschaft zugute, zumal da er vielleicht wirklich einmal in London war und den großen Mimen David Garrik auf den Brettern von Drury Lane „tragieren“ sah. Wie dem auch sei, er nimmt seinen Tabak mit mehr Grazie als der große Doktor Samuel Johnson, blickt, die Achseln emporziehend, um sich her und murmelt:

„Hm, hm!“

So ziemlich das Nämliche tun wir; — auch wir sagen Hm, hm, hm! und sehen im Kreise umher. — Der Göttingensche Hofrat ist nicht ganz in der Verehrung des großen britischen Doktors Johnson aufgegangen; der Voltaireaner Fritz sitzt in Berlin (freilich reitet er um diese Jahre mehr in Schlesien und Sachsen hin und her), und der deutsche Professor glaubt selbst als königlich großbritannischer Untertan nicht an den Geist in Cock-Lane: er glaubt überhaupt nicht an Gespenster, und das ist ein Vorzug, auf den er gottlob kaum stolz sein darf als Professor von Göttingen.

Hm, hm; wer in der Müllerstube hatte den Bach schreien hören? — Niemand natürlich, das heißt niemand als der Müller selber! Es trat aber augenblicklich das ein, was gewöhnlich folgt, wenn irgend jemand in einer größeren Gesellschaft etwas Ungewöhnliches oder gar Geheimnisvolles gehört zu haben glaubt.

„Alle gute Geister —“ stöhnte die Müllerin, „jetzt habt ihr’s doch alle vernommen und könnt bis zu eurem Ende davon nachsagen!“

Und sie nickten fast alle, und die Weiber drängten sich zu Hauf und flüsterten zitternd. Die Männer warfen noch verstohlenere, scheuere Blicke nach den niedrigen schwarzen Fenstern, und wieder wurde es mausestill in der Stube.

Sie warteten in Todesangst und doch voll eines geheimen Verlangens, daß der Ton noch einmal kommen, daß die Innerste zum zweiten Male schreien werde. Sie warteten jedoch vergeblich; man vernahm zu dem gewöhnlichen Rauschen des Wassers nur einen gurgelnden Laut aus der dicksten Mitte des Tabaksqualms. Dieser Laut rührte von dem Korporal Jochen Brand her, der abermals den Inhalt seines Kruges die Kehle hinunterlaufen ließ; und der Korporal war’s auch, der zuerst wieder der Kompagnie ein lautes Wort zu hören gab.

„Ich für mein Teil habe nichts gehört!“ sprach er ganz gemütlich. „Alle Wetter, und sie haben doch mein feines Ohr manch liebes Mal auf Vorposten gelobt!“ Damit setzte er den geleerten Krug mit einem Klapp auf den Tisch nieder. „Nicht wahr, Musketier Bodenhagen?“ fügte er hinzu.

Hinter dem Ofen hervor kam eine befangene Stimme:

„Sei ruhig, Lieschen — es war nichts! — Ich — ich glaube auch nicht dran!“

Der Meister Christian nahm die Tonpfeife, die er vor sich hingelegt hatte, wieder auf, jedoch nur, um sie in zwei Stücke zu brechen und unter den Tisch zu werfen.

„Junge?!“ rief er. „Was will der Junge? Was sagt der Junge da? — Will der Junge, der Landläufer, auch einmal wieder reden, ohne gefragt zu sein?“

„Ja, Herr Vater,“ kam die Antwort ein wenig zögernd, aber doch mürrisch genug aus dem Winkel zurück. „Und wenn die Innerste wirklich schreit, so schreit sie nicht bloß nach Ihm, Herr Vater, sondern auch nach mir; also darf ich diesmal doch reden, ohne von dem Herrn Vater gefragt worden zu sein.“

Der Alte ächzte in maßloser Verwunderung und stand auf von seinem Stuhl.

„Christian?!“ rief die Mutter flehend; doch der Vater Bodenhagen schob sie wieder einmal von sich und streckte drohend die Faust nach dem Ofen hin. Es war die höchste Zeit, daß sich jemand ins Mittel schlage und, was noch an Behagen und friedlichem Einvernehmen zu retten war, in Sicherheit bringe. Auch hierzu war der Korporal Brand gut und auf der Stelle bereit.

„Und setze ich den Fall, daß da draußen nicht alles in Ordnung sei oder einer sich einen Spaß mit diesem löblichen Konvivium und guter Vetternschaft und Freundschaft gemacht habe,“ rief er, „Sakrament, so soll mich der Teufel holen, wenn ich nicht dem Dinge auf den Nacken springe und dem Schreier verdemonstriere, wie naß die Innerste ist! Bajonett auf, marsch, Musketier Bodenhagen. Komm mit hinaus in die frische Luft, Albrecht, wir fangen den Spuk mit oder ohne Fischschwanz. Hier in der Stube soll er uns was vorsingen, und der Herr Meister soll ihm die Noten halten!“

Er sprang hinaus, und ihm nach sprang der junge Müller, dem Jungfer Lieschen Papenberg vergeblich einen kläglichen Bittruf nachschickte. Die übrigen blieben alle sitzen und legten sich von neuem aufs Horchen. Die Braut drückte sich an ihre Mutter, der Vater Papenberg schüttelte den Kopf, der Meister Christian senkte den seinigen finster auf die Brust und schlug die Arme ineinander. Nach zehn Minuten vergeblichen Harrens und Horchens ächzte die alte Müllerin:

„Vater, ich trage es nicht länger! Das Herz will mir vor Angst zerspringen!“

„Laß sie doch,“ murmelte der Greis. „Laß sie nur suchen. In meiner Jungheit bin ich auch mal dem Rufen nachgegangen, meinem Vater zum Trotz. Morgen früh — ja morgen früh soll jedem sein Recht werden; und jetzo, Freundschaft, guckt auf und kümmert euch um nichts. Schenk frisch ein, Mutter, die Innerste wird nicht mehr zum zweiten Male schreien; sie soll morgen früh ihr Recht haben!“

Die letzten Worte hatte der Alte selber mit schreiender Stimme gegen das Fenster hin gerufen, und nun tat er selber einen hastigen, wilden Trunk.

„Guck auf, Lieschen! Gevattersche Papenberg, bringe Sie das Kind wieder zu einem vergnügten Gesicht. Kümmert euch nicht mehr um die Innerste, Freundschaft, ich kenne sie und sie kennt mich, und sie hat nicht im Sinn, uns das Pläsier an diesem Abend zu verstören. Sie will nur ihr Recht haben, und das soll sie auch morgen mit dem Frühesten kriegen.“

„Wenn ich nur meinen Jungen von draußen wieder drin hätte!“ seufzte die Mutter Bodenhagen; aber da schnarrte der Alte wiederum höchst verdrießlich:

„Der Junge? Ja, der Junge! Freilich sagt man: was hängen soll, versäuft nicht, und zu meinem Wunder ist der Junge ungehangen von dem Volk nach Hause gekommen. Ach was, Gevatter Papenberg, trinke Er aus und lasse Er nur das Kopfschütteln. Frisch weiter mit dem Pläsier!“

Das „Pläsier“ war jedoch, was der Müller an der Innerste auch sagen mochte, verdorben und blieb so, und die Fröhlichkeit des Abends kam nicht wieder in Gang. Dagegen aber kamen von neuem die seltsamen Historien in die Höhe, und ein jeglicher wußte abermals das Seinige zu sagen von der Leine, der Ihme und der Innerste und selten etwas Gutes.

Die beiden Kriegskameraden blieben eine ziemliche Zeit aus; aber nicht einmal den wachsamen Hund Laudon, der mit ihnen auf die Suche und Jagd gesprungen, hörte man anschlagen, als ob er auf etwas Sonderbares gestoßen sei. Am besten wird’s sein, wir gehen ihnen jetzo nach; denn wenn sie in der naßkalten Dunkelheit des Abends auch nichts Merkwürdiges fanden, so haben sie doch allerhand Kurioses miteinander geredet; die Jungfern, denen wir erzählen, hören gern von dergleichen, zumal wenn es sie allesamt so genau angeht wie in diesem Fall. Es klingt nämlich durch die Nacht, das Rauschen des Mühlwassers und Wehen des Windes wie ein kurz abgerissenes Stück aus dem alten, alten Liede von der Treue.

Sie standen beide still, nämlich die zwei einstigen Waffenbrüder vor der Tür der Mühle, und ein jeder tat einen langen Atemzug in der feuchten Kühle dieses Februarabends.

„Puh,“ meinte der Korporal, „da merkt man erst, aus was für einem Backofen man kommt und was für einen Dunst die gute Freundschaft im Zusammenhocken prästieren kann. Eine Taternhöhle ist ja gar nichts dagegen! — Nun, Albrecht, steck die Laterne an, ohne eine Laterne kommen wir dem Spuk nicht auf die Sprünge! Sieh, der Sackville ist ja auch vorhanden, den können wir item gut gebrauchen. Such, such und bring, Mylord!“

Der Hund tat ein paar Sprünge um seinen jungen Herrn herum, doch mit dem Suchen gab er sich weiter keine Mühe.

„Du hast nichts vernommen, Jochen?“ fragte der Haussohn.

Der Korporal fing an, einen königlich preußischen Kriegsmarsch zu pfeifen, brach nach dem ersten Gesätz ab und erwiderte:

„Dich möcht’ ich lieber als alles andere beim Laternenschein besehen, Bodenhagen — Musketier Bodenhagen! Die Innerste hat wohl nicht geschrien, wie der Alte vermeinte; aber die Doris da oben an der Innerste könnte wohl gelacht haben. Was meinst du, Albrecht?“

Der junge Müller lachte jedenfalls, doch es klang rauh, und die Dunkelheit verhinderte den Korporal, zu sehen, wie sein Kamerad zu dem Lachen die Hand ballte. Die Faust öffnete sich aber wieder, und Jochen Brand fühlte die Hand seines Freundes an seinem gesunden Arme. Der Müller zog ihn weiter von dem Hause weg um das Haus herum, über den Hof, durch den Garten.

„Wer hat Ihm das gesagt; oder hat Er es aus sich selber gesagt? Das mit dem Lachen? Jochen, es ist so; als der Vater sein Wort gerufen hatte und das Frauenzimmer in seinem Schrecken winselte, habe ich ein Lachen gehört. So wahr mir Gott helfe, es hat jemand in der Finsternis vor dem Fenster gelacht, und dabei war ein Knirschen — da — so — hörst du? — gerade so!“

Diesmal knirschte nichts, als zwei der Eisschollen, die sich auf dem dunklen, schläfrig dahinkriechenden Spiegel der Innerste aneinander rieben, und der Korporal spuckte deshalb erst verächtlich in den Bach hinein, dann aber sprach er ernsthaft genug:

„Musketier Bodenhagen, ich habe vieles erlebt in der Welt, und was am grimmigsten aussah, das wurde manchmal zum größten Spaß. Ich bin mit dem König, volle Feldmusik und fliegende Fahnen vorauf, dem Feldmarschall Daun unter der Nase vorbeimarschiert, und er sah schauderhaft genug herunter von seinem Berge und hinter seinen Schanzen und Kanonen hervor. Ich weiß Bescheid in der Welt, Musketier, und zwischen Morgen und Abend habe ich auch von Ihm genug gesehen und gehört, um zu wissen, wie es mit Ihm steht. Will Er nun einen guten Rat annehmen?“

„Wie von einem leiblichen Bruder!“ rief der junge Müller.

„So geh nicht wieder zurück in die Stube, Albrecht.“

„Ach, Jochen, rede deutlich!“

„Bleib draußen! Geh nicht wieder in das Haus zur Freundschaft zurück. Ich habe drei Reichstaler in der Tasche, mehr bin ich in der ganzen weiten Welt nicht wert; aber du sollst die Blechkappen haben und willkommen dazu sein. Da liegt der Mühlensteg über die Innerste; — spring, lauf und laß dich vor dem Jüngsten Gericht nicht wieder hier sehen. Dieses ist mein Rat, und meine Meinung dazu ist, daß du hier ohne Gnade und Barmherzigkeit kaput gehst. Der Alte ruiniert dich, die Freundschaft ruiniert dich und die Jungfer Papenberg ruiniert dich zu allermeist. Du spielst hier ja doch den wilden Bodenhagen nicht länger, der gute Geruch verdampfte wie der Franzos bei Roßbach. Die Innerste aber holt dich bei guter Gelegenheit einmal wirklich, und die Freundschaft und Verwandtschaft wird dir keine Stange hinhalten, um dich aufs Trockene zu holen. Sie wird nur sagen, daß es ihr leid sei, wenn sie dich mit dem Haken durchs Schilf zieht. Albrecht, Bruder Albrecht, du weißt es selber, daß wir solche wie du zu Tausenden in der Armee haben, und, Bruderherz, es ist doch vergnüglicher, bei Trommeln und Pfeifen, mit Kling und Klang in angenehmer Kameradschaft eingescharrt, als so zu Hause in Güte und Herzlichkeit vom Bösen geholt zu werden. Kerl, geh zum Fritz nach Sachsen, wenn du den Prinzen Ferdinand satt hast. Den Colignon findest du immer noch unterwegs, und er zahlt auch ein immer besser Handgeld. Das ist der eine Weg aus deinem Jammer; der andere aber geht hier am Bache hinauf, immer den Bergen zu. Schleich dich zurück nach der Buschmühle, grüße Doris Radebrecker von mir und bestelle ihr, sie solle dir schon um meinetwillen den Hals nicht umdrehen.“

Mit schluchzender Stimme wimmerte der wilde Bodenhagen:

„Aber da drinnen in der Mühle in der Stube bei Vater und Mutter habe ich ja meinen Schatz, meine junge Braut sitzen?!“

„Jawohl, hinter dem warmen Ofen, und des Herrn Vaters spanisch Rohr hängt ihr über dem Kopfe am Nagel. Kamerad, ich sage dir, nimm dich in acht, daß du die Innerste nicht wirklich und wahrhaftig nach dir schreien hörst, wenn der Pfaff dir das arme Ding erst niet- und nagelfest um den Hals geschmiedet hat. Nun, wie ist’s? nimmst du Vernunft an von deinem alten Zeltbruder und Unteroffizier? Greif zu; — da hast du den Juden Ephraim und den Borussorum Rex dazu dreifach als Reisegeld. Als du zum ersten Male durchgingest, hat dir der Herr Vater wahrlich nicht so viel gutwillig mit auf den Weg gegeben.“

Er hatte sein letztes Besitztum an klingender Münze aus der Tasche geholt und hielt es hin; der andere aber schob die Hand mit dem Gelde mattherzig zurück.

„Dir ist dann nicht zu helfen,“ sagte der Korporal Brand mit einem Fluch. „Also sehe ich auch nicht ein, daß wir uns noch länger hier in der Kühle und Feuchte herumtreiben. Laß uns zurück in die Stube. Element, nachher wundert sich Seine königliche Majestät Fritze noch, daß selber ihm manchmal eine Bataille schief abläuft. Kotz Blitz, es ist auch ein Wunder, daß er mit solchen Breiköpfen und Plattfüßen in Reihe und Glied sich doch noch so anständig durch zwei schlesische Kriege bis in diesen dritten hinein durchgeschlagen hat. Marsch zurück unter den Ofen, Sackville! Und meinen leeren Ärmel trag’ ich auch noch nicht lange genug, um nicht die Nachtkühle an dem nichtswürdigen Stumpfe zu verspüren!“

Er drehte sich kurz um und ging in das Haus zurück. Strack und munter trat er in die heiße, dampfvolle Stube ein, und dicht auf den Hacken schlich ihm Albrecht nach.

„Herr Meister,“ rief der Einarm lachend, „bei der Finsternis da draußen suche Ihm ein anderer Seine nächtlichen Spukmusikanten. Hier der Musketier Bodenhagen ist mein Zeuge, daß die Innerste so sanft dahinfließt, als hätte sie niemals ein Mühlenrad getrieben oder einem Müller die gute Laune verdorben. Und das muß ich auch sagen, das Gespensterhafteste, was man heute abend zu sehen kriegen kann, sind die Käsegesichter, welche die löbliche und angenehme Vetternschaft allhier durch den Nebel schneidet. Hab’ ich recht, Jungfer Papenberg?“

Die Jungfer Papenberg antwortete dem lustigen Invaliden nicht, ihr war’s genug, daß sie den Bräutigam heil und ganz von der gefährlichen Expedition wieder hinter den Ofen ziehen konnte.

Der alte Müller Bodenhagen sagte aber ruhig:

„Er hat sich eine vergebliche Mühe gemacht, Musjeh. Meine Schuld ist es nicht, Korporal Brand. Das Wasser schreiet wohl, aber sehen läßt sich selten etwas, und das ist auch das Beste.“

Die anwesende Gesellschaft, die trotz allem vollauf genügenden Grauen und Gruseln gehofft hatte, von den beiden mutigen Kriegsleuten noch etwas Grauligeres zu vernehmen, fühlte sich getäuscht, wenngleich niemand dieses zu sagen wagte. Es ist still geblieben, und die Freundschaft von Groß-Förste, die am Nachmittage auf dem Wiesenwege angekommen war, stieg nach einem bedrückten Abschiede auf den Leiterwagen und fuhr wieder ab auf dem Fahrwege. Ebenso die Vetternschaft aus Harsum und aus Pattensen.

Als der junge Müller seine Braut auf den Wagen hob, erschien sie ihm beim Lichte der Laternen merkwürdig bleich, und sie schluchzte auch:

„O Albrecht, ich werde toll, wenn ich erst ganz bei dir bin und einmal allein sitze und die Innerste schreit!“

„Binde dir selber keine Dummheiten auf und laß dir keine aufbinden!“ lachte der Bräutigam, doch klang sein Lachen gar nicht lustig.

Was der Göttingensche Hofrat und Professor zu dem Rate des Korporals Jochen Brand gesagt haben würde, können wir leider nicht wissen: seine Ansicht darüber wäre uns aber sicherlich höchst willkommen gewesen.

Siebentes Kapitel.

D en Ersten nennen wir bei der Fahne den Weckauf, der geht auf sein Wohl bergunter, Meister Müller. Den Zweiten nennen wir den Nebeldrücker; diesen bringe ich Ihr zu, Frau Meisterin, und verhoffe, daß Ihr kein Nebel in diesem Jahre den Dampf antue. Den Dritten nennen wir den Lerchentriller, und den trinke ich zum Schluß auf dein Wohl, Musketier Bodenhagen. Von den Lerchen ist freilich gegenwärtig noch nicht viel zu sehen und zu hören in der Luft — es sieht mir vielmehr nach einem ordentlichen Schneefall aus. Aber einerlei, ein Soldat marschiert mit gleichem Mut durch jedes Wetter; also habt allesamt Dank für eure kompläsante Aufnahme und fürs gute Quartier; und Ihm, Meister Müller, wünsche ich noch ganz apart beiseite, daß Er recht behalte, und daß das, was Er da eben so grausamlich vollführet hat, Ihn und sein Hauswesen vor allen Halunken von Geistern und Gespenstern schütze und nicht bloß vor denen, die in Seinem Mühlwasser ihr heimtückisch Wesen treiben.“

Also sprach am anderen Morgen gegen neun Uhr der Korporal Jochen Brand, und der Meister Christian entgegnete ihm:

„Seinen Wunsch will ich annehmen und gelten lassen, obgleich Er ihn wohl ein wenig feiner hätte vorbringen können. Sonst aber hat Er mir ganz wohl gefallen, Korporal, und es freut mich, daß mein Junge unter Seinen Stock unterm Volk geraten ist. Das Quartier war gern gegeben, und wenn Ihn Sein Weg schon nochmals hier vorbeiführen wird, so erinnere Er sich, daß ein Teller für Ihn ohne Maulverziehen mit Satisfaktion auf den Tisch gestellt wird.“

„Das ist ein Wort, Herr Vater, und ich bin der Mann zu dem Teller, Meister Müller. Aber nun adjes, Frau Mutter und Kamerad Albrecht! Bleibt gesund und munter. Beiläufig, es ist doch ein Gaudium, so frank und frei auf jeder Landstraße marschieren zu dürfen, ohne vor dem Colignon und seinen Leuten Bange zu haben. Da sieht man, wozu eine französische Kanonenkugel am richtigen Fleck nutze ist. Bon jour!

Sie standen während dieser Reden alle auf dem Mühlenstege, der über die Innerste auf den Feld- und Wiesenweg nach Groß-Förste führte, und der Meister Christian Bodenhagen hielt im Arm die dickbäuchige Branntweinflasche, aus welcher er dem muntern Gast und braven Invaliden Seiner Majestät in Preußen zum fröhlichen Abschied den Weckauf, den Nebeldrücker und Lerchentriller eingeschenkt hatte. Aber auf diesem nämlichen Stege hatte er, der Alte, im Augenblick vorher ein anderes nach seinem Vornehmen ins Werk gerichtet, was auch des Erzählens wert ist.

Wenn das Wasser, die Innerste, geschrien hat, so will sie ihren Willen haben, und wehe! wenn sie den nicht kriegt. Ein lebendiges Landtier fordert sie für ihren gierigen Hunger, und am liebsten ist ihr ein schwarzes Huhn; weshalb, das weiß man nicht. Bekommt sie ihren Willen nicht in Zeit von vierundzwanzig Stunden, wird ihr das Huhn nicht mit gebundenen Füßen und Flügeln in den Rachen geworfen, so hilft sie sich selber. Sie versteht es, sich selber zu helfen, und holt sich einen Menschen — ohne Gnade und Gegenwehr einen Menschen! — und zwar noch in dem nämlichen Jahre. Manchmal wartet sie heimtückisch boshaft bis in die letzte Stunde; aber sie erhascht ihr Opfer und sollte es auch erst in der letzten Minute des letzten Dezembertages geschehen.

Diesmal jedenfalls hatte sie ihren Willen gehabt; der alte Müller an der Innerste, Meister Christian Bodenhagen, hatte die ganze Nacht hindurch ein zu seinem Unglück schwarzgefiedert Huhn, das ruhig und ahnungslos auf seinem Balken schlief, nicht aus seinen Gedanken und Träumen gelassen, und nun — hatte es die Innerste bereits wie der Colignon den Rekruten, auf welchen er’s abgesehen hatte. Die Zuschauer hatten mit geheimem Schauder das elende Tier in der Mühlrinne zappeln sehen und kreischen gehört — die Innerste hatte ihre Beute verschlungen, und selbst der Korporal Brand hatte es nicht gewagt, den Meister Christian auszulachen. Der Korporal hatte sogar dem jungen Müller leise den Ellbogen in die Seite gestoßen und ihm hinter dem Rücken der Hand zugeflüstert:

„Du! Der König Fritze würde zwar über dieses auf Französisch gelacht haben, doch mir ist’s augenblicklich gar nicht lächerlich mehr. Nun ist mir doch wahrhaftig selber, als hätte ich gestern abend ein Geschrei gehört! Alle Wetter, Musketier Bodenhagen, gib mir acht, daß du für dein Teil auch immer ein schwarz Huhn zur Hand hast, wenn du hier allein Herr und Meister sein wirst. Selbst wenn mir jetzo die Sonne auf den Weg scheinen täte, was sie nicht tut, so würde sie mir diese Narrheit nicht aus dem Kopfe scheinen. Was ich gestern abend gesagt habe, behält eben doch seinen Sinn. Merk dir’s, Kamerad.“

Darauf hatte der junge Müller seinerseits dem Korporal den Ellenbogen in die Seite gesetzt, aber nur stumm dazu geseufzt. Der einarmige Invalide verschwand auf dem Wege nach Groß-Förste im Morgennebel, und der Meister Christian sagte:

„Ja, ja, Albrecht; wärst du mir so wie der nach Hause gekommen, so hätt’s mir auch besser gefallen. Das ist wenigstens ein Kerl und kein Windsack. Marsch an die Arbeit! was steht Er da und gafft, Junge?“

Die Mutter Bodenhagen trug die Flasche und das Glas in das Haus zurück, und allesamt gingen sie, ein jeglicher an seine Geschäfte. Es gab viele Arbeit in der nächsten Zeit, und das war für alle gut, besonders aber für den Haussohn, denn dem flog’s recht häufig um Stirn und Nase, gleich einer lästigen Fliege, die weder zu fangen noch zu verscheuchen war.

Es ist gar nicht zu sagen, wie viele Leute sich auf die Hochzeit des jungen Müllers und der Jungfer von Papenbergs Hofe freuten und wie viele sich zu derselbigen geladen und ungeladen einfanden. Zu angesetzter Zeit, als die Welt wieder grün geworden war, fand sie statt, und es wurde eine große Lustbarkeit. Unter den ungeladenen Gästen fanden sich gottlob keine von denen, die Lieschen Papenbergs gute Freundinnen so gern aus den Feldlagern in Westfalen, Schlesien oder Böhmen hergebeten hätten. Die Sonne schien, die Geige schrillte, und der Brummbaß rumpelte dem Siebenjährigen Kriege und den Franzosen im Lande zum Trotze, und was das allerbeste war: die Innerste hat nicht die Pläsierlichkeit gestört, das Wasser hat nicht in die Lust hineingeschrien. Das war auch für sie, die Innerste, das beste; denn weder ein schwarz noch ein bunt Huhn wäre an dem Tage für sie auf dem Hofe zu finden gewesen. Groß und klein, jung und alt, waren sie in die Suppentöpfe gewandert — nicht ein einziges entging dem Messer der Hausmutter.

Und die Männer sagten alle, eine so saubere Braut wie das Lieschen sei im ganzen Fürstentum Hildesheim nicht zum zweiten Male zu finden.

„Ich suche auch gar nicht danach,“ sprach der junge Meister, und der alte Meister rieb sich die Hände und murmelte:

„Nun mag es doch noch gehen; in sichere Zucht ist er anjetzo mit Gottes Hülfe gebracht. Ich habe das Meinige an ihm getan, und wann er jetzo dem Stabe Sanft parieren wird, so tue ich vor Johanni noch ein letztes und gebe das Regimente ganz und gar ab. Der Alten wird’s auch so recht sein.“

So reden die Menschen von dem, was sie morgen — übermorgen — vor Johanni tun wollen! Der Hochzeitsjubel ist verstummt in der Mühle; den Brummbaß samt seinem Musikanten hat man am Morgen in zärtlicher Umarmung, und was den Musikanten anging, im tiefen Schlaf im Graben an der Straße nach Hohen-Hameln, und den alten Müller, den wackern Meister Christian Bodenhagen, in seinem Bette tot gefunden. Der Medikus aus Sarstedt hat ihn, den Meister, nachträglich zur Ader gelassen, jedoch ganz und gar vergeblich.

„Es ist eben, auch nach der Errichtung der Universität Göttingen, immer noch ein eigen Ding mit diesen Schlagflüssen, Mutter Bodenhagen,“ sprach der Doktor zu der in Tränen und Jammer aufgelösten alten Frau. „Zu schnell kann unsereiner nie kommen. Halte Sie sich an den Trost, daß im vorliegenden Casu die ganze medizinische Fakultät der Georgia Augusta nicht mehr ausgerichtet hätte als wie ich.“

Achtes Kapitel.

Auf einer Trommel saß der Held

Und dachte seine Schlacht,

Den Himmel über sich zum Zelt,

Und um sich her die Nacht;

nämlich die Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten August 1760. Als es dämmerig wurde, stand das Heer in voller Schlachtordnung auf den Liegnitzer Hügeln; die Österreicher rückten an gegen den linken Flügel der Preußen, und zwei Stunden später war wieder einmal alles ganz anders gekommen, als ein bedeutender Teil Europas erwartet hatte. Der König Fritz von Preußen hatte die Welt wieder einmal in ein nicht ungerechtfertigtes Erstaunen versetzt und die Schlacht bei Liegnitz gewonnen.

Der Hauptmann von Archenholz, der als blutjunger Junker mit dabei war, sagt, daß der Morgen sehr schön war und daß die Sonne den blutigen Walplatz, die Leichen und Sterbenden hell beschien. Sehr hübsch schildert er auch, was nach der Affäre vorging:

„Um fünf Uhr des Morgens, da die feine Welt in allen europäischen Ländern noch im tiefen Schlafe begraben lag und die arbeitenden Volksklassen sich erst von ihrem Nachtlager erhoben, waren hier bereits große Taten geschehen und vollendet. Man hatte einen wichtigen Sieg erfochten, der die Vereinigung der Russen und Österreicher hinderte, und alle ihre auf die schlesischen Festungen gemachten Entwürfe vereitelte. Friedrich ließ auf der Stelle von der ganzen Armee ein Freudenfeuer machen, und sodann setzte er sich sogleich in Marsch; ein Marsch, der durchaus einzig in seiner Art und erstaunenswürdig war, der Aufzeichnung so sehr wert, wie irgendeine große Begebenheit des gegenwärtigen Kriegs; denn diese von der Blutarbeit abgemattete und von zahlreichen Heeren umringte Armee mußte ohne Rast und ohne allen Zeitverlust fortrücken und dabei alles eroberte Geschütz, alle Gefangenen und auch alle Verwundeten mitnehmen. Man packte die letzteren auf Mehl- und Brotwagen; auch andere Wagen und Chaisen nahm man dazu, sie mochten gehören, wem sie wollten; selbst der König gab die seinigen her. Auch die Handpferde des Monarchen und der vornehmen Befehlshaber wurden hergegeben, um die Verwundeten, die noch reiten konnten, fortzubringen. Die ledigen Mehlwagen schlug man in Stücke und spannte die Pferde vor die erbeuteten Kanonen. Von den feindlichen Gewehren mußte ein jeder Reiter und Packknecht eins mitnehmen. Nichts wurde zurückgelassen oder vergessen, erheblich oder unerheblich; es war Beute. Auch nicht ein einziger Verwundeter blieb zurück, weder von den Preußen, noch von den Österreichern, so daß um neun Uhr, vier Stunden nach geendigter Schlacht, dies so unvorbereitet neu belastete Heer mit dem ganzen ungeheuren Troß schon im vollen Marsche war.“

Wir haben die Schilderung ganz abgeschrieben, denn es wird einem so reinlich, leicht und gewissermaßen freundlich dabei zumute, daß es eine wahre Lust ist. Und der Morgen war in der Tat sehr schön, und nicht bloß in Schlesien. Um diese neunte sonnige Morgenstunde, während der alte Fritz mit seinem siegesfrohen Heere sich auf dem Marsche nach Parchwitz befand, sang in der Sarstedter Mühle eine helle Stimme, die aber mehr der arbeitenden als der feinen Welt Europas angehörte, fröhlich in den jungen Tag hinein.

Die junge Müllerin sang, und die Räder der Mühle drehten sich lustig, die Innerste rauschte und glitzerte, und in dem kleinen Hausgarten grünte und blühte und duftete es. Die Vögel, die Blumen und die Bienen wußten so wenig wie die junge Müllerin, daß soeben der König von Preußen die Schlacht bei Pfaffendorf gewonnen hatte, und wenn jemand es ihnen gesagt hätte, würde es ihnen wahrscheinlich auch ziemlich einerlei gewesen sein. Die Vögel sangen, die Bienen summten, die Schmetterlinge flatterten um die Gartenblumen des achtzehnten Jahrhunderts, und die junge Müllerin sprang hell und glänzend in den Garten, um Petersilie zu pflücken, — was ging sie alle die Bataille bei Liegnitz an?

Es war jammerschade, daß der Sänger des Frühlings gerade vor einem Jahr bei Kunersdorf gefallen war, er hätte die Müllerin sehen und den Sommer besingen sollen! Es paßte alles zusammen: die junge Frau mitten unter dem Suppenkraut, das Herdfeuer, das man durch die offene Tür um den schwarzen Topf tanzen sah, die Bienen, die Vögel, die Blumen, das tanzende Rad, die Innerste und das grüne Weidengebüsch und die weiten, sonnigen Wiesenflächen jenseits der Innerste. Gleim lebte noch, aber er war damals noch nicht der alte Vater Gleim, sondern als Sekretär des Domkapitels von Halberstadt und des Stiftes Walbeck, ein Mann in seinen besten Jahren und sang Kriegslieder: ihm hätte es damals nichts genutzt, das Hüttchen, das Flüßchen, die Wiese und den Garten, die Sonne und die junge Müllerin zu observieren. Es hat alles seine Zeit — auch in einem poetischen Gemüte! Der tapfere Krieger singt von den Schäfern und Schnittern, der Herr Domsekretär von den preußischen Grenadieren, und wahrscheinlich ist’s ganz das Rechte, erst der alte Vater Gleim zu werden und dann von Daphnis und Chloe zu singen — Anakreon soll’s auch so gemacht haben.

Der jungen Müllerin sah man’s nicht mehr an, daß ihr Hochzeitstag sie in ein Trauerhaus eingeführt hatte. Sie trug zwar noch ein schwarzes Band auf der Haube, aber das war auch allein als äußeres Zeichen von jenem jähen Schrecken, der ihrer Brautnacht folgte, an ihr übrig geblieben. Und so war’s in der Ordnung! Die alte, ganz und gar schwarz gekleidete Frau drinnen im Hause, am offenen Fenster, die vor ihrem Spinnrade die Hände auf dem großgedruckten Gesangbuche gefaltet hielt, mochte hinter ihrer Hornbrille immer noch durch Tränen in den Sonnenschein hineinzwinkern; für die Jugend wollte es sich nicht schicken — das Leben war kurz und der gegenwärtige Morgen gar zu schön!

Die junge Müllerin sang: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud!“ sie sang:

„Die Bäume stehen voller Laub,

Das Erdreich decket seinen Staub

Mit einem grünen Kleide.

Narzissen und die Tulipan,

Die ziehen sich viel schöner an

Als Salomonis Seide.

Aus Kleists Frühling war das nicht; auch nicht ein Lied von Gleim und noch viel weniger aus einer Ramlerschen Ode. Paul Gerhardt hatte es vordem gesungen:

„Die Bächlein rauschen in dem Sand

Und malen sich an ihrem Rand

Mit schattenreichen Myrten;

Die Wiesen liegen hart dabei

Und klingen ganz vom Lustgeschrei

Der Schaf’ und ihrer Hirten, —

und von dem lustig-lebendigen Rade her fiel eine Männerstimme in das Loblied des Sommers ein; der neue Herr der Mühle, Meister Albrecht Bodenhagen, sang mit, und er hatte allen Grund dazu; denn es war eine schmucke Frau aus der Jungfer Papenberg geworden, er — Herr der Mühle an der Innerste oberhalb Sarstedt, und die Innerste war ein nahrhaftes Wasser: wer je Übles von ihr gesprochen hatte, der mochte die Verantwortung auf seine eigene Kappe nehmen.

Ja, wenn nur drüben jenseits der Innerste im Weidengebüsch die Augen der Nixe nicht gewesen wären.

Der Müller Albrecht Bodenhagen hörte Paul Gerhardts Sommerlied durch das Geklapper seiner Mühle, durch das Rauschen seines Baches, und sein Herz klopfte auch immer lebendiger. Er hielt es nicht länger aus:

„Die unverdrossne Bienenschar

Fleugt hin und her, sucht hier und dar

Sich edle Honigspeise!“

jauchzte er und kam auch in den Garten gesprungen. Die alte Frau am Fenster legte die Hand über die Augen zum Schutze gegen das Licht und schüttelte ob der lustigen Jagd, die jetzt um die Büsche anhob, den Kopf.

„Drei Schritte vom Leibe!“ rief die junge Frau, mit beiden Händen abwehrend. „Wie eine Schleiereule sieht er aus, ganz Groß-Förste hat seinen Spaß daran, wenn man solch ein weißgepudert Geschöpf im Kirchturm aushebt und die Jungen es im Dorfe herumtragen! Rühr mich nicht an! ich werfe dir unsern ganzen Garten an den Kopf, wenn du mir nahe kommst, du staubig Müllergespenst!“

Eine Handvoll Petersilie bekam er sofort ins Gesicht und nicht in die Suppe; aber er griff doch zu und lachte:

„Weshalb hat Sie einen Müller genommen, Jungfer Papenberg? Einen Schornsteinfeger hättest du dir wohl lieber gefallen lassen, Lieschen?“

„Ich will nicht! ich will nicht! Mein Topf kocht über, und mein Brei brennt an, und über den Tisch schneidest du mir ein Gesicht!“

Sie brachte einen Johannisbeerbusch zwischen sich und ihren Verfolger.

„Und ich fange dich doch, mein Schatz!“ rief der junge Meister.

„Jawohl — ei freilich: mein Schatz! das hast du auch gelernt im Felde —

Lieschen, mein Engel, meine Herzenstrompet’,

Meine Pauke, Standarte und meine Musket’,

— dazu hat dich der Colignon von der Landstraße mitgenommen. Nein, nein, ich will jetzt nicht! Drei Stunden hat man nachher an sich zu fegen und zu bürsten. Mutter! Hülfe, Mutter Bodenhagen!“

Das alte Weiblein beugte sich weiter vor aus dem grünumsponnenen Fenster, und über das verrunzelte Gesicht glitt doch ein vergnügliches Lächeln. In den Liebesstreit der jungen Leute mischte die Greisin sich aber doch nicht ein; sie nickte nur mit dem Kopfe und murmelte:

„Sind das schon fünfundvierzig Jahre her, seit mir mein Christian da durch dieselbigen Wege nachjagte?“

In der Rosenlaube, dicht am Zaun und Bach, fing der junge Meister in der Mühle seine Müllerin —

„Geh aus, mein Herz, und suche Freud

In dieser lieben Sommerzeit

An deines Gottes Gaben!

Schau an der schönen Gärten Zier

Und siehe, wie sie mir und dir

Sich ausgeschmücket haben!“

sie wußten in der Laube nichts von der blutigen Schlacht

bei Liegnitz, die der König Friedrich und der Feldmarschall

Laudon an diesem Morgen einander geliefert

hatten, und sie wußten auch nichts von den zwei

Augen drüben am andern Ufer der Innerste im

Weidendickicht! —

Es waren oben im Harze in den letzten Tagen starke Gewitter niedergegangen, und infolge davon war der kleine Fluß nach seiner Gewohnheit wieder einmal eine gute Strecke in den Busch und das Röhricht übergetreten. Und inmitten des Busches, mit dem linken Arm sich um einen knorrigen Weidenstumpen klammernd, der vorgesetzte rechte Fuß vom Wasser überspült, stand ein junges Weib, vorgebeugt durch das Gezweig nach der Mühle lugend. Nicht häßlich, aber seltsam verwildert war die Erscheinung anzusehen. Rotes, brennend rotes Haar, hastig geflochten, war um eine fast männlich breite Stirn gewunden, und eine der Flechten hatte sich gar gelöst und hing über die vorgeneigte Wange. Schlank, fast hager und gebräunt von Sonne, Wind und Wetter, in einem grauen Rock und grünem Jäckchen stand das Weib oder Mädchen da, und wunderlich, wunderlich ließ den Fuß im Wasser! Wie sie so dastand, hätte sie daraus hervorgestiegen sein können; es paßte alles zueinander in Gestalt und in Farbe: die Weiden und das Kleid der Lauscherin, das rote Haar und das gelbrote, trübe Wasser der Innerste, und vor allen Dingen zu allem die hellen, großen, grünblauen, kühlen Augen. Wer die Nixe der Innerste hätte malen wollen, der hätte diese Kreatur in sein Bild setzen müssen!

Und sie regte sich nicht, diese Erscheinung! Der Wind rührte leise an die Weidenzweige über ihr, an die hohen Schilfdolden und die Blätter des Erlengebüsches um sie; aber nur ein einzig Mal auf einen kürzesten Moment wehte er ihr die gelöste Flechte ganz über das Gesicht.

Zu ihren Füßen — um ihren Fuß! — regte sich und glitt leise die Flut der Mühle zu, und die Blasen — die Luftblasen vom Atem der Wassergeister stiegen auch wieder empor zur Oberfläche und zerplatzten im Lichte. Manche sagen, die Wassergeister sitzen drunten in der Tiefe gleich riesengroßen Fröschen mit glühenden Augen und atmen still und warten „auf Seelen“; wir wissen das nicht und können nicht darüber nachsagen, und es ist nicht die Zeit, die rothaarige Lauscherin im Geröhricht danach zu fragen; aber die Frösche haben nicht solche Augen wie diejenigen, mit welchen sie in den Mühlgraben sah und nun in die Laube am Zaun des Gartens hinübersieht.

„Du Schelm!“ flüsterte der Meister Albrecht, und jetzt rührte sich das Weib im Ufergebüsch doch. Die Zweige, die Dolden und die Blätter um sie her erzitterten, der Fuß versank tiefer im Wasser und weichen Schlammboden, und — das war alles um den letzten mutwilligen Schrei, mit dem sich die Müllerin unter den Rosen gegen den Kuß des Müllers wehrte.

Die weißen Tauben, die sich auf dem Hausdache gesonnt hatten, erhoben sich flatternd, und ihr Federspiel blitzte, als sie sich in der Morgensonne und in der blauen Luft um den Schornstein schwangen.

„Du wilder Albrecht — wenn — du nun begraben lägest mit den tausend und tausend anderen — in einer Grube auf dem fremden Felde, wie der arme Barthold Dörries?!“ flüsterte die junge Frau, und in demselbigen Augenblick lachte es laut im Weidengebüsch, und mit dem Lachen drang zugleich ein anderer Ton in die Laube herüber. Ein Rufen war es nicht; auch ein Schreien nicht; es war ein Lachen und Kreischen zu gleicher Zeit, und niemand konnte sagen, ob der Ton aus der Luft, aus dem Busch oder aus dem Wasser komme! — — —

Die junge Frau wurde totenbleich in den Armen ihres Mannes. Dieser fuhr zusammen und ließ sein Weib los, und beide standen und horchten, und wieder erwarteten sie mit stockendem Atem und gefrierendem Blut, daß sich das zum zweiten Mal vernehmen lasse. Vergeblich schien die Sonne morgendlich-schön und sommerlich-warm in den eiskalten Schrecken hinein. Von Hause her schlug der Spitzhund an und bellte heftig und zornig gegen die Innerste hin; aber ringsum blieb es still, und wiederum ließ sich die Stimme nicht zum zweiten Mal hören.

Die Innerste schrie nicht wieder; diesmal aber hatte sie wirklich und wahrhaftig geschrien; — es war keine Sinnestäuschung gewesen!

„Um Gottes und Jesu willen, was war das?“ rief die junge Frau. „Hast du es denn auch gehört? Ist es das, was dein Vater damals am Abend hörte? Albrecht, Albrecht, — Mann, Mann, es ist doch wahr! Das Wasser hat gerufen wie ein böser Mensch in Angst und Zorn, und ich sterbe, wenn ich die Stimme noch einmal höre!“

Der jetzige Herr der Mühle war gleichfalls bleich geworden; er preßte die Zähne zusammen und lachte heiser:

„Sei still! es ist doch eine Dummheit! Sitze einen einzigen Augenblick still; — diesmal fange ich den Halunken, der uns da in die gute Stunde hineingemeckert hat! Er wird uns nicht wieder hohnnecken; — ich werde ihm doch noch einmal den tollen Bodenhagen zeigen.“

„Nein, nein! Du gehst nicht von mir, Mann!“

Er war aber schon gegangen. Er hatte dem Hunde gepfiffen und sprang aus dem Garten der Mühle zu. Sein Lieschen sah ihn über den Mühlensteg laufen und in dem Busche jenseits der Innerste verschwinden. Ängstlich rief sie ihn noch einmal; aber sie hörte ihn drüben nur: „Such, such, Laudon!“ rufen und den Spitz bellen. Mit zitternden Knien saß sie auf der Bank in der Laube und versuchte es, ein Vaterunser zu beten, kam aber vor Angst und Beben nicht weit damit. Sie saß halb bewußtlos in der Sonne; alles — Bäume und Büsche und Blumen, die Wiesen und das Haus, wirrte sich ineinander; — sie wollte nach der alten Frau im Hause rufen und vermochte es nicht. Eine Ewigkeit verging dem armen Weibchen, bis der Mann zurück von seiner Suche kam, und es waren doch kaum zehn Minuten, die er ausblieb!

Als sie ihn langsamen Schrittes über den Mühlensteg zurückschreiten sah mit dem Hunde hinter ihm, atmete sie tief auf; sie sah noch immer durch einen blendenden, flimmernden Nebel, aber die Gegenstände ringsum nahmen doch wieder ihre gewohnten Plätze ein und hielten sich ruhig. Ihr Müller aber versuchte lustig auszusehen, als er durch den engen Gartenweg kam und sich mit dem Kopfe auf der Schulter und untergeschlagenen Armen vor sie hinstellte.

„Kein Jägersmann, dem man Glück zur Jagd gewünscht hat, kommt mit leererer Tasche zurück, Liese!“ sagte er. „Es ist eine Dummheit und es bleibt eine Dummheit. Mein Trost ist nur, daß es nicht meine Sache ist, einen Menschenverstand in den Weiberschnickschnack und die Spinnstubenhistorien hineinzubringen.

„Du hast nicht gefunden — gesehen, was da lachte! O Herr Jesus!“

Meister Albrecht schüttelte den Kopf.

„Weit und breit nichts zu sehen als der Busch und die Wiesen, und nichts zu hören als der Wind im Busch! Der Satan finde aber auch mal einen, der es darauf ablegt, sich in dem Röhricht zu verstecken. Und der Laudon ist zu gar nichts nutze, der Korporal Jochen hat recht, Sackville sollte er heißen, und wir wollen uns einen Köter mit einer feineren Nase anschaffen zu deiner Beruhigung, Lieschen. Wahrhaftig, da läuft ihr noch eine Träne über die Backe. Jetzt tu mir den einzigen Gefallen, guck wieder auf. Morgen lege ich Fußangeln das ganze Weidicht durch, und ich gebe dir mein Wort, das nächste Mal fangen wir das Geschrei. Nach Sarstedt vors Gericht soll mir der Spuk, so wahr ich das Leben habe!“

„O Albrecht,“ rief die junge Frau Liese mit gefalteten Händen, „tue das nicht! denk an deinen seligen Vater! Du kannst die Innerste nicht mit Fußangeln fangen; sie will ein Lebendiges —“

„Und den Hunger soll sie sich diesmal vergehen lassen, bei allen Teufeln! Mohrenelement, es sitzt ein neuer Mann auf dieser Mühle — was vorher war, ist abgetan, und die alten Narrheiten kümmern den neuen Müller nicht mehr. Dazu bin ich nicht gegen den Franzos im Felde gewesen, um mir von solch einem nichtsnutzigen Wasser ein solches bieten zu lassen. Meine Hühner ess’ ich selber! Solange mein Vater lebte, habe ich mich freilich genug ducken müssen; aber als ein Tropf vom Wirbel bis zur Zeh bin ich doch nicht nach Hause gekommen.“

„Aber dein Vater —“

„Der ruht endlich in Frieden, und ich bin Herr und Meister allhier an der Innerste. Komm ins Haus, mein Herz, mein Schatz, da kocht dein Topf über — da haben wir ja schon das ganze Malheur und brauchen auf kein anderes zu warten. Wenn du mir aber noch einen Gefallen erweisen willst, Lieschen, so schwatz gegen keinen Dritten von dem Unsinn und vor allem nicht gegen die Alte. Die Alte wäre imstande, unseren ganzen Hühnerhof den Bach hinunterschwimmen zu lassen, und wenn das nicht reicht, mit dem Kuh- und Schweinestall obendrein dem Dinge den Mund zu stopfen. Es ist wahrlich so in der Welt: man braucht nur laut zu brüllen, um seinen Willen zu kriegen, und die Innerste versteht das meisterlich.“

„Ich wollte, ich kriegte nur dieses allereinzigste Mal meinen Willen,“ sagte weinerlich die junge Frau.

„Die besten Stücke von dem allerschwärzesten Huhn sollst du am Sonntag haben,“ sagte der Meister Albrecht, und sie traten durch die Küche in die Stube, wo die alte Frau in ihrem Lehnstuhl am Fenster saß.

Sie traten fest herein, doch auf den Zehen gingen sie näher an den Lehnstuhl heran; Lieschen hatte den Finger auf den Mund gelegt und geflüstert:

„O sieh, die Mutter ist eingeschlafen! Sie hat nichts von dem Schrei und Schrecken gemerkt! Guck nur, wie sanft sie schläft!“

Es war freilich ein friedliches Bild, und die Süßigkeit des Schlummers lag wahrlich auf dem leicht zurückgelehnten alten guten Gesichte der Greisin. Das große Gesangbuch lag noch offen in ihrem Schoße, und die Hornbrille lag darauf, und die Mutter hatte die Hände darüber ineinander gelegt. Die Sonne drang freundlich durch die grünen Blätter vor dem Fenster und umspielte diese alten, harten, so lang so fleißigen Hände; die beiden jungen Leute traten noch einen Schritt näher an den Sorgenstuhl —

„Meinethalb mag sie zu jeder Zeit, wenn es ihr Pläsier macht, den ganzen Viehstand zur Nordsee schwimmen lassen,“ flüsterte der junge Herr und Meister in der Mühle.

„Du bist doch ein guter Junge, Albrecht,“ sagte leise die junge Müllerin zu ihrem Mann, und dann fügte sie noch leiser hinzu: „Wenn ihr das Buch von der Schürze rutscht, erschrickt sie auch und wacht auf; — ich nehme es ihr unter den Händen sanft weg.“

Sie beugte sich zärtlich herab, aber in demselbigen Moment fiel sie nieder auf die Knie und faßte die Hände der Greisin mit einem lauten Schrei:

„Albrecht? Albrecht! — Albrecht!“ —

Die Alte, die Mutter schlief; aber sie wachte von keinem Geräusch und Lärm in der Welt mehr auf. Kein Lärmen — Weinen und Lachen rundum weckte sie mehr! Ob ihr Gesangbuch zu Boden fiel, ob die Innerste schrie, ob Friedrich, Daun und Laudon im Schlachtendonner sich trafen — einerlei! Die alte Frau schlief — schlief ruhig weiter.

Neuntes Kapitel.

I m Jahre 1760 war der Harz bei weitem mehr als heute der wilde Harz. Er ist seitdem kultiviert worden, wie die Leine, die Ihme und die Innerste reguliert worden sind. Was wir erzählen, gilt, sofern es die Natur — Wald und Wasser betrifft, nur von der Mitte des 18. Jahrhunderts; was die Menschen angeht, so haben die sich weniger verändert, wenn sie gleich unendlich viel gebildeter geworden sind und anders zugeschnittene Kleider tragen, so Mann wie Weib.

Mit dem wilden Harz haben wir es jetzo zu tun. Immer an der Innerste aufwärts bis in das Revier der drei Bergstädte Grund, Wildemann und Lautenthal führt uns die Historie von dem schreienden Wasser. Da liegt, wie der Leser schon weiß, zwischen Wildemann und Lautenthal Radebreckers Mühle an der Innerste; vordem, als die Räder sich noch drehten, eine Sägemühle mit gefräßigen Zähnen; aber die Räder stehen seit Jahren still, und der vom Fels hinter der Mühle sich abstürzende Bach findet allhier keine Arbeit mehr. Der Buschmüller hat dieses Geschäft längst aufgegeben und sich ein ander Brot gesucht.

Das alte ruinenhafte Anwesen liegt in eine schluchtartige Windung des Tales gedrückt, umgeben vom dunklen Tannenhochwald. Wer die Innerste in ihrer ganzen Wildheit sehen wollte, der mußte sie hier in der Wildnis aufsuchen. Grauschwarz und giftig kommt das Wasser von den Hüttenwerken von Wildemann; daß es über mehr als drei Steine läuft, hilft ihm nichts, es wird nicht reiner dadurch, und wütend springt es vom Stein hinter dem Hause des Meisters Radebrecker und hohnlachend vorbei an dem gestellten, trümmerhaften Rade.

Horch, eine Stimme, ein Lied aus dem Innern der Mühle, und Stimme und Lied passen ganz und gar zu dieser Menschenwohnung und zu dem Tag und Wetter. Es ist ein dunkler, windiger Oktobertag, der Sturm rauscht und zischt durch den Tannenforst und beugt die schlanken Stämme; aber das alte Harzschützenlied aus den Kriegen des vorigen Säkulums übertönt er doch nicht. Es ist ein Lied, gut zu singen in der Felshöhle am Feuer in der Winternacht, im wilden Walde — vor der Bluttat und nach derselbigen — ein Lied von Blut und Feuer, vom schnellen, tückischen Überfall aus dem Busch, ein Lied von Galgen und Rad — seltsam zu hören aus einem Weibermunde! Und die Innerste singt mit, und die Weise dringt weit hinein in den Forst, und tief im Walde nimmt eine Männerstimme den Endreim auf und sendet aus kraftvoller Brust das Gesätz zurück.

’s ist der Kriegskamerad des neuen Müllers da unten an der Innerste, oberhalb Sarstedt, der einarmige Korporal Jochen Brand, der da durch den Wald kommt. Er trägt noch immer den militärischen Dreimaster schräg aufs Ohr gedrückt, er trägt noch den blauen Rock, den er bei Minden trug; aber Hut und Rock sind um ein Beträchtliches schäbiger geworden; — sie scheinen in der Bergstadt Grund sich nicht viel aus dem tapferen Stadtkinde gemacht zu haben, und mit der Menage muß es auch nicht weit hergewesen sein. Wohlgefüttert sieht der Korporal nicht aus, und die schmutzig-roten Aufschläge an Kragen und Ärmel sind die munterste Farbe an ihm.

Aber immer noch schwingt er den Wanderknittel in der heilen Linken zu den alten Fechterkunststücken; es scheint ihn wenig zu kümmern, daß die Jacke nur noch einen der Messingknöpfe mit dem F. R. — Fridericus Rex — aufzuweisen hat — der Knopf genügt immer noch, den leeren rechten Ärmel auf der braven, breiten, wetterfesten Brust festzuhalten.

Er kam den Berghang herunter aus der Dämmerung des Waldes hervor und stieß einen lauten Hollaruf aus, als er das Dach der Mühle unter sich sah. Drei mächtige Hunde mit Stachelhalsbändern heulten die Antwort und stürzten sich durch den Bach dem Nahenden entgegen; als sie ihn aber erkannten, begrüßten sie ihn freundschaftlich, und das nämliche tat der Herr des Hauses, der jetzt in seine Tür getreten war und unzweifelhaft einer etwas genaueren Beschreibung würdig ist.

Es war ein kleines, alraunenhaft aussehendes Kerlchen, das Meisterchen Radebrecker. Man war durchaus nicht sicher, ob der alte Bursch nicht einst als die schlimme Wurzel unter dem Galgen ausgerissen worden war und den entsetzlichen Schrei der Sage ausgestoßen hatte. Aber wenn’s sich so verhielt, so war der Alraun doch allgemach gewachsen und hatte es zu einer Höhe von fast fünf Fuß gebracht. Für ein bescheiden Gemüte war ein ganz menschenähnliches Individuum aus der Mandragora geworden. Ob die rauhhaarige Pudelmütze mit dem grauen, zotteligen Köpfchen des Alten geboren worden war, konnte niemand wissen, aber niemand erinnerte sich auch, ihn je bei Sommer und Winter, bei Tag und Nacht ohne dieselbe erblickt zu haben. Seitwärts geneigt trug er das Köpfchen auf der einen Schulter und als Gegengewicht ein Buckelchen auf der anderen. Sein Gehör war so scharf wie seine Augen, obgleich manche Leute seltsamerweise meinten, das eine sei so schwach wie die anderen; wenn sie dann des Gegenteils zu ihrem Schaden gewahr wurden, wunderten sie sich gar noch.

Als der Einarm unter den letzten Bäumen hervortrat und über die Steine im Bette der Innerste wegstieg, nahm der kleine Greis die kleine Tonpfeife aus dem zahnlosen Munde und kicherte:

„He, he, auch der wieder! Sieh, sieh, guck, guck, auch Er kann es noch immer nicht lassen; — da ist Er ja wieder! — Es ist ein Prachtmädchen! Sie tut es ihnen allen an, und wie sie sich auch wehren mögen, sie können nicht davon lassen. Der liebe Gott hat mich in Wahrheit mit einem guten Kinde gesegnet, und es ist immer noch, wie’s in dem Buche steht: ‚Wohl dem, der Freude an seinen Kindern erlebt.‘“

Das war nun mit einem solchen blasphemistischen Grinsen gesagt, daß jegliche Bibel auf sechs Meilen in die Runde von Rechts wegen einen Schreckenssprung hätte tun müssen auf ihrem Platz oder Gestell, und wie das folgende Gespräch ausweist, kannte der Korporal Jochen seinen Mann auch nach der Richtung.

„Guten Tag, Vater Radebrecker,“ sagte der Einarm, militärisch grüßend.

„Guten Tag, mein Söhnchen,“ entgegnete der alte Meister. „Der Herr segne deinen Eingang und — Ausgang.“

„Hm,“ meinte der Soldat, „kann Er’s denn gar nicht lassen, Er alter Sünder? Weiß Er aber, ich habe mir sagen lassen von einem großen Ofen, der immer noch geheizt wird, und anjetzo, wie einige meinen, mehr denn je. Will Er denn absolut Pastor in der Hölle werden und von einer glühenden Kanzel den armen verlorenen Seelen Geduld predigen, Radebrecker?“

„Hm, — jedermann nach seinen Gaben, Freund Jochen. Er in seinem wilden gottlosen Kriegsleben kann nichts davon wissen, wie sanft es dem Menschen zumute wird hier in der Eremiterei, im stillen Forste.“

„Man sollt’s doch nicht für möglich halten!“ brummte der Invalide mit einem Blicke zum wolkenvollen Herbsthimmel. Dann sah er den Alten mit einem gewissen scheuen Unbehagen von der Seite an und brachte das Gespräch auf etwas anderes.

Er sagte mit einigem Zögern:

„Da Er’s doch schon weiß und darüber sein Pläsier hat, so mach’ ich’s kurz: der Innerste wegen bin ich mal wieder da, und wär’s auch nur, um mich von ihr malträtieren zu lassen, schlimmer als ein armer Sünder vom Profossen. Wie geht’s der Jungfer Tochter, Vater Radebrecker?“

„Hört Er sie nicht, mein Sohn? Sie hat eine recht feine, liebliche Stimme. Es ist meine einzigste Lust in meinen alten Tagen, sie so in den Wald hineinsingen zu hören.“

Der Einarm murmelte etwas zwischen den Zähnen; der greise Alraun aber legte die Hand hinters Ohr.

„Was beliebt Ihm zu meinen, mein Herzenssöhnchen? Es wird immer schlimmer mit meinem Gehör von Tag zu Tage?“

„Ich sage auch, daß die Innerste — die Doris eine feine Stimme hat und sie weit hinausschickt!“ schrie der Korporal Jochen Brand. „Ich bin nicht der erste, der sie auf sechs Meilen ins Land vernommen hat, und den sie hergesungen hat nach dieser verdammten, gottverfluchten Räuberhöhle. Und an Boten für ihre Wege fehlt’s ihr auch nicht; wenn nur der Botenlohn danach wäre!“

„Ei, ei, mein Söhnchen, was sagt Er da! Besinne Er sich doch, Korporal, daß Er zu dem Buschmüller spricht, der ein Dach und einen Platz am Tische hat für jedermann, von dem man zu Hause — nichts wissen will, und wenn er noch so glorreiche Bataillen gewonnen hat. Ein guter Ruf ist das köstlichste Ding auf Erden und ein gut Gewissen —“

„Das zweitbeste Ding, Vater Radebrecker. Sapperlot, ich weiß alles und verlange auch von Ihm keine Brühe an den Braten. Also die Innerste sitzt in der Stube?“

„Wie’s Täubchen im Neste; — und Er ist willkommen, Jochen, wenn man Ihn gleich in Grund über die Schulter ansieht. Geh’ Er nur hinein; ich habe noch hier draußen zu schaffen und komme nach.“

„Der Zwergenkönig vom Hübichenstein ist nichts gegen Ihn, Meister Radebrecker!“ seufzte der gute Kriegsmann des Herzogs Ferdinand und stiefelte mit gehobenen Knien wie ein Storch über die Hausschwelle. Der Alte schlich sich wie ein Fuchs um die Ecke seines Hauses und kicherte vergnüglich in sich hinein.

Auf der Schwelle der Stubentür nahm der Korporal den Hut ab:

Bon jour, mademoiselle!

„He?“ fragte Jungfer Doris, auf ihrem Stuhl am Fenster sich umwendend.

„Guten Tag, allerschönste Mademoisell, mein’ ich. Wir haben manchen Franzmann draußen unter uns, und von denen lernt man die Höflichkeit und was den Damens sonst gefällt.“

„Mir gefallen Seine französischen Brocken gar nicht,“ sagte die Jungfer Radebrecker. „Wenn Er Seine Hündinnen da draußen vor den Bergen damit vom Ofen locken kann, so hab’ ich nichts dagegen einzuwenden, Kamerad. Bringt Er mir sonst was mit, so komm’ Er herein, Jochen, sonst aber bleibe Er draußen.“

Der einarmige Soldat trat wenigstens einen Schritt weiter in die Stube vor. Die Innerste rauschte dicht an dem Fenster vorbei, und Wald und Fels sahen herein. Die rothaarige Jungfer saß faul an die Lehne ihres Holzschemels sich legend und aß mit einem blutigen Messer in der Hand ein Stück Brot. Das Messer hatte sie aus der Küche mitgebracht, und wenn die kurfürstlich hannöverschen Förster nachgesucht hätten, so würden sie auch wohl das ausgeweidete Schmaltier gefunden haben, dessen rote Lebenstropfen an der Klinge hingen.

„Sakerment,“ murmelte der Invalide, „am besten paßte sie doch zwischen Mitternacht und ein Uhr auf ein Schlachtfeld, mit einem Sack auf der Schulter und einer Blendlaterne in der Hand. Sie würde frisch aufräumen im Notfalle unter den Blessierten. Wenn ich nur wüßte, was sie uns eingibt, daß wir ihr immer von neuem so gutwillig ihre Säcke tragen?“

Lachend zeigte die Jungfer dem Kameraden ihre weißen Zähne und wies mit einem Messer auf einen Schemel ihr gegenüber am Fenster.

„Nun, Korporal Brand, will Er sich nicht Seine Bequemlichkeit nehmen? Aber — ganz wie es Ihm beliebt.“

Schwerfällig setzte sich der Invalide auf den ihm angedeuteten Platz, warf seinen Hut auf den Tisch und sagte mürrisch grollend:

„Deinen Vater kenne ich, Doris; aber deine Mutter hätte ich auch wohl kennen mögen.“

„Weshalb?“

„Weil ich dann das Teufelskleeblatt voll zusammen hätte; den alten Satan und die alte und die junge Hexe. So ist’s, Jungfer Radebrecker, nehme Sie es mir nicht vor ungut.“

Das Mädchen lachte wiederum, — ganz und gar nicht beleidigt:

„Warte Er nur, Freund, bis ich meines Weges gegangen bin und Ihn der Meister Hämmerling auf dem Galgenberg von der Leiter gestoßen hat. Es wird schon eine Zeit sein, wo die ganze wilde Jagd hübsch warm beisammen ist. Wer die richtige Geduld hat, wird manche kuriose Dinge in der Welt zuletzt in ein Bündel knoten. Was bringt Er mir mit nach der Buschmühle, Jochen?“

Da beugte sich der Einarm näher zu dem Mädchen und sah ihr ernst, fast grimmig ins Gesicht und antwortete:

„Dein Narr bin ich und bleibe ich; aber den Gang geh’ ich doch nicht wieder für dich; und wenn du wirklich ein Weiberherz in der Brust trügest, so ließest auch du das Vergangene auf sich beruhen, zumal solch einem armen Tropf gegenüber, der, wenn er dich gekränket hat, dazu gekommen ist, wie zu allem andern in seinem Leben, ohne wie ein rechter Mann davon zu wissen. Doris, wäre er ein richtiger Kerl, so möchtest du deinen Groll büßen, so wild du wolltest, und sein jung Weib müßte seine Schuld mit auf sich nehmen. Aber er ist ein Tropf, ein Schwachherz, und wenn du da die Unhuldin spielen willst, ist’s nicht aus eigenem Herzensjammer, sondern aus Bosheit und Lust am Schaden. Ich bin wieder in der Sarstedter Mühle eingekehrt, und ich sage dir, du sollst die Leute in Frieden ihr Leben leben lassen. Hier hast du dein Leben, wie du es verlangst, und kannst kein anderes gebrauchen! Da unten sitzen sie wie die Kinder im Winkel, und du hast nichts hinter ihrem Ofen zu suchen. Was du zu sehen nötig hattest, hast du im Sommer selber gesehen; — sie haben Vater und Mutter begraben und haben in Sarstedt mit dem Meister Tischler einer Wiege halber gesprochen. Sie haben mich zu oberst an den Tisch gesetzt, und du — sitzest hier oben wie eine wilde Königin — keine zahme hat’s mehr nach ihrem Wunsche.“

„So?!“ sagte oder fragte die Jungfer Radebrecker, und der Korporal Brand, mit der gesunden Hand auf den Tisch schlagend, rief:

„Ja! so! — Doris, Doris, ist es denn nicht so? Ich bin nicht dabei gewesen, als der arme Flederwisch, der wilde Bodenhagen, zuerst hier in der Buschmühle das Handwerk grüßen wollte; aber aus eigener Experienz weiß ich, was er gefunden hat —“

„So?!“

„Ja, und weil ich das weiß, und obendrein auch noch, daß ihn der Colignon nur zu seinem Besten abgeholt hat, sage ich zum dritten und letzten Mal, Jungfer Radebrecker, habe Sie ein Einsehen und Erbarmen und führe Sie nicht Krieg, wo es nicht vonnöten ist. Ich komme auch aus dem Kriege und weiß, was es damit ist. Der Albrecht ist doch nichts weiter als ein groß Kind, und wollte Sie sich eine Haselrute da aus dem Busch an der Innerste holen und ihn über die Bank ziehen, so wollte ich mich Ihr wahrhaftig nicht in den Weg stellen; ich habe ihn ja selber mehr als einmal unter dem Prinzen Ferdinand über ein Bund Stroh gelegt. Weil aber sein Herr Vater und andere Leute dieses schon nach besten Kräften besorgt haben, so lasse Sie nun seinem Leben den Lauf und schreie Sie ihm nicht hinein, denn Sie treibt nicht ihn allein ins Elend, und das kommt Ihr nicht zu, denn das ist nur ein Recht, wie es das Wasser, der Bach, die Innerste sich nimmt, wenn’s hier in den Bergen sich allerlei hat gefallen lassen müssen und nun hervorbricht und den armen Bauern im Hildesheimschen die Äcker und die Wiesen ruiniert. Ich bin auch Korporal in einem Freibataillon gewesen und habe manches mitgemacht, was gen Himmel gestunken hat; bei Minden auf dem Feld liegt mein rechter Arm, und — so spreche ich heute in der Buschmühle. Ich weiß wohl, daß wir nicht in einer Welt leben, wo alles glatt ab- und hingeht wie auf einer Potsdamer Parade vor Seiner Majestät. Aber der König Fritz kümmert sich heute auch wenig um Puder und Zopf; er marschiert in Schlesien durch Blut und Brand, und in seiner Residenzstadt Berlin sind anjetzo die Russen und die Österreicher, der Tottleben und der Lascy; — wer sich da als ein ehrlicher braver Kerl und als ein lieb, gut Weib zurechtfindet in der Welt, der hat Ehre davon. Ich überlegte es mir doch noch einmal in meinem Leben, Jungfer Radebrecker.“

Die Tochter des Buschmüllers war bei dieser Rede des Korporals Jochen Brand aufgesprungen und wild in der rauchschwarzen, wüsten Stube hin- und hergegangen. Ihr Messer hielt sie wie einen Dolch, und nun trat sie dicht an den Invaliden heran, legte ihm die Faust mit dem Messer auf die Schulter und nahm ihn mit der anderen Hand an dem gesunden Arm.

„Er ist ein guter Kamerad, Jochen,“ sagte sie, „und Er hat ein gutes Wort gesprochen; aber was weiß Er denn von mir und vom Albrecht Bodenhagen? Meinen Vater kennst du, und meine Mutter hättest du kennen mögen, um das Teufelskleeblatt beisammen zu haben. Du hast’s eben noch selber gesagt. Hier in der Buschmühle bin ich geboren und auferzogen worden, und jetzt bin ich, wie ich bin, und wenn ich wie das wilde Wasser, die Innerste da vorm Fenster, bin, so kann ich’s nicht ändern —“

„Dann laß deine Tollheit an uns aus, Doris,“ brummte der Korporal, „du weißt, daß wir zu Dutzenden über jeden Stock springen, den du uns vorhältst. Zum Exempel, mit mir kannst du machen, was du willst, aber das Kindervolk da unten im Lande sollst du mir jetzt in seinem Spiel ungeschoren lassen!“

Da stieß die Doris Radebrecker einen Schrei aus, der auch ein Geschluchz war.

„Was habe ich denn mit euch? Was habe ich mit dir, Jochen Brand? Mit dem armen Tropf, dem Weichmaul, dem blöden Schäfer, der den tollen Bodenhagen spielte, hab’ ich’s. Was weißt du von mir und ihm? — Er hat mehr gekriegt als ihr anderen alle, und es war eine Zeit, da hätte er mich wohl zu einem lieben, guten Weibe machen können! und jetzo soll er die Rechnung zahlen, der Müller von Sarstedt, und ihr — ihr sollt mich nicht umsonst die Innerste nennen!“

Der Korporal Brand sah die Jungfer Radebrecker mit einem grenzenlosen Erstaunen — mit offenem Munde an; aber draußen bellten von neuem die Hunde, und allerlei Stimmen ließen sich vernehmen. Es kamen allerlei Gäste des Buschmüllers.

Zehntes Kapitel.

I m Oktober gehen die Tage bald zu Ende, und aus dem Wind wird schnell Sturm. Dann muß man in den wilden Bergen wohnen und im Zwielicht vor die Tür treten und den Wind, den Wald und das Wasser reden hören. Dann ist es auch gut, Bescheid zu wissen in den alten Sagen seines Volkes, den Liedern, die die Großmutter sang, und der Weisheit des Urgroßvaters. Und wenn noch gar der Krieg von ferne donnert, dann läßt es sich gut zurücktreten von der Schwelle, die Tür verriegeln und am Herde am warmen Ofen niedersitzen. Ängstlich, aber auch heimelig und lieblich ist’s dann, beim Lampenschein liebe Gesichter — junge und alte — um sich zu sehen und bekannte junge und alte Stimmen zu hören; — mit sonderbar heimlichen und unheimlichen Fingern zupfen Vergangenheit und Zukunft dann an der Behaglichkeit der Gegenwart. Die Augen soll man ja nicht schließen, wenn das fröhliche Gespräch zu einem Flüstern herabsinkt; es ist, als spreche die Zukunft, in dem Sturme draußen; — den Verständigsten, den Nüchternsten kann eine Angst überkommen, daß er die guten Gesichter nicht mehr im Kreise um sich her finden werde, wenn er wieder die Lider aufschlägt und umhersieht.

Es gibt aber vielerlei Gesichter und Stimmen in der Welt. Das merkt man recht, wenn man bedenkt, was alles sich um so einen winterlichen oder herbstlichen Herd niedersetzen und über seine Lust und sein Leid, seine Pläne, Sorgen, Taten und Gedanken verhandeln kann. In der Buschmühle nun lachten und jauchzten keine fröhlichen Kinder, erzählte nicht der brave Vetter Michel, wie es ihm den Tag über ergangen war, kam nicht die Base und die Nachbarin mit dem Spinnrad und saßen nicht Großvater und Großmutter von ihren Enkeln umgeben. Der Ofen glühte, als es Abend geworden war, der Tisch war zurechtgerückt und die Gäste vorhanden. Die Innerste saß an der einen Seite des Ofens, der Einarm an der anderen, der Meister Radebrecker aber oben am Tisch. Das alles in den richtigen Farben zu schildern, hätte einem kuriosen Maler zu schaffen gegeben; und für ein Ohr, das nicht zu fein gebaut war, mocht’s auch ein seltsames Gaudium sein, das zu belauschen, was da hinüber und herüber geredet, geschrien und geflucht wurde. Aus der Bibel wurde nicht vorgelesen. Es gab zwar eine Bibel in der alten Sägemühle, aber sie war in einer Bodenkammer als Ersatz für einen fehlenden Fuß einem wackelnden Schrank untergeschoben. Eine Zeitung kam im Jahre 1760 nicht in die Bergstädte Grund, Lautenthal und Wildemann, und also in die Buschmühle gar nicht.

Die großen Welthändel wurden damals von Mund zu Munde umgetragen, und vielleicht stand sich die Welt dabei nicht schlechter als heute. Die Wahrheit kam jedenfalls eben so selten zu kurz wie heutzutage.

Der Invalide von Minden war nicht der einzige gewesen in diesem Kreise, der den Krieg gesehen, und die Jungfer Radebrecker nicht die einzige, welche ihr Brot mit einem blutigen Messer geschnitten hatte. Wanne, die Innerste, hatte kein zu feines Ohr, sie konnte alles anhören und über alles mitlachen, und ihre eigenen Worte legte sie gleichfalls nicht auf die Goldwage! Ihre helle, klare Stimme überklang oft das wüsteste Gelärm dieser nächtlichen Mühlgäste, und als sich einmal zwei derselben über den Tisch in die Haare gerieten, fiel sie dazwischen und zwar auch mit einem Fluch, der die ganze Gesellschaft zum Lachen brachte und den Meister Radebrecker zu einem abermaligen zärtlichen Lob seiner Tochter.

Sie kamen aber nicht allein wegen der Küche und des Kellers des Buschmüllers zu dieser Stunde zusammen. Sie hatten nicht bloß zu bramarbasieren und sich ihrer selbst zu rühmen. Es wurde auch verständig geredet, und von Zeit zu Zeit nahm der Alte einen beiseite und flüsterte mit ihm, oder führte ihn wohl gar vor die Stubentür, um dorten weiter mit ihm zu flüstern.

Sie hatten ihre Geschäfte; aber das beste wird’s sein, daß wir unsere Hand davon lassen. Es ist über hundert Jahre her, seit sie da im Harz an der Innerste, im wilden Walde so vergnüglich beisammensaßen. Verjährt! verjährt! Es ist über das alles Gras gewachsen, und ebenso arge Dinge sind nachher ausgeführt, und ist damit renommiert worden, und die alte, uralte Entschuldigung, daß der schwache Mensch eben zusehen müsse, wie er sich durch die böse Welt bringe, gilt auch heute noch.

Einmal ging ein Kelch um den Tisch, der freilich verdächtig aussah, als ob er wohl aus einem Sakristeispinde herstammen könne, und dann war ein Stündlein später von dem Förster vom Iberge die Rede, der im Frühjahr tot, mit einer Kugel hinter dem Ohr im Kopfe, im Dickicht am Hübichenstein gefunden worden war. Voll und leer ging der Kelch um den Tisch, und über den toten Jägersmann lachte man, und einer meinte, mit dem Zwerg Hübich lasse sich schlimm spaßen. Es war auch eine Geldsumme zwischen zwei der Gesellen zu teilen, da gab’s neuen Hader, den der Meister Radebrecker schlichtete, indem er die zwei Wildemannsgulden und acht Mariengroschen, um die es sich handelte, für sich nahm als Unparteiischen. Dann kam das Schmaltier gebraten herein und neues Getränke, und es wurde auf das Wohl des Bergmeisters Wiesehahn zu Lautenthal angestoßen, und wiederum hatte einer ein Wort zuzugeben und meinte, der möge sich nur auch in acht nehmen, denn der Zwerg Hübich sei mächtig unter der Erde wie über der Erde.

Hiermit ist denn die Unterhaltung auf das Feld der Sage übergegangen, und da hätte wohl manch ein gelehrter Herr des neunzehnten Jahrhunderts gern den Horcher an der Wand gespielt und die Strolche, Halunken und Vagabunden des Jahres 1760 reden hören.

Ellenbogen an Ellenbogen mit dem kleinen Alraun, dem Meister Radebrecker, saß noch ein kleiner Kerl, der auch einen Buckel trug, aber auf der anderen Schulter als der Buschmüller. Zwei Stunden von der Harzburg bei Wülperode im Steinfelde ist der Klöpperkrug gelegen, und dem Wirt daselbst war am letzten Sonntag der Knecht abhanden gekommen, aber seine zwei Kühe und seinen mageren Gaul hatte er krepiert im Stalle gefunden. Da hatte es ein lautes Heulen gegeben um das Vieh und ein hitziges Suchen nach dem Knecht, aber der war nicht gefunden worden, denn bis in die Buschmühle war man von Amts wegen nicht gekommen.

Und vor dem Fenster der Buschmühle brauste der Wald und sauste der Sturmwind; es ächzten und knirschten und krachten die hohen Tannenbäume, und der Knecht vom Klöpperkrug sagte:

„Das ist das Wetter, wo Er waltet. Ich sollte meinen, alle Augenblick müßte er ansprechen und sich vermelden!“

„Wer?“ fragte Doris schrill über die ganze Länge des Tisches.

„Der Ritter, Jungfer! der Hackelberg, Jungfer Radebrecker. Bei solcher Witterung jagt er am liebsten.“

Im Garten des Klöpperkruges liegt ja der wilde Jäger, der Ritter von Hackelberg, begraben, und seine Sturmhaube wird bis auf den heutigen Tag daselbst aufbewahrt und gern vom Wirt vorgewiesen; aber die Kumpanei in der Buschmühle lachte doch, und der Korporal Jochen Brand sprach:

„Kamerad, den wilden Jäger habe ich wohl auch ziehen sehen, aber nicht in den Lüften. Es stürmte auch jedesmal, wo die Jagd zog in Sachsen, Böhmen und Schlesien; sie zieht auch heute wohl, und der alte Zieten reitet vor dem Zuge. Wer aber den General Seidlitz jagen sah mit seinen Kürassieren, dem wird’s übel, wenn er vom Hackelberg, der Tutursel und all dem anderen Gespensterplunder hört. Kotz Blitz, der König Fritze läßt reiten, und von den hungarischen Husaren der Frau Kaiserin will ich auch nichts Despektierliches sagen; aber Seinen Ritter Hackelberg muß ich selber ziehen sehen, ehe ich glaube, daß der besser zu Pferde sitzt als ein Franzos.“

Der Soldat hatte gesprochen, der buckelige Knecht vom Klöpperkruge aber hat etwas von einer Großschnauze gemurmelt, und daß er wisse, was er wisse. Die anderen haben einen Moment stockstill gesessen, denn jetzt hat sich der Sturm im Walde ärger denn je hören lassen, und es ist ein Heulen und sonstiger Lärm geworden, daß jeder sich geduckt hat, als komme ihm schon das Dach über den Kopf herunter, oder die schwarze Pferdelende durch den Schornstein, um jedweden Spötter vom Stuhl und Tisch zu schlagen. Nach dem angsthaften Hinhorchen aber nahm ein eisgrauer alter Sünder die Pfeife aus dem Munde und sprach, zu dem Einarm gewendet:

„Wenn Er das Seinige im Felde mit dem Zieten erlebt hat, Korporal, so sei Er dankbar dafür; aber wenn Er in dieser Nacht noch etwas dazu erleben sollte, so sitze Er nur ja still und halte den Mund und sich dazu mit beiden Händen an dem Stuhl. Man hat Exempel, daß noch ganz andere Kerle als Er, Korporal Brand, dem Herrn von Hackelberg Hohn gesprochen und nachgerufen haben, und es ist ihnen jedesmal übel bekommen. Der Buckel da hat ganz recht; es ist eine Nacht für den wilden Jäger, und vielleicht tut Euch der Ritter den Gefallen, Jochen, und weist Euch, daß er doch noch besser reitet als Seidlitz bei Roßbach. Ich rate Ihm aber dann, ihm nicht nachzuzischen von der Tür aus, wenn Er sein Horn über dem Kopfe schallen hören wird.“

„Hoho!“ lachte der tapfere Kriegsmann, doch die Doris Radebrecker gab jetzt auch wieder ihr Wort dazu.

„Jawohl, hoho, Kamerad!“ rief sie. „Ich rate Ihm auch, sich zu hüten vor dem Volk in der Luft, Wald, Feuer und Wasser. Ich sage Ihm auch ein Exempel: hat Er etwan nicht erfahren, wie die Innerste da drüben im Lande vor dem Harz schreien kann? Weshalb sollte der Ritter Hackelberg nicht sein Jagdhorn in der Luft blasen? Jetzo aber lasset den Mann da aus Wülperode mit Ruhe verzählen, was sich zuletzt mit ihm — den wilden Jäger meine ich — begeben hat.“

„Mit Pläsier,“ sagte der Soldat lachend. Der Bucklige aber ließ nicht lange bitten und erzählte halb flüsternd:

„Einer von den Herzogen von Anhalt Jägerei hat ihn zuletzt verspürt. Sie haben ein groß Treiben gehalten mit den Wernigerödeschen, und nach dem Treiben haben sie, die Bernburger und die Gräflichen, die Nacht durch am Hartenberg in einer Köte gelegen, die vornehmen Herren in der Köte, die Gemeinen beim Feuer im freien Forst. Der aber, den ich meine, ein Junger vom Adel, hat ein hübsch Mädchen gewußt auf einem Försterhofe, den ich kenne, und ich nicht allein in dieser höflichen hochlöblichen Kompagnie. Und er hat sich schon bei Abenddämmerung weggeschlichen und ist nach Mitternacht pfeifend durch den Wald zurückgekommen, der Köte zu, allwo die anderen lagen. Am Buchenberge hört er’s auch einmal von ferne: Hoho, hoho, wod, wod, ho, hallo! Sie haben ihn jetzo bei einem Doktor — er ist nicht bei Sinnen, denn er hat sich in seinem Vergnügen lustig gemacht über den wilden Jäger in der Luft. Am anderen Morgen hat man ihn gefunden mit zerbrochenem Arm und einer Schlagwunde auf der Stirn, und das ist anzusehen gewesen wie von einem beschlagenen Pferdefuß. Er ist heute noch nicht wieder bei Verstand, und der Hund, den er bei sich gehabt hat, hat sich auch den Verstand abgeheult, und sie haben ihn erschießen müssen; denn der Hackelberg —“

Der Erzähler brach ab und horchte — käsebleich.

„Wod! wod! wod! hoho, hu, kliff und klaff!“ lachte der Korporal noch; aber dann horchte auch er mit allen übrigen starr und atemlos in das Gebrause und Gesause draußen vor Radebreckers Mühle. Durch das Tosen der Windsbraut klang es: Hoho, wod! wod! und dazu das Uhu der Tutursel. Es kam wie Hundeblaff und dann vom Sturm zerrissen der Klang eines Waldhorns, das zum Halali blies! Die Jungfer Doris wollte noch einmal den jachen Schrecken der Mannsleute hellkreischend weglachen; doch da tat’s einen Schlag an die Tür, und dann wurde mit einem Kolben ein Fenster eingestoßen, daß die Glasscherben splitternd zwischen die Gesellschaft fuhren. Die Öllampe erlosch im Windzug, doch von draußen fiel Laternenschein in die Stube, und viele rauhe Stimmen ließen sich nebst den Hunden um die Mühle hören.

„Im Namen Seiner Majestät, König Georg des Zweiten!“ rief jetzt über alle anderen Stimmen eine im Kommandotone weg, und eine zweite schrie womöglich noch gebieterischer: „ De par le Roy — sa Majesté Louis Quinze, de France et de Navarre! “ Die Haustür zersplitterte gleichfalls unter den Büchsenkolben der Einlaß Begehrenden, und es kam wieder Vernunft in die Kumpanei!

Sie fuhren mit den scheußlichsten Flüchen durcheinander und suchten nach Auswegen und fanden sie allesamt versperrt und besetzt. Da kamen allerlei Waffen — Messer, Knittel, ja auch Feuergewehre zum Vorschein, doch alles das und die beste Courage dazu konnte wenig mehr fruchten. Der gute Meister Radebrecker fing mit einem Male an zu schluchzen und laut zu weinen und setzte den Mut seiner liebsten Gäste dadurch unter Wasser. Die Störenfriede, die Hausfriedensbrecher hatten doch über bessere Waffen — Jägerbüchsen, Hirschfänger und Musketen mit aufgepflanzten Bajonetten zu verfügen, und nach einem kurzen Geraufe, halb im Dunkel und halb im Laternenschein — einem Tumult, in welchem auch ein weniges Blut floß, war alles in der Buschmühle geordnet nach Wunsche Seiner kurfürstlich hannöverischen Durchlaucht und großbritannischen Majestät Georg Rex trotz der fränkischen Besatzung des Landes.

Sie fingen sie alle, und eine Stunde später war alles bereit zum Abmarsch in Kolonne nach Lautenthal. Die Jungfer Doris ging allein ungebunden im Zuge; den übrigen waren sämtlich die Hände mit tüchtigen Stricken auf dem Rücken zusammengeknebelt. Dem armen einarmigen Korporal Jochen Brand hatte man wenigstens ein Seil um das linke Handgelenk gelegt, und er marschierte im gleichen Schritte höchst verwundert hinter dem französischen Korporal und Leutnant, die das Füsilier-Detachement kommandierten, welches sich die kurfürstlichen Forstmeister und Amtmänner von Wildemann und Lautenthal zu ihrer nächtlichen Expedition als Beihülfe vom Kommandanten von Goslar verschrieben hatten. Er machte nicht einmal den Versuch auf diesem Marsche, die fremden Kameraden zu der Überzeugung zu bringen, daß er besser sei als die Gesellschaft, in der man ihn gefunden hatte. Auch die Innerste ging still durch den stürmischen Wald mit; was sonst noch von den kurfürstlichen und königlichen Jägern, Justizleuten und den fremdländischen Kriegsmännern mitgenommen wurde, fluchte bis auf den Meister Radebrecker, der sich am wenigsten in das Ding zu finden wußte und seinen Tränen den freiesten Lauf ließ. Leider hatte man aber ihm auch die Hände am festesten auf dem Buckel zusammenschnürt.

Elftes Kapitel.

U nd die Innerste wurde sehr schlimm im Laufe des nächsten Monats. Gewaltige Regenstürme brachen mit dem rasenden Winter über das Gebirge herein, und alle Waldwasser schwollen auf wie seit Menschengedenken nicht. Nun toste die Hexe zwischen den Felsen und Fichten und verübte Unheil, so viel sie vermochte. In Wildemann und in Lautenthal hatte das Hüttenvolk bei Tag und Nacht zu wehren, daß sie nicht alles ruinierte; aber in der Sägemühle zwischen den beiden Bergstädten befand sich niemand mehr, der ihr wehren konnte. Da trieb sie ihr tolles Spiel nach Herzenslust. Sie nahm das alte Rad in Trümmern mit; sie brach in das Haus und bedeckte alles, so weit sie reichte, mit Kies und Puchsand. Sie zerfraß die Wände und warf die Pfosten um; wie eine Tigerkatze spielte sie da mit ihrer Beute.

Radebreckers Mühle stand für immer verlassen seit jenem Abend, wo die ewige Gerechtigkeit ihre Hand vermittelst der Hände der nächsten Behörden dranlegte. Nach den hannoverschen Grünröcken und den bunten Jacken des Herzogs von Richelieu bei Nacht waren noch einmal gar würdige Herren in schwarzen Röcken und amtsmäßigen Perücken bei Tage dagewesen, hatten noch einmal eine genaue Untersuchung des Ortes angestellt und auch mancherlei Dinge zum Kopfschütteln, Aha und Oho gefunden. Nachher mochten Eule, Wolf und Luchs ihr Quartier da aufschlagen; das peinliche Gericht kümmerte sich nicht weiter drob. Was von den Ruderibus noch für Menschenbedürfnis zu brauchen war, das wurde im nächsten Frühjahr und Sommer so nach und nach abgeholt von Leuten der Umgegend, die altes Eisenwerk gebrauchen und dergleichen nicht am rechten Orte kaufen wollten.

So war es im Harz. Wir aber folgen dem Laufe der Innerste wiederum in die Ebene hinaus.

Greulich wälzte sich den ganzen November durch die trübe Flut in das Hildesheimische, und manchen Ortes bekam mehr als ein braver Mann Gelegenheit, sich ein Lied von den zeitgenössischen Poeten zu verdienen, kriegte jedoch, so viel uns bewußt ist, keines. Auch die Mühle zwischen Groß-Förste und Sarstedt hatte ihre liebe Not, sich der bösen, schlammigen Strudel zu erwehren; und was man an Tischen und Bänken und sonst dergleichen auffing an dem Wehr, damit hätte man beinahe einen vollkommenen Haushalt einrichten können.

Aber der junge Meister Bodenhagen hatte einen eingerichteten Haushalt. Er zog das angeschwemmte Geräte nur aufs Trockene und wartete, daß die richtigen Eigentümer kamen und es wieder abholten. Einmal kam auch eine leere Wiege die Innerste heruntergeschwommen, aber auch deren bedurften Müller und Müllerin nicht; — sie hatten vorsorglich eine solche bereits auf dem Hausboden stehen und wollten sich von der Innerste am allerwenigsten eine schenken lassen. Am fünfzehnten Dezember kam wieder Besuch — unerwarteter Besuch — ein Gast, der jetzt zum dritten Male eingekehrte und im Februar versprochen hatte, daß er erst zur Taufe wieder erscheinen wolle; — um aber zu taufen, mußte doch erst das Kindlein vorhanden sein und die Wände beschreien! Der Gast aber sah gerade nicht danach aus, als ob er noch sehr zu dergleichen Festivitäten und sonstigen häuslichen und öffentlichen Lustbarkeiten aufgelegt sei.

Der Korporal Jochen Brand kam mit wunden Füßen, halb verhungert, in Lumpen, daß es ein Abschreck war, und um allem die Krone aufzusetzen, aus dem Gefängnis zu Wildemann.

„Wenn ich seit Torgau unter den Toten in der Grube gelegen hätte, könnte ich mir selber nicht zum größeren Abscheu sein!“ ächzte er, vor dem erstarrten, die Hände zusammenschlagenden jungen Paare in der Mühle auf die Bank fallend. —

Sie kriegten einen guten Schrecken durch die Art und Weise, wie er sich plötzlich in ihrer durch die junge Hausfrau so zierlich und reinlich gehaltenen Stube präsentierte. Der Frau Lieschen brach der Faden und stand das Spinnrad still, dem Meister Albrecht fiel die Pfeife aus dem Munde, und Laudon, der Spitzhund, hatte noch nie einen Bettelmann so außer sich und so giftig angebellt als diesen zerfetzten Wanderer.

Mit Bonjour und Serviteur kam der Korporal diesmal nicht herein, und Gegenfragen des Befindens wegen legten ihm die Müllersleute auch fürs erste nicht vor. Nachdem sie sich von dem ersten Schrecken erholt hatten, griffen sie um so werktätiger zu. Der Meister faßte den erfrorenen und verhungerten Kameraden unter den Armen und setzte ihn bequemer zurecht. Die junge Frau schürte hastig das Feuer im Ofen, und die alte Steinkruke mit dem Weckauf, dem Nebeldrücker und dem Lerchentriller kam vor allem anderen schnell in den Gebrauch. Der Korporal machte jedoch heute keine lustige Bemerkung darüber.

Sie kamen mit dem letzten Schinken vom vorigen Jahre, der noch die Hochzeit überlebt hatte, und sie brachten die beste Wurst vom letzten Schweineschlachten. Dann aber kamen sie mit einem Kübel warmen Wassers und warmen Tüchern, und dann — brachte der Müller Albrecht Bodenhagen seinen einstigen Unteroffizier zu Bett in einer warmen Kammer.

Da lag der Korporal und schlief vom Mittag bis zum Abend, worauf er erwachte und mit matter Stimme dem Meister berichtete, was er erlebt hatte seit seinem letzten Besuche im Auftrage der Innerste.

So schwach und hinfällig hatte er in seinem ganzen Leben nicht von seinen Abenteuern erzählt, und der Meister Bodenhagen mußte sich oftmals tief zu ihm niederbeugen, um ihn verstehen zu können. Wenn wir ihm Wort um Wort folgen wollten, so dürften wir manches zu verzeichnen haben, was die schwärzeste Tinte gelb machte, und manchen Satz, der von der Leserin sicherlich nicht mit Bleistift oder Stricknadel unterstrichen werden würde, auf daß die liebe Freundin ihn auch ohne Mühe auffinde, vorauslese oder ihn gar ausschreibe.

Es gab in dieser Zeit wahrhaftig Spitäler die Hülle und Fülle auf deutschem Boden. Der dritte schlesische Krieg wußte dafür zu sorgen und war nicht blöde, zuzugreifen und Kirchen und Rathäuser zu nehmen, wo die Räumlichkeiten nicht sonst ausreichten. In Torgau und um Torgau her in den Ortschaften, die nicht in Flammen aufgegangen waren, lag’s augenblicklich, das heißt seit dem dritten November, wieder einmal recht voll, und geflucht wurde dort sicherlich mehr als gebetet. Aber der Korporal Jochen Brand allein in seiner kommoden Kammer in der Mühle leistete das Seinige im ersteren vollauf, und den Rechtsherren im Harz mochten wohl die Ohren erklingen ob der Segenssprüche und ernstgemeinten Herzenswünsche, die ihnen da zugesendet wurden.

Wir begnügen uns mit einem Auszuge der Relation des Korporals; aber wir können einen Eid darauf ablegen, daß sich alles so verhielt, wie der Einarm dem früheren Kameraden erzählte, während die junge Frau drunten das Hauswesen versorgte.

„Ich hätte es schon wissen können, wie’s mir ergehen würde, als mir der Feldscherer in Minden den Laufpaß schrieb,“ seufzte der Invalide. „Aber als ich im Februar hier die Kameradschaft grüßte, hing mir der Himmel doch noch voller Geigen, und ich meinte, sie müßten mir doch auf mein Heldentum ein Weniges zugute tun. Prost Mahlzeit! Ich bin nach Hause gekommen mit meinem leeren Ärmel nach Grund, und ich bin richtig zugrunde gegangen im Sumpfe, wie es Sitte ist seit den Feldzügen der Könige in der Bibel und des Generals Julius Cäsar. Aber es geschah mir schon recht: weshalb ließ ich den Feldscherer gewähren und mir den Stumpf verbinden? weshalb setzte ich mich auf Wassersuppen und sonstige schmale Kost? Die Vetternschaft hat mich natürlich auf die letztgewohnte Verpflegung verwiesen, und aus dem Korporal wurde der Landstreicher im Handumdrehen. Der Verwandtschaft zu Grund möchte ich den Hals umdrehen; aber der Meister Radebrecker soll leben: vivat hoch! — Musketier Bodenhagen, es wird Ihm sonderbar sein, es zu vernehmen; aber zu ändern ist’s nicht mehr; Sein Buschmüller dreht sich im Winde, wie der Wind will, und die Raben erlustieren sich an ihm nach ihrem Gefallen: wer sollte ihm noch ein Vivat ausbringen, wenn ich’s nicht täte — he?! — Philister über dir! sie hatten uns alle fest, und ich saß an seinem Tische, an seinem Ofen, und er traktierte wie ein braver Spitzbube. Sie kamen uns wie der Hackelberg über den Hals und nahmen uns allesamt mit und ließen selbst die Doris nicht zurück, um das Haus zu hüten. Paarweise ging’s zwischen den Büchsen und Musketen ins Prison, und die Innerste ging mit! Du, Albrecht, bist immerdar ein Kind gewesen und bleibst eins; aber ich war meinerzeit ein Mann und ein Kerl, wenn ich auch jetzo hier liege und alle Vier von mir strecke. So machte ich mir wenig daraus und ging gutwillig mit den anderen: Gefangenkost zwischen vier dichten Wänden war immer noch nahrhafter und wärmer als Eicheln, Buchecker und Tannenzapfen in freier Luft; aber es wäre mir doch beinahe zu teuer zu stehen gekommen, daß ich mich auf meine Unschuld zu feste verließ. Auf grünem Felde, und wenn ich den Feind dreißigtausend Mann stark anmarschieren sah, habe ich gelacht vor Fußvolk, Reitern und Geschütz und mich auf mein Sponton verlassen; aber vor dem grünen Tisch ist mir das Lachen doch bald vergangen. Wenn ich’s der jungen Frau verzählen würde, was da von wegen der Buschmühle zur Sprache kam, so würde sie ihr Lebtage nicht wieder von Rosen, Goldlack und Vergißmeinnicht träumen. Da lob’ ich mir ein Kriegsgericht, damit geht’s doch wenigstens rasch: marsch zurück in Reih und Glied oder marsch vor die neun Flintenläufe oder zwischen die Spießruten! So ging’s zu Wildemann nicht. Da mußten sie alles zu Papier haben und das meiste doppelt und dreifach, und was wir um unsere Sünden und — unsere Unschuldigkeit da ausgestanden haben, das haben wir an niemandem gesündigt. Die Doris ist die einzige gewesen, welche die Nase hoch behalten hat. Als sie ihr mit der Tortur drohten, hat sie gelacht und sich wirklich davon weggelacht; vom Zuchthause aber hätte sie sich wohl nicht freigelacht, dazu mußte sie die Reserven ins Feuer rufen, und, Musketier Bodenhagen, bei Gott — sie fliegt frei und kann Ihm jeden Augenblick die Hand auf die Türklinke legen. Der anderen hängen sechs wie die Krammetsvögel im Dohnenstiege, und der Meister Radebrecker als Galgenmajor in der Mitte. Ein halb Dutzend haben sie in Eisen nach Celle transportieret; zwei haben sie noch sitzen im Gewahrsam, mich haben sie mit einem lateinischen Spruch laufen lassen, und — Seine Doris, sitze Er still, Kamerad! — die Innerste hat sich selber ranzionieret. Am Tage vor dem Urtelspruch, oder vielmehr in der stichdunklen Winternacht, ist sie an der Feuerleiter am Turm heruntergestiegen; und wenn ich meine Ahnung habe, wer von der Jägerschaft zu Lautenthal ihr die Leiter ans Fenster gelehnt und ihr die Feile zugeschoben hat, so will ich doch lieber auch noch den letzten Arm drangeben, als hier gegen Ritter und Fräulein den Angeber spielen. In der Buschmühle haben wir leider Gottes auch von dir gesprochen, Bodenhagen, und so wahr ich wirklich und ohne Lüge meinerzeit der wilde Brand gewesen, so wollt’ ich um dein arm, lieb, jung Weib, du wärest sicher vor der Innerste, Musketier Albrecht Bodenhagen!“ — —

Der Müller saß in seinem reinlichen weißen Müllerhabit am Bette des guten Kameraden, des tapferen und ehrlichen Soldaten, der sich aus aller Verruchtheit und Verwirrung der Zeiten solch ein braves, frei und kühnes Herze mitgebracht hatte nach Grund in den Bettelstand. Und der Müller sah wahrlich nicht aus, als ob man ihn jemals den wilden Bodenhagen genannt haben könne. Was Vater und Mutter nach seiner Heimkehr aus dem Kriege von dem alten Adam an ihm übrig gelassen hatten, das hatte Jungfer Lieschen Papenberg von Papenbergs Hofe in Groß-Förste gründlich ihm vom Rocke abgebürstet.

Nachdem der Korporal erzählt hatte, sprach oder stotterte der Musketier seinerseits ein Langes und Breites über die Innerste, die Buschmühle, Radebreckers Tochter, Jungfer Doris Radebrecker, und der kriegs-, weg- und weltmüde Kamerad hörte ihn im Halbschlafe an und murrte nur von Zeit zu Zeit ein beifällig Wort. Aber trotz Schlaf und Mattigkeit hatte der Müller Bodenhagen hier einen Beichtvater, wie er keinen gleichen weder im Dom, noch zu Sankt Godehard und Sankt Michael in Hildesheim gefunden haben würde. Mit beiden Armen umfaßte er zuletzt den treuen Freund und seinen wackeren Unteroffizier und rief:

„Jochen, wenn einer, seit er in der Welt ist, im Traume geht, so bin ich das. Wenn einer sich nie zu schicken gewußt hat, so bin ich’s. Was mein seliger Herr Vater aus dir gemacht haben würde, kann ich nicht sagen; aus mir hat er das gemacht, was ich gewesen bin. Aber mit dir hab’ ich doch in mehr als einer Bataille und Scharmützel Schulter an Schulter gestanden, und du kannst mir das Testimonium geben, daß ich getan habe, was die anderen taten, und ein Mehreres prätendiert selbst unser Herrgott im Himmel nicht von unsereinem. Du bist mein Kriegsbruder und Korporal gewesen und hast auch das Deinige an mir getan —“

Hier lachte der Mann im Bette trotz seiner Schwachheit; doch der andere fuhr fort:

„Und der Oberst Colignon hat doch zu Hunderten und Tausenden Volk vom Ofen, von der Straße, von der Schulbank, dem Handwerk und dem Schreibetisch weggeholt, was leichter wog als ich. Ach, Jochen Brand, wie viele Menschen gehen auf Erden, die nichts von sich wissen, und denen es erst die anderen sagen müssen, was sie sind. Und wenn die Zeiten still sind, dann erfahren sie’s wohl niemals und werden achtzig Jahre und bleiben, was sie waren, als sie zuerst ins Licht guckten. Aber anjetzo bei Krieg, Blut und Brand haben die, welche in die Welt kommen wie aus einem Schmiedeofen, gut lachen und die Nasen rümpfen. Ich aber wollte, mein Lieschen und ich, wir säßen auf einer wüsten Insel und wären mit uns allein und kein Zugang zu uns bis an unser seliges Ende.“

„Groß Wasser rundum! Aber schreien dürfte es nicht, wie die Innerste schreien kann,“ murmelte der Korporal, und der Müller sagte nur:

„Ja!“

Dann hörte man den leichten Tritt der jungen Frau treppaufwärts kommen, und der Korporal brummte:

„Jetzt laß mich erst ausschlafen. Drei Tage brauche ich dazu. Schaff aber den Laudon ab — den Mylord Sackville meine ich; er hält dir die Innerste doch nicht vom Leibe mit seinem Gekläff. Heute weiß ich noch nicht, was oben und was unten an mir ist; aber komme ich wieder auf die Beine, so will ich dir zum Dank für Quartier und Menage und um des lieben Herzens deiner Frau willen den Hofhund spielen. An die Kette braucht ihr mich gerade nicht zu legen, denn davon hab’ ich fürs erste genug gehabt im Turme zu Wildemann.“

Zwölftes Kapitel.

A m fünfzehnten Dezember war der Korporal in die Mühle eingerückt, aber am zwanzigsten erst stand er wieder auf den Füßen, ohne sich an die Wand lehnen zu müssen. Auch das hatte er einzig und allein dem Quartier zu danken; denn selten war ein königlich preußischer einarmiger Unteroffizier so trefflich verpflegt worden wie der brave Jochen Brand aus Grund von dem Müller Bodenhagen und seiner Frau Liese.

„Ich wollte, mein Mütterchen könnte vom Himmel aus observieren, was Sie, junge Frau, an ihrem Jungen tut,“ sagte der Kriegsmann jeden Tag wenigstens ein halb Dutzend Male mit möglichst fester und mannhafter Stimme. „Wissen aber möchte ich, was solch ein armer Bettelmann Ihr dafür wieder zugute tun kann, Frau Bodenhagen?“

„Vorlieb soll Er nehmen, Korporal,“ sagte dann die Müllerin. „Warte Er aber nur bis zum heiligen Christ, da kann Er dann beim Kuchenbacken helfen, und wenn Er da Seine Sache so gut macht wie bei Minden oder sonstwo, so kann Er auch sonst noch Sein blaues Wunder erleben.“

„Dieses glaube ich, ohne daß Sie es beschwört, Lieschen; denn daß man eine Tanne aus dem Holze holt und mit Lichtern putzt und Weihnachten feiert, das ist mir durch den Krieg, als ob’s vor tausend Jahren Mode gewesen wäre. Der König und die Kaiserin und die Franzosen, Russen und Schweden haben solches Pläsier gründlich abgeschafft, und selbst in den Winterquartieren hat man keine Zeit dazu gehabt. Wenn mir aber mein leerer Ärmel es zuwege bringt, daß ich noch einmal die Festtagsglocken läuten höre wie vordem, so schreibe ich einen Brief an den französischen König Louis und bedanke mich noch gar schön für seine sakermentsche Kanonenkugel bei Minden. Übrigens ändert sich das Wetter wiederum. Der nichtsnutzige Stummel brennt heute wieder zehnmal ärger als gestern.“ — —

Das Wetter änderte sich zum Frost, und wir haben zum hundertsten Mal ein Wort über die Innerste zu sagen.

Wenn nämlich der junge Müller vorhin meinte, daß er am liebsten mit seiner jungen Frau von aller Welt abgeschnitten auf einer Insel im Wasser wohnen möchte, so war sein Wunsch zu zwei Dritteln in Erfüllung gegangen. Die Innerste stand ihm auf zwei Seiten um das Haus, trat auf den Hof und überschwemmte den Garten bis unter die Fenster seiner Mühle. Noch eine Spanne höher, und sie stieg ihm in das Haus und machte ihm einen Besuch in der Stube. Seinem Wunsche zum Trotz hatte der Meister Albrecht große Sorge darob.

Gegen Groß-Förste zu war alles ein gelber Spiegel; in der Stadt Sarstedt war die Not ebenso groß wie das Wasser, und in der Stadt Hannover, wo die Ihme und die Leine das Ihrige dazu taten, wie das landläufige und, genau besehen, sehr schlimme Wort sagt, — Holland in Not!

Den ganzen Zwanzigsten über wartete die Hausgenossenschaft mit Spannung auf der Schwelle die weitere Bosheit der Innerste ab. Meister Albrecht und seine beiden Knappen — er hatte sich jetzt zwei Gesellen ins Gewerk getan — legten alle Viertelstunde den Zollstock an; aber gegen Abend erwies sich des invaliden Gastes Armstumpf als ein hauptsächlicher Prophet. Es wurde bitter kalt und das Wasser fiel.

Die Innerste zog sich wieder zurück von dem Hause, aus den Stallungen, vom Hofe und aus dem Garten gegen ihr gewohntes Bett. Auch die Wege nach der Stadt und den umliegenden Dörfern wurden allgemach wieder frei. In der Nacht vom Zwanzigsten auf den Einundzwanzigsten legte sich eine leichte Eisdecke über den Fluß, und am Dreiundzwanzigsten trug das Eis, wenn nicht einen ausgewachsenen Mann, so doch ein Kind. Es kam auch ein Kind, ein kleines Mädchen von Groß-Förste herüber, bestellte einen schönen Gruß und brachte die Botschaft, daß die Leute von Papenbergs Hofe gern am ersten Festtage nach der Kirche zur Weihnachtsfeier kommen wollten; sonsten aber sollte das junge Ehepaar den heiligen Abend allein und für sich nach seinem Pläsier und Gusto feiern.

„Wir sind zu drei mit den Mägden und den Gesellen uns auch genug, Jochen,“ sagte der Müller, und der Korporal meinte: „Mir ist’s recht.“

Es war aber doch ein eigen Ding diese ganzen Tage durch mit dem Korporal. Er war nicht als der Alte vom Bette aufgestanden. Es „murxte“ etwas in ihm; was das sei, wußte er freilich selber nicht. Still und nachdenklich, doch nicht unfröhlich schlich er umher, und am Dreiundzwanzigsten holte er sich des seligen Meister Christians große Bilderbibel vom Schranke und saß fast den ganzen Tag darüber.

Die junge Frau guckte ihm von Zeit zu Zeit über die Schulter, und dann sah er jedesmal ihr mit einem Kopfschütteln in die klaren, freundlichen Augen, und mehrmals sagte er auch ganz weichmütig: „So wunderlich kurios ist mir noch nie zumute gewesen, Frau.“

„Das macht das Ungewohnte, Herr Kamerad,“ meinte die Müllerin. „Er hat die alten Bilder eben lange nicht umgeblättert. Wenn ich Zeit hätte, wollte ich mich wohl zu Ihm setzen und mit ihm die Hirten und Engel und die Propheten und die ausländischen Kamele und Palmenbäume besehen. Als Mädchen hab’ ich mir in diesen Tagen immer ein Stündchen dazu übergespart. Es ist so heimelig, wenn’s draußen so kalt ist und in der Stube so warm und der Kuchen durchs ganze Haus riecht. Es gehört alles zueinander und —“

„Sakerment!“ schrie der Korporal, auf das alte Bilderbuch schlagend, „und kein Mensch sollt’s für möglich halten, daß der Broglio heute noch in Kassel sich verschanzt hält! O Frau Liese, Sie kann doch nicht so darüber reden wie ich, der ich verstümmelt aus dem Kriegsleben komme und alle großen Bataillen des Königs Fritz und des Prinzen Ferdinand mitgemacht habe! Sie sollte es probiert haben im Spital zu Minden und dann unter der Vetternschaft zu Grund und dann in Radebreckers Mühle und zu guter Letzt im Prison zu Wildemann und dann sich plötzlich finden hier in der Friedlichkeit und Stilligkeit. Kotz Blitz, will Sie Ihr lieblich Heimwesen besser kennen als ich? Eins sage ich Ihr: keiner soll mir dran rühren — beim lebendigen Gott und so wahr ich Jochen Brand heiße!“

Die junge Frau war sehr erschreckt vor der ungebührlichen Aufregung und dem Fluchen und Räsonnieren ihres Gastes zurückgefahren.

„Nehme Sie es nicht übel, Lieschen. Ich wollte, ich könnte deutlicher sagen, was ich im Sinn und Herzen habe,“ seufzte der Korporal. „Aber da draußen Albrecht hat recht, und in dieser Minute absolvier’ ich ihn ganz und gar, und er soll das Seinige behalten; niemand — nicht Mann und Weib soll ihn drin verstören, so lange ich’s hindern kann.“

„Wie meint Er denn das, Korporal?“ fragte die junge Frau scheu; doch plötzlich griff sie sich an die Stirn und rief, ganz bleich werdend: „Jesus, Jesus — es ist ja wahr! Das Jahr geht zu Ende und sie hat ihren Willen nicht gekriegt!“

„Jetzt gibt Sie mir eine Nuß zum Knacken, Frau Meisterin!“

„Die Innerste meine ich, Korporal Brand! An dem Tage, als die Mutter gestorben ist, hat sie geschrien, und diesmal habe auch ich mit meinen Ohren sie schreien hören, so wahr ich lebe!“

„Pu-u-uh!“ machte der Korporal und versuchte noch einmal so auszusehen wie in früheren Tagen, wo er den Hut am liebsten schief auf dem Ohr trug. Es kam aber eine Visage dabei heraus, die allzu sehr nach jenem Oktoberabend in Radebreckers Mühle aussah, um vergnüglich sein zu können.

„Mache Sie sich selber keine Dummheiten weis,“ brummte er und fügte sonderbar mürrisch hinzu: „Übrigens aber, Frau Liese, ist ein schwarzes Huhn im Notfall immer noch zu beschaffen.“

„Ich kriege auch meinen Albrecht noch dran!“ rief die Müllerin; dann aber wurde sie von einer eiligen Magd abgerufen, und der Korporal war wieder allein.

„Wunderlich, wunderlich, wunderlich!“ murmelte er, eine der Bildtafeln in der großen Bibel umschlagend. „Ich habe aber mal im Lager bei Krefeld verzählen hören, daß auch der König Fridericus solcherlei Anwandlungen habe. Na, vor Hochkirch hatte er aber keine dergleichen; also verlassen kann man sich auch darauf nicht.“ — —

Am vierundzwanzigsten nachmittags drei Uhr war weißer Sand frisch gestreut in der Stube, und der Korporal wagte kaum noch aufzutreten, als er die Blumentöpfe im Fenster scharf in Reihe und Glied rückte. Als die Dämmerung kam, ging ihm auch die Pfeife aus, und um fünf Uhr saß er still mit dem Müller — seinem früheren Musketier — auf der Ofenbank und blickte durch die Dämmerung mit einer Art von drolligem Respekt auf die noch dunkle Weihnachtstanne, an deren Aufputz er selber mit geholfen hatte. Die junge Frau vernahm man in der Küche, und jetzt legte der Einarm dem Kameraden fast zärtlich die Hand aufs Knie und sagte:

„Kerl, ich habe oft meinen Jokus an dir gehabt, aber diesmal ist’s mir Ernst mit dir! Es ist eine Kriegswelt, und ohne deinesgleichen hätten wir anderen uns schon längst untereinander aufgefressen. Deshalb gibt’s von deinesgleichen am mehrsten auf Erden — der Herrgott hat’s so eingerichtet, und er muß Bescheid wissen. Und weil dieses so ist, so bleib bei deiner Natur, halte dein Haus rein, sei vergnügt mit deinem Weibe und kümmere dich nicht um Dinge, in die du hineingeraten bist wie der Esel in die Dragonerremonte. Augenblicklich aber habe ich dir wie mir nichts weiter zu wünschen, als daß der Christabend zu Ende gehe, wie er jetzo angefangen hat.“

Vergnügte Weihnachten! Eine Stunde später war die ganze Bewohnerschaft der Mühle um die lichterglänzende Tanne versammelt, und der Korporal Brand hielt der Abwechselung wegen den leeren Ärmel mit den Zähnen; er hatte sich mit dem Aufschlage die Augen gewischt, und da er seit seinem Auferstehen vom Bett ganz und gar in einem Kostüm seines Kameraden und Wirtes stak, so wußte er mit den Knöpfen daran noch nie so gut Bescheid wie mit jenem einzelnen Knopf, der ihm im Oktober von der Montur Seiner Majestät des Königs Friedrich von Preußen allein übrig geblieben war.

Arm in Arm standen Müller und Müllerin vor dem Tisch mit dem Tannenbaume, und ein jeder der zwei Mühlknappen hatte seinen Arm um die Hüfte einer der beiden kichernden Mägde der Frau Lieschen Bodenhagen gelegt. Daß der Marschall Broglio zu Kassel lag und die Vorposten der Franzosen über Göttingen und Einbeck und bis in den Harz hineinstanden, kümmerte keinen in der Mühle bei Sarstedt an der Innerste. Sie sahen die Lichtlein und goldenen Äpfel funkeln, sie knackten ihre Nüsse wie die Eichhörnchen im Neste, und dann saßen sie und sahen die Lichter an ihrem Weihnachtsbaum niederbrennen, und die drei Weiber sangen ein Weihnachtslied, in das die Mannsleute hinter ihren Tonpfeifen hineinsummten.

„Die Welt ist im Krieg; wir aber gebrauchen die gute Stunde, Frau Meisterin!“ rief der Korporal fröhlich.

„Das sage ich auch,“ sprach die Frau Meisterin.

„Für das, was sonst kommen kann, haben wir ja auch die vier Büchsen geladen an der Wand, Jochen,“ meinte der Müller. „Im vorigen Monat, als du ruhig im Turm lagst und der Franzos bei Einbeck sich verschanzte, ist das Gesindel oft genug an der Tür gewesen. Die Schererei reißt nicht ab.“

Die beiden Mühlknappen gaben auch ihr Wort dazu; das letzte Lichtlein an der Tanne brannte herunter.

„Heidi!“ rief der Korporal; und der Müllerin kleine Blechlampe lieferte wieder das einzige Licht für die Stube und Kumpanei. Nun schnurrten die Spinnräder wieder, die Männer schmauchten und tranken und sprachen von allerlei Abenteuern, die sie erlebt hatten, jedoch mit „Modestität“, und daß auch das Frauenzimmer sein Behagen dran haben konnte.

Um neun Uhr fing es an zu schneien, und um zehn Uhr fiel der Schnee sehr dicht. Fluß und Land wurden von einer weißen reinlichen Decke überzogen, und nur Gesträuch und Gartenzaun, sowie das Gebüsch am jenseitigen Ufer der Innerste hoben sich schwärzlich im Schneelicht ab. Vom Zieten im Busch kamen die Männer auf ein ander behend Geschöpf im Busch, und wie man das in Schlingen in der Hecke fängt und sich einen billigen Braten im Schlafe schenken läßt. Grinsend legte der Meister Albrecht den Finger auf den Mund und rief:

„Haltet die Mäuler, wir haben sonst morgen benebst der Verwandtschaft die ganze Sarstedter Försterei hier, um uns in die Töpfe zu riechen. Sie wissen immer noch einen Hasen von einem Hammelviertel zu unterscheiden.“

Dabei stand er auf, ging zum Fenster, öffnete es und schob den Kopf hinaus. Kein Lüftchen rührte sich; das weiße Gewimmel kam wie im leichten Spiel vom dunklen Firmament herab, aber ziemlich hell ist es die ganze Nacht durch geblieben, denn der Vollmond hat nicht nur im Kalender, sondern wirklich hinter dem Gewölk gestanden.

„Wenn das so weiter geht, Lieschen, wie’s angefangen hat, so werden Vater und Mutter morgen auf ihrem Wege hierher die Beine hübsch hoch heben müssen. Wir wollen aber eine Wacht stellen, daß sie sich nicht einfallen lassen, schon dem Eis zu trauen. Die Innerste —“

Er brachte das, was er noch sagen wollte, nicht heraus. Hell und klar — ja unendlich melodisch klang ein Ruf durch die Nacht über die Innerste her — ein singender harzischer Bergruf, und in demselben Moment blitzte und krachte ein Schuß aus dem Weidenbusch, und die Kugel streifte dem Meister Bodenhagen die Stirn, fuhr durch die Weihnachtstanne und schlug in die Stubenwand. Zu gleicher Zeit erschütterten heftige Schläge die Tür der Mühle, und ein zweiter Schuß schien in das Türschloß abgefeuert worden zu sein. Die nächtlichen Angreifer waren im Hause, ehe sich ein einziger in der Stube von dem plötzlichen Schrecken aufgerafft hatte. Durch ein greulich Fluchen jauchzte die helle Stimme wieder.

„Jesus Christus, die Innerste!“ jammerte die Müllerin, und die beiden Mägde drückten sich mit Zetergeschrei in den Winkel. Von allen zuerst hatte diesmal der Müller seine Sinne beisammen. Schon hatte er eine der Flinten, von denen er vorhin sprach, vom Nagel gerissen.

„Die Marodebrüder! Ob’s mir geahnt hat?! Hans, Fritz, die Büchsen herunter — Lieschen, unter die Bank — Courage!“

„Courage!“ schrie auch der Korporal, „das Gesindel feg’ ich mit der Linken vom Tisch. Kriecht unter, Weibervolk — da sind sie, und es ist auch nur ein Weihnachtsbesuch!“

Er hatte ein Handbeil aus der Ecke aufgegriffen und trat gegen die Stubentür: „ Bon soir, messieurs!

Es waren drei Kerle, die in die Stube drangen; — Gesindel, wie es sich zwischen den Heeren umtrieb, und wie der Bauer jener Zeit es zu seinem Schrecken und Schauder nur allzu gut seit Jahren kannte! Der Rock des fünfzehnten Ludwig neben der zerfetzten Uniform König Friedrich des Zweiten! Um den dritten Galgenstrick aber zu kostümieren, mußte die ganze Reichsarmee Mann für Mann einen Fetzen hergegeben haben, und es wäre wahrlich ein Kunststück gewesen, aus seiner äußeren Erscheinung her bestimmt abzunehmen, welchem Herrn er zuletzt falsch geschworen hatte.

Was nun in der Mühle vorging, läßt sich schwer nacheinander erzählen. Besinnen und Bedenken war nicht am Ort. Der Meister Müller, den sie einst den tollen Bodenhagen nannten, schoß zuerst, und traf auch. Die Eindringlinge feuerten ihre Pistolen ab.

Sacre nom de dieu! En avant les autres!

Der Korporal Brand schlug für den Musketier Bodenhagen zu, wie er vordem auf ihn gehauen hatte; und ob den beiden guten Knappen Hans und Fritz würde dem Oberst Colignon das Wasser im Munde zusammengelaufen sein. Es wurde ein Raufen, Heulen, Sakermentieren und Ächzen im Dunkeln, denn der Tisch stürzte um mit der Lampe und der Weihnachtstanne, und die weißen Müllerhabiter hatten jetzo ihr Gutes; es war ihretwegen keine Not, daß Meister, Gesell und Gast aufeinander schlugen. Der Schnee leuchtete ihnen aber auch von draußen.

Sie trieben die Räuber bis auf die, welche zu Boden lagen, in den Hausgang zurück und dann auch wieder aus dem Hause hinaus. Sie konnten nur noch die Kolben gebrauchen, aber sie gebrauchten sie trefflich; daß die Not sie beten lehrte, konnte man gerade nicht behaupten. Die Mühle wehrte sich tapfer, und die Frauenstimme, die so melodisch das Zeichen zum Angriff gegeben hatte und immer von Zeit zu Zeit von neuem in den Lärm des Überfalls klang, wurde immer greller, kreischender, zorniger, giftiger! Die drei armen Weiber, die im Winkel am Ofen in ein zitternd Bündel zusammengeduckt knieten, vergingen am meisten vor dieser Stimme in Schauder und Ohnmacht. Seltsamerweise hatte nächst den Frauen der Korporal Jochen das feinste Ohr für sie; der junge Meister Albrecht Bodenhagen, sein Haus und Weib verteidigend, achtete kaum darauf.

Es ging scharf — scharf um das Heimwesen des Müllers an der Innerste. Fritz und Ferdinand, Soubise und Broglio waren mit ihren Armaden vertreten unter den dunklen Gestalten, die im Schneegestöber aus dem Weidengebüsch am Fluß vorhuschten, über das Eis glitten und über den Gartenzaun kletterten, um die Mühle und ihre Bewohner in ihre Gewalt zu kriegen; aber der wilde Bodenhagen und sein Haus hielten sich gut. Wenn es ein Glück war, daß die alte Frau diese Nacht nicht erlebte, so war es doch schade, daß der alte Meister Christian sein Söhnchen diesmal nicht bei der Arbeit sehen konnte.

Sie verrammelten die eingestoßene Pforte, sie luden und schossen aus den Fenstern. Sie trafen dann und wann auch, und der einarmige Korporal meinte:

„Wenn sie uns das Dach nicht über den Köpfen anstecken, halten wir uns bei Gott, bis Bürgermeister und Rat aus Sarstedt zum Sukkurs kommen! Courage! Courage! — Uh, wer stopft die Weiberkehle da?“

Die letzte Frage hatte er zwischen den Zähnen gemurmelt. Dicht unter dem zertrümmerten Fenster, an dem er mit seinem Beile stand, war der schrille Schrei erklungen, und wieder wurden zwei oder drei Schüsse in die Stube hinein abgefeuert. Ein durchdringender Jammerlaut aus dem Ofenwinkel folgte sofort, und der eine der Knappen schoß zurück aus dem Fenster und traf. Die dunklen Gestalten im Garten huschten durcheinander und fluchten deutsch und französisch. Das Weib rief scharf und spöttisch drein: und noch einmal stürzten sich die Angreifer auf die zertrümmerte Haustür, deren Verrammelung von dem Meister Albrecht und seinem zweiten Gesellen in Verzweiflung verteidigt wurde.

„Hans Lages, willst du mit? In dem Dampf hier vergeht einem doch der Atem; — ich hab’s mir versprochen, und so lang’ ich lebe, kriegt die Innerste ihren Willen nicht!“

„Hops über, Herr Unteroffizier, wir springen ihnen auf den Buckel!“ rief der tapfere Mühlknappe, und sie schwangen sich ein jeder aus einem der beiden Fenster und fielen den nächtlichen Räubern wirklich in den Rücken, der eine mit seiner Handaxt, der andere mit dem Kolben. Wie nicht ganz selten in dergleichen Fällen übertraf der Erfolg die Erwartung. Der Schnee fiel stärker denn je; die Marodebrüder hatten mehr als einen guten Mann verloren, und eine Panik fiel über sie. Sie wichen zurück und gerieten, wie das dann gewöhnlich zu geschehen pflegt, ins Laufen. Auch der Meister Bodenhagen und der Knappe Fritz sprangen jetzt hervor aus ihrer Verschanzung, und es wurde eine Verfolgung durch den Garten gegen die Innerste zu. Noch ein kurzes Ringen fand auf dem Windeise des übergetretenen Flusses statt, und da ertönte zum letzten Male, aber auch am markdurchdringendsten, der schlimme gespenstische Schrei: es ging ein Knattern durch das Eis — das Wasser bekam doch seinen Willen in diesem Jahre Siebenzehnhundertsechzig: unter dem Eise weg trieb eine Weiberleiche abwärts gegen die Stadt Sarstedt zu, ist jedoch erst im März des nächsten Jahres, als der Tauwind blies, zutage gekommen.

In Sarstedt wie in Groß-Förste hatte man nun aber allgemach die Überzeugung gewonnen, daß das Flinten- und Büchsenfeuer mitten in der Nacht irgendeinen Grund habe, und zwar einen bedenklichen. Im Dorfe zog man die Sturmglocke, und von der Stadt her kamen Bürgermeister und Bürgerschaft wirklich zum Sukkurs.

Man kam mit Laternen und Fackeln und allen möglichen Gewaffen und verwunderte sich über die Art, in welcher die Mühle des Meisters Bodenhagen die Weihnachten hatte feiern müssen. Drei Leichen und fünf mehr oder weniger schwere Verwundete ließen die Marodeurs vor der Mühle zurück, und einen toten Raubvogel hob man im Hausgange auf. Die männlichen Bewohner der Mühle bluteten sämtlich, doch nur aus leichten Wunden, bis leider auf den tapferen Korporal Jochen Brand, den man am Rande der Innerste unter dem Gartenzaun bewußtlos in seinem Blute liegend fand. Ein Messerstoß hatte ihn in die Seite getroffen über der rechten Hüfte, und er kam nur noch einmal zum Bewußtsein, und zwar am folgenden Morgen, als in Dorf und Stadt die Glocken zur Weihnachtsfrühkirche läuteten und das Singen durch die Christenwelt anhub: dies est laetitiae , oder zu deutsch: der Tag, der ist so freudenreich, wie es seit vielen, vielen hundert Jahren gesungen wird in den Kirchen.

Da sprach der Korporal mit schwacher Stimme zu dem jungen Müller:

„Lebe wohl, adjes, Musketier Bodenhagen; du hast deine Sache gut gemacht, und ich habe meine Lust an dir gehabt. Halte dich fernerhin gut und halte dein lieb Weib gut. Es war die Radebreckersche; — es war — unsere Doris, mit der ich mich auf dem Eise zerrte! Sie ist immer so gut gewesen wie ihr Wort; aber den Stoß hab’ ich doch eigentlich nicht von ihr verdient, denn ich war der einzige von allen Gästen der Buschmühle, der’s gut mit ihr meinte — besser als nach ihren Meriten. Wer kann aber wider das wilde Wasser, und wo sollte die arme Kreatur hin aus dem Turm in Wildemann? Ich bin zu dir und deiner Liese gekommen, aber für sie war keine Zuflucht als die Lagerkameradschaft, der Krieg mit der Welt bis aufs Messer und was dran hängt an dem Kriege! Adjes, Albrecht, ich mache mir nichts draus, und ich glaube, sie macht sich auch nichts draus, daß es zu Ende ist.“

Der Müller weinte, und als dann die Müllerin in die Kammer kam, weinte sie gleichfalls, und beide mit vollem Rechte.

„Adjes, Frau Liese,“ sagte der Korporal noch schwächer als zuvor. „Vor der Innerste braucht Sie keine Furcht mehr zu haben, junge Frau; sie hat ihr schwarz Huhn. Aber mit meiner Gevatterschaft ist’s auch nichts; — es war kurios, aber ich habe mich die letzten Tage über gar nicht mehr drauf gefreut. Gott helf’ Euch durch die Zeit; — König Fritzen geht’s auch hart — vivat Fridericus! Durch kommt er doch, und Friede wird auch; — ich habe den meinigen heute schon versiegelt und bin ganz im Reinen. Ein unnützer invalider Vagabond war ich doch, und der beste Kamerad wäre auf die Länge meiner überdrüssig geworden.“

Durch sein Schluchzen wollte der Müller dem Sterbenden noch ein Wort dreinreden in sein letztes Wort; doch es ist immer ein bedenklich Ding, das Dreinreden in ein letztes Wort.

Wie gesagt, auch diese Mühle an der Innerste steht heute nicht mehr; aber es haben nach dem Meister Albrecht noch zwei Bodenhagen drauf gesessen. Erst seit dem Jahre 1803, als die Franzosen unter Mortier im Hannoverschen waren, ist sie allgemach nahrungslos geworden und endlich um das Jahr 1820 abgebrochen. Die Innerste ist reguliert worden wie die Ihme und die Leine; sie hat zwar auch jetzt noch ihre Nücken und Tücken und verlangt dann und wann wohl ein Lebendiges zum Fraß; aber daß sie danach schreie, glaubt heute kein Mensch mehr.

Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Fremdsprachige Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, wurden in einem anderen Schriftstil markiert.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):