Title : Die Technik des Dramas
Author : Gustav Freytag
Release date : December 5, 2015 [eBook #50616]
Language : German
Credits
: Produced by Peter Becker, Jana Srna, Norbert H. Langkau
and the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net
von
Gustav Freytag.
Zehnte Auflage.
Leipzig
Verlag von S. Hirzel
1905.
Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.
Sie haben wesentlichen Antheil an der großen Arbeit gehabt, durch welche Shakespeare dem deutschen Volke in das Herz geschlossen wurde, in der heiteren Muße eines schön gehaltenen Lebens haben Sie unsere Kenntniß früherer Literaturperioden nach mehr als einer Richtung gefördert, mir selbst ist die Freude geworden, mit Ihnen einzelne Kunstregeln und Hilfsmittel dichterischer Arbeit in guter Stunde durchzusprechen. So lassen Sie sich gefallen, daß Ihr Name als günstige Vorbedeutung diesem Buche vorsteht. Ein Einzelner wünscht Ihnen dadurch öffentlichen Dank für Vieles auszusprechen, womit Sie unserem Volke wohlgethan haben.
Was ich Ihnen darbiete, soll kein ästhetisches Handbuch sein, ja es soll vermeiden das zu behandeln, was man Philosophie der Kunst nennt. Zumeist solche Erfahrungen wünschte ich aufzuzeichnen, wie sie der Schaffende während der Arbeit und auf der Bühne erwirbt, oft mit Mühe, auf Umwegen, spät für beglückenden Erfolg. Ich hoffe, auch in dieser Gestalt mag das Buch einigen Nutzen stiften. Denn unsere Lehrbücher der Aesthetik sind sehr umfangreiche Werke und reich an geistvoller Erklärung, aber man empfindet zuweilen als Uebelstand, daß ihre Lehren gerade da aufhören, wo die Unsicherheit des Schaffenden anfängt.
Die folgenden Blätter suchen also zunächst einen praktischen Nutzen, sie überliefern jüngeren Kunstgenossen einige Handwerksregeln in anspruchsloser Form. Die Veranlassung dazu fand ich in gelegentlichen Anfragen einzelner Schaffenden und in den Dramen, welche ich in der Handschrift zu lesen hatte. Wohl Jeder, dem das Vertrauen Anderer ein schriftliches Urtheil über ein neues Stück abfordert, hat erfahren, wie schwer, ja wie unmöglich es ist, eine ehrliche Ueberzeugung im Raum eines Briefes so zu begründen, daß der Dichter, noch warm von der Arbeit und befangen in den beabsichtigten Wirkungen, die Billigkeit des Tadlers und die Berechtigung der fremden Ansicht erkenne. Und nicht immer ist Muße die Handschrift zu lesen und eingehend zu antworten.
Was auf diesen Blättern in Kürze dargestellt wird, ist auch kein Geheimniß, kein neuer Fund. Fast Jeder, der auf unserer Bühne einige Erfahrung erworben hat, handhabt, mehr oder weniger sicher, die folgenden Regeln. Auch nicht die möglichste Vollständigkeit technischer Vorschriften suchte ich zu erreichen. Sie lassen sich sehr häufen, jeder Schaffende besitzt seine besondere Art zu arbeiten und gewisse ihm eigene Mittel zu wirken. Es kam hier darauf an, die Hauptsache herauszuheben und dem jüngeren Dichter den Weg zu weisen, auf dem er sich selbst zu fördern vermag.
Wenn aber der Freund fragen sollte, ob, wer selbst für die Bühne schreibt, nicht vorziehe, die Arbeitsregeln durch eigene Erfindung annehmbar zu machen, so will ich dieses Buch auch entschuldigen. Es werden alljährlich in Deutschland vielleicht hundert Dramen ernsten Stils geschrieben, wohl neunzig davon verschwinden in Handschrift, ohne auf die Bühne, selbst ohne zum Druck zu gelangen. Von den zehn übrigen, welche eine Aufführung durchsetzen, geben vielleicht nicht drei den Darstellern eine würdige und lohnende Aufgabe, den Zuhörern die Empfindung eines Kunstgenusses. Und unter den vielen Werken, welche untergehen, bevor sie lebendig geworden sind, sind allerdings zahlreiche Versuche Unfähiger, aber auch manche Arbeit hochgebildeter und tüchtiger Männer. Das ist doch eine ernste Sache. Hat sich die Talentlosigkeit in Deutschland eingebürgert, und sind wir sechzig Jahre nach Schiller noch so arm an dramatischem Leben?
Und sieht man solche Arbeiten näher an, so wird man die Beobachtung machen, daß hier und da sich allerdings achtungswerthe Kraft regt, aber formlos, zuchtlos, mit seltsamer Unbehilflichkeit im Herausheben der Wirkungen, welche dem Drama eigenthümlich sind.
Noch immer wird den Deutschen sehr schwer, was unsere westlichen Nachbarn leicht erwerben, Verständniß dessen, was auf der Bühne darstellbar ist. Wollte man den treuen Bundesgenossen, der in Karlsruhe mit unermüdlicher Sorgfalt unbrauchbare Stücke beurtheilt, nach seinen Erfahrungen fragen, er würde wahrscheinlich als letzten Grund dieser dramatischen Schwäche hervorheben, daß unsere Dichter nicht selbst auf der Bühne den Ball werfen wie Sophokles, oder geisterhaft im Harnisch schreiten wie Shakespeare.
Dieser Uebelstand läßt sich allerdings nicht beseitigen. Man kann unsere jungen Dichter nicht veranlassen, sich in dem Rollenfach zweiter Liebhaber für die Kunst zu ziehen, man kann unsere Schauspieler, denen ihre schöne Kunst zur anstrengenden Tagesarbeit geworden ist, nicht mit behaglicher Ruhe und Muße umgeben. Aber durch eine genauere Bekanntschaft mit der Bühne und ihren Bedürfnissen läßt sich für die Dichter doch Vieles lernen.
Nur wird diese Bekanntschaft allein, bei der Stillosigkeit, die auch auf unsern Theatern herrscht, nicht Alles bessern. Denn es scheint, daß auch unsere Schauspieler unsicher werden im Gebrauch der Kunstmittel, denen sie ihre besten Wirkungen verdanken. Deshalb, meine ich, ist die Zeit gekommen, wo ernstes Nachdenken über Gesetz und Regel noth thut.
Und noch einen Grund gibt es, der solches Niederschreiben nützlich machen kann. Auch Sie haben sich die schöne Eigenschaft des reifen Alters bewahrt, hoffnungsvoll in die deutsche Zukunft zu blicken. Vielleicht scheint auch Ihnen eine Zeit nicht mehr in unerreichbarer Ferne zu liegen, in welcher der Deutsche mit Selbstgefühl und stolzem Behagen das eigene Leben mustert. Dann mag der Frühling für ein reichliches Blühen des Dramas gekommen sein. Und für diese Periode dem auflebenden Geschlecht die Pfade von einigen Dornen zu säubern, ist immerhin keine erfolglose Arbeit.
Dies Buch handelt nur von dem Drama hohen Stils, das Schauspiel ist nebenbei erwähnt. Die Technik unseres Lustspiels darzustellen ist deshalb bedenklich, weil zwar zwei Arten desselben, Familienstück und Posse, bei uns eine breite und behagliche Ausbildung erhalten haben, die höchste Gattung der Komödie aber überhaupt noch kaum auf der neueren Bühne lebendig geworden ist. Ich meine die launige und humoristische Darstellung des beschränkten Empfindens, Wollens und Thuns, welche über die Anekdote des häuslichen Lebens hinausgeht und weitere Kreise menschlicher Interessen behandelt. Wenn erst Schwäche der Fürsten, politische Spießbürgerei des Städters, Hochmuth des Junkerthums, die zahlreichen socialen Verbildungen unserer Zeit ihre heitere und stilvolle Verwerthung in der Kunst gefunden haben, dann wird es auch eine ausgebildete Technik des Lustspiels geben.
Daß ich unter den Beispielen die Spanier und die Classiker der Franzosen nicht aufgeführt habe, werden Sie billigen. Schönheiten und Fehler des Calderon und Racine sind nicht die unseren, wir haben von ihnen nichts mehr zu lernen und nichts zu fürchten.
Leipzig , 1863.
Gustav Freytag.
Die Technik des Dramas.
Seite | |
Einleitung. Die Technik des Dramas nichts Feststehendes. Sichere Handwerkstüchtigkeit früherer Zeiten. Lage der Modernen. Poetik des Aristoteles. Lessing. Die großen Bühnenwerke als Vorbilder | 3 |
Erstes Kapitel. Die dramatische Handlung. | |
1. Die Idee. Wie das Drama in der Seele des Dichters entsteht. Herausbilden der Idee. Der Stoff und seine Umbildung. Der Geschichtschreiber und der Dichter. Die Gebiete des Stoffes. Die Umbildung des Wirklichen nach Aristoteles | 9 |
2. Was ist dramatisch? Erklärung. Wirkungen. Charaktere. Die Handlung. Das dramatische Leben der Charaktere. Eintreten des Dramatischen in das Menschengeschlecht. Seltenheit der dramatischen Kraft | 18 |
3. Einheit. Das Gesetz. Bei den Griechen. Wie sie hervorgebracht wird. Ein Beispiel. Wie die Einheit bei geschichtlichen Stoffen nicht gewonnen wird. Falsche Einheit. Wo ein Dramenstoff zu suchen ist. Der Charakter im neueren Drama. Das Gegenspiel und seine Gefahr. Die Episode | 26 |
4. Wahrscheinlichkeit. Was wahrscheinlich sei. Gesellige Wirkungen des Dramas. Das Fremdartige. Das Wunderbare. Mephistopheles. Das Vernunftwidrige. Shakespeare und Schiller | 46 |
5. Wichtigkeit und Größe. Charakterschwäche. Vornehme [S. iv] Helden. Privatpersonen. Entwürdigung der Kunst | 56 |
6. Bewegung und Steigerung. Staatsaktionen. Innere Kämpfe. Dichterdramen. Nichts Wichtiges ist wegzulassen. Prinz von Homburg. Antonius und Kleopatra. Botenscenen. Verhüllen und Wirken durch Reflexe. Wirkungen durch die Handlung selbst. Nothwendigkeit der Steigerung. Gegensätze. Parallelscenen. | 60 |
7. Was ist tragisch? Wiefern der Dichter darum nicht zu sorgen hat. Die Katharsis. Wirkungen des antiken Trauerspiels. Gegensatz des deutschen Dramas. Das tragische Moment. Die Peripetie und Anagnorisis | 76 |
Zweites Kapitel. Der Bau des Dramas. | |
1. Spiel und Gegenspiel. Zwei Hälften. Steigen und Sinken. Zwei Arten des Aufbaues. Drama, in welchem der Hauptheld führt. Drama des Gegenspiels. Beispiele. Schauspiel und Trauerspiel | 93 |
2. Fünf Theile und drei Stellen. Die Einleitung. Das erregende Moment. Die Steigerung. Das tragische Moment. Fallende Handlung. Das Moment der letzten Spannung. Die Katastrophe. Nöthige Eigenschaften des Dichters | 102 |
3. Bau des Dramas bei Sophokles. Entstehung der Tragödie. Pathosscenen. Botenscenen. Dialoge. Aufführungen. Die drei Schauspieler. Umfang ihrer Leistung mit moderner verglichen. Einheit des Darstellers zur Verstärkung der Wirkungen benutzt. Rollenvertheilung. — Ideen der erhaltenen Tragödien. Bau der Handlung. Die Charaktere. Aias als Beispiel. Eigenthümlichkeit des Sophokles. Sein Verhältniß zu den Mythen. Die Theile der Tragödie. — Antigone. König Oedipus. Elektra. Oedipus auf Kolonos. Trachinierinnen. Aias. Philoktetes | 123 |
4. Drama der Germanen. Bühne des Shakespeare. Ihr Einfluß auf den Bau der Stücke. Eigenthümlichkeit Shakespeare's. Seine fallende Handlung und ihre Schwächen. Bau des Hamlet | 160 |
5. Die fünf Akte. Einfluß des Vorhangs und der modernen Bühne. Ausbildung der Akte. Die Fünfzahl. Ihre technischen Besonderheiten. Erster Akt. Zweiter. Dritter. Vierter. Fünfter. Beispiele. Bau des Doppeldramas Wallenstein | 170 |
[S. v] Drittes Kapitel. Bau der Scenen. | |
1. Gliederung. Auftritte. Einheiten des Dichters. Ihre Verbindung zu Scenen. Aufbau der Scenen. Zwischenakte. Coulissenwechsel. Haupt- und Nebenscenen | 185 |
2. Die Scenen nach der Personenzahl. Führung der Handlung durch die Scenen. Monologe. Botenscenen. Dialogscenen. Verschiedene Bauart. Liebesscenen. Drei Personen. — Ensemblescenen. Ihre Gesetze. Die Galeerenscene in Antonius und Kleopatra. Banketscene der Piccolomini. Rütliscene. Reichstag im Demetrius. — Massenscenen. Vertheilte Stimmen. — Gefechte | 191 |
Viertes Kapitel. Die Charaktere. | |
1. Völker und Dichter. Voraussetzung des dramatischen Charakterisirens. Schaffen und Nachschaffen. — Verschiedenheit der Charaktere nach Völkern. Germanen und Romanen. — Verschiedenheit nach Dichtern. — Shakespeare's Charaktere. Lessing. Goethe. Schiller | 215 |
2. Charaktere im Stoff und auf der Bühne. Die Charaktere abhängig von der Handlung. Beispiel Wallenstein. Charaktere mit Porträtzügen. — Die geschichtlichen Charaktere. Dichter und Geschichte. Der Gegensatz zwischen Charakter und Handlung. Die epischen Helden innerlich undramatisch. Euripides. Die Deutschen und ihre Sage. — Aeltere deutsche Geschichte. Beschaffenheit der historischen Helden. Innere Armuth. Mischung von Gegensätzlichem. Mangel an Einheit. Einfluß des Christenthums. Heinrich IV. — Stellung des Dichters zu den Erscheinungen der Wirklichkeit. — Gegensatz des Dichters und Schauspielers | 232 |
3. Kleine Regeln. Die Charaktere müssen dramatische Einheiten sein. — Das Drama soll nur einen Haupthelden haben. Doppelhelden. Liebende. — Das Handeln soll auf leicht verständlichem Grundzug des Charakters beruhen. — Mischung aus böse und gut. — Der Humor. — Der Zufall. — Die Charaktere in den verschiedenen Akten. — Forderungen der Schauspieler. Das Bühnenbild soll dem Dichter lebhaft sein. Die Fächer des Schauspiels. Was heißt wirksam schreiben? | 262 |
[S. vi] Fünftes Kapitel. Vers und Farbe. | |
Prosa und Vers. — Der fünffüßige Jambus. — Tetrameter, Trimeter, Alexandriner, Nibelungenvers. — Das Dramatische des Verses. — Die Farbe | 278 |
Sechstes Kapitel. Der Dichter und sein Werk. | |
Der Dichter der Neuzeit. Die Stoffe. Die Arbeit. Das Anpassen an die Bühne. Die Striche. Die Länge des Stückes. Die Bekanntschaft mit der Bühne | 293 |
Die
Technik des Dramas.
Daß die Technik des Dramas nichts Feststehendes, Unveränderliches sei, bedarf kaum der Erwähnung. Seit Aristoteles einige der höchsten Gesetze dramatischer Wirkung dargestellt hat, ist die Bildung des Menschengeschlechts um mehr als zweitausend Jahre älter geworden; nicht nur die Formen der Kunst, Bühne und Art der Darstellung haben sich gewaltig verändert, sondern, was wichtiger ist, der geistige und sittliche Inhalt der Menschen, das Verhältniß des Einzelnen zu seinem Geschlecht und zu den höchsten Gewalten des Erdenlebens, die Idee der Freiheit und die Vorstellungen von dem Wesen der Gottheit haben große Umwandlungen erfahren; ein weites Gebiet dramatischer Stoffe ist uns verloren, ein neuer größerer Bereich gewonnen. Mit den sittlichen und politischen Grundsätzen, welche unser Leben beherrschen, haben sich auch die Vorstellungen vom Schönen und künstlerisch Wirksamen fortgebildet. Zwischen den höchsten Kunstwirkungen der griechischen Festspiele, der Autos sacramentales und der Dramen zur Zeit Goethes und Ifflands ist der Unterschied nicht weniger groß, als zwischen dem hellenischen Chortheater, dem Mysterienbau und dem geschlossenen Salon der modernen Bühne. Man darf als sicher betrachten, daß einige Grundgesetze des dramatischen Schaffens für alle Zeit Geltung behalten werden; im Ganzen aber sind sowohl die Lebensbedürfnisse des Dramas in einer beständigen [S. 4] Entwickelung begriffen, als auch die Kunstmittel, durch welche Wirkungen ausgeübt werden. Und man meine nicht, daß die Technik der Poesie nur durch die Schöpfungen der größten Dichter gefördert werde, wir dürfen ohne Selbstüberhebung sagen, daß wir gegenwärtig klarer sind über die höchsten Kunstwirkungen im Drama und über den Gebrauch der technischen Zurüstung, als Lessing, Schiller und Goethe.
Der Dichter der Gegenwart ist geneigt, mit Verwunderung auf eine Arbeitsweise hinabzusehen, welche den Bau der Scenen, die Behandlung der Charaktere, die Reihenfolge der Wirkungen nach einem überlieferten Lehrgebäude fester technischer Regeln einrichtete. Leicht dünkt uns solche Beschränkung der Tod eines freien künstlerischen Schaffens. Nie war ein Irrthum größer. Gerade ein ausgebildetes System von Einzelvorschriften, eine sichere, in volksthümlicher Gewohnheit wurzelnde Beschränkung bei Wahl der Stoffe und Bau der Stücke sind zu verschiedenen Zeiten die beste Hilfe der schöpferischen Kraft gewesen. Ja sie sind, so scheint es, nothwendige Vorbedingung jener reichlichen Fruchtbarkeit, welche uns in einigen Zeiträumen der Vergangenheit räthselhaft und unbegreiflich erscheint. Noch erkennen wir, daß die griechische Tragödie eine solche Technik besaß, und daß die größten Dichter nach Handwerksregeln schufen, welche zum Theil allen gemein waren, zum Theil Eigenthum bestimmter Familien und Genossenschaften sein mochten. Viele derselben waren der attischen Kritik wohl bekannt, welche den Werth eines Stückes danach beurtheilte, ob die Peripetiescene an rechter Stelle stand und die Pathosscene die wünschenswerthe Stärke von Mitgefühl erregte. Daß das spanische Mantel- und Degendrama die Fäden seiner Intrigue ebenfalls nach festen Regeln kunstvoll durcheinander schob, darüber belehrt uns freilich keine Poetik eines Castilianers, aber wir vermögen mehre dieser Regeln aus dem gleichförmigen Bau und den immer wiederkehrenden Charakteren sehr wohl zu erkennen, und es würde nicht schwer [S. 5] sein, ein Lehrgebäude der eigenthümlichen Vorschriften aus den Stücken selbst zu errichten.
Natürlich waren diese Regeln und Kunstgriffe auch für die Zeitgenossen, denen sie nützten, nicht etwas Unveränderliches, auch sie erfuhren durch Genie und kluge Erfindung der Einzelnen so lange Ausbildung und Umformung, bis sie erstarrten und nach einer Zeit geistloser Verwendung zugleich mit der Schöpferkraft der Dichter verloren wurden.
Es ist wahr, eine ausgebildete Technik, welche nicht nur die Form, auch viele ästhetische Wirkungen bestimmt, steckt der dramatischen Poesie einer Zeit auch Ziel und Grenze ab, innerhalb welcher die größten Erfolge erreicht werden, welche zu überschreiten selbst dem Genie selten möglich ist. Leicht wird solche Begrenzung in spätern Jahrhunderten als Hinderniß einer vielseitigen Entwickelung aufgefaßt. Aber gerade wir Deutschen könnten uns ein abschätzendes Urtheil der Nachwelt recht gern gefallen lassen, wenn wir nur jetzt die Hilfe einer gemeingiltigen Technik besäßen. Denn wir leiden an dem Gegentheil einer engen Begrenzung, an übergroßer Zuchtlosigkeit und Formlosigkeit, uns fehlt ein volksmäßiger Stil, ein bestimmtes Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Handgriffe; unser Schaffen ist fast nach allen Richtungen zufällig und unsicher geworden, noch heut, achtzig Jahre nach Schiller, wird es dem jungen Dichter sehr schwer, sich auf der Bühne vertraut und heimisch zu bewegen.
Wenn wir aber auch darauf verzichten müssen, mit den Vortheilen der sichern und handwerksmäßigen Ueberlieferung zu schaffen, welche der dramatischen Kunst gerade so wie den bildenden Künsten früherer Jahrhunderte eigen war, so sollen wir doch nicht verschmähen, die technischen Regeln aus alter und neuer Zeit, welche auf unserer Bühne künstlerische Wirkungen erleichtern, zu suchen und verständig zu gebrauchen. Es versteht sich, daß diese Regeln nicht durch Willkür eines Einzelnen, auch nicht durch den Einfluß eines großen Denkers [S. 6] oder Dichters auferlegt sein dürfen, sondern daß sie aus den edelsten Wirkungen unserer Bühne gezogen, nur das für uns Nothwendige enthalten müssen, daß sie der Kritik und der schaffenden Kraft nicht als Gewaltherrscher, sondern als ehrliche Helfer zu dienen haben, und daß auch bei ihnen eine Wandlung und Fortbildung nach den Bedürfnissen der Zeit nicht ausgeschlossen wird.
Es ist immerhin auffallend, daß die technischen Hilfsregeln früherer Zeit, nach denen der Schaffende den kunstvollen Bau des Dramas zusammenzufügen hatte, so selten durch Schrift spätern Geschlechtern überliefert sind. Zweitausend zweihundert Jahre sind vergangen, seit Aristoteles den Hellenen einen Theil dieser Gesetze darstellte. Leider ist die Poetik nur unvollständig auf uns gekommen, das Erhaltene ist vielleicht nur Auszug, den ungeschickte Hände gemacht haben, es hat Lücken und verderbten Text, auch scheinen einzelne Kapitel durcheinander geworfen. Trotz dieser Beschaffenheit ist das Erhaltene für uns von höchstem Werth, die Alterthumswissenschaft verdankt ihm einen Einblick in die verschüttete Bühnenwelt der Hellenen, in unsern ästhetischen Lehrbüchern bildet es noch heut die Grundlage für die Theorie der dramatischen Kunst, auch dem arbeitenden Dichter sind einige Kapitel der kleinen Schrift belehrend. Denn das Werk enthält außer einer Theorie der dramatischen Wirkungen, wie sie der größte Denker des Alterthums seinen Zeitgenossen zurecht legte, und außer mehren Grundsätzen einer volksthümlichen Kritik, wie sie der gebildete Athener vor neuen Stücken in Anwendung brachte, auch noch einige feine Handgriffe aus den dramatischen Werkstätten des Alterthums, welche wir für unsere Arbeit sehr vortheilhaft verwenden können. Im Folgenden wird, soweit der praktische Zweck dieses Buches erlaubt, davon die Rede sein.
Hundert und zwanzig Jahre sind es, seit Lessing den Deutschen die Geheimschrift der alten Poetik zu entziffern unternahm. [S. 7] Seine hamburgische Dramaturgie wurde der Ausgangspunkt für eine volksmäßige Auffassung des dramatisch Schönen. Und der siegreiche Kampf, welchen er in diesem Werk gegen die Tyrannei des französischen Geschmacks führte, wird demselben die Achtung und Liebe der Deutschen auf immer erhalten. Für unsere Zeit ist der streitende Theil der wichtigste. Wo Lessing den Aristoteles erklärt, erscheint sein Verständniß des Griechen unserer Gegenwart, welche mit reicheren Hilfsmitteln arbeitet, nicht überall genügend; wo er belehrend die Gesetze des Schaffens darlegt, ist sein Urtheil begrenzt durch die enge Auffassung des Schönen und Wirkungsvollen, in welcher er damals noch selbst stand.
Freilich die beste Quelle für den Gewinn technischer Regeln sind die Dramen großer Dichter, welche ihren Zauber auf Leser und Zuschauer noch heut ausüben. Zunächst die griechischen Tragödien. Wer sich gewöhnt von den Besonderheiten der alten Form abzusehen, der findet mit inniger Freude, daß der kunstvollste tragische Dichter der Athener, Sophokles, die Hauptgesetze des dramatischen Aufbaues mit einer beneidenswerthen Sicherheit und Klugheit verwendet. Für Steigerung, Höhenpunkt und Umkehr der Handlung — den zweiten, dritten und vierten Akt unserer Stücke — ist er noch uns ein selten erreichtes Vorbild.
Etwa zweitausend Jahre nach Oedipus auf Kolonos schrieb Shakespeare das Trauerspiel Romeo und Julie, er die zweite geniale Kraft, welche der dramatischen Kunst unsterblichen Ausdruck gegeben hat. Er schuf das Drama der Germanen, seine Behandlung des Tragischen, Anordnung der Handlung, Art und Weise der Charakterbildung, Darstellung der Seelenvorgänge haben für die Einleitung des Dramas und für die erste Hälfte bis zum Höhenpunkt einige technische Gesetze, welche uns noch leiten, festgestellt.
Auf einem Umwege kamen die Deutschen zur Erkenntniß von der Größe und Bedeutung seiner Arbeit für uns. Die [S. 8] großen Dichter der Deutschen, billig die nächsten Muster, an denen wir uns zu bilden haben, lebten in einer Zeit des geistvollen Anstellens von Versuchen mit dem Erbe alter Vergangenheit, deshalb fehlt der Technik, welche sie erwarben, Einiges von der Sicherheit und Folgerichtigkeit der Wirkungen; und gerade weil das Schöne, das sie gefunden, uns in das Blut übergegangen ist, sind wir auch verpflichtet, bei der Arbeit Manches von uns abzuwehren, was bei ihnen auf unfertiger oder unsicherer Grundlage ruht.
Die Beispiele, welche in dem Folgenden herangezogen werden, sind aus Sophokles, Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller geholt. Denn es war wünschenswerth, die Beispiele auf allbekannte Werke zu beschränken.
In der Seele des Dichters gestaltet sich das Drama allmählich aus dem rohen Stoff, dem Bericht über irgend etwas Geschehenes. Zuerst treten einzelne Momente: innerer Kampf und Entschluß eines Menschen, eine folgenschwere That, Zusammenstoß zweier Charaktere, Gegensatz eines Helden gegen seine Umgebung, so lebhaft aus dem Zusammenhange mit anderen Ereignissen heraus, daß sie Veranlassung zur Umbildung des Stoffes werden. Diese Umbildung geht so vor sich, daß die lebhaft empfundene Hauptsache in ihrer die Menschenseele fesselnden, rührenden oder erschütternden Bedeutung aufgefaßt, von allem zufällig daran Hängenden losgelöst und mit einzelnen ergänzenden Erfindungen in einen einheitlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebracht wird. Die neue Einheit, welche dadurch entsteht, ist die Idee des Dramas. Sie wird der Mittelpunkt, an welchen weitere freie Erfindung wie in Strahlen anschließt, sie wirkt mit ähnlicher Gewalt, wie die geheimnißvolle Kraft der Krystallbildung, durch sie wird Einheit der Handlung und Bedeutung der Charaktere, zuletzt der gesammte Bau des Dramas hervorgebracht.
Wie der rohe Stoff zu einer poetischen Idee vergeistigt wird, soll das folgende Beispiel zeigen. Ein junger Dichter [S. 10] des vorigen Jahrhunderts liest folgende Zeitungsanzeige: „Stuttgart vom 11. Am gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste Tochter Luise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche Untersuchung ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen waren. Man spricht von einem Liebesverhältniß, welches der Vater des Majors, der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Theilnahme aller fühlenden Seelen.”
Ueber diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie des Dichters den Charakter eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus welcher der Liebende hervorgetreten ist, und dem engen Kreis eines kleinen bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfniß geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem Verhältniß von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang findet der schaffende Dichter in einer Täuschung, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes geworfen wird, in dem Verdachte von der Untreue der Geliebten. Auf solche Weise macht der Dichter den Bericht sich und Andern verständlich, indem er frei erfindend einen innern Zusammenhang hineinträgt. Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht und etwa folgenden Inhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt, daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereigniß der Wirklichkeit zu einer drama [S. 11] tischen Idee geworden. Von jetzt ab ist das wirkliche Ereigniß dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen ab, ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern Charakter und Stellung war, bekümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein verständlichen Inhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen des Stückes sind nicht mehr zufällige und in einem einzelnen Fall vorhandene, sie könnten gerade so hundertmal wieder eintreten, und bei den angenommenen Charakteren und dem gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein.
Hat der Dichter auf solche Weise den Stoff mit seiner Seele erfüllt, dann nimmt er etwa noch aus dem wirklichen Bericht, was ihm paßt, den Titel des Vaters und Sohnes, Vorname der Braut, Geschäft ihrer Eltern, vielleicht noch Einzelzüge, welche sich ihm für Verwerthung bequem fügen. Und daneben geht die weitere schöpferische Arbeit; die Hauptcharaktere entwickeln sich bis in ihre Einzelheiten und dazu die Nebenfiguren: ein ränkevoller Helfer des Vaters, ein anderes Weib im Gegensatz zu der Geliebten, die Persönlichkeiten der Eltern. Neue Momente der Handlung treten hinzu, alle diese Erfindungen durch die Idee bestimmt und gerichtet.
Diese Idee, der erste Fund des Dichters, die stille Seele, durch welche er den von außen an ihn tretenden Stoff vergeistigt, tritt ihm selbst nicht leicht als Gedanke gegenüber, sie hat nicht die farblose Klarheit eines abgezogenen Begriffes. Im Gegentheil ist das Eigenthümliche bei solcher Arbeit der Dichterseele, daß die Haupttheile der Handlung, das Wesen der Hauptcharaktere, ja auch etwas von der Farbe des Stückes zugleich mit der Idee in der Seele aufleuchten zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und daß sie sofort wie ein Lebendes wirken, nach allen Seiten weitere Bildungen erzeugend. So ist allerdings möglich, daß dem Dichter die [S. 12] Idee seines Stückes, die er doch sehr sicher in der Seele trägt, niemals während dem Schaffen zur Ausbildung in Worten gelangt, und daß er sich erst später durch Nachdenken seine innere Habe in das geprägte Metall der Rede umsetzt und als Grundgedanken seines Dramas begreift. Möglich sogar, daß er als Schaffender die Idee richtiger nach den Gesetzen seiner Kunst empfunden hat, als er sich den Grundgedanken des Werkes in einem Satze zusammenfaßt.
Wenn es für ihn aber auch unbequem, zuweilen schwierig ist, die Idee des werdenden Stückes in eine Formel abzuziehen und in Worten zu beschreiben, so wird er doch gut thun, diese Abkühlung seiner warmen Seele schon im Beginn der Arbeit einmal zuzumuthen und scharf prüfend die gefundene Idee nach den Grundbedingungen des Dramas zu beurtheilen. Auch für den Fremden ist es lehrreich, aus dem fertigen Kunstwerk die verborgene Seele zu suchen und, wie unvollständig das auch immer möglich sei, in eine Formel zu fassen. Es läßt sich Manches daraus erkennen, was für die einzelnen Dichter charakteristisch ist. Es sei z. B. die Grundlage „Maria Stuart”: aufgeregte Eifersucht einer Königin treibt zur Tötung ihrer gefangenen Gegnerin. Und wieder von „Kabale und Liebe”: aufgeregte Eifersucht eines jungen Adligen treibt zur Tötung seiner bürgerlichen Geliebten, so wird diese nackte Formel zwar der ganzen Fülle des farbigen Lebens enthoben sein, welches im Gemüth des Schaffenden an der Idee haftet; trotzdem wird einiges Eigenthümliche an dem Bau beider Stücke schon aus ihr deutlich werden, z. B. daß der Dichter bei solcher Grundlage in die Nothwendigkeit versetzt war, den ersten Theil der Handlung vorzudichten, welcher das Entstehen der Eifersucht erklärt, daß also die treibende Kraft in den Hauptcharakteren selbst erst von der Mitte des Stückes aus wirksam wird, und daß die ersten Akte bis zum Höhenpunkt vorzugsweise die Bestrebungen der Nebenfiguren enthalten, diese tötliche Thätigkeit eines der Hauptcharaktere [S. 13] zu erregen. Er wird ferner bemerken, wie ähnlich im letzten Grunde Motiv und Bau dieser beiden Dramen Schillers ist und wie beide eine überraschende Aehnlichkeit mit Idee und Anlage des gewaltigeren Othello haben.
Der Stoff, welcher durch die dramatische Idee umgebildet wird, ist entweder vom Dichter eigens für sein Drama erfunden, oder er ist eine Anekdote aus dem Leben, welches den Dichter umgibt, oder ein Bericht, den die Geschichte darbietet, oder der Inhalt einer Sage, Novelle, poetischen Erzählung. In jedem dieser Fälle, wo der Dichter Vorhandenes benutzt, ist der Stoff bereits durch das Eindringen einer Idee mehr oder weniger vermenschlicht. Sogar in der oben erdachten Zeitungsanzeige ist die beginnende Umbildung bereits erkennbar. In dem letzten Satze: „Man spricht von einem Liebesverhältniß, welches u. s. w.” macht der Berichterstatter den ersten Versuch, die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, den Unglücksfall zu erklären und den Liebenden dadurch erhöhte Theilnahme zu verleihen, daß ihrem Wesen ein anziehender Inhalt gegeben wird. Dieser Vorgang des Umdeutens, durch welchen wirklichen Ereignissen ein den Bedürfnissen des Gemüths entsprechender Inhalt und Zusammenhang verliehen wird, ist kein Vorrecht des Dichters. Neigung und Fähigkeit dazu sind in allen Menschen und zu allen Zeiten thätig. Jahrtausende lang hat das Menschengeschlecht alles Leben des Himmels und der Erde sich so umgedeutet, es hat seine Vorstellungen von dem göttlichen Wesen mit menschlichen Ideen überreichlich erfüllt. Alle epische Sage ist aus einer solchen Umwandlung religiöser, naturhistorischer und zuweilen geschichtlicher Eindrücke in poetische Ideen hervorgegangen. Noch jetzt, seit die historische Bildung uns beherrscht und die Achtung vor dem thatsächlichen Zusammenhange der Weltbegebenheiten hoch gestiegen ist, erweist sich im Größten wie im Kleinsten dieser Drang die Ereignisse zu erklären. Bei jeder Anekdote, ja in dem unliebsamen Geklätsch der Ge [S. 14] sellschaft ist dieselbe Thätigkeit sichtbar, mag nun das Wirkliche durch den Trieb umgewandelt werden, irgend einen Zug des kleinen Lebens heiter und anmuthig darzustellen, oder aus dem Bedürfniß des Erzählers, sich selbst im Gegensatz zu andern Menschen als sicherer und besser zu empfinden.
Auch der geschichtliche Stoff ist durch den Historiker bereits vermittelst einer Idee geordnet, bevor der Dichter sich seiner bemächtigt. Die Ideen des Geschichtschreibers sind allerdings nicht poetische, aber auch sie wirken bestimmend und bildend auf alle Theile des Werkes, welches durch sie hervorgerufen wird. Wer das Leben eines Mannes beschreibt, wer einen Abschnitt der vergangenen Zeit darstellt, auch er muß nach festen Gesichtspunkten die chaotische Stoffmasse ordnen, Unwesentliches ausscheiden, die Hauptsachen hervorheben. Noch mehr: er muß den Inhalt eines Menschenlebens oder einer Zeit zu verstehen suchen, ureigene Grundzüge, einen innern Zusammenhang der Ereignisse zu finden bemüht sein. Aber freilich zunächst einen innern Zusammenhang seines Stoffes mit vielem Andern, außerhalb Liegenden, das er nicht darstellt. Ja, er muß sogar in einzelnen Fällen die Ueberlieferung ergänzen und Unverständliches dadurch deuten, daß er den möglichen und wahrscheinlichen Inhalt desselben findet. Er wird endlich auch bei der Anordnung seines Werkes durch Gesetze des Schaffens bestimmt, welche zahlreiche Uebereinstimmungen mit den Compositionsgesetzen des Dichters haben. Und er vermag durch sein Wissen und seine Kunst aus dem rohen Stoffe ein Bewunderung erregendes Bild zu schaffen, den mächtigsten Eindruck auf die Seele des Lesers hervorzubringen. Aber er unterscheidet sich von dem Dichter dadurch, daß er gewissenhaft das wirklich Geschehene so zu verstehen sucht, wie es thatsächlich in die Erscheinung getreten war, und daß der innere Zusammenhang, den er sucht, durch eine Weltordnung hervorgebracht wird, welche wir als göttlich, unendlich, unfaßlich verehren. Dem Geschichtschreiber ist der That [S. 15] bestand selbst und die Bedeutung desselben für den menschlichen Geist der höchste Fund. Dem Dichter ist das Höchste die schöne Wirkung der eigenen Erfindung, ihr zu Liebe wandelt er behaglich spielend den wirklichen Thatbestand. Deshalb ist dem Dichter jedes Werk des Geschichtschreibers, wie vollständig dasselbe auch durch die aus dem Inhalte erkannte geschichtliche Idee belebt sein mag, doch nichts als roher Stoff, gleich einem Tagesereigniß, und die kunstvollste Behandlung durch den Historiker ist ihm nur insoweit brauchbar, als sie ihm das Verständniß einer Begebenheit erleichtert. Hat der Dichter durch die Geschichte Theilnahme an der Person des Kriegsfürsten Wallenstein gewonnen, empfindet er aus dem Bericht lebhaft einen gewissen Zusammenhang zwischen den Thaten und dem Geschick des Mannes, wird er durch auffallende Einzelzüge des wirklichen Lebens gerührt oder erschüttert, so beginnt bei ihm der Vorgang des Umbildens damit, daß er Thaten und Untergang des Helden in vollständig begreiflichen und ergreifenden Zusammenhang bringt, und daß er sich das Wesen des Helden so umbildet, wie es für eine rührende und erschütternde Wirkung der Handlung wünschenswerth ist. Was in dem geschichtlichen Charakter vielleicht nur eine Nebenursache war, wird zur Grundlage seines Wesens, der finstere, schreckliche Bandenführer nimmt etwas von der Natur des Dichters an, er wird ein hochsinniger, träumerisch nachdenklicher Mann. Diesem Charakter gemäß werden die Begebenheiten umgedeutet, alle andern Charaktere bestimmt, Schuld und Schicksale gerichtet. Durch solches Idealisiren ist Schillers Wallenstein entstanden, eine Gestalt, deren fesselnde Züge mit dem Antlitz des geschichtlichen Wallenstein nur wenig gemein haben. Freilich wird der Dichter sich zu hüten haben, daß in seiner Erfindung nicht ein für seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete. Wie sehr der neuere Dichter durch solche Rücksicht eingeengt wird, soll später ausgeführt werden.
Es wird dabei von der Persönlichkeit des Dichters abhängen, ob den ersten Reiz zu seiner poetischen Thätigkeit fesselnde Charakterzüge der Menschen, oder das Schlagende des wirklichen Geschickes, oder vielleicht gar die interessante Zeitfarbe abgibt, welche er schon in dem geschichtlichen Bericht vorfindet. Von dem Augenblick aber, wo ihm der Reiz und die Wärme gekommen sind, deren er zum Schaffen bedarf, verfährt er, wie treu er sich auch scheinbar an den geschichtlichen Stoff anlehne, doch in der That mit unumschränkter Freiheit. Er verwandelt allen für ihn brauchbaren Stoff in dramatische Momente. [1]
Aber auch, wo der Dichter einen Stoff aufnimmt, der bereits nach Gesetzen des epischen Schaffens mehr oder weniger vollständig geordnet ist, als Heldengedicht, Sage, kunstvoll durchgebildete Erzählung, ist ihm das für eine andere Gattung der Poesie Fertige nur Stoff. Und man meine nicht, daß eine Begebenheit und ihre Personen, welche durch so nahe verwandte Kunst bereits verklärt sind, schon deshalb für das Drama bessere Zurichtung haben. Im Gegentheil ist gerade zwischen den großen Gebilden der epischen Poesie, welche Begebenheiten und Helden schildert, wie sie neben einander stehen, und zwischen der dramatischen Kunst, welche Handlungen und Charaktere darstellt, wie sie durch einander werden, ein tiefer Gegensatz, der für den Schaffenden nicht leicht zu bewältigen ist. Sogar der poetische Reiz, den diese zugerichteten Gebilde auf seine Seele ausüben, mag ihm erschweren, dieselben nach den Lebensbedingungen seiner Kunst umzubilden. Das griechische Drama hat ebenso hart mit seinen Stoffen gerungen, welche dem Epos entnommen waren, als die geschichtlichen Dichter unserer Zeit mit der Umwandlung der geschichtlichen Ideen in dramatische.
Einen Stoff nach einheitlicher Idee künstlerisch umbilden heißt ihn idealisiren. Die Personen des Dichters werden, gegenüber ihren Stoffbildern aus der Wirklichkeit, mit einem bequemen Handwerksausdruck Ideale genannt.
Dramatisch sind diejenigen starken Seelenbewegungen, welche sich bis zum Willen und zum Thun verhärten, und diejenigen Seelenbewegungen, welche durch ein Thun aufgeregt werden; also die innern Vorgänge, welche der Mensch vom Aufleuchten einer Empfindung bis zu leidenschaftlichem Begehren und Handeln durchmacht, sowie die Einwirkungen, welche eigenes und fremdes Handeln in der Seele hervorbringt; also das Ausströmen der Willenskraft aus dem tiefen Gemüth nach der Außenwelt und das Einströmen bestimmender Einflüsse aus der Außenwelt in das Innere des Gemüths; also das Werden einer That und ihre Folgen auf das Gemüth.
Nicht dramatisch ist die Action an sich und die leidenschaftliche Bewegung an sich. Nicht die Darstellung einer Leidenschaft an sich, sondern der Leidenschaft, welche zu einem Thun leitet, ist die Aufgabe der dramatischen Kunst; nicht die Darstellung einer Begebenheit an sich, sondern ihrer Einwirkung auf die Menschenseele ist Aufgabe der dramatischen Kunst. Ausführung leidenschaftlicher Seelenbewegungen als solcher ist Sache der Lyrik, Schilderung fesselnder Begebenheiten ist Aufgabe des Epos.
Beide Richtungen, in denen das Dramatische sich äußert, sind allerdings nicht grundverschieden. Auch während der [S. 19] Mensch in der Spannung und Arbeit ist, sein Inneres nach Außen zu wenden, wirkt seine Umgebung fördernd oder hemmend auf seine leidenschaftliche Bewegung. Und wieder, auch während das Gethane auf ihn zurückwirkt, beharrt er nicht aufnehmend, sondern erhält durch die Aufnahme neue Bewegungen und Wandlungen. Dennoch ist ein Unterschied in der Wirkung beider eng verbundenen Vorgänge. Den höchsten Reiz hat immer der erste Vorgang, der innere Kampf des Menschen bis zur That. Der zweite fordert mehr äußerliche Bewegung, ein stärkeres Zusammenwirken verschiedener Kräfte, fast Alles, was die Schaulust vergnügt, gehört ihm an; und doch ist er, wie unentbehrlich er dem Drama sei, vornehmlich ein Befriedigen erregter Spannung, und leicht eilt über ihn hinweg die Ungeduld des nachschaffenden Hörers, eine neue leidenschaftliche Spannung im Innern der Helden suchend. Was wird , nicht, was als ein Gewordenes Staunen erregt, fesselt am meisten.
Da die dramatische Kunst Menschen darstellt, wie ihr Inneres nach Außen wirkt oder durch Einwirkungen von Außen ergriffen wird, so muß sie folgerecht die Mittel benützen, durch welche sie den Zuhörern diese Vorgänge der Menschennatur verständlich machen kann. Diese Mittel sind Rede, Ton, Geberde. Sie muß ihre Menschen vorführen als sprechend, singend, im Geberdenspiel. Die Poesie gebraucht also zu Gehilfen für ihre Darstellung die Musik und Schauspielkunst.
In engem Verbande mit ihren helfenden Künsten, in kräftiger, geselliger Arbeit, sendet sie ihre Bilder in die Seelen der Aufnehmenden, welche zugleich Hörende und Schauende sind. Die Eindrücke, welche sie hervorbringt, werden Wirkungen genannt. Die dramatischen Wirkungen haben eine sehr eigenthümliche Beschaffenheit, sie unterscheiden sich nicht nur von den Wirkungen der bildenden Künste durch nachdrücklichere Kraft und die allmähliche gesetzmäßige Steigerung [S. 20] in bestimmtem Zeitmaß, sondern auch von den mächtigen Wirkungen der Musik dadurch, daß sie durch zwei Sinne zugleich einströmen, und daß sie nicht allein das Empfindungsleben, sondern auch die Denkkraft des Hörers reizvoll spannen.
Schon aus dem Gesagten ist klar, daß die nach den Bedürfnissen dramatischer Kunst zugerichteten Personen einiges Besondere in ihrem Wesen haben müssen, was sie nicht nur von den unendlich mannigfaltigeren und complicirteren Menschenbildern, welche uns das wirkliche Leben in die Seele drückt, unterscheidet, sondern auch von den poetischen Gebilden, welche durch andere Gattungen der Kunst, das Epos und den Roman oder die Lyrik, wirksam gemacht werden. Die dramatische Person soll menschliche Natur darstellen, nicht wie sie sich thätig und gefühlvoll in ihrer Umgebung regt und spiegelt, sondern ein großartig und leidenschaftlich bewegtes Innere, welches danach ringt, sich in die That umzusetzen, Wesen und Thun Anderer umgestaltend zu leiten. Der Mensch des Dramas soll in starker Befangenheit, Spannung und Wandlung erscheinen; vorzugsweise die Eigenschaften werden bei ihm in Thätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit anderen Menschen zur Geltung kommen, Energie der Empfindung, Wucht der Willenskraft, Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, gerade die Eigenschaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg die Personen des Dramas Charaktere nennt.
Aber die Charaktere, welche durch die Poesie und ihre helfenden Künste vorgeführt werden, vermögen ihr inneres Leben nur zu bethätigen an einem Geschehenden, als Theilnehmer an einer Begebenheit, deren Verlauf und innerer Zusammenhang durch die dramatischen Vorgänge in der Seele der Helden dem Zuhörer deutlich wird. Diese Begebenheit, [S. 21] wenn sie nach den Bedürfnissen der Kunst zugerichtet ist, heißt die Handlung . [2]
Jeder Theilnehmer an der dramatischen Handlung hat eine bestimmte Stellung zum Ganzen, für jeden ist eine genau umschriebene Persönlichkeit nothwendig, welche so beschaffen sein muß, daß das Zweckvolle derselben vom Zuhörer mit Behagen empfunden, das Menschliche und Eigenthümliche von dem Schauspieler durch die Mittel seiner Kunst wirksam dargestellt werden kann.
Jene Seelenvorgänge, welche oben als die dramatischen bezeichnet wurden, werden allerdings nicht an jeder der dargestellten Personen vollständig sichtbar, zumal nicht auf der neuern Bühne, welche liebt, eine größere Anzahl von Menschen als Träger ihrer Handlung aufzuführen. Aber die Hauptpersonen müssen davon erfüllt sein, nur wenn diese ihr Wesen in der angegebenen Weise kräftig, reichlich und bis zu den geheimsten Falten des Innern darlegen, vermag das Drama große Wirkungen hervorzubringen. Wird an den Hauptpersonen dies letzte Dramatische nicht sichtbar und nicht dem Aufnehmenden eindringlich, so fehlt dem Drama das Leben, es wird eine gekünstelte leere Form ohne den entsprechenden Inhalt, das anspruchsvolle Zusammenwirken mehrer verbundener Künste macht diese Leere doppelt peinlich.
Neben den Hauptpersonen erhalten ihre Gehilfen, je nach dem Raum, welchen sie im Stück einnehmen, mehr oder weniger Antheil an diesem dramatischen Leben. Und völlig [S. 22] schwindet es auch in den kleinsten Rollen nicht, selbst bei den Personen, welche nur durch wenige Worte ihre Theilnahme erweisen können; bei dem Begleiter, dem Anmeldenden wird wenigstens der Schauspielkunst die Pflicht, durch Tracht, Sprechweise, Haltung, Geberde, Aufstellung der eintretenden Person den für das Stück zweckmäßigen Inhalt derselben äußerlich darzustellen, wenn auch knapp und bescheiden.
Da aber die Darstellung derjenigen Seelenvorgänge, welche Vorrecht und Bedürfniß des Dramas sind, Zeit in Anspruch nimmt, und dem Dichter je nach der Gewohnheit seines Volkes auch das Zeitmaß für seine Wirkungen begrenzt ist, so folgt schon hieraus, daß die dargestellte Begebenheit die Hauptpersonen weit stärker hervorheben muß, als bei einem Ereigniß der Wirklichkeit, welches durch gemeinsame Thätigkeit mehrer Menschen hervorgebracht wird, nothwendig ist.
Die Fähigkeit, dramatische Wirkungen durch die Kunst hervorzubringen, ist dem Menschengeschlecht nicht in jedem Zeitraum seines Daseins verliehen. Die dramatische Poesie erscheint später als Epos und Lyrik; ihre Blüthe in einem Volke hängt allerdings von dem glücklichen Zusammentreffen vieler hervortreibender Kräfte ab, zunächst aber davon, daß in dem wirklichen Leben der Volksgenossen die entsprechenden Seelenvorgänge bereits häufig und reichlich sichtbar werden. Und dies ist erst möglich, wenn das Volk eine gewisse Höhe der Entwickelung erreicht hat, wenn die Menschen gewöhnt sind, sich selbst und andere vor den Momenten einer That scharfsichtig zu beobachten, wenn die Sprache einen hohen Grad von Beweglichkeit und gewandter Dialektik ausgebildet hat, wenn der Einzelne nicht mehr durch den epischen Bann alter Ueberlieferung und äußerer Gewalt, durch hergebrachte Formel und volksgemäße Gewohnheit gefesselt wird, sondern sich freier das eigene Leben zu formen vermag. Wir unterscheiden zwei Zeiträume, in denen das Dramatische dem Geschlecht der Erde gekommen ist. Zum ersten Mal trat diese [S. 23] Vertiefung der Menschenseele in die antike Welt etwa um das Jahr 500 v. Chr., als sich das jugendliche Selbstgefühl der freien hellenischen Stadtgemeinden mit der Blüthe des Handels, der öffentlichen Reden und der Theilnahme des Bürgers am Staat erhob. Das zweite Mal trat das Dramatische in die neuere Völkerfamilie Europas nach der Reformation zugleich mit der Vertiefung des Gemüthes und Geistes, welche durch das sechzehnte Jahrhundert sowohl bei den Germanen als bei den Romanen — in sehr verschiedener Weise — hervorgebracht wurde. Allerdings hatten schon Jahrhunderte vor dem Eintritt dieser kräftigen Seelenarbeit sowohl die Hellenen als die Stämme der Völkerwanderung sich die ersten Anfänge einer Redeweise und Kunst des Geberdenspiels entwickelt, welche das Dramatische suchte. Dort wie hier hatten große Götterfeste einen Gesang in feierlicher Tracht und das Spiel volksthümlicher Masken veranlaßt. Aber das Eintreten der dramatischen Kraft in diese lyrischen oder epischen Schaustellungen war doch beide Male ein wunderbar schnelles, fast plötzliches. Beide Male entfaltete sich das Dramatische von dem Augenblick, in dem es lebendig wurde, mit großer Kraft zu einer Schönheit, welche durch die spätern Jahrhunderte nicht leicht erreicht wurde. Unmittelbar nach den Perserkriegen kamen Aeschylos, Sophokles, Euripides dicht hinter einander herauf. Kurz nach der Reformation erwuchs in der Völkerfamilie Europas zuerst bei den Engländern und Spaniern, dann bei den Franzosen, endlich bei den zurückgebliebenen Deutschen aus unbehilflicher Schwäche die höchste volksgemäße Blüthe der seltenen Kunst.
Aber darin unterscheidet sich jener ältere Eintritt des Dramatischen in die alte Welt, daß das Drama des Alterthums aus lyrischem Chorgesang hervorwuchs, während das neuere auf der epischen Freude an Vorführung wichtiger Begebenheiten beruht. Dort war im ersten Anfange die leidenschaftliche Aufregung des Gefühls, hier das Schauen eines [S. 24] Ereignisses reizvoll gewesen. Diese Verschiedenheit des Ursprungs hat auch nach der kunstvollen Ausbildung Form und Inhalt des Dramas mächtig beeinflußt, und wie erhaben die besten Leistungen der Kunst in beiden Zeiträumen wurden, sie behielten etwas wesentlich Verschiedenes.
Aber selbst nachdem das dramatische Leben in dem Volke aufgegangen war, blieben die höchsten Kunstwirkungen der Poesie ein Vorrecht Weniger, auch seit dieser Zeit wird die dramatische Kraft nicht jedem Dichter zu Theil; ja sie füllt nicht jedes Werk, auch der größten Dichter, mit genügender Gewalt. Wir dürfen schließen, daß schon zur Zeit des Aristoteles jene prunkvollen Schaustücke mit einfacher Handlung, ohne charakteristisches Begehren der Hauptfiguren, mit lose eingehängten Chören, wie er sie beschreibt, vielleicht lyrische Schönheiten hatten, aber keine dramatischen. Und unter den geschichtlichen Dramen, welche jetzt in Deutschland jährlich geschrieben werden, enthält die größere Hälfte wenig mehr als dialogisirte und verstümmelte Geschichte, etwa epischen Stoff in scenischer Form, ebenfalls nicht dramatischen Inhalt. Ja auch einzelne Werke großer Dichter kranken an demselben Mangel. Nur zwei berühmte Dramen seien hier genannt. Die Hekabe des Euripides zeigt bis gegen das Ende nur kleine durchaus ungenügende Fortschritte aus der bewegten Stimmung zu einem Thun: erst im Schlußkampf gegen Polymestor erweist Hekabe eine Leidenschaft, die zum Willen wird, erst da beginnt eine dramatische Spannung, bis dahin floß aus kurz skizzirten leidenvollen Zuständen der Hauptpersonen nur lyrische Klage. Und wieder in Shakespeare's Heinrich V. , in dem der Dichter ein vaterländisches Volksstück nach den alten epischen Gewohnheiten seiner Bühne dichten wollte, mit kriegerischen Aufzügen, Gefechten, kleinen Episoden, ist weder an dem Hauptcharakter noch den Nebenfiguren eine tiefe Begründung ihres Thuns aus dramatisch darstellbaren Motiven sichtbar. In kurzen Wellen kräuselt sich Wunsch und Forderung, [S. 25] die Handlungen selbst sind die Hauptsache. Die Vaterlandsliebe muß warme Theilnahme an der Handlung aufregen, was sie allerdings in Shakespeare's Zeit und Volk reichlich gethan hat. Für uns ist das Drama weniger darstellbar, als die Theile Heinrich's VI. — Dagegen enthält, um nur einige Stücke desselben Dichters zu nennen, Macbeth bis zur Banketscene, der ganze Coriolan, Othello, Romeo und Julie, Julius Cäsar, Lear bis zur Hüttenscene, Richard III. das machtvollste Dramatische, welches je von einem Germanen geschaffen worden.
Nach der starken Spannung der Hauptpersonen aber schätzt in der Regel schon die Mitwelt, in jedem Fall die Folgezeit die Bedeutung eines Dramas. Wo dies Leben fehlt, vermag keine Kunst der Behandlung, kein günstiger Stoff das Werk lebendig zu erhalten. Wo dies dramatische Leben vorhanden ist, betrachtet auch noch späte Folgezeit ein Dichterwerk mit lebhafter Achtung und übersieht ihm gern große Mängel.
Die Handlung des Dramas ist die nach einer Idee angeordnete Begebenheit, deren Inhalt durch die Charaktere vorgeführt wird.
Sie ist aus vielen Einzelheiten zusammengesetzt und besteht aus einer Anzahl dramatischer Momente, welche nach einander in gesetzlicher Gliederung wirksam werden.
Die Handlung des ernsten Dramas muß folgende Eigenschaften haben:
Sie muß eine festgeschlossene Einheit bilden.
Dies berühmte Gesetz hat bei Griechen und Römern, bei Spaniern und Franzosen, bei Shakespeare und den Deutschen sehr verschiedene Anwendung erfahren, welche zum Theil durch die Kunstgelehrten, zum Theil durch die Beschaffenheit der Bühnen veranlaßt wurde. Das Verengen seiner Forderung durch die französischen Classiker und der gegen die drei Einheiten von Ort, Zeit, Begebenheit geführte Kampf der Deutschen haben für uns nur noch ein literarhistorisches Interesse. [3]
Kein Stoff ist ohne Voraussetzungen, wie vollständig er aus dem Zusammenhange mit andern Ereignissen herausgelöst werde. Diese unentbehrlichen Voraussetzungen müssen dem Hörer in den Eröffnungsscenen so weit dargestellt werden, daß er die Grundlagen des Stückes übersieht, nicht weitläufiger, damit nicht der Raum für die Handlung selbst beengt werde. Also zunächst Zeit, Volk, Ort, Stellung der auftretenden Hauptpersonen zu einander, dabei die unvermeidlichen Fäden, welche von Allem, was außerhalb der Handlung geblieben ist, sich in diese selbst hineinziehen. Wenn z. B. in Kabale und Liebe ein bestehendes Liebesverhältniß zu Grunde liegt, so muß [S. 28] dem Hörer sogleich ein scharf beleuchtender Einblick in diese Beziehung der beiden Hauptpersonen und in das Familienleben gewährt werden, aus welchem sich das Trauerspiel entwickeln soll. Vollends bei geschichtlichem Stoff, der aus dem ungeheuren und unendlichen Zusammenhange der Weltereignisse herausgehoben wird, ist die Darlegung seiner Voraussetzungen keine leichte Sache und der Dichter hat sehr darauf zu achten, daß er dieselben so viel als möglich vereinfache.
Von dieser unentbehrlichen Einleitung muß sich aber der Anfang der bewegten Handlung kräftig abheben, wie eine beginnende Melodie von einleitenden Accorden. Dies erste Moment der Bewegung — das aufregende Moment — ist von großer Wichtigkeit für die Wirkung des Dramas; es wird weiter unten davon die Rede sein.
Ebenso muß das Ende der Handlung als allgemein verständliches Ergebniß des Gesammtverlaufs erscheinen, gerade hier muß die innere Nothwendigkeit lebhaft empfunden werden; der Ausgang aber muß die vollständige Beendigung des Kampfes und der aufgeregten Conflicte darstellen.
Innerhalb dieser Grenzen soll sich die Handlung in einheitlichem Zusammenhange fortbewegen. Dieser innere Zusammenhang wird im Drama dadurch hervorgebracht, daß jedes Folgende aus dem Vorhergehenden abgeleitet wird als Wirkung einer dargestellten Ursache. Mag das Veranlassende nun der folgerechte Zwang der Begebenheiten sein, und das neu Eintretende als wahrscheinliches und allgemein verständliches Ergebniß früherer Handlungen begriffen werden; oder mag das Bewirkende eine allgemein verständliche Eigenthümlichkeit des bereits dargelegten Charakters sein. Auch wenn unvermeidlich ist, daß im Verlauf neue Ereignisse hinzutreten, sogar solche, welche dem Hörer unerwartet und überraschend kommen, müssen diese unmerklich, aber vollständig durch Vorhergegangenes erklärt sein. Dies Begründen der Ereignisse [S. 29] im Drama heißt Motiviren. Durch die Motive werden die Einzelheiten der Handlung zu einem künstlerisch wohlgefügten Ganzen verbunden. Das Zusammenfesseln der Ereignisse durch das freie Schaffen einer ursächlichen Verbindung ist die unterscheidende Eigenthümlichkeit dieser Kunstgattung, durch dies Zusammenfesseln wird das dramatische Idealisiren des Stoffes bewirkt.
Als Beispiel diene die Umwandlung einer Erzählung in eine dramatische Handlung. Die Erzählung berichtet Folgendes: Zu Verona lebten zwei edle Familien in alter Feindschaft und Fehde. Da will der Zufall, daß einst der Sohn des einen Geschlechts mit seinen Begleitern den übermüthigen Streich ausführt, verkleidet in ein Maskenfest einzudringen, das der Häuptling des anderen Geschlechtes veranstaltet. Auf diesem Maskenfest sieht der Eindringling die Tochter seines Feindes, in beiden entsteht eine rücksichtslose Leidenschaft, sie beschließen heimliche Vermählung und werden von dem Beichtvater des Mädchens getraut. Da will wieder der Zufall, daß der Neuvermählte mit einem Vetter seiner Braut in Streit geräth und, weil er diesen im Zweikampf getötet hat, von dem Fürsten des Landes bei Todesstrafe verbannt wird. Unterdeß hat ein vornehmer Freier bei den Eltern der Neuvermählten um sie angehalten, der Vater achtet nicht das verzweifelte Flehen der Tochter und setzt den Tag der Vermählung fest. Die junge Frau erhält in dieser schrecklichen Lage von ihrem Beichtvater einen Schlaftrunk, der ihr den Schein des Todes geben soll, der Beichtvater unternimmt, sie heimlich aus dem Sarge zu lösen und ihren entfernten Gatten von dem Sachverhältniß zu unterrichten. Aber wieder bewirkt ein unglücklicher Zufall, daß der Gatte in der Fremde, bevor ihn der Bote des Paters trifft, die Nachricht erhält, daß seine Geliebte gestorben sei. Er eilt heimlich in die Vaterstadt zurück und dringt bei Nacht in ihr Grabgewölbe; unglücklicher Weise trifft er dort mit dem von den Eltern bestimmten Bräutigam zu [S. 30] sammen, er tötet ihn und trinkt an dem Sarge der Geliebten Gift. Die Geliebte erwacht, sieht den sterbenden Gemahl und ersticht sich mit seinem Dolche. [4]
Diese Erzählung ist einfacher Bericht über ein auffallendes Ereigniß. Daß Alles so gekommen, wird gesagt; wie und warum es so gekommen, kümmert nicht. Die Reihenfolge der berichteten Ereignisse hat sehr lose Verbindung, Zufall, Laune des Schicksals, ein unberechenbares Zusammentreffen unglücklicher Momente veranlaßt Verlauf und Katastrophe. Ja, gerade das auffällige Spiel des Zufalls ist das Reizvolle. Ein solcher Stoff scheint vorzüglich ungünstig für das Drama. Und doch hat ein großer Dichter eines seiner schönsten Dramen daraus geschaffen.
Die Thatsachen sind sämmtlich unverändert geblieben, nur ihre Verbindung ist eine andere geworden. Denn die Aufgabe des Dichters war nicht, uns die Thatsachen auf der Bühne vorzuführen, sondern dieselben aus dem Empfinden, Begehren, Handeln seiner Personen herzuleiten, zu erklären, glaublich und vernunftgemäß zu entwickeln. Er hatte im Anfang die Voraussetzungen der Handlung darzulegen: die Händel in einer italienischen Stadt zur Zeit, wo Schwerter getragen wurden und die Rauflust schnell mit der Hand an die Waffen griff, die Führer beider Parteien, die regierende Macht, welche mit Mühe die Unruhigen im Zaum hält. Dann den Entschluß des Capulet ein Gastmahl zu geben. Darauf mußte die Darstellung des lustigen Einfalls kommen, welcher Romeo und seine Begleiter in das Haus des Capulet bringt. Dies erregende Moment, der Anfang der Handlung durfte aber nicht als ein Zufall auftreten, es mußte aus den Charakteren erklärt werden. Daher war nöthig vorher die Genossenschaft des Romeo einzuführen, übermüthig, frisch, in ungebändigter [S. 31] Jugendkraft mit dem Leben spielend. Diesem Bedürfniß der Begründung verdankt Mercutio sein Dasein. Im Gegensatz zu den tollen Genossen wurde der schwermüthige Held Romeo geformt, dessen Wesen schon vor seinem Eintritt in die bewegte Handlung die liebesuchende Leidenschaftlichkeit auszudrücken hat. Daher die Träumerei um Rosalinde. Darauf galt es die entstehende Zuneigung der Liebenden glaublich zu machen. Dafür die Masken- und Balkonscene. Aller Zauber der Poesie ist hier höchst zweckvoll verwendet, um als begreiflich und selbstverständlich zu zeigen, daß die süße Leidenschaft beiden Liebenden fortan das Leben bestimmt.
Die Nebenfigur, welche von da in das Stück eintrat, sollte durch ihren Charakter die Verwickelung und den traurigen Ausgang motiviren helfen. Für die Erzählung war die Thatsache genügend, daß ein Priester traute und die unglückliche Intrigue leitete, es haben sich immer solche Helfer gefunden. Sobald er aber selbst auftrat und in die Handlung hineinsprach, mußte er eine Persönlichkeit erhalten, welche alles Folgende erklärte, er mußte gutherzig und theilnehmend sein und durch sein Herz so großes Vertrauen verdienen, er mußte unpraktisch und zu stillen Ränken geneigt sein, wie nicht selten die besseren Priester der italienischen Kirche sind, um später für sein Beichtkind das verwegene Spiel mit dem Tode zu wagen. So entstand Lorenzo.
Nach der Vermählung fiel in die Erzählung der unglückliche Zufall mit Tybalt. Hier hatte der dramatische Dichter besondere Veranlassung, dem plötzlich Eintretenden das Zufällige zu nehmen. Ihm konnte nicht genügen, den Tybalt als hitzköpfigen Raufer einzuführen, er mußte, ohne daß der Zuschauer die Absicht merkte, schon im Vorhergehenden den besonderen Haß gegen Romeo und seine Genossen begründen. Daher die kleine Zwischenscene beim Maskenfest, in welcher Tybalt's Zorn über das Eindringen des Romeo aufbrennt. Und in der Scene selbst hatte der Dichter die stärksten Motive [S. 32] aufzuspannen, um Romeo zum Zweikampf zu zwingen. Deshalb mußte vorher Mercutio fallen. Auch deshalb, um das Gewicht dieser tragischen Scene zu steigern und den Zorn des Fürsten zu erklären.
Romeo sofort in die Verbannung zu senden, wie die Erzählung thut, war dem Drama unmöglich. Ihm war zwingende Nothwendigkeit, der aufgeregten Leidenschaft ihre höchste Steigerung zu geben, dem Zuschauer die Untrennbarkeit der beiden Liebenden zu beweisen. Wie das dem Dichter gelungen, weiß jeder. Die Scene der Brautnacht ist der höchste Punkt der Handlung und auch durch die poetische Ausführung, die uns hier nicht kümmert, in höchster Schönheit herausgehoben. Aber auch aus anderen Gründen war diese Scene nothwendig. Der Charakter Julia's macht eine Steigerung in das Edle nöthig; daß das liebevolle Mädchen auch großartiger Bewegungen, der kräftigsten Leidenschaft fähig ist, das muß gelehrt werden, damit man ihren späteren verzweifelten Entschluß ihrem Wesen angemessen finde. Der wundervolle Kampf in ihr um Tybalt's Tod und Romeo's Verbannung muß der Brautnacht vorausgehen, um der bräutlichen Sehnsucht die schön pathetische Zugabe zu ertheilen, welche die Theilnahme an der immerhin delikaten Scene steigert. Aber auch die Möglichkeit dieser Scene mußte erklärt werden, die kleinen Hilfsmotive derselben, Pater Lorenzo und die Amme als Vermittler, sind wieder bedeutsam. Der Charakter der Amme, eine der unübertrefflichen Erfindungen Shakespeare's, ist ebenfalls nicht zufällig so gebildet, gerade wie sie ist, paßt sie als Helferin und macht sie die innere Trennung Julia's von ihr und die Katastrophe erklärlich.
Unmittelbar nach der Brautnacht kommt an Julia der Befehl, sich dem Paris zu vermählen. Daß die schöne Tochter des reichen Capulet einen vornehmen Freier findet, und daß der Vater — dessen rauhe Hitze schon vorher genügend motivirt ist — dabei harten Zwang ausübt, würde auch ohne weitere [S. 33] Vorbereitung als wahrscheinlich und selbstverständlich vom Hörer zugegeben werden. Aber dem Dramatiker lag sehr daran, dies wichtige Ereigniß schon vorher zu begründen. Schon vor der Brautnacht läßt er den Paris das Versprechen des Vaters erhalten, auch diesen dunkeln Schatten wollte er noch über die große Liebesscene werfen, und er wollte das einbrechende Verhängniß recht deutlich und gemeinverständlich erklären.
Jetzt ist das Schicksal der Liebenden in die schwachen Hände des Pater Lorenzo gegeben. Bis dahin hat das Drama sorgfältig jedes Eindringen eines Zufalls ausgeschlossen, bis auf die kleinste Nebensache ist Alles aus den Charakteren und Situationen erklärt. Jetzt lastet bereits ein ungeheures Geschick auf zwei Unglücklichen: vergossenes Blut, tötliche Familienfeindschaft, die heimliche Ehe, die Verbannung, die neue Brautwerbung; das Alles drängt in der Empfindung den Hörer mit einem gewissen Zwange abwärts. Das Einführen kleiner erklärender Motive ist nicht mehr wirksam und nicht mehr nöthig. So darf jetzt die List des kopflosen und unpraktischen Paters durch einen Zufall scheitern. Denn die Empfindung, daß es verzweifelt und höchst vermessen war, eine Lebende den unberechenbaren Zufällen eines Schlaftrunks und Begrabens auszusetzen, ist im Hörer so lebendig geworden, daß derselbe jetzt bereits einen unglücklichen Fall als das Wahrscheinliche betrachtet .
So wird die Katastrophe eingeleitet und begründet. Aber damit dem Hörer die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang völlig schwinde, und damit die innere Nothwendigkeit des Untergangs noch im letzten Augenblick die Bedeutung der unvermeidlichen Zufälle in der Totengruft überwachse, muß Romeo noch vor der Gruft den Paris erschlagen.
Der Tod dieses fremden Mannes ist das letzte Motiv für den traurigen Ausgang der Liebenden. Selbst wenn Julia jetzt im günstigen Augenblick erwachte, der Pfad der Liebenden [S. 34] ist so mit Blut überflossen, daß ihnen ein Glück und Leben sehr unwahrscheinlich geworden ist.
Es war hier nur die Aufgabe, an wenigen Hauptsachen den Gegensatz zwischen innerer dramatischer Verbindung und epischem Bericht zu zeigen. Das Stück enthält noch eine Fülle anderer Motive und ist bis ins Kleinste hinab zweckvoll gefügt und durch feste Klammern verbunden.
Die innere Einheit einer dramatischen Handlung wird aber nicht dadurch hervorgebracht, daß irgend eine Reihenfolge von Begebenheiten als Thaten und Leiden desselben Helden erscheint. Nie ist gegen ein großes Grundgesetz des dramatischen Schaffens öfter gefehlt worden als gegen dieses, auch von großen Dichtern. Und immer hat diese Mißachtung die Wirkungen auch genialer Kraft beeinträchtigt. Schon die Bühne der Athener litt darunter und schon Aristoteles suchte diesem Unrecht entgegen zu treten, indem er in seiner festen Weise aussprach: „die Handlung ist das Erste und Wichtigste, die Charaktere erst das Zweite” — und: „die Handlung wird nicht dadurch einig, daß sie um Einen geht.” — Vollends wir Neueren, welche am häufigsten durch das Reizvolle geschichtlicher Stoffe angezogen werden, haben dringende Veranlassung, an dem Satze festzuhalten, daß die Personalunion allein nicht genüge, die Begebenheiten in eine Einheit zu schließen.
Noch immer geschieht es, daß ein Dichter unternimmt, das Leben eines heldenhaften Fürsten vorzuführen, wie dieser sich mit seinen Vasallen entzweit, mit seinen Nachbarn und der Kirche herumschlägt und versöhnt, zuletzt in einem solchen Kampfe untergeht; der Dichter vertheilt die Hauptmomente des historischen Lebens in die fünf Akte und drei Stunden eines Bühnendramas, setzt in Reden und Gegenreden politische Interessen und Parteistandpunkte auseinander, flicht wohl oder übel eine Liebesepisode ein, und meint das geschichtliche Bild in ein poetisches verwandelt zu haben. Er ist zuverlässig nur ein mattherziger Verderber der Geschichte, kein Priester [S. 35] seiner stolzen Göttin. Was er geschaffen, ist nicht Geschichte, nicht Drama. Denn er hat allerdings einigen Forderungen seiner Kunst nachgegeben, er hat wichtige Ereignisse weggelassen, die ihm nicht paßten, hat den Charakter des Helden sich einfach und kunstgemäß zugerichtet, ist mit kleiner und großer Zuthat nicht sparsam gewesen, hat auch dem verwickelten Zusammenhang der historischen Begebenheiten hier und da einen erfundenen untergeschoben. Aber er hat durch alles dies eine Gesammtwirkung erreicht, welche in gutem Falle ein schwacher Abglanz jener erhabenen Wirkung ist, die das Leben des Helden bei guter Darstellung durch den Historiker hervorgebracht hätte. Und sein Irrthum war, daß er die historische Idee an die Stelle der dramatischen gesetzt hat.
Doch auch der Dichter, welcher würdiger von seiner Kunst denkt, ist vor geschichtlichen Stoffen in der Gefahr, eine falsche Einheit zu suchen. Der Geschichtschreiber hat ihn belehrt, daß die wechselnden Ereignisse des geschichtlichen Lebens oft durch Charaktereigenthümlichkeiten erklärt werden, welche Erfolge sichern, ein Verhängniß heraufbeschwören. Gewaltig und Staunen erregend ist die Wirkung, welche der innere Zusammenhang eines geschichtlichen Lebens hervorbringt. Durch solche Gewalt des Wirklichen bestimmt, sucht der Dichter den innern Zusammenhang der Begebenheiten in dem charakteristischen Grundzuge des Heldenlebens zusammenzufassen. Der Charakter des Helden wird ihm das letzte Motiv zur Begründung der verschiedenen Wechselfälle eines thatenreichen Daseins. Ein deutscher Fürst z. B., der bei großer Kraft und hochsinnigem Wesen durch jähe Heftigkeit in Kämpfe und Niederlagen getrieben wird, der in herzfressenden Demüthigungen, in der tiefsten Erniedrigung sein besseres Selbst wiederfindet, sich maßvoll erhebt, seinen hochfahrenden Stolz bändigt u. s. w., ein solcher Charakter mag an sich alle Eigenschaften eines dramatischen Helden haben, das allgemein Verständliche, Bedeutsame dringt vielleicht aus dem Zufälligen seines irdischen [S. 36] Daseins gewaltig hervor, auch das Geschick seines Lebens zeigt ein das menschliche Gemüth ergreifendes Verhältniß von Schuld und Strafe, er erscheint in der That als der hämmernde Schmied seines Glücks und Unglücks, Kern und Inhalt seines wirklichen Lebens mag einer poetischen Idee sehr ähnlich sein. Aber gerade vor solcher Aehnlichkeit soll der Dichter mißtrauisch anhalten. Er hat sich zunächst zu fragen, ob er denn Gewaltigeres und Wirksameres durch seine Kunst geben könne, als die Geschichte selbst bietet. Ja, ob er überhaupt in der Lage sei, durch die Mittel seiner Kunst auch nur einen Theil der Wirkungen herauszubilden, welche er in dem historischen Stoffe vorausfühlend bewundert. Allerdings, er vermag den Charakter seines Helden zu vertiefen. Was in der Seele Heinrich's IV. arbeitete, als er nach Canossa zog und im Büßerhemd an der Schloßmauer stand, ist Geheimniß des Dichters, der Historiker weiß darüber wenig zu erzählen. Und auf solche Momente eines wirklichen Lebens hat der Dichter ein unveräußerliches Recht. Aber Wesen und Wandlungen des historischen Helden vollziehen sich nicht vorzugsweise in Momenten der persönlichen Vereinsamung, und was den Dichter gelockt hat, war gerade ein heldenhaftes Wesen, dessen ureigenes Gefüge an verschiedenen Ereignissen sich darstellte. Nun sind diese Ereignisse, welche der Historiker berichtet, sehr zahlreich. Der Dichter wird sich auf wenige der wichtigsten beschränken müssen. Er wird diese wenigen umformen müssen, um die Bedeutung hineinzulegen, die in Wirklichkeit der Zug des ganzen Lebens hat. Mit Erstaunen wird er sehen, wie schwer das ist, und wie sein Held selbst dadurch kleiner und schwächer wird, daß seine historische Idee sich an so Wenigem vollendet. Aber auch in der Darstellung dieser ausgewählten Ereignisse ist der Dichter wieder unendlich ärmer als der Geschichtschreiber. Für jedes seiner Momente braucht er eine erklärende Einleitung, er muß die Hannos und Ottos, die Rudolfe und Heinriche dem Zuhörer vorstellen, er muß ihre Angelegenheiten bis [S. 37] zu gewissem Grade anziehend machen, er wird zwei-, dreimal im Stück anspannen und abwickeln, die Personen drängen und decken einander auf dem engen Raum, die aufschießende Theilnahme der Hörer wird immer wieder geknickt. Er wird mit Erstaunen die Erfahrung machen, daß Spannung des Hörers überhaupt nicht durch die Charaktere hervorgebracht wird, wie interessant diese sein mögen, sondern nur durch das Gefüge der Handlung . Und er wird im besten Fall nichts weiter erreichen, als eine und die andere groß ausgeführte Scene mit echtem dramatischen Leben, welche einzeln steht in einer Oede von skizzenhaften kurzen Andeutungen, von verstümmelter Historie, schwungloser Erfindung. Das ist das gewöhnliche Aussehen moderner historischer Dramen.
Und wahrscheinlich ist der Dichter bei solcher Arbeit über zahlreiche schöne Stoffe, die in dem geschichtlichen Material lagen, hinweggefahren, ohne sie zu sehen. Ein ganzes politisches Menschenleben zu idealisiren, ist eine riesige Arbeit. Auch cyklische Dramen, Trilogie, Tetralogie mögen in den meisten Fällen dafür schwerlich genügen. Ein einziges historisches Moment vermag dem Dichter überreichen Stoff zu geben. Denn wie der Glaube da beginnt, wo das Wissen endet, so fängt die Poesie da an, wo die Geschichte aufhört. Was die Geschichte zu melden weiß, darf dem Dichter nichts sein als der Rahmen, in welchem er seine glänzenden Farben, die geheimsten Offenbarungen der Menschennatur hineinmalt; wie soll ihm dafür Raum und innere Freiheit bleiben, wenn er sich mit Darlegung einer Folge von geschichtlichen Ereignissen zerarbeitet? Schiller hat in seinen beiden größten historischen Stücken nur die geschichtliche Katastrophe, die letzten Scenen eines wirklichen Menschenlebens verwerthet, und er hat für einen so kleinen historischen Ausschnitt im Wallenstein drei Dramen gebraucht. Möge man dies Beispiel beherzigen. Es ist wahr, Götz von Berlichingen wird immer für ein sehr liebenswerthes Gedicht gehalten werden, weil die Reiteranekdoten, welche mit knappen kurzen [S. 38] Strichen vortrefflich dargestellt sind, den Leser fesseln, aber ein auf der Bühne wirksames Drama ist das Stück nicht, ebensowenig Egmont, obgleich die üble Handlung desselben und die mangelhafte Charakterzeichnung des Helden durch die größere Ausführung eines bewegten Frauencharakters einigermaßen gut gemacht sind.
Den Deutschen ist die kunstlose Behandlung historischer Stoffe durch die epischen Ueberlieferungen unserer alten Bühne, vor Allem durch Shakespeare nahe gelegt worden. Seine historischen Dramen aus der englischen Geschichte, deren Bau wir, Richard III. ausgenommen, nicht nachahmen sollen, hatten doch eine weit andere Berechtigung. Damals gab es noch keine Geschichtschreibung, wie wir dieselbe fassen, und als der Dichter die einfachen Berichte seiner historischen Quellen zu künstlerischer Gestaltung benutzte, da arbeitete er noch aus dem Vollen und schloß seinem Volke in einer Anzahl von meisterhaften Charakterbildern die nächste Vergangenheit auf. Er selbst aber hat für seine Bühne den großen Fortschritt zu einer geschlossenen Handlung durchgemacht, und gerade ihm verdanken wir, seit er an die italienischen Novellenstoffe kam, das Verständniß, wie unersetzlich die edlen Wirkungen sind, welche eine einheitlich geordnete Handlung hervorbringt. Seine Römerdramen sind, wenn man einige Gewohnheiten seiner Bühne und etwa den dritten Akt von Antonius und Kleopatra abrechnet, Muster eines festen Baues. Wir thun nicht gut, nachzuahmen, was er überwunden hat.
Unleugbar ist im modernen Drama die Einwirkung des Charakters auf das Gefüge der Handlung stärker, als auf der Bühne des Alterthums. Wie dem Germanen der erste Anreiz zum Schaffen häufig durch Charakterzüge eines historischen Helden kommt, wie die Zeichnung der Charaktere und ihre Darstellung durch unsere Schauspieler mehr Einzelzuthaten und feinere Ausführung erhalten hat, als bei der griechischen Maskentragödie möglich war, so wird auch der Charakter der [S. 39] Helden stärkere Einwirkung auf den Bau der Handlung ausüben. Aber nur dadurch, daß wir mit größerer Freiheit die innerlich zusammenhängende einheitliche Handlung durch Charaktereigenthümlichkeiten der Helden erklären dürfen . Fremd war solche Motivirung auch den Hellenen nicht. Schon in einem der älteren Stücke des Aeschylos, in den Hiketiden, ist der schwankende Charakter des Königs von Argos so stark hervorgehoben, daß man deutlich erkennt, wie der Dichter in dem verlorenen folgenden Stück die Auslieferung der schutzflehenden Danaiden darauf gegründet hat. Und Sophokles ist gerade darin Meister, einen Grundzug seiner Charaktere als bewegendes Motiv vorzustellen, so bei Antigone, Aias, Odysseus. Ja Euripides ist sogar darin den Germanen noch ähnlicher als Sophokles, daß er auch Besonderheiten der Charaktere mit Behagen hervorhebt. Im Ganzen aber war der epische Zwang der Fabel weit mächtiger als bei uns, die Personen wurden in der Regel nach dem Bedürfniß eines allbekannten, bereits fertigen Gewebes der Begebenheiten geformt, so Agamemnon, Klytämnestra, Orestes. Das war dem Griechen ein Vortheil, uns würde es als Beschränkung erscheinen. Bei uns wird der Dichter nicht selten in die Lage kommen, daß sein Held sich eine Handlung sucht, als ein lichtstrahlender Mittelpunkt, der Allem, was an ihn herangezogen wird, Beleuchtung gibt. Wir werden Tieferes und Geheimeres aus seinem Wesen erklären können. Aber wie sehr wir die Handlung nach seinen Bedürfnissen zurichten, sie wird immer nur aus Einzelheiten zusammengefügt sein dürfen, welche einer und derselben Begebenheit angehören, die vom Anfang bis zum Ende des Stückes reicht.
Unter den Griechen ist für uns Sophokles ein Meister in Handhabung dieser dramatischen Einheit, ganz gewissenlos dagegen Euripides. Wie Shakespeare in seinen ernsten Stücken sich und uns allmählich, gegenüber der Bühne des sechzehnten Jahrhunderts, dies Gesetz aufschloß, ist gesagt. [S. 40] Von den Deutschen hält Lessing die Einheit sehr fest, auch Goethe in der kurzen Handlung des Clavigo und in den spätern Dramen, bei welchen er an die Bühne gedacht hat, in Tasso und Iphigenie. Schiller hat von Kabale und Liebe an dies Gesetz treu beobachtet; ist es ein Zufall, daß er es in seinen letzten Dramen, im Tell und im Demetrius, soweit man über diesen aus den erhaltenen Notizen urtheilen darf, vernachlässigt? Wo er einmal an die Grenze des Erlaubten kam, geschah es nur wegen seiner Freude an Episoden und an Doppelhelden, wie in Carlos, Maria Stuart, Wallenstein.
Von den Stoffen machen die aus der epischen Sage genommenen nicht schwer, die Einheit der Handlung fest zu halten, aber ihre Handlung verträgt ungern dramatische Ausarbeitung der Charaktere. Die Novellenstoffe bewahren gut die Einheit der Handlung, aber die Charaktere werden leicht durch die verflochtene Handlung zu unfrei umhergeworfen oder durch Situationsschilderungen in der Bewegung gehemmt. Die historischen Stoffe bieten für Charakterzeichnung die schönsten und größten Aufgaben, aber es ist sehr schwer, aus ihnen eine gute Handlung zusammenzufügen.
Leicht steigert sich dem Dichter das Interesse an den Charakteren der Gegenspieler so hoch, daß auch diesen reichliche Einzelschilderung, eine theilnahmvolle Darlegung ihrer Strebungen und ihrer Kampfstimmung und ein besonderes Schicksal gegönnt wird. Dadurch zunächst entsteht für das Drama eine Doppelhandlung. Oder die Handlung des Stückes mag so beschaffen sein, daß zu ihrer Beleuchtung und Ergänzung eine Nebenhandlung wünschenswerth wird, welche durch Darstellung gleichlaufender oder gegensätzlicher Verhältnisse die Hauptpersonen und ihr Thun und Leiden stärker abhebt. Verschiedene Einseitigkeiten des Stoffes können derartige Ergänzung wünschenswerth machen. Ein Drama soll nicht den ganzen großen Kreis rührender und erschütternder Stimmungen durchlaufen, und es soll von seiner ernsten Grundfarbe aus [S. 41] nicht in alle möglichen andern Farbentöne spielen; aber eine Abwechselung in den Stimmungen und bescheidene Farbengegensätze sind einem Drama ebenso nöthig, wie einem figurenreichen Gemälde neben den Hauptlinien und Gruppen ein abstechender Schwung in den Nebenlinien, gegenüber der Hauptfarbe Verwendung der abhängigen Ergänzungsfarben. Ein vorzugsweise finsterer Stoff macht die Einfügung heller Nebengestalten nöthig. Zu den trotzigen Charakteren der Iphigeneia und des Kreon sind die milderen Gegenbilder Ismene und Hämon erfunden, durch das Eintreten der Tekmessa erhält die Verzweiflung des Aias eine rührende Nebenfarbe, deren zauberischen Reiz wir noch heut empfinden. Der düstere pathetische Othello heischt ein Gegenspiel, in welchem etwas von der unumschränkten Freiheit des Humors sichtbar wird. Die finstere Gestalt Wallensteins und seiner Intriganten fordert gebieterisch die Einfügung des glänzenden Max.
Wenn aus diesem Grunde schon die Griechen ihre Dramen in einfache und in solche mit Doppelhandlung theilten, so haben die modernen Stücke die Erweiterung des Gegen- oder Nebenspiels zu einer Nebenhandlung noch weniger vermieden. Die Einflechtung derselben in die Haupthandlung geschah allerdings zuweilen auf Kosten der Gesammtwirkung. Die Germanen namentlich, welche immer geneigt sein werden, während der Arbeit auch die Bedeutung der Nebenpersonen mit herzlicher Wärme zu fassen, mögen sich vor einer zu weiten Ausdehnung der Nebenhandlung hüten. Schon Shakespeare hat sich einigemal dadurch die Wirkung des Dramas beeinträchtigt, am auffälligsten im Lear, in welchem die ganze Parallelhandlung des Hauses Gloster, nur lose mit der Haupthandlung verbunden und ohne besondere Liebe behandelt, den Fortschritt aufhält, das Ganze ohne Noth herber macht. Daß dem Dichter in den beiden Dramen Heinrich IV. die Episoden zu einer Nebenhandlung heraufwuchsen, deren unsterblicher Humor die ernsten Wirkungen des Stückes überglänzt, macht [S. 42] diese Dramen allerdings zu Lieblingen des Lesers. Daß aber die Gesammtwirkung auf der Bühne trotz dieses Zaubers nicht die entsprechende Gewalt hat, soll jeder Bewunderer Falstaff's zugeben. Nur nebenbei sei bemerkt, daß in den Komödien Shakespeare's die Doppelhandlung zum Wesen gehört, er suchte seinen Clowns das Episodische zu nehmen, indem er sie mit einer ernstern Handlung verflocht. Die gute Laune, welche aus ihren Scenen strahlt, muß zuweilen Härten des Stoffes verdecken; so muß z. B. die Bürgerwache über das peinliche Geschick der Hero weghelfen. Unter den deutschen Dichtern war Schiller am meisten in Gefahr, durch Doppelhandlungen sich zu stören; das zu mächtige Heraufwachsen der Nebenhandlung beruht im Carlos und in der Maria Stuart darauf, daß seine Wärme für den Gegenspieler zu groß wird, im Wallenstein hat derselbe Grund das Stück bis zur Trilogie erweitert. Im Tell laufen sogar drei Handlungen neben einander. [5]
Die Handlung hat die Aufgabe, uns den innern Zusammenhang einer Begebenheit darzustellen, wie er den Bedürfnissen des Verstandes und Herzens entspricht; was in dem rohen Stoffe nicht dazu dient, wird der Dichter wegzuwerfen verpflichtet sein. Und es ist wünschenswerth, daß er streng an diesem Grundsatze halte, nur das für die Einheit Unentbehr [S. 43] liche zu geben. Aber eine Abweichung davon wird er doch nicht vermeiden. Denn ihm werden nicht selten Abschweifungen wünschenswerth, welche die Farbe des Stückes in zweckmäßiger Weise verstärken, den Charakteren tiefern Inhalt verleihen, durch Eintragen einer neuen Farbe oder eines Gegensatzes die Gesammtwirkung steigern. Diese schmückenden Zuthaten des Dichters heißen Episoden. Sie sind sehr verschiedener Art. Ein charakterisirendes Moment kann an einer Stelle, wo die Handlung eine kurze Ruhe erträgt, zu einem kleinen Situationsbilde erweitert werden, einem Helden kann Gelegenheit werden, den bedeutungsvollen Grundzug seines Wesens an einer Nebenperson anziehend darzulegen, eine Nebenrolle des Stückes kann durch reichere Ausführung zu einer anziehenden Figur erweitert werden. Bei bescheidener Verwendung, welche nicht Wichtigerem die Zeit wegnimmt, mögen sie ein Schmuck des Dramas werden. Und als Schmuckstücke hat sie der Dichter zu behandeln, durch feine Ausführung, saubere Arbeit dafür zu entschädigen, wenn sie doch einmal den Fortschritt verzögern. Die Episoden haben nach den Theilen des Dramas, in welchen sie erscheinen, verschiedene Aufgaben. Während sie im Anfange in die Rollen der Hauptpersonen eintreten, diese in ihrer Eigenart zu zeichnen, werden sie in dem letzten Theil als Erweiterungen derjenigen neuen Rollen geduldet, welche dem Forttreiben der Handlung eine kleine Hilfe gewähren, an jeder Stelle aber sollen sie als vortheilhafte Zuthat empfunden werden.
Die Griechen faßten das Wort in etwas weiterer Bedeutung. [6] Was in den Dramen des Sophokles den Zeit [S. 44] genossen Episode hieß, werden wir nicht mehr so nennen. Denn die geniale Kunst dieses großen Meisters besteht unter Anderm darin, daß er die schmückenden Zuthaten sehr innig seiner Handlung verflicht, zumeist um die Charaktere der Haupthelden durch Gegensätze in ein scharfes Licht zu setzen. So ist außer der unten erwähnten Scene der Ismene auch die Chrysothemis in der Elektra nach unserer Empfindung für die Hauptheldin unentbehrlich, und nicht mehr Episode, sondern Theil der Handlung. Auch wo er eine Situation breiter ausmalt, wie im Anfange des Oedipus von Kolonos, entspricht solche Schilderung durchaus den Gewohnheiten unserer Bühnen. Fast ebenso steht Shakespeare zu seinen Episoden. Auch in denjenigen ernsten Dramen Shakespeare's, welche kunstvolleren Bau haben, sind fast in jedem Akte theils ausgeweitete Scenen, [S. 45] theils ganze Rollen von episodischer Ausführung; aber es ist soviel Schönes und daneben soviel für die Gesammtwirkung Zweckmäßiges hineingebannt, daß der strengste Regisseur unserer Bühne, der in der Nothwendigkeit ist, an den Dramen zu kürzen, gerade diese Stellen fast niemals hinwegwischen wird. Mercutio mit seiner Fee Mab und die Scherze der Amme, die Unterhandlung Hamlet's mit den Schauspielern und Hofleuten, sowie die Totengräberscene sind Beispiele, wie sie fast in allen Stücken wiederkehren. Fast überreichlich und mit scheinbarer Sorglosigkeit befestigt der große Künstler seine goldenen Zieraten an alle Theile des Stückes; wer aber daran geht, sie abzulösen, der findet sie eisenfest in das Gefüge des Ganzen eingewachsen. Von den Deutschen hat Lessing seine Episoden dem sorgfältigen Bau der Stücke mit einer ehrbaren Regelmäßigkeit eingefügt, nach eigener Methode, die auf seine Nachfolger übergegangen ist. Seine Episoden sind kleine Charakterrollen. Der Maler und die Gräfin Orsina in Emilia Galotti (die letzte das bessere Vorbild der Lady Milford), Riccault in Minna von Barnhelm, ja auch der Derwisch im Nathan wurden Muster für die deutschen Episoden des achtzehnten Jahrhunderts. Goethe hat sie in seinen regelmäßigen Dramen, Clavigo, Tasso, Iphigenie, nicht verwerthet. Bei Schiller dagegen drängen sie sich überreich in jeder Form als Schilderungen, ausgeführte Situationen, als Nebencharaktere in die gefügte Handlung. Häufig sind auch sie durch besondere Schönheit gerechtfertigt, kluge Hilfsmittel für die hohe, langwellige Bewegung. Aber nicht immer. Denn einzelne derselben könnten wir gern missen, den Parricida im Tell, gerade weil bei ihm die verständige Absicht so auffällig wird, den schwarzen Ritter in der Jungfrau, nicht selten die ausgesponnenen Betrachtungen und Schilderungen in seinen Dialogscenen.
Die Handlung des ernsten Dramas soll wahrscheinlich sein.
Die poetische Wahrheit wird einem der Wirklichkeit entnommenen Stoff dadurch zu Theil, daß derselbe, dem zufälligen Zusammenhange enthoben, einen allgemeinverständlichen Inhalt und Bedeutung erhält. In der dramatischen Poesie wird dies Umwandeln der Wirklichkeit in poetische Wahrheit dadurch hervorgebracht, daß die Hauptsachen durch eine ursächliche Verbindung zu innerer Einheit verbunden und alle Nebenerfindungen als wahrscheinliche und glaubliche Momente der dargestellten Begebenheiten begriffen werden. Aber nicht diese poetische Wahrheit allein ist im Drama nöthig. Der Genießende gibt sich zwar der Erfindung des Dichters willig hin, er läßt sich Voraussetzungen eines Stückes gern gefallen und ist im Ganzen sehr geneigt, dem erfundenen menschlichen Zusammenhang in der Welt des schönen Scheins beizustimmen; aber er vermag doch nicht ganz die Wirklichkeit zu vergessen, er hält an das poetische Gebilde, welches reizvoll vor ihm aufsteigt, das Bild der wirklichen Welt, in der er selbst athmet. Er bringt eine gewisse Kenntniß geschichtlicher Verhältnisse, bestimmte ethische und sittliche Forderungen an das Menschenleben, Ahnungen und sicheres Wissen über den Lauf der Welt mit vor die Bühne. Es ist ihm bis zu gewissem Grade unmöglich auf diesen Inhalt seines eigenen Lebens zu [S. 47] verzichten, zuweilen empfindet er lebhaft, wenn das poetische Bild damit in Widerspruch tritt. Daß Seeschiffe am Ufer von Böhmen landen, daß Karl der Große mit Kanonen schießt, erscheint unsern Zuschauern als eine Unrichtigkeit.
Daß dem Juden Shylock Gnade versprochen wird, wenn er ein Christ werde, verstößt gegen die sittlichen Empfindungen des Zuschauers, und er ist vielleicht nicht geneigt zuzugeben, daß ein gerechter Richter so geurtheilt habe. Daß Thoas, der so gebildet und würdig um die Priesterin Iphigenie wirbt, in seinem Lande Menschenopfer duldet, erscheint als ein innerer Widerspruch zwischen dem edlen Inhalt der Charaktere und den Voraussetzungen des Stückes und vermag vielleicht, wie klug der Dichter diesen vernunftwidrigen Bestandtheil verdeckt, die Wirkung zu beeinträchtigen. Daß König Oedipus viele Jahre herrscht, ohne sich um den Tod des Laios zu kümmern, erschien vielleicht schon bei der ersten Aufführung des Stückes den Athenern als eine bedenkliche Voraussetzung.
Nun ist wohlbekannt, daß dies Bild der Wirklichkeit, welches der Zuschauer gegen das einzelne Drama hält, nicht in jedem Jahrhundert dasselbe bleibt, sondern durch jeden Fortschritt der menschlichen Bildung verändert wird. Das Verständniß vergangener Zeit, die sittlichen Forderungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse sind nichts Feststehendes, jeder Zuhörer aber ist ein Kind seiner Zeit, jedem wird sein Erfassen des Gemeingiltigen eingeschränkt durch seine Persönlichkeit und die Zeitbildung.
Und ferner ist klar, daß dies Bild von dem Leben der Wirklichkeit in jedem Menschen anders abgeschattet ist, und daß der Dichter, wie völlig und reich er die Bildung seines Geschlechtes in das eigene Leben aufgenommen habe, doch tausend verschieden gefärbten Auffassungen der Wirklichkeit gegenübersteht. Wohl, er hat den großen Beruf, seiner Zeit ein Apostel der freiesten und höchsten Bildung zu sein und ohne daß er sich lehrhaft geberde, seine Hörer zu sich herauf [S. 48] zuziehen. Aber dem dramatischen Dichter sind dafür heimliche Schranken abgesteckt, er darf nicht über diese Schranken hinausgehen, er darf in vielen Fällen nichts von dem Raume leer lassen, den sie einschließen. Wo sie sich unsichtbar erheben, das kann in jedem einzelnen Fall nur durch Feingefühl und sichere Empfindung geahnt werden.
Die Wirkungen der dramatischen Kunst sind nämlich gesellige. Wie das dramatische Kunstwerk in einer Verbindung mehrer Künste, durch gemeinsame Thätigkeit zahlreicher Gehilfen dargestellt wird, so ist auch die Zuhörerschaft des Dichters eine Körperschaft aus vielen wechselnden Einzelwesen zusammengesetzt, und doch als Ganzes ein einheitliches Wesen, welches, wie jede menschliche Gemeinschaft, die einzelnen Theilnehmer mächtig beeinflußt, eine gewisse Uebereinstimmung des Empfindens und der Anschauungen entwickelt, den einen heraufhebt, den andern hinabdrückt, Stimmung und Urtheil durch Gemeinsinn in hohem Grade ausgleicht. Dieser Gemeinsinn der Zuhörerschaft äußert sich fortwährend bei Aufnahme der dramatischen Wirkungen, er vermag die Kraft derselben außerordentlich zu steigern, er vermag sie ebenso sehr zu schwächen. Schwerlich wird sich der einzelne Hörer dem Einfluß entziehen, welchen ein theilnahmloses Haus, eine begeisterte Menge auf ihn ausüben. Wohl Jeder hat empfunden, wie verschieden der Eindruck ist, den dasselbe Stück bei gleich guter Aufführung auf verschiedenen Bühnen vor einem anders zusammengesetzten Publikum macht. Beständig wird auch der Schaffende, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, durch die Auffassung bestimmt, welche er von Verständniß, Geschmack, den gemüthlichen Bedürfnissen seiner Zuhörerschaft hat. Er weiß, daß er ihr nicht zu viel zumuthen, nicht zu wenig bieten darf. Er wird also seine Handlung so einrichten müssen, daß sie einem guten mittleren Durchschnitt seiner Hörer nicht gegen die Voraussetzungen verstoße, welche diese aus dem wirklichen Leben vor die Bühne bringen, das heißt, er wird ihnen den Zusammenhang [S. 49] der Gegebenheiten, Motive und Umrisse seiner Helden wahrscheinlich machen müssen. Gelingt ihm das mit dem Grundgewebe des Stücks, der Handlung und den Hauptlinien der Charaktere, so mag er den Hörern im Uebrigen die höchste Bildung und das feinste Verständniß seiner Ausführung zutrauen.
Diese Rücksicht muß den Dichter zumeist da bestimmen, wo er in Versuchung kommt, Fremdartiges und Wunderbares vorzuführen. Das Fremdartige reizvoll zu machen, ist sehr wohl möglich. Gerade die dramatische Kunst hat die reichsten Mittel, dasselbe zu erklären, seinen auch uns verständlichen Inhalt herauszuheben. Aber es ist dazu ein besonderer Aufwand von Kraft und Zeit nöthig, und häufig wird die Frage berechtigt sein, ob die erzielte Wirkung die aufgewandte Zeit und die dadurch hervorgebrachte Einschränkung der Hauptsachen lohne. Namentlich der neuere Dichter, ohne ein fest begrenztes Gebiet der Stoffe, mitten in einer Kulturperiode, der überreiches Aufnehmen fremder Bilder eigen ist, kann verlockt werden, seinen Stoff aus den Bildungsverhältnissen einer dunklen Zeit, eines abgelegenen Volkes zu nehmen. Vielleicht ist ihm gerade das Fremdartige eines solchen Stoffes als besonders lohnend für scharf zeichnende Einzelschilderung erschienen. Schon eine genaue Betrachtung der deutschen Vorzeit oder der alten Welt bietet zahlreiche eigenthümliche, dem Leben der Neuzeit fremde Zustände, in denen sich ein ergreifender und bedeutsamer Inhalt kundgibt, dem Kulturhistoriker von höchster Wichtigkeit. Für den Dichter wird dergleichen nur ausnahmsweise, bei sehr geschickter Behandlung, immer nur als ein Hilfsmittel, welches die Farbe verstärkt, zu verwenden sein. Denn nicht aus den Besonderheiten des Menschenlebens, sondern aus dem unsterblichen Inhalt desselben, aus dem, was uns mit der alten Zeit gemeinsam ist, erblühen ihm seine Erfolge. Noch mehr wird er vermeiden, solche fremde Völkerschaften aufzuführen, welche außerhalb der großen Kulturbewegung des Menschengeschlechtes stehen. Schon das Un [S. 50] gewohnte ihrer Sitten und Erscheinung, ihrer Tracht oder gar ihrer Hautfarbe zerstreut und erregt Nebenvorstellungen, welche für ernste Kunstwirkungen ungünstig sind. Denn in roher Weise wird dem Hörer die ideale Welt der Poesie mit einer Schilderung wirklicher Zustände verbunden, welche nur darum ein Interesse beanspruchen dürfen, weil sie wirklich sind. Aber auch das innere Leben solcher Fremden ist für dramatischen Ausdruck besonders ungeeignet, denn ohne Ausnahme fehlt ihnen in Wirklichkeit die Fähigkeit, innere Gemüthsvorgänge, wie sie unsere Kunst nöthig hat, reichlich darzulegen. Und das Hineintragen einer solchen Bildung in ihre Seelen erregt in dem Hörer mit Recht das Gefühl einer Ungehörigkeit. Wer seine Handlung unter die alten Aegypter oder die heutigen Fellah, zu Japanern oder selbst Hindus verlegen wollte, der würde durch das fremde Volkswesen vielleicht ein ethnographisches Interesse aufregen, aber dieser neugierige Antheil an dem Seltsamen würde dem Hörer vor der Bühne die Antheilnahme an dem etwaigen poetischen Inhalt nicht steigern, sondern durchkreuzen und beeinträchtigen. Es ist kein Zufall, daß nur solche Völker eine passende Grundlage für das Drama werden, welche in der Entwickelung ihres Gemüthslebens so weit gekommen sind, daß sie selbst ein volksgemäßes Kunstdrama hervorbringen konnten, Griechen, Römer, die gebildeten Völker der Neuzeit. Neben ihnen etwa noch solche, deren Volksthum mit unserer oder der antiken Bildung enge verwachsen ist, wie die Hebräer, kaum noch die Türken.
Wie weit das Wunderbare für das Drama verwerthet werden dürfe, darf auch uns Deutschen nicht zweifelhaft sein, auf deren Bühne der geistvollste und liebenswürdigste aller Teufel das Bürgerrecht erhalten hat. Die dramatische Poesie ist darin ärmer und reicher als ihre Schwestern, Lyrik und Epos, daß sie nur Menschen darzustellen vermag, und wenn man genauer zusieht, nur gebildete Menschen, diese aber tief und völlig, wie keine andere Kunst. Sie muß sogar geschichtliche [S. 51] Verhältnisse sich dadurch zurichten, daß sie ihnen einen Zusammenhang erfindet, der menschlicher Vernunft durchaus begreiflich ist; wie sollte sie Ueberirdisches verkörpern können?
Gesetzt aber, sie unternähme dergleichen, so vermag sie es nur insofern, als das Nichtmenschliche bereits durch die Einbildungskraft des Volkes dichterisch zugerichtet, mit einer dem Menschen entsprechenden Persönlichkeit versehen, durch scharf ausgeprägte Züge bis ins Einzelne hinein verbildlicht ist. So gestaltet lebten in der griechischen Welt die Götter unter ihrem Volke, so schweben noch unter uns die herzlich zugerichteten Bilder vieler Heiligen der christlichen Legende, fast zahllose Schattengestalten aus dem Hausglauben der deutschen Urzeit. Nicht wenige unter diesen Phantasiegebilden haben durch Sage, Dichtkunst, Malerei und durch das Gemüth unseres Volkes, welches sich noch heut gläubig oder mißtrauisch mit ihnen beschäftigt, so reiche Ausbildung erhalten, daß sie auch den Schaffenden wie alte werthe Freunde während seiner Arbeit umgeben. Die Jungfrau Maria, Sanct Peter an der Himmelspforte, mehre Heilige, Erzengel und Engel, nicht zuletzt die ansehnliche Schar der Teufel leben in unserem Volke traulich gesellt zu weißen Frauen und dem wilden Jäger, zu Elfen, Riesen und Zwergen. Doch wie lockend die Farben schimmern, welche sie in ihrem Dämmerlicht tragen, vor der scharfen Beleuchtung der tragischen Bühne verflüchtigen sie sich doch in wesenlose Schatten. Denn es ist wahr, sie haben durch das Volk einen Antheil an menschlicher Empfindung und an den Bedingungen irdischen Lebens erhalten. Aber dieser Antheil ist nur epischer Art; für die dramatischen Gemüthsvorgänge sind sie nicht gebildet. Das deutsche Volk läßt in einigen der schönsten Sagen die kleinen Geister beklagen, daß sie nicht selig werden können, d. h. daß sie keine menschliche Seele haben. Derselbe Unterschied, den schon im Mittelalter das Volk ahnte, hält sie der modernen Bühne in noch ganz anderer Weise fern, die inneren Kämpfe fehlen ihnen, die Freiheit fehlt zu prüfen und zu wäh [S. 52] len, sie stehen außerhalb Sitte, Gesetz, Recht. Weder völliger Mangel an Wandelbarkeit, weder vollendete Reinheit, noch völlige Schlechtigkeit sind darstellbar, weil sie jede innere Bewegung ausschließen. Auch die Griechen empfanden das. Wenn die Götter auf der Bühne mehr vorstellen sollten, als von der Maschine herab einen Befehl aussprechen, so mußten sie entweder ganz Menschen werden mit allem Schmerz und Zorn, wie Prometheus, oder sie sanken unter den Adel der Menschennatur hinab, ohne daß der Dichter es verhindern konnte, zu starren Verallgemeinerungen in Liebe und Haß, wie Athene im Prolog des Aias.
Während Götter und Geister im ernsten Drama üblen Stand haben, gelingt es ihnen in der Komödie weit besser. Und die jetzt abgelebten Zauberpossen geben nur eine sehr blasse Vorstellung von dem, was unsere Geisterwelt bei launiger und humoristischer Darstellung einem Dichter sein könnte. Wenn die Deutschen erst für eine politische Komödie reif sein werden, dann wird man den Werth des unerschöpflichen Schatzes von Motiven und Gegensätzen benutzen lernen, welcher aus dieser Phantasiewelt für drollige Laune, politische Satire und humoristische Einzelschilderung zu heben ist.
Für das Gesagte ist der Faust und in ihm die Rolle des Mephistopheles der beste Beweis. Hier hat die Kraft des größten deutschen Dichters ein Bühnen-Problem geschaffen, welches eine Lieblingsaufgabe unserer Charakterspieler geworden ist. Jeder von ihnen sucht sich auf seine Weise mit der unlösbaren Aufgabe abzufinden, der eine holt die Maske des alten Holzschnitt-Teufels heraus, ein anderer den cavaliermäßigen Junker Voland, am besten wird die Sache noch dem Darsteller gerathen, der sich begnügt mit Klugheit und Geist die feine Redekunst der Dialoge verständlich zu machen und in den drolligen Scenen Haltung und gute Laune zu zeigen. Der Dichter freilich hat es dem Schauspieler, an den er beim Schreiben überhaupt nicht dachte, besonders schwer gemacht, [S. 53] denn die Rolle schillert in allen Farben, von der treuherzigen Sprache des Hans Sachs bis zu den feinen Erörterungen eines Spinozisten, vom Grotesken bis in das Furchtbare. Und sieht man näher zu, wie die Darstellung dieses Geistes auf der Bühne doch noch möglich wird, so ist der letzte Grund das Eintreten eines komischen Elements. Mephisto erscheint in einigen ernsten Situationen, aber er ist eine im großen Stil behandelte Lustspielfigur, und soweit er auf der Bühne wirkt, thut er es nach dieser Richtung.
Damit ist nicht gesagt, daß das Geheimnißvolle, menschlicher Vernunft Unergründliche ganz aus dem Gebiet des Dramas verbannt werden soll. Träume, Ahnungen, Prophezeiungen, Gespensterschauer, das Eindringen der Geisterwelt in das Menschenleben, Alles, wofür in der Seele der Zuhörer noch eine gewisse Empfänglichkeit vorausgesetzt werden darf, mag der Dichter allerdings zu gelegentlicher Verstärkung seiner Wirkungen benutzen. Es versteht sich, daß er dabei zunächst die Empfänglichkeit seiner Zeitgenossen richtig zu schätzen hat, wir sind nicht mehr geneigt viel darauf zu geben, und nur sehr sparsame Verwendung zu Nebenwirkungen wird dem Schaffenden jetzt gebilligt werden. Shakespeare durfte dergleichen kleine Hilfsmittel mit größerem Behagen gebrauchen, denn in der Empfindung auch seiner gebildeten Zeitgenossen war die volksthümliche Ueberlieferung noch sehr lebendig und der Zusammenhang mit der Geisterwelt wurde allgemein weit anders aufgefaßt. Auch die seelischen Vorgänge eines unter schwerer Last ringenden Menschen waren nicht nur im Volke, selbst bei Anspruchsvollen anders beschaffen. Bei aufgeregter Furcht, Gewissenszweifeln, Reue stellte die Einbildungskraft das Bild des Furchtbaren noch als ein äußeres gegenüber, der Mörder sah den Ermordeten als Geist vor sich aufsteigen, er fühlte, in die Luft greifend, die Waffe, womit er die Unthat geübt, er hörte die Stimmen toter Opfer in sein Ohr dringen. Shakespeare und seine Zuhörer faßten deshalb auch auf [S. 54] der Bühne den Dolch Macbeth's und die Geister Banquo's, Cäsar's, des alten Hamlet, der Schlachtopfer Richard's III. weit anders auf als wir. Ihnen war dergleichen noch nicht ein bloßes herkömmliches Symbolisiren der inneren Kämpfe ihrer Helden, eine zufällige kluge Erfindung des Dichters, der durch den gespenstigen Trödel seine Wirkungen unterstützt, sondern es war ihnen noch die nothwendige landesübliche Weise, in welcher sie selbst Schauer, Entsetzen, Seelenkämpfe erfuhren. Das Grauen war nicht künstlich aus Ammenerinnerungen aufgeregt, die Bühne stellte nur dar, was in ihrem eigenen Leben furchtbar gewesen war oder sein konnte. Denn wenn auch der junge Protestantismus die schwersten Kämpfe in das Gewissen der Menschen verlegt hatte, und wenn auch die Gedanken und leidenschaftlichen Stimmungen der erregten Seele bereits von jedem Einzelnen sorgfältiger und schärfer beobachtet wurden, die mittelalterliche Empfindungsweise war deshalb noch nicht ganz geschwunden. Darum durfte Shakespeare diese Art von Wirkungen häufiger anwenden und mehr von ihnen erwarten, als wir.
Aber er ist zugleich höchstes Muster, wie dergleichen spukhafte Gebilde künstlerisch für das Drama verwerthet sein wollen. Wer Helden vergangener Jahrhunderte innerhalb der Lebensanschauung ihrer Zeit darzustellen hat, wird eine Unfreiheit und Abhängigkeit der Menschen von sagenhaften Gebilden nicht ganz verbergen; aber er wird sie so verwenden, wie Shakespeare seine Hexen in den ersten Scenen des Macbeth, als Arabesken, welche Farbe und Stimmung der Zeit spiegeln und welche nur eine Veranlassung geben, das aus dem Innern des Helden herauszutreiben, was mit der für eine dramatische Gestalt nothwendigen Freiheit in seiner eigenen Seele emporwächst.
Für die Arbeit des modernen Dichters ist zu bemerken, daß solche Hilfsmittel der Handlung vorzugsweise dienen, Farbe und Stimmung zu geben. Sie gehören also in den Aufgang [S. 55] des Dramas. Aber auch, wenn sie in die Wirkungen späterer Theile geflochten sind, wird unvermeidlich ihr Erscheinen schon im Anfange durch eine damit stimmende Färbung zu rechtfertigen und außerdem besonders genau zu begründen sein. So ist das Erscheinen des schwarzen Ritters in der Jungfrau deshalb eine störende Zuthat, weil die gespenstige Gestalt unvorbereitet aufsteigt und zu der glänzenden, gedankenreichen Sprache Schiller's, zu Ton und Farbe des Stückes durchaus nicht paßt. Die Zeit und Handlung an sich hätte eine solche Erscheinung ganz wohl erlaubt, auch erschien er dem Dichter als ein Gegenbild zu der kriegerischen Himmelskönigin, welche Fahne und Schwert in das Drama liefert. Aber Schiller hat auch die Himmelskönigin nicht selbst vorgeführt, nur in seiner prächtigen Weise von ihr erzählen lassen. Hätte der Prolog die entscheidende Unterredung des Hirtenmädchens mit der Mutter Gottes in der Sprache und treuherzigen Haltung, wie sie der mittelalterliche Stoff nahe legte, dargestellt, so wäre auch dem späteren Erscheinen des bösen Geistes bessere Berechtigung geworden. Die Rolle ist übrigens auch in Tracht und Rede nicht vortheilhaft ausgestattet. Schiller verfügte mit bewundernswerther Meisterschaft über die verschiedenartigste historische Färbung, aber der Dämmerschein des Sagenhaften steht ihm, der immer in vollen Farben malt und, wenn ein spielender Vergleich erlaubt ist, leuchtendes Goldgelb und dunkles Himmelblau am liebsten verwendet, gar nicht an. Wundervoll hat dagegen Goethe, der unumschränkte Herr lyrischer Stimmungen, die Geisterwelt für die Farben des Faust verwendet, allerdings nicht zum Zweck einer Aufführung.
Die Handlung des ernsten Dramas muß Wichtigkeit und Größe haben.
Die Kämpfe der einzelnen Menschen sollen ihr innerstes Leben ergreifen, der Gegenstand des Kampfes soll nach allgemeiner Auffassung ein hoher sein, die Behandlung eine würdige.
Solchem Inhalt der Handlung müssen auch die Charaktere entsprechen, um eine große Wirkung des Dramas hervorzubringen. Ist die Handlung dem angeführten Gesetz gemäß zugerichtet und die Charaktere genügen nicht den dadurch erregten Forderungen, oder haben die Charaktere eine große und leidenschaftliche Bewegung, während der Handlung diese Eigenschaften fehlen, so wird das Mißverhältniß vom Hörer peinlich empfunden. Iphigeneia in Aulis hat bei Euripides einen Inhalt, welcher die furchtbarsten menschlichen Seelenkämpfe für die Bühne liefert, aber die Charaktere sind, allenfalls mit Ausnahme der Klytämnestra, schlecht erfunden, entweder durch unnöthige Niedrigkeit der Gesinnung oder durch Kraftlosigkeit, oder durch unbegründete plötzliche Wandlungen der Empfindung entstellt, so Agamemnon, Menelaos, Achilleus, Iphigeneia. Und wieder im Timon von Athen des Shakespeare hat zwar der Charakter des Helden von dem Augenblick, wo er in Bewegung gesetzt wird, eine immer steigende Energie und Kraft, welcher eine finstere Großartigkeit durchaus nicht fehlt, aber [S. 57] Idee und Handlung stehen im Mißverhältniß dazu. Daß ein warmherziger, vertrauensvoller Verschwender nach Verlust der äußern Güter durch Undank und Gemeinheit seiner frühern Freunde zum Menschenhasser wird, setzt Schwäche des eigenen Charakters und Erbärmlichkeit seiner Umgebung voraus, und diese Haltlosigkeit und Kläglichkeit aller dargestellten Verhältnisse verengt trotz großer Dichterkunst das Mitgefühl des Hörers.
Aber auch die Umgebung, der Lebenskreis des Helden beeinflußt die Würde und Größe der Handlung. Wir fordern mit Recht, daß der Held, dessen Schicksal uns fesseln soll, einen starken, über das gewöhnliche Maß menschlicher Kraft hinausreichenden Inhalt habe. Dieser Inhalt seines Wesens liegt aber nicht nur in der Energie seines Wollens und der Wucht seiner Leidenschaft, sondern nicht weniger in einem reichlichen Antheil an der Bildung, Sitte, der geistigen Tüchtigkeit seiner Zeit. Er hat sich in wichtigen Beziehungen seiner Umgebung als überlegen darzustellen, und seine Umgebung muß so beschaffen sein, daß dem Hörer an ihr eine hohe Antheilnahme leicht wird. Es ist daher kein Zufall, daß eine Handlung, welche in vergangene Zeiten zurückgeht, immer die Kreise aufsucht, in denen das wichtigste und größte Leben der Zeit enthalten war, die großen Angelegenheiten eines Volkes, das Leben seiner Führer und Beherrscher, diejenigen Höhen der Menschheit, welche nicht nur einen kräftigen geistigen Inhalt, sondern auch eine bedeutende Willenskraft entwickelten. Sind uns aus alter Zeit doch fast nur die Thaten und Lebensschicksale solcher Herrschenden überliefert.
Bei Stoffen aus neuerer Zeit ändert sich allerdings das Verhältniß. Nicht mehr sind für uns die stärksten Leidenschaften, die höchsten inneren Kämpfe an Höfen, in politischen Herrschern allein zu erkennen. Ja nicht einmal vorzugsweise. Immer aber bleibt solchen Gestalten für das Drama gerade das ein Vorzug, was für ihr und ihrer Zeitgenossen Leben ein Unglück [S. 58] werden mag. Sie stehen auch jetzt noch freier zu dem Zwange, welchen die bürgerliche Gesellschaft auf den Privatmann ausübt. Sie sind nicht ganz in dem Grade wie der Privatmann dem bürgerlichen Gesetz unterworfen, und sie wissen das. In innern und äußern Kämpfen hat ihr eigenes Selbst nicht größeres Recht, aber größere Macht. So erscheinen sie als freier, stärkerer Versuchung ausgesetzt und stärkerer Selbstbestimmung fähig. Dazu kommt, daß die Verhältnisse, in denen sie leben, und die verschiedenen Richtungen, nach denen sie wirken, einen Reichthum an Farben, die bunteste Mannigfaltigkeit an Gestalten darbieten. Endlich ist auch das Gegenspiel gegen ihre Person und gegen ihre Zwecke am thätigsten, und das Gebiet der Interessen, für welche sie leben sollen, umfaßt die höchsten irdischen Angelegenheiten.
Aber auch das Leben von Privatpersonen ist seit Jahrhunderten aus dem äußeren Zwange bestimmender Ueberlieferung herausgehoben, mit Adel und innerer Freiheit, mit kräftigen Gegensätzen und Kämpfen angefüllt. Ueberall, wo in der Wirklichkeit ein Kreis weltlicher Ziele und Handlungen von der Zeitbildung durchdrungen ist, vermag aus seiner Lebensluft ein tragischer Held heraufzuwachsen. Es kommt nur darauf an, ob ihm ein Kampf möglich ist, welcher nach der gemeingiltigen Empfindung der Zuschauer ein großes Ziel hat und ob das Gegenspiel eine entsprechende, achtungswerthe Thätigkeit entwickelt. Da aber die Wichtigkeit und Größe des Kampfes nur dadurch eindringlich gemacht werden kann, daß der Held die Fähigkeit besitzt, sein Inneres in großartiger Weise mit einer gewissen Reichlichkeit der Worte auszudrücken, und da diese Forderungen bei solchen Menschen, welche dem Leben der Neuzeit angehören, sich steigern, so wird auch dem modernen Helden auf der Bühne ein tüchtiges Maß seiner Zeitbildung unentbehrlich sein. Denn nur dadurch erhält er innere Freiheit. Deshalb sind solche Klassen der Gesellschaft, welche bis in unsere Zeit unter dem Zwang epischer Verhältnisse stehen, [S. 59] deren Leben vorzugsweise durch die Gewohnheiten ihres Kreises gerichtet wird, welche noch unter dem Druck solcher Zustände dahinsiechen, die der Hörer übersieht und als ein Unrecht verurtheilt, solche endlich, welche nicht vorzugsweise befähigt sind, Empfindungen und Gedanken schöpferisch in Rede umzusetzen, zu Helden des Dramas nicht gut verwendbar, wie kräftig auch in diesen Naturen die Leidenschaft arbeite, wie naturwüchsig stark ihr Gefühl in einzelnen Stunden hervorbreche.
Aus dem Gesagten folgt, daß das Trauerspiel darauf verzichten muß, seine Bewegung auf Motive zu gründen, welche von der Empfindung der Zuschauer als kläglich, gemein oder als unverständig verurtheilt werden. Auch dergleichen Beweggründe vermögen einen Mann in den heftigsten Kampf mit seiner Umgebung zu treiben, aber die dramatische Kunst wird im Ganzen betrachtet nicht im Stande sein, solche Gegensätze zu verwerthen. Wer aus Gewinnsucht raubt, stiehlt, mordet, fälscht, wer aus Feigheit ehrlos handelt, wer aus Dummheit und Kurzsichtigkeit, aus Leichtsinn und Gedankenlosigkeit kleiner und schwächer wird, als die Verhältnisse ihn fordern, der ist als Held eines ernsten Dramas völlig unbrauchbar.
Wenn vollends ein Dichter die Kunst dazu entwürdigen wollte, gesellschaftliche Verbildungen des wirklichen Lebens, Gewaltherrschaft der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter, die Stellung der Armen, welche von der Gesellschaft fast nur Leiden empfangen, streitlustig und tendenzvoll zur Handlung eines Dramas zu verwerthen, so würde er durch solche Arbeit wahrscheinlich die Theilnahme seiner Zuschauer lebhaft erregen, aber diese Theilnahme würde am Ende des Stückes in einer quälenden Verstimmung untergehen. Die Schilderung der Gemüthsvorgänge eines gemeinen Verbrechers gehört in den Saal des Schwurgerichts, die Sorge um Besserung der armen und gedrückten Klassen soll ein wichtiger Theil unserer Arbeit im wirklichen Leben sein, die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester.
Die dramatische Handlung muß alles für das Verständniß Wichtige in starker Bewegung der Charaktere, in fortlaufender Steigerung der Wirkungen darstellen.
Die Handlung soll zunächst der stärksten dramatischen Bewegung fähig sein. Und diese Bewegung soll eine gemeinverständliche werden.
Es gibt große und wichtige Kreise menschlicher Thätigkeit, welche das Herausbilden eines hinreißenden Empfindens, Begehrens, Wollens nicht leicht machen, und wieder heftige Kämpfe, welche zwar die gewaltigsten inneren Vorgänge nach der Außenseite der Menschen treiben, bei denen aber der Gegenstand des Kampfes für Darstellung auf der Bühne wenig geeignet ist, obwohl auch ihm Wichtigkeit und Größe nicht fehlt. Ein staatskluger Fürst z. B., welcher mit den Gewalten seines Landes verhandelt, mit Nachbarn Krieg und Frieden schließt, wird vielleicht dies alles thun, ohne daß einmal eine leidenschaftliche Bewegung in ihm sichtbar wird, und wenn sie zu Tage kommt, als geheimes Verlangen, als Unwille gegen Andere, wird sie nur vorsichtig, wie in kurzen Wellen, bemerkbar werden. Aber auch wenn sie sein ganzes Wesen in dramatischer Spannung darzustellen gestattet, wird der Gegenstand seines Wollens, ein politischer Erfolg, ein Sieg, sich in dem Rahmen der Bühne nur sehr unvollständig und mangelhaft [S. 61] zeigen lassen. Und die Scenen, in welchen dieser Kreis irdischer Zwecke sich vorzugsweise bewegt, Staatsaktionen, Reden, Schlachten sind aus technischen Gründen nicht der bequemste Theil des Dramas. Auch von diesem Standpunkt aus muß davor gewarnt werden, den Stoff der politischen Geschichte auf die Bühne zu tragen. Allerdings sind die Schwierigkeiten, welche dies Gebiet der stärksten irdischen Thätigkeit darbietet, nicht unüberwindlich, aber es gehört nicht nur ein gereifter Geist, auch ganz besondere Kenntniß der Bühne dazu, dergleichen gut zu machen. Nie aber wird der Dichter seine Handlung dadurch herabwürdigen, daß er sie zu einer doch nur unvollständigen und ungenügenden Auseinandersetzung solcher politischen Thaten und Ziele macht, er wird nur eine einzelne Handlung oder eine geringe Zahl derselben als Hintergrund benutzen dürfen, vor dem er das aufbaut, worin er dem Geschichtschreiber unendlich überlegen ist, die geheimsten Offenbarungen der Menschennatur in wenigen Persönlichkeiten und in den leidenschaftlichsten Beziehungen derselben zu einander. Versäumt er dies, so wird er auch nach dieser Richtung die Geschichte fälschen, ohne Poetisches zu schaffen.
Ein ganz ungünstiges Stoffgebiet sind die inneren Kämpfe, welche der Erfinder, Künstler, Denker mit sich und seiner Zeit zu bestehen hat. Auch wenn er eine reformatorische Natur ist, welche tausend Anderen das Gepräge des eigenen Geistes aufzudrücken weiß, ja selbst wenn seine äußeren Schicksale ungewöhnlichen Antheil in Anspruch nehmen, wird der Dramatiker sich nicht gern entschließen, ihn als Helden einer Handlung aufzuführen. Ist die geistige Arbeit eines solchen Helden dem lebenden Geschlecht nicht genau bekannt, so wird der Dichter die Berechtigung seines Mannes erst durch kunstvolle Rede, durch wortreiche Ausführung und durch Darstellung eines geistigen Inhalts vorzuführen haben. Das mag ebenso schwierig sein als es undramatisch ist. Setzt der Dichter aber lebendige [S. 62] Antheilnahme an solcher Persönlichkeit, Bekanntschaft mit den Ergebnissen ihres Lebens bei seinen Hörern voraus und benutzt er diesen Antheil, um ein Ereigniß aus dem Leben solches Helden werth zu machen, so verfällt er einer andern Gefahr. Auf der Bühne hat das Gute, was man von einem Menschen voraus weiß, oder was von ihm berichtet wird, durchaus keinen Werth gegen das, was der Held auf der Bühne selbst thut. Ja gerade die großen Erwartungen, welche der Hörer in diesem Falle mitbringt, mögen die unbefangene Aufnahme der Handlung beeinträchtigen. Und wenn es auch, wie bei volksthümlichen Helden wahrscheinlich ist, dem Dichter gelingt, durch eine bereits vorhandene Wärme für die Person des Helden die scenischen Wirkungen zu fördern, so verdankt er seinen Erfolg dem Antheil, welchen der Hörer mitbringt, nicht dem Antheil, den sich das Drama selbst verdient. Der Dichter wird also, wenn er gewissenhaft ist, nur solche Momente aus dem Leben des Künstlers, Dichters, Denkers verwerthen dürfen, in denen der Held sich thätig und leidend ebenso bedeutend gegen Andere erweist, als er in seiner Arbeitsstube war. Es ist klar, daß das nur zufällig einmal der Fall sein wird, ebenso klar, daß es in solchem Falle wieder zufällig ist, ob der Held einen berühmten Namen trägt oder nicht. Deshalb ist die Verwerthung von Anekdoten aus dem Leben solcher großen Männer, deren Bedeutung sich nicht in der Handlung selbst, sondern in der nicht darstellbaren Thätigkeit ihrer Werkstatt erweist, recht innerlich undramatisch. Das Große in ihnen ist nicht darstellbar, und was dargestellt wird, borgt die Größe des Helden von einem außerhalb des Stückes liegenden Moment seines Lebens. Die Persönlichkeit Shakespeare's, Goethe's, Schiller's ist auf der Bühne noch übler daran, als in Roman und Novelle. Um so schlimmer, je genauer ihr Leben bekannt ist.
Allerdings ist die Ansicht darüber, was auf der Bühne darstellbar und wirksam sei, nicht zu allen Zeiten gleich, sowohl die nationale Gewohnheit, als die Einrichtung des Theaters [S. 63] bestimmen den Dichter. Wir haben durchaus nicht mehr die Empfänglichkeit der Griechen für epische Berichte, welche durch einen Boten auf die Scene getragen werden, wir sind schaufreudiger und wagen auf unserer Bühne auch die Nachbildung von Aktionen, welche der Bühne Athens trotz ihrer Maschinen, Flugwerke und ihrer perspektivischen Malerei ganz unmöglich erschienen wären: Volksaufruhr, Kriegführung und dergleichen. Und in der Regel wird der neuere Dichter geneigt sein, nach dieser Richtung eher zu viel als zu wenig zu thun.
Eher als dem Griechen mag ihm deshalb begegnen, daß durch die reiche Ausführung der Aktionen die innere Bewegung der Hauptfiguren übermäßig beschränkt wird, und daß ein wichtiger Uebergang, eine folgenschwere Reihe von Stimmungen verschwiegen bleibt. Ein bekanntes Beispiel solcher Lücke ist im Prinzen von Homburg, gerade dem Stück, worin der Dichter eine der schwierigsten scenischen Aufgaben, die Disposition zu einer Schlacht und die Schilderung der Schlacht selbst, vortrefflich gelöst hat. Der Prinz hat seine Haft leicht genommen; als sein Freund Hohenzollern ihm die Nachricht bringt, daß sein Todesurtheil zur Unterschrift vorliege, wird seine Stimmung allerdings ernst, und er beschließt die Verwendung der Kurfürstin zu erbitten. Und in der nächsten Scene stürzt der junge Held kraftlos, haltungslos zu den Füßen seiner Gönnerin, weil er auf dem Wege zu ihr, wie er erzählt, beim Fackelschein an seinem Grabe arbeiten sah; er fleht um sein Leben, wenn er auch schimpflich abgesetzt werde. Dieser unvermittelte Sprung zur feigen Todesfurcht verletzt an einem General auf das peinlichste. Er ist sicher an sich nicht unwahr, wenn wir auch von einem Feldherrn unter solchen Umständen ungern Haltlosigkeit ertragen. Und das Drama forderte die stärkste Niederdrückung des Helden, gerade die Muthlosigkeit ist der entscheidende Punkt des Stückes, zu dem der Held in seiner Befangenheit stürzen muß, um sich in dem zweiten Theil der Handlung würdig zu erheben. Es war deshalb eine Hauptaufgabe, die Herabstim [S. 64] mung einer jugendlichen Heldennatur bis zur Todesfurcht vorzuführen und zwar so, daß die Theilnahme des Hörers nicht durch Verachtung weggeblasen wurde. Das konnte nur durch genauste Darstellung der innern Bewegungen bis zur ausbrechenden Todesangst geschehen, an welche sich der Fußfall anschließen mochte, eine schwierige Aufgabe auch für starke Dichterkraft, aber sie mußte gelöst werden. Und schon hier sei eine kluge Regel erwähnt, die für den Dichter wie für den Schauspieler Geltung hat. Es ist verkehrt, über Theile der Handlung, welche aus irgend einem Grunde für das Stück nothwendig sind, aber nicht die Eigenschaft dankbarer Momente haben, hinwegzuhasten; im Gegentheil muß an solchen Stellen die höchste technische Kunst angewendet werden, um das an sich Unbequeme dichterisch schön herauszuheben. Gerade vor dergleichen Aufgaben muß den Künstler das stolze Gefühl erfüllen, daß es für ihn keine unüberwindliche Schwierigkeit gibt.
Ein anderer Fall, in welchem das versäumte Heraustreiben einer Hauptwirkung auffällt, ist der dritte Akt von Antonius und Kleopatra. Freilich rührt ein Versäumniß bei Shakespeare weder von mangelhafter Einsicht noch von Flüchtigkeit her. Das Auffallende liegt hier darin, daß dem Stück der Höhenpunkt fehlt. Antonius hat sich von Kleopatra getrennt, mit Oktavian versöhnt, seine Herrschermacht wieder hergestellt. Der Hörer ahnt aber längst, daß er zur Kleopatra zurückfallen wird. Die innere Nothwendigkeit dieses Rückfalls ist vom ersten Akt an reichlich motivirt. Demungeachtet fordert man mit Recht diesen verhängnißvollen Rückfall mit seinen leidenschaftlichen Bewegungen zu sehen, er ist der Punkt, auf welchen alles Vorhergehende gespannt hat, der alles Folgende, die Erniedrigung des Antonius bis zu feiger Flucht und seinen Tod erklären muß. Und doch wird er nur in kurzen Absätzen dargestellt, die Spitze der Handlung ist in viele kleine Scenen zerspalten. Und eine Einfügung in ausgeführter Scene war um so wünschenswerther, da auch die wichtige Begebenheit der Umkehr, jene Flucht des [S. 65] Antonius aus der Seeschlacht, nicht auf der Bühne vorgeführt, sondern nur durch den kurzen Bericht der Unterfeldherren und das darauf folgende erschütternde Ringen des gebrochenen Helden anschaulich gemacht werden konnte. [7]
Aber der Dichter hat selbstverständlich nicht die Aufgabe, [S. 66] jedes einzelne Moment, welches für den Zusammenhang der Handlung nothwendig ist, durch die Aktion der Bühne als geschehend darzustellen. Ein solches Ausführen der Nebensachen würde die Grundzüge mehr verdecken als eindringlich machen, weil es Wichtigerem die Zeit raubte; es würde auch die Handlung in zu viele Theile zersplittern und dadurch die scenische Wirkung beeinträchtigen. Auch auf unserer Bühne sind noch kleine epische Berichte über Ereignisse in lebendiger Darstellung nothwendig. Da sie immer Ruhepunkte der Handlung darstellen, wie aufgeregt auch der Verkünder sprechen möge, so gilt für sie das Gesetz, daß sie als Lösung einer kräftig erregten Spannung einzutreten haben. Der Zuschauer muß durch die lebendige Bewegung der dabei betheiligten Personen vorher angeregt sein. Die Länge der Erzählung ist sorgfältig zu überwachen, eine Zeile zu viel, die kleinste unnöthige Ausführung kann Ermüdung verursachen. Die Erzählung ist, wenn sie breitere Einzelheiten enthält, in Absätze zu theilen, mit kurzen Zwischenreden zu versehen, welche die Stimmung der Betheiligten andeuten, und ist in kräftiger Steigerung des Inhalts und der Sprachweise zu arbeiten. Ein berühmtes Beispiel von vortrefflicher Anordnung ist der Bericht des schwedischen Hauptmanns im Wallenstein. Ein ausführlicher Bericht darf nicht an solchen Stellen stehen, wo die Handlung mitten in starker Bewegung abrollt.
Eine Abart der Botenscenen ist die Schilderung eines hinter der Scene gedachten Ereignisses, wenn die Personen auf der Bühne als Beobachter dargestellt werden, also ein Vorführen der Aktion aus den Eindrücken, welche dieselbe in die Charaktere wirft. Diese Art des Berichtes gestattet leichter dramatische Bewegung; sie mag einer ruhigen Erzählung nahe stehen, sie mag vielleicht die leidenschaftliche Erregung auf der Bühne hervorrufen oder steigern.
Die Gründe, aus denen der Dichter ein Geschehendes hinter die Scene verlegt, sind verschiedener Art. Zunächst [S. 67] veranlassen dazu unvermeidliche Vorgänge, welche ihrer Natur nach überhaupt nicht, oder nur durch ein umständliches Maschinenwesen darstellbar sind, so eine Feuersbrunst, so die erwähnte Seeschlacht, Volksgewühl, Kämpfe zu Roß und Wagen, Alles, wobei gewaltige Kräfte der Natur oder große Menschenmassen mit umfangreichen Bewegungen thätig sind. Die Wirkung solcher widerspiegelnden Eindrücke läßt sich außerordentlich unterstützen durch kleine scenische Andeutungen: Rufe von außen her, Signale, grellen Lichtschein, Donner und Blitz, Geschützdonner und ähnliche Erfindungen, welche die Phantasie anregen und deren Zweckmäßigkeit von dem Hörer leicht erkannt wird. Am besten werden die Andeutungen und klugen Verweise auf ein Entferntes dann gedeihen, wenn sie menschliches Thun schildern; nicht so günstig stehen Darstellungen von seltenen Naturereignissen, Beschreibungen der Landschaft, alle Anschauungen, denen der Hörer vor der Bühne sich hinzugeben nicht gewöhnt ist; leicht mag in solchem Fall die beabsichtigte Wirkung deshalb verfehlt werden, weil das Publikum sich gegen Versuche, ungewohnte Täuschungen hervorzubringen, zu sträuben pflegt.
Diese Darstellung der abspiegelnden Eindrücke und das Verlegen eines Theils der Handlung hinter die Bühne hat aber für das Drama besondere Bedeutung in den Augenblicken, wo Furchtbares, Schreckliches, Entsetzliches dargestellt werden soll. Wenn freilich von dem Dichter der Gegenwart verlangt wird, daß er dem Beispiel der Griechen folge, den entscheidenden Augenblick einer furchtbaren That so viel als möglich züchtig hinter die Scene verlege und nur durch die Eindrücke sichtbar werden lasse, welche solche Augenblicke in die Seelen der Betheiligten werfen, so muß gegen diese Beschränkung zu Gunsten neuerer Kunst Widerspruch erhoben werden. Denn eine imponirende Aktion ist zuweilen auf unserer Bühne von größter Wirkung und für die Handlung unentbehrlich. Erstens, wenn die dramatisch darstellbaren Einzelheiten der [S. 68] That Bedeutung für das Folgende gewinnen, ferner, wenn wir in solcher That die plötzlich eintretende Spitze eines zur Vollendung gekommenen inneren Vorganges erkennen, drittens, wenn nur durch das Anschauen der Handlung selbst die vollständige Ueberzeugung von dem Sachverhältniß beigebracht werden kann. Ueberfall, Totschlag, Mord, Gefechte, gewaltthätiges Zusammenschlagen der Gestalten, an sich durchaus nicht die höchsten Wirkungen des Dramas, haben wir auf der Bühne nicht zu fürchten. Während die griechische Bühne aus der lyrischen Darstellung leidenschaftlicher Empfindungen sich entwickelte, ist die germanische aus der epischen Schilderung der Begebenheiten heraufgekommen. Beide haben einige Ueberlieferungen ihrer ältesten Zustände bewahrt, die griechische blieb ebenso geneigt, die Augenblicke der That in den Hintergrund zu drücken, als die deutsche fröhlich war, Balgerei und Gewaltthat abzubilden.
Wenn aber die Griechen heftigen Körperbewegungen, dem Schlagen, Anfassen, Ringen, Niederwerfen aus dem Wege gingen, so war vielleicht nicht die Vorsicht des Dichters, sondern das Bedürfniß des Schauspielers der letzte Grund. Die griechische Theatertracht war für gewaltsame Beugung des Körpers sehr unbequem, das Hinsinken eines Sterbenden im Kothurn mußte sorgfältig und allmählich geschehen, wenn es nicht lächerlich werden sollte. Und die Maske nahm jede Möglichkeit, die in den Augenblicken der höchsten Spannung unentbehrlichen Bewegungen im Antlitz darzustellen. Aeschylos scheint auch nach dieser Richtung Einiges unternommen zu haben, der kluge Sophokles ging gerade so weit, als er durfte. Er wagte noch die Antigone aus dem Hain von Kolonos durch einen bewaffneten Haufen fortreißen zu lassen, aber er wagte nicht mehr in der Elektra den Aegisthos auf der Bühne zu töten, Orestes und Pylades müssen ihn mit gezogenem Schwert hinter die Scene verfolgen. Vielleicht empfand an dieser Stelle Sophokles so gut als wir, daß dies ein Uebelstand war, eine [S. 69] Beschränkung, die durch Leder und Watte seiner Schauspieler, dann wohl auch durch ein religiöses Grauen, welches der Grieche vor dem Augenblick des Sterbens fühlte, auferlegt wurde. Denn dies ist eine der dramatischen Stellen, wo der Zuschauer sehen muß, daß sich die Handlung vollendet. Aegisthos könnte, wenn auch von zwei Männern verfolgt, sich doch ihrer erwehren oder entfliehen u. s. w.
Wir sind durch die größere Leichtigkeit und Energie unserer Mimik von solchen Rücksichten befreit, und zahlreich sind in unseren Stücken große und kleine Wirkungen, welche auf den höchsten Aktionsmomenten beruhen. Die Scene, in welcher Coriolan den Aufidius am Hausaltar des Volskers umarmt, erhält ihre volle Bedeutung erst durch die Schlachtscene des ersten Aktes, in welcher man die Gegner erbittert auf einander los schlagen sieht. Nothwendig ist der Kampf zwischen Percy und Prinz Heinrich. Und wieder wie unentbehrlich ist nach den Voraussetzungen in Kabale und Liebe der Tod der beiden Liebenden auf der Bühne; in Romeo wie unentbehrlich der Tod des Tybalt, des Paris und der beiden Liebenden vor den Augen der Zuschauer! Könnten wir es glauben, wenn Emilia Galotti hinter der Scene vom Vater erdolcht würde? Und wäre es möglich, die große Scene zu missen, in welcher Cäsar ermordet wird?
Dagegen gibt es wieder eine ganze Reihe von großen Wirkungen, welche hervorgebracht werden, wenn nicht die That selbst das Auge beschäftigt, sondern so verhüllt wird, daß die begleitenden Umstände die Einbildungskraft spannen und das Furchtbare durch jene Eindrücke empfinden lassen, welche in die Seele der Helden fallen. Ueberall wo Raum ist, die vorbereitenden Momente einer That eindringlich zu machen und wo die That nicht in plötzlicher Erregung des Helden eintritt, endlich überall, wo es nützlicher ist, Grauen aufzuregen und zu spannen als aufgeregte Spannung kräftig zu lösen, wird der Dichter wohlthun, die That selbst hinter die Scene zu ver [S. 70] legen. Einige der stärksten dramatischen Wirkungen, welche es überhaupt gibt, verdanken wir solchen Verhüllungen. Wenn im Agamemnon des Aeschylos die gefangene Kassandra die einzelnen Umstände des Mordes, der im Hause geschieht, verkündet; wenn Elektra, während die Todeslaute der Klytämnestra auf die Bühne dringen, dem Bruder in die Scene zuruft: „Triff noch einmal!” so ist die furchtbare Gewalt dieser Wirkungen allerdings niemals übertroffen worden. Nicht weniger großartig ist die Ermordung des Königs Duncan im Macbeth, die Schilderung der Gemüthszustände des Mörders vor und nach der That.
Für die Bühne der Germanen sind die Spannung, die unbestimmten Schauer, das Unheimliche und Aufregende, welche durch diese Verhüllung verhängnißvoller Thaten bei geschickter Behandlung hervorgebracht werden, vorzugsweise in aufsteigender Handlung zu verwerthen. In dem rascheren Laufe und der heftigeren Erregung des zweiten Theils werden sie nicht ebenso leicht anwendbar sein. Beim letzten Ausgang der Helden nur in solchen Fällen, wo der Augenblick des Todes selbst auf der Bühne nicht darstellbar ist, wie Hinrichtung durch Schaffot und militärische Strafvollstreckung eines Urtheils, und wo die Unmöglichkeit einer andern Lösung durch die unzweifelhaft stärkere Gewalt der tötenden Gegner selbstverständlich ist. Ein interessantes Beispiel dafür ist der letzte Akt des Wallenstein. Die finstere Gestalt Buttler's, das Werben der Mörder, das Zusammenziehen des Netzes um den Ahnungslosen ist in einer lange und stark anregenden Steigerung dem Zuschauer in die Seele gedrückt, nach solcher Vorbereitung wäre die Vorführung des Mordes selbst keine Verstärkung mehr; man sieht die Mörder in das Schlafzimmer eindringen, das Krachen der letzten Thür, das Waffengerassel und die darauf eintretende plötzliche Stille erhalten die Einbildungskraft in derselben unheimlichen Spannung, welche den ganzen Akt färbt. Und das langsame Aufregen der Phantasie, die bangsame Erwartung und das letzte [S. 71] Verhüllen der That selbst passen wieder vortrefflich zu dem Träumerischen und Geheimnißvollen des inspirirten Helden, wie ihn Schiller gefaßt hat.
Der Dichter hat aber nicht nur darzustellen, auch zu verschweigen; zunächst gewisse unlogische Bestandtheile des Stoffes, welche die größte Kunst nicht immer zu bewältigen vermag, — es wird bei Besprechung der dramatischen Stoffe davon die Rede sein. Dann Widerwärtiges, Ekelhaftes, Gräßliches, das Schamgefühl Verletzendes, das vielleicht an dem rohen, sonst brauchbaren Stoffe hängt. Was nach dieser Richtung der Kunst widerwärtig sei, muß der Schaffende selbst empfinden, es kann nicht gelehrt werden.
Ferner aber hat der Dichter die Pflicht, seine Wirkungen vom Anfang bis zum Ende des Dramas zu steigern. Der Hörer ist nicht in jedem Theil des Stückes derselbe, er nimmt im Anfange mit Bereitwilligkeit und in der Regel mit geringen Ansprüchen das Gebotene hin, und sobald der Dichter ihm durch irgend eine ansehnliche Wirkung seine Kraft, und durch Sprache und sichere Art der Charakterführung ein männliches Urtheil gezeigt hat, ist er geneigt, sich vertrauend seiner Leitung hinzugeben. Solche Stimmung hält etwa bis zum Höhenpunkt des Stückes vor. Aber im weiteren Verlauf wird der Empfangende anspruchsvoller und seine Fähigkeit Neues aufzunehmen wird geringer, die genossenen Wirkungen haben stärker erregt, nach mancher Rücksicht gesättigt; mit der steigenden Spannung kommt die Ungeduld, mit der größern Zahl empfangener Eindrücke leichter die Ermattung. Darnach hat der Dichter jeden Theil seiner Handlung einzurichten. Zwar was den Inhalt selbst betrifft, so darf er bei richtiger Anordnung und erträglichem Stoff nicht um die wachsende Theilnahme besorgt sein. Wohl aber hat er dafür zu sorgen, daß die Ausführung allmählich größer und eindrucksvoller werde. Während die ersten Theile im Allgemeinen leichte und kürzere Behandlung möglich machen und dem Dichter hier sogar die schwere [S. 72] Zumuthung gemacht werden muß, vielleicht einmal eine große Wirkung abzudämpfen, fordern die letzten Akte vom Höhenpunkt an ein Aufgebot aller seiner Mittel. Es ist gar nicht gleichgiltig, wo eine Scene steht, ob ein Bote im ersten oder im vierten Akte seine Erzählung vorträgt, ob ein Effect den zweiten oder vierten Akt schließt. Mit weiser Vorsicht ist z. B. die Verschwörungsscene in Cäsar so kurz gehalten, um den Höhenpunkt des Stückes und die große Zeltscene des vierten Aktes nicht zu beeinträchtigen.
Ein anderes Mittel, die Wirkungen zu steigern, liegt in der Mannigfaltigkeit der Stimmungen, welche aufgeregt werden, sowie der Charaktere, welche die Handlung fortbewegen. Jedes Stück hat, wie gesagt wurde, eine Grundstimmung, welche sich einem Accord oder einer Farbe vergleichen läßt. Von dieser maßgebenden Farbe aus aber ist ein Reichthum an Abschattungen sowohl als an Gegensätzen nothwendig.
In vielen Fällen hat der Dichter allerdings nicht nöthig, durch kühles Ueberlegen sich diese Nothwendigkeit deutlich zu machen, denn es ist ein geheimnisvolles Gesetz alles künstlerischen Schaffens, daß ein Gefundenes seinen Gegensatz hervorruft, der Hauptcharakter seinen Gegenspieler, eine Scenenwirkung die abstechende andere. Zumal den Germanen ist es Bedürfniß, in Alles, was sie schaffen, eine gewisse Gesammtheit ihres Empfindens liebevoll und sorgfältig hineinzutragen. Dennoch wird während der Arbeit die prüfende Beurtheilung der Gebilde, welche mit Naturnothwendigkeit einander gefordert haben, wichtige Lücken ergänzen. Denn bei unsern figurenreichen Dramen ist leicht möglich, durch eine Nebenfigur einen Farbenton einzufügen, welcher dem Ganzen sehr wohlthut. Schon bei Sophokles ist die Sicherheit und Zartheit, mit welcher er die Einseitigkeiten seiner Charaktere durch die geforderten Gegensätze ergänzt, in jeder Tragödie zu bewundern; dem Euripides ist dies Harmoniegefühl wieder sehr schwach. Alle großen Dichter der Germanen von Shakespeare bis Schiller [S. 73] schaffen nach dieser Richtung, im Ganzen betrachtet, mit schöner Festigkeit, und wir begegnen bei ihnen nur selten einer Figur, welche nicht durch ihre Gegenspieler gefordert, sondern durch kalte Ueberlegung eingefügt ist, wie Parricida im Tell. Es ist eine von den Besonderheiten Kleist's, daß die Ergänzungsbilder ihm undeutlich kommen; hie und da verletzt in den Grundlinien und Farben seiner Gestalten die Willkür.
Aus dem innerlichen Drange scenischer Gegensätze in der Handlung sind den Germanen die Liebesscenen der Tragödie entstanden, der lichtvolle und warme Theil, welcher in der Regel die rührenden Momente im Gegensatz zu den erschütternden der Haupthandlung umschließt. Die scenischen Contraste werden aber nicht nur durch den verschiedenartigen Inhalt, auch durch den Wechsel von aufgeführten und verbindenden, von Scenen zweier und vieler Personen hervorgebracht. Bei den Griechen, deren Scenen sich nach Form und Inhalt in weit engerem Kreise bewegten, wird die Abwechslung auch dadurch bewirkt, daß die Scenen je nach ihrem Inhalt einen verschiedenen regelmäßig wiederkehrenden Bau erhalten, Dialogscenen und Botenscenen werden durch Pathosscenen unterbrochen, für jede dieser Arten bestand eine in der Hauptsache feste Form.
Und nicht nur der scharfe Contrast, auch die Wiederholung desselben scenischen Motivs vermag eine erhöhte Wirkung hervorzubringen, sowohl durch den Parallelismus als durch die feinen Gegensätze zwischen Aehnlichem. Der Dichter hat in diesem Fall mit besonderm Fleiß darauf zu achten, daß er in das wiederkehrende Motiv besondern Reiz lege und vor der Wiederholung die Spannung und Freude daran aufrege. Und er wird dabei ein Gesetz nicht vernachlässigen dürfen, daß auf der Bühne in dem spätern Theil der Handlung auch besonders feine Arbeit nicht leicht ausreicht, eine gesteigerte Wirkung durch Wiederholung bereits gebrauchter Effecte hervorzubringen, falls dieselben eine breitere Ausführung erhal [S. 74] ten. Zumal dann ist Gefahr, wenn es besonderer Kunst der Darsteller bedarf, das wiederholte Motiv von einem vorausgegangenen kräftig abzuheben. Shakespeare liebt die Wiederholung desselben Motivs zur Verstärkung der Wirkungen. Ein gutes Beispiel ist die Schlaftrunkenheit des Lucius im Julius Cäsar, welche in der Verschwörungsscene den Gegensatz in den Stimmungen des Herrn und Dieners und den milden Sinn des Brutus zeigt, und in der großen Zeltscene fast wörtlich wiederholt wird. Der zweite Anschlag desselben Accords hat hier die Erscheinung einzuleiten, sein weicher Mollklang erinnert den Hörer sehr schön an jene Unglücksnacht und die Schuld des Brutus. Aehnlich wirkt in Romeo und Julie sowohl durch Gleichklang als durch abstechende Behandlung die Wiederholung des Zweikampfes mit tötlichem Ausgang. Ferner im Othello die wiederkehrenden prächtigen Variationen desselben Themas in den kleinen Scenen zwischen Jago und Rodrigo. Aber nicht immer ist es dem großen Dichter mit diesen Wirkungen geglückt. Schon die Wiederholung des Hexenmotivs in der zweiten Hälfte des Macbeth ist keine Verstärkung der Wirkung. Das Gespenstige widerstand wohl der breitern Ausführung an der zweiten Stelle. Ein sehr berühmtes Beispiel solcher Wiederholung ist die zweimalige Brautwerbung Richard's III. , die Scene an der Bahre und die Unterredung mit Elisabeth Rivers. [8] Daß die Wiederholung hier als bedeutsamer Zug für Richard steht, und daß eine starke Wir [S. 75] kung bezweckt ist, wird schon aus der großen Kunst und breiten Ausführung beider Scenen deutlich. Auch ist die zweite Scene mit größter Liebe behandelt, der Dichter hat darin eine für ihn neue und feine Technik angewandt, er hat sie nach antikem Vorbild, Reden und Gegenreden gleich lang Vers gegen Vers gesetzt, gehalten. Und unsere Kritik pflegt wohl eine besondere Schönheit des großen Dramas aus dieser Scene zu erklären. In der That ist sie auf der Bühne ein Uebelstand. Die ungeheure Handlung drängt bereits mit einer Gewalt zum Ende, welche dem Zuschauer die volle Empfänglichkeit für das ausgedehnte und kunstvolle Wortgefecht dieser Unterredung nimmt. — Ein ähnlicher Uebelstand ist im Kaufmann von Venedig für unsere Zuhörer die dreimalige Wiederholung der Wahlscene am Kästchen; die dramatische Bewegung der beiden ersten Scenen ist gering und die Zierlichkeit in den Reden der Wählenden nicht reizvoll genug. Shakespeare durfte sich dergleichen rhetorische Feinheiten gern erlauben, weil sein dauerhafteres Publikum an gebildeter höfischer Rede besonderes Behagen fand.
Es ist bekannt, wie emsig seit Lessing der deutsche Dichter bemüht war, jene geheimnißvolle Eigenschaft des Dramas zu ergründen, welche man das Tragische nannte. Es sollte der Niederschlag sein, welchen die sittliche Weltanschauung des Dichters in dem Stücke absetzt, und der Dichter sollte auch durch sittliche Wirkungen ein Bildner seiner Zeit werden; es sollte eine ethische Kraft sein, womit der Dichter Handlung und Charaktere zu füllen hat, und man war in diesem Fall nur verschiedener Meinung über das Wesen des dramatischen Ethos. Die Ausdrücke tragische Schuld, innere Reinigung, poetische Gerechtigkeit sind bequeme Schlagwörter der Kritik geworden, bei denen man so Verschiedenes denkt. Darin aber war man einig, daß die tragische Wirkung des Dramas von der Art und Weise abhänge, wie der Dichter seine Charaktere durch die Handlung führt, ihnen das Schicksal zutheilt, den Kampf ihres einseitigen Begehrens gegen die widerstrebenden Kräfte leitet und endigt.
Da der Dichter seine Handlung frei zur Einheit fügt und diese Einheit dadurch hervorbringt, daß er die Einzelheiten der dargestellten Begebenheiten in vernünftigen innern Zusammenhang setzt, so ist allerdings klar, daß sich auch die Vorstellungen des Dichters von menschlicher Freiheit und Abhängigkeit, sein Verständniß des großen Weltzusammenhanges, seine Ansicht über Vorsehung und Schicksal in einer poetischen [S. 77] Erfindung ausdrücken müssen, welche Thun und Leiden eines bedeutenden Menschen in großen Verhältnissen aus dem Innern desselben herleitet. Es ist ferner deutlich, daß dem Dichter obliegt, diesen Kampf zu einem Schluß zu führen, welcher die Humanität und Vernunft der Hörer nicht verletzt, sondern befriedigt. Und daß es für die gute Wirkung seines Dramas durchaus nicht gleichgiltig ist, ob er sich bei Herleitung der Schuld aus dem Innern des Helden und bei Herleitung der Vergeltung aus dem Zwange der Handlung als ein Mann von gutem Urtheil und richtiger Empfindung bewährt. Aber ebenso deutlich ist, daß Empfindung und Urtheil der Dichter in den verschiedenen Jahrhunderten ungleich, und in den einzelnen Dichtern nicht in gleicher Weise abgestuft sein werden. Offenbar wird derjenige nach der Ansicht seiner Zeitgenossen am besten das Schicksal seiner Helden leiten, der in seinem eigenen Leben hohe Bildung, umfassende Menschenkenntniß und einen männlichen Charakter entwickelt hat. Denn was aus dem Drama herausleuchtet, ist nur der Abglanz seiner eigenen Auffassung der größten Weltverhältnisse. Es läßt sich nicht lehren, es läßt sich nicht in das einzelne Drama hineinfügen, wie eine Rolle oder Scene.
Deshalb wird hier als Antwort auf die Frage, wie ein Dichter seine Handlung zusammenfügen müsse, damit sie in diesem Sinne tragisch werde, der ernst gemeinte Rath gegeben, daß er darum wenig zu sorgen habe. Er soll sich selbst zu einem tüchtigen Mann machen, dann mit fröhlichem Herzen an einen Stoff gehen, welcher kräftige Charaktere in großem Kampf darbietet, und soll die wohltönenden Worte Schuld und Reinigung, Läuterung und Erhebung, Andern überlassen. Es ist zuweilen unklarer Most, in ehrwürdige Schläuche gefüllt. Was in Wahrheit dramatisch ist, das wirkt in ernster starkbewegter Handlung tragisch, wenn der ein Mann war, der es schrieb; wo nicht, zuverlässig nicht.
Der eigene Charakter des Dichters bestimmt im Drama [S. 78] hohen Stils weit mehr die höchsten Wirkungen, als bei irgend einer andern Kunstgattung. Aber der Irrthum früherer Kunstanschauungen war, daß sie nur aus Moral oder Ethos des Dramas die eigenthümliche Gesammtwirkung desselben zu erklären suchten, an welcher Wortklang, Geberde, Tracht und noch vieles Andere Antheil haben.
Vom Dichter wird das Wort tragisch in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht; es bezeichnet zuerst die eigenthümliche Gesammtwirkung, welche ein gelungenes Drama großen Stils auf die Seelen der Hörer ausübt, und zweitens eine bestimmte Art von dramatischen Wirkungen, welche an gewissen Stellen des Dramas entweder nützlich oder unentbehrlich sind. Die erstere ist die physiologische Bedeutung des Ausdrucks, die zweite eine technische Bezeichnung.
Schon den Griechen war ein Eigenthümliches in der Gesammtwirkung des Dramas sehr wohl bekannt. Aristoteles hat die besonderen Einflüsse der dramatischen Wirkungen auf das Leben der Zuschauer scharf beobachtet und so gut als eine charakteristische Eigenschaft des Dramas begriffen, daß er sie in seine berühmte Begriffsbestimmung der Tragödie aufnahm. Diese Erklärung: „die Tragödie ist die künstlerische Umbildung einer würdigen und einheitlich abgeschlossenen Begebenheit, welche Größe hat” u. s. w., schließt mit den Worten: „und sie bewirkt durch Erregung von Mitleid und Furcht die Katharsis solcher Gemüthsbewegungen.” Ausführlich erklärt er an anderer Stelle (Rhetorik II , 8), was Mitleid sei und wodurch dasselbe erregt werde. Mitleid erregend ist ihm das ganze Gebiet menschlicher Leiden, Zustände und Handlungen, deren Beobachtung das hervorbringt, was wir Rührung und Erschütterung nennen. Das Wort Katharsis aber, welches als ein Ausdruck der alten Heilkunde die Ableitung von Krankheitsstoffen, als Ausdruck des Götterdienstes die durch Sühnung hervorgebrachte Befreiung des Menschen von Befleckendem bezeichnete, ist ein offenbar von ihm geschaffener Kunstaus [S. 79] druck für die eigenartige Wirkung der Tragödie auf die Hörer. Diese besonderen Wirkungen, welche der scharfsinnige Beobachter an seinen Zeitgenossen wahrnahm, sind nicht mehr ganz dieselben, welche die Aufführung eines großen dramatischen Kunstwerks auf unsere Zuschauer ausübt, aber sie sind ihnen nahe verwandt, und es lohnt, den Unterschied zu beachten.
Wer je an sich selbst die Wirkungen einer Tragödie beobachtet hat, der muß mit Erstaunen bemerken, wie die Rührung und Erschütterung, welche durch die Bewegung der Charaktere verursacht wird, verbunden mit der mächtigen Spannung, welche der Zusammenhang der Handlung hervorbringt, das Nervenleben ergreifen. Weit leichter als im wirklichen Leben rollt die Thräne, zuckt der Mund; dieser Schmerz ist aber zugleich mit kräftigem Wohlbehagen verbunden; während der Hörer Gedanken, Leiden und Schicksale der Helden mit einer Lebendigkeit nachempfindet, als ob sie seine eigenen wären, hat er mitten in der heftigsten Erregung die Empfindung einer unumschränkten Freiheit, welche ihn zugleich hoch über die Ereignisse heraushebt, durch welche seine Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen, vollständig in Anspruch genommen scheint. Er wird nach dem Fallen des Vorhangs trotz der starken Anstrengung, in welche er durch Stunden versetzt war, eine Steigerung seiner Lebenskraft wahrnehmen, das Auge leuchtet, der Schritt ist elastisch, jede Bewegung fest und frei. Auf die Erschütterung ist ein Gefühl von freudiger Sicherheit gefolgt, in den Empfindungen der nächsten Stunde ist ein edler Aufschwung, in seiner Wortfügung nachdrückliche Kraft, die gesammte eigene Produktion ist ihm gesteigert. Der Glanz großer Anschauungen und starker Gefühle, der in seine Seele gezogen, liegt wie eine Verklärung auf seinem Wesen. Diese merkwürdige Ergriffenheit von Leib und Seele, das Herausheben aus den Stimmungen des Tages, das freie Wohlgefühl nach großen Aufregungen ist genau das, was bei dem [S. 80] modernen Drama der Katharsis des Aristoteles entspricht. Es ist kein Zweifel, daß solche Folge scenischer Aufführungen bei den fein beanlagten Hellenen nach einer zehnstündigen Anspannung durch die stärksten Wirkungen gesteigerter und auffallender zu Tage kam.
Die erhebende Einwirkung des Schönen auf die Seele ist keiner Kunst ganz fremd, aber das Besondere, welches durch die Verbindung von Schmerz, Schauer und Behagen mit einer starken Anspannung der Phantasie und Urtheilskraft und durch die hohe Befriedigung unserer Forderungen an einen vernünftigen Weltzusammenhang hervorgebracht wird, ist der dramatischen Dichtkunst allein eigen. Auch die durchdringende Stärke dieses dramatischen Effekts ist bei der Mehrzahl der Menschen größer als die Stärke der Wirkungen, welche durch andere Künste ausgeübt werden. Nur die Musik vermag noch heftiger das Nervenleben zu beeinflussen, aber die Erschütterungen, welche der Ton hervorruft, fallen vorzugsweise in das Gebiet der unmittelbaren Empfindung, welche sich nicht zum Gedanken verklärt, sie sind mehr verzückt und weniger vergeistigt.
Allerdings sind die Wirkungen des Dramas bei uns nicht mehr ganz dieselben wie zur Zeit des Aristoteles. Und er selbst erklärt uns das. Er, der so gut wußte, daß die Handlung die Hauptsache im Drama sei und daß Euripides seine Handlungen übel zusammenfüge, nennt diesen doch den am meisten tragischen Dichter, d. h. den, welcher die einem Drama eigenthümlichen Wirkungen am stärksten hervorzubringen wußte. Uns aber macht kaum ein Stück des Euripides starke Gesammtwirkung, wie sehr die Seelenstürme der Helden in einzelnen seiner bessern Dramen erschüttern. Woher kommt diese Verschiedenheit der Auffassung? Euripides war Meister in Darstellung der leidenschaftlichen Bewegung, mit zu geringer Rücksicht auf die scharfe Ausprägung der Personen und auf den vernünftigen Zusammenhang der Handlung. [S. 81] Den Griechen aber war ihr Drama aus einer Verbindung der Musik und Lyrik heraufgekommen, es bewahrte über Aristoteles hinaus Einiges aus seiner ersten Jugend. Der musikalische Bestandtheil dauerte nicht nur in den Chören, auch dem Helden steigerte sich auf Höhenpunkten die rhythmisch bewegte Sprache leicht zum Gesange und die Höhenpunkte waren häufig durch breit ausgeführte Pathosscenen bezeichnet. Der Gesammteindruck der alten Tragödie stand also zwischen dem unserer Oper und unseres Dramas, vielleicht der Oper noch näher, er behielt etwas von dem gewaltig Aufwühlenden der Musik.
Dagegen war in der antiken Tragödie eine andere Wirkung nur unvollständig entwickelt, welche unserem Trauerspiel unentbehrlich ist. Die dramatischen Ideen und Handlungen der Griechen entbehrten eine vernünftige Weltordnung, d. h. eine Fügung der Begebenheiten, welche aus der Anlage und der Einseitigkeit der dargestellten Charaktere vollständig erklärt wird. Wir sind freiere Männer geworden, wir erkennen auf der Bühne kein anderes Schicksal an, als ein solches, das aus dem Wesen der Helden selbst hervorgeht. Der moderne Dichter hat dem Zuschauer die stolze Freude zu bereiten, daß die Welt, in welche er ihn einführt, durchaus den idealen Forderungen entspricht, welche Gemüth und Urtheil der Hörer gegenüber den Ereignissen der Wirklichkeit erheben. Menschliche Vernunft erscheint in dem neueren Drama als einig und eins mit dem Göttlichen, alles Unbegreifliche der Weltordnung nach den Bedürfnissen unseres Geistes und Gemüthes umgebildet. Und diese Eigenthümlichkeit der Handlung verstärkt allerdings dem Zuschauer der besten neueren Dramen die schöne Klarheit und fröhliche Gehobenheit, sie hilft, ihn selbst auf Stunden größer, freier, edler zu machen. Dies ist der Punkt, wo der Charakter des modernen Dichters, seine freie Männlichkeit, größeren Einfluß auf die Gesammtwirkung ausübt, als im Alterthum.
[S. 82] Diese Einheit des Göttlichen und Vernünftigen suchte auch der attische Dichter, aber ihm wurde schwer sie zu finden. Allerdings leuchtet dies freie Tragische auch in einzelnen Dramen des Alterthums auf. Und das ist erklärlich. Denn die Lebensgesetze des poetischen Schaffens bestimmen den Schaffenden, lange bevor die Kunstbetrachtung Formeln dafür gefunden hat, und in seinen besten Stunden mag der Dichter eine innere Freiheit und Größe erhalten, welche ihn weit über die Beschränktheiten seiner Zeit hinaushebt. Sophokles leitet einige Male in fast germanischer Weise Charakter und Schicksal seiner Helden. Im Ganzen aber kamen die Griechen nicht über eine Gebundenheit hinaus, welche uns auch bei der stärksten Kunstwirkung als ein Mangel erscheint. Schon das epische Gebiet ihrer Stoffe war für eine freie Leitung der Heldengeschicke durchaus ungünstig. Von außen greift ein unverständliches Schicksal in die Handlung ein, Weissagungen und Orakelsprüche wirken auf den Entschluß, zufälliges Unglück schlägt auf die Helden, Unthaten der Eltern bestimmen auch das Schicksal der spätern Nachkommen, die Personificationen der Gottheit treten als Freunde und Feinde in die Handlung ein, zwischen dem, was ihren Zorn aufregt, und den Strafen, welche sie verhängen, ist nach menschlichem Urtheil nicht immer ein Zusammenhang, noch weniger ein vernünftiges Verhältniß. Die Einseitigkeit und Willkür, mit welcher sie herrschen, ist furchtbar und beängstigend, auch wo sie sich einmal mild versöhnen, bleiben sie ein Fremdes. Solcher kalten Uebermacht gegenüber ist demüthige Bescheidenheit des Menschen die höchste Weisheit. Wer fest auf sich selbst zu stehen meint, der verfällt am ersten einer unheimlichen Gewalt, welche den Schuldigen wie den Unschuldigen vernichtet. Bei dieser Auffassung, welche im letzten Grunde traurig, finster, zermalmend war, blieb dem griechischen Dichter nur das Mittel, auch in die Charaktere seiner unfreien Helden etwas zu legen, was einigermaßen das Furchtbare, das sie zu [S. 83] leiden hatten, erklärte. Und die große Kunst des Sophokles zeigt sich unter Anderem auch in dieser Färbung seiner Personen. Aber nicht immer reicht die weise Fügung seiner Charaktere hin, um den Verlauf ihres Schicksals zu begründen: sie bleibt nicht selten ein unzureichendes Motiv. Die Größe, welche die antiken Dichter hervorbrachten, lag zunächst in der Stärke der Leidenschaften, dann in dem Ungeheuern der Kämpfe, durch welche ihre Helden niedergeworfen wurden, endlich in der Strenge, Härte und Schonungslosigkeit, mit welcher sie die Charaktere handeln und leiden machten.
Die Griechen aber fühlten sehr gut, daß es nicht rathsam sei, den Zuschauer nach solchen Wirkungen von den Gebilden der schönen Kunst zu entlassen. Sie schlossen deshalb die Aufführung des Tages mit einer Parodie, in welcher sie die ernsten Helden der Tragödie mit übermüthigem Scherz behandelten und die Kämpfe derselben launig nachbildeten. Die Satyrspiele waren ein äußerliches Mittel, um die Erfrischung hervorzubringen, welche für uns in den Wirkungen der Tragödie selbst liegt.
Aus diesen Gründen gilt von jener Begriffsbestimmung des Aristoteles der letzte Satz nicht ohne Einschränkungen für unser Drama. Ihm wie uns ist Hauptwirkung des Dramas die Entladung von den trüben und beengenden Stimmungen des Tages, welche uns durch den Jammer und das Fürchterliche in der Welt kommen. Aber wenn er diese Befreiung — an anderer Stelle — dadurch zu erklären weiß, daß der Mensch das Bedürfniß habe, sich gerührt und erschüttert zu sehen, und daß die gewaltige Befriedigung und Sättigung dieses Bedürfnisses ihm innere Freiheit gebe, so ist diese Erklärung zwar auch für uns nicht unverständlich, aber sie nimmt als den letzten innern Grund dieses Bedürfnisses pathologische Zustände an, wo wir fröhliche Rührigkeit der Hörer erkennen.
Denn der letzte Grund jeder großen Wirkung des Dramas liegt nicht in dem Bedürfniß des Hörers, leidend Eindrücke auf [S. 84] zunehmen, sondern in seinem unablässigen Drange zu schaffen und zu bilden. Der dramatische Dichter zwingt den Hörer zum Nachschaffen. Die ganze Welt von Charakteren, von Leid und Schicksal muß der Hörende in sich selbst lebendig machen; während er mit höchster Spannung aufnimmt, ist er zugleich in stärkster und schnellster schöpferischer Thätigkeit. Eine ähnliche Wärme und beglückende Heiterkeit, wie sie der Dichter im Schaffen empfand, erfüllt auch den nachschaffenden Hörer: daher der Schmerz mit Wohlgefühl, daher die Erhebung, welche den Schluß des Werkes überdauert. Und diese Aufregung der schaffenden Kräfte wird bei dem Drama der Neuzeit allerdings noch von einem milderen Licht durchstrahlt. Denn eng damit verbunden ist uns die erhebende Empfindung von der ewigen Vernunft in den schwersten Schicksalen und Leiden des Menschen. Der Hörer fühlt und erkennt, daß die Gottheit, welche sein Leben leitet, auch wo sie das einzelne menschliche Dasein zerbricht, in liebevollem Bündniß mit dem Menschengeschlecht handelt, und er selbst fühlt sich schöpferisch gehoben, als einig mit der großen, weltlenkenden Gewalt.
So ist die Gesammtwirkung des Dramas, das Tragische, bei uns jener griechischen verwandt, nicht mehr ganz dieselbe. Der Grieche lauschte in der grünen Jugendzeit des Menschengeschlechts nach den Tönen des Prosceniums, erfüllt von dem heiligen Rausch des Dionysos, der Germane schaut in die Welt des Scheins, nicht weniger bewegt, aber als ein Herr der Erde; das Menschengeschlecht hat seitdem eine lange Geschichte durchlebt, wir alle sind durch historische Wissenschaft erzogen.
Aber nicht nur die Gesammtwirkung des Dramas bezeichnet man durch das Wort tragisch. Der Dichter der Gegenwart und zuweilen auch das Volk gebrauchen das Wort in engerer Bedeutung. Wir verstehen darunter auch eine besondere Art der dramatischen Wirkungen.
Wenn an einem Punkte der Handlung plötzlich, unerwartet, im Gegensatz zu dem Vorhergehenden etwas Trauriges, [S. 85] Finsteres, Schreckliches eintritt, das wir doch sofort als aus der ursächlichen Verbindung der Ereignisse hervorgegangen und aus den Voraussetzungen des Stückes als vollständig begreiflich empfinden, so ist dies Neue ein tragisches Moment. Das tragische Moment muß also folgende drei Eigenschaften haben: 1) es muß wichtig und folgenschwer für den Helden sein, 2) es muß unerwartet aufspringen, 3) es muß durch eine dem Zuschauer sichtbare Kette von Nebenvorstellungen in vernünftigem Zusammenhang mit früheren Theilen der Handlung stehen. Nachdem die Verschworenen den Cäsar getötet und sich, wie sie meinen, den Antonius verbündet haben, wiegelt Antonius durch seine Rede dieselben Römer, für deren Freiheit Brutus den Mord begangen hat, gegen die Mörder auf. Als Romeo sich mit Julia vermählt hat, ist er in die Nothwendigkeit versetzt, ihren Vetter Tybalt im Zweikampf zu töten, und wird verbannt. Als Maria Stuart der Elisabeth so weit genähert ist, daß eine versöhnende Zusammenkunft der beiden Königinnen möglich wird, entbrennt zwischen beiden ein Zank, der tötlich für Maria wird. Hier sind die Rede des Antonius, der Tod des Tybalt, der Zank der Königinnen die tragischen Momente. Ihre Wirkung beruht darauf, daß der Zuschauer das Bedeutungsvolle als überraschend und doch in festem Zusammenhange mit dem Vorhergehenden begreift. Die Rede des Antonius empfindet der Hörer lebhaft als eine Folge des Unrechts, welches die Verschworenen gegen Cäsar geübt haben; durch die Stellung des Antonius zu Cäsar und sein Verhalten in der vorangegangenen Dialogscene mit den Verschworenen wird sie zugleich als nothwendige Folge der Schonung und des kopflosen und vorschnellen Vertrauens, welches die Mörder ihm schenken, begriffen. Daß Romeo den Tybalt töten muß, wird augenblicklich als unvermeidliche Folge des tötlichen Familienzwistes und des Zweikampfes mit Mercutio verstanden; den Streit der beiden Königinnen faßt der Hörer sogleich als natürliche Folge des Stolzes, Hasses und der alten Eifersucht.
[S. 86] In derselben technischen Bedeutung wird das Wort tragisch zuweilen auch auf Ereignisse des wirklichen Lebens angewandt. Die Thatsache z. B., daß Luther, der starke Kämpfer für die Freiheit der Gewissen, in der letzten Hälfte seines Lebens selbst ein unduldsamer Beherrscher der Gewissen wurde, enthält, so hingestellt, nichts Tragisches. In Luther mag sich übergroße Herrschsucht entwickelt haben, er mag altersschwach geworden sein u. s. w. Von dem Augenblick aber, wo uns durch eine Reihe von Nebenvorstellungen klar wird, daß diese Unduldsamkeit die nothwendige Folge desselben ehrlichen rücksichtslosen Ringens nach Wahrheit war, welches die Reformation durchgesetzt hat, daß dieselbe fromme Festigkeit, mit welcher Luther seine Auffassung der Bibel der römischen Kirche gegenüberhielt, ihn dazu brachte, diese Auffassung gegen abweichendes Urtheil zu vertreten, daß ihm, wenn er in seiner Stellung außerhalb der Kirche nicht verzweifeln wollte, nur übrig blieb, stierköpfig den Buchstaben seiner Schrift festzuhalten, — von dem Augenblicke also, wo wir den innerlichen Zusammenhang seiner Unduldsamkeit mit allem Guten und Großen seiner Natur begreifen, macht diese Verdüsterung seines späteren Lebens den Eindruck des Tragischen. Ebenso bei Cromwell. Daß der Volksführer als Tyrann herrschte, wirkt an sich nicht tragisch. Daß er es aber wider seinen Willen that und thun mußte, weil die Parteistellung, durch welche er heraufgekommen war, und sein Antheil an der Hinrichtung des Königs die Herzen der Gemäßigten gegen ihn empört hatte, daß der starke Held aus dem Zwange, den ihm sein früheres Leben auflegte, sich nicht loszuringen vermochte, das macht die Schatten, welche durch die ungesetzliche Herrschaft in sein Leben fielen, für uns tragisch. Daß Konradin, das Hohenstaufenkind, einen Haufen zusammenrafft und in Italien von seinem Gegner erschlagen wird, das ist an sich nicht dramatisch und in keiner Bedeutung des Wortes tragisch. Ein schwacher Jüngling mit geringen Hilfsmitteln, — es war in der Ordnung, daß er [S. 87] unterlag. Wenn uns aber in die Seele fällt, daß der Jüngling nur dem alten Zuge seines Geschlechtes nach Italien folgt, daß demselben Zuge fast alle großen Fürsten seines Hauses unterlegen sind und daß dieser Zug eines Kaisergeschlechts nichts Zufälliges ist, sondern auf der uralten geschichtlichen Verbindung Deutschlands mit Italien ruht, so erscheint uns der Tod Konradin's allerdings tragisch, nicht für ihn selbst, sondern als letzter Ausgang des größten Herrengeschlechtes jener Zeit.
Mit besonderem Nachdruck muß noch einmal hervorgehoben werden, daß das tragische Moment in seinem vernünftigen ursächlichen Zusammenhange mit den Grundbedingungen der Handlung verstanden werden muß. Für unser Drama haben solche Ereignisse, welche unbegreiflich eintreten, Zwischenfälle, deren Beziehung zur Handlung sich geheimnißvoll verhüllt, Einflüsse, deren Bedeutung auf abergläubischen Vorstellungen beruht, Motive, die aus dem Traumleben genommen sind, Prophezeiungen, Ahnungen nur untergeordnete Bedeutung. Wenn ein Familienbild, welches vom Nagel fällt, Tod und Verderben vorbedeutsam anzeigen soll; wenn ein Dolch, der zu einer Unthat verwendet wurde, mit einem geheimnißvoll fortwirkenden Fluch behaftet erscheint, bis er auch dem Mörder den Tod bringt, so sind dergleichen Versuche, die tragische Wirkung auf einen innern Zusammenhang zu begründen, der uns unverständlich ist oder unvernünftig erscheint, für das freie Geschlecht der Gegenwart schwächlich oder gar unleidlich. Was uns als Zufall, selbst als überraschender, entgegentritt, ziemt nicht für große Wirkungen der Bühne. Es ist erst einige Jahrzehnte her, daß in Deutschland neben vielem Andern auch die Verwerthung solcher Motive versucht wurde.
Die Hellenen waren, nebenbei bemerkt, in Benutzung dieser vernunftwidrigen Momente zu tragischer Wirkung etwas weniger wählerisch. Sie mochten sich auch einmal damit begnügen, wenn der innere Zusammenhang eines plötzlich eintretenden [S. 88] tragischen Moments mit Vorhergehendem nur in ahnungsvollem Schauer empfunden wurde. Wenn Aristoteles als ein in dieser Richtung wirksames Beispiel anführt, daß die einem Manne errichtete Bildsäule im Umfallen den erschlug, der an dem Tode des Mannes schuld war, so würden wir zwar im Leben des Tages solchen Zufall als bedeutsam empfinden, für die Kunst würden wir ihn nicht mit Erfolg verwerthen. Sophokles weiß auch bei solchen Momenten einen natürlichen und verständlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hervorzuheben, soweit seine Mythen das irgend gestatteten. Sehr merkwürdig ist z. B. die Art und Weise, wie er die giftige Wirkung des Nessoskleides, welches Deianeira dem Herakles sendet, mit realistischer Ausführlichkeit erklärt.
Das tragische Moment ist aber im Drama eine einzelne von vielen Wirkungen. Sie kann einmal eintreten, wie gewöhnlich geschieht, sie kann in demselben Stück öfter angewandt werden. So hat Romeo und Julie drei tragische Momente: den Tod des Tybalt nach der Vermählung, die Verlobung der Julia mit Paris nach der Brautnacht, den Tod des Paris vor der Katastrophe. Die Stellung, welche dies Moment im Stücke einnimmt, ist nicht immer dieselbe, ein Punkt aber ist vorzugsweise dafür geeignet, so daß die Fälle, in denen es einen andern Platz fordert, als Ausnahme betrachtet werden können. Und es ist zweckmäßig, im Zusammenhange mit dem Vorhergehenden darüber zu reden, obgleich die Theile des Dramas erst im folgenden Kapitel besprochen werden.
Der Punkt, von welchem ab die That des Helden auf denselben zurückwirkt, ist einer der wichtigsten im Drama. Dieser Beginn der Reaktion, mit dem Höhenpunkt zuweilen in einer Scene verbunden, ist, solange es eine dramatische Kunst gibt, besonders ausgezeichnet worden. Die Befangenheit des Helden und die verhängnißvolle Lage, in welche er sich gebracht hat, soll dadurch eindringlich dargestellt werden; zugleich aber hat dieses Moment die Aufgabe, für den zweiten Theil des Stückes [S. 89] neue Spannung hervorzubringen, umsomehr, je glänzender der äußere Erfolg des Helden bis dahin gewesen ist und je großartiger die Scene des Höhenpunktes denselben dargestellt hat. Was jetzt in das Stück tritt, muß alle die Eigenschaften haben, welche oben auseinander gesetzt wurden, es muß ein scharfer Gegensatz, es muß nicht zufällig, es muß folgenschwer sein. Deshalb wird es Wichtigkeit und eine gewisse Größe haben müssen. Diese Scene des tragischen Momentes folgt entweder der Scene des Höhenpunktes unmittelbar, wie die Verzweiflung der Julia auf den Abschied Romeo's, oder durch eine Zwischenscene verbunden, wie die Rede des Antonius auf die Ermordung des Cäsar; oder sie ist mit der Scene des Höhenpunktes zu einer scenischen Einheit zusammengekoppelt, wie in Maria Stuart, oder sie ist gar durch einen Aktschluß davon getrennt, wie in Kabale und Liebe, wo das Briefschreiben Luisens den Höhenpunkt bezeichnet, die Ueberzeugung Ferdinand's von der Untreue der Geliebten das tragische Moment.
Solche Scenen stehen fast immer noch im dritten Akt unserer Stücke, weniger wirksam im Beginn des vierten.
Sie sind allerdings dem Trauerspiel nicht unbedingt nothwendig, es ist sehr wohl möglich, die wachsende Rückwirkung durch mehre Schläge in allmählicher Verstärkung zu leiten. Dies wird zumeist da der Fall sein, wo die Katastrophe durch Gemüthsvorgänge des Helden bewirkt wird, wie im Othello.
Es ist für uns Moderne von Werth, zu erkennen, wie wichtig den Griechen dieses Eintreten des tragischen Momentes in die Handlung war. Es war unter anderem Namen genau dieselbe Wirkung, und sie wurde durch die attischen Kunstrichter noch bedeutsamer hervorgehoben, als uns nöthig ist. Auch ihren Tragödien war dies Moment nicht unentbehrlich, aber es galt für eine der schönsten und wirkungsvollsten Erfindungen. Ja sie unterschieden diese Wirkung darnach, ob sie in der Handlung selbst oder in der Stellung der Hauptcharaktere [S. 90] zu einander eine Wendung hervorbrachte, und hatten für jeden dieser Fälle besondere Benennungen, offenbar Ausdrücke der alten Dichterwerkstatt, welche uns ein Zufall in der Poetik des Aristoteles erhalten hat. [9]
Peripetie heißt den Griechen das tragische Moment, welches das Wollen des Helden und damit die Handlung durch das plötzliche Einbrechen eines zwar unvorhergesehenen und überraschenden, aber in der Anlage der Handlung bereits gegründeten Ereignisses in einer Richtung forttreibt, welche von der des Anfanges sehr verschieden ist. Solche Peripetiescenen sind im Philoktet die Wandlung in den Ansichten des Neoptolemos, im König Oedipus die Berichte des Boten und des Hirten an Iokaste und den König, in den Trachinierinnen der Bericht des Hyllos an Deianeira über die Wirkung des Nessoskleides. Vorzugsweise durch dieses Moment wurde eine kräftige Bewegung des zweiten Theils hervorgebracht, und die Athener unterschieden sorgfältig Tragödien mit und ohne Peripetie. Die mit Peripetie galten im Ganzen betrachtet für die besseren. Nur darin unterscheidet sich dies Moment der antiken Handlung von dem entsprechenden neueren, daß es nicht nothwendig eine unheilvolle Wendung bezeichnete, weil die Tragödie des Alterthums nicht immer traurigen Ausgang hatte, sondern auch den plötzlichen Umschwung zum Besseren.
Kaum geringere Bedeutung beanspruchten die Scenen, in denen die Stellung der handelnden Personen zu einander dadurch geändert wurde, daß sich eine alte wichtige Beziehung [S. 91] zwischen ihnen unerwartet offenbarte. Diese Scenen der Anagnorisis, Erkennungsscenen, waren es vorzugsweise, in denen die gemüthlichen Beziehungen der Helden zu einander in großartiger Ausführung sichtbar wurden. Und da die griechische Bühne unsere Liebesscenen nicht kannte, so nahmen sie eine ähnliche Stellung ein, obgleich nicht immer Zuneigung, auch Haß in ihnen aufbrannte. Gelegenheit zu solchen Scenen aber boten die Stoffe der Hellenen sehr reichlich. Die Helden der griechischen Sage sind fast ohne Ausnahme ein umherschweifendes Geschlecht. Ausziehen und wiederkehren, Freunde und Feinde unerwartet finden, gehörte zu den häufigsten Zügen der Sage. Fast jeder Sagenkreis enthält Kinder, welche ihre Eltern nicht kannten, Gatten, welche nach längerer Trennung einander unter bedenklichen Umständen wiedersahen, Gastfreunde und Feinde, welche Namen und Absicht klug zu verhüllen suchten. Deshalb wurden bei vielen Stoffen Scenen der Begegnung, des Wiederfindens, der Erinnerung an bedeutungsvolle Ereignisse der Vergangenheit von entscheidender Wichtigkeit. Und nicht nur das Wiedererkennen von Menschen, auch das Erkennen einer Gegend, einer beziehungsvollen Sache konnte Motiv für eine starke Bewegung werden. Solche Scenen gaben dem antiken Dichter eine willkommene Gelegenheit zur Darstellung von Gegensätzen der Empfindung und zu den beliebten pathetischen Ausführungen, in welchen das heftig erregte Gefühl in langen Wellen ausströmte. Die Frau, welche einen Feind töten will und vor oder nach der That den eigenen Sohn erkennt; der Sohn, welcher in der Todfeindin seine Mutter wiederfindet, wie Ion; die Priesterin, welche den fremden Mann opfern soll und in ihm den Bruder erräth, wie Iphigeneia; die Schwester, welche den toten Bruder betrauert und im Ueberbringer des Aschenkruges den lebenden zurückerhält, wie Elektra; die Amme des Odysseus, welche in einem Bettler den heimkehrenden Herrn an der Narbe des Fußes herausfindet, sind einige von den zahlreichen Beispielen. [S. 92] Häufig wurden solche Erkennungsscenen zu Peripetiemomenten, wie die oben erwähnten Berichte des Boten und des Hirten für das Königspaar von Theben. Bei Aristoteles mag man nachlesen, wie wichtig den Griechen die Umstände waren, durch welche die Erkennung veranlaßt wurde, sie werden von dem großen Philosophen genau nach ihrem inneren Werthe abgewogen und geschätzt. Und es macht fröhlich zu sehen, daß auch schon dem Griechen nicht zufällige äußere Merkmale für kunstgemäße Motive galten, sondern innere Bezüge zwischen den Erkennenden, welche sich ungezwungen und charakteristisch für beide in der Gesprächsscene offenbarten. Gerade hier wird uns ein Einblick, wie fein und ausgebildet die Theaterkritik der Griechen war, und wie peinlich gewissenhaft sie vor einem neuen Drama auf das achteten, was ihrer Kunstanschauung für schöne Wirkung galt.
Das Drama stellt in einer Handlung durch Charaktere, vermittelst Wort, Stimme, Geberde diejenigen Seelenvorgänge dar, welche der Mensch vom Aufleuchten eines Eindrucks bis zu leidenschaftlichem Begehren und zur That durchmacht, sowie die inneren Bewegungen, welche durch eigene und fremde That aufgeregt werden.
Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströmen und Einströmen der Willenskraft, das Werden der That und ihre Reflexe auf die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf und Gegenkampf, Steigen und Sinken, Binden und Lösen.
In jeder Stelle des Dramas kommen beide Richtungen des dramatischen Lebens, von denen die eine die andere unablässig fordert, in Spiel und Gegenspiel zur Geltung; aber auch im Ganzen wird die Handlung des Dramas und die Gruppirung seiner Charaktere dadurch zweitheilig. Der Inhalt des Dramas ist immer ein Kampf mit starken Seelenbewegungen, welchen der Held gegen widerstrebende Gewalten führt. Und wie der Held ein starkes Leben in gewisser Einseitigkeit und Befangenheit enthalten muß, so muß auch die gegenspielende Gewalt durch menschliche Vertreter sichtbar gemacht werden.
[S. 94] Es ist zunächst gleichgiltig, auf welcher Seite der Kämpfenden die höhere Berechtigung liegt, ob Spieler oder Gegenspieler mehr von Sitte, Gesetz, Ueberlieferung ihrer Zeit und dem Ethos des Dichters enthalten, in beiden Parteien mag Gutes und Schlechtes, Kraft und Schwäche verschieden gemischt sein. Beide aber müssen einen allgemein verständlichen menschlichen Inhalt haben. Und immer muß der Hauptheld sich vor den Gegenspielern kräftig abheben, der Antheil, welchen er für sich gewinnt, muß der größere sein, um so größer, je vollständiger das letzte Ergebniß des Kampfes ihn als Unterliegenden zeigt.
Diese zwei Haupttheile des Dramas sind durch einen Punkt der Handlung, welcher in der Mitte derselben liegt, fest verbunden. Diese Mitte, der Höhenpunkt des Dramas, ist die wichtigste Stelle des Aufbaues, bis zu ihm steigt, von ihm ab fällt die Handlung. Es ist nun entscheidend für die Beschaffenheit des Dramas, welche von den beiden Brechungen des dramatischen Lichtes in den ersten, und welche in den zweiten Theil als die vorherrschende gesetzt wird, ob das Ausströmen oder Einströmen, das Spiel oder das Gegenspiel den ersten Theil erhält. Beides ist erlaubt, beide Fügungen des Baues vermögen ihre Berechtigung an Dramen von höchstem Werth nachzuweisen. Und diese beiden Arten ein Drama zu bilden sind charakteristisch geworden für die einzelnen Dichter und die Zeit, in welcher sie lebten.
Entweder nämlich wird die Hauptperson, der Held des Stücks, so eingeführt, daß sich Wesen und Eigenthümlichkeit desselben noch unbefangen ausspricht, und zwar bis zu den Momenten, wo als Folge äußerer Anregung oder innerer Gedankenverbindung in ihm der Beginn eines gewaltigen Gefühls oder Wollens wahrnehmbar wird. Die innere Bewegung, die leidenschaftliche Spannung, das Begehren des Helden steigert sich, neue Umstände, fördernd oder hemmend, verstärken seine Befangenheit und den Kampf, siegreich schreitet der Haupt [S. 95] charakter vor bis zu einer Lebensäußerung, in welcher die volle Kraft eines Gefühls und Wollens sich zu einer „That” zusammendrängt, durch welche die hohe Spannung des Helden für den Augenblick gelöst wird. Von da beginnt eine Umkehr der Handlung; der Held erschien bis dahin in einseitigem aber erfolgreichem Begehren, von innen nach außen wirkend, die Lebensverhältnisse, in denen er auftrat, mit sich verändernd. Von dem Höhenpunkt wirkt das, was er gethan hat, auf ihn selbst zurück und gewinnt Macht über ihn; die Außenwelt, welche im Aufsteigen des leidenschaftlichen Kampfes durch den Helden besiegt wurde, erhebt sich im Kampfe über ihn. Immer stärker und siegreicher wird diese Gegenwirkung, bis sie zuletzt in der Schlußkatastrophe mit unwiderstehlicher Gewalt den Helden unterliegen macht. Auf solche Katastrophe folgt schnell das Ende des Stückes, der Zustand, wo die Wiederherstellung der Ruhe nach dem Kampfe sichtbar wird.
Bei dieser Anordnung sieht man zuerst das Werden der Aktion, dann die Wirkungen der Reaktion; der erste Theil wird bestimmt durch die aus der Tiefe des Helden herausbrechenden Forderungen, der zweite durch die Gegenforderungen, welche die heftig aufgeregte Umgebung erhebt. Dies ist der Bau der Antigone, des Aias, aller großen Tragödien Shakespeare's mit Ausnahme des Othello und Lear, dann der Jungfrau und, weniger sicher, der Doppeltragödie Wallenstein.
Die andere Anordnung des Dramas dagegen stellt den Helden beim Beginn in verhältnißmäßiger Ruhe unter Lebensbedingungen dar, welche fremden Gewalten einen Einfluß auf sein Inneres nahe legen. Diese Gewalten, die Gegenspieler, arbeiten mit gesteigerter Thätigkeit so lange in die Seele des Helden, bis sie denselben auf dem Höhenpunkt in eine verhängnißvolle Befangenheit versetzt haben, von welcher ab der Held in leidenschaftlichem Drange, begehrend, handelnd abwärts bis zur Katastrophe stürzt.
[S. 96] Dieser Bau benutzt die Gegenspieler, um die starke Bewegung der Hauptspieler zu motiviren; das Verhältniß der Hauptfiguren zu der Idee des Dramas ist ein durchaus anderes, sie treiben in der aufsteigenden Handlung nicht, sondern werden getrieben.
Beispiele für diese Art des Baues sind König Oedipus, Othello, Lear, Emilia Galotti, Clavigo, Kabale und Liebe.
Es könnte scheinen, daß diese zweite Methode der Dramenbildung die wirksamere sein müsse. Allmählich, in besonders genauer Ausführung sieht man die Conflikte, durch welche das Leben der Helden gestört wird, das Innere derselben bestimmen. Gerade da, wo der Zuschauer kräftige Steigerung der Wirkungen fordert, tritt die vorbereitete Herrschaft der Hauptcharaktere ein, Spannung und Theilnahme, die in der zweiten Hälfte des Dramas schwerer zu erhalten sind, bleiben auf die Hauptpersonen festgebannt, der stürmische und unaufhaltsame Fortschritt nach abwärts ist gewaltigen und erschütternden Wirkungen besonders günstig. Und in der That sind Stoffe, in denen das allmähliche Entstehen einer verhängnißvollen Leidenschaft enthalten ist, die den Helden zuletzt dem Untergange zuführt, für solche Behandlung vorzugsweise günstig.
Aber das beste dramatische Recht hat diese Art und Weise des Baues dennoch nicht, und es ist kein Zufall, daß die größten Stücke von solcher Beschaffenheit bei tragischem Ausgang dem Hörer in die Bewegung und Erschütterung leicht eine quälende Empfindung mischen, welche Freude und Erfrischung verringert. Denn sie zeigen den Helden nicht vorzugsweise als thatlustige, angreifende Natur, sondern als einen Empfangenden, Leidenden, der übermächtig bestimmt wird durch das Gegenspiel, das von außen in ihn schlägt. Die höchste Gewalt einer Menschenkraft, das was am unwiderstehlichsten die Herzen der Zuhörer fortreißt, ist zu allen Zeiten der kühne Sinn, der rücksichtslos sein eigenes Innere den Gewalten, [S. 97] welche ihn umgeben, gegenüberstellt. Das Wesen des Dramas ist Kampf und Spannung; je früher diese durch den Haupthelden selbst hervorgerufen und geleitet werden, desto besser.
Es ist wahr, jene erste Bauweise des Dramas birgt eine Gefahr, welche auch durch das Genie nicht in jedem Falle siegreich überwunden wird. Bei ihr ist in der Regel der erste Theil des Dramas, der den Helden in gesteigerter Spannung bis zum Höhenpunkt hinauftreibt, in seinem Erfolge gesichert; aber der zweite Theil, welcher doch die größeren Wirkungen fordert, hängt zumeist von dem Gegenspiel ab, und dies Gegenspiel muß hier in heftigerer Bewegung und in verhältnißmäßig größerer Berechtigung motivirt werden. Das mag die Aufmerksamkeit zerstreuen, anstatt sie zu steigern. Dazu kommt, daß der Held vom Höhenpunkt seines Handelns schwächer erscheinen muß als die gegenwirkenden Gestalten. Auch dadurch mag das Interesse an ihm verringert werden. Doch trotz dieser Schwierigkeit darf der Dichter nicht in Zweifel sein, welcher Anordnung er den Vorzug zu geben hat. Seine Arbeit wird schwerer, es gehört bei solcher Anlage große Kunst dazu, die letzten Akte gut zu machen. Aber Begabung und gutes Glück sollen das überwinden. Und die schönsten Kränze, welche die dramatische Kunst zu geben vermag, sinken auf das gelungene Werk. Allerdings ist der Dichter hierbei von seinem Stoff abhängig, der zuweilen keine Wahl läßt. Deshalb ist eine der ersten Fragen, welche der Dichter an einen lockenden Stoff zu stellen hat, ob derselbe im Spiel oder Gegenspiel aufsteigt .
Es ist belehrend, in dieser Beziehung die großen Dichter zu vergleichen. Von den wenigen Dramen des Sophokles, die uns erhalten sind, gehört die Mehrzahl (4) denen an, wo der Hauptspieler die Führung hat, wie ungünstig auch das Gebiet epischer Stoffe für die freie Selbstbestimmung der Helden war. — Die höchste Kraft und Kunst aber bewährt hier Shakespeare. Er vorzugsweise ist der Dichter der schnell ent [S. 98] schlossenen Charaktere, Lebensfeuer und Mark, gedrungene Energie und hochgespannte männliche Kraft seiner Helden treiben gleich nach der Eröffnungsscene die Stücke in schneller Steigerung aufwärts.
In schneidendem Gegensatz zu ihm steht die Neigung der großen deutschen Dichter des vorigen Jahrhunderts. Sie lieben breites Motiviren, sorgfältiges Begründen des Ungewöhnlichen. In mehren ihrer Dramen sieht es aus, als würden ihre Helden ruhig in gemäßigter Stimmung, in unsichern Verhältnissen beharren, wenn man sie nur ließe. Und wie den meisten Heldencharakteren der Deutschen fröhliche Kraft, hartes Selbstvertrauen und schneller Entschluß zur That fehlen, so stehen sie auch in der Handlung unsicher, grübelnd, zweifelnd, mehr durch äußere Verhältnisse als durch rücksichtsloses Fordern fortbewegt. Das ist bedeutungsvoll für die Bildung des vorigen Jahrhunderts, für Kultur und Seelenleben eines Volkes, dem das fröhliche Gedeihen, ein öffentliches Leben, Selbstregierung so sehr fehlten. Sogar Schiller, welcher doch heftige Leidenschaften aufzuregen weiß, liebt es, den Gegenspielern im ersten Theil, den Haupthelden erst im zweiten vom Höhenpunkt abwärts die Führung zu geben. So werden in Kabale und Liebe Ferdinand und Luise durch die Intriganten fortgestoßen, erst von der Scene zwischen Ferdinand und dem Präsidenten, nach dem tragischen Moment, übernimmt Ferdinand die Führung bis zum Ende. Noch schlechter steht der Held Don Carlos zu der Handlung seines Stückes, er wird sowohl in der steigenden als in der fallenden Hälfte bevormundet. In Maria Stuart hat die Heldin allerdings die verhängnißvolle Leitung ihres Schicksals bis zum Höhenpunkt, der Gartenscene, insofern sie die Stimmungen ihrer Gegenspieler beherrscht: der vorwärts treibende Theil sind aber, wie durch den Stoff geboten war, die Intriganten und Elisabeth.
Weit bekannter und doch von geringerer Bedeutung für den Bau des Dramas ist die Unterscheidung der Dramen, [S. 99] welche von der letzten Wendung im Geschick des Helden und von dem Inhalt der Katastrophe hergenommen wird. Die neue Bühne der Deutschen unterscheidet zwei Arten des ernsten Dramas, Trauerspiel und Schauspiel. Die strenge Unterscheidung in diesem Sinne ist auch bei uns nicht alt, sie ist auf den Repertoiren erst seit Iffland durchgeführt. Und wenn man jetzt auf der Bühne zuweilen Lustspiel, Schauspiel und Trauerspiel als drei verschiedene Arten der recitirenden Darstellung einander gegenüberstellt, so ist doch das Schauspiel seinem Wesen nach keine dritte gleichstehende Art des dramatischen Schaffens, sondern eine Unterabtheilung des ernsten Dramas. Die attische Bühne hatte nicht den Namen, aber die Sache. Schon zur Zeit des Aeschylos und Sophokles war ein finsterer Ausgang keineswegs der Tragödie unentbehrlich, von sieben erhaltenen Tragödien des letzteren haben zwei, Aias und Philoktetes, ja in den Augen der Athener auch Oedipus auf Kolonos, einen milden Schluß, welcher das Schicksal des Helden zum Bessern wendet. Selbst bei Euripides, dem die Poetik nachrühmt, daß er düstern Ausgang liebe, sind unter siebzehn erhaltenen Tragödien außer der Alkestis noch vier: Helena, Iphigeneia in Tauris, Andromache, Ion, deren Ende dem unserer Schauspiele entspricht; bei mehren anderen ist der traurige Ausgang zufällig und unmotivirt. Und es scheint, daß die Athener bereits denselben Geschmack hatten, den wir an unsern Zuschauern kennen, sie sahen am liebsten solche Tragödien, welche in unserem Sinn Schauspiele waren, in denen der Held arg durch das Schicksal gezaust wurde, aber zuletzt Haut und Haar gerettet davontrug.
Auf der modernen Bühne ist unleugbar die Berechtigung des Schauspiels noch größer geworden. Edler und freier fassen wir die Menschennatur, wir vermögen reizvoller, wirksamer und genauer innere Kämpfe des Gewissens, entgegenstehende Ueberzeugungen zu schildern. In einer Zeit, in welcher man sogar über Abschaffung der Todesstrafe verhandelt hat, sind [S. 100] die Toten am Ende eines Stückes, so scheint es, leichter zu entbehren; wir trauen in der Wirklichkeit einer starken Menschenkraft zu, daß sie die Pflicht des Lebens sehr hoch halte, auch schwere Missethat nicht durch den Tod, sondern durch ein reineres Leben büße. Aber diese veränderte Auffassung des irdischen Daseins kommt dem Drama nicht nach jeder Richtung zu Gute. Es ist wahr, der tötliche Ausgang ist zumal bei modernen Stoffen weniger Bedürfniß als bei dramatischer Behandlung epischer Sagen oder älterer geschichtlicher Begebenheiten. Aber nicht, daß der Held zuletzt am Leben bleibt, macht ein Stück zum Schauspiel, sondern daß er aus den Kämpfen als Sieger oder durch einen Ausgleich mit seinem Gegensatze versöhnt hervorgeht. Ist er am Ende der unterliegende, muß er gebrochen werden, so behält das Stück nicht nur den Charakter, sondern auch den Namen eines Trauerspiels. Der Prinz von Homburg ist Schauspiel, Tasso eine Tragödie.
Das Drama der Neuzeit hat in den Kreis seiner Stoffe ein weites Gebiet aufgenommen, welches der ältern Tragödie der Griechen, ja in der Hauptsache noch der Kunst Shakespeare's fremd war: das bürgerliche Leben der Gegenwart, die Conflikte unserer Gesellschaft. Kein Zweifel, daß die Kämpfe und Leiden moderner Menschen eine tragische Behandlung möglich machen und daß diese ihnen noch viel zu wenig zu Theil geworden ist; aber das Genrehafte, Zahme und Rücksichtsvolle, welches dieser Gattung von Stoffen in der Regel anhängt, gibt auch der künstlerischen Auffassung völlige Berechtigung, welche gerade hier gern solche Kämpfe vorführt, denen wir im wirklichen Leben eine milde Ausgleichung zutrauen und wünschen. Bei der breiten und volksthümlichen Ausdehnung, welche diese Behandlung gewonnen hat, gilt es zweierlei hervorzuheben. Erstens, daß die Gesetze für Bau des Schauspiels und Leben der Charaktere in der Hauptsache dieselben sind, wie für das Trauerspiel, und daß es für den [S. 101] Schaffenden nützlich ist, diese Gesetze aus dem Drama hohen Stils zu erkennen, wo jeder Verstoß dagegen dem Erfolg des Stückes verhängnißvoll werden mag.
Zweitens aber, daß das Schauspiel, bei welchem eine weichere Ausgleichung der Conflikte im zweiten Theile nothwendig ist, doppelt Ursache hat, in der ersten Hälfte herzhaftes und frisches Begehren seines Helden durch feine Charakterschilderung zu motiviren. Es kommt sonst in Gefahr, zu einem Situationsstück oder Intriguenstück zu werden, im ersten Fall einer behaglichen Schilderung von Zuständen und charakteristischen Eigenthümlichkeiten die kräftige Bewegung einer einheitlichen Handlung zu opfern, im andern Fall über den schnellen Schachzügen einer unruhigen Handlung die Ausbildung der Charaktere zu vernachlässigen. Das erstere ist Neigung der Deutschen, das andere der Romanen; beide Arten der Zurichtung eines Stoffes sind einer würdigen Behandlung ernster Kämpfe ungünstig, sie gehören ihrem Wesen nach der Komödie, nicht dem ernsten Drama an.
Durch die beiden Hälften der Handlung, welche in einem Punkt zusammenschließen, erhält das Drama, — wenn man die Anordnung durch Linien verbildlicht, — einen pyramidalen Bau. Es steigt von der Einleitung mit dem Zutritt des erregenden Moments bis zu dem Höhenpunkt, und fällt von da bis zur Katastrophe. Zwischen diesen drei Theilen liegen die Theile der Steigerung und des Falles. Jeder dieser fünf Theile kann aus einer Scene oder aus einer gegliederten Folge von Scenen bestehen, nur der Höhenpunkt ist gewöhnlich in einer Hauptscene zusammengefaßt.
Diese Theile des Dramas, a) Einleitung, b) Steigerung, c) Höhenpunkt, d) Fall oder Umkehr, e) Katastrophe, haben jeder Besonderes in Zweck und Baueinrichtung. Zwischen ihnen stehen drei wichtige scenische Wirkungen, durch welche die fünf Theile sowohl geschieden als verbunden werden. Von diesen drei dramatischen Momenten steht eines, welches den Beginn der bewegten Handlung bezeichnet, zwischen Einleitung und Steigerung, das zweite, Beginn der Gegenwirkung, zwischen Höhenpunkt und Umkehr, das dritte, welches vor Eintritt der Katastrophe noch einmal zu steigern hat, zwischen Umkehr und Katastrophe. Sie heißen hier: das erregende Moment, das tragische Moment, das Moment der letzten Spannung. Die erste Wirkung ist jedem Drama nöthig, die [S. 103] zweite und dritte sind gute, aber nicht unentbehrliche Hilfsmittel. — Es werden deshalb im Folgenden acht Bestandtheile des Dramas in ihrer Reihenfolge aufgeführt.
Die Einleitung. Der Brauch des Alterthums war, die Vorbedingungen der Handlung in einem Prolog mitzutheilen. Der Prolog des Sophokles, ja schon des Aeschylos ist ein durchaus nothwendiger und wesentlicher Theil der Handlung, dramatisch belebt und gegliedert, welcher genau unserer Eröffnungsscene entspricht und in der alten Regiebedeutung des Wortes den Theil der Handlung umfaßt, welcher vor dem Einzugsgesang des Chors lag. Bei Euripides ist er in nachlässiger Rückkehr zu der älteren Gewohnheit ein epischer Botenbericht, den eine Maske den Zuhörern abstattet, die nicht einmal immer in dem Stück selbst auftritt, wie Aphrodite im Hippolytos, der Geist des getöteten Polydoros in der Hekabe. — Bei Shakespeare ist der Prolog ganz von der Handlung abgelöst, er ist nur Anrede des Dichters, enthält Artigkeit, Entschuldigung, die Bitte aufzumerken. Die deutsche Bühne hat, seit ihr nicht mehr nöthig ist, Ruhe und Aufmerksamkeit zu erbitten, diesen Prolog zweckmäßig aufgegeben, sie läßt ihn als Festgruß, welcher einmal eine einzelne Vorstellung auszeichnet, oder als zufällige Laune des Dichters zu. Bei Shakespeare sowohl als bei uns ist die Einleitung wieder in die rechte Stelle getreten, sie ist mit dramatischer Bewegung erfüllt und ein organischer Theil im Bau des Dramas geworden. Doch hat in einzelnen Fällen die neuere Bühne einer anderen Versuchung nicht widerstanden, die Einleitung zu einem Situationsbilde auszuweiten und als besonderes Vorspiel dem Drama vorauszusenden. Berühmte Beispiele sind die Jungfrau von Orleans und das Käthchen von Heilbronn, Wallensteins Lager, und die schönsten aller Prologe, die zu Faust.
Daß solche Ablösung der Eröffnungsscene bedenklich ist, wird leicht zugegeben werden. Der Dichter, welcher sie als [S. 104] ein getrenntes Stück behandelt, ist gezwungen, ihr eine Ausdehnung und Gliederung zu geben, welche ihrer innern Bedeutung nicht entspricht. Was als ein Besonderes durch starken Einschnitt abgesetzt erscheint, verfällt den Gesetzen jeder größeren dramatischen Einheit, es muß wieder eine Einleitung, Steigerung, eine mäßige Höhe, einen Abschluß erhalten. Solche Voraussetzungen eines Dramas aber, die Zustände vor dem Eintritt der bewegenden Kraft, sind einer kräftig gegliederten Bewegung nicht günstig, und der Dichter wird deshalb seine Personen in ausgeschmückten und verhältnißmäßig breit ausgeführten Situationen vorzuführen haben. Er wird diese Situationen in einiger Fülle und Reichlichkeit geben müssen , weil jeder abgeschlossene Bau auch eine selbständige Theilnahme erwecken und befriedigen soll, was nur bei gewisser Zeitdauer möglich ist. Dadurch aber entstehen zwei Uebelstände, einmal daß der Haupthandlung die auf unserer Bühne ohnedies nicht reichlich zugemessene Zeit beschränkt wird, und ferner, daß das Vorspiel durch die breite Behandlung und den ruhigen Inhalt wahrscheinlich eine Farbe erhält, welche von der des Dramas abweicht und den Hörer zerstreut und befriedigt, anstatt ihn vorzubereiten.
Es ist fast immer Bequemlichkeit des Dichters und mangelhafte Anordnung des Stoffes, welche bei einem Bühnenstück den Aufbau des Vorspiels veranlaßt. Kein Stoff darf weitere Voraussetzungen behalten, als solche, welche sich in wenigen kurzen Strichen wiedergeben lassen.
Da die Darstellung von Ort, Zeit, Volksthum und Lebensverhältnissen des Helden der Einleitung des Dramas zukommt, so wird diese zunächst das Umgebende kurz charakterisiren. Außerdem wird dem Dichter hier Gelegenheit sowohl die eigenthümliche Stimmung des Stückes wie in kurzer Ouverture anzudeuten, als auch das Tempo desselben, die größere Leidenschaftlichkeit oder Ruhe, mit welcher die Handlung forteilt. Der gemäßigte Gang, das milde Licht im [S. 105] Tasso wird durch den heitern Glanz des fürstlichen Gartens, die ruhige Unterhaltung der geschmückten Frauen, die Kränze, das Schmücken der Dichterbilder eingeführt. In Maria Stuart gibt das Erbrechen der Schränke, der Streit Paulet's mit der Kennedy ein gutes Bild der Lage. Im Nathan ist die erregte Unterhaltung des heimkehrenden Nathan mit Daja eine vortreffliche Einführung in den würdigen Gang der Handlung und in die Gegensätze der innerlich bewegten Charaktere. In den Piccolomini gibt die Begrüßung der Generäle und Questenberg's eine besonders schöne Vorbereitung in die allmählich steigende Bewegung. Der größte Meister in guten Anfängen ist aber Shakespeare. In Romeo: Tag, offene Straße, Händel und Schwerterklirren der feindlichen Parteien; in Hamlet: Nacht, der spannende Commandoruf, Aufziehen der Wache, das Erscheinen des Geistes, unruhige, düstere, zweifelvolle Erregtheit; in Macbeth: Sturm, Donner, die unheimlichen Hexen auf wüster Haide. Und wieder in Richard III. : keine auffallende Umgebung, ein einzelner Mann auf der Bühne, der Alle beherrschende Bösewicht, der das ganze dramatische Leben des Stückes regiert, sich selbst den Prolog sprechend. So in jedem seiner kunstvolleren Dramen.
Als Regel gelte, daß es nützlich ist, den ersten Accord nach Eröffnung der Bühne so stark und nachdrücklich anzuschlagen, als der Charakter des Stückes erlaubt. Es versteht sich, daß man den Clavigo nicht mit Trommelwirbel und den Tell nicht mit Kindergezänk in häuslichem Stillleben eröffnet; eine dem Stücke angemessene kurze Bewegung führe zwanglos zu der ruhigeren Exposition über. Zuweilen ist dieser erste anspannende Accord bei Shakespeare, dem seine Bühne größere Freiheit gestattete, von der folgenden Exposition durch einen scenischen Einschnitt geschieden; so folgt ihm im Hamlet eine Hofscene, im Macbeth das Auftreten Duncan's und der Schlachtbericht. Ebenso im Julius Cäsar, wo Unterredung und [S. 106] Streit der Tribunen und Plebejer den ersten stärkeren Anschlag bilden, welchem sich die Exposition: Unterredung des Cassius und Brutus und festlicher Einzug des Cäsar, anschließt. Auch in Maria Stuart folgt dem Streit mit Paulet die Expositionsscene: Maria und Kennedy; so im Tell dem reizvollen, nur zu melodramatischen Eröffnungsbilde die Unterredung der Landleute.
Nun ist allerdings dieser Accord des Anfangs nicht nothwendig ein lautes Zusammentönen verschiedener Personen, sehr gut mögen auch kurze Seelenbewegungen der Hauptpersonen das erste Kräuseln kleiner Wellen andeuten, welches die Stürme des Dramas einzuleiten hat. So geht in Emilia Galotti die Exposition von der unruhigen Bewegung des Prinzen am Arbeitstisch durch die in größerem Wellenschlage gehaltene Unterredung mit Conti bis in die Scene mit Marinelli, welche das aufregende Moment: Nachricht von der bevorstehenden Vermählung Emilia's, enthält. Aehnlich, aber weniger bequem im Clavigo von der Unterredung am Schreibtische des Clavigo durch die Wohnung der Marie bis zum Beginn der Handlung selbst: dem Besuch des Beaumarchais bei Clavigo. Ja die Handlung kann sich allmählich so erheben, daß die gehaltene Ruhe des Anfangs eine wirksame Unterlage bildet, wie in Goethe's Iphigenie.
Wenn Shakespeare und die Deutschen der frühern Zeit — Sara Sampson, Clavigo — in der Einleitung den Scenenwechsel nicht vermieden haben, so ist das für unsere Bühne nicht nachzuahmen. Die Exposition soll jedes Zerstreuende von sich fern halten; ihre Aufgabe, vorzubereiten, erfüllt sie am besten, wenn sie so fortläuft, daß dem kurzen einleitenden Accord eine ausgeführte Scene folgt, welche durch schnellen Uebergang mit der folgenden Scene des erregenden Momentes verbunden ist. Julius Cäsar, Maria Stuart, Wallenstein sind nach dieser Richtung treffliche Vorbilder.
Die Schwierigkeit, auch den Vertretern des Gegenspiels [S. 107] eine Stelle in der Einleitung zu geben, ist nicht unüberwindlich. In der scenischen Anordnung wenigstens muß der Dichter seine volle Herrschaft über den Stoff empfinden, und es ist gewöhnlich nur eine Befangenheit seiner Einbildungskraft, wenn ihm dergleichen unmöglich scheint. Sollte aber die Einfügung der Gegenpartei in die Exposition unthunlich werden, so ist immer noch Zeit, dieselbe in den ersten Scenen der bewegten Handlung vorzuführen.
Ohne sich deshalb die möglichen Fälle in eine Schablone zu zwängen, darf der Dichter festhalten, daß ein regelmäßiger Bau der Einleitung folgender ist: scharf bezeichnender Accord, ausgeführte Scene, kurzer Uebergang in das erste Moment der Bewegung.
Das erregende Moment. Der Eintritt der bewegten Handlung findet an der Stelle des Dramas statt, wo in der Seele des Helden ein Gefühl oder Wollen aufsteigt, welches die Veranlassung zu der folgenden Handlung wird, oder wo das Gegenspiel den Entschluß faßt, durch seine Hebel den Helden in Bewegung zu setzen. Offenbar wird dieses Treibende bedeutsamer in solchen Stücken hervortreten, bei denen der Hauptspieler die erste Hälfte willenskräftig beherrscht, aber es bleibt bei jeder Anordnung ein wichtiges Moment der Handlung. Im Julius Cäsar ist dies Treibende der Gedanke den Cäsar zu töten, welcher durch das Gespräch mit Cassius allmählich in die Seele des Brutus gelegt wird. Im Othello tritt es nach den stürmischen Nachtscenen, der Exposition, durch die zweite Unterredung zwischen Jago und Rodrigo hervor mit der Verabredung, Desdemona und den Mohren zu entzweien. In Richard III. dagegen steigt es im ersten Anfange des Stückes zugleich mit der Exposition aus der Seele des Helden als fertiger Plan herauf. Beidemal ist seine Stellung bezeichnend für den Charakter der Stücke, im Othello, wo das Gegenspiel führt, am Schluß einer längeren Einleitung, im Richard, wo der Bösewicht allein herrscht, [S. 108] im ersten Auftritt. Im Romeo kommt dies veranlassende Motiv an die Seele des Helden in der Unterredung mit Benvolio, als Entschluß das Maskenfest zu besuchen, und unmittelbar vor dieser kleinen Scene läuft als Parallelscene die erste Unterredung zwischen Paris und Capulet, durch welche das Schicksal Julia's bestimmt wird; beide scenischen Momente, so bedeutsam nebeneinandergestellt, bilden zusammen das Treibende dieses Dramas, welches zwei Helden hat, die beiden Liebenden. In Emilia Galotti sinkt es als Nachricht von der bevorstehenden Vermählung der Heldin in die Seele des Prinzen, im Clavigo ist es die Ankunft des Beaumarchais bei seiner Schwester, in Maria Stuart ist es das Bekenntniß, welches Mortimer der Maria ablegt.
Schwerlich wird Jemand die Ansicht hegen, daß der Faust besser ein regelmäßiges Bühnendrama geworden wäre; aber es ist gerade belehrend, an diesem größten Gedicht der Deutschen zu begreifen, wie die Gesetze des Schaffens noch bei der freiesten Erfindung in dramatischer Form Gehorsam forderten. Auch dieses Stück hat ein erregendes Moment, den Eintritt des Mephisto in die Stube des Faust. Was vorhergeht, ist Exposition, die dramatisch bewegte Handlung umfaßt das Verhältniß zwischen Faust und Gretchen; sie hat ihre steigende und fallende Hälfte, von dem Erscheinen des Mephisto steigt sie bis zum Höhenpunkt, der Scene, welche die Hingabe Gretchens an Faust andeutet, von da fällt sie bis zur Katastrophe. Das Ungewöhnliche des Baues liegt, abgesehen von den späteren Episoden, nur darin, daß die Scenen der Einleitung und des erregenden Momentes das halbe Stück füllen, und etwa, daß der Höhenpunkt nicht stark herausgetrieben ist. Im Uebrigen aber hat das Stück, dessen Scenen wie an einem Faden zusammengereiht scheinen, eine kleine vollständig geordnete Handlung von einfacher und sogar regelmäßiger Beschaffenheit. Man hat nur nöthig, die Begegnung mit Gretchen als an das Ende eines ersten Aktes gestellt zu denken.
[S. 109] Shakespeare behandelt dies Eintreten der Bewegung mit besonderer Sorgfalt. Ist ihm das erregende Moment einmal zu klein und leicht, wie in Romeo und Julie, so weiß er es zu verstärken; deshalb muß Romeo, nachdem das Eindringen bei den Capulet beschlossen ist, vor dem Hause seine finsteren Ahnungen aussprechen. In drei Stücken hat er dabei seiner Neigung, ein Motiv zu wiederholen, nachgegeben. Jedesmal mit großer Wirkung. Wie die Scene im Othello: „Schaff einen Beutel mit Geld” eine Variation des einleitenden Accordes ist, so auch die Hexen, welche dem Macbeth die blutigen Gedanken aufregen, so der Geist, welcher dem Hamlet den Mord verkündet. Was im ersten Aufgange des Stückes Ton und Farbe andeutete, wird auch die aufstachelnde Gewalt für die Seele der Helden.
Aus den angeführten Beispielen ist ersichtlich, daß dies Moment der Handlung in sehr verschiedener Gestalt auftreten könne. Es mag eine ausgeführte Scene füllen, es mag in wenigen Worten zusammengefaßt werden. Es muß durchaus nicht immer von außen in die Seele des Helden oder seines Gegenspielers dringen, es darf ebenso ein Gedanke, ein Wunsch, ein Entschluß sein, welcher durch eine Reihe von Vorstellungen aus dem Innern des Helden selbst gelockt wird. Immer aber bildet es den Uebergang von der Einleitung zur aufsteigenden Handlung, entweder als plötzlich eintretend, wie Mortimer's Erklärung in Maria Stuart und die Rettung Baumgarten's im Tell, oder allmählich durch Gespräch und innere Vorgänge herausgebildet, wie der Entschluß des Mordes bei Brutus, wo an keiner Stelle des erwähnten Zwiegesprächs die furchtbaren Worte ausgesprochen sind, die Bedeutung der Scene dagegen durch den Argwohn, welchen der dazwischentretende Cäsar ausdrückt, bedeutsam herausgehoben wird.
Doch ist für die Arbeit zu beachten, daß dies Moment eine große Ausführung nur selten verträgt. Es steht im Anfange des Stückes, wo mächtiges Eindringen auf die Hörenden [S. 110] weder nöthig noch rathsam ist. Es hat den Charakter eines Motivs, welches Richtung gibt und vorbereitet, nicht selbst einen Ruhepunkt darbietet. Es darf nicht unbedeutend sein, aber auch nicht so stark hervortreten, daß es nach der Empfindung der Zuschauer dem Folgenden zu viel vorweg nimmt, also die Spannung, die es erregen soll, verringert oder bereits über das Schicksal des Helden entscheidet. Hamlet's Verdacht darf durch die Offenbarung des Geistes nicht zu unbedingter Gewißheit erhoben werden, sonst müßte der Verlauf des Stückes ein anderer werden. Des Cassius und Brutus Entschluß darf nicht in klare Worte gefaßt als fertig heraustreten, damit die folgende Ueberlegung des Brutus und die Verschwörung als Fortschritt erscheinen. Der Dichter wird also die Wichtigkeit, womit er dasselbe hervorhebt, wohl abzudämpfen haben.
Immer aber wird er dasselbe so früh als möglich bringen, denn erst von ihm ab beginnt ernste dramatische Arbeit.
Eine bequeme Einrichtung für unsere Bühnen ist: nach der Einleitung das erregende Moment in mäßiger Scene zu geben und die erste folgende Steigerung in größerer Ausführung anzuschließen. Von solchem regelrechten Bau ist z. B. der erste Akt der Maria Stuart.
Die Steigerung. Die Handlung ist in Bewegung gesetzt, die Hauptpersonen haben ihr Wesen dargelegt, die Theilnahme ist angeregt. In einer gegebenen Richtung hebt sich Stimmung, Leidenschaft, Verwicklung. Es ist in modernen Stücken kein unbedeutender Theil des dreistündigen Dramas, welcher dieser Steigerung gehört. Seine Einrichtung hat verhältnißmäßig geringe Schwierigkeit. Folgendes sind die gemeingiltigen Regeln dafür.
War es nicht möglich, die wichtigsten Personen des Gegenspiels oder der Hauptgruppe im Vorhergehenden darzustellen, so muß ihnen jetzt ein Raum geschafft und Gelegenheit zu bedeutsamer Thätigkeit gegeben werden. Auch solche, welche erst in der zweiten Hälfte des Dramas wirksam sind, müssen [S. 111] dringend wünschen, sich schon jetzt dem Hörer bekannt zu machen. — Ob die Steigerung in einer oder in mehren Stufen bis zum Höhenpunkt laufe, hängt von Stoff und Behandlung ab. In jedem Fall ist ein Absatz in der Handlung auch in der Scenenbildung so auszudrücken, daß die dramatischen Momente, Auftritte und Scenen, welche demselben Abschnitt der Handlung angehören, auch unter einander zur Einheit geordnet werden, als Hauptscene, Nebenscenen, Zwischenglieder. Im Julius Cäsar z. B. besteht die Steigerung vom Moment der Erregung bis zum Höhenpunkt nur aus einer Stufe, der Verschwörung. Diese bildet mit den vorbereitenden und der dazu gehörigen Scene des Gegensatzes — Brutus und Portia — eine ansehnliche, auch nach den Bedürfnissen unserer Bühne sehr schön gebaute Scenengruppe, an welche sich sogleich das Scenenbündel schließt, welches um die Mordscene, den Höhenpunkt, geordnet ist. Dagegen läuft in Romeo und Julie die Steigerung in vier Absätzen bis zum Höhenpunkte. Der Bau dieser steigernden Scenengruppen ist hier folgender: Erste Stufe: der Maskenball . Dreitheilig: zwei Vorscenen (Julia mit Mutter und Amme. Romeo und seine Genossen) und eine Hauptscene: der Ball selbst (bestehend aus einem Vorschlag: Unterredung der Diener, und aus vier Momenten: Capulet ermunternd, Tybalt's Zorn und Zurechtweisung, Gespräch der Liebenden, Julia und die Amme als Schluß). — Zweite Stufe: die Gartenscene . Kurze Vorscene (Benvolio und Mercutio den Romeo suchend) und große Hauptscene (die Liebenden beschließen Vermählung). — Dritte Stufe: die Trauung . Viertheilig: erste Scene: Lorenzo mit Romeo. Zweite Scene: Romeo und Genossen und Amme als Botenläuferin. Dritte Scene: Julia und Amme als Botenläuferin. Vierte Scene: Lorenzo und die Liebenden, die Trauung. — Vierte Stufe: Tybalt's Tod . Eine Aktionsscene.
Es folgt die Scenengruppe des Höhenpunktes, welche von den Worten Julia's: „Hinab du flammenhufiges Gespann [S. 112] ” beginnt und bis zu Romeo's Abschied: „Der Schmerz trinkt unser Blut, leb' wohl!” reicht. — Man beachte in den vier Stufen der Steigerung den verschiedenen Bau der einzelnen Scenen. Im Maskenball sind kleine Scenen in rascher Folge bis zum Schluß zusammengefügt, die Gartenscene ist ausgeführte große Scene der Liebenden, im schönen Abstich dazu sind in der Scenengruppe der Trauung die Vermittler Lorenzo und die Amme thätig und im Vordergrund gehalten, die Liebenden gedeckt; Tybalt's Tod ist der starke Absatz, welcher die gesammte Steigerung vom Höhenpunkte scheidet, dessen Scenen höheren Schwung, leidenschaftlichere Bewegung haben. Die Anordnung des Stückes ist sehr sorgfältig, die Fortschritte der beiden Helden und die Motive dafür sind in je zwei nebeneinanderlaufenden Scenen für jeden besonders dargelegt.
Dieselbe Art der Steigerung, langsamer, mit weniger häufigem Scenenwechsel, ist bei den Deutschen. In Kabale und Liebe z. B. ist das aufregende Moment des Stückes der Bericht des Wurm an den Vater, daß sein Ferdinand die Tochter des Musikus liebe. Von da steigt das Stück im Gegenspiel durch vier Stufen. Erste Stufe (der Vater fordert die Heirat mit der Milford) in zwei Scenen: Vorscene (er läßt durch Kalb die Verlobung bekannt machen), Hauptscene (er zwingt den Sohn die Milford zu besuchen). — Zweite Stufe (Ferdinand und die Milford): zwei Vorscenen, große Hauptscene (die Lady besteht darauf ihn zu heiraten). — Dritte Stufe : zwei Vorscenen, große Hauptscene (der Präsident will Luise in Haft nehmen, Ferdinand widersteht). — Vierte Stufe : zwei Scenen (Plan des Präsidenten mit dem Briefe und die Verschwörung der Schurken). Darauf folgt der Höhenpunkt. Hauptscene: die Abfassung des Briefes. Auch dieses Stück hat die Eigenthümlichkeit, zwei Haupthelden zu haben, die beiden Liebenden.
Der Inhalt des Dramas ist allerdings peinlich, aber der Bau ist bei einiger Unbehilflichkeit in der Scenenführung doch [S. 113] im Ganzen regelmäßig und besonderer Beachtung werth, weil er weit mehr durch richtige Empfindung des jungen Dichters, als durch sichere Technik hervorgebracht ist.
Für die Scenen der Steigerung gilt der Satz, daß sie eine fortlaufende Verstärkung der Theilnahme hervorzubringen haben; sie müssen deshalb nicht nur durch ihren Inhalt den Fortschritt darstellen, auch in Form und Behandlung eine Vergrößerung zeigen, und zwar mit Wechsel und Schattirungen in der Ausführung; sind mehre Stufen nöthig, so muß die vorletzte oder letzte den Charakter einer Hauptscene erhalten.
Der Höhenpunkt des Dramas ist die Stelle des Stückes, in welcher das Ergebniß des aufsteigenden Kampfes stark und entschieden heraustritt, er ist fast immer die Spitze einer groß ausgeführten Scene, an welche sich die kleineren Verbindungsscenen von der Steigerung und der fallenden Handlung heranlegen. Allen Glanz der Poesie, alle dramatische Kraft wird der Dichter anzuwenden haben, um diesen Mittelpunkt seines Kunstwerks lebendig herauszuheben. Die höchste Bedeutung hat er freilich nur in den Stücken, in denen der Held die aufsteigende Handlung durch seine innern Seelenvorgänge treibt; bei den Dramen, welche durch das Gegenspiel steigen, bezeichnet er die allerdings wichtige Stelle, wo dies Spiel den Haupthelden gefangen und in die Richtung des Falles verlockt hat. Prachtvolle Beispiele sind fast in jedem Stück Shakespeare's und der Deutschen zu finden. So ist die Hüttenscene im Lear, das Spiel der drei Gestörten und die Verurtheilung des Sessels vielleicht das Wirkungsreichste, was je auf der Bühne dargestellt wurde, wie auch die Steigerung Lear's bis zu dieser Scene des ausbrechenden Wahnsinns von furchtbarer Großartigkeit ist. Die Scene ist auch deshalb merkwürdig, weil der große Dichter hier den Humor zur Verstärkung der schauerlichen Wirkung benutzt hat und weil dies eine von den sehr seltenen Stellen ist, wo der Hörer trotz der ungeheuren Erregtheit mit einem gewissen Befremden wahrnimmt, [S. 114] daß Shakespeare zum Heraustreiben der Wirkung Kunstgriffe anwendet. Edgar ist keine glückliche Zugabe der Scene. — In anderer Weise lehrreich ist die Banketscene im Macbeth. In diesem Trauerspiel war eine vorausgegangene Scene, die Mordnacht, so gewaltig herausgetrieben, und durch höchste dramatische Poesie so reich ausgestattet worden, daß man an der Möglichkeit einer Steigerung verzweifeln möchte. Und sie ist doch erreicht. Das Ringen mit dem Geist und die fürchterlichen Gewissenskämpfe des Mörders sind in der unruhigen Scene, zu welcher die festliche Gesellschaft und der Königsglanz den wirksamsten Gegensatz bilden, mit einer Wahrheit und wilden Poesie geschildert, bei welcher das Herz des Hörers erbebt. — Im Othello dagegen liegt der Höhenpunkt in der großen Scene, in welcher Jago dem Othello die Eifersucht aufregt; sie ist langsam vorbereitet und der Beginn des erschütternden Seelenkampfes, in welchem der Held untergeht. — Im Clavigo ist er die Versöhnung Clavigo's mit Marie, in Emilia Galotti der Fußfall Emilia's, in beiden Stücken von dem vorherrschenden Gegenspiel gedeckt. Dagegen ist er bei Schiller wieder in allen Stücken kräftig entwickelt.
Dies Herausbrechen der That aus der Seele des Helden oder das Einströmen der verhängnißvollen Eindrücke in dieselbe, das erste große Resultat des hochgesteigerten Kampfes oder der Beginn des tötlichen innern Confliktes, muß in fester Verbindung sowohl mit dem Vorgehenden als dem Folgenden erscheinen, es wird sich durch größere Behandlung und Wirkung abheben, aber es wird in der Regel in seiner Entwicklung aus der Steigerung und in seiner Wirkung auf die Umgebung dargestellt werden; deshalb bildet die Hauptscene des Höhenpunktes gern den Mittelpunkt einer Gruppe von Momenten, welche nach beiden Seiten anschießend auf- und abwärts laufen.
In dem Fall, wo der Höhenpunkt durch ein tragisches Moment mit der sinkenden Handlung verbunden ist, erhält der Bau des Dramas durch das Zusammentreten zweier [S. 115] wichtiger Stellen, welche sich in scharfem Gegensatz gegen einander abheben, einiges Besondere. Ueber das tragische Moment selbst mußte früher gesprochen werden. Dieser Anfang der sinkenden Handlung wird am besten mit dem Höhenpunkt verbunden und von den folgenden Momenten des Gegenspiels, zu denen er doch gehört, durch einen Einschnitt — unsern Aktschluß — abgesetzt, der wieder am besten nicht unmittelbar nach dem Eintritt dieses Tragischen, sondern durch ein allmähliches Austönen seines scharfen Klanges bewirkt wird. Es ist dabei gleichgiltig, ob die Verbindung dieser beiden großen abstechenden Scenen durch die Verkopplung in einer Scene oder durch das Zusammenfügen vermittelst eines Zwischengliedes geschieht. Ein glänzendes Beispiel des ersten Falls ist im Coriolan.
In diesem Stück steigt die Handlung von dem erregenden Moment (Nachricht, daß der Krieg mit den Volskern unvermeidlich sei) durch die erste Steigerung (Kampf zwischen Coriolanus und Aufidius) bis zum Höhenpunkt, der Ernennung des Coriolan zum Consul. An diese Stelle schließt sich das tragische Moment, die Verbannung. Was die höchste Erhebung des Helden zu werden schien, das wird durch seinen unbezähmbaren Stolz in das Gegentheil umschlagen. Der Umschlag geschieht nicht plötzlich, man sieht ihn — was Shakespeare überhaupt liebt — sich allmählich auf der Bühne vollziehen, das Ueberraschende des Ergebnisses wird erst am Ende der Scene empfunden. Die beiden hier durch fortlaufende Handlung verbundenen Punkte bilden zusammen eine mächtige Scenengruppe von heftigster Bewegung, das Ganze von breit ausgeführter Wirkung. — Aber auch nach dem Schluß dieser Doppelscene wird die Handlung nicht plötzlich eingeschnitten, denn unmittelbar daran fügt sich als Gegensatz die schöne, würdig gehaltene Trauerscene des Abschiedes, welche auf das Folgende hinüberleitet, und noch nachdem der Held geschieden, sind die Stimmungen der Zurückgebliebenen wie [S. 116] ein zitternder Nachklang der heftigen Bewegung dargestellt, bevor der Ruhepunkt eintritt.
Noch enger verbunden ist Höhenpunkt und tragisches Moment in Maria Stuart. Auch hier ist der Eintritt des Höhenpunktes durch den Monolog und die gehobene lyrische Stimmung der Maria nach Art einer antiken Pathosscene scharf bezeichnet, und die Stimmungsscene durch ein kleines Verbindungsglied mit der großen Dialogscene zwischen Maria und Elisabeth verbunden; aber der dramatische Höhenpunkt reicht noch in diese große Scene hinein, und in ihr selbst liegt der Uebergang zu dem verhängnißvollen Streit, der wieder in seiner Entwicklung bis ins Einzelne genau dargestellt ist.
Etwas schärfer ist durch eine ausgeführte Zwischenscene Höhenpunkt und tragisches Moment im Julius Cäsar von einander getrennt. Auf die Gruppe der Mordscene folgt die ausgeführte Unterredung der Verschworenen mit Antonius, — dies eingeschobene Glied von sehr schöner Arbeit, — darauf erst die Redescene des Brutus und Antonius; auch nach dieser Scene folgen kleine Uebergänge zu den Theilen der Umkehr.
Diese enge Verbindung der beiden wichtigen Theile gibt dem Drama mit tragischem Moment eine Größe und Ausdehnung der Mitte, welche, wenn man den spielenden Vergleich mit Linien fortsetzt, die pyramidale Form in eine Doppelspitze verwandelt.
Der schwierigste Theil des Dramas ist die Scenenfolge der fallenden Handlung oder, wie sie wohl genannt wird, der Umkehr ; allerdings treten die Gefahren zumeist bei den kraftvollen Stücken ein, in denen die Helden die Führung haben. Bis zum Höhenpunkt war die Theilnahme an die eingeschlagene Richtung der Hauptcharaktere gefesselt. Nach der That entsteht eine Pause. Die Spannung muß auf das Neue erregt werden, dazu müssen neue Kräfte, vielleicht neue Rollen vorgeführt werden, an denen der Hörer erst Antheil gewinnen soll. Schon deshalb droht Zerstreuung und Zersplitterung [S. 117] der scenischen Wirkungen. Dazu kommt, daß die Angriffe der Gegenpartei auf den Helden sich nicht immer leicht in einer Person und einer Situation vereinigen lassen, häufig ist es nöthig zu zeigen, wie nach und nach, von verschiedenen Seiten an die Seele des Helden geschlagen wird; auch dadurch mag, gegenüber der Einheit und dem festen Fortschritt der ersten Hälfte, die zweite zerrissen, vieltheilig, unruhig werden. Zumal bei geschichtlichen Stoffen, wo das Zusammenfassen der Gegenpartei in wenige Charaktere am schwierigsten ist.
Und doch fordert die Umkehr eine starke Hebung und Verstärkung der scenischen Effekte wegen der Sättigung des Hörers, der größeren Bedeutung des Kampfes. Deshalb ist das erste Gesetz für den Bau dieses Theils, daß die Zahl der Personen soweit nur möglich beschränkt, die Wirkungen in großen Scenen zusammengeschlossen werden. Alle Kunst der Technik, alle Kraft der Erfindung sind nöthig, um hier einen Fortschritt der Theilnahme zu sichern.
Außerdem noch ein Anderes. Vorzüglich dieser Theil des Dramas ist es, welcher den Charakter des Dichters in Anspruch nimmt. Denn das Schicksal gewinnt Macht über den Helden, seine Kämpfe wachsen einem verhängnißvollen Ausgang zu, der sein ganzes Leben ergreift. Es ist jetzt keine Zeit mehr, durch kleine Kunstmittel, sorgfältige Ausführung, hübsche Einzelheiten, saubere Motive zu wirken. Der Kern des Ganzen, Idee und Führung der Handlung treten mächtig hervor, der Zuschauer versteht den Zusammenhang der Begebenheiten, sieht die letzte Absicht des Dichters, er soll sich den höchsten Wirkungen hingeben und er beginnt mitten in seiner Theilnahme prüfend das Maß seines Wissens, seiner gemüthlichen Neigungen und Bedürfnisse an das Kunstwerk zu legen. Jeder Fehler im Bau, jeder Mangel in der Charakterzeichnung wird jetzt lebhaft empfunden. Deshalb gilt für diesen Theil die zweite Regel: nur große Züge, große Wirkungen; auch die Episoden, welche jetzt gewagt werden, müssen eine gewisse Bedeutung und Energie haben.
[S. 118] Wie groß die Zahl der Absätze sein müsse, in denen der Sturz des Helden geschieht, darüber ist keine Vorschrift zu geben als etwa, daß die Umkehr eine geringere Zahl wünschenswerth macht, als im Allgemeinen die aufsteigende Handlung verstattet. Für das Steigern dieser Wirkungen wird vor dem Eintritt der Katastrophe eine ausgeführte Scene nützlich, welche entweder die widerstrebenden Gewalten im Streit mit dem Helden in stärkster Bewegung zeigt, oder einen tiefen Einblick in das innere Leben des Helden gestattet. Die große Scene: Coriolanus und seine Mutter, ist Beispiel des einen Falles, der Monolog Julia's vor dem Schlaftrunk, das Nachtwandeln der Lady Macbeth Beispiel des andern Falles.
Das Moment der letzten Spannung. Daß die Katastrophe dem Hörer im Ganzen nicht überraschend kommen dürfe, versteht sich von selbst. Je mächtiger der Höhenpunkt herausgehoben, je heftiger der Absturz des Helden war, desto lebhafter muß das Ende voraus empfunden werden; je geringer die dramatische Kraft des Dichters in der Mitte des Stückes ist, desto mehr wird er am Ende künsteln und schlagende Wirkungen hervorsuchen. Shakespeare thut das letztere in seinen regelmäßig gebauten Stücken gar nicht. Leicht, kurz, wie nachlässig wirft er die Katastrophe hin, ohne dabei durch neue Wirkungen zu überraschen, sie ist ihm so nothwendige Folge des gesammten Stückes und der Meister ist so sicher, seine Hörer mit sich fortzureißen, daß er über die Nothwendigkeiten des Schlusses fast eilt. Der geniale Mann empfand sehr richtig, daß es nöthig sei, bei guter Zeit die Stimmung für die Katastrophe vorzubereiten; deshalb erscheint dem Brutus Cäsar's Geist; deshalb sagt Edmund dem Soldaten, er solle unter gewissen Verhältnissen Lear und Cordelia töten; so muß Romeo vor der Gruft Juliens noch den Paris erschlagen, damit die Zuschauer, welche in diesem Augenblick nicht mehr an Tybalt's Tod denken, ja nicht die Hoffnung aufkommen lassen, das Stück könne noch gut endigen; deshalb muß der tötliche Neid [S. 119] des Aufidius gegen Coriolan sich schon vor der großen Scene der Umkehr wiederholt äußern und Coriolan die berühmten Worte sagen: „Du hast deinen Sohn verloren”; deshalb hat der König mit Laertes die Ermordung Hamlet's durch ein vergiftetes Rappier vorher zu besprechen. Demungeachtet ist es zuweilen mißlich, ohne Unterbrechung bis zum Ende zu eilen. Gerade dann, wenn das Gewicht des unglücklichen Geschicks bereits lange und schwer auf einem Helden lastet, welchem die gerührte Empfindung des Hörers Rettung wünscht, obgleich vernünftige Erwägung die innere Nothwendigkeit des Untergangs recht wohl deutlich macht. In solchem Fall ist ein altes anspruchsloses Mittel des Dichters, dem Gemüth des Hörers für einige Augenblicke Aussicht auf Erleichterung zu gönnen. Dies geschieht durch eine neue kleine Spannung, dadurch, daß ein leichtes Hinderniß, eine entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung, der bereits angedeuteten Richtung auf das Ende noch in den Weg geworfen wird. Brutus muß erklären, daß er sich selbst zu töten für feig halte; der sterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear widerrufen; Pater Lorenzo kann vor dem Augenblick, wo Romeo sich tötet, eintreten; auch Coriolan kann von den Richtern noch freigesprochen werden; Macbeth ist noch unverwundbar durch jeden, den ein Weib geboren, als schon der grüne Wald gegen seine Burg heranzieht. Sogar Richard III. erhält noch die Nachricht, daß die Flotte des Richmond durch Stürme zerschlagen ist.
Die Anwendung dieses Kunstmittels ist alt, schon Sophokles benutzte dasselbe in der Antigone zu guter Wirkung. Kreon wird erweicht und widerruft den Todesbefehl über Antigone; ist mit ihr so verfahren, wie er befahl, so mag sie noch gerettet werden. Es ist bemerkenswerth, daß die Griechen diesen feinen Zug im Stück anders betrachteten als wir.
Doch gehört Feingefühl dazu, dies Moment gut zu gebrauchen. Es darf nicht zu unbedeutend werden, sonst verfehlt es die beabsichtigte Wirkung; es muß aus der Handlung und [S. 120] dem Grundzug der Charaktere herausgearbeitet sein; es darf aber auch nicht so bedeutend hervorspringen, daß es in der That die Stellung der Parteien wesentlich ändert. Ueber der aufsteigenden Möglichkeit muß der Zuschauer immer die abwärts drängende Gewalt des Vorausgegangenen empfinden.
Katastrophe des Dramas ist uns die Schlußhandlung, welche der Bühne des Alterthums Exodus hieß. In ihr wird die Befangenheit der Hauptcharaktere durch eine kräftige That aufgehoben. Je tiefer der Kampf aus ihrem innersten Leben hervorgegangen und je größer das Ziel desselben war, desto folgerichtiger wird die Vernichtung des unterliegenden Helden sein.
Und es muß hier davor gewarnt werden, daß man sich nicht durch moderne Weichherzigkeit verleiten lasse, auf der Bühne das Leben seiner Helden zu schonen. Das Drama soll eine in sich abgeschlossene, gänzlich vollendete Handlung darstellen; hat der Kampf eines Helden in der That sein ganzes Leben ergriffen, so ist es nicht alte Ueberlieferung, sondern innere Nothwendigkeit, daß man auch die vollständige Verwüstung des Lebens eindringlich mache. Daß in der Wirklichkeit dem Menschen der Neuzeit unter Umständen noch ein nicht unkräftiges Leben auch nach tötlichen Kämpfen möglich ist, ändert für das Drama nichts in der Sache. Denn die Gewalt und Kraft eines Daseins, welches nach der Handlung des Stückes liegt, die zahllosen versöhnenden und erhebenden Umstände, welche ein neues Leben zu weihen vermögen, die soll und kann das Drama nicht mehr darstellen, und eine Hinweisung darauf wird niemals dem Hörer die Befriedigung eines sichern Abschlusses gewähren.
Ueber dem Ende der Helden aber muß versöhnend und erhebend im Zuschauer die Empfindung von dem Vernünftigen und Nothwendigen solches Untergangs lebendig werden. Dies ist nur möglich, wenn durch das Geschick der Helden eine wirkliche Ausgleichung der kämpfenden Gegensätze hervorgebracht wird. Die Schlußworte des Dramas haben die Auf [S. 121] gabe, zu erinnern, daß nichts Zufälliges, einmal Geschehenes dargestellt worden sei, sondern ein Poetisches, das allgemeinverständliche Bedeutung habe.
Den neueren Dichtern pflegt die Katastrophe Schwierigkeit zu machen. Das ist kein gutes Zeichen. Wohl gehört unbefangenes Urtheil dazu, die Versöhnung zu finden, welche dem Gefühl des Schauenden nicht widerstrebt und doch die nothwendigen Ergebnisse des Stückes sämmtlich umschließt. Roheit und weichliche Empfindsamkeit verletzen da am meisten, wo das ganze Bühnenwerk seine Rechtfertigung und Bestätigung finden soll. Aber die Katastrophe enthält doch nur die nothwendigen Folgen der Handlung und der Charaktere; wer beide fest in der Seele trug, dem kann von dem Schluß seines Dramas nur sehr wenig zweifelhaft sein. Ja, weil der ganze Bau auf das Ende gerichtet ist, mag eine kräftige Begabung eher in die entgegengesetzte Gefahr kommen, das Ende zu früh auszuarbeiten und fertig mit sich herumzutragen; dann mag das Ende mit den feinen Abstufungen, welche das Vorausgegangene während der Ausarbeitung erhält, leicht einmal in Widerspruch kommen. Man empfindet so etwas im Prinzen von Homburg, wo das dem Anfang entsprechende Traumwandeln am Schlusse, welches offenbar dem Dichter sehr fest in der Seele saß, mit dem schönen klaren Ton und der breiten Ausführung des vierten und fünften Aktes durchaus nicht stimmt. Aehnlich im Egmont, wo man den Schluß — Klärchen als befreites Holland in Verklärung — auch für eher geschrieben halten möchte, als die letzte Scene Klärchens im Stück selbst, zu welcher dieser Schluß nicht recht paßt.
Für den Bau der Katastrophe gelten folgende Regeln. Erstens man vermeide jetzt jedes unnütze Wort, und lasse kein Wort, das die Idee des Stückes aus dem Wesen der Charaktere zwanglos erklären kann, ungesagt.
Ferner versage man sich breite scenische Ausführung, man halte das dramatisch Darzustellende kurz, einfach, schmucklos, [S. 122] gebe in Wort und Handlung das Beste und Gedrungenste, fasse die Scenen mit ihren unentbehrlichen Verbindungen in einen kleinen Körper mit rasch pulsirendem Leben zusammen, vermeide, solange die Handlung läuft, neue oder schwierige Bühneneffekte, zumal Massenwirkungen.
Es sind verschiedene Eigenschaften einer Dichternatur, welche bei diesen acht Theilen des Dramas, auf denen sein kunstgerechter Bau ruht, gefordert werden. Eine gute Einleitung und ein reizvolles Moment zu finden, welches die Seele des Helden in Spannung versetzt, ist Sache des Scharfsinns und der Erfahrung. Den Höhenpunkt mächtig herauszutreiben, ist vorzugsweise Sache der dichterischen Kraft; die Schlußkatastrophe gut zu machen, dazu gehört ein männliches Herz und ein hoch überlegener Sinn; die Umkehr aber wirksam zu schaffen, ist am schwersten. Hier kann weder Erfahrung noch poetischer Reichthum, noch weise Klarheit des Dichtergeistes das Gelingen verbürgen, es gehört dazu eine Vereinigung von allen diesen Eigenschaften. Und außerdem ein guter Stoff und einige gute Einfälle, das heißt gutes Glück.
Aus den angeführten Bestandtheilen — entweder allen oder den nothwendigen — ist jedes Kunstdrama alter und neuer Zeit zusammengefügt.
Noch immer übt die Tragödie der Athener ihre Macht auf die Schaffenden der Gegenwart, nicht nur die unvergängliche Schönheit ihres Inhalts, auch die antike Form beeinflußt unsere Dichterarbeiten; die Tragödie des Alterthums hat wesentlich dazu beigetragen, unser Drama von der Bühne des Mittelalters zu scheiden und demselben kunstvolleren Bau und tieferen Inhalt zu geben.
Bevor deshalb die technische Einrichtung in den Tragödien des Sophokles berichtet wird, sollen kurz diejenigen Besonderheiten der antiken Bühne in Erinnerung gebracht werden, welche den Athener — soweit wir darüber ein Urtheil haben — fördernd und einengend bestimmten. Was anderswo bequem zu finden ist, wird hier nur kurz erwähnt.
Die Tragödie der alten Welt erwuchs aus den dithyrambischen Sologesängen mit Chören, welche an den attischen Dionysosfesten des Frühjahrs aufgeführt wurden; allmählich traten die Reden Einzelner zwischen Dithyrambos und Chorgesang und erweiterten sich zu einer Handlung. Die Tragödie behielt von diesen Anfängen den Chor, den Gesang einzelner Hauptrollen in den Augenblicken höchster Bewegung, Wechselgesänge der Schauspieler und des Chors. Es war ein naturgemäßer Verlauf, daß der dramatische Theil der Tragödie größere Herrschaft gewann und den Chor zurückdrängte. In [S. 124] den ältesten Stücken des Aeschylos, den Persern und Hiketiden, sind die Chorgesänge noch bei weitem die Hauptsache. Sie haben eine Schönheit, Größe und eine so mächtige dramatische Bewegung, daß sich ihnen weder in unsern Oratorien noch Opern Vieles an die Seite setzen läßt. Die kurzen Zwischensätze einzelner Personen, welche nicht lyrisch-musikalisch sind, dienen fast nur als Motive, um neue Stimmungen der Solosänger und des Chors hervorzubringen. Aber schon zur Zeit des Euripides trat der Chor in den Hintergrund, sein Zusammenhang mit der ausgebildeten Handlung wurde locker, er sank vom Begleiter und Vertrauten der Hauptpersonen zu einem unwesentlichen Theil des Dramas herab. Chorlieder des einen Dramas wurden für das andere verwendet, sie stellten zuletzt, wie es scheint, nichts weiter vor als Gesang, der die Zwischenakte ausfüllte. Aber das lyrische Element haftete in der Handlung selbst. Großangelegte, breitausgeführte Gefühlsscenen der Darsteller, gesungen und gesprochen, blieben an wichtigen Stellen der Handlung ein unentbehrlicher Bestandtheil der Tragödie. Diese Pathosscenen, der Ruhm des ersten Schauspielers, die Glanzpunkte der antiken Darstellung, enthalten die lyrischen Elemente der Situation in einer Ausführlichkeit, welche wir nicht mehr nachahmen dürften. In ihnen fassen sich die rührenden Wirkungen der Tragödie zusammen. Das langathmige Ausströmen innerer Empfindung hatte für die Zuschauer so großen Reiz, daß diesen Scenen von den schwächeren Dichtern Einheit und Wahrscheinlichkeit der Handlung geopfert wurde. Aber wie schön und voll auch das Gefühl in ihnen tönt, die dramatische Bewegung ist doch nicht groß. Es sind poetische Betrachtungen über die eigene Lage, Flehen zu den Göttern, gefühlvolle Schilderung der eigenthümlichen Verhältnisse. Sie lassen sich am ersten mit den Monologen der Neuzeit vergleichen, obwohl bei ihnen der Chor den theilnehmenden, zuweilen einredenden Hörer darstellt.
Jene Erweiterung der alten dithyrambischen Gesänge, [S. 125] zuerst zu Oratorien, deren Solosänger in der Festkleidung mit einfachem Geberdenspiel auftraten, dann zu Dramen mit ausgebildeter Kunst der Darstellung, wurde durch das Eintreten einer Handlung bewirkt, welche fast ausschließlich aus dem Gebiet der hellenischen Heldensage und des Epos genommen war. Einzelne Versuche der Dichter, dies Stoffgebiet zu erweitern, blieben im Ganzen ohne Erfolg. Schon vor Aeschylos hatte vielleicht einmal ein Oratoriendichter versucht, einen historischen Stoff zu verwerthen, die älteste Tragödie des Aeschylos, welche auf uns gekommen ist, hat ebenfalls einen geschichtlichen Stoff seiner nächsten Vergangenheit benutzt; aber die Griechen hatten damals überhaupt noch keine Geschichtschreibung in unserem Sinne. Auch ein gelungener Versuch, frei erfundene Stoffe auf die Bühne zu führen, hat in der Blüthezeit der griechischen Tragödie nur selten Nachahmung gefunden.
Solche Beschränkung auf ein bestimmtes Stoffgebiet war sowohl ein Segen als ein Verhängniß für die attische Bühne. Sie verengte die dramatischen Situationen und Wirkungen auf einen ziemlich engen Kreis, in welchem die älteren Dichter mit frischer Kraft die höchsten Erfolge erreichten, der die späteren sehr bald veranlaßte, neue Wirkungen auf Seitenpfaden zu suchen, welche den Verfall des Dramas unvermeidlich machten. In der That war zwischen der Welt, aus welcher diese Stoffe genommen waren, und den Lebensbedingungen des Dramas ein innerer Gegensatz, den die höchste Kraft zu besiegen wußte, an dem schon die Begabung des Euripides erkrankte.
Die Gattung der Poesie, welche den Sagenstoff vor Ausbildung des Dramas dem Volke lieb gemacht hatte, behauptete eine Stelle in gewissen Scenen des Dramas. Den Griechen war eine volksthümliche Freude, öffentliche Vorträge, später Vorlesungen epischer Gedichte zu hören. Diese Gewohnheit gab auch der Tragödie längere Berichte über Ereignisse, welche der Handlung wesentlich waren. Und diese nahmen einen [S. 126] größeren Raum ein, als in dem neueren Drama gestattet wäre. Die Erzählung wird für die Bühne mit dramatischer Lebendigkeit ausgestattet. Herolde, Boten, Wahrsager sind stehende Rollen für solche Berichte. Und die Scenen, in denen sie auftreten, haben in der Mehrzahl dieselbe Fügung. Nach kurzer Einführung erzählen die Berichterstatter, dann folgen mehr oder weniger lange gleich gemessene Schlagverse, schnell wechselnde Frage und Antwort, zuletzt wird das Ergebniß ihres Berichtes in kurzen Worten zusammengefaßt. Die Erzählung tritt auch da ein, wo sie uns am auffälligsten ist, in der Katastrophe. Der letzte Ausgang der Helden wird zuweilen nur verkündet.
In anderer Weise wurde die Führung der Scenen beeinflußt durch die große Angelegenheit des attischen Marktes, die Gerichtsverhandlungen. Den Reden der Ankläger und Vertheidiger zu lauschen, war Leidenschaft des Volkes. Die höchst kunstvolle Ausbildung der griechischen Gerichtsreden, aber auch die gekünstelte Weise, mit welcher man Wirkungen hervorzubringen suchte, die feine sophistische Redekunst drang in die attische Bühne ein und bestimmte den Inhalt der Gesprächsscenen. Auch diese Scenen sind im Ganzen betrachtet nach feststehender Vorschrift gebildet. Der erste Schauspieler hält eine kleine Rede, der andere antwortet in Gegenrede von ähnlicher, zuweilen von genau derselben Länge. Dann folgen Schlagverse, etwa vier gegen vier, je zwei gegen zwei, je einer gegen einen, dann fassen vielleicht noch beide Theile ihre Stellung in einer zweiten Rede und Gegenrede zusammen, dann klirren wieder die Schlagverse gegen einander, bis der, welcher Sieger sein soll, seinen Standpunkt kurz noch einmal darlegt. Das letzte Wort, ein geringes Uebergewicht an Versen gibt den Ausschlag. Dieser Bau, zuweilen durch kurze Zwischenreden des Chors gebrochen und gegliedert, hat trotz dem Wechsel von ausgeführter Rede und trotz äußerlicher stark gesteigerter Lebhaftigkeit nicht die höchste dramatische Bewegung, es ist eine [S. 127] rednerische Darlegung des Standpunktes, ein Streit mit spitzfindigen Beweisgründen, für unsere Empfindung zu rednermäßig, berechnet, gekünstelt. Selten wird eine Partei durch die andere überzeugt. Freilich hatte dies noch anderen Grund, denn dem Helden der attischen Bühne wird nicht leicht erlaubt, nach fremder Rede seine Meinung zu ändern. Auch wenn eine dritte Rolle auf der Bühne war, behielten die Dialoge den Charakter eines Zwiegesprächs, rasches und wiederholtes Eingreifen der drei Rollen in einander war selten und vorübergehend; trat die dritte in das Gespräch ein, so zog sich die zweite zurück, dann wurde wohl der Abstich durch eine eingeworfene Chorzeile hervorgehoben. Massenscenen in unserem Sinne kannte die antike Bühne nicht.
In diesen Pathosscenen, Botenscenen, Dialogscenen, den Reden und Verkündigungen amtlicher Personen an den Chor verläuft die Handlung. Rechnet man dazu noch die Peripetien und Erkennungsscenen, so findet man fast den gesammten Inhalt des Stückes nach stehenden handwerksmäßigen Formen geordnet. Und die Begabung der Dichter bewährt sich darin, wie sie diese Formen zu vergeistigen wissen. Am größten ist Sophokles auch deshalb, weil das Feststehende bei ihm am meisten variirt und wie versteckt ist.
In andrer Weise wurde der Bau der Dramen gerichtet durch die eigenthümlichen Verhältnisse, unter denen die Aufführung stattfand. Die attischen Tragödien wurden in der großen Zeit Athens an den Tagen der Dionysosfeste aufgeführt. An diesen Festen kämpfte der Dichter gegen seine Mitbewerber, nicht als Verfasser der Dramen, sondern, wenn er nicht außerdem selbst als Schauspieler auftrat, als Regisseur, Didaskalos. Er war als solcher mit seinen Schauspielern und dem Leiter des Chors zu einer Genossenschaft verbunden. Jedem Dichter gehörte ein Tag, er hatte an diesem Tag vier Stücke, von denen das letzte in der Regel ein Satyrspiel war, vorzuführen. Man kann zweifeln, was erstaunlicher [S. 128] war, die Schöpferkraft der Dichter oder die Ausdauer der Zuschauer. Wenn wir zu der erhaltenen Trilogie des Aeschylos ein Satyrspiel hinzudenken und nach den Erfahrungen unserer Bühne die Dauer einer solchen Aufführung abschätzen, dazu das langsame Zeitmaß des Vortrags einrechnen, welches durch die langen Schallwellen des großen Raumes und durch die scharf markirende Declamation nothwendig wurde, so muß diese Aufführung bei kurzen Unterbrechungen zwischen den Stücken wenigstens neun Stunden gedauert haben; drei Tragödien des Sophokles müssen mit dem Satyrspiel wenigstens zehn Stunden beansprucht haben. [10]
Die drei ernsten Dramen verband in der früheren Zeit eine zusammenhängende Handlung, welche demselben Sagenstoff entnommen war; sie hatten, solange diese alte trilogische Form bestand, das Wesen riesenhafter Akte, deren jeder einen Theil der Handlung zum Abschluß brachte. Auch als Sophokles dies Herkommen durchbrochen hatte und drei selbständige, abgeschlossene Dramen hintereinander zum Wettkampf stellte, standen die Stücke zuverlässig in innerer Beziehung. Wie weit durch bedeutsame Zusammenstellung der Ideen und Handlungen, durch Parallelismus und Abstich der Situationen eine Verstärkung der Gesammtwirkung erreicht wurde, vermögen wir nicht mehr zu übersehen; aber aus dem Wesen aller dramatischen Darstellung folgt, daß der Dichter eine Steigerung [S. 129] und eine gewisse Gesammtheit der damals möglichen Wirkungen erstrebt haben muß. [11]
Und wie die Zuschauer in der gehobenen Stimmung des heiligen Frühlingsfestes vor der Bühne saßen, so waren auch die Hauptdarsteller in eine Festtracht gekleidet. Die Tracht der einzelnen Rollen war herkömmlich nach dem Festbrauch genau vorgeschrieben, die Schauspieler trugen die Maske mit Schallloch am Munde, den hohen Kothurn am Fuß, den Leib gepolstert und durch lange Gewänder staffirt. Ebenso waren die beiden Seiten der Bühne und die drei Thüren des Hintergrundes, aus denen die Schauspieler auftraten und durch welche sie abgingen, bedeutsam für die Geltung derselben im Stück.
Der Dichter kämpfte aber an seinem Theatertage durch vier Dramen mit denselben Schauspielern, welche Preiskämpfer [S. 130] hießen. Die älteren attischen Oratorien hatten nur einen Schauspieler, der in verschiedenen Rollen mit wechselnder Tracht auftrat, Aeschylos hatte den zweiten, Sophokles den dritten zugefügt. Ueber die Dreizahl der Solospieler kam das attische Theater in seiner Blüthezeit nicht hinaus. Diese Beschränkung in der Zahl der Darsteller hat mehr als irgend ein anderer Umstand die Technik der griechischen Tragödien bestimmt. Es war aber keine Beschränkung, welche entschlossener Wille hätte beseitigen können. Nicht nur äußere Gründe hinderten ein Weitergehen: alte Ueberlieferung, der Antheil, welchen der Staat bei den Aufführungen beanspruchte, sondern vielleicht nicht weniger der Umstand, daß der ungeheure offene Raum des Theaters an der Akropolis, welcher dreißigtausend Menschen faßte, ein Metall der Stimme und eine Zucht der Sprache forderte, welche sicher sehr selten waren. Dazu kam noch, daß wenigstens zwei der Schauspieler, der erste und zweite, auch fertige Sänger sein mußten, und zwar vor einem feinohrigen und verwöhnten Publikum.
Der erste Schauspieler des Sophokles hatte dann in etwa zehnstündiger Anspannung an 1600 Verse auszugeben, darunter wenigstens sechs größere und kleinere Gesangstücke. [12]
Diese Aufgabe wäre groß, aber sie ist uns nicht unbegreiflich. Eine der stärksten Rollen unserer Bühne ist Richard III. ; diese umfaßt im gedruckten Text an 1128 Verse, von denen freilich mehr als 200 gestrichen werden. Unsere Verse sind etwas kürzer, kein Gesang, die Kleidung weit bequemer, die Anstrengung der Stimme von anderer Art, im Vergleich beträchtlich geringer; die Anspannung durch das Geberdenspiel dagegen unvergleichlich größer, im Ganzen die schöpferische Arbeit des Augenblicks bedeutender, es ist eine sehr verschiedene Art der Nervenspannung. Unseren Schauspielern würde nicht der Umfang der antiken Aufgabe als unbesiegbar erscheinen, sondern gerade das, was sich dem Unkundigen als eine Erleichterung darstellt, das Hinziehen der Arbeit durch zehn Stunden. Und wenn sie gegenüber der Schauspielkunst des Alterthums mit Recht geltend machen dürfen, daß ihre heutige Aufgabe eine höhere ist, weil sie nicht nur mit der Stimme, auch mit Antlitz und Geberde frei zu schaffen haben, so mögen sie auch nicht vergessen, daß die Dürftigkeit der griechischen Mimik, welche durch Masken und herkömmliche Bewegungen und Stellungen beschränkt blieb, wieder Ergänzung fand in einer merkwürdig feinen Ausbildung der dramatischen Sprechweise. Alte Zeugnisse belehren uns, daß ein falscher Ton, ein unrichtiger Accent, ein Hiatus im Verse dem Schauspieler allgemeinen Unwillen der Hörer aufregen und den Sieg entreißen konnte, daß der große Schauspieler leidenschaftlich bewundert wurde, und daß die Athener über seiner Kunst wohl einmal Politik und Kriegführung vernachlässigten. Man [S. 132] darf also die selbständige Arbeit des hellenischen Künstlers durchaus nicht niedrig anschlagen, wenn wir auch nicht wissen, wie seine Seele in dem herkömmlichen Tonfall der dramatischen Rede schöpferisch arbeitete.
Unter diese drei Schauspieler wurden sämmtliche Rollen der drei Tragödien und des Satyrspiels vertheilt. In jedem Stück hatte der Schauspieler, außer seiner Hauptrolle, in der er — der Regel nach — das Festkleid trug, noch die Nebenpartien, welche seinem Charakter entsprachen oder für die er gerade entbehrt werden konnte. Aber auch nicht einmal dabei war dem Dichter jede Freiheit gelassen.
Die Persönlichkeit des Schauspielers wurde auf der Bühne von den Zuschauern nicht so sehr über seinen Rollen vergessen, als bei uns der Fall ist. Er blieb in der Empfindung der Athener trotz seinen verschiedenen Masken und Anzügen immer mehr der gemüthvoll Vortragende, als der Spieler, welcher sein Wesen in dem Charakter seiner Rollen völlig zu bergen sucht. Und nach dieser Richtung stand die antike Aufführung auch zur Zeit des Sophokles einem Oratorium oder der Vorlesung eines Stückes mit vertheilten Rollen fast näher, als unseren Aufführungen. Das ist ein wichtiger Umstand. Die Wirkungen der Tragödien wurden dadurch nicht beeinträchtigt, aber doch anders gefärbt.
Der erste Schauspieler wurde deshalb auch auf der Bühne bedeutsam hervorgehoben, ihm gehörte für Eintritt und Abgang die Mittelthür des Hintergrundes, die „königliche”. Er spielte die vornehmsten Personen und die stärksten Charaktere; es wäre gegen die Würde seines Rollenfachs gewesen, Jemanden auf der Bühne darzustellen, der sich von einer anderen Person des Stückes — die Götter ausgenommen — beeinflussen und leiten ließ; er vorzugsweise war der Pathosspieler, der Sänger und Held, natürlich für Männer- und Frauenrollen, nur seine Rolle gab dem Stück den Namen, im Fall sie die Handlung beherrschte, sonst wurde der Name des Stückes von Tracht und [S. 133] Charakter des Chors geholt. Neben ihn trat der „zweite Kämpfer” als sein Begleiter und Genosse, ihm gegenüber stand der dritte, weniger geachtete Schauspieler als Charakterspieler, Intrigant, Vertreter des Gegenspiels.
Diese Stellung der drei Darsteller wurde bei Verfertigung und Vertheilung der Rollen von Sophokles festgehalten. Sie waren für seine Stücke der Hauptheld, der Genosse, der Gegenspieler. Aber auch die Nebenrollen, welche jeder von ihnen neben der seiner Stellung entsprechenden Hauptrolle im Stück übernehmen mußte, wurden, so weit das irgend möglich war, nach den Beziehungen vertheilt, die sie zu der Rolle des Haupthelden hatten. Die Vertreter und Gesinnungsgenossen des ersten Helden erhielt er selbst, die Freunde, Zugehörigen soviel möglich der zweite Schauspieler, die fremden, feindlichen, widerstrebenden Partien der Gegenspieler, außerdem freilich mit dem zweiten zuweilen Aushilfsrollen.
Daraus ergab sich eine merkwürdige Art von Bühnenwirkungen, welche wir unkünstlerisch nennen möchten, die aber für den Dichter der attischen Bühne nicht geringe Bedeutung hatten. Die nächste Aufgabe der Schauspieler war nämlich allerdings, jede ihrer Rollen in demselben Stück durch verschiedene Masken zu bezeichnen und durch veränderte Stimmlage, durch Verschiedenheit in Vortrag und Geberden auszuzeichnen. Und wir erkennen, daß auch hier viel Gewohnheitsmäßiges und Festgesetztes war, z. B. im Aufzug und Vortrag der Boten, in Schritt, Haltung, Geberde der jungen und älteren Frauen. Aber eine zweite Eigenthümlichkeit dieser feststehenden Rollenvertheilung war, daß die Stetigkeit des Darstellers bei seinen einzelnen Partien durchschien und als etwas Gehöriges und Wirksames auch vom Hörer empfunden ward. Der Darsteller wurde auf der attischen Bühne zu einer idealen Einheit, welche ihre Rollen zusammenhielt; über der Täuschung, daß verschiedene Menschen sprächen, blieb dem Hörer die Empfindung, daß sie im Grunde ein und derselbe waren. Und diesen Umstand [S. 134] benutzte der Dichter zu besondern dramatischen Wirkungen. Wenn die Antigone zum Tode abgeführt war, klang aus den Drohworten des Teiresias an Kreon hinter der veränderten Tonlage dieselbe bewegte Menschenseele heraus, und derselbe Klang, dasselbe geistige Wesen rührte in den Worten des Exangelos, welcher das traurige Ende der Antigone und des Hämon berichtete, wieder das Gemüth der Hörer. Antigone kehrte, auch als sie zum Tode abgegangen war, immer wieder auf die Bühne zurück. Dadurch entstand bei der Aufführung zuweilen eine Steigerung der tragischen Wirkungen, wo wir beim Lesen einen Abfall bemerken. Wenn in der Elektra derselbe Schauspieler den Orest und die Klytämnestra, Sohn und Mutter, den Mörder und die zu Mordende darstellte, so mahnte der Gleichklang der Stimme den Hörer an das gemeinsame Blut, dieselbe kalte Entschlossenheit und schneidende Schärfe des Tons (es waren Rollen des dritten Schauspielers) an die innere Verwandtschaft der beiden Naturen; aber diese Einheit mäßigte vielleicht auch den Schauder, den die furchtbare Handlung hervorbrachte. Wenn im Aias der Held des Stückes sich schon auf dem Höhenpunkt tötete, so war das unzweifelhaft auch in den Augen der Griechen eine Gefahr des Stoffes, weil dieser Umstand ihnen in diesem Fall nicht die Einheit der Handlung verringerte, wohl aber das Gewicht zu sehr nach dem Anfang verlegte. Wenn nun aber unmittelbar darauf aus der Maske des Teukros dasselbe ehrliche, treuherzige Wesen heraustönte, nur jugendlicher, frischer, ungebrochen, so fühlte der Athener nicht nur mit Behagen die Blutsverwandtschaft heraus, auch die Seele des Aias nahm lebendig Theil an dem fortgesetzten Kampf um sein Grab. Besonders liebenswürdig ist die Weise, wie Sophokles — allerdings nicht er allein — diese Wirkung benutzt, um den Untergang einer Hauptperson, welcher nur berichtet werden kann, in der Katastrophe ergreifend darzustellen. In jedem der vier Stücke, welche die sehr ausgezeichnete Rolle eines Boten der Katastrophe (in den [S. 135] Trachinierinnen die Amme) enthalten, ist der Darsteller desjenigen Helden, dessen Untergang berichtet wird, selbst wieder der Bote, welcher die rührenden Umstände des Todes erzählt, zuweilen in wundervoll belebter Rede; dem Athener tönte in solchem Fall die Stimme des Geschiedenen noch aus dem Hades herauf in die Seele; so die Stimme der Iokaste, des Oedipus auf Kolonos, der Antigone, der Deianeira. Am eigenthümlichsten aber ist im Philoktetes die Wiederkehr desselben Schauspielers in verschiedenen Rollen für die dramatische Wirkung verwerthet, es wird später davon die Rede sein. [13]
Solche Verstärkung des Effekts durch eine Verminderung der scenischen Täuschung ist uns fremdartig, aber nicht unerhört. An dem Darstellen der Frauenrollen durch Männer — welches Goethe in Rom sah — hängt eine ähnliche Wirkung.
Diese Eigenthümlichkeit der attischen Bühne gab dem Dichter einige Rechte im Aufbau der Handlung, die wir nicht mehr gestatten. Der erste Held konnte in seiner Hauptrolle für längere Theile des Stückes entbehrt werden, wie Antigone und Aias. Wenn in den Trachinierinnen der Hauptheld Herakles gar erst in der letzten Scene auftritt, so ist er doch in seinen Vertretern von Anfang an wirksam gewesen. Die Dienerin des Prologs, welche auf den abwesenden Herakles hinweist, sein Herold Lichas, der von ihm erzählt, sprechen mit der gedämpften Stimme des Helden.
[S. 137] Und dieses Zurücktreten des Haupthelden war den alten Dichtern häufig als kluge Aushilfe nöthig, um die Schonung zu verdecken, welche vor andern der erste Schauspieler für sich fordern mußte. Die fast übermenschliche Anstrengung einer dramatischen Tagesleistung konnte nur dann ertragen werden, wenn nicht derselbe Darsteller in jeder der drei Tagestragödien die längste und angreifendste Rollengruppe hatte. Hauptrolle blieb den Griechen zwar immer die des Protagonisten, der die Würde und das Pathos hatte, auch wenn vielleicht dieser anstrengenden Partie nur eine Scene gegeben war. Aber der Dichter war gezwungen, das, was wir Hauptrolle nennen, die umfangreichste Partie, in einzelnen Stücken des Festtages dem zweiten oder dritten Schauspieler zu geben [14] ; denn er mußte bedacht sein, die Verszahl der drei Tragödien möglichst gleichmäßig unter seine drei Kämpfer zu vertheilen.
Die erhaltenen Tragödien des Sophokles unterscheiden sich aber durch die Beschaffenheit ihrer Handlung noch mehr als durch ihren Bau von dem Drama der Germanen. Das Theilstück der Sage, welches Sophokles für seine Handlung verwendet, hat eigenthümliche Voraussetzungen. Sein Drama stellt, im Ganzen betrachtet, die Wiederherstellung einer bereits gestörten Ordnung dar, Rache, Sühne, Ausgleichung; die Voraussetzung desselben ist also die ärgste Störung, Verwirrung, Missethat. Das Drama der Germanen hat zu seiner Voraussetzung, im Ganzen betrachtet, eine gewisse, wenn auch ungenügende Ordnung und Ruhe, gegen welche sich die Person des Helden erhebt, Störung, Verwirrung, Missethat hervorbringend, bis er durch die gegenstrebenden Gewalten gebändigt und eine neue Ordnung hergestellt wird. Die Handlung des Sophokles beginnt also etwa nach dem Höhenpunkte unserer Stücke. Einer hat in Unwissenheit den Vater erschlagen, die [S. 138] Mutter geheiratet, das ist Voraussetzung; wie dies vorausgegangene Unheil an ihm zu Tage kommt, ist das Stück. Eine hofft auf den jungen Bruder in der Fremde, daß er den getöteten Vater an der bösen Mutter räche; wie sie trauert und hofft, durch falsche Nachricht von seinem Tode erschreckt, durch seine Ankunft beglückt wird und die That der Rache empfindet, das ist das Stück. Alles, was von Unglück, Frevel, Schuld der ungeheuren Rache vorausging, ja die Rachethat selbst wird dargestellt durch die Reflexe, welche in die Seele einer Frau fallen, der Schwester des Rächers, Tochter des Gemordeten und der Mörderin. Ein unglücklicher Fürst, aus seiner Heimat vertrieben, theilt der gastfreien Stadt, welche ihn aufnimmt, dankbar den geheimnißvollen Segen zu, welcher nach Götterspruch an seiner Grabstätte hängt. Eine Jungfrau beerdigt gegen den Befehl des Fürsten den Bruder, der im Felde erschlagen liegt, sie wird deshalb zum Tode verurtheilt und zieht Sohn und Gattin des harten Richters mit sich in den Tod. Einem umherschweifenden Helden wird von der Gattin, welche von seiner Treulosigkeit hört und seine Liebe wiedergewinnen will, ein Zaubergewand in die Fremde gesendet, das ihm den Leib verbrennt. Aus Schmerz darüber tötet sich die Frau, er läßt sich durch Feuer verzehren. [15] Ein Held, der im Wahnsinn erbeutete Heerden statt der gehaßten Fürsten seines Volkes erschlagen hat, tötet sich aus Scham, seine Genossen setzen ihm ein ehrliches Begräbniß durch. Ein Held, der wegen widerwärtiger Krankheit von seinem Heere auf eine menschenleere Insel ausgesetzt ist, wird, weil ein Götterspruch zum Heil des Heeres seine Rückkehr fordert, durch die Verhaßten, welche ihn aussetzten, zurückgeholt. — Immer ist, was dem Stücke vorausgeht, ein [S. 139] großer Theil dessen, was wir in die Handlung einschließen müßten. [16]
Aber wenn uns von sieben erhaltenen Stücken des Sophokles auf mehr als hundert verlorene ein vorsichtiges Urtheil erlaubt ist, scheint diese Behandlung der Mythen auch bei den Griechen nicht allgemein, sondern für Sophokles bezeichnend zu sein. Daß Aeschylos in seinen Trilogien größere Theilstücke der Sage: Unrecht, Verwicklung, Lösung, verwerthete, erkennen wir deutlich. Bei Euripides wenigstens, daß er zuweilen über die abschließenden Endstücke der Sage hinausging oder das Vorausgegangene mit mehr Behagen als Kunst in epischem Prologe berichtete. In seinen beiden besten Stücken, dem Hippolytos und der Medea, ist die Handlung auf Voraussetzungen gebaut, die auch bei neueren Stücken möglich wären.
Diese Anordnung der Handlung bei Sophokles gestattete nicht nur die größte Aufregung leidenschaftlicher Empfindung, auch eine feste Charakterfügung; aber sie schloß dennoch zahlreiche innere Wandlungen aus, welche unseren Stücken unentbehrlich sind. Wie die ungeheuren Voraussetzungen auf die Helden wirken, das vermochte er mit unerreichter Meisterschaft darzustellen, aber es waren gegebene, höchst ungewöhnliche Zustände, durch welche die Helden beeinflußt wurden. Die geheimen und reizvollen Kämpfe des Innern, welche von einer verhältnißmäßigen Ruhe bis zur Leidenschaft und zu einem Thun treiben, Zweifel und Regungen des Gewissens, und wieder die Umänderungen, welche in Empfindung und Charakter durch ein ungeheures Thun an dem Helden selbst hervorgebracht werden, erlaubt die Bühne des Sophokles nicht darzustellen. Wie Jemand nach und nach etwas Fürchterliches [S. 140] erfuhr, wie er sich benahm, nachdem er einen verhängnißvollen Entschluß gefaßt hatte, das lockte zur Schilderung; wie er aber um den Entschluß kämpfte, wie das ungeheure Schicksal, das auf ihn eindrang, durch sein eigenes Thun bereitet wurde, das war, so scheint es, für die Bühne des Sophokles nicht dramatisch. Euripides ist darin beweglicher und uns ähnlicher, aber in den Augen seiner Zeitgenossen war das kein unbedingter Vorzug. — Einer der entschlossensten Charaktere unserer Bühne ist Macbeth; aber man kann wohl sagen, er wäre den Athenern vor der Scene durchaus unerträglich, schwächlich, unheldenhaft gewesen. Was uns als das Menschlichste in ihm erscheint, und was wir als die größte Kunst des Dichters bewundern, sein gewaltiges Ringen um die That, der Zweifel, die Gewissensbisse, das war dem tragischen Helden der Griechen gar nicht gestattet. Die Griechen waren sehr empfindlich gegen Schwankungen des Willens; die Größe ihrer Helden bestand vor allem in Festigkeit. Der erste Schauspieler hätte schwerlich einen Charakter dargestellt, der sich durch andere Personen des Stückes in irgend einer Hauptsache leiten läßt. Jedes Umstimmen der Hauptpersonen auch in Nebensachen mußte vorsichtig motivirt und entschuldigt werden. Oedipus weigert sich seinen Sohn zu sehen, Theseus macht ihm vergebens ernste Vorstellungen über seine Hartnäckigkeit, Antigone muß erst den Zuschauern erklären: Anhören ist ja nicht Nachgeben. Wäre Philoktetes dem verständigen Zureden des zweiten Schauspielers gewichen, er wäre gänzlich in der Achtung der Hörer gesunken, er wäre nicht mehr der starke Held gewesen; Neoptolemos ändert allerdings seine Stellung zum Philoktetes, und das Publikum war höchlich dafür erwärmt worden, daß er es doch that, aber das war nur Rückkehr zu seinem eigentlichen Wesen und er war auch nur zweiter Schauspieler. Wir sind geneigt, den Kreon der Antigone als eine dankbare Rolle zu betrachten, den Griechen war er nur eine Rolle dritten Ranges; dem Charakter fehlt die Berechtigung [S. 141] zum Pathos. Gerade der Zug, welcher ihn unserer Empfindung nahe stellt, daß er durch den Teiresias gründlich erschüttert und umgestimmt wird, — jenes Kunstmittel des Dichters, eine neue Spannung in die Handlung zu bringen, — das verminderte den Griechen die Theilnahme an dem Charakter. Und daß derselbe Zug in der Familie und dem Stücke noch einmal vorkommt, daß auch Hämon nach dem Berichte des Boten zuerst den Vater töten will, dann aber sich selbst ermordet — für uns ebenfalls ein sehr bezeichnender und menschlicher Zug —, das scheint der attischen Kritik sogar einen Vorwurf gegen den Dichter begründet zu haben, der so unwürdiges Schwanken zweimal in der Tragödie vorführte. — Wo einmal eine Ueberführung des einen Charakters zu der Ansicht des andern durchgesetzt wird, da geht sie — außer in der Katastrophe des Aias — kaum während der Scene selbst vor sich, in welcher die Parteien gegen einander mit langen und kurzen Versreihen fechten, sondern die Umwandlung wird gern hinter die Scene verlegt, der Beeinflußte tritt dann umgestimmt in die neue Situation.
Der Kampf des griechischen Helden war ein egoistischer, seine Zwecke mit seinem Leben beendigt. Dem Helden der Germanen ist die Stellung zum Schicksal auch deshalb eine andere, weil ihm der Zweck seines Daseins, der sittliche Inhalt, sein ideales Empfinden weit über das Leben selbst hinausreicht: Liebe, Ehre, Patriotismus. Der Zuhörer bei den Germanen bringt die Vorstellung mit, daß die Helden der Bühne nicht nur um ihrer selbst willen da sind, ja nicht einmal vorzugsweise, sondern daß gerade sie mit ihrer freien Selbstbestimmung höheren Zwecken zu dienen haben, mag man dies Höhere, über ihnen Stehende als Vorsehung und Weltordnung, als bürgerliche Gesellschaft, als Staat auffassen. Die Vernichtung ihres Lebens ist nicht mehr in der Weise Untergang, wie in der alten Tragödie. Im Oedipus auf Kolonos ergriff die Athener die Größe des Inhalts mächtig; sie empfanden hier [S. 142] einmal lebhaft die Humanität eines Lebens, welches über das Dasein hinaus, und zwar durch seinen Tod dem Gemeinwesen einen hohen Dienst erwies. Eben daher stammt die große Schlußwirkung der Eumeniden. Auch hier wurde Schicksal und Leiden des Einzelnen zum Segen für das Allgemeine gewendet. Daß die größten Unglücklichen der Sage, Oedipus und Orestes, für ihre Unthat eine so hohe Sühne geben, das erschien den Griechen als eine neue und höchst edle Verwerthung des Menschen auf der Bühne, die nicht ihrem Leben, aber ihrer Kunst fremd war. Uns Moderne läßt die undramatische Steigerung des Mitgefühls durch praktische, dem Vaterland nutzbringende Schlußergebnisse kalt. Aber es ist immerhin lehrreich, daß die beiden größten dramatischen Dichter der Hellenen einmal das Leben ihrer Helden in die Weltanschauung erhoben, in welcher wir selbst zu athmen und die Helden unserer Bühne zu sehen gewohnt sind.
Wie Sophokles seine Charaktere und Situationen unter solchem Zwange bildete, ist sehr merkwürdig. Sein Gefühl für die Contraste wirkte mit der Stärke einer Naturkraft, welcher er selbst fast nicht Widerstand leisten konnte. Man betrachte noch einmal die harte schadenfrohe Athene im Aias. Sie ist durch den Gegensatz zu dem menschlichen Odysseus hervorgerufen und zeigt die geforderte Gegenfarbe mit einer rücksichtslosen Schärfe, bei welcher die Göttin allerdings zu kurz kommt, weil sie die dem Menelaos ähnliche Schattirung ihres Wesens mit ihrer Göttlichkeit verständig erklären will. Dasselbe Stück gibt in jeder Scene guten Einblick in die Art und Weise seines Schaffens, welche so naturwüchsig und dabei doch so aller Wirkungen mächtig und so mühelos souverän ist, daß wir wohl begreifen, wenn die Griechen etwas Göttliches darin empfanden. Eine Stimmung fordert hier überall die andere, ein Charakter den andern, genau, rein, sicher treibt jede Farbe, jede Melodie die entsprechende andere hervor. Mittelpunkt des Stückes ist die Stimmung des Aias nach dem Er [S. 143] wachen. Wie edel und menschlich empfindet der Dichter das Wesen des Mannes unter den abenteuerlichen Voraussetzungen des Stückes! Der warmherzige, ehrliche, heißköpfige Held, der veredelte Berlichingen des Hellenenheers, ist einigemal knorrig gegen die Götter gewesen, da ist das Unglück über ihn gekommen. Die erschütternde Verzweiflung einer großartigen Natur, welche durch Schmach und Scham gebrochen wird, die rührende Verhüllung seines Entschlusses zu sterben und das gehaltene Pathos eines Kriegers, der aus freiem Entschluß seine letzte That thut, das waren die drei Bewegungen im Charakter des ersten Helden, die dem Dichter die drei großen Scenen und die Forderungen für das ganze Stück gaben. Zuerst als Gegensatz im Prolog das Bild des Aias selbst. Hier ist er noch Unmensch unter den getöteten Thieren, starr wie im Halbschlaf. Es ist der gegebene Gegensatz zu dem erwachten Helden, zugleich die höchste Klugheit. Die Situation war auf der Bühne ebenso lächerlich als unheimlich, der Dichter hütete sich wohl, etwas Anderes aus ihr machen zu wollen. Beide Gegenspieler mußten sich ihrem herabziehenden Zwange fügen. Odysseus erhielt einen leisen Anflug von diesem Lächerlichen, und Athene die kalte höhnende Härte. Es ist genau die richtige Farbe, welche das Dargestellte forderte, ein Gegensatz mit der rücksichtslosen Strenge ausgebildet, die nicht durch kalte Berechnung, nicht durch unbewußtes Gefühl, sondern geschaffen war, wie ein großer Dichter schafft, mit einer gewissen Naturnothwendigkeit und doch mit freiem Bewußtsein.
In derselben Abhängigkeit vom Haupthelden sind die sämmtlichen Rollen des Stückes gebildet, nach den Bedingungen, unter denen der Grieche für die drei Schauspieler schuf: als Mitspieler, Nebenspieler, Gegenspieler. Zunächst das andere Ich des Aias, der treue, pflichtvolle Bruder Teukros, dann die zweiten Rollen, sein Weib, die Beute seines Speeres, Tekmessa, liebend, besorgt, die aber wohl versteht, dem Helden entgegen zu treten, und sein freundlicher Gegner Odysseus; [S. 144] endlich die Feinde, wieder drei Abstufungen des Hasses: die Göttin, der feindliche Parteimann und der klügere Bruder desselben, dem der Haß durch Rücksichten der Staatsklugheit gebändigt wird. Wenn in der letzten Scene der Gegenspieler und der feindliche Freund des Helden sich über das Grab vertrugen, so erkannte der Athener aus dem Vertrag, den sie schlossen, sehr bestimmt den Gegensatz zu der Eröffnungsscene, wo dieselben Stimmen gegen den Wahnsinnigen Partei genommen hatten.
Auch innerhalb der einzelnen Charaktere des Sophokles ist die ungewöhnliche Reinheit und Kraft seines Harmoniegefühls, und dieselbe Art des Schaffens in Gegensätzen bewundernswerth. Er empfand hier wieder sicher und ohne fehlzugreifen, was an ihnen wirksam sein konnte, und was ihm nicht gestattet war. Die Helden des Epos und der Sage sträuben sich heftig gegen die Verwandlung in dramatische Charaktere, sie vertragen nur ein gewisses Maß von innerem Leben und menschlicher Freiheit; wer ihnen mehr verleihen will, dem zerreißen sie das lockere Gewebe ihrer — auf der Bühne barbarischen — Mythe in unbrauchbare Fetzen. Der weise Dichter der Athener erkennt sehr wohl die innere Härte und Unbildsamkeit der Gestalten, welche er in Charaktere umzuformen hat. Deshalb nimmt er so wenig als möglich von der Sage selbst in sein Drama auf. Er findet aber einen sehr einfachen und sehr verständlichen Grundzug ihres Wesens, wie ihn seine Handlung braucht, und läßt sie diese eine Charaktereigenschaft mit einer ausgezeichneten Strenge und Folgerichtigkeit immer wieder geltend machen. Dieser bestimmende Zug ist stets ein zum Thun treibender: Stolz, Haß, Gattenliebe, Pflichtgefühl, Amtseifer. Und der Dichter führt seine Charaktere keineswegs als ein milder Gebieter, er muthet ihnen nach ihrer Richtung das Kühnste und Aeußerste zu, ja er ist so schneidend hart und erbarmungslos, daß uns weicheren Menschen über die furchtbare Einseitigkeit, in welcher er sie [S. 145] dahinschreiten läßt, vielleicht einmal Entsetzen ankommt, und daß auch die Athener solche Wirkungen mit dem Anpacken des Molosserhundes verglichen. Die trotzige Geschwisterliebe der Antigone, der tötlich gekränkte Stolz des Aias, die Verbitterung des gequälten Philoktetes, der Haß der Elektra werden in herber und gesteigerter Größe herausgetrieben und in den tötlichen Kampf gestellt.
Aber gegenüber dieser Grundlage der Charaktere empfindet er wieder mit wundervoller Schönheit und Sicherheit gerade die entsprechende milde und freundliche Eigenschaft, welche seinen Charakteren bei ihrer besonderen Härte möglich ist. Wieder tritt dieser Gegensatz mit der Kraft einer geforderten Gegenfarbe in den Helden heraus, und diese zweite und entgegengesetzte Eigenschaft seiner Personen, — fast immer die weiche, herzliche, rührende Seite ihres Wesens: Liebe neben Haß, Freundestreue neben Feindseligkeit, ehrliche Biederkeit neben jähem Zornmuth — ist mit der höchsten Poesie und dem schönsten Farbenglanz geschmückt. Aias, der seine Feinde mit wahnsinnigem Hasse schlachten wollte, zeigt eine ungewöhnliche Stärke des Familiengefühls, treuherzige, tief innige Liebe zu seinen Genossen, dem entfernten Bruder, dem Kinde, der Gattin; Elektra, welche fast nur von dem Haß gegen ihre Mutter lebt, hängt sich mit den weichsten Lauten der Zärtlichkeit an den Hals des ersehnten Bruders; der gequälte, in gräulichem Schmerz schreiende Philoktetes, der das Schwert verlangt sich selbst die Knochen zu zerhauen, blickt so hilflos, dankbar und ergeben zu dem menschenfreundlichen Jüngling auf, der das widerwärtige Leiden ansehen kann, ohne sein Grauen zu offenbaren. — Nur die Hauptcharaktere zeigen diese Entfaltung ihrer kräftig empfundenen Einheit in zwei entgegengesetzten Richtungen, die Nebenpersonen weisen in der Regel nur die geforderte Ergänzungsfarbe auf: Kreon dreimal, Odysseus zweimal, beide in jedem ihrer Stücke anders abgeschattet, Ismene, Theseus, Orestes.
[S. 146] Solche Vereinigung zweier Contrastfarben in einem Hauptcharakter war dem Griechen nur möglich, weil er ein großer Dichter und Menschenkenner war, das heißt, weil seine schaffende Seele deutlich die tiefsten Wurzeln eines menschlichen Daseins empfand, aus welchen die beiden gegenüberstehenden Blätter seiner Charaktere herauswuchsen. Und diese sichere Anschauung von dem Kern jedes Menschenlebens, die höchste Dichtereigenschaft ist es, welche bewirkt, daß das einfache Heraustreiben zweier entgegengesetzter Farben in dem Charakter den schönen Schein des Reichthums, der Fülle und Rundung hervorbringt. Es ist eine bezaubernde Täuschung, in welcher er seine Zuhörer zu erhalten weiß, sie gibt seinen Bildern genau die Art von Leben, welche in seinen Stoffen auf der Bühne möglich war. Bei uns zeigen die Charaktere großer Dichter weit kunstvollere Bildung als jene antiken, welche so einfach Blatt gegen Blatt aus der Wurzel heraufgeschossen sind; Romeo, Hamlet, Faust und Wallenstein können nicht auf so einfache Urform zurückgeführt werden. Und sie sind allerdings die Erzeugnisse einer höheren Entwicklungsstufe der Menschheit. Aber deshalb sind die Gestalten des Sophokles durchaus nicht weniger bewundernswerth und fesselnd. Denn er weiß ihre einfache Anlage mit einem Adel der Gesinnung und in einer Schönheit und Größe der Umrisse zu bilden, die schon im Alterthum Staunen erregten. Nirgend fehlt an Hauptcharakteren und Nebenfiguren Hoheit und Gewalt, überall empfindet man aus ihrer Haltung die Einsicht und unumschränkte Herrschermacht einer großen Dichternatur.
Aeschylos setzte in die Charaktere der Bühne einen charakteristischen Zug, der ihre Eigenart verständlich macht, in Prometheus, Klytämnestra, Agamemnon; Sophokles vertiefte seine großen Rollen, indem er ihnen zwei scheinbar entgegengesetzte, in Wahrheit einander fordernde und ergänzende Eigenschaften zutheilte; als Euripides weiter ging und die Wirklichkeit nachahmend Bilder schuf, welche lebenden Menschen glichen, zerfuhr [S. 147] und verkrauste sich ihm die Faser des alten Stoffes, wie im Sonnenlicht das gefärbte Zeug der Deianeira.
Dieselbe Freudigkeit und das sichere Empfinden der Gegensätze läßt den Dichter Sophokles auch die Schwierigkeit überwinden, welche gerade seine Auswahl der Mythen bereitete. Die zahlreichen und ungeheuren Voraussetzungen, welche seine Handlung hat, scheinen einer kräftigen Aktion, die von dem Helden selbst ausgeht, besonders ungünstig. In den letzten Stunden ihres Schicksals sind, so scheint es, die Helden fast immer leidende, nicht frei waltende. Aber je größeren Druck von außen ihnen der Dichter auflegt, desto höher wird die Kraft, mit welcher er sie dagegen stemmt. Auch wo bereits in der ersten aufsteigenden Hälfte des Stückes Schicksal oder fremde Gewalt an dem Helden handelt, steht dieser nicht aufnehmend, sondern stößt mit größtem Nachdruck sein Wesen dagegen; er wird im Grunde allerdings getrieben, aber er scheint in ausgezeichneter Weise der Treibende, so König Oedipus, Elektra, selbst Philoktetes, sämmtlich thatkräftige Naturen, welche zürnen, drängen, steigern. Wenn Jemand in einer dem Drama gefährlichen Vertheidigungsstellung stand, so war es der arme König Oedipus. Man sehe zu, wie Sophokles ihn bis zum Höhenpunkt in wachsender Aufregung als gegenkämpfend darstellt; je unheimlicher dem König selbst seine Sache wird, desto heftiger schlägt er auf seine Umgebung.
Dies sind einige der Bedingungen, unter denen der Dichter seine Handlung schuf. Wenn auch die Stücke des Sophokles mit den Chören ungefähr dieselbe Zeit in Anspruch nahmen, welche in mittlerem Durchschnitt unsere Dramen fordern, so ist doch die Handlung weit kürzer als die unsere. Denn ganz abgesehen von dem Chor, von den lyrischen und epischen Einsätzen, ist die ganze Anlage der Scenen größer und im Ganzen breiter; die Handlung würde nach unserer Art zu arbeiten kaum die Hälfte eines Theaterabends füllen. Die Uebergänge zur folgenden Scene sind kurz, aber genau motivirt, Abgehen [S. 148] und Auftreten neuer Rollen wird erklärt, kleine Verbindungsglieder zwischen ausgeführten Scenen sind selten. Die Zahl der Einschnitte stand nicht fest, erst in der spätern Zeit der antiken Tragödie wurde die Fünfzahl der Akte festgehalten. Die einzelnen Glieder der Handlung waren durch Chorgesänge geschieden, jeder solche Theil, der in der Regel einer unserer ausgeführten Scenen entspricht, setzte sich in seinem Inhalt von dem Vorhergehenden ab, nicht so scharf als unsere Akte. Es scheint fast, daß die einzelnen Stücke des Tages — nicht die Theile eines Stückes — durch einen heraufgezogenen Vorhang bereits getrennt wurden. Zwar läßt sich das Situationsbild im Anfang des König Oedipus auch anders erklären, aber da die Decoration des Sophokles bereits im Stück mitspielt, — und er liebt es eben so sehr darauf hinzuweisen, wie Aeschylos auf seine Wagen und Flugmaschinen, — so muß ihre Befestigung vor Beginn eines neuen Stückes doch den Augen der Zuschauer entzogen worden sein.
Eine andere Eigenthümlichkeit des Sophokles, soweit sie für uns erkennbar ist, liegt in dem schönen ebenmäßigen Bau seiner Stücke.
Stärker als bei uns geschieht, waren Einleitung und Schluß des alten Dramas von dem übrigen Bau abgesetzt. Die Einleitung hieß Prologus, umfaßte einen oder mehre Auftritte von Solospielern vor dem ersten Einzug des Chors, enthielt alle Hauptsachen der Exposition und wurde durch Chorgesang von der aufsteigenden Handlung getrennt. Der Schluß, Exodus, in gleicher Weise durch Chorgesang von der sinkenden Handlung geschieden, war aus einer sorgfältig gearbeiteten Scenengruppe zusammengesetzt und umschloß den Theil der dramatischen Handlung, welchen wir Neuern Katastrophe nennen. Der Prolog des Sophokles ist in allen erhaltenen Stücken eine kunstvoll aufgebaute Dialogscene mit nicht unbedeutender Bewegung, in welcher zwei, zuweilen sämmtliche drei Schauspieler auftreten und ihre Parteistellung zu einander darlegen. [S. 149] Er enthält aber zweierlei, erstens: die allgemeinen Voraussetzungen des Stückes; zweitens: was dem Sophokles eigenthümlich zu sein scheint, eine besonders eindrucksvolle Vorführung des erregenden Momentes, das nach dem Chorgesange die Handlung bewegen soll.
Auf den Prolog folgt der erste Chorgesang, nach diesem die Handlung mit dem Eintreten der ersten Erregung; von da steigert sich die Handlung in zwei oder mehr Absätzen bis zum Höhenpunkt. Es sind bei Sophokles zuweilen sehr feine, an sich unbedeutende Motive, welche diese Steigerung verursachen. Mächtig aber erhebt sich die Spitze der Handlung, allen Farbenglanz, die höchste Poesie verwendet er zum Heraustreiben dieses Momentes. Und wo die Handlung einen starken Umschwung gestattet, folgt die Scene des Umschwungs, Peripetie oder Erkennung, nicht plötzlich und unerwartet, sondern mit feinem Uebergange, immer in kunstvoller Ausführung. Von da stürzt die Handlung rasch zum Ende, nur zuweilen ist noch vor dem Exodus eine Stufe eingefügt. Die Katastrophe selbst aber ist wie eine besondere Handlung gebildet, sie besteht nicht aus einer Scene, sondern aus einem Bündel derselben, der glänzende Botenbericht, die dramatische Aktion und zuweilen lyrische Pathosscene liegen darin durch kurze Uebergänge verbunden. Nicht in allen Stücken ist die Katastrophe gleich kräftig und mit hochgesteigerten Wirkungen behandelt. Es mag auch die Stellung des Stückes zu den andern desselben Tages die Arbeit des Schlusses bestimmt haben.
Die Tragödie „ Antigone ” enthält — außer Prolog und Katastrophe — fünf Theile, von denen die drei ersten die Steigerung, der vierte den Höhenpunkt, der fünfte die Umkehr bilden. Jeder dieser Theile, durch einen Chorgesang von den übrigen getrennt, umfaßt eine zweitheilige Scene. Die Idee des Stückes ist: Eine Jungfrau, die wider den Befehl des Königs ihren im Kampfe gegen die Vaterstadt gefallenen Bruder beerdigt, wird von dem Könige zum Tode verurtheilt; dem [S. 150] Könige gehn deshalb Sohn und Gattin durch Selbstmord verloren. Der Prolog bringt in einer Dialogscene, welche den Gegensatz der Heldin zu ihren befreundeten Helfern ausspricht, die Grundlage der Handlung und die Erklärung des aufregenden Momentes: den Entschluß der Antigone, ihren Bruder zu bestatten. Die erste Stufe der Steigerung ist nach Einführung des Königs Kreon der Botenbericht, daß Polyneikes heimlich beerdigt sei, Zorn des Kreon und sein Befehl an die Wächter, den Thäter zu finden. Die zweite Stufe ist die Einführung der ergriffenen Antigone, das Aussprechen ihres Gegensatzes zu Kreon und das Eindringen der Ismene, welche sich für eine Mitschuldige der Schwester erklärt und mit ihr sterben will. Die dritte Stufe der Steigerung: das Flehen Hämon's und, da Kreon unerbittlich bleibt, die Verzweiflung des Liebenden. Auf die Botenscene waren bis dahin immer größere bewegte Dialogscenen gefolgt. Den Höhenpunkt bildet die Pathosscene der Antigone, Gesang und Recitation; an diese schließt sich der Befehl des Kreon, sie zum Tode abzuführen. Von da sinkt die Handlung schnell hinab. Der Seher Teiresias verkündet dem Kreon Unheil und straft seinen Trotz; Kreon wird erweicht und gibt Befehl, die Antigone aus dem Grabgewölbe, in dem sie eingeschlossen ist, zu befreien. Und jetzt beginnt die Katastrophe in einer großen Scenengruppe: Botenbericht über den Tod der Antigone und des Hämon und verzweifelter Abgang der Eurydike, Klagescene des Kreon und neuer Botenbericht über den Tod der Eurydike, Schlußklage des Kreon. Die Fortsetzung der Antigone selbst ist der Seher Teiresias und der Exangelos der Katastrophe, der befreundete Nebenspieler ist Ismene und Hämon, Gegenspieler mit geringerer Kraft und ohne Pathos ist Kreon. Eurydike ist nur Aushilfsrolle.
Das kunstvollste Stück des Sophokles ist „ König Oedipus ”, es besitzt alle feinen Erfindungen der attischen Bühne, außer den Variationen in Gesängen und Chor, Peripetie-, [S. 151] Erkennungs-, Pathosscenen, geschmückten Bericht des Endboten. Die Handlung wird durch das Gegenspiel beherrscht, hat kurzes Steigen, verhältnißmäßig schwachen Höhenpunkt und längeres Sinken der Handlung. Der Prolog führt sämmtliche drei Schauspieler auf und berichtet außer den Voraussetzungen: Theben unter Oedipus in Pestzeit, auch das aufregende Moment, den Orakelspruch: der Mord des Laios solle bestraft werden, damit die Stadt Befreiung von der Seuche finde. Von da steigt die Handlung in zwei Stufen. Erste: Teiresias, von Oedipus gerufen, weigert sich den Orakelspruch zu deuten; hart von dem heftigen Oedipus verdächtigt, weist er in doppeldeutigem Räthselwort auf den geheimnißvollen Mörder und scheidet im Zorne. Zweite Stufe: Streit des Oedipus mit Kreon durch Iokaste geschieden. Darauf Höhenpunkt: Unterredung des Oedipus und der Iokaste; die Erzählung der Iokaste von dem Tod des Laios und die Worte des Oedipus: „O Weib, wie faßt es plötzlich mich bei deinem Wort” sind die höchste Stelle der Handlung. Bis dahin hat Oedipus den eindringenden Vermuthungen heftigen Widerstand entgegengestellt, ob ihm auch allmählich bange geworden, jetzt fällt die Empfindung einer unendlichen Gefahr in die Seele. Seine Rolle ist der Kampf zwischen trotzigem Selbstgefühl und bodenloser Selbstverachtung, in dieser Stelle endet das erste, beginnt die zweite. Von da geht die Handlung wieder in zwei Stufen mit prachtvoller Ausführung abwärts, die Spannung wird durch das Gegenspiel der Iokaste vermehrt, denn was ihr die furchtbare Gewißheit gibt, täuscht noch einmal den Oedipus, die Effekte der Erkennungen sind hier meisterhaft behandelt. — Die Katastrophe ist dreigliedrig: Botenscene, Pathosscene, Schluß mit einem weichen und versöhnenden Accord.
Einfach dagegen ist der Bau der „ Elektra ”. Er besteht außer Prolog und Katastrophe aus zwei Stufen der Steigerung und zwei Stufen des Falles, von denen aber die beiden dem Höhenpunkt zunächst stehenden mit diesem zu einer großen [S. 152] Scenengruppe verbunden sind, welche in dieser Tragödie den Mittelpunkt mächtig heraushebt. Das Stück enthält nicht nur die stärkste dramatische Wirkung, welche uns von Sophokles erhalten ist, es ist auch nach anderer Rücksicht sehr lehrreich, weil wir im Vergleich mit den Choephoren des Aeschylos und der Elektra des Euripides, welche denselben Stoff behandeln, deutlich erkennen, wie die Dichter sich einer nach dem andern die berühmte Sage zurichteten. Bei Sophokles ist Orestes, der Mittelpunkt zweier Stücke der Aeschyleischen Trilogie, durchaus als Nebenfigur behandelt, er verübt die ungeheure That der Rache auf Befehl und als Werkzeug Apollo's, überlegt, gefaßt, ohne jede Spur von Zweifel und Schwanken, wie ein Krieger, der auf eine gefährliche Unternehmung ausgezogen ist, und nur die Katastrophe stellt diesen Haupttheil des alten Stoffes dramatisch dar. Der Inhalt des Stückes sind die Gemüthsbewegungen eines höchst energischen und großartigen Frauencharakters, aber in ausgezeichneter Weise durch Wandlungen des Gefühls, durch Willen und That für die Bedürfnisse der Bühne geformt. Auf den Prolog, in welchem Orestes und sein Pfleger die Einleitung und die Darlegung des aufregenden Momentes geben: Ankunft der Rächer, welches in der Handlung aber zuerst als Traum und Vorahnung Klytämnestra's wirkt, — folgt die erste Stufe der steigenden Handlung: Elektra erhält von Chrysothemis die Nachricht, daß sie, die endlos Klagende, ins Gefängniß gesetzt werden solle; sie beredet Chrysothemis, den sühnenden Weiheguß, welchen die Mutter dem Grabe des gemordeten Vaters sendet, nicht darüber zu schütten. Zweite Stufe: Kampf der Elektra und Klytämnestra, dann Höhenpunkt: der Pfleger bringt die täuschende Nachricht vom Tode des Orestes. Verschiedene Wirkung der Nachricht auf die beiden Frauen. Pathosscene der Elektra. Daran geschlossen die erste Stufe der Umkehr: Chrysothemis kehrt freudig vom Grabe des Vaters zurück, verkündet, daß sie eine fremde Haarlocke als fromme Weihe darauf gefunden, ein Freund sei nahe; [S. 153] Elektra glaubt der guten Botschaft nicht mehr, fordert die Schwester auf, mit ihr vereint den Aegisthos zu töten, zürnt der widerstehenden Chrysothemis, Entschluß, allein die That zu thun. Zweite Stufe: Orestes als Fremder, mit dem Aschenkruge des Orestes. Trauer Elektra's und Erkennungsscene, von hinreißender Schönheit. Der Exodus enthält die Darstellung der Rachethat zuerst in den fürchterlichen Gemüthsbewegungen der Elektra, dann Auftreten und Tötung des Aegisthos.
Der Inhalt des „ Oedipus auf Kolonos ” sieht, wenn man die Idee des Stückes betrachtet, höchst ungünstig für dramatische Behandlung aus. Daß ein umherirrender Greis den Segen, welcher nach Götterspruch an seinem Grabe hängen soll, nicht der undankbaren Vaterstadt, sondern gastfreien Fremdlingen zuwendet, ein solcher Stoff scheint nur zufälliger patriotischer Empfindung der Hörer leidlich. Und doch hat Sophokles auch hier Spannung, Steigerung, leidenschaftlichen Kampf von Haß und Liebe einzusetzen gewußt. Das Stück hat aber eine Besonderheit im Aufbau. Der Prolog ist zu einem größeren Ganzen erweitert, welches auch im äußern Umfange der Katastrophe entspricht; er besteht aus zwei Theilen, jeder aus drei kleinen Scenen, zusammengefügt durch ein pathetisches Moment: Wechselgesang zwischen den Solospielern und dem bereits hier auftretenden Chor. Der erste Theil des Prologs enthält die Exposition, der zweite das aufregende Moment, die Nachricht, welche Ismene dem greisen Oedipus bringt, daß er von seiner Vaterstadt Theben verfolgt werde. Von da steigert sich die Handlung in einem einzigen Absatz: Theseus, Herr des Landes, erscheint, verspricht seinen Schutz, — bis zum Höhenpunkte, einer großen Streitscene mit kräftiger Aktion: Kreon tritt auf, die Töchter mit Gewalt fortreißend, den Oedipus selbst mit Zwang bedrohend, damit er heimkehre, aber Theseus bewährt seine schützende Gewalt und entfernt den Kreon. Darauf folgt die Umkehr in zwei Stufen, die Töchter werden dem [S. 154] Greise durch Theseus gerettet zurückgebracht; Polyneikes erfleht in eigennützigem Sinne Versöhnung mit dem Vater und Rückkehr desselben. Unversöhnt entsendet ihn Oedipus, nur Antigone spricht mit rührenden Worten die Treue der Schwester aus. Darauf die Katastrophe: die geheimnißvolle Entrückung des Oedipus, kurze Redescene und Chor, dann große Botenscene und Schlußgesang. Das Stück wird durch die Erweiterung des Prologs und der Katastrophe um etwa dreihundert Verse länger, als die übrigen erhaltenen Dramen des Sophokles. Die freiere Behandlung der feststehenden Scenenform läßt ebenso wie der Inhalt erkennen, was wir auch aus alten Berichten wissen, daß die Tragödie eines der letzten Werke des greisen Dichters war.
Vielleicht das früheste der erhaltenen Dramen ist „ Die Trachinierinnen ”. Auch hier ist einiges Auffällige im Bau: der Prolog enthält nur die Einleitung, Sorge der Gattin Deianeira um den in der Ferne weilenden Herakles und Entsendung des Sohnes Hyllos, den Vater aufzusuchen. Das aufregende Moment liegt im Stücke selbst und bildet die erste Hälfte der zweitheiligen Steigerung: Nachricht von der Ankunft des Herakles. Zweite Stufe: Deianeira erfährt, daß die gefangene Sklavin, welche der Gatte vorausgesendet hat, seine Geliebte ist. Höhenpunkt: im ehrlichen Herzen faßt Deianeira den Entschluß, dem geliebten Manne einen Liebeszauber zu senden, den ihr ein von ihm erschlagener Feind hinterlassen. Sie übergibt das Zaubergewand dem Herold. Die fallende Handlung in einer Stufe berichtet ihre Sorge und Reue über die Sendung, sie hat durch eine Probe erkannt, daß etwas Unheimliches in dem Zauber sei. Der rückkehrende Sohn verkündet ihr mit harten Worten, daß dem Gemahl das Geschenk tötliche Krankheit bereitet habe. Darauf die zweitheilige Katastrophe, zuerst Botenscene, welche den Tod der Deianeira verkündet, dann wird Herakles selbst, der Hauptheld des Stückes, in der Pein tötlicher Schmerzen vorgeführt, wie er nach großer [S. 155] Pathosscene von seinem Sohne die Verbrennung auf dem Berge Oeta fordert.
Die Tragödie „ Aias ” enthält nach dem dreitheiligen Prolog eine Steigerung in drei Stufen, zuerst Klage und Familiengefühl des Aias und seinen Entschluß zu sterben; dann das Verhüllen seines Planes aus Rücksicht auf die Trauer der Befreundeten; endlich (ohne daß ein Scenenwechsel anzunehmen ist) einen Botenbericht, daß Aias sich an diesem Tage nicht aus dem Zelt entfernen solle, und den Abgang der Gattin und des Chors, den Entfernten zu suchen. Darauf den Höhenpunkt, die Pathosscene des Aias und seinen Selbstmord, besonders dadurch ausgezeichnet, daß der Chor vorher aus der Orchestra abgetreten ist, die Scene erhält dadurch den Charakter eines Monologs. Darauf folgt die Umkehr in zwei Theilen, zuerst das Auffinden des Toten, Klage der Tekmessa und des eintretenden Bruders Teukros; dann der Streit zwischen Teukros und Menelaos, welcher die Beerdigung verbieten will. Die Katastrophe endlich, eine Steigerung dieses Streites in einer Dialogscene zwischen Teukros und Agamemnon, die Vermittelung durch Odysseus und die Versöhnung.
„ Philoktetes ” ist durch besonders regelmäßigen Bau ausgezeichnet; die Handlung steigt und fällt in schönem Ebenmaße. Nachdem im Prolog eine Dialogscene zwischen Odysseus und Neoptolemos die Voraussetzungen und das erregende Moment erklärt hat, folgt der erste Theil, die Steigerung, in einer Gruppe von drei verbundenen Scenen, darauf der Höhenpunkt und das tragische Moment in zwei Scenen, von denen die erste eine prachtvoll ausgeführte zweitheilige Pathosscene ist, dann der dritte Theil, die Umkehr, genau dem ersten entsprechend, wieder in einer Gruppe von drei verbundenen Scenen. Ebenso genau entsprechen einander die Chöre. Der erste Gesang ist Wechselgesang des zweiten Schauspielers mit dem Chor, der dritte ebenso ein Wechselgesang des ersten [S. 156] Schauspielers mit dem Chor. Nur in der Mitte steht ein voller Chorgesang. Die Auflösung des eintretenden Chors in ein dramatisch bewegteres Zusammenspiel — sowohl im Philoktetes als im Oedipus auf Kolonos — ist wohl nicht zufällig. Man möchte aus der sicheren Beherrschung der Formen und aus der meisterhaften Scenenführung schließen, daß dies Drama der späteren Zeit des Sophokles angehört. [17]
Auch hier hat der erste Schauspieler Philoktetes die pathetische Rolle; die heftigen Bewegungen desselben, mit wunderbarer Schönheit und reichen Einzelzügen dargestellt, gehen durch einen großen Kreis von Stimmungen und erheben sich in dem Höhenpunkt, der großen Pathosscene des Stückes, mit markerschütternder Gewalt; nie ist wohl kühner und großartiger der für das Drama so bedenkliche Zustand entsetzlicher Körperschmerzen und gleich darauf der nagenden Seelenleiden geschildert worden. Aber der ehrliche, verbitterte, hartnäckige Mann gab für die Handlung selbst nicht Gelegenheit zu dramatischem Fortschritt. So ist dieser in die Seele des zweiten Schauspielers gelegt und Neoptolemos Träger der Handlung. Nachdem er sich im Prolog den schlauen Rathschlägen des [S. 157] Odysseus nicht ohne Widerwillen gefügt hat, versucht er im ersten Theil der Handlung den Philoktetes durch Täuschung fortzuführen, Philoktetes stützt sich vertrauend auf ihn, als den Helfer, der ihn in die Heimat zu bringen verheißt, und übergibt ihm den heiligen Bogen. Aber der Anblick der schweren Leiden des Kranken, der rührende Dank des Philoktetes für die Menschlichkeit, welche ihm bewiesen wird, erregen dem Sohne Achill's das edle Herz, und im innern Kampfe gesteht er dem Kranken seine Absicht, ihn mit seinem Bogen zum Griechenheer zu bringen. Die Vorwürfe des enttäuschten Philoktetes vermehren seine Gewissensbisse; daß der herbeieilende Odysseus den Kranken mit Gewalt festhalten läßt, steigert dem Neoptolemos die Aufregung. Beim Beginn der Katastrophe stellt sich des Neoptolemos Ehrlichkeit gegen Odysseus selbst zum Streit, er gibt dem Philoktetes den tötenden Bogen zurück, fordert ihn noch einmal auf, zum Heere zu folgen, und als dieser sich weigert, verspricht er ihm hochgesinnt, das Wort, das er im ersten Theil der Handlung trügerisch gab, jetzt wahr zu machen, dem Haß des ganzen Griechenheeres zu trotzen und den armen Leidenden mit seinem Schiff in die Heimat zu führen. So ist durch die Charakterbewegung des treibenden Helden die Handlung dramatisch geschlossen, aber allerdings in geradem Gegensatz zu der überlieferten Sage, und Sophokles hat, um das Unveränderliche des Stoffes mit dem dramatischen Leben seines Stückes in Einklang zu bringen, zu einem Aushilfsmittel gegriffen, das in keinem anderen seiner erhaltenen Stücke benutzt wird: er läßt in der Schlußscene das Bild des Herakles erscheinen und den Entschluß des Philoktetes umstimmen.
Dieser Schluß, für unsere Empfindung unorganisch, ist doch nach doppelter Richtung belehrend, er zeigt, wie schon Sophokles durch die epische Härte des überlieferten Mythos eingeengt wurde und wie seine hohe Begabung gegen Gefahren kämpfte, an denen kurz nach ihm die alte Tragödie unter [S. 158] gehen sollte. Ferner aber belehrt er über das Mittel, wodurch der weise Dichter den Uebelstand einer umstimmenden Erscheinung zwar nicht für unser Gefühl, aber für die Empfindung seiner Zuschauer zu bewältigen wußte. Zunächst beruhigte er sein künstlerisches Gewissen dadurch, daß er die innere dramatische Bewegung vorher vollständig abschloß. Das Stück, soweit es zwischen Neoptolemos und Philoktetes spielt, ist zu Ende. Nach stürmischem Kampfe haben sich beide Helden in ein edles Einvernehmen gestellt. Aber sie sind auf einem Standpunkte angelangt, gegen welchen Götterspruch und der Vortheil des Hellenenheeres Widerspruch einlegen. Dieses höchste Interesse nun vertritt der dritte Schauspieler, der listenfrohe rücksichtslose Staatsmann Odysseus. Mit der Vorliebe, welche Sophokles auch sonst noch für seinen dritten Mann zeigt, hat er hier die Persönlichkeit desselben besonders fein verwerthet. Nachdem der Gegenspieler im Prolog den wohlbekannten Charakter des Odysseus behaglich ausgesprochen hat, erscheint er gleich darauf in einer Verkleidung, bei welcher der Zuhörer nicht nur im Voraus weiß, daß die fremde Gestalt eine listige Erfindung des Odysseus ist, sondern auch die Stimme des Odysseus und sein schlaues Gebahren erkennt. Und noch dreimal tritt er als Odysseus in die Handlung, um auf den Vortheil des Ganzen, die Nothwendigkeit des Zugreifens hinzuweisen, immer höher und nachdrücklicher wird sein Widerspruch. Zuletzt in der Katastrophe, kurz bevor der göttliche Heros in der Höhe sichtbar wird, tönt die Stimme und erscheint die Gestalt des warnenden Odysseus, wahrscheinlich im Schutz des Felsens, um nochmals Widerspruch zu erheben, und diesmal ist sein drohender Zuruf streng und siegbewußt. Wenn nun kurze Zeit darauf vielleicht über derselben Stelle, wo sich Odysseus auf Augenblicke gezeigt, die verklärte Gestalt des Herakles sichtbar wird und wieder mit der Stimme des dritten Schauspielers dasselbe fordert, mild und versöhnend, so erschien dem Zuschauer Herakles selbst wie eine Steigerung [S. 159] des Odysseus, und bei dieser letzten Wiederholung desselben Befehls empfand er nicht nur ein von außen hereintretendes Neues, sondern noch lebhafter die unwiderstehliche Kraft des klugen Menschenverstandes, der durch das ganze Stück gegen die leidenschaftliche Befangenheit der andern Darsteller gekämpft hatte. Das Kluge und Absichtliche dieser Steigerung, die geistige Einheit der drei Rollen des dritten Schauspielers wurde von den Hörern zuverlässig als eine Schönheit des Stückes empfunden.
Daß die Freude am Schauen, die Abbildung ungewöhnlicher Ereignisse durch menschliches Spiel dem Drama der Germanen die Anfänge beherrscht hat, erkennt man noch heut an den Werken hoher Kunst wie an den Neigungen des Publikums, vor Allem an den Erstlingsversuchen unserer Dichter.
Shakespeare füllte die alten Gewohnheiten eines schaulustigen Volkes mit dramatischem Leben, er schuf aus locker zusammengewebter Erzählung ein kunstvolles Drama. Aber bis auf ihn und seine romantischen Zeitgenossen reichten über fast zwei Jahrtausende hinüber einige Glanzstrahlen aus der großen Zeit des attischen Theaters.
Auch ihm war die Einrichtung der Stücke abhängig von dem Bau seiner Bühne. Sein Bühnenraum hatte, selbst in der letzten Zeit, schwerlich Seitencoulissen, und eine einfache stehende Architektur des Hintergrundes. Dieser enthielt eine erhöhte kleinere Bühne, zur Seite Pfeiler, darüber einen Balkon, von welchem Treppen zur Vorderbühne herabführten. Der vordere Spielraum hatte keinen Vorhang, die Einschnitte im Stück konnten nur durch Pausen bezeichnet werden und trennten deshalb weit weniger, als bei uns. Es war deshalb nicht ebenso wie auf unserem Theater möglich, in die Mitte einer Situation einzuführen oder dieselbe unvollendet zu lassen; in Shakespeare's Dramen mußten alle Per [S. 161] sonen auftreten, bevor sie zu dem Publikum sprechen konnten, und alle vor den Augen der Zuschauer abgehen, sogar die Toten mußten in angemessener Weise hinausgetragen werden. Nur die innere Bühne war durch einen Behang verdeckt, welcher im Stück ohne Mühe auf- und zugezogen wurde und einen bequemen Wechsel der Scene bezeichnete. Erst war der Vorderraum Straße, auf welchem Romeo und seine Begleiter in Maske auftraten; waren sie abgezogen, dann öffnete sich der Vorhang, man war in den Gastzimmern des Capulet, welche durch aufwartende Diener angedeutet wurden. Capulet trat aus dem Hintergrund der Mitte hervor und begrüßte die Fremden, seine Gesellschaft quoll auf die Bühne und vertheilte sich im Vordergrund; hatten sich die Gäste entfernt, so schloß sich der Mittelvorhang hinter Julia und der Amme; dann war die Bühne wieder Straße, von welcher Romeo hinter den Vorhang schlüpfte, um den lustigen Gefährten, welche nach ihm riefen, unsichtbar zu werden; waren diese abgegangen, so erschien Julia auf dem Balkon, die Bühne war Garten, Romeo trat hervor u. s. w. [18] Alles beweglicher und leichter, wechselnde Gruppen, ein rascheres Kommen und Gehen, behenderes Spiel, engerer Zusammenschluß des Gesammteindrucks. An diese oft besprochene Einrichtung der Bühne wird deshalb erinnert, weil die Entbehrlichkeit des Scenenwechsels und die alte Gewöhnung der Zuschauer, mit rüstiger Phantasie jeden Sprung durch Ort und Zeit zu machen, auch auf die Eintheilungen Shakespeare's entscheidenden Einfluß übte. Die Zahl der kleinen Einschnitte konnte größer sein als bei uns, weil sie weniger störten, zumal kleine Scenen waren mühelos einzuschieben; was uns Zer [S. 162] splitterung der Handlung erscheint, wurde durch die technische Einrichtung weniger empfindlich.
Dazu kam, daß das Publikum Shakespeare's, gewöhnt zu schauen, seit alter Zeit Vorliebe für Handlungen hatte, welche zahlreiche Menschen in heftiger Bewegung zeigten. Aufzüge, Gefechte, figurenreiche Scenen wurden gern gesehen und gehörten trotz der ärmlichen Ausstattung, welche im Ganzen das Schauspiel jener Zeit hatte, doch zu den beliebten Zuthaten eines Stückes. Wie die Engländer jener Zeit, sind auch die Helden Shakespeare's gesellige Menschen. Gern erscheinen sie mit einem Gefolge von Genossen, vertraulich sprechen sie sich über wichtige Beziehungen ihres Lebens auf dem Markt, der Straße, in zwangloser Unterhaltung aus.
Noch mußte zu Shakespeare's Zeit der Schauspieler mehre Rollen übernehmen, aber seine Aufgabe war bereits, das eigene Ich ganz zu verhüllen und die schöne Wahrheit mit dem Schein der Wirklichkeit zu umkleiden. Nur die Frauenrollen, welche noch von Männern gespielt wurden, bewahrten etwas von der antiken Weise des Bühnenspiels, welche den Zuschauer zum Vertrauten der hervorzubringenden Täuschung machte.
Auf solcher Bühne trat die dramatische Kunst der Germanen in ihre erste und schönste Blüthe. Die Technik Shakespeare's ist in vielen Hauptsachen dieselbe, welche noch wir zu erwerben suchen. Und er hat, im Ganzen betrachtet, die Form und den Bau auch unserer Stücke festgestellt. Auch in den folgenden Blättern muß immer wieder von ihm die Rede sein, deshalb werden hier nur einige Besonderheiten seiner Zeit und seines Wesens erwähnt, welche wir nicht mehr nachahmen dürfen.
Zunächst ist für unsere Bühne der Wechsel seiner Scenen zu häufig, vor Allem sind die kleinen Zwischenscenen störend. Wo er ein Bündel von Scenen zusammenschnürt, werden wir den entsprechenden Theil der Handlung in eine einzige umbilden müssen. Wenn z. B. im Coriolanus die dunkle Gestalt [S. 163] des Aufidius oder ein anderer Volsker vom ersten Akt an in kleinen Scenen auftreten, um das Gegenspiel anzudeuten, bis zur zweiten Hälfte des Stückes, wo dasselbe kräftig hervordringt, so sind wir gänzlich außer Stande, diese flüchtigen Momente — mit Ausnahme der Kampfscene im Anfang der Steigerung — auf unserer Bühne wirksam zu machen. Wir werden aber auch den Haupthelden selbst ihre Scenen straffer zusammenfassen und ihre Bewegungen in einer geringeren Zahl von Situationen und deshalb in runderer Ausführung darstellen müssen.
Wir bewundern an Shakespeare die mächtige Kraft, mit welcher er seinen Helden nach kurzer Einleitung die Aufregung in den Weg wirft und sie in schneller Steigerung bis zur verhängnißvollen Höhe hinauftreibt. Wie er Handlung und die Charaktere in der ersten Hälfte des Dramas bis über den Höhenpunkt hinaus leitet, ist auch uns mustergiltig. Und in der zweiten Hälfte seiner Dramen ist die Katastrophe selbst mit einer genialen Sicherheit und Größe angelegt, ohne jedes Streben nach überraschendem Eindruck, scheinbar sorglos, in gedrungener Ausführung, eine selbstverständliche Folge des Stückes. Aber nicht immer gelingen dem großen Dichter die Momente der sinkenden Handlung zwischen Höhenpunkt und Katastrophe, der Theil, welcher etwa den vierten Akt unserer Stücke füllt. An diesem verhängnißvollen Theil scheint er noch zu sehr eingeengt durch die Gewohnheiten seiner Bühne. In mehren der größten Dramen aus seiner kunstvollen Zeit zersplittert an diesem Theil die Handlung in kleine Scenen, welche episodischen Charakter haben und nur eingesetzt sind, den Zusammenhang zu erklären. Die inneren Zustände des Helden sind verdeckt, die Erhöhung der Wirkungen und die hier so nothwendige Zusammenfassung fehlen. So ist es im Lear, im Macbeth, im Hamlet, ähnlich in Antonius und Kleopatra. Selbst im Julius Cäsar enthält zwar die Umkehr jene prachtvolle Scene des Streites und der Versöhnung [S. 164] zwischen Brutus und Cassius und die Erscheinung des Geistes, aber was darauf folgt, ist wieder vielgetheilt und zerrissen. In Richard III. ist die sinkende Handlung zwar in mehre große Momente zusammengezogen, aber diese entsprechen in ihrer Bühnenwirkung doch nicht vollständig der ungeheuren Macht des ersten Theils.
Wir erklären diese Eigenthümlichkeit Shakespeare's aus einem Ueberrest der alten Gewohnheit, auf der Bühne durch Rede und Gegenrede die Geschichte zu erzählen. Wie in Hamlet der finstere Verdacht gegen den König arbeitet, wie Macbeth mit dem Mordgedanken kämpft, wie Lear immer tiefer in das Elend hinabgestoßen wird, wie Richard von einem Verbrechen zum andern fortschreitet, das soll in der ersten Hälfte dieser Dramen dargestellt werden. Das Ich des Helden, welches sich durchzusetzen ringt, vereinigt hier fast die ganze Theilnahme in sich. Aber von dem Punkte ab, wo das Wollen That geworden ist, oder wo die leidenschaftliche Befangenheit des Helden ihre höchste Stufe erreicht hat, wo die Folgen des Geschehenen wirken und die Siege des Gegenspiels beginnen, wird selbstverständlich die Bedeutung der Gegner größer. Sobald Macbeth König und Banquo ermordet ist, muß der Dichter an neuen Menschen und Ereignissen den würgenden Gewaltherrscher erweisen, müssen andere Gegenspieler den Kampf gegen ihn zum Ende führen. Wenn Coriolan aus Rom verbannt ist, muß er in neuen Verhältnissen und mit neuen Zielpunkten vorgeführt werden; wenn Lear als wahnsinniger Bettler umherhüpft, muß das Stück entweder schließen, was doch nicht ohne weiteres möglich ist, oder die übrigen Personen müssen neue Wendungen seines Schicksals herbeiführen.
Es ist also natürlich, daß vom Höhenpunkt ab eine größere Zahl von neuen Motiven, vielleicht von neuen Personen in das Stück hineingezogen wird; es ist ferner natürlich, daß dieses Spiel der Gegenpartei vorzugsweise die Einwirkungen zu schildern hat, welche von außen her auf den Helden aus [S. 165] geübt werden, und deshalb mehr äußerliche Handlung und eine breitere Vorführung der fesselnden Momente nöthig macht. Und es ist also gar nicht auffallend, daß Shakespeare gerade hier der Schaulust und der sehr bequemen Scenenfügung seiner Zeit mehr nachgab, als unserer Bühne erlaubt ist.
Aber das allein ist es nicht. Zuweilen vermag man die Empfindung nicht abzuwehren, daß die Wärme des Dichters für seine Helden in der zweiten Hälfte geringer geworden ist. Durchaus nicht in Romeo und Julia. Hier ist in der Umkehr zwar Romeo gedeckt, aber des Dichters Liebling Julia um so mächtiger herausgebildet. Auch nicht im Coriolan, wo die beiden schönsten Scenen des Stückes, die im Hause des Aufidius und die große Scene mit der Mutter, in der Umkehr liegen.
Auffällig aber im Lear. Was auf die Hüttenscene folgt, ist fast nur Episode oder in Rede und Gegenrede vertheilte Erzählung von ungenügender Wirkung, auch die zweite Wahnsinnscene Lear's ist keine Steigerung der ersten. Aehnlich im Macbeth. Nach der furchtbaren Banketscene ist der Dichter mit dem innern Leben seines Helden fertig. Die ausgeführte Hexenscene, die Prophezeiung, die herbe Episode in dem Hause Macduff's, wenig anziehende Figuren des Gegenspieles füllen diesen Theil, in einer scenischen Anordnung, die wir nicht nachahmen dürfen, und nur zuweilen blitzt die große Kraft des Dichters auf, wie in der Katastrophe der Lady Macbeth.
Offenbar ist ihm die größte Freude, aus den geheimsten Tiefen der Menschennatur ein Wollen und Thun herauszubilden; darin ist er unerschöpflich reich, tief und gewaltig, wie kein anderer Dichter. Hat er an seinen Helden diese große Aufgabe gelöst, sind die seelischen Vorgänge bis zu einer verhängnißvollen That dargestellt, dann erfüllt ihn die Gegenwirkung der Welt, das spätere Schicksal des Helden nicht immer mit demselben Antheil.
Sogar im Hamlet ist eine Schwäche der Umkehr zu merken. Das Trauerspiel ist wahrscheinlich mehremale von dem Dichter [S. 166] überarbeitet, es war zuverlässig für ihn ein Lieblingsstoff; die tiefsinnigste Poesie hat er hineingeheimnißt; aber diese Ueberarbeitungen in längeren Zwischenräumen haben dem Drama auch das schöne Ebenmaß genommen, welches bei gleichzeitigem Guß aller Theile möglich ist. Hamlet ist allerdings kein Niederschlag poetischer Stimmungen aus einem halben Menschenleben, wie der Faust, aber Risse, Lücken, kleine Widersprüche in Ton und Sprache, zwischen Charakteren und Handlung blieben dem Dichter unvertilgbar. Daß Shakespeare den Charakter Hamlet's bis über den Höhenpunkt so liebevoll durchgearbeitet und vertieft hat, machte den Gegensatz zur zweiten Hälfte um so größer; ja der Charakter selbst erhielt etwas Schillerndes und Vieldeutiges dadurch, daß tiefere und geistvollere Motive in das Gefüge der aufsteigenden Handlung eingesetzt wurden. Etwas von der alten Art und Weise, Geschichte auf die Bühne zu bringen, blieb auch in der letzten Bearbeitung des Dichters hängen, einige Stellen in Ophelia's Ausgang und die Totengräberscene scheinen neugeschliffene Edelsteine zu sein, die der Dichter, den früheren Zusammenhang überarbeitend, eingesetzt hat.
Demungeachtet ist es lehrreich, sich die kunstvolle Zusammenfügung des Dramas aus den früher besprochenen Bestandtheilen in einem Schema deutlich zu machen. Das Planmäßige und Zweckvolle des Baues ist von dem Dichter nicht ganz durch dieselbe verständige Ueberlegung gefunden, welche beim Aufstellen des Ueberblickes dem Leser nöthig wird. Vieles ist offenbar ohne lange Erwägung, wie mit Naturnothwendigkeit durch die schöpferische Kraft geworden, an anderen Stellen wird der Dichter bedächtig erwogen, geschwankt und sich entschieden haben. Aber die Gesetze für sein Schaffen, mögen sie nun geheim und ihm selbst unbewußt seine Erfindung gerichtet, oder mögen sie ihm als erkannte Regeln die schöpferische Kraft für gewisse Wirkungen angeregt haben, sie sind für uns Leser an dem fertigen Werke überall deutlich erkennbar. Diese gesetz [S. 167] mäßig sich entwickelnde Gliederung des Dramas wird hier ohne Rücksicht auf die herkömmliche Theilung in Akte kurz dargestellt.
Einleitung. 1. Der stimmende Accord: Auf der Terrasse erscheint der Geist; die Wachen und Horatio. 2. Die Exposition selbst: Hamlet im Staatszimmer, vor dem Eintritt des aufregenden Momentes. 3. Verbindungsscene zum Folgenden: Horatio und die Wachen unterrichten den Hamlet vom Erscheinen des Geistes.
Eingeschobene Expositionsscene der Nebenhandlung. Die Familie Polonius bei der Abreise des Laertes.
Das aufregende Moment. 1. Einleitender Accord: Erwartung des Geistes. 2. Der Geist erscheint Hamlet. 3. Haupttheil: Er offenbart ihm den Mord. 4. Uebergang zum Folgenden: Hamlet und die Vertrauten.
Durch die beiden Geisterscenen, zwischen denen die Einführung der Hauptpersonen stattfindet, werden die Scenen der Einleitung und ersten Aufregung zu einer Gruppe zusammengeschlossen, deren Gipfelpunkt nahe am Ende liegt.
Steigerung in vier Stufen. Erste Stufe : Die Gegenspieler. Polonius macht geltend, daß Hamlet aus Liebe zu Ophelia wahnsinnig geworden. Zwei kleine Scenen: Polonius in seinem Hause und vor dem König. Uebergang zum Folgenden.
Zweite Stufe : Hamlet beschließt, den König durch ein Schauspiel auf die Probe zu stellen. Eine große Scene mit episodischen Ausführungen: Hamlet gegen Polonius, die Hofleute, die Schauspieler. Das Selbstgespräch Hamlet's leitet zu dem Folgenden über.
Dritte Stufe : Prüfung Hamlet's durch die Gegenspieler. 1. Der König und die Intriganten. 2. Hamlet's berühmter Monolog. 3. Hamlet warnt Ophelia. 4. Schluß: Der König schöpft Verdacht.
Diese drei Stufen der Steigerung sind jede mit Rücksicht auf die Wirkung der beiden andern gearbeitet: die erste Stufe [S. 168] wird zur Einleitung, die breite und behagliche Ausführung der zweiten bildet den steigernden Haupttheil, die dritte, durch die Fortsetzung des Monologs schön mit der zweiten verbunden, den Gipfelpunkt dieser Gruppe mit schnellem Abfall.
Vierte Stufe , welche zum Höhenpunkt hinüber leitet: Das Schauspiel. Bestätigung des Verdachtes. 1. Einleitung: Hamlet, die Schauspieler und Hofleute. 2. Haupttheil: Die Aufführung und der König. 3. Uebergang: Hamlet, Horatio und die Hofleute.
Höhenpunkt. Eine Scene mit Vorscene: der König betend, Hamlet zaudernd. Eng daran schließt sich.
Das tragische Moment. Eine Scene: Hamlet ersticht in der Unterredung mit seiner Mutter den Polonius. Zwei kleine Scenen als Uebergang zum Folgenden: Der König beschließt den Hamlet zu versenden.
Auch diese drei Scenengruppen sind zu einem Ganzen verbunden, in dessen Mitte der Höhenpunkt steht. Zu beiden Seiten in großer Ausführung die letzte Stufe der Steigerung und das tragische Moment.
Die Umkehr. Einleitende Zwischenscene. Fortinbras und Hamlet auf dem Wege.
Erste Stufe. Eine Scene: Ophelia's Wahnsinn und der Rache fordernde Laertes.
Zwischenscene: Brief Hamlet's an Horatio.
Zweite Stufe. Eine Scene: Laertes und der König bereden den Tod Hamlet's. Schluß und Uebergang zum Folgenden bildet der Bericht der Königin über den Tod der Ophelia.
Dritte Stufe. Begräbniß der Ophelia. Die Einleitungsscene mit großer episodischer Ausführung: Hamlet und die Totengräber. Die kurz gehaltene Hauptscene: scheinbare Versöhnung des Hamlet mit Laertes.
Katastrophe. Einleitende Scene: Hamlet und Horatio, Haß gegen den König; als Uebergang zum Folgenden: die [S. 169] Meldung Osrick's, darauf Hauptscene: die Entscheidung. Schluß: Ankunft des Fortinbras.
Die drei Stufen der sinkenden Handlung sind weniger regelmäßig gebildet als die der ersten Hälfte; die kleinen Zwischenscenen ohne Handlung, durch welche Hamlet's Reise und Rückkehr berichtet wird, sowie die Episode mit dem Totengräber zerstückeln das scenische Gefüge. Die Arbeit des dramatischen Ausgangs ist von alterthümlicher Kürze und Strenge.
Das Drama der Hellenen war in regelmäßiger Gliederung so aufgebaut, daß zwischen einer abgeschlossenen Einleitung und Katastrophe der Höhenpunkt stark hervortrat, durch wenige Scenen der Steigerung und des Falles mit Anfang und Ende verbunden, darin eine kurze Handlung mit heftiger Leidenschaft gefüllt, in breiter Ausführung. Das Drama des Shakespeare führte eine umfangreiche Handlung in einer bunten Reihe dramatischer Momente, in häufigem Wechsel von ausgeführten Scenen und Nebenscenen zu steiler Höhe empor und vom Gipfel in ähnlicher Stufenfolge abwärts; das Ganze zog geräuschvoll, heftig bewegt, figurenreich, mit starkem Herausheben der hohen Wirkungen vorüber. Die deutsche Bühne, auf welcher seit Lessing unsere Kunst erblühte, faßte die scenischen Wirkungen in größere Gruppen zusammen, welche durch stärkere Einschnitte von einander getrennt waren. Bedächtig werden die Effekte vorbereitet, langsam ist die Steigerung, der Aufschwung, welcher erreicht wird, längere Zeit von mäßiger Höhe, allmählich, wie sie gestiegen, senkt sich die Handlung zum Schluß.
Der Vorhang unserer Bühne hat einen wesentlichen Einfluß auf den Bau unserer Dramen gehabt. Die Theile des Dramas, welche oben angeführt wurden, mußten jetzt in fünf getrennten Abschnitten untergebracht werden; sie erhielten, weil sie weiter auseinander gezogen wurden, größere Selbständigkeit. Dieser Uebergang der alten getheilten Handlung [S. 171] in unsere fünf Akte war allerdings seit sehr langer Zeit vorbereitet. Die werthvolle Verbindung der Stimmungen, welche der antike Chor zwischen den einzelnen Theilen der Handlung dargestellt hatte, fehlte schon bei Shakespeare, aber die offene Bühne und die zuverlässig kürzeren Pausen machten, wie wir häufig aus seinen Dramen erkennen, nicht jedesmal so tiefe Schnitte in den Zusammenhang, als bei uns der Verschluß durch die Gardine und die Zwischenakte mit und ohne Musik. Mit dem Vorhange aber kam auch das Bestreben, die Umgebung der auftretenden Personen nicht nur anzudeuten, sondern in anspruchsvoller Ausführung durch Malerei und Geräth darzustellen. Dadurch wurde die Wirkung des Spiels wesentlich gefärbt, nur zuweilen unterstützt. Auch dadurch wurden die einzelnen Theile der Handlung mehr von einander getrennt, als noch zu Shakespeare's Zeit der Fall war. Denn durch den Wechsel der — oft glänzenden — Decorationen werden nicht nur die Akte, auch kleinere Theile der Handlung zu besonderen Bildern, welche sich in Farbe und Stimmung von einander abheben. Jeder solche Wechsel zerstreut, jeder macht eine neue Spannung und Steigerung nöthig.
Dadurch wurden kleine, aber wichtige Aenderungen im Bau der Stücke hervorgebracht. Jeder Akt erhielt den Charakter einer geschlossenen Handlung. Für jeden wurde ein kleiner Stimmung gebender Vorschlag, eine kurze Einleitung, ein stärker hervortretender Höhenpunkt, ein wirksamer Abschluß wünschenswerth. Die reiche Ausstattung der scenischen Umgebung zwang dazu, den Wechsel des Orts, der zu Shakespeare's Zeit so leicht gewesen war, mehr zu beschränken, erläuternde Zwischenscenen wegzulassen, längere Theile der Handlung in denselben Raum und auf unmittelbar einander folgende Zeitabschnitte zu verlegen. So wurde die Zahl der Scenen geringer, der dramatische Fluß des Ganzen ruhiger, die Zusammenfügung großer und kleiner Momente kunstvoller.
[S. 172] Doch einen großen Vortheil bot der Verschluß der Bühne. Es wurde jetzt möglich, mitten in eine Situation einzuführen und mitten in einer Situation zu schließen. Der Zuschauer konnte schneller in die Handlung eingeweiht, schneller daraus entlassen werden, ohne die Vorbereitung und die Auflösung dessen, was ihn fesselte, mit in den Kauf zu nehmen. Und das war kein geringer Gewinn, der fünfmal im Stück für Beginn und Ende der Wirkungen möglich wurde. Aber dieser Vortheil bereitete auch eine Gefahr. Die Situationsschilderung, das Vorführen von Zuständen mit geringer dramatischer Bewegung wurde jetzt leichter, das längere Zusammenhalten der Charaktere in demselben geschlossenen Raum begünstigte zumal den ruhigen Deutschen diese Malerei.
Auf so veränderter Bühne führten die deutschen Dichter des vorigen Jahrhunderts ihre Akte auf, bis auf Schiller vorsichtig begründend, sorgfältig einleitend; in einem getragenen Tempo der Scenen und Wirkungen, welches der gemessenen und umständlichen Geselligkeit ihrer Zeit entsprach.
In dem modernen Drama umschließt, im Ganzen betrachtet, jeder Akt einen der fünf Theile des Dramas, der erste enthält die Einleitung, der zweite die Steigerung, der dritte den Höhenpunkt, der vierte die Umkehr, der fünfte die Katastrophe. Aber die Nothwendigkeit, die großen Theile des Stückes auch in dem äußern Umfange einander gleichartig zu bilden, bewirkte, daß die einzelnen Akte nicht ganz den fünf Haupttheilen der Handlung entsprechen konnten. Von der steigenden Handlung wurde gewöhnlich die erste Stufe noch in den ersten Akt, die letzte zuweilen in den dritten, von der sinkenden Handlung ebenso Beginn und Ende bisweilen in den dritten und fünften Akt genommen und mit den übrigen Bestandtheilen dieser Akte zu einem Ganzen gegliedert. — Allerdings hat bereits Shakespeare seine Abtheilungen in der Regel so gebildet.
Die Fünfzahl der Akte ist also kein Zufall. Schon die [S. 173] römische Bühne hielt auf sie. Aber erst seit Ausbildung der neueren Bühne bei Franzosen und Deutschen ist ihr gegenwärtiger Bau festgestellt.
Nur nebenbei sei bemerkt, daß die fünf Theile der Handlung bei kleineren Stoffen und kurzer Behandlung sehr wohl ein Zusammenziehen in eine geringere Zahl von Akten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginn des Kampfes, Höhenpunkt und Katastrophe, sich stark von einander abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Akten zusammenfassen. Auch bei der kleinsten Handlung, welche in einem Akte verlaufen kann, sind innerhalb desselben die fünf oder drei Theile erkennbar.
Wie aber jeder Akt seine besondere Bedeutung für das Drama hat, so hat er auch Eigenthümlichkeiten im Bau. Sehr groß ist die Zahl der Abänderungen, welche hier möglich sind. Jeder Stoff, jede Dichterpersönlichkeit fordert ihr eigenes Recht. Dennoch lassen sich aus der Mehrzahl der vorhandenen Kunstwerke einige häufig wiederkehrende Gesetze erkennen.
Der Akt der Einleitung erhält in der Regel noch den Anfang der Steigerung, also im Ganzen folgende Momente: den einleitenden Accord, die Scene der Exposition , das aufregende Moment, die erste Scene der Steigerung. Er wird deshalb gern zweitheilig werden und seine Wirkungen auf zwei kleine Höhenpunkte sammeln, von denen der letztere der stärker hervorgehobene sein mag. — So ist in Emilia Galotti die Scene des Prinzen am Arbeitstisch der stimmende Accord, die Unterredung des Prinzen mit dem Maler Exposition; in der Scene mit Marinelli liegt das erregende Moment: die bevorstehende Vermählung der Emilia. Die erste Steigerung aber liegt in der folgenden kleinen Scene des Prinzen, in seinem Entschluß, Emilia bei den Dominikanern zu treffen. — Im Tasso gibt das Bekränzen der Hermen durch die beiden Frauen die andeutende Stimmung des Stückes, ihre folgende Unterhaltung und das Gespräch mit Alphons die Exposition. Darauf ist das Bekränzen [S. 174] Tasso's durch die Prinzessin das erregende Moment, der Eintritt des Antonio und seine kühle Nichtachtung Tasso's die erste Stufe der Steigerung. — Ebenso folgen in Maria Stuart das Erbrechen der Schränke, die Bekenntnisse gegen die Kennedy, der Eintritt Mortimer's und die große Scene Maria's mit den Commissarien aufeinander. — Im Tell, wo die drei Handlungen verflochten sind, steht nach der stimmenden Situation des Anfangs und kurzer einleitender Unterredung der Landleute das erste aufregende Moment für die Handlung Tell's: Baumgarten's Flucht und Rettung. Dann folgt als Einleitung für die Handlung des Schweizerbundes die Scene vor Stauffacher's Haus. Darauf die erste Steigerung für Tell: die Unterredung mit Stauffacher vor dem Hut auf der Stange. Endlich für die zweite Handlung das aufregende Moment in der Unterredung Walther Fürst's und Melchthal's: die Blendung von Melchthal's Vater; und als Finale die erste Steigerung: Beschluß der drei Schweizer, auf dem Rütli zu tagen.
Der Akt der Steigerung hat in unseren Dramen die Aufgabe, die Handlung mit vermehrter Spannung herauf zu führen, dabei die Personen des Gegenspiels, welche im ersten Akt keinen Raum gefunden haben, vorzustellen. Ob er nun eine oder mehre Stufen der fortschreitenden Bewegung enthalte, der Hörer hat bereits eine Anzahl Eindrücke aufgenommen, deshalb müssen hierin die Kämpfe größer werden, eine Sammlung derselben in ausgeführter Scene, ein guter Aktschluß wird nützlich. In Emilia Galotti z. B. beginnt der Akt, wie fast jeder Akt bei Lessing, wieder mit einer einleitenden Scene, in welcher kurz die Familie Galotti vorgeführt wird, dann die Intriganten des Marinelli ihren Plan darlegen. Dann folgt in zwei Absätzen die Handlung, von denen der erste die Aufregung Emilia's nach der Begegnung mit dem Prinzen, der zweite den Besuch Marinelli's und seinen Antrag an Appiani enthält. Beide große Scenen sind durch eine kleinere Situationsscene, welche den Appiani in seinem Verhältniß zu Emilia darstellt, verbunden. Der schön [S. 175] gearbeiteten Scene Marinelli's folgt als guter Schluß die empörte Stimmung der Familie. — Der regelmäßige Bau des Tasso zeigt im zweiten Akt ebenfalls zwei Stufen der Steigerung: die Annäherung des Tasso an die Prinzessin, und im scharfen Gegensatz dazu seinen Streit mit Antonio. — Der zweite Akt von Maria Stuart führt in einer Einleitung Elisabeth und die übrigen Gegenspieler vor, er enthält die steigende Handlung: Annäherung Elisabeth's an Maria in drei Stufen. Zuerst den Kampf der Höflinge für und gegen Maria und die Wirkung des Briefes von Maria auf Elisabeth, ferner die Unterredung des Mortimer mit Leicester, eingeleitet durch das Gespräch der Königin mit Mortimer, endlich die Verlockung Elisabeth's durch Leicester, Maria zu sehen. — Tell endlich umfaßt in diesem Akt die Exposition seiner dritten Handlung, der Familie Attinghausen, dann für den Schweizerbund einen in großer Scene ausgeführten Höhenpunkt: das Rütli.
Der Akt des Höhenpunktes hat das Bestreben, seine Momente um eine stark hervortretende Mittelscene zusammenzufassen. Diese wichtigste Scene desselben wird aber, wenn das tragische Moment dazu tritt, mit einer zweiten großen Scene verbunden; in diesem Falle rückt die Gipfelscene wohl in den Anfang des dritten Aktes. In Emilia Galotti ist nach einer einleitenden Scene, in welcher der Prinz die gespannte Situation erklärt, und nach dem erläuternden Bericht über den Ueberfall der Eintritt Emilia's Beginn der Gipfelscene; der Fußfall Emilia's und die Erklärung des Prinzen sind der höchste Punkt des Stückes. Daran schließt sich der ausbrechende Zorn der Claudia gegen Marinelli als Uebergang zu der sinkenden Handlung. — Im Tasso beginnt der Akt mit dem Höhenpunkt, dem Bekenntniß, welches die Prinzessin gegen Leonore von ihrer Neigung zu Tasso ablegt; darauf folgt als erste Stufe der absteigenden Handlung die Unterredung zwischen Leonore und Antonio, worin dieser dem Tasso genähert wird und beschließt, den Dichter am Hofe festzuhalten. — In Maria Stuart liegen [S. 176] Höhenpunkt und tragisches Moment in der großen zweitheiligen Gartenscene. Auf sie folgt, durch kleine Zwischenscenen verbunden, der Ausbruch von Mortimer's Leidenschaft zu Maria als Beginn der fallenden Handlung, das Uebergangsglied zu dem folgenden Akt bildet die Zerstreuung der Verschworenen. — Der dritte Akt des Tell besteht aus drei Scenen, von denen die erste eine kurze vorbereitende Situationsscene in Tell's Hause: Aufbruch Tell's, ist, die zweite den Höhenpunkt zwischen Rudenz und Bertha, die dritte, groß ausgeführte den Höhenpunkt der Tellhandlung, den Apfelschuß, enthält.
Der Akt der Umkehr ist von den großen deutschen Dichtern seit Lessing mit besonderer Sorgfalt behandelt worden, und die Wirkungen desselben sind fast immer regelmäßig und in bedeutender Scene zusammengeschlossen. Dagegen ist bei uns Deutschen die Einführung von neuen Rollen im vierten Akt häufiger als bei Shakespeare, welcher den löblichen Brauch hat, seine Gegenspieler schon vorher der Handlung zu verflechten. Ist dies unthunlich, so möge man sich doch hüten, durch eine Situationsscene, die das Stück an dieser Stelle schwer erträgt, die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Die Gäste des vierten Aktes müssen rasch und stark in die Handlung eingreifen und durch kräftige Wirksamkeit ihr Erscheinen rechtfertigen. — Der vierte Akt in Emilia Galotti ist zweitheilig. Auf die vorbereitende Unterredung zwischen Marinelli und dem Prinzen tritt der neue Charakter der Orsina als Gehilfin in das Gegenspiel ein. Den Uebelstand der neuen Rolle weiß Lessing sehr gut dadurch zu überwinden, daß er der leidenschaftlichen Bewegung dieses bedeutsamen Charakters die Leitung in den folgenden Scenen bis zum Schluß des Aktes übergibt. Auf ihre große Scene mit Marinelli folgt als zweite Stufe des Aktes der Eintritt Odoardo's: die hohe Spannung, welche die Handlung dadurch erhält, schließt den Akt wirksam ab. — Im Tasso läuft die Umkehr ebenfalls in zwei Scenen, Tasso mit Leonore und Tasso mit Antonio, beide durch Monologe Tasso's geschlossen.
[S. 177] Von dem regelmäßigen vierten Akt der Maria Stuart wird später die Rede sein. — Im Tell enthält der Akt für Tell selbst zwei Stufen der sinkenden Handlung, seine Rettung aus dem Schiff und den Tod Geßler's; dazwischen steht die Scene der Umkehr für die Familie Attinghausen, welche an dieser Stelle mit der Handlung des Schweizerbundes verflochten ist.
Der Akt der Katastrophe enthält fast immer noch außer der Schlußhandlung die letzte Stufe der sinkenden Handlung. In Emilia Galotti beginnt wieder ein einleitendes Duett zwischen dem Prinzen und Marinelli die letzte Stufe der sinkenden Handlung, jene große Unterredung zwischen dem Prinzen, Odoardo und Marinelli: Weigerung, dem Vater die Tochter zurückzugeben, dann die Katastrophe: Ermordung der Emilia. — Ebenso im Tasso. Nach der einleitenden Unterredung des Alphons mit Antonio als Hauptscene: die Bitte Tasso's, ihm sein Gedicht zurückzugeben, dann die Katastrophe: Tasso und die Prinzessin. — Maria Stuart, sonst in den einzelnen Akten von musterhaftem Bau, zeigt in diesem Akt die Folgen eines Stoffes, welcher die Heldin seit der Mitte in den Hintergrund stellte und die Gegenspielerin Elisabeth zur Hauptperson machte. Die erste Scenengruppe: Maria's Erhebung und Tod enthält ihre Katastrophe mit einem episodischen Situationsbild, ihrer Beichte, welches dem Dichter nothwendig schien, um für Maria noch eine kleine Steigerung zu gewinnen. An ihre Katastrophe schließt sich die Katastrophe Leicester's als Verbindungsglied zu der Hauptkatastrophe des Stückes, der Vergeltung an Elisabeth. — Der letzte zweitheilige Akt Tell's ist nur Situationsbild mit der Episode des Parricida.
Von allen deutschen Dramen hat die Doppeltragödie Wallenstein den verschlungensten Bau. Dieser ist trotz seiner Verflechtung im Ganzen regelmäßig und schließt sowohl in den „Piccolomini” als in „Wallenstein's Tod” die Handlung fest zusammen. Wäre die Idee des Stückes vom Dichter so empfunden worden, wie sie der geschichtliche Stoff entgegentrug: [S. 178] Ein ehrgeiziger Feldherr sucht das Heer zum Abfall von seinem Kriegsherrn zu verleiten, wird aber von der Mehrzahl seiner Offiziere und Soldaten verlassen und getötet, so hätte solche Idee allerdings ein regelmäßiges Drama gegeben für auf- und niedersteigende Handlung, nicht unbedeutende Bewegung, die Möglichkeit getreuer Nachbildung des historischen Helden.
Aber bei dieser Fassung der Idee fehlte der Handlung das Beste. Denn ein geplanter Verrath, welcher dem Helden vom Anfang innerlich feststand, schloß die höchste dramatische Aufgabe aus: das Herausarbeiten des Entschlusses aus der leidenschaftlich bewegten Seele des Helden. Wallenstein mußte dargestellt werden, wie er zum Verräther wird , allmählich, durch sein eigenes Wesen und den Zwang der Verhältnisse. So wurde eine andere Fassung der Idee und Erweiterung der Handlung nöthig. Ein Feldherr wird durch übergroße Macht, Ränke der Gegner und sein eigenes stolzes Herz bis zum Verrath an seinem Kriegsherrn gebracht, er versucht das Heer zum Abfall zu verleiten, wird aber von der Mehrzahl seiner Offiziere und Soldaten verlassen und getötet.
Bei dieser Fassung der Idee mußte die aufsteigende Hälfte der Handlung eine fortschreitende Bethörung des Helden bis zum Höhenpunkt: dem Entschluß des Verrathes, zeigen, dann kam ein Theil: die Verleitung des Heeres zum Abfall, wo die Handlung fast auf derselben Höhe dahinschwebte; endlich in wuchtigem Absturz: Mißglücken und Untergang. Der Kampf des Feldherrn mit seinem Heer war zweiter Theil des Dramas geworden. Die Vertheilung dieser Handlung in die fünf Akte eines Trauerspiels würde etwa folgende sein. 1. Akt. Einleitung: die Sammlung des Wallensteinischen Heeres bei Pilsen. Erregendes Moment: Abfertigung des kaiserlichen Gesandten Questenberg. 2. Akt. Steigerung: Wallenstein sucht sich für alle Fälle die Mitwirkung des Heeres durch die Unterschriften der Generäle zu sichern, Banketscene. 3. Akt. Wallenstein wird durch böse Einflüsterungen, empörten Stolz und Herrscher [S. 179] gelüst bis zu Verhandlungen mit den Schweden getrieben. Höhenpunkt: Scene mit Wrangel, an welche sich sogleich als tragisches Moment der erste Sieg des Gegenspielers Octavio schließt: Gewinn des Generals Buttler für den Kaiser. 4. Akt. Umkehr, Abfall der Generäle und der Mehrzahl des Heeres. Aktschluß, Kürassierscene. 5. Akt. Wallenstein in Eger und sein Tod. Bei der breiten und großen Ausführung aber, welche Schiller sich nicht versagt, wurde ihm unmöglich, den an Gestalten und bedeutenden Momenten so reichen Stoff in den Rahmen von fünf Akten einzuzwängen.
Außerdem war ihm sehr bald aus zwingenden Gründen der Charakter des Max wichtig geworden. Ihn schuf das Bedürfniß einer hellen Gestalt in den düsteren Gruppen und der Wunsch, das Verhältniß zwischen Wallenstein und dessen Gegenspieler Octavio bedeutsamer zu machen.
Mit Max eng verbunden erwuchs die Tochter Friedland's. Und diese Liebenden, eigenthümliche Gebilde Schiller's, gewannen in der schaffenden Seele schnell Bedeutung, welche über das Episodische hinausging. Max, zwischen Octavio und Wallenstein gestellt, bildete dem Dichter einen wirkungsvollen Gegensatz zu beiden, er trat als ein zweiter erster Held in das Drama ein, die episodischen Liebesscenen und der Kampf zwischen Vater und Sohn, zwischen dem jungen Helden und Wallenstein erweiterten sich zu einer besonderen Handlung.
Die Idee dieser zweiten Handlung wurde: Ein hochgesinnter, argloser Jüngling, der die Tochter seines Feldherrn liebt, erkennt, daß sein Vater die politische Intrigue gegen seinen Feldherrn leitet, und trennt sich von ihm; er erkennt, daß sein Feldherr zum Verräther geworden ist, und trennt sich von ihm, zu seinem und der Geliebten Untergang. Diese Handlung stellt in ihrem aufsteigenden Theile die Befangenheit der Liebenden und ihre leidenschaftliche Annäherung bis zu dem Höhenpunkte dar, welcher durch die Worte Thekla's [S. 180] eingeleitet wird: „Trau' ihnen nicht, sie meinen's falsch.” Das Verhältniß der Liebenden zu einander wird bis zur Scene des Höhenpunktes nur dargestellt durch die gehobene Stimmung, mit welcher im ersten Akte Max, im zweiten Thekla sich von ihrer Umgebung abheben. Nach dem Höhenpunkte folgt die Umkehr in zwei großen Stufen, jede von zwei Scenen, Trennung des Max von seinem Vater und Trennung des Max von Wallenstein, darauf die Katastrophe: Thekla empfängt die Botschaft vom Tode des Geliebten, wieder in zwei Scenen. — Bei solchem Aufleuchten zweier dramatischer Ideen entschloß sich der Dichter, die beiden Handlungen in zwei Dramen zu verschlingen, die zusammen eine dramatische Einheit von zehn Akten und einem Vorspiel bildeten.
In den „Piccolomini” ist das erregende Moment des ersten Aktes ein doppeltes, die Zusammenkunft der Generäle mit Questenberg und die Ankunft der Liebenden im Lager. Hauptpersonen des Stückes sind Max und Thekla, der Höhenpunkt des Dramas liegt in der Unterredung Beider, durch welche die Trennung des arglosen Max von seiner Umgebung eingeleitet wird; Katastrophe ist die vollständige Lösung des Max von seinem Vater. Die aus der Handlung von „Wallenstein's Tod” hineingetragenen Stücke sind die Scenen mit Questenberg, Unterredung Wallenstein's mit den Getreuen und die Banketscene, also der größte Theil des ersten Aktes, der zweite und der vierte Akt.
In „Wallenstein's Tod” ist das erregende Moment, die nur berichtete Gefangennahme Sesina's, eng mit der großen Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel verbunden, Höhenpunkt ist der Abfall der Truppen — Abschied der Kürassiere — von Wallenstein. Die Katastrophe aber ist eine doppelte, Bericht über den Tod des Max nebst Flucht Thekla's, und die Ermordung Wallenstein's. Die aus der Handlung der „Piccolomini” eingeflochtenen Scenen sind die Unterredungen des Max mit Wallenstein und mit Octavio, Thekla gegen [S. 181] über ihren Verwandten und die Trennung des Max von Wallenstein, die Botenscene des schwedischen Hauptmanns und der Fluchtentschluß Thekla's, also eine Scene und Schluß des zweiten Aktes, der Höhenpunkt des dritten, der Schluß des vierten Aktes.
Nun aber wäre eine solche Verflechtung zweier Handlungen und zweier Stücke in einander schwer zu rechtfertigen, wenn nicht die dadurch hervorgebrachte Verbindung, das Doppeldrama, selbst wieder eine dramatische Einheit bildete. Dies ist in ausgezeichneter Weise der Fall, die verflochtene Handlung der ganzen Tragödie steigt und fällt in einer gewissen majestätischen Größe. Deshalb sind in den „Piccolomini” zwei aufregende Momente eng verkoppelt, das erste gehört der Gesammthandlung an, das zweite den „Piccolomini”. Ebenso hat das Doppeldrama zwei dicht bei einander liegende Höhenpunkte, von denen der eine die Katastrophe der „Piccolomini” und der andere die Eröffnung von „Wallenstein's Tod” ist. Und wieder am Schluß des letzten Dramas zwei Katastrophen, eine für die Liebenden, die zweite für Wallenstein und das Doppeldrama.
Es ist bekannt, daß Schiller während der Ausarbeitung die Grenze zwischen den „Piccolomini” und „Wallenstein's Tod” verlegt hat. Die „Piccolomini” umfaßten ursprünglich noch die beiden ersten Akte von „Wallenstein's Tod”, also auch noch die innere Lösung des Max von Wallenstein. Und dies war allerdings für die Handlung des Max ein Vortheil. Aber bei dieser Einrichtung fiel auch die Scene mit Wrangel, d. h. die verhängnißvolle That Wallenstein's, und außerdem der Abfall Buttler's zu Octavio, — d. h. die erste Steigerung zu „Wallenstein's Tod” und die erste Stufe der Umkehr für das Gesammtdrama — in das erste der beiden Stücke, und dies wäre ein bedenklicher Uebelstand gewesen, denn das zweite Drama hätte bei solcher Einrichtung nur den letzten Theil der Umkehr und die Katastrophe für beide Helden, Wallenstein und [S. 182] Max, enthalten, und trotz der großartigsten Ausführung hätte diesem zweiten Stück die Spannung zu sehr gefehlt. Schiller entschloß sich daher mit Recht, die Theilung weiter nach vorn zu verlegen und das erste Stück mit der großen Kampfscene zwischen Vater und Sohn zu enden. Die „Piccolomini” verloren dadurch an Geschlossenheit, aber „Wallenstein's Tod” gewann die unentbehrliche Ordnung im Bau. Man beachte wohl, daß Schiller diese Aenderung erst in der letzten Stunde machte, und daß ihn wahrscheinlich weniger die Rücksicht auf den Bau der Theile als auf den ungleichen Zeitraum, welchen nach der ursprünglichen Eintheilung die Aufführung der beiden Stücke gefordert hätte, bestimmte. In der Seele des Dichters formte sich die große Handlung nicht ebenso, wie wir uns dieselbe ihm nachsinnend aus dem fertigen Stück bilden. Er empfand mit überlegener Sicherheit den Verlauf und die poetische Wirkung des Ganzen, die einzelnen Theile des kunstvollen Baues ordneten sich ihm in der Hauptsache mit einer gewissen Naturnothwendigkeit; das Gesetzmäßige der Gliederung machte er sich keineswegs überall durch verständige Ueberlegung so deutlich, wie wir vor dem fertigen Kunstwerk nachschaffend zu thun genöthigt sind. Demungeachtet haben wir ein gutes Recht, dies Gesetzmäßige nachzuweisen, auch da, wo er es nicht, nachdenkend wie wir, in einer Formel erfaßt hat. Denn das gesammte Drama Wallenstein ist in der Eintheilung, welche der Dichter zum Theil als selbstverständlich bei dem ersten Entwurf und wieder für einzelne Stücke erst spät, vielleicht aus äußerer Veranlassung gefunden hat, ein fest geschlossenes und regelmäßiges Kunstwerk. [19]
Es ist sehr zu bedauern, daß unsere Theaterverhältnisse unmöglich machen, das ganze Kunstwerk in einer Aufführung darzustellen; erst dadurch würde man die schöne und [S. 184] große Wirkung erhalten, welche in der kunstvollen Anordnung liegt. Wie die Stücke jetzt gegeben werden, bleibt für das erstere immer der Uebelstand, daß seiner Handlung der völlige Abschluß fehlt; für das zweite, daß seine Voraussetzungen zahlreich sind und daß die Katastrophe einen übergroßen Raum (zwei Akte) beansprucht. Das würde bei einer zusammenhängenden Darstellung in das richtige Verhältniß treten. Der prachtvolle Prolog „das Lager”, dessen schöne Bilder man nur durch einheitliche Handlung kräftiger zusammengefaßt wünscht, wäre als Einleitung nicht zu entbehren. Es ist denkbar, daß eine Zeit kommt, wo dem Deutschen die Freude wird, sein größtes Drama im Zusammenhange zu genießen. Unthunlich ist es nicht, wie groß die Forderung an die Darsteller sei. Denn keine der Rollen muthet, auch wenn beide Stücke hinter einander gegeben werden, einer starken Menschenkraft Unüberwindliches zu. Auch die Zuschauer der Gegenwart sind in ihrer großen Mehrzahl keineswegs unfähig, in besonderen Fällen eine längere Reihe von dramatischen Wirkungen aufzunehmen, als ein Theaterabend unserer Bühnen bietet. Aber freilich wäre eine solche Aufführung nur ausnahmsweise, etwa als große Festvorstellung, möglich, und nur in einem anderen Raume als dem unserer Abendtheater. Denn was in den anspruchsvollen Prachtbauten die Körperkraft der Darsteller und Zuschauer in weniger als drei Stunden erschöpft, ist das unheimlich grelle Gaslicht, die dadurch hervorgebrachte übergroße Anstrengung der Augen und der trotz aller Ventilationsversuche schnell eintretende Verderb der Lebensluft.
Die Akte — das kürzere Fremdwort hat die deutschen Benennungen: Aufzug, Abtheilung, Handlung u. s. w. in den Hintergrund gedrängt — werden für den Gebrauch der Bühne in Auftritte abgetheilt. Der Ab- und Zugang einer Person, Diener und ähnliche unwesentliche Rollen ausgenommen, beginnt und endet den Auftritt. Der Regie ist solche Theilung der Akte nöthig, um das Eingreifen jeder einzelnen Rolle leicht zu übersehen, und für die Aufführung stellen die Auftritte die kleinen Einheiten dar, durch deren Zusammensetzung die Akte gebildet werden. Aber die dramatischen Theilstücke, aus denen der Dichter seine Handlung zusammenfügt, umfassen zuweilen mehr als einen Auftritt oder werden in größerer Zahl durch denselben Auftritt zusammengebunden. Das Theilstück des Dichters, das einzelne dramatische Moment, wird durch die Absätze gebildet, in denen seine schöpferische Kraft arbeitet.
Denn wie an einer Kette schließen sich während der Arbeit die nahe verwandten Anschauungen und Vorstellungen zusammen, in logischem Zwange eine die andere fordernd. In solchen einzelnen kleinen Theilen ordnen sich die Einzelzüge der Handlung, deren große Umrisse der Dichter in der Seele trägt. [S. 186] Wie verschieden die Arbeit der schöpferischen Kraft in den verschiedenen Geistern sei, diese logischen und poetischen Einheiten bilden sich in jeder Dichterarbeit mit Nothwendigkeit, und wer recht genau zusieht, vermag sie aus dem fertigen Gedicht sehr wohl herauszuerkennen und an einzelnen derselben die größere oder geringere Kraft, Wärme, dichterische Fülle und sichere, saubere Arbeitsweise zu ersehen.
Ein solches Theilstück schließt soviel von einem Monologe, von Rede und Gegenrede, von ab- und zugehenden Personen zusammen, als nöthig ist, um eine engverbundene Reihe von poetischen Vorstellungen und Anschauungen darzulegen, welche sich von dem Vorhergehenden und Nachfolgenden stärker absetzt. Diese Theilstücke der Handlung sind an Länge sehr ungleich, sie mögen aus wenigen Sätzen bestehen, sie mögen mehre Seiten eines Textbuches umfassen, sie mögen allein eine kurze Scene bilden, sie mögen nebeneinander gestellt und mit einleitenden Worten und mit einem auf das Folgende hinüber leitenden Schluß versehen größere Einheiten innerhalb des Aktes formen. Sie sind für den Dichter die Glieder, aus denen er die lange Kette der Handlung schmiedet, er ist sich ihrer Eigenart und Besonderheit auch da bewußt, wo er in kräftigem Schaffen mehre unmittelbar hintereinander zusammenarbeitet.
Aus den dramatischen Momenten fügt er die Scenen zusammen. Dieses Fremdwort wird bei uns in verschiedener Bedeutung gebraucht. Es bezeichnet dem Regisseur zuerst den Bühnenraum selbst, dann den Theil der Handlung, welcher durch dieselbe Decoration umschlossen wird. Dem Dichter aber heißt Scene die Verbindung mehrer dramatischer Momente, welche einen, durch dieselben Hauptpersonen getragenen, Theil der Handlung bildet, vielleicht einmal eine ganze Scene des Regisseurs, jedenfalls ein ansehnliches Stück derselben. Da nicht immer bei dem Abgange der Hauptpersonen ein Wechsel der Decorationen nöthig und wünschenswerth ist, so fällt die [S. 187] Scene des Dichters durchaus nicht immer mit der Scene des Regisseurs zusammen. [20] Es sei erlaubt, hier ein Beispiel anzuführen. Der vierte Akt von Maria Stuart ist vom Dichter in zwölf Auftritte getheilt, durch einen Coulissenwechsel innerhalb des Aktes in zwei Regiescenen getrennt. Er besteht aber aus zwei kleineren und einer großen, also drei dramatischen Scenen. Die erste Scene, die Intriganten des Hofes, ist aus zwei dramatischen Momenten zusammensetzt, 1) nach einem kurzen Accord, welcher die Tonart des Aktes angibt, die Verweisung Aubespine's, 2) der Streit zwischen Leicester und Burleigh. Die zweite Scene, Mortimer's Ende, mit der vorhergehenden durch die Person Leicester's, welche auf der Bühne bleibt, eng verkoppelt, umfaßt drei dramatische Momente, 1) den verbindenden Monolog Leicester's, 2) Unterredung zwischen Leicester und Mortimer, 3) Mortimer's Tod. Die dritte große Scene, der Kampf um das Todesurtheil ist künstlicher gebildet. Es ist eine, ähnlich wie die erste und zweite, nur enger verbundene, Doppelscene und besteht aus zehn Momenten, von denen die ersten vier: der Streit Elisabeth's mit Leicester, zu einer Gruppe verbunden, den sechs letzten: die Unterschrift des Urtheils, gegenüberstehen. Die sechs Momente der zweiten Scenenhälfte entsprechen den sechs letzten Auftritten des Textes, das letzte derselben: Davison und Burleigh, ist der Abschluß dieser bewegten Scene und die Hinüberleitung zum fünften Akt.
Es ist nicht immer bequem, aus einem fertigen Drama diese logischen Einheiten des schaffenden Geistes zu erkennen. [S. 188] Und es wird hier und da das schätzende Urtheil unsicher sein. Aber sie verdienen größere Aufmerksamkeit, als man ihnen wohl bis jetzt gegönnt hat.
Im letzten Abschnitt wurde gesagt, daß jeder Akt ein gegliederter Bau sein muß, welcher seinen Theil der Handlung in zweckmäßiger und wirksamer Anordnung zusammenfaßt. Auch in ihm muß die Theilnahme des Zuschauers mit sicherer Hand geführt und gesteigert werden, auch er muß seinen Höhenpunkt haben, eine große, kräftige, ausgeführte Scene. Enthält er mehre solche ausgeführte Höhenpunkte, so werden dieselben durch kleinere Scenen, wie durch Verbindungsglieder verbunden sein, in der Art, daß die stärkere Antheilnahme immer auf der späteren ausgeführten Scene ruht.
Wie der Akt muß auch jede einzelne Scene, sowohl Uebergangsscene als ausgeführte, eine Anordnung haben, welche geeignet ist, ihren Inhalt in höchster Wirkung auszudrücken. Ein spannendes Moment muß die ausgeführte Scene einleiten, die Seelenvorgänge in ihr müssen mit einiger Reichlichkeit in wirksamer Steigerung dargestellt werden, das Ergebniß derselben in treffenden Schlägen angedeutet sein; von ihrem Höhenpunkte aus, auf welchem sie reichlich ausgeführt schwebt, muß schnell und kurz der Schluß folgen; denn ist einmal ihr Zweck erreicht, die Spannung gelöst, dann wird jedes unnütze Wort zu viel. Und wie sie mit einer gewissen Aufregung der Erwartung einzuleiten ist, so braucht auch ihr Ende eine kleine Erhebung, besonders kräftigen Ausdruck der wichtigen Persönlichkeiten dann, wenn diese die Bühne verlassen. Die sogenannten Abgänge sind kein unbegründetes Begehren der Darsteller, wie sehr sie von roher Effektsucherei gemißbraucht werden. Der tiefe Einschnitt am Ende der Scene und die Nothwendigkeit, die Spannung auf das Folgende herüberzutragen, machen sie vielmehr zu einem berechtigten Kunstmittel, zumeist am Schluß der Akte, natürlich nur bei maßvoller Anwendung.
[S. 189] Der Dichter hat häufig Ursache, während der Aufführungen unserer Bühne den langen Zwischenakten zu zürnen, welche sowohl durch die scenischen Veränderungen als durch den zuweilen unnützen Kleiderwechsel der Darsteller veranlaßt werden. Es muß dem Dichter daran liegen, den Schauspielern die Gelegenheit zu solchem Wechsel so viel als möglich zu beschränken, und wo das Umkleiden nothwendig ist, schon beim Einrichten der Handlung darauf Rücksicht zu nehmen. Ein längerer Zwischenakt — der niemals fünf Minuten überdauern soll — wird nach Beschaffenheit des Stückes dem zweiten oder dritten Akt folgen können. Die Akte, welche in näherem Zusammenhange stehen, dürfen nicht durch ihn auseinander gerissen werden; was ihm folgt, muß noch im Stande sein, von neuem zu sammeln und zu spannen. Deshalb sind Pausen zwischen dem vierten und fünften Akt am allernachtheiligsten. Diese beiden letzten Theile der Handlung sollten selten durch größern Einschnitt getrennt sein, als zwischen den einzelnen Scenen eines Aktes geduldet wird. Der Dichter hat sich zu hüten, daß er nicht in diesem Theile des Stückes selbst Schlußeffekte erfinde, welche durch schwer herzustellende Scenerie und Einführung neuer Massen die Zögerung verschulden.
Aber auch ein Wechsel der Decorationen innerhalb des Aktes ist keine gleichgiltige Sache. Denn jede Verwandlung der Bühne während des Aktes macht einen neuen starken Einschnitt, und die Zerstreuung der Zuschauer wird noch vermehrt, seit in der Neuzeit der schlechte Brauch aufgekommen ist, die Vornahme des Scenenwechsels durch Herablassen einer Gardine den Augen des Zuschauers zu entziehen. Denn seitdem ist fast nur aus der Farbe des Vorhangs zu entnehmen, ob eine Regiescene oder ein Akt beendet sei. Gegenüber solchem Unfug muß das eifrige Bemühen des Dichters sein, jeden Decorationswechsel im Akte entbehrlich zu finden; und es wird gut sein, wenn er während der Arbeit sich auch nach dieser Richtung die Kraft zutraut, Alles zu vermögen; denn häufig [S. 190] erscheint seiner befangenen Seele ein Wechsel der Scenerie als ganz unvermeidlich, während er doch in den meisten Fällen durch geringe Aenderungen an der Handlung beseitigt werden kann. Ist aber Coulissenwechsel während der Akte nicht ganz zu vermeiden, so hüte man sich wenigstens, ihn in den Akten eintreten zu lassen, welche die größte Ausführung verlangen, namentlich im vierten, wo ohnehin die volle Kraft des Dichters nöthig ist, zu steigern. Am leichtesten überwindet man solche störende Einschnitte in der ersten Hälfte.
In dem Wechsel zwischen ausgeführten und verbindenden Scenen liegt eine große Wirkung. Durch ihn wird jeder Theil des Ganzen von seiner Umgebung kunstvoll abgehoben, die Hauptsache in stärkeres Licht gesetzt, in dem Nebeneinander von Licht und Schatten der innere Zusammenhang der Handlung verständlich. Der Dichter muß deshalb sein warmes Empfinden wohl überwachen und bedächtig prüfen, welche dramatischen Momente für seine Handlung Hauptsache, welche Beiwerk sind. Er wird seine Neigung zu Ausführung bestimmter Arten von Charakteren oder Situationen beschränken, falls diese für das Ganze nicht von Gewicht sind; wenn er aber dem Reiz nicht widerstehen kann, von diesem Gesetze abzuweichen und einem unwesentlichen Moment breitere Ausführung zu gönnen, so wird er es mit der Empfindung thun, daß er die Störung des Baues durch besondere Schönheit der Ausführung zu sühnen habe.
Die Nebenscenen aber, mögen sie die Nachklänge einer Hauptscene oder die Vorbereitung zu einer neuen oder ein selbständiges verbindendes Zwischenglied sein, werden dem Dichter immer noch Gelegenheit geben, bei der größten Kürze seine Begabung an den Rollen zu erweisen; hier ist der Raum für knappe, andeutende Zeichnung, welche mit wenigen Worten einen erfreuenden Einblick in das innerste Leben der Figuren des Hintergrundes zu gewähren weiß.
Die freie Scenenbildung unserer Bühne und die größere Zahl der Darsteller machen es dem Dichter scheinbar so bequem, seine Handlung durch eine Scene zu führen, daß man bei neueren Dramen nicht selten die gewöhnlichen Folgen übergroßer Zwanglosigkeit zu bedauern hat. Die Scene wird ein Durcheinander von Reden und Gegenreden ohne genügende Ordnung, sie hat ermüdende Längen, nachgleitende Sätze, weder Höhe noch Contraste kräftig entwickelt. Zwar fehlt das scenische Gefüge auch der unbehilflichsten Arbeit des Anfängers nicht ganz. Denn die Formen sind so sehr Ausdruck des Wesens, daß auch ungeschulte dramatische Empfindung in vielen Hauptsachen Richtiges zu treffen pflegt. Aber nicht immer und nicht jedes. Möge deshalb der Dichter während seiner Arbeit einige bekannte Regeln prüfend anlegen.
Da die Scene ein von anderen Scenen abgesetzter Theil des Dramas ist, welcher auf seinen Inhalt vorbereiten, spannen, ein Schlußergebniß ins Licht stellen und dann zum Folgenden überführen soll, so hat jede Scene, genau betrachtet, fünf Theile, welche den Theilen des Dramas entsprechen. Und bei ausgeführten Scenen sind diese Theile auch sämmtlich wirksam. Denn dann ist es unthunlich, die Handlung in gerader Linie zum Schlußergebniß zu führen. A fühlt, will, fordert etwas, B tritt ihm entgegen, mitwollend, anderswollend, widerstehend; in jedem Fall wird die Richtung des einen durch den [S. 192] andern aufgehalten und wenigstens für einige Zeit abgelenkt. Bei solchen Scenen, mögen sie eine That oder ein Wortgefecht oder eine Darlegung der Gefühle enthalten, ist wünschenswerth, daß nicht der Höhenpunkt in einer geraden Linie liegt, welche von den Voraussetzungen der Scene zu den Schlußergebnissen führt, sondern den letzten Punkt einer abweichenden Richtung bezeichne, von welchem ab die Umkehr zu der geraden Linie stattfindet. Aufgabe einer Scene sei, B durch A unschädlich zu machen, ihr gebotenes Ergebniß sei das Versprechen des B , unschädlich zu werden. Beginn der Scene: A ersucht den B , ferner nicht mehr Störenfried zu sein; wenn B sofort bereit ist, diesen Wunsch zu erfüllen, wird keine längere Scene nöthig; wenn er die Gründe des A leidend aufnimmt, läuft die Scene in gerader Linie fort, aber sie ist in größter Gefahr zu ermüden; wenn B sich aber zur Wehr setzt und sich entweder auf seinen Störenfried steift oder ihn leugnet, so läuft der Dialog zu einem Punkte, an welchem B so weit als möglich von den Wünschen des A entfernt ist. Von da findet eine Annäherung der Ansichten statt, die Gründe des A erweisen sich als stärker, bis B sich ergibt.
Da aber jede Scene eine Richtung auf das Folgende hat, wird dieser pyramidale Bau häufig in den Durchschnitt einer anschlagenden Welle umgeändert, mit lang aufsteigender Linie und schnellem Absturz: Beginn, Steigerung, Schlußergebniß.
Je nach der Zahl der auftretenden Personen erhalten die Scenen verschiedene Bestimmung und verschiedene Einrichtung.
Die Monologe geben dem Helden der modernen Bühne Gelegenheit, in vollkommener Unabhängigkeit von einem beobachtenden Chor sein geheimes Empfinden und Wollen dem Publikum bekannt zu machen. Man sollte meinen, daß solche Vertrautenstellung dem Hörer sehr willkommen sein müßte, und doch ist dies oft nicht der Fall. So sehr ist der Kampf [S. 193] und die Einwirkung des einen Menschen auf den andern Zweck des Dramas, daß jede Isolirung des Einzelnen einer gewissen Entschuldigung bedarf. Nur wo ein reiches inneres Leben im Zusammenspiel längere Zeit gedeckt war, erträgt der Hörer die geheimen Offenbarungen desselben. Aber schon da, wo kunstvolles Intriguenspiel das Publikum zum Vertrauten machen will, liegt diesem wenig an dem stillen Aussprechen eines Einzelnen, es holt sich lieber selbst den Zusammenhang und die Gegensätze der Charaktere aus einem Dialoge heraus. Die Monologe haben Aehnlichkeit mit den antiken Pathosscenen, sind aber bei den zahlreichen Gelegenheiten, welche unsere Bühne den Charakteren darbietet ihr Inneres darzulegen, und bei der veränderten Ausgabe dramatischer Wirkungen durch die Schauspielkunst keine nothwendige Zugabe neuerer Dramen.
Da die Monologe einen Ruhepunkt in der laufenden Handlung darstellen und den Sprechenden in bedeutsamer Weise dem Hörer gegenüber stellen, so bedürfen sie vor sich eine bereits erregte Spannung, einen Einschnitt der Handlung auf einer oder beiden Seiten. Aber ob sie einen Akt eröffnen oder schließen, oder zwischen zwei bewegte Scenen gestellt sind, immer müssen sie dramatischen Bau haben. Satz, Gegensatz, Ergebniß; und zwar ein Schlußergebniß, das für die Handlung selbst Bedeutung gewinnt. Man vergleiche die beiden Monologe Hamlet's in der steigenden Handlung. Der zweite berühmte Monolog „Sein oder Nichtsein” ist eine tiefsinnige Offenbarung der Seele Hamlet's, aber für die Handlung selbst insofern keine Förderung, als er kein neues Wollen des Helden einleitet, sondern durch Darlegung der innern Kämpfe eine Erklärung des Zauderns gibt. Der vorhergehende Monolog dagegen, ein Meisterstück von dramatischer Bewegung, auch er der Ausklang einer Scene, hat zur Grundlage einen einfachen Beschluß. Hamlet sagt: 1. Der Schauspieler beweist so großen Ernst bei bloßem Spiel. 2. Ich aber schleiche thatlos bei dem furchtbarsten Ernst. 3. An's Werk! auch ich will [S. 194] ein Spiel veranstalten, um für ernste That Entscheidung zu gewinnen. — In diesem letzten Satze ist zugleich das Ergebniß der ganzen vorhergehenden Scene zusammengefaßt, die Folgen, welche die Unterhaltung mit den Schauspielern auf den Charakter des Helden und den Verlauf des Stückes ausübt.
Gelungene Monologe sind allerdings Lieblinge des Publikums geworden. In den Dramen Schiller's und Goethe's werden sie von dem heranwachsenden Geschlecht gern vorgetragen. Lessing hätte, auch wenn er mehr als den Nathan in unsern Jamben geschrieben hätte, schwerlich diese Art von dramatischen Wirkungen gesucht.
Am nächsten den Monologen stehen die Botenberichte unserer Bühne; wie jene das lyrische, so vertreten sie das epische Element. Von ihnen ist bereits früher gesprochen. Da sie die Aufgabe haben, eine zu Gunsten ihrer Aufnahme bereits erregte Spannung zu lösen, so muß die Wirkung, welche sie in den Gegenspielern des Vortragenden oder vielleicht gar in ihm selbst hervorbringen, sehr sichtbar werden; einen längeren Vortrag muß gesteigertes Gegenspiel begleiten und unterbrechen, allerdings ohne ihn zu überwachsen. Schiller, der Botenberichte sehr liebt, gibt Beispiele in Menge, sowohl zur Lehre als zur Warnung. Der Wallenstein allein enthält eine ganze Auswahl derselben. In den schönen Musterstücken: „Es gibt im Menschenleben” und „Wir standen keines Ueberfalls gewärtig” hat der Dichter zugleich die höchste dramatische Spannung an die epischen Stellen geknüpft. Das Inspirirte und Seherhafte Wallenstein's kommt an keiner Stelle so mächtig zu Tage als in seiner Erzählung. Im Botenberichte des Schweden aber steht das stumme Spiel der todwunden Thekla in dem stärksten Gegensatz zu Haltung und Vortrag des theilnehmenden Fremdlings. Daneben hat dies Drama aber andere Beschreibungen, z. B. den böhmischen Becher, das Zimmer des Sterndeuters, deren starke Kürzung oder Entfernung bei der Aufführung wohlthut.
[S. 195] Der wichtigste Theil der dramatischen Handlung verläuft in den Dialogscenen, zunächst im Zwiegespräch. Der Inhalt dieser Scenen: Satz und Gegensatz, Empfindung gegen Empfindung, Wille gegen Wille, hat bei uns, abweichend von der einförmigen, antiken Weise, die mannigfaltigste Ausbildung gefunden. Der Zweck aller Dialogscenen ist wieder, aus dem Satz und Gegensatz ein Ergebniß herauszuheben, welches die Handlung weiter treibt. Während das antike Zwiegespräch ein Streit war, der gewöhnlich keine unmittelbare Einwirkung auf die Seelen der Handelnden ausübte, versteht der moderne Dialog zu bereden, zu beweisen, hinüber zu führen. Die Argumente des Helden und Gegenspielers sind nicht, wie häufig in der griechischen Tragödie, rhetorische Wortgefechte, sondern sie sind aus Charakter und Gemüth der Personen hergeleitet, und genau wird der Hörer unterrichtet, wie weit dieselben wahrhafte Empfindung und Ueberzeugung aussprechen oder täuschen sollen.
Der Angreifende wird also seine Gründe genau nach der Persönlichkeit des Gegenspielers einrichten oder tief und wahr aus seinem eigenen Wesen heraus schöpfen müssen. Damit aber das Zweckvolle oder Wahre derselben von dem Hörer auch vollständig erfaßt wird, ist auf der Bühne eine bestimmte Richtung von Rede und Antwort nothwendig, nicht mit so gewohnheitsmäßigem Verlauf, wie auf der antiken oder altspanischen Bühne, aber doch wesentlich von dem Wege verschieden, welchen wir im wirklichen Leben einschlagen, um Jemand zu überzeugen. Dem Charakter auf der Bühne ist die Zeit beschränkt, er hat seine Argumente in einer fortlaufenden Steigerung der Wirkungen vorzutragen, er hat das für seine Stellung Wirksamste auch dem Hörer eindringlich auseinanderzusetzen. In Wirklichkeit mag ein solcher Kampf der Ansichten vielgetheilt, mit zahlreichen Gründen und Gegengründen ausgemacht werden, lange mag der Sieg schwanken, vielleicht ein unbedeutender Nebengrund mag zuletzt den Aus [S. 196] schlag geben; dies ist auf der Bühne in der Regel nicht möglich, weil es nicht wirksam wäre.
Deshalb ist Aufgabe des Dichters, die Gegensätze in wenigen Aeußerungen zusammenzufassen, diese mit fortgesetzter Steigerung ihrer inneren Bedeutung auszudrücken. In unseren Dramen schlagen die Gründe des Einen gleich Wellen gegen die Seele des Andern, zuerst durch den Widerstand gebrochen, dann höher, bis sie vielleicht am Ende über die Widerstandskraft reichen. Es geschieht nach einem uralten Compositionsgesetz, daß häufig der dritte solcher Wellenschläge die Entscheidung gibt; dann ist zweimal Satz und Gegensatz vorausgegangen, durch die beiden Stufen ist der Hörer genügend auf die Entscheidung vorbereitet, er hat eine kräftige Einwirkung erhalten, und hat mit Behagen das Gewicht der Gründe mit dem Inhalt des Charakters, auf den sie wirken sollen, vergleichen können. Solche Gesprächsscenen sind auf unserer Bühne seit Lessing mit besonderer Liebe und Schönheit ausgebildet worden. Sie entsprechen sehr der Freude der Deutschen an gründlicher Erörterung einer Angelegenheit. Berühmte Rollen unserer Bühne verdanken ihnen allein ihren Erfolg: Marinelli, Carlos im Clavigo, Wrangel im Wallenstein.
Da der Dichter die Dialogscene so zu arbeiten hat, daß dem Hörer der Fortschritt, den dieselbe für die Handlung bewirkt, eindringlich wird, muß auch die Technik dieser Scenen, je nach der Stellung, in welcher sie die Betheiligten finden und verlassen, verschieden sein.
Am einfachsten wird die Sache, wenn der Eindringende den Angegriffenen überwindet; dann findet ein- oder zweimalige Annäherung und Trennung statt bis zum Siege des Einen, oder, wenn der Angegriffene biegsamer ist, ein allmähliches Herüberziehen.
Eine Scene solcher Beredung von einfachem Bau ist der Dialog im Anfang des Brutus und Cassius. Cassius drängt, [S. 197] Brutus gibt seiner Forderung nach; der Dialog hat eine kurze Einleitung, drei Theile und Schluß, der mittlere Theil ist von besonderer Schönheit und großer Ausführung. Einleitung, Cassius : Ihr seid unfreundlich gegen mich. Brutus : Nicht aus Kälte. Die Theile, Cassius : 1. Man hofft auf euch (lebendig unterbrochen durch die Versicherung, daß Brutus ihm trauen könne, und durch Rufe von außen, welche die Aufmerksamkeit auf Cäsar leiten). — 2. Was ist Cäsar mehr als wir? — 3. Unser Wille kann uns befreien. — Schluß, Brutus : Ich will's überlegen.
Wenn aber die Sprechenden von einander scheiden, ohne sich zu vereinigen, so darf doch die Stellung derselben zu einander während der Scene nicht unverändert bleiben. Es ist den Zuhörern unerträglich, solchen Mangel an Fortschritt in der Handlung zu empfinden. Auch in solchem Fall muß die Richtung des Einen oder Beider gebogen werden, etwa so, daß sie an einer Stelle der Verhandlung scheinbar übereinkommen und nach diesem Punkte der Annäherung sich wieder energisch von einander abwenden. Die inneren Bewegungen, durch welche diese Veränderung der Stellung bewirkt wird, müssen allerdings sowohl wahr als für das Folgende zweckmäßig sein, nicht unnütze Querzüge, welche einer scenischen Wirkung zu Liebe, ohne Nutzen für Handlung und Charaktere, eingerichtet werden.
Bei ungebundener Rede ist es möglich, zahlreichere Gründe und Gegengründe in das Feld zu führen, die Linien schärfer zu wenden; im Ganzen bleibt der Bau, wie er oben mit einer brandenden Welle verglichen wurde: ein allmähliches Hinauftreiben auf den Höhenpunkt, Ergebniß, kurzer Abschluß. So ist die große Streitscene zwischen Egmont und Oranien — wohl der am besten gearbeitete Theil des Dramas — aus vier Theilen zusammengesetzt, vor denen eine Einleitung, nach denen der Schluß steht. Einleitung: Oranien: Die Regentin geht ab. Egmont: Sie geht nicht. Theil 1: Or. Und wenn ein Anderer [S. 198] kommt? Eg. So treibt er's wie der Vorige. 2. Or. Er wird diesmal unsere Häupter fassen. Eg. Das ist unmöglich. 3. Or. Alba ist unterwegs. Gehen wir in unsere Provinz. Eg. Dann sind wir Rebellen. Hier der Umschwung, von jetzt wird Egmont der Angreifende. 4. Eg. Du handelst unverantwortlich. Or. Nur vorsichtig. Schluß: Or. Ich gehe und betraure dich als verloren. Die letzte Vereinigung der Streitenden in einer gemüthlichen Stimmung bildet einen guten Gegensatz zu der vorausgegangenen Heftigkeit Egmont's.
Besondere Bedeutung haben in dem neueren Drama die Scenen zwischen zwei Menschen erhalten, in denen die Charaktere sehr entschieden einer Meinung zu sein pflegen, die Liebesscenen. Sie sind nicht durch Tagesgeschmack oder vorübergehende Weichlichkeit der Dichter und Hörer entstanden, sondern durch einen uralten Gemüthszug der Germanen. Seit frühester Zeit ist der deutschen Dichtung die Liebeswerbung, die Annäherung des jungen Helden an die Jungfrau, besonders reizvoll gewesen. Es war die herrschende poetische Neigung des Volkes, die Beziehungen der Liebenden vor der Vermählung mit einer Würde und einem Adel zu umgeben, von welchen die antike Welt nichts wußte. Nach keiner Richtung hat sich der Gegensatz der Deutschen zu den Völkern des Alterthums schärfer ausgeprägt, durch die gesammte Kunst des Mittelalters bis zur Gegenwart geht dieser bedeutsame Zug. Auch in dem ernsten Drama macht er sich mit hoher Berechtigung geltend. Das holdeste und lieblichste Verhältniß der Erde wird mit dem Finstern und Schrecklichen in Verbindung gebracht, als ergänzender Gegensatz, zur höchsten Steigerung der tragischen Wirkungen.
Für den arbeitenden Dichter freilich sind diese Scenen nicht der bequemste Theil seines Schaffens, und nicht jedem will es damit gelingen. Es ist nicht ohne Nutzen, die größten Liebesscenen, welche wir haben, mit einander zu vergleichen, die drei Scenen des Romeo auf dem Maskenfeste und beim [S. 199] Balkon vor und nach der Brautnacht, und die Scene Gretchens im Garten. In der ersten Romeoscene hat der Dichter der Kunst des Darstellers die höchste Aufgabe gestellt, in ihr ist die Sprache der beginnenden Leidenschaft wundervoll abgebrochen und kurz, hinter dem artigen Redespiel, das zu Shakespeare's Zeit der guten Gesellschaft geläufig war, scheint das aufglühende Gefühl nur wie in Blitzen durch. Wohl empfand der Dichter, wie sehr darauf ein vollerer Ausdruck noth thue. Die erste Balkonscene ist immer für ein Meisterstück der Dichtkunst gehalten worden, aber wenn man die hohen Schönheiten ihrer Verse zergliedert, wird man vielleicht überrascht sein, wie wortreich und unumschränkt genießend die Seelen der Liebenden schon mit ihrem leidenschaftlichen Gefühl zu spielen wissen. Schöne Worte, zierliche Vergleiche sind so gehäuft, daß wir zuweilen die Kunst als künstlich empfinden. Für die dritte, die Morgenscene, ist die Idee alter Minne- und Volkslieder — „der Wächterlieder” — in reizender Weise verwerthet.
Auch Goethe hat in seiner schönsten Liebesscene volksthümliche Erinnerungen poetisch verwerthet: er hat die Liebeserklärung in seiner Weise aus kleinen epischen und lyrischen Momenten zusammengefaßt, die er — doch nicht ganz günstig für eine große Wirkung — durch den schneidenden Gegensatz Martha und Mephisto unterbricht. Auch der Umstand erinnert an den großen lyrischen Dichter, daß Faust darin zurücktritt und die Scenen nicht viel Anderes sind als Selbstgespräche Gretchens. Aber jedes der drei kleinen Stücke, aus denen sich das Bild zusammensetzt, ist von wunderbarer Schönheit.
Dem schwungvollen Schiller wollte es dagegen in seiner Jambenzeit mit diesen Scenen nicht mehr recht gelingen. Am besten noch in der Braut von Messina. Aber im Tell ist die Scene zwischen Rudenz und Bertha ohne Leben, und selbst im Wallenstein, wo sie durchaus nothwendig war, hat er ihr durch die Anwesenheit der Gräfin Terzky einen Dämpfer auf [S. 200] gesetzt, Thekla muß den Geliebten vom Heerlager und von dem Astrologenzimmer unterhalten, bis sie endlich in kurzem Alleinsein die bedeutsame Warnung aussprechen kann.
Die glänzenden Beispiele Shakespeare's und Goethe's zeigen auch die Gefahr dieser Scenen, es wird noch davon gesprochen. Da das Austönen lyrischer Empfindungen auf der Bühne trotz aller Dichterkunst bei längerer Ausdehnung den Hörer zuverlässig ermüdet, so wird die lohnende Aufgabe des dramatischen Dichters, ein kleines Ereigniß zu erfinden, in welchem das heiße Gefühl des liebenden Paares sich bei gemeinsamer Theilnahme an einem Moment der Handlung ausdrücken kann, er erhält dadurch die dramatische Schnur, an welcher er seine Perlen aufreiht. Das süße Liebesgeplauder, welches sich Selbstzweck ist, wird er mit Recht scheuen, und wo es unvermeidlich wird, durch Schönheit der Poesie ersetzen, was er solchen Scenen als gewissenhafter Mann an Ausdehnung nehmen muß.
Der Eintritt einer dritten Person in den Dialog gibt demselben einen anderen Charakter. Wie das Bühnenbild durch den dritten Mann einen Mittelpunkt und eine Gruppenaufstellung bekommt, so wird auch für den Inhalt der Dritte oft der Vermittler oder Richter, welchem zwei Parteien ihre Gründe an das Herz legen. Die Gründe beider Parteien werden in solchem Falle zugleich für ihn nach seinem Wesen eingerichtet und erhalten schon dadurch etwas Bewußtes, weniger Unmittelbares. Der Lauf der Scene wird langsamer, zwischen Rede und Gegenrede tritt ein Urtheil ein, welches sich ebenfalls dem Hörer bedeutsam darstellen muß.
Oder der dritte Schauspieler ist selbst Partei und Bundesgenosse einer Seite. In diesem Fall werden die Aeußerungen der einen Partei schneller, bewegter herausbrechen müssen, weil dem aufnehmenden Hörer größere Anspannung der Aufmerksamkeit zugemuthet wird, indem er Wesen und Inhalt zweier Persönlichkeiten in die eine Wagschale zu stellen hat.
[S. 201] Der dritte, seltnere Fall endlich ist, daß jeder der drei Charaktere seinen Willen gegen den der beiden andern stellen will. Solche Scenen werden als ein Ausklingen einer gelösten Spannung zuweilen verwendbar, sie haben nur ein kurzes Resultat zu ziehen, denn die drei Sprechenden halten dann in der That Monologe. So die Scenen mit Margaretha in Richard III. , wo der eine Charakter die Melodie, die beiden andern Parteien in Contrasten die Begleitung geben. Scenen solches Dreispiels werden aber in größerer Ausführung fast nur dann Bedeutung gewinnen, wenn wenigstens der Eine in verstelltem Spiel auf den Standpunkt eines Anderen übergeht.
Scenen, welche mehr als drei Personen zu thätiger Theilnahme an der Handlung versammeln, die sogenannten Ensemblescenen, sind ein unentbehrlicher Bestandtheil unseres Dramas geworden. Sie waren der alten Tragödie unbekannt, ein Theil ihrer Leistungen wurde durch die Verbindung der Solospieler mit dem Chor ersetzt. Sie umschließen in dem Drama der Neuzeit nicht vorzugsweise die höchsten tragischen Wirkungen, obgleich ein großer Theil der lebendigsten Aktionen in ihnen ausgeführt wird. Denn es ist eine nicht genug beachtete Wahrheit, daß weniger spannt und fesselt, was aus Vielen entsteht, als was aus der Seele der Hauptgestalten lebendig wird . Die Theilnahme an dem dramatischen Leben der Nebenpersonen ist geringer und das Verweilen mehrer Betheiligten auf der Bühne mag leicht das Auge zerstreuen, die Schaulust mehr als nützlich erregen. Im Ganzen ist das Wesen dieser Scenen, daß sie bei guter Führung durch den Dichter lebhaft beschäftigen und eine durch die Haupthelden erregte Spannung lösen, oder daß sie helfen eine solche Spannung in der Seele der Hauptgestalten hervorzurufen. Sie haben deshalb vorzugsweise den Charakter vorbereitender oder abschließender Scenen.
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß ihre Eigenthümlichkeit nicht jederzeit hervortritt, wenn mehr als drei Spieler [S. 202] auf der Bühne sind. Denn auch, wo wenige Hauptrollen allein oder fast ausschließlich die Handlung darstellen, mögen Nebenfiguren in ziemlicher Anzahl wünschenswerth sein. Leicht mag eine Rathsversammlung, eine Prunkscene viele Schauspieler auf der Bühne versammeln, ohne daß diese sich bis zu thätigem Antheil erheben.
Die erste Vorschrift für den Bau der Ensemblescenen ist: sämmtliche Personen charakteristisch und förderlich für die Handlung zu beschäftigen. Sie sind wie eine geladene Gesellschaft, für deren geistige Thätigkeit der Dichter als unsichtbarer Wirth unablässig besorgt sein muß. Er muß beim Fortführen der Handlung genau die Wirkung empfinden, welche die einzelnen Vorgänge, Reden und Gegenreden auf jeden der Betheiligten ausüben.
Es ist klar, daß eine Person in Gegenwart Anderer auf der Bühne nicht aussprechen darf, was diese nicht hören sollen, die herkömmliche Aushilfe des Beiseitesprechens darf nur in dringenden Fällen und für wenige Worte benutzt werden. Aber eine größere Schwierigkeit liegt darin, daß auch nicht leicht eine Rolle etwas aussprechen darf, worauf eine andere der anwesenden Personen eine Antwort geben müßte, welche ihrem Charakter nach nothwendig, für die Handlung aber unnütz und verzögernd wäre. Es gehört eine unumschränkte Herrschaft des Dichters über seine Helden dazu und lebhafte Anschauung des Bühnenbildes, um allen Mitspielern einer menschenreichen Scene gerecht zu werden. Denn jede einzelne Rolle wirkt auf Stimmung und Haltung der übrigen und trägt ihrerseits dazu bei, das unbefangene Aussprechen der Anderen zu beschränken. Es wird daher in solchen Scenen sich die Kunst des Dichters vorzugsweise darin zeigen, durch scharfe, kleine Striche die Charaktere von einander abzuheben. Und es ist wohl zu beachten, daß die angemessene Beschäftigung der versammelten Personen durch die Beschaffenheit unserer Bühne erschwert wird, welche in ihren Coulissen die Darsteller wie in einem Saale zu [S. 203] sammenschließt und, wenn der Dichter nicht, was zuweilen unmöglich ist, bestimmte Vorkehrungen trifft, die Abtrennung Einzelner schwierig macht.
Ferner aber: Je zahlreicher die Mitspieler in die Scene geladen sind, desto weniger Raum wird gewöhnlich der Einzelne behalten, sich in seiner Eigenart zu äußern. Der Dichter wird also zu vermeiden haben, daß der betreffende Theil der Handlung nicht durch die größere Anzahl der Theilnehmer zerstückt wird und in kurzen Wellen eintönig dahinläuft; und wie er die Personen in Gruppen ordnet, wird er auch die Handlung der Scene so einrichten, daß die Bewegung der Nebenspieler nicht die Bewegung der Hauptpersonen übermäßig beengt. Deshalb gilt der Grundsatz: je größer die Zahl der Theilnehmer an einer Scene, desto kräftiger gegliedert muß der Bau derselben sein. Die Haupttheile müssen dann um so mächtiger hervortreten, bald die einzelnen führenden Stimmen sich von der Mehrzahl abheben, bald das Zusammenwirken der Gesammtheit im Vordergrund stehen.
Da bei größerer Anzahl von Spielenden der Einzelne leicht gedeckt wird, so sind diejenigen Stellen der Ensemblescenen besonders schwierig, in denen die Wirkung dargestellt wird, welche das Verhandelte auf die einzelnen Betheiligten hat. Wo in diesem Fall ein kurzes hingeworfenes Wort nicht genügt, die Zuhörer zu unterrichten, ist eine Erfindung nöthig, welche den Einzelnen zwanglos von der Gruppe löst und in den Vordergrund stellt. Es ist ganz unthunlich, in solchem Falle die dramatische Bewegung der Mehrzahl plötzlich zu unterbrechen und die Uebrigen zu stummen und thatlosen Zuschauern der geheimen Offenbarungen Einzelner zu machen.
Je rascher die Handlung im Zusammenspiel fortläuft, desto schwerer wird solches Isoliren der Einzelnen. Hat die Handlung aber eine gewisse Wucht und Höhe erreicht, so wird es der größten Kunst nicht immer möglich, einem Hauptschauspieler Raum zu wünschenswerther Darlegung seiner innersten [S. 204] Stimmung zu geben. Und deshalb gilt für diese Scenen das dritte Gesetz. Der Dichter wird seine Personen nicht Alles sagen lassen, was für sie bezeichnend und für ihre Rolle an sich nöthig wäre. Denn hier besteht ein innerer Gegensatz zwischen dem Erforderniß der einzelnen Rolle und dem Vortheil des Ganzen. Jede Person auf der Bühne fordert für sich Betheiligung am Fortgange der Handlung, soweit dies ihre gesellschaftliche Stellung zu den anderen Charakteren der Scene erlaubt. Der Dichter aber kommt in die Lage, ihr diesen Antheil beschränken zu müssen. Auch Haupthelden müssen häufig mit stummem Spiel begleiten, wo ihnen im wirklichen Leben das Dreinsprechen geboten sein würde. Dem Schauspieler dagegen ist langes Schweigen peinlich, der Nebenspieler ermattet und sinkt zum Statisten herab, der Hauptspieler fühlt lebhaft das Unrecht, welches seiner Rolle geschieht, weit weniger die höhere Nothwendigkeit. Es genügt für die richtige Gesammtwirkung nicht immer, daß der Dichter auf die Bewegung der nicht gerade im Vordergrund stehenden Rollen achtet und durch wenige Worte oder durch eine nicht ruhmlose Beschäftigung dem Darsteller Richtung für sein stummes Spiel und Uebergänge zu den Stellen, wo er wieder eingreifen darf, gewährt. Es gibt äußerste Fälle, wo auf der Scene dasselbe gilt, was bei großen Gemälden gestattet wird, welche zahlreiche Gestalten in starker Bewegung und Verschlingung zeigen. Wie dort der Schwung der Hauptlinien so wichtig ist, daß ihm einmal die richtige Verkürzung eines Armes und Fußes geopfert werden muß, so wird auch in der starken Strömung einer menschenreichen Scene die für den einzelnen Charakter nöthige Darstellung aufgegeben werden müssen, aus Rücksicht auf Verlauf und Gesammtwirkung der Scene. Damit der Dichter dergleichen gebotene Fehler aber schön verüben könne, wird ihm die Empfindung lebhaft sein müssen, daß es an sich Fehler sind.
Es gereicht dem Stücke thatsächlich zum Nutzen, die [S. 205] Zahl der Mitspieler so viel als irgend möglich zu beschränken. Jede Rolle mehr erschwert die Besetzung, macht bei Krankheit oder Abgang eines Schauspielers die Wiederholung des Stückes unbequem. Schon diese äußere Rücksicht wird den Dichter bestimmen, bei Ensemblescenen wohl zu überlegen, welche Gestalten ihm unumgänglich nothwendig seien. Dazu kommt ein innerer Grund: je größer die Zahl der thätigen Nebenpersonen in einer Scene ist, desto mehr Zeit nimmt sie in Anspruch.
Die Ensemblescenen sind allerdings eine wesentliche Hilfe, dem Stück Farbe und Glanz zu geben. Sie werden ungern bei einem geschichtlichen Stoffe entbehrt werden. Aber sie werden auch in solchem Stück mit Maß verwendet werden müssen, weil sie mehr als andere den Erfolg von dem Geschick des Regisseurs abhängig machen, und weil in ihnen die ausgeführte Darstellung des innern Lebens der Hauptfiguren, eine genaue Schilderung der Seelenvorgänge, welche den höchsten dramatischen Antheil beanspruchen, weit schwieriger ist. Die zweite Hälfte des Stückes wird sie am lebhaftesten heischen, weil in ihr die Thätigkeit der Gegenspieler mächtiger hervortritt, aber nur dann ohne Schaden vertragen, wenn in diesem Abschnitt der Handlung die warme Theilnahme des Zuschauers an den Hauptcharakteren bereits unerschütterlich festgestellt war. Auch hier wird der Dichter sich hüten, das innere Leben der Haupthelden für längere Zeit zu decken.
Eine der schönsten Ensemblescenen Shakespeare's ist die Banketscene auf der Galeere des Pompejus in Antonius und Kleopatra; sie enthält keinen Haupttheil der Handlung und ist, was bei Shakespeare in den tragischen Theilen seiner Handlung nicht häufig ist, wesentlich Situationsscene. Sie hat aber eine gewisse Bedeutung, weil sie am Schluß des zweiten Aktes, also an einer Stelle steht, welche eine Auszeichnung fordert, zumal in diesem Stück, in welchem die vorhergehenden politischen Auseinandersetzungen ein buntes und belebtes Bild sehr wün [S. 206] schenswerth machten. Die Fülle der kleinen charakterisirenden Züge, welche in dieser Scene vereinigt sind, das knappe Zusammenfassen derselben, vor allem aber die technische Anordnung sind bewunderungswürdig. Die Scene wird eingeleitet durch eine kurze Unterredung der Diener, wie sie bei Shakespeare nicht selten ist, um das Aufstellen der Tische und Geräthe auf seiner Bühne zu vermitteln. Die Scene selbst ist dreitheilig. Der erste Theil stellt das übermüthige Geplauder der versöhnten Triumvirn und die Pedanterie des trunkenen Schwachkopfes Lepidus dar, auf den schon die Diener hingewiesen haben; der zweite in furchtbarem Gegensatz die heimliche Unterredung des Pompejus und Mänas; der dritte, durch das Hinaustragen des trunkenen Lepidus eingeleitet, die Steigerung des wüsten Bacchanals und die überhandnehmende Trunkenheit. Die Verbindung der drei Theile, wie Mänas den Pompejus zur Seite zieht, wie Pompejus wieder an der Person des Lepidus anknüpfend das Gelage fortsetzt, ist sehr beachtenswerth. Kein Wort in der ganzen Scene ist unnütz und bedeutungslos, der Dichter empfindet in jedem Augenblick die Lage der einzelnen Gestalten, auch der Nebenfiguren, jede greift fördernd in den Verlauf ein, für den Regisseur wie für die Rollen ist das Ganze meisterhaft zurecht gemacht. Von dem ersten Bericht des Antonius über den Nil, durch welchen das Bild der Kleopatra auch in diese Scene hineingetragen wird, und dem einfältigen Dreinreden des Lepidus: — „Ihr habt seltsame Schlangen dort” — durch welches ein Eindruck in die Seelen der Zuhörer geworfen wird, welcher auf den Schlangentod der Kleopatra vorbereitet, bis zu den letzten Worten des Antonius: „Gut, gebt die Hand, Herr,” in denen der Berauschte unwillkürlich die Ueberlegenheit des Cäsar Augustus anerkennt, und bis zu den folgenden trunkenen Reden des Pompejus und Enobarbus gleicht Alles feinciselirter Arbeit an fest zusammengefügten Metallgliedern.
Belehrend ist der Vergleich dieser Scene mit dem Schluß [S. 207] des Banketaktes in den Piccolomini. Die innere Aehnlichkeit ist so groß, daß man die Meinung erhalten muß, Schiller habe die Shakespeare'sche Ausführung vor Augen gehabt. Auch hier ist eine Dichterkraft zu bewundern, welche eine große Anzahl von Gestalten mit unumschränkter Sicherheit zu leiten weiß, auch hier ein großer Reichthum von bedeutenden Momenten und kräftige Steigerung im Bau. Aber was für Schiller bezeichnend ist, diese Momente sind zum Theil episodischer Natur, das Ganze breiter und größer angelegt. Dies letzte freilich mit Berechtigung. Denn die Scene steht nicht am Ende des zweiten, sondern am Ende des vierten Aktes, und sie enthält einen wesentlichen Theil der Handlung, die Erlangung der verhängnißvollen Unterschrift, sie würde also, auch wenn das Banket nicht den gesammten vierten Akt füllte, eine größere Anlage gehabt haben. Ihre Anordnung ist genau wie bei Shakespeare. [21] Zuerst eine einleitende Unterredung der Diener, welche aber zu unverhältnißmäßiger Breite ausgesponnen ist; die Beschreibung des Pokals hat kein Recht uns zu beschäftigen, weil der Becher selbst mit dem Stück weiter nichts zu thun hat und die zahlreichen Seitenlichter, welche [S. 208] aus dieser Beschreibung auf die Gesammtlage fallen, nicht mehr stark genug sind. Dann eine ebenfalls dreitheilige Handlung, erstens: Bemühung Terzky's, von Nebenfiguren die Unterschrift zu erhalten, zweitens: im scharfen Gegensatz dazu das kurze Gespräch der Piccolomini, drittens: die Entscheidung als Streit des trunkenen Illo mit Max. Auch hier ist der Verband der einzelnen Scenentheile sorgfältig. Octavio führt durch das vorsichtige Ausforschen Buttler's leise die Aufmerksamkeit aus der bewegten Gruppe der Generäle heraus auf seinen Sohn, durch das Suchen des fehlenden Namens wird die volle Aufmerksamkeit auf Max geleitet; worauf der trunkene Illo sich wieder zuerst sehr bedeutsam an Octavio wendet, bevor er mit Max zusammenstößt. Die Verbindung und Lösung der einzelnen Gruppen, das Herausheben der Piccolomini, die Handlung des Höhenpunktes, das bewegte Zwischenspiel der Nebenfiguren bis zu dem kräftigen kurzen Schluß sind sehr schön.
Wir besitzen außerdem noch zwei mächtige Massenscenen von Schiller, die größten aus der großen Zeit unserer Dichtkunst: die Rütliscene und den ersten Akt des Demetrius. Beide sind Muster, welche der angehende Dramatiker nicht nachahmen, aber in ihrer hohen Schönheit sorgfältig beachten soll. Was man auch gegen den dramatischen Bau des Tell sagen muß, auf einzelnen Scenen ruht ein Zauber, der immer auf's Neue zur Bewunderung hinreißt. Auch in der Rütliscene ist die dramatische Bewegung eine verhältnißmäßig gehaltene, die Ausführung breit, prächtig, voll schöner Lokalfarbe. Zuerst gibt eine Einleitung die Stimmung. Sie besteht aus drei Theilen: Ankunft der Unterwaldner, Unterredung Melchthal's und Stauffacher's, Begrüßung der Schwyzer. Man beachte wohl, daß der Dichter vermieden hat, durch dreimalige Betonung des Eintritts der drei Cantone zu ermüden. Zwei Hauptgestalten heben sich hier kräftig von den Nebenfiguren ab und bilden für die Einleitung einen kleinen Höhenpunkt, [S. 209] die Zerrissenheit durch mehre gleichschwebende Momente wird verhindert. Mit dem Eintritt der Urner, welcher durch ihr Horn, das Herabsteigen vom Berge und die Reden der Anwesenden hinreichend betont ist, beginnt sogleich die Handlung.
Diese Handlung läuft fünfgetheilt fort. Erstens Einrichtung der Tagsatzung mit kurzen Reden und kräftiger Betheiligung der Nebenspieler. Darauf Stauffacher's großartige Darstellung vom Wesen und Zweck des Bündnisses. Nach diesem mächtigen Hervortreten des Einzelnen drittens bewegter Streit der Ansichten und Parteien über die Stellung des Bundes zum Kaiser, viertens hohe Steigerung der Gegensätze bis zum ausbrechenden Streit über die Mittel, sich von der Gewaltherrschaft der Vögte zu lösen, und Abstimmung über die Beschlüsse. Endlich fünftens der feierliche Schwur. Und nach solchem Abschluß der Handlung ein Ausklingen der Stimmung, welches seine Klangfarbe von der umgebenden Natur und der aufgehenden Sonne erhält. Bei dieser reichen Gliederung ist die Schönheit in den Verhältnissen der einzelnen Theile besonders anziehend. Der Mittelpunkt dieser ganzen Gruppe von dramatischen Momenten, Stauffacher's Vortrag, tritt als Höhenpunkt heraus. Darauf als Abstich die unruhige Bewegung in den Massen, die eintretende Befriedigung und der hohe Aufschwung! Nicht weniger schön ist die Behandlung der zahlreichen Nebenfiguren, das selbständige Eingreifen der einzelnen kleinen Rollen, welche in ihrer Bedeutung für die Scene mit einer gewissen republikanischen Gleichberechtigung neben einander stehen.
Das größte Muster für Staatsaktionen ist die prachtvolle Eröffnungsscene des Demetrius, der polnische Reichstag. Der Stoff dieses Dramas machte die Mittheilung vieler Voraussetzungen nöthig, die seltsamen Schicksale des Knaben Demetrius erforderten außerdem eine starke Anwendung besonderer Farben, um die fremdartige Welt poetisch nahe zu bringen. Schiller machte mit der ihm eigenen kühnen Hoheit die epische Erzählung [S. 210] zum Mittelpunkt einer reich ausgestatteten Schauscene und umgab den langen Bericht des Einzelnen mit leidenschaftlicher Bewegung der Massen. Auf eine kurze Einleitung folgt mit dem Eintritt des Demetrius die viertheilige Scene: 1) die Erzählung des Demetrius; 2) die kurz zusammenfassende Wiederholung derselben durch den Erzbischof und die ersten Wellen, welche dadurch in der Versammlung aufgeregt werden; 3) die Bitte des Demetrius um Unterstützung und die Steigerung der Bewegung; 4) die Gegensprache und der Einspruch des Sapieha. Die Scene endigt mit Tumult und plötzlichem Abbruch. Durch ein kleines dramatisches Moment wird sie mit dem darauf folgenden Zwiegespräch zwischen dem König und Demetrius verbunden. Die Bewegungen der Nebenpersonen sind kurz und heftig, der Stimmführer wenige, außer Demetrius ist nur der eine Widerspruch Erhebende kräftig von der Masse abgehoben. Man empfindet und erfährt, daß die Masse schon vorher gestimmt ist, die Erzählung des Demetrius bildet in ihrer schmuckvollen Ausführung den Haupttheil der Scene, wie dem ersten Akt geziemte.
Goethe hat uns, wenn man von den kurzen Scenen im Götz absieht, keine Massenscenen von großer dramatischer Wirkung hinterlassen. Den Volksscenen im Egmont fehlt zu sehr kräftige Bewegung, der schöne Spaziergang im Faust ist aus kleinen dramatischen Bildern zusammengefügt, die Studentenscene in Auerbachs Keller beabsichtigt keine tragische Wirkung und hat für den Darsteller des Faust den Uebelstand, daß sie ihn müßig und unbeschäftigt auf der Bühne läßt.
Besondere Unterstützung durch den Regisseur fordern die Aktionsscenen, in denen größere Massen wirken. Wenn auch unsere Bühnen in dem Chorpersonal der Oper eine ziemliche Anzahl von Mitspielern bereit haben und diese Helfer noch durch Statisten zu verstärken gewöhnt sind, so ist doch die Zahl der Personen, welche auf der Bühne versammelt werden können, oft verschwindend klein gegen die Menschenmenge, welche im [S. 211] wirklichen Leben an einer Volksscene, an einem Gefecht, an einem großen Aufruhr Theil nehmen. Leicht empfindet deshalb der Zuschauer vor den eingeführten Haufen die Leere und Dürftigkeit. Auch hier stört, daß das moderne Theater wenig geeignet zur Aufstellung größerer Massen ist. Nun ist allerdings die äußerliche Anordnung solcher Scenen zum großen Theil in den Händen des Regisseurs; aber der Dichter hat die Aufgabe ihm leicht zu machen, daß er durch seine Kunst den Schein belebter Menschenmenge hervorbringe.
Schon Einzug und Abgang einer größern Anzahl von Personen nimmt Zeit in Anspruch und zerstreut die Aufmerksamkeit, diese muß also durch spannende kleine Erfindungen und durch die Vertheilung der Masse in Gruppen zusammengehalten werden.
Der Bühnenraum muß so eingerichtet sein, daß die verhältnißmäßig geringe Zahl der wirklich vorhandenen Spieler nicht übersehen werden kann, durch Versatzstücke, gute Perspectiven, ein Aufstellen an den Seiten, welches die Phantasie auf größere unsichtbare Mengen hinleitet, die sich durch Zeichen und Rufe hinter der Scene bemerkbar machen, u. s. w.
Glänzende Schauaufzüge, wie Iffland der Jungfrau von Orleans einrichtete, wird sich der Dichter eines Trauerspiels mit Fug verbitten, die Gelegenheit dazu soviel als möglich vermeiden.
Dagegen sind solche Massenwirkungen, wobei die Menge in lebhafter Bewegung sich tummelt, Volksscenen, große Rathsversammlungen, Lagerbilder, Gefechte, zuweilen wünschenswerth.
Für Volksscenen ist die schöne Behandlung Shakespeare's zum oft nachgeahmten Vorbild geworden: kurze schlagende Reden einzelner Volksfiguren, fast immer in Prosa, unterbrechende und belebende Rufe einer Menge, welche von einzelnen Führern ihre Anregung erhält. Es lassen sich aber durch eine Volksscene auf der Bühne noch andere Wirkungen hervorbringen, nicht die höchsten dramatischen, aber doch bedeutende, welche [S. 212] zur Zeit noch wenig von unseren Dichtern verwerthet worden sind.
Da wir auch bei Volksscenen den Vers nicht aufgeben sollen, wird schon durch diesen eine andere Behandlung des Haufens geboten, als Shakespeare liebte. Nun ist die Einführung des alten Chors allerdings unmöglich; die Neubelebung, welche Schiller einmal versucht hat, dürfte trotz der Fülle von poetischer Schönheit, welche in den Chören der Braut von Messina entzückt, keine Nachahmung finden; aber zwischen den Hauptspielern und einer größern Anzahl von Nebenfiguren ist noch ein anderes dramatisch bewegtes Zusammenspiel denkbar, welches die Führer sowohl der Menge verbindet als gegenüberstellt. Nicht nur kurze Rufe, auch Reden, welche mehre Verse umfassen, erhalten durch das Zusammensprechen Mehrer mit eingeübtem Tonfall und Zeitmaß eine gesteigerte Kraft. Der Dichter wird bei derartiger Einführung der Menge in Stand gesetzt, ihr einen würdigeren Antheil an der Handlung zu geben, er wird in dem Wechsel zwischen einzelnen Stimmen, dem Drei- oder Vierklang und der Gesammtheit, zwischen helltönendem Tenor und kräftigem Baß zahlreiche Nüancen, Steigerung und Färbung hervorzubringen vermögen. Bei solchem Zusammensprechen größerer Massen hat er darauf zu achten, daß der Sinn der Sätze auch der Wucht und Energie des Ausdrucks wohl entspreche, daß die Worte leicht verständlich und ohne Mißlaut seien, daß sich die einzelnen Satztheile gut von einander abheben.
Es ist nicht wahr, daß diese Behandlung an Stelle einer mannigfaltigen und naturwahren Bewegung auf der Bühne eine gekünstelte setzt, denn auch die herkömmliche Art und Weise, Volksscenen einzurichten, ist eine überkommene, künstliche, welche den Verlauf nach einem Schema umbildet. Die hier vorgeschlagene Weise ist nur wirkungsvoller. Der Dichter mag bei ihrer Anwendung seine Kunst verstecken und durch Abwechselung im Gebrauch der mehrstimmigen Rede und Gegen [S. 213] rede Mannigfaltigkeit hervorbringen. Das klangvolle Zusammensprechen eignet sich nicht nur für lebhaftes Wortgefecht und Erörterungen, es ist für jede Stimmung, welche in einer versammelten Menge aufbraust, zu gebrauchen. Auf unseren Bühnen wird bis jetzt das Einüben des Zusammensprechens unverantwortlich vernachlässigt, es ist oft nichts als schwer verständliches Geschrei. Der Dichter wird deshalb wohlthun, in seinen Textbüchern für die Bühne genau die Stimmengruppen zu unterscheiden. Für solche Bezeichnung muß er selbst die Wirkungen deutlich vorausgefühlt haben.
Die Gefechte sind auf der deutschen Bühne übel berüchtigt und werden von dem vorsichtigen Dichter vermieden. Ursache ist wieder, daß unsere Theater dergleichen schlecht machen. Shakespeare hatte eine unleugbare Vorliebe für kriegerische Bewegungen der Massen, er hat sie auch in seinen späteren Stücken durchaus nicht beschränkt. Und obgleich er selbst gelegentlich mit geringer Achtung von den Mitteln spricht, durch welche Gefechte auf seinem Theater dargestellt wurden, so ist man doch berechtigt anzunehmen, daß er sie sorgfältiger fern gehalten hätte, wenn sie nicht seinen Zuschauern sehr angenehm gewesen wären. Solcher Eindruck war aber bei einem waffenfreudigen Volke, welches alle kriegerischen Leibesübungen noch mit Leidenschaft trieb, nur möglich, wenn bei diesen Scenen eine gewisse Kunst und Technik zu Tage kam, und wenn das unvermeidliche Conventionelle der Bühne nicht den Eindruck des Kläglichen machte. Scenen, wie das Gefecht des Coriolanus und Aufidius, des Macbeth und Macduff, die Kampfscenen in Richard III. und Julius Cäsar sind so wichtig und bedeutsam, daß man sieht, wie sicher Shakespeare ihren Wirkungen vertraute. In neuer Zeit hat man auf der englischen Bühne diese kriegerischen Effekte wieder mit einem Aufwand von Hilfsmitteln zu erhöhter Wirkung herausgeputzt und die Zuschauer nur zuviel damit beschäftigt. Wenn in Deutschland immer noch zu wenig dafür geschieht, so darf [S. 214] diese Nachlässigkeit für den Dichter kein Grund werden, sich ängstlich davon fern zu halten. Es sind Hilfswirkungen, die ihm wohl einmal gute Dienste leisten können. Er soll sich selbst ein wenig kümmern, wie dergleichen gut eingerichtet werden kann, und darauf achten, daß die Bühnen ihre Schuldigkeit thun.
Die Bildung der dramatischen Charaktere bei den Germanen zeigt deutlicher, als der Bau ihrer Handlung, den großen Fortschritt, welchen das Menschengeschlecht seit dem Erscheinen der dramatischen Kunst bei den Griechen gemacht hat. Sowohl die natürliche Anlage unseres Volkes als seine Stellung über den Jahrtausenden einer verschütteten Welt und die dadurch gebotene Ausbildung des geschichtlichen Sinnes erklären diese Verschiedenheit. Seit dem neueren Drama die Aufgabe wurde, durch Poesie und Schauspielkunst auf der Bühne den Schein eines individuellen Lebens bis zur Täuschung genau darzustellen, hat die Schilderung der Charaktere eine Bedeutung für die Kunst gewonnen, welche sie in der alten Welt nicht hatte.
Die poetische Kraft des dramatischen Dichters erweist sich am unmittelbarsten in Erfindung der Charaktere. Beim Aufbau der Handlung, bei der Einrichtung für die Bühne helfen ihm andere Eigenschaften; eine sichere Bildung, ein männlicher Zug in dem eigenen Wesen, gute Schule und Erfahrung; wo aber die Fähigkeit zu scharfer Zeichnung der Charaktere gering ist, wird vielleicht ein bühnengerechtes, nie ein bedeutendes Werk geschaffen werden. Macht dagegen eigenthümliche Erfindung die einzelnen Rollen anziehend, da darf man gute [S. 216] Hoffnung hegen, wenn auch das Zusammenwirken der Gestalten zum Gesammtbilde noch sehr mangelhaft ist. Deshalb ist gerade bei diesem Theile des künstlerischen Schaffens durch Lehre weniger zu helfen, als bei jedem andern. Die Poetik des griechischen Denkers, wie sie uns erhalten ist, enthält über die Charaktere nur wenige Zeilen. Auch in unserer Zeit vermag die Technik nichts als dürftige Vorschriften aufzustellen, die den Schaffenden nicht einmal wesentlich fördern. Was diese Regeln für die Arbeit geben können, trägt der Dichter im Ganzen sicher in sich, und was er nicht hat, vermögen sie nicht zu geben.
Das Charakterisiren des Dichters beruht auf der alten Eigenschaft des Menschen, jedes Lebendige als geschlossene Persönlichkeit zu empfinden, in welcher eine Seele, gleich der des Beobachters, als Bewegendes vorausgesetzt und darüber das Besondere, Eigenartige des fremden Daseins als reizvoll genossen wird. In diesem Drange bildet der Mensch, lange bevor ihm sein poetisches Schaffen zu einer gelehrten Kunst wird, Alles, was ihn umgibt, in Persönlichkeiten um, denen er mit geschäftiger Einbildungskraft viel von dem eigenen menschlichen Wesen verleiht. Aus Donner und Blitz wird ihm eine Göttergestalt, welche auf dem Streitwagen über dem hohlen Himmelsboden daher fährt, den feurigen Speer schleudernd; die Wolken wandeln sich in Himmelskühe und Schafe, aus welchen eine göttliche Gestalt die Himmelsmilch auf die Erde schüttet. Auch die Geschöpfe, welche neben dem Menschen die Erde bewohnen, empfindet er als menschenähnliche Persönlichkeiten, so den Bären, Wolf, Fuchs. Ebenso legt noch jeder von uns dem Hund, der Katze Vorstellungen und Empfindungen unter, welche uns geläufig sind, und nur weil uns solches Auffassen des Fremdartigen durchaus Bedürfniß und Vergnügen ist, werden uns die Thiere so heimisch. Unablässig äußert sich derselbe Personen bildende Trieb. Auch im Verkehr mit Menschen, alltäglich, bei jeder ersten Bekanntschaft eines Frem [S. 217] den, formen wir aus den wenigen Lebensäußerungen, die uns von ihm zugehen, aus einzelnen Worten, dem Ton seiner Stimme, dem Ausdruck seines Gesichtes das Bild einer geschlossenen Persönlichkeit, zunächst dadurch, daß wir die unvollständigen Eindrücke blitzschnell aus dem Vorrath der Phantasie, nach der Aehnlichkeit mit früher Beobachtetem ergänzen. Spätere Beobachtungen derselben Person mögen das Bild, welches uns in die Seele gefallen ist, umformen, reicher und tiefer ausbilden; aber schon bei dem ersten Eindruck, wie gering die Zahl der eigenartigen Züge sei, empfinden wir diese als ein folgerichtiges, streng geschlossenes Ganze, in welchem wir das Eigenthümliche auf der Grundlage des gemeinsamen Menschlichen erkennen. Dieses Gestalten ist allen Menschen, allen Zeiten gemein, es wirkt in jedem von uns mit der Nothwendigkeit und Schnelle einer ureigenen Kraft, es ist jedem eine stärkere oder schwächere Fähigkeit, jedem ein reizvolles Bedürfniß.
Auf dieser Thatsache beruht die Wirkung des dramatischen Charakterisirens. Die erfindende Kraft des Dichters bringt den kunstvollen Schein eines reichen individuellen Lebens hervor, weil er einige — verhältnißmäßig wenige — Lebensäußerungen einer Person so zusammenstellt, daß die von ihm als Einheit verstandene und empfundene Person auch dem Schauspieler und dem Zuhörer als ein eigenartiges Wesen verständlich wird. Selbst bei den Haupthelden eines Dramas ist die Zahl ihrer Lebensäußerungen, welche der Dichter in der Beschränkung durch Zeit und Raum zu geben vermag, ist die Gesammtzahl der charakterisirenden Züge doch nur gering; vollends bei den Nebenfiguren müssen vielleicht zwei, drei Andeutungen, wenige Worte den Schein eines selbständigen höchst eigenthümlichen Lebens hervorbringen. Wie ist das möglich? Deshalb, weil der Dichter das Geheimniß versteht, durch seine Arbeit den nachschaffenden Sinn der Hörer anzuregen. Denn auch das Verstehen und Genießen eines Charakters wird nur [S. 218] dadurch erreicht, daß die Selbstthätigkeit des empfangenden Zuschauers dem Schaffenden hilfreich und kräftig entgegenkommt. — Also was Dichter und Schauspieler in der That geben, sind an sich einzelne Striche, aber durch sie vermag ein scheinbar reich ausgestattetes Bild, in welchem wir eine Fülle von eigenthümlichem Leben ahnen und voraussetzen, hervorzuwachsen, weil Dichter und Schauspieler die erregte Einbildungskraft des Hörers zwingen, selbstschöpferisch mitzuarbeiten.
Die Art und Weise der dramatischen Charakterbildung durch die Dichter zeigt die größte Mannigfaltigkeit. Sie ist zunächst nach Zeiten und Völkern verschieden. Sehr verschieden bei Romanen und Germanen. Das Behagen an charakterisirenden Einzelheiten ist von je bei den Germanen größer gewesen, bei den Romanen größer die Freude an der zweckvollen Gebundenheit der dargestellten Menschen durch eine kunstvoll verschlungene Handlung. Tiefer faßt der Deutsche seine Kunstgebilde, ein reicheres inneres Leben sucht er an ihnen zur Darstellung zu bringen, das Eigenthümliche, ja Absonderliche hat für ihn großen Reiz. Der Romane aber empfindet das Beschränkte des Einzelnen vorzugsweise vom Standpunkt der Convenienz und Zweckmäßigkeit, er macht die Gesellschaft, nicht wie der Deutsche das innere Leben des Helden, zum Mittelpunkt, ihn freut es, fertige Personen, oft nur mit flüchtigem Umriß der Charaktere, einander gegenüber zu stellen; ihre verschiedenen Tendenzen sind es, wodurch sie im Gegenspiel zu einander anziehend werden. Auch da, wo genaue Darstellung eines Charakters, wie bei Molière, die besondere Aufgabe ist, und wo die Einzelheiten der Charakteristik hohe Bewunderung abnöthigen, sind diese Charaktere, der Geizige, der Heuchler, meist innerlich fertig, sie stellen sich mit einer zuletzt ermüdenden Eintönigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Beziehungen vor, sie werden trotz der Vortrefflichkeit der Zeichnung unserer Bühne immer fremder werden, weil ihnen das [S. 219] höchste dramatische Leben fehlt, das Werden des Charakters. Wir wollen auf der Bühne lieber erkennen, wie einer geizig wird, als wie er es ist.
Was also dem Germanen die Seele füllt, einen Stoff werth macht und zu schöpferischer Thätigkeit reizt, ist vorzugsweise die eigenartige Charakterbewegung der Hauptfiguren, ihm gehen in schaffender Seele leicht zuerst die Charaktere auf, zu diesen erfindet er die Handlung, aus ihnen strahlt Farbe, Licht und Wärme auf die Nebenfiguren; den Romanen lockt stärker die fesselnde Verbindung der Handlung, die Unterordnung des Einzelwesens unter den Zwang des Ganzen, die Spannung, die Intrigue. Dieser Gegensatz ist alt, er dauert noch in der Gegenwart. Dem Deutschen wird es schwerer, zu den tief empfundenen Charakteren die Handlung aufzubauen, dem Romanen verschlingen sich leicht und anmuthig die Fäden derselben zu einem kunstvollen Gewebe. Diese Eigenthümlichkeit bedingt auch einen Unterschied in der Fruchtbarkeit und in dem Werthe der Dramen. Die Literatur der Romanen hat wenig, was sie den höchsten Leistungen des germanischen Geistes an die Seite setzen kann; aber den schwächeren Talenten unseres Volkes gedeiht bei ihrer Anlage häufig kein brauchbares Theaterstück. Einzelne Scenen, einzelne Personen erwärmen und fesseln, dem Ganzen fehlt die saubere, spannende Ausführung. Den Fremden gelingt das Mittelgut besser; auch da, wo weder die dichterische Idee noch die Charaktere Anspruch auf dichterischen Werth haben, unterhält noch die kluge Erfindung der Intrigue, die kunstvolle Verbindung der Personen zu bewegtem Leben. Während bei den Germanen jenes höchste Dramatische: das Durcharbeiten der Empfindung in der Seele bis zur That, seltener, aber dann wohl einmal mit unwiderstehlicher Kraft und Schönheit in der Kunst zu Tage kommt, findet sich bei den Romanen weit häufiger und fruchtbarer die zweite Eigenschaft des dramatischen Schaffens: die Erfindung des Gegenspiels, die wirkungsvolle [S. 220] Darstellung des Kampfes, welchen die Umgebung des Helden gegen die Beschränktheiten desselben führt.
Ferner aber ist bei jedem einzelnen Dichter die Art des Charakterisirens eine verschiedene, sehr verschieden der Reichthum an Gestalten, ebenso die Sorgfalt und Deutlichkeit, womit ihr Wesen dem Zuhörer dargelegt wird. Auch hier ist Shakespeare der reichste und tiefste der Schaffenden, nicht ohne eine Eigenthümlichkeit, welche uns zuweilen in Verwunderung setzt. Wir sind geneigt anzunehmen und wissen aus vielen Nachrichten, daß sein Publikum nicht vorzugsweise aus den Scharfsinnigen und Gebildeten Altenglands bestand, wir sind also berechtigt vorauszusetzen, daß er seinen Charakteren ein einfaches Gewebe geben und ihre Stellung zu der Idee des Dramas nach allen Seiten hin genau darlegen werde. Das geschieht nicht immer. Zwar bleibt der Hörer bei den Haupthelden Shakespeare's nie über wichtige Motive ihres Handelns in Ungewißheit, ja die volle Kraft seiner Dichtergröße kommt gerade dadurch zur Erscheinung, daß er in den Hauptcharakteren die Vorgänge der Seele von der ersten aufsteigenden Empfindung bis zum Höhenpunkte der Leidenschaft mit gewaltig packender Kraft und Wahrheit auszudrücken weiß, wie kein anderer. Auch die vorwärts treibenden Gegenspieler seiner Dramen, z. B. Jago, Shylock, verfehlen nicht, den Zuschauer zum Vertrauten ihres Wollens zu machen. Und wohl darf man sagen, daß die Charaktere Shakespeare's, deren Leidenschaft doch die höchsten Wellen schlägt, zugleich mehr als das Gebilde irgend eines anderen Dichters gestatten, tief hinab in ihr Inneres zu blicken. Aber diese Tiefe ist für die Augen des darstellenden Künstlers wie für den Hörer zuweilen unergründlich, und seine Charaktere sind in ihrem letzten Grunde durchaus nicht immer so durchsichtig und einfach, wie sie flüchtigen Augen erscheinen, ja mehre von ihnen haben etwas besonders Räthselhaftes und schwer Verständliches, welches ewig zur Deutung lockt und doch niemals ganz erfaßt werden kann.
[S. 221] Nicht nur solche, wie Hamlet, Richard III. , Jago, in denen besonderer Tiefsinn oder ein nicht leicht verständlicher Grundzug des Wesens und einzelne wirkliche oder scheinbare Widersprüche auffallen, sondern auch solche Charaktere, welche bei oberflächlicher Betrachtung die geradlinige Straße bühnengemäß dahinschreiten.
Man prüfe die Urtheile, welche in Deutschland seit etwa hundert Jahren über die Charaktere im Julius Cäsar abgegeben worden sind, und die freudige Beistimmung, mit welcher unsere Zeitgenossen die edlen Wirkungen dieses Stückes aufnehmen. Der warmherzigen Jugend ist Brutus der edle, das Vaterland liebende Held; ein ehrlicher Erklärer aus dem Gelehrtenzimmer sieht in Cäsar den großen, festen, Allen überlegenen Charakter; ein Politiker von Fach freut sich der ironischen rücksichtslosen Strenge, womit der Dichter von der Einleitung an seinen Brutus und Cassius als unpraktische Thoren, ihre Verschwörung als ein kopfloses Wagniß unfähiger Aristokraten behandelt hat. Der Schauspieler von Urtheil endlich findet in demselben Cäsar, den ihm sein Erklärer beredt als Musterbild eines Machthabers geschildert hat, einen innerlich bis zum Tode erkrankten Helden, eine Seele, in welcher bereits der Größenwahn das kräftige Gefüge zerfressen hat. Wer hat Recht? Jeder von ihnen. Und doch hat Jeder auch die Empfindung, daß die Charaktere durchaus nicht aus ungehörigen Bestandtheilen gemischt, künstlich zusammengesetzt, oder irgendwie unwahr sind. Jeder von ihnen fühlt deutlich, daß sie vortrefflich geschaffen, auf der Bühne höchst wirksam leben, am meisten der Schauspieler selbst, wenn ihm auch das Geheimniß der Dichterkraft Shakespeare's nicht ganz verständlich würde. Wenn er aber dies Geheimniß erkennt, so wird er mit einer Ehrfurcht darauf blicken, die ebenso groß sein mag, als jene Pietät der Griechen, welche dem Genius des Sophokles einen Altar stiftete.
Denn Shakespeare's Art der Charakterbildung stellt in [S. 222] ungewöhnlicher Größe und Vollkommenheit dar, was dem Schaffen der Germanen überhaupt eigen ist gegenüber der alten Welt und gegenüber den Kulturvölkern, welche nicht mit deutschem Leben durchsetzt sind. Dies Germanische aber ist die Fülle und liebevolle Wärme, welche jede einzelne Gestalt zwar genau nach den Bedürfnissen des einzelnen Kunstwerks formt, aber auch das ganze außerhalb des Stückes liegende Leben derselben überdenkt und in seiner Besonderheit zu erfassen sucht. Während der Deutsche behaglich die Bilder der Wirklichkeit mit den bunten Fäden der spinnenden Phantasie überzieht, empfindet er die wirklichen Grundlagen seiner Charaktere, das thatsächliche Gegenbild mit menschenfreundlicher Achtung und mit dem möglichst genauen Verständniß seines gesammten Inhalts. Dieser Tiefsinn, die liebevolle Hingabe an das Individuelle und wieder die hohe Freiheit, welche mit dem Bilde wie mit einem werthen Freunde zweckvoll verkehrt, haben seit alter Zeit den gelungenen Gestalten der deutschen Kunst einen besonders reichen Inhalt gegeben, darum ist in ihnen ein Reichthum von Einzelzügen, ein gemüthlicher Reiz und eine Vielseitigkeit, durch welche die Geschlossenheit, wie sie dramatischen Charakteren nothwendig ist, nicht aufgehoben, sondern in ihren Wirkungen höchlich gesteigert wird.
Der Brutus des Shakespeare ist ein hochsinniger Mann, aber er ist als Aristokrat in Genuß erzogen, er ist gewöhnt, zu lesen und zu denken, er hat die Begeisterung, Großes zu wagen, nicht die Umsicht und Klugheit, es durchzuführen. Cäsar ist ein majestätischer Held, der ein siegvolles großes Leben durchgesetzt und seinen eigenen Werth in einer Zeit des Eigennutzes und anspruchsvoller Schwäche erprobt hat; aber mit der hohen Stellung, die er sich über den Köpfen seiner Zeitgenossen gegeben hat, ist die Großmannssucht in ihn gekommen, Schauspielerei und heimliche Furcht; der feste Mann, der sein Leben hundertmal gewagt hat und nichts mehr fürchtet als den Schein der Furcht, ist insgeheim abergläubisch, be [S. 223] stimmbar, der Einwirkung schwacher Menschen ausgesetzt. Der Dichter verbirgt das nicht, er läßt die Charaktere an jeder Stelle genau das sagen, was ihnen bei solcher Beschaffenheit zukommt; aber er behandelt ihr Wesen als selbstverständlich und erklärt es nicht, weil es ihm nicht durch kühle Berechnung deutlich geworden ist, sondern mit Naturgewalt aus allen Voraussetzungen aufgestiegen.
Dem Bewunderer Shakespeare's macht diese Größe der dichterischen Anschauung bald hier bald da Schwierigkeiten. Im ersten Theil des Cäsar z. B. tritt Casca kräftig in den Vordergrund; in der sinkenden Handlung des Stückes erfährt man kein Wort über ihn; er und die anderen Mitverschwornen sind dem Dichter offenbar gleichgiltiger, als dem Hörer. Wer näher zusieht, findet wohl den Grund und begreift, daß der Dichter diese Gestalt, welche er zuerst so wohlwollend hervorhebt, gleich darauf ohne Umstände bei Seite wirft; ja der Dichter deutet das in dem Urtheil an, welches ausnahmsweise diesmal Brutus und Cassius über den Casca fällen. Ihm und dem Stück ist der Mann nur ein unbedeutendes Werkzeug.
In vielen Nebenrollen steht der große Dichter auffallend schweigsam, mit einfachen Strichen bewegt er sie in ihrer Befangenheit vorwärts; das Verständniß ihres Wesens, das wir angelegentlich suchen, bleibt zuletzt nicht zweifelhaft, es wird aber nur klar aus Streiflichtern, welche von außen auf sie fallen. So sind z. B. die Gemüthswandlungen der Anna (aus Richard III. ) während der berühmten Sterbescene an der Bahre in einer Weise gedeckt, welche kein anderer Dichter wagen dürfte, und die ohnedies knappe Rolle wird dadurch eine der schwersten. Aehnliches gilt von vielen Gestalten, welche, aus Böse und Gut gemischt, als Helfer einer Handlung auftreten. Bei solchen Nebenrollen überläßt er dem Schauspieler Vieles; durch die Aufführung vermag der Künstler manche scheinbare und wirkliche Härten in neue Schönheiten zu verwandeln. Ja manchmal hat man die Empfindung, daß [S. 224] er deshalb erklärendes Beiwerk einzelner Rollen unterließ, weil er für bestimmte Schauspieler schrieb, deren Persönlichkeit vorzugsweise gemacht war, die Rolle zu ergänzen. In anderen Fällen sieht man deutlich einen Mann, der mehr als andere dramatische Schriftsteller, als Schauspieler und Zuschauer gewöhnt ist, die Menschen in der vornehmen Gesellschaft zu betrachten, und der hinter den Formen guter Sitte die charakteristischen Beschränktheiten zu verdecken und durchzulassen versteht; so ist der größte Theil seiner Hofleute gebildet. Durch solche Schweigsamkeit, durch schroffe Uebergänge, scheinbare Lücken muthet er dem Schauspieler mehr zu als jeder Andere; zuweilen sind seine Worte nur wie der punktirte Grund einer Stickerei, wenig ist herausgebildet, aber alles liegt darin, genau angedeutet und zweckmäßig für die höchsten Wirkungen der Bühne empfunden; dann erblickt der Zuschauer überrascht bei guter Darstellung ein reiches rundes Leben, wo er beim Lesen über eine Fläche hinwegsah. — Selten begegnet dem Dichter, daß er in der That zu wenig für einen Charakter thut; so tritt die kleine Rolle der Cordelia auch bei guter Darstellung nicht in das richtige Verhältniß, welches sie im Stück haben sollte. Manches in den Charakteren erscheint uns allerdings fremdartig und einer Erläuterung bedürftig, was den Zeitgenossen durchsichtig und schnell verständlich war, als ein Abbild ihres Lebens und ihrer Bildung.
Das Größte dieses Dichters aber ist, wie bereits früher gesagt wurde, die ungeheure treibende Kraft, welche in seinen Hauptcharakteren arbeitet. Unwiderstehlich ist die Gewalt, mit welcher sie ihrem Schicksal entgegen, bis zu dem Höhenpunkt des Dramas aufwärts stürmen, fast in allen ein markiges Leben und starke Energie der Leidenschaft. Und sind sie auf der Höhe angelangt, von welcher ab die Befangenen durch übermächtige Gewalten abwärts gezogen werden, hat die Spannung sich in einem verhängnißvollen Thun für den Augenblick gelöst, dann kommen in mehren Stücken ausgeführte Situatio [S. 225] nen und Einzelschilderungen, das Höchste, was die neuere Poesie des Dramas hervorgebracht hat. Die Dolch- und Banketscene im Macbeth, die Brautnacht in Romeo und Julia, das Hüttengericht im Lear, der Besuch bei der Mutter im Hamlet, Coriolanus am Altar des Aufidius sind Beispiele. Zuweilen scheint, wie gesagt wurde, von diesem Momente ab die Antheilnahme des Dichters an den Charakteren geringer zu werden, selbst im Hamlet, in welchem die Kirchhofscene — wie berühmt ihre tiefsinnigen Betrachtungen auch sind — und der Schluß gegen die Spannung der ersten Hälfte abfallen. Beim Coriolanus freilich liegen die beiden schönsten Scenen in der zweiten Hälfte des Stückes, ebenso im Othello die gewaltigsten; das letztere Stück hat aber andere technische Besonderheiten.
Wenn Shakespeare's Art zu charakterisiren schon für die Schauspieler seiner Zeit zuweilen dunkel und schwer war, so ist natürlich, daß wir seine Eigenthümlichkeiten sehr lebhaft empfinden. Denn kein größerer Gegensatz ist denkbar, als die Behandlung der Charaktere bei ihm und bei den tragischen Dichtern der Deutschen: Lessing, Goethe, Schiller. Während wir bei Shakespeare durch die Verschlossenheit mancher Nebencharaktere daran erinnert werden, daß er der epischen Zeit des Mittelalters noch nahe stand, haben unsere dramatischen Charaktere bis zum Ueberfluß die Eigenschaften einer lyrischen Bildungsperiode, eine fortlaufende, breite und behagliche Darstellung innerer Zustände, über welche die Helden mit einer zuweilen unheimlichen Selbstbeobachtung nachdenken, dazu Sentenzen, welche den jedesmaligen Standpunkt des Charakters zu der sittlichen Ordnung zweifellos deutlich machen. Bei den Deutschen ist nichts Dunkles und, Kleist ausgenommen, wenig Gewaltsames.
Von den großen Dichtern der Deutschen hat Lessing am besten verstanden, seine Charaktere in dem Wellenschlage heftiger dramatischer Bewegung darzustellen. Unter den Kunstgenossen [S. 226] wird die poetische Kraft des Einzelnen wohl zumeist nach seinen Charakteren geschätzt, und gerade im Charakterisiren ist Lessing groß und bewundernswerth; der Reichthum an Einzelheiten, die Wirkung schlagender Lebensäußerungen, welche sowohl durch Schönheit als Wahrheit überraschen, ist bei ihm in dem beschränkten Kreise seiner tragischen Figuren größer als bei Goethe, gehäufter als bei Schiller. Die Zahl seiner dramatischen Grundformen ist nicht groß; um das zärtliche, edle, entschlossene Mädchen, Sara, Emilia, Minna, Recha, und ihren schwankenden Liebhaber, Melfort, Prinz, Tellheim, Templer, stellen sich die dienenden Vertrauten, der würdige Vater, die Buhlerin, der Intrigant, alle nach den Fächern der damaligen Schauspielertruppen geschrieben. Und doch gerade in diesen Typen ist die Mannigfaltigkeit der Abwandelungen bewunderungswürdig. Er ist ein Meister in der Darstellung solcher Leidenschaften, wie sie sich in einem bürgerlichen Leben äußerten, wo das heiße Ringen nach Schönheit und Adel der Seele so wunderlich neben rohem Begehren stand. Und wie bequem ist Alles auch für den Schauspieler empfunden, keiner hat ihm so aus der Seele gearbeitet, ja Einzelnes, was beim Lesen zu unruhig und zu theatralisch aufgeregt scheint, tritt erst durch die Darstellung in ein gutes Verhältniß.
Nur in einzelnen Momenten macht seine feine Dialektik der Leidenschaft nicht den Eindruck der Wahrheit, weil er sie zu fein zuspitzt und einem Behagen an haarspaltendem Wortspiel nachgibt; an wenigen Stellen breitet sich auch bei ihm die Nachdenklichkeit da, wo sie nicht hingehört, und zuweilen ist mitten in der tief poetischen Erfindung ein erkünstelter Zug, welcher erkältet, statt den Eindruck zu verstärken. Lehrreich ist dafür, außer Mehrem im Nathan, in Sara Sampson Akt III , Scene 3, die Stelle, in welcher Sara sich leidenschaftlich darüber ergeht, ob sie den Brief ihres Vaters annehmen soll. Der Zug ist höchstens als kurze Einzelheit der [S. 227] Charakteristik zu benutzen, auch dafür nur andeutend zu behandeln, in der breiten Ausführung wird er peinlich.
Noch lange werden Lessing's Stücke eine hohe Schule des deutschen Darstellers sein, und die liebevolle Achtung der Künstler wird sie auch dann noch auf unserem Theater bewahren, wenn einst eine männlichere Bildung die Zuschauer empfindlicher machen wird gegen die Schwäche der Umkehr und Katastrophe in Minna von Barnhelm und Emilia Galotti. Denn darin irrte noch der kräftige Mann, daß heftige Leidenschaft hinreiche, den poetischen Charakter zum dramatischen zu machen, während es viel mehr auf das Verhältniß ankommt, in welchem die Leidenschaft zur Willenskraft steht. Seine Leidenschaft schafft Leiden und erregt im Zuschauer zuweilen ein abweisendes Mitleid. Noch schwanken seine Hauptpersonen — und dies ist nicht sein Kennzeichen, sondern das der Zeit, — durch stürmische Bewegung hin und hergetrieben, und wo sie zu verhängnißvoller That kommen, fehlt dieser zuweilen die höchste Berechtigung. Die tragische Entwickelung in Miß Sara Sampson beruht darauf, daß Melfort die Nichtswürdigkeit begeht, seiner frühern Geliebten ein Stelldichein mit Miß Sara zu vermitteln, in Emilia Galotti wird die Jungfrau vom Vater aus Vorsicht erstochen.
Denn die Freiheit und der Adel, mit welchen die Personen bei den Dichtern des vorigen Jahrhunderts ihre Seelenstimmungen ausdrücken, ist nicht begleitet von einer entsprechenden Meisterschaft im Handeln; nur zu häufig empfindet man eine Zeit, in welcher der Charakter auch der Besten nicht fest gezogen und zu Metall gehärtet war durch eine starke öffentliche Meinung, durch den sicheren Inhalt, welchen das politische Leben im Staate dem Manne gibt. Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten und empfindsame Unsicherheit stören auch genialer Kraft die höchsten Kunstwirkungen. Das ist den Dramen Goethe's oft vorgeworfen worden, hier sei nur der Fortschritt angedeutet, welcher durch ihn und Schiller in den dramatischen Wirkungen eingeführt wurde.
[S. 228] Goethe ist in den charakterisirenden Einzelheiten seiner Rollen nicht reichlicher als Lessing, — Weislingen, Clavigo, Egmont sind sogar dramatisch dürftiger als Melfort, Prinz, Tellheim — seine Figuren haben nichts von dem heftig pulsirenden Leben, dem Unruhigen, ja Fieberhaften, welches in den Bewegungen der Charaktere Lessing's zittert, nichts Gekünsteltes beunruhigt, die unverwüstliche Anmuth seines Geistes adelt auch noch das Verfehlte. Erst Goethe und Schiller haben den Deutschen das geschichtliche Drama aufgeschlossen, den höheren Stil in Behandlung der Charaktere, welcher für große tragische Wirkungen unentbehrlich ist, wenn auch Goethe diese Wirkung nicht vorzugsweise durch Gewalt der Charaktere, noch durch die Handlung erreichte, sondern durch die unübertreffliche Schönheit und Erhabenheit, mit welcher er das Gemüth seiner Helden in Worten ausklingen läßt. Da besonders, wo aus seinen dramatischen Personen die herzliche Innigkeit lyrischer Empfindung durchtönen durfte, zeigt sich gerade in kleinen Zügen ein Zauber der Poesie, den kein Deutscher sonst auch nur annähernd erreicht hat. So wirkt die Rolle des Gretchen.
Es ist nicht zufällig, daß solche höchste Schönheit in Goethe's Frauencharakteren wirksam wird; die Männer treiben zum großen Theil nicht vorwärts, sie werden getrieben, ja sie beanspruchen zuweilen eine Theilnahme, die sie sich auf der Bühne nicht verdienen, und erscheinen fast wie werthe Freunde des Dichters selbst, deren gute Eigenschaften nur ihm bekannt sind, während sie in der Gesellschaft, zu welcher er sie geladen hat, nicht ihre starke Seite hervorkehren. Auch was den Faust zu unserem größten Dichterwerk macht, ist nicht die Fülle des dramatischen Lebens, am wenigsten in der Rolle des Faust selbst. Wenn aber die treibende Kraft der Goethe'schen Helden nicht stark genug ist, um erhabene Wirkungen, gewaltige Kämpfe möglich zu machen, so ist die dramatische Bewegung derselben in einzelnen Scenen doch knapp, weise und höchst bühnengerecht, [S. 229] namentlich ist die Fügung seiner Dialoge bewundernswerth. Denn es sind die Scenen, welche zwischen zwei Personen verlaufen, das Schönste in den Dramen Goethe's; Lessing weiß auch drei Charaktere in leidenschaftlichem Gegenspiel mit höchster Wirkung zu beschäftigen; Schiller aber beherrscht mit überlegener Sicherheit eine große Zahl auf der Bühne.
Die Art und Weise der Charakterschilderung ist bei Schiller in der Jugend sehr anders, als in den Jahren seiner Reife. Es ist ein großer Fortschritt, aber er ist auch nicht ganz ohne Einbuße. Von der Empfindungsweise schöner Seelen, welche er in den Räubern ins Ungeheuerliche, später ins Heldenhafte erhob, bis zu einer dem Shakespeare ähnlichen festen Geschlossenheit der Charaktere im Demetrius, welche Umwandlung!
Durch mehr als ein halbes Jahrhundert hat Pracht und Adel der Charaktere Schiller's die deutsche Bühne beherrscht, und lange haben die schwachen Nachahmer seines Stils nicht verstanden, daß die Fülle seiner Diction nur deshalb so große Wirkungen hervorbrachte, weil unter ihr ein Reichthum von dramatischem Leben wie unter einer Vergoldung bedeckt liegt. Dies kräftige Leben der Personen ist bereits in seinen ersten Stücken sehr auffallend, ja es hat in Kabale und Liebe so bedeutenden Ausdruck gewonnen, daß nach dieser Richtung in den späteren Werken nicht immer ein Fortschritt sichtbar wird. Dem Verse und höheren Stil hat er wenigstens die markige Kürze, den bühnengemäßen Ausdruck der Leidenschaft, manche Rücksicht auf die Darsteller nachgesetzt. Immer voller und beredter wurde ihm der Ausdruck der Empfindungen durch die Sprache.
Auch seine Charaktere — am meisten die reichlich ausgeführten — haben jene besondere Eigenschaft seiner Zeit, ihr Denken und Empfinden dem Hörer in vielen Momenten der Handlung eindringlich zu berichten. Und sie thun es in der Weise hochgebildeter und beschaulicher Menschen, denn an die leidenschaftlichste Empfindung hängt sich ihnen sofort ein [S. 230] schönes, oft ausgeführtes Bild, und der Stimmung, welche so aus ihrem Innern heraustönt, folgt eine Betrachtung — wie wir alle wissen, oft von hoher Schönheit —, durch welche die sittlichen Grundlagen des aufgeregten Gefühls klar gemacht werden, und die Befangenheit der Situation durch eine Erhebung auf höheren Standpunkt wenigstens für Augenblicke aufgehoben erscheint. Es ist offenbar, daß solche Methode des dramatischen Schaffens der Darstellung starker Leidenschaften im Allgemeinen nicht günstig ist, und sie wird sicher in irgend einer Zukunft unseren Nachkommen seltsam erscheinen; aber ebenso sicher ist, daß sie die Art zu empfinden, welche den gebildeten Deutschen am Ende des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich war, so vollständig wiedergibt, wie keine andere Dichtweise, und daß gerade darauf ein Theil der großen Wirkung beruht, welche Schiller's Dramen noch jetzt auf das Volk ausüben. Allerdings nur ein Theil, denn die Größe des Dichters liegt gerade darin, daß er, welcher seinen Charakteren auch in bewegten Momenten so viele Ruhepunkte zumuthet, dieselben doch in höchster Spannung zu erhalten weiß; fast alle haben ein starkes, begeistertes inneres Leben, einen Inhalt, mit welchem sie der Außenwelt sicher gegenüber stehen. In dieser Befangenheit machen sie zuweilen den Eindruck von Nachtwandlern, denen die Störung durch die Außenwelt Verhängniß wird, so die Jungfrau, Wallenstein, Max, Thekla, oder die wenigstens eines mächtigen Anstoßes an ihr inneres Leben bedürfen, um zu einer That zu kommen, so Tell, selbst Cäsar und Manuel. Deshalb ist auch die leidenschaftliche Bewegung der Hauptcharaktere Schiller's im letzten Grunde nicht immer dramatisch, aber diese Unvollkommenheit wird oft verdeckt durch das reiche Detail und die schöne Charakteristik, mit welcher gerade er die helfenden Nebenfiguren ausstattet. Endlich ist der größte Fortschritt, welchen die deutsche Kunst durch ihn gemacht, daß er in gewaltigen tragischen Stoffen seine Personen zu Theilnehmern einer [S. 231] Handlung macht, welche nicht mehr die Beziehungen des Privatlebens, sondern die höchsten Interessen der Menschen, Staat, Glauben, zum Hintergrunde hat. Für junge Dichter und Darsteller freilich wird seine Schönheit und Kraft immer gefährlich sein, weil das innere Leben seiner Charaktere überreichlich in der Rede ausströmt; er thut darin so viel, daß dem Schauspieler manchmal wenig zu schaffen übrig bleibt, seine Dramen bedürfen weniger der Bühne als die eines anderen Dichters.
Rechte und Pflichten des dramatischen Dichters zwingen ihn während der Arbeit zu einem unablässigen Kampf gegen die Bilder, welche ihm Geschichte, Epos, sein eigenes Leben darbieten.
Unleugbar wird dem deutschen Dichter Wärme und Anreiz zum Schaffen häufig zuerst durch die Charaktere gegeben. Solche Art des Schaffens scheint unvereinbar mit dem alten Grundgesetz für Bildung der Handlungen, daß die Handlung das Erste sein müsse, die Charaktere erst das Zweite. Wenn die Freude an dem eigenthümlichen Wesen eines Helden den Dichter veranlassen kann, die Handlung dafür erst zusammenzusetzen, so steht doch die Handlung unter der Herrschaft des Charakters und wird durch ihn gebildet, zu ihm erfunden. Der Widerspruch ist nur scheinbar. Denn der schaffenden Seele geht Wesen und Charakter eines Helden nicht so auf wie dem Geschichtschreiber, welcher am Ende seines Werkes die Ergebnisse eines Lebens zieht, oder wie dem Leser eines Geschichtswerkes, der aus den Eindrücken verschiedener Schicksale und Thaten das Bild eines Mannes allmählich in sich ausmalt. Die schöpferische Kraft tritt vielmehr dem Dichter derart in das erwärmte Gemüth, daß sie den Charakter eines Helden in einzelnen Momenten seines Verhältnisses zu andern Menschen lebendig und reizvoll heraustreibt. Diese Momente, in denen der Charakter lebendig wird, sind bei dem Epiker [S. 233] Situationen, bei dem dramatischen Dichter Aktionen, worin der Held in Bewegung schreitet; sie sind die Grundlage der noch nicht lebensvoll angeordneten Handlung, in ihnen liegt bereits die Idee des Stückes, wahrscheinlich noch nicht geklärt und abgeschlossen. Immer aber ist Voraussetzung dieser ersten Anfänge dichterischer Arbeit, daß der Charakter unter dem Zwange eines Theilstücks der Handlung lebendig wird. Nur unter solcher Voraussetzung ist eine poetische Erfassung desselben möglich.
Der Idealisirungsprozeß aber beginnt dadurch, daß sich die Umrisse des geschichtlichen oder sonsther werth gewordenen Charakters nach dem Bedürfniß der in der Seele aufgegangenen Situation umbilden. Der Zug des Charakters, welcher den empfundenen Momenten der Handlung nützlich ist, wird zu einem Grundzuge des Wesens, welchem sich alle übrigen Charaktereigenthümlichkeiten als ergänzendes Nebenwerk unterordnen. Gesetzt, den Dichter feßle der Charakter Kaiser Karl's V. , poetisch vermag er ihn nur zu empfinden, wenn er ihn durch eine bestimmte Aktion durchtreibt. Der Kaiser auf dem Reichstage von Worms, oder wie er dem gefangenen König Franz gegenübersteht, oder in der Scene, in welcher der Landgraf von Hessen zu Halle den Fußfall thut, oder in dem Augenblick wo er die Nachricht von dem drohenden Ueberfall des Kurfürsten Moritz erhält, wird unter dem Zwange der Situation jedesmal ein weit anderer; er behält vielleicht noch alle Züge der geschichtlichen Ueberlieferung, aber der Ausdruck wird ein eigenthümlicher und beherrscht so sehr das ganze Bild, daß es bereits jetzt nicht mehr für ein historisches Porträt gelten könnte. Doch die Umbildung geht rasch weiter. An die erste dichterische Anschauung knüpfen sich andere, das erste Theilstück der Handlung schließt andere an sich, es ringt danach ein Ganzes zu werden, es erhält Anfang und Ende. Und jedes neue Glied der Handlung, welches sich ausbildet, zwingt dem Charakter etwas von der Farbe und den Motiven [S. 234] auf, welche zu seiner Erklärung nothwendig sind. Ist in solcher Weise die Handlung gerichtet, so ist dem Dichter unter der Hand der wirkliche Charakter nach den Bedürfnissen seiner Idee völlig umgeformt. Allerdings trägt der Schaffende während dieser ganzen Arbeit die Züge der wirklichen Gestalt wie ein Neben- oder Gegenbild in seiner Seele, er nimmt aus diesem, was er von Einzelheiten brauchen kann; aber was er daraus schafft, ist frei nach den Bedürfnissen seiner Handlung herausgehoben und mit eigener Zuthat zu neuer Masse verschmolzen.
Ein auffallendes Beispiel ist der Charakter Wallenstein's in Schiller's Doppeldrama. Es ist kein Zufall, daß die Gestalt des Dichters so sehr verschieden von dem geschichtlichen Bild des kaiserlichen Feldherrn geformt wurde. Die Forderungen der Handlung haben ihm sein Aussehen gegeben. Der Dichter erwärmt sich für den historischen Wallenstein, gerade seit dem Tode Gustav Adolf's wird dieser fesselnd. Er hat hohe Pläne, ist ein großartiger Egoist, hat unbefangene Auffassung der politischen Lage u. s. w. Nun hatte ein Drama, das seinen Ausgang schildert, die Aufgabe, auf möglichst geringen Voraussetzungen darzustellen, wie sein Held allmählich zum Verräther wird , durch seine eigene Schuld und unter dem Zwange der Verhältnisse. Schiller sah in sich die Gestalt Wallenstein's, wie er aus Vorbedeutungen sein Geschick zu erkennen sucht (wahrscheinlich die erste Anschauung), dann wie er dem Questenberg, dem Wrangel gegenübertritt, dann wie sich treue Männer von ihm lösen. Das waren die ersten Aktionsmomente. Nun wurde aber bedenklich, daß ein so frevelhaftes Beginnen, wenn es mißglückt, den Helden thatsächlich schwächer, kurzsichtiger, kleiner zeigt als die gegenwirkenden Gewalten. Deshalb mußte, um ihm Größe und Antheil zu bewahren, für seinen Charakter ein leitender Grundzug gefunden werden, welcher ihn steigerte und den Verlockungen zum Verrath gegenüber als selbstthätig und frei erwies, und der auch erklärte, wie ein be [S. 235] deutender und überlegener Mann kurzsichtiger werden konnte als seine Umgebung. In dem wirklichen Wallenstein war etwas der Art zu finden: daß er abergläubisch war und auf Astrologie hielt, — nicht gerade mehr als andere seiner Zeitgenossen. Dieser Zug konnte dichterisch verwerthet werden. Aber als kleines Motiv, als eine Wunderlichkeit seines Wesens hätte er wenig genützt. Er mußte geadelt und vergeistigt werden. So entstand das Bild eines tiefsinnigen, inspirirten, gehobenen Mannes, welcher in blutiger Zeit über Menschenleben und Recht dahin schreitet, den Blick unverwandt nach der Höhe gerichtet, wo er die stillen Lenker seines Schicksals zu sehen glaubt. Und dasselbe düstere, träumerische Spielen mit unbegreiflichen Größen konnte ihn auch dem Zwang äußerer Verhältnisse gegenüber heben; denn derselbe Grundzug seines Wesens, eine gewisse Neigung zu doppeldeutigem und verstecktem Handeln, das grübelnde Versuchen und Tasten mochte ihn, den scheinbar Freien, allmählich in die Netze des Verraths verstricken. So war eine sehr eigenartige dramatische Bewegung für sein Inneres gewonnen. — Aber dieser Grundzug seines Wesens war im letzten Grunde doch ein vernunftwidriges Moment, es fesselte vielleicht, es stellte ihn uns nicht menschlich nahe, es blieb eine große Seltsamkeit. Um tragisch zu wirken, mußte dieselbe Besonderheit in Beziehung zu den besten und liebenswerthesten Empfindungen seines Herzens gebracht werden. Daß der Glaube an Offenbarungen unbegreiflicher Mächte dem Helden auch das Freundesverhältniß zu den Piccolomini weiht, daß derselbe Glaube nicht hervorgerufen, aber verhängnißvoll gesteigert wird durch ein geheimes Bedürfniß zu ehren und zu vertrauen, und daß gerade dies Vertrauen auf Menschen, die Wallenstein sich durch seinen Glauben zutraulich verklärt hat, ihn verderben muß, das führt die fremdartige Gestalt unserem Herzen nahe, gibt der Handlung innere Einheit, dem Charakter die Vertiefung. In solcher Weise haben die ersten gefundenen Situationen und das Bedürfniß, diese Situationen [S. 236] in einen festen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen zu bringen und zu einer dramatisch wirksamen Handlung abzurunden, den geschichtlichen Charakter Zug um Zug umgeformt. Ebenso ist sein Gegenspieler Octavio durch den Trieb, ihm einen innerlichen Zusammenhang mit Wallenstein zu geben, allerdings auch in Abhängigkeit von dem Charakter desselben, geformt worden. Ein kalter Intrigant, der über einem Vertrauenden das Netz zusammenzieht, hätte nicht genügt, auch er mußte gehoben und dem Haupthelden gemüthlich nahe gestellt werden, und wenn er als Freund des Getäuschten aufgefaßt wurde, der — gleichviel aus welchem Pflichtgefühl — den Freund aufgibt, so war es zweckmäßig, auch in seinem Leben einen Zug zu erfinden, der ihn mit dem Schicksal Wallenstein's verflocht. Da nun dem finsteren Stoff ohnedies ein wärmeres Leben, hellere Farben, eine Reihe von sanften und rührenden Gefühlen sehr noth thaten, fand der Dichter den Max. Das reine arglose Kind des Lagers wurde das Gegenbild zugleich seines Vaters und seines Feldherrn. Es kümmerte den Dichter bei dieser Gestalt vielleicht zu wenig, daß eine so frische, harmlose, unbefleckte Natur in einem Widerspruch zu ihren eigenen Voraussetzungen, zu dem zügellosen Soldatenleben stand, in dem sie aufgewachsen war, wie denn Schiller überhaupt bei dem, was ihm diente, im Motiviren nicht gerade sorgfältig war. Ihm genügte, daß dieses Wesen durch Charakter und Geschick in einen edlen und dabei scharf schneidenden Gegensatz zum Helden und Gegenspieler treten konnte. Und er hat ihn und die entsprechende Gestalt seiner Geliebten mit einer Vorliebe heraufgeführt, welche sogar den Bau des Dramas bestimmte.
So war es, im Ganzen betrachtet, nicht Laune und nicht ein zufälliger Fund des Dichters, welcher die Charaktere des Wallenstein und seiner Gegenspieler geformt hat. Allerdings aber sind diese Gestalten, wie jedes Dichterbild, zugleich gefärbt durch die Persönlichkeit des Dichters. Und es ist Schillern [S. 237] eigen, allen seinen Helden besonders sichtbar die Gedanken zu geben, mit denen sein eigenes Innere erfüllt ist. Diese geistvollen Betrachtungen, sowie die in großen einfachen Linien geschwungenen Umrisse empfinden wir bereits jetzt als seine Eigenthümlichkeit. Anderes aber als Besonderheit seiner Zeit. Die Meisterschaft im Grübeln und Wägen ist bei Wallenstein nicht durch entschiedene Kraft des Willens ins Gleichgewicht gebracht. Daß er auf die Sprache der Sterne, die zuletzt die seines eigenen Herzens ist, lauscht, wäre in der Ordnung. Aber er ist auch in Abhängigkeit von seiner Umgebung dargestellt. Die Gräfin Terzky bestimmt ihn, Max stimmt ihn um, und der Zufall, daß Wrangel verschwunden, verhindert vielleicht einen Umschlag der Ereignisse. Sicher war Absicht des Dichters, die Unschlüssigkeit Wallenstein's stark hervorzuheben; aber Schwanken ist auch bei uns ein Uebelstand, für jeden Dramenhelden nur zu gebrauchen als scharfer Gegensatz zu bereits bewährter Thatkraft.
Wenn dieser Vorgang des Ableitens der Charaktere aus der inneren Nothwendigkeit der Handlung hier als ein Ergebniß verständiger Ueberlegung erschien, so ist wohl kaum nöthig zu bekennen, daß er sich so in der warmen Seele des Dichters nicht vollzieht. Zwar tritt auch dort in vielen Stunden ein kühles Erwägen als Ueberwachung und Ergänzung des schöpferischen Heraustreibens ein, aber das Schaffen geschieht doch in der Hauptsache mit einer Naturkraft, in welcher dem Dichter unbewußt derselbe Gedanke thätig ist, den wir vor dem fertigen Kunstwerk durch Nachdenken als innewohnendes Gesetz des geistigen Schaffens erkennen.
Namentlich vor geschichtlichen Charakteren zeigt sich die Umbildung derselben nach den Bedürfnissen der Handlung nicht nur bei den einzelnen Dichtern verschieden, auch derselbe Dichtergeist steht nicht allen seinen Helden gleich frei und unbefangen gegenüber. Es ist möglich, daß auch eine starke Dichterkraft einmal die geschichtlichen Einzelzüge eines Heldenlebens [S. 238] aus irgend einem Grunde besonders sorgfältig darzustellen sucht. Dann erkennt man in dem fertigen Kunstwerk diese Sorgfalt noch aus einem besonderen Reichthum eigenartiger Züge, welche für die Charakteristik verwerthet sind. So zeigt Heinrich VIII. von Shakespeare mehr Porträtzüge als irgend eine Heldengestalt seiner Dramen. Allerdings ist auch diese Gestalt in der Hauptsache ganz nach den Bedürfnissen der Handlung umgeformt und von dem historischen Heinrich VIII. durch eine weite Kluft getrennt; aber das Porträtmäßige der Zeichnung, sowie die zahlreichen Rücksichten, die der Dichter beim Bau der Handlung auf die wirkliche Geschichte nahm, geben doch dem Drama einen fremdartigen Farbenton. Wie zahlreich die kleinen Züge in diesem reich ausgestatteten Charakter sind, er wird selten einem Darsteller als die lohnendste Aufgabe erscheinen.
Aus ähnlichen Gründen ist das Einführen historischer Helden, deren Porträt besonders volksthümlich geworden ist, wie etwa von Luther und Friedrich dem Großen, besonders schwer. Die Versuchung liegt so nahe, auch solche wohlbekannte Züge der geschichtlichen Figur, welche für die Handlung des Dramas unwesentlich sind und deshalb als zufällig erscheinen, herauszutreiben. Diese aus der Wirklichkeit entnommene Zuthat zu einer einzelnen Gestalt gibt derselben mitten unter den frei erfundenen Personen ein peinlich anspruchsvolles, absonderliches, wohl gar abstoßendes Aussehen. Der Wunsch, ein möglichst genaues Abbild des wirklichen Daseins hervorzubringen, wird auch in dem Schauspieler übermächtig und verlockt diesen zu kleinlicher Malerei; selbst der Zuschauer fordert ein genaues Porträt und ist vielleicht überrascht, wenn die übrigen Charaktere und die Handlung deshalb weniger wirksam werden, weil er so lebhaft an einen werthen Freund aus der Geschichte erinnert wurde.
Leicht ist die Vorschrift gegeben, daß der dramatische Charakter wahr sein müsse, daß nämlich die einzelnen Lebens [S. 239] momente desselben mit einander im Einklang stehen und als zusammengehörig empfunden werden, und daß der Charakter dem Ganzen der Handlung auch in Beziehung auf Farbe und seelischen Inhalt genau entspreche. Aber solche Regel wird, so allgemein ausgedrückt, dem neueren Dichter in vielen Fällen keinen Nutzen gewähren, wo ihm der Zwiespalt zwischen den letzten Bedürfnissen seiner Kunst und der geschichtlichen, selbst mancher dichterischen Wahrheit geheime Schwierigkeiten bereitet.
Es versteht sich, daß der Dichter die Ueberlieferungen der Geschichte treu bewahren wird, wo sie ihm nützen und wo sie ihn nicht stören. Denn unsere Zeit, so fortgeschritten in geschichtlicher Bildung und in der Kenntniß früherer Kulturverhältnisse, überwacht auch die historische Bildung ihrer Dramatiker. Der Dichter soll sich hüten, zunächst, daß er seinen Helden nicht zu wenig von dem Inhalte ihrer Zeit gebe, und daß ein modernes Empfinden der Charaktere dem gebildeten Zuschauer nicht im Gegensatz erscheine zu den ihm wohl bekannten Befangenheiten und Eigenthümlichkeiten des Seelenlebens der alten Zeit. Die jungen Dichter verleihen ihren Helden leicht ein Verständniß der eigenen Zeit, eine Gewandtheit, über die höchsten Angelegenheiten derselben zu philosophiren und für ihre Thaten solche Gesichtspunkte zu finden, wie sie aus geschichtlichen Werken der Neuzeit geläufig sind. Es ist unbequem, einen alten Kaiser des fränkischen oder hohenstaufischen Hauses so bewußt, zweckvoll und verständig die Tendenzen seiner Zeit ausdrücken zu hören, wie etwa Stenzel und Raumer diese dargestellt haben. Nicht weniger gefährlich aber ist die entgegengesetzte Versuchung, in welche der Dichter durch das Bestreben kommt, die Eigenthümlichkeiten der Vergangenheit lebendig zu erfassen; leicht erscheint ihm dann das Besondere, von unserem Wesen Abweichende der alten Zeit als das Charakteristische und deshalb für seine Kunst Wirksame. Dann ist er in Gefahr, den unmittelbaren Antheil, welchen wir an dem schnell Verständlichen, allgemein Menschlichen nehmen, zu ver [S. 240] decken, und in der noch größeren Gefahr, den Verlauf seiner Handlung aufzubauen auf Absonderlichkeiten jener Vergangenheit, auf Vergängliches, welches in der Kunst den Eindruck des Zufälligen und Willkürlichen macht.
Und doch bleibt in einem geschichtlichen Stück oft ein unvermeidlicher Gegensatz zwischen den dramatisch zugerichteten Charakteren und der dramatisch zugerichteten Handlung. Es lohnt bei diesem gefährlichen Punkte zu verweilen. Da der moderne Dichter vor geschichtlichen Stoffen allerdings die Verpflichtung hat, sorgfältig auf das zu achten, was wir Farbe und Kostüm der Zeit nennen, und da nicht nur die Charaktere, sondern auch die Handlung aus entfernter Zeit genommen sind, so wird sicher auch in der Idee des Stückes und der Handlung, in den Motiven, den Situationen Vieles sein, was nicht allgemein menschlich und Jedem verständlich ist, sondern erst durch das Besondere und Charakteristische jener Zeit erklärt wird. Wo z. B. Königsmord durch ehrgeizige Helden verübt wird, wie im Macbeth oder Richard, wo der Intrigant seine Gegner mit Gift und Dolch angreift, wo die Gattin eines Fürsten ins Wasser gestürzt wird, weil sie ein Bürgerkind ist, in diesen und unzähligen anderen Fällen wird die Befangenheit und das Schicksal der Helden zunächst aus der dargestellten Begebenheit, aus den Sitten und Besonderheiten ihrer Zeit hergeleitet werden müssen.
Gehören nun aber die Gestalten einer Zeit an, welche hier die epische genannt wurde, wo in der Wirklichkeit die innere Freiheit der Menschen noch wenig entwickelt, die Abhängigkeit der Einzelnen von dem Beispiele Anderer, von Sitte und Brauch sehr viel größer ist, wo das Innere des Menschen nicht ärmer an starken Gefühlen, aber viel ärmer an der Fähigkeit ist, dieselben durch die Sprache auszudrücken, so werden die Charaktere des Dramas eine solche Befangenheit in der Hauptsache gar nicht darstellen dürfen . Denn da auf der Bühne nicht die Thaten wirken und nicht die schönen Reden, [S. 241] sondern die Darstellung der Gemüthsvorgänge, durch welche das Empfinden sich zum Wollen und zur That verdichtet, so müssen die dramatischen Hauptcharaktere einen Grad von innerer Freiheit, eine Bildung und eine Dialektik der Leidenschaft zeigen, welche in innerlichstem Gegensatze steht zu der thatsächlichen Befangenheit und Naivetät ihrer alten Vorbilder in der Wirklichkeit.
Nun würde dem Künstler allerdings leicht verziehen, daß er seine Gestalten mit einem stärkeren und reicheren Leben anfüllt, als sie in Wirklichkeit hatten. Wenn nur nicht dieser reichere Inhalt deshalb den Eindruck der Unwahrheit machte, weil einzelne Voraussetzungen der dargestellten Handlung ein so gebildetes Wesen der Hauptcharaktere gar nicht vertragen. Denn die Handlung, welche doch aus der Geschichte oder Sage entnommen ist und überall den sittlichen Inhalt, den Grad der Bildung, die Eigenthümlichkeit ihrer Zeit verräth, vermag der Dichter nicht immer ebenso gut mit tieferem Inhalt zu füllen, als den einzelnen Charakter. Der Dichter kann z. B. einem Orientalen die feinsten Gedanken und zartesten Empfindungen süßer Leidenschaft in den Mund legen, und doch den Charakter so färben, daß er den schönen Schein der Kunstwahrheit erhält; nun aber macht die Handlung vielleicht nothwendig, daß derselbe Charakter die Frauen seines Harems säcken lasse oder ein Kopfabschneiden befehle. Unvermeidlich bricht dann der innere Widerspruch zwischen Handlung und Charakter auf. Das ist in der That eine Schwierigkeit des dramatischen Schaffens, welche zuweilen auch von der größten Begabung nicht ganz überwunden werden mag; dann bedarf es aller Kunst, um bei so spröden Stoffen dem Hörer den stillen Widerspruch zwischen Stoff und Lebensbedürfniß des Dramas zu verdecken. — Darum sind alle Liebesscenen in historischen Stücken von besonderer Schwierigkeit. Hier, wo wir die unmittelbarsten Klänge einer holden Leidenschaft fordern, ist eine harte Aufgabe, zu gleicher Zeit die Zeitfarbe zu [S. 242] geben. Am besten gedeiht es dem Dichter noch dann, wenn er, wie Goethe bei Gretchen, in solcher Situation Besonderheiten des Charakters mit starker Farbe malen und bis an die Grenzen des Genre hinabgehen darf.
Der stille Kampf des Dichters mit Voraussetzungen seines Stoffes, welche undramatisch und doch nicht wegzuschaffen sind, findet aber fast vor jeder Handlung statt, welche aus der Heldensage oder der älteren Geschichte genommen ist.
In den epischen Stoffen, welche die Heldensage der großen Kulturvölker darbietet, ist die Handlung bereits künstlerisch zugerichtet, wenn auch nach anderen als dramatischen Bedürfnissen. Leben und Schicksale der Helden erscheinen abgeschlossen, durch verhängnißvolle Thaten bestimmt, gewöhnlich bildet die Reihenfolge der Begebenheiten, in denen sie handelnd und leidend erscheinen, eine längere Kette, aber es ist wohl möglich, einzelne Glieder derselben für den Gebrauch des Dramas abzulösen. Die Gestalten selbst schweben in großen Umrissen, einzelne charakteristische Eigenthümlichkeiten derselben sind mächtig entwickelt. Sie stehen auf den Höhen ihres Volksthums, zeigen Kraft und Größe, so erhaben und eigenartig entwickelt, als die schöpferische Phantasie des Volkes nur zu erfinden vermochte, die verhängnißvollen Ereignisse ihres Lebens sind häufig gerade solche, wie der dramatische Dichter sie sucht, Liebe und Haß, eigensüchtiges Begehren, Kampf und Untergang.
Solche Stoffe sind ferner geweiht durch die theuersten Erinnerungen eines Volkes, sie waren einst Stolz, Freude, Unterhaltung von Millionen. Sie sind nach einer Umbildung durch die schöpferische Volkskraft, welche Jahrhunderte währte, immer noch biegsam genug, um der Erfindung des dramatischen Dichters Vertiefung der Charaktere, sogar Veränderung im Zusammenhange der Handlung zu gestatten. Mehre von ihnen sind uns in der Ausarbeitung erhalten, welche ihnen im großen Epos zu Theil wurde, die meisten sind wenigstens ihrem Hauptinhalt nach auch unserer Bildung nicht ganz [S. 243] fremd. Dies Gesagte gilt mehr oder weniger von den großen Sagenkreisen der Griechen, von den sagenhaften Ueberlieferungen, welche in die älteste Geschichte der Römer verwebt sind, von den Heldensagen des deutschen und romanischen Mittelalters.
Freilich unterscheiden sich die Charaktere der epischen Sage bei näherer Betrachtung sehr von den Personen, wie sie dem Drama nöthig werden. Es ist wahr, die Helden des Homer wie der Nibelungen sind sehr bestimmte Persönlichkeiten. Auch der Blick in das Innere der Menschenseele, in die wogenden Gefühle ist den epischen Dichtern durchaus nicht verwehrt, schon sie leiten aus dem Charakter des Helden nicht selten sein Schicksal her, aus seinen Leidenschaften die verhängnißvollen Thaten; schon in den Dichtungen frühester Zeit ist Kenntniß des Menschenherzens und zuweilen der gerechte Sinn zu bewundern, welcher das Schicksal des Menschen aus seinen Tugenden, Fehlern und Leidenschaften erklären möchte. Nicht ebenso ausgebildet ist die Fähigkeit, die Einzelheiten der inneren Vorgänge darzustellen. Das Leben der Persönlichkeiten äußert sich in einzelnen anekdotenhaften Zügen, die oft mit überraschender Feinheit empfunden sind; was vorher liegt, die stille Arbeit im Innern, und was auf solche That folgt, die stille Wirkung auf die Seele, wird übergangen oder kurz abgefertigt. Wie sich der Mensch unter Fremden behauptet, durchschlägt oder untergeht im Kampfe mit stärkeren Gewalten, welche gegen ihn stehen, das zu erzählen ist der Hauptreiz, also Beschreibung hoher Feste, Zweikampf, Schlacht, Reiseabenteuer. Am lebhaftesten ist der Ausdruck des Gefühls noch da, wo der Mann als ein Leidender sich gegen das Unerträgliche empört; auch hier starrt der Ausdruck verhältnißmäßig unlebendig in häufig wiederkehrenden Formeln, als Klage, als Gebet zu den Göttern, vielleicht so, daß der Sprechende seinem Geschick ein anderes gegenüber hält, oder in einem ausgeführten Bilde seine Lage bespiegelt. Fast immer ist die Rede der Helden einfach, arm, [S. 244] eintönig, mit denselben wiederkehrenden Klängen der Empfindung. So die Selbstgespräche des Odysseus und der Penelope in dem Gedicht, in welchem das eigenartige Leben noch am reichlichsten und mit den besten Einzelzügen dargestellt ist. Auch wo der innere Zusammenhang der Begebenheiten auf den geheimen Anschlägen und der eigenthümlichen Leidenschaft einer einzelnen Person ruht, da also, wo sich aus dem Innern eines Charakters eine verhängnißvolle Handlung entwickelt, ist die Analyse der Leidenschaft noch kaum vorhanden. Kriemhild's Plan, Rache zu nehmen für den Mord, der an ihrem Gatten verübt wurde, die sämmtlichen Seelenbewegungen dieses fesselnden Charakters, der dem Dichter so gewaltig in der Seele lebt, wie kurz und gedeckt sind sie in der Erzählung! Es ist bezeichnend, daß bei diesem deutschen Gedichte das lyrische Beiwerk, Selbstgespräche, Klagen, gemüthliche Betrachtungen, viel ärmer ist als in der Odyssee, dagegen besonders lebhaft und schön ausgeführt jede Eigenthümlichkeit der Hauptcharaktere, welche deren Freundschaft oder Feindschaft zu Anderen bestimmt.
Aber sobald man die gewaltigen schattenhaften Gestalten der Sage sich auf der Bühne menschlich nahe und von Menschen dargestellt denkt, verlieren sie die Würde und Größe ihrer Umrisse, womit die geschäftige Phantasie ihr Bild umkleidet hat; ihre Reden, die innerhalb der epischen Erzählung die kräftigste Wirkung ausüben, werden, in die Jamben der Bühne umgeschrieben, matt, alltäglich. Ihr Handeln dünkt uns roh, barbarisch, wüst, ja ganz unmöglich, sie scheinen zuweilen, wie jene Nixe und Kobolde des alten Volksglaubens, ohne eine menschliche und vernünftige Seele. Die erste Arbeit des Dichters muß also eine Umbildung und eine Vertiefung der Charaktere sein, wodurch uns dieselben menschlich verständlich werden. Wir wissen, wie lockend den Griechen solche Dichterarbeit erschien.
Und sie standen besonders günstig zu ihrem alten Sagenstoff. Er war durch tausend Fäden mit dem Leben ihrer Gegenwart verbunden, durch örtliche Ueberlieferungen, Götter [S. 245] dienst und bildende Kunst. Die freiere Bildung ihrer Zeit erlaubte bereits wichtige Aenderungen vorzunehmen, mit innerer Unbefangenheit das Ueberlieferte als rohen Stoff zu behandeln. Und doch! Die Geschichte der attischen Tragödie ist in der That eine Geschichte des inneren Kampfes, den große Dichter mit einem Gebiet von Stoffen führten, welches sich einigen Hauptgesetzen des dramatischen Schaffens um so heftiger widersetzt, je mehr die Kunst des Schauspielers ausgebildet, die Ansprüche der Zuschauer an einen reichen Inhalt der Charaktere gesteigert wurden.
Euripides ist für uns das lehrreiche Beispiel, wie die griechische Tragödie durch den inneren Gegensatz zwischen ihrem Stoffgebiet und den größeren Anforderungen, welche die Kunst der Darstellung allmählich machte, aufgelöst wurde. Keiner seiner großen Vorgänger versteht besser als er die Gebilde der epischen Sage mit flammender, markzerfressender Leidenschaft zu füllen; keiner hat gewagt, so realistisch die dramatischen Charaktere der Empfindungsweise und dem Verständniß seiner Zuschauer nahe zu rücken, keiner hat der Kunst der Schauspieler so viel zu Liebe gethan. Ueberall in seinen Stücken erkennt man deutlich, daß die Darsteller und die Bedürfnisse der Bühne größere Bedeutung gewonnen haben. Aber die schauspielerisch wirksame Behandlung seiner Rollen, an sich ein Fortschritt, das gute Recht des Bühnendramas, trug doch dazu bei, seine Stücke zu verschlechtern; das Wilde und Barbarische der Handlung mußte als widerwärtig auffallen, wenn die Personen wie Athener aus der Umgebung des Dichters dachten und fühlten und dabei wie unbändige Skythen handelten. Seine Elektra ist eine gedrückte Frau aus einem edlen Hause, die in der Noth einen armen, aber braven Bauer geheiratet hat und mit Verwunderung wahrnimmt, daß unter seinem schlechten Kittel doch ein wackeres Herz schlägt; aber nur schwer glauben wir ihrer Versicherung, daß sie eine Tochter des entleibten Agamemnon sei. Wenn in der Iphigenia in Aulis Mutter und Tochter Hilfe [S. 246] flehend die Hand an das Kinn des Achilles und Agamemnon legen und diese dadurch nach Volkssitte beschwörend zu erweichen suchen, und wenn Achilles der grüßenden Klytämnestra die Hand versagt, so war solche mimische Erfindung ein an sich vortreffliches schauspielerisches Motiv; aber es stand in auffallendem Gegensatz zu der herkömmlichen Bewegung der maskirten und drapirten Personen, und während dieser Fortschritt der Schauspielkunst die Scenenwirkung in den Augen der Zuschauer wahrscheinlich kräftig steigerte, machte er zugleich die Iphigenia zu einer bedrängten Athenerin und das beabsichtigte Abschlachten derselben fremdartiger und unwahrer. In vielen anderen Fällen gibt der Dichter dem Begehren seines Pathosspielers nach großen Gesangwirkungen so weit nach, daß er den verständlichen und gemüthlichen Verlauf seiner Handlung plötzlich und unmotivirt durch Ausmalen der alten Sagenzüge unterbricht, durch Raserei, Kindermord u. a. m. Der ursächliche Zusammenhang der Ereignisse wird bei diesem Eindringen opernhafter und schauspielerischer Effekte Nebensache, die tragische Wucht geht verloren, die Personen werden Gefäße für mehrerlei Gefühle, spielend und sophistisch lösen sie sich von dem Zwange ihrer Vergangenheit. Fast in jedem Stück wird fühlbar, daß dem Dichter der alte Sagenstoff durch die wohlberechtigte Steigerung der Bühnenwirkungen wie ein morsches Gewebe zerfährt und zur Herstellung einer einheitlichen dramatischen Handlung unbrauchbar wird. Wären uns Stücke anderer Zeitgenossen überliefert, wir würden wahrscheinlich erkennen, wie auch andere vergeblich um die Versöhnung zwischen den gegebenen Stoffen und den Lebensbedingungen ihrer Kunst gerungen haben. Denn das muß wiederholt werden: was die Dichtergröße des Euripides mindert, ist nicht zumeist der ihm eigenthümliche Mangel an Ethos, sondern es ist die naturgemäße und unaufhaltsame Auflösung, welche in Dramenstoffe kommen mußte, die wesentlich undramatisch waren. Allerdings trug auch die wiederholte Be [S. 247] nutzung desselben Stoffes dazu bei, den Uebelstand an den Tag zu bringen; denn die späteren Dichter, welche bereits große dramatische Behandlung fast aller Sagen vorfanden, hatten dringende Veranlassung durch etwas Neues, Reizendes ihre Zuhörer zu gewinnen, und sie fanden dies darin, daß sie der Kunst ihrer Schauspieler neue und höhere Aufgaben stellten. Und dieser sachgemäße Fortschritt beschleunigte den Verderb der Handlung und dadurch auch der Rollen.
Wir Deutsche aber stehen zur epischen Sage weit ungünstiger. Sie ist für uns eine verschüttete Welt. Auch wo unsere Wissenschaft in weiten Kreisen Kunde davon verbreitet hat, wie von Homer und den Nibelungen, ist die Kenntniß und die Freude daran ein Vorrecht der Gebildeten. Unsere Bühne aber ist sehr viel realistischer geworden als jene griechische, und fordert von den Charakteren weit reichlichere Einzelzüge, einen unser Empfinden nicht peinlich verletzenden Inhalt. Wenn bei uns auf der Bühne Tristan eine Frau heiratete, um sein Verhältniß zur Frau eines Andern zu verdecken, so würde sein Darsteller in Gefahr sein, von einer erbitterten Gallerie als gemeines Scheusal mit Aepfeln geworfen zu werden, und die Brautnacht der Brunhild, so wirksam in dem Epos geschildert, wird auf der Bühne immer eine gefährliche Stimmung der Schauenden erwecken.
Uns Deutschen ist als Quell dramatischer Stoffe die Geschichte wichtiger geworden als die Sage. Für eine Mehrzahl der jüngeren Dichter ist die Geschichte des Mittelalters der Zauberbrunnen, aus welchem sie ihre Dramen heraufholen. Und doch liegt im Leben und Charakter unserer deutschen Vorfahren etwas schwer Verständliches, was uns die Helden des Mittelalters, — freilich noch mehr die Zustände des Volkes, — wie mit einem Nebel verdeckt und die Seele eines Fürstensohnes aus der Zeit Otto's des Großen undurchsichtiger macht, als die eines Römers aus der Zeit des zweiten punischen Krieges. Die Unselbständigkeit des Mannes ist weit größer, [S. 248] jeder Einzelne ist stärker durch die Anschauungen und Gewohnheiten seines Kreises beeinflußt. Die Eindrücke, welche von außen in die Seele fallen, werden von behender Einbildungskraft schnell umsponnen, verzogen, gefärbt; zwar ist die Thätigkeit der Sinne scharf und energisch, aber das Leben der Natur, das eigene Leben und das Treiben Anderer werden weit weniger nach dem verständigen Zusammenhange der Erscheinungen aufgefaßt, als vielmehr nach den Bedürfnissen des Gemüths gedeutet. Leicht bäumt die Selbstsucht des Einzelnen auf und stellt sich zum Kampfe, ebenso behende ist das Fügen unter übermächtige Gewalt. Die urwüchsige Einfalt eines Kindes mag in demselben Mann mit durchtriebener List und mit Lastern verbunden sein, welche wir als Auswuchs einer verderbten Civilisation zu betrachten gewöhnt sind. Und diese Unfreiheit sowie die Vereinigung der — scheinbar — stärksten Gegensätze in Empfindung und Art des Handelns finden sich bei den Führern der Völker ebenso sehr als bei kleinen Leuten. Es ist offenbar, daß schon dadurch das Urtheil über Charaktere, Werth oder Unwerth ihrer einzelnen Handlungen, über Stimmungen und Beweggründe erschwert wird. Wir sollen den Mann nach Bildung und sittlichem Gefühl seiner Zeit, und seine Zeit nach Bildung und Moral der unseren beurtheilen. Man versuche nun in irgend einem der früheren Jahrhunderte des Mittelalters sich eine Art Bild von dem mittleren Durchschnitt der Sittlichkeit im Volke zu machen, und man wird mit Erstaunen sehen, wie schwer das ist. Dürfen wir nach den Strafen schließen, welche die ältesten Volksrechte auf alle möglichen scheußlichen Missethaten setzten, oder nach den Greuelthaten im Hofhalt der Merowinger? Es gab damals noch kaum etwas von dem, was wir öffentliche Meinung nennen, und wir dürfen höchstens sagen, daß die Geschichtschreiber uns den Eindruck von Männern machen, welche Vertrauen verdienen. Wenn ein Fürstensohn sich in wiederholten Empörungen gegen seinen Vater erhob, wie weit wurde er durch die Auf [S. 249] fassung seiner Zeit, durch seine innersten Beweggründe gerechtfertigt oder entschuldigt? Selbst bei Ereignissen, welche sehr klar scheinen und uns in greller Beleuchtung erhalten sind, empfinden wir einen Mangel in unserem Verständniß. Nicht nur, weil wir zu wenig von jener Zeit wissen, sondern auch, weil wir, was uns überliefert wird, nicht immer verstehen, wie der dramatische Dichter es verstehen muß, in seinem ursächlichen Zusammenhange und in seiner Entstehung aus dem Kern eines Menschenlebens.
Wer freilich die wirklichen Verhältnisse und den geschichtlichen Charakter seines Helden nicht näher untersuchen wollte und den Namen desselben nur benutzte, um einige Ereignisse jener Zeit nach Anweisung eines bequemen Geschichtswerkes auf der Bühne mit tapferen Betrachtungen zu versehen, der würde jeder Schwierigkeit aus dem Wege gehen. Aber er würde auch schwerlich einen in Wahrheit dramatischen Stoff finden. Denn die edle Masse der Dramenstoffe lagert in den Steinmassen der Geschichte fast immer nur da, wo das geheime vertrauliche Leben der Heldencharaktere beginnt, man muß danach zu suchen wissen.
Gibt man sich nun ernstlich Mühe, die Helden aus entfernter Vergangenheit so viel als möglich kennen zu lernen, so entdeckt man in ihrem Wesen etwas sehr Undramatisches. Denn wie jenen epischen Gedichten ist auch dem geschichtlichen Leben alter Zeit eigen, daß der innere Kampf des Menschen, seine Empfindungen, Gedanken, das Werden seines Wollens bei den Helden selbst noch keinen Ausdruck gefunden haben. Auch in keinem Beobachter. Das Volk, seine Dichter und Geschichtschreiber sehen den Mann scharf und gut im Augenblicke der That, sie empfinden — wenigstens bei den Deutschen — das Charakteristische seiner Lebensäußerungen sehr innig, mit Rührung, Erhebung, Laune, Abneigung. Aber nur die Augenblicke, in denen sein Leben sich nach außen kehrt, sind jener Zeit anziehend, fesselnd, verständlich. Sogar die Sprache hat für die inneren Vorgänge bis zum Thun nur dürftigen Ausdruck, [S. 250] auch die leidenschaftliche Bewegung wird vorzugsweise in der Wirkung genossen, welche sie auf Andere ausübt, und in der Beleuchtung, welche sie der Umgebung mittheilt. Für die Gemüthszustände, sowie für die Rückwirkungen, welche das Geschehene auf Empfindungen und Charakter des Mannes ausübt, fehlt jede Technik der Darstellung, fehlt die Theilnahme. Sogar die Schilderung offen liegender Charaktereigenthümlichkeiten sowie eine reiche Ausführung des Geschehenen sind bei dem Erzähler nicht häufig, eine verhältnißmäßig trockene Zusammenreihung der Begebenheiten wird mehr oder weniger oft durch Anekdoten unterbrochen, in denen eine einzelne den Zeitgenossen wichtige Lebensäußerung des Helden hervorbricht, hier ein treffendes Wort, dort eine kräftige That. Vorzugsweise auf solchen Sagen beruht die Erinnerung, welche das Volk von seinem Führer und dessen Thaten bewahrt. Wir wissen, daß bis über die Reformation, ja bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinaus dieselbe Auffassung bei Gebildeten häufig war, daß sie noch jetzt unserem Volke nicht geschwunden ist.
Diese Armuth des dramatischen Lebens erschwert dem Dichter das Verständniß und die Darstellung eines jeden Helden. Aber in der Anlage unserer Urahnen war noch etwas Besonderes, was ihr Wesen zuweilen ganz geheimnißvoll macht. Schon in ihrer ältesten epischen Zeit zeigen sie in Charakteren, in Sprache, Poesie und Sitte die Neigung, ein eigenartiges inneres Grübeln und Deuten zur Geltung zu bringen. Nicht die Dinge an sich, sondern was sie bedeuten, ist schon den Ahnen des Denkervolkes die Hauptsache. Sehr reichlich dringen die Bilder der Außenwelt in die Seele der alten Germanen, welche vielseitiger, anerkennender, mit stärkerer Kraft der Aufnahme versehen sind als jedes andere Volk der Erde. Aber nicht in der schönen, klaren, ruhigen Weise der Griechen, oder mit der sichern, beschränkten, praktischen Einseitigkeit der Römer spiegelt sich das Empfangene bei ihnen in Rede und Thun wider, sie verarbeiten langsam und innig, und was aus ihnen her [S. 251] ausquillt, hat eine starke subjektive Färbung und eine Zugabe aus ihrem Gemüth erhalten, die wir schon in frühester Zeit lyrisch nennen dürfen. Darum steht auch die älteste Poesie der Deutschen in auffälligem Gegensatz zu dem Epos der Griechen: nicht das volle und reichliche Erzählen der Handlung ist ihr die Hauptsache, sondern ein scharfes Herausheben einzelner, glänzender Züge, die Verknüpfung des Moments mit einem ausgeführten Bilde, ein Darstellen in kurzen, abgebrochenen Wellen, auf denen man das aufgeregte Gemüth des Erzählers erkennt. Ganz ebenso ist bei den Charakteren die trotzige Selbstsucht mit einer Hingabe an ideale Empfindungen verbunden, die den Deutschen seit der Urzeit ein auffallendes Gepräge gab und sie mehr als ihre Körperkraft und kriegerische Wucht den Römern furchtbar machte. Keine Volkssitte hat so keusch und edel das Wesen der Frau gefaßt, kein Heidenglaube hat wie der deutsche die Schrecken des Todes überwunden, denn auf dem Schlachtfelde sterben ist die höchste Ehre und Freude des Helden. Durch dieses Vordringen des Gemüths und idealer Empfindungen erhalten die Charaktere der deutschen Helden im Leben wie im Epos schon sehr früh ein weniger einfaches Gefüge, ein originelles, zuweilen wunderliches Gepräge, welches ihnen bald besondere Größe und Tiefe, bald ein abenteuerliches und unvernünftiges Aussehen verleiht. Man vergleiche nicht den poetischen Werth der Schilderung, aber die Charakteranlage griechischer Helden in Ilias und Odyssee mit den Helden der Nibelungen. Dem tapfersten Griechen bleibt der Tod etwas Furchtbares, die Gefahr des Kampfes etwas Lästiges, es ist ihm nicht in unserem Sinne unehrenhaft, einen schlafenden oder waffenlosen Feind zu töten, es ist nicht der kleinste Heldenruhm, klug die Gefahr des Zusammentreffens zu vermeiden und aus dem Hinterhalt einen Ahnungslosen zu treffen. Der deutsche Held dagegen, derselbe, welcher aus Treue gegen seinen Herrn die verruchteste That eines Deutschen begangen und einen wehrlosen Mann listig von hinten getroffen [S. 252] hat, gerade er kann für sich, seinen Herrn und seinen Stamm Tod und Untergang vermeiden, wenn er zu rechter Zeit ausspricht, daß Gefahr vorhanden sei. Die Ueberirdischen haben ihm sein und der Freunde Verderben prophezeit, wenn die verhängnißvolle Reise fortgesetzt wird, und doch stößt er die Fähre, welche die Rückkehr möglich macht, in den Strom; — noch an dem Königshofe, wo ihm der Tod droht, vermag ein Wort zu dem wohlwollenden König, ehrliche Antwort auf eine herzliche Frage das Aergste abzuwenden, er aber schweigt. Ja noch mehr, er und die Seinen höhnen und reizen die erbitterten Feinde, und mit der sicheren Aussicht auf Untergang regen sie selbst herausfordernd im Spiele den blutigen Streit auf. Dem Griechen, jedem andern Volke des Alterthums, vielleicht die Gallier ausgenommen, wäre solche Art Heldenthum durchaus unheimlich und unvernünftig erschienen. Es war aber echt deutsch, der wilde und finstere Ausdruck eines Volkswesens, in welchem dem Einzelnen seine Ehre und sein Stolz weit mehr galten als das Leben. — Nicht anders ist dies Verhältniß bei den Helden der Geschichte. Die idealen Empfindungen, welche ihr Leben regieren, wie unvernünftig sie zuweilen schon lange vor Ausbildung des Ritterthums waren, die Pflichten der Ehre und Treue, das Gefühl des Männerstolzes und der eigenen Würde, Todesverachtung und Liebe zu einzelnen Menschen hatten oft eine Stärke und Gewalt, welche wir schwer zu schätzen, nicht immer als beherrschendes Motiv zu erkennen vermögen.
So schwebte die Seele des Germanen schon in ältester Zeit in Banden, welche für uns oft nicht mehr erkennbar sind; fromme Hingabe und Sehnsucht, Aberglaube und Pflichtgefühl, ein geheimer Zauberspruch oder ein geheimes Gelübde zogen seinen Entschluß zu Thaten, welche wir vergeblich durch verständige Gründe, die unserer Bildung entnommen sind, zu erklären suchen.
Und zu solcher Anlage kam im Mittelalter endlich der [S. 253] große Kreis von Stimmungen, Gesetzen und phantastischen Träumereien, welcher mit dem Christenthum eindrang. Während einerseits der schneidende Gegensatz, in welchem der milde Glaube der Entsagung zu den rauhen Neigungen eines erobernden Kriegervolkes stand, den Deutschen die Widersprüche zwischen Pflicht und Neigung, zwischen äußerem und innerem Leben höchlich vermehrte, entsprach er andererseits in auffallender Weise dem Bedürfniß der Hingebung, welche der Deutsche für einige große Ideen schon längst besaß. Wenn an die Stelle Wuotan's und des getöteten Asengottes der Vater der Christen und sein eingeborner Sohn, und an die Stelle der Schlachtjungfrauen die Schaaren der Heiligen traten, so erhielt dadurch auch das Leben nach dem Tode eine neue Weihe und herzlichere Bedeutung. Und zu den alten Gewalten, welche den Entschluß des Mannes in der Stille bestimmt hatten, zu dem bedeutungsvollen Wort, einem anlaufenden Thiere, zu dem Trinkgelage und dem Würfelspiele, zu den Mahnungen der Heidenpriester und den Weissagungen kluger Frauen kamen jetzt die Forderungen der neuen Kirche, ihr Segen und ihr Fluch, Gelübde und Beichte, die Priester und die Mönche; dicht an den rohen, rücksichtslosen Genuß traten leidenschaftliche Bußübungen und strengste Askese, und neben den Häusern der hübschen Frauen erhoben sich die Nonnenklöster. Wie seit der Herrschaft des Christenglaubens die Charaktere in den schärfsten Grundsätzen gezogen, wie Empfindung und Beweggründe des Handelns mannigfaltiger, tiefer und künstlicher gemacht werden, das zeigen z. B. zahlreiche Gestalten aus der Zeit der Sachsenkaiser, wo fromme Schwärmerei gerade unter den Vornehmen üblich wird und Männer und Frauen bald durch das Bestreben, die Welt für sich zu gewinnen, bald durch den reuigen Wunsch, den Himmel mit sich zu versöhnen, hin und her getrieben werden.
Wer je die Schwierigkeit empfunden hat, Menschen des Mittelalters, welche durch die tiefsinnige Natur der Germanen und durch die alte Kirche geformt wurden, zu ver [S. 254] stehen, der wird diese kurzen Andeutungen nach jeder Richtung ergänzen.
Und deshalb wird hier ein früheres Beispiel von anderem Gesichtspunkt wiederholt. Was arbeitete in der Seele Heinrich's IV. , als er im Büßerhemd an die Schloßmauer von Canossa trat? Damit der Dichter diese Frage durch eine edle Kunstwirkung beantworten könne, wird er sich doch vom Geschichtschreiber erst sagen lassen, was dieser weiß. Und er wird mit Erstaunen sehen, wie verschieden die Auffassung der Situation, wie unsicher und spärlich die erhaltene Nachricht, und wie unbequem und schwer ergründlich das Herz dieses mittelalterlichen Helden ist.
Daß er nicht mit innerer Zerknirschung zum Papste fuhr, der hochfahrende gewaltsame Mann, der in dem römischen Priester seinen gefährlichsten Gegner haßte, ist leicht zu begreifen. Daß er die bittere Nothwendigkeit dieses Schrittes lange im empörten Gemüth herumgewälzt hatte und nicht ohne grimmige Hintergedanken das Büßerhemd anzog, ist vorauszusetzen. Aber er kam ebensowenig als ein listiger Staatsmann, der mit kalter Berechnung sich demüthigt, weil er einen falschen Schritt des Gegners erkennt und aus dieser Niederlage die Früchte eines künftigen Sieges herauswachsen sieht. Denn Heinrich war ein mittelalterlicher Christ; wie tief er den Gregor haßte, der Fluch der Kirche hatte für ihn zuverlässig etwas Unheimliches und Furchtbares, zu seinem Gott und dem Christenhimmel gab es damals keinen anderen Weg als durch die Kirche. Gregor saß an der Himmelsbrücke, und wenn er es verbot, geleiteten die Engel, die neuen Schlachtjungfrauen der Christen, den toten Krieger nicht vor den Thron Allvaters, sondern sie stießen ihn in den Abgrund zu dem alten Drachen. Der Papst schreibt, daß der Kaiser viel geweint und sein Erbarmen angefleht habe, und daß auch die Umgebung Gregor's schluchzend und weinend diese Buße des Kaisers ansah. Der Büßende war also doch wohl im Glauben, daß der Papst ein [S. 255] Recht habe ihn so zu plagen? Diese Einwirkungen des kirchlichen Gewissens auf weltliche Zwecke, die abenteuerliche und unsichere Mischung von Gegensätzen, bald Stolz, hoher Sinn, dauerhafte, unzerstörbare Kraft, die wir fast für übermenschlich halten, und wieder eine klägliche Leerheit und Schwäche, die uns verächtlich dünkt: das bietet dem Dichter keine leicht zu bewältigende Aufgabe. Allerdings, er ist Herr seines Stoffes, er vermag den geschichtlichen Charakter frei nach seinem Bedarf umzuformen. Es ist möglich, daß der wirkliche Heinrich vor Canossa stand wie ein ungebändigter ruchloser Bube, der eine schwere Züchtigung auszuhalten hat. Was kümmert das den Dichter? Aber ebenso zwingend ist seine Verpflichtung, vorher das wirkliche Wesen des Kaisers bis in die tiefsten Falten zu ergründen. Sowohl der reuige Büßer als der kalte Staatsmann werden bei dieser Sachlage Unwahrheiten, der Dichter hat den Charakter des Fürsten aus Bestandtheilen zu mischen, für welche er vielleicht in seiner eigenen Seele nicht die entsprechenden Anschauungen findet und die er sich erst durch Nachdenken in Anschauung und warme Empfindung umzusetzen hat. Es gibt wenige Fürsten des Mittelalters, welche nicht in wesentlichen Begebenheiten ihres Lebens, nach dem Maßstab unserer Bildung und Sittlichkeit gemessen, entweder als kurzsichtige Tröpfe oder als gewissenlose Bösewichter — nicht selten als beides — erscheinen. Der Geschichtschreiber wird mit solchen schwierigen Aufgaben in seiner anspruchslosen Weise fertig, er sucht sie im Zusammenhange ihrer Zeit zu verstehen und sagt ehrlich, wo sein Verständniß aufhört; der Dichter zieht diese Abenteuerlichen gebieterisch an das helle Licht unserer Tage, er füllt ihr Inneres mit warmem Leben, mit moderner Sprache, mit einem guten Antheil an Vernunft und Bildung unserer Tage, und er vergißt, daß die Handlung, in welcher er sie bewegt, aus der alten Zeit genommen ist und nicht ebenso umgeformt werden konnte, und daß sie auffallend schlecht stimmt zu dem höheren menschlichen Inhalt, den er ihren Charakteren gegeben.
[S. 256] Die geschichtlichen Stoffe aus grauer Vergangenheit und wenig bekannten Zeitabschnitten unseres Volksthums verlocken unsere jungen Dichter, wie einst den Euripides die epischen Stoffe, sie verleiten zu Schaustellungen, wie jene alten zu Declamationen. Nun sollen ihre Gestalten darum nicht als unbrauchbar bei Seite gelegt werden; aber der Dichter wird sich fragen, ob die Umbildungen, die er mit einem jeden Charakter der Vorzeit vorzunehmen verpflichtet ist, nicht vielleicht so groß werden, daß jede Aehnlichkeit seines Bildes mit der historischen Gestalt schwindet, und ob die unvertilgbaren Voraussetzungen der Handlung nicht mit seiner freien Gestaltung unverträglich geworden sind. Das wird allerdings zuweilen der Fall sein.
Nicht weniger beachtenswerth ist der Kampf, welchen der Dramatiker in seinen Rollen gegen das führen muß, was er als Natur zu idealisiren hat. Seine Aufgabe ist, großer Leidenschaft auch großen Ausdruck zu geben. Er hat dabei zum Gehilfen den Darsteller, also die leidenschaftlichen Accente der Stimme, Gestalt, Mimik und Geberde. Trotz dieser reichen Mittel vermag er fast niemals, und gerade in den Augenblicken höherer Leidenschaft nicht, die entsprechenden Erscheinungen des wirklichen Lebens ohne große Veränderungen zu verwenden, wie stark und schön und wirksam sich dort bei starken Naturen auch die Leidenschaft ausspreche, und wie großen Eindruck sie dem zufälligen Beobachter mache. Auf der Bühne soll die Erscheinung in die Entfernung wirken. Selbst beim kleinen Theater ist ein verhältnißmäßig großer Zuschauerraum mit dem Ausdrucke der Leidenschaft zu füllen, gerade die feinsten Accente aber des wirklichen Gefühls in Stimme, Blick, selbst in der Haltung werden dem Publicum schon der Entfernung wegen durchaus nicht so deutlich und fesselnd, als sie im Leben sind. Und ferner, es ist die Aufgabe des Dramas, ein solches Arbeiten der Leidenschaft in allen Momenten verständlich und eindringlich zu machen; denn es ist nicht die Leidenschaft selbst, welche [S. 257] wirkt, sondern die dramatische Schilderung derselben durch Rede und Mimik; immer sind die Charaktere der Bühne bestrebt, ihr Inneres dem Hörer zuzukehren. Der Dichter muß deshalb für die Wirkung auswählen. Die flüchtigen Gedanken, welche in der Seele des Leidenschaftlichen durcheinander zucken, Schlüsse, welche mit der Schnelligkeit des Blitzes gemacht werden, die in großer Zahl wechselnden Seelenbewegungen, welche bald undeutlicher, bald lebendiger zu Tage kommen, sie alle in ihrer ungeordneten Fülle, ihrem schnellen Verlauf, oft unvollkommenen Ausdruck, vermag die Kunst so nicht zu häufen. Sie braucht für jede Vorstellung, jede starke Empfindung eine gewisse Zahl bedeutsamer Worte und Geberden, die Verbindung derselben durch Uebergänge oder scharfe Gegensätze erfordert ebenfalls ein zweckvolles Spiel, jedes einzelne Moment stellt sich breiter dar, eine sorgfältige Steigerung muß stattfinden, damit eine höchste Wirkung erreicht werde. So muß die dramatische Dichtkunst zwar die Natur beständig belauschen, aber sie darf durchaus nicht copiren, ja sie muß zu den Einzelzügen, welche die Natur ihr angibt, noch ein anderes mischen, was die Natur nicht bietet. Und zwar sowohl in den Reden als in der Schauspielkunst. Für die Dichtung ist eins der nächsten Hilfsmittel der Witz des Vergleiches, die Farbe des Bildes; dieser älteste Schmuck der Rede tritt mit Naturnothwendigkeit überall in die Sprache des Menschen, wo die Seele in gehobener Stimmung frei ihre Flügel regt. Dem begeisterten Redner wie dem Dichter, jedem Volke, jeder Bildung sind Vergleich und Bild die unmittelbarsten Aeußerungen eines gesteigerten Wesens, des kräftigen geistigen Schaffens. Nun aber ist die Aufgabe des Dichters, mit der größten Freiheit und Gehobenheit seines Wesens die größte Befangenheit seiner Personen in ihren Leidenschaften darzustellen. Es wird also unvermeidlich sein, daß seine Charaktere auch in den Momenten hoher Leidenschaft weit mehr von dieser inneren schöpferischen Kraft der Rede, von der unumschränkten Macht und Herrschaft über [S. 258] Sprache, Ausdruck und Geberdenspiel verrathen, als sie in der Natur jemals zeigen. Ja diese innere Freiheit ist ihnen nothwendig und der Zuschauer fordert sie. Und doch liegt hier die große Gefahr für den Schaffenden, daß seine Redekunst der Leidenschaft zu künstlich erscheine. Unsere größten Dichter haben die Kunstmittel der Poesie oft in einer Reichlichkeit zu leidenschaftlichen Momenten benutzt, welche verletzt. Es ist bekannt, daß schon Shakespeare bei pathetischem Ausdruck der Neigung seiner Zeit zu mythologischen Vergleichen und prächtigen Bildern zu sehr nachgibt; dadurch kommt häufig ein Schwulst in die Sprache seiner Charaktere, den wir nur über der Menge von schönen bedeutsamen Zügen, die dem Leben abgelauscht sind, vergessen. Näher stehen die großen Dichter der Deutschen unserer Bildung, aber auch bei ihnen, vor anderen bei Schiller, drängt sich in das Pathos nicht selten eine Schönrednerei, welche unbefangener Empfindung schon jetzt unbequem wird.
Wenn der Gegensatz zwischen Kunst und Natur bei jedem leidenschaftlichen Ausdruck erkennbar ist, so gilt dies am meisten von den innigsten und herzlichsten Empfindungen. Und so wird hier noch einmal an die sogenannten Liebesscenen erinnert. In der Wirklichkeit ist der Ausdruck der holden Leidenschaft, welcher aus einer Seele in die andere dringt, so zart, wortarm und discret, daß er die Kunst in Verzweiflung bringt. Ein schneller Strahl des Auges, ein weicher Ton der Stimme vermag dem Geliebten mehr auszudrücken als jede Rede; gerade die unmittelbarste Aeußerung des süßen Gefühls bedarf der Worte nur wie nebenbei; auch die Augenblicke der sogenannten Liebeserklärung werden häufig wortarm, dem Fernstehenden kaum sichtbar verlaufen. Dem Zuschauer kann auch die höchste Kraft des Dichters und Darstellers das beredte Schweigen und die schönen geheimen Schwingungen der Leidenschaft nur durch eine größere Anzahl von Hilfsmitteln ersetzen. Ja, Dichter und Darsteller müssen gerade hier eine Reich [S. 259] lichkeit von Wort und Mimik anwenden, die in der Natur unwahrscheinlich ist. Allerdings vermag der Schauspieler die Worte des Dichters durch Ton und Geberde zu steigern und zu ergänzen; aber damit er diese erhöhenden Wirkungen übe, muß die Sprache des Dichters ihn leiten und höchst planvoll und zweckmäßig die Wirkungen der Schauspielkunst motiviren, und deshalb verlangt auch der Schauspieler eine schöpferische Thätigkeit des Dichters, welche nicht eine Nachbildung der Wirklichkeit, sondern etwas ganz Anderes gibt: das Kunstvolle.
Darf man gegenüber solchen Schwierigkeiten, welche der Ausdruck hoher Leidenschaft im Drama darbietet, dem Dichter rathen, so wird ihm das Beste sein, so genau und lebenswahr, als seine Begabung erlaubt, die einzelnen Momente zu starker Steigerung zusammen zu schließen und so wenig als möglich die schmückenden Betrachtungen, Vergleiche, Bilder ins Breite auszuführen. Denn während sie der Sprache Fülle geben, verdecken sie nur zu gern Flüchtigkeit und Armuth der poetischen Erfindung. Wenn überall dem dramatischen Dichter genaues, immerwährendes Beobachten der Natur unentbehrlich ist, so gilt das am meisten bei Darstellung heftiger Leidenschaften; wohl aber soll er sich bewußt sein, daß er gerade hier am wenigsten die Natur nachahmen darf.
Eine andere Schwierigkeit entsteht dem Dichter durch den inneren Gegensatz, in welchen seine Art des Schaffens zu der seines Verbündeten, des Schauspielers, tritt. Der Dichter empfindet die Bewegungen seiner Charaktere, ihr Gegenspiel und Zusammenwirken nicht so, wie der Leser die Worte des Dramas, nicht so, wie der Schauspieler seine Rolle. Gewaltig und zum Schaffen reizend gehen ihm der Charakter, die Scene, jedes Moment auf, in der Art, daß ihm zugleich ihre Bedeutung für das Ganze klar vor Augen steht, während ihm alles Vorhergehende und alles Nachfolgende wie in leisen Accorden durch das Gemüth zittert. Die Lebensäußerungen seiner Charaktere, das Fesselnde der Handlung, die Wirkung der Scenen [S. 260] empfindet er als lockend und gewaltig vielleicht lange bevor sie in Worten Ausdruck gefunden haben. Ja, der Ausdruck, welchen er ihnen schafft, gibt seiner eigenen Empfindung oft sehr unvollständig die Schönheit und Macht wieder, womit sie in seiner Seele geschmückt waren. Während er so das Seelenhafte seiner Personen von innen heraus durch die Schrift festzuhalten bemüht ist, wird ihm die Wirkung der Worte, welche er niederschreibt, nur unvollkommen klar, erst nach und nach gewöhnt er sich an ihren Klang; auch den geschlossenen Raum der Bühne, das äußere Erscheinen seiner Gestalten, die Wirkung einer Geberde, eines Redetons fühlt er nur nebenbei, bald mehr bald weniger deutlich. Im Ganzen steht er, der durch die Sprache schafft, den Bedürfnissen des Lesers oder Hörers noch näher als denen des Schauspielers, zumal wenn er nicht selbst darstellender Künstler ist. Die Wirkungen, welche er findet, entsprechen deshalb bald mehr den Bedürfnissen des Lesenden, bald mehr denen des Darstellers.
Nun aber muß der Dichter großer Empfindung auch einen vollen und starken Ausdruck durch die Sprache geben. Und die Wirkungen, welche eine Seele auf andere ausübt, werden dadurch hervorgebracht, daß ihr Inneres in einer Anzahl von Redewellen herausbricht, welche sich immer stärker und mächtiger erheben und an das empfangende Gemüth schlagen. Das bedarf einer gewissen Zeit und auch bei kurzer und höchst kräftiger Behandlung einer gewissen Breite der Ausführung. Der Schauspieler dagegen mit seiner Kunst bedarf des Stroms der überzeugenden, verführenden Rede, ja er bedarf des starken Ausdrucks der Leidenschaft durch die Sprache nicht immer. Sein Augenmerk ist darauf gerichtet, noch durch andere Mittel zu schaffen, deren Wirksamkeit der Dichter nicht ebenso lebendig empfindet. Durch eine Geberde des Schreckens, des Hasses, der Verachtung vermag er zuweilen weit mehr auszudrücken, als der Dichter durch die besten Worte. Ungeduldig wird er immer in Versuchung sein, von den höchsten Mitteln seiner [S. 261] Kunst Gebrauch zu machen. So werden die Gesetze der Bühnenwirkung für ihn und die Zuschauer zuweilen andere, als sie in der Seele des schaffenden Dichters lagen. Dem Darsteller wird oft in dem Kampf der Leidenschaft ein Wort, ein Augenblick besonders geeignet sein, die stärksten mimischen Wirkungen daran zu knüpfen; alle folgenden Seelenvorgänge in seiner Rede, wie poetisch wahr sie an sich sein mögen, werden ihm und den Zuschauern als Längen erscheinen. Dadurch wird bei der Darstellung Manches unnöthig, was beim Schreiben und beim Lesen die höchste Berechtigung hat.
Daß der Schauspieler seinerseits die Aufgabe hat, dem Dichter mit Sorgfalt zu folgen und sich soviel als irgend möglich den beabsichtigten Wirkungen desselben anzuschließen, selbst mit einiger Resignation, das versteht sich von selbst. Nicht selten aber wird sein Recht besser, als das der Sprache; schon deshalb, weil seine Kunstmittel: Stimme, Erfindungskraft, Technik, selbst seine Nerven ihm Beschränkungen auferlegen, die der Dichter nicht als zwingende empfindet. Der Dichter aber wird bei solchem Recht, das der Schauspieler gegenüber seiner Arbeit hat, um so mehr mit Schwierigkeiten kämpfen, je ferner er selbst der Bühne steht, und je weniger deutlich ihm in den einzelnen Momenten seiner schöpferischen Thätigkeit das Bühnenbild der Charaktere ist. Er wird also sich durch Nachdenken und Beobachtung klar machen müssen, wie er seine Charaktere dem Schauspieler für die Bühnenwirkung bequem zurecht zu legen habe. Er wird aber der Schauspielkunst auch nicht immer nachgeben dürfen. Und da er schon beim Schreibtisch die Aufgabe hat, so sehr als möglich der wohlwollende Vormund des darstellenden Künstlers zu sein, so wird er die Lebensgesetze der Schauspielkunst ernsthaft studiren müssen.
Dieselben Gesetze, welche für die Handlung aufgezählt wurden, gelten auch für die Charaktere der Bühne. Auch diese müssen dramatische Einheiten sein — Wahrscheinlichkeit, Wichtigkeit und Größe haben — zu starkem und gesteigertem Ausdruck des dramatischen Lebens befähigt sein.
Die Charaktere des Dramas dürfen nur diejenigen Seiten der menschlichen Natur zeigen, durch welche die Handlung fortgeführt und motivirt wird . — Kein Geiziger, kein Heuchler, ist immer geizig, immer falsch, kein Bösewicht verräth seine niederträchtige Seele bei jeder That, welche er begeht; Niemand handelt immer consequent, unendlich vielfach sind die Gedanken, welche in der Menschenseele gegen einander kämpfen, die verschiedenen Richtungen, in welchen sich Geist, Gemüth, Willenskraft ausdrücken. Das Drama aber, wie jedes Kunstgebilde, hat nicht das Recht, aus der Summe der Lebensäußerungen eines Menschen mit Freiheit auszuwählen und zusammenzustellen; nur was der Idee und Handlung dient, gehört der Kunst. Der Handlung aber werden nur solche gewählte Momente in den Charakteren dienen, welche als zusammengehörig leicht verständlich sind. Richard III. von England war ein blutiger und rücksichtsloser Gewaltherrscher, er war es aber durchaus nicht immer, nicht gegen Jeden; er war außerdem ein staatskluger Fürst, und es ist möglich, daß seine Regierung dem Geschichtschreiber nach [S. 263] einigen Richtungen als ein Segen für England erscheint. Wenn ein Dichter sich die Aufgabe stellt, die blutige Härte und Falschheit einer hochüberlegenen, menschenverachtenden Heldennatur in diesem Charakter verkörpert zu zeigen, so versteht sich von selbst, daß er Züge von Mäßigung, vielleicht von Wohlwollen, welche sich etwa im Leben dieses Fürsten finden, in seinem Drama entweder gar nicht, oder nur so weit aufnehmen darf, als sie den Grundzug des Charakters, wie er ihn für diese Idee nöthig hat, unterstützen. Und da die Zahl der charakterisirenden Momente, welche er überhaupt aufführen kann, im Verhältniß zur Wirklichkeit unendlich klein ist, so tritt schon deshalb jeder Zug in ein ganz anderes Verhältniß zum Gesammtbilde, als in der Wirklichkeit. Was aber bei den Hauptfiguren nöthig ist, gilt vollends von den Nebengestalten; es versteht sich, daß das Gewebe ihrer Seele um so leichter verständlich sein muß, je weniger Raum der Dichter für sie übrig hat. Schwerlich wird ein dramatischer Dichter darin große Fehler begehen. Auch dem ungeübten Talente pflegt die eine Seite sehr deutlich zu sein, von welcher es seine Figuren zu beleuchten hat.
Das erste Gesetz, das der Einheit, läßt sich noch anders auf die Charaktere anwenden: das Drama soll nur einen Haupthelden haben , um welchen sich alle Personen, wie groß ihre Zahl sei, in Abstufungen ordnen. Das Drama hat eine durchaus monarchische Einrichtung, die Einheit seiner Handlung ist wesentlich davon abhängig, daß die Handlung sich an einer maßgebenden Person vollzieht. Aber auch für eine sichere Wirkung ist die erste Bedingung, daß die Antheilnahme des Zuhörers zumeist auf eine Person gerichtet werde, und daß er möglichst schnell erfahre, wer ihn vor anderen beschäftigen soll. Da überhaupt nur an wenigen Personen die höchsten dramatischen Vorgänge in großer Ausführung zu Tage kommen, so ist schon dadurch Beschränkung auf wenige große Rollen geboten. Und es ist alte Erfahrung, daß dem Hörer nichts [S. 264] peinlicher wird als Unsicherheit über den Antheil, welchen er jeder dieser Hauptpersonen zuzuwenden hat. Es ist also auch ein praktischer Vortheil des Stückes, seine Wirkungen auf einen Mittelpunkt zu beziehen.
Wer von diesem Grundsatz abweicht, soll das in der lebhaften Empfindung thun, daß er einen großen Vortheil aufgibt, und wenn ein Stoff dies Aufgeben nothwendig macht, sich zweifelnd fragen, ob die dadurch entstehende Unsicherheit in den Wirkungen des Stückes durch andere dramatische Vorzüge desselben ersetzt werde.
Eine Ausnahme allerdings hat unser Drama seit langer Zeit aufgenommen. Wo die Beziehungen zweier Liebenden die Hauptsache der Handlung bilden, werden diese innig verbundenen Personen gern als gleichberechtigte angesehen, ihr Leben und Schicksal als eine Einheit aufgefaßt. So in Romeo und Julia, Kabale und Liebe, den Piccolomini, sogar in Troilus und Kressida. Aber auch in diesem Falle wird der Dichter wohlthun, einem von beiden den Haupttheil der Handlung zu geben, wo das nicht möglich ist, die innere Entwickelung beider durch entsprechende Motive nach beiden Seiten zu stützen. Bei Shakespeare führt in der ersten Hälfte des Stückes Romeo, in der zweiten Julia, in Antonius und Kleopatra ist Antonius bis zu seinem Tode der Held.
Während aber bei Shakespeare, Lessing, Goethe sonst der Hauptheld immer unzweifelhaft ist, hat Schiller nicht zum Vortheil für den Bau seiner Stücke eine eigenthümliche Neigung zu Doppelhelden, die schon in den Räubern hervortritt und in späteren Jahren, seit seiner Bekanntschaft mit der antiken Tragödie, noch auffallender wird. Carlos und Posa, Maria und Elisabeth, die feindlichen Brüder, Max und Wallenstein, Tell, die Schweizer und Rudenz. Diese Neigung läßt sich wohl erklären. Der pathetische Zug in Schiller war seit der Bekanntschaft mit den Griechen noch verstärkt worden, er kommt in seinen Dramen nicht selten in Widerspruch mit einer grö [S. 265] ßeren Dichtereigenschaft, der dramatischen Energie. So zerlegten sich ihm zwei Richtungen seines Wesens unter der Hand in getrennte Personen, von denen die eine den pathetischen, die andere den Haupttheil der Handlung erhält, die zweite freilich noch zuweilen ihren Antheil an Pathos. Wie diese Theilung den ersten Helden, der für ihn der pathetische war, herabdrückte, ist bereits gesagt.
Einen anderen Fehler vermeidet der Dichter schwerer. Der Antheil, welchen die Charaktere am Forttreiben der Handlung haben, muß so eingerichtet sein, daß ihr erfolgreiches Thun immer auf dem leicht verständlichen Grundzuge ihres Wesens beruht und nicht auf einer Spitzfindigkeit ihres Urtheils oder auf einer Besonderheit, welche als zufällig erscheint. Vor allem darf ein entscheidender Fortschritt der Handlung nicht aus Wunderlichkeiten eines Charakters, welche nicht motivirt sind, oder aus solchen Schwächen desselben hervorgehen, welche unserem schauenden Publicum den fesselnden Eindruck desselben verringern. So ist die Katastrophe in Emilia Galotti für unsere Zeit bereits nicht mehr im höchsten Sinne tragisch, weil wir von Emilia und ihrem Vater männlicheren Muth fordern. Daß die Tochter sich fürchtet verführt zu werden, und der Vater darum verzweifelt, weil doch der Ruf der Tochter durch die Entführung geschädigt ist, statt mit dem Dolch in der Hand sich und seinem Kinde den Ausweg aus dem Schlosse zu suchen, das verletzt uns die Empfindung, wie schön auch der Charakter Odoardo's gerade für diese Katastrophe gebildet ist. Zu Lessing's Zeit waren die Vorstellungen des Publicums von der Macht und Willkür fürstlicher Herrscher so lebendig, daß die Situation ganz anders wirkte als jetzt. Und doch hätte Lessing auch bei solcher Voraussetzung den Mord der Tochter stärker motiviren können. Der Zuschauer muß durchaus überzeugt sein, daß den Galotti ein Ausweg aus dem Schlosse unmöglich ist. Der Vater muß ihn mit letzter Steigerung der Kraft versuchen, der Prinz [S. 266] durch Gewalt verhindern. Dann bleibt freilich immer noch der größere Uebelstand, daß dem Odoardo in der That weit näher lag, den schurkischen Prinzen als seine unschuldige Tochter zu töten. Das wäre viel gewöhnlicher gewesen, aber menschlich wahrer. Natürlich konnte dieses Trauerspiel solchen Schluß nicht brauchen. Und dies ist ein Beweis, daß das Bedenkliche des Stückes tiefer liegt als in der Katastrophe. Noch machte die deutsche Luft, in welcher der starke Geist Lessing's rang, das Schaffen großer tragischer Wirkungen schwierig. Die Besten empfanden wie edle Römer zur Kaiserzeit: der Tod macht frei! [22]
Wo aber unvermeidlich ist, den Helden in einer wesentlichen Richtung als kurzsichtig und beschränkt gegenüber seiner Umgebung darzustellen, muß das herabdrückende Gewicht aufgewogen sein durch eine ergänzende Seite seiner Persönlichkeit, welche ihm erhöhten Grad von Achtung und Antheil zuwendet. Das ist gelungen im Götz und Wallenstein, es ist versucht aber nicht gelungen im Egmont.
Wenn der griechische Verfasser der Poetik vorschreibt, daß die Charaktere der Helden, um Theilnahme zu erwecken, aus böse und gut gemischt sein müssen, so gilt dieser Satz, auf die veränderten Verhältnisse unserer Bühne angewandt, noch heut. Die Stoffbilder, aus denen die Bühne der Germanen vorzugsweise ihre poetischen Charaktere heraushebt, sind selbst Menschen. Auch wo der Dichter einmal Gestalten der Sage verwerthet, versucht er mehr oder weniger glücklich, dieselben mit der freieren Menschlichkeit und dem reicheren Leben zu füllen, welches an geschichtlichen Charakteren oder an Personen der Gegenwart zum Idealisiren einladet. Und der Dichter [S. 267] wird jeden Charakter für sein Drama benutzen dürfen, welcher die Darstellung starker dramatischer Vorgänge möglich macht. Die unbedingte und bewegungslose Güte und Schlechtigkeit sind für Hauptrollen schon dadurch ausgeschlossen. Die Kunst an sich legt ihm eine weitere Beschränkung nicht auf. Denn ein Charakter, in welchem die höchsten dramatischen Vorgänge sich reichlich darstellen lassen, wird ein Kunstgebilde, wie auch sein Verhältniß zu dem sittlichen Inhalt oder den gesellschaftlichen Ansichten der Hörer sein möge.
Wohl aber wird dem Dichter die Wahl begrenzt, zunächst durch seinen eigenen männlichen Charakter, Geschmack, Moral, Sitte, dann aber auch durch die Rücksicht auf seinen idealen Hörer, das Publicum. Es muß ihm sehr daran liegen, dasselbe für seinen Helden zu erwärmen und zum nachschaffenden Mitspieler in den Wandlungen und Gemüthsvorgängen zu machen, welche er vorführt. Um dies Mitgefühl zu bewahren, ist er genöthigt Persönlichkeiten zu wählen, welche nicht nur durch die Wichtigkeit, Größe und Kraft ihres Wesens fesseln, sondern welche auch Empfindung und Geschmack der Hörer für sich zu gewinnen wissen.
Der Dichter muß also das Geheimniß verstehen, das Furchtbare, Entsetzliche, das Schlechte und Abstoßende in einem Charakter durch die Beimischung, welche er ihm gibt, für seine Zeitgenossen zu adeln und zu verschönen. Der Bühne der Germanen ist die Frage, wie viel der Dichter darin wagen dürfe, seit Shakespeare kaum mehr zweifelhaft. Der Zauber seiner schöpferischen Kraft wirkt vielleicht auf Jeden, der selbst zu bilden versucht, am gewaltigsten durch die Ausführung, welche er seinen Bösewichtern gegönnt hat. Sowohl Richard III. als Jago sind Musterbilder, wie der Dichter auch die Bösen und Schlechten schön zu bilden habe. Die starke Lebenskraft und die ironische Freiheit, in welcher sie mit dem Leben spielen, verbindet ihnen ein höchst bedeutsames Element, welches ihnen widerwillige Bewunderung erzwingt. Beide sind Schurken ohne [S. 268] jeden Beisatz einer mildernden Eigenschaft. Aber in dem Selbstgefühl überlegener Naturen beherrschen sie ihre Umgebung mit einer fast übermenschlichen Kraft und Sicherheit. Sieht man näher zu, so sind beide sehr verschieden geformt. Richard ist der wilde Sohn einer Zeit voll Blut und Gräuel, wo die Pflicht nichts galt und die Selbstsucht Alles wagte. Das Mißverhältniß zwischen einem ehernen Geist und einem gebrechlichen Körper ist ihm Grundlage eines kalten Menschenhasses geworden. Er ist ein praktischer Mann und ein Fürst, der das Böse nur thut, wo es ihm nützt, dann freilich erbarmungslos, mit einer wilden Laune. Jago dagegen ist weit mehr Teufel. Ihm macht es Freude, nichtswürdig zu handeln, er thut das Böse mit innerstem Behagen. Er motivirt sich und Anderen wiederholt in dem Stück, warum er den Mohren verderbe, er soll ihm einen anderen Offizier vorgezogen haben, er soll mit seiner Frau geliebelt haben. Das ist alles nicht wahr, und sofern es wahr ist, nicht der letzte Grund seiner Tücke. Der Hauptantrieb ist bei ihm der Drang einer schöpferischen Kraft Anschläge zu machen und Ränke zu spinnen, allerdings zu seinem eigenen Nutz und Vortheil. Er war deshalb für das Drama schwerer zu verwerthen als der Fürst, der Feldherr, dem schon die Umgebung und die großen Zwecke Wichtigkeit und eine gewisse Größe gaben; und deshalb hat Shakespeare ihn auch noch stärker mit Humor gefüllt, der verschönernden Stimmung der Seele, welche den einzigen Vorzug hat, auch dem Häßlichen und Gemeinen eine reizvolle Beleuchtung zu geben.
Grundlage des Humors ist die unbeschränkte Freiheit eines reichen Gemüthes, welches seine überlegene Kraft an den Gestalten seiner Umgebung mit spielender Laune erweist. Der epische Dichter, welcher Neigung und Anlage für diese Wirkungen in sich trägt, vermag sie in doppelter Weise an den Gestalten seiner Kunst zu erweisen, er kann diese selbst zu Humoristen machen, oder er kann seinen Humor an ihnen [S. 269] üben. Der tragische Dichter, welcher nur durch seine Helden spricht, vermag selbstverständlich nur das erstere, indem er ihnen von seinem Humor mittheilt. Diese moderne Gemüthsrichtung übt auf den Hörer stets eine mächtige, zugleich fesselnde und befreiende Wirkung. Für das ernste Drama jedoch hat ihre Verwerthung eine Schwierigkeit. Die Voraussetzung des Humors ist innere Freiheit, Ruhe, Ueberlegenheit, das Wesen des dramatischen Helden ist Befangenheit, Sturm, starke Erregtheit. Das sichere und behagliche Spielen mit den Ereignissen ist dem Forteilen einer bewegten Handlung ungünstig, es dehnt fast unvermeidlich die Scene, in welche es dringt, zu einem Situationsbilde aus. Wo deshalb der Humor mit einer Hauptperson in das Drama eintritt, muß der Charakter, der dadurch über die Anderen gehoben wird, andere Eigenschaften haben, welche verhindern, daß er ruhig beharre: in sich eine stark treibende Kraft, und darüber eine kräftige fortrückende Handlung.
Nun ist allerdings möglich, den Humor des Dramas so zu leiten, daß er heftige Bewegungen der Seele nicht ausschließt, und daß ein freies Beschauen eigener und fremder Schicksale gesteigert wird durch eine entsprechende Fähigkeit des Charakters, großer Leidenschaft Ausdruck zu geben. Aber zu lehren ist das nicht.
Und die Verbindung eines tiefen Gemüths mit dem Vollgefühl sicherer Kraft und mit überlegener Laune ist ein Geschenk, welches dem Dichter ernster Dramen in Deutschland noch kaum zu Theil geworden ist. Wem solche Gabe verliehen wird, der verwendet sie als reicher Mann sorglos, mühelos, sicher, er schafft sich selbst Gesetz und Regel und zwingt seine Zeitgenossen ihm bewundernd zu folgen; wer sie nicht hat, der ringt vergebens darnach, etwas von dem schmückenden Glanz, den sie überall ausgießt, in seine Scenen hinein zu malen.
Es ist früher gesagt, wie bei unserem Drama die Charak [S. 270] tere den Fortschritt der Handlung zu motiviren haben, und wie das Schicksal, welches sie beherrscht, im letzten Grund nichts Anderes sein darf, als der durch ihre Persönlichkeit hervorgebrachte Lauf der Ereignisse, welcher in jedem Augenblick von dem Hörer als vernünftig und wahrscheinlich begriffen werden muß, wie sehr auch einzelne Momente ihm überraschend kommen. Gerade dann erweist der Dichter seine Kraft, wenn er seine Charaktere tief und groß zu bilden und den Lauf der Handlung mit hohem Sinne zu leiten weiß, und wenn er nicht als schöne Erfindung darbietet, was auf der Heerstraße des gewöhnlichen Menschenverstandes liegt und was auch seichtem Urtheil das nächste ist. Und mit Absicht ist wiederholt betont worden, daß jedes Drama ein fest geordnetes Gefüge sein müsse, bei welchem der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung die ehernen Klammern bildet, und daß das Vernunftwidrige als solches in dem modernen Drama überhaupt keine irgend wichtige Stelle haben dürfe.
Jetzt aber darf an ein Nebenmotiv für Forttreiben der Handlung erinnert werden, welches in dem früheren Abschnitt nicht erwähnt wurde. In einzelnen Fällen dürfen die Charaktere einen Schatten zum Mitspieler erhalten, der auf unserer Bühne ungern geduldet werden soll, den Zufall. Wenn nämlich das Werdende in der Hauptsache durch die treibenden Persönlichkeiten begründet ist, dann darf in seinem Verlauf allerdings begreiflich werden, daß der einzelne Mensch nicht mit Sicherheit den Zusammenhang der Ereignisse zu leiten vermag. Wenn im König Lear der Bösewicht Edmund, wenn in der Antigone der Gewaltherrscher Kreon den Todesbefehl, welchen sie ausgesprochen haben, widerrufen, so erscheint allerdings als Zufall, daß derselbe Befehl so schnell oder in unerwarteter Weise bereits ausgeführt worden ist. Wenn im Wallenstein der Held den Vertrag, welchen er mit Wrangel geschlossen hat, zurücknehmen will, so wird allerdings stark betont, wie unbegreiflich schnell der Schwede verschwunden sei. Wenn in Romeo und [S. 271] Julia die Nachricht von Julia's Tode eher zu Romeo kommt als die Botschaft des Pater Lorenzo, so erscheint der Zufall hier sogar von entscheidender Wichtigkeit für den Verlauf des Stückes. Aber dieses Eindringen eines nicht berechneten Umstandes, wie sehr es auffallen mag, ist im Grunde kein von außen hereinbrechendes Motiv, sondern es ist nur Folge eines charakteristischen Thuns der Helden.
Die Charaktere haben nämlich eine verhängnißvolle Entscheidung abhängig gemacht von einem Lauf der Thatsachen, den sie nicht mehr regieren können. Der Fall war eingetreten, den Edmund für den Tod der Cordelia festgesetzt hatte; Kreon hatte die Antigone in das Grabgewölbe schließen lassen, ob die Trotzige den Hungertod erwartete oder sich selbst einen Tod wählte, darüber hatte er die Herrschaft verloren. Wallenstein hat sein Schicksal in die Hand eines Feindes gegeben; daß Wrangel guten Grund hatte, den Entschluß des Zögernden unwiderruflich zu machen, lag auf der Hand. Romeo und Julie sind in die Lage gekommen, daß die Möglichkeit ihres Lebens von einer fürchterlichen, frevelhaften und höchst abenteuerlichen Maßregel abhängt, welche der Pater in seiner Angst ausgedacht hat. In diesen und ähnlichen Fällen tritt der Zufall nur deshalb ein, weil die Charaktere unter übermächtigem Zwange die Wahl bereits verloren haben. Er ist für den Dichter und sein Stück nicht mehr Zufall, d. h. nicht ein Fremdes, welches das Gefüge der Handlung zerreißt, sondern er ist ein aus den Eigenthümlichkeiten der Charaktere hervorgegangenes Motiv wie jedes andere, im letzten Grunde nur eine nothwendige Folge vorausgegangener Ereignisse. — Dies nicht unwirksame Mittel ist aber vorsichtig zu gebrauchen und genau durch das Wesen der Charaktere und die thatsächliche Lage zu motiviren.
Auch für Leitung der Charaktere durch die einzelnen Akte sind, wie bereits früher gesagt wurde, einige technische Vorschriften zu beachten; sie werden hier noch einmal kurz hervorgehoben.
[S. 272] Jeder Charakter des Dramas soll die Grundzüge seines Wesens so schnell als möglich deutlich und anziehend zeigen; auch wo eine Kunstwirkung in verdecktem Spiele einzelner Rollen liegt, muß der Zuschauer bis zu einem gewissen Grade Vertrauter des Dichters werden. — Je später im Verlauf der Handlung ein neuer Charakterzug zu Tage kommt, desto sorgfältiger muß er schon im Anfange motivirt werden, damit der Zuschauer das überraschende Neue mit dem vollen Behagen genieße, daß es der Anlage des Charakters doch vollständig entspricht.
Im Anfang des Stückes, wo die Hauptcharaktere sich darzustellen haben, sind kurze Striche Regel; es versteht sich von selbst, daß die bedeutsamen Einzelzüge nicht anekdotenhaft, sondern mit der Handlung verwebt zu Tage kommen müssen, ausnahmsweise sind hier kleine Episoden, eine bescheidene Situationsmalerei erlaubt. — Die Scenen des Anfangs, welche die Farbe des Stückes angeben, die Stimmung vorbereiten, sollen zugleich das Grundgewebe der Helden darlegen. Mit ganz ausgezeichneter Kunst verfährt dabei Shakespeare. Er läßt gern seine Helden, bevor sie in die Befangenheit der tragischen Handlung hineingeführt werden, in der Einleitungsscene den Zug ihres Wesens noch unbefangen und doch höchst bezeichnend aussprechen: Hamlet, Romeo, Brutus, Othello, Richard III.
Es ist kein Zufall, daß Goethe's Helden, Faust (beide Theile), Iphigenie, sogar Götz sich durch einen Monolog einführen, oder in ruhigem Gespräch, wie Tasso, Clavigo; Egmont tritt erst im zweiten Akt auf. — Lessing folgt noch der alten Gewohnheit seiner Bühne, die Helden durch ihre Vertrauten einzuführen; aber Schiller legt wieder größeres Gewicht auf charakteristische Darlegung der unbefangenen Helden. In der Trilogie des Wallenstein wird das Wesen des Helden durch das Lager und den ersten Akt der Piccolomini zuerst in zahlreichen Abspiegelungen glänzend dargestellt, Wallenstein selbst [S. 273] aber erscheint durch den Astrologen kurz eingeleitet, im Kreise seiner Familie und der Vertrauten, aus dem er während des ganzen Stückes nur selten heraustritt.
Daß neue Rollen in der zweiten Hälfte des Dramas, der Umkehr, eine besondere Behandlung verlangen, ist bereits gesagt. Der Zuschauer ist geneigt, die Führung der Handlung durch neue Personen mit Mißtrauen zu betrachten, der Dichter muß sich hüten zu zerstreuen oder ungeduldig zu machen. Deshalb bedürfen die Charaktere der Umkehr eine reichere Ausstattung, fesselnde Einführung, wirksamste Einzelschilderung in knapper Behandlung. Bekannte Beispiele vortrefflicher Ausführung sind, außer den früher genannten, Deveroux und Macdonald im Wallenstein, während Buttler in demselben Stück wieder als Muster gelten kann, wie ein Charakter, dessen thätiges Eingreifen für den letzten Theil des Stückes aufgespart ist, als Theilnehmer der Handlung durch die ersten Theile nicht geschleppt, sondern mit seinen inneren Wandlungen verflochten wird.
Zuletzt wird sich der ungeübte Bühnendichter hüten, wenn er Andere über seinen Helden sprechen lassen muß, großen Werth auf solche Erläuterung des Charakters zu legen, er wird auch den Helden selbst nur wo es durchaus zweckdienlich ist, ein Urtheil über sich selbst abgeben lassen; denn Alles, was Andere von einer Person sagen, ja auch was sie selbst von sich sagt, hat im Drama geringes Gewicht gegen das, was man in ihr werden sieht, im Gegenspiele gegen Andere, im Zusammenhange der Handlung. Ja, es mag tötlich wirken, wenn der eifrige Dichter seine Helden als erhaben, als lustig, als klug empfiehlt, während ihnen in dem Stücke selbst trotz dem Wunsche des Dichters nicht vergönnt wird sich so zu erweisen.
Die Führung der Charaktere durch die Scenen muß mit steter Rücksicht auf das Bühnenbild und die Bedürfnisse der scenischen Darstellung geschehen. Denn auch in der Scenenführung macht der Schauspieler gegenüber dem Dichter seine [S. 274] Forderungen geltend und der Dichter thut wohl, dieselben mit Achtung anzuhören. Er steht zu seinem Darsteller in einem zarten Verhältnisse, welches beiden Theilen Rücksichten auflegt; in der Hauptsache ist das Ziel Beider gemeinsam, Beide bethätigen an demselben Stoff ihre schöpferische Kraft, der Dichter als der stille Leiter, der Darsteller als ausführende Gewalt. Und der Dichter wird erfahren, daß der deutsche Darsteller im Ganzen mit schneller Wärme und Eifer auf die Wirkungen des Dichters eingeht und ihn nur selten mit Ansprüchen belästigt, durch welche er seine Kunst zum Nachtheil der Poesie in den Vordergrund zu stellen gedenkt. Da freilich der einzelne Darsteller die Wirkungen seiner Rolle im Auge hat, der Dichter die Gesammtwirkung, so wird bei dem Einüben des Stückes allerdings in vielen Fällen ein Zwiespalt der Interessen hervortreten. Nicht immer wird der Dichter seinem Verbündeten das bessere Recht zugestehen, wenn ihm einmal nothwendig wird eine Wirkung abzudämpfen, einen Charakter in einzelnen Momenten der Handlung zurückzudrängen. Die Erfahrung lehrt, daß der Darsteller sich bei solchem Widerspruch der beiderseitigen Auffassung bereitwillig fügt, sobald er die Empfindung erhält, daß der Dichter die eigene Kunst versteht. Denn der Künstler ist gewöhnt, als Theilnehmer an einem größeren Ganzen zu arbeiten, und erkennt, wenn er aufmerksam sein will, recht gut die höchsten Bedürfnisse des Stückes.
Die Forderungen, welche er mit Recht stellt: gute Spielrollen, starke Wirkungen, Schonung seiner Kraft, bequeme Zurichtung der Scenen, müssen im Grunde dem Dichter ebenso sehr am Herzen liegen, als ihm.
Diese Forderungen lassen sich aber in der Hauptsache auf zwei große Grundsätze zurückführen, auf den Satz, welcher hier aufgeführt wurde: dem schaffenden Dichter soll die Bühnenwirkung deutlich sein, und auf den kurzen, aber allerdings das Höchste heischenden Satz: der Dichter soll seinen Charak [S. 275] teren große dramatische Wirkungen zu schaffen wissen. Zunächst also soll der Dichter in jeder einzelnen Scene, zumal in Scenen des Zusammenspiels, die Uebersicht über das Bühnenbild fest in der Seele halten; er soll die Stellungen der Personen und ihre Bewegungen zu und von einander, wie sie nach und nach auf der Bühne geschehen, mit einiger Deutlichkeit empfinden. Wenn er den Schauspieler zwingt, häufiger, als der Charakter und die Würde seiner Rolle erlauben, sich nach einer und der anderen Person zu richten, um vielleicht Nebenrollen ihre Wirkung zu erleichtern oder zurecht zu machen; wenn er versäumt, die Uebergänge aus einer Aufstellung in die andere, von einer Seite der Bühne auf die andere, welche er bei einem späteren Moment der Scene voraussetzt, zu motiviren; wenn er den Schauspieler in eine Lage zwängt, welche ihm nicht verstattet, ungezwungen und wirksam seine Aktion auszuführen oder mit einem Mitspieler in die gebotene Verbindung zu treten; wenn er nicht darauf achtet, welche seiner Rollen jedesmal das Spiel zu bringen und welche es aufzunehmen hat; ferner, wenn er Hauptrollen längere Zeit auf der Bühne unbeschäftigt läßt oder der Kraft des Darstellers zu viel zumuthet, so ist der letzte Grund dieser und ähnlicher Uebelstände immer eine zu schwache und lückenhafte Vorstellung von dem Bühnenverlauf der dramatischen Bewegung, welche der Dichter in ihrem Laufe durch die Seelen vielleicht sehr gut und wirksam empfunden hat. In allen solchen Fällen haben die Forderungen des Schauspielers das Recht berücksichtigt zu werden. Und der Schaffende wird auch aus diesem Grunde dem Bedürfnisse und dem Brauch der Bühne besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Es gibt dafür kein besseres Mittel, als daß er mit dem Schauspieler einige neu einzuübende Rollen durchgeht — um zu lernen —, und daß er fleißig den Proben beiwohnt, welche ein sorgfältiger Regisseur abhält.
Die alte Forderung, der Dichter solle seine Charaktere den Fächern der Darsteller anpassen, scheint unbehilflicher, [S. 276] als sie in Wahrheit ist. Zwar sind auf unserer Bühne gerade für die Hauptrollen die festen Ueberlieferungen aufgegeben, welche den Künstler einst im Bannkreis seines Faches erhielten, dem „Intriganten” unmöglich machten eine Rolle aus dem „ersten Fach” zu spielen, und den „Bonvivant” durch eine schwer zu übersteigende Kluft von dem „jugendlichen Helden” trennten. Indeß besteht noch soviel von dem Brauch, als für die Darsteller und den Leiter der Bühne nützlich ist, um das einzelne Talent nach seiner besonderen Anlage zu ziehen und die Besetzung neuer Rollen zu erleichtern. Jeder Darsteller erfreut sich demnach eines gewissen Vorraths von dramatischen Mitteln, welche er innerhalb seines Faches ausgebildet hat: Tonlage seiner Stimme, Accente der Rede, Haltung der Glieder, Stellungen, Zwang der Gesichtsmuskeln. Innerhalb seiner gewohnten Grenzen bewegt er sich verhältnißmäßig sicher, außerhalb derselben wird er unsicher. Wenn nun der Dichter in derselben Rolle die gewandte Fertigkeit verschiedener Fächer beansprucht, so wird die Besetzung schwer, der Erfolg vielleicht zweifelhaft. Es sei z. B. ein italienischer Parteiführer des fünfzehnten Jahrhunderts nach außen hin scharf, schlau, verhüllt, rücksichtsloser Bösewicht, in seiner Familie von warmem Gefühl, würdig, verehrt und verehrungswerth — keine unwahrscheinliche Mischung —, so würde sein Bild auf der Bühne sehr verschieden ausfallen, ob der Charakterspieler oder ob der ältere Held und würdige Vater ihn darstellen, wahrscheinlich würde bei jeder Besetzung die eine Seite seines Wesens zu kurz kommen. Und dies ist kein seltener Fall. Die Vortheile richtiger Besetzung nach Fächern, die Gefahren einer verfehlten kann man bei jedem neuen Stück beobachten.
Der Dichter wird sich zwar durch solche kluge Rücksicht auf die größere Sicherheit seiner Erfolge nirgend bestimmen lassen, wo ihm das Formen eines ungewöhnlichen Bühnencharakters von Wichtigkeit wird. Er soll nur wissen, was für ihn und seine Darsteller am bequemsten ist.
[S. 277] Und wenn zuletzt von dem Dichter gefordert wird, daß er seine Charaktere wirksam für den Darsteller bilde, so enthält dieser Wunsch die höchste Forderung, welche überhaupt dem dramatischen Dichter gestellt werden kann. Denn für den Darsteller wirksam schaffen, heißt in Wahrheit nichts anderes, als im besten Sinne des Wortes dramatisch schaffen. Seele und Leib der Schauspieler sind bereit, sich in höchst bewußte, schöpferische Thätigkeit zu versetzen, um das geheimste Empfinden, Gefühl und Gedanken, Willen und That zu verbildlichen. Der Dichter sehe zu, daß er diesen gewaltigen Vorrath von Hilfskräften für seine Kunstwirkungen vollständig und würdig zu benutzen wisse. Und sein Kunstgeheimniß — das erste, welches in diesen Blättern dargestellt wurde, und das letzte — ist nur das eine: er schildere bis ins Einzelne genau und wahr, wie starke Empfindung aus dem geheimen Leben als Begehren und That herausbricht und wie starke Eindrücke von außen in das Innere des Helden hineinschlagen. Das beschreibe er mit poetischer Fülle aus einer Seele, welche genau, scharf, reichlich jeden einzelnen Augenblick dieses Vorganges anschaut und besondere Freude findet, ihn mit schönen Einzelzügen abzubilden. So arbeite er, und er wird seinen Darstellern die größten Aufgaben stellen, und wird ihre Kraft würdig und völlig verwerthen.
Und wieder muß gesagt werden: keine Technik belehrt, wie man es anfangen müsse, um so zu schreiben.
Das Jahrhundert, in welchem der Roman die herrschende Gattung der Poesie geworden ist, wird den Vers nicht mehr für ein unentbehrliches Element des dichterischen Schaffens halten. Auch sind mehre Dramen hohen Stils, beliebte Repertoirestücke unserer Bühnen, in ungebundener Rede gedichtet. Wenigstens bei dramatischen Stoffen aus neuerer Zeit ist, so sollte man meinen, die Prosa das angemessenste Material für Ausdruck solcher Gedanken und Empfindungen, welche aus einem uns wohl bekannten wirklichen Leben auf die Bühne versetzt werden. Aber das ernste Drama wird sich doch nur schwer entschließen, die Vortheile, welche der Vers gewährt, aufzugeben, um die der Prosa zu gewinnen.
Es ist wahr, die ungebundene Rede läuft flüchtiger, müheloser, ja in mancher Hinsicht dramatischer dahin. Es ist leichter, in ihr die verschiedenen Charaktere zu unterscheiden, sie bietet von der Satzbildung bis zu den mundartlichen Klängen hinab den größten Reichthum an Farben und Schattirungen, alles ist zwangloser, sie schmiegt sich behend jeder Stimmung an, sie vermag sogar leichtem Geplauder und humoristischem Behagen eine Anmuth zu geben, welche dem Verse sehr schwer wird; sie erlaubt größere Unruhe, stärkere Gegensätze, heftigere Bewegung. Aber diese Vortheile [S. 279] werden reichlich aufgewogen durch die gehobene Stimmung des Hörers, welche der Vers hervorbringt und erhält. Während die Prosa leicht in Gefahr kommt, die Bilder der Kunst zu Abbildern gewöhnlicher Wirklichkeit herabzuziehen, steigert die Sprache des Verses das Wesen der Charaktere in das Edle. In jedem Augenblick wird in dem Hörer die Empfindung rege erhalten, daß er Kunstwirkungen gegenüber steht, welche ihn der Wirklichkeit entrücken und in eine andere Welt versetzen, deren Verhältnisse der menschliche Geist mit Freiheit geordnet hat. Auch die Beschränkung, welche der Dialektik und zuweilen der Kürze und Schärfe des Ausdrucks auferlegt wird, ist kein sehr fühlbarer Verlust; der dichterischen Darstellung ist die Schärfe und Feinheit der Beweisführung nicht ganz so wichtig, als die Einwirkung auf das Gemüth und als der Glanz des bildlichen Ausdrucks, des Vergleichs und Gegensatzes, welche der Vers begünstigt. In dem rhythmischen Klange des Verses schweben, der Wirklichkeit enthoben, Empfindung und Anschauung wie verklärt in die Seelen der Hörer; und es muß gesagt werden, daß diese Vortheile gerade bei Stoffen aus der Neuzeit sehr wohlthätig sein können, denn bei ihnen ist die Enthebung aus den Stimmungen des Tages am nöthigsten. Wie dergleichen gemacht werden kann, zeigt nicht nur der „Prinz von Homburg”, auch die Behandlung, welche Goethe einem an sich undramatischen Stoff in der „Natürlichen Tochter” gegönnt hat, obgleich die Verse dieses Dramas für die Schauspieler nicht bequem geschrieben sind.
Der fünffüßige Jambus ist bei uns als dramatischer Vers seit Goethe und Schiller durchgesetzt. Ein vorwiegend trochäischer Fall der deutschen Wörter macht diesen Vers besonders bequem. Er ist allerdings im Vergleich zu den kleinen logischen Einheiten des Sprachsatzes, deren Verkoppelung zu zweien das Wesen jeder Verszeile ausmacht, ein wenig kurz; wir vermögen in seinen zehn oder elf Silben nicht die Fülle des Inhalts zusammenzudrängen, welche er z. B. in der gedrungenern eng [S. 280] lischen Sprache hat, und der Dichter kommt daher bei einer Neigung zu reichlichem, tönendem Ausdruck leicht dazu, einen Satztheil für anderthalb oder zwei Verszeilen auszuweiten, welcher besser in einer untergebracht wäre, und dadurch seinen Redefluß übermäßig zu dehnen. Aber der Fünffuß hat den Vortheil der möglichst größten Flüssigkeit und Beweglichkeit, er vermag sich mehr als ein anderer Vers den wechselnden Stimmungen anzupassen, jeder Veränderung in Tempo und Bewegung der Seele zu folgen.
Die übrigen Versmaße, welche für das Drama bisher verwerthet sind, leiden an dem Uebelstand, daß sie eine zu starke eigenthümliche Klangfarbe haben und das Charakterisiren durch die Rede, wie sie dem Drama nöthig ist, mehr als billig beschränken.
Der deutsche trochäische Tetrameter, den z. B. Immermann in der Katastrophe seines „Alexis” unter vielen anderen Maßen wirkungsvoll verwendet hat, läuft wie alle trochäischen Verse zu gleichmäßig mit dem Tonfall unserer Sprache. Die scharfen Taktschritte, welche seine Füße in der Rede hervorbringen, und der lange schwungvolle Lauf geben ihm in der deutschen Sprache — abweichend von der griechischen — etwas Unruhiges, Aufwühlendes, eine dunkle Klangfarbe, welche nur für hohe tragische Stimmungen zu verwerthen wäre. Der jambische Sechsfuß, dessen Cäsur in der Mitte des dritten Fußes steht, das tragische Maß der Griechen, ist in Deutschland bis jetzt wenig verwendet worden. Durch die Uebersetzungen aus dem Griechischen kam er in den Ruf einer Steife und Starrheit, die ihm nicht wesentlich anhängen, er ist sehr wohl lebhafter Bewegung und zahlreicher Abwechslungen fähig. Sein Klang ist majestätisch und voll, für reichlichen Ausdruck, welcher langathmig dahinzieht, vortrefflich geeignet. Nur den Uebelstand hat er, daß sein Haupteinschnitt, welcher auch im Drama nach der fünften Silbe festgehalten werden muß, den beiden Hälften des Verses sehr ungleiches Maß gibt. Gegen [S. 281] fünf Silben stehen sieben, oder bei weiblicher Endung gar acht; leicht drückt sich daher in der zweiten Hälfte eine zweite Cäsur so stark ein, daß sie den Vers in drei Theile spaltet. Dies Nachklingen der längeren Hälfte macht ferner einen männlichen Abschluß des Verses wünschenswerth, und das Vortönen der männlichen Endungen trägt allerdings dazu bei, ihm Wucht, zuweilen Härte zu geben. — Der Alexandriner, ein jambischer Sechsfuß, dessen Einschnitt nach der dritten Hebung liegt und den Vers in zwei gleiche Theile fällt, zerschneidet im deutschen Drama die Rede zu auffallend. Im Französischen ist seine Wirkung eine andere, weil bei dieser Sprache der Versaccent weit mehr gedeckt und auf das mannigfaltigste unterbrochen wird. Nicht nur durch den launischen und unruhigen Wortaccent, sondern auch durch freie rhythmische Schwingungen der gesprochenen Rede, durch ein Zusammenwerfen und Dehnen der Worte, welches wir nicht nachahmen dürfen, und das auf einem stärkeren Heraustreten des Klangelementes der Sprache beruht, mit welcher die schöpferische Kraft des Redenden in origineller Weise zu spielen weiß.
Endlich ist im Deutschen noch ein jambischer Vers für lebhafte Bewegung vorzüglich geeignet, ebenfalls noch wenig benutzt, der Sechsfuß der Nibelungen, in der neueren Sprache ein jambischer Sechsfuß, dessen vierter Fuß nicht nur ein Jambus, auch ein Anapäst sein kann, und stets hinter der (ersten) Senkung den Haupteinschnitt des Verses enthält. Das Eigenthümliche und deutscher Rede Angemessene ist bei ihm das späte Eintreten des Einschnittes, welcher, abweichend von allen antiken Maßen, die in der Regel stärkere Silbenzahl der ersten Hälfte des Verses anweist. Wenn die Verszeilen dieses Maßes nicht strophisch verbunden, sondern mit kleinen Abwechslungen im Bau als fortlaufende Langverse verwendet werden, mit häufigem Ueberschlagen der Redesätze aus einem Vers in den anderen, so wird dieses Maß ausgezeichnet wirksam für den Ausdruck auch des leidenschaftlichsten Fort [S. 282] schritts. Und es ist möglich, daß sein Wesen, welches den rhythmischen Verhältnissen der deutschen Sprache vielleicht am besten entspricht, für bewegte Erzählung, ja sogar einmal für eine Gattung des Lustspiels Bedeutung gewinnt. Dem hohen Drama wird der Reim, welchen bei diesem Maß je zwei Langverse als verbindendes Element nicht entbehren können, wohl immer zu klangvoll und spielend sein, wie sehr man ihn auch durch das Hinüberziehen der Rede aus einem Vers in den anderen zu dämpfen vermag.
Für das moderne Drama ist ferner Gleichheit der Klangfarbe, also Einheit des Versmaßes unentbehrlich. Unsere Sprache und die Fassungskraft der Hörer sind, was Klangverhältnisse betrifft, wenig entwickelt. Die Verschiedenheiten im Versklange werden mehr als störende Unterbrechungen denn als fördernde Helfer aufgefaßt. Ferner aber ist der Antheil an dem geistigen Inhalt der Rede und an der dramatischen Bewegung der Personen so sehr in den Vordergrund getreten, daß auch darum jedes Versmaß, welches in seinem Abstich von dem Vorhergehenden die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, als eine Zerstreuung empfunden wird.
Dies ist auch der Grund, welcher billig die Prosa zwischen Versen von unseren Dramen ausschließen sollte. Denn noch stärker wird durch sie der Gegensatz in der Färbung. Eingefügte Prosa gibt ihren Scenen immer etwas derb der Wirklichkeit Nachgeahmtes, und dieser Uebelstand wird dadurch erhöht, daß sie dem Dichter als Mittel dient, um Stimmungen auszudrücken, für welche der würdige Klang des Verses zu vornehm scheint.
Der jambische Fünffuß fließt dem deutschen Dichter, dessen Seele sich erst gewöhnt hat in den Schwingungen desselben zu empfinden, meistens leicht auf das Papier. Aber seine Durchbildung zum dramatischen Verse pflegt dem Deutschen doch schwer zu werden, und die Dichter sind nicht zahlreich, denen dies völlig gelang. Und so deutlich drückt dieser Vers die [S. 283] Eigenschaft des Dichters aus, welche hier die dramatische genannt wurde, daß der Leser eines neuen Stückes schon aus wenigen Versreihen des bewegten Dialogs zu erkennen vermag, ob diese dramatische Kraft in dem Dichter herausgebildet sei. Allerdings ist den Deutschen immer noch leichter möglich dramatisch zu empfinden, als dies innere Leben in entsprechender Weise im Vers auszudrücken.
Bevor der jambische Vers für die Bühne brauchbar wird, muß der Dichter im Stande sein, ihn richtig, wohllautend und ohne übergroße Anstrengung zu schaffen, Haupteinschnitt und Hilfscäsuren, Hebungen und Senkungen, männliche und weibliche Endungen müssen nach bekannten Gesetzen regelrecht und in gefälligem Wechsel heraustreten.
Hat der Dichter diese Technik des Versbaues erworben, und gelingt ihm, klingende Verse mit gefälligem Fluß und kernigem Inhalt zu schreiben, so ist sein Vers sicher noch recht undramatisch. Und die schwierigere Arbeit beginnt. Jetzt muß der Dichter eine andere Art von rhythmischer Empfindung gewinnen, welche ihn veranlaßt, an Stelle der Regelmäßigkeit scheinbare Unregelmäßigkeit zu setzen, den gleichartigen Fluß in der mannigfaltigsten Weise zu stören, das heißt, mit stark bewegtem Leben zu erfüllen.
Vorhin war gesagt, daß der Alexandriner bei den Franzosen durch das Eintreten unregelmäßiger Klangschwingungen in der Rede variirt und belebt werde. Die dramatische Sprache der Deutschen gestattet dem Schauspieler nicht, gleich der französischen, das unbeschränkte Spiel mit den Worten durch schnell wechselndes Zeitmaß, scharfe Accente, durch ein Verlangsamen und Dahinwerfen des Klanges, welches fast unabhängig von der Bedeutung, welche die einzelnen Worte im Satze haben, vor sich geht. Dagegen ist dem Deutschen in ausgezeichneter Weise die Fähigkeit verliehen, die Bewegung seines Innern im Bau seiner Rede, durch Verbinden und Trennen der Sätze, durch Herausheben und Verstellen einzelner Wörter auszu [S. 284] drücken. Die Rhythmik der aufgeregten Seele prägt sich bei den Deutschen in der logischen Fügung und Trennung der Satztheile noch kräftiger aus, als bei den Romanen in den tönenden Schwingungen ihrer Recitation.
In dem Jambus des Dramas tritt dieses Leben dadurch ein, daß es den gleichmäßigen Bau des Verses unterbricht, aufhält und zerhackt, in unendlich verschiedenen Abschattirungen, welche durch die innere Bewegung der Charaktere hervorgebracht werden. Jeder Stimmung der Seele hat der Vers sich gehorsam zu bequemen, jeder soll er sowohl durch seinen Rhythmus als durch die logische Verbindung der Satzeinheiten, welche er zusammenschließt, zu entsprechen suchen. Für ruhige Empfindung und feine Bewegung, welche getragen und würdig oder in heiterer Lebendigkeit dahinzieht, hat er seine reinste Form, den schönsten Wohlklang, einen gleichmäßigen Fluß zu verwenden. In solcher ruhiger Schönheit gleitet gern der dramatische Jambus bei Goethe dahin. Hebt sich aber die Empfindung höher, fließt die gesteigerte Stimmung in schmuckvoller, langathmiger Rede heraus, dann soll der Vers in langen Wellen dahinrauschen, bald in überwiegenden weiblichen Endungen ausklingend, bald durch häufigeren männlichen Ausgang kräftig abschließend. Das ist in der Regel der Vers Schiller's. Die Erregung wird stärker, einzelne Redewellen reichen über den Vers hinüber und füllen noch Theile des nächsten, dazwischen drängen kurze Stöße der Leidenschaft und zerbrechen den Bau einzelner Verse; aber noch überzieht diese aufsteigenden Wirbel die rhythmische Strömung einer längeren Rede. So bei Lessing. Aber stürmischer, wilder wird der Ausdruck der Erregung, der rhythmische Lauf des Verses scheint vollständig gestört, immer wieder klingt ein Redesatz aus dem Ende eines Verses in den Anfang des andern, bald hier, bald dort wird ein Stück des Verses theils zum Vorhergehenden, theils zum Folgenden gerissen, Rede und Gegenrede zerhacken das Gefüge; das erste Wort des Verses und das letzte — zwei [S. 285] bedeutungsvolle Stellen — springen los und treten als besondere Glieder in die Rede, der Vers bleibt unvollendet, statt dem ruhigen Wechsel weicherer und härterer Endungen folgen längere Versreihen mit dem männlichen Abfall, die Verscäsur ist kaum noch zu erkennen, auch in diejenigen Senkungen, über welche beim regelmäßigen Lauf der Rhythmus schnell dahinschweben muß, dringen mächtig schwere Wörter, wie chaotisch bewegen sich die Theile des Verses durcheinander. Das ist der dramatische Vers, wie er in den besten Stellen Kleist's, trotz aller Manier in der Sprache des Dichters, die mächtigste Wirkung ausübt, wie er noch größer und durchgebildeter in den leidenschaftlichen Scenen Shakespeare's dahinwirbelt.
Erst wenn der Dichter in solcher Weise seinen Vers gebrauchen lernt, hat er ihn mit dramatischer Seele erfüllt. Immer aber muß er ein Gesetz festhalten: der dramatische Vers soll nicht gelesen, nicht ruhig recitirt, sondern im Charakter gesprochen werden. Für diesen Zweck ist nöthig, daß die logische Verknüpfung seiner Redesätze durch Binde- und Fürwörter leicht verständlich sei. Ferner, daß der Ausdruck der Empfindungen dem Charakter des Redenden entspreche und nicht in unverständlicher Kürze abbreche, nicht schleppend dahinfahre; endlich daß harte und übelklingende Lautverbindungen und schwerverständliche Wörter sorgfältig gemieden werden. Der gesprochenen Rede wird es sowohl leichter als schwerer, den Sinn der Worte wiederzugeben. Zunächst verletzt und zerstreut jeder Mißklang, den der Leser wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Jede Unklarheit in der Satzverbindung macht den Darsteller und den Zuschauer unsicher und verleitet zu falscher Auffassung. Aber auch vor genauem Ausdruck in feiner und geistvoller Auseinandersetzung ist der Leser scharfsinniger und empfänglicher, als der leicht zerstreute und lebhafter beschäftigte Hörer. Dagegen vermag der Darsteller auch Vieles zu erklären. Der Leser in verhältnißmäßig ruhiger [S. 286] Stimmung folgt den kurzen Sätzen einer gebrochenen Rede, deren innerer Zusammenhang ihm nicht durch die gewöhnlichen Partikeln logischer Satzverbindung nahe gelegt wird, mit Anstrengung, welche leicht zur Ermüdung wird; dem Darsteller dagegen sind gerade solche Stellen die willkommenste Grundlage für sein Schaffen. Durch einen Accent, einen Blick, eine Geberde versteht er den letzten Zusammenhang, die vom Dichter ausgelassenen Zwischenvorstellungen rasch dem Hörer verständlich zu machen, und die Seele, welche er selbst in die Worte legt, die Leidenschaft, welche aus ihm herausströmt, wird ein Leiter, welcher den Inhalt der gedrungenen und zerrissenen Rede dem Hörer vielleicht zu einer gewaltigen Einheit herausbildet. Es geschieht, daß beim Lesen lange Versreihen den Eindruck des Gekünstelten, Gesuchten machen, welche auf der Bühne sich in ein Gemälde der höchsten Leidenschaft verwandeln. Nun ist möglich, daß der Schauspieler einmal das Beste dabei gethan hat, denn seine Kunst ist besonders da mächtig, wo der Dichter wohl einen Gedankenstrich anbringt. Aber ebenso oft hat schon die Dichtkunst das beste Recht, und an dem Leser liegt die Schuld, weil seine nachschaffende Kraft nicht so thätig ist, als sie sein sollte. Leicht ist in den Versen Lessing's diese Besonderheit des Stils zu erkennen. Das häufige Unterbrechen der Rede, die kurzen Sätze, die Fragen und Einwürfe, die bewegten dialektischen Prozesse, welche seine Personen durchmachen, erscheinen beim Lesen als eine gekünstelte Unruhe. Aber sie sind mit wenigen Ausnahmen so genau, wahr und tief empfunden, daß dieser Dichter gerade deshalb ein Liebling der Darsteller wird. Noch auffallender ist dieselbe Eigenschaft bei Kleist, aber in ihm nicht immer gesund und nicht immer wahr. In dem Unruhigen, Fieberhaften, Aufgeregten seiner Sprache findet das innere Leben seiner Charaktere, welches gewaltig und zuweilen unbehilflich nach Ausdruck ringt, das entsprechende Abbild. Aber auch unnützes Unterbrechen der Rede ist nicht selten, eine un [S. 287] nöthige gemachte Lebendigkeit, zweckloses Fragen, ein Mißverstehen, das nicht fördert. Meist hat er gerade dabei einen praktischen Zweck, er will einzelne Vorstellungen, die ihm wichtig scheinen, kräftig hervorheben. Aber ihm dünkt zuweilen wichtig, was in der That keine Bedeutung beansprucht, und das häufige Wiederkehren der kleinen Sprünge, welche von der gebotenen Linie abführen, stört nicht nur den Leser, auch den Hörer.
Die Wirkung des Verses kann auch im deutschen Drama verstärkt werden durch Parallelismus der Verse, sowohl einzelner als ganzer Versbündel. Zumal in den Dialogscenen, wo Satz und Gegensatz scharf zusammentreten, sind solche Schlagverse ein wirksames Mittel, den Abstich zu bezeichnen.
Freilich die Ausdehnung, welche dies rhythmische Schweben im griechischen Drama hatte, vermögen wir Deutsche nicht nachzuahmen. Wir sind bei unserer Sprechweise im Stande, noch je vier Verse auf der Bühne als Einheiten gegen einander so herauszuheben, daß dem Hörer Gleichfall und Gegensatz vernehmlich wird. Bei einer Recitation, welche weniger die logische Seite und mehr die Klangschönheit hervorhebt, welche der Stimme stärkere Abwechslung erlaubt, könnte man wohl noch längere Versreihen einander wirksam gegenüberstellen. Und wenn die Griechen durch ihre Art der Recitation sogar zehn Trimeter zu einer Einheit zusammenkoppelten und in der Gegenrede denselben Tonfall wiederholten, so liegt darin für uns nichts Unbegreifliches. Es ist möglich, daß es in der ältern Zeit der griechischen Tragödie eine Anzahl von Recitationsmelodien oder Weisen gab, welche für ein Stück neu erfunden wurden oder den Hörern bereits bekannt waren, und welche, ohne den Klang der Rede bis zum tönenden Gesange zu steigern, eine längere Versgruppe zu einer Einheit verbanden.
Für uns ist diese Vortragsweise nicht zu verwenden. Ja auch in Anwendung der gewöhnlichen Schlagverse, welche zu je einem, je zwei, je vier kämpfen, ist Maß geboten. [S. 288] Denn unsere Art des dramatischen Schaffens sträubt sich gegen jede Künstelei, durch welche die Bewegung der Charaktere und ihrer Empfindungen beschränkt wird. Das Behagen an dem Stilvollen solcher Gegenreden ist geringer als die Sorge, daß die Wahrheit der Darstellung durch eine künstliche Beschränkung verringert werden könnte. Der Dichter wird deshalb gut thun, diese kleine Wirkung abzudämpfen und ihr die Strenge und den Schein der Künstlichkeit dadurch zu nehmen, daß er parallele Verssätze durch unregelmäßig gestellte Verse unterbricht.
In der Seele des Dichters leuchtet zugleich mit der Grundlage der Charaktere und den Anfängen der Handlung die Farbe des Dramas auf. Diese eigenthümliche Zugabe jedes Stoffes wird in uns Modernen kräftiger entwickelt als in früherer Zeit, denn die geschichtliche Bildung hat uns Sinn und Interesse für das von unserem Leben Abweichende sehr geschärft. Charakter und Handlung werden von dem Dichter lebhaft in der Besonderheit empfunden, welche Zeit, Ort, Bildungsverhältnisse des wirklichen Helden, seine Art zu sprechen und zu handeln, die Tracht und die Formen des Umgangs im Gegensatz zu unserem Leben haben. Dies Originelle, welches an dem Stoffe hängt, trägt der Dichter auch auf sein Kunstwerk über, auf die Sprache seiner Helden, auf ihre Umgebung bis hinab zu Tracht, Decoration, Geräth. Auch dies Besondere und Eigenartige idealisirt der Dichter. Er empfindet es als bestimmt durch die Idee seines Stückes. Eine gute Farbe ist eine wichtige Sache; sie wirkt im Beginn des Stückes sogleich anregend und fesselnd auf den Zuschauer, sie bleibt bis zum Ende ein reizvoller Bestandtheil, welcher zuweilen Schwächen der Handlung zu überdecken vermag.
Nicht in jedem Dichter entwickeln sich diese schmückenden Farben gleich lebhaft, sie treten auch nicht bei jedem Stoff mit derselben Energie an das Licht. Aber ganz fehlen sie nirgend, wo Charaktere und menschliche Zustände geschildert [S. 289] werden. Sie sind dem Epos, dem Roman unentbehrlich, wie dem Drama.
Am wichtigsten wird die Farbe bei geschichtlichen Stoffen, hier hilft sie wesentlich die Helden zu charakterisiren. Der dramatische Charakter selbst muß in seinem Empfinden und Wollen einen Inhalt haben, welcher ihn einem gebildeten Manne der Gegenwart weit näher stellt, als sein Stoffbild in der Wirklichkeit unserer Empfindungsweise entspricht. Die Farbe aber ist es, welche den inneren Gegensatz zwischen dem Manne der Geschichte und dem Helden des Dramas dem Hörer anmuthig verdeckt, sie umkleidet den Helden und seine Handlung mit dem schönen Schein eines fremdartigen, die Einbildungskraft anlockenden Wesens.
Die neuere Bühne bemüht sich daher mit Recht, schon in der Tracht, welche sie den Darstellern gibt, die Zeit, in welcher das Stück spielt, die gesellschaftliche Stellung und manche Eigenthümlichkeiten der vorgeführten Charaktere auszudrücken. Wir sind erst etwa hundert Jahre von der Zeit geschieden, wo auf dem deutschen Theater Cäsar noch in Perrücke und Degen auftrat, und Semiramis ihren Reifrock durch einige fremde Flittern und ihren Haaraufputz mit einer auffälligen Garnitur umgab, um sich als fremdartig auszuweisen. Jetzt ist man auf einzelnen großen Bühnen in Nachahmung der historischen Tracht sehr weit gegangen, auf der Mehrzahl hinter den Anforderungen, welche das Publikum im mittleren Durchschnitt der geschichtlichen Kenntnisse an die scenische Ausstattung zu machen berechtigt ist, zurückgeblieben. Es ist klar, daß die Bühne nicht die Aufgabe hat, antiquarische Seltenheiten nachzubilden, es ist aber ebenso deutlich, daß sie vermeiden muß, einer größeren Anzahl ihrer Zuschauer dadurch Anstoß zu geben, daß sie die Helden in eine Kleidung zwängt, welche vielleicht niemalen und nirgend, sicher nicht in dem Jahrhundert derselben möglich war. Wenn der Dichter einmal alterthümelnde Liebhabereien Uebereifriger von der Kleidung [S. 290] seiner Helden abhalten muß, weil das Seltsame und Ungewohnte der Zuthat sein Stück nicht fördert sondern stört, so wird er noch öfter Veranlassung haben, bei einem Hohenstaufendrama das spanische Mäntelchen und über einem Sachsenkaiser schimmernde Blechrüstung zu verbitten, welche seine Otto und Heinriche in Goldkäfer verwandelt und durch unerträglichen Glanz erweist, daß sie nie von einem Schwertstreich getroffen worden ist.
Aehnlich steht es mit der Malerei und dem Geräth des Theaters. Ein Roccocotisch, in eine Scene des fünfzehnten Jahrhunderts gesetzt, oder griechische Säulenhallen, unter denen König Romulus wandelt, sind bereits dem Zuschauer peinlich. Um solche Nachlässigkeiten einzelner Regisseure und Schauspieler zu erschweren, wird der Dichter gut thun, bei Stücken aus entfernter Zeit sowohl die scenische Ausstattung als auch die Kleidertracht genau vorzuschreiben, und zwar auf besonderem Blatt.
Für ihn aber ist das wichtigste Material, durch welches er seinem Stück Farbe gibt, die Sprache. Es ist wahr, der Jambus hat selbst eine gewisse Klangfarbe und dämpft den charakteristischen Ausdruck mehr als die Prosa. Aber auch er gestattet noch großen Reichthum an Schattirungen, sogar den Wörtern noch leise Färbung in den Dialekt.
Bei Stoffen aus älterer Zeit muß der Sprache eine dieser Zeit entsprechende Farbe erfunden werden. Das ist eine hübsche, herzerfreuende Arbeit, die der Schaffende recht liebevoll vornehmen soll. Am meisten wird sie gefördert durch sorgfältiges Lesen der erhaltenen Schriftdenkmäler aus der Zeit der Helden. Auch die fremde Sprache derselben wirkt durch eigenthümlichen Tonfall, durch den Satzbau, die volksthümliche Art zu reden anregend auf das Gemüth des Dichters. Und mit der Feder in der Hand wird sich der Schaffende, was ihm an kräftigem Ausdruck, treffendem Bild, schlagendem Vergleich, sprichwörtlicher Redensart brauchbar erscheint, [S. 291] zurecht legen. Bei jedem fremden Volke, dessen Literatur irgend zugänglich ist, wird solche Arbeit förderlich, am meisten freilich gegenüber der heimischen Vorzeit. Unsere Sprache in früher Zeit hat, wie noch jetzt die slavische, eine weit größere, die Einbildungskraft anregende Bildlichkeit. Der Sinn der Worte ist nicht durch eine lange wissenschaftliche Arbeit vergeistigt, überall haftet an ihnen etwas von dem ersten sinnlichen Eindruck in die Volksseele, dem sie ihre Entstehung verdankten. Groß ist die Zahl der Sprichwörter, der gedrungenen Formeln und bildlichen Redensarten, welche die Reflexionen unserer Zeit ersetzen. Solche Bestandtheile möge der Schaffende in dem Gedächtniß festhalten, nach ihrer Melodie bildet seine Begabung bald selbstthätig Grundton und Stimmung für die Sprache des Dramas heraus.
Und bei solcher Durchsicht der Werke aus alter Zeit bleiben dem Dichter noch andere, kleine Züge hängen, Anekdoten, vieles Besondere, was ihm seine Bilder ergänzt und beleuchtet.
Was er so gefunden hat, darf er allerdings nicht pedantisch verwerthen oder wie Arabesken in seine Rede hineinsetzen; jedes Einzelne darf ihm wenig bedeuten, aber die Anregung, die er dadurch erhält, ist für ihn von höchstem Werth.
Und diese Stimmung, die er seiner Seele gegeben hat, verläßt ihn nicht, auch während er seine Helden durch die Scenen führt, sie wird ihm nicht nur die Sprache richten, auch das Zusammenwirken der Personen, die Art, wie sie sich gegen einander benehmen, Formen des Umgangs, Sitte und Brauch der Zeit.
Sogar die Charaktere und ihre Bewegung in den Scenen. Denn an jede Stelle des Dramas, an jede Empfindung, jedes Thun hängt sich um das menschlich Gehobene der idealisirten Gestalten wie schmückende Zuthat das Besondere, welches uns an den Stoffbildern als ihr Eigenthümliches auffiel. Selten ist nöthig den Dichter zu warnen, daß er in solchem Färben [S. 292] der scenischen Wirkungen nicht zu viel thue; denn die wichtigste Aufgabe ist ihm allerdings, seine Helden unsere Sprache der Leidenschaft reden zu lassen und das Besondere an ihnen durch solche Lebensäußerungen zu erweisen, welche jeder Zeit verständlich werden, weil sie in jeder Zeit möglich und denkbar sind.
So wird die Farbe des Stückes in der Ausstattung der Sprache, an Charakteren und Einzelheiten der Handlung sichtbar. Was der Dichter durch die Farbe in sein Drama hineinträgt, ist so wenig eine Nachahmung der Wirklichkeit, als die Personen seiner Helden sind, es ist freie Schöpfung. Aber diese Zuthat hilft um so mehr, in der Phantasie der Hörer ein Bild hervorzuzaubern, welches den schönen Schein der geschichtlichen Treue hat, je ernster der Dichter sich um die wirklichen Zustände jener alten Zeit gekümmert hat. Freilich nur, wenn ihm die Kraft nicht fehlt auch darzustellen, was er als lockend empfand.
Gewaltig ist die Masse des Schönen aus der Poesie vergangener Völker und Zeiten, zuletzt aus dem Jahrhundert unserer großen Dichter, welche dem Schaffenden das Urtheil bildet und die Einbildungskraft aufregt. Dieser fast unübersehbare Reichthum an Kunstgebilden wird vielleicht der größte Segen für eine Zukunft, in welcher die Volkskraft besonders kräftig arbeitet, das Verwandte aufnehmend, das Widerstrebende wegwerfend. Aber während einer Zeit schwacher Ruhe des Volksthums war er ein Nachtheil für die schöpferische Thätigkeit der Dichter, weil er die Stillosigkeit begünstigte. Es war noch vor wenig Jahren in Deutschland fast zufällig, ob ein Athener oder Römer, Calderon oder Shakespeare, ob Goethe oder Schiller, Scribe oder Dumas die Seele des jungen Dichters in den Bannkreis ihres Stils und ihrer Formen zogen.
Der Dichter der Gegenwart beginnt ferner als ein Genießender, der die schöne Kunst Anderer reichlich aufnimmt und dadurch zu eigenem Schaffen angeregt wird. Er hat gewöhnlich keinen Lebensberuf, welcher ihn einem bestimmten Gebiete der Poesie verpflichtet, es ist wieder fast zufällig, welche Gattung der poetischen Darstellung ihn gerade anzieht; er mag als Lyriker seine Empfindungen ausklingen lassen, er [S. 294] mag einen Roman schreiben, zuletzt lockt auch das Theater: Glanz des Bühnenabends, Beifall der Versammlung, Gewalt der erhaltenen tragischen Eindrücke. Wenig deutsche Dichter, die nicht mit einem Band lyrischer Gedichte sich zuerst dem Publikum empfahlen, dann ihr Heil auf der Bühne versuchten, sich endlich mit den ruhigeren Erfolgen eines Romans befriedigten. Ohne Zweifel erwies ihre Dichterbegabung nach einer dieser Richtungen die größere Fähigkeit. Aber da die äußeren Verhältnisse ihnen keine Beschränkung auflegten und bald das eine, bald das andere Gebiet stärker anzog, so gelangte auch der Kreis, in welchem ihre Kraft sich am freiesten regte, nicht zu vollkommener Durchbildung. Das große Geheimniß einer reichen schöpferischen Thätigkeit ist Beschränkung auf einen einzelnen Zweig der schönen Kunst. Das wußten die Hellenen sehr wohl. Wer Tragödien schrieb, blieb der Komödie fern, wer im Hexameter schuf, mied den Jambus.
Aber auch der Dichter, welchem dramatisches Gestalten ein Bedürfniß ist, lebt, wenn er nicht selbst als Schauspieler oder Gebieter unter dem Schnürboden der Bühne dahinschreitet, seitab von dem Theater. Er mag schreiben oder nicht. Der äußere Zwang, ein mächtiger Hebel das Talent zu bewegen, fehlt ihm fast ganz. Das Theater ist ein Tagesvergnügen des ruhigen Bürgers geworden, welches nicht die schlechteste, aber auch nicht die anspruchsvollste Gesellschaft versammelt; es hat bei dieser reichen Ausdehnung etwas von der Würde und Hoheit eingebüßt, welche der Dichter für das Drama ernsten Stils wünschen muß. Auf der Scene drängen sich Posse, Oper, Komödie, Formen, Weltanschauung verschiedener Jahrhunderte. Alles müht sich zu gefallen, das Neueste und Seltsamste, und wieder was der großen Menge am behaglichsten ist, stößt Anderes bei Seite.
Auch das Gebiet der Stoffe ist dem Dichter fast unübersehbar geworden. Die griechische und römische Welt, [S. 295] das gesammte Mittelalter, heilige Bücher und Dichtungen der Juden und Christen, sogar die Völker des Orients, Geschichte, Sage und Gegenwart öffnen dem Suchenden ihre Schätze. Aber gerade dies ist ein Uebelstand, daß bei solcher unendlicher Fülle des Stoffes die Wahl schwer und meist zufällig wird, daß keines dieser Stoffgebiete den Deutschen ausschließlich oder vorzugsweise anzuziehen im Stande ist.
Endlich ist für den Deutschen, wie es scheint, noch nicht die Zeit gekommen, wo das dramatische Leben im Volke selbst reichlich und unbefangen heraufquillt. Gern möchten wir in Erscheinungen der neuesten Gegenwart die Anfänge einer neuen Entwickelung des Volkscharakters sehen, Anfänge, welche freilich der Kunst noch nicht zu Gute kommen. Daß dem dramatischen Dichter der Deutschen noch so schwer wird, sich aus der epischen und lyrischen Auffassung der Charaktere und Situationen zu erheben, ist kein Zufall.
Der Dichter aber soll für die Bühne arbeiten; nur in Verbindung mit der Schauspielkunst bringt er die höchsten Wirkungen hervor, welche seiner Poesie möglich sind. Das Bücherdrama ist im letzten Grunde nur Nothbehelf einer Zeit, in welcher die volle Gewalt des dramatischen Schaffens dem Volke noch nicht gekommen oder wieder geschwunden ist. Es ist eine alte Gattung. Schon bei den Griechen wurden Stücke für die Recitation geschrieben, mehre der römischen Declamationsstücke sind uns erhalten. Auch in Deutschland hat das Bücherdrama von den Komödien der Hroswith über die stilistischen Versuche der ersten Humanisten bis zu dem größten Gedicht der Deutschen eine lange Geschichte. Unendlich verschieden ist der dichterische Werth dieser Werke. Aber die Benutzung der dramatischen Form zu poetischen Wirkungen, welche darauf verzichten, die höchsten ihrer Gattung zu sein, ist im Ganzen betrachtet eine Einschränkung, gegen welche sich die Kunst selbst, ja auch der genießende Leser auflehnt.
[S. 296] Auf den Blättern dieses Buches wurde der Beweis versucht, daß die technische Arbeit des Schaffenden beim Drama nicht ganz leicht und mühelos sei. Diese Gattung der Poesie fordert mehr vom Dichter als irgend eine andere. Eine eigenthümliche, nicht häufige Befähigung, die seelischen Vorgänge bedeutender thatkräftiger Menschen darzustellen; mit Leidenschaft und Klarheit wohl temperirte Natur; ausgebildete und sichere dichterische Begabung, dazu Menschenkenntniß und was man im wirklichen Leben Charakter nennt; außerdem genaue Bekanntschaft mit der Bühne und ihren Bedürfnissen. Und doch ist auffallend, daß von den Vielen, welche Anläufe in diesem Gebiete des Schaffens machen, die meisten nur dilettirende Freunde des Schönen sind; gerade sie wählen die mühevollste Thätigkeit, und eine solche, welche ihnen am allerwenigsten einen Erfolg verspricht. Es ist wohl auch ernste Arbeit, einen Roman zu schreiben, der den Namen eines Kunstwerks verdient; aber bei einiger Gestaltungskraft und Menschenkenntniß vermag doch jeder Gebildete, der sich sonst nicht als Dichter versucht hat, etwas Lesbares zu bieten, worin einzelne bedeutende Eindrücke des eigenen Lebens, Geschautes und Durchgefühltes gemüthvoll verflochten sind. Weshalb lockt gebildete, sehr tüchtige Männer gerade die eigensinnigste aller Musen, die so schwer zugänglich und so unartig gegen Jeden ist, der ihr nicht ganz angehört? Welcher Feind ihres Lebens lenkt gerade solche warmherzige Freunde, welche in den Mußestunden ihres thätigen Lebens ein wenig Poesie treiben, auf ein dichterisches Gebiet, in welchem die engste Verbindung einer immerhin seltenen Gestaltungskraft mit einer ungewöhnlich festen Beherrschung künstlerischer Formen die Voraussetzung jedes dauerhaften Erfolges ist? Verführt vielleicht die geheime Sehnsucht des Menschen nach dem, was ihm am meisten fehlt? und sucht der Dilettant gerade deshalb das Drama in sich herauszubilden, weil ihm bei lebhaften dichterischen Anschauungen doch versagt ist, seine unruhig flatternden Empfin [S. 297] dungen in dem Körper einer Kunstform schöpferisch zu beleben? Zuverlässig ist bei Solchen der Versuch, für die Bühne zu arbeiten, vergeblich und hoffnungslos.
Dem Dichter aber, der für sein Leben mit dramatischer Kraft ausgerüstet wurde, wünschen wir vor anderen Gütern ein festes und geduldiges Herz.
Noch anderes Fördernde muß er für sein Handwerk mitbringen. Er soll schnell und freudig das Reizende eines Stoffes empfinden und doch die Dauer haben, denselben in sich zur Reife zu tragen. Er soll sich, bevor er selbst als Schaffender auf die Bühne steigt, längere Zeit mit einigen Hauptgesetzen des Schaffens vertraut machen, denn er muß zu prüfen verstehen, ob ein Stoff in der Hauptsache brauchbar sei. Auch darin muß das Urtheil sein warmes Herz überwachen von dem ersten Augenblick, wo der Anreiz zum Schaffen in ihm entsteht. Ein Bühnenwerk, welches mißlungen ist, bezeichnet ihm durchschnittlich ein verlorenes Jahr seines Lebens.
Nicht mit gleicher Schnelligkeit heftet sich die Einbildungskraft der einzelnen Dichter an den Stoff; dem Anfänger flattert die suchende Seele leicht auf einen Gipfelpunkt, welcher sich darbietet, und unter dem ersten grünenden Zweig wird das Nest gebaut. Wer durch Erfahrungen gewarnt ist, wird wählerisch und prüft wohl zu lange. Häufig ist nicht Zufall, was einen Stoff der Seele nahe legt, sondern Stimmung und Eindruck des eigenen Lebens, welcher die Phantasie nach einer bestimmten Richtung zieht. Dann arbeitet die Seele schon heimlich über dem Stück, bevor sie einen Helden und seine Hauptscenen gefunden hat, und was sie von dem Stoffe fordert, ist, daß er ihr die Möglichkeit gewisser scenischer Wirkungen darbiete.
Die Schwierigkeiten, welche die einzelnen Stoffkreise bereiten, sind genügend hervorgehoben. Wer aber von schwerem Entschluß ist, möge auch bedenken, daß es bei den meisten Begebenheiten von der Kraft seiner Begabung abhängt, ob [S. 298] dieselben in eine brauchbare Handlung verwandelt werden. Eine sichere Dichterkraft bedarf nur weniger Momente aus Sage, Geschichte, Erzählung, nur eines starken und folgenschweren Gegensatzes, um eine Handlung daraus zu bilden.
Wenn der dramatische Dichter des Alterthums diese Züge in seinen Sagen kurz vor dem Untergange der großen Helden des Epos fand, so darf doch gefragt werden, ob es bei historischen Dramen ebenfalls nothwendig ist, die Haupthelden der Geschichte derart zum Mittelpunkt der Handlung zu machen, daß diese sich um ihr Schicksal und ihren Untergang bewegt. Wie schwer und mißlich es ist, ein bedeutendes geschichtliches Leben künstlerisch zu verwerthen, ist bereits ausgeführt. Und man wende auch nicht ein, daß der größere historische Antheil, welchen die Haupthelden der Geschichte einflößen, und daß die vaterländische Begeisterung, welche der Dichter wie der Zuschauer ihnen entgegenbringt, sie vorzugsweise zu Helden des Dramas geeignet machen. Zunächst bietet die ältere deutsche Geschichte verhältnißmäßig wenig Heldengestalten, deren Andenken durch ein großes Interesse der Gegenwart theuer ist. Was sind unserem Volke die Kaiser des sächsischen, fränkischen, staufischen, habsburgischen Hauses? Die Ziele, für welche sie siegten und untergingen, werden vielleicht durch die Ueberzeugungen der Gegenwart verurtheilt, die Kämpfe ihres Lebens sind für uns ohne leicht verständliche Ergebnisse geblieben, sie sind für das Volk tot und eingesargt. Ferner aber wird der gewissenhafte Dichter vor den nicht sehr zahlreichen geschichtlichen Helden, welche noch in der Erinnerung des Volkes fortleben, besondere und neue Hemmnisse erkennen, welche ihm die Frische seines Schaffens einengen. Gerade der patriotische Antheil, welchen er selbst mitbringt und bei dem Hörer erwartet, vermindern ihm die überlegene Freiheit, mit der er als Dichter über jedem seiner Charaktere schweben muß, und verleiten ihn zu tendenziöser Darstellung oder zu porträtmäßiger Zeichnung. Ist [S. 299] einmal einem deutschen Dichter das dramatische Bild des großen Kurfürsten gelungen, so sind Luther, Maria Theresia, der alte Fritz um so öfter verunglückt.
Aber es ist durchaus nicht nöthig, die Könige und Heerführer der Geschichte zu Haupthelden eines historischen Dramas zu machen, welches sich mit Vortheil doch nur auf einem kleinen Theilstück ihres geschichtlichen Lebens aufzubauen vermag. Als weit bequemer und lohnender wird sich erweisen, die Rückwirkungen, welche aus ihrer Persönlichkeit in das Leben Anderer fallen, zu verwerthen. Wie gut hat das Schiller schon im Carlos, dann in der Maria Stuart gethan! Der Philipp des ersten Stückes ist glänzendes Beispiel, wie ein geschichtlicher Charakter als Mitspieler für das Drama zu gebrauchen ist.
Denn mit dem Leben bekannter historischer Helden sind eine Menge Gestalten verbunden, von denen einzelne eigenartige Züge berichtet werden, welche die freie Erfindung gedeihlich anregen. Solche Nebengestalten der Geschichte, über deren Leben und Ausgang der Dichter freier verfügen kann, sind ihm vorzüglich bequem. Ein Verrath und seine Strafe, eine leidenschaftliche That des Hasses und ihre Folgen, eine Scene aus großem Familienzwist, ein trotziger Kampf oder ein schlaues Spiel gegen überlegene Gewalt geben ihm einen massenhaften Stoff. Und solche Züge finden sich auf jedem Blatt unserer Geschichte wie bei anderen gebildeten Völkern.
Wer Selbstgefühl hat, wählt zuverlässig seine Bilder lieber aus dem für die Kunst noch nicht zugerichteten Stoff, welcher in dem wirklichen Leben der Vergangenheit und neuer Zeit zu finden ist, als aus solchen Vorlagen, welche ihm durch andere Gattungen der Kunstpoesie geboten werden. Für das ernste Drama sind Stoffe, welche aus Romanen und modernen Novellen gehoben werden, wenig dankbar. Wenn Shakespeare Novellenstoffe benutzte, so waren seine Quellen in unserem Sinne nichts als kurze Anekdoten, in denen allerdings ein künstlerischer Zusammenhang und ein kräftiger Ab [S. 300] schluß bereits erfunden war. Bei den ausgeführten epischen Erzählungen der Gegenwart jedoch erweist die Phantasie eines Dichters ihre Kraft häufig gerade in Wirkungen, welche den dramatischen innerlich feindlich sind, und die geschmückte und behagliche Ausführung der Menschen und Situationen im Roman mag dem Dramendichter die Einbildungskraft eher abstumpfen als reizen. Unrecht aber gegen fremdes Eigenthum wird er schwerlich verüben, wenn er seinen Stoff auch aus diesem Kreise der Erfindung holt. Denn ist er ein Künstler, so geht doch nur sehr wenig von der Schöpfung Anderer auf sein Drama über.
Der tragische Dichter vermag sich allerdings seine Handlung auch ohne jede Benutzung eines bereits vorhandenen Stoffes zu erfinden. Gleichwohl geschieht das seltener und schwerfälliger, als man wohl meint. Unter den großen Dramen unserer Bühne gibt es, gerade wie einst im Alterthum, sehr wenige, welche nicht auf einem vorhandenen Stoff ausgebaut sind. Denn es ist eine Eigenheit der Einbildungskraft, daß sie die Bewegung im Leben eines Menschen lebendiger und genauer empfindet, wenn sie sich an eine gegebene Gestalt und deren Schicksal anspinnen kann. Nicht leicht wird ihr das selbstgefundene Bild so fest und gewaltig, daß sie eine kräftige Arbeit daran zu knüpfen geneigt ist.
Und noch eine Überzeugung mag der Dichter in stiller Seele bewahren: daß kein Stoff völlig gut und wenige ganz unbrauchbar sind. Es gibt auch nach dieser Seite kein vollkommenes Kunstwerk. Jeder Stoff hat innere Uebelstände, welche die Kunst des Dichters so weit zu bewältigen vermag, daß das Ganze den Eindruck der Schönheit und Größe macht. Zu erkennen sind diese Schwächen aber immer für den geübten Blick, und jedes Kunstwerk ohne Ausnahme gibt nach dieser Seite der Kritik Veranlassung zu Ausstellungen. Der Beurtheilende hat dafür zu sorgen, daß auch er gegenüber diesen Mängeln des Stoffes verstehe, ob der Dichter seine Pflicht ge [S. 301] than, d. h. alle Mittel seiner Kunst angewendet habe sie zu bewältigen und zu verdecken.
In der fröhlichen Stimmung, daß er ein wackeres Werk beginne, wird der Dichter sich das Liebgewordene streng prüfend gegenüberstellen, sobald seine Seele anfängt die Stoffmasse verschönernd zu umziehen. Er wird sich die Idee deutlich zu machen, alles Zufällige, was aus der Wirklichkeit daran hängt, abzustreifen haben.
Zu dem ersten Reizvollen, welches in seiner Seele lebendig wird, gehören charakteristische Lebensäußerungen des Helden in einzelnen Augenblicken innerer Bewegung oder kräftiger That. Um diese Bilder zu vermehren und um die Charaktere zu vertiefen, wird er ernsthaft das wirkliche Leben seines Helden und dessen Umgebung zu verstehen suchen. Er wird deshalb vor einem historischen Drama gute Studien machen, und diese Arbeit wird ihm reichlich belohnt, denn aus ihr geht ihm eine große Zahl von Anschauungen und Bildern auf, welche ihm schnell durch die Phantasie in das entstehende Werk eingefügt werden. Die anerkennende Seele des Deutschen hat gerade für solche bezeichnende Einzelheiten sehr lebhafte Empfindung, und der Dichter wird sich deshalb auch wohl einmal hüten müssen, daß das historische Kostüm, Wunderliches und Besonderes einer Zeit, ihm nicht zu wichtig werde.
Hat er in solcher Weise die Welt seiner künstlerischen Anschauungen so viel als möglich erweitert, dann werfe er seine Bücher bei Seite und ringe wieder nach der Freiheit, welche ihm nöthig ist, um über den vorhandenen Stoff frei spielend zu walten. Vier Regeln aber halte er als Beschränkungen seiner treibenden Kraft fest in der Seele: der Handlung ein kurzer Verlauf, wenig Personen, wenig Verwandlungen, schon bei dem ersten Entwurf starkes Herausheben der wichtigen Theile der Handlung.
Er mag sich Pläne niederschreiben oder nicht. Im Ganzen ist darauf nicht viel zu geben. Breite schriftliche Auseinander [S. 302] setzungen haben das Gute, daß sie die einzelnen Absichten durch Nachdenken deutlich machen, aber den Uebelstand, daß sie leicht die Einbildungskraft lähmen und außerdem das fortwährend nöthige Umbilden und Ausscheiden erschweren. Ein Blatt kann für den Entwurf vollständig genügen.
Bevor der Dichter an die Ausführung geht, sollen ihm die Charaktere seiner Helden, ihre Stellung zu einander in allen Hauptsachen feststehen, und ebenso die Ergebnisse jeder einzelnen Scene; dann gestalten sich leicht die Bilder der Scenen und ihr dramatischer Verlauf während der Arbeit.
Allerdings schließt die kräftigste Arbeit vor Beginn des Schreibens spätere kleine Abänderungen in den Charakteren nicht aus, denn die schaffende Kraft des Dichters steht nicht still. Er meint seine Gestalten zu treiben, und er wird heimlich von ihnen getrieben. Es ist ein freudvoller Vorgang, den er in der Arbeit an sich selbst beobachtet, wie durch seine schöpferische Kraft und unter dem logischen Zwang der Begebenheiten die empfundenen Gestalten in den Scenen lebendig werden. An die einzelne Erfindung hängt sich eine neue, plötzlich blitzt eine schöne und große Wirkung auf. Und während dem klaren Geiste Ziele und Ruhepunkte des Weges feststehen, arbeitet die wogende Empfindung über den Wirkungen, den Dichter selbst aufregend und erhebend. Es ist eine starke innere Bewegung, den günstig beanlagten Dichter beglückend und kräftigend, denn über der heftigsten Spannung durch die treibende Phantasie, welche ihm in leidenschaftlichen Stellen seiner Handlung die Nerven bis zum Zucken spannt und die Wangen röthet, schwebt in heiterer Klarheit, beherrschend, frei wählend und ordnend der Geist.
Verschieden ist die Arbeit desselben Dichters an den einzelnen Momenten. Manche derselben gehen glänzend auf, ihre voraus empfundenen Wirkungen bewegen das Gemüth lebhaft, das Niedergeschriebene erscheint nur als schwacher Abdruck eines leuchtenden inneren Bildes, dessen Farbenzauber ge [S. 303] schwunden ist; andere Momente entwickeln sich vielleicht langsam, nicht ohne Mühe, die Phantasie ist träge, die Nervenspannung nicht stark genug, zuweilen ist, als sträube sich die schöpferische Kraft gegen die Situation. Nicht immer werden solche Scenen die schlechtesten.
Sehr verschieden ist auch die Stärke der Schaffenskraft. Der Eine ist schnell in der Arbeit des Niederschreibens, dem Andern gestaltet sich das Empfundene langsam, schwerflüssig auf dem Papier. Nicht immer sind die Schnelleren im Vortheil. Ihre Gefahr ist, daß sie zu frühe, bevor die Arbeit der Phantasie die nöthige Reife erlangt hat, die Bilder feststellen. Denn oft ist es dem Dichter möglich, sich selbst zu sagen, daß die innere unbewußte Arbeit fertig sei, und den Augenblick zu erkennen, wo die Einzelheiten der Wirkungen richtig ausgebildet sind. Das Reifenlassen der Bilder aber ist eine wichtige Sache, und es ist eine Eigenthümlichkeit der schöpferischen Kraft, daß sie, wie wir annehmen möchten, auch in Stunden thätig ist, in denen der Dichter nicht über seiner Arbeit weilt.
Nicht unwichtig ist die Reihenfolge, in welcher der Dichter sein Stück niederschreibt. Dem Einen arbeitet die wohlgezogene Einbildungskraft Scenen und Akte in der Aufeinanderfolge aus, Andern heftet sie sich bald hier bald da an eine größere Wirkung. Das Geschriebene aber gewinnt eine Gewalt über das Ungeschriebene. Sobald Anschauung und Empfindung in Worte gefaßt sind, treten sie dem Dichter wie ein fremdes Bestimmendes gegenüber; sie regen von Neuem an, und ihre Farbe und ihre Wirkungen ändern die späteren ab. Wer in der gesetzlichen Reihenfolge arbeitet, wird den Vortheil haben, daß sich ihm Stimmung aus Stimmung, Situation aus Situation im regelmäßigen Laufe entwickelt; er wird nicht immer vermeiden, daß ihm leise und allmählich unter seinen Händen der Weg, den er seine Gestalten führen wollte, ein wenig abweicht. Es scheint, daß Schiller so gearbeitet hat. Wer dagegen sich zuerst das gegenüberstellt, was ihm [S. 304] gerade die spielende Phantasie lebhaft beleuchtet hat, der wird den Gesammteindruck und Gang seines Kunstwerks vielleicht sicherer übersehen, er wird während der Arbeit aber bald hier und da Veränderungen in Motiven und in Einzelzügen einzusetzen haben. Dies war wenigstens in einzelnen Fällen die Arbeit Goethe's.
Ist das Stück bis über die Katastrophe vollendet und das Herz von Freude über das fertige Werk erhoben, dann beginnt die Gegenwirkung, welche die Welt im Großen und Kleinen gegen eine hochgesteigerte Stimmung des Menschen geltend macht. Noch ist die Seele des Dichters sehr warm, die Gesammtheit des Schönen, das er im Schaffen empfunden hat, das innere Bild, welches er von den Wirkungen hat, trägt er noch unbefangen auf das geschriebene Werk über. Es erscheint ihm nach der Stimmung der Stunde verfehlt oder höchlich gelungen, im Ganzen wird er bei gesunder Geistesanlage geneigt sein, der Kraft, die er dabei bewährt hat, zu vertrauen.
Aber sein Werk wird, wenigstens wenn er ein Deutscher ist, meist noch nicht vollendet sein. Wenn auch der Dichter für die Aufführung schreibt, empfindet er doch nicht, wie bereits gesagt wurde, in jedem Augenblick die Eindrücke, welche die Momente seines Stückes auf der Bühne hervorbringen. Ungleich arbeitet die dramatische Kraft auch nach dieser Richtung, und es ist anziehend ihre Schwankungen an sich selbst zu beobachten. Man vermag sie auch an den Werken großer Dichter zu erkennen. Bald ist eine Scene durch lebhafte Empfindung der scenischen Handlung ausgezeichnet, die Rede gebrochen, die Wirkungen genauer durch Uebergänge vermittelt; ein andermal fließt sie für die Leser bequemer als für die Schauspieler dahin. Und wie richtig der Dichter auch das Ganze der Scenenwirkung empfunden haben mag, im Einzelnen hat ihn doch der Sinn der Worte mehr gekümmert und die Wirkung, welche sie vom Schreibtische auf die empfangende [S. 305] Seele ausüben, als der Klang derselben und die Vermittelung mit dem Zuschauer durch die darstellenden Helfer. Aber nicht nur die Schauspielkunst macht ihre Rechte gegen sein Stück geltend, und verlangt hier ein stärkeres Hervortreiben einer Wirkung, dort ein Abdämpfen; auch das Publicum ist dem Dichter gegenüber eine ideale Körperschaft, welche eine bestimmte Art der Behandlung fordert. Wie zur Zeit Shakespeare's die Einbildungskraft der Hörenden reger war, der Genuß an den gesprochenen Worten größer, aber das Verständniß des Zusammenhanges langsamer, so hat auch jetzt die Zuhörerschaft eine Seele mit bestimmten Eigenschaften. Sie hat bereits Vieles aufgenommen, ihr Verständniß des Zusammenhanges ist schnell, ihre Ansprüche an kräftigen Fortschritt groß, die Vorliebe für bestimmte Arten von Situationen übermäßig entwickelt.
Der Dichter wird deshalb genöthigt sein, sein Werk der Schauspielkunst und dem Publicum anzupassen. Dieses Geschäft, dessen Regiebezeichnung aptiren ist, vermag der Dichter allerdings nur in seltenen Fällen allein vollständig durchzusetzen.
Die Striche sind mit großem Unrecht im Lande der dramatischen Poesie übel berüchtigt, sie sind vielmehr, da zur Zeit das Schaffen des deutschen Dichters mit schwacher Entwickelung des Formensinnes zu beginnen pflegt, häufig die größte Wohlthat, welche seinem Stück erwiesen werden kann, unentbehrliche Vorbedingungen für die Aufführung, das einzige Mittel Erfolg zu sichern. Sie sind ferner ein Recht, welches zuweilen die Schauspielkunst gegen den Dichter geltend machen muß, sie sind auch die unsichtbaren Helfer, welche das Bedürfniß der Zuschauer und die Ansprüche des Schaffenden ausgleichen. Wer an seinem Arbeitstisch mit stillem Behagen die dichterische Schönheit eines Werkes durchempfindet, der denkt ungern daran, wie sehr in dem Lichte der Bühne die Wirkungen sich ändern. Auch würdige Schriftsteller, welche den verdienstlichen Beruf gewählt haben, die Schönheiten [S. 306] großer Dichter den Zeitgenossen zu erklären, sehen gern mit Verachtung auf einen Handwerksgebrauch der Bühnen herab, der die schönste Poesie unbarmherzig verstümmelt. Wer so empfindet, kennt zu wenig Gesetz und Recht der lebendigen Darstellung durch Menschen. Erst durch den Stift eines sorgfältigen Regisseurs treten die schönen Formen in den Kunstwerken Shakespeare's und Schiller's für unsere Bühne in das richtige Verhältniß. Allerdings erfreut sich nicht jede Bühne einer technischen Leitung, welche mit Feingefühl und Verständniß für das Bühnengemäße diese Arbeit verrichtet. Und sehr widerwärtig ist die rohe Faust, welche in das dramatisch Schöne hineinschneidet, weil es einmal unbequem wird oder dem Geschmack eines verwöhnten Publicums zuwiderläuft. Aber die schlechte Anwendung eines unentbehrlichen Kunstmittels sollte dasselbe nicht in Verruf bringen, und wenn man die Klagen der Dichter über Mißhandlung ihrer Werke nach ihrer Berechtigung abschätzen wollte, so würde man in der Mehrzahl der Fälle ihnen Unrecht geben müssen.
Nun ist bei diesem Aptiren des Stückes Vieles persönliche Ansicht, die Berechtigung des einzelnen Striches zuweilen zweifelhaft. Und die Regie eines Theaters, welche selbstverständlich die Wirkung auf einer bestimmten Bühne im Auge hat, wird auch die Persönlichkeiten ihrer Schauspieler dabei mehr berücksichtigen, als dem Dichter vor der Aufführung willkommen ist. Sie wird einem tüchtigen Schauspieler, welcher den Hörern besonders werth ist, auch einmal Entbehrliches stehen lassen, wenn sie eine Wirkung davon erwartet, sie wird wieder einer Rolle, deren Besetzung mangelhaft sein mußte, gern eine achtbare Nebenwirkung nehmen, wenn sie die Ueberzeugung hat, daß der Schauspieler dieselbe nicht herauszubringen vermag.
Der Verfasser des Stückes darf deshalb das Verkürzen seines Werkes nicht ganz Fremden überlassen; er vermag es, wenn ihm nicht längere Bühnenerfahrung zur Seite steht, schwerlich ohne fremde Hilfe zu Ende zu bringen. Er wird [S. 307] also sich zwar selbst das letzte Urtheil vorbehalten müssen, und er wird einer Bühne gewöhnlich nicht gestatten, Kürzungen ohne seine Einwilligung vorzunehmen; aber er wird, auch die Ansicht von Männern, welche bessere Erfahrung haben, mit Selbstverleugnung anhören und geneigt sein ihnen nachzugeben, wo nicht sein künstlerisches Gewissen ihm Zugeständnisse unmöglich macht. Da aber sein Urtheil noch nicht unbefangen ist, so wird er bei dem ersten Eindringen einer wohlwollenden Kritik in seine Seele durch Unsicherheit und innere Kämpfe sich hindurchwinden müssen. Zu großem Nutzen für sein Urtheil. Die erste Störung in dem behaglichen Frieden eines Dichtergemüthes, welches sich gerade der Vollendung eines Werkes freut, ist für eine weiche Seele vielleicht schmerzlich, aber sie ist heilsam wie ein frischer Luftzug in lauer Sommerzeit. Der Dichter soll sein Werk hochachten und lieben, solange er es als Ideal in sich trägt und daran arbeitet; das fertige Werk muß auch für ihn abgethan sein. Es muß ihm fremd werden, damit seine Seele die Unbefangenheit für neue Arbeit gewinne.
Zunächst freilich soll der Dichter noch in seiner Arbeitsstube das erste Anpassen versuchen. Es ist eine unfreundliche Thätigkeit, aber sie ist sehr nöthig. Vielleicht hat er schon beim Schreiben Einzelnes als entbehrlich empfunden, er hat manche Stimmung, die ihm besonders lieb war, breiter ausgeführt, als eine leise Mahnung seines Gewissens gestatten wollte. Ja, es ist möglich, daß sein Werk nach Vollendung der Arbeit in dem Augenblicke, wo er es für fertig hält, noch eine ziemlich chaotische Masse von richtigen und kunstvollen Wirkungen und von episodischer Zuthat oder schädlicher ungleichmäßiger Ausführung ist.
Jetzt ist die Zeit gekommen, wo er nachholen mag, was er bei der Arbeit versäumt. Scene um Scene durchmustere er prüfend, in jeder untersuche er den Lauf der einzelnen Rollen, die Aufstellung, die gebotenen Bewegungen der Per [S. 308] sonen, er versuche in jedem Moment der Scene ihr Bild auf der Bühne sich lebendig zu machen, treffe genaue Bestimmungen über die Ein- und Ausgänge, durch welche seine Personen auftreten und abgehen, überlege auch die Decorationen und das Geräth, ob sie nicht hindern, wie sie am besten fördern.
Und nicht weniger genau untersuche er die dramatische Strömung der Scene selbst. Wahrscheinlich wird er dabei Längen entdecken, denn dem Schreibenden erscheint leicht ein Nebenzug zu wichtig, oder die Rolle eines Lieblings ist störend für die Gesammtwirkung in den Vordergrund getreten, oder die Ausführungen der Reden und Gegenreden sind zu zahlreich. Und unerbittlich tilge er wieder, was dem Bau der Scenen nicht zum Heile gereicht, wenn es an sich auch noch so schön ist. Und er gehe weiter und prüfe die Verbindung der Scenen eines Aktes, dann die Gesammtwirkung desselben. Er strenge seine ganze Kunst an, um Binnenwechsel der Decorationen wegzuschaffen, vollends da, wo ein Akt ihm zweimal durch solche Einschnitte gebrochen wird. Beim ersten Anblick erscheint ihm das wahrscheinlich unmöglich, aber es muß möglich sein.
Und hält er die Akte für geschlossen, ihre Scenengliederung für befriedigend, dann vergleiche er die Steigerung der Wirkungen durch die einzelnen Akte, ob die Kraft des zweiten Theils auch der des ersten entspricht. Er steigere den Höhenpunkt durch Aufgebot seiner besten poetischen Kraft und habe ein scharfes Auge auf seinen Akt der Umkehr. Denn wenn die Hörer mit seiner Katastrophe nicht zufrieden sein sollten, liegt häufig der Fehler in dem vorhergegangenen Akte.
Dem Dichter wird durch die Gewöhnung seiner Mitlebenden die Länge der Zeit bestimmt, innerhalb welcher sich die Handlung vollenden muß. Mit Erstaunen lesen wir von der Fähigkeit der Athener, fast einen ganzen Tag die größten und angreifendsten tragischen Wirkungen zu ertragen. Noch [S. 309] Shakespeare's Stücke sind nicht unbedeutend länger, als unserem Publicum bequem wäre, sie würden unverkürzt auch in einem kleinen Hause, wo schnelleres Sprechen möglich ist, in der Mehrzahl fast vier Stunden in Anspruch nehmen. Der deutsche Zuhörer verträgt im geschlossenen Theater nur schwer eine Darstellung, welche drei Stunden überdauert. Das ist ein keineswegs gering zu achtender Umstand; denn in der Zeit, welche darüber hinausreicht, sind, wie spannend die Handlung auch sein möge, Störungen durch einzelne abgehende Zuhörer und eine gewisse Unruhe der Bleibenden kaum zu verhindern. Diese Beschränkung ist aber auch deshalb ein Uebelstand, weil gegenüber großem Stoff und reicher Ausführung die Zeit von drei Stunden eine enggemessene ist, zumal auf unseren Bühnen dem fünfaktigen Stück durch vier Zwischenakte noch fast eine halbe Stunde verloren geht. Von den deutschen Dichtern ist es Schiller bekanntlich am schwersten geworden, sich mit der Bühnenzeit abzufinden, und obgleich seine Verse schnell dahin schweben, würden seine Stücke unverkürzt doch fast sämmtlich längere Zeit in Anspruch nehmen, als die Hörer vertragen.
Ein fünfaktiges Stück, welches nach der Zurichtung für die Bühne im Akte durchschnittlich fünfhundert Verse enthält, übersteigt schon die gegebene Zeit. Im Ganzen darf man 2000 Verse als die regelmäßige Länge eines Bühnenstückes betrachten, ein Umfang, dessen Zeitdauer freilich durch den Charakter des Stückes, das mittlere Tempo der Reden, Gedrungenheit oder leichteren Fluß der Verse bedingt wird, auch dadurch, ob die Handlung des Stückes selbst viele Einschnitte, Pausen, Massenbewegungen und mimische Thätigkeit der Schauspieler verlangt. Zuletzt durch die Bühne, worauf gespielt wird, denn die Größe und gute oder schlechte Schallfähigkeit des Hauses und die Gewohnheit des Ortes üben wesentlichen Einfluß.
Allerdings sind die meisten Bühnenwerke unserer großen [S. 310] Dichter bedeutend länger, [23] aber der Dichter würde sich vergebens auf ihr Vorbild berufen. Denn ihre Werke stammen sämmtlich aus einer Zeit, in welcher der gegenwärtige Bühnenbrauch entweder noch gar nicht vorhanden oder weniger zwingend war. Und zuletzt nehmen sie auf unseren Bühnen die Freiheiten vornehmer Hausfreunde in Anspruch, sich die Zeit ihres Abschiedes zu wählen und die Bequemlichkeit Anderer nicht zu berücksichtigen. Wer jetzt auf der Bühne heimisch werden will, muß sich einem Brauch, der nicht sofort abzustellen ist, fügen. Der Dichter wird also sein Werk zuletzt [S. 311] auch nach der Verszahl schätzen, und wenn dasselbe, wie zu befürchten, über die Bühnenzeit hinausgeht, so wird er noch einmal mustern, was irgend entbehrlich ist.
Hat er diese herbe Arbeit der Selbstprüfung, so weit er vermochte, beendet, dann möge er daran denken, das Stück für die Oeffentlichkeit vorzubereiten.
Zu dieser Arbeit ist dem jungen deutschen Dichter ein erfahrener Bühnenfreund unentbehrlich. Er wird ihn in dem Leiter oder Regisseur einer größern Bühne zu erwerben suchen. Er wird diesem sein Werk in Handschrift einsenden.
Nun beginnt neues Erwägen, Verhandeln, Kürzen, bis der Wortlaut des Stückes für die Aufführung festgestellt ist. Hat der Dichter die zweckmäßigen Aenderungen vorgenommen, so wird sein Werk bei dem Theater, mit dem er sich vertrauensvoll in Verbindung gesetzt hat, gewöhnlich rasch aufgeführt. Ist ihm möglich dieser Aufführung beizuwohnen, so wird das ihm sehr nützlich sein, weniger deshalb, weil er selbst sofort die Uebelstände und Mängel seiner Arbeit erkennt, denn bei jungen Schriftstellern kommt die Selbsterkenntniß selten so schnell, sondern weil auch dem erfahrenen Leiter einer Bühne manche Schwächen und Längen des Stückes erst durch die Aufführung deutlich werden.
Es ist wahr, die erste Verbindung des Dichters mit der Bühne ist für ihn nicht frei von Mißbehagen. Die Sorge um die Aufnahme des Stückes legt sich beengend auch um ein muthiges Herz, immer noch thun die Kürzungen weh, und das Beschreiten der halbdunklen Bühne wird peinlich durch die innere Unsicherheit und durch Bedenken gegen die unfertigen Leistungen der Darsteller. Aber diese Verbindung hat auch viel Herzerfreuendes und Lehrreiches: die Proben, das Aufnehmen des wirklichen Bühnenbildes, die Bekanntschaft mit Brauch und Ordnung des Theaters. Und bei erträglichem Erfolge des Dramas bleibt vielleicht die Erinnerung daran dem Dichter ein werther Besitz des späteren Lebens.
[S. 312] Hier eine Warnung. Der junge Dichter soll einigemal sich am Einüben und an den Aufführungen der Bühnen betheiligen. Er soll genau, bis ins Kleinste, die Einrichtung der Bühne, die Verwaltung des großen Organismus, die Wünsche der Darsteller kennen lernen. Aber er soll nicht auf seine Stücke reisen. Er soll nicht so warm in ihnen beharren, er soll nicht so eifrig den Beifall neuer Menschen suchen. Und ferner, er soll nicht den Regisseur spielen, und soll sich während der Spielproben nur einmischen, wo das dringend geboten ist. Er ist kein Schauspieler und vermag in dem Eifer der forteilenden Proben schwerlich ein Verfehltes dem Darsteller durch Bessermachen zu ändern. Er merke sich an, was ihm auffällt, und bespreche dies später mit den Künstlern. Die Stelle des Dichters ist in der Leseprobe. Diese richte er so ein, daß zuerst er selbst — wenn ihm Stimme und Uebung ward — sein Drama vorlese, und daß, wo möglich, in einer zweiten Probe wieder die Künstler ihre Rollen lesen. Die gute Einwirkung, welche er auszuüben vermag, wird sich hier am besten bewähren.
Die größere Selbständigkeit der einzelnen Landschaften hat in Deutschland verhindert, daß die Erfolge eines Theaterstückes an der großen Bühne einer Hauptstadt maßgebend werden für die Erfolge auf den übrigen Theatern des Landes. Ein deutsches Drama muß das Glück haben, bei acht bis zehn größeren Theatern in den verschiedenen Theilen Deutschlands Erfolge zu erlangen, bevor sein Lauf über die übrigen als gesichert betrachtet werden kann. Während der Ruf eines Theaterstückes, welches von der Wiener Burg ausgeht, so ziemlich die übrigen Theater des Kaiserstaates bestimmt, hat schon das Berliner Hoftheater einen viel kleineren Kreis, in dem es den Ton angibt; was in Dresden gefällt, mißfällt vielleicht in Leipzig, und ein Erfolg in Hannover sichert noch keineswegs ähnlichen in Braunschweig. Indeß so weit reicht doch der Zusammenhang der deutschen Bühnen, daß der gute Erfolg eines Bühnenwerkes auf einem oder zwei angesehenen Theatern die übrigen darauf aufmerk [S. 313] sam macht. Ueberhaupt ist Mangel an Aufmerksamkeit auf das irgendwo dargestellte Brauchbare im Allgemeinen nicht der größte Vorwurf, welcher gegenwärtig den deutschen Theatern zu machen ist.
Hat ein Theaterstück die Probe einer ersten Aufführung durchgemacht, so gab es bisher zwei Wege dasselbe an den Bühnen zu verbreiten. Der eine war, das Stück drucken zu lassen und an die einzelnen Theater zu versenden, der andere die Handschrift einem Agenten zum Vertrieb zu übergeben.
Jetzt vertritt die Genossenschaft dramatischer Autoren und Componisten zu Leipzig durch ihren Vorstand die Rechtsansprüche ihrer Mitglieder an deutsche Bühnen, sie besorgt den Vertrieb der dramatischen Werke zu Aufführungen, die Ueberwachung der Aufführungen, die Einziehung der Honorare und Tantièmen. Wer jetzt als junger Verfasser mit dem Theater zu thun hat, kann die Unterstützung durch die Genossenschaft gar nicht mehr entbehren, und es liegt deshalb in seinem Interesse, ein Mitglied derselben zu werden.
Aber außerdem ist einem jungen Schriftsteller auch wünschenswerth, zu den Theatern selbst, ihren Vorständen, ausgezeichneten Mitgliedern u. s. w. in unmittelbare Beziehung zu treten. Er lernt dadurch das Theaterleben, seine Forderungen und seine Bedürfnisse kennen. Deshalb schlägt er bei seinen ersten Stücken am besten einen Mittelweg ein. Ist sein Stück als Manuscript gedruckt (er wählt nicht zu kleine Lettern, damit die Augen der Souffleure nicht über ihn weinen), so übergibt er dasselbe für die große Mehrzahl der Bühnen der Direction seiner Genossenschaft, behält aber die Versendung und den Verkehr mit einigen Bühnen, von denen er besondere Förderung erwarten darf. Außerdem ist vortheilhaft, daß er einzelnen bedeutenden Darstellern der betreffenden Theater einen Abdruck seines Werkes sendet. Er bedarf der warmen Hingebung und des liebevollen Antheils der Schauspieler, es ist freundlich, daß auch er ihnen das Studium ihrer Rollen er [S. 314] leichtert. Die so eingeleitete Verbindung mit achtungswerthen Talenten der Bühne wird dem Schriftsteller nicht nur nützlich sein, sie kann ihm auch bedeutende Menschen, warme Bewunderer des Schönen, vielleicht fördernde und treue Freunde gewinnen. Dem deutschen Dramatiker thut der frische, anregende Umgang mit gebildeten Darstellern mehr noth als irgend etwas Anderes, denn am leichtesten erwirbt er durch ihn, was ihm gewöhnlich fehlt, genaue Kenntniß des Wirksamen auf der Bühne. Schon Lessing hat das erfahren.
Hat der Dichter dies alles gethan, so wird er bei günstigem Erfolge seines Stückes bald durch einen ziemlich umfangreichen Briefwechsel in die Geheimnisse des Theaterlebens eingeweiht werden.
Und zuletzt, wenn der junge Bühnendichter in solcher Art das Kind seiner Träume in die Welt geschickt hat, wird er hinreichend Gelegenheit haben, noch etwas Anderes an sich herauszubilden als Bühnenkenntniß. Es wird seine Pflicht sein, glänzende Erfolge zu ertragen, ohne übermüthig und eingebildet zu werden, und betrübende Niederlagen, ohne den Muth zu verlieren. Er wird viele Gelegenheit haben, sein Selbstgefühl zu prüfen und zu bilden, und wird auch in dem luftigen Reich der Bühne, gegenüber den Darstellern, den Tagesschriftstellern und den Zuschauern, noch etwas aus sich machen können, was mehr werth ist als ein gewandter und technisch gebildeter Dichter: einen festen Mann, der das Edle nicht nur in seinen Träumen empfindet, sondern auch durch sein eigenes Leben darzustellen redlich und unablässig bemüht sein soll.
Druck von
J. B. Hirschfeld
in Leipzig.
[1] Schon Aristoteles hat diesen ersten Fund des Dichters, das Herausbilden der poetischen Idee tiefsinnig erfaßt. Wenn er die Poesie der Geschichte als philosophischer und bedeutender gegenüberstellt, weil die Poesie das allen Menschen Gemeinsame darstelle, die Geschichte aber das Zufällige und Einzelne berichte, und weil die Geschichte vorführe, was geschehen ist, die Poesie, wie es hätte geschehen können, so werden wir Modernen, die wir von der Wucht und Größe der geschichtlichen Ideen durchdrungen sind, zwar die vergleichende Schätzung zweier grundverschiedenen Gebiete des Schaffens ablehnen, aber wir werden die Feinheit seiner Begriffsbestimmung zugeben. Gleich darauf deutet er den Vorgang des Idealisirens in einem oft mißverstandenen Satze an. Er sagt (Cap. 9, 4): „Jenes menschlich Gemeinsame der Poesie wird dadurch hervorgebracht, daß Reden und Handlungen der Charaktere als wahrscheinlich und nothwendig erscheinen, und dies gemein Menschliche arbeitet die Poesie aus dem rohen Stoff heraus, und sie (die Poesie) setzt den Personen die zweckmäßigen Namen auf,” — ὁυ στοχαζεται ἡ ποιησις ονοματα επιτιθεμενη — mag sie nun die in dem Stoff vorhandenen benutzen oder neue erfinden. Schon Aristoteles war nämlich der Ansicht, daß der Dichter beim Beginn seiner Arbeit wohl thue, sich zuvörderst den Stoff, der ihn angezogen hat, auch in einer von allen Zufälligkeiten entkleideten Formel gegenüber zu stellen, und er führt dies an einer andern Stelle (Cap. 17, 6. 7) weiter aus. „Die Iphigeneia und der Orestes des Dramas sind durchaus nicht mehr dieselben, wie in dem überlieferten Stoff. Es ist für den schaffenden Dichter zunächst fast zufällig, daß sie diese Namen behalten. Erst wenn der Dichter seine Handlungen und Charaktere aus dem Zufälligen, Wirklichen, einmal Geschehenen herausgehoben und an dessen Stelle einen gemeingiltigen Inhalt gesetzt hat, der uns als wahrscheinlich und nothwendig erscheint, erst dann soll er wieder Farbe und Ton, Namen und Nebenumstände aus dem rohen Stoff verwenden.” (Cap. 18, 7.) Deshalb ist auch möglich, daß Dramen, welche aus sehr verschiedenen Stoffkreisen genommen sind, im letzten Grunde denselben Inhalt — oder wie wir das ausdrücken, dieselbe poetische Idee — darstellen. Das ist der Sinn der angezogenen Stellen.
[2] Die wenigen technischen Ausdrücke verlangen vom Leser eine unbefangene Aufnahme. Mehre derselben haben auch im Tagesgebrauch seit den letzten hundert Jahren einige feinere Wandelungen der Bedeutung durchgemacht. Was hier Handlung heißt: der für das Drama bereits zugerichtete Stoff (bei Aristoteles Mythos, bei den Römern Fabula), das heißt bei Lessing noch zuweilen Fabel, während er den rohen Stoff, Praxis oder Pragma des Aristoteles, durch Handlung übersetzt. Aber auch Lessing gebraucht schon zuweilen das Wort Handlung besser, so wie es hier verwendet wird.
[3] Bekanntlich wird von Aristoteles die Einheit des Ortes gar nicht gefordert, über den ununterbrochenen Zusammenhang der Zeit nur gesagt, daß die Tragödie soviel als möglich versuche, ihre Handlung in einem Sonnenumlauf zusammenzufassen. — Es war bei den Griechen, wie sich schließen läßt, gerade die Genossenschaft des Sophokles, welche in der Ausübung ihrer Kunst das festhielt, was wir Einheit des Ortes und der Zeit nennen. Und mit gutem Grunde. Die gedrungene Handlung des Sophokles mit höchst regelmäßigem Aufbau bedarf überhaupt ein sehr kurzes Theilstück der Sage, so daß die zu Grunde liegende Begebenheit häufig in demselben kurzen Zeitraum weniger Stunden geschehen sein könnte, welchen die Darstellung in Anspruch nimmt. Wenn Sophokles vermied, die Scene zu wechseln, wie z. B. Aeschylos in den Eumeniden that, so hatte er noch eine besondere Ursache. Wir wissen, daß er auf Theatermalerei hielt, er hatte eine kunstvollere Ausschmückung des Hintergrundes eingeführt, und er bedurfte an seinem Theatertage für die vier Stücke zuverlässig vier große Decorationen, welche bei den riesenhaften Verhältnissen der Scene an der Akropolis ohnedies eine bedeutende Ausgabe veranlaßten. Ein Wechseln des ganzen Hintergrundes während der Aufführung war nicht statthaft, und das bloße Umstellen der Periakte — wenn diese überhaupt schon zur Zeit des Sophokles eingerichtet waren — blieb für das Herz eines antiken Regisseurs ebenso unvollkommene Einrichtung, wie bei uns ein Wechsel der Seitencoulissen ohne Veränderung des Hintergrundes wäre. — Weniger bekannt dürfte sein, daß gerade Shakespeare, der mit Ort und Zeit so frei umgeht, weil die feste Architektur seiner Bühne ihm ersparte oder leicht machte, den Wechsel scenisch anzudeuten, doch seine Stücke auf einem Theater darstellte, welches der schmucklose Nachkomme des attischen Prosceniums war. Dies Proscenium hatte sich allmählich durch kleine Aenderungen in das römische Theater, den Mysterienbau des Mittelalters und das Gerüst des Hans Sachs umgeformt. Dagegen hat dieselbe classische Periode des französischen Theaters, welche so steif und ängstlich die griechischen Ueberlieferungen wieder zu beleben versuchte, uns den tiefen Guckkastenbau unserer Bühne, der aus den Bedürfnissen des Ballets und der Oper entstanden war, hinterlassen.
[4] Die Einzelheiten der alten Novelle und was Shakespeare daran änderte, können hier übergangen werden.
[5] Es ist ein schlechtes Hilfsmittel unserer Regisseure, die schwächste dieser Gruppen, die Familie Attinghausen, dadurch unschädlich zu machen, daß man so viel als möglich in ihren Rollen streicht, und diese durch schwache Schauspieler noch mehr herabdrückt. Der Schaden wird dadurch nur auffälliger. Entweder führe man das Stück Schillers so auf, daß man die von ihm beabsichtigten Wirkungen möglichst vollständig zur Geltung bringt; in diesem Fall besetze man gerade die drei öden Rollen, Freiherr, Rudenz, Bertha, mit guten Kräften. Unsere Schauspieler können dem Dichter, der so viel für sie gethan hat, auch einmal ihren Dank zeigen. Oder man behandle den Tell, wie er am leichtesten auf unserer Bühne wirkt, dann streiche man die drei Rollen ganz, was mit sehr geringen Aenderungen möglich ist.
[6] Schon bei den Griechen hat das Wort Epeisodion eine kleine Geschichte. Es bezeichnete in der frühesten Zeit des Dramas die Ueberführung aus einem Chorgesang in den folgenden, also seit Einführung der Schauspieler zuerst die kurzen Reden, Botenscenen, Dialoge u. s. w., welche die Uebergänge und Motive für die neuen Stimmungen des Chors enthielten. Auch nach Erweiterung dieser recitirenden Theile blieb dem ausgebildeten Drama das Wort als alte Regiebezeichnung für jeden Theil des Dramas, der zwischen zwei Chorgesängen stand, es entspricht in dieser Bedeutung etwa unserem Akte, genauer unserer ausgeführten Scene. — In der Werkstatt der griechischen Dichter wurde es aber Bezeichnung derjenigen Theile der Handlung, welche der Dichter zur reicheren Gliederung, zur Belebung seines alten Mythenstoffes in freier Erfindung einfügte, z. B. in der Antigone jene Scene zwischen Antigone, Ismene und Kreon, in welcher die unschuldige Ismene sich für eine Mitschuldige der Schwester erklärt. Auch in dieser Bedeutung mochte das Epeisodion vielleicht den ganzen Raum zwischen zwei Chorgesängen füllen, in der Regel war es kürzer. Seine Stellen waren zumeist in der Steigerung, nur zuweilen in der Umkehr der Handlung, unserem zweiten und vierten Akt. — Da es in dieser Bedeutung kleine Stücke der Handlung bezeichnete, welche zwar aus den höchsten Lebensbedürfnissen des Dramas hervorgegangen sein konnten, aber für den Zusammenhang der Begebenheiten nicht unentbehrlich waren, und da seit Euripides die Dichter immer häufiger auf Effectscenen ausgingen, welche mit Idee und Handlung in lockerer Verbindung standen, so hing sich an das Wort allmählich die Nebenbedeutung einer unmotivirten und willkürlichen Einschaltung. In der Poetik ist das Wort in jeder der drei Bedeutungen gebraucht, z. B. Cap. XII , 5 ist es der Terminus des Regisseurs, Cap. XVII , 8–10 technischer Ausdruck des Dichters, Cap. X , 3 (der Ausgabe von G. Hermann) schielt es in der Nebenbedeutung.
[7] Durch diese Unregelmäßigkeit in Anordnung der Handlung, die zugleich wie ein Rückfall in die alten Gewohnheiten des englischen Volkstheaters aussieht, wird der Bau des Dramas gestört. Die durch Stoff und Idee gebotene Handlung war folgende: Erster Akt: Antonius bei Kleopatra und Trennung von ihr. Zweiter Akt: Versöhnung mit Cäsar und Wiederherstellung der Herrschermacht. Dritter Akt: Der Rückfall zur Aegypterin mit Höhenpunkt. Vierter Akt: Innerer Verderb, Flucht und letztes Ringen. Fünfter Akt: Katastrophe des Antonius und der Kleopatra. Aber die Abweichung Shakespeare's von dem regelmäßigen Bau hat einen tieferen Grund. Das innere Leben des verwüsteten Antonius hatte keinen großen Reichthum und bot dem Dichter in den Augenblicken der neuen Bethörung wenig Anziehendes. Seine Lieblingsgestalt in dem Drama aber, Kleopatra, in deren Ausführung er seine höchste Meisterschaft bewährt hatte, war kein Charakter, der zu großen dramatischen Bewegungen geeignet war, die verschiedenen Scenen dieser Frau voll Leidenschaftlichkeit ohne Leidenschaft gleichen glänzenden Variationen desselben Themas. Sie ist in ihrem Verhältniß zu Antonius gerade oft genug von den verschiedensten Seiten geschildert, um das reiche Bild einer dämonischen Kokette zu bieten. Die Rückkehr des Antonius gab dem Dichter auch in Beziehung auf sie keine neue Aufgabe. Dagegen war die Erhebung dieses Charakters in verzweifelter Lage, unter den Schrecken des Todes für ihn ein fesselnder Vorwurf, und insofern mit Recht, weil gerade darin eine höchst eigenartige Steigerung desselben gegeben werden konnte. So opferte Shakespeare diesen Scenen einen Theil der Handlung. Er warf die Momente des Höhenpunktes und der Umkehr zusammen, indem er sie in kleinen Scenen andeutete, und räumte der Katastrophe zwei Akte ein. Für die Gesammtwirkung des Stückes bleibt das ein Uebelstand. Wir verdanken ihm freilich die Todesscene Kleopatra's im Grabmale, von dem vielen Außerordentlichen, was Shakespeare geschaffen hat, vielleicht das Erstaunlichste. — Daß die Nebenfiguren Oktavian und seine Schwester gerade auf der Spitze der Handlung dem Dichter wichtiger wurden als seine Hauptperson, rührt wohl daher, daß dem bejahrten Dichter überhaupt der einzelne Mensch, sein Glück und Leiden klein geworden war vor einer ahnenden und ehrfurchtsvollen Betrachtung des geschichtlichen Weltgefüges.
[8] Die Scene ist aber durchaus nicht ganz wegzulassen, wie wohl geschieht. Auch die Kürzung muß den Gegensatz zu der ersteren, die befehlende Härte des Tyrannen, die lauernde Feindschaft der Mutter und die Täuschung Richards durch eine von ihm verachtete Frau hervorheben. Wollen unsere Regisseure nicht mehr dulden, so mögen sie etwa folgende Kürzung ertragen. Wenn man die Verse der Schlegel-Tieck'schen Ausgabe von den Worten Richards: „Bleibt, gnädige Frau, ich muß ein Wort Euch sagen,” bis zum Ende der Scene, den Worten Richards: „bringt meinen Liebeskuß, lebt wohl” mit fortlaufenden Ziffern von 1–238 bezeichnet, so bleiben folgende Verse stehen: 1–3, 7–9, 54, 59, 60, 97–101, 103, 104, 113, 114, 123–128, 131, 133, 143–160, 210–221, 223, 225–227, 236–238.
[9] Beide Fachausdrücke werden noch jetzt nicht immer richtig verstanden. Peripetie bezeichnet durchaus nicht den letzten Theil der Handlung vom Höhenpunkte abwärts, welcher bei Aristoteles Katabasis heißt, sondern es ist nur, was hier tragisches Moment genannt wird, eine einzelne Scenenwirkung, zuweilen nur Theil einer Scene. — Das Kapitel über die Anagnorisis aber, eins der lehrreichsten in der Poetik, weil es Einblick in die handwerksmäßige Methode der Dichterarbeit gewährt, schien gar einmal den Herausgebern unecht.
[10] Daß die Chöre in der Regel nicht flüchtig dahinrauschten und ein gutes Theil Zeit in Anspruch nahmen, können wir daraus schließen, daß bei Sophokles einigemal ein kurzer Chor die Zeit ausfüllt, welche der Schauspieler bedurfte, sich hinter der Scene umzukleiden und den Weg von seiner Thür bis zu dem Seiteneingang zu durchmessen, aus welchem er in der neuen Rolle auftreten mußte. Dreizehn Zeilen und zwei Strophen eines kleinen Chors genügen, um den Deuteragonisten, der als Iokaste durch seine Hinterthür abgegangen ist, umzukleiden und als Hirten von der Feldseite wieder auf die Bühne zu senden. Es war auf dem Theater der Akropolis kein kurzer Weg.
[11] Daß eine beliebte Reihenfolge der Uebergang aus dem Düsteren, Schrecklichen ins Hellere gewesen sei, möchten wir schon aus dem Umstand schließen, daß Antigone und Elektra erste Stücke des Tages waren. Bei der Antigone geht das nicht nur aus dem ersten Chorgesang hervor, dessen erste schöne Strophe ein Morgenlied ist, sondern auch aus der Beschaffenheit der Handlung, welche der großen Rolle des Pathosspielers nur die erste Hälfte des Stückes gibt und dadurch den Schwerpunkt des Dramas nach vorn legt. Es wäre bei dem schönsten Gedicht unrathsam gewesen, dem wenig geachteten dritten Schauspieler, der übrigens von Sophokles einigemal besonders bevorzugt wird, die für das Urtheil der Richter so wichtigen Schlußwirkungen des letzten Stückes zu überlassen. In der Elektra wird im Prolog ebenfalls die aufgehende Sonne und das bacchische Festkleid erwähnt. Ebenso scheint die schöne breit ausgeführte Situation im Prolog des Königs Oedipus und der Bau des Aias, dessen Schwerpunkt in der ersten Hälfte liegt und der deutlich die Morgenfrühe verräth, auf erste Stücke zu deuten. Die Trachinierinnen kämpften wahrscheinlich als Mittelstück, Oedipus auf Kolonos mit seinem großartigen Schluß und Philoktetes mit ausgezeichneter Pathosrolle und versöhnendem Ende als letzte. Die Vermuthungen, welche aus der technischen Beschaffenheit der Stücke hergeleitet werden, haben wenigstens mehr Wahrscheinlichkeit, als solche, welche aus einer Zusammenstellung der vorhandenen Dramen mit nicht erhaltenen hervorgehen.
[12] Sechs Stücke des Sophokles enthalten, wenn man die Reden und Gesänge des Chors abzieht, im Durchschnitt jedes ungefähr 1118 Verse. Nur Oedipus auf Kolonos ist länger. Rechnet man die Verszahl eines jeden der drei Schauspieler wieder im Durchschnitt als gleich groß, so geben die Tragödien des Tages mit Zurechnung eines Satyrspiels von der Länge des Kyklops (etwa 500 Verse für drei Solospieler) dem einzelnen Schauspieler die Gesammtzahl von 1300 Versen. Aber die Aufgabe des ersten Schauspielers wurde schon durch die angreifenden Pathosscenen und durch die Gesänge ungleich größer. Außerdem mußte ihm wohl auch mehr zugemuthet werden. Wenn man in den drei Stücken des Sophokles, in welchen der Held an einer von den Göttern auferlegten Krankheit leidet (Aias, Trachinierinnen, Philoktetes), die Partien des ersten Schauspielers zusammenzählt (Aias, Teukros; Lichas, Herakles; Philoktetes), so ergeben sich etwa 1440 Verse, also mit der Rolle eines Satyrspiels mehr als 1600 Verse, und zwar eine Anspannung durch etwa sechs verschiedene Rollen und durch etwa sechs Gesänge. — Daß Sophokles bei Zusammensetzung seiner Tetralogien auf die Erholungspausen seiner drei Schauspieler Rücksicht nehmen mußte, ist unzweifelhaft. Jede letzte Tragödie erforderte die stärkste Wirkung, sie wird also in der Regel dem ersten Schauspieler am meisten zugemuthet haben. Daß die Trachinierinnen kein drittes Stück waren, möchte man auch deshalb annehmen, weil darin der zweite Schauspieler die Hauptrolle hat.
[13] Die Rollenvertheilung unter die Schauspieler ist in den erhaltenen Stücken des Sophokles folgende, Protagonist, Deuteragonist, Tritagonist mit 1. 2. 3. bezeichnet:
König Oedipus. 1. Oedipus . 2. Priester. Iokaste. Hirte. Bote der Katastrophe. 3. Kreon. Teiresias. Bote.
Oedipus auf Kolonos. 1. Oedipus. Bote der Katastrophe. 2. Antigone. *Theseus (die Scene des Höhenpunktes). 3. Koloner. Ismene. Theseus (die übrigen Scenen). Kreon. Polyneikes.
Antigone. 1. Antigone. Teiresias. Bote der Katastrophe. 2. Ismene. Wächter. Hämon. *Eurydike. Diener. 3. Kreon.
Trachinierinnen. 1. *Dienerin. Lichas. Herakles. 2. Deianeira. Amme (als Bote der Katastrophe ). Greis. 3. Hyllos. Bote.
Aias. 1. Aias. Teukros. 2. Odysseus. Tekmessa. 3. Athene. Bote. Menelaos. Agamemnon.
Philoktetes. 1. Philoktetes. 2. Neoptolemos. 3. Odysseus. Kaufmann. Herakles.
Elektra. 1. Elektra. 2. Pfleger. Chrysothemis. Aegisthos. 3. Orestes. Klytämnestra.
Die mit * bezeichneten Rollen sind unsicher. Außer den drei Schauspielern hatte die attische Bühne allerdings mehre Nebenspieler für stumme Rollen, so in der Elektra den Pylades, in den Trachinierinnen die besonders ausgezeichnete Rolle der Iole, in der vielleicht Sophokles einen jungen Schauspieler, der ihm werth war, dem Volke vorführen wollte. Es ist wahrscheinlich, daß diese Nebenspieler zuweilen den Schauspielern kleine Nebenrollen abgenommen haben, z. B. die Eurydike in der Antigone, welche sehr kurz behandelt ist, die Dienerin des Prologs in den Trachinierinnen; wie hätten sie sonst ihre Stimme und Kraft versuchen können? Solche Aushilfe, die vielleicht doch einmal der Zuhörerschaft durch die Maske verdeckt blieb, wurde nicht als Mitspielen gerechnet. — Die Nebenspieler waren auch als Vertreter der drei Schauspieler auf der Bühne nöthig, wenn in einer Scene die Gegenwart einer Maske wünschenswerth war, der Schauspieler derselben aber zu derselben Zeit in einer andern Rolle auftreten mußte; dann figurirten die Nebenspieler in gleicher Kleidung und der betreffenden Maske, in der Regel ohne zu sprechen; zuweilen freilich mußten ihnen auch einzelne Zeilen gegeben werden; so wird die Ismene in der zweiten Hälfte des Oedipus auf Kolonos von einem Nebenspieler dargestellt, während der Schauspieler selbst den Theseus und Polyneikes spielt. Dieses Stück hat die Eigenthümlichkeit, daß wenigstens auf dem Höhenpunkt eine Scene des Theseus von dem Schauspieler der Antigone, dem zweiten, gegeben wird, während der dritte die übrigen Scenen dieser Partie besorgt; für eine einzelne Scene war diese Stellvertretung, wenn der Schauspieler Stimme u. s. w. dazu eingeübt hatte, ohne besondere Schwierigkeit. Es ist aber möglich, daß der Darsteller der Antigone auch die erste Theseusscene gab. Antigone ist nämlich in das Gebüsch des Hintergrundes gegangen, um den Vater zu bewachen, sie kann sehr wohl als Theseus wieder auftreten, während ein Statist in ihrer Maske ab und zu sichtbar wird. Wenn gerade in diesem Stück ein vierter Schauspieler durch namhafte Rolle eingegriffen hätte, würde uns doch wohl eine Nachricht von der damals noch auffallenden Neuerung geblieben sein.
[14] Auf unserer Bühne hat zwar jedes Stück einen ersten Helden, aber mehre Hauptrollen. Nicht häufig ist eine derselben umfangreicher als die des ersten Helden, z. B. die des Falstaff in Heinrich IV.
[15] Die Voraussetzungen der Trachinierinnen sind allerdings, was Deianeira selbst betrifft, ziemlich einfach, aber Herakles ist der erste Held und seine Vorbereitung zur Aufnahme unter die Götter war die große Schlagwirkung des Stückes.
[16] Es ist gerade bei Sophokles unmöglich, aus den erhaltenen Namen und Versen verlorener Stücke einen Schluß auf den Inhalt zu machen. Was man sich nach der Sage als Inhalt des Dramas denken möchte, mag oft nur Inhalt des Prologs sein.
Prolog: | Neoptolemos, Odysseus. | ||
Chor und Neoptolemos im Wechselgesang. | |||
Steigerung der Handlung | { | 1. Botenscene mit Erkennung | Philoktetes, Neoptolemos. |
2. Botenscene | Vorige, Kaufmann. | ||
3. Erkennungsscene (des Bogens) | Philoktetes, Neoptolemos. | ||
Chorgesang. | |||
Höhenpunkt, das tragische Moment | 1. Doppelpathosscene | Philoktetes, Neoptolemos. | |
2. Dialogscene | Vorige, Odysseus. | ||
Chor und Philoktetes im Wechselgesang. | |||
sinkende Handlung und Katastrophe | { | 1. Dialogscene. | Neoptolemos, Odysseus. |
2. Dialogscene. | Philoktetes, Neoptolemos, dazu Odysseus. | ||
3. Verkündigung und Schluß. | Philoktetes, Neoptolemos, Herakles. |
[18] Die Balkonscene gehört für unsere Bühne an das Ende des ersten Aktes, nicht in den zweiten, aber der erste Akt wird dadurch unverhältnißmäßig lang. Es ist ein Uebelstand, daß unsere Eintheilung der Stücke die Handlung Shakespeare's zuweilen da zerschneidet, wo ein rascher Fortgang oder eine sehr kurze Unterbrechung geboten sind.
[19] Es sei erlaubt, diesen Bau durch Linien anzudeuten.
1. Ein Drama, wie es nicht in Schiller's Plan lag. Idee: Ein treuloser Feldherr sucht das Heer zum Abfall von seinem Kriegsherrn zu verleiten, wird aber von seinen Soldaten verlassen und getötet.
a Erregendes Moment: Verlockung zum Verrath. b Steigerung: etwa Verhandlung mit den Feinden. c Höhenpunkt: scheinbarer Erfolg, etwa die listig erlangte Unterschrift der Generäle. d Umkehr: etwa das Gewissen des Heeres empört sich. e Katastrophe: Tod des Feldherrn.
2. Schiller's Wallenstein ohne die Piccolomini. Idee: ein Feldherr wird durch übergroße Macht, Intriguen der Gegner und sein eigenes stolzes Herz bis zum Verrath gegen seinen Kriegsherrn verleitet, er sucht das Heer u. s. w.
Darin a b c steigende Handlung bis zum Höhenpunkt: die inneren Kämpfe und Versuchungen, a Questenberg im Lager und Trennung vom Kaiser. b Prüfung der Generäle, Banketscene. c Höhenpunkt: die erste That des Verraths, z. B. die Verhandlungen mit Wrangel. c d Versuche, das Heer zu verführen. d Umkehr: das Gewissen der Soldaten empört sich. e Katastrophe: Tod Wallenstein's.
3. Das Doppeldrama. A die Piccolomini (durch Punkte bezeichnet). B Wallenstein's Tod (durch Linien bezeichnet).
a a die beiden erregenden Momente: a 1 die Generäle und Questenberg für das Gesammtstück, a 2 Max' und Thekla's Ankunft für die Piccolomini.
c c die beiden Höhenpunkte: c 1 Lösung des Max von Octavio, zugleich Katastrophe der Piccolomini. c 2 Wallenstein und Wrangel, zugleich Ausführung des erregenden Momentes von Wallenstein's Tod.
e e die beiden Schlußkatastrophen, e 1 der Liebenden und e 2 Wallenstein's. Ferner ist b , Liebesscene zwischen Max und Thekla, der Höhenpunkt der Piccolomini. f und g sind die aus Wallenstein's Tod eingeflochtenen Scenen: Audienz Questenberg's und Banket, der 2te und 4te Akt der Piccolomini. h , d und e 1 sind die aus den Piccolomini in Wallenstein's Tod geflochtenen Scenen: Octavio's Ränkespiel, Aufbruch des Max, Bericht seines Todes nebst Thekla's Flucht: der 2te, 3te und 4te Akt, d , die Kürassierscene, zugleich Höhenpunkt des zweiten Dramas.
[20] Bei dem Druck unserer Dramen werden jetzt häufig innerhalb der Akte nur diejenigen Scenen stark abgesetzt und mit Zahlen bezeichnet, bei denen ein Wechsel der Decorationen nöthig wird. Das Richtige aber wäre, die dramatischen Scenen innerhalb des Aktes der Reihe nach zu zählen und zu bezeichnen, und da, wo ein Wechsel der Decorationen zu bemerken ist, der laufenden Scenennummer das Wort „Verwandlung” und die Beschreibung der neuen Bühnenausstattung beizufügen.
[21] Der Akt ist zweitheilig. Der erste vorbereitende Theil enthält drei kurze dramatische Bestandtheile: den Eintritt des Max, die Vorlegung der gefälschten Urkunde durch die Intriganten, den Anschluß Buttler's an sie. Von da beginnt, ebenfalls durch Unterredung der Diener eingeleitet, der große Schluß. Die zechenden Generäle darf man nicht den ganzen Akt in dem Mittel- und Hintergrund der Bühne sehen, die Bühne zeigt besser ein Vorzimmer des Banketsaals durch Pfeiler und Hinterwand von diesem getrennt, so daß man die Gesellschaft bis zu ihrem Eintritt am Schluß nur undeutlich erblickt, und nur einzelne bequeme Rufe und Bewegungen der Gruppen aufnimmt. Schiller war im Wallenstein noch ein sorgloser Regisseur, von da ab that er mehr für die scenische Anordnung. Zu den Besonderheiten der scharfen Zeichnung in dieser schönen Scene gehört die theilnahmlose Versunkenheit des Max, — sie ist von Kleist im Prinz von Homburg wunderlicher wiederholt worden. Nicht durch Schweigen kennzeichnet Shakespeare die Träumenden, sondern durch zerstreute und tiefsinnige Reden.
[22] Es versteht sich, daß auch Emilia Galotti in der Tracht ihres Jahres (1772) aufgeführt werden muß. — Das Stück fordert noch eine Rücksicht bei der Darstellung. Vom dritten Akt darf der Vorhang in den Zwischenakten nicht mehr heruntergelassen werden, dieselben sind außerdem sehr kurz zu halten.
[23] Zwanzig unserer großen Bühnenstücke in Versen haben folgende Länge:
Carlos | 5471 | Verse, |
Maria Stuart | 3927 | „ |
Wallenstein's Tod | 3865 | „ |
Nathan | 3847 | „ |
Hamlet | 3715 | „ |
Richard III. | 3603 | „ |
Torquato Tasso | 3453 | „ |
Jungfrau v. Orleans | 3394 | „ |
Wilhelm Tell | 3286 | „ |
König Lear | 3255 | „ |
Othello | 3133 | „ |
Coriolan | 3124 | „ |
Romeo und Julia | 2979 | „ |
Braut von Messina | 2845 | „ |
Die Piccolomini | 2669 | „ |
Kaufmann v. Venedig | 2600 | „ |
Julius Cäsar | 2590 | „ |
Iphigenie | 2174 | „ |
Macbeth | 2116 | „ |
Prinz von Homburg | 1854 | „ |
Die Zahlen machen nicht den Anspruch unbedingter Genauigkeit, da die unvollendeten Verse abzuschätzen waren — sie sind durchschnittlich mitgezählt —, und da die Stellen in Prosa, welche bei Shakespeare bekanntlich umfangreich sind, nur eine ungefähre Schätzung erlauben. Die Dramen in Prosa: Emilia Galotti, Clavigo, Egmont, Kabale und Liebe, entsprechen unserer Bühnenzeit besser. Von den aufgezählten Dramen in Versen sind nur die drei letzten ohne jede Verkürzung aufzuführen, die ihnen aus anderen Gründen doch nicht ganz erlassen wird. Carlos, der über alles Maß hinausgeht, würde unverkürzt sechs Stunden in Anspruch nehmen.
Da „Wallenstein's Lager” — mit den Liederzeilen — 1105 schnell dahinschwebende Verse hat, so würden die drei Stücke des dramatischen Gedichtes Wallenstein zusammen 7639 Verse zählen und bei Aufführung an einem Tage ungefähr so viel Zeit fordern als das Oberammergauer Passionsspiel. Keine einzige der Hauptrollen ist so umfangreich, daß ihre Bewältigung an einem Tage dem Schauspieler Uebermäßiges zumuthet.
Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen gebräuchlich waren, wie:
Folgende Änderungen wurden vorgenommen: