Title : Deutsche Humoristen, 6. Band (von 8)
Author : E. T. A. Hoffmann
Bettina von Arnim
Adolph Bayersdorfer
Friedrich Theodor Fischer
Ludwig Thoma
Henry F. Urban
Release date : December 13, 2015 [eBook #50681]
Language : German
Credits
: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
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Hausbücherei
31
Hiervon erschien
das
1.–10. | Tausend 1908 |
11.–20. | Tausend 1910 |
21.–30. | Tausend 1914 |
31.–50. | Tausend 1916 |
51.–60. | Tausend 1919 |
Hausbücherei
der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
31. Band
Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
Humoristische Erzählungen
E. Th. A. Hoffmann A. Bayersdorfer
Bettina v. Arnim ▣ Henry F. Urban
Fr. Th. Vischer ▣ Ludwig Thoma
Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
Jeder Einzelband gebunden 3 Mark.
Band 1 : Friedr. Theodor Vischer : Humorist. Gedicht. Peter Rosegger : Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß. Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten. Wilhelm Raabe : Der Marsch nach Hause. Fritz Reuter : Woans ick tau 'ne Fru kamm. Albert Roderich : Nemesis. 71.–90. Tausend.
Band 2 : Clemens Brentano : Die mehreren Wehmüller oder ungarische Nationalgesichter. E. Th. A. Hoffmann : Die Königsbraut. Heinrich Zschokke : Die Nacht in Brczwezmcisl. 56.–65. Tausend.
Band 3 : Hans Hoffmann : Eistrug. Otto Ernst : Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben. Max Eyth : Der blinde Passagier. Helene Böhlau : Die Ratsmädel gehen einem Spuk zu Leibe. 56.–70. Tausend.
Band 4/5 (Doppelband): Humoristische Gedichte . Eine hervorragende Sammlung der schönsten heiteren Gedichte bis auf die neueste Zeit. 352 Seiten. 31.–40. Tausend.
Band 6 : E. Th. A. Hoffmann : Aus »Klein Zaches genannt Zinnober«. Bettina von Arnim : Die Reise nach Darmstadt. Fr. Th. Vischer : Die Tücke des Objekts. Ad. Bayersdorfer : Die militärpflichtige Tante. Henry F. Urban : Der Eishund. Ludwig Thoma : Besserung. 51.–60. Tausend.
Band 7 : Ottomar Enking : Das Kriegerfest in Wettorp. Anna Croissant-Rust : Der Herr Buchhalter. Wilhelm Schussen : Pilgrime. Rudolf Greinz : Das Hennendiandl. Sophus Bonde : Jochen Appelbaums Galion. Ludwig Thoma : Unser guater alter Herzog Karl is a Rindviech. Wilhelm Fischer-Graz : Die Rebenbäckerin. 31.–40. Tausend.
Band 8 : Julius Bierbaum : Der mutige Revierförster. Gorch Fock : Schalotte. Rudolf Presber : Die 74. Nacht. Wilhelm Schäfer : Béarnaise. Karl Schönherr : Die erste Beicht'. Ludwig Thoma : Kabale und Liebe. 1.–20. Tausend.
Seite | |
Vorbemerkungen zum 6. Bande der »Deutschen Humoristen« | 6 |
Vorwort | 7–9 |
E. Th. A. Hoffmann : Aus »Klein Zaches genannt Zinnober« | 10–63 |
Bettina von Arnim : Die Reise nach Darmstadt | 64–93 |
Fr. Th. Vischer : Die Tücke des Objekts | 94–118 |
Ad. Bayersdorfer : Die militärpflichtige Tante | 119–136 |
Henry F. Urban : Der Eishund | 137–149 |
Ludwig Thoma : Besserung | 150–160 |
Der Abschnitt »Die Tücke des Objekts« von Fr. Th. Vischer ist mit freundlicher Erlaubnis des Sohnes des Verfassers, Herrn Prof. Dr. R. Vischer, Göttingen, und der Verlagsbuchhandlung abgedruckt aus dem Roman »Auch Einer« (Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt).
Die Abdruckserlaubnis der Humoreske »Die militärpflichtige Tante« aus dem Bande »Heitere Jugendzeit« von Adolph Bayersdorfer ist der Witwe des Verfassers und der G. Müller-Mannschen Verlagsbuchhandlung in Leipzig zu verdanken.
Die Erzählung »Der Eishund« aus dem Bande »Aus dem Dollarlande« von Henry F. Urban ist von dem Verfasser freundlichst zur Verfügung gestellt worden (erschienen in der Concordia, Deutsche Verlags-Anstalt Hermann Ehbock, Berlin).
»Besserung« von Ludwig Thoma ist mit gütiger Erlaubnis des Verfassers und der Verlagsbuchhandlung den »Lausbubengeschichten« entnommen (Albert Langen, Verlag, München).
Aus der reichen Fülle des Humors im deutschen Schrifttum greift dieser neue Band der »Hausbücherei« der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung wieder ein paar der freundlichsten Blüten heraus. Das behagliche Lachen, die heitere, wolkenlose Laune ist in unsern arbeitsschweren Tagen ein seltener Gast geworden. Da sollen diese Bände der »Hausbücherei« mit ihrem sonnenhellen Humor, der aus dem Herzen kommt und ins Gemüt hinein seinen Weg sucht, ein wenig helfen und im Leser etwas aufleuchten lassen, das ihn warm macht in der Kälte des Lebens und in ihm das Begehren weckt, immer mehr zu lesen von dem, was deutsches, gutes Schrifttum ihm bietet. Denn wenn uns ein schöner Humor und eine freundliche Laune mit gutem Lächeln ins Gesicht geschaut und uns die Last des Tages von den Schultern genommen haben, dann sind wir besser gerüstet und empfänglicher für den Genuß des Schönen und Tiefen, als wenn unsere Stirn vom Alltag her noch in Falten liegt.
Dieser 6. Band »Deutscher Humoristen« bringt zunächst die köstlichsten Stellen aus E. Th. A. Hoffmanns [8] humorvoller Märchenerzählung »Klein Zaches genannt Zinnober«, mit der ergötzlichen Satire auf das Leben am Duodezhofe des Fürsten Barsanuph. Unsere moderne Zeit, in der die Freude an der Romantik wieder erwacht ist, bringt gerade diesem Dichter (1776–1822), in dem eine exzentrische Phantasie, ein Hang zum Dämonisch-Grausigen und ein kühner Humor sich vereinen, ein besonders lebhaftes Interesse entgegen.
Bettina von Arnim (1785–1859), Goethes junge Freundin, Clemens Brentanos Schwester und die Gattin Achim von Arnims, die das schönste Buch der Romantik »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« veröffentlichte, gehört mit ihrem ganzen Wesen zu den Romantikern. In ihrer kleinen Schilderung »Die Reise nach Darmstadt«, in der sie Goethes Mutter, die Frau Rat, reden läßt, zeigt sich auf das glücklichste ihr sprudelndes Erzählertalent, ihre beneidenswerte Gabe, die humorvollen Seiten der Dinge und Begebenheiten aufzufinden und mit sprühendem Temperament zu schildern.
Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), der hervorragende Ästhet und Kunstkritiker, besaß eine für einen Mann der Wissenschaft ganz eigenartige Begabung für Humor, die in vielen Aufzeichnungen und Einfällen, in zahlreichen humoristisch-satirischen Liedern, die er als Student unter dem Namen Philipp Ulrich Schartenmeyer herausgab, ganz besonders aber in seinem großen Roman [9] »Auch Einer« zu lebendigem Ausdruck kommt. Diesem Buch ist der in sich abgeschlossene Abschnitt »Die Tücke des Objekts« entnommen, in dem in grimmig-lustiger Laune die zahlreichen kleinen täglichen Widerwärtigkeiten geschildert werden, die uns das Leben oft zur Qual und zur Plage machen können.
Die folgenden drei Stücke sind humoristische Arbeiten neuerer Schriftsteller. Die beiden Erzählungen »Die militärpflichtige Tante« von Bayersdorfer (1842–1901) und »Der Eishund« von Henry F. Urban , der als deutscher Schriftsteller von Ruf in New York lebt, werden denen willkommen sein, die an launiger Erfindung und gemütvollem Humor ohne satirische Schärfe ihre Freude haben. Mit spitzerer Lanze tritt der Bayer Ludwig Thoma (geboren 1867) in die Schranke. Geistvoller Witz, zielsichere, nicht selten soziale Satire und ein übermütiger, bajuvarisch-derber Humor, der über alles Philisterliche der Welt ein herzhaftes Lachen anstimmt, mischen sich in diesem Schriftsteller, der mit seinen »Lausbubengeschichten« überall ein vergnügtes Gelächter geweckt hat. Die letzte Erzählung »Besserung« ist diesen köstlichen Bubengeschichten entnommen.
Gr.-Flottbek bei Hamburg.
Kurt Küchler.
Vorbemerkung des Herausgebers
Ein armes Bettel- und Bauernweib hat einen dreieinhalbjährigen Sohn, Klein Zaches genannt Zinnober, den häßlichsten Wechselbalg, den die Welt je geschaut und den man auf den ersten Blick für ein seltsam verknorpeltes Stückchen Holz hätte ansehen können. Das Stiftsfräulein von Rosenschön, in Wirklichkeit die gütige Fee Rosabelverde, erblickt das kleine Ungetüm am Wege und über so viel Jammer und Elend entsetzt, will sie dem Wechselbalg helfen, soweit es in ihrer Macht steht. »Sie glaubt, alles, was die Natur dem Kleinen stiefmütterlich versagt, dadurch zu ersetzen, wenn sie ihn mit der seltsamen geheimnisvollen Gabe beschenkte, vermöge der alles, was in seiner Gegenwart irgend ein anderer Vortreffliches denkt, spricht oder tut, auf seine Rechnung kommen, ja, daß er in der Gesellschaft wohlgebildeter, verständiger, geistreicher Personen auch für wohlgebildet, verständig und geistreich geachtet werden und überhaupt allemal für den vollkommensten der Gattung, mit der er im Konflikt, gelten muss.« Diesen Zauber legt die Fee in drei feuerglänzende Haare, die sich über den Scheitel des Wechselbalges ziehen. Und zum Schutze dieser wertvollen Haare, deren Entfernung den Zusammenbruch des Zaubers herbeiführt, verwandelt sie das von Natur struppige Haar des Kleinen in dichte Locken. Zur Stärkung des Zaubers aber frisiert die Fee das Haar des Wechselbalges jeden neunten Tag mit einem goldenen magischen Kamm.
So ausgerüstet zieht Klein Zaches nun in die Welt und nutzt den Zauber aus. Er kommt in das Haus Professor Mosch Terpins und an den kleinen Hof des Fürsten Barsanuph und gelangt dort auf die ergötzlichste Weise von der Welt zu den höchsten Ehren, bis der Student Balthasar, dessen Liebesglück Zinnober kraft seiner wundersamen Gabe bedroht, den Zauber bricht, und zwar mit Hilfe des Gelehrten Prosper Alpanus, der mächtiger in der Kunst der Magie ist, als die gütige Fee Rosabelverde.
Die nachstehenden Abschnitte schildern Zinnobers Glück und Ende in der Residenz und am Hofe des Fürsten Barsanuph.
Professor Mosch Terpins literarischer Tee. – Der junge Prinz.
Daß Balthasar vor lauter Unruhe, vor unbeschreiblichem süßen Bangen die ganze Nacht hindurch nicht schlafen konnte: was war natürlicher als das. Ganz erfüllt von dem Bilde der Geliebten, setzte er sich hin an den Tisch und schrieb eine ziemliche Anzahl artiger wohlklingender Verse nieder, die in einer mystischen Erzählung von der Liebe der Nachtigall zur Purpurrose seinen Zustand schilderten. Die wollt' er mitnehmen in Mosch Terpins literarischen Tee und damit losfahren auf Candidas unbewehrtes Herz, wenn und wie es nur möglich.
Fabian lächelte ein wenig, als er der Verabredung gemäß zur bestimmten Stunde kam, um seinen Freund Balthasar abzuholen, und ihn zierlicher geputzt fand, als er ihn jemals gesehen. Er hatte einen gezackten Kragen von den feinsten Brüsseler Kanten umgetan, sein kurzes Kleid mit geschlitzten Ärmeln war von gerissenem Sammt. [12] Und dazu trug er französische Stiefel mit hohen spitzen Absätzen und silbernen Fransen, einen englischen Hut von feinstem Castor und dänische Handschuhe. So war er ganz deutsch gekleidet, und der Anzug stand ihm über alle Maßen gut, zumal er sein Haar schön kräuseln lassen und das kleine Stutzbärtchen wohl aufgekämmt hatte.
Das Herz bebte dem Balthasar vor Entzücken, als in Mosch Terpins Hause Candida ihm entgegentrat, ganz in der Tracht der altdeutschen Jungfrau, freundlich, anmutig in Blick und Wort, im ganzen Wesen, wie man sie immer zu sehen gewohnt. »Mein holdseligstes Fräulein!« seufzte Balthasar aus dem Innersten auf, als Candida, die süße Candida selbst, eine Tasse dampfenden Tee ihm darbot. Candida schaute ihn aber an mit leuchtenden Augen und sprach: »Hier ist Rum und Maraschino, Zwieback und Pumpernickel, lieber Herr Balthasar! greifen Sie doch nur gefälligst zu nach Ihrem Belieben!« Statt aber auf Rum und Maraschino, Zwieback oder Pumpernickel zu schauen oder gar zuzugreifen, konnte der begeisterte Balthasar den Blick voll schmerzlicher Wehmut der innigsten Liebe nicht abwenden von der holden Jungfrau und rang nach Worten, die aus tiefster Seele aussprechen sollten, was er eben empfand. Da faßte ihn aber der Professor der Ästhetik, ein großer [13] baumstarker Mann, mit gewaltiger Faust von hinten, drehte ihn herum, daß er mehr Teewasser auf den Boden verschüttete, als eben schicklich, und rief mit donnernder Stimme: »Bester Lukas Kranach, saufen Sie nicht das schnöde Wasser, Sie verderben sich den deutschen Magen total – dort im andern Zimmer hat unser tapferer Mosch eine Batterie der schönsten Flaschen mit edlem Rheinwein aufgepflanzt, die wollen wir sofort spielen lassen!« – Er schleppte den unglücklichen Jüngling fort.
Doch aus dem Nebenzimmer trat ihnen der Professor Mosch Terpin entgegen, ein kleines sehr seltsames Männlein an der Hand führend und laut rufend: »Hier, meine Damen und Herren, stelle ich Ihnen einen mit den seltensten Eigenschaften hochbegabten Jüngling vor, dem es nicht schwer fallen wird, sich Ihr Wohlwollen, Ihre Achtung zu erwerben. Es ist der junge Herr Zinnober, der erst gestern auf unsere Universität gekommen, und die Rechte zu studieren gedenkt!« – Fabian und Balthasar erkannten auf den ersten Blick den kleinen wunderlichen Knirps, der vor dem Tore ihnen entgegengesprengt und vom Pferde gestürzt war.
»Soll ich,« sprach Fabian leise zu Balthasar, »soll ich denn noch das Alräunchen herausfordern auf Blasrohr oder Schusterpfriem? Anderer Waffen kann ich mich doch nicht bedienen wider diesen furchtbaren Gegner.«
»Schäme dich,« erwiderte Balthasar, »schäme dich, daß du den verwahrlosten Mann verspottest, der wie du hörst, die seltensten Eigenschaften besitzt, und so durch geistigen Wert das ersetzt, was die Natur ihm an körperlichen Vorzügen versagte.« Dann wandte er sich zum Kleinen und sprach: »Ich hoffe nicht, bester Herr Zinnober, daß Ihr gestriger Fall vom Pferde etwa schlimme Folgen gehabt haben wird?« Zinnober hob sich aber, indem er einen kleinen Stock, den er in der Hand trug, hinten unterstemmte, auf den Fußspitzen in die Höhe, so daß er dem Balthasar beinahe bis an den Gürtel reichte, warf den Kopf in den Nacken, schaute mit wildfunkelnden Augen herauf und sprach in seltsam schnarrendem Baßton: »Ich weiß nicht, was Sie wollen, wovon Sie sprechen, mein Herr! – Vom Pferde gefallen? – ich vom Pferde gefallen? – Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich der beste Reiter bin, den es geben kann, daß ich niemals vom Pferde falle, daß ich als Freiwilliger unter den Kürassieren den Feldzug mitgemacht und Offizieren und Gemeinen Unterricht gab im Reiten auf der Manège! – hm hm – vom Pferde fallen – ich vom Pferde fallen!« – Damit wollte er sich rasch umwenden, der Stock, auf den er sich stützte, glitt aber aus, und der Kleine torkelte um und um, dem Balthasar vor die Füße. Balthasar griff hinab [15] nach dem Kleinen, ihm aufzuhelfen, und berührte dabei unversehens sein Haupt. Da stieß der Kleine einen gellenden Schrei aus, daß es im ganzen Saale widerhallte und die Gäste erschrocken auffuhren von ihren Sitzen. Man umringte den Balthasar und fragte durcheinander, warum er denn um des Himmels willen so entsetzlich geschrieen. »Nehmen Sie es nicht übel, bester Herr Balthasar,« sprach der Professor Mosch Terpin, »aber das war ein etwas wunderlicher Spaß. Denn wahrscheinlich wollten Sie uns doch glauben machen, es trete hier jemand einer Katze auf den Schwanz!« »Katze – Katze – weg mit der Katze!« rief eine nervenschwache Dame und fiel sofort in Ohnmacht, und mit dem Geschrei: »Katze – Katze –« rannten ein paar alte Herren, die an derselben Idiosynkrasie litten, zur Türe hinaus.
Candida, die ihr ganzes Riechfläschchen auf die ohnmächtige Dame ausgegossen, sprach leise zu Balthasar: »Aber was richten Sie auch für Unheil an mit Ihrem häßlichen gellenden Miau, lieber Herr Balthasar!«
Dieser wußte gar nicht, wie ihm geschah. Glutrot im ganzen Gesicht vor Unwillen und Scham, vermochte er kein Wort herauszubringen, nicht zu sagen, daß es ja der kleine Herr Zinnober und nicht er gewesen, der so entsetzlich gemauzt.
Der Professor Mosch Terpin sah des Jünglings [16] schlimme Verlegenheit. Er nahte sich ihm freundlich und sprach: »Nun, nun, lieber Herr Balthasar, seien Sie doch nur ruhig. Ich habe wohl alles bemerkt. Sich zur Erde bückend, auf allen Vieren hüpfend, ahmten Sie den gemißhandelten grimmigen Kater herrlich nach. Ich liebe sonst sehr dergleichen naturhistorische Spiele, doch hier im literarischen Tee –« »Aber,« platzte Balthasar heraus, »aber vortrefflichster Herr Professor, ich war es ja nicht –« »Schon gut – schon gut,« fiel ihm der Professor in die Rede. Candida trat zu ihnen. »Tröste mir,« sprach der Professor zu dieser, »tröste mir doch den guten Balthasar, der ganz betreten ist über alles Unheil, was geschehen.«
Der gutmütigen Candida tat der arme Balthasar, der ganz verwirrt mit niedergesenktem Blick vor ihr stand, herzlich leid. Sie reichte ihm die Hand und lispelte mit anmutigem Lächeln: »Es sind aber auch recht komische Leute, die sich so entsetzlich vor Katzen fürchten.«
Balthasar drückte Candidas Hand mit Inbrunst an die Lippen. Candida ließ den seelenvollen Blick ihrer Himmelsaugen auf ihm ruhen. Er war verzückt in den höchsten Himmel und dachte nicht mehr an Zinnober und Katzengeschrei. – Der Tumult war vorüber, die Ruhe wieder hergestellt. Am Teetisch saß die nervenschwache Dame und genoß [17] mehreren Zwieback, den sie in Rum tunkte, versichernd, an dergleichen erlabe sich das von feindlicher Macht bedrohte Gemüt, und dem jähen Schreck folge sehnsüchtig Hoffen! –
Auch die beiden alten Herren, denen draußen wirklich ein flüchtiger Kater zwischen die Beine gelaufen, kehrten beruhigt zurück, und suchten, wie mehrere andere, den Spieltisch.
Balthasar, Fabian, der Professor der Ästhetik, mehrere junge Leute setzten sich zu den Frauen. Herr Zinnober hatte sich indessen eine Fußbank herangerückt und war mittelst derselben auf das Sofa gestiegen, wo er nun in der Mitte zwischen zwei Frauen saß und stolze funkelnde Blicke um sich warf.
Balthasar glaubte, daß der rechte Augenblick gekommen, mit seinem Gedicht von der Liebe der Nachtigall zur Purpurrose hervorzurücken. Er äußerte daher mit der gehörigen Verschämtheit, wie sie bei jungen Dichtern im Brauch ist, daß er, dürfe er nicht fürchten, Überdruß und Langeweile zu erregen, dürfe er auf gütige Nachsicht der verehrten Versammlung hoffen, es wagen wolle, ein Gedicht, das jüngste Erzeugnis seiner Muse, vorzulesen.
Da die Frauen schon hinlänglich über alles verhandelt, was sich neues in der Stadt zugetragen, da die Mädchen den letzten Ball bei dem Präsidenten gehörig durchgesprochen und sogar über die [18] Normalform der neuesten Hüte einig wurden, da die Männer unter zwei Stunden nicht auf weitere Speis und Tränkung rechnen durften: so wurde Balthasar einstimmig aufgefordert, der Gesellschaft ja den herrlichen Genuß nicht vorzuenthalten.
Balthasar zog das sauber geschriebene Manuskript hervor und las.
Sein eigenes Werk, das in der Tat aus wahrhaftem Dichtergemüt mit voller Kraft, mit regem Leben hervorgeströmt, begeisterte ihn mehr und mehr. Sein Vortrag, immer leidenschaftlicher steigend, verriet die innere Glut des liebenden Herzens. Er bebte vor Entzücken, als leise Seufzer – manches leise »Ach« – der Frauen, mancher Ausruf der Männer: »Herrlich – vortrefflich – göttlich!« ihn überzeugten, daß sein Gedicht alle hinriß.
Endlich hatte er geendet. Da riefen alle: »Welch ein Gedicht! – welche Gedanken – welche Phantasie – was für schöne Verse – welcher Wohlklang – Dank – Dank Ihnen, bester Herr Zinnober für den göttlichen Genuß« –
»Was? wie?« rief Balthasar; aber niemand achtete auf ihn, sondern alle stürzten auf Zinnober zu, der sich auf dem Sofa blähte wie ein kleiner Puter und mit widriger Stimme schnarrte: »Bitte recht sehr – bitte recht sehr – müssen so vorlieb nehmen! – ist eine Kleinigkeit, die ich erst vorige [19] Nacht aufschrieb in aller Eile!« – Aber der Professor der Ästhetik schrie: »Vortrefflicher – göttlicher Zinnober! – Herzensfreund, außer mir bist du der erste Dichter, den es jetzt gibt auf Erden! – Komm an meine Brust, schöne Seele!« – Damit riß er den Kleinen vom Sofa auf in die Höhe und herzte und küßte ihn. Zinnober betrug sich dabei sehr ungebärdig. Er arbeitete mit den kleinen Beinchen auf des Professors dickem Bauch herum und quäkte: »Laß mich los – laß mich los – es tut mir weh – weh – ich kratz' dir die Augen aus – ich beiß' dir die Nase entzwei!« – »Nein«, rief der Professor, indem er den Kleinen niedersetzte auf das Sofa, »nein, holder Freund, keine zu weit getriebene Bescheidenheit!« – Mosch Terpin war nun auch vom Spieltisch herangetreten, der nahm Zinnobers Händchen, drückte es und sprach sehr ernst: »Vortrefflich, junger Mann! – nicht zuviel, nein, nicht genug sprach man mir von dem hohen Genius, der Sie beseelt« – »Wer ist's«, rief nun wieder der Professor der Ästhetik in voller Begeisterung aus, »wer ist's von euch Jungfrauen, der dem herrlichen Zinnober sein Gedicht, das das innigste Gefühl der reinsten Liebe ausspricht, lohnt durch einen Kuß?«
Da stand Candida auf, nahete sich, voll Glut auf den Wangen, dem Kleinen, kniete nieder und küßte ihn auf den garstigen Mund mit blauen Lippen. [20] »Ja«, schrie nun Balthasar wie vom Wahnsinn plötzlich erfaßt, »ja Zinnober – göttlicher Zinnober, du hast das tiefsinnige Gedicht gemacht von der Nachtigall und der Purpurrose, dir gebührt der herrliche Lohn, den du erhalten!« –
Und damit riß er den Fabian ins Nebenzimmer hinein und sprach: »Tu mir den Gefallen und schaue mich recht fest an und dann sage mir offen und ehrlich, ob ich der Student Balthasar bin oder nicht, ob du wirklich Fabian bist, ob wir in Mosch Terpins Hause sind, ob wir im Traume liegen – ob wir närrisch sind – zupfe mich an der Nase oder rüttle mich zusammen, damit ich nur erwache aus diesem verfluchten Spuk!« –
»Wie magst«, erwiderte Fabian, »wie magst du dich denn nur so toll gebärden, aus purer Eifersucht, weil Candida den Kleinen küßte? Gestehen mußt du doch selbst, daß das Gedicht, welches der Kleine vorlas, in der Tat vortrefflich war.« – »Fabian«, rief Balthasar mit dem Ausdruck des tiefsten Erstaunens, »was sprichst du denn?« – »Nun ja«, fuhr Fabian fort, »nun ja, das Gedicht des Kleinen war vortrefflich und gegönnt hab' ich ihm Candidas Kuß. – Überhaupt scheint hinter dem seltsamen Männlein allerlei zu stecken, das mehr wert ist als eine schöne Gestalt. Aber was auch selbst seine Figur betrifft, so kommt er mir jetzt [21] nichts weniger als so abscheulich vor wie anfangs. Beim Ablesen des Gedichts verschönerte die innere Begeisterung seine Gesichtszüge, so daß er mir oft ein anmutiger wohlgewachsener Jüngling zu sein schien, ungeachtet er doch kaum über den Tisch hervorragte. Gib deine unnütze Eifersucht auf, befreunde dich als Dichter mit dem Dichter!«
»Was«, schrie Balthasar voll Zorn, »was? – noch befreunden mit dem verfluchten Wechselbalge, den ich erwürgen möchte mit diesen Fäusten?«
»So«, sprach Fabian, »so verschließest du dich denn aller Vernunft. Doch laß uns in den Saal zurückkehren, wo sich etwas Neues begeben muß, da ich laute Beifallsrufe vernehme.«
Mechanisch folgte Balthasar dem Freunde in den Saal.
Als sie eintraten, stand der Professor Mosch Terpin allein in der Mitte, die Instrumente noch in der Hand, womit er irgendein physikalisches Experiment gemacht, starres Staunen im Gesicht. Die ganze Gesellschaft hatte sich um den kleinen Zinnober gesammelt, der, den Stock untergestemmt, auf den Fußspitzen dastand und mit stolzem Blick den Beifall einnahm, der ihm von allen Seiten zuströmte. Man wandte sich wieder zum Professor, der ein anderes sehr artiges Kunststückchen machte. Kaum war er fertig, als wiederum alle den Kleinen [22] umringend riefen: »Herrlich – vortrefflich, lieber Herr Zinnober!« –
Endlich sprang auch Mosch Terpin zu dem Kleinen hin und rief zehnmal stärker als die übrigen: »Herrlich – vortrefflich, lieber Herr Zinnober!«
Es befand sich in der Gesellschaft der junge Fürst Gregor, der auf der Universität studierte. Der Fürst war von der anmutigsten Gestalt, die man nur sehen konnte, und dabei war sein Betragen so edel und ungezwungen, daß sich die hohe Abkunft, die Gewohnheit, sich in den vornehmsten Kreisen zu bewegen, darin deutlich aussprach.
Fürst Gregor war es nun, der gar nicht von Zinnober wich und ihn als den herrlichsten Dichter, den geschicktesten Physiker über alle Maßen lobte.
Seltsam war die Gruppe, die beide zusammenstehend bildeten. Gegen den herrlich gestalteten Gregor stach gar wunderlich das winzige Männlein ab, das mit hoch emporgereckter Nase sich kaum auf den dünnen Beinchen zu erhalten vermochte. Alle Blicke der Frauen waren hingerichtet, aber nicht auf den Fürsten, sondern auf den Kleinen, der, sich auf den Fußspitzen hebend, immer wieder hinabsank und so hinauf und hinunter wankte wie ein Cartesianisches Teufelchen.
Der Professor Mosch Terpin trat zu Balthasar und sprach: »Was sagen Sie zu meinem Schützling, [23] zu meinem lieben Zinnober? Viel steckt hinter dem Mann und nun ich ihn so recht anschaue, ahne ich wohl die eigentliche Bewandtnis, die es mit ihm haben mag. Der Prediger, der ihn erzogen und mir empfohlen hat, drückt sich über seine Abkunft sehr geheimnisvoll aus. Betrachten Sie aber nur den edlen Anstand, sein vornehmes ungezwungenes Betragen. Er ist gewiß von fürstlichem Geblüt, vielleicht gar ein Königssohn!« – In dem Augenblick wurde gemeldet, das Mahl sei angerichtet. Zinnober torkelte ungeschickt hin zur Candida, ergriff täppisch ihre Hand und führte sie nach dem Speisesaal.
In voller Wut rannte der unglückliche Balthasar durch die finstre Nacht, durch Sturmwind und Regen fort nach Hause.
Wie Fürst Barsanuph Leipziger Lerchen und Danziger Goldwasser frühstückte, einen Butterfleck auf die Kasimirhose bekam und den Geheimen Sekretär Zinnober zum Geheimen Spezialrat erhob.
Es ist nicht länger zu verhehlen, daß der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, bei dem Herr Zinnober als Geheimer Expedient angenommen, ein Abkömmling jenes Barons Prätextatus von Mondschein war, der den Stammbaum der Fee Rosabelverde in den Turnierbüchern und Chroniken vergebens suchte. Er hieß, wie sein Ahnherr, Prätextatus [24] von Mondschein, war von der feinsten Bildung, den angenehmsten Sitten, verwechselte niemals das Mich und Mir, das Ihnen und Sie, schrieb seinen Namen mit französischen Lettern, sowie überhaupt eine leserliche Hand, und arbeitete sogar zuweilen selbst, vorzüglich wenn das Wetter schlecht war. Fürst Barsanuph, ein Nachfolger des großen Paphnutz, liebte ihn zärtlich, denn er hatte auf jede Frage eine Antwort, spielte in den Erholungsstunden mit dem Fürsten Kegel, verstand sich herrlich aufs Geld-Negoz, und suchte in der Gavotte seinesgleichen.
Es begab sich, daß der Baron Prätextatus von Mondschein den Fürsten eingeladen hatte zum Frühstück auf Leipziger Lerchen und ein Gläschen Danziger Goldwasser. Als er nun hinkam in Mondscheins Haus, fand er im Vorsaal unter mehreren angenehmen diplomatischen Herren den kleinen Zinnober, der auf seinen Stock gestemmt ihn mit seinen Äugelein anfunkelte und ohne sich weiter an ihn zu kehren, eine gebratene Lerche ins Maul steckte, die er soeben vom Tische gemaust. Sowie der Fürst den Kleinen erblickte, lächelte er ihn gnädig an und sprach zum Minister: »Mondschein! was haben Sie da für einen kleinen, hübschen verständigen Mann in Ihrem Hause? – Es ist gewiß derselbe, der die wohl stilisierten und schön geschriebenen Berichte verfertigt, die ich seit einiger [25] Zeit von Ihnen erhalte?« – »Allerdings, gnädigster Herr«, erwiderte Mondschein. »Mir hat das Geschick ihn zugeführt als den geistreichsten, geschicktesten Arbeiter in meinem Büreau. Er nennt sich Zinnober, und ich empfehle den jungen herrlichen Mann ganz vorzüglich Ihrer Huld und Gnade, mein bester Fürst! – Erst seit wenigen Tagen ist er bei mir.« – »Und eben deshalb«, sprach ein junger hübscher Mann, der sich indessen genähert, »und eben deshalb hat, wie Ew. Exzellenz zu bemerken erlauben werden, mein junger kleiner Kollege noch gar nichts expediert. Die Berichte, die das Glück hatten, von Ihnen, mein durchlauchtigster Fürst, mit Wohlgefallen bemerkt zu werden, sind von mir verfaßt.« – »Was wollen Sie!« fuhr der Fürst ihn zornig an. – Zinnober hatte sich dicht an den Fürsten geschoben und schmatzte, die Lerche verzehrend, vor Gier und Appetit. – Der junge Mensch war es wirklich, der jene Berichte verfaßt, aber: »Was wollen Sie«, rief der Fürst, »Sie haben ja noch gar nicht die Feder angerührt? – Und daß Sie dicht bei mir gebratene Lerchen verzehren, so daß, wie ich zu meinem großen Ärger bemerken muß, meine neue Kasimirhose bereits einen Butterfleck bekommen, daß Sie dabei so unbillig schmatzen, ja! – alles das beweiset hinlänglich Ihre Untauglichkeit zu jeder diplomatischen Laufbahn! – Gehen [26] Sie fein nach Hause und lassen Sie sich nicht wieder vor mir sehen, es sei denn, Sie brächten mir eine nützliche Fleckkugel für meine Kasimirhose. – Vielleicht wird mir dann wieder gnädig zu Mute!« Dann zum Zinnober: »Solche Jünglinge, wie Sie, werter Zinnober, sind eine Zierde des Staats und verdienen ehrenvoll ausgezeichnet zu werden! – Sie sind Geheimer Spezialrat, mein Bester!« – »Danke schönstens«, schnarrte Zinnober, indem er den letzten Bissen hinunterschluckte, und sich das Maul wischte mit beiden Händchen, »danke schönstens, ich werd' das Ding schon machen, wie es mir zukommt.«
»Wackres Selbstvertrauen«, sprach der Fürst mit erhobener Stimme, »wackres Selbstvertrauen zeugt von der innern Kraft, die dem würdigen Staatsmann innewohnen muß!« Und auf diesen Spruch nahm der Fürst ein Schnäpschen Goldwasser, welches der Minister selbst ihm darreichte und das ihm sehr wohl bekam. – Der neue Rat mußte Platz nehmen zwischen dem Fürsten und Minister. Er verzehrte unglaublich viel Lerchen und trank Malaga und Goldwasser durcheinander und schnarrte und brummte zwischen den Zähnen, und hantierte, da er kaum mit der spitzen Nase über den Tisch reichen konnte, gewaltig mit den Händchen und Beinchen.
Als das Frühstück beendigt, riefen beide, der [27] Fürst und der Minister: »Es ist ein englischer Mensch, dieser Geheime Spezialrat!« –
Wie der Geheime Spezialrat Zinnober in seinem Garten frisiert wurde und im Grase ein Taubad nahm. – Der Orden des grüngefleckten Tigers. – Glücklicher Einfall eines Theaterschneiders.
Der Professor Mosch Terpin schwamm in lauter Wonne, »Konnte«, sprach er zu sich selbst, »konnte mir denn etwas Glücklicheres begegnen, als daß der vortreffliche Geheime Spezialrat in mein Haus kam als Studiosus? – Er heiratet meine Tochter – er wird mein Schwiegersohn, durch ihn erlange ich die Gunst des vortrefflichen Fürsten Barsanuph und steige nach auf der Leiter, die mein herrliches Zinnoberchen hinaufklimmt. – Wahr ist es, daß es mir oft selbst unbegreiflich vorkommt, wie das Mädchen, die Candida, so ganz und gar vernarrt sein kann in den Kleinen. Sonst sieht das Frauenzimmer wohl mehr auf ein hübsches Äußere, als auf besondere Geistesgaben, und schaue ich denn nun zuweilen das Spezialmännlein an, so ist es mir, als ob er nicht ganz hübsch zu nennen – sogar – bossu – still – ßt – ßt – die Wände haben Ohren. – Er ist des Fürsten Liebling, wird immer höher steigen – höher hinauf, und ist mein Schwiegersohn!« –
Mosch Terpin hatte recht, Candida äußerte die [28] entschiedenste Neigung für den Kleinen und sprach, gab hie und da einer, den Zinnobers seltsamer Spuk nicht berückt hatte, zu verstehen, daß der Geheime Spezialrat doch eigentlich ein fatales mißgestaltetes Ding sei, sogleich von den wunderschönen Haaren, womit ihn die Natur begabt.
Niemand lächelte aber, wenn Candida also sprach, hämischer, als der Referendarius Pulcher.
Dieser stellte dem Zinnober nach auf Schritten und Tritten, und hierin stand ihm getreulich der Geheime Sekretär Adrian bei, eben derselbe junge Mensch, den Zinnobers Zauber beinahe aus dem Büreau des Ministers verdrängt hätte, und der des Fürsten Gunst nur durch die vortreffliche Fleckkugel wieder gewann, die er ihm überreichte.
Der Geheime Spezialrat Zinnober bewohnte ein schönes Haus mit einem noch schöneren Garten, in dessen Mitte sich ein mit dichtem Gebüsch umgebener Platz befand, auf dem die herrlichsten Rosen blühten. Man hatte bemerkt, daß allemal den neunten Tag Zinnober bei Tagesanbruch leise aufstand, sich, so sauer es ihm werden mochte, ohne alle Hilfe des Bedienten ankleidete, in den Garten hinabstieg und in den Gebüschen verschwand, die jenen Platz umgaben.
Pulcher und Adrian, irgend ein Geheimnis ahnend, wagten es in einer Nacht, als Zinnober, [29] wie sie von seinem Kammerdiener erfahren, vor neun Tagen jenen Platz besucht hatte, die Gartenmauer zu übersteigen und sich in den Gebüschen zu verbergen.
Kaum war der Morgen angebrochen, als sie den Kleinen daherwandeln sahen, schnupfend und prustend, weil ihm, da er mitten durch ein Blumenbeet ging, die tauigten Halme und Stauden um die Nase schlugen.
Als er auf den Rasenplatz bei den Rosen angekommen, ging ein süßtönendes Wehen durch die Büsche, und durchdringender wurde der Rosenduft. Eine schöne verschleierte Frau mit Flügeln an den Schultern schwebte herab, setzte sich auf den zierlichen Stuhl, der mitten unter den Rosenbüschen stand, nahm mit den leisen Worten: »Komm, mein liebes Kind,« den kleinen Zinnober und kämmte ihm mit einem goldnen Kamm sein langes Haar, das den Rücken hinabwallte. Das schien dem Kleinen sehr wohlzutun, denn er blinzelte mit den Äugelein und streckte die Beinchen lang aus, und knurrte und murrte beinahe wie ein Kater. Das hatte wohl fünf Minuten gedauert, da strich noch einmal die zauberische Frau mit einem Finger dem Kleinen die Scheitel entlang, und Pulcher und Adrian gewahrten einen schmalen, feuerfarb glänzenden Streif auf dem Haupte Zinnobers. Nun sprach die Frau: »Lebe wohl, mein süßes Kind! – Sei klug, sei klug, so wie du kannst!« – Der Kleine sprach: »Adieu, [30] Mütterchen, klug bin ich genug, du brauchst mir das gar nicht so oft zu wiederholen.«
Die Frau erhob sich langsam und verschwand in den Lüften. –
Pulcher und Adrian waren starr vor Erstaunen. Als nun aber Zinnober davonschreiten wollte, sprang der Referendarius hervor und rief laut: »Guten Morgen, Herr Geheimer Spezialrat! Ei, wie schön haben Sie sich frisieren lassen« Zinnober schaute sich um und wollte, als er den Referendarius erblickte, schnell davonrennen. Ungeschickt und schwächlich auf den Beinen, wie er nun aber war, stolperte er und fiel in das hohe Gras, das die Halme über ihn zusammenschlug und er lag im Taubade. Pulcher sprang hinzu und half ihm auf die Beine, aber Zinnober schnarrte ihn an: »Herr, wie kommen Sie hier in meinen Garten! scheren Sie sich zum Teufel!« Und damit hüpfte und rannte er, so rasch er nur vermochte, hinein ins Haus.
Pulcher schrieb dem Balthasar diese wunderbare Begebenheit und versprach, seine Aufmerksamkeit auf das kleine zauberische Ungetüm zu verdoppeln. Zinnober schien über das, was ihm widerfahren, trostlos. Er ließ sich zu Bette bringen und stöhnte und ächzte so, daß die Kunde, wie er plötzlich erkrankt, bald zum Minister Mondschein, zum Fürsten Barsanuph gelangte.
Fürst Barsanuph schickte sogleich seinen Leibarzt zu dem kleinen Liebling.
»Mein vortrefflichster Geheimer Spezialrat«, sprach der Leibarzt, als er den Puls befühlt, »Sie opfern sich auf für den Staat. Angestrengte Arbeit hat Sie aufs Krankenbett geworfen, anhaltendes Denken Ihnen das unsägliche Leiden verursacht, das Sie empfinden müssen. Sie sehen im Antlitz sehr blaß und eingefallen aus, aber Ihr wertes Haupt glüht schrecklich! – Ei, ei! – doch keine Gehirnentzündung? Sollte das Wohl des Staates dergleichen hervorgebracht haben? Kaum möglich! – Erlauben Sie doch!«
Der Leibarzt mochte wohl denselben roten Streif auf Zinnobers Haupte gewahren, den Pulcher und Adrian entdeckt hatten. Er wollte, nachdem er einige magnetische Striche aus der Ferne versucht, den Kranken auch verschiedentlich angehaucht, worüber dieser merklich mauzte und quinkelierte, nun mit der Hand hinfahren über das Haupt, und berührte dasselbe unversehens. Da sprang Zinnober schäumend vor Wut in die Höhe und gab mit seinem kleinen Knochenhändchen dem Leibarzt, der sich gerade ganz über ihn hingebeugt, eine solche derbe Ohrfeige, daß es im ganzen Zimmer widerhallte.
»Was wollen Sie«, schrie Zinnober, »was wollen Sie von mir, was krabbeln Sie mir herum auf [32] meinem Kopfe! Ich bin gar nicht krank, ich bin gesund, ganz gesund, werde gleich aufstehen und zum Minister fahren in die Konferenz; scheren Sie sich fort!« –
Der Leibarzt eilte ganz erschrocken von dannen. Als er aber dem Fürsten Barsanuph erzählte, wie es ihm ergangen, rief dieser entzückt aus: »Was für ein Eifer für den Dienst des Staats! – welche Würde, welche Hoheit im Betragen! – welch ein Mensch, dieser Zinnober!«
»Mein bester Geheimer Spezialrat,« sprach der Minister Prätextatus von Mondschein zu dem kleinen Zinnober, »wie herrlich ist es, daß Sie Ihrer Krankheit nicht achtend in die Konferenz kommen. Ich habe in der wichtigen Angelegenheit mit dem Kakatukker Hofe eine Memoire entworfen – selbst entworfen, und bitte, daß Sie es dem Fürsten vortragen, denn Ihr geistreicher Vortrag hebt das Ganze, für dessen Verfasser mich dann der Fürst anerkennen soll.« – Das Memoire, womit Prätextatus glänzen wollte, hatte aber niemand anders verfaßt, als Adrian.
Der Minister begab sich mit dem Kleinen zum Fürsten. – Zinnober zog das Memoire, das ihm der Minister gegeben, aus der Tasche, und fing an zu lesen. Da es damit aber nun gar nicht recht gehen wollte und er nur lauter unverständliches [33] Zeug murrte und schnurrte, nahm ihm der Minister das Papier aus den Händen und las selbst.
Der Fürst schien ganz entzückt, er gab seinen Beifall zu erkennen, ein Mal über das andere rufend: »Schön – gut gesagt – herrlich – treffend!« –
Sowie der Minister geendet, schritt der Fürst geradezu los auf den kleinen Zinnober, hob ihn in die Höhe, drückte ihn an seine Brust, gerade dahin, wo ihm (dem Fürsten) der große Stern des grüngefleckten Tigers saß und stammelte und schluchzte, während ihm häufige Tränen aus den Augen flossen: »Nein! – solch ein Mann – solch ein Talent! – solcher Eifer – solche Liebe – es ist zu viel – zu viel!« – Dann gefaßter: »Zinnober! – ich erhebe Sie hiermit zu meinem Minister! – Bleiben Sie dem Vaterlande hold und treu, bleiben Sie ein wackrer Diener der Barsanuphe, von denen Sie geehrt – geliebt werden.« Und nun sich mit verdrießlichem Blick zum Minister wendend: »Ich bemerke, lieber Baron von Mondschein, daß seit einiger Zeit Ihre Kräfte nachlassen. Ruhe auf Ihren Gütern wird Ihnen heilbringend sein! – Leben Sie wohl!« –
Der Minister von Mondschein entfernte sich, unverständliche Worte zwischen den Zähnen murmelnd und funkelnde Blicke werfend auf Zinnober, der sich, [34] nach seiner Art sein Stöckchen in den Rücken gestemmt, auf den Fußspitzen hoch in die Höhe hob und stolz und keck umherblickte.
»Ich muss,« sprach nun der Fürst, »ich muß Sie, mein lieber Zinnober, gleich Ihrem hohen Verdienst gemäß auszeichnen; empfangen Sie daher aus meinen Händen den Orden des grüngefleckten Tigers!«
Der Fürst wollte ihm nun das Ordensband, das er sich in der Schnelligkeit von dem Kammerdiener reichen lassen, umhängen; aber Zinnobers mißgestalteter Körperbau bewirkte, daß das Band durchaus nicht normalmäßig sitzen wollte, indem es sich bald ungebührlich heraufschob, bald ebenso hinabschlotterte.
Der Fürst war in dieser sowie in jeder andern solchen Sache, die das eigentlichste Wohl des Staats betraf, sehr genau. Zwischen dem Hüftknochen und dem Steißbein, in schräger Richtung drei Sechzehnteil Zoll aufwärts vom letztern, mußte das am Bande befindliche Ordenszeichen des grüngefleckten Tigers sitzen. Das war nicht herauszubringen. Der Kammerdiener, drei Pagen, der Fürst legten Hand an, alles Mühen blieb vergebens. Das verräterische Band rutschte hin und her, und Zinnober begann unmutig zu quäken: »Was hantieren Sie doch so schrecklich an meinem Leibe herum, lassen [35] Sie doch das dumme Ding hängen, wie es will, Minister bin ich doch nun einmal und bleib' es!« –
»Wofür,« sprach nun der Fürst zornig, »wofür habe ich denn Ordensräte, wenn rücksichts der Bänder solche tolle Einrichtungen existieren, die ganz meinem Willen entgegenlaufen? – Geduld, mein lieber Minister Zinnober! bald soll das anders werden!«
Auf Befehl des Fürsten mußte sich nun der Ordensrat versammeln, dem noch zwei Philosophen, sowie ein Naturforscher, der eben vom Nordpol kommend durchreiste, beigesellt wurden, um über die Frage, wie auf die geschickteste Weise dem Minister Zinnober das Band des grüngefleckten Tigers anzubringen, zu beratschlagen. Um für diese wichtige Beratung gehörige Kräfte zu sammeln, wurde sämtlichen Mitgliedern aufgegeben, acht Tage vorher nicht zu denken; um dies besser ausführen zu können und doch tätig zu bleiben im Dienste des Staats, aber sich indessen mit dem Rechnungswesen zu beschäftigen. Die Straßen vor dem Palast, wo die Ordensräte, Philosophen und Naturforscher ihre Sitzung halten sollten, wurden mit dickem Stroh belegt, damit das Gerassel der Wagen die weisen Männer nicht störe, und ebendaher durfte auch nicht getrommelt, Musik gemacht, ja nicht einmal laut gesprochen werden in der Nähe des Palastes. Im Palast selbst tappte alles auf [36] dicken Filzschuhen umher, und man verständigte sich durch Zeichen.
Sieben Tage hindurch vom frühesten Morgen bis in den späten Abend hatten die Sitzungen gedauert, und noch war an keinen Beschluß zu denken.
Der Fürst, ganz ungeduldig, schickte einmal über das andere hin und ließ ihnen sagen, es solle in des Teufels Namen ihnen doch endlich etwas Gescheutes einfallen. Das half aber ganz und gar nichts.
Der Naturforscher hatte soviel als möglich Zinnobers Natur erforscht, Höhe und Breite seines Rücken-Auswuchses genommen und die genaueste Berechnung darüber dem Ordensrat eingereicht. Er war es auch, der endlich vorschlug, ob man nicht den Theaterschneider bei der Beratung zuziehen wolle.
So seltsam dieser Vorschlag erscheinen mochte, wurde er doch in der Angst und Not, in der sich alle befanden, einstimmig angenommen.
Der Theaterschneider Herr Kees war ein überaus gewandter, pfiffiger Mann. Sowie ihm der schwierige Fall vorgetragen worden, sowie er die Berechnungen des Naturforschers durchgesehen, war er mit dem herrlichsten Mittel, wie das Ordensband zum normalmäßen Sitzen gebracht werden könne, bei der Hand.
An Brust und Rücken sollten nämlich eine gewisse Anzahl Knöpfe angebracht und das Ordensband [37] daran geknöpft werden. Der Versuch gelang über die Maßen wohl.
Der Fürst war entzückt und billigte den Vorschlag des Ordensrates, den Orden des grüngefleckten Tigers nunmehro in verschiedene Klassen zu teilen, nach der Anzahl der Knöpfe, womit er gegeben wurde. Z. B. Orden des grüngefleckten Tigers mit zwei Knöpfen – mit drei Knöpfen usw. Der Minister Zinnober erhielt als ganz besondere Auszeichnung, die sonst kein anderer erlangen könne, den Orden mit zwanzig brillantierten Knöpfen, denn gerade zwanzig Knöpfe erforderte die wunderliche Form seines Körpers.
Der Schneider Kees erhielt den Orden des grüngefleckten Tigers mit zwei goldnen Knöpfen, und wurde, da der Fürst ihn seines glücklichen Einfalls ungeachtet für einen schlechten Schneider hielt und sich daher nicht von ihm kleiden lassen wollte, zum Wirklichen Geheimen Groß-Kostümierer des Fürsten ernannt. –
Wie Fürst Barsanuph hinter den Kaminschirm trat und den Generaldirektor der natürlichen Angelegenheiten kassierte. – Zinnobers Flucht aus Mosch Terpins Hause.
In dem mit hundert Kerzen erleuchteten Saal stand der kleine Zinnober im scharlachroten gestickten Kleide, den großen Orden des grüngefleckten Tigers [38] mit zwanzig Knöpfen umgetan, Degen an der Seite, Federhut unterm Arm. Neben ihm die holde Candida bräutlich geschmückt, in aller Anmut und Jugend strahlend. Zinnober hatte ihre Hand gefaßt, die er zuweilen an den Mund drückte und dabei recht widrig grinste und lächelte. Und jedesmal überflog dann ein höheres Rot Candidas Wangen, und sie blickte den Kleinen an mit dem Ausdruck der innigsten Liebe. Das war denn wohl recht graulich anzusehen, und nur die Verblendung, in die Zinnobers Zauber alle versetzte, war schuld daran, daß man nicht, ergrimmt über Candidas heillose Verstrickung, den kleinen Hexenkerl packte und ins Kaminfeuer warf. Rings um das Paar im Kreise in ehrerbietiger Entfernung hatte sich die Gesellschaft gesammelt. Nur Fürst Barsanuph stand neben Candida und mühte sich, bedeutungsvolle gnädige Blicke umher zu werfen, auf die indessen niemand sonderlich achtete. Alles hatte nur Auge für das Brautpaar und hing an Zinnobers Lippen, der hin und wieder einige unverständliche Worte schnurrte, denen jedesmal ein leises Ach! der höchsten Bewunderung, das die Gesellschaft ausstieß, folgte.
Es war an dem, daß die Verlobungsringe gewechselt werden sollten. Mosch Terpin trat in den Kreis mit einem Präsentierteller, auf dem die Ringe funkelten. Er räusperte sich – Zinnober hob sich [39] auf den Fußspitzen so hoch als möglich, beinahe reichte er der Braut an den Ellbogen. – Alles stand in der gespanntesten Erwartung – da lassen sich plötzlich fremde Stimmen hören, die Türe des Saales springt auf, Balthasar dringt ein, mit ihm Pulcher – Fabian! – Sie brechen durch den Kreis – »Was ist das, was wollen die Fremden?« ruft alles durcheinander. –
Fürst Barsanuph schreit entsetzt: »Aufruhr – Rebellion – Wache!« und springt hinter den Kaminschirm. – Mosch Terpin erkennt den Balthasar, der dicht bis zum Zinnober vorgedrungen, und ruft: »Herr Studiosus! – Sind Sie rasend – sind Sie von Sinnen? – wie können Sie sich unterstehen, hier einzudringen in die Verlobung! – Leute – Gesellschaft – Bediente, werft den Grobian zur Türe hinaus!« –
Aber ohne sich nur im mindesten an irgend etwas zu kehren, hat Balthasar schon eine Lorgnette hervorgezogen und richtet durch dieselbe den festen Blick auf Zinnobers Haupt. Wie vom elektrischen Strahl getroffen, stößt Zinnober ein gellendes Katzengeschrei aus, daß der ganze Saal widerhallt. Candida fällt ohnmächtig auf einen Stuhl; der eng geschlossene Kreis der Gesellschaft stäubt auseinander. – Klar vor Balthasars Augen liegt der feuerfarbglänzende Haarstreif, er springt zu auf Zinnober [40] – faßt ihn, der strampelt mit den Beinchen und sträubt sich und kratzt und beißt.
»Angepackt – angepackt!« ruft Balthasar; da fassen Fabian und Pulcher den Kleinen, daß er sich nicht zu regen und zu bewegen vermag, und Balthasar faßt sicher und behutsam die roten Haare, reißt sie mit einem Ruck vom Haupte herab, springt an den Kamin, wirft sie ins Feuer, sie prasseln auf, es geschieht ein betäubender Schlag, alle erwachen wie aus dem Traum. – Da steht der kleine Zinnober, der sich mühsam aufgerafft von der Erde, und schimpft und schmäht und befiehlt, man solle die frechen Ruhestörer, die sich an der geheiligten Person des ersten Ministers im Staate vergriffen, sogleich packen und ins tiefste Gefängnis werfen! Aber einer fragt den andern: »Wo kommt denn mit einem Mal der kleine purzelbäumige Kerl her? – Was will das kleine Ungetüm?« – Und wie der Däumling immerfort tobt und mit den Füßchen den Boden stampft und immer dazwischen ruft: »Ich bin der Minister Zinnober – ich bin der Minister Zinnober – der grüngefleckte Tiger mit zwanzig Knöpfen!« da bricht alles in ein tolles Gelächter aus. Man umringt den Kleinen, die Männer heben ihn auf und werfen sich ihn zu wie einen Fangball; ein Ordensknopf nach dem andern springt ihm vom Leibe – er verliert den Hut – [41] den Degen, die Schuhe. – Fürst Barsanuph kommt hinter dem Kaminschirm hervor und tritt hinein mitten in den Tumult. Da kreischt der Kleine: »Fürst Barsanuph – Durchlaucht – retten Sie Ihren Minister – Ihren Liebling! – Hilfe – Hilfe – der Staat ist in Gefahr – der grüngefleckte Tiger – Weh – weh!« – Der Fürst wirft einen grimmigen Blick auf den Kleinen und schreitet dann rasch vorwärts nach der Türe. Mosch Terpin kommt ihm in den Weg, den faßt er, zieht ihn in die Ecke und spricht mit zornfunkelnden Augen: »Sie erdreisten sich, Ihrem Fürsten, Ihrem Landesvater hier eine dumme Komödie vorspielen zu wollen? – Sie laden mich ein zur Verlobung Ihrer Tochter mit meinem würdigen Minister Zinnober, und statt meines Ministers finde ich hier eine abscheuliche Mißgeburt, die Sie in glänzende Kleider gesteckt? – Herr, wissen Sie, daß das ein landesverräterischer Spaß ist, den ich strenge ahnden würde, wenn Sie nicht ein ganz alberner Mensch wären, der ins Tollhaus gehört? – Ich entsetze Sie des Amts als Generaldirektor der natürlichen Angelegenheiten und verbitte mir alles weitere Studieren in meinem Keller! – Adieu!«
Damit stürmte er fort.
Aber Mosch Terpin stürzte zitternd vor Wut los auf den Kleinen, faßte ihn bei den langen struppigen [42] Haaren und rannte mit ihm hin nach dem Fenster: »Hinunter mit dir«, schrie er, »hinunter mit dir, schändliche heillose Mißgeburt, die mich so schmachvoll hintergangen, mich um alles Glück des Lebens gebracht hat!«
Er wollte den Kleinen hinabstürzen durch das geöffnete Fenster, doch der Aufseher des zoologischen Kabinetts, der auch zugegen, sprang mit Blitzesschnelle hinzu, faßte den Kleinen und entriß ihn Mosch Terpins Fäusten. »Halten Sie ein,« sprach der Aufseher, »halten Sie ein, Herr Professor, vergreifen Sie sich nicht an fürstlichem Eigentum. Es ist keine Mißgeburt, es ist der Mycetes Belzebub , Simia Belzebub , der dem Museo entlaufen.« » Simia Belzebub – Simia Belzebub! « ertönte es von allen Seiten unter schallendem Gelächter. Doch kaum hatte der Aufseher den Kleinen auf den Arm genommen und ihn recht angesehen, als er unmutig ausrief: »Was sehe ich! – das ist ja nicht Simia Belzebub , das ist ja ein schnöder häßlicher Wurzelmann! Pfui! – pfui!«
Und damit warf er den Kleinen in die Mitte des Saals. Unter dem lauten Hohngelächter der Gesellschaft rannte der Kleine quiekend und knurrend durch die Türe fort – die Treppe hinab – fort, fort nach seinem Hause, ohne daß ihn ein einziger von seinen Dienern bemerkt.
Währenddessen, daß sich dies alles im Saale begab, hatte sich Balthasar in das Kabinett entfernt, [43] wo man, wie er wahrgenommen, die ohnmächtige Candida hingebracht. Er warf sich ihr zu Füßen, drückte ihre Hände an seine Lippen, nannte sie mit den süßesten Namen. Sie erwachte endlich mit einem tiefen Seufzer, und als sie den Balthasar erblickte, da rief sie voll Entzücken: »Bist du endlich – endlich da, mein geliebter Balthasar! Ach, ich bin ja beinahe vergangen vor Sehnsucht und Liebesschmerz! und immer erklangen mir die Töne der Nachtigall, von denen berührt der Purpurrose das Herzblut entquillt!« –
Nun erzählte sie, alles, alles um sich her vergessend, wie ein böser abscheulicher Traum sie verstrickt, wie es ihr vorgekommen, als habe sich ein häßlicher Unhold an ihr Herz gelegt, dem sie ihre Liebe schenken müssen, weil sie nicht anders gekonnt. Der Unhold habe sich zu verstellen gewußt, daß er ausgesehen wie Balthasar; und wenn sie recht lebhaft an Balthasar gedacht, habe sie zwar gewußt, daß der Unhold nicht Balthasar, aber dann sei es ihr wieder auf unbegreifliche Weise gewesen, als müsse sie den Unhold lieben, eben um Balthasars willen.
Balthasar klärte ihr nur so viel auf, als es geschehen konnte, ohne ihre ohnehin aufgeregten Sinne ganz und gar zu verwirren. Dann folgten, wie es unter Liebesleuten nicht anders zu geschehen pflegt, tausend Versicherungen, tausend Schwüre [44] ewiger Liebe und Treue. Und dabei umfingen sie sich und drückten sich mit der Inbrunst der innigsten Zärtlichkeit an die Brust und waren ganz und gar umflossen von aller Wonne, von allem Entzücken des höchsten Himmels.
Verlogenheit eines treuen Kammerdieners. – Wie die alte Liese eine Rebellion anzettelte und der Minister Zinnober auf der Flucht ausglitschte. – Auf welche merkwürdige Weise der Leibarzt des Fürsten Zinnobers jähen Tod erklärte. – Wie Fürst Barsanuph sich betrübte, Zwiebeln aß, und wie Zinnobers Verlust unersetzlich blieb.
Der Wagen des Ministers Zinnober hatte beinahe die ganze Nacht vergeblich vor Mosch Terpins Hause gehalten. Ein Mal über das andere versicherte man dem Jäger, Se. Exzellenz müßten schon lange die Gesellschaft verlassen haben; der meinte aber dagegen, das sei ganz unmöglich, da Se. Exzellenz doch wohl nicht im Regen und Sturm zu Fuß nach Hause gerannt sein würden. Als nun endlich alle Lichter ausgelöscht und die Türen verschlossen wurden, mußte der Jäger zwar fortfahren mit dem leeren Wagen, im Hause des Ministers weckte er aber sogleich den Kammerdiener und fragte, ob denn ums Himmels willen und auf welche Art der Minister nach Hause gekommen. »Se. Exzellenz«, erwiderte der Kammerdiener leise dem [45] Jäger ins Ohr, »Se. Exzellenz sind gestern eingetroffen in später Dämmerung, das ist ganz gewiß – liegen im Bette und schlafen. – Aber! – o mein guter Jäger! – wie – auf welche Weise! – ich will Ihnen alles erzählen – doch Siegel auf den Mund – ich bin ein verlorner Mann, wenn Se. Exzellenz erfahren, daß ich es war, auf dem finstern Korridor! – ich komme um meinen Dienst, denn Se. Exzellenz sind zwar von kleiner Statur, besitzen aber außerordentlich viel Wildheit, alterieren sich leicht, kennen sich selbst nicht im Zorn, haben noch gestern eine schnöde Maus, die durch Se. Exzellenz Schlafzimmer zu hüpfen sich unterfangen, mit dem blankgezogenen Degen durch und durch gerannt. – Nun gut! – Also in der Dämmerung nehme ich mein Mäntelchen um und will ganz sachte hinüberschleichen ins Weinstübchen zu einer Partie Tric-Trac, da schurrt und schlurrt mir etwas auf der Treppe entgegen und kommt mir auf dem finstern Korridor zwischen die Beine und schlägt hin auf den Boden und erhebt ein gellendes Katzengeschrei und grunzt dann wie – o Gott – Jäger! – halten Sie das Maul, edler Mann, sonst bin ich hin! – kommen Sie ein wenig näher – und grunzt dann, wie unsere gnädige Exzellenz zu grunzen pflegt, wenn der Koch die Kälberkeule verbraten oder ihm sonst im Staate was nicht recht ist.«
Die letzten Worte hatte der Kammerdiener mit vorgehaltener Hand ins Ohr gesprochen. Der Jäger fuhr zurück, schnitt ein bedenkliches Gesicht und rief: »Ist es möglich!« –
»Ja«, fuhr der Kammerdiener fort, »es war unbezweifelt unsere gnädige Exzellenz was mir auf dem Korridor durch die Beine fuhr. Ich vernahm nun deutlich, wie der Gnädige in den Zimmern die Stühle heranrückte und sich die Türe eines Zimmers nach dem andern öffnete, bis er in seinem Schlafkabinett angekommen. Ich wagt' es nicht nachzugehen, aber ein paar Stündchen nachher schlich ich mich an die Türe des Schlafkabinetts und horchte. Da schnarchten die liebe Exzellenz ganz auf die Weise, wie es zu geschehen pflegt, wenn Großes im Werke. – Jäger! es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als unsere Weisheit sich träumt, das hört' ich einmal auf dem Theater einen melancholischen Prinzen sagen, der ganz schwarz ging und sich vor einem ganz in grauen Pappendeckel gekleideten Mann sehr fürchtete. – Jäger! – es ist gestern irgend etwas Erstaunliches geschehen, das die Exzellenz nach Hause trieb. Der Fürst ist bei dem Professor gewesen, vielleicht äußerte er das und das – irgend ein hübsches Reformchen – und da ist nun der Minister gleich drüber her, läuft aus der Verlobung heraus [47] und fängt an zu arbeiten für das Wohl der Regierung. – Ich hört's gleich am Schnarchen; ja Großes, Entscheidendes wird geschehen. – O Jäger – vielleicht lassen wir alle über kurz oder lang uns wieder die Zöpfe wachsen! – Doch, teurer Freund, lassen Sie uns hinabgehen und als treue Diener an der Türe des Schlafzimmers lauschen, ob Se. Exzellenz auch noch ruhig im Bette liegen und die inneren Gedanken ausarbeiten.«
Beide, der Kammerdiener und der Jäger, schlichen sich hin an die Türe und horchten. Zinnober schnurrte und orgelte und pfiff durch die wundersamsten Tonarten. Beide Diener standen in stummer Ehrfurcht, und der Kammerdiener sprach tiefgerührt: »Ein großer Mann ist doch unser gnädiger Herr Minister!« –
Schon am frühsten Morgen entstand unten im Hause des Ministers ein gewaltiger Lärm. Ein altes erbärmlich in längst verblichenen Sonntagsstaat gekleidetes Bauerweib hatte sich ins Haus gedrängt und dem Portier angelegen, sie sogleich zu ihrem Söhnlein, zu Klein Zaches zu führen. Der Portier hatte sie bedeutet, daß Se. Exzellenz der Herr Minister von Zinnober, Ritter des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen, im Hause wohne, und niemand von der Dienerschaft Klein Zaches heiße oder so genannt werde. Da hatte [48] das Weib aber ganz toll jubelnd geschrieen, der Herr Minister Zinnober mit zwanzig Knöpfen, das sei eben ihr liebes Söhnlein, der Klein Zaches. Auf das Geschrei des Weibes, auf die donnernden Flüche des Portiers war alles aus dem ganzen Hause zusammengelaufen, und das Getöse wurde ärger und ärger. Als der Kammerdiener hinabkam, um die Leute auseinander zu jagen, die Se. Exzellenz so unverschämt in der Morgenruhe störten, warf man eben das Weib, die alle für wahnsinnig hielten, zum Hause heraus.
Auf die steinernen Stufen des gegenüberstehenden Hauses setzte sich nun das Weib hin und schluchzte und lamentierte, daß das grobe Volk da drinnen sie nicht zu ihrem Herzens-Söhnlein, zu dem Klein Zaches, der Minister geworden, lassen wolle. Viele Leute versammelten sich nach und nach um sie her, denen sie immer und immer wiederholte, daß der Minister Zinnober niemand anders sei, als ihr Sohn, den sie in der Jugend Klein Zaches geheißen; so daß die Leute zuletzt nicht wußten, ob sie die Frau für toll halten oder gar ahnen sollten, daß wirklich was an der Sache.
Die Frau wandte nicht die Augen weg von Zinnobers Fenster. Da schlug sie mit einem Mal eine helle Lache auf, klopfte die Hände zusammen und rief jubelnd überlaut: »Da ist er – da ist er, [49] mein Herzensmännlein – mein kleines Koboltchen – Guten Morgen, Klein Zaches! – Guten Morgen, Klein Zaches!« – Alle Leute guckten hin, und als sie den kleinen Zinnober gewahrten, der in seinem gestickten Scharlachkleide, das Ordensband des grüngefleckten Tigers umgehängt, vor dem Fenster stand, das hinabging bis an den Fußboden, so daß seine ganze Figur durch die großen Scheiben deutlich zu sehen, lachten sie ganz übermäßig und lärmten und schrieen: »Klein Zaches – Klein Zaches! Ha, seht doch den kleinen geputzten Pavian – die tolle Mißgeburt – das Wurzelmännlein – Klein Zaches! Klein Zaches!« – Der Portier, alle Diener Zinnobers rannten hinaus, um zu erschauen, worüber das Volk denn so unmäßig lachte und jubiliere. Aber kaum erblickten sie ihren Herrn, als sie noch ärger als das Volk im tollsten Gelächter schrieen: »Klein Zaches – Klein Zaches – Wurzelmann – Däumling – Alraun!« –
Der Minister schien erst jetzt zu gewahren, daß der tolle Spuk auf der Straße niemand anderm gelte, als ihm selbst. Er riß das Fenster auf, schaute mit zornfunkelnden Augen hinab, schrie, raste, machte seltsame Sprünge vor Wut – drohte mit Wache – Polizei – Stockhaus und Festung.
Aber je mehr die Exzellenz tobte im Zorn, desto ärger wurde Tumult und Gelächter, man fing an, [50] mit Steinen – Obst – Gemüse, oder was man eben zur Hand bekam, nach dem unglücklichen Minister zu werfen – er mußte hinein! –
»Gott im Himmel«, rief der Kammerdiener entsetzt, »aus dem Fenster der gnädigen Exzellenz guckte ja das kleine abscheuliche Ungetüm heraus – was ist das? – wie ist der kleine Hexenkerl in die Zimmer gekommen?« – Damit rannte er hinauf, aber so wie vorher fand er das Schlafkabinett des Ministers fest verschlossen. Er wagte leise zu pochen! – Keine Antwort! –
Indessen war, der Himmel weiß auf welche Weise, ein dumpfes Gemurmel im Volke entstanden, das kleine lächerliche Ungetüm dort oben sei wirklich Klein Zaches, der den stolzen Namen Zinnober angenommen und sich durch allerlei schändlichen Lug und Trug aufgeschwungen. Immer lauter und lauter erhoben sich die Stimmen. »Hinunter mit der kleinen Bestie – hinunter – klopft dem Klein Zaches die Ministerjacke aus – sperrt ihn in den Käfig – laßt ihn für Geld sehen auf dem Jahrmarkt! – Beklebt ihn mit Goldschaum und beschert ihn den Kindern zum Spielzeug! – Hinauf – hinauf!« – Und damit stürmte das Volk an gegen das Haus.
Der Kammerdiener rang verzweiflungsvoll die Hände. »Rebellion – Tumult – Exzellenz – [51] machen Sie auf – retten Sie sich!« – so schrie er; aber keine Antwort, nur ein leises Stöhnen ließ sich vernehmen.
Die Haustüre wurde eingeschlagen, das Volk polterte unter wildem Gelächter die Treppe herauf.
»Nun gilt's,« sprach der Kammerdiener und rannte mit aller Macht an gegen die Türe des Kabinetts, daß sie klirrend und rasselnd aus den Angeln sprang. – Keine Exzellenz – kein Zinnober zu finden! –
»Exzellenz – gnädigste Exzellenz – vernehmen Sie denn nicht die Rebellion? – Exzellenz – gnädigste Exzellenz, wo hat Sie denn der – Gott verzeih mir die Sünde, wo geruhen Sie sich denn zu befinden?«
So schrie der Kammerdiener in heller Verzweiflung durch die Zimmer rennend. Aber keine Antwort, kein Laut, nur der spottende Widerhall tönte von den Marmorwänden. Zinnober schien spurlos, tonlos verschwunden. – Draußen war es ruhiger geworden, der Kammerdiener vernahm die tiefe klangvolle Stimme eines Frauenzimmers, die zum Volke sprach und gewahrte durchs Fenster blickend, wie die Menschen nach und nach leise miteinander murmelnd das Haus verließen, bedenkliche Blicke hinaufwerfend nach den Fenstern.
»Die Rebellion scheint vorüber«, sprach der Kammerdiener, »nun wird die gnädige Exzellenz wohl hervorkommen aus ihrem Schlupfwinkel.«
Er ging nach dem Schlafkabinett zurück, vermutend, dort werde der Minister sich doch wohl am Ende befinden.
Er warf spähende Blicke rings umher, da wurde er gewahr, wie aus einem schönen silbernen Henkelgefäß, das immer dicht neben der Toilette zu stehen pflegte, weil es der Minister als ein teures Geschenk des Fürsten sehr wert hielt, ganz kleine dünne Beinchen hervorstarrten.
»Gott – Gott«, schrie der Kammerdiener entsetzt, »Gott! – Gott! – täuscht mich nicht alles, so gehören die Beinchen dort Sr. Exzellenz dem Herrn Minister Zinnober, meinem gnädigen Herrn!« – Er trat heran, er rief, durchbebt von allen Schauern des Schrecks, indem er herabschaute: »Exzellenz – Exzellenz – um Gott, was machen Sie – was treiben Sie da unten in der Tiefe!«
Da aber Zinnober still blieb, sah der Kammerdiener wohl die Gefahr ein, in der die Exzellenz schwebte und daß es an der Zeit sei, allen Respekt beiseite zu setzen. Er packte den Zinnober bei den Beinchen – zog ihn heraus! – Ach tot – tot war die kleine Exzellenz! Der Kammerdiener brach aus in ein lautes Jammern; der Jäger, die Dienerschaft eilte herbei, man rannte nach dem Leibarzt des Fürsten. Indessen trocknete der Kammerdiener seinen armen unglücklichen Herrn ab mit saubern [53] Handtüchern, legte ihn ins Bette, bedeckte ihn mit seidenen Kissen, so daß nur das kleine verschrumpfte Gesichtchen sichtbar blieb.
Hinein trat nun das Fräulein von Rosenschön, Sie hatte erst, der Himmel weiß auf welche Art, das Volk beruhigt. Nun schritt sie zu auf den entseelten Zinnober, ihr folgte die alte Liese, des kleinen Zaches leibliche Mutter. – Zinnober sah in der Tat hübscher aus im Tode, als er jemals in seinem ganzen Leben ausgesehen. Die kleinen Äugelein waren geschlossen, das Näschen sehr weiß, der Mund zum sanften Lächeln ein wenig verzogen, aber vor allen Dingen wallte das dunkelbraune Haar in den schönsten Locken herab. Über das Haupt hin strich das Fräulein den Kleinen, und in dem Augenblick blitzte in mattem Schimmer ein roter Streif hervor.
»Ach«, sprach die alte Liese, »ach du lieber Gott, das ist ja doch wohl nicht mein kleiner Zaches, so hübsch hat der niemals ausgesehen. Da bin ich doch nun ganz umsonst nach der Stadt gegangen und Ihr habt mir gar nicht gut geraten, mein gnädiges Fräulein!« –
»Murrt nur nicht, Alte«, erwiderte das Fräulein, »hättet Ihr nur meinen Rat ordentlich befolgt, und wäret Ihr nicht früher, als ich hier war, in dies Haus gedrungen, alles stünde für Euch besser. – [54] Ich wiederhole es, der Kleine, der dort tot im Bette liegt, ist gewiß und wahrhaftig Euer Sohn, Klein Zaches!«
»Nun«, rief die Frau mit leuchtenden Augen, »nun, wenn die kleine Exzellenz dort wirklich mein Kind ist, so erb' ich ja wohl all' die schönen Sachen, die hier rings umherstehen, das ganze Haus mit allem, was drinnen ist?«
»Nein«, sprach das Fräulein, »das ist nun ganz und gar vorbei, Ihr habt den rechten Augenblick verfehlt, Geld und Gut zu gewinnen. – Euch ist, ich habe es gleich gesagt, Euch ist nun einmal Reichtum nicht beschieden.« –
»So darf ich«, fuhr die Frau fort, indem ihr die Tränen in die Augen traten, »so darf ich denn nicht wenigstens mein armes kleines Männlein in die Schürze nehmen und nach Hause tragen? – Unser Herr Pfarrer hat so viel hübsche ausgestopfte Vögelein und Eichkätzchen, der soll mir meinen Klein Zaches ausstopfen lassen, und ich will ihn auf meinen Schrank stellen, wie er da ist im roten Rock mit dem breiten Bande und dem großen Stern auf der Brust, zum ewigen Andenken!« –
»Das ist«, rief das Fräulein beinahe unwillig, »das ist ein ganz einfältiger Gedanke, das geht ganz und gar nicht an!« –
Da fing das Weib an zu schluchzen, zu klagen, [55] zu lamentieren. »Was hab' ich«, sprach sie, »nun davon, daß mein Klein Zaches zu hohen Würden, zu großem Reichtum gelangt ist! – Wär' er nur bei mir geblieben, hätt' ich ihn nur aufgezogen in meiner Armut, niemals wär' er in jenes verdammte silberne Ding gefallen, er lebte noch, und ich hätt' vielleicht Freude und Segen von ihm gehabt. Trug ich ihn so herum in meinem Holzkorb, Mitleiden hätten die Leute gefühlt und mir manches schöne Stücklein Geld zugeworfen, aber nun« –
Es ließen sich Tritte im Vorsaal vernehmen, das Fräulein trieb die Alte hinaus mit der Weisung, sie solle unten vor der Türe warten, im Wegfahren wolle sie ihr ein untrügliches Mittel vertrauen, wie sie all' ihre Not, all' ihr Elend mit einem Mal enden könne.
Nun trat Rosabelverde noch einmal dicht an den Kleinen heran und sprach mit der weichen bebenden Stimme des tiefen Mitleids:
»Armer Zaches! – Stiefkind der Natur! – ich hatt' es gut mit dir gemeint! – Wohl mocht' es Torheit sein, daß ich glaubte, die äußere schöne Gabe, womit ich dich beschenkt, würde hineinstrahlen in dein Inneres und eine Stimme erwecken, die dir sagen müßte, du bist nicht der, für den man dich hält, aber strebe doch nur an, es dem gleich zu tun, auf dessen Fittichen du [56] Lahmer, Unbefiederter dich aufschwingst! – Doch keine innere Stimme erwachte. Dein träger toter Geist vermochte sich nicht emporzurichten, du ließest nicht nach in deiner Dummheit, Grobheit, Ungebärdigkeit – Ach! – wärst du nur ein geringes Etwas weniger, ein kleiner ungeschlachteter Rüpel geblieben, du entgingst dem schmachvollen Tode! – Prosper Alpanus hat dafür gesorgt, daß man dich jetzt im Tode wieder dafür hält, was du im Leben durch meine Macht zu sein schienst. Sollt' ich dich vielleicht gar noch wiederschauen als kleiner Käfer – flinke Maus oder behende Eichkatze, so soll es mich freuen! – Schlafe wohl, Klein Zaches!« –
Indem Rosabelverde das Zimmer verließ, trat der Leibarzt des Fürsten mit dem Kammerdiener herein.
»Um Gott«, rief der Arzt, als er den toten Zinnober erblickte und sich überzeugte, daß alle Mittel, ihn ins Leben zu rufen, vergeblich bleiben würden, »um Gott, wie ist das zugegangen, Herr Kämmerer?«
»Ach«, erwiderte dieser, »ach, lieber Herr Doktor, die Rebellion oder die Revolution, es ist all' eins, wie Sie es nennen wollen, tobte und hantierte draußen auf dem Vorsaale ganz fürchterlich. Se. Exzellenz, besorgt um ihr teures Leben, wollten [57] gewiß in die Toilette hineinflüchten, glitschten aus und« –
»So ist«, sprach der Doktor feierlich und bewegt, »so ist er aus Furcht zu sterben gar gestorben!«
Die Tür sprang auf und herein stürzte Fürst Barsanuph mit verbleichtem Antlitz, hinter ihm her sieben noch bleichere Kammerherren.
»Ist es wahr, ist es wahr?« rief der Fürst; aber sowie er des Kleinen Leichnam erblickte, prallte er zurück und sprach, die Augen gen Himmel gerichtet, mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes: »O Zinnober!« – Und die sieben Kammerherren riefen dem Fürsten nach: »O Zinnober!« und holten, wie es der Fürst tat, die Schnupftücher aus der Tasche und hielten sie sich vor die Augen.
»Welch ein Verlust«, begann nach einer Weile des lautlosen Jammers der Fürst, »welch ein unersetzlicher Verlust für den Staat! – Wo einen Mann finden, der den Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen mit der Würde trägt, als mein Zinnober! – Leibarzt, und Sie konnten mir den Mann sterben lassen! – Sagen Sie – wie ging das zu, wie mochte das geschehen – was war die Ursache – woran starb der Vortreffliche?« –
Der Leibarzt beschaute den Kleinen sehr sorgsam, befühlte manche Stellen ehemaliger Pulse, strich das [58] Haupt entlang, räusperte sich und begann: »Mein gnädigster Herr! Sollte ich mich begnügen auf der Oberfläche zu schwimmen, könnte sagen, der Minister sei an dem gänzlichen Ausbleiben des Atems gestorben, dies Ausbleiben des Atems sei bewirkt durch die Unmöglichkeit Atem zu schöpfen, und diese Unmöglichkeit wieder nur herbeigeführt durch das Element, durch den Humor, in den der Minister stürzte. Ich könnte sagen, der Minister sei auf diese Weise einen humoristischen Tod gestorben, aber fern von mir sei diese Seichtigkeit, fern von mir die Sucht, alles aus schnöden physischen Prinzipen erklären zu wollen, was nur im Gebiet des rein Psychischen seinen natürlichen unumstößlichen Grund findet. – Mein gnädigster Fürst, frei sei des Mannes Wort! – Den ersten Keim des Todes fand der Minister im Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen!« –
»Wie«, rief der Fürst, indem er den Leibarzt mit zornglühenden Augen anfunkelte, »wie! – was sprechen Sie? – der Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen, den der Selige zum Wohl des Staats mit so vieler Anmut, mit so vieler Würde trug? – der Ursache seines Todes? – Beweisen Sie mir das, oder – Kammerherren, was sagt Ihr dazu?«
»Er muß beweisen, er muß beweisen, oder« – [59] riefen die sieben blassen Kammerherren, und der Leibarzt fuhr fort:
»Mein bester gnädigster Fürst, ich werd' es beweisen, also kein oder ! – Die Sache hängt folgendermaßen zusammen: Das schwere Ordenszeichen am Bande, vorzüglich aber die Knöpfe auf dem Rücken, wirkten nachteilig auf die Ganglien des Rückgrats. Zu gleicher Zeit verursachte der Ordensstern einen Druck auf jenes knotige fadigte Ding zwischen dem Dreifuß und der oberen Gekröspulsader, das wir das Sonnengeflecht nennen, und das in dem labyrinthischen Gewebe der Nervengeflechte prädominiert. Dies dominierende Organ steht in der mannigfaltigsten Beziehung mit dem Cerebralsystem, und natürlich war der Angriff auf die Ganglien auch diesem feindlich. Ist aber nicht die freie Leitung des Cerebralsystems die Bedingung des Bewußtseins, der Persönlichkeit, als Ausdruck der vollkommensten Vereinigung des Ganzen in einem Brennpunkt? Ist nicht der Lebensprozeß die Tätigkeit in beiden Sphären, in dem Ganglien- und Cerebralsystem? – Nun! genug, jener Angriff störte die Funktionen des psychischen Organism. Erst kamen finstre Ideen von unerkannten Aufopferungen für den Staat durch das schmerzhafte Tragen jenes Ordens usw., immer verfänglicher wurde der Zustand, bis gänzliche Disharmonie des [60] Ganglien- und Cerebralsystems endlich gänzliches Aufhören des Bewußtseins, gänzliches Aufgeben der Persönlichkeit herbeiführte. Diesen Zustand bezeichnen wir aber mit dem Worte Tod ! – Ja, gnädigster Herr! – der Minister hatte bereits seine Persönlichkeit aufgegeben, war also schon mausetot, als er hineinstürzte in jenes verhängnisvolle Gefäß. – So hatte sein Tod keine physische, wohl aber eine unermeßlich tiefe psychische Ursache.« –
»Leibarzt«, sprach der Fürst unmutig, »Leibarzt, Sie schwatzen nun schon eine halbe Stunde, und ich will verdammt sein, wenn ich eine Silbe davon verstehe. Was wollen Sie mit Ihrem Physischen und Psychischen?«
»Das physische Prinzip«, nahm der Arzt wieder das Wort, »ist die Bedingung des rein vegetativen Lebens, das psychische bedingt dagegen den menschlichen Organism, der nur in dem Geiste, in der Denkkraft das Triebrad der Existenz findet.«
»Noch immer«, rief der Fürst im höchsten Unmut, »noch immer verstehe ich Sie nicht, Unverständlicher!«
»Ich meine«, sprach der Doktor, »ich meine, Durchlauchtiger, daß das Physische sich bloß auf das rein vegetative Leben ohne Denkkraft, wie es in Pflanzen stattfindet, das Psychische aber auf die Denkkraft bezieht. Da diese nun im menschlichen [61] Organism vorwaltet, so muß der Arzt immer bei der Denkkraft, bei dem Geist anfangen und den Leib nur als Vasallen des Geistes betrachten, der sich fügen muß, sobald der Gebieter es will.«
»Hoho!« rief der Fürst, »hoho Leibarzt, lassen Sie das gut sein! – Kurieren Sie meinen Leib und lassen Sie meinen Geist ungeschoren, von dem habe ich noch niemals Inkommoditäten verspürt. Überhaupt, Leibarzt, Sie sind ein konfuser Mann, und stünde ich hier nicht an der Leiche meines Ministers und wäre gerührt, ich wüßte, was ich täte! – Nun Kammerherren! vergießen wir noch einige Zähren hier am Katafalk des Verewigten und gehen wir dann zur Tafel.«
Der Fürst hielt das Schnupftuch vor die Augen und schluchzte, die Kammerherren taten desgleichen, dann schritten sie alle von dannen.
Vor der Türe stand die alte Liese, welche einige Reihen der allerschönsten goldgelben Zwiebeln über den Arm gehängt hatte, die man nur sehen konnte. Des Fürsten Blick fiel zufällig auf diese Früchte. Er blieb stehen, der Schmerz verschwand aus seinem Antlitz, er lächelte mild und gnädig, er sprach: »Hab' ich doch in meinem Leben keine solche schöne Zwiebeln gesehen, die müssen von dem herrlichsten Geschmack sein. Verkauft Sie die Ware, liebe Frau?«
»O ja«, erwiderte Liese mit einem tiefen Knix, »o ja, gnädigste Durchlaucht, von dem Verkauf der Zwiebeln nähre ich mich dürftig, so gut es gehn will! – Sie sind süß wie purer Honig, belieben Sie, gnädigster Herr?«
Damit reichte sie eine Reihe der stärksten glänzendsten Zwiebeln dem Fürsten hin. Der nahm sie, lächelte, schmatzte ein wenig und rief dann: »Kammerherren! geb' mir einer einmal sein Taschenmesser her.« Ein Messer erhalten, schälte der Fürst nett und sauber eine Zwiebel ab und kostete etwas von dem Mark.
»Welch ein Geschmack, welche Süße, welche Kraft, welches Feuer!« rief er, indem ihm die Augen glänzten vor Entzücken, »und dabei ist es mir, als säh' ich den verewigten Zinnober vor mir stehen, der mir zuwinkte und zulispelte: kaufen Sie – essen Sie diese Zwiebeln, mein Fürst – das Wohl des Staats erfordert es!« – Der Fürst drückte der alten Liese ein paar Goldstücke in die Hand, und die Kammerherren mußten sämtliche Reihen Zwiebeln in die Taschen schieben. Noch mehr! – er verordnete, daß niemand anderes die Zwiebellieferung für die fürstlichen Dejeuners haben sollte, als Liese. So kam die Mutter des Klein Zaches, ohne gerade reich zu werden, aus aller Not, aus allem Elend, und gewiß war es wohl, [63] daß ihr ein geheimer Zauber der guten Fee Rosabelverde dazu verhalf.
Das Leichenbegängnis des Ministers Zinnober war eins der prächtigsten, das man jemals in Kerepes gesehen: der Fürst, alle Ritter des grüngefleckten Tigers folgten der Leiche in tiefer Trauer. Alle Glocken wurden gezogen, ja sogar die beiden Böller, die der Fürst behufs der Feuerwerke mit schweren Kosten angeschafft, mehrmals gelöst. Bürger – Volk – alles weinte und lamentierte, daß der Staat seine beste Stütze verloren und wohl niemals mehr ein Mann von dem tiefen Verstande, von der Seelengröße, von der Milde, von dem unermüdlichen Eifer für das allgemeine Wohl, wie Zinnober, an das Ruder der Regierung kommen werde.
In der Tat blieb auch der Verlust unersetzlich; denn niemals fand sich wieder ein Minister, dem der Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen so an den Leib gepaßt haben sollte, wie dem verewigten unvergeßlichen Zinnober.
Vorbemerkung des Herausgebers:
Diese kleine liebenswürdige Geschichte der Bettina von Arnim ist ihrer berühmten im Jahre 1849 erschienenen Schrift »Dies Buch gehört dem König« entnommen, die eine Reihe »der Erinnerung abgelauschter Gespräche und Erzählungen von 1807« enthält. Das Buch umschließt im wesentlichen sozialpolitisch reformatorische Anschauungen der Bettina von Arnim, die sie sämtlich der alten Frau Rat, Goethes Mutter, in den Mund legt. Eingeschachtelt in diese heute wenig mehr interessierenden sozialpolitischen Betrachtungen ist die köstliche Erzählung von der plötzlichen Reise der Frau Rat nach Darmstadt, wo sie von der Königin Luise von Preußen mit großen Ehrungen empfangen wurde. Indem Bettina von Arnim die Schilderung dieser Begegnung durch Goethes Mutter selbst geschehen läßt, gelingt es ihr, im lebendigen Frankfurter Dialekt, die feine Klugheit, die herzhafte Urwüchsigkeit und die sonnig lächelnde Heiterkeit der Frau Rat auf das anschaulichste aufzuzeichnen.
Die Frau Rat erzählt:
Es war an einem recht sommerlichen Tag; ich denk nach, was aus dem lieben Sonnenschein all werden soll, den ich da so mutterselig allein in mich [65] fressen muß: – es wird Mittag, die Türmer blasen derweil den Ablaß meiner Sünden vom Katharinenturm herunter. – In dieser Welt, wo Böses und Gutes oft in so herzlicher Umarmung einander am Busen liegen, da haben irdische und himmlische Angelegenheiten gar einen künstlichen Verkehr; an so einem melancholischen Feiertag, da verschmäht der Teufel auch eine falsche Trompet nicht, um den Menschen aus seinem geduldigen Seelenheil herauszublasen; opfre den Verdruß, den du davon spürst, Gott auf, und die Kreide von der Rechnungstafel deiner Sünden ist heruntergewischt, denn lieber als das Sündegestöhn, was falscher klingt als die Sünd selber, will Gott den Teufel falsch blasen hören. Die Langeweil ist nun ganz apart an einem Sonntag in der Stadt Frankfurt, aber gar an so einem lange staubige Sommertag, wo man sich in die Sonn stellt und denkt wie ein angezünd't Licht am hellen Tag: »Vor was bist du da? – Alles kann bestehn ohne dich!« oder: »Alles geht ja doch konfus«, und mit dem Zweifel, ob der blaue Dunst da oben wohl doch der Himmel sein könnt, streckt man sich am End seiner Erdentage aus den Erdensorgen heraus mit den Himmelssorgen auf dem Herzen und bedenkt nicht, daß alle Sorge Irrtum ist.
An so einem langweiligen Tag also, wie der Türmer wirklich in einer der Musik sehr mißgünstigen [66] Stimmung in die Stadt herunterblies – ich meint als, wenn mir der jung Wein nur nicht auf dem Faß säuerlich wird – eine rauhe Halsarie wie heut, und die Sonn schien mir auf die Nas, daß ich nießen mußt, und die Lieschen bekomplimentiert mich da drüber, da schellts – ich ruf: »Guck einmal, wers ist.« – »Ei, es ist der Frau Bethmann ihr Bedienter; ob Sie wollte heunt Nachmittag mit ins Kirschenwäldchen fahren?« – Ei was? – Ei freilich! Was werd ich nicht wollen fahren an diesen einzigen Pläsierort, vor allen schönen Orten in ganz Deutschland, wo die Kirschen wie die schönste Rubinen im smaragdnen Blätterschmuck an den Bäumen hängen, wo die Frankfurter Sonnenstrahlen ein Goldnetz durchwirken und der Himmel sein blaues Zelt mit silbernen Wolken drüber spannt.
Jetzt sag ich: »Wir wollen präzis zwölf Uhr essen, dann wird alles zurechtgemacht zum Abend, wann ich heim komm; da wird meine Wasserflasche hingestellt, das Bett zurecht gemacht, damit mir die Zeit vergeht, bis die Füchserchen angetrabt komme, dann setz ich meine Haub auf, bloß die mit den Spitzen.« – »Ei, wollen Sie net die mit den Sternblume aufsetzen, die steht schöner!« – »Nein, die will ich nicht aufsetzen, man muß bescheiden sein in der schönen Natur und sie nicht überstrahlen wollen, es gelingt einem doch nicht. [67] Was meint sie denn, daß so ein Kranz von papierne Blume zu sagen hätt da draußen auf der grünen Wies? Ei, ich setz den Fall, ich könnt der Stadtherd begegnen, so könnt mich ja der Brummelochs mit einem einzige Maul voll Dotterblume, die er vom Weidanger mit seiner lange Zung in einem Hui zusammenrafft und wegschnappt, in die größt Beschämung versetze, daß er frißt und verdaut, was die Frau Rat in Papier nachgemacht zum Putz auf dem Kopf trägt.« – Jetzt ohne weiter Federlesen die Spitzehaub eweil auf der grünen Bouteille aufgepflanzt, dann die Filethandschuh ohne Daumen, daß ich sie nicht brauch auszuziehen beim Kirschenessen, das Körbchen nehm ich mit, daß ich kann Kirschen mitbringen – die kleine schwarze Salopp und den Sonneparaplü, denn um die jetzig Sommerzeit kommt häufig so ein klein erquicklich Regenschauerchen mitten durch den Sonnenschein. Da lachts und flennts zu gleicher Zeit am Himmel.
Nun ist alles in Ordnung – so wird der Tisch gedeckt und aufgetragen – denn zwölf Uhr ist schon vorbei. »Was gibts heut?« – »Brühsupp«. – »Fort mit, ich mag keine.« – »Aber Frau Rat, Ihne Ihr Magen!« – »Aber ich will keine Supp, sag ich; komm sie mir nicht an so einem schöne Sommertag mit ihren Magensorgen an, – was gibts noch?« – »Stockfisch, aufgewärmt von gestern, und Kartoffel.« – [68] »Den Stockfisch laß mir vor der Nase weg, der paßt nit zu meiner Stimmung; ich mag mir keinen Stockfischgeruch in den Vorgeschmack aufdampfen lassen, den ich von dem Blumenduft drauß auf der Wies schon in Gedanken genieß; aber die Kartoffel bring sie, an denen verunreinigt man die erhabenen Gedanken nicht, die könnt so ein indischer Priester in seiner Verzückung ungestört genieße. – Ich glaub gewiß, die sind aus dem Manna gewachse, das vom Himmel fiel, wie die Juden in der Wüst in der Hungersnot waren, das war so ein verzettelter Mannasame, aus dem sind dann die Kartoffeln gewachsen, die vor aller Hungersnot bewahren. Ja, damals hatten die Juden noch eine Wüst, wo sie sich niederlassen konnten; jetzt ist keine Wüst mehr da, und wann die närrische Häns nicht fliegen lerne wie die Raubvögel, daß sie als manchmal auf eine vorüberfahrende Segelstang sich könne setzen wie die Zugvögel, so weiß ich nicht, wo sie werden bleiben, in der Wüste waren sie nit so gierig; hätten sie damals alles verschlungen, so wär kein himmlischer Mannasamen übrig geblieben, und ich wüßt nicht, was ich heut essen sollt, und jetzt geb nur künftig ohne Widerred allemal dem Betteljud zwei Kreuzer, so oft er kommt. Denn wir könne den Juden das nicht genug Dank wissen, daß wir Kartoffeln essen.« – Nun war das Essen noch nicht [69] all, es kam noch eine gebratne Taub. – Ich hatte Appetit, fliegt mir grad eine lebendige Taub vors Fenster und rucksert mir lauter Vorwürf ins Herz. Ich fahr ins Kirschenwäldchen, und das arme Tier mit verschränkte Flügel, mit denen es sich hätt können in alle Weltfreude schwingen, liegt in der Bratpfann. Der Christ jagt die halb Natur durch den Schlund, damit er auf der Erd kann bleibe, um sein Seelenheil zu befördern, und dann macht ers grad verkehrt. – Nun kurz, der Vorwurf von der Taub am Fenster lastet mir auf dem Herzen, ich kann keinen Bissen essen. – Die Taub wird unberührt wieder in die Speiskammer gestellt; ich ziehe mich derweil an, um der Ungeduld etwas weiß zu machen, die Spitzehaub wird von der Bouteille herunter genommen, aufgesetzt, und die Nachtmütz wird drauf gestülpt, damit ich sie heut abend, wenn ich nach Haus komm, gleich auswechsle kann, noch eh Licht kommt; das ist so meine alte Gewohnheit.
Nun sitz ich da mit meinem Sonnenschirm in der Hand, im besten Humor, und lach die Lieschen aus, mit ihrer Angst wegen meinem leeren Magen. Ich guck auf die Uhr – der Wagen kommt gerappelt; den alten Johann, ein ganz gescheuter Kerl, hör ich schon an seinem gewohnten Gange die Trepp herauf kommen. – »Lieschen, geschwind [70] lauf sie hinaus, auf den Vorplatz an die Tür, ehs schellt.« Da schellts schon, die Lieschen macht die Tür auf, da steht ein goldbordierter Herr mit einem dreieckigen Hut und guckt mir ins Gesicht, und mein alter Johann kommt hinten nach. – Ich sag zu dem fremde Wundertier: »Sie sind wohl einen unrechten Weg gangen!« – und will mich an ihm vorbeimachen; aber weil er sagt: »Ich bin geschickt von Ihro Majestät der Frau Königin von Preußen an die Frau Rätin Goethe«, so guck ich ihn an, ob er wohl nicht recht gescheut wär – »Und«, fährt er fort, »die königlich Equipage werden um zwei Uhr kommen, um die Frau Rätin nach Darmstadt abzuholen; mit Ihrer Majestät sollen Sie den Tee trinken im Schloßgarten!« – Ich sag: »Johann! Jetzt hör er einmal, was das vor Sachen sind! Wenn einem eine Bomeranz aus dem blauen Himmel grad auf die Nas fällt, da soll man gleich sein Verstand bei der Hand haben und sie auffangen, das will viel heißen!« – Ei, wem hatt ich denn die Kontenance zu verdanken als bloß dem Johann? Der stellt sich an die Seit aus lauter Respekt vor dem unvorhergesehenen Ereignis und guckt mich so feierlich an, daß ich mich gleich besinn, was ich mir und der Einladung schuldig bin; ich guck ihn mit einem Feuerblick an, daß der Kerl in sich geht, denn er war nah dran, zu lachen. Ich [71] sag: »Mein Herr Kammerherr, oder was Sie vor ein höflicher Beamter sein mögen, rennen Sie nur wieder spornstreichs zur Frau Königin und melden, die Frau Rat werden ihrerseits die Ehre haben, die von der Frau Königin ihr zugedachte Auszeichnung anzunehmen. Und machen Sie nur, daß die Kutsch hübsch akkurat kommt, damit ich auch nicht zu spät komm, da das Warten und Wartenlassen meine Sach nicht ist.« – Dabei macht ich so große Augen, daß der preußisch Hoflakei gewiß seine Verwundrung wird gehabt haben über den besondern Schlag Madamen aus der freien Reichsstadt Frankfurt. Man muß seine Zuflucht nehmen zu allerlei Künsten, um seine Würde zu behaupten. Wer kann sonst Religion in die Menschen bringen? Daß so ein Hofschranz Respekt hätte vor einem Bürger, dazu ist er einmal verdorben; da muß man auf Mittel denke, wie er den Kopf ganz verliert und nicht weiß, was er dazu sagen soll. Da fiel mir der Türklopper ein von unserm Aderlaßmännchen, dem Herrn Unser ; das ist so ein Löwenfratz, wie sie an Salomon seinem Thronsessel zur Verzierung angebracht sind. Den mach ich nach; – damit jag ich meinen Herold in die Flucht; er nimmt die Bein an den Hals und rennt die Trepp herunter. Ich bleib stockstill stehn, die Lieschen bleibt stehn, der Johann rührt sich nicht vom Fleck, bis wir die [72] Haustür zumachen hören. »Frau Rat«, sagt der Johann, »Sie werden also jetzt unmöglich ins Kirschenwäldchen fahren, und da werd ich dann bestelle, warum Sie nicht mit könne fahren?« – »Ja, lieber Johann, und bestell ers doch gleich im Vorbeigehen beim Perückenmacher Heidenblut, der soll gleich kommen, und erzähl ers unterwegs alle Leut, so was muß stadtbekannt werden.« – »Ja, das ist gewiß«, sagt der Johann, »und wenn mir nur das Herz nit bersten wird, bis ich heraus geplatzt bin dermit« – fort ist der Johann. – Nun guck ich mein Lieschen an; die steht vor mir wie nicht recht gescheut und zittert an alle Glieder. »Ei, Lieschen«, sprech ich voll Verwunderung, »wie kommt es, daß ihr die Haub hinderst der vörderst sitzt, das war doch vorher nicht.« – Und ich weiß nicht, wie das möglich war! Es ist doch wunderlich, wie bei überraschende Gelegenheiten die Spukgeister sich allerlei Schabernack erlauben mit solchen Leut, die der Sach nicht gewachsen sind. Das war nun mein Lieschen wirklich nicht. Sie konnts nicht finden, weder Zwickelstrümpf noch Schuh noch sonst ein Kleidungsstück, kein Rock konnt sie mir ordentlich über den Kopf werfen. Wenn ich nun auch den Kopf verloren hätt, ich wär nicht fertig geworden. Jetzt sag ich: »Bring sie mir einmal die gebratne Taub wieder herein, denn ich verspür über die [73] königlich Geschicht ein schreiende Hunger. Und nun schmeiß sie die Nachthaub von der Bouteille herunter – ich werd auch noch meiner Seel den ganzen Stockfisch herunter fressen. Nun schenk sie mir ein Glas Wein ein, ich muß Feuer in den Adern haben.« Der Perückenmacher war gleich herbei; über die unbegreiflich Nachricht hat er in seinem stumme Erstaune mich aufgedonnert, und nun mußt er mir die Haub aufsetze mit den Sternblumen. Es war ein Heidenpläsier, fingerdick Schmink hat er mir aufgelegt. »Die Frau Rat sehn superb aus,« sagt der Herr Heidenblut. Und die Liesche stand wie eine Gans vor mir, als ob sie mich nicht mehr kennte. – Nu, wir verbringe noch so ein Zeitchen vor dem Spiegel, links die Lieschen mit der verkehrte Haub, denn die hat sie noch nicht Zeit gehabt herum zu kriegen, rechts der Herr Heidenblut mit dem Kamm hinterm Ohr, ganz verzückt in mein Lockenbau, ich in der Front mit einem feuerfarbne Schlepprock mit doppelte Florspitzen, Diamantbracelett, echte Perlen um den Hals, ein Schlupp von Diamante vorgesteckt. Nun, es war zum Malen, die drei Personagen da aus dem Spiegel herauslachen zu sehen. Wir wurden ganz lustig und dachten nicht, wie die Zukunft mir auf den Hals gerückt kommt. Wenn ich doch an all die charmante Witze vom Heideblut mich noch erinnern [74] könnt, er mußt sich hinstellen, und ich macht mein Probekompliment vor ihm; er verstehts. Er frisiert ja die allerhöchste Theaterprinzesse. – Da kommts aber wie ein Sturm angerennt und hält still vor der Haustür. Rutsch – vier Pferd und zwei Lakaie hinten drauf noch ohne den Kutscher. – Jetzt kommen sie herbei gestolpert, faßt mich ein jeder unterm Arm und tragen mich schwebend in die Kutsch. Schad, daß die Fahrt nicht mit meine vier Pferd durch die Bockheimergass geht am Haus vom Herrn Bürgermeister vorbei – aber das Glück bescherte mir unser Herrgott noch, denn kaum biege wir im volle Trab um die Eck, stoßen wir auf die Bürgermeisterskutsch mit samt dem Herrn Bürgermeister von Holzhausen drin, mit seine zwei Lakaien hinten drauf mit ihre alte abgelebte Haarbeutel, – ich auch – aber meine Haarbeutel waren ganz neu. In vollem Rand fahren wir vorbei am Herrn Bürgermeister, ich grüß feierlich mit dem Fächer und hab das Pläsier, zu sehn, daß mein Herr von Holzhausen im Wagen sitzen, versteinert, und sehn mich nicht mit ihre Glotzaugen; er streckt den Kopf heraus, aber umsonst, wir flogen wie der Wind vorbei.
Sollt ich nun alle Gedanken erzählen, die mir auf meiner Reis bis Darmstadt eingefallen sind, so müßt ich lügen, denn ich war so zu sagen auf einer [75] Schaukel, die schlecht in Schwung gebracht war, bald flog ich dort hinaus, bald wieder nach der andren Seit, bald dreht sich alles mit mir im Durmel herum, dann dacht ich wieder, wie ichs alles meinem Sohn wollte schreiben, und da fing mir das Herz an zu klopfen. Ich konnts vor Ungeduld nicht behaglich finden in der Kutsch – ich fing an, die Kastanienbäum zu zählen in der Allee, ich wollt probieren, ob ichs könnt bis hundert bringe, aber ich bracht keine zehn Bäum zusammen, da waren meine Gedanken wieder wo anders. Einmal kam mir ein gescheuter Gedanken, ich dacht, was hab ich dervon? ist mir die Geschicht angenehm? – sollt sie mir nur noch ein einzig Mal wieder begegnen, da würd ich mich schon besinne, daß sie mir langweilig wär. Was war das heunt morgen vor eine Komödie, was ist mir vor eine Hitz in den Kopf gestiegen und nun steck ich in einer zweifelhaften Unbequemlichkeit – wo ich da hingeh zu fremde Leut, die gar nicht dran denke, wer da angerumpelt kommt. – – »Ohne Kurage kein Genie,« hat mein Sohn immer gesagt, und will ich oder nicht, so muß ich doch einmal die höfliche Schmach auf mich nehmen, mit gesundem Mutterwitz dort in dem Fürstensaal vor einer eingebildten Welt zu paradieren und bloß für eine Fabelerscheinung mich betrachten zu lassen. Ja, [76] die Welt steht auf einem Fuß, wo keiner an die Wirklichkeit vom andern glaubt und sich doch selber vergnügt fühlt, wenn er nur von so einem Scheinheiligen bescheinigt ist.
Nun, alleweil kamen wir wie ein Sturmwind angerasselt, ganz erschrocken, daß ich schon da bin, wie ich eben vor Ungeduld mein, es wird nie dazu kommen. Ich steig aus, die Bediente renne wie ein Lauffeuer vor mir weg. Ei, ich kann da nicht wie eine Lerch mich ihnen nachschwingen, ich seh den Augenblick kommen, wo ich weder Bediente noch Weg mehr finden kann. Ich hatt mich ein bißchen versäumt gehabt, die Krumplen aus meinem Staatskleid herauszuschütteln , da waren sie unterdessen in einer Allee verschwunden wie ein paar Irrlichter; wir waren auseinanderkommen. Ich geh so dem Gehör nach, immer im Kreis ums Hofgezwitscher herum, immer näher, bis ich endlich aus meinem Schattenreich heraus unter den aufgepolsterte Hoftroß trete. Ich hielt mich im Hintergrund mit meinen Beobachtungsgaben, grad wie ein General bei einer Position, die er dem Feind abluxen will. Denn überraschen laß ich mich nicht, Mut hab ich, womit ich den Leuten, wenn sie den Kopf verlieren, ihn oft wieder zurecht gesetzt hab. Ja, bei Gelegenheiten, von denen eine Frau keinen Verstand zu haben behaupt wird, da steht als dem Mann derselbig [77] ihm allein zugemessne Verstand still, daß er wehklagt: »Ach, was fangen wir an?« – Da antwort die Frau und schlägt den Nagel auf den Kopf. – Die Welt wird immer hinkend bleiben, wenn der Verstand auf dem Mann seiner Seit hinüber hinkt, mit dem er die verrückte Weltangelegenheiten so schwermütig hinter sich drein schleppt. Was batts den große Weltgeist, daß er das Eheprinzip in sich trägt, wenn der männliche Verstand ein Hagestolz bleibt. – Also die erst Bemerkung, die ich mach in den mich umgebenden Hofzirkel, ist die, daß meine amarantfarbne Schleppe nicht grad ein guter Passepartout ist, denn nicht Ich mit meinem Vierundzwanzigpfünderblick, nicht meine Person wird mit neugierigen Augen betracht, nein, die wird übergesehn, aber meine Falbelas, meine Taille, meine Frangen, von unten herauf, immer höher und höher werd ich scharf examiniert, bis sie endlich zur Florfontange kommen, wo die Sternblumen drauf gepflanzt waren, da halten sie an und entdecken, daß auch ein Gesicht mit kommen war; da prallen sie wie der Blitz auseinander und melden meine Erscheinung der Frau Königin. Die kommt mit einem ehrfurchtsvoll gehaltnen Schritt auf mich los, ich – gleich salutiere mit einem Feuerblicke vom erste Kaliber, und nun mache alle Leut Platz, und die Frau Königin wie eine schöne Götternymph führt mich [78] an ihrer Hand, und der Wind spielt in dem schneehagelweiße Faltengewand und ein Lockenpaar, das spielt an auf jeden Tritt, den sie tut, und die blendende Stirn und die wunderschön blaßrote Farb von ihrem Gesicht, und der freundlich Mund, der ganz voll allerlei Geflüster mich anspricht. Verstanden hab ichs nicht, ich war durmlich von Vergnügen und konnt auch nichts weiter vorbringen als: »Hochgeschätzter Augenblick und liebwerteste Gegenwart und wundernswert vor Götter und vor Menschen –« und wie sie erst die Kett vom Hals sich losmacht und hängt sie mir um, und der ganze Hofkreis trippelt und guckt. Ich hab innerlich den Apoll und den Jupiter angerufen, diese menschenbegreifende Götter sollen mir beistehn, daß ich vernünftig bleib und nicht alles um mich her für wunderliche Tiere halt, denn alle diese vornehmen Hofchargen kamen mir vor wie ein heraldischer Tierkreis. Löwen, Büffel, Pfaue, Paviane, Greife; aber auf ein Gesicht, das menschlich schön zu nennen wär, besinn ich mich nicht. Das mag davon herkommen, weil diese Menschengattung mehr eine Art politischer Schrauben oder Radwerk an der Staatsmaschine und keine rechte Menschen sind. Harthörig, hartherzig, kurzsichtig, stolz und eigensinnig Volk, und es gehört immer der Zufall und ein Verdienst um sie, absonderlich aber ihre eigne [79] Laune dazu, und noch gar viel andre Künste, um von ihnen bemerkt und gehört zu werden. Schreien und Poltern oder gar Recht haben hilft gar nichts bei ihnen, ja, besonders das Recht haben, das kommt der politische Staatsmaschine ihrer hochtragenden Nas immer in die Quer. » Was soll das heißen, daß man mit seim Recht an die widerrennen tut? « – Sollte das Schicksal diese Nas ausersehen haben, daß sie drauf falle, das wär kein Schaden; darum muß man ihr Platz machen. Ja, von solchen ist kein christlich Gesinnung zu erwarten, das ist übrig. Man soll seines Bestallungsbriefes an die Natur sich erinnern, wenn man was mit ihne zu verhandeln hat, damit man an der doppel-schneidig-weltbürgerliche Politur nicht auch mit seinen edleren Gesinnungen als ausglitscht. Das fehlte noch, daß man wie ein Lauskerl vor sich selber dasteht und darf nicht in den Spiegel gucken vom eignen Gewissen. –
Solche Gedanke hatte ich in dem Tierkreis, wo die Ordensbänder und Stern und goldblitzende Staatsröck rund um mich herum blinkerten wie im Traum, und wie im Traum dacht ich: wenn ich König wär, ich hielt mir eine aparte Insel vor das heraldische Tiervolk, da könnten sie so fortleben, bis sie sterben wollten, aber mir jederzeit unter den Füßen herum zu grabeln, daß man alle Augenblicke über sie stolpern müßt, das litt ich nicht.
Nun, während ich über den Darmstädter Tierkreis meine Glossen mach, wovon ein nicht unbedeutender Teil mit besterntem Bauch, mit übereinander schielenden Blicken und überlegenden Mienen des Menschenwohls da unter der Herd herumstolpern, spür ich deutlich, daß ich in dem Verwunderungsstrudel dagesessen hatte wie ein Schaf. Ich schäme mich, daß ich sollte mit einem so unscheinbare Antlitz die freie Reichsstadt vertreten, ich such mir eine andere Physiognomie aus, den Frankfurter Adler. No! – wie der Adler, wenn er Donner und Blitz bewacht, so sitz ich da, und die lieb Sonn, ohne Urlaub zu nemme, setzt sich auf den Reisefuß und ging hinter denen schöne Linde bergab spazieren, und der Mond kam herauf, auf den mit allerlei poetische Spekulatione angespielt wurde, ich mußt lachen über die empfindungsvolle Tonarte, in welche die Gesellschaft da überging. Nun, ich kann nicht alles aus dem Gedächtnis hervorkrame. Ich schwieg in meiner stolze Position still, denn kein Mensch hatte mir ein Wort zu sagen, seit die Paradeszen vorbei war. Ich machte daher meine olympische Adlersmiene ohne Unterbrechung fort, und da war auch nicht ein Augenblick, wo ich mir nachgegeben hätt und hätt meinen Alletagsgesicht auch nur erlaubt durchzublinzeln. – Auf emal! schlägt mir ein Trompetegeschmetter durchs Ohr, [81] ich fahr aus einem tiefen Schlaf, in dem ich aller Herrlichkeiten, der um mich her vorgingen, vergessen, träume dem Herrn Heideblut und der Jungfer Lieschen meine erlebte Abenteuer zu erzähle, und ganz vergnügt bin, daß alles überstande ist. – Ja, der vermeint Adler hat den Kopf in sein Spitzekragen gesteckt und war unbewußt seiner entschlummert über dem viele Geschwärm von alle bedeutungsvolle Momente, die mir da in eim Hui ins Alltagsleben hereingestoben kamen, und ich, als in der Meinung, meinen olympischen Götterglanz fortzubehaupten, fall aus der Roll heraus und in Schlaf. Mit natürliche Dinge wars zugegangen; denk sich einer die verschiedene Motionen, dene ich vom frühen Morgen an ausgesetzt gewesen war; es war ja alles wie ein Traum, wars da ein Wunder, daß ichs am End für ein Traum hielt und ruhig weiter schlief? – Und die Nachtdämmerung – und ich saß ja da für gar keine weitere Geschäfte, als bloß Betrachtung anzustelle, was doch die Parze vor eigensinnige Begebenheiten einem in den Lebensfaden einspinne. No! – Als ich mit einem Schrecke durch alle Eingeweide aufwach, hat sich die Szen verändert, das Gebüsch wirft keinen Schatten mehr auf den leeren Platz, weil alles Tageslicht gewichen war, der Trompetenstoß, der mich von meinem tiefe Schlaf auferweckt hatte, [82] war aus dem Tanzsaal erschallt, wo helle Fackeln brenne, wo die ganze Hofnympheschar in einem schwebende Tanz mit dene heraldische Cavaliere herumhüppen; aus den unterirdische Kellerhäls dampft ein köstlicher Speisegeruch; in denen sieht man die Herrn Köche mit weißen Zipfelmützen munter und allert Fett in das Feuer werfe, daß es hell aufflackert; die Champagnerflasche hört man im Plotonfeuer losknalle und die Frau Rat, die zu diesem Göttermahl feierlichst eingeholt waren mit vier weiße Schimmel, die sitzen unter einem Vogelkirschbäumche, welche Frucht man bekanntlich nicht esse kann, und spüren Hunger.
Die Nacht war eingebrochen, und ich, unbekannt mit der Hofetikett, und doch mit einem Schicklichkeitsgefühl, was vielleicht grad aus grader, herzlicher Aufrichtigkeit den entgegengesetzte Weg hätt eingeschlagen von dem, was statuiert wär, ich stand in der Klemm, wie ich mich zu verhalten hätt, aber ich wurde sehr bald herausgerissen. Die gute Frau Königin hat mich in all dem Trubel nicht vergessen. Wie sie ihren ersten Tanz ausgemacht hat, da sieht sie sich um nach mir, und wie sie mich nicht finden kann, da gibt sie gleich Order. Das konnt ich durch die Fensterscheiben bemerken; – kaum hat sie nach mir gefragt, da laufen die Kammerherren, die Lakaien durch den ganzen Saal im Kringel [83] herum, um mich zu finden. Aber, dacht ich, sucht ihr nur. – Wie sie mich nicht finden können, da fällt ihnen doch ein, daß ich vielleicht könnt im Garten geblieben sein. Nun kommen sie heraus und verteilen sich in alle Regionen; ich drück mich dicht bei der Tür an die Wand, denn im Garten wollt ich mich nicht finden lassen, da hätt ich mich zu sehr geschämt. Nun dacht ich, jetzt ist der wichtige Moment, da muß ich einen energischen Streich machen und mich auf gut Glück wieder ins Meer stürzen, unter die Hofwogen, und mich da um die Wett mit denen aufbauschen. Wie also ein Hoflakai wie ein Schuß Pulver von der Tür abblitzt in den Garten hinaus, um mich im Gebüsch zu suchen, so fahr ich an dem blinde Hans vorbei, grad in den Saal herein, wo mir glücklicherweis alle Leut den Rücken drehten. – Ach!! – Gott sei Dank!! – Denn das Herzklopfen, was ich nach überstandner Katastrophe empfand – nun, – wer sich das denken kann! – bis ich mich so allmählich wieder beruhigte. – Denk sich einer, wenn die Windbeutel, die Kammerherren und Kammerdiener, da die Frau Rat unter dem Vogelkirschbäumchen gefunden hätten und hätten mit ihre Windlichter mir unter mein schlafend Angesicht geleucht. Nein, ich frag alle gute Freund, ob einer sich das gewünscht hätt? – Antwort: Nein! – Aber was [84] man sich nicht wünscht, das soll man andern nicht gönnen. Ich auch hab mirs nicht gewünscht und hätts meinem Feind nicht gegönnt.
Wie ich mich etwas erleichtert fühlte, so rückte ich allmählich hinter den vielen Leuten hervor, die an der Tür standen, und kam so ganz nah an die Frau Königin heran; die winkt mir, und nun kommen die Kammerjäger von ihrer Jagd durchs Buschwerk zurück und wollen eben mein Verschwinden melden, da sehn sie zu ihrer Verwundrung, wie ich eben mit denen Prinzen von Gotha, noch ein paar ganz jungen Bürschercher, Bekanntschaft mach. Die erzählen von meinem Sohn, weil sie ihn sehr gut kenne vom Weimarer Hof, und ich erzähl auch mein Bestes, und das war eine ganz vergnügte halbe Stund, wo ich mich ganz mit meinem Schicksal wieder aussöhnte. Auch hatte sich meine Verlegenheit nach und nach beschwichtigt über meine Toilette, denn ich hatte mir gleich vorgenommen gehabt, nur in keinen von denen großen hell erleuchtete Wandspiegel zu gucken; das war gar nicht so leicht. – Daß, wenn allenfalls was an mir in Unordnung geraten wär, daß ich nicht auch noch den Schreck auf mein gepreßt Herz laden müßt, weil aber die Leut all ganz vernünftig mich ansehn und keiner eine zum Lachen gestimmte Miene macht, da wag ich's und tu einen Seitenblick [85] und finde mich nicht nur ganz menschlich, sondern ich gefalle mir auch sehr wohl mit meinem kuraschierten Aug, das da thront über alle verkehrte Eingebildheiten, mit dem sie mich rund umher zu überschauen meinten. Ich schaute auf sie wieder herab, wie ein Wetterdach, das sie in Schutz genommen hat gegen den erfrischenden Regen und den kühlenden Wind, dem sie sich auszusetzen Bedenken tragen, und so ließ ich sie mich umirren mit ihren nichtssagende Blicke, als bloß wie dürres Laub, was im Wind dahinfliegt.
Die gute Frau Königin sah mirs an, daß es Zeit wär, mich zu entlassen; sie nahm da mein Dank recht freundlich auf und erinnert mich an die Zeiten, wo sie in meinem Haus unter meinem Schutz gewohnt hatte und tausend lustige Spielstunden in meinem Hof sich gemacht. –
Da ich nun entlassen war, so kam gleich wieder so ein dienender Geist von morgens früh und frägt mich, ob ich vielleicht den Wagen bestellen wollt lassen? – »Nichts lieber wie das«, sag ich, »bester Freund, verdienen Sie sich einen Lohn im Himmel, und helfen Sie mir über die königlich Schwell hinüber in mein bürgerlich Dasein.« Wie ich nun wieder im Wagen saß, wer war froher wie ich? – Ich hatte vor allen überraschenden Verlegenheiten und Sorgen gar nicht können an meine goldne [86] Kett denken; jetzt beguck ich sie im Mondschein, und sie machte mir doch großes Pläsier. – Denn alle Auszeichnungen, die mir werden, das weiß ich, die hab ich doch meinem Sohn zu danken, und wie soll das eine Mutter nicht freuen? –
Ja, es war eine pläsierliche Fahrt in der Kastanienallee heimwärts. Alle Baumschatten flogen im Vorbeifahren mir über meine geblendeten Augen, die ganz in tiefen Gedanken mit der in den Mondstrahlen blinkenden Kett sich beschäftigten.
Es muß ein Weltengeist geben, der alle wahre und kräftig natürliche Gefühle nicht in den Lüften verschwirren läßt. So ein Seufzer aus dem Mutterherzen, auf der Darmstädter Chaussee, ist nicht dort geblieben als irrender Geist herumzuschweifen. Er wird sein Ziel gefunden haben, auch war mein Herz ganz feurig, und ich dacht, so wird auch heut nacht die Frau Königin eine vergnügliche Ahnung von mir haben, daß sie mich hat so in einen feurigen Rapport gesetzt mit meinem Sohn, daß ich ihn da im Mondschein zwischen dem Baumgeflüster vor mir schweben sehe, und kann die schönste Rede führen mit ihm, weil da allerlei Meldungswürdiges mir begegnet ist. Ach was man sich nicht vor unschuldige Unmöglichkeiten einbilden kann! – Aber Muttergefühl ist eine Wünschelrut, die schlägt in allen weiblichen Herzen an. Und die Frau Königin [87] auch wird nicht ohne Absicht das Verdienst als Mutter in mir belohnt haben, sie wird gedacht haben: wenn sie doch auch so ein Sohn möcht zur Welt bringen, der diese mit seiner Unsterblichkeit könnt ausfüllen. – So ein Wunsch ist kein schlecht Gebet für eine erhabne Landesmutter – er begreift das Wohl des ganzen Menschengeschlechts in sich und es kann erhört werden, eben weil es der Müh wert ist so zu beten, so lohnt es auch dem Schicksalsgott die Erfüllung. – – –
Frankfurter Bürgertum ist der best Adel, der sich bis jetzt noch in alle Zeiten Respekt erworben hat. Welcher Staat kann sich des rühmen? Nun, ich kann Euch sagen, als ich in der Nacht vors Tor kam, so freut ich mich über die Maßen: »Sie müssen die Sperr bezahlen!« – »Königlich Equipage!« ruft der Lakai vom Bock herunter. – Schildwach ruft: »Heraus!« – »Ei was!« sag ich, »freilich will ich die Sperr bezahlen. Stecken Sie Ihnen Ihr Seitengewehr ein, Herr Leutnant, ich bins nur und sonst niemand!« – »Ei, um so besser, vor Ihnen präsentiere mer das Gewehr mit Vergnüge.« – Nun, als wir durch den Orkus durchgerumpelt waren und endlich vor meinem Haus stillhalten, so kommt mir ein ganzer Trupp von Basen und Vettern entgegen gestürzt. – Ich sag: »Ei, was wollt ihr dann? – Es ist nachtschlafende [88] Zeit!« – »Ach, Gott seis gedankt, daß wir Sie wieder vor unsern Augen sehen, lieb Frau Rat; wir hatten gedacht, Sie wären arretiert! Die Jungfer Lieschen hat uns in große Ängste zusammen getrummelt, es wär eine Order kommen von Ihre Königliche Majestät von Preußen, grad wie Sie hätten wollen ins Kirschenwäldchen fahren mit der Frau Bethmann; und kaum daß Sie sich hätten was anziehen können, so wären Sie mit Eskorte von drei Mann in einem zuenen Wagen mit vier Pferd forttransportiert worden. Und so sitzen wir hier schon drei Stund und wissen nicht, was wir sollen anfangen, und eben wollten wirs dem Herrn Bürgermeister melden, und wir wären Ihnen nachgeeilt, aber die Jungfer hatte den Ort vergessen, wo Sie waren hintransportiert worden.« – –
»Nun, um Gotteswillen! Was sind das vor Sachen! – Das Rätsel will ich Euch morgen lösen; heunt will ich Euch nur eins sagen, daß die Jungfer Lieschen eine Hahlgans ist, und ich seh wohl ein jetzt, daß ihr die Haub heunt morgen nicht verkehrt auf dem Kopf gesessen hat, daß ihr aber der Kopf verkehrt unter der Haub sitzt, davor will ich Euch stehn. Ich bedank mich übrigens vor die Teilnahme; und wenn Sie einmal arretiert werde sollten, so werd ich auch mein Bestes tun, Sie wieder einzuholen. Übrigens, wer meine große [89] Abenteuer genauer will erfahren, der muß morgen kommen, heunt sind die Tore gesperrt.« –
Nun, wie ich die gute Nachbarn los war – so mach ich der Lieschen erst Vorwürf, wie sie so dumm könnt sein und mir die Leut über den Hals trummelt.
Nun nehm ich meine Sternblumenhaub vom Kopf herunter und stülp sie über die Bouteille. Die hat heunt was mit mir erlebt – ich eröffne meine Enveloppe, die Lieschen erstarrt vor der goldnen Kett! – Sie macht mir Vorwürf, daß ich nicht gleich hab vor den Nachbarn, die um meine Abwesenheit waren in Sorgen gewesen, meinen Mantel aufgemacht. »Und«, sagt sie, »das war einmal nichts, daß die Frau Rat nicht gleich es gesagt haben, und morgen bei Tag wird das lang so kein Effekt machen.« – »Nun!« sag ich, »es ist nun emal geschehen, nun wollen wir uns ins Negligé werfen und ins Bett legen und von denen viele Strabatzen uns ausruhen!« –
Nun kommts endlich so weit, daß ich im Bett liege. – Die Frau Bethmann haben einen Korb mit den schönsten Kirsche mitgebracht aus dem Kirschenwäldchen, und wenn mirs recht wär, so wollte sie mir zulieb morgen noch einmal mit mir hinfahren. »Ei, freilich ist mir das recht! Jetzt stell sie mir die treffliche Herzkirschen an mein Bett [90] und die Wasserflasche dabei, so werd ich wie eine Prinzeß mirs wohl sein lassen und die ganze Nacht Kirschen fressen.« –
Aber die Lieschen hat keine Ruh, sie persuadiert mir noch über die weiß Nachtjack die goldne Kett um den Hals – und nun bewundert sie und bedauert, daß es die Nachbarn von rechts und links und gegenherüber nicht gesehn haben! »Nun!« sag ich, »schweig sie mit ihrem Lamento, es ist emal vorbei; hätt ich ehnder dran gedacht, so hätt ichs freilich ihne zeigen können, es würde sie im ersten Augenblick, wo sie noch den Schreck in alle Glieder hatten über meine bewußte Arretierung, noch mehr gefreut und überrascht haben!« – »Ach!« ruft die Lieschen, »die hab ich gleich wieder beisammen, es ist ja nit weit hin!« und eh ich ihr auf ihre Dummheit Kontraorder geben kann, klappt sie mit ihre Pantoffel die Trepp hinunter, ich hör die Haustür gehn, ich lieg da in der Nachtjack im Bett mit meiner goldne Kett, mit meine Kirschen; ich denk: Was soll das werden, alle Leut liegen um ein Uhr in der Nacht im tiefsten Schlaf; seit wieviel Jahr hat ein gesunder Frankfurter die Stern am Himmel um diese Zeit nicht gesehn; und nun poltert mir die Lieschen die Menschen zusammen! – Ja, richtig, da kommen sie schon mit angepoltert! – Nun, morgen wird die ganze Stadt sagen, ich wär nicht [91] recht gescheut. – Jetzt, der erst Gesell, der die Tür aufmacht, sein der Herr Doktor Lehr. »Ei, um Gottes wille, wie kommen Sie daher?« – »Ei, wie ich eben in Wagen steigen will bei der Frau Schaket, die eben mit einem kleinen Sohn niedergekommen sind, da kommt Ihr Hausjungfer Lieschen Hals über Kopf daher gerennt, und im Vorbeirenne frägt sie, ob ich nicht wollt die schöne Kett sehen, die Ihne der König von Preußen mit eigne Hände hat um den Hals gehängt!« – Ei, die Lieschen ist ja imstand und redet die ganz Stadt auf, um die Kett zu sehn, und morgen werden die Leut sagen, ich war nicht recht gescheut! – Nun, weil der Doktor Lehr in Bewundrung über meine Kette dastehn, so kommen die andern nachgepoltert, die all von der Lieschen und ihrer Neugierd wieder aus dene Betten getrummelt waren, und ich hat nicht weniger wie zehn Personen im Zimmer und ein fürchterlich Geschnatter! Ich sagt aber nichts und ließ sie gucken und Glossen machen und aß ruhig meine Kirschen auf, und mit der letzte Kirsch da sagt der Doktor Lehr: »Nun werd ich meine Kindbetterin, noch eh ich nach Haus fahr, besuchen, und werd von der golderne Kett noch erzählen!« – »O«, sag ich, »schicke Sie mir nicht auch noch die Stadthebamm übern Hals!« – Jetzt, kaum war der Doktor Lehr fort, so empfehle sich auch die Nachbarsleut [92] und bedanke sich, und ich mach meine Entschuldigungen, daß die Lieschen ohne mein Wille sie hat wieder aus den Betten geholt, sie gaben aber dem Lieschen ganz recht! – Nun, wie sie der Tür drauß waren und ich hör die Haustür gehn, war ich froh, daß ich endlich bei mir allein war. Aber da knistert was an der Tür! – Mein Schrecken! – ich denk, da ist am End heimlich ein Spitzbub hereingeschlichen, ich schrei um Hilf, ich will eben ans Fenster springen und die Nachbarsleut wieder herbeirufen, die noch nicht weit sein könne, da ich die Absätz von ihre Schuh deutlich in der Fern widerhallen hör auf dem Straßenpflaster. Aber da kommt ja wahrhaftig die Frau Ahleder herein, die Stadthebamm, und sagt, der Herr Doktor Lehr hätts ihr gesagt, ich hätts erlaubt, daß sie noch dürft komme und die goldern Kett sehn! – »Ja«, sag ich, »Frau Ahleder, sehe Sie nach Gefallen, aber ich bitt Sie um Gottes willen, sagen Sies heut niemand wieder, damit ich doch noch einen Teil von der Nachtruh genießen kann!« – Nun, die war auch die letzt Nachtvisit, aber acht Tag hintereinander strömte alle Leut zu mir, und ich mußte viele alte Bekanntschafte erneuern und viel neue machen wegen der Kett und mußt meine Geschicht von alle Seite erzähle, wo ich dann unendlich viel Variation dabei angebracht hab und hab denen besuchende [93] Neugierigen einem jeden noch apart mit eingeflochten, was ich meint, daß ihm not wär zu bedenken. Den ersten Tag war ich durchgewitscht ins Kirschenwäldchen, da sind sie mir ja all nachkommen zu Fuß und zu Wagen, und das ganze Kirschenwäldchen war gestopft voll Zuhörer, und die Gassenbuben haben Spalier gemacht um mich herum, und ich mußt eine Prachterzählung machen, und ich wärs beinah satt geworden, ich war froh, wie sich der erst Sturm gelegt hatte. Nun, heunt hab ich wieder einmal die alt Geschichte mit besonderm Pläsier aufgewärmt, und ich hoffe, daß sie Euch wird eingeleuchtet haben.
Vorbemerkung des Herausgebers.
Der nachfolgende Abschnitt ist dem großen, humoristisch-satirischen Reiseroman »Auch Einer« entnommen, den Vischer im Jahre 1879 veröffentlichte. Eine Fülle geistsprühender Aphorismen, scharf pointierte Betrachtungen über alle Dinge in Kunst und Leben ranken in bunten Verschlingungen in diesem Buch, das mit derbem Behagen und kräftigem Humor einen Menschen schildert, den Reisebekannten A. E. (Auch Einer), der sich der Tücke des Objekts, d. h. der Widerwärtigkeiten all der kleinen, störenden, an sich unbedeutenden Zufallsdinge des Alltags nicht erwehren kann. Auf einer Reise in die Schweiz macht der Dichter die Bekanntschaft des sonderbaren Helden. Gleich in der ersten Nacht, die sie im selben Hotel Wand an Wand verleben, lernt der Dichter aus dem Munde des Herrn A. E. die widerwärtige Tücke des Objekts kennen. Vischer erzählt:
Ich konnte lang nicht einschlafen, hörte meinen Wandnachbar in sein Zimmer treten, sich auskleiden und zu Bett legen. Das Haus war so hörsam, daß selbst das Nagen einer Maus im Nebenzimmer meinem Ohre nicht entging. Den unbekannten Bewohner desselben hielt ich für längst eingeschlafen, [95] als ich die Worte vernahm: »Ach es fängt an.« Es war die Stimme meines armen Verkälteten. Was denn auch wirklich anfing, war ein scharfes Husten und häufiges starkes Räuspern und Spucken, das, von tiefen Seufzern unterbrochen, zu meiner eignen Qual wohl eine Stunde dauerte, dann aber einem fürchterlichen Schnarchen Platz machte, das im ganzen Register einer Orgel sich hin und her bewegte, oft von stoßenden, plötzlich abschnappenden Tönen und bangen Pausen unterbrochen, worin der musikalische Schläfer nach Atem zu ringen schien. Ich hätte ernstlich für seine Lunge gefürchtet, wenn nicht seine Gesichtsfarbe, gewölbte Brust, Energie der Bewegungen, wie ich sie während des Tags beobachtet hatte, eine ausdauernde Widerstandskraft verbürgt hätten. Endlich schlief ich doch selbst ein, freilich nur, um sehr früh geweckt zu werden und zwar durch ein Auf- und Abgehen meines Nachbars, das mit Geräuschen wechselte, aus denen ich auf ein ungeduldiges Suchen in Schubladen, auf Tischen, in allen Geräten des Zimmers schließen mußte. Das Laufen, Stöbern wurde immer heftiger, ein Selbstgespräch, das diese wilden Bewegungen zuerst leis begleitete, wurde lauter und lauter und ging dann in wütende Ausrufungen, endlich in einen Hagel von Flüchen über, die in der Tat nicht christlich, vielmehr türkisch, ja [96] heidnisch zu nennen waren und von einem wütenden Stampfen und Wettern begleitet wurden. Ich hielt es nicht mehr aus, der Mensch schien mir rein toll geworden, ich kleidete mich flüchtig an, klopfte an seiner Tür und trat, in meiner Aufregung die Form vernachlässigend, ins Zimmer, ohne auf das »Herein« zu warten. Mit zornsprühenden Augen, hochrot im Gesicht, fuhr der Bewohner auf mich zu, er schien mich an der Kehle packen zu wollen; plötzlich aber faßte er sich, stand unbewegt vor mir, sah mich mit durchdringendem Blick an und sagte ruhig streng: »Mein Herr, Sie führt ein Bildungsbedürfnis hier herein.« Es war mit meinem Gewissen nicht sonderlich bestellt, denn ich hatte doch eine Formverletzung begangen; dies machte mich wehrlos, ganz kleinlaut sagte ich: »Ja«, und fragte nun, was er denn aber ums Himmels willen eigentlich habe. A. E. – so wollen wir meinen Reisebekannten von nun an der Kürze halber nennen – fiel jetzt wieder in seinen Wutzustand und schrie mit Donnerlaut: »Meine Brille, meine Brille! Die Canaille hat sich wieder einmal verkrochen – vom Schlüssel, dem kleinen Teufel, vorerst nicht zu reden!«
»Also Ihre Brille suchen Sie? Ist dies Objekt es wert, daß man in solche Wut gerate? Kennen Sie denn auch gar keine Geduld?«
Er wollte gegen mich auffahren, faßte sich aber auch diesmal wieder, sah mich an und sagte: »Schraubenschlüssel? Pfropfzieher?«
»Was soll das?«
»Nun, neulich träumte mir schrecklicherweise, ich habe eine Frau; ich lachte sie aus, daß sie die Zeitung unaufgeschnitten lese und jahrelang eine Schublade dulde, die nicht geht. Hierauf hielt sie mir eine Geduldpredigt und verlangte, ich solle zur Übung dieser Tugend an meinem Rock statt Knopflöcher und Knöpfe Schrauben und Schraubenmütter tragen, die sich ja ganz elegant von blau angelaufenem Metall herstellen ließen, oder auch Pfröpfe, und ich könnte jedesmal, wenn ich den Rock öffnen wolle, jene mit einem Schraubenschlüssel, diese mit einem Pfropfzieher aufmachen. – O was! ein Weib ist fähig, über einen Schrank einen Teppich so zu legen, daß er über die oberste Schublade überhängt und, so oft diese gezogen und geschlossen wird, sich einklemmt! Mein Herr, das Weib hat Zeit für den Kampf mit dem Racker Objekt, sie lebt in diesem Kampf, er ist ihr Element; ein Mann darf und soll keine Zeit hiefür haben, er braucht seine Geduld auf für das, was der Geduld wert ist. Über die Zumutung, beides zu verwenden an das Unwerte, kann, darf, soll er wüten! Sie können doch wissen, daß die elenden Objekte, diese [98] Igel, diese Nickel, sich nie lieber einhaken, als wenn wir die höchste Eile haben, etwas fertig zu bringen, was nötig und vernünftig ist! Elender Bettel, nichtswürdiger Knopf oder Knäuel eines Bündels, Lorgnettenschnur, die sich um meinen Westenknopf wickelt, just, wenn es auf der Eisenbahn aufs äußerste eilt, einen klein gedruckten Fahrplan nachzusehen, ich hab' ja keine Zeit, keine Zeit für euch! Und wenn ich tausend Blutigel an die Ewigkeit setze, sie ziehen mir nicht eine Sekunde Zeit für euch heraus!«
»Was nützt aber die Wut?«
»O geistlos! Hat es Luther nichts genutzt – falls von Nutzen die Rede sein soll – wenn er den Teufel fortschalt? Wißt ihr denn nichts von Entlastung der armen Seele? Von der köstlichen Arznei, die im Fluchen liegt?«
Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoß wütend im Zimmer hin und her und ergoß eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille. Ich suchte inzwischen am Boden herum; ich hob ein paar Hemden weg, die blank, aber zerzaust umherlagen, und mein Blick fiel auf ein Mausloch in einem Bretterspalt; ich glaubte, darin etwas schimmern zu sehen, strengte meine Augen an, die sich einer guten Sehkraft erfreuen, und die Entdeckung war gemacht; ich nahm den schwergeärgerten [99] Mann leicht am Arm und deutete schweigend auf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermißten Gläser und begann: »Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer!«
Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu ziehen, die Mühe stand wirklich im Mißverhältnis zum Werte des Gegenstands, endlich war es gelungen, er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: »Todesurteil! Supplicium! « hob den Fuß und zertrat sie mit dem Absatz, daß das Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog.
»Ja, jetzt haben Sie aber ja keine Brille,« sagte ich nach einer Pause des Staunens.
»Wird sich finden, diese Teufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit. Kommen Sie, da, sehen Sie« Er zog seine Uhr heraus; es war eines der ordinärsten, in der Tat gemeinsten Produkte der horologischen Industrie, ganz Zwiebel. »Statt dieses redlichen, treuen Wesens«, fuhr er fort, »fungierte früher eine goldene Repetieruhr, die, ich kann es sagen, ihr Stück Geld gekostet hatte; sie vergalt dieses Opfer jahraus jahrein mit Tücken jeder Art, ging nie recht, benutzte arglistig jede Gelegenheit, zu fallen, sich zu verstecken, Gläser [100] zerbrachen so viele, daß es mich bald an den Bettelstab gebracht hätte, endlich setzte sie sich mit dem Haken der goldenen Uhrenkette in Einverständnis, in Verschwörung. Mit den Haken, mein Herr, hat es nämlich eine eigne Bewandtnis. Das Tendenziöse, was im Objekt überhaupt liegt – darüber wäre einiges zu sagen, mein Herr, aber das ist von langer Hand – das Tendenziöse spricht sich so offenkundig in der Galgenphysiognomie der Haken aus, daß man im Umgang mit diesen hämischen Gesichtern leicht unvorsichtig wird; man denkt: dich kenne ich ja, dich verrät deine griffige, vor sich selbst warnende Bildung, du wirst mich nicht überlisten; eben darüber wird man im Gegenteil fahrlässig. Ganz umgekehrt verhält es sich bei so manchen andern Objekten. Wer sollte zum Beispiel einem simplen Knopf seine Verruchtheit ansehen? Aber ein solcher Racker hat mir neulich folgenden Possen gespielt. Ich ließ mich gegen alle meine Grundsätze zur Teilnahme an einem Hochzeitsschmaus verleiten; eine große silberne Platte, bedeckt mit mehrerlei Zuspeisen, kam vor mich zu stehen; ich bemerkte nicht, daß sie sich etwas über den Tischrand heraus gegen meine Brust hergeschoben hatte; einer Dame, meiner Nachbarin, fällt die Gabel zu Boden, ich will sie aufheben, ein Knopf meines Rockes hatte sich mit teuflischer List unter den Rand der Platte [101] gemacht, hebt sie, wie ich schnell aufstehe, jäh empor, der ganze Plunder, den sie trug, Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Teil dunkelrote Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch, ich will noch retten, schmeiße eine Weinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitkleid der Braut zu meiner Linken, ich trete der Nachbarin rechts heftig auf die Zehen; ein andrer, der helfend eingreifen will, stößt eine Gemüseschüssel, ein dritter sein Glas um – o, es war ein Hallo, ein ganzes Donnerwetter, kurz ein echt tragischer Fall: die zerbrechliche Welt alles Endlichen überhaupt schien in Scherben gehen zu wollen; mich ergreift die Stimmung des Erhabenen, ich fasse zunächst eine Champagnerflasche, trete ans Fenster, öffne es, schwinge sie empor, der Bräutigam fällt mir in den Arm, ich erzürne mich, es gibt bös Blut, die Braut war ohnedies halb ohnmächtig, kurz – ich mag nicht weiter erzählen, denn nun wurde die Sache komisch.«
»Ernst, wollen Sie sagen?«
Er staunte mich an wie einen Menschen, der alle gesunden Begriffe verwirrt; ich verzichtete auf weiteres Eingehen und bat ihn, das Trauerspiel von Haken und Uhr zu vollenden.
»Ja so, ja, also: der Haken schlich in einer Nacht über das Tischchen, worauf ich die Uhr achtsam gelegt, leise hinüber nach dem Bett, nestelte sich in [102] eine Naht des Kissenüberzugs ein, das Kissen war mir überflüssig, ich hob es rasch und warf es an das Fußende des Bettes, die Uhr nun natürlich mit; in einem prächtigen Bogen schwang sie sich an die Wand und fiel mit zersplittertem Glase nieder. Es war genug. Ich zertrat sie feierlich wie diese Verbrecherin von Brille, der Kobold gab dabei einen Ton von sich, einen Pfiff wie eine verfolgte Maus, ich kann schwören, daß es ein Laut war, der nicht im Umfange der physikalischen Natur liegt. Nun, dann habe ich mir hier diese bescheidene Zeigerin der Zeit um niederträchtig geringes Geld gekauft; betrachten Sie die Gute: bemerken Sie den Ausdruck von Biederkeit in diesen schlichten Zügen; seit zwanzig Jahren dient sie mir – unberufen, unberufen! – treu und ehrlich, ja, ich kann sagen, nicht einen Verdruß hat sie mir bereitet. Die goldene Uhrenkette hat jetzt mein Bedienter, der Haken wurde zu schmachvollem Tod in der Kloake verdammt, und ich trage meine redliche Zwiebel an dieser sanftgearteten seidenen Schnur; Johann, der muntre Seifensieder.«
A. E. war während dieser Darstellung, in deren Breite er sich zu gefallen schien, ganz ruhig geworden und fuhr gelassen fort:
»Jetzt das übrige! Die übrige Geschichte dieser schwarzen Morgenstunde!
»Zuerst springen an drei Hemden die Knöpfchen ab, da ich sie anziehen will. Ja, ja, so ein Hemdknopf! Ein Bär stellt sich ehrlich zum Kampf; ich weiß, was ich zu tun, wie ich meine Waffe anzuwenden habe; einen hundertjährigen Eichbaum kann ich mit Kraft und Ausdauer umhauen; aber der Knirps! Ich soll Kraft anwenden, denn die Bestie will absolut nicht durchs Knopfloch, und ich soll sie zugleich ebensosehr gar nicht anwenden, sondern ganz fein und leicht mit den Fingerspitzen arbeiten, und indem ich mich placke, schinde, abrackere, foltere, töte, das Widersprechende zu leisten – o lustig! springt die Schmachkanaille erst recht ab! Die Teufel nehmen Besitz vom Weibe, uns dies Scheußliche zu bereiten. Ich habe es von glaubwürdigen, wahrheitliebenden und besonnenen Ehemännern: wegen der Hemdknöpfchen heiratet man, und dann ist es erst recht nichts damit. – Weiter! – Nur im Vorbeigehen will ich anführen, daß mich zuerst beim Ankleiden ein höchst ränkesüchtiges Armloch gute fünf Minuten lang insultiert hat – dabei blieb ich aber noch ganz ruhig – denn ich kann mich beherrschen, mein Herr! Nun aber sehen Sie diesen Schlüssel« – er zog einen kleinen Schlüssel hervor, der wohl zu seiner Reisetasche gehörte – »und sodann diesen Leuchter!« – er hielt mir den metallenen Leuchter umgekehrt vors Auge, so daß [104] ich in die Höhlung seines Fußes sah – »was glauben, was denken, was sagen Sie?«
»Ja, was weiß denn ich?«
»Stark eine halbe Stunde lang habe ich heute morgen diesen Schlüssel gesucht – es war zum Rasendwerden, da finde ich ihn endlich, sehen Sie, so!« Er legte den Schlüssel auf das Tischchen am Bett, stellte den Leuchter darauf; der Schlüssel fand just, wie ausgemessen, Platz unter dem Leuchterfuß.
»Wer kann nun daran denken, wer auf die Vermutung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekts zu vermeiden! Und dazu lebe ich! An solches hündische Suchen muß ich meine arme, kostbare Zeit verschwenden! Suchen, suchen, und wieder suchen! Man sollte nicht sagen: so und so lang hat A. oder B. gelebt, nein: gesucht! – Und ich bin sehr, sehr pünktlich, glauben Sie mir das!« –
»Jawohl ist das Leben ein Suchen,« sagte ich mit einem Seufzer, der scheinen konnte, den Mühen des Lebens zu gelten, während er in Wahrheit von der Langeweile ausgepreßt war, da die breite Beschäftigung mit dem Bagatell mich denn doch zu ermüden begann. Daher denn auch die flache Bemerkung selbst, die nur um jeden Preis nach einem Inhalt abzulenken suchte.
Ich kam schlecht an. »So, mein Herr, symbolisch?« [105] sagte er. »Und das soll dann tiefer sein! Ah! O!«
»Nun, was denn?«
»Sehen Sie, mein Herr, suchen im bildlichen Sinn, darüber, daß das Leben so ein Suchen ist, darüber klage ich nicht, darüber sollen Sie nicht seufzen. Das Moralische versteht sich immer von selbst. Ein rechter Kerl sucht, strebt und beschwert sich nicht darüber, sondern ist glücklich in diesem Unglück der aufsteigenden und nie anlangenden Linie des Lebens. Das ist unser oberes Stockwerk. Aber die Zugabe, die Hundenot gleichzeitig im untern Stockwerk des Lebens – davon ist die Rede. Da ist also zum Beispiel das Suchen, das so toll, so nervös, so wahnsinnig macht. Man verfällt ja dabei immer in den Theismus. Der liebe Gott, der oben herunterschaut, der die Haare auf unserm Haupte zählt, der mich nun stundenlang meine Brille suchen sieht – er sieht ja auch die Brille, weiß recht gut, wo sie liegt – ist es zum Ertragen, nun denken zu müssen, wie er lachen muß? – Allgütiges Wesen! Meinen Sie, ein solches würde ferner den Katarrh zulassen? Leben – Suchen – Spucken! Da sagen die törichten Menschen von einem Ausgedienten, von einem Erlösten, von dem sie meinen, er gehe als Geist um, er spuke! Dummes Zeug, aus hat er gespuckt! O, wir sind geboren, zu suchen, [106] Knoten aufzudröseln, die Welt mit Hühneraugen anzusehen, und ach! zu niesen, zu husten und zu spucken! Der Mensch mit seines Hauptes gewölbter Welt, mit dem strahlenden Auge, dem Geist, der in die Tiefen und Weiten blitzt, mit dem Fühlen, das mit Silberschwingen zum Himmel aufsteigt, mit der Phantasie, die ihres Feuers goldene Ströme ausgießt über Berg und Tal und sterblich Menschenbild zum Gott erklärt, mit dem Willen, dem blanken Schwert in der Hand, zu schlichten, zu richten, zu bezwingen, mit der frommen Geduld zu pflanzen, zu pflegen, zu wachen, daß der Baum des Lebens wachse, gedeihe und Himmelsfrucht jeder sanften Bildung trage, der Mensch mit der Engelsgestalt des ewig Schönen im ahnenden, sehnenden Busen – ja, dieser Mensch verwandelt in einen schleimigen Mollusken, zur klebrigen Auster erniedrigt, ein Magazin, ein Schandschlauch für vergärenden Drüsensaft, eine Schneuzmaschine, im Hals ein zackig Kratzeisen, ein Nest von Teufeln, die mit feinen Nadeln nächtelang am Kehlkopf kitzeln, die Augen trübe, das Hirn dumpf, stumpf, verstört, der Nerv giftig gereizt, und dabei erst nicht als Kranker geltend, noch geschont – und da soll es einen Gott –!«
Hier geriet mein Gottesleugner in ein Niesen und Husten so teilnahmwerter Art, daß ich eine [107] Bemerkung, die mir auf der Zunge lag: der Katarrh sei denn doch nicht der gewöhnliche Zustand des Menschen, gern unterdrückte; ich konnte freilich ohnedies ahnen, daß ich schlecht damit gefahren wäre. Dagegen wollte ich mich doch nicht enthalten, als der Paroxismus zu Ende war, vorzubringen: »Aber was machen Sie denn, wenn Sie ernstlich, schwer krank sind?«
A. E. war inzwischen daran, sich reisefertig zu machen, wurde über einem Hindernis, das sich an der Rückseite seiner Beinkleider zu befinden schien, noch einmal sichtlich aufgeregt, trat plötzlich hart vor mich, machte straff wie ein Soldat rechtsum kehrt und schrie sehr laut und schroff: »Hier!«
Ganz verdutzt, als ich nun so breit seinen Rücken vor mir hatte, dachte ich, ob denn dies der Anfang des versprochenen Bildungsunterrichts sein solle; er ließ mir ziemlich Zeit zur Betrachtung, bis der Aufschluß kam: »Sehen Sie die Lappen am Hüftgurt? sind fünfmal, sage fünfmal beim Schneider gewesen vor der Abreise; zuerst zu lang oder zu weit, dann wieder zu kurz oder zu eng, dann beides noch einmal so – nun? wie steht's mit der Theologie?«
Ich verstand jetzt, daß ich sehen sollte, wie die Lappen einander zu nah angenäht waren, die Gürtung also nicht genug angezogen werden konnte; [108] er war zufrieden, als ich mein Verständnis kund gab, und nun schien der Sturm ausgetobt zu haben. Meine vorige Bemerkung fiel ihm jetzt wieder ein.
»Was haben Sie von recht Kranksein gesagt? Nun, das ist ja Geduld wert. Das Moralische versteht sich immer von selbst.«
Er hatte inzwischen seine Reisetasche gepackt, wobei er, wie ich bemerkte, sehr geschickt zu Werke ging; es galt, viele Kleinigkeiten in engen Raum zusammenzufügen, und er brachte es ganz nett zustande; Ungeschicklichkeit, das sah ich, konnte nicht die Ursache des Kriegszustandes sein, in dem er mit dem Bagatell sich befand. Er sagte mir nun, er wolle seine Reise auf der Axenstraße am See zu Fuß fortsetzen. Leicht konnte er sich denken, daß ich wahrscheinlich ebendasselbe vorhabe, der Gedanke eines Zusammenwanderns lag, da wir denn doch schon Bekannte waren, nahe genug, aber es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Wink zu geben, der entfernt einer Einladung gleichgesehen hätte. Ich dachte, er erwarte, daß ich mich ihm erst vorstelle, und begann: »Erlauben Sie, es ist doch wohl Zeit, daß ich mich Ihnen –«
Er unterbrach mich: »Bitte, danke, lieber nicht – verzeihen Sie, es ist nicht Maske, nicht Geheimtuerei von mir, gewiß nicht, liebe aber, auf der [109] Reise wenigstens, alles klar, frei. Name und Stand macht Nebengedanken, führt auf Namen-Etymologie und dergleichen, wir sind eben jeder ein Ich, eine Person oder, wie Fischart sagt, seelhaftes Lebwesen; wir befinden uns besser so.«
Ich war nun schon im Zuge, dem wunderlichen Kauz nichts übel zu nehmen, und da, wie ich gestehe, meine Neugierde nach Namen und Stand eben auch nicht groß ist, so ließ ich mir's unschwer gefallen, daß ich auch nicht erfahren sollte, wen ich eigentlich vor mir habe. Ich reichte auf der Schwelle die Hand zum Abschied, und A. E. wollte sie eben nehmen, als ihm einfiel, daß er doch erst frühstücken sollte; dieses Werk wenigstens noch gemeinsam zu verrichten, dagegen schien er denn doch nichts zu haben, und so stieg ich mit ihm in die » salle à manger « hinab.
Beim Eintreten bemerkte ich, daß er einen ängstlich suchenden Blick nach den vier Ecken des Saales, und zwar auf den Fußboden, warf; der Blick kehrte beruhigt zurück, als er in der vierten ein kleines Gerät bemerkte, das hustenden Menschen erwünscht sein mag; mit höchst gemütlichem Tone sagte er: »Der Saal ist doch ganz ordentlich möbliert,« und [110] von da schien eine erträglich gute Laune bei ihm einzutreten. Das Frühstück stand nach Art der Schweizer Gasthöfe in diesen Frühstunden stets bereit, und A. E. – nachdem er Honig und Butter heftig weggeschoben hatte – griff rüstig zu, ich desgleichen. Wir waren allein im Saale, doch bald trat ein dritter Reisender ein. Es war ein Mann von gesetzten Jahren, er trug ein Staubhemd von ungebleichter Leinwand mit einem kleinen, über die Schultern hängenden Kragen und auf dem Rücken einen nicht ungewichtigen Leinwandtornister, auf seiner Stirn lag ein bemerklicher Wanderschweiß, man sah, er hatte diesen Morgen schon einige Stunden zurückgelegt; er legte seine Last ab, stellte den soliden, bauschigen Regenschirm in eine Ecke, nicht ohne ihn mit einem Blick zu betrachten, der eine innere Zufriedenheit mit dem gediegenen und nützlichen Gerät ausdrückte, begab sich rasch an den Tisch, setzte sich an sein andres Ende, rückte sich den Stuhl recht nahe, zog eine Brille hervor, besah sich, was aufgesetzt war, schien mit der Vollständigkeit der Dinge, die zu einem englischen Frühstück gehören, sehr einverstanden und begann mit dem vollen Ausdruck einer Seele, die sich bewußt ist, daß ihr Leib sein Frühstück redlich verdient habe, die genußverheißende Arbeit des Schneidens und Butterstreichens. Es war leicht zu ersehen, daß [111] der Mann dem Gelehrtenstande angehören mußte, und seine etwas bleiche Gesichtsfarbe legte den Schluß nahe, daß er zu jener Gattung der Gebirgsreisenden gehören möge, die durch starke Fußmärsche in Ferien einzubringen suchen, was sie durch sitzende Lebensart das Jahr hindurch ihrem Organismus Leides zufügen müssen.
A. E., der inzwischen die Eßlust gestillt, schien zum Abmarsch keine besondere Eile zu haben, steckte sich gemächlich eine Zigarre an und begann zu mir: »Sie geben also zu, daß die Physik eigentlich Metaphysik ist, Lehre vom Geisterreich. Das heißt, ich vermute, daß Sie es zugeben, wiewohl ich es Ihnen philosophisch eigentlich noch nicht begründet habe, denn was Sie sicherlich bereits erkannt haben, das ist die allgemeine Tendenziosität, ja Animosität des Objekts, des sogenannten Körpers, was die bisherige Physik geistlos mit Namen wie: Gesetz der Schwere, Statik und dergleichen bezeichnet hat, während es vielmehr aus Einwohnung böser Geister herzuleiten ist.«
Der Fremde hatte inzwischen einen länglichen Brotlaib höchst kunstgerecht wie man es wohl im »Kurmärker und die Picarde« vom preußischen Landwehrmann verrichten sieht, der Länge nach entzweigeschnitten und war eben beschäftigt, die Butter schön und glatt wie mit einem Modellierholz aufzustreichen; [112] er hielt bei diesen Worten einen Augenblick inne, warf unter den buschigen Brauen einen sonderbaren Blick nach uns herüber und fuhr dann nachdenklich in seinem plastischen Geschäfte fort, indem er öfters mit einem Ausdruck von Staunen und Ironie den Kopf hin und her wiegte. Es kam mir der Gedanke, ob A. E. auf ihn berechne. Es schien entschieden nicht. Er hatte auf den Eintretenden nur einen raschen Blick geworfen, freilich einen scharf erfassenden, denn sein Auge pflegte zu blicken, als wäre eine fest greifende Hand darin, doch nicht ein Zeichen ließ vermuten, daß er sich weiter um den Unbekannten kümmere.
»Animos,« fuhr er fort, – »haben Sie denn auch nur schon beobachtet, wie das fallende Papierblatt uns verhöhnt? Sind sie nicht wahrhaft graziös, die Spottbewegungen, womit es hin und her flattert? Sagt nicht jeder Zug mit blasiert eleganter Frivolität: doch noch gewonnen!? O, das Objekt lauert. Ich setze mich nach dem Frühstück frisch, wohlgemut an die Arbeit, ahne den Feind nicht. Ich tunke ein, zu schreiben, schreibe: ein Härchen in der Feder, damit beginnt es. Der Teufel will nicht heraus, ich beflecke die Finger mit Tinte, ein Flecken kommt aufs Papier – dann muß ich ein Blatt suchen, dann ein Buch und so weiter, und so weiter, kurz, der schöne [113] Morgen ist hin. Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, solang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm umgehen, wie der Tierbändiger mit der Bestie, wenn er sich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick von ihrem Blick und die Bestie keinen von seinem; was man da von der moralischen Gewalt des Menschenblickes vorbringt, ist nichts, ist Märchen; nein, der starre Blick sagt dem Vieh nur, daß der Mensch wacht, auf seiner Hut ist, und Blick gegen Blick, gleich fix gespannt, lauert es denn, ob er sich einen Augenblick vergesse. So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre, Glas, Lampe – alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht acht gibt. Aber um Gottes willen, wer kann's durchführen? Wer hat Zeit? Und wie der Tiger im ersten Moment, wo er sich unbeobachtet sieht, mit Wutsprung auf den Unglücklichen stürzt, so das verfluchte Objekt; plumper oder feiner, wie es kommt, diabolisch fein zum Beispiel das Eisenfeilstäubchen, das mir ins Auge flog am Morgen, als ich eine Fußreise antreten wollte, auf die ich mich lange gefreut, und das mich ums Auge zu bringen drohte – o, überhaupt: glauben Sie, wenn ein ordentlicher Mensch reisen will, halten die Teufel ein ökumenisches Konzil – Vorschläge – Anträge – Amendements [114] – zum Exempel: Antrag: Hühnerauge, Amendement: unter dem Nagel; oder Antrag: Grimmen auf der Eisenbahn, Amendement: in Gesellschaft einer Dame; Antrag: schlecht Wetter, Amendement: zerrissene Schuhe und die neuen zu eng. Doch nicht immer waltet aggressive Form. Das Objekt liebt in seinem Teufelshumor namentlich das Verschlupfspiel. Wie die gute, sorgende, schützende Natur einige Tiere dem Boden gleich färbt, bildet, auf dem sie leben, sich nähren, damit sie der Feind schwerer entdecke – Raupe, Schmetterling der Baumrinde, dem Baumblatt, Hase der Erde gleich – so verfahren auch gern die Dämonen: zum Beispiel rotbraunes Brillenfutteral versteckt sich auf rotbraunem Möbel; doch Haupttücke des Objekts ist, an den Rand kriechen und sich da von der Höhe fallen lassen, aus der Hand gleiten – du vergissest dich kaum einen Augenblick und ratsch –«
Wir hörten in diesem Augenblick ein kleines Geräusch von der Seite des dritten Gastes her, sahen ihn hastig unter den Tisch fahren und mit einem Körper in der Hand wieder auftauchen, den er mit großem Schrecken und darauf folgender tiefer Wehmut betrachtete. Es war sein zuerst mit Butter, dann mit Honig ebenso korrekt gestrichenes als korrekt geschnittenes Brot, und dasselbe war [115] – »natürlich« würde A. E. sagen – auf die gestrichene Seite gefallen.
Ich unterdrückte nur notdürftig einen mächtigen Lachreiz, denn es war doch auch gerade, als ob das »Ratsch« und das Fallen des Brotes in einem geisterhaften Kausalitätsverhältnis gestanden wären. A. E. sah ganz ernst hinüber und nickte sanft mit dem Kopfe, ohne einen Zug des Spottes, ja eher mit einem Zug der Teilnahme, als wollte er sagen: das kennen wir armen Sterblichen. Der Fremde schoß jetzt nicht nur einen, sondern eine Batterie von Blicken, grimmigen, auf uns herüber und machte sich höchst verdrießlich an das Geschäft, dem unheilbaren Schnitten einen entsprechenden Nachfolger hervorzubringen.
A. E. fuhr ruhig fort: »Dann ist es überhaupt so eine Sache mit dem Ding da, den zwei Dingen, was Kant die reinen apriorischen Anschauungsformen nannte.«
»Raum und Zeit?«
»Eben. Was ist der Raum denn andres, als die unverschämte Einrichtung, vermöge deren ich, um den Körper a hierherzusetzen (– er zeigte es an Tassen, Kannen, Körbchen, Flaschen, Gläsern, die etwas dicht auf dem Tische standen –), vorher b dort weg, um Platz, für b zu bekommen, wieder c da hinwegstellen muß und so mit Grazie in infinitum [116] –? Und die Zeit? Das ist dasjenige, was man dazu doch nicht hat. Denn Donnerwetter und alle tausend Teufel, leben wir dazu, um zehn Griffe nötig zu haben zu dem, was kaum eines Griffs wert ist!«
Der Unbekannte bewegte jetzt stärker und ärgerlich lachend den Kopf hin und her und eine sichtbare Unruhe kam ihm in die Beine.
A. E. war nun gut im Zuge. »Ein andermal«, fuhr er fort, »sind die Nickel unverschämt in entgegengesetzter Richtung. Jetzt will zusammen, was nicht zusammengehört. Kennen Sie eine der verfluchtesten Formen: das Mitgehen? Wenn so ein liebenswürdiges Blatt, das zum Aktenstoß Y gehört, beim Ordnen, Aufbewahren zu unterst an Faszikel Z hinkriecht und mit hinein in das Schubfach schlüpft und sich über Tag, Woche oder Jahr nicht finden, sich suchen läßt unter Verzweiflung, Wut, Rennen bis zum Wahnsinn? Dagegen ist so was, wie das bekannte, ewige Unterschlüpfen der Damenkleider unter den Stuhlfuß des Nachbars nur ein kleiner, zierlich pikanter Spaß des teufelbesessenen Objekts, doch interessant als allein schon hinreichend, unsre dumme Physik zu stürzen, denn wer könnte so etwas mechanisch erklären?«
Jetzt fuhr der Fremde auf mit dem Ruf: »Es wird zuviel!« stieg mit straffen Schritten auf uns [117] los, pflanzte sich vor A. E. auf und mit Zornblick rief er: »Mein Herr! Wissen Sie, ich bin Professor der Physik! Sie haben mir aber auch gleichsam mein Butterbrot hinuntergeworfen!«
A. E. verweilte auf dem Mann mit einem ganz gelassenen, ganz kontemplativen Blick und schwieg. Was werden sollte, wer konnte es wissen? Plötzlich stieg ihm eine flammende Röte ins Gesicht, seine Augen funkelten, er fuhr auf, und ich, da ich meinen Mann eben doch noch nicht so ganz kannte, wurde schon für den Frieden besorgt, als er mit Sturmschritten, ja mit Sätzen wie ein Panther quer über das Zimmer nach einer Ecke schoß, wo das oben zart erwähnte Gerät stand, und nun ging ein Husten, Niesen mit untermischtem Schlucken, seltsamen, wilden Gurgel- und Schnapptönen, ein so schreckliches Glucksen, Kollern, Fauchen, Raspeln, Schnarren, Stöhnen, schußartiges Bellen los, als hörte man die rasende Musik eines Chors von Höllengeistern. Es dauerte ziemlich lange, bis diese furchtbare Naturerscheinung vorüber war, dann richtete sich der leidende Mann matt in die Höhe, griff nach Hut, Tasche, Stab und sagte im Abgehen zu mir mit jammernswert fistulierender Stimme: »Bitte, haben Sie die Güte, den Herrn zu beruhigen! Guten Tag beiderseits.«
Der Herr war im Schrecken zur Seite getaumelt, [118] als A. E. so jäh in die Höhe fuhr; dann sah und hörte er mit starrem Staunen den Evolutionen des erschrecklichen Gewitters zu und schickte dem Abgehenden einen langen, verwirrten Blick nach. Endlich wandte er sich gegen mich, zwinkerte mich mit den Augen an und deutete mit dem Finger auf seine Stirn. Ich zuckte die Achseln. Er schien dies für volle Bejahung zu nehmen, war nun wirklich beruhigt und schritt mit frischem Eifer an die Erneuerung seines Frühstückwerks.
Ich mochte dem Vorangegangenen nicht so schnell folgen; es hätte scheinen können, als wolle ich mich aufdrängen. Ich war doch etwas ungehalten, daß er so rücksichtslos davongelaufen; indem ich mich besann, was ich beginnen solle, um meinen Abmarsch ein halbes Stündchen noch hinzuziehen, fiel mir ein: Halt, gefunden! Grobian, deine Strafe soll nicht ausbleiben, du sollst beschrieben werden! Ich ging gleich an die Vorarbeit, machte mir eine Reihe von Notizen in mein Tagebuch und brach auf, als ich annehmen konnte, mein wunderlicher Held habe nun genügenden Vorsprung.
Der einzige Mensch, den ich noch mit einem Haarbeutel gesehen habe, mit einem solchen nämlich, wie man sie vor Zeiten außen am Kopfe trug, war mein alter Großoheim, welcher vordem beim deutschen Reichs-Kammergericht in Wetzlar angestellt gewesen und zugleich mit diesem berühmten Institut in eine wohlverdiente Pension gegangen war. In dem komplizierten Räderwerk des obersten deutschen Gerichtshofes hatte er ein ganz kleines Federchen, Rädchen oder Kettchen vorgestellt als ein versteckter Unterbeamter einer untergeordneten Registraturskanzlei, welche ihrerseits wieder die Unterabteilung einer anderen war. Wenn ich nun meines Großoheims ganzen Titel herschreiben wollte – eine einzige monströse Namen-Kumulation, welche in pünktlicher Fixierung die Titulaturen aller Stellen von oben herab gewissenhaft mit einschloß, bis sie bei seinem bescheidenen Posten angelangt war – so müßte ich mindestens einmal dazwischen frisch Tinte schöpfen, gleichwie die Leute, die so viel Zeit [120] hatten, ihn bei seinem ganzen Titel rufen zu können, einmal Atem holen mußten unter der Absagung dieses einzigen Wortes.
Der gesegnete Träger dieser Titelschleppe, deren Länge, wie herkömmlich, im umgekehrten Verhältnisse zum Gehalte ihres Eigentümers stand, war ein hagerer, schweigsamer Mann mit knochigem Gesichte, der gleich der verkörperten Theorie immer ganz grau und altväterlich gekleidet einherging, bis an den Hals zugeknöpft. Pedanterie in allen Dingen war wohl seine einzige Passion. Er fand einen Genuß in der Pünktlichkeit, mit welcher er jeden Tag zu den gleichen Stunden das Gleiche tat, und auf seinen Spaziergängen, die den größten Teil seiner Mußestunden (er hatte deren täglich vierundzwanzig) in Anspruch nahmen, sah man ihn immer mit denselben Glockenschlägen um dieselben Ecken biegen. Der Spaßmacher des Städtchens richtete solange seine Uhr scherzweise nach meines Großoheims Spaziergängen, bis er endlich für gut fand, diese Art der Zeitregulierung in vollem Ernste beizubehalten.
In der mediatisierten Reichsstadt, woselbst er seine Pension verzehrte, war er zur Zeit meiner Schuljahre, wie gesagt, der einzige Mensch mit einem Haarbeutel und deswegen für uns reichsstädtische Jugend eine besonders interessante Gestalt, [121] welche wir gleich einer Reliquie halb mit ehrwürdiger Scheu, halb mit dem aufkeimenden Spotte eines zweifelnden Gemütes, das sich der verderblichen Aufklärung zuneigt, anzustaunen gewohnt waren.
Mein Großoheim war mit meiner Großtante verheiratet, ein Umstand, dessen Zufälligkeit mir als Kind viel zu denken gab. Die Großtante war eine altmodische Frau und hatte ihrem Manne drei Töchter beschert, welche auch nie recht in die Mode kommen wollten. Die dritte, welche fast zwei Jahrzehnte jünger war als ihre Schwestern, hatte den seltenen Namen Mauritia und war als meine Tante bei allen Wendepunkten meines jungen Lebens, von der Taufe angefangen bis zur Erlangung der Toga virilis , mein religiöser Beistand. In ihren späteren Tagen bekam sie dasselbe verblichene Kanzlei-Aussehen, wie es ihr Vater gehabt hatte, und glich ihm überhaupt mehr, als ihrer Weiblichkeit gut stand.
Das mochte mit den ersten Eindrücken zusammenhängen, welche sie in ihrer Jugend erfahren hatte, denn die Geburt meiner Tante fiel in die wüsten Kriegsjahre am Anfange unseres Jahrhunderts, und Trommeln und Schießen war ihren kleinen Ohren geläufiger geworden, als Wiegenlieder. So war sie denn unter dem Zeichen des Mars zur Welt [122] gekommen und konnte sich diesem planetarischen Einflusse so wenig entziehen, daß sie sogar in ihrem einundzwanzigsten Jahre konskribiert wurde.
Das kam aber so. Als sie ungefähr drei Jahre alt war, nahm der schreckliche Kriegslärm, der mit Feuer und Schwert über die Länder gezogen war und wie manche Gegend, so auch meines Großoheims Wohnsitz doppelt und dreifach heimgesucht hatte, ein ersehntes Ende, und ein zaghafter Friede, an den niemand recht glaubte, kam schüchtern ins Land geschritten. Mit ihm aber auch eine Anzahl kaiserlicher, königlicher, kurfürstlicher und anderer Kommissäre, welche die vielen Gemeinde- und Kirchenbücher, Taufregister und Steuerlisten, die von der Kriegsfurie waren vernichtet oder verschleudert worden, so gut es eben gehen wollte, mit oder gegen den Willen der geliebten Untertanen wiederherstellen sollten.
Von dem ersten und wichtigsten Punkte nun, dem der Steuern, abgesehen, lag es den huldreichen Landesvätern am Herzen, durch eine sorgfältige Aufnahme des Familienstandes ihrer Landeskinder die verloren gegangenen Standesregister zu ersetzen, um in späteren Jahren nicht der langen Konskriptionslisten entbehren zu müssen und so um die schönen blankgeputzten Soldaten betrogen zu werden, die so herrlich »Präsentiert's Gewehr« machen [123] können. Die Leute aber hatten in ihrer Untertanentreue den väterlichen Kunstgriff bald losbekommen und verleugneten ihre männliche Nachkommenschaft, wo und wie sie nur immer konnten. Und weil hie und da einer auf dem Betruge ertappt wurde, so wurden die mit diesem Geschäfte betrauten Regierungs-Kommissare immer strenger und mißtrauischer, kontrollierten ihre Bezirke öfter und schrieben manchen zweimal auf, der später nur einmal konskribiert werden konnte.
Eines Tages nun erschien ein solcher Regierungsbeamter in Begleitung eines Schreibers in der Wohnung meines Großoheims, der eben in einem alten vergessenen Buche über ein altes vergessenes Rechtsverfahren las und die eintretende Gesellschaft nicht eher bemerkte, als bis ihn das plötzliche Stillstehen der schnurrenden Spinnräder seiner Frau und Töchter aus dem träumenden Nachdenken weckte. Er klappte also bedächtig das Buch zu, nachdem er vorsichtigerweise durch ein eingebogenes Eselsohr die Stelle bezeichnet hatte, wo er in einem endlosen Fiskalatsprozeß die interessante Lektüre hatte unterbrechen müssen, und fragte die Herren nach ihrem Begehr. Die Frau und die beiden Töchter standen wie bei jedem Besuche, der in den Hafen ihrer Häuslichkeit verschlagen wurde, verlegen und mit überflüssigen Gesichtern in den Ecken, als ob sie [124] sich selbst im Wege wären, während sich die kleine Mauritia, in der Familie herkömmlich »Moritz« geheißen, hinter die geöffnete Tür des Schlafzimmers geflüchtet hatte.
Der Herr Kommissarius nun, der eine Uniform anhatte und für andere Leute streng, für sich selbst aber selbstgefällig schlau aussehen wollte und aufs Haar einem Narren glich, fragte mit geheimnisvoller Weitschweifigkeit vorerst den Familienvater um seinen Namen und Stand, dann um Frau und Kinder, worauf ihm der Großoheim die beiden Töchter vorstellte. Diese traten, nicht eben reizende Gestalten, mit plastischer Unweltläufigkeit, linkisch und hocherrötend, vor und hatten ein Ansehen, als erwarteten sie mit schuldbewußten Mienen, aber heroisch gefaßt, einen grausigen Urteilsspruch. Doch es wurden bloß ihre Namen in die Liste geschrieben, gleichwie vorher die Namen von Vater und Mutter. »Habt ihr sonst keine Kinder?« fragte nun der fremde Mann sehr strenge. »Doch noch ein kleines«, antwortete die Frau, welche ihrem Manne zuvorkommen wollte, »aber Sie werden entschuldigen, es ist noch gar nicht gewaschen und ordentlich angezogen.« – »Das hat nichts zu sagen,« erwiderte der Mann mit wunderbarer Mischung von Herablassung und Strenge. Die kleine Mauritia mußte also vorgestellt werden, und während die Großtante [125] rief: »Moritz, Moritz wo bist du denn, komm einmal her und gib dem Herrn Vetter die Hand,« stürzten die beiden Töchter mit Häscherschritten hinter die Tür, zogen Fräulein Mauritia, die sofort ihr Kriegsgeheul anstimmte, ziemlich gewalttätig hervor, putzten ihr mit einer Schürze die Nase und sahen sie drohend und grimmig an, froh, daß das unbekannte Verhängnis über ihre eigenen Häupter hinweggezogen. Tantchen Moritz aber, in dem beneidenswerten Stadium der Erscheinung sich befindend, in dem es auch dem geprüftesten Kenner nicht möglich wird, sei es aus der Gesichtsbildung, sei es aus der Tracht einen Schluß zu ziehen auf das Geschlecht, dem ein kleiner Weltbürger künftig angehören solle – konzertierte ruhig weiter, während der Großoheim dem Beamten Zeit und Ort der Geburt des kleinen Schreihalses gewissenhaft angab. Schließlich schrieb dieser strenge Mann eigenhändig noch eine Bemerkung in die von seinem Schreiber ausgefüllte Liste und empfahl sich. Der Oheim setzte sich wieder an seinen Prozeß, nachdem er noch für seine Frau und Töchter die erklärenden Worte hatte vernehmen lassen: »Das waren die Herren von der neuen Volkszählung,« und Frau und Töchter setzten sich wieder an ihre Spinnräder, und der kleine Moritz schluchzte sich in einem Winkel in großen Pausen langsam in den Schlaf.
Nach Verlauf von achtzehn Jahren hatte sich manches geändert. Meine Großtante hatte das zeitliche gesegnet, und eine ihrer unmodischen Töchter, die gewiß zeitlebens eine reine Jungfrau gewesen, war ihr nachgefolgt und als grobknochiger Engel und gute Seele zum Himmel aufgeflogen. Die andere war bei ihrem alten Vater geblieben, welcher, wie es schien, so lange leben wollte, bis die Haarbeutel wieder in die Mode kämen. Durch seine geringe Pension allein ließ sich wenigstens sein hohes Alter nicht zureichend erklären. Noch jahrelang sah man seine melancholische Figur als ungestorbenes Gespenst um den Stadtgraben spazieren gehen.
Tante Moritz, »das Jüngste«, war schon mit ihrem zwanzigsten Jahre in die Residenzstadt ihres bundespflichtigen Großstaates und engeren Vaterlandes gekommen. Durch des Schicksals Gunst war sie die Erzieherin der ungezogenen Backfische eines befreundeten Land-Adeligen geworden, der infolge einer unerwarteten und unverdienten Erbschaft in die Stadt und in die Nähe des Hofes übergesiedelt war, wo er sich und seine Söhne in der höheren Kutscherei ausbilden konnte. Da erschien nun eines Tages bei meinem Großonkel ein Magistratsbote mit einer geschriebenen Aufforderung, daß der militärpflichtige Moritz N., Sohn des [127] Reichskammergerichts- usw. usw.-Registraturs-Kanzlisten N., mit 11 Gulden 29 Kreuzern und 2 Pfennigen Strafgeld für versäumte Konskriptions-Anmeldung auf dem Bureau Nr. X zu erscheinen habe. Der alte Mann betrachtete kopfschüttelnd das Papier, zog dann seinen längsten grauen Rock an, auf dessen hohem Kummetkragen sich der Haarbeutel ein fettiges Widerlager zurechtgewetzt hatte, und ging ganz gegen seine gewohnte Stundenordnung auf das Amt. Nachdem er dort infolge des vorschriftsmäßigen Schreibversehens in der Vorladung aus einigen Zimmern hinaus- und in andere hineingebrüllt worden war, kam er, der dieses Verfahren aus eigener Praxis kannte und deshalb ohne Nebengedanken hinnahm, endlich zu dem richtigen Eisenfresser, dem seine Angelegenheit zustand. Mein Großonkel, dem auf dem Wege ein Licht über dem Dunkel aufgegangen war, legte nun Rätsel und Auflösung zugleich vor, indem er die Vermutung begründete, daß seine Tochter Mauritia weiland durch irgendein Versehen als Knabe möchte in die Familienliste eingetragen worden sein. Doch er fand sehr ungnädiges Gehör und die ungläubige Miene eines unduldsamen Besserwissers. Hatte mein Großonkel einen Haarbeutel, so hatte der Beamte einen mächtigen Zopf. Mit beleidigender Genauigkeit ließ dieser seine Aussagen zu Protokoll [128] nehmen und gab ihm nicht undeutlich zu verstehen, daß er ihn für den Mitwisser eines abgekarteten Betruges halte. So wurde er fürs erste mit Unheil verkündender Kälte entlassen. Der Mann mit dem Zopf war schnell hinter der Sache her. Noch ehe mein Großonkel seine Tochter von dem Vorfalle in Kenntnis gesetzt hatte, bekam diese in der Residenz eine Vorladung auf die Polizei. Sie wußte freilich nicht, was sie dort zu schaffen haben sollte; weil aber mit dem hochlöblichen Institute nicht zu spaßen ist, so setzte sie ihren Sonntagshut auf, sah noch einmal in den Spiegel und ging befriedigt über ihr Äußeres – sie die einzige, die es je war – nach dem Polizeiamte. Man sagt zwar: »Jung ist der Teufel schön«, aber Tante Moritz machte die zu jeder Regel gehörige Ausnahme und war auch jung nicht schön. Sie war groß, knochig und mager und sah ihrem Vater ähnlich bis zur Lächerlichkeit. Dieser aber hatte nie wie ein Frauenzimmer ausgesehen. In dieser wenig einnehmenden Außenhülle barg sie aber eine zarte weibliche Seele, verletzbar und scheu, die noch wenig die bittere Gelegenheit gehabt hatte, sich im stoßenden, drängenden Weltgetriebe abzustumpfen. Eine emanzipiert klingende Altstimme, die ihr bis in ihr hohes Alter verblieb und dann der alten Dame besonders würdevoll stand, bildete in ihrer [129] Jugend einzig einen angenehmen Gegensatz zu ihrer frauenzimmerlichen Häßlichkeit, aber leider nicht zu ihrem männlichen Aussehen.
Als sie das richtige Bureau gefunden hatte, trat sie schüchtern ein und blieb erwartend an der Tür stehen. Kaum hatte sie auf die ergangene Frage ihren Namen genannt und die Vorladung gezeigt, als der Polizeikommissär und sein Schreiber einen schnellen Blick der Aufforderung wechselten und dann eine peinliche Pause lang die Gestalt an der Tür fixierten. Wieder begegneten sich verständnisinnig und mit triumphierendem Ausdrucke ihre Augen; ihr scharfer Beamtenblick hatte untrüglich den Simulanten erkannt. In diesem Falle glaubte der Kommissär kurz angebunden sein zu müssen und eröffnete das Verhör:
»Sie werden sich denken können, weshalb Sie vorgeladen sind?«
»Nein, leider nicht.«
»Wenn ich Ihnen aber sage, daß dieses das Bureau für Konskriptionsangelegenheiten ist.«
»Ich bedaure, daß mir die Sache dadurch nur um so rätselhafter erscheint.«
»So muß ich Ihnen denn kurzweg sagen, daß Sie im Verdachte stehen, sich durch fortgesetzte Simulation, das heißt, indem Sie weibliche Verkleidung tragen und sich seit Ihrem Hiersein durchaus [130] als Frauenzimmer geberden, Ihrer Konskriptionspflicht entzogen zu haben, respektive noch entziehen zu wollen.«
Versteinerungspause. –
»Auch muß ich Ihnen gestehen, das Ihr Äußeres diesem Verdachte nur Vorschub leisten kann.«
Fortsetzung der Pause und anhebende Versenkungsgefühle.
Welche echte Weiblichkeit hätte auch nicht zu sprachlosem Erstaunen erstarren müssen bei der Zumutung, sich als renitenten Rekruten zu bekennen. Wie Lots Weib nach der Salifizierung stand die Ärmste an der Türe. Der Beamte kannte aber diese Kniffe schon und fuhr unerschüttert fort:
»Also, gestehen Sie, oder nicht?«
Die Tante schnappte etwas nach Luft und Bewußtsein und stammelte einige undeutliche Worte, die zwar keinen Sinn gaben, aber unzweideutig den Charakter der Ablehnung trugen, womit sie eine solch ungeheuerliche Insinuation von sich wies.
»Wenn Sie bei Ihrer Leugnung verharren, so muß ich Sie auf einige Augenblicke in das Zimmer des Gerichtsarztes weisen lassen.«
Er rief einen Boten.
»Bringen Sie diesen Simul–, diese Dame will ich sagen, ins ärztliche Bureau, geben Sie dem [131] Doktor diesen Akt, er weiß schon von der Sache, und warten Sie vor der Tür.«
Die Tante war vollständig vergeistert und wurde willenlos abgeführt. Für sie war gerade Weltuntergang, und der letzte Rest von Zurechnungsfähigkeit war von ihr gewichen. Als sie aber mit ihrem ungebetenen Beschützer beim Gerichtsarzt eintrat, fand sie dort außer diesem Herrn noch die Gerichtsärztin, seine Frau, die, einen Koketterie-Marktkorb am Arme, ihrem Manne geschwind den neuesten Klatsch mitteilen mußte. Denn dieser hatte sich bei ihr seit dem Frühstück in so ungebührlicher Weise aufgestaut, daß sie es unmöglich länger allein tragen konnte.
Die geschwätzige rundliche Dame erschien meiner Tante wie dem Ertrinkenden eine rettende Fee, die aus geöffnetem Himmel herniederschwebt; hier freilich mit einem Gewicht von anderthalb Zentnern. Die Erstarrung wich von ihr und machte einer vollständigen Auflösung alles geistigen Vermögens in überquellende Schmerzgefühle Platz. Noch ehe ein Wort gesprochen worden war, sank sie mit krampfhaft losbrechendem Schluchzen der neugierigen Dame, die schon eine monströse Neuigkeit witterte und die Tore ihrer fünf Sinne sperrangelweit geöffnet hielt, in die fetten Arme. Einer solchen Appellation an ihre Menschlichkeit und Souveränität [132] konnte die Gerichtsärztin nicht widerstehen. Hatte sie doch nie das eheliche Szepter aus den Händen gegeben und auch schon verschiedene Male im Amtszimmer ihr Regiment ausgeübt. Sofort machte sie sich zum Herrn der Situation und hatte ihrem Manne, der während dieser Szene zur vollständigen Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft war und aller Amtswürde bar dastand, als wäre er der Simulant, in wenigen Augenblicken die saubere Geschichte abgehorcht. Ihr weiblicher Instinkt war hier nicht im geringsten Zweifel und stand weit über der Wissenschaft ihres Mannes. Unter Androhung der höchsten ehelichen Strafen erteilte sie ihm den gemessenen Befehl, die gekränkte Dame in Frieden zu entlassen und dafür zu sorgen, daß dieses auch von anderer Seite geschehe. Hier hieß es gehorchen. Mit einer bedauernden Geberde wandte sich der arme Leibeigene, dem der Gerichtsarzt ganz abhanden gekommen war, zu der fremden Dame und stotterte verbindlichst, er habe überhaupt nie gezweifelt –
Ein gebieterischer Blick seiner Frau schnitt ihm die zweite Hälfte des Satzes vor dem Munde ab.
Unter Redensarten und Tränen löste sich allmählich die Gruppe auf, und während die Gerichtsärztin, erfüllt von der geleisteten Heldentat und voll brennenden Verlangens nach mündlicher Erleichterung, [133] in das Menschengewoge der Stadt hinausstürzte, führte ihr Mann dem erhaltenen Befehle gemäß die weinende Tante unter entschuldigenden Beschwichtigungen in das Bureau des Kommissärs zurück, sprach noch einige begütigende Worte und empfahl sich hastig, es dem Kommissär überlassend, sich aus seinem Gebahren den richtigen Schluß zu ziehen. Bei seinem Eintreten hatten dieser und sein Schreiber, als sie die höflichen Redensarten des verwirrt dreinblickenden Doktors vernahmen, wieder einen raschen Blick gewechselt, diesmal aber mit einer trostlosen Jammer- und Schreckensmiene. Sie waren aus dem siebenten Himmel ihrer Beamtenweisheit heruntergestürzt, und es blieb von ihnen nichts mehr übrig als der gebrechliche Mensch, behaftet mit dem Aussatze des Irrtums. Der Schreiber faßte sich schnell; was ging es ihn an, wenn sein Vorgesetzter eine Dummheit machte? Mit der brutalen Rücksichtslosigkeit eines verantwortungsfreien Subalternbeamten vergrub er sich in seine Akten, mit vielem Geräusch rechnend und blätternd, und schien über seinem plötzlich eingebrochenen Geschäftseifer alles um sich her vergessen zu haben. Treulos im Stiche gelassen, stand der Kommissär vor dem still fortweinenden Mädchen. Er nahm einige Male einen Anlauf zu wohlgesetzten Entschuldigungen. Sie gerannen ihm wie [134] schlechte Milch, noch ehe er sie vollendete. Er wollte sich fassen, sein Herz verhärten und sich kaltblütig hinter seine Pflicht verschanzen. Es gelang ihm nicht; er stand noch zu sehr unter der Wirkung der Überraschung. Jeder Versuch, etwas zu sagen, erweckte nur ein vernehmlicheres Schluchzen der Unglücklichen. In heller Verzweiflung ließ der entwurzelte Beamte gleich einem gefangenen Wilden seine Blicke an den Wänden herumlaufen, wobei sie auch einen wütenden Abstecher nach dem fleißigen Schreiber machten. Aber an den staubigen Aktenstellagen wollte sich kein rettendes Wunder ereignen; keine Öffnung ließ sich dort hineinblicken, durch welche eine gequälte Bureaukratenseele hätte entweichen können. Und doch kam ihm von dort her ein Lichtstrahl. Woher könnte auch sonst einem braven Beamten eine Erleuchtung kommen! »Warten Sie,« sagte er und zog aus einem der Fächer ein Formular hervor, füllte es aus und stempelte es geschäftsmäßig ab. Mit dieser gewohnten Hantierung hatte er seine Fassung wieder errungen. Er faltete den Bogen nicht ohne Feierlichkeit zusammen, näherte sich der Dame und sprach: »So, nehmen Sie das, das wird gut tun«, mit einem so milden und begütigenden Ausdruck, wie ihn nur der Arzt haben kann, der dem stöhnenden Verwundeten den lindernden Verband anlegt.
Mechanisch hatte der weinende Rekrut den papiernen Trost ergriffen und schwamm nun in Tränen nach Hause. Kaum fand sich Tante Moritz dort in Sicht eines soliden Sofas, als sie auch sofort in die lange zurückgehaltene, aber offenbar zur Sache gehörige Ohnmacht fiel unter so viel nachfolgenden Krämpfen, als ihrer weiblichen Ehre unumgänglich notwendig schienen. Bald hatte sie das ganze Haus auf die Beine gebracht. Die jungen Gräfinnen weinten in ihrer Unerfahrenheit, und die jungen Grafen standen mit Bereiterstiefeln und Reitpeitschen um den Fall herum und machten stehengebliebene Gesichter. Am liebsten hätten sie auch geweint, wenn das nicht gegen die Stiefel gewesen wäre. Die alte Gräfin und ein Stubenmädchen bemühten sich mit erprobten Hausmitteln um die Kranke, und der alte Herr Graf nahm der bewußtlos Daliegenden ein zerknittertes Papier aus der Hand, entfaltete es und las: »Militär-Entlassungsschein«. In diesem Denkmal polizeilicher Konsterniertheit wurde der Moritz N. aus der Altersklasse 1801, Tochter des weiland Reichskammergerichts- usw. usw. -Registraturskanzlisten, wegen allgemeiner Untauglichkeit seiner Militärdienstpflicht los- und lediggesprochen. Die Rubrik »Signalement« war unausgefüllt geblieben; selbst der item : »Besondere Kennzeichen« hatte den Beamten zu keiner naheliegenden Notiz veranlassen [136] können. Mit diesem Talismann hätte freilich Tante Moritz allen künftigen Anforderungen des Kriegsministers entgegentreten können, wenn dieser noch einmal Anspruch auf die friedliche Amazone hätte erheben wollen.
Natürlich vergingen damals die Krämpfe wieder, und die gute Tante hat in der Folge manche schwerere Krankheit zu bestehen gehabt, bis endlich eine sie ganz ablöste und aller Konskriptionsgefahr entrückte. Mit dem gegilbten und verbleichten Nachlasse der braven alten Jungfer, aus dem ich eine ganze Lebensgeschichte von kleinen Freuden und großen Entbehrungen, ein standhaft durchgerungenes Dasein von Armut und Ehre herauslesen mußte, habe ich auch den Militärentlassungsschein geerbt, den ich als ein Andenken an die gute alte Zeit, an die selige Tante, an den Großonkel mit dem Haarbeutel und an die verdrehte Polizei meiner Vaterstadt noch immer aufbewahre.
Hört die Geschichte von dem kleinen häßlichen, gelben Eishund, der es auf merkwürdige Weise zu einem hervorragenden und vornehmen Hunde brachte! Den ganzen Tag war er hungrig und frierend, denn es war Winter, in New York herumgelaufen. In der fünften Avenue wichen ihm die aristokratischen Hunde der Dollarköniginnen aus und bemerkten naserümpfend: »Welch ein vulgärer Köter, welch ein Vagabund! Er wird ein Ende mit Schrecken nehmen!« Dann war er bei Anbruch der Dunkelheit in den kahlen, düsteren Park gekommen, und dann war er plötzlich irgendwo hinuntergefallen, auf eine harte, eisige, weite Fläche. Das war wohl das Ende, dachte er. Aber es wurde Tag, ein Tag voll Sonnenlicht, und er lebte immer noch. Er befand sich auf einem gefrorenen Wasserbecken, das Trinkwasser für die New Yorker enthielt. Es bildete ein riesiges, längliches Viereck und war von steinernen Böschungen eingefaßt. Nirgends konnte er heraus. An einer [138] Stelle erblickte er zwei Menschen. Das waren Pat Flaherty und Fred Kaiser, die beiden Parkpolizisten. Sie standen an dem eisernen Geländer des Wasserbeckens, schüttelten die Köpfe und blinzelten mit den Augen, weil auf Schnee und Eis die Sonne sprühte.
»Da ist ja der kleine Köter noch immer auf dem Wasserbecken!« sagte Flaherty. »Er war schon gestern dort.«
»Wahrscheinlich ist er die steile Böschung heruntergerutscht!« meinte Kaiser. »Heraus kann er nicht wieder; es wird Zeit, daß wir ihn fangen. Sonst verhungert er oder ersäuft, denn es taut. Ich werde mal sehen, ob ich ihn fangen kann.«
»Gib acht, Fred!« warnte ihn Flaherty. »Das Eis ist schon dünn an manchen Stellen.«
Aber schon war Kaiser etwas seitwärts von dem Aussichtsturm über die Einfassung geklettert. Hier ersetzten Felsen die künstliche Böschung und erlaubten ihm einen bequemen Abstieg auf das Eis. Er prüfte erst vorsichtig das Eis und versicherte sich, daß es ihn trug, denn er wog 225 Pfund. Aber es schien ihm doch klüger, die Operationen zunächst nicht soweit vom Ufer zu beginnen. Also pfiff er dem kleinen Köter der weit drüben über das Eis trabte. Der Köter blieb stehen und wandte den Kopf nach dem Polizisten. Kaiser pfiff nur [139] noch verlockender. Doch der Köter kam nicht. Er mißtraute den Menschen, insonderheit Polizisten. Ihre Stiefel waren schwerer und härter als andre Stiefel.
»Es nutzt nichts!« rief ihm Flaherty lachend zu. »Du mußt auf das Eis hinaus!«
Rutschend und gleitend, prüfend die Augen auf das Eis heftend, bewegte sich Kaiser über die glatte Fläche.
»Es ist fest!« rief er Flaherty zu und lief etwas zuversichtlicher. Als er dem Köter nahe war, pfiff er und lockte er von neuem – abermals umsonst. Der Köter ergriff die Flucht. Es war ein ausgesucht häßlicher Hund mit graugelben zottigen Haaren. Sein Kopf erinnerte Kaiser an das Bild eines Geigenvirtuosen, das er mal in einer Zeitung gesehen hatte. Nun lief Kaiser hinter dem Hunde her. Immer, wenn er ihm etwas näher kam, bog der Hund scharf zur Seite und Kaiser schlitterte geradeaus. Einmal verlor der dicke Polizist den Halt, setzte sich auf das Eis, daß es krachte, und rutschte noch ein Stück darüber hin. Vom Ufer her erscholl Gelächter. Dort hatten sich ein Dutzend neugierige Leute gesammelt und beobachteten die Jagd. Kaiser raffte sich auf, holte seinen Helm, klopfte sich die Kleidung rein und marschierte über das Eis zurück. Auf halbem Wege kam ihm Flaherty entgegen.
»Fred«, sagte Flaherty, »einer schafft's nicht. Wir wollen's zusammen versuchen. Wir jagen ihn in eine Ecke des Beckens, und dort fangen wir ihn.«
Das leuchtete Fred ein. Von rechts und links näherten sie sich langsam dem Köter und scheuchten ihn nach der einen Ecke des Beckens. Sie glaubten schon, sie hätten ihn. Doch er sauste plötzlich in weitem Bogen um Flaherty herum und entwischte. Noch einmal versuchten die beiden ihr Glück, doch ohne Erfolg. Keuchend und pustend begaben sie sich ans Ufer. Dort hatten sich immer mehr Menschen angesammelt, um die fröhliche Hatz zu beobachten. Man bestürmte die beiden Polizisten mit Fragen, was es mit dem Hund auf sich habe, wie er auf das Eis gekommen sei. Flaherty und Kaiser meinten, sie wüßten es selber nicht. Der Köter sei zweifellos ein Vagabund. Die Damen bedauerten sein trauriges Los und fragten, ob es denn kein Mittel gäbe, das arme Tier aus seiner schrecklichen Lage zu befreien. Der eine schlug dies vor, der andere das. Inzwischen war auch Bubbles, der unvermeidliche Berichterstatter, zufällig des Weges gekommen. Er erkannte, daß die Geschichte ein gefundenes Fressen für ihn sei, und beschloß, das weitere abzuwarten.
Ein Parkfeger hatte einen glänzenden Einfall. [141] Man müßte einige lange Bretter holen, meinte er, und sie vom Eis auf die Felsen neben dem Aussichtsturm legen. Dann müßten ihrer mehrere den Hund auf die Bretter zutreiben. Sobald er diese erblickte, würde er zweifellos merken, daß hier ein Ausweg für ihn sei, und über die Bretter ans Ufer laufen, wo er mit Leichtigkeit gefangen werden könnte. Den beiden Polizisten schien der Vorschlag nicht übel, und sie versprachen, das Nötige für den Nachmittag zu veranlassen. Damit entfernten sie sich, und da sonst niemand etwas unternahm, zerstreute sich die Menge.
Am Nachmittag waren fast dreimal soviel Leute um das Wasserbecken versammelt als am Vormittag. Die Kunde von dem Eishund, wie sie ihn nannten, hatte sich rasch verbreitet. Auch Bubbles, der Berichterstatter, war wieder da, samt dem Photographen seines Blattes. Sehr bald kam ein Lastwagen der Parkbehörde mit Brettern und Holzböcken angefahren. Auch Kaiser und Flaherty und noch andere Polizisten kamen, um den Feldzug gegen den Eishund zu leiten und die Menge in Ordnung zu halten.
»Das wird der reine Zirkus!« bemerkte der dicke Flaherty lachend zu Kaiser.
»Merkwürdig«, entgegnete Kaiser, »welche Unmasse Maulaffen es in New-York gibt, sowie es [142] etwas zu sehen gibt. Und sei es nur ein Köter auf dem Eise.«
Die Holzböcke wurden neben dem Aussichtsturm auf das Eis gestellt und dann die Bretter darüber gelegt. Dann begaben sich die vier Parkfeger auf das Eis und näherten sich dem Köter, der sie mit einem Ausdruck höchsten Argwohns herankommen sah. Bald war wieder die schönste Hetzjagd im Gange. Dreimal trieben sie ihn unter dem Jubel der Menge auf die Bretter zu, doch der Köter schoß jedesmal daran vorüber. Völlig erschöpft gaben die vier endlich die Jagd auf und stiegen wieder ans Ufer, um sich zu verschnaufen.
»So ein dummes Luder!« knurrte Flaherty und warf dem Köter einen giftigen Blick zu. Der saß mitten auf dem Eise, ganz außer Atem, aber stolz wie ein siegreicher Toreador in der Arena. Es sah zu lächerlich aus. Das Publikum wollte sich schief lachen. Teufel – das war wirklich ein herrlicher Ulk! Und er kostete keinen Cent. Plötzlich erschienen drei Studenten auf dem Eise. Sie hatten Schlittschuhe an. Offenbar glaubten sie, daß die Schlittschuhe ihnen den Erfolg sichern müßten. Pfeilschnell sausten sie auf den Köter zu. Aber der war noch schneller. Einmal hatten sie ihn fast. Doch zwei von den Studenten liefen so heftig aufeinander, daß es knallte und sie wie der Blitz auf [143] das Eis flogen. Unter dem wiehernden Gelächter der Zuschauer verschwanden sie. Eine Weile konnte sich der Köter verpusten. Und immer noch schwoll die Menschenmenge. Kleine Jungens begannen schon mit leeren Seifenkisten zu handeln, auf denen man warm und trocken stehen und über die Menge hinwegsehen konnte. Verkäufer von Bonbons und gerösteten Kastanien machten gute Geschäfte. Bubbles, der Berichterstatter, photographierte, daß der Gummisack am Apparat dampfte. Wer würde der nächste sein, der den Kampf mit dem wundervollen Eishund wagte?
Das war Kakadu-Bill, der ehemalige Kuhjunge aus dem Westen, der jetzt in New York Kellner war. Er behauptete, der Meisterlassowerfer von Amerika zu sein und Roosevelt in dieser schönen Kunst unterrichtet zu haben, als er noch als unbekannter Rauhreiter die Prärie durchstreifte. Kakadu-Bill habe er als Kuhjunge geheißen, weil er der einzige Kuhjunge in Arizona war, der einen Kakadu hatte. Kakadu-Bill hatte sich einen langen Strick verschafft und versprach, den Köter innerhalb fünf Minuten zu fassen. Eine Kleinigkeit sei's. Als er auf dem Eise erschien, brachten ihm die entzückten Zuschauer eine Ovation.
»Der wird's fertig bringen!« sagten sie.
Kakadu-Bill ging vollkommen kunstgerecht zu Werke. Er trabte, immer den Lasso schwingend, [144] im Kreise um den Eishund, der ruhig auf den Hinterbeinen saß und erstaunt Kakadu-Bill zusah. Er war sich offenbar nicht klar, was dessen sonderbares Benehmen bedeutete. Immer enger zog Kakadu-Bill den Kreis und plötzlich pfiff der Lasso durch die Luft und schlug klatschend auf die Stelle, wo der Eishund eben noch gesessen hatte, aber nicht mehr saß. Als Kakadu-Bill das Hohngelächter der Menge vernahm, stieß er einen gräßlichen Fluch aus, wickelte seinen Lasso wieder auf und jagte abermals hinter dem Eishund her. Aber er kam einer dünnen Stelle im Eise zu nahe und brach durch das Eis. Am Ufer herrschte gewaltige Aufregung. »Er ertrinkt!« riefen einige. Die Damen kreischten und sahen sich nach hübschen jungen Herren um, denen sie ohnmächtig in die Arme fallen könnten. Zum Glück war es da nicht tief, und Kakadu-Bill fiel nur bis über die Kniee ins Wasser. Das kühlte sein wildwestliches Jagdfieber jedoch dermaßen ab, daß er hastig aus dem Wasser herauspatschte und samt seinem Lasso so schnell wie möglich verduftete. – Nun schien keiner mehr Lust zu haben, sein Glück zu versuchen.
»Er wird wahrscheinlich von selber am Abend oder früh am nächsten Morgen über die Bretter ans Land finden!« sagten die Polizisten und ersuchten die Menge weiterzugehen.
»Aber er verhungert unterdessen!« meinte eine reizende junge Dame. »Oder er ertrinkt, wenn es weiter taut! Das wäre sehr unappetitlich. Es ist unser Trinkwasser!«
»Wir werfen ihm etwas Fleisch aufs Eis!« versicherten die Polizisten. »Und ein paar Tage hält das Eis noch!«
»Die Vorstellung ist aus!« rief ein vorwitziger Bengel. »Morgen vormittag wird sie fortgesetzt!« Und langsam entfernten sich die Leute.
Am nächsten Morgen war die seltsame Geschichte von dem berühmten Eishund mit Abbildungen in Bubbles Zeitung. Zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen kam halb New York, um den berühmten Eishund zu sehen. Gott sei Dank! – da war er noch. Es hatte wirklich noch mehr getaut und niemand wagte sich aufs Eis. Niemand? Ein Held, ein einziger Held scheute sich nicht, eines erbärmlichen kleinen Köters wegen sein Leben aufs Spiel zu setzen. Ein kleiner kugelrunder deutscher Bäcker aus der Avenue A, mit rosaroten Backen, war der Held. Er hatte ein ganz neues Verfahren. Er war schon am Tage vorher dagewesen, hatte das Schlachtfeld in Augenschein genommen und war mit der geheimnisvollen Bemerkung fortgegangen, das sei ein eklatanter Fall, wo Moltkesche Strategie allein Erfolg verspreche. Denn er sei Sergeant in [146] der deutschen Armee gewesen und mit Waldersee in China. Mit dieser Strategie also war er jetzt gekommen. Ohne Frage hatte seine Strategie etwas Ungewöhnliches, Geniales. Als Hilfsmittel brachte er dreierlei Dinge mit: einen Dachshund mit fürchterlich krummen Beinen, eine lange dünne Leine und einen riesigen Schinkenknochen, der an der Leine befestigt war. Als er mit diesen drei Dingen auf dem Eise erschien, stieß Bubbles, der Berichterstatter, ein indianisches Freudengeheul aus. Das Publikum schrie Hurra, Flaherty aber wandte sich an Kaiser und sagte:
»Kaiser, ist es wahr, daß Moltke mit Dachshunden und Schinkenknochen gearbeitet hat?«
Ein anderer fragte seinen Nachbar, wer eigentlich der Dachshund und wer der Bäcker sei. Wahrhaftig – von weitem sahen sie sich ähnlich, wegen der krummen Beine. Man war aufs äußerste gespannt, wie nun die Moltkesche Strategie sich betätigen werde. Sie betätigte sich wie folgt. Der kugelrunde Bäcker rollte sich auf den gelben Köter zu, der freundlich bellte und mit dem Schwanz wedelte, als er einen vierbeinigen Kameraden erblickte. Diese beiden, der Mann und der Dachshund, machten unzweifelhaft einen friedlichen Eindruck auf den Eishund. Nun schleuderte der Bäcker plötzlich seinen Schinkenknochen, aber nicht nach [147] dem Köter hin, sondern seitwärts. Sofort stürzte sich der krummbeinige Dackel mit fliegenden Ohren auf den Knochen und suchte ihn seinem Herrn zu entreißen. Der jedoch hielt ihn mit der Leine fest. Das ärgerte Prinz. So hieß nämlich der Dackel. Knurrend und keifend zog er aus Leibeskräften an dem Knochen, ebenso kräftig zog der Bäcker daran. Der Eishund war eitel Entzücken. Mit lustigem Gebell sprang er unausgesetzt um den Dackel herum, dabei begehrliche Blicke auf den Knochen werfend. Himmel – war das ein Knochen! Und ein Duft ging von dem Knochen aus, daß ihm der leere Magen in dem dürren Leib vor Freude hüpfte. Wenn er diesen Knochen erwischen könnte! Er kam ein wenig näher. Aber Prinz schnarrte ihn so grimmig an, daß er furchtsam zurückwich. Nun zog der Bäcker stärker und stärker, bis er Prinz ganz nahe hatte. Dann sagte er: »Artig, Prinz!« und Prinz ließ schweren Herzens den Knochen fahren. Jetzt kugelte sich der Bäcker mit lächerlicher Geschwindigkeit davon, den Knochen immer hinter sich herschleifend. Prinz und der gelbe Köter folgten. Der Bäcker gab acht, daß sie den Knochen nicht erwischten. Eine Weile trieb er's so. Dann schleuderte er den Knochen dem gelben Köter zu, der ihn heißhungrig erschnappte. Nun begann dasselbe Spiel, das der Bäcker mit Prinz getrieben [148] hatte. Näher und näher zog er den Knochen mit dem gelben Köter daran, während Prinz mit entrüstetem Bellen um den Nebenbuhler herumsprang. Immer näher kam der Köter und jetzt – ein Griff, er hatte ihn, samt dem Knochen. Er nahm ihn unter den Arm und verließ mit ihm, gefolgt von Prinz, unter dem brausenden Hurra der Zuschauer das Eis.
»Was hältst du von Moltke?« fragte jetzt Kaiser den dicken Flaherty.
»Es ist ein Sedan, ein vollkommenes Sedan!« gestand Flaherty voll Bewunderung. »Jetzt verstehe ich den Krieg von Siebzig!«
Der Bäcker hatte noch kaum über die Bretter das Ufer bestiegen, da war er schon von Bubbles Gehilfen dreimal photographiert, mitsamt Prinz. Die Leute umringten ihn und beglückwünschten ihn und bewunderten den Eishund, der mit scheuen Blicken, aber immer noch seinen Schinkenknochen zwischen den Zähnen, unter des Bäckers Arm saß. Zwischendurch mußte der Bäcker Bubbles Rede und Antwort stehen, wo er herkomme und so weiter. Man erfuhr, daß er Waldersees Liebling gewesen sei. Na ja, da hatte er die Moltkesche Strategie gelernt – kein Wunder! Einer erzählte es dem andern. Der Bäcker mußte seine Wohnung angeben. Dann gestatteten ihm die Polizisten, den Eishund nach Hause zu nehmen.
Und der Eishund war nun ein gemachter Hund – sozusagen. Feine Damen kamen Tag um Tag in Kutschen zu dem tapferen Bäcker gefahren und wollten den berühmten Hund sehen. Eine alte reiche Dame erstand ihn, da ihn niemand beanspruchte, von dem Bäcker für 25 Dollars und nahm ihn in ihr Haus, wo er den Namen Teddy erhielt, dem Präsidenten Roosevelt zu Ehren, und ein Leben voller Wonne führte.
»Und das alles,« spöttelten die vornehmen Hunde aus der Fünften Avenue, »weil er das Glück hatte, in das Trinkwasserbecken im Park zu fallen. Zu albern!«
Das ist die Geschichte von dem Eishund.
Wie ich in die Ostervakanz gefahren bin, hat die Tante Fanny gesagt: »Vielleicht kommen wir zum Besuch zu deiner Mutter. Sie hat uns so dringend eingeladen, daß wir sie nicht beleidigen dürfen.«
Und Onkel Pepi sagte, er weiß es nicht, ob es geht, weil er so viel Arbeit hat, aber er sieht es ein, daß er den Besuch nicht mehr hinausschieben darf. Ich fragte ihn, ob er nicht lieber im Sommer kommen will, jetzt ist es noch so kalt, und man weiß nicht, ob es nicht auf einmal schneit. Aber die Tante sagte: »Nein, deine Mutter muß böse werden, wir haben es schon so oft versprochen.« Ich weiß aber schon, warum sie kommen wollen; weil wir auf Ostern das Geräucherte haben und Eier und Kaffeekuchen, und Onkel Pepi ißt so furchtbar viel. Daheim darf er nicht so, weil Tante Fanny gleich sagt, ob er nicht an sein Kind denkt.
Sie haben mich an den Postomnibus begleitet, und Onkel Pepi hat freundlich getan und hat gesagt, es ist auch gut für mich, wenn er kommt, daß er den Aufruhr beschwichtigen kann über mein Zeugnis.
Es ist wahr, daß es furchtbar schlecht gewesen ist, aber ich finde schon etwas zum Ausreden. Dazu brauche ich ihn nicht.
Ich habe mich geärgert, daß sie mich begleitet haben, weil ich mir Zigarren kaufen wollte für die Heimreise, und jetzt konnte ich nicht. Der Fritz war aber im Omnibus und hat zu mir gesagt, daß er genug hat, und wenn es nicht reicht, können wir im Bahnhof in Mühldorf noch Zigarren kaufen.
Im Omnibus haben wir nicht rauchen dürfen, weil der Oberamtsrichter Zirngiebl mit seinem Heinrich darin war, und wir haben gewußt, daß er ein Freund vom Rektor ist und ihm alles verschuftet.
Der Heinrich hat ihm gleich gesagt, wer wir sind. Er hat es ihm in das Ohr gewispert, und ich habe gehört, wie er bei meinem Namen gesagt hat: »Er ist der Letzte in unserer Klasse und hat in der Religion auch einen Vierer.«
Da hat mich der Oberamtsrichter angeschaut, als wenn ich aus einer Menagerie bin, und auf einmal hat er zu mir und zum Fritz gesagt:
»Nun, ihr Jungens, gebt mir einmal eure Zeugnisse, daß ich sie mit dem Heinrich dem seinigen vergleichen kann.«
Ich sagte, daß ich es im Koffer habe, und er liegt auf dem Dache vom Omnibus. Da hat er [152] gelacht und hat gesagt, er kennt das schon. Ein gutes Zeugnis hat man immer in der Tasche. Alle Leute im Omnibus haben gelacht, und ich und der Fritz haben uns furchtbar geärgert, bis wir in Mühldorf ausgestiegen sind.
Der Fritz sagte, es reut ihn, daß er nicht gesagt hat, bloß die Handwerksburschen müssen dem Gendarm ihr Zeugnis hergeben. Aber es war schon zu spät. Wir haben im Bahnhof Bier getrunken, da sind wir wieder lustig geworden und sind in die Eisenbahn eingestiegen.
Wir haben vom Konduktör ein Rauchkupee verlangt und sind in eines gekommen, wo schon Leute darin waren. Ein dicker Mann ist am Fenster gesessen, und an seiner Uhrkette war ein großes silbernes Pferd.
Wenn er gehustet hat, ist das Pferd auf seinem Bauch getanzt und hat gescheppert. Auf der anderen Bank ist ein kleiner Mann gesessen mit einer Brille, und er hat immer zu dem Dicken gesagt »Herr Landrat«, und der Dicke hat zu ihm gesagt »Herr Lehrer«. Wir haben es aber auch so gemerkt, daß er ein Lehrer ist, weil er seine Haare nicht geschnitten gehabt hat.
Wie der Zug gegangen ist, hat der Fritz eine Zigarre angezündet und den Rauch auf die Decke geblasen, und ich habe es auch so gemacht.
Eine Frau ist neben mir gewesen, die ist weggerückt und hat mich angeschaut, und in der anderen Abteilung sind die Leute aufgestanden und haben herübergeschaut. Wir haben uns furchtbar gefreut, daß sie alle so erstaunt sind, und der Fritz hat recht laut gesagt, er muß sich von dieser Zigarre fünf Kisten bestellen, weil sie so gut ist.
Da sagte der dicke Mann: »Bravo, so wachst die Jugend her,« und der Lehrer sagte: »Es ist kein Wunder, was man lesen muß, wenn man die verrohte Jugend sieht.«
Wir haben getan, als wenn es uns nichts angeht, und die Frau ist immer weitergerückt, weil ich so viel ausgespuckt habe. Der Lehrer hat so giftig geschaut, daß wir uns haben ärgern müssen, und der Fritz sagte, ob ich weiß, woher es kommt, daß die Schüler in der ersten Lateinklasse so schlechte Fortschritte machen, und er glaubt, daß die Volksschulen immer schlechter werden. Da hat der Lehrer furchtbar gehustet, und der Dicke hat gesagt, ob es heute kein Mittel nicht mehr gibt für freche Lausbuben.
Der Lehrer sagte, man darf es nicht mehr anwenden wegen der falschen Humanität, und weil man gestraft wird, wenn man einen bloß ein bißchen auf den Kopf haut.
Alle Leute im Wagen haben gebrummt: »Das ist wahr«, und die Frau neben mir hat gesagt, daß [154] die Eltern dankbar sein müssen, wenn man solchen Burschen ihr Sitzleder verhaut. Und da haben wieder alle gebrummt, und ein großer Mann in der anderen Abteilung ist aufgestanden und hat mit einem tiefen Baß gesagt: »Leider, leider gibt es keine vernünftigen Öltern nicht mehr.«
Der Fritz hat sich gar nichts daraus gemacht und hat mich mit dem Fuß gestoßen, daß ich auch lustig sein soll. Er hat einen blauen Zwicker aus der Tasche genommen und hat ihn aufgesetzt und hat alle Leute angeschaut und hat den Rauch durch die Nase gehen lassen.
Bei der nächsten Station haben wir uns Bier gekauft und wir haben es schnell ausgetrunken. Dann haben wir die Gläser zum Fenster hinausgeschmissen, ob wir vielleicht einen Bahnwärter treffen.
Da schrie der große Mann: »Diese Burschen muß man züchtigen,« und der Lehrer schrie: »Ruhe, sonst bekommt ihr ein paar Ohrfeigen!« Der Fritz sagte: »Sie können's schon probieren, wenn Sie eine Schneid haben.« Da hat sich der Lehrer nicht getraut, und er hat gesagt: »Man darf keinen mehr auf den Kopf hauen, sonst wird man selbst gestraft.« Und der große Mann sagte: »Lassen Sie es gehen, ich werde diese Burschen schon kriegen.«
Er hat das Fenster aufgemacht und hat gebrüllt: »Konduktör, Konduktör!«
Der Zug hat gerade gehalten, und der Konduktör ist gelaufen, als wenn es brennt. Er fragte, was es gibt, und der große Mann sagte: »Die Burschen haben Biergläser zum Fenster hinausgeworfen. Sie müssen arretiert werden.«
Aber der Konduktör war zornig, weil er gemeint hat, es ist ein Unglück geschehen, und es war gar nichts.
Er sagte zu dem Mann: »Deswegen brauchen Sie doch keinen solchen Spektakel nicht zu machen.« Und zu uns hat er gesagt: »Sie dürfen es nicht tun, meine Herren.« Das hat mich gefreut, und ich sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Oberkonduktör, wir haben nicht gewußt, wo wir die Gläser hinstellen müssen, aber wir schmeißen jetzt kein Glas nicht mehr hinaus.« Der Fritz fragte ihn, ob er keine Zigarre nicht will, aber er sagte, nein, weil er keine so starken nicht raucht.
Dann ist er wieder gegangen, und der große Mann hat sich hingesetzt und hat gesagt, er glaubt, der Konduktör ist ein Preuße. Alle Leute haben wieder gebrummt, und der Lehrer sagte immer: »Herr Landrat, ich muß mich furchtbar zurückhalten, aber man darf keinen mehr auf den Kopf hauen.«
Wir sind weitergefahren, und bei der nächsten Station haben wir uns wieder ein Bier gekauft. Wie ich es ausgetrunken habe, ist mir ganz schwindlig [156] geworden, und es hat sich alles zu drehen angefangen. Ich habe den Kopf zum Fenster hinausgehalten, ob es mir nicht besser wird. Aber es ist mir nicht besser geworden, und ich habe mich stark zusammengenommen, weil ich glaubte, die Leute meinen sonst, ich kann das Rauchen nicht vertragen.
Es hat nichts mehr geholfen, und da habe ich geschwind meinen Hut genommen.
Die Frau ist aufgesprungen und hat geschrien, und alle Leute sind aufgestanden, und der Lehrer sagte: »Da haben wir es.« Und der große Mann sagte in der anderen Abteilung: »Das sind die Burschen, aus denen man die Anarchisten macht.«
Mir ist alles gleich gewesen, weil mir so schlecht war. Ich dachte, wenn ich wieder gesund werde, will ich nie mehr Zigarren rauchen und immer folgen und meiner lieben Mutter keinen Verdruß nicht mehr machen. Ich dachte, wieviel schöner möchte es sein, wenn es mir jetzt nicht schlecht wäre, und ich hätte ein gutes Zeugnis in der Tasche, als daß ich jetzt den Hut in der Hand habe, wo ich mich hineingebrochen habe.
Fritz sagte, er glaubt, daß es mir von einer Wurst schlecht geworden ist.
Er wollte mir helfen, daß die Leute glauben, ich bin ein Gewohnheitsraucher.
Aber es war mir nicht recht, daß er gelogen hat.
Ich war auf einmal ein braver Sohn und hatte einen Abscheu gegen die Lüge.
Ich versprach dem lieben Gott, daß ich keine Sünde nicht mehr tun wollte, wenn er mich wieder gesund werden läßt. Die Frau neben mir hat nicht gewußt, daß ich mich bessern will, und sie hat immer geschrien, wie lange sie den Gestank noch aushalten muß.
Da hat der Fritz den Hut aus meiner Hand genommen und hat ihn zum Fenster hinausgehalten und hat ihn ausgeleert. Es ist aber viel auf das Trittbrett gefallen, daß es geplatscht hat, und wie der Zug in der Station gehalten hat, ist der Expeditor hergelaufen und hat geschrien: »Wer ist die Sau gewesen? Herrgottsakrament, Konduktör, was ist das für ein Saustall?«
Alle Leute sind an die Fenster gestürzt und haben hinausgeschaut, wo das schmutzige Trittbrett gewesen ist. Und der Konduktör ist gekommen und hat es angeschaut und hat gebrüllt: »Wer war die Sau?« – Der große Herr sagte zu ihm: »Es ist der nämliche, der mit den Bierflaschen schmeißt, und Sie haben es ihm erlaubt.« – »Was ist das mit den Bierflaschen?« fragte der Expeditor. – »Sie sind ein gemeiner Mensch,« sagte der Konduktör, »wenn Sie sagen, daß ich es erlaubt habe, daß er mit die Bierflaschen schmeißt.« – »Was bin [158] ich?« fragte der große Herr. – »Sie sind ein gemeiner Lügner,« sagte der Konduktör, »ich habe es nicht erlaubt.« – »Tun Sie nicht so schimpfen,« sagte der Expeditor, »wir müssen es mit Ruhe abmachen.«
Alle Leute im Wagen haben durcheinander geschrien, daß wir solche Lausbuben sind, und daß man uns arretieren muß. Am lautesten hat der Lehrer gebrüllt, und er hat immer gesagt, er ist selbst ein Schulmann. Ich habe nichts sagen können, weil mir so schlecht war, aber der Fritz hat für mich geredet, und er hat den Expeditor gefragt, ob man arretiert werden muß, wenn man auf einem Bahnhofe eine giftige Wurst kriegt. Zuletzt hat der Expeditor gesagt, daß ich nicht arretiert werde, aber, daß das Trittbrett gereinigt wird, und ich muß es bezahlen. Es kostet eine Mark. Dann ist der Zug wieder gefahren, und ich habe immer den Kopf zum Fenster hinausgehalten, daß es mir besser wird.
In Endorf ist der Fritz ausgestiegen, und dann ist meine Station gekommen. Meine Mutter und Ännchen waren auf dem Bahnhof und haben mich erwartet. Es ist mir noch immer ein bißchen schlecht gewesen und ich habe so Kopfweh gehabt.
Da war ich froh, daß es schon Nacht war, weil man nicht gesehen hat, wie ich blaß bin. Meine Mutter hat mir einen Kuß gegeben und hat gleich [159] gefragt: »Nach was riechst du, Ludwig?« Und Ännchen fragte: »Wo hast du deinen Hut, Ludwig?« Da habe ich gedacht, wie traurig sie sein möchten, wenn ich ihnen die Wahrheit sage, und ich habe gesagt, daß ich in Mühldorf eine giftige Wurst gegessen habe, und daß ich froh bin, wenn ich einen Kamillentee kriege.
Wir sind heimgegangen, und die Lampe hat im Wohnzimmer gebrannt, und der Tisch war aufgedeckt. Unsere alte Köchin Theres ist hergelaufen, und wie sie mich gesehen hat, da hat sie gerufen: »Jesus Maria, wie schaut unser Bub aus? Das kommt davon, weil Sie ihn so viel studieren lassen, Frau Oberförster.«
Meine Mutter sagte, daß ich etwas Unrechtes gegessen habe, und sie soll mir schnell einen Tee machen. Da ist die Theres geschwind in die Küche, und ich habe mich auf das Kanapee gesetzt.
Unser Bürschel ist immer an mich hinaufgesprungen und hat mich abschlecken gewollt. Und alle haben sich gefreut, daß ich da bin. Es ist mir ganz weich geworden, und wie mich meine liebe Mutter gefragt hat, ob ich brav gewesen bin, habe ich gesagt: »Ja, aber ich will noch viel braver werden.«
Ich sagte, wie ich die giftige Wurst drunten hatte, ist mir eingefallen, daß ich vielleicht sterben muß, und daß die Leute meinen, es ist nicht schade [160] darum. Da habe ich mir vorgenommen, daß ich jetzt anders werde und alles tue, was meiner Mutter Freude macht, und viel lerne und nie keine Strafe mehr heimbringe, daß sie alle auf mich stolz sind.
Ännchen schaute mich an und sagte: »Du hast gewiß ein furchtbar schlechtes Zeugnis heimgebracht, Ludwig?« Aber meine Mutter hat es ihr verboten, daß sie mich ausspottet, und sie sagte: »Du sollst nicht so reden, Ännchen, wenn er doch krank war und sich vorgenommen hat, ein neues Leben zu beginnen. Er wird es schon halten und mir viele Freude machen.« Da habe ich weinen müssen, und die alte Theres hat es auch gehört, daß ich vor meinem Tod solche Vorsätze genommen habe. Sie hat furchtbar laut geweint und hat geschrien: »Es kommt von dem vielen Studieren, und sie machen unsern Buben noch kaput.« Meine Mutter hat sie getröstet, weil sie gar nicht mehr aufgehört hat.
Da bin ich ins Bett gegangen, und es war so schön, wie ich darin gelegen bin. Meine Mutter hat noch bei der Türe hereingeleuchtet und hat gesagte: »Erhole dich recht gut, Kind.« Ich bin noch lange aufgewesen und habe gedacht, wie ich jetzt brav sein werde.
Buchdruckerei Richard Hahn (S. Otto), Leipzig.
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert.
Korrekturen:
S. 52: beseite → beiseite
allen Respekt
beiseite
zu setzen
S. 71: Kutzsch → Kutsch
daß die
Kutsch
hübsch akkurat kommt
S. 76: herauszuschüttlen → herausschütteln
Krumplen aus meinem Staatskleid
herauszuschütteln
S. 86: begegenet → begegnet
Meldungswürdiges mir
begegnet
ist
S. 106: Büdung → Bildung
Himmelsfrucht jeder sanften
Bildung
trage