The Project Gutenberg eBook of Der ewige Buddho: Ein Tempelschriftwerk in vier Unterweisungen

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Title : Der ewige Buddho: Ein Tempelschriftwerk in vier Unterweisungen

Author : Leopold Ziegler

Release date : May 7, 2016 [eBook #52015]

Language : German

Credits : Produced by Norbert H. Langkau, Reiner Ruf, and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE BUDDHO: EIN TEMPELSCHRIFTWERK IN VIER UNTERWEISUNGEN ***

  

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten.

Fremdsprachige Begriffe und Zitate wurden ohne Änderungen aus dem Originaltext übernommen; lediglich in einem Fall wurde der griechische Begriff ‚αὑτὸ καδ’ αὐτό‘ zu ‚αὑτὸ καθ’ἁυτό‘ harmonisiert.

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Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter gestaltet und in die Public Domain eingebracht.

Sitzender Buddho


GRÖSSERE ANSICHT


LEOPOLD ZIEGLER

DER
EWIGE BUDDHO

EIN TEMPELSCHRIFTWERK
IN VIER UNTERWEISUNGEN

DARMSTADT 1922

OTTO REICHL VERLAG


GEDRUCKT IN DER SPAMERSCHEN BUCHDRUCKEREI IN LEIPZIG

ALLE RECHTE VORBEHALTEN,
BESONDERS DAS DER ÜBERSETZUNG
COPYRIGHT 1922 BY OTTO REICHL VERLAG
IN DARMSTADT


DEN
‚BÜRGERN DER VIER WELTGEGENDEN‘


INHALT

EINFÜHRUNG 11
DIE ERSTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER PROTESTANT 37
DIE ZWEITE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER ERLEBENDE 123
DIE DRITTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER WISSENDE 223
DIE VIERTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER ÖST-WESTLICHE 343

[S. 11]

EINFÜHRUNG

[S. 13]

Es jährt sich nun heuer rund das einhundertdreißigste Mal, daß die Sakontalâ des Kâlidâsa ihre erste deutsche Übersetzung fand, von Goethe wie von Herder sofort als geistige Begebenheit ersten Ranges mit Bewunderung, ja mit Ergriffenheit gewürdigt und begrüßt. Ein paar Jahrzehnte später, und die Kenntnisnahme der Bhagavad-Gîtâ, als θεσπέσιον μέλος erstmals lateinisch von August Wilhelm Schlegel ausgegeben, macht in Wilhelm von Humboldts Leben warm beglückende Epoche, die er uns mit unvergeßlichen Worten schildert. Schopenhauer zwar findet den Zugang zu den ‚Geheimen Lehren‘, das ist ‚Upanischaden‘, erst über den etwas krummen Umweg einer lateinischen Übersetzung des persischen Oupnek’ hat, — auf ähnlich krummen und noch krümmeren Umwegen ist dereinst der Stagirit zum Schicksal der Theologie und Philosophie des späteren Mittelalters geworden! — trotzdem aber werden jene wunderlich vermummten Urkunden ihm der Trost seines armen Lebens: indes er selber in vorgeschrittenerem Alter noch Scharfblick und Urteil genug aufbringt, Spence Hardys erste zuverlässige Darstellungen des zeilonischen Buddhismus in ihrer grundlegenden Wichtigkeit zu erkennen. Aus Köppens Religion des Buddha scheint sich Wagner ahnungweis ein erstaunlich zutreffendes und wesenhaftes Bild von Beschaffenheit und Art der Religion zu machen, die ihn in den unverfälschtesten und lautersten Jahren seines Daseins wie keine zweite tief und echt berührt. Was endlich Paul Deussens Lebenswerk angeht, so ist es in mehr wie einem Betracht dem [S. 14] Antrieb Nietzsches zu verdanken, der dauernd bemüht bleibt, eine zulängliche Kennerschaft seiner weltgeschichtlichen Gegenspieler im indischen Osten zu erwerben. In summa : der Einbruch Asiens, insonderheit der Einbruch Indiens in Europa erfolgt vor mindestens hundertunddreißig Jahren und wird bereits von allen Deutschen repräsentativer Geltung klar aufgenommen und sicher gedeutet als das, was er ist: der Aufgang eines funkelnd neuen Weltsterns an dämmernden Europahorizonten...

Bald aber geschieht befremdlich Unerwartetes, Nie-Zu-Erwartendes! Das Jahr 1896 bringt den ersten Band einer Verdeutschung des sogenannten Majjhimanikâyo von Karl Eugen Neumann, und zwar gleich als Probestück, Gesellenstück, Meisterstück zu einer weitausgreifenden Lebensaufgabe. Diese setzt sich die womöglich lückenlose Übertragung des Suttapitakam, will heißen der ältesten und wertvollsten Urkunden der Reden Gotamo Buddhos zum Ziel, wie sie in den heiligen Schriften des Pâli-Kanons gesammelt und überliefert sind. Bis zu Neumanns Tod, der allzu früh an seinem fünfzigsten Geburtstag (am 18. Oktober 1915) in Wien erfolgt, ist denn auch wirklich diese Riesenaufgabe in der Hauptsache schier bezwungen: ist die Längere und Mittlere Sammlung vollständig, die Kürzere Sammlung wenigstens in ihren gewichtigsten Stücken übersetzt, wovon die kleine, ihres Alters wegen jedoch hochgeschätzte Spruchsammlung des Dhammapadam zu erwähnen wäre, indes aus anderen Bezirken der indischen Seele der Mythos von Krischnas [S. 15] Weltengang hinzutritt. Alles in allem bietet mithin Karl Eugen Neumann einer großen europäischen Nation zum erstenmal die ungeheuere Gelegenheit, aus tausend verflachenden, entstellenden, verzerrenden, umwuchernden Übermittelungen des Buddhismus heraus die Stimme des Buddho selber sprechen zu hören, — und das ist fast, wie wenn wir Christen heute unverhofft ein fünftes Evangelium entdeckten, älter und urwüchsiger als die andern vier und an vielerlei Stellen geradezu die treu erinnerten Urworte des evangelischen Herrn enthaltend. Solche religiösen Urkunden werden jetzt jedem gebildeten Deutschen zugänglich gemacht, und dies obendrein in einer Fassung der Sprache, welche alleinig hätte genügen müssen, alle mit der Sachwalterschaft dieses höchsten irdischen Gutes Betrauten aufhorchen, wenn nicht aufjubeln zu machen. Hat doch an diesem indischen Idiom der Reden Buddhos sich die deutsche Sprache — wer hört es nicht, der nur ein einziges dieser vollkommenen Kunstwerke mit den Ohren (und mehr noch mit dem Gehör) liest: wer hört es nicht? — hat doch an diesem Pâli sich das deutsche Wort, der deutsche Satz noch einmal märchenhaft erneuert. Hier zeigt sich unsere Muttersprache plötzlich um eine ganze Anzahl von Möglichkeiten des Ausdrucks bereichert, die ihr vorher niemand so leicht zugestanden hätte. So, um an dieser Stelle nur das Auffälligste herauszuheben, zeigt sie sich im höchsten Grad des Andante Maëstoso hieratisch fugenden Stiles fähig, bisher im religiösen Leben unseres Festlandes so gut wie ausschließlich [S. 16] dem Latein vorbehalten. Tempelfeierlich hört man dagegen hier die deutschen Laute in vollausatmenden Posaunenstößen pausenlos dahinorgeln und dann allmählich zart vertönen, — dennoch wiederum höchst zwanglos zu vielen Kadenzen melodisch aufgelöst und von anmutigen Figuren reich umtrillert... Dieser Sprachgestalter Neumann aber und sein Buddho, diese ganz einmalige und ganz unvergleichbare indisch-deutsche Doppelschöpfung macht niemanden im weiten Vaterland aufhorchen und noch weniger jemanden aufjubeln. Wo vor hundert Jahren noch eine rauschende Bewegung durch den Geist, oder sag’ ich wirklichkeitentsprechender durch die Geister der Nation gefahren wäre, da spürest du keinen Hauch. Die Herren vom Fach, immer mit dem Wichtigeren ernst beschäftigt und darum geschworene Feinde alles Wichtigsten, schweigen sich mit ihrer altbewährten Zurückhaltung hinsichtlich ‚persönlicher Werturteile‘ auch über diese große Sache fast ganz aus; gebildete Laien, welche diese berufenen Hüter wissenschaftlicher Geheimnisse (oder Geheimniskrämerei?) zum Sprechen hätten zwingen wollen und hätten zwingen können, gibt es in jenen Jahren schauriger Verödung nirgends. Und dies bleibt die Lage, solange Neumann selber lebt. Bis kurz nach seinem unbemerkten Hingang der einzige Rudolf Pannwitz die Schmach dieses Schweigens bricht und endlich das befreiende Wort spricht über die weltgeschichtliche Tat eines Brückenschlages zwischen West und Ost...

Wie aber, wird der unbefangene Sinn hier fragen, war dies möglich? Wie war dies möglich zu einer [S. 17] Zeit, wo man diesseit wie jenseit des atlantischen Meeres wahrhaftig schon mehr Ursach’ hatte, wenn irgendwo die Rede ‚ de propaganda fide ‘ ging, an den Buddhismus und seine unwiderstehliche Werbearbeit in allen Kontinenten zu denken als hergebrachtermaßen an die Kirche Roms? Wie war dies möglich in den Jahrzehnten vor dem Krieg, wo bereits mit aller Stärke die theosophisch-anthroposophische Bewegung eingesetzt hatte, die ihrerseit absichtlich oder unabsichtlich, willig oder unwillig stets den Buddhismus mit verbreiten und mit fördern helfen muß? Wie war es möglich, wie war es überhaupt nur denkbar, daß zwar die Geheimlehren aller Religionen Asiens seit den Babyloniern durch ungezählte Rinnsale, sichtbare und unsichtbare, saubere und schmutzige, in die spiritistisch-okkultistischen Zirkel des Westens sickern konnten, aber daß das Wort des wirklichen Buddho in seiner oft immerhin ältesten und ehrwürdigsten Gestalt nirgends aufmerksameres Gehör, ja nicht einmal ein wenig — Neugierde fand?

Werfe ich diese Frage auf diese Weise auf, so ist vielleicht aus ihr schon die eigentliche Antwort herauszuhorchen. Denn wie ich vermute, ist es eben diese vielsinnig buddhistische, neubuddhistische, afterbuddhistische Strömung gewesen, welche die voll ausgemeißelte Bildsäule des Buddho mit sich fortschwemmte und in der Masse mitgewälzten Gerölles und Geschlämmes unkenntlich ganz und gar begrub. Dieser Buddho ficht leibhaftig wider den Buddhismus, wie der synoptische Jesus leibhaft wider das Christen [S. 18] tum ficht, — oder vielmehr jener ficht wider den Buddhismus noch mit viel härterer Bestimmtheit wie dieser wider das Christentum, weil er mitsamt seiner religiösen Schöpfung sich in diesen Reden viel greifbarer und lebendiger erhalten zeigt wie der Christus in den Evangelien. Τἀλητὲς ἀεὶ πλεῖστον ἰσχύει λόγου, — dies von den Schülern Hegels einst dem Werk ihres Meisters als Leitspruch wohlbedacht vorausgestellte Kernwort des Sophokles verdiente wie kein zweites den heiligen Texten des Pâli vorausgestellt zu werden. Denn hier wie kaum noch sonstwo dauert das Wahre allein durch die Gewalt des Wortes: nur daß man, ehe man das ‚Wahre‘ dieser Reden unbefangen auf sich wirken lassen will, zuvörderst alle die ungefügen und grobschlächtigen Schlagworte vergessen haben muß, mit welchen seit Jahrzehnten jeder Europäer dumm geprügelt wird, der in Gesellschaft den Begriff Buddhismus zu erwähnen sich getraut. Diese Schlagworte fahren hier alle ungeschickt daneben und treffen statt den Nagel auf den Kopf nur die Finger des Hämmernden, der auf den Nagel zielte. Hat man es zum Beispiel niemals anders läuten hören, als daß der Buddhismus eine Religion, ja sogar die Religion schlechtweg des Pessimismus sei, so wird man zum eigenen Erstaunen den Buddho ganz im Gegenteil von einem unerschütterlichen Optimismus tief beseelt und besäligt finden, wie ihn vielleicht bisher kein Mensch von dieser schonunglosen Welt- und Lebenskenntnis zu vertreten wagte, — wenn ich dabei von Hartmanns immerhin vergröbernder Europäisierung [S. 19] dieses sinnreich verzahnten Pessimismus-Optimismus, Optimismus-Pessimismus absehen darf. Wirkt und lehrt doch dieser Buddho inmitten einer Welt, welche sogar ein Leibniz in Person als die ‚beste aller möglichen Welten‘ durchaus anerkennen müßte, und zwar eben darum, weil ein jedes ihrer Wesen und Geschöpfe grundsätzlich mit der Anlage zu einem Buddho ausgestattet ward und folglich zu der Hoffnung stets berechtigt ist, im Ablauf seiner Wiederverkörperlichungen stufenweis zu dieser übermenschlich-übergöttlichen Würde hinanzusteigen: wenn es nämlich dieses ernsthaft will! Und solch übermäßiger Optimismus gibt allerdings ein überraschend Gegenstück zu dem abgründlichen Pessimismus christlicher Gnadenwahl, die vor allem Anfang schon etliche Wenige für die Ewigkeit zur Säligkeit erkiest, eine unnennbare Mehrzahl jedoch gleichzeitig für die Ewigkeit verdammt.... Oder hat man fernerhin den Buddhismus jeweils als eine ausgemachte Praxis der Weltverneinung unserer europäisch vollbrachten Weltbejahung kurzerhand entgegengesetzt, so wird man nicht umhin können, selbst an dieser cause jugée stark irr’ zu werden, wenn man etwa den Buddho des Pâli-Kanons von einer so mütterlichen Zärtlichkeit erfüllt findet für alle Kreatur, wie sie gleich innig und gleich ausnahmlos kaum im Herzen unseres lieblichen poverello schlug: „O daß ich den kleinen verirrten Wesen ja nicht Schaden zufüge!“ So spricht meines Bedünkens bedingunglose Weltverneinung nicht; so zärtlich mitwesend und mitwebend spricht sie wahrlich nicht; so oder ähnlich [S. 20] hat es eher aus der Seele eines Weltverklärers, Weltliebhabers, Weltumarmers wie Jean Paul engelhaft gefiedelt und geharft. Weltverneinend hingegen im unmenschlichsten und verstocktesten Wortverstand erscheint durchweg der Kalvinismus, der jeden Eigenwert irdischer Erschaffenheiten ad majorem Dei, ad majorem Diaboli gloriam leugnet und in engster Übereinstimmung mit solch’ gehässigem Weltfühlen (wenn anders Max Webers vielbeachtete Untersuchungen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus zu recht bestehen) den lieblosesten und darum auch weltvernichtendsten Typus Mensch in Gestalt des amerikanisch-europäischen Unternehmers heraufgezüchtet hat... Oder um ein letztes Beispiel anzuführen, man hat in dem Buddhismus schlecht und recht eine der geschichtlichen Spielarten des aus der Mystik aller Zeiten und Völker fließenden Quietismus zu erblicken sich gewöhnt, und wird jetzt, angesichts dieses Buddho, überraschend inne, daß Gotamo von der Person des dem Orden verpflichteten bhikkhu eine unausgesetzte Höchstanspannung und Höchststeigerung sämtlicher Kräfte des Leibes und des Geistes und der Seele fordert; eine Höchstanspannung und -steigerung, die, wenn sie auch nicht geradezu Arbeit im Sinn des europäischen Berufsmenschen zu nennen ist, doch auch erst recht nicht als Ruhe oder gar als Müßiggang, am ehesten vielleicht noch als ‚tätige Muße‘ bezeichnet werden darf, und die zu ihrem Teil den Mönch, dem es bitter ernst ist, ausschließlich Tag und Nacht beansprucht, bis jeder Rest von Kraft für [S. 21] andere Lebensäußerungen aufgezehrt ist. „Wohlan denn, ihr Mönche: unermüdlich mögt ihr da kämpfen,“ — das ist die Summe der Gebote, das ist das Gebot aller Gebote, in welches der Buddho selbst im Augenblick der Erlöschung die gesamte Lehre knapp und einprägsam zusammenfaßt. Und abermals untersteh’ ich mich zu behaupten, daß so kein Quietismus und nicht einmal die Mystik an und für sich sprechen würde!... Alle derartigen Formeln, die man sich bei uns zurechtgelegt hat zu einem bequem handlichen Verständnis des Buddhismus, versagen infolgedessen kläglich vor diesem Buddho, der zwar eine der größten, stolzesten, ewigsten Formen des Lebens, aber mit nichten eine Formel ist und am wenigsten eine bequem zu handhabende. Was vielmehr jede Rede des Kanons eindringlicher zu erkennen gibt, das ist eine Menschlichkeit schlechthin sui generis , die jeder Einordnung in eine species oder classis durchaus spottet: eine Menschlichkeit von einer wunderbaren Fähigkeit der Selbstbegütigung ganz ohne Vorgängerschaft und Nachfolgerschaft. Hier ist ein Mensch und nichts weiter als ein Mensch, der dennoch die unmenschliche Wirklichkeit der Welt vollkommen meistert. Meistert freilich um den notwendig zu entrichtenden Preis des Verzichtes, der Entsagung, — aber eines Verzichtes, einer Entsagung, die ihn wiederum keine einzige seiner echt menschheitlichen Eigenschaften kostet und ihn keinesfalls jenen frommen Ungeheuern zugesellt, welche zu ihrem Teil die Heiligengeschichte anderer Religionen so zahlreich wie widerwärtig bevölkern. Der düster [S. 22] lohende und rußig schwälende Kienspan Mensch, hier glüht er sich himmlisch rein zum mildschimmernden Lichtgleichmaß einer Metallfadenlampe. Er selber schafft einen luftleeren Raum um sich, er selber gießt eine gläserne Glocke um sich, damit er fortab von Luftdruck, Zugwind, Nässe, Staub, Schmutz, Ungeziefer unbewegt und unbetrübt bleibe...

Dieser Buddho des Pâli-Kanons contra den landläufigen Buddhismus, aber auch: dieser Buddho der südlichen Überlieferung contra die nördlich verherrlichten Scharen kosmischer und metakosmischer Mittlererscheinungen, die reihenweis geordnet und gestuft als Bodhisattvas, Dhyânibodhisattvas, Manushbuddhas, Dhyânibuddhas bis hinauf zu Mañdschuçri dem Demiurg, bis hinauf zu Avalokiteçvara dem Paraklet, bis hinauf zum Âdhibuddha dem schon wieder brahmanisch rückgedeuteten Âtman-Brahman einen katholischen Gnaden- und Errettunghimmel zwischen Mensch und Weltgrund göttlich füllen, — in solch’ ausgeprägter Gegenstellung darf man wohl eine der Ursachen vermuten, warum man auch bei uns die Reden des Gotamo Buddho ein Vierteljahrhundert lang nicht für der Rede wert hielt. Aber kaum dürfte dies die einzige Ursache gewesen sein und sicherlich nicht die ausschlaggebende. Noch kommt anderes dazu, das ernstlich beachtet sein will. Abgesehen nämlich von dem etwas hanebüchenen und derben Interesse, welches Theo- und Anthroposophie, Spiritismus und Okkultismus am Buddhismus als solchem zu nehmen pflegen, ein Interesse, welches unverhohlen zur dunk [S. 23] leren Hälfte geradezu der Magie, zur helleren Hälfte jedoch dem Apathanatismos gewidmet ist, — ich sage dies aber ohne jeden mißbilligenden Seitenblick oder Seitenhieb, weil es fürwahr eine Magie und erst recht einen Apathanatismos im Buddhismus gibt und beides sogar bei unserem Buddho! — abgesehen also von diesem eher irreligiösen als religiösen Interesse ist es im Abendland doch fast ausnahmlos das wissenschaftliche, das gelehrte Interesse gewesen, welches sich mit wachsender Vorliebe den Religionen des Ostens zugewandt hat. Diese wissenschaftlichen, diese gelehrten Interessen nun sind es, die in diesen Reden, wie ich vermute, weniger als sonstwo auf ihre Rechnung kommen. Gewiß gibt es keine historische, keine philologische, keine archäologische, kurz und gut überhaupt keine kritische Frage, die in Ansehung dieser gotamidischen Reden nicht mit ebendemselben Aufwand an Forscherscharfsinn aufzuwerfen und zu erörtern wäre, wie dies in Ansehung des Alten und Neuen Testaments längst geschah und immer noch geschieht. Und Karl Eugen Neumann selbst betrachtet es als erwünschtes, ob freilich auch noch fernes Ideal der Wissenschaft, einstmals die Reden des Kanons mit einem fortlaufenden Glossarium und Kommentar historisch-philologisch-archäologischer Feststellungen zu versehen. Wer fühlt indes gerade bei der Erwähnung solch gelehrtenhafter Ideale nicht vollkommen deutlich, wie belanglos sich alles bloße Wissen eben dieser religiösen Schöpfung gegenüber ausnehmen muß, die ihrerseit alles Forschen und Untersuchen als [S. 24] unwesentlich von der Hand weist, wenn anders es nicht mittelbar oder unmittelbar dem ‚heiligen Ziel‘ dient. Wie kaum ein zweites religiöses Dokument der Vergangenheit werben diese Reden des Buddho um religiöse Wertung, religiöse Stellungnahme, religiöse Verarbeitung: mithin just um das, was ihnen der Westen bisher am hartnäckigsten geweigert hat! An alle Bedürfnisse unserer Art darf sich der Buddhismus wenden, seien es selbst unsere rückständigsten, unsere unrühmlichsten, unsere niedrigsten. Nur wolle uns kein Buddho mit dem unbescheidenen Anspruch lästig fallen, daß er innerhalb dieser geographisch und kulturell abgegrenzten Zone, die gewohntermaßen dem Christentum und seinen erlöserischen Kräften allein vorbehalten ward, etwa seinerseit ein religiöses Werk zu vollbringen habe... Europa den Europäern! — dies ungeschriebene Gesetz, welches bei uns verhängnisvollerweise seinen Monroe noch immer nicht gefunden hat, tritt zwar gerade dann mit allzugroßer Leichtigkeit außer Kraft, wenn Europas Söhne blindwütig und menschenfresserisch im gegenseitigen Vernichtungkrieg begriffen sind und zu diesem frommen Ende die Völkerschaften aller dunkeln und dunkelsten Erdteile aufbieten. Aber Europa den Europäern, — das ist ein unbedingtes, unverbrüchliches Gesetz, wo sich’s um das uralt-unantastbare Grundvorrecht des Christentums handelt, dem europäischen Menschen ausschließlich von sich aus die ihm zukömmlichen religiösen Antriebe mitzuteilen: ist doch dies Christentum, wer weiß es nicht, von seinen ersten Anfängen [S. 25] Jesus, Paulus, Augustinus an das heimische Erzeugnis unvermischten Europäertums... Wie schändlich, ja wie hochverräterisch wär’ es da, auf solch ein streng umhegtes Leben sorgfältigster Inzucht den heidnischen Asiaten loszulassen!...

Inzwischen ist bei allem grimmigen Hohn über die abstoßende Heuchelei einer derart gehandhabten Monroe-Doktrin dennoch das Eingeständnis geboten, daß in dieser Abwehr gegen asiatische Einflüsse in unserer gegenwärtigen Lage ein gesunder Instinkt wachsam zu werden scheint. Aus hunderterlei Gründen dürften wir selbst dann keine Buddhisten werden oder auch nur zu werden wünschen, wenn dies überhaupt im Bereich unserer seelischen Möglichkeiten läge: das versteht sich für jeden Einsichtigen von selbst und bedarf keiner besonderen Beweise. Und auch das andere versteht sich gleichermaßen von selbst, daß nämlich auch der Buddho in den herrlichen Texten des Pâli-Kanons keine der furchtbar drängenden Aufgaben löst oder lösen hilft, die uns heute auf den Nägeln brennen und zu deren Bewältigung uns leider einstweilen noch alle Kräfte fehlen. Stumm bleibt uns auch dieser Buddho auf die Fragen,

wie wir den Staat abbauen und die Gesellschaft aufbauen sollen,

wie Staat und Gesellschaft wieder auf religiöse Grundlagen zu stellen wären,

wie der Staatenbund (oder Bundesstaat) europäischer Völker gegen die Dummheit und Bosheit [S. 26] dieser Völker selbst und mehr noch gegen die Ruchlosigkeit ihrer Führer zu erzwingen sein möchte,

wie neue Zellen späterer Vergemeinschaftung nach innerlichen Wachstumgesetzen in ihrem Entstehn begünstigt werden könnten,

wie die Wirtschaft zum Dienen und der Geist zum Herrschen zu bringen sei,

wie wir wieder zu einem beispielgebenden Adel (nicht der Geburt und nicht des Besitzes) kommen möchten,

wie wir Erzieher erziehen lernten,

wie den Henkern der europäischen Gesittung die Maske des Richters vom Gesicht zu reißen sei,

wie die lebenswichtigen Sachgüter am zweckmäßigsten erzeugt und am gerechtesten verteilt würden,

wie aus dem Gegeneinanderleben aller gegen alle wieder ein Miteinanderleben, Füreinanderleben zu entwickeln wäre, oder mit andern Worten

wie das losgelassene Mensch-Vieh wieder zu bändigen und die weltverheerende Masse zu ent-massen wäre, und so weiter, und so weiter...

Auf diese sämtlichen, beliebig noch zu vermehrenden Fragen bleibt uns der Buddho jede Antwort schuldig, indes wir uns wohl zu der Erwartung berechtigt glauben, daß eine Religion, die unserm innersten Bedürfnis eines Tages voll entsprechen würde, in großen Linien wenigstens die Wege auch in diese ungebahnte Zukunft zu weisen fähig sein müsse. Denn was war es doch in Wahrheit, das das [S. 27] Christentum unseres Mittelalters fast ein Jahrtausend lang in den Seelen unserer Ahnen so tief die Wurzeln hat einsenken lassen, daß niemand bis zur Stunde sie hat ergraben können? Das eine war es, daß dieses Christentum zwar im höchsten Betracht Religion war und dies sogar in einer durchaus weltjenseitigen Bedeutung, — daneben und außerdem aber just kraft seiner Eigenschaft als Religion gleichzeitig eine Lebens- und Gesellschaftformung größten Stils. Hier ging die Bruderschaft in Christo fast ohne eine Stelle merklicher Unstätigkeit in die Genossenschaft, in die Gilde über. Hier wuchs der geistliche Orden nicht selten sich zur machtvoll weltbeherrschenden Partei aus, — ich nenne nur den Namen Cluny, für die europäische Politik zeitweis geradezu ein Programm (und wieviel mehr noch und Entscheidenderes als nur ein Programm!), deutsche Kaiser vom Rang des dritten Heinrich zu manchem wichtigsten Entschlusse nötigend... Vollends der Priester aber oder Mönch, in jenen Tagen ganz ohne Zweifel eigentlicher homo religiosus , ist er nicht Lehrer und Gelehrter, Staatsmann und Verwalter, Grundherr und Städtegründer, Landwirt und Siedler, Lehensträger und Landesfürst, Geschichtschreiber und Geschäftsmann, Seelsorger und Richter in seiner einzigen Person? Eine solche Religion, daran ist nicht zu zweifeln, wird uns Europäern langsam, langsam wieder wachsen, eine Religion, die alle Wirklichkeiten wieder göttlich gründet, göttlich ründet, — oder wir werden eines Tages nicht mehr sein, weil [S. 28] eine solche Religion nicht mehr aus uns wachsen konnte. Und niemand in Ost und West wird uns diese späte Religion offenbaren oder vorleben, wenn wir nicht beides selber tun. Wofern wir also eine Tat, deren Vollbringen durchaus uns obliegt, von irgend einem religiösen Künder der Vergangenheit getan erwarteten, und heiße er Gotamo Buddho, gäben wir uns freilich einem unverzeihlichen Irrtum gefangen, und in diesem Fall wären offenbar diejenigen im Recht, welche uns in dem Gedanken an unsere höchste europäische Aufgabe warnend und abmahnend zuriefen: Europa den Europäern! Denn dieses Europa von übermorgen, blank gefegt von der großen Sturmflut, die heute über ihm zusammenbrandet, — dieses Europa unserer frömmsten Europäer-Sehnsucht wird uns weder von Indien noch von Syrien und Palästina her geschenkt; es wird allein aus unserm Leib gebaut und aus unserm Geist gefügt...

Nur mögen wir nicht vergessen, — bis diese Abtei Thelema errichtet sein wird, werden eher Jahrhunderte als nur Jahrzehnte vergehen, in welchen der Europäer auch religiös nur von der Hand in den Mund leben wird. Was aber den Buddho der Heiligen Texte des Pâli anlangt, so kommt er ja nicht zu jener künftigen Europa felix des Jahres 2200, sondern zu dieser gegenwärtigen Europa deserta . Er kommt mithin in einer Stunde, wo sich der Komplexus der abendländischen Gesellschaft in seine Elemente zersetzt und mit ihm gleichzeitig alle anderen [S. 29] Komplexe der Auflösung verfallen, welche vormals die geschichtlichen Verwirklichungen der Gesellschaft darstellten. Kurz, dieser Buddho nähert sich uns in einem Augenblick, wo alles lebendig Gewordene unserer Kulturzone verwest und wo nur endgültig schon Versteinertes diese Verwesung übersteht oder was zur Zahl der unsterblichen Grundeinheiten des Lebens gehört. In diesem Augenblick und in keinem anderen wird uns der Buddho zugeführt: und wer wäre flach und weltunkund genug, um hier an pure Zufälligkeit zu denken? Jetzt aber konnte, jetzt mußte es geschehen, daß eben die Religion, früher einmal die stärkste gesellschaftstiftende Tatsache überhaupt, von allen persönlichen Angelegenheiten des Lebens die persönlichste wird und höchstens noch auf sehr mittelbare Weise gesellschaftliche Erheblichkeit gewinnt. Religion, das ist heute (und auf absehbare Zeit hinaus) die Unruhe und Unstäte, die Ratlosigkeit und Schwerpunktlosigkeit der Einzelnen, Abseitigen und Vereinzelten. Aber gerade diesen Einzelnen, Abseitigen und Vereinzelten vermag nun der Buddho ungleich bedeutsamer zu werden als je einer geschlossenen Gemeinschaft, die auf unserem Kontinent bisher doch immer wieder auf die Heilslehren des Christentums zurückgriff. Dem Einzelnen, Abseitigen, Vereinzelten hingegen stellt sich der Buddho als eine religiöse Möglichkeit dar, welche von den religiösen Möglichkeiten des Christentums weder entbehrlich gemacht, noch widerlegt wird: eben diesem Einzelnen, durch Abseitigkeit und Verein [S. 30] zelung empfänglicher Gewordenen und gleichsam religiös Bereiteten wird jetzt der Buddho nicht selten zum Ereignis, manchmal sogar zum Schicksal seines Lebens... Der einsam Bedrängte und Beklemmte, der in Anfällen grimmiger Verzweiflung an allem und zumeist an sich selbst etwa nach dem Majjhimanikâyo, nach dem Mahâparinibbânasuttam greift, wird unwiderstehlich durchwärmt von einem sanft wiegenden Gefühl der Weltgeborgenheit und Selbstunverletzlichkeit. Er findet sich beschwichtigt und geschlichtet, geeinigt und versöhnt, entspannt und zu sich selbst gebracht. Ihm wird zumut wie einem hitzig Fiebernden, dem eine linde Hand sich kühlend wie ein Umschlag auf die Stirne legt. Hier spricht uns (nunmehr ganz in unserer deutschen Zunge) ein Mensch zu, der jede Weltangst von sich abtat und jetzt wie aus dem Jenseit mit einer süßen Geisterstimme tröstend auf uns einsingt. Was wollen wir Umgetriebenen und Gehetzten, die wir zu liegen kamen, wie wir uns selber betteten? Hier gibt es Rat für hunderterlei Notlagen und Notstände, die schließlich insgesamt verursacht sind durch jene harte Selbstentfremdung, in welche wir Europäer uns zeitweis oder dauernd zu verlieren pflegen. Auf Grund einer seelischen Erfahrenheit ohnegleichen wird hier in einem Sinn Seelsorge betrieben und geübt, wie ihn der Abendländer bisher nicht und nirgends geahnt hat: und Seelsorger ist denn dieser Buddho auch in einer nirgends sonstwo anzutreffenden Vollkommenheit. Als Seelsorger gehört er längst nicht [S. 31] mehr seiner Rasse, seinem Festland, seiner Weltzeit ( buddhakalpa ) an; als Seelsorger gehört er der Menschheit schlechthin, gehört schlechthin ihm die Menschheit in ihrer zeitlosen Wesentlichkeit und Alleinschließlichkeit. Geschichtliche Wandlungen, welche seine Weisungen und Winke, wie man des Lebens Herr wird, außer Kraft hätte setzen können, gab es bisher nicht. Sie sind auch kaum ausdenkbar, und nicht einmal von kommenden Religionen Europas erwarte ich, daß sie dies tun werden. Unser eigenes religiöses Ziel könnte von demjenigen, welches sich der Buddho stellte, beliebig weit abweichen, ja es könnte ihm vielleicht geradezu entgegengerichtet sein, ohne daß dadurch die religiöse Allgemeingültigkeit dieser Seelsorgerschaft im mindesten nur beeinträchtigt oder geschmälert wäre. Wie ich persönlich mir diese religiöse Zielsetzung für ein späteres und besonnteres Europa vorstelle, habe ich (vorläufig noch freilich mit unzulänglichen religiösen Kräften) in den Mysterien der Gottlosen, Gestaltwandel der Götter, Sechste Betrachtung, darzulegen unternommen. Ebendort glaube ich wenigstens für unbefangene Leser (ich rede nicht von befangener Kritik) keinen Zweifel übriggelassen zu haben, daß diese europäische Zielsetzung einer mensch-göttlich zu vollbringenden Welt-Schöpfung der gotamidischen Zielsetzung zwar nicht geradewegs widerspricht, — denn Religionen widersprechen sich zuletzt noch nicht einmal dann, wenn sie anscheinend wie Nein und Ja zueinander stehen! — daß sie diese aber gleichsam in dynamischem, oder [S. 32] wie Platon vielleicht lieber sagen würde, in poietischem Betracht bei weitem noch übersteigt und übersteigert, übertrifft und überflügelt: ποίησις als Schöpfung, als Erschaffung buchstäblich genommen und verstanden. Dieses entscheidendsten und entschiedensten Unterschiedes beider Zielsetzungen jedoch unerachtet, könnte sich, ich wiederhole es, zu jenen drei ewigen Mysterien unserer europäisch gereiften Religiosität ohne die kleinste Gewaltsamkeit als viertes Mysterium der Buddho und seine Heilstat innig gesellen. Das gotamidische Mysterium der Seelsorge ist ein unvergängliches und immer wiederkehrendes, sogar dann erst recht, wenn es auf Europas Erde eines Tages mit einem zutiefst poietischen, zutiefst dionysischen Mysterium zusammen gefeiert werden sollte. Denn was uns auch in diesen entfesselten Zeitläuften zustoßen möge: die eine Hoffnung wollen wir Europäer uns doch heilig wahren, daß unser letzter Gott Dionysos nicht nur in dem Zwiegespräch mit Indiens Buddho, das diese kargen Blätter hier beschließt, das letzte Wort zu sprechen haben wird. Nur mit dieser Einschränkung bedeucht mich Nietzsches Ausspruch im Willen zur Macht ein zukunfterratender Wahrspruch, wonach „ein europäischer Buddhismus vielleicht nicht zu entbehren sein könnte.“ Niemals wird uns Europäern dieser Buddho der Herr sein, der er Millionen von Asiaten ist, wie uns denn auch der Christus selber längst nicht mehr Herr ist. Aber möglicherweis wird den Besten unter uns der Buddho wieder dazu verhelfen, daß sie sich selber [S. 33] wieder Herren nennen dürften, Herren des Diesseit und Herren des Jenseit und Herren all der bleichen Schrecknis, die uns zwischen beiden quält und ängstigt...

Ist demnach zwar nicht eigentlich der europäische Buddhismus, den Nietzsche für unentbehrlich hält, wohl aber der europäische Buddho mit Neumanns Eindeutschung des Pâli-Kanons geschichtlich in Erscheinung getreten, so wolle der Leser dies Werk als einen ersten Versuch bewerten, die Tatsache des europäisch umgestalteten Buddho religiös zu bezeugen. Wofern es mir an allen unumgänglichen Kenntnissen und Fähigkeiten gebrach, etwa als Wissenschafter, Forscher, Gelehrter zu diesem Ereignis Stellung zu nehmen, konnte ich mich desto unbehinderter und unbelasteter als homo religiosus mit Neumanns Buddho auseinandersetzen. Vermutlich hätte dieses Buch darum eines Tages auch dann geschrieben werden müssen, wenn die Anregung dazu von seiten des Herrn Verlegers ausgeblieben wäre: zu aufrüttelnd waren die Eindrücke dieser Reden aus dem Pâli, um nicht auf eine (einstweilen) abschließende Verarbeitung zu drängen. Stellte ich mir aber meine Aufgabe wesentlich als homo religiosus und kaum als Philosoph, am wenigsten als Historiker, dann ergab sich zwingend für die Form des Buches, diese religiöse Absicht so rein und voll und stark wie irgend nur zum Ausdruck zu bringen. In keinem Augenblicke durfte der Leser die Vermutung hegen, es handle sich hier um eine Vermehrung der belehrenden Schriften über diesen [S. 34] Gegenstand, — und alles, was den Leser vielleicht zunächst befremdet, alles, was ihn vielleicht sogar abstößt, ergibt sich streng aus der Notwendigkeit, eine religiöse Absicht nicht mit wissenschaftlichen Mitteln zu verwirklichen. Ein der Form nach Neues galt es hier zu schaffen, für welches in unserm Schrifttum nicht so leicht ein Beispiel oder Muster zu entdecken war. Als dieses Neue aber schwebte mir, seltsam genug! sofort etwas Ähnliches vor wie eine sehr freizügige, sehr eigenmächtige Übertragung jener Statue vom Boro-Budur, welche diesem Buch gleichsam als προοίμιον vorangegeben ist, aus ihrer bildhaften in eine worthafte Erscheinung. Ein Tempelbildwerk gleichsam umzusetzen in ein Tempelschriftwerk mit den Mitteln meiner Sprache und dadurch die plastische Gestalt zu wandeln in eine pneumatische Gestalt: das war, soviel ich selber davon weiß und wissen kann, mein heiß angestrebtes Ziel, — Tag und Nacht sah ich wenigstens nur noch diesen thronenden Buddho vor dem innern Auge, — Tag und Nacht, wer wird dies recht verstehen? war ich nur noch dieser Buddho... Unwiderstehlich fand ich mich gezogen zu jenem hieratischen Stil, der zuletzt einer ist in allen höchsten Versinnbildlichungen des asiatischen Gestaltungwillens: einer in den Sprüchen Lao-Tses und den Reden Gotamos, einer in den Veden und Upanischaden, einer in den Psalmen des Alten Testaments und in den Suren des Korans, einer in den Götterbildern und Tempeln Indiens, Chinas oder Japans. Diesen Stil freilich nachahmen zu wollen, [S. 35] wäre von allen europäischen Abgeschmacktheiten so ziemlich die abgeschmackteste. Aber muß er sich schließlich nicht auch bei uns gesucht oder ungesucht einstellen in dem Maß, als wir wieder zu begreifen beginnen, was Religion ist? Fünf oder sechs Jahrhunderte haben dies immer gründlicher vergessen lassen, und das Ergebnis war die Zerbröckelung jeder großen Form im Leben noch mehr wie in der Kunst. Sobald indes Religion wieder in uns lebendig wird, — wie kann sie sich dann wohl anders ausdrücken als in der echten Sprache der Religion, die wir europäischen Ästheten abwegig und unzutreffend genug eben nur als ‚hieratischen Stil‘ zu bezeichnen wissen?...


[S. 37]

DIE ERSTE UNTERWEISUNG:
BUDDHO DER PROTESTANT

[S. 39]

DAS HEILIGE JA LASST UNS BEKENNEN DAS HEILIGE JA ÜBER DIE AUF- UND NIEDERGÄNGE — DAS HEILIGE JA ÜBER GEBURT UND TOD, GESTIRN UND SCHICKSAL — DAS HEILIGE JA ERSCHAFFE DIESE WESEN UND ERHALTE SIE, DAMIT SIE IN DER FÜLLE STEHN WIE EINE HUNDERTBLÄTTERROSE IN IHRES MITTSOMMERS MITTAGGLÜCK - DAS HEILIGE JA ZERSCHMELZE DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN FEUERS TIEGEL UND HÄRTE SIE DARIN, BIS SIE GEDIEHEN SIND, BIS SIE GEDIEGEN SIND — UND ALSO VERLÖSCHE DAS HEILIGE JA DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN WASSERS BORN UND BRING IN IHM DIE WESEN WIEDER EWIGLICH — WILLKOMMEN DEM JA-SELBST ALLE WESEN UND WILLKOMMEN IHM GLEICHERMASSEN DIE GEGEN- UND WIDERWESEN ALLE — DIES IST DAS HEILIGE JAWORT UND FROHWORT UND DES FROHWORTES HEILIGE GRUSSSPENDE, ANDACHTSPENDE, OPFERSPENDE — DIES IST GELÄUTERTEN HERZENS ERSTGEBURT, DARGEBRACHT IM FESTWEIHTEMPEL DER WELT — WER DU AUCH BIST, O MENSCH, IN VIERTEN VIERTELS EDLER MONDSCHWELLUNG DEINER MENSCHLICHKEIT ODER IN IHRES DRITTEN, ZWEITEN, ERSTEN VIERTELS BEDAUERLICHER SCHWINDUNG:

— ICH WILL DIR WOHL —
DIES IST DIE ERSTE UNTERWEISUNG

[S. 40]

Geschieden, ihr Christen, in die Getreuen und die Ungetreuen der allgemeinen und allein sälig machenden Kirche, dünkt uns Christen Protestantismus die Frömmigkeit derer, die abseit von der Kirche als Abseitige das Heil ihrer Seele gesucht haben und noch heute suchen, gefunden haben und noch heute finden. Unübersehbar aber an Zahl und Mannigfaltigkeit ist die Art der Protestanten, welche der Mutter-Kirche die Zugehörigkeit künden mußten, um sich selber zugehörig bleiben zu können; unübersehbar an Zahl und Mannigfaltigkeit sind die Arten des Protestantismus, weil fast ein jeder Protestant allein seine eigene und bevorzugte Art von Protestantismus als die echte und wahre gelten lässet. Ob freilich die Frömmigkeit des Einzelnen von Fall zu Fall innerhalb der sichtbaren und allgemeinen Kirche noch auszuharren vermochte oder sich außerhalb ihrer den selbst erwählten Stock- und Steinpfad bahnen mußte, — dieses hing häufig genug von mancherlei Zufälligem ab und durchaus nicht von einem Hang zum Protestantismus als solchem. Es konnte wohl geschehen und ist geschehen, daß sich im Geist und Gemüt des Christen eine Bewegung regte, die als Gegenbewegung beabsichtigt war zu einem augenblicklichen Zustand der Kirche und von der Kirche selbst im Braus der ersten Überraschung und Zornwallung als ketzerisch verfemt, als protestantisch verworfen ward: und dennoch nach einiger Frist von der Kirche großmütig zurückgenommen und ihrem Gesellschaftkörper einverleibt. Möglicherweis waren alle ernsten und ein [S. 41] greifenden Reformen der Kirche seit Cluny in Kern und Ursprung protestantisch, und nicht selten haben die unwägbarsten Kräfte der Zeiten und Persönlichkeiten darüber entschieden, ob dieser Protestantismus dazu kam, rückwirkend die gesamte Verfassung der Kirche zu beeinflussen, ja umzugestalten, oder ob er veranlaßt wurde, jenseit der Kirche eine unkirchliche Gemeinschaft zu gründen, eine unkirchliche Bruderschaft zu verkörpern, eine unkirchliche Kirche zu stiften. Wie hing es doch an einem schwachen Haar, daß dem heiligen Franziskus die Orden, so auf die Entsagung des Besitzes gegründet waren, gestattet oder verboten wurden. In unserm blonden Norden vollends versah der Meister Eckhart von Hochheim noch das weithin reichende und weithin wohl sogar gefürchtete Amt eines Provinzialen der Dominikaner, als seine Jünger und Jüngerinnen schon grausam verfolgt und hingerichtet wurden. Trotzdem sind in der Folge die Bettelorden zum Pfeiler und Eckstein der Kirche geworden, insonderheit in den eben herrlich aufblühenden Städten und städtischen Genossenschaften, und ihrer halbwegs ketzerischen Herkunft unerachtet haben sie der Kirche das tauglichste Mittel dargeboten, sich einer neuen Zeit und Gesellschaft anzupassen. Was allerdings unsere Mystik betrifft, ward sie als schleichende Gefahr der Kirche mit äußerstem Mißtrauen stets betrachtet und in gewissen Abständen immer wieder mit ketzergerichtlichen Maßnahmen geängstigt und betroffen. Gegen die Albigenser wurde der Kreuzzug nicht nur gepredigt, und [S. 42] die Kriege mit den Husiten stürzten das mittlere Festland aus einer lebensgefährlichen Krisis in die nächste. Schwankend und schwebend blieb darnach der Inbegriff des Protestantismus. Wer heute sich selber verdächtig schien, in seinem Herzen der Ketzerei zu frönen, der fand sich etwa morgen schon völlig wieder in einer erneuerten und wiedergeborenen Kirche. Wer aber heute noch seine strengste Rechtgläubigkeit mit jedem Eid beschworen hätte, dem konnte es zustoßen, daß er morgen den großen Bann als Urteil (und als Unheil!) furchtbar über sich verhängt fand, fortab geschieden in einem Atem vom Frieden Gottes wie der Menschen.

Die deutsche Reformation zusammen mit den anderen Reformationen des sechzehnten Jahrhunderts war es nachher, die endgültig den Typus, den ‚Schlag‘ des Protestanten wie einen Stempel prägte oder wie einen Holzstock schnitt. Sie schuf den neuen Christen, der weder in der allgemeinen und allein sälig machenden Kirche seinen Platz länger einnehmen konnte, noch dessen sich dieselbige Kirche durch eine Maßregel gewaltsamer Unterdrückung, gewaltsamer Bekehrung, gewaltsamer Vernichtung zu entledigen imstande war. Seither ist der christliche Protestantismus eine religiöse und gesellschaftliche Wirklichkeit, beliebt oder mißfällig, geduldet oder verworfen: eine Wirklichkeit wie die Kirche selbst und durch keine Acht oder Ausstoßung aus den Tafeln der Wirklichkeit zu tilgen. Erst bei einem Einzigen und Einzelnen, dann bei Wenigen, dann bei Vielen, versagte der [S. 43] unendliche Aufwand von Dogmen, Sakramenten, Liturgien, Messen, und ihre Frömmigkeit spottete der Wohltaten der Seelsorge und Seelpflege; — auf Grund dieses nämlichen Umstandes aber fanden sie sich zusammen zu einer neuen Gemeinschaft, zu einer neuen Kirche abseit der bisherigen, und sie genossen neuer, will sagen urältest wiedererneuter Heils- und Gnadenmittel auf neue Weise: wenn sie nicht, wie beispielweis die Quäker, diese Mittel insgesamt als Magie verwarfen und das gemeinschaftstiftende Ereignis in einer Art geselliger und gleichzeitiger Erleuchtung fanden. Einmal soweit, konnte sich diese vollzogene Abkehr von der allgemeinen und allein sälig machenden Kirche ohne Ende wieder vollziehen und hat sich dann, wer wüßte es nicht, in der Tat ohne Ende bis auf den heutigen Tag wieder und wieder vollzogen. Und wie man, ihr Christen, in französischer Sprache das Sprichwort gesprochen hat, daß man stets der Rückschreiter und Rückschritter irgend jemands, toujours le réactionaire de quelqu’un sei, so dürfte man dies Treffwort ins Deutsche übertragen: daß man stets der Einsprecher, Widersprecher und Verwahrer, kurz der Protestant irgend jemands sei. Denn wie es unveräußerliches Recht jeder religiös verpflichteten Gemeinschaft ist, sich als die allgemeine und allein sälig machende, ja als die allein rechtgläubige Kirche aufzurichten, bleibt es gleichermaßen Recht aller auf abweichende Art Frommer, sich als Protestanten davon freiwillig auszuschließen, nachdem sie durch ihre eigene Erfahrung, unwiderleglich für jedwede andere [S. 44] und fremde Erfahrung, inne geworden waren, daß sie inmitten jener Genossenschaft dauernd des Heils entbehren würden und derart durch die Tathandlung des Protestes den Protestantismus zu besiegeln sich gedrungen fühlten.

So also verhält sich dieses. Protestantismus im Wortverstand unserer christlichen Abendländerschaft erweist sich herkömmlich zwar als der geschichtliche Gegenbegriff der Kirche, die sich vom καθόλου her benannt hat, — sinngemäß aber weiterhin auch als der geschichtliche Gegenbegriff jeder Vereinigung, Gemeinschaft, Verbrüderung solcher Frommen, die abseit der Kirche selbst eine Kirche zu bilden übereingekommen sind. Protestantismus ist darnach innerhalb des Christentums jeweils Protestantismus irgend wessen in bezug auf irgend wen, und wer sich von der rein verhältnismäßigen Bedeutung dieser Tatsache Protestantismus überzeugt hätte, dürfte sich weder Irriges noch Falsches angeeignet haben. Eingeengt und beschränkt wäre seine Auffassung von Protestantismus aber trotzdem, eingeengt und beschränkt durch den stieren Hinblick auf das Christentum allein und ausschließlich, ihr Christen: auf das Christentum, welches weder die ersten der großen Religionen dieses Festlandes in sich begriffen hat noch die letzten in sich begreifen wird. Vom Christentum gilt wohl der Sachverhalt, daß es als Kirche geschichtlich in Erscheinung trat, und so bleibt der christliche Protestantismus recht und schlecht gekennzeichnet, ja ausgezeichnet durch seine religiöse Kampfstellung gegen [S. 45] die Kirche sowohl wie gegen die Kirchen. Aber das Christentum, ihr Christen, ist nicht ewig! Oder wenn schon ewig, dann nur ewig in der Zeit, mit einem Anfang in der Zeit und einem Ende in der Zeit und zeitlos allein in einem Sinne, den keine Zeit jemals umfaßt. Was jedoch ewig ist nur in der Zeit, das bleibt eine Versuchung für die Zeit, Ewiges mit Zeitlichem je und je zu verwechseln und Merkmale des einen für die Wahrzeichen des andern irrig zu nehmen und zu geben. Hiergegen haben wir uns, wir Nicht-mehr-Christen oder vielleicht auch Noch-nicht-Christen, scharf zu entsinnen, daß es europäische Religionen von hohem Rang ohne kirchliche Kristallisationen gab, heute noch gibt und künftighin erst recht geben wird: finden wir nicht auch in ihnen etwas wie Protestantismus? Und wenn Ja, — worin bezeugt es sich als Protestantismus, wofern es als Protestantismus mangels einer vorhandenen Kirche auch nicht eine Kampfstellung zur Kirche einnehmen und in dieser Kampfstellung nicht mehr sein Kennzeichen und Merkmal finden kann? Da nennen wir die Religionen etwa des griechischen Altertums, griechischen Jugendtums, zahlreich und blühend wie die hellenischen Stadtstaaten einst und dennoch nie Staats-Religionen in einem späteren oder gar gegenwärtigen Wortverstande: unterschiedlich und gegensatzreich wie die griechischen Landschaften und dennoch großherzig einander gelten lassend und duldend. Diese vormaligen Religionen, haben sie sich nun dem Widersatz versagt von katholischer und protestan [S. 46] tischer Frömmigkeit, nur weil sie Zeit ihres wundervoll fließenden und flüssigen Lebens niemals zur Kirche und nicht einmal zu Kirchen vereist oder versteinert sind? Oder stoßen wir nicht just auch dort auf die Gestalten unleugbar prophetischen Wuchses und unleugbar protestantischer Gebärde, die ohne Vorbehalt, wer fühlte es nicht, wüßte es nicht, der Zahl der bahnbrechenden Protestanten aus europäischen Vergangenheiten zugezählt werden müssen? Zugestanden euch Christen, der protestantische Geist habe seine kantigste Ausschnitzung dort erfahren, wo er den furchtbaren Kampf des Ketzers wider eine hochmögende, herrische, unbeugsame Kirche zu führen hatte, von Stunde zu Stunde der Bannflüche, Folterkammern, Scheiterhaufen, Ölkessel, Schand- und Marterpfähle gewärtig, — wo also ecclesia militans innig im unverfälschten Sinn des Nazoräers Jesus zu handeln glaubte, wahrhaftig glaubte, ihr Gleichgültigen, Lauwarmen und Glaubenslosen! wenn sie zahlreiche Ketzervölker (wie einst jene arianischen Goten der Nachfahren des erlauchten Theoderich) von der langmütigen Erde tilgte und darüber hinaus das ergriffene Gedenken im Gedächtnis aller Folgezeiten löschte... Dies also schlankweg zugestanden, braucht doch Protestantismus noch lange nicht dort zu fehlen, wo die Kirche fehlt und kraft selbstgesetzter Autorität über statthafte oder unstatthafte Auslegungen der Glaubenslehre befindet. Schließlich geschieht ja der Protest gegen die Kirche nicht ihres Kirch-Seins halber, nicht ihres Kirch-Seins an und für sich: vielmehr weil diese [S. 47] Kirchlichkeit eine Religion vertritt, die dem Geist anderer Religion widerläufig ist. Verwerfung der Kirche aus den Antrieben einer Frömmigkeit heraus, die innerhalb der Kirche nicht gestillt wird, ist das Wahrzeichen des christlichen Protestantismus gewesen, — nicht aber ist sie Wahrzeichen des Protestantismus schlechthin. Dieser Protestantismus schlechthin hört aber mit nichten auf, Protestantismus zu sein, wenn er eine Religion oder vielleicht eher noch eine Religiosität verwirft, die aus inneren oder aus äußeren, aus sachlichen oder aus zufälligen Gründen zur Kirche nicht ausgeformt ist. In dieser Bezugnahme nun, wir sehen das und greifen es mit Händen, gärt im Griechenland des sechsten und fast mehr noch des fünften Jahrhunderts ein Wirbel von leidenschaftlichster Gewalt, dessen Protestantismus gar nicht in Frage gestellt werden kann. Es gärt hier ein Wirbel, durchaus vergleichbar dem anderen, der zwei oder drei Jahrhunderte früher Israel jene Gottesmänner, Gottesknechte ( nêbiim ) gebar, in welchen sich seine Frömmigkeit am edelsten verkörpert zeigt. Für uns besteht die hohe Schwierigkeit nur darin, zu erkennen, wogegen diese hellenischen Protestanten eigentlich ihren Protest erhoben, gegen wen oder gegen was, da es in Griechenland weder eine allgemeine und allein sälig machende Kirche religiös zu überwinden gab, noch Priesterschaften oder Gemeinden der Baalim Syriens und Phöniziens. Herakleitos und die Eleaten, die Orphiker und die Tragöden sind Protestanten gewesen. Sie alle haben auf ihre Weise wider ein [S. 48] Fromm-Sein Verwahrung ausdrücklich und heftig eingelegt, welches aus guten Gründen nicht länger mehr ihr Fromm-Sein bleiben konnte. Nur daß diese guten Gründe heutzutag nicht leicht zu ergründen sind, nachdem sich seither so viel Wassers über diesen Gründen sammelte und über ihnen stand und sie zu braunen Sümpfen dickte...

Von außen gesehen, das versteht sich ja von selber, war es die Religion Homers, die der Frömmigkeit jener Zeitläufte widerstrebte, und eben dieser Tatbestand hat Propheten so weltverschiedener Artung wie Herakleitos, Xenophanes, Aischylos wenigstens in der Geste der Abwehr durchaus geeinigt. In der Geste der Abwehr sage ich, sicherlich! Aber darum nicht auch schon in den bestimmenden Beweggründen, die ganz ohne Frage bei den verschiedenen dieser ragenden Protestanten bei weitem verschieden waren. Wenn der marsrotglutende Leuchtturm über die Meere Asiens und Europens, Heraklit, die Götter Homers in seiner dunkeln Flamme verbrannt hat wie ein Leuchtturm halt nächtlich flatterndes Gefalter, nächtlich schwirrendes Gevögel zu verbrennen pflegt, so geschah dies aus anderen Notwendigkeiten und aus anderen Nöten, als wenn der Kolophonier Xenophanes, kein Leuchtturm, aber ein Erleuchter, Fackelvoranträger und Aufklärer, Homers menschhafte Vielgestalten zur Kugel-Einheit unpersönlich zusammenballte und ‚mit dem All‘ verwachsen ließ. Und wiederum: wenn die ältesten der Tragöden von Eleusis nach ihrer Art Homerzerstampfer und -zertrümmerer [S. 49] waren wie nur je einer der Weisheitkünder zu Ephesos, Milet, Elea, so mögen sie vielleicht den Philosophen dabei noch mindere Beachtung geschenkt haben als die Philosophen ihnen. Orphisch gestimmt durch und durch, und das will fast schon sagen buddhistisch gestimmt und im Leiden des Gottes, im Leiden des Menschen selbst schon etwas wie ‚des Leidens Überwindung und Verlöschung‘ erfühlend und den Weg ertastend zu ‚des Leidens Aufhebung‘, brauchen diese ältesten Tragöden darum noch lange keine Orphiker gewesen zu sein. Hier bleibt vermutlich das Wichtigste für immer Geheimnis und mag für immer Geheimnis, wohl versiegeltes, bleiben — (und vielleicht nicht ohne tiefere Bedeutung für Verständige und Verstehende hieß dereinst in den kalifischen Reichen das Haupt aller staatlichen Geschäfte von Amts wegen ‚Verwahrer des Siegels‘)... So hat das eigentliche und persönlichste Warum seines Protestantismus jeder dieser Protestanten verschwiegen mit in sein Grab genommen samt allem übrigen, was nur an ihm persönlich, was nur sterblich an ihm war. Aber darüber hinaus getraue ich mir doch zwei unsterbliche Motive zu erraten, die für sie von ausschlaggebenden Gewichten gewesen sind. Sie alle, die Philosophen und die Mysten, die Tragöden und Propheten, litt es unter dem honighellen Himmel Homers nicht länger aus einem Grund unter den zweien: entweder weil ihnen diese Götter allzu menschlich waren und darum schon nicht mehr Gott genug, um menschlich-welthafte Geschicke [S. 50] kundig und weise, gütig und göttlich zu lenken, — oder umgekehrt, weil diese Götter ihnen in anderem Betracht nicht menschlich genug erschienen, um menschlich zu leisten und vollbringen, was der Mensch von sich selber fordert und von sich selber heischt, wenn er seine eigene Vergöttlichung mit Ernst betreibt und mit Ausdauer fördert. Entweder allzu menschlich oder nicht menschlich genug, ihr Christen, deuchte jenen gewaltigen Heiden der Gott, und eins von beiden machte die Tragöden und die Philosophen, die Propheten und die Mysten von damals zu den Protestanten von damals. Und dieser Protestantismus, er wiegt und wuchtet, gewogen in der freien Hand, goldschwer genug, um auf der Wage unserer morgigen Weisheit noch einmal nachgewogen zu werden. Nachgewogen von den Morgigen unter uns, die sich Schwer-Nehmen zur Pflicht der Stunde gemacht haben, nachdem wir zu leicht, zu leicht befunden, vom ersten Windstoß weithin entrafft und verschlagen wurden, — wer weiß, in welche brennenden Durst- und Glutwüsten Sahara, Schamo, Estakado hinein oder gar in den Feuersee Kilauea, wo unsere Seelen etwa dann gefegt werden...

Der Gott also schon allzu menschlich, allzu unheilig, allzu wenig Gott: dies ist die große Verwahrung solcher, deren Frömmigkeit Anstoß nimmt an der erstmals durch Homer vollendeten Vermenschung, Verpersönlichung, Vergestaltung der Götter, und aus diesem nicht widerleglichen Fühlen heraus alles (und [S. 51] sich selber zuerst!) daran setzt, in der Folge jegliche Anthropomorphik und Anthropopathik Gottes wenigstens im Gedanken abzustreifen und als die alte Haut Gottes an der Straße faulen zu lassen. Dies ist die Verwahrung solcher, denen unter den Händen die Religion als Religion Philosophie geworden ist und der Gott, entmenschlicht, entpersönlicht und entstaltet, mit dem Wesen der Welt in eins fließt, — mit dem Wesen der Welt, mit dem Geist der Welt, mit der Unendlichkeit der Welt, mit der Seele der Welt, mit dem Atem der Welt, mit dem Ursein der Welt, mit dem Kern der Welt. Wenn vormals die Göttin der Liebe und Schönheit homerisch gestaltet und plastisch gegliedert dem Samen-Schaum des Weltmeers enttauchte, so taucht jetzt der homerisch gestaltete, plastisch gegliederte Götter- und Menschenvater Zeus als pherekydeischer ‚Zas‘ in die flutenden Wirbel der Schöpfung namenlos zurück. Menschhaft geformt und geworden aus dem mystisch geahnten Element, entformt sich und entwird der menschlich gebildete Gott von neuem zum nunmehr freilich gnostisch erfaßten Element, zum Pan und Henkaipan: eine überall verbreitete und gleichsam ewige Spielart des Protestantismus, auf die wir bei allen höheren, will sagen bei allen philosophierenden Völkern stoßen, wo eines Tages die alternde Theologie durch die erneuernde Kosmognosie von mehr oder weniger wissenschaftlicher Haltung verdrängt wird und wo in feierlicher Wandlung der Theos zum Kosmos sich verjüngt. Der Gott ist Welt und strahlt welthaft in des Äthers [S. 52] Strahlen, so spricht und kündet der Protestantismus dieser philosophischen Protestanten, den menschheitlichen Gott als unzulänglich vor Geist und Erkenntnis verdächtigend und bald sogar nicht einmal dem Nichtwissen mehr verzeihend. Wohingegen derselbe und nämliche Gott, der diesen Weisheitfreunden und Wissenseiferern allzu menschenähnlich und menschengebrechlich, allzu menschenwinzig und menschenwitzig ein Ärgernis ward, den anderen noch lang nicht genug menschartig erscheint, wofern er als Gott zwar genug und übergenug von menschlicher Schwachheit befallen, von menschlicher Torheit ergriffen, von menschlicher Lasterhaftigkeit besudelt, von menschlicher Leidenschaft getummelt ward: dennoch aber der Menschheit in jenem anspruchvollsten Sinn ermangelt, als er die Heilung von diesen Übeln und die Wiederherstellung von diesen Mißschaffenheiten von sich aus nicht zu bewirken versteht. Möglich, daß der Gott diese Heilung und Wiederherstellung vormals bewirkt hat, — denn wozu hätte er selber sonst getaugt in einer Wirklichkeit, wo auch die Götter noch zu etwas taugen müssen, um sich vor den Menschen auszuweisen. Seither jedoch ist Unsägliches, Welterschütterndes, Verhängniswaltendes geschehen. Der Gott hat sich der Sünde hingegeben oder ist sonstwie von seiner Götterhöhe hinabgeglitten, unmerklich erst, dann schneller und jäher stürzend. Oder was möglicherweis dasselbe ist, der Mensch hat seinerzeit den Gott im Ablauf seiner eigenen Reifwerdung eingeholt und überstiegen, end [S. 53] lich in sich selbst die Fähigkeit zur Selbstvergöttlichung gewahrend; — wie denn die einen Wesenheiten hienieden aufwärts steigen, wenn die andern Wesenheiten fallen, die einen aber fallen, wenn die andern aufwärts steigen: ein jegliches nach eigenem Antrieb und Gesetz, wie Feuer aufwärts wirbelt und Wasser abwärts rinnt, ein jegliches nach seinem Ort, den es sich suchet... Kurz und gut also, der Gott Homers war wohl sehr menschlich, aber konnte das Urgeheimnis aller Menschheit nicht erraten, daß nämlich der Mensch selber göttlich zu werden trachte nach Wille und Bestimmung, Wunsch und Wahl. Der Lüfter dieses Urgeheimnisses geworden und damit aus dem Diener der Vollstrecker Gottes geworden, blieb dem Menschen nichts übrig, als den Gott von vorhin zur Abdankung zu zwingen und seine Entthronung zu verfügen, — und wahrlich! es geschah dies schweren Herzens und mit zitternden Knien! Das griechische Sinnbild aber dieses Protestantismus (es ward euch Christen seither geschildert und dargelegt, erläutert und gewiesen im Buch vom Gestaltwandel der Götter), das griechische Sinnbild richtete der Tragöde Aischylos auf in seinen Eumeniden, woselbst die Pflicht der Sühne und Wiederheiligung nach geschehenem Blutfrevel, ehemals eine der göttlichsten Pflichten von allen, dem Sühngott Apollon abgenommen und in festlicher Einsetzung dem Richtergewissen attischer Bürger auf dem Hügel des Ares anvertraut wurde. Hier entkleidet der protestantische Tragöde den Gott auf offener Szene [S. 54] gleichsam seines Kaiserpurpurmantels und legt ihn schwer um menschliche Schultern; hier salbt und krönt der Mensch den Menschen in unsterblicher Zeremonie zum Statthalter und Stellvertreter, zum Sachwalter und Treuhänder Gottes. Was Phoibos Apollon dereinst hinsichtlich der Erinnyen vollzogen, das vollzieht der tragische Prophet hinsichtlich Apollons. Als jüngerer, als jüngster Gott tritt er die Erbfolge, Nachfolge, Tatfolge des älteren Gottes an und schließt dadurch die vielen Götterstürze aufgewühltester Jahrhunderte mit einem letzten Göttersturze ab. Der Protestantismus der Philosophen hat den Fortgang wachsender Vermenschung des Gottes unterbrochen und zum Fortgang wachsender Entmenschung mit mehr und mehr Entschiedenheit gewendet. Der Protestantismus der Tragöden führt die homerische Vermenschung Gottes in freilich stark unhomerischem, ja widerhomerischem Geiste völlig zu Ende, nun den Gott erst recht vermenschlichend: der Gott fortab nicht mehr der nur ein wenig mächtigere, ein wenig dauerhaftere, ein wenig heiligere Mensch, vielmehr umgekehrt der Mensch ein zwar schicksalunterworfener und schuldbetroffener, aber auch schuldsühnender und schicksalüberwindender tragischer Halbgott, dionysischer Gott...

Ein doppelter und doppelsinniger Protestantismus ist es, den der Kampf wider Homer auf der hellenischen Erde zeitigt. Ein Protestantismus erstens, der die gleichsam ‚geistige‘ Leistung des Gottes, den Geist, den Sinn, das Sein der Welt in sich zu sammeln und [S. 55] darzustellen, auf die Welt selber übergehen läßt und darnach diesen Welt-Gott vorzugweis als den allgemeinen Erkenntnis- und Erklärunggrund der einzelnen Welt-Erscheinungen aufgefaßt wissen will, — in des Wortes Buchstäblichkeit wirklich ‚wissen‘ will. Ein Protestantismus zweitens, der die gleichsam ‚tathafte‘ Leistung des Gottes, nämlich dem Menschen Heil und Heiligung, Tröstung und Rettung, Wiederherstellung und Erlösung zu erwecken, allmählich auf den Menschen selber überträgt, im Gott künftig höchstens noch den Vorläufer, Wegbahner, Vortäter ehrend, der aber im Gang der Zeiten vom Menschen in allen Stücken zunehmender Seelenreifung eingeholt, ja überholt wird. In geschichtlichem Betracht ist jener erste Protestantismus mit immer bestimmterer Eindeutigkeit die Sache reiner Erkenntnis, reiner Wissenschaft, reiner Wahrheitforschung geworden, welche dann nach und nach die Religion in Philosophie, in Scholastik, in Kritik umgesetzt hat, den Mythos aber in Metaphysik, in Kosmologie, ja in Physik und alles, was dem heutigen Europäer mit Physik zusammenhängt. Und dies wiederum mußte notgedrungen dazu führen, daß diese Sorte Protestantismus in den Wandlungen der eigentlichen Religionen die vormals ausschlaggebende Bedeutsamkeit in dem Maße einbüßte, als er selber sich in Philosophie und Metaphysik, in Scholastik und Kosmologie, in Kritik und Physik verlor; — wie denn vor allem er es war, der jene verhängnisvolle Spaltung von Religion und Wissenschaft hauptsächlich mitverursachte, welche die ehemals unteilbaren und ganzen [S. 56] Seelenkräfte des Abendländers in so viel zusammenhanglose Teile elend zerstückt und zerstückelt hat... Der Protestantismus zweiter Prägung hingegen ist der gewaltige Antrieb geblieben in all den religiösen Gegenbewegungen, die sich als Religionen der Selbstführung, Selbstheiligung, Selbstvergottung den ‚katholischen‘ Religionen der Fremdführung, Fremdheiligung, Fremdvergottung mehr oder weniger siegreich widersetzen; — in ewigem Widerstreit und Widerspiel zu ihnen scheint er die Kraft zu sein, welche die große Wirklichkeit europäischer religio überhaupt erst eigentlich in Schwung und Umschwung bringt. Derselbe Protestantismus ist es denn auch, der in den reformatorischen Versuchen unseres christlichen Mittelalters die Kirche an allen Ecken und Enden des Festlandes mit unter den nämlichen Forderungen bekämpft, die man in ihrer geheimsten Bedeutung erst verstanden hat, wenn man diese Absicht auf Selbstführung, Selbstheiligung, Selbstvergottung verstanden hat. Der Priester soll hier künftig nicht mehr des Kelchs allein genießen, sondern auch der Laie soll des Kelchs genießen, — das will besagen, daß jeder Christ ausnahmlos des magisch-sakramentalen Mittels der Vergottung ohne Abzug, ohne Minderung teilhaftig werden will. Der Priester soll hinfort nicht mehr die Ohrenbeichte entgegennehmen dürfen, sondern der Laie soll seine läßlichen und tödlichen Sünden seinem Herr-Gott selber beichten, — das will besagen, daß sich jeder Christ ausnahmlos die Kraft der Lossprechung und Entsündigung, der Sühne und der [S. 57] Buße selber vorbehalten weiß. Der Priester soll fürder nicht die Entscheidung treffen dürfen, was da in Glaubensangelegenheiten statthaft und verwehrt, was sinngemäß oder verkehrt sei, — das will besagen, daß die Vernunft jedes Christen ausnahmlos erleuchtet genug, daß sein Gewissen geschärft genug sei, um das für ihn gültige Urteil über die Lehre selbst zu fällen. Und wenn der Priester, wenn die Kirche ihre grenzenlose Macht über den mittelalterlichen Menschen ausschließlich dadurch erlangt und erhalten hatten, daß sie sich die alleinige Sachwalterschaft über die Gnadenmittel anmaßten und mit der Verweigerung dieser jeden einzelnen Christen außerhalb der christlichen Gemeinschaft stellten als einen nicht nur gesellschaftlich, sondern auch religiös Friedlosen und Geächteten, so trifft der folgerichtige Protestantismus diese Macht zu Tode, wenn er zuletzt die Gnadenmittel selbst verwirft. Nicht durch Brot und Wein vergöttlicht sich nach seiner Auffassung der Mensch, vielmehr er ist vergöttlicht vor Urbeginn der Zeiten durch die Auswahl Gottes, oder er ist’s nicht. Ausgewählt aber ist zuletzt jeder, der ausgewählt sein will: ausgewählt ist jeder, der sein Leben als ein Auserwählter selbst zu führen, selbst zu gestalten, selbst zu verantworten fähig ist. Der von Gott Erwählte erweist sich dieser Art ganz wesentlich als der von sich selbst Erwählte. Unerschütterlich bemüht, in allen Dingen des Wandels dem Urbild des Begnadeten gerecht zu werden, bestätigt er sich als der Begnadete. Augenscheinlich also in Kern und [S. 58] Wesen der Persönlichkeit bis zu einem schauerlichen Grade von Gott abhängig, von Gott erlesen oder von Gott verworfen und jedenfalls nur Gottes totes Werkzeug, verlegt in Wahrheit doch eben der kalvinistische, der independentistische, der puritanische Protestant die letzte Entscheidung über sich selbst durchaus in sich selbst: er selber hat es ja in der Hand, sich als Erlesener oder Verworfener zu bezeugen durch die Art, wie er sein Leben führt und meistert. Wer da der Herr seines Lebens ist, wie ein steingemeißelt Standbild auf sich selber fußend und für sich selber wesend, niemandem untertänig als der Pflicht schlechthin, als Auserwählter, als Begnadeter, als Erlesener sich zu bewähren, der ist wahrhaftig auserwählt, der ist begnadet, der ist erlesen...

Aus diesem Sachverhalt heraus wage ich Protestantismus ganz allgemein die grundsätzliche Überzeugung zu nennen, wonach die religiöse Tat der Welt- und Seelenrettung dem Menschen selbst, dem diesseitigen in Zeit und Raum, obliege. Und dementsprechend heiße ich Katholizismus jede Zuversicht und jeden Glauben, wonach die religiöse Tat von Gott und Göttern, weltherrschenden und heilfördernden, vollbracht wird: dann aber von ihnen her dem Menschen magisch, liturgisch, sakramental auf Gnadenwegen übermittelt wird, genau wie dem Kommunikanten die Tat des Gott-Opfers in der Gestalt der Hostie als Speise zubereitet dargereicht und gespendet wird... Katholizismus also finden wir allerwärts, wo das ewige Mysterium der Heilstat in Himmeln [S. 59] und Überhimmeln weltrettendes Ereignis wird; Protestantismus finden wir imgleichen allerwärts, wo dasselbe Mysterium diesseit der Himmel inwendig in uns gefeiert wird, diesseit der Himmel und inwendig in mir, diesseit der Himmel und inwendig in dir, o Christ! Um einerlei Ding handelt sich’s darum beim Protestantismus unserer europäischen Wirklichkeit bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Einerlei Ding ist zuletzt gemeint und einerlei Ding ist es bei Heiden und bei Christen, wenn der Prophet Aischylos die Sühne für Blutfrevel weder durch fletschende Erinnyen bewirkt werden läßt noch durch Apollon Phoibos, und solchermaßen die üblichen Sakramente der Wiederherstellung als unnütz kraft eigener Entscheidung kurzerhand verwirft; — und wenn Bruder Martinus in wütender Herzensqual die vollkommene Unwirksamkeit aller Gnadenmittel der Kirche an seiner sündigen Seele erfährt. Einerlei Sache ist gemeint bei Heiden und Christen, ob Aischylos einen attischen Areiopagos sinnbildlich einsetzt als Gewissens-Gericht, oder ob Luther das evangelische Urwort von der Sinnesänderung innig begrüßt als das Loswort von seinen Ängsten und Wirbeln. Es ist dies einerlei Ding, einerlei Sache, einerlei Sinn gewesen, für welches freilich der dröhnende Glockenmund des attischen Tragöden zuletzt so wenig das zutreffende Wort zu erstammeln wußte wie die erzschmelzende Flammenzunge des erfurter Doktors...

Nach dieser Ausweitung und Vertiefung des Sachverhaltes ‚Protestantisch‘ ziemt uns ein Blick zurück [S. 60] auf die Ursprünge des Christentums, ihr Christen. Was nämlich diese Ursprünge anbetrifft, so kann uns der vielleicht doch nicht erwartete Umstand nicht länger entgehen, daß sie selbst unleugbar protestantischer Beschaffenheit sind. Ein neuer Gott ist es, im Kampf mit sämtlichen alten Göttern, der hier die Tat der Welt- und Seelenrettung auf sich nimmt. Ein neuer Gott, im Kampf mit sämtlichen alten Göttern, sag’ ich, nimmt die Tat auf sich: aber doch nur dadurch, daß er in menschlicher Person erscheint und das Menschliche mit seinen Bitternissen menschlich teilt. Der Held des Christentums — und das ist keineswegs sein Stifter! — ist Gott und wird Mensch, weil er einzig in seiner Eigenschaft Mensch zu vollenden vermag, was Jahve-Hypsistos der Unmenschliche unter keinen Umständen zu vollenden fähig ist. Möget daher ihr Christen Ursprung und Herkunft des Christentums ansetzen, wie es euch zweckmäßig oder wie es euch richtig zu sein dünkt, — diese Grund-Tatsache liegt allem zugrunde, was immer auch später auf sie errichtet und getürmt sei. Der Gott mußte Mensch werden, um den Menschen fortan noch Gott zu sein; der Gott mußte des Menschen Kreuz auf seine Schulter bürden, damit der Mensch den Heiland bei sich glauben könnte: Deum de deo, lumen de lumine, deum verum de deo vero, genitum non factum, consubstantialem Patri: per quem omnia facta sunt. Qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit de coelo. Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria virgine: Et [S. 61] homo factus est... Dies war von allen Götterstürzen der Jahrtausende der weithin schmetterndste und abgründlichste. Nicht daß Jesus der Mensch in den Olympos eingedrungen ist, wo Zeus der hochbetagte und längst nicht mehr hochdonnernde Vater Kronion wachträumend schon eine lange Weile auf seinem Hochsitz eingedämmert war (wie Greise vor Tisch oder nachher ein wenig einzunicken pflegen), und wo Psyche fürbittend und vermittelnd die Hand des Eindringlings voll Demut greift, indes die anderen Olympier wie ein aufgestöbertes Volk Ameisen wild durcheinanderwirren, — dieses wahrhaftig nicht! Vielmehr daß dieser ‚vom heiligen Geist aus der Jungfrau Maria fleischgewordene‘ Gott und Nicht-mehr-Gott, menschlich aus der Sphäre seiner Gottheit herausgetreten, nun auch den alten Jahve-Hypsistos, bisherigen Schöpfer- und Herrschergott schlechthin, aus dem Bewußtseinsraum eines gleichsam neu belichteten Menschheitgewissens unwiderstehlich verdrängte. Das war die große Tatsache der neuen Religion, die bahnbrach; und Gnostiker, paulinische Urchristen, Marcioniten, Arianer haben dies auf ihre verschiedene Weise alle mit Bestimmtheit begriffen, ehe die Kirche die klare Wahrheit dogmatisch beschattete und von allen ketzerischen Abweichungen die am grausamsten unterdrückte, welche in Jesus dem Gott-Menschen wesentlich den Menschen und nur diesen sah. Damit aber war schließlich das Merkwürdige geschehen, daß in eben dieser Kirche weder der Katholizismus noch der Protestantismus religiös zum völlig reinen [S. 62] Austrag gelangen konnte. Auch die Kirche, die sich die allgemeine nannte und ‚in diesem Zeichen‘ siegte, mußte in ihr Credo das christliche Urerlebnis aufnehmen: Et homo facius est . Auch die Kirche konnte den heimlichen Protestantismus, der in diesem Credo wie in verbotener Schwangerschaft keimte, höchstens in seinem Wachstum hemmen, aber nicht töten, — sie hätte denn mit dem Kind die Mutter selbst getötet. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen göttlich zu erlösen; das Wort ist Fleisch geworden, um das Fleisch zu kreuzigen und im Wort zu geistigen: dies bleibt in allem Katholizismus der Kirche ein protestantischer Rest- und Rückstand von unzerstörbarer Keimkraft und Gärkraft in allen Jahrtausenden. Und wiederum mußte sich dieser selbe Protestantismus umgekehrt in seinem eigenen Dogma mit dem ‚katholischen‘ Artikel vom Schöpfer Himmels und der Erden und vom Vater des Erlösers und Herrn durch alle Zeiten hindurchschleppen, stets unter dem Zwang, diesen Katholizismus grundsätzlich nicht leugnen zu dürfen oder nicht leugnen zu können, vielmehr als ‚Christ überhaupt‘ ausdrücklich anerkennen, ja billigen zu müssen: Credo in patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium ... In der Lehre vom dreieinigen Gott hat mithin die Kirche die glückliche Formel gefunden, welche Katholizismus und Protestantismus als die gegenwirkenden Potenzen jeglicher Religion, nicht nur der christlichen allein, in einem stätigen Gleichgewicht zu erhalten ermöglichte. Im Besitz dieser dogmatischen [S. 63] Lehre ist seither die katholische Kirche in Wahrheit nicht minder protestantisch wie katholisch, sind seither die protestantischen Kirchen und Sekten in Wahrheit nicht minder katholisch wie protestantisch. Mit ungeheuerer Kunst hat das christliche Glaubensbekenntnis bis zur Stunde die zwei unversöhnlichen Ur- und Widerkräfte des religiösen Lebens zu binden verstanden, also daß keine noch so eigensinnig protestantische Verwahrung den katholisch-judäischen Weltengott Jahve-Hypsistos dem christlichen Bewußtsein hat entfremden, hat entwenden können, — wie auf der anderen Seite keine noch so katholische Wiederherstellung des echten und wahren Glaubens den protestantisch-judäischen Gottmenschen Jesus preiszugeben oder zu opfern gewagt hat.

Wie nun, ihr Christen?

Bei uns westlichen Menschen ist es die Kirche gewesen, welche die Religion des fleischgewordenen Wortes als Mythos, als Dogma, als Liturgie zur Herrschaft gebracht hat, durch eben diese Tat einer gleichsam vorbeugenden Klugheit, die etwa doch schon als vorbeugende Weisheit verehrt, als vorbeugende Weisheit gepriesen zu werden verdiente. Die Kirche ist damit jeder einseitigen Entscheidung über eine ausschließliche Katholizität oder eine ausschließliche Protestantik frühzeitig zuvorgekommen, möchte dies nun zum Segen oder zum Unsegen westlicher Menschheit ausgeschlagen sein. Dieses in seiner unendlichen Fruchtbarkeit bedenkend und erwägend, wollen wir indes nicht übersehen, daß die von der Kirche [S. 64] gewissermaßen synkretistisch vollbrachte Lösung des drohenden Zwiespaltes — wenn diese Lösung nicht doch schon eine synthetische gewesen ist? — keineswegs christlicher Abstammung oder Erfindung gewesen ist, nicht einmal hellenischer oder hellenistischer, ja nicht einmal europäischer. Was der Kirche des Abendlandes und in tiefstem Einverständnis mit ihr den abendländischen Kirchen und sogar Sekten möglich ward, das ist schon viele Jahrhunderte vor dem entstehenden Christentum und seinen Urgemeinden daheim und in der Zerstreuung in Indien eine herrliche Wirklichkeit gewesen. Der indische Mythos vom Gottmenschen Krischna hat das nie mehr übertroffene, nie mehr erreichte Sinnbild vollendeter Durchdringung und Verschmelzung katholischer mit protestantischer Frömmigkeit aller Welt zum ewigen Muster dargestellt. Und wo wir vorhin der zusammensichtenden Leistung der Kirche Bewunderung zollten, ist jetzt die Besinnung auf jene Begebenheit am Platze, die im günstigsten Fall von der Kirche wiederholt, ob ich auch keineswegs sage: nachgeahmt wurde. Was dabei den indisch-brahmanischen Mythos vom christlichen einmal für alle mal auszeichnend unterscheidet, ist der Umstand, daß er keineswegs der metaphysisch unzulänglichen und philosophisch unhaltbaren Deutung einer Gott-Vaterschaft bedarf, um dem Verstand das Wunder des Mensch-Seins Gottes verstandesmäßig anzunähern. Keineswegs wird es hier für geboten oder auch nur für passend erachtet, daß der Eine Gott in die zwei Gegen-Tätigkeiten, Gegen-Wesenheiten der Paternitas [S. 65] und Filiatio zerspalten werde, um dem Begriff den Vorgang von Gottes Erdenwallen ein wenig begreiflich zu machen. Zum Behufe eindringlicheren Verstehens glaubte sich der Abendländer auf das plumpe und rohe Gleichnis beziehen zu müssen von der doppelten Geburt Jesu Christi in der Ewigkeit und in der Zeit, bewirkt durch eine geschlechtlich-übergeschlechtliche Zeugung im Schoß des göttlichen Vaters und durch eine geschlechtlich-übergeschlechtliche Empfängnis im Schoß der menschlichen Mutter: Et ex patre natum ante omnia saecula; Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria Virgine... Wo der Europäer sich in dem Labyrinth dieser halbwegs supernaturalistischen, halbwegs superspirituellen Ungeheuerlichkeiten hoffnunglos verirrt, da genügt dem so viel denkgeübteren Geist des Inders der schlichte Hinweis, daß dieser so und so gestaltige Krischna die diesmalige Erscheinung sei des ewigen Wesens, die diesmalige Verkörperlichung des körperlosen Eins-und-Alles, die diesmalige Versinnlichung und Versichtbarung des unsinnlich-unsichtbaren Urselbstes. Auch hier ruht die katholische und die protestantische Religiosität in einem feierlichen Gleichgewicht, aber dies Gleichgewicht ward hergestellt auf einer ungleich höher gelegenen, freieren, reineren Ebene der religiösen Erfahrung wie dort...

[S. 66]

Gott Krischna ist Mensch geworden aus dem ritterlichen, aus dem abenteuerlichen Bedürfnis des echten Helden. Gott Krischna ist Mensch geworden, um den Schutzlosen beizustehen, um die Übeltäter zu bestrafen, um die Gewaltherrscher zu stürzen, um die Leiden der Wesen zu lindern, um den Edeln eine Stätte zu sein, um die Elenden zu trösten, um die Kranken zu heilen. Gott Krischna, ihr Christen, ist Mensch geworden, weil jedes Weltalter verloren geht, dem nicht zur rechten Zeit der Held geboren wird, — dem nicht zur rechten Zeit der Held sich selbst gebiert: denn wer würde je als Held geboren? Die Welt am Ende jedes Weltalters ist verloren, bis daß sie sich in der Geburt des Helden wiedergebiert und in des Helden Jugend selber sich verjüngt: also, ihr Christen, ist Krischna Mensch, ist Krischna Held geworden! Oder am Ende ist dieser Krischna Mensch geworden, damit ihm, dem Gott, zuletzt des Menschlichen nichts fremd geblieben wäre, humani nihil a se alienum esse , wie dieses am Schluß der zwölften Andacht streng wörtlich ausgesprochen wird. „Und was da immer Menschen bewegt, Menschen erregt und handeln läßt, im Verkehr untereinander, in ihren verschiedenen Werken, Zwecken und Absichten, sei es nun, daß sie mit Gewalt oder mit List, durch Überredung oder durch Geschenke oder selbst durch die Flucht ihre Ziele erreichen: dem allem wollte der Gott nicht fremd sein.“ Dem allem wollte der Gott nicht fremd sein, und so schlüpft er gleichsam in Gewand und Rüstung eines Helden, nicht anders wie [S. 67] in manchen Märchennächten am Tigris der Kalif Harûn-er-Raschîd in die Verkleidung eines Kaufmanns, eines Reisenden, eines Pilgrims schlüpfte, halbwegs um nach dem Rechten in allem Unrechten und Schlechten zu sehen, halbwegs um sich an Abenteuern zu ergötzen, vornehmlich aber um zu erleben, was sonst nur schlichte Erdensöhne im Guten oder Schlimmen zu erleben pflegen. Im übrigen, wozu die Rechtfertigung der hohen Selbstverständlichkeit, daß Gott wesenhaft alle Gestalten, Personen, Erscheinungen, Wirklichkeiten selber ist, daß er mithin auch jede einzelne von ihnen zu seiner bevorzugten Maske ausersehen kann, — Maske aber ist griechisch πρόσωπον: Eine Usia, Ein Gott in vielerlei προσώποις! — die er alsdann mit den unendlichen Kräften seiner Göttlichkeit zeitweilig lädt und anfüllt. Gott ist ja alles und verwirklicht sich in allem, warum für dieses eine mal nicht in der lieblichen Gestalt — Gestalt aber ist griechisch πρόσωπον: Eine Usia, Ein Gott, in vielerlei προσώποις! — dieses halkyonischen Jünglings? Warum für dieses eine mal nicht im Sohn des Kuhhirten Nanda und der Mutter Yasodâ, so manchen lieben Tag (wie dann späterhin wohl auch der evangelische Gottmensch) gewindelt und gewiegt im scharf duftenden Rinderstall: strahlend in goldener keuscher Fleischlichkeit, das Herz gewärmt am Busen der zärtlichen Gespielinnen auf den Fluren der Yamunâ, aber das Haupt geklärt, gekühlt am Gipfelfirn des Himâlayo; in wonnesamen Vollmond- und Erfüllungnächten mit den Mädchen seiner Heimat Reihen tanzend und [S. 68] mit ihnen in einem hold bukolischen Eleusis alle die eigenen Ruhm- und Wundertaten menschlich spielend, menschlich mimend, die Krischna der Gott begangen. Dieser Hirtenknabe ist der nämliche und selbe, der die Weltenschlange Kâliya besiegt, den Stier-Unhold Arischta an den Hörnern packt und auf die Erde schmettert, die Ringer des Königs Kamsa niederringt und Kamsa-Eurystheus-Herodes schimpflich tötet. Er ist der nämliche und selbe, der alleinig oder Schulter an Schulter mit dem Bruder Râma Heersäulen von Feindeskriegern in die Flucht schlägt und wiederum im anmutigsten, zartesten, lieblichsten aller Wunder das bucklichte Mädchen schlank und rank biegt, damit ihm, dem indisch-brahmanischen Herakles in Person, der zarte evangelische Einschlag nicht mangle vom Heiland als Arzt und Krankenheiler. Wie denn auch sonst, ihr Christen, evangelische Stimmung mit soviel Kraft und Reinheit angeschlagen wird, daß sie aus den Evangelien selbst nur noch wie ein schwacher später Nachklang sterbend zu uns herüberweht: so in der Schilderung adventischen Himmelfriedens, adventischer Weltwindstille in der Gnaden-Nacht der irdischen Geburt; so in der Erzählung vom bethlehemitischen Kindermord, den Kamsa, die Gottesgeißel, über die Länder verhängt aus Furcht vor dem Stärkeren und aus Neid auf den Edleren; so im Bericht von Krischnas Taufe durch Indra auf den Namen Govinda, das ist Rinder-Herr, mit dem heiligen Wasser der Yamunâ...

Kurz und gut, es hat Gottes Allmacht hier gefallen, in der Verkörperung als Hirtenjüngling mit [S. 69] Lächelnsgleichmut Menschenunmögliches zu vollbringen und das Wunder der Wunder gottmenschlich vorzuleben: wie der Gott der Götter, wie der Mahâdeva selber, erhaben über alle Schranken der Gestalt, Persönlichkeit und Bewußtheit und unergründlich sogar für die Ergründung und Andacht, die Vertiefung und Sammlung, die Einigung und Anspannung — Anspannung aber heißt Yoga! — der Denker, Büßer, Waldeinsiedler: wie Mahâdeva dennoch Zug für Zug dieser bestimmte Mensch, Jüngling, Hirte sein könne. Denn fürwahr! Dieser Mensch, Jüngling und Hirte ist wesenhaft Brahman und wesenhaft Âtman, ist wesenhaft Brahmâ, ist wesenhaft Wischnu, ist wesenhaft Schiva, ist wesenhaft Kubera, ist wesenhaft Varuna, ist wesenhaft Yama, ist wesenhaft alle sinnlichen und himmlischen Götter, ist wesenhaft alle Halbgötter, Gandharven, Genien, Dämonen, Engel, Elementargeister, Elemente, Grundstoffe, Gemütskräfte, Lebenserscheinungen, Weltbegebenheiten, Täter, Taten und Werke. Und wie um diese unendliche Reihe göttlicher Wesenselbigkeiten und Einerleiheiten ins Unendliche fortzusetzen, erkennt der hochstaunende Prinz Arjuna in der Schwesterdichtung des Krischna-Mythos, uns Abendländern seit mehr als hundert Jahren unter dem Namen Bhagavad-Gîtâ, das ist θεσπέσιον μέλος oder des Erhabenen Gesang vertraut und teuer wie keine zweite Heilige Schrift des Ostens geworden, — erkennt dieser hochstaunende Prinz Arjuna eben die menschhafte Verleiblichung des bhagavân Krischna gleichsam als den platonischen [S. 70] ‚Ort‘, den überhimmlischen, aller Arten und Gattungen, aller Dinge und Wirklichkeiten. Krischna, des Prinzen Wagenlenker, der ist der Urfeldherr und Urpriester, der Urseher und Ursänger, der Urstrom und das Urmeer, der Urelefant und das Urrind, der Urvogel und Urfisch, das Urroß und die Urschlange, das Urwort und Urwissen, die Urwaffe und das Urwerkzeug. Krischna der Großarmige mit Wurfscheibe und Schwert, mit Keule, Bogen und Fahne, der ist Ursprung und Heimgang, Geburt und Tod, Anmut und Einsicht, Entschluß und Sieg, Größe und Reichtum, Rede und Schweigen, Opfer und Gesang, Metrum und Ritus, Same und Frucht, Jahrzeit und Luftraum, Wolke und Stern. Die ewige Entstehung und Vergehung, die ewige Wandlung alles Geworden-Werdenden, die ewige Stätte in allen Wandlungen ist Krischna. Die ewige Brunst in allen Zeugungen und Begattungen ist Krischna und der ewige Rausch der Zerstörungen und Verheerungen: der ewige Schoß blutender Geburten ohne Maß und Zahl und das ewige Grab faulender Tier- und Pflanzenleichen. Fratzenhaft schauerlich ist Krischnas, des goldigen Hirtenjungen, göttlich Gesicht, wie es das übermenschlich erhellte Auge des Prinzen Arjuna plötzlich neben sich auf dem Streitwagen vor dem Beginn der Schlacht erspähet: ein tausendgliedrig, sterneblitzend, flammenrädrig Sonnenlohenungeheuer auf einem Sitz von Totenschädeln, ohne Einhalt Wesen Wesen Wesen von sich speiend mit der gebärerischen Wurf- und Schwungkraft jungender Katzen, — ohne Einhalt Wesen in sich [S. 71] schlingend mit der scheußlichen Gefräßigkeit nimmersatter Steppenwölfe... Verehrung aber jenem Seherauge, welches Krischna den Gott im Menschen Krischna schaute: Verehrung dem unbestechlichen Auge, welches Gott schaute, wie er ist, und dennoch an Gott nicht starb! Verehrung jenem Seher, welcher dem unbeschönigten Gott-Gesicht ehern standhielt, ohne im Irrsinn zu vergehen, ob ihn das Grausen auch im Eisstrom des eigenen Geblüts erfrieren und gerinnen ließ! Verehrung ihm, der ehrlich gegen Gott genug und tapfer gegen sich selbst genug war, um in Gottes Antlitz die Züge teuflischer Zerstörunglust und -wollust zu gewahren und sie sich selber nicht zu unterschlagen, wie es die Christen doch wohl (oder übel!) taten, die ihren Gott zum braven Lämmchen zähmten und zum ‚lieben Gott‘, dem jedermann sich bierbrüderlich und gemütlich zum Schmollis anbiedern darf... Verehrung insonderheit auch ihm, der als der erste in der glorreichen Drei-Gestalt Gottes des Schöpfers, Gottes des Erhalters, Gottes des Zerstörers just die Vernichtungmächte göttlich zu bejahen wagte. Und Verehrung endlich denen, die als namenlose Meister diese Mächte in steinernen Urgesichten sinn-bildender Skulptur zur Majestät jenes schivaitischen Typus zu gestalten wußten, dessen plastische Fragmente von der javanischen Hochfläche zu Dieng den späten Europäer dämonisch tief erschrecken, der sie aus seiner eigenen Selbst-Kenntnis, Dämon-Kenntnis tief zu erraten weiß...

Jetzt also siehst du den Menschen, jetzt siehst du den Gott Krischna von Angesicht zu Angesicht. [S. 72] Jetzt wiederum siehst du kein Angesicht mehr, sondern gehst in dich selber, gehst in dein Selbst ein und in dir selbst ins Selbst und Herz aller Wesen und wirst des Wesens inne. Dich auf dein Du besinnend, einigst du dich mit dir selbst und mit dem Selbst der Welt, — dies ist fürwahr Om das Kleinod aus dem Lotos, Om çom das All und Selbst des All, ruhend in menschlicher Gestalt, ruhend in göttlicher Gestalt, ruhend in gar keiner Gestalt auf der weißen Blume deines Geistes im Tempelteich säliger Erkenntnis. Dermaßen mischt in diesem Mythos aller Mythen sich innigst katholische und protestantische Frömmigkeit, daß man in keinem Augenblick mit zuverlässiger Eindeutigkeit behaupten kann, der Gott, der Mensch sei Täter der heilwirkenden Handlung. Der Täter selbst verharrt in völliger Durchdrungenheit von Gott und Mensch; seine Gestalt verleiblicht in sich die Summe sowohl aller welthaften Gestalt überhaupt, wie dessen, was jeglicher Gestalt spottet. Und dies alles nicht etwa auf den Umwegen des Christentums, wo der Mensch Jesus an der Natur Gottes nur teil hat auf Grund seines Gezeugtseins durch den Heiligen Geist: vielmehr in einer dem Abendländer gar nicht erreichbaren metaphysischen Unschuld sozusagen auf Grund der Wesenselbigkeit lebendiger Gestalt überhaupt mit dem Lebensurgrund selbst und des Lebensurgrundes Selbst! Im Gegensatz zum Christentum gilt es hier für völlig selbstverständlich, daß jedes Wirkliche noch etwas anderes sei als das, was es eben sei und scheine, und der [S. 73] Inder wenigstens hat sich nie den Kopf zerbrochen über das Mysterium des Westens, wieso und auf welche Weise der Gott Mensch oder der Mensch Gott geworden sei. Hier wurde, die Wahrheit zu sagen, weder der Mensch Gott noch der Gott Mensch: hier war er’s, hier ist er’s von allem Anfang an und vor allem Anfang und braucht es darum nie zu werden oder nie geworden zu sein. Unser krampfhaft westliches, allzu westliches Bemühen, alle die Rätsel der Welt und Überwelt more historico durch die Geschichte ihres Geworden-Seins aufzulösen, entlockte dem Inder, wo er es überhaupt begriffe, nur ein Lächeln. Er, der geschichtlos Denkende und geschichtlos Wissende schlechthin, ist sich genau bewußt, daß nirgendwo in irdischen oder unirdischen Bezirken etwas wird, das nicht schon ist: daß folglich auch Gott je und je Mensch war und der Mensch je und je Gott, — nie aber Mensch wurde oder geworden ist, nicht einmal im Jahre Null oder im Jahre Eins einer gar absonderlichen Zeitrechnung, ihr Christen. Das Jahr des Herrn, da das Wort Fleisch ward, deucht den Schöpfer des Krischna-Mythos und der Bhagavad-Gîtâ von Ewigkeit her, — von Ewigkeit her ist der Gott Mensch, ist der Mensch Gott!

Noch hat es aber damit für den Aufmerkenden eine andere Bewandtnis. Die abendländische Vernunft, Jahrtausende um dieses Rätsels Enträtselung sich befleißigend, sie hat sich bekanntermaßen zu ihrem eigenen Gebrauch etliche Hand- und Fußschellen angelegt, oder richtiger eigentlich Haupt- und Geistschellen, die [S. 74] sie an jeder freieren Beweglichkeit behindern müssen. Mit diesen Haupt- und Geistschellen fesselte die Vernunft des Abendlandes sich selber und nannte ihre Fesseln die Grundsätze der Logik, als da ist die Grundregel von der sogenannten Identität, Einerleiheit oder Dieselbigkeit, wonach jeder Denkinhalt mit sich selber einerlei, und zwar lediglich mit sich selber einerlei sei; — die Grundregel ferner vom Widerspruch, wonach von zwei einander ausschließend widersprechenden Urteilen nur eins wahr sein könne. Der Grundsatz von der Einerleiheit und der Grundsatz vom Widerspruch, das war der Bleikiel, der die schwanke Jacht des europäischen Denkens vor dem Kentern wahren sollte, wenn sie auslief. Denn offenbar erschien sich dieses Denken selber mit allzuwenig Gewicht beschwert, um die Gefahr des Kippens und Kenterns nicht vor allen Gefahren zu fürchten. Was nun allerdings die zweite dieser Vernunftregeln betrifft, die angeblich zeitlos gültig und allgemein sind, so kann es dem halbwegs vorurteilfreien Beobachter der europäischen Wissenschaften auf die Dauer ganz unmöglich ein Geheimnis bleiben, daß sämtliche Systeme der großen Dialektik den Satz vom Widerspruch entweder ausdrücklich mit Worten oder aber tatsächlich außer Kraft gesetzt haben. Von Herakleitos dem Hellen bis auf Nietzsche und von dem Stagiriten bis auf Kant, Hegel, Marx ist die abendländische Philosophie zuletzt nichts anderes gewesen als das mit mehr oder minder tauglichen Mitteln unternommene Wagnis, wenigstens diese hinderlichste aller Fesseln [S. 75] einer unbefangenen Erkenntnis zu sprengen: mit immer größerer Rücksichtlosigkeit ward der Vernunftwiderspruch, die Kontradiktion und Kontraposition, die Antithesis und Antinomie wie ein Sporn in die Flanke der Welt gebohrt, der sie vorwärts zu rasender Bewegung stachelt. In ihrer sogenannten Logik scheint mithin die Abendlandwissenschaft den Satz vom Widerspruch nur aufgestellt zu haben, damit sie ihn in ihrer sogenannten Dialektik wieder aufzuheben vermöchte, und gleichsam um sich für diese freche Verwegenheit selbst zu strafen, hat dann die Vernunft des homo europaeus an dem anderen Grundsatz von der Dieselbigkeit und Einerleiheit mit desto strengerer Treue festgehalten. Jedweder Denkinhalt ist mit sich selber einerlei und lediglich mit sich selber, so urteilt die westländische Vernunft in der unerschütterlichen Überzeugung, hier als ‚Vernunft überhaupt‘ zu urteilen, — und noch hat sich keine Dialektik und noch nicht einmal eine Sophistik erdreistet, das Zeichen der Frage auch hinter diese Denkfessel und Denkhemmung zu setzen. Jeder Denkinhalt ist mit sich selber einerlei, urteilt nun freilich auch die Vernunft jener indischen Rasse, welcher wir Veda, Upanischaden und die großen Epen zu danken haben, — aber der Denkinhalt Gott, fügt dieselbe Vernunft eilends berichtigend hinzu (und eilends beschwichtigend), der Denkinhalt Gott ist einerlei mit sich selber und zugleich einerlei mit allen Denkinhalten und Weltinhalten sonst. Gott ist er selber, und hinsichtlich dieser Unumstößlichkeit bleibt der Satz von der Identität durchaus gültig. [S. 76] Aber Gott ist außerdem alles, was ist und doch nicht Gott ist, und hinsichtlich dieser Unumstößlichkeit gilt der Satz von der Identität für Gott nicht. Alles was ist und Gott nicht ist, ist letzthin doch Gott, ist letzthin doch Gott-Selbst; Gott als dem Urselbst ist es gemäß, Er-selbst und Es-selbst zu sein und daneben noch sämtliche Wesenheiten und Dinge, benennbare und unbenennbare, wahrnehmbare und unwahrnehmbare. Gott ist es gemäß, sich in das Doppel- und Wider-Sein des Ich-Nichtich zu spalten und jedwede Gestalt des Leibes, jedwede Gestalt des Geistes gütig anzunehmen und alle aneinander zu reihen, ohne sich mit einer einzelnen Gestalt der Reihe oder auch mit allen zusammen seinem Begriff nach zu decken. Gott ist Gott und Gott ist nicht Gott und Nicht-Gott, beides auf seine göttliche Weise. Gott ist Gott, aber Gott ist auch Ich-Nichtich, Gott ist auch Subjekt-Objekt, Gott ist auch Puruscha und Prakriti, Gott ist auch ‚Feldkenner‘ und ‚Feld‘, Gott ist auch Prajâpati und Mahâmâyâ, Gott ist auch Sein und Nicht-Sein, Gott ist auch die fünf Elemente und die Qualitäten, Gott ist auch das Wesen und die Wesen zumal. Wohl sagt Gott: Ich bin Ich. Aber Gott sagt imgleichen: Ich bin Du und Du bist Ich, und Ich bin Es und Es ist Ich. In der Kauschîtaki-Upanischad wird der abgeschiedenen Seele die nie zu vergessende Antwort, das nie zu vergessende Urwort gleichsam als Lösewort in den Mund gelegt, wenn ihr der Himmelspförtner Mond die Frage aller Fragen vorlegt: Wer bist Du? — Du bin Ich! Mit diesem ‚Du [S. 77] bin Ich‘ kann die abgeschiedene Seele in den Himmel eingehn, von welchem sie herkommt, und mit dieser Antwort ist Indiens unsterbliche Seele wahrlich in den Himmel eingegangen. Du bin Ich, Mond bin Ich, Himmelspförtner bin Ich, alle Himmel selber bin Ich und aller Dinge Himmel und Überhimmel. Also vollendet sich die indische Schauung der Identität, indem sie alle Identitäten sprengt; also erfüllt die indische Selbst- und Gotterfahrung den Satz von der Einerleiheit und Dieselbigkeit, indem sie ihn aufhebt. Alles Seiende ist eins mit sich und eins mit allem anderen Seienden: Nichts ist eins mit sich allein und Nichts ist nicht eins mit allem anderen. Und nicht empedokleisch, ihr Christen, dürfen wir dies verstehen, als ob der indische Mahâdeva zu sich selber spräche: Einst war Ich Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und flutenttauchender stummer Fisch. Sondern vedisch und upanischadisch und episch sollen wir es verstehen: Stets bin Ich Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und flutenttauchender stummer Fisch: stets bin Ich alles, was ist und nicht ist zumal und jetzt und immerdar, und nicht etwa nach der Reihe im Nacheinander der Zeit. Dieweil der indische Gott Er selber und darüber hinaus das ist, was nicht Er selber ist, erweist er sich in der Sprache der Vernunft als einerlei und vielerlei in einem, als dieselbig und unterschieden in einem. Seine Identität aber beruht darauf, daß in bezug auf ihn alles die eigene Identität verliert, um die Identität Gottes zu gewinnen, die offenbar höher und tiefer ist als alle Vernunft. [S. 78] Daß ein Denkinhalt er selber ist und zugleich noch anderer, — das ist mithin in Rücksicht auf Gott die indische Fassung des Grundsatzes von der Einerleiheit und Dieselbigkeit, auf das Bedeutsamste unsere abendländische Fassung ergänzend und vervollständigend, aufhebend und überwindend.

Und dennoch ist diese tiefste und fruchtbarste aller Paradoxien, Paralogien irgendwie eingedrungen auch in unsere westliche Welt, wenn nicht in die Wissenschaften und wenn nicht in die Religionen, so doch wenigstens in unsere Märchen, und zwar am duftigsten, ahnungreichsten, erinnerndsten, ihr Deutschen, in unser deutsches Märchen. Im deutschen Märchen, welches sich selbstherrlich seine eigenen Gesetze und seine eigene Vernunft zu schaffen wußte, im deutschen Märchen säuselt und wispert ein Hauch dieses indisch-unnennbaren Fühlens und hebt sehnsüchtig an zu singen und zu klingen, wie eine Quelle in der Nacht zu singen und zu klingen anhebt, da untertags der Tag dem Tag allein Gehör gab. Erinnerungen, köstliche und nie versiegte sind es, wenn beispielweise in den Volksmärchen des Musäus der Berg- und Erdgeist Rübezahl brahmanisch hinüber- und herüberwechselt in Gestalt und Person eines Riesen, eines Köhlers, eines Ritters, eines Handwerksburschen, eines Prinzen, eines Ratsherrn, und sich bald wischnuhaft als Erhalter und Beschützer, bald schivahaft als Verderber und Zerstörer kundgibt. Und lebhaftere, stärker glühende Erinnerungen an Indien sind es, vielfach schon am Bewußtsein der eigenen Sehnsucht [S. 79] bewußtgenährt und gekräftigt, wenn etwa in Hoffmanns romantisch-klassischem Kunst- und Künstlermärchen vom Goldenen Topf der Geheime Archivarius Lindhorst gar wundersam proteisch behaust ist in seinem Bücher- und Handschriftenzimmer zu Dresden, jetzt Archivarius und Beamter in Königlich Sächsischen Diensten, jetzt Element, jetzt Feuergeist, jetzt Geisterfürst, jetzt Salamander, jetzt Feuerlilienbusch, jetzt brennender Arrak; wenn ferner (und wer weiß wie ferne schon?) dieses Gemaches azurne Schimmerwände von goldenen Pilastern brauner Palmbaumschäfte edel aufgeteilt erscheinen, die Blattrippen aber der Palmbaumkronen sich zur runden Kuppel wölben aus Smaragd und Schaft wie Blatt und Krone in einem sanften Mittagwind sich wiegen; wenn unter dieser Kuppel dann von Smaragd Student Anselmus manch magisch Pergament mit Fleiß kopieret (als welches Lindhorst in Gestalt von Blättersprossen aus dem Schaft der Palmen zog), um sich das Schlänglein Serpentina, des Salamanders Tochter, durch peinlichst saubere, peinlichst genaue Nach- und Abschrift der unleserlichen Hieroglyphe ‚Schöpfung‘ gleichsam zu erschreiben... Wenn irgendwo, so steigt es hier, ihr Abendländer, wahrhaftig in uns Abendländern purpurn auf mit einer Melodie, die Herz und Seele wie eine Traube herbstlich schwellen macht vom Saft des eigenen Bluts: Kennst du das Land?...

Als Krischna der Hirtenjüngling, als Krischna der Held, als Krischna der Wohl- und Wundertäter abenteuert also, verstehen wir endlich diesen Sachverhalt [S. 80] in seiner unermessenen Wichtigkeit richtig, der ewige Gott Wischnu in der Welt umher, — gleichsam einem tiefsinnigen Wort zur vollkommenen Erläuterung, welches Hegel zur Kennzeichnung des indischen Geistes nutzte: „Es ist Gott im Taumel seines Träumens, was wir hier vorgestellt sehen.“ Es ist Gott im Taumel seines Träumens, ihr Christen, der hier als Krischna-Wischnu gottmenschlich die Welt durchstreift. Und eben weil dieses sich so verhält, wird nicht nur jedes Abenteuer des Helden Krischna zugleich als Heilswerk und Heilstat Gottes selbst gewerkt, sondern muß außerdem auch von der nachträglichen Betrachtung in solcher Doppelsinnigkeit durchaus gewürdigt werden. Unmöglich zu sagen, ob der Mensch als Mensch oder ob der Gott als Gott Urheber dieser Werke und Vollbringer dieser Taten sei. Entscheiden wir uns für Gott, so ist es Gott doch nur in der Gestalt des Hirtenjünglings Krischna, welchem kraft dieser angenommenen Gestalt des Menschlichen nichts fremd geblieben ist. Entscheiden wir uns aber für den Menschen, so ist es der Hirtenjüngling Krischna nur im Vollbesitz der göttlich in ihm angehäuften, angestauten Weltenkräfte, der soviel Wunderbares tut. Darin besteht eben nach indischem Erleben das Mysterium der Gottmenschheit, daß es in keinem Augenblick gottmenschlichen Daseins möglich ist, den Nachdruck allein aufs Göttliche oder allein aufs Menschliche zu legen: Gott ist Mensch, und Mensch ist Gott auf Grund einer nichtidentischen Identität beider, indes der abendländische Mythos den Heiland Mensch [S. 81] geworden sein läßt vermöge einer mehr wie fragwürdigen geschichtlichen und einmaligen Vaterschaft des Heiligen Geistes, der gewissermaßen in Stellvertretung des Jahve-Hypsistos den Schoß der Jungfrau Maria in übergeschlechtlicher Begattung schwängert. Derart ist Jesus bei Lebzeiten eigentlich nur Mensch, Gott aber wesentlich nur vor der Empfängnis im Fleische der Mutter Maria und abermals nach seiner Himmelfahrt, wohingegen Krischna just bei Lebzeiten und während des irdischen Wandels Gott ist. Mangels einer zureichenden Metaphysik bleibt Jesus im Weltbild des Abendländers eine einmalige Ausnahme-Erscheinung der Zeit, die wenigstens für den verständigen Christen etwas Anstößiges, ja Unheimliches nie ganz abzustreifen vermag: jedoch in Indien kann sich der Vorgang Krischnas unendlich und grundsätzlich wiederholen und hat sich wirklich auch wiederholt. In unterschiedlosem Durchdrungensein ist Krischna durchaus Mensch und durchaus Gott, dieweil es Gottes tiefste und höchste Eigenheit bedeutet, Er selbst und ein anderer zumal zu sein. Ob er aber für den Zuschauer von außen im Augenblick mehr dieser oder im Augenblick mehr jener sei, das hängt vom Zuschauer ab und des Zuschauers Stellungnahme, — das hängt von des Zuschauers Kraft der Zusammensichtung ab und von seiner Gabe der Ineinanderschau. In der religiösen Geographie und Kosmographie jedenfalls bedeutet Krischna die Mittaglinie oder den Gleicher, wo die Weltkugelhälfte Gott mit der Weltkugelhälfte Mensch in ihrem größten [S. 82] Kreis Berührung und Gemeinsamkeit findet, also daß eine bessere Ausgleichung zwischen Gott und Mensch schlechterdings nicht mehr vorstellbar ist. Dieser Mythos gibt mit unübertrefflicher Gerechtigkeit Gott, was Gottes ist, und dem Menschen, was des Menschen ist. Und wenn jemals auf dieser Erde die katholischen und die protestantischen Grundmächte der Religion in ihrer balance of power verharren, so geschieht es hier im Indien des epischen Weltalters und jener epischen Weltfrömmigkeit, von der uns die Bhagavad-Gîtâ eine Probe kosten läßt. Wäre ein menschlicher Zustand denkbar, in welchem alle geistleiblichen Spannungen gelöst erscheinen und wo kein innerlich-äußerliches Gefälle mehr zu bemerken ist, dann wäre kein Absehn, warum mindestens die führenden Religionen des Südostens diesen in seiner Art vollkommenen Urstand erworbenen Gleichgewichts der beiden Hauptgewichte des religiösen Daseins hätten aus freier Entschließung je preisgeben sollen. Gesetzt, ein solch vollkommener Urstand wäre auf die Dauer möglich oder könnte selber Dauer werden, — der Mythos vom Gottmenschen Krischna wäre als höchstgültige, ja endgültige Stufe menschlicher religio überhaupt zu werten, als schlechthin reifste Kristallisation religiöser Lebens- und Seelenmächte: ein für allemal dadurch ausgezeichnet, daß er katholische und protestantische Strebungen noch auf ganz andere Weise miteinander zu versöhnen weiß als der Mythos vom Christus. In diesem Fall verkörperte der Mythos vom Krischna die Religion als solche, die einzige, [S. 83] die uns Menschen völlig gemäß wäre und frömmstes Hingegebensein an Gott mit innigstem Hingegebensein an den Menschen für immer verschmölze zu einer Formung, Bindung und Verpflichtung ohne Vorgang und Vergleich. Hier gattete sich höchstes Schöpferglück über ein welthaft irdisches Gestalten ohne Maß und Schranke mit tiefster Erlöserlust an weltlich-irdischer Entstaltung und Verlöschung. Hier brauchte sich nicht länger schmerzlich mehr der Gott des Menschen oder der Mensch des Gottes zu schämen und einer den anderen dreimal verleugnen, ehe daß es Tag wird...

Inzwischen gibt es nirgendwo ein Leben, seines Namens würdig, das auf die Dauer ohne Unterschiede der inneren und äußeren Spannung, des leiblichen und seelischen Gefälles bestehen könnte. Nirgendwo gibt es ein solches Leben, weder im Umkreis des bloß gelebten, recht eigentlich noch pflanzenhaft-tierhaften Lebens, noch im Umkreis des schon vollbringenden und wirkenden, recht eigentlich menschlichen Lebens, — so wenig wie es eine Musik aus lauter Pausen gibt. Wer näher an den Krischna-Mythos herantritt und die Goldworte dieses himmelschönen Gedichtes auf der Goldwage des Geistes prüfend wägt, der gewahrt denn auch bald in ihm die Kräfte schon heimlich am Werk, welche die Gewichte früher oder später nach der einen, nach der anderen Richtung hin verschieben müssen. Es mag vielleicht der seltensten, reichsten, reinsten Ahnung da oder dort enttagen, daß Gott und Mensch, Wesen [S. 84] und Wirklichkeit, Selbst und Dasein in Wahrheit Eins-und-Alles sind. Derartiger Ahnung mag es in gnädiger Geberstunde wohl enttagen, daß Gottes Urselbst gewissermaßen drei Gürtel, drei Zonen, drei Lagen mit sich selber fülle: nämlich die Zone der gestaltlosen Gottheit oder auch die Brahman-Âtman-Zone; die Zone ferner der gestalthaften Götter oder auch die Brahmâ-Wischnu-Schiva-Zone oder schlechtweg die Krischna-Zone; die Zone endlich der Weltwirklichkeit-Menschwirklichkeit oder auch die Prakriti-Zone, das ist die Zone der natürlichen Schöpfung oder natura naturata . Diese drei Zonen, Gürtel oder Lagen des Seins, sag’ ich, fülle das göttliche Urselbst mit seines Urselbstes Götterkräften, und daß sich dieses also verhält, werde der Erkenntnis in Offenbarungstunden offenbar. Ob aber indes Gottes Urselbst auch diese Lagen der Dreiwelt zu seinem Teil stätig fülle, wie etwa ein und derselbe Wind das Segel der oberen, das Segel der mittleren, das Segel der unteren Ra füllt, — der Mensch ist zu seinem Teil doch zu wenig Gott, um die Dreiwelt gleichmäßig und stätig zu seinem Teil zu füllen. Sicherlich! Für Gott und von Gott her schließen sich mitnichten aus: Krischna das ewige Selbst der Welt, Krischna-Brahmâ Krischna-Wischnu Krischna-Schiva jenseit hiesiger Menschenwelt, und Krischna der blonde Hirtenjüngling auf den Gefilden der Yamunâ. Für Gott und von Gott her schließen sich diese drei nicht aus und vielleicht auch nicht für den Brahman-Kenner und vom Brahman-Kenner her, wenn sich auch freilich hier schon [S. 85] Schwierigkeit auf Schwierigkeit türmt. Jedoch der tätige Erdensohn, der es im Wissen allein und ununterbrochen nicht aushält, ja der nicht einmal als Brahman-Kenner und -erkenner den Zustand Brahman-Âtman dauernd aushält: er drängt zu eindeutiger Entscheidung, welch einer der Dreiwelten Gottes er sich nun seinerseit heilstätig und werksälig zu widmen habe. Zwar gibt es der Zugänge zu dieser ummauerten Feste der göttlichen Dreiwelt gleichfalls drei, sämtliche ins Herz der Feste führend. Zum Âtman-Brahman führt der Erkenntnis-Vertiefungs-Pfad empor oder sonst jñâna-mârga geheißen; zum Brahmâ-Wischnu-Schiva-Krischna führt der Verehrung-Andacht-Pfad empor, sonst etwa Minne-Liebes-Pfad oder bhakti-mârga geheißen; und wo Gott nicht ist, vielmehr Prakriti die Natur alleinig waltet und neben, außer, mit ihr vielleicht Puruscha, der Geist, das Ich noch, da führt am ehesten der Taten-Werke-Pfad zum Heil, sonst wohl auch karma-mârga geheißen. Von diesen drei Pfaden bewirkt nun freilich jeder einzelne auf völlig gleiche Weise das, was Not tut und Not wendet, und kein Suchender geht fehl, der einen von ihnen auswählt und diesem in Treuen folgt. Aber das ist es ja eben, daß von diesen dreien ein einziger erwählt sein muß, da unmöglich alle drei von ein und demselben Menschen zugleich: mit einiger Hoffnung auf Erfolg nicht einmal nacheinander beschritten werden können. Keineswegs gedeiht ja jedes Wesen in jeglicher Umwelt; keineswegs bewegt sich ja dasselbe Lebendige im Wasser, auf der Erde, in der Luft [S. 86] mit ähnlicher Leichtigkeit und Behendigkeit; keineswegs wohnt ja ein und derselbe Mensch in jedem Gürtel der göttlichen Dreiwelt mit demselben Behagen, mit derselben Angemessenheit. Die Bhagavad-Gîtâ zwar, ihr Christen, sie finden wir mit übermenschlicher Gerechtigkeit beflissen, allen drei Pfaden die nämliche Wahrheit, Zuverlässigkeit, Richtigkeit zuzugestehen, und wenig indische Fragen haben der europäischen Gelehrsamkeit so viel fruchtlos scharfsinniges Kopfzerbrechen verursacht wie diese großmütige Unbefangenheit, mit welcher hier das Geheimnis menschlicher Erlösung sub specie Gottes und göttlicher Allgerechtigkeit durchaus erörtert und gewiesen wird. Nur dürfen wir nie vergessen, daß hier Gott Krischna von seinem göttlichen Adspekt aus spricht, und wem würde es entgehen, wie unermeßlich hoch und fern dies göttlich Lied über das Menschengehör Arjunas hinaustönt! In unausschöpflicher Symbolik ist es gerade hier der Gott, der Erkenntnis-Vertiefung, Verehrungs-Andacht, Taten-Werke gleichmäßig gelten läßt, indes schon Arjuna dies übermäßige Gleich-Maß Gottes nicht fassen und noch weniger zum Muster nehmen kann und kann, — und dieser sehr fromme Prinz Arjuna ist doch wahrhaftig nicht jeder Beliebige, wahrhaft noch nicht ‚Mensch schlecht-weg‘ oder ‚Mensch schlecht-hin‘... Wie wahr und richtig, — der Herr der drei Reiche wählet nicht: denn seiner sind ja die drei Reiche! Wie wahr und richtig, — vor Gott ist alles gleich, denn schon wofern es ‚ist‘, wird es von Gott mit gleicher Kraft gesetzt, mit gleicher Kraft [S. 87] erhalten! Aber den Menschen schielt alles aus einer Ecken an und wird darum schief und verkürzt sich und verwinkelt sich, — ewig bleibt dem Menschen die Welt als Gleichung unausrechenbar mit ihrer Einen und Ewigen Unbekannten. So hat denn in der Folge geschichtlich die Religion des Vedânta die Heilsübung Erkenntnis-Vertiefung vorwiegend geübt und die Heilsübung Verehrung-Andacht oder Taten-Werke vernachlässigt. So hat die Religion der Bhagavatas die Heilsübung Verehrung-Andacht oder Minne-Liebe vorzüglich geübt und die Heilsübung Erkenntnis-Vertiefung und Taten-Werke vernachlässigt. So hat die Religion des Sânkhyam die Heilsübung Taten-Werke mit Vorliebe geübt und die Heilsübung Andacht-Verehrung und Erkenntnis-Vertiefung vernachlässigt. Was hilft es uns Heils-Wählern und Heils-Wägern also, das göttliche Urselbst der Welt Krischna als den Herrn der drei Reiche zu preisen, indes wir uns gezwungen sehen, die eindeutige Auswahl unter den drei Reichen ohne Schwanken zu treffen? Was hilft uns der göttliche Adspekt des göttlichen Lieds, indes wir sehr menschlich eins dem andern vorzuziehen haben und eins vor dem andern zu bewerten, indes wir die Rangordnung zu wahren, die Gewichte zu verteilen, das Wichtigere hervorzuheben und auszuzeichnen, die Stelle zu beziffern, die Stufe zu zählen, das Wahre vom Falschen zu sondern und die Gewißheit vom Wahn, das Seiende am Nicht-Seienden zu prüfen und den Schein vom Wesen abzuschäumen haben, und dies alles, wir mögen uns drehn und [S. 88] wenden wie wir wollen, so menschlich als irgend nur möglich? Was nützt und hilft es uns Heils-Wählern und Heils-Wägern, Krischna das hohe Selbst der Welt als Wissen zu verehren, wenn sich das Wissen sofort im Geist dem Nicht-Wissen paart und widerpaart; — was nützt und hilft es, Krischna als die Wahrheit anzubeten und zu verkünden: Gott ist die Wahrheit, wenn sich der Wahrheit unverzüglich im Geist die Täuschung zugesellt und widergesellt: also daß Krischna der Gott Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Irrtum zumal ist! Dem Diener Gottes obliegt es, zwischen diesen leidigen Gegenwelten genau zu scheiden und was der Gott göttlich zusammensichtet, menschlich zu entzweien. Krischna, ja Krischna ist alles. Aber welcher Mensch wäre Krischna und welcher Mensch wäre — alles? Im Ozean von Krischnas Dreiwelt treibt der Mensch als Wrack und sucht mühsälig ein Steuer, um etwas wie einen Kurs einzuschlagen und eine Richtung zu halten auf seiner Fahrt, die wahrlich nicht gefahrlos ist...

Mit einem erhabenen Freimut, der in unseren eigenen Heiligen Schriften nirgends seinesgleichen hat, offenbart gerade der Mythos diesen fragwürdigen Sachverhalt. Wo die Bhagavad-Gîtâ einen köstlichen Atemzug lang die exzentrische Stelle einzunehmen imstand ist, von welcher her der Mensch die Welt als göttliches Erlebnis seiner menschlichen Tat anpaßt, verfährt der Mythos umgekehrt sehr menschlich, indem er den Gott schonunglos just dort entblößt, wo diesem die Blöße am peinlichsten sein muß. Gegen [S. 89] Ende des Mythos nämlich hält Krischna-Wischnu seinen Reitvogel Greif vor der Burg des Himmels an, um dort gemäß der guten Sitte der Göttermutter Aditi seine Aufwartung zu machen. Bei diesem Empfang nun geschieht es, daß seltsame Worte von der Göttin zum Gott gesprochen werden, vorwurfsvolle und anklägerische Worte, die den Gott aufs äußerste belasten müssen, wenn anders er hinter ihre Höflichkeit zu horchen feinhörig genug ist, die auch hier eine indisch vollendete ist. „Du bist alle Götter“, mit dieser Gebetformel leitet auch Aditi ihre Ansprache huldigend ein, „du bist alle Götter, alle Genien und Menschen; du bist alle Tiere, Bäume und Gräser: alles Große, Mittlere und Kleine, alles Ungeheure und Winzige, alles Einfache und alles Zusammengesetzte. In Trug hüllst du die ein, die deine wahre Art nicht kennen, die Toren, wenn sie im Wesenlosen das Wesen suchen. Die Vorstellung ‚Ich bin‘ und ‚Das gehört mir‘ sind trügerischer Schein, den die Mutter des Wandeldaseins im Verein mit dir, o Herr, hervorbringt. Die tüchtig sind und dich verehren, gelangen über diesen Trug hinweg und finden Freiheit im Herzen. Brahmâ und alle Götter, Menschen und Tiere sind insgesamt einzeln in das dichte Dunkel des Wahns getaucht, in den Abgrund deiner Täuschungen. Daß einer, der dich verehrt, doch Wünsche hegt und am Leben hängt, auch das, o Herr, ist nur ein Trugbild, von dir geschaffen. Du spielst mit deinem Zauber und verführst die Menschen, daß sie, dich verehrend, Ruhm und Nachkommen [S. 90] und Vernichtung der Feinde begehren statt ewiger Erlösung. Es ist die Folge ihrer falschen Taten, daß Toren dich um solches anflehn, gleichwie als ob man, um seine Blöße zu bedecken, den Wunschbaum, der alles gewährt, um einen Fetzen Tuch anflehte! Sei gnädig, Unvergänglicher, du Urgrund des Irrtums, der die Welt einhüllt! Zerstöre den Trug, der sich aus der Wahrheit erhoben hat“...

Welch ein Gebet aber ist dies, ihr Christen, an dieser denkwürdigen Stelle von Aditi, der Mutter der zwölf Adityas, der Mutter aller Götter, zum Gott in höchster Person gesprochen; — ein Gebet, wie es gleich erschütternd vielleicht nur einmal noch in den Heiligen Schriften Indiens emporstieg, und zwar in der Mahâbhâratam-Episode von Nala und Damayantî, wenn Damayantî, die Liebliche, zu den vier Himmlischen fleht, die alle die Gestalt ihres Geliebten Nala angenommen haben, um sie bei der Gattenwahl schmählich zu täuschen: die Götter möchten sie doch länger nicht mit Trug und List umgaukeln und ihr die Wahrheit offenbaren... Welch ein Gebet ist dies aus unerhörter Ratlosigkeit des Herzens und Gewissens, die sich getrieben fühlt, den Gott selber als Urheber jenes tiefsten Mangels anzuklagen, welcher recht eigentlich den Menschen zum Geschöpf des Elends stempelt: des Mangels an zuverlässigen Unterscheidung-Merkmalen zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Wesen und Un-Wesen, zwischen Wahrheit und Wahn, — des Mangels an einem runden Ja-oder-Nein, an einem klippen Entweder-Oder, [S. 91] an einem lauteren Icht oder Nicht! Welch ein Gebet zum ‚Urgrund des Irrtums‘, der von Aditi auf solch eigene Art gepriesen noch nach dem Wort des Mythos ‚fein lächelt‘ und fein lächelnd dankt! Welch ein Gebet des höchsten Gottes zu ihm selber, des All-Einen, All-Einzigen und Ein-und-Alles zu ihm selber, der diese Dreiwelt selber ist, aber eben darum das menschlich Unentbehrlichste stets schuldig bleibt, das zweifellösende, entscheidungfällende: ‚Wähle dieses und lasse jenes! Bevorzuge vor jenem dieses! Meide solches und vollbringe solches! Verwirf dies eine um des andern willen!‘ Welch ein zermalmendes Eingeständnis der grundsätzlichen Unverrückbarkeit der Grenzen Gottes und des Menschen, der ewigen Geschiedenheit ihrer Beschaffenheiten und Standorte, ihrer Gewichte und Maße, ihrer Wege und Ziele. Welch eine Waberlohe, an des eigenen Lebens, an des Eigenlebens Flamme himmelhoch entzündet, die unüberschreitbar Mensch wie Gott umlodert und umloht wie jenen alten Vorzeitkönig Mutsukundo in der Felsenhöhle, den Krischna der Gott selber nicht zu wecken wagen darf, will er nicht selber stracks zu Asche weiß verbrennen... Gott also ist es selber, der seinen Zauber lügnerisch spielen lässet den Menschen zur Verführung, daß sie törichtste Wünsche hegen und statt ewiger Erlösung entbehrlichste Güter erstreben. Gott selber umgaukelt frevlerisch den Sinn und umbuhlt die Sinne mit den Fratzen der Gestalt, um von den Dummen dort am ehesten ernst genommen zu werden, wo er am mutwilligsten spaßt. [S. 92] Gott selbst pflanzt dem Menschen die blinden Leidenschaften ein und zieht selbst seine Triebe ab von dem Ziele, was ihm hüben wie drüben zum Heil gereicht. Gott selbst flößt dem Menschen die Welt ein wie den Rauschtrank Soma und macht ihn auf den Beinen torkeln und im Haupte schwindlig, so daß er auf ebener Straße stolpert und über seine eigene Zunge stürzt. Gott selbst wertet alle Dinge gleichviel, und das heißt gleichwenig; — gleichviel, und das heißt gleichwenig, gilt vor ihm der vedische Gesang und ein Gassenhauer. Gott selbst, der alles angleichende und ausgleichende, gleicht einem liebestollen Weibe, dem alle Männer recht sind und alles Mannes-Ähnliche am Weibe, wenn es nur Wollust schafft und dort am heftigsten kitzelt, wo die Wollust ihren Nerv hat. Zu allem aber, was du sagst und nicht sagst, o Aditi, lächelt der ewige Krischna mit jenem ewigen Zynismus, der unstreitig das göttlichste Vorrecht seiner Götterrechte je gewesen ist. Er lächelt fein zum Abschied, und unergründlich eher noch als fein, und küßt dir, menschkundigste Mutter du der Götter, zum Abschied deine liebe Hand und huldigt seinerseit auch dir, in jeder Geste uomo galante und jeder Zoll ein caballero (vergebens schau’ ich hier, ihr Deutschen, nach einem deutschen Worte aus): „Sei gnädig auch du, und gewähre mir deine Gunst“...

In dieser Ansprache, unsäglich zart die Andacht zum Gott fädelnd an die Anklage wider Gott, in ihr, wie glatt und anmutig sie auch dahinfließe, gärt und [S. 93] siedet dennoch eines der stärksten unterirdischen Beben, welche die Religiosität der indischen Menschheit je erschüttert haben. Noch ist Krischna Meister, Herr und Mahâdeva, noch ist er Gott aller Götter und Auge der Welt, noch ist er Eins-und-Alles und All-Eines, noch ist er Urselbst und Kern der drei Reiche. Aber schon meldet sich der bedürftige Mensch und mehr noch die menschliche Bedürftigkeit, welche beide der Gott, aller Allmacht unbeschadet, nicht zu stillen weiß. Hinter den vielkantig geschliffenen Worten dieser Andacht-Anklage geistert eine unausgesprochene und unaussprechliche Hinterwelt von schweren Zweifeln und Anfechtungen, wie hinter den Rautenflächen eines vielkantig geschliffenen Diamanten die Urfeuer der Tiefe sprühen. Denn je mehr Gott Er selber ist, desto weniger ist es ihm gegeben, die menschliche Bedrängnis wirklich zu teilen, und je weniger er diese teilt, desto weniger vermag er sie abzustellen. Der vollkommene Gott, vollkommen, weil nichts ihm gebricht und er an jeder Stelle dicht ist und stätig, rund und ausgefüllt, er gleicht fürwahr dem ewigen Sphairos jenes griechischen Xenophanes: wie sollte er da der unvollkommenen Menschlichkeit ‚in ihres dritten, zweiten, ersten Viertels bedauerlicher Schwindung‘ innewerden, — wie sollte er gewahren, was diesem armen Menschen taugt und frommt. Aus Laune, Zufall, Spielerfreude oder aus Gott weiß für Gründen oder Ungründen schuf der vollkommene Gott diese Welt; aber diese Welt geriet ihm leider minder vollkommen, als er selbst, der Gott, [S. 94] vollkommen ist, und so leidet der Mensch, auf unvollkommener Welt der unvollkommene Nächste seines Gottes, schwer unter der Unvollkommenheit der Welt und am schwersten unter der Unvollkommenheit des Menschen. Die Gürtel, Zonen und Striche dieser Welt füllt Gott mit seinem Atem, aber des Menschen Atem bläst unendlich schwächer als der Atem Gottes, und so bläst er schnell sich leer, und leer geblasen deucht ihn seine Umwelt. Gewiß ist da verkündigt und gewiesen: wer den Erkenntnis-Vertiefungs-Pfad eifrig und treu bis ans Ende wandelt, dem winkt Vergottung, und gleicherweis wer den Verehrung-Andachts-Pfad eifrig und treu bis ans Ende wandelt, dem winkt Vergottung. Wer Brahman-Âtman durchaus kennt und erkennt, wird Brahman-Âtman; wer Brahmâ-Wischnu-Schiva von ganzem Herzen verehrt und liebt, wird Brahmâ-Wischnu-Schiva. Aber das ist es ja eben, daß weder das Brahman jenseit aller Maske und Gestalt noch die heilige Trimûrti oder Gottdreigestalt einen Finger rühren oder auch nur eines Fingers Glied, damit der Gottsucher an seinem Ziel anlange. Das Brahman zu wissen, das ewige Es und Überstaltige, dies ruht ausschließlich auf dem Menschen, der des Brahmans bedürftig ist, nicht aber umgekehrt das Brahman des Menschen, — und genau so ruht es auf dem Menschen, den höchsten Brahmâ und Brahmâs Trimûrti, das ewige Du aller Götter und in der Eigenschaft des Du der Eingestaltig-Vielgestaltige, in Liebe zu umfangen: qui deum amat conari non potest, ut deus ipsum contra amet... [S. 95] Nicht zieht Gott den Menschen zu sich, und noch viel weniger zieht Gott den Menschen an, vielmehr ziehet der Mensch Gott an, wie es in den paulinischen Schriften auch geschrieben steht, — der Mensch ist’s, der da in Gott einzugehen, in Gott aufzugehen, in Gott unterzugehen trachtet, aber mit seinem armsäligen Tröpflein den vollen Krug Gottes nimmer überfließen macht. Was also ist es zuletzt, das Heil erwirkt und befördert? Die menschliche Tat ist es, menschlich getätigt und getan, heiße die Tat Wissen oder Liebe, Erkenntnis oder Andacht, Ehrfurcht oder Vertiefung, ja heiße sie Tat selber oder auch Werk. Wer diesen Sachverhalt in seiner Strenge erfährt und erfaßt, wer sich mit allen seinen Seelenkräften mit ihm durchdringt, wer sich mit allen seinen Seelenkräften zu ihm durchringt: der bringt als Protestant den unausgetragenen Widerstreit im Mythos Krischnas klar und bewußt zum Austrag und das Zeitalter einer rein katholischen oder gemischt katholisch-protestantischen Religiosität zum einstweiligen Abschluß. Als Täter der Heilstat löst er den Gott ab, der dem Menschen dauernd das Eine schuldig bleibt, was einzig Not wendet: jene ‚ewige Erlösung‘, um welche die Himmelskönigin und Weltmutter Aditi den blonden Gott vergeblich anfleht. So löst der Mensch Gotamo, gezeugt vom Fürsten Suddhodano, das ist verdeutscht der ‚saubere Milchreis(-Spender)‘, und empfangen von der Fürstin Mâyâ, geboren zu Kapilavatthu auf der königlichen Burg und als Krieger, nicht als Priester auferzogen, — so löst der Mensch Gotamo den Gottmenschen Krischna [S. 96] auf dem Weltenschauplatz ab, und mit ihm gleichsam der Mensch überhaupt den Gott überhaupt. Und die indische Seele, die wahrhaft allwissend alles weiß, allahnend alles ahnt, allfühlend alles fühlt, was Gott und Götter betrifft oder betreffen könnte, vergegenwärtigt sich auch diesen entwicklunggeschichtlichen, gestaltwandlerischen Sachverhalt auf eine eindruckvolle Weise. Im Wischnu-Mythos nämlich verkörpert sich Wischnu im ersten Weltalter viermal in gewissermaßen organisch aufsteigender Lebensform als Fisch und Schildkröte, als Eber und Mensch-Löwe, um jedesmal die Welt von einer dämonischen Plage oder Zwingherrschaft zu befreien; im zweiten Weltalter einmal als Zwerg; im dritten Weltalter zweimal als Krischna und Râma; im vierten Weltalter aber wiederum einmal als Buddho, ehe er im fünften und eisernen Weltalter, abermals im Tier verleiblicht, als das weiße Pferd Kalki die Welt vernichtet und verjüngt und aller Dinge Wiederherstellung vollbringt: ein Mythos von so unausdenklichen Adspekten auf den Wechsel von Weltzeitaltern und Wiederkunftkreisläufen hin, daß ihn bis heute noch keine Konzeption westlicher Wissenschaft genügend deuten könnte. Auf Krischna-Râma die Gottmenschen folgt Buddho der Mensch als Vorsteher seiner Zeit und als Verrichter dessen, was bisher Gott verrichtet oder auch nicht verrichtet hat, — dies ist die mythische Umschreibung des historischen Tatbestandes, daß mit Gotamo Buddho der Protestant in Erscheinung trat! (Denn für den indischen Geist gibt es eben historische Tatbestände [S. 97] nur in mythisch-mythologischer Umschreibung und Umdeutung). Mit Gotamo Buddho ist der Protestant als solcher, der Protestant schlechthin in die geschichtliche Erscheinung getreten, zunächst für das mittlere und nördliche Indien. Dann für das indische Festland und Inselland, dann für Südasien, Mittelasien, Ostasien, und am Ende, wer kann es heute wissen, für diese ganze runde Erdenmenschenwelt, die gegenwärtig mehr, als sie selber ahnt und ahnen kann, mit ihrem inneren Gehör nach Magadhâ hinhorcht und dem vernehmlich durch die Jahrtausende hindonnernden Löwenrufe lauscht...

Enthülsen wir dieses aber, ihr westlichen Protestanten, als den überwestlichen, aber wesentlichen Kern des Protestantismus, sofern er in die kosmischen Ordnungen hineingehört, daß nämlich der Mensch, eben durch seine Menschlichkeit zur Tat getrieben, wo sich der Gott keinerlei Tat bedürftig fühlt, — daß der Mensch eine Melodie in diesem unendlichen Orchester spiele, wenn der Gott gewissermaßen eine Pause macht: alsdann verschiebt der Protestantismus alle Gewichte des religiösen Interesses selbsttätig zugunsten des Menschen. Alsdann leuchtet ein verborgener (und bisher mit einer gewissen Geflissentlichkeit verborgen gehaltener) Zusammenhang auf zwischen Protestantismus und Atheismus; alsdann ist der Protestant kraft seines Protestantismus in irgendwelcher Rücksicht ein Atheist, Atheismus schlecht und [S. 98] recht für Gott-Losigkeit, Gott-Ledigkeit, Gott-Entbehrlichkeit genommen. Diese Gott-Losigkeit, Gott-Ledigkeit, Gott-Entbehrlichkeit ist sozusagen auf der linearen Verlängerung des Protestantismus gelegen, wenngleich auch vermutlich auf einer Verlängerung, die in keinem Endpunkt ihr Ende und Ziel findet, sondern fort und fort ins Unendliche läuft und darin verlaufen muß: weil ja die Vorstellung des verneinten Gottes menschliche Denkkraft offenbar nicht weniger übersteigt und überflügelt wie die Vorstellung des bejahten Gottes. Ändern doch Vorzeichen in dieser Beziehung an den Begriffen nichts und können nichts ändern, und kaum dürfte das Minus-Unendlich minder unendlich sein wie das Plus-Unendlich, o unendlich-ewiges Geheimnis!... So aber ist von vornherein zu erwarten, Buddho der Protestant, in der Zeitreihe indischer Weltalter der Erbe, Vollstrecker und Nachfolger des Gottmenschen Krischna, er werde sich in dieser oder in jener Bezugnahme als Buddho der Atheist erweisen, — Buddho der Atheist freilich in einem Denk- und Sprachsinn, wie er dem Abendländer bislang kaum zugänglich und jedenfalls alles andere als geläufig gewesen ist. Waren wir Abendländer doch, um der Wahrheit nicht ins Gesicht hineinzulügen, der Regel nach Atheisten aus Frechheit oder Flachheit oder Unfähigkeit oder Überheblichkeit, selten nur aus Ehrfurcht, und bis auf verschwindende (aber doch nicht verschwundene) Ausnahmen niemals in den Jahrtausenden seit den Griechen aus Frömmigkeit und Göttlichkeit. Wo wir die Götter leugneten, [S. 99] da leugneten wir in der übergroßen Mehrzahl der Fälle auch die göttliche Bindung und Treue ( religio ); da leugneten wir mit furchtbarem Erfolg unser eigenes besseres Leben und besseres Bewußtsein mitsamt seinen Niederlagen und Siegen. Nur einmal vielleicht vernahm ich ein Gebet von einem Gottlosen unserer späten Zeit, das die Gebete aller Gläubigen an Innigkeit und wahrer Liebe zu Gott ganz unermeßlich übertroffen hat: „... Nicht wahr, du bist doch nicht? Du würdest nicht so müßig sein mit Allmacht? Du würdest ruhen nimmer wie ein träger Faulpelz, der’s nüchtern ansieht, wie die Untat herrscht? Wie Niedrigkeit erhöht steht, und was hoch ist, niedrig? Du würdest deine Arme nicht so lässig kreuzen, als ginge dich das Weltall, dein Geschöpf, nichts an? Du bist doch nicht, nicht wahr?... Auf, auf, du Gott, der nicht besteht, hilf mir!“... Gottlos und ehrfurchtvoll, gottlos und gläubig, gottlos und fromm, gottlos und heilig, gottlos und göttlich, das in der Tat reimt sich europäischen Ohren, den mit soviel Schmalz und Schmutz und Kot und Seim verklebten, so schlecht wie nur immer möglich, und wer auf diesem Reim zu dichten wagte, dem antwortete entrüstet jedermann: Hab’ ich recht gehört?... Als Sklaven einer unduldsamen Vernunft und engstirnigen Weisheit erblickten wir schlechten Europäer ein herrisches Entweder-Oder, wo die duldsame Vernunft Asiens und die weitstirnige Weisheit des Asiaten ein Sowohl-Als-Auch vernimmt und wahrnimmt mit noch so mancherlei Zwischentönen. Wer Atheist war in unseren [S. 100] mehr mäßigen als gemäßigten Breiten, der strich gar zu gern wie der entlassene Schulmeister im Grünen Heinrich landauf und -ab durch Berg und Tal und lehrte und überredete und beschwor und verkündigte und beschrie als ein echter Schulmeister: Gott ist tot! Und noch Zarathustra, der Gepriesene und Hochpreisliche, glich er fürwahr in diesem Betracht nicht allzusehr noch einem Schulmeister? Wo aber Gott noch ein weniges lebte und heimlich mit den Gliedern zappelte und leisen Atems röchelte, vielleicht von gefährlicher Ohnmacht schon umnachtet, da schlug ihn der Atheist flugs vollends tot und warf ihn ins Dickicht und erregte allenthalben Ärgernis gegen sich, daß er einen Schlafenden zu Tod schlug: Weh’, Macbeth mordete den Schlaf, den heiligen Schlaf!... Denn wie gesagt, wir sind allzu steil auf Nein und Ja gestellt, wir Abendländer. Wir wandeln auf einer Brücke von Rasierklingenschärfe über den offenen Abgründen des Lebens und mehr noch des Todes dahin, und stoßen gnadenlos in den Abgrund, was auf der schmalen Schärfe zwischen Nein und Ja ausruhen will. Und wer da sein Haar um ein Tausendteil einer Haaresbreite dünner oder dicker spaltet wie wir selber und um diese tausendstel Haaresbreite von uns abzuweichen sich gedreistet, den bellen wir hart an mit unseren wütendsten Worten und erdolchen ihn stracks mit unseren giftigsten Blicken: Pack’ dich, Hund, und scher’ dich dem Teufel zu, von welchem du herkamst! Was hab’ ich mit dir zu schaffen? Apage Satanas! Anathema sis!... Also wandeln wir zwischen [S. 101] Ja und Nein auf der Brücke von Rasiermesserschärfe und fluchen lästerlich jedem Begegnenden, dieweil uns der Raum fehlt, um freundlich zur Seite zu weichen. Und jeder Begegnende ist unser besonderer Feind und jeder Erwidernde unser besonderer Widersacher, und unser Leben gleicht einem fort- und fortgesetzten Zweikampf, dessen grausamer Ausfall von Tag zu Tag aufs neue heißt: Du — oder Ich. Ich — oder Du...

Gotamo jedoch, der Protestant des südöstlichen Festlandes Indien, er wandelt nicht zwischen Ja und Nein. Er wandelt, auch hier durchaus Erbe und Rechtsnachfolger Krischnas, wie es in der Bhagavad-Gîtâ wörtlich heißt: „über die Paare hinausgegangen oder der Gegen- und Widersätze ledig: dvantvâtîta, nirdvandva “... Vor die Frage des Du-oder-Ich, will meinen Gott-oder-Mensch gestellt, würde Gotamo uns mutmaßlich desselbigen Lächelns gar fein zulächeln, mit welchem Gott Krischna, der Blondlockige, der Göttermutter Aditi zuzulächeln geruhte. Denn dieses weiß Gotamo besser als irgend ein Sterblicher und Unsterblicher der östlichen oder westlichen Halbkugel, daß Gott und Göttern nichts so verhaßt ist als zwischen die Schere allzumenschlichen Ja-oder-Neins geklemmt und von ihr entzweigeschnitten zu werden. Wo Gott geglaubt wird, dieses hat wohl Gotamo der Protestant, Gotamo der Atheist tiefer und gewisser erfahren als alle Protestanten und alle Atheisten vor, neben oder nach ihm, da ist Gott auch und da gibt es Gott. Die Frage ist nicht, ob [S. 102] es Gott gäbe oder nicht gäbe, die Frage ist, ob Gott geglaubt oder nicht geglaubt wird. Gott aber, ihr Christen, und dies sei uns das ewig christliche und das überchristliche Faktum aller Religion überhaupt, Gott selber wird ewig sowohl geglaubt wie nicht geglaubt und so ist Gott selbst darum ewig und ist ewig nicht, — dies sei uns schlechthin die Gewißheit in Ansehung Gottes, in Ansehung der Götter. Dies sei uns die vornehmste und unumstößliche und ‚unpaarige‘ Gewißheit jenseit von Ja und Nein, oder strenger und richtiger noch diesseit von beidem und in diesem Diesseit gegensatzentrückt, dvantvâtîta, nirdvandva ... Wo Gott also geglaubt wird, da ist auch Gott; wo Gott nicht geglaubt wird, ist Gott nicht. Umsonst sucht daher, wer in den Heiligen Schriften des Pâli-Kanons ein glattes, rundes Urteil sucht, ob es Gott gäbe oder nicht gäbe. Just dieses Ur-Teil deucht einen Weisen wie Gotamo, einen Erwachten wie Gotamo — „‚der Erwachte, o Keniyo, sagst du?‘ ‚Der Erwachte, o Selo, sag’ ich‘... Da gedachte nun Selo der Priester: ‚Das ist ein Wort, das man gar selten vernimmt in der Welt, der Erwachte!‘“ — just dieses Ur-Teil, sag’ ich, deucht einen ‚Buddho‘ also wie Gotamo allzusehr ein Nur-Teil, um das Ganze zu umspannen.

In der Neunzigsten Rede zwar aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo frägt der König Pasenadi von Kosalo den Erhabenen geradezu: „Wie aber, o Herr, gibt es Götter?...“ Die Antwort jedoch ist eine Gegenfrage: „Warum denn, großer König, [S. 103] sprichst du also: ‚Wie aber, o Herr, gibt es Götter?‘“ ... Diese Gegenfrage und ihren tiefsten Sinn würde kein westlicher Mensch verstanden haben und vielleicht kann sie auch heute noch kein westlicher Mensch verstehen, denn der Westen hat bisher von der Entscheidung über diese Frage alles abhängig gemacht, nicht allein die Religion, vielmehr jedes höhere Leben des Geistes und der Seele, das aus Religion hervorblüht. Er sagte sich: Wenn schon Gott nicht ist, dann will ich ein Vieh, ein Tiger, ein Haifisch, ein Werwolf, ein Ungeheuer sein, — dann will ich bei Gott diese ganze Welt mit meinen Zähnen zerreißen und mit meinem Maul verschlingen... Der Buddho aber wirft diese selbe Frage wie einen ihm zugeworfenen Ball anmutig auf den Fragenden zurück und spielt gleichsam ein weniges mit ihr, weil er sie in ihrer Bedeutunglosigkeit durchschaut hat. Ob Götter, ob keine Götter: ihm liegt es unter allen Umständen ob, die Welt zu retten und zu tun, was Gott nicht tun kann. Der leichte Spott, die leise Ungeduld, die aus der Gegenfrage an den König etwa herauszulesen wäre, hat nichts anderes zu besagen als: Sprechen wir von wesentlichen Dingen, o König, und schweifen nicht zu unwesentlichen ab...

Umsonst also sucht, wer hier nach jenen gesalzenen Schmähungen, Schimpfreden, Grobheiten sucht, wie sie die protestantischen Hellenen beliebten, die es unter dem Himmel Homers nicht länger aushalten konnten, zu schweigen von den klobigen und klotzigen Flegeleien, mit welchen der große Rüpel Martinus die Kirche [S. 104] Roms und ihren Papst gleichsam wie mit Kübeln überschüttete. In diesen Schriften wird nirgends geschimpft, es sei denn von einem unbelehrigen Brahmanen; in diesen Schriften wird niemand beschimpft, es sei denn der Erwachte selber von einem blindwütigen Priester. Hier, wo es in vieler Hinsicht keine Gläubigen und weniger noch Recht-Gläubige gibt, hier gibt es erst recht keine Anders-Gläubigen, denen man eins wischen müßte. Die europäischen Propheten des Protestantismus haben an den Anhängern des Katholizismus jeweils gehaßt, was sie in sich selber überwunden (oder auch nicht überwunden) hatten, — aber der indische Protestant Buddho weiß nichts von diesem Haß gegen die eigenen Überwindungen. Der weltgeschichtliche Kampf zwischen den Urformen der Religiosität wurde und wird in Europa der bösen Beschaffenheit des Europäers entsprechend mit vergifteten Waffen geführt, aber Gotamo führet ihn nicht einmal mit Waffen, geschweige denn mit vergifteten. Der indischen Haupttugend vollendeter Herzenshöflichkeit wie kein zweiter religiöser Stifter mächtig, verliert der Erhabene kein Wort gegen die unendlichen Götterreihen, welche der Brahmanismus wie einen Berg unendlich gestaffelt und gestuft bis zum Himmel und Überhimmel aufgetürmt hatte. Der Berg wuchtet und ruht in ihm selber heilig weiter, aber Gotamo nimmt auf seinem höchsten Gipfel Platz, um dort die Weihe der vier Schauungen ( jhânâni ) zu begehen. So redet der Buddho in jeder Rede ohne Befangenheit von den [S. 105] unzähligen Göttern des Veda, und was etwa noch wichtiger scheinen könnte, so schweigt er ohne jede Befangenheit von ihnen, wo ihm das Schweigen angebracht zu sein deucht. Er redet und er schweigt in seinen Reden von den Göttern mit Takt, mit Wohlwollen, ja mit Großmut, wie ein erzogener Abendländer über abwesende Gäste redet und auch schweigt, deren Menschliches er längst durchschaut hat. Dieser unbedingteste Protestant aller Vergangenheiten, gewissermaßen ein protestantisches Absolutum, verfährt mit göttlicher Milde gegen die Götter, deren schöne Überflüssigkeit in Ansehung dessen, was Not wendet, er als der erste Mensch menschheitlicher Gattung erkannt hat. Für oberflächliche und grobkörnige Beobachter hat sich in den Jahrhunderten zwischen dem Veda, den Upanischaden, den großen Epen und dem Auftritt Gotamos, was die Götter anbetrifft, nichts Besonderes zugetragen. Ex officio bleiben sie in allen Hoheitrechten ungekränkt und unbehelligt, in die sie eine fromme Urzeit einst göttersälig eingesetzt hatte. Noch wimmelt Welt, Unterwelt und Überwelt von den Heerhaufen der Heiligen und Vollendeten und Engel und Genien und Dämonen und sinnlichen und himmlischen Gottheiten bis herauf zum Himmelsjüngling Brahmâ selber, — erst die Zone des Brahman-Âtman ist es, die ernsthaft in Frage gestellt, ja verneint erscheint, und zwar aus Gründen, die sich gewissermaßen ganz von selbst in eine doppelte Gruppe scheiden und die schließlich an dieser Stelle wo nicht ausführlich entwickelt, doch wenigstens grundsätzlich erwähnt werden müssen.

[S. 106]

Die erste Gruppe dieser Gründe findet sich mit wundervoller Klarheit herausgearbeitet und zusammengestellt in der Ersten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo, ‚Das Priesternetz‘ betitelt, wo der Buddho auf eine beinah erschöpfende Weise die Trennung zieht zwischen seiner eigenen Lebensführung und Weltauffassung und der Lebensführung und Weltauffassung brahmanischer Priester und Asketen. Eine durchaus kunstgerechte oder gar gelehrtwissenschaftliche Auseinandersetzung à la Çankara mit der Götter-, Welt- und Seelenlehre des Brahmanismus darf freilich niemand hier erwarten, denn weder sind Gotamos Zwecke und Ziele gelehrtwissenschaftliche, noch erhebt er persönlich jemals den geringsten Anspruch auf maßgebliche Kennerschaft vedischer Theo-Kosmologie und Scholastik. Trotzdem werden hier mit einer Dialektik von manchmal glänzender Überlegenheit die wichtigsten Standpunkte der brahmanischen Götterlehre, Weltlehre, Seelenlehre im Zusammenhang aufgezeigt und in ihrer Nichtzulänglichkeit erhärtet. Nicht weil diese Götterlehren, Weltlehren, Seelenlehren falsch wären, sondern im Gegenteil, weil sie richtig sind, richtig nämlich als eine Reihe von einander sich ausschließenden Vernunftaussagen, gleichmäßig zulässig, gleichmäßig ‚wahr‘, — eben darum sind sie alle zusammen doch nur als bloße Vorläufigkeiten, wenn nicht als Unerheblichkeiten (ἀδιάφορα) zu bewerten und zu verwerfen. Als Standpunkt der Erkenntnis können, ja müssen sie von den Erkennenden eingenommen [S. 107] werden, und wenn sie sich im einzelnen dann kontradiktorisch widersprechen, beweist das nicht, daß sie erkenntnismäßig unzulässig sind: aber es beweist, daß es von Übel sei, wenn sich die Vertreter der einzelnen Standpunkte innerlich gleichsam mit ihnen für verwachsen erklären und so ihr persönliches Heil mit einer jeweiligen Ansicht-Sache, Meinung-Sache verwechseln. Über Götter, Welt und Seele mag jeder denken, was seinen Verständniskräften am besten entspricht und ihn am innigsten befriedigt. Und vielleicht gibt es unter allem, was bisher von menschlichen Wesen über diese Gegenstände ausgeheckt worden ist, gar nichts, das grundsätzlich und in jedem Sinn falsch oder verkehrt wäre. Nur ziemt dem Erwachten ein Standpunkt, unendlich über alle diese Standpunkte erhöht, wofern der Erwachte seinerseit alle einzelnen Standpunkte durchlaufen und in ihrer verhältnismäßigen Berechtigtheit durchschaut hat: nun aber sich selbst die unbedingte Freiheit streng zu wahren entschlossen ist, auf keinem als einem endgültigen auszuruhen und zu beharren und ihn für den einzig richtigen, den einzig angemessenen auszugeben. Sich auf keinen erkenntnismäßigen Standpunkt festzulegen und sich für keinen zu entscheiden, das ist der Standpunkt des Buddho gegenüber allen üblichen Lehren von Gott, Welt und Seele. Der Protestant Gotamo protestiert gegen jedwede dogmatische Bindung zugunsten einer bloßen Ansicht oder Annahme, Meinung oder Auffassung. Er protestiert dagegen nicht wie der Protestant Kant, um die ewigen [S. 108] Rechte der Kritik gegen das Dogma zu vertreten, vielmehr aus der tiefen und religiösen Selbsterfahrung heraus, daß sich mit dem eigenen Wesen und Wesensziel keine sogenannte Wahrheit wirklich deckt: daß hier stets und immer eine Leere bleibt, die nach anderer Erfüllung heischt, als sie die Doktrin gewähren könnte. „Da erkennt denn, ihr Mönche, der Vollendete: ‚Solche Ansichten, also angenommen, also beharrlich erworben, lassen dahin gelangen, lassen eine solche Zukunft erwarten.‘ Das erkennt der Vollendete, und erkennt, was darüber hinausreicht. Bei dieser Erkenntnis beharrt er aber nicht, und weil er dabei nicht beharrt, findet er Einkehr eben in sich“...

Eine zweite Gruppe von Einwürfen gegen die Brahman-Âtman-Zone, nicht ohne einen gewissen inneren Zusammenhang mit dieser, erörtert der Buddho vielleicht am durchsichtigsten in der Hundertundneunten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo, die den Titel ‚Vollmond‘ führt. In dieser Rede rechtfertigt und begründet Gotamo eine der umstürzlerischsten Überzeugungen des Buddhismus überhaupt, und zwar überraschenderweise, obwohl es sich unstreitig um einen rein religiösen Sachverhalt handelt, in enger Bezugnahme auf Kants Kritik des ersten Paralogismus in der transzendentalen Dialektik seines ersten Hauptwerkes: die Überzeugung nämlich, daß alles, was wir unser Ich, unsere Persönlichkeit, unser Selbst nennen und was der Brahmanismus als Âtman, Brahman, Lebensurgrund, Weltwesen verehrt, [S. 109] in Wahrheit gar kein ontologisch zu verstehendes substratum , subjectum , ὐποκείμενον unserer Bewußtseins-Welt sei, sondern im besten Fall ein bloßer Bestandteil, bloßer Inhalt dieser nämlichen Welt, der genau wie jeder andere Bestandteil und jeder andere Inhalt des Bewußtseins über die rein vorstellungmäßige Gegebenheit hinaus immer für fragwürdig gelten müsse. Es gibt kein Ich, es gibt kein Selbst als Träger der Bewußtheit-Mannigfaltigkeit, und vollends gibt es kein Urselbst als Träger der gesamten Weltwirklichkeit und als ihr Urheber und Erhalter, wie es der Brahmanismus unter dem Namen Âtman anruft, bekennt, voraussetzt. Wenn der Brahmanismus das ‚ Eso ’ham asmi : Das bin Ich‘ und vielleicht mehr noch das gleichsinnige ‚ Tat tvam asi : Das bist Du‘ zur Weltformel erhoben hat, und wenn er mit dieser Weltformel zuletzt nur das schlechthin unwiderlegliche religiöse Urerlebnis auf eine mitteilbare Aussage bringen will: die Wahrnehmungen bin Ich-Selbst, die Gegenstände bin Ich-Selbst, die Zustände bin Ich-Selbst, die Widerstände bin Ich-Selbst, die Wirklichkeiten bin Ich-Selbst, die Unwirklichkeiten bin Ich-Selbst, die Überwirklichkeiten bin Ich-Selbst, das Ich und das Du und das Nichtich bin Ich-Selbst! — nun wohl, dann weiß Gotamo dieser aus unwiderleglichem Erleben geschöpften Formel die aus nicht minder unwiderleglichem Erleben geschöpfte Gegenformel mit einer steinernen Wucht entgegenzustemmen, ‚ N’etam mama : Das gehört Mir nicht‘, die Wahrnehmungen bin Ich nicht, die Gegenstände [S. 110] bin ich nicht, die Zustände bin Ich nicht, die Widerstände bin ich nicht, die Wirklichkeiten bin Ich nicht, die Unwirklichkeiten bin Ich nicht, die Überwirklichkeiten bin Ich nicht, das Ich und das Du und das Nicht-ich bin Ich nicht!... Dem nicht zu entkräftenden Erfahren des Brahmanismus, wonach Alles das Selbst ist, antwortet der Buddho mit dem nicht zu entkräftenden eigenen Erfahren, wonach Nichts das Selbst ist. Dem Abendländer aber, der hier mit seiner Schere Ja-oder-Nein dazwischen fährt und die lediglich wissenschaftliche, nicht jedoch religiöse Frage aufwirft: wer von beiden recht habe? — ihm antworte ich selbst mit aller Entschiedenheit: Beide!... Wiederum gelangt nämlich hier im Buddhismus eine tief protestantische Auffassung zu ihrem weltgeschichtlichen Durchbruch, — eine Auffassung, der es gemäß ist zu denken und zu sprechen: Es gibt keine Grundlegung und keine Grundfestung, es gibt keine Trägerschaft und keine Verankerung, es gibt keine substantia und kein principium , es gibt kein ὐποκείμενον und keine ἀρχή. Sondern es gibt nur einen stätigen Vorstellungablauf, eine stätige Tätigkeitänderung, einen stätigen Erlebniswechsel. Es gibt kein Sein und weniger noch ein Wesen, sondern allein ein Tun und ein Werden, — es gibt kein esse , sondern nur ein fieri oder operari ; ganz wie dies von den naturforschenden Wissenschaften des Westens und von ihrem kritisch-kritizistischen Protestantismus längst auf die Spitze getrieben und infolgedessen überspitzt ward. Nicht aber auf die Spitze getrieben und infolgedessen auch nicht [S. 111] überspitzt ward dieser Protestantismus vom Buddho, wie man in der erwähnten Rede ‚Vollmond‘ aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo leicht nachlesen kann. Denn kaum ist hier ein Mönch im Begriff, aus dem von Gotamo entwickelten Gedanken der Selbst-Losigkeit und Selbst-Ledigkeit alles Geschehens und Tuns den etwas voreiligen, aber folgerichtigen Schluß zu ziehen: also gibt es auch keines Selbstes Täterschaft getaner Taten und keines Selbstes Verantwortlichkeit für diese! — da muß sich auch schon der scharfsinnige Fürwitz dieses Mönches, der gleichsam die Rolle unserer hemmunglosen Wissenschaftlichkeit vorwegnimmt, die derbste Zurechtweisung von Gotamo gefallen lassen. Denn dieser Mönch steht auf dem Sprung, den großartigen Protestantismus Gotamos von der Selbst-Losigkeit und Selbst-Ledigkeit des Erlebens dadurch um seine religiöse Geltung zu bringen, daß er ihn allzu gradlinig weiterdenkt bis dahin, wo das Denken nicht mehr mit dem Leben und Erleben in Einklang zu bringen ist. Alles bin Ich nicht und Nichts gehört Mir, — das ist ganz einfach eine Erfahrung, die umso erschütternder erfahren wird, desto tiefer ein Mensch sich seiner selbst bewußt und inne wird; und völlig vergeblich suchen wir aus irgend einer Erscheinung oder aus irgend einer Gegebenheit das Sein des Selbstes, das Sein der Person, das Sein der Seele herauszuklauben. Aber über diese erschütternde Erfahrung heraus nun um Gottes willen keine weltzersetzenden und selbstzersetzenden Betrachtungen, um Gottes willen keine [S. 112] Angriffe und Eingriffe in solche unumstößlichen Gewißheiten wie die, daß jegliche Tat ihren Täter habe und jeder Täter seine persönliche Beschaffenheit, Eigenheit, Umschriebenheit. Es ist nicht die Sache der Weisheit und noch weniger die Sache der Frömmigkeit und Heiligkeit, die Widersprüche des Daseins fortzudenken, sondern ihre Sache ist es, diese Widersprüche lauter herauszustellen und an ihnen hinauf gütig über sie hinauszuwachsen ‚ dvantvâtîta, nirdvandva ‘...

Trotz aller Höflichkeit gegen die alten Götter bedeutet also Gotamos Verkündigung und Auftritt, wir können es jetzt ungefähr ermessen, eine religiöse Katastrophe, die in keinem Göttersturz östlicher oder westlicher Welten ihresgleichen findet. Dieser Gotamo, auf dem Gipfel des unendlich schichtigen Göttertempelberges des Brahmanismus thronend wie der höchste Stûpa auf der Kuppe des Boro-Budur, er behält sich im Unterschied zu allen Heiligen der Vorzeit alle ersten und letzten Entscheidungen der Tat selber vor. Mag immerhin ein Brahmâ oder sonst ein Mahâdeva diese und manche andere Welt geschaffen und geballt haben, — erlösen wird sie und vor allem erlösen wird sich nicht dieser Brahmâ und nicht ein Mahâdeva, sondern erlösen wird sie und erlösen wird sich Gotamo der Mensch allein. Fortan sind diese Götter zu einer Art von idealischer Zuhörerschaft, Zuschauerschaft bestimmt, uns Europäern vom Chor der attischen Tragödie her nicht ganz unbekannt. Diese Götter sind nunmehr Chor [S. 113] im Drama, dessen Held und Heldentäter der Ewige Mensch ist. Diese Götter schauen und hören nicht ohne Teilnahme zu, was hienieden sich begibt in Magadhâ, was sich begibt im Udener Park, im Garten der Gotamiden, im Siebenmangohain, auf dem Hügel mit dem Vierblätterlaub, am Grabmal an der Sarandadâ, im Pâvâler Baumfrieden und ich weiß nicht wo sonst. Es schaut zu der tausendfache, fünftausendfache, hunderttausendfache Brahmâ, es schauen zu die zwölf Âdityas und die Dreiunddreißig, es schauen zu die Götter Lustig und Nicht-Lustig im Dämmerlicht, es schauen zu die Götter Sinnig im Dämmerlicht, und die Schattengötter. Es schauen zu die Säligen Götter, die Götter der unbeschränkten Freude und Jenseit der unbeschränkten Freude, die glänzenden Götter und die hellerglänzenden Götter, die leuchtenden, die strahlenden und die hellerstrahlenden Götter, die unermeßlich strahlenden und die strahlengewordenen Götter, die gewaltigen und die wonnigen Götter, die herrlichen und die erhabenen Götter... Und das ist die Katastrophe ohnegleichen, welche die Götter seit dem Auftritt Gotamos betroffen, daß sie von Szene und Orchestra hinaus auf die Sitze des Theaters gedrängt worden sind und nicht mehr selber spielen, nicht mehr selber ernsten. In einem erschreckend strengen Wortsinn war der Gott Mensch geworden: im vierten Weltalter erlöst der Mensch sich selber, indessen Gott von ferne zusieht, vielleicht nicht ohne eine Regung von Ergriffenheit in die Erinnerung ans dritte Weltalter brütend verloren, da Er einst Gott und Mensch zumal war...

[S. 114]

Wo Gott geglaubt wird, sagte ich vorhin (und sprach dabei in der Sprache unserer westlichen Welthälfte), da sei auch Gott. Jesus, der Christus und Heiland dieser westlichen Welthälfte in ihrem nunmehr vielleicht abgelaufenen Weltalter, er sagte zu dem geheilten Samariter: Steh’ auf, geh’ hin! Dein Glaube hat dir geholfen! Der Glaube also, ihr Christen, hat hier geholfen, denn der Glaube schlägt vom Menschen zum Gott die Brücke und vom Gott zum Menschen, darauf beide in der Mitte hinüber-herüber sich begegnen und durcheinander hindurchgehen. Der Glaube zeuget als Mann Gott und gebiert als Weib Gott, und Gott spendet der Seele, woran sie darben muß, und so bedünkt den Gläubigen alles recht und gut. Es kann jedoch geschehen, ihr Christen, und wie vielmals ist es nicht bereits geschehen, daß der Mensch zwar glaubt und ‚reich ist in Gott‘, aber dennoch arm an der Tat, die einzig Not tut und einzig Not wendet. Es kann geschehen, und wie vielmals ist es nicht bereits geschehen, daß die Welt in die Vaterhände Gottes fromm gelegt ward, wo sie gar rund und schön und fertig ruht, aber das Werk, das unerläßliche, unterlassen bleibt und diese nach außen schön geballte Welt nach innen ungeformt bleibt. Es ist gewiß, daß der Glaube geholfen hat, hier und da, vor Zeiten und in der Gegenwart, und darüber ist dann freilich nichts weiter zu sagen. Es ist aber nicht weniger gewiß, daß der Glaube auch nicht geholfen hat, hier und da, vor Zeiten und in der Gegenwart, — und offenbar, um nur eines anzuführen, ihr [S. 115] Christen, hat er dem Christ selber nicht geholfen, als er am Marterholz nach den Elohim schrie und der Sohn vom Vater sich verlassen und verraten fand. Der Christ selber hatte den Vater gerufen und der Vater hatte nicht gehört; der Christ hatte anderen geholfen, aber konnte sich selber nicht helfen. Was aber dann, wenn sich der Glaube selbst nicht hilft? Da möchte einer sein, der glaubt aus ganzem Herzen, Gott sei für ihn ans Kreuz gehangen worden, und er findet sich dabei getröstet und von der Welt frei. Indes ein anderer möchte sein, der sich desselben Glaubens rühmt, aber in bittere Betrübnis fällt ob des Gottes, der für ihn ans Kreuz gehangen ward, und er kann nicht erraten — warum? Ein solcher spricht dann etwa zu sich (und seufzet dabei viel): Weshalb, mein Gott, mußte Gott am Kreuze sterben und weshalb mußte Er sterben — für mich? Was taugt es meiner Schmerz- und Sehnsuchtseele, daß Gott am Kreuz gestorben ist? Was frommt mir Lebendem Gottes Tod, gesetzt, dies Leben bleibe doch bis ins Mark hinein ungöttlich oder widergöttlich? So haben die Christen, ihr Christen, viel hinüber und herüber und hinum und herum geglaubt, aber man könnte der Meinung sein, es sei wenig dabei herausgekommen, daran ein rechtschaffener Gott Seine rechtschaffene Freude haben möchte... Ihr Christen habt viel geglaubt, habt viel gehofft, habt viel sogar geliebt, wenn anders eueren Beteuerungen wohl zu trauen ist, — denn wenigstens habt ihr vieles von der Liebe geschwatzt, das euch wie Speichel von den [S. 116] Lefzen einer alten Vettel geflossen ist und manchmal auch wie Rotz aus den Nüstern eines gelbsüchtigen Gaules... Aber wie schaut es bei euch aus, ihr Christen? Und Greuel über Greuel: wie schaut es in euch aus? Ist euer mildes Christenherz nicht eine Wolfsfalle für grobes Raubzeug geworden, — und was wäre dem westlichen Menschen, der nun des Menschen Wolf kaltblütig und entschlossen geworden ist, nicht grobes Raubzeug? Ist dieses liebende Christenherz nicht eine Falle, vom Jäger arglistig bestreut mit dem grünen Laub des Glaubens, überblüht mit der braunen Knospe der Hoffnung, goldig und blau umlockt von der Rankenblume der Liebe? Wer aber dies euer leeres Herz betastete, verschlackt von der Feuerkohle ungeläuterten Liebens, zerfressen vom Rost zuchtlosen Hoffens, verdorrt in den Glutbränden und Blutbränden blindwütigen Glaubens, Anders-Glaubens, Aberglaubens, — wie könnte er länger daran zweifeln, daß es eben der Glaube war, der euch nicht geholfen hat, ihr Christen! Nein, hier hat der Glaube nicht geholfen, und weniger noch hat er dort geholfen, wo heute die Besucher aller Kaffee-Häuser und die Gäste bei allen Fünf-Uhr-Tänzen nach dem Neuen Gott winseln und nach einem netten, runden Glauben an Gott. Dieses hündische Gott-Gewinsel, ihr Christen und Nichtmehr-Christen, dies ist fürwahr das Schändlichste gewesen, was ihr euch leisten konntet. In Kaffeehäusern und Nachtlokalen, in Spielhöllen und Bordellen, in Parteiversammlungen und Literatenzusammenkünften [S. 117] schrieet ihr euch die Hälse heiser nach dem Neuen Gott, damit er die Last des Verhängnisses von euch nähme, das ihr über euch gewälzt habt. Wie hungrige Ferkel nach den Zitzen des Mutterschweins schrieet und grunztet ihr nach Gott, damit ihr wie vormals in den Tag (und lieber noch in die Nacht) hinein leben könntet, als ob wenig oder nichts geschehen wäre... Nun ihr die Scham vor euch selber und die Ehrfurcht vor der Welt verloren hattet, die heilig über jede Heiligkeit hinaus ist, da schaltet ihr die Welt gottlos und euch selbst entgöttert. Ach, daß wir doch wieder glauben dürften, möchten, könnten! Ach, daß wir doch wieder in Kindereinfalt die Hände falten lernten und beten: „Lieber Gott, mach’ mich fromm, daß ich zu dir ins Himmelreich komm!“ Ach, daß wir doch wieder würden wie die Kinder, nachdem die Kinder, Gott sei’s geklagt, längst wie wir Erwachsenen geworden waren! Ach, daß wir doch auf allen Vieren füßelnd und etwas Wau! Wau! bellend ins Himmel-Bimmelreich der Nesthäkchen kriechen könnten! Ach, daß wir doch unsere Unschuld so frühzeitig und so gründlich einbüßen mußten und vermeinten, für unsere Schuld keine Buße tun zu müssen! Ach, daß die herrenlose Herde einmal wieder den Herrn verspürte und den Hirten oder zum wenigsten doch den Hund des Hirten! Ach, daß die Führerlosen ihren Führer fänden, die sich selbst nicht zu führen wissen, und alle Schwachen ihren starken Mann! Ach, daß der Herr-Gott doch über Böse und Gute wieder aufginge und insonder [S. 118] heit über die Zahlungunfähigen und Bankerotten, wie der keusche Mond aufgehet über die Gassen der Buhlerinnen und Huren! Ach, daß Gott den Unrat und Unflat von uns fegte, der uns mästete und von dem wir über die Maßen fett wurden!...

Euch allen aber, Christen wie Nicht-mehr-Christen, hat Gott nicht geholfen und wird Gott nicht helfen. Selber habt ihr euch alle nicht geholfen, wie hätte Gott da eingreifen sollen oder helfen wollen? Wer aber glaubt, der soll sich selber helfen, und wer nicht glaubt, der soll erst recht sich selber helfen: so spricht der Gott-Lose zu euch Christen und ist fürwahr der Frömmere von euch Christen. Alleinig trachtsam nach selbstretterischer Tat, wird er der Tat trächtig und wohl auch mächtig und lässet in höchster Ehrerbietung Gott Gott sein, der es wissen muß, was er tun und was er lassen will. Der Gott-Lose lässet Gott Gott sein, sag’ ich, und vollbringt ohne Gott, was dem Menschen not ist. Kann sein, daß er glaubt, kann sein, daß er nicht glaubt, — beides verrückt ihm nicht die groben und die feinen Gewichte mehr. Er selber hebt die Gewichte; er selber hält den Berg Govardhana über die Welt, wie weiland Krischna der Heiland und Held über die Hirten seiner Heimat, als Indra der Zürnende in der Sintflut sie ersäufen wollte. Nicht ist er begierig und nicht ist er fähig, endgültig den Knoten der Welt zu entknoten, der Gott heißt; nicht gilt ihm der bloße Glaube mehr wie der Nicht-Glaube. Aber den Berg zu halten über die Welt, die unbeschirmte und unbeschützte, [S. 119] und mit dem Berg als Schild die Hagelschauer des Schicksals und die Sonnenstiche des Todes aufzufangen, des ist er begierig, des ist er fähig. Hier ist die Rose, hier tanzt er; hier ist seine Treue, die er eisern hält. Der rechte Gläubige aber, das mögt ihr vorgeblich Gläubigen und vergeblich Gläubigen euch noch gesagt sein lassen: der rechte Gläubige ist ein Meerwunder. Ich glaube nicht an seinen Glauben, er weise mir denn seinen Berg Govardhana, den er von seiner Stelle versetzte und aus seiner Wurzel hob...

Gotamo der Protestant also verlegt den Weltschauplatz aus Gott hinaus in sich selbst hinein, von der Erfahrung gewitzigt, daß Gott der Welt bisher allzu wenig geholfen hat und wesentlich mehr auch der Glaube an Gott nicht. Für Gotamo den Protestanten ist Gott ein Zuschauer wie ein Baum in einem Obstgarten, der eine Weile ausruht. Eine Legende des späteren, auf nördlicher Überlieferung fußenden Mahâyânam-Buddhismus, der sonst als eine völlige Umdeutung und Verkehrung der ‚reinen‘, das ist hier ‚protestantischen‘ Lehre ins Katholische zurück durchaus betrachtet werden muß, hat dessen unerachtet just diesen entschiedenen Protestantismus Gotamos auf glücklichste Weise zu versinnbildlichen vermocht. Sie nämlich lässet Gotamo, bevor er in der Nacht der vollkommenen Erwachung die Würde des vollkommen Erwachten (das ist im Pâli eben ‚Buddho‘) erwirbt, — „Der Erwachte, o Keniyo, sagst du?“ „Der Erwachte, o Selo, sag’ ich!“ — sie also lässet den zwar noch nicht Erwachten, [S. 120] wohl aber bereits Erwachsamen (in den Pâli-Texten nur sehr selten vorkommend als der ‚ bodhisatto , bodhisaktas ‘, späterhin dann bekanntlich in die Sanskrit-Texte als ‚ bodhisattva ‘ fälschlich übertragen) ein feierlich Gelübde tun. Es ist das heilige Gelübde zu vollbringen, was er beschworen habe, und zu vollenden, was er gewillt sei, — ganz offenbar hier in der Erinnerung vorgebracht an den Dritten Bericht aus dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam aus der Längeren Sammlung der Reden Dîghanikâyo, wo der vom Tode, von Mâro zur Erlöschung gemahnte Gotamo die folgenden Worte spricht: „Nicht eher werde ich, Böser, zur Erlöschung eingehn, solange Mönche bei mir nicht Jünger geworden sind, solange Nonnen bei mir nicht Jüngerinnen geworden sind, solange Anhänger und Anhängerinnen bei mir keine Jünger geworden sind, solange da bei mir das Asketentum nicht mächtig wird aufgediehen sein, nach allen Seiten hin, unter vielem Volke verbreitet, jedem zugänglich, bis es eben den Menschen wohlbekannt geworden ist.“ Die Gebärde nun dieses großen Schwures, mit einer wahrhaft asketischen Enthaltsamkeit des bildnerischen Aufwandes, aber freilich auch mit einer nirgends überbotenen Gewalt des Ausdrucks dargestellt vielleicht am erhabensten in den Nischen jenes obgedachten Stûpa Boro-Budur auf Java, — diese Gebärde besteht unsäglich schlicht nur in einer leis leisen Berührung der Erde mit der rechten Hand, die mit dem Rücken nach außen leicht auf dem Unterschenkel des rechten [S. 121] unterschlagenen Beines liegt. Berühren der Erde, bhûmisparçamûdra , heißt die Gebärde, heißt der Eid selbst dieser höchsten Buddho-Treue in der hieratischen Sprache der späteren und nördlichen Urkunden, die hier ganz ohne Frage den innigen Sinn der seelischen Begebenheit zu treffen, wenn nicht zu steigern wissen. Ein Berühren der Erde und ein Gelöbnis, bis zur endgültig gebrochenen Bahn auf dieser Erde zu verrichten und zu erwirken, was Gott und alle Götter bisher nicht zu erwirken vermocht haben: das ist, das bleibt im reinsten Geist des Buddho eigentlicher Protestantismus...


[S. 123]

DIE ZWEITE UNTERWEISUNG:
BUDDHO DER ERLEBENDE

[S. 125]

DAS HEILIGE NEIN LASST UNS BEKENNEN DENN NEIN UND JA SIND WIE DIE SCHENKEL DER NÄMLICHEN PARABEL, UND WO SICH DIESE SCHEITELT, DURCHDRINGEN BEIDE SICH IN EINEM PUNKT — DENN NEIN UND JA SIND WIE DER ABSTEIGENDE UND ANSTEIGENDE KNOTEN DER WELT, UND WO SICH BEIDE SCHÜRZEN, SCHWEBT GIPFELND DAS GESTIRN DER WELT DURCH SEINEN MITTAGSKREIS — DENN NEIN UND JA SIND WIE DAS AUSSENBLATT UND INNENBLATT DESSELBEN KEIMLINGS, IM SCHOSSE DER GEBÄRERIN WIE BETERHÄNDE STRENG GEFALTET — GEFALTET ZUM AUSSEN-INNEN-BLATT REIFT ERST DER KEIMLING DER GEBURT ENTGEGEN: GEFALTET ZUM NEIN-JA REIFT ERST DIE SEELE IHRER WELT ENTGEGEN — DAS NEIN ZERSPELLT DAS GOLDENE EI DER WELT, DAS MÜTTERLICH VOM PHÖNIX GEIST BEBRÜTETE — JEDOCH DES JUNGEN ADLERS SCHNABELSCHÄRFE IST ES, DIE SICH MIT FRÜHFLÜGGER WEISHEIT LICHTBEGIERDE DAS DUNKLE EI ZERSPELLT — O WELT, VON DEINER SONNE EMPFING ICH TRÄUMEND EINEN HIMMELSTRAHL IN MEINEM AUG, ALS ES NOCH SCHLIEF, ZUM PFAND, DASS ICH DEREINST MICH AN DIR SONNEN WÜRDE, WANN ICH DURCH DEINE BITTERSCHALE BRACH — O AUGE ICH DER WELT, O HIMMELSAUGE ICH, ZU DIR, O [S. 126] WELT, ERWACHEND — O ICH ERWACHTER DANN, VOLLKOMMEN ERWACHTER ICH ZU DIR, O WELT —

DIES IST DIE ZWEITE UNTERWEISUNG

Ein jeder von uns, ihr Christen, pflegt aus einer wüsten Menge gleichgültiger Begebenheiten seines Daseins das eine oder andere Ereignis herauszuheben, welches er vor sich selber gern als sein Erlebnis wahrzeichnet. Ein jeder von uns lebt vielleicht Jahre hindurch, lange und langweilige Jahre, nur so dahin, — bis ihn zu irgendeiner Stunde ein Blick aus einem Menschenauge trifft; bis ihn ein Wort, ein Ruf, ein Haß, eine Freundschaft, ein Todesfall, ein Lebensfall erreicht, der ihn im Innersten aus seiner Bahn wirft oder ihm umgekehrt seine Bahn erst weist. Zweierlei ist es also, was ein Begebnis zum Erlebnis stempelt. Einmal die scharfe Abgrenzung und Abhebung von allem andern, was bisher gemeinhin als Erfahrungstoff aufgenommen, verarbeitet und ausgewertet ward. Das andere Mal aber die Aneignung und Besitzergreifung eines Vorkommnisses als einer ausschließlich auf diese besondere Person und keine sonst zugeschnittenen Begebenheit. So daß in einem zwiefachen Wortverstand das Erlebnis als Ausnahmefall und Einmaligkeit angesprochen wird: im Vergleich nämlich mit allen sonstigen Erfahrungen einer Person, wie sie von der Gewohnheit gleichsam in der Handmühle der Alltäglich [S. 127] keit klein und fein gemahlen werden oder wie sie gleichfalls von der Gewohnheit ohne die geringste Spur zu hinterlassen aufgebraucht und eingeschluckt werden; im Vergleich ferner mit den Erlebnissen aller übrigen Personen, welchen die Möglichkeit zu eben diesem Erlebnis der höchsteigenen Person schlankweg aberkannt wird, — und zwar mit gutem Fug aberkannt wird, wie wir uns bald überzeugen werden...

Was also heißt Erlebnis? Da ist etwa ein Mensch in langen Jahren jeden Morgen um dieselbe Stunde denselben Weg zu seinem Geschäft gegangen; entlang denselben Straßenzügen, vorbei an denselben Häusern, Gärten, Mauern. Er weiß genau die Zahl der Schritte, die er zurückzulegen hat. Er kennt die Straßen, Häuser, Gärten, Mauern längst auswendig, und ihr immer gleicher Anblick berührt ihn so wenig mehr wie das immer gleiche Gelärm der Straßenbahnen, Kraftwagen, Droschken und Lastfuhren, der Dampfpfeifen, Sirenen und Hupen, der Ausrufer und Gassenkinder. Bis er an einem Morgen unter den ungezählten Morgen etwa von ungefähr den Zweig eines blühenden Goldregens über eine Mauerecke im Winde schaukeln sieht, und von diesem Anblick, der möglicherweis oft schon auf seine gleichmütige Netzhaut gefallen war, ganz seltsam berührt, betroffen und beglückt sich fühlt. Diesen im Morgenwind wiegenden Goldregenzweig über der Mauerecke verleibt er sich als einen nie wieder zu verlierenden köstlichen Besitz in seiner Erinnerung ein, — und nicht [S. 128] nur wird er diesen Eindruck nie, nie wieder vergessen können, sondern auf unbegreifliche Art von ihm im Innersten durchsäuert und durchwühlt, durchpflügt und durchschüttert werden. Dieser Goldregen über der Mauerecke hat ihm plötzlich Beziehungen aufgeschlossen und Gesetze enthüllt, die ihm bis zu dieser Stunde schlechterdings verborgen geblieben waren. Wie ist die Welt so hell, wie ist die Welt so reich, wie ist die Welt so schön, fällt ihm jetzt vielleicht als unvermittelte Offenbarung in die Seele, die selbst für einen ewigen Augenblick hell, reich und schön wird... So dünkt den Erlebenden der Goldregenzweig über der Mauerecke an jenem Morgen der Seelen-Öffnung wie ein Schicksal, das sich früh auf die Beine gemacht hat, ihm an der richtigen Stelle zu begegnen. Aus der verstaubten Reihe von täglichen und ähnlichen Erfahrungen, die niemals Erlebnis geworden sind, hebt sich glänzend dieses eine Glied heraus, wie sich etwa aus einer Kette von Wachsperlen eine echte und wirkliche Perle herausheben würde. Was dieser Mensch, sonst vielleicht ein elender Spießbürger oder ein verhärteter Krämer, hier erlebt, das unterscheidet sich für ihn selber auf das bestimmteste von seinem gesamten sogenannten Leben: und mehr noch unterscheidet es sich für ihn vom Erleben aller anderen Lebendigen. Denn eben, indem er die Wahrnehmung ‚Goldregen über einem Mauerwinkel‘ zu dem Erlebnis steigerte: ‚Wie ist doch diese Welt hell, reich, schön‘, verhaftet und vereignet sich dieses Erlebnis auf eine kaum zu beschreibende [S. 129] Weise mit ihm selber. Sein Erlebnis ist nicht allein eine Begebenheit außer allem Vergleich mit den übrigen Begebenheiten seines persönlichen Lebensablaufs, — es ist außerdem auch noch eine Begebenheit, an welcher kein anderer Mensch Teil hat und Teil haben kann. Denn im Erlebnis fließt ein Stück Welt in ein Selbst über und fließt ein Selbst in ein Stück Welt über, so daß beide fortan untrennbar eins sind. Der Erlebende hat die Gewißheit, er darf sie haben, daß sein Erlebnis in einem unbedingten Wortsinn Sein ist, nur ganz allein von ihm und niemandem sonst erlebt: ein großes oder kleines Schicksal, welches sich nur in ihm erfüllen konnte, — sein eigenstes und urpersönliches Glück oder Verhängnis, welches seine einmalige und unvergleichbare innere Geschichte bildet. Das Erlebnis eines Menschen aber, sehen wir nun, ist ohne Einschränkung und Abzug auch das Geheimnis eines Menschen. Und um die Wahrheit zu gestehn, ihr Christen, so trennt uns Menschen gemeinhin nichts so unüberbrücklich wie dies, daß wir nicht einerlei sondern vielerlei Erlebnis haben, nicht einerlei sondern vielerlei Geschick, nicht einerlei sondern vielerlei Geschichte. Verschiedenes Erleben verwirrt die Zungen und noch mehr die Sinnesarten der vielen, — verschiedenes Erleben läßt gegenseitiges Verständnis und Ein-Verständnis nirgends auf kommen, oder wenn schon aufkommen, nicht Bestand und Dauer haben. Denn wer nicht seines Nächsten Erlebnis hat, wie soll der seinem Nächsten wirklich nah sein? Wenn aber so: ist dann das Erlebnis nicht schon von Haus [S. 130] aus ein Verhängnis, das wie ein Keil, das wie ein Beil in den Stamm der Gemeinschaft getrieben wird und die Gemeinschaft spaltet?...

Und in der Tat! Es ist schwer zu sagen, wie es infolge dieses Sachverhaltes mit unserer Gemeinschaft, ja mit der menschlichen Gattung überhaupt beschaffen wäre und ob sich diese Gattung nicht schon seit langem selber aufgerieben hätte, wenn nicht von Zeit zu Zeit in dieses stäte Auseinanderleben und Gegeneinanderleben aller wohltätig ein Einzelner und Auserlesener träte, der gewissermaßen gar nichts Besonderes, Eigenartiges, Unterscheidendes für sich erlebte, — vielmehr nur eben das, was ausnahmlos alle irgend einmal erfahren haben oder doch erfahren werden. Zum Heil nämlich dieser ganzen Gattung Mensch und zu ihrer zeitweiligen Errettung geschieht es nicht gar häufig zwar, aber doch immerhin hie und da, daß ein Einzelner in unerhört verstärktem Maß berührt und betroffen werde von dem Erlebnis aller Einzelnen, welches er kraft einer gleichsam stellvertretenden Erleberschaft zu seinem besondern Schicksal macht und dadurch dann zugleich ent-einzelt: derart vollzieht sich hier eine Individuation der Spezies, oder wenn man recht verstehen will, eine Spezifikation des Individuums, wie sie etwa der heilige Thomas von Aquino, ihr Christen, in seiner scharfen und strengen Bezeichnungweise einen ‚Engel‘ zu nennen einst beliebte, — einen Engel in einem tieferen als nur dogmatischen Sprachverstand, wie wir jetzt wohl bemerken können... Es gibt mithin, ihr Christen, [S. 131] Engel! Es gibt Einzelne, die stellvertretend das Erlebnis der Gattung zu dem ihrigen machen und in dieser Hinsicht zur Gattung sich erweitern! Es gibt Persönlichkeiten, hier in dieser Welt und mit der Vernunft dieser Welt zu umfassen und zu erraten, welche als Einzelwesen durch ihre Erlebnisart gleichsam gattungmäßige Bedeutsamkeit erreichen! Es gibt spezifisch geweitete, spezifisch verallgemeinerte Individuen und individuell verengerte, individuell besonderte Spezies! Es gibt, wie ein pater ecstaticus des hohen Mittelalters sagt, ‚Allgemeine Menschen‘, und diese Allgemeinen Menschen sind einzig und allein die Wort- und Seelenführer menschheitlicher Gruppen in den Angelegenheiten von menschheitlicher Erheblichkeit und Würde. Eine Persönlichkeit also wie der indische Buddho Gotamo, durch Wille und Vergunst der Sprache schon sprachlich als ‚Der‘ Buddho über das Bereich des Nur-Persönlichen deutlich herausgesteigert, — eine solche Persönlichkeit erlebt auf einzige Weise nicht sowohl ihr eigenes, einmaliges, persönliches Schicksal, als vielmehr das Schicksal des menschheitlichen genus überhaupt, welches man nicht ohne schmerzliche Ironie das genus des homo sapiens bezeichnet hat... Ein Mensch wie Gotamo erlebt somit generell; nicht eigentlich individuell, sondern generell zu erleben ist Sein Geheimnis und Seine Bestimmung, Sein Geschick und Seine Geschichte. Befragt um sein entscheidendes und schöpferisches Erlebnis, könnte der Buddho keine andere als diese Antwort geben: ich erlebte, was du und du und du erlebt hast, was du [S. 132] und du und du erlebst, was du und du und du erleben wirst. Ich erlebte das Menschliche, Ewig-Menschliche. Ich erlebte Alter, Krankheit, Tod, — Alter, Krankheit, Tod...

Darüber hat nun Gotamo seinen Jüngern berichtet, in Gestalt zwar einer Legende, die als die Ausfahrt Vipassî-Buddhos gefunden wird in der Vierzehnten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo. Dort lebt Prinz Vipassî, der erste der Buddhos in der Reihe der Sieben, in den drei Palästen seines königlichen Vaters und im Genuß jener vollkommenen Wunschbeglückung, wie sie bei den Fürsten und Königsöhnen des indischen Märchens herkömmlich ist, — und leicht kann man sich übrigens bei dieser Gelegenheit davon überzeugen, daß Gotamo als Dichter und Erzähler von Märchen mit jedem Kâlidâsa seiner Heimat zu wetteifern vermöchte: er, der unstreitig der erste Gleichnissprecher aller Zeiten und Völker gewesen ist... Jahrtausend also um Jahrtausend seiner mythischen Jugend verlebt Prinz Vipassî in diesen Palästen, bis es ihn eines Tags gelüstet, eine Ausfahrt in die Umgebung des Schloßgartens zu machen. Der Wagenlenker schirrt ein und der Prinz besteigt mit dem Hofstaat die kostbaren Gefährte. Den königlichen Gärten kaum enteilt, stoßen sie da auf eine befremdliche Gestalt, — gebeugt, kopfwackelnd, ausgemergelt, weißhaarig, zitterig, tapperig, zahnlos, triefäugig. ‚Was hat der Mann dort getan?‘ fragt der Prinz seinen Wagenlenker. ‚Er sieht doch nicht aus wie andere Leute?‘ ‚Das ist ein Greis,‘ antwortet der Wagen [S. 133] lenker, ‚ein Alter, der nicht mehr lang zu leben hat.‘ ‚Und werde auch ich dereinst diesem Alten gleichen?‘ frägt der Prinz entgegen. ‚Auch du,‘ versetzt der Wagenlenker, ‚auch du wirst dem Alter nicht entrinnen‘... Nun hat der Prinz für heute genug. Er befiehlt die Umkehr und zieht sich ins Innerste zurück des Palastes, ins Innerste seiner selbst zurück, wo er über diesen ungemeinen Vorfall grübelt, brütet. „O Schande sag’ ich da über die Geburt, da ja doch am Geborenen das Alter zum Vorschein kommen mu߫...

Zweimal noch nach Ablauf so manchen vergessenden und beschwichtigenden Jahrtausends befiehlt Prinz Vipassî seinem Wagenlenker den Wagen anzuschirren und zweimal bricht der Jüngling vorzeitig die Ausfahrt ab. Beim zweitenmal stößt er auf einen Siechen, hilflos im eigenen Kot und Harn liegend und in jeder kleinsten Bewegung auf fremder Menschen Beistand angewiesen; beim drittenmal begegnet er einem Leichenzug, von vielerlei Volk geleitet in düsteren Gewändern. Und nach jeder Ausfahrt geschieht es, daß er eine lange lange Weile grübelnd und brütend in sich selbst versinkt: „O Schande sag’ ich über die Geburt, da ja doch am Geborenen das Alter zum Vorschein kommen muß, die Krankheit zum Vorschein kommen muß, der Tod zum Vorschein kommen muß“... Dann aber ist’s von allem wieder still. Das Leben in den Wunschgenüssen nimmt seinen Fortgang, und kein Anzeichen verrät, wie jene Begegnungen im Gemüt des Prinzen weiterwirken, — kein Anzeichen verrät, ob sie weiterwirken. Und einmal noch nach tausend [S. 134] und tausend Jahren heißt Prinz Vipassî die herrlichen Gespanne einschirren, um dieses vierte und letztemal dann einen Pilger, einen Mönch, einen Bettler zu gewahren, mit kahlgeschorenem Schädel und in fahler Gewandung. Einmal noch eine Frage an den treuen Wagenlenker, und nach der Antwort ist die Entscheidung endlich gefallen. Das dreifache Erlebnis hat die Tat reifen lassen und die letzte Ausfahrt läßt sie zur Ausführung gedeihen. Daheim scheert sich Vipassî seinen Schädel kahl, hüllt sich in ein fahl Gewand und verläßt die königlichen Paläste der Jahreszeiten, um sich auf Pilgerfahrt, Bettlerfahrt, Büßerfahrt zu begeben, — will heißen, um sich selbst zu finden, selbst zu retten, selbst zu lösen. Als ob ein einzelner und einziger Mensch von Alter, Krankheit, Tod ein erstesmal erfahren könne und erfahren habe, stellt die Legende von Vipassîs Ausfahrten das Erlebnis des Buddho mit einer großartigen Einsilbigkeit heraus, die das Gemüt betäubt wie das gleichmäßige Getrommel des Regens in einer Herbstnacht auf ein Blechdach... Und in der Tat! Irgendwie hat Gotamo die drei Kernübel des Menschseins mit der Gewalt der Erstmaligkeit erfahren, mit der Heftigkeit der Erstmaligkeit erlitten: gleichsam er der erste Mensch, der die sonnige Schwelle göttlicher Wunschwelten mit Bewußtsein überschreitet und mit Bewußtsein das Ödland der Wirklichkeit betritt...

Vergänglichkeit, Leidbeschaffenheit, Wesenlosigkeit heißt mithin das Urerlebnis Gotamos, das Urerlebnis des ‚Allgemeinen Menschen‘, — und wer [S. 135] wollte leugnen, daß dies in vielerlei Bezugnahme das Urerlebnis unserer Gattung ist und bleibt. Dieses Urerlebnis stets sich von neuem zu vergegenwärtigen fordert er denn auch in erster Linie von jedem, der ihm nachzufolgen oder anzuhängen willens ist. In zahllosen Variationen und Varianten kehrt an zahlreichen Stellen wieder, was dieser Bericht von den vier Ausfahrten Vipassîs in einer mächtig vereinfachenden Sinnbildlichkeit so einprägsam veranschaulicht denn für kaum eine zweite geschichtliche Gestalt gilt ja des jüngeren Nietzsche Wort vom Welt-Vereinfacher wie für den Buddho. Eine der eindrucksvollsten dieser Stellen findet sich in der Sammlung der Bruchstücke Suttanipâto, die zu den ältesten Schriften des Heiligen Kanons gehört. Aus bestimmten Gründen führe ich sie in zwei Übertragungen, einer prosaischen und einer metrischen an: „Unbemerkt und unerkannt ist das Leben der Menschen hienieden, kummervoll, vergänglich und mit Leid verbunden. Es gibt keinen Ausweg, auf dem die Geborenen dem Tod entrinnen könnten; ist das Alter erreicht, da naht der Tod: so ist das Gesetz aller Lebewesen. Wie für unreife Früchte schon früh die Gefahr des Abfallens besteht, so besteht für die Menschen ständig die Gefahr des Sterbens. Wie allen vom Töpfer angefertigten Tongefäßen das Ende des Zerbrechens bestimmt ist, so auch dem Leben der Sterblichen. Die Jungen und die Großen, die Toren und die Weisen, alle gelangen in die Gewalt des Todes, aller Ende ist der Tod. Von denen, die vom Tod überwältigt in das Jenseit [S. 136] gegangen sind, — nicht rettet der Vater den Sohn, noch auch die Verwandte die Angehörigen. Sieh! Während die Verwandten zusehen und laut wehklagen, wird einer der Sterblichen nach dem anderen hinweggeführt wie das zum Tod bestimmte Rind“...

Und nun die nämliche Stelle, die wohl echt gotamidisch zu sein scheint, denn die Worte von des Hafners Töpferware finden sich (in etwas erweiterter Fassung) auch am Ende des Dritten Berichtes aus dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam, wo sie der Buddho in seinen letzten Tagen zu seinen Jüngern spricht, — nun diese nämliche und ‚echte‘ Stelle in der vollkommen würdigen, ja erhabenen Eindeutschung Neumanns. Hier ist sie angeschwollen zu einem Klagegesang, zu einem Schicksallied von hymnischer Gewalt und Schönheit, seltsam überdies gemahnend an jenes letzte Gedicht-Bruchstück des Florentiners Buonarotti, dessen zermalmende Schwermut als ‚ Canto de’ Morti , Was geboren ist, muß sterben‘ in Hugo Wolfs Vertonung etwa manchen deutschen Ohren widertönen mag:

„Unbestimmbar, unerkennbar
Sterblichen ist hier das Leben,
Kümmerlich und karg erlesen
Und in Leiden eingewunden.
Keines kennt man doch der Mittel,
Daß Gebornes nicht verderbe,
Und dem Altern folgt das Sterben;
Also ist es Art der Wesen.
[S. 137]
Früchten ähnlich, reif gewordnen,
Fallen und im Fallen fürchten
Sich die sterblichen Gebornen
Immer vor dem Todessturze.
Wie des Hafners Töpferware,
Vielgeformte Tongefäße,
Alle doch zerbrechen endlich:
Unser Dasein ist nicht anders.
Junge starke, Alte schwache,
Toren, Weise, wer es sei auch,
Alle wandeln Todesbahnen,
Todesuntertanen alle.
Da vom Tode sie umfangen
Weiter wandern durch die Welten,
Hilft kein Vater hier dem Sohne
Und kein Vetter dem Gevatter.
Hinterbliebne, Kinder, Eltern,
Sieh nur, wie ein jedes wehklagt,
Eines nach dem andern hinstirbt,
Weggeschleppt wie ein Stück Schlachtvieh“...

Unstreitig also, ihr Christen, ist Gotamos Erleben ein Leiden. Ein Leiden, sage ich: zunächst ein Leiden, und noch lange nicht das Leiden schlechtweg, wie zu früh verallgemeinernd und darum nicht durchaus richtig oft behauptet ward. Gotamos Erleben ist [S. 138] ein Leiden, und zwar zunächst ein gleichsam örtlich festgelegtes und umgrenztes. Es ist ein Leiden zunächst nicht eigentlich am Leben und am Grundgesetz des Lebens, vielmehr ein Leiden ganz offenbar am Leibe und am Gesetz der Leiblichkeit. Der Leib ist es und des Leibes Vergänglichkeit, Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit, Verweslichkeit, Wesenlosigkeit, die in diesem gotamidischen Canto de’ Morti und an so ungezählten Stellen der Lehre immer wiederkehrend sonst mit der dämonischen Melancholie des Michelangelo melodisch beseufzt, betrauert und besungen werden: die Bestimmung der Leiblichkeit, die unumgängliche ist es, welche Gotamos festes und wohlverwahrtes Herz bis in das Fundament erbeben lässet. Daß dieser Leib nicht dauert und nicht dauern kann, daß dieser Leib sich eines Tages nicht mehr aufrichten und erheben wird, um dann in allen Regenbogenschillertinten als stinkendes Aas anzulaufen und schließlich bis auf Nägel, Haare, Zähne zu Staub und Asche zu vermodern, das hat den Jüngling Gotamo in einem Augenblick, wo ihm die ganze Wahrheit wie ein Gespenst aus jener Welt vor die Seele trat, wie mit einem wohlgezielten Blattschuß getroffen und hingeworfen. Wer aber von dem Geschick des Körpers derart betroffen und hingeworfen wird, der muß ein Mensch von leidenschaftlicher Liebe zu seinem Körper sein, denn nur die leidenschaftlichste Liebe zu einem Ding schafft sich soviel Leiden um den Verlust dieses Dings. Wem da nur wenig oder gar nichts an seinem Leibe liegt, der wird kaum heftig leiden unter dem [S. 139] Altern, Welken, Siechen, Sterben dieses Leibes: wer aber vollends den Leib verachtet, wie sollte den des Leibes Tod berühren. Nichts wäre mithin so verkehrt und irrig, als diesem Jüngling Gotamo betreff des Leibes jene hellenisch-asketisch-christliche Auffassung zu unterstellen, die man unter Bezugnahme auf ein geflügeltes Wort des Sokrates aus dem platonischen Gorgias (in etwas freier Verdeutschung freilich) die Leib-Leiche- oder die Körper-Kadaver-Auffassung — griechisch die σῶμα-σῆμα-Auffassung — zu nennen wohl berechtigt wäre. Pythagoreer, Orphiker, Platoniker, Neuplatoniker und Christen mögen im Körper den Kerker und mehr noch die Gruft der Seele von Haus aus mißachtet haben; Gotamo weiß von dieser Mißachtung nichts, weiß von dem ganzen abendländischen Leib-Seele-Zwiespalt nichts: zum mindesten weiß er von Haus aus davon nichts. Darum ist es an uns Christen der westlichen und westlich zerrissenen Welthälfte, dem Umstand von höchstem Belang unsere höchste Aufmerksamkeit zu widmen, daß dieser Gotamo, Sohn des Fürsten Suddhodano zu Kapilavatthu, durchaus nicht etwa priesterlichem, sondern kriegerischem Geblüt entstammt und noch in seiner Jugend den Hochgebirg- und Alpenatem der indischen Heldenzeit eines tiefen, vollen Zugs geatmet hat... Gotamo war Krieger, Prinz und Ritter, nicht Priester und weniger noch Priesters Freund; und er war dies als Sohn eines Volkes, welches weder von einem gleichzeitigen noch von einem späteren je übertroffen worden ist in seiner Freude an gesunder, wohl [S. 140] gepflegter, spielgeübter Leiblichkeit. Gotamo war Krieger, Prinz und Ritter in jener indischen Heldenspätzeit noch, die vor reifem Welt- und Sinnenglück inbrünstig strahlte und bei dem festlichen Anblick edler Krieger gleichsam hell und zärtlich wieherte wie ein junger Hengst, der eine Stute wittert. Sproß eines fürstlichen oder adligen Geschlechts, wurde der Jüngling Gotamo sicherlich auferzogen in den Waffen für die Waffen, — wie hätte er seinen gelenken, behenden Jünglingleib nicht lieben sollen, der unter allen Umständen des Kriegers beste und höchste Tugend ist. Wurde der junge Prinz und Ritter dann im Ablauf der Zeit zum Heiligen und Erwachten seiner Weltzeit, — nun um so besser! Hierin wurde kein Widerspruch befunden nach der Auffassung einer Rasse, welcher ursprünglich die Heiligkeit und Erwachsamkeit keineswegs ein mönchischer Stand, sondern ein menschlicher Zustand bedeutete, zu welchem man in einem gewissen Lebensalter bei richtiger Lebensführung gleichsam von selbst heranreift. Sollte in guten Zeiten doch der Waldeinsiedler ( vânaprastha ) die vorangehenden Stadien des Brahmanjüngers ( brahmacârin ) und des Haushalters, Hausverwalters ( grihastha ) seinerseit nur ablösen, wie der Waldeinsiedler eine Weile später zum eigentlichen Pilger, Bettler- und Büßermönch ( bhikshu oder bhikkhu ) aufrücken konnte und aufrücken sollte: erst wenn der Mann der Gemeinschaft gedient und sich gewissermaßen in der Welt selbstverwirklicht hatte, winkte ihm als höherer Zustand Weltlosigkeit und Einsiedlerschaft, in welchem er seine Selbstheili [S. 141] gung zu vollbringen hoffen durfte. Asketenschaft entsprang hier keinem weltfeindlichen Verhalten oder Fühlen, sondern krönte das Menschenleben, in innigstem Einklang mit jeder tieferen Erfahrung, wonach der Mensch und namentlich der Mann sich selbst gemächlich aus der Welt heraus und über die Welt hinaus lebt, ohne Enttäuschung, ohne Flucht, ohne Bitterkeit, ohne Bodensatz, in reinster Übereinstimmung mit der Eigenbewegung, Eigenrichtung seines Seelenwachstums. Der Mensch, wo er dieser Bewegung und Richtung seines Seelenwachstums nicht absichtlich entgegen lebt, lebt seiner Seele zu und eben deshalb über die Welt hinaus und über den Leib hinaus; denn ist auch diese Seele in keinem Sinn eine Widerwelt oder ein Widerleib, so ist sie doch der höhere Grad, die höhere Stufe der Weltlichkeit und Leibhaftigkeit. Der Leib wird darum in jener Zeit auch noch nicht grundsätzlich kasteit oder mißhandelt oder gar abgetötet, vielmehr er wird überwunden und überwachsen. Mit seinem Dahinschwinden mehrt sich die Seele, ähnlich wie mit dem Abwelken der Kartoffelstaudenblüte der Knollen im Boden zur Genießbarkeit heranreift...

Verwundern wir uns also nicht, daß es in den Schriften des Pâli-Kanons eben der Heilige seines Weltalters ist, der zu vollkommener Makellosigkeit des Leibes verpflichtet, von allen übrigen Menschen gerade er am unerläßlichsten verpflichtet ist. Für den Buddhismus ist es ganz einfach eine Selbstverständlichkeit, was der europäisch-christlichen Erkenntnis-Zwiesal mit ihrer [S. 142] grundsätzlich gegensinnigen Leib-Seelenwirklichkeit schlechterdings unbegreiflich erscheint und erscheinen wird: Gotamo wäre durch einen minder vollkommenen Körper von vorn herein widerlegt, nicht allein vor den andern, sondern am meisten vor sich selber. Wo in einem vornehmen Haus ein Knabe geboren wird, berechtigt er in dem Maß zu höheren Hoffnungen, desto untadeliger sein Leib gebildet ist, — zur höchsten Hoffnung aber dann, wenn er die zweiunddreißig Male des ‚Großen Mannes‘ aufweist, die für den Kanon herkömmlich geworden sind. Alsdann ist der Welt nämlich in heiliger Stunde ein Eroberer oder ein Überwinder erschienen: der Kaiser-König oder der Erwachte einer nunmehr eingeleiteten Weltzeit. Vielleicht ist kein anderer Umstand geeignet, die wundervolle Einheitlichkeit des indischen Denkens und Wertens auszudrücken, als dieses beziehungreiche ‚oder‘, das jeden Spielraum freiläßt zwischen der Typik einer die Macht restlos erfüllenden und die Macht restlos verschmähenden Menschlichkeit. Innerhalb des Umkreises menschheitlicher Selbstverwirklichungen verhält sich der Kaiser-König zum Erwachten, wie sich der Leib zur Seele verhält, — zuletzt sind sie irgendwie dasselbe und treten nur verschiedenartig, kaum aber verschiedenwertig in Erscheinung: wenn ich hier vorhin die Seele den höheren Grad des Leibes nannte, so ist wahrscheinlich auch dieses noch viel zu abendländisch, viel zu platonisch, viel zu christlich ausgedrückt gewesen... Was aber jene indische Gleichwertung des Kaiser-Königs mit dem Erwachten [S. 143] anlangt, so dürfte bei ihr noch der andere Gedanke mit hineinspielen, daß es sozusagen der Wahlfreiheit des mit den zweiunddreißig Kennzeichen Ausgestatteten anheim gestellt ist, ob er sich späterhin für den Typus des Eroberers, ob für den Typus des Überwinders tatsächlich zu entscheiden geruhe. Für indisches Auffassen liegt es durchaus innerhalb des Bereichs gotamidischer Fähigkeiten und Möglichkeiten, zum Beispiel noch außerdem ein Asoko zu werden, — wie es umgekehrt durchaus im Bereich asokischer Fähigkeiten und Möglichkeiten liegt, noch außerdem ein Gotamo zu werden. So war Gotamo wirklich in seiner Jugend Fürst und Krieger; so war Asoko wirklich in seinem Alter Büßer und Einsiedler: in weltaufschließender Symbolik verbringt er seine letzte Lebenszeit nach siebenunddreißig Jahren glorreicher Machtherrschaft auf jenem nämlichen Goldenen Felsen Suvannagiri im Lande Magadhâ, wo einst der Jüngling Gotamo geweilt hatte... Ursprünglich also wohl Leib-Geist und Körper-Seele in letzter Ununterschiedenheit und Ununterscheidbarkeit, erwählt der Mensch gleichsam das Leben des überwiegenden Leibes oder des überwiegenden Geistes, des überwiegenden Körpers oder der überwiegenden Seele. Bevor er indes selber wählt, hat ihn seinerseit unter Unzähligen die Natur erwählt, indem sie ihn mit den Schönheitmalen makellosen Leibes und makelloser Seele leibhaftig begnadete. Diese klar ausgebildeten zweiunddreißig Male sind Gotamos: die wohlgefesteten Füße, die Tausendspeichenräder mit Felge und Nabe auf beiden Sohlen, [S. 144] die schmalen Fersen, die sanften zarten Händ’ und Füße, die breitgeschweifte Bindehaut zwischen Fingern und Zehen, die Muschelwölbung des Ristes, die schlanken Beine, die Fähigkeit zur Berührung der Kniescheibe ohne Vorwärtsbeugen des Rumpfes, das hinter der Kleidung unerkennbare Schamglied, die Goldfarbe des Körpers, Goldfarbe der Haut, die Schmeidigkeit der Haut, die Einzelflaumigkeit des Haares in seiner Pore, die Aufgerichtetheit, Schwärze, Ringelung des Flaums, die Erhabenheit des Wuchses, die Heiterkeit des Aussehens, die breite Löwenbrust, die Klafterhöhe, die Verhältnismäßigkeit der Körperlänge zur Armlänge, die Gleichform der Schultern, die Mächtigkeit der Ohrmuscheln, das Löwenkinn, das vollständige Gebiß, das festgefügte Gebiß, die Weiße der Zähne, die Größe der Zunge, der Wohllaut der Stimme, die Flocke zwischen den Brauen und zuletzt der Scheitelkamm. Dies ist Gotamos Leiblichkeit, so haben wir uns den Erwachten vorzustellen, der in mehr wie einem Sinn die Erbschaft Krischnas antrat. Derart stellt sich der Buddho in seinen Reden selber vor und derart ist er uns in Stein und Holz und Erz überliefert. Bis auf das Haar, das einständig einzelflaumige in seiner Pore, ist des Vollendeten Leiblichkeit vollendet geformt und gebildet, — nie ist dem Leib eine größere Verherrlichung widerfahren. Wenn überhaupt, dann war in jenen gotamidischen Tagen die Gestalt des Leibes heilig; wenn überhaupt, ward in jenen gotamidischen Tagen die Schönheit des Leibes angebetet. Der Leib nicht Grab, sondern [S. 145] Gral der Seele, das war Indiens Bekenntnis in jenen Tagen, da des Lebens Übermaß und Überschwang sogar die prunkenden Wortfugen des Mahâbhâratam glühend auseinandersprengte, wie es tausend und mehr Jahre später abermals (oder vielleicht immer noch?) die Tempelwände des buddhistischen Parthenon Boro-Budur gesprengt hat. Der Leib, nach Indiens Bekenntnis der Gral seiner Seele, Gefäß und Schrein der Seele und edel wie die Seele, — fürwahr! es ist bei dieser leibhaften Herrlichkeit des Erwachten zu Magadhâ schwer vermeidlich, nicht der leibhaften Herrlichkeit eines Erwachten unseres Westens zu gedenken, der in gotamidischem Alter dahingegangen ist, nachdem er wie kein anderer zuvor die Erde zu seiner Wohnstatt sich bereitete, allwo er wie ein Gott sälig an jedem Ort zu Hause war: „Der Körper lag nackend in ein weißes Bettuch gehüllt... Friedrich schlug das Tuch auseinander, und ich erstaunte über die göttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme und Schenkel voll und sanft muskulös; die Füße zierlich und von der reinsten Form, und nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir...“

Dieser Leib nun, in allen Spielen des Laufens, Ringens, Springens, Schwimmens, Fechtens, Rossetummelns, Bogenschießens geübt, in allen Künsten der Verschönerung erfahren, in Wohlgerüchen gebadet, von Räucherwerk durchduftet, mit feuchtem Sandel [S. 146] eingesalbt und mit Safran und Lakkaröte geschminkt, — dieser Leib nun wird unabwendbar eines Tages in Regenbogentinten schillernd angelaufen sein. Er wird wie ein aufgetriebener Blasbalg von den Gasen der Verwesung angeschwollen sein. Er wird an hundert Stellen aufplatzen und stinkend in den Jauchepfützen seines eigenen Aufbruchs liegen. Aus seinen Löchern und Höhlen wird madiges Gemeiß kriechen. Das Fleisch wird von den Sehnen und die Sehnen werden von den Knochen fallen. Die Knochen werden von den Überbleibseln der Fäulnis braun bestäubt sein, bis auch sie zu Staub vermodert sind. Und dies ist die Gewißheit des Leibes: dies ist der Kummer am Leibe für den, der den Leib lieb hat. Dies ist die Gewißheit des Leibes: dies ist das Leiden am Leibe, wie es der junge Ritter Gotamo erlitt, der da noch den Atem der Heldenfrühe des indischen Festlands atmete. Er selbst hat später am Seherstein im Wildpark zu Benâres die Wahrheit des Leidens eine heilige genannt, und die Frage war für ihn nur diese, ob es derlei Leidens auch eine Abstellung, Verwindung, Überwältigung gäbe? Die Frage war eigentlich nur, ob dieser dauerlose Körper zur Dauer erstarken, ob dieser hinfällige Körper zur Rüstigkeit gedeihen, ob dieser sterbliche Körper zur Unsterblichkeit erblühen könne? Ist es möglich, ist es auch nur denkbar, daß die weltherkömmliche Ordnung für den Körper umgestürzt werde und das Leiden am Körper zu seiner Aufhebung gelange, indem der Körper durch Anspannung, Übung, Umgestaltung außerhalb dieser [S. 147] Ordnung gleichsam neu gepflanzt und neu aufgebaut würde?

Der Abendländer zweifelt und verneint. Der Abendländer stellt sich Leib und Seele vor als zwei nebeneinander herlaufende Erscheinungreihen und Erlebnisverknüpfungen, die wirkunglos und beziehunglos zueinander ihren leiblichen und seelischen Gegengesetzen folgen müssen. Gotamo hingegen zweifelt nicht und bejaht. Leib und Seele zuletzt ein und des nämlichen Seins und Wesens, stehen für ihn in einem stätigen Wechselverhältnis, ja Austauschverhältnis, wobei der Leib die Stelle der Seele vertreten kann und die Seele die Stelle des Leibes. Der Wille eines jeden hat es in der Hand, den Leib gleichsam mit den Spezereien der Seele einzubalsamieren, wie es der Arzt seit unvordenklichen Zeiten in der Hand hat, die Verweslichkeiten des Leibesinnern gegen pflanzliche Dauerstoffe auszuwechseln und dadurch unverweslich zu machen. Gotamo verneint die Unerläßlichkeit des Leidens am Körper und bejaht des Leidens Abstellung, Verwindung, Umgestaltung aus der Einsicht heraus in die Herkunft und die Beschaffenheit des Leibes. So wie die Ordnung der Natur ist, entsteht der Körper und vergeht der Körper. So wie es aber der Wille des Menschen will, der unablässig um Dauer ringende, kann eine Versetzung des Leibes stattfinden in eine andere Lage der Wirklichkeit, in einen anderen Urstand des Seins, wo die Gesetze der Schöpfung, als welches die Gesetze des Werdens sind, ganz von selbst außer Kraft treten müssen. Wir Abendländer kennen [S. 148] als Beispiel einer gewissen Umgestaltung den Vorgang der Versteinerung. In die schneller verweslichen Teile eines Tier- oder Pflanzenleibes dringen unverwesliche Teile ein von mineralischer Beschaffenheit und bauen die Gestalt des Lebewesens in eben dem Zeitmaß von sich aus wieder auf, in welchem diese Gestalt durch die Zersetzung ihrer organischen Grundstoffe und durch deren Verbindung mit dem Sauerstoff abgebaut wird. Wo der Zellenleib zerfällt, erscheint allmählich ein Steinleib zu seiner Stellvertretung, so daß man in Wahrheit von einer Umgestaltung reden dürfte, — von einer Umgestaltung, die freilich nur den toten Leib ergreift und diesen gegen den nicht minder toten Ersatzleib eintauscht. Indessen ist uns Abendländern doch auch manch anderes Beispiel lebendiger Umgestaltung nicht völlig unbekannt. Wir selber pflegen die Kräfte unseres Lebens, unseres Selbstes an unsere Arbeit zu setzen, sei sie nun Wort oder Werk oder Tat oder überhaupt Leistung; in Wort Werk, Tat, Leistung setzen wir selbst uns um, setzen wir unserer Selbstheit Gestalt um und schaffen uns auf diese etwas plumpe Art eine verhältnismäßige Unsterblichkeit in einem Bereich der sogenannten Werke oder Werte oder Sachverhalte oder Gültigkeiten, — in einem Bereich mithin, welches uns in gewissem Sinn sehr wohl des Lebens Jenseit bedeuten darf. So fangen wir gleichsam die Essenz unseres Lebens von uns selber ab und versetzen unser persönlich-sterbliches Sein an den Himmel sachlicher Unsterblichkeiten. Auf allen Wegen, wo wir gehen [S. 149] und stehen unsere Unsterblichkeit angelegentlich betreibend, gestalten wir auf solche Weise die Gestalt unseres Selbstes um in Wort, Werk, Tat und Leistung, welche offenbar länger dauern als die lebendige Gestalt und dennoch des Lebens nicht in jedem Sinn entbehrt. In Worten, Werken, Taten verewigen wir uns selber, fortwährend ohne unser Wissen in einem wunderlichen Unsterblichkeitzauber, Apathanatismos von hoher Wirksamkeit befangen...

Noch ein Schritt weiter, und wir stoßen auf Gotamos eigenen Unsterblichkeitzauber, auf Gotamos eigenen Apathanatismos. Beruht dieser doch im wesentlichen darauf, daß der Leib in zunehmenden Graden durchsetzt und durchseelt, durchwaltet und durchwürzt, durchdrungen und durchflutet werde mit den erworbenen Grundbestimmungen des Gemütes. Das gotamidische Verfahren besteht vornehmlich darin, die von der Seele hervorgebrachten und einstweilen durch Übung befestigten Zustände gleichsam als stätige Gebilde den unstätigen Gebilden des Leibes zu unterstellen, und zu diesem Ende weiß der Buddho sich der älteren Praxis der Yoga trefflich zu bedienen. Insonderheit ist es die übrigens auch im alten China geübte Praxis des regelentsprechenden Aus- und Einatmens, die Hatha-Yoga, welche Gotamo für seine Makrobiotik, für seinen Apathanatismos anzuwenden gesonnen ist. Die Aus- und Einatmung nämlich wird ganz planmäßig mit Vorstellungen verknüpft, die sie begleiten sollen, und diese Vorstellungen verschmelzen allmählich derart mit den Atemvorgängen selber, daß [S. 150] sie gewissermaßen an deren Stelle treten: die körperliche Tätigkeit, zuerst von einem Ablauf von Bildern und Gedanken regelmäßig begleitet, wird bei geregelter Führung von diesen Bildern und Gedanken bis zu einem gewissen Grad geradezu verdrängt, der Vorgang in der Lunge wird umgesetzt in einen Zustand des Gehirns, ja des Bewußtseins. Die Atmung wird etwas anderes wie Atmung, die Körpertätigkeit setzt sich in etwas anderes um als Körpertätigkeit, und zwar vollzieht sich diese ‚Selbstvergeistigung‘ gradweis und stufenweis mit den erlangten Graden und Stufen der erworbenen Gemütszuständlichkeit. In der Hundertundachtzehnten und Hundertundneunzehnten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo hat sich der Buddho ausführlicher, obzwar leider immer noch nicht ausführlich, über diese Atemübungen vernehmen lassen, und insbesondere in der letzten dieser Reden wird das Ziel dieser seltsamen Vornahme ein wenig deutsam. Der Leib soll dazu bereitet, ja dazu abgerichtet werden, an dem Erwerb der Seele teilzunehmen: der Leib soll lernen, sich bis zu den tiefsten Versenkungen der Seele mit zu versenken und sich in den reinsten Läuterungen der Seele mitzuläutern. Der Leib soll nicht länger ein unbeeinflußtes und unbeeinflußbares Außerhalb der Seele bleiben, sondern in jedem Muskel, in jeder Zelle den erreichten Seelenstand selbst erreichen. Auf leibliche Weise soll sich der Leib solange in Seele wandeln, als sich auf seelische Weise die Seele in Seele wandelt. Die christliche Seele, ihr Christen, hält ihre höchste Andacht beiseit vom Leib, als [S. 151] forma separata entrückt, entrafft, entleiblicht, — aber die Seele Gotamos hält ihre höchste Andacht mit dem Leib zusammen, den Leib völlig in Seele einbettend, umbettend. Die christliche Seele, ihr Christen, ist unsterblich abseit des sterblichen Leibes und überlässet den sterblichen Leib dem allgemeinen Verhängnis der Sterblichkeit, — aber die Seele Gotamos gedenkt unter keinen Umständen den Leib sich selber und seinem Verhängnis zu überlassen, sondern ihn vielmehr mit ihrer eigenen Dauer zu begaben und zu begnaden. Dem Fleisch der Früchte, dem Fleisch der Tiere, welches wir erhaltsam und bewahrsam machen wollen, setzen wir etwa Zucker, Salz, Säure, Weingeist, Hitze, Trockenheit zu. Dem Fleisch des Leibes, vom Buddho Erhaltsamkeit und Bewahrsamkeit ernstlich zugedacht und zugesprochen, setzt der Buddho gleichsam Seele zu, und so erwirbt es durch diesen Zusatz beide Tugenden. „Und ferner noch, ihr Mönche: der Mönch, gar fern von Begierden, fern von unheilsamen Dingen, verweilt in sinnend gedenkender, ruhegeborener, säliger Heiterkeit, in der Weihe der ersten Schauung. Diesen Körper durchdringt und durchtränkt, erfüllt und sättigt er mit ruhegeborener säliger Heiterkeit, so daß nicht der kleinste Teil seines Körpers von ruhegeborener säliger Heiterkeit ungesättigt bleibt. Gleichwie etwa, ihr Mönche, ein gewandter Bader oder Badergeselle auf ein Metallbecken Seifenpulver streut und mit Wasser versetzt, verreibt und vermischt, sodaß sein Schaumball völlig durchfeuchtigt, innen und außen mit Feuchtigkeit gesättigt ist und nichts herabträufelt: [S. 152] ebenso nun auch, ihr Mönche, durchdringt und durchtränkt, erfüllt und sättigt der Mönch diesen Körper da mit ruhegeborener säliger Heiterkeit, so daß nicht der kleinste Teil seines Körpers von ruhegeborener säliger Heiterkeit ungesättigt bleibt“...

Dies also ist das überschwänglich übermenschliche Ziel des gotamidischen Unsterblichkeitwillens, den Leib den Ordnungen des Werdens, als welches die Ordnungen des Entstehens-Vergehens sind, gewaltsam durch Anstrengung, Übung, Umgestaltung zu entreißen und seiner völligen Durchseelung zuzuführen. Und mit viel Besonnenheit entnimmt Gotamo die Mittel zu diesem erfahrung-jenseitigen Ziel dem unausschöpflichen Vorrat an Selbsterfahrungen, den die Yoga, das ist die überlieferte Kunst der unbedingten Leib- und Geistbeherrschung, durch den Willen, in den Jahrtausenden aufgespeichert hat. Durch strenge Anpassung erfahrungmäßiger Zucht- und Abrichtungmittel an den schlechterdings überschwänglichen Zweck entsteht ein Langlebigkeit- und Unsterblichkeitzauber von beispielloser Unentwegtheit und Folgerichtigkeit, dem nur wenige unter den anderen maßgebenden Religionen der Erde etwas Ähnliches an die Seite zu stellen haben dürften. Durch eine mit planmäßiger Führung und Regelung des Ein- und Ausatmens einzuleitende Entkörperlichung des Körpers beschwichtigt der Buddho sein Leiden am Körper und überwindet es: durch eine mit hoher diätischer Besonnenheit betriebene Umgestaltung des Leibes durchbricht der Buddho die Ordnung der Leiblich [S. 153] keit und steigert den Körper gewissermaßen zu einem Urstand der Seele, — oder vielleicht zutreffender und richtiger noch: er steigert ihn zu einer Eigenschaft der Seele, welche Dauer, Ständigkeit, Langlebigkeit, ja geradezu Unsterblichkeit heißt. Wer diesen Tatbestand von grundlegender Bedeutsamkeit begreift, der und nur der wird das wunderliche Wort Gotamos wirklich zu würdigen vermögen, welches in der Hundertundneunzehnten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo die Einsicht in den Körper als den Inbegriff aller heilsamen Dinge preist. Gleichwie einer, der das große Meer im Geiste gefaßt habe, damit auch alle Ströme und Flüsse gefaßt hat, die sich ins Meer ergießen, so hat sich die Summe alles heilfordernden Wissens zu eigen gemacht, wer die Einsicht in den Körper erwarb. Als ein Umgestalteter, jedenfalls aber als ein Umgestaltender, ist er dem Werden entronnen. Ungeworden, vergeht er nicht, unvergänglich, dauert er. Wer die Einsicht in den Körper pflegt, der wird nicht, sondern ist, und wer ist, hat bereits im Jenseit dieser Werdewelt und Wandelwelt festen Fuß gefaßt. ‚Spender der Unsterblichkeit‘ aber, das ist einer der Titel des Erhabenen, die er sich durch diese Anweisung zur Umgestaltung des Leibes in einem vielleicht buchstäblicheren Sinn verdient zu haben scheint, als es unsere höchst lückenhafte, höchst unzulängliche, höchst unzuständige Abendlands-Erfahrung auf den ersten Anblick wohl wahr haben möchte...

Verstehn wir Christen uns indes, ihr Christen, reichlich schlecht auf diese wie auf alle sonstigen [S. 154] unsterblichen Dinge, so sind wir dennoch mit derlei geheimnisvollen Vornahmen nicht völlig unbekannt oder sollten es wenigstens nicht völlig sein. Auch dem Heiland unserer westlichen Welthälfte ist ja die Umgestaltung bei Lebzeiten widerfahren, von welcher das Evangelium nach Lukas in seiner schmucklosen Art trocken berichtet: „Und während er betete, ward die Gestalt (εἶδος) seines Angesichts eine andere und sein Gewand ward weiß und blitzete“... Was hier mit Jesus geschah, als er in der Gesellschaft des Petrus, Johannes, Jakobus den hohen Hügel bestiegen hatte, umschreibt das Evangelium der Kirche ein klein wenig völliger, wenn es wörtlich erzählt: „und er ward umgestaltet (μετεμορφώτη), und es leuchtete sein Antlitz wie die Sonne und seine Gewänder weißten sich wie das Licht“... Der Verfasser dieser Heiligen Schrift der Christen gebraucht an dieser Stelle geradezu das Wort Umgestaltung selbst, welches dann Luther in einer auffälligen Ungenauigkeit mit ‚Verklärung‘ wiedergegeben hat. Was aber hier sofort im Unterschied zum buddhistischen Kanon schwer ins Gewicht fällt, ist weniger die Beiläufigkeit und Folgenlosigkeit des für den Buddhismus so entscheidenden Vorgangs, als vielmehr die Tatsache, daß die Umgestaltung des Evangeliums als eine Wirkung der Gnade oder des göttlichen Eingriffs zu gelten hat, während die gotamidische Umgestaltung das selbsttätig erworbene Gut der Freiheit erscheint. Auch in dieser Bezugnahme bleibt der Buddho seinem Protestantismus unentwegt treu, denn Gotamo der Protestant, Gotamo der Atheist [S. 155] weiß nichts von Gnade, weiß nichts von Eingriffen Gottes, weiß nichts von Gott selber, dessen Wolke ihn überschatten und dessen Stimme ihn als den vielgeliebten Sohn verkünden könne. Wenn der Leib Gotamos seiner Umgestaltung tatsächlich teilhaftig geworden ist, so wird die Umgestaltung der unermüdlichen Arbeit, Zurichtung und Zucht des eigenen Selbstes verdankt. Sie stellt sich nicht ein von ungefähr, sondern ist der Ertrag eines unablässig diesem Ziele zugewandten Strebens. Gleichsam um diesen Sachverhalt anzudeuten, widerfährt die sichtbare Verklärung des Leibes dem Buddho (nach dem Dritten Bericht aus dem Großen Verhöre zur Erlöschung Mahâparinibbânasuttam) erst wenige Stunden vor dem Ende, am Tage vor der Nacht, da der Vollendete wirklich voll-endet. In einer Szene von mehr wie kalidasischer Reinheit, Helligkeit und Zartheit der Farbe weiß der Bericht zu erzählen, daß der Mallerprinz Pukkuso dem sterbenden Heiligen einen doppeltgewebten goldfarbenen Schleier habe darreichen lassen als kostbares Sterbekleid, des kostbaren Sterbenden würdig. Vom Lieblingjünger Ânando dann mit diesem schimmernden Schleier bekleidet, beginnt der Leib des sterbenden Meisters, gleichsam im Feuer der eigenen Seele zu völliger Gediegenheit geläutert, wie der Mond in der Nacht seiner Rundung zu leuchten und zu gleißen, also daß der doppeltgewobene goldfarbene Schleier des Mallerprinzen in fahler Glanzlosigkeit verbleicht. Nun ist der Leib des Erhabenen endgültig und restlos umgestaltet, vollkommen dauer [S. 156] haft geworden. Aber in dieser Stunde der ewigen Selbstvollendung besteht der Vollendete nicht mehr auf seiner Dauer, — in dieser Stunde übergibt er den verklärten und durchsättigten Leib eben jener Werdewelt, die er in fünfzig Jahren ununterbrochener Selbstläuterung überwunden hat!...

Vollkommen dauerhaft geworden, sag’ ich, bestünde in diesem Augenblick der Herr Gotamo dennoch nicht auf seiner Dauer: vollkommener Spender der Unsterblichkeit geworden, verschmähe der Herr Gotamo zuletzt dennoch seine Unsterblichkeit. Dieses in der Tat sehr seltsamen, sehr unverständlichen, ja widersinnigen Sachverhalts müssen wir an dieser Stelle noch gedenken, wenn anders wir von dem Geheimnis dieses geheimnisvollsten aller Menschen auch nur einen Zipfel zu lüften hoffen dürfen. Das Leiden am Leibe aufzuheben, hat der Buddho die Praxis der Hatha-Yoga samt allem, was an seelisch-körperlichen Übungen (‚ exercitia ‘) mit ihr zusammenhängt, in den Dienst eines unbeirrbaren Unsterblichkeitwillens gestellt. Und in der Fähigkeit, den Leib mit seelischen Kräften wie mit den Wellen von einer annoch unbekannten Ordnung zu durchstrahlen, dauerhaft zu machen und ihn gleichsam aus der Bewegunglage in die Ruhelage hinüberzubetten (und nicht nur hinüberzurechnen, wie die europäischen Mathematiker und Physiker mit den materiellen Systemen des Kosmos tun!) — in dieser Fähigkeit hat er mutmaßlich die Heilande und Heiligen aller anderen Religionen der Erde weit hinter sich zurückgelassen. Er hat sie so [S. 157] weit hinter sich zurückgelassen, daß von den Brosamen, so von dieses Reichen Tische fallen, noch immer alle die Hündlein satt geworden sind, die, von den Verkümmerungen, Verzerrungen, Fehldeutungen dieses gotamidischen Gedankens zehrend, als Theo- und Anthroposophen heute einem Krypto-Buddhismus Pseudo-Buddhismus in allen fünf Weltteilen zumal frönen. Eine Nachprüfung, eine Nachtätigung, wieweit der Körper durch solche Anstalten wirklich bis zu einem gewissen Grade unsterblich zu machen wäre, ist freilich aus allbekannten Gründen mindestens uns Europäern bis auf weiteres versagt. Haben wir keinen Grund, die Möglichkeit dieser und ähnlicher Umgestaltungen schlankweg zu verabreden, so sind wir im Hinblick auf unsere eigenen Erfahrungen freilich dazu berechtigt, auch dieser Umgestaltung keine tatsächlich unbegrenzte, sondern etwa nach Wirkunggrad und Reichweite immerhin begrenzte Beeinflussung zuzuschreiben. Genug, daß der Buddho selber zur Erlöschung eingegangen ist, trotzdem das Unsterblichkeit- und Dauerziel eines der vornehmsten seiner Lehre und seines Wandels gewesen ist. Der Herr eines der Werdewelt und ihren Gesetzmäßigkeiten grundsätzlich entrückten Leibes geworden, macht der Buddho, wie ich schon sagte, im entscheidenden Augenblick von dieser erworbenen Ewigkeit dennoch keinen Gebrauch! Und wahrscheinlich ist es der Bestürzung der Jüngerschar über dieses erschütternde Begebnis zu danken, — in vielen Punkten der Bestürzung einer anderen Jüngerschar nicht unähnlich, — daß der Dritte Bericht aus [S. 158] dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam in stark legendarischer Fassung auf diesen ganz und gar unbegreiflichen Umstand zurückkommt und gewissermaßen eine Erklärung a parte post zu geben bemüht ist, warum der Erhabene seinen zur Dauer gehärteten Körper nun doch dem Vergehen überantwortet. Es ist dies nach dem Wortlaut des Berichtes einem Versäumnis des Ânando zur Last zu legen, der in den fraglichen Tagen mit der persönlichen Aufwartung beim Erhabenen betraut war. Ihm nämlich hat der Buddho dreimal die Bitte auf die Zunge gelegt, nicht zur Erlöschung einzugehen, vielmehr fortab unter den Jüngern zu weilen in dem Zustand der leiblichen Beharrung, zu dem er sich in einem halben Jahrhundert unerhörter Läuterungen emporgeläutert hat. Dreimal legt der Buddho diese Bitte seinem Lieblingjünger auf die Zunge und dreimal verstehet Ânando seinen Meister nicht und schweigt. Also mißverstanden und unverstanden vom teuersten Menschen bei unwiderbringlicher Gelegenheit, beschließt der Erhabene, dem dreimal schon ausgesprochenen Wunsche Mâro des Bösen zu willfahren und zur Erlöschung einzugehen. Mit der Gebärde jener göttlichen Traurigkeit, welche auch noch die schönsten Siege des Menschen über sich, über die ‚Welt‘ umflort, gibt der Erwachte die lebenslang erkämpfte Dauer seines Leibes preis. Auch der Mensch, der ihm längst der werteste und nächste war, hat sich das Geschenk stätiger Gegenwart des Erhabenen nicht erbeten. Auch der innigste Freund, der ‚sieben [S. 159] schrittige‘, war ihm in der rechten Stunde innerlich unendlich fern und hat das Wort des Herzens nicht gefunden: Μεῖνον μεθ’ἡμῶν, Bleib’ bei uns! ὅτι πρὸς ἑσπέραν ἐστιν, denn es naht gen Abend! Hier bricht ein tödlicher Schmerz durch, mit keinem Laut preisgegeben und trotzdem zermalmend fühlbar, ein Schmerz über alle Schmerzen an der Vergänglichkeit, Hinfälligkeit, Wesenlosigkeit des Leibes. Hier bricht ein Schmerz durch, ein nie besieglicher, über die untilgbare Menscheneinsamkeit der Seele, ein Schmerz, den auch der großgeistige Buddho nicht mehr zu verwinden weiß, — nun war es Zeit sogar für ihn, den Großgeistigen, zu gehen... „Wer auch immer, Ânando, die vier Machtgebiete geübt, gepflegt, ausgeführt, ausgebildet, angewendet, durchgeprüft, durchaus entrichtet hat, der könnte, Ânando, wenn ihn darnach verlangte, ein Weltalter hindurch bestehen, oder bis zu Ende des Weltalters. Der Vollendete hat, Ânando, die vier Machtgebiete geübt, gepflegt, ausgeführt, ausgebildet, angewendet, durchgeprüft, durchaus entrichtet; bei Verlangen darnach, Ânando, könnte der Vollendete ein Weltalter durch bestehen oder bis zu Ende des Weltalters. Ob dir gleich also, Ânando, vom Vollendeten ein wichtiger Wink, ein wichtiger Hinweis gegeben war, hast du es nicht zu merken vermocht, hast nicht den Vollendeten gebeten: ‚Bestehn möge der Erhabene das Weltalter durch, bestehn möge der Willkommene das Weltalter durch, vielen zum Wohle, vielen zum Heile, aus Erbarmen zur Welt, zum Nutzen, Wohle und Heile für Götter [S. 160] und Menschen.‘ Hättest du, Ânando, den Vollendeten gebeten, so hätte wohl zweimal deine Worte der Vollendete abgewiesen, aber das dritte Mal ihnen entsprochen. Darum aber, Ânando, hast du eben hier es versehen, hast du eben hier es versäumt...“ Ein Weltalter hindurch hätte also der Erhabene nach seinem eigenen Bedünken bestehen können bei Verlangen darnach. Ein Verlangen darnach hat aber niemand von den Jüngern im rechten Augenblick zum rechten Ausdruck gebracht, und so verlangt den Erhabenen selber nicht länger darnach. Und so entläßt denn der Erhabene (nicht ohne einen unendlich sanften Tadel Ânandos) den lebenslang gehegten Dauergedanken, entläßt den lebenslang gestärkten Unsterblichkeitwillen, entläßt den lebenslang gepflegten Wunsch nach weltzeitwährender Trostgegenwart... Wer hat da von euch, ihr Christen, noch eine Frage auf dem Herzen?...

Wir westlichen Menschen, ihr Christen, haben öfters wohl als billig dies gotamidische Leiden am Leibe für das Merkmal genommen einer übermüdeten Gesellschaft und ihrer übermüdeten Gesittung. Pochend auf die eigene und vermeintliche Jugendlichkeit haben wir oftmals zu uns selber gesprochen: Greisenhaft ist dieses gotamidische Leiden an der Leiblichkeit; welk, absterbend und untergangsüchtig ist das gotamidische Leiden am Leibe. Und noch der Prophet unseres eigenen Untergangs, — ein falscher Prophet übrigens [S. 161] sogar dort, wo er recht hat! — hält es für angemessen, jede Vergleichung etwa unseres westlichen Heilands mit dem Heiland des Ostens als ‚unwissenschaftlich‘ zu verbieten, weil beide Heilande in der Reihe der geschichtlichen Lebensalter an verschiedenen Stellen der Zeit stünden: der eine am Eingang, der andere am Ausgang hingegen einer geschichtlichen Periodos. Und dieses der geschichtlichen Wahrheit zum Trotz, daß just der Auftritt Gotamos für Indien gewissermaßen das Zeichen war, im nächstfolgenden Jahrtausend die große Architektur, die große Skulptur, das große Drama, das große Imperium zu schaffen in allerengster Berührung mit dem Geist des Asketen aus Magadhâ... Davon jedoch abgesehen, wage ich darüber hinaus die entschiedene Behauptung, daß eben jenes Leiden am Schicksal der Leiblichkeit das untrügliche Kennzeichen einer menschheitlichen Jugend, und nicht eines menschheitlichen Greisentums sei. Nur eine verhältnismäßig noch jugendliche Menschheit nämlich ist eindrucksfähig genug, um vor der Tatsache Alter, Krankheit, Tod so jäh erschreckt zu werden wie Gotamo von ihr erschreckt ward. Nur eine noch jugendliche Menschheit erliegt den Eindrücken des Lebens in diesem Maß und ersiegt sich ein zweites Leben über diese Eindrücke hinaus. Wer wirklich alt ist, dem hat das Alter jedwede Schrecknis längst verloren. Wer wirklich krank ist, den ängstigt hinfort keine Möglichkeit, krank zu werden. Und wer vollends schon sterbend ist, wie sollte er sich noch des Todes fürchten? Die Legende von der Ausfahrt [S. 162] Vipassîs erzählt von einem Jüngling, der ausfuhr, und es scheint, daß hiermit in mehr wie einem Sinn die Legende die Wahrheit berichtet habe, denn jedenfalls war der Buddho selbst von der Unbeeindruckbarkeit des Greisenalters so stark durchdrungen, daß er von jedem Belehrungversuch, Überredungversuch, Bekehrungversuch an Alten durchaus abriet und seinen Jüngern wiederholt einschärfte, sich bei ihrem Heilswerk an die Jugend zu halten: ganz einhellig übrigens mit dem griechischen Sprichwort, wonach einen Greis belehren wollen nichts anderes heißt als einem Toten eine Arzenei einflößen. Es ist dies eine Erwägung von großer Schlichtheit, aber eben darum jedem sich nahelegend, der ein Urteil über der Völker Jugend oder Alter zuverlässig abzugeben sich getraut...

Beim Buddho persönlich entspringt also das Leiden an der Leiblichkeit einem ungemein heftig erfühlten Bewußtsein der Ewigkeit des Selbstes: wie ungereimt dies auch anzuhören sei nach der weiter oben schon festgestellten stracks gegensinnigen Tatsache, wonach eben der Gedanke des Selbstes, der brahmanisch-vedische Gedanke, von Gotamos Protestantismus und protestantischer Kritik ausdrücklich zersetzt worden ist. Und zwar zersetzt durch das neue religiöse Erlebnis des ‚ N’etam mama , das gehört Mir nicht, das bin Ich nicht, das ist nicht mein Selbst‘. Diese Formel bricht gleichsam den Stab über den brahmanisch-vedischen Âtman, wofern eine Erlebnis-Gegebenheit, die Mir gehört, die Ich bin, die mein Selbst ist, nirgends aufgewiesen werden kann. Aber gleichzeitig [S. 163] bricht sie den Stab über den Âtman nur darum, weil alle Erlebnis-Gegebenheiten nur vergänglich, nur wehe, nur wandelbar erscheinen. Dieses Vergängliche, dieses Wehe, dieses Wandelbare gehört Mir nicht, — aber wer ist so schwerfällig und schwerhörig, daß er in dieser Verneinung die heimliche Bejahung völlig überhört, die da lautet: das Unvergängliche, das Leidbefreite, das Unwandelbare gehört Mir; das Unvergängliche, das Leidbefreite, das Unwandelbare bin Ich; das Unvergängliche, das Leidbefreite, das Unwandelbare ist mein Selbst!... Was irgendwie Dauer hat und Beharrung zeigt und nicht Wehe ist, das gehört Mir, selbst wenn es im Umkreis der Wahrnehmbarkeiten nirgends auszumitteln ist. Sehr wahrscheinlich, ja so gut wie sicher gibt es gar nichts Vorhandenes und Wirkliches und Daseiendes im Sinn dieser Wunschforderung, folglich gibt es auch nichts Vorhandenes und Wirkliches und Daseiendes, das Mir gehörte oder das Ich wäre. Aber was beweist diese Tatsache gegen die Wunschforderung als solche? Gotamo heischt Dauer, und weil er Dauer nirgends verwirklicht findet, leidet er an der Wirklichkeit. Mit einer ungeheuern Strenge und Unbeugsamkeit zerstört er den Sinnenschein der Dauer überall, wo sie nichts anderes für sich anzuführen hat als eben bloß den — Sinnenschein. Aber die Dauer an und für sich, sie bleibt nichtsdestoweniger das unantastbare Ziel seines gesamten religiösen Verhaltens, — das umso ausschließlichere Ziel, destoweniger es durch Erfahrungen bekräftigt wird. Die Dauer ist ihm der große und [S. 164] grundsätzliche Wert, der ‚Wert ersten Ranges‘, wie einhellig mit ihm Macchiavelli und Nietzsche sagt. Die Dauer ist ihm der Wert der Werte oder der Wert schlechthin, schon weil sie allem Lauf der Dinge so unbedingt zuwiderläuft, ja weil sie der Zeit und ihrem Werdestrom selbst zuwiderläuft. Die Dauer, wenn überhaupt Dauer ist, ist im tiefsten Sinn zu erkämpfen, zu erstreiten, zu ersiegen im Widerstreit mit der gesamten Welt- und Lebensordnung, und schon darum ist sie wie kein zweiter Wert weltüberwindend, wirklichkeitüberflügelnd. In einem mehr wie nur homerischen Wortverstand ist die Dauer ‚wider das Geschick‘, — sie ist nämlich wider das Urgesetz der Schöpfung selber, welches der unübertreffliche metaphysische Spürsinn Indiens in der herrlichen Sâvitrî-Episode des Mahâbhâratam mythologisch in die Tatsache des Todes selber zu verflechten wußte: ich beziehe mich auf das berühmte Zwiegespräch jener indischen Alkestis Sâvitrî mit dem Todesgott Yama, wo sie mit einer unfehlbaren Einsicht in den wahren Sachverhalt den Tod als das Urgesetz und das Urgesetz als den Tod preist. Dharma wird hier als höchstes Gut, als höchster Wert verehrt, aber Dharma ist Yama, und weil dem so ist, trachtet der Buddho am ersten nach der Dauer als der Welt- und Todesordnung Jenseit: „Wie wenn ich nun mit weitem, tiefem Gemüte verweilte und hätte die Welt überwunden, über ihr stehend im Geiste?“... Über ihr stehend im Geiste, das aber hieße über ihr stehend in der Dauer, und von dieser Wunschforderung der Menschenseele lässet [S. 165] auch dann Gotamo nicht ab, wenn sie von keiner Gegebenheit der Sinne oder des Sinns befriedigt, gestillt, erfüllt wird. Die Dauer ist das Plus Ultra , welches die Menschenseele über jede Wirklichkeit hinauswirft wie einen Ball, der dem Begriff der gleichförmigen Bewegung zufolge in die Unendlichkeit rollt und rollt. Dauer ist Seltenheitwert, Dauer ist Ausnahmewert, Dauer ist Unmöglichkeitwert, das ist Gotamos Meinung, um derentwillen er darnach trachtet und trachten muß, diesen verweslichen Leib in einen unverweslichen umzugestalten. Wer aber hier allzu flink bei der Hand ist, von Völker-Jugend oder von Völker-Greisentum zu reden, der greife zunächst einmal in sein eigen Herz und dann ins Herz aller Vergangenheiten, aller Vergänglichkeiten, ob nicht gerade dies Wunschverlangen nach Dauer, nach Ewigkeit, nach Stätigkeit der ewige Apathanatismos sei, auf welchen jede Menschheit von einigem Menschheitwert in allen ihren Wert- und Werkverwirklichungen bewußt oder unbewußt hingezielt habe, jegliche Menschheit in summa von der Gestalt jenes babylonischen Gilgamesch am würdigsten versinnbildlicht, der da einst auszog, glücklicher Finder und vielleicht Erfinder seiner Unsterblichkeit zu werden... Gotamos Urerleben heißt also Leiden; sein Leiden aber heißt Alter, Krankheit, Tod: das Schicksal der Leiblichkeit schlechthin. Das Schicksal der Leiblichkeit indes, das ist das Gesetz der Gattung, und so ist Gotamos Leiden an der Leiblichkeit das Leiden der Gattung, welches er sozusagen als Stellvertreter der Gattung [S. 166] mit besonderer Heftigkeit und Gewalt an sich erfährt: das ward mit ziemlichem Nachdruck oben schon verkündet. Das Leiden aller, von einem Einzelnen und Einzigen mit ausnahmweiser Wucht als die Bestimmung aller erfühlt, ist mithin zwar einenteils das Leiden der Gattung selber, welches jedes Glied der Gattung kosten muß, — ist andernteils aber auch das Leiden an der Gattung, als welche den drei Kernübeln des Alterns, Siechens, Sterbens ohne Rettung verfallen ist. Gotamo leidet wie kein zweiter die Not des Menschen. Aber eben darum leidet er auch wie kein zweiter am Menschen selber, der hoffnunglos dieser Not verhaftet ist. Nur leidet er am Menschen nicht, wie Jesus oder Zarathustra am Menschen gelitten haben, — bis zum Überdruß, bis zum Ekel, bis zur Verzweiflung gelitten haben an des Menschen Trägheit, Feigheit, Grausamkeit, Käuflichkeit, Treulosigkeit, Seelenlosigkeit... Diese herkömmlichen Menschenschändlichkeiten scheinen den Buddho sogar weniger berührt zu haben als sonst die Mehrzahl der geschichtlichen Heiligen und Helden, denn etwa mit Ausnahme jener sanften Traurigkeit über das Stillschweigen Ânandos kurz vor der Erlöschung stoßen wir kaum auf Spuren, geschweige denn auf Narben jenes Leidens, welches die tödlichste Heimsuchung des höheren Menschen zu sein pflegt. Gewiß! Dieser Großgeistige wird in der Kenntnis der Menschen, wie sie sind, so wenig übertroffen als in der Kenntnis des Menschen, wie er ist. Aber nirgends schmerzt ihn das Menschliche, weil es etwa böse oder schlecht oder weil es gar teuflisch wäre; nirgends leidet er

[S. 167]

„Daran, daß der Mensch unmenschlich
Ist und bleibt und nur der Gott
Sich als Mensch kann offenbaren,
Aber keinem von den Menschen...“

Nein, der Erhabene leidet, weil diese Gattung Mensch, in die Werdewelt hineingeflochten, an der Dauerwelt keinen Anteil hat. Des Buddho Schmerz an der Gattung ist im Kosmos gegründet und in dessen Nomos, dessen Dharma. Es wäre nur die Hälfte wohl der Wahrheit, zu sagen, daß Gotamo an der Gattung allein gelitten habe: aber wofern er wirklich an der Gattung litt, da litt er an ihrem kosmischen und nicht an ihrem ethischen Zustand. Und hier bedarf die bisherige Darlegung allerdings einer Erweiterung und Vervollständigung von höchster Wichtigkeit. Denn um es mit Einem Wort zu sagen: das Leiden der Gattung und an der Gattung umspannt zwar das eigentliche Urerleben Gotamos, wie es die Legende von Vipassîs Ausfahrt ein für allemal versinnbildlicht, — aber dieses Urerleben füllt unter keinen Umständen den vollen Kreis des Leidens selber aus, wie es im Kosmos durchaus verwurzelt erscheint, um dann im Ethos freilich seine bittere Frucht zu tragen. Vergänglichkeit, Hinfälligkeit, Wesenlosigkeit sind also wohl die Leiden des Geschöpfes, durch die es seine Gebundenheit an die Schöpfung, seine Bedingtheit in der Schöpfung unzweideutig zu erkennen gibt. Wohl erleidet jeder Einzelne zu seinem Teil das Urverhängnis der ganzen Art, ja der ganzen Wandel- und Werdewelt, und ein Einzelner vollends von der Würde [S. 168] des Buddho erleidet weit über seinen persönlichen Anteil hinaus kraft seiner Eigenschaft als ‚Engel‘ das Urerleben aller, als ob er selber in eigener Gestalt ‚alle‘ wäre! Aber daneben, man wolle es bemerken, sind jedem Einzelnen die ganz besonderen Leiden seiner Einzelnheit und Einmaligkeit einmalig auferlegt. Sie sind ihm auferlegt, und auch dies wolle man bemerken, nach altindischem Dafürhalten als die unabwendbare Wirkung und Folge aller Taten, die einer getan oder unterlassen hat zu Zeiten früherer Verkörperlichungen. Gotamo hätte kein rechter Inder sein müssen und noch weniger jener Herzenskündiger, der da „der anderen Wesen, der anderen Personen Herz im Herzen schaut und erkennt: das begehrliche Herz als begehrlich und das begehrlose Herz als begehrlos, das gehässige Herz als gehässig und das haßlose Herz als haßlos, das irrende Herz als irrend und das irrlose Herz als irrlos, das gesammelte Herz als gesammelt und das zerstreute Herz als zerstreut, das hochstrebende Herz als hochstrebend und das niedrig gesinnte Herz als niedrig gesinnt, das edle Herz als edel und das gemeine Herz als gemein, das beruhigte Herz als beruhigt und das ruhelose Herz als ruhelos, das erlöste Herz als erlöst und das gefesselte Herz als gefesselt“; — Gotamo, sage ich, hätte nicht jener unvergleichliche Herzenskündiger sein müssen, begabt mit dem ‚χάρισμα διακρίσεως πνευμάτων‘, wenn er an diesem Leiden von höchster persönlicher Bedeutsamkeit gleichmütig vorbeigegangen wäre. Möchte Gotamo der Erlebende immerhin an sich [S. 169] selber das Leiden als ein kosmisches Vorkommnis, als ein kosmisches Gesetz kosmisch erlebt und als eben solches kosmisch überwunden haben: unmöglich, ganz unmöglich konnte er sich gegen jenes anders geartete Leiden abstumpfen und verblenden, welches jeder Einzelne in einem wahrhaft abgründlichen Sinn und Hintersinn über sich selber verhängt. Über sich selber verhängt in seiner unumgänglichen Eigenschaft, in jeder zeitlichen Verkörperlichung als Täter seiner Taten, als Erbe seiner Werke das erleiden zu müssen, was er in früherer Verkörperlichung getätigt hatte. Um es mit Einem Wort auszusprechen, so hat ja auch dieser Gotamo die Lehre vom Karman angetreten, und das will heißen, die Lehre vom Leiden in seiner persönlichsten, verantwortlichsten, einmaligsten Form, dessen Maß, Beschaffenheit und Art bei jedem Einzelnen aufs genaueste vorherbestimmt erscheint durch Maß, Beschaffenheit und Art seiner vormaligen Taten. Hier hatte seinen härtesten Sieg zu erstreiten, wer des Leidens Sieger zu sein trachtete. Dieses Leiden hieß Schuld und Buße, Vergeltung und Sühne, Gericht und Strafe; dieses Leiden hieß Werk und Tat, Wirkung und Verursachung, Selbsturheberschaft und Selbstbestimmung. Wie nun ist dieses Leiden, welches aufs innigste mit dem Grundgesetz des Lebens, und diesmal zwar mit dem sittlichen Grundgesetz des Lebens zusammenhängt, wie ist es abzustellen oder zu verwinden, ohne dabei das sittliche Grundgesetz des Lebens zu gefährden? Die kosmische Ordnung der Welt konnte gewissermaßen außer Kraft gesetzt werden [S. 170] durch die Umgestaltung vergänglicher Leiblichkeiten in die Dauer: gut! Wie aber kann die ethische Ordnung der Welt durchbrochen werden, ohne daß das Ethos selber aufgehoben erscheint?

Vergegenwärtigen wir uns inzwischen, ihr Christen, diese so seltsam fremde und dennoch seltsam anheimelnde Lehre vom Karman, das ist die Lehre vom ‚Werk‘, etwas mehr von der Nähe, und suchen wir völlig zu begreifen, in welchem Grade eben die Absicht Gotamos auf Leidensabstellung, Leidensauflösung, Leidensverwindung notgedrungen durch diese Lehre aufs äußerste verschwierigt werden mußte. Gemäß dem kosmischen Grundgesetz des Leidens von vorhin ist jedes Einzelwesen ohne Dauer und somit dem Leiden an der Dauerlosigkeit verfallen. Besteht jedoch ein Verfahren, welches Dauer irgendwie zu ermöglichen, ja zu verwirklichen verspricht, dann ist dieses Leiden an der Dauerlosigkeit getilgt und in kosmischem Betracht ein Zustand der Leidlosigkeit erreicht und errungen. Gemäß dem ethischen Grundgesetz des Leidens ist aber daneben und außerdem jedes Einzelwesen in jedem einzelnen Fall durchgängig das, was zu sein es sich in früherer Verlebendigung höchsteigentätig und höchsteigenwillig selbst erschuf. Ein gewisses Etwas nämlich reicht von der früheren Verlebendigung und ihren Werken, ihren Taten bis zur jetzigen Verlebendigung herüber: und dieses Etwas bestimmt das Sein der jetzigen Verlebendigung in jedem Zug, in jeder Falte. Was diesen sogenannten Leib betrifft, so steht ja unumstößlich fest, daß er [S. 171] nicht dauert und seine Lebenszeit nicht übersteigt. Und was die sogenannte Seele betrifft, so steht es zwar nicht unumstößlich fest, ob sie dauert oder ob sie nicht dauert, weil der Streit der Schulen ja darüber noch nicht entschieden ist und auf irdische Sicht hin schwerlich so bald entschieden werden wird; — immerhin dauert aber wenigstens nach altindischer Auffassung auch diese Seele eigentlich nicht oder fast nicht. Denn wo die Seele der alljährlich darzubringenden Totenopfer, Totenspenden der Söhne und Sohnessöhne entbehren muß, da entartet sie, da verelendet sie, da schrumpft sie gleichsam ein zu einem bloßen Wander- und Irrgespenst ( piçâca ), dessen wunderlicher Zwischenstand zwischen Sein und Nichtsein jede Wiederverleiblichung ausschließt, die sozusagen an der Reihe wäre, und derart die Seele um die ihr eigentümliche Auswirkungmöglichkeit, Auswirkungnotwendigkeit verhängnisvoll bringt. Was hingegen der dauerlose Leib und die grundsätzlich kaum dauernde Seele in der Zeit ihrer irdischen Gemeinschaft in gemeinsamer Urheberschaft wollen und vollbringen: das dauert, das beharrt, das stirbt nicht, das überlebt und übersteht. In der Brihadâranyaka-Upanischad, die allerdings nach der Annahme ihres deutschen Übersetzers schon den buddhistischen Einfluß widerspiegelt, legt der Frager Ârtabhâga dem alleswissenden Brâhmanen Yâjñavalkya die Frage vor: „‚Wenn nach dem Tode dieses Menschen seine Rede in das Feuer eingeht, sein Odem in den Wind, sein Ohr in die Pole, sein Leib in die Erde, sein Âtman [S. 172] in den Akâra (Weltraum), seine Leibhaare in die Kräuter, seine Haupthaare in die Bäume, sein Blut und Samen in das Wasser, — wo bleibt dann der Mensch?‘ Da sprach Yâjñavalkya: ‚Faß mich, Ârtabhâga, mein Teurer, an der Hand; darüber müssen wir beide uns allein verständigen, nicht hier in der Versammlung.‘ — Da gingen die beiden hinaus und beredeten sich; und was sie sprachen, das war Werk, und was sie priesen, das war Werk. Fürwahr! Gut wird einer durch gutes Werk, böse durch böses...“ Das Werk des Menschen also, sein Werk, will heißen seine Tat und seine Handlung, sie reicht über das Dasein der einzelnen Verkörperlichungstufe unendlich hinaus, nicht anders ungefähr, wie nach der Ansicht der dynamischen Naturphilosophie des Westens die Wirkung einer Krafteinheit unendlich hinausreicht über den raumlosen Punkt, in welchem sie ihren Sitz und damit ihr eigentliches Dasein hat. Mit dem nicht unerheblichen Unterschied freilich, daß diese Wirkung in die Unendlichkeit bei der natürlichen Krafteinheit nach allen Lagen und Richtungen des Raumes sich zerstreut und in der Zerstreuung sich verliert, indes die unendliche Wirkung beim Karman auf geheimnisvolle und nicht zu enträtselnde Weise gesammelt und aufgestaut wird, bis sie sich in einer neuen Persönlichkeit gleichsam wiederverstofflicht und wiederverlebendigt hat. Diese neue Persönlichkeit ist dann, wie sich von selbst versteht, mit Leib und Seele die Erschaffenheit der Wirkungweisen, die von der vorigen Persönlichkeit als Taten oder Werke ins All hinaus [S. 173] gestrahlt, hinausgestreut, hinausgeschleudert wurden. Wie die auseinanderlaufenden Strahlen einer Linse wohl vom Brennpunkt einer zweiten Linse wieder aufgefangen und vereinigt werden können, so werden die Werk-Ausgießungen eines beliebigen Wesens von einem zweiten Wesen wiederum aufgefangen und vereinigt, — abermals mit dem Unterschied freilich, daß es nach der Lehre vom Karman die Werk-Ausgießungen selber sind, die sich zu der neuen Verstofflichung zusammenfinden und verfestigen. Das Werk wirkt also in seiner Eigenschaft, Sämling oder Keimling oder Schwängerling zu sein, in alle Zukunft fort und fort im All: es pflanzt sich selbst als Schößling des Wirkenden in irgend eine unbekannte Äther-Erde ein. Urzeugend bildet hier das Werk das ihm im innersten entsprechende Wesen hervor; ungeschlechtlich, übergeschlechtlich setzt sich das Wesen fort im Werk. Werk aber und Wesen, Wesen und Werk schließen sich als die Glieder der ewigen Kette ‚Zeit‘ in stätigem Wechsel stätig zusammen...

Dem sei im übrigen, wie ihm sei. Auf jeden Fall macht Indien durch diese Lehre, die ihren Grundzügen nach vielleicht doch schon vorgotamidisch gewesen ist, bitteren Ernst mit dem Gedanken des ‚ esse sequitur operari , Sein erfolgt aus Wirken‘, — mit einem Gedanken folglich, der zwar auch unserem alten Europa nicht fremd geblieben ist, aber mit welchem dieses nur hin und wieder etwas zu liebäugeln gewagt hat: im ganzen und großen immer wieder von dem thomistischen ‚ operari sequitur esse , Wirken erfolgt aus [S. 174] Sein‘ in den Bann gezogen. Gerade weil der Aquinat mit diesem Grundsatz ohne weiteres recht hat und den Nagel auf den Kopf trifft, gerade darum muß auch die Umkehrung im Recht sein und den Nagel auf den Kopf treffen. Wirken erfolgt aus Sein, das lehrt die platteste Erfahrung stündlich. Aber nicht minder, wenn auch sicherlich mit minderer Sinnfälligkeit, erfolgt Sein aus Wirken: aus dieser meiner Tat wächst das ihr gemäße Sein wie umgekehrt die Tat aus ihr gemäßem Sein erwachsen ist. Die heutige Tat von mir erschafft mich selber als morgige Person; meine Tat von heute, mir heute noch selber fremd, unheimlich, unzugehörig und gleichsam in einem dunkeln Ungefähr von einem namenlosen Es getätigt, — sie schafft sich zuverlässig morgen ihren Täter, in mir selber zu mir selber sprechend: das bist du... Das Werk der Tat, noch heute von mir selbst als meines Selbstes blindes Jenseit geleugnet und nur wie ein Erdblitz aus irgendeiner Falte, irgendeinem Spalt meiner Selbstheit tödlich zuckend, — dies Werk meiner Tat wirbt bald um seinen Täter unablässig, bis sich mein Selbst als Täter morgen ihm vermählt. Wenn aber ein tragischer Dichter Europas sich zu dem immerhin bemerkenswerten Ausspruch hat bestimmen lassen, daß böse Tat fortzeugend stets Böses müsse gebären, so würde ein indischer Denker dies vielleicht sinngemäß dahin abzuändern wünschen: daß böse Tat fortzeugend stets Böse müsse gebären, wie gute Tat eben so fortzeugend Gute. Denn die Tat tätigt nicht allein die Tat, sondern tätigt je und je den Täter, [S. 175] wie dies der nicht ganz echte, aber doch um Echtheit eifrig bemühte Gotamide Schopenhauer wenigstens dem Willen an und für sich (ob auch leider nicht der Tat an und für sich) buchstäblich zuerkannte: du bist, wer du willst, esse sequitur velle , aber du tust, wer du bist, operari sequitur esse . Für den Inder jedoch ist es nicht der Wille, nicht eine geistig-seelische Wesenheit, nicht ein geistig-sinnlicher Eigenschaftträger, der das Dasein und Sosein der Person bestimmt, sondern die Tathandlung als solche, wie sie sich schlechterdings überhalb und außerhalb jeder physisch-metaphysischen Trägerschaft oder Täterschaft auswirkt. Es ist das Werk, das sich das Wesen baut, und zwar jegliches Werk das ihm gemäße Wesen. Es ist das Werk, das gleichsam erst in seinem ihm gemäßen Wesen ausruht, ungefähr wie eines jener emsig quabbelnden Einzellentierchen des Männersamens erst im Kern des weiblichen Eies ausruht. Das Werk rastet nicht und beharrt in dauernder Bewegung, bis es das Wesen, so ihm zugehört, mit aller Sorgfalt ausgeformt und ausgebosselt hat. Das Werk währt ewig und ewig wirkt es sich Strafe, Sühne, Vergeltung im erschaffenen Wesen, je nach seinem eigenen Wert; und ewig wirkt es sich Lohn, Förderung, Verdienst im erschaffenen Wesen, je nach seinem eigenen Wert. Und fast schon könnte ein weiterdenkender Abendländer sagen: der Wert währt ewig und ewig erwirkt er sich Strafe, Sühne, Vergeltung im erschaffenen Wesen, ewig Lohn, Förderung, Verdienst im erschaffenen Wesen... Hier aber, wie sonstwo nirgends, sage ich, [S. 176] tötet der Buchstabe und macht der Geist lebendig. Der Buchstabe der Lehre vom Karman tötet vielleicht wie kein zweiter Buchstabe den Geist selber, — den Geist selber aber hat Gotamo ein für allemal selber ehern in das Wort gehämmert: „Eigner der Werke sind die Wesen, Erben der Werke, Kinder der Werke, Geschöpfe der Werke, Knechte der Werke“. Das ist gotamidisch gefaßt das ethische, nicht mehr kosmische Grundgesetz und Urgesetz der Welt, das ist das Ethos selber als Grundgesetz und Urgesetz der Welt. Werk wirkt Wesen, Tat tätigt Täter: das ist in drei Worten aufgefangen, aufgegangen die Lehre vom Karman, wie sie Gotamo vielleicht angetreten und anerkannt, sicherlich aber vertieft und gegründet, abgerundet und zum Glaubenssatz erhoben hat...

Werk wirkt Wesen, Tat tätigt Täter, also lautet die erste und unverlierbare Überzeugung. Aber schon schließt diese eine zweite ein, die hier nur mehr besonders erwähnt, nicht mehr besonders abgeleitet und entwickelt zu werden braucht: Werk nämlich wirkt Leiden, und Tat tätigt Leiden! Denn Wesen und Täter als Erschaffenheit von Werk und Tat, das sind eben Leidende und Erleidende von Werk und Tat; — Zug um Zug, Falte um Falte ihres Daseins, wie ich schon sagte, bedingt und bestimmt durch Karman, verhalten Täter und Wesen in bezug auf Tat und Werk sich leidend. Sie verhalten sich leidend, ihr Christen, in der allgemeineren Sprachbedeutung dieses Wortes, ohne Beziehung zunächst auf die Unlust des Gefühls, die wir in engerer Wortbedeutung Leiden [S. 177] nennen. Leidende sind vielmehr Wesen und Täter, wofern ihr Sein der Tat verdankt wird, durch Tat ihnen angetan wird, ohne daß sie selbst an dieser Tat beteiligt sind, — Leidende mithin im Wortsinn des Getätigt-Seins und Angetan-Werdens, des Bedingt-Seins und Bestimmt-Werdens von einem Etwas, welches sie nicht selber sind. Als Eigner der Werke, ja Knechte der Werke, sind die Wesen recht eigentlich die Leidner und Erleidner der Werke. Ihre innerste Kernschaffenheit, Kernrüstigkeit ward ihnen vom Karman angetan, wie etwa nach der Auffassung Kants die Eindrücke der Sinnlichkeit uns angetan werden vom Ding an sich. In manchem Betracht selber Eindrücke, Fährten, Spuren, die das Karman in dem bildsamen Grundstoff das All hinterläßt, bleibt den Wesen und Tätern keine Wahl, als nach dem Gesetz sich auszuleben, das sie von Karmans Gnaden angetreten, und auf solche Weise unerbittlich streng die Wirkung der Werke in sich zu verkörpern. Werk und Wesen, Tat und Täter aber verhält sich darnach nicht allein wie sich ein Tun zu seinem genau entsprechenden Leiden verhält, sondern mehr noch wie sich eine Ursache zu ihrer genau abgestimmten Wirkung verhält. Das Werk ist geradezu Ursache, Bedingung, Bestimmunggrund des Wesens, wie umgekehrt das Wesen geradezu Folge, Wirkung, Erscheinung des Werkes ist. Die Welt als Ganzheit aber stellt sich dem indischen Genius nicht anders dar als die Summe aller dieser Werk-und-Wesen-, aller dieser Tun-und-Leiden-Knüpfungen, deren fest umschriebenes Wechsel [S. 178] verhältnis dem All seine Ordnung und sein Gesetz, sein Maß und sein Sinn verbürgt. Wenn wir Europäer und Christen, ihr Christen, dem Geschehen dieser Welt die unzerreißliche Schürzung Ursache-Wirkung als weltsetzende und weltverfassende Unveränderliche aus- und eindeutend unterstellen, so unterstellt der Inder und Buddhist dem nämlichen Geschehen, — schon ist es aber nicht mehr das nämliche Geschehen! — die Schürzung Werk-Wesen, die Schürzung Tun-Leiden. Derart stellt das Karman durchaus dar, was der europäische Biologe bei dem Vergleich tierischer Organe miteinander eine ‚Analogie‘ zu nennen pflegt: das Karman ist die Analogie der Kausalität, deren erkenntnismäßige Leistung es haarscharf vertritt (und wie wir gewahren werden: übertrifft!), obschon es von ihrer erkenntnismäßigen Gestalt und Art unverkennbar abweicht. Das Karman, sag’ ich, sei die indische Analogie der europäischen Kausalität, wenn anders dieser naturwissenschaftliche Begriff auf geistige Verhältnisse übertragen und angewendet werden darf. Gleichsam in ihrer Anatomie verschiedenartig, sind Karman und Kausalität sozusagen in ihrer Physiologie gleichwertig, und wie dem Fisch die Kieme Lunge ist, so ist dem Inder das Karman Ursächlichkeit und ursächliche Schürzung. Das Karman ist die Kausalität, wie sie der Inder auffaßt: das Karman ist die erste und letzte sinnspendende, ordnungstiftende Eindeutung, welche aus wüsten Urmassenwirbeln eine Welt herausklärt. Die Knüpfung des Karman leistet dem indischen Geist das, was dem europäischen die [S. 179] Knüpfung der Kausalität leistet oder vielleicht auch nicht leistet, aber leisten soll und will. Die Knüpfung des Karman vertritt dem Inder die Knüpfung der Kausalität, nicht anders wie dereinst die Schürzung des Tun-Leidens, ποεῖν-πάσχειν dem Griechen die Schürzung der Kausalität vertreten hat und insonderheit auf der Tafel der zehn Kategorien des Aristoteles auch vertritt, — was denen zur Beruhigung gesagt sei, die sich immer noch den Kopf zerbrechen, wieso ein streng wissenschaftliches Weltbild wie das der Griechen ohne den Urgedanken der Ursächlichkeit habe überhaupt bestehen können. In Wahrheit hat es eben gar nicht ohne diesen Urgedanken bestanden, auch wenn das Wort Ursächlichkeit wirklich zu fehlen scheint. Die Ursächlichkeit der Griechen heißt ποεῖν-πάσχειν, heißt Tun-Leiden, heißt Antun-Angetanwerden: und wenn je in ihrer vielschichtigen geistigen Geschichte schlagen sie hier die Brücke zum großen Osten, wo der unverbrüchliche Knoten ποεῖν-πάσχειν eben — Karman heißt. Noch haftet ja dieser Ursprung sogar unserem heutigen Gedanken der Ursächlichkeit und Verursachung unabstreiflich an. Noch immer ist ja die Ur-Sache zuguterletzt Ur-Tat und Ur-Tun, noch immer ist die Wirkung ein Angetan-Werden und Erleiden-Müssen. Noch hat sich jede europäische Erkenntnislehre auseinanderzusetzen, wenn nicht abzufinden mit der seltsamen Auffassung, daß die sogenannte Empfindung, will heißen der Stoff und Inhalt des Erlebens, auf irgendeine unerforschliche Weise die Angetanheit, die Erlittenheit sei, die [S. 180] der bewußten Persönlichkeit aus unbekannten und unnennbaren Fernen aufgedrungen wird. Noch lebt in jeder abendländischen Philosophie mehr oder minder stark die Überzeugung, daß der persönliche Träger und Inhaber des Bewußtseins die Welt von außen her erleide und erdulde; noch lebt in jeder abendländischen Philosophie mehr oder minder stark die Auffassung, daß die ‚Sinnlichkeit‘ ein Vermögen des Aufnehmens, Empfangens, Über-sich-ergehen-Lassens sei. Auch jetzt noch ‚erleidet‘ der einzelne Mensch die Wirklichkeit, auch jetzt noch erliegt er der Wirklichkeit. Weltduldend, weltleidend wird selbst dieser europäisch starke und eigenwillige Mensch von der Wirklichkeit und ihrer Zeichenflut überschwemmt und überwallt, also daß sogar uns verhärteten Christenseelen, ihr Christen, der Tat-Bestand Leiden und der Tat-Bestand Leben in der Wurzel fest zusammenwachsen...

Aus unbekannten, unnennbaren Fernen, sagte ich vorhin, strömten dem einzelnen Bewußtsein die Eindrücke zu, die es als sein Erlebnisstoff, Erlebnisinhalt zu erleiden hat. Gilt dies für abendländisches Auffassen ohne Einschränkung, so hebt sich dieses Auffassen freilich just hier am schärfsten vom indischen Auffassen ab, wo es diesem sich am engsten angenähert zu haben scheint. Denn diese namenlosen Fernen, dieses ‚Außerhalb‘ des Bewußtseins, dieses kaum mehr zu verdeutlichende Bereich von Dingen an sich oder von dem Ding an sich, welches auf geheimnisvolle Art das Bewußtsein mit Zeichen, Reizen, [S. 181] Eindrücken, Empfindungen versieht, — dieses Bereich des unergründlichsten Ungefähr verlegt die indische Lehre eben wieder in den Tat-Ort als solchen: in das Karman. Auch der Abendländer, wir sahen es, fühlt sich in seinem Erlebnisumkreis bedingt und bestimmt, beeindruckt und erleidend. Auch ihm werden Empfindungen, Erlebnisstoffe, Bewußtseinsinhalte von verborgenen Herkunftstätten zugeteilt, für welche die wissenschaftliche Topologie keine Ansatzpunkte mit irgendwelcher Zuverlässigkeit auszukunden vermag. Ist dieses bisher durchaus auch indisch, so gestattet sich indes gerade der Inder hier die entscheidende Abweichung von der europäischen Überzeugung, indem er nämlich seinerseit den dort vermißten Ansatzpunkt für die Auswirkungen der Dinge an sich im Karman gefunden zu haben glaubt. Die Kraftquellen der Welt, welche dem Einzelwesen seine Lebensreize spenden, versickern nicht auf dem durchlässigen Grund einer ewig fragwürdigen Dingansichheit, sondern werden ins Karman wie in ihr Sammelbecken unversieglich geleitet. Die Welt, die jedem angetan wird auf seine Weise, sie wird ihm von ihm selber angetan, sie wird ihm von seinem Werk, von seiner Tat, von seinem Willen angetan. Die Welt, die einer in der Jetztzeit seines Daseins erleidet, die hat er sich selber in Gestalt seines Karman in der Zeit erwirkt. Die Zeichen, die einem jeden als Lebensreize zustoßen, die hat sich ein jeder selber zugesendet, auf diese hat sich ein jeder selber abgestimmt. Die Welt erleidend, erleidet jeder zuletzt sich, als Empfänger [S. 182] gleichsam mit magnetischen Kräften an sich ziehend, was er als Sender magisch ins All hinausgestrahlt und gefunkt hat. Die Reiz- und Erlebnisumwelt, anscheinend jedem zufallend auf gut oder schlechtes Glück, ist in einem gedanklich nie zu erschöpfenden Sinn die Wahl-Welt, Werk-Welt, Tat-Welt eines jeden; und zwar dort am meisten, wo sie am unwiderstehlichsten beeindruckt und beeinflußt. Solchermaßen nimmt aber bereits die altindische Lehre unsere späte und kaum schon viel verbreitete Errungenschaft biologischer Einsichten geistreich genug vorweg, — ich meine die höchst fruchtbare Erkenntnis, wonach jedes Lebewesen mindestens seiner morphologischen Typik nach der Urheber und Urtäter seiner eigenen und nur ihm zugemessenen, nur ihm angemessenen Umwelt, Reizwelt, Merkwelt ist und folglich wenigstens im biologischen Betracht nur das erleben kann, was es kraft schöpferischer Selbstgestaltung und Selbstentfaltung zuguterletzt erleben will. Der morphologische Typus einer jeglichen Spezies erschafft sich darnach physiologisch und psychologisch seine spezifische Erlebniswirklichkeit, die genau genommen nur für ihn besteht und nur ihm entspricht: die Schnecke die Schneckenwirklichkeit, die Möve die Mövenwirklichkeit, die Ameise die Ameisenwirklichkeit, der Affe die Affenwirklichkeit. Wie sich die Erde eine Lufthülle umlegt, in welcher sie atmen kann, und nun die Umwelt, Reizwelt, Merkwelt ‚Luft‘ erlebt, so umgibt sich selbstschöpferisch jedes Geschöpf mit einer Wirklichkeit, in der es wirken kann und die auf seine Wirksamkeit [S. 183] wiederum aufs wunderbarste zugeschnitten ist... Ein Schritt weiter vom Leben der Art und Gattung zum Leben des Einzelwesens hin, ein Schritt weiter vom Bios und allem, was mit ihm zusammenhängt, zum Ethos hin und allem, was mit ihm zusammenhängt: und Europa ist reif für die gotamidische Lehre, daß auch hinsichtlich des Ethos, und keineswegs allein des Bios, ein jedes Lebendige nur das, was es zu innerst will, erleben und empfangen, empfinden und erleiden, erreizen und ergeizen kann. Was da in dieser Welt Wasser zu erleiden hat, das hat eben als Karman Wasser getan; was da Erde zu erleiden hat, das hat Erde getan; was da Feuer zu erleiden hat, das hat Feuer getan; was da Luft zu erleiden hat, das hat Luft getan; was da Tod zu erleiden hat, das hat Tod getan; was da Hölle zu erleiden hat, das hat Hölle getan; was da Geist zu erleiden hat, das hat Geist getan; was da Säligkeit zu erleiden hat, das hat Säligkeit getan. Wer dieses über den Bios hinaus aus dem Ethos zu verstehen vermag, der hat die Lehre vom Karman endgültig verstanden, soweit das Verstand-Übersteigende verstanden werden kann. Ihm ist in Übereinstimmung mit dem Herrn Gotamo das Leben wohl in seiner Wurzel Leiden: aber das Leiden, ihr Christen, in seiner Wurzel Tat! Aber das Leiden, ihr Christen, in seiner Wurzel Tat!...

Wie etwa an einem Herbstnachmittag aus falb leuchtenden Silbernebelmassen ganz plötzlich eine dunklere Linie sichtbar wird hoch in der Gegend des Raumes, wo wir den Himmel vermuten dürfen; wie [S. 184] sich dieser ungewisse Streifen alsbald zu erkennen gibt als die Rist- und Gipfelrandung ungeheuerer Gebirge; wie schließlich sich die Gletscherbänke und Firnfelder hintereinander gereihter Alpenketten bei zunehmender Klärung vom Himmel her bald leuchtend und bald schattend abwärts tasten und abwärts schieben, um zuletzt auf der Erde selbst gewaltig wuchtend Fuß zu fassen: also zeichnet sich hier erst in wenigen Zacken und Zinken, Schroffen und Stürzen, dann aber immer körperhafter, immer ausgerundeter, immer raumbeherrschender ein ganzes Welt-All ab, zuletzt vom vollen und goldenen Nimbus einer übermenschlichen, übergöttlichen Gerechtigkeit wundersam besonnt. Ein Welt-All zeichnet sich ab, wo alles bereinigt, alles beglichen, alles geschlichtet, alles gewogen, alles gerichtet scheint, — ein Welt-All, untadelig und vollkommen in sich selber und darum keines Gotts bedürftig, der daran bessern oder schlimmern könnte, keines Gotts, der es ergänzen oder vervollständigen müßte in dem, was ihm von Haus aus gebricht. Ein Welt-All ohne schmierigen Geschäfte und Geschäftchen, wo niemand um das Heil seiner Seele feilscht und marktet, handelt und händelt, schwindelt und betrügt. Ein Welt-All, wo kein Mensch seine Götter prellt und noch weniger ein Gott seine Menschen. Ein Welt-All, wo keiner zu seinem Gott betet und bettelt, daß er die Welt-Ordnung doch für einen Augenblick zugunsten des Herrn Müller, Schultze, Schmidt ein wenig außer Kraft setzen möchte und die Welt-Fügung außer Fug. Ein Welt-All, wo keine [S. 185] Götter blinzeln oder zwinkern oder ein Auge zudrücken, wenn der Herr Müller, Schultze, Schmidt vom Pfad der Tugend abweicht und sich im Dickicht nebenan zu schaffen macht. Ein Welt-All, wo kein Priester über zulässige und unzulässige Ausnahmen von der Regel zu befinden sich gedreistet: ein Welt-All, so unverbrüchlich, unverwüstlich, daß nicht einmal der Wüsten-Gott Jahve drein zu sprechen sich getrauen dürfte. Ein Welt-All, wo kein Platz ist für Zufall und Zufälligkeiten, aber kein Platz auch für Zwecke und Zweckmäßigkeiten in der landläufigen Bedeutung. Ein Welt-All, wo sich alles abspielt in durchgängiger Wechsel-Abhängigkeit, Wechsel-Bezogenheit, Wechsel-Folgerichtigkeit, wo aber andererseit auch die Ursächlichkeit noch nicht entartet ist zu jener tief gleichgültigen Sächlichkeit und Sachlichkeit, welche sie zur alleinigen Angelegenheit der Wissenschaften, nicht aber mehr zum Sinn der Religionen stempelt. Ein Welt-All, das sich den Luxus der Gottlosigkeit wirklich leisten kann, weil es nicht wie das unsrige bloße Physis oder bloßer Bios, sondern unter allen Umständen ein Ethos ist: Physis und Bios und Ethos zumal verankert in dem einen und nämlichen Urgesetz des Kosmos... Von diesem Gesetz in jedem Teil und jedem Glied ewig und ehern durchwaltet, schenkt dieses Welt-All der Seele des Menschen, was des Menschen Seele bedürftig ist, bedürftig war und bedürftig sein wird: weshalb die von der Welt getränkte und gespeiste Menschenseele Gottes und der Götter nicht bedarf. So ist der Kosmos des Buddho, das sei uns [S. 186] Christen, ihr Christen, immer wieder eingehämmert, zwar durchaus ein Kosmos Atheos, aber dafür in jedem Zug vollkommenes Ethos, — und das ist vielleicht nicht unbeträchtlich mehr, als man von unserm westlichen Welt-Bild und Welt-Gefüge seit dem griechischen Altertum und seit dem christlichen Mittelalter mit etlichem Recht nachrühmen darf. Aus dem Ethos herauf entstieg jenen Indern, welche die Anschauung vom Karman in sich empfangen hatten, die Anschauung ihres Kosmos: aus dem Tatbestand des Pathos aber, beeile ich mich hinzuzufügen, erwuchs ihnen das Ethos. Derart brauchte sich das Ethos nicht wie jeweils bei uns nach kurzem Antrieb leer zu laufen, sondern griff mächtig in den Kosmos ein. Wenn aber ein Grieche die beinah’ unsägliche Bedeutung dessen, was einem Griechen Ethos hieß, in drei Worte zusammenballte wie in eine geschlossene Faust, indes freilich auch noch die geballte Faust zu schwach war für die Stärke dieser Worte; wenn ein Grieche also vormals sagte: ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων, Sinnesartung ist dem Menschen Schicksal! — nun wohl, dann hat der Buddho auch dieses geflügelte Wort noch überflügelt durch sein gotamidisches: πάθος ἀνθρώπῳ ἦθος, πάθος κόσμῳ ἦθος! Leiden ist dem Menschen Seins- und Sinnesartung, Leiden dem Welt-All Seins- und Sinnesartung! Oder um den entscheidenden Gedanken mit noch größerer Schärfe auszuprägen: das Leiden ist dem Welt-All Sein und Sinn schlechthin! Aus des Leidens Urerleben, das gilt es jetzt mit einem Staunen ohne Ende zu be [S. 187] greifen, aus ihm läutert und keltert sich der Buddho den eigentlichen Sinn des Seins, den eigentlichen Sinn der Wirklichkeit. Der Tatbestand des Leidens als solcher vermittelt dem Buddho die Anschauung einer übermenschlich-übergöttlichen Welt-Gerechtigkeit, Welt-Vernünftigkeit, Welt-Vollkommenheit, Welt-Folgerichtigkeit. Wofern hier jedes Wesen leidet, was jedes Wesen tat, wofern hier jedes Wesen ist, was jedes Wesen tat, erblickt das Auge Gotamos, das ‚himmlische und geklärte‘, diese Welt in makelloser, untadeliger Sinngetreuheit und Sinndurchwirktheit, — erblickt es sie mit jener zärtlichen Ergriffenheit vor allem Lebendigen, die dem Buddho allein in dieser Reinheit und Kraft eigen gewesen ist. „Gleichwie etwa, ihr Mönche, wenn da zwei Häuser wären, mit Türen, und es betrachtete ein scharfsehender Mann, in der Mitte stehend, die Menschen, wie sie das Haus betreten und verlassen, kommen und gehen: ebenso nun auch, ihr Mönche, seh’ ich mit dem himmlischen Auge, dem geläuterten, über menschliche Grenzen hinausreichenden, die Wesen dahinschwinden und wiedererscheinen, gemeine und edle, schöne und unschöne, glückliche und unglückliche, erkenne wie die Wesen je nach den Taten wiederkehren. Diese lieben Wesen sind freilich in Taten dem Guten zugetan, in Worten dem Guten zugetan, in Gedanken dem Guten zugetan, tadeln nicht Heiliges, achten Rechtes, tun Rechtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren sie auf gute Fährte, in himmlische Welt wieder. Und [S. 188] auch diese lieben Wesen sind in Taten dem Guten zugetan, in Worten dem Guten zugetan, in Gedanken dem Guten zugetan, tadeln nicht Heiliges, achten Rechtes, tun Rechtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren sie unter die Menschen wieder. Jene lieben Wesen sind aber in Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan, in Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes, tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren sie in das Gespensterreich wieder. Und auch jene lieben Wesen sind in Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan, in Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes, tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren sie in die Tierheit wieder. Und auch jene lieben Wesen sind in Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan, in Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes, tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren sie abwärts, auf schlechte Fährte, zur Tiefe hinab, in höllische Welt wieder“...

Haben wir dieses, ihr Christen, einmal erschöpfend gewürdigt, wie für den Buddho die ganze Sinnerfülltheit und Sinnbedingtheit der Welt ausschließlich an der Lehre vom Karman hängt, will heißen an der Vorstellung von einem ewigen Wechsel- und Abhängigkeitverhältnis zwischen Werk und Wesen, Tat und Täter, Tun und Leiden, — dann vermögen wir endlich etwa auch zu würdigen, warum der Buddho [S. 189] gegen jede Anzweiflung dieses weltordnenden, ja weltstiftenden Zusammenhanges so ungewohnt scharf ausfallen mußte, wie dies zum Beispiel, ich erwähnte es schon, in der Hundertundneunten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo jenem vorwitzigen Mönchlein geschah, das aus der dort entwickelten Formel des ‚ N’etam mama , das gehört Mir nicht‘ die Unzugehörigkeit von Tat und Täter folgern wollte. Diese Verknotung von Pathos und Ethos, übrigens in ungefähr gotamidischer Zeit doch auch in unserem Westen von den Griechen auf ihre eigene Weise erahnt, sei es orphisch, sei es tragisch, ja sogar sei es philosophisch geschehen (wie die aristotelische Tafel von den Kategorien erweist und beweist: und eben durch die aristotelische Philosophie in das wissenschaftliche Weltbild Europas eingeschmolzen), — diese Verknotung knotet und schürzt überhaupt erst die Wirklichkeit zur Welt, welche ohne sie zu einem unentwirrbaren Knäuel abgerissener Fäden aller Art wie ausgekämmtes Frauenhaar verfilzen würde. Wer das Karman anficht, ficht die Verfassung des All, das Grundgesetz des All, den Ursinn des All an, „ein eitler Mensch, aus Unwissen in Unwissenheit geraten, vom Durst im Geiste überwältigt“... Das Karman heftet die Mannigfaltigkeit der Dinge und Begebenheiten zusammen, wie der Einband die losen Blätter eines Buchs zum Buch zusammenheftet. Das Karman einigt die Unterschiedlichkeiten der Dinge und Begebnisse, wie der Sinn die verschiedenen Buchstaben eines Wortes, die verschiedenen Worte eines Satzes, [S. 190] die verschiedenen Sätze einer Rede einigt. Das Karman durchtönt und durchdringt die Wirklichkeit mit seiner Farbe, wie eine Kugel Waschblau das Wasser des Zubers bläut und mit ihm alle Wäschestücke, die im Zuber abgespült und ausgerungen werden. Das Karman fügt Tun und Leiden, Tat und Dasein vollkommen passend aneinander, wie ein geschickter Zimmermann Nud und Feder vollkommen passend aneinanderfügt. Das Karman verstätigt die bloße Aufeinanderfolge von Werk und Wesen, Tat und Täter in der Zeit zu einer bedingend-bedingten Auseinanderfolge in der Zeit und schweißt alle Auseinanderfolgen in einen unverbrüchlich lückenlosen Ring. Für immer erzeugt gemäß dem Karman das gleiche Werk das gleiche Wesen, für immer gebiert gemäß ihm die gleiche Tat den gleichen Täter: dauernd dreht sich dieser Ring der Werke-Wesen um des Karmans Achse wie ein wohlgeschmiertes Rad. Weil aber hier stets die gleiche Ursache gleiche Wirkung, die gleiche Urtat gleiche Wirkung, das gleiche Werk das gleiche Wesen, das gleiche Tun das gleiche Leiden nach unabänderlicher Satzung setzen werden, geschieht es ganz von selbst, daß der Künder des Karman in einer gewissen Weise der Künder der Ewigen Wiederkehr zu sein gar nicht umhin kann: als welchen ihn denn auch das Buch vom Gestaltwandel der Götter dem europäischen Leser schon vorgestellt hat. Der Buddho, der zwischen den zwei Häusern Platz genommen hat, aus welchen diese Wesen ausgehn und wohin sie eingehn: jedesmal in neuer Maske, neuer Verpuppung und neuer Gestalt, — er wird [S. 191] doch immer derselben Schürzung gewahr zwischen Werk und Wesen, Tat und Täter, Tun und Leiden: wird derselben Schürzung nicht ohne Überdruß gewahr! Denn das ewige Gesetz durchwaltet zwar diese Welt wohltätig mit Sinn, durchwärmt diese Welt wohltätig mit Sinn. Aber das ewige Gesetz verzerrt auch den Sinn dieser Welt zum Un-Sinn, Wider-Sinn und läßt den Sinn zum Un-Sinn, Wider-Sinn erkalten. Mit zermalmender Gleichform setzt das Gesetz von sich aus immer nur das Gleiche; gleiches Tun, gleiches Leiden; gleiches Werk, gleiches Wesen; gleiche Handlung, gleiche Erscheinung: das ist der Ring des Gesetzes, das ist das Rad des Gesetzes. Trostspendend, heilwirkend dem, der vor der Willkür und dem Zufall des Geschehens zum Gesetz sich rettet, wird das Gesetz fürchterlich dem, der aus der Regel zur Ausnahme, aus der Abhängigkeit zur Freiheit hinstrebt. Durch des Leidens Urerleben ist Gotamo zum Weltgesetz, zur Weltordnung, zum Weltsinn gekommen. Aber wiederum kommt durch des Gesetzes, durch der Ordnung, durch des Sinnes Urerlebnis Gotamo zurück zum Leiden, von dem er eben ausging. Der Lehrer und Künder des Karman als dem Dharma beginnt am Karman, beginnt am Dharma selbst zu leiden: und diesem Leiden gleichsam am Sinn weiß freilich kein Sinn mehr Abstellung zu erwirken. An der Erfahrung des Leidens ist Gotamo herangereift für ein Welt-All, vollkommen makellos, untadelig und gerecht. Aber zugleich kehrt in diesem All das Gleiche in der Zeit wieder, und derart erweist sich [S. 192] das All seinem tiefsten Deuter als eine Stätte ewiger Wiederbringung, als ein Ring ewiger Wiederkehr, als ein Rad ewiger Wiederkünfte: „Ewig ist Seele und Welt, starr, giebelständig, grundfest gegründet; und diese Wesen wandern um, wandeln um, verschwinden und erscheinen wieder: es ist immer das Selbe“... Gesetzt durch das Gesetz, verletzt also die Welt am unheilbarsten durch das Gesetz den, der die Freiheit im Gesetz und in der Welt sucht. Am Gesetz erlabt sich die Seele, wofern ihr das Ungesetz verhaßter wie die Schande ist: aber wider das Gesetz empört sich dieselbe Seele, wofern sie die Freiheit mehr liebt wie sich selber. „Und es gibt eine Freiheit, höher als diese sinnliche Wahrnehmung“, begütigt sich die Seele selber, die am Gleichschritt des Geschehens tödlich leidet... Es gibt eine Freiheit, da das Gesetz stets nur Notwendigkeiten setzt und dennoch die eigentliche Not nicht wendet: es gibt eine Freiheit, welche die Not des Gesetzes selber wendet...

Als Krischna, der Hirtenknabe — wir entsinnen uns, ihr Christen, dieser liebenswürdigen Legende — als Krischna, der Hirtenknabe, eines Tages sich erging am Ufer der heiligen Yamunâ und sich ergötzte, wie der Strom so flink und schimmernd wallte, da ward er auf der Oberfläche dieses schönen Flimmerspiegels einer Stelle ansichtig, von welcher her Rauch und Gestank schwelte. Er sah das Wasser sieden und mit plötzlich aufsprudelnden Springfluten das Laub der Bäume am Gestade versengen, die Vögel auf den Zweigen verbrühen. Sofort gedachte er, wie dies ge [S. 193] wiß Kâliya sei, die Weltenschlange, die hier mit ihrem giftigen Gezücht Wasser, Land und Luft verpeste. Und er gedachte ferner, wie es jetzt an der Zeit sein möchte, mit dieser Weltenschlange auf dem Grund der himmelspiegelnden Yamunâ ein Wort zu reden und sie, koste es was es wolle, zum Abzug aus diesen göttlichen Gefilden zu bewegen. Das alles gedachte der Hirtenknabe Krischna bei sich und schon hatte er sein Kleid geschürzt und sich in den kochenden Strudel hineingeschwungen auf den Grund des Schlangenpfuhls, — schon hatte er die Arme ausgereckt, die kindlichen, um das wütende Ungetüm zu würgen. Aber schon wand auch die hochgesträubte Schlange ihre tausend Leiber um den Knaben, schon schlug sie ihre tausend Zähne in sein golden Fleisch. Bald war nichts mehr von ihm zu erblicken, der von dem Metall der Schuppenarme rings umpanzert war wie von einer Rüstung, welche der Waffenschmied am Körper des Gerüsteten selber glüht und biegt und hämmert. So hatte sich Krischna übermütig in den Schlangenabgrund geschwungen, um von ihm verschlungen zu werden. Bestürzt, ratlos, verzweifelt liefen die Hirten und Hirtinnen der Heimat an den Ufern zusammen und rangen die Hände in Schmerz und Ohnmacht, indes des Knaben Mutter Yasodâ wie leblos auf die Erde fiel. Bis dann zuletzt Krischnas Leibesvater Nanda, unbewegt dem Sohn ins Auge blickend, die Worte in den Pfuhl hinunterwirft: Genug, o Gott der Götter! Du hast lange genug dich menschlich gezeigt; weißt du nicht, daß du göttlich [S. 194] und ewig bist?... Derart angerufen, aufgerufen zum Entschluß, sich endlich auf sich selber zu besinnen, sich endlich zu sich selber zu ergotten, lächelt der Knabe sanft seines zauberischen Lächelns. Und zieht sich leicht und spielend aus der tausendarmigen Umwindung, nicht anders etwa wie eine Dame der Gesellschaft ihre Hand anmutig und leicht aus dem Arm eines Herrn herauszieht, der sie zu Tisch oder zum Tanz geführt hat. Und tritt mit einer kaum merklichen Bewegung der Schlange auf den behaubten Kopf und immer wieder auf den Kopf, bis sie unter die Wippe der göttlichen Ferse immer und immer wieder gewippt, in ihren fruchtlosen Zuckungen und Krämpfen schließlich erlahmt und am Ende steif, speiend, geifernd vor Anstrengung ohnmächtig auf dem Grund des Stromes ausgestreckt liegt und in strengem Schwur den Abzug aus dem heiligen Bezirk verspricht... Die Weltenschlange Kâliya aber der Legende, wer wüßte es nicht, ahnete es nicht, ist das Urgesetz Karman selber, in welches Krischna-Gotamo sich verstrickt findet. Wie Krischna der Hirtenknabe steht der Erhabene da auf dem Grund des Schlangenpfuhls: lebendig eingeschmiedet in den lebendigen Ring des Weltgesetzes, den glühend schwingenden und kreisenden, — lebendig aufgeflochten auf das wälzende Rad des Weltgesetzes und von ihm gerädert. Aber indes ihm das Weltgesetz in tausendgliedriger Verschlingung stätig drehend die Gelenke bricht und ihm tausend Zähne ihr Gift in nimmer heilende Wunden träufen, da vernimmt er zwar nicht die [S. 195] Stimme seines Leibesvaters, aber doch seine innere Melodie: Genug, o Mensch der Menschen! Du hast lange genug dich zeitbedingt, gesetzabhängig, ursachverhaftet gezeigt: weißt du nicht, daß du ewig, daß du ledig, daß du frei bist? Genug, o Geräderter auf dem Rad aller Räder: weißt du nicht, daß diese Seele nimmer gerädert werden kann? Genug, o Geschmiedeter in den Ring aller Ringe: weißt du nicht, daß die Seele selbst des Feuers ist, des schmiedenden, aber weder des Erzes noch des Erd-Schmutz-Stoffes, der da geschmiedet werden kann und darf und muß?...

Hier aber berühren wir, ihr Christen, die heikelste, die empfindlichste Stelle nicht nur des gotamidischen Erlebens, vielmehr alles Erlebens überhaupt von wirklich religiöser Beschaffenheit, religiöser Herkunft, religiöser Weihe. Die Erfahrung des Leidens hatte Gotamo dazu geführt, das All selber gleichsam zu erschaffen als die unverbrüchliche Aufeinanderfolge von Tun-Leiden, wo jedem Wesen kraft seiner Eigenschaft als Erscheinung und Gestalt in Raum-Zeit dasjenige als Reizwelt, Merkwelt, Unwelt ‚angetan‘ wird, was er selber kraft seiner Eigenschaft als Werk an und für sich, Tat an und für sich, Wille an und für sich gewählt und ausgesucht hat. Die Erfahrung des Leidens hatte auf diese Weise Gotamo zur Erfahrung einer Wirklichkeit geführt, in welcher jedes einzelne Wesen die Vergeltung seiner Werke darstellt und in welcher jede einzelne Geburt eine Wiedergeburt nach eigener Bestimmung ist. In dieser Wirklichkeit setzt jedes Lebendige seinen eigenen Rang und wählt jedes Da [S. 196] seiende seinen eigenen Wert als den ihm gegenwärtig allein zusagenden, angemessenen, erwünschten, — in dieser Wirklichkeit lebt jede Erscheinung zuletzt als ihre eigene Wunschverkörperung, Willensversichtbarung, Wertverwirklichung. Wer da nach seinem Ableben in höllische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte die höllische Welt, suchte und fand die höllische Welt. Wer da nach seinem Ableben in die tierische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte die tierische Welt, suchte und fand die tierische Welt. Wer da nach seinem Ableben in die gespenstische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte die gespenstische Welt, suchte und fand die gespenstische Welt. Wer da nach seinem Ableben in die menschliche Welt wiederkehrt, dessen Karman wollte die menschliche Welt, suchte und fand die menschliche Welt. Wer da nach seinem Ableben in die göttliche Welt aufsteigt, dessen Karman wollte die göttliche Welt, suchte und fand die göttliche Welt. Mit einer Notwendigkeit, die ebensosehr eine kosmisch gültige ist wie eine dem Sinn entsprechende und im Sinn gegründete, bewährt sich hier jedes Dasein als die Setzung seiner engsten Tat und Absicht: das ‚Ich‘ setzt sich hier in der Strenge einer Wortbedeutung, die sich wohl selbst jenem deutschen Denker noch nicht voll erschloß, der diese Wahrheit zum Grundsatz seiner Philosophie erhob... Trotzdem hat inmitten dieser eisernen Verkettung von Notwendigkeiten die Freiheit eine Stätte! Daß zwar ein Wesen in Raum und Zeit jemals auf eine andere Weise erscheine, als es durch seine Werke selbst vorherbestimmt [S. 197] habe, oder daß sich ein Ich jemals nicht in Übereinstimmung mit seiner Tathandlung der Selbst-Setzung selber setze, — das freilich ist und bleibt völlig außerhalb jeder erdenklichen Freiheit gelegen; das Wie und das Was jedes einzelnen Daseins ist durchgängig festgelegt vom Wie und Was dieser vorausgehenden Werktätigkeit. Nur das Wie und das Was dieser Werktätigkeit seinerseit untersteht keinem Zwang, keiner Bestimmung, keiner Verursachung, vielmehr entscheidet das Wie und Was der Tat selbstherrlich und frei über das Wie und Was der eigenen Wesenheit: eben der Vorgang der Wahl wird nach der Lehre vom Karman als schlechthin ‚unbedingter‘ Vor-Gang aller Bedingungen und Bedingtheiten herausgeschält. Er spielt sich außerhalb der Reihe der Dinge und Dinglichkeiten ab und ist in dieser Hinsicht un-bedingt; er löst sich aus der Wechsel-Verknüpftheit aller Wirklichkeiten heraus und ist in dieser Hinsicht heraus-gelöst und ab-gelöst, das ist lateinisch: absolut. Inmitten des geschlossenen Kreislaufs des welthaften Tun-Leidens und der welthaften Werke-Wesen bleibt eine einzige Stelle offen, ungefähr wie in einem rings mit glänzender Eiskruste zugefrorenen Binnensee eine einzige Stelle offen (und zugleich dunkel) bleibt: dort nämlich, wo dem Boden der Born des Zuflusses entquillt, der den See speist. Auf ähnliche Weise bleibt im Umkreis der lebendigen Notwendigkeiten die Zufluß-Stelle, Eintritt-Stelle frei, wo die rang- und wertbestimmenden Wahlhandlungen, Tathandlungen in den Umkreis münden. Die Tat, die von neuem ihre [S. 198] Selbstverkörperung als Täter setzt, das Werk, das von neuem seine Selbstverleiblichung als Wesen setzt, ist frei und kann Täter, Wesen dahin, dorthin setzen, in höllische, tierische, gespenstige, menschliche, göttliche Welt, just wie der Wille ist, wie der Wunsch ist, wie die Wahl ist...

So daß sich jetzt wie von selbst die Frage ungerufen stellt und einstellt: ob nicht zuletzt doch eine Tat erdenklich wäre, die nicht mehr verkörpernd diesen oder jenen Täter an seine tatbestimmte Stelle der Werdewelt und Wandelwelt setze, sondern eine Tat, die gleichsam selbsttätig sich selber mitsamt der Person des tatfolgenden Täters aus dem geschlossenen Kreis der irdischen Kräfte und Kräfteträger auszuschalten fähig wäre? Ob es nicht zuletzt ein Werk gäbe, auf welches ein ihm zugehöriges Wesen und Dasein nicht mehr mit ursächlich bedingter Notwendigkeit folgen müsse? Ob nicht zuletzt ein Wille vorhanden sei, der neben seiner Freiheit zum Was und Wie der Wiederverwirklichung eine höhere Freiheit aufwiese, eine Freiheit auch zu dem Daß und Ob dieser Wiederverwirklichung? Ob nicht zuletzt eine Wahl, eine Entscheidung getroffen werden könne, die nicht allein frei zu nennen wäre in Ansehung der künftig einzunehmenden Stelle in diesem All und in Ansehung des darin einzunehmenden Stellen-Wertes, sondern frei überdies in Ansehung der Wiederkunft und Nicht-mehr-Wiederkunft in diese Werde- und Wandelwelt? Ob nicht zuletzt ein Karman zu betätigen sei, welches weder in den Schoß der Hölle [S. 199] eingehe, noch in den Schoß der Tierheit, noch in den Schoß der Gespensterheit, noch in den Schoß der Menschheit, noch in den Schoß der Göttlichkeit, — nein, ein Karman vielmehr, welches ganz einfach in gar keinen Schoß mehr eingehe irgend welcher Geburten und Wiedergeburten, ein Karman, welches in der Sprache der Lehre ‚keine Fährte‘ hinterlasse? Denn setzen wir den Fall, ihr Christen, ein Wesen habe die Stockwerke dieser Welt von unten nach oben in der gehörigen Reihe erstiegen und sei in niemals erlahmender Selbststeigerung, Selbstveredelung, Selbstvollendung von teuflischer Gestalt zu göttlicher Gestalt über Tier, Gespenst, Mensch hinweg nach oben geklommen: schwebt dieses Wesen, wofern es doch auch jetzt noch dem Weltgesetz ewiger Verkettung von Tat-Täter, Werk-Wesen, Tun-Leiden durchaus unterworfen bleibe, — schwebt es nicht in furchtbarer Gefahr, von seiner erklommenen Höhe wieder herabzugleiten, und just jenen ‚Fall‘ zu tun, den jeder Gott tat, wenn er versucht ward, eine Welt zu schaffen und dieser Versuchung alsbald auch erlag? Setzen wir also den Fall, ihr Christen, — und der Buddho hat diesen Fall wahrhaftig schon gesetzt! — auch diese Götter gehörten ohne Vorbehalt und Einschränkung dem Kreislauf der Wiederverkörperungen in der Zeit an und lebten keineswegs ungebunden, unverpflichtet hinter oder außer oder über dieser Welt: gilt dann nicht auch für sie ganz ohne Vorbehalt und Einschränkung das Grundgesetz der Welt von der Wiederverkörperung der Tat im Täter, des Werks im Wesen, [S. 200] des Tuns im Leiden? Wäre ein Wesen mithin sogar als Gott wiedergeboren, es bliebe auch als Gott geknüpft an die stätige Wechselwirkung, die die Lehre vom Karman als die unverbrüchliche Satzung dem Weltbau unterstellt. Auch im Himmel bliebe diesem Wesen das Leiden nicht erspart, und sei es auch nur ein Anflug jenes echten Götter-Leidens, durch Götter-Tat diese leidende Welt dem Heile nicht entgegenführen zu können, weil auch der Gott ja eisern in den Ring der Geburten eingeschmiedet ist und bleibt. Auch ein Gott in Person würde ja die Mitleid-Bitte der Himmelskönigin Aditi um ‚ewige Erlösung‘ anhören müssen, ohne ihr willfahren zu können: denn auch Gott in Person, das hat jener Krischna-Mythos ein für allemal mit hoher Frömmigkeit geoffenbart, ist nur ein Teil des Ganzen, nur ein Dasein unter Daseienden, nur eine Gestalt unter oder über anderen Gestalten. Im gotamidischen Kosmos kann jeder Unermüdliche und Bewährte im Ablauf der Weltenjahre Gott werden, — und dies ist die unendliche Tröstlichkeit, die unvergleichliche Hoffnungfröhlichkeit, die unwiderstehliche Herzensinnigkeit dieser Religion, die unter diesem Zeichen einen erheblichen Bruchteil der Menschheit für sich erobert hat. Aber zugleich bleibt im gotamidischen Kosmos auch der Gott aufs strengste an die heilige Verfassung der Welt gebunden, als welche Karman heißt oder Wiederkehr des Gleichen oder ewige Wiedergeburt oder Ring der Wiederbringungen oder Rad der Werke-Wesen oder Kreis des Tun-Leidens... Darum schweift Gotamos Blick [S. 201] voll sinnender Schwermut über die fernsten Nebelbänder, Sonnenräder und Kometenschweife dieser unbegrenzten Welt und aller möglichen unbegrenzten Welten weit hinaus. Darum fällt gelegentlich in der Zwölften Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo jenes für Christenohren so hocherstaunliche und vermutlich hochanstößige Wort: „Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur unter Reinen Göttern kreisen: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren. Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur unter Reinen Göttern geboren werden: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren. Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur unter Reinen Göttern leben: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren“...

Wie eng verzahnt und genau ineinandergepaßt dies nicht alles ist! Wie stätig und zusammenhängend geschichtet, auch wo die Schichtungen einmal eine Bruchstelle zeigen und eine Verwerfung erfahren haben! Wer das Leiden als das Gesetz der Welt erkannt und gedeutet hat, wer am Weltgesetz selber leidet und an dessen ewiger Wiederkunft des Gleichen zum Gleichen, dem kann in Wahrheit nicht einmal die Geburt als Gott zu des Leidens Überwindung taugen. Dies Leiden durchaus und von innen her überwinden, hieße die Welt selbst durchaus und von innen her überwinden, in welche das Leiden bedingend und verursachend, bedingt und verursacht je und je verflochten ist. Der Gott aber stehet in der Welt, wenn auch der Welt zuoberst, und nicht außer ihr. Wer da am Leiden leidet, weil in das Fundament der Welt das Leiden gleichsam eingemauert ist wie in das Fundament mittelalter [S. 202] licher Türme ein lebendiges Wesen (mit seinen Todesqualen) eingemauert ward, — dem taugt von allen Taten nur die eine: die Durchbrechung! Die Durchbrechung des Kreises der Geburten und Wiedergeburten, die Durchbrechung des Dharma und des Karman, die Durchbrechung der ganzen unendlichen Reihe Tat-Täter und Werk-Wesen. Solang ein Mensch solcher Fühlung sich der Welt verhaftet weiß, weiß er sich abhängig von der Welt und abhängig von der Welt Entstehungen und Vergehungen; weiß er sich abhängig von Alter, Krankheit, Tod; weiß er sich abhängig von aufsteigenden und absteigenden Lebensknoten ... Aber „Unabhängigkeit, sag’ ich, ihr Mönche, ist höchstes Labsal der Gefühle!“ Unabhängigkeit von dieser Welt und ihrer falschen Notwendigkeit, die nirgends Not und Nöte wendet, sondern stets nur neue Not und Nöte schafft und schafft; Unabhängigkeit von allen Drohungen der Wirklichkeiten und Möglichkeiten jetzt und künftighin; Unabhängigkeit von dem Zwang der abermaligen Entstehung, abermaligen Vergehung: sie gilt es irgendwie zu bewirken und zu befestigen. Eine Stelle gilt es ausfindig zu machen, über welche keine Flut des Werdens mehr hinwegbrandet und wo Sicherheit, Stätigkeit, Standfestigkeit winkt, eine weltlose Stelle außerhalb aller Stellen und Stätten der Welt. Und derart geschieht hier, ihr Christen, das Ungeheuere und ganz Unausdenkliche und jeden Begriff bei weitem Übersteigende, daß Gotamo diese von ihm selbst so groß und schön geordnete Welt um dieser höchsten Unabhängigkeit [S. 203] willen eigenhändig wie eine tadellose Glocke von reinstem Guß und reichstem Klang mit nerviger Faust in Trümmer hämmert! Am Leiden leidend, folglich an der Welt leidend, folglich an der Welt Gesetz und Ordnung leidend, folglich am Kreislauf der werkvergeltenden Geburten leidend, folglich am Karman leidend, setzt Gotamo dies Karman mit derselben Machtvollkommenheit der Seele außer Kraft, mit welcher er es einst in Kraft gesetzt hatte. Dieselbe Seele, die einen unveräußerlichen Anspruch hat auf Gesetz und Gesetzes Wohltat, hat einen unveräußerlichen Anspruch auch auf Freiheit und der Freiheit Säligkeit. So gilt das Karman für die Welt der Wirklichkeit und Wirksamkeit unaufheblich, aber gilt nicht für diese Seele, die sich die Freiheit von der Welt und von der Wirklichkeit auf irgendeine Weise zu erkämpfen, zu ersiegen weiß. Das Karman ist der Dharma der Welt, und sicherlich müßte das Gerüst der Welt im Nu in sich zusammenstürzen, sicherlich müßte das Gefüge der Welt im Nu aus allen Fugen springen, wenn das Karman nicht alle seine Balken und Stützen und Bretter mit eisernen Klammern fest aneinanderhaftete. Die Seele aber besitzt ihren eigenen Dharma, welcher vom Dharma der Welt nicht weniger verschieden ist als die Welt von der Seele selbst verschieden ist. Der Dharma der Welt heißt Notwendigkeit, Gesetz, Verhaftung, Wechselbedingtheit, Verhältnismäßigkeit; der Dharma der Seele heißt Freiheit, Ledigkeit, Selbstherrlichkeit, Unbedingtheit, Abgelöstheit. In Leidens-Freiheit, Leidens- [S. 204] Ledigkeit, Leidens-Abgelöstheit bewährt die Seele sich selbst als unbedingt und selbstherrlich; in Welt-Freiheit, Welt-Ledigkeit, Welt-Abgelöstheit bewährt die Seele sich selbst als unbedingt und selbstherrlich...

Um es mit Einem Wort zu sagen: es stehet in der Macht der sogenannten Seele, wenn sie nicht länger leiden will, nicht mehr zu leiden. Es stehet in der Macht der Seele, aus der Verklammerung von Tun und Leiden, welche wir als ‚Wirklichkeit‘ nun kennenlernten, sich sanft und sacht zu lösen: nicht anders, wie sich der Gottmensch Krischna aus der Umwendung der Weltenschlange sanft und sacht gelöst hat. Aber freilich! zu Lebzeiten des Buddho gab es da etliche, welche die Befreiung von allem Leiden dadurch zu vollbringen wähnten, daß sie jedwede sündhafte Tat im Zustand früherer Geburten zu verbüßen gedenken, wenn sie selbst sich freiwillig Leiden über Leiden, Pein über Pein antun. Es gibt da etliche, — und ihrer scheinen gar nicht so wenig zu sein! — welche ganz einfach auf rechnerische Weise jedes schlimme Tun durch ein entsprechendes Leiden tilgen zu können vermeinen: bis sie zuletzt die Summe aller Taten durch die Summe aller Leiden quitt gemacht haben und Gleiches gegen Gleiches rund zur Aufhebung brachten. Solche hoffen das Karman zu durchbrechen, indem sie das Karman buchstäblich erfüllen, Leiden um Tat, Leiden um Tat, bis das durch ‚übermäßiges Verdienst‘ erworbene und angehäufte Leiden die Tat gleichsam bis zum Stumpf getilgt hat. Das ist der Weg der Leidensbefreiung, [S. 205] den beispielweis die ‚Freien Brüder‘ beschritten haben, welche es für heilfördernd und bekömmlich erachten, das Leiden der Kreatur durch Mehrung des Leidens in freiwillig geübter Schmerzensaskese zu überwinden und beinahe schon nach der Regel Schopenhauers verfuhren, daß nicht die Schmerzen, sondern die Genüsse zu verneinen seien: die Schmerzen vielmehr zu bejahen und abermals zu bejahen ... Gegen diese Praxis indes, die nach dem buchstäblichen Wortverstand so durchaus auf der Linie der gotamidischen Lehre vom Karman gelegen scheint, erhebt niemand schärferen Einspruch als der Buddho selber. Mit einem merklichen Beischmack von überlegenem Spott, ja von Hohn wendet sich Gotamo wider diese Freien Brüder, die da in ihrer Schmerzensaskese das Leiden der Welt vorsätzlich vervielfältigen, statt es vorsätzlich abzustellen. Sie, die von dem unanfechtbaren Grundsatz des Karman ausgehen: „Was immer auch ein Mensch empfindet, sei es Wohl oder Wehe, oder weder Wohl noch Wehe, all das ist vorhergewirkt,“ — sie, die durch gewissenhafte Leidens-Übung etwa begangene Frevel früherer Verkörperungen peinlich rechnend auszugleichen trachten, sie rechnen in Wahrheit falsch. Wohl ist der Knüpfung Tun-Leiden entsprechend alles, was das einzelne Wesen von Natur leidet, vorherbestimmt, vorhergewirkt. Aber das ist es eben, daß diese Knüpfung nur eine Tatsache, nur eine Ordnung, nur ein Zwang der Natur ist, der ‚bösen‘, dort jedoch ihre Gültigkeit verliert, wo das Joch der Natur [S. 206] zerbrochen wird. Diese scharfe Wendung Gotamos gegen die eigenen Voraussetzungen und Unterstellungen, diese schroffe Abweisung des Buchstabens von seiten des Geistes scheint die Reihen der eigenen Jünger, soweit diese nicht zu den völlig Eingeweihten zählen, in nicht geringem Maß überrascht, erschreckt, ja teilweis außer Fassung gebracht zu haben. Der Buddho, der als strengster Vollender der Lehre vom Karman den Satz der Freien Brüder ‚alles ist vorhergewirkt‘ mit äußerstem Nachdruck bestreitet und das darauf gestellte Heilsverfahren schier als ein lächerliches abweist und abschätzt, — dieser Buddho geht manchem Mönch des heiligen Ordens schlechterdings über den Begriff. So beispielweis jenem Mönch Arittho, dem ehemaligen Geierjäger, der nach der Zweiundzwanzigsten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo die folgende Äußerung gewagt hat, die unverzüglich dem Erhabenen als besonders ketzerisch berichtet ward: „Also fasse ich die vom Erhabenen verkündete Lehre auf, daß jene vom Erhabenen als verderblich bezeichneten Handlungen dem Täter nicht notwendig zum Verderben gereichen“... Dieser Mönch zwar wird unverzüglich vorgeladen, befragt, getadelt und zurecht gewiesen, — aber wir, die wir zu Zeugen dieses Vorgangs gemacht werden, können nicht umhin zu gestehen, daß dieser Mönch in einem gewissen und sehr tiefen Sinn die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ausgesprochen habe! Darüber lassen die Reden gegen die Freien Brüder nicht den mindesten Zweifel [S. 207] obwalten; darüber läßt Gotamos Lehre von des Leidens Aufhebung, Abstellung und Ablösung selber keinen Zweifel obwalten. In der für diese Frage hochwichtigen Hundertundsechsunddreißigsten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo hat der Buddho selber ausdrücklich die vier Möglichkeiten dargelegt und entwickelt, daß die gute Tat gute Fährte, die gute Tat aber auch schlechte Fährte hinterlassen könne, wie umgekehrt die schlechte Tat zwar schlechte Fährte, aber die schlechte Tat auch gute Fährte. Das Karman ist die irdische Ordnung, welche Wirklichkeit und Welt in ursächlich-urtätigen Zusammenhang bringt und in diesem Betracht allerdings unaufheblich gilt. Aber die Seele des Menschen bleibt dem Karman nur unterworfen, wofern sie ihm unterworfen bleiben will. Ihr bleibt es anheimgestellt, auch wenn sie von allen Lastern, Bosheiten, Scheußlichkeiten wie ein pestverseuchter Leib mit Blattern, Beulen und Geschwüren bedeckt wäre, durch einen einzigen und übermenschlichen Entschluß sich jenseit ihrer eigenen Lasterhaftigkeit, Bosheit und Scheußlichkeit zu begeben und — rein zu sein. Es stehet der Menschenseele, es stehet der Schächerseele frei, das zu tun, was auch der Heiland des Westens seinen Gläubigen als Trostvermächtnistat unvergeßlich hinterlassen hat: nämlich heut noch, jetzt noch, schon ans Kreuz geschlagen und vom Tod umnächtigt, dennoch ‚im Paradies zu weilen‘. Es ist der Menschenseele letztes und unmittelbarstes Hochgeheimnis, mit einem einzigen Federzug die unendlich [S. 208] angelaufenen Posten von Schuld und Sühne, Tat und Leiden, Werk und Wesen glatt durchzustreichen und alles Leidens ledig, aller Ursächlichkeiten ledig, aller Gründ- und Folglichkeiten ledig, sie selbst zu sein und das heißt frei zu sein. „Ist da nun, Ânando, ein Mensch, der ein Mörder und Dieb, ein Wüstling, Lügner, Verleumder, ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Haß und Eitelkeit war, bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf gute Fährte geraten, in himmlische Welt, so hat er seine günstige Tat, die freudig empfunden wird, eben früher begangen oder später begangen, oder hat in seiner Sterbezeit eine rechte Erkenntnis vollzogen und vollbracht: darum ist er, bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, da hinauf geraten. Wenn er aber hier also übel gewandelt war, hat er sich die Folge davon schon bei Lebzeiten fühlbar gemacht, oder bei der Auferstehung, oder bei nachmaliger Wiederkehr“...

Die Freien Brüder setzen dem Leiden das Leiden entgegen, um die Tilgung des Leidens im Weg freiwillig übernommener Schmerzens- und Bußübung zu bezwecken. Aber was sie bezwecken, ist die ganz überflüssige Mehrung des schon mit Notwendigkeit vorhandenen Leidens. Gotamo hingegen, der nach höchst bedeutsamem eigenen Geständnis Schmerzensaskese, Selbstquälerei und Kasteiung bis zur Selbstvernichtung geübt hat und hier aus grausamer Selbsterfahrung schöpft, — Gotamo setzt dem Leiden eine Tat entgegen, eine unbedingte, nicht und nichts mehr bedingende Tat, [S. 209] welche die Freiheit vom Leiden erwirkt, weil sie Freiheit von der Welt, Freiheit vom ‚Gesetz‘ erwirkt. Was alle religiöse Erleber wußten, vom Heiland des Christentums, ja sogar vom Stifter des Christentums an bis zu Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der dieses gotamidische Mysterium ‚der rechten Erkenntnis in der Sterbezeit‘ klassisch dargestellt hat in der Heiligen Schrift vom Tod des Iwan Iljitsch, das ist für den Buddho der Dreh- und Angelpunkt nicht allein der Lehre, sondern des Erlebnisses geworden. Für ihn nämlich, — wenn ich mich hier mit Nutzen europäisch und insbesondere schopenhauerisch ausdrücken darf, — gibt es einerseit Taten, welche ‚dem Satz vom Grunde‘ unterworfen sind und eben darum in den Gesamtkreislauf der Werdewelt wieder einmünden, dem sie entsprungen sind. Und für ihn gibt es anderseit Eine Tat, welche ‚dem Satz vom Grunde‘ nicht mehr unterworfen ist und eben deshalb aus dem Kreislauf dieser Werdewelt hinausführt. Jene Taten sind notwendig gewirkt, will heißen: sie sind nach Bestimmunggründen, Antrieben, Triebfedern gewirkt, die der Wirklichkeit selbst entstammen, und so ist es billig, daß sie in der Folge sich dem Bereich der Notwendigkeiten wieder einfügen, aus der Notwendigkeit in die Notwendigkeit führend. Diese Eine Tat hingegen ist frei gewirkt, will heißen, nach keinerlei Bestimmunggründen, Antrieben, Triebfedern, die der Wirklichkeit oder dem ihr entsprechenden Vorstellungablauf selbst entstammen, und so darf denn diese Tat der Taten, nach keiner Regel irgendwelcher Not [S. 210] wendigkeit getätigt, aus der Notwendigkeit in die Freiheit führen. Es ist dies aber die Tat einer unvergleichlichen Selbstverinnerlichung, Selbsteinigung, Selbstverinnigung, wo Selbst und Seele weltausschließend, weltausschließlich nur sie selber sind, — Selbst und Seele hier in der ewig fragwürdigen Sinnbildlichkeit ihres Begriffs genommen. Eine Tat ist möglich, wo Selbst und Seele mit der Tat als solcher gleichsam unmittelbar zusammenfallen; eine Tat ist möglich, wo der Tat selbst nicht mehr irgend eine ‚Sache‘ als Inhalt, Bestimmung, Beweggrund, Antrieb gegenständlich gegenübersteht und wo die Tat sich nicht zu irgend einer Sache mehr versachlicht, zu irgend einer Sache mehr enttätigt. Derart wird das Leiden der Welt und an der Welt zuletzt getilgt, verlöscht, verwunden werden, wofern die Welt selbst als die Unendlichkeit aller gegebenen und aufgegebenen Sachen durch die entsachte, durch die entursachte Tat getilgt, verlöscht, verwunden wird. Dies ist die ‚reine‘ Tat der ‚Freiung‘ und der ‚Ledigung‘, dem Satz vom Grunde nicht mehr unterworfen: folglich dem Grunde selbst nicht länger unterworfen und folglich der Folge und den Folgen nicht länger unterworfen, die sonst alle Taten als ihre ‚Tat-Sachen‘ notwendig und unabänderlich nach sich ziehen müssen...

Was also hier der Buddho (einigermaßen uneuropäisch dunkel) von sich selber fordert und nicht nur von sich, sondern von jedem, der das Leiden an seinem Stumpfe auszurotten willens ist, das läßt sich doch wohl nicht ganz unpassend mit dem ver [S. 211] gleichen, was der Genius Kant in unseren westlichen Bezirken die ‚intelligible Freiheit‘ nannte, wie sie das ‚Ich an sich‘ außerhalb der Welterscheinung als causa noumenon wesentlich betätigt. Der Genius Kant, an dieser Stelle sorgfältiger als irgendwo sonst die Erbschaft alter deutscher Mystik betreuend, hat ja zu seinem Teil auf diese Tat der Taten keineswegs verzichten können, die weder bedingt oder bestimmt durch Anreize aus der Sinnenwelt wird wie etwa der instinktive Wille des natürlichen Menschen, noch bedingt oder bestimmt wird durch die Vorstellung einer gesetzgebenden ‚Form‘ aus reiner Vernunft wie etwa des ‚guten‘ Menschen moralischer Wille: sondern die ganz einfach frei, weder bestimmt noch bedingt getätigt wird im Sinne des scholastischen liberum arbitrium indifferentiae ... Diese zwar vielerörterte, kaum aber vielverstandene, vielleicht zutiefst gar nicht zu verstehende intelligible Freiheit Kants, sage ich, wäre vielleicht mit der Freiheit Gotamos nicht unpassend zu vergleichen. Ja, sie wäre am Ende völlig einerlei mit dieser, wenn nicht doch der Genius Kant, (hierin viel eher wiederum der Erbe der großen europäischen Scholastik statt der Mystik!) — wenn er nicht eben diese transzendentale und transzendierende Freiheit leider als einen moralischen Vorgang aufgefaßt und der Moral dienstbar gemacht hätte: will heißen als einen Vorgang, der sich auf die Wahl des empirischen Ich durch das intelligible Ich bezieht und dadurch genau auf das, was Gotamo das Karman und seine Ordnung [S. 212] nennt. Auf diese Weise biegt die intelligible Freiheit Kants doch wieder bedingend, verursachend, bestimmend, begründend in die Wirklichkeit der Dinge ein, statt endgültig von ihr abzubiegen, und diesen Umstand hat Kant selber in voller Naivität gekennzeichnet durch den scheinbar ungereimten, in Wahrheit jedoch durchaus zutreffenden Begriff der ‚Kausalität durch Freiheit‘... Ganz unbesehen gerinnt mithin die Freiheit dem westlichen Denker sogar in ihrer transzendierendsten Bedeutung als liberum arbitrium indifferentiae doch wieder nur zu einer Ur-Sache, statt zu einer Ur-Tat, — zu einer Ur-Sache, die andere Sachen verursachend nach sich zieht: die Folgen, Wirkungen, Wirklichkeiten nach sich zieht. Die intelligible Freiheit Kants, zu einem moralischen Mysterium gestempelt statt zu einem religiösen, wird zu einer bloßen Ursache, die sich von allen übrigen Ursachen in der Welt nur eigentlich dadurch unterscheidet, daß sie die unendliche Reihe der Wirkungen nicht sowohl fortsetzt, als von vorn beginnt. Kants intelligible Freiheit ist ein grundloser Einsatz, ein unbedingter Anfang, mit welchem eine begründete und bedingte Reihe in der Zeit und Wirklichkeit beginnt. Oder mit einem Wort gesagt, — diese intelligible Freiheit des westlichen Denkers ist Freiheit des Willens, etwa dem Ausspruch des Bernhard von Clairvaux gemäß: ubi voluntas, ibi libertas ; oder besser und richtiger der Umkehrung dieses Grundsatzes gemäß: ubi libertas, ibi voluntas ! Wo Freiheit, da ist hier Wille; wo aber Wille, da wird etwas gewollt: das Gute oder das [S. 213] Böse, das Richtige oder das Verkehrte, das Zweckvolle oder das Zwecklose, — das Vernünftige oder das Törichte, das Sinnentsprechende oder das Unsinnige, — unter allen Umständen aber ein zu Verwirklichendes, das in die Reihe der Wirklichkeiten gleichsam neu eingerückt werden soll, wie etwa die Anzeige einer neuen Erfindung in die Spalten einer Zeitung neu eingerückt wird...

Hierzu im äußersten Widerspruch ist die intelligible Freiheit des Buddho nicht sowohl eine Freiheit des Willens, als vielmehr eine Freiheit vom Willen und jedenfalls eine Freiheit vom Wollen. Nicht mehr wollen, nicht mehr wünschen, nicht mehr heischen, nicht mehr gieren, nicht mehr schmachten, nicht mehr trachten, nicht mehr streben, nicht mehr verkörpern, nicht mehr verwirklichen, nicht mehr erscheinen, nicht mehr entstehen, nicht mehr vergehen, nicht mehr tun, nicht mehr leiden, — das eben heißt gotamidisch ‚frei‘ sein. Kants unmittelbares Erlebnis der reinen Tat gilt einem Vor-Anfang und Ur-Anfang, womit eine unendliche Schöpfung in der Zeit sich einleitet. Die reine Tat setzt hier das (empirische) Ich und mit diesem alle Abhängigkeiten, Notwendigkeiten, Folgen dieser Setzung, — und trotz aller verspäteten Einsprüche und Verwahrungen Kants war es doch nur im strengsten Geiste Kants weiter und weiter gedacht, wenn Fichte die reine Tat außer dem Ich das Nichtich und im Ich das Nichtich setzen ließ: mit dem Ich und Nichtich aber die ganze Welt abstufend, aufstufend zu der unendlichen Schöpfung [S. 214] in der Zeit. Das Ich gesetzt durch Freiheit, das Nichtich gesetzt durch Freiheit, das Nichtich im Ich gesetzt durch Freiheit und somit die ganze Welt gesetzt durch Freiheit, — das ist von allen europäischen Konzeptionen vielleicht die europäischste gewesen, weil unentwegt forsch in die Unendlichkeit fort- und fortschreitend einen ‚unendlichen‘ Fortschritt ermöglichend und verwirklichend... Gotamos reine Tat indes ist nichts weniger als ein Vor-Anfang, Ur-Anfang unendlich fortschreitender Reihung oder Stufung. Vielmehr genau dort, wo Gotamo am engsten sich mit dem europäischen Gedanken, Ungedanken des liberum arbitrium indifferentiae berührt, dort wird er auch (wie das stets so ist) am heftigsten von diesem abgestoßen. Des Buddho Tat ist Ende und Voll-Ende, ist Voll-Endung des Voll-Endenden: eben darum zwar, weil sie durch alle unendliche Satzung, Reihung, Stufung quer hindurchbricht und den Leitfaden des Karman, wenn nicht geradezu zerreißt, so sicherlich auch nicht mehr weiterspinnt, vielmehr ein für allemal verstätigt. Verneinenderweis ausgedrückt, gelangt diese Tat des gotamidisch Vollendenden also durch einen Austritt und Heraustritt zum Vollzug: durch einen Austritt und Heraustritt zwar, der den Täter zufall- und schicksallos macht (in der Sprache der Tragödie gesprochen); der den Täter willens- und tatfrei macht (in der Sprache der Moral gesprochen); der den Täter unbedingt und abgelöst, das heißt, ‚absolut‘ macht (in der Sprache der Metaphysik gesprochen); der den Täter unabhängig von [S. 215] den Gegenständen der Erfahrung und von der Erfahrung selber macht (in der Sprache der Transzendentalphilosophie gesprochen); der den Täter weltledig, arm und abgeschieden macht (in der Sprache der Mystik gesprochen); der den Täter wunschversiegt, wahnversiegt, daseinversiegt macht, zuletzt und endgültig in der Sprache des Buddho gesprochen... Bejahenderweis ausgedrückt ist aber diese selbe Tat der gotamidischen Vollendung doch zugleich ein Eintritt und Hereintritt, ein Eintritt und Hereintritt nämlich in das übersinnliche, überdingliche, überweltliche Bereich des An-und-für-sich-Seins der Welt: mithin in ein Bereich, für welches die Zunge weder des Tragöden, noch des Moralisten, Metaphysikers, Transzendentalphilosophen oder Mystikers, ja nicht einmal des Buddho selber Sprachzeichen und Lautgebärden hat, um es hinlänglich zu bezeichnen...

Gotamo aber, nachdem er an der schlechten Unendlichkeit eines nimmer stockenden Entstehens und Vergehens unaussprechlich heftig und tief gelitten hatte, — Gotamo, nachdem er (vorübergehend im Irrtum der Freien Brüder befangen) in beispielloser Selbstquälerei, Selbstfolter, Selbstabtötung das Leiden nur zwecklos gemehrt hatte, um mittels des gemehrten Leidens das mindere zu übertäuben, — Gotamo, nachdem er das arme Fleisch des Leibes in erfinderischen Büßungen gleichsam mürb gebeizt hatte, bis es ihm von den Knochen gefallen war, auf daß er endlich dem armen Fleisch nicht länger unterworfen bliebe und sich fortab des ‚reinen‘ Geistes freuen dürfe: [S. 216] dieser Gotamo der Erlebende des Leidens erlebt eines Tages an ihm selber, wie er, o Wunder, des Leidens wirklich genesen ist, wahrhaft bei Lebzeit schon genesen! Nicht durch Mißhandlung oder Peinigung oder Entehrung des Körpers: vielmehr ganz einfach durch eine innerliche Wendung oder Drehung von dieser Weltlichkeit weg nach einer anderen Weltlichkeit, nach einer Gegen-Weltlichkeit hin, — denn dieser Buddho, ihr Christen, wußte es ja schon zu seiner Zeit, daß es viele selbstgeschaffene Wirklichkeiten gäbe und also zu einer jeglichen von ihnen auch die Gegen-Wirklichkeit... Er, der Erlebende des Leidens, erlebt in einer ungeheueren Stunde plötzlich kein Leiden mehr, und sogar heute noch ahnen wir fern, fern das unermeßliche Gefühl von Frieden und von Stillung, wie es schwer und hell wie flüssiges Gold in seine Seele träufelt: „Da kam mir, Aggivessano, der Gedanke: ‚Wie, sollt’ ich etwa jenes Glück fürchten, jenes Glück jenseit der Wünsche, jenseit des Schlechten?‘“... Und nicht länger fürchtet sich jetzt der Buddho dieses Glückes, sondern erfüllt sich mit ihm, daß es aus allen seinen Poren strahlt und leuchtet: denn als ein Glück, eine Selbststeigerung ganz außerhalb jeder Vergleichbarkeit empfindet der Buddho diesen neuen und ungewohnten Urstand des Nicht-mehr-Leidens, des Ausgelittenhabens an der Werdewelt und ihrem ewigen Gesetz. Als eine Besäligung, ja als eine Säligkeit ganz außerhalb jeder Vergleichbarkeit empfindet der Buddho diesen neuen, ungewohnten Urstand, wo er sich endlich, endlich [S. 217] nicht länger eingeschmiedet findet in den Ring der Wiederkünfte und nicht länger aufgeflochten auf das Rad der Werke-Wesen: „...die aber da als Mönche heilig geworden sind, Wahnversieger, Endiger, die das Werk gewirkt, die Last abgelegt, das Heil sich errungen, die Daseinsfesseln vernichtet, sich durch vollkommene Erkenntnis erlöst haben, denen taugen diese Dinge um säliger Gegenwart zu genießen, bei klarem Bewußtsein“...

Wunschversiegung, Wunschvernichtung, Wunschverwindung heißt aber in den Heiligen Schriften des Kanons jener Urstand der Leidensauflösung und Weltledigung, in welchem der Buddho zuletzt sich selbst vollendet. Wunschversiegung, Wunschvernichtung, Wunschverwindung heißt die ‚reine‘ Tat der Freiheit selber: das ist im Pâli entweder nibbânam , oder im Sanskrit nirvânam , aus der Wurzel van = Wunsch. Nibbânam oder auch nirvânam oder auch brahmanirvânam oder auch paramanirvânam heißt in den beiden Mundarten der Überlieferung der Urstand der erlangten Heiligkeit, der bald das Schicksal aller erlesenen Dinge hatte, sowohl im Osten wie im Westen gleichermaßen gröblich mißverstanden zu werden. Denn nichtverstanden hat dieses Nibbânam zum Beispiel ein repräsentativer Chinese wie der sehr kluge und fein gebildete Ku Hung-Ming, wenn er sich etwa folgendermaßen ausläßt: „Auch die Methode des Buddhismus, die Welt zu erneuern, nimmt zum Boykott ihre Zuflucht. Wenn die Welt schlecht ist, so rasiert der Buddhist seinen Kopf, geht ins Kloster [S. 218] und boykottiert die Welt“... Nicht weniger mißverstanden hat ferner dies Nibbânam ein repräsentativer (gerade in seiner menschlichen Zweideutigkeit repräsentativer) Europäer wie der französische Poet Claudel, wenn dieser zwar etwas weniger platt, aber dafür um so orakelhafter zu sprechen wagt „vom Schweigen des Geschöpfes, das sich hinter eine völlige Verweigerung verschanzt hat“, oder gar von „der unreinen Ruhe der auf ihrem wesentlichen Anderssein beharrenden Seele“, oder wenn er sich vollends zu dem Satz versteigt, der sich angesichts der obigen Worte Gotamos freilich besonders unverständig ausnimmt: „Für mich hat das Nichts nur einen Sinn, wenn sich ihm die Säligkeit zugesellt“... Seltsamstes Spiel fürwahr, daß der Osten und der Westen des Planeten gleichermaßen den Urstand der Wunschverwindung nur als das große Nichts und Abernichts zu würdigen oder vielmehr nicht zu würdigen vermag! Seltsamstes Spiel, und doch nicht Laune bloß des Zufalls oder der Abgeschmacktheit, daß der Mensch sich vor dem Nichts zu fürchten beginnt, wo er nichts mehr zu fürchten, nichts mehr zu dulden, nichts mehr zu verlieren, aber freilich auch nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu wünschen, nichts mehr zu gewinnen hat! Wie tief, wie abschreckend irreligiös mußte der Mensch geworden sein, bis er jeden lebendigen Zusammenhang mit dem Walten einer reiferen Frömmigkeit so weit verloren hatte, daß er den Zustand ewiger Bedürftigkeit als den ihm zusagendsten und angemessensten bejaht, [S. 219] den Zustand der Gestilltheit aber als den schlechterdings unangemessenen und nichtseinsollenden verneint, will meinen: ihn als ‚Nichts‘ verleumdet! Denn brauch’ ich es nach allem Vorigen besonders noch zu beteuern, daß dies Nibbânam Gotamos sowenig etwas mit dem Boykott des chinesischen Reformers zu schaffen hat wie mit der völligen Verweigerung, mit der unreinen Ruhe oder gar mit dem ‚Nichts ohne Säligkeit‘ des französischen Mystizisten und Mystifikanten? Brauch’ ich zu sagen, daß vollends alle die eifrigen Gelehrten, fleißigen Professoren und scharfsinnigen Philosophen schier lächerlich, wenn nicht schon boshaft abwegig sind mit ihrer Mutmaßung, der Buddho habe das Nibbânam gleichsam als ‚Nichts-an-sich‘ ontologisch verdinglicht, vergegenständlicht oder verwesentlicht, um dies dinghafte Un-Ding der Welt gleichsam listig als ihren ‚Gott‘ zu unterstellen und derart den Brahman-Âtman des Brahmanismus als hoffnungloser Nihilist des Fühlens, Nihilist des Wollens, Nihilist des Denkens zu Ende zu denken: zu Tod zu denken? Brauch’ ich zu wiederholen, daß dies Nibbânam nichts weiter ist wie eine keusche Anspielung auf einen in unablässigen Seelenkämpfen errungenen Dauerstand des Selbstes, genau wie die Abgeschiedenheit, die nächste Armut, die weiselose Weise unserer westlichen Mystik eine solche keusche Anspielung gewesen ist? Brauch’ ich zu beweisen, daß dies Nibbânam das letzte Endziel zwar nicht aller Religionen, aber aller Religion ist, das Endziel aller auf Selbstvergöttlichung [S. 220] bedachten Selbstläuterungen, um wie Gott schließlich ganz weltunbedingt, ganz weltunabhängig, ganz weltunbedürftig zu sein? Brauch’ ich herauszuheben, daß dies Nibbânam als edelstes Ergebnis zwar alles Weltverzichts und aller Weltentsagung zugleich doch herrischste Forderung, unbeugsamster Anspruch ist auf Selbsterfüllung und Selbststillung? Brauch’ ich zu verraten, daß dies Nibbânam den Menschen mit einer beispiellosen Treue treu gegen sich selbst zu werden lehrt, damit er, treu gegen sich selbst, treu auch gegen das unendliche All, eben dieses unendliche All mit seiner unendlichen Dichtigkeit und Mächtigkeit in sich auszutragen vermöchte und also austragend, also ausgetragen in sich endige und vollende? Brauch’ ich zu begründen, daß es sich hier zuletzt um etwas ganz Einfaches und Selbstverständliches handelt, um das Ankern nämlich auf dem eigenen Grund, um das Ankern in der eigenen Tiefe, bis wohin kein Sturm mehr aus dem Luftraum blasen kann?... „Der ich also rede, also lehre, ihr Mönche, mich bezichtigen einige Asketen und Brâhmanen grundloser, nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: ‚Ein Verneiner ist der Asket Gotamo, des lebendigen Wesens Zerstörung, Vernichtung, Aufhebung verkündigt er.‘ Was ich nicht bin, ihr Mönche, nicht rede, dessen bezichtigen mich jene lieben Asketen und Brâhmanen, grundloser, nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: ‚Ein Verneiner ist der Asket Gotamo, des lebendigen Wesens Zerstörung, Vernichtung, Aufhebung verkündigt er.‘ Nur eines, ihr [S. 221] Mönche, verkündige ich, heute wie früher: das Leiden und des Leidens Ausrodung“...

Brauch’ ich euch zu überreden endlich, ihr Christen, daß dies Nibbânam, taktlos mißhört, mißdeutet und mißechot im Osten der Erde wie im Westen und offenbar dazu in einem Spülicht hemmungloser Vielgeschwätzigkeit schwammig bis zum Unsinn, bis zum Irrsinn aufgeweicht und aufgedunsen, — brauch’ ich euch zu überreden, daß dies Nibbânam künftighin zu ehren ist mit jenem siebenfältigen Schweigen der Ehrfurcht, welches das Siebente Wort am Kreuz der Welt, Siebente Wort am Rad der Welt gleichermaßen ehrt wie fürchtet: Τετέλεσται, es ist vollbracht! Katam karanîyam , gewirkt ist das Werk!...


[S. 223]

DIE DRITTE UNTERWEISUNG:
BUDDHO DER WISSENDE

[S. 225]

DAS HEILIGE NEIN LASST UNS BEKENNEN DENN NEIN UND JA SIND WIE DIE SCHENKEL DER NÄMLICHEN PARABEL, UND WO SICH DIESE SCHEITELT, DURCHDRINGEN BEIDE SICH IN EINEM PUNKT — DENN NEIN UND JA SIND WIE DER ABSTEIGENDE UND ANSTEIGENDE KNOTEN DER WELT, UND WO SICH BEIDE SCHÜRZEN, SCHWEBT GIPFELND DAS GESTIRN DER WELT DURCH SEINEN MITTAGSKREIS — DENN NEIN UND JA SIND WIE DAS AUSSENBLATT UND INNENBLATT DESSELBEN KEIMLINGS, IM SCHOSSE DER GEBÄRERIN STRENG GEFALTET — GEFALTET ZUM AUSSEN-INNENBLATT REIFT ERST DER KEIMLING DER GEBURT ENTGEGEN: GEFALTET ZUM NEIN-JA REIFT ERST DIE SEELE IHRER WELT ENTGEGEN — DAS NEIN ZERSPELLT DAS GOLDENE EI DER WELT, DAS MÜTTERLICH VOM PHÖNIX GEIST BEBRÜTETE — JEDOCH DES JUNGEN ADLERS SCHNABELSCHÄRFE IST ES, DIE SICH MIT FRÜHFLÜGGER WEISHEIT LICHTBEGIERDE DAS DUNKLE EI ZERSPELLT — O WELT, VON DEINER SONNE EMPFING ICH TRÄUMEND EINEN HIMMELSTRAHL IN MEINEM AUG, ALS ES NOCH SCHLIEF, ZUM PFAND, DASS ICH DEREINST MICH AN DIR SONNEN WÜRDE, WANN ICH DURCH DEINE BITTERSCHALE BRACH — O AUGE ICH DER WELT, O HIMMELSAUGE ICH, ZU DIR, O [S. 226] WELT, ERWACHEND — O ICH ERWACHTER DANN, VOLLKOMMEN ERWACHTER ICH ZU DIR, O WELT —

DIES IST DIE DRITTE UNTERWEISUNG

Es ward gesagt, ihr Christen, daß der Buddho die Geburt haftbar machte für die drei Kernübel dieser Welt, für Alter, Krankheit, Tod. Dreimal hat der Buddho in der Legende von Vipassîs Ausfahrt der Geburt geflucht: „O Schande sag’ ich über die Geburt, da am Geborenen das Alter zum Vorschein kommt, die Krankheit zum Vorschein kommt, der Tod zum Vorschein kommt...“ An die Geburt also knüpft sich das Leiden, an die Geburt knüpft sich Alter, Krankheit, Tod. Denn ohne Geburt, heißt es in den Reden schon fast mit einer wörtlichen Wendung Platons, ohne Geburt würde kein Mensch zur Menschheit, kein Vierfüßer zur Vierfüßerheit, kein Vogel zur Vogelheit geboren: ohne Geburt kein Wesen zu Krankheit, Alter, Tod. So findet Gotamo in der Geburt die Ursache aller drei grundsätzlichen Übel dieser Welt und in der Geburt die Ursache alles Leidens an der Welt. Die Geburt aber, dies bemerkten wir schon mit hinlänglicher Zuverlässigkeit, ist zwar Ursache, keineswegs jedoch etwas Letztes oder Unbedingtes, — keineswegs Ur-Sache aller Sachen oder Ur-Grund aller Gründe. Vielmehr ist ja die Geburt jeglichen Wesens an und für sich schon Wieder-Geburt, verursacht und bedingt durch frühere [S. 227] Tat, wie umgekehrt frühere Tat ihrerseit die Frucht früherer Geburt gewesen ist. Und dies in unendlicher Schürzung und Neuschürzung in unendlichem Kreislauf, bis irgendwann einmal die reine Tat getätigt und irgendwann einmal der Kreis durchbrochen ward. Ins Werden eingeflochten ist mithin die Tatsache der Geburt, ins Werden eingeflochten bleibt sie. Und so versteht sich’s eigentlich von selbst, daß auf die Frage: was Geburt bedinge, der Buddho keine andere Antwort in Bereitschaft haben kann als eben: das Werden! Das Werden bedingt die Geburt; denn wenn es kein Werden gäbe, kein geschlechtliches Werden, kein formhaftes Werden, kein formloses Werden, dann gäbe es keine Geburt. Was aber bedingt das Werden, gesetzt den Fall, auch dieses Werden sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Anhangen bedingt das Werden, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es keinen Hang gäbe, keinen Hang nämlich zur Lust, keinen Hang zur Selbstbehauptung (und dies heißt gotamidisch gedacht keinen Hang zum ‚Ich-Sagen‘!) — wenn es keinen Hang gäbe ferner zur Ansicht, keinen Hang zu Tugendwerk, dann gäbe es auch kein Werden. Was aber bedingt das Anhangen, gesetzt den Fall, auch dieses Anhangen sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Der Durst bedingt das Anhangen, der ungelöschte und unversiegte, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es keinen Durst gäbe, Durst nach Gestalten, Durst nach Tönen, Durst nach Düften, Durst nach Säften, Durst nach [S. 228] Tastungen, Durst nach Gedanken, dann gäbe es auch kein Anhangen. Was aber bedingt den Durst, gesetzt den Fall, auch dieser Durst sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Gefühl bedingt den Durst, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es kein Sehgefühl, kein Hörgefühl, kein Tastgefühl, kein Riechgefühl, kein Schmeckgefühl, kein Denkgefühl gäbe, dann gäbe es auch keinen Durst. Was aber bedingt das Gefühl, gesetzt den Fall, auch dieses Gefühl sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Die Berührung bedingt das Gefühl, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es keine Sehberührung, Hörberührung, Tastberührung, Riechberührung, Schmeckberührung, Denkberührung gäbe, gäbe es auch kein Gefühl. Was aber bedingt die Berührung, gesetzt den Fall, auch diese Berührung sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Die erkenntnismäßige Doppeltheit Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild bedingt die Berührung, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es keine Wahrnehmungen und keine Vorstellungen, keine sinnlichen Eindrücke und keine begrifflichen Kennzeichen, Wahrzeichen, Bedeutungzeichen für solche Eindrücke gäbe, also platonisch gesprochen keine εἰκόνες und keine εἴδη, dann gäbe es keine Berührung. Was aber bedingt diese erkenntnismäßige Doppeltheit von Bild-und-Begriff und von Begriff-und-Bild, gesetzt den Fall, auch diese Doppeltheit sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Bewußtsein bedingt Bild-und-Begriff, Begriff-und- [S. 229] Bild, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue und nun doch schon beinahe ‚letzte‘ Frage, wofern er jetzt offenbar die Reihe der Verursachungen und Bedingungen der Geburt bis zur Ur-Sache und bis zum Un-Bedingten rückwärts verfolgt hat. Denn gäbe es kein Bewußtsein, gäbe es keine Setzung von Nichtich-Welten für das Ich, von Erlebnis-Mannigfaltigkeiten für die erlebende Einheit, von Objektivationen für das Subjekt, dann gäbe es eben auch keine Bilder und Bildesbilder, dann gäbe es auch keine Gegenständlichkeiten und Gedankenzeichen für Gegenständlichkeiten, dann gäbe es auch keine Wahrnehmungen und keine Vorstellungen, welche Wahrnehmungen vorstellen sollen und wirklich auch vor-stellen. Wer aber jetzt noch weiter forschen und weiter erklären wollte, der stieße bei der nächsten Frage: Was bedingt Bewußtsein? schon unfehlbar wieder auf die bereits erteilte Antwort: Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild bedingen das Bewußtsein, wofern sie in zweifacher Erscheinung als Nichtich-Welt bezogen auf ein Ich auftauchen, als Gegenstands-Vielheit bezogen auf eine Zustands-Einheit auftauchen. Denn dieses gerade nennen wir ja das Bewußtsein, daß für das unbegreiflich-unbegriffliche Selbst Begriffe und Bilder aus irgendwelchen Latenzen her in actu auftreten und einem solchen Selbst erscheinen, wahrnehmbar werden, vorstellbar werden. In dieser Rücksicht heißt Bewußtsein offenbar Sich-Bewußt-Sein; sich einem Sein auf irgendeine Weise entgegengesetzt und widerstemmt finden; sich etwelcher Wahrnehmbarkeiten irgendwie [S. 230] inne werden, innerlich und erinnerlich werden. Bewußtsein und Bild-Begriff erweisen sich dem Buddho kurz gesagt als wechselbezüglich und wechselbezogen, als wechselbedingend und wechselbedingt: eine sowohl in philosophischem wie religiösem Betracht bedeutsame Lehre, die (wie man weiß) auch unserem westlichen Klima keineswegs fremd geblieben ist. Vor dem Bewußtsein als der Stätte entstehender Geburten steht schließlich der Frager still und still steht davor auch des Fragers unablässig bohrender und schraubender Verstand. Im Bewußtsein ist das Weh der Welt, das dreigestaltige, verwurzelt; im Bewußtsein sind Vergänglichkeit, Leidbehaftetheit, Wesenlosigkeit, aniccam , dukkham , anattam verwurzelt; im Bewußtsein ist die Werdewelt, Wandelwelt, Wehewelt verwurzelt. Gäbe es kein Bewußtsein, dann gäbe es ‚diese‘ Welt nicht; denn ‚diese‘ Welt gibt es nur dort, wo sie sich eben einstellt und vorstellt und nirgends sonst, ihr Christen...

Bei dieser Lehre von des Leidens Abkunft aus dem Bewußtsein etwas zu verweilen, wie sie vom Buddho entwickelt wird vornehmlich in der Fünfzehnten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo, entwickelt wird aber außerdem auch sonst nicht selten in den Reden der Längeren und Mittleren Sammlung, — bei dieser befremdlich anmutenden Lehre hier noch etwas zu verweilen, dürfte mancherlei Anlaß für uns bestehn, ihr Christen. Das Erlebnis des Leidens, von der Person Gotamos als Schicksal empfangen, als Schicksal verwunden und insofern sicher [S. 231] lich auch das Urerlebnis Gotamos, ist mithin doch nicht Urerlebnis im Hinblick auf seine Entstandenheit oder Unentstandenheit. Vielmehr gilt das Leiden als solches, und so auch das Erlebnis des Leidens, schlechterdings für entstanden, für bedingt, für verursacht, für geworden. Das Leiden an der Welt ist durchaus ableitbar aus dem Bewußtsein von der Welt, und in Ansehung dieses unumstößlichen Tatbestandes ist das Leiden auch in seiner Eigenschaft als gotamidisches Urerlebnis weder ein Erstes noch ein Letztes, noch gar ein Unbedingtes. Wohl aber, — und dies entscheidet über vieles! — ist das Bewußtsein ein Erstes und ein Letztes und ein Unbedingtes. Das Bewußtsein ist gleichsam der Erfüllungort, wo die einzelnen Posten der unendlichen Summe ‚Wirklichkeit‘ in ihrem Lust- und Unlustwert gegeneinander verrechnet, gegeneinander ‚geklärt‘ werden. Das Bewußtsein ist gleichsam das Schiedsgericht, wo das rechtsgültige Urteil endlich ergeht in Sache des noch nie ausgetragenen Widerstreits zwischen Seele und Welt, Selbst und Wirklichkeit. Das Bewußtsein ist gleichsam die Walstatt, wo über Sieg und Niederlage nunmehr entschieden wird in dem Kampf der Freiheit gegen das Gesetz, der Willkür gegen den Zwang. Das Bewußtsein ist gleichsam der Schauplatz, wo die Welt sich selbst erscheint als die Einheit ihrer Mannigfaltigkeiten, als die Ganzheit ihrer Teile, als der Leib ihrer Glieder. Im Bewußtsein geschieht es, daß die Welt das Licht der Welt erblickt...

[S. 232]

Dieser bemerkenswerten Auffassung und Neufassung des Begriffes ‚Welt‘ von seiten des Buddho entspricht ein Vorgang, der sich in unserer europäischen Vergangenheit nicht minder eindrucksvoll abgespielt hat als in der indischen: nicht nur einmal, sondern zweimal den menschheitlichen Zustand des jeweiligen homo europaeus gründlich ändernd! Ich beziehe mich dabei, wie sich von selbst versteht, auf jene philosophische ‚Umbettung‘ der Ding-Welt, Ding-an-sich-Welt in eine Vorstellung- und Bild-Begriff-Welt, die wohl in unserem westlichen Bezirk für das erste Mal zum Vollzug bei den Hellenen kam, etwa in jenem merkwürdigen Zeitalter zwischen Demokritos und Sokrates einerseit, Platon und Aristoteles andererseit (unter der bestimmenden Mitwirkung der Sophisten); — die aber später dann noch einmal zum Vollzug gelangte in dem weltgeschichtlich entsprechenden Zeitalter zwischen Descartes und Spinoza einerseit, Leibniz und Kant andererseit. Es ist dies jene Umbettung der Wirklichkeit, die ihre berühmte Fassung einstweilen in der Formel Schopenhauers gefunden hatte: die Welt ist Meine Vorstellung... übrigens eine Formel, welche ein neuerer Schriftsteller nicht ohne Geist und Einsicht in die richtigere umzuprägen vorschlug: Meine Welt ist Vorstellung!... Wie also schon gesagt: seit Demokritos von Abdera mit dürren Worten eine Welt des Seienden an und für sich unterschieden hatte von einer Welt des Daseienden für uns, eine Welt gesetzmäßig bewegter Unteilbarkeiten (ἄτομοι) draußen im leeren Raum und eine [S. 233] Welt auftauchender und versinkender Vorstellungen drinnen im Bewußtsein, — seit dieser gewaltige Denker den Schritt gewagt und den Schritt gemacht hatte von der ‚Physik‘ zur ‚Ethik‘ und den Begriff des Abbilds (εἴδωλον) und der Vorstellung (πρόληψις) in die griechische Philosophie einführte, seither lagerte sich das sogenannte Sein unaufhaltsam um in ein Bewußtsein. War es die eigentliche Leistung der Vorsokratiker bis auf Demokrit, den furchtbaren Urwirbel einer noch nirgends verwissenschaftlichten Weltwirklichkeit in eine gesetzdurchwaltete Ordnung von Himmelskörpern und Gestirnen zu verwandeln, so verwandelte Demokrit selbst (und der hierin durchaus ihm nacheifernde Platonismus) wiederum die geordnete Gestirn- und Himmelswelt der ionischen Kosmologen in eine geistverwandte, menschverwandte Vorstellung- und Bilderwelt. Denn zwar vom Urwirbel aus scheint der Mensch den gebahnten Himmel zu erobern, — erst vom gebahnten Himmel aber aus sich selber: und Chaos, Uranos und Makranthropos heißen wohl die wichtigsten Stationen, welche der menschliche Gedanke zweimal in Europa und einmal in Indien zeitlich zurückgelegt hat, ehe er wirklich in ihm selber Fuß fassen konnte. Daß Gotamos Lehre von der Entstehung des Leidens aus dem Bewußtsein dem indischen Festland denselben Dienst geleistet hat, welchen der ‚transzendentale Idealismus‘ und ‚Phänomenalismus‘ in Altertum und Neuzeit dem europäischen Festland leistete, bedarf somit keiner besonderen Erläuterung, sondern ist ganz einfach so. Auch [S. 234] die gotamidische Lehre verlegt einen umspannenden Zusammenhang von Dingen an sich und ihren gesetzmäßigen Bewegungen aus der Lage des bloßen Seins in die Lage des Bewußtseins, um hier gewissermaßen eine Vermenschlichung, ja eine Vergeistigung zu vollziehen. Auch diese Lehre bettet eine ‚transzendente‘ Wirklichkeit außerhalb des Bereichs menschlicher Erkenntnismittel und Erkenntnismöglichkeiten in die sogenannte ‚Immanenz‘ der Vorstellungen, Bilder und Begriffe, wo sie dem Zugriff menschlicher Erkenntnismittel, menschlicher Erkenntnismöglichkeiten ausgesetzt erscheint. Auch diese Lehre bezeichnet innerhalb der Entwicklung des indischen Geistes genau die Stelle, wo eine Gestirn- und Himmelswelt des Kosmologen wesentlich durch eine Menschenwelt des Ethikers verdrängt wird: die ewige Stelle gleichsam auf der Kurve der Wissenschaftgeschichte, deren Scheitel einmal den Namen Platon, das andere Mal den Namen Kant bei uns im Westen trägt...

Was aber hat, ihr Christen, diese mehrmals wiederkehrende Bewegung der Erkenntnis von einer unbewußt-blinden Weltwirklichkeit weg zu einer bewußten, sehenden Weltwirklichkeit hin im tiefsten zu bedeuten? Was hat die Wendung zu bedeuten, welche Bergson neuerdings nicht unzutreffend als die Wendung von der bloßen science zur con-science hin bezeichnete? Was hat es zu bedeuten, daß die drei reifsten und sinnigsten Deutungen der Welt mit offenbar gleicher Notwendigkeit die Richtung vom [S. 235] Draußen nach dem Drinnen einschlugen? Was hat es zu bedeuten, daß jede schärfere Einstellung auf die Gegebenheiten der Sinne dazu führt, diese Gegebenheiten als Gegebenheiten ‚im Bewußtsein‘ aufzufassen? Was hat es zu bedeuten, daß mit steigender Genauigkeit der Beobachtung und Forschung das Rätsel des Seins gleichsam auf der Pfanne der Kritik eingedampft wird zum Rätsel des Bewußtseins? Was hat es zu bedeuten, daß auf einer gewissen Stufe philosophischer Besinnung plötzlich alle die Fäden und Leitfäden, an welchen die Erscheinungen aufgereiht sind, in einem einzigen Knoten zusammenschießen, der wundersam genug Ich und Nichtich aneinander knüpft und ineinander heddert? Was hat es zu bedeuten, daß die unsichtbare Linie, welche alle wissenschaftgeschichtlich eingenommenen Punkte und Stand-Punkte untereinander verbindet, jeweils so streng eindeutig gezogen ist, daß sie von einem irgendwie ‚naiv‘ sich gebenden Realismus bis zu einem kritisch geläuterten, ja kritizistisch überspitzten Idealismus verläuft? Was hat es zu bedeuten, daß im alten Griechenland jene ionischen Kosmologen und Physiker nicht weniger wie die eleatischen Ontologen und Metaphysiker auf ihrem rüstigen Wege eines Tags eingeholt, eines Tags sogar überholt wurden von den attischen Idealisten und Kritizisten? daß in Europa später die Dogmatik und Scholastik des christlichen Mittelalters nicht anders wie der Positivismus und Empirismus der nichtchristlichen Neuzeit ereilt ward und stets ereilt werden wird von der Transzendentalphilosophie, von der [S. 236] Phänomenologie, vom Apriorismus? daß in Indien die ungeheuern und wahrlich auch ungeheuerlichen Mythen brahmanischer Weltentstehungen und auch Welterschaffungen aus Brahmâs des Himmelsjünglings und der Mâyâ gemeinschaftlichen Traum- und Liebesspielen sanft aber unwiderstehlich verdrängt wurden durch die so nüchterne Entstehungkunde aus dem Bewußtsein, die hier der Buddho gibt? Was hat die immer gleiche Wandlung zu bedeuten von einer flutenden und wogenden Nebelwirbelwelt zu der Gestirn- und Himmelswelt der großen Physik Asiens und Europas, — dann aber von deren glänzenden Umschwüngen und Sonnenbahnen weg zu einer trockenen Bilder- und Begriffswelt hin, wie sie der Gegenstand von mancherlei Ideenlehren, Transzendentalphilosophien und Phänomenologien geworden ist? Weshalb geschieht es, daß zu einer Zeit der Mensch mitten unter dem Uranos lebt, wie der jüngste, wie der schönste aller Sterne unter älteren Brüdersternen, — zu einer anderen Zeit jedoch nur als der Kleine Mensch mit dem Großen Menschen, das ist wie ein empirisches Bewußtsein mit einem transzendentalen ‚Bewußtsein überhaupt‘? Was hat dieser über die Maßen befremdliche Standpunktwechsel zu bedeuten?

Eine beginnende Bemächtigung der Welt hat er zu bedeuten, eine beginnende Bemeisterung, eine beginnende Überwindung der Welt, antworte ich darauf, — nichts Geringeres und nichts Größeres, ihr Christen, hat er zu bedeuten! Es ist der geheimste Sinn dieser [S. 237] entwicklunggeschichtlichen Umbettung des Seins in das Bewußtsein, daß man das Wirkliche dadurch gleichsam in die Hand bekommt, dieweil es vorher sich offenbar jeder Handhabung entzog. Der Schwerpunkt der Welt wird aus dem Sein in das Bewußtsein hinein verlegt, wofern er im Bewußtsein jederzeit nach Absicht und Bedarf seine Stelle wechseln kann: vergleichungweis wie ein gewandter Turner jederzeit den Schwerpunkt seines Leibes nach Absicht und Bedarf seine Stelle wechseln lassen kann. Die Welt als bloßes Sein unterliegt dem Gesetz des bloßen Seins und bleibt insofern jeder Zuständigkeit bewußten Wollens, bewußten Strebens, bewußten Zielens entrückt. Die Welt als Bewußtsein dagegen unterliegt zumindest ‚auch‘ dem Gesetz des Bewußtseins, will heißen dem Gesetze dessen, der für den Inhaber, Träger, Herrn des Bewußtseins gilt. Das abgezogene und reine Sein verharrt ausschließlich auch nach eigenem Sinn, Nicht-Sinn oder Wider-Sinn: verharrt als unendliche Erstreckung unendlicher Mannigfaltigkeiten, welche nirgends einen Ansatz für menschliches Eingreifen, Beeinflussen, Gegenwirken darbieten (es geschähe denn durch Zauberei...). In dieser streng sachhaften Wirklichkeit findet der Mensch im Grunde wenig oder nichts für sich zu tun. Sie überwältigt und unterjocht ihn völlig, wie es in den gesellschaftlichen Bildungen des Orients denn auch bis auf Gotamo der Fall gewesen ist. Eingefügt, ja eingewalzt in die unerschütterlichen Ordnungen der Gestirne und Gezeiten des allmächtigen Himmels betätigt der Mensch [S. 238] sich wesentlich als Vollstrecker dieser Ordnungen, die zwar nicht geradezu widermenschlich, aber doch auch noch nicht menschlich sind. Der Mensch betätigt sich als kosmisches Werkzeug hier, gleichsam als astrales Organon des großen Himmels, und seine Siege, die in manchem Betracht alle künftigen Siege übertreffen, feiert er in diesem Zeichen. In gar nicht abzuschätzenden Graden sind diese Ordnungen astronomisch-astrologischer, physikalisch-kalendarischer, mathematisch-mantischer Beschaffenheit wohltätig gewesen, — die Ordnungen einer vorzugweis ‚katholischen‘ Gesellschaft, wie sie in China, Indien, Babylon-Assur und Ägypten entstand und dauerte. Rhythmisch durchpulst von den Flutungen und Ebbungen des Himmels wie von den Blutwellen des eigenen Herzens atmet der Mensch hier noch den Atem der Schöpfung. Aber wir sahen es schon: mit der Zeit trachtet der Mensch auch diesen Atem in seine Gewalt zu bringen, zum Zeichen, daß er nicht länger der Vollstrecker, sondern der Gebieter des All sei. Es ist eine Tatsache von unverkennbarer Symbolik, daß just mit den Übungen der Hatha-Yoga die gleichsam protestantische Loslösung und Verselbständigung des Menschen beginnt, — schon lange vor Gotamo, aber vollends durch Gotamo besiegelt, wenn er den unwillkürlichen Vorgang des Lebens dadurch dem Willen unterwirft, daß er jenem ganz regelmäßig eine bestimmte Vorstellung zuerst begleitend zugesellt, dann aber gewissermaßen verdrängend unterstellt. Langsam, aber unaufhaltsam verschwindet derart der Kosmos der Dinge, [S. 239] um einem Kosmos der Vorstellungen das Feld zu räumen, — übrigens in der Bhagavad-Gitâ ganz buchstäblich das ‚Feld‘ ( kshetra ) des Feld-Kenners ( kshetrajna ) genannt! — langsam, aber unaufhaltsam, gelangt eine transzendentale, will heißen immanente, will heißen phänomenologische Wirklichkeit als Inhalt des Bewußtseins ins Machtbereich des erlebenden Menschen. Die Reihe der kosmischen Kräfte wird um eine neue Kraft vermehrt, welche bald alle übrigen an Wirksamkeit übertrifft: denn eben von den bewußt entwickelten Vorstellungen hängt es künftig ab, welche Gestalt diese Welt annimmt und welche nicht. Wenn schon Kant, der transzendentale Idealist, auf seine stille Weise darüber frohlockt, daß sich in seiner kopernikanisch gewendeten Lehre die Erkenntnisse der Vernunft fürderhin nicht mehr nach den äußeren Dingen, Gegenständen, Wirklichkeiten richteten, vielmehr umgekehrt die Dinge, Gegenstände, Wirklichkeiten nach den Erkenntnissen der Vernunft und deren Bedingungen a priori ; wenn schon in diesem stillen Frohlocken Kants deutlich vernehmbar die Freude des echten Protestanten an der Bewältigung, Bemeisterung, Beherrschung der Natur durch den Geist, der Notwendigkeit durch die Freiheit, der Unwillkür durch die Willkür zum Ausdruck kommt, — nun wohl! so weiß der Buddho dieselbe Genugtuung noch ganz anders auszudrücken: er, der dem entwickelten Vorstellungleben eine magische, ja eine okkulte Wirksamkeit im Umkreis der Verursachungen zuzuschreiben sich berechtigt fühlt. „Acht Gründe gibt es, Ânando, [S. 240] acht Ursachen, daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt; und welche acht? Diese große Erde, Ânando, hat ihren Bestand im Wasser, das Wasser hat seinen Bestand im Winde, der Wind hat seinen Bestand im Raume. Zu einer Zeit nun, Ânando, wo gewaltige Winde wehen, lassen die gewaltigen Winde mit ihrem Wehen das Wasser erbeben: und erbebt das Wasser, erbebt die Erde. Das ist der erste Grund, die erste Ursache, daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt. Ferner aber, Ânando, ist da ein Asket oder ein Priester, der ist machtvoll, hat die Herrschaft über seinen Geist, oder ein Gott, hochmächtig, hochgewaltig, — der hat die Vorstellung ‚Erde‘ mäßig entwickelt, unermeßlich die Vorstellung ‚Wasser‘: so macht er diese Erde beben und erbeben, wanken und schwanken. Das ist der zweite Grund, die zweite Ursache, daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt...“Diese erstaunlichen und doch auch wieder selbstverständlichen Worte des Dritten Berichtes aus dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam führen die Vorstellung ein als eine Kraft eigener Art, als eine Ursache eigener Art, als einen Antrieb eigener Art innerhalb der Gesamtheit aller Kräfte, Ursachen und Antriebe der Welt. Auf magische oder auf okkulte Weise beeinflussen Vorstellungen den Zustand der Wirklichkeit und verteilen die vorhandenen Grundstoffe anders, als es vorher und ohne ihre Beeinflussung der Fall war. Je nachdem eine Vorstellung vom Vorstellenden unterdrückt [S. 241] oder entwickelt, begünstigt oder vernachlässigt, gestärkt oder geschwächt wird, greift sie als eine wirkende Ursache in die Unendlichkeit der wirkenden Ursachen ein. Weit entfernt, eine wesenlose, untätige, unwirkliche Begleiterscheinung der Körperlichkeit oder des Lebens zu sein, — wie dies europäische Psychologen, Physiker und Philosophen häufig vermuten zu dürfen glaubten im sinnfälligen Widerspruch zu bestehenden Tatsachenreihen, — erweist sich die Vorstellung hier als eine der treibenden Kräfte der Welt, ja als die Hauptkraft der Welt, wo sie richtig gebildet, richtig geübt, richtig gehandhabt wird. Veränderte Vorstellungen bewirken veränderte Dinglichkeiten: diese endlich auch von der abendländischen Wissenschaft gemachte Entdeckung verrät das eigentliche Geheimnis, warum gerade der Buddho die Wendung vom Kosmos Uranios zum Kosmos Noetos vollziehen mußte, — warum gerade er den transzendentalidealistischen und phänomenologischen Standpunkt mit soviel Ausschließlichkeit vertreten und wahren mußte. Gotamo der Protestant, der von Anfang an nichts so folgerichtig und planmäßig anstrebte als die vollendete Freiheit und Unabhängigkeit des Gemüts von allen naturhaften Bedingungen und Gebundenheiten, er fand in der Vorstellung die Möglichkeit, diese Freiheit und Unabhängigkeit zielbewußt zu erwirken. Die Vorstellung, die ihm eine Kraft, eine Wirksamkeit sondergleichen ist, gestattet den ungeheuern Eingriff in die gesetzmäßig bestimmte Ordnung der Welt, auf welchen es vor allem abgesehen ist. Im Besitz seiner Vor [S. 242] stellungwelt schaltet der Vorstellende in den Stromkreis der Kräfte eine neue Kraft von der Ordnung X ein, die im Unterschied zu allen anderen Kräften durchaus dem Bereich der eigenen Machtvollkommenheit und Zielstrebigkeit angehört. Von den Vorstellungen aus ergehen fortab die Befehle, Winke, Zeichen, nach welchen die Wirklichkeiten abgeändert werden; von den Vorstellungen aus beherrscht die Absicht des Vorstellenden die gesamte Schöpfung, sobald er sie nur zu beherrschen willens ist. Mittels der Vorstellung bringt der Vorstellende grundsätzlich die unendliche Weltwirklichkeit in seine Gewalt: in der Form der Vorstellung wird sie ihm botmäßig, wenn nicht sogar dienstwillig. Schopenhauers etwas dürre Formel ‚die Welt ist Meine Vorstellung‘ heißt in die Sprache Gotamos übersetzt fruchtbarer und sinngemäßer: die Welt ist abhängig veränderlich von Meiner Vorstellung der Welt... Und wenn dies auch nicht buchstäblich so zu denken ist, wie es Gotamo selbst dem aufhorchenden Ânando im Dritten Bericht aus dem Großen Verhör der Erlöschung Mahâparinibbânasuttam so eindringlich darlegt; wenn in Wahrheit auch nicht schon jede unermeßlich entwickelte Vorstellung ausreichend sein mag, diese Erde zum Zittern zu bringen wie die Vorstellung ‚Wasser‘ eines hochmögenden Asketen, — daß eine ‚unermeßlich‘ entwickelte Vorstellung zum mindesten die empfindenden und bewegenden Nerven, die Zellen und Gewebe und Muskeln eigener und fremder Leiblichkeit beeinflussen und bestimmen können, dies steht auch für unser [S. 243] europäisches Wissen nachgerade auch dann fest, wenn eine ausreichende Erklärung dieses Sachverhalts nicht gegeben werden kann. Mittels Vorstellungen auf lebendiges Plasma einzuwirken und es von diesem inneren Licht aus geradezu einer Art von Bestrahlung zu unterziehen, das ist möglich, denn es ist wirklich. Der Herr der Vorstellungen aber ist der Vorstellende, und so ist der Vorstellende der Herr über alles, was von der Vorstellung her beeinflußbar erscheint, — grundsätzlich der Herr also über alles, was lebt und infolge seines Lebens selbst an einer Vorstellungwelt teil hat: sie sei dumpf oder besonnen, unbewußt oder bewußt. Als vorstellendes Wesen verfährt der Mensch mit seinen Vorstellungen, wie es ihm gefällt, und so verfährt er auch mit dem, was seiner Vorstellungkraft nah oder fern zugänglich ist, wie es ihm beliebt. Die Welt als Vorstellung restlos dem bewußten Wollen, der bewußten Absicht, dem bewußten Zweck gehorsam zu machen, gehört somit ganz einfach zum Ziel des gotamidischen Protestantismus, wie es (in etwas anderer Weise) zum Ziel des kantischen Protestantismus gehört: in dieser Hinsicht geschieht Gotamos Einstellung auf den ‚transzendentalen Idealismus‘ aus dem stärksten Instinkt des großen Protestanten heraus, der über die Welt Herr sein und nicht der Welt Knecht sein will. Sei nun die Welt wahrheitgemäß Meine Vorstellung, oder sei Meine Welt Vorstellung oder sei weder Meine noch Deine Welt weder Meine noch Deine Vorstellung, sondern die ‚Welt überhaupt Vorstellung überhaupt‘, — unter allen Umständen ist [S. 244] es erst diese Auffassung, die eine brauchbare Möglichkeit schafft, der Welt von innen her, vom Bewußtsein her, vom ‚Geiste‘ her habhaft zu werden. Erst als Bewußt-Sein von der Welt ist das Sein der Welt zu überwältigen, zu überweltlichen. Und umgekehrt: wo diese Überwältigung und Überweltlichung vornehmstes Ziel des Lebens ist, muß folgerichtig alles Sein in das Bewußtsein eingesenkt und eingeschichtet werden...

Wie aber nun, ihr Christen? Heißet das Leiden verwinden recht eigentlich die Welt verwinden, die Welt verwinden aber die Vorstellung der Welt verwinden, — heißet alsdann nicht das Leiden verwinden die Vorstellung der Welt, ja die Vorstellung-Welt selbst verwinden? Heißet das Leiden verwinden recht eigentlich das Sein verwinden, das Sein verwinden aber das Bewußtsein verwinden, — heißet alsdann das Leiden verwinden nicht das Bewußtsein selbst verwinden? Und falls sich dieses wirklich so verhält, — und es verhält sich so! — was heißt in diesem zutreffenden Fall die Vorstellung verwinden, das Bewußtsein verwinden? Wie kann die Vorstellung als solche, wie kann das Bewußtsein als solches verwunden werden, wenn Vorstellung und Bewußtsein das Erste und Letzte, das Unbedingte und Unentstandene ist? Wie kann das Erste und Letzte, das Unbedingte und Unentstandene selbst verwunden werden, da doch Nichts mehr hinter und Nichts mehr über ihm ist, welches zur Verwindung berufen wäre?

Auf zweierlei Arten kann dennoch auch das Bewußtsein verwunden werden, die beide unmittelbar [S. 245] durch die Beschaffenheit des Bewußtseins selber bestimmt sind. Das Bewußtsein nämlich kann unterschritten und kann überschritten werden. Es kann entweder soweit geschwächt, soweit getrübt, soweit verringert, soweit unterdrückt werden, daß es gewissermaßen unter seinen eigenen Schwellenwert hinabsinkt und sich ins Unbewußtsein allmählich verliert. Oder aber das Bewußtsein kann soweit gestärkt, soweit aufgehellt, soweit vermehrt, soweit gehoben werden, daß es gewissermaßen über sich selbst gesteigert erscheint und ins Überbewußtsein mündet. Denn um den entscheidenden Tatbestand mit einem einzigen Wort anzuführen: das Bewußtsein hat Grade! Das Bewußtsein hat Grade, und also verläuft es zwischen einem untersten und einem obersten Schwellenwert von der bestimmten Größe Null bis zu einer unbestimmbaren und vielleicht sogar unendlichen Größe. Das Bewußtsein hat Grade, wie schon einer der ersten Philosophen des Bewußtseins in Europa, Leibniz, mit großem Nachdruck behauptete; — das Bewußtsein hat Grade, auch wenn sich im verflossenen Jahrhundert der Philosoph des Unbewußtseins für das Gegenteil dieser Behauptung hartnäckig eingesetzt hat. Zwischen der heftigsten, beinahe wütenden Gespanntheit auf ein erlebtes Vorkommnis und der vollkommenen Gleichgültigkeit gegen dasselbe, zwischen der angestrengtesten Überwachheit und der trägsten Dumpfheit, zwischen andauernder Aufmerksamkeit und andauernder Verschlafenheit, zwischen gleichmäßiger Geistes-Allgegenwart und gleichmäßiger Geistes-Abwesenheit, [S. 246] zwischen beherrschter Sammlung und zuchtloser Zerstreutheit durchmißt das Bewußtsein alle erdenklichen Grade: wie eine Klammer, die bald geschlossen, bald aber offen ist, umklammert das Bewußtsein erlebbare Gegenständlichkeiten mit eiserner Strenge oder entläßt sie in loser Ungebundenheit. So führt es entweder zu einem Zustand, der die Bezeichnung Bewußtsein noch kaum oder noch gar nicht verdient, oder zu einem anderen, für welchen die Bezeichnung Bewußtsein nicht mehr ausreichend ist. Im allgemeinen hält das Bewußtsein eine gewisse dämmerige Mitte ein zwischen Unbewußtsein und Überbewußtsein, wie etwa der Halbschlaf die dämmerige Mitte hält zwischen Wachheit und Vollschlaf. In der Tat, dem Halbschlaf gleicht das Bewußtsein in seinem gewöhnlichen Zustand: es ist eher eine Bereitschaftlage, in Bewußtsein überzugehen, als jederzeit selber Bewußtheit zu sein. Die zahllosen Vorstellungen die auch dem vorstellungärmsten Menschen noch durch den Kopf schwirren, beschäftigen das Bewußtsein gleichsam nur als Möglichkeiten. Damit sie als Vorstellungen ‚wirklich‘ werden, muß ihnen schon ein Zwang zur Aufmerksamkeit zu Hülfe kommen, sei es, daß von außen, sei es, daß von innen her ein Interesse geweckt werde, welches einzelne Vorstellungen aus der zudrängenden Menge auswählt und nun entwickelt. Wie beispielweis ein Landschafter eine lange Frist in einer Landschaft weilt, bis ihn in irgendeinem Augenblick ein ganz bestimmter Ausschnitt zum Bild anreizt und er zu sich spricht: alles andere wird nicht gemalt, aber dies [S. 247] wird gemalt, — ebenso weilt der Mensch gewohnheithalber mitten und unter seinen Vorstellungen, bis ihn eine derselben aus erkennbaren oder unerkennbaren Gründen zur Entwicklung anreizt. Auf diese Vorstellung sammelt sich das Bewußtsein und führt sie mit Sorgfalt, Genauigkeit, Treue aus; bei dieser Vorstellung verweilt das Bewußtsein und umkreist sie in stätigem Flug; an dieser Vorstellung erwärmt sich das Bewußtsein und entzündet sich zu einer gleichmäßig hellen Flamme, indes alle übrigen Vorstellungen je und je ins Dunkel jenes Kraters zurückstürzen, dem sie rätselhaft entstiegen sind... Wer also das Bewußtsein verwinden will, dem steht die Wahl ins Unbewußtsein zurück ebenso offen wie die Wahl zum Überbewußtsein vor, und vielleicht ist es schwer zu sagen, ob die Verwindung durch Unbewußtsein oder die Verwindung durch Überbewußtsein leichter zu bewerkstelligen wäre, — wie denn der eine zwar leicht einschläft, aber nur mühsam zu wecken ist, indes der andere schwer einschläft, aber leicht wieder aufwacht.

Dies übrigens dahingestellt, bleibt dem Buddho jedenfalls die Wahl zwischen beiden Arten der Verwindung. Es bleibt ihm die Wahl zwischen Verringerung und Steigerung, zwischen der Annäherung ans Unbewußtsein und ans Überbewußtsein, zwischen der Bevorzugung des Schlafzustandes und des Zustands der Überwachheit. Wozu aber sich der Buddho entschließt, das geht unmißverständlich eben schon aus dem Namen hervor, den er trägt... „Der Erwachte, o Keniyo, sagst du? — Der Erwachte, o Selo, sag [S. 248] ’ ich“... Denn wie sollte der Erwachte anderes als die Wachheit und Überwachheit des Bewußtseins als des Bewußtseins eigentliche Überwindung werten? Diese Wahl ist es dann auch freilich, welche den Buddho in einen tief bedeutsamen Gegensatz bringt zu der Praxis der Yoga, zu der Praxis des Brahmanismus, die ihrerseit den Tiefschlaf als den göttlichen Urstand schlechthin zum erstrebenswürdigsten Ziel ihrer geistlichen Übungen erhebt. Wobei wir freilich zu bedenken hätten, daß dem Buddho doch auch dieser Weg der Minderung und Verringerung, den alle Mystik immer wieder gegangen ist, keineswegs fremd geblieben ist. Ich sagte es schon mehrmals, daß zwischen Ja und Nein dem Buddho noch ein drittes, diesseit der Gegensetzungen, ‚ nirdvandva, dvantvâtîta ‘, vorschwebt, das weder Ja noch Nein und doch wiederum Ja und Nein in einem ist... Wählt somit Gotamo die Steigerung, so heißt dies nur in unserer europäischen Zwiesal-Sprache, daß er die Verringerung durchaus verwerfe. Seine Entscheidung gilt folglich zwar ohne diesen Vorbehalt nicht eindeutig: wohl aber gilt sie mit ihm so. Das Bewußtsein ist zu verwinden durch die höchstmögliche Steigerung des Bewußtseins, und diese Praxis haben wir jetzt in ihrer Wichtigkeit darzustellen.

Unser Leben in Vorstellungen, wie wir’s uns selber überlassen führen, ist ein Spiel. Die Vorstellungen tauchen auf und sinken unter wie die Fische in einem Weiher. Jetzt schnellen und schnalzen sie sich, in der Sonne wie kleine Silberpfeile blitzend, über den [S. 249] Wasserspiegel des Weihers in munteren Sprüngen dahin; im nächsten Augenblick schwimmen sie in ihrem Element flink umeinander, — und jetzt sind alle verschwunden. Gewiß hat auch dieses Spiel der Vorstellungen seine Regeln, sonst wär’ es doch wohl kaum ein Spiel. Denn einmal ist ihre Abfolge im Bewußtsein festgelegt durch die gleichsam physikalische Abfolge der Wirklichkeiten in Raum-Zeit, die sie im Bewußtsein zu vertreten haben. Zum anderenmal ist dieselbe Abfolge festgelegt durch die psychologischen Gesetze der Vergesellschaftung, durch welche sie bestimmt wird. Wer beispielweis durch die Straßenzüge einer großen Stadt schlendert, hat keine Freiheit, weite Täler, hohe Berge, einsame Wälder, bebaute Felder wahrzunehmen. Seine Vorstellungen bleiben wimmelnden Gassen verhaftet, rauchenden Schloten, zudringlichen Firmenschildern, lärmenden Plätzen. Und auch wenn er seine Vorstellungen von dieser Umwelt abzieht, und in sich selbst verloren, in sich selbst versonnen weiterschlendert, wechseln dieselben nach Regeln, auf welche er offenbar keinen Einfluß hat, solange er das Auf und Ab der Vorstellungen sich selber überläßt. Ein Spiel nach Regeln und Gesetzen ist also dieser Ablauf, wo die benachbarten Vorstellungen immer wieder die benachbarten, die verwandten Vorstellungen immer wieder die verwandten suchen. Sich selber überlassen, stellen sich die Vorstellungen niemals in einer Abfolge ein, die dem klaren Willen des Vorstellenden entsprechen würde, und niemals verschwinden sie diesem Willen entsprechend. [S. 250] Vielmehr schaut der Vorstellende selbst diesem Spiel nur wie ein müßiggängerischer Gaffer zu, der eine Szene auf dem Marktplatz oder im Theater als unbeteiligter Dritter anstaunt: wohl wechseln fortwährend seine Vorstellungen, aber nicht ist er es, der sie wechselt. Was unser Besitz sein sollte und richtig verstanden überhaupt unser einziger Besitz sein kann, das lassen wir als grobe Naturalisten, ja Anarchisten des Lebens einfach gewähren und geben uns willfährig seinem eigenen Sinn oder Unsinn gefangen. Diesem launischen Spiel, welches das verborgene ‚Es‘ mit uns allen spielt, ein sehr entschiedenes Ende zu setzen, und an Stelle des Naturalismus und der Anarchie gleichsam den ‚Stil‘, sogar den hieratischen Stil walten zu lassen und seine strengen Gesetze: das heißt in der Auffassung des Buddho den ersten Schritt tun zu der Verwindung des Bewußtseins durch Steigerung des Bewußtseins. Auf das Spiel, auf die Spielerei zu verzichten, die wir mit uns selber treiben, und endlich mit einem gewissen Ernste Ernst zu machen: das ist die erste Forderung, die an den Jünger des Erwachten ergeht. Er soll die Abfolge der Vorstellungen, die von Haus aus eigentlich in keinerlei Betracht die seine ist, zur seinigen machen; er soll der Abfolge der Vorstellungen die Regeln der Vergesellschaftung selber auferlegen, statt sie physikalisch-psychologischer Gesetzmäßigkeit anheim zu geben. Er soll den zuchtlosen Ablauf der Vorstellungen in die Zucht nehmen und ihm wie einem durchaus regulierten Fluß die rechte Richtung weisen, den rechten [S. 251] Wasserstand, die rechte Fahrtrinne, die rechte Stromstärke, das rechte Gefälle, — dies ist das Unerläßlichste von allem.

Ein Vorsatz von mehr als menschlicher Strenge gegen sich selbst, ihr Christen, wenn man’s recht bedenkt. Ein Vorsatz, der für die meisten christlichen Abendländer, wofern sie sich nicht zufällig mit den Geistlichen Übungen des heiligen Jgnatius vertraut gemacht haben, etwas Unheimliches, Unbegreifliches, Zermalmendes hat: für jene Abendländer, die es so sehr lieben, sich gehen und hängen zu lassen, wie es gerade kommt oder auch krumm kommt. Denn was will es heißen, alle die aufkeimenden und aufwuchernden Vorstellungen, die unser Selbst wie eine undurchdringliche Dornenhecke um sich zu ranken pflegt, nach der Zuständigkeit der heilstrebenden Absicht überall zu beschneiden und festzubinden? Es will heißen, daß jede Vorstellung, die nicht mit dieser bewußten Zwecksetzung übereinstimmt, ohne Gnade und Nachsicht zu unterdrücken ist, sei es auf die Gefahr hin jeglicher Vergewaltigung der eigenen Instinkte, Triebe und Neigungen. Es will heißen, daß jedes Gelüste, jede Anwandlung, jede Versuchung des Leibes und der Seele in des Wortes buchstäblicher Meinung schon von der Schwelle her abzuweisen ist, es sei nun, daß diese Vorstellung die Schwelle gar nicht überschreiten darf, es sei, daß sie sie nach erfolgtem Überschritt sofort wieder räumen muß. Es will heißen, daß alle Erlebnisinhalte und Bewußtseinsgegebenheiten, welche nicht unmittelbar oder mittelbar die [S. 252] Tat des Heils zu fördern geeignet erscheinen, als störend oder entbehrlich zu verabschieden sind. Es will heißen, daß alles, was bedrückt, was schmerzt, was umdunkelt, was hemmt, was niederzieht, was verderbt, was beschwert, was beeinträchtigt, was entwertet, was entwürdigt, was befleckt, was gefährdet, was erzürnt, was erschreckt, was verbittert, was verstockt, was kränkt, was aufwühlt, was entfesselt, was verstört, was verwildert, was verroht, was verkehrt, was versklavt, was umnebelt, was berauscht, was ausschweift, was ablenkt, was zerstreut, was verwirrt, was in Zweifel stürzt, was verzweifeln macht, was täuscht, was verblendet, was giert, was gärt, was verzehrt, was abstumpft, was versehrt, was entzweit, was zerreißt, was entfriedet, was entfremdet, was entkräftigt, was entnervt, — daß alles dieses und was nicht noch alles sonst aus dem Bewußtsein zu verjagen und zu verbannen ist, nötigenfalls zu übermannen mit Einsatz aller Kräfte des Willens „mit aufeinandergepreßten Zähnen und an den Gaumen gehefteter Zunge“... Es will heißen, daß alle Erwägungen aufzugeben und einzustellen sind, die mit dem heiligen Ziel nicht nachweisbar zusammenhängen, und mit diesen Erwägungen und Erörterungen dann alle Reden und Gespräche, alle Belehrungen, Bestrebungen, Zwecksetzungen. Es will heißen, daß mit dem Eifer eines Teufelaustreibers die urwüchsigsten Triebe auszutreiben sind wie die geistigsten Bildungen, sobald sie vom Ziel abführen oder auch nur nicht zu ihm hinführen. Es will heißen, daß alle Wahrnehmungen und Erinnerungen und [S. 253] Absichten, sobald das Bewußtsein ihrer ansichtig geworden ist, auf die goldene Wage zu legen sind, ob recht oder nicht recht, ob statthaft oder verboten, ob heilfördernd oder heilhemmend. Es will heißen, daß alle ‚rechten‘ Vorstellungen zum Gedeihen, alle ‚unrechten‘ aber zum Eingehen zu bringen sind, ja daß die rechten geradezu zum Kampfe aufgeboten werden, um diese zu verdrängen und ihre Stelle einzunehmen. „Gleichwie etwa, ihr Mönche, ein geschickter Maurer oder Maurergeselle mit einem feinen Keil einen groben heraustreiben, herausschlagen, herausstoßen kann, ebenso nun auch, ihr Mönche, soll ein Mönch, wenn er eine Vorstellung faßt, eine Vorstellung sich vergegenwärtigt, und ihm dabei böse, unwürdige Erwägungen aufsteigen, Bilder der Gier, des Hasses und der Verblendung, aus dieser Vorstellung eine andere gewinnen, ein würdiges Bild“... Denn daß die Triebe und Begehrungen, die Leidenschaften und Neigungen, die mit der Wesenheit der Person lebendig verwurzelten, aus dem Bewußtsein unter keinen Umständen verdrängt werden könnten, oder falls dennoch verdrängt, in unterschwelligen, unterschwürigen, unterbewußten Bezirken der Seele erst recht und viel unbezwinglicher noch ihr Unwesen fortsetzen müßten, — dieses Ergebnis abendländischer Seelenerkundung hätte Gotamo vermutlich nicht anerkannt. Wofern auch der Trieb oder Hang als eine Vorstellung ins Bewußtsein tritt, da betritt er eben die Walstatt, wo gegen jede unerlaubte Vorstellung ihre Gegen-Vorstellung, Gegen-Stellung ins Gefecht geführt wird: [S. 254] betritt also der Trieb oder Hang die Stätte einer zum Austrag gelangenden Zucht-Wahl, wo die durch Zucht erwählte Gegen-Vorstellung die gleichsam wild und zuchtlos aufgeschossene Vorstellung aus dem Feld schlägt. Ein etwaiger Rückzug aber aus dem Bewußtsein in die Höhlen und Unterschlüpfe des Unterbewußtseins, wie ihn alsdann die moderne Seelenlehre des Westens für unvermeidlich erachtet, wird schlechterdings nicht geduldet, — aus Gründen, die wir bald in den Umkreis der Betrachtung zu ziehen haben werden. Jedenfalls ereignet sich somit im Bewußtsein der seltsame Kampf, der über die Rechtmäßigkeit jeder einzelnen Vorstellung entscheidet und folglich auch über ihren weiteren Verbleib, ihre weitere Entfaltung, ihre weitere Begünstigung. Unmöglich aber ist’s, hier aller Anstalten besonders zu gedenken, die der Buddho namhaft zu machen gewußt hat zur Beförderung dieses seines Zieles. Besteht doch in der Sammlung und Sichtung, Darlegung und Erläuterung dieser Anstalten im Grund die ganze Lehre des Buddho, — die ganze Lehre ein beispiellos abgerundetes und wohlgeordnetes Gefüge von erzieherischen, von seelsorgerischen Maßnahmen, das Spiel der Vorstellungen in die Gewalt des selbstherrlichen Willens zu bekommen und dort gebieten zu lernen, wo wir alle am meisten gehorchen müssen. Diese Schule der Zucht und Selbst-Zucht macht sich sorgfältige Erfahrungen von Jahrtausenden mit einem nirgends mehr erreichten Aufwand von Menschenkenntnis und -erkenntnis zu Nutz und ist darum auch für die Jahrtausende gültig, wahrhaft [S. 255] unsterblich und zeitlos. Sie durchaus in ihrem gesamten Aufbau und Ausbau zu überschauen, ist nur einem solchen möglich, der die Schriften des Kanons wieder und wieder durchforscht, indes unser abendländisches Wissen, unsere europäische Gelehrsamkeit vollkommen außerstand ist, im einzelnen zu billigen oder zu tadeln, hinzuzufügen oder fortzustreichen, zu urteilen oder zu entscheiden. Von dieser in der Tat ungemein schwierigen Praxis und Pragmatik des urwüchsigen Buddhismus einen Begriff zu geben erscheint desto schwieriger, je fortgeschrittener unsere eigene seelische Verwahrlosung ist. Ehe wir über sie annähernd würdig werden sprechen können, sprechen dürfen, werden Jahre und Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte einer neu erblühenden europäischen Religiosität vonnöten sein...

Ein zur höchsten Meisterschaft gebrachtes Verfahren, das Ineinander und Durcheinander der bewußten Vorstellungen einer strengen Auslese zu unterziehen, dies, ihr Christen, ist also das eine, was dem Buddho die Verwindung des Bewußtseins bewirkt durch die Steigerung des Bewußtseins. Verdrängung aller wertwidrigen Bewußtseinsinhalte durch die wertentsprechenden, Entkräftung aller niedrigen Triebregungen durch Begünstigung und ‚unermeßliche Entwicklung‘ aller höheren, Vertauschung aller heilhemmenden Gegebenheiten gegen die heilförderlichen: das ist Ziel wie Weg, Zweck wie Mittel. Aber gleichzeitig erschöpft sich die angestrebte Steigerung des Bewußtseins doch keineswegs in dieser völligen [S. 256] Bemeisterung, Beherrschung, Regelung des Vorstellungablaufes in der Zeit. Die nicht zweckdienlichen und folglich verbotenen Bewußtseinsinhalte schon von der Schwelle fern zu halten, oder wo dieses mißlingt, von der Schwelle zu entfernen, ist eine unerläßliche Bedingung für die Entstehung jenes besseren, freieren, reineren Urstandes, der dem Buddho vorschwebt. Aber unter keinen Umständen ist das Bewußtsein schon verwunden wenn es gesäubert und entschlackt erscheint. Die starke Gefahr ward vorhin erwähnt, die nach heutiger Auffassung diesem Verfahren der Verdrängung eingewurzelter Triebe und Begierden verhängnisvoll zu werden droht. Die Gefahr nämlich, daß die verdrängten Regungen sämtlich in den unterschwelligen Bezirken der Seele sich festnisten und hier nach der Gepflogenheit aller Schmarotzer ein untilgbares und verwüstendes Unwesen führen möchten auf Kosten der wachen Bewußtheit, die sich ihrer entledigt hat. Denn wie es geschrieben steht, — manche haben den Geist der Wollust aus sich herausgetrieben und sind hernach in die Säue gefahren, und häufig genug erwürgt ein verdrängter Hang nachträglich seinen eigenen Henker. In den dunkleren und dumpferen Lagen der Seele huldigt der Mensch auf eine ausschweifende und krasse Weise dem Dienst seiner Ahnen, deren Totem er zwar nicht nach Art der ehemaligen Indianer auf die Haut tätowiert, aber dennoch wie ein Mosaik in dem Kerngerüst seiner Keim-Zelle musivisch angelegt trägt: und wehe ihm selber, wenn er sie mit dem Blut der Opfer tränkt, [S. 257] die er auf dem Altar des Bewußtseins seinem edleren Trachten feierlich dargebracht und umgebracht hat! Was hier der Mensch im Menschen aus Ehrfurcht oder Scham vor sich selbst verwirft, das diente von jeher dem Tier im Menschen zu seiner am hitzigsten begehrten Kost. Und wenn sich die Hunde keineswegs ekeln, als die sonderlichsten aller Selbstverköster den eigenen Auswurf, ja den eigenen Kot gelegentlich wieder zu fressen, so heulen und bellen fürwahr diese selbigen Hunde in den Kellern der Seele bei Tag und bei Nacht und bei Nacht noch weiterhin vernehmlich wie am Tage. Die Gefahr mithin, in den oberen Geschossen, wo das Bewußtsein gleichsam seine Empfangräume hat, zwar eine peinliche Sauberkeit überall zu beobachten, aber den inwendigen Abfall und Kehricht in das Verlies hinunter zu fegen, wo Ratten und Schlangen in modrigen Löchern behaust sind, — diese Gefahr ist in der Tat keine geringe. Aber sie besteht nicht, ohne daß Gotamo genau um sie wüßte, — Gotamo, dessen Kennerschaft hier wirklich etwas von göttlicher Allwissenheit erworben zu haben scheint. Denn keineswegs bleibt diese tiefer geschichtete Zone der unterschwelligen Lebenskräfte sich selber überlassen. Vielmehr wird sie im Bewußtsein vom Bewußtsein unaufhörlich angeblinkt und belichtet, wie etwa des Nachts die Einfahrt eines Hafens unaufhörlich angeblinkt und belichtet wird. Und eben in dieser fortgesetzten Sammlung des Bewußtseins auf sonst unbewußte oder unterbewußte Vorgänge besteht das zweite gotamidische Verfahren, das Bewußtsein zu [S. 258] steigern und durch Steigerung zu verwinden. Die oben umschriebene Regelung des Vorstellungablaufs durch Auslese und Zuchtwahl der Vorstellungen untereinander ergänzt sich sinngemäß durch eine andauernde Beaufsichtigung der niedereren Körper- und Seelenbewegungen. Wo daher unstatthafte und unzweckmäßige Vorstellungreihen aus dem Bewußtsein verdrängt werden und aus dem Bewußtsein in tiefere Seelenlagen abwärts gleiten, da wird unverzüglich eine Gegenwirkung aufgerufen, welche die unterschwelligen Vorgänge ihrerseit wieder in den Lichtkegel der Bewußtheit rückt, ehe sie sich in den Falten einer Dämmerwelt schmarotzerisch festzunisten vermögen. Wohl werden also im Bewußtsein keine Vorstellungen geduldet, welche dem heiligen Ziel der Leidensüberwindung nicht irgendwie förderlich zu sein verheißen. Aber ebensowenig werden im Unterbewußtsein, Unbewußtsein Vorstellungen geduldet, welche um eben jenes heiligen Zieles willen aus dem Bewußtsein mit Anstrengung verdrängt wurden und sich darum der Aufsicht des Bewußtseins zu entziehen drohen. Um solchen oder ähnlichen Gefahren zu begegnen, hat der Mönch ein Maß von Selbstüberwachung zu bewähren, welches dem Wachstum unterschwelliger Seelenkräfte nicht nur so ungünstig wie möglich ist, sondern dasselbe vielleicht geradezu ausschließt. Von der allmächtigen und allgegenwärtigen Polizei des Bewußtseins werden alle unterschwürigen Lebensäußerungen und Willensantriebe wie eine Verbrechergesellschaft von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel aufgescheucht und zuletzt [S. 259] nach und nach vollständig aufgerieben. Das Gemüt des Asketen liegt faltenlos geglättet an der gleichmäßigen Helligkeit des Bewußtseins da; unbeaufsichtigte, ungewußte, unbemerkte Wallungen oder Begierden gibt es grundsätzlich in ihm nicht mehr. Dies ist der Grund, warum der Buddho die Verdrängung eingewurzelter Lebenstriebe durchaus und ohne Vorbehalt gebietet, und dennoch offenbar keines der Übel fürchtet, die nach dem Ergebnis europäischer Seelenkunde jeder derartigen Triebverdrängung, Triebunterdrückung auf dem Fuße folgen müßte. Und auch hier ist wiederum vorbildlich jene mehrfach schon berührte Zucht der Atemführung geworden. Wie diese Zucht in der Absicht geübt wird, die unwillkürlichen Bewegungen des Leibes in willkürliche zu verwandeln, so will eine letzte Zielsetzung überhaupt alle Lebensvorgänge aus dem Reich der Physis in das Reich der Psyche pflanzen. Stets von neuem wird der Mönch daher vom Buddho angehalten, die ‚vier Pfeiler der Einsicht‘ fest zu gründen und beim Körper über den Körper, bei den Gefühlen über die Gefühle, beim Gemüt über das Gemüt, bei der Erscheinung über die Erscheinung zu wachen. ‚Klar bewußt‘, dies wird zu einer der dringendsten Ermahnungen an die Jünger, und die evangelische Wachsamkeit bei Tag und bei Nacht, besonders aber bei Nacht, gilt im urwüchsigen Buddhismus noch viel mehr (wenn freilich auch in einem anderen Sinne) als in den evangelischen Schriften für die vornehmste aller religiösen Pflichten: „Den Arm über das Haupt gelegt, so sollte der Held [S. 260] ausruhn, so sollte er auch noch sein Ausruhn überwinden“ ... Nicht ziemte es dem vorgeschrittenen Asketen, auch nur eine einzige Verrichtung des Leibes mit schläfrigem Bewußtsein oder ‚aus Instinkt‘ zu verrichten. Ein ständig arbeitendes Bewußtsein läßt vielmehr gar keine Instinkte aufkommen und unterbricht daher auch den Zusammenhang der Lebewesen fast gänzlich, der sonst zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren der Schöpfung nur allzu deutlich wahrzunehmen ist. „Mit klarem Bewußtsein wollen wir uns wappnen. Klar bewußt beim Kommen und Gehn, klar bewußt beim Hinblicken und Wegblicken, klar bewußt beim Steigen und Erheben, klar bewußt beim Tragen der Gewänder und der Almosenschale des Ordens, klar bewußt beim Essen und Trinken, Kauen und Schmecken, klar bewußt beim Entleeren von Kot und Harn, klar bewußt beim Gehn und Stehn und Sitzen, beim Einschlafen und Erwachen, beim Sprechen und Schweigen, also habt ihr euch, meine Mönche, wohl zu üben“...

Alle die wimmelnden Gefühle also, die aus der Sehnsucht stammen oder aus dem Verlangen oder aus dem Hang oder aus dem Weib oder aus der Begierde oder aus der Liebe oder aus dem Haß, sie werden gleichsam im Bewußtsein abgefangen und hier mit einem Hieb ins Genick zur Strecke gebracht. Und mit diesen vom Lebenssaft der tiefst gesenkten Bodenwurzeln tausendfach gespeisten Gefühlen wird die Sehnsucht selber, wird das Verlangen selber, wird der Hang selber, wird der Trieb selber, wird die [S. 261] Begierde selber, wird die Liebe selber, wird der Haß selber im Bewußtsein abgefangen. Sie alle gehören ein für allemal zu des Leidens Verursachung, zu den Leidenschaften, die da Leiden schaffen; sie alle werden im Bewußtsein abgetötet fast schon durch die schlichte Tatsache, daß sie dort zum Bewußtsein gelangen. Denn das im Übermaß erhellte Bewußtsein des Leidens, könnte man nicht unzutreffend sagen, die im Übermaß erhellte Vorstellung des Leidens vernichtet schon an und für sich alles Leiden. „Indem ich mir jener Leidensursache Vorstellung gegenwärtig halte, wird durch der Vorstellung Gegenwart die Liebe verwunden; indem ich wieder betrachtend die Betrachtung über jene Leidensursache in mir vollende, wird die Liebe verwunden“, — so faßt einmal der Buddho dieses seltsame Seelengesetz in Worte, die man sich zu merken hätte. Durch angespannteste Aufmerksamkeit und sorgfältigste Selbstüberwachung erzielt Gotamo eine seelische Gesamthaltung, die freilich nicht leicht zu schildern und noch schwerer zu erläutern ist. Vielleicht ist sie uns einigermaßen bekannt von uns selber, wenn es uns beispielweis einmal vorübergehend gelingt, einen heftigen Körperschmerz durch nachhaltige Steigerung der Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grad zu neutralisieren und ihn in einer von unserer Person entfernter scheinenden Sphäre zu objektivieren. Hierbei gelangt zwar der Schmerz nicht geradezu zum Verschwinden, aber immerhin belästigt er weniger wie vorhin: der im Bewußtsein zu einer Art von Versachlichung gediehene Schmerz löst [S. 262] sich zeitenweis von unserem Selbst ab, nicht unähnlich, wie sich etwa im Augenblick des Abschusses einer Pistole die Hand vom übrigen Körper ablöst und Pistole und Hand zusammen ein beinah’ selbstherrliches Dasein gewinnen. Eine ähnliche Entpersönlichung des Erlebens trachtet der Buddho hervorzubringen und bringt er auch sicherlich hervor durch die innigere Gesammeltheit des Bewußtseins auf die Begebnisse des Leibes und der Seele.

Auf solche Weise nun betätigt der ‚Erwachte‘ zwar vielleicht eine eigenartige, aber dennoch durchaus folgerichtige Anwendung des allgemeinsten und unumstößlichsten Ergebnisses unserer europäischen Transzendentalphilosophie: wonach im Bewußtsein das Sein sozusagen abgestreift und gehäutet wird, — wonach vom Bewußtsein das Sein in einer unwirklichen Spiegelung zurückgestrahlt oder umgebogen wird. Im Bewußtsein des Bewußtseins aber oder im Bewußtsein höheren Grades stocken insbesondere die Unterschwellungen unterwüchsiger Lebenssäfte, welche im Leib und Geist des einzelnen Menschen unaufhörlich lust- und unlustspendend kreisen und durch mehr wie nur einen Nabelstrang mit dem Kreislauf des großen Lebens, All-Lebens zusammenhängen. Etwa wie die Stiele und Stengel von blühenden Gräsern oder Blumen an der Stelle dorren, wo sie unter die scharf belichteten Brennpunkte optischer Linsen gerückt werden, so dorrt und welkt pflanzenhaftes, tierisches, menschliches Leben nach des Buddho innerster Absicht, unter den Brennpunkt gerückt eines zu an [S. 263] dauernder Wachsamkeit verpflichteten Bewußtseins und Überbewußtseins. Oder wie ein Chirurg, ein ‚Handwerkender‘ und ‚Handfertiger‘ die Messer, Scheren, Sägen seines ärztlichen Besteckes vor dem Gebrauch in eine Lösung von Sublimat eintaucht, um sie zuverlässig zu entkeimen, so taucht der Buddho alles Werdende und Lebendige in Bewußtheit, um es darin nochmals zu entkeimen. Oder wiederum, wie derselbe Chirurg und Therapeut ein krebsendes Gewebe der Einwirkung gewisser Strahlenbündel von der Ordnung X aussetzt, um die Wucherung mehrkerniger Körperzellen aufzuweichen, zu zersetzen, zu zerstören, so weicht der Buddho im Strahlenbündel des gesammelten Bewußtseins die Wucherung Leben auf, die Wucherung Werden auf, die Wucherung Leiden auf, zerstört sie und zersetzt sie... Solchermaßen verwindet der Buddho das Bewußtsein durch Steigerung des Bewußtseins, das Leiden durch Steigerung des Bewußtseins, das Leben durch Steigerung des Bewußtseins: im innersten Gemüt, wie es scheint, einhellig mit einem tief rätselhaften Wort Lao-Tses, wonach Leben schon an und für sich Mißbrauch des Lebens ist. Wie manche Körper aber das Licht einmal brechen, andere es zweimal brechen, so bricht das gemeine Bewußtsein das Leben schon gleichsam einmal, das Bewußtsein des Bewußtseins aber zweimal, — und so wird das Leben denn von seiner anfänglichen Richtung zweimal abgelenkt, zweimal abgeknickt, zweimal zurückgeworfen. Im Bewußtsein empfängt der Bewußte das Leben und alle Wirklichkeiten des Lebens: aber das [S. 264] Bewußtsein des Bewußseins gibt vom Leben und seinen Wirklichkeiten nur noch die doppeltgebrochenen Bilder und Bildesbilder, indessen Wirklichkeit und Leben mit allen Gefühlsbetonungen, Gefühlsaufwühlungen weit draußen verebben, vergluten und verbrausen. Wie die übermäßige Helligkeit der tropischen Sonne die Farben der Gegenstände verzehrt und ihre Formen aufsaugt, so verzehrt die übermäßige Bewußtheit des Asketen die Farben des Lebens und saugt es die Formen der Wirklichkeiten auf sich, in sich. Das höhere Bewußtsein ist der luftleere Raum, in welchem die Körper die ihnen eigentümliche Schwere verlieren und insgesamt mit gleicher Geschwindigkeit fallen, und wiederum ist es ein chemischer Filter, durch den man die giftigen Gase des Tods und der Verwesung hindurchseiht. Nachdem sich der Weltstoff in den fünf Elementen verwirklicht und bald als Erde, bald als Wasser, bald als Luft, bald als Feuer, bald als Äther um- und umgestaltet hatte, wiederfährt ihm jetzt die letzte und endgültige Umgestaltung in ein sechstes Element, ins Bewußtsein, wo ihn der Buddho in gläserne Ruhe und kristallische Friedsamkeit feierlich einsargt und bestattet, ähnlich jenem lieben deutschen Märchen, allwo die Sieben Zwerge über den Sieben Bergen den blühenden Leib Schneewittchens ins gläsern-kristallische Bett einsargen und bestatten. Und wie nun darin der Leib der kleinen Prinzeß in himmlischer Geborgenheit ruht und dennoch den Sieben Zwergen zu ewiger Besäligung hold gegenwärtig bleibt, so ruht Welt, Leid, Leben fortab im [S. 265] Sechsten Element des Bewußtseins in himmlischer Geborgenheit und Stille, wie es der vollkommen Erwachte denn auch buchstäblich gesprochen und versprochen hat:... „den Wahnvernichtern taugen diese Dinge um säliger Gegenwart zu genießen“...

Bei der Abkunft des Leidens aus dem Bewußtsein, wie sie in den Schriften des Pâli-Kanons gegeben wird, bezog ich mich bislang im wesentlichen auf jene Fünfzehnte der Reden aus der Längeren Sammlung Dîghanakâyo. Hier gilt in der Tat Bewußtsein für die letzte Stätte einer achtfachen Entstehung: es selber eine Unentstandenheit und Unbedingtheit, die nur noch durch sich selber verwunden werden konnte. Was hier aus diesem Umstand gefolgert ward, wird daher im ganzen und großen, ganzen und groben seine Richtigkeit haben, — jedenfalls ließ es sich so ziemlich in allen Fällen fortlaufend erhärten an den gotamidischen Aussprüchen in den Heiligen Schriften. Im Bewußtsein fand der Erwachte den Angriffspunkt für seinen Hebel, von wo aus er die Werde- und Wandelwelt aus ihren Angeln drehte. Das Bewußtsein bot ihm Handhabe, und besser noch Geisthabe, den gesamten Vorstellungablauf (‚ stream of thought ‘ wie William James sagt) gemäß dem heiligen Ziel zu regeln und zu meistern. Das Bewußtsein half ihm gegen die wilde Überflutung durch ungerufene Erlebnisse und ungebetene Begebenheiten einen widerstandfähigen Damm aufzuführen. Im [S. 266] Bewußtsein wußte er das Sein zu treffen und all sein Leiden am Sein, im Bewußtsein kühlte er den brennenden Schmelzfluß der Wirklichkeit zum kalten Metall und Kristall ab... Dies alles verhält sich so und kann mit stichhaltigen Einwänden nicht bestritten werden. Nur muß es gesagt sein, sogar auf die Gefahr einer ungemeinen Verschwierigung des Tatbestandes hin, daß in Ansehung der Abkunft und Entstehung des Leidens in den Heiligen Schriften des Kanons noch eine andere Deutung steht. Diese widerstreitet der gegenwärtigen nicht geradezu in allen Stücken, denn sie läuft die größere Strecke des Wegs völlig mit ihr gleich, um sich erst zuletzt von ihr zu trennen. Trotzdem überschreitet sie dieselbe, denn sie läßt ihrerseit das Bewußtsein nicht mehr als ein Festes und Letztes und Unbedingtes bestehen. So bietet zum Beispiel die Elfte, die Achtunddreißigste, die Hundertundfünfzehnte Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo eine Entstehung des Leidens nicht aus acht, sondern aus zehn Gliedern dar, und mit dieser zehngliedrigen Ableitung ließe sich alsdann auch das Zwölfte Bruchstück des Dritten Teils aus der Sammlung der Bruchstücke Suttanipâto zwanglos in Übereinstimmung bringen. So daß wir im Kanon ganz außer allem Zweifel zwei verschiedene Abkünfte des Leidens erörtert finden. Einmal das Leiden entwickelt aus dem Bewußtsein, wobei das Bewußtsein die Stelle und den Rang des Urphänomens, des unabgeleiteten und unableitbaren, einnimmt und behauptet, — mithin eben die Stelle und den Rang, den [S. 267] es in der transzendentalidealistischen und phänomenologischen Philosophie des Westens seit den Griechen immer wieder zugewiesen erhielt und immer wieder zugewiesen erhalten wird. Das andere Mal das Leiden entwickelt aus — —, ja! das ist die neue und offene Frage, die uns jetzt gestellt ist, die uns jetzt selber stellt. Schon ward erwähnt, daß diese neue Ableitung mit der alten auf die bei weitem längere Strecke hin völlig zur Deckung gelange: daß mithin die Auseinanderfolge Geburt, Werden, Anhangen, Durst, Gefühl, Berührung, Bild-Begriff und Bewußtsein als die klassische Genesis des Leidens eindeutig gewahrt bleibt. Nur nimmt in dieser zweiten Ableitung das Bewußtsein nicht mehr die Stelle der Unentstandenheit ein, vielmehr erscheint zu seinem Teil verursacht, geworden, bedingt, begründet. Ein Umstand, den der Buddho knapp und einprägsam in den Satz faßt: „Ohne zureichenden Grund entsteht kein Bewußtsein...“ Dort also ein unentstandenes Bewußtsein, welches mit der erkenntnismäßigen Doppelung Bild-Begriff oder Wahrnehmung-Vorstellung ganz einfach ins Dasein tritt, ohne daß man wissen kann wie. Hier dagegen ein entstandenes Bewußtsein und sein zureichender Grund, und mit ihm eine Verlängerung des Leitfadens Ursächlichkeit über das Urphänomen hinaus samt dem Versuch einer Entwicklunggeschichte des Bewußtseins, die einem der philosophischen Vertreter einer der europäischen Philosophien des Unbewußten aus dem verflossenen Jahrhundert (etwa zwischen dem älteren Fichte und Hartmann) alle Ehre [S. 268] gemacht hätte. Diese einander ausschließenden Auffassungen vom ‚Wesen‘ des Bewußtseins einander mit einem gewissen unredlichen Eifer zur Synthetik anähneln zu wollen, wäre weder ehrlich noch klug. Und noch weniger stünde es unserer westlich denkenden, westlich schließenden Vernunft an, aus dem vorhandenen Widerspruch beider Auffassungen die Ungültigkeit der einen zugunsten der Gültigkeit der anderen folgern zu wollen. Die Frage, welche uns diese doppelte Abkunft des Leidens und diese doppelte Auffassung, als Urphänomen und bloßes Phänomen mit hoher Dringlichkeit stellt, ist vielmehr lediglich folgende: welche neue Aufgaben dem religiösen Leben und der religiösen Tat aus dieser neuen Auffassung erwachsen, nachdem die Aufgaben, so aus der ersten Auffassung sich ergeben, hier zwar nicht eigentlich mit Gründlichkeit, immerhin aber mit Grundsätzlichkeit aufgezeigt worden sind.

Bevor wir uns indes dieser sehr ernsthaften Frage voll zuwenden dürfen, muß Klarheit obwalten über jene zweite Abkunft des Leidens selbst und die darin vertretene Deutung des Bewußtseins als eines Gliedes unter anderen Gliedern in der Reihe der Entstehungen. Es muß Klarheit obwalten über die Abkunft des Bewußtseins und über das, was der Buddho selbst den zwingenden Grund des Bewußtseins nennt. Die Antwort, die uns darauf wird, lautet denn auch bündig und schlicht genug: das Bewußtsein wird bedingt durch Unterscheidung, — die Unterscheidung wird bedingt durch Nichtwissen! Unterscheidung und Nicht [S. 269] wissen heißen demnach die zwei letzten Grundlegungen, die das vorige Urphänomen Bewußtsein nunmehr als bloßes Phänomen begreiflich machen sollen. Wer sonach jetzt und von hier aus vor der Aufgabe steht, das Bewußtsein zu verwinden, wird sie nicht mehr in dem Sinn lösen können, wie sie oben gelöst worden ist. Sondern er wird sie neu in Angriff nehmen müssen nach Maßgabe der veränderten Stellung des Bewußtseins in der Reihe der Entstehungen. Nicht mehr wird er Bewußtsein zu verwinden fähig sein durch Steigerung des Bewußtseins, sondern er wird Bewußtsein verwinden, indem er Unterscheidung verwindet, und nach verwundener Unterscheidung Nichtwissen. Die Verkettung der Ursachen, vorhin lediglich bis zur Urtatsache des Bewußtseins entwickelt, wird jetzt übers Bewußtsein hinaus zur Unterscheidung entwickelt und über die Unterscheidung hinaus zum Nichtwissen, — bis endlich im Wissen der Gedanke von des Leidens Abkunft seine letzte, allerletzte und auch von Buddho selbst nirgends überbotene Aufgipfelung erfahren hat...

Wie aber dies, ihr Christen? Was will das heißen: die Unterscheidung zu verwinden und nicht mehr zu unterscheiden? Was will das heißen: das Nichtwissen zu verwinden und nicht mehr nicht zu wissen? Beruht denn nicht jeder Vorgang bewußten Wahrnehmens, bewußten Empfindens, bewußten Erfahrens just darauf, daß das annoch ungeschiedene Ineinander und Durcheinander erlebter Gegebenheiten durch die Tätigkeit der einzelnen Sinneswerkzeuge geschieden, [S. 270] zerlegt, unterschieden wird? Vermögen wir überhaupt wahrzunehmen, zu empfinden, wenn wir nicht gleichzeitig die Unterscheidung treffen: dies ist Gehör und Schall, dies ist Gesicht und Bild, dies ist Getast und Empfindung, dies ist Geruch und Duft, dies ist Geschmack und Nährstoff, dies ist Verstand und Gedanke? Scheidet und unterscheidet nicht ohne weiteres schon der Vorgang des Wahrnehmens alles Wahrnehmbare je nach der Beschaffenheit des wahrnehmenden Organs, so daß der Wust gemischter, noch nicht entmischter Sinnesreize sofort von Ohr, Auge, Haut, Nase, Zunge, Verstand entmischt wird in das Neben- und Nacheinander dessen, was dem Ohr und dem Auge, was der Haut und der Nase, was der Zunge und dem Verstand angemessen ist? Ja, hat nicht Gotamo in eigener Person Jahrtausende vor dem deutschen Physiologen Johannes Müller auf seine Weise das Gesetz von den spezifischen Energien der Sinne vorweg geahnt und vorweg genommen, wenn er in einer der Reden über die Abkunft seinen Mönchen erläutert: „Durch das Gesicht und die Formen entsteht Bewußtsein: gerade ‚Sehbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch das Gehör und die Töne entsteht Bewußtsein: gerade ‚Hörbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch den Geruch und die Düfte entsteht Bewußtsein: gerade ‚Riechbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch den Geschmack und die Säfte entsteht Bewußtsein: gerade ‚Schmeckbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch das Getast und die Tastungen entsteht Bewußtsein: gerade ‚Tastbewußtsein‘ kommt da [S. 271] zustande. Durch das Gedenken und die Dinge entsteht Bewußtsein: gerade ‚Denkbewußtsein‘ kommt da zustande...“ Wie also dies vom Buddho selbst verkündete Gesetz von den spezifischen Energien der Sinne verleugnen und wie die notwendige Unterscheidung in spezifische Gegebenheiten des Bewußtseins selbst verleugnen? Und um es gleich von vorn herein zu gestehen: kaum anderswo läßt Gotamo den, der ihm nachzudenken strebt, so sehr im Dunkeln tappen wie gerade hier, wo er im Verfolge der Entstehunggeschichte des Bewußtseins eine Forderung erhebt, die für Menschen unerfüllbar scheint. Das Bewußtsein stammt aus der Unterscheidung, wofern jedes einzelne Sinneswerkzeug und Sinnesgebiet ausschließlich jene Reize der Aufnahme und Verarbeitung zuführt, auf welche es seinerseit abgestimmt ist und welche es ihrerseit wiederum auf sich selber abstimmt. Wie aber unter diesen Umständen die Unterscheidung meiden, die unter dem Zwang leiblich-geistiger Beschaffenheit getroffen wird? Wie die Zerlegung der Einen Wirklichkeit in zahllose Eindrücke und Erscheinungen umgehen, die doch unmittelbar mit dem Arbeitvorgang der Sinne als solche zum Vollzug gelangt?

Kaum eine allerschwächste Spur verrät die Richtung, welche die Absicht des Buddho hier genommen hat; kaum eine allerschwächste Spur den Weg, den hier sein sonst so köstlich unbeirrter Wille einschlug. Aber wenn diese Spur auch wirklich fast verweht erscheint im Flugsand der Wanderwüste ‚Zeit‘, so wird [S. 272] sie sich vielleicht für unser Auge doch etwas verstärken, sobald wir weiterrätselnd uns entsinnen, daß die Unterscheidung, aus welcher das Bewußtsein stammt und in welcher das Bewußtsein zu verwinden wäre, ihrerseit aus dem Nichtwissen stammt und unleugbar den Stempel des Nichtwissens trägt. Gotamo, der die Unterscheidung verwirft, die auf der Tätigkeit unserer aufnehmenden und verarbeitenden Erkenntniswerkzeuge beruht, verwirft die Unterscheidung, weil sie Nichtwissen ist. Die Unterscheidung entsteht ihm aus dem Nichtwissen, das Nichtwissen bedingt ihm die Unterscheidung: folglich steht ihm groß und unverrückbar der Zielgedanke eines nichtunterscheidenden Wissens im Gegensatz zu einem unterscheidenden Nichtwissen vor dem innern Blicke! Das mag ein überraschendes, am Ende sogar befremdliches Ergebnis sein, welches jedoch manches, wenn nicht das meiste von seiner Seltsamkeit abstreifen und verlieren dürfte, falls wir abermals weiterrätselnd uns entsinnen, daß eine ähnliche Zweiheit einander widersätzlicher Wissensauffassungen auch unserer abendländischen Scholastik durchaus vertraut gewesen ist. Auch wir abendländischen Menschen kennen seit den Enneaden des Plotinos ein Wissen, welches Unterscheidungen setzt und voraussetzt, Merkmal nach Merkmal durchläuft, Inhalt nach Inhalt durchmustert, Begriff an Begriff reiht, Urteil an Urteil knüpft, Schluß an Schluß kettet, — und ein bei weitem anderes Wissen, welches den vollen Weltgehalt zumal anschaut und unterschiedlos in eins sichtet. Auch wir abendländischen [S. 273] Menschen kennen ein durchlaufendes, aufreihendes, auseinanderfaltendes, aneinanderstückendes Wissen, welches unsere Scholastik diskursiv genannt hat, und ein ineinanderschauendes, vereinfachendes, zusammenfaltendes, unzerstücktes Wissen, welches unsere Scholastik simplex genannt hat. Und während nach europäischer Meinung das erstere wesentlich dem Menschen und seiner eingeschränkten Vernunft vorbehalten blieb, galt das letztere für göttlich. Und wenn dabei der Abendländer nicht so weit zu gehen wagte wie der Buddho, der das erstere Wissen kurzer Hand als Nichtwissen geringschätzt, ja entwertet, so hat er doch in seinen besten Zeiten nie einen Hehl daraus gemacht, wie unendlich überlegen das simplexe Wissen Gottes unserm diskursiven Wissen wäre... Den dis-cursus also hätte der gotamidische Asket, wenn anders wir mit abendländischen Formeln indische Auffassungen bezeichnen dürfen, nach besten Kräften zu überwinden, — wie alles übrigens, was der Lateiner mit der Silbe ‚ dis ‘ auszudrücken pflegte. Das dis im cursus hätte der Asket zu überwinden, um mit dieser endgültigen Überwindung das Nichtwissen zu überwinden, das Unterscheiden zu überwinden, das Bewußtsein zu überwinden, die Doppelheit Bild-und-Begriff zu überwinden, die Berührung zu überwinden, das Gefühl zu überwinden, den Durst zu überwinden, das Anhangen zu überwinden, das Werden zu überwinden, die Geburt zu überwinden, das Leiden zu überwinden... Nichtwissen überwunden habend, würde der Asket zum Wissen aufgestiegen sein: als Wissender aber würde er [S. 274] die Erlösung, die Errettung, die Entledigung bewirkt haben im Wissen. Was also, ihr Christen, ist für den vollkommen Erwachten und Erhabenen — das Wissen? Was also, ihr Christen, ist für den vollkommen Erwachten und Erhabenen das Wissen: was ist das Wissen nicht allein für ihn, sondern für jene ganze Welt des alten Indiens, die er für uns am weithin sichtlichsten vertritt? In der Chândogya-Upanischad ersucht der höchste jener brahmanischen Rischis, welche die Hymnen des Veda dichteten und sangen (wie einst auch die griechischen Aoiden die Epen des Homeros gedichtet und gesungen haben) den Kriegsgott Sanatkumâra um Belehrung. „‚Belehre mich, Ehrwürdiger!‘ — Mit diesen Worten nahte sich Nârada dem Sanatkumâra. Der sprach zu ihm: ‚Bringe nur vor, was du schon weißt, so werde ich dir das darüber hinaus Liegende kundmachen‘. Und jener sprach: ‚Ich habe, o Ehrwürdiger, gelernt den Rigveda, Yajurveda, Sâmaveda, den Atharvaveda als vierten, die epischen und mythologischen Gedichte als fünften Veda, Grammatik, Manenritual, Arithmetik, Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Götterlehre, Gebetlehre, Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie, Schlangenzauber und die Künste der Halbgötter; — das ist es, o Ehrwürdiger, was ich gelernt habe; und so bin ich, o Ehrwürdiger, zwar schriftkundig, aber nicht âtmankundig; denn ich habe gehört von solchen, die dir gleichen, daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt; ich aber, o Ehrwürdiger, bin bekümmert; darum wollest du mich, o Herr, zu dem [S. 275] jenseitigen Ufer des Kummers hinüberführen!‘ — Und er sprach zu ihm: ‚Alles, was du da studiert hast, ist nur Name (nâman). Name ist der Rigveda, Yajurveda, Sâmaveda, der Atharvaveda als vierter, die epischen und mythologischen Gedichte als fünfter Veda, Grammatik, Manenritual, Arithmetik, Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Götterlehre, Gebetlehre, Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie, Schlangenzauber und die Künste der Halbgötter, — das ist alles Name. Den Namen mögest du verehren! Wer den Namen als das Brahman verehrt, — soweit sich der Name erstreckt, soweit wird dem ein Umherschweifen nach Belieben zu teil, darum daß er den Namen als das Brahman verehrt.‘ — ‚Gibt es, o Ehrwürdiger, ein Größeres als den Namen?‘ — ‚Wohl gibt es ein Größeres als den Namen.‘ — ‚Das wollest du, o Herr, mir sagen!‘ — ‚Die Rede ( vâc ), fürwahr, ist größer als der Name‘...“ Die Rede ist größer als der Name: der vernünftige Wille ( manas ) aber größer als die Rede, fährt der Kriegsgott Sanatkumâra in seiner Erläuterung fort. Und wiederum ist der Entschluß ( samkalpa ) größer als der vernünftige Wille; der Gedanke ( cittam ) größer als der Entschluß; die Innenbetrachtung ( dhyânam ) größer als der Gedanke; die Erkenntnis ( vijñânam ) größer als die Innenbetrachtung; die Kraft ( balam ) größer als die Erkenntnis; die Nahrung ( annam ) größer als die Kraft; das Wasser ( âpas ) größer als die Nahrung; die Glut ( tejas ) größer als das Wasser; der Äther ( âkâça ) größer als die Glut; die Erinnerung ( smara ) größer als der Äther; die Hoffnung [S. 276] ( âçâ ) größer als die Erinnerung; das Leben ( prâna ) größer als die Hoffnung; die Unbeschränktheit ( bhûman ) größer als das Leben und alles übrige...

Wir setzen hier beiseit die Wunderlichkeit in dieser sechzehnfach gestaffelten Führung zum ‚echten‘ Wissen, zum Brahman-Bhûman-Wissen. Wir setzen beiseit diesen für unser abendländisches Verständnis haltlosen und haltunglosen Wechsel von seelischen Grundbeschaffenheiten und Haupteigenschaften zu welthaften Urgegebenheiten und Urstoffen und wiederum von diesen zu jenen zurück, ehe über das alles die Woge der Allschrankenlosigkeit hinwegspült. Dies und was sonst noch hierher gehört, ihr Christen, lassen wir beiseit und fragen uns erst alsdann dringend: Was ist nach dieser heiligen Urkunde — Wissen? Und was ist nach dieser Urkunde Wissen — nicht? Das Wissen ist eine Emporstufung, Empormenschung, Emporgottung hier, ihr Christen: das ist der klare Sinn der Antwort, die der Kriegsgott sowohl dem fragenden Brahmanen wie dem fragenden Abendländer zu geben geruht. Was an Erfahrung, Forschung, Einsicht, Kenntnis, Urteil, Gedanke, Prüfung, Tatsache und Gesetz dieser Emporstufung zu dienen geeignet ist, ist Wissen. Was jedoch lediglich um seiner selbst betrieben wird, was der Anhäufung bloßer Gelehrsamkeit förderlich sein soll, das ist Wissen nicht, das ist ganz einfach Nichtwissen. Es kann einer alles wissen, was im Umkreis einer angetretenen Menschheitgesittung überhaupt zu erwerben ist, und es kann einer im Vollbesitz sein sämtlicher Kenntnisse auf theo [S. 277] logischem und kosmologischem, auf philosophischem und logischem, auf mathematischem und grammatischem, auf astronomischem und astrologischem, auf rituellem und theurgischem, auf historischem und ästhetischem, auf strategischem und politischem Gebiet, — und vor Gott Sanatkumâra weiß er nichts als die Namen und ist wie der Brahmane Nârada innig von seiner Unwissenheit durchdrungen. Nicht darum zwar von ihr durchdrungen, weil er sich überzeugt hätte von der grundsätzlichen Unvollständigkeit und Ergänzungbedürftigkeit des Wissens überhaupt oder gar von der Unzulänglichkeit und Begrenztheit der menschlichen Vernunft. Vielmehr darum, weil er erfahren hat, daß alles erreichbare Wissen auch bei massenhafter Aneignung nicht schon von sich aus den Wissenden auf einen würdigeren Zustand hebt. Das Wissen ist keine Tugend und ist noch weniger ein Heil oder das Heil. Aber es liegt im Begriff des Wissens, wie er hier gefaßt und vertreten wird, zur Tugend, ja zum Heil zu führen. „Denn ich habe gehört von solchen, die dir gleichen, daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt, ich aber, o Ehrwürdiger, bin bekümmert!“... Wer also noch bekümmert ist, wer noch am Dasein krankt, wer seine Angst noch nicht verlernte, wer noch unterm Schicksal seufzt, der ist noch nicht ein Wissender geworden, selbst wenn er alles weiß. Wer nach Erwerb des Wissens menschlich auf der Stufe des Unwissenden verharrt, der zählt nicht zu den Wissenden; wer im Genuß des Wissens des Lebens noch nicht Rat weiß, [S. 278] der ist kein Wissender. Er gleicht da etwa einem Geizigen, der das Geld sammelt, aber nicht in Umlauf setzt. Oder einem Kranken, der die Arznei schluckt, aber nicht an ihr genest. Oder einem Zecher, der den Wein schlürft, aber durch ihn nicht fröhlicher wird. Ob mithin wirklich einer wisse oder nicht wisse, das hängt davon ab, in welchen Zustand ihn das Wissen brachte. Wie das Geld erworben wird, um umgesetzt zu werden, wie die Arznei genommen wird, um Gesundheit zu bringen, wie der Wein getrunken wird, um sorgenfrei zu machen, so soll das Wissen gewußt werden, um den Wissenden als eine menschliche Steigerung und Erhöhung des Unwissenden zu verwirklichen. Und diese Auffassung des Wissens ist eine so eingefleischt indische, daß es beinahe gleichgültig ist, ob das Gespräch zwischen Nârada und Sanatkumâra in den Upanischaden aufgezeichnet steht oder in den Reden Gotamo Buddhos: es könnte ebensogut hier geschrieben stehen, als es in der Tat dort geschrieben steht. Unter allen Umständen hätte der Buddho dem Frager dem Sinne nach dieselbe Antwort gegeben wie der vedische Kriegsgott, auch wenn er selbstverständlich die Aufwärtsstufung im einzelnen beträchtlich anders geführt hätte und wirklich auch anders geführt hat. Bewährt sich doch auch ihm im Gegensatz zum Nichtwissen das Wissen nur dadurch, daß es das Leiden verwindet und dem Wissenden das lösende Wort zu sprechen gestattet: „Nicht mehr, o Ehrwürdiger, bin ich bekümmert!“... Und so gehört es zu den unwiderleglichen Zeugnissen [S. 279] der tiefgewurzelten Einheit und Einheitlichkeit aller indischen Religionen, daß ihnen im wesentlichen die Leistung des Wissens stets die nämliche und gleiche bleibt. Wo das Wissen nicht zur Erlösung aufsteigen läßt, hat es seinen wahren Zweck verfehlt, der im Gegensatz zu unserer abendländischen Auffassung nicht das Wissen selbst ist, sondern die Beschaffenheit und der Rang des Wissenden. Wir Europäer haben ja mit der Gebärde unwillkürlicher und darum auch untrügerischer Selbstoffenbarung über unser Wissen das Wort gesprochen: Wissen ist Macht, Wissen ist Bewältigung, Wissen ist Beherrschung, — aber wohlbemerkt nicht unserer selbst, sondern der Natur! Mit einer nicht minder offenbarenden Geste hat der gotamidische und der vedische Mensch, und das ist in manchem Betracht schon fast der asiatische Mensch, das Gegenwort verlautbart: Wissen ist Erlösung, Wissen ist Errettung, Wissen ist Überwindung, — aber nicht der Natur, sondern unserer selbst! Diese Einstellung ist eine gesamtindische und bringt sich der europäischen Einstellung gegenüber mit einer ebenso großartigen wie eintönigen Strenge zur unbedingten Geltung. Und wenn Indien bis zu dieser Stunde von dem unmenschlichen Bruderzwist zwischen Religion und Philosophie, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Kirche und Schule, zwischen Weisheit und Wissenschaft, zwischen Erziehung und Unterricht, zwischen Bildung und Gelehrsamkeit, zwischen Seele und Geist, zwischen Geistigkeit und Geistlichkeit verschont geblieben ist, dann verdankt es diese [S. 280] höchste Gunst und Gnade nicht zum wenigsten seiner Auffassung vom Wissen, die für solche Zuspitzungen, Gegensetzungen, Ausschließungen keinen Vorwand liefert. Wie nach des Buddho geflügelter Redeformel ‚im Erlösten die Erlösung ist‘, — ‚ψυχὴ οἰκητήριον δαίμονος‘ heißt es gleichsinnig bei Demokritos von Abdera! — so ist im Wissenden das Wissen, dient es dem Wissenden, fördert es den Wissenden, bringt es Heil dem Wissenden.

In dem Gespräch zwischen Nârada und Sanatkumâra ist das Sanskritwort ‚ dhyânam ‘ gefallen, welches ich etwas eigenmächtig mit ‚Innenbetrachtung‘ wiederzugeben mich erdreistet habe, indes es von Deussen unverbindlicher mit ‚Sinnen‘ verdeutscht wird. Wohlan denn! Dieses dhyânam , das unter den sechzehn Staffeln des Wissens eine einzige bedeutet und bezeichnet, die zwischen Gedanke ( cittam ) und Erkenntnis ( vijñânam ) ihre Stelle hat, — dieses dhyânam umspannt dem Buddho geradezu alles wesenhafte Wissen selber, wofern es in Wahrheit dem Wissenden die Erlösung bringt. Dieses dhyânam , nur wenig abweichend jhânam in der Mundart des Pâli lautend, erschöpft in sich genau die Emporstufung des Wissens, die der Wissende in sich vollziehen muß. Jhânam , das ist die erlernte und geübte Fähigkeit der Seele, sich ohne Ablenkung auf sich selbst zu sammeln, in sich selbst hineinzusenken, unter sich selbst hinabzutauchen, sich in sich selbst zu verankern, in sich selbst zu feiern, in sich selbst zu andächtigen, sich in sich selbst zu einigen... Wie der römische Augur auf [S. 281] der grenzenlosen Erdfläche sich ein Viereck herausschnitt, welches er bei seiner vorsätzlichen Auskundung der Götterzeichen betrat und templum nannte; wie derselbe Augur nicht allein aus dieser Erde, sondern obendrein aus dem unendlichen Himmel mit seinem Krummstab ein Stück abermals als das templum herausschnitt, innerhalb dessen Gottes Blitz und Donner recht eigentlich erst gelten sollte, — so schneidet Gotamo aus der unbegrenzbaren Erden- und Himmelsfülle aller Wißbarkeiten und Gewißheiten einen heiligen Bezirk heraus, um darin jenes Wissen, welches allein not tut, gleichsam zum Vollzug zu bringen. Von dem templum römischer Auguren leitet sich sprachlich das Zeitwort contemplari her, welches somit in seinem ursprünglichen Sinn nichts anderes bedeutet als „den heiligen Bezirk auf der Erde und am Himmel mit dem Blick einfassen“, — welches somit in seinem ursprünglichen Sinn nichts anderes bedeutet als eben diese Tätigkeit, welche sich der Buddho als das jhânam angelegen sein läßt: nur anstatt nach außen streng nach innen hin gewendet. Mit dem Blick einfassen den heiligen Bezirk, der sich hier zwar nicht am Himmel oder auf der Erde, aber in der Seele selbst befindet, und den jeder in sich selbst als sein eigener Zeichendeuter abzustecken fähig ist, das heißt das jhânam üben, heißt Andacht, Versenkung, Einkehr bewirken. So verstanden war es schließlich mehr als ein purer Zufall, wenn europäische Gelehrte das buddhistische jhânam nicht selten mit der lateinischen contemplatio übersetzten. Denn diese Römer, von [S. 282] sämtlichen bekannten Völkern des sogenannten Altertums die ärmlichsten an Religion und dennoch das Wort religio prägend („ Vinculo pietatis obstricti Deo et religati sumus, unde ipsa religio nomen accepit “), — sie prägen auch den Sprachausdruck contemplatio , obschon von sämtlichen bekannten Völkern des Altertums am wenigsten mit der Neigung zu dieser irgendwie behaftet. Was alsdann bei ihnen nach auswärts gerichtet contemplatio heißt, ist im Buddhismus nach einwärts gerichtet jhânam , und wie jenes templum in seiner Ausdehnung durch vier sich schneidende Gerade bestimmt wird, ist das jhânam in seiner Hinaufstufung durch vier ansteigende Grade bestimmt. Vier Grade oder Weihen innerlicher Schauung gibt es, ja vier Schauungen oder jhânâni selber gibt es, die in den Reden stets mit derselben formelhaften Wendung wiederkehren: in den berühmten vier jhânâni staffelt der Buddho das Wissen in die Höhe, welches zuletzt mit der Erlösung eins ist.

Noch liegt bei dem ersten jhânam aller Nachdruck darauf, daß jene oben erörterte Bemeisterung des Vorstellungablaufs wirklich erworben werde. Alles kommt auf die zielbewußt geübte Handhabung der auftauchenden und versinkenden Bewußtseinsinhalte an, so zwar, daß eine Absonderung, Entfernung, Loslösung, Verabseitigung, Abriegelung von allen Gegebenheiten des Erlebens geschieht, die dem Heil hinderlich sein könnten. In einer Art von sehr tätigem, sehr wachsamem Vergessenkönnen besteht dieser erste Grad der Selbstvertiefung, welcher den Zustand des Nicht [S. 283] wissens, Nochnichtwissens allmählich in den des Wissens überleiten soll. Der andachtsame Mönch wirft einen hohen Wall um sich und zieht einen breiten Graben um sich, die beide ihn wie eine Festung von der unbehüteten Außenwelt abschließen und vor feindlichen Überrumpelungen bewahren sollen. In dieser Festung widmet er sich dann, ungestört durch allfallsige Eindrücke oder Empfindungen, die ihn von außen her zu beschäftigen oder gar zu überwältigen drohen, dem Sinnen und Gedenken, dem Erwägen und Ermessen, dem Betrachten und Überlegen aller der Gewißheiten, die ihm die heilige Lehre gewährt. Was ihm nicht angehören darf, wirft er über diesen Wall, wie ein Gärtner etwa einen Glasscherben über die Gartenmauer wirft, auf den sein Spaten beim Umstechen des Bodens gestoßen ist. Was ihm den Frieden stört, was sein Gemüt bedrückt, was seine Heiterkeit trübt, das ersäuft er in diesem Graben, wie ein Kind etwa einen Sack voll frischgeworfener Katzen im Bach ersäuft, die nicht aufgezogen werden können. ‚Geboren aus der Abgeschiedenheit‘, verdeutscht ein zeitgenössischer Gelehrter mit verständlicher (und verständiger) Anspielung auf die Mystik Eckharts den Ausdruck vivekajam in den heiligen Texten, — ausnahmweis, wie mich bedünkt, ein wenig sinnfälliger und sprechender noch wie Karl Eugen Neumann, der dafür das mattere ‚ruhegeboren‘ hat. Geboren aus der Abgeschiedenheit, will sagen geboren aus der Abscheidung und Abstreifung aller seelischen und körperlichen Fesseln ist das erste jhânam , welches den Nicht [S. 284] wissenden zum Wissenden befördert und alsbald durch eine Anstrengung geringeren Grades ins zweite jhânam überführt. Denn diese Abscheidung und Abstreifung einmal vollzogen habend, braucht der Andachtwillige von jetzt an weniger darauf gerichtet zu sein, das Unheilsame vom Raum des Bewußtseins fernzuhalten, als vielmehr den jetzt errungenen Zustand zu genießen. Hat sich der Mönch die erste Weihe selber durch andauernde Übungen abgezwungen, hat er den Vorstellungablauf völlig in seiner Gewalt und vermag er mit höchster Sammlung bei den Heilsgewißheiten der Lehre zu verweilen, so entläßt er nun, der zweiten Weihe mächtig, sämtliche Erwägungen dieser Art, etwa wie ein Gebieter und Fürst seine Beauftragten entläßt, deren Dienste er weiter nicht benötigt. Herr und Herrscher nunmehr im Haus seiner Triebe und Begierden, Herr und Herrscher sogar über alle Wahrnehmungen und Vorstellungen, Denkinhalte und Erkenntnisvorgänge, stimmt er ganz rein mit sich selber überein. Wie wenn zwei feindliche Heere, die einander mit Erbitterung und Haß bekämpfen, indes ihre Häupter doch schon über Waffenstillstand und Frieden verhandeln, plötzlich verständigt werden von der Unterschreibung der Verträge, und jetzt eine erschütternde Kampf- und Feuerpause eintritt zur unermeßlichen Freude aller: so kehrt hier im Innern des hart streitenden Mönchs der Friede mit ihm selber ein zu seiner unermeßlichen Besäligung. Jene Meeresglätte und Windstille der Seele auf großer Fahrt nach schauerlichen Stürmen stellt sich ein, die sogar dem [S. 285] seelenfremden Abendländer seit dem γαλενισμός des großen Demokritos und des kleineren Epikurios nicht völlig unbekannt sein dürfte, — wenigstens geschichtlich nicht. Aus der Einigung mit sich selbst geboren, ja in der Einigung mit sich selbst geboren, wie Neumann übersetzt, ist die zweite Schauung der vier jhânâni , welche den Andächtigen in den Genuß mühsälig erkämpfter Güter setzt. Ein reifes, sattes, reiches Säligkeitgefühl beginnt von da an wie von der Mitte des Gemütes her den Körper des Andächtigen in linden Wellen zu durchströmen und ohne Rest gleichsam zu durchsüßen, ähnlich wie eine Flüssigkeit von einem aufgelösten Stückchen Zucker ohne Rest durchsüßt wird. Die erstrittene Ruhe wird nicht mehr, wie noch kurz vorher, als Ausgleich und Entspannung vorangegangener Spannungen empfunden, sondern als der selbstverständliche, angemessene und würdige Urstand des Daseins. Wie die heftigen Stöße des stampfenden und zuckenden Herzens in dem feinröhrigen Adergeflecht des Blutes mählig zu kaum spürbaren Pulsen sanft verebben, so verebbt dann das klingende Gefühl der Besäligung der zweiten Schauung in der dritten zum unbewegten Gleichmut. „Der gleichmütig Einsichtige lebt beglückt“, — er lebt beglückt im Gleichmut seiner Einsicht und Besonnenheit, im Gleichmut seiner Einigung und Stillung. Bis dann nach Durchlebnis der drei jhânâni das vierte jhânam von ihnen sich dadurch auszeichnet, daß es vollkommen befreit erscheint von jeder Gefühlsbetontheit, und sei sie auch die leiseste, nach der Lust- oder [S. 286] Unlustseite hin. Was bisher der Andächtige etwa noch als Beglückung, Aufheiterung, Besäligung genossen hat, ja was ihn möglicherweis dazu verleitete, das wesentliche Ziel seiner Selbstvertiefung in solchen Lustgefühlen zu vermuten, — das alles muß in diesem vierten jhânam auf Nimmerwiedersehn und bis auf die letzte Spur verschwinden. „Das aber nenn’ ich, Udâyî, unzulänglich, und sage ‚Verwerft es‘, sage ‚Überwindet es‘“... Begleitende Gefühle lustvoller oder leidvoller Tönung und Beschaffenheit werden hier nicht länger geduldet und die Seelenzone des Gefühls wird überquert und überschritten. Wie ein Hochgebirgserkletterer am Fuß der Alpen noch in den Wäldern der benachbarten Ebene rüstig dahin wandert, dann aber in einen Gürtel hineingerät von nur noch zwerghaftem und verkrüppeltem Baumwuchs, schließlich inmitten eine halbe Wüste gelangt von baumlosen Matten und mit allerlei Buschwerk, Strauchwerk inselhaft bestanden, zuletzt aber, nachdem er einen mit vielerlei Geröll bestreuten Moos- und Flechtenteppich überturnt hat, auf nackten Gletschern und an kahlem Firn mühsam hinaufstrebt und die wirtliche Breite pflanzlichen Wachstums hinter sich und unter sich läßt, — also läßt der Mönch der vierten Weihe die Welt der Gefühle hinter und unter sich. Aug’ in Auge mit ihm selber und vielleicht nicht einmal mehr mit ihm selber, sondern mit einem unsäglichen und nicht zu benennenden Etwas, verweilt er ohne Freude und Leid, ohne Frohsinn und Trübsinn, ohne Wonne und Schmerz. Denn wo solche [S. 287] Gefühle entstehen, entstehen sie als Rückäußerungen des Gemüts auf die ständige Wechselwirkung zwischen Ich und Nichtich, zwischen Selbst und Welt, zwischen Seele und Wirklichkeit, zwischen Bewußtsein und Sein, zwischen Bedürfnis und Erfüllung, zwischen Forderung und Leistung. Das templum dieser Wechselwirkung aber, wo der Austausch zwischen der Persönlichkeit und ihrer Umwelt stattzufinden pflegt, ist jetzt geräumt und das templum vollkommener In-sich-Beharrung feierlich betreten. Längst dringen von der Außenwelt keine Reize mehr über die Schwelle, deren Wert und Größe vom selbstvertieften Mönch gleichsam selbsttätig auf Unendlich erhöht ward, damit ein Zustrom von außen nach innen überhaupt nicht mehr stattfände. In einer höchsten Anspannung des Gemütes sperrt der Mönch alle die Zeichengebungen und Meldungen und Botschaften, die sonst von sämtlichen Wesen der Welt grundsätzlich an sämtliche Wesen der Welt ergehen, und er selbst gleicht einer Station für Funkspruch, die zwar einen vorzüglich wirksamen Sender aufweist, aber des Empfängers entbehrt. Drum also ist das templum , sag’ ich, einer unerbetenen Empfängerschaft von Eindrücken aus der Wirklichkeit, durch welche vielleicht schlummernde Gefühle aufgeschreckt und in fiebrige Bewegung gesetzt werden könnte, von jetzt an geräumt und das templum regloser Seelenstarre friedlich betreten: das templum , wo der Mönch sein eigen Stand- und Steinbild, so er in Vollkommenheit von sich gemeißelt, still verehrt... Und wie unsere transzendentale [S. 288] Philosophie nach dem Vorgang Kants die Vernunft ‚rein‘ genannt hat, wofern sie sich unbeeinflußt durch äußerliche Reize selbst bestimmt und selbst Gesetze auferlegt, so nennt der Buddho den Andächtigen dieser vierten Schauung ‚rein‘, wofern er sich von allem Anders-Sein unberührt und ungerührt, unversehrt und unverstört, unbenetzt und unbespritzt zu halten und erhalten weiß, — nunmehr in eigener Person nicht zwar geradezu ‚reine Vernunft‘ geworden, aber immerhin ein reines erkennendes und wissendes Vermögen und Verhalten geworden. Denn was geschah nun eigentlich, ihr Christen? Was geschah mit dieser unendlich schwer zu vollbringenden, aber schlechthin unerläßlichen Emporstufung zu den vier gotamidischen jhânâni ? Die Erzeugung und Hervorbildung eines neuartigen und vorher noch nicht vorhandenen Organon geschah, ihr Christen. Die Erzeugung und Hervorbildung eines Werkzeuges, welches der Buddho unbedingt für notwendig erachtet, um Nichtwissen endgültig in Wissen überzuführen. Durch die stätig vervollkommnete Übung der vier Stufen der Selbstversenkung trachtet der Buddho ein erkennendes Vermögen, ja geradezu einen ‚Sinn‘ zu erschaffen, der imstand wäre, dasjenige Wissen zu erwerben, welches ihm vor allem andern Wissen heilsam zu sein scheint. In demselben Maße nämlich, als der Mönch sich in sich selbst vertiefend die Quellen jener äußeren Erfahrung verstopft, aus denen wir Abendländer fast unser gesamtes Wissen und sicherlich unsere gesamte Wissenschaft zu schöpfen pflegen, — in eben dem Maß beginnen sich ihm ver [S. 289] borgene Quellen zu erschließen, deren sehr fernes, raunendes Gemurmel sein ungemein geschärftes Ohr näher bald und näher vernimmt. Wer in der vierfachen Selbstvertiefung stark geworden ist, hat tatsächlich einen neuen Sinn derart gehärtet und gestählt, daß er wie ein Bohrer in den Händen eines Gesteinkundigen vortrefflich gebraucht werden kann, eine unterirdische Ader metallreicher Erze nach der andern genau an der richtigen Stelle anzubohren. Wissend geworden in sich selber und von sich selber, dann aber durch dieses Wissen irgendwie höherer Mensch geworden, Selbstbefreier, Selbsterretter, Selbsterlöser, vermag dieser Mönch vor allen Dingen — sich zu erinnern. Erlösendes und erlöstes Wissen ist auch hier (und hier erst recht) Erinnerung: in dieser allgemeinen Formel begegnet sich Gotamo wirklich mit den tiefsten Einsichten der europäischen Philosophie von Platon bis auf Bergson, — vorausgesetzt, daß diese tiefste Einsicht nicht auf irgendwelchen Umwegen dem mittelmeerbefahrenden, mittelmeerabenteuernden Platon aus dem Osten zugetragen worden ist. Das Wissen also ist Erinnerung, und zwar Erinnerung im Unterschied und Gegensatz zum bloßen Gedächtnis durchaus zu verstehen als ἀνάμνησις etwa im Unterschied und Gegensatz zur bloßen μνήμη, oder als souvenir-image im Unterschied und Gegensatz zur bloßen mémoire . Der höhere Mensch erinnert sich, der höhere Mensch vermag sich zu erinnern! Wenn kürzlich noch bei uns Europäern ein Denker immerhin von dem Rang Weiningers diese mehr wie rätselhafte [S. 290] Fähigkeit der Seele, Gewesenes als daseiend, Vergangenes als gegenwärtig nach Belieben gleichsam zu wiederholen oder zutreffender vielleicht noch ‚wieder zu holen‘, schlechterdings als Merkmal und Kennzeichen überhaupt des höheren Menschen namhaft macht: dann bekräftigt, dann bestätigt er auf seine Weise nur, was für den Buddho von jeher unerschütterlich feststand. Nach Weininger ist es gleichsam die Gnade des höheren Menschen, sich erinnern zu können, und zwar sich erinnern zu können im wesentlichen seines eigenen Selbst, seines eigenen Erlebens. Der höhere Mensch lebt und hat gelebt, nicht um zu vergessen, sondern um bei beliebigen Anlässen die Bilder dieses Lebens in aller urwüchsigen Frische und Sinnfälligkeit gleichsam aus dem Schlaf zu rütteln. Derart sich jederzeit zu erinnern wissen der eigenen Lebensalter und Lebensstufen, der vollen und leeren Augenblicke, der wichtigen und nichtigen Begebenheiten, der Taten und der Leiden, der Genüsse und der Schmerzen; derart die schöpferische Neuvergegenwärtigung, Wiederverlebendigung vergangenen Geschehens willkürlich betreiben zu können: das hieße nach Otto Weiningers Dafürhalten menschlich vor anderen Menschen minderer Erinnerlichkeit als ‚bedeutend‘ hervorragen... Der mit Erinnerung Begnadete ist ‚genialisch‘, und just diese ungewöhnliche Auffassung begegnet sich mit der tiefsten Selbsterfahrung, die Gotamo mit sich machte. Daß der Asket sich aller seiner Lebensumstände bis in die geringste Einzelheit hinein aufs lebhafteste und un [S. 291] trüglichste erinnere, das ist der erste, vollwichtige Ertrag der vier jhânâni , — das ist das erste gewissermaßen ‚heilige‘ Wissen. Indischer Denk- und Betrachtungweise gemäß kann dies freilich nichts anderes besagen wollen, als daß eben der Asket Erinnerung erworben, Erinnerung erbohrt habe an seine sämtlichen ehemaligen Verkörperungen und Lebensläufe, die er je und je durchlitten. „Solchen Gemütes, innig, geläutert, gesäubert, gediegen, schlackengeklärt, geschmeidig, biegsam, fest, unversehrbar, richtet er das Gemüt auf die erinnernde Erkenntnis früherer Daseinsformen. So kann er sich an manche Daseinsform erinnern, als wie an ein Leben, dann an zwei Leben, dann an drei Leben, dann an vier Leben, dann an fünf Leben, dann an zehn Leben, dann an zwanzig Leben, dann an dreißig Leben, dann an vierzig Leben, dann an fünfzig Leben, dann an hundert Leben, dann an tausend Leben, dann an hunderttausend Leben, dann an die Zeiten während mancher Weltenentstehungen, dann an die Zeiten während mancher Weltenvergehungen, dann an die Zeiten während mancher Weltenentstehungen-Weltenvergehungen. ‚Dort war ich, jenen Namen hatte ich, jener Familie gehörte ich an, das war mein Stand, das mein Beruf, solches Wohl und Wehe habe ich erfahren, so war mein Lebensende; dort verschieden trat ich anderswo wieder ins Dasein: da war ich nun, diesen Namen hatte ich, dieser Familie gehörte ich an, dies war mein Stand, dies mein Beruf, solches Wohl und Wehe habe ich erfahren, so war mein Lebensende; da verschieden [S. 292] trat ich wieder ins Dasein‘: so erinnert er sich mancher verschiedenen früheren Daseinsform, mit je den eigentümlichen Merkmalen, mit je den eigentümlichen Beziehungen.“

Nach Begängnis der vier jhânâni weiß also der Mönch sich zu erinnern an jeden Urstand, jeden Umstand seines Lebens in allen Verkörperungen. Diese Gnade des Erinnerns ist der Gewinn geübter Selbstvertiefung, ist der Gewinn des nunmehr Geweihten, Bewährten, Wissenden. Und diese nicht zu überbietende Einschätzung der Erinnerung ist nicht etwa als eine bloße Eigenheit oder gar eine Schrulle des Buddho zu betrachten, sondern gehört offenbar dem geistigen Stammbesitz indischer Wertungen überhaupt an. Auch in der Bhagavad-Gîtâ ist es die Gabe der Erinnerung, welche den göttlichen Vorzug des bhagavân Krischna ausmacht. Eine sicherlich uralte Auffassung, die eben im Krischna-Mythos selbst eine überaus sinnige Darstellung gefunden hat. So wenn berichtet wird, daß der blonde Gott im Garten seiner Gattin Satyabhâmâ den himmlischen Korallenbaum gepflanzt habe, den er einstmals als Kampfpreis davongetragen hatte: „einen Baum, dessen tiefrote Blüten viele Meilen in der Runde ihren Duft verbreiten. Wer aber von diesem Duft eingesogen, der erinnert sich in seinem Herzen langer, langer Vergangenheit, längst entschwundener Zeiten, in früheren Leben.“ Auf eine sehr erfahrene Art, welche insonderheit die große Bedeutsamkeit der Gerüche für die Erinnerung durchaus erfaßt zu haben scheint, [S. 293] wird hier die Fähigkeit der Wiedervergegenwärtigung bereits verklungenen Geschehens im Bewußtsein als ein Geschenk des Lebens- und Erkenntnisbaumes an den Menschen versinnbildlicht: wobei übrigens im Unterschied zum Alten Testament noch beide Bäume eines Stammes, einer Wurzel, einer Krone sind... Erinnerung gewinnen, das geht mithin schon sehr weit in die göttlichsten Vorrechte der Himmlischen hinein. Und wiederum: Erinnerung verlieren, gilt als Verlust von kaum zu ermessender Härte und Schwere, — was sich besonders der europäische Leser der Sakontalâ gesagt sein lassen möge, wenn anders er den Fluch der Erinnerunglosigkeit wirklich erfühlen will, der hier den liebenden König Duschyanta trifft... Indes der Grieche Lethe trinkt, saugt der Inder den Duft des himmlischen Wunsch- und Weltbaumes ein; dem einen gilt Vergessen und dem anderen Erinnerung als die höchste Wohltat. Und sogar der Pessimist Gotamo ist so wenig Grieche und so sehr Sohn seines heimischen Weltteils, daß auch er Erinnerung statt Vergessenheit wählt. Zwar vermögen wir ihm leider ja (es sei denn, daß wir Anthroposophen sind!) in der Art und Weise nicht zu folgen, wie er mit Asketen die Erinnerungen aufsteigen läßt an hundert Leben, tausend Leben, hunderttausend Leben zwischen Weltenentstehungen und Weltenvergehungen. Denn uns selbst pflegt hier jedwede brauchbare Erfahrung zu mangeln und schon darum steht es uns nicht frei, dem Buddho billigend zu folgen oder mißbilligend die Nachfolge zu ver [S. 294] weigern. In einem aber, deucht mich, hat er auch jetzt wieder den Sachverhalt der Erinnerung geradezu ins Herz getroffen: Erinnerung ist, wie wir sie auch deuten mögen, eine Vervielfältigung dessen, der sich zu erinnern vermag, — und in dieser Rücksicht freilich die Häufung zahlloser Lebensstufen in diesem jetzigen und einmaligen Leben. Vervielfältigt um die unausdenkliche Zahl seiner Ahnen und Urahnen ist in Wahrheit das erinnernde Einzelwesen, wenn wir, Erinnerung im Sinn unserer europäischen Naturerkenntnis (und damit allerdings eher doch als μνήμη wie als ἀνάμνησις, eher doch als mémoire wie als souvenir-image , eher doch als Gedächtnis wie als Erinnerung) nehmend, unter ihr zum Beispiel alle sogenannten Dispositionen oder Instinkte verstehen dürfen, welche jeden lebendigen Vertreter seiner Art um sämtliche erworbenen Anlagen und Geschicklichkeiten seiner Art bereichert zeigen. Denn im Kerngerüst der unsterblichen Keimzelle samt ihren Vererbungträgern lebt ja doch das Leben aller Eltern und Vorfahren genau so fort wie in der Grundrichtung der angeborenen Triebe, — und fort mit ihrem Leben leben ihre Werke und Taten, ihre Gesinnung und Zielstrebigkeit, ihre Erfahrungen und Listen, ihre Verteidigungmittel und Angriffwerkzeuge, ihre Weisheit und Vorsicht, ihre Tugenden und Laster. Und ebenfalls vervielfältigt um die unausrechenbare Zahl seiner Ahnen und Urahnen ist das erinnernde Einzelwesen, wenn wir, Erinnerung etwa im Sinn des biogenetischen Grundgesetzes nehmend, unter ihr die [S. 295] (abkürzende) Wiederholung der Verkörperung- und Erscheinungformen verstehen wollen, welche der Keim während seines Wachstums vom befruchteten Ei bis zum fertigen Geschöpf zu durchlaufen pflegt in Nachahmung der Verkörperung- und Erscheinungformen des ganzen Stammes: in den Kiemen einer menschlichen Frucht oder in ihrem Stummelschwänzchen blitzt sozusagen eine Erinnerung auf an Echse, Fisch und Säugetier und mit ihr ein gestalthaftes Gedenken an so manche Weltenentstehung, Weltenvergehung zwischen Trias, Jura und Alluvium, zwischen Kalkstein, Malm und Schlick; — derart sehn wir noch unseren Menschenleib (wie ich schon sagte) dem Totemismus huldigen, auch wenn von ihm der Menschengeist schon längst nichts mehr wissen sollte. Und abermals und letztmals vervielfältigt um die unnennbare Zahl seiner Ahnen und Urahnen ist das erinnernde Einzelwesen, wenn wir Erinnerung endlich nehmen im Sinn der forschenden und dichtenden Geschichte (und jetzt allerdings wirklich als souvenir-image , jetzt wirklich als ἀνάμνησις) und unter ihr jenes künstlich-künstlerische Nacherleben in der Einbildung verstehen, welches uns Spätlinge in allen Jahrtausenden der Völker und der Helden geistig Wurzel schlagen läßt: denn wo immer auch Geschichte als Wissenschaft oder Kunst, als Forschung oder Dichtung ernsthaft betrieben ward, entsprang sie nach vorwärts gerichtet zwar dem starken Wunsche nach Unsterblichkeit des Sterblichen, nach rückwärts gerichtet jedoch dem nur wenig schwächeren Wunsch, [S. 296] sich um die volle Zahl womöglich aller dagewesenen Werk- und Werteschöpfer menschheitlich zu vermehren; — hundertseelig, tausendseelig, hunderttausendseelig möchte der geschichtlich fühlende Mensch werden, ganz wie der Buddho sagt und tut, ganz wie der Buddho sagt und tut. Ist doch zuletzt in Wahrheit alles, was irgend da war, wir selbst, wenn wir es recht verstehen wollen, und wo Völker und Helden untergingen, machten sie sich nur von der dummen Einmaligkeit der Zeitlichkeit frei, um für immer in das Wissen der Erinnerung einzugehen...

Das erste Wissen, vom Vollzug der vier jhânâni erwirkt, heißt also Erinnerung und bemächtigt sich der früheren Daseinsformen und Lebensstufen. Das zweite Wissen aber — „drei Wissen weiß der Asket Gotamo!“ — folgt unmittelbar aus dem ersten, ja fällt nach der Denkweise des Buddho sogar geradezu mit dem ersten mehr oder weniger restlos zusammen. Wo der Erinnernde nämlich die Selbstverkörperungen ins Bewußtsein hebt und die Folge seiner eigenen Geburten aufsteigen und verschwinden sieht, da sieht er sie aufsteigen und verschwinden nach dem Gesetz vom Karman. Der Wiederkünfte sich entsinnen und sich des Gesetzes der Wiederkünfte entsinnen, ist von Gotamos Einstellung aus ein und derselbe Vorgang, und wenn überhaupt einmal die sachliche Richtigkeit auch nur einer einzigen dieser vom Buddho entwickelten Verkettungen und Aneinanderreihungen über jedem Zweifel befunden wird, so ist das sicherlich hier der Fall. Dasselbe Wissen, [S. 297] welches Erinnerung heißt und um alle früheren Geburten weiß, es weiß auch um das Gesetz, nach welchem die Geburten immer von neuem wieder stattfinden. Derselbe Asket, der inne wird: dieses war ich, jenen Namen trug ich, so und so erschien ich, — derselbe Asket wird auch der gesetzmäßigen Verknüpfung inne, welche Wiederkehr an Wiederkehr flicht. Dem Erinnernden gibt sich die Aufeinanderfolge seiner Selbstverkörperungen als Auseinanderfolge sehr bald zu erkennen, und die Erinnerung selbst formt aus der Folge der Geburten in der Zeit eine Folge der Geburten nach Ursach’ und Wirkung. Das ist der allgemeine Gang des Wissens, wie er hier mit einem erratenden Spür- und Merksinn ohnegleichen ausgemittelt wird: der Gang des Wissens und der Wissenschaft von der reinen Zeitenfolge der Erscheinungen fort bis zur Erkenntnis ihrer ursächlichen Schürzung hin. Das ist der Gang des Wissens und der Wissenschaft, wie er in Indien offenbar nicht anders sich ereignet hat als in unserem Europa. Mit welcher Feinheit und Zuverlässigkeit übrigens diese mythisch-mystische Enthüllung dem wissenschaftgeschichtlichen Tatbestand gerade des Westens entspricht, das kann freilich nur der Kenner abendländischer Philosophie von Platon bis auf Kant völlig ermessen, dem seinerseit die Beziehungen der platonischen Lehre von der Anamnesis zu der Abkunft und Anwendung der Knüpfung Ursache-Wirkung als einer kantischen ‚Bedingung a priori der Möglichkeit jeder Erfahrung‘ durchsichtig geworden sind.

[S. 298]

Dies indes hier beiseite, so läßt sich nichts Wundersameres denken als diese intuitiv erfühlte Richtigkeit der gotamidischen Darstellung des Wissens, wie sie ein Mensch gibt, der jedes wissenschaftliche Interesse als solches kurzerhand verwirft und außerdem einem Weltalter und einer Rasse angehört, die beide mit der europäischen Entwicklung nicht im mindesten zusammenhängen...

Im Besitz der Erinnerung an frühere Geburten und Verkörperungen weiß sich also der Erinnernde, ich sage es noch einmal, bald auch in den Besitz der Erkenntnis des Gesetzes zu setzen, nach welchem die Geburten und Verkörperungen stattfinden und stattfinden müssen. Der Asket kann „mit dem himmlischen Auge, dem geläuterten, über menschliche Grenzen hinausreichenden, die Wesen dahinschwinden und wiedererscheinen sehen, gemeine und edle, schöne und unschöne, glückliche und unglückliche, er kann erkennen, wie die Wesen je nach den Taten wiederkehren.“ Solchermaßen hat der Asket das zweite Wissen dann erworben. Die Summe seiner früheren Geburten als Zeitreihe in der Erinnerung sich vergegenwärtigend, erfährt und erfaßt er noch einmal mit geschärftem Sinn das ewige Gesetz dieser Geburten als Ursache-Wirkungreihe, — jenes Gesetz, das ihm vormals schon die Welt erschloß, das Leben erschloß, das Leiden erschloß. Durchschauend und immer klarsichtiger durchschauend, wie alles gekommen ist und wie alles kommen mußte, fällt ihm auf dieser gehobenen Stufe noch einmal mit dem [S. 299] Gesetz der Welt ihr ganzes Weh und Ach auf die wissend gewordene Seele: noch einmal blickt er auf das Leid zurück, wie man etwa auf eine Landschaft zurückblickt, in der man vieles erlebte und die man sich jetzt zu verlassen anschickt. Und mit dem Leid und Weh und Ach der Welt wird ihm das dritte Wissen, — „drei Wissen weiß der Asket Gotamo!“ — das da alles vorige Wissen endgültig krönen wird. Jetzt ist die Bahn durchmessen, jetzt schlingt sich das Ende um den Anfang wieder, jetzt ist der Kreis geründet und der Ring geschlossen. Aus vierfacher Selbstvertiefung ward Erinnerung geboren, aus der Erinnerung ward das Gesetz geboren, aus dem Gesetz aber wird die Freiheit geboren. Also hat nunmehr der Asket drei Wissen nach Vollzug der vier jhânâni gleichsam vollbracht, also hat er drei Wissen gleichsam verwirklicht. „‚Das ist das Leiden‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Leidensentwicklung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Leidensauflösung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der zur Leidensauflösung führende Pfad‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der Wahn‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Wahnentwicklung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Wahnauflösung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der zur Wahnauflösung führende Pfad‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. Also erkennend, also sehend wird da sein Gemüt erlöst vom Wunscheswahn, erlöst vom Daseinswahn, erlöst vom Nichtwissenswahn. ‚Im Erlösten ist die Erlösung‘, [S. 300] diese Erkenntnis geht auf. ‚Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‘ versteht er da“...

Drei Wissen weiß der Asket Gotamo. Drei Wissen vollbringt der Asket Gotamo. Drei Wissen verwirklicht der Asket Gotamo.

Wofern es, ihr Christen, Wahrzeichen und Merkmal des Wissens ist, ‚daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt‘, dann weist kein anderes Wissen so deutlich dies Wahrzeichen und Merkmal auf wie das Wissen des Buddho, — obschon es schlechterdings kein Âtman- und kein Brahmanwissen ist. Über die vier jhânâni hinweg eigentlich mehr einwärts als aufwärts dringend, erbohrt der gotamidisch Wissende die Schächte des Unbewußtseins; erbohrt er die Erinnerung an die früheren Geburten; erbohrt er die Erkenntnis der Wiederkünfte und ihres ewigen Gesetzes; erbohrt er die heilige Wahrheit selbviert des Leidens, der Leidensentstehung, der Leidensverwindung und des zur Leidensverwindung führenden Weges. Dies Wissen ist ein unteilbares σύστημα, ein unteilbarer Zusammenhang, vollkommen in sich geschlossen, rund und fertig. Mit ihm ist der Wissende instand gesetzt, das heilige Ziel alles Wissens zu erreichen und unbekümmert, kummerlos zu wandeln. Mit ihm hat sich der Wissende alles angeeignet, was nach buddhistischer, aber auch nach brahmanischer Auffassung allein zu wissen not tut [S. 301] und was der verpflichtenden Bezeichnung ‚Wissen‘ alleinig wert erscheint. Keine Zweifel, daß auch dieses indisch-buddhistische Wissen hin und wieder enger sich berührt mit der Errungenschaft, die wir Abendländer unsererseit mit diesem Ausdruck zu benennen pflegen, und namentlich trifft diese engere Berührung zu bei der Erinnerung, die uns in vielem an die bis heut noch nicht außer Kraft gesetzte Wissenschaftlehre Platons wie an das liebe Gesicht eines alten Bekannten mahnt. Aber im ganzen und großen bleibt dieses Büßer- und Erlöserwissen doch so fern von unserem Forscher- und Gelehrtenwissen, daß wir hier auf hohe Schwierigkeiten stießen, uns von diesem gotamidischen Wissen an manchen Stellen ein zulängliches Verständnis zu verschaffen, — gesetzt den sehr günstigen Fall, es gäbe von solch fremden Dingen überhaupt ein zulängliches Verständnis oder könne wenigstens grundsätzlich ein solches geben. Denn was hat es doch, besinnen wir uns gefälligst, mit unserem eigenen Wissen und mit unserer eigenen Wissenschaft für eine Bewandtnis? Und was ist nach unserer eigenen landläufigen Auffassung Wissen und Wissenschaft? Doch offenbar in einem beides: erstens sowohl nämlich eine nach Regeln verfahrende Tätigkeit des Verstandes, der Vernunft, der Urteilskraft, die sogenannte Wahrheit zu vermitteln, — zweitens aber auch das Ergebnis dieser Tätigkeit, der geordnete Besitz oder ‚Schatz‘ aller dieser Wahrheiten. Was wir Europäer zu wissen glauben, glauben wir als die Wahrheit zu wissen, wie schon der [S. 302] heilige Thomas von Aquino uns bedeutet, wenn er gelegentlich den Begriff des Wissens folgendermaßen umschreibt: „ Scire aliquid est perfecte cognoscere ipsum; hoc autem est perfecte apprehendere ejus veritatem “... Wissen und die Wahrheit an und für sich wissen, das deucht uns Europäern mithin ohne weiteres ein und dasselbe. Daß es eine solche Wahrheit an und für sich irgendwie gäbe und geben müsse als die maßgebliche Voraussetzung jeder Erkenntnisarbeit, die nicht schimärisch ins Blaue hinein spinnen und schwindeln, faseln und schwafeln will: dieser Satz steht seit dem weltgeschichtlichen Kampf des Pythagoreers Platon gegen den antiken Relativismus nicht nur unerschüttert fest, sondern er steht: steht als der rocher de bronce aller Wissenschaft- und Erkenntnislehren, auch wenn die unsterbliche Sophistik unsterblicher Sophisten immer wieder dagegen Sturm gelaufen ist und eben heuer wieder aufs heftigste dagegen Sturm läuft. Es muß eine Wahrheit geben an und für sich (oder wie der Pythagoreer Platon gesagt hat ‚αὐτὸ καθ’ἁυτό‘), es muß einen überhimmlischen Ort, τόπος ὑπερουρανιός geben von gültigen Sachverhalten an und für sich, wenn anders ein Wissen und eine Wissenschaft im europäischen Wortsinn möglich sein sollen. Auch wer da behauptete ‚Es gibt keine Wahrheit‘ beriefe sich bei dieser seiner Behauptung auf die Wahrheit und beanspruchte für sie allgemeine Geltung, überpersönliche Verbindlichkeit, notwendige Verpflichtung. Im Zeichen dieser stehenden und standhaften Wahrheit [S. 303] an und für sich ist die europäische Wissenschaft tatsächlich seit den Griechen von Sieg zu Sieg geschritten, welterobernd und weltherrschend wie kaum je eine zweite Macht der Menschheit; ein unermeßlicher Schatz gesicherter und gesichteter Erkenntnis ward als ein hoffentlich nicht mehr zu verlierender Besitz des homo sapiens angehäuft und auch wiederum verschwendet, gesammelt und auch wiederum verausgabt. Wer wollte angesichts solch überwältigenden Erfolges so kleinlich sein und an die Opfer denken, die er gekostet hat. Wie selten denken Menschen an ihre Opfer, solange ihnen der Erfolg winkt, — frühestens dann, wenn der Erfolg zur Frage wird, fällt ihnen bei, einen Überschlag zu machen und zu rechnen, und zu rechten...

Unversehens also ist der abendländischen Menschheit das Wissen um die Wahrheit an und für sich zum Ziel und Zweck des Wissens selbst geworden. Durchaus in einer erkennenden Bewegung begriffen nach dem An-und-für-sich-Sein der Wahrheit hin, gilt ihr deren Ergründung ohne weiteres als Selbstzweck. Was dem Wissen um die Wahrheit an und für sich dem menschlichen Leben und Dasein, dem Geist und der Seele etwa bedeuten könnte, wird nicht gefragt, — nicht wird gefragt, was die Wahrheit als solche im Zusammenschluß menschheitlicher Wesensäußerungen und für diesen Zusammenschluß zu leisten vermöchte. Das Ideal dieser Wahrheit an und für sich, von allen asketischen Idealen der europäischen Menschheit unzweifelhaft das asketischste, — [S. 304] aber freilich asketisch im Sinn Nietzsches und nicht im Sinn des Buddho! — dieses Ideal heischt unbedingte Selbsthingabe, ja Selbstaufgabe dessen, der ihm dient: und so war man über seinen Wert beruhigt, weil Selbsthingabe, Selbstaufgabe unter allen Umständen für gut befunden worden. Es mußte eine tiefe Genugtuung sein für jeden, der am babylonischen Turm der Wahrheit bauen helfen durfte, daß er daran bauen helfen durfte, und sei’s auch nur, daß er Ziegel strich oder Mörtel mengte. Die Wahrheit aber wuchs und wuchs Sandkorn um Sandkorn wie eine Düne, wie eine Wüste, nach allen Erstreckungen des Geistes hin. Denn unendlich ist die Zahl dessen, was gewußt werden kann, was gewußt werden soll; unendlich sind auch die Verfeinerungmöglichkeiten des eingeschlagenen Verfahrens und Forschens, Wägens und Erwägens, Messens und Untersuchens, Zählens und Errechnens. Wer auch nur eine einzige Wahrheit, ein Wahrheitchen, zum erstenmal ausgesprochen, eine einzige kleine Beobachtung zum erstenmal gemacht, eine einzige kleine Regelmäßigkeit zum erstenmal entdeckt hat, der half das summum bonum der Wahrheit an und für sich mehren und das unendliche Ganze der Wissenschaft fördern. „Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden weist, tagtäglich zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich die Veränderungen, wie die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem Buch aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für [S. 305] ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend wird dieses Kleine, wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen nun wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden und daß aus den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein magnetisches Gewitter über die Erde geht, daß die ganze Erdoberfläche gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schaudern empfindet“... Uneigennütziger und entsagungbereiter Fleiß des europäischen Gelehrten legt also hier wirklich Körnchen neben Körnchen, Stäubchen neben Stäubchen, bis die Masse der Wißbarkeiten und Gewißheiten zum Berg, ja zum Gebirg gestockt ward, dessen Gipfel zuletzt niemand mehr zu ersteigen vermag. Und wie die europäische Wirtschaft, seit sie nach dem Ausgang des Mittelalters ‚frei‘ betrieben ward, jeweils Ware um Ware auf Vorrat anzufertigen pflegt, ohne sich um ein wirklich bestehendes Bedürfnis nach Waren irgendwie zu kümmern, um dann fast in regelmäßigen Zeitabschnitten empfindliche Stockungen im Absatz und Umsatz zu erleiden, — so erzeugt die europäische Wissenschaft auch ihre Wißbarkeiten und Gewißheiten gleichsam auf Vorrat, ohne darauf bedacht zu sein, ob die aufnehmenden und verarbeitenden Fähigkeiten des Menschen mit den hervorbringenden noch Schritt gehalten haben möchten. So hat sich die Wissenschaft bei uns daran gewöhnt, um der Wissen [S. 306] schaft willen zu forschen, und dieses l’art pour l’art , science pour science ist eigentlich seit Platon und Aristoteles, will sagen seit den Anfängen des Hellenismus, in Europa auf lange Zeitstrecken hin immer wieder das große Verhängnis des Abendländers geworden. Ebenso planlos, ebenso frei, ebenso unverantwortlich wie die Wirtschaft in hochkapitalistischen Weltaltern hervorbringt, ebenso bringt in den hochintellektualistischen Weltaltern die Wissenschaft hervor, also daß beide von Krisis zu Krisis, von Katastrophe zu Katastrophe taumeln. Wo die Wissenschaft ausschließlich um der Wahrheit willen betrieben wird, da gibt es kein Ziel und kein Maß ihres sogenannten Fortschritts: da wälzt sie ihren unwiderstehlichen Schwall über alle Ufer und schwemmt alles An- und Eingewurzelte von seinem festen Platz, wo es würdig stand und fußte. In dem toten Meere der Wißbarkeiten und Gewißheiten muß der Einzelne rettunglos ertrinken, noch eh’ er an den eintönig-einsilbigen Horizonten ein Fahrzeug wahrnimmt, das ihn bergen könnte. Die unvermeidlichen Folgen dieser wissenschaftlichen Übererzeugung heißen Wissensmüdigkeit, Wissensmißachtung, Wissensüberdruß, genau wie die Folgen der wirtschaftlichen Übererzeugung Absatzstockung, Arbeiterentlassung, Zahlungeinstellung heißen. Und in vierfacher Beziehung erweist die Tatsache der europäischen Wissenschaft eine Fragwürdigkeit, welche geradezu ihre Daseinsberechtigung zweifelhaft erscheinen läßt:

[S. 307]

Als Stoff betrachtet wird das Wissen formlos, weil es Form offenbar nur von der aufnehmenden Persönlichkeit her empfangen kann.

Als Besitz betrachtet wird das Wissen herrenlos, weil es Eigentumswert offenbar nur bei der aneignenden Persönlichkeit erwerben kann.

Als Tätigkeit betrachtet wird das Wissen zwecklos, weil es Zweckmäßigkeit offenbar nur durch die zwecksetzende Persönlichkeit gewinnen kann.

Als Leistung betrachtet wird das Wissen stellenlos, weil es Stellenwert offenbar nur in der stellgewährenden Persönlichkeit erlangen kann...

Die tödliche Gefahr dieses entfesselten Wissens, wie ein gefräßig Element auf den unbeschützten Menschen losgelassen, hat indessen gerade der ewige Platon als der geschichtliche Urheber des αὐτὸ καθ’ἁυτό der Wahrheit (oder des ‚in Wahrheit Seienden, des ὄντως ὄν‘) am dringendsten schon gespürt. Denn eben er, dem wir Europäer die erste und wuchtigste Vision einer Wahrheit an und für sich zu danken und — wer weiß? — vielleicht auch zu fluchen haben: eben er ist gleichzeitig doch auch der Schöpfer gewesen der unvergänglichen Gestalt seines Sokrates. Diesen platonischen Sokrates, der einzige, der noch heute mitten unter uns lebt und mit welchem wir leben, ihn hat sich augenscheinlich Platon selber als Gegengift verordnet gegen das unmenschliche ὄντως ὄν, gegen das unmenschliche αὐτὸ καθ’ἁυτό und beider lauernde Gefahren. Diesen Sokrates hat sich Platon in eigener Person verordnet, will heißen er hat sich den klassischen [S. 308] ‚Weisen‘ des Abendlandes verordnet, der das bloße Wissen in sich selbst in Weisheit umzusetzen versteht. Der also das Wissen

Warum nämlich ist just Platon, der Erfinder der Wahrheit an und für sich und des Wissens um der Wahrheit willen, zum Dichter des platonischen Sokrates geworden? Weil er mit dieser noch immer atemversetzend nahen Gestalt des klassischen Weisen sich selber am erfolgreichsten zu begegnen vermochte: sich selber und dem schmerzlich gefühlten Schicksal, das er mit seinem asketischen Ideal des ‚in Wahrheit Seienden‘ über die abendländische Menschheit heraufbeschwor. Denn dieser platonische Sokrates will ja zwar die Wahrheit, wie sie an und für sich selbst ist, ohne Einschränkung und Abzug ‚wissen‘. Aber er will sie nicht wissen dieses Wahrseins wegen. Sondern er will sie wissen seiner selber wegen, seines Tuns und Handelns wegen, seiner Selbstgestaltung wegen, seiner ‚Wohlbeschiedenheit‘ (εὐδαιμονία) wegen... Das Wissen als solches gilt ihm für unerläßlich und unentbehrlich, und insofern verdient er selbst durchaus ein Platoniker genannt zu werden. Aber in keinem Augenblick seines Lebens ist ihm das Wissen ein unbedingter Selbstzweck, was es dem strengen Platoniker eigentlich sein müßte. Und in diesem Betracht ist er freilich durchaus Sokrates, durchaus sui generis , [S. 309] durchaus Anti-Platoniker, durchaus Gegenmine des Platonismus: wenn auch alles dies von Platons Gnaden. Alles in allem mithin das Gegenstück des Gelehrten, das Gegenstück des Wissenschafters. Der Weise soll wissen und muß wissen. Aber er soll und muß nicht wissen, damit er eben wisse: vielmehr damit er wisse, was zu tun und zu lassen, was zu wünschen und was zu verwerfen, was zu suchen und was zu meiden sei. (Denn Weisheit, hat man in diesen Tagen gesagt, ist Leben in der Form des Wissens, — ist Wissen, wie ich noch lieber sagen würde, in der Form des Lebens...) Sokrates also will wissen, um Sokrates sein zu können, ein Mensch, der sein Leben zu seiner Zeit und an seinem Ort recht zu führen versteht. Derart bringt der Weise eine gewisse Versöhnung zustand zwischen den zwei einander gegenstrebenden Urgewalten oder Grundtätigkeiten alles Lebens, welche die Pythagoreer als Unbegrenztes und als Grenze zu bezeichnen wagten. Mitten im Unbegrenzten aller Wißbarkeiten und Gewißheiten setzt der Weise dem Unbegrenzten eine Grenze in ihm selber, indem er sein Menschenrecht auf die ihm allein zuträgliche, ihm allein bekömmliche Wahrheit geltend macht. Wohl zeltet der unendliche Himmel des ‚in Wahrheit Seienden‘ in seiner Unwandelbarkeit auch über der Gestalt des Weisen, wie er ob allen Wandelwesen zeltet. Aber gleichzeitig übt doch mit Nachdruck der Weise das Grundrecht aller Wandelwesen aus, sich aus dem unendlichen Himmel mit der ihm nützlichen Gewißheit zu versehen und sich unter allen [S. 310] Wahrheiten an und für sich diejenige auszuwählen und anzueignen, die ihm am passendsten für den Aufbau seiner Persönlichkeit zu sein scheint. Denn das Gestirn des ‚in Wahrheit Seienden‘ funkelt nicht in die Nacht der Welt, um rein ‚platonisch‘ angestaunt, verehrt, angebetet zu werden, vielmehr um dem sokratisch Wandernden zu Wasser und zu Land den dunkeln Weg zu hellen. Wegweisend ist die Wahrheit für den Weisen, wegweisend erzeugt sie Weisheit im Weisen. Aber weise sein heißt zuletzt nichts anderes, als daß womöglich jedermann Besitz ergreife von seiner Wahrheit und mit unwiderruflicher Entschlossenheit Hand auf seine Wahrheit lege, die keineswegs die Wahrheit jedermanns ist und sein kann. In Übereinstimmung mit diesem Zielgedanken der Weisheit nimmt der platonische Sokrates sich die Freiheit, eine Menge von Wahrheiten nicht zu wissen, welche nicht zu wissen seine Vorgänger in Milet, Elea, Ephesos, Klazomenai, Kolophon, Abdera für unverzeihlich, wenn nicht für unanständig gehalten hätten, — so zum Beispiel das Wissen von der gesamten außermenschlichen, außersittlichen Natur mit seinen Tatsachen und Gesetzen. Nirgends mehr ist die Weisheit des Sokrates mit der längst üblich gewordenen Überschrift betitelt ‚Περὶ Φύσεως‘, sondern mit der neuen, aber einseitigen und ausschließenden ‚Περὶ Ἀνθρώπου‘. Die Gültigkeit der Wahrheit überhaupt steht dem Weisen außer allem Zweifel, weil sie die Voraussetzung darstellt für jede erkenntnismäßige Betätigung als solche. Aber neben dieser Wahrheit überhaupt und (was Wichtigkeit und [S. 311] Dringlichkeit anlangt) über ihr steht meine Wahrheit, deine Wahrheit; steht die Weisheit, mit welcher ich lebe, mit welcher du lebst: und damit bricht der platonische Sokrates dem Platonismus die gefährlichste Spitze ab, mit welcher er Fleisch und Geist der europäischen Menschheit hätte vergiften können, wenn es keine Weisen und keine Weisheit gab, — mit welcher er Fleisch und Geist dieser Menschheit vergiftet hat, seit es weder Weise noch Weisheit mehr gibt... Dem Weisen jedoch ist nicht allein die Tugend ein Wissen, sondern umgekehrt das Wissen auch eine Tugend: will meinen eine innerliche Richtungnahme des ganzen Menschen auf jene Sachverhalte hin, die zwar ‚in Wahrheit sind‘, aber für ihn, den Einzelnen und Besonderen, nur je nach ihrer Eignung zur Führung eines rechten Wandels gelten. Und ist schon nicht der Mensch das Maß der Dinge, — er ist es aber, trotzdem just der platonische Sokrates ingrimmig und verbissen den Urheber dieses Erkenntnis aushöhnt! — so ist unmittelbar doch der Weise das Maß alles Wissens: Maß, Form, Herr, Ziel, Ort und Verlebendiger alles Wissens...

Daß dieser Typus des Weisen trotz Kyniker und Kyrenaiker, trotz Stoiker und Epikureer im Fortgang der Zeit immer sicherer vom Typus des Gelehrten und Wissenschafters verdrängt ward, mußte freilich die schleichende Krisis des platonischen Ideals das Wissen um der Wahrheit willen wieder von neuem zum Ausbruch bringen. Oder sage ich vorsichtiger und richtiger: dieser Umstand hätte die Krisis wieder [S. 312] zum Ausbruch bringen müssen, wenn nicht alles bald durch den Sieg des Christentums eine völlig neue und von niemandem zu erwartende Wendung genommen hätte. Vorher bietet allerdings das alexandrinische Zeitalter gewissermaßen das Schauspiel eines späten Wettkampfes zwischen dem Typus des Weisen und des Wissenschafters. Und wenn auch jener erstere herauf bis zu dem ehrwürdigen Demonax des Lukian nie völlig aus der Öffentlichkeit des antiken Lebens verschwand, wo er Pflichten der Seelsorge vielmals rühmlich bis zuletzt erfüllte, — die entscheidenden Bewegungantriebe gehen doch nicht von der Weisheit des Weisen, sondern von der Forschung des Wissenschafters aus: denn dieser und nicht jener bereicherte die Zeit um eine neue Geistesäußerung. Bis dann eben in den ersten Jahrhunderten der werdenden Kirche sowohl der Weise wie der Wissenschafter für die Dauer von rund tausend Jahren kalt gestellt werden und damit die Krisis im Platonismus behoben ist. Der geschichtliche Stifter des Christentums bekämpft den Weisen bekanntlich mit der ihm eigenen heißblütigen Leidenschaftlichkeit, trotzdem er selbst in starkem Maß vom Ideal der Stoa miterzogen und mitgebildet erscheint. Genug! Die Weisheit vor den Menschen wird als Torheit vor Gott verlästert, verlästert insonderheit darum, weil sie sich in heidnischem Dünkel vermißt, aus eigener Menschenkraft zu bewirken, was bestenfalls der Gnade Gottes vorbehalten wäre. In der Hauptsache aus diesem, aber auch aus manch anderem Grunde sonst kann die neue Religion den [S. 313] Weisen nicht mehr gebrauchen, und noch weniger freilich dessen geschichtlichen Gegenspieler, den Wissenschafter und Gelehrten. Die menschliche Weisheit war Torheit vor Gott, aber die menschliche Wissenschaft war gegenstandslos schlechthin; — einer sich selbst rechtfertigenden Wissenschaft aber, welche platonisierend die Wahrheit um der Wahrheit willen zu erforschen behauptete, ihr hätte man wohl mit dürren Worten die abspeisende Antwort gegeben: die Wahrheit, o Mensch, ist Gott und Gott ist die Wahrheit! Wer Gott hat, der hat die Wahrheit. Wer aber Gott nicht hat, — was soll ihm die Wissenschaft? Daß Gott die Wahrheit sei und die Wahrheit Gott, dies war der grundsätzliche Ertrag, den das junge Christentum von der gesamten Wissenschaft und Wissenschaftlehre der Griechen übernahm. Dies war gewissermaßen der Saldo, den es als zu überschreibenden Rechnungbetrag auf das neue Blatt der Weltgeschichte eintrug...

Ein höchst bedeutungreicher Saldo, ihr Christen, wenn es recht bedacht wird! Denn jetzt löste die junge Kirche dieselbe Aufgabe theologisch und ontologisch, welche der platonische Sokrates pragmatisch und ethisch zu lösen versucht hatte. Die Wahrheit an und für sich, welche seit Platons Auftritt sozusagen frei in der Luft geschwebt hatte, um erst in der Person des Weisen nachträglich einen Haft und Halt zu finden, sie fand hier Haft und Halt von vornherein in der Person Gottes. Seit Platon und Aristoteles ein logischer Begriff, wurde die Wahrheit seit Augustinus, ja seit [S. 314] Plotinos ein ontologischer Begriff: die bloße Eigenschaft gewisser Denkverknüpfungen dort ward zum Sein und Wesen hier. Überraschend buchstäblich nahm die neue Lehre das Wort Platons von dem ‚in Wahrheit Seienden‘ und machte mit ihm Ernst in alle erdenklichen Konsequenzen: Gott selbst ist fortab das in Wahrheit Seiende, Gott selbst ist der in Wahrheit Seiende. Die Wahrheit wissen, hieß darnach Gott wissen auf Grund der Gleichung Wahrheit = Gott, Gott = Wahrheit, — und damit war in Ansehung des Wissen und seiner wesentlichen Leistung jeder Zweifel vollständig beseitigt. Von dieser theologischen und ontologischen Umdeutung des Begriffes Wahrheit her konnte dann allerdings auch vom Standpunkt des Christentums und seiner Kirche aus Wissen und Wissenschaft um der Wahrheit an und für sich willen zugelassen werden, — hatten doch jetzt diese nach Heidentum schmeckenden Namen einen vollkommen unheidnischen Sinn unterstellt bekommen. In dieser Wissenschaft, deren einziger Gegenstand und Vorwurf Gott heißt, kann sich der Mensch nicht wie in den Ideen Platons ziel- und richtunglos verlieren, hier muß er sich im Gegenteil erst richtig finden. Wer Gott auf wahrheitgemäße Weise weiß, der ißt gleichsam von Gott, — qui mange du pape, en meurt; qui mange de Dieu, en vit! — und es ist fast doch mehr wie ein bloßes Gleichnis, wenn ich zu behaupten wage, die Scholastik des Mittelalters habe wenigstens ihre Haupt- und Grundwissenschaft Theologie in nächste Nachbarschaft der Sakramente gebracht, was [S. 315] Leistung, Erfolg, Bedeutung dieser Wissenschaft für den Ausübenden anbetrifft. Das scholastische Wissen von Gott ist in der Tat etwas wie ein Sakrament, wobei Gott durch die Erkenntniskraft des Menschen geradezu eingenommen, einverleibt, einvergeistet erscheint: sacramentum im Sinn von ‚Heilsmittel‘, weil dieses Wissen von Gott das Heil in Gott vermittelt; χάρισμα im Sinn von ‚Gnadengabe‘, weil dieses Wissen von Gott ohne Beistand der Gnade Gottes nicht zu erlangen ist; μυστήριον im Sinn von Einweihung, weil dieses Wissen von Gott den Wissenden zu Gottes Sohn und Kind weiht. Im Vorgang dieses Wissens geschieht es, daß Gott bei der Gestaltung seines eigenen Gedankens im Geist des Wissenden aus allen seinen Kräften selbsttätig in Mitwirkung, oder wie Luther wahrscheinlich gesagt hätte, in ‚Konkomitanz‘ mit diesem Geiste tritt; im Vorgang dieses Wissens geschieht es, daß der gewußte Gott die Vernunft des menschlich Wissenden seiner eigenen Gottvernunft anähnlicht. Diese sakramentale (und nicht mehr alleinig ‚mentale‘) Auffassung des Wissens wird dann noch, das versteht sich für jeden ungefähren Kenner des Mittelalters ganz von selbst, aufs nachdrücklichste verstärkt durch die realistische Doktrin, wonach die erfaßten Denkinhalte, je allgemeiner sie nach Inhalt und nach Umfang werden, einen umso höheren Grad von Wirklichkeit gewinnen, bis in dem Denkinhalt von höchster Allgemeinheit zugleich der höchste Grad von Wirklichkeit erreicht ist: und das ist wiederum Gott. An den Graden begrifflicher Allgemeinheit steigt [S. 316] mithin der Wissende von Wirklichkeit zu Wirklichkeit aufwärts bis zur allerallgemeinsten und allerwirklichsten Wirklichkeit. Weit entfernt davon mit den Begriffen zu spielen, wie man mit Gespinsten des Gehirns spielt, bemächtigt man sich im Begriff der höchsten Wirklichkeit der Welt. Hier stoßen hart im Raum sich die Gedanken, wenn leicht beieinander alle Sachen wohnen. Begriffe sind Wirklichkeiten über die Gegebenheiten der Sinneswahrnehmung hinaus und sogar noch die ‚falschen‘ Begriffe sind unter Umständen Wirklichkeit, nur mit dem höllischen Vorzeichen der Widersacherschaft gebrandmarkt. Daher die furchtbare Gefahr der falschen Meinung, irrigen Lehre, verkehrten Ansicht, die dem mittelalterlichen Menschen so etwas ganz anderes bedeuten als dem antiken oder gar modernen Wissenschafter dieser oder jener Denkfehler. Denn wer da nicht das Wahre denkt, schließt sich der Widerwelt des Wahren an und so dem Widersacher Gottes. Wissen, das heißt hier fast die Entscheidung treffen, ob einer gewillt sei, des Lebens Kampf auf seiten der himmlischen Heerscharen oder der höllischen Mächte zu kämpfen, und dieserhalb war es von der scholastischen Auffassung aus nur folgetreu gedacht, dem Irrenden nicht mit dem Holzschlegel zwar, aber mit dem prasselnden Scheiterhaufen ‚seelsorgerisch‘ bedacht zu winken...

Die menschliche Leistung dieses Wissens kann, wie ich schon sagte, nicht gut einem Zweifel unterliegen. Hier verschwimmt die Wahrheit nicht in den rauchenden Horizonten zwischen Himmel und Erde [S. 317] in einer überall gleich fernen Unendlichkeit von Sachverhalten an und für sich, welche das Mißliche an sich haben, daß sie ausnahmlos denselben Anspruch auf Anerkenntnis und Geltung erheben und erheben dürfen. Solange die Wahrheit Gott ist und Gott die Wahrheit, findet sie in Gott Haft und Halt, und mit der Wahrheit findet der Mensch in Gott Haft und Halt, der sich ihre Ergründung angelegen sein läßt. Beklagenswert war nur, daß diese Gleichsetzung von Gott und Wahrheit doch nicht dauernd in Kraft bleiben konnte, sondern daß eben der ontologisch-theologische Charakter des ‚in Wahrheit Seienden‘ bestritten ward. Die Formel Wahrheit = Gott und Gott = Wahrheit hatte seit Augustinus, wir wissen es, den unangetasteten Besitz der Patristik und Scholastik gebildet, und vermutlich ist es ein starkes Gefühl der Unentbehrlichkeit dieser Formel gewesen, welches die Kirche veranlaßt hat, die ersten und ach! so tastend zaghaften Regungen des Nominalismus in der jungen Wissenschaft des mittelalterlichen Abendlandes durch Machtspruch zu unterdrücken und den vielleicht führenden Nominalisten Roscellinus von Armorika auf dem Konzil zu Soissons zum Widerruf zu nötigen: denn in der Tat ist es der aufkommende Nominalismus, der dann die Voraussetzungen dieser Formel aufhebt. Wenn die Begriffe nicht mehr wirklich sind, geschweige denn, daß ihre Wirklichkeit mit wachsender Allgemeinheit selber wächst und vollkommener wird, dann büßt auch der allgemeinste aller Gemeinbegriffe, nämlich das universale ‚Gott‘, [S. 318] seine Wirklichkeit ein und seine Wahrheit im Sinn der realistischen Auffassung wird fragwürdig. Selbst nämlich wenn Gott auch dann noch in Person in irgendeinem Wortverstand ‚wahr‘ bleiben sollte, bleibt er’s doch länger nicht mehr im Wortverstand jenes ens realissimum, ens generalissimum . Just die allgemeinsten Begriffe und Vorstellungen verlieren ihre Wirklichkeit und damit auch ihre Bindung an den vollkommenen Inbegriff aller Wirklichkeiten, an die Urwirklichkeit schlechthin oder Gott. Jetzt lösen sich die Wahrheiten von der Einen Wahrheit ab und diese bleibt gleichsam entblättert zurück wie der Stumpf einer Palme, deren Schaft aus den leeren Scheiden längst abgestoßener Blätter besteht... Gibt es aber ‚wahre‘ Begriffe, die abgesondert vom Ursein der höchsten Wahrheit zu bestehen vermögen, ja die sogar nur in dieser Abgesondertheit bestehen, dann gibt es auch wieder (wie einst im Platonismus!) eine Wahrheit, die weder Gott selber noch göttliche Dinge irgendwie betrifft. Dann gibt es auch wieder eine Wissenschaft, die nicht um Gottes willen, sondern eben um der Wahrheit an sich willen betrieben wird. Dann ist das Abendland zum zweitenmal der beklemmenden Gefahr ausgesetzt, die alle Wissenschaft bloß des Wissens wegen und alle Erkenntnis bloß der Wahrheit wegen je und je verfolgt...

Es ist somit die nominalistische Scholastik, welche den Begriff Wahrheit wieder auf seine eigenen Beine zu stellen wagt, nachdem die realistische Scholastik Wahrheit und Gott, nur gleichsam in der Mitte zu [S. 319] sammengewachsen, wie siamesische Zwillinge auf den europäischen Jahrmärkten herumgezeigt hatte. Die Anstrengungen aber, wie sie in den folgenden Jahrhunderten des siegreich vordringenden Nominalismus gemacht werden zugunsten einer endgültigen Verselbständigung der abendländischen Wissenschaft, sie werden vervielfältigt durch die entsprechenden Anstrengungen der Reformatoren. Ein Mann wie Luther lernt auf der Universität die Scholastik nur noch in der nominalistischen Ausprägung kennen, und wenn er im Ungestüm der ersten Kämpferjahre geradezu den Fortbestand europäischer Wissenschaftlichkeit als solchen schwer gefährdet und vorübergehend eine massenhafte Entvölkerung von Deutschlands hohen Schulen bewirkt, ist er bei der Weiterführung seines Werkes doch zu sehr auf die Mitarbeit gelehrter Humanisten angewiesen, um nicht zuletzt diesen neu erstandenen Typus Wissenschaft und Wissenschafter seinerseit nach besten Kräften zu fördern. Eine im Humanismus jener Tage schüchtern auflebende Freude an der Gestalt des Weisen — am anziehendsten vielleicht verkörpert in dem gothaer Humanisten Konrad Mudt, der unter dem Namen Mutianus Rufus einen schier sokratischen Einfluß auf die ihm ergebenen Jünglinge ausübt, mit denen verbunden er innig „nach Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Geduld, Eintracht, Wahrheit und einmütiger Weisheit“ strebt! — eine solch schüchtern auflebende rinascènza antiker Lebensführung und Wissensbewältigung findet freilich nicht den Beifall des Bruders Martinus und kann sie [S. 320] bei ihm nicht finden, dem der Weise seiner ganzen Veranlagung nach noch mehr gegen den Strich gehen muß wie seinen religiösen Vorkämpfern Paulus und Augustinus. Mit Weisheit war keine Reformation gemacht und ein kochender Geyser ist kein Kristall, nicht einmal ein flüssiger. Aber in der außerordentlichen Bewertung einer kritisch zu betreibenden Wissenschaft fühlt sich auch Luther durchaus mit dem Humanismus einig, — war doch sein ganzer Evangelismus zutiefst nur eine besonders fruchtbare Anwendung des humanistischen Grundsatzes jener zeitgemäß verfahrenden Forschung: Zurück zu den Quellen! Zurück zu den Ursprüngen! Zurück zu den Urkunden!... Diese humanistische Wissenschaft, in ihrer Beschaffenheit ebensosehr nominalistisch und kritisch wie die scholastische Wissenschaft realistisch und dogmatisch, wird mithin seit der deutschen Reformation von dem mächtigen Atem des Protestantismus gebläht und geschwellt. Kritik heißt die Springwurzel, Kritik heißt die Sprengwurzel, welche die Schlösser soviel heimlicher Schatzkammern des Wissens krachend aufsprengt; Kritik heißt die Kunst der Vernunft, die Wahrheit an und für sich selbsttätig auszumitteln, die vormals der Scholastiker gleichsam auf Gnadenwegen als den Geist des Allerheiligsten in seinem Geist empfing. Jetzt besteht ein angeborenes Menschenrecht für jeden, der des Wissens bedürftig ist, die sich darbietenden Sachverhalte der Reihe nach zu prüfen auf ihre Richtigkeit oder Irrigkeit hin, — jetzt besteht sogar eine angeborene Menschenpflicht, [S. 321] sich dieser selben Prüfung nicht in Feigheit oder Trägheit zu entziehen, sondern sie vorzunehmen nach ‚bestem Wissen und Gewissen‘. Der Kritiker, das ist der Richter über Wahr und Falsch: der Richter, der da Wahr und Falsch erst zu suchen, erst zu finden hat, ehe das Urteil ergehen kann, — und just dieser Umstand ist von großer Tragweite in der Folgezeit gewesen. Denn von da an heißt ja Wissen nicht mehr einen von vornherein daseienden Besitz an ewigen Wahrheiten, ewigen Denkinhalten, ewigen Gewißheiten einfach anzutreten, wie beispielweis das Mittelalter die ewige Wahrheit ‚Gott‘ angetreten hat. Fortab heißt Wissen in unablässiger Prüfung und Überprüfung die Entscheidung über das, was gilt oder nicht gilt, durch eigenes Tun, eigenes Können herbeiführen und furchtlos die Verantwortung für die eigene Entscheidung auf sich nehmen. Ein gewaltiger Umschwung, der ein paar Jahrhunderte später seinen denkwürdigen Ausdruck in der Lehre Kants gefunden hat, wonach die Gegenstände des Wissens keineswegs schon fertig zum Gebrauch vor dem zugreifenden Verstand des Wissenden ausgebreitet liegen, wie bisher die übliche Meinung war, sondern durch die geregelte Zusammenarbeit sämtlicher Erkenntniskräfte erst erzeugt, hervorgebildet und erschaffen werden. Wenn der Platoniker nur sein geistiges Auge aufzuheben brauchte zu der Feste der ‚in Wahrheit seienden‘ Sinn-Bilder, nachdem er den Blick von dem Schein-Bild der Werdewelt abgewendet hatte: und er alsdann das Wahre an und für sich schaute; wenn der Peripatetiker nur [S. 322] in Übereinstimmung mit den Vorschriften des Vernunftschlusses zu folgern brauchte, nachdem ihm die ersten und grundlegenden Obersätze aller aufwärts und abwärts leitenden Schlüsse durch unmittelbare Kenntnisnahme gegenwärtig geworden waren: und er alsdann die Wahrheit an und für sich ergründete; wenn der Scholastiker nur in Berührung zu gelangen brauchte mit der Vollkommenheit des höchsten Wesens, nachdem er sich der begnadenden Mitwirkung dieses Wesens bei diesem geistigen Mahl geistiger Eucharistie versichert hatte: und er alsdann die Wahrheit als Gott und Gott als die Wahrheit empfing, — so liegt es jetzt dem Kritiker und Kritizisten ob, sich ein für allemal die notwendige Klarheit darüber zu verschaffen, daß es eine an und für sich seiende Wahrheit in der bisher gültigen Auffassung eigentlich nicht gäbe, vielmehr durch die Arbeit des Wissens und Erfahrens und Erkennens erst hervorgebracht werden müsse. Mit dieser Einsicht erst, die der kantischen Kritik verdankt wird, ist die allmähliche Umdeutung des Begriffes Wissen und Wissenschaft zu Ende gebracht, welche im humanistischen Zeitalter mit der Zersetzung des scholastischen und realistischen Dogmatismus beginnt und dann vom Protestantismus so nachdrücklich gefördert wird. Und wie etwa Benvenuto Cellini, der Erzgießer, gelegentlich alle Teller, Schüsseln, Platten eines Geschirrs von Zinn, die er im Drang der Not erraffen kann, einfach in den Sutt seiner eben werdenden Statue hineinwirft, um sie darin für den Guß einzuschmelzen, — so übergibt Kant, der [S. 323] Kritizist, alle Gegebenheiten, Wahrheiten, Gewißheiten der Erkenntnis, deren er überhaupt habhaft zu werden vermag, gleichsam dem Sutt werdender Vernunfturteile, um derart die spröden Gebilde fertiger Wissenschaft in die Tätigkeit der Wissenserzeugung einzuschmelzen. In einem bis zu den obersten Voraussetzungen des Erkennens rücklaufenden Verfahren hat mithin der Kritiker alles zu prüfen und immer wieder zu prüfen, was mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit und Geltung vor ihn tritt. Nichts in der Welt ist dazu berechtigt, sich unbeanstandet, unbeargwöhnt Wahrheit oder Gewißheit gar anzumaßen. Wofern jede Prüfung aber auf dem Besitz der Maßstäbe, jede Entscheidung auf dem Recht der Zuständigkeit fußt, obliegt dem Kritiker eine andauernde Selbstbesinnung auf diese seine Maßstäbe, eine andauernde Rechtfertigung dieser seiner Zuständigkeit. Die ganze unendliche Welt legt der kritisch Prüfende, kritisch Entscheidende auf die Wage: der kritisch Prüfende und Entscheidende wird sich und der Welt selber zur Wage, die nun niemals mehr zur Ruhe kommt, sondern beständig auf und nieder schaukelt, auf und nieder gaukelt. Jeder Einfall, jede Beobachtung, jede Entdeckung erzwingt eine Verschiebung der Gewichte und infolgedessen zittert und bebt, wankt und schwebt, tanzt und schwankt alles Gewußte und alles Wißbare ohne Aufhören. Nichts mehr in Raum-Zeit und Zahl steht fest, nichts mehr steht: und am wenigsten die Wahrheit. Wie vordem das Radjuwel das Kennzeichen gewesen ist für die Lehre Gotamos oder der Fisch das Kennzeichen [S. 324] für die Zugehörigkeit zum Christentum, so wird jetzt das Fragezeichen zum Kennzeichen des kritischen Wissensbegriffes und des ihm zugehörigen Weltalters, — das Fragezeichen das Kennzeichen und vielleicht eher noch das Kainszeichen einer zu geistiger Fried- und Heimatlosigkeit verdammten Menschheit. Unausgesprochen oder ausgesprochen, unausgeschrieben oder ausgeschrieben erscheint das Zeichen der Frage hinter allen Urteilen und Deutungen, Annahmen und Voraussetzungen der heutigen Wissenschaft als die reservatio mentalis , die jedes erkenntnismäßige Ergebnis zu einem nur einstweiligen, nur uneigentlichen, nur annäherungweisen, nur widerruflichen unrühmlich herabsetzt. Es kann sich alles ungefähr so verhalten, wie sich’s dem kritischen Bewußtsein zu dieser Stunde zu verhalten scheint. Aber es kann sich auch alles völlig anders verhalten, und der Möglichkeiten, wie sich’s verhalten könne, ist nirgendwo kein Ende abzusehen...

Aus dieser verzweifelten Lage versucht sich der europäische Genius noch einmal zu retten, eh’ er sich stumpfsinnig und ergeben in das augenscheinlich Unvermeidliche schickt. Der kritische, ja der protestantische Begriff des Wissens ist es, der jedem Einzelnen die eiserne Pflicht auferlegt, die Aussagen des Verstandes, die Grundsätze der Vernunft, die Entscheidungen der Urteilskraft auf ihr Wahr oder Falsch, Richtig oder Irrig hin zu sichten und sich die Stellungnahme zu ihnen je nach dieser Sichtung vorzubehalten. Aber selbst in diesem Zeitalter der Kritik und des [S. 325] Kritizismus ist dem Abendländer das Bewußtsein noch nicht völlig verloren gegangen, daß die wesentlich menschheitliche Leistung des Wissens unmöglich auf die kritische Schlichtung der Erkenntnisse in gültige und ungültige allein beschränkt sein könnte. Sogar jetzt bleibt eine Ahnung wach, daß alles Wissen, wie es auch beschaffen sei, für den geistig-seelischen Aufbau der Person und für deren Selbstverwirklichung fruchtbar zu machen sei. Gleichzeitig mit der Hochtürmung des kritischen Gedankens in der kantischen Philosophie setzt eine neue humanistische Bewegung ein von ungleich stärkerer und umfänglicherer Artung als jene des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts: und vor allem ist es ihr zu danken, wenn man sich wieder deutlicher besinnt auf das, was ich eben die menschheitliche Leistung des Wissens nannte. Das Wissen kann, nein das Wissen soll der Bildung dienen, die Bildung aber der planmäßigen Selbststeigerung, Selbstbereicherung, Selbstveredelung aller menschlichen Fähigkeiten. Wenn also in Wahrheit die kritische Auffassung des Wissens auf humanistische Ansätze im Zeitalter des Protestantismus zurückgeführt werden darf, dann schreitet sie ihrerseit auch wieder instinktiv zum Humanismus fort. Nur daß jetzt, — wir sind im achtzehnten Jahrhundert, — die immerhin schmächtigen und leibarmen Gestalten erfurter oder gothaer doctores zu jenen stattlich ragenden Persönlichkeiten ausgewachsen sind, welche Deutschlands Parnaß damals bevölkerten. Noch einmal geben sich auf deutscher Scholle der sokratisch Weise und der humanistisch [S. 326] Gebildete ein Stelldichein; noch einmal treffen sich beide wenigstens in dem einen Gedanken enge, daß jede menschliche Person die Anwartschaft auf ihre eigene Wahrheit habe, um mit ihr zu leben und zu sterben, — ja nicht allein auf ihre eigene Wahrheit, sondern etwa auch auf ihren eigenen Irrtum, wie Lessing so herzhaft tapfer erkannt und Goethe so natürlich schön gelebt hat. Dieser humanistische Begriff der Bildung anerkennt zwar also jegliche Pflicht zur Prüfung und Entscheidung über das Wahr-Falsch des Wissens durchaus, aber ordnet dieser grundsätzlich protestantischen Verpflichtung doch sofort die zweite als die höhere über, sich aus dieser schlechten Unendlichkeit von Wahrheiten diejenigen gleichsam auszusuchen, welche geeignet erscheinen, die eigene Persönlichkeit ihrer äußersten Steigerung zuzuführen: und gleichfalls aus der Unendlichkeit aller Irrtümer sogar auch solche Irrtümer, die demselben Zweck dienlich sein möchten. Dem Weisen von ehedem war noch genau das zu wissen nötig, was er in seiner Eigenschaft als Mensch, Mitmensch, Bürger zu tun oder zu lassen habe, um als ein ‚Wohlbeschiedener‘ zu wandeln, — darüber hinaus durfte getrost alles Wissen überhaupt auf sich beruhen bleiben. Der Gebildete indes nimmt es als sein bestes Vorrecht, alles, wie sich’s eben fügt und schickt und trifft, seinen aneignenden und anpassenden Tätigkeiten zu unterwerfen, womit er freilich den schmalen Rahmen zerbricht, in welchen der Weise sein schlichteres Bildnis von sich selber einzufassen liebte... In dem Maß, [S. 327] als mithin der Zielgedanke der Weisheit den Zielgedanken der Bildung an innerer Standfestigkeit und Unerschütterlichkeit übertrifft, in dem Maß übertrifft auch der Zielgedanke der Bildung den der Weisheit an innerer Umfänglichkeit und Spannungkraft. Der Weise ist immer auch zugleich ein Geiziger, aber der Gebildete verschwendet, und zwar am meisten sich selbst. Baustoff zum Aufbau seiner selbst, seines Selbst deucht ihn alles, was überhaupt noch in die Grenzen menschlichen Aufnahmevermögens fällt, nicht allein das ihm eigentümliche Wahre, sondern auch das ihm eigentümliche Irrige. Der Gebildete weiß, daß Wahrheit und Wahn aller Völker, Helden und Zeiten bilden können und gebildet haben, und je stärker sich der Gebildete von dieser unumstößlichen Gewißheit durchdrungen fühlt, desto weiter spannen sich die Grenzen dessen, was er zu seiner Selbstverwirklichung verwerten kann. Das Wissen des Weisen trachtet darnach, ein Mindestmaß zu werden; das Wissen des Gebildeten eifert nach dem Höchstmaß schlechterdings, und wenn einen, so lockt ihn der goldene Überfluß der Welt. Was da das Aug’ erblickt, das Ohr vernimmt, die Hand ertastet, der Sinn erdenkt, die Einbildungkraft erträumt, die Sehnsucht erwünscht, der Geist erdichtet, das wird ihn unter günstigen Bedingungen formen und gestalten. Denn Bildung ist Selbstvervielfältigung um alle die Erfahrungstoffe und Erlebnisinhalte der Welt, und in diesem Wortverstand deckt sie sich schon beinah’ mit der Erinnerung, die vorhin gleichermaßen gekennzeichnet ward [S. 328] als eine Art von Selbstvervielfältigung. So spinnt der neue Humanismus seidene Fäden über alle Länder und Erdteile, über alle Zeiten und Gesittungen, über alle Äußerungen und Hervorbringungen, über alle Geschehnisse und Geschichten. Neben das Rom der älteren Humanisten tritt überragend Griechenland, neben Griechenland der Balkan, Judäa, Arabien, Kleinasien, der Jrân, Ägypten, Indien, China... Eine Weltwanderschaft beginnt, eine zweite conquista , nur ohne Grausamkeit und Teufelei, ohne Blutvergießen und Verrat, ohne Leibesmord und Seelenvergiftung, vielmehr alleinig mit der göttlichen Waffe des Geistes. Der materiellen Besitzergreifung dieser Erde folgt die spirituelle, und sie tilgt die blutigen Spuren jener mit der Barmherzigkeit eines Engels. Denn diese Bildung — ich nutze die Gelegenheit, es endlich einmal auszusprechen! — diese Bildung zeigt ihre ehrwürdigen Träger und Vertreter wundersam begütigt: begütigter vielleicht als die Heiligen der bisher bekannten Religionen in Europa. Fast sieht es aus, als sei der Mensch dieses bösen Kontinentes hier zum erstenmal wirklich Mensch, hier zum erstenmal wirklich gut geworden, jetzt, wo er sich zum erstenmal bildet. Nicht aus Zufall auch wird in diesem Weltalter der Bildung gleichfalls zum erstenmal die Duldung zum Ideal der Zeit erhoben, nachdem sämtliche frühere Zeiten von einer Tugend solchen Namens nicht nur nichts wußten, sondern nichts wissen wollten. Zu dieser Stunde aber konnte, ja mußte die Duldung ernstlich geboten werden, — obschon diese Duldung [S. 329] natürlich eine vieldeutige Erscheinung von mancherlei verschiedenen Ursachen gewesen ist, die keineswegs alle auf dem Gebiet des Geistes liegen. Die Duldung konnte, ja mußte in dieser Stunde geboten werden, weil der Gebildete endlich begreift, wie gleichmäßig fruchtbar jede Tatsache des Wissens, jede Tatsache des Glaubens sogar vom Menschen gemacht werden kann, unbeschadet seiner protestantisch-kritischen Pflicht zur Prüfung über Wahr und Falsch. Weil aber und wofern es der Gebildete ist, welcher dies begreift, vermag er den kritischen Begriff des Wissens von innen her zu überwinden. Wahr ist zwar nur, was die Vernunft in Übereinstimmung mit ihren eigenen Grundlagen und Voraussetzungen findet: aber in einem freien Sinn ist außerdem alles wahr, was den Menschen bändigt und erzieht, veredelt und aufklärt, läutert und verschönert, barmherzig und liebreich macht wie beispielweis jede der drei bekannten großen Religionen. Und weshalb nur jede der drei großen? weshalb nur jede der sogenannten Religionen? weshalb nicht alle in der Seele empfangenen und aus der Seele geborenen Religionen, Bekenntnisse, Glaubensvorstellungen, Moralen, Weltbilder, Künste, Heil- und Heiligtümer? So aufgefaßt aber machen die geflügelten Worte des Juden Nathan zum Kalifen Salah-ed-Din einen bislang unbekannten Zustand unseres Festlands kenntlich: einen bislang unbekannten Zustand nicht nur unseres Europa, sondern gleichsam eines neuen und eben erst erstehenden Kontinentes, der vielleicht nicht ganz unpassend Europasien zu nennen [S. 330] wäre, wenn anders man mir dieses Wort verzeihen will, welches eines Tages, wer weiß es, ein kaum mehr zu entbehrender Begriff sein wird... Genau diese nathanische Toleranz aber ist es, die jetzt dem europäischen Gebildeten den Zugang, den lang und fest versperrten, zum mütterlichen Festland wiederum entriegelt. Denn daß in diesem Augenblick einer der kritischsten, ja einer der polemischsten Köpfe seines kritischen Jahrhunderts diese durchweg männliche Duldsamkeit verkündigt, — es gibt auch eine weibische Duldsamkeit, von der hier nicht geredet werden soll! — daß just der Kritiker zur Toleranz sich bildet und in der Toleranz seine Kritik überwindet: das ist schon ein Stück Asien mitten im Herzen Europas. Das ist die erste Regung asiatischer, ja schon fast gotamidischer Groß- und Langmut, die sich unerschüttert-unerschütterlich genug weiß, alles unter dieser irdischen Sonne Auf- und Niedergehende in seiner Art an seinem Platze gelten zu lassen. Hier spricht die Menschlichkeit Asiens, wenn just der leidenschaftlichste Anti-Dogmatikus, der hitzigste Anti-Theologus das uralte Gleichnis von den drei Ringen wieder aufgreift und es der europäischen Welt, nein der Welt überhaupt als das nie mehr preiszugebende tertium testamentum hinterläßt. Der glänzendste Vertreter mittelalterlicher Bildung, der Fürst, an welchem das glorreiche Deutschland des Mittelalters zugrunde ging, konnte auf die nämliche Frage noch, welche Saladin dem weisen Nathan stellt, die Antwort von den drei Betrügern finden. Lessing jedoch fand darauf die tiefere und [S. 331] schönere Antwort von den drei Wahrheiten: und so fand er auf seine Weise eine Spur von jener Lehre, „deren Anfang begütigt, deren Mitte begütigt, deren Ende begütigt“...

Das Zwischenspiel der europäischen Bildung, die endlich wieder einmal wußte, weshalb der Mensch wissen soll und wissen muß, war herrlich aber kurz. Es versprach überschwänglich viel und vieles, und das war mehr, als es halten konnte. Ein Jahrhundert, in wesentlichen Stücken deutsch trotz aller staatlichen Unbedeutung Deutschlands, ein Jahrhundert zwischen den Mannesjahren Herders, Wielands, Lessings und dem Tod der beiden Humboldts, — und vorbei! Dasselbe Volk aber, welches den Begriff der Bildung in einem ruhmreichen Geschlecht von Denkern, Künstlern, Dichtern und Gelehrten auf seinen europäischen Gipfel getrieben hatte, schändet diese Bildung und schändet sich selber mit einem niemals zu verzeihenden Zynismus. Was seit dem Sieg des schlechteren Deutschland über das bessere in Deutschland selber und folglich auch in Europa Bildung heißt, verhält sich zu der Bildung des achtzehnten Jahrhunderts wie sich ein Mann etwa von der Würde Schillers zu einem einjährig-freiwilligen Prüfling mit ‚erlangter Reife‘ verhält, oder wie sich ein Kunstwerk von dem Wert des Palazzo Pitti zu einem Schweinekoben verhält. Darüber ist längst jedes Wort zuviel; — genug, daß sich seit jenem schlimmsten Höllensturz, den vielleicht die europäische Geschichte vor dem November 1918 zu verzeichnen hat, die kritisch-protestantische Wissenschaft [S. 332] lichkeit des Abendlandes ohne jede selbst auferlegte Hemmung gehen läßt und austobt wie ein Mönch, der sein Gelübde brach. Jetzt hat ein jeglicher die Pflicht und auch das Recht, nach Möglichkeit alles zu wissen, alles zu begutachten, alles zu beurteilen, alles zu richten, alles zu entscheiden, alles zu erlauben, alles zu verbieten. Wahrheiten, die nicht Wahrheiten jedermanns sind und nicht ‚allgemein und notwendig‘ gelten oder nicht gelten, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die vielleicht nach dem strengen Wortgebrauch des Wissenschafters keine sind, vielmehr eher Irrtümer, die aber trotzdem ‚wahr‘ in einem anderen Wortgebrauche sind, weil sie Leben spenden und Entwicklungen fördern und Kräfte entfesseln und Bewegungantriebe übermitteln und Spannungen bewirken und Lösungen vorbereiten, — sie gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die mit den einzelnen Lebensaltern wachsen und wieder mit ihnen welken und darum stets wieder ihre Zeit haben wie die Gezeiten des Himmels und der Erde, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die furchtbar auszuhalten sind wie eine verlorene Schlacht und dennoch eines Helden persönlichsten Sieg über die Welt und über sich selber darstellen, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die zwar nicht in Hörsälen nachgeschrieben, mit dem Steiß ersessen, mit dem Experiment erhärtet werden, dafür aber etwa mit dem eigenen Leben beglichen und mit dem eigenen Blut bezahlt sind, gibt es von jetzt an nicht mehr: desgleichen nicht mehr Wahrheiten, die zwar nicht in staatlichen Prüfungen [S. 333] öffentlich erprüft, dafür aber in vielerlei heimlichen Proben erprobt sind, nämlich in der Feuerprobe, in der Wasserprobe, in der Wollustprobe, in der Todesprobe, wie ein Adept altägyptischer Mysterien... Fortab verhält sich eine Sache so oder anders, und sobald dies ausgemacht ist, ist dieselbe Sache eigentlich im ersten wie im zweiten Fall erledigt, — denn ausgemachte Wahrheiten pflegen uns gemeinhin ebenso wenig zu bekümmern wie ausgemachte Unwahrheiten. Die Kriterien aber sind in jedermanns Besitz, wofern ja die Vernunft und ihre Verfahrungweisen wenigstens grundsätzlich in jedermanns Besitz sind. Kritik braucht daher nirgends haltzumachen, soll und darf sogar nirgends haltmachen. Jeder stempelt alles ab, fertigt alles ab, nimmt zu allem Stellung, wahrt zu allem Abstand, behält sich die letzte Entscheidung gegenüber allem vor, unterwirft seinem Recht- und Richterspruche alles. Denn Wissen, das heißt Gerichtstag halten, wie einmal ein Dichter über das Dichten sagte; aber Gerichtstag halten diesmal nicht über sich selber, wahrhaftig nicht! sondern über diese ganze sicht- und unsichtbare Welt. Bis zuletzt keiner mehr woaus woein weiß. Bis zuletzt keiner mehr eine Stätte weiß, wo er sein Haupt zur Ruhe betten kann. Bis zuletzt keiner mehr Ursach’, Grund und Zweck weiß, warum er weiß. Bis zuletzt keiner mehr in Wahrheit weiß, ob er weiß oder ob er nicht weiß...

Europa aber oder die Christenheit, ihr Christen es litt und leidet unbeschreiblich unter dieser verhängnisvollsten Konsequenz des europäischen Protestantismus, [S. 334] die da Kritik heißt: Kritik ohne Einschränkung oder Zügelung, Kritik ohne Pause oder Ruhepunkt, Kritik ohne Grenze oder Maß, Kritik ohne Anstand oder Zucht. Mit dieser Kritik ist der Protestantismus des Westens außer Rand und Band geraten, und außer Rand und Band geraten sind mit ihm die Protestanten und Nichtprotestanten alle, die sich ihm freiwillig oder gezwungen gefügt haben, weil sie nicht das Odium der Unwissenschaftlichkeit auf sich nehmen wollten. Indes dieser Kritizismus am Leib und mehr noch an der Seele und am Geist der westlichen Menschheit frißt und wahrscheinlich alle drei noch einmal auffrißt, zeigt sich der Protestantismus Indiens von dieser Krankheit schlechthin unergriffen. In einer unverhältnismäßig entschiedeneren Art Protestant als irgend wer unter den repräsentativen Protestanten des Abendlandes, — den einzigen Nietzsche ehrenvoll ausgenommen! — verbietet eben dieser Protestant κατ’ ἐξοχήν Gotamo seinem Orden alles, was der Westen als die weltgeschichtlich bedeutsamste Errungenschaft des protestantischen Zeitalters immer noch mit vollen Backen auszuposaunen liebt: das uneingeschränkte Recht der Persönlichkeit auf Kritik, die uneingeschränkte Pflicht der Persönlichkeit zur Kritik, die uneingeschränkte Freiheit der Persönlichkeit zur Kritik. Wir Europäer, die wir seit Platons Tagen gelernt haben, das Wissen um der Wahrheit willen zu betreiben und bestenfalls in den Hoch- und Glanzzeiten unserer drei oder vier klassischen Kulturen den zersetzenden Wirkungen des l’art pour l’art ausgewichen sind, — wir Europäer [S. 335] wurden durch eben dieses l’art pour l’art die frechen libertins des Wissens und der Wahrheit, mit nur geringer Hoffnung, uns diese libertinage noch einmal selber zu verbieten, selber zu verbitten: ganz einfach aus der Erkenntnis ihrer Gefährlichkeit heraus. Der indische Mensch hingegen, von allem Anfang an das Wissen als eine Leistung von ganz anderem Sinn bewertend, bedient sich auch nirgends der Kritik, um von ihr aus das Wissen zu rechtfertigen, zu erhärten, zu bewähren. Vielmehr liegt es durchaus in der Machtvollkommenheit des Wissenden, das Wissen über jede Möglichkeit der Anzweiflung hinaus zu rechtfertigen, zu erhärten, zu bewähren. Dadurch nämlich, daß er mit Hülfe des Wissens jenen menschlichen Zustand verwirklicht, welchen das denkwürdige Gespräch der Chândogya-Upanischad zwischen Nârada und Sanatkumâra als die Überwindung des Kummers bezeichnet: „Ich aber, o Ehrwürdiger, bin bekümmert...“ — „Ich aber, o Ehrwürdiger, bin nicht mehr bekümmert!“... Wo der Wissende denen, die um ihm sind oder die sich ihm nähern, zu erkennen gibt, daß er diesen Zustand wirklich in sich verkörpert, da hat der Wissende nicht allein sich selber, sondern außerdem auch sein Wissen über jeden Einwand gewiß gemacht. An seinem persönlichen Zustand und Urstand liest man die Stufe erlangter Wissenschaft unmittelbar ab, wie man an den Zahlen eines Wärmemessers die Grade der Wärme oder Kälte unmittelbar abliest. So wird die Fragestellung nach Wahr oder Falsch nicht geradezu abgewiesen, denn dazu ist sie für die Lebens [S. 336] führung in jedem Sinn viel zu unentbehrlich. Wären wir nämlich außer stand, Wahr und Falsch zu unterscheiden, dann könnten wir wohl auch Wahrheit von Lüge nicht unterscheiden, und dieser Mangel an notwendigstem Wissen würde sofort in den Mangel an notwendigstem Gewissen umschlagen. Gehört doch gerade nach der Lehre des Buddho die Lüge zu den fünf gröbsten Hemmungen, die unbedingt beseitigt werden müssen, ehe die feinere Arbeit der Selbstläuterung und Selbstheiligung von statten gehen kann. Schon also um nicht lügen zu müssen, muß man Wahrheit von Wahn zu unterscheiden vermögen, und in diesem Betracht läßt freilich auch die buddhistische Heilslehre Kritik nicht nur zu, sondern fordert sie mit aller Strenge. Auf der Erkenntnis der Wahrheit im Gegensatz zur Lüge beruht auch hier jede höhere Menschlichkeit, und nur, was Wahrheit im Gegensatz zu Irrtum, Irrtum im Gegensatz zu Wahrheit betrifft, trennt sich die Auffassung Indiens, insonderheit die Auffassung Gotamos mit Bestimmtheit von der unseren. Indes Wert oder Unwert des Wissens bei uns ausschließlich davon abhängig gemacht wird, ob es Wahrheit, ob es Irrtum mitteilt, entscheiden dort Wahrheit und Irrtum von sich aus nicht über Wert oder Unwert des Wissens. Wesentlich für das Wissen ist ausschließlich das eine, daß es den Wissenden emporstufe und empormensche gemäß der Lehre, gemäß der Regel. Ein Wissen jedoch, nur dazu erworben, um Wahres von Verkehrtem, Falschem, Irrigem zu sondern, ist in den Augen Gotamos wo [S. 337] fern nicht wertlos, so doch vollkommen belanglos: Adiaphoron! In dem berühmten Gleichnis vom vergifteten Pfeil in der Dreiundsechzigsten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo fertigt der Buddho alle diesbezügliche Neubegier mit einem unübertrefflich feinen und geistreichen Spott ab, und wer hier zwischen den Zeilen und nicht allein auf ihnen zu lesen verstünde, der würde vielleicht gewahr, daß für Gotamo unter den Inbegriff ‚wissenschaftlicher‘ Neubegier so ziemlich alle die ‚ewigen‘ Fragen unserer Europäerwelt mit ihren Disjunktionen, Alternativen, Paralogismen, Subreptionen, Antinomien fallen, — tausendunddrei und ihr seid auch dabei!...

Nur Eine Wissenschaft, nur Eine Wahrheit tat hier also wirklich not. Sie aber, und dies ist die hohe Überraschung für den Protestanten des Westens, ist keiner Kritik unterworfen. Das Wissen, ein Verfahren der Verwirklichung und Vollendung des ‚heiligen Zieles‘, erträgt in dieser Eigenschaft schlechterdings keinen Einspruch, keinen Abstrich, keine Verbesserung, keine Erweiterung: weder im großen und ganzen noch im einzelnen und kleinen. Hier steht jeder Buchstab’, jedes Wort und jeder Satz, und weh’ dem eitlen Besserwisser, der sich nach Abendländersitte hier gedreistet, kritische Glossen an den Rand zu schreiben. Der Buddho, unstreitig die edelste Verkörperung menschlicher Duldsamkeit, zeigt sich durchaus unduldsam in Ansehung der Lehre und versteht bezüglich ihrer wahrlich keinen Spaß. Wir Europäer, unduldsam bis ins Mark und aus Unduld [S. 338] samkeit unsäglich böse, tückisch und rachsüchtig, wir haben die ‚Freiheit der Kritik‘ erfunden, um uns vor uns selbst zu schützen, — und haben damit kraft ungeschriebenen Gesetzes auch der dreckigsten Nase erlaubt, ja geradewegs geboten, die reinlichsten, heiligsten, göttlichsten Dinge zu beschnüffeln. Aber Gotamo, dessen Muttersprache nicht einmal ein Wort für Ketzerei enthält, geschweige denn einen Begriff, — wie fertigt er seine Mönche ab, wenn sie sich herausnehmen wollen, eine eigene Meinung hinsichtlich der Lehre zu haben! Mit welch ätzender Schärfe, mit welch schneidender Härte weist er den leisesten Versuch zurück, an der Lehre zu kritteln und zu deuteln: mit einer Härte und Schärfe, welche kein römischer Papst hat jemals übertreffen können. Das Wort sie sollen lassen stahn, dieses Prooimion überschreibt groß und wuchtig die Pforte, durch welche der Mönch Einlaß findet in diesen heiligsten Orden der Welt. Undenkbar, ganz unausdenkbar, daß jeder grünere oder reifere, jeder dümmere oder klügere Mensch ein Recht dazu besäße, die Lehre zu erörtern oder vollends über ihren Wert oder Unwert (der diesseit-jenseit von Wahr und Falsch ist!) die Entscheidung zu treffen. Undenkbar, ganz unausdenkbar, daß ein beliebiger Jemand den lebendig gewachsenen Wunderbau dieser ‚Wissenschaft‘ etwa hätte auf einem neuen Grundriß errichten, daß er hier eine Wand hätte einziehen, dort eine Mauer hätte ausbrechen lassen dürfen. Wohl hat der Buddho nicht verhindern können, daß nach seiner endgültigen Erlöschung manche ‚unechte‘ Rede unter [S. 339] dem Stempel ‚Das hab ich gehört‘ in Umlauf kam, — manche Rede, die er nie gesprochen oder wenigstens nie in diesen Worten gesprochen hatte. Wohl hat er ferner nicht verhindern können, daß sein Bild im Gedächtnis der Nachlebenden solang aufgehöht und übermalt ward, bis es zuletzt zu jener Völligkeit des erhabenen Reliefs gedieh, welche unerläßlich zu sein scheint, damit unberatene Völker das geistige Walten eines ‚Herrn‘ verspüren. Und am wenigsten hat er verhindern können, daß die Legende, will heißen das zu ‚Sagende‘ und zu ‚Lesende‘, ihn schließlich mit der Aureole von Majestät umspann, die stets das Wahrzeichen einer vollzogenen Göttlichsprechung des Menschen durch die Menschheit gewesen ist. Jedoch was in der Folgezeit auch geschehen sein mochte, damit aus dem urwüchsigen Buddhismus des Hînayânam (das ist ‚Kleines Fahrzeug‘) der Buddhismus des Mahâyânam (das ist ‚Großes Fahrzeug‘) werden konnte und mithin aus der Religion des Buddho die eine Kirche oder die mehreren Kirchen der Âdhibuddhas, Dhyânibuddhas, Dhyânibodhisattvas, — in keinem Fall verliert sich der Protestantismus Gotamos in den Kritizismus, wie das dem europäischen Protestantismus zugestoßen ist. In keinem Fall beschwört folglich der indische Protestantismus über seine Heimat die Krisis herauf eines Wissens um der Wahrheit an und für sich selbst willen, wie das der Kritizismus des Westens getan hat. Wieviel starke oder schwache Fäden daher auch gezwirnt sein mögen, die zwischen indischem und europäischem Protestantismus hin- und [S. 340] widerschießen, und wie vertraulich nah’ der Buddho bald einem Eckhart, bald einem Kant, bald einem Nietzsche rücke, — was seine Lehre anlangt, gehört sie mit ihrem Anspruch auf unbedingte Geltung eher den katholisch-dogmatischen Lebensordnungen an als den protestantisch-kritischen. Oder sag’ ich vorsichtiger und richtiger: sie würde eher jenen als diesen zugehörig sein, wenn sie nicht zu guter Letzt weder mit dem Dogma noch mit der Kritik in unserem europäischen Wortverstand im geringsten etwas zu schaffen hätte. Denn faß’ ich jetzt einmal noch alles hier Gesagte zusammen und frage einmal noch: was hat es für eine Bewandtnis mit dieser Lehre, diesem Wissen sui generis diesseit wie jenseit von Dogmatik und Kritik? — so ist nur eine Antwort darauf möglich: diese Lehre, dieses Wissen ist kein Urteilen mehr und kein Schließen, kein Besondern mehr und kein Verallgemeinern, kein Rechnen mehr und kein Zählen, kein Verbinden mehr und kein Trennen, kein Ergründen mehr und kein Erklären, kein Messen mehr und kein Wägen, kein Unterscheiden mehr und kein Ineinandersichten, kein Voraussetzen mehr und kein Beweisen, kein Zergliedern mehr und kein Verknüpfen, kein Begriffbilden mehr und kein Sinndeuten. Sondern ist recht und schlecht ein Tun und Vollbringen, durch welches der Mönch nach erworbener Meisterschaft sein Verhältnis zur Welt und sein Verhalten zu ihr regelt. Verwinder des Nichtwissens, Verwinder des Wähnens, Verwinder des Leidens, strahlt der Wissende das Licht seines Wissens in alle Richtungen und Winkel des erfüllten [S. 341] Raums. „Liebevollen Gemüts weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem. Erbarmenden Gemütes — freudevollen Gemütes — unbewegten Gemütes weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit erbarmendem Gemüte, mit freudevollem Gemüte, mit unbewegtem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem“...

Der Mönch der unbeschränkten Gemüterlösung, der Strahlende Mönch, ihr Christen, das also ist der gotamidisch Wissende. Der Strahlende Mönch, das ist der Wissende, der da sein Wissen, indem er’s übt und vollbringt, wider jeden Einwand feit und sichert. Der Strahlende Mönch, das ist der Wissende, der sein Wissen gültig in sich selber und gültig durch sich selber rechtfertigt, erhärtet und bewährt. Europa aber, ihr Christen, das berstende Haupt der Erde, — es möchte sein, ihr Christen, daß es in dunkelster Stunde seines Mönches harre, der da wissend geworden in die Verfinsterung hinein sein Licht strahlt: erbarmenden Gemütes, freudevollen Gemütes, unbewegten Gemütes...


[S. 343]

DIE VIERTE UNTERWEISUNG:
BUDDHO DER ÖST-WESTLICHE

[S. 345]

DAS HEILIGE JA LASST UNS BEKENNEN DAS HEILIGE JA ÜBER DIE AUF- UND NIEDERGÄNGE — DAS HEILIGE JA ÜBER GEBURT UND TOD, GESTIRN UND SCHICKSAL — DAS HEILIGE JA ERSCHAFFE DIESE WESEN UND ERHALTE SIE, DAMIT SIE IN DER FÜLLE STEHN WIE EINE HUNDERTBLÄTTERROSE IN IHRES MITTSOMMERS MITTAGGLÜCK — DAS HEILIGE JA ZERSCHMELZE DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN FEUERS TIEGEL UND HÄRTE SIE DARIN, BIS SIE GEDIEHEN SIND, BIS SIE GEDIEGEN SIND — UND ALSO VERLÖSCHE DAS HEILIGE JA DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN WASSERS BORN UND BRING IN IHM DIE WESEN WIEDER EWIGLICH — WILLKOMMEN DEM JA-SELBST ALLE WESEN UND WILLKOMMEN IHM GLEICHERMASSEN DIE GEGEN- UND WIDERWESEN ALLE — DIES IST DAS HEILIGE JAWORT UND FROHWORT UND DES FROHWORTES HEILIGE GRUSSSPENDE, ANDACHTSPENDE, OPFERSPENDE — DIES IST GELÄUTERTEN HERZENS ERSTGEBURT, DARGEBRACHT IM FESTWEIHTEMPEL DER WELT — WER DU AUCH BIST, O MENSCH, IN VIERTEN VIERTELS EDLER MONDSCHWELLUNG DEINER MENSCHLICHKEIT ODER IN IHRES DRITTEN, ZWEITEN, ERSTEN VIERTELS BEDAUERLICHER SCHWINDUNG:

— ICH WILL DIR WOHL —
DIES IST DIE LETZTE UNTERWEISUNG

[S. 346]

Es ist uns etwas zugestoßen, ihr Christen, während dieser Mitternachtstunde in der Völkergruft Europas. Es ist uns etwas zugestoßen, wofür es noch keinen Namen gibt; es ist uns ein Zeichen geworden, welches noch niemand deuten kann. Mit nichten aber ist es dieser Krieg oder was ihm noch folgen wird auf seiner qualmenden Bahn. Auch der drohende Niedergang ist es nicht einer dreitausendjährigen Gesittung, die ihren Weg einst vom Südosten des Festlands aus genommen hatte, dann den Westen und die Mitte wie mit artenreichem Pflanzenwuchs verschwenderisch berankte, und jetzt im Nordosten des Festlands jählings endigt. Gehört doch derlei jeweils zu dem Leben der Geschichte: daß Siebenjährige, Dreißigjährige Kriege wüten, daß volkreiche Staaten gegründet und zerstört werden, daß rühmliche Gesittungen reifen und entarten. Sogar Umwälzungen von heftigster Gewaltsamkeit, die wir, käme es nur auf uns an, höchstens als grausame Ausnahmen gelten ließen, gehören offenbar zu den gebräuchlicheren Mitteln der Geschichte. Wären wir zum Beispiel genauere Kenner unseres Mittelalters, als wir in der Regel sind, dann wäre uns bewußt, daß in unserer eigenen Vergangenheit ein gesellschaftlicher Umsturz nach dem andern pausenlos eintrat wie das Feuern aus den Geschützen einer Batterie. Erlauchte Rassen und Stämme, eben noch Träger weithin wirkender geschichtlicher Bewegungen, sind schon einen Augenblick später von den Wirbeln des Todes fast spurlos verschlungen. Und wo die Rassen oder [S. 347] Stämme als solche dauern, da schichten sich ihre Stände in desto stärkeren Erschütterungen um und um. Was das für ein Trauerspiel gewesen sein mag, wenn etwa die freien Bauernschaften der taciteischen Germanen unter den fränkischen, sächsischen, salischen Königen unwiderstehlich zu Hintersassen, zu Hörigen erniedrigt wurden, das ahnen wir vielleicht in diesen Tagen, wo ein blühender Mittelstand einem ähnlichen Verhängnis verfallen zu sein scheint. Was damals den freien Bauern der Dorf- und Markgenossenschaft geschah, ist später dem Laienadel nicht erspart geblieben, der seinerseit vom Aufstieg der Städte und von der Ausbreitung der Geldwirtschaft an in fortschreitende Abhängigkeit vom bürgerlichen Geldgeber gerät. Bis dann im Dreißigjährigen Krieg auch diesem Bürger wiederum die Stunde geschlagen hatte und er zu seinem Teil dem dominus terrae mehr oder minder schimpflich untertänig ward... Umwälzungen dieser Art, wie bitter sie von den Betroffenen empfunden werden und wie zahlloses Menschenglück ihnen zum Opfer fällt, gehören also dennoch dem unbegreiflichen Leben und Weben der Geschichte an. Wir Gegenwärtigen verwundern uns mutmaßlich über sie nur darum so ungemein, weil wir in vierzig Jahren gleißender Befriedung und Verbürgerung die schicksalhafte Härte und Unabänderlichkeit geschichtlichen Geschehens höchstens noch in den Annalen der Vergangenheit fanden. Welch ein unterschwürig bedrohtes, stets der Bedrängnis seitens des Mächtigeren ausgesetztes Dasein der geschichtliche Mensch [S. 348] bis dahin zu fristen verdammt war, hatten wir gründlich vergessen, — vielleicht mit alleiniger Ausnahme derer, die sich mit Recht oder Unrecht die Enterbten zu nennen pflegten. Erschüttert und aufgewühlt, ja in tiefster Seele recht eigentlich außer uns gesetzt, erfühlen wir’s erst seit Neunzehnhundertundvierzehn wieder, was es heißt, um Luft und Licht, Freiheit und Leben zu ringen auf jenem fürchterlichen Kampfschauplatz, der Geschichte heißt...

Trotzdem kann es nicht diese mit Blut und Tränen erkaufte Erkenntnis sein, die uns aus jedem wohltätigen Gleichgewicht der Seele gebracht hat. Da es der geschichtlichen Menschheit nur in wunderseltensten Feierstunden besser erging als uns, meist jedoch wesentlich schlechter, müßte sie folgerichtig auch ihrerseit die Merkmale, und zwar die verstärkten Merkmale unserer dermaligen Gemütsverfassung aufweisen, — weist sie aber dessen unerachtet nicht auf! Im Gegenteil. Je unsicherer, gesetzloser, verbrecherischer die Zeiten waren, je heftiger der Einzelne unter sittlicher und bürgerlicher Willkür zu leiden hatte, je fragwürdiger sich sein ganzes gesellschaftliches Dasein ausnimmt, desto hochwertiger bedünken uns oft die Leistungen unserer geschichtlichen Vorfahren. In einer Chronik des dreizehnten oder sechzehnten Jahrhunderts blätternd, verstehen wir’s schlechterdings nicht, wie es die Menschen unter den geschilderten Verhältnissen hatten überhaupt nur aushalten können. Uns aber dann von diesen Chroniken her den Denkmalen jener Zeiten zuwendend, den Denkmalen in [S. 349] Erz und Stein, in Holz und Glas, auf Leinwand und auf Pergament, — wie sind wir nicht erstaunt und ergriffen von der Weitatmigkeit des Schwungs, der die Besten ihres Zeitalters zu solchen Werken, solchen Taten hinriß! Und wie wir denn im Leben wohl hie und da einen Mann kennenlernen, der von wilden Leidenschaften hin- und hergetrieben wird und dennoch auf dem Grunde seines Wesens einen tiefen, schönen Frieden göttlich spiegelt, so scheinen just die Zeitalter klassischer Erfüllung nach außen hin zwar stürmischer als alle anderen bewegt, jedoch nach innen in jenem Zustand seelischer Ausgeruhtheit durchaus zu verharren, wie er nach traumlos erquickendem Schlaf das menschliche Gehirn allein zu seinen schöpferischen Eingebungen stärkt und befähigt. Diesen beneidenswerten Anblick indes bieten wir selbst heute in keinerlei Betracht dar, wenigstens nicht für uns selbst als unsere eigenen Beobachter und Beurteiler. Im Unterschied zu so begünstigten Zeitaltern ist das unsrige vielleicht, nach außen gewendet, nicht einmal stürmisch bewegt zu nennen, — wie ungereimt dies auch klingen mag! — geschweige, daß es, nach innen gewendet, den Zustand gestärkten Ausgeruhtseins, Ausgeruhthabens nach irgend einer Richtung hin darbieten würde. Die entnervende Unruhe, die uns ergriff, ist nicht die Unruhe des aufbrandenden Lebens, sondern des fiebernden Blutes. Unserm Betätigungdrang fehlt bei aller Rastlosigkeit der weit ausholende Pendelschlag organischer Rhythmik. Unserm Übereifer zu Lebens [S. 350] erneuerungen um jeden Preis mangelt die sichere Einstellung in die letzten Welt- und Lebensziele. Unserer Geschwätzigkeit über Gott und Geist gebricht das unbeirrbare Zutrauen zu uns selbst und der von uns gewählten Richtung. Darum überzeugt keiner den andern, traut keiner dem andern, glaubt keiner dem andern. Ein unbestimmbares Etwas, eine Tugend, eine Gnade ist uns offenbar abhanden gekommen, welche unsere Vorfahren in den schlimmsten Zeiten der Vergangenheit nicht zu missen hatten. Irgend ein Gut, dessen der geschichtliche Mensch unerläßlich zum Leben bedarf, wurde uns entwendet; irgend welche Gewichte, die den Uhrgang unserer Zeitlichkeit zu regeln haben, sind ausgehängt worden. Aber es ist wahrhaftig schwer, ein Ding zu suchen und wieder zu finden, von welchem man nicht einmal eine deutliche Vorstellung hat und das man trotzdem verlor...

Vor einem halben Jahrhundert, etwas früher oder etwas später, mag es sich zugetragen haben, daß unsere europäische Gesellschaft allmählich in diese seltsame Schwankunglage hineinglitt, von der hier die Rede ist. Mit einigen ganz unverkennbaren Anzeichen von beängstigender Übereinstimmung setzt ein Zeitalter ein, das mit einigem Fug das Zeitalter der Entblößungen genannt werden dürfte: denn eine Entblößung der Gattung Mensch vor sich selbst beginnt, wie sie mit ähnlicher Unerbittlichkeit, mit ähnlicher Schamlosigkeit von keinem der geschichtlich bekannten Zeitalter geübt worden ist. Das war wie wenn ein vor [S. 351] nehm und kostbar gekleidetes Weib sich eines Abends vor dem Stehspiegel auszöge und nun, da sie ein Kleidungstück nach dem andern ablegt, erst mit Befremden, dann mit Mißbehagen, dann mit Kummer, dann mit Abscheu, dann mit Haß auf sich selber die vormals nie beachteten Mängel ihres unvollkommenen Leibes wahrnähme: dies also bin ich, dies ist mein dünnes, ausgekämmtes Haar, dies mein verbrannter Hals und Nacken, dies meine abgeblühte Büste, dies meine wulstig gepolsterten Hüften, dies meine kurzen und gekrümmten Beine, dies mein flach und platt geformter Fuß... Ähnlich einem solchen Weibe, das sich vor ihrem Spiegel peinlich entkleidet und ihre arme Nacktheit nach all ihren Häßlichkeiten streng durchmustert, zornig und traurig zumal, daß sie nur ist wie sie ist, und dennoch außerstand, auf ihre grausame Selbstprüfung zu verzichten, — ähnlich beginnt der europäische Mensch zu einer ganz bestimmten Zeit im abgelaufenen Jahrhundert sich vor sich selber ohne Schonung zu entblößen und alles, was er bisher tat und schuf, auf seinen Unwert hin zu erforschen. Da ist vor allem sein höchster Stolz und Abgott, der sogenannte Staat: bei Licht besehen nur die Anstalt einer kleinen Anzahl Mächtiger zur dauernden Knechtung und Entrechtung machtloser Massen. Da ist des ferneren die sogenannte Gesellschaft: bei Licht besehen nur die angemaßte Herrschaft einer Kaste, einer Klasse über andere Kasten und Klassen, die herkömmlich als nicht geeignet für die Ausübung der Herrschaft gelten. Da ist die [S. 352] sogenannte Wirtschaft: bei Licht besehen nur die regelrecht betriebene Ausbeutung menschlicher Arbeitkräfte als einer käuflichen Ware durch den einzelnen oder vergenossenschafteten Unternehmer. Da ist die sogenannte bürgerliche Lebensordnung: bei Licht besehen nur die als Ehrbarkeit vermummte Heuchelei und die als Sittenstrenge sich aufspielende Zuchtlosigkeit. Da ist die sogenannte Ehe: bei Licht besehen nur der Lebens- und Todeskampf der ewig feindlichen Geschlechter. Da ist die sogenannte Liebe: bei Licht besehen nur die wilde Gier der gegenseitigen Besitzergreifung. Da ist die sogenannte Sittlichkeit: bei Licht besehen nur die Bemäntelung selbstsüchtiger Leidenschaften durch angeblich selbstlose Beweggründe und Triebfedern. Da ist die sogenannte Religion: bei Licht besehen nur die Übertragung niemals erfüllter und unerfüllbarer Menschenwünsche auf die Gestalten erdichteter Götter. Da sind die sogenannten Ideale: bei Licht besehen nur die bewußten Widerspiegelungen jeweils wirtschaftlicher Vorgänge und Verhältnisse, wenn nicht am Ende gar die aus Angst vor der Wirklichkeit erzeugten Welt- und Selbstbeschönigungen. Da ist die sogenannte Seele: bei Licht besehen nur ein Bündel von unersättlichen Trieben und Begehrungen, von denen niemand wissen kann, welche in der nächsten Sekunde die Oberhand gewinnen werden. Da ist der sogenannte menschliche Verstand, die menschliche Vernunft sogar: bei Licht besehen nur eine Waffe mehr im Kampf ums Dasein, um den Nächsten zu [S. 353] überlisten und womöglich über seine Leiche eine Stufe höher zu turnen hinauf zum Besitz, zur Macht und zum Erfolg. Da ist das sogenannte Recht: bei Licht besehen nur die Verewigung menschlicher Rachsucht und Vergeltungwut, die das Verbrechen ahndet, indem sie’s wiederholt, und den Verbrecher straft, indem sie ihn foltert oder tötet... Dieser Art fühlte sich der homo europaeus jener Jahrzehnte gedrungen, die Summe seiner bisherigen Anstrengungen mit einer gewissen Lust an Selbstzerstörung dämonisch zwangsläufig zu ziehen; — solchermaßen fand er alles Geleistete verdammungwürdig, verächtlich, schlecht. Nicht wollte und konnte er eher ruhen, bis er sich die letzten Fetzen jener prachtvollen, aber lügenhaften Verhüllungen von seinem Leib gerissen hatte, — Verhüllungen, die ihm bisher prahlerisch verheimlicht hatten, daß er das böse Tier der Eis- und Steinzeit je und je geblieben war: „säuischer als Schweine, grimmiger als Löwen, geiler als Böcke, neidiger als Hunde, unbändiger als Pferde, gröber als Esel, versoffener als Rinder, listiger als Füchse, gefräßiger als Wölfe, närrischer als Affen und giftiger als Schlangen und Krotten,“ wie unser herzhafter Simplizissimus derb und heftig herausgesagt hat... Der Mensch, das Tier der Urzeit: so zweigte ihn ja jetzt die Wissenschaft selber zoologisch, morphologisch ein in den Stammbaum der lebendigen Wesen, die das Tierreich bilden. Aber der Mensch ist nicht nur das Tier der Urzeit, sondern das böse Tier der Jetztzeit, weil er sich trotz seiner Abkunft aus dem Tier [S. 354] reich ein menschliches Wissen um Böse und um Gut erworben hatte. In dieser Jetztzeit ist der Augenblick für ihn gekommen, in dieser Jetztzeit, und keineswegs schon am Anfang, wie es das Alte Testament will, wenn es vom ersten Menschenpaar berichtet: „da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und wurden gewahr, daß sie nacket waren“... In dieser Stunde der gnadenlosen Selbstentblößung und Selbstbeschämung sieht sich der europäische Mensch nacket, — hier übermannt ihn die Erkenntnis, daß alles, was er aufgewendet hatte in den Jahrtausenden, die seine Erinnerung umspannt und mehr noch in den anderen, die seine Erinnerung nicht umspannt, dem eigenen Urteil nirgends standhalten konnte. Nun er mit unsäglichem Aufgebot dies wilde böse Tier in sich gebändigt hatte, mußt’ er sich überzeugen, daß er von seiner Wildheit zwar manches abgegeben, die Bosheit jedoch bewahrt und gemehrt hatte, und daß verrucht war, was ihm von Herz und Händen ging...

Jahraus jahrein hatte so der europäische Mensch durch die Zunge solch unentwegter Selbstankläger zu sich selbst gesprochen. Jahraus jahrein hatte er sich mit eigener Zunge selbst gestochen und zerstochen, bis er zuletzt noch einmal durch die Stimme dreier Propheten sprach, die am Werk der Selbstentblößung ihrerseit am eifrigsten beteiligt waren. Und was sie lautbar machten, hörte sich freilich schon wie der zerberstende Hornstoß Heimdalls, des Zeichengebers an, als er von der Zinne Walhalls Schiff Naglfar draußen am Rand des brüllenden Nordmeers [S. 355] kreuzen sah... Von diesen denkwürdigen Dreien durchlitt der Erste zum voraus in eigener Person alles Leid, welches in Bälde eine Menschheit würde überkommen müssen, wenn sie wirklich die letzte Scham von sich geworfen hatte und mit der eigenen Nacktheit Unzucht trieb. Wie er indes in Wahrheit keines Rats sich wußte, und sogar nicht einmal ein Wort, ein trostspendendes oder aufrichtendes, finden konnte, verbeugte er sich nur tief bis auf die Erde, etwa wie sich der Staretz Sossima vor Mitjä Karamassoff verbeugt hat, — und ging vorüber. Der Zweite dieser Drei aber tat sich in eigener Person alle Qualen an, mit welchen binnen kurzem der arme Teufel Mensch seinen Mitmenschen foltern würde: er weiß es selber nicht, warum und zu wessen größerer Ehre. Zwar fand auch dieser Zweite nicht eigentlich einen Rat, aber immerhin doch ein Wort der Klage. Und legte sein Wort, seltsam genug! der Tochter des indischen Himmelskönigs in den Mund, welche wie weiland der blonde Held Krischna auf die Erde herabgefahren war, damit ihr des Menschlichen ferner nichts fremd bleiben möchte. Mit innigem Erbarmen sagt Indras Tochter immer nur das eine, was allerdings wenig helfen oder bessern konnte: Es ist schade um die Menschen, es ist schade... und also wehklagend ging auch der zweite Prophet vorüber. Der Dritte jedoch, höheren, helleren Geistes als die beiden andern und von dem Merkmal auf des Merkmals Ursache schließend, erkannte die elende Unzulänglichkeit der bisherigen Gattung Mensch, die soviel [S. 356] schwerer zieht und wiegt als sogar ihre Bosheit. Dieser erschütternden Unzulänglichkeit gewahr werdend, leuchtet ihm eine Botschaft auf, die Rat zu schaffen scheint, wenn nicht schon für den Augenblick, so doch für die Zukunft: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß. Diese Botschaft ging nicht vorüber, auch wenn ihr Künder vorüberging, und haftete zitternd wie der Schuß eines befiederten Pfeiles in den Herzen...

Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß; die menschliche Unzulänglichkeit ist Etwas, das überwunden werden muß! Es wird also eine Zeit sein, wo sich der Mensch seiner Nacktheit vor dem Spiegel nicht mehr länger zu schämen braucht, weil sie ihm keine Mängel und Gebresten, sondern Schönheiten und Vollkommenheiten zeigt. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß und folglich auch hoffentlich überwunden werden kann? — dies Ziel lockt stärker als irgend eines. Aber wie kann er denn überwunden werden? Den Menschen zu überwinden, roh, tierhaft und unmenschlich, wie er aus den Händen der Schöpfung hervorging: darauf hatten doch sicherlich schon alle die Anstalten gezielt, welche der ehrlichen Selbstprüfung von vorhin nicht standgehalten hatten. Den Menschen zu überwinden waren die sämtlichen Erfindungen, Einrichtungen, Gründungen, Hervorbildungen gemacht worden, die eine wesentlich menschheitliche Werkwelt zu unserer Genugtuung umfassen. Mit welcher Sorgfalt hatte der Mensch nicht diese Werk- und Werkzeugwelt, [S. 357] die er Kultur nennt, zwischen seinen frühesten Ursprung und seine späteste Mündung geschichtet. Mit welcher Künstlichkeit hatte er nicht seine Sinne vervielfältigt und seinen Sinn geschärft, um mit vervielfältigten Sinnen und geschärftem Sinn eine höhere und menschenwürdigere Umwelt selbsttätig um sich zu schaffen. Jede Erfindung und jedes Werkzeug bedeutete ja oder sollte wenigstens bedeuten eine Steigerung menschlichen Könnens, eine Verringerung menschlichen Arbeitaufwandes, eine Bewehrung menschlicher Schutzlosigkeit, eine Ausweitung menschlichen Machtbereichs. Jede Kraft und Eigenschaft der Natur wurde derart zu einer Kraft und Eigenschaft des Menschen erhoben, und so ging an ihm schier buchstäblich das hoffmannsche Märchen von Klein-Zaches, genannt Zinnober, in Erfüllung, wonach alles Nützliche, Angenehme, Tüchtige, das in Gegenwart dieser kleinen Mißgestalt von anderen geleistet ward, durch eine wunderliche Übertragung dieser Mißgestalt selber als dem eigentlichen Urheber dankbarst zuerkannt wurde... Das bevorzugte Mittel also, welches insonderheit dem europäischen Menschen zur Überwindung des Menschen, wie er sie verstand und allein verstehen konnte, verhelfen sollte, heißt infolgedessen mit einem einzigen Wort umschrieben: Werkwelt, Werkzeugwelt. Die Werk- und Werkzeugwelt sollte ihn über sich selbst hinaus steigern, über sich selbst hinaus erhöhen. Mußte er jetzt, aufs bitterste enttäuscht, mit sich selber die Erfahrung machen, daß diese Werk- und Werkzeugwelt als [S. 358] Mittel zu diesem Ziel versagte und er umsonst Pelion auf Ossa getürmt hat, um den Olymp zu zwingen, — was bleibt ihm übrig oder was kann er ins Auge fassen, dies Ziel auf andere Weise zu erreichen? Wie kaum eine geschichtliche Menschheit zuvor hatte der Europäer diese Werkwelt nach Umfang und Inhalt, Beschaffenheit und Zahl gemehrt und alle seine Geisteskräfte, Seelenkräfte dafür hingegeben. War es jetzt nicht mehr wie nur ein bloß zufälliger Fehlschlag, daß es just bei ihm schlimmer als in irgend einer Vorzeit menschelte: war es in Wahrheit ein zwangsläufig getaner Fehlgriff, — wo kann, wie soll der Europäer alsdann noch Hoffnung für sich selber schöpfen?

Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß, — so spricht zu allen Zeiten jede Religion, die ihren Blick auf die nächst höhere Verkörperung des Menschen heftet, die sie Gott nennt. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß, — so lautet die knappste, treffendste und erschöpfendste Formel aller Religionen, die ihren eigenen Willen zur Selbstvergöttlichung als das ewige Bedürfnis erkennen müssen, welches sie stets wieder von neuem zur Erscheinung bringt: als „ la tendence, qui les a produit “, wie Jean Marie Guyeau sinngemäß sagt. Zugleich aber ist dies die ewige Tragödie aller Religionen, daß sie das hauptsächliche Mittel zur Erzielung dieser angestrebten Überwindung, nämlich die Herausstellung jener wesentlich menschheitlichen Werk- und Werkzeugwelt, die wir Kultur nennen, als ungeeignet [S. 359] zu ihrem Endzweck schlechterdings verneint und sich auf diese Weise mit dieser Werk- und Werkzeugwelt selbst aufs entschiedenste entzweit und überwirft. Denn keine einzige der bekannten höchsten Religionen, am wenigstens aber die Religion als solche, gebietet ihren Anhängern und Bekennern: Erfinde du Werkzeuge und vervielfältige deine Sinne! Gründe du Staaten, schaff’ Rechts- und Wirtschaftordnungen, laß’ Gesittungen erstehen, ersinne Wissenschaften, befleißige dich der Verbürgerung, alles damit du in dir selbst den Menschen überwindest! Wenn solche oder ähnliche Gebote je ergangen sind, wie beispielweis in der ursprünglichen Verkündigung des iranischen Zarathuschtra, ist sich die Religion ihres stärksten Antriebes noch nicht inne geworden. Wo sie sich aber dieses Antriebs wirklich inne geworden ist, findet sie sich im günstigsten Fall mit der Gegebenheit dieser Werk- und Werkzeugwelt ab, aber fördert sie von sich aus keineswegs, geschweige denn, daß sie dieselbe fordert. Die Welt gewinnen und dadurch die Seele schädigen, — die Welt verlieren und dadurch die Seele erfüllen: das ist in schroffer Unzweideutigkeit die Wahl, vor welche jede der höheren Religionen ihre Gläubigen stellt und auf diese Weise in tödlichen Widersatz bringt zu allen sonstigen Bemühungen um Fortschritt und Aufstieg, Entwicklung und Gesittung. Ist es also dem Menschen im heiligsten Sinne Ernst mit des Menschen Überwindung, so weiß die Religion unstreitig dafür Rat, — nur daß eben dieser Rat allen eingeborenen [S. 360] Neigungen zur Selbststeigerung durch Kultur stracks zuwiderläuft. Und in der Tat, ihr, die ihr euch Christen nennt! Sogar in dieser Kummerstunde, da niemand mehr woaus woein weiß, sogar in dieser Stunde vollkommener Ratlosigkeit ist keiner unter euch, der nicht in der heimlichsten Falte seines Herzens mindestens ein einziges unfehlbares Mittel wüßte, diese eisige Hölle um uns herum in ein blühendes Paradies umzuzaubern. In der Kenntnis dieses Mittels, ich sage nicht in seiner Anwendung, sind wir Europäer unfehlbare Christen und werden Christen bis zu unserem bitteren Ende bleiben, ob wir nun wollen oder widerstreben. Wir haben das Gebot empfangen, welches die Verirrungen des Lebens ins gleiche zu setzen vermöchte: Ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν, — wolle du deinem Nächsten wohl wie dir selbst... Dies Wort, melodisch aus dem Königreich der Himmel tönend, von dem geschrieben steht, es sei mitten in uns, — dies Wort konnten wir in der Wüste unserer Gehässigkeit verschmachten und in der Sintflut unserer Begierden ertrinken lassen: aber wir konnten die Tatsache nicht aus der Welt entfernen, daß es an uns ergangen ist. Dies Wort ist an uns ergangen und auch der Verstockteste ist außerstand, sich weiszumachen, er habe nie etwas davon vernommen. Ist es somit wirklich die Religion, die da befiehlt, den Menschen in sich zu überwinden, dann ist zumindest uns westlichen Bekennern des Christentums von diesem das rechte Mittel zu diesem rechten Ziel bezeichnet worden. Denn wer seinem [S. 361] Nächsten wohl will wie sich selber, der überwindet in seinem Wohlwollen sich selber und seinen Nächsten dazu; der überwindet in sich und seinem Nächsten alles, was nicht das Wohlwollen selber ist; und derart überwindet er den Menschen in sich, der noch nicht Wohlwollen selber ist, und mit dem Menschen die ganze Welt, die noch nicht Wohlwollen selber ist. Drum lüge oder leugne keiner, daß er nicht wissen könne, wie der Mensch den Menschen zu etwas überwinden könne, das mehr oder höher und stärker ist wie der Mensch. Das Mittel ist erfunden, die Botschaft ist ergangen, das Wort steht und steht ewig...

Das Mittel ist erfunden, — und hat dennoch seinen Zweck verfehlt.

Die Botschaft ist ergangen, — und hat dennoch nichts gefruchtet.

Das Wort steht und steht ewig, — aber schwindelnd fällt der Mensch in der Zeit von einem Abgrund in den andern...

Wie aber dies, ihr Christen? Sind wir denn in Wahrheit so bös, so unmenschlich, so teuflisch, daß wir zwar auf unsern Lippen den Honig der frohen Botschaft zu schmecken geben, in unsern Herzen aber schwarze Galle keltern? Liegt es in Wahrheit nur auf uns, daß uns jener evangelische Weg zur Überwindung unserer Menschheit zum Ab- und Irrweg sondergleichen geworden ist? Müssen wir uns in diesem unwiederbringlichen Augenblick der Selbsteinkehr und Gewissensprüfung in Wahrheit als den Aus [S. 362] wurf aller geschichtlichen Geschlechterfolgen verdammen, weil wir mit dem Bekenntnis des Wohlwollens und Brudersinnes die Tat des Wohlwollens und Brudersinns am sichersten erstickten? Heute, wo die Schuppen der Beschönigung von den Augen fallen, ziemt uns vor allen Fragen diese Frage: von der Antwort auf sie hängt jede Zukunft ab. Rund tausend Jahre sind es, daß wir des Nazoräers Bekenntnis zur Nächstenliebe als unsere erwählte religio , will heißen Bindung, Verpflichtung, Treue angenommen haben. Und nun ängstigt uns nach rund tausend Jahren mehr fast als alle Angst der Argwohn, wir könnten vielleicht nicht trotz dieses Bekenntnisses, sondern wegen seiner, nur immer böser und schlechter, liebloser und härter, unedler und grausamer geworden sein seit jenen Tagen etwa, da der große Sachsenkaiser Otto dem mittelalterlichen Reich Europa seine dreihundertjährige Verfassung gab. Am Ende ist es eben diese Verpflichtung, diese Bindung gewesen, die unsere Anlage zum Wohlwollen und Brudersinn, die wir doch auch in uns wie in jedem lebendigen Geschöpf vermuten müssen, verkümmern und verkrüppeln ließ. Verkümmern und verkrüppeln ließ zwar nicht deshalb, weil etwa diese Religion uns Menschen, wie wir einmal sind, zu hoch und schwer wäre, — denn jede Religion, ihr Christen, ist dem Menschen, wie er einmal ist, zu hoch und schwer: und daß sie’s ist, macht ihren unschätzbaren Wert als Religion aus! Verkümmern und verkrüppeln ließ aber trotzdem, weil sie befahl und forderte, gebot und heischte, was durch Befehl und Forderung, [S. 363] Gebot und Heischung nimmer zu bewirken ist. Es könnte demnach sein, ihr Christen, daß uns just das Christentum zeitweilig zum Verhängnis geworden ist, indem es eine übermenschlich-überschwängliche Botschaft zwar erließ, aber auf keine Weise andeutete oder zeigte, wie der irdische Mensch, das wilde böse Tier, nun dieser Botschaft auch entsprechen könne. Wohlwollen unserm Nächsten, Brudersinn unserm Fernsten noch, wer wäre Wolf genug zu leugnen, daß beides heute noch die Welt zum Paradies gestalten würde, wo wir sie alle christlich übten. Aber der Mensch, obschon von Natur ganz offenbar mit einer Anlage zum Wohlwollen und Brudersinn begnadet, ist darum noch lange nicht wirklich wohlwollend, wirklich brudersinnig, — und wird es auch nicht, wenn man ihm kurzerhand gebietet: Sei’s! Das aber ist das letzte und schleichendste Unheil, welches uns Abendländer betroffen hat und unsern dermaligen Höllensturz mit verursacht: wir wissen, wissen alle unheimlich genau, was not tut, um die Not zu wenden und den Menschen seiner nächst höheren Verkörperung des großen Wohlwollenden und Brudersinnigen zuzuführen. Aber es war niemand, der uns gewiesen und bedeutet hätte, wie das geschehen könne. Wir wissen, wissen es, aber können es nicht. Und sogar wo es einer als Land- und Meerwunder wirklich kann, da ist er’s nicht, sondern kann es nur. Das aber, ihr Christen, ist des Abendländers Untergang...

Das aber, ihr Christen, ist des Morgenländers Aufgang, ist insonderheit des Buddho Gotamo Aufgang! [S. 364] Denn wo wir nur wissen, hat er das Können aufgewiesen, und wo wir nur können, hat er angeleitet und geweckt zum Sein. Dabei ist sein heiliges Ziel in Ansehung menschheitlicher Emporstufung haargenau das christliche. Vielleicht mit dem einzigen Unterschied, daß der Buddho die Gestalt des großen Wohlwollenden mit soviel höherer Künstlerschaft umrissen habe wie der Christus, — eben jene Gestalt nämlich, die ich zum Beschluß der Dritten Unterweisung dem christlichen Abendland als das Urbild des Strahlenden Mönches vorzustellen gewagt habe: „Liebevollen Gemütes weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend, durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem. Erbarmenden Gemütes — freudevollen Gemütes — unbewegten Gemütes strahlt er“... In Ansehung dieses göttlich Wohlwollenden, übermenschlich Wohlwollenden also ist das religiöse Endziel im Westen und im Osten streng dasselbe, und nichts würde von dieser Gewißheit aus einer völligen Durchdringung des Christentums mit dem Buddhismus hinderlich sein, — wenn eben nicht die Art und Weise, wie Jesus und wie Gotamo die Verwirklichung dieses Zustands betreiben, so stracks einander zuwiderliefe, daß hier die Grundkräfte europäischer und indischer Religiosität als Gegenkräfte in Erscheinung treten. Das evangelische Wohlwollen nämlich für den sogenannten Nächsten wurzelt [S. 365] ausgesprochenermaßen im Wohlwollen für das eigene Selbst, will heißen in der Selbstliebe und Eigensucht. Ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν, wolle du deinem Nächsten wohl wie dir selber, gebietet der Herr des Evangeliums, — und manches spricht dafür, daß wir hier auf die ausschlaggebende Ursache stoßen, warum die Nächstenliebe des Christentums ein freundlicher Traum geblieben ist und sehr wahrscheinlich sogar hat bleiben müssen. Denn wie verhält sich’s doch damit? Jesus erachtet Wohlwollen für Mitmensch und Bruder durchaus für möglich, sonst würde er es nicht als Notwendigkeit gefordert haben. Aber nicht hält er’s für möglich, dies Wohlwollen auf andere Weise zu erzielen als gleichsam auf dem Umweg über das eigene Ich und Selbst. Das Ich und Selbst der eigenen Person steht hier im Brennpunkt aller Wirklichkeiten, und folglich im Brennpunkt auch aller Handlungen und Taten, die sich auf Wirklichkeiten beziehen. Die vorzüglich religiöse Leistung der Persönlichkeit krönt sich darin, dem fremden Ich grundsätzlich denselben Grad von Wirklichkeit zuzubilligen wie dem eigenen Ich und aus dieser Billigung heraus ihm keine mindere Berechtigung zu schenken wie diesem. Der naive Mensch, heißt das der selbstische Mensch, wird hier sozusagen feierlich aufgeboten zur freiwilligen Anerkenntnis des fremden Du, — durch die Erwägung zwar, daß auch dies Du zuletzt ein Ich mit sämtlichen Eigenschaften und Merkmalen eines solchen sei. Der naive, will sagen selbstische Mensch ist also böse nicht eigentlich deshalb, weil er seine eigene Persönlichkeit und [S. 366] persönliche Eigenheit instinktiv als Wirklichkeit setzt und voraussetzt, sondern weil er jede fremde Persönlichkeit und Eigenheit nur als eine Wirklichkeit zweiten, dritten, zehnten Grades gelten läßt, — kurz als eine Wirklichkeit derart verminderten Erlebensgrades, daß er kaltblütig über ihre Ansprüche und Rechte, über ihr Sosein und Dasein wegschreitet, nicht anders, wie man im Gedränge über viele menschlische Schatten auf der Straße schreitet. Und kein Zweifel! Wer jemals ein wenig über die Beschaffenheit des Verbrechens und mehr noch des Verbrechers nachgedacht hat, wird hier, in dieser von Jesus berührten Tatsache, fast jeden gewünschten Aufschluß finden: daß der Verbrecher von Haus aus unfähig ist, in rein erkenntnismäßiger Schätzung sein Opfer in dieselbe Reihe von Wirklichkeiten mit sich selber einzustellen, — er selber füllt diese Reihe mit sich ganz alleinig. Überall, wo ein Mensch in gräßlicher Verhärtung gegen Wohl und Weh des Mitmenschen beharrt und dieser Verhärtung entsprechend handelt, darf man behaupten, er sei Verbrecher, darf man behaupten, ihm sei die heilige Um- und Neuschöpfung der fremden Wesenheit zum vertrauten Ich, zum Ich überhaupt, noch nicht gelungen. Tatsächlich macht Jesus hier die erste, unerläßlichste Bedingung der Möglichkeit menschenwürdigen Gemeinschaftlebens namhaft: jedwedes menschengleiche, ja nur menschenähnliche Geschöpf ist im Bewußtsein ebenso als wirklich, ebenso als seiend, ebenso als wesenhaft zu erschaffen wie das eigene Ich und Selbst. Auch Du ein Ich, wie Ich zu [S. 367] letzt nur Du, folglich auch Du meines Wesens Mark und Mitte nicht abgelegener als Ich ihm bin: das ungefähr wäre die rechte Formel für Jesu Auffassung von Wohlwollen, Brudersinn, Nächstenliebe; — auch Du, Du ein Ich, wie Ich zuletzt ein Du, und folglich all meiner Taten und Gedanken nicht minder Sinn, Zweck und Ziel als Ich es ihnen selber bin. Das Maß der Welt, in welches sie gefüllt und geschöpft wird, ist durchaus hier das menschliche Selbst und seine unerschütterliche Wirklichkeit. Im besten Fall kann jeder Einzelne sich selber höchstens dazu bestimmen, jedem Anderen das gleiche Maß von Wirklichkeit im Bewußtsein einzuräumen. Ein übermenschlich verwegenes Ideal aber wäre dieses, wenn jeder Einzelne seine Bewußtheit derart unendlich auszuweiten vermöchte, daß darin die Wirklichkeiten aller menschlichen Welterscheinungen in einem einzigen brüderlich umhalsten Chore miteinander reigten, — jeder Fernste in solch gottgeweiteter Bewußtheit zum Nächsten aufgerückt und nahgerückt, jeder Nächste aber gleichbürtig, gleichgewichtig, gleichwertig mit Mir selbst...

Das Selbst also, ihr Christen, die eigene Person ist dem Herrn unseres Evangeliums die Schwelle, über welche jedes Ich getragen werden muß, um überhaupt als Ich geehrt zu werden. Das Selbst, sag’ ich, die eigene Person und ihre ganz unumstößliche Wirklichkeit und Gewißheit ist die Schwelle, die vom Ich zum Du, vom Ich zum Wir führt, — was aber jenseit dieser Schwelle stehn oder liegen bleibt, kann dem Bereich ichbürtiger Wesenheiten auch nicht angehören. [S. 368] Wobei schon hier keineswegs übersehen und vergessen werden darf, daß auch im günstigsten von allen möglichen Fällen alles jenseit der Schwelle stehn und liegen bleibt, was nicht menschengleich oder menschenähnlich ist, was mithin nicht Nächster und nicht Bruder werden kann... Dem sei indes, wie ihm wolle. Unter allen Umständen besteht das evangelische Mysterium, wie nochmals mit Nachdruck ich zusammenfassend sagen möchte, in der Verwirklichung des Mitmenschen als Nächster und als Bruder, und diese Verwirklichung zwar vollzogen auf dem Umweg über die Wirklichkeit des eigenen Selbstes. Das gotamidische Mysterium hingegen, so einig es im Hinblick auf menschheitliche Emporstufung zur Gestalt des großen Wohlwollenden mit dem evangelischen Mysterium offenkundig ist, wird dennoch gerade durch die Umdrehung dieses evangelischen Verfahrens erwirkt. Nicht dadurch wird das ausnahmlose Wohlwollen beim Strahlenden Mönch gegen alle Wesen (nicht nur gegen den Nächsten und den Bruder) erzeugt, daß er diese durch eine Tathandlung fortschreitende Erkenntnis auf dieselbe Wirklichkeitstufe mit seiner eigenen Person befördert. Sondern ganz im Gegenteile dadurch, daß er den Wirklichkeitgrad der eigenen Person, den scheinbar unbezweifelbaren, auf den Wirklichkeitgrad aller übrigen Welterscheinungen herunterdrückt, kraft einer nicht zu widerlegenden religiösen Selbsterfahrung, Selbstbewertung, die er an sich und mit sich macht. Wenn daher Jesus befiehlt: Wolle du deinem Nächsten wohl wie dir selber; wenn somit der nämliche Jesus das [S. 369] Wohlwollen für das eigene Selbst ohne weiteres als die gegebene Voraussetzung des Wohlwollens für andere hinnimmt und bestätigt, — so fußt der Christus auf einer Einstellung, welche den Buddho sicherlich über die Maßen befremdet haben würde, falls er hätte Kenntnis von ihr erlangen können. Denn eben dieses Selbst der eigenen Persönlichkeit, in europäischer Sprache das Individuum oder die unzerstückelbare Lebenseinheit, Wirkungeinheit, Zweckeinheit geheißen, welche jeder westliche Mensch mit der ganzen Heftigkeit seiner Instinkte gleichsam als sein ens realissimum umklammert hält und niemals fahren läßt solang er lebt, — eben diese Ur- und Musterwirklichkeit aller sonstigen Wirklichkeiten hat sich ja dem Buddho längst entlarvt als ein Ding, welches um keinen Deut wesenhafter oder wirklicher als jedes andere Ding unter der Sonne genannt werden darf. Und hier, wo die Religiosität des Ostens mit der Religiosität des Westens wie Ja und Nein zusammenstößt, aber leider nicht zusammenklingt, hier ist es angezeigt, uns noch einmal jenes herzlich seltsame Wort in den Sinn zurückzurufen, welches uns in der Ersten Unterweisung hat so scharf aufhorchen machen. N’etam mama , das gehört Mir nicht, hat dies Wort gelautet, zu welchem der Buddho sein schneidendstes Nein gleichsam gerinnen und erhärten lassen. N’etam mama , das gehört Mir nicht: was da entsteht und vergeht, was da gezeugt wird und verwest, was da wechselt und abändert, was da erscheint und verschwindet. Solches alles gehört Mir nicht, solches alles bin Ich nicht: [S. 370] folglich gehört auch diese Meine eigene Person Mir nicht, folglich bin auch Meine eigene Person Ich nicht! Alles Wirkliche aus zweiter, dritter und letzter Hand gehört Mir nicht und bin Ich nicht. Aber auch alles Wirkliche aus erster Hand gehört Mir nicht und bin Ich nicht: nämlich Ich selber nicht, wie ich mir in der raumzeitlichen Gliederung bewußtes Erlebnis und Begebnis ward! Diese ganze Erscheinungunendlichkeit, wie sie gestalthaft abgegrenzt im Bewußtsein auftaucht und gestalthaft abgegrenzt im Unbewußtsein wieder untersinkt, einschließlich meiner höchsteigenen Icherscheinung, sie gehört Mir nicht und sie bin Ich nicht! Sie gehört Mir nicht und sie bin Ich nicht, weil sie eben auf Grund ihrer Eigenschaft als Erscheinung nicht bis dahin reichen kann, wo ich als religiös Erlebender zutiefst Mich Wesen weiß. Keine Verkörperlichung und keine Verpersönlichung, nicht einmal meine eigene, faßt dort noch Fuß und Grund, wo Ich — oder vielmehr nicht mehr Ich! — in dem Augenblicke gesammeltster Selbstvertiefung Grund und Fuß zu fassen fähig bin. Damit jedoch ist des evangelischen Jesus Selbsterfahrung, den die Wirklichkeit des Ich aller Wirklichkeiten Ur- und Musterbild zu sein bedünkte, durch eine Selbsterfahrung entgegengesetzter Art zwar nicht getilgt und aufgehoben, aber eingeschränkt und ergänzt. Nicht ist fremdes Ich für ebenso wirklich, daseiend und wesenhaft wie eigenes Ich zu erachten: sondern umkehrt eigenes Ich hier für ebenso unwirklich, nichtseiend, wesenlos wie fremdes Ich. Jene bevorzugte Wirklichkeit, vom evangelischen Herrn als Hebelpunkt [S. 371] gebraucht, um von ihr her die eingefleischte Eigensucht und Selbstliebe, die bruder- und nächstenmörderische, aus ihrem natürlichen Schwerpunkt zu wälzen, — jene Wirklichkeit gilt dem Buddho auf keine Weise für bevorzugt. Im Gegenteil ist sie es, die sich dieselbe Dämpfung gefallen lassen muß, welche das ‚ N’etam mama ‘ auf alle Wirklichkeiten legt. Auch ich selber gehöre Mir nicht; auch ich selber erschöpfe Mich nicht in der Erscheinung Meiner, die sich gestalthaft vor meinen Sinnen ausbreitet; auch Ich selber bin über Meine raumzeitliche Wirklichkeit hinaus noch Etwas, das die Sprache einer Wirklichkeit nicht mehr zu verlautbaren vermag: wenn auch sicherlich nicht ‚Ich‘ mehr...

Wer aber, ihr Christen, von dieser beziehungreichen Tatsache her seinen Blick nun schweifen ließe in die beiden Welten, in welchen getrennt voneinander der Buddho und der Christus eingebürgert hausen, der fände sich wohl nicht wenig überrascht: so buchstäblich weltverschieden, weltgeschieden stellten ihm sich beide Welten dar. Den christlichen Erlöser erblickte ein derartiger Betrachter inmitten einer Wirklichkeit wimmelnd bis zum Rand mit gestalthaften Lebenseinheiten nach Art der menschlichen Persönlichkeit. Wie etwa ein stätig fortlaufendes Gebilde der Anschauung, eine geometrische Gerade oder Fläche, von der Einwirkung des Gedankens in zusammenhanglose Einzelpunkte zerlegt wird, oder wie eine stätig [S. 372] zusammenhängende Flüssigkeit unter der Einwirkung von Wärme oder Witterung zu einem Haufen einzelner Flocken stockt, — nicht anders zersetzt sich unter dem Einfluß dieser evangelischen Einstellung eine vorher noch kaum gestalthaft belebte Umwelt zu einer immer ausschließlicher gestalthaft belebten. Wenn unsere europäische Wissenschaft, vielleicht mehr als sie ahnt ‚christliche‘ Wissenschaft, nie und nimmer geruht hat, bis sie jede Wahrnehmungstätigkeit der Sinne allmählich in eine womöglich zahlenhaft zu erfassende Menge von letzten, das heißt unteilbaren Beziehungknoten zergliederte; wenn sie, um altbekannte Beispiele anzuführen, den Einen Grundstoff der Welt in viele Kräfte, die Eine Materie in viele Atome, das Eine Leben in viele Lebenseinheiten, die eine Zelle in viele Zellteile, das Eine Licht in viele Farben, die Eine Farbe in viele Bewegungvorgänge, die Eine Qualität in viele Intensitäten, ja zuletzt das Eine Atom in einen ganzen Kosmos von zentralen Kernen und umlaufenden Elementarquanten aufgelöst hat, — sie folgte damit ihrem christlichen Instinkt, der unersättlich ist nach Wirklichkeiten im Sinn der eigenen Individuität. Christentum ist Individualismus, Christentum ist Personalismus, — von diesem Gedanken aus läßt sich unschwer so etwas wie die Kurve der abendländischen Seele aufzeichnen, die schicksalhaft die christliche Seele gewesen ist und ist, so sehr, daß sie auch nach ihrer bevorstehenden Umgestaltung des christlichen Einschlags nie völlig mehr entbehren wird. Christentum ist Individualismus, Christentum ist Per [S. 373] sonalismus; folglich erschafft es sich überall individuelle, individuierte, personifizierte Wirklichkeiten. Diese feststehende Tatsache ist für das westliche Festland Europa, welches das Christentum aufgenommen und verarbeitet hat, geradezu Fatum geworden. Wo das Christentum aufblüht, blüht der persönlich gestaltete, persönlich ausgeformte Mensch auf, denn dem evangelischen Christus bedeutet das raumzeitlich verkörperte Selbst Alpha und Omega aller Wirklichkeit überhaupt. Und wiederum: wo das raumzeitlich verkörperte Selbst Alpha und Omega aller Wirklichkeit als solcher erscheint, da müssen folgerechterweise alle Kräfte des Geistes und der Seele der möglichst plastischen Herausmeißelung der jeweiligen Lebenseinheit und Lebenseinzelnheit dienen. Die Wirklichkeit trachtet nach Verwirklichung, und wo das Selbst erste und letzte Wirklichkeit für sich beansprucht, trachtet das Selbst zuerst und zuletzt nach seiner eigenen Verwirklichung. Der Christ beginnt sich demnach vielkantig nach allen Achsen des Raumes auszuwachsen. Zwar ist des Wunderns seit langem schon kein Ende gewesen, daß das geschichtliche Christentum aus dem Europäer so etwas ganz anderes gemacht habe als den friedfertigen, selbstverleugnenden, bruderlieben Heiligen der evangelischen Schriften. Heut’ wäre es endlich an der Zeit, sich darüber erschöpfend ausgewundert zu haben. Denn alle diese evangelischen Tendenzen haben zu ihrer unanfechtbaren Voraussetzung die unanfechtbare Wirklichkeit der eigenen Person nebst den auf sie selbst bezüg [S. 374] lichen Trieben und Begierden, Neigungen und Leidenschaften. Das Grundrecht auf Selbsttrotz und Eigensucht ist der rocher de bronce , vom Herrn des Evangeliums in eigener Person feierlich stabiliert und sanktioniert, — das ist der Fels, in welchen die Fundamente der sichtbaren und unsichtbaren Kirche eingesprengt worden sind. Wer sich darüber Klarheit verschafft hat, wird es auch nur als aufrichtige Konsequenz aus diesem Umstand betrachten, wenn gerade der europäische Christ den Anblick nie gesehener Härte und Ungerührtheit darbietet: es ist ein heute nicht mehr statthafter Irrtum, wenn immer noch die weichmütigen Romantiker eines unverfälschten Urchristentums dem evangelischen Heiland die römische Kirche oder die Kirchen überhaupt als die gesellschaftlichen Verkörperungen des eigentlichen Antichristentums entgegenzustellen und zu verdammen belieben. Die Kirche ist nun einmal nicht die babylonische Hure, sondern sie hat nur im Übermaß Ansätze entwickelt, die im Evangelium selber vorhanden sind. Diese ganze romantische Auffassung, am übertreibendsten bekanntlich in Dostojewskis Großinquisitor herausgestellt, ja wie eine weltgeschichtliche Fanfare herausgeschmettert, ist ungerecht nach beiden Seiten. Denn in der Christustendenz evangelischen Wohlwollens glimmt und glutet eben heimlich schon die Tendenz des Antichrists, das Selbst zu behaupten über jedes Maß und Ziel hinaus: glimmt und glutet mithin heimlich schon der Funke, der das ganze europäische Mittelalter hindurch Scheiterhaufen um Scheiter [S. 375] haufen entzündet hat, bis nach dem Krieg von Dreißig Jahren das mittlere Europa selbst nur noch ein Scheiterhaufen war... Dieser Scheiterhaufen gemahnt uns, ihr Christen, daran, daß Jesus Christus schon geboten hat: wolle du wohl deinem Nächsten wie dir selbst, — daß mithin schon Jesus Christus die Selbstliebe (und die Puritaner wußten das sehr genau!) in die Rechte feierlich eingesetzt hat, die sie seither für sich in Anspruch nimmt. Nie wäre von diesem Gebot her einzusehen, warum das eigene Selbst etwa zugunsten des fremden hätte verleugnet oder unterdrückt werden sollen, — nie, warum es auch nur nach Tunlichkeit abgeblendet hätte werden sollen. Sogar den äußersten Fall gesetzt, es hätte der evangelische Herr geboten, was er in Wahrheit nicht geboten hat: Wolle du deinem Nächsten wohl mehr als dir selbst, — wie wäre da nicht sofort die Gegenfrage zu stellen gewesen: Warum denn, o Herr, dem Nächsten mehr Wohlwollen als mir selber? Mit welchem Fug wird sein Selbst dem meinigen vorgezogen? Sind wir nicht just vom Urteil der Selbstschätzung, Selbstwertung aus alle gleich? Bin ich mir minder Ich als sich mein Nächster Ich ist? Oder wie könnte mir das Ich des Nächsten näher sein als mein Ich! Was stellt das Ich des Andern über Mich und weshalb sollte ich Mich auslöschen, damit Er heller brennt, flackert und zackert? Mit welchem Recht der Götter oder Menschen geht des Nächsten Selbstsucht über meine eigene? Und sind wir Brüder für uns selbst nur vor uns selbst, wie darf der Bruder hier über dem Bruder stehen, der Bruder [S. 376] hier vor dem Bruder gehen? Wahrlich und Wehe! der Altruismus ist immer nur der Egoismus des Nächsten..

Ziehen wir derart die Summe von zwei christlichen Jahrtausenden für Europa, so muß sich also notwendig ergeben, daß niemals noch sonstwo die menschliche Person zu diesem Grad von Stärke und Selbstherrlichkeit heraufgezüchtet ward wie im christlichen Europa. Was unter günstigen Bedingungen ein Christ und Europäer aufbringt an Entschlossenheit und Arbeitkraft, Willen und Umsicht, Kaltblütigkeit und Tapferkeit, Genauigkeit und Zähigkeit, — es übertrifft alles Dagewesene bei weitem. Mit dem alleinigen Ziel vor Augen, sich durchzusetzen gegen jeden Widerstand, setzt dieser Christ und Europäer sich denn in Wirklichkeit auch durch, — mit welchen Mitteln freilich oft, das frage niemand. Tatmensch, Geschäftmensch, Gewaltmensch noch wider jeden Einwand des Gewissens, betreibt er von früh bis spät ausschließlich seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstverwirklichung. In dem Bewußtsein seiner persönlichen Einzelnheit und Einzigkeit, in dem Bewußtsein folglich seiner unbedingten Einmaligkeit und Unersetzlichkeit, welches ihm eine streng christliche Philosophie anerzogen, angezüchtet hat, findet er eine höchste Rechtfertigung für die rücksichtloseste Ausprägung seiner Eigenheit; in eben dieser Ausprägung vermutet er den Endzweck und das Amen alles Geschehens überhaupt. Sei der, der du bist und werde, der du bist, beides in seiner Aufgipfelung und Vollendung, — diese Quintessenz der religiösen Belehrung, welche in der Bhagavad-Gîtâ Gott [S. 377] Krischna dem Prinzen Arjuna widerfahren läßt, ist auch die Quintessenz, wir wissen es seit Pindaros, aller europäischen Wirklichkeitauffassung: nur freilich aus dem Indischen ins Europäische übersetzt und damit einigermaßen entseelt, entadelt, entgeistigt. Der europäische Mensch wird, der er ist; das heißt er setzt sich durch um jeden Preis und auf jede Weise. Die Erste Unterweisung hat es erwähnt, die Vierte erinnert hiermit daran, wie der Erfolg dieses persönlichen Sich-Durchsetzens in der Welt vom Kalvinismus und Puritanismus geradezu als der schlüssige Beweis vor Gott und Menschen erachtet wird, daß einer berufen und erwählt sei. Wer seine Eigenheit zur Anerkennung bringt, wer den Erfolg an seine Seite zwingt, wer das Glück zur Treue überredet, der hat sich bewiesen, genau wie er sich im entgegengesetzten Falle widerlegt hat. Solchermaßen statuiert der christliche Europäer ein Recht auf Persönlichkeit, und wer feiner hinhorcht, wird sich vielleicht davon überzeugen, daß er sogar eine Pflicht zur Persönlichkeit statuiert. Lediglich unter diesem Gesichtswinkel vermag er sich überhaupt noch ein erstrebenswertes Lebensziel vorstellig zu machen. Nur um Gottes willen von der formlosen Masse und Massenhaftigkeit abrücken! Nur um jeden Preis ein eigenes Gesicht, und sei es ein hoffärtiges und freches, zur Schau tragen! Nur unter allen Umständen aus der flüssigen Mutterlauge zum festen Kristall aufschießen! Das ist der heiß begehrte Preis, der dem Sieger nach zermürbendem und zerrüttendem Kampfe winkt...

[S. 378]

Denn Kampf bis aufs Messer, Kampf in einer noch nirgends zu erfahrenden Grausamkeit des Begriffs ist das Leben dieses christlichen Europäers. Die Selbstverwirklichung bis zum äußersten als die einzig anerkannte Lebenspflicht muß selbstredend in heftigen Widerstreit geraten mit derselben Lebenspflicht jeder Persönlichkeit, welche der ersten gesellschaftlich oder wirtschaftlich irgendwie benachbart ist, — ein selten eindringliches Beispiel übrigens, wie manchmal die Möglichkeit einer Gemeinschaft nicht durch Verschiedeninhaltlichkeit der ergriffenen Zwecke, sondern durch Gleichinhaltlichkeit derselben vernichtet wird. In diesem christlichen Europa will in Wahrheit jedermann genau dasselbe: nämlich die denkbar reichstgeschliffene Ausformung seiner jeweiligen Eigenheit und Einzelnheit. Und das Ergebnis davon heißt eben Kampf, Krieg, Wettbewerb, ἀγών, struggle for life , Zuchtwahl... Kampf der Vater aller Wirklichkeiten, das ist in Wirklichkeit die Überschrift, welche der Vater der europäischen Menschlichkeit auf seiner Völkerbrücke zu Ephesos an das Tor zu unserm Festland schlug und hämmerte. Kampf der Vater und Kampf die Mutter, das ist die Wahrheit geblieben, die auch vom Christentum nicht nur nicht widerrufen, sondern bestätigt worden ist, denn der Herr des Evangeliums scheint es erraten zu haben, warum er, vorzugweis er sich als denjenigen bezeichnete, der nicht den Frieden, aber das Schwert bringen werde: nicht einmal das Kreuz von Golgatha konnte die Pforten des Janustempels sperren, die ewig offenklaffenden, [S. 379] und tatsächlich hat das Christentum sein Öl der Linderung ins Feuer statt aufs Wasser ausgegossen... Kampf brandet und Kampf entbrennt also schon im kaum befruchteten Keim, wo offenbar das Männliche mit dem Weiblichen im Hader liegt, bis entweder das Männliche über das Weibliche oder das Weibliche über das Männliche Herr ward und dadurch das Geschlecht des künftigen Wesens entschied. Und derselbe Kampf wird ausgetragen, wo die vererbten Eigenschaften einer Ahnenreihe mit den vererbten Eigenschaften anderer Ahnenreihen streiten, oder wo den vererbten Eigenschaften neue hinzuerworbene von Grund auf widerstreben. Wohin der Blick des Christ-Europäers fällt, gewahrt er Kampf und Krieg im Kleinen wie im Großen, und sogar noch wenn er an Sommerfeierabenden, an endlos schwalbenzwitschernden und grillenzirpenden, besinnlich auf der Gartenbank vor seinem Hause sitzt und eine Weile ruht, fühlt er vom Grausen plötzlich sich geschüttelt beim Anblick eines räuberischen Tausendfüßlers, wenn dieser sich auf einen verzweiflungvoll aufbäumenden Regenwurm stürzt und dessen unbewehrten Leib mitten entzweibeißt: so hat dem Rabbi von Bacharach die Eiskralle des Entsetzens ins Herz gegriffen, als er am Vorabend vor Pascha unter dem schimmernden Tafellinnen plötzlich die eingeschmuggelte Leiche eines Kindes sah... In einem Augenblick derart hellsehenden Weltverstehens mag es sein, daß dem Christ-Europäer das furchtbare Gesetz des Lebens aufleuchtet, welchem zufolge jedes organische Gebild der glücklich Über [S. 380] lebende und Überstehende zahlloser sicht- und unsichtbarer Einzelkämpfe ist. Weit entfernt, daß ihm als Menschen, ihm als Christen diese Kämpfe erspart blieben oder wenigstens in ihrem Grad gemildert, in ihrer Form ‚vermenschlicht‘ würden, findet er ganz im Gegenteil gerade sich in seiner Eigenschaft als Mensch zu einer Kampfweise genötigt, wie sie gleich wahllos in den Mitteln und gleich böse die außermenschliche, untermenschliche Natur nicht kennt. Wohl frißt auch dort ein Tier das andere Tier, ein Tier die Pflanze und gelegentlich auch eine Pflanze das Tier ganz unbedenklich. Aber im allgemeinen spielt sich dieser Kampf doch meist zwischen den verschiedenen Arten als solchen ab, seltener zwischen den Vertretern ein und derselben Art, was leider bei uns Menschen die selbstverständliche Regel wird. Sind wir ganz offenkundig schon dadurch gegen das Tier vielfach im Nachteil, daß mit verhältnismäßig geringen Schwankungen die geschlechtliche Brunst bei uns das Jahr über ununterbrochen dauert, was für nicht wenig Menschen eine Hölle von Anfechtungen bedeutet, so sind wir auch in dieser Beziehung schlimmer daran als das Tier, daß wir uns fortwährend gegen unsresgleichen wenden und wehren müssen, — und dies wie gesagt obendrein mit Mitteln, Pfiffen, Schlichen, die das Tier verschmäht: „Denn heimlich wie die Höhle, o Herr, ist der Mensch, und offen wie die Ebene, o Herr, ist das Tier“, sagt Pesso, der Sohn des Elefantenlenkers, zum Erhabenen...

[S. 381]

Der sogenannte Kampf ums Dasein also, von seinem europäischen Entdecker zu seiner Zeit sicherlich zu Unrecht herangezogen, um die Wandlung einer Art zur anderen und ‚höheren‘ erklärlich zu machen, — zu Unrecht herangezogen, sag’ ich, weil er sich zwischen verschiedenen Arten eigentlich gar nicht ereignen kann, wofern verschiedene Arten jeweils auch in verschiedenen Umwelten leben, verschiedenen Daseinsbedingungen unterliegen und darum streng genommen um diese Daseinsbedingungen auch nicht wirklich kämpfen können! — beim Menschen wird dieser Kampf ums Dasein dennoch schauerliche Wahrheit. Kämpft doch der Mensch mit dem Menschen in der Tat um die nämliche Ackerscholle, um die nämlichen Bodenschätze, um die nämlichen Weideplätze, um die nämlichen Absatzmärkte, um die nämliche Arbeitstelle, um den nämlichen Güteranteil, um das nämliche Weib, um das nämliche Glück, um die nämliche Ehre, um den nämlichen Rang. Der Mensch kämpft ums Dasein, das heißt, er kämpft um sich selber und um seine Selbstverwirklichung, und beides winkt ihm nur, wo er seinen Wettbewerber übermächtigt. Schon daß er lebt, bedeutet unter allen Umständen eine Übermächtigung unbekannt wie vieler Ansätze und Möglichkeiten, die zum gleichen Leben drängten; so kann er von allen Wesen am buchstäblichsten von sich selbst bekennen: denn wir sind teuer erkauft. Sub specie dieses Gedankens war es dann nicht weniger als Die europäische Vision, das Leben überhaupt als Willen zur Macht aufzufassen und zu entlarven. Zum [S. 382] mindesten sind alle Gipfelungen und Aufhöhungen des Lebens in diesem unserm christlichen Europa unmittelbar eins mit dem stolzen Gefühl erworbenen Machtzuwachses durch den Sieg über andere Mächte, andere Mächtige. Die Macht ist die einzige und letzte Tugend des Christ-Europäers, an die er noch wirklich glaubt, zu welcher er betet und der er opfert. Macht über den Feind ist die Tugend des Kriegers, Macht über den Sklaven die Tugend des Freien, Macht über das Weib die Tugend des Mannes, Macht über den Stoff die Tugend des Künstlers, Macht über das Werkzeug die Tugend des Handwerkers, Macht über das Betriebsmittel die Tugend des Unternehmers, Macht über die Masse die Tugend des Führers, Macht über das Element die Tugend des Technikers, Macht über die Unordnung die Tugend des Wissenschafters, Macht über den Zufall die Tugend des Weisen, Macht über den Trieb die Tugend des Bändigers. „Jeder von uns“, so steht im pseudoplatonischen Theages zu lesen, „möchte womöglich aller Menschen Herr sein, am liebsten Gott...“ Der Wille zur Macht als der oberste und im Grund sogar einzige Wert des Lebens, die Macht und ihre Ausbreitung, Steigerung das eigentliche Ziel und der eigentliche Sinn des Lebens, das ist der kardinale europäische Gedanke, und wer wird zu behaupten wagen, er sei nicht irgendwie auch der kardinale christliche Gedanke gewesen? Denn war der christliche Gott nicht vorzugweis der pater omnipotens , war nicht die All-Macht an und für sich das summum bonum oder der [S. 383] höchste Wert: nur eben in der Sprache der Scholastik statt in der Sprache Nietzsches? Wer unbefangen hinsieht, gewahrt denn auch gerade in jenem Mittelalter die ragendsten Vertreter des Machtgedankens überhaupt, welche unser Festland bis auf die neue Zeit hervorgebracht hat, — sei es in der Gestalt jenes Innozenz des Dritten oder Bonifaz des Achten, sei es in der Person jenes Heinrich von Hohenstaufen, der Deutschland, Italien, Sizilien als ein einziges Reich kaiserlich beherrschte und über das Mittelmeer schon seine gewaltige Hand auf Kleinasien gelegt hatte, als er alexandrisch früh und unbegreiflich aus einer ungeheuern Bahn geschleudert ward: seit Heinrich des Dritten gleichfalls allzu jungem Tod das zweite Beispiel übrigens aus unserer deutschen Geschichte, wie eine Entwicklung mit schwindelerregenden Adspekten verhängnisvoll abgerissen ward... Schon damals also, und wie erst recht heute, kommt der Europäer erst zu sich im Gefühl der Macht; in ihm allein genießt er seiner selbst und schwelgt er in seinem Selbst. Unter den Gesichtswinkel der Macht gerückt, erscheint dem Europäer jedes vorhandene Dasein und jeder vorhandene Gegenstand ein Widerstand, an welchem er sich mißt: vermag er ihn wirklich zu überwinden, so fühlt er triumphierend das verstärkte Bewußtsein seiner Eigenheit. Was ihn nicht umwirft, macht ihn mächtiger, — folglich wirft der Europäer vieles, ja alles um, damit er dadurch mächtiger würde...

Im Zeichen dieses machthaft gesteigerten, machthaft gespannten Daseins beginnt dann dieser homo [S. 384] europaeus , homo christianissimus sich auf eine Art rein biologisch auszuleben, wie sich das keine einzige Menschheit der bekannt gewordenen Geschichte vorher je gestattet hatte. Vernunft, Maß, Mitte, Zweck, Ziel, Übereinkunft, Herkommen, Norm, Gesetz, Urteil, Geschmack, die ehemals aus einer begründeten Angst vor dem Leben zwischen den Menschen und das Leben absondernd eingeschaltet wurden, liegen jetzt zertrümmert an der großen Straße, die das Leben selbstherrlich wie nie zuvor beschreitet. Der Bios und der Logos, mutmaßlich von Heraklit zum erstenmal in ihrer Gleichwertigkeit und Gleichunentbehrlichkeit trotz ihres verschiedenen Vorzeichens miteinander verkoppelt zu jenem doppelten System von Kräften, dessen Arbeitertrag eben Europa heißt, — der Bios und der Logos werden jetzt durch die Vehemenz des Lebens, Nichts-als-Lebens, auseinander gerissen, und der Bios dem Logos unbedingt und unbedenklich übergeordnet. Womit ein Rangstreit voreilig und unsachlich entschieden wird, der in zwei langen Jahrtausenden vielleicht der stärkste Antrieb zu dem Aufbau unserer europäischen Gesittung war und uns jedenfalls in dieser ganzen Zeit geschichtlich bei Atem erhalten hatte. Nunmehr aber heißt der Zweck und Sinn des Lebens Leben selbst und darf dem Leben nicht länger durch eine metaphysische, richtiger metabiotische Einlegung vom Geist oder der Vernunft her unterstellt werden. Die einmal angetretene Erscheinung aber des Lebens, sei sie collectivum , sei sie individuum , gilt als das höchste Gut, dem gegenüber jedes Leben [S. 385] digen höchste Pflicht darin besteht, sich selber bis zum eigenen Untergang und noch darüber hinaus lebendig auszuwirken: koste es, was es wolle; koste es sogar die Vernichtung, die Zerstörung aller übrigen Erscheinungen des Lebens. Das Leben selbst, im christlichen Europa ganz folgerichtig ergriffen und begriffen als das höchste Gut, schwillt tosend über alle Dämme, und da ist kein Opfer vornehm und edel genug, — am wenigsten aber das einst so gefürchtete, jetzt leichthin dargebrachte sacrifizio dell’intelletto ! — welches nicht mit Recht von ihm gefordert werden dürfte. Kindlich über die Maßen das alte Vorurteil, menschlicher Verstand oder Geist könnten das Leben meistern oder wenn nicht geradezu meistern, so wenigstens gängeln oder zügeln. Kindlicher noch das Vorurteil, das Leben als solches sei da, um höheren Vernunftabsichten, sittlichen Weltordnungen, göttlichen Heilsplänen irgendwie zu dienen. Bis hierher freilich war das Menschenleben in seiner vorbildlichsten Führung wesentlich ein Dienen, und wer am würdigsten gelebt hatte, der durfte am rühmlichsten zuletzt von sich bekennen: In serviendo consumatus sum , im Dienen hab’ ich mich aufgezehrt... Aber derlei Romantik ist jetzt wahrlich nicht mehr an der Zeit, der fortgeschrittenen. Das Leben ist erfaßt als Unbedingtheit, Unbezüglichkeit. Vielleicht als das letzte sogenannte absolutum unserer abendländischen Philosophie hat es niemanden und nichts mehr über sich, dem es selbst beim besten Willen dienen könnte, — indes ihm selber, wohlverstanden, alles dienen muß und soll. Ars longa, [S. 386] vita brevis , sagte sich vormals der europäische Mensch zu seinem Trost und seiner Stärkung, wenn er sein kleines Leben an große Dinge demütig und dennoch stolz dahin gab. Vita longa, ars brevis , lächelt er jetzt (etwas beklommen und beklemmend freilich) sich selber zu, wenn er im heißatmigen Föhn des Lebens all’ die zarten und zartesten Flocken schmelzen sieht, die er im Ablauf der Zeit zu den herrlichen Kristallgebilden seiner geschichtlichen Kulturen, wie er einst meinte und hoffte, für die Ewigkeit geformt hat. Weh’, ihm schmolz im Föhn des Lebens auch der Kristall der Ewigkeit dahin, und unter dem niederschmetternden Eindruck dieses unvergleichlichen Verlustes geschieht es denn, daß er seine letzte Rückkehr zur Natur, zum Leben in Szene setzt, — diese Rückkehr, zu welcher man ihn seit anderthalb Jahrhunderten mit immer größerer Dringlichkeit zu überreden bemüht gewesen ist: bezeichnenderweis von demselben Frankreich aus, welches nunmehr in Henri Bergson den Vollender und Vollstrecker unseres europäischen Biologismus verkörpert zeigt. Der Europäer, sag’ ich, kehrt einmal noch zurück zur Natur, enttäuscht von allen bisherigen Kulturen. Er kehrt zurück zur Natur, will meinen, er beginnt sich biotisch, biologisch auszutoben, auszurasen, auszutanzen, — und dieser Vorgang ist am Ende immer noch wichtig genug, um unsere Aufmerksamkeit ein wenig auf sich zu ziehen.

Denn vergessen wir, ihr Christen, vor allen Dingen dieses eine nicht, daß der Europäer der heutigen Zeitläufte, längst ehe er zum Biotiker wurde, er Energetiker [S. 387] gewesen war. Energetiker zwar nicht etwa im Sinn einer besonderen physikalischen Auffassung und Deutung, sondern Energetiker ganz unmittelbar in der Betätigung seiner schaffenden und gestaltenden Kräfte. Aus dieser sehr beachtenswerten Ursache heraus kann er gar nicht umhin, sich nun auch die Tatsache des Lebens selber energetisch zurechtzulegen. Auch das Leben, ja das Leben erst recht offenbart sich ihm als ein energetisches Geschehen, als ein Umsatz von Energie in Energie, und der Lebendigste ist ihm ganz ohne Zweifel der, welcher den ‚größten Umsatz‘ hat. Wer da die meiste Arbeitfähigkeit und Arbeitkraft entwickelt, wer sich mit Energie am unerschöpflichsten geladen zeigt, ist der Lebendigste von allen und als Lebendigster ohne Frage auch der Wirklichste. Unter allen anderen, die gleichzeitig mit ihm leben und mit ihm wirken, hat er am unwiderleglichsten zu Allem recht: erlaubt ist, was da lebt, verboten nur der Tod. So lädt sich denn jeder Einzelne mit einer Menge von Lebenskräften, das ist Arbeitkräften, welche genügen würden, ihn selber samt der Hälfte der Welt in die Luft zu sprengen. Und Gott weiß, ihr Christen, die Luft um uns herum zittert von den Stößen der Sprengungen, die sich ringsherum alle Augenblicke ereignen: irgendwer, irgendwas fliegt in jedem Zeitteil dieser vorgerückten Zeigerstellung in die Luft... Der Einzelmensch ist nur mehr eine Zusammenballung und Zusammenkernung von positiven Kräften, die ihre Umgebung negativ laden und mit furchtbarer Gewalt von sich abstoßen. Eine unheimliche Span [S. 388] nung zwischen den einzelnen Lebensträgern entsteht und steigert sich schnell bei ihnen, ob sie nun im engern Sprachverstand als individua oder im weiteren als collectiva anzusprechen sind, zur wahren Unerträglichkeit: jedes collectivum , jedes individuum empfindet das andere schlechthin als unerträglich. Eine schreckliche Einsamkeit zieht sich um jeden Menschen zusammen wie eine schwarze Wolke, die nur noch in flammenden Blitzen redet, wenn sie nicht dann und wann etliche Tropfen auf die verschmachtende Erde fallen läßt, die aussehen wie Blut... Kaum in den wildesten Vergangenheiten mögen sich Einzelmenschen, Stände, Berufe, Klassen, Stämme, Völker, Staaten, Rassen derart indianerhaft bis zum Tod am Marterpfahl gehaßt haben wie heute, wo die frohe Botschaft vom Leben wie ein Fünftes Evangelium ergangen ist. Zu einem Sammelbecken der Energie staut jeder das Gefälle seines Lebens, aber weil er wegen der allzu großen Nähe und Widerstandskraft anderer diese gestauten Energien nirgends abfließen lassen kann, beginnt er sehr bald unter seinem eigenen Zuviel zu leiden. Aus diesem unvermeidlichen Leiden am andern nährt sich ebenso unvermeidlich sein Haß auf den andern. In diesem an sich schon übervölkerten Europa bedeutet jedes einzelne dieser lebendigen Energiezentren, Energiequanten ein Höchstmaß an Störung, Hemmung, Ablenkung für die andern mit lauter magnetischen und elektrischen Gewittern in der Folge. In unglaublichem Ausmaß hat sich ein ahnungvolles Wort Nietzsches aus seinen Niederschriften zu einer Philosophie des Willens [S. 389] zur Macht als ein prophetisches erwiesen: „Die europäische Tatkraft wird zum Massenselbstmord treiben“... Die europäische Tatkraft, will sagen der europäische Energismus und Biologismus, der den Europäer ohne jede Schutzmaßregel dem Leben und seinen Entladungen preisgibt, hat wirklich zum Selbstmord der Massen getrieben. (Was wir aber darunter ungefähr zu verstehen haben, hat der nunmehr sieben Jahre gegen Deutschland geführte Vernichtungkrieg einigermaßen offenbar gemacht)...

So hat das Leben, das Nichts-als-Leben und Nur-noch-Leben die europäische Menschheit dieser Stunde angefallen, wie es dann und wann, anscheinend grund- und ursachlos, eines jener chemischen Elemente anfällt, die der Gruppe von radioaktiven Stoffen zugehören. Das Leben befiel uns und überfiel uns gleichsam, und es leitete mit diesem Überfall anscheinend bei uns denselben Zustand des Zerfalls ein wie bei diesen mehr wie rätselhaften Elementen. Wunderbar zwar, wir alle wissen es, beginnt ein solch’ plötzlich auflebendes Element leuchtende Teilchen von sich selber fort und fort zu schleudern und alle jene märchenhaften Phänomene aufzuweisen, welche zu unserm unermeßlichen Erstaunen ein für alle mal an den Namen Radium klassisch geknüpft sind. Dies wie gesagt wissen wir alle. Aber wir wissen auch das andere, daß eben mit diesen fortgeschleuderten und vergeudeten Teilchen der atomistische Zerfall des ganzen Elementes zum Vollzug gelangt: das Element lebt auf, indem es seine eigene Substanz verausgabt. [S. 390] Zum Leben irgendwie gereizt, verführt, bestimmt, — das alles ist ja vollkommener Mythos innerhalb der Grenzen strengster Wissenschaft! — gestaltet das Element sein bisher ausschließlich physikalisch-chemisches Dasein in ein biologisches um, wobei ihm just wiederum diese Umgestaltung Sterblichkeit, Tod und Untergang bringt. Etwas ganz Ähnliches, deucht mich, geschehe nun auch hier, wo wir europäische Menschen, die wir vormals wohl ein wesentlich humanes, ja humanistisches Dasein zu führen wenigstens beflissen waren, vom Leben als solchem nun gereizt, verführt, bestimmt sind, uns einem vorwiegend biologischen Dasein unbedingt hinzugeben, — und so bringt auch uns diese Umgestaltung Sterblichkeit, Tod und Untergang. Luziferisch glutend wie ein feuerspeiender Berg in der Nacht loht heute Europa in den Bränden seiner Lebenswut und Lebensgeilheit, — aber wer wäre im ernstlichen Zweifel, was dieses prachtvolle Nachtschauspiel, Machtschauspiel zu bedeuten hätte! Ein oder zweitausend Jahre europäischen Christentums haben endlich auch die verborgensten Voraussetzungen des Christentums zum Reden und das Eis des Schweigens unter weithin vernehmlichem Krachen zum Bersten gebracht. Und sieh’ da, es zeigte sich folgendes: diese Voraussetzungen waren nicht geradezu nachweisbar falsch oder irrig, aber sie mußten irgendwie dennoch lückenhaft und unvollständig gewesen sein, denn ihnen mangelte offenbar etwas zum Schutz gegen des Lebens Un- und Übermaß. Sicherlich hat das Christentum niemals Ja gesagt zu den selbstzerstörerischen Konse [S. 391] quenzen, welche ein nunmehr abgelaufener Äon mit zunehmender Unzweideutigkeit aus dem Christentum selbst gezogen hatte. Aber ebenso sicherlich hilft ihm auch die ehrlichste Verwahrung und Entrüstung nichts, daß es trotz alles Gegenscheins zuletzt doch christliche Voraussetzungen gewesen, oder sagen wir etwas vorsichtiger und gerechter: mit-gewesen sind, welche diesen Konsequenzen zugesteuert haben. Genau diesen nämlichen Konsequenzen würde homo europaeus , homo christianissimus unabänderlich noch einmal zusteuern, falls er durch die Vergangenheit noch nicht genug gewitzigt, noch einmal sich entschließen würde oder entschließen könnte, als Christ seine Geschichte von vorne zu beginnen: „Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen, Zum Ritt ins alte romantische Land“... Unabänderlich würde der europäische Christ auch bei einer Wiederholung seines weltgeschichtlichen Pensums seine persönliche Selbstverwirklichung, Selbstverlebendigung um jeden Preis zum letztgewollten Ziel seines Daseins machen, nachdem es nun einmal sogar seine Religion nicht besser kennt und weiß, als daß Lebenseinheit und Ichgestalt, Individuität und Personität die letztmögliche und höchstmögliche Ausformung des Wirklichen überhaupt darstellten ... Gegen diese Wucherungen der Individuität, die sich notwendig aus dieser Auffassung ergeben müssen, kann man post festum mancherlei taugliche Maßregeln ergreifen, wie sie der Herr des Evangeliums und die sogenannte christliche Ethik denn auch in der Folge mit größerer oder geringerer Ent [S. 392] schiedenheit ergriffen haben. Aber alle diese Maßregeln sind im besten Fall nur dazu geeignet, die Selbstsucht und den Eigentrutz der einzelnen Person etwa ein wenig abzuschwächen oder gelegentlich sogar zu unterdrücken zugunsten der Selbstsucht und des Eigentrutzes einer anderen Person: beides jedoch von innen heraus zu überwinden, vermögen auch diese Maßregeln keineswegs bei der Grundsätzlichkeit der christlichen Gesamteinstellung zu Welt und Wirklichkeit Dasein und Leben...

Indessen sei es nochmals hier mit allem Nachdruck bemerkt, daß uns nichts dazu berechtigen würde, diese Gesamteinstellung des Christentums zu Welt und Wirklichkeit eine irrtümliche oder falsche zu nennen. Wahr oder Falsch, Wahr oder irrig, das sind wahrhaftig nicht die Maßstäbe, die an die entscheidenden Einstellungen des Menschen zur Welt und zur Wirklichkeit gelegt werden dürfen, wenn sie nicht zu Weiterungen führen sollen, die handgreiflich unzulässig, weil unsinnig und widersinnig sind. Es geht nicht an zu sagen, zwei Jahrtausende europäischen Christentums seien abwegig, irrig oder falsch gewesen. Das Schicksal ganzer Kontinente ist so wenig wie das Schicksal eines Individuums rückblickend anders vorstellig zu machen, als es eben gewesen ist, und wenn jemals das gewaltige Wort vom amor fati angewendet zu werden verdient, so hier. Ist es aber, ihr Christen, unter keinen Umständen zulässig zu behaupten, zweitausend Jahre christlichen Weltauffassens, Lebensgestaltens seien verkehrt gewesen, — so dürfte anderer [S. 393] seit freilich die Behauptung doch ihren guten Sinn haben, daß diese zwanzig Jahrhunderte ein Verhältnis zur Wirklichkeit für allein möglich, allein wertvoll und allein sälig machend erachtet hätten, dessen Einschichtigkeit, Unvollständigkeit, Halbschlächtigkeit uns unter dem Druck und Eindruck gegenwärtiger Erfahrungen offenbar geworden ist. Die Behauptung ist erlaubt, die Behauptung ist gefordert, daß wir mit dieser christlichen Einstellung allein nicht länger als Menschen zu leben vermögen: nicht länger zu leben mit einer Einstellung, welche just das Dasein europäischer Menschheit und Christenheit, wie es heute geführt werden muß, zum mensch- und tierunwürdigsten aller Zeitalter stempelt. Wer die Europa-Dämmerung dieser Jahre erlebt, wer sie erlitten hat, der wird den Argwohn nimmer in sich unterdrücken können, daß diese ganze christliche Gesittung bei der Veranschlagung des Lebens eine unbekannte Größe, — es braucht mit nichten ein unbekannter Gott zu sein! — vergessen haben möchte, welches Vergessen dann in der Folge zu all den unsäglichen Störungen des Lebens führt, die wir heute an uns selbst und am Körper der Gesellschaft beobachten müssen...

Vielleicht wär’ es dabei von etlichem Gewinn, uns an dieser Stelle zuletzt der nicht ganz unähnlichen Krisis zu entsinnen, welche auf wissenschaftlichem Gebiet heute bekanntlich die klassische Mechanik durchzumachen hat. Diese klassische Mechanik, seit langem das verwöhnteste Kind europäischer Wissenschaftlichkeit, wankt heute ja, genau wie der Bau [S. 394] unserer ganzen Gesellschaft, in ihren unterirdischsten Gewölben, und dieser Tatbestand hat seither zur Entdeckung eines Weltgesetzes Anlaß gegeben, welches den Gebildeten unter dem Namen des Satzes von der Relativität, das ist: Verhältniswertigkeit, allgemein bekannt geworden ist. Nun wohl! Was ist dabei im letzten Sinn geschehen? Etwas im Grunde sehr Schlichtes, Einfältiges, Allzumenschliches, wie mir scheinen will. Eine Wissenschaft nämlich, bis vor kurzem die Wissenschaft schlechthin, hat als die sogenannt klassische Mechanik der Galilei, Kepler, Newton, Descartes ein Weltbild in Begriffen entworfen und bis in die feingliedrigsten Einzelheiten hinein durchdacht und durcharbeitet, welches gewissermaßen die Wirklichkeit, wie sie an und für sich sei, darzustellen beflissen war: die Wirklichkeit mithin ganz ohne jene erkenntnismäßigen Zutaten, Zusätze, Formungen, mit welchen sonst (nach philosophischer Auffassung wenigstens) das erkennenwollende und erkennende Ich diese Wirklichkeit ‚subjektiv‘ zu färben und zu tönen pflegt. Auf diese Weise hatte die klassische Mechanik von Masse, Geschwindigkeit, Bewegung, Schwerkraft, Raum und Zeit gesprochen, — nicht anders, als ob derlei Wesenheiten vollkommen unabhängig von allen Einstellungen und Beeinflussungen jenes erkennenden, beobachtenden und rechnenden Ich an und für sich bestünden. Das ging solang es ging: just nämlich solang, bis zuletzt sogar die Planeten widerspenstig wurden und nicht mehr in den errechneten Zeiten ihre errechneten Bahnen zurücklegten. [S. 395] Die klassische Mechanik der Galilei, Kepler, Newton, Descartes hatte so getan, als ob eine wissenschaftliche Darstellung des unbegrenzt großen Körpers ‚Welt‘ zu geben wäre, ohne daß man die Einwirkungen weiter berücksichtigte, welche der kleine und begrenzte Körper ‚Mensch‘ auf jede derartige Darstellung notwendig schon durch seine unumgängliche Gegenwart ausüben mußte. Jetzt endlich unter dem Druck der gedachten Umstände begann man sich dieser Einwirkungen des physiopsychischen Systems Mensch auf das maschinelle System Welt grundsätzlich zu besinnen; jetzt traf man Anstalten, jenes System als den lebendigen und insofern auch abhängig-veränderlichen ‚Bezugknoten‘ in die Maschen des wissenschaftlichen Begriffsgespinstes hinein zu stricken. Die vorher unbedingt gedachte, unbedingt gesetzte Wirklichkeit bewegter Massen im Raum erwies sich jetzo als bedingt, nämlich durchaus als zugeordnet und folglich als verhältniswertig und verhältnismäßig zu diesem lebendigen Bezugknoten Mensch. Dieser Gedanke war kaum in seiner grundsätzlichen Bedeutsamkeit zugelassen worden, als die Störungen zum Verschwinden gebracht werden konnten, welche schließlich die gesamte klassische Mechanik in Frage gestellt hatten. Im wesentlichen handelte es sich nur noch darum, jenen neu aufgefundenen Bezugknoten in seinem veränderlichen Wert irgendwie mathematisch-analytisch in die Rechnung einzufügen, — ein Vorgang, dessen Wie uns hier begreiflicherweis nichts weiter angeht. Wohl aber gibt uns das Daß desselben, obgleich auch [S. 396] seinerseit in erster Linie eine Angelegenheit der Mechanik, einen schätzbaren Wink, wie man etwa auch außerhalb der strengen Wissenschaft Unstimmigkeiten und Störungen einschneidender Art zu beheben vermöchte: Unstimmigkeiten und Störungen wahrhaftig nicht in den Umlaufbahnen des Merkur oder in der Fortpflanzungrichtung der Lichtstrahlen, sondern Unstimmigkeiten und Störungen in der Gesamtlebensführung eines Zeitalters, — Unstimmigkeiten und Störungen so schwerster, ausschweifendster, verderblichster Art, daß sie schließlich die allgemeine Tatsache des Lebens selber gefährden müssen. Jene klassische Mechanik euerer Galilei, Kepler, Newton, Descartes, ihr Christen, hatte den wechselnden Bezugknoten Mensch und menschlicher Beobachter bei ihrer mathematischen Substruktion einer dreidimensionalen Weltwirklichkeit in Anschlag zu bringen vergessen: einen veränderlich-abhängigen Wert also je nach der örtlichen Einstellung zu den wahrgenommenen Erscheinungen und Erscheinungabläufen. Das Christentum aber, welches nun einmal euer europäisches Schicksal geworden ist, ihr Christen: dies Christentum hat unzweifelhaft etwas anderes vergessen. Was dieses andere freilich sei, ist schwer zu sagen, schwer zu suchen, schwer zu finden...

[S. 397]

Sichten wir noch einmal alles ineinander, was hier gesagt ward über das Verhältnis des europäischen und mithin doch wohl auch des christlichen Menschen zu seiner Welt, so wäre etwa als grundsätzlicher Ertrag das Urteil festzuhalten: der Abendländer formt diese Welt aus seinen Sinnen und mit seinem Sinn restlos in eine Unendlichkeit gestaltartiger Gebilde aus. Das All zerlegt sich ihm in wechselnd wechselseitige Beziehung solch wohl ausgeformter, festabgegrenzter Gegenständlichkeiten zueinander, und vollends das Leben erscheint ihm lediglich unter dem Gesichtswinkel ewig bewegter und veränderlicher Grundgestalt. Die Wirklichkeit des Europäers ist durchgängig aufgeteilt in letzte Einzelnheiten, letzte Einheiten, die er schon früh in seiner dreitausendjährigen Geschichte die Unteilbarkeiten, ἄτομοι, individua zu nennen liebte. Nichts liegt seiner Gewohnheit ferner als der Argwohn, diese vielfach gegliederte Wirklichkeit könne am Ende doch nicht das Wirkliche schlechthin sein, und buchstäblich hat er sein Sach’ auf Sich gestellt, wofern er sich die ganze wahrnehmbare und unwahrnehmbare Welt so deutet, als ob sie sich zusammensetze aus lauter mehr oder weniger ähnlichen Wiederholungen seiner eigenen Individuation. Im fließenden Wandel der Gestaltungen deucht ihn die Gestalt allein das Dauernde und Beharrliche, und sein Blick erlischt, sein Auge erblindet jäh, wo man es abzuziehen trachtet von den streng ausgeprägten Gegenständen und genau abgegrenzten Besonderungen seiner vielgegliederten Wirklichkeit. Die Welt unter [S. 398] worfen dem Gesetz fortschreitender Besonderung, das ist die vorzugweis abendländische Welt, und wo das Gesetz nicht mehr gilt, wird mit naiver Selbstverständlichkeit angenommen, daß auch die Welt selber nicht mehr gelte. Diesseit und jenseit der Unterscheidung beginnt das Nichts und Abernichts, — das ist europäische Einstellung und Überzeugung, und wir hier vermögen jetzt sogar zu begreifen, inwiefern dies christliche Einstellung, evangelische Überzeugung gewesen ist. Wie der mathematische Dividendus einer rationellen Zahl durch Teilung restlos aufgeht in seine Divisoren, so geht die abendländische Wirklichkeit restlos in ihre Besonderungen auf. In dieser Auffassungweise verrät sich ein gar nicht auszurottender Rationalismus europäischen Weltdenkens und Weltwissens, auch wenn dieses Weltdenken und Weltwissen seit der Mathematik der Griechen aufs tiefste sich beunruhigt zeigt von dem Problem des Irrationalismus, bis dieser Irrationalismus schließlich in der gegenwärtigen Philosophie Deutschlands, Frankreichs, Amerikas Trumpf geworden ist. Die Welt ein aufteilbares Ursein, die Welt grundsätzlich ein Dividuum , und nur die letzten Einheiten ihres Bestands unteilbares Dasein oder Individuum : in dieser Deutung krönt die Abendlandsmenschheit ihr höchstes Wissen von der Wirklichkeit.

Nicht aber krönt in derselben Deutung die indische Menschheit dieses ihr Wissen, und am wenigsten der Buddho mit Namen Gotamo. Wer die unermeßliche Paradoxie, welche für abendländischen [S. 399] Geschmack der Lehre und Tat des Buddho immer anhaften wird, mit ihrer ungeminderten Wucht auf sich prallen lassen will, braucht sich nur diesen nämlichen Umstand zu vergegenwärtigen: denn die Erfahrung einer vollkommen entstalteten und entformten Wirklichkeit diesseit und jenseit aller Besonderungen und Unterscheidungen, diese Erfahrung aller Erfahrungen macht geradezu das religiöse Erlebnis des Buddho aus: namentlich aber besteht das gotamidische Mysterium der Erlösung einzig und ausschließlich in der vollbrachten Ablösung von eben dieser Wirklichkeit restloser Ausformung und Ausgestaltetheit. Wo Sinn und Sinne des europäischen Menschen unermüdlich in eine gestalthafte Welt schweifen und mit der Schärfe astronomischer Refraktoren sogar noch jede nebelungewisse Milchstraße am Himmel in ein Gewimmel von lauter einzelnen Sternen optisch zerbrechen, da sammelt sich der Geist des gotamidischen Menschen in stiller Einfaltung auf das versiegelte Geheimnis einer Gegen-Welt, für welche jeder Begriff von Gestalt, Form, Mannigfaltigkeit, Unterschied, Einzelheit, Größe oder Zahl seine Gültigkeit einbüßt. Diese Wirklichkeit des Abendländers ist mehr oder weniger eine Vervielfältigung seiner selbst, eine Vervielfältigung seines Selbstes. Jede Erscheinung seiner Umwelt dünkt ihn gleichsam ein Doppelgänger seines Ich, wie er denn unbefangen genug eben sein Ich der gesamten Wirklichkeit als ihr individuelles Modell philosophisch unterstellen zu dürfen wähnt. Das Ich setzt Sich und das Ich setzt das Nicht-Ich, sagt Fichte [S. 400] bekanntlich mit einer verräterischen Offenherzigkeit, und er hätte vielleicht gut getan hinzuzufügen: das Ich setzt das Nicht-Ich als das Spiegelbild und Ebenbild des Ich...

Natürlich kann und darf man nun nicht behaupten, daß diese gestalthaft besonderte und ausgeformte Wirklichkeit für Gotamo und den gotamidischen Menschen nicht vorhanden wäre. Auch der östliche Mensch, das versteht sich, schafft sich seine Welt und seine Wirklichkeit ihm zum Bilde, wenn er auch in der Ausformung und Aufteilung dieser Welt, in ihrer Zerlegung und Zerfällung nicht annähernd so weit gegangen ist wie der wissenschaftlich verfahrende Europäer. Im Unterschied zu diesem betrachtet er jedoch diese instinktiv betriebene Vermenschlichung der Welt keinen Augenblick als Endgültigkeit, und zwar eben darum nicht, weil sie der Welt sein menschheitlich geprägtes Selbst zugrunde legt: denn just dieses menschheitlich geprägte Selbst betrachtet er keinen Augenblick lang als Endgültigkeit. Vielmehr wertet er es kühl und besonnen, wie etwa ein scharfer Denker eine wohlgelungene Gleichnisrede bewertet, von der er nur allzu gut weiß, daß sie das Unsägliche zwar immerhin in einer gewissen Sinnfälligkeit verdeutlicht, — verdeutlicht aber eben doch nur in der Weise einer Gleichnisrede. Allzu treuherzig, allzu leichtgläubig nimmt dagegen der Abendländer sein eigenes Selbst für bare Münze, mit welcher er alle großen und kleinen Forderungen der Welt begleichen zu können wähnt, indes der Buddho, längst nicht [S. 401] mehr treuherzig und noch weniger leichtgläubig, die mehr wie fragwürdige Beschaffenheit auch dieses Selbstes durchschaut hat: er ahnt ein rätselhaftes Sinnbild, wo sich der Abendländer kindisch an die sogenannte Wahrheit klammert. Die Annahme, diese durchgängig menschheitlich gebildete Wirklichkeit, welche den Kosmos als den Makranthropos, Megistanthropos, den Anthropos und Autos zuletzt aber als den Mikrokosmos begreiflich zu machen glaubt, sie könnte die Wirklichkeit schlechthin oder die einzig ‚wahre‘ Wirklichkeit sein, — diese Annahme hätte der Buddho schwerlich für glaubwürdiger erachtet, als wenn zum Beispiel aus der Schar der Wesenheiten ein Wurzelfüßer, eine Koralle, ein Ringelwurm, eine Schnecke, eine Wespe, ein Sperling vor ihn hingetreten wären mit der geflissentlichen Beteuerung: Diese meine Wurzelfüßerwelt, o Gotamo, ist die Wirklichkeit schlechthin, ist die einzige und wahre Wirklichkeit! Diese meine Korallenwelt, diese meine Ringelwurmwelt, diese meine Schneckenwelt, diese meine Wespenwelt, diese meine Sperlingwelt, o Gotamo, ist die Wirklichkeit schlechthin, ist die einzige und wahre Wirklichkeit! Wähne doch ja nicht, Herr, daß es da neben oder außer oder über oder unter oder zwischen dieser jeweiligen Welt noch eine andere Welt gäbe, etwa eine sogenannte Menschenwelt, oder gar, verzeih’ uns! eine gotamidische Welt, von der wir wahrlich weder etwas zu ertasten noch zu erriechen, zu erschmecken, zu erspähen vermögen!... Ich meine, das Lächeln ist zu erraten, mit welchem der Buddho diesen vielerlei Wesenheiten ihr ungebärdiges Drängeln, [S. 402] ihr unvernünftiges Schwören, ihr lästerliches Pressen beantwortet hätte. Ein begütigendes, ja ein überredendes Lächeln, welches am Ende die klügsten dieser unduldsamen Geschöpfe zu der neuen Einsicht geführt haben möchte, daß ihre jeweilige Welt, eben weil ihre, nur ihre Welt, nun und nimmer mit der Welt überhaupt dem Umfang und Inhalt nach sich decken könne. Und vielleicht, wer weiß, hätte sich der Buddho sogar noch zu der Erläuterung herbeigelassen: Ein jegliches von euch guten Wesen schuf sich seine Welt nach Maßgabe und Bedarf seiner eigenen Gestalt. Wie aber die Gestalt von euch Wurzelfüßern, Korallen, Ringelwürmern, Schnecken, Wespen, Sperlingen sowohl im einzelnen wie der ganzen Gattung nach vergänglich ist, so ist auch euere ganze Welt vergänglich. Unvergänglich, unsterblich, ewig aber ist allein, was nicht und nirgendwo Gestalt annahm nach euerer Gestalt, und darum nirgends auch Gestalt verlieren kann, ihr Wesen... „Weiter sodann, Ânando: nach völliger Überwindung der Formwahrnehmungen, Vernichtung der Gegenwahrnehmungen, Verwerfung der Vielheitwahrnehmungen gewinnt der Mönch in dem Gedanken ‚Nichts ist da‘ das Reich des Nichtdaseins. Und was dabei noch fühlbar, wahrnehmbar, unterscheidbar, bewußtbar ist, solche Dinge sieht er als wandelbar, wehe, siech, bresthaft, schmerzhaft, übel, gebrechlich, ohnmächtig, hinfällig, eitel, als nichtig an. Und von solchen Dingen säubert er sein Herz. Und hat er sein Herz von solchen Dingen gesäubert, so lenkt er es zu ewiger Artung hin: ‚Das ist die Ruhe, [S. 403] das ist das Ziel: dieses Aufgehn aller Unterscheidung, die Abwehr aller Anhaftung, das Versiegen des Durstes, die Wendung, Auflösung, Erlöschung‘“...

Es gibt also eine Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen, diesseit und jenseit aller Besonderungen, diesseit und jenseit aller Gestaltungen, diesseit und jenseit aller Mannigfaltigkeiten. Es gibt eine Welt, von keinem Begriff zu umspannen und von keinem Wort zu treffen, und dennoch eine unumstößliche Gewißheit. So sicher wie es über der Wurzelfüßerwelt eine Korallenwelt gibt, über der Korallenwelt eine Ringelwürmerwelt, über der Ringelwürmerwelt eine Schneckenwelt, über der Schneckenwelt eine Wespenwelt, über der Wespenwelt eine Sperlingwelt, über der Sperlingwelt eine Menschenwelt, so sicher gibt es über der Menschenwelt eine solche, die überhaupt nicht mehr dieser oder jener Art von Lebewesen und ihren leiblich-geistigen Erkenntnismitteln entspricht: ein Welt-Sein nicht für diese oder jene Wesen, sondern ein Welt-Sein schlechtweg, ein Welt-Sein an und für sich, — ein Welt-Sein mithin, wie es in ihren lichtesten Augenblicken sogar die europäische Philosophie geahnt hat. Von dieser Welt als ‚Ding an sich‘, die von keinem irgendwie beschaffenen Wissen erreicht wird und erreicht werden kann, weil es ein Wissen in unserm menschheitlichen Sinn nur dort gibt, wo unterschieden und besondert und gestaltet und vermannigfacht wird, — von dieser Welt ist dennoch eine Kunde zu dem Buddho hingedrungen. Es ist eine Kunde zu ihm gedrungen in Form einer [S. 404] schwer erkämpften, schwerer noch bewahrten Seelenverfassung, die eben als solche nicht mehr dieser, sondern jener Wirklichkeit entspricht: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel; dieses Aufgehen aller Unterscheidung, die Abwehr aller Anhaftung, das Versiegen des Durstes, die Wendung, Auflösung, Erlöschung...“ Denn in der Tat gesetzt den Fall, diese Allerwelts-Wirklichkeit unserer menschheitlichen Sinneswahrnehmungen entstehe gerade dadurch, daß wir ihr unser vorgefundenes Selbst irgendwie als ihr Vorbild, Urbild, Musterbild zu beliebiger Vervielfältigung unterstellen, — müßte es denn nicht in genialischer Umkehrung dieses Sachverhaltes grundsätzlich möglich sein, durch planmäßig betriebenen Abbau dieses Selbstes auch die ihm angepaßte, ihm entsprechende Wirklichkeit abzubauen? Dies muß möglich sein und dies ist möglich. Denn just dieser Abbau des Selbstes gelangt zum Vollzug, wenn der Buddho auch das Selbst der Grundformel seiner Heilslehre unterwirft: ‚ N’etam mama , das gehört Mir nicht!‘ Auch Ich selbst gehöre Mir nicht, auch Ich selbst bin nur eine veränderliche Gestalt, ein gleitendes Werden unter veränderlichen Gestalten und unter gleitendem Werden. Auch Ich selbst habe weder Bestand noch Dauer; auch mein Selbst durchläuft nur die Grade der Wirklichkeit vom Nullwert bis zu einem bestimmten Höchstwert und von diesem Höchstwert wieder zum Nullwert...

Dennoch ist es aber eben dieses Selbst, ich sagte es schon mehrmals, welches sich gleichsam quer wie [S. 405] eine starke Schwelle vor die Welt des Abendländers legt und nichts in das Erlebnis dringen läßt, was nicht irgendwie diesem Selbst gleich oder ähnlich ist: das individuum , von sich und seiner Erstgültigkeit, Letztgültigkeit ein für allemal durchdrungen, stimmt seinen gesamten aufnehmenden und empfangenden Apparat wiederum nur auf das individuum ab und baut sich auf diese Weise seinen Kosmos, der zuletzt nichts anders ist als das, was nach dem Dafürhalten Platons das vollkommene Staatswesen sein sollte und sein wollte, — nämlich der Mensch im Großen und Größesten, der Makranthropos, der Megistanthropos!... Nun wohl! Setzen wir jetzt einmal, dem Vorgang des Buddho folgend, den Wert dieser Schwelle gleichsam zum Versuch soweit herab, daß er sich der Null annähert: sind wir alsdann in diesem Fall unserer ganzen Voraussetzung gemäß nicht zu der Erwartung berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet, daß diesem veränderten Schwellenwert ein verändertes Erleben von Wirklichkeit und Welt wechselbezüglich entsprechen wird? Dürfen wir jetzt nicht mit Recht und Fug erwarten, daß über diese nunmehr beinah’ eingeebnete Schwelle ausgeformter Eigenheit, Einzelnheit und Besonderheit das Erlebnis einer zwar unausgeformten und darum auch unausdenklichen und unaussprechlichen, dennoch aber bestehenden Weltwirklichkeit auf wunderbare Art vorgelassen, zugelassen wird? Dies nun freilich keineswegs so, als ob diese Gegenwelt zu unserer Welt, unseren Erkenntnismitteln als solchen unzugänglich, trotzdem nachträglicherweis [S. 406] und hinten herum von unserem Verstand noch etwa auf frischer Tat zu ertappen wäre: als ob man doch irgendwie durch allerlei Künste der Verdrehung diese verborgene Welt auf Einen Nenner mit unserer offenbaren Welt zu bringen vermöchte. Davon ist keine Rede. In keinem Augenblick verfällt der Buddho auf den plumpen Irrtum der europäischen, insonderheit aber deutschen Philosophie nach Kant, die sich in totgeborenen Versuchen erschöpft, das verbotene Ding an sich einer Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen doch noch heimlich auszukunden. Mit solchen Bemühungen einer sich in lächerlichen Graden selbst mißverstehenden Wissenschaftlichkeit hat der Buddho im mindesten nichts zu schaffen. Die vollkommen unverbrüchliche, niemals zu entsiegelnde Unerkennbarkeit dieser uns nun einmal abgekehrten Seite der Welt gilt gleichmäßig für die wissenschaftliche Neugier der Philosophen und Kosmologen wie für die nicht mehr wissenschaftliche, aber desto unbezähmtere Neugier der Theosophen und Okkultisten, und sie wird mit solcher Strenge geachtet, daß man umsonst im ganzen Pâli-Kanon nach einem Ausdruck fahnden würde, der diese Gegenwelt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen auch nur durch Verneinungen zu bezeichnen bestimmt wäre. Denn was das gotamidische nibbânam oder nirvânam betrifft, mit welchem wir neuzeitlichen Europäer denselben taktlosen Unfug, um nicht zu sagen dieselbe schamlose Unzucht getrieben haben wie mit dem Tao des großen Lao-Tse, dieses nibbânam oder nirvânam heißt ja [S. 407] doch, entsinnen wir uns, nichts anderes als Wunschversiegung, Wunscherlöschung, Wunschverwindung. Alles, was wir demnach von dieser Gegenwelt wissen können, beschränkt sich auf einen selbsttätig erzeugten Zustand und Urstand des Gemütes und schließt jedes Urteil, jedes Bild, jede Vorstellung von der Wirklichkeit aus, die diesem Zustand oder Urstand entsprechen mag. Was von jener entformten und entstalteten Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen etwa als Ahnung in die Seele des entselbsteten Menschen dringt, das wäre höchstens jenem zarten, falben, feierlichen Abglanz zu vergleichen, der auch in mondlosen Nächten als schwer bestimmbarer Lichtschein von unbekannten Lichtursprüngen, unbenannten Lichtquellen her durch unser irdisches Geräume träuft und flutet...

Dieser gotamidisch entselbstete, gotamidisch enteignete Mensch, soviel mag uns am Ende sacht umschreibend zu sagen vergönnt sein, weilt fortab in einer entselbsteten und enteigneten Wirklichkeit, wo mindestens er selbst keinen Anspruch mehr erhebt auf den Besitz eines lebendigen Wesens oder eines toten Dinges: wo mindestens er selbst nie mehr die Hand legt auf irgend jemanden oder irgend etwas, um es zu seinem Eigentum zu machen. Mit seiner unvergeßlich einprägsamen Formel ‚ N’etam mama , das gehört Mir nicht, Ich selber gehöre Mir nicht, das All und Alles gehört Mir nicht‘, — mit dieser ewigen Formel eines allgemeinen Freispruchs, Losspruchs, Ledigspruchs streicht der Buddho aus dem Schatz [S. 408] unserer Sprache jedes besitzanzeigende Für-Wort und Wort: streicht er über das Wort hinaus jede Tat der Aneignung und Besitzergreifung aus der Vollzahl aller Taten. Mit diesem Handgriff, diesem Geistgriff von beispielloser Entschiedenheit versetzt sich der Buddho mitten hinein in eine vorher nie auch nur geträumte Wirklichkeit, wo jeder Titel des Besitzes selbst im geläutertsten Sprachverstand erloschen und jede Gebärde der Besitzergreifung verboten ist: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel! Das ist die Wendung, Auflösung, Erlöschung.“ An diese ganze hochgebäumte Menschenwelt und Menschenumwelt legt der Buddho seine Axt, indem er einen unübertrefflich genauen und nervigen Hieb durch die Wurzel führt, aus welcher die erstickende Wucherung aller irdischen Individuation und Spezifikation als Geiltrieb in das Kraut schießt. Denn Wille zur Besitzergreifung und Aneignung, Wille zum Nießbrauch und folglich auch zum Mißbrauch fremden Seins und fremden Wesens heißt die Wurzel dieser Menschenwelt: die Axt aber, die sie mitten auseinanderschneidet, ist die erlangte Einsicht, daß jegliches Verhältnis und Verhalten, durch welches ein Wirkliches Hand auf ein Wirkliches legt, zuletzt auf eine Täuschung, auf einen Irrtum hinauslaufen müsse. Ich selber gehöre ja Mir nicht, — wie sollte oder könnte da Mir anderes gehören? Ich selber gehöre Mir nicht, oder in der Sprache unseres westlichen Evangeliums, welches hier in gewissem Sinn seinen eigenen Voraussetzungen vorübergehend untreu zu werden scheint: Unser keiner lebt ihm selber! Mir [S. 409] selber gehöre Ich nicht, oder abermals in der Sprache dieses Evangeliums: Unser keiner stirbt ihm selber! Wahrhaftig, wer diesen Sachverhalt mit dem Geist erfaßt und mit der Seele angenommen hat, er heiße Jesus oder Gotamo, der Gesalbte oder der Erwachte: wie sollte der noch nach Besitz von Wirklichkeit gieren?

Von Haus aus gipfelt freilich alles Menschendichten und -trachten wesentlich darin, diese nun einmal angetretene Welt tunlichst mit Wirklichkeiten vollzustopfen, etwa wie ein wohlhabender Mann seine Wohnung tunlichst mit Geräten vollstopft, und diese planmäßige Vermehrung von Wirklichkeiten pflegt im weitesten Ausmaß als Vermehrung des Besitzes empfunden zu werden. In einem höchst eindeutigen, ja einsilbigen Wortverstand ist für uns alle das Gesetz der größten Zahl bestimmend: je mehr Wirklichkeit, desto besser für uns, die wir wirklich sind! Wie der Bauer einen unersättlichen Hunger nach Land verspürt, so hungert uns alle ganz unersättlich nach Wirklichkeiten gleichviel welcher Art, und es verdient bemerkt zu werden, daß wir diesen Hunger als die sacra auri fames schon frühzeitig heilig gesprochen haben. Vermehrte Nachkommenschaft, vermehrte Bevölkerungdichte, vermehrte Arbeitleistung, vermehrte Gütererzeugnis, vermehrte Betriebsmittel, vermehrter Umsatz, vermehrter Verkehr, vermehrter Wissensstoff, vermehrte Weltgeltung, vermehrte Bedürfnisse, vermehrte Beeindruckbarkeit, vermehrte Reizquellen, vermehrte Lustgefühle, — all das bedeutet grundsätzlich eine unendliche Steigerung dessen, was der Einzelne [S. 410] möglicherweis sich aneignen kann. Je zahlreicher die Wirklichkeiten, desto häufiger und mannigfaltiger die Gelegenheit, von ihnen her Wirkungen zu empfangen, auf sie Wirkungen zu übertragen und schließlich in beiderlei Geschehen die eigene Wirklichkeit zu bereichern. Jede neue Wirklichkeit, sei sie nun ein Gefühlsreiz, eine Erfindung, ein Kunstwerk, eine Gründung, eine Heilquelle, ein Weltbegriff, kann von jedem Mitglied der menschlichen Gesellschaft besessen und eben dadurch dem Zweck von dessen Selbstverwirklichung dienstbar gemacht werden: wird doch sogar das geliebte Weib vom Mann geliebt, damit er ‚von ihr Besitz ergreife‘, — will doch sogar die Liebe selbst (nach einer großen Aufrichtigkeit der Sprache) besitzen, was sie liebt, und im Besitz der Liebe Wirklichkeit genießen... Womöglich einmal aber in den Besitz aller Wirklichkeiten überhaupt zu gelangen und ihr Inhaber, ihr Herr, ihr Gott zu sein, womöglich einmal alle Wirklichkeit wie ein Weib zu umfangen, — das ist der brünstige Traum, der vielleicht jeden einmal in einer schwachen oder starken Stunde anfällt. Denn wer mehr besitzt, der ist mehr; wer mehr ist, der ist auch mehr wert, — diese ebenso naive wie zynische Schätzung, welche ganz unbedenklich Rang und Wert der Wesen nach ihrer Fähigkeit zur Aneignung und Besitzergreifung bemißt, entbehrt trotz aller Einwände, die wider sie erhoben werden können und müssen, dennoch von dieser gewohnheitmäßigen Einstellung her auf die Wirklichkeit nicht einer höheren Berechtigung. An Wirklichkeiten und durch Wirk [S. 411] lichkeiten sich staffelweis selbst empor zu erwirklichen: das ist bewußt oder unbewußt das Ziel unbefangener Menschlichkeit. Das ist insonderheit das Ziel, dem unser heutiges Europäertum mitsamt seinen kolonialen Abkömmlingen mit Ausschließlichkeit zustrebt...

Diesem Ziel aller Ziele nun stellt der Buddho Gotamo gleichsam seine reine Umkehrung entgegen, — und dies ist wohl die weltgeschichtlich entscheidendste Leistung dieses stärksten Exponenten des indischen Kontinents! Was nach der Lehre Gotamos nottut, ist eben nicht diese Erwirklichung des eigenen Selbstes an den Wirklichkeiten der Welt neben und außer ihm. Was hier nottut, ist vielmehr ganz im Gegenteil die Entwirklichung aller Wirklichkeiten auf Grund einer zuerst zu vollziehenden Selbstentwirklichung. Und zwar hat diese notwendige Entwirklichung ganz schlicht zu geschehen durch die Besinnung auf eben jenen Sachverhalt, welchen der Buddho in die Mitte seiner Lehre rückt: Besitz von Dingen, Besitz von Wesenheiten, Besitz von Wirklichkeiten ist unmöglich, — wo er aber möglich scheint, äfft uns ein ungeheuerer Irrtum. Noch eh’ wir uns dazu überredet haben, dies oder jenes zu besitzen, ward es uns auch schon aus der vollen Hand gerissen, und unverlierbar ist allein die Gewißheit, daß dem so ist, und also auch die Folge, die wir dieser Gewißheit geben. Diese Welt, von welcher der Europäer überzeugt ist, daß er sie beherrsche, und nicht allein beherrsche, sondern ganz und gar besitze, diese Welt ist in Wahrheit Niemandens Welt, am wenigsten aber die Welt des [S. 412] Menschen. Eine Niemands-Welt, eine Niemands-Wirklichkeit ist es, die wir arme Narren in verzeihlich-unverzeihlicher Selbsttäuschung die unsrige zu nennen pflegen, und erst jenes gotamidische ‚ N’etam mama ‘ ist es, welches wie ein Donnerkeil die Nebel dieser Selbsttäuschung zerstreut und zerteilt. Als Niemandens-Welt, die Mir nicht gehört und nicht gehören kann, als Niemandens-Wirklichkeit, die Mir nicht gehört und nicht gehören kann, entweltet der Buddho diese Welt und entwirklicht er diese Wirklichkeit. Denn was wir Welt heißen und was Wirklichkeit, ist eben nur die Gesamtheit alles dessen, von dem wir wähnen, daß es als möglicher Besitz von uns besessen, als möglicher Besitz von uns angeeignet, als möglicher Besitz von uns verbraucht werden könne, — das Verbum ‚besitzen‘ heißt bekanntlich im älterem Deutsch ‚vermögen‘. Wer uns diese Möglichkeit nimmt, der nimmt gewissermaßen auch den Dingen und Erscheinungen um uns her ihre Wirklichkeit, wofern diese Wirklichkeit eben nur der Ausdruck ist für die besitzergreifende Beziehung von uns zu allen Dingen und Erscheinungen. Und das ist wohl der letzte, das der tiefste Sinn dieser vielleicht hier allzuoft benutzten, hoffentlich aber darum doch noch nicht abgenutzten Formel ‚ N’etam mama , das gehört Mir nicht‘, — wofern durch sie der Buddho vollkommen deutlich macht, daß es ein Verhältnis des Besitzes zwischen Mensch und Welt nicht gibt, leitet er damit gleichzeitig eine Entwirklichung größten Stiles dieser nie und nimmer zu besitzenden Welt ein! Denn was auch immer wir als Wirklichkeit erleben und als [S. 413] Wirklichkeit setzen, das erleben oder setzen wir im Interesse etwaniger Besitzergreifung als wirklich: indes uns alles zu fernster Unwirklichkeit verdämmert und verdampft, was ein Interesse künftiger Besitzergreifung grundsätzlich nicht zuläßt. Die scheinbar so unerschüttert wirkliche, unverwüstlich wirkliche Welt entwirklicht sich demnach in dem Augenblick, wo sie in des Wortes höchster und tiefster Bedeutung enteignet wird. Diesen paradoxen Zusammenhang von Wirklichkeit und möglicher Besitzergreifung, möglicher Aneignung dürfte von sämtlichen Menschen der Buddho zuerst durchschaut und zuerst — zerschnitten haben. Wer an die Welt der Dinge, bedeutet der Buddho uns, nicht mehr mit irgendeinem offenkundigen oder versteckten Anspruch des Besitzes herantritt, der erlebt sie auf eine andere Weise wie vorher. Was ihm vorher Wirklichkeit zu sein deuchte, das erscheint ihm jetzt gleichsam als Bild, und was er vorher rund als Körper sah, enttieft sich ihm nunmehr gleichsam zur Fläche. In unbeabsichtigter, aber darum nicht weniger eindrucksvoller Symbolik hat die buddhistische Plastik diesen Tatbestand auf ihre Art dargestellt, wenn sie den vielgestaltigen Schildereien des Menschenlebens, mit welchen sie verschwenderisch die Tempelwände des Boro-Budur schmückt, dennoch in keinem Fall die Tiefe der vollen Körperhaftigkeit zugesteht, sondern ihnen die aufgehöhte Fläche des Reliefs alleinig vorbehält: wogegen rund, körperlich, allseitig im Raum nur der Buddho selber thront, — freilich abseit vom eigentlichen Leben und seiner hinreißenden Bilder [S. 414] flucht, vollkommen aus- und abgeschieden in der Einsamkeit seiner ihm geweihten Nischen: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel“...

Eine Entwirklichung der Wirklichkeit als Ziel der Ziele anstatt der sonst betriebenen Erwirklichung an Wirklichkeiten, — hier wird der Europäer stutzig. Denn sei dieses asketische Ziel seinen lebendigsten Instinkten auch noch so widersprechend, ja widerwärtig, — irgendwann hat doch auch er sich schon einmal mit diesem Ziel befaßt: irgendwann ist er auf diesem Weg dem Buddho schon einmal ein Stück weit entgegen gegangen. Entwirklichung der Wirklichkeit: weist nicht auch dieser fremdeste aller Gedanken zuletzt wie alles maßgeblich Europäische auf den Namen Kant zurück? Gibt es nicht auch nach der unzweideutigen Erklärung Kants ein menschheitliches Verhältnis zur Umwelt, dessen Sinn und Wert sich darin ausspricht, daß der Mensch Dinge und Wesenheiten auffaßt, als seien sie gar keine Wirklichkeiten als solche, sondern ein entwirklichter Schein? Fordert nicht Kant, dieser genugsam nüchterne und jeder Ausschweifung abholde magister mundi europaei bei besonderer Gelegenheit geradezu die Preisgabe jedes menschheitlichen Interesses an dem, was eine Sache zur Wirklichkeit macht, zugunsten dessen, was eine Sache zum bloßen Schein herunterdrückt? Fußt nicht auf diesem ganz bewußten Verzicht auf das, was wirklich in allen Wirklichkeiten ist, nach dem Dafürhalten Kants die ungemeine Tatsache der sogenannten Schönheit, der sogenannten Kunst? [S. 415] Adelt nicht gerade das die Welt zur schönen Welt, daß der Mensch ihre einzelnen Gegebenheiten und Erscheinungen von ihren wirklichen Zwecken ablöst und sich selber jede Bezugnahme auf eine mögliche Besitzergreifung, mögliche Aneignung, mögliche Nutzbarmachung freiwillig zwar, aber mit desto größerer Entschiedenheit verbietet? Hat nicht mithin Kant auf seine Weise, auf europäische Weise, das ungeheuere Gesetz dieser gotamidischen Entwirklichung der Wirklichkeit anerkannt und mehr wie nur anerkannt, wenn er zwar nicht die europäische Religion, immerhin aber die europäische Kunst grundsätzlich auf den Tatbestand zurückzuführen lehrt, daß die Welt als Wirklichkeit erlebt niemals eigentlich schön sei, die Welt als Schönheit erlebt aber niemals eigentlich wirklich? Leuchtet dem europäischen Denker, wenn er also von jener Entwirklichung der Wirklichkeit durch den indischen Buddho Gotamo hört, nicht als das einzig gültige Gleichnis dieses Vorgangs eine freilich in anderer Absicht vollzogene, aber trotzdem doch vollzogene Entwirklichung auf, eine ästhetische Entwirklichung, mit welcher er sich in seiner eigenen Vergangenheit höchst sinnvoll beschäftigt findet? Und kann bei dieser seltsamen Entdeckung der europäische Denker umhin, sich volle Rechenschaft darüber abzulegen, daß diese Entwirklichung der Wirklichkeit, obzwar zugestandenermaßen viel weniger religiös als ästhetisch gemeint, des unerachtet einer Tathandlung zu verdanken ist, die man mit nicht geringerem Recht eine Ablösung, eine Ent [S. 416] sagung, eine ‚Askesis‘ zu nennen befugt ist wie die entsprechende Tathandlung des Buddho? Wo wir uns jeglichen Interesses entschlagen an dem, was die Wirklichkeiten der Welt zur Wirklichkeit stempelt, sagt Kant, da schaffen wir die Möglichkeit einer schönen Welt, die uns interesseloses Wohlgefallen einflößt. Kaum aber ist dies in seinen Weiterungen so uneuropäische Bekenntnis den Lippen Kants entschlüpft, dieses Bekenntnis zur Schönheit als einem richtigen ‚asketischen Ideale‘ im Sinne Nietzsches, ja wenn man recht verstehen will sogar als einem Asketen-Ideal entwirklichter, das heißt entgifteter und entstachelter Wirklichkeit, — kaum, sag’ ich, hat sich der repräsentative europäische Denker dieses Bekenntnis fast etwas widerwillig selber abgerungen, als schon der europäische Künstler, wir wissen es, die schwer zu ermessende Bedeutungsfülle dieses Bekenntnisses dahin erwägt und überschlägt, daß es seinerseit die Welt als Spiel zu nehmen und als Spiel zu genießen zuläßt. Kants Entwirklichung der Wirklichkeit im Vorgang der ästhetischen Einstellung zur Welt erlaubt in Wahrheit nämlich zweierlei: entweder dem Gang der Welt unbeteiligt, unverstört und ungekränkt als Zuschauer zu folgen, — und das ist ungefähr die Folgerung Schopenhauers aus Kant gewesen. Oder aber als Mitspieler spielend in das ergötzliche Spiel selber einzugreifen, — und das war die fruchtbarere Folgerung Schillers. Im einen wie im anderen Fall indes bedeutet dieses Verhalten in aestheticis eine derart unverbrauchte und zukunft [S. 417] versprechende Möglichkeit, sich auch auf europäische Weise menschlich mit der Wirklichkeit abzufinden, daß der kantische Gedanke wie ein Frühlingsüdwind die Seele Europas sogar dort, wo sie bisher am härtesten zugefroren war, auftauen macht und einen schier schon verwinterten Samen unbegreiflich schnell ins Schwellen bringt. Als Spiel betrachtet oder gar als Spiel gespielt ist diese alte Welt sozusagen über Nacht jung und hell und schön geworden; als Spiel gewertet und erlebt wird sie überhaupt erst erträglich und aushaltbar: Spiel freilich jetzt am besten und glücklichsten in jener überaus sinnvollen Bedeutung genommen, welche Karl Bücher diesem Begriff gegeben hat, wenn er von einem gewissen Zustand sagt, daß „es nur eine Art der menschlichen Tätigkeit gibt, welche Arbeit, Spiel und Kunst in sich verschmilzt. In dieser ursprünglichen Einheit der geistig-körperlichen Betätigung des Menschen erkennen wir bereits die spätere wirtschaftlich-technische Arbeit, die Hauptformen des Spiels und aller Künste“... Interesseloses Wohlgefallen aber an einer Wirklichkeit, die eben durch den Verzicht auf jegliches ‚Interesse‘ sich entwirklicht zeigt, das ist mit andern (und vielleicht auch etwas stärkeren) Worten lustvolles Genießen dieser entwirklichten Wirklichkeit: lustvolles Genießen mithin gerade dort, wo bisher der Mensch und insonderheit der christeuropäische Mensch so überwiegend von den Gefühlen dunkler Furcht und dumpfen Argwohns bedrängt war, daß er sich vor dieser seiner Wirklichkeit immer wieder [S. 418] zu den Göttern rettete. Als Kunstwerk oder Spielwerk aber scheint nun die Wirklichkeit mit einemmal entleidet, auch wenn sie voller Leids ist. Mag dieses Spiel nur niedere Komödie sein, wo sich die zerstörenden Gegenkräfte der Welt noch kurz, bevor der Vorhang fällt, in fröhlichem Gelächter innig gepaart zueinander finden, — oder mag es im Gegenteil Tragödie höchsten Stiles sein, wo Götter und Helden, feierlich den Opferreigen tanzend, am Ende der Nacht wie Sternbilder des Himmels still verbleichen und edel untergehen: dies Spiel verlockt doch immerzu, umbuhlt doch immerzu, bestrickt doch immerzu mit jener feurig kecken Überredsamkeit des Don Giovanni, welcher nicht einmal der steinerne Komtur als leibhaftiges Symbol des Todes hat widerstehen können: „Willst du mein Gast sein? — Ja!“...

Ist aber die Wirklichkeit, von Kant zuerst bei uns zum schönen Schein, von Schiller dagegen zum schönen Spiel entwirklicht, nichts anderes als ein Gebild der Kunst, dann offenbar bedarf sie zu ihrer steten Neu-Hervorbringung des Künstlers. Als Kunstwerk, Spielwerk ist diese Welt das Werk des Künstlers: der Künstler aber eben der, der alle seine menschheitlichen Spannungen im Werk zur Lösung bringt. In diesem Sinn also Wirklichkeit und Welt als Werk des Künstlers aufzufassen, den Menschen aber eben als den Künstler dieses Werks, darin besteht der wesentlich europäische Vollzug einer Entwirklichung des Wirklichen. Wie wir übrigens jetzt doch sehr bestimmt wahrnehmen, von jenem gota [S. 419] midisch-indischen Vollzug bei aller inneren Übereinstimmung des Zieles in den Mitteln tief verschieden. Denn diese europäisch entwirklichte Wirklichkeit, sie bleibt ja wohlgemerkt kraft ihrer Eigenschaft als Kunstwerk mit all den heißen Leidenschaften und Begierden, Sehnsüchten und Wünschen des Künstlers bis zum Rand geladen. Sie ist nicht trotzdem, sondern weil sie dem Künstler-Menschen nur noch Spiel ist, nicht matter, abgekühlter, lebensferner wie vorher, vielmehr im Gegenteil farbiger, glühender, atembeklemmender wie je. Der Künstler, das sehen wir jetzt deutlich, entwirklicht die Welt auf andere Art wie das Religiöse, und dementsprechend entwirklicht der Europäer die Welt auch auf andere Art wie der Inder. Selbst wo der Künstler sich seiner Absicht nach also in seinem Werk von seiner Welt erlöst und damit augenscheinlich eine religiöse Leistung zum Vollzug bringt, — und welcher Künstler wäre erfahrener in diesen Selbst- und Welterlösungen gewesen wie Goethe? — selbst dort erlöst er dessen unerachtet nur als Künstler und nicht als Religiöser. Er bringt den Lebensstrom nicht wie der Büßer in sich zum Stocken, sondern er schaltet ihn nur gleichsam wie einen Kraftstrom in einen anderen Kreislauf ein. Imgleichen bringt er den Lebensdrang in sich nicht zur Unterbindung, sondern verpflanzt ihn gleichsam nur in eine andere Welt-Seins-Lage, Welt-Scheins-Lage. Ist doch der Künstler schlechterdings der Schaffende und folglich sein Erlösen zuletzt nichts anderes als ein Schaffen: wogegen sich [S. 420] der Büßer in einer Gegenwelt aufhält, für welche der Begriff des Schaffens seinen deutbaren Sinn nicht minder wie der Begriff der Gestalt verlor. Ein Schaffen bleibt sonach das entwirklichende Spiel des Künstlers im Gegensatz zu den Erlösungen des Büßers, und derart gipfelt mit unentwegter Folgestrenge, Folgetreue dieser europäische Vollzug der Welt-Entwirklichung more aesthetico im Schaffen. Als Schaffender lernt es der homo europaeus in dieser Welt endlich aushalten; als Schaffender weiß er sie endlich zu genießen; als Schaffender erlöst er sich endlich von ihrer Wirklichkeit zu ihrer Bildlichkeit und Sinnbildlichkeit. Nicht zufällig aber, wahrhaftig nicht! ihr Christen, heißt der europäische Oberbegriff alles europäischen Philosophierens schon beim alten, niemals alternden Platon — ποίησις, das ist Erschaffung, das ist Schöpfung. „Denn die Ursache von jedwedem“, so lesen wir im Gastmahl, „was aus dem Nicht-Sein ins Sein übergeht, ist insgesamt ποίησις“. Als Schaffender wagt der Europäer, sonst vielleicht eine schlechte und mißratene species Mensch, sein heiliges Ja zur Welt zu sprechen, da auch er als Nicht-Schaffender nur das Nein aufgebracht hatte. Als Schaffender verlernt er Leidender zu sein und an der Wirklichkeit, am Leiden selbst länger noch zu leiden. Als Schaffender verlernt er im Gesetz des Schaffens den Zufall des Leidens, dem er als Nicht-Schaffender wehrlos ausgesetzt bleibt. Unendlich beziehungreich hat darum der letzte Europäer, Nietzsche, dieses Erschaffen und Umschaffen der Welt zum [S. 421] Kunstwerk, Spielwerk, Künstlerwerk auf den Namen des Künstler-Gottes Dionysos getauft: seit Messer Ariosto bis zu Byron und Shelley, seit Cervantes bis zu Hoffmann und Keller, seit Shakespeare bis zu Büchner und Grabbe, seit Pier della Franceska bis zu Delacroix und Marées, seit Meister Rabelais bis zu Balzac und Rolland, seit Orlando di Lasso bis zu Mozart und Schubert befindet sich Europa auf seiner Höhe nur dann, wenn es die goldene Flöte des Dionysos bläst. Im Zeichen des dionysischen Schaffens vollendet sich Europa, — der Rest, an Umfang ungeheuer, an Wert gering, gehört Fabrikarbeit und Werkeltag, Berufsfron und Geschäft, Gelehrsamkeit und Schulfuchserei, Dienst und Drill. Die Welt aber ein dionysisches Begebnis: so heißt bisher Europas beste Stunde, so heißt bisher Europas ewigste Vollendung, die ihm niemand, nicht einmal der Europäer, streitig machen soll; — zugleich das einzige Ergebnis, welches der Mühe lohnt, daß diese kleine Teil-Welt, kaum mit Fug ein Welt-Teil zu nennen, nicht auch geschichtlich nur Asiens Halbinsel und Anhängsel geblieben ist. Als dionysisch Schaffender indes, angesichts seiner zu einem Kunst-Werk, Spiel-Werk schöpferisch erlösten Europa-Welt erklimmt der Europäer den Gipfel seines Kontinents, der da die Wasser zwischen Europa und Asien scheidet und gleichsam der ‚Ewige Ort‘ ist für alle guten und hohen Geister seit den Tagen des Herakleitos und Pythagoras, des Empedokles und Platon bis hinauf zu der Gegenwart Kants und Jean Pauls, Goethes und Nietzsches. Nur noch ein [S. 422] einziger kurzer Schritt, und dieser dionysische Europäer, Künstler und nicht Büßer zwar, aber dennoch ein Entwirklicher der Wirklichkeit und ein Erlöser von der Wirklichkeit, — nur ein Schritt noch, und er bekommt seine große Aufgabe zu Gesicht und mit ihr den großen Orient. Nur ein einziger kurzer Schritt noch, und der dionysische Europäer erschaut das Wunder aller Wunder, wie nämlich Europas Gott Dionysos dem indischen Buddho auf der Ost-Westbrücke begegnet und magisch mitten durch ihn hindurch schreitet. Nur ein einziger kurzer Schritt noch, und die Zeit ist erfüllt, da ein neuer Held Alexandros Europa und Asien aus Einem Mischkrug trinken wird...

Eine Begegnung, sag’ ich, werde sich ereignen zwischen dem Gott, der bisher trotz des biblischen deus absconditus der vornehmste und edelste, sicherlich aber der unsterblichste Gott Europas gewesen ist, und zwischen dem indischen Buddho Gotamo. Denn es kommt ja der Gott Dionysos von dieser Welt geradewegs her, die er als Schaffender in ein säliges Spiel zu wandeln lehrt: und es kehrt ja der Buddho als ‚Strahlender Mönch‘ zu dieser Welt geradeswegs zurück, nachdem er sich durch keine niederzerrende Fessel mehr an sie gefesselt weiß. Wie könnten mithin da die beiden sich verfehlen? In Wahrheit kehrt der Buddho aus jener unsäglichen Gegenwelt nibbânam zu dieser Welt zurück und auf seinem Antlitz blüht etwa jetzt der warme Klang von Zärtlichkeit, wie er stets solchen eignet, die sich [S. 423] rein auf sich selber abzustimmen vermochten und nun aller Wesen Wider-Klang glockenhaft empfangen. Auf ähnliche Weise kehrt der Buddho jetzt zurück, nicht unähnlich vielleicht jenem allerglücklichsten Könige aus Sakontalâ, der als Gast in Indras Himmel eingeladen war und nun auf Indras Wolkenwagen mit Indras Wagenlenker sanft zur Erde, sanft zur Heimat gleitet: „Die Schnellfahrt abwärts verleiht der Menschenwelt ein wunderseltsam Aussehn!... Ja, — diese Erde ist berückend schön“... Auf so beschaffener Rück- und Niederfahrt zur Welt also mag es geschehen sein, daß Indiens Buddho den orphischen Gott in Sicht bekam, von dem ja seinerseit die Sage vielsagend zu berichten weiß, daß er nach Indien gewallfahrtet sei. Wann dann der Buddho aber ihn, den ‚guten Europäer‘ in Person, etwa die Worte sprechen hörte: „Wohlan ihr Freunde! Schaffen wir Schaffenden diese Wirklichkeit zu einem Kunstwerk, Spielwerk um, auf daß wir nicht an ihr zuschanden werden müssen“... wann ihn der Buddho dieser Art sich äußern hörte, — dann dürften ihn mancherlei gute Gründe und Untergründe zu folgender Erwiderung bewegen: „Die Wirklichkeit zum Spiel entwirklichen, o Trefflicher, ist gut! Vergiß indes das eine nicht über deinem Spiel, daß es auch einen Einsatz hat! Vergiß den Einsatz nicht, Dionysos! Sei es uns Menschen immerhin verstattet, daß wir, was um uns her geschieht, unwirklicher und darum auch unwichtiger nehmen lernen wie vorher. Sei es immerhin verstattet, das jeg [S. 424] licher von uns die süßeste Miene auch noch zum bittersten Spiel machen lerne, dieweil es eben ein Spiel und Spiegel, Bild und Sinnbild ist. Der Einsatz aber unsres Spiels, Dionysos, muß bei weitem für ernster gelten als alles, was insonderheit ihr spaßhaften Europäer bis heute ernst zu nehmen pflegtet. Auf diesem Schauplatz Welt, auf diesem Spielplatz Welt, da geht es um Entscheidungen, Teuerster, deren Tragweite bis an die Grenzen dieser Welt reicht, — und falls diese Welt, wie ihr behauptet, keine Grenzen hätte, bis an die Grenzenlosigkeit der Welt. Ihr Europäer meint, wo um des Einzelnen Tod oder Leben gewürfelt werde, da handle sich’s um keine Kleinigkeit. Ich aber habe jederzeit verkündigt, daß jeder Einzelne in jedem Augenblick nicht allein um sein eigen Leben und um seinen eigenen Tod würfle, sondern um hundert hunderttausend Leben, die er leben muß und leben wird, und um hundert hunderttausend Tode, die er sterben muß und sterben wird. Ihr Abendländer gebt ja vor zu wissen, daß alles, was hier je geschieht, seine Folgen habe, wie es auch umgekehrt die Folge ist von allem, was je geschah, und euern Genius Jean Paul hörte ich mit hohem Staunen schon fast Mein Wort wörtlich sprechen: „daß jede Tat (noch) viel gewisser eine ewige Mutter wird, als eine ewige Tochter ist“... Trotzdem tut ihr aber alle ohne Ausnahme so, als ob das Grundgesetz der Welt, das unverbrüchliche und ausnahmlose, mit dessen wissenschaftlicher Fassung ihr euch so unerträglich spreizt und brüstet, in jedem besonderen Fall, der euch selbst [S. 425] betrifft, außer Kraft treten könne, außer Kraft treten müsse. Denn jeder von euch tut, als ob seine Tat überhaupt keine Folgen hätte, und niemand hat ein Gefühl dafür, was das heiße, Ursache zu sein, Urheber zu sein, Urtäter zu sein. Oder ist euer Sinn nicht immer so ganz und gar ein kurzer, blöder, daß ihr wähnt, ihr könntet etwas tun, Böses oder Gutes, ohne es für die Unendlichkeit zu tun, — oder ihr könntet etwas unterlassen, Rechtes oder Schlechtes, ohne es für die Unendlichkeit zu unterlassen? Hinter der kleinen Muschel hört ihr das Meer zwar branden, aber welchem von euch donnert und rollt hinter der kleinen Tat der eiserne Gang der Welt anfanglos nach rückwärts und nach vorwärts endlos? Wem klirrt die Kette unendlicher Notwendigkeiten hinter jeder Wahlhandlung seiner Freiheit, oder wem dröhnt die Stille der Ewigkeit hinter jedem fallenden, hinter jedem hallenden Tropfen der Zeit? Solang’ ihr an euerer Seelen Unsterblichkeit glaubtet und an Gottes Vergeltung nach dem Tod, schien wenigstens den Bessern unter euch der gegenwärtige Entschluß nicht ganz unwichtig im Hinblick auf ein Künftiges, — wenn ihr freilich sogar auch dann noch dumm-listig und pfiffig-dreist genug zu dem unlauteren Versuche waret, den jenseitigen Richter euerer Un- und Übeltaten mit Trink- und Schmiergelderchen kirren zu wollen und euch selbst zu überreden: Er ist einer wie wir! Er hat seinen Preis und lässet sich kaufen!... Seither indes, und es ist schon ziemlich lange her, fandet ihr Europäer eine bessere Unsterblichkeit, nicht von euern [S. 426] Priestern, sondern von euern Gelehrten entdeckt und die Unsterblichkeit der Keimzelle nüchtern und wissenschaftlich geheißen. Und von da an, damit ich dir’s gestehe, Lieber! — von da an bezauberte mich die Hoffnung, daß ihr über diesen Umweg eines Tages den Weg sogar zu mir noch finden möchtet! Denn jetzt mußte es ja dem Blindesten hell vor den Augen werden, was eigentlich der Einsatz ist, um den gespielt wird im Spiel des Lebens. Jetzt mußt’ er’s mit den Händen tasten, — wie er in eigener Person die Summe aller Vorfahren bis hinauf zum ersten Menschen, bis hinauf zum ersten Tier in sich verkörperte, verseelte und vergeistigte, so würde er umgekehrt sich selbst wiederum verkörpern, verseelen und vergeistigen bis hinauf zum letzten Menschen und wer weiß! bis hinauf zum ersten Wesen der nächst höheren Gattung. Als ich von dieser Unsterblichkeit der Keimzelle vernahm, da dachte ich euch mir hart auf der Spur, und hart auf der Spur dem ewigen Gesetz, das ich einst, wie du weißt, meinen Mönchen nachließ: „ Kammadâyâdâ sattâ ti , — Erben der Werke sind die Wesen, Erben der Taten sind die Wesen“... Als Erben der Werke, Erben der Taten, dacht’ ich damals, würdet ihr endlich alle Verkörperlichungen des Lebens bis hinab zum letzten Menschen und was nach ihm kommen wird betrachten. Als Selbst-Verkörperlichungen würdet ihr endlich die Körper euerer Enkel und Enkelsenkel bis ins letzte Glied begreifen lernen: und so würdet ihr endlich den Einsatz erraten, um den das königliche Spiel der Welt gespielt wird. War dies auch noch [S. 427] lange nicht Mein Weltgesetz, Meine Unsterblichkeit, Meine Lehre von der Wiederkunft, — denn dir ist’s bekannt, Dionysos, daß ich vielschichtig denke und bin, wo ihr nur einschichtig denkt und seid! — es war dennoch ein gutes Stück davon. Ein jeglicher würde als Ahne im Leib seiner Enkel wiederkehren, und so in ihrem Geist, in ihrer Seele; ein jeglicher würde wiederkehren nach Maßgabe seiner eigenen Seinsschaffenheit, zu welcher er sich selbstgestalterisch bestimmt hat und zu welcher er allen nachkommenden Samen mitbestimmt. Wie mußte euch der Sturm dieser ungeheuern Verpflichtung auf den Boden schmettern, — wie mußte euch der Wirbel dieser übermenschlichen Verantwortung wieder aufrecht reißen: daß jeder ein Richter ist aller ungeborenen Wesen, wenn er über sich selbst entscheidet, daß jeder in die fernsten Sterne zielt, wenn er den Pfeil der Tat von seines Bogens Sehne schnellt, — wie sagt doch, o Dionysos, euer großer Heraklit: „Nun aber heißt des Bogens Name Leben...“ Jetzt hattet ihr das Gewicht gefunden, das ich von meinem fernen Festland aus leider nicht an euch hängen konnte: jetzt ward es euch von euerer Wissenschaft geschenkt, damit ihr endlich als das Lot der Welt im Raume pendeln, schweben konntet. Ach, welche Hoffnungen setzte ich nicht damals in euch, auf euch, daß wir uns endlich, endlich finden würden... Aber was geschah? Auch dieses goldene Gewicht ließet ihr auf der Wage stehn. Auch jetzt verschmähtet ihr’s, selber Wage und Wagschale zu sein und als Gewichtstein dort hinabzusinken, wo es tief ist. Flaum [S. 428] leicht und daunenweich bliebt ihr auch jetzt, und anstatt hoch im Glockenstuhl der Zeit durch manches blaue Lichtjahr stolz zu schwingen, ließet ihr euch von jedem schwachen Hauch entwehen. Wie Irrwische sah’ ich euch hüpfen auf den Sümpfen eueres Kontinentes, Dionysos! Wohl lerntet ihr hier und da das Leben spielen, — aber ihr lerntet die Regel nicht, wie euer Spiel gewonnen und verloren wird. Nun ich dich aber hier, Dionysos, an Einsatz, Regel, Sinn, Geist deines Welt-Spiels mahne, sei dir das tiefere Geheimnis euerer westlichen Bedrängnis nicht ferner vorenthalten. Ihr liebt es, liebt es heute insbesonders, euch selbst in dieser apokalyptischen Stunde des Abfalls von Gott zu bezichtigen. Manchmal sind sogar die Besten, Hellsten, Klügsten unter euch der Meinung, sie brauchten nur wieder Götter glauben, und alles, was seither aus den Fugen sprang, renke sich schnell dann wieder ein wie zuvor. Das aber ist euer Grund- und Lebensirrtum! Denn nicht, daß ihr gottlos geworden seid, macht euch so unbeschreiblich elend und gemein; nicht dies hat über euch gebracht das Messerstich-Alter, welches ich in der Sechsundzwanzigsten Rede aus der längeren Sammlung Dîghanikâyo — sie führt aber in Meinem Kanon seltsamerweis den Titel ‚Der Kaiser‘, wie du weißt! — bis ins kleinste euch geweissagt habe. Sondern daß ihr weltlos geworden seid, ihr westlichen Menschen, weltlos wie keine andere Menschheit je zuvor. Ja, ihr lebt schlechterdings außer der Welt. Ihr lebt nicht vorwärts und nicht rückwärts; ihr lebt nicht ins Diesseit und nicht ins Jenseit; ihr [S. 429] lebt nicht in die Breite und nicht in die Tiefe. Selbst wo ihr Götter schufet, da schufet ihr sie viel lieber gegen die Welt als für sie. Ihr schufet Gott, damit er euch bei jeder Gelegenheit beausnahmen möchte von dem Gesetz der Welt, und selten, daß euere Götter etwas besseres waren als ein schiefer Vorwand für solch hochmütige Beausnahmung, — übrigens zugleich mein stärkster Einwand gegen alle Götter, Dionysos, und mein stärkster Einwand sogar gegen dich, verzeih!... Wundert euch darum nicht, ihr weltlos Gewordenen, wenn die Welt schließlich an euch vorüberläuft. Schon jetzt hat sie euerer so gut wie vergessen, und über eine kleine Weile wird Gras über euch gewachsen, Sand über euch geweht sein. Mich selber nennt ihr gottlos, und in Wahrheit habe ich meinen Jüngern Gott verboten, — aus Gründen, die du jetzt vielleicht zu ahnen beginnst. Aber bin ich auch gottlos: nie und unter keinen Umständen war ich weltlos. Wenn ich mich von der Welt am strengsten abschied, war ich vielleicht am innigsten mit ihr vereint. Und nur weil ich Bürger dieser und jener Welt war, vermochte ich’s, diese Welt durch jene Welt zu überwinden: ‚Ich aber, ihr Mönche, verstehe diese Welt und jene Welt‘...“

Solche oder ähnliche Rede mochte der indische Buddho Gotamo mit dem orphischen Gott Dionysos bei ihrer denkwürdigen Begegnung gewechselt haben auf dem Brückenjoch der Festländer. Dionysos aber ließ das Haupt lange auf seine Brust herabsinken. Und er verharrte reglos in einer Schweigsamkeit, die sich [S. 430] wie der längste Schatten des kürzesten Tages dämmergrau und erkältend zwischen die Wächter der beiden Reiche legte. Dann aber hob er sein saphirnes Auge auf und lächelte dem Buddho sonnig zu: „Recht hast du mir mit allem, o Buddho! Wir Menschen des westlichen Reiches spielten bisher Welt und spielten Leben, ohne die Regel unseres Spiels zu kennen und den Einsatz zu bedenken. Und daran bin ich am meisten schuldig. Früh hab’ ich ja in meiner orphischen Vergangenheit die Unsterblichkeit verkündet, ganz wie du selber, Gotamo. Und oftmals, wenn ich nach sinnaufwühlenden Offenbarungnächten den ersten Strahl meines heiligen Gestirns den Giebel meines Tempels zu Tempe goldig kränzen sah und gleichzeitig mich durch den Mund des Orpheus als Seelenretter und Heiland preisen hörte, — wie mußte ich da an dich, Spender der Unsterblichkeit denken, der du zu Maghadâ hast den Löwenruf erschallen lassen: ‚Leihet Gehör, ihr Mönche, die Unsterblichkeit ist gefunden‘... Das war damals, o Buddho, in jener ungeheuern Zeit des Götterfrühlings auf hesperischer Erde... Heut’ jedoch weiß ich auf das klärste, daß ich dich herzlich mißverstanden hatte. Mit ähnlichen Worten meintest du nicht das Ähnliche mit mir. Ich selber fühlte nur die zeugerische Lust des Werdens, das immer wird, und kaum geworden, wieder entwird. Ich selber war nur immer eingedenk des ewigen Schaffens, wie es in jeglicher Erschaffung sich selbst erscheint, in jeglicher Erscheinung aber die Erschaffenheit verneint, die nicht das Schaffen selber ist und sein kann. Als un [S. 431] zerstörliche Werdenskraft und Allkraft genoß und litt ich meine Ewigkeit, lebte und starb ich meine Ewigheit. Darüber vergaß ich, wundere dich nicht, das Gesetz des Werdens. Ich vergaß, daß alles Künftige in der Welt sich nur insoweit knoten würde, als es von einer eigenwilligen Gegenwart selbstherrlich geschürzt wird. Den Knoten der Welt und des Werdens, den an- und absteigenden in der Zeit, vergaß ich; vergaß, daß er an- und absteigt in der Zeit nur wie wir es selber ihm bestimmen. Wohl hatte ich während meiner Wallfahrt an euern heiligen Gangâ, dessen Silberquellen, wie ihr sagt, dem Gletschertor der Milchstraße klingend wie Sternschnuppentau entschmelzen, vom Strome her die Stimmen deiner Mönch’ und Nonnen häufig psalmodieren hören:

„Und was der Mensch auch wirken mag,
Verdammte Taten, edles Werk:
Der Erbe ist er überall,
Der Erbe seiner eigenen Tat...“

Aber was ich von dorther hörte, obwohl mich’s manchmal wundersam berührte, verstand mein Sinn noch nicht. Einmal ist Keinmal, Einmal ist höchstens Einmal, hatten wir’s in unserem armsäligen Einmaleins je und je vernommen. Wie hätten wir da dein glühendes Richterwort fassen sollen: Einmal ist Immer! Einmal ist Unendlichmal! Einmal ist Ewig! Ach! allzulang waren wir westlichen Olympier nur ‚Götter Lustig im Dämmerlicht‘ gewesen... Aber du selber, Herr, sagtest es vorhin, wir seien endlich jetzt auf deiner Spur. Ja, wir sind dir, wir sind der Welt end [S. 432] lich auf der Spur, o Gotamo! Zwar ist vor Kurzem noch an dem furchtbaren Gesetz, das du zuerst der Welt gegeben und aufgegeben hast, der stärkste meiner Söhne mir zerbrochen, (er hieß mit Namen Gold-Stern, das ist Zarathustra, und du kennst ihn, liebst ihn als von deiner Art, Herr...) Noch hat also zwar nicht einmal er, von allen zukünftigen Geistern meines Reiches der Zukünftigste und der Geistigste, deinen Urgedanken der unendlichen Wiederkunft aller Wesen je nach ihren Werken unangefochten bis ans Ende auszudenken, auszuhalten vermocht: noch ist unser Stärkster zu schwach gewesen für dein Gesetz und deine Welt, o Buddho. Aber er hat ihn doch — und welch ein großer Anfang, Aufgang ist dies! — als erster seit Jahrtausenden wieder religiös erlitten und gelebt, statt einfach wissenschaftlich festzustellen. Hier oder nirgends ahnte er, der neue homo religiosus , die neue Pflicht, die neue Bindung, welche demnächst auch uns in erneuter religio dem All verpflichten und verbinden würde. Hab’ also noch Geduld mit uns, Erhabener! Beim zagen Schimmer dieses Stern-Gedankens werden auch wir endlich lernen, uns wieder in die feierliche Nacht der Welt hineinzutasten. Du bist der Buddho, du bist der Erwachte, vollkommen Erwachte! Du bist erwacht, vollkommen erwacht zur Welt, von der wir heute morgendlich noch träumen. Aber du kennst die tausend Zeichen, die alle, alle darauf deuten, daß auch wir demnächst die Erwachenden und Erwachsamen sein werden: ein neuer Aufgang mitten in Europas Untergängen... Für jetzt und heut’ indes, [S. 433] o Buddho, ist unser beider Äon wieder einmal abgelaufen, — erst an des nächsten Ende werden wir uns wiedersehen. Dann aber wird der längste Schatten dieses kürzesten Tags, der jetzt graudämmerig und erkältend zwischen uns sich spreitet, dem kürzesten Schatten des längsten Tags gewichen sein. Dann wollen wir auf diesem Brückenjoch der Länder das nächste Mittsommerfest, Mittsommerglück gemeinsam feiern... Horch!.. Läutete da nicht eine Glocke? Summte nicht ein Gong?.. Wie ein Kristall blaut wunderbar die Zeit! Schau um dich, Gotamo! Es weltet weit und breit!..“


DIE WIEDERGABE DER BUDDHO-STATUE ERFOLGT MIT GENEHMIGUNG DES FOLKWANG-VERLAGES IN HAGEN


AUS REICHLS VERLAGSBERICHT

DER VOLLSTÄNDIGE VERLAGSBERICHT WIRD AUF VERLANGEN KOSTENLOS UND PORTOFREI GELIEFERT

OTTO REICHL VERLAG DARMSTADT


LEOPOLD ZIEGLER

GESTALTWANDEL DER GÖTTER

VON LEOPOLD ZIEGLER

DRITTE AUFLAGE, ZWEI BÄNDE

IN LEINWAND GEBUNDEN 240 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 360 M.

Inhalt: Erste Betrachtung: Weltheiligung, Sühnwirkung, Sinndeutung der Griechen. Zweite Betrachtung: Der Mythos vom Mittlergott und die Religion der Seele. Dritte Betrachtung: Der Heilsdreiweg der Christenheit. Vierte Betrachtung: Deutsche Reformation. Fünfte Betrachtung: Der Mythos Atheos der Wissenschaften. Sechste Betrachtung: Die Mysterien der Gottlosen.


DER EWIGE BUDDHO

EIN TEMPELSCHRIFTWERK IN VIER UNTERWEISUNGEN VON LEOPOLD ZIEGLER

IN LEINWAND GEBUNDEN 150 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 250 MARK

Inhalt: Die erste Unterweisung: Buddho der Protestant. Die zweite Unterweisung: Buddho der Erlebende. Die dritte Unterweisung: Buddho der Wissende. Die vierte Unterweisung: Buddho der Öst-Westliche.


DER DEUTSCHE MENSCH

VON LEOPOLD ZIEGLER

ZUR ZEIT VERGRIFFEN


VOLK, STAAT UND PERSÖNLICHKEIT

VON LEOPOLD ZIEGLER

GEBUNDEN 9 M.

Inhalt: Das Volk und seine Souveränität. Der Staat und die Gerechtigkeit. Der Notstand der Persönlichkeit und seine Überwindung.


DAS WELTBILD HARTMANNS

VON LEOPOLD ZIEGLER

GEBUNDEN 15 M.

Inhalt: System und Zeit. Deduktion, Induktion und Wahrscheinlichkeit. Die Ableitung der Qualität. Die Entstehung des Bewußtseins. Monistische Philosophie. Induktion und genetische Metaphysik. Der Wahrheitsbegriff.


ZUR METAPHYSIK DES TRAGISCHEN EINE PHILOSOPHISCHE STUDIE

VON LEOPOLD ZIEGLER

BROSCHIERT 6 M.

Inhalt: I. Die letzten Prinzipien des Tragischen. II. Die Postulate des Tragischen. III. Das Tragische als Antizipation des Weltprozesses.


FLORENTINISCHE INTRODUKTION

ZU EINER PHILOSOPHIE DER ARCHITEKTUR UND DER BILDENDEN KÜNSTE

VON LEOPOLD ZIEGLER

GEBUNDEN 24 M.


GRAF HERMANN KEYSERLING

DAS REISETAGEBUCH EINES PHILOSOPHEN

VOM GRAFEN HERMANN KEYSERLING

FÜNFTE AUFLAGE 1921. ZWEI BÄNDE

IN LEINWAND GEBUNDEN MIT DEM BILDNIS DES VERFASSERS 240 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 360 M.


WAS UNS NOT TUT — WAS ICH WILL

VOM GRAFEN HERMANN KEYSERLING

DRITTE AUFLAGE 1920

BROSCHIERT 6 M.


DAS GEFÜGE DER WELT

VERSUCH EINER KRITISCHEN PHILOSOPHIE

VOM GRAFEN HERMANN KEYSERLING

ZWEITE AUFLAGE 1920

GEBUNDEN 90 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 180 M.

Inhalt: I. Die Einheit des Universums. II. Kontinuität und Diskontinuität. III. Harmonices mundi. IV. Die Probleme des Geistes. V. Die Freiheit im Weltzusammenhange. Epilog: Was ist Wahrheit?


UNSTERBLICHKEIT

EINE KRITIK DER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN NATURGESCHEHEN UND MENSCHLICHER VORSTELLUNGSWELT

VOM GRAFEN HERMANN KEYSERLING

DRITTE AUFLAGE 1920

GEBUNDEN 75 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 150 M.

Inhalt: I. Über den Unsterblichkeitsgedanken überhaupt. II. Todesgedanken. III. Das Problem des Glaubens. IV. Dauer und Ewigkeit. V. Das Bewußtsein. VI. Mensch und Menschheit. VII. Individuum und Leben.


PHILOSOPHIE ALS KUNST

Vom GRAFEN HERMANN KEYSERLING

GEBUNDEN 75 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 150 M.

Inhalt: I. Philosophie als Kunst. II. Sterndeutung. III. Zeitliche, zeitlose, ewige Geister. IV. Entwicklungshemmungen. V. Individuum und Zeitgeist. VI. Idealismus und nationale Erziehung. VII. Germanische und romanische Kultur. VIII. Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit. IX. Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen. X. Das Schicksalsproblem. XI. Vom Interesse der Geschichte. XII. Deutschlands Beruf in der veränderten Welt. XIII. Erscheinungswelt und Geistesmacht. XIV. Für und wider die Theosophie. XV. Was uns not tut -— was ich will.


DEUTSCHLANDS WAHRE POLITISCHE MISSION

VOM GRAFEN HERMANN KEYSERLING

DRITTE AUFLAGE 1920

BROSCHIERT 6 M.


POLITIK — WIRTSCHAFT — WEISHEIT

VOM GRAFEN HERMANN KEYSERLING

ERSCHEINT IM JANUAR 1922


DER WEG ZUR VOLLENDUNG

MITTEILUNGEN DER SCHULE DER WEISHEIT IN DARMSTADT

HERAUSGEGEBEN VOM GRAFEN HERM. KEYSERLING

JEDES HEFT 7.50 M.


DER LEUCHTER

WELTANSCHAUUNG UND LEBENSGESTALTUNG

JAHRBUCH DER SCHULE DER WEISHEIT IN DARMSTADT

HERAUSGEGEBEN VOM GRAFEN HERM. KEYSERLING

JAHRBUCH 1920. GEBUNDEN 90 M.

Inhalt: Graf Hermann Keyserling: Worauf es ankommt. G. F. Hartlaub: Kritik der Geheimwissenschaft. Heinrich Nienkamp: Werten und Wirken. Leopold Ziegler: Buddho der Protestant. Herman Hefele: Die Idee des Kommunismus. Gerhard von Mutius: Humanität und Bildung. Max Scheler: Sozialismus und Persönlichkeit. Fritz Wichert: Sich selber beistehen. Friedrich Gogarten: Die Kirche. Peter Behrens: Das Ethos und die Umlagerung der künstlerischen Probleme. Rudolf Binding: Ethische Grundlagen eines Volkes. Günther Weitbrecht: Wertung und Erkenntnis. Günther Weitbrecht: Der Brunnen des Lebens. Alexander von Gleichen-Rußwurm: Unter Platanen.