The Project Gutenberg eBook of Der ewige Mensch: Drama in Christo

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Title : Der ewige Mensch: Drama in Christo

Author : Alfred Brust

Release date : June 15, 2016 [eBook #52334]

Language : German

Credits : Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE MENSCH: DRAMA IN CHRISTO ***

  

ALFRED BRUST

DER EWIGE MENSCH

DRAMA IN CHRISTO

KURT WOLFF VERLAG
MÜNCHEN

Bücherei „Der jüngste Tag“ Band 78

Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig.

Copyright by Kurt Wolff Verlag · München 1919

GESTALTEN

CORDATUS
TAMARA
SANNA
STEILZACK
SAAT
WACHTLER
TIOMA BETTY
DIE VERKETTETEN
FESTUS
DER DICHTER
MAUSCHE MICHEL
DER VATER
ALLERHAND VOLK

Morgen. Ein großer leerer Raum mit rissigen Wänden in einem verfallenen Gebäude. Die Wohnung des Cordatus.

CORDATUS (ein Mensch von 30 Jahren, sitzt in abgetragener Kleidung in einer Ecke des Raumes auf dem Erdboden und blickt lächelnd vor sich nieder. Er hat einen dünnen, langen Vollbart. Sein Gesicht zeigt Spuren außerordentlicher Schönheit und geistiger Höhe und Frische. Er spricht alles ganz langsam, klar und deutlich aus. Es gibt in keinem Wort Überstürzung bei ihm. Jedes Wort ist voll warmer drängender Liebe und erschüttert, zuweilen durch eine kleine Bewegung unterstützt. Diese Bewegungen sind aber so sehr selten, daß sie stets auffallen. In der Hauptsache ist er bewegungslos und versteht es, diese Bewegungslosigkeit seiner Umgebung unmittelbar mitzuteilen.)

TAMARA
(ein schönes sechzehnjähriges Mädchen, geht mit schleppenden Schritten diagonal durch den Raum. Sie ist dürftig gekleidet) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch.

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

(Schweigen.)

TAMARA
(setzt ihre Wanderung fort. Hin und wieder bleibt sie stehn wie in lähmendem Schreck und wiegt den Körper dann hin und her) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch.

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

SANNA
(ein liebreizendes Fräulein, vornehm gekleidet, öffnet leise die Tür, blickt vorsichtig hinein und tritt dann mit großen erstaunten Augen in den Raum. Sie erblickt Tamara, die in einer Ecke stehengeblieben ist und sich in den Hüften wiegt, nicht) :

Guten Morgen, Cordatus.

CORDATUS
(ohne Verwunderung und von Herzen freundlich) :

Du kommst zu mir, Schwesterlein. Setz dich und gib mir deine Hand.

SANNA:

Die Hand geb ich dir, aber setzen kann ich mich doch nicht.

CORDATUS:

Du glaubst gar nicht, wie wunderschön das ist, wenn du dich hier nicht setzen kannst.

SANNA:

Das müßte doch in deinen Augen häßlich sein.

CORDATUS:

In meinen Augen ist niemals etwas häßlich.

SANNA:

Aber du fragst gar nicht, weshalb ich zu dir gekommen bin ...

CORDATUS:

Es ist doch schön hier draußen; dies verfallene Haus vor der Stadt und die wundersüße Wildnis ringsher!

SANNA:

Weshalb bist du dann nicht im Freien?

CORDATUS:

Ich arbeite noch ein wenig. Draußen kann ich nur fühlen.

TAMARA
(beginnt wieder ihre Wanderung durch den Raum) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch.

SANNA
(fährt herum und blickt mit starren Augen und blassem Gesicht auf das Mädchen) .

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

TAMARA (nimmt keine Notiz von Sanna) .

SANNA:

Das — das — was ist dieses, Cordatus?!

CORDATUS:

Ein fremdes Kind, das da glaubt ein Tier im Bauche zu haben. Ich will es heilen durch mein Wort.

SANNA:

Aber — aber weshalb denn ein Tier?

CORDATUS:

Das sind so die Jahre.

SANNA:

Und — — — (sie sammelt sich) wohin gehst du zu Tisch?

CORDATUS:

Zu Tisch? Ich weiß nicht. Vielleicht kommt eine Wölfin, mich säugen.

SANNA:

Pfui!

CORDATUS:

Pfui? Du bist allerliebst, kleine Schwester.

SANNA:

So höre, Bruder. Ich bin aus einem großen Grunde zu dir gekommen.

CORDATUS:

Gewiß, auch die kleinen Gründe sind bedeutend.

SANNA (eifrig) :

Ja — sieh mal. Das wird dir schon einleuchten, was ich dir sage. Die Eltern meinten zwar, das hätte keinen Zweck. Aber ich sagte ihnen, Cordatus habe mich lieb und werde mir meinen Herzenswunsch erfüllen. Und ich redete so lange, bis sie zu hoffen begannen. Und heute früh, als ich fortging, da weinten sie vor Hoffnung. — Hörst du, Cordatus?

CORDATUS:

Ich muß lieben, Kind. Versteh mich recht! Ich bin geboren, um zu lieben. Ich müßte jetzt ein Beil nehmen, das ich nicht habe, und dich damit schlagen. Da ich aber lieben muß, kann ich dich nur mit der Liebe schlagen. Und das ist so sehr schmerzvoll für dich. Denn wenn ich dich mit dem Beil schlüge, würdest du mich hassen, denn dein Körper haßt den Schmerz; da ich dich aber mit der Liebe schlage, trifft es deine Seele, und die liebt mich, wenn ich ihr wehe tu.

SANNA:

Und weshalb denn willst du mich schlagen?

CORDATUS:

Weil du ein schönes Kind bist, in das sich mein Versucher gesteckt hat, um mir das Glück zu stören.

SANNA (klagend) :

Du willst nicht zurückkehren! —

CORDATUS:

Nie, nie, nie! Geh heim — und werde glücklich. Und wenn du es nicht können wirst, dann komm zu mir! Ich will dich’s lehren, denn ich bin’s.

TAMARA (plötzlich laut) :

Und es zuckt und es wühlt und es windet. (Überlaut:) Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch!!

CORDATUS (wieder unendlich beruhigend) :

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

SANNA:

Wir werden alle weinen, die alten Eltern und ich. Wir haben schon soviel geweint um dich, denn du hast uns ja so unglücklich gemacht — mit deinem Glück.

CORDATUS:

Ja — ich habe euch immer mit der Liebe geschlagen. O, daß ich euch mit dem Beile schlagen könnte! — Laß mich allein, Mädchen!

SANNA:

Soll — soll ich dir etwas schicken?

CORDATUS:

Versuche mich nicht! Der Versucher weiß, daß ich noch nicht auf dem Gipfel meiner Stärke bin. Geh hin. Ich muß noch arbeiten.

SANNA (schüttelt den Kopf und geht) :

Lebwohl.

CORDATUS (sitzt und sinnt bewegungslos) .

STEILZACK
(tritt barhäuptig ein und stellt sich nachdenklich in die Mitte des Raumes. Er ist ähnlich Cordatus gekleidet) :

Ich habe etwas gesehn. Drei Menschen hab ich gesehn. Und das bewegt mich. Drei Menschen an diesem jungen Tag.

CORDATUS:

Drei Menschen können dich nicht bewegen, Steilzack.

STEILZACK:

So bewegt mich denn ein Geschehen. Ja — ein Geschehen bewegt mich; ein Geschehen um drei Menschen.

CORDATUS:

Ein Geschehen um drei Menschen ist auch ein Geschehen um die Welt.

STEILZACK:

Sag mir, Cordatus, lieber Herr, darf man einen Menschen töten?

CORDATUS:

Die Menschen kommen immer zu mir, um diesen Raum mit Tragödie auszufüllen. Das ist nicht gut von den Menschen.

STEILZACK:

Aber darf man einen Menschen töten?

CORDATUS:

Man darf nicht, aber man muß.

STEILZACK:

Das ist ein gefährliches Wort.

CORDATUS:

Ich weiß, daß ich ein gefährlicher Mensch in der Menschheit bin. Aber ich liebe. Und alle Liebenden sind gefährlich.

TAMARA
(kniet in einer Ecke nieder und winselt) :

Und es ist ein Tier. Und es ist ein Tier. Wenn ich nur wüßt, welch ein Tier das ist!

CORDATUS (ruhig und fest) :

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

STEILZACK:

Man darf nicht, aber man muß! Aber dann gibt es Gesetze.

CORDATUS:

Ja — Gesetze muß es geben, damit die Unschuldigen gestraft werden und die Sünder sich freuen können. Das alles ist ganz außerordentlich wichtig, sage ich dir.

STEILZACK:

Aber hier — hier ist doch jemand erschlagen worden! Verstehst du: mit einem Beile erschlagen!

CORDATUS:

Ich verstehe dich recht: eine Kraft hat etwas zerstört. Ein Leben hatte sich erfüllt, und da mußte auch die Form zerbrochen werden. Und da traf die Form im Niedergang ihrer Tage eine Kraft in den Stunden eines Aufgangs.

STEILZACK:

Und ich sah, wie die Kraft das Beil dieser Form mitten in die Stirn hieb.

CORDATUS:

Du sahst drei Menschen. Und es geschah große Bewegung. Da kamst du zu mir!

STEILZACK:

Nach den Gesetzen der Menschen muß jetzt auch diese Kraft getötet werden.

CORDATUS:

Das ist nicht immer nötig, aber vielleicht.

STEILZACK:

So sage mir, soll ich hingehn und anklagen?

CORDATUS:

Du sollst lieben.

STEILZACK (laut) :

Freund, es ist dein Vater, der erschlagen worden ist!

CORDATUS
(erhebt sich steil, nimmt seine ganze Kraft zusammen und spricht ihm ins Gesicht) :

Du sollst lieben!

TAMARA
(die wieder wandert und wiegt) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch!

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

STEILZACK:

Und ich sah den Mörder und weiß sein Gesicht. Und dann sah ich die liebliche Schwester ahnungslos in der wundersüßen Wildnis hier! Soll ich anklagen, Cordatus?!

CORDATUS:

Du sollst lieben! Oder geh von mir. Geh von mir, wenn du nicht lieben kannst!

STEILZACK:

Weshalb denn mußte ich das alles sehn?

CORDATUS:

Das ist Schicksal. Jeder Blick, den wir tun, ist Schicksal und hat Bedeutung.

SAAT
(tritt auf und blickt sich fremd um) .

STEILZACK (in schmerzvoller Bewegung) :

Cordatus!!

SAAT (ängstlich) :

Ich heiße Saat, wissen Sie. Und Sie sind ein gerechter Mensch, wird gesagt.

CORDATUS:

Wenn du Gerechtigkeit willst, so gehe zu den Richtern. Denn ich bin ungerecht.

SAAT (flehentlich) :

Ich möchte Sie, ich möchte dich gern allein sprechen, Cordatus! Ich möchte dich gern allein sprechen.

CORDATUS:

Wenn du Schicksal hast, von dem du nicht zu allen sprechen kannst, so schweige lieber. Denn man soll ein Ding zu allen Menschen sagen können oder schweigen.

SAAT:

Ich bitte dich um eine Ausnahme.

CORDATUS:

Bist du so schwach, daß du nicht schweigen kannst?

SAAT:

Ich bin schwach.

CORDATUS:

Frage mich!

SAAT:

Gibt — gibt es Schuld?

CORDATUS:

Es muß Schuld geben.

STEILZACK (wendet sich ab) .

CORDATUS:

Steilzack!

STEILZACK:

Ich höre, Herr!

CORDATUS:

Ist es dieser?

STEILZACK:

Er ist es!

SAAT (versteht nicht) .

CORDATUS (sanft zu Saat) :

Bleibe bei uns. Und laßt uns jetzt hinausgehn auf den Berg. Da ist viel Licht. Und da sind alle Dinge ganz anders.

(Er geht voran. Saat und Steilzack sehen einander ungewiß an und folgen ihm langsam) .

TAMARA (laut hinterher) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch, Herr!

SAAT (blickt sich verstört um) .

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

Die Stadt. Ein freier Platz. Im Hintergrunde eine Reihe Häuser.

SAAT
(steht im Vordergrunde, die Hände in den Taschen und blickt zu Boden) .

WACHTLER
(kommt. Ein altes Männchen mit listigen Augen voller Neugierde. Er bleibt dicht bei Saat stehn und betrachtet ihn mit großer Aufmerksamkeit) :

Ehemmhemm!!

SAAT (sieht sich schnell um) .

WACHTLER:

So macht man sich bemerkbar. Ja — sehn Sie, Herr.

SAAT
(wendet sich ihm voll zu und blickt ihn fragend an) .

WACHTLER:

Ich heiße Wachtler. Sie sind ganz fremd in der Stadt, wie ich sehe.

SAAT:

Wie können Sie das wissen? Die Stadt ist doch sehr groß.

WACHTLER:

Ja — die Stadt ist groß, aber die Menschen sind klein. Je größer die Stadt, desto kleiner die Menschen. Aber trotzdem: ich weiß alles. Es ist geradezu beängstigend was ich alles weiß. Es gibt in allen Städten Menschen, die immer alles wissen! Alles!

SAAT:

Zum Beispiel ... Ich verstehe gar nicht.

WACHTLER:

Ja — es ist heute sehr aufregend in unserer Stadt. Von dem Skandal in der Kirche hörten Sie wohl! Nicht? Der heilige Cordatus hat da den Gottesdienst gestört, den Pfarrer von der Kanzel vertrieben und ein Viertelstündchen selber gepredigt, wovon die Leute alle außerordentlich erbaut waren.

SAAT:

Cordatus?

WACHTLER:

Ja — Sie warten doch hier auf ihn, wie ich sehe. Warten Sie nur, es dauert nicht mehr lange, so wird er dort um die Ecke kommen.

SAAT:

Cordatus?

WACHTLER:

Ja doch, sage ich Ihnen. Jetzt ist er noch in den Herbergen, kleinen Kneipen und Diebesspelunken herum, wo die Verbrecher und Betrüger, die Armseligen und Bedrängten und schlimmen Leute ihre Zeit fristen. Die Bürger dieser Stadt behaupten, er lehre diesen zweifelhaften Wesen das lichtscheue Handwerk — aber ich glaube nicht, was die Bürger sagen.

SAAT:

Und Sie warten hier auch auf Cordatus?

WACHTLER:

Ja — er wird dort an der Ecke stehn bleiben und jedem Menschen, der es will, eine wichtige Lebensfrage beantworten. O — die jungen Mädchen und Frauen bedrängen ihn dann sehr. Und die alten Weiber sitzen herum und weinen.

SAAT:

Und die Männer wollen nichts von ihm wissen ...

WACHTLER:

Hm! Wissen Sie, das ist anders. Die Männer suchen ihn lieber insgeheim auf. Öffentlich sind sie ihm nicht wohlgesonnen.

TIOMA BETTY
(eine schöne stattliche Dame geht, mit den Augen in der Ferne suchend, vorüber) .

WACHTLER (blinzelt Saat zu) :

Das ist Tioma Betty, unserer Stadt Immerbeweger, eine heiße Hübscherin; aber seit vier Wochen keusch und züchtig. Sie muß ein Gelübde abgelegt haben. Wem? das werde ich in einer Stunde erfahren. — Ha! Jetzt wird es lebendig!

SAAT:

Ich sehe nichts.

WACHTLER:

Nein, Herr! Sie sehen nichts. Aber ich sehe dort den Polizeigewaltigen unserer Stadt hin und her spazieren. Der vornehme Herr dort, der sich den blauen Himmel besieht. Er heißt Festus, wissen Sie, Festus, wie der Landpfleger in der Apostelgeschichte, dem sich Paulus zu verantworten hatte. Ja — Festus.

SAAT (vorsichtig) :

Was soll denn das da geben?

WACHTLER (mit prüfendem Blick) :

Das kann eine ganz besondere Geschichte sein. Aber ich glaube nicht, daß es die besondere Geschichte ist. Dazu ist es noch zu frühe. Dieser Festus ist jedoch dem heiligen Cordatus wohlgewogen. Dessen Vater ist nämlich, müssen Sie wissen, der reichste Mann in der Stadt.

SAAT (erstaunt) :

Sein Vater lebt in dieser Stadt?

WACHTLER:

Ehemm! Ja. Lebt. Hat gelebt ist wohl richtiger. Aber das weiß noch kein Mensch, daß dieser Vater schon gelebt hat .

SAAT:

Jetzt verstehe ich Sie gar nicht.

WACHTLER:

Das will ich meinen. Sie wissen nichts. Sie sind ja fremd hier. Aber deshalb will ich’s Ihnen gern sagen. Dieser Vater ist heute früh im wilden Stadtwald mit einem Beile erschlagen worden.

SAAT (schreit wie gelähmt) :

Sein Vater! Das ist ja gar nicht möglich!! Herr!! Hören Sie doch! (Er greift ihn an.)

WACHTLER:

Werden Sie nicht so auffällig, junger Mann. Sehen Sie dort: der Festus ist schon aufmerksam. Ja — man muß immer vorsichtig sein. Aber bleiben Sie ganz ruhig. Ich werde nichts sagen. Das tue ich nie. Ich schaue nur immer zu und weiß von nichts. So werde ich nie hineingezogen. Das nenne ich Leben! Man wird die Leiche finden; dann wird man mit allen Errungenschaften der Kriminalistik nach dem Verbrecher forschen. Wissen Sie, so vom Mord bis zur Hinrichtung den ganzen Werdegang einer Sache, die man im voraus mit allen Finessen kennt, zu beobachten, ist außerordentlich wohltuend. Aber um Gotteswillen, beruhigen Sie sich doch, Herr! Ich bin in der Tat wie das Grab.

SAAT
(versucht es, schnell fortzugehn, schwankt aber hin und her und kommt schließlich nur langsam vom Platze) .

WACHTLER (sieht ihm eifrig nach) :

Sehr — spannend — ja —. Da kommt auch Cordatus.

(Stolpert mit kleinen Schritten hinterdrein.)

DIE VERKETTETEN
(ein Mann und eine Frau, kommen. Der Mann geht rechts und die Frau links. Sie sind, nicht sichtbar, unten am Handgelenk durch eine Kette verbunden) .

DER MANN:

Ich will von dem Menschen nichts wissen. Komm fort, wir gehn hinaus auf die Felder.

DIE FRAU (klagend) :

Du bereitest mir niemals eine Freude, niemals! Und besonders dann nicht, wenn ich dich um etwas bitte.

DER MANN:

Aber Kind, sieh hin. Er ist ein Hanswurst. Nichts weiter.

DIE FRAU (dem Weinen nahe) :

Was ich für heilig ansehe, das trittst du mit Füßen. Und du bringst mich soweit, daß ich verrückt werde an deiner Seite. Das willst du auch, scheint mir, nur erreichen.

DER MANN:

Weshalb denn haben wir uns nur durch die Stahlkette so zusammengeschlossen, und weshalb ließ ich dich nur den Schlüssel ins Wasser werfen?

DIE FRAU:

So schnell bereust du das? Doch ja — ich bereue es auch schon.

DER MANN:

Ich glaube, wir sind beide verrückt gewesen. Denn wir können uns ja nicht einmal entkleiden!

DIE FRAU (weinend) :

Wir müssen zu einem Schlosser gehn und uns trennen lassen. O — wie ich mich schäme, denn dann weiß es die ganze Stadt.

DER MANN:

Und doch war es nur deine Eifersucht, die diesen Unsinn verursachte.

DIE FRAU:

Reiß mich nicht so! Sieh doch, wie wund mich die Kette gescheuert hat!

DER MANN:

Ja — es ist schmerzhaft, aber du hast es gewollt!

DIE FRAU:

Aber deine Augen schimmerten vor Seligkeit, als ich es wollte.

DER MANN:

Die Ketten sind das Unbedachtsame hinieden.

CORDATUS
(tritt barhäuptig auf. Ihm folgen Steilzack, ebenfalls barhäuptig, Wachtler und eine Reihe von Leuten beiderlei Geschlechts, wie man in einer Stadt einem Sonderlinge neugierig folgt) .

FESTUS
(tritt ebenfalls auf. Ein vornehmer, schöner Mann in Zylinderhut und Gehrockanzug. Er bleibt abseits von den anderen stehn) .

DIE VERKETTETEN
(drücken sich nach dem Hintergrunde. Der Mann versucht, die Frau fortzuziehn, aber die Frau zwingt ihn durch Widerstand, zu bleiben) .

DER MANN (gereizt) :

Der Mensch ist doch betrunken! Siehst du das nicht?

CORDATUS (hört es) :

Ja — ich trank Wein. Ich trank guten Wein, sehr viel. Hat euch Christus nicht gelehrt Wein zu trinken? Er tat’s. Und indem er’s tat, lehrte er euch zugleich das Geheimnis des Weins. Aber ihr habt’s nicht begriffen. Ich aber, ich begriff es; denn ich bin der ewige Mensch.

DER MANN:

Das ist doch unerhört, was er da spricht! Da müßte doch die Polizei einschreiten! (Unwilliges Gemurmel.) Das hätte schon längst geschehen müssen. Aber die Bürger fürchten das Verbrechergesindel, unter dessen Schutz er steht.

CORDATUS:

Schuld und Sünde sind Bewegungen auf der Straße zur Vollendung, zur Vollendung des Sünders und zur Vollendung der Welt. Schafft eure bürgerlichen Gesetze ab, so gibt es keine Sünde mehr.

DER MANN (in höchster Erregung) :

Das ist ein Skandal!

CORDATUS:

Und diese Schuld, das Verbrechen, kommt aus denselben Gesetzen, durch welche Sonne, Mond und Sterne bewegt werden und durch welche die Menschen angehalten werden, Gutes zu tun. Christus hat das verschwiegen. Und er hat noch vieles verschwiegen, wie es überhaupt besser ist, viele Dinge auf Erden den Menschen zu verschweigen. Aber eben dadurch hat er ein Feuer angezündet, das brennt noch immer. Schwert und Zwietracht ist er gewesen bis nun.

JEMAND AUS DEM VOLKE:

Und auch du verschweigst?

CORDATUS:

Ja — ich verschweige. Doch ich werde noch einmal alles aussprechen; denn ich bin vom Geist der Wahrheit, der noch nicht gekommen ist.

FESTUS (laut) :

Paulus, du rasest. Die große Kunst macht dich rasend.

CORDATUS (versteht und lächelt) :

Mein teurer Festus, ich rase nicht, sondern ich rede wahre und vernünftige Worte.

FESTUS (im Abgehen) :

Dieser Mensch hat nichts getan.

CORDATUS:

Seht, ich lehre euch die Freude und nicht das Trübe in der Liebe.

STEILZACK:

Jede Freude hat ein Loch.

CORDATUS (begeistert) :

Aber neben dem Loche, da ist es heil!

STEILZACK (rauh) :

Neben dem Loche ist es heil.

SAAT
(stürzt blutleer schwankend in die Szene und fällt, die Hände erhoben, vor Cordatus nieder) :

Ich bin’s!! Ich bin’s!!!

CORDATUS:

Warum denn, lieber Freund? Man muß das Schicksal niemals drängen!

SAAT
(erhebt sich fassungslos und wankt zurück mit riesengroßen Augen auf Cordatus) :

Das — ist — ein — Idiot!

STEILZACK (schnell ab) .

CORDATUS (erschüttert) .

TIOMA BETTY
(ist gekommen, geht auf Cordatus zu und spricht mit leiser Stimme) :

Du hast Tränen, Geliebter!

CORDATUS (legt die Hand auf sie und sagt fest) :

Der Tau ist des Regens Hirte!

(Er geht.)

(Das Volk ist bestürzt und bewegt.)

Abend. Die Wohnung des Cordatus.

CORDATUS
(sitzt in seiner Ecke auf dem Fußboden und sinnt) .

TIOMA BETTY
(tritt ein. Sie hat ein Tuch um den Kopf) :

Hier wohnst du, Freund!

CORDATUS:

Ja — es ist eine gute Wohnung. Laß sie dir gefallen, Tioma Betty.

TIOMA BETTY:

Und du hast keinen Stuhl und keinen Tisch.

CORDATUS (weist auf den Fußboden) :

Das ist mein Stuhl und mein Tisch.

TIOMA BETTY

Aber wenn du schreiben willst, Geliebter ...

CORDATUS:

Ich schreibe nie: denken und manchmal reden: das ist Lebenssinn. Und so du keinen Gegenstand besitzest, wird er dir nicht Ärger und Verdruß bereiten.

TIOMA BETTY:

Und wo werden wir schlafen?

CORDATUS:

Dies ist mein Bett, und das ist dein Bett, Tioma Betty. (Er zeigt in verschiedene Ecken des Raumes.) Wir wollen uns zur Ruhe legen.

TIOMA BETTY:

Und weshalb habe ich mich so geschmückt?

CORDATUS (legt sich nieder) :

Ich bin dein Bräutigam, Tioma Betty. Und du bist die hochzeitliche Braut.

TIOMA BETTY:

Und so sollen wir leben bis ans Ende unserer Tage?!

CORDATUS:

Du wirst keine Sorge haben.

TIOMA BETTY:

Aber was werden wir essen? Welches ist deine Arbeit, die dir Nahrung schafft?

CORDATUS:

Es ist für den Geist besser, daß der Körper von Wasser und Brot lebe und nichts tue, als zu fressen und zu saufen und dabei stündlich beschäftigt zu sein und Mißbrauch der Gliedmaßen zu treiben.

TIOMA BETTY (ganz verlassen) :

Und ich soll mich in diese Ecke legen ...

CORDATUS:

Du wirst müde sein, Tioma Betty.

TIOMA BETTY:

Aber nein, Geliebter. Ich bin gar nicht müde. Ich setze mich zu dir, und du sprichst.

CORDATUS:

Du wirst müde sein, Tioma Betty.

TIOMA BETTY (betrübt) :

Wenn du es sagst ...

(Sie setzt sich in ihre Ecke und legt sich dann nieder.)

Du hast auch kein Licht, Geliebter!

CORDATUS:

Hüte dich vor der Dämmerung, aber liebe das Dunkel; dann kommen die ruhigen Rinder mit riesigen Hörnern.

(Schweigen.)

TIOMA BETTY (aufrecht) :

Ich kann so nicht schlafen ..... Ich kann nicht! ..... Hörst du!

(Schweigen.)

CORDATUS:

Steh auf, Tioma Betty. Das Bett ist gut. Es ist das Bett der ganz Glücklichen. Aber ich will, bis du’s kannst, noch dein Kissen sein. Komm her und lagere deinen Kopf auf meiner Brust.

TIOMA BETTY (geht schweigend zu ihm) .

CORDATUS:

Du schweigst, und es ist gut, daß du das tust. Man muß sehr viel schweigen auf dieser Welt.

TIOMA BETTY
(kniet vor ihm nieder und legt sich hin, den Kopf auf seiner Brust.)

CORDATUS:

Tioma Betty, hast du mich lieb?

TIOMA BETTY:

Ich wäre nicht hier.

CORDATUS:

Schlafe.

(Schweigen.)

CORDATUS:

Wenn du mich lieb hast, Tioma Betty, — schlafe ...

TAMARA (kommt behutsam) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch!

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

TIOMA BETTY
(fährt in wahnsinniger Angst wild auf und schreit unterdrückt) :

Cordatus! —

CORDATUS:

Wenn du mich lieb hast, Tioma Betty, — schlafe.

TIOMA BETTY
(legt ihr Gesicht wimmernd auf seine Brust) .

TAMARA
(legt sich in die andere Ecke, richtet sich auf, legt sich wieder hin) :

Und es zuckt und es wühlt und es windet! Wenn ich nur wüßt, welch ein Tier das ist!

CORDATUS:

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

TIOMA BETTY (weint krampfhaft) .

CORDATUS:

Wenn du mich lieb hast, Tioma Betty, — schlafe ...

Nächster Morgen. Berggipfel.

CORDATUS
(barhäuptig, hingestreckt, blickt in die Ferne) .

TIOMA BETTY
(kommt leise und bleibt hinter ihm stehn) :

Ein schöner Tag.

CORDATUS:

Ehe die Sonne hinunter ist, wirst du vor Tränen ermattet sein.

TIOMA BETTY:

Warum?

CORDATUS (blickt nach ihr) :

Du hast ein Buch?

TIOMA BETTY:

Ja — ein Buch. Steilzack hat deine Aussprüche gesammelt und sie niedergeschrieben. Das ist nun „Das Cordatum“.

CORDATUS
(nimmt das Buch, aber sieht es nicht an) :

Bücher schreiben ist eine unsittliche Handlung. Ein Buch ist immer ein unanständig Ding. Das Lesen von Büchern aber ist das Schlimmste, denn das ist eine verkehrte Befleckung. (Er wirft es hinaus.) Da fällt’s in die Schlucht. Dort mag’s bleiben. Was ich gesprochen habe, das lebt. Man soll’s nicht sargen.

DER DICHTER
(tritt auf, barhäuptig, achtzigjährig. Tolstoi-Maske) :

Es ist gut, daß ich dir begegne auf meinem letzten Wege.

CORDATUS:

Ich habe nichts mit dir zu schaffen, Greis; denn du bist ein Abtrünniger, wenngleich die Armen und Bedrängten dich preisen und das ganze Volk vor deinem Dichtwerk auf den Knien liegt.

DER DICHTER:

Ich weiß, daß ich gefehlt habe, und deshalb gehe ich meinen letzten Weg.

CORDATUS:

Wohin führt es dich?

DER DICHTER:

Fort von den Meinen. Das ist es!

CORDATUS:

Ich will dein Strafer und dein Tröster sein.

DER DICHTER:

Du strafst auch? Ich glaubte, du könntest nur lieben.

CORDATUS:

Die Geistigschwachen und die Hundsköpfigen und die Schweinsohrigen, die Schafsäugigen und die Kotschnäuzigen und die Eselsköpfigen — ja — die liebe ich, Greis. Aber die da geistig stark sind und die Mißbrauch mit dem Geiste treiben, die strafe ich.

DER DICHTER:

Ich weiß vor meinem Gott, daß ich nicht Mißbrauch des Geistes getrieben habe.

CORDATUS:

Aber die Kobolde und nächtlichen Herzdrücker gingen doch nicht von deiner Brust, denn du hast den ewigen Menschen verraten.

DER DICHTER:

Verraten habe ich ihn nicht!

CORDATUS:

So nenne mir das oberste Gesetz.

DER DICHTER:

Geh hin und verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen!

CORDATUS:

Das hast du getan?

DER DICHTER:

Ja — soweit ich nur konnte. Und ich hab keine Schätze gesammelt.

CORDATUS:

Eines aber, reicher Jüngling, hast du mißachtet: „Folge mir nach!“ — Das tatest du nicht. Du bliebst bei den Deinen. Und so ist dein halbes Christentum schlimmer als ein ganzes Heidentum. Denn ein halbes Christentum ist keine Religion, aber ein ganzes Heidentum ist Religion. Das Ganze ist immer die Wahrheit.

DER DICHTER (klagend) :

Ich sagte dir: ich gehe meinen letzten Weg. Denn nun habe ich auch die Meinen verlassen.

CORDATUS:

Ja — es ist dein letzter Weg. Denn du wirst sterben noch in dieser Nacht. Was du von diesem Morgen des Entschlusses bis zu dieser Nacht tust, das allein ist lebendig von dir zu ihm.

DER DICHTER:

Und das Kreutzerwerk, und das Evangelium, und das ganze Werk meiner achtzig Jahre?

CORDATUS:

Das wird vergessen werden, Greis. Denn du hast dies alles gewußt und bist feige gewesen. Die geübte Liebe wird leben, die geschriebene Liebe aber wird zuschanden werden.

DER DICHTER (weint) .

CORDATUS:

Du hast gewußt: es kann der Mensch auf dieser Welt gar nicht einsam genug sein. Du glichst bis nun der Jungfrau, die da glaubt, ein Tier im Bauch zu haben.

DER DICHTER:

So sage mir! Kann man auf Erden Christus werden?

CORDATUS:

Man kann es. Und wenn man es kann, dann soll man es.

DER DICHTER:

Bist du Christus?

CORDATUS:

Du sagst es.

DER DICHTER:

So laß mich mit dir beten!

CORDATUS:

Ich bete nie!

DER DICHTER (laut weinend) :

Bist du Christus?

CORDATUS:

Ich bin’s. Und du gehst jetzt hin, um es sterbend zu werden. Ja — das sei dein Trost! Du bist einen Tag in deinem Leben Christus gewesen ... Zieh hin ...

DER DICHTER (geht) .

TIOMA BETTY:

Du bist hart.

CORDATUS:

Er wird gut schlafen.

TIOMA BETTY:

Mausche Michel kommt über den Berg.

CORDATUS:

Ich liebe ihn. Es gibt überall auf der Welt ein paar Gestalten, die jeder kennt, weil sie außerhalb aller bürgerlichen Einrichtungen leben, und die deshalb verlacht werden. Diese Gestalten liebe ich, denn irgendwie verkörpern sie die Sehnsucht der Menschen.

MAUSCHE MICHEL
(kommt unglaublich zerrissen. Er trägt einen langen, grauen Bart. In der Hand hält er einen langen Pfahl als Stock. Über der Schulter liegt ein Sack) :

A guten Tag.

CORDATUS:

Wohin, Mausche Michel?

MAUSCHE MICHEL:

Nu, lieber Freind, ich komm fragen, ob Ihr eppes bedarft: e Hemed, e Röck oder Schich ...

CORDATUS:

Ich brauche nichts, Mausche. Auch hab ich, wie Ihr wißt, kein Geld.

MAUSCHE:

Ich brauch kein Geld nit vun Eich. Ihr seid a guter Menß ... (Lächelnd:) Aber der Messias seid Ihr doch nit.

CORDATUS:

Was kommt’s drauf an? Das Rad muß einen Stoß bekommen, wenn’s auszurollen droht!

MAUSCHE MICHEL:

Wos kimmern sich die Menßen ...

CORDATUS:

Wenn’s nicht tausend sind, dann sind’s hundert, und wenn’s nicht hundert sind, dann sind’s zehn. Und wenn’s einer lernt: der Schmerz ist das Glück und der Sender weiß und leide mit Liebe, dann ist es genug. Es gibt nur ein Himmelsgebirge, Mausche Michel, nur eins!

MAUSCHE MICHEL:

Ihr seid a großer Gelernter. Recht habt Ihr.

(Er geht.)

CORDATUS (zu Tioma Betty) :

Vergiß das nicht: auch die größten Christen waren Juden.

TAMARA (kommt wiegenden Schritts) :

Ich hab ein Tier im Bauch. Schneid mir doch das Tier aus dem Bauch.

CORDATUS (schweigt) .

TAMARA (zögernd) :

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts. (Sie erschrickt) .

TIOMA BETTY (erhebt) .

TAMARA (geht langsam vorüber) :

Es ist nichts, Tamara. Es ist nichts.

CORDATUS (erhebt sich) :

Nein — es ist nichts. — Laß uns zu Tale steigen. Die Menschen rühren sich in den Niederungen.

TIOMA BETTY:

Ich fürchte mich vor den Tälern der Menschen.

CORDATUS:

Bleibe auf dem Gipfel. (Er geht schnell ab) .

TIOMA BETTY (folgt ihm langsam, erstaunt) .

STEILZACK
(kommt mit mehreren Männern, darunter Saat und der verkettete Mann) :

Dort geht er hinunter. Und die Stadthure folgt ihm in der Entfernung.

DER VERKETTETE MANN:

Am Steinbruch können wir ihn erreichen.

SAAT:

Ja — am Steinbruch.

STEILZACK:

Kommt.

(Sie gehen.)

SAAT
(bleibt plötzlich zurück, wankt hin und her, fällt in die Knie und zittert heftig. Dann faltet er die Hände empor und ächzt) :

Es haben größere Menschen als ich an Gott geglaubt, größere Menschen! Weshalb gabst du mir, Gott, Eigenschaften, die mich schuldig werden lassen mußten!!!

WACHTLER (kommt angetrippelt) :

Ja — mein Freund, die Reue ist etwas Verspätetes.

SAAT
(springt in heftiger Aufwallung hoch) :

Stören Sie mich nicht, Mann!

WACHTLER:

Und nun wollen sie den heiligen Cordatus steinigen! Schlecht sind die Menschen, Herr. Schlecht! Die Menschen schämen sich, und aus Scham sind sie schlecht, sage ich Ihnen. Auch Christus wurde getötet, weil sich die Menschen vor ihm schämten. Greulich, au-ßer-or-dent-lich greulich!!! Haben Sie verstanden?!! —

SAAT (weicht zurück) :

Ich weiß nicht — — —

WACHTLER (mit steigender Erregung) :

Aber dann kommt das Gesetz, Bursche, hörst du, das Gesetz! Und dann werdet ihr gestraft, nicht weil ihr dies oder jenes getan habt, das tun bessere Menschen auch, sondern weil ihr es verludert habt, das Gute und die Liebe in den Dingen zu suchen. Und du stehst vor einem unbegreifbaren Gericht, schweißig, naß wie ein Lamm, das von hinten gesogen hat! Ja — die Frucht wollt ihr nicht, aber die Wollust darf euch nicht genommen werden. Dafür schwebt stündlich das Beil des Henkers über euch. Und einmal fällt es ganz plötzlich! Ihr aber könnt nicht mehr den letzten Gang des Menschen zum Topfe machen. Ihr könnt euch nicht verstecken, wie die Tiere und Vögel es tun, wenn sie sterben. Ihr seid verurteilt, mit Kot in den Hosen vor sittsamer Leute Augen zu verrecken! Dann wird euch das Wort fehlen, das jener, den ihr dort mit Steinen totschlagt, gelehrt hat: Leide mit Liebe!! — Leide mit Liebe!!! — — — Ich bin ein Faun, ja — aber dann ist im Faun Liebe und natürliche Kraft!

SAAT
(steht vernichtet. Nach einer Weile) :

Der — Leichnam ist noch immer nicht gefunden worden.

WACHTLER (unheimlich) :

Nein — hier — ist er — Bube!

DER VATER
(tritt auf. Die Stirn ist hochgeschwollen, die Haut in der Mitte geplatzt. Das Gesicht ist mit geronnenem Blut bedeckt. Zwei irre Augen stieren umher) .

SAAT
(steif wie eine Säule, streckt er beide Arme ganz steil aufwärts) .

WACHTLER
(steht gespannt in schiefster Haltung) :

Der Körper lebt. Nur der Geist ist tot.

(Des Vaters Augen bleiben plötzlich auf Saat sitzen und werden immer größer.)

DER VATER (mit ruhiger Verwunderung) :

Herr Jesus, das ist er ja ... Herr Jesus, das ist er ja!

(Er zuckt zusammen, streckt beide Hände wie zur Abwehr weit vor sich und schreit) :

Das Beil!!!

(Dann läßt er die Arme sinken. Eine Welle Wut rinnt über ihn.)

SAAT
(stößt ein unmenschliches Geheul aus, einem Wolfsgeheul ähnlich. So stürzt er schwankend davon) .

DER VATER
(folgt ihm mit taumelnden Schritten) .

WACHTLER
(sammelt alle Kräfte und sinnt in die Weite) :

Ja — — — immerhin — — — spannend — — —

Später. Ein Abend auf dem Berge.

TIOMA BETTY und SANNA
(sehr einfach, zum Teil abgetragen, gekleidet. Das Haar tragen sie zu langen Zöpfen geflochten) .

TIOMA BETTY:

Es wird feucht in den Tälern. Und die Lichtketten fangen an zu tanzen.

SANNA (auf der Erde sitzend) :

Wollen wir hinabgehn nach der Stadt oder hier oben übernachten im leeren Raume?

TIOMA BETTY:

Hier oben im leeren Raume, denke ich ...

SANNA (zögernd) :

Das ist so schmerzvoll.

TIOMA BETTY:

Ich glaube, du hegst noch immer eine Furcht.

SANNA:

Was kann man uns tun. Man hat uns schon alles getan.

TAMARA
(kommt und bleibt abseits stehn) .

TIOMA BETTY:

Man darf das Blut nicht hemmen, wenn es brausen will, Sanna. Wir leben, und das heißt verbrauchen und Beziehungen zum Sender durch den Heiland suchen.

SANNA:

Wenn ich die Sterne sehe und den Sommer atme, dann will ich den Gott unmittelbar.

TIOMA BETTY:

Lebe deinen Tag und lebe deine Nacht. Gott nimmt den Menschen niemals anders als durch den Heiland, den er gesandt hat, und unter dessen Stirn eine Erdperiode steht.

SANNA:

Wer hat dir das alles gesagt?

TIOMA BETTY:

Ich habe mir ein Buch heraufgeholt, das lag dort unten in der Schlucht, und da ist das alles ausgesprochen.

TAMARA (noch immer abseits) :

Er hat mich gesund gemacht. Wenn ich ihm danken könnte mit meinem Leben, danken ...

(Tiefes Schweigen.)

TIOMA BETTY:

Ob sie ihn nicht doch noch in den Fluß geworfen haben?

TAMARA:

Die Wellen hätten ihn wie einen König vor sich hergetragen, und die Fische hätten ihn auf den Sand gehoben. Und dann hätten die Vögel geschluchzt und die Tiere geweint, der Mond aber wäre von selber verlöscht in der Nacht.

SANNA (ist aufgestanden) :

Es gibt Menschen — so las ich einmal in einem Buche ohne Orthographie — es gibt Menschen, deren Leichnam weder Wasser noch Erde verbergen kann. Die Wogen speien ihn aus, und die Erde bricht auf und wirft ihn auf den Acker.

TIOMA BETTY:

Und warum?

SANNA:

Weil dieser taumelnde Ball die erlösende Wucht seiner Seele als Schmerz empfunden hat. Das stand so in diesem alten Buche geschrieben.

TAMARA (tritt unruhig herzu) :

Ich fürchte diese einsamen Männer, die immer so steif und einzeln am Abend in der Landschaft stehn. Warum ist es niemals eine Frau ...

TIOMA BETTY (nachdenklich wiederholend) :

Die Wogen speien ihn aus, und die Erde bricht auf und wirft ihn auf den Acker.

SANNA:

Das stand da so schön geschrieben, Tioma Betty, zum Weinen schön geschrieben.

TIOMA BETTY:

Man kann es immer noch einmal sagen: Die Wogen speien ihn aus, und die Erde bricht auf und wirft ihn auf den Acker.

TAMARA:

Jetzt ist er ganz nah bei uns — — der Mann. —

EIN FREMDER MANN
(tritt auf, bleibt aber ganz hart an der Seite stehn und blickt teilnahmlos aber unverwandt ins Weite hinaus. Seine Kleidung ist vollkommen zerrissen, sein blonder Vollbart ungepflegt und zerzaust. Sein Antlitz ist hohl und läßt auf große Anstrengungen schließen) .

(Die Frauen stehen hart auf der gegenüberliegenden Seite, nicht furchtsam gerade, doch vielleicht ein wenig betreten.)

SANNA (leise) :

Laßt uns zur Stadt hinuntergehn.

TIOMA BETTY:

Fürchtet nichts. Ich bin stark. — Bleibet auf dem Berge, nur hier könnten wir ihn treffen, so er noch einmal zu uns kommen sollte.

SANNA:

Es ist ja so lange her.

DER FREMDE MANN (fern und ruhig) :

Wen sucht ihr, Mädchen ...

(Schweigen.)

DER MANN:

Ich kenne alle Pfade auf der Erde, und jeder Fußdruck ist mir flüssig in der Menschheit.

SANNA (leise) :

Antworte ihm, Tioma Betty. Er ist arm und bloß.

DER MANN:

Und wenn die schweren Sommerregen durch die Lande streichen und der Boden Schlamm wird und ungewiß, so weiß ich dennoch alle Schritte aller Wesen, denn sie sind durch ihn und mich zu den Dingen.

TAMARA:

Tioma Betty, sage ihm doch ein Wort.

DER MANN:

Armut bindet. Ich bin euer Bruder, wenn ihr arm seid.

TIOMA BETTY:

Und doch birgt ein Wort für verschiedene Menschen immer verschiedene Begriffe. So ist überall immer Babel auf Erden.

DER MANN:

Das ist es. Denn die Menschen haben zuviel Worte erdacht. Dort steigt der Mond, ein Lichtschnitt am Firmament. Hätten die Menschen doch das Rätsel des nächtlichen Feuerzeichens am Himmel ertragen, ohne durch ein Wort zu der Summe der irdischen Begriffe zu drängen, nie wäre der Mensch auf Erden Bürger geworden, sondern Mensch. Vergeßt den irdischen Namen des rätselhaften Gestirns, und es sei Liebe unter dem leuchtenden Bilde und Schweigen, und die unsicheren Dichter werden nicht mehr sein.

SANNA:

Es ist seltsam in dieser Zeit, daß die Menschen alle anfangen, von den wahrhaftigen Dingen zu reden.

DER MANN:

Die Menschen beginnen langsam wieder zu denken. Die auf den Bergen und an den großen Wassern haben schon immer gedacht. Und nun sind die Berge und die großen Wasser auch zu den anderen gekommen.

TIOMA BETTY:

Kennst du Cordatus?

DER MANN:

Ein Name ist ein Begriff, unter dem man sich dieses oder jenes vorstellt. Ab er es gibt nur eine Weltanschauung, denn es gibt nur einen Gott. Und diese eine Weltanschauung hat der Mensch nur dann in voller Reinheit errungen, wenn er in sich gegen alle Dinge keinen Widerstand mehr ausspürt.

SANNA:

Kennst du Cordatus?

TAMARA:

Er lebte wie die Lilien auf dem Felde und wie die Vögel unter dem Himmel, frei, ganz frei und auch so frei den Steinwürfen der Menschen ausgesetzt.

DER MANN:

Wenn ich dem emsigen Treiben der Vöglein zuschaue, ist mir, als müßte ich gleich in ihre Nester kriechen.

TIOMA BETTY (nachdenklich wiederholend) :

... so er in sich gegen alle Dinge keinen Widerstand mehr ausspürt.

SANNA:

Lebst auch du den letzten Heiland Christus?

DER MANN (tritt näher) :

Lasset uns von Christo reden.

TIOMA BETTY:

Um die christlichen Dinge ist es schlecht auf Erden bestellt, denn es rufen alle Priesterlichen zu dem Heiland: Salbater, Salbater, Salbater ...

SANNA:

Sprich, was du glaubst ...

(Die Mädchen treten näher.)

DER MANN:

Christus sprach: Ich will den Vater bitten, daß er euch einen anderen Tröster gebe, der bei euch bleibe ewig. Und der Tröster, das ist der heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, wird euch alles lehren und euch erinnern alles dessen, das ich euch gesagt habe. Wenn dieser Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von ihm selber reden, sondern was er hören wird, das wird er sagen, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Derselbe wird mich verklären ...

TIOMA BETTY:

Und du glaubst — — —

DER MANN:

— — — daß ein Heiland diese Welt bis in alle Ewigkeit erkannt hat! Seht — der Tröster ist noch nicht gekommen in die Menschheit. Denn das Feuer, das der Heiland Christ entzündet hat, brennt noch immer. Doch es wachsen die wahrhaftigen Streiter ringsher und verkünden, daß auch Christi Wunder nur Gleichnisse sind. Und die Verkünder sind nicht Schriftner mehr, sondern Dichter, die ihr Leben als ein Dichtwerk leben! Das sind die Großen, die den Wind bewegen und auf Erden himmlisch sind.

TIOMA BETTY:

Und die Stadt Jerusalem, die vorerst zerstürzen soll?

DER MANN:

Jede Stadt ist Jerusalem! Zu den Menschen darf man nur in Bildern reden, denn der Worte Sinn ist vielfach und verändert sich im Lauf der Zeit.

TAMARA (ängstlich) :

Und so ist nichts vollendet, und wir stehen mitten drin — — —

DER MANN:

Dein Hirn schreit — und du weißt keinen Ausweg. Du aufheulst in Nacht aus dem Leibe! Doch der Geist der Wahrheit wird die Schlacht gewinnen. Jetzt ist die Zeit, da der heilige Geist über alle kommt.

(Er wendet sich zum Gehen.)

TIOMA BETTY:

Bleibe bei uns diese Nacht bis zum Morgen.

DER MANN:

Ich muß wandern. Ich muß wandern. Freundlich sind die Straßen in der Nacht. Ich muß wandern, immer weiter, weiter wandern ... Wachst, Kindlein, wachst! Der Fürst der Welt braucht Kämpfer für sein Reich!

(Er geht.)

(Schweigen.)

SANNA:

Wie es plötzlich dunkel um uns ist.

TAMARA:

Alles Licht von außen hat er mitgenommen.

TIOMA BETTY:

Innen brennt’s ... Und die Wärme wird den Wind bewegen. Und Jerusalem wird zerbrechen. Und ich seh die Menschen auf den Fluren wie die Bäume und die Blumen leben: lächeln, atmen, lieben und bewegungslos schauern oder auch in den erschütternden Welt- und Schicksalswinden eine ergreifende Erhabenheit in das helle All rauschen.

SANNA (in unverhoffter Starre) :

Tioma! Tioma Betty!! Halte mich fest, halte mich ganz, ganz fest!!!

(Sie hängt an ihrem Arme.)

TIOMA BETTY (groß und ruhig) :

Du weißt es! —

SANNA
(am ganzen Körper fliegend) :

Tamara — geh — geh — fasse ihn — Cordatus! — (Sie ruft hinaus) : Cordatus!!! Eile! O Gott — eile doch. Ich kann nicht! Weshalb habt ihr nicht erkannt! Weshalb wart ihr blind! blind!! blind!!! Fasse ihn — fasse ihn in der Nacht!!

(Sie springt hinaus.)

TAMARA
(mit großen Augen schwankend hinterher) :

Dank, Dank, Dank, Dank — — —

TIOMA BETTY (leuchtet) :

Und sie erkannten ihn nicht! — Nun greifen wir ihn nicht mehr mit den Händen ...

ENDE

Anmerkungen zur Transkription

Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):