Title : Max Butziwackel der Ameisenkaiser: Ein Buch für Kinder und große Leute
Author : Vamba
Illustrator : Karl Elleder
Translator : Luise von Koch
Release date
: January 16, 2017 [eBook #53973]
Most recently updated: October 23, 2024
Language : German
Credits
: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so dargestellt . Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert .
Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches .
Ein Buch für Kinder und große Leute
Nach
Luigi Bertelli
deutsch bearbeitet von Luise von Koch
Mit Buchschmuck von Karl Elleder
Freiburg im Breisgau 1920
Herder & Co. G. m. b. H. Verlagsbuchhandlung
Berlin, Karlsruhe, Köln, München, Wien, London, St. Louis Mo.
Alle Rechte vorbehalten
Buchdruckerei von Herder & Co. G. m. b. H. in Freiburg i. Br.
Bertellis Büchlein, das in der vorliegenden Übertragung dem deutschen Leserkreis zugänglich gemacht werden soll, ragt weit über den Durchschnitt der Jugendschriften empor. Der italienische Verfasser verbindet mit einer gründlichen Kenntnis der Insektenwelt eine südländisch reiche Phantasie und ein köstliches Erzählertalent. So konnte er seinen Landsleuten ein Werk schaffen, das Kindern und Erwachsenen eine lautere Quelle der Bildung und ein reicher Schatz der Belehrung geworden ist. – Mit Freude erinnere ich mich noch der Zeit, da ich mir von italienischen Kindern aus dem Butziwackel erzählen ließ. Angeregt durch das Büchlein, betrachteten sie mit geschärften Augen die krabbelnde Ameise im Sande, den Wasserkäfer im Tümpel, die summende Hummel und Biene auf der blühenden Wiese; für die kindliche Vorstellungswelt wuchsen sie zu Gestalten aus dem Butziwackel.
Wer die Schöpfung in der Kleinwelt des Insektenreiches betrachtet, findet darin einen unerschöpflichen Reichtum von Schönheit und eine ungeahnte Fülle von Kraft, die Spuren des allmächtigen und allweisen Schöpfers. In der durch die Naturgesetze bestimmten Vollkommenheit der unbewußten Geschöpfe sah der Mensch allezeit einen Antrieb zur eigenen [vi] sittlichen Vervollkommnung. Ein Führer zu neuen Kenntnissen, ein Mahner zu tapferem Vorwärtsstreben ist der Butziwackel.
Ich habe an der deutschen Ausgabe ratend und helfend mitgearbeitet und kann nur wünschen, daß das Büchlein in die Hände vieler Kinder und Kinderfreunde komme. Es wird sich neben dem » Bengele « einen Platz im Kinderherzen erobern und wie jener Freude bereiten und Nutzen bringen.
Illenau , August 1920.
A. Grumann.
Seite | ||
Zum Geleite | v | |
1. | Drei Geschwister in der Sommerfrische | 1 |
2. | Max wird ein Ameisenei | 6 |
3. | Wer sein Leben als Ameise beginnt, erfährt Süßes und Bitteres | 9 |
4. | Eine Ameisenmutter | 17 |
5. | Max war Ei, Larve und Puppe. Nun ist er weder männlich noch weiblich | 22 |
6. | Eine Riesenschlange | 28 |
7. | Ist ein Kind klüger als eine Ameise? | 32 |
8. | Die Überführung der Schlange | 38 |
9. | Max, der Soldat | 43 |
10. | Im Kuhstall der Ameisen | 46 |
11. | Eine Ameise, der das Latein Leibweh macht | 52 |
12. | Butziwackel wird erkannt | 56 |
13. | Das weiße Fähnlein | 59 |
14. | Ein feindlicher Angriff | 63 |
15. | Max wird General auf dem Schlachtfeld | 66 |
16. | Ein Gasangriff auf General Butziwackel | 71 |
17. | Kaiser Butziwackel I. | 76 |
18. | Der Überfall | 82 |
19. | Viele Köpfe rollen in den Sand, weil einer den seinen zu hoch getragen | 87 |
20. | Das Kriegsgericht | 90 |
21. | Ein hochvornehmer Mordgeselle | 95 |
22. | Letztes Lebewohl | 101 |
23. | Kaiser Butziwackel findet eine Freundin, die aus einer Eichengalle herausspaziert | 107 |
24. | Auf dem Weg zur Mutter | 113 [viii] |
25. | Die geheimnisvolle Barke | 117 |
26. | Wie man eine Seefahrt auf einem Dampfschiff beginnen und sie zu Pferde beenden kann | 122 |
27. | Bei den Hummeln | 127 |
28. | Zwei Insekten finden ihr Haus wieder | 133 |
29. | Wie schwer es ist, in das eigene Haus zu kommen, wenn man keinen Hausschlüssel hat | 137 |
30. | Kaiser Butziwackel wird mit einem Floh verwechselt | 142 |
31. | Ohne Lateinprofessor wäre es auch diesmal besser gegangen | 146 |
32. | Die Geheimnisse einer Rosenknospe | 153 |
33. | Kaiser Butziwackel wird mit Steinen beworfen | 158 |
34. | Adjutant Großzang verdient sich den Titel eines Grafen aller Hautflügler | 166 |
35. | Im Bienenreich | 172 |
36. | Ein Kaiser spricht mit einer Königin | 179 |
37. | Das Geheimnis der Muskatellertraube | 184 |
38. | Die Stadt in Aufruhr | 190 |
39. | Max verläßt das Bienenreich | 197 |
40. | Eine Fahrt erster Klasse | 200 |
41. | Dritter Klasse, Abteil für Raucher | 206 |
42. | Großzang findet beinahe den Hungertod | 213 |
43. | Kaiser Butziwackel auf St. Helena | 219 |
Eigentlich, liebe Kinder, sollte ich meine Geschichte mit der Beschreibung eines Landhauses beginnen, das an einem glühendheißen Sommermittag, so gegen 2 Uhr, mitsamt dem ganzen Lande ringsum schläfrig dalag.
So flüsterstill und schweigsam war es um diese Zeit, daß nicht einmal die rücksichtslosesten Schreier unter den Insekten, die kleinen Grillen, es wagten, die tiefe Ruhe zu stören.
Übrigens weiß ich längst, wie unbeliebt Beschreibungen bei euch sind. Wo ihr sie immer in Büchern antrefft, überspringt ihr sie in einem Hops, nicht wahr? Zudem ist es so wie so nicht schwer, sich mitten in einem schönen Garten ein weißes Haus mit grünen Läden vorzustellen, umrankt von üppigem Weinlaub; denn zwei kräftige Weinstöcke waren an jeder Ecke des Hauses gepflanzt und umkränzten prächtig alle Fenster mit hellem Grün. Muskatellersorte war es, und wer diese kennt, weiß sie zu schätzen! In dichten Massen glänzten die Blätter; was aber leider fehlte, das waren die süßen Trauben. Nur hier und dort schimmerte es goldig zwischen dem Laube, auffallenderweise aber nur immer hübsch entfernt vom Fenster. Es kommt nämlich beglaubigtermaßen höchst selten vor, daß Muskatellertrauben in erreichbarer Fensternähe zu finden sind; wenn Knaben in einem solchen Hause wohnen, fast niemals.
Bst! Bst! Seht dorthin an die Haustüre!
Ganz langsam öffnet sie sich und heraus schleichen, eines hinter dem andern, drei Kinder. Bedächtig steigen sie die Steinstufen herab. Zwei Buben sind's und ein Mädchen. Mit schleppenden Schritten gehen sie dahin und aus den Augen stiehlt sich trübselige Müdigkeit und Unlust bis zum Nasenspitzchen hin.
»Wie ist das möglich?« werdet ihr fragen, »im Sommer, zu dreien auf dem Lande, und trübselig, nicht froh und lustig sein?«
Ich kann es erklären.
Seht, jedes hält in der Hand ein Buch, aber kein Märchenbuch, keine Reiseabenteuer, sondern Schulbücher sind's. Vom Hause hört man rufen:
»Fleißig sein, Kinder! Onkel Walter kommt bald heim und überhört euch! O weh, wenn ihr dann nichts könnt, ist es zu Ende mit der versprochenen Kahnpartie!«
So schleichen die Dreie bekümmert ihres Weges. Ihre Bücher halten sie vor sich her, als ob es brennende Kerzen wären. Mit ihren traurig gesenkten Nasenspitzen erwecken sie den Eindruck, als ob sie zu einem Begräbnis gingen.
Sobald sie an einem schattigen Plätzchen im dichten Fliederbusch angelangt sind, setzen sie sich auf die Steinbank, jedes ein wenig abgerückt vom andern. Vorsichtig öffnen sie die Bücher, so vorsichtig, als ob am Ende gar zwischen den Blättern ein Kobold säße, der ihnen an den Kopf springen könnte.
Das Buch des Kleinsten scheint das gefährlichste zu sein, darinnen sitzt sicher der wildeste, kleine Kobold, denn er kann sich kaum überwinden, sein Buch aufzuschlagen.
Das köstlich kühle Plätzchen war den Kindern besonders empfohlen worden. Papa, Mama und Onkel Walter behaupteten, man könne dort auch an heißen Tagen vortrefflich lernen.
Aber, du liebe Zeit! Schon nach wenigen Minuten sank dem Kleinsten die Hand, die das Buch hielt. Er trieb seine Bäckchen zu kleinen rosigen Äpfelchen auf und versuchte ein quietschendes Jahrmarkttrompetchen nachzuahmen, indem er blasend die eingezogene Luft ausstieß. Da seine Kunst aber keinen Eindruck auf die Geschwister machte, bemerkte er tief aufseufzend:
»Ach, es geht wirklich nicht!«
Die beiden andern schienen aber emsig in ihr Studium vertieft zu sein, daher stieß er jetzt ungeduldig das Schwesterlein mit seinen Ellenbogen an und fragte unwillig:
»Spürst denn du nicht, wie heiß es ist?«
Zürnend hob die Kleine den Kopf.
»Schweig, Max! Ich muß meinen ganzen Verstand zusammennehmen, denn meine Rechnungen sind sehr schwer.«
»Ei, kann denn einer noch Verstand haben in solcher Hitze?«
Nun mischte sich auch der Älteste in die Rede. Er gab sich ein sehr gewichtiges Aussehen, konnte aber seinen eigenen Unwillen kaum verbergen, als er sprach:
»Die Wärme spielt hier gar keine Rolle. Im Gegenteil: Die Mutter sagt, hier sei es hübsch kühl und die Kühle schärfe den Verstand.«
Der Kleinste dachte etwas darüber nach, dann sagte er mit größter Ehrlichkeit:
»Jawohl! Aber wenn man keine Lust zum Lernen hat, dann hilft auch die beste Kühlung nichts.«
Max hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. All den drei Kindern fehlte der Wille zum Lernen, und es wäre sehr schwer herauszubringen gewesen, welches von ihnen das faulste war.
Kaum hatte der Kleine die Wahrheit offen ausgesprochen, schlossen sie mit einem Klaps ihre Bücher und warfen sie geräuschvoll auf die Steinbank. Dabei bekamen die unschuldigen Bücher noch nachgerufen:
»Zum Kuckuck mit der Geschichte des Mittelalters!«
»Lebt wohl, ihr greulichen Rechnungen!«
»Gute Nacht, du lateinische Grammatik, du!«
Moritz, der größte, erhob sich jetzt, pflanzte sich mit gespreizten Beinen vor dem Brüderchen auf und begann zu überlegen:
»Unser ganzes Elend kommt daher, weil ihr eure Prüfung nicht bestanden habt.«
»Bitte«, verbesserte Theresa, die Schwester, »du willst wohl sagen, weil wir sie nicht bestanden haben.«
Da lachte Max vorwitzig: »Daß wir neulich bei der Prüfung nicht gut weggekommen sind, wäre nicht so schlimm, aber daß wir noch einmal hinein müssen und lernen, lernen, lernen sollen, – puh – das ist schauderhaft!«
Moritz, der sich vorgenommen hatte, mit der Zeit, – wenn er so gemütlich weiterlernte wie bis jetzt, allerdings mit reichlich viel Zeit –, ein berühmter Rechtsanwalt zu werden, fand den Augenblick passend, eine seiner vielen Probereden zu halten, und begann sogleich im Rednerton:
»Wie ihr wißt, kann ich die Einrichtung der Prüfungen durchaus nicht loben.«
Max fiel ihm lachend ins Wort:
»Und in der Prüfung hat man dich nicht gelobt.«
»Wie kannst du dir erlauben, eine Rede zu unterbrechen, du Wicht, du Naseweis! – Wenn du nicht gleich still bist, nenne ich dich Butziwackel .«
Butziwackel! Schauderhaft. – Wie war ihm dieses Wort verhaßt! – Was konnte er dafür, daß seine gute Mutter ihrem kleinsten Sohne in äußerster Sparsamkeit für den Landaufenthalt immer die alten, abgetragenen, fadenscheinigen Höschen ihres Moritz zumutete. Dem Wildfang Max wollten diese Höschen nie lange halten. So oft auch die Mutter den Sitzboden stopfte und flickte, es kam doch immer wieder einmal ein verdächtig weißes Zipfelchen zum Vorschein, das vorwitzig, einem Fähnlein gleich, hinter dem Kleinen herbammelte. Und darum schimpften sie Butziwackel.
Für andere Leute mochte das Fähnlein ja recht putzig und lustig aussehen, für Max aber war es nur ärgerlich und entfachte seinen Zorn.
Kaum hatte auch jetzt wieder sein älterer Bruder das verdrießliche Wort ausgesprochen, so griff Max nach dem Boden seines Höschens. Wahrlich! auch heute hing schon wieder frech ein Fähnlein heraus. Rasch stopfte er es ins Verborgene und ging grollend weg von seinen Geschwistern.
Mit Tränen in den Augen und zornrotem Gesichte lief unser kleiner Max durch den Garten und kam zu einer Felsgrotte, aus der ein Brünnlein plätschernd hervorsprang. Dort setzte er sich auf einen moosigen Stein, stützte den Kopf auf beide Arme und starrte vor sich auf den Boden. Siehe, da lief eine Ameisenschar wie eine lange Prozession geschäftig ihre Straße hin und her. Max schaute ihnen eine Zeitlang zu und dachte: »Wie schön haben's doch die Ameisen! Sie gehen den ganzen Tag spazieren, freuen sich des Lebens, müssen nicht lernen und kennen keine Prüfungen. Wenn ich doch nur auch eine Ameise wäre!«
Er mußte seine Gedanken laut ausgesprochen haben; denn plötzlich hörte er neben sich eine Stimme:
»Willst du, kleiner Faulpelz, wirklich eine Ameise werden?«
Erschrocken wandte Max sich um und gewahrte einen sonderbaren Alten langsam auf sich zutreten. Gott, wie sah der Mann so merkwürdig aus! Woher war er nur gekommen? Auf seiner roten, spitzen Nase saß eine Riesenbrille, um den Hals schlang sich eine dicke, schwarze Binde, und ein grüner altmodischer Rock schleifte hinter seinen Fersen her. Dieser Mann beschaute lächelnd den verblüfften Kleinen mit Augen, die aus buschigen, fuchsroten Brauen hinter der funkelnden Brille wie Laternen leuchteten.
Es war alles so unheimlich, und der tapfere Max hatte Mühe, seine Furcht zu verbergen. Er hätte nicht gewagt, den Alten zu befragen, wer er sei, und wie er in Vaters Garten hereinkäme. Eine Weile betrachtete der Fremde unsern Butziwackel, der schüchtern und gar nicht keck wie sonst, aber neugierig wie immer auch seinerseits den Unbekannten musterte. Der holte jetzt kopfschüttelnd aus einer tiefen Rocktasche eine großmächtige Dose hervor, öffnete sie sachte, stopfte sich eine ausgiebige Prise in die Abgründe [8] seiner großen Nase, nieste dreimal und brummte dann mit näselnder Stimme die sonderbaren Worte:
Leise vor sich hinlachend, schlürfte er dann in seinen grasgrünen Pantoffeln und dem langen Schlepprock den Kiesweg entlang, der zum Gartentürchen gegen den Wald zu führte.
Mit seinem roten Schnupftuch winkte er noch spöttisch Max zu, der ihm verwirrt nachschaute. Er bemerkte noch, wie der sonderbare Mann belustigt und kichernd seinen Kopf schüttelte und sodann geheimnisvoll hinter den Büschen am Wege verschwand. Starr vor Staunen und Verwirrung hatte Max die sonderlichen und unerklärlichen Worte vernommen. Wenn er sie leise nachsprach, so wurde ihm so furchtsam, so bang zu Mute, daß er am liebsten hätte fortlaufen mögen zu Therese und Moritz, die ihn vielleicht schon suchten. Allein, merkwürdig! Er konnte nicht vom Stein aufstehen, es war, wie wenn er festgeleimt wäre. Er wollte den Geschwistern rufen, die er von ferne auf dem Gartenwege sah, aber seine Stimme versagte. Er wollte ihnen zuwinken, aber er fühlte sich so bleiern müde, seine Augenlider waren schwer, sie fielen zu, und es wurde dunkel um ihn. Nein, wie sonderbar ward ihm doch zu Mute! Wurde er nicht klein und immer kleiner? War er nicht jetzt ganz weich und ein rundes Ding geworden? Er wollte die Arme heben, mit den Beinen zappeln, er hätte schreien mögen, weinen, fortlaufen, Widerstand leisten gegen die geheimnisvolle Kraft, die ihn zusehends veränderte und die, wenn sie noch länger über ihn Gewalt hatte, ihn zu [9] einem spurlosen Nichts zusammenschrumpfen ließ. Er war wie eingeschnürt von allen Seiten, und deutlich spürte er, daß er die Form eines winzigen Eies annehme.
In diesem unglücklichen Augenblick dachte er noch an das weiße Wackelfähnlein. Er machte den verzweifelten Versuch, dieses beschämende Fetzchen zu verstecken, umsonst, umsonst!
Schon war Max am Ende seiner Verwandlung angelangt; er fühlte, wie seine Sinne sich verwirrten und umnebelten. Zwei schwarze Schatten tauchten noch vor seinen Blicken auf. O Gott, das waren vielleicht zwei Totengräber, die ihn holten! Gewiß, er täuschte sich nicht, sie hoben ihn sachte empor, und nun machte er den letzten angestrengten Versuch zu schreien:
»Um Gottes willen, ich bin Max, helft mir doch das Zipfelchen verstecken!«
Die vergebliche Mühe brachte ihn aber nur um die letzten Kräfte. Willenlos überließ er sich jetzt dem Schicksal und verlor das Bewußtsein.
Wie lange blieb Max in Ohnmacht? Er konnte es nicht ermessen; aber wahrscheinlich währte der Zustand im Vergleich zu den großen Veränderungen, die mit ihm vorgingen, nicht lange.
Als er zu sich kam, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Hatte ihn jemand für einen Garnwickel gehalten und Fäden über ihn gewunden? Er spürte es doch, er saß oder lag inmitten eines Fadenknäuels, aus dem herauszuschlüpfen er sich tapfer abmühte. Niemals hätte er das Kunststück fertig [10] gebracht, wäre ihm nicht glücklicherweise jemand zu Hilfe gekommen, der sorgsam die Wirrnis der Fäden weitete und ihm Luft machte. Endlich konnte er den Kopf herausstrecken, gottlob folgten die befreiten Arme, und
»Nur Mut«, hörte er jetzt eine Stimme ihm zureden.
Mit einem letzten, gewaltigen Ruck gelang es ihm schließlich, den ganzen Körper frei zu bekommen, und zugleich fühlte er, wie man ihn zärtlich liebkoste und wunderlich beleckte.
»Na«, meinte er überrascht, »was soll das?«
»Ich wasche dich sauber, Kindchen.«
»Wie, mit der Zunge? Bin ich ein Kätzchen geworden? Darf ich bitten, wo bin ich, wer sind Sie, und was ist mit mir geschehen?«
Das hilfreiche Wesen antwortete:
»Still, Kleines! Wie bist du doch so neugierig! Jetzt, wo du eben erst aus deinem Gespinst geschlüpft bist, kannst du noch nichts verstehen. Gedulde dich, bald wird dir alles klar werden, du kleiner Naseweis.«
Naseweis hatte sie gesagt. Er war also schon erkannt und hütete sich, jetzt noch mehr wissen zu wollen. Aber bei der gütigen Ruhe, mit der er von allen Seiten gestriegelt wurde, erwachte sein Denken; seine Gedanken ordneten sich, und er wollte sich selbst Rechenschaft geben von seinem neuen Zustande. Gottlob, die letzten Wundererlebnisse hatten seinem Gedächtnis nicht weiter geschadet. Zunächst aber gab es leider, leider keinen Zweifel. Er befand sich in der ägyptischen Finsternis, von der er in der Schule einst gehört hatte, oder was ganz entsetzlich wäre, er war blind! Wie konnte er aber dann wissen, wo er sich jetzt aufhielt? Jawohl, Blinde haben ja solch feines Gefühl für den Raum, in dem sie sich befinden. Und er, er war in einem unterirdischen [11] Zimmer, er wußte es, ohne herumzutasten. Ringsum beobachtete er mit feinstem Sinn ein emsiges Arbeiten von vielen geschäftigen Wesen, ohne solche zu sehen. Hatte er einen neuen Sinn bekommen? Er beantwortete sich jetzt von selbst die vorhin gestellten Fragen. Er war eine Ameise; das Wesen, das vor ihm stand, war auch eine Ameise, und sie beide befanden sich in einem Ameisenhaus. Soviel begriff er einstweilen, so wunderbar es auch war. Verworrene Bilder aus der letzten Vergangenheit tauchten in seinem Gedächtnis auf wie ein halbvergessener Traum. War nicht ein merkwürdiger, alter Herr dagewesen mit einem langen, grünen Rock und rotem Schnupftuch, mit Brille und Tabaksdose, der unversehens in dem Augenblick auf ihn zugetreten war, als er sich gewünscht hatte, eine Ameise zu sein, ohne Prüfungsnot und Bücherqual? Moritz, Therese? Wo werden sie sein? Zu Hause bei Vater und Mutter!
Dieser Gedanke bewegte Max schmerzlich, allein er beruhigte sich nach und nach. Es war nun einmal nichts zu ändern. Weil er nicht lernen wollte, hatte er sich das gewünscht, was er jetzt war. Onkel Walter sagte stets: »Ein Mann muß die Folgen seines Handelns auf sich nehmen.« In der Schule hatte er ein Sprichwort gelernt: »Wie man sich bettet, so liegt man.« Mit vernünftiger Überlegung schloß er seine Betrachtung:
»Ich bin jetzt eine Ameise, und es geht mir nicht schlecht. Aber Max bin ich doch auch noch. Wenn es nicht so wäre, kämen mir diese Fragen und Gedanken gar nicht in den Sinn. Folglich bin ich jedenfalls etwas viel Besseres als diese Insekten um mich, und ich werde immer tun können, was mir gefällt und was ich will.«
Die pflegliche Ameise, die noch vor ihm verweilte und ihn auf den noch schwachen Füßen gehalten hatte, befragte jetzt Max:
»Liebes Püppchen, du wirst wohl Hunger haben?«
»Nicht wenig«, erwiderte Max erfreut, der längst schon Appetit verspürte.
»Da, nimm«, sprach die Ameise und streifte ihm eine vorzügliche Süßspeise in den Mund. Mit gespitzten Lippen kostend und leckend wollte Max wissen:
»Ach, was ist das Gutes?«
»Blattlaushonig, junges Ameislein. Schmeckt er?«
»Ausgezeichnet! Ich habe nie Besseres gegessen.«
Erwartungsvoll öffnete er noch einmal den Mund, um ein zweites Honigschlückchen zu bekommen. Dabei machte er eine neue Beobachtung.
Wie war doch nur sein Mund geworden? Sonderbar, ganz anders als sein Menschenmund! Er besaß zwei große, starke Unterkiefer, die man Mandibeln nennt. Ihre inneren Ränder waren gezackt wie eine Säge, und sie schlossen sich zusammen wie eine Zange. Doch dienten sie nicht zum Essen. Er spürte die Speise zuerst auf dem unteren Teil des Oberkiefers, der über den Unterkieferzangen lag und eine Art Lippe bildete. Auf dieser fühlte er, wie wir es mit der Zunge machen, den süßen Geschmack des Honigs, den er so behaglich einschlürfte.
Durch die feine Speise gekräftigt, fragte er sehr bescheiden, um nicht wieder Naseweis genannt zu werden, seine liebevolle Pflegemutter:
»Verzeihen Sie meine Neugierde! – Was für gute Sachen werde ich mit meinen großen, starken Kieferzangen kauen, da ich sie zum Honigessen nicht gebrauchte?«
»Gute Sachen? liebes Kind, gar keine; denn zum Kauen dienen deine kräftigen Zangen durchaus nicht.«
»Wie, was? Nicht? Ja, wofür sind sie dann da?« fragte Max enttäuscht.
»Wir gebrauchen sie als Waffe zu unserer Verteidigung und hauptsächlich zum Arbeiten.«
»– – – Zum Ar – – – Arbei – ten?«
Vor Schreck fiel Max platt auf den Rücken und wäre liegen geblieben, wenn ihm nicht seine Pflegemama wieder auf die Beine geholfen hätte.
»Ja, zum Arbeiten«, wiederholte deutlich die Ameise, »du wirst es gewiß recht bald lernen und üben.«
Max sperrte seinen sonderbaren Mund mit den eingesägten Kieferzangen vor schmerzlicher Überraschung weit auf, während die Pflegerin ihn von neuem fleißig beleckte. Über diese Art von Reinlichkeitspflege wurde er wieder lustig. Er schüttelte und drehte sich vor Lachen und rief:
»Hören Sie doch auf, das kitzelt ja unbändig.«
Da mußte die Ameise selber lachen und erklärte ihm:
»Ich glätte jetzt deine Fühler, sie sind der empfindlichste Teil deines Körpers.«
»Fühler? Hm, hm, Fühler habe ich?«
»Fühler nennen wir die feinen Stengelchen, die du oben auf deinem Kopfe trägst; greife nur mit deinen Beinchen danach, dann kannst du sie deutlich betasten«; zugleich half sie ihm diese Bewegung ausführen.
Er fuhr sich mit den Vorderbeinchen, die wahrhaftig so geschickt wie Arme und Hände waren, über den Kopf, befühlte und betastete sich und behauptete: »Solche Dinger nennt man Hörner !«
Wie gerne hätte er sich in einem Spiegel besehen, aber wo wäre ein solcher zu finden gewesen?
»Nenne sie, wie du willst«, sagte freundlich die Ameise, »aber Hörner sind es sicher nicht, denn sie sind aus zartestem Stoff beschaffen, was man von Hörnern nicht behaupten kann. Wehe uns, hätten wir keine Fühler! Durch ihren Gebrauch finden wir unsere oft schwierigen Wege, vermeiden Hindernisse und geben uns gegenseitig damit Zeichen.«
»Herrje, das ist viel auf einmal.«
»Aber lange nicht alles. In den äußersten Enden der Fühler sitzt unser Geruchsinn.«
»An der Spitze der Fühlhörner ist also die Nase?«
Die Ameise lächelte über seine ungewohnte Art zu fragen und fügte der Belehrung hinzu, daß in den Fühlern nicht nur der Geruch, sondern auch das Gehör seinen Sitz habe.
Nun, die Vorstellung, so lange Ohren zu haben, war etwas demütigend, und Max wollte schon ein bißchen beleidigt tun. Aber davon merkte die Sprecherin nichts und belehrte weiter:
»Ohne Fühler könnten wir im Finstern uns nie zurechtfinden.«
Max wurde es nach diesen Worten verständlich, wie er trotz der Dunkelheit Verschiedenes ganz gut wahrnehmen konnte. Das geschah eben durch den wunderbar feinen und vielfältigen Sinn in den Fühlern. Beruhigt war er aber trotzdem nicht, und er äußerte tief besorgt:
»Wie traurig ist es trotzdem, keine Augen zu besitzen!«
Jetzt mußte die Ameise herzlich lachen. Dabei streichelte sie den Kleinen und liebkoste ihn.
Max, der immer ein wohlerzogener Junge gewesen war, erinnerte sich endlich, daß er für alle erwiesene Liebesmühe [15] noch mit keinem Sterbenswörtchen gedankt habe. So begann er etwas verlegen:
»Liebe Frau Ameise, wie heißen Sie eigentlich?«
»Man nennt mich in meiner Familie Fuska. Gelehrte Leute aus meinem Stamme wissen, daß der Name lateinisch ist und soviel bedeutet wie ›die Dunkle‹.«
»Verzeihen Sie, Frau Fuska, ich dachte noch nicht daran ›Danke schön‹ zu sagen für Ihre große Güte, mit der Sie mich aus dem abscheulichen Garnwickel befreit, und für die vielen Belehrungen, die Sie mir erteilt haben.«
»Kind, was fällt dir ein, ich habe nur meine Pflicht erfüllt.«
»– Pflicht? – Wieso?« –
»Ja, ich tat, was du den Ameisen, die nach dir geboren werden, auch tun wirst.«
»Nun, das verstehe ich nicht; ich sollte auch …?«
»Wie könntest du jetzt schon etwas von bürgerlichen Pflichten verstehen! – Wenn du später dem Unterricht beiwohnst, wirst du das Nötige schon darüber erfahren.«
Bei dem Worte Unterricht machte Max mit seinen sämtlichen sechs Beinen einen Sprung nach rückwärts und wäre vor Schrecken fast ohnmächtig geworden.
Was! er war ausgerechnet eine Ameise geworden, um dem Lernen zu entgehen, und nun hörte er hier vom Unterricht reden? Das war ein unerhörter Reinfall! Zitternd vor Schrecken stammelte Max:
»Ich habe nicht gut verstanden, was sagten Sie, liebe Frau Fuska?«
»Morgen ist die erste Unterrichtsstunde für die Neugeborenen. Man lernt dort alles, was eine rechte Ameise wissen und kennen muß, um ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden.«
Versteinert stand der gute Max:
»Wissen« … »Kennen« hatte sie gesagt. Also lernen! – Auch bei den Ameisen!
Hatte sie das gemeint? Vor Entrüstung bebend stieß er die Frage hervor:
»Gibt es bei den Ameisen vielleicht auch eine Sprachlehre, eine lateinische Grammatik?«
Diese Frage verstand und beachtete Fuska gar nicht, sie wendete sich vielmehr an vorübereilende Genossinnen, um mit ihnen Zeichen auszutauschen.
Max aber war es, als ob ihm ein Brocken im Halse steckte und ihn würgte; er war den Tränen nahe.
Da er aber ein sehr geschickter Bursche war, besann er sich und sagte sich, wie unnütz das Weinen sei, besonders wenn man doch keine Augen hat. Er kletterte tief betrübt und niedergeschlagen auf das leere Fadenknäulchen, aus dem er vor kurzem mühsam und neugierig herausgekrochen war, setzte sich rittlings darauf und trommelte unmutig mit seinen Vorderbeinchen an die hohlen Wände, daß es widerhallte.
Schon wendete sich seine Pflegerin Max wieder zu und sagte freundlich:
»Komme mit mir!«
Folgsam stieg Max von seiner großen Trommel herunter und bemerkte, wie gut er auf seinen Hinterbeinchen aufrecht stehen und gehen konnte. Wahrscheinlich waren ihm außer seinem Gedächtnis und seinem Verstande noch mehr menschliche Eigenschaften verblieben, und das konnte immerhin ein starker Trost für ihn sein in mancher Bitternis.
So folgte er mit neuem Mute Fuska. Warum stieß er nur plötzlich einen jubelnden Freudenschrei aus? Was war geschehen? O Jubel! Er war nicht blind! Nein, er konnte sehen, großer Gott, wie gut konnte er sehen!
In den weiten Saal, in den Fuska ihn eintreten ließ, drang von oben durch eine winzige Öffnung ein Lichtstrahl herein. Befand er sich vielleicht im Wohnzimmer oder gar [18] im Speisesaale des Ameisenhauses? Aber wie eigenartig neu war sein Schauen! Er hatte einen viel übersichtlicheren Blick bekommen für alles, was ihn umgab. Ohne Kopf und Augen zu wenden, übersah er, was über ihm, vor ihm, hinter ihm und seitwärts geschah. Der Saal glich einer Grotte, die von Säulen gestützt wurde. Wände, Boden, alles war sauber geglättet und regelmäßig angeordnet. Rechts und links waren Ameisen emsig beschäftigt, und einige schauten ihn wohlwollend und freundlich an, lächelten auch wohl über seine staunende Miene. Alles dies konnte er sozusagen mit einem einzigen Blick beobachten.
»Worüber bist du froh erregt?«, fragte ihn Fuska.
»O wie glücklich bin ich«, rief Max freudestrahlend, »ich habe ja die besten Augen der Welt! Aber wie geht es wohl zu, daß ich so Verschiedenes zu gleicher Zeit sehen kann? Ich bewege weder Kopf noch Augen und trotzdem –«
»Das kannst du ja auch gar nicht«, fiel Fuska belehrend ein. »Weißt du, liebes Ameislein, weil wir unsere Augen nicht bewegen können, hat uns die Natur anders geholfen. Unsere Augen sind so gebaut, daß wir durch ihre Form und Stellung ein weites Gesichtsfeld haben. Ja, ja, alle Geschöpfe sind von der großen Mutter Natur so ausgestattet, daß zu ihrem Leben und Dasein alles bereit ist, was sie zu ihrem Dasein brauchen. Wir Ameisen haben zwei zusammengesetzte Augen.«
»Zusammengesetzte Augen! – Kann man sie auch auseinandernehmen?«
Fuska erklärte mit unerschöpflicher Geduld:
»Die Oberfläche der beiden Augen, die links und rechts an unserem Kopfe liegen, ist aus kleinen sechseckigen Feldern zusammengesetzt. Jedes dieser Sechsecke zeigt nach oben [19] eine Wölbung wie ein Brennglas, und jedes Feld ist ein vollkommenes Auge. Begreifst du nun, daß wir deshalb in jedem Augenblick nach allen Richtungen schauen können?«
Max ging voll Neugier auf seine mütterliche Lehrerin zu, schaute ihr in die Augen und rief:
»Mein Gott, das sieht ja aus wie ein feines Netz!«
»Ganz richtig, unser Auge, aus vielen kleinen sechseckigen Augen zusammengesetzt, heißt darum auch Netzauge; Gelehrte nennen es Facettenauge. Doch sollst du dich über die Menge der Felder in meinem Auge nicht zu sehr wundern. Wir haben nicht viele, nicht einmal hundert.«
»Wie, das heißt wenig?«
»Im Vergleiche zu andern Insekten wohl. Solche Insekten, die in der Luft leben, würden mit hundert kaum zufrieden sein. Fliegenaugen haben etwa viertausend solcher Facettenaugen.«
»Viertausend!«
»Libellen haben mehr als zwölftausend.«
Es ist kein Wunder, daß Max mit seiner Vorstellungskraft Fuskas Belehrung kaum mehr folgen konnte, als sie noch weiter erzählte:
»Ein Insekt gibt es, das heißt Dolchwespe. Die Augen dieser Dolchwespe sind genau genommen fünfundzwanzigtausend Äuglein. – Gelt, da staunst du?«
Max fand tatsächlich keine Worte, um sein Erstaunen auszudrücken. »Wenn diese Dolchwespe kurzsichtig würde«, dachte er, »dann bräuchte sie alle Brillen der Welt für sich allein.« Fuska würde seinen witzigen Gedanken doch nicht verstehen; er verschwieg ihn mit halbem Bedauern und fragte weiter:
»Wieviele Augen habe ich also?«
»Komm her, ich zähle sie. – Eins, zwei, drei … So jetzt. – Das eine von deinen beiden zusammengesetzten Augen hat sechzig Felder.«
»Da hätte ich im ganzen hundertzwanzig Augen?«
»Nein, du zählst deine einfachen Augen nicht mit.«
»Ich habe auch noch einfache zu den zusammengesetzten? Genügen die hundertzwanzig nicht?«
»Keineswegs; mit den hundertzwanzig bist du wohl imstande, mit einem Blick alles ringsum wahrzunehmen, aber die nächsten Gegenstände kannst du mit ihnen nicht klar unterscheiden. Wenn du mich ansiehst, tust du es mit den einfachen Augen.«
Man denke sich, mit welchem Forscherblick jetzt Max Fuska aufs neue betrachtete. Richtig, auf Fuskas Scheitel entdeckte er im Dreieck gestellt drei helle, sanfte Äuglein, die in Perlmutterglanz leuchteten.
»Rechnet man alles in allem«, zählte Max tief aufatmend, »so besitzen wir hundertdreiundzwanzig Augen.«
»Es ist so, ganz richtig!«
»Nun muß ich mich ein paar Minuten verschnaufen, ich kann es ja kaum glauben. Sollte man so etwas für möglich halten! Erst wollte ich glauben, ich sei blind, und nun entdecke ich an mir mehr als hundert Augen!«
Die Sache gab Max gehörig zu denken. Still wiederholte er für sich:
»Hundertdreiundzwanzig Augen! Hätte ich sie auch als Kind gehabt, so hätte ich mit hundertdreiundzwanzig in meine Bücher gucken müssen.«
Wie er noch schaudernd bei solch ungeheuerlichem Bilde verweilte, hörte er ein Schreien im Saal:
»Obacht! Holla! Platz gemacht!«
Eine geflügelte Ameise kroch herein, gefolgt von einigen Gefährten. Mühselig und erschöpft bewegte sie sich vorwärts, von den Gefährten beinahe getragen und geschoben. Bei jedem ihrer Schritte hinterließ sie ein ovales Kügelchen, das vom Gefolge sorgfältig mit dem Munde aufgehoben wurde.
»Das ist ein schöner Skandal«, entfuhr es Max, der kaum hinzusehen wagte.
»Wo ist ein Skandal?« fragte Fuska verwundert.
»Hm«, meinte Max, »ich finde das, was ich sehe, gerade nicht sehr anständig.«
Fuska wies ihn unwillig zurecht und sprach:
»Ach, so reden die Leute immer, wenn sie eine Sache nicht verstehen! Diese geflügelte Ameise, von der du weiß Gott was für unpassende Dinge zu sehen vermeinst, ist ein braves Ameisenweibchen, das hereingeführt wird, um uns seine Eierchen zu schenken.«
Da schämte sich Max seiner voreiligen Anschuldigung und fragte dafür um so wißbegieriger:
»Was machen die Ameisen mit den Eierchen?«
»Sie befeuchten sie mit der Zunge, damit sie wachsen und gedeihen, und dann werden sie in ihre Stube gebracht.«
»Das ist ja sehr nett. Bin ich auch so zu euch gekommen?«
»Nein, das Ei, in dem du stecktest, fanden zwei unserer Schwestern auf einem moosigen Stein in der Nähe unseres Hauses; sie brachten es uns heim.«
»Aha«, dachte Max, »das waren die zwei vermeintlichen Totengräber!«
Aber er hütete sich, seine Geschichte zu erzählen. Wer hätte sie ihm geglaubt!?
»Komme, damit ich dir zeige, wie wir Eier und Kinderchen pflegen«, sprach Fuska und zog Max mit sich fort, bis sie in einem Saal anlangten, der vermutlich die Kinderstube vorstellte. Wie gelbliches Korn lagen hier Eier aufgehäuft. Fuska wies darauf hin und sagte:
»Sieh hier, der erste Zustand in unserer Entwicklung.«
»Wie ist das zu meinen?«
»Insekten kommen als Eier zur Welt. Das lebendige Eichen krümmt sich nach und nach, wird durchscheinend und verwandelt sich in eine Larve .«
»Eine Larve«, rief Max, »ums Himmels willen! So spielen die Ameisen erst Fastnacht, bevor sie richtige Tierchen werden? Als ich mich einmal maskierte, setzte ich eine Larve vors Gesicht, um mich unkenntlich zu machen.«
Fuska verstand nicht alles, was er redete, aber sie erklärte ihm liebenswürdig:
»Gewiß, im Larvenzustand ist unsere eigentliche Lebensform zunächst vollständig vermummt. Wir liegen als hilflose Würmchen auf der Erde; aber dann, wenn wir die Verhüllung ablegen … Doch das sollst du jetzt alles selbst sehen; komm!«
Fuska führte Max zu einer Saalecke, wo in langen Reihen höchst eigenartige Geschöpfe standen. Nein, wie sie doch aussahen! Oben waren sie dünn wie ein Fädchen, schwollen nach unten langsam an wie eine dicke Träne, die aus dem Auge rollt. Im Fallen wird sie dicker, und wenn sie über ein ungewaschenes Kindergesichtlein rinnt, nimmt sie eine schmutziggraue Farbe an. Gerade solche Färbung wiesen [23] diese Wesen auf. Wie in einer Schule waren sie in Reihen nach der Größe aufgestellt. Beim Nähertreten bemerkte Max, daß die Dinger winzig kleine Köpfchen, aber weder Augen noch Füße hatten. Fast sahen sie aus wie eine Reihe von Zipfelmützen, die mit Lumpen ausgestopft und unten zugenäht sind. Max mußte bei diesem ungewohnten Anblick unbändig lachen.
»Sehr geehrte Larven«, so redete er sie an und hob dabei seine Fühler hoch, »wieviel Hörner strecke ich?«
Einige erwachsene Ameisen sahen ihn verweisend an.
»Wie magst du dich über unsere Kleinen lustig machen?« sprach Fuska. »Hast du doch selbst vor kurzer Zeit nicht anders ausgesehen!«
»Wie«, erwiderte Max, »bin ich auch so häßlich, so lächerlich gewesen?«
»Und nur unserer Hilfe hast du es zu verdanken, daß du in diesem Zustande nicht elendiglich zugrunde gingst!«
In der Tat konnte Max zusehen, wie die großen Ameisen sich mühten, diese Larven zu päppeln und sie mit zärtlicher Pflege zu umgeben.
Nun war er ganz kleinlaut geworden, der übermütige Max.
»Wie lange bleibt man denn in diesem Zustande?«
»Je nachdem. Manche sind in vier Wochen fertig, andere brauchen zu ihrer Entwicklung neun Monate.«
»Und ich? Habe ich so lange gebraucht?«
»Nun du hattest es eilig. In zwanzig Tagen warst du schon aus der Larve eine Puppe geworden.«
»Herrje! Eine Puppe!«
Nun drängte Fuska ihn zu den hintersten Reihen, damit er genau die Tierchen in ihrer zweiten Verwandlung sehen [24] könne. Wie entsetzlich schwer es aber für Max war, vor Fuska zu verbergen, daß ein neuer Lachkrampf bei ihm auszubrechen drohte, ist nicht zu sagen.
»Das heißt man Puppen!?« kicherte Max mit mühsamer Zurückhaltung, denn er mußte sich fest auf die Lippen beißen und ein Füßchen vor den Mund drücken, um nicht herauszuplatzen vor Lachen. Diese trottelhaften Dinger reizten wirklich dazu.
Waren denn das Ameisen? An den weichen, weißlich gelben Körper hatten sie Beine und Fühler eng angezogen, und so lahm lagen sie da, als hätte man sie eben durchs Öl gezogen.
»Also, so soll ich ausgesehen haben?« sagte Max, der sich endlich zu einem artigen Ton gefaßt hatte.
»So sahst du aus. Und wie sie, hast auch du eines Tages aufgehört zu essen, und obwohl es nicht alle Puppen so machen, hast du dich selber in ein Knäulchen eingesponnen und versteckt, und als du zu dem vierten Grad deines Lebens reif geworden warst, hast du angefangen zu nagen in deinem Knäulchen, und ich habe dir geholfen herauszukommen.«
Max starrte Fuska mit seinen sämtlichen Augen an und rief: »Ich glaubte, Ameisen kämen zur Welt als richtige und fertige Ameisen.«
»Wir Insekten sind allen jenen Verwandlungen unterworfen, die dir so wunderbar scheinen. Du wirst im Leben noch deren andere, viel merkwürdigere sehen.«
»So bin ich also Ei gewesen, habe mich in eine Larve verwandelt, bin Puppe geworden und habe als solche ein Knäulchen gesponnen.«
»Und dies Knäulchen«, so sagte Fuska überlegen, »das nennen die Menschen irrtümlich ein Ameisenei.«
»Kann schon sein«, sagte Max. »Wie ist es nur möglich, daß ich mich gar nicht daran erinnere, das alles getan zu haben!«
»Das glaube ich gerne, in jener Zeit war dein Körper unentwickelt und dein Verstand erst im Werden.«
Diese Begründung leuchtete Max wohl ein.
Eigentlich, so dachte er sich, machen auch die Menschen eine Reihe von Verwandlungen durch, von der Zeit an, wo sie als kleine Wickelkinder mit rotem Köpfchen und dickem Bäuchlein zur Welt kommen und gepäppelt werden müssen, bis zu ihrem vollkommenen Zustand, wo sie Schnurrbart und Backenbart tragen. In diesem Augenblick gab es eine neue Überraschung.
Jene geflügelte Ameise war inzwischen mit Eierlegen fertig geworden. Nun sah man sie im Winkel dort mit einer, wie es schien, schmerzhaften Arbeit beschäftigt, denn sie strich sich gewaltsam heftig mit den Beinen über den Rücken und stöhnte laut dabei:
»Ach, ach, ach!« Mit den Beinen stieß und drängte sie ihre vier geöffneten Flügel, bis es schließlich gelang, sie abzureißen. Dann seufzte sie tief auf und stöhnte erleichtert:
»Gottlob, das hätten wir hinter uns!«
Alle im Saale Anwesenden riefen ihr im Chore zu: »All Heil!« und »Hurra!« und »Wir gratulieren dir!«
»Hörst du«, sagte Max neugierig, »sie gratulieren. Hat sie Geburtstag?« – Dabei schaute er mit seinen drei einfachen Augen voll Verwunderung und mit den hundertzwanzig zusammengesetzten fragend und neugierig um sich.
Bereitwillig erklärte Fuska weiter:
»Dies ist eine weibliche Ameise, wie ich dir schon sagte. Die meisten unserer jungen Ameisenmädchen suchen sich in der Luft einen Bräutigam, um Hochzeit zu halten. Diese hat aber ihr Fest in der Nähe des Hauses unter unserer Aufsicht in Gras und Blumen gehalten. Wir haben sie dann nach Hause zurückbegleitet, und weil sie eine kluge Frau ist, entledigte sie sich eben ihrer Flügel. So kann sie nicht mehr in Versuchung fallen, eines Tages fortzufliegen, bleibt dafür hübsch gut versorgt bei uns und schenkt uns ihre Eier, um unsere Familie groß und stark zu machen.«
Verwirrt von soviel Neuem mußte Max ein bißchen ausruhen und darüber nachdenken. Nun wandte er sich wieder an Fuska:
»Wie kann und mag man denn in der Luft Hochzeit halten? Das verstehe ich nicht.«
»Es ist eben so.«
»Liebe Fuska, ich habe ja keine Flügel, wie soll dann ich um Himmels willen einmal in der Luft meine Hochzeit halten?«
»Was kümmert dich das? Männlein und Weiblein haben ja ihre Flügel.«
Nun glaubte Max aber wirklich verrückt zu werden. »Weibchen haben Flügel. Gut. Männchen haben Flügel. [27] Noch besser. Aber, darf ich fragen, was sind dann wir beide eigentlich? Ich und Sie, wir haben keine Flügel, ich begreife nicht …«
»Das ist sehr einfach: wir sind weder männlich noch weiblich.«
»Waaaas???«
»Wir sind geschlechtlose Wesen.«
Wenn Max nicht eine so dunkle Hautfarbe gehabt hätte, hätte Fuska sehen müssen, wie er erblaßte. Wie ein frischgewaschenes Leintuch, so weiß, hätte er wohl ausgesehen. Es fuhr ihm durch alle Glieder. Bis jetzt hatte er für einen tüchtigen Buben gegolten, der ein großer Mann werden konnte. Wäre er als Ameisenmädchen geboren worden, er hätte sich in Gottes Namen darein gefügt. Aber nichts zu sein, weder Mann noch Frau, das war ja nicht zu ertragen. Im Ausbruch einer wilden Verzweiflung schrie er Fuska an:
»Ich will nicht geschlechtlos sein! Ich will nicht, ich mag nicht. Ich bin ein Mann und will einer bleiben. Der Alte mit dem grauen Rock hatte kein Recht, aus mir zu machen, was ihm beliebte! Wenn er ein gerechter Mann gewesen wäre, hätte er mich erst fragen müssen.« Weinerlich bettelte er jetzt: »Ich will ein Mann sein, liebe Fuska, ich will Flügel haben! Kannst du mir nicht die Flügel ankleben, die von dem Weibchen dort abgeworfen wurden?«
Fuska tröstete ihn liebevoll.
»Dein kindliches Verlangen ist zu verstehen; leicht beneidet man diejenigen, die uns glücklicher scheinen, als wir es sind. Aber glaube mir, wenn man solche Leute oft näher kennenlernte, würde man froh sein um das, was man ist, und Gott dafür danken.«
Allein Fuska hatte gut reden. Max traf dieser Schlag zu schwer. Wie vorhin, als er vom Beginn eines Unterrichts hörte, spürte er eine angstvolle Bangigkeit, die ihm den Hals zuschnürte. Tiefunglücklich schlug er sich mit dem rechten Vorderbeinchen vor die Stirne und stützte so seinen Kopf. Das Weinen war ihm näher als je.
Aber auch diesmal bezwang er den ungeheuren Schmerz mit seiner Vernunft; er besann sich eines Bessern. Tränen weinen aus hundertdreiundzwanzig Augen, nein! Das hätte eine schöne Überschwemmung gegeben.
Schmeichelnd zog Fuska den nicht länger Widerstrebenden mit sich und sagte dazu: »Du möchtest ein Männlein sein, komm mit vor die Haustüre.«
Sorglich führte sie ihn an der Hand, vielmehr am Füßchen und stieg zum Haupteingang empor, der zugleich den Saal mit Tageslicht versorgte.
Draußen fiel Max von einem Staunen ins andere. Was sah er? Drei geflügelte Ameisen mit etwas kleineren Köpfen warfen sich wiederholt auf die Erde, wobei sie von einer Seite auf die andere fielen und die tollsten Purzelbäume schlugen.
»Habt ihr Leibschmerzen?« wendete Max sich voll Mitleid zu den unglücklichen Insekten. Stammelnd stieß eines hervor:
»Uh – uh! Ach, ah! Oh! oh! oh! …«
»E–s–e–l!« rief Max.
Das war gerade nicht sehr teilnahmvoll und artig, aber er meinte, nie dümmere Geschöpfe gesehen zu haben.
»Siehst du wohl, das sind unsere Männchen.«
»Ist so etwas möglich?«
»Ja, sie sind weder besonders vernünftig noch sonst mit wertvollen Eigenschaften begabt.«
»Das sehe ich; weder laufen, noch stehen, noch stillsitzen können sie.«
»Ihre Lebensaufgabe ist erfüllt; sie sind mit der Braut zur Hochzeit geflogen, dann ermüdet herabgestürzt, und gleich werden sie sterben.«
Starr und steif lagen bereits zwei, die Beinchen in die Luft gestreckt, auf dem Rücken da, ein drittes machte noch einige unfrohe Purzelbäume und stöhnte sein »Ach, Oh, Uh!« dazu.
»Möchtest du mit diesen Armen tauschen?« fragte Fuska.
»Mit solchen Dummköpfen? Nein, wahrhaftig nicht!« –
»Habe ich es dir nicht gesagt? – Die Männchen leben nur wenige Tage, während wir den Vorzug haben, ein, zwei, sogar bis neun Jahre zu leben, wenn uns kein Unglück zustößt.«
»Da wollte ich schon lieber noch ein Weibchen sein«, sagte Max, der schaudernd den letzten Zuckungen des sterbenden Männchens zusah, »als solch eine Art von Mann!«
»Gewinn hättest du auch davon keinen. Wie für Männchen, bestehen auch große Gefahren für Weibchen. Hungrige Vögel erschnappen sie im Fluge, und das Traurigste ist, daß sie auch nach glücklich vollendetem Flug niemals mehr ihr altes Heim finden.«
»Nun, sie werden dann wohl in ein anderes Ameisenhaus gehen?«
»Davor werden sie sich hüten! Fremde Ameisen werden nirgendwo eingelassen.«
»Dann bekommt aber die Ameisenfamilie die Eier des verirrten Weibchens nicht«, eiferte Max, »wo keine Eier sind, ist es gleich zu Ende mit Larven, Puppen und Ameisen; zuletzt steht dann das Ameisenhaus leer!«
»Was du sagst, wäre richtig, wenn wir geschlechtlose Ameisen nicht wüßten, was unsere Pflicht ist. Da wir das aber sehr genau wissen, geben wir stets Obacht und tragen die zu Boden gesunkenen Weibchen ins Haus herein, wo sie ihre Eier gerne ablegen, wie du selbst gesehen hast.«
»Wie entstehen denn Männchen und Weibchen?«
»Wie eben alle Ameisen entstehen. Aus dem Ei.«
»Wie aber kam ich zu euch?«
»Du weißt es ja. Dein Ei fand man auf einem moosigen Stein in der Nähe unseres Hauses. Wir erkannten, daß es zu uns gehörte.«
Beide schwiegen. Maxens Herz war voll der verschiedensten Empfindungen. Über eine Weile fuhr Fuska fort:
»Merke dir also: Mann sein, heißt bei uns soviel als einen einzigen, herrlich schönen Flug über Blumen zur Sonne machen, dann erschöpft zur Erde stürzen und in Betäubung sein Leben aushauchen. Um als Weibchen zu leben, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Flügel zu gebrauchen, um den schönen Sonnenflug mit einem Bräutigam zu feiern – wie oft aber geht dies Unternehmen übel aus! – oder, trotz Flügel, auf der Erde bleiben und sich selber die Flügel auszureißen, um ihrer Versuchung nicht zu unterliegen. Wer bei uns Flügel besitzt, ist nicht zu beneiden. Wir geschlechtlose Ameisen aber sind recht die Herren des Hauses. Wir arbeiten ehrlich und unverdrossen, und die ganze Welt ehrt uns mit dem ruhmvollen Titel: ›Arbeiter‹.«
Der Gedanke, unverdrossen zu arbeiten, war für Max durchaus nicht bestrickend, aber daß Fuska grundgescheit und hoch achtbar war, das sah er ein.
»Wohlan«, sagte er, »ich will mich ferner nicht mehr über mein Schicksal beklagen.«
Fuska liebte es, ein wenig zu predigen; jetzt legte sie ihm ihre Vorderbeinchen auf die Schultern, schaute ihn bewegt und ernst an und sprach:
»Eine Ameise, die still ihrer Arbeit lebt, hat keine Ursache, irgend jemand zu beneiden. Du hast gesehen, wie der Schein trügt, und daß Flügel nicht verhindern können, sich auf der Erde den Hals zu brechen.«
»Ja, ja«, sagte Max altklug, »es ist nicht alles Gold, was glänzt!«
Inzwischen waren aus dem Hause Gruppen von Ameisen ausmarschiert, die eine Menge neu ausgeschlüpfter Ameislein führten, um sie an die Luft zu bringen. Mit Interesse folgte Max, und gerne hätte er mit ihnen ein wenig plaudern mögen. Aber alle horchten hoch auf, denn eine Stimme ließ sich hören: »Hierher! Schwestern! Hilfe ist nötig!«
Eine kräftige Ameise krabbelte keuchend heran und berichtete:
»Es gilt eine große Beute hereinzubringen. Wir sind kaum unserer zwölf und werden allein nicht mit ihr fertig.«
Sofort nahm sich Fuska umsichtig der wichtigen Angelegenheit an, indem sie zunächst alle Anwesenden aufmunterte, mitzuhelfen. »Auch die Kleinen sollen mitkommen. Das Beispiel unserer Arbeit ist für die Kinder die beste Erziehung.« So befahl sie.
Der Tag war herrlich und die Arbeit begann jedenfalls mit einem Spaziergang; das fand Max nicht übel. Auch [32] war es ihm von jeher vergnüglich, einer Arbeit zuzusehen. Wie oft hatte er früher zu Therese gesagt:
»Wenn ich einmal groß bin, will ich gerne die Menschen mit Arbeit versorgen, auch wenn keine für mich übrig bleibt.«
Man zog gemeinsam einen hügeligen Weg entlang, voran als Wegweiserin die Ameise, die den Fund gemacht hatte.
Wie man, um Atem zu schöpfen, einmal stehen blieb, meinte nachdenklich die Führerin:
»Ich müßte mich sehr täuschen, aber auf diesem Weg brauchen wir mehr als tausend Leute, um unsere Beute heimzubringen.«
Nach kurzer Weile des Weitermarsches rief sie: »Gleich sind wir am Orte, hinter dem Hügel stehen die andern.«
In Wirklichkeit war der bezeichnete Hügel nur ein Maulwurfshaufen, aber man mußte tüchtig klettern, um ihn zu ersteigen. Max war als erster oben, und vor Überraschung schlug er seine Vorderbeinchen zusammen und richtete seine Fühler hoch auf.
Am Fuße des Hügels lag vor seinem erstaunten Blicke eine riesige Schlange mit rosiger Haut. Zwanzig Ameisen hatten an dem Ungetüm bereits furchtlos Hand angelegt.
Wie mag diese gefährliche Sache enden?
Die Schlange war entsetzlich groß, und noch erkannte man nicht einmal ihre wahre Länge. Warum? Sie steckte, weiß Gott wie tief, mit dem Leibesende in der Erde, wo sich ihr Körper mit aller Kraft einstemmte. Mit verwegener Kühnheit wurde von den Ameisen der Versuch gemacht, das Untier aus seiner Erdhöhle herauszuzerren.
Max wendete sich erregt zu Fuska.
»Die sind wohl verrückt«, deutete er auf die Arbeiter. »Die Schlange ist tausendmal größer als wir, wenn sie den Rachen aufreißt, verschlingt sie uns alle zusammen.«
Stolz erwiderte ihm Fuska:
»Wir Ameisen sind mutige Leute und fürchten uns nicht leicht. Ferner erinnere dich, was ich dir vom trügerischen Schein sagte. Diese Schlange ist nichts weiter als ein fetter Wurm und heißt Lumbricus agricola .«
Vorsichtig näherte sich der kleine Max dem großen Ungeheuer, betrachtete es forschend und rief enttäuscht:
»O, welch ein Aufwand von Fremdwörtern! Ein gewöhnlicher Regenwurm ist es, nichts weiter. Regenwurm sagt man, das versteht jeder sofort.«
»Es ist aber höchst wichtig, daß wir Ameisen die Tiere, die um uns leben, nach der Art ihres Baues und ihrer Gewohnheiten kennen«, erwiderte Fuska.
Max hatte mit seinem Kinderverstand freilich erfaßt, daß es sich hier um einen unschuldigen Regenwurm handelte; mit seinen Ameisenaugen erkannte er trotzdem den Ernst des Kampfes.
Seinen Angreifern gegenüber blieb der Wurm immerhin eine Riesenschlange.
Alle alten und jungen Ameisen hatten sich jetzt rings um das Ungeheuer aufgestellt, und Max war ehrgeizig genug, nicht zurückbleiben zu wollen. Er begann wie diese fleißig mit seinen Beinchen zu arbeiten. Der Körper des Wurmes überzog sich nach und nach mit einer säuerlichen Flüssigkeit. Max schnupperte daran.
»Was ist das?« fragte er, den Mund verziehend.
»Das ist unser Gift, das wir gegen Feinde benützen«, sagte seine Nachbarin.
Es war Ameisensäure. Sie wird von den Ameisen erzeugt und am Hinterleib ausgespritzt.
Das Ungetüm lag jetzt da, ohne sich vor- oder rückwärts zu bewegen.
Da kam Max ein prächtiger Gedanke, den er ohne Zaudern zum besten gab.
»Wißt ihr was? Wir zerschneiden den langen Kerl mit unsern Kieferzangen in zwei Teile«, rief er.
Aber wie mit einer Stimme hielten alle ihm entgegen: »Das wäre eine unverzeihliche Dummheit. Sie käme dem Herrn schön zustatten; da könnte er die Hälfte, die im Boden steckt, bequem in Sicherheit bringen.«
Max wußte eben nicht, daß es einem Regenwurm gar nicht einfällt zu sterben, wenn man ihn entzweischneidet. Max hatte bisher in der festen Überzeugung gelebt, daß ein Kinderverstand jedenfalls einem Ameisenhirnchen überlegen sei. Über das eben Erlebte wurde er sehr bescheiden. O weh, von einer Ameise mußte er sich so bekannte Dinge sagen lassen!
Heldenhaft zogen die Ameisen, dehnten und streckten den Wurm, aber ohne jeden Erfolg. Er steckte wie eingemauert in seiner Höhle. Max entdeckte am Bauche des Tieres eine Art Borsten, mittels welcher es sich fest am Boden anklammerte, und bei solcher Gegenwehr ließ sich denken, daß alle Ameisenkraft nichts nützte. Ein Augenblick allgemeiner Ratlosigkeit folgte der äußersten Anstrengung. Die Klügste stieg nun auf den Rücken der Schlange und befahl den andern, sie festzuhalten, damit sie nicht vollends im Erdboden verschwände.
»Hört mich an«, sprach sie eifrig, »dieser Starrkopf will sich nicht loslösen lassen. Wir werden ihm den Boden unter dem Leibe wegziehen!«
Max verstand nicht, wie man dies machen könne, während alle andern flugs begriffen. Zum zweiten Male fühlte er sich gedemütigt.
Unverweilt begaben sich alle Arbeiter bis auf etwa zehn, die die Schlange festhalten mußten, zum Rande der Höhle, in der sie mit einem Teile ihres Leibes versenkt war. Entschlossen arbeitete Max hier mit, und Fuskas Befehl: »Zangen gebrauchen!« war für ihn fast überflüssig. Alles schaufelte und grub, und die Kieferzangen, die er zur Aufnahme der süßen, flüssigen Sirupnahrung nicht hatte gebrauchen können, waren prachtvoll passende Werkzeuge. Mit ihnen ließ sich spielend packen, graben, heben und schaufeln. Im Nu war der Rand des Loches, in dem der Wurm steckte, abgebaut; tiefer und weiter gruben die fleißigen Arbeiter, und bald lag der ganze Leib der Schlange freigelegt in einer fast wagrechten Furche, in der das Tier sich mit seinen Borstenfüßen nicht mehr festhalten und die Spannkraft seiner Leibesringe nicht wie bisher ausnutzen konnte. Solange nämlich ein Teil des Wurmes wagrecht auf dem Boden lag und der andere senkrecht in der Höhle steckte, bildete der ganze Körper einen rechtwinkligen Haken und leistete einen fast nicht zu überwältigenden Widerstand. Jetzt hingegen lag der Wurm seiner ganzen Länge nach ausgestreckt in einem schiefen Graben und konnte mit einiger Mühe fortgeschafft werden. Max berechnete nachdenklich, daß das Tier mindestens fünfzehn Zentimeter lang war; im Verhältnis zur Größe einer Ameise war das ungeheuer viel. In Anbetracht seines eigenen Mutes, seiner herrlichen Waffen, die er an seinen Kieferzangen besaß, und der unglaublichen Geschicklichkeit seiner Gefährten kam aber keine Spur von Angst in Max auf. »Das werden wir schon schaffen«, so ging es wiederholt mitten in schwersten Anstrengungen von Mund zu Munde, und es lag nichts Großsprecherisches darin. Nun mußte der lange, schwere Körper nach Hause gezogen werden. [37] Das war eine ganz besonders mühsame Aufgabe. Trotz geschickter Verteilung der Arbeitskräfte am Kopf, in der Mitte und am Ende der Schlange ging es nur langsam vorwärts. Der Wurm sträubte sich nach allen Seiten.
Max half wacker mit.
»Wenn mir früher jemand gesagt hätte, wie stark und mutig Ameisen sind«, dachte er, »ich hätte es nicht geglaubt! Wie oft mag ich achtlos über sie weggeschritten sein, ahnungslos, wie klug und geschäftig sie zu meinen Füßen arbeiteten!«
Leider stieß das Unternehmen doch auf ein unüberwindliches Hindernis. Der Boden war mit Rasen bedeckt, und es ging nicht an, die Beute durch den dichten Wald der Halme und Blätter zu schleppen. Unsicher rutschte man, und haltlos verlor der Körper einen Teil seiner Kraft zum Schieben, Tragen und Stoßen. So kam der Zug zum Stehen. Endlich eine passende Gelegenheit für Max, seine Weisheit aufs neue leuchten zu lassen!
»Nun muß die Schlange eben doch zerschnitten werden«, sagte er so bestimmten Tones, daß es wie ein Befehl klang.
Die eifrige Jugend glaubte schon folgen zu müssen, als Fuska schnell »Halt« gebot.
»Wir können unsere Beute ungeteilt nach Hause bringen«, entschied sie mit Ruhe und Nachdruck.
»Aber wie denn?« rief Max ärgerlich. Galt denn sein Kinderverstand so wenig bei den Ameisen? Es war unausstehlich, wie man ihn mißachtete.
Fuska ordnete in aller Ruhe an, daß eine gewisse Anzahl als Wächter bleiben sollten. »Die andern«, befahl sie, »gehen mit mir. Laßt euch indessen die Zeit nicht lange werden«, wendete sie sich noch freundlich zur befohlenen [38] Wache, »die Arbeit wird lange währen, aber den Wurm bekommen wir ganz nach Hause.«
So ging sie, gefolgt von den übrigen zum Ameisenhaus zurück und nahm dabei einen auffallend taktmäßigen Schritt an, als ob sie Bedenken trüge, ordentlich aufzutreten.
»Weshalb geht sie denn so tolpatschig?« fragte Max seine Nachbarin.
Ja er spottete sogar über seine gute Pflegerin und sprach:
»Ei! ei! Frau Fuska hat, scheint's, Hühneraugen an den Füßen oder gar Frostbeulen im hohen Sommer, so zaghaft trippelt sie dahin.«
An der Haustüre hielt Fuska an und berechnete laut: »Die Entfernung vom Wurm bis hierher beträgt nach meiner Schätzung hundertzwanzigmal meine Körperlänge.«
In Max dämmerte mit Beschämung das Verständnis auf, warum Fuskas Art zu schreiten so eigentümlich gewesen war.
»Wenn ich gut achtgebe, wie tief ich jetzt abwärts steige, wird es nicht schwer sein, die genaue Richtung zu finden. Frisch ans Werk«, so schloß sie jetzt mit aufmunterndem Wink. Nun schritt man vorsichtig abwärts, bis Fuska bestimmte: »Hier an dieser Stelle beginnen wir den Schacht. Während ich mit der Hälfte von euch grabe, schafft ihr andern sofort das abgegrabene Erdreich weg.«
Max verstand genau, um was es sich handelte.
»Ihr hofft einen Gang zu bauen, der an einen bestimmten Punkt führen soll«, bemerkte er.
»Selbstverständlich, das tun wir«, so riefen alle durcheinander. Er aber, der siebenmal gescheite Vorwitz, sprach gelassen:
»Ihr habt wohl alle den Verstand verloren?«
Von Onkel Walter wußte er, welche Schwierigkeiten es zu überwinden kostete, bis der Gotthardtunnel gebaut war. Nach den verwickeltsten Berechnungen hatte man Jahre der Arbeit gebraucht, bis die Arbeiter, die an den entgegengesetzten Punkten die Bohrungen begonnen hatten, sich unter der Erde endlich begegneten und ein großes Freudenfest feiern konnten.
»Ha«, lachte er in sich hinein, »so etwas wollen Ameisen fertigbringen! Lächerlich.«
»Vorwärts, vorwärts«, stieß ihn Fuska derb an, daß er aus seinen Zweifeln jäh emporfuhr, »stehe nicht müßig! Wer immer grübelt und zögert, erreicht kein Ziel«, brummte sie, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.
Welch mühsame Arbeit! Eine Stunde schon grub und schaufelte man, und noch war kein Ende abzusehen. Etwas boshaft, wie Max heute aufgelegt war, wendete er sich an Fuska: »Große Ingenieurin, ich möchte mir eine Bemerkung erlauben.«
»Nur keck heraus damit«, sagte sie, die Anrede gutmütig belächelnd.
»Mir will scheinen«, belehrte Max, »der Gang, den wir graben, führt mehr und mehr abwärts. Wir arbeiten ein Loch durch die Erdkugel!«
»Sprich nur weiter«, drängte lachend Fuska.
»Wenn wir das Leben haben, werden wir in ungefähr tausend Jahren in Amerika die Sonne wieder sehen!«
Fuska ließ ihn sprechen, da er fleißig dazu weiterschaffte und grub. Die Tatsachen, so dachte sie, werden es ja lehren, ob er recht behielt. Mit sachlicher Ruhe wurde emsig gearbeitet, und man fühlte es bereits, – die Erdschicht, [40] die noch zu durchbrechen war, war nur mehr eine dünne Wand. Eine letzte Weisung noch gab die geistvolle Leiterin, und – ein Lichtstrahl drang durch die erlangte Öffnung. Alle sprangen und sangen mit fröhlichem »Hurra!« ins Freie. Da lag er, der Regenwurm, kaum einen Ameisenschritt entfernt, umgeben von den treuen Wächtern, die, ihrer Ablösung froh, vergnügt mitjubelten.
Max aber stand neuerdings überwältigt vor Staunen mit aufgesperrten Kieferzangen da und überlegte das Erlebnis! Kaum aus dem Gespinst geschlüpft, hatte er gesehen, welch umsichtige Hausfrauen und treue Wärterinnen die Ameisen sind. In langen Arbeitsstunden hatte er jetzt erfahren, welch kühne Schachtgräber sie sein können, und jetzt eben erlebte er den glänzenden Beweis ihrer Tiefbaukunst. Was war mehr zu bewundern, der Geist des großen Planes oder die Genauigkeit seiner Ausführung?
»Wie ich mich mit euch freue«, sagte er bewegt zu den Gefährten, »ich hätte nie geglaubt, daß ihr dermaßen geschickt seid!«
»Manchmal«, redete ihn Fuska an und blickte ihm wie Gedanken lesend in die Augen, »manchmal ist das Mißtrauen in anderer Leute Können nur ein versteckter und unfruchtbarer Hochmut. Weil man sich selber zu etwas unfähig fühlt, denkt man, andere werden auch nichts können!«
Dabei räusperte sie sich mit auffallender Langsamkeit, während Max sich mit den Vorderbeinchen verlegen hinter den Fühlern kratzte, denn Fuska sah ihn ein wenig von der Seite an, als ob er ein auf der Tat ertappter Schelm wäre. Aber sie war doch zum Umarmen lieb und gut.
»Na, na«, fuhr sie freundlich fort, »zweifle nur nicht an dir selbst. Heute bist du noch jung, aber in zwei, drei [41] Tagen hast du dieselbe Ausdauer und Berechnungskunst wie wir alle, und du wirst gewiß eine Ameise werden, die unserer Familie würdig ist!«
Da die Sonne sich bereits zum Untergange neigte, beeilten sich die Ameisen, den Regenwurm, der im Nu in den neugegrabenen Gang gezogen war, zu bergen. Der Eingang wurde gleich mit Blättchen, Erdkrumen und Hälmchen fest verbaut. Aus Vorsicht vor nächtlichen Einbrechern und andern Überraschungen schlossen sie sorgfältig das neue Tor zur Wohnung. Die Schlange aber lag in einer Kammer des Hauses wohlgeborgen.
Wie sie ausgestreckt dalag, erinnerte sich Max jener Schulaufgabe, die von der Klugheit der Ameisen handelte. Es war die Fabel von der sorglosen Grille und der fleißigen Ameise, die er gelernt hatte und als Aufsatz niederschreiben sollte. Darum urteilte er jetzt nach dem Gelernten und sagte in frohlockendem Tone: »Ein prachtvoller [42] Wintervorrat! Das gibt einen herrlichen Sonntagsbraten!«
»Vorrat für den Winter?« Fuska sah Max verwundert dazu an.
»Gelt«, erwiderte Max stolz auf sein Wissen, »gelt, du meinst, ich weiß es nicht, wie fleißig wir im Sommer arbeiten, damit wir auch im Winter etwas Gutes zu essen haben, wenn wir wegen der Kälte nicht ausgehen können.«
Da lachten alle Umstehenden aus vollem Halse.
»Nein, wie er töricht plaudert«, riefen sie, »wer wird denn im Winter essen?«
»Nicht essen? – Den ganzen Winter nichts essen?«
»Im Winter schlafen wir doch!«
»Liebe Fuska, höre doch, was sie sagen!«
»Freilich«, bestätigte sie schmunzelnd über sein enttäuschtes Gesicht, »was sollten wir den ganzen unfreundlichen, kalten Winter über Besseres tun?«
»Da schlafen wir immerfort, einen einzigen, guten, langen Schlaf?«
»Ja, so ist es, Lieber.«
»Wie können denn nur die Menschen«, so dachte jetzt Max, »ihren Kindern solche Geschichten erzählen von Tieren, die sie gar nicht ordentlich kennen!« Er war ganz müde vom Denken und den vielen neuen Eindrücken und fragte nun gähnend:
»Und jetzt? Heute gehen wir gewiß recht bald schlafen?«
»Was denkst du? Nachts verrichten wir unsere Hausarbeit!«
»Immer arbeiten!« brummte Max. »Aber der lange Schlaf im Winter ist nicht übel. Was hat man doch als Kind für eine Schererei, sich abends auszuziehen, ins Bett zu [43] legen, dann wieder alle Morgen aufstehen, anziehen, waschen, kämmen und so fort, bis abends dieselbe Leier wieder beginnt, und alle Tage so weiter, ein ewiges Einerlei!«
Dies sagte er aber nur still zu sich selber.
»Du hast immer noch keine richtige Vorstellung«, sagte Fuska zu Max, »wie es in unserem Hause eigentlich aussieht. Reinige dich jetzt, ehe ich dich in die Kellerräume führe.«
»Ich mich reinigen?« wunderte sich Max.
»Das versteht sich! Wir haben uns beim Graben tüchtig bestaubt, und ich will nicht hoffen, daß du dich im Schmutze wohl fühlst wie eine Kotwanze.«
Dieses Insekt mit dem häßlichen Namen, auf das Fuska anspielte und das bei den reinlichen Ameisen nicht gerade als Kosename gebraucht wird, heißt lateinisch Reduvius , was Max trotz seiner Studien im Latein nicht wußte. Es lebt in den Häusern bei den Menschen. Die Larve hüllt sich in Wollstaub und allerlei Kehricht, wie man ihn in den Ecken unreinlicher Wohnungen antrifft. Vermummt in einen Staubmantel, fällt sie nun aus dem Hinterhalt arglose Mücken an und verspeist sie. Ist aber das Insekt ausgewachsen, dann gibt es seine ungehörige Hinterlist und niedrige Verschlagenheit auf und jagt nach Beute im offenen Kampfe.
Fuska hatte recht, wenn sie die Lehre anknüpfte: »Reinlichkeit ist der erste und vornehmste Beweis eines gebildeten Geschöpfes, das Selbstachtung besitzt. Wir Ameisen halten sehr viel auf uns!«
»Wie in aller Welt soll ich mich aber reinigen? Wo ist Wasser, Seife, Handtuch?« Fuska begriff durchaus nicht, was er meinte.
»Nur rasch«, sagte sie, »mache dich sauber. Gebrauche flink deine Beinchen!«
Max stellte sich ungeschickt genug an. Am Ende seiner Füße befand sich eine Art Kämmchen mit scharfen Zähnen; damit konnte er, wenn er die Füße hob und beugte, seine Fühler bürsten; kreuzte er die Beinchen, so ließen sich Kopf und Rücken kämmen und die feinen Härchen glätten und striegeln, die an den Fußspitzen wuchsen.
»Wenn mir einer gesagt hätte, daß mir der Haarschopf an den Füßen wüchse!« witzelte er.
Plötzlich hielt er laut jammernd inne.
»Au weh, au weh!«
»Was hast du, Kindchen?«
»Ich armer Kerl! Ich blute! Blut läuft aus meinen Haaren!«
»O du Dummerchen«, lachte Fuska, »du bist beim Kämmen an eine Drüse geraten.«
»Drüse?«
»Aus diesen Drüsen quillt ein Saft, mit dem wir unsere Staubhärchen befeuchten können.«
»Wozu tun wir dies?«
»O zu allerlei! Womit könntest du dich auf einer senkrechten, glatten Fläche halten, die bestiegen werden soll? In solchem Falle drückt man geschwind ein wenig Drüsensaft heraus; dieser klebt gerade so viel, daß er uns beim Gehen an der glatten Wand den festen Halt gibt.«
Mit den Beinen hatte Max vorher gegraben, und mit ihnen hatte er geschickt die Erde fortgeschleudert, die ihm im [45] Wege war. Jetzt rief er begeistert: »Was habe ich doch für kunstvolle Füße! Krallen sind daran, Staubhaare und Kämmchen. Fehlt nur noch Zahnbürste, Mundwasser und ein Spiegel, dann hätte ich die feinste Waschtischeinrichtung beisammen!«
»Komm, komm!« eilte Fuska.
Um ihn rannte alles so geschäftig durcheinander, daß er mit seinen neugierig vorgestreckten Fühlern unsanft an beschäftigte Ameisen anstieß.
»Was laufen diese so? Was bedeutet dies Hin und Her?« fragte er.
»Larven und Puppen werden herumgetragen. Sie sind sehr empfindlich gegen Kälte und Hitze.«
»Sie erkälten sich wohl leicht und bekommen den Schnupfen?«
»Wir bauen für unsere Kleinen hochgelegene und tiefe Stuben, wohin wir sie je nach Sonne und Regen tragen.«
Max dachte mit Rührung daran, daß man auch ihn so treu herumgetragen hatte, und tiefbewegt sprach er:
»Wie gerne mag ich die Ameisen leiden, diese guten Tierchen! Ich finde kaum Worte, um zu sagen, wie dankbar ich Ihnen, liebe Frau Fuska bin, für alles Liebe, was Sie mir schon getan haben.«
»Du liebe Zeit, mache keine Redensarten! Ich habe an dir nur getan, was einst mir geschah und was du den nachkommenden Geschlechtern tun wirst. Bei uns Ameisen werden schon die Kinder angehalten, andern das zu tun, was wir selbst wünschen, daß es uns geschähe. Man muß Gutes tun, weil man Gutes empfangen hat, wie man eben jede Schuld bezahlt, wenn man ehrlich ist.«
Unsere Beiden waren übrigens wieder innerhalb des wohlverrammelten Tores angelangt. Im Hausgang schritten einige Ameisen hin und her.
»Was tun diese hier, Frau Fuska?«
»Sie hüten als Schildwachen unser Haus und rufen sofort im Falle der Gefahr diejenigen an, die bei der Arbeit sind.«
»Ich will auch eine Schildwache werden!«
»Ohne Zweifel kannst du das, denn du scheinst eine kräftige, gesunde Ameise zu werden und hast alle Eigenschaften eines guten Soldaten in dir.«
»Soldat! Soldaten gibt es auch bei den Ameisen? Juhe! – Hurra!«
»Im Notfalle kämpfen wir wohl alle, aber in unserer Familie sind die kräftigsten Arbeiter mit starkem Kopf und den mächtigen Kieferzangen besonders zum Kriegsdienst geeignet.«
»Beim ersten Kampfe«, rief Max voll Begeisterung, »schwöre ich, daß ich es zum General bringen will!« Indem er dies sagte, hob er sein rechtes Vorderbeinchen zur Stirne empor und grüßte die Wachen stramm militärisch.
Während sie beide die entlegensten Winkel des Hauses besuchten, konnte sich Max von der Weitläufigkeit des Baues überzeugen. Es gab weite Gemächer, die mittels Gängen und Gräben in Verbindung standen. Alle mündeten sie in einen großen Saal im Mittelpunkt des Hauses. Wenn die Tageshitze am größten war, vereinigten sich hier in ihren Ruhestunden die Bewohner. In den weiten, dunklen, von Säulen und Pfeilern gestützten Gewölben tastete Max sich mit seinen feinen Fühlern sicher vorwärts und bewunderte überall die geistreiche Anlage des schönen Baues.
Die Ameisen, das sah er klar, sind nicht bloß gute Pfleger, starke Arbeiter, schlaue, kluge Tunnelgräber, sie sind auch große Baumeister. Er stand nicht an, dies laut preisend Fuska als Artigkeit zu sagen.
»Es wäre eine falsche Bescheidenheit«, erwiderte diese mit würdigem Stolze, »dein Lob abzulehnen. Aber ich muß auch gestehen, daß wir Ameisen zwar alle großes Geschick im Bauen haben, trotzdem besitzen wir aber keine bestimmte Bauart, wie z. B. die Bienen. Jeder arbeitet bei uns sozusagen nach eigenem Geschmack und eigener Laune. Auf diese Weise bekommen wir Häuser von unglaublicher Vielseitigkeit, die alle etwas Persönliches an sich haben.«
»Es müßte sehr schwer sein«, bemerkte Max altklug, »eine Geschichte des Ameisenstiles zu schreiben.«
»Riesig schwer! Denke, es gibt außer den verschiedensten Arten unserer unterirdischen Nester auch solche in freier Luft.«
»In freier Luft? Schwebend? Wie merkwürdig!«
»Jawohl! Es gibt Ameisenarten, die bauen ihr Häuschen auf Pflanzenzweige, sie kleben Blätter zusammen als Dach; andere wohnen in Eichengallen, in Felsenspalten, Mauerritzen, sogar im Holz der Bäume.«
»Also Holzschnitzer, nicht wahr?«
»Vollendete!«
»So sind die Ameisen auch Bildhauer«, murmelte Max, und jetzt dachte er erst mit Verständnis an Namen, die ihm einst in der Schule recht langweilig schienen. Da war im Lesebuch von einem berühmten Mann die Rede, der Dante hieß; dieser war zugleich ein Staatsmann, ein Dichter und Gelehrter. Ein anderer hieß Michelangelo Buonarroti; von diesem gab es eine ganze Litanei zu merken: Bildhauer, [48] Maler, Baumeister, Ingenieur, Dichter und Soldat sollte er einst gewesen sein! Und alles mit Note eins! Er hatte es nie recht glauben können, aber jetzt schien es ihm doch eher möglich, nachdem er bei den Ameisen auch so vielerlei Kunst vereinigt sah. Es war nicht ohne Grund, wenn er auf einen drolligen Einfall geriet:
»Es kommt mir vor«, dachte er, »als ob ich, seit ich Ameise bin, ein großer Mann geworden sei.«
Er fand übrigens, daß dies, was die Ameisen ihr Haus hießen, viel eher eine kunstvoll befestigte Stadt genannt werden durfte. Max, der von Fuska bereits gelernt hatte, Entfernungen abzuschätzen, berechnete die Tiefe und Höhe des Baues auf mindestens dreihundert Ameisenlängen und dachte mitleidig an das größte Menschenbauwerk, die berühmten ägyptischen Pyramiden. Ihr Bild hing in Onkel Walters Zimmer, und Onkel erzählte von ihnen, daß sie neunzigmal die Höhe eines Menschen hätten.
Trotz aufrichtiger Bewunderung und Staunen für die kleinen Insekten, denen er jetzt selbst angehörte, spürte er nach und nach eine ihm von jeher wohlbekannte Regung seines Magens.
Ohne Umstände sagte er daher:
»Alles ist wunderschön, alles ist vorhanden, was eine Ameise sich wünschen kann, aber darf ich fragen, ob nicht irgendwo etwas Eßbares zu finden ist?«
»Du kleiner Hungerleider«, lächelte Fuska. »Bisher bist du von mir gespeist worden, es ist aber jetzt an der Zeit, daß du allein essen lernst.«
»O da mache ich sicher die schönsten Fortschritte, ich will es gerne versprechen!«
»So komm, du sollst jetzt unsere Ställe kennenlernen.«
Eine neue Überraschung! Ställe!
»Ställe? Wirkliche, wahrhaftige Ställe?«
»Komm nur, wir werden unsere Kühe melken.«
Ziemlich einfältig blickte Max um sich.
»Kühe? Wo? Melken? Wie?« – Kopfschüttelnd ging er hinter Fuska her, die ihn in einen schiefen, aufwärts strebenden Gang führte, der bis zur Erdoberfläche reichte. Er fühlte die Luft freier und kühler wehen und bemerkte, daß der Gang oberhalb des Erdbodens weiter senkrecht emporstieg. Im Hohlraum des Ganges stand aus dem Erdboden herauswachsend der Stengel einer Pflanze. Es war ersichtlich, daß der röhrenförmige Bau errichtet war, um diese Pflanze zu schützen. Sie kletterten in die Höhe und gelangten schließlich in einen erweiterten Raum. Dieser glich einer hohlen Kugel. Hier lebten Insekten, die Max nicht gleich erkannte. Durch ein kleines Fensterchen drang ein [50] Lichtstrahl ein, und Max sah, daß es Tierchen waren, wie er solche oft herdenweise an den Rosenzweigen in seinem Garten beobachtet hatte und die Onkel Walter Blattläuse nannte.
»Hier hast du zwei Arten von Milchkühen«, lud Fuska ein, »wähle und laß es dir tüchtig schmecken.«
Max stand verblüfft vor den Blattläusen und den Gallenläuschen, die Fuska Kühe genannt hatte.
»Melken? Ja, wie denn? – wo denn?«
»Nun hinten!« ermunterte ihn Fuska.
Max war verblüffter als zuvor. Wahrhaftig, für eine saubere Ameise, die sogar an den Füßen ihre Kämmchen mitführte, war dies eine schmutzige Geschichte. Allerdings hatte seine Mutter einmal in der Küche Brötchen mit einer gewissen Schnepfensache bestrichen, die dem Namen nach auch nichts Schönes versprach, die sich aber als Leckerbissen herausstellte. Ohne länger zimperlich zu zaudern, ahmte er Fuskas Beispiel nach, fing sich eine fette Kuh aus der Herde und begann tüchtig zu melken und zu schlucken, was sich die Blattlaus ohne Widerrede gefallen ließ. Es war natürlich keine Milch, was ihm da so gut mundete, sondern der ihm bereits bekannte vorzügliche Sirup. In mächtigen Zügen trank er sein Bäuchlein so rundlich voll, daß er zur Verdauung an die frische Luft zu gehen wünschte.
Durch das Fenster stieg er mit Fuska ins Freie und kletterte längs der Außenwand zur Erde hinab. Nun lag das anmutige Bauwerk im Mondlicht vor seinen Blicken, dessen Äußeres er sich vorher nicht gut vorzustellen vermochte.
Vom Erdboden aus erhob sich der Röhrenbau in Gestalt einer wohlgeformten, fast senkrecht stehenden Walze und [51] schloß zu oberst in einer kugeligen Ausbuchtung ab. In diesem erweiterten Raume lebten die Blattläuse und Gallenläuse. Eine zierliche Krönung fand das hübsch gebaute Türmchen durch die langen, grünen Blätter der Pflanze, die aus der Dachöffnung herauswuchsen.
»Beim Anblick dieses Bauwerkes steht mir ja der Verstand still«, meinte Max.
»Und doch ist es gar nicht schwer, das alles zu begreifen«, sprach Fuska. – »Die Blattläuse saugen ihre Nahrung aus der saftigen Rinde der Pflanzen. Wir verzehren mit Vorliebe den Honigseim, den sie in ihrem Körper bereiten und nach außen abgeben. Darum holen wir uns diese Insekten herbei, halten sie als Haustiere und melken sie, wie du es eben selbst getan hast.«
»Ja, ja!« unterbrach Max schmunzelnd die Belehrung, »ich habe heute melken gelernt, und es hat mir geschmeckt wie noch nie im Leben.«
»Gewiß! – Allein, damit die Tierchen ihre süße Flüssigkeit von sich geben können, müssen sie auch zu essen haben. Darum haben wir ihnen den Stall um eine lebende Pflanze gebaut; auf dieser finden sie ihre Nahrung. Für gewöhnlich halten wir unsere Kühe in einem Raume innerhalb des Hauses. Das erspart viel Arbeit und ist viel bequemer. Aber wenn wir beim Ausheben unserer unterirdischen Höhlenwohnungen nicht auf die Wurzeln einer lebenden, saftigen Pflanze stoßen, dann müssen wir außerhalb des Hauses solche Bauten aufführen.«
Wenn die Ameisen, wie es manchmal Menschen zustößt, sich hinterdenken könnten, dann hätte Max vor Verwunderung seinen Verstand verloren. – Unglaublich! – Die Ameisen hatten, geradeso wie die Menschen, ihre melkbaren [52] Kühe, sie bauten für diese Ställe, und diese Ställe waren in allem der Lebensweise ihrer Bewohner angepaßt. Die Kühe fanden darin, ohne daß man es ihnen hätte hintragen müssen, ein gutes Futter und gaben dafür ihre süße Milch. Was Max bis jetzt vom Ameisenleben gelernt hatte, war fast zuviel für seinen kleinen Kopf.
Er mußte immer noch darüber nachdenken, als sie den Turm wieder hinaufkletterten, durch das Fenster einstiegen und durch die Röhre in das Ameisenhaus zurückkamen. Was er gelernt hatte, erregte seine helle Begeisterung: Die kleinen Ameisen sind Kindergärtnerinnen, Lehrer, Bergmänner, Soldaten, Maurer, Baumeister, Bildhauer und schließlich gar noch Viehzüchter.
Doch als sich Max an Fuskas Belehrungen über die Natur der Blattläuse erinnerte, kam auch ein banges Gefühl der Besorgnis über ihn, und er sprach zu sich selber:
»Gott soll mich davor bewahren! Aber ich habe eine Ahnung und bringe sie nicht los. – Am Ende hat die Gesellschaft auch noch einen Lateinprofessor, und ich muß wieder Grammatik studieren. – O je, o je!! «
Max war wieder in das Innere des Hauses zurückgekommen. Bald sollte er erfahren, daß Ameisen nicht an Verdauungsbeschwerden leiden.
Drunten arbeiteten die Gefährten immer noch glättend, befestigend und erweiternd an dem neu gegrabenen Gang. Als drei dieser Fleißigen unsere Ankömmlinge bemerkten, eilten sie auf diese zu und begannen:
»Wir haben Hunger, wollt ihr uns zu essen geben?«
»Du hast für viere gegessen«, wendete sich Fuska zu Max, »sättige die drei!«
Ehe Max begriff, was sie wohl meinte, hielt eine Arbeiterin ihren Mund an den seinen und saugte ihm eine gehörige Portion vom genossenen Sirup aus dem Leibe.
Er konnte nur ganz einfältig dabei stillhalten.
»Aber das sind dumme Witze!« rief er, als sie fertig war.
Fuska erklärte: »In deinem Kröpfchen hast du einen Teil deiner genossenen Nahrung aufgespeichert. Das ist dein Vorratskämmerchen, aus dem du Larven und hungrige Arbeitsschwestern speisen kannst, wenn diese letzten vor Eifer keine Zeit finden, selber Nahrung zu suchen.«
»Ach«, dachte Max, »bei den Menschen ist das nicht so einfach! Diejenigen Leute, die so viele Zeit, Mühe und Geld anwenden, sich alle Tage toll und voll zu essen, würden sich bedanken, wenn hungrige Leute sie um solche Unterstützung anriefen. Fleißige Ameisen finden also Kameraden, die ihnen das Essen in den Mund stecken, während es genug fleißige Menschen gibt, die manchmal weder Arbeit noch Essen finden, selbst wenn sie mit der Laterne danach suchten! Alle Ameisen haben, so sehe ich, einen unwiderstehlichen Trieb zur Arbeit, was man von den meisten Menschen gewiß nicht behaupten kann!«
Seine Erlebnisse gaben Max einen großen, schönen Begriff von dem weisen, hilfsbereiten, brüderlichen Zusammenleben des Ameisenvolkes, das er als Kind so oberflächlich beachtet hatte. Als er zum ersten Male das Ameisenhaus betrat, hatte er sich mit seinem Verstande den kleinen Insekten hoch überlegen gedünkt. Jetzt aber begriff er, daß die Menschen ihnen kaum etwas voraushatten. Nicht einmal den Honig! Der Zuckersaft, den er verspeist hatte, war ja herrlich!
In einem einzigen Tage hatte er eine neue Welt entdeckt, von der er sich nie hätte träumen lassen.
Leider gibt es aber neben dem Guten auch Schlimmes in jeder Welt.
Das erlebte Max schon am nächsten Morgen, als Fuska zu ihm sprach:
»Heute ist schönes Wetter; da wird die Schule im Freien gehalten. Gehe mit den jungen Ameisen jetzt hinaus.«
Bei diesen Worten verging Max alle Begeisterung. Schlechtgelaunt, verstimmt und ohne Lust schlich er hinaus hinter den andern her. Unter einem großen, schattigen Kürbisblatt hielt man an. Dort stand schon mit ernsten Mienen eine alte, würdevolle Ameise auf einem Kieselsteinchen. Dieses sollte jedenfalls den Tisch des Lehrers bedeuten.
Die Ameislein wisperten und flüsterten sich zu, daß dies die älteste Ameise der Stadt sei, die schon viel von der Welt gesehen und erlebt habe und unendlich viel wisse.
»Meine lieben Ameisen«, so begann der Professor, »es wird euch gut tun, wenn ihr kleinen, vor kurzem geborenen Leute etwas von der Geschichte und der Lebensweise des Ameisenvolkes erfahrt.«
Hier räusperte sich der Professor und fuhr fort:
»Wir gehören zur vornehmsten Ordnung der Insekten, zu jener der Hautflügler; diese darf sich rühmen, daß ihr zwei Insektenfamilien angehören, die durch Klugheit, Fleiß und geordnetes Zusammenleben vor andern sich auszeichnen: die Ameisen und die Bienen. Tausenderlei Sippen gibt es bei uns, über die ganze Welt sind wir verbreitet, von der kleinen, arbeitsfrohen braunen Ameise angefangen bis zur riesig großen, räuberischen Eciton, die in kleinen Kolonnen [55] den Wald durchziehen, um Ameisennester zu plündern, die ihnen besonders gefallen. Von der häuslichen, rührigen gelben Schwester bis zur frechen südamerikanischen Raubameise, die des Nachts in die Wohnungen der Menschen einbricht und ihnen das Brot stiehlt. Wir leben in geordneten Volksstaaten. Jeder arbeitet, jeder hat dieselben Pflichten, dieselben Rechte, einer achtet und liebt den andern, und alle sind Brüder einer Familie.« Max sah die Sache ins Breite gehen, und weil er meinte, in der Ameisenschule gälten dieselben Zeichen wie bei den Menschenkindern, hob er schlau sein rechtes Vorderbeinchen in die Höhe, um eilig hinausgehen zu dürfen. Allein der Professor schien ihn nicht zu verstehen.
Er fuhr, ohne Max zu beachten, in seiner Rede fort:
»Ich bin eine alte Ameise, und nach vielen und ernsten Erfahrungen glaube ich, daß in weiten, fernen Tagen unser Volk einer leuchtenden, sonnigen Zukunft entgegengeht. Heute sind wir ja noch durch falsche Überlieferungen, irrige Meinungen und kleinliche Selbstsucht in viele Stämme geschieden und zu gegenseitigem Kampf und Krieg verdammt. Wir kennen heute noch nicht einmal die edle Freude der Gastfreundschaft, und jede fremde Ameise, die unserem Herde in Zutrauen naht, wird von uns grausam ermordet. Allein wer weiß es, ob nicht doch der Tag erstehe, an dem alle Ameisen der Erde ihre Irrtümer einsehen und ihren gegenseitigen Nutzen richtiger erkennen? Sie werden dann ihre sinnlose Feindschaft begraben und alle ihre Kräfte vereinigend das erste Volk der Insekten werden! Dann werden alle Rassen und Stämme von der Mutilla europaea bis zur Oecodoma cephalotes –«
»Au, au, o weh, o weh!«
Die fremden Namen der Mutilla und der noch schlimmere cephalotes waren Max so auf die Nerven gegangen, daß er sich vor grimmigem Leibweh nach allen Seiten wand.
Beängstigt unterbrach der Professor seine Lektion, trat vom Steinpult zu Max herab und fragte besorgt:
»Wo fehlt es dir?«
»Au, au, mir ist so übel! Es tut mir überall weh, hier oben, dort unten, in den Beinen, am Kopf – au weh! au weh!«
Der Professor war ein tüchtiger Kinderarzt und begann sogleich eine gründliche Untersuchung.
»Verletzungen finde ich keine«, sagte er dann, »dein Körper ist tadellos gewachsen. Du hast Kopf, Brust, Hinterleib und sechs Beine. Hm, hm! Tut dir's hier weh? dort? da?« und dabei klopfte und horchte er an Brust und Kopf des Patienten.
»Jawohl, hier und dort und da tut's weh!« wimmerte Max.
»Merkwürdig! Dein Muskelsystem ist gut, und du kannst wie jede andere Ameise ein Gewicht ziehen, das dreißigmal schwerer ist als du selbst, während der Herr der Schöpfung, der Mensch, oft nicht so viel heben kann, als er selbst wiegt. Hier – was fühlst du hier?«
»O, es tut weh … unten, hinten, vorne – und oben auch!«
»Aber dein Blut fließt regelrecht durch die Adern, Magen und Darm arbeiten, wie sich's gehört, hm, hm! Atme mal recht tief! Auch die Atmung ist gut. Sind's vielleicht die Nerven?«
»Ach ja, die Nerven sind's vielleicht, Herr Professor. Ich spürte einen Stoß in allen Nerven, als ich vorhin die abscheulichen Fremdwörter hörte.«
»Untersuchen wir also deine Nerven. – Ich kann auch hier nichts Krankes finden! Die Nervenstränge sind in bestem Zustand, in den Nervenzentren liegen keine Störungen vor; du hast deren mehrere, und jedes arbeitet unabhängig vom andern. Würde man dich in zwei Stücke schneiden, könntest du einige Zeit in zwei getrennten Teilen leben. Untersuchen wir noch das Gehirn!«
Zerknirscht lispelte Max:
»Ich habe vielleicht recht wenig?«
»Nichts dergleichen, genug hast du. Wie bei jeder richtigen Ameise ist das Gehirn der zweihundertachtzigste Teil deines Körpers, das heißt, es hat ungefähr dasselbe Größenverhältnis wie bei den entwickelten Säugetieren. Daher unsere hohe Geisteskraft«, fügte der Professor belehrend bei.
Auf einmal wurde der Professor stutzig. Ganz sorgfältig betrachtete er mit seinen drei einfachen Augen den Hinterleib des Patienten und sagte:
»Sapperlott! Da ist doch was nicht in Ordnung!«
»Was ist's?« wollte Max erschrocken wissen.
»Dreh dich herum! Ein ganz merkwürdiger Fall! So etwas habe ich mein Lebtag nicht gesehen!«
Max fühlte, daß der Professor an etwas zerrte, und fragte kläglich, was er denn so Seltsames hätte.
»Wer weiß, ob es nicht ein Gewächs ist«, meinte der Professor.
»Ein Gewächs! O Gott, o Gott!«
»Es ist biegsam, ein Gewebe, das ich nicht erklären kann.«
Alle Ameisen kamen jetzt neugierig näher heran, so daß Max mitten in einem Kreise stand, und alle riefen:
»Wie seltsam! Was mag das für ein weißes Zipfelchen sein?«
»Zipfelchen!« schrie Max, am ganzen Körper zitternd vor Aufregung.
Ein gräßlicher Gedanke durchfuhr blitzgeschwind sein Hirn. Wild blickte er um sich, stürzte sich auf einen Grashalm, der sich nebenan über eine Wasserpfütze neigte, kletterte an ihm empor und ließ sich, mit zwei Beinchen daran festgeklammert, frei über dem Wasser schweben. So konnte er sein Hinterteil im Spiegel betrachten. Es blieb kein Zweifel mehr.
Klar widerspiegelte das Wasser seinen Körper, und genau sah er am obern Ende seines Hinterleibes das weiße Fähnchen. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er vor Schreck ins Wasser gefallen.
Mühsam zappelte er mit den Beinen, schwang sich wieder auf den Halm und kletterte zum Ufer hinab; er wollte seinem eigenen Bilde entfliehen.
Am Ufer erwarteten ihn erregt die andern Ameisen und sprachen durcheinander:
»Dieses weiße Ding ist verdächtig!«
»Diese Ameise gehört nicht zu unserer Familie.«
»Es ist eine Fremde!«
»Ein Eindringling!«
»Bringen wir sie um!«
»Reißen wir ihr den Kopf ab!«
Der arme Max aber war von seiner Entdeckung so erschüttert, daß er gar nicht daran dachte, sich zu wehren, obwohl er größer und stärker war als seine Gegner. Diese [59] folgten ihrem Instinkt, und trotz der Lehren ihres weisen Professors umzingelten sie unsern Helden und wollten sich wie die Wilden mit aufgesperrten Kieferzangen auf ihn losstürzen.
»Da habe ich viel Erfolg erzielt mit meinem Unterricht!« sprach traurig der Professor und überschaute ungehalten den Tumult.
In dieses Getobe mischte sich mit lautem Angstschrei eine Stimme:
»Ruhig! Was fällt euch ein!« Fuska war es. Beschützend trat sie zwischen Max und seine Feinde. Mit zitternden Fühlern und drohend aufgesperrten Kieferzangen stellte sie sich den Angreifern entgegen, die sofort einige Schritte zurückwichen.
»Schämt euch!« rief Fuska empört. »Wie könnt ihr euch unterstehen, euch das Recht über Leben und Tod eines Gefährten anzumaßen? Ihr, die ihr kaum einen Tag alt und noch nicht trocken hinter den Ohren seid!«
»Er gehört nicht zu unserem Stamm!« wagte jemand zu widersprechen.
»Er hat ein weißes Zipfelchen hinten!« fügte ein anderer keck hinzu.
Immer zorniger entgegnete Fuska:
»Zipfel hin, Zipfel her! Erfahrene Ameisen haben das Ei als eines der Unseren erkannt und heimgebracht. Ich muß mich höchlich wundern, daß ihr, die ihr sozusagen noch die Eierschalen auf dem Rücken habt, daß ihr euch ein Urteil über einen solchen Fall anmaßt! Gelbschnäbel seid ihr! Nasenweise Rangen!«
Alte Ameisen kamen in Eile herbeigerannt und halfen treu zu Fuska, während der Professor, die Vorderbeine auf dem Rücken verschränkt, das Haupt bekümmert schüttelte.
»Immer das gleiche«, murmelte er tief verstimmt, »werden denn die Ameisen niemals ihre törichten Vorurteile ablegen lernen? – Dieses ewige Mißtrauen ist die alleinige Ursache ihrer grausamen Unverträglichkeit. Schrecklich! Ich habe meine kostbare Zeit mit diesen Unverbesserlichen vergeudet!«
Übrigens, der Wahrheit die Ehre, die kleinen Ameisen standen beschämt vor Fuska, die jetzt Max bei einem Vorderbeinchen nahm und ihn den andern vorstellte.
»Seht ihn an«, sprach sie würdevoll, »und erkennt euer Unrecht. Sein Rücken ist schwärzlich, Brust und Kopf rötlich. Sind das nicht die hauptsächlichen Merkmale unserer Familie? Wer leugnet, daß er eine Rasenameise ist wie wir alle?«
Bei diesen Feststellungen schwand in Maxens Feinden jedes Gefühl der Abneigung. Zum Zeichen ihrer Freundschaft umringten sie ihn alle, und jeder drängte herzu, ihn zu umarmen.
Fuska nahm darauf Max mit sich und redete ihm in ihrer liebevollen Weise zu:
»Komm ins Haus, du mußt dich von dem ausgestandenen Schrecken erholen.« In einem abseits gelegenen Kämmerlein angelangt, ließ Max seinem Kummer freien Lauf, und er klagte:
»O liebe Fuska, ich bin ja gewiß dankbar. Aber wenn du wüßtest, wie unglücklich ich bin!«
»Nicht doch, beruhige dich nur, liebes Kind.«
»Das ist leicht gesagt, sich beruhigen«, klagte er.
»Wer befreit mich von dem unseligen weißen Wackelfähnlein!«
»Das schadet dir wirklich nichts, glaube mir. Ich hatte es längst bemerkt; ich fand es unwichtig, und zudem steht es dir ganz nett an.«
»War es denn schon an meinem Ei?« Max besann sich jetzt deutlich, wie er bei seiner Verwandlung mit letzter Kraft versucht hatte, das heillose Zipfelchen zu verstecken.
»Schon am Ei sah ich das Ding«, erzählte Fuska. »Dann kam es zum Vorschein bei Larve und Puppe; jetzt bist du größer geworden und das Dingelchen ist mit dir gewachsen, doch wie gesagt, es fiel mir gar nicht weiter auf.«
»Gelt, es ist recht groß geworden?« jammerte Max in neuer Bestürzung.
»Nun ja, aber denke doch nicht darüber nach. Bemühe dich nur, eine brave Arbeitsameise zu sein, und dann wirst du sehen, wie geehrt du mit dem weißen Fähnlein sein wirst!« Nach diesen Trostworten verließ Fuska das Zimmer. Max war nahe daran gewesen, sein Geheimnis der Pflegemutter anzuvertrauen, aber er ließ sich durch ein gewisses Schamgefühl abhalten. Aber nun, da er allein war, überkam ihn Schmerz und Kummer über das herbe Geschick, welches ihn für immer zum Tragen dieser verhaßten Fahne zwang.
»Nicht einmal als Ameise habe ich mich von diesem verhaßten Stück meines Hemdes befreien können«, rief er wütend aus. »Als Kind bin ich von Schwester und Bruder ausgelacht worden, und nun werde ich auch den Ameisen zum Gespötte sein. Früher war es noch besser! Da konnte ich wenigstens mit einer Handbewegung das Zipfelchen verstecken, aber nun? Was tun? Jetzt ist es festgewachsen, und ich muß es immer, immerfort tragen. Wie oft habe ich [62] mich gewehrt, die alten Höschen zu tragen, aber Mutter wollte nicht hören, und …«
Der Gedanke an seine Mutter war ihm, seit er Ameise geworden, plötzlich zum zweiten Male gekommen und beschäftigte ihn derart, daß er alles andere darüber vergaß.
»Mütterlein«, murmelte er mit einem tiefen Seufzer. »Armes Mütterlein, wie lange habe ich dich nicht mehr gesehen, und du weinst jetzt um deinen kleinen Max. Doch sei ruhig, lieb Mütterlein, und verzeihe mir, daß ich dir beinahe Vorwürfe gemacht hätte. Immer bist du meine liebe Mutter, und wenn ich auch eine Ameise geworden bin, so will ich doch immer dein Kind, dein Max bleiben. Ich habe dich so lieb und möchte dich so gerne sehen und dir Küsse geben! Wenn ich nur etwas von dir hätte, das immer bei mir bliebe!
Ah, schau, das habe ich ja auch! Dieses Fähnlein, das mir jetzt festgewachsen ist, stammt von Mutters Händen. Um ihr sparen zu helfen, trug ich die alten Höschen, die [63] immer von neuem zerrissen, und so trage ich jetzt zum Andenken an meine liebe Mutter das Fähnchen! Wie bin ich froh, daß es mir geblieben ist! Wer weiß, vielleicht bringt es mir noch Glück; denn alles, was eine Mutter tut, auch wenn man's nicht begreift, geschieht zum Besten ihrer Kinder.« Lachend und weinend zog er jetzt lustig an dem Wackelendchen, das ihm hinten herunterbaumelte und das dem kleinen Schelm den Namen Butziwackel verschafft hatte. Zuletzt erleichterte er sein Herz und weinte Freudentränen aus allen seinen hundertdreiundzwanzig Augen.
Nach wenigen Tagen war aus Max eine stattliche Ameise geworden.
Sein Körper war kräftig entwickelt, seine Lehrzeit erfolgreich vollendet. Fuska entließ ihn aus ihrer Pflege und sagte:
»Du hast von mir nichts mehr nötig!«
»Sprich nicht so«, erwiderte Max, »deine Liebe habe ich immer nötig.« – Er wußte jetzt auch, daß man bei den Ameisen alle Leute mit »Du« anspricht, und deshalb ließ er das steife »Sie« fallen. Im täglichen, lustigen Ringkampfe mit seinen Gefährten war Max sehr kräftig geworden und in den Turnstunden – die Ameisen treiben alle gern körperliche Übungen – bekam er immer die erste Note. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn die ganze Ameisenfamilie in ihm einen der tüchtigsten Soldaten sah.
Wenn es galt, gewagte Unternehmungen zu veranstalten oder gefürchtete Wachtposten zu stehen, wurde stets Max dazu gewählt. Max bildete sich etwas darauf ein. Eines [64] Tages fand er ein Hanfkörnlein und machte sich erfinderisch einen Panzer daraus. Er biß oben und unten sowie an jeder Seite ein Loch hinein, höhlte es aus und schlüpfte wie in einen Küraß hinein. Die Vorderbeinchen streckte er zu den Armlöchern heraus, und im Innern des Panzers hielt er das mittlere Beinpaar versteckt.
So sah er, auf den Hinterfüßen stehend, wie ein stolzer Krieger aus. Eine derartige Uniform hatten die Ameisen nie gesehen, zuerst staunten sie ihn an; aber bald schenkten sie der Neuheit keine Beachtung mehr. Gab es doch viel Wichtigeres zu denken.
Ernste Besorgnisse regten sie auf und störten das friedliche Leben des ruhigen, fleißigen Volkes.
Seit einigen Tagen konnte man in der Nähe öfter fremde Ameisen bemerken, die sich sehr verdächtig benahmen und schleunigst die Flucht ergriffen, sobald sie sich beobachtet wußten. Ihr auffallendes Benehmen konnte nichts Gutes bedeuten. Und wirklich, eines heißen Mittags, als alle ermüdet im Mittelraum Kühlung suchten, erscholl plötzlich der Schreckensruf:
»Die Roten Ameisen kommen!«
Es waren die Wachen, die Lärm schlugen. – Auf diesen Ruf stürzten viele Ameisen, Max an der Spitze, in den vordersten Gang, während ein unbeschreibliches Gewimmel im Kinderzimmer losbrach. In höchster Eile schleppten Hunderte von Pflegeschwestern Eier, Larven und Puppen in die untersten Räume, um sie der Gefahr zu entreißen. An der engsten Stelle des Ganges stießen die Kämpfer bereits auf eine eindringende Schar. Sofort erfaßte Max den Vorteil der Stellung gegenüber dem angreifenden Feinde. Dieser suchte denn auch vergeblich, sich den Durchbruch [65] zu erzwingen, denn die Hausgenossen leisteten grimmigen Widerstand.
»Einen Augenblick später«, behauptete Fuska, »und die Feinde wären in unsere ganze Stadt eingedrungen.«
»Wir stehen wie eine feste Mauer«, schwor Max, indem er einen der Hauptangreifer zurückdrängte, »hier kommt keiner durch!«
Trotzdem war er von dem Fortgang des Kampfes unbefriedigt. Festgehalten konnten in diesem Engpaß die Feinde wohl werden, allein sie wichen auch nicht wesentlich zurück, und da es in dieser Lage unmöglich war, eine Entscheidungsschlacht zu liefern, drohte die Sache gefährlich zu werden.
»Es müssen ihrer viele sein«, meinte düster Fuska; »denn wenn sie nicht von rückwärts Unterstützung hätten, wären sie sicher schon geflohen.«
Max überlegte eine Weile in schweren Gedanken versunken.
»Fuska«, sagte er dann, »willst du die Verteidigung des Ganges übernehmen?«
»Das ist nicht schwer«, erwiderte sie, »aber so, wie es jetzt ist, kann der Kampf ein Jahr dauern. Keiner wird nachgeben!«
»Das wollen wir sehen!« rief Max. – »Genügen dir zwanzig Leute, um den Feind hier festzuhalten?«
»Das ist mehr als genug!«
»Dann verlaß dich nur auf mich!«
Max befahl zwanzig Ameisen, bei Fuska auszuhalten, und ganz leise, ohne daß der Feind etwas merkte, führte er ein ganzes Regiment rückwärts zu dem Gange, den wir von dem Einbringen des Regenwurmes kennen.
Maxens Plan war eines großen Feldherrn würdig. Er fühlte sich bereits als ein Hindenburg der Ameisen. Am Ausgang des Ganges ließ er seine Schar, es waren etwa hundert Soldaten, lauter auserlesene Mannschaften, Halt machen. Er selbst bestieg einen Hügel, von dem aus man zum Haustor hinsehen konnte. Fuska hatte recht. Dort stand in langen Marschkolonnen das feindliche Heer vor den Toren und drängte den Vordersten nach, die bereits zum Angriffe eingedrungen waren. Max kam zu seiner Truppe zurück und befahl:
»So ruhig wie möglich muß vorgerückt werden! Vorwärts! Marsch!«
Ihr wißt, liebe Kinder, daß es unter den Menschen Faulenzer gibt. Obwohl sie gesund und kräftig genug sind, auch Arbeit genug fänden, geben sie den Menschen vor, krank und elend zu sein, betteln sie an und verdienen sich ihr Brot mit Lüge und Heuchelei. Andere Faulpelze [67] werden frech und stehlen oder rauben dem arbeitsamen Mitbürger, was sie zum Leben brauchen. Bisweilen rotten sie sich zu einer Räuberbande zusammen, holen den fleißigen Landwirten die Früchte vom Felde und von den Bäumen, dringen in die Häuser der Leute ein und rauben den Bauern das Vieh aus dem Stalle, dem Kaufmann das Geld aus der Kasse. Wenn sich jemand den Räubern widersetzen will, werden sie frech, mißhandeln die Guten und schlagen sie tot. So macht die Trägheit aus den Menschen Diebe und Räuber. Ganz ähnliche Verhältnisse findet man auch bei den Insekten. Eine schlimme Diebs- und Räuberbande sind die Roten Ameisen. Wild, roh, zur Arbeit unfähig, haben sie allen ordentlichen Ameisen den Krieg erklärt, sich zu richtigen Räuberhorden vereinigt, greifen ruhige Arbeiterfamilien an, dringen in ihr Haus ein, rauben alles, was sie finden, sogar das Vieh, die Blatt- und Gallenläuse, und tragen alles fort in ihre Höhlen. Ganz unerhört aber ist es, daß sie auch Eier und Larven der Arbeiterameisen wegschleppen. Wißt ihr warum? Sie lassen diese Arbeiter bei sich zu Hause ausschlüpfen und halten sie als Sklaven. Diese als Kinder geraubten Ameisen müssen, wenn sie groß geworden sind, den Räubern alle häuslichen Geschäfte besorgen, ihnen dienen und sie sogar waschen und kämmen. Daher sagt man von den blutroten Raubameisen, sie seien ein gemischtes Volk. Außer der eigenen Sippe findet man bei ihnen eine fremde Art als Sklaven. Die Roten selbst sind Krieger. Als Sklaven suchen sie sich mit Vorliebe die dunklen Rasenameisen, weil diese sehr geschickt und fleißig sind.
Ihr könnt euch vorstellen, mit welch wilder Gier sie vor dem Ameisenstaat standen, in dem Max und Fuska die Verteidigung leiteten. Sie konnten kaum den Augenblick erwarten, [68] in den Bau einzudringen. Dann wollten sie als Sieger die Einwohner vernichten und ihre Habe an sich reißen. Aber urplötzlich ertönte über ihnen das Kriegsgeschrei: »Schlagt sie tot, die Räuber!« Mit seiner ganzen Schar brach Max seitlich in die feindlichen Marschreihen ein. Die Roten, die eine derartige Überrumpelung keineswegs erwartet hatten, stoben auseinander. Vergeblich versuchten sie sich wieder zu sammeln. Max mit seinen Getreuen zögerte nicht, den Feind in zwei Haufen zu trennen; so verhinderte er sie, geordneten Widerstand zu leisten. Wo immer er erschien, brachen Schrecken und Verwirrung los bei den Roten. So vorzüglich gelang der Überfall, daß der Feind an nichts anderes als an Flucht denken konnte.
»Verfolgt die verfluchten Räuber! Schont mir keinen!« so feuerte Max die Seinen an.
Während das siegreiche Regiment die Flüchtigen verfolgte, sprang er selbst rasch zu dem Eingang des Hauses und verdeckte ihn sorgfältig mit einem dürren Blatt, so daß nur eine winzige Öffnung blieb, durch die mit Mühe eine einzelne Ameise sich durchzwingen konnte. Denn die Feinde, die in den Gang eingedrungen waren, befanden sich noch immer drinnen. Sie hatten noch nicht bemerkt, daß ihr draußenstehendes Volk bereits eine schwere Niederlage erlitten hatte, und suchten den Durchbruch zu erkämpfen.
»Diese Schufte«, so überlegte Max, »haben den Eingang und einen Teil unseres Hauses kennen gelernt. Es wäre gefährlich für uns, wenn sie am Leben blieben, denn sie hätten für ein zweites Mal unsern Festungsplan!« Er setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf das vorgeschobene Blatt, belauerte mit gezückten Kieferzangen die kleine Öffnung und schrie mit mächtiger Stimme hinein:
»Hier stehe ich, Fuska, jage die Halunken heraus!«
Im Innern des Ganges entstand sofort eine grenzenlose Verwirrung. Die Roten, entsetzt, eine feindliche Stimme von dorther zu vernehmen, wo sie ihre eigenen Leute zur Rückendeckung glaubten, machten in nie gesehener Eile kehrt und stürzten dem Ausgange zu, verfolgt von Fuska und ihren Tapfern. Geschoben und gedrängt, drückten sie sich [70] am Eingang zu einem Knäuel zusammen, bis sie mit Not und Mühe die winzige Öffnung fanden, die Max für sie offen gelassen hatte. Einer nach dem andern mußten sie sich herausdrücken. Das war es gerade, was Max beabsichtigte. Lauernd stand er schon bereit. Mit offener Zange stürzte er sich auf jede herauskrabbelnde Rote und zwickte ihr ohne Umstände blitzschnell den Kopf ab. Bei dem blutigen Handwerk erfaßte ihn eine berauschte Stimmung. Er kam sich vor wie ein Rasierer, in dessen Stube die Leute auf Behandlung warten, und wie jener rief er jedesmal, wenn ein feindlicher Kopf in den Sand rollte:
»Fertig! Der nächste Herr!« Elf Feinde waren schon auf diese Weise erledigt, und eben schickte er sich an, das Dutzend vollzumachen, da tönte es ihm entgegen:
»Halt, oho, was fällt dir ein!?«
Es war Fuska.
»Ums Himmels willen!« rief Max zum Tode erschrocken, – grauenhaft! – er mochte es gar nicht ausdenken, welch schauerliches Unheil er in seinem wilden Eifer beinahe angerichtet hätte.
»Ach, verzeihe«, stammelte er entschuldigend, »ich war so im Zuge, und schau dich hier nur mal um!« Mit Staunen und Grauen betrachtete sie die Köpfe der Feinde. Nicht einer war entkommen.
»Laß mich nur machen«, fuhr Max eifrig fort; dann lief er suchend umher und sammelte vor dem Eingang elf feste Tannennadeln. Auf jede spießte er einen abgebissenen Kopf und pflanzte sie wie Pfähle nebeneinander vor dem Tore auf.
»Künftighin«, meinte er, »werden sich's die Raubritter überlegen, uns anzugreifen, wenn sie diesen Gartenzaun vor unserem Hause betrachten.«
»Sie werden trotzdem wiederkommen«, sagte ernst Fuska, »die Roten sind unversöhnliche Feinde. Morgen erleben wir einen neuen Angriff.«
Aus der Ferne hörte man schon seit einiger Zeit Rufe. Sie kamen näher und wurden immer lauter. Es war Maxens siegreiches Heer, das von der Verfolgung zurückkam. Als diese Tapfern ihren Führer neben den aufgespießten Feindesköpfen sahen, brachen sie in hellen Siegesjubel aus, der kein Ende nehmen wollte.
»Hurra! Hurra! Es lebe der Held mit der weißen Fahne! Butziwackel lebe hoch! Unser General Butziwackel dreimal hoch!«
Wie ein Donner rollte das Freudengeschrei der Sieger über das Schlachtfeld. Max legte heute zum erstenmal mit hoher Genugtuung sein rechtes Vorderbeinchen an seine Fahne, dachte dabei an seine Mutter und murmelte leise und tiefbewegt:
»Gutes, liebes Mütterlein! Wie glücklich wärest du wohl, wenn du es wüßtest:
Heute ist dein Max bei den Ameisen General geworden!«
Noch jubelte das begeisterte Ameisenheer seinem siegreichen Feldherrn zu, als sich mitten im Volk die ernste Stimme des greisen Professors vernehmen ließ. Alles wurde plötzlich still, er aber sprach gelassen:
»Eure Tat war gut, da ihr unsere Heimat verteidigt habt. Der Krieg aber ist an sich ein Verbrechen. Selbst wenn er aus gerechten Ursachen geführt werden muß, kann man ihn doch nur als eine traurige, beklagenswerte Notwendigkeit [72] bezeichnen. Darum solltet ihr euch jetzt nicht der ungezügelten Siegerfreude hingeben, sondern vielmehr die Tatsache betrauern, daß unsere friedliche Arbeit durch den Gewaltstreich einer Räuberbande unterbrochen wurde. Allein die Arbeit und nichts anderes bringt einem kultivierten Volke Ruhm und Ehre.«
Max wollte gegen die Auffassung des gelehrten Mannes Einwände vorbringen, dieser aber fuhr unbeirrt weiter:
»Der Krieg bleibt immer ein Unglück, auch für den Sieger. Seht nur her; ihr erblickt tot und verwundet viele eurer Gefährten; den Larven und Puppen sind die Pflegeschwestern entrissen, viele starke Kieferzangen, die der Arbeit unseres Staates geweiht waren, sind für immer verloren!«
Fuska, die Weise, gab dem Professor vollkommen recht. »Es ist so«, sprach sie. »Wir müssen daran denken, mit doppeltem Fleiße die Toten zu ersetzen. Jetzt heißt es zunächst, unser Haus von allem Ungesunden zu reinigen. Die Leichname unserer Helden und der gefallenen Feinde müssen fortgeschafft werden.«
Alsbald nahm dieses vernünftige Volk die Arbeit mit Kraft und Mut wieder auf. Die Toten wurden weggeschafft, sofort begann im Hause die alte Friedenstätigkeit.
Max gelüstete es, den Kriegsschauplatz noch einmal zu besichtigen. Ganz allein mit seinen hohen Gedanken schlenderte er durch die Umgebung. Nach dem errungenen Siege spürte er in sich eine stille Befriedigung. Sein Herz pochte stolz, wenn er alle Einzelheiten des vergangenen Tages betrachtete. Schon stieg ihm der Ehrgeiz zu Kopfe.
Träume von kühnen Schlachten und herrlichen Triumphen erfüllten seine Seele. An einen Grashalm gelehnt, ließ er seinen siegestrunkenen Phantasien freien Lauf.
»Mag der Professor predigen, was er will«, dachte er, »ich fühle mich als Ameise zu großen Dingen berufen. Der erste Schritt auf dem Wege des Ruhmes ist getan; ohne Frage bin ich der größte Schlachtenlenker, der bei einem Ameisenvolke lebte. Morgen werden uns die Roten, wie Fuska sagt, wieder angreifen. Das soll für mich ein neuer, glänzender Sieg werden. Und hernach – was könnte mich dann noch hindern, in unserem Staate regierender Fürst und später König aller Ameisen zu werden!«
In diesem Augenblicke vernahm er in der Nähe ein sonderbares Geräusch, das hörte sich an, als ob ihn jemand ob seiner ehrgeizigen Träume auslachen wollte. Aber schon war er eingehüllt in eine Nebelwolke, die einen unerträglichen Gestank verbreitete. Max sprang entsetzt zur Seite und gewahrte ein unbekanntes Insekt. Sein Rücken war schwarz, Hals und Beine ziegelrot. Rücksichtslos kehrte es ihm das Hinterteil entgegen.
»Wer hat dich solche Unanständigkeit gelehrt?« rief Max wütend.
Statt jeder Antwort schickte ihm das Insekt mit demselben Geräusch eine zweite Ladung entgegen. Eine übelriechende Gaswolke hüllte Max ein, so daß er nahe daran war, zu ersticken.
Der Zorn stieg ihm aber jetzt so hoch, daß er die Kraft fand, sich auf diesen schlechterzogenen Frechling loszustürzen. Er sprang ihm auf den Rücken und packte ihn mit den Vorderbeinen fest beim Schopfe. Schon ging er daran, ihn mit seinen starken Kieferzangen zu köpfen, wie er es vor kurzem mit seinen Feinden gemacht hatte.
»Um Gottes willen«, winselte das Tier, »töte mich nicht!«
»Tut mir leid, ich kann nicht anders. Was glaubst du eigentlich? Einem General so etwas anzutun!«
»Ach, ich glaubte, du wolltest mich angreifen, und ich suchte nur mich zu verteidigen.«
»Papperlapapp! Das nennst du verteidigen? Machen es vielleicht alle so aus deiner Verwandtschaft?«
»Ja, so machen wir es alle.«
»Dann seid ihr alle abscheuliche Leute. Wie heißt ihr euch?«
»Wir sind Bombardiere.«
»Na, ausgezeichnet. Aber diese Art von Schießerei mißfällt mir gründlich.«
Und geschwind öffnete er die Zangen, um diesem Herrn Bombardier den Kopf abzuzwicken. Aber zu guter Letzt kam ihm ein besserer Gedanke. Er beugte sich zu dem Insekt herab und schrie es ordentlich an:
»Sage mal, Bombardier, wenn ich dir das Leben schenke, willst du dann versprechen, mich nie mehr zu beschießen?«
»Darauf gebe ich dir das Wort eines ehrlichen Käfers.«
»So bist du also ein Käfer?«
»Freilich, siehst du es nicht? Schau mal her!«
Der Bombardier spannte die Flügel aus und machte Max aufmerksam auf die besondern Merkmale seiner Gattung. Er besaß zwei außerordentlich feine Hautflügel zum Fliegen; diese lagen unter einem andern Flügelpaar von kräftiger Hornmasse wohl beschützt, wenn er sie nicht zum Fliegen brauchte.
»Diese Anordnung der Flügel«, erklärte der Bombardier, »findest du fast bei allen Käfern. Ich selber heiße Brachinus crepitans , aber die wenigsten Leute nennen mich bei meinem ehrlichen Namen, und sie schelten mich schlechthin Bombardier. Ich gehöre zur Familie der Laufkäfer. Wir haben unter unsern Brüdern die schönsten Deckflügel und glänzen schillernd in allen Farben.«
»Ihr könnt so schön sein, als ihr wollt«, bemerkte Max, »aber Erziehung habt ihr keine!!«
»Du spielst wohl auf den Dampf mit scharfem Geruch an, den wir aus unserem Hinterleib ausstoßen können?«
»Ein schöner Dampf!« rief Max, »schön scharf, ich danke!«
»Je nun, das ist meine Waffe! Sie schützt mich vor Angriffen und hilft mir, kleine Insekten zu erjagen.«
»Elender! Du wolltest mich also verspeisen?«
»Ich will es nicht leugnen. Aber du bist meiner Waffe nicht unterlegen. Das ist mir noch nie vorgekommen.«
»Gott sei gedankt! So höre, was ich dir sage: Kannst du mir ein Dutzend Bombardiere, wie du einer bist, verschaffen?«
»Ich kann es. Fünf wohnen mit mir unter einem Stein, andere haben ihre Wohnung in meiner Nachbarschaft.«
»Sehr gut. Wie gefiele es euch, wenn ich euch hundert und mehr Ameisen zu einem Mittagessen besorgte?«
»Ei, potztausend!«
»So höre. Morgen in aller Frühe findest du dich mit deinen Leuten unter jenem Kürbisblatt ein. Du siehst dort das große Blatt?«
»Zweifle nicht, wir sind zur Stelle.«
»Dann werde ich morgen die nötigen Anweisungen geben. Lebe wohl, Freund! Bringe alle deine Leute und hebt mir eure Kanonenschüsse gut auf, wir werden die ganze Munition nötig haben.«
Nach dieser Verabredung entfernte sich Max, in Gedanken und Plänen versunken. Die Vorderbeine auf dem Rücken verschränkt, murmelte er befriedigt von seinem Erlebnis in sich hinein: »Die Weltgeschichte wird einst zu schreiben haben von den Taten des Generals Max Butziwackel. Wenn mich jetzt der große Napoleon sähe, wie klein müßte er sich vorkommen vor mir!«
Am folgenden Tag beim Morgengrauen versammelte Max alle erwachsenen Ameisen im großen Saale, und mit dem schnarrenden Befehlston eines Offiziers, der das Kommandieren längst gewöhnt ist, sagte er ohne Umschweife:
»Ich teile euch mit, daß ich heute morgen einen Angriff auf die Roten Ameisen beabsichtige und ihnen eine Feldschlacht liefern will.«
Der Professor schüttelte höchst mißbilligend den Kopf und sprach ernst:
»Auf solche Weise verlassen wir das gute Recht und stellen uns auf die Seite des Unrechts. Gestern handelten wir in gerechter Notwehr, heute dagegen wollen wir bösartige Angreifer werden.«
Eifrig hielt Max eine Gegenrede:
»Wir müssen entschieden dem Handel ein kurzes Ende machen, sonst kann aus dem glorreichen Siege, den ich euch gestern erstritten habe, keine Gewähr für eine sichere Zukunft erstehen.«
»O weh!« warnte der gute, weise Lehrer.
»Du beginnst bereits, uns deine geleisteten Dienste vorzuzählen und zu prahlen, weil du deine Pflicht erfülltest!«
»Ach was, Pflicht«, versetzte Max unwirsch, »hätte ich nicht meinen Mann gestellt, weiß Gott, wie es heute um euch stünde! Kurzum, meine Anordnungen sind gegeben, ich werde mich in kurzer Frist mit meinem Heer in Bewegung setzen.«
Nun sprang der Professor aber zornbebend auf.
»Dein Heer? Dein Heer! Wer gibt dir, Unsinniger, ein Recht, über Leib und Leben deiner Kameraden wie über dein Eigentum zu verfügen? Hast du denn ganz vergessen, daß in unserem Staate alle gleich sind und jeder dieselben Rechte und Pflichten hat?«
»Wenn alle gleich sind«, antwortete Max hochmütig, »warum hat dann nicht ein anderer getan, was ich tat?«
Ohne weitere Einwände anzuhören, ohne selbst auf Fuskas entschiedenen Rat zu achten, verließ er den Saal und rief mit erhobenem rechten Vorderbein:
»Ob es euch zusagt oder nicht, – die Soldaten, die mich gestern kämpfen sahen, haben Vertrauen zu mir und werden mir folgen!«
Und unglaublich! Der größte Teil der Ameisen, berauscht vom Siege und der Aufregung des vorigen Tages, folgte mit Begeisterung Maxens Anordnungen.
Schnurstracks marschierte er mit seiner Streiterschar zum Tore hinaus und dachte: »Kein Zweifel, das Heer ist mir [78] zugetan. Ich kann sicher auf dessen Treue zählen, und nach der siegreichen Rückkehr ist ein Staatsstreich unausbleiblich.«
An nicht allzu ferner Stelle kommandierte er »Halt!« Seine Soldaten stellte er in Reihen auf und verteilte Ämter und Würden. Dies wollte er tun, um ihren Ehrgeiz zu spornen, dann aber auch, um die einzelnen an sich zu fesseln, schließlich aber auch, um folgende Rede halten zu können:
»Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften! Ihr habt bereits Beweise eures Mutes gegeben, ich werde mit eurer Hilfe auch heute den Feind vernichten.«
»Hoch der General mit der weißen Fahne, hoch, hoch, hoch!« so schrien sie alle im Chor, und Max fuhr fort:
»Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften! Heute kann ich euch die besten Hoffnungen machen. Durch eine Überraschung wird uns der Sieg über die Feinde sicher sein. Bleibt hier in Bereitschaft und erwartet mich! Sobald ich zurückkomme, werden wir gegen den Feind anmarschieren!«
Nach dieser Rede übertrug er das Kommando an Dickkopf und Großzang, zwei verdiente Krieger, die er zu seinen Adjutanten erhoben hatte und in die er volles Vertrauen setzte. Dickkopf gehörte zwar nicht zu den Gescheitesten, besaß aber eine außerordentliche Kraft und Ausdauer. Großzang war mit zwei schrecklichen Kieferzangen bewaffnet. Er hatte nur einen Fehler, und zwar den, daß er nie satt werden konnte. Tag und Nacht quälte ihn der Appetit. Diese beiden tapferen Streiter hatten ihrem Führer Max schon derartige Beweise ihrer Ergebenheit geliefert, daß er sich unbedingt auf sie verlassen konnte.
Max begab sich zu dem bekannten Kürbisblatt, in dessen kühlem Schatten der gute Professor seinerzeit so warm für den Ameisenvölkerfrieden eingetreten war. Hier gerade traf [79] General Butziwackel mit dem Käfer zusammen, mit dem er tags zuvor ein Bündnis für den Krieg geschlossen hatte.
»Gut, daß du da bist!« sagte er ihm. »Wo sind die andern Bombardiere?«
»Hier sind sie«, sprach der Käfer.
Max sah unter einem Blatt die Kameraden seines Verbündeten versammelt, überzählte sie und rief erfreut:
»Ihr seid ein volles Dutzend! Gut! Die andern stehen alle selbstverständlich unter deinem Kommando, nicht wahr?«
»Jawohl!«
»So passe jetzt mal gut auf! Ich bin der General, vorderhand wenigstens, später hoffe ich es noch weiter zu bringen; ich bin der General der Ameisen und Höchstkommandierender. Mein Heer ist ganz in der Nähe bereitgestellt, und ich werde es an den Feind heranführen! Sobald wir mit ihm in Fühlung geraten sind, üben wir einen Druck auf ihn aus, nach dieser Seite hin, verstanden? Sobald er in euern Feuerbereich kommt, kommandierst du sofort ›Feuer!‹ und bum! bum! bum! schießt ihr alles ohne Gnade und Erbarmen über den Haufen!«
»Verlaß dich auf uns!« sprach der Herr Oberbombardier, – »sie sollen schwimmen in ihrem Blute!«
»Nun, guten Morgen und guten Appetit zur rechten Stunde!« rief Max und eilte zu seinem Heer zurück.
»Nichts Neues?« fragte er Großzang und Dickkopf.
»Zu Befehl, Herr General«, meldete Großzang, »in kurzer Entfernung von uns machte sich ein Fähnlein Roter bemerkbar, das gegen uns anzurücken schien. Als sie uns sahen, sind sie fluchtartig entwischt.«
»Vorwärts also! Wir spüren sie auf, umzingeln sie und drängen den Feind dorthin zu jenem Kürbisblatt.« – Er [80] zeigte mit wichtiger Miene die genaue Stelle. – »Dort steht meine Artillerie. Bataillon! Vorwärts, marsch!«
Das Heer ging vor. Neben Max marschierte als Führer eine Ameise, die von der gestrigen Verfolgung her die Straßen genau kannte. Von dieser kundigen Ameise geführt, gelang es in kürzester Zeit, das Feindesheer zu entdecken, das bereits den Kampf zu erwarten schien.
Mittels eines schlauen Manövers umging Max den Feind derart, daß er ihn im Rücken fassen und leicht nach der gewünschten Richtung drängen konnte. Der Gegner schien keine Ahnung von den Plänen des Feindes zu haben.
»Welch einfältige Kerle!« murmelte Max. »Sie haben keinen Begriff von Kriegskunst.«
Im geeigneten Augenblick ging er zum Angriff über. Die Roten versuchten keinen Widerstand, da sie höchstens zu fünfzig waren.
»Drängt sie vorwärts!« rief Max seinen Soldaten zu.
Doch es war unnötig. Als ob die Roten gar nichts Besseres wünschten, so ließen sie sich zum Kürbisblatt hintreiben. Nur hie und da schaute, in voller Flucht, einer sich um, ob man ihnen auch wirklich noch auf den Fersen sei.
Im selben Augenblick, als sie an dem Kürbisblatt ankamen, hörte man das laute Kommando:
»Feuer!«
Ein donnernder Schuß mit einer wohlgezielten Ladung folgte dem Kommando. Die Roten waren plötzlich in eine Rauchwolke gehüllt, deren ekler und scharfer Geruch ihnen den Atem raubte. Nochmal wiederholte sich das Kommando, und nochmal, dichter und heftiger, verbreitete sich der Dampf. Max hielt sein Heer an, zeigte seinen Leuten die dichten Gaswolken und rief:
»Dort stehen meine Bombardiere, die den Feind mit Kanonendonner empfangen!«
Jetzt begriffen alle, welch frohe Überraschung ihnen Max zum glücklichen Ausgang des Kampfes bereitet hatte; in unbändiger Begeisterung toste es durch das Heer:
»Hurra! Hurra! Hurra!«
Indessen drang aber der üble Dampf der Geschosse bis zu den eigenen Reihen. Max ließ darum eine Schwenkung nach links machen, und während die erstickten Roten im letzten Todeskampf zuckten, führte er seine Leute hinter einen Steindamm in Sicherheit, stellte sie in Reih und Glied auf und hielt folgende Ansprache:
»Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften! Ehe wir zu dieser Schlacht ausrückten, wollten sich einige alte Ameisen mit allen möglichen Behauptungen meinen Plänen widersetzen. – Und nun seht! Ein schöner, großer Erfolg krönt mein Werk. Dank den mächtigen Verbündeten, welche ich für unsere Sache zu erwerben wußte, ist unser Haus gerettet vor seinem unerbittlichen Erbfeinde!«
»Jawohl, jawohl!« riefen die Soldaten.
»Längst schon habe ich beobachtet«, fuhr Max mit sorgenschwerer Miene fort, »daß die Regierung unseres Staates eine recht mangelhafte und einseitige ist! Viel zu wenig persönliche Freiheit gewährt sie, viel zu wenig Fortschritt ist von ihr zu erhoffen. Fortschritt und Freiheit aber sind die zwei notwendigsten Dinge für eine moderne Ameise. Wenn die Gleichberechtigung aller Ameisen weiter besteht, dann werden wir auch ferner mit Altweibergeschwätz, mit veralteten Anschauungen und mit Kinderängsten zu kämpfen haben.
Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften! Ich schlage daher vor, daß ihr aus euren eigenen Reihen eine Ameise von [82] Geist und Mut erwählt, eine Ameise, zu der ihr volles Vertrauen habt; daß ihr diese Ameise zu eurem Oberhaupte ernennt, zu eurem König oder, wenn ihr wollt, zu eurem Kaiser!«
»Jawohl, jawohl!« riefen alle zusammen.
»Kurz, es müßte eine Ameise sein von hervorragenden Gaben des Geistes und des Herzens wie zum Beispiel ich; eine Ameise, welche die Kriegskunst kennt, wie ich sie kenne; eine Ameise, die gegebenenfalls eine Schlacht zu gewinnen verstünde wie ich! Eine Ameise braucht ihr, die euch zum Ruhm zu führen weiß, wie ich es tat! Doch ich selbst mische mich nicht in eure Wahl. Ihr seid frei, zu wählen, wen ihr wollt und wer euch gefällt.«
Nach diesen Worten zog sich Max mit unglaublicher Bescheidenheit und edlem Anstand zurück.
Aber das Heer brach einstimmig in den Ruf aus:
»Max wollen wir wählen! Unsern Butziwackel mit dem weißen Fähnlein.«
Das ließ sich unser Held nicht zweimal sagen.
Würdevoll trat er vor seine Soldaten, grüßte, alle Reihen abschreitend, vornehm seine Truppen und erklärte feierlich:
»So nenne ich mich denn:
›Butziwackel I.,
Kaiser aller Ameisen.‹«
Und alles Volk rief:
»Hoch Kaiser Butziwackel I., hoch, hoch, hoch!«
So war also Maxens Traum verwirklicht.
Seinen Ehrgeiz wußte er vor sich selbst glänzend zu rechtfertigen, und er sprach still vor sich hin:
»Obwohl ich im Grunde nie große Lust zum Lernen hatte, bin ich doch stets ein gescheites Kind gewesen. Da ich Ameise geworden bin, finde ich es nur natürlich, daß ich es bei diesen kleinen Ameisen so bald schon zum Kaiser brachte.«
Wenn aber einer ein ehrgeiziger Streber ist, so trifft ihn todsicher die gerechte Strafe dafür. Der Ehrgeiz läßt sich nämlich niemals befriedigen. Sobald der Streber ein Ziel erreicht hat, steckt er sich gleich ein anderes, noch höheres. So kam auch unser Max nicht mehr zur Ruhe. Der Traum einer neuen, größeren Stellung lockte ihn; hinter dieser winkte eine noch größere Würde, und so immer weiter. Niemals würde er sagen können: »Jetzt ist mir's wohl! Ich bin froh und habe ein zufriedenes Gemüt.«
»Kaiser der Ameisen«, dachte Max eben bei sich, »das ist durchaus nicht mehr als ein Titel, der mir gebührt. Ich muß noch viel mehr werden! Die Ameisen sind nur ein Teil der großen Ordnung der Hautflügler. Wie wäre es, wenn ich das Oberhaupt der ganzen Ordnung würde? Und dann, nachdem ich schon ein Bündnis mit den Bombardieren geschlossen habe, könnte ich ja meine Macht über die Ordnung der Käfer auch ausdehnen. Und wer könnte in weiterer Folge etwas dagegen haben, wenn ich Kaiser über sämtliche Insekten der Welt würde? Ist vielleicht der Mensch nicht der Beherrscher der Tiere? Wenn schon also ein Menschenkind sich in ein Insekt verwandelt, so muß es zum mindesten danach streben, Kaiser aller Insekten zu werden!«
Vorderhand freilich mußte er sich begnügen, auf der immerhin sehr erhabenen Sprosse in der Leiter seines Ruhmes zu stehen; der Ehrgeiz aber riß seine Gedanken und ausschweifenden Wünsche zur schwindelnden Höhe aller Ehren [84] und Würden empor. Im Tone gnädiger Herablassung sprach er zu seinen Leuten:
»Gut, gut! Ich will den Titel eures Kaisers annehmen; doch wird es der Form halber gut sein, in mein Reich mit euch zurückzukehren, um dort in aller Feierlichkeit von meinem erhabenen Amte Besitz zu nehmen.«
Ganz leise fügte er für sich hinzu: »Was für ein Gesicht wird wohl der einfältige Professor mit seinem unnötigen Latein dazu machen? Der wird sich hübsch ärgern!« Mit kühnem Blick überflog er noch einmal das Schlachtfeld. Dort vergnügten sich die Bombardiere daran, die Roten Ameisen, welche im Gasdampf erstickt waren, laut schmatzend aufzufressen. Max aber verlor für solchen ekelhaften Anblick keine Zeit; er stellte sich an die Spitze seines Heeres und führte es zum Ameisenhaus zurück. Vor dem Eingang blieb er wie angewurzelt stehen. Ein kalter Schrecken überfiel ihn.
»Was ist hier los!« rief er bestürzt.
Es mußte etwas Schlimmes geschehen sein. Schon das Äußere machte einen unordentlichen Eindruck. Der ringsum aufgeführte Schutzdamm war teilweise zerstört, der Gang ins Innere da und dort schwer beschädigt. Max stürmte voll böser Ahnungen mit seinem Generalstab ins Innere. Im großen Saal befand er sich zu seinem maßlosen Staunen von einer Menge Ameisen umringt, die er im ersten Schrecken gar nicht erkannte. Deutlich vernahm er sofort eine scharfe Stimme:
»Auf, ihr Leute! Sorgt, daß dies Heer nicht mehr hereinkommt!«
Diese Worte und verschiedene andere gefährliche Zeichen entschleierten plötzlich dem armen Max die entsetzliche Lage, in welcher er sich mit den Gefährten befand. Sein Reich, [85] sein eigenes Reich war bereits von den Roten Ameisen besetzt! Er konnte weder das Wie noch das Woher verstehen, aber der Fall war so klar, daß kein Zweifel blieb. Während er in seiner Aufregung vergeblich nach einer Erklärung suchte, spürte er zwei fremde Fühler, die ihn zudringlich betasteten. Auf einmal schrie's mit höhnender Stimme:
»Aha, da haben wir ihn, den General mit dem Hanfküraß. Das ist der Held, der die großen Feldschlachten liefert!«
Voll Zorn schrie Max: »Das geht mir denn doch zu weit. Was soll das heißen?«
»Gleich erkläre ich es dir, hochberühmter Schlachtenlenker! Du dachtest uns daranzukriegen, und inzwischen haben wir dir ein Schnippchen geschlagen. Nach unserer gestrigen Niederlage hätten wir kaum mehr einen Angriff gewagt. Aber du bist mit deinem Heere ausgerückt, um die große Schlacht zu schlagen. Du wolltest uns angreifen. Wir [86] waren durch unsere Spione über deine Absichten wohlunterrichtet und haben dir inzwischen hier im Hause einen schönen Empfang bereitet!«
Richtig. Max erinnerte sich, daß Adjutant Großzang ihm ein Fähnlein Roter Ameisen gemeldet hatte, die in der Nähe umhergeschlichen waren.
»Nachdem wir«, fuhr der andere fort, »unsere Erkundigungen durch Spione eingezogen hatten, schickten wir dir fünfzig Leute entgegen mit dem Befehl, dich um jeden Preis aufzuhalten und irgendwie zu beschäftigen. Das geschah. Während du die Fünfzig verfolgen ließest, sind wir mit ganzer Heeresmacht hierher marschiert, haben dein Reich, das du ohne Verteidigung zurückließest, überfallen, und jetzt …, nun, du wirst ja hören und sehen, was weiter geschieht.«
Der Sprecher befahl nun in völlig verändertem Tone:
»Bewacht diesen Gefangenen! Ich werde ihm zeigen, was wir Roten aus seiner Kriegskunst gelernt haben!«
Max stand wehrlos der Übermacht gegenüber. Den Sinn der letzten Worte verstand er bald nur zu gut. Aus den Bewegungen rings umher und aus den Kommandorufen, die er hörte, konnte er schließen, daß die Roten dasselbe Spiel wiederholten, das er selbst gegen sie gestern angewendet hatte. Während eine Abteilung Roter den Eingang verteidigte, marschierte eine andere durch den berühmten Regenwurmtunnel, um von hinten her in Maxens Regiment einzufallen und es zu vernichten. Einen Augenblick hoffte er, daß seine wackeren Soldaten dem Angriff widerstehen würden, und er verharrte in atemloser, gespannter Angst um die Seinen. Die Minuten schienen zur Ewigkeit zu werden. Da hörte er die Stimme von vorhin von der Höhe des Haupteinganges herunterschreien:
»Sieg, Sieg!«
Nun blieb dem armen Max keine Hoffnung mehr. Sein gutes Heer war geschlagen, alles war verloren. Geknickt beugte er sein Haupt, und so leise, daß niemand es verstehen konnte, flüsterte er:
»Jetzt ist's vorbei mit Kaiser Butziwackel I.!«
Die Roten hielten jetzt Kriegsrat. Jene Ameise, die, wie es Max schien, Generalsrang bei den Roten besaß, ließ sich neuerdings hören:
»Wir haben den Krieg gewonnen«, so sagte sie, »der Feind ist niedergerungen, und wir haben von seinem Reich Besitz genommen. Es ist unnötig, seine Eier, Larven und Puppen in unsern Bezirk zu bringen. Wir sind hier die Herren und werden unsere Macht in diesem Reich ausüben durch eine Besatzungstruppe, die hier bleibt. Im Kampfe hat jeder von euch auf seinem Posten seine Pflicht getan. Darum gelten die Rechte des Sieges für alle in gleicher Weise. Die Ameisen, die sich hier aus Eiern, Larven und Puppen entwickeln und der Rasse des besiegten Volkes angehören, sollen Sklaven unseres Reiches sein, zum Nutzen aller ohne Ausnahme.«
Während die Roten den Worten ihres Generals lauten Beifall zollten, konnte Max nicht umhin, sein eigenes Vorgehen mit dem des Räuberhauptmanns zu vergleichen. Zum ersten Male bedrückte ihn zentnerschwer die ungeheure Last seiner Verantwortung. Entgegen den Ratschlägen seiner vielerfahrenen Kameraden, der eigenen Ehrsucht zuliebe, hatte er [88] den Feind herausgefordert. Vom blutigen Kriege hatte er den Vorteil gezogen, Kaiser zu werden. Er war allein die Ursache des Zusammenbruches, er allein hatte das namenlose Unglück über dieses gute, bescheidene und fleißige Volk gebracht, welches nichts anderes begehrte, als in Frieden zu arbeiten und zu leben. Rauh wurde er aus seinen herzbeklemmenden Betrachtungen aufgeschreckt durch des siegreichen Generals Stimme: »Kriegsgefangene vor das Haus! Hinrichtungen werden im Freien vollzogen! Dies erspart uns die Mühe, die Leichen der Verurteilten wegzubringen.«
Könnten einer Ameise die Haare zu Berge stehen und könnte schwarze Haut erblassen, Max wäre kreideweiß geworden, und er hätte am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen – wäre er noch ein Kind gewesen.
Zwei Soldaten führten ihn hinaus, und hier konnte er den feindlichen General beim Tageslicht betrachten.
Es war eine Ameise mit kräftigem Körperbau und wohlgeformten Gliedern. Auf seinem Gesichte lag ein so wildverwegener Ausdruck, daß eine ehrliche Ameise zu Tode erschrocken wäre, wäre sie ihm im Mondschein begegnet.
»Wie schade«, sagte Max, dem beim Tageslicht der Mut wieder wuchs, »hätten wir Schutzleute und Gendarmen, dies wäre der erste Galgenvogel, den ich einsperren ließe!«
Der Rote General verstand ihn nicht. Er wandte sich an seine Schergen und befahl:
»Beginnt die Hinrichtungen mit dem Ältesten.«
Max wandte sich um und sah den Professor, der in Sinnen vertieft zwischen seinen Wächtern stand. Als dieser den Befehl des Roten vernahm, erhob er seinen geistvollen Kopf mit Ernst und Würde und sprach:
»Ehe ich sterbe, wende ich mich noch einmal an alle Ameisen der Welt, von welchem Stamme sie auch sein mögen. Alle frage ich, wielange noch soll die unvernünftige Feindschaft herrschen zwischen Völkern, die die Natur zu Brüdern schuf? Gibt es nicht genug gemeinsame Feinde zu bekämpfen unter Insekten der fremden Ordnungen und vor allem unter den Vögeln? – Durch den inneren Aufbau unserer Staaten ragt ihr über alle andern Insekten hervor. Ihr seid ihnen an Geist überlegen, eure Arbeitsfreudigkeit steht einzig da in der Welt. Vereinigt eure Staaten zum großen Völkerbunde! Ihr Ameisen der ganzen Welt, vereinigt euch! Dies ist der letzte Wunsch eines Sterbenden, der lange genug gelebt hat und der euch nun für immer verläßt. Ich nenne euch alle zum Abschied Brüder und Schwestern, und dieser Name soll euch bedeuten: Friede und Verzeihung!«
Max war erschüttert von den aus tiefster Seele gesprochenen Worten dieses ehrwürdigen Ameisengreises, dieses wahrhaften Volksfreundes. Wer weiß, ob nicht auch unter den Roten etliche waren, die von der tiefernsten Rede ergriffen und überzeugt wurden?
Aber, hatte vielleicht er sich überzeugen lassen damals, als man ihm Vernunft und Einsicht predigte? Wenn uns jemand auf künftige Gefahren und düstere Möglichkeiten aufmerksam macht, die ein eitles Streben nach vermeintlich großen Dingen in sich schließen, spricht er zu tauben Ohren, und blind rennt der Tor seinen nichtigen Wünschen nach. Kommt dann das große Unglück als Folge seiner Handlungen, dann, ja leider erst dann dämmert ihm die Wahrheit, und er gibt dem weisen Ratgeber recht.
Glaubt ihr also, daß die Roten, die die Schlacht gewonnen hatten und im Siegestaumel ihrer Erfolge waren, den Reden des Professors Gehör schenkten?
Der General gab ein Zeichen, und der erste Kopf, der fiel, war dieses unersetzbare Haupt, abgebissen von den Kieferzangen eines rohen Henkers. In gleicher Weise erging es allen Kriegsgefangenen. Wie entsetzlich, wie schauderhaft aber war für Max der Augenblick, als er unter den Verurteilten seine liebe Pflegemutter erkannte.
»Fuska!« schrie er auf im wütenden Schmerze.
»Gib dich zufrieden meinetwegen«, sprach die Gute, »was wirklich wehe tut, ist der Gedanke, daß unsere Kinder in Sklaverei geraten.«
Max konnte sich nicht mehr länger halten, er sprang vor und rief:
»Nein, nein, schont meine Fuska! Ich selbst, ich bin allein schuld an allem, ich ganz allein! Ich schwöre euch, sie wollte keinen Krieg, ich aber war böse und ungehorsam und wollte ihren Rat nicht hören …«
Weiter kam er nicht. Einige Rote hielten den Erregten fest, und der Kopf der braven Fuska fiel. Max, beinahe wahnsinnig vor Schmerz und gequält von Gewissensbissen, schrie:
»Tötet mich, tötet mich!«
»Halt!« rief da jemand. Alle drehten sich, um zu sehen, wer da komme. Eine Rote Ameise hinkte staubbedeckt heran auf fünf Beinen; das sechste fehlte ihr.
Die fünfbeinige Ameise schüttelte sich stöhnend den Staub ab, stellte sich inmitten der Versammlung und rief mit zornbebender Stimme:
»Es wäre gut«, so sage ich euch, »diesem General mit dem Hanfpanzer den Prozeß zu machen, ehe man ihn tötet.«
Max hatte im ersten Augenblick Hoffnung geschöpft, seine Lage könnte sich verbessern, jedoch seine Täuschung währte nicht lange.
»Wie ihr seht«, so fuhr die Ameise fort, »bin ich eine von denen, die dem Feind entgegengeschickt wurden, um ihn von unserem Heer abzulenken.«
»Vortrefflich!« rief der Rote General, »was bringst du Neues? Wie kommt es, daß du allein bist?«
»Ach«, sagte mit bitterer Miene die Ameise, »die sind alle gestorben und verdorben und längst verdaut.«
»Verdaut? Was soll das heißen?«
»Fragt den Hanfgeneral! Er weiß es.«
Max hielt es für klug, zu schweigen.
»Stellt euch vor«, begann die Klägerin und diesmal mit verächtlichem Ausdruck, »daß dieser Tropf sich mit einem Dutzend Bombardieren verbündet hatte. Verräterisch standen sie an der großen Kürbishalle, und kaum hatten wir uns dorthin gewendet, beschossen sie uns dermaßen mit Gas, daß die ganze Kolonne sofort betäubt niederstürzte. Ich selbst bin wie durch ein Wunder entkommen, zwar nicht heil, aber doch lebend. Diese elenden Bombardiere stürzten sich sofort auf die Gefallenen, um sie zu fressen. Sie waren bereits gesättigt, bis sie an mich kamen, und rissen mir nur noch ein Bein aus.«
Ein Schrei der Entrüstung ging nach diesem Berichte durch den versammelten Rat der Roten.
»Was!« rief der General zu Max gewendet. »Das hast du getan? Du, der du zu einer Ameisenart gehörst, die uns Barbaren und Räuber schimpft! Anstatt offen und [92] ehrlich zu kämpfen, hast du zu der gemeinsten und unwürdigsten List gegriffen! Hast dich nicht entblödet, mit den Käfern, diesen Kannibalen, ein Bündnis zu schließen!«
Max wollte erwidern:
»Auch die Menschen schließen im Kriegsfall Bündnisse mit andern, die nicht zu ihrer gleichen Rasse gehören.«
Allein er wußte ja bereits, daß das Beispiel menschlicher Sitten und Gebräuche auf die Ameisen keinerlei Eindruck macht.
»Wir sind ein Räubervolk«, rief der Rote General, »aber zu solchen Gemeinheiten verstehen wir uns niemals!«
Die hinkende Ameise nahm jetzt wieder das Wort:
»Das ist noch gar nichts!« rief sie. »Ihr müßt wissen, daß ich auf der Flucht aus jenem Gemetzel diesem Schlingel mit seinem Heer begegnet bin. Ich versteckte mich hinter einem Stein, und ich habe gehört, daß er sich zum Oberhaupt aller Ameisen ausrufen ließ mit dem Namen: Kaiser Butziwackel der Erste!«
»Ausgezeichnet! Butziwackel der Erste!« rief hohnlachend der General der Roten.
»Du hast also versucht, unsere gesellschaftliche Ordnung aufzuheben, in der alle gleich sind mit denselben Rechten und Pflichten?«
Die Ameisen, die Max im Kreise umstanden, waren bei dieser Mitteilung vollständig fassungslos. Max begriff jetzt, daß es unmöglich sei, mit menschlichen Gedanken und Vorstellungen unter Ameisen auszukommen und zu leben.
Allein für ihn war sowieso keine Rettung mehr vom Tode!
Was lag ihm auch noch daran, nachdem er mit Grauen das Unglück überschaute, das sein Ehrgeiz angerichtet hatte! [93] Was bot ihm das Leben, nachdem seine liebe Fuska enthauptet war und der beste, größte Lehrer der Ameisen seine letzten Worte gesprochen hatte!
Er war bereit, zu sterben. Doch seine mutige Ergebung wurde durch den Roten General schwer erschüttert, der also anhub:
»Hört es alle an! – Dieser Wahnsinnige hat sich unbeschreiblicher Verbrechen schuldig gemacht, darum sei auch seine Strafe eine unerhörte. Ergreift ihn, zwickt ihm nach und nach alle Beine ab, dann die Fühler; sein Kopf soll zuletzt fallen, damit er noch mit eigenen Augen seiner Strafe zusehen kann!«
Max war bei der Vorstellung einer solchen Tortur nahe daran, ohnmächtig zu werden.
Mühsam erhob er sich auf seine Hinterbeine und rief flehend:
»Jawohl, ich bin schuldig; ich erkenne alle meine Fehler. Tötet mich, aber laßt mich nicht so grausam leiden!«
Helles Hohngelächter gellte von allen Seiten. Man warf ihn zur Erde. Zwei Henker ergriffen seine Hinterbeine; sie zogen aus Leibeskräften, aber die Beine saßen fest und ließen sich nicht ausreißen. Zwei andere zerrten an dem mittleren Beinpaar, das ohne Schwierigkeit vom Leibe brach. Max aber schrie seine Henker in dieser unerhörten Lage an:
»Mörder! … Diebe! … Schurken!« …
Doch merkwürdig. Der Verlust der beiden Beine hatte Max gar nicht wehe getan, und auch nach dieser Verstümmelung fühlte er sich noch im Vollbesitz seiner Kräfte. Sodann wollten die beiden Henker seine Vorderbeine abreißen, aber diese saßen sehr fest, so daß der Rote General, als [94] er die unnütze Anstrengung seiner Diener sah, ganz wütend wurde und ausrief:
»Ihr Trottel seid zu nichts zu gebrauchen! Fort, laßt mich selber machen! Ich will doch sehen, ob ich diesem Teufel nicht mit einem einzigen Biß den Kopf abtrenne!«
Verwegen näherte er sich Max. Noch aber hatte er keine drei Schritte getan, als er wankend ausrief:
»O weh! Das ist mein Tod!«
Wie Max das hörte, glaubte er, den General hätte ein Schlaganfall getroffen, und er wollte schon der göttlichen Vorsehung dafür danken; jedoch es war nicht dieses. Eine fremde Person erschien plötzlich, die, wie es schien, auch ihrerseits an dem gräßlichen Werke der Hinrichtung teilnehmen wollte und blitzschnell über den Roten General hergefallen war. Mit verdüsterter Miene murmelte Max:
»Ich bin vom Regen in die Traufe gekommen!«
Der neue Ankömmling war ein Insekt von der Familie der Grab- oder Mordwespen. Sie stelzte auf hohen Beinen daher, besonders das hintere Paar war unglaublich lang. An den Außenrändern der Unterschenkel saßen so viel Stacheln und Zähne, daß sie wie Sägen aussahen.
Dieses kecke Tier war mir nichts, dir nichts in den hohen Kriegsgerichtshof hereingeplatzt und fing ohne Umstände an, einem nach dem andern mit seinem schrecklichen Stachel den Leib zu durchbohren. Zwischen Richtern und Verurteilten gab es jetzt nicht mehr den mindesten Unterschied.
In der Verwirrung, die entstanden war, konnten sich wohl einige Ameisen retten, indem sie sich kopfüber in den nächsten Gang des Hauses stürzten; aber mit einem fürchterlichen Satz war die Wespe schon auf Max losgesprungen:
»So weit ist es mit mir gekommen!« seufzte schwerbedrückt der unglückliche Kaiser Butziwackel der Erste.
Sobald er aber die Wespe winseln hörte: »Au weh, wie hart bist du doch!« da wuchs schnell sein Mut. Er fühlte sich aufs beste geschützt in seinem guten Hanfpanzer. Erleichtert aufatmend flüsterte er:
»Gesegnet sei mein Hanfküraß!«
Die Wespe stand jetzt mit hochgezogenen Beinen und forschendem Blick vor ihm, betrachtete ihn mißtrauisch von allen Seiten und brummte unverständliche Worte. Dabei ließ sie ihren Stachel prüfend in der Scheide aus und ein gleiten, denn sie dachte nicht anders, als daß die feine Spitze desselben schon beschädigt sei.
Aber die Waffe war noch in bestem Zustande und besaß nicht eine einzige Scharte. Halb und halb begütigt [96] über diese Entdeckung, halb zornig noch über Max, fragte sie ihn:
»Sage mir auf der Stelle, warum du so harthäutig bist!« –
Max hatte jetzt seinen ganzen Mut wieder gefunden und antwortete nicht ohne einen Anflug von Humor:
»Ei, so bin ich schon lange. Als ich noch zur Schule ging, meinte der Lehrer, ich hätte einen harten Kopf. Aber seit einiger Zeit habe ich eine harte Haut. Doch wer bist du?«
»Ich bin eine Mordwespe.«
»Heilige Zeit!«
»Jawohl, ich heiße Ammophila sabulosa , zu deutsch: Sandwespe. Aber man nennt uns Mörder, weil wir auf Fliegen, Spinnen, Raupen und Ameisen Jagd machen. Gott sei Lob und Dank, daß nicht alle so hart sind wie du!«
»Höre«, sagte Max entrüstet, »was Spinnen, Raupen, Fliegen betrifft, will ich nichts dagegen sagen; aber daß du Ameisen angreifst, ich sage dir, für eine anständige Wespe finde ich das eine Spitzbüberei. Oder weißt du nicht, daß wir verwandt sind?«
Er erinnerte sich nämlich, daß ihm die verstorbene Fuska einmal gesagt hatte, daß alle Wespen, Bienen, Hummeln zur gleichen Ordnung wie die Ameisen gehören und somit zum großen, ruhmreichen Volk der Immen und Hautflügler, das wunderbar stark und klug ist.
Es entstand nun eine Pause im Gespräch, während der die beiden Personen, die sich bisher in Verteidigungsstellung drohend gegenübergestanden waren, sich gegenseitig mit etwas mehr Höflichkeit betrachteten. Max zeigte eine aufrichtige Bewunderung in seinem Blicke, als er den schrecklichen [97] Angreifer von allen Seiten besah, und er kam zu dem Schlußurteil:
»Ein Mörder mag sie sein, aber fein tritt sie auf. Sie muß aus guter Familie stammen.«
Die Wespe hatte wirklich ein prachtvolles Kleid von lebhaft gelber Farbe; sie war schlank, anmutig in ihren Bewegungen, höchst lebhaft und viel schöner als alle andern Wespen, die Max als Kind beobachtet hatte.
»Welche Taille!« dachte der entthronte Kaiser.
»Jetzt verstehe ich erst, warum man scherzte, Mutterchen habe eine Wespentaille!«
Da war er beim Gedanken an die Mutter den Tränen bereits wieder nahe, und zu gleicher Zeit fühlte er im Herzen den unwiderstehlichen Wunsch, sein Mütterlein wieder zu sehen, und um dieses Gedankens willen, den diesmal die Wespe angeregt hatte, schenkte er dem schönen Tier seine Liebe. Auch die Wespe schien jetzt besänftigt und unterbrach die Pause:
»Schau, schau, da sind wir also verwandt? Dann reiche mir das Bein, damit wir Frieden schließen.«
Weil Max ein wenig unschlüssig dastand, fuhr sie lebhaft fort:
»Na, na, bist du vielleicht noch empört über meine Jagd auf Ameisen? Wenn ich nicht irre, waret ihr bei meiner Ankunft damit beschäftigt, euch recht brüderlich gegenseitig den Garaus zu machen. Mir scheint, daß Mord unter Geschwistern ein ruchloseres Geschäft ist als unter weitläufigen Verwandten!«
Gegen diese Rede ließ sich wirklich nichts einwenden, darum entgegnete Max sanft und mild:
»Ja, ja, du hast recht. Durch dich wurde ich aus den Zangen meiner Ameisenbrüder errettet, wenn du das auch [98] nicht beabsichtigt hattest. Aber trotzdem darfst du doch nicht vergessen, daß wir Ameisen unter den Hautflüglern das stärkste, das klügste und das, das, das – – –«
Max fand keine Zeit mehr, ein drittes lobendes Eigenschaftswort für sein Volk zu finden, denn die Wespe ließ den Redner plötzlich mit einer unerwarteten und raschen Bewegung im Stich, um über eine ansehnlich große Raupe herzufallen, welche das Unglück hatte, in der Nähe vorbeizukriechen. Es war das Werk eines Augenblicks. Die Wespe ließ ihren Stachel aus der Scheide gleiten und versetzte die Raupe mit ein paar Stichen in einen Zustand, der es ihr unmöglich machte, ihren Spaziergang fortzusetzen.
»Hast du sie totgestochen?« schrie Max und lief herbei.
Die Wespe schüttelte den Kopf und murmelte auf geheimnisvolle Art:
»Was glaubst du wohl? Ich bin doch nicht so einfältig!«
Dann setzte sie sich vergnüglich singend rittlings auf ihr Opfer, ergriff es mit ihren Zangen und begann den Körper, der zehnmal schwerer war als sie selbst, gegen einen kleinen, sandigen Graben zu schleifen, an dessen Abhang sich ein rundes Loch befand, mit Kieselsteinchen, Hälmchen und Erdkügelchen wohl bedeckt und versteckt. Max war erstaunt, ein so vornehmes Insekt zugleich so stark, so kühn und geistesgegenwärtig zu finden; er folgte der Wespe Schritt für Schritt, bis er ganz nahe am Grabenrande war. Hier sah er, wie sie sich mitsamt der Raupe vollends hinunterstürzte, immer rittlings auf ihr sitzend.
Auf dem Grunde des Grabens angelangt, ließ die Wespe ihre Beute los, schüttelte sich den Staub von den Flügeln und kehrte sich zu Max, der noch oben am Grabenrand stand. Er hatte gefürchtet, daß die Wespe drunten vom Gewicht ihres Opfers erdrückt werden könnte.
»Hast du dir wehe getan?« fragte er sie.
»Nicht die Spur«, antwortete lachend die Wespe.
»Diese Rutschpartie war der leichtere Teil meiner Arbeit. Schwerer ist's, die Raupe in das Haus hineinzutragen!«
Dabei wies sie auf ihren Hauseingang, der an der Seite des Abhanges zu sehen war. Max stieg vorsichtig hinab, und mit schlecht versteckter Gönnermiene sprach er:
»Ich werde dir helfen.«
Aber die Wespe lehnte mit einer würdevollen Bewegung ab.
»Bah!« sagte sie spöttisch, »wir sind an andere Strapazen gewöhnt und haben es nicht nötig, daß das stärkste und intelligenteste Volk der Hautflügler sich für uns bemühe.«
Max kämpfte bei diesen Worten gegen seinen schwer getroffenen Hochmut.
»Es wäre mir übrigens lieb«, fügte die Wespe hinzu, »wenn du auf das Raupenwürmlein ein bißchen aufpaßtest, während ich im Haus erst nachsehen muß, ob alles zu ihrem Empfang bereit ist.«
»O, hast du vielleicht Angst, daß es entwische?«
»Das nicht, aber du sollst achtgeben, daß sich niemand der Raupe nähert. Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Aber natürlich!«
Mit fröhlichem Gesumse schlüpfte die Wespe in ihre Höhle hinein, und Max blieb als Wachtposten bei der Raupe stehen.
Kaum war die Wespe verschwunden, als sich eine kleine, graue Fliege auf den Körper der Schmetterlingsraupe niederließ, wie angepappt darauf sitzen blieb und eifrig mit einer Arbeit beschäftigt war, für die Max keine Erklärung fand. Er schrie:
»Mach, daß du weiter fliegst! Dieser Wurm gehört nicht dir!« Die Fliege flog darauf hohnlachend davon und zischelte boshaft:
»Wenn auch nicht mir, so gehört er doch meinen Kindern!«
Als die Wespe gleich darauf wieder erschien, sagte Max, die Raupe forschend betrachtend:
»Es fehlt kein Härchen an ihr! Sage mir nur, liebe Wespe, ißt du sie denn ganz allein auf?«
»Aufessen! Gott, wie kommst du auf diesen Gedanken?«
»Ja, warum hast du sie denn ermordet?«
»Ich habe sie doch gar nicht ermordet! Sie ist nur gelähmt. Verstehst du nicht, wenn sie tot wäre, und ich müßte sie in mein Haus nehmen, würde sie in kurzer Zeit in Fäulnis übergehen, was sehr gesundheitsschädlich wäre.«
»Du behältst sie im Hause? Was machst du nur mit solchen Sachen?«
»Ach, sie ist doch für meine Kinder!«
»O«, rief Max bestürzt, »dasselbe hat ja vorhin die graue Fliege auch gesagt!«
Die Wespe fuhr mit einem Sprung zurück und schrie voll Zorn:
»Die graue Fliege sagst du? Ach, das Gesindel! Eine graue Fliege hat sich am Ende wohl gar auf meine Raupe gesetzt? Antworte sofort!«
»Aber … ja …«, stammelte Max, der nicht verstand, wie man sich wegen einer solchen Kleinigkeit so aufregen konnte. – »Einen einzigen Augenblick nur ist sie auf der Raupe gesessen, ich jagte sie ja gleich weg!«
»Ach, diese Diebin, das hat sie mir angetan!« so heulte jetzt die Wespe und untersuchte dabei die Raupe. »Da haben wir's schon! Da sind ihre Spuren! Und ich hatte mich so geplagt! Meine Arbeit war nun für das Lumpengesindel! Miserables Schmarotzerpack! Ah, sie hoffte am Ende noch, daß ich die Raupe im eigenen Hause beschütze! Haha, der schönen Augen ihrer Kinder zuliebe! O, die Elende!«
Die Wespe war jetzt derart gereizt, daß Max sich nicht getraute, noch etwas zu sagen. Er duckte sich in seinen Hanfküraß zusammen und murmelte:
»Gott bewahre mich! Wenn sie jetzt mit mir Streit anfinge, dann wäre ich verloren, auch wenn ich mich in einen Zwetschgenkern verkröche!«
Nach und nach beruhigte sich die Wespe ein wenig, aber sie hörte nicht auf zu brummen:
»Alle Mühe umsonst! Alle Arbeit weggeworfen! Nun muß ich wieder von vorn anfangen!«
»Verzeihe!« sagte Max, dessen Neugier über die Furcht Meister wurde, »erkläre mir doch, was haben denn deine Kinder und die Kinder der grauen Fliege zusammen mit der armen Raupe zu tun, die so friedlich schlummert, als ob ihr nichts geschehen wäre?«
»Wie, was! Ich habe doch diese Raupe einzig meiner eigenen Kinder wegen erobert!«
»Warum bringst du sie dann nicht endlich in dein Haus?«
»Weil die graue Fliege sie jetzt für ihre Kinder weggenommen hat.«
»Langsam, langsam, mir schwindelt im Kopf! Wie kann sie dir genommen worden sein? Die Raupe liegt ja noch hier!«
»Du weißt doch gar nichts! … Nun wohl, so höre, ob ich nicht recht habe, gegen dieses elende Fliegenweib aufgebracht zu sein. Wir Wespen erjagen gewisse Tiere, lähmen sie und tragen sie heim, einzig deswegen, um in ihren Körper unsere Eier abzulegen; nach einiger Zeit kommen aus den Eiern die Larven – unsere Kinder, verstehst du? Diese finden sogleich ihre Nahrung bereit, indem sie das Innere des Tieres aufessen, in das ihre Mutter sie vorsorglich hineingelegt hat. Die Speise reicht so lange, bis die Larven ein Knäulchen spinnen und sich in Puppen verwandeln, aus denen sie dann als vollkommene Insekten hervorgehen, um im Lichte der Sonne zu leben. Einige Wespen meiner Art erjagen sich Spinnen, andere Grillen, ich ziehe Raupen vor, weil sie mehr Fleisch besitzen. So weit wäre alles gut! Allein da gibt es auch in der Insektenwelt herumziehende Stromer, wie diese graue Mücke, die das Leben ihrer Kinder auf dieselbe Art sichern müssen; doch haben diese Feiglinge weder [103] die Kraft noch den Mut, Spinnen und Raupen zu jagen, wie wir es machen. Was tun sie also? Diese Gauner schleichen um unsere Häuser herum, spitzeln alles aus, und sobald sie sehen, daß wir die Mitgift für unsere Kinder heimbringen, leise, leise – hast du nicht gesehen, siehst du nimmer – legen diese Diebe geschwind ihre Eier in unsere Beute! Begreifst du es jetzt? Hättest du mich nicht benachrichtigt, so hätte ich jetzt mein gutes Ei in die Raupe gelegt, in der Meinung, für das Fortkommen eines meiner Kinder gesorgt zu haben. Und was wäre statt dessen erfolgt? Die Eier der grauen Fliege hätten sich rascher entwickelt als meines, und ihre Larven hätten die ganze Raupe aufgegessen, während meine an den leeren Tisch gekommen wäre und elend hätte verhungern müssen. – Nun, sage, ist das nicht eine gemeine Schurkerei von diesen schmarotzenden Insekten, die ihren Kindern mühelos die Früchte unserer Arbeit zukommen lassen? Siehst du, jetzt kann ich die ganze Geschichte von vorn anfangen; ich muß eine andere Raupe erjagen und sie hierher schleppen. Aber in Gottes Namen! Was tut eine Mutter nicht für ihre Kinder! – Arbeiten und nur den Mut nicht verlieren!«
Bei diesen letzten Worten schien es, als ob aller Zorn bei ihr verraucht wäre.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie in entschiedenem Tone. »Jetzt gibt es kein besseres Mittel, als die verlorene Zeit wieder einholen.«
Sofort breitete sie ihre Flügel aus und summte in ihrer fröhlichen Weise davon.
Max rief ihr noch nach: »Auf Wiedersehen, liebe Sandwespe!«
Er fühlte wirklich etwas wie Freundschaft für dies Tierchen. Es war wohl eine Mordwespe, und ihre Jagdgebräuche waren geradezu grausam. Aber nicht die Bosheit machte sie mordsüchtig und blutgierig. Sie tat alles nur für das Leben ihrer Kinder, wie auch die graue Fliege nur ihren Kindern zuliebe eine Diebin wurde. Die eine, stark und kühn, nahm andern Tieren das Leben, um es ihren Kindern zu geben; die andere, unfähig zum Raube, stahl zu dem gleichen Zweck dem Räuber seine Beute.
Max begann zu verstehen, daß alle Sorge und Arbeit der Insekten ohne Ausnahme auf ein hohes, edles Ziel hinstrebt. Mochten sie es erreichen, wie sie wollten, auch durch List und Mord, suchten sie einzig ihrer Nachkommenschaft das Leben zu sichern. Alles Streben dieser Tierchen ging darauf hinaus, daß das Ei befruchtet wurde, daß der ausgeschlüpften Larve ihre Nahrung zur Verfügung stand, daß die Jungen noch beschützt seien gegen alle Feinde, bis sie in ihrer Vollendung als fertige Tiere auftreten konnten. Dann fängt das wunderbare Spiel von vorn an. Das neue Geschlecht sorgt mit gleicher Fürsicht und mühender Liebe, wie sie ihm selbst zuteil geworden war, für seine Nachkommen.
Max erinnerte sich von neuem an die Herzlichkeit, mit der ihn die gute Fuska einst aufgenommen und in das Leben eingeführt hatte, als er aus seinem Knäulchen schlüpfte. Fuska, die liebevolle Pflegerin, die seinetwegen hatte sterben müssen!
In so traurigen Gedanken vertieft, war er wieder auf den Grabenrand hinaufgeklettert. Nun wandte er sich gegen sein einstiges trautes Ameisenhaus, das für ihn Heimat, leider auch der Schauplatz großen Unglücks gewesen war. [105] Da sah Max zwei Untertanen seines einstigen Reiches, die mühsam einen Kürbiskern schleppten, und sein Herz wurde ihm weit.
»Freunde!« rief er sie tiefbewegt an, »kennt ihr mich nicht mehr?«
»Da schau!« sagten sie ohne jegliche Gemütsbewegung und hielten ein wenig an, »was und wo arbeitest denn du jetzt?«
»Ach, ich führe das Leben eines Verbannten«, klagte er bitter. »Wie geht es euch? Wohin tragt ihr den Kürbissamen?«
»O du liebe Zeit! In unser Dorf, wo unsere Herren wohnen.«
»Wie? Eure Herren? Und nennt es doch noch euer Dorf?«
»Warum denn nicht? Wir sind ihre Knechte, so wollte es das Schicksal. Wir arbeiten und quälen uns für sie, aber wir dürfen dort wohnen bleiben.«
Max war empört über den Stumpfsinn, mit welchem die Brüder ihre schmähliche Knechtschaft ertrugen. Er mußte sie verachten und rief ihnen nach:
»Schmutzige Sklavenseelen, pfui!«
Dann setzte er seinen Weg fort und dachte nicht im geringsten daran, daß die einzige Ursache ihrer traurigen und unverschuldeten Sklaverei sein ungezügelter, unvernünftiger und herzloser Ehrgeiz gewesen war. Was half es, wenn er auch jetzt gerade von einem guten Gedanken erfüllt war? Er schaute hin und her, als ob er etwas suche. Wenige Schritte vom Ameisenhaus entfernt blieb er lauschend stehen, denn er hörte ein Geräusch, wie wenn ein Hund Knochen zerbisse. Max wandte sich dem Lärm zu und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Vor ihm lagen die traurigen [106] Überreste seiner verstümmelten Mitgefangenen, die, unglücklicher als er, ihr Leben lassen mußten. Die Köpfe vom Rumpfe abgerissen, lagen sie da, und inmitten dieses jammervollen Haufens zerrissener Körper saßen drei Ameisen – es ist entsetzlich zu sagen – beim Mahl. Sie verschlangen mit lustigen Scherzen die Überreste ihrer Schwestern und Brüder.
»Ihr Elenden«, schrie Max, »so fehlt es denn auch unter Ameisen nicht an schändlichen Hyänen und Schakalen!?«
Wirklich gibt es einige Ameisenarten, die so tief gesunken sind, Leichen zu verzehren. Beispiele solcher Schande sind ja zum Glück äußerst selten, aber sie genügen, um den guten Namen des ganzen Volkes zu schänden, den es sich durch seine vielen Vorzüge und Tugenden unter allen Insekten erworben hat.
So tragen die Schlechten, abgesehen von dem Schaden, den sie durch ihre Missetaten den Guten zufügen, sehr oft die schwere Schuld, den unbefleckten Namen einer ganzen Familie, ja selbst des ganzen Landes zu beschmutzen, das diese Schädlinge hervorbrachte. Deshalb tat Max gut daran, auf die drei kannibalischen Schwelger so grimmig loszugehen, daß sie keine Zeit hatten, sich von ihrer Überraschung zu erholen und Widerstand zu leisten. Alle drei fielen unter seinen Streichen.
Nun erst beschaute er genauer die Überreste der tapfern Gefährten. Vor dem schauerlichen Bilde krampfte sich sein Herz zusammen.
Weinend warf er sich inmitten dieser Ärmsten auf die Knie, und in tiefem Schmerze rief er:
»Verzeihung! Verzeihung! Hätte ich doch auf die Mahnungen des Professors gehört! Wäre ich bescheiden und [107] fleißig geblieben wie ihr Teuren! Wieviel Unglück habe ich über euch gebracht! Fuska, liebe Mutter und Lehrerin, auch du bist tot! Wäre es bei den Ameisen üblich, so würde ich dir das schönste Denkmal aufstellen, daß alle Welt es bewundern müßte. Darauf ließe ich mit goldenen Buchstaben die Inschrift setzen:
Fuska
.
Seiner guten Ameisenmutter
der entthronte Kaiser
Butziwackel I.«
»Und nun was jetzt?«
Das war die Frage, die Max beschäftigte, als er seinen Weg wieder aufnahm, und auf die er vorderhand keine Antwort wußte. Ganz allein, verloren in der weiten Welt, ohne Familie, ohne Freunde! Dies war die traurige Lage des armen Insektleins, das vor wenigen Stunden zum ersten Kaiser der Ameisen erwählt worden war. »Was verschlägt's«, so dachte Max, »auch Napoleon der Erste mußte es erleben, nach St. Helena verbannt zu werden!«
Doch dieser geschichtliche Vergleich war ein magerer Trost für ihn. Während er den Graben, in dem die Sandwespe ihr Nest hatte, von neuem durchquerte, betrachtete er schwermütig das Haus seiner Freundin, das schon verschlossen war, und er flüsterte:
»Ach, ein jeder hat sein Haus! Ich allein finde kein Loch, wo ich die Nacht zubringen könnte!«
Bei diesem Gedankengang kam ihm eine Erinnerung, die ihn mit Trost und frohen Hoffnungen erfüllte.
»Hab' ich denn nicht doch ein Haus? Und in diesem Haus wohnt ja meine Mutter und Onkel Walter. O wenn ich das finden könnte!«
Der Gedanke war gut; jawohl! Aber kaum hatte Max mit ihm zu spielen begonnen, erhob sich auch schon schroff und steil die größte Schwierigkeit, so daß er bitter ausrief:
»Der reinste Wahnsinn! Wie könnte ich armes, kleines Ameislein, für das jeder Grashalm ein Baum, jeder Busch ein Wald, jeder Kiesel ein Felsen, jede Scholle ein Berg ist, wie könnte ich einen Ort finden, den ich nicht sehen kann, von dem ich nicht weiß, in welcher Richtung er liegt!?« – – –
So schlich er entmutigt seines Weges, wohin ihn eben seine müden Beine trugen, und kam dabei am Fuße einer großen Eiche an. »Wenn ich auf ihren Gipfel stiege«, dachte er, »wer weiß, ob ich von dort oben nicht mein Haus entdecken könnte?!«
Mutig kletterte er am Stamme empor. Nur der Gedanke an die Heimat machte ihn zu dieser Anstrengung fähig. Kurz zuvor hatte er sich sehr matt gefühlt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß er seit geraumer Zeit nichts gegessen hatte.
In einiger Höhe hielt er an und schaute ringsumher: Nichts! Er stieg weiter bis ins oberste Gezweige. Ringsumher schaute er nur eine wirre Welt. Jetzt begriff er, daß es mit den Augen einer Ameise unmöglich sei, deutlich in die Ferne zu sehen.
Aus der traurigen Stimmung, in die ihn diese Erfahrung versetzte, wurde er durch ein eigenartige Geräusch aufgestört. Es kam ganz aus der Nähe, es mußte auf demselben Blatt sein, auf dem er stand. Er schaute sich um [109] und erkannte, daß er sich neben einer Eichengalle befand, einer von jenen rötlichen Kugeln, die man häufig auf Eichenblättern sieht, und mit denen er früher oft gespielt hatte.
Max krabbelte auf diese Galle hinauf und war nicht wenig erstaunt, als er merkte, daß das Geräusch aus dem Innern der Kugel drang. Als ob ein feiner Bohrer durch hartes Holz seinen Weg suchte, so knirschte und raschelte es da drinnen. Max lief rings um die Kugel und untersuchte sie aufs genaueste. Da er auf der Oberfläche nicht die geringste Öffnung fand, fragte er sich, welches Geheimnis wohl im Innern eingeschlossen sein könnte. Plötzlich hörte er hinter sich ein feines Stimmchen, das piepste etwas müde:
»Endlich bin ich so weit!«
Max drehte sich flugs um. Ein winziges Köpfchen guckte aus einem Löchlein der Galle heraus, drehte sich hin und her und betrachtete alles ringsum mit lebhafter Neugier.
»Ei, wie schön ist die Welt!« sagte das Stimmchen, bebend vor Vergnügen.
»Sei mir gegrüßt!« rief Max, »und komme doch ganz hervor!«
Aus dem Löchlein schoben sich zwei kleine Beinchen, die sich am Rande anklammerten, dann folgte sogleich das ganze Tierlein. Es war kaum ein paar Millimeter lang, schwarz, mit fadenförmigen, nicht geknickten Fühlern und mit zwei allerfeinsten, durchsichtigen Flügelchen ausgestattet.
»Oho«, rief Max, »eine kleine Fliege!«
»Entschuldige«, erwiderte das kleine Geschöpfchen, »ich bin keine Fliege, ich bin eine Gallwespe; die Gelehrten nennen mich Cynips gemmae .«
»Eine Gallwespe?«
»Ganz richtig, ich gehöre zur Ordnung der Immen oder Hautflügler.«
»Dann bist du eine weitläufige Verwandte von mir. Als mein Bäschen wirst du mir wohl erklären, wie du es fertig brachtest, in diese Kugel einzudringen?«
»Eindringen? Ich bin nicht eingedrungen, du willst wohl sagen: herauszuschlüpfen.«
Max betrachtete sie verwundert. »Das ist mir neu! Kann einer aus einer Kugel herausschlüpfen, ohne erst hineingekommen zu sein?«
»So höre! Bei uns Gallwespen ist folgender Brauch: Unsere Mutter – ich kann dir das sagen, weil ich es selber [111] durch meine natürliche Veranlagung weiß – legt das Ei auf ein Eichenblatt, indem sie es mit dem Legestachel ansticht. Aus diesem Legestachel tritt zugleich das Ei heraus. Der Stich verursacht auf dem Blatt eine Wunde, und die Wunde läßt das Blatt anschwellen, so daß sich eine kleine Kugel bildet. Diese wächst durch den Saft der Pflanze. Inzwischen entwickelt sich aus dem darinliegenden Ei die Larve. Diese findet in der Kugel ihre Nahrung und ihr Häuschen. Hier bleiben wir ein Jährchen ungestört und essen, verwandeln uns zur Puppe und werden danach ein vollkommenes Insekt. Jetzt müssen wir von innen heraus die Kugel durchbohren, langsam, langsam, bis sich eine Straße bildet, auf der wir endlich herauskommen, wie ich es gemacht habe. – Aber du kannst mir's glauben, da heißt es kräftig drauflosnagen!«
»Ist es wohl so hart, dein Kugelhäuschen?«
»Geh mal herein und überzeuge dich selbst davon!«
Er schlüpfte zum Türchen hinein, das die Gallwespe gebohrt hatte, und nun konnte er sich einen genauen Begriff von der Arbeit machen, die seine neue Freundin fertig gebracht hatte. Im Innern der holzartigen Galle war eine Art Kammer, die aus einem noch viel festeren Stoffe als die äußere Kugel bestand. Die Wand dieser Kammer war so hart wie ein Kirschkern.
»Und du«, rief Max erstaunt, »du hast so harte Mauern durchbrechen können? Da gratuliere ich!«
»Ich danke dir. Wenn du wüßtest, wie froh ich jetzt bin! Verstehst du das? Da drinnen eingesperrt sein ist kein Vergnügen; doch man weiß, eines Tages wird man herauskommen, die Flügel ausspannen und in freier Luft leben.«
»Ah!« atmete sie tief auf, »nun ist die große Stunde, die ersehnte Belohnung für die lange Gefangenschaft gekommen!«
»Du Glückliche!« seufzte Max traurig. »Wenn ich doch auch Flügel hätte!«
Sein Wunsch brachte ihn auf einen Gedanken, der wie ein Hoffnungsstrahl in sein düsteres Dasein leuchtete. Dringlich wandte er sich zur jungen Gallwespe und sprach:
»Höre, liebe Freundin, ich hätte eine große Bitte … wirst du so freundlich sein … Du bist zwar kaum geboren … nun wohl: mit einer guten Handlung kannst du dein Leben beginnen. Ich verspreche dir, daß ich es dir nie vergessen werde! Willst du?«
»Du plauderst zuviel; bitte, laß mich hören, um was es sich handelt?«
»Richtig! Es handelt sich darum, daß ich ein menschliches Wohnhaus mit einem Weinstock an der Wand finden möchte. Auf einem Rundflug könntest du es vielleicht erspähen.«
»Aber Lieber, wie soll ich denn ein Menschenhaus erkennen? Ich bin doch eben erst auf die Welt gekommen!«
Diese Bemerkung war richtig, und Max kostete es Anstrengung genug, um dem jungen Insekt zu beschreiben, wie sein Haus aussähe. Endlich schien die Gallwespe begriffen zu haben, und er brauchte ihr nur noch zu sagen:
»Du kannst mit deinen Flügeln nach allen Richtungen herumstreifen; dann kehrst du zu mir zurück, mir zu sagen, ob es dir gelungen ist, mein Haus zu entdecken, das ich so gern sehen möchte. Willst du mir diesen großen Gefallen erweisen?«
»Ich will es versuchen! Es gelüstet mich sowieso, meine Flügel zu erproben« – – – und eins – zwei – drei – – – [113] erhob sich das junge Gallwespchen vom Sitze und flog in die schöne Welt hinein.
Kaiser Butziwackel aber rief ihm noch zu:
»Wenn du es fertigbringst, schwöre ich dir ewige Freundschaft!«
Wie lange wartete Max auf seinem Blatt! Er wäre in Verlegenheit gekommen, es uns genau zu sagen; denn er hatte keine Uhr bei sich. Aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Endlich konnte er der zurückkehrenden Gallwespe zurufen:
»Na, und?!«
»Nun«, erwiderte diese und setzte sich zu ihm auf das Blatt, »ich glaube etwas entdeckt zu haben, das deiner Beschreibung ähnlich ist.«
»O, wirklich? Ist's weit von hier? Ist es dorthin oder hierhin? Wo ist's?«
»Bei meiner Galle! Gönne mir nur eine Minute zum Ausschnaufen! – Höre, das Haus, das ich sah, liegt in derselben Richtung wie das Blatt, auf dem wir sitzen.«
»So, so, also dorthinaus!« deutete Max mit seinem rechten Vorderbeinchen.
Max merkte sich genau die Richtung, besann sich und rief:
»Jetzt gehe ich … Liebe Gallwespe, wie bin ich dir dankbar! … Aber wir werden uns wiedersehen, gelt!«
Er umarmte sie, empfahl sich höflich und stieg langsam den Weg, den er auf die Eiche hinaufgeklettert war, wieder hinab.
»Langsam?« werden sofort alle kleinen Leser fragen. »Wie, er sehnte sich so sehr heimzukommen, und er ging langsam?«
Gerade deshalb. Er ging langsam, weil er Eile hatte.
Ihr wißt es selbst, es gibt Kinder, die voll guten Willens sind. Sagt man ihnen: »Geh mir rasch da- oder dorthin«, so laufen sie auch schon und rufen: »Ich bin gleich dort.«
Dann aber müssen sie auf halbem Wege wieder umkehren; denn im Eifer haben sie ganz vergessen, zu fragen, wohin sie eigentlich gehen sollten. Zu große Eile macht oft, daß man erst recht zu spät kommt. Max hatte als Kind immer alles mit kopfloser Eilfertigkeit angefangen. Als Ameise aber lernte er: Erst überlegen, dann handeln! Anstatt also von der Eiche herunterzustürmen, ging er seine Straße Schritt für Schritt, schaute sich öfter um, beobachtete jeden Zoll des Weges und berechnete die zurückgelegte Strecke. Auch überschätzte er die vor ihm liegende mit einer Genauigkeit und Vorsicht, wie sie vielleicht nur diese kleinen Geschöpfe kennen. Der Erfolg seines Rechnens und Überlegens blieb nicht aus. Als er den Erdboden betrat, stand er mit dem Gesichte genau in der Richtung, die das Blatt oben auf dem Baume hatte. Er konnte daher seinen Weg sofort geradeaus in der Richtung verfolgen, die ihm die Gallwespe angegeben hatte.
Dankbar fühlte unser Kleiner, daß er den wunderbar ausgebildeten Richtungssinn der Insekten besaß. Mit ihm war er imstande, auf die unbedeutendsten Zeichen zu achten und sich nach solch feinen Wahrnehmungen zurechtzufinden, die für Menschen unfaßbar sind. Gleichwohl bedauerte Max, daß er so viel Zeit zum Abstieg von der Eiche hatte aufwenden müssen.
»Schade«, sagte er, »daß die Insekten keine Wegweiser auf ihren Straßen haben!«
Beim Weitergehen kam ihm wieder der Gedanke, ob er nicht doch noch dazu berufen sei, dem Insektenreiche höhere Bildung und Fortschritt zu bringen. Allein er ließ bald von seinen Träumen ab und verfolgte mit Eifer das eigentliche Ziel seiner Reise und sprach:
»Mit oder ohne Wegweiser! Ich will jetzt heim zur Mutter.«
Indessen näherte sich die Sonne dem Untergange. Ringsum bemerkte Max allgemein eine geschäftige Bewegung von vielerlei Insekten, die alle nach Hause eilten, ehe es dunkel wurde.
»Auch ich«, dachte der einsame Wanderer, »gehe jetzt nach Hause.« Diese Erinnerung an die Heimat belebte aufs neue seine müden Beinchen, und seine Reise schien ihm nicht mehr so unsicher und gefährlich. Auch den Hunger spürte er nicht mehr so quälend.
Plötzlich wurde er aus seinen frohen Gedanken durch ein nahes Getöse aufgeschreckt. Den erstickten Jammerlauten und den gewalttätigen Drohungen nach zu urteilen, gab es da einen entsetzlichen Kampf auf Leben und Tod.
Eine Wespe, von der Art der Sandwespe – Max hatte nun schon eine ganz nette Insektenkenntnis –, drückte mit aller Kraft eine Grille auf den Boden nieder. Diese wehrte sich und zirpte um Hilfe. Schon wollte die Wespe der besiegten Grille ihren fürchterlichen Stachel durch den Leib bohren, als sie plötzlich davon abstand.
»Halt ein!«
Das war Max, der sie anschrie. Er kam zur guten Stunde für die Grille. Die Angreiferin war überrascht, ließ ein wenig locker, und es gelang der zu Tode Geängstigten, ihrem Feinde zu entschlüpfen. Mit einem Hupf war sie in ihrem Loche. Dafür fiel die Wespe wütend vor Zorn über [116] Max her. Aber es ging ihr wie einstens der Sandwespe. Der tötende Stachel glitt auf dem Hanfpanzer ab, und Max sagte lachend:
»Verehrteste Frau Mörderin, diesmal sind Sie schön ausgerutscht!«
»Was mischest du dich in meine Angelegenheiten, du hergelaufener Fremdling! Drei Grillen habe ich bereits zu Hause eingebracht, und eine fehlt mir noch; endlich hatte ich sie glücklich, und du bist schuld, daß sie mir entwischte.«
»Genügen die dreie dir nicht?«
»Keineswegs! Ich brauche vier Stück für meine Eier. Habe ich keine viere, so bekommen meine Kinder nicht genug zu essen. Nun kann ich deines Vorwitzes halber von neuem die Jagd beginnen.«
»Verzeihung, Frau Mordwespe, die arme Grille tat mir leid. Mit deiner wilden Kraft wirst du gewiß bald eine andere bekommen. Lebe wohl und entschuldige vielmals!«
Max nahm seinen Weg wieder auf. Der Zweikampf zwischen Wespe und Grille und seine Unterhaltung mit dem betrogenen Sieger hatte ihn nicht im geringsten in der Richtung des Weitermarsches beirrt.
»Ohne mein Eingreifen«, sprach er für sich, »wäre die Grille schön eingegangen! Diese Mordwespen besitzen eine verteufelte Kraft. Man sieht es ihnen gar nicht an. Gleichwohl muß ich meine Freundin Gallwespe noch mehr bewundern. Sie ist viel kleiner und war doch imstande, sich einen Weg durch ihre steinharte Kugel zu bahnen!«
Max wanderte und wanderte unermüdlich weiter. Ihn drängte die Sehnsucht, ans Ziel zu gelangen, und der Weg zur Mutter war gar so weit.
Bald nachher bemerkte er ein anderes Geschöpf, das den gleichen Weg verfolgte wie er, aber auf eine bequemere und schnellere Weise. Es war ein äußerst fein gebautes Insekt mit langem, dunkelgrauem, dünnem Körper, mattgelb am Kopf, an der Brust gefleckt und mit vier leichten, ja allerleichtesten Flügeln versehen. Damit bewegte es sich von einem Strauch zum andern und tat, als ob es etwas suchte und durchaus nicht finden könne.
»Ach, liebe Libelle«, sprach Max emporschauend, »was würde ich nicht bezahlen, wenn ich jetzt Flügel hätte wie du!«
Das geflügelte Insekt schaute ihn mit seinen hervorstehenden Augen an und lachte laut:
»Ich bin keine Libelle.«
»Was bist du dann?« fragte Max und blieb stehen.
»Wenn du's wissen willst, – ich habe viele Beziehungen zu deinesgleichen.«
»Das freut mich zu hören; dann können wir ja in Freundschaft verkehren!«
»Meinetwegen«, antwortete das Insekt nicht sehr höflich. Dabei setzte es sich, unbekümmert um Max bedächtig umherspähend, auf einen Grashalm. Max näherte sich, er wollte wissen, was es denn eigentlich zu tun vorhabe.
Nach einigen heftigen Anstrengungen schien das geflügelte Insekt sich wieder zu erholen. Es streckte den Körper, drehte sich um sich selbst und betrachtete mit Liebe ein Häufchen Eier, die am Grashalm festgeklebt waren. Sie waren etwas über drei Millimeter lang, gelblich und an dem dickeren Ende rot gefärbt.
»So, das hätten wir«, sagte das rätselhafte Geschöpf und beschaute sichtlich befriedigt sein Werk. »Man lebt so kurz; aber wenn man für die Nachkommenschaft gesorgt hat, kann man getrost sterben. Meine Kinder werden weiterleben.«
Max, der unterdessen stumm vor Staunen dabeigestanden war, konnte sich jetzt nicht länger halten und rief:
»Aber du bist einmal eine brave Mutter!«
»Hm, freilich«, erwiderte ganz verschmitzt das Insekt, »vielleicht käme es dir besser zu statten, wenn ich es nicht wäre!«
»Ich begreife dich nicht. Doch da du keine Libelle sein willst, darf man vielleicht fragen, wer du bist?«
»So viel kann ich dir sagen, ich bin eine große Verehrerin der Ameisen, aber ich weiß nicht, ob sie mich ebenso lieben wie ich sie.« Dann fuhr sie, Max spöttisch musternd, fort: »Gehe du nur einstweilen deiner Straße; ich verweile hier, um meine Kinder in Sicherheit zu bringen, denen ich wünsche, sie möchten in ihrem Leben recht vielen Ameisen begegnen, die so gut sind wie du; du scheinst mir eine ausgezeichnete Ameise zu sein.«
Die sonderbare Betonung der letzten Worte gaben dem Satz einen unheimlichen Sinn. Oder sollten sie eine besondere Artigkeit bedeuten? Max rannte, von einer innerlichen Stimme gemahnt, eiligst weiter, ohne sich für eine solche Artigkeit mit diesem Beigeschmack zu bedanken. In schweren Gedanken und mit einigem Herzklopfen zog er in langen Schritten fürbaß und grübelte vergebens, in den verborgenen Sinn jener Worte einzudringen. Nach einem guten Stück Weges hörte er hinter sich sprechen:
»Willst du wirklich wissen, wer ich bin?«
Max schnellte erschrocken rasch herum. Auf einem Grashalm, der über ihm schwankte, saß das Insekt, das er Libelle genannt hatte.
»Da wir weit genug von meinen Eiern sind und du sie vergeblich suchen würdest, will ich es dir sagen: Zittere! Ich bin der Ameisenlöwe.«
Diesmal war es Max, der hellauf lachte. Der grausige Name, die schreckliche Betonung, die theatralische Feierlichkeit, mit der das Insekt ihn aussprach, versetzten unsern Helden in beste Laune. Mit tiefer Verneigung nahm er die Vorstellung entgegen und ahmte antwortend die herausfordernde Sprechweise dieses Löwen nach.
»Entschuldigen Sie vielmals, Herr Ameisentiger, wenn ich Sie nicht gleich erkannt habe! Auf Wiedersehen, Herr Ameisenleopard! Herr Ameisennilpferd, ich empfehle mich Ihnen als Wärter für Ihre jungen Löwen, die aus Ihren Eiern schlüpfen. Wenn Sie nur nicht mit ihren Löwenkrallen die Eierschalen zu früh zerbrechen!«
Trotz aller schlechten Witze war sich Max nur zu sehr des unangenehmen Eindrucks bewußt, den der Name auf ihn gemacht hatte. Er erinnerte sich dunkel, während seines Lebens im Ameisenheim gehört zu haben, der Herr Professor wolle eine Vorlesung über Ameisenlöwen halten. Fuska sagte damals zu ihm, er möge recht aufpassen dabei; denn man müsse sich arg vor diesen Geschöpfen in acht nehmen. Viel später erst sollte unser verbannter, armer Kaiser mit eigener, entsetzlicher Lebensgefahr die Erklärung des Geheimnisses finden, das in den Worten seines unheimlichen Reisegefährten versteckt lag.
Ohne von der Richtung seines Hauses abzuirren, schritt er rüstig vorwärts. Lange war er schon gegangen, als sich unversehens vor ihm ein Hindernis einstellte, das mit einem Schlage alle frohen Hoffnungen vernichtete, die er während des langen Marsches genährt hatte. Vor seinen Füßen dehnte sich ein für eine Ameise unendlich großer See aus. Man bedenke nur, daß ihn ein Mann kaum mit einem Satze hätte überspringen können. Was tun? Wie ans jenseitige Ufer gelangen, ohne die Richtung zu verlieren? Richtung verloren, alles verloren! Wo könnte er je die Straße wiederfinden, die ihm seine Freundin Gallwespe gezeigt hatte?
Das einzige wäre gewesen, den See in liniengerader Richtung zu überqueren. Aber wie? Er konnte das jenseitige Ufer nicht einmal sehen. Mit verzweifelnden Blicken schaute Max hierhin und dorthin und ließ sie über den See gleiten, der blutrot gefärbt in der Abendsonne lag. Vergebens wartete er auf eine gute Eingebung, und endlich erfaßte ihn der Mut der Verzweiflung.
»Ich weiß nicht einmal«, jammerte er laut, »ob eine Ameise schwimmen kann! Doch was liegt daran. Entweder werde ich meine Mutter wiederfinden oder im Gedanken an sie ertrinken und sterben.«
So durchschritt er das letzte Grasbüschlein, das ihn vom Wasserrand trennte, näherte sich entschlossen der Flut und wollte sich eben hineinstürzen, als er mit einem Freudenschrei plötzlich zurückwich.
Unmittelbar vor ihm schwamm eine vornehme Barke mit sechs Rudern. Max glaubte sogar, eine bequeme, gelbe Sitzbank darin zu sehen. Diese Barke schien eigens auf ihn gewartet zu haben, mit keinem andern Zweck, als ihn aus grausamer Verlegenheit zu retten.
Begreiflicherweise überlegte Max nicht zweimal. Da die Barke ein klein wenig vom Ufer abstand, fand er sofort einen geistvollen Ausweg, um einsteigen zu können, ohne zu ertrinken oder mindestens pudelnaß zu werden. Er kletterte flugs auf einen langen Grashalm, der sich vom Ufer über das Wasser neigte. An der Spitze angelangt, schaute er sich genau um, brachte den Halm durch die Schwere seines Körpers in Schaukelbewegung, und wie er gerade über das Schifflein zu pendeln kam, sprang er ab und kam in der Barke vor die Bank zu stehen, die er gesehen hatte.
»Jetzt aber tüchtig gerudert!« rief Max und versuchte die Ruder zu ergreifen.
Aber das war gar nicht nötig. Als ob die geheimnisvolle Barke nichts anderes erwartet hätte als seinen Befehl, streckte sich das letzte Ruderpaar mit Zauberkraft weit aus, schlug mit kräftigem Schlag ins Wasser und führte die Barke mit größter Schnelligkeit vom Ufer weg auf hohe See.
»Ach, das ist ja ein Dampfschiff!« rief Max aus, als er mit außerordentlicher Schnelligkeit in den See hinaustrieb.
Wie von unsichtbarer Hand bewegt, glitten die Ruder in gleichmäßigen Schlägen auf und nieder, und Max dachte nicht anders, als daß die Kraft durch einen Dampfkessel irgendwo im Innern des Schiffes erzeugt würde, das die schlanke Form eines Kahnes hatte. Während Max auf seinem Schnelldampfer stand, sah er eine Menge anderer Schiffe seltsamster Bauart vorüberfahren. Sie erschienen oft plötzlich an der Oberfläche und verschwanden rätselhaft in die Tiefe, so daß Max in hellem Vergnügen glaubte, er befinde sich mitten im Manöver einer Unterseebootflottille. Für einen Augenblick vergaß er vor Glück über diesen herrlichen Anblick, den der Zufall ihm schenkte, sein ersehntes Ziel. Sofort auch beschäftigten ehrgeizige Träume seinen erregten Sinn.
»Wie wäre es«, dachte er hochstrebend, »wenn ich hier als gefürchteter Admiral einige feindliche Schiffe in den Grund bohrte?«
Erfüllt von neuen kriegerischen Plänen, spazierte er sinnend und wie ein echter Seebär mit breitspurig schwankendem Gang auf dem Deck seines Schiffes hin und her. An einer Stelle bemerkte er eine Reihe von Röhrchen, eines dicht neben dem andern. Aufmerksam verweilte er hier und sagte schlau:
»Aha, da haben wir die Sprachrohre!«
Er beugte seinen Kopf über eines der Röhrchen, und da es offen war, rief er hinab ins Innere des Dampfers:
»Hallo! Maschinisten, Heizer, Achtung!«
Eine Stimme antwortete:
»Hallo! Wer da?«
»Hier Admiral Max Butziwackel! Alle Mann an Bord! Rasch herauf!«
Einen Augenblick war es still, dann ertönte die Antwort:
»Hinaufkommen? Ich finde es gescheiter, hinunterzutauchen!«
Mit einem gewaltigen Ruck und Schlag streckten die zwei Ruder sich aus. Das Schiff bäumte sich erst auf, dann fuhr es kopfüber in die Tiefe. Max wurde mit hinuntergerissen, und schwindelnd dachte er:
»Aha, ein Tauchboot!« Dabei umklammerte er voll Geistesgegenwart das Rohr, das ihm als Sprachrohr nicht [124] besondere Dienste geleistet hatte. Zugleich begriff er mit Schrecken, daß die Unterwasserreise für ihn auf offenem Deck nicht lange dauern müsse, um ihn dem Tode des Ertrinkens zu weihen. Deshalb ließ er seine Stütze lieber los und zappelte wie rasend, bis es ihm gelang, an die Oberfläche emporzukommen. Doch das Wasserschlucken, der Schrecken und die Überanstrengung hatten seine Kräfte so erschöpft, daß er sich zu elend fühlte, um noch weiter zu kommen. Er glaubte sich verloren, und einer Ohnmacht nahe, stammelte er als letzten Stoßseufzer:
»O du meine liebe Mutter!«
Ein Schatten glitt über ihn hinweg. Max streckte seine Arme aus, faßte etwas und klammerte sich so fest daran, wie es nur ein Ertrinkender fertigbringt. Von oben aber rief's:
»Oho, wer zieht an meinem Bein?«
Der arme Schiffbrüchige nahm seine letzten, sinkenden Kräfte und seinen ganzen Mut zusammen, denn er sagte sich:
»Habe ich ein Bein erwischt, so gehört es wohl einer Person, die auf dem Wasser spazieren kann. Eine solche kann ich aber gerade brauchen, also Mut!«
Er kletterte an dem langen, schwarzen Bein hoch, und mit dem Erfolg wuchsen Kraft und Mut. Wie durch ein Wunder gelangte er über Wasser und schwang sich gewandt auf den Rücken des fremden Beinbesitzers, der abwehrend ausrief:
»Wer steigt mir auf den Rücken?!«
»Ich bin es«, sagte Max, indem er sich rittlings zurechtsetzte.
»Eine Ameise bin ich, mit zwei vorzüglich scharfen Zangen bewaffnet, kraft deren ich dich höflichst ersuche, mich schleunigst ans Ufer zu befördern.«
Der Ton, in dem Max sprach, ließ seinen Träger vermuten, daß die Ameise zu allem eher als zum Ertrinken entschlossen war und keinen Widerspruch duldete. Deshalb nahm das merkwürdige Geschöpf den Weg auf dem Wasser gutwillig wieder unter seine Beine. Inzwischen betrachtete Max sein Wasserpferd genauer. Es war ein dunkles Insekt mit langem, dünnem Körper und einem Kopf, der allein ein Drittel seiner Gesamtlänge ausmachte und der mit außerordentlich langen Fühlern versehen war. Sechs gleichlange Beine standen weit vom Körper ab und waren ebenfalls ungewöhnlich lang.
»Gesegnet seien deine Beine!« sagte Max bedeutend freundlicher als vorhin, »sei du nur froh, daß du nicht auch auf ein Unterseeboot zur Überfahrt angewiesen bist. Doch bitte, wer bist du?«
»Ich bin ein Wasserläufer«, erwiderte das Insekt mit Freimut. »Wir Wasserläufer haben zwar Flügel, doch macht es uns keinen Spaß, sie oft zu benützen. Höchstens, wenn wir einmal über Land zu einem andern Gewässer wollen.«
So sprechend, öffnete das Tierchen zierlich die hornigen schwarzen Flügeldecken, die auf seinem Rücken lagen. Unter ihnen kamen zwei ganz dünne, dunkle Hautflügel zum Vorschein, denen Max mit einem gewandten Ruck auswich.
»Ich will nicht prahlen«, fuhr der Wassertreter fort, »aber in meiner Familie gibt es Leute, die noch tüchtiger sind als ich. Diese können gegen die Strömung reißender Flüsse laufen, andere spielen auf den gefährlichen Wassern tropischer Meere.«
Max merkte längst, daß er es mit einem fein gebildeten Herrn zu tun hatte, und er fühlte die Verpflichtung, sich wegen der unverfroren kecken Art zu entschuldigen, mit der er einen Freiplatz auf seinem Rücken beansprucht hatte. So [126] entspann sich zwischen Roß und Reiter eine artige Unterhaltung. Max erzählte haarklein sein Abenteuer auf dem verzauberten Schiff, das ihn mit sich in die Tiefe gerissen hatte. Der Wasserläufer nickte verständig mit seinen Fühlern und sagte nachdenklich: »Das wird jedenfalls der Rückenschwimmer gewesen sein, die Notonecta glauca .«
»Was, so heißt das Schiff?«
»Nein, nein, so heißt das Insekt. Es gehört zu meiner Ordnung und lebt wie ich im stehenden Wasser. Aber während ich nur auf der Wasserfläche schreite, taucht dieses auch in die Tiefe, um drunten auf dem Schlammgrunde kleine Wassertiere zu fischen, die es mit seinem giftigen Schnabel tötet. Kommt es an die Oberfläche, so bleibt es mit dem Unterleib nach oben liegen. Dann sieht man seine gelbe Brust, seinen behaarten Bauch und seine sechs ausgestreckten Beine, von denen das hinterste, längste Paar zum Rudern dient. Es kommt eigentlich nur herauf, um Luft zu schnappen, denn die vermeintlichen Sprachrohre, die Haarröhrchen, dienen ihm, um Luft damit zu sammeln.«
»Was sagst du mir da!« entsetzte sich Max, der seinen ungeheuerlichen Irrtum mit Beschämung einsah.
»Es ist so, wie ich sage, und du wirst dich noch mehr wundern. Der Rückenschwimmer hat auch Flügel, stärkere als ich, und er versteht vortrefflich zu fliegen.«
»Ei, ei, welch bevorzugtes Geschöpf, mit vielseitiger Begabung! Es fährt als Unterseeboot und ist zugleich Wasserflugzeug. Diese Erfindung haben die Menschen im großen Kriege noch nicht gemacht!«
So plauderten sie höchst unterhaltend, bis der Wasserläufer mit seinem Reiter am Ufer anlangte. Voll freudigen Dankes sprang Max von seinem Wasserpferd ans Land und rief:
»Teurer Wasserläufer, in tausend Jahren könnte ich dir deinen liebenswürdigen Dienst nicht vergessen. Nenne mir doch die Ordnung, der du zugehörst.«
»Ich gehöre zur vornehmen Ordnung der Schnabelkerfe und Halbdecker. Wir Wasserläufer bilden eine eigene Familie, wie auch die Rückenschwimmer.«
»Wohlan, gesegnet seien alle Wasserläufer. Begegnest du aber dem Rückenschwimmer, so sage ihm, daß es eine Ungezogenheit ist, wie er ahnungslose Reisende, die sich ihm anvertrauen, behandelt!«
Der Wasserläufer lächelte still vor sich hin, drehte sich elegant um und entfernte sich in langen, raschen Schritten vom Ufer. Max folgte mit feuchten Blicken dem schattenhaften Wesen, dessen dünne Beine lautlos über die Fläche glitten. Als längst nichts mehr von ihm zu sehen war, blickte Max einsam um sich und rief in großer Niedergeschlagenheit aus:
»Was nun!«
Was sollte nun der arme Verbannte beginnen so ganz allein, bei dunkler Nacht, verlassen auf unbekannter Erde? Er kannte die Richtung seines Weges nicht, er wußte nicht einmal, ob er nach seiner Seefahrt auch tatsächlich an jener Küste gelandet war, die er erreichen wollte, oder ob er gar wieder dahin zurückgekommen war, von wo er sich eingeschifft hatte.
»Könnte ich wenigstens einen Unterschlupf zum Übernachten finden«, seufzte Max.
Lange suchte er die Umgebung ab. Endlich fand er auf einem Hügelchen ein Loch und schlüpfte ganz leise hinein. [128] Dabei tastete er sich vorsichtig mit den Fühlern voran und hielt für alle Fälle seine Zangen bereit.
Es war ein vielfach gewundener, breiter und tiefer Schacht. Als Max bei einer bestimmten Wendung dieses unterirdischen Ganges angelangt war, hörte er einen langgezogenen, tiefen Ton, der in ihm alte Erinnerungen weckte und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
»Es ist kein Zweifel«, sprach er zu sich selbst, »da herinnen wohnt ganz gewiß ein Musiker, der ein wahrer Künstler ist auf seiner Baßgeige.«
Neben dem ersten Spieler ließ sich bald ein zweiter, ein dritter, dann ein vierter und fünfter vernehmen, und durch die geräumigen Gewölbe der finstern Höhle klang eine feierliche Harmonie von Tönen im tiefsten Baß, so daß Max meinte:
»Das ist mehr als ein Künstler! Das ist offenbar die hohe Schule für Baßmusik.«
Max war entzückt über die schönen Töne und rief gleich nach der ersten Pause:
»Bravo! Bravo! Da capo! «
Nach diesem Beifall trat eine große Stille ein.
Dann aber gaben sich die trefflichen Musiker gegenseitig einige Töne an, als ob sie ihre Instrumente stimmen wollten, und endlich spielten sie mit stets wachsender Stärke die Melodie zu dem Liedchen:
Max, der das Lied vorzüglich verstand, näherte sich und sagte mit einschmeichelnder Stimme:
»Ich bin ein armes, kleines Insektlein, welches bei den Herrschaften für diese Nacht um Aufnahme bittet.«
Da wiederholte ein einzelner Geiger den letzten Satz:
Unser Verbannter trat mit ausgestreckten Fühlern ein. Die Bewohner kamen ihm in derselben Haltung entgegen. Sie betrachteten ihn genau mit ihren Fühlern, um ihn kennenzulernen, und offenbar fanden sie an dem Fremdling nichts auszusetzen, denn dieselbe Stimme, die ihn eingeladen hatte einzutreten, redete ihn an:
»Ruhe bei uns aus, wie es dir gefällt, und fürchte nichts. Das gastliche Haus der Hummeln birgt keinen Verrat!«
Max dankte tief bewegt. Er kroch in ein Winkelchen und streckte mit Wonne die armen, müden Glieder aus, die so viel geleistet hatten.
Während der Nacht konnte unser Held verschiedene Konzerte von Baßgeigen hören. Er bemerkte auch, daß die Bewohner der Höhle stets mit schweren Schritten hin und her gingen und dabei unablässig brummten.
Stellt euch vor, mit welcher Neugier er den Morgen erwartete, um diese merkwürdigen Musikanten bei Licht zu besehen. Da erblickte er denn eine Anzahl wohlbeleibter, kugelrunder Tiere vor sich. Sie waren dicht behaart vom Kopfe bis zum Abschluß des Hinterleibes. Die Behaarung glänzte tiefschwarz und wurde nur unterbrochen von einer gelben Halskrause, einer gleichfarbigen Schärpe über den Rücken und ging am abgerundeten Ende des Körpers über in ein zartes Weiß. Am Bruststück trugen die Tiere zwei Paar Flügel, ähnlich denen der Wespen.
»Was für reizende kleine Bären!« lobte Max.
Sie hatten ja wirklich etwas Bärenartiges an sich, und doch waren es Insekten von milden, höflichen Sitten, voll Eifer für ihre Kinder, voll Zuneigung für ihre Familie, unermüdliche Arbeiter, die vom Morgen bis Abend beschäftigt waren, aus Blumen den Honigsaft für ihre junge Brut heimzuholen.
Baukünstler sind die Hummeln nicht, das sah Max sofort. Ein verlassenes Mausloch, einen von Ameisen noch nicht in Anspruch genommenen Maulwurfshaufen, einen schlangenförmigen Gang desselben Tieres oder sonstige Hohlräume im Erdboden und Steingeröll wählen die in der Erde nistenden Arten. Andere bauen ihr Nest zwischen Moos und Gras. Aber wenn auch am Hummelneste die Kunst fehlt, so herrscht drinnen dafür eine friedliche Eintracht. Im Hummelstaate arbeiten alle. Männer und Frauen führen das gleiche einfache, ehrliche Leben.
Die guten Hummeln! Immer leben sie zusammen in Frieden, immer brummen sie, und immer sind sie gegen alle Gutgesinnten lieb und artig, obschon sie ein so bärenhaftes Äußeres haben. Ein jeder mag daraus ersehen, daß man die Leute nicht nach dem Äußern abschätzen und beurteilen darf. Auch bei den Menschen birgt sich recht oft unter rauher und unansehnlicher Hülle ein edles, vornehmes Gemüt, wie auch im Gegensatz die Schönheit oft durch ihren inneren Unwert schwer enttäuscht.
Max, der rasch Freundschaft mit seinen Wirten geschlossen, fand bald Gelegenheit, alle ihre guten Eigenschaften kennenzulernen, von denen die Mildtätigkeit gegen Arme nicht die letzte ist.
Gerade als er seine Dankbarkeit für die gewährte Aufnahme äußern wollte, erschien am Eingang der Wohnung ein haariges, schwarzes, geflügeltes Insekt, welches einer Hummel glich, aber dessen Sprache doch die Zugehörigkeit zu einer andern Sippe verriet. Es bettelte bescheiden:
»Gebt doch einer armen, erwerbslosen Maurerbiene eine kleine Unterstützung!«
Dann erzählte das Tierchen seine Jammergeschichte.
»Ich bin eine Mörtel- oder Maurerbiene. Seit zwei Tagen arbeite ich an meinem Nest, das ich an der äußeren Wand einer Menschenwohnung anlegte. Da kam eine Schwesterbiene von jener berüchtigten Art, die man ja leider kennt, und reizte mich durch ihre unverschämten Ansprüche an meinen mühsam erworbenen Besitz. In einem wilden Kampf um meine Rechte zog ich den kürzern, und die Freche bemächtigte sich meines fast fertigen Nestes. Übel zugerichtet, mußte ich fliehen und finde jetzt nicht einmal mehr die Kraft, ein wenig Honig zu sammeln; darum wende ich [132] mich an euch, ihr guten Hummeln, daß ihr mir ein wenig zu essen gebt.«
Von ihrer Darstellung ergriffen, bereiteten ihr die braven Leute sofort ein ausgiebiges Frühstück, an dem auch Max sehr gern teilnahm, denn sein Magen brummte bereits, als ob er selber eine Hummelgeige geworden wäre. Nach dem Essen flogen die Hummeln alle weg, um draußen Honig zu sammeln. Die Maurerbiene hatte sich herzlich bedankt und wollte auch fortgehen. Da trat Max, auf den ihre Geschichte tiefen Eindruck gemacht hatte, zu ihr hin und sprach:
»Höre, dir ist ein Unrecht geschehen, das ich wieder gutmachen möchte.«
Max hatte von seiner Mutter oft gehört, daß es Pflicht eines jeden Ehrenmannes sei, sich für den Schwachen zu verwenden, wenn er der rohen Gewalt ausgesetzt ist, und daß es sich gehört, das gute Recht gegen jeden Unterdrücker zu verteidigen.
»Wo ist dein geraubtes Nest?« fragte Max.
Die Biene schüttelte traurig den Kopf und sprach:
»Wenn ich selbst es nicht verteidigen konnte mit meinem spitzen Stachel, so bleibt wenig Hoffnung, liebe Ameise, daß du mir helfen könntest, es zurückzuerobern. Doch will ich es dir für alle Fälle weisen. Mein Nest ist an der Vorderseite eines Hauses, das in gerader Richtung vor uns liegt. Es ist ziemlich weit von hier; man erkennt es an einer großen Rebe, die sich an seinen Mauern bis unters Dach emporrankt.«
Damit flog die Maurerbiene mit einem Seufzer fort und hörte nicht mehr auf Max, der vor Aufregung kaum fragen konnte:
»Ist es eine Muskatellerrebe?«
Es mußte sicher die Muskatellerrebe sein. Das Haus, an dem die Biene ihr Nest gemauert hatte, mußte seine Heimat sein.
Weshalb denn? Nun deshalb, weil Max sich nach dem Nest der Maurerbiene erkundigt hatte, um ein gutes Werk zu tun. Gute Taten aber lohnen sich immer. Und noch ein anderer Grund: Max hatte an seine Mutter gedacht, sich ihrer Mahnungen erinnert und war jetzt voll Eifer, sie zu befolgen. Wenn ein Kind sich so gut benimmt, kommt immer etwas Rechtes dabei heraus.
»Ich scheide nun«, sagte Max zu den Hummeln, »mit einem Herzen voll Dankbarkeit gegen euch. Ihr seid liebe Geschöpfe, und eure Güte ist so groß, daß ihr selbst nicht wißt, wie vielen Unglücklichen ihr mit euren Wohltaten Trost spendet. Denn seht, die Barmherzigkeit, die ihr an der armen Maurerbiene übtet, bringt mir das unnennbare Glück, meine Heimat wiederzufinden. Darum muß ich euch doppelt dankbar sein!«
Max hatte recht. Das ist die wunderbare Kraft der Nächstenliebe, daß ihre Wirkungen weiter gehen, als jene ahnen, die Gutes tun. Darum erntet auch ein Mensch, der seine Mitmenschen wirklich liebt und dem Bedürftigen Wohltaten spendet, so vielen Dank, und der Segen der Armen und Notleidenden strömt ihm zu und beglückt ihn wie den Wanderer der Duft der Blüten, ohne daß er selbst wüßte, wie er so viel innere Freude verdient hätte. Voll Mut und Vertrauen folgte also Max dem Weg, den ihm die Biene angewiesen hatte. Er ging, ohne sich zu verweilen, rüstig vorwärts. Die Straße war gut, und kein Hindernis stellte [134] sich ihm diesmal in den Weg. Als er fast den ganzen Tag marschiert war, befand er sich endlich vor seinem Hause.
Es war wirklich sein Haus. Wer könnte beschreiben, liebe Kinder, mit welchen Gefühlen Max die zwei Stufen emporkletterte, die er an jenem denkwürdigen Julimittag, mit der lateinischen Grammatik in der Hand, in Gesellschaft der Geschwister herabgestiegen war!
»Was ist aus Moritz und Therese geworden?«
Das war eine brennende Frage, auf die er keine Antwort wußte.
Erfährt er etwas darüber, wenn er ins Haus eintritt? Aber so groß auch sein Verlangen war, erst wollte er der Biene, die ihm unverhofft so unendlich nützlich gewesen war, sein Versprechen einlösen.
Es war ihm wie ein Gelübde, das er zu erfüllen hatte. Er krabbelte an der geschlossenen Haustüre hinauf, lief kreuz und quer an der Vorderwand des Hauses herum, um das Nest zu finden, das er wiedererobern wollte. Ganz oben, unter dem Dache, sah er ein solches, das sicher von einer geschickten und starken Maurerbiene gebaut worden war. Es bestand aus Tonerde und sah sich von außen an wie ein schwach gebogenes Rohr, das aus der Mauer herauswächst. Eben schlüpfte eilig ein geflügeltes Insekt hinein, das eine arme Raupe mit den Vorderbeinen an seine Räuberbrust drückte und mithineinschleppte. So rasch er konnte, rannte Max zum Eingang der Röhre und rief hinein:
»Ist jemand zu Hause?«
Sofort ließ sich im Innern ein zorniges Kreischen und Schelten hören. Gleich darauf erschien die rechtmäßige Besitzerin an der Schwelle des wohlgebauten Häuschens.
Wäre unser Held nicht rasch beiseitegetreten, das Insekt, blind vor Zorn, hätte ihn über den Haufen gerannt. Das Nest, an das Max geraten war, gehörte einer Mauer-Lehmwespe. Diese ist ein kräftiges Insekt, dabei aber mißtrauisch und zornwütig im höchsten Grade. Nur wenig entfernt von dieser Stelle erblickte Max ein anderes Gebäude, das von außen genau aussah wie eine Handvoll Schlamm, der an die Mauer gepappt war. Als er es aber näher betrachtete und sich dabei der Beschreibung erinnerte, die die Biene ihm von ihrem Haus gemacht hatte, erkannte er, daß er jetzt gefunden hatte, was er suchte. Er entdeckte den Eingang, näherte sich ihm und hörte jemand drinnen summen. Mit Geduld bewaffnet und seine scharfen Zangen in Bereitschaft, stellte er sich hier auf und wartete. Die Sonne war schon untergegangen, und Max stand seinem Worte getreu noch da, um den Dieb, sobald er herauskäme, zu fassen. Endlich kam das Gesumme näher, die Biene zeigte sich an der Türe des geraubten Hauses. Mit sicherem Sprung saß er ihr auch schon auf dem Rücken, ergriff sie mit den Kieferzangen beim Kopf, umschlang mit vier Beinen ihre Flügel und den Leib, und wie er sie so kräftig unter sich gebracht hatte, daß sie sich nicht mehr rühren konnte, sagte er spöttisch:
»Sie entschuldigen wohl gütigst, ich komme nur, um den Mietzins für das Haus einzutreiben.«
Die Biene drohte mit ihrem Stachel. Aber Max biß ihn schnell mit seinen Zangen ab und rief dazu:
»Tut mir leid, aber es muß sein. Sie haben keine Erlaubnis, Waffen zu tragen!«
Auf diese Weise hatte er sie unschädlich gemacht; jetzt ließ er sie los und sagte ihr verächtlich:
»Mach', daß du schleunigst fortkommst, und lasse dich hier nicht mehr sehen. Sei froh, daß ich dir nur den Stachel nehme. Ohne ihn wirst du deine frechen Räubereien in Zukunft wohl unterlassen.«
Die freche Landstreicherin verlangte nichts mehr und flog davon. Max aber vernahm eine Stimme:
»Du liebe Ameise, laß dich umarmen!« Sie kam von der rechtmäßigen Nestbesitzerin. Diese war von den Hummeln weggeflogen und hatte schon wieder angefangen, sich in der Nähe ein neues Nest zu bauen. Aufmerksam geworden durch die laute Zänkerei, war sie zufällig Zeugin des ganzen Vorfalls zwischen Max und der bösen Biene gewesen.
»Siehst du, daß ich fähig war, mein Versprechen zu halten?« sagte Max. »Jetzt kannst du wieder dein Haus beziehen ohne Furcht und Bangen, und deine Feindin wird dir die Arbeit nie mehr vereiteln.«
Hierauf krabbelte unsere brave Ameise die Mauer hinab und ging der Haustüre zu. –
»Und die Muskatellertrauben?« so werden die Leser mit wässerigem Mund fragen.
Nun, die bleiben, wo sie waren.
Maxens Sinnen und Trachten war ganz darin aufgegangen, der armen Maurerbiene zu ihrem Rechte zu verhelfen. Als er das getan hatte, fühlte er nur den einen Drang, in sein Haus hineinzukommen. Darum fiel es ihm heute auch gar nicht ein, die Muskatellertrauben zu versuchen, an denen er früher als Kind tagtäglich genascht hatte.
»Endlich!« stöhnte der entthronte Kaiser Butziwackel I. bewegt, »endlich kann ich sagen: Zu Hause!«
Aber wie ihr wohl schon längst bemerkt habt, hatte unser Freund den Fehler, die Dinge immer zu leicht zu nehmen. Auch diesmal mußte er leider bald erfahren, daß es nicht so einfach ist, in ein geschlossenes Haus einzudringen, auch wenn man ein winzig kleines Tierchen geworden ist.
Es sei zunächst gesagt, daß der Schreiner die Haustüre so genau eingepaßt hatte, daß weder an den Pfosten noch auf der Schwelle ein Spältlein zu finden war. Und Max suchte doch mit unendlichem Fleiß.
Er versuchte, durch das Schlüsselloch zu kommen, aber auch hier ging es nicht, denn innen am Schlüsselloch war ein Messingschildchen, und er mußte wohl oder übel wieder umkehren, nachdem er vergebens im Schloß herumgekrabbelt war.
Da kam ihm der Gedanke, wieder an den Mauern hinaufzuklettern, um zu sehen, ob er vielleicht durch ein Fenster hineinkäme; doch gab er den Plan gleich wieder auf.
»Auch die Fenster werden fest verschlossen sein«, dachte er, »denn in dieser Stunde schläft alles in meinem Hause.«
Ganz trostlos lief unser Butziwackel vor der Türe hin und her. Er, der einst so viel von künftiger Größe geträumt hatte, wünschte jetzt zum ersten Male, noch viel kleiner zu sein, als er schon war. Da gewahrte er beim Mondlicht ein ganz kleines Löchlein in der Haustüre, wie es ein Holzwurm ins Holz zu bohren pflegt.
»Ha, am Ende kann ich auf diesem Wege in mein Haus gelangen«, sagte er für sich und machte gleich den Versuch.
Weil das Löchlein schrecklich eng war, nagte er am Rande mit seinen Kieferzangen so lange, bis er durchschlüpfen konnte. Je weiter er vorwärts kam, desto breiter und bequemer wurde der Weg. Es war ein vielgewundener, dunkler Gang, der manchmal anstieg, manchmal abfiel und voll Sägemehl lag, das jedenfalls von dem unbekannten Bewohner dieses Ortes hier angehäuft worden war.
»Wer weiß«, dachte Max, »was für ein Kauz das sein mag, der sich damit vergnügt, meine Haustüre durchzunagen!«
So schritt er, immer vorsichtig mit den Fühlern tastend, voran, um allenfalsigen Überraschungen zuvorzukommen. Nach einem guten Stück Weges hielt er an. Vor ihm lag etwas Weiches, Zartes, das die Straße versperrte.
Zugleich ließ sich im Finstern eine Stimme hören, die sprach:
»Oho! Wer kratzt mich denn dahinten?«
So unglaublich das bei Maxens Veranlagung erscheint, diesmal machte er zunächst eine weise Überlegung.
»Dieser Herr«, so sagte er sich, »ist also hinten sehr zart; aber sein Kopf muß erschrecklich hart sein, sonst könnte er nicht Haustüren durchnagen. Darum wird es sich empfehlen, mit ihm zu verhandeln, ehe er sich gegen mich umdrehen kann.«
Er faßte mit den vier Beinen, die er noch hatte, den weichen, zarten Körper, zwickte ihn ein ganz klein wenig mit seinen Zangen und sagte listig:
»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich vielleicht störe.«
»Au, au, du bringst mich ja um!«
»Das könnte schon geschehen; aber glaube mir nur, gerne täte ich es nicht.«
»Gestatte doch wenigstens, daß ich mich umdrehe!«
»Das ist gar nicht nötig, wir können auch so ein paar Worte zusammen plaudern.«
»Aber wer bist du denn, was willst du?«
»Sehen Sie, verehrter Herr, ich bin eine bescheidene, kleine Ameise, aber wie Sie bemerkt haben, bin ich wohl imstande, Sie mit einem einzigen Biß in zwei gleiche Teile zu zerlegen.«
»Um Gottes willen.«
»Nur nicht erschrecken! Was ich von Ihnen wissen will, ist fürs erste dies: Wenn ich Ihnen nichts zuleide tue, darf ich dann hoffen, daß auch Sie Ihre Waffen nicht gegen mich gebrauchen? Nebenbei gesagt, ich habe hohe Achtung vor Ihrem Handwerkszeug und beglückwünsche Sie.«
»Ich verspreche, daß ich dir nichts Böses tue.«
»Auf Insektenehrenwort?«
»Ich beschwöre es dir bei der Ordnung der Hautflügler, zu denen ich mich rechne.«
»Ah, da schau!« rief Max überrascht aus, »dann können wir im vollsten Vertrauen miteinander reden, denn ich gehöre auch zu deiner Familie.«
Sowie sich der Unbekannte frei fühlte, wendete er sich um, und Max fühlte statt des weichen Körpers einen Kopf vor sich, der in eine hornharte Spitze ausging.
»Jetzt könnte ich dich zu Mehl zerreiben«, sagte der Besitzer dieses Kopfes, »aber ich gab mein Ehrenwort. Auch stehe ich gerade vor einem neuen, bedeutsamen Abschnitt meines Lebens und will das gegebene Wort nicht brechen.«
»Das ist ein sehr guter Entschluß.«
»Aber erkläre mir, wie bist du in meine Wohnung eingedrungen?«
»Ich bin in dein Haus eingedrungen, um in das meine zu gelangen. Mit einem Wort, ich muß durch diese Türe hindurchkommen.«
»Für jetzt ist das unmöglich. Der Gang ist hier zu Ende.«
»Ach, könntest du die Türe nicht gerade durchbohren? Du bist doch so geschickt!«
»Das werde ich allerdings bald tun müssen. Immer näher rückt die feierliche Stunde. Gebe Gott, daß alles gut geht!«
Die rätselhaften Worte eines Unbekannten an solch finsterem Ort erweckten in Max eine Riesenneugierde; er konnte nicht länger schweigen und fragte:
»Sage mir doch endlich, mit wem ich es eigentlich zu tun habe, und erkläre die Rätsel, die du mir fortwährend aufgibst, seit ich mit dir rede.«
Der Unbekannte schwieg einen Augenblick, dann begann er feierlich:
»Ich bin der Sirex juvencus , die Kiefernholzwespe. Durch den Instinkt, den wir Insekten alle haben, fühle ich, [141] daß die Stunde meiner Verwandlung gekommen ist. Ich weiß, daß ich in kurzer Zeit ein großes, schönes Insekt sein werde, das in der Luft fliegen kann. Seit mehr als einem Jahr lebe ich hier innen. Meine Mutter legte das Ei in dieses Tannenholz, und ich arme Larve habe, kaum dem Ei entschlüpft, bohren und graben müssen, bohren und bohren immerzu. Je größer ich wuchs, desto breiter mußte ich meinen Gang höhlen. Nach so viel Arbeit bin ich endlich so weit, die Früchte meines Fleißes zu genießen. In kurzem werde ich einschlafen, werde mich in eine Puppe verwandeln, um aus ihr als vollkommenes Insekt hervorzugehen. Um aber ins Freie zu kommen, muß ich mir erst einen Ausgang schaffen, weil ich nicht zurückgehen kann; denn der Gang, den ich gegraben, als ich noch kleiner war, ist jetzt, da ich groß geworden bin, viel zu eng für mich. Du siehst, wie richtig ich sage, daß ich vor dem bedeutsamsten Augenblick meines Lebens stehe.«
Max konnte seine Bewunderung für diesen geschickten Holzbohrer nicht verbergen. Er wollte sich aber das Ansehen eines weitgereisten Insektes geben, deshalb sagte er:
»Ich möchte dich doch darauf hinweisen, daß ich noch stärkeren Nagern begegnet bin als dir. Ich habe sogar eine Freundin, die Gallwespe, die versteht es, Kugeln auf Eichenblättern zu durchbohren, die härter sind als ein Zwetschgenkern.«
Die Holzlarve lächelte überlegen, drehte sich um und begann von neuem zu nagen. Das von dem starken Werkzeug des Insektes erfaßte Holz stäubte wie ein Sägemehlregen umher, während sich der Gang rasch verbreiterte und verlängerte.
Auf einmal unterbrach die Larve ihre Arbeit, und es war Max, als ob sie murmelte: »Nein, das wäre doch niederträchtig!«
Dann bohrte sie wieder wütend weiter, aber plötzlich rief sie:
»O ich Unglückselige!«
Max drängte sich zu ihr.
Die arme Larve war an der Grenze der Holzschicht angekommen und murmelte unverständliche Worte.
»Was ist geschehen?« fragte Max besorgt.
Die andere ließ den Kopf sinken und sprach mit schwacher Stimme:
»Das ist kein Holz, was mir den Ausgang verschließt.«
Max untersuchte die Wand. Das Ergebnis brachte ihn zur Verzweiflung.
Er stand mit seinem Holzbohrer vor dem inneren Eisenbeschlag der Türe.
Das war eine traurige Lage.
Diese arme Larve hatte mehr als ein Jahr gearbeitet, um sich für die Stunde ihrer Verwandlung einen Ausweg zu verschaffen; und jetzt, wo es gerade am schönsten geworden wäre, war sie vor eine Metallwand geraten.
»Was tun?« fragte der ängstlich zuschauende Max mit Herzklopfen. Die Wespenlarve aber schüttelte mit aller Seelenkraft ihren Ärger ab, nahm sich fest zusammen und rief sich selber Mut zu:
»Nur nicht nachlassen, nicht verzagen! Ich muß durchkommen, ich fühle, daß ich keine Zeit zu verlieren habe.«
»Wirst du umkehren? Einen neuen Weg suchen?«
»Umkehren? Was fällt dir ein! Ich nage das Metall durch«, so sprach sie in stolzem Trotz.
Max schaute recht verblüfft darein. Sein Staunen wurde immer größer, als er auch schon ein Geräusch hörte, wie wenn eine Feile rasch und gleichmäßig über Metall raspelte. Wahrhaftiger Gott, die Larve durchbohrte das Eisen! Wenn unser Freund gewußt hätte, daß berühmte Naturforscher beobachteten, wie diese Insekten drei Zentimeter dicke Bleiwände durchlöcherten, hätte er sich nicht so maßlos gewundert.
»Diese Holzwespe kann noch mehr wie meine Freundin, die Gallwespe«, rief Max, »dieser Leistung gegenüber bedeuten die Holzkugeln nicht viel. Lieber Freund«, scherzte er, »du könntest wirklich mit dem Kopf die dicksten Mauern einrennen, ohne dir den Schädel zu zertrümmern.«
»Spaß beiseite«, erwiderte fast außer Atem die abgearbeitete Larve, »für mich handelt es sich jetzt um Leben oder Tod. Hier sterben, im Dunkeln, in dem Augenblick, der mich frei in den Lüften finden sollte, das will mir nicht in den Sinn!«
»Willst du deine Verwandlung hier abwarten?«
»Ja, ich habe dazu Ruhe nötig; denn in kurzer Zeit bin ich Puppe, um aus ihr schön und vollkommen zu erstehen. Aber der Durchgang ist offen, willst du nicht ins Haus eintreten?« Sie wies mit artiger Bewegung an das Löchlein, das ihr das Tor zum Leben bedeutete.
Max dankte mit innigen Worten:
»Wenn ich dir irgendwie einmal nützlich sein kann«, sagte er, »so soll mir das eine Freude sein!«
»Danke, gönne mir jetzt Ruhe!«
Max kroch durch die Öffnung im Beschlag und lief an der inneren Türseite hinab, bis er sich auf der Diele des [144] Hauses befand. Sobald er den Fußboden erreicht hatte, fing er vor Befriedigung zu tanzen an und sang dazu:
»Ich bin daheim, ganz nahe bei lieb Mütterlein!«
Wie trieb ihn die Sehnsucht, sie wiederzusehen! Er rannte in der Finsternis nach allen Enden herum, um die Türe zum Zimmer zu suchen. Ein Hindernis im Wege hemmte seinen Lauf. Es lag da ein Apfelbutzen, der durch irgendeine Unachtsamkeit am Boden liegengeblieben war. Mit seinen Beinen hätte Max leicht darüber wegkommen können, aber wer mit dem Vorbeilaufen nicht einverstanden war, das war der Magen. Der brummte so heftig, als wollte er das Baßgeigenkonzert wiederholen, das seit dem schönen Frühstück bei den guten Hummeln verstummt war. So machte sich denn das hungrige Ameislein ohne viel Federlesens ans Essen, wobei alte, schöne Erinnerungen erwachten. Mit innigem Wohlbehagen sprach er kauend vor sich hin:
»Äpfel waren immer meine Leibspeise, aber erst jetzt weiß ich, daß sogar der Butzen noch ganz vorzüglich schmeckt.«
Geraume Weile speiste er und ließ sich's wohl sein; hatte er doch seit frühem Morgen nichts mehr gegessen, und nachdem er den Versuchungen der Muskatellertraube so männlich widerstanden hatte, war ihm der Genuß, besonders nach den Gemütsaufregungen im finstern Wespengang, schon recht zu gönnen. Zu all dem brauchte er jetzt keine Angst mehr auszustehen, die Richtung zu verlieren, deshalb entschloß er sich, sich mit Seelenruhe die ganze Nacht dem süßen Apfelbutzen zu widmen. Bei Tage wollte er dann die Zimmer besuchen.
Endlich brach ein schwacher Lichtschein durch den herzförmigen Ausschnitt des geschlossenen Fensterladens, und beim Klappern eines nahenden Trittes ließ Max geschwind [145] die Reste seiner Mahlzeit im Stiche. Franziska, das Zimmermädchen, kam, um wie an jedem Morgen die Fenster zu öffnen. Da hörte Max ein eigenartiges Geräusch und gleich dazu einen Schreckensschrei. Was war denn geschehen? Das konnte keiner erraten. Durch ein Löchlein im Türbeschlag war ein großes Insekt herausgeflogen. Sein Körper glänzte wie aus blauem Stahl, es hatte rötliche Schenkel, gelbe Flügel und ungebrochene Fühler, die nach vorne gerichtet waren und sich mit der Spitze ein wenig in die Höhe bogen.
Franziska hatte bei dieser überraschenden Erscheinung einen Schrei ausgestoßen. Jetzt ergriff sie den Wischlappen, den sie an die Schürze gesteckt hatte, und machte mit diesem eine unbarmherzige Jagd auf den seltenen Eindringling, der in Todesangst einen Ausweg suchte. Max erkannte sofort seine neu ausgeschlüpfte Holzwespe und hörte sie verzweifelt rufen:
»O Ameise, hilf mir doch!«
Sofort wußte Max, was zu tun war. Er kletterte wie der Blitz über Franziskas Schuh empor bis zum Strumpf, drang mit dem Kopf zwischen zwei Maschen hindurch und zwickte, so kräftig er nur konnte, Franziska gerade in dem Augenblick in die Haut, als sie mit dem Staubtuch das arme Insekt erschlagen wollte. Sie stieß einen lauten Schrei aus und ließ das Tuch fallen. Indessen flog das geängstigte Tier zum Fenster hinaus und rief:
»Ameise, du hast mir das schöne Leben gerettet! Nie werde ich dich vergessen!«
Max hatte sich rasch auf den Boden fallen lassen und lief eiligst davon. Franziska aber juckte heftig an ihrem Bein und rief:
»Diese verwünschten Flöhe!«
Max war recht froh, der guten Holzwespe seine Dankesschuld abgestattet zu haben. Er hatte dabei Geistesgegenwart gezeigt und war jetzt stolz und zufrieden mit sich selber. Aber Menschenfüße flößten ihm wenig Zutrauen ein, und da man im Hause nach und nach verschiedene Schritte hörte, verkroch er sich vor Angst, zertreten zu werden. Lieber kletterte er eine Wand hinauf, als noch länger einer solchen Gefahr ausgesetzt zu sein.
»Nein«, dachte er, »wenn der Mensch, dieses Untier, wüßte, welche wunderbaren Formen und Lebenskräfte in uns kleinen Wesen verborgen sind, wäre er beim Gehen gewiß vorsichtiger, um uns nicht zu zerdrücken.«
Im anstoßenden Zimmer ließen sich jetzt Stimmen vernehmen. Um besser sehen zu können, stieg Max an der Wand empor auf den Kleiderrechen. Hier nahm er auf dem Rand eines großen Filzhutes Platz und sagte leise und fröhlich vor sich hin:
»Von hier aus beherrsche ich das ganze Zimmer. Gleich werden sie alle zum Frühstück erscheinen, ich werde sie sehen und hören, was meine Lieben sprechen!« Gleich darauf trat sein Onkel Walter ein. Wie bewegt betrachtete ihn Max, aber seine Bewegung kehrte sich in Schrecken, als er ihn sagen hörte:
»Franziska, den Hut abbürsten, ich will in die Stadt gehen!«
Max erschauderte. Der Hut wurde abgenommen; die Krempe erzitterte unter seinen Füßen. Bei jedem Bürstenstrich erwartete er, mitsamt dem Staub weiß Gott wohin geschleudert zu werden. Ach, vielleicht wäre es so besser [147] gewesen! Glücklicherweise aber nehmen es Zimmermädchen meistens nicht besonders genau mit dem Ausbürsten der Kleider ihrer Herrschaft. Franziska fand den Hut halb gebürstet sauber genug.
So war Max wieder einmal gerettet; allein er lebte jetzt von der Gnade eines Hutes, und dieser wieder war abhängig von Onkel Walter. Ging dieser spazieren, so mußte Max unbedingt mit ihm ausgehen.
»Einerlei«, dachte er ohne weitere Sorge. »Zwingt er mich jetzt zum Spaziergang, so muß er mich auch wieder heimtragen.« Leichtfüßig und leichtherzig spazierte er inzwischen den Hutrand entlang.
Leider aber machte Max die Rechnung ohne seinen Lateinprofessor. Dieser Spielverderber mußte ihm jetzt sogar noch sein Ameisenleben verpfuschen!
Nicht weit entfernt vom Landhaus wurde Max durch einen Schwung vom Hutrand unsanft im Bogen zur Erde geschleudert. Onkel Walter hatte vor dem Lateinprofessor, der des Weges kam, in größter Hochachtung seinen Hut tief gezogen. Er konnte ja nicht ahnen, daß er dabei seinem lieben Neffen einen solchen Schabernack spielte.
Max erholte sich leichter von seinem Fall als von dem Schrecken über sein Mißgeschick und rief zornbebend aus:
»Dieser greuliche Professor! Wenn ich meine Holzwespe treffe, sage ich ihr, sie möge ihm ein Loch in seinen Kopf bohren.«
Unser Held war ganz außer sich, sonst hätte er so etwas Böses keinesfalls gesagt. Man muß aber gerecht sein, diesmal hatte er wirklich großes Unglück.
Nach harten Mühen, gefährlichen Abenteuern, nach so vielen überstandenen Gefahren war er endlich in seinem [148] Hause angelangt. Nun sah er sich durch einen unglücklichen Zufall vom schwer erreichten Ziel weiter als je entfernt. Er lag mit den Beinen in der Luft auf dem Erdboden eines unbekannten Ortes; allem nach wird es ihm unmöglich sein, sich zurechtzufinden. Da vernahm er eine Stimme in der Nähe:
»Noch nie in meinem Leben habe ich ein Insekt ohne Flügel so kühne Purzelbäume schlagen sehen! Wäre einer von uns aus solcher Höhe abgestürzt, mit den Beinen nach oben, der hätte nicht so leicht wieder krabbeln können!«
Das waren sonderbare Geschöpfe, die mit solchen Bemerkungen das Unglück unseres Freundes besprachen. Max konnte ein lautes Oho! der Verwunderung nicht unterdrücken, als er ihrer ansichtig wurde. Es waren Ameisen, ganz sicher, aber so merkwürdige, wie Max sich solche nicht im Traume vorgestellt hätte. Ganz gelb, mit mächtigem Hinterleib und schauderhaft dickem Bauch.
»Woher kommt ihr, dickbäuchige Schwestern?« rief Max sie an.
»Weither wie du«, sagte eine lachend. »Du kommst aus schwindelnder Höhe, wir aus weiter Ferne.«
»Ei, woher denn?«
»Aus Mexiko.«
Max glaubte, die Ameisen wollten ihn zum besten haben, und schon wollte er entsprechend erwidern, als eine sagte:
»Schwestern, macht weiter, es ist Zeit zur Heimkehr, die Sonne kommt!«
Die fremden Ameisen trotteten ihres Weges. Langsam schleppten sie sich mit ihren dicken, gelben Bäuchen vorwärts, und unser Freund folgte ihnen ohne Bedenken, er hätte gar nicht anders gekonnt; erstens wollte er zu gern Näheres [149] über sie erfahren, und dann wußte er im Augenblick nichts Besseres anzufangen. Langsam erkletterte er mit den Gelben eine Anhöhe, auf deren Gipfel sich ein kleiner, sandiger Erdhaufen erhob, wahrscheinlich ihr Nest. Und richtig standen am Eingange des Sandhügels drei Ameisen Wache, doch waren diese schlank und ohne jenen unförmigen Bauch.
Die Wachen begrüßten die Ankommenden mit freundlichem Zuruf:
»Willkommen, Schwestern! Wie seid ihr schwerbeladen!«
Sogleich bemerkten sie auch Max, der heimlich hinter ihnen herschlich, und riefen ihn scharf an:
»Wer ist der Fremde? Woher kommt er? Ausweis zeigen!«
Max trat sofort offen vor, grüßte militärisch die drei Schildwachen und sagte würdig:
»Ich bitte euch, erkennt mich als zu euch gehörig an, ohne euch an meiner schwarzen Farbe zu stoßen. Gestattet meine Anwesenheit in eurem Hause, in Anbetracht dessen, daß ich keine feindlichen Absichten hege.«
Diese feine Rede, namentlich die Wendung »in Anbetracht dessen«, machte großen Eindruck auf die Schildwachen, und in gemildertem Ton erwiderten sie:
»Was hast du dann für Absichten?«
»Vernehmt also«, nahm Max seine Rede sprachgewandt wieder auf, »ich bin so, wie ihr mich seht, eine arme Ameise, die ihres Landes verbannt ist infolge eines traurigen Krieges. Ich bin allein, und ihr habt nichts zu befürchten. Mein einziger Wunsch ist zu wissen, wer ihr seid, woher ihr kommt, und welche Gebräuche ihr übt, daß ich sie nach ihrem Werte schätzen lerne.«
Diese schmeichelhafte Rede verfehlte ihren Eindruck nicht. Die Wachen zogen sich zu einer kurzen Beratung zurück, in der beschlossen wurde, dem Fremdling zwar die Erlaubnis zum Eintritt und einer Besichtigung zu geben, doch ihm vorsichtshalber eine einheimische Ameise zur Begleitung beizugesellen. So stieg Max in den trichterförmigen Eingang des Sandhügels hinab, der in der Mitte des Baues gelegen war. Von der weiten Öffnung führte die Trichterröhre senkrecht zum ersten Stockwerk des Baues. Max sagte seiner Führerin viel Schönes über die kunstvollen Anlagen des geräumigen Hauses, dessen Herstellung von großer Mühe und Sorgfalt zeugte; denn die bröselige Erde erschwerte das Ausheben von Höhlen und Gängen, weil sie gar zu leicht nachrutschte. Durch einen senkrecht geführten Schacht ging es zum unteren Stockwerk, das aus zehn großen Kammern bestand, deren Wände nicht mehr so schön glatt waren wie oben. Max hatte aber kaum mehr ein Auge für so etwas Nebensächliches, denn in diesen nur schwach beleuchteten Zimmern befand er sich vor einem derartig befremdenden Schauspiel, daß er unwillkürlich ausrief:
»Ja – träume ich denn?«
»Träumen?« meinte verwundert die Führerin. »Unsere vollen Honigtöpfe sind gottlob keine Träume!«
Festgeklammert an der Wand jedes Raumes saßen da oder hingen vielmehr etliche dreißig Ameisen. Ihr ungeheurer Bauch glänzte durchscheinend gelb wie ein dicker Öltropfen.
»Volle Honigtöpfe?« stammelte erstaunt Max, der die Augen nicht davon abwenden konnte.
»Freilich, deine große Verwunderung verrät deine Unkenntnis! Ihr andern Ameisen habt eben keine Ahnung [151] von der gediegenen Einrichtung unseres Ernährungsamtes und unserer wirtschaftlichen Umsicht. Wir sind mexikanische Ameisen«, sagte sie ein wenig hochmütig, »und befinden uns nur zufällig in diesem Lande. Weißt du, in einem jener Ungeheuer, in denen die Menschen über die großen Wasser fahren« – sie meinte natürlich Ozeandampfer und Kauffahrteischiffe – »wurden einmal bei uns in Mexiko Pflanzen verladen, in deren erdigen Wurzeln einige Insekten unbeachtet mit hieher reisten. Unter diesen war auch eine Mutter unseres Stammes, und diese begründete unser heute lebendes Volk und errichtete mit ihm dies Haus.«
»O!« rief Max, »kamen die fremden Ameisen vielleicht mit der mexikanischen Eiche an, die in einem Garten hierzulande steht?«
»Ganz richtig; mit einer wellblätterigen Eiche.«
Vor zwei Jahren hatte tatsächlich Onkel Walter eine solche Eiche geschickt bekommen und im Garten der Eltern gepflanzt. Welche Hoffnungen erwachten bei dieser Feststellung! Er war sicher nicht allzu weit entfernt von seinem Hause, in das zurückzugelangen sein heißes Sehnen war.
»Die wellblätterige Eiche«, fuhr die Führerin wie zur Bestätigung der hoffnungsfrohen Vermutung fort, »liefert uns unser tägliches Brot. Aus ihren Gallen, die ihr eine Gallwespe beibringt, sammeln die Ameisen, denen du nächtlicherweile begegnet bist, einen köstlichen Saft. So mächtig füllen sie sich davon an, daß sie den unförmig dicken Bauch bekommen und nur mühsam wieder heimziehen können. Hier angekommen, steigen sie an den Wänden empor, wo dann andere Kameraden sie bis zur äußersten Möglichkeit weiter füttern. So werden sie bis zum Rand gefüllte Töpfe.«
»Und bleiben sie immer so hängen?« fragte Max mitleidig.
»Versteht sich. Sie können sich nicht mehr rühren und haben auch weiter nichts zu tun, als die Nahrung für die Arbeiter aufzubewahren. Sie melden sich übrigens freiwillig zu ihrem Dienst, zu dem man eben berufen sein muß; ja, ja, schwer ist er schon!«
Max war in der Seele tief bewegt. Es gab also Ameisen, die Honigbehälter werden! Honig, nicht zum Selberessen, nein! Voll Entsagung stellen sie ihren eigenen Körper zur Verfügung; zum Wohle der Brüder sind sie lebende Vorratskammern.
Vielesserei ist also bei diesen Tieren wahrhaftig etwas anderes als bei den Menschen, die sich so zahlreich in garstiger Weise den Magen überfüllen.
Während er so dachte, konnte er selbst sehen, wie die gelben Ameisen, denen er begegnet war, sich anschickten, die bereits hängenden Genossen vollzustopfen. Sie päppelten ihnen einen Teil der gesammelten Nahrung ein und sagten dazu sich einander lustig zublinzelnd:
»Heute dir, morgen mir!«
»Willst du ein wenig von unserem Honig versuchen?« fragte die Führerin.
Das brauchte man Max nicht zweimal fragen. Mit Vergnügen ließ er sich von einer Ameise, die sich noch bewegen konnte, den süßen Saft einflößen. Wie schleckig er war! Ein wenig säuerlich von der darin enthaltenen Ameisensäure, aber dafür desto schmackhafter.
»Welche Wunder vollbringt die Schöpfung! Nun sah ich sogar lebendige Honigtöpfe.« So dachte Max, als er den Rückweg antrat. Er bedankte sich aufs herzlichste bei den drei Schildwachen und allen, die er kennengelernt hatte. Eben, als er sich verabschieden wollte, gellte der Schreckensruf von allen Seiten:
»Der Wendehals!«
Im selben Augenblick fühlte sich Max am Genick erfaßt, und mit drei Unglücksgenossen von Mexikanern wurde er durch die Lüfte getragen.
Eine Tatsache muß zunächst festgestellt werden:
Wenn Maximilian Butziwackel I., Kaiser des Einzelstaates der Rasenameisen und Thronanwärter des allgemeinen [154] Ameisenweltreiches, sein ehrgeiziges Ziel nicht erreichen konnte, geschah es nicht aus Mangel an hervorragender Geisteskraft oder entschlossener Willensrichtung. Sogar jetzt, wo er schon auf der Zunge eines Vogels klebte und gefangen saß im Schnabel eines unbarmherzigen Ameisenwürgers, kam ihm ein rettender Gedanke. Er kauerte sich, so klein er konnte, in seinen Hanfpanzer zusammen, und der Vogel, der statt Max nur mehr das Hanfkörnlein spürte, spuckte dies mißachtend aus, ahnungslos, welch eine gute Ameise da drinnen steckte. Der Wendehals begnügte sich also mit drei statt mit vier Opfern. Max fiel zur Erde, und diesmal segnete er seinen Absturz. Der Wendehals schüttelte gewohnheitsmäßig seinen Kopf und flog weiter, aber Max rief ihm voll heiligen Zornes nach:
»Elender Vernichter unseres edlen Volkes! Mögen die drei Mexikaner dir lebenslang schwer im Magen liegen bleiben!«
Er wandte sich hierhin und dorthin, um die Gegend zu besichtigen und sich zurechtzufinden. Wo war er? Das wußte er, vom Hause der ausländischen Ameisen war er noch nicht weit entfernt, und dies lag ja nahe bei der wellblättrigen Eiche. Diese wieder war dem Hause benachbart, von dem er losgerissen war, und in das er sich unendlich zurücksehnte. Trotz aller dieser richtigen Schlußfolgerungen gelang es ihm doch nicht zu bestimmen, wohin er sich zu wenden habe, um sein Ziel zu erreichen. So lief denn Max ratlos hin und her und kam zu einer Hecke wilder Rosen.
»Da hinauf will ich klimmen, denn von solch hohem Standpunkt aus läßt es sich weit ins Land schauen.«
Gesagt, getan. Er stieg und stieg, schaute von Zeit zu Zeit genau umher, ohne aber irgend etwas Genaues auszukundschaften. [155] Als er die höchststehende Rose erreicht hatte, hielt er an und atmete den süßen Duft ein, der seine Seele mit lindem Trost erfüllte.
Doch was spielte sich denn da im Innern der Rose ab? Max vergaß die Lust am Dufte, denn seine ganze Aufmerksamkeit wurde von einer schönen Biene gefesselt, die im Schoße der Blume mit geschäftiger Emsigkeit arbeitete.
Die Biene leckte mit sichtlichem Vergnügen an den Staubfäden der Blume und steckte dabei ihren Kopf tief in den duftenden Kelch. Dann sammelte sie den Blütenstaub und sang eine fröhliche Weise dazu:
Bei diesem fröhlichen Liedchen erzitterte die Rose leise, und freigebig reichte sie dem goldigen Insekt gerne ihre Staubfäden dar. Als ein schöner Vorrat gesammelt war, stieg die Biene aus dem Blumenkelch heraus und widmete sich, auf einem Rosenblatt stehend, mit höchster Sorgfalt [156] einer Arbeit, der Max mit Verwunderung zusah. Geschickt streifte sie mit den zwei Vorderbeinchen den Blütenstaub ab, der sich an den dichten Härchen ihres Körpers eingepudert hatte, nahm ihn mit den beiden mittleren Beinen auf, um ihn von diesen auf das dritte und hinterste Beinpaar zu befördern. Diese waren ein Wunder an Feinheit und Zweckmäßigkeit des Baues. Sie waren dicht behaart und gestalteten sich in ihrer Mitte zu einem kleinen Körbchen. Darein sammelte das emsige Tierchen die ganze Ernte des Blütenstaubes und trug ihn nach Hause. Der entzückte Beobachter rief nun laut aus:
»Frau Biene, Sie haben wunderbare Beine! Wissen Sie das?«
Die Biene aber wandte sich dem Störenfried ärgerlich zu und herrschte ihn an:
»Hast du sonst nichts zu tun als zu gaffen?«
Bei dieser Zurechtweisung fühlte Max, wie sein Blut kochte. Er vergaß allen Anstand und erwiderte gereizt:
»Ich tue, was ich will. Und du? Was machst du?«
»Ich tue jedenfalls Besseres, ich tue meine Pflicht. Ich bin übrigens erstaunt, daß eine Ameise sich erkühnt, auf zarten Blumen herumzutrampeln. Blumen sind unser Bereich!«
Bei solchen Verweisen konnte Max nicht mehr ruhig bleiben. Er schrie die Biene an:
»Dein Bereich? Ich möchte doch sehen, ob du andern Insekten verbieten kannst, an den Rosen zu riechen! Herumtrampeln! Da hört sich doch alles auf. Wie? Ich stehe da und bin niemand im Weg und soll Blüten zertrampeln? Und du? Du kommst her, um alles aufzulecken und auszusaugen, schleppst fort, was du schleppen kannst, noch dazu [157] in verborgenen Körben an den Hinterbeinen! Eine schöne Geschichte! Du Hamsterer du!«
Die Biene hatte während dieses Zornausbruches ihren Stachel mehrmals in der Scheide spielen lassen und leicht zu verstehende Zeichen damit gemacht. Schließlich aber bemeisterte sie ihren Verdruß und bemerkte kühl:
»Eine so einfältige Ameise habe ich noch nirgends getroffen, wie du bist.«
Ehe unser Freund antworten konnte, fuhr sie fort:
»Schwätzen hat keinen Sinn. Beweise will ich dir geben. Weißt denn du, was eine Blume eigentlich ist? Kennst du ihr geheimes Leben? Weißt du, daß sie atmet, schläft, leidet, sich freut, liebt und lebt wie wir?«
In seinem Ameisendasein hatte Max viele Wahrnehmungen gemacht, die ihm als Kind ferne lagen. Er hatte längst in den Kräutern, über die er lief, ein gewisses Leben und Bewegung entdeckt, die ein Mensch nie erfaßt; Lebenszeichen, für Menschenaugen allzu fein. Max hatte sich überdies nie gerne mit Pflanzen abgegeben. Darum war auch er an den feinen Äußerungen des Pflanzenlebens achtlos vorübergegangen. Die Worte der Biene eröffneten ihm eine neue Welt.
»Siehst du«, fuhr die Biene fort, »nun stehst du so einfältig da wie zuvor. Du weißt nicht einmal, daß die Blumen, wie du, Vater und Mutter haben; daß die Blumeneltern sich Blumenkinder wünschen, die so schön und duftend sind wie sie selbst. Aber die Blumen stehen festgewurzelt. Sie lieben sich und möchten einander viel erzählen und können es nicht. Wer trägt nun zum einen und andern die liebevollen Gedanken von Duft und die süßen Botschaften von Nektar, die reinen Küsse aus Blütenstaub? – [158] Wir geflügelten Insekten sind es, wir Bienen. Wir kennen sie alle, wir wissen ihre Geheimnisse, und wir sind die Liebesboten der verlobten Blumenpaare. Und sie sind froh und öffnen uns für diesen Liebesdienst ihre Blumenkelche, empfangen uns in ihrem Schoß und geben uns ihren Honig, den wir unsern Angehörigen heimbringen.«
Die geschäftige Biene summte von neuem ihr Liedchen, die Rose aber erbebte in froher Lust:
Max stand bewegt und ergriffen da. Die Worte der Biene, die beim Beginn der Darlegungen herb und spottlustig klangen, wurden im Laufe ihrer Rede liebenswürdig und sogar herzlich. Der aufgeregte Ton, der zu Anfang des Gespräches geherrscht hatte, war einer artigen und zarten Stimmung gewichen.
»Nein, wieviel des Schönen hast du erzählt!« nickte Max beifällig ihr zu.
Es zog ihn mächtig zu der lieben Biene, und er fragte sie:
»Wollen wir miteinander gut sein?«
»Gerne«, antwortete schlicht die Biene.
»Das ist lieb von dir! Um dir zu beweisen, wie sehr ich deine Freundschaft schätze, werde ich sofort die Rose verlassen, aber nicht wahr, du weihst mich noch in das Geheimnis ein, wie du Honig und Wachs bereitest?«
»Das ist nicht schwer für mich. Mit meinem Rüssel sauge ich die Honigdrüse aus, die meist am Fuße der Staubfäden zu finden ist. Dieser Saft fließt in meinen Honigmagen und wird hier zum fertigen Honig. Was das Wachs betrifft, so schwitzen wir es in unserem Hause an der Unterseite des Hinterleibes aus.«
»Noch eine Frage«, bat Max wißbegierig.
»Aber schnell, bitte. Die Sonne geht bald unter, und wir haben strenge Hausordnung in unserem Stock.«
»Was ist denn das, euer Stock?«
»Wie, das weißt du auch nicht? Der Stock ist unser Dorf, unsere Gemeinde. Nun? Was noch?«
»Ach, deinen Namen möchte ich gar gerne wissen.«
»Ich heiße Süßchen.«
Die Biene mit dem reizenden Namen flog davon, und Max mochte die Augen nicht von ihr wenden, bis er sie hinter einem Baume entschweben sah. Dann stieg unser Held vom Rosenstrauch herab, um seinen Weg wieder zu suchen. Er war aber nicht der einzige gewesen, der den Flug Schönsüßchens verfolgt hatte. In der Nähe schrillte eine kreischende Stimme, die von einem Rosenzweig zu kommen schien.
»Ha, ha«, so verstand Max, »endlich habe ich herausgekriegt, wo du, teure Frau Biene, wohnst! Heute abend werde ich mich einmal gütlich tun an deinem Honig!«
Bestürzt, ja entsetzt sah Max um sich. Angeklammert am Rosenzweig sah er vor sich ein schwarzes Ungetüm von düsterem Aussehen. Es hatte einen dicken, behaarten, braunen Rücken und mitten drauf – ein schauriger Anblick – war in gelber Farbe ein Totenkopf gemalt. Als Max das fürchterliche Insekt gewahrte, erschrak er heftig. Das Ungetier aber fuhr mit seiner schrillen Stimme fort:
»Vortrefflich! Donner und Doria! Wenn's dunkel wird, werde ich mir, so wahr ich Atropos heiße, das Leben versüßen.«
Es war wahrhaftig ein Acheronte, einer jener großen Schmetterlinge, welche man Totenkopf nennt wegen der düstern, gelben Zeichnung auf ihrem Rücken, und die, wenn sie gereizt werden, einen pfeifenden, schrillen Ton ausstoßen, der bisweilen so unheimlich wie das Bild wirkt. Die düstere Färbung, die unheimliche Zeichnung, die Größe des Schmetterlings und sein Erscheinen im Dunkeln sind die Ursache, daß dumme, abergläubische Menschen sie für Unglückstiere halten, wie es auch mit Eulen und Käuzchen geschieht. Die Angst solcher einfältigen Leute ist unsinnig, aber andere Geschöpfe können sich mit gutem Recht vor diesem Schmetterling fürchten. Wie die Vöglein gut tun, sich vor der Eule zu verstecken, welche sie nur allzusehr liebt und sie recht wohlschmeckend findet, so müssen die Bienen vor dem Totenkopf auf der Hut sein, da er nach ihrem Honig lüstern ist.
Max hatte die bösen Absichten des Insektes wohl verstanden, und da er für Bienen im allgemeinen und für [161] Süßchen im besondern eine warme Zuneigung verspürte, so sagte er jetzt für sich:
»Der Stock ist in der Nähe, ein günstiger Zufall hat mich eingeweiht in die Einbruchspläne des schwarzen Diebes, wie wäre es, wenn ich eilte, Süßchen zu warnen?«
Er warf einen Blick auf den Baum, dem die Biene zugeflogen war, und richtete seine Schritte gegen Süßchens Wohnung. Er rannte, was er konnte, achtete kein Hindernis und sagte sich: Das Untier ist ein gerissener Dieb; es will erst einbrechen, wenn es finster ist. Wenn ich auch keine Flügel habe wie dieser Gauner, so werde ich trotzdem vor ihm dort anklopfen können. Da – was war das? Er hielt überrascht im Laufe inne. Hatte er nicht rufen hören:
»Hurra! Es lebe der Kaiser!«
Er spähte und konnte niemand entdecken. Schon wollte er weiterwandern, im Glauben, daß er sich getäuscht habe, als er den Ruf ein zweites Mal hörte, und diesmal konnte es gewiß keine Sinnestäuschung sein.
»Max Butziwackel! Hoch!«
Zwischen Schreck und Freude verlor er schier die Besinnung. Zu seiner linken Seite lag ein dichter Graswald, aus dem hervor keuchend zwei Ameisen auf ihn zustürzten, in denen er sofort seine zwei Adjutanten erkannte. Ein gemeinsamer Freudenschrei:
»Unser Kaiser!«
»Dickkopf! Großzang!«
Ein unbeschreibliches Bild! Die drei Ameisen fielen sich gegenseitig in die Arme. Eine Sintflut von Fragen folgte der zärtlichen Umarmung; Erklärungen, Berichte und Erzählungen regnete es nur so, und nach der ersten Pause ging es von neuem los:
»Unser Kaiser! Er ist's! Hier steht er vor uns! Wer kann es glauben!« so rief Großzang, und Dickkopf setzte hinzu:
»Wir beweinten ihn als tot!«
»Eure Teilnahme ehrt mich«, sprach Max gerührt, »und ich kann euch versichern, jetzt fühle ich mich wie neu geboren durch euern Anblick. Wie kommt ihr hierher? Wie ist es euch ergangen?«
»Ach, wir sind nur durch ein Wunder gerettet worden. Kaum weiß ich's, wie wir entwischt sind. Eine Schar Roter verfolgte uns mit aufgesperrten Zangen und schimpfte unglaublich roh hinter uns drein. – Welche Schlacht! Ist es möglich, daß wir sie verlieren konnten, trotz deines erhabenen Einfalles, unser Heer durch die Bombardiere zu verstärken!«
Feierlich sprach Max:
»Was wollt ihr? Das Glück ist nicht immer die Freundin großer Geister. Genug! Ihr stellt euch nicht vor, wie ich mich freue, euch wiederzusehen!«
»Wie froh sind erst wir! Wir wollen bis ans Ende unserer Tage bei dir bleiben.«
»So begleitet mich«, sprach Max väterlich zu den beiden. »Während wir raschen Schrittes gehen, könnt ihr eure Geschichte erzählen.« So schritten sie alle drei dem Bienenstock zu.
»Denke dir nur«, fing Dickkopf an.
»Stelle dir vor«, sprudelte zu gleicher Zeit Großzang.
»Einer nach dem andern«, entschied Max.
»Großzang, dir erteile ich zuerst das Wort.«
»Stelle dir also vor«, fing dieser an, »daß wir bis jetzt ein Landstreicherleben führen mußten, umlauert von tausend Gefahren!«
»Wie auch ich!«
»Ohne je zu wissen, wo man nachts sein müdes Haupt hinlegen könne!«
»Wie ich!«
»Keine Ahnung, wo eine Mahlzeit hernehmen!«
»Euer Kaiser aß nichts mehr seit heute früh!«
»Kurz, wir haben das elendeste Leben geführt, das man sich denken kann. Aber jetzt, wo wir dich wiedergefunden haben, wo wir bei dir bleiben können, jetzt fürchten wir nichts mehr. Nicht wahr, Dickkopf?«
»Jawohl!«
Max frohlockte, und die zwei Adjutanten schrien:
»Es lebe Kaiser Butziwackel I.!«
Da hagelte wie eine Antwort auf diesen Ruf ein Steinregen hernieder und hüllte den Kaiser samt seinem Gefolge ein. Unser Held, der die Erde unter seinen Füßen wanken fühlte, hatte kaum Zeit, sich an einen Grashalm festzuklammern, während Großzang ihm um den Hals fiel und rief:
»Halte mich, ich falle!«
Es war das Werk eines Augenblickes. Wie durch Zauberschlag hörte der Steinregen auf, und Max und Großzang hörten eine schwache Stimme, die unter der Erde um Hilfe zu rufen schien. Fest umschlungen blickten sie unwillkürlich unter sich und erschauderten. Ein schreckliches Bild bot sich ihren Blicken.
Sie befanden sich auf dem Rande eines trichterförmigen Loches, auf dessen Grunde der arme Dickkopf vergeblich kämpfte, gepackt von den riesigen Zangen eines furchtbaren Tieres, das den Unglücklichen aussaugte und dazwischen hin und wieder ausrief:
»Hm, die schmeckt fein!«
»Ein Ameisenlöwe!« stammelte Großzang zitternd.
»Ameisenlöwe!« wiederholte Max, und er erinnerte sich seines Abenteuers mit dem libellenähnlichen Insekt. – »Ah, nun verstehe ich dessen Worte! Ich sah das vollkommene Insekt, und hier unten sehe ich die Larve. Also deshalb wünschte mein damaliger Gefährte seinen Kindern, sie sollten vielen Ameisen begegnen, die so gut sind wie ich!«
Das Scheusal saugte unterdes sein Opfer aus und warf dann die Hülle über seinen Sandtrichter hinaus. Als ob es auf Maxens Betrachtungen antworten wollte, rief es befriedigt aus:
»Die war ausgezeichnet!«
Jetzt erst konnte Max den blutdürstigen Löwen in all seinen Schrecknissen genauer betrachten. Aus dem Grunde des Loches, wo er sich fast bis zur Hälfte des Körpers eingegraben hatte, ragte das entsetzliche Tier heraus. Es hatte ein schwarzes, bedrohliches Maul, sieben Augen auf jeder Seite und war mit mächtigen Zangen bewaffnet. Sein Leib war mit schwarzen borstigen Haaren besetzt. Die zwei mit Krallen bewaffneten Beine krabbelten neben dem Kopfe aus dem Abgrund hervor. Es wandte seine vierzehn Augen auf die zwei entsetzten Ameisen und sprach mit Grabesstimme:
»Jetzt werdet ihr beide da oben bald herunterkommen, wie ich hoffe! Heute hätte ich bei so später Stunde nicht mehr an eine so saftige Abendmahlzeit gedacht. Ich jage sonst nur, wenn die Sonne scheint.«
Wie es so sprach, krallte es die Tatzen ein, und mit außerordentlicher Kraft und Gewandtheit schleuderte es die sandige Erde, in der es saß, wie eine Flut von Steinregen auf die zwei erschrockenen Zuschauer. Max fühlte sich schon durch die fallenden und rutschenden Sandkörnchen in den Schlund des Trichters hinabgezogen; mit der äußersten Anstrengung hielt er Großzang an sich gepreßt, und mit ihm klammerte er sich verzweifelt an den Grashalm, der beide bis jetzt getragen hatte, und es gelang ihm, sich zitternd vor Aufregung daran emporzuziehen.
Die beiden Ameisen waren gerettet.
»O je, o je!« rief Großzang, »das war eine böse Sache. Dir allein, mein Kaiser, danke ich das Leben!«
»Und ich verdanke dir einen steifen Hals, so hast du dich an mir festgeklammert! Aber das macht nichts. – Dem da ist es schlimmer ergangen!«
Er deutete dabei auf die Hülle Dickkopfs, die mit den Beinen in der Luft neben ihnen lag.
»Der Ärmste!« rief Großzang tiefbewegt. »Von ihm ist nichts geblieben als die Schale. Das Untier hat ihn ausgesaugt ohne jede Rücksicht. Jetzt freut es mich doch, daß wir seit zwei Tagen nichts gegessen hatten, sein Körper muß hübsch trocken gewesen sein. Aber, daß der arme Freund so wie ein ausgeblasenes Ei werden könnte, das hätte ich doch nie geglaubt!«
Beim Weitergehen wandte sich der Kaiser Butziwackel sehr ernst zu seinem Gefährten und sprach:
»Adjutant, hast du den Straßenräuber da drunten in seinem Trichter gesehen?«
»Leider! Es ist eine für uns Ameisen schreckliche Larve.«
»Sehr wohl! Sobald wir einem zweiten von dieser Sorte begegnen, befehle ich dir, ihn mir fünf Minuten vorher zu melden! Gehen wir! – Vorwärts, marsch!«
Das schauerliche Abenteuer mit dem Ameisenlöwen und vorher das Wiederfinden und die Begrüßung der beiden Adjutanten hatte Max kostbare Zeit gekostet. Als er endlich in der Nähe des Bienenstockes ankam, war es bereits dunkel geworden.
»Wie ich fürchte, bin ich zu spät gekommen«, murmelte in Sorge der entthronte Kaiser, während er den Baum erkletterte.
»Aber wohin gehen wir denn?« wagte Großzang zu fragen, der wohl sah, wie gedankenvoll Max geworden war.
»Wir wollen ein Bienendorf retten, das von einem schwarzen Dieb bedroht ist.«
»O wie fein! Da kann man vielleicht ein bißchen Honig bekommen?«
Mit strengem Blick aber rügte Max:
»Adjutant! Es handelt sich jetzt um ein ruhmreiches Abenteuer zu edlem Zwecke; und du denkst ans Essen!«
»Es ist wahr; aber daran ist mein knurrender Magen schuld; er ist so leer, als ob er – Gott behüte uns davor – von einem Ameisenlöwen ausgesaugt worden wäre.«
Die beiden Ameisen standen endlich vor dem Eingang zum Bienenstock.
Mit verzweifelten Gebärden stürzten eben einige Bienen daraus hervor und summten in höchster Aufregung:
»Der Totenkopf! Der Totenkopf!«
Man sah sogleich, daß es im ganzen Bienendorf entsetzlich toll zuging. Gefolgt von seinem Adjutanten stürmte Max hinein. Die verwirrten und erschreckten Schildwachen beachteten ihn nicht, und bald stand er an der Stelle, wo sich eben das bedrohlichste Schauspiel abwickelte.
Der entsetzliche Totenkopf war in den Stock eingedrungen. Da saß er mit seinem großen plumpen Leib, bebend vor Gier, die riesigen Flügel zitterten, sein Rüssel zuckte, und vergebens versuchte das Bienenvolk, das ihn umgab, sein verderbliches Vordringen zu verhindern.
Vergebens bemühten sich die Überfallenen, den elastischen Panzer zu durchstechen, von dem der dicke Körper des Tieres weich und nachgiebig wie von einem Gummimantel umschlossen war. Angstvolle Stimmen schrien in all diese Verwirrung hinein:
»Er wird alle unsere Lagerräume plündern!«
»Er frißt unsere Kinder!«
»Er wird die Königin töten!«
Max wandte sich zu seinem Adjutanten und sagte leise zu ihm:
»Hörst du, um eine Königin handelt es sich! Um jeden Preis muß diese gerettet werden!«
»Aber wie? Wenn schon die Bienen mit ihrem Stachel nichts vermögen?« fragte Großzang ratlos.
»Dummkopf! Was der Stachel nicht kann, tut die Zange.«
Unbekümmert und rücksichtslos schlürfte inzwischen der Totenkopf so viel Honig, als er nur konnte, trotz des lauten Protestes des Bienenvolkes. Da gellte plötzlich ein Schrei aus dem vollen Munde des Räubers:
»Au, mein Bein!«
Ein zweiter ungeduldiger Schmerzensruf folgte:
»Zum Kuckuck, wer schneidet mir denn meine Fühler ab?«
Zu gleicher Zeit rief Max, der sich rittlings auf den Totenkopf gesetzt hatte:
»Großzang, wenn du ihm nur ein einziges Glied am Körper läßt, bist du nicht länger mein Adjutant!«
Bei diesem ebenso unerwarteten als heftigen Angriff der Ameisen versuchte der abscheuliche Totenkopf sich nach Kräften zu wehren. Er schlug um sich und schleuderte dabei die armen Bienen umher, daß sie mit den Beinchen nach oben herumwirbelten.
Der Kampfplatz war eng, und die gespreizten Flügel des Totenkopfes versperrten den Weg. Aber schon hatte jemand an Abhilfe gedacht; denn siehe, einer der Flügel fiel ab, und gleich löste der zweite, dritte und vierte sich los. Das hatte Großzang mit seinen scharfen Zangen wahrlich gut gemacht.
Ohne Flügel und ohne Fühler wollte sich der Totenkopf auf dem einzigen Bein, das ihm geblieben war, aufrichten. Doch auch dieses zwickte Großzang unbarmherzig ab. Der verstümmelte Rumpf des Untiers lag nun da, ohne sich bewegen zu können. Im Nu hatte sich die Nachricht davon in alle Ecken und Winkel des Bienenstockes verbreitet, und ein hellstimmiger, unbeschreiblicher Siegesjubel brach los:
Viktoria! Viktoria!
Allen Lärm übertönend rief eine Stimme:
»Wer hat diesen Dieb auf solche Weise unschädlich machen können?«
Max erkannte die Stimme und rief:
»Süßchen, Süßchen! Bist du's?«
»Ei, ei!« sagte die Biene erstaunt und setzte sich zu Max auf den Rücken des Totenkopfes, »das ist ja die Ameise, der ich auf dem Rosenstock begegnet bin! Wie kommst denn du hierher zu uns?«
»Ich kannte die Absichten dieses schwarzen Herrn und bin herbeigeeilt, das Bienendorf zu retten.«
»Du!« rief Süßchen und sah ihn gerührt an. »Schwestern«, rief sie, »verneigt euch vor dieser Ameise. Ihr verdanken wir unsere Rettung!«
Ein schallendes »Hurra« folgte dieser Bekanntgabe.
Max dankte tief bewegt und sprach:
»Haltet ein! Nicht ich allein habe ein Recht auf euern Beifall. – Großzang, Großzang, tritt vor!«
Aber Großzang antwortete nicht.
»Dieser Vielfraß«, dachte Max, »wird schon in eine Honigkammer eingefallen sein. Aber er soll was hören, wenn er zurückkommt!«
Inzwischen hatte Süßchen mit der zärtlichen und liebevollen Stimme, die sie sich im Umgang mit den Blumen angewöhnt hatte, gesagt:
»Du bleibst doch bei uns, nicht? Es ist zu spät geworden, um heimzukehren!«
»O wie gerne!« beeilte sich Max zu antworten, »um so lieber, als ich zurzeit keine Wohnung besitze.«
Süßchen schien sehr erstaunt über diese Erklärung und war nahe daran zu fragen wie und warum; denn sie war neugierig, über ihren Befreier Näheres zu erfahren; aber da sie eine höchst taktvolle Biene war, überwand sie sich und sagte nur:
»Wie gerne hörte ich deine Geschichte; morgen erzählst du sie mir vielleicht? Selbstverständlich bleibst du und jene Ameise, der du eben gerufen hast, hier, d. h. wenn sie noch bei uns herinnen ist. Ich selbst muß jetzt den Schwestern helfen, das Haus von diesem Eindringling zu säubern.«
Max stieg mit ihr vom Rücken des Totenkopfes herunter. Süßchen aber gesellte sich zu den andern Bienen, die mit [171] vereinten Kräften den Körper des Untiers fortzuschaffen versuchten.
Aber dessen Gewicht und Umfang war derart, daß es keine leichte Sache war, ihn zu bewegen. Schließlich rief eine Biene:
»Hört mich an, ihr Lieben! Diesen greulichen Wicht aus dem Stock hinauszuschaffen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, ich schlage vor, ihn auf die Seite des Ganges zu schleppen und ihn dort luftdicht abzuschließen.«
Der Vorschlag wurde sofort angenommen. Alle Bienen stellten sich an der einen Seite des schweren, häßlichen Körpers auf, hoben und schoben mit verdoppelten Kräften den Dieb, bis es ihnen schließlich gelang, den Koloß von der Stelle zu rücken. Nach dem ersten Ruck ließ sich unter dem Tier eine schwache Stimme vernehmen:
»Gottlob! Länger hätte es nicht mehr dauern dürfen, sonst wäre ich unter dieser Schuttmasse erstickt!«
Der mutige Großzang war unglücklicherweise unter den mächtigen Schmetterling zu liegen gekommen, als er ihm das letzte Bein abgezwickt hatte. Max half ihm hervor und rief mit feierlicher Gebärde:
»Adjutant! Du bist ein tapferer Soldat!«
»Ich folgte deinem Befehl; du hattest mich ja mit dem Verluste meiner Stellung bedroht, wenn ich diesem Frechling ein einziges Bein lassen würde.«
»Du hast männlich deine Pflicht getan; zum Lohne ernenne ich dich in Gegenwart dieses edlen Volkes zum erlauchten Grafen aller Hautflügler.«
Großzang verstand kaum die volle Bedeutung dieser Auszeichnung; so viel aber war klar für ihn, daß sein Kaiser ihm eine hervorragende Stellung im Reiche der Insekten [172] zugedacht hatte. Untertänig stammelte er mit tiefer Verneigung:
»Majestät, ich danke!«
Der Körper des Totenkopfes war jetzt auf die Seite gerollt. Max setzte im Triumphgefühl seinen rechten Fuß auf des Tieres Kopf, wies auf die düstere, gelbe Schädelzeichnung über dem Rücken des Tieres und machte dabei die Bemerkung:
»Der ehrsame Herr – Gott hab' ihn selig! – hat allem Anschein nach bei Lebzeiten schon an seinen Tod gedacht; um uns die Kosten zu ersparen für einen Grabstein, ließ er sich die Inschrift auf den Buckel malen!«
Am nächsten Morgen erwachte Max, dem die dankbaren Bienen ein hübsches Schlafkämmerlein angewiesen hatten, sehr schlecht gelaunt.
»Dieser greuliche Totenkopf«, sagte er, »hat mir die ganze Nacht verdorben. Ich hatte gräßliche Träume über ihn. – Großzang! Hallo, Großzang! Großzang!«
Der gräfliche Adjutant schreckte aus seinem tiefen Schlummer auf.
»Na endlich!« rief Max, »was für eine Art zu schlafen! Ein kaiserlicher Adjutant, das merke dir, schläft nur mit dem einen Auge, mit dem andern hat er stets zu wachen.«
»Ich habe Hunger«, gähnte verschlafen der Herr Graf.
»Du bist unersättlich, mein Lieber! Gestern abend hast du bei dem Schmaus, den uns die Bienen gaben, für Viere gegessen. Es ist unbedingt nötig, daß du dich änderst; denn meine Einkünfte erlauben mir vorderhand nicht, einen solchen Vielfraß von Adjutanten zu halten.«
Mit gnädigem Ton fuhr er dann fort:
»Etwas anderes! – Heute morgen müssen wir den Palast der Bienen besuchen, und wir werden der Königin vorgestellt werden. Verstehst du, der Königin! Benimm dich deiner Stellung entsprechend und blamiere mich nicht!«
Der Gedanke, der Königin vorgestellt zu werden, genügte, um Max wieder in beste Laune zu versetzen.
Seinem Adjutanten gab er eine Menge Anweisungen über die höfischen Sitten und Gebräuche und schärfte ihm ein, sich genau daran zu halten.
Gerade wollte er ihm noch einen schönen Vers beibringen, mit dem der Adjutant den Kaiser der Königin vorstellen sollte, als jemand an der Türe klopfte und fragte:
»Darf ich eintreten, liebe Freundin?«
Es war Süßchen.
Max ging ihr entgegen und sagte:
»Meine Teure, vor allen Dingen muß ich dir erklären, daß ich keine Freundin bin.«
»Wie? Keine Freundin?«
»Nein, aber dein Freund; denn ich bin ein Mann.«
»Und diese andere Ameise?«
»Ein Freund, gleich mir: beide gehören wir dem männlichen Geschlechte an.«
»Ihr habt doch keine Flügel; deshalb dachte ich, ihr seiet geschlechtslose Ameisen, und hielt euch für tüchtige Arbeiter, wie ich eine Arbeitsbiene bin.«
Max mußte lachen und schaute Großzang an.
»Arbeiter! Hörst du, Adjutant? – Süßchen meint, wir wären zwei Arbeiter. Sie hat keine Ahnung, was wir sind. Und wenn sie erst hört, wer ich bin! Jetzt ist es Zeit, das Inkognito fallen zu lassen. Großzang, stelle mich vor!«
Großzang verneigte sich tief, zeigte auf Max und sprach würdevoll:
»Max Butziwackel I., Kaiser der Ameisen.«
Max deutete auf Großzang und sprach:
»Mein Adjutant Großzang, Graf aller Hautflügler, des Kaisers Butziwackel erster und einziger Offizier. Dickkopf, der zweite Adjutant, wurde gestern von einem Ameisenlöwen ausgesaugt.«
Süßchen blieb unglaublich überrascht bei dieser Doppelvorstellung.
Max bemerkte, wie verständnislos sie seiner Größe gegenüberstand, und erachtete es deshalb für nötig, eine Erklärung folgen zu lassen. Er erzählte ihr vertraulich die Geschichte seines Aufstiegs zu fürstlicher Höhe und den jähen Sturz von seinem Throne.
Die Biene hörte aufmerksam zu, und als er geendet hatte, sagte sie:
»Höre mal, ich habe nie einen Thron verloren und strebe nach keiner Krone. Ich kenne nur den freudigen Drang zur vergnüglichen Arbeit. Hast du, Unglücklicher, auch diesen verloren? Bitte, beeile dich, wenn du jetzt unser Haus besichtigen willst.«
Diese Worte verdrossen Max ungeheuer, aber seinen Zorn schüttete er über den unschuldigen Großzang aus, den er barsch anfuhr:
»Na, Adjutant, was tust du denn? Erhebe dich endlich! Hörst du nicht? Wir gehen jetzt, den Palast zu besichtigen. Komme sofort. Wie lange braucht es noch, bis du dich rührst?«
Dann verließ er majestätisch das Zimmer, Süßchen zur Seite, der Adjutant hinterdrein.
Zunächst ging es zum Eingang, an dem Max eine Veränderung gegen gestern wahrnahm. Die Toröffnung war viel niedriger und schmäler geworden. An beiden Innenseiten des Ganges waren neue Mauern aufgeführt, die aus einer braunen, klebrigen Masse bestanden.
»Ei«, bemerkte Max, »hier sah es doch anders aus, als ich eintrat.«
»Freilich«, erwiderte Süßchen, »das ist ein Neubau. In Zukunft wird ein Totenkopf sich besinnen, hier einzutreten. Wir haben unser Haustor verbessert.«
»Wie ist es möglich, in einer Nacht so gewaltige Mauern aufzuführen?«
»Bei uns geht alles flink«, scherzte Süßchen. »Wir sammeln, wie du vielleicht weißt, bei den Pflanzen Harz, und dieses verarbeiten wir zu einer klebrigen Masse, dem Kittwachs. Damit streichen wir im Hause Ritzen und Löcher aus. Mit diesem Baumaterial haben wir den Eingang verengert; wir kitten damit auch unsere Waben an der Decke und an den Seitenwänden fest.«
»Welch großartige Leistung!« rief Großzang, der doch auch etwas sagen wollte, bewundernd aus. »Und mit welcher Genauigkeit und Schnelligkeit diese Veränderung ins Werk gesetzt wurde!«
»O, die Fixigkeit, die verstehen wir«, bemerkte Süßchen gutgelaunt. »Bis man sich umschaut, errichten wir Mauern, vor denen sich einer fürchten kann!«
Die Drei schritten in ihrer Besichtigung weiter. Max überzeugte sich mehr und mehr, daß es sich keineswegs um ein Haus handelte, wie Süßchen es nannte, noch um einen Palast, wie er glaubte, sondern um eine wirkliche und wahrhaft große Stadt, erbaut nach allen Regeln der Baukunst, der Gesundheitslehre und der Bequemlichkeit.
Die zwei Hauptmerkmale ihrer Bauart waren Harmonie der Linien und weise Ausnützung des Raumes.
Das ganze Innere dieser weiten Stadt bestand aus einer Unmenge von Zimmern, die alle in genau sechseckiger Form erbaut waren. An jeder Seite des Sechsecks stieß ein benachbartes Zimmer an.
»Ihr werdet wohl verstehen«, sprach Süßchen zu den beiden Ameisen, »daß das Sechseck die einzige Form ist, die uns gestattet, im gegebenen Raum die größtmögliche Anzahl von Zimmern oder, wie wir sagen, Zellen zu bauen. Jede andere Form würde für uns einen größeren Verlust an Raum bedeuten.«
»Das ist klar«, erwiderte rasch überzeugt Max, »ihr habt die Raumfrage in geistvoller Weise gelöst! Aber wie ist es möglich, diese Zellen so regelmäßig und so genau zu machen?«
»Das geht so zu! Sobald wir den Platz für unsere Wohnung bestimmt haben, sei es in einem Mauerloch oder in einem hohlen Baum, wie dieser hier, bauen wir zuerst die inneren Wände der Zellen. Unser Baustoff ist das Wachs, das wir an der Unterseite des Hinterleibes ausschwitzen. Dieses befeuchten, kneten und formen wir mit dem Munde und fügen Stückchen an Stückchen zusammen. Und weil wir viele sind und immerfort einander ablösen, geht die Arbeit rasch voran. Bald entsteht aus einer größeren Anzahl von fertiggebauten inneren Zellenwänden ein fester Streifen Wachs. Man nennt ihn die Mittelwand, weil er die beiderseits anzubauenden Zellen trennt. Von der Mittelwand aus ziehen unsere gewandtesten und tüchtigsten Bauleute die Seitenwände unserer Zellen. Wollt ihr das sehen?«
Süßchen führte die zwei Gäste an eine Stelle, wo gerade neue Wachszellen gebaut wurden. Da wurde gehobelt, gemauert und poliert, bis die sechs Seitenwände die nötige Länge erreicht hatten und ein bequemes und sauberes Kämmerlein einschlossen.
»Wie schnell hier gearbeitet wird!« rief Großzang erstaunt.
»Und dabei gut!« fügte Max mit Kennermiene bei.
Er wunderte sich um so mehr, da er schon wußte, daß bei den Menschen Schnellarbeiter und Schlechtarbeiter meistens das gleiche bedeutet. Natürlich stimmt das nicht immer und nicht in jedem Fall.
»Da ist nichts zu verwundern«, erwiderte Süßchen; »wir sind imstande, in einem Tag und einer Nacht bis zu viertausend Zellen zu bauen.«
»Welch eine Riesenarbeit!« meinte Max. »Aber ich erlaube mir zu bemerken, daß die Zellen nicht gleich groß sind.«
»Das versteht sich!« rief Süßchen; »dies hier sind die Zellen für solche Eier, aus denen wir Arbeitsbienen herauskommen, wir Geschlechtslose«, und dabei deutete sie im Kreise herum, auch auf Max und Großzang.
»Wir sind nicht geschlechtslos«, sagte Max ärgerlich. »Ich gab dir bereits zu verstehen, daß wir Männer sind!«
»Das ist mir entfallen«, sprach Süßchen spöttisch und fuhr fort: »Hier, diese größeren Zellen sind für jene Eier bestimmt, aus denen männliche Bienen geboren werden, … wirkliche Männchen, verstehst du? Und diese letzteren hier sind die Zellen für die Weibchen; diese sind rund, groß, prachtvoll, denn unsere Weibchen sind bestimmt, Königinnen zu werden.«
»Was? Wie?« sagte Max, »Königinnen!«
Auf dies hin hätte er gerne eine Reihe von Fragen gestellt, aber in ebendemselben Augenblicke stand man vor einem sonderbaren Hügel, vor dem Max neugierig anhielt.
»Süßchen, was ist denn dies?« fragte er voll Interesse.
»Dies ist der Körper des Totenkopfes, des Schmetterlings, den du besiegt hast. Da wir ihn nicht hinausbringen konnten, haben wir ihn einbalsamiert. So kann er nicht verwesen und uns die Luft verpesten.«
»Einbalsamiert!« rief Max und beguckte den harten Körper, der am Boden festklebte.
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, wir haben den Leichnam des Totenkopfes rings mit Wachs ummauert und mit Kitt am Boden festgeklebt. So ist er luftdicht abgeschlossen, kann darum nicht verwesen und uns die Luft verderben. Ich will euch noch ein anderes Tier zeigen, das wir auf diese Art unschädlich gemacht haben.«
Damit führte Süßchen die beiden in ein anderes Stockwerk und sprach:
»Seht ihr die Schnecke da? Sie ist einst in unser Haus gekrochen, und wir haben mit ihr kurzen Prozeß gemacht. Ein Stich trieb sie in ihr Schneckenhaus hinein, mit dem Kittwachs haben wir ringsumher am Boden das Schneckenhaus festgeklebt, und jetzt ist sie in ihrem eigenen Haus begraben.«
Max und Großzang waren aufs höchste erstaunt nicht nur über die Kunst, sondern auch über die Geistesgegenwart der Bienen. Sie wollten eben ihre Bewunderung ausdrücken, als sich plötzlich ein dreimaliges taktmäßiges Gesumme wie ein Trompetensignal vernehmen ließ. Süßchen flüsterte leise:
»Still, die Königin kommt!«
Eine Biene von majestätischer Haltung schritt einher. Sie war umgeben von einer Anzahl junger Bienen, die ihr tausend Freundlichkeiten erwiesen und ihr immer wieder den Rüssel boten, um sie mit süßer Honigspeise zu erquicken.
»Das sind die Gesellschaftsdamen der Königin!« flüsterte Süßchen.
Vor jeder Zelle hielt die Königin an und legte ein winziges Ei hinein. Umstehende sangen dabei begeistert für die fruchtbare Mutter ihres Volkes das Königslied:
Da hielt die Königin in ihrer Beschäftigung ein.
»Ich hoffe«, sprach sie, »daß mein Volk mit mir zufrieden ist. Mit dem Ei, das ich eben gelegt habe, sind es heute zweihundert geworden.«
Max machte einen etwas unkaiserlichen Sprung vor Staunen und rief:
»Zweihundert Eier an einem Tage! Wie lange geht diese Arbeit so weiter?«
»Je nachdem«, erwiderte Süßchen, »gewöhnlich dauert es drei Monate, bis ungefähr fünfzehntausend Eier gelegt sind.«
»Fünfzehntausend Eier! Liebe Zeit, damit könnte man für alle Leute Pfannkuchen backen!«
Während die beiden noch die wunderbare Bienenmutter bestaunten, die so vielen Jungen Leben gibt, hatte sich Süßchen ehrfürchtig der Königin genähert. Sie sprach einige Worte mit ihr allein und wandte sich dann an die beiden Gäste:
»Die Königin teilt mir mit, daß sie sich freuen würde, euch kennenzulernen. Sie wünscht eure Vorstellung.«
Dem Kaiser der Ameisen lief ein Ehrfurchtsschauer über den Rücken.
»Adjutant!« flüsterte er Großzang zu, »der Augenblick, mich zu melden, ist gekommen. Denke genau an alle Unterweisungen, die ich dir für diese große Stunde gegeben habe.« Auf dies trat er etwas in den Hintergrund zurück. Großzang aber schritt wie ein ritterlicher Schildknappe vor die Königin und meldete mit Gesang den Herrscher an:
Alles schwieg. Jeder schaute erstaunt auf Max, der mit feierlichem Schritt vortrat, sich tief vor der Königin neigte und mit bewegter Stimme sprach:
»Wir, Maximilian Butziwackel I., Kaiser aller Ameisen, sind erfreut, der mächtigen, weisen Bienenkönigin Unsere Huldigung darzubringen. Wir versichern sie Unserer Freundschaft und geben Unserer Verwandtschaftstreue gebührenden Ausdruck!«
Die Königin war höchst erstaunt über dieses ihr fremdartige Gebaren der Gäste. Aber um sich die Unkenntnis der neuen Sitte nicht anmerken zu lassen, wandte sie sich mit liebenswürdigen Worten an beide Ameisen:
»Wer immer ihr seid, es ist meine Pflicht, euch vor meinem ganzen Volke meine Dankbarkeit auszusprechen für die Rettung des Bienenstaates vor einem seiner schrecklichsten Feinde. Betrachtet dieses Haus als das eure!«
Max dankte mit überströmendem Herzen und einer tiefen Verneigung. Als die Hofdamen um die Königin in respektvoller Entfernung einen Halbkreis bildeten, gab der Kaiser seinem Adjutanten ein Zeichen, wie diese zurückzutreten. Die Königin begann die Unterhaltung:
»Ich bin sehr zufrieden«, sagte sie mit gütigem Lächeln, »daß diese Gelegenheit die Ameisen und die Bienen, die beiden edelsten und verständigsten Arten der Hautflügler, einander näher gebracht hat!«
»Gewiß!« erwiderte Max, »wir haben viele Gewohnheiten und manche Instinkte gemeinsam. Wie die Bienen leben auch wir in Gesellschaft, und diese Gesellschaft ist wie die eure aus Weibchen, Männchen und Geschlechtslosen oder Arbeitern zusammengesetzt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich jedoch feststellen, daß weder mein Adjutant noch ich zu den Geschlechtslosen gehören, wie es wohl den Anschein hat. Wir sind vielmehr Männer.«
»Wie sonderbar«, erwiderte ihm die Königin, »ich dachte, die Ameisen töten wie wir ihre Männchen?«
Max hielt es nun für nützlich, dem Gespräch eine Wendung zu geben. Ohne auf die Bemerkung der Königin einzugehen, sprach er:
»Majestät, ich hatte das Vergnügen, Ihr Reich zu besuchen … Ich war erstaunt, ein Reich von außergewöhnlicher Größe zu finden.«
»Jawohl! Aber auch ihr Ameisen bildet große Staaten. Ist euer Reich vielleicht kleiner als meines?«
»O viel kleiner!« erwiderte Max ein wenig verlegen. »Und wie zahlreich müssen erst Ihre Untertanen sein?« beeilte er sich, weiter zu fragen.
»Es sind ungefähr dreißigtausend Einwohner.«
»Dreißigtausend Bienen! Das ist eine überwältigende Zahl!«
»Wie groß ist euer Ameisenvolk?«
»Ach, Majestät!« antwortete Max immer verlegener, »meine Untertanen! … Da stehen sie alle.« Er wies auf seinen Adjutanten und rief:
»Großzang, Graf aller Hautflügler, mein letzter Untertan und Flügeladjutant.«
Großzang verneigte sich tief.
Max bemerkte, daß die Königin ihn nicht recht verstand. Er hielt es also für nötig, ihr die bemerkenswertesten Taten seines Lebens zu erzählen; so fing er denn an:
»Teuerste Majestät! Unter uns können wir ja ohne Umstände reden. Ich bin ein armer, entthronter Kaiser, ein Fürst ohne Volk und Land, und ich kann nicht umhin, dich in der glücklichen Lage einer wahren Königin zu beneiden. Bedient, geachtet und angebetet lebst du inmitten deines Volkes!«
Bei diesen Worten verzog die Königin den Mund, neigte sich zu Max und sagte ganz vertraulich:
»Königin? Ich bin es und bin es nicht!«
»Du bist es! Ich wollte, ich könnte so wie du regieren!«
»So, so? Was würdest du dazu sagen, wenn du den lieben, langen Tag Eier legen müßtest?«
Bei dieser Bemerkung wurde Max trotz seiner schwarzen Haut ganz rot vor Entrüstung.
»Bedenke doch«, fuhr die Biene fort, »daß ich in meinem Reich zugleich etwas mehr und etwas weniger bin als Königin. Ich bin die gemeinsame Mutter, die Lebensquelle des Volkes. Ich sichere ihm den Bestand, weil ich allein für die Nachkommenschaft sorge. Dies Volk ist mein, weil ich es schuf, es zur Welt brachte; es ist mein Kind und ich bin seine Mutter. Aber glaubst du, daß ich zu meinem Vergnügen Königin geworden sei? Ich bin Königin, damit ich Eier lege, viele Eier! Bin es nur unter der Bedingung, daß ich das Volk erhalte, und Königin bin ich nur, solange ich dem Volk Mutter sein kann. An dem Tage, an dem ich mein Reich nicht mehr vergrößere, höre ich auf, Königin zu sein. Wie du siehst, ist meine Stellung sehr hoch von einem hohen Gesichtspunkt aus betrachtet, sehr erbärmlich von einem niederen aus gesehen.«
An Maxens langgezogenem Gesicht konnte man nicht ergründen, welchen der beiden Gesichtspunkte er vertrat und welche Auffassung von der Würde einer Bienenkönigin er bekommen hatte, aber jedenfalls machten die edle Sprache und das würdevolle Auftreten der hohen Frau einen tiefen Eindruck auf ihn. So viel erfaßte er sicher, daß man, um bei den Insekten etwas zu gelten, erst etwas Ordentliches leisten mußte.
Mit wehmütigem Ton setzte die Königin ihr Gespräch fort.
»Wenn ich wenigstens nach all meiner Sorge und Mühe ruhig altern könnte! Aber im Handumdrehen kann es geschehen, daß … nun, ich will nicht weiter davon reden!«
Max hätte gern auf der weiteren Aussprache dieses begonnenen Gedankens bestanden, allein er fürchtete, als taktlos zu gelten, und sagte nur:
»Hoffentlich erlaubst du mir, manchmal zu kommen, um mit einer Ebenbürtigen zu plaudern.«
»Mit Vergnügen, mein Lieber!«
Max verneigte sich, küßte der Königin ritterlich das Vorderbeinchen und verabschiedete sich von ihr, während ringsum lauter Jubel über das festliche und noch nie erlebte Ereignis widerhallte:
»Hoch die Königin!«
»Es lebe die Ameise mit dem Wackelfähnlein!«
Freudestrahlend wandte sich Max an seinen Adjutanten:
»Dieser Freundschaftsbund berechtigt zu großen Hoffnungen! Wer weiß, ob nicht doch noch meine Stunde schlägt!«
»Ach, alles recht!« flüsterte Großzang ihm zu, »aber mein Magen brummt, und ich hoffe nur auf die Stunde, in der es was zu essen gibt!«
In der schönen, großen Bienenstadt, wo es an nichts fehlte, inmitten eines lieben, bescheidenen Volkes, führten die zwei Ameisen ein stilles, süßes Leben.
»Ein Dasein, so süß wie Honig«, verglich Großzang; denn für Honig hatte er ein ganz außerordentliches Verständnis. Dankbar für die erwiesenen Wohltaten hatten die Bienen den beiden Gästen eine leere Kammer zur Verfügung gestellt, wo auf einem Tischchen, das Max aus einem Kürbiskern gefertigt hatte, dreimal des Tages ein Mahl aufgetragen wurde, das wirklich eines Kaisers würdig war. Einmal bereitete Süßchen für die beiden Gäste einen Königinnenbrei, ein ausgezeichnetes Gericht, das noch viel [185] besser schmeckte als der gewöhnliche Honig. Kaum hatte der schleckige Adjutant davon gekostet, so rief er schon:
»Das bestelle ich für alle Tage.«
»Das geht nicht«, wehrte Süßchen. »Diese Speise enthält mehr Zucker und andere kostbare Nährstoffe. Sie ist durch ihren hohen Nährwert bestimmt, die ausschließliche Nahrung solcher Larven zu sein, die Königinnen werden sollen.«
»Aha«, begriff Max, »der Brei hat ganz besondere Kraft?«
»Gewiß. Die Art der Nahrung ist von großem Einfluß auf die Entwicklung der Larven. In gewöhnlichen Zellen speisen die Larven die alltägliche Mahlzeit, und es kommt eine Arbeitsbiene hervor. In den königlichen Gemächern wird der besondere Futterbrei aufgetragen, und dabei entwickelt sich eine Königin, die wegen der kraftvollen Speise größer wächst wie wir und in ihrer größeren Zelle auch Platz zum Größerwerden hat. Gäben wir den Arbeiterlarven nur diese Speise, bekämen wir lauter Königinnen.«
Max sperrte den Mund und alle hundertdreiundzwanzig Augen auf. Es wurde ihm furchtbar unbehaglich zumute, und er fragte vorsichtig ängstlich:
»Süßchen, könnte es am Ende dahin kommen, daß ich eines Tages Hunderte von Eiern legen müßte, weil ich von der Wunderspeise gegessen habe?«
Süßchen lächelte bloß über einen so sonderbaren Einfall.
»Süßchen, um des Himmels willen, antworte! Ich fühle schon etwas Ungewöhnliches in mir vorgehen. Heiliger Gott, hilf! schnell! Ach, ein solcher Verrat wäre gräßlich!«
Als Süßchen sah, daß Max ganz außer sich kam vor Angst und Unruhe, sagte sie tröstend:
»Was du dir einbildest! Diese Speise kann doch bei Ameisen nicht die gleiche Wirkung haben wie bei Bienenlarven.«
Max, der sich schon verurteilt gesehen hatte, bis zum Ende des Sommers fünfzehntausend Eier legen zu müssen, holte einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus seiner Brust. Dann bat er, lieber doch keinen Königinnenbrei mehr zu bringen, – man könnte doch nicht sicher wissen, wie er wirke. Das war aber nicht nach dem Wunsche des hungrigen Herrn Grafen Großzang.
»O wie schade«, rief er mit aufrichtigstem Bedauern, »für jeden Mundvoll dieser Götterspeise verpflichte ich mich, von früh bis abends Eier zu legen!«
Da strafte ihn Max mit einem strengen Blick und rief:
»Schäme dich! Ein kaiserlicher Flügeladjutant und solche Pläne! Das müßte sich gut ausnehmen! Dich muß ich einmal ordentlich vornehmen und einige neue militärische Übungen machen lassen!«
Seit sich Kaiser Butziwackel im Bienenhaus befand, inmitten eines Volkes, das seiner Königin treu ergeben war, seitdem er gar das Vertrauen dieser hohen Frau besaß, war aller kindischer Ehrgeiz in seinem Ameisenkopf aufs neue erwacht. Es reiften daraus die wunderlichsten Pläne zukünftiger militärischer Abenteuer, von glorreichen Unternehmungen, Eroberungen und Verbesserungen im Reiche der gesamten Insektenwelt; Süßchen, die sich zwar all diesen geäußerten Träumen gegenüber kühl und ablehnend verhielt, fühlte sich trotzdem geschmeichelt durch Maxens Anspielung, daß sie eines Tages zur Herzogin erhoben werden solle, um die oberste Verwaltung über sämtliche kaiserliche Vorratskammern zu führen. Um Max zufriedenzustellen, hatte sie [187] ihm aus gelbem Wachs und braunem Kittwachs nach seinen Anweisungen eine schöne Kaiserkrone verfertigt sowie auch zwei prachtvolle Harnische. Einen für Max, den anderen für seinen Adjutanten.
In dieser kriegerischen Rüstung wurde täglich feierliche Heerschau gehalten, wobei Max seinem einzigen Offizier und Soldaten befahl:
»Abzählen! zu zwei!«
Und Großzang zählte:
»Eins!«
Rings um die zwei kampflustigen Krieger arbeitete mit fieberhafter Lust das Bienenvolk, um das Leben des heranwachsenden Geschlechtes sicherzustellen. Unter den scharfen Augen der spähenden Schildwachen flogen am Eingang des Stockes die Arbeiterinnen. Sie trugen Futter für die Larven ein und füllten die Vorratskammern mit Lebensmitteln für die schlechte Jahreszeit. In jeder Minute kamen mindestens hundert Arbeits- oder Trachtbienen schwerbeladen am Eingang an, und Max, der oft dabeistand, um zuzusehen, beobachtete, daß jede Biene vier Flüge täglich machte. Da nun das Volk dreißigtausend Bürger zählte, so waren's zusammen hundertzwanzigtausend Ausflüge. Jeder Ausflug aber bedeutete: Ernte. Dabei hatte sich Max aber doch verrechnet, denn von den Dreißigtausend blieb ein Drittel zur Hausarbeit daheim. Es kamen also in Wirklichkeit achtzigtausend honig- und blütenstaubbeladene Bienen eingeflogen. Dieses emsige Aus und Ein gab einem oberflächlichen Zuschauer allerdings den Eindruck von Unordnung und Verwirrung, aber Max sah tiefer in dies Leben und konnte sich nicht genugtun im Bewundern seiner fabelhaften Regelmäßigkeit. Jeder erfüllte pünktlich seine eigene Aufgabe. Während die Sammlerinnen den Blütenstaub ordnungsgemäß in die entsprechenden Vorratszellen einlegten, widmeten sich andere der Reinigung des Gemeinwesens, andere sah er eine tote Biene fortschaffen, und wieder andere beförderten einen fremden Störenfried an die Luft. Mit liebenswürdiger Sorge verpflegt, wuchsen die jungen Larven augensichtlich, und unser Max vergnügte sich damit, sie in ihren Zellen zu besuchen, wo sie mit ihren fußlosen, weichen [189] Körperchen still lagen. Eines Morgens sah er befremdet, wie diejenigen Bienen, die sonst Nahrung für die Larven herbeitrugen, sorgfältig die Zellchen mit einer Wachsdecke schlossen.
»Nun müssen die Kinder ersticken!« rief Max besorgt.
»Ei, warum nicht gar!« beeilte sich eine Biene zu erwidern. »Diese Larven sind nun genügend entwickelt, sie sollen sich jetzt verpuppen, um danach vollkommene Bienen zu werden. Es wird ihnen nicht allzuviel Mühe kosten, das Wachstürchen selbst durchzubrechen.«
Wißbegierig folgte Max solcher Arbeit, und er sah, wie unter andern auch eine Königinnenzelle verschlossen wurde. Ihre Wachsdecke wurde kuppelförmig geformt.
»Potztausend«, rief Max, »wie viele Vorrechte haben doch die Damen!«
Da kam gerade Großzang daher und meldete eifrig, daß die Mahlzeit aufgetragen sei. Max folgte seinem Adjutanten in sein Zimmer, wo eine von Süßchen beauftragte Biene ein leckeres Mahl auftischte. Max kostete und prüfte gedankenvoll den herrlichen Bissen im Munde.
»Das kenne ich doch! Der Geschmack ist mir doch nicht neu! Wo in aller Welt habe ich nur das schon gegessen?«
Plötzlich sprang er erfreut auf:
»Ich hab's! Meine Muskatellertrauben! Es schmeckt nach der Traube an unserem Landhaus!«
Und zur aufhorchenden Biene gewandt, fuhr er in Erregung fort:
»Liebste Freundin, woher ist der edle Saft zu dieser Speise geholt? O sage es mir, du hast keine Ahnung, wie notwendig ich das wissen muß!«
»Ja, der Saft ist gut. Wir holen ihn von einer hübschen Rebe, die sich um ein Menschenhaus rankt.«
»Sie ist's, sie ist's! Mein Weinstock ist es! Sage, sage schnell, ist's weit von hier?«
»Na, ziemlich weit!«
»Höre, liebstes Bienchen, sage mir eines«, bettelte Max dringlich, »könntest du mich nicht auf deinem Rücken hintragen? O tue es, ich will mich ganz leicht machen, und du bist mein Luftschiff, nicht?«
»Heute ist es auf keinen Fall mehr möglich, es gibt zuviel zu tun!«
»Morgen dann?!«
»Vielleicht morgen; kann sein!«
»Also abgemacht, morgen früh«, jubelte Max.
Er sprang und sang vor Freude, wie es sich für einen Kaiser eigentlich gar nicht geziemt. Aber über der Hoffnung, sein Mütterlein zu sehen, vergaß er allen Ehrgeiz und alle Träume der Zukunft mit einem Schlag. Er hätte dem Tag die Geschwindigkeit eines Blitzes gewünscht. Morgen wollte er nach seinem Hause zurückkehren, von dem er auf gröbliche Weise durch Onkel Walter weggeschleppt worden war. Sicher genügte jedesmal schon die Erinnerung an die Heimat, alle bösen Verstimmungen zu verscheuchen.
Es bleibt eben ewig wahr, daß der Gedanke an eine gute Mutter alle schlimmen Pläne aus dem Kopfe verjagt.
Leider verging der Tag nicht mit Blitzesschnelle, sondern wie keiner noch schlich er langsam dahin. Übrigens brachte er schwere schreckliche Ereignisse. Max bemerkte schon in aller Frühe, als er der Königin begegnete, eine unbegreifliche Veränderung. Sie war merkwürdig unruhig und nicht [191] so würdevoll gelassen wie sonst. Er hatte sich zu ihr begeben wollen, um sein Scheiden aus ihrem Reiche zu melden. Sein Adjutant, der ihn bei dem Abschiedsbesuch begleitete, wollte gleich ihm sich bedanken für die große Gastfreundschaft, die beide empfangen hatten.
Voller Erregung und mit rauher Stimme redete die Königin ihn zuerst an:
»Du kommst eben recht! Du hast mich vor kurzem um meine Macht und mein Ansehen beneidet. Ist es nicht so?«
»Gewiß!« erwiderte Max, »ich wüßte niemand, der so mächtig, so verehrt – –«
»Mächtig? Verehrt?« fiel ihm die Königin in seine beginnende Lobrede, »willst du erleben, wie groß meine Macht ist, wie mich meine Untertanen ehren?«
Sie wandte sich an eine vorübereilende Gruppe von Bienen und rief ihnen zu:
»Heda! Bringt mir das Frühstück!«
Bestürzt sah Max, wie die eiligen Bienen den Kopf schüttelten und sich nicht weiter um den Befehl kümmerten.
»Ha, siehst Du, wie gehorsam meine Untertanen sind! Und warum? Man erwartet die Geburt einer neuen Königin, der ich selbst das Leben gab.«
»Wie!« rief Max, »diese großen Zellen dort im Hintergrunde enthalten also Königinnen, die dich stürzen wollen?« Die Königin antwortete nicht, sondern sah gespannt nach der Richtung, die Max bezeichnet hatte. Mit einem Wutschrei stürzte sie unversehens dorthin:
»Ah, da sind sie ja schon, diese neuen Königinnen!« rief sie gellend.
Max folgte ihr erschrocken. Aber bei den Königinzellen war ein dichter Schwarm von Arbeiterinnen, die ersichtlich [192] Wache standen. Sie hatten die Ankunft der alten Königin im voraus erwartet, warfen sich ihr entgegen, trieben sie zurück und schrien sie an:
»Hier kommt niemand durch!«
Max war außer sich über eine solche Frechheit. Er hatte seit seinem Eintritt ins Bienenhaus so viele Beweise von Ergebenheit gesehen, die dieses Volk seiner Herrscherin zollte, und konnte darum nicht glauben, daß alles plötzlich anders geworden sei und heller Aufruhr herrsche. Nun geschah doch das Unbegreifliche; es blieb nicht mehr zu zweifeln: eine Umwälzung begann. An diesem Tag waren nur ganz wenig Bienen ausgeflogen, die Stadt steckte voll von erregten Arbeiterinnen, welche da und dort in Gruppen herumstanden und hastig hin und her redeten. Im Vorübergehen hörte Max eine Biene, die mitten in einem beifallspendenden Schwarm eine Rede hielt:
»Es sind zuviel hier bei uns!« schrie sie, »seit zwei Tagen sind fünftausend neue Bürger geboren. Wenn wir nicht alle ersticken wollen, müssen wir einen Entschluß fassen!«
Max begriff nichts. Aber gewiß handelte es sich um große Dinge im Staat. Er suchte daher Süßchen auf, um es zu befragen; aber in der wirren Menge konnte er sie nicht finden. Er verlangte Auskunft von andern Bienen, aber sie antworteten ihm nicht. Sie waren alle zu erregt, zu beschäftigt mit eigenen Gedanken, um auf ihn zu achten.
Max ging jetzt auf sein Zimmer und blieb dort in schweren Gedanken. Hier traf er mit Unwillen Großzang, der, aller höheren Interessen bar, die Reste des Muskatellerhonigs verzehrte.
»Unglückseliger!« rief er, »wie kannst du jetzt noch deinem unersättlichen Magen dienen, wo draußen das ganze Volk in hellem Aufruhr tobt!«
Der Adjutant stand mit offenem Munde vor Staunen da. Dann gab er sich einer letzten Versuchung hin und rief:
»Majestät, noch einen Mundvoll, dann komme ich sofort!«
Max aber, auf dem Gipfel seines Zornes, ergriff ihn an der Gurgel, schüttelte ihn heftig und schrie:
»Wenn du diesen Mundvoll hinunterschluckst, dann sollst du mich kennenlernen!«
Er ließ ihn nicht eher los, bis er den schönen Mundvoll herausgegeben hatte.
»Was gibt's denn?« stammelte Großzang, sobald er wieder Atem bekam. »Sind denn alle verrückt geworden in dieser Stadt?«
Die Gärung hatte indessen zugenommen. Jetzt summten und brummten alle Bienen, schlugen mit den Flügeln und gebärdeten sich so aufgeregt, als ob sie wirklich alle den Kopf verloren hätten. Da näherte sich die alte Königin. Erhaben und bewundernswert in ihrer Majestät sprach sie:
»Mein Volk! Bis jetzt glaube ich meine Pflicht als gemeinsame Mutter peinlich genau erfüllt zu haben. Die ungeheure Zahl der jungen Bienen beweist es, die ich unter euch sehe, lauter Kinder, die seit kurzem geboren sind und denen ich das Leben gab.«
»Wahr ist's! Es lebe die Königin!« riefen viele.
»Danke!« erwiderte sie kühl das Haupt neigend. »Ich sehe, meine Sendung ist erfüllt; die Nachkommenschaft, die ich geschaffen und für die ihr alle gearbeitet habt, braucht [194] Platz. Sie muß ihre eigene Tätigkeit hier beginnen, muß ein neues und junges Reich gründen.«
Schon öffnet sich die Zelle einer neuen Königin.
»Es lebe die neue Königin!« riefen andere.
»Sie lebe!« fuhr die alte Königin fort, »und sei glücklich in eurer Mitte! Doch ihr wißt, daß in einem geordneten Bienenstaat nicht zugleich zwei Königinnen, zwei Mütter, leben dürfen. Unverbrüchlichen Gehorsam, zarte Sorge und unteilbare Liebe bringt ihr der einen Mutter des Volkes entgegen. Nie werden diese Gefühle für zwei bestehen können. So bleibe denn die junge Königin hier. Möge sie neue, starke und mutige Geschlechter erzeugen! Ich habe meine Lebensaufgabe noch nicht ganz erfüllt; viele neue Wesen fühle ich noch an meinem Herzen schlagen, viele junge Leben haben das meine noch nötig. Ich scheide daher und gehe, um ein neues Reich zu gründen, neuen Kindern Mutter zu sein. Ich danke der Natur, die mir die Kraft gegeben hat, zwei Völker zu gründen und zu beherrschen. Wer mich liebt, der folge mir nach!«
Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, ging sie dem Ausgang zu.
In der Volksmenge entstand jetzt eine unbeschreibliche Verwirrung, ein schreckliches Gedränge. Eine große Anzahl von Bienen folgte der alten Königin zum Ausgang. Auf ein Zeichen von ihr nahmen sie in raschester Bewegung ihren Flug hinaus zum Bienenstock. Mitten aus dieser dichten Wolke von summenden Bienen hörten die beiden Ameisen eine Stimme rufen:
»Lebe wohl, lieber Max!«
Schnell lief er dem Ausgang zu, wo er Süßchen sah, die, ihrer alten Königin treu, dem ausziehenden Schwarm [195] folgte. Die zwei Ameisen kehrten wehmütig in die Stadt zurück und waren untröstlich über die Veränderungen. Sie wurden noch schmerzlicher bewegt, als sie sahen, daß die Erregung im Hause immer noch wuchs. Die zurückgebliebenen Bienen zogen in unordentlichen Reihen zu den Königszellen, wo immer noch der dichte Bienenschwarm Wache hielt, der die alte Königin abgewiesen hatte. Jetzt widerhallte im Stock ein Schreien und Rufen:
»Obacht! Hier ist sie schon!«
Eine junge Biene hatte eben die Wachsdecke ihres Geburtszimmerchens durchbrochen. An dem längeren Körper sowie an den kürzeren Flügeln konnte man gleich sehen, daß es ein Weibchen war. Sie schaute rings umher. Als sie neben sich die königlichen Zellen bemerkte, geriet sie in so schlechte Laune, daß sie sich plötzlich mit gezücktem Stachel wuchtig auf die nächste Zelle warf. Sie war schon im Begriffe, deren Decke mit ihrem spitzen Degen zu durchbohren und schrie:
»Was sollen diese andern? Weg mit ihnen!«
Die stets bereiten Wachen aber verhinderten die rasende Biene an einer solchen Freveltat. Schnell wurde sie vom Volke umringt, fortgezogen, und nicht nur an den Flügeln, sondern auch an den Beinen festgehalten. Unmöglich konnte sie daher einen zweiten Versuch erneuern. Vergebens suchte sie sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Ermüdet und nach überwundenem Zorn einsichtig genug, blieb sie schließlich sitzen. Man sah aber, es ging in ihrem Innern etwas vor; denn ohne die Flügel auszubreiten, bewegte sie diese leise bebend. In dieser Stellung sang sie erst ganz leise, dann immer lauter das Morgenlied ihres Daseins:
Alle Bienen hielten still in der Arbeit ein. In Ehrfurcht neigten sie das Haupt. Unwiderstehlich erfaßte sie das Lied der Mutter und Königin. Alle gelobten Liebe und Treue.
Nach einigen Tagen erhob sich die Königin und sprach:
»Ich habe meinen hohen Beruf erfaßt und kenne meine Bestimmung. Nun gehe ich hin, sie zu erfüllen. Wer begleitet mich zum frohen Hochzeitsfluge?«
Eine Anzahl Bienen summte mit ihr lustig ins Freie. Drinnen aber rief man ihnen nach:
»Heil unserer Königin! Sie kehre glücklich und gesegnet wieder!«
Max, der dabeistand, hörte noch eben zurückrufen:
»Leb' wohl, Kaiser Butziwackel!«
Es war die Stimme seiner Freundin, die er als Luftschiff sich erkoren hatte.
»Ach Gott«, seufzte er traurig, »wie lange wird es jetzt wohl dauern, bis ich mein Haus wiedersehe!«
Max hatte als Kind schon vom Schwärmen der Bienen vernommen, aber jetzt erst, wo er selbst als Ameise am Insektenleben teilnahm, erfaßte er die Ursache, warum ein Bienenschwarm den Mutterstock verläßt.
Die Bevölkerung war durch den jungen Nachwuchs so zahlreich geworden, daß sie sich mehr als verdoppelt hatte. Der Stock wurde daher zu eng, er konnte die Tausende von Insekten nicht mehr fassen. Gesundheitspflege, Reinlichkeit, geregelte Arbeit konnten in so beengtem Zusammenleben des Volkes nicht mehr bestehen; die gesellschaftliche Ordnung wurde in dieser ungeheuren Masse unmöglich; die Verwirrung war auf den Gipfel getrieben, die weisen Einrichtungen drohten durch Übervölkerung zu entarten. Was tun? Man brauchte ein Mittel und zwar ein rasches, um eine Verminderung des Volkes zu erreichen; es war nötig, daß ein Teil der Bevölkerung aus dem Vaterlande auswanderte, damit es nicht als Ganzes zugrunde gehe. Und siehe! Die alte Königin, die Mutter des Volkes, die Gründerin des Staates, liefert den höchsten Beweis ihrer Hingebung und Sorge. Sie geht zuerst. Sie wandert freiwillig aus und verläßt alles, was sie geliebt hat. In höchster Aufopferung verbannt sie sich vom Vaterland, um es zu retten. Sie geht, um irgendwo in der Fremde mit denen, die ihr freien Willens folgen, einen neuen Staat zu gründen. Sie gibt allen jungen Bienenmüttern das edle Beispiel, wie man erziehend auf den Gemeinsinn der Nachkommen wirkt. Alles das geschieht, um künftigen Geschlechtern ein gesundes Dasein zu sichern! Wenn so Hohes erreicht werden soll, was liegt daran, daß viele den Ort verlassen müssen, an dem [198] sie geboren sind? Sie dienen künftigem Leben und erfüllen damit die von Gott gegebene Aufgabe.
Max, der auch bisweilen auf einen klugen Gedanken kam, fand für das Schwärmen der Bienen einen Vergleich in der Geschichte der Menschheit. Da war es zur Zeit der Völkerwanderung auch geschehen, daß ganze Stämme wegen Übervölkerung neue Wohnsitze suchen mußten.
Die Umwälzungen im Bienenstaate und die neugeschaffenen Verhältnisse machten Max nach und nach das Leben bei seinen Gastfreunden unbehaglich. Er vermißte die alte Königin; seine Freundin Süßchen war fort. Fast alle Bienen, die vom Raubzug des Totenkopfes wußten, und bei denen Max nebst Großzang aus Dankbarkeit für die Errettung in einem gewissen Ansehen standen, hatten sich dem Schwarm beim Ausflug angeschlossen. Das Volk war ein anderes geworden, es hatte sich verjüngt und erneut, und die Zeit der Verwirrung war jetzt beendet. Während dieser hatte keiner sich um die beiden Ameisen gekümmert, aber nun passierte es manchmal, daß man im Vorbeigehen scheele Blicke sah und gehässige Bemerkungen hörte. Es stand sehr zu befürchten, daß die Bienen bald eine ganze Flut von Fragen an sie richteten: »Wer seid ihr? Was tut ihr da? Mit welchem Rechte lebt ihr bei einem Volke, das nicht das eure ist?« Dann quälte den armen Kaiser noch ein anderes schweres Bedenken:
»Wenn sie mich für einen Feind halten, kann es geschehen, daß sie mich eines schönen Tages einbalsamieren, wie sie es mit dem Totenkopf gemacht haben.«
Die Furcht, eine Mumie zu werden, reifte einen großen Entschluß.
»Adjutant«, sagte er zu Großzang, »wir müssen uns zum Abmarsch vorbereiten.«
»Wieso?«
»Wir müssen fort, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß diese neuen Bürger uns mit Kittwachs einhüllen, um zwei Mumien aus uns zu machen.«
Großzang hörte sehr niedergeschlagen zu:
»Muß denn das sein? Es war so angenehm hier!« grollte er. »Wer wird uns künftig Honig geben? Wie köstlich war das Muskatellergericht! Und den Königinnenbrei bekomme ich nirgends wieder!«
»Ich werde dir Honig geben! Ich bereite dir auch ein Muskatellergericht!« so drohte ihm erzürnt Max. »Mach', daß wir fortkommen von hier!«
Großzang fügte sich mit wehem Herzen. Am Ausgang des Bienenstockes standen sie noch ein Weilchen, überschauten Abschied nehmend nochmals die gastliche Stätte und sagten still ein herzliches Lebewohl.
Hatten sie hier doch soviel Gastfreundschaft genossen, und bis jetzt war ihnen nur Gutes widerfahren. Kaum hatten sie drei Schritte gemacht, als sie im Hause hinter sich festliches Gesumse hörten, das sich dem Ausgang näherte. Es erschien eine stattliche Bienenschar, die junge Königin inmitten. Singend und tanzend flogen sie vorm Haustor auf und nieder. Diese jungen Bienen hielten scharf Umschau und prägten sich die Lage ihrer Wohnung und deren Eingang genau ein. Dann unternahm die Königin einen Flug um den Stock, worauf sie zu den Genossen zurückkehrte. Ein zweites und drittes Mal wiederholte sie dies gefällige Spiel, bis sie endlich fröhlich ausrief:
»Nun finde ich meinen Weg sicher wieder allein zurück!«
Beifall summend rief die Menge:
»Es lebe die Königin! Es lebe die Braut!«
Hoch in die blauen, sonnigen Lüfte ging der Flug. Unter freiem Himmel, inmitten des Wohlgeruches aller Blumen jubelten die Männchen summend ihr nach. Sie erwählte sich einen Bräutigam, mit dem sie sich vermählte. Dieser starb gleich nach der Hochzeit draußen auf blumiger Flur. Die Königin aber kehrte als fruchtbare Mutter zurück zu ihrem Volke und sang ihr Lied:
Die zwei Ameisen kamen am Fuße des Baumes an, der in seinem hohlen Innern das Bienenvolk beherbergte, als die Sonne im höchsten Mittagglanze stand. Das von ihren Strahlen liebkoste Land leuchtete vor Freude und Behagen im goldenen Lichte.
Max sah noch einmal empor zur Höhe, um dem gastlichen Bienenstock einen letzten Gruß zuzuwerfen, da bemerkte er, daß um ihn und Großzang ein dichter Regen von geflügelten Insekten herniederging, wobei ein kläglicher Chor von Seufzern ertönte:
»O weh, o weh! Hilfe! Ich sterbe. – Ich sterbe.«
Am Fuß der Eiche war der Boden bedeckt von dickleibigen Bienen mit wahren Glotzaugen.
»Aha, ich merke was!« murmelte Max. »Das sind die armen Männchen!«
Es waren in der Tat die Drohnen. Die Hochzeit mußte beendet sein. Die Arbeitsbienen durchbohrten mit ihrem furchtbaren Speer die wehrlosen Männchen und warfen sie aus der Stadt hinaus; denn sie wollten darin nur die geschickten und fleißigen Arbeiterinnen behalten.
»Gewissenlose Unterdrücker der Wehrlosen!« rief Max empört aus und wendete sich zornig ab.
Wir wollen die Sache mit Ruhe erwägen. – Dieses wilde Gemetzel ist zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung der Bienen nötig. Die Männchen, die den Namen Drohnen haben, stellten jetzt nichts weiter vor als eine Anzahl von Herumstehern, Nichtstuern, Schmarotzern, die von den Mühen anderer leben wollen.
Die Arbeiterinnen sind weise genug, die unnützen Faulenzer aus ihrem Staate zu verjagen, wo jeder von der Arbeit lebt.
Dieser Auftritt war allerdings nicht geeignet, in den beiden Ameisen frohe Gedanken zu erwecken; sie verfolgten ihren Weg mit niedergeschlagenen Augen, schwermütig, ohne Ziel, ohne Hoffnung in eine unsichere, dunkle Zukunft hinein. Max glaubte nicht mehr an eine Möglichkeit, heimzukehren; er dachte sich verurteilt, das Leben eines unsteten, ewig herumirrenden Insektes zu führen; er wagte nicht mehr zu hoffen, daß es ihm in diesem Leben je beschieden sei, als Herrscher eines großen Reiches seine ehrgeizigen Träume zu verwirklichen.
Großzang war bescheidener, erinnerte sich mit Wehmut an die drei täglichen Mahlzeiten, von denen eine süßer geschmeckt hatte als die andere. Nun waren die schönen Tage vorüber! Von jetzt ab hieß es wieder gegen den Appetit ankämpfen, Großzangs wildesten und unüberwindbarsten Feind. So wanderten die beiden geraume Zeit, als sie über sich in den Zweigen eines weitästigen Baumes lautes Gesumme hörten.
Sie blieben stehen und lauschten.
An dem äußersten Zweige eines der untersten Äste hing eine Riesentraube von Bienen. Eine klammerte mit den [203] Vorderbeinen fest an der andern, und aus dieser lebenden Traube drangen tausend Stimmen, die deutlich die Worte summten:
»Jetzt hängen wir lange genug hier. Wir müssen einen Ort finden, wo wir uns einrichten, aber in der Nähe! Die Königin hat den Leib voll Eier und kann nicht mehr weit fliegen. Schnell, dorthin! Nein, lieber dahin! …«
Max brach in einen hellen Freudenschrei aus, denn mitten aus dem Gesumme hatte er seine Freundin Süßchen herausgehört. Zu gleicher Zeit rief er auch schon Großzang warnend zu:
»Obacht! Hier ist der Fuß eines großen Tieres.«
In Wirklichkeit war es eines Mannes Fuß. Aber die kleinen Insekten machen keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem Menschenfuß und dem eines Ochsen; sie wissen nur, daß beide mit der nämlichen Gedankenlosigkeit stets bereit sind, sie zu zertreten. Max konnte sich gerade noch retten und sah vor sich einen Mann mit einer Drahtmaske über dem Gesicht. In den Händen hielt er, die Öffnung nach oben gerichtet, einen glockenförmigen Strohkorb und näherte diesen vorsichtig dem Zweig, von dem die Bienentraube herabhing. Max hatte kaum Zeit zu rufen:
»Süßchen, gib acht, er fängt dich!«
Da hatte der Mann dem Zweig schon einen heftigen Stoß gegeben, so daß die ganze aneinanderhängende Bienenschar in den Korb fiel. Geschwind deckte der Mann den Korb mit einem Brettchen zu und ging mit dem Bienenvolke freudig grinsend fort. Kurz entschlossen sagte Max zu Großzang: »Rasch! Mir nach!« und kletterte auf den Stiefel des Mannes, dann stieg er weiter empor und rastete erst auf dem Rande des Stiefelrohres.
»Bist du da, Adjutant?« fragte Max besorgt.
»Zu Befehl! Aber wozu diese Kletterpartie?«
»Aus zwei Gründen, lieber Adjutant! Erstens sparen wir uns die Mühe, zu Fuß zu wandern, und zweitens lassen wir uns sicher und bequem an den Ort tragen, wo unsere Freunde ihre neue Stadt bauen werden.«
»Wohin trägt sie denn dieser Mensch?«
»Ich vermute, in einen Bienenkasten, den Menschen gebaut haben, um den Honig ernten zu können.«
»Spitzbuben!« schrie Großzang, der die Sache vom Ameisenstandpunkt aus betrachtete. »Schämen diese großen, dicken Menschen sich denn nicht, von der Arbeit winzig kleiner Geschöpfe zu leben? Solche Schmarotzer sollte es nicht geben!«
Max schwieg betroffen. Auch war die Reise zu unbequem zum Plaudern. So oft der Fuß, auf dem sie saßen, auf die Erde stapfte, gab es beiden einen solchen Ruck, daß sie sich kaum im Gleichgewicht halten konnten, um nicht herunterzupurzeln.
»Wir müssen einen sicherern Platz suchen«, entschied Max. »Hier ist scheint's dritter Klasse; wir wollen sehen, ob es uns nicht gelingt, in ein Abteil erster Klasse zu gelangen.«
Gefolgt von Großzang hielt er sich an den Hosen des Mannes fest, überschritt sodann kühn wie ein Seiltänzer ihren unteren Saum, kletterte außen empor bis zur Jacke und stieg an dieser hoch, bis er den Rockkragen erreicht hatte.
»Hier sitzt man gut«, rief er. »Es ist zwar ein bißchen schmierig; für erste Klasse dürfte es sauberer sein. Der Mann, der diesen Kragen trägt, hält nicht viel auf Reinlichkeit!«
Er hatte kaum diese Betrachtung angestellt, als er ganz nahe über sich, mitten in einem Walde von roten Haaren, ein graues Tier sah, das neugierig auf die beiden Ameisen herunterschaute.
»Heda!« bemerkte es mit bissigem Ausdruck, »was wollt ihr hier oben? Das ist mein Feld. Wißt ihr, wer ich bin?«
»Um Gottes willen, sag' es lieber nicht!« sprach Max mit Ekel, »es ist zwar das erste Mal, daß ich dich sehe, allein ich erkenne dich nach dem Orte, wo du wohnst!«
»Oje! du brauchst dich nicht so zu zieren«, sagte die Sprecherin, streckte ihren Leib aus dem zerrauften roten Wald heraus und klammerte sich dabei mit scharfen Krallen am Ende eines Haares an; »ich gehöre zu einer Insektenart, die geradesoviel gilt wie die deine!«
»Sag's nochmal, so will ich es glauben«, spöttelte Max.
»Jawohl! Was bildest du dir ein? Ich bin eine brave Laus, und in meiner Ordnung gibt es berühmte Gesangskünstler, die Zikaden, kühne Seefahrer, die auf dem Wasser gehen können, wie der Wasserläufer, berühmte Maler, die das Geheimnis einer herrlichen Farbenbereitung besitzen, die Kochenille; auch schimmernde Sterne gibt es bei uns, die Licht verbreiten – die Laternenträger!«
»Kann sein«, erwiderte Max unwirsch; »ich kann mir denken, wie diese guten Leute sich schämen, mit dir verwandt zu sein!«
»Oho! Ihr Ameisen schämt euch aber nicht, soviel ich weiß, meine Verwandten, die Blattläuse auszusaugen, die ihrerseits den Pflanzen den gleichen Dienst erweisen wie wir den Menschen.«
»Saubere Dienste!« höhnte Max.
»Sauber oder nicht! Ich sage dir nur, wenn du noch weiter da heraufspazierst, rufe ich meine sämtlichen Kinder herbei, dann kannst du etwas erleben.«
»Ha, ha, Kinder hast du auch?«
»Das wollte ich meinen«, sagte das graue Weiblein stolz; »ich kann fünfzig Eier legen in einem Tage.«
»Glückauf! Möchten sie alle fünfzig noch jung geknickt werden!«
Max wandte sich gern ab, lief vom Kragen eilfertig über die linke Schulter des Mannes herab und versteckte sich tief in einer Ärmelfalte, nur um das greuliche Tier nicht länger zu sehen.
»Eine merkwürdige Sache«, bemerkte Großzang, der Max auf Schritt und Tritt nachlief, »dieser Mensch raubt den Bienen ihren Honig, und das Insekt da droben saugt dem Menschen das Blut aus.«
»Na, an Steuern und Abgaben kommt keiner vorbei«, schloß Max die für Großzang merkwürdig kluge Beobachtung. »Aber es muß einer schon ein arg schmutziger Kerl sein, wenn er den Läusen freiwillig einen Blutzoll entrichtet!«
Schon geraume Weile reisten Max und sein Adjutant auf dem Ärmel, als der Mann anhielt. Max sah zwischen den Bäumen künstliche Bienenwohnungen und erkannte, daß er sich im Besitztum des Bienenzüchters befand, der mit seinem Vater wohl bekannt war, und der ungefähr tausend Schritte von seinem Haus entfernt wohnte: für ein Kind eine kleine Entfernung, aber ein ungeheurer Weg für Ameisenbeinchen! Der Mann, auf dem Max reiste, beugte sich [207] nieder und stülpte mit rascher Bewegung die Strohglocke über ein zu ihr passendes, walzenförmiges Unterteil. Jetzt war die neue Familie in einem kuppelförmigen Bienenhäuschen untergebracht, in dem sie sich sehr wohl befand, denn die fleißigen Arbeitsbienen machten sich sogleich an ihre Geschäfte. Max gab Großzang ein Zeichen und rief:
»Schleunig absteigen!«
Zunächst liefen die beiden am Ärmel empor, gegen die Schulter hin, um dann über den Rücken der Joppe den Abstieg zu nehmen. Der Mann hatte sich inzwischen die Drahtmaske abgenommen und beguckte sorgfältig seine Bienenvölker. Eines davon schien verdächtig unruhig. Er mußte, um nachzusehen, was da vorgehe, den Deckel heben. Die Bienen waren schlecht gelaunt und sehr erregt. So stürzte im Nu ein wütendes Heer aus dem Stocke auf den Mann los und hüllte ihn wie eine Wolke ein, brummend und summend sein Gesicht bedrohend. Schnell lief er davon; doch die zornigen Bienen verfolgten ihn und zerstachen ihm jämmerlich Gesicht und Hände. Endlich ließen sie von dem Gepeinigten ab, der sich fluchend an einem Grabenrand niederließ, den Kittel auszog und sich mit ihm das schmerzhaft anschwellende Gesicht rieb. Dann legte er das Kleidungsstück neben sich ins Gras.
Das war alles so schnell vor sich gegangen, daß die beiden Reisenden todsicher auf unbekanntes Gebiet gestürzt wären, hätten sie nicht das unglaubliche Glück gehabt, in die Rocktasche zu fallen. Freilich war es trotzdem ein zweifelhaftes Vergnügen, denn Max und sein Adjutant befanden sich jetzt mitten in einem Gekrümmel von Tabakresten und Zigarrenstummeln. Um dem greulichen Gestank zu entgehen, blieb nichts anderes übrig, als in die Tabakpfeife zu flüchten, [208] wo es durchaus nicht besser roch. Als der Kittel bewegungslos lag, sagte Max:
»Nur geschwind heraus! Wir ersticken hier!«
Nicht ohne Mühe fanden sie den Ausgang und liefen im Eiltrab davon, dem Graben entlang, an dessen Rand der Verletzte jammernd die Bienenstachel sich aus den Händen entfernte. Der arme, gehetzte Kaiser rannte mit seinem Adjutanten so schnell, als gelte es einen Wettlauf an ein bestimmtes Ziel. Es war aber die innere Unruhe über die Ungewißheit seiner Lage, die ihn so dahinjagte. Die Hoffnung, bei den befreundeten Bienen wieder anzukommen, war vernichtet. Vielleicht war er ihnen nahe, wer weiß es? Aber die Reise in der finstern Tasche und die Kreuz- und Quersprünge des zerstochenen Bienenvaters waren schuld, daß sie beide aus dem verlässigen Ortssinn der Insekten keinen Nutzen ziehen konnten. Sie rannten also aufs Geratewohl vorwärts, und Max hätte gern sein Kaiserreich, [209] das er nicht besaß, hingegeben für ein sicheres Nachtquartier. Großzang hätte für einen Imbiß der bescheidensten Art seinen Grafentitel geopfert.
Die zwei Wanderer waren bereits ein gut Stück Weges dahingezogen, als Großzang, seinen Kaiser betrachtend, plötzlich erschrocken ausrief:
»Majestät! Die Krone!«
Max betastete eilig sein Haupt. Die Krone, die kaiserliche Krone, sie war nicht mehr da! – Ach Gott! die lag in der Joppentasche, bei den Stummeln und der Tabakspfeife, als klägliches Beispiel, wie man aus den höchsten Ehren dieser Welt jäh in den Staub stürzen könne. Das war für unsern Helden ein harter Schlag! Er blieb erst stumm stehen, dann übermannte ihn der Schmerz; er fiel zur Erde und brach in Wehklagen aus:
»Teuerster Adjutant! Es ist unnütz, noch weiter zu gehen. Wohin? Wozu? Es ist gescheiter, wir erwarten hier den Tod – alle beide.« Ohne auf Großzang zu hören, der ihn trösten wollte, murmelte er:
»O Mutter, meine liebe, gute Mutter!«
Der Gedanke an die Mutter hatte ihn noch jedesmal gestärkt, so auch diesmal. Als er den Blick erhob, bemerkte er ein schönes Insekt, das auf ihn zuflog. Dies Insekt kannte er. Es erinnerte ihn an sein teures Haus, seine liebe Familie. War es doch auch in jenem Haus geboren wie er selbst.
»Frau Holzwespe!« rief Max ihm zu.
»Ei«, sprach die Holzwespe erfreut, »bist du es denn wirklich, lieber Freund?«
Es war richtig jener stahlblau leuchtende Hautflüger, der damals als Larve für sich und Max den Weg durch den metallenen Türbeschlag gebohrt hatte.
»Ja, ich bin es! O liebe Holzwespe, wenn du wüßtest, welcher Trost, welche Freude es für mich ist, dich zu sehen!«
»Für mich keine geringere!« sagte das Insekt artig und setzte sich neben die zwei Ameisen. »Niemals vergesse ich dir den Dienst, den du mir erwiesen hast! Du hast mich aus der Gefahr gerettet, von jener Menschenfrau zerdrückt zu werden! – Aber wie kommst du denn hierher?«
»Ach, das Unglück hat mich so verfolgt, daß ich nicht mehr weiß, wo ich mein müdes Haupt hinlegen soll!«
»O du Ärmster!«
Die Holzwespe dachte ein wenig nach, dann sagte sie:
»Warte! Vielleicht kann ich dir eine Wohnung verraten, wo du, wenn mich nicht alles täuscht, gut aufgehoben wärst. – Siehst du die Eiche dort?«
»Jawohl, ich sehe sie!«
»Also gut! Als ich vorhin auf ihren Zweigen saß, hörte ich in ihrem Innern ein schwaches Geräusch, wie wenn jemand drinnen Holz zersägte. Du weißt, in solchen Dingen habe ich ein wenig Erfahrung. Irre ich nicht, so handelt es sich um ein Insekt, das seine letzte Verwandlung erreicht hat und jetzt versucht, herauszukommen. Willst du, daß wir zusammen die Wohnung besichtigen?«
»Ja, natürlich!« willigte Max freudig ein.
So gingen sie zusammen zur Eiche, und nachdem Max der Holzwespe seinen Adjutanten vorgestellt hatte, sprach er zu ihm:
»Teurer Adjutant, dieser zarte Freund beißt sogar Eisen durch; ich habe es selbst gesehen!«
Jedoch Großzang war nicht einmal so arg verwundert darüber, wie es Max erwartet hatte. Er hatte selbst so sehr Hunger, um in ein Eisen zu beißen, und sagte kühl:
»Ich glaub's gern!«
Die Holzwespe stieg an der Eiche empor, gefolgt von den beiden Ameisen. An einer gewissen Stelle hielt sie inne:
»Hört ihr's!« fragte sie hinhorchend.
Man vernahm ein ganz leises Geräusch aus dem Innern des Baumes.
»Wir müssen etwas warten«, sagte sie weiter, »aber es dauert sicher nicht mehr lange. Der Freund da drinnen arbeitet wie rasend.«
Richtig, gleich darauf, unmittelbar vor Max, öffnete sich ein winziges Löchlein, und es erschien ein drollig lebhaftes Köpfchen, das sich nach allen Seiten hin bewegte und zugleich große Freude und großes Staunen ausdrückte.
Man hörte ein süßes, feines Gesumse, das lautete:
»Endlich atme ich dich, du gesegnete Luft!«
Aus dem Löchlein kamen jetzt zwei reizende Pfötchen hervor, die sich fest am Rande anklammerten, und nach und nach erschien ein prächtiges Insekt mit Flügeln und einer herrlich metallisch violetten Färbung.
»Eine Biene!« rief Max, der eine Flut von Fragen in Bereitschaft hatte. Doch das Insekt breitete mit Wonne die Flügel aus, streckte und putzte die Beinchen, wiegte den Kopf hin und her, machte sodann eine artige Verbeugung, flog fort und rief:
»Wie wunderschön ist das Leben!«
»Sie hat recht«, sagte die Holzwespe zu Max, der über diese rasche Flucht ein wenig beleidigt dastand; »glaube mir, Lieber, für ein Geschöpf, das so lange im Finstern eingeschlossen war, das als Larve nur in einer einzigen [212] Hoffnung lebte, für den einzigen Zweck arbeitete, endlich als vollkommenes Insekt an das Licht zu kommen, ist dieser Augenblick, wenn er endlich da ist, zu wichtig, als daß man sich mit neugierigen Leuten ins Plaudern einließe. Ich kann das sagen, ich habe es selbst erlebt.«
»Ich kann es begreifen«, sagte Max beschwichtigt.
Aber die Gleichgültigkeit Großzangs der erstaunlichen Nagekunst seiner Wespenfreundin gegenüber, konnte er noch nicht verwinden. Es drängte ihn daher, seinem stumpfsinnigen Adjutanten den Vorgang näher zu beschreiben:
»Verstehst du denn auch, diese Dame hat Eisen, richtiges Eisen zernagt, um aus ihrem Gefängnis auszubrechen!«
»Ach ja«, sagte Großzang gelangweilt. »Meinst du denn, ich sei taub? Übrigens, um ein solches Meisterstück auszuführen, kommt es nur auf den Zustand an, in dem sich einer gerade befindet!«
»Wie meinst du das?«
»Nun, ich zum Beispiel, ich würde gegenwärtig Eisen nicht nur zernagen, sondern sogar aufessen.«
Max betrachtete ihn kopfschüttelnd und hätte ihm gern einiges erwidert, wenn nicht im selben Augenblicke aus dem Löchlein ein zweites Köpfchen hervorgeschaut hätte, dem ersten gleich in jeder Hinsicht.
Mit süßem Gesumme sprach das Bienchen:
»Gelobtes Land, endlich sehe ich dich!«
Und wie seine Schwester breitete es die Flügel aus, machte eine Verneigung und flog davon, ohne daß Max nur ein Wort mit ihm hätte sprechen können. Da verlor er die Geduld und sagte entschlossen:
»So, nun ist die Reihe an mir; ich trete jetzt in das Haus ein.«
Wie bestürzt blieb er aber stehen, als er drinnen immer noch wütend bohren und sägen hörte! Nicht lange, so erschien abermals ein zartes Köpfchen und rief:
»Endlich!«
»Endlich möchte ich doch auch wissen«, unterbrach sofort unwillig Max die begonnene frohe Rede, und griff fest zu. »Jetzt habe ich satt mit der unanständigen Eile. Endlich! Wer bist du? Wie heißt du? Woher kommst du? Was willst du tun? Wohin gehst du? Ich sage dir, wenn du mir nicht Rede stehst, so lasse ich dich nicht fliegen, und du kannst zusehen, wie du deine Geschäfte ohne Kopf besorgst!«
Bei der Drohung, den Kopf zu verlieren, erschrak das arme Geschöpf dermaßen, daß es kein Wort herausbrachte. Max bereute schnell seine grobe Heftigkeit und sagte lächelnd:
»Sei doch nicht so! Es war nur Scherz. Ich tue dir gewiß nichts.«
»Danke!« sprach gerührt die Biene. »Es wäre gräßlich, wenn man sterben müßte, wo man eben zu leben anfängt.«
»Fürchte dich nicht! Ich bin ein großer Bienenfreund, und du bist doch eine Biene, nicht wahr?«
»Ja, ich bin eine Holzbiene.«
»Eine Holzbiene? – Du arbeitest also wie ein Schreiner? Ich hätte dich eher für einen Tapezier gehalten.«
Max glaubte, eine gute Bemerkung zu machen, und war daher enttäuscht über den ernsten Ton, mit dem die Holzbiene erklärte:
»Die Tapezierbienen bauen ihr Nest etwas anders.«
»Was? Es gibt wirklich solche?«
»Natürlich; wie es Maurerbienen, Wollbienen und Erdbienen unter uns gibt.«
Die Holzbiene gab jetzt ihre Ungeduld zu erkennen. Max bemerkte es und sagte:
»Ich sehe, du hast es eilig, und ich halte dich mit meinem Geplauder auf. Sage mir nur noch schnell: Ist dies hier dein Haus?«
»Es war bis jetzt mein Haus«, erwiderte die Biene, »aber von heute an habe ich ein größeres, schöneres, helleres, meine Wohnung ist jetzt die weite Welt!«
»Dann bleibt dies Haus leer, und man braucht keine Miete zu bezahlen, wenn man hier wohnen will?«
»Nein, aber es sind noch meine zwei Schwestern in ihren Zimmern da drinnen. Sie arbeiten schon an ihrer Türe. Hörst du sie?«
Man vernahm in der Tat jetzt wieder das bekannte Geräusch, als ob jemand immerzu Holz sägte.
»Unser Haus ist von meiner Mutter erbaut worden, so wie ich eines für meine Kinder machen will. Darum kann ich dir sagen, wie es gemacht wird. Man gräbt einen schönen Gang in einen Baumstamm, am Ende desselben legt man einen Brei aus Honig und Blütenstaub hinein.«
Da schrie Großzang gierig dazwischen:
»Laß mich sehen, wie du den Teig bereitest!«
»Seinerzeit werde ich ihn schon machen«, fuhr die Biene fort, »ich sammle ihn von Früchten und Blumen. In die Mitte des Teiges legen wir das Ei, dann schließen wir das Zimmer mit einem Mäuerlein aus Sägemehl zu, das wir mit Speichel anrühren. Auf diese Mauer legen wir einen zweiten Brei mit einem andern Ei, schließen auf gleiche Weise auch dies Zimmer, und so immerfort, [215] solang der ganze Gang ist, den wir zuletzt ebenso verschließen.«
»Und dann?«
»Dann finden die Larven, die sich aus dem Ei entwickeln, ihren Tisch gedeckt.«
»Diese Glücklichen!« murmelte Großzang.
»Die Larven wachsen und füllen mit ihrem Körper zuletzt die ganze Zelle aus. Sie verwandeln sich in Puppen, und endlich, wenn die Zeit vollendet ist, werden sie vollkommene Insekten, wie ich jetzt eines bin – und –«
»Und?«
Im Baume hörte man eine Stimme rufen:
»He, Schwesterchen! Was machst du denn? Willst du, daß ich hier im Dunkeln bleibe?«
Die Biene unterbrach deshalb ihre Rede, und mit rascher Bewegung schlüpfte sie vollends aus dem Löchlein; sofort erschien hinter ihr ein neuer Kopf. Zuletzt kam auch noch die andere heraus, und alle drei machten eine artige Verbeugung und riefen froh:
»Es lebe die Sonne!«
Und weg flogen sie.
»Jetzt nehmen wir Besitz vom Hause«, sprach Max.
Gefolgt von Großzang schlüpfte er ins Haus hinein, während die Holzwespe ihm nachrief:
»Ich bin zu groß, um hineinzukommen, ich erwarte dich hier außen.«
Nun war ja der Gang einer Holzbiene gerade nicht dazu angetan, einem Kaiser wie Max zur Residenz zu dienen, aber es war doch wenigstens für ihn ein bequemes Unterkommen; fünf saubere und nette Zimmerchen standen ihm zur Verfügung.
Durch die Wand, die jede der fünf Holzbienenschwestern hatte durchnagen müssen, um aus ihrer verschlossenen Zelle zu kommen, konnte man jetzt herrlich aus- und eingehen.
Jede dieser Holzbienen hatte die Sägemehlmauer durchbohrt, die ihre Zimmerdecke gewesen war. Die erste von ihnen hatte den Ausgang aus dem Baumstamm gebohrt, die zweite öffnete die Türe, die sie in das bereits leere Kämmerchen führte, und so fort bis zur letzten, die den Ausgang durch die Kammern aller Schwestern fand.
»Das sind einmal gescheite Insekten! Alle Anerkennung!« rief Max, »die stehen ja sogar uns Ameisen nicht nach. Das will was heißen. Denn man darf nicht vergessen, daß unter uns sehr geschickte Holzarbeiter sind, die kunstvolle Wohnungen in die Baumstämme graben, teurer Großzang!«
Dieser aber hörte wieder einmal recht zerstreut zu und durchsuchte dafür um so angelegentlicher alle Zimmer bis ins hinterste. Wißt ihr, nach was? Unzufrieden brummte er:
»Alles aufgegessen!«
»Was suchst du nur?« fragte Max.
»Ach, nichts! Ich schaute nur, ob nicht irgendwo noch eine Spur von dem Honigbrei zurückgeblieben sei. Aber nicht eine Spur. Diese verwünschten Bienen haben alles aufgeräumt, ohne zu bedenken, daß eines schönen Tages dieses Haus von einem kaiserlichen Hof bewohnt werde, der die glänzendsten Aussichten für die Zukunft und den riesigsten Appetit in der Gegenwart hat!«
Wie er aber merkte, daß Max ihm wieder tüchtig den Kopf waschen wollte, kauerte er sich in eine Zimmerecke und rief in hoffnungslosem Tone:
»Es ist unnütz, mir Vorwürfe zu machen. Wenn ich Hunger habe, hört meine Vernunft auf. Augenblicklich ist er so groß, daß ich fürchte, vor dir den Respekt zu verlieren. Ich will mich nun nicht mehr rühren und erwarte hier den Tod. Kommt er, so will ich ihn mit dem Ruf begrüßen:
›Es lebe Kaiser Max Butziwackel der Erste!‹«
Bei diesen Worten legte sich sofort des Kaisers Zorn. Er war bewegt durch so viel selbstlose Zuneigung und so todesmutige Ergebenheit für seine Person. Er begriff um so besser die Größe des Opfers, das sein Adjutant für ihn brachte, als er selber mächtig Appetit verspürte.
Darum stieg er langsam zum Eingang hinaus und sagte zur Holzwespe, die auf ihn gewartet hatte:
»Liebe Freundin, ich finde keine Worte, um dir für das schöne Haus zu danken, das du mir verschafft hast.«
»Was fällt dir ein!« antwortete diese. »Ich bleibe doch stets deine Schuldnerin; wenn du noch etwas brauchen solltest, sage es ohne Umstände.«
»Für jetzt vielen Dank«, sprach Max, »jedoch hoffe ich, daß du mich oft besuchst und wir uns dann stets gut zusammen unterhalten.«
Bei diesen Worten reichte er ihr zum Abschied sein rechtes Vorderbeinchen und begann den Abstieg am Eichenstamm. Die Wespe flog davon. Als unser Held am Erdboden angelangt war, lief er hierhin und dorthin, um etwas Eßbares zu suchen. Schon nach kurzer Zeit stieß er auf eine geplatzte, reife Pflaume, deren zuckersüßes Fleisch in der Sonne so appetitlich glänzte, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief.
Aber Max, dies Lob muß man ihm lassen, dachte nicht daran, zu verkosten.
Er nahm eine tüchtige Portion, drehte daraus ein Kügelchen, belud sich damit, lief seine Straße zurück, die Eiche hinan und trug es in das allerletzte Zimmer, wo Großzang immer noch kauerte und nicht einmal mehr die Kraft hatte, zu gähnen!
»Frischen Mut!« rief er ihm zu und legte die Gottesgabe neben ihn. »Der kaiserliche Hof ist noch imstande, dich mit Götterspeise zu nähren!«
Bei dem Wort Götterspeise hüpfte der Adjutant hoch auf, warf sich über die süße Pille her und aß mit einer solchen Gier, daß er gar nicht daran dachte, »Danke« zu sagen. Max stieg gleich wieder hinab zur Pflaume, sättigte sich dort und sprach dazu für sich:
»Das hatte ich wahrhaftig selber nötig!«
Als er mit seiner Mahlzeit zu Ende war, drehte er eine zweite Kugel und wollte sie eben heimtragen, als er Großzang eilends daherkommen sah.
»Warte!« sagte der Adjutant, »ich nehme noch einen Bissen, und dann trage auch ich eine Kugel heim.« Nachdem er tüchtig gegessen hatte, sprach er mit leuchtenden Augen:
»So, nun kannst du mich bis ans Ende der Welt befehlen, und ich werde dir folgen.«
Dabei fertigte er eine große Pille vom Pflaumenfleisch und folgte Max. Auf solche Weise machten die beiden noch manchen Gang. Kaiser Butziwackel überzeugte sich dabei, daß es in der Welt für alle genug zu essen gibt, aber man muß fleißig suchen und es sich verdienen. Nur im Schlaraffenland fliegen den Faulenzern die gebratenen Tauben in den Mund. Als der Tag zu Ende ging, waren alle Zimmer voll Kügelchen, und von der geplatzten Pflaume lag nur noch der ungenießbare Kern auf der Erde.
Nach allen Wechselfällen des Schicksals führte unser entthronter Kaiser jetzt ein ruhiges Dasein in der Verbannung. Er war zufrieden mit seiner einfachen Wohnung und lebte in Eintracht mit seinem Adjutanten. Die einzig drückende Sorge blieb nur die Beschaffung der Lebensmittel; doch auch hier fand sich eine Lösung. An den Wurzeln der Eiche stand ein Rosenstock. Auf seinen grünen Zweigen lebte eine zahlreiche Herde von Blattläusen, die sich willig melken ließen. Nun bestand für die beiden Ameisen keine Gefahr mehr, dem Hungertode zu verfallen.
Oft dachte Max über seine Erlebnisse im Ameisendasein nach. Er verglich seinen Aufstieg zum General und Kaiser mit dem Geschick Napoleons I. und nannte seine Wohnung im Stamme des Eichbaumes St. Helena. Lebte nicht auch Butziwackel I., der Ameisenkaiser, fern von seinem Volke einsam in der Verbannung? Auf seinen häufigen Spaziergängen hatte er überdies Gelegenheit, mit einigen Bienen bekannt zu werden, die ihm zufällig begegneten und von denen ihm schon die Holzwespe erzählt hatte. Auch von dieser erhielt er öfter Besuch, und er unterhielt sich gerne mit ihr auf dem Eichstamme. Sodann schloß er sich freundschaftlich an einige Erdbienen an, geschickte Bergleute, die im Sandboden ihre Gänge gruben. Sehr nette Bekannte hatte er an den Wollbienen und mit einigen Blattschneiderbienen hatte er sogar geschäftliche Beziehungen angeknüpft.
Diese bauen ihr Nest in Baumlöcher und fertigen hier fingerhutförmige, aneinandergereihte Zellen, welche sie aus den Blättern des Rosenstrauches und der Weißbuche und den Blüten des wilden Mohns kunstvoll zusammensetzen. [220] Sie verstehen es, die Blätter so geschickt mit ihren Kieferzangen auszuschneiden, als ob sie mit einer Schere arbeiteten. Weil sie ihr Nest so hübsch auslegen, nennt man die Tierchen auch Tapezierbienen. Eine Art lernte er davon kennen, die grub ihr Nest in die Erde. Es bestand aus einer einzigen Zelle und war mit lauter Blumenblättern ausgefüttert und belegt. Den erweiterten Bekanntenkreis benützte Max, mit Hilfe dieser Freunde sein St. Helena nach und nach besser auszustatten. Von den Blattschneiderbienen hatte er sich eines seiner Zimmer mit Rosenblättern belegen lassen. Wie russisches Leder sahen diese Tapeten aus, nachdem die Blätter ausgetrocknet waren. Sein Schlafzimmer ließ er sich von einer andern Tapezierbiene mit wohlriechenden Blumenblättern belegen und bei den Wollbienen hatte er sich ein weiches Bett bestellt. Darin träumte er von seiner großen Vergangenheit.
Zu seiner Ehre aber muß man sagen, daß er über aller Bequemlichkeit das Notwendige nicht vergaß. Er fertigte selbst eine Haustüre, damit kein Unbefugter und keine gefährlichen Gäste eindringen könnten. Es gelang ihm mit unerhörter Anstrengung und mit Hilfe seines Adjutanten, einen harten Gurkenkern an den Eichenstamm und bis hinauf zu seinem Haus zu schleppen. Diesen brachte er auf eine geistvolle Weise als Drehtüre am Hauseingang an. War die Türe offen, so stand der Kern mit seiner Breitseite halb außen, halb innen am Eingang, der diesen somit in zwei Hälften schied, eine als Eingang für den Kaiser, die andere für Lieferanten und die Dienerschaft. Was fehlte jetzt noch zu einem standesgemäßen Herrschaftshaus? Wollte man die Türe schließen, so drehte man einfach den Kern nach links oder rechts, und beide Eingänge waren dann zugleich [221] abgeschlossen. Diese Art des Verschlusses wurde von allen seinen befreundeten Insekten unendlich bewundert, und die Holzwespe verbreitete überall Maxens Ruf als eines unerreichten Künstlers.
Als sie dies ihm einmal selbst sagte, erwiderte Max, der gerade Arm in Arm mit ihr spazieren ging:
»Ich weiß es wohl!«
Die allgemeine Anerkennung hatte aber wieder alle schlummernden Gedanken an Ehre und Ruhm aufgerüttelt. So erzählte er seiner vertrauten Freundin von seinen Kriegstaten im Ameisenreich und sprach ihr von seinen Plänen, die darauf hinausgingen, eine gesellschaftliche Neuordnung bei den Insekten durchzuführen, die dem Geiste der Zeit besser entspräche. Die Holzwespe trug in einem starken Körper einen kleinen Geist und war deshalb sofort besiegt von des Kaisers warmer Beredsamkeit, die einem Volksredner alle Ehre gemacht hätte. Entzückt rief sie daher am Schlusse seiner Ausführung aus:
»O, einem Kopfe wie dem deinen muß das alles zum Wohle der Völker sicher gelingen!«
»Ich erwähle dich«, sagte Max erkenntlich für dies Lob, »von heute an zur Herzogin von St. Helena.«
In der folgenden Zeit saßen der Kaiser Butziwackel I., die Herzogin von St. Helena und der Graf aller Hautflügler nur noch zusammen, um Luftschlösser zu bauen. Alle Tage wurden diese größer, und sämtliche Beratungen endeten gewöhnlich mit rauschendem Beifall für die Pläne unseres Volksfreundes.
Und noch etwas! – Aber soll ich es sagen? Seit Max die Holzwespe wieder gefunden hatte, war er öfter daran, sie um Auskunft über die Lage seines Landhauses zu fragen, [222] um so näher lag was, als die Holzwespe dort geboren war und genügend starke Flügel hatte, um es aufzusuchen. Aber wie merkwürdig! – Er fragte sie nie! Wißt ihr warum?
Kaiser Butziwackel I. fühlte sich behaglich in seiner Verbannung, es fehlte ihm nicht am täglichen Brot, sein Adjutant bediente ihn vortrefflich, seine Freunde alle bewunderten ihn. Über diesem guten Leben hatte Max die Heimat vergessen!
Wie sollte das weitergehen? Kaiser Butziwackel war auf dem besten Wege, im Insektenreiche ein unnützer, gedankenloser Faulenzer zu werden. Eines Morgens saß er rittlings auf dem Gurkenkern, seinem Schloßportal, schaute vergnüglich in die weite Welt und ließ sich von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen. Da kam plötzlich ein scharfer Sturmwind, rüttelte und schüttelte die Eiche, daß sie in allen Fasern ächzte und ihre Äste krachend durcheinanderschlug. Die Haustüre fiel aus ihrem Gefüge und stürzte mitsamt dem Kaiser [223] kopfüber in die Tiefe. Wäre Max auf einen harten Stein gefallen, so hätte er sterben müssen. Glücklicherweise aber wuchs unter dem Baume weiches Moos. Max hatte schon im Stürzen vor Schrecken die Besinnung verloren. So lag er jetzt im tiefen Schlaf der Ohnmacht im grünen Moos eingebettet.
Da trat mit leisen Schritten aus den Büschen das alte Männlein mit dem langschleppenden Rock und der großen Brille. Das blieb lächelnd vor Max stehen, griff nach der Riesendose in den tiefen Rocktaschen, nahm behäbig eine Prise, nieste und sprach:
Max schlug die Augen auf. Er war wieder ein Knabe. Sein altes, zerschlissenes Höschen hatte er wieder an, und das Wackelfähnlein baumelte heraus wie zuvor. Rasch stopfte er es ins Verborgene.
Wie er, die Augen reibend, um sich schaute, fand er sich bei dem moosigen Stein in der Grotte, wo das Brünnlein plätscherte wie immer.
Von dem Männlein im grünen Rock war nichts zu sehen, aber es roch nach Tabak, und Max meinte doch eben seine Stimme gehört zu haben. So deutlich klang sie noch in seinen Ohren, daß er die Verse genau wiederholen konnte. War er denn hier träumend gelegen? War er tatsächlich im Ameisenland gewesen?
So rasch er nur konnte, rannte er dem Hause zu, wo er eben Mutter, Vater, Onkel Walter, Moritz und Therese bei Tische sitzend fand.
Mit Küssen und Umarmungen drängte er sich stürmisch in ihre Mitte, freudig von allen begrüßt und befragt:
»Warst du gerne bei dem wunderlichen Onkel Christian und seinen Insektensammlungen?«
»Ach, Mutterchen, ich war doch selber im Ameisenland, und bei den Hummeln habe ich übernachtet. Denkt euch, einmal bin ich auf einem Wasserläufer über den großen See geritten und beinahe hätte mich der Ameisenlöwe gefressen!«
»Ha, ha«, lachte Onkel Walter, »Max fabuliert von Onkels Ungeziefer, das er der Wissenschaft zu Ehren züchtet.«
Bei dem geringschätzigen Wort Ungeziefer gab es Max einen Ruck. Unwillkürlich schaute er um sich, ob keine Ameise oder Biene in Hörweite sei. »Nun«, fuhr Onkel Walter fort, »bald soll sich's zeigen, ob der gute Alte, wie er uns versprach, aus dir kleinem Faulpelz einen guten Lateiner hervorgezaubert hat.«
»Onkel«, fiel Max in lebhafter Erinnerung ein, »wegen des Lateinprofessors bin ich von deinem Hutrand heruntergepurzelt.«
Nein, wie da alle über ihn lachten, und die Mutter wehrte ihnen nicht einmal ab. Sie sagte sogar:
»Geschichten erfinden und erzählen, liebes Kind, sollst du erst nach deiner bestandenen Prüfung. Von morgen ab wird tüchtig gelernt und nicht fabuliert, ehe du fertig bist!«
Betroffen schwieg Max. Ach, niemand schien ihm zu glauben! So setzte er sich zu seinen Büchern, und siehe, in kurzer Zeit bestand er seine Prüfung mit Note 1 und einem Stern.
Wenn er dann an den Winterabenden viel aus dem wunderbaren Leben der Insekten erzählte, hörten alle mit Bewunderung zu und staunten über die Anschaulichkeit, mit welcher er zu berichten wußte.
Wie oft sagte dann Onkel Walter:
»Unser Butziwackel hat das Zeug zu einem berühmten Naturforscher in sich! Onkel Christian hat ihn wahrhaftig angesteckt, der alte Zauberonkel.«
Der Kleine schwieg dazu.
Nie hat er jemand gesagt, daß er einstmals Ameisenkaiser gewesen war und einen Flügeladjutanten sein eigen nannte; auch trug er es Franziska nicht nach, daß sie ihn für einen Floh gehalten hatte. Mir aber hat Onkel Christian alles verraten, und nur darum war es mir möglich, euch, liebe Kinder, diese seltsame Geschichte zu erzählen.
Was mag nur aus Großzang, dem Grafen aller Hautflügler, geworden sein? – Und aus der Holzwespe, der Herzogin von St. Helena?
Nun, diese legte fleißig Eier und sorgte für nichts anderes als für ihre Nachkommen. Freilich Großzang litt schrecklich unter dem plötzlichen Verschwinden seines kaiserlichen Herrn. Erst verzweifelte er schier, dann allmählich tröstete er sich an [226] den vollen Vorratskammern, die er nun allein ausessen konnte. Er aß im Schmerze auch alles sauber auf, was im Hause war. Hierauf begab er sich wieder auf Reisen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
In der Verlagsbuchhandlung Herder & Co. G. m. b. H. zu Freiburg im Breisgau sind erschienen und können durch alle Buchhandlungen bezogen werden:
Das Paradies auf Erden. Der kleine Zigeuner. Zwei Kindergeschichten von Xaver Meschko . Deutsch von Mina Conrad-Eybesfeld. Mit einem Titelbild. 8° (154 S.) Geb. M 6.80
»Xaver Meschko weiß wie kein anderer Herz und Phantasie unserer 9–14jährigen zu erfreuen, denn Liebe zu Kindern, das liest sich aus jeder Zeile heraus, hat ihm die Feder geführt. Eine Fülle von Poesie und ein schier unerschöpflicher Reichtum an Gemüt verraten die beiden Erzählungen ›Das Paradies auf Erden‹ und ›Der kleine Zigeuner‹, und man möchte der Übersetzerin Dank sagen, daß sie unsere Jugendliteratur um eine wertvolle Gabe bereichert hat.«
(Echo der Gegenwart, Aachen 1920, Nr. 38.)
Großmutters Jugendland. Die Geschichte von Klein-Nanni. Von Helene Pagés . Mit 6 Bildern von Rolf Winkler. 8° (150 S.) Geb. M 7.80
»Waren Pagés' bisherige Erzählungen vorwiegend erzieherisch betont, so erfreut uns ›Die Geschichte von Klein-Nanni‹ als rein dichterisch empfundenes Werk. Die äußere Geschichte ist kurz: Klein-Nanni zieht mit den Eltern und Geschwistern vom rheinischen Dorf in das neue Schulhaus im Westerwald. Der Vater stirbt nach kurzem Wirken, Klein-Nanni muß Schulwohnung und sorgenloses Leben mit ärmlicheren Verhältnissen tauschen, bis das tätige Leben sie hinausruft in die Welt. – Aber welch seelischen Reichtum umschließt dieser schlichte Rahmen und mit welch hellseherischer Liebe ist er von der Dichterin erfüllt! Die Elterngestalten sind klar und anschaulich gegeben; vor allem ist aber das köstliche Seelchen des Kindes mit feinem inneren Auge gesehen und die Entwicklung mit zartester Hand in lebendigen Einzelbildchen gezeichnet. Es sind Meisterstücke psychologischer Feinkunst, wie hier Heimweh, Kindesliebe, kindliches Spiel, Kindessitte und Sittlichkeit, Ahnen und wachsendes Verstehen der kleinen Seele dem Leser vorgestellt werden, rein und lauter, ohne jede Zerfaserung. Wie alles Gute und Reine, so ist auch das Religiöse in diesem Kreise selbstverständlich wie die Luft, die man atmet. Nur eines vermag die Verfasserin nicht überzeugend darzustellen: das Böse und Gemeine. Diese kleine Einschränkung erhöhte mir aber die seelische Schönheit dieses Jugendbuches.«
(Literar. Handweiser, Freiburg 1920, Nr. 3 [F. X. Thalhofer, Pasing b. München].)
Fürst und Vaterland. Eine geschichtliche Erzählung für Jugend und Volk. Von Alois Menghin . 3., verbesserte Aufl. Mit 9 Abbildungen. 8° (170 S.) Geb. M 7.20
»Die Erzählung bietet eine mit kulturgeschichtlich interessanten Ausführungen durchwobene Episode aus der Geschichte Tirols um den Anfang des 15. Jahrhunderts. Es ist ein Buch von deutscher Treue – Fürstentreue wie Mannentreue – und von deutschem Heldenmut, das in seiner prächtigen Ausstattung eine wertvolle und schöne Gabe für die deutsche Jugend bildet.«
(Literarischer Handweiser, Münster 1913, Nr. 5.)
Tzavellas, der Suliote. Geschichtliche Erzählung aus der Zeit der Freiheitskämpfe in Griechenland. Von Ad. Joseph Cüppers . Mit 6 Bildern von J. Gehrts. 8° (142 S.) Geb. M 6.20
»Was für ein Buch soll ich meinem Buben schenken? Das ist für viele Eltern die große Frage. Das Buch soll belehren, Freude bereiten, hübsch ausgestattet und dabei möglichst wohlfeil sein. Allen diesen Anforderungen wird dieses Büchlein gerecht. Es führt uns eine Episode aus dem Heldenkampf des albanesischen Stammes der Sulioten gegen Ali, den Pascha von Janina (1803 Statthalter von Albanien), vor. Die dramatisch bewegte Erzählung vereint Einfachheit mit psychologischer Tiefe. Die Sprache ist einfach, klar, ungekünstelt. Vollstes Lob verdienen auch die sechs dem Büchlein beigegebenen Bilder.«
(Österr.-ungar. Heereszeitung, Wien 1911, Nr. 35.)
Gudrun. Ein alter Roman von Frauentreue. Neu erzählt von Ad. Joseph Cüppers . 8° (214 S.) Geb. M 9.–
»… Wie viele aus dem Volk lesen oder lasen bisher die ›Gudrun‹? Aber in dieser von einem erfahrenen Volksschriftsteller hergerichteten Bearbeitung, die durch ihre frische Sprache, straffe Komposition und die Ausscheidung aller unnötigen Längen angenehm auffällt, mag Gudrun neu aufleben und ihre stärkende Kraft in solchen Volkskreisen zeigen, die edle und ernstere Lektüre vorziehen.«
(Augsburger Postzeitung 1920, Nr. 87.)
Die Preise erhöhen sich um die im Buchhandel üblichen Zuschläge.
Weitere Anmerkungen zur Transkription.
Der Schmutztitel wurde entfernt. Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
Korrekturen:
S. 35: der → in der
Max hatte bisher
in der
festen Überzeugung gelebt
S. 80: einer → einer sich
in voller Flucht,
einer sich
um
S. 88: hätte sie ihn → wäre sie ihm
wäre sie ihm
im Mondschein begegnet
S. 148: aus uns von → von uns aus
Wäre einer
von uns aus
solcher Höhe