The Project Gutenberg eBook of Fremde Straßen

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Title : Fremde Straßen

Author : Peter Rosegger

Release date : April 24, 2017 [eBook #54597]

Language : German

Credits : E-text prepared by the Online Distributed Proofreading Team

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FREMDE STRASSEN ***

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Fremde Straßen

Von

Peter Rosegger

Elftes bis fünfzehntes Tausend

Signet

1922
Verlag von L. Staackmann in Leipzig


Alle Rechte vorbehalten

Druck von C. Grumbach in Leipzig


[5]

Verhandlung zwischen Autor und Verleger.

1884.
Als Vorwort zum »Geschichtenbuch des Wanderers«.

Der Verleger : Zeit ist Geld. Also zur Sache: Ich wünsche ein neues Buch von Ihnen.

Der Autor : Sie sind ein kühner Mann. Haben Sie doch schon fast anderthalb Dutzend Bände von mir!

V. Machen Sie die genannte Zahl voll.

A. Ich würde an Ihrer Stelle die Verlagswerke nicht zählen, sondern wägen.

V. Das überlasse ich dem Makulaturkäufer. Doch einstweilen ist man gewohnt, unter dem Christbaum einen neuen Band vom Waldpoeten zu finden.

A. Man vergißt über die Waldbücher den Wald.

V. Wir brauchen keinen Wald. Wenn alles Holz vertan ist, brennen wir Bücher.

A. Wissen Sie, warum den Faust der Teufel geholt hat? Weil er den Bücherdruck erfunden. – Soll ich denn so viel schreiben, daß man mich auf meinen Schriften verbrennen kann?

V. Machen Sie sich nichts draus. Der Karthager Clitomachus schrieb über vierhundert Bücher, Chrysippus an siebenhundert, Didymus gar viertausend. Keiner ward verbrannt.

A. Weil sie keiner drucken ließ.

V. Luther ließ 1136 Schriften und Broschüren drucken.

A. Die Tinte eines solchen Mannes ist, wie der Koran sagt, wertvoll gleich dem Blute des Märtyrers. Wenn wir anderen dem Beispiele folgen wollten, müßte unsere Erdoberfläche in kurzer Zeit ein Bücherbrett werden.

[6]

V. Sie übertreiben. Ein moderner Schriftsteller schreibt sein ganzes Leben lang nicht mehr, als was ein Esel ihm nachzuschleppen vermag.

A. Aber bedenken Sie, daß kein Esel groß genug ist, um mit einem deutschen Dichter zu gehen. – Des bin ich zwar überzeugt, wenn aller Spreu von der Weltliteratur aller Zeiten ausgeschieden wäre, so trüge sie ein Esel leicht auf seinem Rücken, und zwar auf einmal.

V. Sie wären frivol genug, sich über den Untergang der Alexandrinischen Bibliothek zu freuen?

A. Bedauern können den Verlust fremder Gedanken nur die, so keine eigenen haben. Hingegen vergleiche ich Schriftstehler, welche aus fremden Büchern eigene schreiben, mit jener Katze, die ein Pfund Butter fraß und doch nur dreiviertel Pfund wog.

V. Herr, Ihre Bemerkungen mögen am Ende auch kein eigenes Fett sein.

A. Vielleicht spare ich mir selbes auf das Werk, das Sie haben wollen.

V. Sie schreiben doch jeden Tag!

A. Briefe.

V. Wohl doch nicht lauter –

A. Nein, nicht lauter Besänftigungsbriefe an die Gläubiger, sondern auch Artigkeitsschreiben an gute Leute, die in Zuschriften meine Bücher loben und um Freiexemplare bitten; tiefsinnige Sprüche für Autographensammler, Gedichte für Anthologien und Wohltätigkeitsalbums. Ferner Antworten auf briefliche Anfragen wißbegieriger Leser, in welchem Bergwinkel der »Waldschulmeister« spielte, wann und wo sich die Geschichte des »Gottsucher« zugetragen habe, wo man die »Dorfsünden« zu kaufen und den »Heimgarten« zu schenken kriege? – So vergeht der Vormittag.

[7]

V. Und nachmittags?

A. Macht man sich über die historischen Dramen hoffnungsvoller Gymnasiasten, über die lyrischen Gedichte feinbesaiteter Ladenschwengel, über die Novellen und Romane höher gebildeter Töchter usw., die mit dem Ersuchen geschickt worden sind, darüber ein »wenn auch noch so strenges Urteil« zu fällen und sie einer Zeitungsredaktion oder einem Verleger zu rekommandieren. So vergeht der Tag.

V. Um Gotteswillen, wann dichten Sie denn Ihre Novellen und Skizzen, denen man in den Blättern begegnet?

A. Beim An- und Auskleiden, auf der Eisenbahn, wenn ich Besuch habe oder öffentlichen Vorlesungen über Kunst und Literatur beiwohne, bei welchen man ungestört seinen eigenen Gedanken nachhängen kann.

V. Gut. Und von diesen Dorfgeschichten, Waldnovellen, Volksschilderungen und dergleichen wollen wir wieder eine neue Sammlung flott machen.

A. Denken Sie an die Kritiker! Immer wieder Bauern und nichts als Bauern! Geben Sie acht, den Herren reißt endlich die Geduld!

V. So schreiben Sie einmal aus der Gesellschaft, aus der großen Welt.

A. Wollen Sie mich zugrunde richten? Wissen Sie nicht, daß man mir meine Dorfgeschichten nur verzeiht, weil es keine Stadtgeschichten sind? Wissen Sie nicht, daß die Rezensenten unruhig werden, so oft man einen Bauernburschen zu den Soldaten nimmt, oder ein hoffärtiges Dienstmädel aus einer Dorfgeschichte weg in die Stadt läuft – weil sie fürchten, daß der Autor diesen Leutchen nun geistig nicht mehr zu folgen vermöge!

V. Seit wann denken denn Sie an die Rezensenten, [8] anstatt an das, was in Ihnen keimt und reift und gedichtet sein will? Hat die Gesellschaft, die Welt, in der Sie nun doch schon seit zwanzig Jahren leben, Sie denn niemals angeregt? Vermag denn das Kulturleben und seine alles mit sich fortreißende Gewalt, sein Tausenderlei von Gestalten, Ideen, Bestrebungen, Verirrungen Sie nicht zu begeistern, zu interessieren, aufzuregen, Ihre dichterische Kraft herauszufordern?

A. Gewiß.

V. Nun also! Warum schreiben Sie nicht auch Weltgeschichten, wie Sie Waldgeschichten schreiben?

A. Sie haben wirklich recht. Ich erinnere mich, daß selbst die fruchtbarste Scholle einmal brach liegen will. Oder was anderes hervorbringen möchte. – Auf meines Vaters Acker wollte nicht jedes Jahr Korn wachsen. So bauten wir auch manchmal Hafer drauf an, dann Kraut, Rüben, Flachs; oder ließen wildes Gras wachsen auf dem Acker. Nach all dem wuchs wieder schönes Korn. Eine solche Wechselwirtschaft ist endlich auch auf dem Dichterfeld nötig. Anstatt Waldgeschichten sollen Sie einen Band Weltgeschichten haben. Oder auch solche, die nicht äußerlich erlebt, vielmehr innerlich geschaut sind. Sie verstehen schon: Ich werde Ihnen ein Buch geben, das ich nicht hätte schreiben sollen. Von der Kritik mir untersagte Gebiete. Fremde Straßen mit der Aufschrift: Für Bauerndichter verbotener Weg. Trotzdem werde ich auf solchen Straßen einmal marschieren – weil es mich freut, wie den Burschen die Wanderschaft. – Bin ich doch wirklich schon viel herumgekommen, in der Gesellschaft unten und oben, in der Welt hier und dort, nicht allein von Tal zu Berg und von Land zur See, ich bin – auf den Beinen des ewigen Juden – durch die Geschichte geschritten von Epoche zu Epoche, bin gewandert vom Bauer [9] bis zum Fürsten und wieder zurück bis zum Zigeuner. Ich habe nicht allein in der Werkstatt angehalten und in der Stube des Bürgers, sondern auch beim Lehrer und Gelehrten, beim Künstler und Soldaten, beim Geistlichen und Aristokraten. Ich habe erfahren, gelernt und gelesen, wie andere. Manches hat mich gefördert, vieles hat mir mißfallen. Daß ein freies Auge in Dorf und Wald klarer und richtiger sieht, als durch die Stadtbrille, ist natürlich. Aber die Freude, der Schmerz, der Spott und der Zorn über das, was ich auf meinen Wanderungen gesehen, schrie nicht minder laut nach Gestaltung, als die Eindrücke des Landlebens in meiner Heimat. Ich habe vieles davon aufgeschrieben.

V. Wo sind diese Manuskripte?

A. In meinem Kasten, mit sieben Schlössern verschlossen.

V. Und die Schlüssel?

A. Ins Wasser geworfen.

V. Ich habe einen Krebs gekauft, der Schlüssel in der Schere trug. Also können wir die Sachen drucken?

A. Sind Sie denn ein Freund von Krebsen, Herr Verleger?

V. Nur von denen aus dem Tierreich.

A. Und sind Sie sicher, daß Ihnen meine Schriften aus fremden Straßen nicht zurückgehen werden? Ich habe Sie bisher für einen klugen Mann gehalten.

V. Sehr schmeichelhaft. Ein kluger Mann macht zuweilen ein Experiment. Fremde Straßen. Romantische, naturalistische, moderne – pikant?

A. Werter und Verehrter, ich will Ihnen was sagen. Diese Straßen- und Weltgeschichten kamen ebenso tief aus [10] mir hervor, als die Dorfbücher; es mag mancher Tropfen Galle und Schalkheit daran sein, aber sicherlich auch Herzblut. Das Herzblut den Menschen, die Galle den Spitzbuben und Toren.

Zudem muß sich doch eine übermütige Phantasie einmal ein bißchen aushüpfen können auf freier Straße.

V. So gefallen Sie mir. Daß Sie endlich doch einmal auch den Gegnern der Dorf- und Waldgeschichten eine Freude machen.

A. Ah, Sie meinen die literarischen Bauernfresser.

V. Wissen Sie, was vor kurzem so einer geschrieben hat? »Der Realismus in der Literatur«, schrieb der Gelehrte, »wird nachgerade unerträglich! Besonders das Dorfgeschichtenunwesen! Was fängt der echte Dichter mit dem Bauern an? Dieser bietet viel zu wenig psychologische Probleme dar, er hat keine Berührungspunkte mit der Welt, sein Horizont ist zu klein. Höchstens ist der Bauer in der Poesie als komisches Element zu gebrauchen, etwa für Posse und Schwank.«

A. Schön. Somit sind gleichzeitig große soziale, volkswirtschaftliche Fragen gelöst. Der Bauer ist nicht ernst zu nehmen. Er läuft in der Welt nur so nebenher und schlägt seine Purzelbäume.

V. Nun, was sagen Sie dazu?

A. (Ironisch.) Daß uns die Sozialisten, Naturforscher, Psychologen, Ethnographen, Literarhistoriker usw. hinters Licht geführt haben. Da faselten sie, daß die ganze Sippe der Bauer ernähren müsse, und größtenteils auch beschützen. Nach Darwin sollen die Menschen sogar vom Bauern abstammen. Sozialisten behaupteten, die Poesie kenne weder politische Grenzen noch Standesunterschiede, ihr Reich sei in allen Menschenherzen. Ethnographen und Psychologen [11] wollen gefunden haben, daß der Landmann in bezug auf die Kraft seines Sinnenlebens, in bezug auf den Schwung seiner Weltanschauung, in bezug auf die Gewalt seiner Phantasie mit dem Städter sich messen könne. Die Literarhistoriker haben die ältesten und unsterblichsten Denkmäler der Poesie angeblich dort entdeckt, wo das Volk in der Werkstatt wohnt und in der Hütte: Das Volksmärchen, das Volkslied. Wie schwer hierin selbst große Poeten irren können, beweist, daß Goethe seine lieblichste, Schiller seine herrlichste Dichtung bei den Bauern spielen ließ. – Nun wissen wir es besser, der Bankier auf der Börse, der Hausherrnsohn am Billard oder an der Kredenz der Kassierin, der gelehrte Stubenhocker, die Ehebrecherin im Salon, die Theaterdame usw., das sind poesiefähige Leute. Aber Andreas Hofer ist es nicht. Die frischen Burschen und Dirnen, die sich vor lauter Lebensfreude kein Ende wissen; der Bauer mit den eisenstarren Rechtsbegriffen ist nicht poesiefähig. Der äußerlich wilde, innerlich gemütstiefe Waldmensch; der als Soldat in der Fremde vor Heimweh vergehende Alpenjunge; die bis in ihr hohes Alter zum Vorteile anderer ununterbrochen arbeitende und geplagte, aber innerlich zufriedene und humorvolle Magd ist nicht poesiefähig. Der arme Dorfpfarrer, der bescheidene Schulmeister, die der Menschheit höchste Güter für ihre Gemeinde hüten und austeilen, haben mit Poesie nichts zu schaffen. Die ländliche Liebe ist nicht poetisch, »weil ihr Horizont zu klein ist«. Des Landvolkes Vereinigung mit der Natur, sein stilles Walten in derselben, sein Leben und Beben unter ihren Gewalten ist nichts; sein Glauben, Zweifeln und Wiederaufrichten in der Religion, der rasende Aufschrei des Verzweifelnden in Waldesnacht ist nichts, »weil die psychologischen Probleme fehlen«. Die Dorfgeschichte und was wir alles in diesen Sack stecken, [12] hat also nur einigen ethnographischen, vielleicht bloß zoologischen Wert. – Und die unzähligen hervorragenden Männer, die aus dem Bauernstande hervorgewachsen und in der Weltgeschichte glänzend verzeichnet sind? Wir ignorieren sie. Und daß es keine Berührungspunkte zwischen Bauer und Welt gebe, behaupten wir. Und von den modernen Erscheinungen und Bindemitteln, als der allgemeinen Wehrpflicht, der bäuerlichen Neigung zur Stadt, zum Studieren, von den zahllosen Autodidakten, dem Eisenbahnwesen, der Tourist, den Sommerfrischen, haben wir – die literarischen Bauernfresser – noch nichts gehört. – Wir sitzen noch auf dem alten Schimmel, den die Literaturprofessoren geritten zur Zeit, als der Ritter und die Köhlerin, die Räubermühle, die Zauberliese usw. die Literatur bevölkerten. Wir wissen nichts davon, daß dem modernen Erzähler für den Salonroman wie für die Dorfgeschichte der gleiche Grundsatz gilt, daß nicht das Häufen packender Tatsachen, effektvoller Ereignisse die Hauptsache sei, sondern die Darstellung der seelischen Zustände, deren Entwicklung aus innerer Notwendigkeit, das organische Heranwachsen der Geschehnisse, des Segens, der Schuld und des Unheils aus der Artung der handelnden Personen. – Und indem wir also die moderne Dorfnovelle nach jener Schablone abtun wollen, die einst für die Räuber- und Zufallsgeschichten geschnitten worden ist – sind wir vergleichbar jenem Märchenmann, der – aus hundertjährigem Schlafe plötzlich auffahrend – nach seinem Zopfe greift und nun mit Verwunderung inne werden muß, daß ihm mittlerweile alle Haare ausgegangen sind.

V. Nur hat solcher Märchenmann den Vorteil, daß man ihn nicht beim Schopf nehmen kann. –

A. Weil er keinen hat.

[13]

V. Also was geht aus dem Gesagten hervor? Daß Sie den Bauerngeschichtengegnern wirklich einmal eine Freude machen und ihnen zeigen sollen, um wieviel die Novellen aus der größeren Welt besser sind.

A. Wie schlau Sie sind, Herr Verleger! Sie meinen, den Leuten würden meine Waldgeschichten wieder besser schmecken, sobald sie erst meine Weltgeschichten kennen gelernt haben. Das ist ein Standpunkt. – Gut, wagen wir's. Und das Buch nennen wir: »Fremde Straßen.«


[14]

Der Gutsherr auf Zurkow.

Es war das reizendste Erkerzimmer, das ich je bewohnt habe. – Es war mit mattfarbigem Samte tapeziert, mit meisterhaften Jagd- und Genrebildern geschmückt, mit echt orientalischen Teppichen belegt, mit kunstvoll geschnitzten Eichenholzmöbeln bestanden und es hatte an der Wand einen elfenbeinernen Telegraphentaster, der nach der Versicherung des Hausherrn bereit war, neu auftauchende Wünsche des Gastes promptest zu erfüllen. Und das war noch das wenigste, derlei besitzt in irgendwelcher Stadt jeder reiche Schlucker.

Aber zwei Fenster waren da, deren Spiegelscheiben so hell und rein waren, daß man meinte, sie stünden offen und die reine Nordlandsluft wehe aus und ein. Das eine Fenster zeigte die hellgrünen Buchen- und Eichenwälder von Jasmund und die weißen Strandfelsen von Stubbenkammer, das andere die blaue Bandlinie des Meeres. Die sinkende Nachmittagssonne legte Gold auf die Wälder, Silber auf die Kreidefelsen, und ein Segelschiff am Horizont leuchtete wie ein aufsteigendes Sternlein.

Ich hatte an jenem Tage zum ersten Male das Meer gesehen. Ich war erst vor zwei Stunden von der Reise gekommen, die von Wien bis Rügen zwei Tage und Nächte ununterbrochen gedauert hatte. Die Neugierde, den alten Freund zu sehen und wie sich der einstige arme Zimmermalerjunge als Gutsbesitzer ausnehme, hatte mir weder ein Interesse an den malerischen Elbeufern der sächsischen Schweiz, noch an der stolzen Kaiserstadt Berlin aufkommen lassen. In Stralsund hatte er mich erwartet – es war [15] sonst noch der alte Bursche; aber Welt hatte er nun stellenweise, als wäre er geborner Adelsherr auf diesem zauberhaften »Edelsitz« Zurkow. In drei Stunden hatten wir mit den feurigsten Hengsten, die mich je durch die Luft gerissen, die ganze Insel Rügen von Westen nach Osten durchschnitten.

Auf Zurkow angelangt, erwartete uns ein Mahl, welches zwei weißbehandschuhte Diener servierten, die so stumm waren, wie der Fisch im Wasser. Mein Gastherr wußte auch nicht gleich, wo und wie er das vor sechs Jahren durch eine plötzliche Studienreise nach Italien unterbrochene Gespräch wieder anknüpfen sollte und glaubte es am schicklichsten damit zu tun, daß er die Abwesenheit seiner Frau entschuldigte, die einer unaufschiebbaren Familienangelegenheit wegen nach Putbus gefahren sei.

Und ich? Fürwahr, mit einem Millionenmann, den man in der Künstlerbluse eines Wandmalers so oft gesehen und so liebgewonnen hat, spricht sich's etwas unglatt. Ich konnte nicht leugnen, daß alles sehr gütig und wohlgemeint war, was mir in diesem Hause zu widerfahren begann, und doch blickte ich immer wieder mit verstohlenem Mißtrauen auf den Gastherrn hin, ob er's denn wirklich sei, der gute Wendel Blees. Daß er's gewesen war, konnte man hie und da noch spüren, aber ob er's noch sei, das schien mir in der Tat zweifelhaft. Ein hübscher Junge war er immer gewesen, aber sein Schnurrbärtchen war nun entschiedener, seine Gesichtszüge ausdrucksvoller und vornehm blaß, sein Mund höflicher und sein braunes Auge lebhafter geworden. Daß er seine Absicht, Künstler zu werden, nicht bewerkstelligt hatte, war aus seinem Wesen unschwer zu ersehen. Nirgends der schöpferische, idealbeschwingte Geist; überall der formenängstliche reiche Mann. [16] An dem überladenen Aufputz der Tafel, an der Auswahl der ziemlich auffallenden Leckerbissen und an der etwas klobigen Art, womit er die Dienerschaft behandelte, war zu erkennen, daß er in diesen Verhältnissen nicht immer heimisch gewesen und das rechte Maß nicht ganz leicht zu treffen wisse.

Nachdem ich meine Reiseerlebnisse kurz angedeutet und meinem Freunde über das allgemeine Befinden die geziemende Mitteilung gemacht hatte, schloß Wendel, daß ich von der Reise ermüdet sein würde und wies mir mein Zimmer an, »um mich auszuruhen«.

Ich hatte nun unersättlich zu den Fenstern hinausgeschaut in die mir so seltsame, zauberhaft schöne Gegend. Ich hatte eine der vortrefflichen Zigarren angebrannt und mich auf das Ruhebett hingestreckt und den mich umgebenden Luxus betrachtet und in die stille leere Luft hinein gefragt: Wendel Blees, du leichtsinnig Wienerkind, wie kommst du zu diesem Herrensitz im Inselreiche der Hünen?

Es war damals kaum neun Jahre her, seit ein aufgeschossenes Bürschchen ziemlich selbstsicher in meine Arbeitsstube getreten war, meine Bilder scharf angeblickt und mich gebeten hatte, daß ich ihn in seiner Absicht unterstützen möge, er wolle Maler werden. Wer er wäre? fragte ich. »Nichts,« war seine Antwort, »ich bin ein Waisenkind, das ein entfernter Verwandter aufgezogen und dann im städtischen Rechnungsamte untergebracht hat, wo ich Ziffern zeichnen soll. Das ist aber nichts, ich bin durchgegangen, denn ich will Maler werden.« Ob er mir Proben von seinem Talente zeigen könne? Da hatte er schon mehrere Papierblätter aus der Tasche gezogen; dieselben enthielten Zeichnungen aus dem Schönbrunner Tiergarten, aus dem Militärleben und eine Auffahrt bei Hofe; manches war [17] mit ziemlich grellen Farben bemalt. Nachdem ich diese Bilder besehen hatte, gestand ich dem jungen Mann, daß ich aus diesen Proben nichts zu erkennen vermöge und ihm doch rate, sich einem Beruf zuzuwenden, der weniger trügerisch sei, als das Künstlertum. Er verwies auf Maler, die so klein wie er angefangen, es aber zum Ruhm gebracht hätten. Ich blieb bei meiner Ansicht, lud ihn jedoch ein, wenn er in seinen freien Stunden neue Bilder versuchen sollte, mir sie seinerzeit wieder zu bringen. Das war das erste Begegnen mit Wendelin Blees. Wir sahen uns von diesem Tage an oft. Obwohl ich gar nichts für ihn zu tun vermochte, schloß er sich an mich. Da er bei einem Maler nicht unterkommen konnte, so ging er zu einem Anstreicher in die Lehre, denn die Farbe hatte ihm's angetan. Die freien Stunden, die er hatte, war er bei mir, sah meinen Arbeiten zu und übte sich selbst. Er eignete sich eine gewisse Technik an, aber es war kein Schwung da, keine Originalität – kurz kein Talent.

Ich sagte es ihm, er glaubte mir nicht.

Indes gewann ich ihn lieb, anfangs seines Schwärmens für die Kunst wegen, später, weil er ein offener, herzens- und geistesfrischer, fröhlicher Junge war. Schrullen hatte er freilich, oft so wunderliche Schrullen, daß ich mir dachte: das wächst sich zu einem Narren oder doch zu einem großen Manne aus. Er war um ein Bedeutendes jünger als ich, aber wir wurden Freunde. Er hatte eigentlich keine Bildung genossen, aber er hatte liebenswürdige Naturanlagen, und wenn in seinem Wesen auch ein gewisser Trotz lag, so diente derselbe mehr zur Stählung seines Charakters, als um anderen Menschen unangenehm zu sein. Es hat sich manch strenge geschulter Mann als mein Freund bekannt, der mir nicht so viel war als der kleine Wendel. [18] Er hat während unseres zweijährigen Beisammenseins nur eine einzige Dummheit gemacht. Auf mehreren Ausstellungen erregte ein Bild von mir besonderes Aufsehen. Als Folge des Beifalls erwuchsen – wie das immer so geht – auch die Widersacher. Einen solchen Widersacher, es war ein Zeitungsrezensent, forderte der kleine Wendel meines Bildes wegen zum Duell. Der Rezensent machte ihn abtreten und lachte ihn aus. Nun kam er wütend zu mir und ich lachte ihn auch aus.

Seinem Meister, dem Anstreicher und Zimmermaler, war er ein fleißiger Gehilfe, aber niemand als ich wußte, mit welchem Widerwillen er das Handwerk betrieb. Und eines Tages trat er aufgeregter als sonst in meine Stube und sagte, daß er nun komme, um von mir Abschied zu nehmen. Er habe sich so viel erspart, daß er nach Italien gehen könne, um an den berühmten alten Meistern groß zu werden.

Ich fragte, ob er wohl ermesse, was er gesagt habe. Er antwortete, daß ich noch von ihm hören würde und daß er auch als Künstler meine Freundschaft, die ihm das Teuerste auf der Welt sei, behalten wolle. Ich suchte ihm in der Eile ein paar Empfehlungsschreiben aufzudrängen, dann ging er. Ging ohne Geld – denn sein Erspartes half ihm kaum bis über die Grenze – ohne Kenntnisse, ohne Freunde und ohne Plan nach Italien.

Von dem Tage seiner Abreise an war er verschollen. Und war's jahrelang, so daß mein Gedenken an ihn voll Wehmut wurde, wie man eines Toten gedenkt. Mein Leben ging in der Stille fort, aber jedes Jahr machte mich um mehrere Jahre älter, weil mit dem Wachsen meiner Einsicht mich meine künstlerischen Erfolge, so lärmend sie auch sein mochten, immer weniger und weniger befriedigen wollten. [19] Die Ehre, welche mir die durch Effekt leicht zu bestechende Menge zollte, vermochte meinen inneren Unmut nicht aufzuwiegen und so zog ich mich sachte zurück in die Beschaulichkeit, lebte der Natur und machte Reisen von Galerie zu Galerie, um das an anderen mit Ehrfurcht zu bewundern, was mir selbst nicht gelingen wollte. Von Wendel fand ich auch nicht die leiseste Spur. Da erhielt ich eines Tages in Wien das folgende Schreiben:

»Geschätzter Freund!

Für den Fall Du einmal Lust nach malerischen Landschaften hast, so reise nach der Insel Rügen. Und wenn Du dort sein wirst, so versäume ja nicht, nach dem Landgute Zurkow zu fragen, denn der Besitzer ist ein alter Freund von Dir, der Dich bittet, es Dir bei ihm recht wohlergehen zu lassen. Er hofft, daß Du seiner nicht vergessen haben wirst und freut sich sehr, Dich nach sechs Jahren endlich wieder zu sehen. Es ist Dein alter

Wendelin Blees.«

Die Schrift war glatter geworden als sie einst gewesen, aber es war die seine. Mein Erstaunen war fast grenzenlos. Zur alten Neigung kam nun auch die Neugierde. Leicht locker gemacht war ich überhaupt und schon an einem der nächsten Tage saß ich auf der Nordbahn.

Von Anklam bis Stralsund hatte ich Gelegenheit, mich bei einem Reisenden, der aus Bergen, dem Hauptorte der Insel Rügen, war, nach dem Landgute Zurkow und seinem Besitzer zu erkundigen. Da erfuhr ich, daß Zurkow zwar kein Edelsitz sei, wohl aber eines der schönsten und reichsten Güter der Insel. Es wäre ein Edelsitz gewesen, aber der letzte Edelmann hätte ihn am Spieltisch eines rheinischen Bades verloren und sich flink darauf erschossen. Hierauf sei [20] ein holländischer Kaufmann gekommen, Marketze geheißen, der habe das zerfahrene Zurkow gekauft und in einen Stand gesetzt, wie es seit Menschengedenken nicht erhört worden. Der Landbau und die Waldwirtschaft, die Jagd und die Fischerei blühten nun. Auch habe der Eigentümer von Zurkow Bergwerke in England besessen und Schiffe, die zwischen Stettin und Kopenhagen verkehrten. Und das Schloß habe er herstellen und einrichten lassen, daß es nun einer königlichen Residenz ähnlich sehe. Das habe ihm aber alles nichts geholfen; mit seinem Sohne sei er unglücklich gewesen und so sei er, nachdem das Gut so fürtrefflich hergestellt war, aus Gram gestorben. Es sei aber ein junger Mensch aus dem Süden gekommen, ganz fremd, der sitze nun auf Zurkow und sei gut für drei Millionen Taler. Man erzähle sich von dieser Familie mancherlei, aber da nichts Bestimmtes zu sagen sei, so tue man am besten, zu schweigen.

So war ich vorbereitet worden und so lag ich nun auf dem Ruhebette des Schlosses Zurkow – ich konnte nicht sagen, daß mir gerade wohl zu Mute war.

Endlich dämmerte es, und als ich wieder zum Fenster hinausblickte, war das Meer nicht blau, sondern lichtgrau und in seinem Quecksilberschimmer am Horizonte scharf abgeschnitten von der aufsteigenden Nacht. Das Schiff, welches früher fern wie ein Sternchen gefunkelt, war näher gekommen, es war das einzige Fahrzeug auf der dunkelnden Fläche. Auf den Felsen von Stubbenkammer glühte der Widerschein des Abendrotes und sie spiegelten sich im Meere wie blutige Schatten.

Als ich träumend so zum Fenster hinausgeschaut, legte sich sachte eine Hand auf meine Achsel. Wendel stand hinter mir.

[21]

»Wenn du ausgeruht hast,« sagte er, »so lade ich dich ein, mit mir zum Abendbrot zu kommen.«

»Hier hast du eine merkwürdige Welt um dich,« lautete meine Entgegnung, »ich habe diesen stillen, meerumschlungenen Hain als Knabe im Traume gesehen, zur Zeit, da wir die nordische Mythologie studierten.«

»So ist es,« antwortete er rasch, »so ist es, Mythologie! Darum kann dieser Ort so anheimelnd und so schrecklich sein.«

»So schrecklich?«

Jetzt faßte mich Wendel an meinen beiden Händen und sagte: »Geliebter Freund, ich danke dir tausend-, vieltausendmal, daß du zu mir gekommen bist.«

Seine Stimme war so bewegt, daß es mir durch Mark und Bein ging.

Die Kruste war nun gebrochen, bei ihm, bei mir. Arm in Arm gingen wir auf das Zimmer, in dem unser Abendtisch gedeckt war. Es war ein anderes als jenes, in welchem wir das Mittagsmahl genommen hatten, es war viel einfacher und viel heimlicher. An der Wand fiel mir ein technisch mit Meisterschaft gemachtes Ölporträt meines Gastherrn auf. Wir saßen uns bei etwas gedämpftem Lampenlichte an einem kleinen Tisch gegenüber; sonst war niemand da, und der Mann, der uns bediente, erschien nur, wenn er mit dem Glöcklein gerufen wurde. Die Speisen waren nach Wiener Art zubereitet, und anstatt des aufgeblasenen Champagners stand eine Flasche jenes ehrlichen, männlich herben Rotweines da, wie er in den gottgesegneten Talungen der tirolischen Etsch wächst und wie ich ihn in Gemeinschaft mit Wendel einst so gerne getrunken hatte.

»Nun haben wir uns wieder,« sagte mein Freund und schaute mir mit feuchtem Auge ins Gesicht.

[22]

»Ich kann mich immer noch kaum fassen vor Verwunderung, dich so wiederzufinden,« bemerkte ich.

»Mir erging es nicht anders,« sagte er, »aber ich bin in den letzten Stunden, während du dich von den Reisestrapazen ein wenig erholtest, nicht müßig gewesen. Ich habe nach der Art gesucht, die uns wieder zusammenbringen soll, wie wir dazumal beisammen gewesen sind. Offen herausgesagt: mit den ersten Stunden unseres Wiedersehens war ich nicht zufrieden.«

»Ich auch nicht. Aber nun sage mir endlich, Wendel, was um alles in der Welt ist mit dir vorgegangen?«

»Du siehst es,« antwortete er mit einer wehmütigen Miene, »ein reicher Mann bin ich geworden.«

»Das passiert manchem, und geht es gewöhnlich mit so natürlichen Dingen zu, daß man weiter gar nicht darüber spricht. Aber bei dir ist's ein anderes. Du warst stets unpraktisch, hast weder Schick gehabt zum Spiel noch zum Spekulieren, hast, so viel ich weiß, weder ein Los besessen noch einen reichen Onkel. Du hast auch meines Wissens nie ein Interesse gehabt an Geld und Herrlichkeit – Künstler werden wolltest du, diesen Weg sah ich dich von mir fortziehen, nun finde ich einen Millionär. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, mein Freund!«

»Du hast eine naheliegende Eventualität nicht erwähnt.«

»Ich weiß es, die reiche Heirat. Doch der Gedanke ist mir zu trivial.«

»So dekoriere ihn mit der Liebe.«

»Wirklich! Nun, die Liebe rentiert eine reiche Heirat immerhin.«

»Und meinst du, daß eine reiche Heirat nicht auch die Liebe rentieren könnte?«

[23]

Der Ton und Blick, mit dem diese Worte gesprochen wurden, war verblüffend. Ich schwieg.

»Du hattest damals recht,« fuhr er fort, »ich bin kein Künstler geworden.«

»Aber du bist Mann geworden, das ist mehr.«

»Es mag mehr sein, aber es ist nicht so schön. Freund, wann war ich glücklicher als damals, als ich mich wie ein Bettelvagabund durch die Alpenländer nach Italien schlug! Ich war fest überzeugt, daß meine Rückkehr ein Triumphzug sein würde und daß die abenteuerliche Wanderschaft des Zimmermalers einst ein prächtiges Kapitel in der Biographie des berühmten Künstlers geben müsse. Ein junger Idealist, und wäre es auch nur ein eitler Tropf, nimmt im Reigen irdischer Seligkeit den ersten Platz ein. Ich habe diesen Platz bald verloren. In Mailand auf einer Wand sah ich das Abendmahl – ein Triumph der Zimmermalerei,« setzte Wendel lächelnd hinzu. »Ich griff dort aus Not wieder nach dem alten Gewerbe. Ein Zufall verschlug mich mit einem Arbeitgeber nach Genua und vor dem barocken Denkmale des Kolumbus kam mir der Gedanke, ob ich mich nicht etwa der Bildhauerei zuwenden sollte. Auf jeden Fall wollte ich von hier aus zur See nach Rom gehen, dort weht alte, echte Künstlerluft, die wollte ich erst atmen, das weitere konnte nicht fehlen. Da trat ich eines Tages in ein Gasthaus der Via nuova . Das, Freund, war der erste Schritt nach dem Herrengute Zurkow auf Rügen.«

»Im Gasthause lerntest du sie kennen, nicht wahr?«

»Wen?«

»Die schöne Maid, die mit dem Vater auf Reisen war und die hernach deine Frau wurde.«

»Du dichtest,« sagte Wendel Blees, »aber du dichtest banal. Du mußt schon tiefer ins Unglaubliche.«

[24]

»Ich bitte dich, erzähle!«

»So werde ich rasch und kurz erzählen. – In einer Weinlaube des Gasthausgartens setzte ich mich ermüdet hin und musterte die Speisekarte. Ich suchte nicht nach dem feinsten Braten, sondern in der Preisrubrik nach der kleinsten Ziffer – nun, das kannst du dir ja denken. Es war für die Italiener noch nicht die Zeit des Mittags, so war der Garten fast leer, nur hinter einem Zitronenbaum saß ein Herr mit weißem Backenbart und schaute zwischen den grünen Blättern zu mir herüber.

Lange so, und immer wieder. Endlich schob er seinen Teller beiseite und blickte noch schärfer auf mich her. Dann stand er auf, kam an meinen Tisch und drückte mir die Hand. Er tat es, ohne ein Wort zu sagen, dann trat er wieder an seinen Tisch zurück und brütete vor sich hin. Hernach zog er aus seinem Ledertäschchen eine Photographie und sah sie an und schaute auf mich – und stützte sein Haupt traurig auf die Hand. Jetzt mußte auch ich immer wieder auf ihn hinblicken und wurde dabei unruhig; ich bildete mir ein, das wäre ein großer Künstler und habe an mir vielleicht das Genie entdeckt; du siehst, ich hatte nicht mehr weit zum letzten Ziele manchen Künstlers – zum Narrenhaus. Es gehörte ein Wunder dazu, um mich davon zu retten – und das Wunder geschah.«

»Als ich,« fuhr mein Freund Wendel fort, »mich zur Not gesättigt hatte, erhob ich mich, um meine nebelhaften Wege weiter zu wandeln. Da sprang der Mann am Zitronenbaume auf, hielt mich zurück, er wolle wissen, wer ich wäre.«

»Also ein Polizeiorgan!« rief ich aus.

»Mein Bester,« sagte Wendel, »ich sage dir noch einmal, wenn du in meiner Geschichte die Wahrheit erraten [25] willst, so mußt du dich gerade an die größten Unwahrscheinlichkeiten halten. Der Mann hörte meine Geschichte, kaufte mir neue Kleider und ich war tagelang sein Gast. Er war liebevoll und fast zärtlich mit mir, und er war doch nur ein Fremder. Mehrmals sah ich ihn weinen. Er lud mich ein, mit nach Rügen zu kommen, wo er ein Gut habe, er wolle für mein Fortkommen sorgen helfen.«

»Er hatte dich so plötzlich liebgewonnen?«

»Und weißt du, warum? Weil ich große Ähnlichkeit mit seinem verstorbenen Sohne hätte.«

»Du gingst mit ihm?«

»Natürlich, ich ging nicht mit ihm, ich ging nach Rom. Und als ich dort meine Künstlergelüste gründlich ausgehungert hatte, und in dem Gemäuer des Kolosseums bei den Fledermäusen mein Nachtlager hielt, fiel mir wieder die Einladung des greisen Mannes ein. Ich schrieb ihm, daß ich nun kommen wolle und ob er für mich einen Erwerb hätte; wäre es was immer, nur ein ehrlich Brot. Er schickte mir Geld, ich reiste auf dem kürzesten Wege nach Rügen. Als ich nach Zurkow kam – auf dieses schöne, reiche Zurkow, ja – da hat er mich wie einen lieben Anverwandten empfangen, hat seine Tochter gerufen, mich ihr vorgestellt und ausgerufen: Nun Freda, ist er's nicht? – Ja, sagte Freda, und doch wieder nein, Albin war nicht so schlank. – Aber er hatte dasselbe nußbraune Haar, das ihm geradeso in die Stirn stand, denselben Mund, das ganze Gesicht; schau' sein Aug' an, Freda, schau' sein Aug' an! O Gott, mein Albin! – Er hat geweint, sie hat ihn mit Mühe beruhigt –«

»Und dein Auge?«

»Das hat sie angeschaut.«

»Dann verliebt?«

»O nein,« antwortete mein Freund Wendel, »so schnell [26] ging das nicht. Wir mußten uns erst aneinander gewöhnen. Der Alte gab uns zu schaffen, der wollte – höre es! – er wollte uns schon in den nächsten Wochen zusammenhaben. Er war durch den plötzlichen Verlust seines Sohnes verwirrt, beinahe schwachsinnig geworden.«

Wendel führte mich dann zum Fenster: »Du siehst dort die weißen Felsen?«

Ich sah sie in des Mondenscheines nebelhafter Blässe schroff aus dem Meere aufragen.

»Von jenem Felsen,« fuhr mein Freund fort, »ist Albin Marketze, der einzige Sohn des reichen Mannes, in seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre auf einer geologischen Exkursion, bei der er sich zu tollkühn an die Hänge hinauswagte, in das Meer gestürzt und zugrunde gegangen. Der Vater war trostlos, seine Tochter, nun sein einziges Kind, suchte ihn umsonst zu zerstreuen, er gab sie zu Verwandten nach Putbus, überließ das Gut einem Verwalter und ließ sich von seinem Grame ziellos in der Welt herumtreiben. So war er auch nach Genua gekommen, wo wir uns also begegnet waren. Ich kann ihm die Liebe, die er mir schenkte, nimmer vergelten, der kranke Greis sah in mir seinen verstorbenen Sohn. – Hast du dieses Bild schon betrachtet?« Wendel wies auf das Ölgemälde an der Wand.

»Das scheint ein gewandter Künstler geschaffen zu haben,« bemerkte ich, »es ist Individualität in dem Bilde und doch stört mich etwas in den Zügen. Durch die wohlbekannte Form schaut mich eine fremde Psyche an.«

»Im ganzen leugnest also auch du die Ähnlichkeit nicht. Und siehe, das ist das Porträt des verunglückten Albin.«

Das fand ich denn doch merkwürdig und nun fing ich an, das besondere Interesse des alten Marketze für Wendel zu begreifen.

[27]

»Da mir,« fuhr mein Freund fort, »die Lust, Maler zu werden, begreiflicherweise vergangen war, wenigstens einstweilen vergangen, so fügte ich mich gerne den fürsorglichen Wünschen meines Gönners, ich gab mich, anfangs gleichgültig, später mit Interesse, der Landwirtschaft hin und machte in derselben Fortschritte. Außerdem geschah manches zur Vermehrung meiner sonstigen Kenntnisse, damit wuchs auch – möchte ich sagen – mein Herz und ich schloß mich warm und dankbar meinem Wohltäter an. Ich war kaum drei Jahre auf Zurkow, als mir Marketze eines Tages zu verstehen gab, daß es ihm lieb wäre, wenn noch vor seinem Tode meine Verbindung mit seiner Tochter zustande käme. Freda war um einige Monate älter als ich, sie war mir nicht unangenehm gewesen. Es hatten sich, wie leicht erklärlich, reiche Bewerber eingefunden, allein –«

»Sie hat den frischen guten Jungen vorgezogen,« unterbrach ich in meiner vorwitzigen Ungeduld, »reich war sie selbst, gesellschaftliche Rücksichten war sie nicht schuldig, so nahm sie sich einen Herzensmann. Ich habe mir oft gedacht, Wendel, daß in dir Trotz und Geschmeidigkeit, Männlichkeit und Weichlichkeit geradeso gemischt sind, wie es die Weiber gerne haben.«

»Genug. Als der Vater starb, waren wir ein Ehepaar und ich habe mich wohl oder übel mit meiner neuen Würde und Herrlichkeit abfinden müssen.«

»Aufrichtig gesagt, hoffe ich, daß dir die Kunst, ein reicher und glücklicher Mann zu sein, besser gelingen wird, als dir jemals ein gutes Gemälde gelungen wäre.«

Eine Weile nach dieser Bemerkung antwortete Wendel: »Es gehört zum einen wie zum andern ein großes Talent. Wenn sich der reiche Mann in seine Lage nicht zu schicken weiß, so ist er ein armer Mann.«

[28]

Derlei besprachen wir, da begann allmählich das Gespräch zu stocken. Wir machten noch manchen stillen Schluck aus unseren Gläsern, dann wünschten wir uns in freundlicher Höflichkeit gute Ruhe, und ich wurde hierauf in mein Zimmer geführt.

Ich stand noch lange am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Auf dem Meere lag der Schimmer des Mondes und die zackigen Kreidefelsen von Stubbenkammer standen wie Gespenster da. Jetzt legte sich auf meine Schulter wieder die Hand. Wendel stand neben mir und war bleich und verstört, wie ein Nachtwandler.

»Verzeihe mir, mein Freund, daß ich deine Ruhe störe,« sagte er mit unsicherer Stimme, »ich wollte dich heute noch fragen, wann du von hier abreisest?«

Mit Befremden entgegnete ich: »Wann ich abreise? Ich glaube, du könntest es ebensogut erfahren, wenn du mich gefragt hättest, wie lange ich denn zu bleiben gedächte. Du weißt, daß ich auf deine Einladung aus Wien komme, um dich zu besuchen.«

»Ich danke dir, daß du gekommen bist!« stieß er hervor, »aber ich verreise morgen und wünsche in deiner Gesellschaft zu reisen.«

Ich starrte ihn an.

»Du hältst mich für verrückt,« sagte er.

»Allerdings –«

»So muß ich dir's denn gestehen, Freund,« er verdeckte mit krampfiger Hand sein Gesicht, »ich bin sehr unglücklich. Ich ertrage es nicht mehr länger, ich will fliehen, ich will nach Wien zurück. Mein Weib und ich, wir lieben uns nicht. Sie behandelt mich mit Hochmut, sie hat ihre Freunde, mit denen sie sich herumtreibt, fischt und jagt; ihrem Reitpferde schenkt sie mehr Aufmerksamkeit als mir. Von einem Familienleben [29] ist in diesem Hause nicht der Schatten, entweder sie zieht ihre junkerlich faden oder aufgeblasenen Sportgenossen herbei und gibt laute Feste, wobei ich offen oder verstohlen die Zielscheibe ihrer Launen bin, oder sie reitet davon und läßt mich allein in diesem Schlosse, das mir unheimlich geworden ist wie eine Gruft. Ich hätte mit ihr für mein Leben gern einmal eine Reise nach Österreich gemacht; sie schlug mir's ab, ich möge allein reisen, wenn es mir auf Zurkow nicht behage, sie sei keine Freundin der vielgerühmten österreichischen Gemütlichkeit. Das einzige Glück ist, daß ich sie nicht liebe, denn sonst müßte ich mich von jenem Felsen dort, der die erste Ursache meiner Leiden ist … Kurz, ich habe nichts und will nichts, ich bin frei, ich verlasse Zurkow noch in den nächsten vierundzwanzig Stunden, arm wie ich gekommen bin. Ich gehe mit dir nach Wien.«

»Du mußt deine Aufregung vorübergehen lassen, armer Freund,« sagte ich, »wenn du ruhig geworden sein wirst, wollen wir es überlegen.«

»Diese Zeremonie ist nicht mehr nötig. Ich habe es längst überlegt und heute mich entschlossen. Ich habe sie von deiner Ankunft unterrichtet und sie gebeten, daß sie zu Hause bleibe, um dich zu empfangen: sie weiß, daß du mein liebster Freund bist, der aus der Ferne zu mir kommt, und sie konnte das Haus verlassen, und sie konnte mir das lieblose Wort sagen.«

»Welches Wort?«

»Wen ich eingeladen, den möge auch ich bewirten, sie könne sich denken, wie mein bester Freund aus der Zeit der Farbenkleckserei aussehe, sie sei auf derlei vagabundierendes Künstlervolk nicht neugierig. Tiefer hätte sie mich nicht mehr verletzen können. Ich trenne mich von ihr.«

[30]

»Ich danke dir,« sagte ich, »also mich willst du zur Ursache eines unsinnigen Schrittes machen! Dann empfehle ich mich.«

»Bleib', Hans!« schrie er auf und packte mich an beiden Armen, »von dir ist keine Rede. Es handelt sich um mich! Mir hat sie den Schlag versetzt, sonst wollte sie nichts, als mich, mich beleidigen, aber das wollte sie. Meiner überdrüssig ist sie, den Bruch wünscht sie zu vollziehen. Der Wunsch kann erfüllt werden.«

Der Mann schoß wildsprühende Blicke um sich, er knirschte mit den Zähnen.

»Du hassest sie also?« war meine Frage.

Hierauf antwortete Wendel: »Wenn ich sie haßte, so würde ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen, ich würde Herr auf Zurkow bleiben und das Leben des Reichen genießen und ihr im Wege stehen und mich an ihrem ohnmächtigen Ärger belustigen. Nein, ich hasse sie nicht. Von jetzt ab – sie ist mir gleichgültig.«

»Gleichgültig? Deine Aufregung straft dich Lügen.«

»Bin ich aufgeregt? Dann bin ich's nicht ihretwegen, sondern meinetwegen. Mein Unglück, ich schleudere es von mir, ich nehme wieder die Armut und Nichtigkeit auf mich. Seit ich dich sehe, mein Freund, habe ich wieder Mut, ich gehe mit dir nach Wien!«

Das kam mir nun alles verworren vor; da fragte er mich: »Könntest du an meiner Stelle bleiben? Es mögen Gesetze und Sitten hundertmal für dich sprechen, wenn die Tatsache zeigt, daß du überflüssig bist, so wirst du verzichten und lieber mit Stolz und Ehren wieder der arme Anstreichergeselle sein, als auf Zurkow ein – was weiß ich! Es war ja nichts, ein toller Traum, nichts als ein Roman, aber ein Roman ohne Liebe. Eine fixe Idee, geschmeichelte Eitelkeit [31] und der Kitzel, reich zu sein, waren die Helden! Könntest du mich denn achten, wenn ich so noch hier sitzen bliebe?«

»Ich gebe keine Antwort, solange ich nicht deine Frau gesehen habe.«

»Die wirst du nicht sehen,« sagte Wendel Blees, »wie ich sie kenne, kehrt sie erst zurück, wenn sie die Gewißheit hat, daß du nicht mehr im Hause bist.«

»Dann erlaube mir, daß ich jetzt einige Stunden ruhe. Bevor die Sonne aufgeht, werde ich dieses Haus verlassen.«

»Tue so, mein Freund, und schlafe wohl.«

Rasch hatte sich mein Gastherr nun entfernt. Unsere Unterredung hatte einen fast trotzigen Charakter gehabt. Ich schlief schlecht in derselben Nacht. Reue, daß ich hierher gekommen, Mitleid mit dem armen Wendel, Ratlosigkeit, was nun anzufangen, peinigten mich. Es kam mir der Gedanke, Frau Freda aufzusuchen und den Vermittler zu spielen; diesen Gedanken schleuderte ich rasch von mir – zwischen Eheleute dränge sich kein Dritter, am wenigsten ein Fremder. Er würde es unter allen Umständen schlechter machen. Als der erste Schimmer des Morgens aus dem Meere stieg, war ich entschlossen. Ich packte hastig meine Sachen zusammen, schrieb auf ein Blättchen Papier die Worte:

»Wendel, ich bin aus der Ferne gekommen, um Dir auf dieses Stück Papier das Wort zu schreiben: Sei ein Mann! Lebe wohl.

Dein treuer Hans.«

Als ich durch den Hof eilen wollte, fuhren zwei große Hunde auf und ließen mich nicht weiter. Ich mußte umkehren in mein Zimmer, warf mein kleines Gepäck zum Fenster hinaus und kletterte selbst nach in den Garten. Das Schloß und das naheliegende Gehöfte lagen noch in Ruhe da; ich huschte durch Gestrüppe und bog erst eine Strecke weiter hin zum Wege.

[32]

Ich war auf demselben etwa dreihundert Schritte gegangen, als von einer Eichengruppe ein Mann auf mich zusprang und mich mit dem Worte: »Da bist du ja schon!« an der Hand faßte.

Wendel war's, der Herr auf Zurkow: und doch nicht mehr Herr auf Zurkow, in dem Kleide eines fahrenden Gesellen stand er da.

»So, Kamerad,« sagte er, »nun wollen wir einmal mitsammen wandern.«

Dagegen ließ sich nun nichts einwenden. Wir trabten wortkarg nebeneinander her. Als wir eine Stunde gegangen waren, machte mein Begleiter plötzlich einen Juchschrei, wie er so frisch und laut auf Rügen vorher wohl kaum erklungen sein mochte.

»Sieh da, dieser Stein ist mir noch auf dem Herzen gelegen,« sagte er hernach und deutete auf einen bemoosten Grenzstein, »hier endet das Gut Zurkow, hier beginnt die weite Welt. Freund, nun bin ich wieder dein!«

Da dachte ich: Wenn ich nur wüßte, was ich mit dir anfangen soll!

So begann die Wanderschaft. Den Sund übersetzten wir auf einer abseits gelegenen Fischerbarke, Stralsund umgingen wir, weil Wendel sich vor dem Erkanntwerden fürchtete. Und dann wollte er zu Fuß nach Wien reisen. Er hatte von dem Schlosse ja nichts mit sich genommen, als was er einst dahin mitgebracht hatte, ein abgeschabtes Ledertäschchen und einen Hagenstock. Ich hatte viele Mühe, um ihm die Eisenbahnfahrt aufzuzwingen. Endlich, als es ins Österreich hereinging, fanden wir uns und waren harmlos heiter, wie einst; ich suchte seine Verhältnisse mit Ruhe und Erwägung zu besprechen, allein er war dazu viel zu nervös [33] aufgeregt: bei ihm ging alles im Überschwunge und sein ganzes Wesen wurde mit fortgerissen.

Als er die alte Kaiserstadt sah, war er überglücklich. So saßen wir nun endlich wieder in meiner Stube, wo wir vor Jahren oft froh beisammen gesessen und ich fragte ihn: »Wenn du jetzt zurückdenkst auf Zurkow, wie ist dir zu Mute?«

»Unsäglich wohl!« rief er, »hast du einen zweiten Freund, Hans, der imstande ist, ein Herrenschloß und ein reiches Weib von sich zu schleudern, wie eine faule Birne?«

»Du bist der einzige,« sagte ich, »und nun suche ich mir noch einen, der imstande ist, ein Herrenschloß und ein reiches Weib zu beherrschen.«

»Da wird sie zurückgekehrt sein auf Zurkow,« sagte Wendel, »ausgerüstet mit neuen Mitteln mich zu demütigen, und wird selbst die größte Demütigung erlebt haben, die ein reiches Weib erleben kann: von dem Bettler abgelehnt zu sein.«

Schon am nächsten Tag war Wendel Blees so glücklich, in einem Vororte Wiens als Zimmermaler Beschäftigung zu finden. Er besuchte mich häufig, aber für meine Bilder und ästhetischen Studien hatte er kein Interesse mehr, er saß zumeist still da und blickte zum Fenster hinaus auf die alten Ulmen und Eichen eines verwahrlosten Parkes. Von seinem abenteuerlichen Gutsherrnleben sprachen wir nicht mehr; ich aber dachte daran und mir kam die ganze Geschichte noch wunderlicher vor.

Ich wußte nur, daß er seiner Gattin nicht schrieb und ihr absichtlich seinen Aufenthaltsort verheimlichte. Um so eifriger las er ein pommersches Wochenblatt und in demselben einmal eine Feilbietung des Gutes Zurkow auf [34] Rügen. Er zeigte mir mit dem Finger die Stelle; wir haben nicht ein Wort darüber gesprochen.

Mittlerweile bemerkte ich, daß die Farben – die grünen sollen besonders schädlich sein – dem Wendel Blees nicht mehr so wohl bekamen als einst, er wurde bleich und bekam eingefallene Wangen. Seine Besuche bei mir verminderten sich, er strich in seinen freien Stunden allein umher in den Vorstädten oder er saß in seiner Dachkammer und brütete vor sich hin. Als ich von einer größeren Reise zurückgekehrt war, gedachte ich wieder einmal seiner und suchte ihn auf. Ich fand ihn auf dem Fußboden kauernd, wo er eben ein paar Patronen (Formen für Zimmermalerei) aneinanderzuheften vorhaben mochte, aus Erschöpfung aber rasten mußte. Ich erschrak vor der herabgekommenen krankhaften Gestalt, vor dem stieren Blick, der mich völlig unheimlich anglotzte.

»Bist du krank, Wendel?« fragte ich.

»Was habt Ihr denn mit mir?« fuhr er jetzt auf, »warum soll ich krank sein?« Dann setzte er wehmütig und sanft bei: »So hast du doch nicht ganz meiner vergessen. Du kannst mir aber nicht helfen.«

»Willst du nicht bisweilen mit mir einen kleinen Spaziergang machen? Das zerstreut und erfrischt.«

»Wenn du recht langsam gehen willst,« meinte er, »ich war schon lange nicht mehr auf der Gasse und habe das Gehen verlernt.«

Als ich von ihm fortging, hastete mir die alte Frau, die ihn pflegte, zur Türe nach und fragte: »Wie lang' kann er's denn noch machen, Herr Doktor?«

Es waren freundliche Spätherbsttage. – Ich führte den armen Wendel mehrmals auf den Ring; er sprach wenig, nur einmal, als er stehen blieb und sich an mich stützte, [35] sagte er, mit großen Augen hinschauend: »Es ist eine herrliche Stadt!« Dann saßen wir auf einer stillen Bank des Stadtparkes und er schaute die gilbenden Blätter an, wovon eins ums andere langsam zu Boden sank.

Da war's eines Tages, als wir über den Schwarzenbergplatz schritten, daß mein Begleiter plötzlich einen Schrei ausstieß. Ein Fiaker rollte vorüber, in welchem eine schwarzgekleidete Dame saß. Wendel riß sich von mir los und mit ausgestreckten Armen lief er dem Wagen nach. Ich suchte ihn zurückzuhalten, aber er eilte, als wären seine Arme Flügel, er verfolgte den Wagen bis zur Brücke, dort stürzte er zusammen.

Allsogleich waren wir von einem Menschenhaufen umringt. Wir hoben ihn auf. Seinem Mund entströmte Blut; er schlug die Augen weit auf und stierte um sich und murmelte: »Sie ist fort.«

»Wen meinst du, Wendelin?«

»Freda!« hauchte er matt.

Man trug ihn in einem geschlossenen Lederkasten ins nächste Lazarett; als sie ihn in der Halle niederließen und ich die Klappe öffnete, um zu fragen, wie er sich befinde, da waren die Lippen für immer verstummt.


Man erinnert sich vielleicht noch an eine Zeitungsnotiz, daß an jenem Oktobertage ein Mann einem Fiaker nachgelaufen, auf der Schwarzenbergbrücke mit dem Rufe: »Freda!« zusammengebrochen und bald darauf verschieden sei.

Aber man weiß wohl nicht, daß diese Notiz einen seltsamen Besuch in der Leichenhalle zur Folge gehabt hat. [36] Eine fremde Dame fand sich ein, bat sich die Leiche des Zimmermalers Wendelin Blees aus, bekränzte sie mit Eichenlaub, überführte sie auf einen still und lieblich gelegenen Friedhof des Wienerwaldes und begrub sie in einem eigenen Grabe.

Auf dem Steine steht das Wort, das einzige Wort: »Verzeihe!«


[37]

Das Mündel-Kindel.

Im Garten des Gasthauses zum »Roten Herzen«, an einem Ecktische saß ein junger Mann. Er war der einzige Gast, die Mittagsleute hatten sich schon verzogen und die Nachmittagszecher waren noch nicht angerückt. Die jungen Wildkastanien gaben wenig Schatten, auf den runden Tischen mit den unordentlich verschobenen Tischtüchern, an denen hie und da Spuren der Bratensauce sichtbar waren, lag die grelle Aprilsonne. Drinnen in einem Winkel der Gaststube kauerte der Kellner, der einen Teil des Schlafes, den in der Vornacht anhaltende Trinker ihm gestohlen, einzubringen hatte. Der junge Gast, auf dessen blassem Gesicht schwarze Augenbrauen und ein schwarzes dünnes Schnurrbärtchen lagen, stützte sein Haupt auf den Ellbogen, so daß der gesprenkelte Strohhut auf dem Ohre lag. Er hatte vor sich ein volles Glas Bier stehen, in dem der weiße Schaum bereits zerronnen war. Er blickte hinaus auf die Kastanienallee, in der gelangweilte Spaziergänger hin und her siffelten oder auf den Bänken saßen. Am Alleedamme balgten ein paar Gassenjungen, die grüne Gesichter und dunkle Ringe um die Augen hatten und die paar Lumpen, die sie an den mageren und schmutzigen Gliedern trugen, sich gegenseitig vollends herabzureißen suchten. – Aus dem Sinnen über die Zukunft solcher verwahrloster Kinder wurde der junge Mann geweckt durch einen rasch in den Garten tretenden zweiten, der Überrock und Stock auf einen Sessel warf und sich bei dem Freunde entschuldigte, daß er ihn hatte warten lassen. Mit beiden Händen seinen braunen Vollbart streichend, setzte er sich an den Tisch, rief nach [38] einem Glas Bier und auch der erstere ließ sein abgestandenes Glas gegen ein frisches umtauschen.

»Ich hatte zum Schluß noch eine Überstunde mit drei Prozessen,« erzählte der Ankömmling. »Eine Ehrenbeleidigung und zwei Paternitätsklagen.«

»Paternitätsklagen?« fragte der junge Mann und hob jetzt seinen Kopf in die Höhe. »Das ist interessant.«

»Ach, was verstehst du davon,« lachte der Bezirksrichter.

»Aber anhören kann man's doch.«

»Im Vertrauen gesagt, Alfons, du siehst mir seit einiger Zeit gar nicht danach aus, als ob dir mit Widerlichkeiten gedient wäre. Nein, für Kopfhänger sind Gerichtsangelegenheiten nicht die richtige Unterhaltung. Heil dir!«

Er hob sein Glas zum Anstoßen, Alfons tat ihm verdrossen Bescheid und goß dann sein Bier auf einem Zug hinunter, während der Richter sich mit einem Halben genug tat, den er mit Behagen vollführte, um dann seinen etwas genetzten Bart wieder in Ordnung zu bringen.

»Sage mir, Freund, was fehlt dir? Hast du deine Lustigkeit in den Taschen des Winterrocks gelassen? Gibt dir das Staatsexamen so viel zu schaffen oder hat dir dein Alter die Rationen beschnitten? Andere Mißgeschicke kann ich mir bei einem Studiosus nicht denken.«

»Nicht?«

»Oder unglückliche Liebe? Doch dazu hast du, so viel ich weiß, nie Talent gehabt.«

»Nein, dazu habe ich nie Talent gehabt,« sagte Alfons gelassen nach und schob auf dem Tisch das Salzgefäß beiseite, obschon es ihm nicht im Wege gewesen war. Und rief nach Bier. Aber als der Kellner um das Glas kam, wehrte er ab: »Ich danke. Ich trinke nicht mehr.«

[39]

Mit einiger Befremdung betrachtete nun der Bezirksrichter seinen Freund daraufhin, ob er nicht etwa krank sei. Der andere hielt das nun nicht mehr lange aus. Diese Gelegenheit war ihm ja erwünscht. Für die Länge ist solch ein Anliegen nicht zu ertragen, ohne es mitteilen zu können. Und wem sollte er es mitteilen, als diesem Manne, der, um etliche Jahre älter, entfernt mit ihm verwandt und seit Kindheit vertraut, sich stets als verläßlicher und verschwiegener Freund erwiesen hatte.

»Gustav,« sagte er plötzlich und rückte seinen Sessel. »Ich möchte dir etwas sagen. Vielleicht kannst du mir einen Rat geben. Aber sitzen bleiben möchte ich nicht hier. Machen wir einen Spaziergang.«

Sie legten ihre Münzen hin und gingen. Durch die Allee hinaus schwieg Alfons, erst als sie in den Eichenwald kamen, wo der Kiesweg mit dem Schatten der treibenden Baumzweige besprenkelt war, bückte er sich nach einem Steinchen, warf es wieder fort und sagte: »Denke dir, Gustav, ich habe Malheur gehabt. Mit der kleinen Blonden.«

»Mit der Strohhutmamsell? Aber das ist doch wohl tempi passati . Du hast mir ja schon lange nichts mehr von ihr erzählt.«

»Nun eben dann hättest du dir's denken können. Sie ist tot und – das Kind lebt.«

Da blieb der Richter stehen, kehrte sich dem Freunde zu und sagte leise und gedehnt: »Na, hörst du!« –

Alfons schaute ihn unsicher an. »Dein Richterantlitz magst du nur abseits lassen. Das kann ich jetzt nicht brauchen. Ich bin schwer abgestraft. So teuer ist dir das sicher nie zu stehen gekommen. Sie starb in der Klinik. Das Kleine – heute sechs Tage alt – ist im Findelhaus.«

»Nun also!« rief der Richter, aber Alfons fand den [40] Ruf nicht ganz harmlos. »Entweder,« sagte er, »glaubst du, ich gebe mich mit dem Findelhaus zufrieden, oder –. Sei versichert, daß mir die Sache verteufelt nahegeht. Soll es nun ins Waisenhaus? Oder in eine andere Anstalt? Ich höre, man bringt so einen Wurm nirgends unter. Dann geben sie ihn aufs Land hinaus. Wo sie Engerl machen.«

»Aber, das wirst du doch nicht zulassen!«

»Ja, glaubst du denn, ich werde mich nennen und bekennen?«

»Mein lieber Alfons, das wirst du allerdings müssen.«

»Du kennst doch meinen Alten. Der würde mich enterben. Was sage ich, enterben. Ermorden! Wenigstens träfe ihn der Schlag.«

»Dein Vater mag zwar ein bißchen so etwas sein, wie ein Moralphilister. – Du verzeihst schon. Aber ich halte ihn auch für einen anständigen Mann – du verzeihst abermals. Das Kind seines Sohnes wird er nicht verderben lassen. Ist es ein Knabe?«

»Natürlich! Aber daß ich den Alten in die Geschichte einweihe, das ist ganz ausgeschlossen. Wenn ich nur Geld hätte, dann ließe sich's leicht machen.«

»Setzt er dir immer noch bloß zwanzig Kronen aus, monatlich?«

»Könnte ich mir ein Automobil halten oder wenigstens ein Reitpferd, wie andere unserer Sippe, ich hätte mich nie nach dieser Richtung hin so weit verloren. Ich habe schon gedacht, ob ich jetzt nicht die Reise nach England machen sollte, wie es mein Alter wünscht. Natürlich hielte ich mich die Zeit über bei einem guten Freunde verborgen und mit dem Gelde wäre das Kind für eine Weile versorgt. Was meinst du?«

[41]

Als die beiden Männer langsam weiter gingen, sagte der Richter in einem etwas singenden Tone: »Ja, ja. So machen sie's alle. Fast alle. Ist die eine Dummheit vollbracht, dann machen sie die zweite. Aber es ist ja gar nicht nötig, Alfons, daß du deines Kindes wegen ein Schwindler wirst. Es wird auch so gedeihen. Hat es schon einen Vormund?«

»Was weiß ich. Wenn's erst auf so einen Vormund ankommt – das sind mir auch die rechten. Die Waisen, die da auf dem Lande draußen verlausen und versumpern und endlich Trottel oder Lumpen werden – alle haben ihre Vormünder. Du siehst, daß ich mich schon unterrichtet habe.«

»Also deinem Vater willst du nichts sagen?«

»Nein. Es würde das ganze Familienglück – was man so nennt – zerstören. Am meisten würde Mama darunter zu leiden haben. Nein, daheim in der guten Stube breite ich meine Sache nicht aus. Niemals.«

»Lieber verleugnest du das arme Kind, lässest es verderben, zum Trottel oder Spitzbuben werden. Na, ich dank' schön.«

Da faßte Alfons den Freund am Arm und sprach: »Ich habe dir nicht vertraut, damit du mich rasend machen sollst. Wenn du keinen Rat weißt – ich habe dich ja nicht verpflichtet dazu.«

»Fonserl! Fonserl! Nachdem, wie du jetzt geneigt bist, anderen Unrecht zu tun, sehe ich klar, daß du dich in Unrecht fühlst. Und das freut mich. Das Unrecht kommt von deinem Kummer und der Kummer kommt von der Liebe. Du liebst deinen Knaben.«

»Aber ja!« brauste Alfons auf, zornig erregt darüber, daß ihm eine fremde Hand so tief in den verstecktesten Herzwinkel [42] griff. Die andere Liebe hatte er dem Freunde gern verraten, dieser hatte er sich geschämt Sie war zu zart und wundersam, er war ihrer zu ungewohnt. Dieses so sanft und so unwiderstehlich hinneigende wehe Gefühl, dieses Lustgefühl, dieses Angstgefühl – dieses abgrundtiefe Erbarmen – wenn das Vaterliebe war! – Dann erzählte er, wie er durch mancherlei Liste ins Findelhaus gekommen war und das Kind gesehen hatte. Für eine Verwandte in der Provinz sollte er ein kleines Kind aussuchen, eine lächerlichere Lüge fiel ihm nicht ein, doch sie war gut genug, um ihn vor das Bettchen zu bringen, über dem auf der Tafel der Name Richard Fachler und eine Nummer stand. Das war auch alles, was sein Kind besaß, und er – der junge Vater – sollte einmal drei Stadthäuser erben. Und konnte ihm nichts davon geben. So klein lag es da und sein rotes Köpfchen war kaum größer wie ein Apfel. Den Mund und das Näschen hatte es, so deuchte ihm, von seiner Mutter, dem guten armen Mädel, das sie am selben Tage in die Leichenkammer getragen. Die Augen des Kindes hatte er nicht gesehen, es schlief, es versäumte den Augenblick, da sein Vater vor ihm stand, das erste- und vielleicht das letztemal.

»Und seither,« sagte Alfons, »wohin ich blicke, überall dieses Kindergesicht. Vorhin im Gastgarten sah ich Gassenjungen, verkommene Rangen, und einer hatte das Gesicht Richards, der Teufel hol's, und war doch eine Fratze! – Freund, ich glaube, ich bin hysterisch.«

»Weißt du, was man draußen im Volke sagt?« sprach nun der Richter. »Wenn von den Eltern eines stirbt, erbt der andere Teil die Liebe desselben zum Kind, so daß er eine doppelte Liebe hat, die des Vaters und die der Mutter. Wörtlich weiß ich nicht, wie es lautet, ein Spruch ist's.«

[43]

»Ja mein Gott, was finge denn ich mit dieser doppelten Liebe an! Und kein Kind dazu. Nein doch, auf einmal so ein kleines, kreischendes Kind haben, und doch wieder keines haben – etwas Komischeres gibt's nicht mehr.« So der junge Mann, und dabei mußte er sich heftig schneuzen.

»Regnet's denn?« rief plötzlich der Richter; zwischen den Ästen der Eichen klatschten einige Tropfen nieder. »Es muß wohl, denn ich habe den neuen Überzieher an und keinen Schirm bei mir. Da regnet's immer. – Schon wieder vorüber. Aprilwetter. – Ja, Freund, du hast mich zwar nicht um Rat gefragt in deiner Angelegenheit. Es gibt eigentlich weiter auch keinen. Aber ich biege das Dokument ein. Das heißt, es wird berücksichtigt. Es ist ja nicht ganz unmöglich, daß sich etwas machen läßt.«

Solches ist besprochen worden auf jenem Spaziergange. Am Abende, als die Freunde auseinandergingen, schlenderte Alfons noch eine Weile durch die Stadt, es tat ihm aber das elektrische Licht weh und er suchte die Gassen, wo nur noch einige der alten, trüben Gaslaternen brannten. Er kam auch zu dem Gebäude der Findelanstalt, ging einen recht langsamen Schritt und kam endlich doch vorüber. Nach dem Friedhofe führte diese schmale, winklige Gasse hinaus. Aber er sagte sich: Nicht sentimental sein! Wenn du was Warmes übrig hast, so gib es Lebenden. Er kehrte um und kam wieder am Findelhause vorüber. Es war schon spät in der Nacht.


Am Stadtplatz, links von der Rathausecke mit dem sechseckigen Turm, standen in geschlossener Reihe die Häuser des Kaufmannes Marand. Das letzte derselben, das Eckhaus an der Bürgerstraße, trug das Schild »zu den drei [44] Schaufeln«. Es war vom Erdgeschoß bis zum dritten Stock mit Waren aller Art angestapelt; die Treppen, Hofsöller und Hallen surrten den ganzen Tag wie ein Bienenschwarm von Kauflustigen, die von zahlreichen Kommis und Handlangern bedient wurden. Durch das Gedränge schritt manchmal, die Hände am Rücken, ein alter stattlicher Herr, mit weißem, halbkurzgeschnittenem Haar und grauem Spitzbart. Er machte vornehmeren Kunden die Honneurs, wer ihn aber nach einer Ware oder deren Preis fragte, den wies er mit einer leichten Handbewegung an die Bedienenden. Das war Herr Josef Marand, der Chef des Hauses. Im vierten Stock hatte er eine geräumige Wohnung für sich, sein kleines Frauchen und seinen einzigen Sohn Alfons. So lebhaft es in den unteren Stockwerken herging, so still war es im obersten. Der Sohn, ein studiosus juris war selten zu Hause, und wenn doch, so war er in neuester Zeit schweigsam und schwermütiger Stimmung. Die Mutter suchte ihm seine Lieblingsspeisen aufzudrängen, durchwärmte übermäßig sein Zimmer, wollte mehrmals schon den Arzt rufen, denn sie war überzeugt, daß eine innere Krankheit in ihm nage. Sein Vater war der Meinung, Alfons arbeite zu wenig und der Müßiggang mache mißlaunig.

Nun wurde der alte Herr selbst, obschon er stets tüchtig arbeitete, eines Tages in eine große Mißlaune versetzt. Kam er zum Mittagsmahl mit zorngeröteten Wangen, einen grauen Papierbogen in der Hand. »Da haben wir's!« polterte er auf seine erschrockene Frau los. »Diese Lumpen! Da setzen sie Kinder auf die Welt und lassen andere dafür sorgen. Sie können mich zwingen, sagt mein Rechtsanwalt, und ich sage, sie können mich nicht zwingen. Geht das Bezirksgericht kurzer Hand her und kommandiert mich zum Vormund eines Findelkindes. Oder so etwas. Den Herrn [45] Papa kennt man nicht, natürlich, und die Mutter stirbt bei der Geburt. Diese Gewissenlosigkeit! Und jetzt drängen sie mir den Balg auf, es ist ja zum Totlachen! Aber ich rekurriere! Zwingen! Ich glaube nicht, daß man zu so etwas gezwungen werden kann. Das ist doch eine Gewissenssache, und zu einer solchen kann kein Mensch gezwungen werden. Nein, was sie einem bei uns alles aufmutzen wollen!«

Seine Frau war bald beruhigt und meinte, das Unglück sei ja nicht so groß. Er hätte doch öfter schon Vormundstelle vertreten und wisse, daß außer ein bißchen Überwachung des Mündels nichts verlangt werde.

»Nichts verlangt, nichts verlangt? Schon morgen bin ich zu Gericht beschieden zur Pflichtgelobung, um neun Uhr. Gerade diese fatale Stunde, wo die erste Post abzufertigen ist. Und so geht's hernach fort mit den Laufereien, einmal zum Gericht, dann zum Kind, dann in den Stadtrat, dann zum Vater –«

»Aber wenn man den Vater gar nicht weiß,« lachte die kleine muntere Frau.

»Eben, der Vormund soll ihn suchen, das gehört zu seinen ersten Pflichten. Und wenn man so 'nen Kerl dann noch bei den Ohren nehmen dürfte! Hat der Vormund Rechte? niemals, nur Pflichten – ich pfeife darauf.«

Alfons saß bereits bei seinem Suppenteller und löffelte tüchtig darauflos.

»Du ißt schon wieder zu heiß, Kind!« verwies ihm die Mutter, denn er war rot im Gesicht bis hinter die Ohren. Während des Essens stellte er sich dann gelangweilt, lugte aber doch heimlich auf das Dekret, das der Alte neben sich auf die Kommode geworfen hatte. Der Name interessierte ihn ein bißchen. – Es war richtig. Richard [46] Fachler. Sein Vater war Vormund des Enkels geworden.

An einem der nächsten Tage begegnete Alfons seinem Freunde Gustav auf der Promenade. Ganz flüchtig, denn beide gingen in Gesellschaft. »Zufrieden?« rief ihm der Bezirksrichter zu.

Nun kam die Notwendigkeit heran, daß Marand im Findelhaus sich nach dem Kind erkundigte. Die Besuchsstunde traf sich gerade mit einer Handelskammersitzung, er hatte also nicht Zeit und schickte seine Frau. Die kam ganz erregt nach Hause. Ein so herziges Kind habe sie noch ihr Lebtag nicht gesehen. Dann begann sie, es zu beschreiben, während der Alte mit finsterem Gesicht den Kurszettel durchsah und Alfons mit der Seidenbürste seinen Zylinder glättete. So ordentlich hatte er den Hut noch nie gebürstet; so lange die Mutter redete stand er am Fenster und bürstete den Hut. Sie hatte auch die Papiere der Kindesmutter mitgebracht, derer bemächtigte sich sofort der Student, um seinem vielbeschäftigten Vater die Durchsicht zu ersparen. Außer den gewöhnlichen Dokumenten war ein zierliches Notizbüchlein da, das er unterschlug und aus dem er später ein paar Blätter entfernte.

In der nächsten Woche wurde Marand – und zwar zu sehr ungelegener Stunde, er hatte notwendig im Warenmagazine zu tun gehabt – zu Gerichte beschieden, um seine Unterschrift zur Verfolgung und Habhaftmachung des Kindesvaters zu leisten. Er tat ein übriges und bestimmte für die Auffindung dieses »Strolches« ein Prämium von fünf Dukaten. Mittlerweile kündigte das Findelhaus dem Kinde den Aufenthalt, es sei eigentlich kein Findelkind, weil ja die Mutter bekannt war, es gehöre in ein Kinderasyl. Da gab es nun neuerliche Laufereien zu den Behörden, zu [47] allerlei Anstalten und Persönlichkeiten und der Arzt verlangte, das Kind müsse eine Amme haben, es sei schwächlicher Natur und könne nur durch besondere Sorgfalt am Leben erhalten werden. Unter solchen Plagen nahm Marand eines Abends, als er mit seiner kleinen Familie beim Tee saß und eine vorzügliche Havanna rauchte, Anlaß, über die Folgen eines Fehltrittes zu sprechen und ganz ausdrücklich seinen Sohn davor zu warnen. »Wenn du einmal so was anstelltest, Alfons! Ich weiß nicht! Ich möcht's nicht erleben! Merk' dir's!« – Darob war die Mutter etwas ungehalten und meinte, das sei wirklich ganz überflüssig, vor Alfons solche Sachen zu besprechen; wenn sie sonst keine Sorgen hätte; diese, daß ihr Sohn in fraglicher Beziehung etwa nicht musterhaft sei, wolle sie leicht ertragen. Man müsse ihn nur nicht mit der Nase daraufstoßen.

Am nächsten Morgen, als Alfons auf die Universität ging, begegnete ihm auf der Treppe ein Weib vom Lande. Es hatte einen großen Handkorb bei sich, das runzelige Gesicht, das nur teilweise aus dem wulstigen Kopftuche hervorguckte, war über der Nase mit einem Leinwandpflaster bedeckt. Zu ihren Füßen heulte plötzlich ein braunes Dachshündchen auf, dem sie auf die Pfote getreten. »Luder, verdammtes!« kreischte die Alte und stach mit ihrem roten Regenschirm nach dem Tiere. Und dann erkundigte sie sich mit einer dünnen singenden Stimme, die aus zahnlosem Munde kam, ob in dem Hause der Kaufmann Marand wohne. Sie habe gehört, er sei der Vormund eines Findelkindes und da sie gerade beim Arzt in der Stadt zu tun gehabt habe, so wolle sie gleich ein kleines Kind mit nach Hause nehmen und da möchte sie halt anfragen, was dafür bezahlt würde.

Alfons antwortete, der Mann wohne allerdings im [48] Hause, aber er würde sie, wenn sie in dieser Sache vorspreche, unfehlbar über die Stiege herabwerfen. Darob ist die Alte umgekehrt und Alfons hat auf seinem Weg in die Vorlesung und während derselben den Gedanken weitergesponnen, wie, wenn der kleine Richard diese Hexe zur Nähr- und Pflegemutter bekäme?

Bei einem Vorspruch im Findelhaus, um für das Kind die Bleibefrist zu verlängern, fand der alte Herr sich doch genötigt, sein Mündel anzusehen. Und als er nach Hause kam, war er unwirsch und über sein Journal gebeugt rief er aus: »Der arme Wurm kann ja schließlich nichts dafür. Es ist ein armer Wurm. Anders kann man's nicht sagen.« – Und abends beim Tee lauerte er die Stimmung seines Frauchens ab. Sie hatte viele gute Tage und er wollte nicht gerade einen der wenigen schlechten erwischen.

»Die Sache bin ich satt,« polterte er plötzlich hervor. »Ein Gelaufe hin und her, schon wochenlang. Eine Behörde schiebt's auf die andere, niemand will sich annehmen ums arme Wesen. Wenn ich – wie es beinahe aussieht, das Findelhaus bezahlen soll und die Amme verlohnen und fürs weitere Fortkommen sorgen – ja zum Satan, da ist's einfacher, man nimmt das Kind ins Haus – –.«

Und nun forschte er, was sie dazu für ein Gesicht zog. Sie zog aber gar keins, sondern behielt ihr natürliches bei, das gute freundliche, feinrunzlige Gesicht. Hingegen hatte Alfons, der gerade eine Zigarette zu drehen im Begriffe war, mit einer plumpen Armbewegung die Tabakschachtel über den Tischrand hinabgestoßen, nun konnte er sich den feinen Türkischen auf dem persischen Teppich zusammenfegen.

»Im Gartenzimmer,« setzte der alte Herr bei, »würde es wenig genieren. Natürlich eine Amme dazu, und die Sache hat sich gehoben. Selbstverständlich nur für die erste [49] Zeit, bis das Geschöpf etwas kräftiger ist und ohne Bedenken aufs Land gebracht werden kann.«

Die Frau war über diesen Vorschlag verwundert. Instinktiv regt es eine Frau auf, wenn der Mann plötzlich ein fremdes Kind unsicherer Herkunft ins Haus nehmen will.

»Was meint Ihr?« fragte er.

»Mich geniert's nicht,« antwortete Alfons mit gleichgültiger Miene.

Die Mutter meinte, das müßte erst gut überlegt werden. Hätte man so etwas einmal im Hause, dann wäre es schwer, es wieder fortzubringen. Es müsse extra dafür eine Magd gehalten werden und allerlei sonst. Die Männer hätten keine Ahnung, was das heißt, ein kleines Kind im Hause haben. Aber sie seien nachher doch die ersten, die sich über das Kindergeschrei beklagen.

»Mich geniert's gar nicht,« versicherte Alfons noch einmal.

»Ich glaube endlich auch dem Vater auf der Spur zu sein,« sagte der Alte. »Heißt das, positive Anhaltspunkte sind noch keine vorhanden, aber mancherlei stimmt auffallend. Ihr erinnert euch noch an den Kommis Steiner, den ich vor zwei Jahren entlassen mußte. Der soll in dem Hause des Strohhuthändlers Goll gewohnt haben. Beim Goll im Hause, dort ist ja auch die Kindsmutter gewesen.«

Das Tabakzusammenfegen auf dem Teppich erlitt eine Unterbrechung. Alfons war für zwei Augenblicke erstarrt.

»Der Steiner, meinst du?« fragte die Frau. »Wenn ich nicht irre, ist der damals ja nach Triest übersiedelt.«

»Ei richtig, Frau, du hast recht. Man hörte sogar, daß er nach Südafrika ausgewandert sei, ich erinnere mich. Also der nicht. Dann ist's aber jedenfalls ein anderer. Ich werde ihm schon noch draufkommen.«

[50]

Die Tabaksammlung ging wieder ruhig vonstatten.

»Natürlich, in dieser Angelegenheit kommt's auf die Hausfrau an,« sagte der Kaufmann. »Wenn es dir nicht recht ist, dann nicht.«

»Mein Gott, recht ist – recht ist!« entgegnete sie gutmütig greinend. »Wenn ein gutes Werk geschieht, das muß einem wohl immer recht sein.«

Da klatschte Alfons die Hände zusammen und rief in aller Lustigkeit aus: »Die Mama! Jetzt hat sie ein kleines Kind bekommen!« Und schon lange nicht mehr, wenn er des Abends auf sein Zimmer ging, klang's so warm und froh wie heute: »Gute Nacht, Vater! Gute Nacht, Mutter!«


Nun war der kleine Richard im Hause Marands. Anfangs gab es Unebenheiten im Haushalte. Ein Kind, und es mag noch so klein sein, beherrscht das Haus. Aber sie ertrugen es. Hatten sie sich's doch selbst eingebrockt. Der Vater hatte es im Hause haben wollen, die Mutter hatte ja gesagt. Alle vormundlichen Laufereien des beschäftigten Kaufmannes hatten ein Ende, das Gericht sagte nichts weiter, denn es wußte die Waise in guter Hut. Alfons war jetzt fast immer zu Hause, er brachte manche Stunde im Gartenzimmer zu und spielte mit dem Knaben, der von Woche zu Woche prächtiger gedieh und ein sehr schönes Kind war. Und selbst zur Zeit, wenn andere Studenten in der Kneipe saßen, blieb Alfons daheim und spielte mit dem Kind.

Nach ein paar Jahren war der Knabe ein gesundes, kräftiges Menschlein geworden. Ein lieber kleiner Kerl. Das Haar war nachgedunkelt, die langen Augenwimpern und Brauen waren pechschwarz und die großen runden Augen schauten frisch und kindlich in die gute Welt hinaus, [51] die liebevoll um ihn aufgerichtet worden war. Nun bekam er die erste Hose und das übrige dazu – einen »Matrosenanzug« mit den flotten Schulterklappen und den goldenen Ankern daran, und das Käppchen, wie es ähnlich einst auch Alfons gehabt.

Zur Zeit fiel Josef Marands sechzigster Geburtstag.

Am Vorabende lud der Jubilar seine Frau und seinen Sohn zu einer Besprechung ein.

»Ich hätte einen Wunsch,« sagte er, »aber ich fürchte, ihr werdet nicht damit einverstanden sein. Besonders du nicht, Alfons: Denn für dich bedeutet es eine Einbuße. Übrigens – du könntest ja auch fünf Geschwister haben, oder acht, oder mehr. Einen Bruder verträgst du spielend.«

Jetzt hob die Frau ihre Hand und wollte ihm den Mund zuhalten.

»Lasset mich bloß ausreden,« sagte er ernsthaft. – – »Wenn wir den Richard ganz adoptieren wollten? Was denket ihr?«

Nun konnte Alfons sich nicht mehr halten. Laut lachend fiel er dem Alten um den Hals und umarmte die Mutter und küßte sie und lachte und rief endlich aus: »Papa! Mama! also ihr wisset alles? Ihr wisset alles?«

Sie stutzten und schauten ihn an. Nichts wußten sie. Aber als jetzt der kleine Richard zur Tür hereinhüpfte, im neuen Kleidchen und hell lachend auf Mama zu, kreischte das Kaufmannsfrauchen auf: »Marand, Josef! Das ist ja der Fonserl!«

Da wußten sie alles.


[52]

Der Mädeljäger.

Am oberen Rande des Tales, wo es sich einengt in eine Felsenschlucht, aus der ein grünlicher Gebirgsbach hervorbraust, steht Schreckenburg. Es ist eigentlich keine Stadt und eigentlich kein Dorf, es ist eben ein »größerer Ort«. Die Einwohner treiben Gewerbe und Landwirtschaft, scheiden sich aber durchaus nicht etwa in Bürger und Bauern. Vater und Kinder, Hausherren und Knechte, Meister und Gesellen, darin liegt der Ständeunterschied von Schreckenburg. Wohl haben sie einen Fürsten, aber auch der hohe Herr ist nichts anderes als Vater. Die Herren von Schreckenburg sind ein altes Geschlecht, schon zur Zeit der Kreuzzüge, heißt es, wäre ihre Burg, deren rauchgrauer Ruinenzahn dort an der Felswand klebt, der Schrecken des fahrenden Volkes gewesen. Wenn man der Historia glauben darf, und man soll es sogar, so haben es die Schreckenburger seit jenen alten Zeiten verstanden, sich Achtung zu verschaffen in der Welt. Große Reiche sind entstanden und gestürzt worden, das Erzfürstentum Schreckenburg stand und blieb stehen im schönen Gebirgstal an der Luser. Der letzte Vorfahre des zur Zeit dieser Geschichte regierenden Fürsten hatte noch hundertundzehn Söldlinge gehabt, und ist von den Millionenheeren der Erde nicht angegriffen worden. Unser Fürst Othmar III. befehligt zur Zeit der Not ein Heer von zweiunddreißig Mann, davon vier zu Pferde! Aber die Zeit der Not kommt nicht, die sonst so kriegslustige Welt hält sich in respektvoller Entfernung vor dem Erzfürstentum Schreckenburg. Die Armee ist fast ständig beurlaubt bis auf sechs Mann, wovon einer den Nachtwächterdienst besorgt. [53] Einmal wurde in einem Winkel dieses Reiches ein unpassender Witz gemacht, Othmar III. rekrutiere lieber Mädeln als Burschen, und den Ausspruch hat der Fürst nicht als Majestätsbeleidigung ahnden lassen. Die guten Leute von Schreckenburg lasen auch manchmal eine Zeitung, in der des Wunderbaren und Nützlichen viel berichtet wurde. Also erfuhren sie, daß in anderen Ländern die Staatsbürgersteuer eingeführt sein soll. So begab sich eines Tages eine Abordnung zum Fürsten und bat um die Gnade, daß auch im Erzfürstentum die Staatsbürgersteuer eingeführt werden möchte, maßen doch auch die Schreckenburger treue Staatsbürger wären und seit jeher bereit, für ihren durchlauchtigsten Herrn Blut und Leben zu opfern. Es fange das Gewerbe an, einigermaßen darniederzuliegen, weil in der Welt zu viel Fabriken gebaut würden, es sinke von Jahr zu Jahr der Viehpreis, weil jedes Land schon mehr und mehr sein eigenes Vieh hätte, kurz, es verschlechterten sich die Zeiten, und darum bäten sie untertänigst um die Einführung der Steuer. Der Fürst soll sie darauf in sehr gütiger Weise aufgeklärt haben, daß sich die Bittsteller in einem Irrtum befänden, wenn sie etwa glauben sollten, die Staatsbürgersteuer würde in anderen Ländern vom Fürsten geleistet an seine braven Untertanen; gerade das Gegenteil wäre der Fall, die Staatsbürger hätten die Steuer dem Fürsten und dem Staate zu leisten. Ob solcher Aufklärung waren die Abgeordneten sehr gedrückt, allein Othmar der Gütige legte dem Sprecher die Hand auf die Achsel und versicherte, für das Wohl seines Reiches auch fernerhin das möglichste zu tun, besonders im Straßenbau und in der Flußregulierung, auch trage er sich mit der Absicht, in Schreckenburg ein neues Universitätsgebäude errichten zu lassen. Darob waren die Abgeordneten sehr zufrieden, obschon [54] sie wußten, daß die Universität nicht allzu ernst gemeint war. Der Fürst liebte es, in launigen Stunden das allerdings schon gebrechliche Volks- und Gewerbeschulgebäude zu Schreckenburg die Universität zu nennen. Wer wirklich in einer Hochschule die derbe körperliche Arbeit für eine spitzfindige Geistestätigkeit umtauschen wollte, der mußte ins Ausland gehen.

Eines Brückenbaues wegen hatte der Schreckenburger nicht unbedrohlichen Konflikt mit einem nachbarlichen Herzog. Der hatte ein großes Reich und viele Mannen, war aber nicht zu bewegen, sich mitzubeteiligen am Bau einer Grenzbrücke über die Luser. Für das Fürstentum war diese Brücke schier die einzige Verbindung mit der weiten Welt. Der Herzog aber sagte, er habe in Schreckenburg nichts zu suchen und brauche keine Brücke hinüber. Das war der Kriegsfall. Othmar bot seinen Heerbann auf und zog auf Umwegen, da die neue Brücke eben noch nicht gebaut war, gen die herzogliche Residenz, um sie zu belagern. Als die zweiunddreißig Mann mit ihren Spießen sich dräuend vor dem Tore aufgestellt hatten, schickte der Herzog einen Gesandten herab. Das war ein Edelknabe, und der lud im Namen seines Herrn den Feind samt und sonders auf einen Löffel Suppe ein. Durch das geöffnete Tor konnte man in das Innere des großen Platzes schauen, der mit wohlausgerüsteten Kriegern versehen war, an der Zahl vielfach den Belagerern überlegen und versorgt mit allen schrecklichen Pulverwaffen der Neuzeit. Fürst Othmar soll hieraus »Kehrt euch!« kommandiert haben und an der Spitze seiner Armee friedlich heimwärts gezogen sein. Aus Anlaß dieses glücklichen Feldzuges, aus welchem alle Mann frisch und munter heimgekehrt waren, haben die dankbaren Schreckenburger ihrem klugen Feldherrn ein Denkmal aus Erz errichtet. Es ragt mitten auf [55] dem Marktplatz empor und zeigt den Fürsten auf dem Pferde, angetan mit allem Ehrenschmucke seiner Erzherrlichkeit, in welcher der schlichte Herr sonst gar nicht mehr zu sehen war.

Othmar der Gütige war in seiner Jugend viel auf Reisen gewesen, in allen Weltteilen, und stets bei Königen und Kaisern zu Tische geladen, was die Schreckenburger mit besonderem Stolze erfüllte. Auch ging im Reiche die erhebende Mär um, daß der durchlauchtigste Herr von Schreckenburg mit allen Potentaten der Welt brüderlich auf du und du stehe.

Um so einfacher gab der Fürst sich zu Hause.

Sein Schloß, welches außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe stand, hätte jeder Fremde für ein stattliches Gutsgehöfte gehalten, wenn nicht über dem Tore das Wappen der Schreckenburger, ein dreiköpfiger Adler, angebracht gewesen wäre. Es war teils aus Stein, teils aus Holz gebaut, hatte einen halb um das Gebäude herumlaufenden Söller, helle viereckige Fenster, etwa dreißig an der Zahl, und über dem flachen Schindeldach ein zierliches Türmchen für ein Glöcklein, das den Nimbus einer Sturmglocke trug, tatsächlich aber nur zu den Tageszeiten geläutet wurde. Ein Gehöfte mit Viehstand und Scheunen lag hinter dem Wohnhause in behäbiger Breite da, belebt mit zahlreichem regsamen Gesinde.

Der Haushalt des Fürsten war der eines wohlhabenden Gutsbesitzers und bestand aus sieben Personen, den Hausknecht mit eingerechnet, der, wenn es Gäste gab, im verbrämten Wolfspelz mit Stab und Reichsapfel am Tore zu stehen hatte.

Der Fürst war ein Mann in jenen Jahren, da das Haupthaar voran zu schüttern und hinten zu grauen beginnt. [56] Er war stets glatt rasiert und trug eine goldene Brille. Er ging in grauem oder, wenn es Sonntag war, in schwarzem Tuchanzuge herum und war mit Ausnahme des Propstes und des Reichshauptmannes der einzige im Reiche, der gewichste Stiefel trug. Wenn er zu Fuß durch das Fürstentum wandelte, lief alles, jung und alt, auf ihn zu und küßte ihm die Hand. Wenn er zu Pferde langsam dahintrabte, da wurden die Gesichter der guten Schreckenburger ganz leuchtend vor Stolz, denn jetzt war er der, so auf dem Marktplatze stand in Erz für alle Zeiten. In Wahrheit schaute der Fürst aber auf dem Pferde aus wie ein freundlicher Landarzt, der zu einem Kranken reitet. Beweibet war Erzfürst Othmar III. nicht, noch immer nicht, obwohl er gegen Frauen, und selbst wenn sie dem kleinen Gewerbestand angehörten, eine gewisse ritterliche Ehrerbietigkeit beobachtete. Die Ehrerbietigkeit ließen sich die Eheherren und Liebhaber der Schreckenburger Schönen noch leidlich gefallen, wenn der Fürst aber artig wurde und den Weibchen die Wange kneipte, da empfanden sie so etwas wie die Jakobiner zu Paris vor hundert Jahren. Doch muß gesagt werden, daß der Fürst es sich stets angelegen sein ließ, seinen Untertanen ein würdiges Vorbild von Rechtschaffenheit abzugeben. Für einen Seelenkenner wäre es vielleicht nicht unschwer zu merken gewesen, daß Fürst Othmar die Vereinsamung bereits zu fühlen begann. Nicht so sehr die Vereinsamung auf dem Throne, denn die ist der Gekrönte gewohnt, als vielmehr die Vereinsamung im Gemache und des nahenden Alters.

Eines Tages war er unten im Tale in ein altes Bauernhaus getreten, um mit dem Nachbar eine wirtschaftliche Angelegenheit zu besprechen. Da fielen ihm die stattlichen Kästen und Truhen auf, die in der Stube standen. [57] Sie gefielen ihm, sie würden seinem Hause, das seit den zerstörenden Bauernkriegen nicht an Überfülle von Prunkgegenständen litt, ein freundlicher Schmuck sein. Er fragte den Bauern, ob er ihm diese schöngebauten, festgefügten und kunstvoll geschnitzten Kästen nicht verkaufen wolle?

»Ah nein, gnädiger Herr,« antwortete der alte Landmann, »die Kästen da geben wir nicht her, sie sollen schon im Haus bleiben für unsere Kinder und Kindeskinder.«

»Diese können sich ja wieder welche machen lassen,« meinte der Fürst.

Der Bauer schüttelte den Kopf, das würde nicht gut gehen. Die jungen Zimmerleute nennten sich zwar jetzt fürnehm Meistertischler, brächten so was aber nicht mehr zuwege; sie hätten keine Geduld dazu und auch nicht den Schick. Bei denen müsse ein Kasten in acht Tagen fertig sein, gleich aus jungem Holz, wie es der Förster vom Wald verkauft. »Nachher kreistet's und kracht's, nach einem Jahr kann man die Finger in die Fugen und Sprünge stecken, die Kastenwand kriegt einen Buckel wie das Kameltier oder eine Mulde wie die Fleischhackerschüssel. Ah nein, die alten Kästen geben wir nicht her.«

Der Fürst hat auf solchen Bescheid seines Untertans zu Boden gestarrt und vielleicht sogar mit einer gewissen Wehmut der guten alten Zeit gedacht, da man so schöne Tischlerarbeit machte, und da man solch schöne Tischlerarbeit den Untertanen gelassen wegnehmen konnte.

Als hierauf die Hausmutter in die Stube trat, um mit Weißbrot und gelber Butter den Landesvater zu ehren, sagte zu ihr der Bauer: »Das ist mir rechtschaffen zuwider, Brigitta. Unser Herr hat Gefallen an diesen Kästen, und wir mögen sie nicht weggeben.«

Die Hausmutter sprach: »Da wird leicht geholfen sein. [58] Diese Kästen hat der Zimmermann Reimar gemacht vor dreißig Jahren, wie wir zusammen geheiratet haben, und der Reimar lebt noch. – Gnädiger Herr, bitt' gar schön, ein Stückel Brot und ein Batzel Butter nicht zu verschmähen.«

Der Fürst setzte sich an den Tisch und griff zu. Dieweilen wurde nach dem Zimmermann Reimar geschickt. Der hatte einen krummen Fuß, kam am Abend in den Fürstenhof und blieb dort. Er ist dort geblieben etliche Jahre lang. Er hat zeitweilig einen Gesellen mitbeschäftigt, die längste Weile aber allein gearbeitet, er hat dem Landesfürsten das Haus eingerichtet. Die drei großen Stuben waren schon von alters her mit gutem Holz und schlichtem Schnitzwerk ausgetäfelt und geziert, so wollte der Fürst noch ein Nebengemach traulich einrichten lassen mit Täfelung, Truhen und Kästen und einem geräumigen Himmelbette. Da hatte also der alte Reimar zu schaffen. Er ließ sich gute Weile dabei und baute. Er baute ein Wandgesimse, eine Gerätetruhe, zwei breite Gewandkästen, eine Ofenbank, einen Uhrkasten und endlich das stattliche Himmelbett mit dem Hute darüber, dessen jede Ecke versehen wurde mit dem Ornamente des dreiköpfigen Adlers. Er arbeitete ohne Vorbild und Pläne, die Zeichnungen machte er gleich mit Zimmerfarbe und Reißblei aufs Bau- oder Schnitzholz. Und dieses Holz war an zwanzig Jahre unter dem Dachvorsprung einer Scheune, hoch an der luftigen Wand gelegen, um gehörig austrocknen zu können. Der alte Reimar hatte ein Sprichwort: Der Bräutigam soll seine Braut und der Zimmermann sein Holz sieben Jahre lang kennen, bevor er anhebt. An grünem Holz tat er nicht einen Handgriff. Mit dem Hammer schlug er an den Block: Klingt's gut, so wollen wir in Gottes Namen anfangen! Die größte Stube des Hauses hatte er sich zur Werkstatt erkoren, da [59] hobelte er, schnitt und schnitzte. Häufig saß der Fürst da und schaute dem weißhaarigen Meister in Hemdärmeln und mit dem Lederschurz bei der Arbeit zu. Die ging wie ein langsames Uhrwerk, aber jeder Handgriff hatte einen Zweck und eine Folge. Dabei war der Mann so behaglich und heiter, sagte manchmal ein spaßhaftes Wort, während sein altes Auge an der Arbeit haftete. Dem Fürsten tat der Anblick wohl, wie da ein kleiner Mann aus dem Volke seine Seele gleichsam in ein Kunstwerk umgestaltete, in dem sie fortleben wird, vielleicht länger als die Geschlechter, die an dem Werke mit Bewunderung und Liebe vorübergehen. Mehrmals geschah es, daß der Fürst sich sogar an den Tisch setzte, wo der Reimar sein Mahl einnahm. Denn mit dem Gesinde aß nur der Geselle, der Meister zog es vor, allein zu sein und machte auch mit dem Herrn nicht allzu viele Höflichkeiten. Wenn der Fürst das Butzenscheibenfenster des Erkers öffnete, so überblickte er sein Reich; der Zimmermann hätte das von sich nicht sagen können, er hatte sein Lebtag auch in anderen Tälern, selbst drüben im Herzogtume Häuser gebaut. Fürsten kann es geben, Zimmerleute muß es geben. Also fühlte er sich in dieser Burg nicht besonders untertänig.

Eines Tages kam der Fischerjunge Winard ins Haus und brachte auf dem Rücken eine Fischlagel mit, in der Wasser schwupperte. Er grüßte in der Stube ehrerbietig den Meister Reimar und fragte dem gnädigen Herrn nach.

Der alte Diener war vorhanden und berichtete, Seine Durchlaucht könnten jetzt nicht gestört werden, sie wären just beim Regieren.

»Wenn's nichts anders ist, so soll er nur herauskommen,« sagte der kühnliche Bursche, »ich muß wissen, ob der gnädige Herr die Forellen selber haben will, oder ob [60] ich damit um ein Häusel weiter gehen soll. Heute ist Freitag, und morgen bringe ich sie nicht mehr an.«

Der Diener ging hinein, um das zu melden, da entschuldigte sich der Fürst artig vor seinem Ministerium, das aus dem Propste, dem Kreishauptmanne und dem Meister Grobschmied bestand, ging hinaus und ließ sich die Fische zeigen. Es waren stattliche Tiere und glitten munter in ihrem nassen Gemach auf und nieder.

»Sind sie nicht zu jung?«

»Ich bin zwanzig, gnädiger Herr,« antwortete der hübsche Bursche.

»Die Forellen meine ich.«

»Ah so. Na, die werden nicht mehr besser.«

»Gut, lasse sie da.«

Am Abend desselben Tages war kein Gast vorhanden, und der Erzfürst saß bei den blaugesottenen Forellen allein. Er rief den Zimmermann, ob er Forellen liebe?

Aber der Meister lag schon in seinem Bett und seufzte. In letzter Zeit litt er an der Gicht. So saß Seine Durchlaucht einsam da. Der Kammerdiener war brummig. Wenn die Tiere wenigstens lebendig gewesen wären. Aber sie lagen feierlich auf dem Silberteller, sie waren so sinnig mit einem grünen Kranz von Krautwerk umgeben, wie sich selbst ein Erzfürst keine schönere Aufbahrung wünschen könnte. – Der Fürst fand am Essen kein Vergnügen, er stand vom Tische auf, faßte den silbernen Armleuchter und stellte sich damit vor den Spiegel. Seit einiger Zeit hatte er sich den Schnurrbart wachsen lassen, der war durchaus noch nicht grau, sondern hübsch nußbraun, wie der Meister Reimar die Kästen streicht. Aber was anfangen? In der Jugend hatte er wohl gelernt, wie man Weiber gewinnt, doch wie man um ein Weib freit, das schien ihm eine verdammt [61] heikle Aufgabe. In solchem Falle kann der Herrscher nicht einmal seine Geheimräte zu Rate ziehen. Das kommt nun davon, daß er mit den Nachbarspotentaten den Verkehr so völlig vernachlässigt hat. Übrigens hatte der Fürst auf seinen Weltreisen Reiche kennen gelernt, deren mächtige Herrscher sich in der Wahl einer Ehefrau durchaus nicht einschränken lassen. Bei uns ist dem Prinzen eine Prinzessin vorgeschrieben. Zwei Gekrönte auf einem Thron, ist das aristokratisch?

Am nächsten Tage trat der Fürst gelegentlich in die Tischlerwerkstatt, um der Arbeit des Alten zuzusehen, der nur das Zimmerhandwerk gelernt hatte und nun die edelsten Tischlerarbeiten schuf. Meister Reimar lag aber im Bette, und ein Mädchen war da, das ihn pflegte. Das machte sich gar nichts draus, als der gnädige Herr eintrat, sondern beschäftigte sich eifrig damit, dem Alten warme Tücher um die Beine zu winden und ihm die Kissen zurecht zu legen. Dieses Mädchen hatte ein Haar wie Seide. Wie Naturseide, so lichtgelb und zart. Das waren gar keine Haarfäden mehr, das war purer Flaum; so wallte es hinter den rundlichen Achseln hinab, und in der Mitte war es lose zusammengehalten mit einem blauen Bändchen. Der Fürst ging hinaus in seinen Tiergarten, dort hatte er etliche Hirsche und Rehe drinnen und in einem hohen Drahtgeflechte zwei Fasanen. Die Hirsche waren noch nicht zahm, flohen mit hochgetragenem Gestämme ins Dickicht. Ein klaräugiges Rehlein blieb vor dem hohen Besuche stehen, ohne irgendein Zeichen von Angst oder Ehrfurcht. Der Fürst legte gesalzenes Brot in die hohle Hand und hielt es ihm vor. Das Reh schnupperte hin, fraß es aber nicht. Da trat ein junger Mensch hinzu und sagte: »Wetten wir was, gnädiger Herr, von mir nimmt es das Brot!«

[62]

»Kümmere dich um deine Forellen!« sprach der Herr und wandte sich ab, denn der dreiste Ton des Burschen war ihm zuwider. Diesen Fischerjungen muß man unter die Soldaten stecken, daß er Manier lerne. –

»Na, Alter, klappt's heute mit den Beinen?« fragte Seine Durchlaucht an einem nächsten Tage, als Meister Reimar wieder bei der Arbeit war.

»Schön Dank, gnädiger Herr, es tut's wieder.«

»Das Alter zwickt wohl schon ein bißchen?«

»Ah, des Alters wegen möcht's schon noch passieren.«

»Wie alt seid Ihr denn, Reimar?«

»Zu Martini achtundsiebzig.«

»Allen Respekt. Ich meine für das, was Ihr noch leistet.«

»Solang' mich die Augen nicht verlassen …«

»Saget, Meister, wer war denn das junge Frauenzimmer, das Euch so sorgfältig gepflegt hat vor etlichen Tagen?«

»Die Hedwig meinen der gnädige Herr. Muß wohl recht um Verzeihung bitten. Mir hätte schon auch im Haus keine Wartung gefehlt, aber wenn ein Kind einem zugeht, das kann man nicht wehren, muß einen noch freuen.«

»Es war doch kein Kind mehr,« sagte der Fürst. »Mag wohl schon an siebzehnmal über Silvester gesprungen sein.«

»Es ist so, gnädiger Herr, meine Enkelin lauft schon im achtzehnten um.«

»Euere Enkelin? Sagtet Ihr nicht letzthin, daß Ihr ein alter Junggeselle wäret?« fragte der Fürst.

»Wie man halt eben so sagt,« antwortete der Zimmermann, »ist nur damit gemeint, daß ich nie verheiratet gewesen bin.«

»Und eine Enkelin, sagt Ihr?«

[63]

»Ja mein!« rief der Alte aus, dieweilen er mit dem Reifmesser an einem dreiköpfigen Adler herumschnitzte, »in dieser Sache hat sich der Mensch nicht zu beklagen, da ist alleweil Segen Gottes genug vorhanden.«

»Ist sie ein Tochterkind?«

»Ein Sohnkind, gnädiger Herr. Aber ehelicherweis. Mein Sohn ist braver gewesen wie ich.«

Der Fürst wandelte hernach in der Pappelallee auf und ab, die Hände am Rücken, das Haupt gesenkt. Seine verflogene Jugend hatte ihm kein solches Glück aufbewahrt. Wenn er einmal an der Gicht darniederliegt, wird ihm keine Enkelin warme Tücher um die Beine winden.

Von dieser Zeit an forschte Othmar III., wann der Zimmermann Reimar denn wieder einmal an der Gicht darniederliegen würde. Der ließ darauf warten. Hingegen kam eine sehr schöne Fronleichnamsprozession. An diesem Tage pflegte zu Schreckenburg aller Pomp entfaltet zu werden, den der Ort aufbrachte. In früherer Zeit war auch der Hofstaat ausgerückt, der Erzfürst in seiner vollsten Würde, Prinzen und Prinzessinnen, Edelknaben und Zofen, da strahlten an den Mänteln und Roben die Goldspangen, an den Diademen die Diamanten. Das war längst nicht mehr. Zur Zeit des schlichten Volksfürsten Othmar III. gab es derlei nicht zu sehen. In seinem schwarzen bürgerlichen Gewande, begleitet von den Spitzen der Behörden, ging er hinter dem Baldachin einher, sein entblößtes Haupt blinkte diesmal in der Sonne silberiger als je. Seine Andacht war an diesem Fronleichnamsfeste keine gewöhnliche. Vor der Priesterschaft wallten in langen weißen Gewändern vier Kranzjungfrauen dahin, die auf rotseidenen Kissen die Marterwerkzeuge Christi trugen. Diese Jungfrauen waren alle schön und blühend wie der Mai, aber eine davon war anders [64] als die übrigen. Sie überragte die anderen um eine halbe Kopflänge, ihr Haar wallte wie eine lichte Seidenwelle über den Nacken hinab. Ihre Wangen waren wie die Blüte des Apfelbaums, ihr Haupt senkte sie nicht, wie die drei Genossinnen taten, zu Boden, aufrecht trug sie es, und ihr großes Auge mit dem feuchten Glanze schaute vor sich hin gegen die Berge, auf welchen der Himmel ruhte. Würdevoll wie eine Königin. Sie trug auf ihrem Kissen die Dornenkrone des Heilandes. Das ist die Krone des Volkes. Hat der Erzfürst eine bessere?

»Das Adlerschnitzen geht Euch gut von der Hand,« sagte am nächsten Tage der Fürst zum Zimmermann. Dieser hatte gerade wieder den dreiköpfigen in der Arbeit für das Himmelbett.

»Na, wohl doch nicht, gnädiger Herr. Das ist ein vertracktes Vieh. Da könnt's wohl auch passieren, daß man das Tier gar nicht erkennt, wie es dem alten Herzog drüben ergangen ist mit seinem zweiköpfigen. Dem hat sein Jäger einmal vom Hochgebirg einen Adler heimgebracht. So, das soll ein Adler sein? ruft der Herzog dem Jäger zu, du mit deinem Jägerlatein bleibe mir vom Leib! Glaubst du, ich kenne den Adler nicht? Ein Adler hat zwei Köpfe.«

»Und unserer hat drei,« lachte der Fürst, belustigt von dem Spottgeschichtchen, das man über seinen Nachbar erzählte. Dann sprang er über: »Was meint Ihr, Meister, sollten die hohen Herrschaften aus ihren Wappen nicht einmal das Tier herausnehmen und den Menschen hineingeben?«

»Oho, den brächte unsereiner noch weniger zuweg. Der Mensch, heißt es, soll in der Kunst das allerschwerste sein.«

»Es müßte ja gerade kein geschnitzter sein? Vielmehr [65] ein lebendiger, wie ihn Gott erschaffen hat! Was meint Ihr dazu?«

»He he,« lachte der Alte, wie auf einen Spaß.

Der Fürst rückte dem Zimmermann näher und setzte sich auf das Hinterteil der Schnitzbank. Plötzlich sagte er: »Meister Reimar, machet Feierabend für heute. Wir wollen einmal eins plaudern mitsammen.«

Der Alte hing das Schnitzmesser an die Wand, befreite das dreiköpfige Ungeheuer aus der Zwänge und dachte: Wohl eine rechte Freud', so was. Wie unser gnädiger Herr gemein ist! In seiner Weise wollte er damit der Leutseligkeit des Fürsten ein Lob zudenken.

»Wird Euch Eure Enkelin nicht bald wieder einmal besuchen? Wo wohnt sie denn? Nehmet sie doch ganz zu Euch, Vater Reimar, in diesem Hause ist Platz genug.«

Der Antrag rührte den Alten fast zu Tränen.

Eine Woche später war der Fürst bereits in der Lage, heimlich seine Studien zu machen an dem schönen heiteren Mädchen, das in dem Schlosse herumwirtschaftete, so geschickt, harmlos und fein, als wäre es darin geboren worden. Nach wenigen Tagen beherrschte es in Form einer fröhlichen Dienstfertigkeit die Beschließerin und die alte Kochfrau, ohne daß diese es merkten. Sie war die Unbefangenheit selber, auch dem Fürsten gegenüber. Dieser ging scharf drein, denn viel überflüssige Zeit war nicht mehr vorhanden. Eines Tages befahl er, das Frühstück solle ihm die Hedwig auf das Zimmer bringen. Und diese lud er ein: »Willst du nicht auch eine Tasse mit mir trinken?«

»O Gott!« lachte das Mädel auf, »wann hab' ich heut' schon gefrühstückt! Das ist schon lang geschehen.«

»So bist du am Ende wieder hungerig?«

»Das tät' sich doch nicht schicken,« antwortete sie. [66] »Wenn dem gnädigen Herrn schon allein die Zeit lang wird beim Frühstück, so soll er halt eine gnädige Frau dazu nehmen.« Das sagte sie munter und harmlos hin. Der Fürst aber stand auf und trat rasch auf sie zu. So rasch, daß sie erschrocken einen Schritt zurückwich. »Hedwig!« sagte er leise, und sonst nichts – kein Wort. Sie verließ schnell das Zimmer.

Der Kammerdiener des Fürsten bat noch an demselben Tage um seinen Abschied. Wenn ihm gar schon eine Bauerndrulle vorgezogen werde zur Bedienung! Man hätte es ihm gar so deutlich nicht zu machen gebraucht, auch etwas weniger deutlich hätte er verstanden, daß er überflüssig geworden sei … Laut grölend wandte er sich gegen die Wand.

»Franz,« sprach der Fürst zu ihm mit gütiger Stimme, »Franz, du bist ein altes Schaf.« Das alte Schaf hat den Abschied nicht erhalten. –

»Herr Reimar! Herr Hoftischlermeister!« rief es eines Tages hinter ihm, als der Zimmermann zur Dämmerstunde durch den ruhsamen Park ging und sein Abendgebet verrichtete. Und als er sich umwandte, sah er, wie ein junger Mann auf ihn zueilte. Es war aber der Fürst, der so flinke Schritte machte und so frisch aufgelegt war.

»Herr Tischlermeister!« fuhr der nahekommende Herr fort, »wollt Ihr ein schönes Märchen hören? Es ist sehr alt, vielleicht kennt Ihr es schon von der Mutter her.«

Der Zimmermann blieb ehrerbietig stehen und horchte.

»Es war einmal ein König,« begann der Fürst, den Alten am Arm nehmend und mit ihm zwischen den Ahornen dahinschreitend, »dieser König war sehr mächtig und hatte viele Städte voll von Untertanen. Er aber wohnte in einem großen Schlosse und war einsam. Wisset Ihr, was das ist: Einsamkeit?«

[67]

»Ich kann mir's denken,« sagte der Zimmermann, »das ist Langeweile. Ich hab' sie weiter nie gehabt.«

»Aber der König hat sie gehabt, Reimar! Als er jedoch ans Freien dachte, da fiel ihm das Rätsel ein. Kennt Ihr es? Was ist das, Meister: Gott sieht's nie, der König selten, der Bauer alle Tag?«

»Hoho, das wird wohl seinesgleichen sein!« entgegnete der Zimmermann.

»Seinesgleichen, gut. Also sah der König sehr selten seinesgleichen und unter den wenigen Prinzessinnen gefiel ihm keine. Er trug sich in ganz eigentümlichen Meinungen über das Weib. Er wollte eine Besondere haben. Die Richtige ist nicht gleich die Erstbeste von seinesgleichen. Er wollte eine große Auswahl haben, um seine Einzige sicher zu finden. Er dachte an denjenigen, der seinesgleichen alle Tage sieht.«

»So hätte er sich ein feines Bauernmädel aussuchen sollen,« meinte der Zimmermann.

Der Fürst blieb plötzlich stehen, kneipte den Alten am Arm und sagte: »Das hat er getan.«

Der Zimmermann zog's ins Bedenkliche und sprach: »Wenn das Bauernmädel klug ist? Ich wollt' mich doch erst besinnen, ob ich einem König die Hand geben möchte.«

»Wisset Ihr,« sagte der Fürst, »der Mensch hat zwei Hände. Auch der König. Geht eine Verbindung zur rechten Hand nicht, so geht sie vielleicht zur linken. Meinet Ihr nicht auch so?«

»Hab' es wohl einmal gehört,« meinte nun der Alte. »Zur linken Hand. Verstehe aber den Unterschied nicht.«

»Ich auch nicht, Meister. Aber wir drehen uns um die Sonne und wissen nicht warum. So drehen wir uns um Sitten, für den einen haben sie Sinn, für den anderen [68] nicht. Tatsache ist, daß der Fürst ein Kind aus dem Volke freien will …«

Der Zimmermann schwieg. Es wurde ihm unheimlich. – Diese hohen Herren! Sie mögen sonst noch so brav sein, in dem einen Punkt denken sie leichter, als andere Leute! – An seine Hedwig dachte der Alte, da wurde ihm heiß in der Brust. Am Ende ist's doch gefehlt, daß sie im Schlosse wohnt. Sie ist ein heiteres dummes Ding und weiß nichts. Man muß sie heim zum Vater schicken. –

Der Fürst nahm sich jeden Morgen vor, an diesem Tage mit Hedwig ein entscheidendes Wort zu sprechen. Aber zum Teufel, das war schwerer, als er es sich gedacht hatte. Auf dem Wege des Scherzes hatte er's schon versucht, dabei kam er nicht weit, das Mädel wußte sehr klug zu parieren. Ob sie nicht eine Erzfürstin sein möchte? war eines Tages, als sie mit dem Wedel die Ahnenbilder abstaubte, seine Frage.

»Das wär' mir nicht zuwider,« antwortete sie, »da wollt' ich mir gleich einen schönen Erzfürsten nehmen.« Dabei versetzte sie einem graubärtigen Ahnen mit dem Wedel eins ins Gesicht. – Und der hohe Herr verschob es klüglich, mit ihr zu sprechen. Eines Morgens war sie fort. Sie hätte heim müssen ins Elternhäuschen, um die Ziegen auf die Weide zu führen. Die Ziegen!

Mit finsterer Stirn trat der Fürst in die Werkstatt. Der alte Reimar war just daran, das Himmelbett zu streichen.

»Wieder braun und wieder braun!« rief der Fürst. »Muß denn alles dunkel sein? Das Bett will ich blau haben, himmelblau. Warum fragt Ihr mich nicht, wie ich's haben will, wenn Euch der gute Geschmack fehlt? Oder traut Ihr dem meinen nicht? Mißtrauen! Ich glaube fast, man mißtraut mir. Das möchte ich erst sehen, nach wessen [69] Willen es zu gehen hat in meinem Hause, in meinem Staate!«

Verblüfft schaute der Zimmermann drein, dann antwortete er: »Nach dem meinen nicht. Ich hab's auch nur aus Gefälligkeit getan.« Legte den Pinsel weg und packte sein Werkzeug zusammen. – An der einen Seite ist das Himmelbett braun gestrichen, an der anderen Seite lacht uns noch heute das nackte Holz an, erzählend vom beleidigten Handwerksmann, der dem Fürsten plötzlich die Arbeit aufgesagt hat. Und da soll noch einer behaupten, dieses Schreckenburg wäre kein moderner Staat!

Dem Erzfürsten tat es heimlich weh, den Meister beleidigt zu haben, aber er holte ihn nicht zurück. Ein Fürstenwort ist nicht von heut' auf morgen. Doch ging er von dieser Zeit an häufiger auf die Jagd. Er ging über die Felder des Landmannes und schoß Haselhühner, er ging an den Fluß und fischte Forellen, er ging auf den Almweiden hin, wo die Rinderhirten und Ziegenhirtinnen sind, und schoß nichts. Da war es einmal am Wasser, daß der Fischerjunge Winard, der ihm die Lagel nachtrug, seine Schafpelzmütze abzog, die der Bursche auch im Sommer trug und jetzt zwischen den Händen knüllte, und daß er gar untertänig zum Fürsten die Worte sprach: »Gnädigster Herr! Ich bitt' schön, ich hätt' halt schon lang ein Anliegen!«

»Was ist's, mein Sohn, was fehlt dir?« munterte ihn der Fürst freundlich auf. Er war ja selber kein Freund von Förmlichkeiten, und es war wahrlich nicht das erste Mal, daß er seinen Untertanen, wie er sie immer noch zu nennen pflegte, unter Gottes freiem Himmel Audienz erteilte.

»Getrau' mir's halt frei nicht zu sagen. Es ist was recht Wichtiges …« So stotterte der Bursche.

[70]

»Du weißt, was in meiner Macht steht …«

»In – des gnädigen Herrn Macht tät's wohl stehen.«

Jetzt blickte ihn der Fürst prüfend an. Er kannte den hübschen und klugen Jungen schon seit länger. Manchmal auch war er ihm schon zu keck gewesen. »Ist dir etwa deine Stelle nicht mehr gut genug? Ist dir der Sold zu gering?«

Der Bursche wurde tiefrot im Gesicht und murmelte kaum verständlich: »So bin ich nicht, daß ich Geldes wegen meinen Herrn auf der freien Weide anginge …«

»Dann ist's …« der Herr griff ihm ans Kinn und hob ihm das Haupt: »Schaue mich an, Knabe! Ist's die Liebe?«

Neigte der Junge heftig den Kopf: Ja, das wär's, die Liebe.

»Und dein Schatz will dich nicht? Ja, siehst du, das geht manchem so.«

»Wollen tät' sie mich sonst schon,« gestand der Bursche, »aber 's hat ihr wer was in den Kopf gesetzt. Sie kunnt eine bessere Partie machen, sagt sie.«

»Ich will dir etwas sagen, Junge. Den Nebenbuhler mußt du ausstechen.«

Halb abgewendet antwortete der Bursche: »Er ist halt viel stärker als ich. Zwar das nicht, stärker nicht – aber angesehener.«

»Wohl ein Bauer?«

»Das nicht.«

»Gar ein Bürger?«

»Wohl ein wenig mehr.«

»Was tausend! Ein Gutsbesitzer?«

»Und noch etwas dazu, gnädigster Herr.«

[71]

»Zum Rätselraten sind wir beide nicht beisammen, mein Junge!« sagte der Fürst etwas ernster.

»Ich glaub's auch gar nicht,« sprach der Bursche dreister. »Es geht nur so ein Gerede. Und die Leut' sind ganz wild darüber. Sie sagen, dafür tät' ein braves Bauernmadel zu gut sein. Aber die Weibsbilder setzen sich's gleich in den Kopf und glauben die größte Dummheit. – Der gnädigste Herr wollt' sie haben, sagen sie …«

Das war jetzt für den Erzfürsten keine Kleinigkeit. In solcher Lage war er nie gewesen und von seinen Berufsgenossen auch kaum jemals einer. Darauf ist keine Hofetikette eingerichtet. In zorniger Erregung wählte er den kürzesten Weg und sprach sehr langsam und nachdrücklich: »Was sagst du? Diese Dreistigkeit geht doch über alle Begriffe! Ich rate dir …!« Mit dem Finger wies er in die Ferne.

Jetzt ereignete es sich aber, daß der Bursche kerzengerade vor ihm stehen blieb, daß er mit den blonden Wimpern zuckte und trutzig das Wort sagte: »So ist es doch wahr …«

Der Fürst ging mit raschen Schritten dahin, der Bursche eilte ihm nach, glühend und bebend vor Aufregung rief er gellend: »Nachher setzt's was, gnädiger Herr! Die Hedwig laß ich nimmer, und wenn's meinen Kopf kostet.«

Der Herr wandte sich noch einmal um und schaute sich das im Liebeswahnsinn brennende Menschenkind an.

»Wer mir das Mädel untreu macht,« rief der Bursch, die Fäuste ballte er, »da setzt's was! Ich bin auch nicht allein. Ich hab' Kameraden!«

Warf die Fischlagel zu Boden und sprang durch das Strauchwerk davon.

[72]

– Erzfürst Othmar! Klang das nicht wie eine Kriegserklärung?

Noch an demselben Tage, als die unerhörte Drohung gefallen war unten am Wasser, beschied der Fürst den Forst-, Jagd- und Fischermeister Jonathan zu sich und sprach mit diesem seinem Agrikulturminister längere Zeit. Er befragte ihn über die allgemeine Aufführung des Fischerjungen Winard.

»Keine Klage,« antwortete der Forstmeister. »Soweit brav, aber ein Hitzkopf. Vor etlichen Wochen drei Tage lang im Kotter gebrummt. Raufhändel, Liebesgeschichten.«

»Man nehme ihn zu den Soldaten.«

»Schwerer Ersatz, gnädiger Herr!«

»Man nehme ihn zu den Soldaten!« sagte der Fürst.

Als der Forstmeister es dem Fischerjungen hinterbringen wollte, daß er durch allerhöchste Gnade in die Armee aufgenommen werde, war der Winard nicht mehr da. Die Vermutung lag nahe, daß er ins Ausland geflohen sei, denn er hatte ein Handbündel mitgenommen.

Wenige Tage nachher brachte die Post dem Fürsten ein kunstvoll und doch unbehilflich gefaltetes Brieflein. Das war vom Fischerjungen, dem das Schreiben nicht arg vonstatten ging. Der ließ sich vernehmen wörtlich wie folgt:

»Eier gnaden, gnädigster First und durchlauchdicker Herr!

Mus woll tausendmal um verzeihin biten wegen letztmal aber i kan nit anderst und vonwegen dem Mädel kunt i schlecht wern. Ich bit Ihnen, se kriegn bessere, lassens mir de, i bit Ihna kniefellig, sunst weis nit, was gschicht. Da thät ma wull all zamhalden, wann unsri Madln, die Bauern Madeln nit mehr sicher gangeten. [73] Schreims mir nur bar zeillen das i mich verlassen kann und mich wieder aufzeign kann und wil mein Dienst fleißi verichten. Gnedigster Herr unterdeniger Diner

Winard Oberlimer.«

Der Winard Oberlimer wartete nun auf das Antwortschreiben des Fürsten. Er wußte wohl, daß hohe Herren sich nicht so leicht herbeilassen, mit Arbeitsleuten Briefe zu wechseln, aber in einem so wichtigen Falle, dachte er, würde der gnädige Herr doch eine Ausnahme machen. Er wartete Tage und Tage, er konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen. Wo er wartete, das wissen wir nicht, denn er hatte vergessen, in dem Briefe seinen Aufenthaltsort anzugeben. Auch der seidenhaarigen Hedwig hatte er geschrieben und ihr Vorwürfe gemacht darüber, weil sie, »die spottschlechte Person, sein glihend Hertz um eitel guld und ehr verkaufft« hätte. Die Hedwig wußte sein Versteck und antwortete ihm das Folgende:

»Mein Lebtag wär's mir nit eingefallen, das von wegen dem Fürsten, wie du meinst. Wenn ich dich auch einmal mit ihm gereizt hab. Aber dein Schimpf- und Spottbrief auf mich zeigt nit von deiner grossen Lieb und jetzt thu ichs. Nit wegen eitel Guld und Ehr, wie du schreibst, sondern weil mir ein guter freundlicher Mensch lieber ist, wie ein Zornnickel. Deine Wäsch hab ich dir aufs letztemal gewaschen und geflickt und kannst sie abholen lassen. Mit Achtung

Hedwig Sommerauer.«

Nun war Feuer auf dem Dache. Beim Straßenwirt an der Brücke kamen an Sonntagen die Burschen des Tales gern zusammen. Jetzt war der Winard unter ihnen und warb Streiter. Um das Gerücht wußte jeder schon, so [74] brauchte er ihnen nur den Brief der Hedwig vorzulesen, als Beweis wie es stand.

»Kameraden!« rief er, »verlaßt's mich jetzt nit! Ihr wisset, wie wir uns gern gehabt haben, dieses Madel und ich. Und jetzt soll sie verdorben werden? Heiraten! Der Herr so eine von niedrigem Stamm? Wer's glaubt, ich nit. Und was mir geschieht, kann jedem geschehen. Einer allein kann nichts machen, der wird eingekottert. Zusammhalten! Verlaßt's mich nit, Kameraden!«

Etliche gaben zu bedenken, daß es eine gewagte Sache sei. Andere überstimmten sie: »Untertanenpflicht und Treu haben wir allzeit gehalten. Und wenn uns der Fürst Othmar jetzt ruft: In den Krieg für euer Land, für euern Herrn! so wird nicht einer das Hundsfott sein und sich drücken. Aber wir leben nicht mehr in der alten Zeit, Gott sei Dank, wir haben die Freiheit! Wenn's um unsern Schatz geht, da halten wir zusammen, gegen wen der will! Wir verlassen dich nicht, Winard!«

Der Nachtwächter im Ofenwinkel war schon lange unruhig gewesen, jetzt stand er auf, rüttelte am Ofengeländer, daß es klirrte und rief: »In diesem Tone kann ich nicht weiterreden lassen. Zerstreut euch!«

Brüllendes Gelächter. Sie zerstreuten sich nicht, sie bestellten frischen Trunk. Nur einer ging fort, ein einziger, und das war der Nachtwächter. –

Sachte entfalteten sich trübe Aussichten im Staate Schreckenburg. Die Leute waren ernster, mürrischer. Die Kirchen blieben leerer als sonst, die Wirtshäuser waren voll. Die Leute sangen nicht mehr ihre heiteren Lieder, sie steckten die Köpfe zusammen. Der Fürst bot den Heerbann auf. Nach wenigen Tagen teilte ihm der Kriegsminister, der in gewöhnlichen Zeitläuften das Grobschmiedgewerbe betrieb, [75] mit bekümmerter Miene mit, daß im Reiche nicht alles so sei, wie es sein sollte.

»Ist dieser Winard Oberlimer eingezogen?« fragte der Fürst.

»Leider nein, gnädigster Herr. Der hat unten im Straßenwirtshaus an der Brücke ein förmliches Lager aufgeschlagen. Er hat Genossen. Sie haben den Verkehr mit den Nachbarsländern abgeschnitten, fangen die hereingehenden Waren ab, das Korn, den Wein. Unsere Holz- und Viehausfuhr ist gehemmt. Seit gestern ist auch die Post ausgeblieben.«

Nun verlor der Fürst die Ruhe. »Sofort die Truppen zusammenziehen und die Wegelagerer aufheben.« Nach etlichen raschen Schritten über die Dielen hin riß er den Kopf heftig empor und rief: »Die Rädelsführer standrechtlich erschießen!«

»Durchlauchtigster Herr,« sagte der Kriegsminister. »Schon vor drei Tagen sind die Reichstruppen einberufen worden. Aber – es kommt niemand.«

»Wie?« Der Fürst war starr vor Entsetzen.

»Das Mannsvolk scheint sich alles beim Straßenwirt versammelt zu haben.«

»Verschwörung? Revolte?« –

Um diese Zeit war es, daß der König eines großen Nachbarreiches von dem Hochgebirge herabkam. Er war nach einer Reise aus den südlichen Gegenden heraufgekommen, hatte eine Gemsenjagd gehalten, dann einen hochgelegenen Luftkurort besucht, um seine dort weilende Schwester, die Prinzessin Aglaia, abzuholen und nach Hause zu begleiten. Der König hatte »seinen lieben Vetter«, Othmar III., benachrichtigen lassen, daß er in zwei Tagen [76] durch Schreckenburg reisen werde. Da hieß es nun einmal, sich in den Hofstaat werfen! Die Reichstruhe wurde aufgemacht, und bald stand der Erzfürst da in seiner vollen angestammten Herrlichkeit. Die taffetnen Strümpfe hatten ein paar kleine Schabenschäden, hingegen prangten die Silberschnallen der Bandschuhe in untadelhaftem Glanze. Der seidene Rock hatte die Meinung grün zu sein, schillerte aber stellenweise mehr ins Gelbliche, als es bei einem charakterfesten Tuche unbedenklich ist. Die Lendenschärpe, die breite rotflammende Schleife über der Brust, die funkelnden Sterne und Kreuze schlichteten alles reichlich. Der goldene Kragen war allerdings etwas zu wulstig, um dem an Freiheit gewöhnten Herrn die Kopfbewegung uneingeschränkt zu gestatten. Auf dem stahlblinkenden Reichshelm prangte der dreiköpfige Adler und legte seine goldenen Flügel schwer zu beiden Seiten herab über die Ohren. Das Schwert war für Riesen geschmiedet worden und schleifte einigermaßen widerspenstig um die Ecke, wenn der Fürst eine Bewegung nach rechts oder links zu machen hatte. Die Quaste des Griffes baumelte unten bei den Knien aufsichtslos herum. – Das Ganze war ziemlich überwältigend. Bettelhaft vor seinem königlichen Vetter zu stehen, das war des Fürsten Sorge nicht. Etwas ganz anderes trübte seinen Sinn. Bereits hatte er seine verfügbaren sechs Getreuen hinabgeschickt zum Straßenwirt mit dem Befehl, die Brücke freizugeben für allerhöchste Herrschaften, die an diesem Nachmittage durchreisen würden. Die Antwort, die sie zurückbrachten, war dem Fürsten nicht vermeldbar. Sie war nicht hoffähig. Der Herr war außer sich. Das wäre doch eine Blamage, wenn der Erzfürst Othmar Seine Majestät mit einem Bürgerkriege begrüßen müßte! Sofort eine zweite Abordnung zum Brückenwirt: Was denn eigentlich der Herren Begehr sei! [77] – Die Antwort, das wisse Seine Durchlaucht recht wohl. – In Wahrheit war es dem Fürsten nicht ganz klar. Da er wußte, daß der Fischerjunge Winard dabei eine Rolle spielte, so konnte er sich's nur halb und halb denken. Es mag ja unsinnig sein, das mit dem Mädel – so dachte er sich zu – es mag ja Dummheit eines besonders entwickelten Johannestriebs sein, gut, der Mensch bleibt immer ein Tor, und der Esel hat die Farbe des Alters. Allein sich einen politischen Zwang antun lassen und am Ende gar um Verzeihung bitten, daß er ein hübsches Mädel gerne anschaue? So weit wird's wohl noch lange nicht gekommen sein. Zwar kracht die Welt! Kracht in allen Ecken und Enden! Es ist das undenkbarste schon geschehen. Nicht jeder, der versammelt bei den Vätern ist, ging auf gewöhnlichem Wege heim. – Er besichtigte seinen Thron, der im Saale stand. Ein schlichter Lehnsessel, mit rotem Leder ausgepolstert, mit silbernen Nieten verziert. – Das Holz war alt, aber kaum ein halbes Dutzend Wurmstichlein, die es aufwies. Die Ahnen waren darauf gesessen! Und nun sollte etwa so einer, wie der Fischerjunge? Die seinige auf dem Schoß? Denn für zwei nebeneinander hat der Sessel, genau besehen, nicht Raum. – Na, es wird sich ja noch schlichten lassen. Übermütige Bauernlümmel, nichts anderes. Ein gewöhnlicher Raufhandel um ein Weibsbild, und die verrückten Burschen vergessen, mit wem sie's zu tun haben. – Es wird sich alles ordnen, bis wir klar sehen. Nur die hohen Herrschaften dürfen nichts erfahren, denn die Geschichte ist zu dumm! Das beste wird diesmal sein, was auch sonst sehr oft das beste ist – aus der Not eine Tugend zu machen. Das Schloß ist zwar nicht danach angetan, aber Gastfreundschaft ist stets eine Tugend gewesen.

Es naheten die königlichen Gäste. Eine Anzahl Staubwedel [78] war tätig im Fürstenhause einen halben Tag lang. Die Beschließerin warf einen schwellenden Sack mit Eiderdunen ins noch unfertige Himmelbett. Etliche Schuljungen, vom Oberlehrer gewissenhaft ausgesucht, wurden in weiches buntes Pagengewand gesteckt. Bei dieser Auszeichnung kam's nicht darauf an, welche die bravsten waren, sondern welche schlank und frisch dastanden. Sechs Mann martialisch mit Helm und Lanzen bewaffnet, umgaben die Räte des Reiches, und mit solchem Hofstaate zog der Fürst den Reisenden entgegen. Er selbst ritt auf einem klobigen Rappen. Oberhalb des Ortes, am Eingange der Bergschlucht, begegneten sie sich. Zwei einzige Wägen kamen gerollt, im ersten saß der König und die Prinzessin. Der König sah mit seinem weißen Vollbart und im grauen Lodengewand aus wie ein Jäger. Die Prinzessin saß ebenso einfach da; sie hatte weder die Blüte der Jugend an sich, noch den Reif des Alters, ein Alpenrosenstrauß war ihr einziger Schmuck. Mit ruhiger Freundlichkeit reichte sie dem vorsichtig vom Rosse gestiegenen Fürsten die Hand, die er küßte. Das umstehende Volk freute sich des Anblicks und war stolz auf die ritterliche Erscheinung seines Fürsten, den es noch nie in diesem unerhörten Glanz gesehen hatte. »Ja, unser gnädiger Herr!« sagten sie, »da sieht man, wie armselig so ein König dasteht vor einem Erzfürsten von Schreckenburg! Das ist ein prachtvoller Herr!« Ein behendiger Alter schlug mit den Armen um sich und flüsterte in die Leute hinein: »Die unten an der Brücken! Wenn sie ihn jetzt so sehen könnten! Denen möcht' die Kurasch schon vergehen!«

Mittlerweile hatte der Fürst die Herrschaften willkommen geheißen und sie eingeladen auf sein Schloß, zur Rast auf einige Tage.

»Freund, das geht nicht!« antwortete Seine Majestät. [79] »In zwei Tagen ist die Eröffnung unseres Reichstages, da müssen wir zu Hause sein.«

»Dann verhüte der Himmel Achsenbruch, Überschwemmung und Brückeneinsturz!« sagte der Fürst.

»Hoffentlich!« lächelte die Prinzessin, »wir haben ja das schönste Wetter.«

»Gewiß, Hoheit, gewiß! Sehr schönes Wetter. Es wird auch anhalten. Und doch ist soeben die Nachricht eingetroffen, daß unten an der Luserbrücke der Verkehr unterbrochen sei,« sagte der Fürst beklommenen Atems und setzte gar ritterlich bei: »Ich bin im Augenblicke ja selber noch nicht genau unterrichtet. Sollte es sich aber bewahrheiten, dann wäre der einsame Herrscher auf Schreckenburgs Thron dem Zufalle außerordentlich verpflichtet!« daß er ihm so liebe Gäste in den Schoß werfe – konnte dazugedacht werden.

Der König tat die Bemerkung, daß er schon unterwegs Andeutungen vernommen hätte, als wäre an der Luserbrücke etwas nicht richtig. So als ob sich dort allerlei Gesindel zusammenrotte.

»Arbeiter werden es sein, Majestät, um die Passage freizumachen,« fiel der Fürst ein.

»Jedenfalls werden wir des Herrn Vetters liebenswürdige Einladung annehmen,« entschied die Prinzessin, »denn über eine schadhafte Brücke fahre ich nicht, niemals!«

Hierauf lenkten sie rechts ein, der Fürst ritt voraus, die Wägen fuhren langsam hintendrein und das Gefolge kam zu Fuße nach. –

Mittlerweile war ins Kriegslager beim Straßenwirt die richtige Begeisterung gekommen. Man hatte für den Krieg auch schon einen Namen. Mädeljäger-Krieg! Ging er doch gegen den Mädeljäger. Und jetzt erst kamen sie [80] herfür von den Bergen und aus den Gräben, und wie das Feuer seinen Wind erzeugt, so schafft sich ein Aufstand rasch den nötigen Schwung. Früher hatte man nie viel davon gehört, und jetzt wußte jeder zu sagen vom gefährlichen Mädeljäger, von bedrohten Weibern und eroberten Schönen. Da reckten sich die Speere hoch in die Luft gleich Schwurfingern, daß die Stunde der Vergeltung gekommen sei! In äußerste Erregung geriet der Fischer Winard, denn jemand hatte erzählt, daß man in der Nacht den Zimmermann Reimar mit seiner Enkelin Hedwig begegnet habe – in heimlicher Eile durch den Wald, wahrscheinlich gegen das Schloß hin. Jetzt war's helle, der alte Kuppler führte sie dem Wüstling zu. Darum also die ganze Tischlerei im Fürstenhause! – Der Winard brachte stockend kaum die Worte hervor: »Kameraden! Werden wir halt heut' bei der Nacht das Schloß stürmen.«

Jeder Bursch, der ein Liebchen hatte, jeder Ehemann, der ein junges Weib besaß, fühlte sich eins mit dem Fischerjungen. Es war die große, gemeinsame Sache. –

Mit stillem Wohlgefallen blickte der König zum Fenster des Fürstenschlosses hinaus, mit lautem Jubel die Prinzessin. War Seine Majestät gleichwohl schon ein wenig gelangweilt gewesen auf diesem gar so schlichten, stillen Landsitz, Ihrer Hoheit, seiner Frau Schwester, gefiel es gar wohl. Das war nicht Palast und nicht Hütte, das war ein trauliches Haus. Und der Fürst! Er war nicht Knabe und nicht Greis, er war ein stattlicher Mann von angenehmstem Wesen. Ihre Hoheit war in einer sehr getragenen Stimmung, es war nicht Lust und es war nicht Weh, es war so etwas ganz Besonderes. Und als nun zur abendlichen Stunde die Hunderte von Fackeln heranloderten über die Matten, lärmend, knallend und jauchzend, da waren die [81] Hoheiten nachgerade sehr gerührt über die Ovation, die ihnen hier von der schlichten Landbevölkerung gebracht werde. Der Fürst lud die Gäste zwar ein, rasch in das Hofzimmer zu kommen, wo das Abendmahl gedeckt sei. Es wäre besser, sich von den Fenstern zu entfernen, die guten Leute hätten in solchen Dingen kein Maß und Ziel, sie wären manchmal ein wenig zu unbefangen für ein Damenohr, er würde dann selber zu ihnen hinausgehen. Kaum er es gesagt hatte, war draußen ein schmetterndes Krachen, das geschlossene Einfahrtstor sprang in Trümmer, eingerannt mit einem wuchtigen Baumstamm.

»Ein Überfall?« rief der König.

»Es ist ein Überfall!« sagte der Fürst, »wenn's mir gilt, gut!« Er eilte zur Tür. Die Prinzessin stürzte ihm nach, fiel ihm in den Arm und kreischte in höchster Angst: »Othmar! Bleibt! Verlaßt mich nicht!«

»Ein Weibsbild ist drinnen!« schrie draußen vom Lindenbaum her eine Stimme.

»Sie ist drinnen!« erscholl es im Menschenhaufen, der wie Wildwasser in den Hof flutete.

»Tun müßt's ihr nichts, ich bitt' euch!« lautete der Befehl des Fischerjungen.

»Umbringen niemanden!« schrie es von mehreren Seiten, »lebendiger ist der Vogel mehr wert als wie toter! Aber in den Käfig mit ihm! Für Hühnervolk ist ein einköpfiger Geier schon gefährlich, wie erst ein dreiköpfiger!«

Das Haustor hielt dem ersten Ansturme stand. Da wurden schon Leitern herbeigeschleppt, um zu den Fenstern hineinzusteigen. Roter Rauch wirbelte von den brüllenden Lunten empor an die Wände und übers Dachwerk. Zwei Männer taten einen großen Sack auseinander, um den Mädeljäger, wenn sie ihn gefangen hätten, hineinzustecken. Der [82] Winard hatte aus dem Schuppen einen herrschaftlichen Kobelwagen hervorziehen lassen. Da hinein, wenn wir sie herunter haben! Mit zwei fürstlichen Rößlein will er die böse Hedwig in seine Hütte führen. Das Gejohle rings ums Schloß war so wüste, daß der alte Kammerdiener auf dem Söller vergeblich rief, wen's denn anginge? Den guten Fürsten oder die Majestäten, oder ihn selber? Wenn ihn selber, er trage sein altes Haupt willig herab.

»Feuer ins Dach!« Dieser Ruf war lauter als das Jammern des Alten. Etliche Männer hieben mit Äxten den Brunnenständer um und rollten den Trog über, daß das Wasser, anstatt Feuer zu löschen, auf dem Sande dahin sickerte. Ein Doppelfenster flog auf, so heftig, daß es schrillte. Es war oben im Zimmer des Fürsten. Er selbst stand am Fenster, rot beleuchtet von dem Fackelschein. Er wollte sprechen, das wurde bemerkt und dumpfer ward der Lärm. Der Fürst bog sich heraus, er hatte wieder seinen schwarzen Rock an. »Liebe Leute!« rief er. Das Gewoge wollte sich nicht legen, die Speere schlugen klirrend aneinander.

»Mein vielgeliebtes Volk!« rief er lauter, da wurde es still.

Der Fürst begann mit bewegter Stimme zu sprechen: »Ich bin erschüttert von der Kundgebung, ich bin hocherfreut von dem neuen Beweise euerer Liebe und Anhänglichkeit, mit der ihr mir ergeben seid. Es ist das größte Glück eines Fürsten, seine väterliche Huld vom Volke so gewürdigt zu sehen. Treu' um Treue! Und sinniger hättet ihr diese großartige Huldigung nicht anbringen können, als heute, an diesem Abende, an dem ich nebst dem Fürstenglücke auch das menschliche Herzensglück gefunden habe. Und schöner glaube ich diesen Beweis euerer Liebe nicht ehren [83] zu können, als wenn ich euch jetzt euere künftige Herrscherin vorstelle …«

»Hört ihr's?« unterbrachen sie ihn.

Der Fürst wendete sich zur Seite, da stand neben ihm ein Weib.

»Die Hedwig?«

»Ist sie's?«

»Nicht ist sie's. Eine andere, eine Fremde! Seht doch!«

Der Fürst erhob seine Stimme hoch und rief: »Das ist meine Braut, Ihre königliche Hoheit, die Prinzessin Aglaia von Bramburg!« –

Kein Schuß ist gefallen, kein Tropfen Blut vergossen worden in diesem Bürgerkriege. Das Volk hatte sich verloren in die Wirtshäuser des Reiches. Hatten die Leute zuerst gleichwohl nicht gewußt, wie ihnen geschah, so schlug der finstere Trotz doch bald in helle Fröhlichkeit um. Sie hatten ja einen so schlauen Herrn und jetzt auch eine so königliche Herrin, bei der, wenn die Blütezeit auch schon vorüber, doch noch immer nicht Matthäi am letzten war! Wer soll da nicht als warmer Patriot eins trinken über den Durst? – Als der nächste Morgen tagte, gab es um das Schloß nur zertretenen Rasen mit schwarzen Fackelabfällen und manchen Balkensplitter. Darüberhin schritt munter das bräutliche Paar.

»Das ist schnell gegangen, du mein Herz!« lispelte der Fürst und legte die zarte Hand der Braut zwischen die seinen. »Gestern um diese Morgenstunde haben wir einander noch nicht persönlich gekannt – und heute –!«

»O, mein Lieber, ich habe dich immer gekannt!« rief sie hochbeseelt, »ich habe deiner immer gedacht, mein Herz hat dich immer gesehen, dich, wie du bist, da ich längst noch [84] nicht wußte, daß es einen Fürsten Othmar gibt. Ich wäre achtzig Jahre alt geworden, ohne einen anderen Mann zu sehen als dich. Und du?«

Da er nicht ganz befriedigende Antwort wußte, so entgegnete er bloß: »Meine Empfindung läßt sich gar nicht schildern.« –

Ungut war es dem Fischerjungen Winard. Daß er seine Hedwig nicht mit fürstlichen Rössern in sein Haus führen konnte, das wurmte ihn kläglich. Und doch war er froh, sie im Schlosse nicht gefunden zu haben. Wo aber war sie denn? Zu Hause bei ihrer Mutter nicht, davon hatte er sich noch in derselben Nacht überzeugt. Einem Almhirten begegnete er, der wußte zu sagen, daß er hinten im Hochgebirge dem krummen Zimmermann mit einem jungen Frauenzimmer begegnet wäre. Gegen das Welsche hinüber hätten sie die Richtung genommen. – So sauber! Jetzt konnte der Fischerjunge auch dem Welschland den Krieg erklären.

Übrigens kam dieser neue Feldzug dem Burschen nicht ungelegen, daheim drohte ihm ja ein Hochverratsprozeß und drüben am Waldrande stand aus alten Zeiten her noch immer so etwas, wie ein aufrecht ragender Holzblock mit einem Querbalken. Allein mit leeren Taschen reist ein Schreckenburger nicht ins Ausland. Die halbe Arche Noahs plünderte er und machte sich damit auf den Weg gen Welschland. Am ersten Abend sprach er unterwegs in einer Sennhütte zu. Anfangs unterhielt er die Sennin mit einem behendigen Eichkätzchen, das an der Angelschnur hängend munter über Winards Achseln und Haupt spazieren sprang und sich dann wieder neckisch in den Rocksack versteckte. Dieses possierlichen Anblickes wegen tischte die Sennin eine Schüssel Milch auf. Dann langte der Bursch aus der Hosentasche [85] ein kleines Schildkrötlein hervor und ließ es über den Tisch krauchen. Die Sennin war voll Entsetzen über das Tier, das sein dreieckiges Köpflein immer weiter vorstreckte gegen sie hin; aber aus Achtung für den jungen Fremdling, der solche Ungeheuer mit sich führte, buk sie ihm auch noch einen Eierkuchen. Nachdem dieser mit Wohlbehagen verzehrt worden war, gestand er der Sennin, noch etwas bei sich zu haben. Er griff in den zweiten Hosensack und zog ein feines Garnnetz hervor, in dem sich eine graue Schlange ringelte. »Darf ich sie auslassen?« fragte der Winard, die Sennin kreischte vor Grausen, da sagte er: »Ach, das Tierlein tut ja nichts, es ist bloß eine junge Viper.« Die Sennin hatte sich ihr Lebtag mehr mit Kühen und Schweinen abgegeben, als mit Blindschleichen, und so glaubte sie es ihm getreulich und brachte dem tapferen Tierbändiger zum Nachtisch noch Weißbrot und ein Töpflein mit goldigem Honig. Erst am nächsten Morgen fragte er, ob sie nicht einen alten krummen Mann mit einem jungen Mädel hätte des Weges gehen sehen. Ja, so ein Paar wäre vor etlichen Tagen vorbeigezogen gegen das mittägige Land hin.

Während der Nacht hatte das Eichkätzchen die Schlange totgebissen. So warf der Bursche auch die Schildkröte ins Heu, und leichten Mutes zog er weiter gen Welschland. Am zweiten Tage sprach er in einer Kohlenbrennerhütte zu, fing dort Fische aus dem Bach und ließ sie von der Köhlerin braten. Dann lud er das schwarzäugige Weib artig zum Schmause ein. Am nächsten Tage wußte die Köhlerin ihm zu berichten, der krumme Alte mit dem jungen Mädel sei erst gestern gesehen worden und sitze unten in der Ölmühle. Die Ölmühle stand am Flüßlein Esonto, und dort fand er den krummen Alten und das junge Mädel. Nur war es nicht der Zimmermann Reimar und seine [86] Enkelin Hedwig, sondern ein welscher Scherenschleifer mit seinem Kinde.

Der Winard gehörte zu jenen Trotzköpfen, die nie einen ihrer Irrtümer eingestehen und nie umkehren wollen. Diesmal aber war die Überzeugung, daß er auf dem Irrwege ging, zu schlagend; doch zur Umkehr konnte er sich noch immer nicht entschließen; er ging eine Weile, das Gesicht noch gen Welschland wendend, rückwärts wie ein Krebs, bis er über einen Maulbeerstrunk stolpernd auf den Rücken fiel. Ein paar Tage später war er doch wieder im Gebirge, und da hörte er plötzlich von einem Hirten das Wort ausrufen: »Hau, da ist er ja wieder, der Mädeljäger!«

Der Mädeljäger! War das nicht der Fürst? War nicht der Fürst so genannt worden? Wahrhaftig – dachte sich der Bursche – das stimmt auch bei mir! Bei mir vielleicht ganz besonders, wie ich ihr nachjage seit einer Woche! Ihr und so weiter. – Jetzt fing er sachte an, sich zu schämen. Wieder den Weg hatte er verloren in der Waldwildnis, mißmutig bei einer Pechbrennerklause kehrte er zu, einen Löffel warmer Suppe erbittend. In der Klause saß der alte Reimar und zimmerte an einer Wiege. Diese Wiege, so klein sie war, brachte den Winard schier aus der Fassung. »Wo ist die Hedwig?« schnob er.

Der Alte ließ seine Hand mit dem Schnitzger auf dem Knie ruhen und antwortete: »Winard, das sag' ich dir nicht. Ihr habt gerauft um sie, so sollt ihr sie keiner kriegen. Ich hab' das Mädel gut versteckt, du findest es nicht. Der gnädige Herr auch nicht.«

»Der hat schon eine andere. Der heiratet eine alte Prinzessin. Und ich muß die Hedwig haben!«

» Mußt sie haben? Na, dann ist's was anderes. – Mädel!« rief er durchs Fenster in den Wald hinaus. Sie [87] war gerade bei den Pechersleuten unter dem Baume. Blieb aber nicht kleben an dem Baumstamm, der von Holz war, sprang dem Burschen an den Hals, der von Fleisch und Blut war.

Jetzt ist die Geschichte aus. – Wie? Die Wiege geht euch noch im Kopfe um? Fürs Pecherpaar hatte er sie gezimmert. – Aber sollen sie denn hocken bleiben beim Pecherpaar in der Waldhütte? Am Tage, als Erzfürst Othmar der Gütige mit seiner geliebten Braut Hochzeit hielt, erging eine allgemeine Amnestie für politische Verbrecher. Es war nur einer vorhanden, und so wurde der Fischerjunge Winard jubelnd begrüßt, als er mit seiner Hedwig zurückkehrte ins heimatliche Fürstentum.


[88]

Lieb' läßt sich nicht lumpen.

Auf dem vornehmen Ozeandampfer »Poseidon« befanden sich zwei Auswanderer, welche die Aufmerksamkeit der übrigen Reisenden erregten. Eine anmutige, etwa vierunddreißigjährige Frau und ein schöner junger Mensch. Ein Ehepaar oder Geschwister konnten sie kaum sein, dafür war das dunkle Auge, mit welchem die Frau manchmal auf ihn blickte, viel zu unstet, zu gewitterhaft, und dafür war das Wesen des jungen Mannes manchmal zu befangen, manchmal zu kühn sich gebärdend – ein zu seltsames Gemisch von Schüchternheit und Trotz. Als der »Poseidon« von der deutschen Küste gegen den Westen abgedampft war, hatte die Frau heftig geweint, hatte der Jüngling seine Hand auf ihre Schulter gelegt, bis sie plötzlich ihre beiden Arme um seinen Nacken schlang und ihn küßte. – Hatten diese beiden freiwillig der Heimat entsagt? Waren sie aus zwingenden Gründen ausgezogen? Oder hatten sie sich sonstwie verfahren in der Alten Welt und steuerten nun der Neuen zu, um in ihr einen frischen Lebenslauf zu versuchen? – Also fragten die Mitreisenden sich. Doch das Paar tat nichts, zeigte nichts, was Antwort geben konnte.

Eine solche Ausfahrt hatte Frau Johanna von Martenstein wohl kaum gedacht an jenem Tage, als sie mit zwei Rappen vom Kirchhofe zurückfuhr – eine Witwe von einundzwanzig Lenzen. Damals war ihr sonst lebensfreudiges Herz zugedeckt mit so schwerem Leide, daß ihr die ganze Welt wie ein Totenhaus erschien, in dessen Gewölbe die Sonne als trübe Ampel hing. Damals war ihr unmöglich zu denken, daß in ihrer schmerzerfüllten Brust [89] jemals noch ein irdisches Begehren wach werden könnte. Von Natur religiösen Gemütes und religiös erzogen, hatte sie sich damals vorgenommen, den Mitmenschen von nun an lauter Gutes zu erweisen, zuvörderst Gutes solcher Art, daß es ihnen nicht so sehr für diese, als vielmehr für jene Welt zunutze kommen konnte. Und sie hatte sich vorgenommen, ganz nur noch dem Ewigen zu leben, von Stufe zu Stufe emporzusteigen in jenes Reich, in welchem dem so früh Verlorenen sie wieder zu begegnen hoffte.

Denn wie namenlos nichtig ist ein Leben, wo selbst die Glücklichsten ungeheurem Leide zur Beute werden müssen! War Johanna von Martenstein, das blendend schöne, heitere Fräulein, auf dem reichen Wohnsitze ihrer Väter nicht beneidenswert gewesen? War ihre Liebe zu Oswald von Siegenberg, dem herrlichen Manne, nicht so, daß sie selbst manchmal schauerte vor der Gewalt dieser Seligkeit? Ein Jahr währte es, ein ganzes Jahr und drei Tage – nicht länger. Im fröhlichen Treiben eines Schützenfestes ward er durch ein zufällig sich entladendes Schießgewehr getötet. O gleißendes Geschick mit deinem »Zufällig!« Da doch das darauf Kommende so folgerichtig ist, berechnet auf ein einsames Menschendasein voll grenzenloser Trauer!

An jenem Tage, als Frau Johanna vom Kirchhofe heimfuhr gegen ihr Bergschloß, scheuten im Dorfe vor einem Dörcherkarren die Pferde und traten eines der halbnackt umherlaufenden Kinder zu Boden. Als das Gespann wieder stillstand, ließ Frau Johanna das verletzte Knäblein zu sich in den Wagen heben und bei den Dörcherleuten nachfragen, ob es ihnen gehöre, und was sie in diesem Falle verlangten an Vergütung.

Das Haupt der fahrenden Bettlerfamilie, ein von [90] Branntwein riechender Mann, kroch aus dem Blachenkobel hervor und erklärte rülpsend, an Vergütung erbäten sie drei Silbergulden oder fünf, oder so viel, als der gute Wille wäre; den Jungen aber möge die hohe Frau nur behalten, sie hätten noch genug solchen Gezüchtes.

Frau von Martenstein sah in dieser Begegnung einen Wink des Himmels, den Knaben zu sich zu nehmen, ihn aus Liebe zu ihrem Gatten zu pflegen, gottselig zu erziehen, ihn gleichsam als Seelenopfer zu bestimmen für den Frieden des so plötzlich Verblichenen. Sie zahlte also an die Dörcherfamilie der Silbergulden zehnmal fünf, mit der Bedingung aber, daß dieselbe an den Knaben keinerlei Ansprüche mehr mache, ganz als wäre er gestorben und begraben. Bei solchem Handel hatten beide Teile gewonnen. Die Bettlerleute waren ein lästiges Kind los, und wer einen Blick in das Nest unter der Karrenblache getan hätte, der würde gesehen haben, daß vielfacher Ersatz vorhanden war. Das Lebendigbegrabenwerden eines solchen Würmleins im vornehmen Herrschaftswagen konnte der sonnengebräunten Mutter also nicht viele Tränen entlocken. Frau Johanna vergaß ob des hübschen Knaben, der nach Stillung des Blutes und nach einigem Wimmern neben ihr auf blauem Samtkissen schlummerte, ein wenig ihres Geschickes, und sie nahm sich zu solcher Stunde heilig vor, aus diesem armen Kinde eine Ehre Gottes zu machen.

Am allermeisten gewann bei dem Geschäfte der kleine Konrad selbst, der das fahrende Dörcherdach vertauschte um eine feste Ritterburg, deren Ahnenreihe sich sachte ausgemündet hatte in das rote Meer des bürgerlichen Geblütes, also daß der Stromerknabe kein allzu fremder Eindringling war auf dem vieltürmigen Schlosse. Der herbeigerufene Arzt hatte die Verletzung am Arme als eine unbedeutende [91] bezeichnet, und so geschah es, daß der Knabe Konrad unter gutem Zeichen einzog durch das hohe Tor, aus welchem sie drei Stunden früher den toten Herrn davongetragen hatten.

Frau Johanna von Martenstein legte ihr Trauergewand nicht mehr ab. Wie es unter diesem schwarzen Winter dem jungen Herzen gehen wird, das muß die Folge zeigen.

Der Knabe hatte in einem rückseitigen Teile des Schlosses sein Stübchen und seine Wärterin bekommen, und wurde vorbereitet für die Schule, zu der er denn auch bald hinabtrippelte in das Dorf. Täglich ein paarmal sah ihn die Frau, sie gewöhnte sich an den aufgeweckten Burschen, er speiste mit ihr an demselben Tische, und damit sie ihn persönlich überwachen konnte, ließ sie ihm in ihrer Nachbarschaft ein Zimmerchen herrichten, in dem er spielen und lernen konnte. Die Schule war mit ihm zufrieden, und als sie im Dorfe nach vier Jahren zurückgelegt war, sprach Frau von Martenstein eines Tages bei dem alten Pfarrer des Sprengels vor, teilte ihm ihre Absicht mit, den Jungen in das lateinische Studium einführen und zum Priester ausbilden zu lassen. Der Pfarrer lobte diese Absicht, bestärkte sie in derselben und versprach, die nötigen Schritte einleiten zu wollen. Also geschah es, daß Konrad nach fünfjähriger Schloßherrlichkeit in ein bischöfliches Seminar kam und dort anfing, alle Wissenschaften zu betreiben, allen Betrachtungen zu obliegen, die den menschlichen Geist allmählich in Gegensatz bringen zu den irdischen Sinnen, die ihn entweder sachte und ruhig, oder unter Krämpfen ablösen von dem Weltlichen und ihn ganz in den Bereich des Gedanklichen und Übersinnlichen hinüberspielen. Daß heranwachsende Knaben während und trotz solcher Studien naturgemäß so recht in das blühende, gährende Leben hineinranken, wird nicht beachtet.

[92]

Wenn Konrad zu den Vakanzen heimkam, ward es allemal lebendiger und frischer auf Martenstein, und die junge Frau im schwarzen Gewand hatte manche Freude. Sie nahm sich stets vor, strenge zu sein gegen den munteren Knaben. Aber wenn Konrad in dem großen verwilderten Baumgarten auf die lustigste Weise umherregierte, die Wildtauben jagte, aus dem Bache Forellen fing, auf den Bäumen mit Eichhörnchen um die Wette kletterte und anstatt eines vollbrachten Lateinpensums lebendige Vögel, die er selbst gefangen, herbei brachte, da beobachtete sie ihn oft heimlich mit Vergnügen und vergaß der Strenge. Und wenn er im großen Teiche schwamm und oft minutenlang unter den Wellen blieb, da bangte ihr um ihn, bis sein Haupt wieder frank und frei aus dem Wasser hervorstand. Sie faltete die Hände über ihrem Schoß und dachte: Es wird ein schöner Bräutigam der heiligen Kirche!

Wenn er endlich wieder fortgezogen war in die ferne Stadt, da empfand Frau Johanna ihre Einsamkeit doppelt, und sie zählte die Monate, die Wochen, die Tage, die Stunden endlich, bis er wiederkehrte. Aber ganz so, wie er fortgezogen, kam Konrad nie zurück; war es, daß er schlanker geworden, war es, daß seine Knabenstimme einen tieferen Ton angenommen, war es, daß an der Oberlippe und unter den Ohrläppchen junger Bartanflug schattete, war es, daß sein Wesen ebenmäßiger, ernster erschien – mit jedem Jahre kam er anders heim, als er fortgezogen.

Und eines Morgens, als Konrad in die Laube trat, wo sie zu frühstücken pflegten, und ihr den Morgenkuß darbrachte, zuerst auf die Hand und dann auf den Mund, fiel dieser Kuß so aus, daß Frau Johanna zuerst betroffen zu ihm aufblickte und dann mit kühlen Worten befahl: [93] diese Formalitäten hätten von nun an aufzuhören, er möge seiner Ehrerbietung für sie stets nur in strenger Pflichterfüllung Ausdruck verleihen.

Konrad errötete, dann setzte er sich ihr gegenüber und nahm schweigend sein Morgenbrot ein. Er konnte freilich nichts dafür, daß aus dem Knaben ein Jüngling geworden war, und daß die Dankbarkeit, die er für seine Gönnerin empfand, in Zuneigung sich verwandelt hatte. Der Schloßfrau war nicht wohl zumute, sie sah plötzlich, daß ein Gefühl, welches ihr bisher die einzige Labe ihres freudlosen Lebens gewesen, zur Gefahr sich steigerte. Noch an demselben Tage mußte Konrad übersiedeln in den entlegensten Trakt des Schlosses, wo ihm zwei Zimmer auf das sorgfältigste eingerichtet wurden. Damit gab Frau Johanna sich aber nicht zufrieden, denn sie sah, daß er sich beengt und befangen fühlte. Um den Rest der Vakanzen – es waren die letzten vor der Priesterweihe – dem jungen Manne nicht gar zu verkümmern, unternahm sie eine Reise nach einem entfernten Wallfahrtsorte, bei deren Rückkehr sie den Studenten nicht mehr auf dem Schlosse zu treffen hoffte. Aber was sie hoffte, das fürchtete sie, und was sie fürchtete, traf ein. Konrad war bereits abgereist in das geistliche Institut und hatte ein Schreiben zurückgelassen, in dem er dankte für alle Wohltaten, in dem er versprach, täglich, so lange er lebe, am Altare für sie zu beten, und in dem er von ihr Abschied nahm. Daß die Zeilen nur geschrieben worden waren, um alles zu verschweigen, zu verhüllen, was in dem leidenschaftlichen Herzen des jungen Mannes vorging – Frau Johanna müßte kein Frauengemüt gehabt haben, um es nicht ein wenig zu ahnen.

Das Herz der Schloßfrau Johanna war nun erwacht. [94] Zornig schrieb sie an den Jüngling, er sei undankbar, daß er solchergestalt fortlaufen könne. Und in einem fast heftigen Schreiben an das Institut verlangte sie den Theologen. Er eigne sich nicht zum Priester, er habe aus eigenem Antriebe diesen Stand nicht gewählt, habe nur aus Pflichtgefühl die ihm unbesonnen vorgeschlagene Laufbahn betreten, auf der er bald pflichtvergessen und unglücklich werden müßte. Sie rufe ihn daher zurück und wolle ihn für einen praktischen Beruf ausbilden lassen. – Als die Briefe abgesandt waren, erschrak sie. Was soll das werden? Wohin soll das führen? fragte sie sich selbst. Gib Gott, was Gottes ist! – Das Institut antwortete nicht anders, als daß der Tag bekannt gegeben ward, an dem Konrad seine erste Messe lesen werde. Frau Johanna atmete fast auf nach schwülem Drucke. In einem Gebete hatte sie des Himmels Beistand angerufen gegen die Macht der Versuchung, und es gelang ihr, ein Bruchstück ihrer Standhaftigkeit wieder zurückzuerobern. – Es ist vorbei, also beredete sie sich selbst, die Zeit meiner Liebe liegt weit hinter mir. Ich habe nur noch einen Weg: dem Himmel zu.

Die erste Messe sollte Konrad in der Dorfkirche lesen, zu der Martenstein eingepfarrt war. Zu diesem Festtage rüstete sich die ganze Gegend, das Dorf und auch das Schloß. Doch hatte Frau Johanna den alten Dorfpfarrer ersucht, daß Konrad während seiner Anwesenheit im Pfarrhofe wohnen dürfe. Diesen Wunsch hörte der alte Herr mit einigem Befremden, sagte ihn aber gerne zu. Am Vorabende des Festes erschien Konrad. Er war im Gewande des Priesters, allein in dem schwarzen Talare war sein schönes Angesicht noch blasser, sein Auge noch tauiger, neben der Tonsur kräuselte sein braunes Haar [95] noch reicher und lockender. Als er hörte, daß seine Wohnung im Pfarrhofe war, stutzte er. Noch am dunkelnden Abende ging er zum Schlosse hinauf und fand Frau Johanna im Baumgarten einsam an einem Tische sitzend, in ihrer Hand einen frisch geflochtenen Kranz aus weißen Rosen.

»Mutter,« sagte er, ohne anders zu grüßen, »ich muß dich schwer beleidigt haben, daß du mich verstoßen hast!« Er ließ sich vor ihr auf die Knie, und sein Körper bebte.

»Konrad!« rief sie, der Schrei war gellend, sie beugte sich, suchte ihn aufzurichten. Er haschte nach ihrer Hand und drückte die heftig an seinen Mund.

»Kind!« sagte sie und entzog ihm die Hand rasch, fast zornig. »Du bist ja mein Kind!« hauchte sie, riß ihn mit beiden Armen an sich, bedeckte seine Stirn, seine Augen, seinen Mund mit Küssen. – Frau von Martenstein! – Frau Johanna von Martenstein! Küßt so eine Mutter? Jawohl, er war festgeschmiegt an das schöne Weib, wie der Säugling sich festschmiegt an die Mutterbrust … Aus dem Tale klangen die Kirchenglocken, da tauchte Frau Johanna ihn mit beiden Armen von sich, und ehrfurchtgebietend wie eine Siegerin schritt sie dahin unter den Bäumen. In der darauffolgenden Nacht schloß sie kein Auge. Sie wimmerte unter der Last des einsamen, freudlosen Lebens, sie wollte beten um Kraft, um Entsagung, aber ihr Gebet rief: Lieben oder sterben!

Am nächsten Tage, als Konrad, angetan mit prunkendem Ornat, am reichgeschmückten Altare stand, auf dem Haupte eine Krone aus Rosen, umgeben, bedient von einer Priesterschaar, umklungen, umjubelt von Musik, wie ein Heiliger verehrt von der versammelten Menschenmenge, da [96] saß Frau Johanna in ihrem Kirchenstuhl, und geruhigt dankte sie Gott, daß rein das Opfer am Altare stand. Konrad war anzusehen wie eine aufrechtstehende Leiche, so fahl war sein Angesicht, so seelenlos seine Bewegung, so erloschen sein Auge.

Bei der Abreise Konrad's war Frau von Martenstein gefaßt, beinahe heiter. Seine Züge blieben blaß und kalt, als wären sie zu Marmor geworden seit zwei Tagen. Kein heller Blick, kein warmes Wort mehr, ernst und still fuhr er davon und der Stadt zu, in der das Priesterhaus stand.

Frau Johanna hatte sich sehr getäuscht mit ihrer Siegesfreudigkeit. Als alles vorüber war, und wieder der Alltag herrschte auf Martenstein, als sie sich vorstellte, daß das nun in unabsehbaren Zeiten so bleiben müsse, daß nie mehr ein lieber Mensch das Schloß, den Baumgarten beleben würde, da krampfte es in ihrem Herzen wie höllische Pein. Und in den Nächten kam es über sie wie Anklage, wie Vorwurf – Gewissensqual. Mit welchem Rechte hatte sie den Knaben aus der Armut gerissen, um ihn ins Elend eines Standes zu verbannen, zu dem er nicht geboren ist, wo er kein Glück finden kann? Das fahrende Leben von handwerkenden, bettelnden Dörchersleuten, ist es nicht besser als ein Lebendigbegrabensein in der Soutane? Wie liebesdurstig er ist! Etwas, das nicht ihr Eigentum war, hat sie sich angeeignet, um es dem Vorteil ihres Seelenfriedens zu opfern. Und nun muß sie etwas, das ihr Eigentum ist, hingeben und hinwelken sehen. Ihren Bräutigam hat sie der Kirche überantwortet, einer Braut, die den Gespons zur himmlichen Seligkeit erhebt oder schon auf Erden verdammt macht. – So deutlich hatte Frau Johanna noch nie gesehen, als jetzt, da es zu spät war.

[97]

Zu spät? Wann ist's zu spät? Er lebt noch, sie kann ihren Irrtum noch gutmachen, ihm noch Genugtuung geben … Das wäre die Stimme des Gewissens, meinte sie; es war aber die Stimme der Leidenschaft. Wie man auch tüfteln und deuteln mag, das Herz will seine Rechte, und Lieb' läßt sich nicht lumpen.

Und eines Tages besuchte Frau von Martenstein wieder einmal den alten Pfarrer ihres Ortes, um ihn zu fragen, ob das landwirtschaftliche Erträgnis des Jahres auf seinen Feldern wohl für die Bedürfnisse reiche, oder ob sie ihm mit etwas beispringen dürfe. Der Greis dankte, was er habe, das genüge reichlich für seinen Bedarf. Hierauf brachte die Schloßfrau folgendes vor: Sie werde von Tag zu Tag älter, es falle ihr manchmal beschwerlich, zur Pfarrkirche herabzusteigen, besonders zur Winterszeit. Also beabsichtige sie, die alte Schloßkapelle wieder instand setzen zu lassen; der Altarstein besitze urkundlich ohnehin die vorgeschriebenen Weihen, und so wolle sie täglich die heilige Messe im Schlosse lesen lassen.

»Wie alt seid Ihr denn?« fragte hierauf der Pfarrer.

»Wohl schon ziemlich in den Dreißigern,« antwortete Frau Johanna.

»Und weil Ihr, die ziemlich in den Dreißigern stehende Frau, nicht herabgehen könnet zur Pfarrkirche, soll ich, der ziemlich in den Achtzigern stehende Mann, täglich zu Euch hinaufsteigen, um die Messe zu lesen?« fragte der Greis.

»Das könnte kein Christenmensch begehren,« antwortete die Frau von Martenstein, »natürlich muß ich mir selbst einen Schloßkaplan halten. Und in dieser Angelegenheit wollte ich um Eurer Hochwürden Vermittelung gebeten haben. Ich dachte nämlich an Konrad, der, soviel ich [98] weiß, noch keinen Seelsorgerposten hat, und der mit mir ohnehin in verwandtschaftlichem Verhältnisse steht.«

Auf solche Eröffnung versetzte der Pfarrer: »Frau, warum habt Ihr es nicht früher gesagt, daß Ihr mit dem jungen Manne zusammenleben wollet? Jetzt ist es zu spät, er hat die Weihen des katholischen Priesters, und Ihr wisset, was das heißt.«

Frau Johanna stutzte, als sie ihre Gedanken so derb erraten sah; zwar stellte sie sich anfangs höchst überrascht wegen solcher »die gute Absicht gröblich mißkennender Deutung«, machte eine schlaue Schwenkung und sagte, es müsse ja nicht gerade Konrad sein, er sei ihr nur eingefallen, sie wolle sich für einen älteren Herrn entscheiden, damit böse Zungen kein Ärgernis fänden. Allein den alten Herzenskenner täuschte sie nicht. Es war ihm ja schon früher die Neigung nicht ganz verborgen geblieben, die in dem jungen Priester für seine Gönnerin keimte; und gerade seine plötzliche Kälte und Versunkenheit machte ihn nachdenklich. Der alte Pfarrer, in der Absicht, Schlimmes zu verhüten, schrieb an das Konsistorium und sprach diesem die Meinung aus, daß es bei dem schwärmerischen Temperamente Konrad's, bei seiner weltmännischen Befähigung und der unternehmenden Tätigkeit desselben geraten sein dürfte, den jungen Priester nicht in eine ruhige Seelsorge seiner Heimatsgegend zu setzen, sondern diese schätzbaren Eigenschaften vielmehr auszunützen etwa für Bekehrungsmissionen in anderen Ländern. Mehr sagte der Alte nicht, das Konsistorium verstand ihn vollkommen.

Mittlerweile hatte Frau Johanna auf Mittel und Wege gesonnen, Konrad wenigstens als Leutepriester auf eine der Pfarreien zu bekommen, über welche sie vermöge alter Schloßrechte das Patronat innehatte. Es war ihr unmöglich zu denken, daß sie fürder diesem Menschen fern [99] sein sollte. In einer Nacht träumte ihr, daß eine Stimme rief: Johanna, wozu verlangst du dir den jungen Priester? Zum Beichten oder zum Sündigen? – Noch im Halbschlaf rief sie laut: Er ist mein Herzensfreund!

Also waren seit dem Fest der ersten Messe an sechs Monate verflossen, da erhielt Frau Johanna ein Schreiben folgenden Inhaltes:

»Teure Mutter!

Im Rate der göttlichen Vorsehung ist es bestimmt, daß Menschen, die sich allzulieb haben, weit auseinander müssen. Du kannst Dich verstellen, wie Du willst, ich weiß, daß Du mich liebst. Aber wir sehen uns nicht mehr auf dieser Welt. Über mich ist beschlossen worden, daß ich nach Ostindien reisen muß als Missionär. Heiden bekehren, ohne selbst bekehrt zu sein. Ich bin kein Mensch mehr, sondern ein willenloses Werkzeug, es ist alles aus, in zwei Tagen reisen wir, unser sieben, mit dem Orientzuge ab. Anders hätte es kommen können. Wie gut Du es mit mir gemeint hast! Habe Dank, Du in Ewigkeit meine Lieb' und Pein. Gedenke, dieses Leben ist bald vorbei. Vielleicht in jenem.

Konrad.«

Als Frau Johanna den Brief gelesen hatte, war ihr gar nicht so zumute, als müsse sie verzweifeln oder verzichten. Im Gegenteil, sie fühlte plötzlich eine bisher ungekannte Kraft und Kampflust in sich. Der Brief war voll blutigen Schmerzes und voll herber Vorwürfe. »Ich bin kein Mensch mehr!« Wer hat sein Menschentum ihm genommen, wer muß es ihm wieder geben? – Durch des Weibes Gehirn wogten frische Pläne. – Abreise in zwei Tagen mit dem Orientzuge! Alle Dazwischenkunft in der Stadt ist zu spät. Doch zieht die Eisenbahn nicht über die Heiden? nicht durch die [100] Dohlenschluchten, welche nur wenige Meilen von Martenstein entfernt sind? Die Station Dohlau liegt in wüster, einsamer Gegend, muß dort nicht jeder Zug stehenbleiben, um Wasser zu schöpfen? – Die Frau war entschlossen.

Konrad's Gemüt glich am Tage der Abreise einem ausgebrannten Vulkan. O, wie hatte es getobt, geloht! – jetzt war es still. Man sagte ihm, er gehe in einen fremden Weltteil, und willenlos gab er sich drein. Von seinen Genossen waren mehrere voll heller Verzückung, sprachen von den Flammenzungen des göttlichen Geistes, mit denen sie die Ungläubigen bekehren würden. Fast frevelhaft hochgemut verließen sie die Heimat. Konrad saß einsam an einem Fenster des bereits hinrollenden Zuges und war vertieft in sein Brevier. Aber an das Gebet dachte er nicht, an nichts dachte er, der Stumpfsinn des Wehrlosen war über ihn gekommen, der Stumpfsinn des Gefesselten. Manchmal blickte er müde hinaus auf die Landschaft, und wie Wälder und Wiesen, Berge und Täler versanken von diesem schönen Lande. Es dämmerte der Abend; wenn neuer Tag erwacht, wird Fremde um ihn sein. Ihm gleichgültig, sein Herz ist ohnmächtig geworden. – Der Zug rollte über Heiden, rollte in einer Felswildnis, durch eine Waldschlucht. Nun stand er still. Auf dem Bahnhof brannten zuckend ein paar Laternen, gepeitscht vom Sturmwind. Niemand stieg aus, niemand ein, an der Maschine rauschte das Wasser. Plötzlich schreckte Konrad auf, er hatte draußen seinen Namen rufen gehört. Dort an der Wand stand eine schwarze Gestalt, die rief laut, wenn in dem Zuge ein hochwürdiger Herr namens Konrad sei, so möge er auf einen Augenblick ins Freie kommen.

Fast unwillkürlich erhob sich der Genannte und stieg aus. Die schwarze Gestalt faßte ihn an der Hand, zerrte [101] ihn heftig in den Hintergrund durch das Tor, stieß ihn in einen bereitstehenden Wagen, die Tür schlug zu, und die Rosse trabten dahin durch Nacht und Wind.

Als Konrad zu sich kam, merkte er wohl, daß er an Seite der Frau Johanna von Martenstein saß.

»Schon das zweitemal,« sagte diese, »führe ich dich so im Wagen heim.«

»Ich bin verloren,« hauchte Konrad.

Von den Füßen der Pferde sprühten Funken, aus den Nüstern der Pferde stoben Flammen, fast so war es bei den grelleuchtenden Blitzen zu sehen.

»Wir fahren in die Hölle!« stöhnte Konrad.

»Drein gesaust, Kutscher!« rief Frau Johanna, ihre Arme ungeduldig in die Luft hinausstoßend: da flogen die Felsen, die Bäume, die fahlen Strünke vorüber wie Nebelgebilde im Sturm. Aufrecht stand der Kutscher und stach mit den Augen auf den wilden Pfad hin. Ein blendender Blitz, ein Knall, daß die Grundfesten bebten, da sprang von einem Steine geschnellt der Wagen empor, der Kutscher war hingeschleudert, und die Pferde rasten entfesselt dahin.

»Sterben!« sagte Konrad.

»Leben!« rief Frau Johanna, aber das wüste Gefährte toste leitlos, weglos hin und einem Abgrunde zu, in dessen Tiefe gelbe Nebel wallten. Bei dem roten Scheine einer in den Himmel emporwabernden Fichte sahen sie das Verderben, dem sie nahten.

»Sterben!« wimmerte jetzt Frau Johanna.

»Leben!« schrie der Jüngling, sprang jäh auf den Bock, erfaßte den Leitriemen und riß mit übermenschlicher Kraft die Rosse zurück. Diese standen.

Mit einem Tone, in welchem Entzücken und Ehrfurcht [102] lag, sagte Frau Johanna zu Konrad: »Mich gereut es nicht, daß ich dich hole, du bist ein Mann.«

Endlich kam der Kutscher nachgehinkt, um seinen Platz wieder zu besteigen. Vom Himmel goß unendlicher Regen.

Zur Stunde des Morgengrauens, als der Wagen in den Burghof von Martenstein gerollt war, als Konrad in seinem wohlbekannten, trauten Zimmer saß, belehrte ihn die glutvolle Umarmung der Schloßfrau, welch eine Wendung sein Leben genommen hatte. Und nun zeigte es sich auch, daß dieser junge Mensch nichts weniger war als ein ausgebrannter Vulkan.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Frau Johanna von Martenstein in ihre Gemächer wankte, dort in die Kissen sank und weinte. – Also mußte es geschehen! Seit Jahren hatte es in ihr gerufen: Laß ihn nicht von dir! Und seit Jahren hatte sie die Frömmigkeit gemahnt: Weihe ihn dem Herrn! Sie hatte sich beherrscht, hatte ihn hingegeben. Und nun, als er dem Herrn geweiht war, raubte sie ihn aus seinem Tempel. Was einst ein Vergehen gewesen wäre, das hatte sie reifen lassen zur Sünde. – Was soll jetzt werden? Wird dieser Frevel Gottes Gnade finden? Vielleicht. Nie aber die der Kirche, nie die der Gesellschaft.

Zur späten Stunde desselben Tages trat Frau Johanna von Martenstein vor den jungen Mann und sagte: »Konrad, wir haben unser Geschick beschlossen und den Schlüssel ins Meer geworfen. – Vor einiger Zeit hat jemand angefragt, ob Martenstein verkäuflich sei. Wohl, ich verkaufe alles, hier ist nicht mehr unseres Bleibens. Du solltest nach dem Osten, nun gehe mit mir nach dem Westen. In einer vorurteilsloseren Welt wollen wir unser Haus gründen. Ist es dir also recht?«

[103]

»Wie kannst du fragen?« versetzte Konrad.

»Weil du nun der Herr bist,« antwortete sie.

Er sagte nichts mehr, um so mehr sprach sein erwachter Blick. Ein ernster Stolz, eine frisch auflodernde Daseinslust war in dem Wesen des jungen Mannes, dem die Frau in der Vollreife des Lebens sich gern unterwarf für alle ihre Zukunft.

Wenige Wochen später befand das Paar sich auf dem großen Ozeandampfer »Poseidon«.


[104]

Aus dem Tagebuch einer Ehefrau.

Graz, am 7. April 18**

Ich heirate ihn. Meiner Mama zu Trotz heirate ich ihn. Cousin Karl lacht mich aus und Mama sagt, am Ende nähme mich auch der nicht, ich bekäme gar keinen. Karl sagt, ich bekäme jeden. Mama ärgert sich, daß er Professor der Philosophie ist, ja sogar – wenn er seinen Titel zeigen wollte, aber er will das nicht – Ritter von! Das macht alle ihre Prophezeiungen von meiner Taugenichtsigkeit zuschanden und ich will in der schönen Villa am Rosenberge die Hausfrau sein.

Er ist genau zweimal so alt als Karl, ich habe ihn auch zweimal so lieb. Lieben muß eine brave Frau ihren Mann, das weiß ich schon, und ich will eine brave Frau werden, gerade der Stiefmutter zu Trotz, weil sie immer sagt, sie beweine den Mann, der mich nimmt.

Sie mag's tun und er soll sie belachen, das will ich.

10. April.

Heute war die Verlobung. Mama hat wirklich dabei geweint, aber vor Freuden und über mein Glück, wie sie laut sagte. Es ist auch eins. Ich weiß gar nicht wie mir ist, so als ob ich in den Lüften schwebte, und alles beweist mir Ehrerbietung, und die ganze Welt, so ist mir, wendet sich ringsum auf mich her und alle Bäume, alle Sträucher, an denen wir beim Nachhausegehen vorbeikamen, flüsterten einander zu: Sie ist Braut.

Ich werde es aber nicht lange sein. Mama behauptet, ich zähle im Traume schon die Tage, bis ich einen Mann hätte. Mein Onkel sagte mir scherzend: »Bleibe so lange [105] Braut als möglich, heirate sobald als möglich. Der Ehestand ist am schönsten von vorne, der Brautstand von hinten.« – So etwas Unverständiges kann nur der gute Onkel sagen.

Gottlob, daß ich Braut bin!

30. April.

Gestern war's. Aber gestern war ich unfähig, auch nur ein Wort zu schreiben.

Heute will ich's denn, ich kann das Geheimnis nicht in mir verschließen, ich kann nicht. Das Papier will ich ja dann verbrennen.

Mein Bräutigam richtet die Villa neu ein, ich hörte, daß er in meinem künftigen Boudoir ein Fenster ausbrechen lasse gegen Mariatrost hin, weil er weiß, daß mir dieser Blick so lieb ist. Ich bin mit Mama und dem Cousin Karl sehr oft in Mariatrost gewesen; aber wenn ich vom Walde auf das weiße Haus am Rosenberg herübergeblickt hatte, wie hätte ich denken können, daß es einmal mein sein sollte!

Ich war begierig, die neue Wohnung zu sehen und wollte gestern meinen Bräutigam überraschen. Er war aber nicht zu Hause, er hatte Vorlesung auf der Universität. Ich fand die weißbeklecksten Maurer, die dummen Tapezierer, die auf ihren Leitern standen und nicht einmal grüßten. Ich wünschte, daß es heimlicher würde in diesem Hause und verließ es bald. In der Panoramagasse begegnete mir der Cousin. Ganz zufällig war er spazieren gegangen gegen Mariagrün hin und lud mich ein, ihn zu begleiten. Ich ging gerne mit ihm, aber er war sehr langweilig, riß im Vorbeigehen Blätter von den Bäumen und warf sie wieder weg.

Als wir zum Kirchlein kamen, war mir weich zumute und ich sagte, wir wollten doch hineingehen und die Mutter Maria grüßen.

[106]

Karl antwortete, er habe sie schon oft gegrüßt, sie hätte ihm aber niemals gedankt. Er sei arm, verlassen, von niemandem geliebt. Ich bat ihn, daß er nicht so reden möge, und vielleicht, daß ihm die Mutter Maria heute danke. Ich sagte das, weil er mir leid tat und weil ich einen Spaß machen wollte und endlich auch, weil ich wirklich immer ein großes Vertrauen hatte zu Mariagrün.

Wir gingen aber an der Kirche vorüber und durch den Wald hinauf. Er wollte noch nicht sprechen und als ich ihn von der Seite heimlich anblicke, sehe ich, daß sein Auge voll Wasser steht. Mir wollte das Erbarmen mein Herz zerdrücken. Ich ärgerte mich, daß mir gar kein Wort einfiel, ihn zu trösten. Wenn er nur zu Hause bei uns wäre, dachte ich, unter Leuten macht er ja seine lustigen Glossen, daß alles lacht.

Da ist es plötzlich. Er reißt mich an sich und küßt mich so heftig, daß ich vor Schreck ohnmächtig werden mußte …

Wir sind spät nach Hause gegangen.

Jedes allein.

30. Juni.

Die Hochzeit ist vorüber; sie war in der Domkirche, einfach und würdig. Ich hätte aber vermutet, es würden mehr Leute in der Kirche anwesend sein. Mir sei beim Heiraten alles Aufsehen zuwider, hatte ich gesagt, aber geheim wäre mir doch um Zuschauer zu tun gewesen. Mama war zärtlich mit mir, wie vorher noch nie; ich hätte mir nicht träumen lassen, daß mir der Abschied von ihr so schmerzlich fallen würde.

Als mich mein Mann – ach, mein Mann! – durch unsere neue Wohnung führte, war mir sehr bange und wußte ich nicht, was ich sagen sollte, um meine Beklemmung zu [107] erleichtern. Ich hatte einen unverstehbaren Drang, als müßte ich etwas sagen, was mir oder ihm weh täte. So sagte ich, daß ich nur eines fürchte in diesem Haus: Die Gegenwart seiner verstorbenen Frau. Ich sei maßlos eifersüchtig.

Er lächelte und meinte, besser, die zwanzigjährige Frau sei es, als der vierundvierzigjährige Mann habe Anlaß dazu. Dann gab er mir den Schlüssel zu einem kleinen Zimmer und sagte, das Zimmer sollte mein Brautgeschenk sein, mein ganz allein, er wolle es nimmer betreten und nicht mehr wissen, daß es auf der Welt sei.

Während er mit dem Hausmeister sprach über das, was bei unserer Abwesenheit zu geschehen hat, öffnete ich das Zimmer, denn ich war sehr begierig auf die Brautgabe. Im Zimmer befanden sich alle Gegenstände von der ersten Frau, von ihrem Ölbilde an bis zum Hochzeitsschmuck, ihr Schreibtisch, ihre Kleider, ihr Toilettenkasten, die kleine Wiege mit dem blauseidenen Vorhang, die nicht verwendet worden ist. – Das alles! Und es war mein Eigentum, ich konnte es vernichten.

Als mein Mann zu mir zurückkam, fragte er in seiner gütigen Weise, warum ich weine?

»Wie lange ist es, daß sie nicht mehr lebt?« so mußte ich fragen.

Ich hätte fast gewünscht, daß er entgegenfragen möchte, von wem ich spreche, aber er sagte nur: »Seit du lebst, Juliana, ist sie nicht. Du wirst gesehen haben, wie alles schon verblaßt ist. Dein Geburtsjahr ist ihr Sterbejahr gewesen.«

Nun sitze ich im Zimmer des Hotels. Mein Mann erkundigt sich beim Portier nach dem morgigen Wagen auf [108] den Bahnhof. Ich solle mich um gar nichts kümmern, ich soll nur die schöne Welt genießen.

Wenn nur schon morgen wäre!

16. Juli.

Wir sind von der Hochzeitsreise zurückgekehrt. Es waren herrliche Tage. Ich habe mich während derselben in meinen Mann verliebt. Das ist ein goldener Mann und kann scherzen wie ein zwanzigjähriger Student.

»Ei geh', Ludwig!« verwies ich ihn einmal neckend, »ein Professor der Philosophie und so übermütig!«

Was ich mir unter Philosophie denn eigentlich vorstellte, war seine Frage, wenn nicht die Lehre vom heiteren Genuß der lieben Welt?

Ich könnte damit einverstanden sein – aber für mein Unglück gibt es keine Philosophie.

1. August.

Keine Fürstin kann's so haben als ich. Draußen die paradiesische Landschaft mit der schönen Stadt im Tale. Im Hause die frohe Umgebung, in meinem Gemach der stille Frieden – in mir die Pein.

Wie Wochen sind mir die Stunden, da Ludwig nicht bei mir ist, und wie zittere ich, wenn er bei mir ist! Er ist jetzt in den Ferien Bauer, Gärtner und Jäger und immer munter, immer gut und liebevoll. Gar nie tritt er ins Zimmer, ohne mir eine Blume, eine Knospe mitzubringen, er ziert damit mein Haar, meinen Busen, tritt dann zwei Schritte zurück und schaut fröhlich her, wie es mir passe. Gestern abends, da wir beisammen im Garten standen vor einem Strauche junger Herbstrosen, nahm er mich an beiden Händen, schaute mir mit feuchtem, leuchtendem Auge ins Gesicht und sagte: »Juliana, ich danke dir! Ich danke dir, daß du mein bist!«

[109]

Einen Stich gab's mir im Herzen, ich wankte ins Haus.

Ich liebe ihn! Ich liebe ihn so heiß, daß ich den Frevel nicht begreifen kann, wie ich einst sagte: bloß Mama zum Trotz.

4. August.

Es wird nicht anders. Es ist fürchterlich!

11. September.

Heute ging Karl vorbei und blickte zu meinem Fenster herauf. Kaum konnte ich mich noch verbergen, daß er mich nicht sah. Ich weiß nicht, was größer ist, mein Haß gegen ihn oder meine Verachtung gegen mich.

30. September.

Heute fand Ludwig, daß die Haustreppe für mich zu steil sei und will sie flacher legen lassen. Ich beschwor ihn, daß es nicht der Fall ist. Zum mindesten belegt er sie mit Teppichen, daß es meine Füße recht sanft haben sollen.

Wie er strahlt vor Glück, wenn er mir etwas Liebes erweisen kann! Mein ganzer Tag, meine ganze Existenz ist lautere Liebe von ihm.

Mama kommt mit ihren Ratschlägen, die mir zuwider sind, ich will nur ihn hören – und daß ich's tue, zu tun vermag, ist eine Schmach für mich.

Ihm gesteh –? Es ist unmöglich! Unmöglich!

9. Oktober.

Seine Studenten lieben ihn auch. Sie haben ihm gestern zu seinem Geburtstage einen Fackelzug gebracht.

»Der gilt dir!« jubelte er mir heimlich zu, »es ist ja der erste, den sie mir bringen.«

[110]

Zum Fenster rief er hinab: »Ihr jungen Freunde! Mein Leben ist licht geworden. Opfert den Göttern, daß ich demütig bleibe!«

»Ludwig,« sagte ich später zu ihm, da wir allein waren, »Philosophen pflegen sonst dem Glücke nicht sehr zu trauen. Ich kann nicht so zuversichtlich sein.«

Nach einer Weile habe ich beigesetzt: »Du hast nur einen einzigen Fehler, lieber Mann. Daß du so gar nicht eifersüchtig bist.«

»Diese Bemerkung,« sagte er darauf, »beweist, daß ich ganz recht habe, es nicht zu sein.«

Ich las einmal, daß es Frauen gibt, die ihre Männer nicht allein mit Eifersucht quälen, nicht allein hintergehen, sondern sie auch eifersüchtig haben wollen. Bei Gott, von diesen bin ich doch keine. Wie könnte ich glücklich sein, über sein Vertrauen!

12. Oktober.

Heute sind wir in die Stadt gezogen. Ich sehe von meinen Fenstern aus die schönen Alleen des Glacis und den Schloßberg. Die herbstlichen Schattierungen der Bäume sind gar zu schön. Seit ich diesen Mann habe und seinen Gesprächen lauschen kann, gehen mir erst die Augen auf für allerlei, das mir sonst gleichgültig gewesen ist. Wie könnte ich es genießen!

Er hat mit dem Inspektor des Hauses einen förmlichen Pakt geschlossen, daß der Mann jeden Lärm möglichst hintanhalte und wie ein Engel mit flammendem Schwerte unser Paradies bewache. Und doch ahnt er es nicht, wie nahe die Zeit ist.

Hat er jemals so viel an seine erste Frau denken können, als ich es tue? Alle Sachen von ihr, alle Erinnerungen an sie habe ich in das Stadthaus mitgenommen, hier damit ein [111] Zimmer eingerichtet, das wie meine Hauskapelle ist. Wenn mir gar zu schwer wird um's Herz und ich trotz des geliebtesten Menschen, der mit mir lebt, nicht weiß, wem ich meine Angst und Not klagen soll, gehe ich in das Zimmer der Verstorbenen und weine mich aus.

Und bete, sie möchte mich dahin rufen, wie sie dahin gerufen worden ist. Sie hat die Wiege bereitet, die Linnen gestickt mit Freuden – sie hätte gerne gelebt mit diesem Mann.

Ich kann nichts bereiten und Ludwig wird sich darüber wundern. Ich kann nicht, ich habe es versucht – es ist, als stickte und webte ich an der Sünde weiter.

Darf ich denn wünschen, daß es aus werde mit mir, da ich doch weiß, es könnte ihn nichts so hart treffen auf Erden?

Ach, wenn ich ihn nicht so sehr liebte! Wenn er nur nicht so unsäglich gut wäre!

25. Dezember.

Das war ein trauriger Christabend.

Ludwig überschüttete mich mit Gaben, mich und das Kind, als ob es schon da wäre und spielen und jubeln könne. Und er saß in der dunklen Ecke des Zimmers und sagte kein Wort, sondern verdeckte sein Gesicht mit den Händen. Ich wußte nicht, was es war, und der Christbaum gab einen Schein, wie die Lichter an einer Bahre.

Ich wagte nicht, ihn zu fragen nach seinem plötzlichen Kummer, denn ich glaubte, daß er nun alles wisse. Aber es war doch was anderes, denn endlich stand er auf, trat zu mir heran, die ich allein am Tische des Baumes gesessen war, und küßte mich so herzlich und treu, daß es nicht zu beschreiben ist.

[112]

28. Dezember.

Er ist nicht, wie er sonst war.

Er ist liebreich und gütig gegen mich wie immer, aber er ist nicht so heiter. Er ist zerstreut, ist viel an seinem Arbeitstische, arbeitet aber nicht, sondern schaut mit aufgestütztem Haupte nur so vor sich hin.

Er muß einen Kummer haben. Hundertmal wollte ich ihn schon fragen, was es sei, aber ich kann nicht, ich vermag's nicht, ich weiß nicht warum. Wüßte er etwas, wie könnte er so herzlich mit mir sein, es wäre ja nicht möglich.

30. Dezember.

Er ahnt doch etwas. Heute sprach er davon, daß es Zeit sein dürfte, das Wochenzimmer zu bereiten.

1. Januar 18**

Er ahnt nichts. Wir haben in der Nacht die zwölfte Stunde wachend erwartet.

»Ich segne dich, du vergangenes Jahr,« sagte er, »du hast mir mein Menschentum verzweifacht. Und ich segne dich, du kommendes Jahr, du wirst es verdreifachen.«

Er ist wieder heiter und voll Zuversicht.

5. Januar.

Ich wüßte keine andere Pein, die so höllisch sein könnte, als die meinige ist. Den Menschen, den man über alles liebt, dem man alles verdankt, ohne den man nicht mehr leben könnte, mit jedem Tage neuerdings täuschen und betrügen zu müssen.

Ihm gestehen? Nein, nein, eher soll er mich im Sarge sehen.

O unseliges Kind! Wie ich dich hasse, jetzt schon. Das einzige, was die Mutterliebe für dich tun kann, daß sie [113] betet, du mögest das Tageslicht nimmer erblicken. Erscheinst du mir tot, ach, wie werde ich dich lieben und dankbar küssen und jubelnd begraben! O, Mutter Maria, ich rufe dich an! Mein Herz ist zum Zerspringen so schwer. Wenn ich dieses Büchlein nicht hätte! Alles in mich könnte ich nicht verschließen.

13. Januar.

Der Gedanke verläßt mich nicht, o Gott! Es wäre ja zu unser aller Besten. Mein Fehltritt gebüßt, kein fremdes Wesen zwischen uns. In der Ehe Harmonie und Frieden nach Gottes Willen. Wie kann etwas, das so zum Guten führt, ein Verbrechen sein?

Wenn ich nur mit ihm darüber sprechen könnte, wie über ein Fremdes, so daß ich seine Meinung wüßte für solchen Fall. Einmal hat er gesagt: Den Gott am meisten liebet, den nimmt er als Kind zu sich.

17. Januar.

So bin ich vor mir selbst nicht mehr sicher. Heute morgens fragte mich Ludwig, woher ich denn plötzlich das Tigerherz genommen? Ich hätte in der Nacht vom Erwürgen gesprochen.

Er mußte merken, wie ich erschrak, denn er sagte sogleich: »Wenn die Frauen so schlimm wären, als ihre Träume – besonders in solcher Zeit! Der Traum ist das Ventil, durch das sich die Laster der tugendhaften Frau austoben.«

Gott wolle, es wäre so!

25. Januar.

Es ist merkwürdig, wie ich seine erste Frau, die ich anfangs als meine größte Feindin betrachtet habe, nun ganz zu meiner Vertrauten mache. Wie sehr sie ihn geliebt hat, [114] er spricht auch nicht ein Wort darüber, aber tausend Spuren geben davon noch Zeugnis.

O weise mich, seliger Geist, wie ich dich ihm würdig ersetzen kann!

10. Februar.

Heute bin ich das erstemal aus dem Bette. Im Nebenzimmer schläft es.

Ludwig war über die Frühgeburt nicht besonders überrascht. Es ist auch gar zu klein.

Wenn er vom Kollegium nach Hause kommt, setzt er sich an's Bettlein und schaut es an. Ich habe immer gehört, es spreche das Blut, das muß doch nicht so sein. Er liebt es.

Wenn ich jetzt denke an meine Gedanken! Solches nur denken zu können!

Das Kind ist so arm, daß ich weinen muß, sooft ich es anblicke. Ich soll ruhen und schlafen, ich kann nicht, ich denke an das Kind immer und immer. Liebe ich es? Das wäre Untreue gegen den, der mir in meinen schweren Stunden wieder bewiesen hat, daß er mir alles ist, daß ich ihm alles bin. Er weinte und lachte, als es geboren war.

– – Sieben Monate! Wäre das nicht möglich? Wenn der Junimond nicht ausgeblieben wäre!

Er kommt.

12. Februar.

Und so soll es nun fortgehen? Das Geheimnis soll bleiben und ich soll ihn betrügen bis ans Lebensende?

Das sei nicht. Das sei nimmer.

Gut kann es sich nicht lösen – aber es löst sich, ich weiß einen Ausweg. Da das Kind nicht hier bleiben darf und ich ohne es nicht sein kann, so muß ich mit ihm fort. Nach Wien, zur Schwester meiner Mutter. Von der Ferne werde ich ihm alles schreiben und die Form finden, die ihm [115] am wenigsten weh tut. Ludwig ist nicht allein im Hörsaal Philosoph, er wird sich zurechtfinden. Hat er den Verlust des treuen Weibes ertragen können, so wird ihn der des falschen nicht zu Boden drücken. Habe ich sein Andenken an die erste Frau unterbrochen, so wird es nach meiner Flucht – es soll nichts von mir zurückbleiben – wieder erwachen und er wird nicht verlassen sein.

20. Februar.

Ein Schreiben wollt' ich ihm zurücklassen, daß ich ihn bis zu meinem Tode lieben werde, daß ich von ihm gehe, weil ich seiner nicht wert wäre.

Ich darf es nicht, ich darf diesen Brief, in den ich mein Leid gelegt habe, nicht an ihn gelangen lassen, das würde den Schmerz nur steigern. Ich will ohne alles, so wie eine Undankbare, eine Unwürdige geht, so will ich davongehen.

Seine Verachtung gegen mich soll ihn retten und mich strafen, wie ich es verdiene. O mein Gott!

3. März.

Ludwig ist mit einer kleinen Gesellschaft von Historikern auf einige Tage nach Cilli und Pettau gegangen, um dortige Römerdenkmale zu besichtigen.

Er war sehr munter und sagte zu mir beim Abschied, ich sollte ihm nur recht den kleinen Ludwig hüten.

Ich will nicht d'ran denken, will stark bleiben, ich habe viel zu vollbringen.

Bei dem Packen sehe ich erst, wie wenig ich in dieses Haus gebracht habe, und wie viel von ihm empfangen.

Der Dienerschaft sage ich, es sei verabredet, daß ich der Luftveränderung wegen auf einige Wochen nach Wien gehen werde.

Also heute nachmittags vier Uhr in Gottesnamen!

[116]

6. März.

Nun ist es so gekommen!

Ich zittere jetzt noch, da ich es schreibe. Wozu schreibe ich es nur, ich sage ihm ja alles und darf es sagen, o Glück!

Ich habe ihn geliebt, jetzt bete ich ihn an und den Nachkommen schreibe ich es entgegen: er ist anbetungswürdig!

Jetzt weiß ich erst, was das ist: ein Mensch! Er hätte mich göttlicher nicht strafen, herrlicher nicht demütigen können und erheben zugleich, als er es getan hat. –

Das Kind dicht eingehüllt am Arm, so floh ich wie eine Diebin. Der Wagen stand vor dem Tore; über die Aufregung vergaß ich des Schmerzes, der mich schrecklich gequält hatte die Nacht und den ganzen Tag hindurch.

Am Tore steht Ludwig und fragt den Kutscher, wer wegfahre. Dieser deutet auf mich, die ich hastig aus dem Hause trete.

»Was ist das, Juliana?« ruft Ludwig.

Mir ist zum Zusammenbrechen, er stützt mich und bringt mich und das Kind zurück in die Wohnung.

»Du wolltest – mir entgegenfahren, mein Herz?« fragte er, »konntest es nicht wissen, daß wir die Reise um einen Tag abgekürzt haben.«

»Ludwig,« sprach ich und mir wollte der Atem versagen, »laß mich rasten, mir ist schlimm zum Sterben. Es wird bald besser sein. Ich will dir dann was sagen.«

Er führte mich voll zärtlicher Sorgfalt auf mein Zimmer und schloß die Tür ab.

»Daran tust du wohl, Ludwig,« sagte ich, dann fiel ich vor ihm auf die Knie.

Ich habe ihm alles gesagt – alles.

Er hörte es. Sein Blick war traurig, aber blieb liebevoll. [117] Er hob mich auf und setzte sich neben mich, er war blaß, und seine Hand, mit der er die meinige hielt, zitterte.

»Juliana,« sagte er, »diese Stunde mußte kommen, ich habe sie ersehnt, ich habe sie gefürchtet. Gerne möchte ich dir die Qual mildern, vielleicht dadurch, daß ich dir sage: Ich wußte es schon, wußte es seit dem Christabend.«

So viel sprach er, dann stand er auf und ging einige Male das Zimmer auf und ab. Hierauf setzte er sich wieder und sagte: »Ich fand an jenem Tage auf deinem Arbeitstischchen das kleine Notizbuch liegen; es hätte meinetwegen immer dort liegen können, ich sah es nur diesmal, da ich etwas suchte, um dir ein kleines Gedicht einzuschmuggeln, einen Gruß dem Nahenden, der uns das nächstjährige Christfest feiern helfen soll. Ich pflege nicht indiskret zu sein, aber als ich das Büchlein aufschlug, sprang mir ein Wort in's Auge, das mir sofort deine nächtlichen Träume und Ausrufe in Erinnerung brachte. Ich mußte lesen, denn es war ein Sturm in mir, den ich beschwören wollte mit deinen Aufzeichnungen. Aber kein Wort gab mir den Frieden zurück und ich las alles.«

»Und hast uns nicht verstoßen und hast uns lieben können!« rief ich aus.

»Die Ehebrecherin hätte ich verstoßen,« sagte er ruhig, »Dein Fehltritt war vor dem Tage, da wir uns die Treue geschworen. Ich entschuldige nichts, denn daß es eine große Schuld war, beweist das Leid, welches sie in dein Herz warf.«

»Und das Kind?«

»Ist unser. Ich gestehe dir wohl, es war eine schwere Betrübnis in mir, da mich die Tatsache so plötzlich überrascht hatte; aber als ich des Gemeinen Herr wurde und die Wahrheit fand, da war ich zufrieden. Es ist mein Kind, wie es das deine ist, denn in unseren Armen ruht es, [118] durch unsere Fürsorge wird es gedeihen, durch unser Herz wird das seine genährt und erweckt, durch unser Vorbild wird es uns ähnlich an Seele und Leib. Es wird uns und nur uns lieben und nichts anderes wissen. Nicht der Augenblick ist mir der höchste, welcher der niedrigste ist und mir möglicherweise vom Kind einst zum Vorwurf gemacht werden kann. Nicht wer das Menschenkind erzeugt, ist sein Vater, sondern wer es erzieht. Diesem nur hat es zu danken, denn dieser machte es zum Menschen, diesen nur kann es lieben. Kein tierisches Band ist es, das mich an unsern Ludwig fesselt, ethische, menschliche Beziehungen sind es, und wenn der Himmel den lieben Kleinen beschützt, so wirst du sehen, daß keines andern, daß mein Wesen verjüngt aus ihm hervorgeht. Auch uns verknüpfen dann unlösliche Bande der Natur, aber solche besserer Art, und der nur kann mir mein Anrecht streitig machen, der mir beweist, daß je ein leiblicher Vater sein Kind so teuer erkauft hat, als ich das meine.«

In diesem Sinne hat er gesprochen. Ich wimmerte zu seinen Füßen, dann an seiner Brust.

»Jedoch ein ernstes Wort,« so fuhr er fort, »habe ich mit dir zu sprechen, Juliana, deiner geplanten Flucht wegen. Ich erwäge die Gründe, die dich dazu bewogen haben, sie mögen gewichtig sein oder dir so geschienen haben. Aber ich hätte von dir so viele Kenntnis meines Wesens und Charakters erwartet, durch die du wissen solltest, daß unter allen Umständen ein vertrauensvolles Bekenntnis das Beste gewesen wäre. Ich habe dieses Bekenntnis von dir fast bestimmt noch vor der Geburt des Kindes erwartet; es hätte dir Beruhigung und Mut gebracht, es hätte dich meinem Herzen womöglich noch näher gebracht, schon durch das Mitleid mit der Reuigen und durch den Vorteil, verzeihen zu können. Wie, wenn du in den Wochen hättest sterben müssen, [119] gepeinigt von dem Gewissen, und ohne von mir den Beweis der wahren Liebe, den ich heute erbringen kann, hören zu können! Das alles war nicht, aber verlassen wolltest du mich heimlich, uns drei in ein Elend stürzen, wie ein größeres kaum zu denken ist. Diese Untreue, meine Juliana, ist mir noch schmerzlicher, als die erste es war …«

An all das kann ich mich noch erinnern, daß er's gesagt hatte, dann weiß ich nicht mehr, was mit mir geschah. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bette, der Arzt stand neben mir und zu meinen Häupten Ludwig, der mir mit einem kühlen Tuch die Stirne trocknete.

Ich legte den Arm um seinen Nacken, und sein liebes Haupt beugte sich nieder auf mein Gesicht, und auf meine Stirne fiel eine warme Träne …


Als ein letztes Siegel der Reue und der Treue, ja sozusagen als eine Votivtafel zur Danksagung für ein so seltsamerweise gefundenes Eheglück fühlte sich die Frau Professorin veranlaßt, diese Tagebuchblätter – mit Hinweglassung der persönlichen Merkmale und Erkennungszeichen – zu veröffentlichen.

Ich, der ich dieses zu vermitteln übernahm, habe nur zwei Bedenken: als erstes, ob die Skrupel der Frau, als zweites, ob die Philosophie des Mannes wohl das richtige Verständnis finden werden?


[120]

Die Kokette.

Du sprichst von koketten Frauen, junger Freund, wie ein Blinder von der Farbe. Kokett nennst du es, wenn eine Dame durch auffallende Farben, Bewegungen, Blicke die Augen der Männer auf sich zu lenken sucht. Kokett nennst du sie, wenn sie sich ein wenig vordrängt und ein wenig versteckt, wenn sie ein wenig dreist ist und ein wenig erröten kann, wenn sie ein wenig anzieht und ein wenig abstößt und so die Herzen der Männer bearbeitet, bis sie Feuer geben, und wenn der Mann für sie lichterloh entbrennt, sie geneigt ist, die Glut regelrecht zu dämpfen. Das ist ja alles nett und kokett und verläuft auf das Anmutigste.

Ich kenne eine andere Koketterie, mein Junge, und will dir erzählen; willst du keine Lehre daraus ziehen, so magst du dich wenigstens für klüger halten, als ich war – und das wird dir sicherlich ein großes Vergnügen sein.

Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich mich als Student eine Zeitlang mit Unterrichtgeben in der Stenographie fortgeholfen hätte. Also gewann ich auch durch Vermittlung eines Bekannten wöchentlich zwei Stunden bei einer Dame Stachari. Es war eine blasse, schwarzhaarige und großäugige Dame, die stets in schwarzem Seidenanzuge war und am Busen eine Kamelie oder eine rote Rose stecken hatte. Sie konnte nicht älter als vierundzwanzig Jahre sein, ich wußte nicht, ob sie vermählt war oder ledig; das alte Stubenmädchen erwähnte mehrmals des »Herrn«, den ich aber nie zu Gesichte bekam. Die Wohnung bestand aus drei Zimmern, die sehr luxuriös eingerichtet waren. Zumeist herrschte in ihnen ein künstlich hergestelltes Dunkel [121] und ein betäubender Blumenduft. Die Blumen und ihr Duft, so behauptete sie, seien ihr Licht, ihre Luft, ihre Nahrung, ihre Liebe, ihr Traum, ihre Seligkeit. Was den Männern der Wein, der Tabak, das Opium sei, das wäre ihr die Blume; was den Männern das Spiel, die Gefahr, das Weib sei, das wäre ihr die Blume. Die Blume sei das einzige Wesen auf der Erde, von dem sie nichts Schlimmes erfahren, nicht enttäuscht worden wäre.

Nun hätte ich für mein Leben gern gewußt, was die junge Dame schon für Schicksale gehabt und worin die Enttäuschungen bestanden; natürlich wagte ich nicht zu fragen und sie berührte ihre Vergangenheit, ihre persönlichen Verhältnisse mit keiner Silbe.

Nachmittags von fünf bis sechs Uhr hatten wir den stenographischen Unterricht; ich wußte aber nicht, zu welchem Zwecke sie die Schnellschreibekunst erlernen wollte, einmal nur äußerte sie, solche mache ihr Spaß und sei ein netter Zeitvertreib, während ich immer der Meinung gewesen, die Stenographie sei Zeitersparnis. Indes ging ihr die Sache doch nicht recht von der Hand; mehrmals legte sie schon in der ersten Hälfte der Stunde den Stift weg, lehnte sich in den Sessel zurück und machte den Vorschlag, lieber ein bißchen zu plaudern. Nun wußte ich über nichts eigentlich zu plaudern, als über Gabelsberger, denn ich war ein ganz unerfahrener Mensch, der bisher in Gesellschaft sich stets bescheidener Schweigsamkeit beflissen hatte. In erster Zeit hatte mich sogar die Ansprache verlegen gemacht: ich nannte sie gnädige Frau, sie widersprach nicht, doch ahnte ich bald die Unschicklichkeit dieser würdigen Ansprache, denn die Dame kam mir manchmal sehr jung vor und ich nannte sie endlich »mein Fräulein«. Manchmal schlug sie Heines Buch der Lieder auf, fragte mich, welche Gedichte mir am [122] besten gefielen und las wohl selbst eines oder das andere, wobei sie manchmal seufzte und schwermütig ward.

Als es in den Spätherbst hineinging, wollte uns der Tag nicht mehr leuchten zu unserem Schreibunterrichte, da wurde die Lampe angezündet, die einen roten Schirm aus Seidenpapier hatte, so daß die Schreibeblätter und die Hände und die Wangen einen rosenglühenden Schein gaben. Manchmal zitterte im Schreiben ihre Hand ein wenig und sie bat mich, daß ich sie führe, was aber durchaus nicht nach der Schnellschreiberegel ist. – Zwei Minuten nach Ablauf der Stunde pflegte ich aufzustehen, mich vor meiner Schülerin zu verneigen und davonzugehen. Bei solchem Fortgehen kam ich mir sehr einfältig vor und ich ärgerte mich nachher, daß ich nicht artiger gewesen war gegen das liebenswürdige Fräulein. Das böse Gewissen ließ mich deswegen oft halbe Nächte lang nicht schlafen und ich nahm mir fest vor, das nächste Mal sachgemäßer zu handeln. Als ich jedoch das nächste Mal wieder neben ihr saß, wieder die stille Lampe brannte, wieder ein Heinesches Gedicht gehaucht wurde, war ich eben gerade wieder so blöde, sehnte mir insgeheim den Verlauf der Stunde herbei und als sie vorüber war, zögerte es doch in mir, ob ich schon gehen oder meine Schülerin noch ein bißchen nachsitzen lassen solle.

Eines Abends im Dezember machte mir das Fräulein die etwas überraschende Mitteilung, daß sie auf unbestimmte Zeit verreisen werde und daher den stenographischen Unterricht leider unterbrechen müsse. Sie händigte mir die Hälfte des ausbedungenen Honorars ein, die andere Hälfte stellte sie mir in Aussicht nach ihrer Rückkehr. Beim Abschiede teilte sie mir errötend mit, daß sie sich von mir eine Gunst ausbitten wolle – ein Andenken von mir – eine ganz kleine Haarlocke.

[123]

Was sie an einer Haarlocke habe? fragte ich, die Sache ins Scherzhafte ziehend, denn ich mußte mein heftig pochendes Herz verdecken. Sie antwortete, das wisse sie schon und schnitt mir unter unsagbar zarten Berührungen vom Nacken links ein Löcklein ab. Nun wären wir gottlob im richtigen Geleise! dachte ich, tat nichts dafür und nichts dagegen, wartend, daß das Glück mir in den Schoß falle. Das Fräulein stand eine Weile sinnend, endlich flüsterte sie: »Also denn – es ist bestimmt, in Gottes Rat!« damit steckte sie mir ein halbaufgeblühtes Rosenknösplein in das Knopfloch. Ich drückte ihr die Hand, wünschte eine glückliche Reise und Wiederkehr und taumelte zur Tür hinaus.

Die qualvolle Zeit, die nun für mich kam, ist nicht nachzuempfinden Ich fühlte mich ganz und gar verwaist, mir war, als hätte ich die einzige Schwester – he, bloß eine Schwester? – verloren. Täglich mehrmals ging ich durch die Gasse und schaute hinauf zu ihren Fenstern, die mit Holzbalken verschlossen waren wie mitten im Sommer. Um Neujahr waren die Fenster plötzlich wieder offen, ich erschrak wonnig. Aber es waren nicht mehr die dunkelroten Gardinen, es waren weiße Spitzenvorhänge, zwischen denselben schaute ein alter schmauchender Weißkopf hervor.

Also dahin für immer!

Die Rosenknospe hielt ich wie ein Heiligtum und legte sie gepreßt in das Etui, in welchem das Bild meiner verstorbenen Mutter war. Von ihr hatte ich kein Bildnis, um so lebhafter baute und malte die Phantasie an ihrer Gestalt, bis sie die Schönste, die Begehrenswerteste war, die je auf Erden gelebt. Hören ließ sie aber nichts von sich und ich wußte nicht, sollte ich meine Gedanken und Sehnsucht nach Osten aussenden oder nach Westen, um sie zu finden.

Übrigens schleifte mich das Leben fort über Kummer [124] und Freude, über Hoffnung und Enttäuschung; mir blieb dabei nur der Vorteil, daß ich älter und reifer wurde. Nach einem halben Jahre war die verreiste Schülerin glücklich verwunden und nach einem Jahre vergessen.

Frauen aber vergessen nicht so leicht. Als ich im zweiten Jahre auf der Universität war, erhielt ich eines Tages ein Paket zugeschickt. Kein Brief und kein Name war dabei. Das Paket kam aus einem böhmischen Orte, dessen Namen ich nicht zu enträtseln vermochte. Es bestand aus einem Buche mit folgendem Titel: »Die Schule der Liebe. Ein Unterricht für junge Männer und Frauen.« Ein Verlagsort war nicht angegeben, hingegen stand an der Stelle desselben mit Bleistift geschrieben: »Dem unvergeßlichen Lehrer die dankbare Schülerin J. St.«

Anfangs stutzte ich. Wo und wann hätte ich in der Liebe Unterricht erteilt! Endlich verfiel ich doch auf die Stenographenstunden mit Fräulein Stachari. Dieses schöne Buch sollte wohl der Rest des Honorars sein. Jedenfalls habe ich mehr aus ihm gelernt, als das Fräulein aus meinem Schnellschreibeunterricht. Als diese gedruckte Schule der Liebe durchgemacht war, kam es mir unbegreiflich vor, daß irgend ein Mensch blöde sein könne. Lebhafter stieg die Erinnerung an die junge schwarze Dame in mir auf, aber nun in ganz neuer Beleuchtung; ich durchsuchte alle Ecken und Ränder des Buches, jedes Blatt, um etwa ganz klein, vielleicht gar in stenographischer Schrift geschrieben, ihre Adresse zu entdecken. Vergeblich. Sie blieb mir unerreichbar und fern in Dunkel gehüllt. Freilich fehlte es nun nicht mehr an anderweitigen Zerstreuungen, doch tat es mir leid, wenn ich an das Fräulein Stachari dachte.

Endlich nahm mein Leben eine andere Richtung. Die Studien waren vollendet, ich gewann an der Universität [125] zu G. eine Privatdozentenstelle. Ich fühlte mich ruhiger und ernster werden und begann mit tieferen Absichten nach dem schönen Geschlechte auszublicken. Eine Advokatentochter war, mit der ich Verkehr anzubahnen suchte. Zur selben Zeit erhielt ich den Brief, welchen ich noch in der Tasche trage.

Prag, am 20. Juni 1884.

»Verehrter Professor!

Wohl kaum darf ich hoffen, daß Sie sich noch erinnern an eine unaufmerksame und störrische Schülerin, welcher Sie stenographischen Unterricht erteilten. Wie saßen wir doch so fromm und dumm beisammen! Ach, lange, lange ist es her! Die Stenographie habe ich gottlob vollständig vergessen, wozu auch hätten wir Frauen den Mund und manchmal sogar einen frisch roten, wenn wir uns nur aufs Schreiben verlegen wollten! Weniger habe ich des jungen Lehrers vergessen, der war stramm wie ein Leutnant und schüchtern wie ein Mädchen in der Fibelklasse. Heute wird wohl das eine noch zutreffen, aber das andere sicherlich nicht mehr. Möglicherweise hat sich auch bei der kleinen Schülerin seither einiges geändert, denn sie lebt in den Jahren, die wie Champagner prickeln. Keine Wirtin, die aller Welt aufwartet mit dem Stengelglase, die aber gern ihrem ehemaligen Lehrer den Labetrunk reichen möchte, falls er ihn von ihrer Hand nähme. Das Leben ist, ach, so flüchtig, und manche Frucht, die in kindischen Jahren sehnsuchtsvoll gesäet worden, reift so spät! Aber nicht zu spät.

Ist Ihnen nie gesagt worden, daß ein junger Professor Reisen machen, die Welt genießen und auch Prag sehen müsse? Ach, so halten Sie sich doch daran! und das Wichtigste ist, daß Sie in Prag sich nach Ihrer Schülerin umsehen und mit ihr einen ganzen Abend lang von alten [126] schönen Zeiten plaudern! Ach, wie wird das hübsch sein! Sie dürfen mit Ihrem Besuche aber durchaus nicht so lange warten, bis Sie ehrwürdig werden. Und damit nicht noch mit dem törichten Schreiben soviel Zeit vergeht, schließe ich rasch; das Weitere ist Ihre Sache.

Ihre

Josefine Stachari.«

Noch ist die genaue Adresse angegeben.

Jetzt war mir etwas eigentümlich zumute. Das ganze nun zur Leidenschaft gesteigerte Fühlen für die geheimnisvolle und doch so offenherzige Dame ward in mir wach. Ich setzte mich hin, schrieb einen Brief, in dem ich mit heftigen Ausdrücken der Ungeduld mein Kommen anzeigte. Der Brief selbst war eine so ungestüme Umarmung, daß ich ihn nach der zweiten Durchsicht zerriß. Der Weg von G. bis Prag ist kein Spaziergang zu einem Stelldichein, aber hatte ich nicht schon seit langem im Sinn, nach dem schönen Dresden, nach dem großen Berlin zu reisen? Dabei ließe sich Prag ja sehr leicht machen. Ich bekämpfte jetzt mein Temperament und schrieb der Dame mit einer den Zuständen durchaus nicht entsprechenden Ruhe, daß ich vorhätte, demnächst auf einer größeren Reise Prag zu berühren, bei welcher Gelegenheit ich nicht verfehlen würde, sie aufzusuchen.

Wenige Tage später war von ihr der zweite Brief da:

»Liebster Herr Professor!

Diese Aufregung! Diese Freude! Diese Angst! Ich kann mich kaum fassen, ich kann es nicht glauben, daß es sein soll, Sie hier zu sehen. Es wäre zu herrlich! Ich habe Ihnen so viel mitzuteilen, anzuvertrauen; aber Sie müssen mir versprechen, ritterlich zu sein gegen ein hilfloses [127] Weib, dessen verzagendes, seliges Herz Ihnen entgegenschlägt. Ach wie lange war die Zeit, wie einsam war mir oft unter meinen Blumen! Ihr Schreiben hat mich über alle Maßen glücklich gemacht, haben Sie Dank! Und kommen Sie rasch, setzen Sie sich auf den nächsten Zug, fahren Sie Tag und Nacht, ich vergehe vor Ungeduld, Ihnen mein Glück an den Busen zu legen. Sagte mir meine Ahnung doch schon lange, daß ich mich an Ihnen nicht täusche, daß Sie nicht täuschen können, mein teurer, mein lieber Freund. Nur müssen Sie nichts Arges von mir denken über meinen unbändigen Freimut, ich bin ein Weib. Die Stunde, wann Sie mich finden, kennen Sie, es ist unsere Stenographenstunde wie vor fünf Jahren. Fünf Jahre jünger bin ich geworden durch Ihren Brief, haben Sie nochmals Dank und eilen, eilen Sie zu Ihrer Freundin

Josefine Stachari.«

Für eine Portion war das genug. Mir wurde fast unheimlich. Für ein nettes Abenteuer baute sich die Sache fast zu groß auf, das läßt sich nicht so leicht abhaken, wie es angehakt ist. Das war nun doch einmal ein Weib, wie ich im müßigen Ideale mir es oft gedacht hatte, ein in heiliger Leidenschaft lohendes, alle Konvenienzen kühn verachtendes, heldenhaft liebendes Weib. Daß mittlerweile in meiner Erinnerung auch ihr Bild wundersam reizend und schön geworden war, habe ich dir ja schon gesagt.

In den ersten Tagen der Ferien packte ich meinen Koffer und reiste Tag und Nacht der alten Königsstadt Prag zu. Es war mir zumute wie auf einer Brautfahrt. Es war doch zu rührend, wie sie meiner gedacht, wie sie auf mich gewartet hatte, bis ich in der Lage war, ein Weib heimzuführen. Und selbst, daß sie von mir fortgezogen, war [128] das Werk einer großen Seele. Sie wollte uns gegenseitig die Reinheit hüten, sie wollte mich frei lassen, frei leben und frei wählen.

Unsere Stenographenstunde war nachmittags von fünf bis sechs Uhr gewesen. Zu Prag ins Hotel gekommen, war mein erstes, durch einen Boten ihr meine Ankunft anzuzeigen, und daß ich mich an demselben Tag um fünf Uhr bei ihr einfinden würde. Hierauf reinigte ich mich sorgfältig von dem Staube der Reise, nahm ein Mahl zu mir und bereitete mich vor auf den Besuch.

Punkt fünf Uhr schellte ich an der Tür ihrer Wohnung. Ein schmuckes Stubenmädchen erschien, um zu öffnen, fragte leise, ob ich der Herr aus G. sei und führte mich dann in ein dunkelgehaltenes Gemach. Es war fast üppig eingerichtet und die Blumen und Rosen schienen mir noch prangender zu blühen und noch betäubender zu duften, als vor Jahren. Da glitt sie auch schon auf mich zu, in weißem Hauskleide war sie, sank mir an die Brust und flüsterte: »Sie sind's! Gott, wie mir das Herz pocht!« Dann schluchzte sie und wir saßen auf einem Sofa. Obzwar wenig Licht fiel auf ihr Antlitz, so sah ich doch, daß dasselbe etwas rundlicher geworden war, und ihre Wangen schienen mir noch blasser und ihre Augenwimpern noch schwärzer und ihr Mund noch röter als vor Jahren. Und weil durch die leidenschaftliche Begrüßungsszene auch ihre schwarzen, seidenweichen Haare locker geworden waren und nun niederrollten auf ihre wogende Brust, so war sie unbeschreiblich schön. Vor den schweren Fenstergardinen stand ein rundes Tischchen, an das mit einem Kettlein ein Papagei gefesselt saß, der fortwährend krächzte.

»Ach!« flüsterte sie, »der Vogel freut sich auch, daß Sie gekommen sind. Und Sie sind so stattlich und schön geworden, [129] oh, ich bin wahnsinnig vor Glück!« Dabei nahm sie meine Hände und preßte sie heftig.

»Ach, Freund!« hauchte sie, »Sie bringen mir die schönen Tage der ersten Jugend zurück!« Und da ich kaum eines Wortes mächtig war, so fuhr sie mit unendlichem Reize fort zu plaudern von vergangenen Zeiten, von dem Leben in G., von ihrer Kindheit, die herbe gewesen, von dem Glücke, das nun gekommen. Ich merkte nicht auf das, was sie sprach, ich hörte nur ihrer Stimme süßen Klang, ich fühlte nur den Atemhauch aus ihrem Munde – mir verging das Denken und urplötzlich rissen meine Arme sie wild an mich, um sie zu küssen … In demselben Augenblicke fuhr sie kreischend auf und stieß mich heftig zurück.

»Mein Herr!« rief sie mit vor Zorn fast erstickter Stimme, »das ist abscheulich!« dann stürzte sie zur Glocke mit dem Ruf: »Mein Gemahl! Mein Gemahl!«

Da trat aus dem Nebenzimmer ein schlanker, hagerer, brauner Mann im feinsten Salonanzuge.

»Gott, o Gott!« schluchzte das Weib und preßte ihre Hände ins Gesicht: »Diese abscheuliche Frechheit! Züchtigen Sie ihn! Meine Freundschaft so zu mißbrauchen! Eine harmlose Plauderstunde über vergangene Zeiten! Von meinem Glück wollte ich ihm erzählen! Und er schändet's, der wahnsinnige Bube! – O Gott, meine Nerven …!«

Der braune »Gemahl« stand immer noch an der Tür und drehte seinen langen Schnurrbart. Ich hatte mich von meiner Überraschung eher erholt, als es mir heute selbst erklärlich ist. Ich war ausgestanden und wartete einstweilen darauf, was der Gemahl sagen würde. Da dieser weder einen Revolver noch einen Dolch ergriff, sondern sich nur an mir und seiner rasenden Frau ergötzte und verschmitzt schmunzelte, so trat ich einen Schritt an ihn und sagte: »Es ist kein [130] übles Abenteuer. Wem gehört sie aber nun! Sie, mein Herr, werden Gemahl genannt, und ich werde durch glühende Liebesbriefe aus dem fernen G. herbeigeholt!«

»Hat Alte wieder Dummheit gemacht!« schnarrte der braune Mann mit fremdartiger Betonung, dann zog er sich wieder in sein Zimmer zurück und lehnte die Tür zu.

Eine kochende Hölle im Herzen, starrte ich das Weib an. Sie sank mit vollendetem Faltenwurf ihres Kleides zu meinen Füßen nieder und schluchzte: »Ach, verzeihen Sie mir! teurer Freund! Ich bin namenlos unglücklich!«

Mit der Fußspitze schob ich sie von mir. Ohne ein Wort zu verlieren, ging ich zur Tür hinaus. –

Seither – so dünkt mich fast – bin ich wesentlich klüger. Wenigstens kann ich dir Unterricht erteilen über den Begriff: Kokette, den du etwas flüchtig zu überspringen pflegst.


[131]

Ein Jünger Darwins.

Es möge sich unter dem Begriffe »Gott« jeder das Seine denken; wie man ihn verliert und wie man ihn findet, ich bin davon ein Beispiel aus vielen. Ich werde nicht philosophieren – die Sache geht mir zu sehr an's Herz.

Ich bin der Sohn eines niederösterreichischen Landwirtes. Nach einigen absolvierten Gymnasialklassen in Wiener-Neustadt kam ich auf die land- und forstwirtschaftliche Anstalt in Hermsdorf. Von Haus aus hatte ich eine sehr religiöse Erziehung genossen, wozu auch noch meine empfindsame Gemütsart kam. Daß mir bei jedem Abschiede meine Eltern gute Lehren gaben, brav zu bleiben und auf Gott nicht zu vergessen, bin ich jedoch nach und nach so gewohnt geworden, daß es gar keinen Eindruck auf mich mehr machte. Ich fand es im Grunde ja doch so selbstverständlich, für was hielten sie mich denn, wenn sie mir zutrauen konnten, unbrav zu werden und Gott zu vergessen!

Einen ganz anderen Eindruck hingegen machten eines Tages, als ich wieder ins Institut abreiste, auf mich die Worte unseres alten Pfarrers, der in der Volksschule mein Katechet und Beichtvater gewesen und dem ich als Knabe in der Dorfkirche ministriert hatte. Der saß in einem Ledersessel und zog mich neben sich nieder auf einen Stuhl und hielt mich an der Hand – die seine war völlig kühl – und sagte zu mir ungefähr folgendes: »Mein Sohn, so oft du fortgehst, befällt mich eine Bangigkeit. Wenn ich dir ins Auge schaue, da ist so viel Vertrauen d'rin. Du gehst munter in die Welt, es ist schön draußen, du wirst vieles Gute lernen, sie wird dir allerlei große Aufgaben stellen und allerlei Vergnügungen [132] anbieten – und eines Tages wirst du gewahr werden, daß du den kindlichen Glauben an Gott nicht mehr hast.«

So sagte er, ich wurde hierauf fast erbost und rief: »Niemals, Herr Pfarrer, ich lasse mich nicht verführen, und meine Religion lasse ich mir nicht rauben, so wahr –«

Ich hob den rechten Arm, er drückte mir ihn sanft zurück und sagte: »So behüte dich Gott!«

Dann ging ich hin und war ganz glücklich im Bewußtsein meiner Frömmigkeit und meiner Festigkeit, und schaute in die besonnte Landschaft hinaus, wo alles so lebendig und freudenvoll war im Blühen, Glänzen und Jubilieren, und ich erinnerte mich auf jener Wanderschaft an den Ausspruch: Die Welt ist ein Transparent Gottes.

Zu jener Zeit war ich siebzehn Jahre alt. Ich hatte den Ruf eines gesitteten, fleißigen Schülers; die Kollegen und die Lehrer und die Bücher und vielerlei Welt waren um mich, viele Freunde hatte ich, und ein paar kleine, kindische Feinde, aber niemand und nichts machte den geringsten Versuch, mich vom Glauben abwendig zu machen. Im Gegenteile, weil ich strebsam und ordentlich und stets munter war, so wurde ich anderen als Beispiel aufgestellt. Wenn ich dann allein war in meinem Zimmer, spät abends vor dem Einschlafen oder an hohen Festtagen, gedachte ich Gottes und meiner Eltern mit dem gleichen Herzen.

In den Studien stieg ich auf: Geographie, Astronomie, Zoologie, Botanik, Mineralogie. Hatte mir doch mein alter Pfarrer gesagt, das Studium der Schöpfung Gottes sei auch ein frommes Werk. In freien Stunden gab ich mich gerne mit Dichtern ab, mit den besten, die wir haben: mit Klopstock, Körner, Herder, Schiller, Lessing, Goethe. Wohl sah ich manches in verschiedenen Zeiten mit verschiedenen [133] Augen an. So hatte Faust für mich nicht weniger als drei Stücke. Als ich ihn das erstemal las, ergötzte mich darin der Spuk und der possierliche Teufel, der schließlich den Doktor in die Hölle holt; bei einem späteren zweiten Lesen interessierte mich vor allem die Liebesgeschichte mit Gretchen. Das drittemal – da war ich schon weit – sah ich nichts als den Philosophen Faust. In der Naturgeschichte weiß ich nicht, wann ich das Brücklein übersprang von den alten Gelehrten zu den modernen. Es ist ja eigentlich keine scharfe Grenze. So geht es sachte hin, es ist manches fremd. Der Katechet und der Lehrer der Naturgeschichte hatten keine Berührungspunkte mehr, das fiel mir anfangs gar nicht auf.

Einmal, als ich zu Hause auf Ferien war, kam der alte Pfarrer auf Besuch und blätterte ein wenig in meinen Lehrbüchern. Sagte aber kein Wort, sondern war herzlich wie immer. Nicht mehr war es der Pflichteifer, der mich zum fach- und naturgeschichtlichen Studium trieb, sondern das wirkliche Interesse an ihm; ich las alle einschlägigen Werke, die ich bekommen konnte, selbst wenn sie weit über das Ziel unserer Fachstudien hinausgingen. Endlich bei einem lebhaften Gespräch mit einem Kollegen über Abstammung und Vererbung im Tierreiche sah ich's, wo ich war. Ich war mitten im Darwin.

Jetzt wissen sie vieles von mir, was ich damals noch selbst nicht wußte. Also gut, Tiere und Pflanzen stammen aus ganz wenig Urformen her, vielleicht aus nur einer Urzelle! Und die Wesen züchten und entwickeln sich im Kampfe um's Dasein. Das ist was neues, aber es leuchtet ein. Doch das höchstentwickelte Tier, bei dem knüpft ja der Mensch an! Und die ganze Organisation des letzteren zeigt unwiderleglich, daß der Mensch in vielen tausenden von Jahren aus dem Tierreiche herausgewachsen ist. So erzählte man mir Dinge, [134] die nicht waren?! – Die neue Lehre dehnt sich mit ihren Grundsätzen durch unendliche Zeiten und Räume. Und nirgends von Gott die Rede? Nirgends eine Spur von ihm? Was ist das? – In meiner Bedrängnis schrieb ich dem alten Pfarrer, ich sei in eine große Verwirrung geraten, die Naturgeschichte stimme mit der Bibel nicht und im Weltall wäre mir Gott abhanden gekommen.

Der gute alte Mann tat ganz harmlos und schrieb zurück, meine Beängstigung sei einerseits ein Beweis von der tiefen Religiosität meines Gemütes, andererseits aber eine Mahnung, wie sehr ich in diesen Dingen auf der Hut sein müsse. Mein Zweifel – wenn er die augenblickliche Stimmung so nennen wolle – sei übrigens ganz grundlos. Daß man die Bibel nicht wörtlich, sondern gleichnisweise zu nehmen habe, sei oft genug gesagt worden, und so stimme sie, deuche ihm, wirklich mit dem von mir angeführten Systeme. Wissenschaftliche Forschungen könnten sich weit ausdehnen, aber endlich seien sie doch nur etwas Menschliches, also Unvollkommenes und Begrenztes. Und außerhalb dieses menschlichen Spielraumes – der im Vergleiche zur Unendlichkeit doch ganz armselig wäre – hätte Gott Raum genug, wenn es die Herren Gelehrten schon nicht zugeben wollten, daß er in der Seele seiner Geschöpfe sei.

Auf diesem Karren schleifte ich meine Religiosität noch eine Weile fort. Doch als es immer weiter in die Erkenntnis und immer tiefer in's Leben hineinging, sah ich endlich ein, es wäre umsonst. Der kindliche Glaube war nicht mehr zu halten. Der Gott, der sich denken ließ, war nicht der Gott meiner Väter.

Ich dachte viel an das Oberhaupt der neuen Schule. Alt-England ist ein gut katholisches Land, Darwin's Familie hat einen hochgeachteten Namen, der Gelehrte selbst [135] ist ein makelloser Charakter, von dessen Seelenadel so manches erzählt wird. Wie kann es möglich sein, daß solch ein Mann eine Lehre ausbildet, die von keinem Gott weiß! – Das kann nicht möglich sein.

In einem persönlichen Gespräche mit dem alten Pfarrer teilte mir dieser zu meinem Troste mit, daß er vernommen habe, Darwin sei ein guter katholischer Christ, seine Lehre werde nur schlecht verstanden und falsch ausgelegt. Für den Augenblick leuchtete mir das wieder ein. –

Meine Fachstudien waren beendet. Ich kam auf ein großes Gut in Mähren als Praktikant. Das war im Jahre 1880. Kurze Zeit darauf starb meine Mutter. Noch sterbend hatte sie gesagt, sie lasse mich, den fernen Sohn, grüßen und bei Gott im Himmel wollten wir uns alle wieder zusammenbestellen.

Was nun in mir für ein Leid anhub! Meinem priesterlichen Freunde klagte ich alles. Er war erschüttert und wußte mir nichts mehr zu sagen, als ich solle beten und arbeiten.

Arbeiten, ja, Tag und Nacht, bis zur Erschöpfung. Draußen auf den Feldern und in den Wäldern ging ich umher, solange ein Licht am Himmel, und legte selbst Hand an den Pflug, an das Schnittscheit, und in halben Nächten saß ich bei meinen Rechnungen und theoretischen Ausarbeitungen. Aber beten? Gebete sagen kann man, wann man will, aber beten nicht. O Mutter, Mutter, daß du mir auf ewig solltest genommen sein!

Und in einer solchen Nacht, da draußen ein leiser Nachtwind rieselte in der Linde, und im Hause alle so ruhig und süß schliefen, als wäre Himmel und Erde für sie eine sanft schaukelnde Wiege – da kam mir plötzlich der Gedanke: Bei Bibel und Priestern klopfe ich vergebens an. [136] Nur der mir den Glauben geraubt hat, kann mir ihn wieder zurückgeben.

Ich zündete das ausgelöschte Licht wieder an und schrieb an Charles Darwin zu Down in England.

Ich stellte ihm meine Bedrängnis vor und bat ihn um Aufklärung, was er von Gott halte, was. er von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele denke? – Den Brief sandte ich am nächsten Tage ab. Zwei Wochen darauf hatte ich Antwort, die aber so kalligraphisch geschrieben war, daß ich die Handschrift des großen Gelehrten darin nicht vermuten konnte. Darwin entschuldigte sich durch eine zweite Person mit seinem Alter, mit seiner Kränklichkeit, mit der Bürde seiner wissenschaftlichen Arbeiten; er sei außerstande, die schwierige Frage zu beantworten.

Also, er läßt mich sitzen. Er hat mich beraubt um meine Labnis und läßt mich in der Wüste verschmachten. Er hat seine Weltberühmtheit – die tausend Herzen, die da brechen, kümmern ihn weiter nicht.

Als ich jedoch – denn das war mir wie angetan – wieder in den Schriften des Forschers las, stellte ich mir die Frage: Ist es bei ihm die Lockung des Ruhmes? Soll es nicht vielmehr – so wie ja auch bei mir – der Drang nach Wahrheit sein? Und wie wäre es möglich, daß ein Forschergeist so groß und so tief sein kann, wenn nicht Gott mit ihm ist? Und war in seinem Schreiben nicht von einer schwierigen Frage die Rede? Er müsse über diesen Punkt also doch was zu sagen haben und sehr viel, wenn es sich in einem gewöhnlichen Briefe nicht beantworten ließe. – Es mag seine Kränklichkeit noch so groß sein, wenn es ein Seelenheil gilt, da muß er die Frage beantworten und sollte es ein Buch werden.

So habe ich dem Gelehrten noch einmal geschrieben, habe [137] ihm vorgestellt, daß mein Heil von seiner Antwort abhänge, daß er es seinem Jünger schuldig sei, das Gewissen zu beruhigen, daß der Forscher, nachdem er so viel gesagt, nicht zurückschrecken dürfe davor, das letzte Wort auszusprechen, daß ich dieses letzte Wort für eine Offenbarung halten wollte, und daß es, fiele es aus, wie immer, mich aus der peinigenden Ungewißheit reißen und beruhigen würde. Ich bat inständig, wie der Verschmachtende um einen Trunk Wasser bittet, mir wie ein sterblicher Mensch dem sterblichen Menschen offen und treu anzuvertrauen, was er von Christus und seinen Offenbarungen, und also auch von der Unsterblichkeit der Seele halte.

Am elften Tage nach der Absendung dieses meines zweiten Briefes kam ein Schreiben, dessen Schriftzüge und Namensunterschrift als die des großen Forschers erkannt werden. Das Schreiben lautet:

»Down, 5. November 1880.

Lieber Herr!

Ich bin sehr beschäftigt, ein alter Mann und von schlechter Gesundheit, und ich kann nicht Zeit gewinnen, Ihre Frage vollständig zu beantworten, vorausgesetzt, daß sie überhaupt beantwortet werden kann. Wissenschaft hat mit Christus nichts zu tun, ausgenommen insoferne, als die Gewöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen. Was mich selbst betrifft, so glaube ich nicht, daß jemals irgend eine Offenbarung stattgefunden hat. In Betreff aber eines zukünftigen Lebens muß jedermann für sich selbst die Entscheidung treffen zwischen widersprechenden, unbestimmten Wahrscheinlichkeiten.

Ihr Wohlergehen wünschend, bleibe ich, lieber Herr,
Ihr hochachtungsvoller Charles Darwin.«

[138]

Seine Meinung hatte ich nun. Was half sie mir? Sie setzte seinen Werken die Krone auf. Er war gottlos.

Was wäre schließlich aber daran gelegen? Hätte ich mich von ihm nur freimachen können. Das konnte ich nicht. Seine Lehre hielt mich gefesselt, wie eine geschehene unerbittliche Tatsache. Ich versuchte mich mit Studium wieder auszugleichen, ging sogar auf eine berühmte deutsche Universität, um zu sehen, wie andere mit der Sache fertig werden. Ich hielt es aber nicht lange aus, kehrte zurück und suchte in meiner unerleuchteten Trostlosigkeit einen andern Weg. Das Gegengewicht, das mich bisher vor dem Niedersinken zur Erde bewahrt hatte, war verloren, ich war ein Leib ohne Seele. Nun kamen schon die Stunden, in denen ich solche Menschen beneidete, die imstande sind, des Nächsten Glück spielend zu ihrem eigenen Vorteile auszunützen. Das eben sind ja die wohlorganisierten Menschen, die den Kampf ums Dasein siegreich bestehen und in ihrer Gattung den Egoismus zu immer größerer Vollkommenheit ausbilden.

Ich trachtete zwischen meinem Wissen und Leben eine Harmonie herzustellen, nämlich indifferent in moralischen Dingen, also schlecht zu werden. Aber hierin hatte der Alte ja auch wieder recht: du kannst nicht besser und nicht schlechter sein als du bist.

Statt schlecht zu werden, wurde ich krank. Ich vermochte in eine Welt, in der nichts dahintersteckt, keinen Wert zu legen. Wo andere sich balgen um die Früchte des Augenblickes, dort wurde ich gleichgültig gegen alle Genüsse, deren letztes Ziel die Enttäuschung ist. Die Nervenspannungen wurden lax, ich begann abzuwelken. Weil just der Winter war, so sagten gutmütige Menschen, das Frühjahr würde mir Besserung bringen. Andere flüsterten – und die hörte ich am [139] liebsten – bis die Bäume ausschlügen, würde ich's überstanden haben.

Es kam das Frühjahr. Und zwar nicht an einem Tage, aber in einer und derselben Woche starb in meiner Heimat der alte Pfarrer und zu Down bei Kent in England Charles Darwin. Ich lebte weiter. Meine Phantasie wurde noch einmal tätig, ich stellte mir vor, wenn sich der alte Gentleman doch geirrt hätte und wenn die beiden Hingeschiedenen in der Ewigkeit sich begegneten, was sie wohl sagen würden zueinander?

Mein Zustand verbesserte sich nicht, ich fühlte wirklich, daß ich keine Seele mehr hatte, nur mitunter Nervenstimmungen, die mir wehe taten. Wer mich sah, der gab mir einen guten Rat, um gesund zu werden, und einer meiner ehemaligen Kollegen riet mir geradezu – und pries es als das sicherste Mittel meiner Rettung – ich sollte mich verlieben. Das Weib würde mich schon wieder Gott erkennen lernen. Einstweilen sollte ich ins Gebirge gehen, um in der reinen kräftigen Luft körperlich zu erstarken.

Den letzteren Vorschlag, den auch mein Vater, ein geborener Tiroler, sehr unterstützte, befolgte ich in der Tat, ich zog in's Pustertal und habe dort den Sommer zugebracht. An flache Gegenden gewohnt, fühlte ich mich anfangs im engen Gesichtskreise zwischen hohen Bergen noch mehr gedrückt, hingegen taten mir die Menschen wohl. Zuerst überkam mich freilich eine unbeschreibliche Wehmut, als ich bei ihnen die liebe Gottesgläubigkeit und die Harmonie des Gemütes wiederfand, die mir verloren gegangen war, aber allmählich bekam ich Anwandlungen, daß ich das Glück meiner Person überhaupt nicht mehr als Hauptsache in Betracht zog, sondern leidlich zufrieden war, wenn ich's an anderen sah.

[140]

Als die kalte, regnerische Zeit des Septembers kam, wurde mir übler und ich trachtete milderen Gegenden zu. Da vollzog sich außer und in mir ein Ereignis.

Vom Gebirge kommend harrte ich bei einem Bahnhof des Etschtals auf den Zug, der mich nach Italien bringen sollte. Als der Zug im Bahnhofe stillstand, wurden alle Passagiere aufgefordert, auszusteigen, der Zug könne nicht abgelassen werden, da südlich von Trient das Hochwasser einen Damm zerstört habe. Wie lange Verspätung? fragte man. Der Verkehr nach dem Süden überhaupt eingestellt! war der Bescheid.

So wollte ich nach Norden, der Heimat zufahren, was konnte ich dabei verlieren? Der Zug gegen Innsbruck wurde abgelassen. Er war groß und sehr überfüllt. Alle Fenster waren besetzt, denn da konnte man interessante Dinge sehen. Der Regen floß in Strömen und immer von neuem sank schweres, finsteres Gewölke an den Berghängen nieder, wallte, braute und staute sich in den Kesseln, als wollte es die Felsen sprengen. Jede Wand hatte ihre weißen Adern, die hundertfältig niedergingen. Das waren die Wasserfälle. Hier sprangen sie in Bogen, dort in breiten Bändern, dort in dünnen Schleiern. Aus den Schluchten donnerten braune Fluten, die dort und da mit beängstigender Gewalt an den Bahnkörper schlugen. Der Fluß war an den meisten Stellen ausgetreten, die Talsohle glich streckenweise einem trüben See, aus welchem Bäume, Hügel, einzelne Gebäude, Zäune und Wegsäulen ragten. Hier stand das Wasser ruhig, dort schoß es in breiten, verzweigten Adern heftig dahin. Mitten durch führte unser Bahndamm, auf welchem der Zug langsam und heftig pustend dahinfuhr. Ich war gegen meine Reise gleichgültig gewesen, aber je zweifelhafter nun das Weiterkommen wurde, je lebhafter wünschte ich es.

[141]

Bei einer nächsten Station gewannen wir die tröstliche Versicherung, daß die oberen Gegenden weniger gelitten hätten und die Bahn fast durchwegs unbeschädigt sei. Wir kamen glücklich ins Pustertal, doch hier wurde es grauenhafter und endlich waren wir glücklich an einem Punkte, wo wir nicht vorwärts und nicht mehr rückwärts konnten. Vor uns hatte die rasende Rienz den Bahnkörper durchbrochen und die Schienen standen wie eine Riesengabel in die Luft hinaus. Hinter uns sahen wir eine Brücke niederbrechen. Ein mächtiger Fichtenstamm samt Astwerk und Wurzel mit Erdballen hatte sich herangewälzt und schmiegte sich an einen der Brückenpfeiler fest. Alsbald staute sich weiteres Gestämme, das empörte die Wasser, die heute keinen Widerstand kannten, und einer der Pfeiler begann zu krachen, das hielt noch ein paar Minuten stand, endlich aber wankte alles und brach Joch um Joch langsam nieder.

Der Zug stand. »Wir haben Rasttag,« rief einer der Schaffner. Zur einen Seite hatten wir die Berglehne, zur andern die überflutete Talschlucht. Wir konnten einige Männer beobachten, Touristen mochten es sein, die jenseits am Felshange hinkletterten, weil die Straße unter Wasser war. Wir mußten, ob jammernd, lachend oder fluchend, unsere Behausung endlich auch verlassen und in Wind und Regen unser Fortkommen suchen. Der leere Zug schob sich langsam zurück auf eine gesichertere Stelle. Ich kroch den Berg hinan, und insoferne der Nebel Ausblick gestattete, sah ich neue und grauenhafte Verwüstungen. Da unten war ein Seitental, in welchem gerade ein Haus zusammenfiel. Aus dem Trümmerhaufen stob zuerst Rauch, es schien sich ein Feuer zu entwickeln, welches aber gar bald gedämpft war, weil alles ins Wasser niedersank und sich auf demselben fast sanft auseinanderlegte. Am Ufer schossen Menschen hin [142] und her, schlugen die Hände zusammen, hantierten planlos mit langen Stangen herum, und ein Weib wollte ins Wasser springen, um eine ertrinkende Ziege zu retten, wurde aber noch rechtzeitig zurückgehalten.

Ich trieb mich einen Tag lang herum, immer von Wasser und Erdbrüchen verhindert und abgelenkt und selbst am Leben bedroht. Ich hatte damals begreiflicherweise keinen Sinn für die Großartigkeit der Natur, die mich Würmchen mit ihren ungeheuren Gewalten umgab. Heute weiß ich, daß mir eine solche Größe in diesem Leben wohl kaum mehr begegnen wird. Endlich kam ich zu einem Hofe, der auf festem Grunde einer Höhung stand. Aber er war angepfropft von Leuten, die im Tale ihr Haus und Habe verloren hatten. Das war ein Weinen und Klagen! Die einen kauerten halbnackt in den Winkeln, daß ihre Kleider trocknen mochten; die anderen verschlangen in Heißhunger Nahrung, die ihnen die gastlichen Bewohner reichen konnten. Aber die Bäuerin sagte: »Helf Gott, wir werden bald selber nichts mehr haben!«

Hier konnte ich also nicht bleiben.

Nach einer schlechten Nacht, die ich in einem Heustadl zubrachte und in der ich inne wurde, was eine gute Nacht wert ist, kam ich wieder zum See der Rienz hinaus; man konnte nicht mehr sagen: Tal, denn es war ein See, der heute, da ich dieses schreibe, noch nicht abgelaufen ist und vielleicht gar nicht ganz ablaufen kann, weil Lawinen die Schluchtpässe verlegt haben. Mitten im See, aus dem die Dächer von Hütten, Mühlen und Holzsägen ragten, wovon eins ums andere verschwand, mitten in diesem weiten Gewässer auf einer schmalen, langgestreckten Insel sah ich ihrer sechs oder acht Männer, die mit verzweiflungsvollen Gebärden um Hilfe riefen. Ich fand nach langem Suchen Leute zusammen, [143] die mit einem kleinen Floße jene Männer retteten. Sie hatten einen Tag früher den Flußdamm verteidigt und waren dabei, weil weiter oben eine Wehre brach, plötzlich vom Wasser eingeschlossen worden. Eine furchtbare Nacht hatten sie verlebt auf dem schmalen Damm, von welchem Stück für Stück weggeschwemmt wurde. Zwei weitere Genossen, die bei ihnen gewesen, hatten sich in der Finsternis der Sturmnacht von ihrer Seite verloren, waren zugrunde gegangen, ohne daß es von den übrigen bemerkt worden.

Nun erfuhr ich auch, daß diese Gegenden von aller Welt abgeschnitten waren. Alle Täler bis hinaus nach Lienz, bis Defereggen und Oberdrauburg wären verheert. Aus dem Eisacktale brachte einer, der auf Umwegen übers Gebirge kam, Nachricht von den schrecklichen Verwüstungen, die dort und südlicher im Etschtale bei Bozen, Trient und in der Meraner Gegend angerichtet seien. Und alle Straßen und Eisenbahnen vernichtet, alle Telegraphenleitungen zerrissen. Ganze Dörfer und Städte überschwemmt, zum Teile eingestürzt, fortgerissen. Wie viele Menschen schon ums Leben gekommen und bei dem fortwährenden Steigen der Wasser noch ums Leben kommen würden, das sei nicht annähernd zu sagen. Aus manchen Engtälern sei gar keine Nachricht gekommen, aber das Wasser hätte unerhörte Massen von Getrümmer hervorgeschwemmt. Wie es den Leuten ergehe, das wisse Gott. Man begreife nicht, woher all das Wasser kommen könne, die Regenfluten allein könnten es nicht ausmachen. Allerdings gehe ein Wind, als wären die Dolomiten lauter heiße Öfen, der schmelze Schnee und Eis auf den Gebirgen. Aber es scheine, als sei in den Tauern und in den weißen Bergen (Dolomiten) und in den Trientiner Alpen und im Ortlergebirge und überall die Flut aus der Erde hervorgebrochen, [144] wie es bei der Sintflut gewesen, und es sei nicht abzusehen, was daraus noch werden solle!

Während die Leute zusammenstanden, um diese Posten zu hören, läuteten sie in den Nachbardörfern, die teils im See standen, fortweg Sturm, und es vergrößerte sich auch für diesen Ort, der hart am Berghange lag, die Gefahr. Man räumte die Häuser aus, aber jetzt kam die Dorfgasse herauf das braunrote Wasser gewallt. »Das Wasser rinnt aufwärts!« riefen die Kopflosesten, »da ist alles aus.«

Aus den Häuserräumen hörte man das Quirln und Gurgeln des Wassers, das Niederbröckeln von Mauerwerk; dann wieder ein Knattern und Schmettern einstürzender Wände und Dächer. Bei den Häusern schrien die Leute, auf den Anhöhen röhrten und blökten die Haustiere, und über alles hin war das dumpfe Tosen.

Ein Weib kam durchs Wasser gesprungen: das Spital sei hin, die Kranken müßten ertrinken, wenn man ihnen nicht zu Hilfe käme. Jetzt fiel es mir ein: da könntest du ja helfen! Wir trugen die Kranken in die Kirche hinauf, die höher stand. Aber auch einen Toten schleppten sie jetzt herbei, einen jungen Burschen, der seine mühselige Großmutter aus der überschwemmten Kammer gerettet und dabei den Tod gefunden hatte. Die Gerettete war ohnmächtig, die übrigen Mitglieder der Familie erhoben ein lautes Klagen. Da trat ein alter Mann zur Gruppe und rief: »Was beweint ihr den da! Der ist der Glückliche. Wir sind die Unglücklichen!« Wer einen Blick in die Gegend hinaus tat, der konnte wohl verstehen, wie's gemeint war.

Der Himmel war finstergrau, aber die Berge standen jetzt rein bis zu ihren weißen Gipfeln. Im dunkelbraunen See spiegelte sich ihr Bild. Von den entwaldeten Lehnen [145] gingen ununterbrochene Erdlawinen nieder, als wäre »die Erde rinnend geworden«, wie sich einer ausdrückte.

Kaum hatten sie den Ertrunkenen in die Totenkammer gelegt, erscholl – so gut es durch das Tosen der Wasser hörbar war – neues Jammergeschrei. Ein Kind hatten die Wellen fortgerissen, die Mutter desselben lief mit herzbrechenden Hilferufen hin und her, keiner wollte sich ins wallende Wasser wagen, und das Leiblein wogte schon dem reißenden Hauptstrome zu.

Jetzt kam's über mich. Kannst du schwimmen? rief ich mir selber zu, nicht? So lern's! – Und stürzte mich in's Wasser. – Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer steinernen Treppe, und um mich waren Leute und vor mir kniete ein Weib und beschwor mit gerungenen Händen, unter Tränen schreiend, alles Glück des Himmels auf mich herab. Andere Weiber beschäftigten sich mit dem geretteten Kinde, einem Mädchen von fünf bis sechs Jahren. Und während auf das unselige Dorf immer neue Wassermassen anbrausten von allen Seiten, und die Leute in heller Verzweiflung um ihre Existenz rangen, war ein überglückliches Wesen da, dem seine ganze kleine Habe zugrunde gegangen, das als Bettlerin saß an den Stufen des Kirchentores und das nimmer satt werden konnte, sein wiedergefundenes Kind jubelnd zu herzen und zu küssen.

»Das ist er!« schrie sie und zeigte auf mich, »o, schaue ihn an!«

Und der Blick, den das kleine Mädchen auf mich geworfen, ist mir tief gegangen.

Ich habe es dann nicht mehr gesehen. Ich trug noch mein Weniges zu den Schutz- und Rettungsarbeiten bei, bis am dritten Tage das Wasser zu fallen begann, und wir alle erschöpft zur Rast sanken. –

[146]

Später habe ich nach Tagen mühevollen Wanderns in Kärnten den Punkt erreicht, wo das Eisenbahngelaß die versprengten und verschlagenen Reisenden und Touristen wieder in Empfang nehmen konnte.

Und als ich glücklich daheim in meinem Hügellande saß, da machte ich die Wahrnehmung, daß ich nicht mehr krank war. Nicht mehr krank und nicht mehr schwermütig, sondern so jung und munter, als ich's einst gewesen.

Jetzt prüfte ich mich, was denn die furchtbare Leere, die Darwin in mein Gemüt gerissen, wieder ausgefüllt haben möchte. Ich fand's nicht, so sehr ich nachdachte. Vielleicht daß das große Unglück, welches ich miterlebte, mich wieder ins Gleichgewicht gebracht, wie es ja bisweilen geschehen soll, daß Pessimisten und Verzweifler gerade durch eine schwere Gefahr und Not wieder zur Achtung des Lebens bekehrt werden. Aber wenn ich mitunter so vor mich hinträumte, da sah ich in der Dämmerung meines Herzens, wo einst das »ewige Licht« wie vor dem Altare gebrannt hatte, zwei Sternlein schimmern – und das waren die Augen des geretteten Kindes.


[147]

Ehre.

»Herr Kreisrichter, ich bitte auf ein Wort!«

»Nun, nun, lieber Herr Seelader, was bringen Sie mir denn noch so spät?«

»Auf ein Wort!«

»Und so aufgeregt?«

»Es ist etwas Wichtiges. Sie werden erstaunen, Herr Kreisrichter. Ich muß bitten, daß Sie mich festnehmen lassen!«

»Aber, Seelader! Solche Späße!«

»Es ist kein Spaß. Bei Gott nicht. Sie müssen mich einsperren. Sogleich! Ich habe einen Freund ermordet. Den Johann Hallsteiner. Den Sohn der alten Hallsteiner, die heute gestorben ist.«

»Was? den Johann Hallsteiner haben Sie ermordet? Aber lieber Freund, was fehlt Ihnen denn? Der Johann Hallsteiner ist ja schon seit Jahren tot.«

»Ich habe ihn erschossen. Ich werde alles beweisen. Ich zeige es jetzt an. Es ist die Zeit gekommen. Herr Richter, Sie haben einen Schuldigen vor sich!«

Nun war der Kreisrichter in der Tat erschrocken, denn der junge Mann sah in diesem Augenblicke wirklich aus wie ein Mörder. Ganz verstört, blaß, wirr. Der Richter klingelte und befahl dem eintretenden Diener: »Schnell zum Doktor Grohbach. Er soll sofort kommen!«

»O nein, Herr Richter,« sagte Seelader, »krank bin ich nicht. Ich bin ja ruhig, sehen Sie mich nur an, es ist die Wahrheit, was ich sage.«

»So kommen Sie,« sprach der Kreisrichter freundlich [148] und suchte den jungen Mann am Arm zu nehmen. »Ich werde Sie in Ihre Wohnung begleiten.«

»Sie sind immer gut gewesen gegen mich und sind es auch jetzt,« sagte Seelader. »Aber es ist anders geworden. Ich darf nichts mehr annehmen. Ich werde diese Nacht noch in meinem Zimmer zubringen, wenn Sie mich nicht in den Arrest tun wollen, morgen jedoch zum Landesgericht gehen. Der Verantwortung wegen sollten Sie mich aber sogleich da behalten. Es wäre besser, Herr Kreisrichter!«

Unter warmem Zureden brachte dieser den jungen, aufgeregten Menschen in sein Dachzimmerchen, empfahl ihn angelegentlich der Mietfrau und schickte den Arzt.

Dann eilte er nach Hause.

»Denkt euch, Kinder!« sagte der Kreisrichter bei dem Abendessen zu seiner Familie, »mein Amtsschreiber, der Seelader, ist erkrankt.«

Die älteste Tochter, Fräulein Ludmilla, horchte auf.

»Und das schwer, unheimlich erkrankt,« fuhr der Richter fort. »Ein Gehirnleiden. Ich muß nur erst zu Doktor Grohbach schicken, was er an ihm gefunden hat. Kommt der Arme heute abends – eben erst vorhin – zu mir und bittet mich in höchst aufgeregter Weise, ich solle ihn festnehmen lassen, er habe seinen Freund Hallsteiner erschossen.«

Fräulein Ludmilla legte Messer und Gabel weg.

Die Frau Richterin sagte: »Du scherzest doch, Mann!«

»Ich weiß wohl, daß der Selbstmord seines Freundes ihm nahegegangen ist damals,« sagte der Richter, »aber nach Jahren – es mag ja fünf oder sechs Jahre seit jener Geschichte mit dem Hallsteiner her sein – könne doch, meint man, aus diesem Grunde eine Gehirnstörung nicht mehr zum Ausbruche kommen. – Wie war das nur gleich, damals?«

[149]

»Der Postbeamte Johann Hallsteiner,« sagte nun die Frau, »hatte – so viel ich mich erinnern kann – sich eine Veruntreuung zu Schulden kommen lassen und in dem Augenblick, als man ihn festnehmen wollte, sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.«

»Richtig, und ich entsinne mich, wie sein Freund Seelader, der war damals noch Student, am Grabe des Verscharrten einen lauten Schwur getan haben soll, die Ehre des Freundes zu retten, seinen Tod zu sühnen, oder so etwas.«

»Dann hast du ihm doch zur kleinen Stelle verholfen, die er heute noch einnimmt.«

»Er wird demnächst avancieren. Einen fleißigeren und gewissenhafteren Schreiber habe ich nie gehabt. Dazu ein stiller, eingezogener Mensch, bescheiden und liebenswürdig –«

Fräulein Ludmillas Wangen blühten wie Rosen im Mai.

»Als Student soll er's ja flott getrieben haben, bis die kleine Erbschaft seiner Eltern dahin war,« bemerkte die Frau Kreisrichterin. »Man glaubt nicht, wie vorteilhaft ein Mensch sich ändern kann, wenn er in das Geleise der Arbeit kommt. Und rührend war es, wie er die armen Eltern seines unglücklichen Freundes unterstützte, sich selbst alles versagte, um von seinem geringen Gehalte die siechen, verlassenen alten Menschen zu versorgen. Als vor einigen Monaten der alte Hallsteiner starb und heute die Frau, habe ich mir gedacht: Jetzt wird der gute Seelader auch aufatmen können und sein Gehalt für sich selber anwenden.«

»Es muß ihn doch der Tod der alten Frau so sehr erschüttert haben,« meinte der Kreisrichter.

»Wahrlich, ein leiblicher Sohn kann nicht besser gegen seine Eltern sein, als der Amtsschreiber es gegen die alten Hallsteiner-Leute gewesen,« sagte die Frau des Kreisrichters. [150] »Nur fällt mir jetzt ein Wort auf, das er vor einigen Tagen, als er bei uns speiste, gesagt hat. Als er hörte, daß das Befinden der Frau Hallsteiner sich verschlimmert hatte, sprach er plötzlich: Mir scheint, nun werde ich bald Feierabend bekommen.«

»Am Ende ist doch etwas dahinter,« meinte der Richter und begann, dieweilen er seine Pfeife stopfte und in Brand steckte, über mancherlei nachzusinnen.

Und also hatten sie zusammen sich über den jungen Mann unterhalten, der sich als Mörder gestellt hatte. Fräulein Ludmilla war völlig still dagesessen. Sie hatte sich in ihre Häkelarbeit vertieft. Auf einmal stand sie auf und ging rasch zur Tür hinaus.

Die Frau seufzte. Der Richter sagte: »Morgen früh sogleich will ich die Geschichte untersuchen. Am Ende ist doch etwas daran.«


Die Nacht war schlaflos vergangen. Max Seelader hatte sich samt seinen Kleidern ins Bett gelegt. Seine paar Sachen hatte er schon gestern in einen Sack getan und sie nicht mehr ausgepackt. Nur eine kleine Photographie war aus der Tasche hervorgeholt und auf das Tischchen neben seinem Lager gestellt worden. Ein Mädchenkopf, das Original haben wir schon gesehen.

Zur Stunde, als der Kreisrichter im Amte zu erscheinen pflegte, ging der junge Mann hin zu ihm und sagte: »Da Sie mir mein Recht vorenthalten wollen, so reise ich jetzt zum Landesgericht, das ich um Strafe bitte. Teurer Herr! Vor Ihre Familie darf ich nicht mehr treten. Ich danke allen für alles Gute, ich sage Ihnen Lebewohl. Verzeihen –«

[151]

Er stockte.

»Jetzt lasse ich Sie aber nicht fort, lieber Seelader,« sprach der Richter, »daß bei Ihnen etwas nicht richtig ist, sehe ich nun. Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir ruhig das Anliegen, welches Sie drückt.«

»Ich danke Ihnen. Aber Beichte und Freundeszuspruch können mir nicht viel nützen. Es wird besser sein, wenn auch Ihre Herren Adjunkten anwesend sind. Und der Arzt, damit sichergestellt wird, daß ich nicht geisteskrank bin.«

»Sie wollen also ein förmliches Verhör. Gut, es soll geschehen.«

Nach wenigen Minuten stand der junge Mann vor dem Gerichte, und nach einigen einleitenden Vorfragen begann er also zu sprechen:

»Meine Eltern waren Gewerbsleute in N., sie wollten, nachdem ich das Gymnasium absolviert, auch mich für ihren Stand abrichten. Als sie starben, war ich frei und benutzte die Erbschaft, um in die Stadt zu gehen und zu studieren. Nicht so sehr wissensdurstig war ich, aber nach dem lustigen, ungebundenen Studentenleben plangte es mir. Und ein solches habe ich geführt, fünf Jahre lang. Die Kommerse, die Kneipen, die Mensuren und dergleichen machten mir viel Spaß, ja nahmen mein Wesen in Anspruch. Für einen wirklichen Gewinn hielt ich das Bewußtsein und das Hochhalten der Ehre, wie solches außer bei den Soldaten und Studenten in keinem Stande eigentlich entschieden und leidenschaftlich genug gepflegt wird. Ich will mich weiter darüber nicht auslassen, ich habe nur oft gesagt: es ist etwas Schönes, wenn ein junger Mensch seine Ehre höher wertet, als alles auf der Welt. Schon im zweiten Jahre meiner Studentenschaft hatte ich einen Kollegen aus der hiesigen Stadt kennen und achten gelernt, und bald entwickelte sich [152] zwischen uns eine innige Freundschaft. Er war der Sohn armer Eltern, mußte freilich mehr ans Lernen denken, als ans Burschenleben, und einer Stellung zutrachten, in der er sich und seine Eltern ernähren konnte. Das hinderte den wackeren Johannes nicht, die Studentenideale zu hegen und zu pflegen, und besonders die Burschenehre ging ihm über alles. Auf mehreren Mensuren bewies er seinen Mut, und in einem Duelle trat er für die beleidigte Ehre eines Freundes ein. Dieser Freund war ich. Es handelte sich um nichts weiter, als um einen boshaften Spott, den ein mir mißgesinnter Bursche in meiner Abwesenheit mir angetan. Johannes forderte ihn auf Pistolen. Am zerrissenen Kinnbacken trug er zeitlebens ein Merkmal seiner tapferen Freundschaft. Natürlich schloß uns dieser Handel noch enger und unzertrennlicher aneinander und ich schwor ihm, über seine Ehre ebenso zu wachen, als er über die meinige gewacht und als ich über meine eigene wachen kann. Und sollten wir vom Schicksal einmal voneinander getrennt werden, und sollten wir in was immer für eine Lage versetzt werden, unsere gegenseitige Ehre wollten wir behüten wie unser Leben, ja unendlichmal mutiger und glühender, als unser Leben. – Was sonst an Studentenangelegenheiten, Ehrensachen und Freundschaftsbeweisen war, kann übergangen werden. Ich weiß, was hier zu erzählen ist. Johannes hatte seine Studien vollendet und erhielt eine Anstellung als Postbeamter. Trotzdem brach er nicht mit den lustigen Kreisen, in denen er sich früher bewegte, ja, er erschloß sich noch neue. Man hielt ihn auch fest in denselben, denn er war ein heiterer, angenehmer Gesellschafter, und nach den langweiligen und verantwortlichen Stunden in der Amtsstube hatte er Zerstreuung nötiger als je. Es gab kleine Gelage mit Minnescherzen, mit Glücksspiel und anderen Lustbarkeiten. Wir [153] bewohnten zusammen ein Zimmer und es fiel mir auf, daß er häufig in später Nacht nach Hause kam. Einmal habe ich ihm etwas darüber gesagt, er antwortete, daß weder seine Berufs- noch seine Kindespflichten darunter Schaden litten, wie ich auch tatsächlich nie eine Klage über ihn hörte und wie ich auch wußte, daß seine mühseligen Eltern, die damals auf dem Lande lebten, in ihrem Johannes den Ernährer und Beschützer anbeteten. Also ging es eine Weile, und plötzlich war das Verhängnis da.«

Seelader unterbrach sich und trocknete mit dem Taschentuche seine Stirn.

Nach einer Weile sagte der Richter: »Nun, erzählen Sie weiter.«

»Schon seit einiger Zeit hatte ich bemerkt,« so fuhr der junge Mann fort zu sprechen, »daß mein Freund Johannes einen kleinen, scharfgeladenen Revolver bei sich trug. – Wozu denn so etwas? fragte ich ihn einmal. – Man kann nicht wissen, antwortete er, ob man nicht plötzlich in die Lage kommt, seine Ehre zu retten. – Das war mir dunkel. Ich hielt es im Scherze gesprochen und dachte: er hat amtlich mit Geldsachen zu tun, es kann ja eine Waffe vorgeschrieben sein. Im ganzen gefiel mir aber an Johannes etwas nicht mehr so recht, und ich konnte mir doch keine Rechenschaft darüber geben, was eigentlich an ihm unangenehm, oder vielmehr unheimlich war. Bei allen, die ihn kannten, stand er in hoher Achtung und von jedem, der mit ihm umging, ward er geschätzt als guter Kamerad. – Und nun kam diese Nacht.«

»Wünschen Sie vielleicht ein Glas Wasser?« unterbrach einer der Adjunkten den Erzähler, weil dieser erregt zu sein schien.

»Ich weiß wohl, was ich tue,« fuhr Seelader fort. [154] »Mit dem, was ich jetzt zu bekennen habe, vernichte ich mich. Und das will ich auch, darum stehe ich da. – Sie sehen, ich bin nicht aufgeregt, bin meiner Sinne vollkommen mächtig, und es wird sich leicht weisen, daß jedes Wort, was ich spreche, richtig ist. So etwas merkt man sich ganz genau. – Es war in der Nacht vom elften bis zwölften Februar 1885. Johannes war wieder spät nach Hause gekommen und schlief sehr fest. Ich schlief nicht so fest und hörte es sogleich, wie jemand an unsere Tür klopfte. Da es wiederholt pochte, so stand ich auf, nachzusehen, was es gäbe. Vor der Tür stand der Hausherr in flüchtig übergeworfenem Mantel und teilte mir flüsternd mit, daß er Auftrag habe, den Herrn Johannes Hallsteiner zu wecken. Es scheine etwas Besonderes dran zu sein, im Vorsaal sei ein Gerichtsbeamter und auf der Treppe stünden zwei Gendarmen. – Fast zu Tode erschrak ich und dann dachte ich: Was erschrickst du denn? Ein Irrtum liegt vor, den wollen wir gleich aufklären. Doch als ich draußen mit dem Gerichtsbeamten redete und den Verhaftsbefehl sah, gab's keine Ausflucht mehr und ich machte mich erbötig, den Gesuchten zu wecken und vorzubereiten, ohne daß mir auch nur eine Ahnung dämmerte, um was es sich handeln könne. Ihn im Schlafe überfallen, das würden sie doch nicht wollen. Als der Beamte vom Hausherrn sich die Versicherung geben ließ, daß die Fenster unseres Zimmers vergittert wären und auch sonst eine Möglichkeit des Entkommens nicht denkbar sei, durfte ich ins Zimmer zurücktreten. Die Türe hinter mir legte ich ins Schloß, zündete Licht an und weckte den Freund. – Johannes, sagte ich, du sollst aufstehen, es fragt jemand nach dir. Er war sonst keiner von denen, die sich schnell aus dem Schlafe aufzuraffen vermögen, aber jetzt schießt er empor, und wie ich ihm die Art des nächtlichen [155] Besuches andeute, wird er blaß. – Johannes, um des Himmels willen, was ist das? frage ich. – Du siehst es ja, antwortet er ganz heiser. Hierauf stürzt er in den Winkel hinter meinen Schrank, reißt etwas aus der Tasche seines Rockes, kauert sich nieder, wimmert, wehrt mit der Hand mich, den Hinzueilenden, ab und schleudert endlich den Revolver von sich. Ich hebe die Waffe auf und sage heftig: Was hast du getan? – Er fällt mir um den Hals: Hilf mir, Freund, es ist alles aus. Schulden, Spielschulden. Meine Ehre! Die Ehre mußte ich retten. Geld unterschlagen. – Ohnmächtig muß ich geworden sein in dem Augenblicke, denn als ich mich finde, ist er angezogen und macht sich bereit. An der Tür pocht es ungeduldig. – Noch einen Augenblick, bitte ich! ist mein Ruf, dann zum Freunde: Johannes, so gehst du nicht fort. In dieser Begleitung nicht! – Dann rette mich, sagt er und blickt hilfesuchend um sich. – Du hast in deinem Amte Geld veruntreut? sage ich und es kocht in mir, wild, rasend wild ein unbeschreiblicher Aufruhr, da, das ist deine Rettung ! und drücke ihm den Revolver in die Hand. Er schaudert zurück und lacht hohl auf: das habe ich ja auch so gemeint. Seit einem Jahre trage ich ihn bei mir in der Tasche. Wenn's zum äußersten kommt, einen Fingerdruck. Und jetzt, jetzt fehlt mir der Mut ! O, zertritt mich, die feige Bestie, speie mich an! Auf den Schuß habe ich gerechnet, für den schlimmsten Fall, mitten in Lust und Freuden habe ich auf den Schuß gerechnet, und jetzt fehlt mir dazu der Mut! hast du ein solches Scheusal schon gesehen? – Als er so ruft, mir geht's durch alle Glieder. Schreck, Zorn, Mitleid gräbt in mir. Ich presse seine Faust zusammen, daß ihm die Waffe nicht entfallen kann. Bebend an allen Gliedern, schluchzend bitte ich ihn: Freund, geliebter, einziger Freund, [156] verlasse dich selber nicht zu dieser Stunde. Sühne deine Schuld, rette deine Ehre, ich beschwöre dich! Du kannst nicht mehr weiterleben, du kannst nicht, Johannes, du bist ehrlos, verloren! Rette dich! Nur einen Funken Wille, nur einen Funken! Schließe die Augen, denke nichts, denke, es ist ein Traum, drücke los! Du mußt, Johannes, du mußt ! – Ich kann nicht! stöhnt er. O Gott, ich kann nicht, ich kann nicht! – Draußen machen sie bereits Anstalt die Tür einzubrechen. Mein einziger, mein liebster Mensch! flehe ich, bei allem, was uns heilig war auf dieser Welt, laß dich nicht forttreiben wie einen gemeinen Dieb. Mach ein Ende! Ich zwinge dich! – Er will den Revolver auf den Boden fallen lassen, ich drücke ihn zurück in seine Hand, will die Mündung gegen ihn wenden, seinen Finger krümmen auf den Hahn – wir ringen, die Tür kracht unter dem Zwängeisen. Wir ringen heiß, da knallt der Schuß, und Johannes sinkt zu Boden. – Die Ehre ist gerettet! Ich habe mein Wort gehalten! denn ich – ich habe losgedrückt! Ich habe ihn erschossen. Die Kugel drang unter dem Kiefer hinein nahe an der Narbe, die er bei jenem Duell meinetwegen davongetragen. Kaum es geschehen ist, stürzen sie zur zertrümmerten Tür herein. – Zu spät, sage ich, er hat sich erschossen! Ich habe vergebens mit ihm gerungen um den Revolver. – Dann haben sie ihn in die Totenkammer getragen. – Und ich, wie ich allein bin und vor mir die Blutlache sehe, da schreit es in mir: Was hast du getan? der Ehre wegen ein Mörder, ein Lügner geworden! Welcher Ehre wegen! Sage, verdammter Wicht, was entehrt denn? Entehrt das Stehlen anvertrauter Gelder, oder entehrt erst der Gendarm? Nicht was dein Gewissen sagt, ist dir die Hauptsache, sondern was die Leute sagen! Von solcher Art ist die »Ehre«, der du bisher alles geopfert hast, deine Zeit, dein Studium, [157] deine Begeisterung, deinen Freund, deine Seele. – Also rief es in mir, aber dieser Ehrbegriff, dieser verfluchte Ehrgeiz war noch nicht tot in mir, er rang mit meinem Gewissen, wie ich vorher mit dem Freunde gerungen. Du mußt dich als seinen Mörder nennen und deine Strafe leiden, mahnte das Gewissen. – O Schande! Schande! rief der Ehrgeiz, ein Meuchelmörder, ein Lügner, ein Schurke zu sein! – Höllische Pein litt ich in jenen Tagen. Dann ward mein Freund von Professoren zerschnitten, daß sie die Ursache seiner Tat fänden. In einer Anwandlung von Geistesverwirrung, sagten sie. Dann ward mein Freund hinausgetragen hinter das Lazarett und unter der Mauer eingescharrt. Als ich seine alten, nun ganz verlassenen Eltern sah, und wie die Mutter an seiner Grube zusammensank und sein Vater an der Krücke und mit weißem Haar fast stumpfsinnig auf den Sarg starrte, da wußte ich, was zu tun war. Ein Ausgleich wurde geschlossen zwischen meinem Ehrbegriff und meinem Gewissen. Zur Stunde faßte ich den Entschluß, mich nicht anzuzeigen, sondern mein Leben und Streben denen zu widmen, welchen ich den Sohn geraubt habe. Und erst wenn sie gestorben sein werden und meiner nicht mehr bedürfen, dann will ich hingehen und mich dem Gerichte stellen. Also schwur ich es, und das auszuführen war nun meine Ehrensache. Es ist das eine andere Ehre und ein anderer Ehrgeiz, mein Gewissen ist damit einverstanden. Mein kleines Vermögen war erschöpft, den letzten Rest schickte ich den Eltern meines Freundes. Ohne mein Studium vollendet zu haben, trachtete ich nach einer Stellung, um Brot zu erwerben. Endlich bekam ich die Schreiberstelle hier beim Kreisgerichtsamte, und da ich nebenbei in freien Stunden jüngeren Schülern Unterricht gab, so ward es mir möglich, außer für meine persönlichen Bedürfnisse, für das [158] Greisenpaar zu sorgen. Unerträglich war es mir, wenn ich gelobt wurde deswegen, daß meine Treue zum unglücklichen Freunde so groß wäre. Es war, als ob man einen am Galgen Baumelnden lobte, daß er es so hoch gebracht habe. – Seine Eltern selbst lebten stumpfsinnig und freudlos dahin und nahmen das, was ich ihnen geben konnte, als das, was es ja auch ist, als etwas Selbstverständliches. Mein Gewissen war nie zur Ruhe gekommen, und nur wenn ich darbte, um den alten Leuten um so mehr schicken zu können, wurde es für den Augenblick milder gestimmt. Trost gab mir der Himmel auch an guten Menschen, die er mich finden ließ, und es waren Anzeichen vorhanden, daß ich einmal glücklich, sehr glücklich werden könnte. Aber ich durfte das Glück nicht annehmen. Es war Ehrensache, ich durfte es nicht annehmen. So unausstehlich, so häßlich war ich mir geworden, daß ich fast mit Lust und Gier die Buße trug, um mich einst selbst wieder achten zu können. Nach fremder Achtung, nach fremder Leute Meinung über mich hörte ich nicht mehr aus, für solche Ehre bin ich unempfindlich geworden. – Das alles sage ich zu meiner Verteidigung, damit man sehe, wie es mir Ernst war. – Nun sind die zwei alten Leute gestorben. Ich habe keine Verpflichtung mehr. Und nun ist es an der Zeit, meine Tat einzubekennen und mich dem Urteile der Gerechtigkeit zu übergeben.«

Max Seelader schwieg.

Die Richter blickten einander an. Ein solcher Fall war ihnen noch nicht vorgekommen. Zum Glücke brauchten sie darüber nicht abzuurteilen. Feucht waren des Kreisrichters Augen, als er aufstand, dem jungen, jetzt auf seinem Platze schier zusammengeknickten Menschen die Hand auf die Achsel legte und sprach: »Haben Sie noch etwas zu bestellen, so [159] tun Sie es. Ich will dann mit Ihnen zum Landesgerichte fahren. Ihre Geschichte gehört vor die Geschwornen.«


Über Max Seelader findet demnächst im Landesgerichte die Hauptverhandlung statt. Lieber Leser, solltest du dabei einer der Geschworenen sein – welches Urteil würdest du fällen?


[160]

Die Vierzehnte.

Am Freitag bin ich also nicht abgereist zum Karneval in die Stadt.

»Reise Samstag früh,« hatte meine Mutter vorgeschlagen, und so reiste ich Samstag früh. Ich bin nicht abergläubisch, aber wenn man bei Unglücksfällen nachdenkt: fast allemal sind Vorzeichen nachzuweisen, die mit den Ursachen in geheimnisvollem Zusammenhange stehen.

Ich reiste Samstag früh und war zu Mittag in der Stadt. Daß ich im Gedränge des Bahnhofes mit dem Rockknopf an der weißen Schnur eines pompe funèbre -Mannes hängen blieb, war mir für den Augenblick ärgerlich. Was hat dieser Mensch auf dem Bahnhofe zu tun? Ein Bahnhof ist keine Leichenhalle, außer, wenn mit dem Zuge ein Toter ankommt, was, wie ich später erfuhr, damals allerdings der Fall gewesen. Ich war mit einem Toten auf den Karneval gereist! Ich bin nicht abergläubisch, aber den Knopf trennte ich mir selbstverständlich sofort vom Tuche.

Im Hotel nahm ich zwei gassenseitige fein möblierte Zimmer; es ist zwar auf eine besondere Häuslichkeit nicht zu rechnen, wenn man Welt sehen will, aber wohnen will man doch auch. Man erhält Besuche, und selbst wenn's nur für den Friseur wäre – stets das Dekorum, sage ich, gegen jedermann das Dekorum.

In bezug auf Salonanzüge, die ich mir sofort verschaffen mußte, wies man mich in das große Kleidermagazin »zum Uhu«. Ein Ballkleidermagazin »zum Uhu!« Ich bitte Sie! Abergläubische Leute müßte das Schild schon in vorhinein zurückschrecken; ich ärgerte mich bloß über die Geschmacklosigkeit und wählte ein anderes Geschäft.

[161]

Theater, Museen, Konzerte – Fastenkost, nichts als Fastenkost. Tanzen, springen, rasen, leben! Die Leute sind sozusagen lebendig und wissen doch nicht, was leben heißt. Mit den Elitebällen wollte ich den Anfang machen, abwärts geht's leicht und nach der Mahlzeit, bildlich gesprochen, wo man etwas pikanten Käse liebt, nehme ich noch etwas »Orpheum« oder »Elysium« usw.

Am zweiten Tage erhielt ich Einladung in ein bekanntes Haus zum Diner. Ich bin im ganzen nicht für häusliche Zirkel hierhergekommen, derlei kultiviert man auf dem Lande zur Genüge. Doch, einmal kann man ja annehmen.

In der Familie waren – wie ich wußte – ein paar hübsche Kinder von achtzehn aufwärts. Vortrefflich, das weiht in die Gesellschaft, in die Verhältnisse des diesjährigen Faschings ein. Man lernt das Feld kennen, auf dem man siegen will und wird. Ich dekorierte mich mit einer Rosenknospe, die ich ins Knopfloch steckte, und begab mich ins Haus, in das ich geladen war. Am Eingangstore begegnete mir eine alte Frau. Man braucht nicht abergläubisch zu sein, um von einer solchen Begegnung an der Stufe eines Hauses, in dem man sich unterhalten will, unangenehm berührt zu werden. Ich kehrte um, fuhr noch ein paar Straßen auf und ab, um dann das zweitemal ins Haus zu treten.

Der Empfang war überaus herzlich. Vor allem überraschte mich die Wohnung. Man hat auf seinem Landgut auch Komfort, aber diese Eleganz – ich war überrascht! Die Gesellschaft war nicht groß, aber glänzend, blendend – reizende Mädchen darunter. Man ist nicht blöde; das Buch vom »guten Ton in der Gesellschaft« hat man im Kopf, man ist sattelfest in der Kunst des Tanzmeisters, in der [162] Konversation, im Courmachen, kurz in allen ritterlichen Fertigkeiten eines Löwen. Man geht zu Tische; mir schneit der Zufall, nein, mein Glück, eine junge, entzückende Dame an den Arm, die ich an ihren Sitzplatz führe. Die alten Bekannten waren alsbald vertraulich; die sich bisher fremd gewesen, verstanden sich und es entwickelte sich jene ungebundene Munterkeit, die eine Gabe des Himmels ist, eine seltene Gabe, die keiner dem andern spenden kann, wenn sie nicht von selbst kommt. In feinen Kreisen kommt sie von selbst. Es ist doch ein anderes Leben in der Stadt als auf dem Dorfe. Alles so gebildet, so aufmerksam, so geistvoll! Es geht nichts über die Stadt.

Als wir im besten Schnabulieren waren – ich zertrennte just ein Stück Filet du Boeuf und sann mir dabei Artigkeiten aus, die ich meinen Beisitzerinnen sagen wollte – sprang die Hausfrau von ihrem Sitze auf und ihr Blick irrte schreckerfüllt über die Tischgesellschaft hin.

»Was ist?« war meine Frage an die Nachbarin. Man wird unruhig, auf allen Gesichtern Bestürzung. »Was ist geschehen?« fragte ich.

»Dreizehn!« hörte ich murmeln. »Dreizehn Personen an der Tafel!«

Alles sprang auf, aber die Hausfrau bat, daß man sich beruhige und vorläufig wieder an die Plätze begebe, damit das Unglaubliche nochmals untersucht werden könne.

Wir setzten uns wie auf glühende Kohlen. Die Dame des Hauses, die mir zur Linken saß, zählte von sich aus links hin die Anwesenden – es waren genau dreizehn – und ich war der dreizehnte.

Ein frivoler Patron war da, der meinte ganz unverfroren, er halte die Zahl dreizehn bei Tische nur in dem einen Falle für fatal, wenn bloß für zwölf gekocht worden. [163] Eine solche Bemerkung unter Gebildeten verdient, daß sie einfach ignoriert werde – und das wurde sie.

Hingegen rief die Hausfrau: »Unbegreiflich, es ist doch für fünfzehn gedeckt!«

Jetzt zählte meine schöne Nachbarin zur Rechten, indem sie von sich aus nach rechts hin vorging, es waren ganz genau dreizehn, und ich war der dreizehnte.

Was war zu tun?

Am ganzen Leibe zitternd, erbot ich mich, an einem Extratischchen Platz nehmen zu wollen.

»Na, das fehlte noch!« rief man.

Allsogleich wurde ein Diener zu einer Frau Müller, Apothekerswitwe im dritten Stock, geschickt:

Ob Frau von Müller nicht das Vergnügen machen wolle, heute bei uns zu speisen, dann möchte sie aber die Güte haben, sofort.

Der Bote kam zurück: Frau Müller wisse nicht wie sie zur Ehre käme, sie danke verbindlichst, aber es sei ihr momentan ganz unmöglich.

»Das ist noch ein Glück,« bemerkte eine Tochter des Hauses, »eine Apothekerin! Mama weiß nicht, wo sie den Kopf hat.«

»In der Tat,« sagte die Hausfrau, »es gibt Augenblicke im Leben, wo man trotz allem die Geistesgegenwart verlieren kann. Johann, gehen Sie ins Kinderzimmer, ich lasse Fräulein Antonia ersuchen, sie möchte mit uns speisen, aber sogleich!«

Nach wenigen Augenblicken trat Fräulein Antonia ein, ohne Festkleid, ohne Schmuck, ein junges, einfaches Wesen, das geräuschlos am untersten Ende der Tafel Platz nahm. Man beachtete sie nicht weiter und das Mahl nahm seinen Fortgang. Da die natürliche Heiterkeit jedoch einmal gestört [164] war, so mußte die gemachte dran, ist für den Notbedarf auch nicht übel, weil man sie in der Stadt ganz leidlich zu imitieren weiß. Ich konnte mich aus einer gewissen Beklommenheit gar nicht mehr herausarbeiten. Die Anzeichen für meinen Karneval spielten sich nicht gut. Ich war mit meinem jungen Leben in die Stadtluft gesprungen, um – der dreizehnte zu sein. – Wenn man nachdenkt, es trifft immer zu – der dreizehnte an einer Tafel stirbt. Man braucht darum nicht abergläubisch zu sein. – Doch es ist ja vorbei, bei Tische sitzen vierzehn. Ich schaute verstohlen zwischen Weinflaschen, kunstreichen Blumenvasen und silbernen Obst- und Backwerkaufsätzen hin gegen das Fräulein Antonia, das fast hilflos und unbemerkt unter den lauten, rede- und eßgewandten Herrschaften dasaß.

»In der Not frißt der Teufel Fliegen,« flüsterte meine stets geistreiche Nachbarin zur Rechten.

»Übrigens,« setzte die Hausfrau bei, um ihre Maßregel doch auch noch zu entschuldigen, »es ist ein braves, anständiges Mädchen, das ich erst vor wenigen Monaten vom Lande bezog. Die Tochter eines kleineren Beamten, die mir für meine jüngste Zucht empfohlen worden ist. Es fehlt ihr noch Schick, wie Sie sehen, aber mein Gott, man muß noch froh sein, heutzutage eine ehrliche und verläßliche Person zu bekommen.«

Wie ich aber so hinschaute auf das Mädchen, das mit dem glattgekämmten braunen Haar still und bescheiden zwischen den in aller Buntheit und mit allem Raffinement aufgeputzten Frauen dasaß, ohne Befangenheit und Geziertheit die Gabel handhabend und bisweilen mit ihrem großen Auge ruhig und mild aufschaute, da kam mir der vertrackte Gedanke: das wäre mir die liebste von allen.

Man braucht darum nicht abergläubisch zu sein.

[165]

Bei dem Aufruhr, den der Champagner verursachte, wollte das Mädchen heimlich sich davonmachen. Ich merkte es und säumte nicht, mit meinem Glase zu ihr zu treten und mit ihr anzustoßen.

»Gegen die Lebensretterin muß man stets galant sein,« hörte ich hinter mir sagen; das verletzte mich, ich weiß nicht warum. Ich stieß mit dem Mädchen doppelt herzlich an und schaute ihr ins Auge.

Dann entschwand sie. –

An den verschiedenen Vorzeichen war aber doch was. Mir war der Fasching verdorben. Ich war überall dabei, man kann sagen, ich machte Glück – aber mir fehlte das Animo. Es war verrückt, ich dachte an die vierzehnte. Sie war nirgends dabei, aber sie saß in meiner Seele, geradeso hold und bescheiden, wie sie dort bei Tische gesessen. Das hat man davon.

»Bist du in einem Hause zur Mahlzeit geladen worden, so mache einige Tage nach derselben in dem betreffenden Hause eine Visite, gemeinhin die Verdauungsvisite genannt,« so heißt es im »Buch vom guten Ton«. Mir wäre es lieb gewesen, wenn der gute Ton zehn solche Visiten verlangt hätte. Übrigens war ich in der Familie auch ohne Vorschrift willkommen und die Töchter wurden von Tag zu Tag liebenswürdiger. Aber das meinte ich nicht. Durch ihre Vermittlung wurde ich zu Hausbällen geladen, wo sie vortanzten und wo sie mich bei den Damenwahlen höchlich auszeichneten. Aber das meinte ich nicht. Endlich luden sie mich nochmals zum Speisen; ach, wie hätte ich gewünscht, daß wir wieder dreizehn zu Tische säßen! Doch es waren unser bloß fünf Personen. – »Der engste Familienkreis,« wie die Hausfrau so anmutend sagte. Aber das meinte ich nicht.

[166]

Ich machte die unmaßgebliche Bemerkung, daß in den Familienkreis doch auch die kleineren Kinder gehörten. Die Töchter erröteten über diese Bemerkung. Aber das meinte ich nicht.

Bei der nächsten Visite verfehlte ich beim Fortgehen in meiner Gedankenlosigkeit die richtige Tür und stand plötzlich im Kindszimmer. Mitten unter den fröhlichen Kleinen – fröhlich mit ihnen – saß meine Vierzehnte.

Ein halbes Jahr später habe ich sie aus demselben Gemache geführt. Ein weißer Schleier umrahmte ihr liebes Angesicht, ein Myrtenzweig lag auf ihrem Haar.


Diese Zeilen schreibe ich heute – am Vorabende unseres silbernen Hochzeitstages. Tag für Tag sitzen wir zu dreizehn an unserem Tisch: Sie, ich und die elf Kinder. Man braucht darum nicht abergläubisch zu sein: aber welch ein Glück, so zu seinen dreizehn mitsammen zu speisen!


[167]

Der Taubstumme.

Das war an einem Wintertage. Ich fuhr von der Hauptstadt mit dem Eilzuge in eine Provinzstadt hinaus. Es war eine sechs Stunden lange, öde Fahrt. Die dicht beeisten Fensterscheiben vermeinten weiß was zu verhüllen, und wenn man sich an denselben ein Flecklein freihauchte oder freikratzte, so sah man draußen den Nebel und die bereiften Telegraphenstangen – sonst auch nichts. Ich saß im Nichtraucherabteil zu vieren und, theoretisch genommen, hätte es recht ergötzlich sein können, denn es waren unser zwei Herren und zwei Damen. Aber du lieber Gott, die Damen vertreten zusammen ein volles Jahrhundert und der Herr kauerte tief in seinen Pelz vergraben und gab kaum ein Lebenszeichen von sich.

Schon als ich beim Einsteigen zufällig auf die Stiefelspitze des männlichen Gegenübers getreten war, benützte ich das sittige: Pardon! um gleich mit ein paar anzüglichen Bemerkungen über das Zusammenpferchen und die Unbehaglichkeit des Reisens im Winter ein Gespräch anzuknüpfen. Der Mann schaute mich mit seinen großen Augen betrübt an und hüllte sich schweigend in seinen Pelz.

Hingegen griff das Jahrhundert, welches auch schon fest saß, die Leine auf und gab der Mutmaßung lebhaften Ausdruck, daß Nebenabteile sicherlich ganz leer sein würden, daß aber die Herren Kondukteurs die nicht sehr löbliche Gepflogenheit hätten, dieselben usw. Es herrscheten hier überhaupt Unzukömmlichkeiten, die man auf ausländischen Bahnen nicht usw. – Und wie eben die Unterhaltung im Gelaß ähnlicherweise angeht.

[168]

Bei der Kartenvisitation fragte der Schaffner, ob wir in N. table d'hôte zu speisen wünschten. Ich und ein halbes Jahrhundert bejahten sofort, das andere halbe war stark unentschieden und entschloß sich endlich für die Karte. Mein Gegenüber, der apathische Mann im Pelz, schaute den Schaffner jetzt fragend an, mit einem gewissen ängstlichen Blick – ob hier etwas nicht in Ordnung sei, oder was der Mann wolle?

Dieser deutete uns noch durch ein Zeichen mit der Hand an, daß mit dem Herrn im Pelze etwas nicht richtig sei – und schloß dann das Abteil.

»Man tut doch immerhin am besten, table d'hôte zu speisen,« bemerkte ich hernach, um mit dem Herrn anzubinden, »man wird dabei am raschesten bedient und das Speisen à la carte bedeutet doch nur ein Gabelfrühstück im Vergleich mit dem in der Regel guten und verhältnismäßig reichhaltigen Mahle; die Preise unterscheiden sich nicht wesentlich.« Als mein Gegenüber sah, daß ich zu ihm spreche, deutete es durch eine klar zu verstehende Gebärde und durch einen gröhlenden Ton an, daß es nicht höre und auch nicht den Gebrauch der Sprache habe, und mummte sich – da es in der Tat recht frostig war – noch tiefer in seinen Pelz.

»Also taubstumm!« murmelte ich.

»Ach, der Arme!« – »Ach, der gute, arme Mann!« hauchten die beiden Frauen und schenkten ihm einen Blick, der überreich war an Teilnahme und Wärme.

Der Bedauernswürdige war ein noch jugendlicher hübscher Kopf mit schwarzem Schnurrbärtchen und blassen Wangen, eine jener interessanten Typen, in denen sich Schönheit und Schmerz so rührend vermählt hat. Meist schloß er die Augen, und dann war es freilich nur mehr [169] der Tastsinn allein, durch welchen er mit der Außenwelt zusammenhing. Aber er tastete nicht.

»Ein so hübscher, feiner Kopf!« meinte die eine der Frauen.

»Und reist allein!«

»Wie weit er wohl reisen mag?«

»Nach G., soviel ich früher an seinem Billett sah.«

»Für den Notfall kann ich ihm auf dem dortigen Bahnhofe behilflich sein,« war meine Bemerkung, »denn auch ich fahre bis G.«

Nun war ein reeller Gesprächstoff gegeben. Wir besprachen das traurige Geschick der Taubstummen und ich kam mit dem Jahrhundert bald darüber in Zwiespalt, was vorzuziehen sei, taubstumm oder blind sein. Ich entschied mich gewiß ganz unbedacht für das Taubstumme, denn das Gesicht geht mir über alles. Meine Seele sitzt im Auge, mir liegt die Schönheit der Welt im Lichte, in der Farbe. Des Menschen Wort ist mir entbehrlich, genug, wenn ich seinen Blick sehe. Was ich zu sagen habe, ist wenig; auch ist mein Wort als das des Fremden den meisten gleichgültig, jeder hört sich selbst am liebsten. Und was durch mein Auge einzieht, das bringt genug Stoff für ein reiches, inneres Leben und ich bleibe gesammelt, bleibe Eins mit mir. Zum Auge kann viel weniger Jammer eingehen als zum Ohre, und mit dem Auge kann ich viel weniger Unrecht tun als mit der Zunge. So bleibt der Taubstumme glücklicher und besser, als etwa der Blinde.

»Aber bedenken Sie doch, bester Herr!« so drang jetzt das ganze Jahrhundert auf mich ein und führte gegen meine Ansicht die gewichtigsten Gründe ins Treffen. Durch das Gehör komme alle Lehre und Erziehung in den Menschen, und so wie sich ohne Gehör die Sprache nicht bilden könne, [170] so blieben auch alle anderen Sinne zurück und man werde nicht sagen können, daß der Taubstumme um so besser sehe, während man vom Blinden wisse, daß er in der Regel ein schärferes Gehörorgan und einen ausgebildeteren Tastsinn habe, als der Sehende. Der Blinde führe ein reicheres und schöneres Geistesleben, während der Taubstumme zumeist stumpfsinnig, verschlagen, mißtrauisch und unzufrieden sei.

Ich bekam nachgerade Respekt vor den beiden Frauen. »Und bedenken Sie,« fuhr die eine fort, »von der Musik, die den höchsten Rang in der Kunst einnimmt, die bildend und veredelnd bis in die Seele dringt, von der Musik gar nichts zu haben!«

»Ein ganzes langes Leben ohne Vogelsang!« gab die andere zu bedenken.

»Ein Leben ohne Strauß!« rief die eine.

»Singt der Strauß?« fragte die andere.

»Nein, aber er geigt.«

»Ah so, der Wiener Strauß.«

»Und was in der Menschenkehle steckt!« rief die eine. »Ach: wenn ich daran denke! Gestern war ich in der Oper, in Lohengrin.«

»Wildmann soll wunderbar gesungen haben.«

»Unvergleichlich! Unvergleichlich! sage ich. Bei dem überfülltem Hause war es mir mit Mühe und Protektion gelungen, einen Galeriesitz zu gewinnen, von dem aus ich kaum auf die Bühne sehen konnte. Ich war trotzdem glücklich, und bei diesem Gesang, ich gestehe es, daß ich ein wahres Gebet tat: O Gott, ich danke dir für seine Stimme, ich danke dir für mein Ohr!«

Mit heller Begeisterung sprach sie's; dem Taubstummen mußten unsere lebhaften Mienen auffallen, er schaute der Dame, ich möchte sagen, wortdurstig auf den Mund, als [171] hätte er's denken können: Ich verlangte Opern nicht, wenn ich nur die Worte der Menschen hören könnte! –

Ein seltsames Mitleid erfaßte mich für den armen Mann und die Dame setzte bei:

»Wie das traurig ist! Sterben zu müssen, ohne Wagner gehört zu haben!« –

In N. angelangt, wollte ich meinem stummen Nachbar etwas zu essen verschaffen, aber er sprang selbst auf , nahm am Schänktisch Schinken und Bier, warf dafür den Betrag hin, setzte sich wieder ins Abteil und vermummte sich in den Pelz.

»Er weiß sich doch zu helfen,« sagte eine der Frauen.

»In den Taubstummen-Instituten genießen solche Leute heutzutage ja eine beinahe vollkommene Ausbildung.«

Und sie hielten der Humanität ihres Jahrhunderts eine gebührende Lobrede.

»Ein wunderschöner Mensch!« hauchte eine der Frauen, in das Anschauen des Unglücklichen versunken.

Dann war davon die Rede, ob er etwa gar verheiratet sei, oder ob Taubstumme überhaupt heiraten dürften; ein gesundes Mädchen; ob sich der Zustand auch auf die Kinder fortpflanze.

»Bleiben natürlich nur auf einem Ohre taub,« war eine Ansicht.

»Und stumm nur die Knaben,« gab ich zu, »bei Frauen ist überhaupt dieser Mangel schwer zu denken.«

So spielte sich das Gespräch, dann kam anderes dazwischen, auch jene Müdigkeit, der bei längerer Fahrt jeder Reisende, er mag anfangs auch noch so frisch gewesen sein, anheimfällt. Schien es doch, als hätte uns der Taubstumme angesteckt, bis wir endlich um die Abenddämmerung in den Bahnhof von G. einfuhren.

Das Jahrhundert reiste, nachdem ich mich recht artig [172] von ihm verabschiedet hatte, weiter; ich suchte dem aussteigenden Taubstummen behilflich zu sein, dieser war dann in der Menschenmenge rasch verschwunden.

Ich hielt mich in G. mehrere Tage auf, doch bekam ich den Reisegenossen nicht mehr zu sehen und ich vergaß auch bald der kleinen Gesellschaft im Gelaß. Dachte selbst nicht an die schönen Aussprüche der einen Dame über den Sinn des Gehörs und über die Musik, als ich eines Abends ins Theater zur Oper »Aïda« ging. Diese meine Lieblingsoper hatte ich schon in verschiedenen Ländern gehört, wozu ich noch bemerken will, daß mich gerade die italienische Aufführung im Vaterlande des Komponisten am wenigsten befriedigte. Diese überaus ergreifende und originelle Musik wollte mir in dem hüpfenden Tempo des Welschen nicht behagen; selbst Meister Verdi soll sie erst in der getragenen Weise der Deutschen recht liebgewonnen haben.

Als weiteres Motiv meines Theaterbesuches war der Opernsänger Wildmann, der eben in G. gastierte. Ich hatte meinen Platz im zweiten Parterre, und als der Vorhang aufging, war ich sowohl von der geschmackvollen Ausstattung als auch von der guten Besetzung der Oper an dieser Provinzialbühne angenehm überrascht. Wildmann als Radames wurde mit einem wahren Beifallssturme begrüßt und als ich – es war das erstemal – seinen in der Tat herrlichen Tenor hörte, mußte ich des wunderlichen Ausspruches gedenken: O Gott, ich danke dir für mein Ohr! – Doch, die Züge des Sängers! Die ganze Gestalt – wo war ich der schon begegnet? Ich wurde unruhig, ich bohrte meine Augen mit aller Anstrengung in das Opernglas, und im ersten Zwischenakte tauschte ich meinen Platz für einen des ersten Parterres um, daß ich noch besser sehen könne.

Hier sah ich's denn auch noch besser. Und sah es: [173] der berühmte Opernsänger Wildmann war niemand anderer, als mein Taubstummer vom Eisenbahnzug.

War's möglich? Das weiß ich nicht, aber es war. Auf der Bühne geht ja oft genug das Unmöglichste vor – doch was sollte einer gerade mit dieser Maske bezwecken? Sonnenklar war's mir bald: nicht hier, nein, dort im Gelaß hatte er Komödie gespielt. Doch warum? Für den Kunstgenuß war mir der Abend verdorben. Wildmann sang hinreißend, und er riß das Publikum zum rasenden Beifall hin – aber mich wurmte der Taubstumme. Dieser Taubstumme, der das feinste Gehör hatte im ganzen Reiche, und die herrlichste Stimme!

Kaum daß das Sterbelied der Eingemauerten verklungen war, eilte ich auf die Bühne, ich mußte den Mann sprechen, ich mußte ihn sprechen hören zu mir, mir gegenüber in nächster Nähe. Ich mußte ihm meine Freude zujubeln darüber, daß er nicht taubstumm war.

Der Regisseur sagte mir, Herrn Wildmann würde ich nach dem Theater im »Hotel Dachstein« finden. Ich ging ins genannte Hotel, in dessen Silbersalon die Künstler, Schriftsteller und anderen Schöngeister von G. sich einzufinden pflegen. Da saß nun auch bald inmitten einer munteren Gesellschaft mein Opernsänger und war der munterste von allen.

Ich saß abseits an einem Tische und beobachtete mir das laute, lustige Treiben des Theatervölkleins, in welchem jeder und jede so voll Geisteselektrizität war, daß während des Klapperns mit Messer und Gabel, während des Gläseranstoßens mit schäumendem Weine die Funken des Witzes wie lebhaftes Kleingewehrfeuer hin und wieder über den Tisch sprangen.

Endlich – als sich die Gesellschaft im Saale ein wenig [174] zu lichten begann und auch von den Theaterleuten sich einige verabschiedet hatten – stand ich auf, trat zum Künstlertisch, nannte meinen Namen und bat in höflicher Weise, ob ich es wohl wagen dürfe, mich für den Rest des Abends dem glänzenden Kreise einzureihen, wie ein Glaskrystall unter Diamanten.

Ich sei willkommen, sagten einige ziemlich gelassen und rückten mit den Stühlen. Herr Wildmann aber rief: »Der Tausend, das ist ja mein Reisegefährte!«

»So ist es,« sagte ich mich verneigend.

»Dann habe ich mich gefaßt zu machen auf einen Angriff,« lachte der Sänger.

»Allerdings beabsichtige ich etwas, was mir damals nicht gelungen ist, nämlich Sie zur Rede zu stellen. Es freut mich, Herr, es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, und ich bewundere den ausgemachten Schauspieler, der in Ihnen steckt.«

»Ja,« sagte Herr Wildmann lustig, »man verlangt von den Opernsängern eben, daß sie auch ein wenig Schauspieler seien.«

»Diese Verstellung! Dieser betrübte Blick zum Beispiel, als ich damals ins Abteil stieg!«

»Erklärlich auch ohne Verstellung. Sie sind mir nämlich auf das Hühnerauge getreten.«

Die Gesellschaft war aufmerksam geworden und wußte bald, um was es sich handle, und sie lachte.

»Wir haben Sie in der Tat für einen Taubstummen gehalten,« sagte ich.

»Ich weiß es,« lachte der Opernsänger, »ist aber Ihre Schuld, oder hätte ich Ihnen gesagt, daß ich's bin! Übrigens – Prosit!« Er schob mir ein perlendes Stengelglas zu: »Prosit!«

»Übrigens,« fuhr er dann fort, »daß ich nicht allein [175] spreche , sondern daß ich Ihnen auch Wahrheit sage! Ich habe es auf meinen häufigen Eisenbahnfahrten darauf abgesehen, für taubstumm gehalten zu werden. Erkennt man mich nicht und gelingt es mir, die Mitreisenden zu täuschen, so erwachsen mir aus meiner taubstummen Rolle unschätzbare Vorteile. Erstens schone ich meine Stimme, die unter dem steten Gepolter des Zuges nicht gewinnen würde, zweitens vernehme ich manches lehrreiche Gespräch, das man sonst in seinem Leben nicht wieder zu hören bekäme, köstliche Bemerkungen über die gehörlose Person, mitunter auch die freimütigsten Urteile über Theater und Oper und über den Sänger Wildmann, wie das eben auch bei unserer gemeinsamen Fahrt der Fall war. Allerdings kann man dabei auch Dinge zu hören bekommen, bei denen man nur herzlich bedauert, nicht wirklich taubstumm zu sein. Ich schmeichle mir, einige Menschenkenntnis zu besitzen, die mir wahrscheinlich länger treu bleiben wird als meine Stimme und aus der ich noch einmal Kapital zu schlagen gedenke. Wem verdanke ich sie? Den Stunden, da ich schwieg und scheinbar nicht hörte.«

»Vielleicht werde ich es Ihnen nachmachen,« war meine Bemerkung.

»Sie sind auch Künstler,« sagte er, »versuchen Sie's. Wohl dürften Sie ruhig bleiben, wenn man Ihre Bilder lästert; aber wenn man dieselben mit Enthusiasmus preist, und es kommt kein Glanz in Ihr Auge, dann erst sind Sie Meister der Verstellungskunst. Versuchen Sie's, es ist nicht leicht.« – –

Der Sänger und der Maler wurden an demselben Abende Freunde zu einander und verlebten mitsammen noch eine köstlich heitere Stunde, bis es ersterer endlich an der Zeit fand, die Kammer zu suchen und sieben Stunden lang wirklich taubstumm zu sein.


[176]

Hauptmann Fortner und seine Frau.

Hauptmann Fortner besaß so ziemlich alles, was Glück genannt wird unter den Menschen. Er hatte – und das sage ich voraus – ein lebensfrohes und naturfreudiges Herz. Sein Name war umleuchtet vom Glanze einer Heldentat. Er erfreute sich an einem schönen Weibe, an einem frischen, aufgeweckten Kinde. Nur eine Kleinigkeit fehlte ihm, die aber nötig ist, um dem Leben so recht nachlaufen zu können: anstatt des rechten bluteigenen Beines hatte er einen hölzernen Stelzfuß. Freilich war er auf dieses Stück Birkenholz stolzer als auf alle seine übrigen Glieder zusammen. Bei der Erstürmung von Serajewo hatte er den Fuß verloren und den Heldenglanz gewonnen. Aber dieses empfindungslose Stück Birkenholz schmerzte ihn mehr als alle übrigen Glieder zusammen, und es waren doch etliche darunter, die häufig durchzuckt wurden von rheumatischer Erinnerung an Bosnien. Das hölzerne Bein hatte ihn verdammt zum Ruhestand in jungen Jahren, die härteste Verdammnis, welche ein Soldatenherz zu treffen vermag.

Doch mochte Hauptmann Fortner deswegen mit dem Schicksale nicht viel hadern. Er hatte sein Opfer redlich gebracht, und sein im Grunde weiches, friedliebendes Gemüt bequemte sich zum beschaulichen Pensionistenleben. Die Winterszeit in der Stadt war gerade nicht nach seinem Sinne. Er ging zwar auf Stelzfuß und Krücke wacker spazieren – denn Stubenhocken, das war seine Sache nicht – aber die mitleidigen Blicke waren ihm zuwider, und er ließ seinen Schnurrbart so martialisch auswachsen und schaute [177] so scharf und finster drein, daß seine kampflustige Miene die mitleidigen Herzen zurückschreckte. Anders war es im Sommer, wo er mit seiner kleinen Familie auf einem Dorfe zu wohnen pflegte, in einem weiten Talkessel, der mit schönen Bergen und dunkelnden Wäldern umgeben war. Da konnte er sich erfreuen an den Verrichtungen fleißiger Arbeiter, denen er oft stundenlang vergnüglich zusah, konnte sich ergötzen an der landschaftlichen Natur, zu der er Jahr für Jahr größere Neigung empfand.

Seine Frau Emma harmonierte in all diesen Dingen lange Zeit ganz mit ihm, nur daß ihre gesunden Glieder noch weiter ausholen wollten und konnten. An den zahmen Spaziergängen durch Wald und Wiese fand sie nicht Genügen; mit zweien ihrer Brüder hatte sie einst eine Hochgebirgswander gemacht, und die ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Da sie ihren Knaben in der Pflege einer verläßlichen Kindsfrau wußte, so versäumte sie keine Gelegenheit, um sich Gruppen anzuschließen, die auf einen oder den anderen Berg stiegen, wie solche sich im Hintergrunde des grünen Gaues gewaltig erhoben. Sie sei verliebt in die hohen Berge! so sagte sie selbst, weil eine Frau alles, was ihr gefällt, mit der Liebe zusammenspannt. Der Hauptmann schaute manchmal der wohlausgerüsteten munteren Gesellschaft ein wenig betrübt nach. Das Herz tat ihm weh darob, daß er keinen der ins Land hinausleuchtenden Alpengipfel mehr erreichen konnte, und es tat ihm weh, daß – doch genug der Wehmut für einen Soldaten! Sie ist tapfer und kommt ihm wohlbehalten wieder zurück.

Also geschah es eines Tages, daß ein Bruder von Frau Emma, der Reserveleutnant war, einige junge Leute mitbrachte aus der Stadt in das Dorf; unternehmungslustige Studenten. Sie wurden natürlich dem Herrn Hauptmann [178] Fortner und seiner jugendlichen Frau Gemahlin vorgestellt und von diesen eingeladen zum Kaffee. Bei dem Kaffee entstand der Plan zu einer Besteigung des Hochschwab. Allgemeiner Jubel; nur der Hauptmann schwieg und dachte: Mußt dich eben begnügen damit, andere in Bergeslust zu wissen. Am Abende desselben Tages, während seine Frau ihm wie gewöhnlich das Rauchzeug zurecht tat, stülpte sie ihren weichen Arm ganz leicht auf seine Schulter: »Nicht wahr, lieber Mann, du hast nichts dagegen, wenn ich morgen mit von der Partie bin?«

»Wohin?« fragte er rasch.

»Die auf den Hochschwab geht. Gelt, dir ist es recht?«

Der Hauptmann stopfte seine Pfeife und sagte nichts. Ihm war zumute, als ob ihm jetzt etwas sehr Unangenehmes passiert wäre, und er konnte oder mochte sich doch keine Erklärung geben, weshalb er seine Frau nicht mit der Partie wissen wollte. Sie hat ja recht, hat zwei gesunde Füße und die Berge sind ihre Freude. Warum nicht? Der kleine Fritz zu Hause ist geborgen und versorgt. Allein …

»Wirst du dich denn auch unterhalten mit den weltfremden Leuten?« fragte er sie fast zärtlich.

»Die werden mich wenig kümmern,« antwortete die Frau, »ich gehe nur mit meinem Bruder Hans. Und am Abende, sagen sie, können wir wieder zurück sein.«

»Es wird etwas spät werden,« bemerkte der Hauptmann kleinlaut. Weil sie betrübt war, daß er keine bestimmte Antwort gab, sagte er endlich: »Ja, ja, Weibchen, wenn es dir Vergnügen macht, gehe nur.«

Am nächsten Morgen wollte er ihr noch Verhaltungsmaßregeln sagen, denn für den Hochschwab kam sie ihm etwas zart und unerfahren vor. Doch als er aufwachte, war sie [179] längst schon fort und ihr leeres Bett hatte nur die herzige Unordnung der verschobenen Decken und Kissen, in welchen stellenweise noch der Eindruck ihres Körpers zu sehen war. Schon um drei Uhr morgens, so erzählte die Kindsfrau, wären die jungen Herren draußen gewesen, aber bevor sie noch am Fenster klopften, sei die gnädige Frau flink und leise aus dem Bette gesprungen und kurze Zeit darauf schon vollkommen marschfertig mit ihnen gegangen. Im Wirtshause wäre Tee gekocht worden und dann habe man die Gesellschaft vom Waldschachen her, wo sie angestiegen, noch munter lachen gehört. Es müßten lustige Leute dabei sein, und über Studenten stehe einmal nichts auf.

Als einst bei Serajewo der Arzt dem Hauptmann Fortner mitgeteilt, daß er sich für alle Zukunft mit einem einzigen Beine werde behelfen müssen, war ihm ein wenig weh geworden ums Herz. Aber so nicht wie jetzt, so weh nicht wie jetzt. Der Zeiger der Uhr stand auf sechs, noch fünfzehn Stunden oder länger, bis sie wieder da sein wird. Mißmutig suchte er sein Holzbein anzuschnallen, es wollte nicht recht gehen, die Kindsfrau machte sich erbötig, ihm dabei zu helfen, er wies sie fast unwirsch zurück zum Knaben und bediente sich zur Not allein.

Im Laufe desselben Vormittags, als der Hauptmann unter der Linde saß, kam der Fleischerknecht mit dem großen Hunde des Weges; ein Kalb wurde herangezerrt und gehetzt. Der Hund sprang hinten drein, bald links, bald rechts, bellte heftig und tat, als ob er dem Kalb in die Beine schnappen wollte, so oft es sich weigerte zu gehen.

»Mylord, setz ab!« rief der Bursche dem Treibhund zu; da stellte dieser augenblicklich seine Arbeit ein und der Fleischer band den lockergewordenen Strick sorgfältig um den Hals des Tieres.

[180]

»Die Schwabengeher werden schon hoch oben sein!« rief er so nebenbei dem Hauptmann zu.

»Hast du sie gesehen?«

»Bei der zweiten Fölzbrücke sind sie mir begegnet,« berichtete der Bursche, »sind ihrer aber nicht mehr alle. Der Herr Leutnant hat in der Hütte zurückbleiben müssen.«

»Mein Schwager?«

»Hat sich beim Zaunstiegel den Fuß so stark verstaucht, daß es aus war.«

»Ist doch meine Frau bei ihm geblieben?« fragte der Hauptmann.

»Die Geißer-Gretel gibt ihm Umschläge.«

»Und meine Frau?«

»Sie werden jetzt schon hoch oben sein. – Na, vorwärts. Pack an, Mylord!«

Unter Gekläffe trappelte es weiter, und der Hauptmann blieb an der Linde zurück. Aber er war aufgestanden. Vor allem ließ er einen Wagen einspannen und fuhr zur Hütte in der Fölz. Dem Herrn Leutnant ging's nicht am schlimmsten, er war schon wieder davon, aber nicht auf den Hochschwab, sondern, wie ein Halter schmunzelnd dartat, in die untere Fölzsteinalm, wo die kraushaarige Geißer-Gretel ihre Ziegen hütete.

Im Herzen des Hauptmanns wütete ein heißer Zorn. Er machte allen Ernstes den Versuch, das Gebirge hinanzuklettern, es ging nicht. Er fuhr zurück ins breite Tal, und auf einer Anhöhe stieg er aus und starrte hin in die Wände. Die Wände waren hoch und ätherblau, die Spitze des Gebirges, die weit dahinter lag, war nicht einmal seinem Auge erreichbar. Wenn er an die Beschwerden dachte, die von den Touristen etwa zu überwinden waren, als hartes Klettern, Sonnenbrand, Durst, Sturm, Frost, Erschöpfung, da [181] wurde ihm leicht und tröstlich; wenn er sich aber vorstellte, wie sie auf grünen Matten rasteten, oder in Felsnischen saßen, aßen, tranken, scherzten, da wollte er vergehen vor Qual. Am Nachmittage suchte er bei seinem Kinde Linderung des Gemütszustandes. Der Knabe war im dritten Lebensjahre und trieb allerlei Ergötzlichkeit mit seinen hölzernen, rot angestrichenen Türken, mit seinen kleinen Zehen, mit des Vaters Schnurrbart und Nase, der Vater scherzte überlaut mit dem Kinde, blickte dabei immerfort auf die Uhr, die es heute so gar nicht vorwärts brachte.

»Papa!« sagte der Kleine plötzlich, »werden die Studenten Mama wieder zurückbringen?«

Gegend Abend stand er immer nur am Fenster. So oft er auf der Gasse Schritte oder einen Wagen hörte, steigerte sich seine Spannung. Zum Nachtmahl bestellte er ihr Lieblingsgericht, Forellen mit Artischocken. Es ward neun Uhr, es ward zehn Uhr, sie kam nicht. Die Nacht war finster und schwül, manchmal leuchtete ein matter Blitzschein auf. Der Hauptmann legte sich zu Bette, aber als der Tag anbrach, hatte er noch kein Auge geschlossen. Am Vormittage stellte sich sein Schwager Hans ein, der sehr aufgeweckt war und versicherte, daß sein Fehltritt über die Zaunstiegel sich schon wieder bekehrt habe.

»Zum Teufel, wer kümmert sich um deinen Fehltritt!« rief der Hauptmann, »wo meine Frau ist, will ich wissen.«

»Sind sie noch nicht da?« fragte der Leutnant überrascht. »Also müssen sie in den Fölzerhütten übernachtet haben.«

»Mensch!« sagte der Hauptmann und umklammerte mit ehernen Fingern den Arm des Schwagers, »Mensch, hast du denn wirklich keinen Hauch einer Ahnung von dem, was Frauenehre ist!«

[182]

»Mit solchen Begriffen, lieber Freund, plagt sie sich selber nicht,« antwortete Schwager Hans. »Bei Hirtinnen nimmt man's nicht so genau.«

»Und was man so Ritterlichkeit nennt unter Brüdern,« sagte der Hauptmann mit niedergedämpfter Wut. »Du hast dich zum Begleiter meiner Frau, deiner Schwester, gemacht und hast sie fremden jungen Männern überantwortet. Die einzige Dame mit Studenten auf einer Bergpartie, in Alpenhütten … Man muß Sägespäne im Kopfe haben …«

»Na, erlaube mir!« fuhr der Leutnant auf, »in diesem Tone lasse ich von meiner Schwester nicht sprechen!«

»Den Spieß umkehren! Auch gut!« rief der Hauptmann seiner nicht mehr mächtig. »Kuppler!«

Der Leutnant schoß auf dieses Wort wie von einer Feder geschleudert in die Luft. In demselben Augenblicke erhoben sich vor dem Hause fröhliche Stimmen. Die Touristen waren da. Keine allzugroße Müdigkeit sah man ihnen an, sie waren fröhlich und die junge Frau Hauptmännin war trotz der Schäden, die sie an ihrer Kleidung trug, lustig bis an die Grenze der Ausgelassenheit. Die jungen Herren verabschiedeten sich vor der Tür von der Frau, die sie noch an ein Versprechen erinnerte, bei einer nächsten Partie wieder ihre Kameraden zu sein.

Warum gehen sie heute nicht ins Haus, die jungen Herren? Warum treten sie ihm heute nicht unter die Augen?

Hauptmann Fortner hatte sich zurückgezogen auf seine Stube, er hätte es gerne gesehen, wie sich seine Frau beim Wiedersehen des Kindes benahm, er hätte gerne erfahren, ob sie nicht Ungeduld habe, den Gatten zu begrüßen. Sie kam aber nicht, sie zog in ihrem Gemache das zerfahrene Gewand aus, sie zog einen Sonntagsstaat an und machte sorgfältig [183] Putz. Endlich hielt er es nicht mehr aus, er trat bei ihr ein und fragte kurz: »Was wird denn heute noch sein?«

»Warum?« fragte sie, wie über seine Frage befremdet.

»Bekommen wir Besuch, oder machst du welchen?«

»Ah, du meinst, weil ich ein frisches Kleid angezogen habe? Mein Gott, soll ich nicht mehr ein anständiges Gewand am Leibe tragen?«

Trotzig? Wie? Auch die dreht den Spieß um, dachte der Hauptmann, aber das wird mich nicht irremachen.

»Emma,« sagte er mit Aufwand aller Fassung, »du scheinst von mir Vorwürfe zu befürchten, weil du mir mit den deinen zuvorkommen willst.«

Alsogleich richtete sie sich auf und fragte: »Wieso?«

»Sei ganz unbesorgt,« entgegnete er, »Vorwürfe werde ich dir nicht machen. Aber das wirst du dir merken: heute bist du das letztemal mit fremden Leuten auf einer Landpartie gewesen.«

Sie blickte ihn betroffen an.

»Außer in meiner Gesellschaft wirst du keinen Fuß mehr in die Welt setzen.«

»Deine Gefangene also,« entgegnete sie. »Es ist wohl ein Verbrechen, auf den Berg zu steigen. Es geht zwar alles hinauf, nur die Philister nicht. Und die Krüppel nicht. Ich will mein junges Leben –«

»Kein Wort mehr! – Du hast weder Takt noch –« Er sprach das Wort nicht aus.

Sie war still. Mit einer Handarbeit machte sie sich zu schaffen.

»Ich werde keine Landpartie mehr machen,« schluchzte sie in ihr Spitzentuch hinein. »Ich will vergessen, was das ist, auf einem Berg zu sein. Ich werde zu Hause bleiben. Das werde ich tun, ich verspreche es.« Und sie weinte kläglich.

[184]

Er verließ ihr Zimmer, denn lange wäre es ihm nicht möglich gewesen, fest zu bleiben. –

Seit diesem Tage war es schon eine Weile her. Der Schwager Hans hatte anfangs fast Duellgedanken gehegt, sich endlich aber dafür entschieden, nicht mehr in das Haus des Hauptmanns zu gehen, solange dieser ihn nicht ausdrücklich zu sich bitte. Der Hauptmann bat ihn aber nicht zu sich. Sein Verhältnis zur Frau war äußerlich wie früher. Von der Alpenpartie war nicht ein Sterbenswörtchen mehr gesprochen worden. Nur der Kindsfrau war eines Tages eine anzügliche Bemerkung über die schönen Studenten entschlüpft, das kostete ihr den Dienst. Der Hauptmann zahlte ihr auf der Stelle den Monatslohn aus und sie war entlassen. Frau Emma war seit jenem Tage in der Tat nicht hundert Schritte vom Hause fortgegangen. Sie saß immer, auch beim schönsten Sommersonnenschein, in ihrem Zimmer oder im Hofraum neben dem Hühnerstall und stickte altdeutsche Zieraten in Tisch- oder Bettwäsche.

Anders der Hauptmann. Ob heller Sonnenschein den weiten Talkessel füllte bis zum Überschäumen, oder ob schwere Wolken über dem Tale lagen, wie ein eherner Deckel mit Arabesken, den Hauptmann zog's hinaus. Mit mühseligem Schritte ging's voran, aber sein Antlitz war erfüllt von Naturfreude, und sein Auge war offen für alle Vorgänge in Flur und Wald und Wasser und Stein und am hohen Himmel. Dann saß er am Feldrain und blickte hinaus in das Bergrund, dessen Linien mit einem Ätherhauche sanft verschleiert waren, so daß die Felshäupter und Almkuppen doppelt weit entfernt und doppelt hoch erschienen. Und der Grund des Tales lag da wie ein Schachbrett mit den durch graue Holzzäune geteilten Quadratchen seiner grasgrünen Wiesen und strohgelben Felder; darauf die Figuren [185] der Höfe und Baumgruppen und der alten Burg, die auf einem Felskopfe stand. In der Sohle Tiefe lag eine weiße, stellenweise breit auseinanderquellende Sandriesel, in der sich jetzt ein winziges Bächlein schlängelte, fast verschmachtend wie eine Forelle auf dem Trockenen. Der Hauptmann freute sich an all der Augenweide, aber in seine Freude klang leise, ganz leise ein Glöcklein des Schmerzes. – Dann humpelte er durch das feuchte Dunkel des Waldes, wo der Hauch der Germen und der Genzianen und der Zyklamen war. Was das Herz frisch wurde mitten in diesem ungeheuren Neste des Lebens! Doch, das Glöcklein in ihm klang fort, leise, aber immer und immer. – Wäre ich nicht allein! so quoll es einmal hervor zwischen seinen Lippen, denn im Grunde erträgt ein reges Herz die Freude nicht weniger schwer allein, als das Leid. Und die Natur, wenn sie in ihrer allebendigen Stille unter uns, über uns daliegt, um uns webt und leuchtet, eine ewige Harmonie der Kräfte auf der Wage unendlicher Räume, nur zum kleinsten Teil wahrgenommen, erfaßt von unseren Sinnen – sie wirkt schier beklemmend auf die Seele. Unsere Glücksahnung und Wohlempfindung darüber, daß wir ein Teilchen dieser vollkommenen, unzerstörbaren, unendlichen Größe sind, wird getrübt durch das Bewußtsein, daß es unmöglich ist, das Ganze, zu dem wir gehören, zu überschauen und zu begreifen. Uns beginnt zu bangen vor den allewigen Gewalten, so sehr ihre Erscheinungen unsere Sinne auch entzücken mögen, und wir fliehen zu geliebten Menschen, bergen unser zitterndes Herz an einer fühlenden Brust.

Etwas unstet stolperte unser Hauptmann dahin, wenn solche Gedanken und Empfindungen ihn bewegten. Da war es auch, daß er am See stand. Er setzte sich auf einen stumpfkantigen Stein, der von der Felswand niedergebrochen [186] war und schaute hin auf die glatte Tafel, die mittendurch einen Sprung hatte, der eine Teil war der tiefschwarze Spiegel des Fichtenwaldes, der andere des lichten Himmels. Wie freundlich und wie kurz ist der Weg zu allen diesen Schönheiten, und wie leicht ist er zu gehen; ein wahrer Genuß für den, der gesunde Füße hat. Und doch ist niemand da, und die Bäume und die Steine und die rieselnden Ufer sind einsam, und der Mensch, der hier sitzt und hinausschaut … Muß man denn immer voller Mühe und Gefahr und anderen Args hoch hinaufsteigen ins tote Gestein? Ist die Schönheit denn nicht am schönsten, wenn man mitten in ihrem urheiligen Wehen und Weben steht? – Sie weiß es nur nicht, wie leicht sie das alles haben könnte, und sie sitzt zwischen Mauern wie eine Gefangene.

Eines Tages hielt er es nicht mehr aus. Mitten aus der stimmungsvollsten Landschaft ging er fast zornig fort und nach Hause. Seine Frau saß im Hofe, neben der Scheunenstiege auf einem Sockel und stickte. Nach drei Seiten waren die Mauern, an deren Ecken Strohhalme wirr niederhingen und Spinnenweben klebten. Die vierte Seite war von einem Holztore geschlossen, über das ein Stückchen Himmel hereinblaute. Emma wollte nicht einmal dieses kümmerliche Stück Ätherblau sehen, sie schaute auf ihre Arbeit und stickte. Die Magd fegte mit einem Besen den Hof aus, der Staub umwirbelte die Frauengestalt; sie hüstelte und kehrte sich nicht daran. Also trat der Hauptmann an sie heran und sagte mit freundlicher Stimme: »Emma, heute sollten wir doch zusammen einen kleinen Spaziergang unternehmen. Es ist zu himmlisch draußen. Komm!«

Sie bückte sich nach einer Nabel, die aber gar nicht hinabgefallen war, und antwortete ganz leichthin: »Nein, ich bleibe zu Hause.«

[187]

Er schwieg und ging allein wieder hinaus. Am nächsten Tage nahm er seinen Knaben mit, der aber hockte mitten auf der sonnigen Straße hin und beschäftigte sich mit Steinchen und Käfern und der Hauptmann blieb doch allein mit seiner Freude an der großen landschaftlichen Natur und mit seinem Drange, sie mit einem lieben Menschen teilen zu können. –

So war es in diesem Sommer und so war es im nächsten Sommer. Der Hauptmann ging allein und mühselig in der Gegend umher und Frau Emma saß daheim in den engen Mauern ihres Hauses. Sie sagte kein Wort davon, daß sie auch einmal hinaus möchte. In unbewachten Stunden aber war zum Fenster hinaus ihr Auge sehnsuchtsvoll gerichtet nach den Zinnen des Hochschwab, die über den Waldungen niederleuchteten. Da trat der Hauptmann wieder einmal zu ihr hin und sagte: »Liebes Kind, wenn du wüßtest, wie schön es ist da draußen auf dem Feldpfade, da drüben im Walde, am See!«

»Ja, ich kann mir's denken,« sagte sie und stickte.

»Auch dieser Sommer wird bald dahin sein,« fuhr er fort, »und du hast wieder nichts gehabt vom Landleben.«

»Ich bin ganz zufrieden hier im Hause,« war ihre Antwort.

»Aber es wäre so nett, wenn wir säßen da oben unter dem Ahorn und ins weite Tal hinausschauten und plauderten, und Fritz spielte neben uns im Grase oder sammelte Beeren.«

»Nimm ihn nur mit,« sagte sie, ohne aufzublicken. »Ich warte, bis er so groß ist, daß man mit ihm Alpenpartien machen kann.«

»Muß es denn gerade eine Alpenpartie sein?« fragte er, sogleich ärgerlich.

[188]

»Das muß es nicht,« sprach sie, »darum sage ich ja, daß ich zu Hause bleibe.«

Also ging er wieder allein davon. Dieser Sommer war besonders einladend zu Spaziergängen. Die morgendlichen Wiesen voll Taues, die mittägigen Wälder voll Blumenduftes und Schmetterlingsgegaukel, die abendlichen Schluchten voller Lichtspiele. Und die Vollmondnächte mit ihrem stillen, fast überirdischen Zauber – dem einsamen Menschen wurde immer nur weh' im Herzen. Blumen pflückte er, Waldfrüchte sammelte er und brachte sie heim seinem Weibe.

»Ah, wie hübsch!« sagte sie, »danke dir!« legte den Strauß neben sich hin und stickte.

Einmal brachte er sie bis zum Baumgarten. Sie saß unter einem Apfelbaum und arbeitete. Manchen kurzen Blick tat sie hinaus zwischen den schlanken Stämmen und dem luftigen Laub in die freie, mit silberigem Duft gesättigte Gegend, er merkte ihr an, wie wohl ihr war und sein Entzücken darüber, er vermochte es nicht zurückzuhalten.

Da sagte Frau Emma plötzlich: »Ich glaube es wird kühl,« raffte ihre Sachen zusammen und ging hinab zum Hause.

So war es Sommer für Sommer. Frau Emma saß in ihrem Zimmer oder im Hofe, der Hauptmann strich mit seinem Stelzfuße über die Matten, über sonniges Heideland, in schattenfrische Gründe. Fritz wuchs heran, ward ein aufgeweckter Junge, blieb aber, wenn er auf den Schulferien zu Hause war, weder bei der stickenden Mutter in der Stube, noch ging er mit dem beschaulichen Vater. Er suchte Kameraden, mit denen er auf die Bäume kletterte, auf hohen Stelzen gehen, in den Bächen Krebse fangen und andere Knabenlust hegen konnte.

Zehn Jahre war er alt, als eines Tages seine Mutter [189] zu ihm sagte: »Daß du doch den ganzen Tag herumlaufen kannst! Wirst du denn nicht müde?«

Der Junge blickte sie verwundert an; müde sein, er wußte nicht, was das wäre. Noch am Abende wollte er nicht ins Bett, aber als er endlich drin lag, schlief er auch schon.

»Wenn du gar nicht müde wirst, so kannst ja mit mir einmal auf den Hochschwab gehen!« sagte die Mutter.

Da jubelte Fritz auf, klatschte in die Hände, hüpfte vor Freude auf einem einzigen Fuß herum und jauchzte: »Auf den Hochschwab! Auf den Hochschwab!«

Darüber freute sich nun auch der Hauptmann. Zwar äußerte er anfangs einiges Bedenken, das aber gründlich niedergeschlagen wurde. Sie würden sich einen Führer nehmen, wenn es sein müsse, übrigens wisse sie – Frau Emma – auf den Bergen wohl Bescheid. Die Vorstellung, daß seine zwei liebsten Menschen den großartigen Naturgenuß haben würden und er selbst sozusagen durch die Augen seines Weibes und seines Kindes die Welt wieder einmal vom hohen Berge aus anschauen könne, trug in dem Hauptmann den Sieg davon. Er versorgte sie mit allem Notwendigen und ließ sie gehen.

Und in einer kalten Tagesfrühe, als der Morgenstern aufstieg über den Bergen des Mürztales, verließen Mutter und Sohn das Haus. Ein Träger ging mit ihnen, der jedoch nach einigen Stunden überflüssig wurde, denn als sie auf den Höhen waren, hatten sie den Mundvorrat zum Teile aufgezehrt und die Überkleider angezogen. Was gab es da noch viel zu tragen! Die Frau nahm die Ledertasche an sich und schickte den Träger zurück.

Hauptmann Fortner saß wieder auf seiner kleinen Anhöhe, blickte zum Hochschwab empor wie einst, und dachte seinem Weibe nach wie einst. Aber heute nicht mit Trauer, [190] sondern mit frohem Stolze. War doch er selbst bei ihr in seinem frischen, tapferen Söhnlein; an Seite dieses Ritters wußte er sie gerne. Und auf den Träger und Führer konnte man sich wohl auch verlassen. Also saß er da den lieben langen Tag über und genoß die Alpenherrlichkeit, als wäre er oben mit seinen lieben zwei Menschen. Am Abende wollte er ihnen dann entgegenfahren durch das Hochtal, denn die Rückkehr war noch für denselben Tag bestimmt. Aber am Mittage kam der Führer zurück und berichtete, sie wären allein oben und hätten ihn zurückgejagt. Für das erste kam jetzt ein Donnerwetter über den Mann, der seine ihm Anvertrauten verlassen hatte; dieser aber entgegnete, er hätte gemeint, den Weibern müsse man ihren Willen lassen. Und sie würden ja gar nicht auf die Spitze des Schwab wollen, sondern sich wahrscheinlich auf die grüne Alm hingelegt haben. Auch habe er andere junge Leute oben gesehen, die Kohlröslein und Edelweiß gesucht. Gegen Abend würden alle wohlbehalten wieder herabkommen. – Für das zweite ließ der Hauptmann sofort einspannen und fuhr durch das Hochtal hinauf, soweit der Weg fahrbar war. Als dieser in einer breiten Sandhalde sich verlor, stieg der Hauptmann, aus und wollte es mit der Krücke versuchen, emporzusteigen. Da kamen sie herab. Einige Knaben waren es, Hirten und Bauernjungen, und mit ihnen auch der Fritz.

»Seid ihr da?« rief ihnen der Hauptmann entgegen.

»Ich will nicht fahren, Papa!« schrie Fritz, »wir wollen zu Fuß gehen und Krebse fangen. Ich bin gar nicht müde.«

»Wo ist die Mutter?« fragte er.

Da stutzte der Junge.

»Mama wird ja voraus sein,« sagte Fritz. »Der,« er deutete auf einen anderen Knaben, »der hat gesagt, daß sie voraus ist.«

[191]

Hierauf erzählte Fritz: Als sie oben an den Felsen gewesen, habe er die Knaben gesehen, die im Gewände Blumen gesucht hätten. Er habe sie gekannt und sei zu ihnen hingelaufen, und sie hätten einen Hut voll schöner Rosen gefunden. Dann sei ein anderer Bub gekommen und habe gesagt, Mama wäre wohl schon hinabgestiegen, und dann wären sie auch eilends hinabgegangen. – So war der Junge nun da und die Mutter nicht mit ihm. Dem Hauptmann ging es kalt wie Stahl ins Leben. Da er gesehen, daß es für ihn unmöglich war, hinanzuklettern, fuhr er eilends zurück ins Tal und bot Leute auf, sein Weib zu suchen. Am späten Abend stiegen sie an, aber am nächsten Morgen waren sie noch nicht zurück. Fritz schlief in derselben Nacht so fest und süß, daß in dem verzweifelten Vater ein Haßgefühl erwachte gegen sein eigen Kind, das so sorglos und leichtsinnig sein konnte, die Mutter auf wildem Berg zu verlassen und dann daheim im Federbette gottlos ruhig zu schlafen.

Am nächsten Mittag war noch niemand zurück. Am darauffolgenden Abende kam einer der suchenden Männer, um zu fragen, ob sie nicht etwa doch schon zu Hause sei.

»Unseliges Kind!« rief der Hauptmann, den Knaben rüttelnd, er wollte ihn würgen und küssen zugleich. – Unseliger Mann! so widerhallte es dumpf in ihm. – Denn die Ahnung war zur Vermutung, diese zur Wahrscheinlichkeit, diese zur Gewißheit geworden: Sein Weib war geflohen, entführt. Alles war angespielt gewesen, sie hatte den arglosen Knaben im Gebirge wohl fortgeschickt, war von dem Buhlen sicher schon erwartet worden unter den Wänden, war mit ihm jenseits in die Gegend der Salza davongeeilt, nach dem Österreicherland, in die weite Welt. Also endet's mit dieser Ehe …

[192]

Herr Hauptmann, wir bitten um Urlaub. Bevor wir das Schlimmste annehmen, wollen wir uns doch selbst auf die Suche machen nach der Frau.

Als Frau Emma den Träger zurückgeschickt hatte, stieg sie mit dem Knaben munter die Matten an. Sie hatte Mühe, Fritz vorwärts zu bringen, an jeder Blume, an jedem Käfer blieb er hängen. Nur das, was greifbar, faßbar, fangbar und tragbar war, machte dem Knaben Lust, alles andere war für ihn nicht da. Endlich kamen sie in das Gebiet der Steine. In wuchtigen Blöcken, in sandigem Schutt, in starrenden Wänden waren sie da. Ringsum steile, zerrissene Felsen. Sie waren in ein Kar hinaufgegangen und in einen Hochkessel hineingekommen, wo kein Halm und kein Zirm mehr stand – alles kahl und starr. Sie kehrten um, bogen um eine Wandrippe, und da war es, daß Fritz die Knaben sah drüben am grasigen Hang zwischen Zirmbüschen und grauen Steinen. »Gemsen! Gemsen!« hatten sie geschrien, da begann Fritz zu laufen und zu klettern und in wenigen Minuten war er bei den Knaben. Die Mutter freute sich anfangs, daß er Genossen gefunden, sie setzte sich auf einen Stein um zu warten, bis sie herüberkämen vom Hang. Dann wollte sie sich mit ihrem Jungen auf den weiteren Anstieg machen. Sie kamen aber nicht, und als die Frau endlich aufstand, um über den Zirmbusch hinüberzuschauen, waren sie nicht mehr zu sehen.

Nun begann sie zu rufen nach dem Fritz. Die Rufe schlugen an die Felsen. Der Knabe kam nicht und war nicht zu sehen und nicht zu hören. Jetzt begann ihr plötzlich bange zu werden. Sie hub an, zwischen dem Gezirm hinzuhuschen, mit Händen und Füßen über Felsklötze zu klettern, in großen Sprüngen von Stein zu Stein zu setzen. Sie kam an den grünen Hang, wo früher die Knaben zu sehen [193] gewesen, sie sah und hörte keinen. Sie blickte in die Tiefe, wo es wie ein dunkelgrüner See lag, es war ein Zirmschachen; nirgends ein Mensch. Sie kletterte anwärts in einer steinernen Runse, wohin konnten sie anders sein, als da hinauf, denn an beiden Seiten waren die Wände. Sie kam in eine Wandfalte hinein, in der Schutt und Schnee lag: auf dem Schnee war keine Spur eines Menschenfußes. Jetzt suchte sie zu einem Felsrücken hinanzuklettern, um weiteren Blick zu gewinnen. Aber als sie auf dem Grate stand, war vor ihr ein zweites Grat, das noch schärfer hervorsprang und ihr also wieder die Aussicht deckte. Sie kroch über die breite steile Runse auf allen Vieren quer hinüber, sie arbeitete sich empor an den starren Felsrücken. Der Blick war jetzt frei in ein tiefes Felsental, an beiden Seiten finster ansteigendes Gewände, auf den Zinnen Nebel, in den Tiefen Schatten. Hart vor den Füßen der Frau ein schwindelerregender Abgrund. Und von ihrem Fritz keine Spur. Schon bluteten ihr Hände, Füße und Knie, aber keine Müdigkeit. Sie wollte den Weg, den sie gekommen zurückeilen, verlor aber die Richtung. Sie kam an eine Stelle, wo noch ein kleiner Vorsprung war, dann aber der Grund, auf den man einen Fuß stellen konnte, jäh aufhörte. Sie wollte zurück, sah aber, daß sie aus einem Abgrund heraufgeklettert, an dem der Rückweg unmöglich war. Nun, da stand sie oben. Wie in der Kirche ein Heiliger an der Wand, so stand sie da oben, konnte nicht weiter. Alle Glieder zitterten ihr, auf der Stirn kalter Schweiß, blaue Flammen, rote Funken vor den Augen, sie sank hin aufs scharfe Gestein.

Als Frau Emma wieder wach wurde, wußte sie nicht, wo sie war, glaubte zu träumen, griff mit der Hand nach links, nach rechts, um ihr Bettgewand zu tasten. Kaltes [194] feuchtes Gestein. Jetzt besann sie sich mit heißem Schreck ihrer Lage. Ringsum Nacht, am Himmel Sterne. »Fritz!« schrie sie gellend. Er war nicht da. Sie sprang auf, um trotz der Dunkelheit hinabzusteigen, sie glitt aus und rasch ging's in die Tiefe.

Als sie das zweitemal erwachte, loderte vor ihr ein Feuerbrand. Die Sonne war emporgestiegen, Frau Emma lag in einem Zirmstrauch, halb noch getragen von den buschigen Armen. Allmählich kam sie zu sich. Da sah sie, es war alles verloren. Denn hier, wo sie lag, war seit der Weltschöpfung kein menschlicher Fuß noch gestanden, es konnte an den senkrechten Wänden keiner heran und keiner davon. Wie das hier alles hübsch beisammen ist: zu Füßen das Grab für den Leib, zu Häupten der Himmel für die Seele. Grausig schön standen die hohen Felsen ringsum in Morgenglut und grausig einsam! – Und dort draußen, weit hinter den kahlen, niedrigen Riffen blaut das Waldland. Sanft und weich wie eine Wiege liegt der Talkessel zwischen zahmen, waldigen Bergen. Frau Emma hatte ihre Taschen ausgesucht nach Brotkrumen, denn der Mundvorrat war unterwegs geblieben. Dann blickte sie empor die senkrechte Wand über ihrem Haupte, ob nicht ein Striemlein Wassers herabrinne. Wie war alles dürr! Sie wußte wohl, dieser lechzende, klebende Gaumen mit dem widerlich bitteren Geschmack war der Anfang vom Sterben. – O lieb Gelände dort draußen mit den Auen, mit deinen heimlichen Wäldern! Voller Leben! Voller Leben! Und ich konnte dich verschmähen, du heiteres Paradies! – Mein Mann! Wie hat er unzähligemale meine Hand gefaßt! Jetzt kann ich diese treue Hand nicht mehr erreichen! Allein ließ ich ihn wandeln zwischen Blumen und frischen Wäldern hin und mein Sinn war steinernes Hochgebirge. Jetzt bin [195] ich in dir, du furchtbare tödliche Welt. Dort unten war Liebe, Freude, Glück in hundertfachen Formen, ich habe alles versäumt. Verliebt in das Hochgebirge! Habe ich nicht einmal damit geprahlt? Nun vergehe ich in dir. Mein Mann, mein Kind, mein junges Leben! – In solch herzversengenden Gedanken verging Stunde um Stunde. Und als die Sonne hoch über den starren Zinnen stand, und der Fels glühte und das verlassene Menschenherz im Verschmachten war, da lebte das Auge noch einmal auf. Sind dort unten im Kar nicht schwarze Punkte, die sich bewegen? Das bereits entfliehende Leben, stürmisch drängt es wieder zurück ins Menschenwesen. Als ob nie eine Müdigkeit, nie ein Verschmachten gewesen wäre, so erhebt sich das Weib über dem Zirm und winkt mit dem weißen Tuche und ruft: »Hier! Hier! Ferdinand!« Nicht mehr das Kind ruft sie, den Mann ruft sie, denn all ihr Fühlen und Sehnen und Lieben ist zurückgekehrt zu ihm. Und ihre einzige, alleinzige Erquickung zu dieser Stunde das Bewußtsein, daß sie ihn nie betrogen.

Was Menschen vermögen, wenn es gilt, einen der Ihren zu retten! Koste es was es wolle, und wäre es ein Fürstentum. Und Wunder wirkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit, es überwindet die äußere starre, herzlose Natur. – Schon zu dämmern begann es, als die Stricke geschleudert wurden von Fels zu Fels, von Kante zu Kante heran bis zum Zirmstrauch, zur Felsenbrust, um ihr dieses verzagende Menschenleben noch abzuringen. Bei Fackelschein wurde sie hinabgetragen und um Mitternacht lag sie auf dem taufeuchten Rasen der Matte und schlief. Und als wieder der Morgen dämmerte, lag sich das Ehepaar unter krampfhaftem Schluchzen in den Armen und daneben in seinem Bettchen schlief göttlich leichtsinnig der blühende Knabe.

[196]

Also ist es geschehen und also hat Frau Emma erfahren, daß die Waldberge besser und schöner sind, als die Felsen, und daß der Mann verläßlicher ist als das Kind. Und dem Hauptmann ist es eingefallen, daß es vielleicht nicht allemal gut ist für den Ehegatten, gleich das Schlimmste zu befürchten, wenn die Frau aus seinem Bereiche tritt.

Frau Emma ist nicht mehr auf den Hochschwab gegangen, weder mit Studenten, noch mit ihrem Knaben. Sie ist an heiteren Sommertagen auch nicht mehr in ihrem Zimmer gesessen oder im staubigen Hofraum. Arm in Arm mit ihrem Manne, und gleichsam seine Krücke, ist sie gegangen über die blumigen Auen, durch die grünen Wälder und entlang am stillen blauen See. Ein Glück ist gekommen über beide, von dem sie in langen Jahren keine Ahnung gehabt. Wenn sie im Tale so dahinwandelten, mußte Frau Emma nur eins vermeiden – den Blick auf das Gebirge des Hochschwab. Denn wenn sie hinter den Waldkuppen die kahlen Felsriesen aufragen sah, da wurde ihr übel.


[197]

Scheintod.

Bis zum Jahre 1869 lebte ich in der Residenz, wo ich an der technischen Hochschule als Assistent im physikalischen Kabinett und später als Professor tätig war. Im Jahre 1869 wurde ich zum Bürgerschuldirektor im Landstädtchen B. ernannt. Im Vorfrühling des besagten Jahres übersiedelte ich mit meiner Familie an den neuen Bestimmungsort. Meine Familie bestand aus der Gattin, mit der ich im neunten Jahre vermählt war, ferner aus zwei Kindern, einem Knaben von sieben und einem Mädchen von sechs Jahren. In B. bezogen wir eine geräumige und freundliche Wohnung und richteten uns fröhlich ein. Ich hatte mir in der Residenz die nötigen physikalischen und chemischen Instrumente nebst einer kleinen Sammlung von Mineralien, Schmetterlingen, Käfern und ähnlichen Dingen erworben, wie sie jeder Schulmann besitzen soll. Ich stellte diese Gegenstände in meinem geräumigen Arbeitszimmer auf; meine Gattin schmückte die Fenster mit ihrem kleinen Herbarium und freute sich der reinen Sonnenstrahlen, die hier nicht mehr von großstädtischem Staub und Nebel zurückgehalten wurden, sondern hell und lieblich auf die zarten Pflanzen und jungen Bäume fielen.

Die Kinder ergötzten sich an dem Vogelgezwitscher vor den Fenstern, hüpften um die Mutter, wenn sie emsig die neuen Verhältnisse ordnete, sprangen in meinem Arbeitszimmer herum, waren stets geschäftig und gelehrsam, und der Knabe versuchte manches Instrument, das ich in den Stand setzte und einübte, auch zu handhaben, und zu seinem Jubel häufig mit Erfolg.

[198]

Am glücklichsten waren die Kinder, wenn wir die Elektrisiermaschine spielen ließen, deren Strom uns durchzuckte und die Haare gegen Berg trieb. Bald verstand es der Kleine, selbst die Batterie vorzubereiten und das Experiment auszuführen.

So waren wir alle recht heiter und ich ahnte nicht, welche Schrecken und welcher Jammer in diesem Hause sobald über mich kommen sollten.

Meine Gattin, von Natur aus etwas schwächlich und nervös, zuvor kaum einmal aus der gewohnten Atmosphäre der Großstadt gekommen, fühlte sich z. B. gleich in der ersten Zeit, wahrscheinlich infolge der schärferen Luft und der häufig wechselnden Temperatur, angegriffen. Sie achtete es nicht, bestellte, als der Schnee geschmolzen war, den kleinen erworbenen Garten – glücklich darüber, ihren Lieblingswunsch erfüllt zu sehen und endlich einmal einen Hausgarten zu besitzen. Wie kurz war ihre Freude! – Am 18. März fiel sie plötzlich ein heftiges Fieber an, am 19. konnte sie das Bett nicht mehr verlassen. In der ersten Zeit ihrer Krankheit lag sie in steter Fieberhitze und zweimal in Delirium; in der letzten Zeit war sie ruhiger, weil erschöpft, und oft lag sie stundenlang in einem ohnmachtähnlichen Zustande. Von den beiden Ärzten des Städtchens war fast immer einer am Bette der Kranken; am sechsten Tage der Krankheit, als eine Art Krisis eingetreten zu sein schien, telegraphierte ich an einen der berühmtesten Ärzte der Residenz, Professor R. Dieser langte noch an demselben Tage ein; ein Konsilium wurde abgehalten und als Resultat desselben mir bedeutet, daß ich mich wohl für alle Fälle gefaßt machen müsse.

Professor R. reiste wieder ab, nachdem er der Patientin ein hoffnungsreiches und mir ein trostloses Wort zugeflüstert [199] hatte. Ich kam nicht vom Bette der Gattin; sie schlummerte zumeist, nur manchmal schlug sie die Augen plötzlich wie erschreckt auf, blickte hastig um sich, sah mich dann betrübt an, oder tat mir wohl auch den Gefallen, ein wenig zu lächeln. Sie sagte mitunter einige Worte, die ganz deutlich und verständig waren, und verfiel dann bald wieder in den Schlummer. Ihre Gesichtsfarbe war sehr blaß geworden, nur bisweilen waren rote Flecken auf ihre Wangen, auf ihre Stirn gehaucht. Der Puls war auf 134 und 140 Schläge in der Minute.

Die Kinder waren vom Krankenzimmer abgesondert; die Kranke fragte mehrmals nach ihnen, ich gab ihr die besten Auskünfte über das Wohlbefinden der Kleinen, und so beruhigte sie sich stets.

Am 26. März in der Morgenstunde war's, als sie mit größerer Entschiedenheit als sonst nach den Kleinen verlangte. Wir sagten, sie schliefen noch.

»So weckt sie auf!« sagte sie mit heller Stimme, »ich muß sterben und will noch einmal meine Kinder sehen!«

Mir fuhr das Wort wie ein Messer durch's Herz.

Die Wärterin brachte die Kinder herein.

»O, kommt, ihr armen Wesen!« rief ihnen die Mutter halb aufgerichtet mit ausgestreckten Armen entgegen, »ihr habt keine Mutter, ihr lieben Kinder, ihr lieben Kinder!« Sie herzte und küßte den Knaben, das Mädchen und wieder den Knaben, und ein Tränenstrom ergoß sich über die Wangen.

Die Wärterin wollte die Kleinen wieder entfernen, allein die Kranke wehrte sich dagegen, preßte das Mädchen an ihren Mund, den Knaben an ihr Herz; mit sanfter Gewalt wollte man ihr sie entreißen, da rief sie laut: »Ich lass' sie nicht, [200] ich lass' sie nicht von mir! – Jesus, Maria und Josef!« Mit diesem Schrei sank sie zurück auf die Kissen.

Wir stürzten um sie zusammen, sie war regungslos, ihr Auge war starr. Die Pflegerin wollte ihr einen Taschenspiegel an den Mund halten, wahrscheinlich, um die Atemlosigkeit zu bezeugen. Ich erinnere mich nur noch, daß ich ihr den Spiegel aus der Hand schlug – weiter weiß ich nicht mehr, was in jener Stunde vorgegangen ist. –

Als ich wieder erwachte, saß ich im Lehnstuhl eines anderen Zimmers; der Doktor stand neben mir und aus meinem entblößten Arm rieselte ein Blutquell ins Becken.

Der Aderlaß soll nötig gewesen sein. Bald besann ich mich auf alles, was geschehen war, und verlangte nach meiner Frau. Sie hielten mich zurück, versuchten mich zu trösten und vorzubereiten.

»Lasset das,« sagte ich, »ich weiß ja, daß sie tot ist. Ich will auch jetzt nicht zur ihr; lasset mich allein oder bringt die Kinder zu mir.«

Sie ließen die Kinder herein. Diese erzählten mir sogleich mit aufgeweckten Mienen, daß in meinem Arbeitszimmer Leute beschäftigt seien, die Wände und die Kästen und die schönen Instrumente mit schwarzen Tüchern zu verhängen. – Von meinem Arbeitszimmer ging die Tür in den Vorsaal, darum hatten sie es zur Aufbahrung der Toten gewählt.

Ein paar Freunde suchten mich zu einem Spaziergange in den Frühlingstag zu bewegen. Ich fühlte das Bedürfnis, die Tote zu sehen und an ihrer Bahre zu beten. Eben als ich eintrat, hatte sie der Totenbeschauer verlassen; noch war die Leinwand zurückgeschlagen von ihrem Haupte. Ich meinte, sie schlafe, ich wollte anfangs nicht glauben, daß sie tot sei. Zubald nur sah ich die bläuliche Blässe ihrer Lippen, [201] das starre, gebrochene Auge zwischen den halbgeschlossenen Lidern; ich befühlte ihre kalten, erstarrten, fast bleifarbigen Hände.

Ich wankte aus dem Zimmer, aus dem Hause, ging hinaus vor die Stadt und wandelte in halbbetäubtem Zustande. Spät gedachte ich meiner Kinder und eilte meiner Wohnung zu. Die Kinder waren bereits zur Ruhe gebracht; sie waren ja so früh geweckt worden. Dann waren sie an diesem Tage auch viel im Freien und im Hause selbst herumgesprungen und hatten sich manches Gegenstandes zum Spiele bemächtigt, der ihnen sonst versagt gewesen war. Sie hatten keine eigentliche Aufsicht, waren sich selbst überlassen, und so war dieser Tag ganz nach ihrem Geschmacke. Zwar soll das Mädchen dem Brüderchen wohl einmal den Vorschlag gemacht haben, in das schwarze Zimmer zu gehen und die Mutter zu wecken. Der Knabe mochte den Vorschlag auch ausführen haben wollen, verweilte jedoch am Mineralkästchen, an dem er das Tuch zurückzog und die Steinchen auseinanderlegte. Gerade wollte sich der Kleine auch an den elektrischen Apparat machen, um Funken zu erzeugen, wie er das wohl von mir oft gesehen hatte – als er aus dem Bahrzimmer entfernt wurde.

Mir hat man das erst später erzählt, weil es für sich doch nicht wichtig schien.

Am andern Morgen war mein erster Gang wieder zur Bahre. Die Blumen, die man in das Zimmer gestellt hatte, dufteten stark, die Lichter brannten still – an der Toten war keine Veränderung eingetreten; genau so, wie gestern, war sie auch heute zu sehen; die Zeichen der Verwesung hatten sich noch nicht eingestellt. Ich küßte ihre Stirn, dann kniete ich nieder und zog – wie es Sitte ist – ihr den Brautring vom Finger. Als das geschehen war, tauchte ich die [202] kalte Hand wieder über ihre Brust hin, auf der ein Kruzifix lag – dann ging ich davon und mich in das Unvermeidliche fügend, suchte ich so viel Ruhe und Kraft zu gewinnen, um das Begräbnis anzuordnen. Sie hätten es auch ohne mich gemacht. Auf dem Friedhofe war bereits das Grab fertig; der Schreiner zimmerte am Sarge; der Singverein hielt die Probe der Trauerlieder ab und mehrere Frauen des Städtchens sandten Kränze.

Ich kehrte wieder zu meinem Hause zurück. Auf dem Betschemel vor der Bahr kniete mancher Fremde, dem es wohl im Gesichte zu lesen war, daß ihn nicht sowohl Teilnahme als vielmehr Neugierde hergeführt hatte. Dann kamen andere, beteten, flüsterten oder fuhren sich mit dem Sacktuch über die Augen, besprengten die Leiche mit geweihtem Wasser und gingen wieder davon. Zuweilen war gar niemand zugegen, und aus der geöffneten Tür starrte das Totenbild in den öden Vorsaal.

Ich ging auch davon. Ich mied die Menschen und ging gegen den Wald und dorthin, wo der Fluß über eine Wehr stürzte. Das Rauschen des Wassers tat mir wohl. Ich lag stundenlang am Ufer. Dann fielen mir wieder meine armen Kinder ein, die verlassen waren unter fremden Leuten in jenem Hause, in dem die tote Mutter lag.

Ich eilte heimwärts. Ich eilte über die Treppen zu meiner Wohnung hinan. Kein Mensch war da; selbst die Magd war ausgegangen, um irgend etwas zu holen. Es wären – dachte ich – wohl auch die Kinder mit ihr. Ich nahte der offenen Tür, die zur Bahre führte, und sah es bald, da drinnen war Unordnung angerichtet. Von der einen Wand, wo in den Kästen die physikalischen Apparate standen, war der schwarze Tuchverschlag herabgerissen. Einer der Kästen war geöffnet und die Elektrisiermaschine stand [203] auf dem Fußboden. Das Mädchen hockte dabei und blickte besorgt auf seine Fingerchen. Der Knabe war zur Leiche emporgeklettert und kicherte. Und was ich nun sah, das ist über alle Beschreibung grauenhaft. Die Gesichtszüge der Toten zuckten und verzerrten sich, sie schlug die Augen auf und ihre Lippen bebten wie im Krampfe.

Ich glaube, daß ich im ersten Momente, da ich diese Erscheinung sah, über die Treppe hinabgestürzt bin und nach Hilfe gerufen habe. Sofort aber kam mir der Gedanke, sie ist wieder erwacht. Ich eilte in das Zimmer zurück. Das Mädchen auf dem Boden hielt die Maschine in Bewegung und ich sah, wie von dieser die Drähte um die Hand der Toten gewunden waren. Ich hörte das Knistern des elektrischen Stromes; der Knabe lachte laut, als das Antlitz und endlich auch das Haupt der Mutter sich mehr und mehr bewegte.

Mein erstes war, daß ich die Bahrleuchter umstürzte, der Aufgebahrten das Kruzifix von der Brust entfernte; dann riß ich sie empor, daß ihr Haupt an meinem Busen zu lehnen kam. Jetzt eilten schon Leute herbei, die vor Entsetzen aufschrien, mich für wahnsinnig hielten, bis sie an der Totgeglaubten die Lebenszeichen sahen.

Was nun folgte, weiß ich nicht; was in mir vorging, kann ich nicht erzählen; fast war mir wirklich zumute, alles sei Blendwerk und ich wäre in die Nacht des Wahnsinns gefallen.

Als die Wiedererwachte dann in ihr, oder vielmehr in mein Bett gebracht war, da man das ihre schon zerstört hatte, brachte mir ein Amtsbote ein gefaltetes Stück Papier. Es kam aus der Sanitätskanzlei. Es war der Totenschein meiner Gattin.

Die Kinder hatten ihre scheintote Mutter durch den [204] elektrischen Strom zum Leben erweckt. Sie wurden nun ins Verhör genommen. Unbeaufsichtigt, wie sie waren, hatten sie sich in das Bahrzimmer begeben, hatten, unbekümmert um die Leiche, die Instrumente hervorgeholt, von welchen sie gestern verscheucht worden waren, und gedachten heute besonders am elektrischen Apparat, der stets der Gegenstand ihrer Wünsche gewesen war, ihr Mütchen zu kühlen. Sie wußten das Ding nach dem, was sie von mir gesehen haben mochten, trefflich in den Stand zu setzen. Anfangs mußte das Mädchen die springenden Funken aushalten, und tat es so lange, bis ihm die Fingerchen verbrannt waren. Hierauf belud sich der Knabe selber so lange, bis ihm alle Haare zu Berge stiegen. Und schließlich kam den Kindern der Einfall, die schlafende Mutter zu elektrisieren.

Noch vor Mitternacht dieses merkwürdigsten Tages meines Lebens war nach vielen entsprechenden Mitteln und Maßregeln die Wiedererstandene zu ihrem vollen Bewußtsein gekommen. Ihre Hände waren wieder weich, ihr Auge war wieder lebendig und klar, doch blickte sie verwirrt. Ich hätte ihr mögen an die Brust sinken und ihr die Wucht, welche in meinem Gemüte lag, ausschütten; die Ärzte aber beschworen mich, jede Aufregung zu vermeiden und es in allem ganz so zu halten, wie mit einem gewöhnlichen Kranken.

Nach Mitternacht verfiel sie in einen ruhigen Schlaf, aus dem sie gegen Morgen wieder erwachte. Sie suchte mit den Augen mich, wendete sich ein wenig zu mir und sagte: »Mein Freund, jetzt ist doch alles gut. Aber das ist ein schwerer Traum gewesen; – den möchte ich nicht ein zweites Mal träumen!« Und hierauf erzählte sie, es sei ihr gewesen, als läge sie auf der Bahre – viele Stunden lang. Man habe Anstalten getroffen, sie zu begraben, man habe [205] schon den Sarg in das große Zimmer getragen; sie habe die Lichter der Bahre gesehen, habe jedes Geräusch, jedes Wort, das in der Nähe gesprochen wurde, ganz genau gehört, sei aber nicht imstande gewesen, einen Laut oder auch nur das mindeste Lebenszeichen von sich zu geben. Sie habe schon das gräßliche Geschick, lebendig begraben zu werden, vor Augen gehabt. Am schrecklichsten sei ihr das herzerschütternde Weinen ihres Gatten gewesen, der ihr schließlich den Ehering vom Finger gezogen habe. – Als sie dieses erzählte, hob sie ihre Hand gegen das Auge und stieß den Schrei aus: »Wo ist der Ring? Mein Gott, wo ist der Ring!«

Wir selbst alle im tiefsten Herzen erschüttert, suchten sie zu beruhigen, ihre Hand wäre in der Krankheit abgemagert, der Ring müsse zufällig vom Finger geglitten sein und würde sich leicht finden.

»O, nein, nein!« rief sie, »das ist kein Traum gewesen! Ich bin auf der Bahre gelegen!« Und sie verbarg ihr Gesicht mit den Händen und verfiel in ein solches Zittern und Beben, daß ihr ganzer Körper sich schüttelte und wir sie mit kräftigen Armen im Bette niederhalten mußten.

Die fürchterliche Aufregung, in der sie weinte, um Hilfe rief, mit Gewalt von dem Lager wollte und laut betete, dauerte etwa eine Stunde lang. Dann trat plötzlich die Abspannung ein.

Noch an demselben Tage, fast genau vierundzwanzig Stunden nach ihrem Erwachen aus dem Scheintode, ist sie gestorben.

Wieder versuchten wir den elektrischen Strom, aber vergebens. Die Geheimnisse der Natur sind unerforschlich; ich veranlaßte, daß noch einmal die Kinder den elektrischen Strom sammelten und leiteten – vergebens; die Schläferin wachte nicht wieder auf. Wir legten sie nicht mehr auf die Bahre, [206] wir ließen sie auf dem Sterbebette ruhen, bis sich – und das dauerte nicht lange – die ersten Symptome der Verwesung einstellten.

Dann war das Begräbnis.

Nicht in jenes Grab ließ ich sie senken, das bestimmt gewesen war, die Scheintote aufzunehmen. Eine neue Stätte wurde ihr bereitet.

Möge sie im Frieden ruhen!


[207]

In der Einsam.

»Liebe Schwester!

Weil Du seit unserem Abschied, und das ist rund ein Jahr her, keine Nachricht von mir bekommen hast, so wirst Du wohl denken, daß ich nicht mehr am Leben bin. Und möchtest leicht recht haben. Wunder wäre es keins. Wenn ich Dir nur gefolgt hätt', wie Du abgeraten hast, jetzt weiß ich erst, was ich trotz allem Unglück gehabt hab daheim. Zur selben Zeit hab ich's alleweil nur besser haben wollen, jetzt möcht ich gar nichts mehr, wie sterben, und wie damals so kann ich auch jetzt meinen Wunsch nicht erreichen. Bei mir heißt's einzig nur warten und leiden, ewig wird's wohl nicht dauern und wenn's einen Himmel gibt, und ich komm einmal hinein, so verlang ich mir nicht mehr, als wie meine Heimat und meine Leut.

Das Land wo ich jetzt bin, heißt Brasilien und ein Vergleich mit daheim ist wohl keiner zu machen. Ich mag gar nicht anheben zu erzählen, wie anders es da ist. Ich tu in einer Sumpfgegend Wassergräben graben seit einem halben Jahr und verdiene mir dabei mehr Geld, als ich brauch, weil die Arbeit mein Liebstes ist, daß ich nicht verzage, und nach Unterhaltung und Vergnügen frag ich nimmer. Denk' Dir, meine gute Schwester, ich bin allein. Meine liebe kleine Angerl ist nimmer bei mir und das muß ich Dir erzählen, weil's mir noch immer 's Herz abdrucken will. Ich schreib mich hart, aber wenn ich noch lange warten tu, so kann ich gar nicht mehr, weil man hier die deutsche Sprache vergißt. Lernt dafür auch keine andere, wenn man [208] mit keinem Menschen umgeht, wie sie da – aber nit von der besseren Gattung – aus allen Ländern zusammenkommen.

Aber das ist alles nichts. Das trifft andere auch so. Ich hab mein eigenes Unglück, das für einen einzigen Menschen zu schwer ist. Und doch hab ich schon tausendmal Gott gedankt, daß mein Weib das nimmer erlebt hat. Freilich, wenn sie noch tät leben, kunnt vieles anders sein, kunnten vielleicht gar noch in der Heimat sein, allzwei mit dem Kind. Das weißt ja alles, nur von unserem armen kleinen lieben Dirndel weißt Du's nicht.

Ist es nicht gerade an ihrem achten Geburtstag gewesen, wie wir von Triest abgereist sind? Du hättest sehen sollen, wie sie in ihrem blauen Kattunröckel gehüpft ist und die Handeln zusammengepatscht hat vor Freud: Nach Amerika! nach Amerika! Wie sie in allem ihrer Mutter ähnlich gewesen ist, so hab ich ja immer gesagt, die wachst auf zu meinem Trost und ist's auch im fremden Land: wo dieses Kind bei mir ist, da bin ich daheim. Also unterwegs. Viele haben die Seekrankheit bekommen, die kleine Angerl immer pumperlgesund und voller Faxen, daß oft ein Schock Matrosen umhergestanden ist auf dem Zwischendeck und sich mit dem lustigen Kind unterhalten. Ernsthaft ist sie nur worden am Abend, eh wir auf unseren Bündeln eingeschlafen sind und sie ihr Gebet für die Mutter gebetet hat. Einmal, wie ich drei Tage lang im Fieber bin gelegen, ist sie nit von mir gewichen, hat mir alles so gut und so gescheit zugetragen und versorgt wie eine Große – ganz wie ihre Mutter, wenn ich krank gewesen bin – und hat mich mit ihrem lieben Plaudern aufgeheitert und hat mir das Haar gekämmt mit den zarten Fingerln und hat immer einmal ein schnelles Küssel getan auf meine Stirn. [209] Oft sind die Offiziere stehen geblieben und haben uns betrachtet, und die kleine Angerl ist so der Liebling geworden von allen, daß uns eine eigene Kammer angewiesen worden ist, obschon ich nur fürs Zwischendeck gezahlt gehabt hab.

Aber für so ein rühriges Wesen, wie ein gesundes achtjähriges Kind, ist ein Schiff viel zu klein; auf die Leitern aus Strickwerk, wie es überall ausgespannt, ist sie hinaufgeklettert, bin oft in Ängsten gewesen, es kunnt ihr was geschehen; die Matrosen haben gelacht über den »kleinen tapferen Kerl«, und schad, daß es kein Bub wär. So sind wir schon vier Wochen auf dem Wasser gewesen, nichts als Wasser und nichts als Wasser. Immer einmal in weiter Fern ein Schiff, wunderselten der Streifen einer Insel, der aber bald wieder vergangen ist. Die Stürme, die ich, wie Du weißt, so gefürchtet, sind nicht arg gewesen, und mein kleins Mädel hat immer hell gejauchzt, wenn sie Papierballen ins Meer geworfen hat, die nachher aus den Wellen lustig auf und nieder gewuppt sind. Oder hat sich gefreut über die Seemöven, die unserem Schiff nachgeflogen, oder über die Delphine und andere Tiere, die aus dem Wasser aufschnellen. Aber endlich, wenn alles ruhig ist gewesen und immer das gleiche, immer das gleiche, da hat das Mädel doch angefangen zu fragen: Vater, wann kommen wir denn nach Amerika?

Und da ist's gewesen, daß am Segelmast ein schweres Tau gespannt wird. Es dröhnt und summt, so scharf wird es gespannt. Da reißt es entzwei, schnellt auf das Deck nieder und trifft mein kleines Dirndel am Kopf. Das tut einen kurzen Schrei, taumelt hin, zu Boden – und vorbei ist's gewesen. Ich versteh's nit, wie ich das heut so ruhig ausschreiben kann.

Meine liebe Schwester! Unsere kleine Angerl hat's getroffen. [210] Alles ist zusammengelaufen und der Schiffsarzt hat zwei Stunden lang gearbeitet. Es ist umsonst gewesen. Wie ein weißes Engerl ist sie dagelegen auf einem großen Bündel Garn, weiß bis in den Mund hinein zu den weißen Zähnlein und die Augen halb geschlossen und nichts mehr zu ihrem Vater, kein Hauch und kein Blick. Kühl und immer kälter ist ihr Handerl geworden in der meinen, bis sie mich endlich haben weggebracht – weiß nit, was dann gewesen ist.

So viel weiß ich wohl, daß ich noch einmal gestanden bin unter dem Mast und hingeschaut hab auf das gerissene Tau, das mein Dirndel erschlagen hat und jetzt wie eine tote Schlange dagelegen ist. Und hab umhergeschaut, auch auf die Garnbündel hin – und ist nit mehr dagewesen. Ins Meer habt ihr mir's geworfen! soll ich geschrien haben und nachspringen wollen über Bord. Sie haben mich gehalten und gesagt, mein Kind tät in der Kabine liegen. Und ist's gelegen auf seinem Bett, und kalt und das liebe Gesichtl ist schon fremd gewesen. Da hab ich wohl dran glauben müssen.

Und immer sind Leut um mich gestanden und all auf dem großen Auswandererschiff haben mich gekannt und untereinander gesagt: Das ist der Vater von dem erschlagenen Kind.

Sonst ist es Brauch auf den Schiffen, daß man die Toten ins Meer senkt, weil wir aber nicht gar weit von einer Insel gewesen sind, hat der Kapitän angeordnet, daß dort mein Dirndel sollt begraben werden. Auf einem Boot sind wir ans Land gefahren, unser drei Mann mit der Angerl. Eingewickelt in Segeltuch ist es gewesen und mit einem weißen Band umbunden, und vorn an der Brust ein hölzernes Kreuzl geheftet, das eine Auswandererfrau gespendet [211] hat. So auf die fremde Insel. Es ist eine kleine unbewohnte Insel gewesen und aus dem Sand stehen ganz weiße Felszacken auf, die wir aus der Ferne für Segel gehalten haben, aber es sind turmhohe Steinriffe wie in unseren Alpen. Und hab ich auf der Insel eine Grabstatt gesucht für mein Dirndl. Am Ufer ist Sand – da nicht. Weiter hinten sind die Bäume und Sträucher, die in diesen Gegenden wachsen, auch schöne wilde Rosen – hab ich schon wollen den Spaten einhauen, und ringelt sich eine zischende Schlange an den Stiel, und hab ich mir gedacht, da nicht. Vor den Schlangen hat sie immer so arg Entsetzen gehabt. Bin ich weiter gegangen auf der Insel, über Sand und Muschelboden und Steine und über das Geschlinge der Pflanzen. Wilde Vögel hab ich pfeifen und andere Tiere schreien gehört, oft ganz in der Nähe gröhlen wie Schweine, aber keines gesehen. Und dieweilen die zwei Kameraden bei der Angerl Wacht gehalten, bin ich die Felsen hinaufgestiegen und hab gesucht nach einem Platzl, wo wir rasten könnten. Zwischen drei oder vier Steinzinken ist so eine enge Stelle und da hab ich angefangen zu graben in dem verwitterten Gestein. Ist einer von den zweien heraufgekommen, hat mir wollen helfen. Nein, laßt mich, ich mach das allein. Ganz warm und heil ist mir worden bei dieser Arbeit, seit mein Weib in der Ewigkeit ist, hab ich ja das Bettherrichten besorgt. Immer einmal hab ich mich aufgerichtet, meine Ellbogen an den Spatenstiel gestützt, hinausgeschaut auf das weite Meer und gedacht: Ist doch das ein seltsames Geschäft, auf einer fremden Insel im Meer sein Kind eingraben! – Gegen Abend ist es fertig gewesen; schön ist das Ding nicht worden, aber tief. Sie haben das Angerl hinausgetragen und hinabgelegt und hab ich ihnen die Schaufel aus der Hand genommen: zudecken wollt ich schon selber. [212] Sie möchten zurückgehen auf das Schiff und ich tät mich bei ihnen und allen tausendmal bedanken für die christliche Lieb. Zum Angerl hab ich keinen Abschied hinabgerufen, weil ich mich daneben wollt niedersetzen auf einen Stein und sitzen bleiben, so lang es Gottes Willen ist. Die zwei Kameraden sind aber nicht von mir gegangen und ich sollt schnell machen, weil das Schiff wollt weiterfahren. Auf mich braucht ihr nicht zu warten, mein Verbleiben ist hier. Sie haben mir noch Zeit gelassen, haben ein paar Vaterunser gebetet, haben mich nachher an den Armen genommen, einer links und einer rechts, und haben mich fortgeschleppt von meinem kleine Dirndel. Das ist in der Einsam zurückgeblieben. Am Strand hab ich noch einmal umgeschaut auf die weißen Felszacken; vom Schiff aus hab ich noch einmal zurückgeschaut auf die Felsen, wo mein Kind ruht ganz allein zwischen den Steinen und wilden Tieren und wie es der Vater, mit dem es so freudig ist ausgezogen, treulos verlassen hat – allein auf dem Weltmeer.

So, meine Schwester, hab ich's müssen erleben. Du bist ja selbst Mutter, denk, es wäre Dein Kind. Denk's nit, Schwester, es ist wie sieben Messer in der Brust. Zehnmal habe ich mich hingesetzt, um Dir's zu schreiben, aber vor lauter Jammer nit können. Jetzt klage ich nicht mehr, jetzt, wenn der Feiertag kommt, setze ich mich auf einer Berghöhe nieder und schau hinaus aufs Meer, nach der Gegend, wo jene Insel liegt. Santa Maria haben sie die Matrosen geheißen, aber Du findest sie auf keiner Karte, sie ist zu klein. Und ich kann sie von meinem Berg aus nimmer und nimmer sehen, sie liegt viel hundert Meilen weit im Meer.

Von der Zeit nach dem Unglück weiß ich nicht viel zu sagen. Auf dem Schiff bin ich krank geworden, nach Wochen ins Südamerika gekommen. In der großen Stadt [213] Rio de Janeiro, im Spital bin ich achtzehn Wochen krank gelegen. Ein deutscher Kaufmann hat sich um mich angenommen, bin nachher auf seiner Schiffsreede in Arbeit gewesen, bis ich mit einem Kameraden aus Böhmen in die Teichgräberei gekommen bin, wo jetzt mein Aufenthalt ist. Meine Adresse ist zu machen an den Herrn Wilhelm Klinde, Kaufherr in Rio de Janeiro, von dort bekomm ich den Brief schon, aber weiß nicht, wie lang's mit mir so fortgeht. Ich hab halt vor, bei einer guten Gelegenheit nach Santa Maria zu reisen, aber es ist kein Schiff, das dahin geht und wenn eins nicht zufällig dahin kommt, wie damals unser Auswandererschiff, so tun sie's überhaupt nicht. Also schläft unser Angerl dort verlassen und wenn es am Jüngsten Tag aufsteht, wird es wohl verwundert um sich schauen, daß es allein ist. Mein Gott, solche Gedanken sind hart. Vor etlichen Tagen sind es zweihundert Meter Länge gewesen, was ich gegraben hab. Ist mein Führnehmen gewesen, ich rast mich paar Tage aus. Aber es hat nicht sein können, so hab ich alleweil ihre Stimme gehört: Vater, Vater! Kommst denn gar nimmer zu mir, laßt mich ganz allein! Daß ich wieder zum Arbeiten hab müssen anheben, wenn ich nicht verrückt werden will. Denk mir oft, 's Beste wäre, so lange und ohne Aufhören arbeiten, bis du hinfallst und nichts mehr weißt von der ganzen Welt. Im Himmel wirst sie wohl finden. Aber, liebe Schwester, ich bin halt nicht genug Christ, und kann's nimmer aus dem Kopf bringen, daß das Angerl auf der Insel liegt mit Leib und Seel und auf den Vater wartet. Und tausendmal bereue ich, daß ich meines Kindes Grab verlassen hab.

Jetzt hab ich Dir mein Kreuz geschrieben, helfen kann mir wohl niemand. In andern Stücken geht's mir nit schlecht, aber das ist alles nichts. Mein einziger Trost, [214] daß alles einmal ein Ende nimmt. Ich schließe mein Schreiben und sage: Gott zum Gruß, liebe Schwester. Ich wünsche, daß es Dir gut soll gehen in der lieben Heimat.

Dein getreuer Bruder

Mathias.«

So lautet der Brief, der vor etwa drei Jahren eingelangt ist an die Frau Johanna Loregger, Beamtensfrau im großen Eisenwerke Donawitz bei Leoben. Was hat Frau Johanna bitterlich geweint um den armen Bruder und das liebe kleine Angerl. Dann schrieb sie ihm einen Brief, daß er heimkommen möchte. Im Eisenwerk fände er Arbeit gegen guten Lohn, und sie, die Schwester, wolle ihm sein Kreuz tragen helfen. Da auf diesen Brief keine Antwort kam, so schrieb sie ihm nach einem Jahre das zweitemal und schickte ihm Reisegeld. Dasselbe kam nach fünf Monaten zurück, mit dem Bescheid, daß Adressat nicht auffindbar sei.

Da ließ Frau Johanna eine Messe lesen für seine arme Seele. Aber es war nicht das Ende, plötzlich kam von Bruder Mathias wieder ein Brief. Gut sah er nicht aus, dieser Brief. Er bestand aus verschiedenen zufälligen Papierstücken, wie man sie findet, oder lange im Sack umherträgt. Mit schlechtem Bleistift waren sie beschrieben und dann in einen gelben halbsteifen Bogen eingeschlagen und mit einem schwarzen Bindfaden zusammengebunden. Eine Freimarke trug der Brief nicht, hingegen eine Menge Poststempel, weil der Name Steiermark zu unleserlich geschrieben war.

Und dieser Brief hat folgenden Wortlaut:

»Auf Santa Maria.

Eh' das Schiff abgeht, Schwester, will ich Dir noch paar Zeilen schreiben. Werden wohl die letzten sein auf [215] dieser Welt, wollen uns nichts draus machen. Meinen Brief vorigen Jahres wirst Du erhalten haben, wo ich Dir geschrieben, daß mir unser Angerl auf der Reise verunglückt ist. Jetzt ist mein Wunsch erfüllt. Ich bin bei meinem Dirndl. Mit dem Geld, was ich mir hab' verdient in Brasilien, hab ich ein Boot mit sechs Matrosen aufgenommen und sind zweiundzwanzig Tag gefahren. Gemeint hab ich schon, sie wär nimmer zu finden, die liebe Insel Santa Maria. Und weil auch schlechte Fahrt, so wollten die Matrosen umkehren. Bin ich grob worden und sie müßten ihr Wort halten, da haben sie mich ins Meer werfen wollen. Ich bitt noch um Geduld für drei Tag. Es ist so um Weihnachten gewesen, aber die Tage sind hier ganz anders und zum Christabend wollt' ich bei meinem Kind sein. Und schau, dasmal hat mich Gott nit verlassen, endlich sind die weißen Felsen aufgetaucht an der Kimmung. Wie wenn ich auf die Heimatserden tät treten, so ist mir gewesen, wie ich auf den Sand gestiegen bin. Meine mancherlei Sachen auf dem Rücken, habe ich die Matrosen abgelohnt und gesagt, sie möchten zurückfahren, oder hin, wohin sie wollten, um mich hätten sie sich nimmer zu kümmern.

Liebe Schwester, und dann bin ich landwärts gegangen über Sand und Muscheln und über die Schlinggewächse hin den weißen Felsen zu. Ich glaub, seit wir dazumal fort sind, ist kein Mensch hier gewesen. Kein Menschenfuß, nur wilder Tiere Spur. Wie dazumal, als ich sie allein gelassen, so still und ewig weit ist der blaue Himmel. Ich steig schnell zwischen den Zacken hinauf, als ob ich noch kommen müßt, eh sie aufwacht. Kann Dir nit sagen, Schwester, wie glückselig mir ums Herz ist gewesen. Jetzt komm ich zum Platzl hinauf und jetzt sitzt auf dem [216] Grab ein Tiger. Ein großer wilder, gefleckter Tiger sitzt auf dem Grab meiner Angerl. Zuerst hat er den Kopf hingelegt gehabt auf dem Boden, wie er mich wahrnimmt, hebt er ihn und glotzt mich schreckbar an und setzt langsam die Tatze vor, als wollt er aufspringen und mich zerreißen. Meine Pistole hab ich im Bündel und kann sie nicht lösen; ist auch zu wenig für ein solches Tier. Ein Glück, daß das Boot noch nicht fort ist, so lauf ich hinab und sie möchten kommen und das wilde Tier umbringen. Alsdann sind sie hinauf, der Tiger ist immer noch gelegen auf dem Grab und einer hat den Revolver auf ihn dreimal abgeschossen. Das Tier ist aufgesprungen, ein paarmal um die Felszacke herumgeschlichen und dann jäh auf den Matrosen her. Der wäre verloren gewesen, wenn nicht der zweite und der dritte zuspringen und mit dem Tiger schaudervoll ringen tät, daß ich gemeint, nimmer könnten wir uns erwehren. Selber über und über blutend, haben sie ihn mit Messern endlich tot gestochen. Ist gelegen auf dem steinigen Grab, die Steine ganz rot, und hat seine Tatze hingelegt, als wollte er im Tod noch was beschützen. Und ist's mir zu Sinn gekommen: Jetzt hast du ihren getreuen Hüter umbringen lassen. Und hab ich ein grenzenloses Herzleid gehabt, daß dieses Tier wegen seiner getreuen Wacht hat sterben müssen. Unten im Sand wird es begraben, während ich an seiner Stell auf dem Grab Dir diese Zeilen schreibe. Die Matrosen werden den Brief mitnehmen und ich werd mich häuslich einrichten auf dieser Insel bei meinem lieben Dirndel. Mir ist so absonderlich, weiß nicht wie. Die Sachen, die ich mit hab, werden eine Weil reichen, nachher will ich auf der Insel Früchte suchen und Fische fangen und wie der Robinson, weißt Du, von dem wir als Kinder das Buch gelesen haben, hausen, so lang es Gott gefällt. Wie gut werd [217] ich schon in der heutigen Nacht schlafen bei ihrem Bett und auf einmal wird sie das Handerl ausstrecken, mir um den Hals legen und sagen: Vater, Vater! bist doch gekommen zu deinem Dirndel.

Leb' wohl, liebe Schwester, und wenn Du einmal auf den Kirchhof gehst, wo mein Weib ruht – wir lassen sie grüßen.

Mathias.«


[218]

Der Kammerdiener.

Der junge Mensch war allenthalben bekannt, hier und dort. Daß man ihn aber auch irgendwo kennen gelernt hätte, dazu blieb er nicht lange genug auf einem Flecke. Er war hüben und er war drüben, und immer hatte er ein schwarzes Tuchgewand an und über der Weste eine goldene Uhrkette hängen, die mitunter ziemlich locker wog, es war eben nicht stets dieselbe. Die Hemdkrägen waren nicht immer so weiß, als sie zum schwarzen Anzuge gut gestanden wären, so daß es schien, der junge Mann wechsle öfter die Uhrketten, denn die Wäsche. Wohl trug er gerne gestreifte Hemden, denn wenn der Schmutz hübsch in Reihen und Quadrätchen eingeteilt ist, so hat er auf das Auge doch immerhin eine freundlichere Wirkung. Die Hauptaufmerksamkeit wendete der junge Mann wohl seinem Haar zu, das war von Natur fast pechschwarz und immer so fein gefettet und geglättet, daß es den Weibern als Toilettespiegel hätte dienen können.

Seine Eltern waren unbekannt; er selber soll, aus einem Dorfe an der galizischen Grenze stammend, sich in einem Erziehungsinstitute befunden haben, wo es ihm aber nicht gefiel, denn er floh daraus. Es war jemand, der braverweise die Christenpflicht vorschützte, um dem Drange seines Herzens genüge zu tun und den jungen Menschen nicht versinken zu lassen. So wurde Julian wieder eingefangen und in ein anderes Institut getan. Dort hatte man ihm das Entfliehen so gottlos schwer gemacht, daß er es vorzog, die Sache so einzurichten, daß sie ihn selber fortjagten. Er kam in die Gegend, wo die Sommerresidenz des [219] Grafen Borgstam stand; der Graf war ein alter Sonderling, ein morscher Rest des alten Adelsgeschlechtes gleichen Namens, der fast einsam dasaß inmitten seiner ausgebreiteten Güter. Er interessierte sich für den hübschen, intelligenten Burschen, stattete ihn aus und half ihm in ein Militärinstitut. Das fand Julian nicht wohlgetan und eine Weile später sah man ihn mit einer Schauspielertruppe durch das Land ziehen. Da war er schon zwanzig Jahre alt; aber bald bekam er den Komödiantenteint im hohen Grade. Seine Wangen fielen ein, seine Gesichtsfarbe wurde fahl, fast grünlich-grau, seine Augen brannten scharfzackig. Seine schlanke Gestalt war zweifach geknickt, einmal in den Knien und einmal am Nacken. Der schwarze Anzug wurde nicht mehr gebürstet.

Graf Borgstam, der sich nun einmal diesem Menschen zugewandt hatte, wollte ihn nicht aus den Augen lassen. Ein so wohlgebildeter und wohlgearteter junger Mann! Er nahm den Julian zu sich als Kammerdiener. Der Graf war betagt und durch mancherlei Mesalliancen und abenteuerliche Lebensperioden hindurch glücklich dort angekommen, wo man müde und einsam dasteht. Diese Einsamkeit war um so unheimlicher, je größer sein Reichtum und je mehr der Wohldiener ihn schmeichelnd umkrochen. Doch sammelt sich immer noch ein Restchen Weichmut und Wärme in einem alten Herzen, wenn es scheinbar auch schon ausgebrannt ist, und dieses Restchen kam dem neuen Kammerdiener nicht schlecht zu statten. Julian erholte sich bald, seine Wangen blühten und sein Rückgrat strebte wieder der aufrechten Richtung zu. Bei der freundlichen Behandlung, die er im Schlosse genoß, kamen auch seine geistigen Anlagen rasch zum Vorschein. Die Lust zum Vagabundieren war weg und obgleich in eine gewisse Disziplin [220] gesteckt – denn der Graf war sein alter Soldat – heimte sich Julian rasch ein, zeigte Anhänglichkeit zu seinem Herrn und nach zwei Jahren war er mehr oder weniger der Vertraute des Grafen, und der Kammerdiener bekam selbst wieder einen Diener zugeteilt.

Den Winter verlebte der Graf in der Hauptstadt, wo er eines der vornehmsten Palais besaß, das aber in seinen größten Teilen unbewohnt blieb, weil der Herr nur einen kleinen Hausstaat zu führen pflegte und es auch sein alter Adel und dessen Verhältnisse verlangten, daß das Gebäude nicht praktisch verwertet werde, sondern mitten in der lebenslustigen Stadt still und ernst wie in ein düster-gewaltiges Monument, an das alte Herrengeschlecht erinnernd, dastehe.

Julian war also des Grafen rechte Hand geworden, so daß diesem der übrige Haustroß mehr oder minder überflüssig erschien und er sich von demselben räumlich abzusondern liebte. Der Graf pflegte allabendlich einen alten General bei sich zu sehen, mit dem er ein Tarockspielchen machte und ein paar Flaschen Wein ausstach. Vor Mitternacht wurde dem Gaste aus dem Hause geleuchtet und der Graf stieg bisweilen schon etwas schlaftrunken zu seinem Schlafzimmer empor. Julian verschloß alle Fenster und Türen der Vorgemächer, hatte noch die Aufgabe, dem Herrn im Entkleiden zu helfen, ihm irgendein Buch auf den Nachttisch zu legen zur Lektüre, damit sich's leichter einschläft, und sich dann im Vorzimmer selbst zu Bette zu legen.

Da war es eines Tages, daß, als der Graf schon im Bette lag und just das Buch weglegen wollte, Julian ins Gemach trat.

»Was willst du?« fragte der Graf.

»Euer Gnaden das Licht auslöschen,« war die Antwort; [221] da stand er schon am Bette und in seiner Faust hielt er den Griff eines scharfblinkenden Hirschfängers.

Der Graf richtete sich rasch empor, der Kammerdiener griff ihm an die Gurgel und preßte ihn auf das Kissen zurück.

»Sie wissen, Herr, um was es sich handelt,« sagte Julian ganz leise, indem er Sorge trug, daß die Spitze des Messers dem vor Schreck stöhnenden alten Manne vors Auge kam. »Erschrecken Sie aber nicht so sehr, Sie werden ihr Leben mit einem einzigen Worte retten. Sie waren mir stets ein guter Herr und ich bitte Sie inständigst, ja nicht den mindesten Schrei zu versuchen. In der Notwehr bin ich alles imstande.«

Tiefe bodenlose Frechheit des Anfallenden gab dem Grafen das Bewußtsein der Ruhe wieder. Er wehrte sich nicht, er starrte dem Burschen nur wunderlich ins rollende Auge.

»Was – bedeutet denn das, Julian?« fragte er.

»Sagen Sie mir nun einmal ganz ruhig, wo Sie die Schlüssel zur Geldkasse haben.«

»Laß mich los, Unglücklicher!«

»Herr, wenn Sie lärmen wollen!« Der Bursche machte die Miene des Zustoßens.

»Ich meine nur,« fuhr der Graf fort, »wenn du mich nicht losläßt, so kann ich nicht zu Worte kommen. Daß ich nicht Lärm schlage, magst du glauben, dafür ist mir mein Leben zu lieb, und du würdest zehnmal durchs Fenster entspringen können, bevor man zu Hilfe käme. Ich sehe deinen Vorteil recht gut ein.«

»So werden Sie mir die Kasse öffnen.«

Der Graf hatte sich nun vollends gesammelt. »Julian,« sagte er mit einem Humor, den man dem alten Herrn für eine solche Situation nicht zugetraut hätte, »da du [222] dich so gut sichergestellt und auch, wie ich nun sehe, die Pistolen entfernt hast und selbst die Klingelschnur durchgeschnitten, da wir uns recht still verhalten und es noch viele Stunden dauert, bis im Hause der Erste aufwacht, so können wir die Sache ganz bequem machen und alles miteinander wohl überlegen, denn du mußt zugeben, daß es etwas Wichtiges ist, was du vorhast. Ich versuche nicht, dir davon abzuraten, aber ich gebe dir zu bedenken, ob dein Weg bis nach Amerika, – und einen andern kannst du wohl nicht wählen – auch vorbereitet genug ist, daß du ihn von diesem Fenster aus schnurgerade nehmen kannst!«

»Das ist meine Sache, nur habe ich keine Zeit zu verlieren. Also!«

»Ach ja, die Schlüssel! Aber ich fürchte, daß, wenn du die Kasse geräumt haben wirst, dir doch nichts anderes übrig bleibt, als mich tot zu machen. Und insoferne ich väterlich für deine Zukunft besorgt bin, sage ich dir: du könntest gar nichts Schlimmeres tun, als mich zu ermorden!«

»Sie höhnen mich!« knirschte der Kammerdiener, der als Angreifer nun weit erregter war, als der Angegriffene.

»Stoß zu!« sagte der Graf, immer noch ruhig auf seinem Bette liegend, »stoß zu, wenn du's gratis tun willst!«

Das wollte der Bursche allerdings nicht, und fast irre gemacht durch das Verhalten des Grafen, verlangte er in bittendem Tone die Schlüssel zur Kasse.

»Julian!« sagte der Graf und wollte den Burschen an der Hand fassen, während der aber durchaus nicht gesonnen war, von seiner wehrhaften Stellung auch nur den geringsten Vorteil aufzugeben.

[223]

»Du hast recht, Julian,« fuhr der Graf fort, »ich gestatte dir, daß du mich fesselst, aber den Mund laß mir frei, ich habe dir einiges zu sagen, was für dich nicht unwesentlich ist. – Dort in der Ecke steht die Kasse, die Schlüssel kann ich dir auch angeben, ja selbst die geheimen Kunstgriffe, ohne welche das Ding nicht zu öffnen ist, möchte ich dich lehren, allein du würdest über den Inhalt des Schrankes enttäuscht sein. Zumeist sind es Papiere, mit denen ein Flüchtling nichts anzufangen weiß, das vorhandene Bargeld dürfte dich zur Not nach Neuyork bringen, aber nicht weiter. Und in diesem Lande wird nach meinem Tode das Gericht ein Testament öffnen, das schon seit sechs oder sieben Monaten geschrieben ist und in welchem der unglückliche Graf Borgstam, als der letzte, seinen Kammerdiener Julian Zellenbach zum Universalerben einsetzt. Ein Duplikat des Testamentes wirst du in der Kasse finden.«

»Wir werden uns überzeugen.«

»Gut, Junge. Aber was nützt das? Ich sehe es ein, du meinst, du könntest jetzt nicht mehr zurück.«

»Sie sehen es selbst ein, Herr Graf.«

»Vielleicht aber doch, wenn wir die Sache erörtern. Denn es wäre jammerschade, wenn du über die Flucht wegen der Kleinigkeit die dir einst rechtmäßig zufallenden Güter im Stiche lassen müßtest.«

»So töricht bin ich nicht, daß ich mich durch solche Märchen hinhalten lasse,« sagte der Kammerdiener in verschmitztem Tone.

»Es tut mir leid,« fuhr der Graf fort, indem er sich unter dem drohenden Messer nun einmal ein wenig zurecht rückte, »ich würde dich gerne von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen, aber du bist ein toller Junge und stoßest [224] aus Angst schließlich doch noch deinen leiblichen Vater nieder.«

Das Bekenntnis war heraus, allein es wurde darum die Unterhaltung nicht wesentlich gemütlicher.

»Ich habe mancherlei an dir erlebt, mein Sohn,« fuhr der Graf fort, »und ich habe dir außerdem noch mancherlei zugetraut; allein ein Raubmörder, das berührt mich unangenehm. Man kann Leute töten und Güter konfiszieren, so viel man will, aber auf ritterliche Weise, wie wir's getan haben. – Doch dir mangelte die standesgemäße Erziehung und ich habe dich leider aus den Augen gelassen und jahrelang aus den Augen verloren; was ich konnte, habe ich dann ohnehin getan.«

Nun war denn doch der scharfe Hirschfänger in der Faust des Kammerdieners etwas locker geworden. Er trat einen Schritt vom Bette zurück und sagte mit heiserer Stimme: »Erheben Sie sich und zeigen Sie mir das Dokument, denn Sie werden begreifen, daß ich mich sichern muß.«

»Daran tust du wohl. Nur möchte ich wissen,« sagte der Graf und machte Anstalten, aufzustehen, »ob dir niemals eine Ahnung gekommen ist von unserer – Zusammengehörigkeit?«

»Mag sein,« antwortete der Bursche, »momentan handelt es sich aber darum, daß ich mich assekuriere. Hierher, wo ich Sie jetzt habe, dürfte ich Sie sobald nicht mehr kriegen.«

»Das Vernünftigste ist, du gehst zu Bette,« so nun der väterliche Rat, »und keine Seele soll wissen, was in dieser Nacht zwischen uns vorgefallen.«

»Aber Sie werden umso sicherer daran denken, mein Herr, und werden mich enterben oder mich aus dem Wege schaffen, auf welchem ich Ihnen nun unbequem sein muß.«

[225]

»Ich sehe, daß du klug bist, mein Sohn. Doch dürftest du beruhigt sein, wenn ich dir meine, deine Geschichte, insoferne du sie nicht kennst, mitteile.«

»Die kümmert mich nicht und möchte für mich dabei kaum mehr Ehre herauskommen, als für Sie. Was? Sie haben ein schönes, armes Weib ins Unglück gebracht, damit wird's beginnen.«

»Ich habe sie versorgt.«

»Sie ist verachtet worden und zugrunde gegangen.«

»Weißt du's?«

»Das ist leicht wissen, weil es der gewöhnliche Gang ist. Und die Leichtsinnigsten kommen immer noch am billigsten.«

»Auch du wirst dich nicht zu beklagen haben.«

»O klagen, Papa! Lieber nehm' ich mir meinen Teil und schweige.«

»Schweigen, das glaube ich.«

»Ich könnte ja in der Tat eine Rührszene aufführen,« meinte nun der junge Mann, »und ausrufen: Tausendmal besser für mich, ein Bauer hätte mich auferzogen, als daß ich hin- und hergeworfen worden bin zwischen Dorf und Stadt, zwischen Schule und Kaserne, einmal Geld im Überfluß, einmal gar keins, verkommen, verdorben – verdorben!«

»Vergißt es wohl nicht, daß ich dich in mein Haus nahm und hielt wie ein liebes Kind?«

»Warum haben Sie das nicht getan, so lange es noch früh genug gewesen? Sie haben mich verhehlt. Sie hätten Ihr eigen Herz und Gewissen bis an's Lebensende betrügen können, weil es das Dekorum verlangt. – Ha, so könnte ich Komödie spielen, wenn mir die ganze Teufelei nicht verflucht gleichgültig wäre. Nur wollen Sie keine kindliche Liebe, oder wie das Zeug heißt, von mir verlangen!«

[226]

»Ich verlange gar nichts von dir, mein Junge, als Klugheit,« unterbrach ihn der Graf, »aber du wirst dieselbe auch an mir erklärlich finden. Wir befinden uns jetzt beide in einer schlimmen Situation. Öffne ich dir die Kasse, um die Urkunde zu zeigen, so wirst du fürchten, ich könnte nach solchem Zwischenfall das Testament gelegentlich widerrufen und wirst das mit geeigneten Mitteln beizeiten zu verhindern suchen. Öffne ich nicht, so ist deine Sache unsicher, ja verloren.«

»Und Sie werden die Notwendigkeit begreifen, daß ich für meine persönliche Sicherheit sorge und zwar radikal …« So der Kammerdiener.

Mittlerweile hatte sich der Graf ins Nachtkleid gehüllt, an der Wand umhergetastet, um scheinbar nach den Schlüsseln zu suchen. Der Kammerdiener folgte jeder seiner Bewegungen und dabei war er doch ratlos und wußte nicht, was er unter sotanen Verhältnissen zu tun hatte. Sie waren gegenseitig gebunden, wo sich's um Konvenienz, Dekorum und materiellen Vorteil handelte, aber nicht gebunden, wenn es auf Leben und Sicherheit ankam. Der Augenblick war kritisch und Julian umklammerte wieder fest und entschlossen die Mordwaffe.

Da pochte es draußen an eine Tür.

» Auftreten die Tür! Rasch herein! « rief der Graf mit voller Stimme. Da krachte das Getäfel. Julian brach ein, die Waffe entsank seiner Hand. Das vom Grafen durch einen heimlichen Druck an der Wand gerufene Gesinde stürzte herein, der Portier voraus.

»Kommt uns zu Hilfe,« sagte der Graf, »dem Julian ist schlecht geworden. Bringt ihn in's Krankenzimmer, schafft ihm Beistand, und es sollen die Nacht über Leute bei ihm sein.«

[227]

Den Hirschfänger hatte er, während er den Befehl gab, mit dem Fuße unter das Bett geschnellt. Der auf ein Fauteuil gesunkene Kammerdiener ließ sich hinaustragen und der Graf schloß die Tür und war nun allein in seinem Gemache.

Am nächsten Morgen war der Kammerdiener, um frische Luft zu schöpfen, ins Freie gegangen und – nicht mehr zurückgekommen. »Julian hat recht,« meinte der Graf, »seine Gesundheit ist angegriffen, er sucht ein südliches Klima auf.«


[228]

Der Millionär.

Das war vor dem Klosterkeller am See. Draußen glitzerte das Gewässer, jenseits desselben baute sich das Hochgebirge mit den Gletscherschildern, und an meinem Brettertisch, in der grünen Nacht der Lindenschatten, funkelte im Glas der goldene Wein doppelt freundlich. Wahrlich, die Klöster brauchen nicht zu fürchten, von der Erde vertilgt zu werden, solange sie gute Weine geben. Und die Juden werden niemals zur Herrschaft der Herzen gelangen, so lange jüdische Weinagenten uns mit jenem Gesüff verfolgen, wie man es in allen Schenken der Straße zu finden, zu trinken und zu verfluchen pflegt.

Der Klosterwein hat schon manchen zur katholischen Religion bekehrt, und ich selbst schwor zu jener Stunde im Klosterpark, daß in einem solchen Weine die Wahrheit liegen müsse. Auch das Bauernvolk war sicherlich derselben Meinung, das an den übrigen Brettertischen unter den Linden herumsaß, Wein trank, kecke Gespräche führte und Lieder sang.

Auf einmal unterbrach einer der Burschen sein Lied, stieß die Nachbarn mit dem Ellbogen und sagte: »Schaut, dort geht er! Dort drüben geht er wieder!«

Die Augen wendeten sich gegen eine Landzunge hinaus, an deren Strand ein schwarzgekleideter Mann hinschritt. Er trug, soviel man von der Ferne ersehen konnte – enge Beinkleider und ein kurzes schwarzes Wams. Und da er den Stock so an die linke Seite preßte wie einen Degen, gemahnte er fast an den Faust, wenn er im dunklen Samte neben Mephisto dahinschreitet. Über die Schulter hatte unser [229] Wandler am Gestade ein graues Reisetuch geworfen, wie es so die Engländer ins Land gebracht haben. Und auf dieser Gestalt saß ein roter Punkt. Das war der rot bebartete und rot behaarte Kopf, der keine Bedeckung trug.

Ganz hart am Wasser ging der Mann hin, blieb mitunter stehen, als ob er in den See starrte, und schritt dann zögernd fürbaß.

»Er will schon wieder!« rief die Kellnerin.

»Und getraut sich nicht!« lachte einer der Bauern.

»Gebt acht, vielleicht springt er doch hinein!« sagte ein dritter.

»Man soll ihm einen Krug Wein schicken, vielleicht bringt ihn das auf andere Gedanken,« rief ein vierter.

»Steht sein gestriger noch auf der Tafel,« sagte die Kellnerin.

»Seinen heutigen schreib auf die meine,« sagte einer der Zecher.

»Ist gehupft wie gesprungen,« lachte die Kellnerin, »du zahlst auch nicht.«

»Ich zahl' wie die Klosterbrüder zahlen: Gott vergelt's! Im nächsten Jahr soll er wieder gedeihen.« So keck redete der Zecher d'rein. Hierauf schossen sie zusammen, die Bauern und Hirten und Waldleute, die an den Tischen saßen. Der Krug Wein wurde dem Schwarzen nachgeschickt, kam aber wieder zurück, der Wandler am Gestade war nicht mehr zu finden.

Als sich die bäuerlichen Gäste verlaufen hatten, fragte ich die Kellnerin, was es mit jenem Manne denn für eine Sache sei?

»Eine traurige,« antwortete die Kellnerin und griff an die Stirne: »Er muß da nicht recht sein. Er steigt schon [230] etliche Tage in der Gegend um, sagt, er will sich umbringen und hat die Courage nicht dazu. Einmal ist er schon in den See gesprungen, muß ihm aber zu naß gewesen sein, weil er sich wieder herausgearbeitet hat. – Da kommt der Pater Anton, der weiß mehr von ihm. Küss' die Hand, Hochwürden. Gleich bring' ich's.«

So die Kellnerin und lief davon, um dem Ankömmling den gewohnten Trunk zu holen. Der Pater in schwarzem Talar, um die Mitte einen weißen Strick, setzte sich zu mir, gab einen freundlichen Gruß und schaute mich mit seinem runden Gesichte gemütlich an. Wir waren uns also schon verknüpft; ich wollte etwas von dem rätselhaften Manne wissen und der Pater wußte etwas von ihm. So war bald angehakt und der Priester erzählte mir. Etwa eine Woche zuvor sei weiterhin an der Felswand ein fremder Mann aus dem See gezogen worden, nachdem ihn der Fischer um Hilfe rufen gehört. Dann habe der Gerettete dem Retter heftige Vorwürfe gemacht, daß er ihn nicht habe ertrinken lassen, sei ihm ausgerissen, wieder ans Wasser gelaufen, dort aber am Ufer zusammengebrochen. Hierauf habe man den Armen ins Kloster gebracht, dort geatzt und mit Kleidern versehen, denn seine Gewandung sei nur mehr in schmutzigen Fetzen am Leibe gehangen. Im Alter wäre er noch kaum über dreißig Jahre, wer oder was er sonst sei, das wäre nicht aus ihm hervorzubringen, allem Anscheine nach ein Mensch aus gutem, reichem Hause, aber einer Irrenanstalt entsprungen. Bei einem Mahle, an dem er im Kloster teilgenommen, habe er sich als Feinschmecker erwiesen. Sein Benehmen sei ein merkwürdiges Gemisch von Höflichkeit und Trotz, manchmal flackere etwas, wie übermütige Lust in ihm auf, dann sei er wieder tief niedergeschlagen, starre oft bewegungslos lange Stunden in Abgründe, [231] in das Wasser, sitze mitunter in der Tischlerwerkstatt und starre die Werkzeuge an. Einen Revolver habe er anfangs bei sich getragen, der sei ihm abgenommen worden. Dann wandle er traumhaft umher, man sehe ihn drüben an der steilen Wand, man sehe ihn oben auf den Höhen, man sehe ihn draußen bei den Klostermühlen und am Wasserfalle und an der Brettersäge, wo er seine Augen in das Getriebe vertiefe. Dann wieder laufe er in das Dickicht oder werfe sich auf den Erdboden und klammere sich mit krampfhaften Fingern an den Rasen. Man sei ihm mit der Religion gekommen, dabei wäre er bewegungslos wie ein Taubstummer geblieben; aber einmal habe er auf den Feldern einem pflügenden Bauer zugeschaut und habe dabei angefangen, herzbrechend zu schluchzen und habe sich in die frische Furche gelegt und habe sein Gesicht in die Erde gepreßt, daß der Bauer gar nicht gewußt, was er sich davon denken solle. Einmal am Abend habe er sich bei den Klosterbrüdern bedankt für die Herberge und Gastfreundschaft und gesagt: Morgen, wenn die Sonne aufgeht, bin ich nimmer. Aber als die Sonne ausging, war er doch noch und schlich von den Leuten abseits; da habe man gesehen, wie er sich mit einem Stein an den Kopf schlug, daß helles Blut niederrann über das Gesicht; dann wimmere er, und endlich, wenn er etwas zu essen bekäme, zeige er wieder guten Appetit. Der Abt sage nun, länger sehe er dem Manne nicht mehr zu, er lasse ihn abliefern in die nächste Irrenanstalt.

Derlei hatte mir Pater Anton mitgeteilt, und dabei war es in mir unruhig geworden.

»Die Leute sagen,« setzte der Pater bei und trank aus seinem Krug, »die Leute sagen, es sei der leibhaftige ewige Jude.«

»Mag wohl sein, zum mindesten ein Stück von ihm.« [232] – Bald nachher nahm ich Abschied vom Kloster und zog meiner Wege.

Ich strich bergauf und talab im Gebirge umher und dachte unterwegs viel an den sonderbaren Mann und hoffte ihm sogar zu begegnen. Das geschah aber nicht, und so wendete sich mein Herz von dem Grauen einer umnachteten Seele wieder der lichten Herrlichkeit der Hochgebirgswelt zu.

Sonst pflegte man die Klöster in gesegnete Gegenden der Hügelgelände hinzubauen; aber der Erbauer dieser Pfaffei hatte das unwirtliche Hochgebirge vorgezogen. Die Liebe zu solchen wilden Gegenden konnte zu jener Zeit der Klostergründungen nicht Ursache gewesen sein, denn diese Liebe war in alten Zeiten nicht so in den Menschen wie heute. Eher war es der Schutz, den die wilden Berge vor feindlichen Einfällen gewährten, in Hinsicht darauf diese Stätte gewählt worden. Oder die Sache fing etwa mit einer Einsiedelei an, oder einem Jagdschlößchen, das die Priester eines fernen Klosters hier erbaut hatten; zum Jagdschlößchen kam eine Kirche, zu dieser kamen Andächtige, es huben Wunder an zu geschehen, der Wallfahrer wurden von Jahr zu Jahr mehr, die Kirche wurde vergrößert, ständige Priester mußten sich niederlassen, und es erwuchs ein Kloster, das von dem, was die Gläubigen herbeitrugen und was das ferne Mutterkloster abwarf, reichlich gedieh.

Und so konnte die Abtei des heiligen Antonius ganz behaglich daliegen zwischen den Wänden. Sie lag – von oben herab gesehen – mit ihren weißen vielfensterigen Mauern, mit ihren zwei roten Kuppeltürmen, mit den Wirtschaftsgebäuden und Baumgärten reizend am Gestade des Alpsees, und hinter ihr war ein kleiner fast ebener Boden von grünen Matten und Fichtenwäldern. In Urzeiten mochte auch diesen von schroffen Felswänden eingeengten Boden der [233] See bedeckt haben; heute ist er wie ein lieblicher Garten, an zwei Seiten bestanden von der Schutzmauer. Diese Schutzmauer ist mehr als fünftausend Fuß hoch, und im Winter hat das Kloster neun Wochen lang keinen Sonnenstrahl. Stellenweise steigt der blauende Wald streckenweit hinan in das steile Gebirge, am See hin ragen die Wände fast senkrecht empor. Oben sind sie scharf abgebrochen, und wie sich dort das Gebirge zurückzieht und im Hintergrunde zu neuen Massen großartig aufbaut, das kann man vom Tale aus nicht sehen.

Wer jedoch oben steht auf einer der Kanten des Vorgewändes, dem schwindelt einerseits vor der Tiefe unter sich, in welcher der See wie eine braune, ins Gebirge eingezackte Spiegeltafel daliegt und daneben im dunklen Grün die lichten Würfelchen des Klostergebäudes – und andererseits vor der Höhe über sich, in welcher die grauen zerklüfteten Bergwuchten stehen, von deren Häuptern und Hochmulden der versteinerte Schnee niederleuchtet. Diese Felsmassen setzen sich nicht zusammen aus einzelnen Stücken und Schichten, sie haben nicht die Art des Zersprungenen, Zerbröckelnden; in geraden und glatten Linien gezeichnet, so stehen die ehernen quadratischen Blöcke da, mancher im Durchmesser von mehreren tausend Fuß; so liegen ihrer zwei und drei oder noch mehr übereinander und die obersten Zinnen überragen die Gebirgswelt und schauen in ihren äthergrauen Flächen weit hinaus in die Lande.

Das Gewände jenseits des Sees hat mehr den Charakter des Unregelmäßigen und Plumpen, es baut sich in Kegeln aus, von deren Schründen gelblichweiße Schutthalden niedergehen und sich zwischen grünen Wäldern und grauen Klötzen ausböschen in den See. Selten ist das Bild ganz rein, entweder die Gipfel stechen in die Wolken hinein, oder es [234] liegt der Nebel in den Tiefen und die Berge steigen scheinbar, jeder für sich, wie aus einem grauen Meere auf. Oder es schwimmen in der feuchten Luft die Nebelfetzen in halber Höhe hin, hängen wie Wetterfahnen an den Wänden oder dampfen im Morgensonnenschein aus den Steinhäuptern hervor und lösen sich in Äther.

Scheinbar hat der Beschauer die Felswände sich ganz nahe gegenüber, aber wenn er nach Gemsen ausschaut, so sieht er dunkle kleine Punkte, wie Steinflöhe – das sind freilich die Gemsen, aber sie zeigen nur, wie groß der Abstand, wie riesig die Verhältnisse sind, in welchen sich der Beschauer selber wie ein nichtiger Steinfloh vorkommen muß.

Auf solchem Standpunkt wird der Wert des menschlichen Lebens stark verschoben, entweder es verliert gegenüber diesen ungeheuren Naturgewalten alle Bedeutung, oder es stellt sich als Erkenner und Genießer der Natur hoch über sie und ermißt an der seelenlosen Außenwelt seine göttliche Überlegenheit.

Als ich in solchen Gedanken dahinging hoch am Grate des Gewändes, das senkrecht in den See hinabtauchte, sah ich plötzlich unter mir auf einem schmalen Felsvorsprung einen Menschen liegen. Er lag in seiner schwarzen Kleidung ausgestreckt auf dem Rücken wie eine Leiche und ich wähnte auch anfangs, es wäre der nun tote Fremdling, den ich ein paar Tage früher unten am See gesehen. Es war aber der lebendige, wie mich eine Bewegung desselben belehrte. Es war eine Bewegung mit dem Arm, wie bei dem Erwachen aus einem traumschweren Schlaf. Ich erschrak vor dieser Bewegung mehr, als früher vor dem leblosen Bilde, eine einzige Wendung des Körpers, und er mußte in die Tiefe stürzen.

Diese Bewegung wurde vermieden, der Mann richtete sich sorgfältig empor und kletterte mit Geschick, aber auch [235] mit Zittern und Zagen einem Gemssteige entlang quer heran zur Zinne. Mit einem Sprunge stand er auf der flachen weiten Matte und atmete auf. Dann blickte er wirr um sich und wollte davoneilen.

Ich trat rasch zu ihm und redete ihn an: »Sie können vom Glücke sagen, daß Sie heil heraufgekommen sind!«

»Jawohl,« antwortete er gedämpft und säumig, »ich kann vom Glücke sagen. Ich kann vom Glücke sagen!«

»Wollen Sie nicht mit mir kommen, lieber Herr,« lud ich ihn ein, »unten im Kloster erwartet man Sie.«

»Wer erwartet mich?« schnauzte er auf, »mich hat niemand zu erwarten, verstehen Sie? Die Pfaffen sollen mir meinen Revolver wiedergeben.«

»Das sollen sie auch,« sagte ich, »wer im Gebirge reist, muß eine Schußwaffe haben. Sehen Sie, ich habe auch so etwas.«

Damit zog ich mein Terzerol aus der Tasche, er blickte es mit gierigen Augen an und fragte, ob es geladen sei?

»Dreifach. Ich pflege es im Gewände loszubrennen, ich ergötze mich am Echo.«

Hierauf ging er mit mir und wies mehrere Stellen, die ein vielfaches Echo hatten. Dabei merkte ich, daß er mit der Gegend einigermaßen bekannt war und es war überhaupt vernünftig und unauffallend, was er sprach, und stand es zu seinem verwahrlosten Wesen, zu seinem verstörten Gesicht im Widerspruch. Das lange rote Haar und der volle Bart, der das blasse eingefallene Gesicht wie eine Wildnis umwucherte, war verworren und es klebten Baumnadeln und Sandkörner daran.

Da er keinen Hut hatte, so fragte ich ihn, ob selbiger denn vom Winde entführt worden wäre?

[236]

»Ha, ha,« lachte er, »alles frägt nach dem Hute, als ob der Hut das wichtigste wäre an einem Menschen. Ja, es ist mir einmal einer auf dem Kopf gesessen. Vielleicht schwimmt er unten im See, wenn Sie ihn haben wollen.«

»Mir geht's nicht um den Hut,« war meine Entgegnung, »aber wenn ich Sie nach Ihrem Kopf gefragt hätte, wer weiß es, ob Sie mir Bescheid gegeben!«

Auf das antwortete er nichts, sondern ging still vor mir her, der Steig zwischen dem Gestein und Gezirme war sehr schmal. Plötzlich – wir waren so weit in das Hochplateau hineingekommen, daß man nicht mehr zum See und zum Kloster hinabsehen konnte – blieb mein Begleiter stehen, kehrte sich um gegen mich und sagte: »Wenn Sie klug wären, hätten Sie mich jetzt von hinten niederschießen müssen.«

»So? Sie halten mich für einen Banditen?«

»Ei, was Sie denken!« rief er und legte seine Hand wie besänftigend auf meinen Arm. »Sie sind ein braver Mann und gerade darum sollten Sie an mir ein gutes Werk tun. Ich bin ein Tor, ich bin dem Wahnsinn nahe, aber ich weiß noch ganz genau, was ich will und habe das Endziel meines Lebens nicht aus den Augen verloren. Leider Gottes, es geht mir nach dem Worte der Schrift: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.«

Er setzte sich auf einen breiten Stein, der schief aus der Erde hervorragte. Ich setzte mich ihm gegenüber auf einen zweiten Stein und bot dem Gefährten meine Feldflasche an.

Er tat daraus einen durstigen Zug und der Klosterwein brachte seine Mitteilsamkeit in ganz ungeahnter Weise zum Rieseln. Nachdem er mehrmals getrunken, sagte er: »So ist das jetzt schon der dritte Monat, seit ich Almosen [237] nehme. Wer hätte sich das je gedacht, daß die Liebe zum elenden Leben stärker sein soll als der Stolz des Millionärs, als die Weltverachtung eines alten Lumpen! Wer hätte sich das gedacht! Aber ich sage es: das ist noch das Erbärmlichste unter allem Erbärmlichen am Menschen, daß er feig ist – eine feige Bestie. – Also im Kloster erwartet man mich!«

»Und spricht von Ihnen,« setzte ich bei, »und ich muß gestehen, daß auch ich seit ein paar Tagen oft an Sie denke.«

»Sie denken an mich. Das ist schön.«

»Nach dem, was man von Ihnen erzählt, vermute ich, daß Ihnen die Leute übel mitgespielt haben.«

»Die Leute, meinen Sie! Wenn das wäre, so könnte ich mich rächen!« rief der rätselhafte Mann lebhaft und wühlte mit den Fingern in seinem Vollbart, was er allemal tat, so oft er in Erregung kam; »leider bin ich es selber, der mir schlimm mitgespielt hat und den ich nun mit dem Tode bestrafen soll, weil er einen Menschen zugrunde gerichtet hat – sich selber.«

»Daß Sie der guten Gesellschaft angehören, ist mir kein Zweifel,« sagte ich.

»Der guten Gesellschaft!« lachte er auf.

»Ihrer Aussprache nach sind Sie ein Wiener.«

»Nur ein halber. Ein geborener Prager, studierte in Berlin. Als mein Vater starb, war ich dreiundzwanzig Jahre alt und Erbe einer Million. Allsogleich hub ich ein standesgemäßes Leben an, machte Streiche, ward relegiert und ging nach Wien. In Wien lebt sich's flotter, das Studium gab ich auf, nachdem ich zweimal gefallen war. Ich fand Genossen, die hatten einen guten Grundsatz, der gefiel mir: Die Million verjuxen und sich dann erschießen!«

[238]

Mit zynischer Gebärde wühlte er wieder in seinem Bart, als wäre ihm das eine wie das andere zur Lust, schlenkerte die Arme aus, schnalzte mit den Fingern und wieherte: »Die Million verjuxen und sich erschießen!«

»Hoffentlich,« so warf ich im Scherze ein, »waren Sie wie die liebe Jugend, diese ist leichtsinnig und pflegt ihren Grundsätzen nicht treu zu bleiben.«

»Den ersten Teil meines Grundsatzes habe ich auf das Gewissenhafteste befolgt,« versicherte er. »Ich habe jeden Tag meinen Tausender in die Welt geworfen, habe Lakaien, Pferde, Freunde, Freundinnen gehabt, habe alles versucht, was sie Genuß heißen; ein dreijähriger Hexensabbat war's, teils in Wien, teils in Petersburg, teils in Baden-Baden und Homburg. Oh, wenn ich ein Tagebuch geschrieben hätte! Es war anfangs ganz ergötzlich, aber eher als man denken kann, eine Last, ein Ekel zum Erbrechen. Das Geld mußte fliegen Tag für Tag, die Langweile tat sich auf wie ein Abgrund, ich schleuderte Unsummen hinein, manche Stunde fraß das Jahreseinkommen eines Ministers, und die Langweile war nicht zu töten. Es gibt nichts, woran ich mich nicht übersättigt hätte, noch bevor ich es eigentlich genossen. Es ist mir heute alles nebelhaft, ich sehe nur zu Tod gehetzte Pferde, rollende Würfel, üppige Gelage, Weiberbusen mit Schaumwein getauft, blasse Gesellen im Nachtaumel des Katzenjammers. Und nie hätte ich geglaubt, daß die Welt für eine Million so arm ist an Genüssen. Das ewige Einerlei des ruhelosen Wandelns, des Schnaubens und Schnappens nach Neuem, Pikanten. Die Sinne wurden stumpfer, ich verschmachtete fast in der Öde des Reichtums.«

»Haben Sie denn nicht Reisen gemacht, waren Sie nicht auf dem Meere, in Ägypten?« so meine Frage.

[239]

»Ich war überall, aber nur als Raubtier,« antwortete er, »ich sah nicht den Wald, ich sah nur das Reh und den Hirschen. Ich sah nicht das Hochgebirge, nur den Adler und den Lämmergeier; ich sah nicht den klaren Alpfluß, die hohe See, nur die Fische drinnen, und fangen, töten, an mich reißen – sonst wußte ich von nichts. Ja doch! Eines Tages, es war auf dem Wege von Salzburg nach Berchtesgaden, brach mir auf der Straße ein Wagenrad, und während des Aufenthaltes beim Dorfschmied sah ich, wie das Weib des Schmiedes, das auf dem Acker Kartoffeln jätete, zur Jause in der heißen Tageszeit ein Krüglein Wein vom Wirtshaus holen ließ. Eben will sie sich d'ranmachen, da kommt ein alter Mann des Weges gehumpelt, der setzt sich vor der Schmiede auf die Bank, trocknet sich den Schweiß und sagt nichts. Jetzt kommt das Weib mit dem Weinkrug, ladet den Alten ein, sich daran zu laben, er bedürfe der Labe notwendiger als sie. Da geht mir ein Licht auf: Der Wein ist doch ein großer Genuß, wenn man Durst hat, aber das Almosengeben muß ein noch größerer sein, sonst würde ihn das Weib nicht dem Trunke vorziehen. Den Genuß kann ich mir verschaffen. Ich lasse alles Bettelvolk der Gegend zusammenrufen, alte Männer und Weiber, Krüppel, Kretins, und sage: Jedes bekommt einen Taler, wenn es über den Wassergraben springen mag, in dem der Hammerbach rinnt. Ha, wie die Joppen und Röcke fliegen, den meisten glückt der Sprung, etliche fallen kreischend in den Bach. Auch diese sollen ihren Taler haben, sage ich, wenn sie mir auf den Anger ein Ballett aufführen, während die Kleider am Zaun trocknen. Da ist etwas. Ein alter Mann kommt auf mich zu, spuckt mir ins Gesicht, dann eilen sie hinweg.«

Ich war aufgestanden.

[240]

»Es ist weit mit mir gekommen,« fuhr er fort, »aber niemals hätte ich geglaubt, niemals, meine Schande jemandem so ins Gesicht sagen zu können. Wenn das nicht die größte Schamlosigkeit ist, so ist es Mut, und wahrlich, den hätte ich zu brauchen. – Nach wenigen Jahren war die Million dahin und ich floh vor den Gläubigern. Und nun – das Erschießen! – Wer eine Million verpuffen will, der soll sich zuvor prüfen, ob er nicht zu feig ist für die Konsequenzen; sonst geht er einem Leben entgegen, einem verdammten Leben, das ärger ist als der Tod und das Fegefeuer.«

Er schwieg, ich ebenfalls, denn ich wußte in der Tat nicht recht, was hier zu sagen war. Zu sagen sehr viel, aber wo ein unglückliches Menschenherz mit im Spiele ist, da muß man die Worte mit Bedacht wiegen. Die Wahrheit und die Vernunft und die Moral sind oft zu rücksichtslos; den Sünder richtet man am besten auf, wenn man als Sünder zu ihm spricht.

Der Mann war in sich zusammengesunken, als habe ihn der Schlaf übermannt. Plötzlich fuhr er empor und starrte mich erschrocken an.

»Habe ich nicht den Hahn eines Revolvers knacken gehört?« fragte er.

»Der Stoppel dieser Feldflasche hat gepafft,« antwortete ich, »wollen Sie sich bedienen?«

»Ich kann mich nicht bedienen,« war seine Entgegnung, »wenn ich aber einmal fest schlafe und Sie jagen mir die Kugel durch den Kopf, so bedienen Sie mich am besten.«

»Sie sind nicht klug!« sagte ich und wahrlich, ich hätte was Klügeres sagen können.

»Ein Bettel um die Kugel!« lachte er. »Das Leben verachten und nicht den Mut haben, es zu enden! Vom [241] Sonnenlicht übersättigt und vor dem Grabe schaudernd! Eine Million verpuffen und sich erschießen! Wie leicht ist's gesagt. Ich setze mir das Feuerrohr an den Kopf, zehnmal, oh, weit öfter, aber mein Finger, der am Hahn lag, gehorchte mir nicht, ich schleuderte die Waffe von mir. Ich hing am Hanf und habe die Schlinge gelockert. Ich nahm Gift und flehte den Arzt um Gegengift an. Ich sprang ins Wasser. Es wäre gut gewesen, da kommt der Klosterbruder. Immer habe ich gehört, von den Pfaffen komme nichts Gutes; nie habe ich mich mit ihnen eingelassen und hab' es doch erfahren. So ziehen sie mich aus dem See. Nun übe ich mich in Mut und suche meine Schlafstelle da drüben an der Seewand, vielleicht stürze ich einmal unbewußt hinab. – Des Menschen Leben bläst der leise Windhauch aus. Steht's nicht so in einem alten Buche? Oh über die Hypochonder! Wenn sie ahnten, wie schwer das Leben abzuschütteln ist! Ausgelebt haben und nicht sterben können!«

»Wie alt sind Sie?«

»Achtundzwanzig Jahre.«

»Und wollen ausgelebt haben?« fragte ich. »Freund, Sie mögen den Abschaum des Lebens kennen gelernt haben, aber das Leben nicht. Mit einer Million kauft man sich kein Leben, noch weniger ein Glück. Sie müssen gerungen haben ums tägliche Brot, sie müssen einmal aus einer schweren Krankheit genesen sein, Sie müssen Gutes empfangen und Gutes gegeben haben, Sie müssen sich ein Haus gebaut haben, und einen geliebten Menschen gefunden und einen geliebten Menschen sterben gesehen haben, um zu wissen, was Leben ist. Sie haben noch nicht gelebt. Auf Ihrem Herzen liegt der Rost der Übersättigung, den müssen sie herausbluten, und es wird wieder jung sein. Sie haben bisher nur ihre rohesten Sinne gefüttert, den eigentlichen Menschen in sich haben [242] Sie wahrscheinlich noch gar nicht entdeckt. Sie haben jene Anlagen noch gar nicht entdeckt, deren Betätigung und Befriedigung erst das Glück gibt. Das Sehen des Schönen in der Natur, das stille und beständige Bedienen der Mitmenschen, das Wiedergenießen ihrer Achtung, das Bewußtsein erfüllter Pflicht, das, mein armer Freund, sind weit tiefere und feinere Lebensgenüsse als jene tierischen, die Sie mit Ihrer unseligen Million erkauft haben.«

Der Mann tat eine Bewegung mit der Hand, als wollte er damit sagen: Das gäbe es für ihn nicht.

Ach du arme, zerfressene Seele, wie hat dich der Materialismus zugerichtet!

»Sie müssen nicht glauben, daß ich hier bei Ihnen sitze, um mich von Ihnen beschulmeistern und bedauern zu lassen!« sagte der Mann, indem er aufstand. »Ich habe mit Ihnen nicht angebunden, Sie haben es mit mir getan. Gehen Sie hinab und sagen Sie den Pfaffen, sie mögen mich nicht erwarten und mit Seelenmessen ließe sich an mir nichts verdienen. Ihr seid alle Wichte! Alle! Adieu!«

Nun eilte er davon, zwischen Zirmsträuchern hin und schaute gar nicht mehr um. Ich war nicht Samaritan genug, um ihm zu folgen; ich hatte nicht das demütige Trostwort gefunden, welches der Sünder zum Sünder spricht. Schwer verstimmt stieg ich niederwärts gegen den See.

Das war die erste Begegnung mit diesem Menschen in den Tiroler Bergen. Später ergab sich Gelegenheit, mit seinen Schicksalen näher bekannt zu werden. Er hieß Friedrich Kürbaum mit Namen und war der einzige Sohn eines Prager Bankiers. Mit seinen Studienjahren und seiner Million verhielt sich's so, wie er selbst angedeutet hatte. Es wären aus der unsauberen Zeit wunderliche Einzelheiten [243] zu erzählen. Es war ein Leben ohne Kopf und Herz, es war das Welteinsaugen eines menschgewordenen Polypen. Das beste an seiner Million war, daß sie endlich zur Neige ging; mit dem Ringen um die Existenz und der Angst vor dem Untergange kamen wenigstens menschliche Regungen in seine Brust. Es ging ihm das Bewußtsein auf, ein Leben verloren zu haben und das verlorene Leben wie ein unerlöstes Gespenst weiterschleppen zu müssen durch alle Entbehrungen und Demütigungen hin, und wie sozusagen sein Gewand und sein Leib stückweise von der gemarterten Seele abfallen müsse, bevor sie ihr Dasein aufgebe.

Mit solchem Jammer trat der durch Überfluß und Übermut entherzte Verschwender gleichsam wieder in die Rechte der Menschheit ein.

Lange strich er um im Gebirge; es war, als banne ihn die Größe oder als bedürfe er für seine innere Wildheit und Zerrissenheit die Wildheit der äußeren Natur. Planlos strich er um. Hier bettelte er um den Tod, dort bettelte er um Leben. Es war der allerärmste Bettler, der je in dieser unwirtlichen Gegend umhergestiegen.

Einige Tage war es nach unserer Begegnung auf der Zinne der Seewand, als Friedrich Kürbaum im Walde zu einem halb verfallenen Holzbaue kam. Einst mochten Kohlenbrennerleute darin gewohnt haben, wenigstens war vor der Hütte ein runder Platz mit Kohlenlösche, aus der Nesseln und anderes Krautwerk wuchsen. – Wenn er sich in diese Hütte einschlösse, die Fenster und Löcher verstopfte, mit Kohlenresten darin ein Feuer machte, um daran zu ersticken! – Mit diesem Gedanken vielleicht stieß Kürbaum den Bretterverschlag auf, der die Tür bildete, und trat in den Raum. Sofort merkte er, wie sich in einem Winkel der Hütte etwas bewegte und eine Stimme war: »Mein Gott hat mich [244] erhört, Friedrich! Wie danke ich dir, daß du uns aufgesucht hast!« Dann hörte er nur noch Schluchzen.

Als sich seine Augen an die Dunkelheit etwas gewöhnt hatten, sah er im Winkel auf Heu ein junges Weib kauern, am Busen ein kleines Kind; Er erkannte sie sofort. Vor Jahresfrist auf einer Reise in die Schweiz war er ihr das erstemal begegnet in einem Flecken bei Innsbruck. Ein frisches, unschuldiges Landmädchen, das war noch etwas Ungewöhnliches für ihn. Das Schmuckkästchen half nicht, wie beim Gretchen, der Weltling mußte all seine Verstellungskünste aufbieten, um sie zu gewinnen. Nach zwei Wochen zog Herr Kürbaum lustig weiter und hatte das süße Naturkind auch bald vergessen.

Floriana jedoch hatte auf ihn gewartet, anfangs mit Inbrunst, später mit Bangen, endlich in Verzweiflung. Als sie vor ihrem Vater das Geständnis tat, wurde er rasend. Das Mädchen floh ins Etschtal, wo ein Oheim von ihr lebte, dort fand sie zur Not Unterstand für die schwersten Tage, aber des Oheims Weib hielt es der Armen stündlich vor, daß sie hier nicht daheim sei, und so nahm sie das Kind, um damit wieder ihrem Elternhause zuzuwandern. Sie bettelte sich von Tal zu Tal, bis sie vor Erschöpfung endlich nicht mehr weiter konnte und in jener Waldhütte liegen blieb.

Das hatte Floriana nun dem Manne erzählt, oft unterbrochen durch ihre Schwäche und das Weinen vor Freude, daß er erschienen.

Kürbaum war ratlos, was hier zu tun oder zu sagen sei.

Um einen Schluck Wasser bat sie ihn; er, der einstige Verschwender, hatte nun nicht einen Schluck Wasser, um sie zu laben, er war selber dem Verschmachten nahe. Da bot sie ihm ein Körbchen mit Heidelbeeren, die sie gesammelt hatte.

[245]

»Friedrich,« sagte sie dann, »hier ist das Kind, Frieda hab' ich's geheißen. Sieh es an. Sieh doch auch mich einmal an. Bin ich denn so verdorben, daß du mich nicht mehr erkennen kannst? Das Kind mußt du hüten, daß es groß wird und brav. Ich glaube, bei mir ist's zum Sterben.« Er wendete sich ab. Sie faltete die Hände: »Friedrich! Auf der Welt ist es so schön und bist ja du wieder bei mir! Ich mag nicht sterben. Noch so jung und schon auf die Totenbahr.«

Er blieb stumm. Nicht einmal die Kraft der Verstellung hatte er mehr, um ihr ein beruhigendes Wort zu sagen.

Das Kind, in Lumpen gehüllt, schlief an der schwerwogenden Brust des Weibes.

»Wenn die Türe offen wäre!« sagte Floriana. Er öffnete sie. Das Abendrot lag draußen auf den Bäumen.

»Nicht wahr, die Waldluft, die soll ja gesund sein!« sagte sie.

»Gewiß,« versetzte er.

»Meine Eltern laß ich grüßen. Auch den Vater,« fuhr sie wie traumhaft fort. »Aber nicht wahr, mein lieber Mann, du machest mich gesund. Du bist ja ein großer Herr. Du hast mir Geld gaben wollen. Nichts wünsch' ich mir als die liebe Gesundheit. Ich will dir keine Last sein, nur leben laß mich. Mein junges Leben, nur das verlang nicht von mir!«

»Das meine gebe ich für dich!« rief er aus. »Nimm es! Nimm es!«

Sie haschte nach seiner Hand: »Du bist gut, Friedrich!« hauchte sie und legte ihre Wange zärtlich an seine Hand und streichelte sie, »ich hab's ja gewußt, daß du gut bist. Kreuz mußt du mir keines setzen auf das Grab. Aufs Kind denkest du ja und mich mußt du vergessen. Es wäre kein [246] gutes Gedenken. Du wärest brav geblieben und ich bin dein Unheil geworden.« Sie schwieg, hielt ihren rasselnden Atem ein, um zu horchen: »Hörst du es? Hörst du es?«

Auch er horchte, nichts war, als der stille Abendfrieden.

»Die Glocken läuten,« sagte sie leise.

Es war keine Kirche weit und breit und die Kapelle, die draußen an der Straße stand, hatte keine Glocke.

»Es ist schon die Gebetstunde,« sagte sie müde und legte über dem Kinde an der Brust ihre Hände aneinander, »sie läuten zum Englischen Gruß, bete ein Vaterunser, Friedrich!«

Er neigte den Kopf, aber er betete das Vaterunser nicht, denn er wußte nicht, wie es lautete. Sie betete still und er saß neben ihr bewegungslos, wie hingebannt. Im traumhaften Zustand starrte er zur Türe hinaus, das Gold der Wipfel begann zu erblassen, die lichten Äste und Steine verdämmerten mählich und in dem Schatten sang ein einziger Vogel weiche, kurz abgebrochene Töne.

Das Weib war noch immer still und betete.

Herr Kürbaum hatte eine Empfindung wie nie bisher in seinem Leben, es war, als ob in seiner Seele etwas zu tauen beginne. Dieses junge Weib. Und – »sie ihn verführt!« Du heilige Büßerin Unschuld! – Mit diesem Weibe leben! Es muß ja groß sein, das Glück zu leben, wenn es selbst der Ärmste, Verlassenste nicht lassen will.

Als der Mann sich niederbeugte gegen ihr Angesicht, um zu sehen, ob die Betende nicht in den Schlummer gesunken sei, da sah er's.

Er rüttelte sie, er rief sie laut beim Namen. Sie war dahin …

[247]

Da besann er sich nicht lange. Ein Tatentschluß. Vielleicht das erstemal im Leben. Er nahm eine Kohlenschaufel, die neben anderen verrosteten Geräten in einer Ecke lehnte, und ging, um draußen zwischen den Bäumen ein Grab zu graben.

Er grub und schaufelte mit Hast, aber der Moosboden war zähe, die Baumwurzeln waren hart und wollten nicht weichen. Erschöpft. Dieser Leib, dem er eine Million zum Fraß geworfen, vermochte nicht einmal eine Grube zu schaffen für ein armes Wesen, das seinetwegen gestorben war. Ohnmächtig an Seele und Leib, und nicht sterben können!

Erschreckt fuhr er auf. In der Hütte begann das Kind zu schreien. Es war erwacht, es war ihm nicht behaglich an der toten Brust.

Herr Kürbaum wankte hinein und hob das Kind auf. Die Mutter wollte es nicht lassen, ihre Arme schlangen sich starr um den Säugling. Aber als er das junge warme Leben nun an seiner Brust hielt, das Kind mit dem rosigen Antlitz, da ging eine Flut in sein Herz.


Noch in derselben Nacht ist er mit dem Kinde davongegangen. Ein verspäteter Jäger begegnete ihm, dem teilte er mit, daß in der Waldhütte ein Toter liege, der zu begraben sei.

Er selber mit dem Kinde fand nach langem Irren Herberge und Atzung in einem kleinen Hause, das an einem Steinbruche stand. Dort lebte ein betagtes Weib, das kurze Zeit früher ihren Mann und Ernährer durch den Tod verloren hatte. Der war Steinschläger und Kalkbrenner gewesen. Bei einem Steinsprengen durch Pulver war ihm ein Felsstück an das Haupt geflogen.

[248]

»Es ist halt so traurig in meinem Hause,« sagte die Witwe.

»So wollt Ihr mir vielleicht das Kind abnehmen?« fragte Kürbaum, nachdem er in Kürze die Schicksale desselben mitgeteilt.

»Es wäre recht,« antwortete die Witwe, »aber der Tod hat mir das Tuch vom Tisch gezogen.«

»Wenn ich für Euch steinbrechen wollte?« fragte der Mann.

»Das wäre gut, aber das Steinbrechen allein lohnt sich nicht. Mein Mann hat auch noch die Kalkbrennerei betrieben. Man verkauft den Kalk jetzt gut hinaus nach Zirlschlag.«

»Und wenn auch ich die Kalkbrennerei betriebe? Und den Erwerb brächte ich Euch, damit Ihr mir dieses Kind pfleget?«

»Ja, dann sind wir handelseins,« sagte die Alte und machte einen Handschlag. »Aber – mit dieser Hand wollt Ihr Steine brechen?«

Einige Zeit mußte er sich von der alten Witwe pflegen lassen, bis er imstande war, sein Vorhaben zu versuchen.

Und dann geschah es, daß ein Mann, der die vornehmste Erziehung genossen hatte, der zu Lebzeiten seines Vaters zwölf Jahre lang allerlei Wissenschaften betrieben, der hierauf eine Million zu erben bekommen, daß dieser Mann bei einem Halbkretin in die Schule gehen mußte, um sich und seinem Kinde das Brot zu erwerben.

Der schiefäugige, halbtaube Knecht des Verstorbenen unterwies Herrn Kürbaum, wie man den Eisenschlägel handhabt, wie die Steine am richtigsten zertrümmert werden, daß sie nicht zu groß und nicht zu klein bleiben, wie man sie in Prismen schichtet und mißt und verrechnet; unterwies [249] ihn in der Kalkbrennerei, welche Gattung von Stein man nimmt, wie man heizt, röstet, löscht usw.

Kürbaum hätte es nicht ausgehalten, seine ganze Natur bäumte sich oft auf gegen solche Dinge, aber wenn er das Kind sah, das ihn bisweilen so treuherzig munter anblickte, da gewann er innere Kraft, und mit dieser stählte sich allmählich auch die äußere. Sein Wille erstarkte und rang mit seinen Neigungen, die auch wieder zu erwachen begannen. Ein paarmal drohte ihm das Unterliegen. »Nur den tausendsten Teil von dem, was ich der Langweile und dem Laster in den Rachen geworfen, und das Kind wäre geborgen!«

Nach und nach stellten sich auch Freuden ein. Das Kind lächelte, streichelte mit dem Händchen seine bebarteten Backen, faßte den Lederschild seiner Mütze und lallte: »–ut!«

Die Pflegemutter verstand: »Hut«, der Vater wußte es besser: »Mut!« Und er gewann ihn ganz zu eigen. –

Nach einer Weile vernahmen die Fratres des Klosters zum heiligen Anton am See, daß der wunderliche Mensch, der seinerzeit aus dem See gezogen worden war, draußen in den Träusundbergen bei einem Steinbruch wacker arbeite. Nach näher eingeholten Erkundigungen ließ der Abt an ihn folgendes Briefchen schreiben:

»Eine Million verjuxen und sich erschießen! Wie jämmerlich! – Aber eine Million verjuxen, dann Steine schlagen, das ist tapfer! Das Kloster braucht gegenwärtig einen Straßenmeister. Wollen Sie die Stelle haben, so mögen Sie sich melden.«

So steht es heute. Friedrich Kürbaum ist wohlbestellter Straßenmeister und bewohnt mit seinem heranblühenden Töchterl und der alten Witwe das im Schweizerstil gebaute kleine Haus, das rechterhand der Straße steht, wo sie sich [250] gegen den See hineinbiegt und ins enge Klostertal. Vom Fenster aus sieht man die Seewand und die im Hintergrunde aufragenden Felsriesen.

Ist das alles? fragt ihr. Und der Mann soll Straßenmeister bleiben?

Ihr winkt mißmutig ab? So stark sei niemand? – Was wollt ihr denn? Der Mann hat trotz aller Schwäche die Hochschule bestanden – die Schule des Elends. Das, was andere suchen und erjagen, hat er hinter sich, die Million. Er weiß, wie hohl sie ist, und diese Erfahrung gibt dem nun Geläuterten Ruhe und Weisheit für den Genuß des kleinen, innigen Lebens in der großen Natur.


[251]

Philippus der Hasser.

Das war ein Unhold, dieser Philipp in der Lacken, Gott, das war ein Unhold!

Er soll kohlschwarzes Haar und feuerroten Bart gehabt haben und dieses ungewöhnlichen Aussehens wegen allein schon gefürchtet worden sein. Sein Geschlecht war in dem Tale der Friesen, das breit und fruchtbar ist, uralt angesessen. Der Name »in der Lacken«, den es trug, stammte von seinem Hofe her, der wie eine kleine Ritterburg auf der Insel eines großen Teiches stand, damit er geschützt sei gegen die Feinde, von denen besonders der Philippus rings umgeben war. Die Leute nannten den Teich in verachtender Weise die Lacken, und der Philipp mit seinem Anwesen war ihnen wie die Kröte drin, aber das sagten sie nicht laut, denn der Mann war seines Reichtums und seiner zahlreichen Untergebenen wegen sehr mächtig und sehr böse.

So wie der Philippus das Haar eines Romanen und den Bart eines Germanen trug, so ähnlich mochte auch sein Blut mit den Eigenschaften der beiden Völker gemischt sein. Manchmal, wenn die guten Seiten mehrerer Völker zusammenkommen, gibt es herrliche Menschen; wenn gemischte Eigenschaften sich wieder mischen, entstehen unberechenbare Charaktere; und wenn die schlimmen Neigungen verschiedener Rassen sich vereinen, dann werden Ungeheuer geboren, wie sie aus ungemischtem Blute kaum hervorgehen können.

In Philippus hatte sich vereinigt die religiöse Entartung der Romanen und der Germanen: die Schwärmerei des Katholizismus und die Grausamkeit des Heidentums. Er war, so bildete er sich selbst ein, strenger Christ, er betete, er fastete, er hüllte sich an Sonn- und Feiertagen in einen [252] grauen Büßermantel, in welchem er sich auf dem Kahne über den Teich rudern ließ und in welchem er in der Kirche nächst dem Hochaltare auf dem Betstuhle kniete. Er übte die strengste Enthaltsamkeit und verlangte solches auch von seinen Untergebenen. Nur eines vergaß der fromme Philippus, er vergaß der Liebe. Weil er aber doch ein heißes Herz in der Brust hatte, das imstande war, gewaltig zu pochen, so hegte und pflegte er statt der Liebe den Haß. Bei einem harten Oheim soll er erzogen worden sein und nie einen Hauch der Liebe erfahren haben. Also stand er einsam wie ein starrer Halm auf herbstlicher Heide. Selbst die äußere Natur haßte er und wollte sich an ihr rächen, wenn es regnete im Heuen oder windete in der Kornblütezeit. Öfter als einmal sah man's, wie er mit seiner Peitsche wütend in die Luft hineinhieb, daß es pfiff, um Wind und Wetter zu züchtigen, und einmal befahl er es sogar seinen Knechten, daß sie mit ihren Heugabeln gegen den Regen dreinstechen sollten. Sie taten es, kam aber nichts dabei heraus, als daß sie naß wurden. Wo es nicht sein Vorteil heischte, mit Menschen zu verkehren, da floh er sie. Lebenslustige Männer verabscheute er, liebebedürftige Weiber verachtete er, und Kinder waren ihm eine wertlose Sache, über die er auf der Gasse hinwegschritt wie über junge Hunde und Kaninchen, die man nur nicht zu Tode tritt, weil die Eigentümer darob Lärm schlagen würden. Philippus war natürlich Hagestolz geblieben, im ganzen aber hatte er sich doch so gehalten, daß männiglich sagen mußte: Er ist ein Ehrenmann! Gegen seine Blutsverwandten, gegen jedermann, der ihm nichts Übles tat, war er kalt wie ein Stein in der Bergschlucht; wenn ihm aber Böses geschah oder wo er es sich nur einbildete, daß jemand ihm Böses wolle, da begann es zu glühen und zu kochen in ihm, sein Blut schoß zurück in die Brust, daß sein Antlitz ward blaß wie [253] Lehm und seine Fingerspitzen kalt wie Eiszapfen. Aber aus seinen kleinen Augen zuckte es in grünlichen Strahlen. Und vor einem steinernen Christusbilde, das unter der Eiche seines Hofes stand, klammerte er die Finger aneinander zu einer Doppelfaust, und flehte mit aller Inbrunst des Glaubens um Rache. In dem schönen Tale der Friesen gab es Leute, die harmlos sich des Lebens freuten in Spiel und Tanz – er haßte sie. In einem Nachbarsdorfe lebte ein alter Mann, von dem die Sage ging, daß er der lutherischen Lehre anhänge. Diesen Mann kannte Philippus gar nicht persönlich, aber er haßte ihn so sehr, daß er nächtelang schlaflos war und darüber nachsann, was er dem »Scheusal« Schlimmes zufügen könnte. Am meisten aber haßte er einen Karrner. Dieser Karrner war in einem kleinen Eisenwerke desselben Tales angestellt, um mit einem Schubkarren Holzkohlen von dem Schoppen in die Schmiede zu befördern, wofür er einen Tagelohn erhielt, von dem er mit seiner großen Familie sehr kümmerlich lebte. Diesen Menschen haßte der Philippus über alle Maßen. Warum? Hätte er sich gefragt, er würde nicht Antwort haben geben können, denn der Karrner war ein harmloser, sanftmütiger Mensch, der niemandem ein Leides tat. Aber Philippus hatte den Drang, seinen allgemeinen Menschengroll auf eine Person niederzulegen. Der Karrner war ein armer Mann, noch dazu ein fremder, vielleicht sogar ein Andersgläubiger. Er war vor Jahren als Fremdling in das Tal gezogen und hatte sich dort eingeheimt. Aber man wußte nicht, woher er kam, und weß Abstammung er sei. Der Philippus war eines Tages zum Richter und zum Prälaten gegangen und hatte die Ausweisung des Karrners begehrt.

»Hat Euch der Mann Unrechts zugefügt?« fragte der Richter.

[254]

»Nicht mir allein,« rief der Philippus, »uns allen fügt er himmelschreiendes Unrecht zu, denn er ist da, er zehrt von unserem Korn, er trinkt von unserem Wasser. Warum soll den Erwerb, Kohlen zu führen, nicht einer der Einheimischen haben? Warum ein Fremdling?«

»Was geht das Euch an, Philipp?« fragte der Richter, »wollt Ihr Euch um die Karrnerstelle bewerben?«

»Es gibt keine Gerechtigkeit mehr,« knirschte der Philippus, verließ mit knarrenden Schritten das Richteramt und begab sich zum Prälaten.

Vor diesem ließ er im Beutel Geld klingen und stellte ihm vor, daß der Josue das Verderben der Leute sein würde, wenn man ihn nicht fortweise, denn er sei sicherlich kein Christ. Solcher Mensch gebe ein arges Beispiel, wie man auch als Unchrist leben könne, ohne vom Blitze erschlagen zu werden, und er gebe das noch weit schlimmere Beispiel, daß der Mensch sozusagen seine Pflichten erfüllen könne, ohne Christ zu sein. Wäre der Josue ein schlechter Hund, ein Räuber und Mörder, so könne man ihn ganz gut in der Gegend belassen als Exempel, was ein Unchrist ist. Weil er aber zu den sogenannten braven Leuten gehöre, eben darum müsse er fort. »Es darf keiner brav sein, der Unchrist ist!« schrie Philippus.

Der Prälat lächelte ein wenig. Dann sagte er: »Lieber Philippus! Euer Eifer um die Ehre der christlichen Kirche ist ganz löblich, vorerst aber wird es nötig sein, daß Ihr selber Christ werdet. Prallet nicht auf, mein Freund! Ihr seid vom höllischen Haßteufel besessen, und Christus, unser Herr, hat gesagt, liebet euch untereinander, liebet auch eure Feinde! Darin unterscheidet sich ja eben unsere Religion von den Religionen der Heiden und Juden, daß sie Liebe ist. Darum eben ist die christliche Religion [255] göttlich, darum verwandelt sie in ihrer Hand den Stein zu Brot und das Brot in den Leib des Herrn, weil sie lautere Liebe ist. Darum verwandelt sie den tierischen Menschen zum sittlichen, zum hochgesinnten, uneigennützigen, opferfreudigen Kinde Gottes, weil sie lautere Liebe ist und Liebe verlangt überall. Viele Tausende von Jahren bestand das Menschengeschlecht vor Christus schon; zahllose Religionen lebten auf, gingen nieder, in den Menschen war das Gesetz des Eigennutzes, des Hasses, der Rache oder des stumpfen Hinsiechens an Herz und Geist. Da kam unser himmlischer Christ mit der Liebe. Und keine Religion hat die Menschen so hoch gehoben, als die christliche; die Milde, das Wohlwollen, der Friede, die Weltfreude auch, und das irdische Glück in seiner reinen Form, die ganze menschliche Gesittung, die in den Besten der Gegenwart Ausdruck findet, all das ist ein Werk des Christentums. Der Christ haßt das Laster, die Verworfenheit als den bösen Feind, aber den Menschen als solchen, sei er wer immer, den haßt er nie. – Nein, lieber Philippus, der Josue ist ein fleißiger Arbeiter, ein braver Mensch, so viel ich weiß, der niemandem etwas Böses tut, den wollen wir nicht verjagen. Wollt Ihr ihm schon zeigen, daß der Christ höher stehen kann, als etwa der Heide, so geht hin und schenkt ihm einen Beutel mit Geld für seine armen Kinder.«

Sehr erbost verließ der Mann den Priester, die Treppe herab noch wiederholt das Wort »Pfaffe!« murmelnd. Wußte er doch, daß in den alten Schriften, die er besaß, ganz anderes zu lesen stand. Die Zauberer, die Hussiten, die Juden, die Lutherischen verbrannt auf dem Scheiterhaufen! Das waren noch schöne, gottwohlgefällige Zeiten.

Unterwegs mußte Philippus an dem Eisenwerke vorbei; auf der Brücke des Hammerbaches begegnete er dem Karrner [256] Josue mit der Kohlenladung. Mit heftigem Stoße prallte er an ihn, so daß der Karrner über die geländerlose Brücke in den Bach stürzte. Dann eilte er leicht wie auf Flügeln davon und rieb sich die Hände und ein Wohlgefühl war in ihm, wie er es noch nicht oft genossen hatte.

Aber am dritten Tage, als er das Begräbnis des ertrunkenen Josue erwartete, ward Philippus zum Richter gerufen und dort stand der Karrner lebendig und ganz wieder trocken. Der Josue klagte ihn an. Philippus verteidigte sich: Natürlich war es nicht absichtlich, sondern ganz zufällig geschehen, daß er auf der Brücke an den Karrner gestrichen, der mit seiner ungebührlich breiten Fuhr die ganze Brücke eingenommen; der Karrner sei aber ein so maßlos boshafter Mensch, daß er absichtlich in das seichte Wasser gesprungen sein müsse, um nachträglich zu behaupten, er wäre hinabgestoßen worden. Nicht allein, daß er, Philippus, vollkommen frei von Schuld sei, verlange er auch eine Züchtigung dieser niederträchtigen Kreatur.

Der Richter war aber von der eigentlichen Gesinnung Philipps so überzeugt, daß er ihn auf drei Wochen in den Kerker führen ließ wegen mutwilliger Gefährdung des Lebens eines anderen.

Das ist dem Philippus, genannt Philipp in der Lacken, passiert. Nun kann man sich denken, daß sein Haß und seine Rachgier im kühlen, feuchten Aufbewahrungsorte nicht verkümmerten, und in der Tat, als er wieder an das Sonnenlicht kam, war er abgemagert bis zum Gerippe und sein langes schwarzes Haar und sein langer roter Bart war wirr und wüst und stellenweise schimmelig. Das Fasten und das harte Lager konnten ihn nicht so heruntergebracht haben, denn derlei Bußübungen waren ihm nicht fremd, aber der Haß! Der Haß, dieses Ungetüm, hatte, als es an fremden [257] Körpern nichts zu beißen fand, sich gegen den eigenen gekehrt und in ihm unbarmherzig genagt und gewütet. Philippus zog sich zurück auf seinen Hof in der Lacken und ließ sich lange nicht mehr sehen. Er las in seinen alten Schriften, und weil das »Vaterunser« ihm viel zu matt und weich schien, so erfand er sich für seine Person ein eigenes Gebet, das er an jedem Morgen und an jedem Abende mit größter Inbrunst sprach. Das Gebet war voller Kraft und Glut, es lautete:

»Herrgott, Allmächtiger im Himmel! Strafe die Unchristen und die Fremdlinge und die Kinder der Welt und alle meine Widersacher. Strafe meine Feinde. Zermalme sie mit Deiner Faust, zertritt sie mit Deinem Fuß, daß das Eingeweide fahr' aus ihrem verfluchten Leibe. Ich bete Dich an, o heiliger Rächer! Lichter aus reinem Wachse sollen brennen vor Deinem Tabernakel! Laß Dein rosenfarbiges Blut nicht umsonst geflossen sein für mich, töte meine Feinde! Gib, daß sie erblinden im Walde und in den Abgrund stürzen! Sende Deinen Blitz an die Tore ihrer Häuser, daß sie den Ausweg nicht finden und im Feuer umkommen! In ihr Trinkwasser gieße die Pest! Rufe die Kriegsheere der Erde, daß sie metzelnd Dein Reich befreien von dem Unzücht! Herrgott, mich, Deinen treuen Diener, lasse nicht zu Schanden werden. Amen.«

Also war die Andacht Philipps, aber es war ihm leichter, nur solange er betete; denn es geschah nichts von allem, was er flehte, seine Wut war nichts als die Waffe des Ohnmächtigen.

Seine Verwandten, sein Gesinde sah, wie Philippus immer finsterer ward, aber sie wagten nichts, um ihn fröhlicher zu machen. Im Hofe auf dem Teich hörte man kein Jauchzen und keinen Gesang und kein Lachen. Nahe dem Lackenhofe, am Ufer der Insel stand ein alter Eichbaum, der [258] weitum den Platz und das Wasser überschattete und eine Dämmerung legte auf den Rasen. In dieser Dämmerung stand ein altes Kreuz. Dieses Kreuz hatte neun Querbalken, es ragte hoch zum Geäste auf. Es war vor Zeiten draußen in dem großen Walde gestanden, der unter dem Namen der Kürlingerwald im ganzen Lande berüchtigt ist. Es hatte nämlich in ihm vor Jahren eine Räuberbande ihr Unwesen getrieben, Reisende ermordet und war oft hervorgebrochen, um Meierhöfe und ganze Schlösser auszuplündern. Eines Tages wurde in dem Kürlingerwalde ein durchfahrender Hochzeitszug, bestehend aus neun Personen, ermordet. Der Räuberhauptmann wollte die Braut entführen, der Bräutigam schoß ihn nieder, worauf sich ein Gemetzel entspann, dem der ganze Festzug unterlegen war. Zum Gedächtnisse hatte man das neunbalkige Kreuz aufgestellt. Später, als der größte Teil des Waldes der Axt zum Opfer gefallen war und das hohe Kreuz herren- und schattenlos auf dem Riede stand, nahm der Philippus davon Besitz, führte es in seinen Hof, stellte es dort auf unter dem Eichbaum und verehrte es ob der blutigen Tat, deren Erinnerung daran geknüpft war.

Unweit des Teiches standen mehrere Meierhöfe, die dem Philippus zu eigen waren, und zu denen sein Gesinde täglich auf großen flachen Kähnen über das Wasser fuhr. Auch Getreide, Heu, Holz und andere Dinge wurden mit solchen Kähnen über den Teich in den Wohnsitz geschafft. Der Teich hatte dort, wo die Schleuse das Wasser hereinließ, eine lange Zunge in das Gelände hin. Als Philippus eines Tages unter dem Eichbaum vor dem Kreuze kniete, fiel sein Blick auf diesen Kanal hinaus und sah, wie dort zwischen Erlen und Silberweiden zwei Knaben standen und mit kurzen Stäben Fische angelten. Dem frommen Manne blieb das Gebet im [259] Munde stecken, er erhob sich langsam und strengte seine Augen an, daß er die Fischdiebe erkenne. Er erkannte sie, es waren die Söhne des Karrners Josue, die er beim Vorübergehen an ihrer Hütte schon oft mit den Augen gespießt hatte. Ein heißes Lustgefühl stieg in ihm auf, eilig holte er vom Hause einen Feuerhaken und einen Strick, damit ging er zum Landungsplatz und ruderte auf einem Kahne hinaus. Aber die entgegengesetzte Richtung, er wollte dann hinter den Uferbüschen die Knaben anschleichen, sie an sich reißen, binden und in den Hof schleppen, um sie zu strafen, das heißt, den Haß zu befriedigen, der in ihm gegen den Karrner mit gesteigerter Heftigkeit brannte. Als er jedoch an die Stelle kam, waren die Kinder nicht mehr dort. Tiefen Mißmutes voll kehrte er zurück auf den Hof und gab seinen Knechten den Auftrag, wenn ihnen von den diebischen Karrnerleuten eines unter die Hände käme, dasselbe ihm zu überliefern, ob lebendig oder tot, der Lohn sei zwölf Silbertaler und ein mit Silber beschlagenes Gebetbuch.

Da war es eines Abends im Erntemonat. Den ganzen Tag über hatten die Kähne verkehrt zwischen den Meierhöfen und dem Wohnsitze im Teiche. Es gab schwere Garbentrachten und Philippus freute sich. Es war ein Hagelwetter niedergegangen in der Gegend, er freute sich, daß der Himmel seine Felder verschont hatte, aber noch mehr freute er sich, daß er die seiner Nachbarn verheert hatte. Und diesem Freudentag folgte ein würdiger Abend. Mit der letzten Garbenfuhr brachten drei Knechte einen Mann mit, der auf den Garben ausgestreckt lag und um Erbarmen wimmerte. Er war mit Strohwinden an Händen und Füßen gebunden, es war der Karrner Josue.

Als Philippus gehört hatte, welch ein werter Gast angefahren gekommen wäre, stellte er sich, die Hände in den [260] Taschen des Beinkleides und mit ausgestemmten Füßen ans Ufer und sah mit Behagen zu, wie die Knechte den Gefangenen zu Häupten und zu Füßen packten, um ihn abzuladen. Mit einer Schwenkung des Kopfes deutete er gegen den Eichbaum hin, sie taten nach Befehl und vor dem Kreuze warfen sie den Karrner zu Boden.

»Herr und Vater!« so begann nun einer der Knechte zu berichten. »Wir haben ihn ertappt. Des Meierhofes Haushahn hatte er gestohlen und getötet und verzehrt. Wir haben den armen, lieben, schönen Vogel seit dem Morgen nicht mehr gesehen. Aber am Nachmittage haben wir Federn gefunden hinten im Schachen, und nicht weit davon den Karrner, der eine solche Feder auf dem Hute getragen. Er wollte vorüberhuschen, aber wir haben ihn abgefangen, er hat geleugnet, aber wir haben ihm nicht geglaubt. Wir haben den Dieb und Mörder des unschuldigen Tieres zu dir gebracht.«

»Einer bekommt nur vier, weil euer drei sind,« sagte Philippus zu den Knechten, »das Gebetbuch sollt ihr abwechselnd benutzen. Bleibt nur da. Wir haben heute einen Feierabend. Nachher werden wir Wein trinken. Zuerst müssen wir eine Abendandacht halten und dem Herrgott ein Opfer darbringen vor dem Kreuze.«

Diese Worte waren in einer so seltsamen Weise gesprochen, daß die Leute einander mit Befremdung ins Gesicht schauten. Philippus, ohne den Gefesselten, der auf dem Rasen sich wand, zu beachten, kniete hin vor das Kreuz, streckte die beiden Arme gegen Himmel und hub an, so zu beten: »Gerechter Gott, ich danke Dir, Du hast mich erhört. Du hast meinen Feind gelegt in die Gewalt meiner Hände. Dein ist die Rache, und nach Deinem Willen will ich meine Feinde lieben. Ich töte ihn nicht aus Rache. Ich liebe meinen [261] Feind und werde ihn küssen, ehe er geopfert wird. Herrgott! Du bist nicht der Judengott, der das Opfer Abrahams verschmäht hat, Du bist der Christengott, der das blutige Opfer seines eingeborenen Sohnes angenommen hat zur Versöhnung. Ich bin nicht der hoffärtige Pharisäer, der an Deinem Altar steht, ich bin der demütige Zöllner, der sein Angesicht verhüllt und betet: Herr, ich habe gesündigt. Nimm für alle meine Sünden dieses Opfer und verzeihe mir und gib mir ein langes Leben und eine glückselige Sterbestunde und die ewige Seligkeit. Amen.«

Mittlerweile war es dämmernd geworden. Am Himmel lag eine rauchbraune Wolkenschicht, nur am Gesichtskreise gegen Sonnenuntergang war ein glühendroter Streifen schnurgerade hingezogen, wie ein Spalt zwischen Wolken und Erde, durch die das Abendrot hereinleuchtete. Vom Hause hatte sich bald alles Gesinde versammelt um den Eichbaum und manchem begann unheimlich zu werden.

»Mein lieber Mitbruder im Herrn,« so redete Philippus nun den Karrner an. »Heute finden wir uns vor einem anderen Richterstuhle, als dazumal. Ich hege keinen Groll gegen dich, und fordere dich auf, deine Sünden zu bereuen.«

»Herr Philippus, ich weiß nichts von dem Hahn!« entgegnete der Karrner, seine Stimme war heiser; »ich habe ihn nicht gestohlen. Ich bin auf einem Botengange zum Schmied in Siebenbrücken nur vorbeigegangen an dem Meierhofe. Sie haben mir die Federn gezeigt, ich sagte aber, das sind keine Hahnenfedern, das sind Geierfedern, wovon ich eine auf den Hut gesteckt, und ich weiß nichts vom Hahn!«

Philippus streichelte mit seinen knochigen Händen sich den langen roten Bart. Dann sagte er zum Gefangenen: »Du zwingst mich auch noch, daß ich dich als Lügner [262] strafe. Du weißt es wohl noch nicht, wie meine ehrwürdigen Vorfahren den Lügner gerichtet haben? Du sollst es sogleich erfahren. – Junge!« so wandte er sich an einen halberwachsenen Burschen, »gehe in meine Stube und hole die gelbe Tasche heraus.«

Die Verblüffung der Anwesenden wuchs. In früheren Jahren war Philippus ein beliebter Metzger gewesen. Hatte es in der Nachbarschaft und selbst weiter um im Tal etwas zu schlachten gegeben, so wurde Philippus dazu gebeten; dieser Mann warf mit einigen Schlägen jeden Ochsen hin, und das Schwein war auf seinen wohlgezielten Stoß augenblicklich tot. Als aber Philippus später bei zunehmendem Alter und bei gesteigertem Grolle gegen alles anfing, sich an den Qualen der Tiere zu ergötzen, machte er die Sache umständlicher und richtete es manchmal so ein, daß das Opfer noch zuckte, wenn er ihm die Eingeweide herausriß. Da meinten die Leute, er solle daheimbleiben auf seinem Lackenhof, sie wollten ihre Metzgerei schon selbst besorgen. Also mußte er sich begnügen mit den Freuden, die das Metzgern in seinem eigenen Hause bot. In der gelben Ledertasche, um die der Junge jetzt geschickt worden war, befanden sich die Schlachtwerkzeuge.

Weil es nun dunkel geworden war, ließ Philippus zwei Fackeln anzünden, deren Träger zur rechten und zur linken Seite des Kreuzes stehen mußten. Der schwarze Pechrauch qualmte empor. Philippus öffnete die Tasche, er tat es langsam, mit feierlicher Gebärde, doch das leise Zittern seiner Hand verriet eine innere Leidenschaft. Das erste, was er hervorzog, war ein Schlagbeil; dann kam ein Eisenring mit scharfen Kanten, hernach ein langes scharfes Messer. Der Gefesselte begann beim Anblick dieser Dinge zu beben, die Zuschauer wurden blaß vor Entsetzen. In den Mienen [263] des Philippus war ein unheimliches Zucken, in seinen grünlichen Äuglein ein grauenhaftes Leuchten. Der Oberknecht flüsterte zu seinem Kameraden: »Er ist wahnsinnig geworden!« Zögernd trat der Knecht zu Philippus vor, berührte ihn ein wenig am Arm und sagte leise: »Herr Vater! Wäre das so gemeint? Peitschen, wenn Ihr wollt, aber so nicht. So nicht. Es ist ja nur ein Hahn gewesen, ein altes wertloses Tier. Wir führen ihn zum Gericht, wenn Ihr wollt. Dort sollen sie den Dieb bestrafen.«

Philippus bäumte sich langsam empor. »Was geht das dich an!« sagte er dumpf und rauh. »Richtet ihn auf!«

Nach diesen Worten ergriff er mit beiden Händen das Beil. In demselben Augenblicke krähte ein Hahn.

»Das ist er! Er ist es!« rief alles untereinander und deutete auf einen Söller hin. »Er ist nicht gestohlen worden, da oben sitzt er!«

»Es muß ein anderer sein!« sagte Philippus.

»Nein, nein, es ist der vom Meierhof. Mit einer Garbenfuhr muß er herübergekommen sein auf die Insel. Es ist unser Hahn, wir kennen seine Stimme und der Karrner ist unschuldig!«

»Und sterben muß er doch!« sprach Philippus, mit gehobenem Beile dem Hingestreckten nahend. Jene drei Knechte, die den Karrner gebracht hatten, rissen den Wütenden nach rückwärts. Wütend, rasend wehrte er sich vor seinen eigenen Knechten. Es half nichts, sie warfen ihn zu Boden und entwanden ihm die Waffe. Der Jungknecht erfaßte das Schlachtmesser, schnitt an dem Josue die Strohwinden entzwei, führte den also Befreiten eilig zum Ufer hinab, machte den zur Stelle stehenden Kahn frei, und nun glitt der Karrner hinaus – gerettet.

[264]

Philippus riß sich mit gewaltigem Grimme von den Armen seiner Knechte los und sprang zum Ufer hinab: »Sterben muß er!«

Aufrecht wie er war, lief er ins Wasser hinein, der schwarzen Masse des Fahrzeuges nach, das eben vom Ufer abgestoßen hatte. Der Karrner sah noch die Gestalt des Verfolgers und in dessen Hand das Blinken des Messers, er sah, wie die Gestalt mit jedem Schritte, den sie nach vorwärts tat, tiefer ins Wasser sank, bis endlich nur mehr das dunkelbemähnte Haupt über demselben war. Aber dieses dunkle Haupt glitt heran und rasch heran, so sehr der des Ruderns unkundige Karrner auch die Schaufel einsetzte und vorwärts strebte. Er hörte das schnaufende Fluchen des Verfolgers, er sah, wie manchmal neben dem Haupt aus dem Wasser ein Arm sich hob mit dem Messer. Der Mann schwamm nicht, das war zu merken, er hatte noch Grund unter den Füßen. Also floh das Fahrzeug vor der schwarzen Kugel, die auf der Oberfläche des Wassers nachzurollen schien. Der Karrner dachte an sein Weib, an seine Kinder, er rief die Mutter Gottes an um Hilfe in solcher Not, mit aller Macht die Fluten schlagend. Und siehe, der dunkle Punkt des Hauptes tauchte tiefer und tiefer hinab – noch ein Sprudeln und Gurgeln des Wassers, dann war der Verfolger verschwunden.

Der Karrner erreichte das andere Ufer, sprang aus und lief davon, neu dem Leben wieder geschenkt.

Die Nacht währte lange. Im Lackenhof war keine Ruhe. Als es Morgen ward und der Hahn krähte, suchten sie nach dem Hausherrn. Man fand ihn nicht auf der Insel und nicht drüben im Meierhofe. Die Sonne stand schon hoch, als er unten, wo der Teich in einem Bächlein abfloß, ausgestoßen wurde. Das lange schwarze Haar voller Schlamm, [265] der lange rote Bart voller Schlamm und Schaum, in verglasten Auge keine Glut mehr – der Haß war erloschen mit dem Leben.

Das ist die Geschichte von Philippus dem Hasser, wie sie mir unter den anderen höchst unwahrscheinlichen Geschichten auf fremden Straßen der wandernden Seele begegnet ist. Warum sie erzählt worden? Aus Vorwitz nicht, aus Lust zum Fabulieren nicht. Auf ihrer Stirn deutlich zu lesen steht der Grund. Sie ist erzählt worden dem häßlichen Hasse zu Trotz und der lieben Liebe zu Liebe.


[266]

Das Weihnachtsfeuilleton.

»Die alten Germanen feierten zur Wintersonnenwende aus Anlaß der Umkehr des feurigen Sonnenrades – angelsächsisch: hveol , altnordisch: hiol oder jule – das Julfest, und zwar in der Zeit vom 25. Dezember bis zum 6. Jänner, als an welchen Tagen Wuotan und Berchta in den nordischen –«

»Was schreiben Sie denn da, Doktor?« unterbrach der Chefredakteur und Eigentümer einer Provinzialzeitung seinen jungen Journalisten.

»Nun, das Weihnachts-Feuilleton, welches Sie mir erst gestern auferlegt haben, als ob wir nicht den ganzen Dezember über mit Bestimmtheit darauf hätten rechnen können, daß sich auch dies Jahr die Weihnachten präzise wie immer einstellen würden.«

»Ich rechnete aber auch mit Bestimmtheit darauf, daß irgendein Blatt zur Vorfeier einen Artikel bringen würde, den wir hätten benutzen können. – Machen Sie sich übrigens nicht die Mühe, das Ding abzuschreiben, geben Sie offen den Band des Konversations-Lexikons mit dem Artikel ›Weihnachten‹ in die Druckerei.«

»Gut,« sagte der junge Journalist, schnellte den Band über den Bücherhaufen hin und geflissentlich auf die Photographie eines reizenden Mädchenkopfes, daß solche den Augen des Alten verborgen sei. »Gut, so werde ich einen Aufsatz über Weihnachtsgebräuche in den Alpen schreiben, von der Christmette, dem Krippel, den alten Hirtenliedern, von den zwölf Nächten, von dem Dreikönigssingen, von dem –«

[267]

»Lassen Sie das, es ist leergedroschenes Stroh, es fällt auch nicht ein Körnchen mehr heraus,« sagte der Chefredakteur.

»Also Weihnachten in der Großstadt, oder Weihnachten auf dem Meere oder in Rom, oder irgendwo, oder Weihnachten der Armen, oder auch Weihnacht eines alten Junggesellen, der –«

»Alles abgebraucht, lieber Freund. Sie sind zu den Zeitungsschreibern gegangen und haben keine Phantasie,« rief der Chef und ging mit verschränkten Armen rasch im Zimmer auf und ab. »Weihnacht ist ein Familienfest, da wollen die Leute etwas Gemütliches, Idyllisch-Heiteres, Naives haben, oder Rührsames, Erbauliches – irgend ein Festglockenläuten.«

Er blieb plötzlich vor dem jungen Doktor stehen, als ob ihm eine Idee gekommen wäre. »Schreiben Sie etwas über Menschenliebe!«

Der andere lachte auf.

»Gibt es denn da etwas zu lachen?«

»Nein, wahrhaftig nicht,« versetzte der Doktor. »Ich werde schreiben. Schreiben über die Liebe, die Gottes Sohn auf die Erde gebracht hat und die seither unter den Menschen waltet. Nämlich einen ganzen Tag im Jahre. Denken Sie sich ein Christfest, das zwei Tage dauern würde. Wie fatal! Drei Tage, das wäre schon unmöglich. An die Gaben und Liebesbezeigungen des Weihnachtsabends knüpft man rasch die Unzufriedenheit, die Mißgunst und Falschheit für die nächsten 364 Tage.«

»Vergessen Sie nicht, daß es auch Schaltjahre gibt,« bemerkte der alte Chef launig.

»Mit Ausnahme des einen Tages, des Christtages, wird jedes immerhin noch ein sehr gemeines Jahr sein,« [268] gab der Doktor zurück. »Das Weihnachtsfest ist der Tag, an dem die Menschheit bei sich selbst den Etikettebesuch macht. Das Weihnachtsfest ist der einzige Tag, an welchem Geben seliger ist als Nehmen, weil der Geber auf eine größere Gegengabe rechnet. Die religiöse Weihe, als den Goldstaub dieses Festes, hat eine windige Volksaufklärerei längst weggeblasen – und so ist die moderne Gesellschaft jener unselige Vogel des Märchens, der sich mit raublustigem Schnabel das eigene Herz aus dem Busen hackt. Die Kinder selbst werden an diesem Tage das erstemal zu Heuchlern und lügen einen Glauben an das erscheinende Christkind, »damit es recht viel bringe«. Was bleibt an Poesie noch übrig? Der gestohlene Tannenbaum mit dem Flitter?«

Der Chef blickte den jungen Mann, der, regungslos im Sessel lehnend, halb geschlossenen Auges solche Worte vor sich hingestoßen hatte, mit Teilnahme an und sagte: »So habe ich Sie bisher nicht gekannt, Doktor! Das ist nicht mehr derselbe Bursche, den ich vor ein paar Jahren bei einem Studentenkommers die von lebensfreudigstem Idealismus getragene Rede halten hörte!«

»Ach, gehen Sie mir mit diesem Studenten-Idealismus! Lebensfreudig, ja, solange es Geld und Bier gibt. Der wahrhaft edle Pathos für Freiheit, Brüderlichkeit und Nationalität schrumpft im Kampfe um die persönliche Existenz oder im bald sich einstellenden Haschen nach Geld und Würden armselig zusammen. Das Ideal von der Freiheit, es ist himmlisch groß und soll im Vereine mit der Liebe ja noch die Welt erlösen; aber in den Köpfen und Händen unerfahrener, verführter, leidenschaftlicher Menschen wird es so leicht zur Empörung gegen Obrigkeit und Gesetz. Der Weg der freien Selbstbestimmung ist schmal. Wie edel ist es, sein Ich zu kräftigen und zu vervollkommnen, und wie [269] niederträchtig ist der Egoismus! Wie groß ist die Vaterlandsliebe und wie gefährlich das aufgehetzte Nationalgefühl! Dieses Nationalgefühl gießt Bleikugeln. Sonst hieß es: Die Fürsten machen Kriege. Heute macht sie das Volk; in den Zeitungen steht's zu lesen, in den Vereinen wird's gelehrt, im Parlament wird's besiegelt.«

»Das ist alles wahr,« entgegnete der Chefredakteur, »doch vergessen Sie nur auch in langen Winternächten nicht, daß auf unserer Erde die Sonne nicht untergeht.«

»Auch die Kirchenglocken,« fuhr der Doktor fort, »versprechen in diesen Tagen den Menschen auf Erden Frieden. Am nächsten Tag, als am Stephanitag, wissen sie schon anderes, zu Ehren des Erzmärtyrers rufen sie die Gläubigen zum unversöhnlichen Kampf gegen alle Andersglaubenden.«

»Lieber Freund,« unterbrach der Chef den Sprecher, »Sie sind krank, Sie denken krank, Sie sprechen, als ob Sie Hunger hätten. Nur Geduld! Abgesehen von dem Weihnachts-Feuilleton, das Sie in solcher Stimmung nie werden schreiben können, sind Sie recht verwendbar und habe ich auch die Absicht, von Neujahr ab Ihren Gehalt neuerdings zu erhöhen. –«

»Sie würden es nicht tun, wenn Sie unter gegenwärtiger Ablöhnung meiner sicher wären.«

Da trat eine Pause ein. Der Doktor schliff mit seinem Fingernagel die Federspitze glatt. Der Chef rieb die Augengläser rein, die auf seiner Stirne angelaufen waren.

»Sie sind heute herb, lieber Freund,« sagte er endlich. »Sie müssen etwas Kratzendes auf der Seele haben. Vielleicht sollten Sie heiraten.«

Der Doktor richtete sich ein wenig auf und blickte den alten Herrn verwundert an. Es war eigentlich ein hübscher [270] Kopf, den er hatte, dieser Doktor. In seiner Haltung, in seiner losen Haarfrisur, in seinem kecken Schnurrbärtchen lag noch etwas Studentisches, aber sein Auge war schwermütig. So jung er war, sah er doch schier aus, wie einer jener wenigen Zeitungsschreiber, die nicht bloß zu schwätzen, sondern auch etwas zu sagen wissen – und zu sagen haben. Die Zeitung, der er gegenwärtig diente, war aber eine von denen, die fortwährend schwätzen, damit sie nichts sagen müssen. Darum hatte sie einen großen Leserkreis und darum hatte sie ihren Eigentümer zum reichen Manne gemacht.

»Sie haben da eine Frage angeschlagen, die mich interessiert,« sagte nun der Doktor. »In der Tat, ich glaube, die Ursache, daß ich kein Weihnachts-Feuilleton schreiben kann, ist, weil ich das Weihnachtsfest nicht liebe, nicht empfinde – weil mir dazu das wichtigste Ingrediens fehlt – die Familie!«

»Nun, das ist Ihre Sache,« versetzte der alte Herr ablenkend.

»Die Sache beginnt man gewöhnlich mit einem jungen Mädchen,« sagte der Doktor.

»Oder auch einer jungen Witwe,« setzte der Chef bei.

»Angenommen, mit einem jungen Mädchen, das alle Eigenschaften hätte, um einen glücklichen Gatten zu machen und Kinder vortrefflich zu erziehen. Und dieses Mädchen käme dem hier fraglichen Mann, der zum Behufe des Weihnachtsfestes eine Familie zu gründen gedenkt, mit vielem Beifall entgegen, aber dieses Mädchen hätte unglückseligerweise einen sehr wohlhabenden Vater, der sein Töchterlein begreiflicherweise nur an einen wohlhabenden oder sonstwie hochstehenden Werber abtreten möchte, da haben Sie einen Konflikt, –«

»Ist nicht originell genug,« unterbrach ihn der Chef. [271] »Ein Feuilleton muß drastisch und prickelnd sein, nötigenfalls ein seltsames Geschehnis aus dem Leben erzählen, oder feinsinnig psychologische Eigenheiten, lächerliche Schwächen, rührende Vorzüge der Menschen wiedergeben. Die besten Feuilletons aber sind immer die, in welchen gar kein Inhalt ist – wenn's nur der Leser nicht merkt. Ich will Ihnen übrigens einen Gedanken schenken. Sie schreiben daraus ein prächtiges Weihnachts-Feuilleton, können es auch ausschmücken nach Belieben, und dabei mögen Sie lernen, daß nicht alle Menschen eigennützig sind, wie Sie glauben und sagen: man gebe nur gern, damit einem noch mehr gegeben werde. – Als ich vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hatte, war ich noch unbemittelt, mußte jeden Groschen ins Geschäft stecken, das damals in einer kleinen Schreibrequisitenhandlung bestand. Da konnte ich noch nicht viel für das Weihnachtsfest verwenden. Trotzdem stellten wir jungen Eheleute in unserer kleinen Wohnung ein Christbäumchen auf, wie es zur selben Zeit schon Sitte zu werden begann. Ich freute mich wie ein Kind, meine Frau mit einigen Geschenken zu überraschen, während sie für mich nichts haben sollte. Ich freute mich auf ihre Freude und ihre kleine Verlegenheit. Einige Tage vor dem Feste ging sie still, aber in sich aufgeregt im Hause umher, und als der Christbaum brannte, und die schönen Sachen vor ihr dalagen, sank sie an der Ecke des Zimmers zusammen und begann zu weinen. Das ganze Weihnachtsfest war ihr verdorben, weil sie mich nicht beschenken konnte. Und das ist der Gedanke, den ich Ihnen zur Verfügung stelle.«

»Ich sehe in dieser Erzählung nur den Egoismus des Mannes, der sich selbst den Spaß machen will und an anderen das Bedürfnis zu geben ignoriert.« So der Doktor.

»Genau genommen haben Sie recht,« sagte der Chefredakteur. [272] »Doch so spitzfindig muß man die Sache nicht nehmen, sonst löst sich das beste Herz in lauter Egoismus auf. – Mein Gedanke, den ich Ihnen geschenkt habe, ist übrigens für den Weihnachtstisch zu mager. Sie müssen die Frau mindestens einen kleinen Diebstahl begehen lassen an der Kasse des Mannes, um ihn zu beschenken.«

»Herr, Ihre eigene Frau!« rief der Doktor.

»Von meiner Frau kann überhaupt nicht die Rede sein. Nehmen sie eine Frau Z oder X., nur nicht eine Frau Y., wenn ich bitten darf, denn dieser Buchstabe ist im Petit der Druckerei momentan nicht vorhanden. Das Diebstählchen sollen Sie aber nicht verschmähen, Sie bringen damit Leben und Spannung in die Sache.«

»Herr,« sagte der Doktor, »versuchen wir's, trauen wir unseren Lesern einmal eine einfache, edle Empfindung zu. Ich lasse das Weib an der Ecke des Zimmers weinen, weil sie ihrem Gatten keine Weihnachtsfreude machen konnte. Nichts sonst. – Das wirkt.«

»Sehen Sie, da haben wir wieder den menschengläubigen Gesellen!« sagte der Chef munter. »So geht's mit unseren heutigen Burschen, schwarz-pessimistisch im Räsonieren und kindlich-optimistisch im innersten Empfinden. Nun, machen Sie's, wie Sie wollen, nur setzen Sie mir Ihren Namen dazu. Ihnen verzeiht man mehr als anderen.«

»Es soll ein Feststück werden,« sagte der Doktor mit Lebhaftigkeit. »Vor allem ganz klar ist mir schon der Schlußsatz: Glücklich der Mann, der ein solches Weib sein Eigen nennt, und dreimal glücklich der, welcher einer solchen Mutter Tochter gewinnt!«

»Will mir nicht gefallen. Gefällt mir nicht,« sagte der Chef, indem er sich anschickte, in seinen Biberpelz zu [273] kommen. »Anklang an eine Liebesgeschichte! Paßt nicht für ein Familien-Feuilleton, das man zum Kaffee muß vorlesen können.«

»Herr Chef,« sagte der Doktor und richtete sich endlich einmal von seinem Stuhle auf. »Es ist toll, was wir da reden. Ich habe Ihnen was anderes zu sagen. Sie halten so große Stücke auf die Uneigennützigkeit und Menschenliebe. Nun soll sich's zeigen. Es soll sich zeigen, ob ein Mann der guten Durchschnittssorte Geld und Titel wirklich höher achtet, als die Neigung und Wahl seiner einzigen Tochter, als das redliche Herz eines armen Teufels, der's auch einmal versucht, sein Anrecht an diesem schönen Leben zu erobern, der sich ein bescheidenes Haus gründen möchte als Zuflucht vor den hohlen Promessen und kompakten Torheiten einer zerfahrenen Welt. – Hier!« Er warf die Bücher auf dem Tische auseinander. »Hier unter diesem vergilbten Menschenwitz, unter dieser staubigen Weltweisheit ist mein Schatz begraben. Hinweg, ihr gelehrten Lexika, hinweg ihr Humboldts und Darwins und auch du, alter Grimm – wisset alles und wisset nicht, was die Liebe ist!« Er hob eine Photographie empor: »Kennen Sie das?«

»Wie kommt dies Bild auf Ihren Schreibtisch?« fragte der alte Herr.

Der Doktor legte es wieder hin, stellte sich schier herausfordernd vor seinen Chef und sagte leise: »Sie hat mir's selbst gegeben. – Sie schweigen. Sie ahnen als braver Mann, was Sie tun sollen und suchen als schwacher Mensch Ausflüchte, es nicht zu tun. Ich weiß, Sie wunderten sich, daß Ihr sonst so frisches Töchterl seit einiger Zeit verschlossen und traurig ist. Weil es mutlos ist, sie kennt Ihre Absichten mit dem alten Hofrat. Ich bin nicht mehr mutlos, seit ich Ihnen offen gegenüberstehe – ein Mann dem [274] Manne – und mit dem Rechte des Mannes von Ihnen meine Braut begehre!«

Der Chef ließ den Pelz von der Achsel wieder auf das Sofa gleiten, stützte sich an die Tischecke und fast stöhnend antwortete er: »Doktor! Wie Sie mich doch jetzt erschreckt haben!«

Dieser stand da, preßte die linke Faust an die Brust, die rechte Hand hielt er offen hin: »Herr! Sie kennen mich seit fünf Jahren, Sie wissen, was ich bin und wie ich bin – geben Sie mir das Mädchen!«

»Sie werden begreifen –« stotterte der alte Herr, und das ist in solchem Falle fast allemal eine schlimme Einleitung; doch er sagte nur: »Sie werden begreifen, daß ich jetzt – in diesem Augenblicke – nicht vermag, zu antworten. – Kommen Sie doch morgen abends zu uns. Um sechs Uhr zünden wir den Christbaum an!«

Nach diesen Worten machte er sich eilends davon.

Der Doktor brach schier zusammen an seinem Tische, als wäre ihm weiß was Leides widerfahren. Ein Sturm von Küssen ging nieder auf das kleine Bild. – Der Arme hatte schon lange nicht mehr geweint, nicht mehr weinen können; er hielt das Weinen nur für ein Vorrecht der Kinder, für eine Gnade der Glücklichen. Jetzt war auch er dieser Gnade teilhaft geworden. Was ihm das Christkind bescheren wird – es ist leicht zu erraten.

Und als er ruhig geworden war, machte er sich daran und schrieb das Weihnachts-Feuilleton über die Menschenliebe.

Um solchen Preis hätte ich's auch getan.


[275]

Wie ein steirischer Schullehrer
die Schlußvorstellung des Burgtheaters besucht hat.

Vor Jahren erhielt ich von meinem alten Freunde, dem Schullehrer zu Oberschachen, einen Schreibebrief, der sich auf ein öffentliches Ereignis in Wien bezog und vielleicht noch immer ein wenig innern dürfte.

Der Brief lautet:

»Lieber Freund!

Du wirst Dich wundern, daß ich Deiner Einladung, mit Dir auf mehrere Tage ins Unterland zu der Weinlese zu reisen, nicht nachgekommen bin. Ich hatte mich wahrlich schon darauf gefreut; ein alter geplagter Schulmeister hätte der mehrfachen Labung wohl vonnöten gehabt. Aber das Pülverchen, welches ich mir im langen Jahr über für die Schulferien zusammengetan, sollte auf ganz andere Art verpufft werden. Es geschieht mir eigentlich recht, und Torheit muß eine große Sünde sein, weil sie immer bestraft wird.

Du weißt, daß schon seit Wochen von der bevorstehenden Schließung des alten Burgtheaters in Wien die Rede war. Frau Muse muß ja auch einen Ringstraßenpalast haben. Die Schließung des alten Burgtheaters hat mir Herzeleid bereitet. O schöne Zeit, als mich, den armen Studenten, das Burgtheater zum Verschwender meiner irdischen Güter gemacht hatte! Meine väterliche Munifizenz hatte mir täglich für das Nachtmahl die Mittel auf ein paar Würste ausgeworfen: ich ging stets hochvergnügt ohne sie schlafen, um von dem Ersparnis mir am Sonntag meinen Galeriestand im Burgtheater zu erwerben. Wenn ich mich um zwei Uhr nachmittags am Tor anstellte, so [276] hatte ich reichlich vier Stunden Zeit, um, das Buch in der Hand, die Schulgegenstände zu lernen oder zu wiederholen, was freilich mitten in dem Gedränge, das sich gegen Abend einstellte, einer gesteigerten Sammlung des Geistes bedurfte. Endlich knarrte das Tor, begann der kurze, aber rasende Wettlauf durch die dunklen Gänge, über die winkeligen Treppen; bald war ich festständig auf der vierten Galerie, und es begann die olympische Seligkeit. Wagner, Löwe, Beckmann, Anschütz, Rettich waren da, aber ich sah keinen Schauspieler, ich sah und hörte und fühlte nur die Gestalten der Dichter; für Schiller, Shakespeare, Calderon, Grillparzer usw. hegte ich eine geradezu religiöse Andacht. Diese Burgtheaterbesuche haben mich dazumal emporgehoben über meine Bettelstudenten-Existenz, ja mich sozusagen in die Region der größten Geister eingeführt. In der Welt habe ich's nicht so weit gebracht, als ich es zu bringen damals den Anschwung nahm, aber bei den Unsterblichen bin ich heute, nach mehr als vierzig Jahren, noch ein wenig heimisch.

Als nun der Tag der Burgtheaterschließung näher und näher rückt, werde ich unruhig, und plötzlich ist der Entschluß da: Opferst dein für die Ferien bestimmtes Scherflein, reisest nach Wien zur letzten Vorstellung, damit du das alte Theater noch einmal siehst, welches das Glück und die Liebe deiner Jugend war. So bin ich am Donnerstag abends richtig in Wien. Mein erster Gang ist in die Vorstadt Landstraße; obzwar die alte Frau nicht mehr lebt, bei der ich einst meine Kammer gehabt, so wußte ich doch, daß Verwandte von ihr da seien, bei denen ich vielleicht ein billiges Nachtquartier erlangen konnte. Aber ich finde keine Verwandten, ich finde auch das Haus nicht, ich finde die Gasse nicht, und da sehe ich, daß der ganze alte Stadtteil dahin ist, und daß auf dem Platz lauter Paläste stehen. [277] Anfangs erschrak ich, dann mußte ich lachen über mich selbst, der doch so oft von den Veränderungen gelesen und gehört, die in Wien vorgehen; weshalb hätte gerade das alte Haus in der Marxergasse auf mich warten sollen! Ich bin hierauf lange in der Stadt umhergestrichen und habe bei mir überlegt, ob ich es mit einem Hotel wagen dürfe oder nicht. Man hört halt immer von großer Teuerung, und ich weiß noch nicht, wie viel der morgige Tag kosten wird. Auch eine mögliche Erhöhung des Theaterkartenpreises dürfte mich nicht unvorbereitet finden. Endlich dachte ich, sicher wäre sicher und ging in ein Kaffeehaus, da hatte ich Jause, Nachtmahl und vielleicht auch Nachtquartier auf einmal. Man liest ja doch, daß in Wien Kaffeehäuser die ganze Nacht offen bleiben, also nimmt man eine Schale Mokka – denke ich – raucht seine Pfeife, liest Zeitungen, und so vergeht die Zeit. Vielleicht, daß man sich gegen Morgen ein wenig auf die Bank legt, um für den nächsten wichtigen Abend frisch und munter zu sein.

Im Kaffeehause an einem Nebentisch höre ich einige Herren über die morgige Schlußvorstellung im Burgtheater sprechen. Da meint der eine, das Galeriepublikum dürfte sich morgen wohl schon zu Mittag anstellen müssen, um hinein zu kommen. Darauf sagte ein junger Mann, er habe gehört, daß sich schon im Laufe des Vormittags Leute anstellen würden, er selbst habe die Absicht, schon um acht Uhr beim Tore zu sein. Einen Tag könne man doch wohl opfern für diesen Abend, der nicht mehr wiederkehren wird. – Sehr wahr! nickte mein Kopf, und ich komme dir doch zuvor. – Mehrmals hatte ich schon auf eine der mit rotem Sammt überzogenen Bänke hingeschielt, wo ich mich später niederzulassen gedachte.

Ungefähr bis ein Uhr mochte ich mich mühsam durchgeraucht, [278] durchgelesen und durchgegähnt haben, da kommt der Kellner, oder wie sie ihn im Kaffeehause heißen, und bedeutet mir, daß das Haus gesperrt würde. »Ich weiß es,« sage ich, »darum bin ich eben da und will bei der letzten Vorstellung sein.« Das Kaffeehaus würde gesperrt, belehrte der Kellner, es sei die Polizeistunde. Mein Ansuchen, ob ich mich – mit ausgezogenen Stiefeln natürlich – wohl auf eine der Bänke hinlegen dürfte, wurde abschlägig beschieden. So zahlte ich meine kleine Sach' und ging. Ist ja auch kein Unglück; man nutzt Zeit und Weil, geht spazieren, beleuchtet ist's, man sieht immerhin etwas, und so wird die Nacht recht gut vergehen.

O Herr und Freund! Die Nacht verging, aber wann! Man weiß es erst, wie lange der Mensch schläft, wenn man warten muß, bis er wach wird. Um vier Uhr beginnt freilich schon das Knarren der Wägen, aber man sieht auch, daß um diese Stunde noch immer Leute nach Hause gehen, bei denen die Nacht erst anhebt. In der Stadt kehrt man die Kappe nämlich um: für den Tag hat man schwere Fenstervorhänge, damit die Sonne nicht herein kann, um den Schlaf zu stören; für die Nacht erfindet man das elektrische Licht.

Endlich und endlich wird es über den Hausdächern grau. Ich kaufe mir in einem Greißlerladen ein paar Knackwürste und ein Brotlaibchen und gehe nun damit langsam dem Burgtheater zu. Dort herum ist es noch fast ganz so wie einstmals; klein und unscheinbar steht es da und duckt sich unter das schützende Dach des Kaiserhauses. Ich finde mein Tor und stelle mich an. Es schlägt halb sieben. Jetzt wird's licht. Bis es wieder finster wird, ist der Einlaß. Ich bin sehr glücklich, nur kam mir, als ich so dastand, das Bedauern, daß ich den schwarzen Stadtrock angezogen hatte und nicht den Lodenmantel; das gab sich aber bald, um acht Uhr [279] waren unser schon so viele, daß wir einander anwärmten, denn wir hatten einen geschlossenen Körper zu bilden, welchen neu Dazukommende nicht zu sprengen vermochten. Anfangs regte sich gegen jeden neu Anstehenden eine Art von feindlicher Gesinnung, denn er ist ein Konkurrent und wird den Kampf erschweren; allmählich macht man untereinander Bekanntschaft und plaudert über mancherlei. Die verschiedenen Passanten, die Burgwache, vorüberrollende Hofwägen geben Anlaß zu allerlei Unterhaltung. Das Hauptgespräch bildete an diesem Tage das Burgtheater. Alte Erinnerungen an seinen großen Gründer, den Kaiser Josef, an die Dichter, die in diesem Hause vorgeführt wurden, an die genialen Künstler, die da wirkten.

Eine ganze Kulturgeschichte zog vorüber an dem geistigen Auge derer, die bei diesem unscheinbaren Tore standen. Und einer tat die Bemerkung, es gäbe in der großen Wienerstadt kein Haus, von dem so viel und so edler Idealismus ausgegangen sei für Stadt und Reich, als von diesen schlichten Mauern. Die Welt habe ihr Auge und ihr Herz hierher gewendet, und der Genius der Menschheit habe seinen Jüngern hier über ein Jahrhundert lang Stelldichein gegeben. – Ein graubärtiger Alter wies auf den Glücksstern, der über dem Hause stets geleuchtet habe. Während andere Schauspielhäuser mit prunkendem Hochmut aufgerichtet wurden, die Kunst für den Tagesgeschmack herrichteten, um damit Geldgeschäfte zu treiben, und so geräuschvoll, wie sie entstanden, niedergebrochen waren, bewahrte dieses Haus in stiller Weihe seine ewigen Güter, und kein Unheil fand den Mut, an seine Pforten zu pochen. Selten endet ein Schauspielhaus eines natürlichen Todes; viele dieser Gebäude geben sich so leidenschaftlich mit Glanz, Glitzer, Blendwerk und buntem Schimmer ab, bis sie selbst endlich aufgehen in [280] einem furchtbar herrlichen Feuerwerke. Das Burgtheater hütete seine Ampel treu, bis der neue Altar fertig war, auf den es sie hinstellen konnte, um dann selbst mit würdevoller Sicherheit eines edlen Greises zur Ruhe zu gehen. – Ein Mensch, welcher nur der Hetze wegen dazustehen schien, weil er mit allem, was ringsum vorging, seine flachen Späße trieb, erklärte solche Bemerkungen für »Burgtheater-Phrasen«, während ich den Männern, die so gesprochen, hätte die Hand drücken mögen.

Nachdem zu Mittag die Burgmusik uns die Zeit verkürzt hatte und abgezogen war, aß ich mein Mittagsbrot. Gegen Abend wurde mir von Stunde zu Stunde wärmer, und ich legte meine Hand an die Türschnalle, wendete kein Auge mehr von der Pforte, als müsse sie sich jeden Augenblick auftun.

Mittlerweile war die Menge und das Gedränge der Wartenden gewaltig geworden, auch Frauen und Kinder darunter, die mit lauter Stimme manchmal alle Heiligen anriefen vor Angst, erdrückt zu werden. Ich wurde steinfest an das Tor gedrängt. Fünf Uhr war schon lange vorbei. – Diese Stunde war die längste; wir nahten der sechsten, da knarrte das Tor und ging auf. Ich wurde nachgerade hineingestoßen. Und an der Kasse, da habe ich meine Geldbörse nicht! Ich suche im Rocksacke, im auswendigen, im inwendigen, im Beinkleid – ich finde sie nicht! Und während ich noch suche und suche, werde ich zur Seite gedrängt, und alles, was hinter mir gewesen, rast an mir vorüber. Mir war schlecht bis zum Sterben. Nach der Polizei wollte ich rufen, aber ich brachte vor Entsetzen kein lautes Wort heraus. Nach einer Weile, als ich, den kalten Schweiß auf der Stirn, an der Wand lehnte, kam ich endlich so weit zu mir selbst, daß ich mit einiger Fassung meine Taschen neuerdings [281] durchsuchen konnte, und da steckt die vermaledeite Geldtasche wohlverwahrt im Westensack, wo ich aus Besorgnis vor Verlust sie freilich selbst hingesteckt hatte. Aber was nutzt's, an der Kasse ist keine Karte mehr zu haben. Ich stehe mit gerungenen Händen: »Ein Platzel wird doch noch sein im ganzen Haus! Ich zahle dafür, was ich habe!« Dieses höllische Achselzucken von dem Manne! Ich vergesse es nimmer. Und ein Gefühl war in mir, als sei von diesem Augenblicke an mein Leben zwecklos. Wenn mir die Geldtasche wenigstens gestohlen worden wäre! Aber zum Unglücke auch noch das Bewußtsein der eigenen Dummheit, das war das allerschrecklichste.

So stand ich jetzt in der dämmerigen Vorhalle, und drinnen spielten sie Goethes »Iphigenie«. Ich legte das Ohr an die Wand, ob denn nicht ein einziger Laut zu erhaschen wäre. Ach, die Glücklichen, die drinnen sind! Und die reichen Leute, wie gut haben sie es! Da fahren sie im letzten Augenblick an, setzen sich auf ihre bequemen Sessel, wo man alles aufs beste sieht und hört, und keiner denkt an den armen Schulmeister, der aus den fernen Bergen hergekommen, um unter Darben und Kümmern auch nur das bescheidenste Plätzchen zu erringen, und dem es trotzdem mißlungen war. – Ich muß es wohl sagen, die hellen Tränen sind mir übers Gesicht geronnen.

Ich bin aber nicht hinaus, sondern habe gewartet, daß vielleicht doch ein Wunder vom Himmel falle und mich hineinführe. Aber es fiel keines vom Himmel. Lange betrachtete ich die Stücke einer Holzbrüstung, welche die Hineinstürmenden zertrümmert hatten. Jetzt kann hier ja alles zertrümmert werden, sie brauchen nichts mehr. Diese Trümmer brauchen sie auch nicht. Es kam mir der Gedanke, ein Holzstück mitzunehmen, als Andenken an das alte Burgtheater. [282] Ich könnte mir daraus ja Bilderrahmen oder dergleichen schnitzen. Gedacht, getan; als ich jedoch das Holz in der inneren Rocktasche bergen will, stehen zwei Wachleute da, um mich festzunehmen. Im ersten Augenblicke war ich fast gewillt, die Nacht über unter behördlichem Schutze zu bleiben, allein eine Stimme in mir sagte: »Nein, Franz, dich einsperren lassen! So darf das alte Burgtheater für dich nicht enden.« – Ich gab daher der Wahrheit gemäß an, wer ich bin, weshalb ich hergekommen war und warum ich das Stück Holz mit mir nehmen wollte. Hierauf besprachen sie sich eine Weile, und ich begann schon zu hoffen, die Sache könne eine günstige Wendung nehmen. Aber es kam nichts weiter heraus, als daß ich fortgewiesen wurde und das Holztrumm mitnehmen durfte.

Also nahm ich Abschied von dem Hause, zu welchem ich auf weitem Wege wie auf einer Wallfahrt hergekommen war. Habe Dank, du geliebtes Haus! Habe Dank, du geliebtes Haus! Anderes konnte ich nicht mehr denken. So taumelte ich auf die Gasse.

Auf dem Kohlmarkt war noch ein Bildergeschäft offen. Um das Geld, welches für den Eintritt bestimmt gewesen, kaufte ich mir die Porträte von Shakespeare, Schiller und Lessing. Hierauf machte ich einen Spaziergang über den hell erleuchteten Ring. Als ich an das Gebäude kam, das sie von jetzt an das Burgtheater heißen werden, stand ich ein wenig still. Da ragte es vor mir, weiß und kalt. Was wird es nützen, wenn auch die großen Schauspieler mit den Klassikern hier einziehen, wenn die Zuschauer nicht mehr so gläubig sind als einst! Es soll herrlich sein in dem neuen Hause. Ich werde diese Pracht wohl niemalen sehen; ich bewahre mir nur die Erinnerung an das alte Burgtheater, wo die Begeisterung meiner Jugend gewesen.

[283]

Auf der Wieden kehrte ich in einem Gasthofe ein; jetzt war gar keine Ursache mehr, so ängstlich zu sparen, morgen früh geht's heimwärts. Aber als morgen früh kam, war ich ein armer Mann geworden. Das Zimmer, dessen Preis im Vorhinein vereinbart worden, hätte mich noch nicht ruiniert, allein das Service, die Bougie und wie all diese schönen Dinge heißen, deren Sonderberechnung man sich in der ehrlichen deutschen Sprache nicht zu nennen getraut, haben mich wirtschaftlich herabgebracht; endlich das Stubenmädchen, das bei meinem Scheiden die hohle Hand herhielt, der Kellner, der die Hand herhielt, der Hausknecht, der die Hand herhielt und der Portier, der auch die Hand herhielt, haben mich selbst zum Bettler gemacht. Kaum konnte ich noch eine Eisenbahnkarte bis Mürzzuschlag erschwingen; in Neustadt als Frühstück und Mittagsmahl ein Paar Frankfurter gehörten so gut wie das Burgtheater bereits der idealen, mir unerreichbaren Welt an.

Mich verdroß es nicht, 's ist einmal so der Welt Lauf. Nur gesund nach Hause kommen! Dann lese ich meine Dichter, und alles ist gut. Im Mürztale wußte ich einen befreundeten Amtsbruder, bei dem ich vorsprechen wollte und der mir schon aus der Not helfen würde mit einem Zehrpfennig für den Rest meiner Heimreise per pedes . Damit mir aber mein Unstern bis zu Ende treu bleibe, mußte der Amtsbruder auf Ferien verreist sein. Jetzt war ich glücklich daran, daß ich in einem Bauernhause um einen warmen Löffel Suppe bat, der mir auch ohne weiteres geschenkt worden ist.

Am vierten Tage meiner Reise, die weniger reich an Vergnügen, denn an Erfahrung war, bin ich nach Hause gekommen, um nun den übrigen Rest der Ferien in stiller Beschaulichkeit zuzubringen.

[284]

So weißt du es, lieber Freund, wie es kam, daß ich mit dir nicht ins Weinland fuhr. Mein Mißgeschick habe ich verwunden und gestatte dir, daß du mich recht auslachen darfst. Wenn du einmal zu mir kommst, will ich dir die schönen Bilder von Shakespeare, Schiller und Lessing zeigen, zu denen ich aus dem Holze der Brüstung Rahmen geschnitzt habe, damit ich auch fürder mich freuen und erbauen kann an unseren Klassikern im Rahmen des Burgtheaters.«


[285]

Das Bekenntnis eines Verurteilten.

Im Staatsgefängnisse zu Sydney saß ein merkwürdiger Mann. Seine knochigen, sonnengebräunten Glieder waren nur zum geringsten Teile mit Lappen bedeckt. Sein Haupt war wirr umwuchert von Haar und Bart, zwischen welchen ein paar scharfe Augen glühten, wie die Lagerfeuer von Wilden im Busch. Der Mann war am Murrayflusse mit einer Meute von Wilden gefangen worden. Er schien ihr Häuptling gewesen zu sein, so wie er an Gestalt und Kraft seine Genossen überragte, einen längeren Wurfspieß und ein sorgfältiger geschmücktes Känguruhfell trug, als die übrigen. Er war auch der mutigste gewesen; alle anderen stoben vor dem ersten Schusse der Engländer auseinander, er trotzte und trachtete die Rotte zum Angriff zu führen. Aber diese suchte zu fliehen, was ihr mißlang. Der Häuptling wurde niedergeschlagen und gefangen. Er stieß brüllende Töne aus und biß wütend mit den Zähnen um sich; später jedoch, als er im festen Gewahrsam saß, stellte es sich heraus, daß er mit großer Geläufigkeit englisch, deutsch und französisch spreche.

Man vermutete, daß er sich niemals zu Trotze gestellt hätte, sondern mit seinen Gefährten geflohen wäre, wenn er nicht gemeint haben würde, die Engländer führten mehr Gold als Pulver mit sich. Dann begann er zu rasen, sich und das Gold zu verfluchen, und als man d'ran ging, ihm den Prozeß zu machen – denn es hatten sich seltsame Sachen herausgestellt – wurde er gefaßter und verlangte einen Priester. Man sandte ihm einen Pastor, den schickte er wieder zurück – er sei ein geborener Irländer, also Katholik.

[286]

Als der katholische Priester zu ihm in das Gefängnis trat, lag er ausgestreckt auf der Erde, verbarg sein Gesicht in das Ziegelpflaster und rief: »Kannst du es glauben, du einer von denen, die mich getauft haben: ein wildes Tier bin ich geworden!«

Der Priester suchte ihn zu beruhigen, aufzurichten. Der Wilde grinste ihm in das Gesicht und schrie: »Stehe mir nicht so würdevoll da. Was, wenn ich jetzt du wäre und du das verdammte Menschentier, das ich bin?«

»Komme zu Frieden,« sagte der Priester, »ich will die Würde des Dieners Gottes gerne ablegen, wenn sie dich blendet, ich will mit dir sein, wie ein Mensch mit Menschen. Du bist unglücklich, aber du gehörst zu uns. Bist du strafbar, so straft dich das Gesetz, nicht der Mensch, der bleibt bei dir und verläßt dich nicht in deiner größten Not und nicht in deiner letzten Stunde. Er bittet dich nur eins: Sei auch du menschlich und mache dein Herz auf, damit dein Bruder Frieden hineinlegen kann.«

»Ich bin braun, nicht wahr?« fragte der Gefangene und wies auf seinen halbnackten Körper, »das hat die Sonne getan und der heiße Wind im Scrub. Und mein Herz, das du haben willst, ist nicht braun, das ist schwarz wie die schwimmende Hölle, die mich hergebracht hat; wer es schwarz gemacht, das sollst du hören. – Ha ha«, lachte er grell. »Es soll aber noch einmal rot werden, bevor ich tot bin.«

Der Priester setzte sich auf die steinerne Bank und sagte: »Damit du siehst, daß ich dir gut bin und vertraue, so schicke ich den Soldaten davon, der zu meinem Schutze dort an der Pforte steht.«

»Das ist mutig, Sir,« versetzte der Gefangene. »Ich habe an den Händen keine Ketten und könnte dich erwürgen.«

[287]

»Was würde dir das nützen?«

»Was würde es mir schaden?« lachte der Wilde, »um einen mehr, das wiegt nicht viel, und es könnte sein, es ginge mir gerade noch nach einem katholischen Priester. Doch nein, lass' den Soldaten gehen oder stehen, ich pflege nur um Gold zu morden, aus Rache nie.«

»Wie sollte ich, der ich dich heute das erstemal im Leben sehe, ein Gegenstand deiner Rache sein können?« fragte der Priester.

»Du hast recht. Du bist als Mensch gekommen und nicht als Geistlicher. So kann ich dir nur sagen, daß ein Geistlicher die Kugel geschoben hat, die jetzt so grob geschlagen, so grob, daß ich aus Verzweiflung einen Schrei tun möchte, der die Welt könnt' erzittern machen. – Nun, du sollst es hören.«

Er erhob sich nicht vom Pflaster, die schweren Verletzungen bei seiner Gefangennahme hatten ihn körperlich entkräftet. Er kauerte da und redete.

»Ich bin der Sohn eines Schäfers in Irland,« begann er, »meine Eltern waren fromme und sogar ehrliche Leute. Auch ich war beides und ich hatte einen phantasierenden Sinn, wie ihn die Hirten haben auf ihren stillen Weiden; dann war ich ehrgeizig und strebte dem Höchsten zu, was ein Hirtenjunge kennt, ich wollte Bischof werden. Von Gold und Edelgestein habe ich damals noch nicht viel gewußt, ich wollte nur Bischof werden. Der Pfarrer von unserer Gemeinde – der gute alte Mann! – der riet mir nicht dazu, er meinte, man könne als armer Hirte ebensogut selig werden, denn als Erzbischof. Aber mir wäre es doch als Erzbischof lieber gewesen. Der Pfarrer nimmt sich meiner an, und sein gutes Herz ist mein Unglück geworden. Er fängt an, mich zu unterrichten und schickt mich nach Dublin in eine [288] geistliche Anstalt, wo ich kostenfrei aufgenommen werde. Ich studiere dort etliche Jahre, steige rasch aufwärts, und wenn es in solcher Art fortgegangen wäre, so könnte ich heute zum mindesten Erzpropst zu Cork oder Waterford sein. Da bringt mir eines Tages einer meiner Studiengenossen ein Werk von dem gottlosen Franzosendichter Voltaire. Kennst du den? Ich auch nicht, weiß nur, daß er gottlos war. Mein Kollege ermuntert mich, ich solle das Buch lesen, aber heimlich, denn es wäre verboten. Verboten? Das ist eine Empfehlung. Ich nehme das Buch mit zu Bette, bin aber schon bei der zweiten oder dritten Seite eingeschlafen. Am Morgen, als der Präfekt kommt, um zu wecken, findet er auf meiner Bettdecke den Voltaire. Er konfisziert ihn und konfisziert auch mich – steckt mich auf vierundzwanzig Stunden in das Karzer. Im Karzer habe ich genügende Zeit nachzudenken, was denn in jenem Buche enthalten sein mochte, daß das Lesen desselben solche Strafen nach sich zieht. Meine Neugierde steigt von Stunde zu Stunde, und als ich wieder frei bin, ist mein Trachten, mich unbemerkt in die Präfektur zu schleichen und das konfiszierte Buch wieder zu erhaschen. Das gelingt mir. Ich verstecke mich an einen sicheren Ort, um ungestört der Lektüre nachhängen zu können; aber der Teufel hol' mich noch vor dem Denken, wenn ich daraus klug geworden bin! Nicht einmal den Titel dieses Buches habe ich mir behalten. Was ist das Ende? Ich werde auf meiner Heimlichkeit entdeckt und auf der Stelle relegiert. – So, das war das erste Kapitel.«

Wunderlich war's, wie das der Mensch halb in Grimm und halb in Selbstironie erzählte.

»Mein Lebenslauf« so fuhr er dann fort, »ja, das wäre was für einen Voltaire oder einen andern Gottlosen – wie sie sagen, gibt es heute deren genug – zum Erzählen. [289] Hundert Bände, wenn er wollt' – mein Lebenslauf ist ja geschaffen, in Bänden zu sein. Du verstehst mich. – Ich habe mich wohl noch einmal an die Direktion des geistlichen Institutes gewandt, in Demut bittend um Wiederaufnahme. Vergebens, sie wurde mir versagt. Ausgeschlossen und verjagt. – Nun, jetzt bin ich ein freier Mann in der großen Stadt Dublin. Ins Gebirge zurückkehren und meinen boshaften Landsleuten sagen: Ich habe wollen ein hochwürdiger Herr werden, aber sie haben mich verjagt und jetzt bin ich wieder da. – Nicht um Altengland! So habe ich mich herumgetrieben, solange es ging, habe mich als Führer und Lastträger nützlich machen wollen, aber es war kein Erwerb. Ich war ein Gassenjunge mit zwanzig Jahren, aber viel unbeholfener und blöder als andere meinesgleichen. Ich habe den Gedanken gefaßt, in einer andern Stadt Aufnahme zu suchen, um meine Studien zu beenden, aber ich stand bereits zu tief, hatte nicht mehr den Mut. Ein Kleidungsstück ums andere habe ich verkauft, in Branntweinhöhlen habe ich gekartelt, und in einer Nacht hat mich die Polizei von der Gasse aufgehoben und in Gewahrsam gebracht. Im Arrest macht man interessante Bekanntschaften, nicht wahr? Nun, ich habe von ihnen profitiert; ich habe erfahren, wie sich der Taugenichts Geld erwirbt und wo die sichersten Spelunken sind. Als sie mich auf meine Beteuerung, ein arbeitsames Leben beginnen zu wollen, frei lassen, verlege ich mich sofort auf die Bauernfängerei. Dieses Geschäft gelingt mir besser als den anderen, denn ich kenne die Bauern. Anfangs treibe ich es zahm und begnüge mich mit einem Imbiß, führe sie in der Stadt eine Stunde herum an ein kaum fünf Minuten entferntes Ziel, um ein größeres Stück Geld verlangen zu können. Endlich gehe ich weiter und führe sie in die Spielhöhlen. Ich bin [290] respektabler Falschspieler, finde aber meinen Meister und in einer Nacht verspiele ich Leib und Leben. Leib und Leben! Wir spielten darum. Ich hatte keinen Heller mehr in der Tasche, keinen Knopf mehr am Leib, der mir gehört hätte. »So gilt's um deine Haut und was dazu gehört!« sagte mein Gegenspieler. »Es gilt,« sagte ich. In einer Minute darauf gehöre ich ihm. »Jetzt habe ich das Recht, dich zu erdrosseln,« sagte mein Herr. »Das hast du,« antwortete ich. »Das wäre doch ein schlechtes Geschäft,« lachte er, »du bist ein schöner, junger Mann und hast ein Gesicht wie ein junger Heiliger – dich verwerte ich besser. Wir reisen nach London, dort blüht unser Weizen und sollst nicht allein das Stroh davon haben. Zeigst du dich verwendbar, so wird es dein Schade nicht sein.« – Es ist gut, denke ich, in London kann ich vielleicht meine theologischen Studien fortsetzen – daraus siehst du, was ich für ein einfältiger Junge bin. Einfältig und verschmitzt! Wir fuhren dann über die See und von Liverpool nach London. Dort begann mein Ruhm. Vom Hehlerjungen zum Taschendieb, zum Einschleicher und Einbrecher ist für ein Talent kein langer Weg, ich übergehe die Heldentaten, sie sind dir und mir langweilig, sie sind tausendmal dieselben. Ich stieg auf meiner Stufenleiter so hoch, bis ich eines Tages Polizeibeamter der City war. In der Tat, ja! Es sind mir – ich war stets der treue Diener meines mächtigen Herrn – Papiere verschafft worden, mittelst welcher ich Priester der heiligen Themis wurde. Gewesene Wilderer sind ja die besten Jäger. Du kannst dir denken, welche Vorteile daraus unserer Sache erwuchsen. Es waren unser eine wohlorganisierte Bande von viertausend Köpfen, die meisten derselben trugen Seidenhüte, viele davon wurden von manchem ehrsamen Bürger Londons untertänig gegrüßt. Unsere Hauptverbündete war [291] die Themse, sie verbarg unsere Toten. In den ersten Jahren, selbstverständlich vor meiner Polizeiperiode, saß ich ein paarmal kurze Zeit, später wohnte ich nur mehr als Gentleman, bezog ein anständiges Gehalt vom Staate, aber ein dreifach größeres von unserer Verbindung. Da kam ein Tag, und es war plötzlich aus. Ein Einbruch in den Tower, um eines unserer Häupter aus dem Gefängnis zu befreien, mißlang. Nun war es mein Amt, dasselbe auf diplomatischem Wege zu befreien; da durchbrach ein vermaledeiter Profoß das Gewebe, womit wir die Londoner Polizei so sinnig umsponnen hatten, ich war entlarvt und leider auch gleichzeitig gefangen. Ich war gefaßt auf zwanzig Jahre Kerker, aber England dachte seinem emeritierten Polizeibeamten eine Vergnügungsreise zu. England besitzt in Australien eine Sträflingskolonie – also nach Australien.« – Nach einer Weile, während sich der Erzähler zu sammeln schien und auf ein Kruzifix blickte, das an der Mauer hing, sagte er:

»Morgen will Neu-Süd-Wales eine schöne Ausnahme vom britischen Gesetz machen und einen henken, weil seine Bande den Reisenden Ludwig Leichhardt umgebracht haben soll. Ich sage dir, Priester, ich habe dich nicht rufen lassen, daß ich mich vor dir verteidige, aber das wiederhole ich dir, wie ich es dem Gerichtshofe wiederholt habe, an dem Morde Leichhardt's bin ich so unschuldig, wie der Schächer am Kreuz an Christi Tod. Ich will nicht gehenkt sein, das ist etwas für gemeine Gäuche. Ich will, daß sie mir den Kopf abschlagen.«

Er schwieg hierauf lange. Der Priester erlaubte ihm, fortzufahren.

»Sehr gern,« versetzte der Gefangene, »wenn ich nur zerknirscht sein könnte! Ich fühle in mir nicht genug Reue, [292] mir ist, als hätte es so sein müssen und lebe ich wieder, so handle ich vielleicht wieder so. Darum muß ich aus der Welt gebracht werden, ich selbst beantrage es. – Der Dampfer, auf welchen wir eingeschifft wurden, hieß »Irland«. Mir zum Hohne der Name meines Vaterlandes. Wir nannten ihn aber die schwimmende Hölle. In Wahrheit, das war er. Unser sind an dreihundert gewesen, lauter Verbrecher aus England. Die Aufseher haben uns, um sich auf dem Schiffe der Sorglosigkeit hingeben zu können, in den tiefsten Unterräumen mit Ketten zusammengeschmiedet. Wir sahen viele Wochen kaum einen Sonnenstrahl, unsere halbblinden Rundfenster waren meist unter Wasser. Keine Luft und Nahrung. Leider noch zu viel zum Verhungern. O Voltaire! Hätte dich im Mutterleib der Blitz erschlagen, ich stünde im Dom und trüge prachtvollen Ornat, anstatt in dieser Pestgrube auf dem Weltmeere zu verderben. Mir zur Linken der Nachbar wurde typhuskrank und starb. Wir verheimlichten den Aufsehern seinen Tod, um seiner Portion Nahrung nicht verlustig zu werden, die wir Nächststehenden uns als Erbschaft teilten. Aber der Tote, der nicht zu ihren Ohren kam, kam zu ihrer Nase und wir wurden auf einige Tage gelüftet. Im Indischen Meere ging es ein wenig unstät her und wir wurden durch Stürme südlich, ich glaubte gegen die Kerguelen, verschlagen. Das Schiff mußte an einer Insel landen, um Wasser zu schöpfen. Hier gelang es dreien von uns zu entkommen. Ich war mit ihnen. Es war aber ein böser Gewinn. Wir durchirrten die unfruchtbare Steinwüste. Einer von uns, der nach der finsteren Hölle das grelle Licht und das heiße Sandwehen nicht ertragen konnte, erblindete. Wir hatten Keulen bei uns, um Tiere zu erschlagen und von ihrem Fleische zu leben. Aber die Gegend war tot und starr, soweit das Auge spähte, [293] der Hunger drohte uns wahnsinnig zu machen, da erschlugen wir unsern Blinden … Nach einigen Tagen, als der Vorrat bereits alle oder verdorben war, sann ich nach einer Gelegenheit, auch meinen andern Genossen umzubringen und der hat später kein Hehl daraus gemacht, daß er einen gleichen Anschlag gegen mich im Schilde geführt. Wir trauten einer dem andern nicht; wir hatten in der fürchterlichen Wüste niemand, als uns allein, und wir waren unsere gefährlichsten Feinde. Endlich wurden wir von unseren Soldaten wieder glücklich eingefangen und, beim heiligen Gott, wir setzten uns nicht zur Wehr. Wir kamen endlich nach Australien und landeten in Van Diemens-Land – wir nannten es das Teufelsland, aber im lustigen Sinne, denn in ihm regierte Vater Howe.«

»Howe,« unterbrach ihn der Priester, »so hieß ja der berüchtigte Räuberhäuptling in Tasmania.«

»Ganz richtig, Sir, eben derselbe. Ein Landsmann von mir – hatte ähnliche Schicksale und ich war entschlossen, um jeden Preis unter seine Fahne zu kommen und, wie er, ein gefürchteter Bandenführer zu werden. Aber man war schlau und ahnte, daß Howes Schar auf uns neue Einwanderer eine große Anziehungskraft haben dürfte, wir wurden nach Neu-Süd-Wales eingeschifft. Und in diesem Lande erging es mir so wunderlich, wie sonst nirgends. Wir Sträflinge wurden freigelassen und arbeiteten teils an Häfen, Kanälen, Straßen und Eisenbahnbauten und am Aufbaue der Stadt Sydney. Ich sah bald ein, hier war die Stufenleiter wieder eine andere und ich richtete mich danach. Ich arbeitete und heuchelte und war auch fleißig in der Tat und war verwendbar und machte mich verläßlich. Nach einem Jahre war ich Arbeitsaufseher, nach drei Jahren gaben sie mich und einige andere, die sich brav gehalten, frei. [294] Jeder von uns erhielt ein Stück Land mit Schafen und Pferden. Ich verstand was davon und der Hirte aus Irland wurde ein Squatter am Darlingflusse. Ich baute mir ein Haus auf der Station und baute mir ein Haus in der Hauptstadt. Ich war ein reicher und somit ein ehrenwerter Mann. Ich lebte auch danach und hatte eine laute Stimme in unserem Parlament. Es war gut, ich könnte heute Bürgermeister von Sydney sein; mancher der Deportierten hat es hoch gebracht. Vor allem reich sein, das ist die Hauptsache. Danach handelte ich und wie ist es geworden? – Daß ich heimlich einen schwunghaften Rumschmuggel betrieb – du weißt, daß Rum bei uns verboten war, und daß ich selbst auf meinem Landgut eine Branntweinbrennerei besaß – hätte nicht geschadet, wenn es nur nicht an den Tag gekommen wäre. Mir kostete die Sache mehr als die Hälfte meines Vermögens und ich mußte trachten, es wieder zu ergänzen. Und nun beging ich die größte meiner Taten.«

»So erzähle sie,« sagte der Priester, »aber fasse dich kurz.«

»Kurz? Hast du keine Zeit?« fragte der Gefangene, »du willst dich beklagen und ich zähle mein Leben nur mehr nach Stunden.«

»So erzähle, wie du willst, Hauptsache ist hier die Erleichterung deines Herzens.«

»Es wird nun vom Gold die Rede sein,« fuhr der Irländer fort, »und das ist ein böses Thema. Es war zur Zeit, als Australien auf war, um Gold zu graben. Der Squatter wie der Vornehme, der Fischer wie der Beamte, alles grub Gold. Alle aus der alten Welt anlangenden Schiffe brachten Goldgräber. Viele wurden reich, viele gruben sich das Grab. Noch mehr wurden elend. Auch ich habe gegraben, aber [295] die Lohnarbeiter haben mich betrogen und für meine Person war mir die Wühlerei nicht amüsant genug. Es gibt bessere Mittel, um reich zu werden, als die Arbeit der Hand. Die Spekulation, du errätst es ja. Ich sah, wie sich die goldsuchenden Menschenmassen immer mehr in das Binnenland zogen, während die Lebensmittel, je mehr von der Küste entfernt, je kümmerlicher und ungenügender wurden. Ich verkaufte mein Haus in Sydney und kaufte ganze Schiffsladungen mit Nahrungsmitteln und schaffte sie in Gegenden, in welchen große Goldfunde vorausgesehen werden konnten. Aber die Berichte von neuen Goldgruben schwankten hin und her und die Goldgräber zogen der Fata Morgana nach, gleichviel, ob sie in den wasserlosen Wüsten oder im Scrub verschmachteten. Ein großer Teil meiner Waren lag an einem Nebenflusse des Murray und lief Gefahr, zu verderben. Diese Waren mußten an Mann gebracht werden. Aber wie? Die Gegend war wieder öde geworden, nur die Känguruhs und die Dingohunde durchstrichen den Scrub. – In denselben Tagen war's, daß ein Squatter, nennen wir ihn John Peak, von seinem Bruder am Murrumbidschifluß ein Schreiben erhielt, daß in seiner Gegend, westlich der Blauen Berge, ein unbeschreiblich reiches Goldlager entdeckt worden sei. Ich selbst sah den Brief und machte ihn bekannt. Allsogleich große Aufregung in den Küstenprovinzen und die Leute eilten herbei, um sich bei John Peak des näheren zu unterrichten. Peak kündigte an, daß er gesonnen sei, an einem der nächsten Tage früh mit großen Warenladungen von Lebensmitteln nach dem Murrumbidschiflusse aufzubrechen, wer wolle, der könne sich dem Zuge anschließen. Und siehe, an dem bestimmten Morgen, kaum die Elster ihr Lied sang, war eine große Anzahl von Männern mit Grabscheit und allerlei Arbeitsgeräte zusammengekommen, um sich dem Zuge anzuschließen. [296] Vierzig paar Ochsen waren an schwer beladene Wagen gespannt und diesen schwerfälligen Fuhrwerken folgten die Goldgräber, junge, kräftige, lebenslustige und arbeitsmutige Leute, heiter und hoffend, und so bewegte sich die Karawane den neuen Goldfeldern entgegen. Es war im Januar, also mitten im Sommer. Die Gegend war heiß und wurde von Stunde zu Stunde öder. Das Gras an der Wurzel war zu Heu geworden, die Bäche waren vertrocknet, kaum daß in einzelnen schlammigen Sümpfen Menschen und Tiere ihren Durst zur Not löschen konnten. Die Blätter der Gummibäume hingen welk herab, gaben aber keinen Schatten. – Ich erzähle dir diesen Zug genau, wie er in meiner Erinnerung ist, weil er mir von allen meinen Wegen heute am schwersten auf dem Herzen liegt. Der Weg hatte über Gebirgskämme und Steinflächen geführt, aus denen wir zwar fortkamen – ich war stets dabei, das merke dir – die Ochsen dagegen aber harte Mühe hatten, die schweren Wagen weiterzubringen. Wir mußten Hand anlegen, jetzt vorwärtsschieben, jetzt zurückziehen und dann wiederum die Lasten vor Sturz in die Abgründe bewahren. Einige hatten dem Fuhrwerk bereits auch ihre mitgeschleppten Habseligkeiten aufgebürdet, wofür sich Mister John Peak wacker bezahlen ließ. So hatte die Reise bereits vier Tage gewährt und wir befanden uns nun in einer vollständigen Wildnis, wo weit und breit keine Ansiedlung war, ein dürrer Boden, den wohl noch niemals die Füße eines Europäers betreten hatten.

Der fünfte Tag war ein Sonntag, da wurde Rast gehalten. Es ist aber keine Sonntagsruhe gewesen, die Leute waren unzufrieden und drangen in John Peak, ihnen doch endlich mitzuteilen, wann diese trostlose Gegend ein Ende nehme, wo die Goldfelder wären. John Peak hatte die Ungeduldigen [297] zu vertrösten gewußt von Tag zu Tag und jetzt entgegnete er unwirsch, ob sie denn glaubten, daß er das Goldland herbeizaubern könne? Ob nicht auch er selbst, seine Leute und sein Vieh an dem Ungemache der Reise zu leiden hätten, ob er sie denn gebeten habe, mit ihm zu kommen, ob es nicht reine Gefälligkeit von ihm gewesen wäre, sie mit sich zu führen? Das sprach er vernünftig. Es ließ sich laut nichts darauf entgegnen, jedoch hinter seinem Rücken begannen die Männer zu murren: »John Peak hat den Weg verloren und will es nicht gestehen.« Ob er sich seiner Sache gewiß sei? wurde er befragt. Das wäre er. Er solle noch einmal den Brief seines Bruders zeigen. Er zeigte den Brief und da stand's: Am Murrumbidschifluß ein unbeschreiblich reiches Goldlager gefunden. Der Fluß mußte ja in dieser Gegend sein, nur war er unter anderen Schründen, die sich im wüsten Grunde hinzogen, schwer zu erkennen, da er ausgetrocknet sein konnte. Sie beruhigten sich also wieder. Die Menge der Goldsucher war bereits bis zu tausend Köpfen gestiegen. Das Lager wurde nicht abgebrochen. John Peak sandte Leute aus, angeblich nach der Besitzung seines Bruders. Mittlerweile zehrte die Menge von seinen Vorräten und zahlte ihm hohes Geld. So ging ein Tag um den andern hin und nun erhob sich eine Unruhe im Lager, die nichts Gutes ahnen ließ. Der Argwohn war da: Die ganze Goldgrubengeschichte wäre erfunden. John Peak habe die Leute in die Wüste verlockt, um seine Lebensmittel zu enormen Preisen zu verkaufen. Und in der Tat, die Lebensmittel wurden von Stunde zu Stunde knapper und stiegen im Preise, so daß viele, deren Barschaft zu Ende ging, bereits Hunger litten. Einzelne trennten sich von der Menge los und irrten in Sand und Scrub umher, in der Hoffnung, auf die geträumten [298] Goldfelder zu stoßen. Man soll nichts mehr von ihnen gehört haben.

Im Lager wuchs die Aufregung, es kam zu einer Volksversammlung, in welcher die Vermutung des Verrates offen ausgesprochen wurde. Nach einer stürmischen Stunde schien es sichergestellt, daß die Menge nur in diese Öden geführt worden war, um dem Squatter die bereits im Verderben begriffenen Lebensmittel zu konsumieren. Um aber dem Manne nicht Unrecht zu tun, sondern vollständige Gewißheit zu erlangen, wurde beschlossen, auf Kosten der Versammlung eine Expedition auszuschicken, den vorgeschützten Bruder oder die Goldlager zu finden. John Peak sollte bis zur Rückkehr der Männer strenge bewacht werden.

Am folgenden Morgen wurde die Expedition, mit Lebensmitteln und guten Pferden versehen, abgelassen. Sie durchstrich die rotbraunen Flächen, fand weder Vegetation noch Wasser, weder Weg noch Steg, überall nur die nackten Granitfelsen, stellenweise knietiefen Sand und wirbelnden Staub. Soweit das Auge reichte kein grünes Blatt, kein Grashalm, nach allen Seiten hin nichts als grauer Himmel und brauner Sand.

Heiße Winde aus Nordwesten bliesen da und dort ein finsteres Gewölke heran, aber es waren nicht die willkommenen Wasserdünste, es war glühender Staub. Die Expedition soll viel gelitten haben, stieß aber am dritten Tage auf eine kleine Oase, wo sich eine Schafzucht befand. Es war die Gegend, wie sie von John Peak als der Wohnort seines Bruders verzeichnet worden. Die Männer fanden bei den Hirten freundliche Aufnahme; sie zogen ihre Erkundigungen ein und erfuhren erstens, daß hier kein Mensch wohne, der einen John Peak zum Bruder habe, und erfuhren, [299] daß in dieser Gegend von einem Goldlager weder jemals eine Spur, noch eine Rede gewesen sei.

Die Expedition hatte ihren Zweck erreicht und trat die Rückreise an. Um der gefürchteten Sandwüste zu entgehen, wollte sie eine andere Richtung einschlagen, stieß aber auf grundlosen Morast des Murrumbidschi und auf undurchdringlichen Scrub. Von der Expedition erlagen zwei Mann. Auf der wieder betretenen Sandwüste stand eine weitere Überraschung bevor. Raubvögel umflatterten drei menschliche Leichen, die auf dem Rücken lagen und ihr Antlitz gen Himmel gerichtet hatten. Endlich hatte die Expedition sich zurückgefunden zu den weißen Zelten und sie erstattete Bericht, daß weit und breit kein Bruder des Squatter und keine Spur einer Goldmine entdeckt worden sei.

John Peak hatte den Brief seines angeblichen Bruders selbst geschrieben, um die Leute in die Wüste zu locken und bei ihnen seine Waren abzusetzen – John Peak wurde in aller Form zum Tode verurteilt. –

Der aufgeregten Menge hatte man vor das Zelt, in welchem Peaks Warenlager sich befand, ein Faß Rum gerollt, den Boden eingeschlagen und alles drängte sich vor, einen Becher des Getränkes zu erlangen. Bald war das Faß leer und auch ein zweites, ein drittes, dann wurde mit wildem Lärm das Warenlager gestürmt und jeder nahm, was ihm das Nächste war. Der eine trug einen Sack Reis fort, der andre einen Sack Zucker, der dritte eine Kiste Thee; andere Mehl, Butter, Schinken, Tabak. Jeder wollte sich nun entschädigen, und es ging toll zu im Wüstenlager.

Als man sich endlich nach dem Verurteilten umsah, um ihm zur Krone des Festes sein Recht anzutun, war der Vogel ausgeflogen. – Jetzt sahen sie den Flüchtling auf raschem Renner über die weite Ebene dahinjagen.«

[300]

So der Gefangene.

»Ja,« entgegnete nun der Priester, »ich habe seinerzeit von dieser Geschichte vernommen. Aber warum erzählst du nicht von dir?«

»Ja,« sagte der Gefangene: »hast du in John Peak denn nicht mich erkannt? Nicht wahr, dir graut? Mir auch, mein Herr, mir auch.«

»Nun bist du wohl zu Ende?«

»Fast. Was jetzt noch kommt, ist zahm. Ich floh zu den Wilden. Da ich schon früher ihre Sprache erlernt hatte, sie aber in jenem Scrub an mir das erstemal einen Weißen sahen und sich vor mir fürchteten, so gab ich mich für den Geist ihres Stammvaters aus, der aus der andern Welt zu ihnen zurückgekehrt sei, um ihnen zu verkünden, daß ein fremdes, furchtbares Volk gegen sie über das Meer heranziehe, welches den Blitz des Himmels und den Donner bei sich hätte. Sie haben mir geglaubt, haben mich in ihrer Weise angebetet, haben mich in eine große Höhle geführt und mir dort ihre Opfergaben zu Füßen gelegt. Merkst du den Witz des Schicksals? Nun war ich's, was ich einst auf den Heiden Irlands sein wollte: ein Prophet, ein Priester, ein Erzbischof. – Sie brachten mir das beste, was sie hatten, es war für mich kaum genießbar; ich sagte, ich sei bei Speise und Trank die Zubereitung der andern Welt gewohnt und bereitete sie, wie es die Weißen tun. Ich suchte die Wilden für meine Zwecke zu erziehen und galt als ihr Häuptling und Gott, gleichwohl manche unter ihnen waren, die mir nicht zu trauen schienen. Die Furcht hielt sie im Zaume. Ich suchte sie mit dem Speer, mit dem Bumerang, mit der Keule im Kampfe zu üben, um mir ein streitbares Heer gegen meine eigene Rasse heranzubilden.

So groß war in mir der Haß geworden. – Mein Vorhaben, [301] die Wilden zum Kriege zu erziehen, war aber nicht durchführbar. Und weißt du, wer mich bei meiner Gefangennahme am Murray niedergeschlagen hat? Der Wilden einer, mein eigener Waffenträger. Er hätte mich gewiß getötet, wenn ich ihm nicht von den Soldaten entrissen worden wäre. – So bleibt es doch dir, mein alter Vaterstamm, anheimgestellt, an mir dein Richteramt zu vollführen. Jetzt entweiche ich nicht mehr auf flüchtigem Renner, jetzt leugne ich nicht mehr, daß ich schuldig bin, jetzt will ich nur eins, o Menschen, nur dieses eine versagt mir nicht!«

»Was ist dein letzter Wunsch?« fragte der Priester.

»Es ist der: Ich will nicht erwürgt werden mit dem Strick, ich möchte langsam, langsam sterben und mein Blut geben.«

Am nächsten Morgen, als der rote Schein lag über den Wässern des Ostens, wurde der Gefangene aus dem Kerker geholt und in den Hof des Gerichtsgebäudes geführt.

Als der Todgeweihte mitten im Hofe den Galgen sah und den Henker daneben, stürzte er sich kopfüber auf das Steinpflaster – und das rote Blut entströmte dem zerschmetterten Haupt.


[302]

Der verhängnisvolle Vorfall.

Über den Hafenplatz in Lissabon eilten schnellen Schrittes zwei junge Männer. Es war vor Abgang des Schiffes beinahe eine Stunde Zeit, da wollten sie in einem Weinhause noch den Abschied feiern. Die Sachen des Abreisenden hatte der Hoteldiener bereits aufs Schiff gebracht, dort auch den Fahrschein nach Neuyork gelöst, so konnten die beiden Freunde noch ruhig beim Weine sitzen und warten, bis vom Molo herüber, an dem mehrere große Dampfer lagen, das Glockensignal erklang.

Der eine der beiden, ein schlanker Bursche mit leichtem Bartanflug und einer vernarbten Schramme über der Stirn, war der Elektrotechniker Richard Wifart aus Berlin. Er war ein Jahr vorher mehrere Monate lang auf einer Geschäftsreise für das Haus Siemens & Halske in Amerika gewesen und hatte in Neuyork ein schönes Mädchen kennen gelernt, die einzige Tochter eines Rechtsanwaltes. Die jungen Leute hatten sich damals unmittelbar vor Wifarts Abreise nach Berlin verlobt und nun war er auf der Reise nach Neuyork, um Hochzeit zu halten und seine junge Frau nach Europa zu führen. Er war sehr heiter und schaute mit hellen, glücklichen Augen in die Zukunft.

Der andere der beiden Freunde war Herbert Franke, ein etwas kleinerer, untersetzter junger Mann mit dunkelblondem welligem Haar und einem glatten Gesicht, über dessen Wange das schwarze Seidenbändchen des »Zwickers« hing. Er besaß in Hamburg ein großes Export- und Geldgeschäft und war seit drei Jahren dort glücklich verheiratet. [303] Er hatte weiche, fast kindliche Züge und sein blaues Auge hing mit Innigkeit an dem Freunde, den ihm schon die nächste Stunde entführen sollte.

Die beiden hatten auf der Berliner Technik zusammen studiert und waren Freunde geworden, die sich in schwärmerischen Stunden auch das zugeschworen, daß, wenn einer oder der andere einmal heiraten sollte, unfehlbar der andere oder der eine mit bei der Hochzeit sein müsse. Richard hatte bei Herberts Hochzeit in Hamburg ohne jede Schwierigkeit seinen Schwur einlösen können. Anders war's bei Herbert, der den Freund nach Neuyork begleiten müßte, um an dessen Hochzeit teilzunehmen. Er würde es mit tausend Freuden getan haben, wenn er als Chef seines Hauses nicht gerade um diese Zeit wegen Handelsunternehmungen in Europa festgehalten worden wäre. Doch gestatteten es die Verhältnisse, den Freund eine Strecke zu begleiten. Denn die Reise ging nicht den glatten, geraden Seeweg Bremerhafen-Neuyork, sondern über Frankreich und Spanien. In Frankreich hatte Herbert Geschäfte abzuwickeln und auch Richard wurde teils durch den Umstand zu diesem Umwege bewogen, als seine Firma wegen einer elektrischen Straßenbahn mit Madrid in Unterhandlung stand. Anderseits wollte er Verwandte in Granada besuchen.

Die Reise war nicht ohne Widerwärtigkeiten vor sich gegangen. Eine Überschwemmung in den Pyrenäen hatte die Eisenbahnverbindungen unterbrochen, was jedoch wieder den Vorteil gab, durch eine Wagen- und Fußreise die Pyrenäen und einen Teil des nördlichen Spaniens näher kennen zu lernen. Das war jetzt alles hinter sich, die Gebirgsreise, die Verwandten waren abgetan, das Geschäftliche für Herbert war im besten Gang und an diesem Tage Punkt zwölf Uhr sollte in Lissabon das Schiff nach Neuyork auslaufen.

[304]

Sie saßen nun bei einer Flasche köstlich feurigen Spaniers und rauchten Zigaretten. Sie waren in hochgemuter Stimmung, der aber ein Mollton des Abschiedes nicht ganz fehlte. Nach dieser gemeinsamen heiteren Reise, auf der sie manchmal ernsthafte Gespräche über die Zukunft geführt, dann wieder tolle Jugendschnacken getrieben hatten, sollte die nächste Stunde jeden allein finden.

Eine solche Trennung im fremden Lande hat etwas Beklemmendes. Richard würde in acht Tagen ja drüben bei seiner Braut sein und Herbert nach einigen Querzügen durch die romanischen Länder ungefähr um dieselbe Zeit in Hamburg. Jeder bei den Seinen, und in wenigen Wochen würden sie sich in Hamburg alle zusammenfinden.

Richard erhob sein Glas: »Freund, ich danke dir noch einmal, daß du mich bis an dieses Ende der Welt begleitet hast. Kehre mit Glück nach deiner geliebten Elbestadt zurück und von heute in zehn Tagen denke, daß ich mit meiner Luise am Altare stehe.«

»Und wenn du sie hast, so säume nicht allzulange, sie mir zu zeigen. Ich brenne, dein Weib kennen zu lernen und gedenke mich zu rächen für die Eifersucht, die du bei meiner Susanna immer wieder in mir erweckt hast.«

Sie lachten und stießen die Gläser an.

»Ich hoffe, daß ich rasend eifersüchtig sein werde,« sagte Richard.

»Du hoffest das?«

»Keine Frage. Was wäre das für eine Suppe? Ohne Salz!«

»Das Salz der Ehe – ja. Aber eine versalzene Suppe – nein,« sagte Herbert und drehte sich eine frische Zigarette.

[305]

»Und ich bleibe dabei,« scherzte Richard, »daß wir beide uns die ausgiebigste Ursache zur Eifersucht geben, müssen. Wir haben seit acht Jahren aneinander die Herzen und Nieren zu genau erforscht, um nicht zu wissen –«

»Laß das bloß gut sein, Richard. Wir waren zwei Galgenstricke, wenigstens in der Laune, doch als Ehemänner –«

»Komm dort nicht der Hausdiener unseres Hotels?« unterbrach Richard. Zwischen den Tischreihen trippelte ein buckliges Männlein heran und mit sehr kurzsichtigem Auge guckte er jedem Anwesenden unsicher ins Gesicht, bis er unsere Freunde bemerkt hatte. Dann kam er heran und sagte in gutgewähltem Portugiesisch, daß er glaube, die Auszeichnung zu haben, Herrn Herbert Franke aus Hamburg vor sich zu sehen.

»Suchen Sie mich ?« fragte Herbert.

»Ich wußte es ja gleich. O, ich erkenne alle meine Herren sofort wieder. War schon am Hafen, auf der Brest Da denke ich, die Exzellenzen werden im Weinhause sein. Und siehe da!«

»Wünschen Sie etwas?«

»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, eine Depesche ist angekommen.«

Er reichte sie hin, nahm die Bestätigung in Empfang und empfahl sich mit graziösen Bücklingen.

»Wenn ein deutscher Tanzmeister so viel Grazie hätte, als ein spanischer Stiefelputzer!« lachte ihm Richard nach. – »Nun, wie stehen die Kurse auf der Hamburger Börs'?«

Herbert hatte seinen Prunkzwicker aufgeklemmt, doch der war wieder von der Nase gefallen. Er hatte hierauf die Depesche für sich gelesen, und Richard sah, daß er unruhig wurde.

[306]

»Was ist das?!« sagte Herbert tonlos vor sich hin.

»Etwas Wichtiges?« fragte der Freund.

Der Hamburger hielt mit zitternder Hand das Blatt dem Freunde hin: »Herbert Franke aus Hamburg, Hotel Imperatore, Lissabon: Bitte mit möglichster Eile nach Hause reisen. Verhängnisvoller Vorfall. Mama.«

»Was ist geschehen?« fragten beide zugleich und erhoben sich von ihren Sitzen. Sie starrten sich an, einer bleicher wie der andere.

»Meine Frau!« sagte Herbert. »Meiner Frau ist etwas widerfahren!«

»Ei nein, davon steht doch kein Wort. Diese verdammte Unklarheit der Depeschen! Man denkt gleich an das Allerschlimmste. Ein paar Worte mehr –«

»O mein Freund, wer weiß, wie schrecklich sie wären, diese paar Worte mehr! Gewiß, meiner Susanna ist etwas widerfahren. Dem kleinen Siegfried ist etwas zugestoßen. Ich reise sofort. Mit dem internationalen Expreßzug.«

»Das geht nicht; denke doch, daß die Verbindungen unterbrochen sind.«

Herbert schlug sich die Faust an die Stirn. Dann las er wieder das Telegramm: »Bitte mit möglichster Eile nach Hause zu reisen. Verhängnisvoller Vorfall. Mama. – Warum depeschiert Mama? Warum nicht meine Frau?«

»Weil sie im Augenblick nicht zur Stelle war. Hast du doch – glaube ich – auch in Madrid eine Depesche von Mama erhalten, über etwas Geschäftliches. Und nun – du kennst ja die alten Frauen. Wenn eine Spiegelscheibe zerschlagen wird, posaunen sie es in alle Winde; wenn ein Schornsteinbrand ist: Verhängnisvoller Vorfall.«

[307]

»Laß das, Richard. Du siehst ja, daß ich ruhig bin. Ich muß eben nach Hause. Mit dem nächsten Zug.« Er verlangte vom Kellner den Eisenbahn-Kurier.

»Das hilft dir nichts,« sagte Richard, »du kannst nicht weiter. Du mußt den Seeweg nehmen.«

»Gut, also den Seeweg.«

Herbert sah im Schiffsfahrplan nach, der an der Wand hing. »Eildampfer nach Neuyork.«

»Der geht dich nichts an.«

»Eildampfer nach Southampton.«

»Nichts für dich.«

»Dampfer nach Genua.«

»Zu großer Umweg.«

»Eildampfer nach Brest.«

»Das ist der deinige,« sagte Richard. »Von Brest mit Eisenbahn nach Hamburg.«

»Nach Brest also. Abfahrt jeden Mittwoch mittags zwölf Uhr. – Mittwoch, das ist ja heute!«

»Und zwölf Uhr ist es in zwanzig Minuten. Unsere Schiffe gehen im gleichen Augenblicke ab.«

»Das ist ja ausgezeichnet!« rief Herbert. Er lief ins nahegelegene Hotel Imperatore, um seine Sachen zu holen, seine Rechnung zu begleichen, und eine Viertelstunde später trafen sich die beiden Freunde am Molo. In demselben Augenblick schrillten die Schiffsglocken.

»Brest!« rief Herbert zum Gepäckträger, und dieser eilte dem großen schwarzen Dampfer zu, der links am Molo lag und schwarze Rauchdrubel aus dem Kaminrohre stieß. Gerade gegenüber rechts am Molo lag der Dampfer »Neuyork«. Es rasselten schon die Ketten, um die Brücke aufzuziehen.

[308]

»Leb' wohl, Herbert. Es wird nicht so schlimm sein. Gib mir gute Nachricht.«

»Leb' wohl, grüße mir deine Braut.«

»Auf Wiedersehen!«

Ein rascher Händedruck, denn es schrillten die Dampfpfeifen. In großen Sprüngen eilte jeder zu seinem Schiffe. Kaum war Herbert, die Hand eines Matrosen mußte ihn fassen, auf seinem Dampfer, da rollte es, der Koloß zitterte und begann sich sachte zu bewegen.

Sie standen am Bord, jener drüben, dieser hüben, und winkten sich mit den Taschentüchern zu. Die letzten Lebewohlrufe haben den gellenden Hafenlärm nicht mehr durchdringen können.

Welch plötzliche Wandlung. Wer hätte das vor einer halben Stunde gedacht! Herbert schaute auf Lissabon. Je mehr es zurückwich, je höher schien es aufzusteigen. Jetzt fiel ihm ein, was er noch alles hätte tun sollen. Besonders nach Hamburg depeschieren, daß er auf der Heimreise sei. Was hätte er dem Freunde noch alles zu sagen gehabt, dem Glücklichen, der jetzt schnurgerade, ohne Aufenthalt und Unterbrechung, seiner Braut entgegendampft, während ihm nach umständlicher See- und Landfahrt zu Hause ein außerordentliches Unglück erwartet.

Noch in der Bucht waren die beiden Schiffe in einer gewissen Entfernung nebeneinander hingefahren und die Freunde hatten mit den weißen Fähnchen ihrer Taschentücher ohne Unterlaß sich zugewinkt. Nun die hohe See erreicht, sah Herbert, wie der Dampfer »Neuyork« sich immer weiter von dem seinen entfernte und wie er als kleiner schwarzer Punkt unweit der Küste gegen Norden eingebogen hatte, während sein Schiff schnurgeraden Lauf gegen Westen nahm.

[309]

Herbert hatte seinen Handkoffer auf dem Deck unter eine Bank geschoben und suchte nun den Kapitän auf, um ihm zu sagen, daß er noch keine Fahrkarte lösen konnte, weil er sich erst im letzten Augenblick zur Reise entschlossen habe. Er wolle eine nach Brest.

Der Kapitän starrte ihn an von oben bis unten. »Sie wollen nach Brest?«

»Nach Brest eine Karte erster Klasse.«

Darauf mit yankeemäßiger Gelassenheit der Kapitän: »Dieses Schiff geht nach Neuyork.«

»Was sagen Sie?«

»Dieses Schiff geht nach Neuyork.«

»Um Gottes willen! Aber um Gottes willen!« rief Herbert mit wildstoßendem Atem. »Ich bin doch auf dem Dampfer, der nach Brest geht! Man hat mir's doch gesagt. Das ist doch der Dampfer Brest.«

»Es ist allerdings der Dampfer Brest, aber er geht nach Neuyork. Der nach Brest läuft – sehen Sie! – der schwarze Punkt dort an der Küste, die alte Neuyork, die geht nach Brest.«

»Aber Gott! Aber mein Gott im Himmel! Ich fahre ja nach Brest! Ich muß nach Brest!« schrie Herbert grell auf. »Ich muß – ich muß

»Also ein Billett nach Neuyork,« sagte der Kapitän gelassen und nannte den Preis.

Herbert stampfte wütend mit den Füßen und verlangte in seinem wahnsinnigen Schreck, daß der Dampfer umkehre. Darauf schaute ihn der Kapitän mit kühlem Blick neuerdings an und zuckte die Achseln.

Herbert tobte über das Deck hin und fluchte und flehte und bat den Kapitän auf den Knien, ihn wenigstens, auf einem der Rettungsbote nach Lissabon zurückbringen [310] zu lassen oder irgendwie das bereits entschwindende Brester Schiff zur Umkehr, zum Warten zu verständigen.

Der Kapitän zuckte schweigend die Achseln. Endlich gewann der Hamburger doch so viel Vernunft, um einzusehen, daß hier alles Rasen nichts helfe. Der Dampfer schnitt mit brausender Energie die Wellen des Ozeans dem Westen zu. Herbert setzte sich hinter dem Mast auf einen Ballen und starrte zu Boden. Die Mitreisenden, die ihn mit Teilnahme beobachteten, konnten sehen, wie Tränen über seine Wangen liefen.

Die portugiesische Küste war nur mehr ein ferner blauer Streifen und allmählich verschwand sie ganz. So fuhr er nun von Europa davon und zwar zu einer Zeit, wo er's am wenigsten durfte, wo er daheim am notwendigsten war, wo er von den Seinen zu Hilfe gerufen wurde in einer großen Not. – Daß man einmal so durch die weite leere Luft würde telegraphieren können wie heute? Damals gab's keinen Gedanken daran. – Wenn er nur eine Ahnung hätte, was geschehen ist! Ein verhängnisvoller Vorfall! War ein Brand ausgebrochen? War Frau Susanna erkrankt oder der kleine Siegfried, der erst wenige Wochen zuvor den Scharlach überstanden hatte? Oder gar jemand plötzlich gestorben? O heiliger Gott, wie das qualvoll ist! Und mit jedem Augenblick entführt das Schiff ihn weiter und weiter von seinen Lieben, die in Sehnsucht auf ihn warten. – Sollte bei der Berliner Firma Schwippe & Sohn, bei der er stark engagiert war, etwas los sein? Nein, hatte ihm doch sein Bureaudirektor Maischuster erst nach Madrid mitgeteilt, daß Ultimo die hundertachtzigtausend Mark bar bezahlt worden waren. Oder wäre ein Einbruch in die Kasse vorgekommen? Unmöglich, Maischuster ist der vorsichtigste Mensch, ist imstande, sein Nachtlager [311] auf der Eisenkasse zu nehmen, um sie zu bewachen Ein öffentliches Unglück müßte man ja in den Blättern gelesen haben. Also was ist geschehen? – Ringsum war nichts mehr als die grünen Wässer des Atlantischen Ozeans, und der Dampfer, der den unglücklichen Namen »Brest« trug, schnitt seine schnurgerade Straße nach Westen.

Dann dachte Herbert auch an seinen Freund, der auf der »Neuyork« nordwärts der fernen französischen Küste zufuhr, ohne Gepäck, vielleicht auch ohne Geld, ins Ungewisse hinein. Wie mochte dem zumute sein, der seine Braut wartend weiß in Neuyork, und er kann nicht eintreffen zu dem für die Hochzeit bestimmten Tage und kann ihr keine Nachricht geben. Sein unglücklicher Freund Herbert, ja der wird dem Schiffe entsteigen, mit dem Luise den Bräutigam erwartet, aber sie erkennen sich nicht, gehen fremd aneinander vorüber.

Herbert hat nun allerdings in seinem Taschenbuch die Adresse der Familie Luisens, und zu ihr soll auch der erste und wohl auch einzige Weg sein in Neuyork. Hat er doch Richards Koffer, der auf diesem Schiffe ist, dort abzugeben. Und dann mit dem nächsten Schiffe nach Hamburg! Aber welche Ewigkeit liegt dazwischen! Der erste Tag wollte kein Ende nehmen; wie sollten die neun Tage vergehen, ohne daß er vor Ungeduld stirbt? – Auf ein aus dem Westen entgegenkommendes Schiff hatte Herbert noch gerechnet, das ihn aufnehmen und nach Europa bringen konnte. Aber außer ein paar kleinen kreuzenden Segelschiffen war kein Fahrzeug zu sehen. Am zweiten Tage kam von Norden her ein großer englischer Dampfer, ein Ostindienfahrer, dann nichts mehr auf den öden, unendlichen Wässern. Kein Schiff, das ihn erlöst und in die Heimat gebracht hätte. Nichts und nichts. Er mußte eine Beute [312] der »Brest« bleiben, sich in Geduld fassen und tatlos warten auf das, was das Schicksal über ihn verhängt haben mochte. So saß er denn auf dem Deck, stets allein, und brütete. Mancher der Mitreisenden, es waren auch ein paar Deutsche darunter, wollte sich ihm nahen, um ihn zu zerstreuen; er ging nicht darauf ein. Er brütete vor sich hin in dem Gedanken: Immer weiter fort, immer noch weiter fort! Wäre er auf irgendeiner Stelle der Erde festgehalten für die Länge der Zeit! Aber dieses immer noch weiter fort, immer noch weiter der Heimat entrückt werden – es war nicht zu ertragen. Es war eine unsägliche Qual. Herbert nahm sich vor, wenn er seine Lieben wiedersehen sollte, so wird er sie nicht mehr verlassen, nicht auf zwei Tage lang. Aber – er wird sie ja nicht wiedersehen, sicher nicht alle wieder. Tag und Nacht waren seine Gedanken zu Hamburg in seinem Hause, er sah nichts als Brandstätten, Totenbahren, gesprengte Kassen und fallierte Geschäftsfirmen.

Am fünften, sechsten Tage wurde er etwas gefaßter. Die Nahrung, wovon er sonst mit Widerwillen genossen, begann ihm zu munden, der Schlaf wurde ruhiger und erquickender. Je mehr man sich der amerikanischen Küste näherte, je klarer ward es ihm, daß er dort etwas erfahren müsse. Und mit dem ersten Schritt, den er auf das nach Deutschland abgehende Schiff setzen wird, ist er soviel als zu Hause, denn jede Sekunde bringt ihn dann im Fluge näher der Stelle, wo er aufzurichten und zu trösten haben wird. Er ist nun gefaßt, so schlimm kann es unter keinen Umständen sein, als er es in der Vorstellung durchlebt hat. Denn er hat alle denkbaren Unglücksfälle durchlitten, und in der Tat wird es doch nur einer sein. »Verhängnisvoller Vorfall«. Der Ausdruck imponierte [313] ihm nicht mehr ganz so. Was ist verhängnisvoll? Alles Mögliche. Alte Frauen lieben in Hyperbeln zu sprechen. Vielleicht war es sogar im scherzhaften Sinne gemeint, um den Sohn, der sonst mit der Rückreise manchmal arg zu säumen pflegte, ein wenig zu peitschen. Vielleicht ist bei der ganzen Sache verhängnisvoll nur die Verwechslung der Schiffe auf dem Hafen zu Lissabon. Aber – wer weiß es?! Gott allein, dem er nun alles anheimgibt. Ja, das ist der Anker. Dem Allmächtigen will er's anheimgeben. – Ach, wie eine solche Seereise herrlich wäre bei ruhigem Gemüte! Und wie peinvoll sie gewesen ist, wie so schrecklich nichts vorher in seinem Leben war. Richard, der mag zusehen, wie er herüberkommt. Hochzeiten lassen sich verschieben. Wenn sich alles so verschieben ließe? – Ei doch, wir haben den »Verhängnisvollen Vorfall« ja Gott anheimgestellt.

Am zehnten Tage um fünf Uhr früh war die Freiheitsgöttin in Sicht, im Hafen von Neuyork. In der aufgehenden Sonne glühte sie rot, wie Eisen in der Esse. Und dann tauchte die abenteuerlich herrliche Stadt auf. Um sieben Uhr betrat Herbert den Boden von Amerika. Da war im Augenblick sein Anliegen völlig vergessen, so lebhaft stürmte die neue Welt und ihr Treiben auf seine Sinne ein. Er kam sich vor wie ein dreister Abenteurer und wollte es sein. Wollte es denn in Gottes Namen einmal sein! Er war völlig berauscht. – Den Koffer seines Freundes bekam er nicht ausgefolgt, um ihn an dessen Braut zu überschicken; er wurde ins Magazin gestellt, bis der Eigentümer selbst sich um ihn ausweisen konnte. Das erste, was Herbert suchte, war eine Auskunftstelle wegen Abfahrt der Schiffe und ein Telegraphenamt. Zu seiner größten Freude sollte an demselben Tage, [314] abends zehn Uhr, ein deutscher Lloyddampfer nach Southampton und Bremen abgehen. So ist er in sechseinhalb Tagen zu Hause. – Und nun wollen wir frühstücken. Er ging in das nahe dem Hafen gelegene Hotel »Grodin«. Aber es schwankte noch der Boden unter den Füßen, er hatte auf schwankendem Boden das Gehen verlernt. Im großen Hotel trat er in eines der Speisenkabinette. Da war's behaglich ruhig; ein einziger Herr saß in der Ecke und sprach mit Eifer seinem Imbiß zu. Er blickte nicht vom Teller auf, bemerkte den Eintretenden kaum, dieser aber tat einen Schrei.

»Maischuster!«

Ja, es war sein Bureaudirektor aus Hamburg. Im ersten Augenblick glaubte er, der Direktor sei ihm nachgereist, doch schon im zweiten Augenblick glaubte er etwas anderes. Denn Maischuster, als er plötzlich vor sich seinen Chef sah, zuckte heftig ein und wechselte die Farbe. Dann sprang er auf, raffte vom Nagel Hut und Überrock; Herbert aber stand an der Tür, packte den Mann fest am Arm und sagte gedämpft:

»Maischuster, was ist das?«

Der Direktor ergab sich wehrlos, denn er glaubte, Herbert sei aus Hamburg nachgereist, um ihn festzunehmen und vor der Tür stünden die Häscher, denn durch die Fenster sah man Wachleute.

Herbert hatte den Zusammenhang nun durchschaut. »Sie haben sich etwas zuschulden kommen lassen, Maischuster!«

»Da haben Sie's, da haben Sie's! Ich gebe ja alles zurück!« stammelte der Bureaudirektor und zog aus dem Westenlatz ein Paket. »Ich hätte es ja ohnehin zurückgegeben, ich wollte nur – – Lassen Sie mich bloß los. [315] Lassen Sie mich los, oder – –« Er suchte mit einer Hand in die Rocktasche zu kommen. Die beiden Männer rangen, stießen Stuhl und Tisch um, bis Kellner herbeieilten, Hoteldiener und Wachleute, mittels welcher der Defraudant festgenommen und gebunden werden konnte.

Herbert öffnete das wohlverschnürte Paket und fand in Noten und Papieren eine Summe von 230000 Mark. – Und nun wußte er's. Nun glaubte er es zu wissen, was die Depesche »Verhängnisvoller Vorfall« bedeutete. Sein Herr Maischuster war ihm in Hamburg mit der Kasse durchgegangen. Und nun sah er auch, wie es kommen kann, wenn man in eigener Ohnmacht sein Anliegen dem Herrgott anheimgibt, der in diesem Falle schon vorher für die Sache gesorgt hatte. Herbert mußte in Lissabon das unrichtige Schiff besteigen, um in Amerika den Dieb zu erwischen.

Dem Maischuster wurde noch eine Tasche mit Goldstücken und ein Revolver abgenommen und dann ist er in behördliches Gewahrsam gebracht worden.

Als Herbert das auf so wunderliche Art wiedergewonnene Vermögen wohlverwahrt hatte, ging er daran, das Haus der Braut seines Freundes aufzusuchen. – O wie war das jetzt anders, wie war dieses Neuyork jetzt schön! Nur die Betrübnis der Miß Luise fürchtete er noch, wenn anstatt des heißerwarteten Bräutigams ein fremder Mensch kommt, um zu sagen, der Bräutigam sei auf ein unrechtes Schiff gestiegen und könne kaum vor einer Woche eintreffen. Im Wildpark, dem Lärme ein wenig entrückt, stand ein stattliches Haus. Hohe Tannen, wie er sie seit den Pyrenäen nicht mehr gesehen hatte, überragten mächtig die Giebel und auf den Wipfeln sangen zu Hunderten die Vögel. Herbert drückte mit Beklemmung am Taster, [316] das Tor öffnete sich und vor ihm stand – Richard. Er war eben vor einer Stunde angekommen. Ein amerikanischer Eildampfer, mit dem sein nach Brest fahrendes Schiff gekreuzt, hatte ihn aufgenommen und hierher gebracht. Laut lachend fielen sich die beiden Freunde in die Arme und Herbert erzählte mit kurzen Worten lustig, daß er in den wenigen Stunden seines Aufenthaltes in Neuyork schon ein großes und gutes Geschäft gemacht habe. Dann, gleich im Stiegenhaus, wurde die Braut vorgestellt – ein frisches, rund- und schwarzäugiges Mädchen, das ohne viel Förmlichkeit dem Freunde ihres Richard derb die Hand schüttelte.

Gegen Abend desselben Tages kam die erbetene Depesche aus Hamburg mit dem Berichte, der verhängnisvolle Vorfall bestehe darin, daß der Bureaudirektor eine große Defraudation verübt habe, flüchtig geworden sei und bis zur Stunde noch keine Spur von ihm zu entdecken wäre. Dann hieß es: »Sonst alles wohl. Deine Susanna.«

»Nun also!« rief Richard. »Das wäre geschlichtet. – Und nun wirst du bei unserer Hochzeit sein!«

»Das versteht sich. Ich eile nur, meiner Familie zu berichten, daß wir ihn haben.«


[317]

Mein Vetter, der Türke.

Am 19. Oktober 1880 erhielt ich aus Teheran, der Hauptstadt Persiens, folgendes Telegramm:

»Mein teurer Vetter, ich bin verloren. In Affäre verwickelt, die mir den Kopf kostet, wenn Intervention der österreichischen Gesandtschaft nicht gelingt. Bis die Post Näheres bringt, vielleicht zu spät. Lebe wohl.

Anton.«

Meine Entrüstung darüber, daß Anton, der immer Lustige, um teures Geld solche Späße treibt, war nicht gering. Der Scherz kostete mindestens fünfzig Franken. War der Junge nicht bei Trost? Sollte er im Lande der Sonne doch ein bißchen Sonnenstich bekommen haben?

Nach der Entrüstung kam die Erwägung. Am Ende war doch etwas an der Sache. Vielleicht Liebeshändel; bei solchen kann man auch anderswo den Kopf verlieren. Aber »den Kopf kosten«, das war etwas spezifisch Orientalisches.

Ein Hitzkopf war der Bursche immer gewesen, und bei solchem ist alles möglich. Seinen im Mürztale lebenden Verwandten wollte ich einstweilen die sonderbare Nachricht geheimhalten. Er war meines Vaters Bruders, des Eisenwerksverwalters von Niederaigen jüngster Sohn. Ich hatte ihn stets liebgehabt.

Auf den Drähten der englischen Telegraphen-Kompagnie flogen nun in wenigen Tagen ein paar Depeschen hin und her. Die Gesandtschaft bestätigte alles und drückte den Zweifel aus, ob es gelingen werde, die Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit umzuwandeln.

[318]

Kaum zwei Jahre waren verflossen, seit mein Vetter Anton Rosegger nach seinen vollendeten Studien als Techniker sich einer europäischen Auswanderungsgesellschaft nach Persien angeschlossen hatte. Es hieß, daß die Eisenbahn vom Schwarzen Meere aus über Persien nach dem Golfe zustande kommen würde, und dabei wollte er sein Glück versuchen. Ich war anfangs dagegen, weil mir jedes leichtsinnige Auswandern ein Greuel ist; da aber trotz seiner ausgezeichneten Talente, besonders im Zeichnen und in Metallarbeiten, in der Heimat die Aussichten für ein Vorwärtskommen wirklich keine glänzenden waren, der Bursche aber vor Gesundheit und Lebensmut nachgerade Funken sprühte, so ließ ich mich von dem ausgespielten Gemeinplatz: »Junge Leute müssen in die Welt hinaus,« überlisten und erteilte leider meine Sanktion.

Zweimal hatte er seit seiner Abreise geschrieben; das erstemal, daß er in den königlichen Münzwerkstätten zu Teheran arbeite, daß seine Existenz eine gründlich asiatische, doch aber recht erträgliche sei, daß er sich mit den orientalischen Sitten schnell vertraut gemacht habe. Und im zweiten Schreiben an mich hieß es, daß ich zusehen möge, ob er bei einer dritten Europareise des Schah-in-Schah nicht als Großwesir die Majestät begleite! – Wenn die orientalischen Fürsten Hofnarren hielten, dachte ich damals bei mir, dann wäre es schon möglich, daß der muntere, zu allerlei Schalkereien aufgelegte Junge beim Schah sein Glück machte. Nun, in den Ländern von »Tausend und einer Nacht« ist alles möglich – das Großwesirwerden so gut, wie das Geköpftwerden.

Infolge der Gesandtschaftsberichte war ich alsbald entschlossen; was blieb auch anderes übrig, hatte ich ihn doch auf dem Gewissen! Ich hatte in meinem Leben manche [319] große Reise gemacht, um nichts anderes, als um meine Neugierde zu befriedigen; warum sollte ich nun nicht nach Persien, um meinen armen Vetter zu retten, oder wenigstens, ihn noch einmal zu sehen. Zu Hause schützte ich eine größere Reise in die Schweiz und nach Savoyen vor, reiste aber nach Wien, wo Geld und Empfehlungsschreiben zu beschaffen waren. Die Briefe und Depeschen zwischen Teheran und Österreich hatten die unterschiedlichste Zeit gebraucht, das eine Mal drei Wochen, das andere Mal fast genau drei Monate; daraus konnte ich auf die Unregelmäßigkeit des Verkehrs schließen. Meine Reise ging auf der Eisenbahn damals nur bis Galatz, dann auf dem Dampfer ins Schwarze Meer hinaus bis zur kaukasischen Hafenstadt Batum und dann, ohne den Elbrus zu besteigen, über das Gebirge. Im Hotel zu Tiflis bekam ich einen heftigen Asthmaanfall, der mich zwei Tage festhielt. Der Wirt, ein Franzose, ließ mich und meine Sachen ins Freie tragen unter ein türkisches Zelt, weil er der Meinung war, ein toter Passagier vertreibe zehn lebendige. Der Arzt verschrieb mir, alle zwei Stunden einen Tschibuk zu rauchen. Der Tschibuk trieb das Asthma von der Brust in den Magen. Vom Schwarzen Meer bis Tiflis führte damals schon ein großartiger Eisenbahnbau, hernach ist es mit der europäischen Kultur aus; man ist in Asien – und das besagt alles. Die Poesie, mit der wir seit unserem Bibelstudium in der Kindheit das Morgenland ausgeschmückt haben, ist in kürzester Zeit aufgelöst. Auf Eseln und Kamelen die grundlosen oder steinigen, stets von Wegelagerern gefährdeten Steige träge hinziehend, blitzt in der Seele nur selten eines jener wunderbaren Bilder auf, wie sie die morgenländischen Dichter, diese windigen Fabulierhänse, geschaffen. Ich habe mir's überhaupt abgewöhnt, einem Dichter etwas zu glauben.

[320]

Meine Spannung richtete sich selbstverständlich nur auf das möglichst rasche Weiterkommen meiner aus asiatischen und europäischen Elementen zusammengewirbelten Karawane. Auf dem Kamele nicht wie ein Reiter, sondern, angeschnallt wie ein Warenballen, kauernd – anfangs machte es mir Spaß; später kam's mir unsäglich langweilig vor, da des Tages oft kaum drei Meilen zurückgelegt wurden. Ein die Verhältnisse kennender Russe versicherte, die Reise gehe so außerordentlich gut von statten, daß man diese Karawane einen Eilzug nennen könne. Also reiste ich mit »Eilzug«. Die Ortschaften, die wir passierten, waren über alle Vorstellungen armselig, die Herbergen so elend, Essen und Trinken so europawidrig, daß ich den Vetter nicht begriff, der sich mit den orientalischen Zuständen schon so vertraut gemacht haben wollte. Die Strecke von Wien bis Tiflis legte ich in neun Tagen zurück, jene um das Dreifache kleinere von Tiflis bis Teheran in dreiundzwanzig Tagen. Am 10. Dezember war ich endlich in der persischen Hauptstadt. Trostlose Armseligkeit und fabelhafte Pracht ist der erste Eindruck, den diese Königsstadt macht. Ein wunderliches Gemisch von morgen- und abendländischen Erscheinungen: unter Telegraphenstangen hocken zerlumpte Derwische, in französischen Konditoreien kauern schläfrige Haschischraucher. Neben modernen Palästen gähnen fensterlose Höhlen, aus Stroh und Lehm zusammengebacken, »Bürgershäuser« der Königsstadt. Selbst die Stadtmauern, zumeist aus Lehm aufgeführt, sind derart, daß bei allfällig geplanter Erstürmung derselben eine Wasserspritze bessere Dienste leisten würde als eine Kanone. Eine nähere Beschreibung des Lebens und Treibens zu Teheran behalte ich mir für ein anderes Mal vor, mein jetziges, wichtiges Ziel war fürs erste die österreichische Gesandtschaft.

[321]

Das Herz sprang mir bis zum Halse herauf vor Freude, als ich wieder die Sprache der Deutschen hörte, nachdem ich mich bisher so kümmerlich mit meinem bißchen Französisch und Steirisch durchgeholfen hatte. Wo nämlich in Herbergen oder bei Lastträgern mit dem höflichen Französisch nichts auszurichten gewesen war, da hub ich mit geballten Fäusten gut steirisch zu fluchen an, und das hatte manchmal gar keine üble Wirkung. Hier bei der Gesandtschaft umarmte ich den ersten Beamten, der mich auf meine Schriftstücke hin deutsch anredete, wie einen alten Freund, und die erste Frage war: »Ist's noch früh genug?«

Der Beamte wich mit seinem Blick meinen Augen aus und antwortete, am Leben wäre er zwar noch …

Ob Hoffnung vorhanden?

Ein leichtes Achselzucken. Nun erschien der Herr selbst, den seine Unterbeamten Konsul nannten. Ein braunbärtiger Mann mit rotem Fez auf dem Haupte, den er beim Gruße nicht lüpfte. Er war, wie ich schon wußte, ein geborener Mährer. Er setzte sich auf einen sehr niedrigen Schemel, bot mir Platz auf dem Diwan, eine Zigarette und machte mir dann Mitteilungen. – Geschehen sei alles für meinen Verwandten, und mehr als was getan worden, könne überhaupt nicht geschehen. Mein Vetter sei gefaßt, ich sollte es auch sein; er erwarte mich mit großer Sehnsucht, ich würde bald zu ihm geführt werden können, vorderhand müsse ich mich etwas erholen von den Reisestrapazen.

Meinen Anzug ordnete ich in dem mir angewiesenen Zimmer des Gesandtschaftshotels unter Mithilfe eines braunen Jungen rasch und untadelhaft, als sollte ich die Aufwartung bei einem Würdenträger machen, anstatt bei einem Todgeweihten im Kerker; ich hielt mich hierin an eine [322] orientalische Sitte, auf die mich der Konsul aufmerksam gemacht hatte. Das vorgesetzte Mahl mußte mir mein Gastherr mit vieler Mühe annötigen, ich war voller Ermattung und Angst. Auch so müde war ich, so steif die Beine von dem langen Ritt. Der feurige Perserwein tat seine Pflicht, machte mich zuversichtlich und aufgeweckt, um so mehr, als auch der Konsul, der mit mir speiste, bisweilen munteren Gesichtes mich tröstete. In Asien sei ein zum Tode Verurteilter noch lange nicht aufgegeben, Despotenlaunen seien ja bekanntlich unberechenbar.

»Aber, Herr, worin besteht denn eigentlich das Verbrechen meines Vetters?« kam ich endlich dazu, zu fragen.

Darauf, meinte der Gesandte, sei nicht so leichthin zu antworten.

»Hat er in Unkenntnis der Zustände eine staatswidrige Handlung begangen?«

»Ein politisches Verbrechen, meinen Sie,« sagte der Konsul, »derlei gibt es hier nicht, Freund. Aber gegen den Propheten hat er gesündigt, gegen die Tafeln des Kalifen. – Hören Sie denn, wie es sich zugetragen hat. Ihr Vetter hatte in der königlichen Münze, wo wir ihn gleich anfangs durch einen günstigen Zufall unterbrachten, sich bereits eine vorteilhafte Stellung erworben; er befehligte ein paar Dutzend Arbeiter, und der Schah hat den fähigen jungen Mann bei mehreren Gelegenheiten ausgezeichnet. Besehen Sie sich einmal dieses Geldstück!« Er zeigte mir ein neues Goldstück, auf welchem das Bild des Schah in feinster Prägung prangte. »Könnte das nicht ebensogut in Paris oder in Wien geschlagen worden sein? Das ist ein Werk Ihres Vetters. Er wäre heute Oberdirektor der Königlichen Münze, wenn nicht plötzlich der Teufel –« er zuckte ab.

[323]

»Ich bitte Sie, meine Spannung!«

»… recte das Weib dazwischen gekommen wäre.«

»Ein Einbruch in den Harem?«

»Mit nichten,« sagte der Konsul. »Ihr Vetter hat weder eine Frau des Schah noch die eines anderen Mannes auch nur mit einem Blick entweiht. Der junge Meister aus der königlichen Münze war bescheiden genug; der Tochter eines teheranischen Lederhändlers schaute er hinter den Schleier und erwählte sie. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen, und ich sage Ihnen, es gibt nichts Schöneres auf Erden! Mit ihrem Vater war sie erst vor kurzem aus Ispahan eingewandert. Nun, die Leutchen liebten sich; der Vater drückte erst ein Auge zu, dann auch das zweite, und machte sie endlich gar nicht mehr auf, denn er starb auf einer Handelsreise nach Armenien an der Pest. Nun waren die jungen Leute sich selbst überlassen und wohnten in einem reizenden Häuschen des europäischen Quartiers. Die Idylle blieb nicht lange verborgen; von Derwischen angeführt, brach in Abwesenheit des Münzmeisters eine Rotte in sein Haus, warf ein Tuch über das Haupt des Mädchens, schleppte es davon, um es auf öffentlichem Platze hinzurichten.«

»Um des Himmels willen, was erzählen Sie denn da?« rief ich aufspringend aus.

»Bleiben Sie sitzen und hören Sie die Tafel des Kalifen: Wenn eine Anhängerin der Rechtgläubigen – des Mohammedanismus – sich mit einem Ungläubigen paart, so soll sie getötet werden. – Dem ist aber vorzubeugen, wenn der Mann sich zum Islam bekennt und sie zu seinem rechtmäßigen Weibe macht. Das österreichische Konsulat griff sofort ein. Ich begab mich zum trostlosen Münzmeister, um ihn zum formellen Bekenntnisse des Islams [324] zu bewegen, traf ihn aber nicht mehr in der Werkstätte. Er war zur Moschee geeilt, in der seine Braut gefangen gehalten wurde, und schleuderte dort einen Derwisch, der ihm den Eintritt verwehren wollte, so heftig an die Marmorbrüstung, daß der zusammenstürzte und für alle Zeit auf das Aufstehen verzichtet hat. Die fanatische Menge nahm den Gewalttätigen natürlich gefangen, um ihn der Tafel des Kalifen zu überliefern, die da spricht: Wer Blut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden. – Die Gesandtschaft machte alle erdenklichen Anstrengungen, ihn zu retten: er selbst gab alle Hoffnung auf, nur Muselman wollte er vor seinem Tod noch werden, um die Braut zu retten. Damit war's aber zu spät. Die Tafel des Kalifen sagt: Ein Ungläubiger, der einen Derwisch erschlägt, kann nimmer des Islams sein.«

»Also beide verloren?«

»Ich habe mich an die übrigen europäischen Gesandtschaften gewendet in dieser Sache, allein die Tafel des Kalifen sagt: Der Islam steht über allen Gesetzen. – Und doch, Freund, haben wir Unglaubliches erreicht. In einer der europäischen Anwandlungen, denen der Schah – Allah segne ihn! – bisweilen unterworfen ist, hat er seinen Münzmeister begnadigt –«

»Begnadigt?!« Ein heißer Freudenschreck.

»– zu zehnjähriger Zwangsarbeit bei den Straßenbauten im Elbrusgebirge.«

Mir fiel auf, daß der Konsul solches mit einer gewissen Trauer sagte. Ich wußte noch nicht, was es heißt, zehn Jahre Zwangsarbeit in Persien. Keiner überdauert sie, es ist eine langsame Hinrichtung.

»Zugunsten des Mädchens,« fuhr mein Berichterstatter fort, »fand der Schah, der sich für den Fall persönlich [325] interessierte, die Deutung des Kalifen, nach welcher die Sünderin durch eine Wallfahrt nach der heiligen Stadt Kum in der Salzwüste gereinigt werden könne. Sie ist aber nicht in die Salzwüste, sondern unter heimlichen Begünstigungen ins Elbrusgebirge gezogen, wo der Verurteilte seine Strafe sofort angetreten hatte.«

»Ich finde ihn nicht in Teheran?« war meine Frage.

»Sie finden ihn auch im Gebirge nicht,« antwortete der Konsul.

»Sie foltern mich, Herr! Was soll ich denn tun?« rief ich, von meinem Diwan aufspringend, denn die Sehnsucht nach meinem unglücklichen Verwandten verzehrte mich.

»Sie müssen zum Großwesir gehen,« sagte mein Gastherr mit blinzelnden Augen. Da hatte ich genug.

»Den Großwesir bestechen? Ich bin arm.«

»Bringen Sie ihm, was Sie haben, Ihren Mut, Ihre Liebe zum Blutsverwandten, vielleicht rührt ihn das. Unser neuer Großwesir ist nicht so schlimm wie sein Name. Wäre er vor zwei Monaten schon in seiner Würde gestanden, wir hätten das mit Ihrem Vetter nicht erlebt. Er kann uns helfen, kommen Sie nur, ich begleite Sie zu ihm.«

Diese plötzliche Zuversicht meines Konsuls richtete mich auf; ich fühlte kein steifes Bein mehr, aber auch kein steifes Rückgrat; es soll sich ordentlich biegen, wenn's dem Anton gilt. Mein Gastherr klingelte seinem Burschen, einem flinken Kaukasier; die Pferde wurden vorgeführt, wir ritten zum Großwesir.

Dieser Ritt durch die Stadt hat keine Erinnerung in mir hinterlassen, ich habe sicherlich nichts gesehen und nichts gehört, so erfüllt war ich von dem Schicksale meines Anton und meiner Mission. An der Pforte des Palastes [326] sah ich die ersten Mohren; sie warfen sich auf den Bauch, als wir an ihnen vorbei die Treppe hinaufstiegen. Wir gelangten in eine dämmernde Halle mit schwarzen Wänden und schneeweißen Marmorsäulen. Das ganze Licht dieses Raumes schien von den weißen Säulen auszugehen, ich sah kein Fenster. Die folgenden Räume, die wir durchschritten, waren noch märchenhafter; aber mich entzückte keine Pracht, mich erschreckte sie nur, es war ja doch nichts als das Hohnlachen des Despoten.

Endlich standen wir vor schweren Vorhängen; ein wohliger, betäubender, völlig fremdartiger Geruch. Mein Konsul legte mir die Hand auf die Achsel: »Nur Fassung!«

»Ich habe Mut,« darauf meine hohlstimmige Antwort.

»Auch für das Schlimmste? Auch für das Beste? Wir sind im Orient!«

Die Vorhänge wallten zurück, mir war ganz traumhaft. Was jetzt geschah – man wird mir's nicht glauben können. – Aus einem Nebengemach schritt der Würdenträger, in einem reichverzierten Kaftan, rasch auf mich zu und fiel mir lachend um den Hals.

Ich schrak zurück, war starr und glotzte ihn an. – War er's? War er's selber? – »Das – das ist zu dumm!« schrie ich entrüstet über diese beispiellose Riesenfopperei. – Der Anton stand vor mir, mein Toni, meines Vaters Bruders Sohn!

»Gerettet? Gerettet?« rief ich, »so lass' mich zum Großwesir, daß ich ihm danke auf den Knien.«

»Bitte sich nicht zu genieren!« sagte er, trat einen Schritt zurück, kreuzte die Arme über der Brust und stand in seinem reichen Gewande mit vergoldetem Krummsäbel da wie ein indischer Fürst aus der Phantasie Scheherazades.

»Komödiant!« kreischte ich.

[327]

»W–a–a–s? Mensch, gib acht, daß ich dich nicht kürzen lasse!«

Der Konsul zog mich beiseite und flüsterte mir mit schrecklich gewichtiger Miene zu: »Es ist der Großwesir!«

Auf alle Ausschmückung der Begebenheit verzichte ich. Die Überraschung war den Herren zu gut gelungen. Bald darauf saß ich in einem der innersten Gemächer ganz blöde da. Der Vetter war hinausgegangen, der Konsul redete mir zu, nicht weiteren Zweifel zu setzen in die Richtigkeit der Erscheinungen. Er erinnerte an die Tafel des Kalifen, wo es heißt:

Die Welt ist wahr, sei es auch du. Und wenn du lügst, dann tue es so dick, daß man dir nicht glaubt. – »Was Sie da sehen, das werden Sie aber glauben,« fuhr der Konsul fort. »Denn alles, was ich Ihnen von dem Münzmeister, von seiner Braut, von seinem Totschlage, von seiner Verurteilung und Begnadigung erzählte, es ist wahr. Erst vor wenigen Wochen ist er von der Zwangsarbeitskolonie am Elbrus zurückgekehrt nach der Residenz, um seinen hohen Posten anzutreten. Man hat's nach Österreich berichtet, aber Sie waren schon abgereist.«

»Das ist alles recht schön,« war mein zögernder Einwand, »wenn ich nur auch wüßte, wie der Mensch aus einem Zwangsarbeiter am Elbrus ein – ein so großes Tier wird.«

»Oh,« sagte der Konsul, »das ist einfach. Man rettet dem Schah das Leben. Der Schah macht nämlich mit mäßigem Gefolge einen Jagdausflug ins Gebirge und wird in den Engpässen bei Scheristanak von kaukasischen Räubern überfallen. Aus der Nebenschlucht bricht, angeführt von einem jungen Münzmeister, die Sträflingskolonie hervor und schlägt die Räuber in die Flucht.«

[328]

»Herr!« rief ich, »das ist ja ein Märchen! Das ist ein tolles Märchen!«

Er zuckte die Achseln: »Wir sind im Orient! – Hören Sie weiter. Einige Tage vor dem Ereignis im Elbrusgebirge hat gerade der Großwesir aus der persischen Königskrone heimlich ein paar Diamanten gebrochen, so wie man aus dem Weihnachtskuchen die Rosinen zwickt. Das ist dem Schah nicht recht, er läßt den Herrn abtun und setzt an seine Stelle den jungen Münzmeister.«

Man hat's seinerzeit ja auch in den Blättern gelesen.

Nun trat seine Exzellenz herein, das schrecklich schöne Gewand hatte er abgelegt. Doch sah er mit seinem an beiden Seiten niederhängenden Schnurrbart, mit der breiten, maikäferbraunen Leibbinde, in der scharlachroten Pumphose und den gelbseidenen Sandalen immer noch türkisch genug aus. Sonst war's das breite, wohlgerötete steirische Gesicht mit den frischen grauen Augen. Nun ließ sich ja mit ihm reden. »Gelt,« sagte er, mich bei der Hand fassend, »du bist nit bös, daß ich den Spaß gemacht hab'. Für die ausgestandene Angst müssen wir doch auch ein Pläsier haben.« Aber als ich mich höflich nach seiner Frau Gemahlin erkundigte, und ob ich ihr vorgestellt werden könne, da kam wieder die Tafel des Kalifen Abu Bekr: Wer Begehr nach der Frau seines Gastherrn hat, der soll mit dem Tode bestraft werden.

»Sehr gütig, Exzellenz, darf ich noch fragen, wann der nächste Zug nach Europa abgeht? Den Karawanenzug meine ich.«

Aber das begann doch immer gemütlicher zu werden, und bald fand ich, daß es doch gar nicht so übel ist, Geschwisterkind und Gast des Großwesirs von Persien zu sein. Auch dem Schah wurde ich vorgestellt: der war sehr [329] leutselig, erkundigte sich nach Wien und den Wienern, die er ein paar Jahre vorher besucht hatte, erkundigte sich besonders nach der Naschhütte neben dem zweiten Kaffeehaus im Prater, und was die Volkssänger Schrammeln machten. Dann schneuzte er sich mit den Fingern und trippelte davon.

Noch lieber hätte ich die Gemahlin des jungen Großwesirs, die schöne Fatima gesehen. Der Konsul zeigte mir auch die Fenster des Harems. Diese waren sehr unzugänglich, und ich erwog, ob es den Herrn Vetter arg verdrießen würde, wenn ich es einmal mit dem steirischen Fensterln versuchte, in welchem er selbst einst Meister gewesen war. In Anbetracht der bekannten asiatischen Sitten habe ich's aber unterlassen.

Nach fünfwöchentlichem Aufenthalt in Teheran ward mir der persische Boden endlich heiß unter den Füßen; mit Teppichen, Pelzen, Gewürzen und einem krummen Ehrensäbel beschenkt reiste ich ab, vollkommen beruhigt über das Befinden meines lieben Vetters Anton.

Das Versprechen hat er mir gegeben, mich gelegentlich daheim zu besuchen. Bis dato ist er nicht erschienen. Unser Briefwechsel blieb ein lebhafter. Seine Brüder in Steiermark rauchen den feinsten türkischen Tabak. Im Jahre 1887 hat er seinen Abschied genommen und sich in Unteritalien bei Potenza ein Landgut gekauft. Als ich ihn im vorigen Frühjahr einlud, uns doch einmal zu besuchen und zuverläßlich auch die Frau Schwägerin Fatime mitzubringen, lehnte er ab und kam wieder mit seiner verdammten Tafel des Kalifen.

Ach du mein! Ich achte ja diese Tafeln. Wie schön zum Beispiel ist der Satz: Wenn du lügst, dann tue es so dick, daß man dir nicht glaubt.


[330]

Reisebilder aus jungen Jahren.

Die sächsische Schweiz.

1870.

Wenn es einmal Riesen gegeben hat, – und daran zweifle ich nicht, denn meine Großmutter hat es oft gesagt – und wenn diese Riesen auch geschmackvolle Künstler gewesen sind, dann kann ich mir die Sächsische Schweiz erklären.

Da werden sie einmal zueinander gesagt haben: Was doch dieses Land an der Elbe so öde und leer ist! Wie nimmt sich dagegen da oben das Salzburger Land und die Steiermark und die Schweiz so prächtig aus, da stehen neben den grünen Wiesen und den blauen Flüssen und Seen die großen Berge mit dunkeln Hochwäldern und grauen Felswänden! – Wäret ihr alle dabei, wenn wir hergingen und uns auch so etwas bauten? Und wahrhaftig, sie gingen her, brachen Felsmassen von den südlichen Alpen und vom näheren Riesengebirge und schleppten sie hinab an die Elbe und legten sie an beiden Ufern derselben übereinander und bauten Wände und Türme und nebenhin an den kleineren Bächen bildeten sie Schluchten mit Zacken und Hörnern und Höhlen und allerhand sonderbaren Gestalten. Dazwischen ließen sie aber tiefe dunkelgrüne Täler frei und neben und an und über den Felsen pflanzten sie Laub- und Nadelwälder, und hinter denselben, in Schluchten, errichteten sie Wasserfälle und gruben Tiefen in die Unterwelt.

[331]

Und nun hatten die Riesen an der Elbe eine Gebirgswelt voll Wildpracht, wie sie die vielgerühmte Schweiz hat, da oben hinter dem Rhein. Die Schweiz ist zwar schön in ihrer Großartigkeit, aber ihre Großartigkeit ist gar nicht mehr bequem für den Menschen; die Natur scheint dieses Land auch gar nicht für den Menschen gemacht zu haben, sondern für sich selbst. Das Bergland an der Elbe aber hatte die Schönheiten der Natur mit dem Ebenmaß der Kunst vereinigt; es war eigentlich eine ungeheuere Bildhauerarbeit. Und dazu war das Bergland ganz für den Menschen zurechtgelegt; es war ein Steingebirge, aber deshalb nicht unfruchtbar, es war eine wildromantische Felsenwelt, aber deshalb nicht unzugänglich. – Und eben aus diesen letzten Umständen ist zu schließen, daß die Schweiz an der Elbe von kunstfertiger Menschenhand der Riesen gebaut worden ist.

Dergleichen Dinge dachte ich mir, als ich durch die Schluchten des Meißener Hochlandes schritt. Mein Gott, man denkt denn einmal allerhand kindisches Zeug, wenn man so allein und in sich gekehrt dahinschlendert. Als mich endlich die gut angelegten Wege auf Anhöhen führten, fast ohne daß ich's merkte, und ich plötzlich keine Wildbäche und Felswände mehr sah, sondern zwischen sich weithin ziehenden Kornfeldern stand, da wurde mein Denken ein anderes – – nüchterner und vernünftiger.

Dieses Gebirge der Sächsischen Schweiz konnte eigentlich nur durch Vertiefungen entstanden sein, das heißt, die Gegend mußte einst eine Hochebene oder ein einfaches Hügelland gewesen sein. Da kamen Wässer, schwemmten sich Betten, rissen Gräben in das Erdreich, nagten an dem Gesteine und höhlten all die Schluchten. Und als das Wasser schon längst unten in den Tiefen dahinbrauste, begannen an dem [332] entblößten Felsen auch andere Bildhauer zu arbeiten, nämlich die Luft, der Frost und die Sonne, und so sind die eigentümlichen Felsbildungen zustande gekommen. Zu all dem senkte sich verwitternd fruchtbares Erdreich zwischen das Gestein und in seine Risse und Klüfte, und so wuchs in und aus denselben überall der kräftige Wald.

Vom Elbetal aus meint man sich in weiß was für einem Hochgebirge zu befinden, besteigt man aber eine der nahen, kastellartigen Felswände, so steht man erst in gleicher Höhe mit dem übrigen Boden des Meißner Hochlandes. Nur wenige Berge, wie z. B. der Große und Kleine Winterberg, der Lilienstein, der Königstein, erheben sich über die normale Höhe.

Diese hier so überaus seltsame Natur haben die Menschen früh aufgefunden, haben auf die Höhen Häuser und in die Täler Städte gebaut, haben die Flüsse geregelt, überbrückt, Wege und breite Straßen angelegt und dieselben gepflastert und gewahrt; zu den Felsenzinnen hinan haben sie Treppen gebaut und oben sichere Geländer und hohe Türme hingestellt, und auch bequeme Gasthäuser dazu. Und der Elbe entlang haben sie Segel- und Dampfschiffe flott gemacht und feste Straßen und Eisenbahnen angelegt, damit nun von Süden und Norden die Menschen kommen sollten zu sehen, was da auf diesem Fleck Erde für ein Land und Leben ist.

Und sie kommen.

Schon im Frühlingsmonate strömen sie heran aus allen Gegenden, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, Herren und Diener; – und solche, die schon gehadert mit dem Leben, weil es ihnen für ihre Millionen keine Lust und Zerstreuung mehr bieten wollte, werden in diesem Hochländchen wieder für einige Tage munter. Da entfaltet [333] sich denn in den Prachtanlagen ein lautes, klingendes Leben, und der Sachse lächelt schlau dazu und schlägt reiche Zinsen aus den Felsen seines Berglandes.

Der Sachse ist aber auch ein Mensch, der sich sehen lassen darf vor den Fremden aus dem Süd- und aus dem Nordlande. In diesem Hochlande wohnt ein gescheites Völklein: gleich auf den ersten Blick merkt der Fremde die Kultur; sie drückt sich aus in den freundlichen, reinlichen Wohnungen, in der bequemen einfachen Kleidung und in der zutraulichem entschiedenen Ausdrucksweise. Kein einziger ist mir auf meinen Wanderungen in der Sächsischen Schweiz begegnet, der mir nicht zuvorkommend einen »guten Tach« geboten hätte. Und wenn ich um den Weg fragte, so wußte man mir denselben stets so einfach und bestimmt zu erklären, daß es eine Freude war. Es mochte vielleicht Zufall sein, aber auffallend war, daß mir auf dem ganzen Wege kein Bettler begegnete, wie sonst in dergleichen Gegenden. Selbst Kinder, die sich als Führer anbieten, wissen das ohne alle Zudringlichkeit und doch entschieden zu tun. »Herr,« sagen sie nach der Begrüßung, »wollen Sie, daß ich Ihnen den Weg und die schönen Punkte zeige und etwas trage, ich habe jetzt Zeit und möchte mir gern ein wenig verdienen!« Und wenn man den gebotenen Dienst ablehnt, so lüften sie wieder das Käppchen und ziehen ihrer Wege.

Die Dorfkirchen sind einfach und meistens evangelisch; die Friedhöfe geschmackvoll, stets mit schönen, sinnigen Inschriften, meistens aus deutschen Klassikern.

Mir hat's wohlgetan in diesem sächsischen Kleinalpenländlein.


[334]

Aus der heiligen Stadt.

1870.

In einem Talkessel der Ilm, von hohen Laubwäldern durchzogen, von fruchtbaren Kornfeldern und dunkeln Waldbergen umgeben, angesichts des sich in Südwesten bläulich hinziehenden Thüringer Waldes liegt Deutschlands heilige Totenstadt. Hier haben sie gelebt, die Dichterkönige, die Propheten, und hier liegen sie begraben. Weimar ist ein deutsches Jerusalem, ein deutsches Mekka geworden.

Gleich wenn man über die Höhen von Apolda hinüber kommt, sieht man südlich der Stadt aus einem dunkelgrünen Laubwäldchen eine goldigfunkelnde Kuppel emporragen. Das ist die Fürstengruft und dort ruhen Schiller und Goethe.

Es war mir feierlich zumute, als ich hinabstieg gegen das ruhige Städtchen. Dieses ist durchaus nicht reich an Pracht, aber die Häuser stehen schier weihevoll da, auf dem Pflaster hört man kaum einen Wagen rasseln, und durch die Gassen wandeln nur wenige Menschen. Es ist als ob die Stadt von seiner Glanzperiode zur Zeit Karl Augusts träumte.

Und so lange Weimar steht, wird es träumen von jener Zeit und von den großen Männern, die seine Bürger waren.

Heute zeigt es nur mehr die Wohnstätten der Sänger, und der Wanderer betritt sie mit Ehrfurcht.

Es war hoher Nachmittag, als ich im Städtchen ankam; ich eilte an dem Goethe- und Schiller-Monument am Theaterplatz vorüber, Schillers Wohnhaus zu. Bald darauf stand ich 1 im Zimmerchen, wo Schiller gearbeitet hatte [335] und gestorben war. Da steht noch der Schreibtisch und auf demselben das Tintenfaß; da liegt noch das Buch offen, in dem er zuletzt las, und da liegt noch der Brief, den er zuletzt schrieb. Der Sessel steht auch noch am Tisch – man meint, der Professor müsse den Augenblick kommen und sich hinsetzen und seinen »Demetrius« fertig schreiben.

1 Durch die Vermittlung des Dichters Julius Grosse , der im Schillerhause als Präsident des Schillervereines wohnte.

Aber die Schließerin zeigt auf das leere, nur mit grünen und welken Kränzen belegte ärmliche Bett im Winkel und sagt leise: »Hier ist er gestorben.«

Am Bette steht das Tischchen mit der Schale, aus der er seinen Thee trank, und mit dem Medizinfläschchen.

Am Ofen steht ein Saitenkasten, auf welchem eine Gitarre liegt; ich hatte es schier nicht unterlassen mögen, eine Saite zu berühren. Doch, diese Saiten mögen ruhen und trauern.

Goethes Wohnung ist nicht zugänglich. Seinerzeit ist der Eintritt gestattet gewesen; da war einmal, so erzählt man, ein Engländer gekommen und der hatte Goethes Feder mitgenommen; seitdem läßt der Eigentümer des Hauses keinen Fremden mehr ein.

Herder wohnte im Pfarrhofe, unmittelbar an der Stadtkirche; Wielands Haus ist unweit des Theaters. Jedes dieser Häuser ist mit dem Namen des betreffenden Dichters bezeichnet.

Ich bin lange vor den Erzbildern der vier Sänger stehen geblieben.

Zur Nachmittagszeit wanderte ich dem Friedhofe zu, obwohl mir gesagt worden war, es würde mir kaum möglich sein, in die Gruft zu gelangen.

Der Friedhof zu Weimar ist ein dichter, dunkler Wald von Espen, Linden, Eichen und Zypressen, unter welchen die stimmungsvollsten Denkmäler stehen.

[336]

Mitten im Friedhofe nun steht ein tempelartiges Gebäude mit der goldschimmernden Kuppel, und hier ist die Grabstätte des Großherzogs Karl August von Weimar und seiner Freunde.

Ich stand eine Zeit lang im Tempel und las die Inschriften der unten Ruhenden. Da kam ein Mann, der wohl der Torwart sein mochte und den ich fragte, ob er mich nicht in die Gruft führen könne.

»Ist nicht gestattet,« antwortete er kurz.

Da war ich betrübt und sagte leise: »Ich hätte ihre Särge gern gesehen, aber ich werde wohl in meinem Leben nicht mehr hierher kommen.«

»Sind wohl aus fernen Landen?« fragte der Mann.

»Aus der Steiermark.«

Auf dieses Wort schlug er mir heiter auf die Achsel: »Da sind wir ja schier Landsleute; meine Heimat ist in Ungarn, nahe an der steierischen Grenze; bin mehreremale in Steiermark gewesen. Ei schau, aus der Steiermark! Sapperlot, das freut mich. Kommen Sie, lieber Herr!«

Mit diesen Worten zog der Mann einen Schlüssel aus der Tasche und führte mich in die Gruft.

Links in der Nische stehen zwei Särge aus dunklem Holz, mit Lorbeerkränzen geschmückt – hier ruhen sie.

Am Grabe Jesus Christus hätte ich kaum gerührter und ehrfurchtsvoller stehen können, als an dieser Stätte unseres erhabenen Sängerpaares.

All' die andern fürstlichen Särge, die im Hauptschiff des Gewölbes der Reihe nach stehen, waren mir gleichgültig, obwohl mein Landsmann von der ungarischen Grenze viele Worte aufbot, mein Interesse dafür zu erregen. Nur am Sarkophag Karl Augusts war mir, als müßte ich dem [337] schlummernden Fürsten meinen Dank sagen, daß er der Freund unserer Dichter gewesen ist.

So war mein Wunsch erfüllt und als ich dem Torwart zu Lohn noch erzählt hatte, wie es in der Steiermark und an der ungarischen Grenze zugehe, verließ ich den Friedhof und wandelte langsam gegen die Stadt.

Am Abend – dieser war so mild und heiter, und die Türme von Weimar funkelten in der untergehenden Sonne – machte ich einen Spaziergang durch das »Hölzchen« und zwar in Begleitung der beiden Dichter, denn ich las Schillers »Spaziergang« und Goethes »Elegien«.


Auf dem Turme der Marienkirche zu Stralsund.

1870.

Einen der eigentümlichsten Eindrücke auf meiner ersten Reise durch Deutschland hat Stralsund auf mich gemacht. Ein stillernstes Denkmal aus lebens- und drangvollen Tagen steht sie da, rings von Wasser umgürtet – die zehnthronige Stadt Jaromars.

Jaromar, ein Fürst von Rügen, hat Stralsund im Jahre 1209 gegründet. Da kamen die Dänen und Lübecker mit Feuer und Schwert, auf daß die kaum dem Meere entstiegene Jungfrau wieder untertauche. Aber bald erhob sie sich wieder, schöner als je und vermählte sich mit der deutschen Hansa.

So ging eine lange Zeit hin und Stralsund blühte als Handelsstadt. Da kam im Jahre 1628 der Herzog von Friedland. Dieser schwur, die Stadt zu erobern, und wäre sie mit Ketten an den Himmel gebunden. Aber nicht an den Himmel war sie gebunden mit Ketten, sondern an die Herzen ihrer Bürger. Diese erschlugen dem gewaltigen Wallenstein zwölftausend seiner besten Streiter vor den Wällen der Stadt, und der Belagerer zog ab.

[338]

Im Westfälischen Frieden wurde Stralsund den Schweden abgetreten, aber der Große Kurfürst eroberte es wieder für Deutschland zurück.

Von nun ab wurde Stralsund, das seine der Hansazeit entstammende Kraft längst aufgezehrt hatte, ein Spielball zwischen Preußen, Dänen, Schweden und Franzosen, bis es heute unter dem Schutze Preußens ausruht von seiner blutigen Geschichte.

Stralsund mit seinen schmalen, hohen Häusern, zahlreichen Erkern und stattlich zugespitzten Giebeln, hat den Charakter einer mittelalterlichen Stadt. Die engen, größtenteils gleichlaufenden Gassen sind von Kleingewerbe belebt, nur gegen den Hafen hin entfaltet sich das rege Leben und Streben des Schiffsvolkes.

Unter den malerischen Gebäuden Stralsunds fällt das eigentümlich geformte vieltürmige Rathaus auf, und die Marienkirche.

Von dem hohen Turme der Marienkirche aus, den man (über 368 Stufen) fast bis zur Spitze besteigen kann, hat man die entzückendste Aussicht über das befestigte Viereck der Stadt, über einen Teil von Mecklenburg, der Insel Rügen und den blauen Strela-Sund mit seinen zahlreichen Schiffen. Südöstlich schweift der Blick über den Greifswalder Bodden und nördlich fernhin über die Fläche des Meeres.

Als ich auf dem Turme war, ging nach einem Gewitter gerade die Sonne unter. Die Luft war ungewöhnlich rein, der Himmel zum größten Teile klar geworden, nur über Greifswald und die Insel Usedom zogen sich noch Regenstreifen, von einem reinen Regenbogen durchwoben. Auf dem Meere, gegen Schweden hin, standen am Horizont weiße Punkte – einsam wallende Segelschiffe.

[339]

Von Rügen schimmerte das drei Meilen weit entfernte, hochliegende Bergen herüber.

Ich konnte mich von diesem Bilde nicht trennen. – Rügen! du meer- und lichtumflossenes Eiland, du sagenreiche Stätte altnordischer Kultur, du Wiege deutscher Befreier aus römischer Herrschaft; du einst von den Segeln der Hansa umkreister Eichenhain; du ersehntes Ziel der Naturforscher, du Waldesruh der Poeten – ehrwürdige Warte im Norden: sei mir gegrüßt!

»Ik wet nich, jez stahn mer schon twe Stunden da!« mahnte der Küster, der mich auf den Turm begleitet hatte.

»Steigen Sie in Gottesnamen hinab, ich werd' schon nachkommen,« sagte ich.

Darauf meinte er, ich würde allein nicht hinabfinden, eine Zumutung, über die ich lachte.

Der Mann bedeutete mir noch, daß ich mich immer an den Handstrick rechts halten müsse; den Schlüssel, den er unten stecken lassen wolle, möge ich ihm, wenn ich nachkomme, in seine Stube bringen, dann ging er. Ich sah noch, wie die Sonnenstrahlen im Meere erloschen, wie dort Rügens Hauptstadt noch einmal aufglühte und wie dann stille Dämmerung lag über Land und Meer.

Tief unter mir tönte schon die dumpfe Abendglocke der Marienkirche, als ich endlich an das Hinabsteigen dachte.

Im Turme war es dunkel; ich hielt mich immer an die Handhabe rechts. Ich stieg langsam und vorsichtig abwärts. Auf den steinernen Stufen fühlte ich hie und da Schutt, den ich beim Hinansteigen nicht bemerkt hatte. Ich hatte stets den Strick in der Hand. Dann und wann rauschte es, ich mußte wahrscheinlich Familien von Fledermäusen behelligen. Mir wurde fast unheimlich; ich suchte in meinen Taschen nach einem Streichhölzchen, fand aber keins und jetzt hatte [340] ich auch den Strick verloren. Ich tastete an der rauhen, unübertünchten Mauer umher, aber ich fand keinen Strick. Wird sich doch wohl auch ohne einen solchen hinabhelfen lassen, dachte ich und kroch über Stufen und Stufen. Die Treppe wand sich und ich kam immer mehr in Schutt, und endlich hatte ich Mauer und Schutt neben und vor mir und ich konnte nicht mehr weiter. Viel Staub hatte ich aufgewirbelt, der legte sich mir jetzt in die Augen. Dann und wann flatterte etwas vorüber, etwas, aus welchem meine erregte Phantasie machen konnte, was sie wollte. – Ich war schier ratlos, doch entschloß ich mich, wieder emporzusteigen, die rechte Treppe zu suchen oder im schlimmsten Falle von der Höhe des Turmes um Hilfe zu rufen.

Aber es sollte noch einen schlimmeren Fall geben, den nämlich, daß ich auch den Aufgang nicht mehr fand; ich kletterte über Stufen und Schutt und Gerölle empor, da stand ich an einer feuchten Wand, konnte nicht weiter und mußte wieder umkehren. So kletterte ich eine Zeitlang erregt und ruhelos auf und nieder und mir schien, als käme ich immer in andere Räume. Hie und da sah ich hoch über mir eine schmale Wandscharte, durch die einige matte Strahlen des Abends hereinfielen, sonst war überall undurchdringliche Finsternis.

Ich verwünschte meinen Eigensinn, nicht dem Küster gefolgt zu sein – aber das Bild war ja so schön gewesen!

Ich ergab mich in das Unvermeidliche; am nächsten Morgen würde sich das Weitere ja doch wohl finden.

Ich setzte mich auf einen Stein, schlug meine Wolldecke, die ich immer mit mir trug, eng um Achseln und Brust und versuchte einzuschlafen. Aber ich war zu erregt. – So hilflos und verlassen hier, hoch über den Menschen! Wenn unten die Uhr schlug, hörte ich kaum die Töne. –

[341]

Indes, nach und nach wurde es in mir ruhiger und noch einmal begann sich in dieser camera obscura das abendliche Bild der Aussicht von oben zu klären. Ich sah das meer- und lichtumstrahlte Eiland – ich sah Schiffe gleiten mit wehenden Wimpeln über den dunkeln Wassern; – ich sah endlich, wie aus den Fluten Felsen und Triften und Wälder und Auen sich erhoben und ich sah Hütten und Herden und heitere Hirten. Ich sah lustig jodelnde Sennerinnen und rüstige Gemsjäger. Und unten in den stillen Tälern sah ich Dörfer mit Schindeldächern und weißen Wänden, und ich sah, wie aus den Schornsteinen blauer Rauch aufstieg – ich sah mein geliebtes Alpenland. – … Da schwand das Traumbild und ich war wach.

Unweit von mir hörte ich Gepolter und Männerstimmen, Lichtschein fiel mir in die Augen.

Das waren der Küster und sein Sohn, die, als der Fremde am späten Abend noch immer nicht mit dem Schlüssel von dem Turme zurückgekommen, sich mit einer Laterne aufgemacht hatten, um zu sehen, ob ihm in den Räumen und Winkeln des alten Turmes doch nicht etwa was zugestoßen sei. Ich war bei den durch abgelöstes Mauerwerk halbverschütteten Treppen abgeirrt von der Haupttreppe, und war wirklich schon einem Abgrund nahe gewesen, der mich zwar mit einemmale um ein Bedeutendes tiefer, aber zuletzt wohl gar um sechs Schuh zu tief gebracht hätte.

Wir mußten viele Treppen hinabsteigen und als wir an der Glocke vorüberkamen, schlug sie die elfte Stunde.

Den andern Tag im Morgensonnenschein fuhr ich über den Sund und wanderte durch die Insel Rügen bis hinan zum Rugard.

Dort stand ich still und blickte rings um mich.

[342]

Da sah ich die Hügel von Putbus, die Buchenwälder bei Granitz und Stubbenkammer, die Kreidefelsen bei Arkona, die blauen Buchten, das Meer ringsum und in der Ferne gegen Westen den Turm der Marienkirche zu Stralsund.


Auf dem Rigi.

1870.

Wenn man sich von Graz über Stralsund und Amsterdam nach Luzern rädern läßt und endlich auf eigene Socken kommt, so sieht man sich nicht erst um nach Hotel und Staubbürste, nicht erst nach dem Pfyfferschen Relief, nicht nach Thorwaldsens Löwen, nein, man flieht, eilt fort, – endlich auf eigenen Füßen!

Ich lief, kaum ich dem Bahnhofe entsprungen war, über die eingedeckte Holzbrücke, und ich lief dem Hafen und dem Ufer des Vierwaldstätter Sees entlang gegen Küßnacht. Mir war unsäglich wohl und leicht, ich wollte nichts von Menschenwerk und Stadtluft, ich wollte die Natur des Hochgebirges, die ich seit der Fahrt über den Semmering schon so lange entbehren mußte. Das endlich war wieder die freie frische Luft voll Harzduft, voll Waldesrauschen – mein Element. Ich kam mir vor wie getragen, ich berührte die Erde kaum. Wie ein Reh lief ich am See entlang; ich war außer mir vor Freude, daß ich wieder in den Bergen stand. Was waren das für Berge, was war das für ein Alpenland! Jetzt, Du mein Gott, sah ich's erst, ich stand mitten in der Schweiz.

Da lag vor mir der vielarmige See, so ruhig, so dunkelblau, wie das Himmelsauge an einem heiteren Herbstabend. Ein einziges Segelschiffchen glitt über den Spiegel und es war mir, als trage das einsame Segelschiffchen Poesie über den See – mehr konnte ich nicht erkennen.

[343]

Diesseits liegt die grüne Wiese und ein kleines Landhaus mit weiten, grün eingerahmten Fenstern und grauen, schuppenartig verkleideten Wänden; vor dem Hause sind Lauben und Rebenpflanzungen.

Jenseits des Sees aber, am bläulich schattigen Ufer erhebt sich der dunkle Wald und die düstere Felswand, und nun ist geschichtet Felswand auf Felswand – hoch empor hat es sich gebaut und getürmt in allen Lagen, in allen Gestalten, und oben an den Hängen und höchsten Hörnern kleben Nebelflocken wie weiße Blüten.

Doch siehe, jene Klamm dort, aus welcher der Wassersturz wie ein milchweißes Band niedergeht, öffnet uns einen Blick in den Hintergrund.

Aber was drängt sich da für ein wilder, finsterer Geselle vor, uns den Blick auf das liebliche Bild abzuschneiden?

Wie ein Verzweifelter steht er da, wüst und zerrissen; ewig starrt er nieder in den tiefen See, ob er wogt und flutet, ob er ruhig ist. – So stürze dich hinein! – Nicht doch, wer weiß, welch' Leid in deinem Herzen nagt. – Man erzählt sich wohl was besonderes von dir, du finsterer Riese. Da kam der römische Landpfleger Pilatus, und aus Reue, daß er den Nazarener zur Hinrichtung verdammt hatte, stürzte er sich von dir in diesen See und davon hättest du den Namen.

Links vor mir, hinter dem Seearm, erhebt sich ein grünlich-grauer, teilweise felsiger, teilweise bewaldeter Berg, in Form einer abgestumpften Pyramide. Dieser Berg ist der Rigi. Auf der höchsten Spitze desselben leuchtete ein weißer Punkt, das Hotel Rigi-Kulm. Und morgen, wenn die Sonne aufgeht, mußt du dort oben sein, und heute, da sie schon beinahe untergeht, bist du weit davon, und hast noch gar keine Herberge.

[344]

Einladende Höfe genug, einladende Menschen auch, denn die Ufer des Vierwaldstätter Sees sind dicht besäet von lebenslustigen Armen und Reichen, die in niedlichen Häusern oder stattlichen Villen wohnen. Aber ich fühlte ja noch die Flügel an den Fersen, und es lag Küßnacht nicht mehr fern. Dieser kleine Ort mit den großen Häusern ist so einladend, wie sein Name, es war, als ich ihn erreichte, schon dunkel geworden, aber trotzdem ging ich auch hier vorüber. Von Immensee aus, so hieß es in meinem Handbuche, ist der Rigi am kürzesten und bequemsten zu besteigen; mein Ziel für heute war Immensee.

So ging ich. Vor mir leuchteten Johanniswürmchen, über mir die Sterne. Und Grillen hörte ich singen; in Steiermark tun es an so lieblichen Abenden auch die Burschen. Kaum eine halbe Stunde hinter Küßnacht kam ich zu dem Hohlweg, wo Wilhelm Tell den Schuß nach Geßler getan. Es war fast ganz finster, denn die Bäume hingen über mir zusammen. Ich blieb stehen, ich dachte an Schillers Dichtung, an die Tradition, an das Reichsvogtentum der alten Zeit. Mit tiefem Pathos begann ich endlich zu deklamieren: »Durch diese hohle Gasse muß er kommen!«

»Er isch schon da!« rief es plötzlich hinter mir, und zwei Arme legten sich um meinen Leib.

Ich war im Moment so erschrocken, daß ein ganzes Planetensystem vor meinen Augen funkelte.

»Verflucht!« rief ich, »wer ist da?«

»Stell di nit so närrisch, du Dingli; meinst, wo de gohsch und wo de stohsch, sin G'spenster! Luig me an, ob i nit der alt Friedli bi, der bsinnig!« Diese Worte sprach ein armseliges Gestaltlein, und dann reichte es mir die Hand. Ich nahm sie an.

[345]

»Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?« fragte ich.

»Gueten Obe, de Friedli isch's halt; wonn der wilsch und wonn de z'friede bisch, so weis' i dir e Hus zum schlofe huit; de Nacht isch lang und chüel. Verstöhnt der mi?«

»Angenommen,« sagte ich, »aber führen Sie mich in das nächstbeste Gasthaus, je näher am Berge, je besser, ich will mir für morgen den Weg auf den Rigi so kurz als möglich machen.«

Dann führte mich das Männchen unter fortwährendem Geplauder. Fast possierlich sah es aus; es hatte, wie ich jetzt in der Sternenhelle bemerken konnte, einen Höcker, und trippelte damit geschäftig neben mir her und machte mich auf jedes Steinchen und auf jede Wurzel, über die wir schritten, aufmerksam.

Und bald kamen wir ins »Hus«. Aber das war zu meinem Erstaunen kein Gasthaus, sondern ein großer Bauernhof mit vielen Ställen und Scheunen, aus denen mehrere Blechschellen, wie sie die Herden haben, ertönten.

Als mich mein Begleiter ins Wohnhaus führte, sagte ein Weib, das an der Türe stand, und an dem ich in der Dunkelheit nur bemerken konnte, daß es sehr beleibt war: »Je, Friedli, wen bringst denn da?«

»E Büebli, das im Wald isch gsi und ke Hus g'funde het,« antwortete das Männlein und rieb sich die Hände.

Jetzt kamen auch noch andere Leute herbei, und sie lachten und endlich führten sie mich in eine Stube, die sehr geräumig und reinlich war, und in welcher eine Petroleumlampe brannte.

»Entschuldigen Sie, man wird nicht hier bleiben können?« sagte ich.

Da entgegnete mir ein stämmiger Mann, der in Alpentracht [346] war und ein Pfeifchen schmauchte: »Gasthaus ist zwar keines bei uns, aber wenn Sie nicht gern mehr hinabgehe nach Immensee und weil Sie der Friedli schon einmal gebracht hat, so bleibe Sie in Gottesnamen nur da; wenn Sie zufriede sein wollen, wir tun Ihnen gut, wie wir's haben.«

Nach diesen Worten zog er über den Tisch, der in einer Ecke der Stube stand, ein weißes Tuch, und das Weib, welches früher an der Tür gestanden war, brachte Brot, Butter, Honig und eine Schale Milch, und dann luden sie mich ein, daß ich mich hinsetze und esse.

Da setzte ich mich zum Tisch und aß.

Das Männlein, das mich gebracht hatte, kauerte in einem Winkel der Stube und sah mir wohlgefällig zu, wie ich mir erkleckliche Brotlappen herabschnitt, sie auf einer Seite fürsorglich mit Butter, auf der anderen minniglich mit Honig bestrich, und meinen Appetit spielen ließ.

»Nun, wie ist denn das?« fragte ich endlich, als der Mund einmal einen Augenblick frei war, »der Mann dort hat mich im Hohlweg aufgefangen. Ist das ein Fremdenführer?«

»Ei nein,« sagte der Hauswirt fast hochdeutsch, »er ist ein Vetter von meinem Weib und da behalten wir ihn so im Hause, trotz der Albernheiten, die er tut.« Und mit einem Finger auf die Stirne klopfend: »Hat da d'rin lauter Räder, sonst nichts! Ei ja, tun tut er niemandem nichts, will allen Leuten, die ihm begegnen, Gefälligkeit erweisen. Einem Narren sieht man doch damit gleich.«

»Aber das war nicht dumm, daß er mich da hergeführt hat zu Milch und Honig!«

»Gesegn' Gott, wenn's schmeckt!« sagte der Bauer, »sind sicher ein Studiosus? – Ni ja, hab' mir's gleich dacht. [347] Mein Älterer, der Medardi, ischt auch Studiosus, unten in Zürich. Sie wollen gewiß morgen auf den Berg? Und vor Aufgang noch? Schau', das ist viel! Die Sonne, wissen Sie, geht da oben viel früher auf, als anderswo; hier unten kommt sie gerade um drei Stunde später. Ja, da möge Sie heut' wohl gleich ins Bett gehe. – Sepheli!« rief er hernach in ein Nebenstübchen, »Luig, isch das Bett für den Ma da neumis scho fertig? Tausigsappermost, 's isch hochi Zit!«

»Nun,« sagte ich, »so wollen wir heute noch die Rechnung begleichen«.

»Jetzt hören Sie mir auf!« lachte der Mann, »so ein Studiosus da!«

»'s isch fertig, do lit er, wie ne Grof!« hörte ich in einer Kammer über uns sagen, und mein Gastherr sprach: »Fertig wär's. Jetzt sag' ich Ihnen eine ruhsame Nacht!«

»Gunn der 's Gott der Herr!« schmunzelte mir das alte Männlein aus seinem Winkel zu und ich wurde in eine Oberstube zu Bett gebracht.

Das Bett war nicht mit allzufeiner Leinwand überzogen, die Decke etwas steif; dennoch aber schlief ich auf meiner ganzen Reise nicht so süß als in dieser Bauernstube.

»'s isch Zit, Büebli, 's hat eis gschlage!« rief es plötzlich, und der Friedli stand mit einer Talgkerze vor dem Bett und rüttelte an der Decke.

Wenn die Zeit des Schlummers des Menschen glücklichste Zeit ist, wie Philosophen gesagt haben, warum läßt man sich wecken eines Sonnaufganges wegen?

»Bisch sölli müed und schlöfrig gsi? Freili jo, Suntig isch, chumm, 's git e gueti Tag!«

Wohlan, wenn es einen guten Tag gibt, da muß man dabei sein. – Ich erhob mich und in wenigen Minuten [348] darauf gingen wir in der kühlen Nachtluft durch junges Dickicht hinan. Friedli wies mir den Weg. Es war sehr taunaß, über den Zuger See und über das östliche Hügelland gegen Zürich hin hatte sich Nebel gelagert. Der Sternenhimmel war rein. Da wir auf einem guten Fußweg waren, der nicht leicht zu verfehlen sein konnte, sagte ich meinem Begleiter, daß er nun umkehren möge, und ich wollte ihm eine Münze in die Hand drücken; er kehrte weder um, noch nahm er die Münze. Erst als der Morgenstern aufging, meinte Friedli: »'s isch ein anderer da, bin jetzt frei dervo, bhüetis Gott!«

»Leb' wohl, Friedli!« sagte ich und das Wort kam mir aus dem Herzen. »Wenn ich einen andern Rückweg einschlage, so dank' ich dir und den deinen noch einmal. Leb' wohl, Friedli!«

»Will's Gott, mer werde scho im Himmel wieder z'seme cho!« sagte er und ging bergab.

Das war im ersten Schimmer des Morgensternes.

Ich ging aufwärts. Die Luft strich kühler und kühler; über dem Hügelland lag ein lichter Streifen, einzelne Vogelstimmen wurden wach.

Der Weg führte durch Wald und Strauch, über Weiden und an Sennhütten vorüber, oft über Gerölle und an Felswänden hin.

Nach einer zweistündigen Wanderung war ich am Hotel »Rigistaffel«. Ich blieb stehen und blickte abwärts und auswärts. In den Tälern lag noch Schatten, der Stern des Vierwaldstätter Sees in tiefer Dämmerung. Die Ufer waren mit lichten Punkten von Dörfern und Villen bestreut; Luzern lag da wie ein winziges Häuflein weißer Steine.

Eine Stunde später stand ich auf der höchsten Spitze [349] des Rigi, am Hotel »Rigi-Kulm«, das mir gestern als kleiner Punkt entgegen geleuchtet.

Ich hörte einmal einen Mann, der den Rigi bestiegen hatte, folgende Worte sprechen: »Ich weiß nicht, was die Leute an diesem Rigi finden; das Hotel ist gar nicht so außerordentlich, ja im Gegenteile, man lebt im Tale billiger und besser. Und die Aussicht, du mein Gott, nichts als Berge. Und da geht noch ein kalter Wind. Was doch die Leut' an diesem Rigi finden!« –

Nach der anstrengenden Partie trank ich im Hotel, in welchem sich einige Engländer befanden, ein kleines Schälchen Milch für fünfundsiebzig Centimes, dann ging ich wieder in das Freie, wo ein kalter Wind zog und ich nichts sah als Berge.

Aber welche Berge!

Die Gletscherwelt der Schweiz, wie sie südwestlich des Rigi in einem ungeheueren Halbkreis daliegt. Und dann tauchte im Osten langsam und langsam die glühende Riesenscheibe empor und dann entzündete sich das Meer der Gletscher und das war ein stilles Glühen und Leuchten hin über das ganze wunderbare Hochland!

Acht Tage früher hatte ich das Wogen und Fluten der Meereswellen in der Nordsee gesehen und die Sonne ging auf. Und heute aus dieser unendlichen Ruhe ging die Sonne auf. –

Als meine Augen getrunken hatten bis zur Berauschung, und als sich mein Herz gelabt hatte an der ewigen Schönheit, stieg ich wieder abwärts.

Meine liebenswürdigen Wirtsleute bei Immensee sollte ich nicht mehr sehen. Ich ging südlich gegen das Klösterli Maria im Schnee, gar einsam und arm im Alpenkare gelegen. Da steht über 4000 Fuß hoch ein Wallfahrtskirchlein, [350] und da leben in einem dürftigen Hause drei Kapuziner. Sie betreiben eine kleine Milchwirtschaft, und ihr niedriges Dach dient armen Wallfahrern und vom Unwetter überraschten Touristen zum gastlichen Hospiz.

Von hier aus geht es an Hängen und durch Schluchten steil abwärts gegen Arth, ein kleines Dorf, das an der südlichsten Spitze des Zuger Sees liegt.

Als ich den See gegen Zug entlang ging, sah ich über dem jenseitigen Ufer noch einmal meine gastliche Herberge, den Bauernhof. Das Männlein sah ich nicht; bald rollten mich die Räder wieder fort aus dem Lande des Friedli.

– Will's Gott, mer werde scho im Himmel wieder z'seme cho!


Aus dem Ungarlande.

1871.

Man meint, die Donau müsse nach und nach denn doch etwas von Kultur und Sitte aus den deutschen Landen hinabschwemmen. In Städten, wo die Dampfschiffe rasten, da sammelt sich's trefflich an und die Hauptstadt des Magyarenlandes trägt zum größten Teile deutschen Charakter. Bis aber in den Dörfern und auf den Pußten das Gemeinsame aller gebildeten Völker auflebt, wird noch viel Wasser die Donau hinabfließen. Das ist der selbständige, sich in sich abschließende, der stolze Stamm der Magyaren.

Auf meinen Wanderungen in Ungarn kam ich eines schönen Abends in ein großes Dorf. Es war so weit in dem Osten, daß die Dämmerung dort um eine gute halbe Stunde früher eintritt als in der Steiermark. So lag über den endlosen Ebenen hin der aschfarbige Himmel; nur wo die Sonne niedergegangen war, zogen sich glühende Streifen und Nadeln hin, so innig schloß sich der Himmel [351] an die Ebene und so tief war der Horizont hingezogen, daß er zu sehen war wie die Meeresküste, und die lichten Wolkenstreifen darin lagen wie Inseln auf der graubläulichen See.

Ein ungarisches Dorf ist wie das andere. Da liegt es auf der Pußta und eine sehr breite Straße führt durch. Daß sich auf dieser Straße ein Pferd verstaucht oder ein Wagenrad bricht, ist nicht leicht zu denken; denn eine dicke Mulde aus dem feinsten braunen Staub ist hier ausgebreitet hin und hin, welche zur Regenzeit zum mildesten Teppich wird, in dem man sich wie in ein Kissen verbergen kann mit Roß und Wagen.

Und im Dorfe stehen Hütten aus Lehm und Stroh an beiden Seiten der Straße; die Fensterchen sind so klein, daß kaum ein ungarischer Kopf, geschweige ein ungarischer Schnurrbart ordentlich herauslugen kann. Vor und hinter den Hütten sind Akazien und Maulbeerbäume gepflanzt, welche sich über den fahlen Strohdächern die Arme reichen – die Sonne soll hier gar wüst sein, wenn sie obenan steht. Leblos sind die Gassen des Dorfes nicht, es ziehen uns gemütliche Esel, langgehörnte Ochsen, gesprächige Gänse, grunzende Schweine überall entgegen. Auf dem großen Platze des Dorfes sind umfangreiche Pfützen, zu dünn, um darüber hinzuschreiten, zu dick, um darin unterzugehen, ganz gemacht zum Baden und Wälzen für Menschen und Tiere. Es ist kaum übertrieben – man kann's ja sehen, wie Kinder und Schweine, erwachsene Weiber und Gänse, Männer und Esel in zarter Eintracht in der Dorfpfütze Erfrischung genießen.

Ich sah sie noch lange lustwandeln von meiner Wohnung aus, die mir ein Mann in dem besten Hause des Ortes besorgt hatte, ich hörte von der Rocsma (Schenke) [352] her auch die Tonschläge eines Zimbals – ich ging aber bald zur Ruhe.

In den steirischen Bauerngehöften weckt zum Morgen die Leute der Oberknecht, in Ungarn besorgen das die Mücken; sie schreien und poltern nicht wie der Oberknecht, sie summen und singen nur so herum, sie setzen sich nur so auf die Wangen, auf die Stirne, auf die Nase, und beißen und stechen, daß Ballen wachsen wie Schwämme; dann singen sie wieder – im übrigen kann man liegen bleiben und schlafen, so lange man will.

Es war Sonntag. Vor den Hütten saßen die männlichen Einwohner in ihren weiten Beinkleidern, von denen ich nie ergründen konnte, ob sie Hosen oder Kittel seien. Sie aßen Brot und Speck. Dann erhoben sie sich und gingen zur Kirche hinan, die auf dem Hügel stand. Die Weiber kamen aus den Hütten hervor und gingen auch hinan; sie hatten schmucke Spenser. Die Mädchen waren gar in kurzen, schneeweißen Hemdärmeln und in den bloßen, sorglich gescheitelten Locken. Die Männer hatten kaum eine bessere Kleidung als am Werktage zuvor; viele waren sogar barfuß und die Fransen ihrer weißen Beinkleider schwammen in der Mulde.

Als sie hinanstiegen, war ich auch unter ihnen. Da ich von ihren Gesprächen nicht viel verstand und mich in dieselben also auch nicht mischen konnte, hatte ich Zeit, die Gegend zu betrachten. Das Dorf unten war weit gedehnt, es zählte tausend und mehrere hundert Einwohner. Draußen, gegen Südwesten lagen die Weinhügel, weiter links standen üppige Buchen- und Eichenwälder; – mein geliebter Baum, die Tanne, wächst dort nicht, weit und breit, darum hat die Luft keine Würze, sie ist immer süßlich, lau und schal, wie gekocht. Im Osten lag Heideland, im [353] Norden zogen sich unabsehbare Getreidefelder hin, und weit draußen lag still und ruhig wie die Heide und das Kornland der Donaustrom. Hinter demselben sah man wieder die gelben Streifen der Felder, die fahlen Flächen der Heide und zuletzt im Äther ein mattgraues Band – die Karpathen. Dann begannen die Wolkengestalten in der ungeheuren Himmelsglocke, und diese Wolkengestalten waren mir das Schönste zu allen Tageszeiten im Lande der Ungarn.

Die Gemeinde, die mit mir auf den Hügel gestiegen war, und die Kirche, die, weiß übertüncht, weit in das Land hinausschaute, war kalvinisch. Auf dem Turme prangte kein Kreuz, sondern ein Ding in Gestalt jener alten Waffen, die man Morgensterne nannte. Die Fenstergitter bildeten Herze, Ringe, doch kein Kreuz. Auf dem Friedhofe hinter der Kirche waren viereckige Holzpfähle mit ausgezackten Köpfen als Denkmäler in die Erde geschlagen, aber kein einziges Kreuz. Die Kalviner mögen das Kreuz nicht leiden; sie wollen nicht erinnert sein an den Schandflecken der Menschen, die ihren Heiland zu Dank an das Kreuz geschlagen. Die Kalviner wollen auch kein Bild, weder eine Darstellung Gottes noch der Menschen; unmittelbar wollen sie mit dem Gegenstand verkehren. Das sieht löblich aus; doch wie dadurch der Sinn, die Kunst zuteil kommt, denen die Religion und ihr Kult auch eine Pflegestätte sein soll? Die Einfachheit der lutherischen Tempel tut wohl, ein kalvinisches Gotteshaus aber ist nicht mehr einfach, es ist geradezu trostlos. Da ist rein gar nichts als die nackte Mauer und der Fußboden und die Decke, die glatte Kanzel, der Opfertisch und einige Stühle. Das alles in allem. Dann kommt der Pastor und hält eine Rede, dann singt die Gemeinde Psalmen. Wohl recht einfach, aber noch einfacher [354] wäre, wenn die Mauern auseinandergefallen und die Menschen Gott anbeteten, frei in der allherrlichen Natur des Himmelsgezeltes. Das wäre ein rechtes Bild Gottes und doch kein Bild – ein wahres Gotteshaus.

Der eifrige, eigenstimmige Gesang der »reingläubigen« Kalvinisten hätte mich bald zum Lächeln gebracht, aber das wäre gefährlich gewesen. Es war ein so sonderbares Gesurre, dann wieder ein so gewaltiges Geschrei; und eine einzelne Stimme war in dem Volke, so grell und zackig, und diese wollte nirgends recht hineinpassen, und sie ging, alle anderen Töne durchschneidend, ihre eigenen Wege. Dabei machten die Leute Gesichter, und wie sich der Gesang drehte, so auch ihre Augen und mit den Lippen stiegen und fielen auch die Schnurrbärte. Aber die Andacht in Ehren, sie wird gut gewesen sein.

Eigentümlich war der Ausgang. Sie sangen noch alle, als sich plötzlich die kleinen Mädchen erhoben und singend das Bethaus verließen; diesen folgten die erwachsenen Mädchen, wie sie in den Stühlen gesondert waren. Dann erhoben sich die Weiber und die alten Mütterchen und verließen singend die Kirche. So waren nach und nach alle weiblichen Stimmen verstummt und es sangen nur noch die Männer. Nun aber begannen sich die Knaben zu entfernen und nach diesen traten die Jünglinge, dann die Männer hinaus. Jetzt saßen noch die Greise da und sangen. Dann erhoben sich auch diese und gingen, ihnen folgte der Pastor und nun saß außer mir nur mehr der alte Chormeister allein in der Kirche und sang, bis endlich auch der schwieg und die Kirche verließ. So war der Gesang nach und nach abgestorben und es war still und leer im Bethaus. Jetzt verließ auch ich meinen Winkel und ging an der Kanzel und an dem Opfertisch vorüber in das Freie.

[355]

Da war's gar heiß in der Sonne, aber siehe, die Dorfschwemme war in der Nähe. Die Leutchen, wie sie aus der Kirche kamen und sich mit den Ärmeln den Schweiß wischten, machten nicht viel Aufhebens, sie entkleideten sich kurzweg und stiegen in die Pfütze und wuschen sich säuberlich und plätscherten. Sonst, glaube ich, heißt es nach der gestrengen Satzung Kalvins, daß, wer in der Öffentlichkeit einen solch schlüpfrigen Wandel führt, des Landes verwiesen und ausgepeitscht werden soll; nein, so pedantisch genau scheinen es die ungarischen Kalviner nicht zu nehmen.

Sehr schwer sollen sich übrigens auch die Katholiken der ungarischen Dörfer ihre Sache nicht legen. In der Nähe meines kalvinischen Dorfes ist ein katholisches, von dem mir ein alter Einwohner desselben Folgendes erzählte: Als vor mehreren Jahren im Dorfe der Peterspfennig eingeführt wurde, war viel Lärm. Der Pfarrer predigte auf der Kanzel von der Not des heiligen Vaters und stellte diese so ergreifend dar, daß er dabei in Schluchzen ausbrach. Die Bauern blieben trockenen Auges, aber sie starrten so vor sich hin, als ob sie sagen wollten, daß es mit dem heiligen Vater nicht so bleiben dürfe, und daß sie sich in dieser Sache nicht spotten lassen wollten. Und die Bauern derselben Gegend sind wohlhabend. Der Pfarrer ließ mitten in der Kirche eine weidlich große Blechbüchse aufstellen und predigte nun jeden Sonntag von der Armut des heiligen Vaters. Aber die Blechbüchse war denn doch wohl sehr geräumig, denn oft verfügte sich Seine Hochwürden zur stillen Nachmittagsstunde in die Kirche und klopfte mit dem umgebogenen Zeigefinger an die Büchse – das gab noch immer einen schauerlichen Widerhall. Hierauf ließ der Pfarrer einen Priester aus Gran kommen, der [356] eine glänzende Rednergabe besaß und der auf der Kanzel das Elend des Papstes und den Hunger, den er leiden muß, so lebhaft darstellte, daß die Bauern ordentlich Appetit bekamen und nach der Predigt sogleich in die Schenke eilten und ein Bedeutendes an Speck und Schnaps verzehrten. Indes der Pfarrer hatte der Sache Genüge getan und konnte nun wohl einer bedeutenden Ernte gewiß sein. Freilich wohl gab die Büchse noch immer einen hohlen Ton, doch Silberstücke füllen einen solchen Bauch nicht so bald. Als nun eine bedeutende Zeit um war, ließ der Pfarrer die Sammelkasse öffnen und fand darin – ja sind denn diese Bauern Ludersleute? – fand zweiundeinenhalben Kreuzer und einen Pfeifendeckel. So ist mir wohl von boshaftem Munde erzählt worden, und Ähnliches ereignete sich auch in anderen Dörfern Oberungarns.

Nun kehre ich wieder zu meiner Gemeinde zurück. Ich hatte ihr den Vormittag des Sonntags gewidmet, desgleichen sollte auch mit dem Nachmittag geschehen.

Doch ich verlor sie bald; sie verkrochen sich in ihre Hütten, nur daß in der Schwemme noch ein oder der andere Junge plätscherte und daß dann und wann ein Mägdlein auf dem Wege in den entlegenen Keller und zurück durch die Gassen eilte und im Vorbeieilen den Fuß auch ein wenig in das Wasser steckte.

Erst am Abende wurde es rege. Eine Schalmei fing zuerst an, dann begannen in der Schenke Pauken und Pfeifen und jetzt kamen sie herbei von allen Seiten des Dorfes und hüpften schon unterwegs den Nationaltanz.

An Mädchen strömt eine große Auswahl herbei; der Bursche braucht nur zu winken, läuft ihm gleich eine zu. Sie legt ihre Hände flach auf seine Achseln, er legt die seinen an ihre Hüfte, dann beginnen sie zu hüpfen nach [357] rechts und nach links, daß der Schnurrbart wedelt. Das Mädchen guckt dabei ein wenig in seine Augen, ein wenig in den Spiegel, der über die beschnürten Flügel seines glatten Spensers geht, zwar nicht aus Kristall besteht, sondern nur aus dem Glanze des Speckes von so manchem Jahre. Gegessen und getrunken, gönn's ihnen Gott, wird wohl auch wacker. Dann kommen auf Eselkarren die jungen Leute der Nachbardörfer; sind sie auch vormittags geschieden in Bethäusern verschiedener Konfessionen, den Nachmittag haben sie gemeinsam; der Katholik hopst mit lutherischen Mädchen und schlürft kalvinischen Wein, und mitunter verteilt er, weil's denn so brüderlich hergeht, zuzeiten katholische Prügel.

An demselben Abend war's lustig zu sehen und zu hören, aber als es gegen die elfte Stunde ging, da begann auf dem Kirchturme plötzlich die Glocke zu tönen. Ich erschrak; war Feuer im Ort, oder ein Sterbender? Kein Unglück treffe das Dorf und lange lebe der Magyare! Aber Ruhe soll er machen, heim soll er gehen noch vor Mitternacht, so will's der Herr Pastor und darum läßt er die Glocke läuten. Ein praktischer Kalviner benützt die Kirchenglocke also auch zur Polizei; das hat Schiller in seinem Lied von der Glocke vergessen.

Es wurde wirklich bald ruhig in der Schenke und sie gingen heim. Ich sah noch lange durch das offene Fensterchen in die laue Nacht hinaus. Ein paar Hunde bellten unten, sonst war es still; mir kam es fast unheimlich vor; das nächtliche Glockengeläute hatte mich etwas aufgeregt.

Endlich wollte ich das Fenster schließen, da sah ich plötzlich oben an der Kirche ein Flämmlein. Es zuckte hin und her, dann verschwand es. Oben bei den Toten, was [358] mochte das sein? Wieder sah ich das Flämmlein, und jetzt wuchs es an und wuchs gewaltig zu einer hohen, riesigen Flamme und die Wände der Kirche waren rot beleuchtet. Denn doch ein Brand! Ich wollte Lärm schlagen, da war die Flamme wieder verloschen.

Nun war meine Neugierde wach im höchsten Grade. Was spukt da oben auf dem Hügel? Belustigt sich der Totengräber durch Feuerwerke, oder gehört das zum kalvinischen Kult? – Das muß ich doch sehen!

Angezogen, wie ich noch war, nahm ich schnell meinen Stock, verließ das Haus und eilte gegen die Kirche hinan, immer das Licht im Auge behaltend, das oben abwechselnd wuchs und zusammenzuckte.

Und als ich durch das Tor in den Gottesacker ging, da sah ich's. Ein Mann und ein Weib hatten ein totes Ferkel und das hielten sie über ein kleines Feuer, um die Haare von der Haut zu sengen. Dieses weltliche Geschäft störte die Ruhe der Toten zwar nicht, konnte mich jedoch auch nicht recht erbauen.


Zu Mailand auf dem Dome.

1872.

Mailand!

Den Namen, den das ganze Land verdient, trägt seine schönste Stadt.

Hier reichen sich Nord und Süd, Winter und Sommer die Hände. Mai!

Uns begegnet in Mailand zum erstenmale das laute, geschäftige, klingende Treiben des Südländers; der Italiener hingegen nennt Mailand die nordische Stadt. An den Süden erinnern uns in Mailand die flachen Dächer der Häuser, die Marmorbalkone mit den ausgehängten schmutzigen Lappen, [359] die hohen offenen Portale, das schöne Pflaster der Straßen mit Fahrbahnen aus Stein, der Reichtum an Palästen und Statuen und das mächtig erwachende Leben nach dem Ave-Maria-Läuten. An den Süden erinnert uns der helle aber weiche Gesang, der auf den Gassen und aus allen Häusern quillt, das eintönige Geschrei der Ausrufer, das Besetztsein aller öffentlichen Plätze mit Verkäufern und Ciceroni, die reichen, großen Kirchen, der bräunliche Teint der Männer, das glänzend schwarze Haar und das dunkle, gefährliche Auge der Frauen, das zur Vorsicht wohl häufig verhüllt ist mit einem zierlichen Schleier.

Der aus Süden Kommende aber wird wegen des mäßigen Klimas, des frischen Wassers, des Fleißes der Bewohner usw. in Mailand allerdings die Stadt des Nordens erblicken.

Und mitten in dieser stolzen Stadt mit dem Janusgesichte gegen Süd und Nord, steht eine Krone von Elfenbein, nein, eine Marmorkrone, wie keine Dichterphantasie je eine so wunderbare geflochten hat.

Der Dom von Mailand!

Der Italiener nennt ihn ein Marmorgebirge aus dem Norden, und vielleicht mit mehr Recht, als es scheint; waren die Baumeister doch nachweislich Deutsche. (Der Bau der wunderbaren Kuppel soll von Johannes von Graz herrühren!) Ferner ist es die gotische Bauart, sind es die hundert und hundert weithin leuchtenden Zacken, die an die nordischen Bergzacken gemahnen.

So haben die Menschen hier im Angesichte der Alpen einen Tempel gebaut, in dem sich die Erhabenheit der Berge spiegeln soll – ein Gebirge aus Menschenhand und nach den Gesetzen der Kunst, wie es dem klassischen Italien geziemt.

[360]

Eine Beschreibung des eigenartigen Baues will ich nicht liefern – er ist ja so sehr bekannt und in das Gemüt der Völker aufgenommen worden, wie ein liebes Zaubermärchen von der Großmutter. Der Bauer in Steiermark sagt, daß in der Stadt Mailand eine Kirche sei, die so viele Türme habe, wie das Jahr Tage, auf jedem Turme stehe der Heilige des Tages und so prange der ganze Heiligenkalender in Stein gehauen auf dem Dome zu Mailand.

Das ist ein großes, einheitliches Bild, aber es ist zu klein. Der Türmchen sind weit mehr, als obige Zahl angibt und die Statuen an denselben und an den Wänden zählen über zweitausend. Es ist des Märchens versteinerter Wald und der Beschauer erstarrt schier selbst zu Stein, wenn er vor dem Riesenbaue steht oder gar oben auf seinen lichten Zinnen. Weiß und leuchtend erhebt sich der Tempel über den Gebäuden der Stadt in die Himmelsbläue empor; gespensterhaft bleich, schier wie ein ätherisches Nebelgewebe, steht er des Nachts im Mondenscheine.

Nein, ich will den Leser nicht nachtwandeln lassen um den Dom, ich will ihn nicht einmal einführen in seine düsteren Hallen – dazu findet sich gelegentlich sicher ein besserer Führer – emporsteigen wollen wir zu jenen Höhen, nach der so viele zackige Spitzen weisen.

Den 26. August 1872 zur Morgenstunde war's, da ich den Dom bestieg. Zuerst geht es eine dunkle, aber sichere Stiege über hundert Stufen hinan, der dürstende Blick gefangen zwischen den Quadermauern. Endlich aber lichtet es sich, wie sich an hohen Bergen der Wald lichtet, wenn man über seine Region hinauskommt. Dem Besteiger des Mailänder Domes ist, auf der ersten Zinne angekommen, gerade so zumute, wie dem Alpenwanderer, der, aus dem Walde hervorgetreten, die mächtige Bergkuppe übersieht, die er noch [361] zu besteigen hat. Aber er ist über die Giebel der Häuser hinaus, er macht einen Rundgang um den Bau und sieht auf die Hüte hinab, die tief unten an dem Domplatze geschäftig herumgleiten. Dann beginnt er auf freien, lichten Marmortreppen wieder emporzusteigen zwischen dem Gestämm der Türme und den versteinerten Heiligen. Viele derselben haben, einverstanden mit dem Geiste der neuen Zeit, Blitzableiter an der Seite; selbst die Madonna auf der Spitze des höchsten Turmes hatte an meinem Tage die wehende Trikolore aufgezogen, um trotz des recht unangenehmen Konfliktes zwischen der Regierung und dem Vatikan, dem König Victor Emanuel, der eben in Mailand war, ihre Huldigung darzubringen.

Auf der zweiten Zinne angelangt, machte ich wieder einen Rundgang und sah nun, wie bedeutend die Stadt niedergesunken war und wie sich die Ebene Lombardiens und die fernen Berge zu heben begannen. Dann wieder empor zwischen den Zacken und Klippen, ich glaubte schon Alpenluft zu fühlen und sah mich nach Gemsen um. Nein, die gibt es wohl nicht auf dem Dome zu Mailand, statt deren sah ich auf den glatten Marmorplatten des Kirchendaches einen jungen Priester herumwandeln, der ein schönes Mädchen am Arme führte. Ihr graziöses Dahinhüpfen erinnerte an Gemsen; endlich aber ließ sich das Pärchen nieder auf der Plattform und nahm ungezwungen, wie man nur auf der Alpenhöhe sein kann, zusammen ein Frühstück ein. Er schob dem Mädchen gute Bissen zu, – und das Kirchendach brach darob nicht zusammen.

Nun aber steht auf dem gotischen Tempel noch ein zweiter gotischer Tempel: die ungeheure Kuppel des Domes in einem neuen, reichen Kranze von Marmorgebilden, die sich mit ihrer höchsten Spitze 340 Fuß über den Erdboden [362] erhebt. In einem Seitenbaue geht die Treppe hinan bis zu dem schlanken Turme, dessen gewundene Stiege ja bis in den Himmel hinauf zu entführen scheint.

Da liegt die große Stadt – die höchsten Türme sind tief unten – im Morgensonnenglanze. Hier, noch im Schatten, an den Fuß des Domes sich schmiegend, steht das königliche Schloß; dort zwischen den Ziegeldächern der kleine, bläulich glitzernde See ist das Glasdach des neuen, prächtigen Bazars, den Victor Emanuel den Mailändern im Jahre 1859 zum Angebinde gemacht hat; weiterhin die schöne Kuppel der Kirche St. Maria della Grazie weist die Stätte des weltberühmten »Abendmahles« von Leonardo da Vinci und noch weiter hin ragt der Siegesbogen, die Porta del Sempione. Unser Blick gleitet über die hunderttürmige Stadt hinweg und hinaus auf die mit weißen Punkten besäete Ebene, die südlich von den blauen Apenninen, nördlich und westlich aber in einem ungeheuren Halbkreise von den Alpen begrenzt wird.

Die erhabenen Hochwarten der Alpen sind nahegekommen, um sich den wunderbaren Bau, das Spiegelbild ihrer Gletscher anzusehen. Dort im fernsten Westen der Monte Viso; man sieht durch die Duftbläue von ihm nichts sonst, als ein dreieckiges rötlichweißes Täfelchen. Ein wenig nördlicher die sägige Schneide des in Eisen gelegten Riesen Montcenis. Dann der leuchtende Zahn des Montblanc und die Zacken vom St. Bernhard und Matterhorn. Weiter im Vordergrunde aber ragt die gewaltige Gletscherkuppe des Monte Rosa, hoch emporhaltend ihren Silberschild, durch den sie den fernen Meeren die Wunder und Herrlichkeiten der Alpen kündet. Und nun geht's Kanten an Kanten bis nördlich zur Jungfrau, alle gehüllt in ihre ewigen Eismäntel, nur ein klein wenig gerötet vor stiller [363] Freude über das schöne sonnige Italien, das sich da unten ausbreitet. – Dann kommt das Finsteraarhorn, St. Gotthard, der Ortler usw. bis hin gegen das Adriatische Meer, aus dem die Sonne emporgestiegen ist, deren feuchte Lichtschleier niederwallen und die östliche Aussicht verdecken.

Und über dieses Bild wölbt sich ein Himmel, nicht mehr lichtblau, wie das Auge der Germanen, sondern scharf und dunkel, wie der glühendste Blick der Italienerin. Ich sah auf diesem Azurgrunde ein Sternchen flimmern am heitern Morgen und ich sah und ich empfand, was das heißt: ein italischer Himmel.


Von der Kirche des heiligen Petrus.

1872.

Von der Peterskirche zu Rom wird erzählt in der Stube. Da läßt die Magd ihr Spinnrad stehen, da lehnt der Knecht sein Spanscheit hin – da horchen sie alle auf.

Ja, die Peterskirche! Schon der Platz davor ist so groß, daß zwei Kriegsheere nebeneinander Raum haben. Da sind zwei Springbrunnen, in denen allweg' drei Regenbogen stehen, schier Tag und Nacht; wenn diese Regenbogen einmal verlöschen, dann kommt das jüngste Gericht. Einer, sagen sie, ist schon verloschen. Und mitten auf dem Platz ist eine hochmächtige Säule, die gibt am Sonnwendtag zwölf Uhr mittags nicht so viel Schatten, daß eins eine Stecknadel in denselben könnt' legen. Das ist, weil die Sonnen kerzeng'rad obenauf – weil die Säulen just mitten auf der Welt steht. Nachher ist eine Marmelstiege hinauf zur Kirche, die neunundneunzig Stufen zählt, und deren Stufen so breit sind, daß Roß und Wagen darauf kann fahren, – und so lang, daß, steht an einem Ende der Jäger, am andern der [364] Hirsch, beide voneinander nichts wissen. – Und die Kirche selber ist aus weißem Marmelstein gebaut, und so groß, daß, wenn neun Priester gleichzeitig in ihr predigen, einer den andern nicht hört. Die Kuppel ist so hoch, daß eins von ihr aus nach – Rom kann sehen? – nein, nach Jerusalem hinein kann schauen. Und der goldene Knopf auf der Kuppel ist so breit, daß darauf sieben Hochzeitspaare können tanzen!

So wunderbar ist gewiß noch kein Bau erdacht worden auf Erden, als sich die im steirischen Dorf ihre Peterskirche haben erbaut. Es ist nur gut, daß in ihren Hecken kein Wanderstab wächst, der sie nach Rom tät' führen, und daß sie keine Stiefel haben, die oben auf der »Romstraße« verstünden zu wandern – sie würden ja so enttäuscht sein.

Bin ich's schier selbst ein wenig gewesen, obwohl sich mein obiges Phantasiegebilde aufgelöst, als ich aus dem Märchenleben heraus und zur ernüchternden Einsicht kam, wie viel – wie wenig die Menschen im Verhältnisse zur Größe ihrer Phantasie zu leisten vermögen.

Freilich habe ich die Peterskirche in den sechs Stunden, die ich ihr widmen konnte, gleichsam nur durch das Schlüsselloch von Alessio gesehen. Indes, wenn nach der Berechnung eines weisen Mönchs neunundneunzigtausend Engel Platz auf einer Nadelspitze haben, so wird der goldene Knauf der Kuppel von Sankt Peter auch ein entsprechender Tanzboden sein für die sieben bäuerlichen Hochzeitspaare, ohne daß just wegen Raummangels gerauft werden müßte.

Es war am Morgen des 6. September 1872. Ich kam durch das dunkle, schmutzige Gassengewirre zur Engelsbrücke.

Ich schlich an der finsteren Engelsburg vorbei; eine Teufelsburg kann nicht finsterer aussehen, man betrachte nur! Eine trotzige Runde, einst eine Totenstätte, dient [365] sie jetzt zum Gefängnisse für Lebendige, »treu beschützt von den Engeln«.

Ich ging durch die lange, staubige Borgo Nuovo; diese endet plötzlich und siehe, ich stehe auf dem berühmtesten Platz der Erde – auf der Piazza di San Pietro. Da ist ein Feld mit Quadern bepflastert, da sind zwei weißschäumende Springbrunnen, Silberpaletten, auf denen die Sonnenstrahlen just ihre Farben mengen zu einem Regenbogen. Und mitten steht der hohe Obelisk mit heidnischen Hieroglyphen und dem eisernen Kreuze auf der Spitze. In diesem eisernen Kreuze soll ein Stück des wahrhaftigen Golgathakreuzes stecken. – Dann die prächtigen Kolonnaden, die zwei ausgebreiteten Arme des Vatikans, mit denen er den Platz umschließt – die ganze Welt umschließen möchte.

Und im Hintergrunde, sanft erhöht über marmornen Stufen, steht breit und behäbig und stolz der rötlich schimmernde Quadernbau – der größte Tempel der Welt, der Dom des heiligen Petrus. – Von der Kuppel sieht man nur die dunkle Dachrundung und die Laterne über den Vorderbau herüberragen.

Eine Glocke dröhnte schwer, dumpf, zur siebenten Stunde. Ich tat einen Blick nach dem über den Säulengang aufragenden Vatikan, einen Blick nach den riesigen Statuen der Apostel Petrus und Paulus, die an den beiden Seiten der Freitreppe stehen, und stieg hinan zu den Säulen der Fassade – zur Pforte. Die Vorhalle ist so groß, daß ein paar Dorfkirchen mit Turm und Sakristei leicht darin Platz haben. Ich schritt durch das Portal, schob einen der schweren Ledervorhänge bei Seite und stand nun in dem Raum der Kirche. Da war nicht die ernste Dämmerung eines gotischen Baues, da war die lichte Heiterkeit des romanischen Stiles – alles, vom Fußboden bis zu den Höhen der [366] Kuppel prangend in reichster Gold-, Marmor-Mosaikverzierung. Aber die Größe der Kirche überraschte mich nicht. Die riesigen Säulen, Fenster, Statuen und Bilder, dem Verhältnisse des Baues entsprechend, waren mir täuschende Maßstäbe; ich mußte mir sagen, die Kirche hat nicht mehr der Pfeiler, Fenster, Altäre, Kapellen als andere große Kirchen, die ich bereits gesehen. Anders aber, als ich meinen Blick niedergleiten ließ von den Höhen der Gesimse auf die Menschlein, die herunten auf der Bodenfläche herumglitten!

Trotzdem belächle ich, was der Cicerone sagt: Das königliche Schloß zu Berlin und die Stefanskirche samt dem Turme zu Wien haben bequem nebeneinander in der Peterskirche und Kuppel Platz.

Ich begann meinen Rundgang. Ich kam zu der uralten Bronzestatue des heiligen Petrus, an deren rechtem Fuß die Gläubigen die Zehen weggeküßt haben, bis auf ein paar Stümpfchen. Ich kam zu den Nischen, wo die katholischen Schatzkästen stehen, darin der Kopf des heiligen Andreas, das Schweißtuch der heiligen Veronika, ein Splitter des Kreuzes Christi und die Lanze, welche Christum die Seitenwunde stach. Diese Reliquien werden an Festtagen von den hohen Loggien herab dem Volke gezeigt; näher besehen dürfen sie nur Priester. – Ich kam zu der Säule, an welche sich Jesus im Tempel Salomons gelehnt hatte. Die Peitsche sah ich nicht, mit der er die Krämer hinausgetrieben. – Ich kam zu der Kathedra, zum päpstlichen Thron, den vier heilige Kirchenlehrer mit den Händen spielend schaukeln. – Ich kam an Grabmäler der Päpste, an Statuen und Mosaikbilder, und ich kam endlich zum Hauptaltare in der Mitte der Kirche, zu dem Allerheiligsten der katholischen Christenheit – zu der Grabstätte des Apostels Petrus. Zwei Marmortreppen führen hinter dem Hochaltare hinab [367] zu dem Grabe des großen Apostels. Ein Baldachin aus Erz schützt vor dem hellen Lichtstrom, der hoch oben durch die Kuppel hereinbricht, aber ein Kranz von zahllosen Lampen brennt um diese Stätte Tag und Nacht, die Nische und das Grab mit dem goldenen Gitter geheimnisvoll beleuchtend.

Hier stand ich still und sagte mir, daß ich zu spät gekommen.

Wie oft in meiner Kindheit, als ich in dem Dorfkirchlein kniete oder im Walde saß, erfaßte mich die Sehnsucht nach der Hauptkirche der Christenheit, nach dem Dome meines Namenspatrons. Wenn in der Christnacht das Turmglöckel klang, weit in den Wald hinein, so war mein Gedanke in Rom bei dem hochfeierlich glanzvollen Weihnachtsfeste in der Peterskirche. Wenn am Ostersonntagsmorgen die Pöller knallten und die Sonne ausging, so weckte mich meine Mutter aus dem Schlafe:

»Bub', jetzt steht der Papst auf der Peterskirchen und gibt seinen Segen der ganzen Welt; jetzt steh' aber geschwind auf, sonst frißt deinen Teil die Katz'!«

Ich sprang auf und hüpfte noch im Hemdchen hinaus unter den freien Himmel und meinte, ich müßte den Segen fliegen sehen in der klaren Luft. Aber so, wie ich Tags zuvor die Glocken nicht sah, als sie nach den Chartagen von Rom zurückkamen, so sah ich auch heute den Segen nicht. – Und am Pfingstfeste war ich im Geiste wieder in der Peterskirche und zählte die feurigen Zungen, die vom heiligen Geist auf die Kardinäle niederträufelten. Ich war ein guter Katholik, und lange schon erwachsen, habe ich noch Peterspfennige gegeben von Herzen gern. – Und heute – kann ich an dieser Stätte nicht beten …

Auf einer Marmortafel an der Wand prangen die [368] Namen der Bischöfe und Kardinäle, die im Konzil 1870 für die Unfehlbarkeit gestimmt hatten.

Aus einer Seitenkapelle erscholl der Chorgesang einer Priesterschar. Ich trat hin, um zu sehen; es waren Domherren in Purpur; nur wenige, die jüngeren, blickten mit gefalteten Händen inbrünstig auf zu dem Bilde der gekrönten Himmelskönigin mit dem Kinde; die anderen ließen ihre Hände und Augen und wohl auch die Gedanken herumschweifen, wo sie wollten. Andere, vielleicht fremde Priester, aus weiten Landen kommend, durchschreiten feierlich die Kirche und knien andächtig hin vor den Lichterkranz des Hauptaltars und – weinen.

Und wieder andere – wohl Laien im Chorrock – huschen geschäftig hin und her, lächelnd sich jedem untertänig als Cicerone anbietend, gar zuweilen mit einer Opferbüchse schellend, die sie unter dem Rocke verborgen halten. Das sind die Hausfliegen der Peterskirche.

Über all' den Zeremonien und Gegenständen der Weihe, der Kunst, über all' den Menschen, die gekommen sind aus fernen Landen, um die hier bewahrten Schätze und Herrlichkeiten und Gnadenquellen zu schauen und zu genießen, waltet in der Kirche ein ewiger Werktag. In Seitenkapellen arbeiten Steinmetze, an Altären klettern abstaubende und dekorierende Diener herum, auf Gerüsten hämmern Maurer und Zimmerleute, in Nischen und Winkeln klopft und scharrt der Schlosser. Es wird ewig gebaut und ausgebessert, es herrscht ein ewiger Stoffwechsel an dem Baue, sowie überall auch in der Natur.

Die Gerüste für Reparaturen stehen auf Rädern, daß sie bequem von einer Stelle zur andern geschoben werden können. Auch zur Fortschaffung des Kehrichts sind eigene Wägelchen; der Bauer wird ungläubig den Kopf schütteln, [369] wenn ich ihm sage: In der Peterskirche fahren die Mistkarren herum, wie auf deinem Rübenacker.

Und trotz all' diesen verschiedenen Dingen herrscht eine gewisse Ruhe in den Räumen und fortan künden es die riesigen Buchstaben oben rings der Kuppel: Tu es Petrus etc.

Wer die Größe des Baues noch nicht glaubt, der steige auf das Dach und wandle zwischen den Tonnengewölben und Giebeldächern und den sechs Kuppeln und den Laternen, wie in einer Stadt von Kirchen und Plätzen mit Springbrunnen sogar – und besteige den gewaltigen Koloß der großen Kuppel und halte Aussicht von der Laterne über Rom, in das Sabiner und Albaner Gebirge, in die Abruzzen und auf das Mittelländische Meer. Und mag er gar hinaufklettern bis zum »goldenen Knopf«, so wird er sich sagen: »Tanzen? Sieben Hochzeitspaare?« –

Dann aber, Freund, wenn du herabsteigst, durchwandere nochmals die Kirche und labe dich an der Schönheit, Erhabenheit, ehe du von dannen ziehst. Du magst durch alle Länder der Erde reisen, alle großen Städte durchforschen, einen solchen Tempel wirst du nimmer finden. Hier, in dem Dome und im Vatikan hast du der Baumeister und Bildner größte Werke gesehen; hier bist du auf der Höhe und an der Grenze der menschlichen Kunst. Höher kann die Flamme des Genius nicht mehr lodern – der Atem Gottes bläst sie aus.

Einen Monat später war ich wieder in meiner kleinen, stillen Dorfkirche und fühlte die Nähe des Herrn.


[370]

In den Ruinen von Pompeji.

1872.

Eine große Vorwelt ist versunken – hat nichts zurückgelassen, als hier ein Marmorstück, dort ein Erzgebilde, anderswo ein eingegrabenes Zeichen, das wir nicht verstehen können. Und die Tradition, entstellt, durch die Phantasie verzerrt, lautet weiß Gott, wie anders als die Wahrheit! – Wie's immer sei, viel zu wenig Buchstaben für uns, als daß wir lesen könnten. Wir kennen das öffentliche Leben der Römer, wir kennen ihre Verfassung, ihre Gesetzgebung, ihre Kriege. Wir fanden hie und da eine Spur ihrer Priester, ein Lied, ein Buch ihrer Dichter. Das ist schier alles. Es war eine Zeit, die verständnislos wie eine Stubenmagd mit dem Besen alles wegfegte und verwischte, was dargestellt war.

Zum Glück nahm sich die Mutter Erde an und verbarg vor der Vernichterin ein Stück Altertum in ihren Schoß, um es uns, der forschenden Nachwelt, aufzubewahren.

Pompeji und Herkulanum – ich wüßte nicht, daß sie die latinischen Sodom und Gomorrha waren – und doch kam Feuer und Schwefel von oben.

Eine andere Absicht mußte es sein, als nach Christi Geburt 79 die Gewalten des Vesuv zu wüten begannen, die Lava wild qualmend bei Tag und hell erglühend in den Nächten niederströmte zu den Wohnungen der Menschen, und der Aschenregen und der Bimssteinschauer die Städte begrub.

Damals lag Pompeji hart am Meere, das seitdem zurückgewichen ist; es mag ein wesentlicher Stapelplatz für die weiter einwärts gelegenen Ortschaften gewesen sein. Sechzehn Jahre vor der Verschüttung ist die Stadt durch [371] ein Erdbeben halb zerstört worden. Die damaligen Christen glaubten, diese Zerstörungen seien eine Strafe des Himmels gewesen für die Christenverfolgungen, die unter den damaligen römischen Kaisern stattgefunden hatten, und für den Martertod der zu Rom hingerichteten Apostel Petrus und Paulus.

Authentische Aufzeichnungen des schrecklichen Vesuvausbruches im Jahre 79 liegen nicht vor. Das Unheil war eben begraben in sich selbst – und die Lavamassen lagen starr und verschwiegen über der Todesstätte. Pompeji mochte an Ausdehnung die Größe der Stadt Linz gehabt haben; Einwohner werden weniger gewesen sein, da die Bauten bei weitem nicht so groß waren, als das in den heutigen Städten der Fall ist.

Vielleicht stand auf dem ungeheueren Grabe noch lange Jahre hindurch da und dort ein Turm, eine Zinne hervor, wer kümmerte sich darum? Der Landmann baute seine Felder und Weingärten darüber; Feigen und Maulbeerbäume und Pinien und der ganze Wald des Südens wuchs darauf, und Landhäuser und Dörfer wurden, und der Vesuv schlummerte, und der kantige Gebirgswall von Sorento bis Palma hielt Wache und schloß es ein, das schöne, stille, fruchtbare Tal, und der klare Sarno rieselte dahin und ins Meer, Jahrhunderte und Jahrhunderte lang – und Pompeji und Herkulanum waren vergessen.

Siebzehnhundert Jahre zogen dahin, bis das forschende Geschlecht herankam aus dem Norden; da enthüllte die Mutter Erde ihren verwahrten Schatz und zeigte der neuen Zeit die alten Römer, nicht wie sie herrschten auf dem Tribunal, nicht wie sie rangen auf dem Felde oder in der Arena, sondern wie sie lebten in ihrem Hause, in der Familie. Das war ein ganz neues Blatt in der römischen Geschichte und vielleicht wichtiger, wie manch' anderes.

[372]

Im Jahre 1748 ließ Karl III. von Neapel auf den ungeheuren Aschenhügeln Pompejis den ersten Spatenstich tun, doch erst in neuester Zeit haben die Ausgrabungen einen solchen Fortgang genommen, daß heute das reinste und klarste Bild der Stadt – getreu bis auf das Nachtlämplein und das Stückchen Mosaik – bis auf die Knochen der Bewohner – vor uns daliegt. Die begrabene Stadt starrt uns an, wie ein unerlöstes Gerippe, das nicht zerfallen darf, weil es Zeugnis geben muß.

Der Weg von Neapel, zwischen den sonnigen Fluten des Meeres und den unterirdischen Gluten des Vesuv hin, bereitet würdig auf Großes vor. Er führt über Lava und Ruinen: aber mitten in den Ruinen prangen Gärten. Und da stehen zwischen dem schwarzgrauen Gemäuer Brunnen, an denen Esel Wasser emportreiben, und Weinlauben, unter welchen Hüter und Eseltreiber und Ciceroni auf dem Rücken liegen und auf die Feigen und Trauben warten, die ihnen ja, wenn heute nicht, so morgen in den Mund fallen müssen. Wir gehen über Herkulanum, aber diese Stadt ist nicht ausgegraben, doch sind neue, blühende Ortschaften aus ihr hervorgewachsen. Zwischen den Ruinen selbst prangt die in Italien allgegenwärtige Gartenkultur, und da stehen Villen; und manches Haus ist aus Lava gebaut, mit Lava gedeckt, aber trotzig bleibt es stehen, bis etwa eines Tages neues Baumaterial von den Höhen des unheimlichen Berges niederschießt.

Der Weg verläßt das Meer, biegt links in das Tal, wohl ein wenig abseits von dem ewig drohenden Vesuv. Man sieht es aber dem stillen, wie träumenden Gesellen nicht an, daß er die Hölle im Herzen trägt, daß er imstande ist, das halbe Tyrrhenische Meer zu beleuchten und das ganze südliche Italien mit Asche zu bestreuen. Aber die Menschlein [373] sind zutraulich und streicheln den schlummernden Löwen und krabbeln an ihm hinauf mit ihren Häusern und Gärten. Und plötzlich wird er wach.

Hier, von Pompeji ein Erdwall, durch den eine gewölbte Pforte führt. Wie durch ein Friedhofstor gehen wir hinein und stehen in der zugrunde gegangenen Stadt.

Neapel und Pompeji. Dort das tolle, übermütige rasende Leben, die alles bewegenden Leidenschaftskämpfe von vierhunderttausend Menschen; hier – alles vorüber. Die Geschichte dieser Stätte ist erfüllt – tretet leise auf die Steinplatten, störet den Frieden der Ewigkeit nicht!

An dem, was in Pompejis Ruinen am bedeutendsten scheint, am Forum, an den Tempeln, an den Theatern, ging ich nach kurzer Besichtigung vorüber. Ich wandelte durch die geraden Gassen, deren mächtige, unregelmäßige Pflasterblöcke aus Lava noch die Furchen der Räder zeigen, und ich ging in die Häuser, die sich nicht auszeichneten, wo aber die Menschen gelebt, geliebt, gehaßt haben, gestorben sind. Auf Wandgemälden ließ ich meine Augen gern ruhen, die voreinstigen Bewohner taten's ja wohl auch – es waren hier schöne Gestalten dargestellt auf dunkelrotem Grunde; und ich fragte die Mosaikkörnchen auf den Fußböden, ob sie nicht Kunde wüßten von Haus und Heim des alten Geschlechtes. Aber Kunde hiervon geben nur Inschriften, Statuen, Hausgeräte, Schmuckgegenstände, Särge usw. im Museum zu Neapel. Diese Räume sind leer; all' das Wiedergefundene ist im Museum aufbewahrt; schier ganz Pompeji ist uns wieder geworden; den Sarg und die Vasen und den Todesschmuck hat das Grab gegeben, nur den Menschen nicht. Was wir hier sehen, ausgegrabene Buchstaben sind es nur eines versunkenen Blattes der Weltgeschichte, aber sie sind nicht blutbefleckt, wie die Ruinen der Kaiserpaläste in Rom – ein [374] stilles Willkommen rufen sie uns zu und laden uns ein in das Haus des römischen Bürgers.

Die Häuser sind niedrig und dachlos, aber die Mauern sind noch gut erhalten oder ausgebessert. Hie und da führen enge Steintreppen empor zu dem Dachraum. Spuren von Feuerherden, Bettstätten, Hausaltären finden sich, noch mit Götterbildern versehen, aber viel häufiger die Vertiefungen der Bäder mit Säulengängen ringsherum. Das Bad ist den Römern der Mittelpunkt der Genüsse gewesen. Die engen, niedrigen Türen haben bequeme Antrittssteine und sind noch mit Holzpfosten eingelegt. Sehr spärlich sind die Fenster, sie gehen in den Hofraum; und es muß, wenn der Hausvater so bei den Seinen saß (das scheint aber nicht gar oft geschehen zu sein), sicherlich die heilige Vestaflamme, das Herdfeuer, allein gewesen sein, welches den Raum erhellt hat.

Wenn auch die malerische Ausschmückung der Wände, der bunte Stucküberzug der Säulen, die Muschelmosaik der Altäre, Bäder und Fußböden überall mannigfaltig ist, so sind doch, außer den öffentlichen Gebäuden, die Häuser und inneren Räume ziemlich einförmig. Sollten sie nach tausend Jahren etwa Neapel einmal aus der Asche des Vesuv hervorgraben, so wird es hierin weit mehr zu staunen geben.

Die Verschüttung Pompejis kann nicht plötzlich vor sich gegangen sein, sie mag stunden-, ja tagelang gedauert haben, und doch hat man in den Ruinen Hunderte von Leichen gefunden. Sie wollten sich nicht trennen von ihren Wohnstätten, oder waren krank, bresthaft, gefangen und wurden vergessen, oder sie haben in Rauch und Staub den Ausweg nicht gefunden und sind erstickt. Erwürgt und verscharrt von der Natur werden sie nach langer Grabesruh' zum Tageslicht erhoben. – Wie ehedem leuchtet wieder die Sonne, wogt [375] das Meer, droht der Vesuv. Es ist dieselbe Welt wie einst – die Natur ist nicht älter geworden; Millionen sind geboren, gestorben – aber das Menschengeschlecht ist noch jung und bereitet sich vor für künftige Jahrtausende.

Ein kleines Mädchen, wahrscheinlich das Kind eines Aufsehers, spielte in einem dieser stillen Hofräume mit bunten Steinchen. Es baute sich damit eine Pyramide und klatschte in die Händchen, als sie fertig war. Die Abendsonne fiel schief in das Gemäuer, färbte die Wände und Säulen rot, färbte des Kindes Antlitz rot und die Äuglein glühten in Freude. Da dachte ich: Schicksal, du hast hier Menschen und Menschenwerke vernichtet, das war unsäglich Jammer und Not. Gut denn, es ist vorüber, aber warum fängst du mit diesem Kinde von Neuem wieder an?

Über das Gemäuer sah ich den bläulichen Vesuv ragen; violett war er in dem Abendsonnenäther, als es in den Ruinen schon zu dunkeln begann. Ein braunes, leichtes Bändchen schwebte über dem Kegel, und löste sich auf in den Lüften, und zog immer wieder nach, so sanft und mild, wie zur Winterszeit ein Hauch aus warmer Brust.

Der Abend lag über der zerstörten Stadt, der Halbmond hing darüber. Ich war allein in den weitläufigen Ruinen. Einen Hügel stieg ich hinan, der noch große Teile Pompejis birgt und da lag ich stundenlang auf einem Stein und träumte. Jeremias sang Klagelieder auf den Trümmern Jerusalems. Was sollte ich klagen? Lieber fragen. – Mir war Welt und Menschheit wie ein Fragezeichen.

Es war eine stille, milde Nacht; nur von dem Meeresufer wehte das Anprallen der Wellen an das Gestein leise herüber. Die Wölklein über dem Kegel des dunklen Vesuv waren ein wenig gerötet. Das Tal schwieg; in dem Gemäuer löste sich zuweilen ein Steinchen und bröckelte nieder …

[376]

So weit ist meine Wanderschaft gegangen, daß ich zu einer Stadt gekommen bin, auf deren Hauptstraßen bestaubte Gräser wuchern, und über deren Forum das Eidechschen schleicht. –

Und als der Wanderer diese seltsame Stätte, dieses stumme, eherne Traumbild gesehen, da lenkte er seine Schritte wieder der nordischen Heimat zu.

Der Mond sank nieder zum Meere und zog einen glänzenden Streifen über das Gewässer gegen das Auge. Noch einmal warf er seinen erblassenden Strahl auf die bleichen Felsen von Sorrent, auf den finsteren Vesuv, auf die Ruinenstadt. Dann spielte er mit den zitternden Wellen des Meeres und stand auf der Linie des Horizontes wie ein goldenes Schifflein.

Da – ehe der Halbmond noch versank in dem Gewässer, – war ein schwarzes Täfelchen in ihm. Es war wohl das Segel eines fernen Schiffes.

Endlich versank die Leuchte langsam – nur noch ein Spitzchen, nur noch ein Sternchen blieb zurück, dann verlosch auch dieses in den Fluten.

Das Segelschiff aber trieb – Gott schütze seinen Lauf! – in tiefer Nacht auf weiten Wassern, und Friede war über den Ruinen.


Auf den Wassern.

I.

Da ich noch Kind gewesen, war es unser rieselnder Hausbrunnen, dem ich mein Fingerlein hinhalten mußte, daß es naß werde. Da ich ein Knabe gewesen, war es das klare Bächlein, in das ich mein kleines Flügelrädchen hineinbaute und aus dem ich die Forelle zog, um sie wieder hineingleiten [377] zu lassen. Da ich ein wandernder Junge gewesen, bin ich am Bächlein entlang gezogen, bis es ein Bach ward, und dem Bache, bis er zum Flusse wuchs; und ins Himmelsgewölbe schaute ich hin, dort wo es in sonnigem Äther niederging über die Ebene, und dachte: Jene Lüfte, jene fernen Wölklein stehen über dem Donaustrom. – Über hohe Stege, über lange Brücken zu gehen, rauschende Wehren, brausende Wasserfälle mit ihrem weißen Schäumen und ihrem Wasserstaub zu sehen, welch eine Lust! Da lag der Fluß glatt wie ein See, dunkel zwischen Weiden auf der Ebene hin und hin; dort rieselte er in kräuselnden Wellen leicht am Sande des Ufers spielend oder wallte über schwarzgrünen Tiefen still und wuchtig dahin. Und wieder in Engtälern zwang er sich brausend und gischtend zwischen Wänden und Felsblöcken fort. Damals fiel es mir auf, daß ein rasch fallender Fluß weniger wasserreich erscheint, als ein still dahinfließender von der gleichen Größe.

Dann die Seen im Gebirge mit ihrem Wogenschlag am Ufer, mit ihren sagenreichen Tiefen und mit ihren Fahrzeugen! Als ich auf solchem See das erste Segelschifflein sah, wunderte ich mich überaus, daß solche Dinge, wie man sie nur in Bildern so oft gesehen, tatsächlich in der Welt vorkämen und daß ich vor einem derselben stand.

Meine Lebenssonne stieg schon empor gegen den heißen Zenit, ich hatte schon Stürme erfahren, äußere und innere, ich war schon Sünder und Büßer gewesen – als ich zum erstenmal das Meer sah. Es war das adriatische. Ich fühlte mich im ersten Augenblick schier ein wenig enttäuscht, so wie es mir stets bei allem Großen ergangen ist, zu welchem eine ausschweifende Phantasie im vornherein die Vorstellung gefälscht hatte. Zum zweitenmal sah ich das Meer in der ernsten, düster bewegten Ostsee. Es war eine grollende Ödnis [378] über derselben, eine nordische Ossianstimmung. Zum drittenmal sah ich das Meer in der Nordsee. Dort nahm ich es mit ihm auf. Es trug mich hinaus, daß ich kein Land mehr sah und kein Schiff außer dem meinen, nichts als das hohe wogende grüne Meer unter unendlichem Himmel. Es ist ein Vorwitz, dachte ich mir damals, daß der Mensch mit seiner zuckenden Nußschale sich dieser unermeßlichen Gewalt hingibt. Es waren drei große Tage und Nächte für mich, so auf dem leibhaftigen Tode dahinzugleiten und ich fühlte, wie es doch lächerlich ist, ein Menschlein zu sein und zu wähnen, daß man die Welt beherrsche. Aber der Menschlein Mut rührt die Götter oder macht ihnen Spaß, und freiwillig gibt die See das Schiff zurück.

Zum viertenmal sah ich das Meer im sonnigen Süden von Genua und in Neapel. Das mittelländische, es ist das freundlichste, auf dem noch der Hauch der klassischen Schönheit zu schweben scheint.

Seither hat mich die Sehnsucht nach dem Meere nicht mehr verlassen; ja in dem Maße, als mir das Geschick die Hochgebirgswelt versagt, steigert sich mein Hang zum Meere. Andere wallfahrten nach den Gletschern des Glockners, ich zur Küste von Miramare.

Schon die Fahrt dahin macht Stimmung. Da löst man sich mählich los von den grünen Bergen der Steiermark; es kommt die unterländische Ebene mit ihren saftigen Wiesen, in der Ferne Weinberge. Durch ein fast wildes, schattenreiches Gebirge fährt man ins Land der Krainer; wir gleiten über die Laibacher Ebene, in welche die weißen Steiner Alpen herableuchten. Dann kommt der Karst. Eine Mondlandschaft mit Schründen, kahlen Bergen und kraterartigen Vertiefungen. Diese Vertiefungen entstanden, als die Oberfläche hinabsank in die Höhlen. [379] Keine geschlossenen Felsen hier, sondern eine endlose Wüste von losen, grauen Steinen, jeder malerisch für sich, jeder im Mondscheine wie beschneit erglänzend zwischen scharfen Schatten. Die Bora hat sie blosgewühlt und den Erdstaub dahingeweht. Hunderte von Äckerlein, Wieslein und kleinen Weiden sind mit hohen Steinmauern eingerandet, zu sehen wie Kirchhöfe in armen Heidedörfern. Dort und da ein Strauch, eine verkümmerte Eiche. In den Mulden und Schluchten stehen kleine Dörfer nach italienischer Bauart, mitten in Weinreben, und darüberhin ziehen sich streckenweise die hölzernen Schutzwände der Eisenbahn gegen Schneewehen. Der Süden und der Norden streiten hier auf dem Karst um die Herrschaft. Der Süden ist zurückgedrängt worden vielleicht zur Zeit, als die Veneter in dieser Gegend die Piloten holten zu ihrer Wasserstadt. In neuer Zeit scheint der Norden wieder weichen zu müssen; denn man ist daran, den Karst aufzuforsten, wovon schon heute stellenweise so erfreuliche Anfänge zu sehen sind, daß Triestiner behaupten, man merke bereits die Zähmung der Bora.

Auf dem ganzen Karst hat der Reisende das Gefühl, als ob ihn die Eisenbahn über das ungeheure Plateau eines hohen Gebirges dahintrage. Bei Nabresina erreicht die Steinwüste den höchsten Grad, da biegt sich die Bahn nach links, geht durch einen Felseinschnitt, wie es deren auf der Strecke zahlreiche gibt, und der Blick des Reisenden fliegt plötzlich wie befreit hinaus in eine unabsehbare graue Ebene, dort und da der lichte Punkt eines Gebäudes. Das adriatische Meer. So nahe ist es da, daß man meint, es mit einem Steinwurf erreichen zu können. Aber es ist tiefer unten, als es scheint, so tief, daß es uns auch in bewegtem Zustande wie eine glatte ruhige [380] Fläche daliegt. Die lichten Punkte in der Ferne sind freilich Gebäude, aber schwimmende.

Der Gegensatz, aus der Steinstarrnis so jäh vor die weichen, ewig lebendigen Wässer versetzt zu sein, wirkt, und den möchte ich kennen, der, zum erstenmal das Meer sehend, in diesem Augenblick nicht eine Aufwallung seines Wesens verspürte, nicht ein Feuchtes in seinem Auge – die Träne am Meere.

Miramare heißt das Schloß, das dort unten aus der Landzunge scharf am Rande steht, mit seinen weißen Zinnen einsam und melancholisch hinausschaut auf das Meer. – Miramare heißt es. Den Namen hat ihm der gegeben, um den es trauern wird, bis dereinst der letzte Stein auf ihm niedersinkt in die Flut. –

Links von diesem Bilde, im Hintergrunde, wo sich das Meer einbuchtet, liegt im stattlichen Halbkreise das stolze Triest.

Aus dem Bahnhofe von Triest tretend, steht man am Hafen. Fast erschrickt die Landratte vor den Ungeheuern der Dreimaster, die mit ihren turmhohen Stämmen und gekreuzten Takelwerken geisterhaft vor ihr stehen. Vielleicht ist sie eine mathematiklustige Natur und will die Dampfer und Segelschiffe alle zählen, die bis zum Leuchtturme hin im Hafen liegen. Ja, die Landratte wird dieses Unternehmens bald müde sein. Das ganze buntbewegte, laute Hafenleben stockitalienischen Charakters betäubt sie. – Plötzlich versetzt in eine neue Welt! Da verliert mancher den Kopf, mancher nur den Hut, den ihm die Borina tückisch vom Haupte reißt und ins Meer hinauswirft. Schon gleitet ein Nachen hin, sich gelenkig windend zwischen Kähnen, Ankerfesten, unter den schwarzen Bäuchen der großen Schiffe am Molo und bald überreicht [381] der Matrose, heitere Worte hell in welscher Sprache rufend, den Hut, ewig höflich und ewig unzufrieden mit der Gabe, die man ihm reicht. Den Hut setzt man auf und denkt: er wird schon wieder trocken. Trocken wird er und hat eine graue Kruste – vom Salz des Meeres. Das alles macht der Landratte unendlich viel Spaß.

Ganz eigentümlich angenehm berührt mich am Meeresstrande allemal der Gedanke, daß man hier im Vorhofe aller Weltteile sei, gleichsam in der Vorhalle zu Alexandrien, Neuyork, San Franzisko, Kalkutta. Schon im Hochgebirge streift sich der kleine persönliche Egoismus ab; auf dem Meere löst sich auch der große, nationale auf – das Herz weitet sich kosmopolitisch, befreit sich.

Darum hat sich der russische Kriegsdampfer so patzig ausgenommen, der an jenem Tage, als ich in Triest war, mit Kanonengebumme in den Hafen einlief. Solcher Seevagabunden schürfeln viele auf dem Mittelmeere herum, auch Haifische, wovon vor wenigen Jahren einer nach Triest kam und jenem im Meere badenden Mann den Fuß wegbiß. Der Angefallene wurde vor dem Ungeheuer noch gerettet, verfiel aber vor Schreck und Grausen in einen Starrkrampf, an dem er nach wenigen Stunden gestorben ist.

Ich pachtete mir einen kleinen Segler und zwei Matrosen und gebärdete mich wie ein Schiffskapitän, der eine Reise um die Welt unternimmt. Dabei Erinnerung an meine Heldentat im Meerbusen von Sorrent. Als mich dort vor Jahren mein Jollenführer aufs hohe Meer hinausgerudert hatte, begehrte er das Dreifache der von uns früher genau und fest vereinbarten Löhnung. Da ich nicht darauf einging, drohte er, mich nimmer ans Ufer führen zu wollen. Ich konnte mich mit dem Manne auf italienisch [382] nicht anders verständigen, als daß ich zornig den Arm erhob und mit einem echt steierischen: »Himmelsaggra, Kerl, ih hau dir ani aba!« mir mein gutes Recht verschaffte. Ja, ja, wer steirisch spricht! … »Hau dir ani aba!« ist Volapük. Mit der richtigen Gebärde allgemein verständlich.

Meine Herren Matrosen hier in Triest aber kreuzten im Hafen, über dessen Spiegel der Wind dort und da kräuselnden Schaum aufhobelte. Sie waren nicht hinauszubringen auf die hohe See, auf der die weißen Gischten sprangen. Sie könnten der heftigen Bora wegen nicht mehr zurück. – Wer sagt, daß ich zurück will? Ihr bekommt für die Stunde einen Gulden, ob wir nun nach Miramare segeln oder nach Sidney. – Hierauf ging's hinaus. Der Wind pfiff im Segel und die dunkelgrünen Wasser wogten in bauchigen Wellen und scharfen Kämmen und gebärdeten sich wütend gegen unser armes Schifflein, dessen Bord zu einer Seite schier unter Wasser tauchen wollte, so sehr wir die entgegengesetzte Seite mit unserem irdischen Gewichte zu beschweren suchten. Die Matrosen waren stets mit ihren Ruderstangen, mit den Segeltauen beschäftigt und hereinspritzender Gischt und Schweiß rann ihnen vom braunen Gesicht. Mitunter stießen sie einen Ruf aus, der im Brausen nicht gehört wurde. Ich stemmte mich mit den Füßen stramm gegen die tiefgehende Wand und schaute hinaus. Eine anspringende Welle schlug mir die Brille von der Nase, was auch ganz gut war, denn sie war schon sehr stark mit Salzkrusten belegt, daß ich damit nichts mehr gesehen hatte.

Der Karst lag bereits in grauer Ferne, durch welche Triest in unbestimmten Umrissen, wie ein gelblichweißer Steinhaufen, schimmerte. Vor mir lag die ungeheure Anhöhe [383] des Meeres. Es zeigt sich nicht wie eine ebene Fläche, sondern wie eine schwellende Höhung, üppig und fessellos, als überflute es sich selbst immer und überall. Auf Landseen frägt man sich manchmal nach der Tiefe oder Untiefe des Grundes. Auf dem Meere denkt man nicht mehr daran, denkt nicht an Berg und Tal da unten, nicht an das Gold, nicht an die Schiffstrümmer und Gebeine, die unten ruhen mögen, denkt auch nicht an die Ungeheuer des Tierreiches, die im Innern des Gewässers herrschen. So ganz nehmen die Erscheinungen der Oberfläche den Neuling gefangen.

Es gibt wahrscheinlich Leute, die sich das Meer unter dem sonnigen Tage licht und glitzernd denken als durchsichtiges Wasser, spiegelnd wie Kristall, blendend für das Auge und am Horizont mit dem Himmel allmählich sich verwebend, wie der ferne Gesichtskreis in einer Landschaft. Das Meer ist anders. Es ist dunkel und glanzlos, in einem tiefgesättigten Grau, Blau oder Grün, auf welchem sich die weißen Schaumfetzen schuppenartig und zuckend abheben. Die auch bei stürmischer See schnurgerade und ruhige Linie des Horizontes ist scharf geschnitten, unten das dunkle Gewässer, oben der lichte Himmel. Unbegrenzt und doch die Grenze scharf vor dem Auge. Dieses ungeübte Auge weiß auf dem hohen Meere aber nicht, ist die Gesichtsgrenze wenige Stunden oder viele Meilen weit entfernt, es ist immer, als ob eine nahe Wasserhöhe die natürliche Sehweite einengte. Erst wenn in der Kimmung ein Schiff auftaucht, gewinnt man einen Maßstab für die weite Fläche, die man überblickt. Wenn etwa zur Mittagszeit draußen auf der Schneide ein kleiner Punkt erscheint, so hat man am Nachmittag wohl allmählich die Gestalt eines Segelschiffes vor sich, aber erst am Abend [384] steht es uns so nahe gegenüber, daß man die Einzelheiten seines vielgliederigen Takelwerkes erkennen kann. Ein andermal vermeint man das schimmernde Segel eines Fischerkahnes zu sehen, aber plötzlich fliegt es in die Lüfte auf, eine Seemöve ist's, wie diese Vögel ja des Menschen treue Begleiter sind auf den Wassern, weil von den Ablagerungen der Schiffe oder von der Beute derselben manches für sie ausfällt.

Wunder nimmt die ewige Reinheit des Meeres. Was fließt nicht alles da zusammen, welche Abfälle von den großen schmutzigen Seestädten, von den tausenderlei Fahrzeugen, welch ein Wust von Dingen, die weder untergehen, noch sich auflösen können, wird ins Meer geworfen. Nichts von all dem ist zu sehen, selbst in den Häfen nicht. Seit vielen tausend Jahren gleitet die schmutzige Geschichte der Menschheit millionenfach über die Meere – sie müßten Jauche geworden sein. – Das Meer ist rein wie am Tage der Schöpfung. Dieselbe, ewig menschliche Spur verzehrende, reinigende Kraft wie im Walde, wie in der Luft, ist auch im Meere. Nichts, gar nichts haben die Geschlechter, die Völker dem Meere anhaben können, es ist heute, wie es vor dem Menschen war.

Der Sonnenstern vermag tagsüber das Meer nicht zu durchdringen, es bleibt selbst unter heiterem Himmel immer eine gewisse Dämmerung darüber ausgegossen. Erst mit dem Untergange der Sonne zeigt sich ein helleres Licht und Farbenspiel. Die Sonne wird röter, je tiefer sie sinkt, und fast am Rande des Meeres angelangt, ist ihre untere Hälfte matt und dunkelglühend, während die obere noch heller leuchtet. Dadurch erscheint die Scheibe wie eine von oben her beleuchtete Kugel. Dieser glühende Ballen taucht nun in weit größerer Gestalt, als er je am [385] Zenite gestanden, ins Meer; es ist einem, als müsse man das Zischen hören, wenn die Sonne hineinsinkt. Das Meer, in welches sie taucht, ist schwarz wie Tinte, es widerspiegelt nichts, nur die Wellen, die unser Schiff umgeben, haben einen flüchtigen Perlmutterglanz. Noch sieht man der Sonnenscheibe Hälfte, sie ist glanzlos, als sauge sie sich bereits an Wasser voll. Endlich ist nur mehr der oberste Rand da – man könnte meinen, am Horizont stehe ein brennendes Schiff; der letzte lodernde Punkt verzuckt – dann ist alles verloschen. Auf den Gewässern ist es ruhiger geworden, keine Bora mehr, kaum eine leichte Brise, das Wogen der Wellen ist ein Wiegen geworden. –

Kehren wir um. Die Sterne des Himmels müssen den Weg weisen, bis das drehbare Licht des Triester Leuchtturmes uns begrüßt. Allmählich taucht auch das Geflimmer der Stadt auf, die Signallichter der Masten und endlich sehen wir die zickzackigen Streifen der sich im Wasser spiegelnden Laternen des Molo.

Das kleine geschäftige Treiben der Menschen ist sehr possierlich nach einem solchen Versunkensein in der großen Natur. Und noch possierlicher ist es, daß man sich alsbald auch selber wieder hineinmischt, mit einer Wichtigtuerei, als hänge das Heil der Welt ab von unserem alltäglichen Hasten. Unser eigenes hängt freilich ab von diesem Kampf ums Dasein; wenn das Dasein doch nur mehr solche Momente hätte, als ich erlebt da draußen auf See in der sanften Gewalt Gottes.

II.

Abbazia! Schon das Wort klingt wie der Gesang eines tropischen Vogels. Wo liegt dieses Abbazia?

Dem Wiener ist es spielend leicht zu erreichen, er [386] schläft sich einfach hinüber. An einem Spätabende läßt er sich auf dem Südbahnhof ein Eisenbahngelaß aufsperren, zieht die Fenstervorhänge zu, macht sich bequem, raucht noch ein paar Zigarren, legt sich dann hin und –

Nach einiger Zeit wird er wach, reibt den letzten Rest Duseligkeit aus den Augen, streckt sich und sagt: »Ah, das war ein köstlicher Schlaf! – Wo sind wir denn schon?« Er zieht die Vorhänge auf: Ah!

Hesperien im Morgensonnenschein!

Der Eisenbahnzug steht hoch an einem Ausläufer des Karst in der Station Mattuglie. Steil und größtenteils kahl stürzen die kalkfelsigen Berge ab und unten liegt blauend das Meer.

Es ist die Bucht von Fiume, die allerdings viele Ähnlichkeit mit einem Binnensee hat, weil sie in der Ferne von mehreren langgestreckten bergigen Inseln begrenzt wird. Nur rechts, am istrianischen Strande entlang, öffnet sich eine Straße hinaus auf die freie hohe See. Das ganze Bild ist ein südliches und erinnert an italienische und spanische Küsten; Liebhaber des Orients mögen sich auch an die Buchten Griechenlands, an den Strand von Palästina, an den Fuß des Libanons versetzt fühlen. Die Höhen des Karstes und der kroatischen Alpen, frei vom Meeresspiegel aufspringend, geben sich gar stolz und ihre Schneegipfel schauen neugierig herab auf die immergrünen Lorbeer- und Palmenhaine an der Küste.

Dem Ankömmling wird gesagt, er habe von der Station Mattuglie aus mit Wagen nach Abbazia vierzig Minuten zu fahren, und auch nicht länger zu gehen. Bei der klaren kühlen Witterung wählt er das letztere. Mit jedem Schritte, den er abwärts tut, steigert sich die Wärme der [387] Luft. Seine Umgebung sind graue, aus der Erde quellende Felsblöcke, Steinfletze und dazwischen dort und da eine ärmliche Hütte aus Quadern, Gärtlein mit Ölbäumen und Weinreben, und kleinen Wiesen, die terrassenartig mit Rohsteinwällen oder festen Mauern eingefaßt sind. So ähnelt mancher Gemüsegarten einem Gebäude, manche Ziegenweide einer Festung. Da ist der Schafstall und die Hütte des Hirten massiv, wie für die Weltgeschichte gemacht; und wenn das Schaf vom Steuereinzieher davongetrieben wird und der Hirte auswandert und das Strohdach einbricht, so stehen die Steinmauern so gut ihr Jahrhundert noch, als bei uns daheim die Ruinen der Ritterburgen. In der Gegend sieht man wohl Häuserruinen stehen; die Zeit hat hier ein armes Volk erdrückt. Die neuesten Tage bauen an diesen Küsten Palast um Palast, aber nicht für die Einheimischen, sondern für die Fremden, die in ihren großen Städten müde geworden sind und sich hier am Meeresodem wieder erfrischen wollen.

Zu Füßen des Wanderers liegt nun hart am Meere der Flecken Voloska. Slawisches und romanisches Wesen ist hier gemischt, ersteres wiegt an Ausdehnung und Zahl vor, letzteres drückt aber der Gegend den Charakter auf. (Zu erinnern, daß diese Aufsätze in den Achtzigerjahren geschrieben worden sind.) Von Voloska aus links führt eine Kunststraße nach dem nahen Fiume, rechts am Meere hin geht's nach Abazzia. Der Weg ist kurz, bald stehen wir im Kurorte. Die im Hintergrunde sich steil erhebenden Berge – mit der Spitze des 1400 Meter aufsteigenden Monte Maggiore – sind unwirtlich und stellenweise armselig bestanden mit Laubholz; sie lassen am Strande nur einen kümmerlichen Raum für Menschen. Dieser Raum ist von einem immergrünen Wald von Lorbeerbäumen, [388] Palmen, Zedern und Sebengewächsen bestanden. Dem entsprechend ist die Blumenwelt. Fast betäubt den Fremden anfangs die weiche Luft und der üppige Duft. Es ist, als ob man in einem ungeheuren Gewächshaus stünde, von dem für den Augenblick die Glaswände und das Dach weggenommen worden. Und in diesen Wald hinein bauten sie den Kurort Abbazia. Tiefschattige Haine, bunte Rasenplätze, glatte Kieswege, wildes Gefelse und Ruinen von Bauernhütten wechseln zwischen den Häusern; so sinkt die Fläche sanft zum Meere hin, wo wildzerklüftete braune Steinwuchten und Klippen gegen die andonnernden Wogen ihre Vormachst halten. Es ist wohl nicht zweifelhaft, wer am Ende siegen wird, das weiche Wasser oder das harte Gestein. Dieses verliert bei jedem Wellenschlag Atome, das Wasser zergischtet jede Sekunde und ist doch ewig gesund. Aber bis der Strand dahingewaschen sein wird, dazu hat's noch lange Zeit; da mag früher wohl ein großer weltberühmter Kurort hier florieren und wieder aus der Mode kommen und verfallen, wie die Wohnungen der früheren Ansiedler verfallen sind.

Man setzt sich hin und kann stundenlang dem Spiele des Wassers zusehen. Gerne treibt es – und das ist bei gewöhnlicher Lebhaftigkeit sein Gebaren – in langgezogenen Wellen, wovon eine von der anderen etwa zehn bis fünfzehn Meter entfernt ist, heran. Solch eine Welle macht einen hohen glatten Rücken, durch den das Licht schimmert und sie wie grünliches Eis erscheinen läßt. Nahe dem Strande begegnet ihr aber eine von den Steinen zurückgeworfene Welle, über diese hinwegspringend bricht sie sich in Gischt, fährt an den Strand, wo sie unbändig emporwallt oder weiß aufspritzt, um dann wie ihre Vorfahren und ihre Nachkommen zurückzusinken. An mehreren Punkten, [389] besonders am sogenannten Teufelsbrunnen sichtbar, rinnt das Meerwasser in mächtigen Strömen durch Höhlungen in den Berg hinein, um an anderer Stelle wieder hervorzubrechen. Dort und da gibt es badeschwammartig durchlöcherte Steine, durch die das Wasser gurgelt und drängt, um auf der anderen Seite stoßweise hervorzuspringen. Die Färbung des Meeres ist von höchster Mannigfaltigkeit, hier kommt noch dazu die Schattierung von den Inseln Veglia und Cherso, deren Berge besonders in den späten Nachmittagsstunden in sanftem Veilchenblau herüberlachen. Freundlich schimmert Fiume und Porto Re am Fuße des kroatischen Gebirges und im südlichen Hintergrunde steigen die hohen weißen Bergzüge Dalmatiens hoch in den Himmel empor. Mir fällt ein, der Blick auf dem Bodensee gegen die Gletscher der Schweiz hin. Die Schönheit der See und die Herrlichkeit der Alpen im Bilde vereinigt!

Als drüben an der Riviera vor einiger Zeit das Erdbeben gewütet hatte, kamen Flüchtlinge herüber nach Abbazia, das sich patriotischerweise anschickt, die österreichische Riviera zu werden. Und man hat gefunden, daß die Naturschönheit hüben jener von drüben nicht bloß in nichts nachgibt, sondern sie sogar übertrifft.

Dieses Asyl am Quarnero hat für uns seinen besonderen Wert. Wer den nordischen Winter nicht liebt oder ihn der Gesundheit wegen fliehen muß, und doch nicht ins ferne Ausland will, der schlafe sich also in einer schönen Nacht hinab nach Abbazia. Im milden Hauche des grünen Lorbeerhaines und im Angesichte des sommerlich sonnigen Meeres kann er dort Christfest halten.

[390]

III.

Da sitze ich auf dem luftigen Balkone des stattlichen Hospizes Quisisana und treibe wieder Meerstudien. Der Palast steht in dem immergrünen Walde, mit dessem Laube man die Unsterblichen ehrt. Zu meinen Füßen ruht der Kurort und darüber hinaus dehnt sich das Meer.

Ich liebe das Meer. Daß ich meinen Leib entkleide und in die laue salzige Flut steige, ist recht gut, aber besser noch ist das andere: ich bade im Meer mein Herz.

Dann sinne ich nach über die Natur des Gewässers. Die Ostsee z. B. hat in den Sommermonaten eine Wärme von 16–17 Graden Celsius, das Mittelmeer von 22 bis 27 Graden, das Rote Meer, welches zwischen heißen Wüstenländern liegt, hat sogar eine Wärme von 34 Graden, also um etliche Grade wärmer, als ein gewöhnliches warmes Bad ist. Ebenso verschieden ist der Salzgehalt der Teile des Weltmeeres. Die Ostsee hat etwa ein viertel Prozent Kochsalz, während das Tote Meer zwanzigeinhalb Prozent mißt. (Vielleicht kommt das von der Salzsäule, in die Frau Lot bekanntlich in der Gegend dieses Meeres verwandelt worden ist, meinte einer, der alles Salzbittere den Frauen zuschreibt.) Das Tote Meer, das merkwürdigste Binnenmeer der Erde, hat auch ein so großes spezifisches Gewicht, daß der Mensch darauf schwimmt wie ein Kork und bei dem besten Willen nicht untergehen kann. Es ist das einzige Meer, welches fast absolut klar ist und die Sonnenstrahlen wohl viel tiefer in sich läßt, als der Ozean, in den das Licht nur neunzig Meter eindringt. Tiefer unten herrscht absolute Finsternis.

Überaus unterschiedlich ist das Auftreten der Ebbe und Flut; in der Ostsee ist sie kaum zu merken, in unserem [391] Mittelmeere unbedeutend, hingegen kommt der tägliche Wechsel des Steigens und Fallens in den südlichen Meeren in großem Maße vor. Die Tagesflut hat ihre Ursache wohl in der Ausdehnbarkeit durch die Wärme?

Die hervorragendste gute Eigenschaft der See, das Heilsamste, was die See für uns hat, ist die Seeluft. Sie wirkt mehr als die See-, Sand- und Schlammbäder, und zwar durch ihre Reinheit, ihre laue Feuchtigkeit, ihren Salzgehalt. Aber sie muß von der See herkommen, nicht vom Lande. Etliche Chemiker, die bekanntlich alles wissen und auch den Homunkel gemacht haben, behaupten auf Grund ihrer sehr wissenschaftlichen Untersuchungen, daß in der Seeluft keine Salzteile vorkämen. Der simpelste Fischer oder Matrose, ja sogar der am Strande wandelnde Landbewohner weiß das freilich anders, ja selbst auch, ohne mit dem Wasser geradezu in Berührung zu kommen – weil seine Lippen einen salzigen Geschmack annehmen, in seinen Haaren sich Salzkristallchen bilden. In Helgoland kann man es häufig bemerken, daß bei starken Seewinden die Fenstergläser der höher gelegenen Häuser sich mit feinen Salzkrusten überziehen.

Der eigenartige Geruch der Seeluft, den manche als heilsam für den Magen bezeichnen, soll von den faulenden oder verwesenden Stoffen aus dem Tier- und Pflanzenreiche kommen, die das Wasser mit sich führt. Ob solche für den, der sie einatmet, heilsam sind, das kann bejaht, aber auch verneint werden, wie überhaupt alle Kultur- und Medizinmittel von den einen bejaht, von den anderen verneint zu werden pflegen. Was existiert denn überhaupt auf Erden, über das alle Leute der gleichen Meinung wären? Die Wissenschaftler unter sich sind es so wenig als die Laien.

Ein Mensch, wird versichert, trinke täglich 10000 Liter [392] Luft, da kommen Teile, mit welchen sie etwa verunreinigt ist, schon in Betracht. Wohltätig ist der Aufenthalt an der Küste, wohltätiger ist er auf einer Insel, am wohltätigsten auf hohem Meere, auf dem die Luft fast vollkommen rein ist. Es wird eine Zeit der schwimmenden Kurorte kommen. Man wird Schiffe einrichten, die den Zweck haben, mit ihren heilbedürftigen Insassen sich immer auf der See umherzutreiben.

Nie und nirgends ist das Klima so gleichmäßig, als auf oder an dem Meere, dort gibt es kühle Sommer und laue Winter. Wer sollte es denn glauben, daß im nordischen Helgoland im Freien die Feige reift und die Rose noch im Dezember blüht! Je glatter eine Fläche, je gleichmäßiger die Temperatur, das gilt ja auch vom Lande. Je gegliederter ein Land ist, je mehr Höhen und Tiefen es hat, je ungleichartiger im Winter und Sommer, bei Tag und Nacht ist seine Luftwärme; ins Herz hinein tut es mir weh, von euch, ihr lieben Alpen, sagen zu müssen, für Leute, die eine schwache Brust haben, seid ihr kein guter Freund! Oder man müßte immer auf euren höchsten Gipfeln leben, wo die Luft und Wärme auch eine gleichmäßigere ist als in den Tälern.

Nicht bloß die Engbrüstigen sollten ans Meer und aufs Meer, sondern auch die Engherzigen. Der Egoist, der Habsüchtige, der Hoffärtige, sie sollten einmal etliche Monate lang auf dem Ozean fahren, wo alles Größe und Ewigkeit ist, wo es nichts gibt, nach dem die Hand des Menschen begehrend sich ausstrecken kann, wo nichts sich ihm unterwirft, wo die Elemente, wie sie eben in Laune sind, das menschliche Fahrzeug als Spielzeug gebrauchen. Da ist's nichts mit der Übervorteilung anderer, und die ganze Selbstsucht geht lediglich darauf hinaus, doch nur mit heiler [393] Haut wieder ans Trockene zu kommen. Ein kleines Schiffsbrüchlein soll für verknöcherte Herzen ein besonders heilsames Seebad sein; nicht bloß, daß man dabei beten lernt, man lernt, sagen sie, auch das Leben, bescheiden und dankbar sein für jeden Atemzug und Achtung haben vor den Mitmenschen. Natürlich rechtzeitige Rettung, und wäre es auch nur durch bewußten Balken auf eine wüste Insel. Robinson wäre daheim auf dem festen Lande ein Taugenichts geworden, die Einsamkeit auf seiner Insel im Weltmeere hat ihn zu einem ganzen Manne gemacht.

IV.

Den Kummer nenne ich dir nicht, aber du kennst ihn. Wenn du es mit dem Leben, mit der Welt, mit dir selbst einmal heftig zu tun gehabt hast, so kennst du ihn ganz gewiß; er ist so schwer, er scheint so unerträglich, daß dich nichts erquicken kann, als der eine Gedanke: Sterben. Es ist nicht Sentimentalität, es ist kein eingebildetes Weh, es hat Grund und Folge, es hat Gestalt, und alles, was du um dich siehst, in dir fühlst, ist namenloses Elend. Ich nenne das Leid nicht, es hat einen abscheulichen Namen.

In fieberhaften Träumen der Mitternacht rief eine Stimme: »Geh' ans Meer!« – Ich schrak empor. Wer ist da? Wer ruft? War das nicht die traute Stimme eines längst und auf ewig verstummten Mundes? – Ja, miß dein Leid an der Größe und Tiefe des Ozeans. Ohne Gebimmel und Geserres schlafen gehen … Um Mitternacht stand ich auf und eine Stunde später saß ich im Kurierzuge nach Abbazia.

Als ich über den Karst fuhr, röteten sich die Steine, und bei Mattuglie tief unten lag das Meer im Sonnenlichte. [394] Ich stieg hinab, wie man hinabsteigt von den felsigen Höhen Palästinas gegen das mittelländische Meer. Dann ging ich dem Strande entlang; die weiten Wasser waren stille, als hielten sie ein, daß der Geist Gottes sie küsse; und doch schlugen die Wellen ans Ufer, als wollten sie heraussteigen; aber ohnmächtig rieselten sie wieder zurück in ihr dunkelgrünes Bett. Das ist viel zu zahm. Das Meer in meinem Herzen, das brandet anders! Jetzt hüllen mich die Ölbäume in ihre Schatten, jetzt fächeln mir die Lorbeerzweige um die Stirne. O nein, Ruhm und Preis ist es ja nicht, nach dem ich dürste. Nach Frieden des Herzens schrei' ich auf. – Orangen-, Pfirsich- und Feigenbäume halten ihre üppigen Früchte mir entgegen. O nein, Weltgenuß ist es nicht, nach dem ich lechze. Nach Frieden des Herzens weine ich. Herrliche Paläste winken mir zu im Lorbeerhaine, Prunk und Pracht, schöne Frauen, liebliche Musik! Als ob das Feinste der feinen Welt sich hier versammelt hätte, um mich zu grüßen, um mich zu trösten. Das ist es aber nicht, warum ich gekommen bin. Nach zwei Richtungen steht mir die Flucht offen, hinauf in die Felsen des Karstes, hinab …

Endlich kehrte ich doch bei lieben Menschen ein, müde und abgehärmt sank ich auf ein Ruhebett. An vierundzwanzig Stunden mochten verflossen sein, seit die Stimme mich aufgeweckt, und jetzt weckte mich eine andere. Es donnerte ums Haus, daß die Wände bebten. Ich stand auf, öffnete ein Fenster, da wehte es herein wie feuchter salziger Hauch, und ein grauses Rollen und Krachen erfüllte die Luft.

Was das wäre? fragte ich einen auf der Gasse Wandelnden. »Das Meer«, antwortete er schreiend und ging vorüber. Ich stieg hinab an das Ufer und mußte jauchzen, [395] so leicht war mir plötzlich. Das Meer war rasend geworden. In langgestreckten, hohen Wellen, in lebendigen Bergen wogte es heran, schlug schwer und wild an die Klippen des Strandes und die Wasser sprangen, aufwärts gießend, weit herein ins Land. Kein Lüftchen aber regte sich, holder Vollmond stand am Himmel und sein Licht war lauterer Frieden. Was ist dir, Meer? Wer hat dich so wütend gemacht? Du bist ja entzückend zornig. Ich habe kein Lied gefunden für mein Herzweh, nun singst du es, du gewaltige Harfe Gottes! – Auf hoher See draußen weiße Bänder, Zacken und Spitzen, ein zarter Nebelstaub darüber, und heran, immer noch wilder, rasender, wahnwitziger, als wollte das Meer emporklettern an die Hänge des Karstes.

Was bedeutet das Wüten in dieser friedlichen Nacht? Draußen auf hoher See wühlt das Gespenst, welches das Meer heran hetzt. Es ist der Scirocco. Am Strande ist er selten wahrzunehmen, aber draußen bohrt er seine Rüssel ein, schreckt die Wasser auf und jagt sie pfeifend, sausend in alle Welt. Die verlästerte Bora ist ein harmloses Kind dagegen, sie schlägt zwar Fenster ein, deckt Häuser ab, schleudert kräftige Männer zu Boden und wirft Eisenbahnzüge um; aber das Meer bringt sie nur in schönes Kräuseln – nichts weiter.

Betäubt von dem ununterbrochenen Brausen, Donnern und dem zischenden Aufflammen der weißen Gischten stand ich da. – Der Scirocco, und das ist alles? Darum der ungeheure Sturm, weil ein bißchen Scirocco weht draußen auf hoher See? Am Ende ist auch in meine Seele ein bißchen Scirocco gefahren, und nichts weiter? – Wohlan, Freund, weil wir denn einmal dran sind, ich nenne dir den Kummer, das Herzweh, das namenlose [396] Elend, das kaum zu ertragen ist. Nervosität heißen sie das Ungeheuer, und wenn Scirocco geht – nun du weißt es ja.

Am nächsten Morgen war der Himmel grau und schwer, wie ein Meer von Blei. Regen, unendlicher Regen rieselte nieder, und die Wolken hingen hinein ins Meer, und die Delphine selbst, die manchmal ihre Häupter aus den Wellen reckten, wollten Regenschirme aufspannen, oder rasch zurücktauchen in die See, damit sie nicht nasser als naß würden. – Wenn bei Sonnenschein meine Stimmung schon so trübe war, wie erst mußte sie bei so düsterer Witterung trostlos sein! Glaubt ihr? Wenn der Teufel einmal los ist, so reißt er nicht mehr an der Kette. Ich fühlte mich urgesund und munter wie ein Fisch, wußte nichts von Kummer und Herzweh und konnte gar nicht begreifen, wie ein Mensch verzagt und traurig sein könne.

Nun tagelang Regen. Das Meer ist spiegelglatt, aber weit hinaus gefärbt von den lehmfarbigen Gießen des Süßwassers. Und doch sah man kaum einen Gießbach herabkommen von den Bergen. Hingegen quirlten am Strande und noch weiter draußen im Meere die weißgelblichen Landquellen auf. Denn das Karstgebirge ist inwendig zerfressen, voller Höhlen, Löcher und Kanäle, ist wie ein versteinerter Badeschwamm; alles Regenwasser saugt es in sich auf, um es unten in oft üppigen Quellen wieder auszuspeien.

An einem der nächsten Tage bin ich unter Regen und Sturm hinangestiegen zum hohen Monte Maggiore, wo es im Nebel Schneegestöber gab. Wenn der Wind die Wolken zerriß, ward der Blick frei auf das ungeheure Firmament hinaus, das unten lag und mit weißen Sternchen und dunklen Punkten bestreut war, so als ob Tauben und Adler in der Ferne schwebten. Das war das Adriatische [397] Meer mit seinen Dampf-, Segelschiffen und Fischerbarken. Im ganzen macht das Meer, vom Berge aus gesehen, nicht den Eindruck wie vom Strande, denn es liegt leblos und still da, man sieht keine Bewegung, man hört kein Brausen, es ist fast langweilig wie ewig wolkenloser Himmel. – Nach Norden hin sah ich zwischen Wolkenspalten die Wüsten des Karstes. Ein Steinwall hinter dem andern und die Hochkämme voll Schnee. Alpen und Ozean! Und inmitten steht das winzige Menschlein, ein mikroskopisches Insektchen, und wähnt Leid zu haben, das härter wäre als alle Felswuchten des Karstes, und tiefer als die Tiefe des Meeres. Wo ist es aber jetzt? Wo ist denn dieses Leid hingeraten? Hat niemand ein namenloses Herzweh gesehen? Ich zahle Finderlohn. Hat es der Sturm verweht? Haben es die Fluten davongespült? – Hei, wie jetzt die Bora pfeift und kracht hernieder von den Höhen! In den Lüften saust fliegender Sand, die Eichen, welche zwischen den braunen Steinblöcken stehen, beugen sich winselnd. Ich werde hinabgeschoben, gestoßen in einen der zahlreichen Trichter, wo grüne Wieslein sind und Maulbeersträucher und Löcher in den Berg hinein. Hier ist's ruhig, nur oben noch die Fanfaren der Bora, die den Sieg davongetragen hat gegen den tückischen dämonischen Scirocco. – Nein, ich will nicht bleiben in dieser Grube, will wieder hinauf zur Zinne, Leib und Seele einmal so recht durchfegen lassen von dem nordischen Luftbesen – ah, das ist herrlich, das tut wohl! Herrgott im Himmel, wie wohl tut der Sturm!

Nach diesen wilden Tagen kam Frieden und Sonnenschein. Ich blieb tagelang am Strande von Abbazia. Am Strande saß ich, versunken in Gedanken an große Zeiten, an große Menschen. Oder ich ruhte in einem Kahne und [398] ließ mich hinausschaukeln auf die See, noch zurückblickend auf die lorbeerbekränzte Landschaft. Allmählich sanken die Berge in sich zusammen und verschwanden.

Und rings um mich nichts als die ewigen Wasser. Da habe ich gedacht: Also ist der Bann gelöst. Bleibe ich hier im Sonnenlichte, so ist's recht, sinke ich in die Dämmerungen des Abgrundes, so ist's auch recht. All das, was wir Menschen Glück, Unheil, Gut, Elend nennen, bedeutet nichts. Irdisch Tand ist eine Handvoll Sand. Irdisch Weh ist Maienschnee. Es bedeutet nichts. Ich bin ein großes, unsterbliches Wesen, die Felsgebirge sind meine Knochen, das Weltmeer ist mein Blut, die Stürme sind mein Atem. –

V.

Es ist ausgemacht, die Welt wird zu klein. So furchtbar hat die Statistik noch nie gesprochen, als bei der letzten Volkszählung. Im neunzehnten Jahrhundert hat die Bewohnerzahl Europas sich verdoppelt. Die Zeitungen verbuchen es mit Jubel – je mehr Leute, je mehr Abonnenten! Aber daß sie sich etwa einander ausfressen könnten? Und es geschieht, sie fressen sich auf, zuerst die Zeitungen einander und dann die Abonnenten. Wenn sie es nicht vorziehen, Kolonien gattern zu gehen. Wer sich einmal zurückziehen wollte, um bei sich selber zu sein! Wohin denn? Wo es wohnbar ist, gibt es schon überall Leute, hie und da sogar Menschen.

Möchte wissen, wie oft ich schon gefragt worden bin, ob es denn nicht um Gotteswillen irgendwo einen Weltwinkel gäbe, wo man mit der wilden Natur allein bei sich selbst sein kann? Unter den Fragestellern war auch ein Millionär und dem ward Rat. Gehe hin und baue dir ein Schiff. Nimm, was dir lieb ist mit hinein und fahre aufs [399] Meer. Das Meer ist noch unbevölkert und dein Eigentum, wohin du kommst – wo es am größten und weitesten ist, wird dir kein feindlicher Ellbogen begegnen.

Und wer sich kein Schiff bauen kann, der mache es wie ich. Immer wieder, wenn mir das Land zu enge wird und die Erde zu hart, gleite ich hinab zur Adria und fahre hinaus in die feuchten, sonnigen Einöden. Das Land ist hart, das Meer ist weich. Dorthin verfolgen sie mich nicht, die unbarmherzigen Quäler, die törichten Handschriftensammler und Poetenwinkler, und die anderen, die anderen, wovon mir jeder für sich lieb ist, die aber schrecklich sind, wenn sie sich Tag für Tag an die Türklinke reihen, um sich vom armen Poeten schließlich doch nichts zu holen als – Enttäuschung. – Die Scholle lädt überall, wo man auf sie tritt, ein zum Arbeiten, sie strotzt von Schätzen, aber ungebeten, ungeliebt will sie nichts geben. So weckt sie im Menschen die Gier nach Dingen, die im Grunde nichts bedeuten. Reichtum, Glanz, Ehre, Ruhm, die nur in der Gesellschaft zweifelhaften Wert haben, für den Einsiedler aber belanglos sind. Tückisch lockt der schätzebergende Erdboden zu sich hin, und wenn der Mensch ihn nicht versteht oder mißbraucht, verletzt er sich daran zu Tode.

Die Scholle ist hart, das Meer ist weich.

Das Meer weckt im Menschen keine Leidenschaften, es wiegt ihn im süßen Nichtstun seine ewig lebendige Größe zeigt ihm lachend oder drohend, wie klein er ist und dieweilen der Mensch sich doch immer mit dem Großen messen will, wird er selber größer. Ich fange keine Seeungeheuer, lege keine Kabel, versuche nicht den drahtlosen Telegraphen, tauche nicht in den Meeresgrund, liefere keine Seeschlachten und denke, das wird man mir ohne weitere Beweise glauben – und doch fühle ich mich auf dem Meere fast ein wenig [400] wesentlicher, als auf dem Lande. Dort auf der Welle bin ich nichts sonst als Mensch und das ist, ernsthaft gesprochen, doch etwas mehr als Hofrat oder General oder Kardinal. Mensch sein ist etwas Ungeheuerliches. Nie sieht man sich so riesengroß, so mächtig, so ewig, als wenn man nichts ist und nichts tut als Mensch sein. Als sich einmal so recht gründlich an sich selbst zu erinnern.

Und darum gleite ich so gerne hinab zur Adria und hinein in ein Lloydschiff. Ob es nun nach Venedig geht, dem vergessenen Wunder der Romantik, oder nach Pola, der Rüststätte künftiger Marinenherrlichkeit (für den Kriegsfall sind wir immer optimistisch, denn man kann ja gleich bis Lissa fahren). Oder ob mein Kiel nach dem sich immer amüsierenden Abbazia sticht, wohin außerhalb der Backhendelzeit die Wiener Karten spielen gehen; oder nach Fiume, der ungemütlichen ungarischen Antwort auf die Triesterfrage. Oder nach dem schlummernden Eilande Lussin, oder nach dem altimperatoristischen Spalato, oder nach dem halb morgenländischen Ragusa, oder nach dem wilden Cattaro am Saume der Schwarzen Berge – oder wohin sonst an den istrischen und dalmatinischen Küsten, immer sind wir versucht auszurufen: Nicht bloß die Scholle, auch die Welle gibt Schätze.

Die hundert Schiffe des Lloyd bieten eine große Auswahl schwimmender Burgen, in denen man sich heimisch fühlen kann. Schon das Schiff als solches ist dem Landwurm ein Ereignis. Die Bauart der Schiffe und die innere Einrichtung ist gar verschiedenartig und jedes hat seine besondere Eigenart. Um just von den Lloydschiffen zu sprechen, an leidlicher Reinlichkeit sind sich fast alle gleich und daß man nirgends köstlicher zu Mittag speist als auf dem Österreichischen Lloyd, das ist bekannt. Die zumeist italienisch sprechende Bemannung [401] und Bedienung ist stets höflich und die Offiziere trachten den Reisenden die Fahrt angenehm zu machen. Nun also, und das ist hier die ganze Menschheit. – Und die See! Auf manchem Meere habe ich's erlebt, daß Reisende über Bord gebeugt, meinen Spruch ins Gegenteil seufzten: Das Land sei gut, das Meer sei hart! Auf der Adria habe ich selten einen bedenklichen Fall von Seekrankheit gesehen. Es pflegt sonst von dieser Sache zu viel gesprochen zu werden, manch ängstliche Dame wartet gewissermaßen schon darauf und der erste Gedanke, wenn sie den Fuß aufs Schiff setzt, ist: ach, ich werde gewiß seekrank werden! Man ist nachgerade enttäuscht, wenn es ruhig und glatt dahinzieht an den malerischen Küsten und wenn man bei der gedeckten Tafel Teller und Gläser ohne jede Schutzvorrichtung dastehen sieht, wie auf jedem andern Tisch. Aber der Quarnero! Der schlimme Quarnero, wo die Wasserströmung des Golfes von Fiume ihr Wesen hat, wo man nach allen Seiten nur mehr das hohe Meer sieht, das tintenblaue, mit seinen ungeberdigen Wellen, mit seinem Dröhnen und Gischten, so daß der entsetzte Neuling glaubt, er sei mitten im grausen Sturm! Die meisten Reisenden freuen sich aber gerade auf den Quarnero, weil dieser Strich zu den schönsten Partien der österreichischen Adria gehört. Leben und Kraft des Wassers und des Dampfers. Da steige ich gerne an die letzte Spitze des Schiffes hinaus, wo es langsames und redliches Aufundniederschaukeln gibt, während die Bewegungen in der Mitte des Fahrzeuges unsicherer und tückischer die Nerven antasten. Übermütige Reisende halten was darauf, von den aufspringenden Gischten manchmal ein bißchen angegossen zu werden. Aber das Deck ist hoch und lange nicht bei jeder Fahrt gelingt die Taufe. – Bei der prächtigen Meerschau auf so zahmem Rosse reitend, wundert man sich völlig, [402] daß die Vergnügungsfahrten auf der Adria nicht noch mehr Mode geworden sind.

Eine meiner letzten Lloydfahrten ging nach der istrischen Insel Lussin. Hat man hinter Pola den Leuchtturm des Kap zurückgelegt, um der hohen See sich endlich zu erfreuen, taucht fern im Südosten ein länglich gestreckter Berg auf, der Ossero. Ganz pyramidal steht er da. Aber die Sohle unserer steirischen Alpentäler ist häufig höher, als die 588 Meter hohe Spitze dieses Berges. Er tut was er kann, um sich Respekt zu verschaffen; pathetisch legt er die Falten seiner Felswände und nicht selten trägt seine Spitze eine Wolkenhaube, auch wenn sonst, soweit das Auge reicht, der Himmel blaut. Den Ossero-Touristen wird geraten, sich mit festen Schuhen zu versehen; dann aber, wenn sie ein gutes Auge oder Fernglas mithaben, können sie im Westen das »unendliche Meer« Lügen strafen und die italienische Küste schauen. An drei Stunden brauchte der geschwinde Dampfer, um den Ossero endlich zur linken Seite zu haben. Auch zur rechten tauchen Inseln auf, unter denen bald ein steil aus dem Meere springendes felsiges Eiland ausfällt, erinnernd an Helgoland. Es ist Sansego, die antike Weinquelle am Quarnero. Dann geht's in die Bucht von Lussinpiccolo. Mit orientalischer Verve steigt die Stadt den halbkesselförmigen Berg hinan, so daß die Fenster jedes rückwärtigen Hauses über der Achsel des vorderen herabschauen auf den Hafen, um den die Riva sich hufeisenförmig zieht. Die halbe Bevölkerung ist lärmend, als gäbe es eine Feuersbrunst, am Landungsplatze versammelt, um bei Ankunft eines Schiffes als Packträger oder Ciceroni ein paar Soldi zu verdienen. So gleichmütig sie den ganzen Tag den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, so energisch regt sich ihre Erwerbslust, wenn die geldgespickten »Tedesci« kommen.

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Die Zeiten sind vorüber, da in dieser Stadt der Schiffbau in Blüte gewesen; anderswo können sie das jetzt besser und so ziehen die Lussiner auf fremden Meeren oder liegen daheim auf ihren Steinfliesen, sich damit begnügend, daß sie leben. In ganz Lussinpiccolo, es zählt bei fünftausend Einwohnern, hört man kein Wagenrad rollen; ein einziges Pferd, so geht die Sage, existiere in dieser Stadt, und dieses soll ein Maulesel sein. Der Herr, der die Vögel nährt und die Blumen kleidet, hat hier also ziemlich viel zu tun; er jagt den Einwohnern die Fische in die Buchten, eine unglaubliche Anzahl von Arten, er jagt sie ihnen in die Netze, an die Angeln, wonach sie bloß anzuziehen brauchen; er überspinnt den Steinhaufen, Lussin genannt, ganz wunderbar mit Ölbäumen, Orangen-, Mandarinen- und Zitronenbäumen, mit Feigen- und Dattelbäumen und mit Weinreben, er ziert ihn mit Kiefern und fabelhaften Kakteen und sonstigen Spielarten der Tropen. Allerdings, umsonst hat der Mensch auch das nicht, jede Parzelle der fruchtbaren roten Erde mußte den Steinen abgerungen werden, den grauen Blöcken klein und groß, wie sie überall und überall aus dem Boden hervorquellen, genau so wie im Kar des Hochgebirges. In hohen rohen Mauern und Wällen sind diese Steine, mit denen man nicht weiß wohin, aufgeschichtet an jedem Wege, um jedes Gärtlein, um jeden Pfränger, in dem eine elegische Ziege oder ein einsames Schaf steht. Dazwischen stets von dem mattgrünen Ölbaum bestanden geschlossene Felsen. Mancher Felsriff ist so alpin, daß man jeden Augenblick glaubt, eine Gemse herüberlauern zu sehen. Aber wunderbar, was am Strande das Wasser macht aus diesen Steinen! Diese Zacken und Runsen, die phantastischesten Aushöhlungen im großen und kleinen! Und die Welt der Tiere, die in solchen Löchern und Spalten und in den grünlichen Untiefen hausen!

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Lussin bietet drei grundverschiedene Seebilder. Nach Norden hin den Hafen und die Bucht, scheinbar ein abgeschlossener Landsee, ringsum mit hügeligem, größtenteils kahlem Karstgebiete umgeben. In der Ferne ein paar höhere Berge, so der Monte Asino mit seiner alten Festung und das herüberragende Haupt des Ossero. Im Jahre 1859 war diese Bucht voll italienischer und französischer Kriegsschiffe, die sich hier versammelt und organisiert hatten, um Venedig zu erobern. Österreich aber steife sich darauf, zu siegen und Venedig freiwillig abzutreten. Großmütiger kann man schon nicht mehr sein.

Und welch ein anderes Bild gegen Osten hin, wenn man vom Hafen zwischen den Steinwällen an fünfzig Meter hinaufsteigt. Die Fläche des Quarnerolo. Zu Füßen der buchtenreiche Strand mit Lussingrande, St. Martino, und links hin die niedrigen Ausläufer der Insel Cerso. Aber, was steht dort fern über dem Meere aufgebaut? Ist es eine lang hingezogene graue Wolkenwand mit Sonnenstreifen und weißen Rändern? Nein, es sind die Berge von Dalmatien, es ist der Velebit mit seinen Schneefeldern.

Und wieder grundverschieden das Bild nach Westen hin. Die kleine Bucht Cicale im Westen der Insel, an zwanzig Minuten von Lussinpiccolo entfernt, ist der beliebteste Ausflugsort der Kurgäste. Dort beginnen wieder die Einsamkeiten der hohen See. Selten ein roter oder weißer Segler, noch seltener ein Dampfer. Immer und immer gleiten die blaugrünen Wellen heran, immer dem Strande zu, so daß ein einfältiger Landmensch wohl fragen möchte, wie denn das kommt, daß das Wasser dort draußen nicht weniger und hier am Gestade nicht mehr wird. Ob das Heranfließen nur scheinbar ist, ob trotz alles Hin- und Herwogens die Wassermassen nicht doch an der gleichen Stelle bleiben? Es scheint, [405] daß auch ich die närrische Frage gestellt, denn urplötzlich hatte ich an mir den Beweis, daß die Wasser laufen und springen, eine Gischtwelle warf sich über die Strandfelsen zu mir heraus und übergoß mich pudelnaß von oben bis unten. So – nun gehe hin und erörtere es mit deinen Lesern, ob die Wasser an der gleichen Stelle hocken bleiben.

Das Meer hat Humor, es blinzelt, es lacht, schupft dich von einem Rücken auf den andern und scheinest du zu sinken, so fängt es dich doch allemal wieder auf in den weichen Schoß. Im stürmischen Zustande ist es weit harmloser, als es sich stellt, im stillen aber tückisch. Wenn man dem Segler ruhige See wünscht, so wird er grob. Weit draußen auf der glatten Wassertafel müßte er verhungern. Sein bester Freund ist der Wind. Und auch der unsere: Die glatte Fläche, die keine Narbe hat und keine Farbe, die so leb- und streblos hinliegt und sich am Gesichtskreis vom Himmel nicht unterscheidet – das ist die große wässerige Langweile. Auf jener Fahrt nach Sansego wäre sie unfehlbar eingetreten, wenn einige Jahrhunderte früher an der südlichsten Spitze von Lussin nicht Seeräuber gehaust hätten. Diese Seeräuber rief nun mein Gondelführer zu Hilfe, um die Langweile der stillen See zu verscheuchen. Er erzählte, wie die Wackeren immer ausgezogen seien nach Kauffahrern und nach den blühenden Städten des Mittelmeeres, um etwas zu erobern. Zu rauben, sagte man unhöflich genug, und Piraten nannte man zeitweise solche Männer, die in Schulbüchern manchmal auch Kriegshelden heißen. Nun, und einmal hatten die Herren Seeräuber von Lussin gehört, daß in der wundervollen Stadt Venedig eine Massenhochzeit stattfinde, dieweilen eine größere Anzahl Patriziersöhne sich junge Weiber erkieseten. Solches Gerücht machte unsere Seeräuber leckerig und sie zogen mit Wehr und Waffen gen Venedig, um den [406] Hochzeitszug zu überfallen und die schönen Bräute zu erobern. Das galante Unternehmen fiel aber unglücklich aus, denn das Lagunenvolk wehrte sich mannhaft und nahm die Seehelden gefangen. Dann kam das Strafgericht der Dogen, das von beispielloser Grausamkeit war. Zur Abschreckung für alle Zeiten! Die Seeräuber, so die jungen Bräute rauben wollten, wurden verurteilt, die – Schwiegermütter zu heiraten, mit der Verschärfung, dieselben in ihr fernes Felsenschloß auf Lussin zu entführen. – Für mich gab der Gondeliere dieser Geschichte noch eine andere Pointe. Er hielt, als wir in Sansego landeten, die Hand auf. Ich gab und war bloß froh, daß der Mann kein Seeräuber war, und froh, daß ich keiner gewesen bin in jenen Zeiten des venezianischen Strafgerichts.


[407]

Inhalt.

Seite
Verhandlung zwischen Autor und Verleger 5
Der Gutsherr auf Zurkow 14
Das Mündel-Kindel 37
Der Mädeljäger 52
Lieb' läßt sich nicht lumpen 88
Aus dem Tagebuch einer Ehefrau 104
Die Kokette 120
Ein Jünger Darwins 131
Ehre 147
Die Vierzehnte 160
Der Taubstumme 167
Hauptmann Fortner und seine Frau 176
Scheintod 197
In der Einsam 207
Der Kammerdiener 218
Der Millionär 228
Philippus der Hasser 251
Das Weihnachtsfeuilleton 266
Wie ein steirischer Schullehrer die Schlußvorstellung des Burgtheaters besucht 275
Das Bekenntnis eines Verurteilten 285
Der verhängnisvolle Vorfall 302
Mein Vetter, der Türke 317
Reisebilder aus jungen Jahren 330
Die sächsische Schweiz 330
Aus der heiligen Stadt 334
Auf dem Turme der Marienkirche zu Stralsund 337
Auf dem Rigi 342
Aus dem Ungarlande 350
Zu Mailand auf dem Dome 358
Von der Kirche des heiligen Petrus 363
In den Ruinen von Pompeji 370
Auf den Wassern 376

Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Korrekturen:

S. 49: wäre → wäre es
dann wäre es schwer, es wieder fortzubringen

S. 78: heißen → geheißen
hatte der Fürst die Herrschaften willkommen geheißen

S. 171; aus → auf
zu essen verschaffen, aber er sprang selbst auf

S. 311: mußte → müßte
Ein öffentliches Unglück müßte man ja in den Blättern