The Project Gutenberg eBook of Lebenswende

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Title : Lebenswende

Author : Walter von Molo

Release date : May 6, 2017 [eBook #54671]

Language : German

Credits : Produced by Peter Becker and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEBENSWENDE ***

  

KRONEN
BÜCHER

Romane erster Schriftsteller

Lebenswende

Roman

von

Walter v. Molo

RUDOLF MOSSE
(KRONEN-VERLAG)
BERLIN SW 68

Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, vorbehalten
Nachdruck verboten
Copyright 1918 by Rudolf Mosse, Berlin SW 19

Lebenswende

erschien im Jahre 1908 unter dem Titel »Klaus Tiedemann, der Kaufmann«; vorliegende Ausgabe ist vom Autor neu durchgesehen und in mancher Hinsicht verändert worden.


[S. 7]

»Willst du noch ein Butterbrot?« fragte zum zweitenmal Hilde Tiedemann ihren jüngeren Bruder Leo und sah über den Frühstückstisch.

Als wieder keine Antwort kam, stellte sie klirrend die Tasse nieder, die sie in der Hand gehalten hatte, und trat zu dem Knaben, der mit starren Augen vor sich niedersah. »Leo!« Sie rüttelte die schwächliche Gestalt, daß die beinahe vornüber fiel, und strich ihm das seidenweiche Haar aus der Stirn. »Was ist mit dir?«

Langsam richtete sich der kränkliche Achtzehnjährige auf; er kniff mißmutig die Brauen zusammen: »Ich mag nichts, hab' ich gesagt!« Es klang verhaltener Aerger aus der lügenden Stimme.

»Du hast nichts gesagt,« antwortete sie und sah zu der Uhr, die über dem Kamin in bedächtigem Gang ihr Pendel schwang. »Du solltest schon lange in der Schule sein!«

Leo zog ärgerlich die Schultern: »Laß das meine Sorge sein und kümmer' dich um andere!« Seine Augen gewannen an Glanz, weil er eine Waffe gegen seine Schwester gefunden zu haben meinte: »Zum [S. 8] Beispiel um deinen Hansen, der ist gewiß jetzt noch im Bett.« Er lachte, und die Schadenfreude saß um seinen blassen Mund.

Hilde war rot geworden und gab keine Antwort, nur mit dem Löffel stocherte sie in der Tasse, trotzdem der Zucker schon lange vergangen war. Dann stand sie jäh auf, mit plötzlichem Entschluß. »Stichle, solange du willst, es ist mir gleich,« sagte sie, hochatmend holte sie Luft, »aber das eine muß ich dir sagen, wenn du so weiter machst, Leo, dann nimmt es ein schlechtes Ende mit dir!«

Leo hatte sich im Sessel zurückgelehnt und sah mit einem Blick, der unbefangen sein sollte, aber doch widerwilliges, ängstliches Eingestehen zeigte, auf seine Schwester. Er versuchte ein verlegenes Lächeln: » Was wird ein schlechtes Ende nehmen, bei mir oder bei dir?« sagte er.

» Du! « ihr Fuß stampfte entrüstet auf, »du weißt ganz gut, was ich meine! Sei nicht so häßlich mit mir!« Unwillig warf er die Serviette auf den Tisch:

»Ich bin kein kleiner Bub, der dir über alles Rechenschaft geben muß.«

»Das will ich auch nicht, aber schonen sollst du dich und deine Gesundheit; mußt du denn jetzt schon alles mitmachen, immer dein Erwachsenen-Spielen! Du hast doch das ganze Leben vor dir? Wenn Papa wüßte, wann du heute nacht wieder nach Hause gekommen bist!«

[S. 9] Erschreckt blickte er sie an. »Du wirst es doch nicht sagen?« fragte er hastig.

»Nein, gewiß nicht, aber du solltest Vernunft annehmen.«

»Was heißt Vernunft annehmen! — Das ist ein blödes Wort für euch Mädels, für uns kann das Leben nicht früh genug anfangen.« Seine bleichen Wangen bekamen Farbe; er erhob sich. »Erzählte Papa nicht selbst, wie er schon als kleiner Bub alles mitgemacht hat, wie er mit achtzehn Jahren allein in die Welt hinauszog? Und ich soll immer hinter dem Ofen hocken?«

»Das war ein anderes Leben, Leo, von dem Papa spricht! Das war Arbeit, und nicht Vergnügen wie bei dir.«

Er ließ die Hand heftig auf den Tisch fallen »Herrgott ja, aber soll ich mich plagen, wenn ich es nicht notwendig habe? Papa war arm und mußte arbeiten, wir aber sind, Gott sei Dank, reich.«

»Wie du daherredest,« ihre Stimme zitterte in Erregung: »Arbeiten muß jeder Mensch.«

»Ja, tu' ich ja auch! Ich habe Kopfweh!«

Sie faßte seine schmale Hand: »Wenn dir nicht gut ist, lege dich ins Bett, aber geh nicht so viel lumpen, du bist noch zu jung!«

Er fuhr zornig auf: »Kommst du schon wieder mit dem Alter, als ob alles davon abhinge! Der eine ist eben früher reif, der andere später — das verstehst du nicht!« Er drehte ihr den Rücken zu und begann [S. 10] vor sich hin zu pfeifen. Dann sagte er leichthin über die Schulter: »Görnemann war vorhin da und suchte Fred.«

»Wo ist Fred?«

»Weiß ich's?«

Sie sah wieder zur Uhr und schüttelte den Kopf: »Neun, und er ist noch nicht auf!«

»Aufgestanden ist er schon lange, aber er ist gleich weggefahren. Sie probieren heute bei der Morgenarbeit den ‚Franklin’,« sagte Leo wichtig, dessen älterer Bruder einen Rennstall hielt, und unterdrückte ein Gähnen.

Als Hilde keine Antwort gab, sondern den Tisch abzuräumen begann, setzte er sich auf den Diwan und sah ihr zu: Hilde Tiedemann war mit ihren zwanzig Jahren ein hübsches Mädchen, das gestand sich ihr Bruder jetzt, wie schon oft, wohlgefällig zu, und sein Blick, der ihre schlanken Formen und flinken Bewegungen verfolgte, wurde freundlicher. »Du solltest, Hilde, nicht alles selbst tun! Wozu haben wir denn unsere Dienstboten?«

Hilde hielt in der Arbeit inne:

»Warum soll ich das nicht tun? Das schadet doch nichts?«

»Schadet nicht, aber die Leute bekommen eine falsche Meinung von uns. Sie müssen sehen und spüren, daß wir die Herren sind.«

»Das merken sie viel eher, wenn man aus freien Stücken mitarbeitet, als wenn man sie, wie ihr es [S. 11] liebt, allein schalten und walten läßt und dabei alles verkommt.«

»Du bist köstlich, als ob bei uns so etwas vorkommen würde!«

Hilde strich die letzten Brotkrumen vom Tisch und erwiderte: »Ich kann's als Mädel nicht ändern.«

Leo rückte unruhig herum: »Lächerlich, einfach lächerlich! Wenn es nach dir ginge, dürfte man sich überhaupt keine Freude gönnen! Du siehst in einem fort Gespenster! Papa, Fred und ich sind lustig und guter Dinge, du predigst immer Gefahr. Ich möchte nur wissen, woher eine solche für uns kommen sollte?«

Hilde Tiedemann schüttelte den Kopf; sie sagte: »Das ist es ja, Leo, daß ihr alle so sicher seid und mich mit meinen Sorgen auslacht! Ihr glaubt, weil wir Geld haben, kann uns nichts geschehen. Schau, Leo,« sie trat ganz nahe zu ihm und dämpfte, in eindringlicher Liebe, ihre Stimme: »Du arbeitest viel zu wenig für deine Schlußprüfung, du verläßt dich ganz auf das Schwindeln mit dem Schuldiener — wenn's nun nicht gelingt?«

Er lachte selbstsicher: »Er bekommt genug Geld, es wird gelingen.«

»Du kannst es nicht wissen. Und selbst, wenn es gelingt; schämst du dich denn nicht vor deinen Mitschülern, die sich ehrlich plagen müssen? Weißt du, ich verstehe ja nichts davon, aber ich — wenn ich an deiner Stelle wäre — ich würde lieber durchfallen, aber ehrlich arbeiten, als durch Betrug Erfolg haben zu wollen.«

[S. 12] Leo bekam vor Aerger wieder rote Wangen: »Du redest so gut, wie du es verstehst — du bist furchtbar unpraktisch,« er nahm einen überlegenen Ton an: »merk' dir, Hilde, was man erreichen kann, soll man erreichen, die Mittel dazu sind gleich — wenn man es sich bequemer machen kann, dann soll man's erst recht tun — alles andere ist Unsinn ...« Er hielt inne und sah mit plötzlich belebtem Blick auf das Stubenmädchen, das eingetreten war und meldete: »Herr Görnemann ist da!«

Hilde ging lebhaft zur Tür; sie fragte: »Warum kommt er denn nicht herein?« Sie rief: »Herr Görnemann! Herr Görnemann, kommen Sie doch zu uns herein!«

Die magere, peinlich gekleidete, lange Gestalt des Prokuristen, mit weißem Kopf und rosigen Wangen, schob sich in die Türöffnung; sie sagte bescheiden:

»Guten Morgen, Fräulein Hilde, ich wollte nicht stören. Ist Herr Fred schon da?«

Belustigt reichte ihm Hilde die Hand. »Wie formell Sie geworden sind! Sie wollten nicht ‚stören’? Wen denn?«

Er hüstelte und sah hinter den weißen Wimpern scharf auf sie. »Der junge Herr hat dem Personal verboten, in die Privatwohnung zu kommen.«

»Das gilt aber doch nicht für Sie

»Mein liebes Fräulein, die Zeiten ändern sich. Es ist besser, man gewöhnt sich daran.« Er bemerkte Leo [S. 13] und nickte ihm freundlich zu. »Guten Morgen, Herr Leo!« Der gab keine Antwort, so daß dem alten Mann das Blut ins Gesicht stieg.

»Brauchen Sie meinen Bruder notwendig, Herr Görnemann?« fragte Hilde und nestelte mit nervösen Fingern an ihrer Bluse.

»Ja — es sind Briefe zu unterschreiben und Wechsel für Frau von Lecart zu unterfertigen.« Seine Stimme war unsicher.

»Für Clo?«

»Ja, Ihre Frau Schwester hat schon zweimal hergeschickt, ich kann die Wechsel aber nicht allein hinausgeben, weil die Summe zu hoch ist.« Er machte eine rasche Wendung, als brenne plötzlich der Boden unter seinen Füßen: »Ich werde eben noch warten und dann wieder heraufsehen,« sagte er hastig. »Guten Morgen, Fräulein Hilde!«

Hilde wollte den alten Mann versöhnen, darum fragte sie noch rasch. »Wie geht es Ihnen immer, Herr Görnemann?«

Der stand schon auf der Schwelle. »Gut, ich danke.«

Als der Prokurist die Tür lautlos hinter sich zugezogen hatte, fragte Hilde vorwurfsvoll ihren Bruder: »Warum hast du ihm nicht gedankt, als er dich grüßte?«

»Laß mich in Ruhe! Er könnt' sich 'mal auch schon angewöhnen, zu mir Herr Tiedemann zu sagen, statt mich, wie ein Kind, ewig mit dem Vornamen anzusprechen!«

[S. 14] »Gegen ihn bist du doch auch ein Kind! Du solltest ihn überhaupt zuerst grüßen.«

»Er ist doch nur ein Angestellter von Papa?!«

»Seit mehr als vierzig Jahren! Er hat Papa gekannt, als der noch arm war und hat ihm geholfen, sein Geld zu verdienen.«

»Dafür hat er sein Gehalt bekommen.«

Sie wollte heftig widersprechen, doch sie schwieg und horchte auf den festen Tritt, der von dem Schlafzimmer ihres Vaters herüberkam und vor der Tür zögerte. Dann klang die Türschnalle. »Guten Morgen, Kinder!«

Klaus Tiedemann küßte seine Tochter auf den Mund und trat zu Leo, der langsam aufgestanden war und lässig sagte: »Morgen, Pa!« Leo schloß für einen Augenblick die Lider und beugte sich herab, damit ihn seines Vaters Mund erreichen konnte. Der küßte ihn auf die Stirn:

»Frisch beisammen und ausgeschlafen, mein Junge?« fragte Klaus Tiedemann.

»Ja, Pa!« Leo suchte seiner Stimme Klang zu geben. »Mir ist wieder ganz gut.«

»Kein Kopfweh mehr?«

»Nein, ganz wenig.«

»So ist's recht, und nun Hilde: meinen Tee!« Er trat zum Fenster und sah aufs Thermometer, während Leo sich an Hilde heranmachte und flüsterte:

»Nichts sagen, du hast es mir versprochen!«

Sie schüttelte unwillig den Kopf.

[S. 15] Klaus Tiedemann ließ sich schwer in den gepolsterten Sessel fallen und sah seinen Jüngsten an. »Ein wenig blaß bist du doch noch! Gehe heute lieber nicht in die Schule!« sagte er.

»Meinst du, Papa?«

»Was du da drinnen versäumst, kannst du noch hundertmal einholen, bleib' daheim!«

»Danke, Pa!« Leo schaute triumphierend zu seiner Schwester hinüber. »Dann lege ich mich aber noch ein wenig hin, denn ich bin recht müde; jetzt kann ich's ja sagen!«

»Tue das!«

»Servus! Kommst du ein bißchen zu mir hinauf, damit wir plaudern können?«

»Gewiß, mein Kind!«

Es lag väterlicher Stolz und Liebe in dem Ton der Worte und dem Blick, den Klaus Tiedemann der hoch aufgeschossenen Gestalt seines Sohnes nachsandte, bis sie verschwunden war. Dann meinte er zu Hilde mit einer entschuldigenden Färbung in der Stimme: »Die Schulmeister täten mir den Buben ganz ruinieren, wenn ich nicht hier und da einen Riegel vorschieben würde.«

»Ja,« antwortete sie; und ihr kamen die Worte nur schwer aus der Kehle, weil sie an den ewigen Irrtum und die allzu große Nachsicht ihres Vaters denken mußte, »aber Leo sollte sich auch selbst mehr schonen!«

»Das tut er so Hilde; sieh darauf, daß er immer Wein trinkt!«

[S. 16] Er faltete die Zeitung auseinander; aus alter Gewohnheit begann er zuerst mit dem rückwärtigen, volkswirtschaftlichen Teil. Dadurch schien er an das Geschäft und mit diesem an Fred erinnert zu werden. »Ist Fred schon dagewesen?« fragte er.

»Nein, Papa!« Hilde wartete vergeblich auf Antwort. Nur die Zeitung knisterte.

Sie schüttelte den Kopf: daß er Fred so blind vertraute! Er hatte doch eigentlich keinen Grund dazu! Der Aelteste hatte nie viel Lust für das Werk seines Vaters empfunden und ging oft nur ins Kontor, weil ihn sein Vater dazu zwang. Als Fred vom Militär zurückgekommen war — am liebsten wäre er dabei geblieben —, hatte sein Vater darauf bestanden, daß er in die Firma eintrat. Es war ein harter Kampf gewesen, doch Klaus Tiedemann hatte gesiegt! Da es die Sicherung seines Lebenswerkes, seines Hauses galt, war er ein anderer als sonst: er gab nicht nach! Fred fügte sich seufzend in sein Schicksal, um das ihn Millionen Aufstrebender beneidet hätten. Doch von der Zeit an schien sein Vater jede Lust zum Geschäfte verloren zu haben; er sehnte sich plötzlich nach Ruhe: Wenn Fred schon Kaufmann sein mußte, so sollte er auch Chef sein. Als Fred Lust am Geschäft zu finden schien, trat sein Vater zurück. Er war schließlich 70 Jahre alt, da kam die Jugend ins Recht!

Hilde saß mit hängenden Armen und wartete, ob der Vater etwas benötigen sollte.

Es vergingen stille Minuten.

[S. 17] In der Ruhe, die sie umgab, schlichen ihre Gedanken wieder in die Ferne. Sie dachte: ihre Mutter — vor Jahresfrist war sie gestorben! — sie trugen noch die Trauergewänder für sie — war eine Frau gewesen, die sich nicht viel um die Kinder bekümmerte, die ihr halbes Leben auf der Chaiselongue verbrachte, mit Kopfweh und Nervenzuständen. Klaus Tiedemann mochte nicht der richtige Mann für sie gewesen sein, etwas zu selbstherrlich und zu gewaltsam, wenigstens die ersten Jahre der Ehe. Das schien mit der Zeit von ihm gefallen zu sein. Hilde erinnerte sich mancher garstiger Szene zwischen den Eltern in früheren Jahren. Mama sprach stets mit gewisser Rückhaltung von Papa, der eben aus anderen Kreisen stammte als sie, die Tochter des Konsuls. Das hörte ihr Vater nicht gern, denn er versuchte seine Vergangenheit zu vergessen, obgleich sie ihm aus eigener Kraft zu Ansehen und Reichtum verholfen hatte. Schon seiner Kinder wegen wollte er nicht daran erinnert werden; sie hatten ihn stets nur als einen reichen und — nach Klaus Tiedemanns Meinung — daher vornehmen Mann gekannt, und er war ängstlich bemüht, sie dabei zu lassen.

Der Kinder wegen war ihm nichts zu viel, an denen hing er mit rührender Liebe: weniger an den Töchtern, über die Frauen hatte er überhaupt seine eigene Meinung, die auch zu seiner Ehe geführt und seine ältere Tochter Clotilde, heute Clo Baronin Lecart, zu ihrer Wahl geleitet hatte. Aber seine Söhne waren [S. 18] ihm alles; diese eleganten jungen Leute, denen jeder Salon offen stand, konnten alles von ihm haben. Willig ordnete er sich ihnen unter. Hilde fuhr zusammen und sah auf: Vater hatte mit hastigem Ruck ein Blatt der Zeitung umgeschlagen. Ohne daß sie hinblickte, wußte sie, daß es die Kunst- und Theaternachrichten waren. Ihr Denken erhielt eine neue Richtung: Warum spielte Leo stets auf Hansen, seinen früheren Lehrer, an, wenn er sie kränken oder in Verlegenheit bringen wollte? Glaubte er, daß sie für den Karikaturenzeichner Sympathie empfände? Und wenn, was ging das ihn an? Sie bewegte trotzig den Kopf: was ging das ihn an? Vater merkte nichts, sonst hätte er gesprochen, der hatte andere Pläne mit ihr, das wußte Hilde! Klaus Tiedemanns Schwiegersöhne mußten Namen von Klang haben und in der Gesellschaft etwas gelten; das war beides bei J. A. Hansen nicht der Fall. Der hatte nur eine alte Mutter und seine freche Hand, die den Menschen an der schwächsten Seite zu packen wußte — an der Eitelkeit. Das vergab ihm niemand. Hilde seufzte: Es mußte wohl so im Leben sein, daß manchem sein Können schadete und ihm Feinde schuf! War nicht auch Gerhard unbeliebt, trotzdem er, wie Vater selbst zugab, dem Geschäft in einem kurzen Jahr unentbehrlich geworden war? Gerhard stammte aus ihres Vaters erster Ehe.

Es mußten unangenehme Erinnerungen sein, die Klaus Tiedemann an diese Zeit im Herzen trug, denn nie sprach er davon. Seine erste Frau war früh gestorben [S. 19] und Gerhard war in fremden Händen aufgewachsen. Erst nach dem Tode seiner zweiten Frau hatte sich der Vater an seinen Sohn aus erster Ehe erinnert. Des Konsuls Tochter hätte es nicht zugegeben, und Klaus Tiedemann hatte durch seiner Frau Widerstand einen ihm lieben Entschuldigungsgrund gefunden, sein Kind nicht wiederzusehen. So war Gerhard spät in seines Vaters fremdes Haus gekommen.

Draußen schellte die Glocke und tönten Stimmen, Säbelklirren und Sporenklang.

Hastig faltete Klaus Tiedemann die Zeitung zusammen. »Es ist Fred,« sagte er hochachtungsvoll. »Er bringt jemanden mit,« in sorgender Eile überflog sein Blick den gedeckten Tisch, »nimm die Eierschalen weg und gib die Zuckerzange her.« Er fuhr herum: die Tür ging auf, Freds Hand wurde sichtbar, die den Flügel hielt, um dem Gast den Vortritt zu lassen: ein Offizier; er schlug die Sporen zusammen, verneigte sich und sagte: »Die Herrschaften verzeihen meinen Ueberfall!«

Klaus Tiedemann hob devot die Hand. »Bitte, bitte recht sehr, doch einzutreten.«

»Freiherr von Olthoff« stellte sich der Gast vor und verneigte sich. Hilde sah einen tadellosen Scheitel, der sich nach hinten im spärlichen Haar verlor, das schwarz und fett auf dem Kopfe haftete; leises Unbehagen beschlich sie, als er ihre Hand zum Munde führte. Sein langer Blick überflog sie.

»Servus, Fred,« im Vorübergehen klopfte der alte [S. 20] Tiedemann seinem Sohne liebkosend auf den Arm, dann riß er die Portiere zur Seite: »Bitte hier in den Salon!«

»Der Dame den Vortritt.« Olthoff ließ Hilde vorangehen und musterte in Eile die schweren eichenen Möbelstücke, die von dem sezessionistischen Tand der übrigen Einrichtung sonderbar abstachen. »Ich sehe, man liebt hier das Neue.« Klaus Tiedemann hörte gern das Lob seiner Bemühungen, er war angenehm berührt von des anderen Art.

»Man geht mit dem Fortschritt! Uebrigens das ist Freds Verdienst.«

»Also du bist der Künstler?« Olthoff wendete sich für einen Augenblick zu Fred, der sich eine Zigarette anzündete, dann entschuldigte er sich neuerlich: »Ich mache mir wirklich Vorwürfe, daß ich so ohne weiteres die Herrschaften inkommodiere, aber wir waren so lustig zusammen, weil ‚Franklin’ so gut bestanden hatte, daß ich mich leicht überreden ließ.«

»Mache doch keine Umstände,« Fred Tiedemann sprach mit hoher, gesucht vertraulicher Stimme, »meine Leute freuen sich, dich kennenzulernen, nachdem ich ihnen schon viel von dir erzählt habe!«

»Gewiß, Herr Baron, wir sind Fred sehr verbunden, daß er uns Ihre werte Bekanntschaft vermittelte,« sagte Klaus Tiedemann schnell.

Olthoff verneigte sich, daß die Sporen klangen. »Sehr angenehm.«

»Wollen Herr Baron nicht eine Erfrischung zu sich nehmen?«

[S. 21] »Nein, danke, wir haben reichlich gefrühstückt.«

»Vielleicht könntest du, Hilde, ein Glas Wein an ...« Hilde war langsam aufgestanden, doch schon versperrte ihr Olthoff den Weg:

»Sehr liebenswürdig, aber ich danke wirklich! Bitte doch Platz zu behalten. Bitte!« Als sie wieder saßen, nickte er Hilde zu: »Gnädiges Fräulein müssen die Stelle der Hausfrau vertreten?«

Seine Reden klangen konventionell und gezwungen, ein leichter Hauch von der Ueberlegenheit des Mannes war darin und: Oberflächlichkeit. Hilde merkte mit scharfen Sinnen: das war einer, der ihr gegenüber die Art ihrer Leute hatte, nun begriff sie Freds Sympathie!

Der suchte stets Bekanntschaften, die ihm in der Gesellschaft durch Namen oder Aehnliches nützen konnten! Sie zuckte die Achseln und sagte: »Natürlich!«

»Gnädiges Fräulein haben noch einen zweiten Bruder?«

»Ja!« Klaus Tiedemann, der mit Zigarrenkistchen im Arm vorüberging, streichelte ihr die Wangen; seine Worte kamen oft verspätet:

»Nur nicht zu bescheiden sein, Mädel!« Hilde zuckte zusammen, ihr tat die gutgemeinte Berührung in Gegenwart des Fremden weh. Der wendete sich zu Klaus Tiedemann:

»Ein herber Verlust, wenn den Kindern die Mutter entrissen wird; auch meine Mama starb früh.«

Klaus Tiedemann nickte. »Es ist übermorgen ein [S. 22] Jahr; meine arme Frau; sie war eine Geborene von Wesenheim.«

Olthoffs verwittertes Gesicht überflog für eine Zehntelsekunde ein Lächeln, das sein gelbes Antlitz unter dem schwarzen Schnurrbart häßlich verzog. »Sie haben einen guten Ersatz,« er sah mit kecken Augen auf Hilde, die befangen vor sich niederblickte.

»Darüber ließe sich streiten,« warf Fred Tiedemann ein.

»Nicht doch, Hilde hilft uns in vielem.«

Fred lenkte ab, ihm mochte die Wendung des Gespräches nicht behagen: »Also, Olthoff, sage mal, du als Kavallerist, ob ‚Franklin’ nicht wirklich Chancen hat? — Papa glaubt's nämlich nicht.«

Wie elektrisiert fuhr der Angesprochene herum. »Ich sage Ihnen, nur der, der ihn schlägt, gewinnt das Rennen.«

»Na also,« lachte Fred Tiedemann wegwerfend.

»Mich soll es freuen, wenn du mit deinen Rennfarben gleich von Anfang an Glück hast,« sprach bedächtig Klaus Tiedemann.

»Uebrigens, Papa: wir haben außerdem einen anderen famosen Gaul in Aussicht!«

»Du willst schon wieder ein Pferd kaufen?« Des alten Tiedemanns Stimme erhielt etwas Kleinlich-nörgelndes. »Du mußt ja schon ein Dutzend beisammen haben?«

»Sogar mehr!«

Olthoff mischte sich ins Gespräch: »Ihr Herr Sohn [S. 23] fängt die Sache mit Geschick an: man würde gar nicht glauben, daß er der erste ist, der in der Familie diese Passion hat.«

»Ich habe nie besonders dafür geschwärmt,« beeilte sich der Alte zu sagen und faltete nervös die Hände zusammen, »doch ihr Jungen seid uns ja heute in allem über.«

»Du hattest keine Zeit dazu!« Hildes Stimme klang heiser und kampfbereit: glaubte Papa wirklich, daß seine Söhne höher stünden? Fred winkte ihr mißbilligend ab: »Warum hätte Papa keine Zeit haben sollen?« sagte er. »Wir Kinder haben ihn nicht gehindert: und das Geschäft läuft von selbst weiter.«

Es klopfte jemand an die Tür. Fred rief: »Herein.«

Eine breite, muskelkräftige Gestalt, mittelgroß, die unverkennbare Aehnlichkeit mit dem alten Tiedemann trug, trat über die Schwelle; eine sichere Stimme sagte kurz: »Guten Morgen.« Die Aussprache hatte englischen Akzent. Gerhard Tiedemann ging mit schweren Schritten auf seinen Stiefbruder zu und sagte sachlich:

»Wir brauchen dich drunten im Kontor, zum Unterschreiben, wir können die Sachen nicht länger liegen lassen.«

Unwillig hatte sich Fred im Sessel herumgeworfen. Nun galt es, den Chef zu zeigen. Er zog die Stirn in Falten. »Ich komme; so lange wird es wohl noch Zeit haben!?«

Gerhards energisches Gesicht blieb ruhig. »Ich habe die Sachen mitgebracht; sie liegen nebenan.«

[S. 24] Klaus Tiedemann wackelte vergeblich mit dem Kopfe, um der peinlichen Szene — doppelt unangenehm, weil sie vor einem Fremden stattfand — ein Ende zu machen. Auch in ihm war Aerger über Gerhards eigenwilliges Benehmen. Was mußte sich Olthoff denken?

Als Fred keine Antwort gab, klang abermals Gerhards Stimme: »Es handelt sich vor allem um die Wechsel für Lecart, deren dieser dringend benötigt.«

Fred war aufgesprungen und maß den Sprecher von Kopf bis zu den Füßen, dann ging er voraus ins Herrenzimmer.

Klaus Tiedemann sah seinen Kindern nach, von denen er das, welches die Art seiner eigenen Jugend trug, nicht liebte. Wie derb und gewöhnlich war dessen Gestalt gegen die elegante Figur Freds!

Es vergingen verlegene Minuten.

Schnell und unvermittelt, um der Situation Herr zu werden, frug Tiedemann:

»Sind Herr Baron schon lange hier in Garnison?«

Olthoff lächelte, daß kleine Fältchen um seine Augen aufsprangen: »Erst wenige Monate; ich bin Jahre in der Provinz gewesen.«

»Ich denke mir das Leben dort nicht so unangenehm?«

»Es ist fad.«

»Dafür gilt aber der Offizier dortselbst mehr als hier in der Großstadt. Besonders bei der Damenwelt. Nicht?«

[S. 25] Olthoffs Stimme wurde interessiert: »In der Provinz sind meist nur verheiratete Damen. Die sind gewiß für uns Junggesellen sehr angenehm; aber in einer Kleinstadt läßt sich so etwas nicht ausnutzen.«

»Ich verstehe.« Klaus Tiedemann lachte in der ihm eigenen bedächtigen Art und sah fragend nach Hilde hinüber: ob die zimperlich sei?

Olthoff bemerkte den Blick und sagte: »Gnädiges Fräulein verzeihen, daß ich so sprach?«

»Bitte!« Sie erhob sich jäh; auch er stand. »Nun habe ich lange genug gestört.«

»Nicht im geringsten,« sagte Klaus Tiedemann, vor Hilde tretend, »ich werde sofort Fred rufen lassen. Ich weiß nicht, warum er so lange fortbleibt.«

Olthoff legte Klaus Tiedemann die Hand auf den Arm; er sagte verbindlich »Bitte, ihn herzlich von mir zu grüßen, und nochmals Verzeihung für mein Stören!«

»Aber ich bitte!«

»Sie müssen es auf Kosten Ihrer Liebenswürdigkeit setzen.«

Klaus Tiedemann verneigte sich: »Kommen Sie recht oft und recht bald wieder, Herr Baron!«

»Wenn Sie gestatten, mit größtem Vergnügen!« Olthoff schlug die Hacken zusammen. »Bitte Fred zu sagen, er soll mich antelephonieren. Er will ein Auto kaufen, und da möchte ich ihm gern fachmännisch raten,« fügte er erläuternd hinzu.

»Herr Baron sind sehr liebenswürdig!«

[S. 26] Olthoff sandte noch einen Blick zu Hilde, die unmerklich den Kopf neigte. Dann ging er. Der alte Tiedemann begleitete ihn.

Hilde stand auf und seufzte:

Ein Tag war begonnen in alter Art.

[S. 27]

Nach Tisch gab es eine erregte Szene: Fred aß nicht mit den Seinen, weil er sich nicht, wie er sagte, bei seinen mannigfaltigen Obliegenheiten an eine feste Eßstunde binden konnte. Heute war er jedoch auf ein paar Minuten gekommen, um seinem Vater die letzten Abmachungen für die morgige Eröffnung des Industriehauses mitzuteilen. Darüber war Klaus Tiedemann in Aerger und Aufregung geraten. Er sollte den Minister mit einer kurzen Ansprache begrüßen. Solange zu arbeiten gewesen und zu raten, hatte man auf ihn bauen können, jetzt sollte man ihm seine Ruhe lassen.

»Ich tu's nicht,« sagte er mißmutig und sah ärgerlich zu Boden.

»Du mußt; es bleibt dir nichts anderes übrig, willst du uns nicht alle bloßstellen.«

»Wen? Alle?«

»Du bist Obmann des Aktionskomitees und hast als solcher die Pflicht, zu sprechen.«

Klaus Tiedemann gab voll Grimm keine Antwort.

Hätte man ihn nicht hineingejagt in das Ganze, wäre alles gut; die Geschichte mit dem Industriehaus ging jetzt schon über vier Jahre! Die [S. 28] Vereinigung der Großindustriellen hatte sich nach langem Herumstreiten zum Bau eines Vereinshauses entschlossen, und Tiedemanns verstorbene Frau hatte es verstanden, dafür zu sorgen, daß ihr Mann dem Werke in leitender Stelle gegenüberstand. Er hatte sich gefügt, in einer Anwandlung befriedigten Stolzes, daß man zu ihm gekommen war.

Die anderen Mitglieder des Ausschusses waren damit zufrieden, ihre Namen so oft als möglich in die Zeitungen, anläßlich der Sitzungsberichte, zu lancieren. Klaus Tiedemann hatte gestützt auf seine reichen Erfahrungen, sich voll in den Dienst der Sache gestellt und gearbeitet. Sein Aerger, über die Aufforderung und seine Unfähigkeit, ihr zu entsprechen, waren desto größer, als er wußte, daß es ihm eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes zustand, das Haus zu eröffnen.

Aber er war zu befangen! Woher auch in der Geschwindigkeit eine Rede nehmen? Er war keiner von denen, die für das, was sie empfanden, gleich die richtigen Worte fanden.

Das sagte er Fred.

Doch der lachte: »Sei nicht so schwerfällig — so ein paar leere Worte sind doch bald beisammen.«

»Meinst du?«

Ueber den alten Mann kam ein leises Zittern der Freude; es würde ihn doch eigentlich freuen, wenn er den Minister begrüßen könnte. Unverwischbar [S. 29] waren die Vorurteile des niederen Standes, in dem er geboren. »Du könntest mir eigentlich ein paar Worte aufsetzen,« sagte er gepreßt zu Fred und sah angelegentlich auf seine Fingernägel, die breit und gewölbt waren. »Ja?«

»Ich?« Fred Tiedemann fuhr ärgerlich auf, »was fällt dir denn ein? Ich kann doch nicht stumm daneben stehen, wenn du meine Worte redest!«

Klaus Tiedemann hing den Kopf.

»Fred! Den Gefallen mußt du Papa tun!« sagte Hilde.

»Was weißt denn du! Wenn Papa spricht, soll er sich die Sätze auch selbst zusammenstellen.«

»Du bist häßlich.«

»Laß nur, Hilde,« ihr Vater drückte sie auf den Sessel nieder, »ich werde es schon allein machen.« Er atmete schwer; es war ihm nicht leicht gefallen, seinen Sohn darum zu ersuchen; er ging zur Tür hinaus.

»Du hast Papa weh getan,« sagte Hilde vorwurfsvoll.

Schnell war Leo in die Höhe:

» Ich werde Papas Rede aufsetzen,« rief er und lief zur Tür, »du bist ein Esel, Fred.«

»Wird hübsch werden«, rief ihm Fred nach. Er trommelte auf die Tischplatte: »So ein Frechling!«

»Ich versteh' dich nicht.« Hilde schüttelte den Kopf. »Du mußt doch gesehen haben, Fred, wie viel Papa daran lag, daß du ihm behilflich bist. Was hat er für dich getan!«

[S. 30] »Wär' ich der Vater, so hätt' ich's auch getan.«

Sie sah ihn mit langem Blicke bittend an[.] »Setze ihm die Rede auf, Fred! Nachmittags lernt er sie auswendig, und alles ist recht.«

»Nein! Ich seh' nicht ein, warum man ihn in seiner Schwäche unterstützen soll. Er hat oft genug davon gesprochen, was er für ein tüchtiger Kaufmann gewesen ist; er wird das auch zusammenbringen.«

Sie gab keine Antwort.

[S. 31]

In reichem Schmucke prangte das Industriehausvestibül. Die Herren im Frack streckten die Hälse, vorsichtig balancierten sie die Zylinder. Draußen, nur durch Glas und Eisen getrennt, klatschte der Regen auf die breiten Granitstufen, welche das Vestibül gegen die Straße abschlossen. Jeden Augenblick mußte der Minister vorfahren.

Klaus Tiedemann stand mit leise murmelnden Lippen neben der gleißenden Statue Merkurs. »... festhalten in Treue am zünftigen Beruf ...« Er konnte sich Leos Worte nicht merken, es war zuviel jugendlicher Schwung darin. Der Schweiß war auf seiner Stirn, polternd fiel der Zylinder zu Boden. Er hob ihn auf und ließ das Konzept fallen. Die Umstehenden sahen ihn an: »Das konnte gut werden!« Es waren meist Altersgenossen Freds, mit deren Vätern er gearbeitet hatte. Sie empfanden keinen Zusammenhang mit dem alten Mann.

»Er kommt.«

Ein Wagen fuhr vor, die mächtigen Torflügel öffneten sich, brausend sprang der Wind von der Straße [S. 32] in die Topfpflanzen, welche des Landesherrn Büste schmückten.

Alles verneigte sich vor dem Minister und drängte vorwärts.

Klaus Tiedemann fühlte sich gestoßen, in den Vordergrund geschoben; unordentlich saß der Frack auf seiner vierschrötigen Gestalt. Jedes Wort war ihm entfallen; die Knie zitterten. Er sah gebeugte Rücken. Lackschuhe schliffen auf den Fließen.

Die Vorstellung der Herren war schon im besten Gang.

Instinktiv suchte Klaus Tiedemann einen Ausweg aus der Menge; er drängte der Tür zu. Sein Herz hob an, in schweren Schlägen zu pochen.

Er sah, wie sich die Köpfe nach ihm wendeten. Plötzlich war Fred an seiner Seite. Wie ein Ertrinkender griff Klaus Tiedemann nach dessen Arm:

»Ich kann nicht reden.«

»Warum?«

Klaus Tiedemann rang nach Luft. »Mir ist nicht gut; ich glaube, mich trifft der Schlag«, er zwängte die weißbehandschuhte Rechte in seinen Hemdkragen. »Hilf mir!«

»Ich will dich vertreten.«

Die Worte waren rasch hin und her geflogen; vor beiden öffnete sich eine Gasse. Die Herren sahen erwartungsvoll auf Klaus Tiedemann.

Mit schnellem Schritt trat Fred vor und verneigte den wohlfrisierten Kopf; seine Gestalt deckte die seines [S. 33] Vaters. »Eure Exzellenz. Hochbeglückt sieht der Verein der Großindustriellen unseres geliebten Heimatlandes seit langem dem heutigen Tage entgegen, der uns ein Heim geben soll für dauernde Zeiten ...«

In leichtem Tone flossen wohlgesetzte Worte an Klaus Tiedemanns Ohren vorbei, daß er freudig den Kopf hob und zur Seite trat, um in Freds Gesicht Ausblick zu gewinnen.

»... Euerer Exzellenz Gegenwart gibt uns die frohe Zuversicht, daß unser Bestreben von maßgebender Seite gewürdigt und unterstützt wird ...«

Er war stolz auf seinen Sohn!

Der sprach zu Ende:

Er pries den Kaufmannsstand, dem die ganze Welt offen stünde, er sprach davon, wie verfehlt es sei, wenn die Gewerbetreibenden ihre Söhne die Mittelschule nur zu dem Zwecke besuchen ließen, um sie die Beamtenkarriere oder einen der gelehrten Berufe ergreifen zu lassen: »... Der Kaufmannsstand selbst bedarf tüchtiger, gebildeter Kräfte, die ins Leben hinausziehen, den Ruhm unseres Vaterlandes zu mehren.«

Er schloß unter allgemeinem Beifall mit einem Hoch auf die Person des hohen Gastes ...

Sie umdrängten Fred Tiedemann, dem der Minister die Hand schüttelte. Dann sprach auch der ein paar Worte; seine Rede klang aus in ein Hoch auf den Landesherrn.

Dann begann der Rundgang.

Klaus Tiedemann wollte seinem Sohne danken, [S. 34] doch er konnte ihn nicht erreichen; vergebens sah er sich nach ihm um. Fred ging ganz vorn, an der Spitze des Zuges.

Tafeln hingen an den Wänden und zeigten die Zunahme des Exportes. Steile Kurven klommen an den Mauern hinan; sie wiesen die enorme Entwicklung einzelner Branchen.

Durch den Festsaal und das Stenographenzimmer ging es zu den Fremdenappartements. Dann kamen die ausgedehnten Bureaus, die Schreib- und Lesezimmer, die ausgewählte Fachwerke enthielten über sämtliche Handelsgebiete. Klaus Tiedemann drängte sich vor. — Sie waren in das Informationszimmer getreten, eine Neueinrichtung, zu der er geraten hatte. Die Nächststehenden wehrten ihm den Ausblick; dunkle Röte stieg in sein Gesicht.

Er hörte, wie sein Sohn die Erklärung gab, wie er die Schemas zeigte, nach denen die einschlägigen Adressen und sonstigen Informationen schnell zu finden waren. Klaus Tiedemann hatte hier die Erfahrungen seines arbeitsreichen Lebens niedergelegt. Jeder Interessent konnte sich hier über alles Wissenswerte unterrichten; sämtliche Länder der Erde waren vertreten. Klaus Tiedemann hörte lobende Stimmen, die seinem Werke galten; ihn selbst beachtete niemand. Er drehte sich um; hinter ihm stand der Architekt, der das Gebäude geschaffen hatte, der Wochen und Monate mit ihm gearbeitet hatte, derweil die anderen sich um [S. 35] nichts bekümmerten. Auch der lächelte bitter. Sie verstanden sich ...

Der Zug ging weiter, dem nächsten Stockwerk zu; wie eine lange Schlange wand er sich durch die Räume.

Klaus Tiedemann senkte den Kopf; er ging als letzter.

[S. 36]

Sie saßen am nächsten Tage, nach dem Abendessen beisammen. Klaus Tiedemann hatte einen großen Bogen weißen Papiers vor sich liegen.

»Ich bin auf jeden Fall dagegen !« sagte Fred und streifte die Asche von seiner Zigarre.

»Ich auch.«

»Ihr wollt Görnemann diesmal nicht einladen?« Hilde sah erstaunt von ihrer Stickerei in die Höhe. »Warum denn?«

Klaus Tiedemann ließ seinem Sohn das Wort. Er sah ihn erwartungsvoll und ermunternd an. Fred sprach:

»Mit den alten Gewohnheiten muß endlich einmal gebrochen werden. Jetzt, wo wir nach Mamas Tod das erste Souper geben, ist die beste Gelegenheit dazu. Was soll Görnemann in dieser Umgebung? Unser Bekanntenkreis ist, Gott sei Dank, mit der Zeit ein anderer geworden. Einen Fürsten Solt und eine Baronin Wolny können wir nicht mit Herrn Sebastian Görnemann zusammenbringen. Da gibt es doch gar nichts zu reden, und auch Olthoff würde sich für eine solche Bekanntschaft bedanken.«

[S. 37] Er nahm seinem Vater den Bleistift aus der Hand und zog einen dicken Strich durch den Namen seines ersten Angestellten.

»Ganz richtig«, sagte Leo, den es gar nichts anging. Hilde schwieg und beugte sich tief über ihre Arbeit.

»Es wird ihm selbst so lieber sein«, tröstete der alte Tiedemann eine Regung in seinem Innern. Dann atmete er gleich wieder schwer: »Das ist bei Gerhard etwas ganz anderes, der trägt unseren Namen.«

»Du willst Gerhard bei uns haben?« Aus Freds Frage klang Ueberraschung und Ungeduld. »Ja, sage mir nur, aus welchem Grunde?«

»Ich denke wohl? Was würden denn die Leute sagen, wenn ich es nicht täte; sie tratschen ohnehin genug, daß er nicht bei uns wohnt! Er ist doch mein Sohn.«

»Nun ja; aber eben — aus deiner ersten Ehe!«

Unsicher blickte der Alte um sich. Scheue und herannahender Unwille kämpften in ihm. Er spreizte die Daumen gegeneinander und sah mit schiefem Kopf zu Fred hinüber; in ihm war die Erinnerung an gestern: »Laß das«, grollte es aus ihm. »Genug, daß er mein Kind ist. Er hat das Recht, dasselbe zu verlangen wie ihr.«

»Du sprichst doch nicht im Ernst, Papa?«

Fred lief mit langen Schritten im Zimmer herum.

»Setze dich her!« des alten Tiedemanns Stimme gewann Schärfe, »laß das Räsonieren! Er ist mein [S. 38] Sohn und hat bis heute bei Gott noch nicht zu viel Anspruch darauf erhoben! Ich habe ihn zwanzig Jahre nicht gesehen. Bon! Mutter hat er nicht gekannt ...« des alten Mannes Rede begann zu hasten, »sie ist gleich nach seiner Geburt gestorben, und ich bin herüber nach Europa und bin hier geblieben. Er hat von mir nur gewußt, daß ich sein Vater sein muß, weil ich denselben Namen habe und ihm Geld schicke. Er ist mir fremd, ich hab' euch lieber als ihn, aber er bleibt mein Kind.«

»Gut!« Fred schlug mit zynischem Lächeln die Hand auf den Tisch. »Gut, daß Mama tot ist.«

Die Zornesader schwoll auf des Alten Stirn.

»Fred«, sagte Hilde mahnend, und auch Leo, der von seinem üblichen Halbschlummer aufgewacht war, winkte dem Bruder ab. Doch der war viel zu zornig, um es zu bemerken:

»Da willst du Gerhard wohl auch einmal in die Firma aufnehmen, ihn vielleicht gar zu meinem Mitchef machen?« fragte er herausfordernd.

»Und wen würde das kümmern?«

Für einen Augenblick zögerte Fred mit der Antwort: er kannte den Vater von dieser Seite nicht; dann brach er los: »Nun, hörst du, Papa, das übersteigt alles Erdenkliche! Das hätten Mama oder ihre Verwandten erfahren sollen! Sie hätten nie eingewilligt, daß Gerhard zu uns kommt; das sind die Folgen ...«

Eine tiefe Falte zog sich um des alten Tiedemanns Mund. »Wer hat die Firma Klaus Tiedemann gegründet [S. 39] und hochgebracht?« fragte er. »Deine Mutter oder ich? Wer hat mir dabei geholfen? Die Wesenheims vielleicht? Die haben mir nicht das Leben vergönnt! Wie ein Hund hätte ich zugrunde gehen können, sie hätten nicht die Hand gerührt. Erst als ich ihnen Stück für Stück ihren Boden entrissen hatte und der Bankerott unausbleiblich war, dann waren sie umgestimmt. Dann durfte ich sogar die Tochter heiraten ...« Fred stand auf.

»Papa! Kein Ehrenmann spricht so über seine Frau, am wenigsten vor seinen Kindern. Wenn du so zu sprechen fortfährst, muß ich das Zimmer verlassen.«

Erschreckt und verlegen hielt sein Vater inne. War er zu weit gegangen? Die Unsicherheit seiner niederen Geburt nahm ihn oft gefangen seinem eigenen Kinde gegenüber. Fred kannte sich in solchen Sachen aus! Gewiß war ihm wieder der Zorn durchgegangen; er wollte ja niemandem unrecht tun; gerade darum hatte er ja so gesprochen! Es war ja auch nur zur Hälfte seine Ueberzeugung, was er über Gerhard gesagt hatte, aber es war durch Freds Widerspruch etwas in ihm aufgerührt worden, das von seiner hart durchlebten Jugend in ihm zurückgeblieben war als eiterndes Geschwür. Er suchte einzulenken:

»Für diesmal müssen wir Gerhard wohl einladen. Wer weiß, ob er kommt, und wegen dem anderen, Fred,« er blickte seinen Sohn begütigend an, »laß dir keine grauen Haare wachsen, du kommst gewiß nicht zu kurz; meinst du nicht selber?«

[S. 40] Fred nickte, er konnte nur schwer ein befriedigtes Lächeln verbergen:

»Machen wir weiter!«

Schnell griff der Alte nach der Liste; er sagte:

»Fürst Solt, den mußt du persönlich auffordern, Fred.«

»Ich treffe ihn heute im Klub.«

»Gut.«

»Baronin Wolny werde ich selbst morgen einladen. Ich fahre vormittags zu ihr, vielleicht könnte man auch bei uns am gleichen Abend über das Wohltätigkeitsfest einig werden — so eine kleine Komiteesitzung entre nous wäre nicht schlecht!«

»Und ihren Sohn soll sie auch mitbringen; vielleicht wird das ein Verkehr für Leo!«

»Für mich?« fragte der erstaunt.

»Ich glaube nicht, Papa,« sagte Fred, »er ist ein hochmütiger, überspannter Bursche. Kaum zu glauben, daß eine so natürliche Mutter einen solchen Sohn hat.«

Hilde mischte sich ins Gespräch: »Sie ist Kunstreiterin gewesen? Der Gesandte, ihr verstorbener Mann, mußte mit seiner Familie brechen, als er sie heiratete?«

»Dummes Geschwätz,« fuhr Fred auf, »kein wahres Wort ist daran; sie ist eine riesig gebildete, feine Frau, die in den ersten Kreisen der Stadt verkehrt.«

»Hilde hat's ja auch nur von Hansen gehört,« lachte Leo, »und bei dem muß man immer nur die Hälfte glauben mit seinem frechen Maul.«

[S. 41] »Leo,« in bitterer Verlegenheit preßte die Schwester die Lippen zusammen, »du weißt wohl wieder nicht recht, was du daher redest?«

»Oh, ganz genau,« kam in streitseliger Behaglichkeit die Antwort, »es ist so.«

»Apropos,« sagte Fred Tiedemann, »weil Hansen erwähnt wurde: den müssen wir diesmal entschieden einladen!«

»Hansen? Nein! Warum den?« Der alte Tiedemann schien dem Karikaturenzeichner wenig Sympathie entgegenzubringen, »den kann man doch nicht mit Solt zusammenbringen.«

»Wir brauchen ihn für das Wohltätigkeitsfest! Laden wir ihn nicht ein, macht er uns dann nicht den Narren — und wir haben keinen anderen, der so schnell arbeitet und uns die Sachen umsonst überläßt.«

»Aber die Geschichte mit den Solts!«

»Welche denn?«

»Na hörst du!«

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Daß du das vergessen hast!«

»Was ist denn?«

»Als Hansen seine Karikaturen zum erstenmal gesammelt erscheinen ließ, rückten die Solt-Hansen doch in die Zeitung die Notiz ein ...«

»Jetzt erinnere ich mich: daß sie mit dem Zeichner T. A. Hansen weder verwandt noch irgendwie in Beziehung wären? Das meinst du Papa?« Fred mußte lachen. »Grob war schon seine Antwort! Ich hätte mich [S. 42] allerdings in ähnlichem Fall tödlich beleidigt gefühlt, aber: Fürst Solt verkehrt mit den Solt-Hansen nicht, weil sie bürgerliche Frauen haben, und er lachte über Hansens Erwiderung am nächsten Tage: ‚Der Zeichner T. A. Hansen teilt mit, daß er mit der Familie Solt-Hansen, deren jüngster Sohn kürzlich wegen betrügerischer Wechselschulden verurteilt wurde, weder verwandt ist noch in irgendwelchen Beziehungen steht.’«

»Ein ganz famoser Bursche, der Hansen,« meinte Leo nachdenklich, »der schert sich um niemanden als um sich selbst und ...«, er zwinkerte mit den Augen zu seiner Schwester hinüber.

Die senkte den Kopf tief auf ihre Arbeit, während der Vater langsam, widerwillig sagte: »Also den auch.« Und dann hörte sie, wie der Bleistift bei Hansens Namen den Haken machte, der seine Einladung sicherte. Sie mußte bitter lächeln, daß es gerade Fred war, der ihn wieder zu ihnen ins Haus zog. Gerade der, der ihn am wenigsten verstand, und dessen Art Hansen am heftigsten bekämpfte.

Fred sah auf die Uhr und sagte:

»In einer Viertelstunde muß ich fort, sonst treffe ich Lecart nicht mehr im Klub.« Er griff nach der Adressenliste und durchflog die Namen. »Der Karsten hat quittiert und ist Agent geworden, den natürlich nicht«, er strich den Namen des ehemaligen Gardeoffiziers und las flüchtig weiter ..., »die junge Büdener nicht, die hat einen armen Teufel geheiratet, man sagt aus Liebe. Die kann sich kein [S. 43] ordentliches Gesellschaftskleid kaufen.« Wieder kratzte der Bleistift und schied eine junge Frau vom Hause Tiedemann ... Er las rasch: »Die anderen stimmen so.« Er ließ das Papier fallen. »Richtig, was ich noch sagen wollte: du mußt dir den Schneider kommen lassen, Papa, du brauchst einen neuen Frackanzug.« Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf; doch sein Sohn ließ ihm nicht das Wort: »Es ist die höchste Zeit für dich.«

»Schon wieder einen neuen Frack?« Der alte Tiedemann runzelte die Stirn. »Ich habe nur ohnehin erst voriges Jahr einen machen lassen.«

Fred wurde ungeduldig:

»Man hat jetzt anderen Schnitt und einen Vorstoß an der Weste. Ich habe mich gestern im Industriehaus geschämt, wie dein Gilet saß. Du kannst als Hausherr nicht so aussehen! Ich versteh' dich wirklich nicht, Papa, wie du in derart primitiven Anstandssachen anders denken kannst.« Wieder sah er auf die Uhr: »Ich werde dir morgen die neuen Muster schicken lassen.«

Der alte Mann fuhr sich müde über die Augen.

»Dann soll sich Leo aber auch etwas bestellen«, sagte er.

Der sah mit flinkem Blick auf: »Ich brauche schon lange wieder einen Tennisanzug, Pa.«

Fred Tiedemann knöpfte eilig den Rock zu:

»Gute Nacht! Ich gehe. Bald hätte ich vergessen. Ich habe morgen vormittag keine Zeit fürs [S. 44] Geschäft, muß zur Wolny usw. Bitte, Papa, gehe morgen 'mal wieder hinunter. Es werden Berichte von drüben gekommen sein, und auch Lecart hat bei uns zu tun. Sei so gut und besprich dich mit Görnemann; aber den Gerhard laß aus dem Spiele, den geht die Sache nichts an.« Fred schritt zur Tür. »Olthoff läßt sich dir empfehlen, Hilde, er behauptet, noch nie ein so hübsches Mädchen als dich gesehen zu haben, aber du seiest herb.« Er lachte. »Ist schon 'was Wahres dran; na, das gibt sich! Addio.«

Klaus Tiedemann erhob sich, er hielt die Lider geschlossen, als schmerzten sie ihn.

»Gehen wir schlafen!« sagte er.

[S. 45]

Ueber den Spieltischen des Klubs hing dichter Rauch.

Fred Tiedemann hörte mit halbem Ohr seinem Schwager zu, der eindringlich in ihn hineinredete. Seine Augen wanderten die Reihen der Sitzenden entlang, ob er nicht einen Bekannten darunter fände, der ihm Grund gab, sich der Umklammerung Lecarts zu entziehen.

Er hatte nicht Lust, jetzt von Geschäften zu sprechen; doch dem anderen galt das heute alles: »Wenn ich meine Geschäftsinteressen euch gebe und dafür schweres Geld zahle, so könnt ihr mir doch entgegenkommen!« Lecart strich aufgeregt seinen pechschwarzen Henry quatre und sah hochmütig nachdenkend vor sich nieder. »Das Bankhaus Tiedemann«, fuhr er mit heiserer Stimme fort, »wird wohl nicht auf den Verdienst mit seinen Verwandten angewiesen sein, und jetzt ist der richtigste Moment, in dem ich mich rangieren und schweres Geld dabei verdienen kann.«

»Wenn man das sicher wüßte!«

»Erlaube,« Lecart machte eine hastige Bewegung, »ich hoffe, für das Reelle der Unternehmung bürgt mein Name!«

[S. 46] »Natürlich, selbstverständlich; aber es handelt sich um große Summen, da habe ich die Verpflichtung, vorsichtig ans Werk zu gehen!« Fred kam sich unendlich wichtig vor, als er so sprach, trotzdem er gerade mit seinen Gedanken bei Frau Maja Wolny war und sich die Worte überlegte, mit welchen er sie morgen einladen wollte.

»Das ist mir klar. Aber die Hausse in Spiritus hält noch längere Zeit an!«

»Ist das sicher?«

Lecart erwiderte mit lebhaften Worten:

»Daran ist doch nicht zu zweifeln. Die disponible Ware ist in festen Händen und wird nicht abgegeben, weil die Eigner sich den Sommerbedarf sichern wollen, die Zufuhr mangelt. Nach der letzten Notierung ist«, er griff nach dem Börsenblatt und klemmte das Monokel ein, »jetzt bereits gegen den niedrigsten Preisstand des Vorjahres eine Steigerung von 7,80 zu verzeichnen.« Auf Lecarts bleichem hageren Gesichte begannen zwei rote Flecken zu brennen: »Wenn ich die Mansbergschen Fabriken übernähme; in zwei Tagen habe ich sie in vollem Betrieb, dann schmeiß' ich in kurzer Zeit so viel Ware auf den Markt, daß sie mir, bei den hohen Preisen, enormen Gewinn bringen muß.«

»Du drückst dir aber dann doch selbst die Preise herunter durch forcierte Abgaben!«

»Bis es so weit ist, habe ich meine Sache im Trocknen.« Immer eindringlicher und überredender [S. 47] wurden Lecarts Worte: »Es muß dir doch einleuchten, daß an der chose keine Gefahr, sondern nur Gewinn zu finden ist!« Wieder stand der abweisende Zug um seinen schmalen Mund, während sich seine hagere Gestalt weit vorneigte und die kalten schmalen Finger nach Freds fleischiger Hand griffen: »Schlag ein, wir haben beide Nutzen und die anderen haben das Nachsehen; sie sollen spüren, daß mit den Lecarts und Tiedemanns nicht leicht zu kämpfen ist ...« Er fuhr halb in die Höhe und grüßte einen vorübergehenden Offizier: »Mein Kompliment Durchlaucht.«

Auch Fred war instinktiv aufgefahren und hatte sich verneigt. Dunkelrot war er im Gesicht geworden.

»Kennst du ihn?« war seine Frage.

»Selbstverständlich: intim.«

»Du mußt mich vorstellen!«

»Gern! Schwager was ist's? Einverstanden?«

Freds Widerstand war gebrochen, Lecart hätte ihn für seine Pläne an keiner Stelle so leicht gewinnen können wie hier im Klub, wo Fred Tiedemann um Gleichberechtigung rang, die ihm nur schwer seines Vaters Geld verschaffte. Er nickte und besah die spiegelnde Spitze seines Lackschuhes:

»Jawohl, aber ich verlasse mich ganz auf dich! Ich habe keine Zeit, mich näher zu informieren. Du hast die Verantwortung.«

Fred stand auf, Lecart hielt ihn fest: »Treffe ich dich morgen im Geschäft?«

»Nein!« Fred Tiedemann strebte den Spieltischen [S. 48] zu. Lecart riß aus seinem Notizbuch einen Zettel und kratzte im flirrenden Licht, das durch den Rauchnebel schien, ein paar Worte darauf: »Da unterschreib!«

Mit gleichgültigen Augen überflog Fred die zwei Zeilen, durch die er das Bankhaus Klaus Tiedemann anwies, Herrn Baron Lecart beim Ankauf der nachgelassenen Mansbergschen Spiritusfabriken bedingungslos zu unterstützen. Mit seiner steilen Schrift setzte er seinen Namen darunter. »Wir müssen aber die erste Hypothek haben, damit wir sicher gehen!« sagte er.

»Ich bin der letzte, der euch schädigen will.«

Fürst Solt ging vorüber mit seinen langsamen, steifen Schritten und seinem tadellos sitzenden Salonrock. Tief bückte sich Fred Tiedemann:

»Durchlaucht, dürfte ich um wenige Augenblicke Gehör ersuchen?«

Solt neigte den Kopf.

»Bitte!«

Fürst Solt trat näher, er übersah Lecart, der, während sein Schwager in wohlgesetzter Rede die Einladung vorbrachte, den Zettel hastig verwahrte, der ihm wieder für ein paar Monate Luft machte und Kredit schuf.

Mit freudestrahlenden Augen sah Fred dem Fürsten nach: »Er hat zugesagt, das Fest ist gesichert.«

»Hm,« Lecart schien müde und abgespannt, »was machst du jetzt?«

»Ich suche Olthoff und werde ein kleines Spielchen probieren.«

[S. 49] »Dort ist er!« Lecart wies auf den Näherkommenden. »Nimm dich vor ihm in acht, er steht windschief und kann eine teuere Bekanntschaft werden.«

»Teuerer als du kann er nicht sein.«

In Lecarts Emigrantenaugen blitzte es feindselig auf. »Ich bin der Mann deiner Schwester.«

»Weiß ich. Grüß' sie mir schön!«

Fred Tiedemann eilte seinem neuesten Freunde entgegen. Lecart, mit seinen dreißig Ahnen, lehnte sich unwillig in dem Fauteuil zurück und sann auf Geschäfte.

Drunten schlich durch den fallenden Regen Leo Tiedemann auf der Suche nach Abenteuern.

[S. 50]

Am nächsten Tage hatte sich der alte Tiedemann rasch angekleidet und war mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab gegangen, bis es Frühstückszeit war. Mehr als ein Jahr hatte er sich geflissentlich vom Geschäft zurückgehalten, um Fred nicht zu beeinflussen. Es war ihm nicht leicht gefallen; doch er konnte sich recht gut zurückerinnern, wie er eine Kontrolle vertragen hätte, daher glaubte er auch, es müßte bei seinem Sohne das gleiche sein. Wohl war es ihm manchmal vorgekommen, als ob Fred eine Einmischung seinerseits gar nicht ungern sähe.

Langsam stieg er die Stufen hinunter, die er jahrelang gegangen war, in tiefen Sorgen und Gedanken. Ein weihevolles Gefühl umfing ihn.

Er lächelte darüber und vermochte doch nicht, es abzuschütteln.

Er ging auf die große, eiserne Türe zu, die er versucht hatte zu vergessen und die doch stets alte Wunden aufriß, wenn er sie sah — es war selten genug. Sie war vor dreißig Jahren, als er das Haus in seinen Besitz gebracht hatte, rostig und zerschlagen gewesen. Er hatte sie stets so gelassen. Nun glänzte sie in neuen Farben.

[S. 51] Mit raschen Schritten trat er ein.

Ein Diener kam geschäftig auf ihn zu; doch als er ihn erkannte, riß er die Tür nach links hin auf.

Sein Blick flog über die langen Reihen der Schreibtische; er atmete tief. Wieder einmal lag sein Leben vor ihm, das ihm hier Tag für Tag vorübergeschlichen war in unablässigem Mühen und Sinnen.

Hier saßen die Buchhalter.

Er sah unter den bekannten Gesichtern neue — wie stets, wenn er kam — die erst der Nachbar aufmerksam machen mußte, wer er sei. Dann flogen sie von den Drehstühlen in die Höhe und verneigten sich tief: »Ich habe die Ehre, Herr von Tiedemann.«

Er kam sich fremd vor in dem langgestreckten Bureau, das um das Doppelte vergrößert worden war. Sein Auge musterte mit schnellem Blick die neue Einrichtung, von der Fred so viel zu ihm gesprochen hatte. Alles war getäfelt, mit leichten, sanften Farben bedeckt. Es machte einen vornehmen Eindruck und stach ihm doch unangenehm in die Augen.

Das Leben war fortgeschritten und verlangte andere Formen. Das war stets so gewesen, und Fred stand voll in seiner Zeit: das war seine Beruhigung.

Nun sah er den alten Görnemann, welcher gebeugt an seinem Stehpult arbeitete, den weißen Kopf auf die linke Hand gestützt. So hatte er ihn jahrzehntelang gesehen; nur die Haare waren damals noch braun gewesen.

Der Ton, mit dem er ihn anredete, war wärmer, als er eigentlich wollte:

[S. 52] »Grüß Gott, Görnemann!« Der fuhr herum, als hörte er ein Gespenst:

»Der Herr!« Er lief nach einem Sessel. »Das ist aber schön, daß Sie wieder einmal nach uns sehen. Das ist sehr schön.« Er rieb seine mageren Hände, daß sie knackten. Klaus Tiedemann machte eine Kopfbewegung nach den Arbeitenden; er war verlegen, weil er nicht gleich den richtigen Ton fand.

»Viel neue Leute darunter?«

»Viele«, der alte Prokurist räusperte sich.

»Hat sich viel geändert?«

»Oh, sehr.«

Etwas Fremdes lag zwischen den beiden Männern, die sich ein Leben lang gekannt hatten. Der Ton des Salons ließ sich nicht hierher verpflanzen.

»Auf dem Platze vom Pfeiffer sitzt jetzt auch ein Junger.«

»Der Pfeiffer ist in Pension gegangen.« Wieder hüstelte Görnemann, um nicht sagen zu müssen, daß es den alten Mann viel Tränen gekostet habe, bis er seinen Sessel, den er dreißig Jahre gedrückt, hatte verlassen müssen; aber mit dem jungen Chef ging es nimmer! Der nahm ihm die Handkasse weg und degradierte ihn zum Schreiber. Das ertrug sein Ehrgefühl nicht.

»Hat mein Sohn die Pensionsfrage gelöst?«

»Nein, es wird noch immer fallweise bestimmt, was jeder bekommt.«

»Aber er gibt jedem von meinen alten Mitarbeitern Pension?«

[S. 53] Leise Angst und Besorgnis klang in der Frage. »Ja, aber es ist sehr wenig.«

»Das will ich nicht; da muß ich heute gleich mit Fred sprechen.«

Görnemann trat von einem Fuß auf den anderen; er schien in großer Aufregung; dann sagte er stockend: »Ich habe schon oft daran gedacht, mich zurückzuziehen,« wieder ließ er seine Gelenke krachen; »man hat doch seine 68 Jahre auf dem Rücken, und da wird einem das Arbeiten manchmal schwer.«

»Nichts da,« Klaus Tiedemann legte seinem ehemaligen Angestellten die Hand auf die Schulter, »davon reden wir in ein paar Jahren, das gibt's jetzt noch nicht.« Mit gutmütiger Barschheit suchte er dem anderen seine Gedanken auszureden. »Ein Mann wie Sie, ohne Frau und Kind, was soll denn der machen ohne Geschäft? Ist's mir nicht leicht gefallen, das Auf-der-faulen-Haut-liegen, was wollen denn erst Sie anfangen?«

»Ist schon wahr, Herr Tiedemann, aber ein alter Kopf kann heutzutage oft nimmer mit.«

»Papperlapapp, ein Kaufmann wie Sie! Wäre nicht übel.«

Hunderte von frohen Fältchen erschienen auf des Alten faltigem Gesicht, als er seinen Herrn so reden hörte.

»Nein, da wird einstweilen nichts daraus!« Tiedemann schüttelte den Kopf. Dann aber, als käme ihm ein anderer Gedanke, fügte er hinzu: »Wenn Sie's [S. 54] aber einmal wirklich satt haben, Görnemann, dann lassen Sie es mich wissen. Ihre Pension soll meine Sache sein.« Er sprach rasch weiter, um des anderen Dank zu entgehen. »Uebrigens, ich habe Gerhard noch nicht gesehen.«

»Der ist im Chefzimmer; er studiert die überseeischen Berichte; der junge Herr erlaubt nicht, daß sie heraus ins Kontor kommen,« sagte Görnemann rasch ... »und für ihr Versprechen, sich meiner anzunehmen ...«

Er kam in seiner Dankrede nicht weiter, denn sein Herr fiel ihm ins Wort: »Der Berichte wegen bin ich hier. Wie sind sie ausgefallen?«

»Schlecht, sehr schlecht.« Görnemann schüttelte bedauernd den Kopf: »Ich kann mich nicht erinnern, je so schlechte gesehen zu haben.«

»So?« Tiedemanns Stimme klang, aus alter Gewohnheit, streng. »Wir werden ja sehen. Wo geht es ins Privatbureau? Man kennt sich ja nimmer aus in eurem neuen Kram.«

»Dort, gleich die nächste Tür,« Görnemann lief dienstbeflissen voraus, »dort, am Ende vom Gang.«

»Was ist das ?« Klaus Tiedemann hatte eine andere Tür geöffnet und sah in ein Zimmer, das ebensogut als Damenboudoir hätte gelten können. »Das sieht ja riesig mollig aus!«

Verlegen meinte Görnemann: »Das ist des jungen Herrn Privatempfangszimmer.«

»So?« Der alte Tiedemann sagte weiter kein Wort, [S. 55] er nahm die Hand von der Türschnalle und ging weiter.

»Guten Morgen, Vater!«

Gerhard Tiedemann stand hinter dem Tische auf, vor dem er gesessen hatte, und schlug in seines Vaters Hand ein, die der ihm in plötzlicher Wallung entgegenstreckte: »Fleißig bei der Arbeit?«

»Solche Arbeit macht nicht viel Freude.«

»Laß sehen!« Tiedemann schob ihn zur Seite und nahm die Papiere zur Hand.

Gerhard zuckte die Achseln und blickte zu Görnemann hinüber, der den Kopf in die Schultern zog, vor dem unaufhaltsamen Entrüstungssturm, der nach seiner Erfahrung kommen mußte.

Mit unsicherer Stimme fragte der Alte:

»Von wem sind die Berichte?«

»Von Smithers Sons ...«

Nach einer Weile fragte Tiedemann: »Warum haben wir so unsinnig viel Baumwolle abgegeben? Nun leiden wir selber Mangel daran.« Görnemann trat einen Schritt näher, um zu antworten, doch der Alte fuhr ihn an: »Ich brauch' keine Erklärung.«

Tief beugte er den Kopf herab, um seines Unwillens Herr zu werden. Fred mußte da nicht viel nachgedacht haben, sonst wäre dieser Verlust hintanzuhalten gewesen. So ein grobes Versehen war Klaus Tiedemann nie unterlaufen. Das kam davon, wenn die jungen Leute stets zu Hause bei Mama saßen und sich nicht in der Welt umsahen ...

Er horchte auf, eben sagte Gerhard:

[S. 56] »Das ist der Fehler bei uns; man will alles vom grünen Tische aus regeln, ohne Erfahrung. Das muß man an Ort und Stelle beobachtet haben, wenn man bei den Yankees nicht hineinfallen will.« Klaus Tiedemann zwang sich zum Gegenteil:

»Das konnte niemand voraussehen. Das nächste Mal wird die Bilanz schon besser sein.«

Der alte Görnemann hörte mit offenem Munde zu, Gerhard preßte die Lippen aufeinander. Er merkte nur allzudeutlich, daß seines Vaters Widerspruch seiner Person galt. Er warf trotzig den Kopf zurück. Wenn die Stimmung gegen ihn anhielt, blieb er nicht länger hier. Man wußte seine Arbeitskraft anderswo besser zu schätzen, ihm war um sein Fortkommen nicht bange.

Klaus Tiedemann sah noch eine Weile auf die Buchstaben und Ziffern nieder, ohne sie zu lesen. Ihm waren seine Worte leid, und doch glaubte er nicht anders sprechen zu dürfen, wenn er Gerhard, Fred gegenüber, untergeordnet halten wollte. Jemand trat ein:

»Hallo, du selbst, Schwiegerpapa?« Mit hastigen Schritten kam Lecart auf Klaus Tiedemann zu. »Das trifft sich ja prächtig.« Sie sahen sich in die Augen und schüttelten sich die Hände. »Clo ist draußen im Wagen, die wird sich freuen; ich werde sie gleich holen.«

»Aber ich bitte, Herr Baron, sich nicht zu bemühen; das werde ich besorgen!« Görnemann eilte davon.

Wieder wendete sich Lecart an seinen Schwiegervater: »Du wunderst dich wohl, mich hier zu sehen?«

[S. 57] Klaus Tiedemann lächelte: »Ich glaube, wir sind beide seltene Gäste hier unten.«

»Das wird sich bei mir ändern! Du mußt wissen, ich habe Großes vor.« Lecart blickte zu Gerhard hinüber, unschlüssig, ob er in dessen Gegenwart weitersprechen sollte. Er sagte zu ihm:

»Bitte, bereiten Sie mir einstweilen mein Konto vor; hier haben Sie eine Bescheinigung des Chefs.«

»Ich hätte Sie ohnehin allein gelassen.« Gerhards Stimme klang in überlegener Mißachtung: »Die Bescheinigung kann ich Herrn Görnemann geben.«

Er ging mit gleichgültigen Schritten ab, den Kopf etwas vornübergeneigt, wie es auch sein Vater zu tun pflegte.

In der Tür traf er mit Frau Clo zusammen.

Er trat zur Seite und sah in ihr feines, blasses Gesicht, auf dem Sorge zu liegen schien.

»Grüß Gott, Papa!« Tiedemann drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und betrachtete sein schönes Kind vom Kopf bis zu den Füßen. Mit gezwungenem Lächeln klopfte sie ihm auf die Wange: »Gut siehst du aus, Papa!«

»Nicht wahr?« sagte Lecart, »man sieht, er hat keine Sorgen.«

»Gott sei dank, nein; ihr doch wohl auch nicht? Nun setzt euch aber!«

Frau Clo setzte sich auf den Diwan und schlug die Füße übereinander, daß der feine Knöchel ihres Fußes sichtbar wurde. »Laßt euch nur nicht aufhalten, wenn ihr Geschäftliches zu tun habt! Ich blättere einstweilen [S. 58] in der Zeitung,« sagte sie. Dann schob sie den Schleier in die Höhe.

Sie tat alles mit einer langsamen, eleganten Ruhe der Bewegung, die über ihrem ganzen Wesen lag und alles Leben und unmittelbare Empfinden verschleierte. So hatte es ihre Mutter gewollt, und so kam sie am besten mit ihrem Manne aus. Der hatte ein fahriges Temperament und steckte immer tief in eigenen Angelegenheiten, die ihm für sie wenig Zeit ließen. Sie hatte sich einen Wall aus Ruhe und Takt gebildet, der sie vor vielerlei schützte.

Lecart rieb die Hände:

»Ich habe jetzt furchtbar viel zu tun. Ueberall Unannehmlichkeiten. Die Kerls streiken mir wieder zur Abwechslung. Der Betrieb in den Gruben steht seit einer Woche still.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Immer nur Forderungen und keine Gegenleistung, das ist so recht neumodisch.«

»Nun, nein; die Leute haben ein Stück recht, aber,« Lecarts markiertes Gesicht belebte sich, die eingefallenen Wangen bekamen Farbe, »warum soll man ihnen das zugeben , wenn man selbst nur Schaden davon hat?«

»Wenn sie im Rechte sind, werden sie ihr Ziel erreichen«, sagte der andere bedächtig.

»Wir werden sehen. Einstweilen haben wir uns organisiert und sie im ganzen Bezirk ausgesperrt; es sind schon viele in der einen Woche mürbe geworden; mehr als ich brauchen kann. Wenn sie für Weib und [S. 59] Kind nichts zu fressen haben, dann kriechen sie zu Kreuze. Am Montag fange ich wieder mit vollem Betrieb an.«

»Du sagst doch, daß ihr sie ausgesperrt habt?«

»Ja, aber ich brauch' doch nur so lange mitzumachen, als ich will.«

Klaus Tiedemann schüttelte unwillig den Kopf: »Ihr müßt doch einig sein, wenn ihr 'was erreichen wollt. Die anderen sind's auch.«

»Hat sich was mit der Einigkeit! Die Hauptsache ist, daß man kein Geld verliert.«

»Hm, das weiß ich nicht.«

»Aber ich. Bitt' dich, wohin soll denn das führen? Ich muß jetzt schon meine ganzen Akzepte hergeben und teuer verzinsen, wenn ich Geld haben will. Das ist ein starker Verlust für mich, wo ich so immer sehr viel mit Rimessen arbeite.« Er schwieg, als fürchte er, zuviel gesagt zu haben. Unsicher sah der Alte auf:

»Gehen denn die Gruben schlecht? Du wirst doch nicht in Schwierigkeiten kommen?«

»Davon ist keine Rede.« Lecart nahm einen leichtfertigen Ton an. »Wo denkst du hin: Charles Lecart in Geldverlegenheiten?« Er lachte. Es klang häßlich und gepreßt, daß Clo einen schnellen Blick herüberwarf. »Im Gegenteil, ich denke jetzt die Mansbergschen Fabriken an mich zu bringen und viel Nutzen daraus zu schlagen.«

»Das ist etwas anderes.« Erleichtert atmete Klaus Tiedemann auf.

»Jetzt werdet ihr auch bald den Zinsfuß herabsetzen müssen?« sagte Lecart so nebenbei.

[S. 60] Der Alte schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht genau, da frage den Görnemann, aber ich glaube nicht, denn das Geld hat nach der amerikanischen Erdbebenkatastrophe wieder reichliche Verwendung.«

»Das kann doch nicht so viel ausmachen.« Lecart hielt einen Augenblick nachdenklich inne, dann fuhr er lebhaft fort: »Uebrigens, ich werde mich gleich erkundigen, ich habe so eine Menge mit Görnemann zu besprechen. Du bist, wie ich sehe, nicht mehr auf dem Laufenden?«

»Ich habe mir zum Prinzip gemacht, mich von dem Augenblicke an, als Fred an meine Stelle trat, um nichts mehr zu bekümmern.«

»Sehr klug. Ich glaube, Fred wäre auch nicht der Mann, der sich hineinreden ließe.« Lecart trat in gemachter Zärtlichkeit zu seiner Frau: »Servus, Clo; dein armer Mann muß jetzt arbeiten ... Dich sehe ich noch, Papa,« fügte er in einer Art herablassender Höflichkeit hinzu, die er seinem Schwiegervater gegenüber öfters zur Schau trug. »Lecart ist ein Kavalier in jeder Bewegung,« hatte Clos Mutter gesagt, wenn sie das Widerstreben der Tochter, ihrem jetzigen Manne gegenüber, besiegen wollte. Lecart ging; Tiedemann und Clo waren allein.

Es blieb für einige Augenblicke still im Zimmer, als wollten die beiden nicht an das Leben rühren, das sie selbst gezimmert hatten, dessen sie nun nicht froh werden konnten.

Klaus Tiedemann setzte sich an seines Kindes Seite und schlang den Arm um sie. »Nun, wie geht es, Clo?«

[S. 61] »Gut, Papa,« sie legte ihre mit Ringen bedeckte schmale Hand in die klobige Rechte ihres Vaters und sah ihm unsicher in die Augen, die so viel von Milde und ehemaliger Tatkraft sprachen.

»Dann ist's recht.« Er seufzte. »Du kamst mir vorhin verstimmt vor?«

»O nein!«

»Doch! Jeder Mensch hat etwas zu tragen.«

»Ich nicht.« Allzuschnell kam die Antwort.

»Doch Kind,« er wiegte den Kopf, daß das straffe, weiße Haar darauf zu schwanken anhub; »ist es dies oder jenes, eines ist es gewiß.« Sie schwieg; so redete er weiter: »Mutter ist schon ein Jahr tot.«

»Wirklich, ich bin schon bald zwei Jahre mit Charles verheiratet.«

Wieder saßen beide schweigend.

Dann fragte sie lebhaft:

»Sag', Papa, hat Fred eigentlich mit dir über Charles' Absichten gesprochen?«

»Warum, Kind?«

»Es wäre mir eine Beruhigung gewesen!«

»Wenn es Wichtiges ist, so kommt Fred schon selbst. Er hängt viel zu sehr an mir, um einen wichtigen Schritt — wenn es eben einer wäre — zu verschweigen.«

»Wirklich, Papa?« Ihre Stimme klang freier. »Wie geht es überhaupt Fred? Hat er die neue Würde noch nicht satt?«

»Wo denkst du hin? Gut geht es ihm in jeder Beziehung, auch im Geschäft. Ich glaube, vor allem hilft [S. 62] ihm dabei sein großer Bekanntenkreis. Keine Woche vergeht, ohne daß er nicht in ein neues Haus eingeladen wird! — Er ist auch ein fescher Bursch«, fügte er wohlgefällig hinzu und lachte in befriedigtem Vaterstolz. »Seine neueste Errungenschaft ist die Wolny.«

»Die? So?«

»Kennst du sie?«

»Freilich, wir treffen sie öfters bei Behrens. Du,« sie legte die Zeitung beiseite, »ist es wahr, daß Fred sich ankaufen und die Bank mit der Zeit in eine Aktiengesellschaft umwandeln will?«

Ueber Klaus Tiedemanns Gesicht lief ein Schatten; er war bleich geworden: »Wer hat das gesagt?«

»Ich habe es bei Behrens gehört.«

»Dummes Geschwätz.«

Es litt ihn nicht länger beim Sitzen; er legte die Hände auf den Rücken und begann hin und her zu gehen mit hastigen Schritten.

»Sogar von einem Tiedemannschen Fideikommiß oder Aehnlichem sprachen sie.«

Er blieb stehen und stampfte mit dem Fuße: »Da sieht man, wie die Leute daherreden.«

»Das habe ich mir auch gedacht. Ich weiß doch, daß du stets dagegen warst.«

»Deine Mutter hätte es schon gern durchgesetzt! Lassen wir das,« unterbrach er sich; »es geschah ja auch von ihrer Seite nur aus Liebe,« er hustete, »wenn sie auch manchmal die Mittel vergriff.« Er senkte den [S. 63] Kopf und schwieg; sein Kind blickte ihn mit großen geängstigten Augen an.

»Sag, Papa,« fuhr sie fort, »war das nicht der Grund, daß du dich so schnell vom Geschäft zurückgezogen hast?« Er gab keine Antwort. »Du wolltest nicht in der Arbeit überrumpelt werden und selbst Fred überwachen, bis er aus Gewohnheit an nichts anderes mehr dachte und dein Erbe gutwillig antrat?«

Er sah sie erstaunt an.

»Du bist eine gute Beobachterin geworden.«

»Das wird jede Frau.«

»Mag sein, deine Mutter war es gewiß. Das hab' ich merken müssen.« Er lachte bitter.

»Sie war krank, Papa, und glaubte niemandem als uns Kindern trauen zu können, sie hat uns in ihrer blinden Liebe alle überschätzt. Darum war ja auch für uns Mädchen kein Mann recht! Wie das Leben so merkwürdig ist.« Mit zitternden Fingern schob sie ihr Kleid zurecht.

»Ob Fred nicht nur so daherredet bei Behrens, um den Weibern zu imponieren?« Langsam, schier unbewußt, hatte Klaus Tiedemann die Worte gesagt.

»Aber, Papa, darüber sollst du gar nicht nachdenken,« sie streckte ihm die Hand hin und lächelte, »das wird gesprochen und vergessen.«

»Hast recht — übrigens kommen Behrens Sonnabend zu uns.«

»Es soll über das Wohltätigkeitsfest gesprochen werden?«

[S. 64] »Gewiß! Fred hat sich die Sache ganz gut ausgedacht. Vor dem Souper ist eine kleine Komiteesitzung, in der sich die Leute besser kennenlernen. Er will die Wolny zur Präsidentin haben.«

»Fred hat wirklich Geschick zu solchen Veranstaltungen: voriges Jahr war es ein hübsches Reinerträgnis, das er erzielte.«

»Er hat eben Glück bei den Weibern, und die sind in solchen Dingen die Hauptsache. Ich habe es nie gehabt.« Der Siebzigjährige furchte die Brauen, als grollte er heute noch dem Schicksal seiner Jugend.

»Uebrigens,« er lächelte schon wieder, »Leo fängt, glaube ich, auch schon an.«

»Aber, Papa, das ist doch viel zu früh?«

»Das muß er wissen, Kind.«

»Aber das ist Unsinn!«

»Das sagt Hilde auch.«

»Aber, Papa, wirklich, da solltest du besser auf ihn achtgeben.«

»Du sprichst wie eine kleine Mutter.« Er legte ihr liebkosend die Hand auf die blasse Wange. »Dein Sohn möchte ich einmal nicht sein.«

Brennendes Rot lief wie Hauch über ihr Gesicht: »Ich glaube, Papa, wir bekommen keine Kinder.«

»Na,« er lachte gutmütig, »abwarten ...«

Sie stand auf in jäher Bewegung:

»Jetzt möchte ich zu Hilde; ich habe sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Komm, Kind, sie wird sich gewiß freuen ...«

[S. 65]

Leo lag auf dem Diwan und horchte den Stimmen, die aus dem Nebenzimmer kamen.

Er hatte die Augen geschlossen in schwerer Mattigkeit. Der Kopf schmerzte, und sein Puls ging schwer. Man gab ihm keine Ruhe: jetzt mußte ihn auch Hilde bei Papa anschwärzen. Was wußte die von all dem, was in ihm vorging? Für sie war er der Bub, der lernen sollte. Was rechnete die mit seiner Eigenart? Schwerer Groll stieg in ihm gegen die Schwester auf, die sein Bestes wollte.

Er fuhr wider Willen zusammen und stellte sich schlafend.

Die Tür war geöffnet worden.

Er fühlte den Blick seines Vaters auf sich ruhen und regte sich nicht.

Ein Stuhl wurde gerückt; nun mochte er sich wohl zu ihm gesetzt haben. Da war einer Aussprache nicht mehr zu entgehen! Er wußte, daß Papa nun warten würde, bis er aufwachte.

Langsam, blinzelnd schlug er die Augen auf und richtete sich verschlafen in die Höhe.

[S. 66] »Bleib nur liegen, Bub!« Tiedemann betrachtete ihn mit forschenden Blicken. »Du siehst elend aus, Leo.« Er furchte die Stirn.

»Aber Papa, das ist nur, weil ich Kopfweh habe, und die Tapete hierinnen macht jeden grün! Du siehst auch schlecht aus.«

»Laß die Tapete in Ruhe und sag' mir lieber, wann du heute nach Hause gekommen bist!«

»Nicht spät,« Leo brachte schnell zwei Stunden in Abzug, »es wird noch nicht zwölf gewesen sein. Ich bin von Jan Wolny direkt hierher.«

»Ist das wahr?«

»Ja.« Aus gepreßter Brust kam die Antwort.

»Du lügst mich nicht an?«

»Aber Papa!« Wieder richtete er sich heftig auf.

»Bleib nur ruhig! Ich glaub' dir ja ...«

Mit unsicherem Blick sah Leo auf seinen Vater. Es war Scham in ihm, daß er die Unwahrheit gesprochen, trotzdem ihm sein Vater vertraute, und doch sah er keinen anderen Ausweg.

»... Es ist mir gleich, ob du gestern früh oder spät nach Hause gekommen bist. Aber jedenfalls lumpst du zu viel. Deine Gesundheit verträgt das nicht.« Tiedemann suchte seiner Stimme Strenge zu geben und sich an Hildes und Clos Worte zu erinnern. »Du bist doch noch zu jung und hast genug Zeit, später alles mitzumachen; wenn du aber jetzt deine Nerven ruinierst, so leidest du dein ganzes Leben daran.«

[S. 67] »Ja, Papa, aber ...« Leo biß sich auf die Lippen und schwieg.

»Was ist denn? Rede, Leo; mit mir kannst du alles sprechen, wie mit einem alten Freund!« Tiedemann drückte ihm die Hand. Leo lächelte ihm dankbar zu. Dann sagte er mit schwerer Stimme:

»Du mußt mich für keinen Lumpen halten! Es ist etwas anderes ... Weißt du,« brach er mit stockendem Atem los, »was es ist? Das Leben! Es ist so groß und so reich, daß man immer nur wenig davon haben kann, wie alt man auch wird. Papa, wenn ich so denke, bekomme ich Riesenangst,« er ballte die Faust, »daß ich zu kurz komme und daß ich es nicht richtig anwende, und dann weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Du lieber Bub.« Der alte Mann war aufgestanden und küßte ihn auf den zuckenden Mund. »Das soll dir keine Sorge machen; das Leben wird einem noch mehr als genug. Wenn du einmal so alt bist wie ich, dann wirst du mir recht geben.«

»Wirklich, Papa?« Es klang wie freudige Angst aus den Worten.

»Gewiß, mein Kind.«

»Hast du auch mal so empfunden, wie ich? Warst du auch so ungeschickt, Papa?«

»Ja«, mit einem Seufzer kam die Antwort. Tiedemann nickte in Gedanken versunken mit dem Kopfe vor sich hin. »Ich hab' auch geglaubt, jeder Tag müßte mir ein Wunder bringen, und doch habe ich nie eines [S. 68] gesehen. Die Menschen können nicht anders als gemein sein; sie können nichts dafür. Wir sind es selber auch.« Er raffte sich zusammen ... »Das hat jeder mehr oder weniger mitgemacht, der im Leben 'was erreichen wollte; aber glaube mir, es gibt nur eines, was dagegen hilft, und auch nur eines, was wirkliche Freude und Befriedigung gibt: die Arbeit.«

Leos Augen leuchteten auf, »Das hab' ich mir auch schon gedacht, aber ich habe ja keine,« seine Stimme schlug um; »die Schule, das ist doch keine Arbeit, wie du sie meinst, und sonst hab' ich keine!«

»Wird noch genug kommen.«

»Aber wann , Papa? Jetzt möcht' ich sie haben, damit ich etwas bin. Ich weiß nicht einmal, was ich werden soll und bin schon bald neunzehn.« Tiedemann sah zu Boden:

»Ich weiß heute noch nicht, was ich geworden bin ...«

Leo überhörte in seiner Erregung den traurigen Klang in der Stimme seines Vaters.

»Fred hat das Geschäft, Clo hat ihren Mann, Hilde wird auch bald einen haben, und nur ich weiß nicht, was aus mir wird — ich steh' ganz allein.«

»Mancher Mensch ist am glücklichsten, wenn er allein ist.«

»Ihr anderen seid aber doch alle zufrieden?«

»Gewiß,« der alte Mann sah auf; er beeilte sich zu antworten, »aber wir haben dabei jeder doch auch [S. 69] unsere Sorgen und unsere Wünsche, die wir gern erfüllt sehen würden. Das Leben ist mal so, daß es nie alles gibt, und wenn , dann nimmt es dir gleich darauf wieder, viel mehr , als es dir gegeben hat.«

Mit großen Augen, in denen die Furcht vor dem Rätsel des Lebens stand, sah der Knabe seinen Vater an, der als Resultat eines langen, wie es ihn dünkte glücklichen Lebens keine anderen Worte fand. Leo benetzte seine trockenen Lippen und fragte hastig:

»Es muß aber doch etwas geben, das uns an der Erde festhält, sonst würden wir uns nicht so vorm Sterben fürchten? Erinnere dich nur, als es Mama so schlecht ging — wenige Stunden vor ihrem Tode — wie hat sie da geweint, daß sie fort müßte von uns allen und daß sie ihr Leben nicht besser genützt hätte.« Tiedemann erhob sich; er legte Leo die Hand auf die Schulter und sah ihm tief in die Augen:

»Der Mensch ist feig , Leo, das ist's.« Tiedemann strich ihm das Haar aus der Stirn. »Darum glaubt er immer, es sei schade um ihn, wenn er stirbt, und es sind doch so viele bessere da. Ich habe auch geglaubt, ich sei fürs Geschäft unentbehrlich und habe manche Szene mit deiner Mutter deswegen gehabt, weil sie wollte, daß ich Fred an meine Stelle lasse; und schau, als ich es endlich getan hatte, da habe ich jeden Tag auf das Unglück gewartet, das nun über unser Haus kommen würde, — und es ist noch immer keines gekommen — und das Geschäft geht ruhig und gut weiter, gerade als ob ich es noch leiten würde.« [S. 70] Er senkte den Kopf, als schämte er sich seines Eingeständnisses und fuhr fort: »Nicht, daß ich es Fred gewünscht hätte, gewiß nicht; du weißt, wie gern ich euch alle habe — aber,« seine Stimme wurde heiser, »deiner Mutter hätte ich es vergönnt, weil sie stets gegen mich recht zu haben meinte — sie hat es bisher noch immer gehabt.« Er legte die geballte Faust auf das Knie und vergaß, daß er zu seinem Kinde redete.

»Ich habe mich gegen eure Erziehung gesträubt, aus Leibeskräften. Ich wollte euch einfacher haben; mehr Kinder, als »Söhne und Töchter«! Wäre es nach mir gegangen, ihr wäret nie in dem Gedanken aufgewachsen, daß ihr reich seid. Eure Mutter hat es anders gewollt. Ich habe mich gebangt und gesorgt um euch und ihr Vorstellungen gemacht. Sie hat mich stets ausgelacht und gesagt: ‚Das verstehst du nicht — und kannst es auch nicht verstehen.’ Und sie hat recht gehabt — ich stand ja den ganzen Tag im Geschäft.« Er schwieg und lächelte seinem Kinde hilflos, ermunternd zu: »So ist's mal im Leben.«

»Papa,« Leo umfing seinen Vater und küßte ihn, »es ist ja nichts Schlechtes aus uns geworden. Es ist eben jetzt eine andere Zeit.«

»Ja, schon recht,« hastig nahm Tiedemann seines Kindes Arm von seinem Hals, »nur eines noch, und das merk' dir fürs Leben, weil wir gerade darüber reden: heirate — wenn du mal so weit bist — nicht in eine andere Gesellschaftsschicht hinein als in die, in welcher du geboren bist.«

[S. 71] Mit fragenden Augen sah Leo ihn an.

»Alles läßt sich überbrücken und verwischen, nur das eine nicht! Du hast es dann stets vor Augen, daß du ein anderer bist. Und wenn du hundertmal das Haus erhältst und alles tust, du bleibst doch immer der Mindere. Da kommen die Verwandten und die Freunde deiner Frau und sehen dich als weniger an — selbst wenn sie selber Lumpen sind, du scheinst ihnen doch minder.«

»Clo hat doch auch in eine andere Gesellschaftsklasse geheiratet?«

»O nein,« fuhr Tiedemann auf, »du verstehst mich falsch. Nicht bürgerlich und adelig habe ich gemeint, sondern arm und reich. Ich bin von armen Leuten, während deine Mutter aus vermögendem Hause stammte! Darum paßten wir nicht zueinander. Lecart kommt aus vermögendem Hause und Clo auch, darum werden sie nie viel Streit haben, sie haben von Geburt dieselben Bedürfnisse. Darum muß Hilde auch so heiraten, wenn sie vielleicht auch heute noch anders denkt.«

»Sie hat Hansen gern.«

»Das wird vorübergehen. Fred sagt, daß sich Olthoff für sie interessierte; siehst du, Leo, der wäre mir als Schwiegersohn recht.«

»Er ist aber doch ganz anders als du, Papa.«

»Das ist gut, auch Lecart ist es!«

»Du denkst niedrig von der Frau.«

»Wie sie es verdient. Ich kann nicht anders reden, [S. 72] als wie es mich das Leben gelehrt hat. Deine Mutter war eine feine Frau, eine Mutter, wenigstens wollte sie stets das Beste mit euch, aber mir war sie nichts. Oft, am Anfang unserer Ehe, kam ich zu ihr, um dies oder das zu fragen, sie sollte mir einen Rat geben; wenn ich einen Freund brauchte, der hätte sie mir sein sollen. Ich bin stets umsonst gekommen.« Er atmete schwer. »Ihr war Toilette und Theater, kurz: alles wichtiger als meine Sorgen; die sollte ich mit mir allein ausmachen.«

»Armer Papa,« Leo streichelte seine Wange, »und Gerhards Mutter?«

Die Brust des alten Mannes hob und senkte sich in stockenden Wellen. »Die war anders ...« Er stand auf. »Ueber Tote rede ich nicht gern,« sagte er barsch und vergaß im eigenen Kummer, weshalb er gekommen war, »du,« er griff nach Leos Hand, »laß dir's gesagt sein, genieße das Leben!«

»Das will ich tun, Papa.«

»Nehmt euch die Frauen, wo ihr sie findet, und macht euch keine Gedanken, dann seid ihr glücklich; dann habt ihr keine Sorgen und seid begehrenswert.«

»Ja,« mit leuchtenden Augen sah Leo auf, »das will ich tun, und Fred macht es auch so.«

»Recht habt ihr.« Klaus Tiedemann nickte mit dem Kopfe und lachte. Mit starren Augen stierte er auf den Boden. »Rächt mich!«

Leo blickte nachdenklich zu ihm, dann fragte er langsam: »Hat dein Vater auch so zu dir gesprochen, Papa?«

[S. 73] »Mein Vater?« wieder lachte Klaus Tiedemann, »nein, der hat es nicht getan.«

»Warum nicht?«

»Mein Vater? Der dachte nicht an so etwas. Für den gab es nur Geld und Wut darüber, daß er keines hatte.«

»Was war Großvater?«

»Das ist's ja, Leo, von dem ich die ganze Zeit spreche — er war arm — und ging am Trunk zugrunde.«

»Da war er nicht gut mit dir?«

»Nein, Junge, aber darum bin ich es mit euch; ein Vater kann gar nicht nachsichtig und lieb genug mit seinen Kindern sein.«

»Du Guter,« Leo küßte ihn auf den Mund, »aber schau, Papa,« sagte er dann erinnernd, »wenn man nicht heiratet, dann hat man doch keine richtigen Kinder, und du hast uns doch so gern?«

»Das ist wahr.«

»Siehst du ...«

Es war dunkel geworden, und die Laternen warfen flackernde Lichter durch die Fenster. Von der Straße klang gedämpft der Lärm des Menschenstromes herauf, der sich von dem Geschäftsviertel in die äußeren Bezirke ergoß ...

Fred öffnete die Tür. »Aber, Papa, der Wagen steht bereits unten, und du bist noch nicht einmal angezogen!«

»Ich habe ganz vergessen.« Tiedemann fuhr sich über die Stirn, »wir haben ernst zusammen gesprochen [S. 74] und da ist die Zeit schnell vergangen.« Leo kam in Bewegung:

»Mach rasch, Pa, damit wir nicht zu spät kommen, ich bin gleich fertig.«

Er sprang davon; sein Vater drehte sich schwerfällig um, er hätte gern noch etwas gesagt, das seinem Kinde Halt geben sollte in seinen Kämpfen. Doch die richtigen Worte hatte er nicht gleich gefunden, und nun war es zu spät. Daß aber auch Leo das Konzert wichtiger war! ...

»So mach' doch weiter!« Freds Stimme hatte eine unwillige Färbung angenommen. »Es sieht unangenehm aus, wenn man jedesmal zu spät kommt, gerade als ob man es sich so aussuchen würde, um fein zu sein. Das haben wir nicht notwendig.« Er schob seinen Vater zur Tür hinaus und fand nicht eher seine Ruhe wieder, als bis sie alle im Wagen saßen. »Warum hast du keinen Schmuck genommen?« fragte er Hilde, als die Pferde anzogen und ein vorüberfahrender Omnibus mit seinem Lichte ihm diesen Fehler offenbarte.

»Du weißt, daß ich Schmuck nicht gern trage.«

Er sah unwillig zum Fenster hinaus und sagte: »Heute hättest du schon einen nehmen können, wo wir uns, seit mehr als Jahresfrist, das erstemal wieder zeigen. Solange wir Trauer um Mama trugen, ließ ich mir's gefallen, jetzt ist's Kaprize von dir!« Er ließ seine prüfenden Blicke weiter wandern, die gleich darauf bei seinem Vater eine schiefsitzende Krawatte entdeckten. [S. 75] Er richtete sie zurecht und fand dabei, daß Papa noch immer das schwarze Band als Uhrkette trug. Er griff hastig danach. »Das hättest du auch ablegen sollen; entweder oder: wenn wir von heute ab offiziell keine Trauer mehr tragen, so gehört sich das nicht mehr!«

»Ich werde es morgen weg tun, laß!« Klaus Tiedemann legte die Hand auf den Wagenschlag und blickte zu Leo: »Nicht wahr, du beherzigst, was ich dir sagte?«

»Ja,« mit verlorenen Augen sah Leo ihn einen Augenblick an, dann hielt der Wagen. Ein Strom geschwätziger Menschen umgab sie.

Mit nonchalanter Geberde nahm Fred Tiedemann seiner Schwester den Mantel ab und warf ihn dem Diener auf den Arm: »Sie warten beim Ausgang!«

Der Riesensaal war voll Menschen, bis hinauf zu den schwarzen Galerien. Auf dem Podium, das den Saal abschloß, stimmte das Orchester. Hunderte von Armen waren in lebhafter Bewegung.

Hilde neigte den Kopf, wie mit Blut übergossen: T. A. Hansen stand da und hatte sie gegrüßt. Für einen kurzen Augenblick hatten seine beweglichen Augen ruhig in den ihren geruht, dann wanderten sie weiter, über ihre Brüder hin, mit leichtem Spott.

Rechts und links grüßten Bekannte:

»Ich habe die Ehre, guten Abend,« und dazu lächelten alle Gesichter, die in wenigen Sekunden sich in ernste Falten legten, weil es die Sitte erforderte und man so über Kunst sprach ...

[S. 76] Der erste Bogenstrich!

Ruhe überflog den Saal, mit den ersten Tönen brach Beethovens Genius die Kleinlichkeit der Menschen und nahm sie gefangen.

Mit eiserner Hand pochte an aller Herz der Kampf der Seele gegen feindliche Gewalten und ließ sie zittern.

Das Glück lächelt und winkt, und das Schicksal wirft sich dazwischen. In wilder Gewalt brüllten die Töne und flehten und baten in heißem Sehnen.

Aufrichten, Hoffen, Verschwinden und Suchen waren des Menschen ewiges Vermächtnis ...

Klaus Tiedemann verstand nichts von Kunst und hatte auch nie darauf Anspruch erhoben, aber als die Töne auf ihn eindrangen, kam eine sonderbare Stimmung über ihn: Vielleicht war er heute zugänglicher, weil er in dem Gespräche mit Leo alte Erinnerungen geweckt, die er lange schon tot gemeint hatte! Seine Kindheit stand plötzlich vor ihm:

Der trunkene Vater schalt sein abgehärmtes Weib, weil er das Geld nicht geben wollte, das sie fürs Leben brauchten. Und daneben saß der Knabe, in Lumpen, und träumte von Geld und Glück, denn ohne Geld konnte es keines geben. Der Vater starb, der Sohn stemmte sich im wilden Trotz dem Leben entgegen, in offenem Kampfe wollte er es bestehen; doch es schlug ihm Wunden auf Wunden. Bald stand er allein. Dann schien Glück zu lächeln, er fand ein Weib. Gemeinsam trugen sie die Mühen leichter. Gerhard wurde geboren. [S. 77] Nun wußte er, wofür er stritt ... Seine Kraft verdoppelte sich. Erfolg kam auf Erfolg. Klaus Tiedemann stieg hoch.

Hornruf riß ihn empor.

Die Welt stand freudlos vor ihm, und die Instrumente schwiegen:

Er fuhr zusammen, als täten ihm all die Hände weh, die in die Stimmung schlugen und damit Beifall zeugten.

Lange dröhnte der Applaus.

Mit matter Handbewegung klatschte Fred: »Die Behrens sind vorn in der Loge«, sagte er nachlässig zu seinem Vater. »Du mußt sie grüßen.«

»Der erste Satz war prächtig,« Leo winkte mit dem Programm seiner Schwester zu, »nur etwas zu langsam.«

Hilde nickte, kaum bewußt, daß man zu ihr gesprochen. Die Stimmen schwirrten um sie und banden sie an die Wirklichkeit. Das Orchester setzte ein. In wildem Rasen nahm das Kunstwerk sie weiter gefangen, alles versank hinter ihr.

Der Taumel konnte betäuben, nicht täuschen über den Ernst! Das war es, was sie oft empfand, daheim, wenn sich die Ihren anders gaben, als sie waren. Bequem war es, doch es mußte sich rächen! Derbes Behagen und Selbstzufriedenheit gaben nimmer Erfolg. Vater mußte die Fehler seiner Söhne sehen und sich ihrer bewußt werden.

Ihre Blicke flogen zu ihm. Seine Gedanken gingen ähnlichen Gang:

[S. 78] Sollte das rastlose Suchen und Mühen nach dem Glück, das ihn zeitlebens geleitet hatte, sein Ende finden in enger Begrenzung? So dachte er damals, als er, zurückgekehrt auf Heimaterde, sein Werk, jetzt Freds Werk, geschaffen hatte. Sollte er einsam bleiben, zufrieden mit dem Besitz? Er sehnte sich wieder nach Heimat im wirbelnden Trubel des Lebens, sein Herz verlangte Liebe, und die gab die Familie ! Familie? Er brauchte zu wählen. Wie klein waren die Menschen, die ihm nun ruhig ihr Kind gaben, weil er reich geworden war! Die Kinder kamen, doch nicht das erhoffte Glück. Als er es besessen hatte, in den wenigen, kurzen Jahren seiner ersten Ehe, da hatte er sich nach dem lärmenden Erfolg gesehnt; da war das Glück zerbrochen. Nun verließ ihn nicht mehr der Erfolg, doch das Glück kam nimmer! Er wurde einsam in seiner großen Familie.

Mit starren Augen blickte Tiedemann vor sich nieder. Warum? ... Warum?

Beifall hatte zweimal um ihn geklungen, er hatte sich nicht gerührt. Seine Kinder sprachen, er gab keine Antwort:

Freude klang aus Instrumenten und Stimmen!

Freude war ihm nie beschieden gewesen.

Ob sie wohl seine Kinder fanden? Was in seinen Kräften stand, gab er hinzu. Sie sollten haben, was ihm das Leben verwehrte!

Die Instrumente jubelten, die Stimmen jauchzten. »... Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt ...«

[S. 79] Ein Riß ging durchs menschliche Sein, den nichts überbrückte. Wer Großes wollte, wuchs aus seinem Kreis und nahm sich so die Kraft, die ihm bestimmt war, die stets zu wenig wurde. Tiedemanns suchender Blick blieb auf dem hageren, bleichen Gesicht eines Geigers hängen, einer kleinen, verkrüppelten Gestalt, an der nur die Augen lebten und flackerten. Er war glücklich in den Tönen, um, wenn das graue Einerlei ihn wieder umfing, noch unglücklicher zu sein. So war es auch Klaus Tiedemann ergangen:

Das Leben hatte ihn gehoben und ihm den Boden des Volkes geraubt, aus dem er gewachsen war. Und nun stand er zwischen zwei Schichten und gehörte keiner an: Sein Streben galt dem, was sein erbittertster Gegner gewesen, solange er jung war. Er stand vor verschlossenen Türen und wollte den Weg zurück nicht mehr gehen, weil er allzu steinig war, da er ihn wanderte, den Blick nach der Höhe gerichtet. Und die Türen vor ihm blieben verschlossen. Sein Leben ging zu Ende. Noch immer suchte er dessen Rätsel zu lösen. Gab Gott den Menschen die Erde, um glücklich zu sein? ...

»Komm Papa! Ich möchte dich noch der Baronin Wolny vorstellen.«

Fred Tiedemann rüttelte seinen Vater, der bewegungslos geblieben, als das Konzert zu Ende war, der noch immer so saß im halbleeren Saal. Tiedemann seufzte und stand auf. Eine alte Dame trocknete sich die Augen, in welche die Erinnerung ihres [S. 80] Lebens Tränen getrieben hatte. Sie gingen dem Ausgang zu. Hansen mußte schon weg sein. Hilde sah ihn nicht mehr. »Jedes Wort, das man nachher spricht, ist Entweihung«, hatte er einmal zu ihr gesagt.

»Oh, die Herrschaften gehen wieder in Gesellschaft?« Eine schöne Frau grüßte mit bezauberndem Lächeln: Brunn-Bennigsen, die Klaviervirtuosin, hatte der Tiedemanns Fernbleiben von ihren Veranstaltungen, durch vier leere Plätze in der ersten Reihe gut im Gedächtnis. »Aber übermorgen kommen Sie doch in mein Konzert?«

»Selbstverständlich.« Klaus Tiedemann verneigte sich, trotzdem sein Inneres anders sprach. Er wendete sich an seinen Sohn: »Fred, du mußt dich morgen gleich um Karten umsehen. Hoffentlich bekommen wir noch welche.«

»Ich denke schon!«

Ein öder Abend, der ihm nichts gab, stieg vor Tiedemann auf, in dem er Beifall klatschen mußte, weil es die anderen taten. Mechanisch verbeugte er sich bei der Verabschiedung, während Fred mißmutig zum Ausgang sah:

»Nun haben wir die Wolny verpaßt.«

[S. 81]

Hilde und Leo empfingen in den vorderen Räumlichkeiten die letzten Gäste. Dann geleiteten sie diese in den Musiksalon. »Wenn es Sie interessiert, wir wollen eben über das Wohltätigkeitsfest schlüssig werden.« Leise Verbeugungen, diskretes Lächeln und Händedrücke ließen die Wissenden erkennen.

Lachen und Bravorufe klangen von der Schmalseite, wo sich die Herren drängten. Frau Baronin Wolny stand auf, von neuerlichem Beifall begrüßt. Sie lächelte dankend und sprach geziert:

»Meine Herrschaften!«

Sesselrücken ging der allgemeinen Ruhe voraus, welche knarrende Stiefel unangenehm unterbrachen, die auf dem spiegelnden Parkett hin und her gingen. »Wer ist das?« Ein fragendes Lächeln hinter dem Fächer, leise Antwort:

»Ueberbleibsel aus alter Zeit, man sagt, ein Verwandter.«

Zwei Augenpaare nickten sich zu, über Gerhard Tiedemann hatten zwei Damen der Gesellschaft den Stab gebrochen.

[S. 82] »Meine Herrschaften! Vor allem danke ich Ihnen für ihr Vertrauen«, sprach die Wolny. »Ich weiß nicht, ob ich es verdiene,« die rotblonde Frau lächelte verbindlich, »aber wenn ich tatsächlich die Ehre haben werde, dem Feste zu präsidieren, so können Sie versichert sein, daß ich zu dessen Gelingen alles tun will, was in meinen schwachen Kräften steht.«

T. A. Hansen zog die Unterlippe ein, während ein Beifallssturm den Worten der begehrenswerten Frau folgte; dann klatschte auch er in die Hände: »Bravo!« Seine Stimme hatte sonderbare Färbung.

»... Und noch eines möchte ich bitten, heute zu besprechen. Mit Rücksicht auf den praktischen und humanitären Zweck müssen wir möglichst billig arbeiten. Wollen die Herrschaften also im Laufe des heutigen Abends, der uns gewiß allen recht angenehm vergehen wird, sich zwanglos über Gruppen, Kostüme usw. besprechen und es dann mich oder Herrn Fred Tiedemann wissen lassen, der die Freundlichkeit hatte, in das engere Komitee einzutreten ...«

Sie setzte sich; Fred beugte sich leicht zu ihr hinüber, daß er den warmen Hauch ihres Körpers atmete: »Bitte Frau Baronin, das Wort für mich.«

»Herr Fred Tiedemann hat das Wort.«

»Ich möchte nur auf eines hinweisen,« der kerzengerade Fred lächelte rundum, »wir brauchen einen gewissen Betriebsfonds, um arbeiten zu können! Die Vorbereitungen hat wohl die gnädige Frau Baronin in selbstlosester Weise gefördert.«

[S. 83] » Sie doch auch! « Frau Majas volle Lippen lächelten.

»Es müssen Einladungen besorgt werden, kurz und gut,« er warf den Kopf humoristisch hin und her, »wir brauchen Geld, wie überall auf der Welt!«

»Der Weisheit Schluß!«

»Kollekte veranstalten!«

»Absammeln!«

»Bitte,« Fürst Solt legte eine Riesennote vor Frau Maja Wolny und trat mit einer Verbeugung zurück. Fred Tiedemann sah darauf hin und ärgerte sich: es war mehr, als er hatte zeichnen wollen.

Er sah fragend zu seinem Vater hinüber:

Der hatte die Situation und den Befehl begriffen. Mit hastigen Schritten und vor Erregung rotem Kopf, daß er nun vor so vielen Menschen sprechen müßte, die er alle als über sich stehend ansah, trat er vor und gab die doppelte Summe in Frau Majas Hände: »Von unserem Hause.«

»Meinen herzlichsten Dank, im Namen der Sache.«

Klaus Tiedemann verneigte sich, wie er es bei dem Fürsten gesehen hatte. »Das soll nur der Anfang sein.«

Fürst Solt trat in die Fensternische.

Nun kamen alle anderen, an der Spitze Lecart und Behrens. Klaus Tiedemann sah mit scharfen Augen zu: Behrens mußte viel geben, der zog den armen Leuten die Haut über die Ohren ... Die beiden Männer nickten sich steif zu; sie konnten es noch immer [S. 84] nicht vergessen, daß sie in der Jugend Konkurrenten gewesen waren. Und dann — die Behrens hatten wohl auch reichlich Geld erworben, aber ihre Art hatte sich nicht verfeinert und war derb geblieben, wie am Anfang, da Heinz Behrens am Getreideeck als kleiner Makler begonnen hatte! Behrens sagte zu Tiedemann:

»Wie soll der Schwindel heißen?«

»Das wissen wir selbst noch nicht; ursprünglich wollten wir ein orientalisches Fest, aber die Kostüme kommen zu teuer; das drückt den Reingewinn.«

»Mhm,« Heinz Behrens zog den Mund breit, »das ist wahr.«

»Nennen Sie's doch ‚ein Wohltätigkeitsfest auf dem Mond’, meine Herrschaften,« rief Hansens helle Stimme in das Gewisper und Geflüster, das die rotblonde Präsidentin ratend umgab, »da kann man jedes Kostüm brauchen.«

Sie wandten alle die Köpfe; Hildes Augen suchten den Boden.

Klaus Tiedemann wußte nicht recht, ob die Worte im Scherz oder im Ernst gesprochen waren.

»Das ist eine Idee.«

Fred Tiedemann hatte zu Hansens Verständnis, in solchen Dingen, unbedingtes Vertrauen:

»Ausgezeichnet, meine Herrschaften, wenn niemand etwas dagegen hat, so feiern wir ein Fest auf dem Mond?«

»Bravo, famos!«, es hatte niemand etwas dagegen; nur Heinz Behrens schüttelte den struppigen Kopf, er [S. 85] fand sich nicht gleich zurecht in solchen Dingen: was sollte er auf dem Monde machen?

»Ein großartiger Gedanke, gnädiges Fräulein«, sagte Olthoff und zog sich ein Taburett zu Hildes Füßen. »Ist es erlaubt?«

»Bitte.«

Er ließ sich nieder. »Ich hätte eine große Bitte an Sie, gnädiges Fräulein?«

»Die wäre?«

Er seufzte und sah sie lächelnd an: »Eine sehr, sehr große und unverschämte Bitte.«

»Nun?« Nervös blickte sie nach der Stelle, wo Hansen sein mußte. Er folgte der Richtung; fragend sah er sie an:

»Befehlen?«

»Nichts,« sie wendete den Kopf, »Ihre Bitte?«

»Fred und ich wollen eine Gruppe bilden.«

»Und? ...«

»Bitte, machen Sie mit!«

»Wenn Papa dadurch nicht allein ist, gern.«

»Das ist lieb von Ihnen.« Er küßte ihr die Hand und sprach eifrig weiter: »Wir denken uns so eine nette, intime Gruppe, lauter Leute, die sich gegenseitig sympathisch sind.« Sein Blick tauchte fragend in den ihren, ohne daß ihm dieser die gewünschte Antwort gab. »Bis jetzt wäre es Ihre werte Familie, die Wolnys und meine Wenigkeit — viele werden nimmer dazukommen, höchstens noch eine junge Dame für Jan Wolny; für Ihren jüngeren Herrn Bruder haben wir an Fräulein Behrens gedacht.«

[S. 86] Hilde gab einsilbige Antworten.

Hansen ging vorüber, im Gespräch mit Leo; sein Blick streifte sie, flüchtig und zufällig; es tat ihr weh. Abseits stand Fürst Solt und redete mit Jan Wolny. Die schmale Gestalt Wolnys hing vornüber, der kleingestutzte, schwarze Schnurrbart gab dem Gesicht einen älteren Ausdruck.

»Sie wollen sich jedenfalls, wie Ihr seliger Herr Papa, dem öffentlichen Dienste widmen?«

»Vielleicht, Durchlaucht, — einstweilen studiere ich Rechtswissenschaft.«

»Und interessiert Sie Ihr Fach?«

Jan Wolny zog die dunklen Brauen zusammen. Er antwortete langsam:

»Gewiß, Durchlaucht, es hat für mich etwas sehr Ansprechendes, aus erster Quelle das kennenzulernen, nach dem die gesamte Menschheit sich richten muß. Sie fügt sich seit Jahrtausenden, und doch ist es auch nur menschlicher Wille, vor dem sie sich beugt. Man schuf sich eine Richtschnur, weil man sich der eigenen Schwäche bewußt war. Wer heutzutage stärker wäre und nach eigenem Gesetz handelte, er wäre der erste, der nach dem Mittel der Schwäche seiner Vorfahren gerichtet würde. Das ist das Rätselhafte am menschlichen Recht und Gesetz.«

Mit langem Blick sah ihn Fürst Solt an.

Olthoff segelte steuerlos hin und her, um ein Gespräch dauernd im Gange zu halten:

»Sagen Sie, Fräulein Hilde, zu wessen Gunsten wird eigentlich das Reinerträgnis verwendet?«

[S. 87] »Für Angehörige von Säufern und für die Erziehung ihrer Kinder.«

»Da wird Ihr Herr Schwager eifrig beisteuern müssen.«

»Wieso?«

»Jetzt, wo die Spiritus- und Schnapsbrennereien ihm gehören, ist er ja einer, der am meisten mit solchen Leuten zu tun hat.«

Sie lächelte gezwungen: »Ach so ...«

Fred kam auf sie zu und sagte befehlend: »Olthoff führt dich zu Tisch; neben dir ist Fürst Solt mit Clo.«

Sie nickte gehorsam und stand auf. Sie legte ihren Arm in den Olthoffs ...

In scharf überlegter und abgezirkelter Tischordnung saßen sie:

Ganz unten Gerhard und Hansen; auch der alte Behrens hatte es verstanden, sich dahin zu schmuggeln; da aß man ungenierter! Seine Frau und Tochter sollten ruhig oben bleiben. Heinz Behrens erwog in seinem geschäftigen Sinn eine endgültige Versöhnung der Häuser Behrens und Tiedemann, durch Heirat ihrer Kinder. Leo war seiner Tochter Tischherr. Dann konnte man die überseeische Filiale auflassen, die nur Geld kostete, die, der Tiedemanns wegen, einstweilen notwendig war ...

Frauenrecht und Kinderschutz waren das Gesprächsthema. Frau Baronin Wolny hob ihr Glas Liebfrauenmilch und lächelte Fred Tiedemann zu: »Mein treuer Adjutant.« Dann fragte sie nach links, seinen Vater, der sofort mit dem Essen innehielt: »Sagen [S. 88] Sie, wird nicht stark übertrieben, wenn man immer von der traurigen Lage der Arbeiterschaft spricht?«

»Durchaus nicht, Frau Baronin —« Tiedemann wischte sich mit der Serviette eifrig den Mund. »Durchaus nicht, die Leute sind wirklich gezwungen, ein Leben wie die Hunde zu führen.«

»Also doch, das ist mir interessant zu hören!«

Klaus Tiedemann kam in Hitze:

»Das ist das fürchterliche, daß die meisten gar nicht wissen, wie schlecht es ihren Arbeitern geht!« Lecart hob den Kopf. »Nicht genug daß die Eltern verkommen und sich dem Trunk ergeben, die Kinder, für die sonst jeder alles tut, werden krank und leiden daran ihr Leben lang ...« Er rückte zur Seite, um »Sole d'Ostende à la Joinville« servieren zu lassen, dann fuhr er fort, die eigene Kindheit ward in ihm rege:

»Man muß wissen, wie die Kinder untergebracht sind: mit den Eltern oft zu fünft und noch mehr in einem kleinen, schlecht gelüfteten Raum, der auf einen engen Lichthof mündet, in den nicht mal die elende Großstadtluft dringen kann.« Er nickte aufgeregt mit dem Kopfe. »Was sie da sehen und hören, wenn sie älter werden und der Vater betrunken nach Hause kommt!! Dann wundert man sich über die moralische Verkommenheit. Mein Gott, was man von klein auf gesehen und mitgemacht hat, wird einem zur Gewohnheit. Ich kann darüber sprechen, denn ich ...« Fred Tiedemann sah seinen Vater fest an, dem ging stets das Herz in solchen Dingen über, »... denn ich«, [S. 89] fuhr Tiedemann unsicher fort ... »habe mich stets um meine Arbeiter gekümmert.«

Er schwieg, Lecart sagte zu Brunn-Bennigsen, seiner Nachbarin: »So arg ist's nicht, mein Schwiegerpapa übertreibt gern.«

Jan Wolny, der neben Clo saß, schüttelte den Kopf. »Wenn es wirklich so ist, dann sollten wir uns schämen und, statt ein Fest zu veranstalten, das ganze Geld den Armen geben.«

»Es kommt ohnehin auf eins heraus.« Clo wendete ihm den Kopf zu, daß die Brillanten farbige Pfeile schossen. »Wenn wir eine Unterhaltung geben, so haben wir und die Armen etwas davon und sonst nur die allein.«

Jan gab keine Antwort.

Das Mahl ging weiter, Gang folgte auf Gang. Beim Champagner, Lecart hatte mit Vergnügen zu seinem Gegenüber »G. H. Mumm extra dry« bemerkt, erhob sich Fred, zu kurzer Rede:

Er sprach auf die Präsidentin und auf das Gelingen des Festes und fand den üblichen Beifall des Gastgebers. »Ein reizender Mensch, Ihr Herr Sohn«, hatte Baronin Wolny zu Klaus Tiedemann gesagt; der nickte vor sich hin. Er konnte das Lächeln des Vaterstolzes nicht verbergen. In solchen Momenten vergaß er alles, aus Freude darüber, daß seinem Sohne gelang, was er Zeit seines Lebens nicht erreicht hatte — das Wohlgefallen der Gesellschaft.

Nach dem »Crème à la Glace« warf Olthoff, der [S. 90] bereits sämtliche Manövergeschichten erschöpft hatte, abermals die Frage auf, was die Gruppe darstellen sollte. Er dachte an Mondkavallerie in exotischem Kostüm, die Frau Luna umschwärmt. Hilde sollte Frau Luna sein!

»Recht verrückte Adjustierung, Löffel und Gabel in Riesendimensionen als Waffen — Hände und Gesicht dunkel gefärbt; das wird ein Hauptspaß.« Er lachte. »Doch die Damen werden mit dem Färben, des Teints wegen, nicht einverstanden sein?«

»Das ist mir gleich, wenn es die anderen tun, mache ich es auch.«

»Sehr liebenswürdig, wenn nur alle Damen so uneigennützig sind.«

Fürst Solt mischte sich ins Gespräch: »Da wüßte ich ein Mittel, das großartig wirkt.« Er legte den Handrücken nachdenklich an die Stirn. »Nun ist mir der Name entfallen. Ich habe seinerzeit in Indien gesehen, wie sich die Eingeborenen bei ihren Festen damit färben.« Wieder hielt er inne. »Daß ich aber auch den Namen vergessen habe! Es war die Frucht einer Akazienart, glaube ich.«

»Es wird Bablah gewesen sein.«

»Ganz richtig, gewiß.« Fürst Solt neigte dankend den Kopf nach dem Tischende. Er schien sich mit Freuden früherer Zeiten zu erinnern. »Sehr richtig, ich meinte Bablah; aber woher kennen Sie den Namen, wenn ich fragen darf?«

Gerhard Tiedemann gab kurz die Antwort: »Ich war einige Jahre im Lande.«

[S. 91] »Das trifft sich herrlich.« Der sonst so schweigsame Fürst wurde lebhaft. »Da müssen wir darüber sprechen, alte Erinnerungen auffrischen; da bitte ich dann um eine Plauderviertelstunde.«

»Bitte.«

Er wendete sich lächelnd zu Klaus Tiedemann: »Nun bin ich Ihnen für Ihre liebenswürdige Einladung noch mehr verbunden. Ich hätte mir nie träumen lassen, bei Ihnen heute über Indien, das Land meiner Sehnsucht, sprechen zu können.«

In Klaus Tiedemann regte sich abermals Vaterstolz; doch seine Umgebung ließ ihn dessen nicht froh werden, etwas wie beleidigte Eitelkeit klang in seiner Antwort: »Auch ich, Durchlaucht, kenne das Land, doch bin ich nur auf kürzere Zeit hingekommen.«

»Köstlich.« Mit leisen Worten wendete sich Fürst Solt an Hilde: »Wer ist der Herr, der mir vorhin zu Hilfe kam?«

Einen Augenblick zögerte sie mit der Antwort; sie schien auch von der allgemeinen Scheu ihrer Familie, Gerhard zu ihnen rechnen zu müssen, ergriffen; dann warf sie den Kopf unwillig zurück: »Es ist mein Stiefbruder, Durchlaucht, meines Vaters Sohn aus erster Ehe«, sagte sie.

»Ihr Herr Vater war zweimal verheiratet? Das wußte ich nicht.« Interessiert sah Solt auf Gerhard. »Es ist große Aehnlichkeit zwischen ihm und seinem Vater, viel mehr, als Sie alle mit ihm haben.«

»Ich weiß.«

[S. 92] Klaus Tiedemann hatte mit scharfen Ohren das leise geführte Gespräch vernommen; er senkte den Kopf. Es kränkte ihn, daß seine Kinder aus zweiter Ehe ihm so wenig ähnlich waren; das Wesenheimsche Blut war stärker gewesen als sein eigenes. Er preßte die Zähne aufeinander; sie hatten ihm seine Art zerbrochen und ihn zu ihrem willfährigen Diener gemacht, der Geld verdiente. Das vergaß er ihnen nicht! Er zwang sich zu anderem Denken: Wozu holte er dies alles wieder aus der Vergessenheit hervor, wo ihn seine Kinder doch liebten und an ihm hingen in Treue? Nun war doch alles gut.

Leo strich an Hilde vorüber und flüsterte:

»Fred läßt dir sagen, du solltest endlich die Tafel aufheben.« Fred Tiedemann taugte das Gespräch nicht; wenn Papa und dieser Plebejer, der sich sein Bruder nennen durfte, zu sprechen anfingen, war es besser, Schluß zu machen; sonst konnten unangenehme Enthüllungen vorkommen. Was ging die Leute die Geschichte Tiedemanns an?

Hilde stand jäh auf.

»Mahlzeit!«

Olthoff wich nicht von ihrer Seite. Ungezwungene Gruppen bildeten sich, Brunn-Bennigsen trat ans Klavier. Wieder legten die Gesichter sich in ernste Falten.

Die ersten Töne erklangen.

In der Stille hallte Gerhards Stimme desto lauter, alle Blicke wendeten sich zu ihm: er störte die Kunst, [S. 93] das war Sakrileg. Fred Tiedemann knirschte mit den Zähnen, das hatte Papa davon! Brunn-Bennigsen tat einen bösen Seitenblick.

»... Bombay ist stark zurückgegangen, durch Cholera und andauernde Mißernten ...«

Elektrische Spannung lag in der Luft und mußte sich über Gerhard entladen. Doch als Fürst Solt nun, von den Erinnerungen seiner Jugend getrieben, ebenfalls laut antwortete, zerfloß alles in Wohlgefallen: dem konnte niemand Taktlosigkeit vorwerfen!

»... Ich glaube, auch die Bevölkerung ist stark dezimiert.«

»Gewiß.«

»Wo hatten Sie eigentlich Ihren Sitz?«

»Auf Old Womans Island; im letzten Jahre gleich daneben, auf Kolaba.«

»Das ist die Halbinsel? Nicht? ...«

Das Fortissimo übertönte die Stimmen.

Reicher Beifall erklang, Fred überreichte ein Rosenbukett. Dann geleitete er die Künstlerin zu ihrem Sitz:

»Ich war machtlos, die beiden Herren müssen sich rein vergessen haben. Fürst Solt war dabei!«

Sie lächelte ihm zu: »Das hat nichts auf sich ...«

Nun durften die Herren rauchen.

Bei den Zigarrenkistchen, in denen die Spezialitäten mit den breiten Bauchbinden lagen, traf man sich.

Lecart wählte mit Kennermiene; sein Blick kreuzte sich mit dem Olthoffs. Sie verstanden sich.

» C'est la guerre «, lächelte Olthoff.

[S. 94] Roller, der Modemaler, nahm gleich von mehreren Sorten; er kam stets, wenn wenig Leute bei den Rauchsachen waren, auf seine Kosten.

Auch Leo holte sich eine schwere Havanna ...

»Wollen wir nicht ein wenig plaudern?« fragte Hilde Tiedemann.

»Wenn ich Ihnen nicht zu langweilig bin? ...« Hilde ließ sich in einer lauschigen Ecke nieder; T. A. Hansen saß ihr gegenüber und sperrte ihr den Ausblick. »Es ist lange, daß wir uns das letztemal sprachen.«

Sie nickte: »Wie geht es Ihrer Mutter?«

»Gut, wie es eben einer alten Frau gehen kann, die mich zum Sohn hat.«

Hilde wurde verlegen:

»Sie machen sich noch immer gern schlecht.«

Er lächelte:

»Ich bin kein Heiliger; fragen Sie nur die da hinten,« er machte eine geringschätzige Kopfbewegung nach der übrigen Gesellschaft, »wofür mich die halten!« Hansens überlegene Ruhe, die er sonst stets zur Schau trug, war einer bitteren Stimmung gewichen.

»Das kann Ihnen doch ganz gleich sein.«

»Ja und nein; auf die Dauer wird es einem ekelhaft. Es gehört eine verflucht gute Laune dazu, stets als das ausgestoßene Schaf herumzulaufen.«

»Das muß Ihnen gleichgültig sein.« Sie sah ihn mit forschenden Augen an. »Sie sagten doch immer: ‚nie hat die Menge recht’.«

[S. 95] Sein Blick wurde wärmer. »Ja, Fräulein Hilde, und doch tut es mir von mancher Seite weh, so behandelt zu werden; ich bin für viele nur der Lump. Ich gelte bei so manchen nur als Spötter, als minderwertiger Charakter, weil ich mein Vergnügen daran finde, den Leuten ihre schlechte Seite vorzuhalten, und doch hat alles andere weniger Wert.« Er senkte den Kopf im Weitersprechen. »Was heißt charakterisieren? Die Züge des Betreffenden sammeln und dieselben wieder vereinigen, zu einem Gesamtbild. Wenn man das tut, so ist's Karikatur, und als solche minderwertig; wenn man's nicht tut, wird es ein Bild ohne Fleisch und Blut, denn nur durch karikaturenhafte Züge unterscheiden sich gegenseitig die Menschen; so seh' ich es eben und bleib' drinnen stecken.« Er lächelte bitter. »Mit der Zeit werden Sie schon auch noch anders von mir denken, und Sie haben recht, wenn Sie's tun.«

»Warum ich?«

»Weil ich nichts leiste, weil ich heute noch immer derselbe bin, als der ich vor fünf Jahren in Ihr Haus kam: der Vielversprechende, der nichts hält.«

»So dürfen Sie nicht sprechen, Hansen, nicht in meiner Gegenwart.« Er sah auf und erschrak. In Hildes Augen standen Tränen. Gewaltsam drängte sie diese zurück.

»Verzeihen Sie nur!«, sagte er und streckte ihr die Hand hin, in die sie ihre eiskalten Finger legte. »Ich habe mich gehen lassen, weil ich mich vorhin über Leo ärgerte.«

[S. 96] »Was war's?«

»Nichts! Eigentlich nicht der Rede wert: er war heute anders mit mir als sonst. Geschraubt und hochmütig, als wäre es eine Auszeichnung, wenn er überhaupt mit mir spricht.«

»Da kann Leo nichts dafür ...« Sie schwieg in heißer Verlegenheit.

»Ich weiß,« er suchte ihr die unangenehme Antwort abzunehmen, »ich weiß, daß er nichts dafür kann, aber trotzdem: er war einer, der an mich glaubte, wenn er auch noch ein Kind war; es tut immer weh, Anhänger zu verlieren, wenn man wenige hat.« Er sah ihr fest in die Augen. »Ueberhaupt, es ist so vieles bei Ihnen anders geworden.«

»Sie dürfen von Papa nicht schlecht denken.«

»Das tue ich nicht, Fräulein Hilde; sonst würde ich nicht darüber sprechen; aber leid ist mir um ihn, daß er sich so beeinflussen läßt und nicht sieht, wohin das führt. Warum zieht er solche Leute ins Haus,« seine Stimme klang aufgeregt, »wie den Olthoff, dem die Spekulation auf Sie ins Gesicht geschrieben steht, die Wolny, die stadtbekannt ist wegen ihres Lebens, und noch viele andere?«

Sie war blutrot geworden: »Was sollen die Leute schaden, wenn nur wir stark bleiben?«

Er sah sie mit forschenden Blicken an: »Wenn! Wir? Wer sagt, daß Sie's bleiben? Ihre Schwester hat Lecart geheiratet, trotzdem ich jemanden kenne, der heute noch für sie stirbt.« Sie lenkte ab.

[S. 97] »Sie verkehren noch mit Gröden?«

»Wir sind jeden Tag beisammen; er hat Karriere gemacht und hat es noch immer nicht vergessen, daß er Klaus Tiedemanns Schwiegersohn nicht werden konnte, weil er ein armer Architekt war.«

Hilde seufzte. »Daran war Mama schuld.«

Sie schwiegen.

Ihre Blicke hingen ineinander.

Dann sagte Hilde: »Was macht Ihre große Arbeit?« Er senkte den Kopf und gab keine Antwort. Sie sprach weiter: »Sie haben mir versprochen, damals, als wir das erstemal uns näher traten: Sie wollten ein Werk schaffen, das zeigen sollte, daß Sie mehr könnten als die anderen.« In herber Enttäuschung schüttelte sie den Kopf. »Ich habe so darauf gewartet, von Tag zu Tag, und nun? ...« Ihre Stimme verhallte.

T. A. Hansen saß regungslos; dann sah er auf. In seinen grauen Augen glimmte ein Funke. »Ich hab' nicht gewußt, daß Sie darauf warten.« Seine Stimme gewann an Festigkeit. »Sie dürfen nicht schlecht von mir denken, Hilde, nur das nicht. Ich kann eben kein Beamter der Kunst sein. Es wird so viel geschaffen, um das sich niemand kümmert, daß es einem um sein Werk leid sein kann. Die Handwerker in meinem Fach sind im Vorteil. Sie malen Porträts von reichen Leuten und leiten davon ihr Selbstvertrauen her; sie werden dadurch »bekannt«. Ich habe durchgekämpfte Stunden künstlerischen Zweifels, die anderen haben Geld und Konnexionen. Was gilt in den Augen der Welt mehr?«

[S. 98] »In meinen Augen — das Ihre.«

Er atmete aus voller Brust und bohrte den Blick in ihr erregtes Gesicht, als müsse er sich dort Mut holen.

Dann sagte er: »So will ich's wagen — aber Sie dürfen mir nichts verschweigen, Hilde, ja, nichts? Sonst ist's Verrat an mir selbst.«

»Ich habe nichts zu verschweigen. Ich habe nur den Willen, daß Sie mit Ihren reichen Mitteln den anderen zeigen, was Sie können, dann bin ich belohnt.«

Seine Hand umspannte krampfhaft die ihre; mit fester Stimme sagte er: »Sie sollen nicht getäuscht werden, aber ich muß voll an Sie glauben und muß von Ihnen das Recht haben, zu jeder Stunde meiner Arbeit an Sie denken zu dürfen. Darf ich das, Hilde?«

Sie nickte mit feuchtem Blick: »Ja, Hansen, das dürfen Sie, und ich will's auch tun.«

»Nun hab' ich Riesenkraft ...«

Er sah sich um: mit unsicherem Schritt kam Roller auf sie zu; er trug auf einer Tablette mehrere gefüllte Kognakgläser.

»Gefällig?«

»Danke.«

»Ich danke«, sagte auch Hilde.

»Bleibt mir mehr!«

Er goß hintereinander den Inhalt mehrerer Gläser hinunter, mit stieren Augen klopfte er wohlwollend Hansen auf die Schulter; er fühlte sich dem Karikaturenzeichner [S. 99] weit überlegen: »Junger Mann, Sie haben kein Ideal, suchen Sie sich eines, ein Künstler muß ein Ideal haben ...«

»... Und wenig saufen«, es war Hansens unverschämtester Blick, der dem verblüfften Modemaler ins Gesicht lächelte, »sonst wird die Hand unsicher ...«

»... Na Kinders, wie geht's,« Heinz Behrens klopfte sein Töchterchen derb auf die Wange, »macht der junge Herr seine Sache gut?«

Leo Tiedemann war wütend: daß nette Mädchen stets solche Väter haben mußten! Er hustete und sah mißvergnügt gegen das Klavier, wo Lecart eben Frau Brunn-Bennigsen auf den vollen Arm küßte. Klaus Tiedemann saß müde in einer Ecke und lächelte verbindlich, wenn er angesprochen wurde.

Er war schläfrig und sehnte sich nach Ruhe.

Jan Wolny strich an der Nische vorüber, in der sich seine Mutter mit Fred Tiedemann unterhielt:

Er kannte das hungrige Lachen, er hatte es schon einmal gehört, kurz bevor sein Vater in den Tod gegangen war.

[S. 100]

Die nächsten Tage eilten vorüber. Fred Tiedemann hatte eine Unmasse zu tun. Wenn die Wohltätigkeitsveranstaltung gelingen sollte, benötigte sie viel Arbeit. Drei Herren im Bureau hatten die beiden letzten Wochen nur für sie zu arbeiten, zum unaussprechlichen Aerger des alten Görnemann. Gerhard zuckte die Achseln und dachte der Worte, die Fürst Solt zu ihm gesprochen hatte:

»Ich glaube, unseren meisten reichen Kaufherrensöhnen fehlt die Erfahrung harter Arbeit. Darum sind sie nur Nutznießer des väterlichen Erbes. Sie gehen in unseren Kreisen auf. Statt in die Welt hinauszuziehen und sich dort ihre eigene Erfahrung zu sammeln ...«

Klaus Tiedemann war schwer verstimmt. Er saß Stunden allein zu Hause und grübelte vor sich hin.

Er hatte Angst um Leo.

Fast täglich kam der Arzt.

Hilde war nach der Gesellschaft, die bis in den frühen Morgen gedauert hatte, hinübergegangen in das Zimmer ihres jüngeren Bruders um ihm, wie es ihre Art war, neue Wäsche für Sonntag herzurichten.

[S. 101] Sie hatte ihn wie leblos auf dem Boden liegend gefunden.

Wohl war er bald wieder zu sich gekommen und hatte sie gebeten, Papa und den anderen nichts zu sagen. Doch Hilde hatte nicht nachgegeben und darauf bestanden, daß der Arzt zu Rate gezogen würde.

Der schüttelte den Kopf und sagte zu Klaus Tiedemann, welcher mit ängstlichem Gesicht neben ihm stand: »Der Bursche ist rasch gewachsen und frühreif. Von Geburt aus ist er auch nicht der Stärkste, also ist Vorsicht am Platze. Vor allem halten Sie ihn zu Hause, und sehen Sie darauf, daß er genug Ruhe hat. Ich glaube, er hat schon zu viel an die Weiber gedacht.«

Klaus Tiedemann tat einen Blick auf die Straße, auf der gerade Gerhard in strotzender Gesundheit daherkam, und ging mit einem leichten Gefühl des Hasses zu Leo hinüber, um ihm seine Entschlüsse mitzuteilen.

Erstens: blieb von jetzt ab die Schlafzimmertür zu ihm offen, damit er alles hörte, was neben ihm vorging; darauf hatte ihn Hilde gebracht! Zweitens durfte Leo heuer nicht mehr abends ausgehen, weder in ein Theater noch in ein Konzert; natürlich war auch das Fest nächsten Sonnabend mit inbegriffen! Drittens: bat er ihn mit innigen Worten, verläßlich zu sein und sich zu schonen, auch nichts hinter seinem Rücken anzufangen, was seiner Gesundheit schaden könnte; dann gab er ihm einen Kuß und ging, um für ihn in der Stadt eine Ueberraschung zu kaufen.

[S. 102] Hilde war nicht so schnell beruhigt, weil sie Leos Art besser kannte und seinen wilden Trotz, der gerade das unternahm, was ihm am meisten widerraten wurde. Vor allem suchte sie zu erfahren, ob Leo schon öfter solche Schwächeanfälle gehabt hatte.

Erst hatte er lebhaft widersprochen; doch als er sah, daß diesmal sein Vater fest blieb und das Fest unwiderruflich für ihn verloren sei, gab er zu, bereits seit Monaten ähnliche Anfälle gehabt zu haben. Er hatte es verschwiegen, um sich seiner Freiheit nicht selbst zu berauben, und anderseits hatte er geglaubt, es würde von selbst vorübergehen. Sein Vater saß Stunden bei ihm, während er im Halbschlummer seiner Nervenschwäche vor sich hin stierte. Dieses Beisammensein erfuhr häßliche Unterbrechung, als das Schulzeugnis kam; es war mehr als schlecht und stellte überhaupt in Frage, ob Leo zur Schulprüfung zugelassen würde. In der kurzen Zeit bis zum Schulschluß ließ sich nicht mehr alles einholen, und jetzt, wo Leo wirklich der Ruhe bedurfte, war überhaupt nicht daran zu denken. Ein Jahr war lang und Klaus Tiedemann war schwer in seinem Sohne getroffen. Auch Fred war nicht glatt durch die Klippen des Mittelschulstudiums gekommen, aber Leo verlor nun schon das zweite Jahr. Was sollte man den Leuten sagen als Entschuldigung?

Die Professoren! Leo griff nach diesem Rettungsanker. Er wußte, daß Vater auf die Schulmeister, wie er sie nannte, nicht gut zu sprechen war; so erzählte er denn von Scheußlichkeiten und Verbrechen, die sie an [S. 103] der Jugend begangen haben sollten. Sogar erschossen hatte sich einer seiner Mitschüler.

Mit starren Augen hörte sein Vater zu, der seinerzeit nur die allernotwendigste Schulbildung genossen hatte; alles andere hatte er sich selbst im Leben angeeignet. So trug er begreifliche Mißachtung gegen zünftiges Lehrertum. Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf und gab seinem Sohne recht. Mein Gott, ein Jahr, was war das; wenn ihm der Bursche nur wieder gesund wurde!

Er griff, um sein Kind zu beruhigen, zu dem gefährlichsten Mittel, das er für sich selbst nie und nimmer angewendet hätte: er stellte ihm vor, daß er reich sei, einmal soundso viel Vermögen bekäme, also wirklich keinen Grund hätte, sich zu kränken und zu härmen.

[S. 104]

Es war wenige Stunden vor Beginn des Festes. Fred Tiedemann stand in seinem Zimmer und ordnete seine Maskerade. Leo saß rittlings auf einem Sessel und sah mißmutig auf einen Haufen in die Mitte des Zimmers geworfener Kleider. »Zu blöde,« er schüttelte den Kopf, »daß ich nicht mit kann!« Als Fred, der vor dem Spiegel in die Betrachtung seines Selbst versunken war, keine Antwort gab, stieß er ihn unsanft an: »Du, hörst du?«

Aergerlich fuhr Fred, Kamm und Bürste in Händen, herum: »Jetzt schau' meinen Scheitel an; nun kann ich nochmals anfangen.«

»Du hast doch Zeit.«

»Wieso denn?« Fred sah rasch nach der Uhr. »Ich muß auch noch Papa und Hilde antreiben, daß sie fertig werden ...«

»Glaubst du, daß sie Olthoff mag?«

»Einstweilen ist's noch zum Aushalten, aber er wird sie schon kirre machen. Er versteht, mit Weibern umzugehen.«

Nachdenklich sah Leo zur halbdunklen Zimmerecke: »Ob sie nicht zu fest an Hansen hängt?«

[S. 105] »Der wäre der Richtige!« Fred Tiedemann lachte. »Damit wir noch so einen in die Familie bekommen wie den Gerhard! Na,« er zog die Krawatte zu, »das Geld würde dem schon passen, das haben ‚Künstler’ gern.« Er lachte geringschätzig.

Lebhaft widersprach Leo: »Nein, Fred, wenn ich alles von Hansen glaube, darauf gibt er nichts.«

»Na, nichts Gewisses weiß man nicht.« Fred strich den Schnurrbart. »Ich habe gegen solche biederen Gestalten Mißtrauen ...«

Leo schüttelte den Kopf und schwieg. — Nach einer Weile sagte er: »Du, Fred, beinahe hätte ich es vergessen: Gerhard war vor einer Stunde hier, um mit Papa zu sprechen.«

»So? Worüber? Was hat Papa gesagt?« Der andere hielt in seiner Toilette inne und wartete gespannt auf Antwort.

»Er hätte jetzt keine Zeit, er sollte morgen vormittag kommen.«

»Aha,« Fred pfiff das Signal: »das Ganze halt!« vor sich hin, er mußte es ja kennen als Reserveoffizier der Husaren, dann meinte er nachdenklich: »Hoffentlich schmeißt ihn Papa jetzt endlich 'raus.«

»Was hat es denn gegeben?«

»Frech war er wieder: er redet überall hinein, wo es ihn nichts angeht! Lecart nimmt unsere Firma jetzt stark in Anspruch, weil er in größere Unternehmungen verwickelt ist, und das paßt dem Kerl nicht. Immer ist er derjenige, der warnt und lieber fremden [S. 106] Leuten als unseren eigenen Verwandten borgen möchte. Und es geht ihn doch wirklich nichts an!« Er hielt inne und polierte die Nägel. »Aber ich weiß schon, hinter ihm steckt der Görnemann, das alte Weib, das sich nichts zu unternehmen getraut; der hetzt ihn und schickt ihn ins Vordertreffen.«

»Warum läßt du dir's gefallen?«

»Du hast leicht reden. Ich muß doch jemanden haben, auf den ich mich verlassen kann: ich werde mich doch nicht selbst jeden Tag ins Geschäft setzen, dazu bin ich mir zu gut, und verlassen kann man sich auf die zwei, das ist ja wahr!« Fred ließ die Nagelschere auf die Marmorplatte des Waschtisches fallen. »Ueberdies, ich kenne auch niemanden von den Angestellten, ich bin dazu zu wenig im Bureau, so daß ich den Alten zumindest noch ein Jahr brauche.«

»Wenn er es nicht merkt?«

»Das ist's eben. Auch der andere spürt, daß er der einzige mit überseeischen Erfahrungen ist: denn Görnemann kann man heute darin nicht mehr rechnen. Darum nimmt er sich so viel heraus.«

»Ist er wirklich so unverschämt?« Leo dehnte sich und gähnte. »Was habt ihr denn mitsammen gehabt?«

Freds Stimme klang in der Erinnerung des vormittägigen Auftritts lauter als sonst: »Er will mir vorschreiben, wem ich Pensionen zahlen soll. Da ist so ein Skontist bei uns, seit zirka zehn Jahren; der ist jetzt tuberkulös und soll nach dem Süden. Ja, mein Gott, wenn ich's nicht habe, dann kann ich's halt nicht [S. 107] machen! Ich habe ihm einen Monat Urlaub geben wollen. Natürlich, wenn er nicht arbeitet, bekommt er auch kein Gehalt, das ist doch klar — das ist überall so; dann könnte er nicht gehen, hat er gesagt, also soll er dableiben. Kommt der Gerhard herein und stellt mich wie ein kleines Kind zur Rede, ob ich wüßte, was ich tue; zählt mir auf, daß der andere Weib und Kind hat, daß er in kurzem tot ist, wenn er sich jetzt nicht schonen kann, redet von Zusammengehörigkeitsgefühl, das Chef und Personal verbinden muß, und so weiter,« Fred ließ die Hand schwer auf den Tisch fallen, »kurz, putzt mich zusammen, als ob ich sein letzter Kommis wäre.«

»Nun, und du? ...«

»Na, ich hab's ihm gegeben,« Fred schüttelte mit befriedigter Miene den Kopf, »so schnell kommt mir der nimmer.« Wieder übermannte ihn der Aerger der letzten Stunden. »Weißt du, was er noch gesagt hat? Ich würfe das Geld im großen hinaus und wolle im kleinen sparen, ich hätte keine Ahnung von modernem Geschäftsgeist; es sei besser, einem Skontisten, der sich für mich geplagt habe, etwas zu schenken, als das Geld für Wohltätigkeitsschwindel auszugeben, von dem so niemand was habe.«

»Das mußt du Papa erzählen.«

»Wird geschehen: es soll ihm nichts erspart werden ...«

Fred Tiedemann machte eine rasche Wendung. »Na, wie bin ich?« Er pflanzte sich breit vor [S. 108] seinem Bruder auf, als Marsritter, der zu Frau Luna werben kam. Baronin Wolny war die Luna!

Leo verschlang ihn mit neidischen Blicken: »Famos, warte,« er richtete ihm eine silberne Schnalle zurecht, »nun bist du fertig.«

»Ist es dir leid, daß du nicht mit kannst?«

»Zu dumm.« Ernster Aerger war in dem bleichen Gesicht des Gefragten. »Was hätte es mir schaden sollen? Papa ist kindisch, aber ich weiß schon,« Leo ballte die Fäuste, »daran ist die Hilde schuld!«

»Es wird heute fesch werden; ich bin sehr gespannt auf die Wolny.«

Leo atmete schwer; er bekam rote Wangen: »Sie ist rassig.«

»Was weißt denn du von ihr? Das kann ein anderer als ich gar nicht beurteilen.«

»Du hast ein Mohrenglück.«

»Stimmt, morgen nach dem Rennen bin ich zu ihr geladen, da soll ich mir ihre Directoire-Toilette ansehen; sie möchte sich darin photographieren lassen, aber ihr Sohn erlaubt es nicht, weil sie zu stark dekolletiert sein soll.«

Leo Tiedemann schluckte: »Das ist ein fader Kerl, der Jan.«

»Uns geniert er nicht viel.« Fred lachte; »er hockt den ganzen Tag über den Büchern.«

»Ich mag ihn nicht.«

»Warum? Er ist ganz unschädlich.«

»Und was tust du, wenn er dich mit seiner Mutter überrascht? Er ist zu allem fähig.«

[S. 109] Fred Tiedemann reckte sich: »Dann schieß' ich den Burschen wie einen Hasen zusammen.« Leo atmete schwer; ein Schauer überlief ihn.

»Als ich das letztemal dort war, um für heute abend abzusagen, hat er mich von oben herab behandelt, als wäre ich ein kleines Kind«, sagte er.

»Das sieht ihm ähnlich.«

»Ich hätte wahrscheinlich immer still sein und mit Hochachtung auf sein Geschwätz hören sollen, weil er um ein paar Jahre älter und nicht mehr im Gymnasium ist wie ich; da kann er lange warten.«

»Hast recht, er wird schon anders denken lernen.«

»Er ist mehr als stolz.«

»Worauf denn? Die Wolnys sind materiell nicht so gestellt, daß er ein Recht hätte, auf dich herunterzuschauen. Er soll froh sein, wenn die Tiedemanns mit ihm verkehren. Das laß ihn das nächstemal fühlen; dann wird er dich anders behandeln.«

»Da irrst du dich, Fred. Er sieht uns als nicht ebenbürtig an. Weißt du, was er zu mir sagte? Er verstünde uns nicht, vor allem dich und mich, daß wir nicht einsähen, daß wir als Söhne unseres Papas ernste Pflichten der Gesamtheit gegenüber hätten. Wir sollten die Kunst, geistige und menschliche Interessen fördern, und nicht in Schichten eindringen wollen, die uns fremd sind. Einen Rennstall halten, er meinte dich damit, sei keine soziale Tat: höchstens trage es dazu bei, sein Geld zu verlieren, mit dem man anders den Armen viel Gutes erweisen könnte. Aber er wüßte [S. 110] schon, warum wir es täten. Es sei die Angst des Proletariers, voll genommen zu werden, darum sei uns kein Opfer zu groß, um zeigen zu können, daß wir dieselben Passionen hätten wie sie ...«

»Hör' auf«, Fred Tiedemann stampfte den Boden, »ich habe keine Lust, das dumme Geschwätz von dem unreifen Laffen, der uns um unser Geld neidisch ist, anzuhören.« In großer Wut warf er die halbgerauchte Zigarette in die Zimmerecke. »Er ist viel zu dumm, um das Leben richtig zu verstehen.« Leo sah mit weit aufgerissenen Augen auf seinen ärgerlichen Bruder und schüttelte nachdenklich den Kopf:

»Es hat doch etwas für sich.«

Fred Tiedemann fuhr schnell herum: »Du bist wohl verrückt? Auf dich macht alles, was du noch nicht gehört hast, einen Eindruck.«

»O nein, aber weißt du, das, was er über den Kaufmannsstand im allgemeinen sagte, ist nicht so dumm. Er meinte, er stellte sich deinen Beruf so schön und edel vor; in seinen Augen gäbe es nichts Größeres, als internationaler Mittler zu sein zwischen Konsumenten und Produzenten.« Leo legte in Sinnen verloren den rechten Zeigefinger an die Unterlippe. Nach einer Weile, die Fred mit Räuspern und Husten gefüllt hatte, fuhr er leise fort:

»Es muß schon schön sein, das Ererbte zu mehren und sich seiner Mission bewußt zu sein, die man in der modernen Kultur zu erfüllen hat. Das habe ich mir oft selber gedacht.«

[S. 111] Fred Tiedemann lachte:

»Du bist ein überspannter Kerl. Ich möchte dir wünschen, dich mit Gerhard herumstreiten zu müssen und auf die Börsenberichte wie auf eine Offenbarung Gottes zu warten, du würdest bald anders von der ‚Kulturmission’ denken, wie du es nennst.«

»Wirklich?« Es schien eine Last von Leo zu fallen. »Glaubst du, ich hab' unrecht?«

»Darüber gibt es doch nichts zu reden.«

Aus Fred Tiedemanns Worten klang starkes Selbstbewußtsein.

»Dann ist der Jan ein dummer Kerl?«

»Da zweifelst du noch?«

Nun lachten beide.

»Was willst du denn den ganzen Abend allein machen?«

Leo sah den Fragenden prüfend an: »Verrätst du mich nicht?«

»Bin ich Hilde?«

»Ich will auch weg.«

Fred Tiedemann lachte von Herzen: »Das habe ich mir gedacht, du wärst sonst nicht mein Bruder.«

»Ja,« Leo dämpfte seine Stimme und sah scheu gegen die Tür, »ich will auch was vom Leben haben: weiße Frauenleiber, die ein Bacchanal feiern, aber Papa darf nichts wissen; er ist so gut mit mir!«

»Ich verrate dich nicht, schau nur, daß du zu Hause bist, wenn wir heimkommen.«

»Wann glaubst du denn, daß das sein wird?«

[S. 112] »Sehr spät, wahrscheinlich erst in der Frühe.«

»Da lieg' ich schon im Bett.« Leo fuhr mit der schmalen Hand über die weiße Stirn. »Vielleicht wird mein Kopfweh besser, wenn ich mich ein wenig zerstreue.« Er stand matt auf und ging zur Tür. »Jetzt müssen wir aber hinuntersehen zu den anderen.«

»Jawohl,« antwortete Fred Tiedemann und folgte mit Sporenklirren seinem Bruder.

[S. 113]

»Immer nur hereinspaziert, meine Herrschaften, in die gute Stube.« T. A. Hansen ließ die Schellen klingen, seine Stimme war von Stunde zu Stunde lustiger geworden. »Wer zahlt, wird gemalt, wer nicht zahlt, wird angemalt.«

Lachende Menschen wogten vorüber und riefen zu ihm in der Schalksnarrentracht Scherzworte hinauf. Jeder kannte ihn und seine Zeichnungen, die allwöchentlich beim Erscheinen Lach- und Aergernisausbrüche nach sich zogen. Lohgeruch war in der Luft und ließ das Licht, das sich in tausendfältigen Strahlen brach, trübrötlich erscheinen.

Beim Riesenportal fuhren noch immer Wagen vor: Gäste, die erst in Gesellschaft gewesen und nun kamen, trotzdem es draußen bereits zu dämmern begann.

Jan Wolny, der sich unfreiwillig komisch mit seinen ernsten Bewegungen im Phantasiekostüm eines »Milchstraßenkehrers« ausnahm, ließ sich müde auf einen Sessel vor Hansens Bude fallen: »Jetzt hätt' ich den Unsinn bald genug.«

Hansen sah prüfend über die kauflustige Menge, die sich noch immer zwischen dem Musikpavillon und [S. 114] den Verkaufsständen drängte und schob. Er schüttelte den Kopf. »Bevor die nicht alles gesehen und betastet haben, ist an ein Ende nicht zu denken.« Er zuckte die Achseln. »Ein Händedruck von einer Dame der Gesellschaft um teueres Geld kommt den Leuten als überirdisch vor, das müssen Sie bedenken Herr Baron.«

Jan Wolny seufzte. »Mir ist das alles ekelhaft.«

Hansen sah den Sprechenden scharf an:

»Wirklich? Dann müssen Sie mir die Hand geben ...« Hansen fuhr herum; seine Schulter war berührt worden. Es war Hilde Tiedemann.

»Wie geht es?« Aufrichtige Freude über die paar Minuten, die sie nun beisammen sein konnten, sprach aus ihrem schönen Gesicht. »Was macht Ihre Arbeit?«

Hansen drückte die kleine Hand, welche in sein Leben eingegriffen hatte: »Es geht vorwärts!«

Ihre leuchtenden Blicke trafen sich ...

Jan Wolny hatte sich diskret entfernt und war die Avenue hinuntergebummelt, an seiner Mutter vorüber, die hier mit Fred Tiedemann die Honneurs machte. Seitwärts stand das Mondschifflein, auf dem Frau Luna am Festzug teilgenommen hatte. Fred Tiedemann war der Anführer der reisigen Schar gewesen, die sie beschützte. Mit forschendem Blicke hinter den gesenkten Wimpern beobachtete Jan seine Mutter und den anderen, der so selbstverständlich tat. Er preßte die Zähne aufeinander und ging weiter. Wenige Schritte später traf er Fürst Solt. Der war im Frack, [S. 115] mit einem Riesenorden, welcher die ganze Brust bedeckte, als Monddiplomat. Sie grüßten sich und sprachen ein paar verbindliche Worte.

Klaus Tiedemann sah Clo zu, wie sie die wenigen noch durstigen Herren bediente; in den Zwischenräumen, wenn der Champagnerpavillon leer war, plauderten sie. Jetzt, als sie Jan Wolny anrief, schloß er die vom Staube entzündeten Augen, die ihn schmerzten, und lehnte sich bequem in den Rohrsessel zurück: All die entblößten Frauenschultern, die runden Arme und zierlichen Füßchen in durchbrochenen Strümpfen und verschwiegenem Spitzengeräusch waren eingetreten für die Armut des Nächsten. Gab es größere Aufopferung? Brunn-Bennigsens Mann saß zu Hause bei den drei Kindern; den Tag über plagte er sich im Bureau. Er war klein und häßlich; sie gingen nie gemeinsam in Gesellschaft. Klaus Tiedemann hatte ähnliches ertragen. In ohnmächtigem Aerger hatten oft seine Zähne aufeinandergeknirscht, wenn sein jähes Temperament Liebe verlangte. Nicht umsonst trugen die Kinder sein heißes Blut in ihren Adern. Es waren lange Kämpfe gewesen, bis er mit sich ins reine kam und durch Arbeit zur Ruhe zu kommen suchte. Davon war der Haß geblieben gegen das Weib. Die Jahre ebbten alles, und die Männlichkeit schwand. Er seufzte und hatte Sehnsucht nach Ruhe.

Leo hatte vielleicht das beste Los unfreiwillig gezogen, der hatte jetzt schon bald ausgeschlafen.

Klaus Tiedemann dachte an ihn. Er lachte in [S. 116] Gedanken: wie warm die kleine Behrens sich um ihn erkundigt hatte, und die Enttäuschung, als sie hörte, daß er überhaupt nicht kam! In dem alten Manne war ein eigentümliches Gefühl gewesen, als er so sein jüngstes Kind auch schon vollwertig eingetreten fand in die Arena der menschlichen Instinkte. Es freute als Vater und kränkte als Mann.

Als Hilde Tiedemann von Hansens Bude zu ihrer Schwester herübereilen wollte, stand plötzlich Olthoff vor ihr.

Er schien auf sie gewartet zu haben.

Sie gingen zusammen der Fontäne zu, die in tausend Farben schillerte, — es war mit der Zeit leer um sie geworden.

In Hildes Seele war noch der Widerschein des anderen.

Ihre Stimme klang freier als sonst, und ihre Augen sahen lebhafter.

Das dünkte Olthoff ein gutes Zeichen.

Leise zog er ihren Arm fester an sich.

Sie widerstrebte; er sah sie an:

»Jetzt sagen sie, Fräulein Hilde, ist das Leben nicht schön?«

»O ja,« lächelte sie.

»Vor wenigen Wochen haben wir uns noch gar nicht gekannt — und nun ...«, er beugte sich herab und sah ihr tief in die Augen.

Sie suchte den Arm zu lösen:

»Mir ist schwül, ich möchte hinaus ins Freie,« [S. 117] stammelte sie und blickte sich suchend um. Doch sie sah nur Lecart, der mit einer Bretteldiva plänkelte. Er fragte eben, wie teuer ein Kuß sei zu so vorgerückter Stunde, und aus Barmherzigkeit für die Armen, so konnte er Hildes Blicke nicht sehen!

Die laue Nachtluft strich herein und kühlte ihre heißen Schläfen.

Olthoff preßte die Lippen zusammen.

Sein ganzes Leben war ein Kampf gewesen, um sich über Wasser zu halten. Er hatte stets nur verschämte Armut und diesen verwischenden Hochmut sein eigen genannt.

Nun winkte ihm Rettung, er fand die Gedanken seiner Erziehung: In diesem Bürgerhause war alles, was er ersehnte — Geld.

Alles andere würde sich schon finden.

An Liebe glaubte er nicht; er hatte sie selbst von klein auf vergebens gesucht. Hilde wich seinen Blicken aus. Leise sagte er:

»Hilde!« Sie gab keine Antwort. Die ganze Verzweiflung seiner Lage und der Aerger über die lächerliche Komödie, die er hier zu spielen gezwungen war, überkamen ihn. »Sagen Sie, Fräulein Hilde, merken Sie nicht meine ehrliche Sympathie?«

Sie schüttelte den Kopf und fand keine Antwort, nur ihr Arm schmerzte, den Olthoff nicht freigab.

»Nun?« Mit funkelnden Augen sah er sie an. Den ganzen Abend hatte er auf diesen Augenblick gewartet, er mußte bald zum Ende kommen, sonst hieß es den [S. 118] bunten Rock ausziehen, der ekligen Gläubiger wegen. Er war nicht der Mann, der mit sich spaßen ließ; die anderen Tiedemanns wußte er hinter sich. Sein Name wog viel auf. Dies schwache Geschöpf sollte seine Pläne nicht mutwillig kreuzen.

»Antworten Sie mir doch!« seine Stimme, wider Willen, klang roh, sein verlebtes Gesicht bekam einen brutalen Ausdruck. »Können Sie mich denn nicht ein wenig gern haben?« Der Inhalt der Worte stach hart ab von dem drohenden Ton, in dem er zu ihr sprach.

Hilde warf den Kopf zurück; sie war bleich bis in die Lippen geworden: »Nun haben Sie ihre Art gezeigt«, sagte sie stolz.

»Verzeihung, ich bin überreizt, und Sie taten mir bitter unrecht.« Seine Stimme klang hastig, als wollte er kein Mittel unversucht lassen.

Sie gab nimmer Antwort.

»Fräulein Hilde!« Wut und Verzweiflung klangen zusammen. Sie wandte sich ab, Jan Wolny zu: »Bitte, führen Sie mich zu meiner Schwester, Herr Baron!« Jan Wolny verneigte sich und bot ihr wortlos den Arm.

Olthoff blieb stehen.

Nun war die Schlacht verloren.

Er knirschte mit den Zähnen.

Er hatte zu rasch geschlagen; doch seine Reserven waren erschöpft gewesen, und Wein und Stimmung hatten den Rest verdorben.

Er sah zu Behrens hinüber, die sich zum Aufbruch rüsteten. Vielleicht dort?! ...

[S. 119] Fahles Morgenlicht fiel durch offene Türen.

Sie waren eben vom Feste nach Hause gekommen.

Als Klaus Tiedemann, vor Leos Tür, keine Antwort bekam, überfiel ihn plötzlich harte Angst — er wußte nicht warum. Er riß die Tür auf und blieb starr stehen:

Leos Bett war unberührt, das Zimmer leer. Leo hatte sein Vertrauen mißbraucht, war heimlich weg, trotzdem er wußte, wie schlecht es ihm bekommen konnte. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen? Die Füße versagten dem alten Manne den Dienst. Er ließ sich auf den Sessel neben der Tür fallen.

So saß er eine Weile und wartete, daß seine Gedanken ruhigere Formen annahmen.

Er hörte Hildes Stimme nicht, die aus dem Gang zweimal seinen Namen rief, er sah ihr Erschrecken beim Eintritt und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Wo war sein Kind?

Mit zitternder Hand drängte ihn Hilde zur Tür: »Er wird schon ausgegangen sein, Papa.«

Hoffnungslos sah er sie an und schüttelte den Kopf: »Er hat ja gar nicht geschlafen.«

Sie gab keine Antwort, und dunkle Vorahnung ließ sie schaudern.

Fred saß im Speisezimmer und aß kaltes Fleisch. »Wo steckt ihr denn so lange?« rief er ihnen zu. »Eßt mit, und dann legen wir uns schlafen.«

»Leo ist nicht zu Hause!«

»So?« Er kaute den Bissen zu Ende. »Er wird nachts ausgewesen sein; er wird gleich kommen.«

[S. 120] Mit scheuem Blick, der sich noch nicht zu hoffen getraute, sah ihn sein Vater an:

»Meinst du?«

»Natürlich, was soll denn sonst sein?«

»Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist?«

»Laß dich nicht auslachen!«

Fred wollte dem Mädchen läuten; doch der alte Mann legte abwehrend die Hand auf den elektrischen Taster:

»Nicht,« bat er, »ich kann jetzt niemanden sehen.«

Hilde zündete die Flamme unter dem Teekessel an.

Sie warteten.

Die Sonne stieg höher. In den Parkanlagen vor dem Hause stimmten Amseln ihre Stimmen.

Leute im Sonntagsstaat gingen vorüber.

Glockengeläute schwamm über die vielen Dächer; sie läuteten die Wandlung ein.

»Ich werde zur Polizei fahren, meint ihr nicht?« Klaus Tiedemann war halb aufgestanden und sah forschend auf Fred.

»Aber laß dich nicht auslachen, Papa, daß es die Leute gleich an die große Glocke hängen: Dem Klaus Tiedemann sein Jüngster ist heute nacht nicht nach Hause gekommen. Warte nur ruhig; er wird schon kommen, und dann schimpf' ihn zusammen!« Er gähnte. »Ich leg' mich jetzt schlafen.«

Die beiden anderen blieben.

In dem festlichen Aufzug, die verwelkten Blumen vor der Brust, fröstelte sie.

[S. 121] Jeder Laut, der von der Straße heraufklang, tat ihnen weh.

So verging die Zeit.

Es läutete.

Sie fuhren zusammen und horchten.

In scheuer Erwartung sahen sie sich nicht an.

Es war Gerhard Tiedemann, der kam, von seinem Vater den Abschied zu verlangen.

Die beiden Männer standen sich gegenüber, wortlos und stumm.

Dann brach der Jüngere das Schweigen:

»Du weißt, Vater, warum ich hier bin?« Klaus Tiedemann nickte. »Es geht nicht länger zusammen mit Fred. Du hast ihm die Macht gegeben. Was soll ich? Du hast andere Kinder, die du liebst. Ich bin dir nur Pflicht. Du schämst dich meiner. Darum laß mich gehen; man kann brieflich leichter Vater und Sohn sein als im Leben nebeneinander.«

Klaus Tiedemann hörte mit halben Ohren.

Gestern hätte er noch die Antwort gewußt, jetzt schwieg er.

»... Fred ist kein Kaufmann und schämt sich seines Berufes. Er tut mehr für seine teuren Verwandten als für die Firma; er stärkt das ökonomisch, was er bekämpfen sollte ...«

Gerhard schwieg und sah auf seinen Vater, der totenblaß geworden war:

Drunten fuhr ein Wagen vor. Er stürzte zum Fenster. »Sie bringen ihn«, keuchte er. Er wankte zur Tür.

[S. 122] Gerhard warf den Kopf zurück; er sah durchs Fenster:

Von einer Schar Neugieriger umgeben, stand unten ein Rettungswagen.

Sie hatten Leo auf sein Zimmer gebracht. Er war bei Bewußtsein.

Klaus Tiedemann reichte dem Ambulanzarzt, der von der Hilfsstation mitgekommen war, die Hand.

»Ich danke Ihnen!« Scheu senkte er den Blick, unsicher mit sich selbst, ob er nicht unrecht gehandelt, daß er ihm nichts anderes als seinen Dank geboten. Er war ja gewöhnt, jeden Schritt, der für ihn geschah, zu bezahlen!

»Die Sache wird vorübergehen. Wie viele haben nicht schon in der Jugend einen Blutsturz gehabt und sind heute die stärksten Leute?« Der Arzt, der erst vor wenigen Monaten absolviert hatte und als armer Bauernsohn froh war, sich beim Rettungskorps seine Praxis holen zu dürfen, nickte ihm freundlich zu. »Dem Hausarzt, bitte, sagen Sie meine Beobachtungen.« Er verbeugte sich linkisch, der reichen Umgebung ungewohnt, und ging. Er hatte es nicht über sich gebracht, dem alten Manne zu sagen, bei wem und in was für einem Hause er seinen Sohn aufgefunden hatte.

Fred Tiedemann kam mit verschlafenen Augen aus seinem Zimmer und fragte ungehalten: »Was gibt's?«

Sein Vater gab keine Antwort.

Er sah an ihm vorbei zur Stiege, über welche der Hausarzt kam.

[S. 123] Der untersuchte lange und gründlich, dann schüttelte er dem Vater, der in tausend Aengsten vor der Tür gewartet hatte, die Hand: »Kopf hoch, Herr Tiedemann, es wird wieder werden! Der Junge hätte nicht lumpen sollen, ich habe es Ihnen ja gesagt. Er schläft jetzt, lassen Sie ihn ruhig. Ich sehe gegen Abend wieder her.« Er wendete sich zu Hilde: »Na, Fräulein, jetzt spielen Sie ein wenig Krankenschwester, wird Ihnen verflucht gut stehen.« Der alte Junggeselle lachte. »Nur nicht so verzagte Augen — ein Lump ist er halt, der Herr Bruder. Adieu!« Bei der Tür wendete er sich nochmals um: »Niemanden ins Zimmer lassen! Ja? Er muß ganz ruhig liegen bleiben, eine zweite Blutung verträgt er nicht.«

Hilde umfing ihren Vater.

»Ich nehme mich schon zusammen,« Tiedemann schluckte die Tränen hinunter und sah zu Leos Zimmer, »sieh nur, daß alles in Ordnung ist!«

»Ja, Papa ...«

Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf. »Daß der Bub mir hat das antun müssen!« Er stützte den Kopf in die Hand und grübelte. Er kam aus den Sorgen nicht heraus:

Die Frau gestorben! Von dem, was vorausgegangen, wollte er nicht sprechen! Nun Leo, alles in einem kurzen Jahre!

Gerhard kam ihm wieder in den Sinn. Man hatte ihn nicht richtig behandelt. Es war zu viel für seinen alten Kopf. Er konnte die Unterschiede [S. 124] seiner Kinder nicht versöhnen, die er selbst geschaffen hatte ...

Er seufzte. Von unten klang das Rasseln eines Automobils herauf. Hastig schloß er die Fenster; wie leicht konnte Leo aufwachen!

Fred trat über die Schwelle in tadellosem Salonanzug. Er zog die Handschuhe über:

»Gott sei Dank, Papa; Hilde erzählte mir, der Arzt sagte, es hätte keine unmittelbare Gefahr; nur äußerste Ruhe sei notwendig?« Er sah seinen Vater fragend an: »Ich habe doch recht verstanden?«

Klaus Tiedemann nickte mit schiefem Kopfe:

»Ja, wir wollen es hoffen.«

»Adieu, Papa, ich muß weg, weil ich Roller versprochen habe, ihn abzuholen; dafür malt er mir den ‚Franklin’, wenn er heute gewinnt.«

»Du fährst zum Rennen,« Klaus Tiedemann sah seinem Sohne ernst in die Augen, »wo Leo so krank ist?«

»Du bist komisch, Papa; soll ich mich auch vor ihn hin setzen und ihn anschauen? Reden dürfen wir mit ihm so nichts. Was soll ich also daheim?«

»Du hast recht.« Beinahe eilig reichte Klaus Tiedemann ihm die Hand. »Geh und unterhalte dich gut!«

Er schien froh, als sich die Tür hinter Fred schloß.

Er hatte immer geglaubt, mit den Seinen ein festes Ganzes zu bilden; nun, das erstemal, da er die Probe machte, stand er allein.

[S. 125] Bitterkeit überkam ihn.

Es gab nichts, was Menschen auf ewig verband. Es war alles Trug! Die Ehe, die Liebe, die Freundschaft. Sie hielten nur zusammen, solange alles glatt ging; beim leisesten Windhauch floh das eine und ließ das andere allein. Wenn ihm sein Kind starb? Wer trug die Schuld? Die Eltern, die es ins Leben gesetzt? Er, der er zu schwach gewesen mit ihm? Oder niemand, und war alles nur blinder Zufall?

Er war schon über die Fünfzig, als Leo geboren wurde. Vielleicht hatte er ihm zu wenig Kraft gegeben? Ein hartes Leben lag hinter ihm; doch Klaus Tiedemann hatte stets seine Kinder zu stärken gesucht. Er hatte Individualitäten in ihnen gefunden, gleich, ob sie vorhanden gewesen waren oder nicht. Sie ließen sich nicht künstlich züchten. Dem Weibe hatte er die Eigenart geleugnet und gerade das schien sie zu haben: Hilde blieb bei ihm als Gefährte der ängstlichen Stunden ...

Sie saß ihm zur Seite und horchte mit ihm auf das kurze, schnelle Atmen Leos, das durch die angelehnte Tür drang.

Und wenn der Kranke sich drin bewegte, dann legte sie ihm die kühle Hand auf und streifte mit ihren heißen Lippen seine faltige Stirn, ehe sie nachsehen ging.

Der Sonntagnachmittag strich vorüber, still und lang; noch immer war Leo nicht aufgewacht.

In leisem Gespräche saßen Vater und Tochter:

[S. 126] »Dann muß er gleich nach dem Süden, auf längere Zeit, Papa! Mit dir; das wird dir auch gut tun.«

»Ich kann von hier nicht weg! Du mußt mit ihm gehen, Hilde.«

»Aber Papa, was hast du denn hier zu tun?«

Klaus Tiedemann lächelte traurig:

»Nichts.« Er näherte seinen Mund ihrem Ohr. »Ich kann Fred nicht allein lassen.«

»Warum?«

»Das weiß ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Mir ist angst, Hilde.« Er legte seinen Kopf am ihre Schulter. »Ich glaube immer, nun fängt das Unglück an. Das Leben ist auf unsere Ruhe eifersüchtig geworden — nun müssen wir es büßen.«

»Was du dir für trübe Gedanken machst!« Hilde hatte für ihren Vater noch nie einen so herzlichen Ton gefunden. »Im Gegenteil, das ist jetzt nur eine vorübergehende Trübung, damit wir uns nachher desto mehr freuen können.«

»Worauf denn?«

»Na, hörst du, Papa, auf viel! Jetzt wird Fred und später Leo dir eine liebe Tochter ins Haus bringen, dann wirst du Großpapa und hast ganz kleine, süße, winzige Enkelkinder.« Hilde schmiegte sich an ihren Vater; von ihrer Rede, die sie begonnen hatte, um ihn zu zerstreuen, floß langsam der Inhalt auf sie über und nahm sie gefangen in ungeahnter Seligkeit. Sie legte den Kopf an ihn; er streichelte sie.

»Du bist gut, Hilde!« Klaus Tiedemann empfand [S. 127] die Weihe dieser Stunde, die ihm ein Kind zu eigen gab.

Sie saßen eng aneinandergelehnt und schwiegen.

Dann, als schämten sie sich ihrer Stimmung, begannen sie vom Feste zu reden, von diesem und jenem, das ihnen aufgefallen war. Als Hansens Name fiel, wurde sie schweigsam. Immer wieder kam Klaus Tiedemann auf Olthoff zurück. Er erhielt nur spärliche Antworten.

Schon dunkelte es, da klang eine schwache Stimme aus dem Nebenzimmer: »Papa?« Etwas Fremdes griff Klaus Tiedemann nach dem Herzen. Sein Kind verlangte nach ihm, mit dem ersten Laute des wiedererlangten Lebens. Er ging auf den Zehenspitzen zur Tür. »Vorsicht, Papa!« Hilde hielt den Finger auf den Mund. Er nickte und trat ein.

Die Dämmerung lag in den Ecken des Zimmers und ließ Leos Gestalt in den weißen Kissen undeutlich erkennen.

»Verzeih! mir, Pa!«

»Kind, bleib ruhig und sprich nicht viel.«

Er küßte den Sohn auf die eiskalte Stirn, auf der Schweißtropfen standen.

»Nicht fortgehen, Pa!«

»Nein, Kind, ich bleib' bei dir.«

Er ließ sich am Fußende des Bettes nieder und nahm Leos schmale Hand. Sie saßen minutenlang schweigend, und aus dem dunklen Fleck, den Leos Gesicht in der beginnenden Dunkelheit gab, leuchteten [S. 128] in fremder Kraft seine Augen. Dann begann er wieder: »Verzeih' mir; ich weiß, ich hab' dich betrogen.«

Ein Zittern lief durch seine Gestalt.

»Laß doch, Kind!«

»Nein, Pa, ich muß dir das noch sagen: du hast mir immer zu viel nachgegeben, drum bin ich auf solche Gedanken gekommen. Du hast immer auf mich Rücksicht genommen und ich gar nicht auf dich! Du bist zu gut zu mir gewesen, du hättest mit mir nicht über alles reden sollen. Ich habe bis heute nacht«, ein Schauer schüttelte ihn, »an gar nichts geglaubt, vor gar nichts Achtung gehabt, — nun«, seine Stimme nahm hohle Färbung an, »verstehe ich das Leben.« Er suchte sich aufzurichten: »Nur das Leben in uns hat Wert, nicht das Gefühl, gelebt zu haben.«

Erschöpft hielt er inne, Klaus Tiedemann regte sich nicht. In seinem Kopfe hämmerten die Pulse. Sein Kind sprach Worte, die er vergebens gesucht hatte ein Leben lang: Aeußerlichkeiten des Lebens, Reichtum und Stellung waren Ereignisse untergeordneter Wichtigkeit gegen das, was im Menschen lebte und ihn führen konnte zu innerem Glück. Das innere Glück!

Klaus Tiedemann stand langsam auf:

Leo war aus Ermattung wieder in Schlaf gefallen. Klaus Tiedemann horchte: Unruhig ging Leos Atem; abgerissene Worte kamen auf seine Lippen. Herbe Angst befiel den alten Mann; er tastete sich zur Tür: »Man muß zum Arzt, Leo gefällt mir gar nicht, er fängt zu phantasieren an!«

[S. 129] Schon war Hilde in die Höhe.

Klaus Tiedemann horchte wieder:

Ein kalter Hauch lief ihm über den Rücken.

Hatte er sich getäuscht?

Hatte Leo geröchelt?

Er zwängte seinen Kopf in die Türspalte. Er hörte nichts.

Hatte er zu atmen aufgehört?

Er machte ein paar leise Schritte vorwärts und brach in die Knie:

Leos Gestalt hing vornüber aus dem Bette, vor dem das Blut mit dunklem Flecke stand. Leos Augen waren glasig aufgerissen — er war tot.

Von unten klang die Hupe eines Automobils; Fred Tiedemann kam mißmutig vom Rennen zurück; »Franklin« war geschlagen worden.

[S. 130]

Gleich nach Leos Begräbnis hatte Klaus Tiedemann sein Landhaus bezogen.

Es litt ihn nicht länger in der Stadt. Die vielen Menschen taten ihm weh.

Stundenlang saß er allein am Waldrand, von dem der Blick hinüberschweifen konnte über Täler und Höhen nach der Stelle, wo sein Kind ruhte.

Ein starrer Zug stand auf seinem Gesichte, und die Augen sahen einwärts in verzehrendem Feuer.

Nie sprach er das in Worten aus, was in ihm vorging. Nur hier und da nickte er aus solchen Stimmungen heraus Hilde zu. Es war ein stummes Trostsprechen, daß er wieder anders werden wollte; man sollte ihm nur Zeit lassen, sich zurechtzufinden.

Dann gingen sie stumm nebeneinander durch den träumenden Wald nach Hause.

Das Zimmer, das Leo in den Ferien stets bewohnt hatte, betrat er nicht.

Zu lebhaft standen noch die Erinnerungen der letzten Wochen im Vordergrund.

Oft preßte er die Hände an die Ohren, damit endlich daraus der Klang der polternden Schollen weiche, die auf Leos Sarg hämmerten und seine Ruhe störten. Noch immer hörte er Heinz Behrens' ungeschlachte Stimme:

»Du tust mir leid, Tiedemann, du hast Unglück in deiner Familie; er war ein lieber Mensch, und meine [S. 131] Kleine kann sich kaum trösten.« Dann hatte er mit seiner groben Hand die Tränen aus den buschigen Wimpern gewischt und war gegangen.

Jan Wolny hatte stumm daneben gestanden mit zusammengepreßten Lippen, den Kopf gesenkt. Nur als Hilde aufschluchzte in bitterem Schmerze, hatte er aufgesehen, und sein Blick war zu Fred Tiedemann hinübergeflogen, fragend und mahnend.

Fürst Solt hatte ein paar Worte gesprochen, eckig und schlicht, wie der Mensch so schwach sei und einen nach dem anderen fallen sehen müßte, bis er selbst daran käme. Er war der letzte seiner Familie und ihm traten die Tränen in die Augen.

Ueber den Zinskasernen stand rot die untergehende Sonne, als sie zurückfuhren in ihr stillgewordenes Heim ...

Immer wieder zogen die Bilder an Klaus Tiedemann vorbei.

Tief gebeugt trug er den Kopf.

Wenn der Mond aufstieg, saß er bis in die Nacht hinein und horchte dem Lispeln der Birken, die mit ihren langsam wandelnden Schatten Zwiesprache hielten.

Sternschnuppen fielen durch die Nacht.

Wohl blieben ihm noch drei Kinder. Gerhard hatte nach Leos Tod nicht mehr vom Weggehen gesprochen; doch die Schuld blieb auch.

Immer wieder grübelte Klaus Tiedemann nach, ob es Bestimmung sei, die Leo so früh abberufen, oder ob, in anderer Umgebung aufgewachsen, er zu halten gewesen wäre.

Hatte Hilde recht gehabt mit ihren Warnungen?

Nichts gab Antwort!

[S. 132] Hilde war ihm nähergetreten seit jenem stillen Nachmittag, an dem sie sich in Angst um Leo fanden.

Sie war die einzige, deren Gegenwart er ertrug.

Sie ging stundenlang stumm neben ihm her und spann ihre eigenen Gedanken, die von denen ihres Vaters nicht allzusehr verschieden waren.

Sie folgte seiner gebeugten Gestalt; er schritt mit den Händen auf dem Rücken querfeldein über die Ackerschollen; sein weißes Haar flog im Abendwinde.

Um sie war die Ruhe des sinkenden Tages.

Schon saßen die Schatten in den Waldecken und färbten sie bläulich. Langsam zog der Rauch von den Bauerngehöften.

Er blieb stehen.

Dann fragte er mit schweren Worten ganz unvermittelt:

»Glaubst du, daß es Hansen ehrlich meint?«

Ehe sie noch Antwort geben konnte, ging er weiter, den Kopf gesenkt, als sei er sich nicht bewußt, gesprochen zu haben.

Als sie die Höhe erreicht hatten, sah er sie fragend an:

»Nun?«

In seinem zermarterten Gesicht war die Sorge, die ihn zerfraß.

»Ja, du kannst ihm vertrauen.«

Er wiegte den Kopf hin und her:

»Er hat so aufrichtig darein gesehen an Leos Grab. ‚Wer weiß, ob das Leben nicht nur Vorbereitung ist auf den Tod, das wahre menschenwürdige Sein, das dann erst beginnt; darum wollen wir ihm die Ruhe gönnen’, so hat er gesagt, Hilde, damals. Ich weiß es Wort für Wort!«

[S. 133] Er hielt inne, um seines Schmerzes Herr zu werden, der bei der Erinnerung vorbrach. Dann begann er wieder in ferner Gedankenqual: »Es ist so schwer, das Rechte im Leben zu treffen, jedes Wort ist so verantwortungsvoll; ich hab' immer das Beste gewollt ...« Ein stockender Seufzer schwellte seine Brust: »Leo ist tot, Clo muß auch nicht glücklich sein: sie hat so geweint am Grabe und mich gebeten, ihr beizustehen, wenn's mal so weit mit ihr ist.« Er nickte ein-, zweimal: »So hat es kommen müssen.«

Ueber das Wolkengrau im Westen lief ein fahler Schein. Ferner Donner grollte über die Felder, auf denen die Grillen sangen.

Hilde legte sich tröstend an den Mann, dem sein Lebensabend so unfroh geworden war.

»Hab' Vertrauen, Vater, es kommen wieder fröhliche Tage.«

Er machte sich los und sah ihr tief in die Augen; dann fragte er: »Liebst du Hansen?«

Sie zuckte zusammen.

Wie mußte es Vater aufnehmen, wenn sie ihn auch verlassen wollte? Doch vielleicht war jetzt die richtige Stunde, seinen Widerstand zu besiegen. Seine Augen ruhten ernst auf ihr, beinahe ängstlich, als hoffte er auf ein Wort, das ihm wieder Glauben leihen sollte fürs Leben. Sie sah nach dem roten Fleck jenseits der Berge, wo die Sonne gestorben war, und richtete sich auf:

»Ja«, sagte sie mit festem Wort.

Eine Weile stand er regungslos. Dann sagte er heiser: »Hilde, so ein Wort bindet auf ewig und ist doch zu leicht gesprochen. Du mußt ihn lieber haben als [S. 134] dein eigenes Leben, mußt es freudig für ihn geben! Kannst du das?« Angst redete aus seinen Worten.

Sie nickte.

»Du mußt nur an ihn denken! Jede seiner Sorgen ist eine doppelte für dich. Du mußt auf alles verzichten können für ihn.«

»Das kann ich.«

Er sah sie an mit flackernden Blicken. In seinen Augen kämpften fremde Gewalten. Sie gewannen die Oberhand. »Das hat noch jede gesagt,« seine Finger griffen erregt durch die Luft, die heiß wie Brodem über die Felder strich, »noch jede!« Er lachte, daß die Laute schneidend Hilde ins Ohr gellten, »in Schwüren gelobt und nie gehalten. Das Weib ist schwach und elend!« Er richtete sich auf: »Daß du mir nimmer davon sprichst! Du bist ein töricht Kind. Das einzige, was Bestand hat, ist Geld, und das hat Hansen nicht.«

»Vater!« In heißer Entrüstung flammten Hildes Augen.

»Schweig!« Klaus Tiedemann wendete den Schritt: »Das Wetter zieht näher; wir wollen nach Hause gehen.«

[S. 135]

Als der Hochsommer kam, war Klaus Tiedemann ein anderer geworden.

Er dachte ruhiger über Leos Tod.

Die zähe Lebenskraft hielt ihn am Leben fest.

Fred Tiedemann kam selten; er konnte die Großstadt nicht missen mit ihren Vergnügungen und Zerstreuungen. Oder wenn: Vor wenigen Tagen hatte er sich verabschiedet; er gedachte zu seiner Erholung eine längere Automobiltour zu unternehmen. Baronin Wolny würde ihn dabei begleiten.

Als Klaus Tiedemann darüber den Kopf schüttelte, lachte er überlegen:

»Papa, du bist ein Philister. Das ist heute allgemein üblich, daß man gemeinsam Reisen macht.«

»Sie hat doch einen erwachsenen Sohn?«

»Eben deswegen, — der braucht sie gewiß nicht mehr. Weißt du,« fuhr Fred fort, »wenn ein Mann den Weibern gefällt, so kann er alles mit ihnen machen, gleich wer die Frau ist; natürlich« — sein Blick umfaßte seines Vaters Konturen — »muß er tadellos gebaut sein und ruhende Kräfte in sich tragen, sonst ist's besser, er läßt es bleiben.«

[S. 136] Der Alte preßte die Lippen zusammen und gab keine Antwort.

Fred wußte wenig Neues zu berichten:

Klagen über Gerhard und Görnemann, die zu ängstlich wären und keinen Geschäftsgeist besäßen.

Es ergaben sich oft lange Pausen in der Unterhaltung.

Fred war zweiter Vizepräsident des Automobilklubs geworden; auch in das Renndirektorium war er gewählt worden.

Das gab mannigfache Arbeit und viele Verpflichtungen, von denen Vater und Schwester keine Ahnung hatten.

Beim Fortgehen kramte er noch eine Neuigkeit aus:

Olthoff hatte sich mit Heinz Behrens' Jüngster verlobt. Klaus Tiedemann sah rasch und ängstlich nach Hildes Gesicht. Doch das blieb ruhig, sie sagte:

»Da ist mir das Mädchen leid.«

»Mir höchstens um die Wechsel leid, die ich für ihn giriert habe! Na, die wird sein Schwiegervater einlösen, und schließlich bin ich durch ihn in den Rennklub gekommen.« Fred wendete sich zu seinem Vater. »Was sagst du zu Behrens? Der alte Lümmel sucht es uns nachzumachen.«

Klaus Tiedemann seufzte.

Dann küßten und umarmten sie sich. Fred bat den Vater, während seiner Abwesenheit ein wenig auf das Geschäft zu achten. Man könnte dem Alten und Gerhard doch nicht ganz trauen.

[S. 137] Nun fuhr Klaus Tiedemann jede Woche einmal zur Stadt.

Wenn er zurückkam, war er in aufgeräumter Stimmung.

Es drängte ihn zu sprechen.

Er erzählte Hilde von seiner Jugendzeit, von den überseeischen Ländern, die er kennengelernt hatte, von den Sitten der Leute. Er suchte die alten Erinnerungen hervor, als wollte er sich die Vergangenheit wieder ins Leben rufen, um damit die Gegenwart zu füllen.

Er sprach davon, wie er zwei Tage nichts zu essen gehabt hatte und an Selbstmord dachte, wie er auf der Kaimauer zu New York über den gurgelnden Wassern gestanden, während das Schiff wieder auslief, das ihn gebracht hatte und das nun andere holte, die auch das Glück suchten. Schwer lag die Rußfahne des Rauchfanges auf der hochgehenden See.

Er wurde Kellner, um sein Leben zu fristen. Durch einen Zufall fand er eine Stelle.

Vom ersten Tage an legte er zurück; lieber darbte er, um die Summe sparen zu können, die er sich vorgenommen hatte.

Wenn die Firma sich mit Hunderttausenden beteiligte, tat er es mit seinem Hungergeld: so waren beider Interessen eng verknüpft.

Man wurde aufmerksam auf ihn; er verlor nie, sein scharfer Blick behielt stets recht; seinem Wort nicht folgen war gleichbedeutend mit Verlust.

[S. 138] Er gewann schnell Einfluß; sein Name wurde bekannt. Einmal folgten sie ihm nicht; die Firma geriet in Zahlungsschwierigkeiten. Es war der große Tabakkrach, der ihn auf eigene Füße stellte.

Nun ging es auf seine Gefahr!

Stets kam er den anderen zuvor. Oft war es ein wildes Wagen. Die Wangen röteten sich, wenn er so sprach.

So hatte Hilde ihren Vater nie gesehen.

Von Görnemann erzählte er, und daß er selbst nie Autorität besessen hätte; der letzte Lehrjunge war ihm so viel wie seine besten Kunden. Damals hatte sich in ihm der Glaube befestigt, daß nur die Jugend Fortschritt gäbe; das hob ihn über die anderen.

Mit leisen Worten redete er davon, wie man die Mühen schnell vergesse, wie hinter jedem Tage der vergangenen Zeit unsägliche Qual gewesen.

Hilde sann nach, wie Schwäche und Kraft in ihrem Vater eng beisammen standen.

Auch an Hansen dachte sie, an dem sie Aehnliches bemerkte.

Was mochte der treiben? Ging sein Werk vorwärts?

Nur hier und da schrieb sie ihm ein paar Zeilen.

Antwort erhielt sie nie: es war ihres Vaters wegen, der die Post immer zuerst in die Hand bekam, nicht möglich.

Auf das Gespräch an jenem Gewitterabend waren beide nicht mehr zurückgekommen.

[S. 139] Es war am Morgen eines schwülen Sommertages.

Hilde Tiedemann ordnete den Frühstückstisch, der auf der Terrasse stand, vor welcher der Wald lag, in dichten, grünen Beständen.

Sie horchte dem Kuckucksruf und zählte in lächelndem Widerwillen den Laut.

Achtmal war er erklungen. Wenn der Volksmund recht behielt!

Sie fuhr sich über die Augen und seufzte.

Der Sommer ging in wenigen Wochen zu Ende, und das alte Leben begann vom neuen.

Ihr Vater hatte sich geändert; er war ruhiger und gerechter geworden, wie stets, wenn er allein war, ohne fremden Einfluß.

Hilde war sich bewußt, in der Stadt den Verlust Leos mehr zu empfinden als hier draußen. Sie sah keinen Ausweg, ihre Familie von dem eingeschlagenen Wege abzubringen. Dazu gehörte eine starke Hand, und die hatte von allen nur Gerhard, der nicht zu Worte kam.

Mit ihrem Stiefbruder mußte sich die Sache klären. Des öfteren sprach ihr Vater nun von dessen großen Fähigkeiten. Wie würde das Fred aufnehmen?

So spann sie im Warten ihre Gedanken. Ihre Blicke folgten unabsichtlich den Fliegen, die auf der weißen Wand herumeilten und dann als schwarze Punkte unverrückbar in der Sonne festhielten, daß ihre Flügel seidig glänzten.

Wieder hob der Kuckuck an.

[S. 140] Sie warf den Kopf herum. Die Gartenpforte hatte geklungen.

Noch verdeckten die Büsche den Kommenden.

Nun wurde er frei. Es war ein Mann, hager und gebeugt; mit großen, stolpernden Schritten kam er durch den Garten direkt auf das Haus zu.

Sie erschrak, ohne sich bewußt zu werden, warum.

Er sah auf; es war Görnemann. An der Art, wie er den Hut zog, erkannte sie ihn.

Sie ging ihm über die Stufen entgegen.

Sein faltiges Gesicht war heftig gerötet, und seine Augen sahen unsicher; sie suchten den Boden in Aufregung und Verwirrung.

»Wo ist ihr Herr Vater?«

»Er ist noch im Hause; er muß jeden Augenblick kommen. Aber was ...?«

»Ich muß ihn sofort sprechen.« Er zog ein blaugeblümtes Taschentuch und wischte sich die Stirn. Dann stieg er rasch die Stufen hinan.

»Es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen?« Hilde legte in Angst die Hand auf seinen Arm. »Sagen Sie doch!«

»Nein, nichts Schlechtes.« Er suchte sich frei zu machen. »Aber Ihren Herrn Vater muß ich sprechen!« Er trat eilig ein, im selben Augenblick, als Klaus Tiedemann von der anderen Seite kam:

»Sie hier?« Tiedemann zögerte und blieb betreten stehen.

»Ja,« Sebastian Görnemann schien in großer Verwirrung, [S. 141] »ich bin gleich herausgefahren, Sie müssen es wissen.« Er sah mit halber Wendung nach Hilde, dann sagte er mit plötzlichem Entschluß und hob den Kopf: »Herr Tiedemann, ich muß Sie unter vier Augen sprechen.«

»Kommen Sie,« der Angeredete öffnete die Tür ins Schlafzimmer, dessen Fenster auf die Terrasse gingen, »hier sind wir allein.« Er wendete sich. »Und du, Hilde, richte das Frühstück auch für Herrn Görnemann« — der hob abwehrend die Hand — »wir kommen gleich.«

Er schob dem anderen einen Sessel zurecht:

»Was gibt es?«

Der alte Mann keuchte, und seine Hand zitterte, als sie nach der Tasche fuhr. Er legte ein Telegramm auf den Tisch: »Es ist ein großes Unglück auf Herrn Lecarts Freundschaftszeche geschehen. Mehr als hundert Leute sind verunglückt. Die Arbeiter revoltieren; Frau Clo ist in Gefahr.«

Klaus Tiedemann riß den Zettel an sich und las mit gierigen Augen.

Es blieb still um die beiden Männer; nur von draußen rief der Kuckuck.

Klaus Tiedemann preßte die Lippen zusammen: auf der Stirn lag Falte an Falte.

Die Augen belebten sich. Er stand auf.

»Ich fahre!« Er sah auf die Uhr. »In wenigen Minuten geht mein Zug; Sie schicken mir sofort Gerhard nach; ich muß jemanden um mich haben, auf den ich mich verlassen kann!« Er setzte den Hut [S. 142] auf. »Sie bleiben in der Stadt, Görnemann, das Weitere telegraphiere ich.«

Görnemann sah auf: Es war die Stimme und die Art zu sprechen, wie sie sein Herr geübt — vor langen Jahren.

Klaus Tiedemann tat einen Blick durchs Fenster:

Hilde hatte auf der Terrasse die Zeitung entfaltet und las mit lachenden Augen. Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf. Sie las vom Bilde T. A. Hansens, das so viel Aufsehen erregte, und das ihn in die erste Reihe stellte; er hatte sein Wort gehalten. Es waren nur wenige Zeilen, die ihr neues Leben gaben. »Erdgeist« hatte er sein Werk genannt. — — —

... Als der Zug in der Bergwerksstation hielt, stand Klaus Tiedemann bereits auf dem Trittbrett des Waggons.

Der kleine Perron war voll von Menschen, die schrien und gestikulierten.

Es wollte Abend werden. Schon brannten die rußigen Lampen auf dem Bahnsteig.

Feuerwehrmänner und Knappen von anderen Gewerkschaften umgaben ihn.

Mit starkem Arm trennte er die Menge.

Der leichte Jagdwagen wartete.

Neben dem Kutscher saß der Jäger, das Gewehr auf den Knien.

»Damit die Hunde Respekt haben; die Gendarmenverstärkung kommt erst in der Frühe.«

Klaus Tiedemann drängte zwei halbnackte Buben [S. 143] auseinander, die ihm pfeifend den Weg verstellten; der eine spuckte nach seinen Stiefeln.

»Vorwärts!«

Die Pferde zogen an.

Klaus Tiedemann war im Wagen aufrecht stehen geblieben und hörte der beiden Männer Bericht.

Heute früh, bald nachdem die Tagschicht eingefahren, war das Unglück geschehen. Es mußten sich giftige Gase entzündet haben. Bis vor kurzem war an ein Einfahren der Rettungsmannschaft noch nicht zu denken gewesen.

Klaus Tiedemann hob den Kopf nach rechts, wo sich in der abendlichen Dämmerung über den Getreidefeldern mächtige Rauchwolken schoben.

»Dort?«

»Nein, das ist die Maximilianszeche, die brennt seit 30 Jahren. Die Zeche 2 liegt da links drüben!«

Sie bogen in die Dorfstraße ein.

In dichten Wolken wehte der Staub.

Die niederen, aus Lehm gebauten Häuser schienen verlassen.

Alt und jung mochte an der Unglücksstelle weilen.

Ein paar Steine flogen den Pferden zwischen die Beine.

Sie stiegen, daß sie der Kutscher kaum halten konnte.

In rasender Eile ging es an dem Parkgitter vorbei.

Der Mond stand bleich mit seiner Scheibe auf dem Himmel.

Der Wagen hielt vor der Freitreppe.

[S. 144] Klaus Tiedemann eilte die Stufen hinan.

Niemand öffnete ihm; er hastete von Zimmer zu Zimmer; die Angst beflügelte seine Schritte.

»Mein Kind.« Er riß Clo an sich und bedeckte ihr bleiches Gesicht mit Küssen. »Mein armes Kind.«

Ein krampfartiges Zucken überlief sie, dann hing sie wie leblos in seinen Armen.

Er bettete sie vor das Fenster, durch das der kühle Abendwind strich.

Sie gab seine Hand nicht frei.

So saßen sie schweigend, nur der Herzschlag hämmerte durch die Stille.

Hier und da klang vom Schacht ein Klingelsignal oder halbverwehtes Rufen herüber.

Mit milden Worten sprach Klaus Tiedemann seinem Kinde Mut zu. Daß sich alles im Leben gäbe — ganz von selbst —, was vordem unerträglich geschienen! Man wisse nicht, wie das Unglück entstanden sei. Niemand trage die Schuld. Es seien ja alles bisher nur Mutmaßungen.

Mit irren Blicken sah sie im Zimmer herum; bei jedem Laut schauerte sie zusammen:

»Er hat seine Arbeiter betrogen, ich hab' drum gewußt.« Sie bedeckte mit den zuckenden Händen das Gesicht und warf sich in krampfhaftem Schluchzen in die Kissen.

Klaus Tiedemann griff eine kalte Faust an den Rücken:

»Weißt du, was du redest?« Er dämpfte die [S. 145] Stimme. »Du kannst deinen Mann ins Zuchthaus bringen mit solchen Worten.«

»Sei's drum.« Leidenschaftlich richtete sie sich in die Höhe. »Er hat es hundertfach verdient; ich hasse ihn und alle seinesgleichen. Oh, wie ich ihn hasse!« Sie glitt zu Boden und schlug schwer mit dem Kopfe auf die Dielen.

Mit zitternden Händen hob er sie auf.

Nun lag sie ruhig; nur von Zeit zu Zeit erschütterte ihr Körper in tränenlosem Schluchzen.

Mit dem Nachtzuge kam Gerhard.

Er sprach wenige Worte und begab sich an die Unfallstelle.

Die paar Beamten, die Lecart hielt, durften sich nicht blicken lassen.

Ihr Leben war in Gefahr.

Lecart war vor wenigen Tagen zu einem seiner Freunde auf die Jagd gereist. Der Streik war ja beendet gewesen!

Die Arbeiter hatten wegen angeblich schlechter Ventilation der Gruben die Einfahrt verweigert.

Hielt dies noch ein paar Tage an, versiegten ihm die letzten Hilfsquellen. Er wendete sich an die Bergbehörde. Er legte Pläne und Karten vor; es war alles in Ordnung, das hätte die Untersuchung gezeigt, sagte man den Leuten.

Was blieb ihnen übrig? Die Ihren verlangten Brot.

Nun war das Unglück geschehen!

[S. 146] Weiber und Kinder umgaben den Schachteingang.

Der Mond goß sein kaltes Licht über die vielköpfige Menge.

Drohendes Murmeln lief durch die Reihen, als verlangten sie ihre Männer von der Erde zurück, der sie so lange ungestraft ihre Kinder entrissen hatten.

Hier und da klang scharf eine Explosion herauf.

Leute, die unten gewesen, erzählten, daß man helle Flammen sähe.

Der Brand dauerte an, und damit sank die letzte Hoffnung.

Die Rettungsmannschaft war endlich eingefahren. Man hatte auf den Zechen Lecarts nur ungenügende Schutzapparate.

So waren Stunden vergangen, bis sie von fremden Zechen kamen.

Und jede Sekunde konnte über das Leben entscheiden.

Neuer Haß war dadurch entstanden, der sich in häßlichen Ausrufen Luft machte.

Nur die Hoffnung, noch Lebende da unten zu finden, dämmte die Erbitterung, welche in den Augen der Leute glimmte.

Ein Funken konnte zünden und die Massen zu blindwütigem Vorgehen veranlassen.

Ein Klingelzeichen aus der Tiefe!

Atemlos lauschen die zerlumpten Gestalten.

Die bleichen Gesichter drängen sich an das rostige Schachtgitter.

Es öffnete sich mit schütterndem Klirren:

[S. 147] »Glück auf!«

Zwei Leichen, verunstaltet und halb verkohlt, werden aus den Karren gehoben.

Tote!

Kein Wort wird laut.

Der Fahrstuhl verschwindet; die Grubenlichter versinken:

»Glück auf!«

Schluchzen erschüttert die Luft, leidenschaftliche Anklagen werden laut und machen sich in gellenden Schreien Luft.

Wieder kommen Tote.

Eine reiche Ernte! Lauter stille Gestalten, oft unkenntlich, mit verzerrten Gliedern.

Warum ist das Schicksal so erbarmungslos?

Warum?

Die Menge findet die Antwort. In Haß leuchten die Augen dem Herrenhause zu, von dem nur wenige Fenster licht scheinen.

Schlafen sie schon, während sie hier ihre Toten beweinen?

Ein Ton grenzenlosen Schmerzes klingt über die Fläche.

Ein Wortführer stellt sich an die Spitze.

Lange Zungen über das Blachfeld vorausschickend, wälzt sich die wütende Menge gegen Lecarts festes Haus.

Weiber und Kinder voran.

Prügel werden geschwungen; hier und da blitzt ein Messer.

[S. 148] Das Mondlicht zeichnet bleiche Schatten.

Klaus Tiedemann hört das Toben der Menge; ein zäher Widerstand bemächtigt sich seiner: er wird ausharren bis zum Ende.

Mit Augen, in denen der Wahnwitz flackert, sieht sein Kind zu ihm auf:

»Was wollen sie, Vater?«

»Ich weiß nicht.«

Er läßt das Haus schließen, das Parkgitter bietet Widerstand.

Es wird zum Aeußersten kommen!

Knurrend schnuppern die zwei riesigen Neufundländer an dem Gitter.

»Vater!«

»Was ist?« Er beugt sich zu ihr nieder und küßt sie auf die Stirn. »Was willst du?«

»Nimm mich weg,« stammeln ihre weißen Lippen, »nimm mich weg; wenn du mich hier läßt, geh' ich zugrunde.«

In tiefer Bewegung preßt er sie an sich:

»Ich bin ja bei dir, Kind, es kann dir nichts geschehen.«

Sie schüttelte den Kopf:

»Nicht jetzt, — die fürcht' ich nicht. Dann, wenn er wieder da ist ...«

»Du meinst deinen Mann?«

Ihre Finger beben. »Nimm mich fort, er ist so roh; seinen Blick ertrag' ich nicht, Vater!« schreit sie auf und wirft sich ihm an die Brust. »Dort hat er gesessen und vor sich hin gestiert, dann hat er's getan.«

[S. 149] Der alte Mann beißt die Zähne zusammen; er kann's nicht glauben. Das Leben kann nicht alles stürzen, was er gebaut hat.

»Du siehst schwarz, Kind, — deine Nerven sind übermüdet. — Lecart hat dich gern wie ich.«

»Meinst du?« Sie bricht in gellendes Lachen aus. »Gern, das habt ihr mir damals gesagt, als ich eurem Willen widerstrebte. Lieber in Armut gestorben, als noch einmal so ein Leben! Gröden war nichts für mich, den habe ich nicht haben dürfen, weil er nichts hatte, kein Vermögen und keinen Namen, — und Lecart hatte beides in euren Augen.«

In bitterer Verzweiflung klingt ihre Stimme: »Nun habt ihr euren Willen, habt eure Familie rein gehalten, so rein, daß der Schlechteste da draußen zu gut für euch ist.« Ihre Worte fallen wie klingender Stahl durch das Halbdunkel der Mondnacht, und ihr Vater beugt das Haupt, als nun die Anklage laut wird, die er nicht zu Worte kommen lassen wollte, aus verfehlter Liebe zu seinen Kindern. »Bei den Armen, da ist es Berechnung eines verfehlten Lebens, wenn er nach dem Gelde greift, ohne Liebe, bei uns ist es ein Verbrechen, wie die Sonne kein ärgeres bescheint, wenn wir dem Herzen nicht seine Stimme lassen, sondern schachern, noch immer nicht froh unseres Besitzes.« Ihre Hand klagt ihren Vater an. »Du, du ganz allein hättest auftreten können, hättest mir mein Recht wahren sollen, das einzige, das schönste, das wir besitzen. Du hast dich gebeugt und hast geschwiegen, als meine Mutter ihren Plänen folgte. Schritt für Schritt mit der Unermüdlichkeit [S. 150] eines kranken Willens. Sie sah die Welt vom Krankenbett und in den engen Grenzen ihrer einseitigen Erziehung. Du aber hast dich selbst durchgerungen, bist in der Welt herumgekommen wie kaum einer, und hast doch nicht den Mut der eigenen Ueberzeugung gehabt! Vater, Vater, du weißt nicht, was ich gelitten!! Vom ersten Tage der Ehe an war es ein Kampf! Ich ließ mich betören von euren Reden, ihr wolltet ja stets keine Verantwortung übernehmen, das war euch das Wichtigste. Ich glaubte eueren Vorstellungen, ihr spieltet ja so breit euere Erfahrung auf, und ich war ein unerfahrenes Kind, das kaum wußte, was Liebe sei. So bin ich euch gefolgt! Ich war meinem Manne stets nur ein Mittel seiner Leidenschaft und seiner Berechnung. Deinem Schwiegersohne öffneten sich viele Türen, die vordem verschlossen gewesen! Oft hab' ich innerlich geschäumt, wenn er gegen dich den Hochgeborenen herausdrehte und du es dir bieten ließest in deiner Schwäche. Vater, weißt du, was es heißt, an einen Menschen gekettet sein, den man haßt?« Ihre Augen sprühen Blitze. »Nächtelang bin ich neben ihm gelegen und habe geflucht: ihm und mir. Vor dem Altar, als er uns auf ewig verband, hat der Priester Gottes Worte gesprochen: ‚Wenn mich zwei Menschen in der Liebe um etwas bitten, es soll ihnen gewährt sein.’« Wieder schüttert ihr schrilles Lachen. »Ja, ich habe gebetet — aber nicht um ein Kind, nein, um unser beider Tod!«

Sie tritt näher. Wie eine Mahnung klingen ihre Worte:

»Du bist auf falschen Wegen mit all den Deinen! Es ist die letzte Stunde, Vater, kehr' um, ehe es zu spät ist. Leo ist tot. Wer wird der Nächste sein? [S. 151] Willst du die ungeheure Schuld tragen, mit starrem Sinn ins Unglück rennen? Hör' nicht auf Fred, hör' auf niemanden, hör' nur auf dich allein!« Sie faßt mit schlagenden Armen ihres Vaters Rechte. »Laß Hilde mir nicht nachfolgen, laß es genug sein an mir!«

Sie hebt den Kopf in atemloser Spannung.

Die Hunde vor dem Hause schlagen an; die rauhen Stimmen zerreißen die Stille der Nacht.

Ihr fällt der Kopf nach rückwärts. Klaus Tiedemann horcht, sein Kind in den Armen.

Wüste Rufe kommen näher.

Er sieht in Clos starre Augen, die tief in ihren Höhlen liegen. Sein Kopf ist dumpf, ein eiserner Druck hält ihn gefangen.

Das ist die Frucht seines Lebens!

Tief beugt er sich herab: ihre Blicke hängen ineinander. Nicht Vater und Kind sind es, die nun rechten, es ist Mann und Weib.

»Höre mich!« Schwer kämpft sich Tiedemanns Stimme aus der Brust. »Ich bin aus niederem Stande und hab' vieles erst im späten Leben kennengelernt, was euch als Kinder schon geläufig war. Ich hab' lange Jahre nur den Gedanken gehabt, Geld zu verdienen und dadurch etwas in der Welt zu werden.«

Er stockt und will schweigen, doch die lauten Rufe lösen ihm die Zunge; sie prallen an die Wände und hallen in langen Wellen. Wer weiß, ob er überhaupt in wenigen Minuten es noch wird sagen können? Das Geheimnis seines Lebens!

Mit heiserer Stimme, den Blick scheu um sich werfend, keucht er: »Ich war auch ein Mensch von Fleisch und Blut und hab' geglaubt an den Inhalt [S. 152] der Welt! Ich hab' mir ein Weib genommen aus niederem Stande, wie ich es selbst war, drüben über dem Wasser. Sie sollte mir beistehen, sollte mir die trüben Gedanken scheuchen, wenn ich müde nach Hause kam. Und sie hat es getan — ein paar Jahre lang. Da hab' ich den Grundstein gelegt. Da hab' ich Riesenkräfte gehabt. Dann haben wir ein Kind bekommen — Gerhard. Nun hab' ich erst recht gewußt, wofür ich arbeite. Wochenlang hab' ich keinen anderen Gedanken gehabt als Geschäft und Geld! Nicht aus Habsucht, nein; für meine Familie! Ich hab' wenig Zeit gehabt: Da hab' ich's nicht merken können — in meinem eigenen Haus!«

Die Stimme überschlägt sich. Unten heulen die Hunde gegen das Gitter.

»Sie hat mich betrogen, ist mit einem anderen davon, hat mich allein gelassen mit meinem Kinde. Damals«, Klaus Tiedemanns Stimme hob sich, »hab' ich den Glauben abgeschworen, hab' ich alles von mir getan. Keine Plage war mir zu viel gewesen; jede Erniedrigung hab' ich ertragen für mein Weib, das war mein Lohn! Mich hat es drüben nicht mehr gelitten, ich bin herüber, hab' mein Kind im Stich gelassen und alles andere. Vom Anfang hab' ich wieder begonnen. War es früher Ehrgeiz, der mich trieb, so war es nun Haß! Ich bin schwindelnd gestiegen; sie sollte von mir hören da draußen irgendwo in der Welt, sollte sich eingestehen müssen, daß sie einen schlechten Tausch getan ... So bin ich einsam geblieben lange Jahre; dann hat mich wieder die alte Sehnsucht gefaßt, ich wollte Frau und Kind haben. Doch nun wollte ich der Herr sein, darum hab' ich mir ein Weib gekauft — deine Mutter! Es war Wahnsinn, aber [S. 153] Wahnsinn aus bitterer Seelennot. Ich erwartete nichts mehr, sie gab mir nichts. Ich wollte nur euch, auf euch hab' ich alles übertragen, was die andern von mir nicht nehmen wollten — meine Liebe. Ich war stets unscheinbar, meine Geburt hing an mir mit eisernen Ketten, — so wollte ich mir in euch jemanden ziehen, der an mich glaubte. Ich hab' eure Mutter unterschätzt. Sie entriß mir Stück um Stück. Da hab' ich zum Schluß in alles gewilligt; mein Leben war im unnützen Kampfe vertan.« Mit starren Augen sah er zur Erde. »Einst hab' ich an Liebe geglaubt, da ward' ich betrogen; da ich anders dachte, erst recht!« Er bricht jäh ab; die Tür fliegt auf: Gerhard steht auf der Schwelle. »Sie sind da!«

Ein Hagel von Steinen zerschellt die Fenster. Dumpfes Geheul, das durch die zerbrochenen Scheiben sich doppelt und dreifach verstärkt, übertäubt das Todesgewinsel der niedergeschlagenen Hunde.

Ein Schuß fällt aus dem unteren Stockwerk.

»Der Jäger.« Clo Lecart zerrauft sich das Haar; ihre schrillen Schreie erschüttern Vater und Sohn, ihre bebenden Lippen stammeln irre Laute.

Scheiben klirren, Steine fliegen.

»Hilfe!« Clo krallt sich in ihres Vaters Kleider. »Hilf, Vater! Dein ist die Macht, und dein ist die Herrlichkeit, dein Wille geschehe auf Erden, vergib uns unsere Schulden.« Ihre Augen flackern.

Klaus Tiedemann steht regungslos und horcht dem donnernden Toben der Menge, das näher dringt und näher.

»Da!« Mit zitternden Händen preßt ihm sein Kind die Waffe in die Hand. »Ich hab' sie lange getragen, ich war zu feig dazu; rette mich Vater, rette mich! Das [S. 154] Leben ist so schön, und ich bin noch so jung.« Wimmernd kriecht sie auf dem Boden und schlägt sich die Brust. »Zu uns komme dein Reich. Unser täglich Brot gib uns heute.«

Klaus Tiedemann hebt den Kopf. Die Waffe klirrt zu Boden.

Gerhard reißt sie an sich. Wieder steht er regungslos.

Sein Vater hat die Tür geöffnet und ist auf den Balkon getreten.

Tobendes Brüllen und Geschrei empfangen ihn; Steine prasseln.

Der Garten wimmelt von Menschen.

»Leute!« ...

Sie heben die Köpfe; noch zweimal wiederholt er den Ruf.

Seine Stimme übertönt die Menge und hallt weit über die Fläche.

Sie stoßen sich an; murrend faßt die Hand fester den Stein.

»... Seid ihr Menschen oder seid ihr wilde Tiere? Seid ihr Vater und Mutter, habt ihr Weib und Kind, oder seid ihr tolle Hunde? Habt ihr all eure Vernunft vergessen, daß ihr nicht des Morgens denkt? Wollt ihr ein Leben lang im Kerker sitzen? Seid ihr Mörder oder Arbeiter? ...«

Mit donnerndem Prall fährt seine Stimme über die Menge.

»... Ihr seid betrogen und belogen. Wen sucht ihr? Lecart ist nicht hier! Ein großes Unglück ist geschehen; doch wir sind alle Menschen, und jeder Augenblick kann uns den Tod bringen. Wenn jemand die Schuld trägt an eurem Unglück, es soll gesühnt werden. Lecart [S. 155] wird seiner Strafe nicht entgehen. Das sage ich euch, Klaus Tiedemann, der so arm war wie ihr, der sich aus eigener Kraft herausgerungen hat, ohne deswegen glücklicher zu werden. Jede Witwe und jede Waise, jeder, der Einbuße an seiner Gesundheit litt, soll reichlich entschädigt werden. Dafür habt ihr mein Wort! Wir wollen gemeinsam trauern und die Toten begraben. Was kann der Mensch anderes tun? Was wollt ihr sonst? Wollt ihr das Weib, das weinend drin auf dem Boden liegt und die Gemeinschaft mit ihrem Manne verflucht? Wollt ihr meinen Sohn morden, der mit euch die Toten bergen half, der denkt wie ihr, der mit demselben glühenden Haß gegen mich ausgerüstet ist wie ihr? Mich?« Klaus Tiedemanns Stimme wird leise. »Mich? Wenn ihr wollt, so tut es, mir ist nicht leid um mein Leben; ich hab' Schweres erlitten und meine Kinder nicht glücklich gemacht.« Wieder hebt er den Kopf; er sieht Hunderte von Augen auf sich gerichtet, sie geben ihm alte Kraft. »Aber eines müßt ihr bedenken! Ich zahle das Geld, das euere Witwen und Waisen erhalten soll, Lecart tut es nicht, kann es nicht! Wollt ihr die Eueren bestehlen? Was bleibt euch? In wenigen Stunden werden die Gendarmen hier sein; schon sind sie unterwegs. Sie werden schrecklich Gericht halten, und ihr werdet noch mehr zu beweinen haben als jetzt. Kehrt ihr in Ruhe zurück, so soll keinem ein Haar gekrümmt werden, ich selbst will Fürbitte einlegen. Der Lohn soll erhöht werden. Ihr könnt euere Bitten vorbringen, von heut ab bin ich euer Herr! Nicht vergessen will ich, daß ihr Menschen seid! Seht nach eueren Toten! Ich komme [S. 156] zu euch. Ich werd' euch helfen, die schwere Last zu tragen.« Klaus Tiedemann beugt das schneeige Haupt hinab; sein Blick überfliegt die Reihen, die in tiefer Stille stehen; polternd fallen ein paar Steine zu Boden. »Und glaubt mir, nicht Geld macht glücklich; ich war es mehr, als ich arm war und als ich lebte wie ihr. Laßt Haß und Neid beiseite, da drüben liegen die Toten! Wer weiß, wie die jetzt reden würden ...«

Er schweigt.

Von unter klingt gedämpftes Flüstern und Scharren vieler Füße.

Die Gruppen lösen sich.

Klaus Tiedemann tritt zurück.

Durch das ungewisse Mondlicht glänzen ihm Gerhards Augen entgegen.

[S. 157]

Gleich am nächsten Tage war Clo Lecart zu ihrer Schwester gereist. Nur weg vom Besitze Lecarts!

Es war ein stummes Wiedersehen.

Sie sprachen wenig.

Hilde war erst besorgt gewesen, ihre Schwester die schrecklichen Stunden, die sie mitgemacht hatte, vergessen zu lassen. Doch zu allen Versuchen schüttelte Clo traurig den Kopf:

»Laß gut sein, Hilde, das wird für mich nimmer anders.«

Nach solchen Worten sah sie wieder mit starren Augen in das Grün des Waldes, der sich mit herbstlichen Farben zu schmücken begann.

In Hilde war frohe Zuversicht, seitdem sie von Hansens Werk wußte.

Sie hoffte auf die Zukunft mit allen Nerven des liebenden Weibes.

Auch Vater mußte nun einsehen, daß er sich in ihm getäuscht hatte, daß seine Ansichten irrige gewesen.

Klaus Tiedemann hatte wenig Zeit für seine Kinder.

Es gab viel zu tun durch Lecarts Zusammenbruch.

[S. 158] Als sie sich das erstemal wieder gegenüberstanden, hatte Lecart den alten Ton versucht. Doch Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf:

»Jetzt reden wir anders.«

Lecart wollte nicht einsehen, daß er seine Rolle ausgespielt hatte. Mein Gott, dachte er, die Zeche, die ließ sich wieder in Betrieb setzen, die Geldgeber warteten schon, wenn Klaus Tiedemann hinter ihm stand. Der würde doch nicht den Skandal vor aller Augen wollen, und überhaupt was sagte Clo zu all diesem?

Als er Tiedemanns Antwort erhielt, senkte er den Kopf, um eine Nuance bleicher:

»Das sind Ausgeburten kranker Nerven; ich verstehe dich nicht, wie du, ein klar und nüchtern denkender Mensch, so etwas glauben kannst.«

Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf:

»Sie ist ein armes, durch uns beide ruiniertes Geschöpf.«

Lecart kannte seinen Schwiegervater nur mehr in wenigen Zügen. Er war ein anderer geworden seit jener Schreckensnacht.

Es schien, als sei er sich seines Menschenwertes erst klar geworden, als er allein gegen die Masse stand, und doch obsiegte.

Nun trug er den Kopf aufrecht und brach mit manchem, das er früher geduldet hatte.

Ein neuer Hauch war in sein Haus eingezogen.

Gerhard und er saßen oft bis in die Nacht hinein: sie besprachen die Zukunft des Lecartschen Besitzes.

[S. 159] Auch die Mansbergschen Fabriken standen still.

Bei der zuständigen Bergbehörde war Anzeige gegen Lecart erstattet worden wegen Fahrlässigkeit in den Ventilations- und Sicherheitseinrichtungen. Es hieß, er hätte alle Vorschriften außer acht gelassen, um nur möglichst viel aus seinen Gruben herausschlagen zu können.

Mehr als neunzig Menschen hatten bei dem Raubbau ihr Leben gelassen.

Lecart lachte über die Anklagen. Gegen welchen Herrn waren die Arbeiter nicht? Doch es war ein häßliches, gezwungenes Lachen.

Auch über die Spiritusfabriken wußte er keine rechte Auskunft zu geben.

Es war eben eine verunglückte Spekulation. Die Baisse war allzuschnell gekommen; da war es klüger, man ließ den Betrieb ruhen.

Fred Tiedemann hätte mit ein paar Worten Aufklärung geben können, doch er kam erst in zwei Wochen zurück. Er schrieb begeisterte Ansichtskarten von seiner Tour. Auch zum Dichten hatte er sich aufgeschwungen:

»Man wird ein anderer Mensch in der freien Natur, das sieht man an jedem Bauernbua ...«

Die Karte trug der Wolny Unterschrift.

Fred beteiligte sich noch an einer Tourenkonkurrenz, bevor er heimkehrte:

Der Automobilklub des Nachbarstaates unternahm einen Besuch in die befreundete Hauptstadt.

Mehr als hundert Herren der ersten Gesellschaftskreise [S. 160] galten als Teilnehmer. Auch ein Prinz des kaiserlichen Hauses hatte gemeldet. Da durfte Fred Tiedemann nicht fehlen.

In einer Nachschrift schrieb er, daß er von Lecarts Mißgeschick in einer Zeitung gelesen hätte und daß er hoffte, daß dies Unglück weiter keine unangenehmen Folgen haben würde.

Mit lauten Worten sprach Hilde ihren Aerger über Freds Art aus, doch Klaus Tiedemann riet zur Mäßigung.

Er begann sich wieder ins Geschäft einzuleben. Keiner hielt strenger die Arbeitsstunden ein als er.

Vieles war zu erledigen und zu besprechen.

Die Gläubiger Lecarts drängten auf Klärung seiner Lage, sie wollten ihre Schritte danach einrichten. Wenn ihn sein Schwiegervater nicht hielt, war er verloren.

Klaus Tiedemann wollte alles möglichst rasch zu Ende bringen, schon um Clos willen, die von Tag zu Tag nervöser wurde.

Die Ehegatten hatten sich seit Lecarts unfreiwilliger Rückkehr nicht gesprochen.

Keiner der beiden Teile verlangte danach. Die Abrechnung kam ...

[S. 161]

Klaus Tiedemann sah abermals zur Tür und horchte.

»Lecart ist noch immer nicht da.«

Gerhard saß ihm gegenüber und nickte.

Görnemann hatte eine zweistündige Besprechung mit seinem alten Chef gehabt.

Es war ihm nun leichter ums Herz, er hatte sich alles Drückende von der Seele geredet.

Klaus Tiedemann grübelte und blätterte in den Papieren, die den Tisch in hohem Stoß bedeckten.

Große Summen standen auf dem Spiel:

»Ich verstehe nicht, wieso Fred die Fabriken so stark belehnen konnte; es ist ja mehr, als sie überhaupt wert sind!«

»Das war stets unser Streit, Vater; ich hätte keinen Heller gegeben.«

Klaus Tiedemann seufzte:

»Wenn wir sie übernehmen, ist der Verdienst von ein paar Jahren hin.«

»Und doch werden wir es tun müssen.«

Wieder schwiegen beide.

Gerhard hatte einen Bleistift ergriffen und rechnete auf einem Blatt Papier herum.

[S. 162] Es war ganz still; nur vom Vorraum hörte man das Klingeln des Telephons.

Dann hob Gerhard den Blick:

»Wir sind die Hauptgläubiger; wenn wir alles aufgeben, verlieren wir zuviel! In ein paar Jahren kann man wieder anfangen zu verdienen; wir haben ja manches Etablissement, das passiv ist.«

Nachdenklich sagte sein Vater:

»Nur sehe ich kein Mittel, wie man das Ganze wieder hoch bringen kann.«

»Doch, Vater, du mußt bedenken, daß er alles hat verkommen lassen, daß er von der Fabrikation nichts versteht. Er hat die Fabriken doch nur gekauft, um seinen Gläubigern damit die Augen auszuwischen — alles andere war ihm gleich. Wenn man geschickt arbeitet und die Schnaps- und Branntweinproduktion auf ein bescheidenes Maß einschränkt, so läßt sich viel erreichen. Ich würde das Hauptgewicht auf die Spiritusfabrikation legen. Spiritus kann heutzutage die Konkurrenz mit allen flüssigen Brennstoffen aufnehmen. Der Nutzeffekt ist glänzend, die Herstellung nicht allzu teuer und die Preise nicht schlecht. Da läßt sich schon etwas machen. Als Ersatz für Benzin und Petroleum hat er große Vorzüge. Bei unserer ausgedehnten Landwirtschaft können Spiritusmotoren als Lokomobilen ausgezeichnete Verwendung finden. Natürlich müßte man die Kartoffeln soviel als möglich selbst bauen. Zum Beispiel in den Kohlenrevieren; statt daß man Getreide baut oder [S. 163] Wiesenland läßt, müßte man alles in Kartoffeläcker umwandeln. Das Klima und der Boden sind günstig die Fracht ist billig — auf die Art könnte man beide Unternehmungen gewissermaßen vereinigen.«

Klaus Tiedemann nickte:

»Hätte man das vor Jahresfrist getan, so stünde die Sache anders.« Er trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch und seufzte. »Na, wer weiß, wozu die Sache gut ist! ...«

Er sprach nicht weiter, denn Lecart trat ein:

»Guten Tag!«

Er sah schlechter aus als sonst.

Als ob nichts geschehen wäre, bot er Tiedemann die Hand; Gerhard ignorierte er in alter Gewohnheit.

Er reichte seinem Schwiegervater das Tabatiere, das voll von Zigaretten war:

»Willst du dir nicht nehmen? Ich habe sie erst heute frisch bekommen!«

Als er keine Antwort erhielt, zündete er sich selbst eine Zigarette an und legte die Beine übereinander, daß das magere Bein im schottischen Strumpfe sichtbar wurde. Den Rauch vor sich hin blasend, sagte er dann:

»Also machen wir die Sache rasch ab!«

Klaus Tiedemann nickte.

»Ich würde am liebsten allein mit dir sprechen«, sagte Lecart.

»Gerhard bleibt!«

»Bitte«, mit nachlässiger Bewegung warf sich Lecart in den Sessel zurück und sah nach dem Plafond.

[S. 164] Das hatte er denn doch nicht notwendig, sich von den Pfeffersäcken etwas gefallen zu lassen!

Es war gerade genug, daß er ihnen Rede stand!

Tiedemann wich Gerhards Blicken aus.

Er ordnete die Papiere und legte sie vor Lecart:

»Hier hast du die Schuldverschreibungen und alles bezüglich der Mansbergischen Liegenschaften.«

Lecart tat einen kurzen Blick:

»Das kenn' ich. Was weiter?« Er warf die Lippen auf und schob die Hand in die Tasche.

Aerger überkam Klaus Tiedemann über des anderen Art, doch er zwang sich zur Ruhe:

»Du mußt dich jedenfalls äußern, wie du dir die Zukunft denkst.«

Lecart lachte spöttisch. »Das ist gerade so, als wenn die Henker des Delinquenten Pläne für sein späteres Leben anhören. Die Vorschläge mußt wohl du machen.«

Der Alte schüttelte den Kopf:

»Es ist dein Besitz, um den es sich handelt.«

»Auf dem Papier!«

»Da hast du leider recht.« Tiedemanns Stimme ward lauter. »Wäre es nach mir gegangen, wir hätten diesen traurigen Ruhm nicht. Du mußt großen Einfluß auf meinen Sohn ausgeübt haben, daß er dich so unterstützte.«

Lecart lachte höhnisch: »Einfluß? — Ich bin schließlich sein Schwager, und«, er sah verächtlich auf die beiden vor ihm Sitzenden, »der einzige in der Familie, [S. 165] der ihn versteht und ihn unterstützt, in bessere Kreise zu kommen.«

»Mit meinem Geld!«

Drohend sah ihn der Alte an; überrascht wendete Lecart den Kopf: Was war das für ein Ton? »Du sprichst, so gut du es eben verstehst,« sagte er hochtrabend, »das entschuldigt dich.«

Des Alten Stirn färbte sich dunkelrot: »So wirst du bei mir nichts ausrichten; entweder du redest vernünftig mit mir, oder ich übergebe alles deinen Gläubigern; die sollen dann machen, was sie wollen.«

»Parbleu, das wäre das Rechte,« die Zigarette entfiel des anderen Hand, »das ist dein Ernst doch nicht?« Er sah erschreckt auf seinen Schwiegervater.

»Mein voller Ernst!«

Lecart litt es nicht länger auf dem Sessel; mit langen Schritten durchmaß er das Zimmer; sein Blick blieb auf Gerhard haften. In Haß blitzten seine dunklen Augen:

»Ich habe dir schon vorhin gesagt, ich spreche nur mit dir allein!« schrie er.

Als keine Antwort kam, wiederholte er die Worte:

»... Hast du verstanden?«

»Gerhard bleibt!«

Charles Lecart stampfte den Boden:

»Dann bringst du kein Wort aus mir heraus.«

»Es ist nur dein Schade.«

Sie saßen schweigend.

Nach geraumer Weile fragte Klaus Tiedemann:

[S. 166] »Kannst du nicht Clos Mitgift zur Deckung verwenden?«

»Clos Mitgift? Die ist lange hin.«

Klaus Tiedemann legte den Kopf in die eiskalte Hand. Jeder Nerv zuckte an ihm; doch es galt diesen Kampf mit starkem Willen zu Ende zu führen — seines Kindes wegen.

Clos Mitgift war eine hohe Summe gewesen, mit deren Zinsen beide in Ruhe hätten ihr Leben verbringen können.

»Wie ist das zugegangen?« fragte er.

»Wie das zugegangen ist? Sehr einfach: Wir haben vom Kapital gelebt. Meine Frau ist nicht die billigste; sie ist mit merkwürdig hohen Ansprüchen in die Ehe getreten. Woher sie das hat, weiß ich nicht, von dir gewiß nicht!«

»Alles zugegeben.« Klaus Tiedemann überhörte geflissentlich des anderen Ausfälle. »Aber in so kurzer Zeit?«

»Ich hab' Schulden zu bezahlen gehabt, dann die Reisen und die Repräsentationspflichten. Sah Clo einen Schmuck, so mußte sie ihn haben. Oft mußten wir dreifache Wohnung bezahlen; hier in der Stadt, in irgendeiner Pension und auf dem Lande. Clo hat nichts vom Wirtschaften verstanden; sie ist wie eine Prinzessin aufgewachsen.«

»Clo hat gewiß nicht die Hauptschuld, du hast hoch gespielt.«

»Wer sagt das?«

[S. 167] »Ich weiß es!«

»Hat es meine Frau gesagt?« Er bekam keine Antwort. »Natürlich weißt du es von ihr! Ich sollte wahrscheinlich wie ein Hund leben, wenn ihr die Herren spieltet? Bitter genug, daß ich von euch das Almosen nehmen mußte.«

»Vielleicht wäre es für beide Teile besser, du hättest es nicht getan.« Klaus Tiedemann warf die Papiere durcheinander. »Lassen wir das Streiten, wir kommen damit zu keinem Ende. Wir werden die Mansbergschen Fabriken übernehmen und die übrigen Gläubiger befriedigen.«

Lecart schöpfte neue Hoffnung: »Das ist gar nicht nötig«, sagte er schnell.

»Es ist besser so.«

»Bitte.«

Klaus Tiedemann neigte sich vor; er sah ihn erwartungsvoll an: »Und was ist mit den Gruben?«

Lecart war erstaunt: »Ja, wollt ihr mir denn alles abnehmen?«

»Das wird sich erst zeigen.«

»Wieso?«

»Du weißt, daß gegen dich Anzeige erstattet ist.«

»Was weiter?«

Klaus Tiedemann blickte ernst: »Du mußt wissen, ob 'was Wahres daran ist. Davon hängt alles ab.«

Ueber Lecarts hageres Gesicht lief ein nervöses Zucken: »Was meinst du?«

Durchdringend ruhten des alten Mannes Augen [S. 168] auf ihm: »Du verstehst mich ganz gut. Ob eine Schuld deinerseits vorliegt oder nicht?«

»Das fehlte gerade noch.« Lecart ließ die Hand auf den Tisch fallen. »Woher hast du den Unsinn? Was soll ich für eine Schuld haben?«

»Clo hat davon gesprochen.«

»Clo?« Lecart lachte trocken und netzte die Lippen. »Wovon?«

»Du sollst die Vorschriften außer acht gelassen haben.«

»Albern; die hält nicht einer von uns genau ein.«

»Darum handelt es sich jetzt nicht; ich muß wissen, ob ich mit ehrlichem Gewissen für dich, das heißt für Clo, eintreten kann oder nicht.« Klaus Tiedemann sah sinnend vor sich nieder. »Ich habe Beziehungen, welche dir eventuell nützen könnten, um das Gerede zum Schweigen zu bringen.«

»Das wäre mir sehr recht.« Lecarts Stimme wurde geschmeidig. »Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Wer sind die Herren, die mir behilflich sein können?«

»Das wird sich finden.« Nachdenklich strich sich Klaus Tiedemann die faltige Wange; die Hand, die auf der Tischplatte lag, zitterte: »Also, ich kann dir glauben?«

»Ja.«

»Laß, Vater!« Gerhard Tiedemann machte eine jähe Bewegung; er hatte bisher regungslos gesessen. Sein Blick traf Lecart: »Sie lügen!« sagte er ruhig.

Lecarts Augen wurden klein; sie funkelten wie die [S. 169] eines Raubtieres. Auch Klaus Tiedemann war zusammengefahren, in seiner erkünstelten Ruhe jäh gestört. Hastig, fragend flogen seine Blicke von einem zum anderen.

»Sie werden das zu beweisen haben«, kreischte Lecart und trat einen Schritt näher.

»Ich spreche nichts, das ich nicht schwarz auf weiß vor mir habe.«

Gerhard wich dem Blick des anderen nicht aus; seine grauen Augensterne hielten ihn im Schach. Mit unsicherer Stimme, aus der verhaltene Wut klang, fragte Lecart: »Wo sind die Beweise?«

»Sie werden Ihnen nicht unbekannt sein.« Ein roter Fleck begann auf Lecarts gelber Wange zu brennen. »Waren die Ventilationsschächte in Ordnung?«

Lecart preßte die schmalen Lippen zusammen: »Ja.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Die Kommission hat es bestätigt.«

»Das heißt gar nichts. Sie haben als Grubenbesitzer allzuviel Einfluß auf deren Zusammensetzung, und überdies kann sich die Kommission getäuscht haben.«

Lecart war bleich geworden: »Das kommt nicht vor.«

»So sagen wir, sie ist getäuscht worden!«

Lecart streckte den Kopf weit vor, seine Augen waren drohend aufgerissen, die Adern am mageren Hals schwollen an unter dem stürmischen Herzschlag:

»Wer gibt Ihnen das Recht, so mit mir zu sprechen?« keuchte er.

[S. 170] Gerhard stand auf und faltete ein Papier auseinander; er sah zu seinem Vater hinüber: »Die Kommission hat richtig entschieden. Sie haben recht. Auf den ihr vorgelegten Plänen und Rissen sind die Luftschächte vollkommen entsprechend eingezeichnet, aber«, er hob die Stimme, »die Kommission konnte nicht wissen, daß in Wirklichkeit seit Monaten der wichtigste Luftweg verschüttet sei; so hat man sie und die Arbeiter, die gehorchen mußten, betrogen!«

Mit kreidebleichem Gesicht fuhr Lecart an des anderen Gurgel. »Du sollst es büßen, mir so etwas gesagt zu haben.«

Mit starken Händen fing Gerhard die schlagenden Arme. Er warf Lecart zurück. Mit zuckenden Lippen sagte er: »Hier hast du, Vater, deine Familie!«

Der alte Mann regte kein Glied; er starrte vor sich nieder.

Minuten vergingen.

Lecart ordnete seine Kleider; sein hastiges Atmen klang laut durch die Stille. Wie die Augen einer Katze, die auf der Lauer liegt, glimmten seine Pupillen. So standen sie eine Weile sich gegenüber.

Dann klang ein stöhnender Laut — sie sahen nach dem alten Mann.

Klaus Tiedemann richtete sich auf.

Ein harter, erbarmungsloser Zug war um seinen Mund.

»Die Gruben gehen in unseren Besitz über,« sagte er, »du hast mit allem nichts mehr zu schaffen. [S. 171] Was du getan hast, trennt dich auf ewig von mir. Einen Betrüger beherbergt meine Familie nicht.«

Lecart wollte auffahren. Drohend trat der alte Mann vor ihn; seine kleine Gestalt schien zu wachsen:

»Clo wird mit sich ins reine kommen müssen. Ebenso du! Nur drängt für dich die Zeit, du kannst nach alldem nicht verlangen, daß ich für dich aussage. Gerhard und Clo haben von dem furchtbaren Betrug gesprochen. Ich hab' es nicht geglaubt, trotzdem die Beweise nur allzu klar lagen. Ich habe noch immer an einen Irrtum gedacht.« Er schüttelte den Kopf und ballte die Faust. »Ich hätte dich gehalten, so schwer mir's auch gewesen wäre, hättest du dein Unrecht eingestanden; du hast es nicht getan.« Er maß Lecart von Kopf zu Füßen. »Ich bin zwar nur ein Kaufmann, der schlichte Manieren hat; so kann ich weiter nicht raten, aber Sie werden, Baron Lecart, Mittel und Wege finden müssen, sich vor dem Kerker zu schützen, in den Sie gehören. Das wird Ihnen ja nicht so schwer fallen, Sie sind stets findig gewesen.« Er wandte ihm den Rücken. »Ich glaube, wir sind fertig.«

Mit festen Schritten ging Klaus Tiedemann zur Tür; die Tränen standen in seinen Augen.

[S. 172]

Schon am nächsten Tage schrieb Lecart. Das Kuvert trug seiner Familie Wappen. Er schrieb in knappen Worten, daß er nach dem, was vorgefallen sei, es als selbstverständlich ansähe, das Haus nicht mehr zu betreten, in welchen er derartigen Invektiven ausgesetzt sei. Er bedauerte nur, daß ihm keine anderen Mittel als seine Verachtung zur Verfügung stünden. Den Rechtsweg wolle er mit Rücksicht auf seine arme Frau und die Gesellschaft nicht betreten. Zum geschäftlichen Teile seines Briefes übergehend, teile er mit, daß er alle Angelegenheiten seinem Rechtsfreund übergeben hätte, da der gestrige rohe Auftritt seinen ohnehin alterierten Nerven den Rest gegeben hätte. Er zöge sich auf unbestimmte Zeit in ein Sanatorium zurück, um seine Gesundheit womöglich wiederherzustellen, deren schlechter Zustand ihn auch bewogen hätte, sich auf einige Zeit seines freien Verfügungsrechtes zu begeben. Er habe seinen Advokaten zu seinem Kurator bestellt und ersuche, sich in allen Dingen an diesen allein zu wenden, da er nunmehr vollkommen ausgeschaltet sei. Mit Rücksicht darauf werde auch die gegen ihn schwebende Klage hinfällig.

[S. 173] Noch am selben Nachmittag fuhr Klaus Tiedemann zu seiner Tochter.

Es war ein schwerer Weg, und doch ging er aufrechten Hauptes durch den hochstämmigen Laubwald, durch welchen der Weg von der Bahnstation aus führte.

Die Buchen rauschten um ihn, und er atmete in tiefen Zügen, als wolle er all den Dunst und die Häßlichkeit der Stadt aus seinem Innern vertreiben.

Ruhe lag über dem herbstlichen Grün und senkte sich über sein Wesen mit lindem Hauch.

Ein alter Bauer, das Gewehr auf der Schulter, kam ihm entgegen. Ein großer Hund trottete hinter ihm drein, sie sahen beide zufrieden aus.

Kinderstimmen hallten zwischen den hohen Stämmen des Waldes. Sie gehörten Ausflüglern an, die für wenige Stunden der lärmenden Großstadt entflohen waren.

In schwerem Fluge schwang eine Krähe sich über die Lichtung; noch lange klang ihr rostiger Schrei.

Bald war Tiedemann am Ziel.

Er öffnete die Gartenpforte.

Auf dem Vorplatz war ein Ruhesessel in die Sonne gerückt. Clo ruhte darauf; Hilde saß daneben und las aus einem Buche vor.

Als sie seinen Schritt auf dem Kies hörte, stand sie rasch auf; auch Clo hob den Kopf.

»Bleibt sitzen!« Er winkte ihnen zu und kam näher.

Clo war bleich, ihr Gesicht trug einen leidenden Zug; [S. 174] trotz der warmen Herbstsonne hatte sie eine Decke über die Knie gezogen.

Sie sprachen von gleichgültigen Dingen, von den wenigen Neuigkeiten, die sich in den letzten Tagen zugetragen hatten:

Gestern nachmittag hatte es gewittert; darauf war die Temperatur plötzlich stark gefallen. Heute früh war es kühl gewesen. Die Schwalben sammelten sich bereits zum Flug.

Sie sprachen mit leiser Stimme und sahen aneinander vorbei.

Klaus Tiedemann hatte auf seinem Wege gefällte Stämme bemerkt; nun redete er davon.

Clo gab rasche Antwort: man baute einen Fahrweg durch den Wald zur neuen Anstalt.

Klaus Tiedemann fragte, welchem Zweck der Neubau dienen werde. Hilde gab keine Antwort; sie machte hinter seinem Rücken ihrer Schwester Zeichen, zu schweigen. Die bemerkte es nicht.

»Für Lungenkranke im ersten Stadium.«

Besorgt sah Hilde auf ihren Vater, sie mied jedes Wort, das ihn an Leos frühes Ende erinnern konnte.

Doch sie schien sich getäuscht zu haben. Mit ruhigen Worten sprach er weiter.

Dann legte er die schwere Hand auf die Armstütze von Clos Sessel:

»Hat dir Lecart geschrieben?«

»Nein«, ihre Lippen wurden schmal.

»Da lies«, er reichte ihr den Brief und sah zu Boden, auf dem Ameisen hin und her krochen.

[S. 175] Mit leisen Schritten ging Hilde davon.

Er nickte ihr zu, dann sah er in scheuer Erwartung zu Clo.

Sie hatte den Mund halb geöffnet. Röte erschien auf ihren schlaffen Wangen.

Noch einmal überflog sie die wenigen Zeilen, dann ließ sie das Blatt sinken:

»Siehst du Papa? ...«

»Ja Kind!« Er stützte den Kopf in die Hand: »Was soll nun werden?«

Sie zuckte die Achseln.

Ein leiser Hauch ging über die Bäume, ein paar dürre Blätter wehten über ihre schmale Hand.

Dann trat ein trotziger Zug um den feinen Mund:

»Ich laufe ihm nicht nach.«

»Nicht so!« Klaus Tiedemann rückte näher, sein eigenes Leben stand ihm vor Augen: das ließ ihn milde Worte finden: »Du mußt gerecht sein; es ist so viel zu gleicher Zeit auf ihn eingestürmt, daß er Nachsicht verdient.«

»An mich hätte er denken können.«

»Gewiß, Kind, aber ...«

Sie warf den Kopf zurück:

»Nichts, Papa, glaube mir, nichts, er war stets so.«

Wieder schwiegen beide.

»Und sage mir, Papa: er hat nicht zu widersprechen versucht, hat nicht den Willen gehabt, aus eigener Kraft das Unglück gutzumachen?«

»Nein!«

Sie richtete sich auf: »So sind wir fertig!«

[S. 176] »Nicht so,« bat er mit sich selbst im Widerstreit.

Heftig widersprach sie:

»Was soll sonst werden? Soll ich an seiner Seite weiter leben, da er sich in seiner ganzen Erbärmlichkeit gezeigt hat? Das kann ich nicht!«

»Das verlangt auch niemand von dir.«

»Und auch später nicht, nie mehr!« Ein nervöses Zucken lief über ihr Antlitz: »Hätte er alles eingestanden und mich gebeten, ihm beizustehen, ich hätte es getan. Nichts hätte mich davon zurückgehalten. Aber so, da er sich feige allem entzieht, nein das kann ich nicht! ...«

Klaus Tiedemann senkte den Kopf. Er fand keine Widerrede. Es war sein eigenes Denken.

Sein Fuß zeichnete Kreise auf Kreise in den Kies.

Tiefe Stille war um die beiden.

Mit fliegendem Atem begann sie wieder:

»Du kannst dich, Papa, in meine Lage nicht hineindenken; du weißt nicht, was es mich für eine Ueberwindung kostete, ihn nicht schon früher zu verlassen. Doch ich war feig und dachte eng. Hier draußen ist es mir klar geworden, wie nichtig und lächerlich eigentlich alles an ihm war, vom Anfang an. Erst flößte mir seine hochtrabende Art, mit der er jedermann behandelte, Achtung ein, dann nahm ich sie selbst an: warum weiß ich nicht. Es mag wohl unser Blut gewesen sein. Doch bald kam die Ernüchterung. Aber nicht einmal mir selbst gestand ich sie zu. Warum sollten zwei Menschen nicht auch gleichgültig nebeneinander leben können!«

Klaus Tiedemann nickte.

[S. 177] »Wir ritten gemeinsam spazieren, wir gingen zusammen in Gesellschaften und aßen vom selben Tisch.« Sie lachte gepreßt. »Wie viele machen es nicht so, ihr ganzes Leben lang! Auch du und Mama lebtet ähnlich. Das hielt ich mir stets vor Augen — warum sollte es bei mir nicht auch so gehen? Manchmal wollte ich ihn verlassen, nach irgendeiner Szene, von denen es so viele gab — doch ich schreckte zurück, aus Angst vor der Meinung der anderen; es war mir ja so von klein auf eingeimpft worden.« Sie hob die Hand und betrachtete die Ringe, die feine Rillen in die Haut zogen: »Erst im Gespräch mit Hilde, erst in den letzten Tagen habe ich anders denken gelernt. Vater,« sie neigte sich vor, in ihren Augen war wieder das nervöse Zucken, »steh nicht wider Hilde auf, sie liebt aus vollem Herzen, zertritt das bißchen Glück nicht, das unsere Familie noch hat ...«

Er gab keine Antwort, er saß mit hängenden Armen.

Noch immer haftete Vorurteil an ihm. Ein langes Leben waren seine Gedanken anderen Weg gegangen. Zu weit lag die Jugend zurück:

»Wir wollen nicht von Hilde, wir wollen von dir reden«, sagte er ausweichend.

»Nun gut.« Sie sah mit forschenden Blicken auf ihn. »Wie denkst du dir meine Zukunft?«

Er seufzte:

»Du wirst vielleicht anders denken lernen — milder ...«

»Glaubst du daran?«

[S. 178] Er gab keine Antwort.

»Du glaubst es selbst nicht.« Frei sahen ihre Augen. »Warum sollen wir nicht einmal nur an uns denken und nicht an die anderen? Er hat mir die Jugend gestohlen und dir schwere Verlegenheit bereitet. Warum sollen wir das nicht ändern, wenn es in unserer Kraft ist?«

Erstaunt sah er auf sein Kind.

Sie empfand seinen Blick:

»Ja, Papa, ich bin eine andere geworden — Gott sei Dank! — in letzter Stunde. Der Mensch hat nur kurze Zeit auf Erden, jeder Tag ist ein unersetzlicher Verlust, den er nicht lebt nach eigenem Gutdünken, und ich soll mein ganzes Leben verlieren? Nein,« sie stand auf, »Lecart ist für mich tot!«

»Kind,« stammelte er, »Kind, überlege es dir gut!«

»Da ist nichts zu überlegen! Schau, Papa!« sie faßte seine Hand. »Was kann ein Mädchen einem Manne mehr geben, als ich getan? Freudig hätte ich alles gelitten, hätte er nur an mich geglaubt. Du bist ja selbst meiner Meinung,« sie legte ihren Kopf an den ihres Vaters, »du glaubst nur, du hättest die Pflicht, mich zurückzuhalten, doch du bist im Irrtum. Er hat unseren ehrlichen Namen gebrandmarkt, er ist nicht besser als ein Dieb, da er dich um dein Geld betrog.«

In schwerem Groll schloß Klaus Tiedemann die Faust: »Da hast du recht.«

»Siehst du, Papa, willst du weiter mit ihm verkehren?«

[S. 179] Verwundert sah er auf, seine Augenlider waren rot gerändert. »Ich? Ich bin mit ihm fertig!«

»Und ich soll mit ihm weiterleben?«

Die alte Hilflosigkeit überkam ihn:

»Ich wollte nur alles versuchen, weil ich eben keinen anderen Ausweg sehe.«

Sie küßte seine faltige Stirn. »Der Ausweg«, sie hob die Hand zu dem blauen Himmel, auf dem weiße Wölkchen segelten, »dort ist er — die Freiheit!«

Mit ängstlichen Augen sah er sie an. Eine Art Schwindel befiel ihn. Die Ahnung fremder Welten, die er noch nicht kannte. Doch er stand am Eingang. Er ließ den Blick rundumgehen, von einem Baum zum anderen, vom Efeu, der sich eigenwillig emporrankte, zum Springbrunnen, dessen Wasser in schimmernde Tropfen zerfiel: »Eine geschiedene Frau ist Freiwild — ihr Leben ist unstet, von den Reden der Leute vergiftet.«

»Besser als eine morsche Ehe.« Sie faßte seinen Arm, lebhaft wurde ihr Blick. »Heute hab' ich Gröden getroffen.«

»Hat er dich erkannt?«

Sie lachte: »Wir sprachen fast eine Stunde. Er fand mich sehr verändert.«

Klaus Tiedemann stand auf und ging der Terrasse zu. Er schüttelte den Kopf.

Clo war an seiner Seite; sie sprach weiter von Gröden:

»Denk' dir, Papa, er baut hier die neue Anstalt! Ist das nicht ein Zufall?«

Er nickte, dann sah er sich scheu um:

[S. 180] »Du hast zu Hilde nicht gesprochen?«

Verständnislos blickte sie ihn an:

»Wovon?«

Er schluckte und sah zu Boden:

»Von dem, was ich dir von meiner ersten Ehe erzählt habe, damals ...«

»Nein; wenn du willst, sag' ich's auch niemandem.«

»Ich bitte dich drum,« er atmete auf, »es ist mir zwar ganz gleich, aber lieber ist's mir doch so ...«

»Gewiß, Papa.«

Er nickte: »Sprich weiter — ich hätte es nur sonst vergessen!«

»Armer Papa!«

Er wich ihrer Hand aus. »Da ist Gröden wohl öfters hier?« sagte er.

»Jeden dritten Tag! Das nächste Mal will er mir die Pläne zeigen; er war ganz Feuer und Flamme darüber. Er hat die notwendigen Studien in England gemacht.«

»Von mir sprach er nichts?«

»Nein, aber von Lecarts Unglück wußte er.«

Sie standen vor dem Haus.

Er ließ sie über die Stufen vorangehen und sah sich noch einmal um.

Dürre Blätter fielen zu Boden, Herbstzeitlosen sproßten daraus empor.

[S. 181]

Wenige Tage später kam Fred. Er hatte die Tourenfahrt vorzeitig abbrechen müssen und war mißmutig nach Hause gefahren, da ihm kein Preis mehr winkte: Gleich nach dem Start hatte er ein Bauernfuhrwerk überfahren und war, einige Stunden später, derart bei einer Straßenkrümmung an einen Baum gerannt, daß er mit Achsen- und Federbruch en panne saß.

Auch Baronin Wolny war mit ihm zurückgekehrt.

Mit Clo sprach er ein paar verbindliche Worte, wie man es mit jedem Fremden tut. Der Name Lecart war ebensoschnell aus seinem Gedächtnis geschwunden wie der Olthoffs und vieler anderer vordem. Man lernte sich kennen, schloß Freundschaft und vergaß sich, wenn die beiderseitigen Interessen erschöpft waren.

Klaus Tiedemann wußte nicht zu entscheiden, ob Fred stets so gewesen war oder ob ihm sein Wesen jetzt nur mehr auffiel. Nie war ihm seines Sohnes hochfahrende Art so zum Bewußtsein gekommen als nun, da er Familie und Geschäft vernachlässigte, um seiner Liebhaberei willen, zu denen in erster Linie Frau Wolnys üppige Gestalt zählte.

Fast jeden Abend weilte er bei ihr. Es drohte ein offener Skandal zu werden.

[S. 182] Hatte früher Klaus Tiedemann sich über derartige Eroberungen seiner Söhne — wie er es nannte — gefreut, so waren sie ihm nun unangenehm, weil das Schicksal seinen Sinn wieder auf die ernste Seite des Lebens geleitet hatte.

Er sah jetzt nur Kraft- und Zeitverschwendung, worin er früher Anerkennung seiner Kinder erblickt hatte.

Zwischen Klaus Tiedemann und seinem Sohne war noch nicht viel über Lecarts Geldoperationen gesprochen worden, jeder mied das Thema. Klaus Tiedemann wollte nicht gern erinnert werden, daß er es gewesen war, der als erster, bei Clos Heirat, Lecarts teurer Verwandtschaft Vorschub geleistet hatte. Als Fred erfuhr, daß die Ordnung der Angelegenheit in Gerhards Händen läge, da lachte er spöttisch:

»Gib ihm doch gleich das ganze Geschäft, dann hat die arme Seele ihre Ruhe.« Freds Aerger hielt nicht lange an; in dem Augenblicke, da er der Wolny weiche Arme wieder an seinem Halse spürte, versank alles für ihn. Er lag hilflos in ihren Banden, und die routinierte Frau freute sich ihres vollkommenen Sieges: er war Naturbursche in der Liebe, und das naive Zugreifen und Genießen schuf dem Weibe, das durch vieler Männer Hände gegangen war, neue Abwechslung.

Sie lebte noch einmal die Genüsse ihrer Jugend und vergaß so alles andere.

Jan Wolny stand zähneknirschend vor dem Zimmer seiner Mutter; doch nie fand er den Mut, sie zu einer Aussprache zu zwingen. Er verstand seinen Vater, der [S. 183] aus dem Leben gegangen war, weil die feine Art des Edelmannes sich auflehnte gegen die Mißachtung der eigenen Frau.

Doch Jan Wolny trug beider Blut in seinen Adern: das verwegene Zirkusreiterblut und das der polnischen Könige. Noch ging er mit geballten Händen und fand nicht den Entschluß des Handelns ...

Leos Geburtstag war herangekommen.

Hilde wollte ihrem Vater die Aufregung ersparen, und bat Fred, einen Kranz auf dem Grabe seines Bruders niederzulegen.

Es waren die ersten Worte, welche die beiden, seit Freds Rückkehr, mitsammen sprachen.

Er zeigte auf die farbige Weste, die er trug, und sah in unverhohlenem Erstaunen drein:

»Ich? Was geht denn das mich an?«

Sie maß ihn von Kopf zu Füßen.

»Es ist Leo! Dein Bruder!«

»Das weiß ich ohnehin, mein Fräulein! Aber ich hab' keine Zeit. Ich weiß nicht einmal genau, wo das Grab liegt: ich glaube, ich würde es gar nicht finden.«

»Das sind Ausreden.«

»Also, so sind's Ausreden! Ich mag einfach nicht. Mein Gott, was hat er denn von dem Kranz? Hätt' ihn Papa vernünftiger erzogen und ihm nicht so viel Freiheit gelassen, so wär' er vielleicht noch am Leben — mich laßt mit solchen Dingen in Ruhe.« —

Am Nachmittag fuhren Klaus Tiedemann und Hilde zu Leos frühem Grab.

Ein Riesenobelisk krönte dasselbe; die Trauerweiden hatten dürres Laub.

[S. 184] Mit starren Fingern richtete Klaus Tiedemann den Efeu, der sich im Gitter verflochten hatte. Mit liebevoller Hand strich er über den Rasen. In den Gruftlaternen flackerten die Lichter.

Der Gärtner hatte sie angezündet, er stand abseits und wartete auf sein Trinkgeld; man gab an solcher Stätte gern. Als er es erhalten hatte, schlenderte er davon, die langen Reihen hinunter, eine Blume hinter dem Ohr. Leise pfiff er vor sich hin — er war jung und dachte nicht ans Sterben.

Klaus Tiedemann hielt die Hände verschlungen und sah mit starrem Blick die eingemeißelten Buchstaben: »Da liegt der arme Bub.«

Die fallende Ruhe des Herbstes umgab sie: ein leises Singen war in der Luft, wenn der Wind durch die Zypressen und um die Grabkreuze strich.

Sie schmiegten sich eng aneinander.

Ein paar Fuß unter der Erde, ganz nahe bei ihnen, lag alles, was noch von Leo übrig war.

Alles ließ sich erzwingen, der Widerstand gegen den Tod nicht.

Die heißeste Sehnsucht nach Liebe und Genuß, halbfertige Jugend und verfehlte Leidenschaft, Kindlichkeit und werdende Eigenart — all das lag still da drunten und zerfiel in nichts.

Klaus Tiedemann seufzte, seine Augen waren naß. Mächtig kam die Erinnerung über ihn.

Wofür hatte er gerungen, wenn das das Ende war? Wenn er selbst in seinen Kindern starb und nicht weiterlebte? Was blieb als Lebenswerk? Ein Quell des Verdienstes! Und auch der konnte versiegen, [S. 185] verlangte man allzuviel von ihm. Er dachte Freds.

Gleich da, rechts drüben, lag seine Frau. Wo mochte Gerhards Mutter ausruhen von ihrer Irrfahrt? Lebte sie noch — wie kam es, daß zwei Menschen überhaupt sich fremd sein konnten?

Im Grabe mußte alles verstummen, und doch ruhte der Kampf nie.

Schwere Zweifel faßten den alten Mann, er legte den Arm um Hilde. »Hätt' ich dir doch gefolgt!«

Aus großen, erschreckten Augen sah sie auf. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht daran denken, Vater!«

Er seufzte. »Wie wird die Zukunft werden?«

Ihre Blicke glitten über die Friedhofsmauer, auf stahlharten Schienen jagte ein Zug vorbei.

Dann begann er wieder:

»Mir ist es manchmal, als hätt' ich schon einmal gelebt und wäre gestorben gewesen, lange Zeit. So manchen Gedanken, der mir jetzt kommt, hab' ich schon einmal gedacht, vor vielen Jahren. Ist er damals richtig gewesen? Ist er es heut? Es ist so schwer für etwas zu entscheiden, noch schwerer gegen etwas. Jedes Ding hat zwei Seiten. Ich war Leo ein zu schwacher Vater, vielleicht kann ich für Fred ein zu harter werden?« In inniger Liebe sah er sein Kind an. »Du mußt mir beistehen, Hilde; du bist die einzige, die wirklich zu mir hält — willst du?«

»Vater!« Sie warf sich an seinen Hals, ihre Lippen fanden sich; mit tastenden Fingern richtete er ihren Kopf in die Höhe; forschend sah er in ihre Augen: »Bin ich jetzt auf rechtem Weg?«

Sie nickte.

Noch einmal zog er sie an sich:

[S. 186] »Leo wird nicht allzu lange auf mich warten müssen.«

Er brach eine Ranke und verwahrte sie in der Tasche.

Dann winkte er dem Hügel zu:

»Leb' wohl!«

Langsam näherten sie sich dem Ausgang.

Im Heimfahren sprachen sie von Fred. Noch immer hoffte der Vater auf Besserung. Er wartete auf irgendein Ereignis, das ihn zum Handeln zwingen würde; das Schicksal mußte eingreifen — allein fand er nicht die Kraft dazu! Was sollte auch werden, wenn es so weiter blieb?

Als sie in bekannte Straßen bogen, drückte er Hildes Hand. »Ich danke dir ...«

Sie merkte, daß er noch etwas sagen wollte, seine Rede floß wirr und krumm weiter. Er redete vom Erfolg, und wie man sich im Menschen täuschen könnte. Dann kam er auf Clo und Gröden zu sprechen. Dann auf Hildes freudlose Zeit, die er so gern ihr besser gestalten wolle.

Sie verstand ihn nicht.

Der Umschweife überdrüssig, fragte er plötzlich ganz unvermittelt:

»Würde dich Hansens Bild interessieren?«

Das war es! Sie nickte; die Aufregung benahm ihr die Stimme.

»So gehen wir!«

Er öffnete eilig den Schlag des Wagens.

[S. 187]

Gleich beim Eingang der Gemäldeausstellung hatten sie Hansen getroffen.

Es war ein glücklicher Zufall.

In freudiger Erregung geleitete er die beiden durch die ersten Säle, durch die dichten Gruppen der Besucher, welche sich vor einzelnen Bildern stauten.

Für einen kurzen Augenblick fand er Hildes Hand. Sein Blick ging fragend zu ihrem Vater.

Sie zuckte mit den Achseln und lächelte glücklich.

Einzelne erkannten Hansen und grüßten; mechanisch lüftete Klaus Tiedemann den Hut, er wußte nicht recht, wem der Gruß galt.

Hansen lenkte rechts; Klaus Tiedemann ging geradeaus weiter.

»Hier, Papa!« Hilde nahm ihn beim Arm und blieb eingehängt.

In einem zurückspringenden Seitensaal ist Hansens Werk, die schmale Wand allein einnehmend.

In ruhigem Lichte sieht es ernst herab.

Seitwärts von seinem Fauteuil erhebt sich eine kleine, alte Frau, sie macht einen Knicks und hält krampfhaft die Enden ihrer Mantille übereinander.

Mit ruhiger Bewegung schiebt Hansen sie in den Vordergrund und stellt vor:

»Meine Mutter!«

Ihre kleinen, zittrigen Augen bleiben, als sie den Namen der beiden hört, an Hilde hängen. Aengstlich, forschend und flehend! Hansen mag wohl zu Hause gesprochen haben. Sie nickt ihr zu.

[S. 188] Fliegende Röte jagt über Hildes Gesicht.

Ihr Blick geht über die Köpfe der Leute zu dem Bild.

»Erdgeist.«

Ein blasser Bursch, halb Knabe, halb Mann, beugt sich zurück; er ist im Gesellschaftsanzug, eine verwelkte Blume zierte das Knopfloch. Mattigkeit und Erschöpfung liegen über der sitzenden Gestalt, ein Schauder scheint ihn zu fassen. Die Augen sehen müde, verträumt in fiebrigem Schimmer in die Höhe nach dem Gesicht der üppigen Frauengestalt, die, tief dekolletiert, sich über ihn neigt. Die Sphinx, die die weibliche Form des Welträtsels birgt! Alle Sinnlichkeit ist in dem Weibe konzentriert; beklemmender Geruch scheint ihren dünnen Gewändern zu entsteigen. Ihre Augen sind untermalt, in brennendem Rot schimmern ihre vollen Lippen. Wie ein leichter Hauch scheinen Linien durch, wie eine Silhouette aus einer anderen Welt zeichnet sich hinter den vollen Wangen die Kontur des Totenschädels.

Hilde tritt zurück; Leos Züge sehen ihr entgegen, verallgemeinert, doch unverkennbar.

Sie atmet tief und streckt die Hand nach Hansen.

Der steht abseits mit gesenktem Kopf.

Seine Mutter hat Hildes Bewegung bemerkt:

»Du!«

Er fährt zusammen und sieht Tränen in Hildes Augen.

»Sie sind ein großer Künstler!«

Hand in Hand stehen die beiden.

Klaus Tiedemann hat die Arme über der Brust gekreuzt. In ihm ist ein Singen und Klingen: er sieht zwei Gestalten, deren intime Details er mit seinen [S. 189] stumpfen Nerven nur zum Teil erkennt und bemerkt, und doch packt ihn unbewußt des Bildes Kraft; schnell verfliegt der Gedanke, ob Hansen wohl einen Käufer hat.

Er sieht den Mann, den das Weib quält und der doch nicht von ihm lassen kann. Das ist sein Leben, und das versteht er! Das ist auch das Leben Leos gewesen und ist auch vielleicht jenes von Fred. Wieder flattert die Erinnerung seiner ungestümen Jugend empor. Er ist wieder der arme Kontorschreiber, der mit scheuem Blick am Sonntag die breiten Hauptstraßen durchquert, in die er unter der Woche nie kommt. Er sieht die eleganten Damen der Gesellschaft, hört Spitzen rascheln und sieht Formen, wie sie die Weiber des Volkes, durch schwere Arbeit gedrückt, nur selten haben. Die Gier, reich zu sein, kettet ihn; kein Blick haftet auf seiner unschönen Gestalt in den dürftigen Kleidern, die abseits steht und mit brennenden Augen der strahlenden Menge folgt. Ist sein Aeußeres unausgeglichen und inkonsequent, so reihen sich doch die Gedanken in spiegelnder Kette aneinander. Zähneknirschend kehrt er in die schmutzigen Hafenstraßen zurück und setzt sich zur Arbeit; er will sie durch Kraft und Zähigkeit zwingen, ihm zu Willen zu sein. Ein bitteres Lächeln geht über Klaus Tiedemanns Züge. Keiner der Umstehenden, auch sein eigenes Kind nicht, wissen, daß er nun der zwei unglücklichen Ehen gedenkt, die sein Leben vergifteten.

Schwer holt er Atem.

Er kann es nicht überwinden, daß sie nur seinen Erfolg liebten und nicht ihn.

Er starrt in Leos Züge.

[S. 190] Auch der ist unterlegen, er konnte ihn nicht schützen.

Der Wolny Züge nimmt das Weib an der Wand an, und Fred sitzt auf dem Sessel.

Seine Umgebung vergessend, stampft er mit dem Fuße auf, daß er seine Art den Kindern vererben mußte! Was will er tun, wenn sie dafür Rechenschaft fordern? ...

Er wendet sich; mit gesenktem Kopfe fragt er Hansen nachdenklich und ernst: »Sie meinen das ganz allgemein, das Weib dem Manne gegenüber?« Er zeigt nach dem Bilde. »Der dort kann jeder von uns sein?«

Unsicher sieht Hansens Mutter drein.

Als er die Antwort erhält, blickt er ernst zu Boden; dann streckt er Hansen die Hand hin:

»Sie haben recht.« Er nickt der alten Frau zu. »Er versteht das Leben.«

Sie macht einen eiligen Knicks.

»Gewiß, Herr Kommerzienrat, gewiß,« sagt sie und denkt an ihren Mann, der ihr elterliches Erbteil verspielt hat und den sie erhalten mußte die letzten Jahre durch ihrer Hände Arbeit.

Dann gehen sie weiter durch die übrigen Räume. Hilde weiß nicht recht, warum; doch Klaus Tiedemann will wohl nicht zeigen, daß sie nur Hansens wegen gekommen sind.

Er sieht gleichgültig über die farbigen Flecken an den Wänden.

Beim Ausgang schüttelt er Hansen nochmals die Hand und sagt: »Besuchen Sie uns doch wieder einmal; wir sind seit Leos Tod fast immer zu Hause.« Er bewegt den Kopf auf dem gedrungenen Halse hin [S. 191] und her, als beengte ihn der Kragen; dann fügt er in alter Art hinzu: »Wir werden uns freuen, Sie begrüßen zu können.«

Die alte Frau nickt ununterbrochen in ihrer Verlegenheit; mit sicherer Bewegung faßt sie ihr Sohn beim Arm: »Ich werde es mir demnächst erlauben.« Er verneigt sich und grüßt Hilde mit den Augen: »Leb' wohl!«

Er sieht dem davoneilenden Wagen nach und beugt sich zu der alten Frau hinab:

»Nun, Mutter?«

»Sie hat dich gern.«

Sie lächelt glücklich und denkt nicht, daß sie nun ihr Kind wird teilen müssen mit einer anderen.

[S. 192]

Als sie nach Hause kamen, wartet Gerhard im Herrenzimmer auf den Vater. Mit großen Schritten geht er hin und her.

Als Klaus Tiedemann eintritt, bleibt er stehen.

»Was gibt es?«

»Ich weiß nicht, Vater, ob ich es dir sagen soll.«

»Wieder was Unangenehmes?« Klaus Tiedemann hat in seines Sohnes Hand ein Zeitungsblatt entdeckt, hastig greift er danach:

»Gib her!«

Nur widerwillig läßt es Gerhard, er beobachtet seinen Vater mit forschenden Blicken.

Der liest mit zusammengezogenen Brauen:

Es ist ein Artikel, »Moderne Industrie« überschrieben, in dem das sozialistische Organ sich in heftigen Ausdrücken Luft macht über die Einstellung der Untersuchung gegen Charles Lecart, den Bluthund der »Freundschaftszechen« — wie sie ihn nennen. Sein Privatleben ist aufgedeckt, entstellt geschildert; niemand kann nach den bestimmt gegebenen Daten an der Richtigkeit der Angaben zweifeln. Doch nicht genug damit! ... Klaus Tiedemann spürt einen Stich im Herzen: auch sein Name ist genannt, mit heftigen Anklagen überschüttet: er soll um das schwindelhafte Unternehmen gewußt, wissentlich dem Betrug Vorschub geleistet haben. Warum wären sonst die Liegenschaften in den alleinigen Besitz der Firma übergegangen? Es ist abgekartetes Spiel! Sein Mitleid mit den Arbeitern [S. 193] und die schweren Opfer seines Kindes wegen werden so verstanden!

Fester faßt er das dünne Blatt, die Augen werden groß und starr.

Hier steht mit erbarmungslosen Buchstaben die Beschuldigung, daß Fred Tiedemann, der jetzige Chef der Firma, der nur in Kreisen des Hochadels verkehrt, bedeutende Summen, es ist eine enorm hohe Zahl genannt, angeblich zu Wohltätigkeitszwecken, gespendet hätte, die in Wirklichkeit nur dazu dienen sollten, ihm den Adel zu verschaffen. Heftige Anklagen gegen die Regierung sind eingeflochten, die einen solchen Kuhhandel förderte; in flammenden Worten ist das Unrecht verwiesen, das den Armen angetan würde durch solche Schädlinge der Industrie, die eigentlich in den Kerker gehörten. Auch die Firma als solche ist beschuldigt. Wie könnte man von einem derartig geleiteten Institut Garantien verlangen, wenn das »Hungergeld der Armen« dazu benutzt würde, Hochstapler in ihrem strafwürdigen Beginnen zu unterstützen? Jedermann wird aufgefordert, sich die Depots ausfolgen zu lassen und diese in sicheren Instituten anzulegen. Der Prospekt einer Firma, deren Chef der Bruder eines Parteimannes ist, liegt bei. Auch ist auf eine Interpellation verwiesen, welche jener bei der übermorgigen Parlamentssitzung einbringen wird. Man wird kein Mittel unversucht lassen, um dem arbeitenden Manne zu seinem Rechte zu verhelfen, die Machinationen der Lecart-Tiedemannschen Sippschaft an den Pranger zu stellen! Es folgen längere Erörterungen, daß man aus dem vorstehend gekennzeichneten Spezialfall schließen könnte, wie geradezu unerläßlich das Verlangen der Bergarbeiter nach Grubeninspektoren aus ihren eigenen Reihen wäre.

[S. 194] Klaus Tiedemann läßt das Blatt mit zitternder Hand sinken. »Nur gut, daß sie weit übers Ziel schießen und sich so ins Unrecht setzen«, sagt Gerhard.

Tiedemann gibt keine Antwort.

Nun fassen sie sein letztes, seinen ehrlichen Namen, sein Geschäft an!

Sinnlos vor Wut zerreißt er den Fetzen Papier und tritt ihn mit Füßen:

»Es kann nicht sein!«

Gerhard zuckt die Achseln.

Dieser schweigende Widerspruch reizt den alten Mann, sein Aerger sucht Ableitung. Daß Gerhard über Fred schlecht denkt, ist nur natürlich, aber er als Vater muß gerecht sein.

Er pflanzt sich vor Gerhard hin und schreit:

»Daß du es weißt! Daran ist kein wahres Wort!«

»Dann ist's gut, Vater.«

»Ich sag' es dir,« schreit Klaus Tiedemann in der Angst seines Herzens, »ich, dein Vater!«

Schweigend sieht ihm Gerhard in die Augen; Klaus Tiedemann senkt den Blick.

Gerhard wendet sich zur Tür; Mitleid in seiner Stimme: »Bezüglich des geschäftlichen Angriffes werde ich heute noch eine Berichtigung einrücken lassen.«

Er geht.

Klaus Tiedemann läßt den Kopf nach vorn fallen; er weint wie ein Kind.

Nun greifen sie an sein Lebenswerk.

Sein ehrlicher Name ist gebrandmarkt, in den Schmutz gezogen. Er hat von jeher Angst vor der Oeffentlichkeit empfunden. Dem Hause, das er gründete, drohen schwere Krisen. Die Uebernahme der Lecartschen Verpflichtungen hat Opfer gefordert; Freds [S. 195] teure Lebensführung ist nicht dazu angetan, der Tiedemanns Besitz zu mehren. Wenn er wirklich so ungeheure Summen dem Phantom, adelig zu werden, geopfert hat, bedarf es nur eines größeren Verlustes, wie er oft in Kauf genommen werden muß, um die Firma in Schwierigkeiten zu bringen!

Klaus Tiedemann stöhnt auf; dann kommt die Aktiengesellschaft, dann verschwindet der individuelle Zug, die Kunde wird zur Nummer.

Er knirscht mit den Zähnen.

Was bleibt ihm anderes übrig, wenn die Depositensumme sinkt? Damit fällt des Hauses Macht. Unreelle Firmen und Betrüger hatten das Publikum in den letzten Jahren nervös gemacht, altangesehene Firmen waren zusammengebrochen. Wenn die Einleger, auf die alarmierende Nachricht hin, Sturm liefen? Klaus Tiedemann zweifelt als erfahrener Kaufmann nicht daran. Wenn sie die Spreu nicht vom Weizen zu sondern wußten, was dann? Schon lange bestand Argwohn gegen den Stand der Privatbankiers: die Kunden gingen lieber zu den großen Banken mit ihrem Riesenaktienkapital, das ihnen mehr Garantie zu bieten schien. Ein hartes Gesetz stand seit Jahren gegen den kleinen Mann und förderte den großen, trotzdem man es geschaffen hatte gegen das Großkapital. Die Aktiengesellschaft griff vom Anfang ihres Entstehens an mit reichen Geldmitteln in die Konkurrenz. In langen Jahren bittersten Kampfes hatte Klaus Tiedemann sein Kapital errungen. Seine Person war den Kunden Bürgschaft, seine offene Geschäftsführung verhalf ihm zu seinem Erfolg.

Er ballt die Faust. Wenn es Fred wirklich getan hat!

[S. 196] Stunden vergehen in grübelndem Sinnen.

Hilde kommt, ihn zum Abendessen zu holen; er gibt keine Antwort. Krampfhaft die Tränen zurückhaltend, geht sie wieder.

Schatten fallen ein, kaum daß die Sonne gelächelt.

Er hört Clo im Nebenzimmer sprechen; auch Hilde sagt ein paar Worte.

Sie wünschen sich gegenseitig »Gute Nacht«.

Er rührt sich nicht. Er muß Fred sprechen, heute noch. Er muß die Gewißheit haben, daß alles erlogen ist.

In stummer Verzweiflung wartet er.

Wo er so lange weilt? Er ist seit früh nicht zu Hause gewesen!

Auf jeden Ton hört er, der durch die Nacht dringt.

Die Zeit verstreicht.

Er denkt an Leo und an Lecart: die Scheidung ist eingeleitet.

Was wird Clo tun? Oft spricht sie von Gröden?

Was will Fred gegen die Angriffe unternehmen?

— — — Nun ist er einundsiebzig; noch immer findet er keine Ruhe!

Hansens Bild steht vor ihm, wieder trägt das Weib Frau Wolnys Züge. — — — »Wo ist Fred?«

Er sieht Jan Wolnys Augen, sie leuchten durch das Dunkel.

— — — Er fährt auf. Er muß geschlafen haben. Es ist dunkel um ihn geworden.

Er hört Schritte.

Die Tür geht auf. Fred steht vor ihm.

In dem ungewissen Dämmerlicht, das von der Straße kommt, sieht er totenblaß aus.

Als er seinen Vater erkennt, fährt er zusammen. »Was tust du hier?«

[S. 197] Sie stehen sich gegenüber.

Schwer hebt sich Klaus Tiedemanns Brust; der scheue Blick seines Sohnes scheint ihm schreckliche Gewißheit zu geben: »Hast du's getan?« keucht er.

Der andere tritt einen Schritt zurück, die Schultern zieht er ein: »Was?«

In übereilenden Worten, die Rechte in seines Sohnes Rock gekrampft, daß er ihm nicht entkommen kann, schildert Klaus Tiedemann, was vorgefallen ist. Mit bebender Stimme bittet er um Gewißheit. In seinen unruhigen Augen flackern Angst und Wut.

Fred Tiedemann hält die Faust geballt, scheu läuft sein Blick im Zimmer rundum: Nun muß auch das kommen!

»Rede!« Sein Vater schüttelt ihn. Er hat ihn vorn an der Brust gefaßt und knirscht mit den Zähnen, sinnlos vor Wut. Mit hastigem Ruck befreit sich Fred. Er findet seine Art wieder:

»Hast du zu viel getrunken?« Sein Blick sticht dem alten Mann in die blutgeröteten Augen. »Du mußt doch einsehen, daß du mir unrecht tust, schon die ganze letzte Zeit, mit deinem ewigen Mißtrauen! Alles, was du hörst, hat nur einen Grund: sie sind uns neidisch, sonst nichts. Das ist auch jetzt wieder so. Ich werde morgen beim Minister vorsprechen, ihn informieren: es ist der ganzen Sache damit die Spitze abgebrochen.« Klaus Tiedemann scheint seinen Worten Glauben zu schenken. »Doch jetzt laß uns schlafen gehen, ich bin redlich müde« fügt Fred hinzu.

»Es ist also nichts?« Zitternd vor Freude, die tiefster Seelenangst entsprungen ist, kommt Klaus Tiedemann seinem Kinde näher.

»Nichts.«

[S. 198] »Verzeih!« Wieder schlägt Klaus Tiedemann um, er sieht nicht des anderen verstörtes Wesen, nicht den sonst so glatten Scheitel, der unordentlich unter den Haaren verschwindet. Sein Sohn kann nicht unwahr sprechen, mag er auch sonst Fehler haben, er ist doch ein guter Mensch. Er drückt den Widerstrebenden an sich: »Ich habe solche Angst gehabt.«

Mit leerem Blick, in dem Unruhe lauert, sieht Fred Tiedemann über seines Vaters schneeigen Kopf, der an seiner Brust ruht.

Er scheint unangenehmen Gedanken nachzuhängen.

Er preßt die Lippen zusammen und klopft dem alten Mann mechanisch auf die Schulter: »Laß gut sein, es ist alles recht.«

Er macht eine schnelle Wendung, damit sein Vater den blutroten Streifen nicht sieht, der quer über die linke Wange läuft in hochgeschwollenem Zuge.

Er gähnt.

Noch viel will Klaus Tiedemann wissen, doch Fred gibt nur einsilbige Antworten.

Mitternacht ist vorbei, als sie zur Ruhe gehen.

Mit langem Blick sieht Klaus Tiedemann seinem Sohn über den Gang nach.

Für einen Augenblick beschleicht ihn ein unangenehmes Gefühl; des anderen Haltung ist gebeugt; fast vorsichtig ängstlich klingt sein Schritt gegen die sonst geübte selbstsichere Art. Doch Klaus Tiedemann lächelt: Gewiß kommt er von der Wolny.

»Ich hab' ihm unrecht getan«, sagt er leise vor sich hin, und ohnmächtige Wut gegen die Verleumder beschleicht ihn.

[S. 199]

Zwei Tage später. — Es ist in der Reitschule der Husaren, bei denen Fred Tiedemann in der Reserve steht.

Ein kalter Herbstwind wirft dürre Blätter an die schmutzigen Fensterscheiben.

Jan Wolny sitzt auf der Fensterbrüstung mit übereinandergeschlagenen Beinen. Weste und Kragen hat er abgelegt, den Rock nachlässig über die Schultern geworfen.

Man sieht ihm nicht an, daß er auf den Tod wartet.

Seine Augen blicken starr in stählerner Härte gegen die Tür, durch die Fred Tiedemann kommen muß.

Fürst Solt zieht langsam die Uhr und schüttelt den Kopf. »Fünf Minuten über die Zeit.« Ein feines Lächeln kräuselt für einen Augenblick seine Lippen. Die Blicke des alten Aristokraten und des jungen Mannes treffen sich verständnisvoll — es muß im Blute liegen! In solchen Augenblicken drängt sich alte Ueberlieferung der Nerven in den Vordergrund.

Die beiden Aerzte stehen bei ihren Instrumenten; sie sind in lebhafter Debatte, ob ein Schuß in die Lunge, bei der soundsovielten Rippe, tödlich sein muß oder nicht?

Laut tönen ihre Stimmen.

Jan Wolny zündet sich eine Zigarette nach der anderen an; kaum daß er ein paar Züge getan hat, läßt er sie wieder in die Lohe fallen.

Drüben, auf der anderen Seite, geht sporenklingend der Husar auf und ab, den das Regiment bestimmte, [S. 200] Fred Tiedemann zu sekundieren. Ungern hat er dem Befehl Folge geleistet: das waren die Kehrseiten, wenn man derlei Einjährige hatte. Doch das Regiment hielt dadurch seinen Ruf als erstes der großen Garnison. Die Reserveoffiziere von reichen Eltern fanden manchmal Spaß daran, ritterliche Tugenden zu üben.

Jan Wolnys Blick geht nach dem Pistolenkasten, auf dem hier und da die Herbstsonne spielt, wenn sie durch die dichten Wolken dringt:

Wieder sieht er seine Mutter in des anderen Arm, als er die Tür aufreißt.

»Du hast gehorcht?« fährt sie auf.

»Ja!« stöhnt er und reißt den Riemen von der Wand. »Da hast du, Hund«, er schlägt ihn Fred Tiedemann ins Gesicht.

Dann stehen sie Aug' in Auge.

Alles, was die heutige Ordnung zum Glück verlangt, ist auf des anderen Seite, auf seiner nur tote Ueberlieferung und entwürdigtes Andenken. Warum muß der andere ihm das letzte rauben, die Illusion, daß seine Mutter ehrlich sei?

Ihr Leib hat Unglück über die Wolnys gebracht von dem Tage an, da Wladimir Wolny sie aus der Manege an seine Seite zog.

Sie schlägt die Tür zu und läßt sie allein.

Mit stoßender Hand hält er Fred Tiedemann zurück; er soll es teuer zahlen, das Spiel mit der Ebenbürtigkeit!

Er ist ja Kavalier, nun soll er ihm Rechenschaft geben!

Fürst Solt muß ihm helfen; der alte Edelmann ist noch keinen Strich gewichen von alter Art. Er fragt nicht viel, er hat schon so viel Aehnliches gesehen. Er verneigt sich und nimmt an.

[S. 201] Dunkle Flecken brennen um Jan Wolnys flackernde Augen; die zwei letzten Tage haben ihn alt gemacht.

Er hält die schmale Hand wagerecht vor sich hin, sie ist ruhig und zittert nicht.

Wieder repetiert Fürst Solt seinen Chronometer.

Er schüttelt den Kopf:

Vor fünfundzwanzig Jahren erschoß sich Fürst Grobow, weil die Sekundanten ihn vom Zweikampf ausschlossen, da er um wenige Minuten zu spät kam. Und damals handelte es sich um weniger! Das Weib eines jeden ist vogelfrei, kann es der Mann nicht hüten, aber schweigend muß er sie besitzen und sich dem anderen stellen Aug' in Auge, das ist uraltes Herrenrecht!

Eine Viertelstunde ist vorüber.

Es ist Zeit zum Handeln:

Er tritt zu Jan Wolny, der gibt ihm freie Hand. Seine Augen erlöschen, müde Resignation legt sich über die Lider. Ein dumpfes Leben steht vor ihm, in zerrissenen Fesseln, die desto fester binden.

Blutrot ist der Husar:

»Ich werde sofort meinen Mandanten aufsuchen, es muß ihm etwas zugestoßen sein ...«

Fürst Solt verneigt sich. »Wenn Sie ihn treffen; ich lege Wert darauf, daß er darüber nicht im Zweifel ist: wir sind trotz allem jederzeit zur Austragung bereit.«

Der andere grüßt: »Gewiß,« er macht rasch eine Wendung, doch der Fürst hält ihn zurück, »erst wollen wir ein Protokoll aufnehmen, wenn es angenehm ist, es kann später wertvolle Dienste leisten.«

[S. 202]

Unruhig ging Hilde Tiedemann umher, von einem Zimmer ins andere. Die Angst vor etwas Ungewissem war in ihr.

Bald mußte ihr Vater heimkommen von der Sitzung, in der sie seinen Namen an den Pranger stellten.

Er hatte es sich nicht nehmen lassen, der Parlamentseröffnung beizuwohnen.

Unerkannt wollte er auf der Galerie sitzen und das hören, was sie gegen ihn vorbrachten.

Mittag war vorbei.

Mit gesenktem Kopfe war er die letzten Tage herumgegangen; einsilbig im Gespräch, murmelte er halblaut vor sich hin.

Er glaubte Freds Worten, daß alles nur von der Konkurrenz aufgegriffen worden sei, um ihnen zu schaden, und doch fand er keine Ruhe.

Der belastende Artikel hatte seine Schuldigkeit getan. Die Einleger drängten sich stündlich vor den Schaltern; sie verlangten ihr Geld zurück.

Das war ein schwerer Schaden, und nur mit Seufzern und zögernden Händen folgte Görnemann die Depots aus. Mit feindseligem Blick streifte er die Menschenreihen, die vor ihm standen.

Nach schlafloser Nacht hatte sich Klaus Tiedemann angekleidet und war frühzeitig vom Hause weggegangen. Er mußte allein sein mit seinen Gedanken.

Bis zum Sitzungsbeginn war er in den hallenden Gängen auf und ab geschlichen, scheu an die Mauer [S. 203] gedrückt, als müßte jedermann ihn erkennen, ihn, der sich ein langes Leben vergebens gemüht hat.

Wenn er ihm das getan hätte!

Sie wußten ja alle nicht, was für ihn auf dem Spiele stand; sie kannten nicht seinen Gedankenkreis, der in strenger Ehrlichkeit die schreiende Oeffentlichkeit mied. Und nun war alles dahin.

Er hatte gestern die Bücher einer genauen Revision unterzogen. So gut es in der Eile ging, hatte er das Fehlen großer Beträge konstatiert. Aber Fred war tagsüber nicht zu Hause gewesen — wie oft in letzter Zeit — und bei dem ausgedehnten Geschäft durfte man nicht gleich Schlechtes denken. Noch immer wollte er sein Kind nicht fallen lassen, wenn er auch in schwerer Sorge an die Zukunft dachte.

— — — Hilde Tiedemann geht an die Tür ihrer Schwester und horcht. Als sie Stimmen hört, drückt sie auf die Klinke. Die Tür ist gesperrt.

»Was ist?« ruft Clo.

»Nichts.« Hilde Tiedemann erinnert sich, daß bei ihrer Schwester die Friseurin ist; sie geht wieder zurück in den Salon.

Es läutet.

Sie läuft zur Tür und horcht.

Verständnislos sieht sie auf die Visitenkarte, die ihr das Mädchen reicht. Sie kennt den Namen nicht:

»Ich lasse bitten!«

Ihres Bruders Sekundant steht in der Tür.

Er verneigt sich.

Hilde erkennt die Farbe des Regiments: »Papa ist nicht zu Hause«, sagt sie zitternd.

Der andere bleibt bei der Tür.

Für einen Augenblick fallen in seinem Gesicht die konventionellen Falten, als er Hildes Erscheinung sieht, doch gleich wieder preßt er den Säbelkorb an die Brust: [S. 204] »Könnte ich Herrn Fred Tiedemann sprechen?« Seine Stimme ist aufgeregt.

Hilde zuckt zusammen, dunkle Vorahnung bemächtigt sich ihrer. »Mein Bruder ist auch nicht hier.«

»Nicht zu Hause?« wiederholt der Husar und fängt die Unterlippe mit den Zähnen. »Dürfte ich mir die Frage erlauben, wann Ihr Herr Bruder von hier wegging?«

»Das weiß ich nicht, ich habe ihn seit gestern mittag nicht mehr gesehen, er hat oft auswärts zu tun.« In schweren Schlägen klopft dem Mädchen das Herz. Nervös zuckt die Hand und preßt krampfhaft das Taschentuch zusammen, um Ruhe zu finden.

Unschlüssig steht der Husar: »Gnädiges Fräulein wissen also nicht, wo Ihr Herr Bruder sich befindet?«

»Nein.« Sie legt die zitternde Hand auf die Stirn. »Vielleicht ist er mit Papa im Abgeordnetenhaus.«

Er schüttelt verneinend den Kopf: »Dort ist er nicht!« Er rafft sich zusammen; seine Augen sehen starr und abweisend. »Dann ist meine Mission erfüllt.«

Er schlägt die Füße zusammen, daß die Sporen klingen. »Bitte zu entschuldigen!«

Mit schnellen Schritten kommt Hilde näher, flehend sehen ihre Augen, ihr Mund ist geöffnet. »Was ist mit Fred? Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«

»Nein, gnädiges Fräulein können beruhigt sein.« Eiserne Disziplin ist in seinen Augen. »Es ist ihm nichts geschehen.«

Er neigt den Kopf und zieht die Tür hinter sich zu.

Hilde Tiedemann preßt die Handflächen gegeneinander. Nun weiß sie, daß sich wieder Unheil vorbereitet, vielleicht bereits vollzogen hat.

Sie lehnt die heiße Stirn an die eiskalten Fensterscheiben.

Ein rauher Sturm fegt durch die Straßen.

[S. 205] Nun sieht sie Freds scheues Wesen in den letzten Tagen mit anderen Augen; nun gewinnt sein unruhiges Kommen und Gehen unheilvolle Bedeutung.

Kam das Haus wirklich in Schwierigkeiten? Stand der Bankerott vor der Tür? Sie hatte es vorausgesehen und vergebens gewarnt.

Doch sie will jetzt nicht daran denken, sie will arbeiten und ihrem Vater zur Seite stehen.

Doch das kann es nicht sein, da wäre der Offizier nicht hier gewesen.

Sie läuft in Freds Zimmer, es ist bereits aufgeräumt; sie weiß nicht, daß das Bett die letzte Nacht leer geblieben ist.

Sie fragt das Stubenmädchen; doch Fred Tiedemann ist oft Nächte außer Hause gewesen. Das ist kein Beweis!

Wieder steht sie beim Fenster.

Der Himmel hat sich mit einförmigem Grau überzogen.

Die Fensterscheibe bläht sich im anprallenden Wind. Im Kreise tanzen unten auf dem Platz die dürren Blätter.

Sie ist einsam, und ihre Gedanken flattern ohne Ordnung.

An die Scheiben schlägt es mit leisem Ton; kleine weiße Nadeln bringt der Sturm vom Meer herüber — den ersten Schnee.

Sie schaudert und sieht auf die verlassenen Parkanlagen vor dem Fenster, wo sich zwei Krähen streiten.

Die Leute schlagen die Kragen hoch, der Schnee überzieht sie mit weißen Strichen.

Quer über den Platz kommt T. A. Hansen, schon von weitem zieht er den Hut.

[S. 206] Sie preßt die Rechte ans Herz und atmet schwer.

Nun kommt die Entscheidung.

In banger Stunde muß sie sich ihm geben ...

Schon hört sie seinen Schritt.

Er drückt ihre Hand; in seinem Gesicht ist große, leuchtende Freude.

Scheue liegt über ihr und heißt sie schweigen.

Er spricht von seinem Werte, von froher Hoffnung auf die Zukunft.

Eine blutrote Rose steckt er ihr an die Brust, von seiner Mutter.

Sie bebt im schwarzen Kleide und horcht mit todtraurigen Augen.

Er will arbeiten und schaffen, Gedanken und Pläne wirft er hin mit wenigen Worten für ein ganzes Leben. Er spricht von den letzten Monaten, in denen er sein Werk den Augen der anderen preisgab; fast schien es ihm Entweihung. Sie hätte es als erste sehen sollen! Und dann die Urteile: Erst glaubten sie etwas zum Aussetzen finden zu müssen, war er doch ein Neuer, ein Junger. Dann aber verstummten diese Stimmen immer mehr. Anerkennung wurde ihm zuteil, daß er sich manchmal selbst fragte, ob er sie denn auch wirklich verdiente, ob er die anderen wirklich so viel überragte.

Nur mit halbem Ohr hört Hilde; jedes Geräusch von der Straße läßt sie zusammenfahren.

In seiner frohen Erregung hat es Hansen nicht bemerkt; doch jetzt stutzt er und tritt näher: »Was ist?«

»Nichts.« In dem Mädchen kämpft Willenskraft und Sorge mit der Liebe des sich unterwerfenden Weibes. »Wirklich nichts!« Sie versucht ein Lächeln.

[S. 207] Er legt den Arm um sie; Schauer rieseln über ihren Leib: »Nicht«, wehrt sie mit schwachem Widerstreben.

Er sieht ihr in die Augen: kleine, braune Punkte, die ängstlich auf ihn starren. Sie legt den Kopf zurück und atmet schwer. Seine Lippen berühren ihre Stirn.

»Nicht!« haucht sie noch einmal; dann wirft sie sich ihm an die Brust in zitterndem Schluchzen.

»Ich hab' dich so lieb!«

Er hebt ihren Kopf und küßt sie auf beide Augen.

Sie klammert sich fest; nun verläßt sie die Kraft, da sie sich geborgen weiß. Mit hastigen Worten redet sie von ihrer Angst, nun muß sie nicht mehr schweigen. Sie will kein Geheimnis vor ihm haben.

Mit milden Worten beruhigt er sie; er läßt sie an seiner Brust sich ausweinen, und wilder Haß gegen Fred befällt ihn. Unter Tränen lächelnd sieht sie zu ihm auf: »Nun lassen wir uns nimmer!«

»Nein, mein Lieb!«

»Es ist doch nichts Schlechtes,« fragt sie in rührender Hilflosigkeit, »daß ich es dir jetzt gesagt habe?«

»Aber, Kind!«

»Nun ja!« Sie legte den Kopf an seine Schulter und schmiegt ihre Wange mit glücklichem Lächeln fest an die seine. »Ich hab's auch nicht länger verschweigen können.«

Er preßt seinen Mund auf ihre roten Lippen; ein Zittern geht durch ihre Gestalt.

Dann reißt sie sich aus seinen Armen. Klaus Tiedemann steht in der Tür.

Auch T. A. Hansen ist zurückgewichen.

Der da vor ihm scheint kein Lebender! Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken, schlaff hängen die Arme.

[S. 208] Mit irrem Blick sieht er um sich: »Ist Alfred hier?«

Hilde will antworten, doch wie gelähmt hält sie inne.

Mit hastigem Ruck hat ihr Vater den Kopf gehoben; seine Augen schießen Blitze, er steht vor Hansen:

»Nun malen Sie das Bild: ein Tiedemann als Betrüger. Sie treffen derlei Sachen, Herr!« Er lacht schneidend und wirft sich in einen Fauteuil, den Kopf in den Händen vergraben.

Der beiden Blicke finden sich, über des alten Mannes gebeugter Gestalt halten sie schweigende Zwiesprache.

Dann greift Hansen nach dem Hut, einen stummen Gruß winkt er Hilde zu und geht.

Die sitzt regungslos neben ihrem Vater und horcht auf dessen keuchenden Atem.

Mitten im Glück!

Doch nur Mitleid findet sie als Antwort; sie fährt mit leichter Hand über des alten Mannes Scheitel.

Stöhnend steht er auf: »Was wollte Hansen?« fragt er.

»Ich weiß nicht,« im Sprechen findet sie Mut; »er hat mich gern, Vater!«

Er sieht sie verständnislos an und murmelt: »Betrüger sind alle, die um solches wissen und schweigen.« Dann legt er wieder den Kopf in die zuckenden Finger.

So sitzt er stundenlang, nur hier und da fragt er nach Fred.

Sein Denken macht Sprung auf Sprung.

Er hört den Beifall, welcher den Worten gilt, die ihn und Fred treffen; aus dem Klatschen der Hände springt ihn die Feindschaft der Masse an. Keiner steht [S. 209] für ihn ein, keiner tritt an seine Seite; die einen schweigen, die anderen hassen!

Draußen fällt der Schnee, die Kälte kriecht aus den Ecken hervor und greift nach der beiden einsamen Menschen Herz.

Vergebens spricht Hilde, er gibt keine Antwort.

Als es dunkelt, geht er hinunter; er muß Görnemann fragen, ob er um Freds Ausbleiben weiß.

Er muß ihn haben, muß Aug' in Auge stehen mit ihm ...

Schon ist es Sperrstundenzeit, noch immer stehen Leute vor den Kassen.

Sie wollen ihr Geld zurück.

Morgen ist Sonntag, und wer weiß, was übermorgen ist!

Klaus Tiedemann ist nicht mehr sicher! Die Zeitungen haben's geschrieben, die Konkurrenz hat's gesagt.

Ein irres Lächeln spielt um des alten Mannes Züge:

Des Lebens Wertung!

Er sieht Gerhard bei den Kassen; er hantiert mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen.

Das gibt Klaus Tiedemann wieder Kraft.

Er muß Görnemann haben.

Quer durch die Schreibzimmer eilt er; gedrückte Stimmung liegt auf den Gesichtern der Leute: es geht ums tägliche Brot.

Die Tür des Privatkontors ist offen, er tritt ein.

Görnemann steht vor dem eisernen Tresor; als er ihn sieht, läßt er die Papiere fallen, die er hält.

Er stürzt auf Klaus Tiedemann zu, die Knie versagen ihm den Dienst, er faltet die zitternden Hände und schreit: »Herr, ich kann nichts dafür, ich bin unschuldig!«

[S. 210] Wie eine giftige Schlange zucken die Worte an Tiedemanns Ohr. »Was?«

»Es fehlt Geld!« Görnemann reißt die Bücher auf den Tisch; mit zitternden Händen weist er die langen Kolonnen. Starr steht Klaus Tiedemann; für einen Augenblick schließt er die Augen, um zu vergessen.

»Es hat alles gestimmt auf Heller und Pfennig,« beteuert Görnemann, »noch gestern; jetzt fehlt eine Menge, aber die Kasse ist in Ordnung.« Er fährt mit unruhigen Händen in seinen grauen Haaren herum. »Wir müssen seit zwei Stunden die Reserven angreifen.«

Klaus Tiedemann wirft die Anweisungen und Schecks durcheinander mit bebenden Fingern; er hält inne und tritt zum Tisch, er schlägt eine Seite des Buches auf, dann sagt er: »Rechnen Sie hier noch einmal nach!«

Görnemann gehorcht, trotzdem er es schon ein halbes dutzendmal getan hat und weiß, daß hier kein Fehler sein kann; mit langem Bleistift folgt er den einzelnen Posten. Einen scheuen Blick wirft Klaus Tiedemann auf den Arbeitenden und macht einen lautlosen Schritt zur Kasse.

Er reißt das Kuvert an sich, das er vorhin hat liegen sehen; es trägt Freds Schrift.

Er verbirgt das Schreiben über dem klopfenden Herzen.

Görnemann hat nichts gefunden. —

Noch ein paar Worte wechseln sie; es ist draußen leer geworden. Es ist Feierabend.

Gerhard kommt herein: »Es wird sich alles aufklären,« sagt er in seiner ruhigen Art.

Görnemann läuft verzweifelt von einem Regal [S. 211] zum anderen. Planlos schlägt er Skonti auf und wieder zu.

»Lassen Sie's, Görnemann,« sagt Gerhard, »so kommen Sie nicht darauf. Unsere Aufzeichnungen sind richtig.« Sein Blick geht zu seinem Vater hinüber. »Wo ist Fred?«

»Er muß bald kommen.« Klaus Tiedemann verträgt seines Sohnes Blick nicht.

»Bevor er nicht hier ist, läßt sich überhaupt nichts machen!«

»Es muß heute nacht geschehen sein,« sagt Görnemann mit großen Augen.

Klaus Tiedemann drängt zur Ruhe: »Man muß warten, bis Fred hier ist.« Er stellt sich, als wüßte er um dessen Ausbleiben.

Er wird auf ihn warten.

Die beiden anderen sollen ruhig nach Hause gehen, morgen früh wird sich alles geklärt haben.

Sie folgen mit leisem Widerstreben, weil sie merken, daß er allein sein will.

Mit traurigen Augen mißt ihn Görnemann.

»Soll ich nicht doch bei dir bleiben?« fragt Gerhard.

»Nein!« Er drückte beiden die Hände. »Geht nach Hause, es ist besser so!«

Die Tür fällt zu, die Schritte verhallen: Gerhard geht hinauf zu Hilde. Er wird die Nacht über aufbleiben; wenn sie jemandes benötigt, soll sie nach ihm schicken.

Zum erstenmal sprechen Bruder und Schwester.

Als er geht, kommt Hansen.

[S. 212]

Es ist dunkel um Klaus Tiedemann geworden. Stunden sind vorüber. — Der Lärm der Straße ist verstummt. Straßenbahn und Stellwagen verkehren nicht mehr.

Nur hier und da hallen Schritte; sie klingen gedämpft durch die herabgelassenen Rollbalken.

Er sitzt in den Sessel zurückgelehnt, den Kopf gesenkt.

Der Schnee, der draußen fällt, wirft einen weißen Reflex durch die Oberlichte.

Er hat die Augen geschlossen; ihn fröstelt.

So saß er in vergangenen Nächten, wenn die Frau in Gesellschaft war und oben die Kinder schliefen.

Die anderen lernten solche Stunden fürchten.

Mit müdem Lächeln sah er seine Erfolge.

Er wurde ihrer nicht froh.

Nur die Schultern hingen tiefer und plumper wurde sein Gang. Das war's, was seine Frau von seiner Arbeit merkte.

Er griff hart zu in allzu großer Liebe und seine Lippen waren rauh.

Ein qualvolles Lachen stößt er aus.

Nun hat er ihre Liebe errungen!

Die suchenden Finger zucken; ein Blatt knistert unter ihnen auf; als wäre es Gift, fährt er zurück.

Der Abschiedsbrief seines Sohnes!

Er hat ihn gelesen, Wort für Wort; er will ganz sicher gehen, wenn er sein Kind von sich stößt.

[S. 213] Er sieht Lecarts spöttische Augen; nun ist's ein Tiedemann selbst!

Sein Erbteil hat er sich aus Eigenem genommen und ist in die Fremde geflohen, ohne Wort, ohne Abschied! Ein Tiedemann feig!

Nun hat Klaus Tiedemann die Antwort, warum er in jener Nacht so scheu vor ihm zurückgewichen, warum sein Auge den Boden gesucht.

Er billigt nicht die konstruierten Ehrbegriffe der Gesellschaft, aber er haßt die Feigheit. Nun werden sie mit Fingern auf ihn weisen, den Verkehr abbrechen, um den er Jahre gekämpft hat.

Das Regiment muß Fred Tiedemann ausstoßen als Ehrlosen; in den Zeitungen steht morgen sein Name als der eines kindisch eitlen Bestechers.

Unsummen hat er geopfert, mit denen er Tausende von Tränen hätte stillen können. Klaus Tiedemann zweifelt nicht mehr, daß er es getan hat. Nicht genug war ihm der ehrliche Name seines Vaters.

Er mußte etwas Häßliches bergen, daß alle von ihm abfielen!

Fred hatte keine Lust mehr am Geschäft. Seine Stellung ist nach der Interpellation — so schreibt er — ohnehin im öffentlichen Leben geschädigt; so legt er alles zurück, er will fortan nur seinen Passionen leben — das sei die erste Pflicht des Menschen! In der Hauptstadt des Nachbarreiches gedenke er sich niederzulassen, da sei ein Wiedersehen leicht.

Kein Wort der Reue und keines der Liebe, sonst keine Silbe! Wie ein Fremder ist er von ihm gegangen.

Klaus Tiedemann stöhnt auf, die Wände rücken näher.

Als Leo starb, da war ihm leichter; er gab ein [S. 214] Kind der Erde zurück, das allzu schwach gewesen war, sie länger zu ertragen. Wäre Fred gefallen, wäre er ermordet worden vom beleidigten Sohn, er hätte geweint und die Gesellschaft angeklagt, so aber fällt alles auf seines Kindes eigenes Haupt. Er weiß nicht Bescheid in den Ehrbegriffen Jan Wolnys, aber er kennt trotzdem die Ehre, die er sein Leben lang besessen hat. Er kennt nicht den Mut, den Fred zeigen sollte, aber er kennt den Mut, einstehen zu müssen für seine Handlungen. Immer wieder legt sich Klaus Tiedemann die Lage klar:

Fred hat Geld genommen, große Summen, die jetzt nötig wären. Heimlich hat sein Kind sie entwendet, daß andere nicht um sein Handeln wußten. Das ist nicht besser als ein Dieb! Wohl ist sein Erbteil, das er mal erhalten wird, größer, aber das Geld steht ihm jetzt noch nicht zu, solange sein Vater lebt.

Feig hat er alles im Stiche gelassen und die Firma auf schlechte Wege geführt. Seine Flucht wird bekannt werden, die Gegner werden sie für ihre Zwecke ausnützen.

Schwer ringt Klaus Tiedemann mit seinen Gedanken, die ihn fesseln und umstricken.

Er sieht keinen Ausweg.

Immer wieder kommt er zum selben Punkt zurück.

Streng war er mit sich Zeit seines Lebens gewesen, allzu streng. Er hat seine Gedanken stets gezwungen, darum sah er nicht der anderen Fehler.

Wie Schuppen ist's ihm nun von den Augen gefallen, da er Fred nicht mehr hier weiß. Nun erst ist seine zweite Frau wirklich gestorben. Klaus Tiedemann findet die Gedanken seiner Jugend.

[S. 215] Er steht auf, dumpf klingen seine Schritte durch den schweigenden Raum.

Abgeschieden von den anderen, muß er sich entscheiden: nun gibt es keine andere Lösung mehr.

Er hört den schweren Schritt des Wächters vorüberstampfen, von Stunde zu Stunde leiser; der fallende Schnee dämpft den Hall.

Dann wieder ist's Ruhe.

Fred kommt nicht mehr, die Firma braucht eine starke Hand, besonders jetzt!

Clo und Hilde sehen auf ihn, sie wollen Rat und Hilfe.

Er muß sich entscheiden!

Starrsinn ist in ihm, mit allem zu brechen, was er für richtig gehalten hat.

Er legt den Kopf auf die Tischplatte in bleierner Müdigkeit, doch er darf nicht ruhen.

Er dreht das Licht auf und geht zur Kasse.

Aus einem geheimen Fach nimmt er seine Schatulle; sie ist alt und abgegriffen.

Er hält inne und horcht:

Leichte, schnelle Schritte gehen ganz nahe am Fenster vorbei, sie machen halt und gehen hartklingend wieder zurück.

Ein bitteres Lächeln ist auf seinen Lippen: es mag wohl eine sein, die auch um Liebe geht.

Kalt scheint das Licht der Glühlampe auf sein zermartertes Gesicht, als er nun den Deckel hebt. Briefe fallen ihm entgegen.

Es ist die Schrift von Gerhards Mutter: alte, vergilbte, eckige Federzüge.

Sie floh und brach die Liebe um anderer Liebe willen!

Dürre Blätter liegen, halb zerrieben, zwischen den Papieren; Klaus Tiedemann weiß nicht, woher sie [S. 216] stammen. Er mag sie wohl von einem Spaziergang nach Hause gebracht haben, derweil die Frau an einen anderen dachte.

Zeitungsausschnitte mit rot und blau unterstrichenen Stellen zeigen Klaus Tiedemanns Erfolge; mit gierigem Blick liest er die nebensächlichen Berichte, daß ein Klaus Tiedemann in der Union-Street sein Geschäft vergrößert, daß er die Vertretung der European Company übernommen hat. Es sind Anzeigen, die er einst selbst bezahlte. Heute, in der schweren Stunde, müssen sie ihm Zeuge sein, daß ihn die Welt anerkannt hat. Daran klammert er sich fest ....

Ein schweres Kuvert mit dem Monogramm auf pergamentartigem Papier zeigt die Vermählung des Bankiers Klaus Tiedemann mit Fräulein von Wesenheim, Tochter des Konsuls Ernst von Wesenheim, Kammerrat, Börsenrat usw., in würdevollen Worten an.

Dann kommen mannigfaltige Erinnerungen an die Zeit der Kinder:

Hilde und Clo haben einen Wunsch aufgesagt; in zierlichen Worten ist er hier niedergeschrieben; man merkt nicht die vielen Püffe der Erzieherin, bis endlich die kleinen Köpfe die Worte faßten. Klaus Tiedemann war stets tief gerührt und hatte in seiner bescheidenen, scheuen Art die Leistungen weit überschätzt.

Unbeholfene Zeichnungen aus Fetzen Papieres finden seine tastenden Hände: Indianer zu Pferde und Engel mit schlagenden Flügeln! Der kleine Fred hat sie gezeichnet. Ein weher Laut zittert von seinen Lippen. Klaus Tiedemann legt den Kopf auf die Tischplatte; endlich kommen die erlösenden Tränen:

Warum ist das Leben so hart?

[S. 217] Sie waren alle so liebe, so herzige Kinder, die von den Häßlichkeiten der Welt nichts wußten. Und nun ein Betrüger!

»Er ist es.« Laut ruft Klaus Tiedemann die Worte, daß er selbst scheu zusammenfährt.

Warum wäre er sonst geflohen? Warum hat er Geld unterschlagen? Warum hat er nicht seiner Geschwister gedacht?

Das Kind seiner Zeit!

Rücksichtslos, Altes verachtend, nur dem Genuß lebend, das Leben sich leicht machend, das Geld als Hauptmittel ansehend, um etwas zu erreichen. Schwer stöhnt Klaus Tiedemann auf:

Er selbst hat ihm den Weg gewiesen, hat aus Liebe und Nachgiebigkeit die häßlichen Züge nicht im Keime erstickt. Das Geld hat höhere Werte als die der Bequemlichkeit. Es legt Verpflichtungen auf, die schwer zu erfüllen sind. Nur der Erwerb bringt Freude, nicht der Besitz. Der Mensch muß weiter streben, darf nicht halten und nicht rasten! Ganz soll er leben! Nicht scheu nach anderen fragen; aufrechten Blickes gehen; soll das aussprechen, was er denkt, nicht das, was andere wollen!

So war er als Kaufmann gewesen, nicht so als Mensch! Klaus Tiedemann hat sich nach der Meinung der Leute gerichtet, um deren Liebe zu erwerben.

Das ist der schwere Irrtum seines Lebens.

Er läßt sich auf den Sessel fallen; seine Augen stieren durch das Dunkel. Ihm kommen schwere Gedanken.

Wenn Fred recht hätte? Wenn es die erste Pflicht des Menschen wäre, nur sich zuliebe zu leben? Vielleicht ist seines Sohnes Art die richtige?

[S. 218] Sorgenlos ging dann die Zeit an einem vorbei. Aber das war nur möglich, wenn andere nicht so dachten? Das konnte das Rechte nicht sein. Doch alles ist in der Welt; sie schreitet fort nach oben — in harter Selbstsucht.

Warum sollte das Leben nicht doch darin bestehen?

Er hatte anders gedacht und war unglücklich gewesen. In froher Laune floß das Leben Freds.

Aus tiefer Qual stöhnt er auf. Zu spät kommt ihm die Erkenntnis: er hat seine Zeit verlebt.

Ein Zittern befällt ihn, eine furchtbare Angst vor dem Ungewissen, Ungenützten, vor dem Zuspät!

Totenstille ist um ihn.

Dann hätten die recht, die von selber gingen?

Dann wäre es Pflicht, das Kind zu tilgen, ehe es geboren?

Wofür die langen Qualen, wenn ein Fingerdruck Ruhe gab auf ewig?

Ein paar Schritte, und es ist getan!

Klaus Tiedemann weiß die Waffe im Kasten, die er als junger Mann bei sich getragen hat; er braucht nur einige Schritte zu machen, dann starrt ihn die schwarze Mündung an: ein Druck, und es ist vorbei. Während er stürzt, dreht sich die Kammer weiter, zum nächsten Schuß.

Wie leicht findet der Mensch seine Ruhe!

Schon einmal hat Klaus Tiedemann an den Selbstmord gedacht, als er hungerte; doch nur Schwäche glaubte er damals darin zu sehen.

[S. 219] Nun dünkt er ihm Erlösung.

Fahrige Eile kommt über ihn: wie wohlig muß es sein, ausruhen zu dürfen nach langer Qual!

Wilder Haß ist in ihm; er knirscht mit den Zähnen. Niemand liebt ihn, er war einsam, und einsam will er sterben. Sie sollen machen, was sie wollen, ihm ist alles gleich, er will endlich Ruhe finden. Er tastet sich in die Höhe und geht dem Kasten zu; ein irres Lachen ist auf seinen Lippen. Des Lebens Krone!

Die Faust schlägt an die kalte Mauer; ohnmächtige Anklagen wirft die lallende Zunge durch die ruhende Nacht. Schwarze Hände streifen seine Stirn, ein Fallen ist um ihn, ein Drehen und Winden. Er glaubt Arme zu spüren, die sich nach ihm strecken, ihn festhalten wollen. In rasenden Schlägen teilt er die Luft, er will sterben! Er will Leo folgen, dem einzigen, der ihn geliebt hat.

Sein Kind wird ihn verstehen.

Aus dem Dunkel leuchten ihm gespenstige Augen entgegen: er hört des Toten Stimme:

»Das Leben hat keinen Wert.«

Hansens Bild zerfließt mit dem Gebilde seiner erregten Phantasie zu einem Ganzen.

Er tut einen wilden Schrei. Ein furchtbarer Druck raubt ihm plötzlich den Atem. Er bäumt sich auf; schwarz wie ein Grab umgeben ihn die finsteren Wände.

Ist das der Tod?

Sein Herz macht schwere, unregelmäßige Schläge. [S. 220] Er merkt, wie ihm das Blut durch die Adern schnellt; er sinkt nach rückwärts. Kraftlos fallen die Glieder herab; weit treten die Augen hervor und starren entsetzt in das Dunkel.

Schwerer Druck lastet auf seiner Brust; in seinen Ohren ist ein heulendes Sausen und Brausen. Wie gelähmt liegt die Zunge im Munde. Kein Glied kann er rühren. Kalter Schweiß rinnt über sein Gesicht.

Der Kopf fällt vornüber.

Hart, erbarmungslos starr stehen die Wände.

Regungslos liegt Klaus Tiedemann; nur die Uhr in seiner Tasche tickt weiter. — — —

Fred Tiedemann, auf seiner Flucht, in dem Hotelzimmer, wacht auf und wirft sich von einer Seite auf die andere; doch den Schlaf findet er nimmer.

Nach langen Sekunden tut Klaus Tiedemann einen tiefen Atemzug und zieht die eiskalten Beine an sich.

Er will nicht sterben!

Langsam kriecht das Blut wieder durch die Adern; schwer und ungleichmäßig fängt der Puls zu arbeiten an. Er hebt den Kopf mit fieberheißen Augen.

Nun ist er neben ihm gestanden. Der Segenspender!

Mühsam richtet er sich auf und atmet schwer.

Die erste Mahnung.

Er schauert zusammen.

Sie hätten ihn finden müssen, in wenigen Stunden; schon hebt leise der Verkehr auf den Straßen an.

Er hat sein Haus nicht bestellt.

Zitternd läßt er sich in den Sessel fallen.

[S. 221] Sein Herz hat ihn aufgerüttelt, geschwächt durch die furchtbaren Erregungen der letzten Tage.

Es können noch Jahre sein, die er als alter Mann zu leben hat, es können vielleicht aber auch nur Stunden sein.

Nun weiß er, daß er alt ist, was seine Pflicht ist!

Die Hand auf die Brust gepreßt, geht er hin und wider.

Hier und da bleibt er stehen und horcht den Schritten, die leise vom oberen Stockwerk durch die Decke klingen.

Es mag wohl Hilde sein, die wacht.

Manch Fenster in Tiedemanns Haus war hell erleuchtet geblieben; die Sorge fuhr durch das Dunkel und schlug mit ihren Gewändern.

Klaus Tiedemann streckt mit glücklichem Lächeln die Arme; unendliche Liebe zu den Menschen erfaßt ihn. Noch lebt er!

Er will die Tage nützen, seinen Kindern lang entbehrte Gerechtigkeit geben.

Kein Baum ist so gut, daß er nicht schlechte Zweige hätte.

Von selbst ist Fred gegangen.

Doch andere warten im Vertrauen; bei ihnen muß Glück wohnen.

Er will zur Tür; auf halbem Wege kehrt er wieder um.

Noch ist er mit sich nicht im reinen.

[S. 222] Er hört den Lärm auf der Straße. Fahl fällt das Winterlicht durch die Fenster.

Zu neuem Leben drängt die Welt.

In tiefen Gedanken steht Klaus Tiedemann, die Augen sehen einwärts, mechanisch fahren die Hände den Sessel entlang.

Er hört eine Tür gehen und eilige Schritte, dann drückt eine Hand auf die versperrte Schnalle: »Herr Tiedemann!«

»Ich komme.«

In dem Türrahmen steht Görnemann, hektische Röte auf den Wangen: »Gott sei Dank!«

Die beiden Greise sehen sich lange in die Augen.

»Und nun holen Sie mir meine Kinder!«

»Ja!« Görnemann rafft sich auf, noch immer zucken ihm die Knie: nicht lebend glaubte er seinen Herrn wieder zu finden. »Auch Gerhard?« fragt er unsicher.

Klaus Tiedemann nickt ernst:

»Auch Gerhard; der ist der wichtigsten einer.«

Er bleibt beim Tische stehen, aufrecht und fest.

Hilde stürzt auf ihn zu.

In tränenlosem Schluchzen liegt sie an seiner Brust. Klaus Tiedemann preßt sein Kind an sich; seine Lippen streifen ihre Stirn:

»Und dann laß Hansen holen!«

Durch Tränen lächelnd sieht sie zu ihm auf: »Du Lieber, du Guter!«

Mit schmerzlichem Zucken um den Mund sagt er:

[S. 223] »Er gehört nun auch zu uns, Hilde; er muß mich glauben machen, daß das Leben noch Glück für uns hat.«

Er hebt den Kopf, er hört der anderen Schritte; schon steht Gerhard in der Tür.

Er streckt ihm die Hände entgegen.

»Laß gut sein, Vater,« sagt der, »ich will's den anderen schon auswischen, du sollst nicht umsonst gelebt haben!«

Es ist der Blick des alten Tiedemann, der ihm aus den jungen Augen seines Sohnes entgegenkommt, in Liebe und Kraft.

[S. 224]

Buchdruckerei
Rudolf Mosse
Berlin
SW

Anmerkungen zur Transkription

Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen gebräuchlich waren, wie: Interpunktion wurde ohne Erwähnung korrigiert. Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: