Title : Jockele und seine Frau
Author : Max Geissler
Release date : May 7, 2017 [eBook #54677]
Language : German
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Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet . Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert .
Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches .
Ullstein-Bücher
Eine Sammlung
zeitgenössischer Romane
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Roman von
Max Geißler
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Amerikanisches Copyright 1917 by Ullstein & Co, Berlin
Der Doktor Jakobus Sinsheimer – lieber Gott, wer kennt den Doktor Jakobus Sinsheimer nicht! Hat er nicht als »der Jockele« wegen seines heftigen Betriebes mit den Mädchen die kleine Stadt Weimar in große Aufregung versetzt? Der Jockele, der als Zigeunerbüblein von der guten Tante Veronika auf der Schwelle des Hauses am Walde gefunden wurde! Der Jockele, der sich hernach so kraftvoll hineinliebte ins Leben! Der zuerst ein Maler werden wollte, und zu dem dann sein väterlicher Freund Ernst Haeckel in Jena sagte: »Ein rechter Kerl geht nicht unter – auch ohne Matura; deutsche Hochschulprofessoren sind keine Philister, und aus einem Zigeuner wird durch die kluge Sorge seiner alten Tante ein gelehrter Doktor.«
In Bonn, wo er mit Doris Rinkhaus Hochzeit feierte, sprach er ein Wort von grundlegender Bedeutung. Er sagte: »Mit Männern, in deren Leben die Frauen nicht eine ungeheure Rolle spielen, hat es ein Aber.« Das schmetterte er so über die Hochzeitsgesellschaft hin. Und die Welt hielt davor den Atem an. Eine ältere Dame sagte sogar: »Ooh!«
Papa Rinkhaus, der Fabrikbesitzer, war ein gescheiter, eigenwilliger und reicher Mann. Es kam ihm gar nicht darauf an, den Schwiegersohn gleich an seinem Ehrentag ein bißchen in Reparatur zu nehmen. Seiner väterlichen Würde war sowieso eine harte Probe zugemutet worden, weil seine Tochter Doris ihre Herzensangelegenheit durchaus zu eigener [10] Sache gemacht hatte. Nun konnte er gleich anfangen, das Versäumte nachzuholen; denn – wie gesagt – die Hochzeitsgäste hielten den Atem an. Der Jockele, der aus dem Thüringer Walde gezogen worden wie Moses aus dem Schilfe des Nil, schien ja mit recht netten Grundsätzen in die Ehe zu treten! Oh!
Aber Xaverius Rinkhaus zerplatzte nicht gleich, wie das die ältere Dame erwartet hatte. Nein, nein, er war auch ein vorsichtiger Mann und fragte: »Wie meinen Sie das?« Es klang steil.
»Ganz anders, als Sie erwarten, meine Herrschaften,« sagte Jockele mit Genugtuung. »Was mich betrifft, so werde ich mich in die Sonne meiner Frau stehen, wie sich die Erde stellt in das Licht des Frühlingshimmels.«
»Wie schön!« seufzte die ältere Dame bekehrt. Aber »Na na!« sagte Fräulein Hanna von Fellner, die ein halbes Jahr mit einem Oberleutnant verlobt gewesen war. Im Grunde war es ihr gar nicht unangenehm, daß man es bei diesem deutsamen »Na na« nicht bewenden lassen wollte. Sie hatte gegen die Liebesfähigkeit junger Männer ihre Bedenken – zum mindesten gegen die Ausdauer dieser Liebesfähigkeit. Und weil der Hochzeiter Jockele so vergnügt um sie herschien, getraute sie sich, mit ihm eine Lanze zu brechen. Oho!
»Lieber Doktor, Sie sind ja nur in die Enge getrieben worden. Sie wollen Ihre junge Frau nicht ängstlich machen. Und Sie fürchten sich vor dem gewappneten Heer, das um Sie lagert! Wetten wir, daß Sie vor dem ehelichen Dasein alle Bangigkeit befallen hat, die die Männer nun einmal davor aufbringen?«
Es war ein roter neunzehnjähriger Mädchenmund, der das daherredete, wunderhübsch aufgeblüht und wissend – aber nicht zu sehr. Und gar nicht verkümmert in ungestillten Sehnsüchten.
Deshalb setzten namentlich die jungen Frauen der Tafelrunde gleich alle Lichter heraus. Teufel auch – wenn solche Weisheiten zwischen angewelkten Lippen hervorgesickert wären, so hätte man sich verstohlen mit den Füßen ein Zeichen gegeben und hätte gedacht: »Nun ja, die Konzession hat sie nicht bekommen – deshalb verschenkt sie nun den Wermut der Liebe.« Aber auf Hanna von Fellner traf das nicht zu. Nein, es traf nicht zu – trotz der aufgetrennten Verlobung; denn erstens war sie Dos ausgezeichnete Freundin, und zweitens war sie dieser aufrechten und klaren Do leuchtendes Ebenbild. Wer die beiden nicht kannte, hielt sie für Schwestern.
Der Hochzeiter Jockele hatte, wie man weiß, gerade sein Werk »Der Kunsttrieb der Natur« vollendet. Deshalb hatte er den Kopf noch bis oben voll von Wissenschaft über »die Entwicklung der Organismen aus eigener Kraft durch die physikalische und chemische Energie der lebendigen Substanz«. Er hätte also präziser antworten können, als er es tat. Aber er wollte der lustig aufgewiegelten Hanna nicht gleich Schach bieten, ließ sich in ein Gefecht mit ihr ein und wettete um eine Mark: er hätte nicht halb so viel Angst vor dem ehelichen Dasein, als sie ihm andichte.
Schon wegen der Wette um die Mark bekam er die Lacher auf seine Seite. Für Hanna von Fellner dagegen wurde die Lage unbequem.
»Lassen Sie sich nicht aus dem Sattel werfen, Hannachen!« reizte Herr Xaverius Rinkhaus.
Nun, der Jockele war ja seit drei Stunden verheiratet; und Hanna gehörte zu seiner Frau – sie gehörte also auch zu ihm. Deshalb durfte sie das schon wagen. »Also,« trumpfte sie heraus, »meine Wette hab' ich gewonnen: ein bißchen Angst haben Sie schon zugegeben! Sie sind aber auch ein viel zu junger und interessanter Mann, als daß es Ihnen nicht bange [12] sein müßte vor der Hürde der Ehe. Wie lautet doch die Weisheit junger Leute Ihres Schlages? Sie schupfen verstellungsfroh die Schultern, lieber Doktor! So will ich Ihnen auf die Sprünge helfen. Sie alle fürchten sich vor dem geordneten Leben …«
»Stempeln Sie mit diesem kühnen Satze nicht jeden unverheirateten Mann zu einem Zigeuner?«
Das sorglos gleitende Schiff Hannas war gegen eine Klippe gefahren. »Nun, so will ich sagen: Junge Männer, wenn sie glauben, daß sie richtig gehen, lieben die fröhliche Wildnis, und sie meinen, in der Ehe verkümmern ihnen unentbehrliche Blüten des Lebens.«
Es war keine Erörterung für eine Hochzeitstafel; auch dann nicht, wenn man schon bei den Knackmandeln war. Und doch geriet weder die vortreffliche Stimmung noch einer der Gäste dabei in Gefahr. Nicht einmal Hanna selbst. Aber sie war klug und wollte für diesmal nicht recht behalten. Sie warf dem Jockele also noch rasch einige Perlen aus der Kette ihrer Gedanken zu und rief: »Geben Sie acht, Doktor, daß Ihnen keine davon fortkommt! Auf der Insel der Auferstehung oder im Riesengebirge oder im Gartenhaus am Horn in Weimar wollen wir sie wieder schön auf den Faden reihen.«
Die Insel der Auferstehung ist ein Eiland im Hardanger Fjord. Der Name war von einem Kreise junger Menschen erfunden, die in jener Zeit daselbst hausten. Eine Vereinigung von Künstlern, Träumern und lebensfrohen Kämpfern, die sich »Sturmschwalben« nannten.
Hanna von Fellner hatte nach ihrem rückgängig gewordenen Verlöbnis zwei Wochen auf dieser seligen Insel gelebt. Sie war von einer Freundin dorthin gerufen worden, die die Düsseldorfer Akademie besuchte und einen Sommer lang am Strande Norwegens malte. »Ich gehörte zu den Träumern unter den Sturmschwalben,« sagte Hanna.
»Nun ja, damals!« lachte Jockele.
Und sie berichtete, wie herrlich, groß und einsam die Welt dort wäre. Die Insel der Auferstehung sollte das erste Reiseziel des Doktors und seiner jungen Frau sein. Hannas beredter Mund hatte viel zu reizvoll von dem Fjord und den Sturmschwalben geplaudert. Dort im nordischen Sunde auf dem Sonneneiland flog Jugend aus vielen Ländern zusammen. Es gab keine gedruckten Vereinsgesetze, keinen Vorstand und keinen Kassierer, keinen Monatsbeitrag und keinerlei andere Verpflichtungen. Die Feste, der Ernst und der Frohmut, das Weilen und das Wandern waren dort Eingebungen des Augenblicks.
Im Hochzeitstag am Rheine tauchte das Bild der Insel der Auferstehung empor und ging unter in Tanz und Glück. Vor Mitternacht – aber lange nicht als die letzten – verschwanden auch Jockele und Do. Danach blieben sie einige Zeit verschollen. Das erste Lebenszeichen sandten sie aus dem Blockhaus am Fjordstrand, in dem sie ihre Koffer, ihre Daseinslust und ihre Neugier einstweilen verstaut hatten. Von Hanna wußten sie: ein Gasthaus gab es auf der kleinen Insel nicht. Auch nach ihrem Namen forschten sie bei den Fischern vergeblich. Selbst auf dem Dampfboote, das sie durch den Fjord trug, hatte kein Mensch eine Ahnung von dem Eilande der Auferstehung. Nur das Gehöft Krokengaard kannte man. Das lag drüben am Fjordufer über der Sägemühle. Das hatte ihnen Hanna als Ziel ihrer Fahrt genannt. Es schäumte nahe dabei in jähem Sturz ein Bergfluß über Schründe und Zacken und zerschlug sich zu einem Schleier von Staub.
Am anderen Morgen ergingen sich Do und Jockele am Strande vor dem Plätschern der schimmernden Wasser. Da glitt ein Boot mit einem braunen Segel herüber, und Nane Thord stieg heraus. Sie trug ein schwarzes Wollgewand und eine weiße Haube.
Auf Nane Thord mit den stillen grauen Augen hatten sie gewartet. Das war die Witwe des Fischers Lars Thord. Sie segelte bis tief in den Herbst hinein an jedem Morgen von der Insel herüber. Mit dem geräumigen Korb am Arm zog sie von Haus zu Haus. Auf Krokengaard erstand sie Eier und Butter, beim Krämer geräucherten und rohen Lachs, Anschovis, fetten Hering. Sie kaufte rote Rüben und Zwiebeln, Olivenöl, Essig und Pfeffer; Knäckebröd mit Anis gewürzt; Sillsalat aus mariniertem Hering; sie feilschte um Gammalost, den schärfsten alten Käse, für den der Maler Henrik Tofte seinen letzten Pfennig anlegte, und ließ sich die Flaschen füllen mit Pomerans und Finkelbränvin. Sie verstaute in ihrem Korb Brot aus feinem Mehl und Gänsebrust und Kaviar … Oh, dem »Smörgasbord« von Nane Thord konnte kein Mensch nachsagen, daß dieser kleine Vorspeisentisch nicht zu aller Zeit mit Umsicht und Liebe gerüstet stünde! Was ein Smörgasbord eigentlich wäre, wußten die beiden landfremden Hochzeitsmenschen noch gar nicht. Sie kamen sich bei ihrer Strandwanderung ein wenig entwurzelt und sehnsüchtig vor; denn sie waren an ihrem Reiseziel und waren es doch nicht. Sie hätten hinüberrufen können zu der Insel der Auferstehung, und dennoch lag die in dem dunkeln Wasser wie ein fernes, fernes Land. Es war, als müßten sie erst die Schneegefilde vom Folgefond, die sich vor ihnen in der Flut des Fjords spiegelten, überschreiten in langer, mühsamer Wanderung, um hinzugelangen. Aber als Nane Thords Boot gegen den Strand stieß, sprangen sie herzu wie Kinder, die ihre Mutter erwarten, und als wäre das Schifflein das Spielzeug, das sie ihnen mitgebracht hatte.
Nane Thord aber wunderte sich an der leuchtenden jungen Frau Do über die Maßen. »Es wachsen viele blonde und hohe Mädchen an diesem Strande,« sagte sie, »aber so hell [15] ist keine von uns.« Do sah aus wie ein Maitag, der über die Zinnen der Berge blüht. Dann redeten sie von Hanna und fanden sich darüber gleich gutbekannt zueinander.
Während Nane Thord ihren Einkäufen nachging, blieben die beiden im Boot. Sie machten es los und glitten vor dem sachten Morgenwind uferhin. Es dauerte zwei Stunden. Da lernten sie das Boot wenden und die Leinwand in den Wind stellen. Sie wurden kecker und fuhren ein wenig hinaus.
Es hatte sich nämlich ein Mensch zwischen dem Gesteine der Insel halb aufgerichtet und schaute ihnen unverwandt zu. »Ich glaube, dieser steinerne Gast ist Rolf Krake,« sagte Do.
»Ach so – der Dichter, Träumer, Maler, Lautenschläger und Drechsler?« fragte Jockele. Sie kannten seinen Namen und seine wunderliche Art von Hanna. Die hatte ihnen sein Bild nicht ohne Teilnahme gezeichnet und hatte gesagt, Rolf Krake wäre die einzige der Sturmschwalben, die Nane Thord über den Winter hätte Gesellschaft leisten wollen. Das einsame Eiland gehörte ihr, und außer ihr wohnte niemand dort.
Von Rolf Krake stammte der Name der Insel und der Vereinigung. Von ihm rührte auch der Anbau aus Stämmen her, der dem kleinen Blockhause des Fischers Thord im vorigen Jahr angefügt worden war.
Dieser Anbau hatte, wie das alte Haus, ein Rasendach, tief herabgezogen und auf geschälte Birkenrinde gelegt. Aber während der Rasen auf dem alten ganz von Moos und Flechten übersponnen war und nun in der Morgensonne leuchtete wie dunkles Gold, blühte das neue wie ein Frühlingsanger von Gänseblumen, blauem Gundermann, roten Taubnesseln und Schaumkraut. »Man kann von den Dächern dieser Blockhäuser die ganze norwegische Flora zusammenstellen,« sagte der Naturforscher Jockele.
Da sahen sie Nane Thord von der Sägemühle her wieder [16] über das kurze Gras des Vorlands herabschreiten. Sie arbeitete mit dem freien Arm wie eine Windmühle mit ihren Flügeln; denn sie wollte sich den beiden bemerkbar machen. Also fuhren sie hinüber. Nane Thord ergriff Steuer und Segelleine. Und wie ein Renner, der sich wieder in sicheren Händen weiß, eilte das Fahrzeug nun über den Fjord.
Der Mann zwischen den Steinen kroch hervor und machte das Boot fest. Es war aber nicht Rolf Krake, sondern Henrik Tofte, der Maler, der auf seinen alten Käse gewartet hatte. »Nane Thord hat mir den Tag zerdonnert,« sagte er. »Wissen Sie, auf mich haben alte Käse die Wirkung wie auf Ihren Dichter Schiller die faulen Äpfel. Eigentlich wollte ich heute das Bild für Johnny fertigkriegen – es ist nämlich eine Sonnenstimmung aus dem frühen Tage … Nun bin ich den Vormittag über zu Stein geworden.« Dabei schob er einen halben Laib Brot aus der Hand Nane Thords in die Tasche seines Malkittels, nahm den Steinnapf mit dem Käse in Empfang und stieg wieder seinem vorigen Sitz in den Zacken entgegen.
»Man darf es mit Herrn Tofte nicht verderben,« sagte Nane Thord geheimnisvoll. »Er ist 'n Kerl wie 'n Eichbaum; er kann malen wie der liebe Gott. Aber wenn er wild wird, geht er nieder wie eine Lawine.«
»Ein bißchen viel auf einmal,« lachte Do. »Hat ihn eigentlich Fräulein von Fellner kennen gelernt?«
»Ah nein! Er ist doch erst mit den beiden Engländern James King und John Williams im August gekommen.«
Dann schritten sie vom Landeplatz den schmalen Steig zwischen Felsblöcken empor und traten in den neuen Teil des Blockhauses, den sie den Krakesaal nannten. Es war ein einziger großer Raum mit zwei Reihen niederer Fenster an den Längsseiten, mit weißen Vorhängen und mit Blumen auf den Brettern. An der rückwärtigen Schmalseite lag eine [17] Feuerstelle. Ein Kupferkessel hing an einer Kette über glimmender Torfglut. In der Mitte stand ein bedeutender runder Tisch. Dunkle geräumige Stühle waren im Kreise darum geordnet. Und beim ersten Fenster, vor der Staffelei, stand eine Malerin, die strich in heftiger Versunkenheit die goldene Dämmernis aus ihrem Pinsel. Sie dachte wohl: es ist Henrik Tofte, der mit der Fischerfrau hereinkommt. Deshalb wandte sie sich nicht um. Aber als sie Nane Thords feiertägliche Sprache hörte, wagte sie einen Blick aus ihrer Lichtfreude. Und …
»Jockele! Do, goldene Do!«
»Gwendolin Vogelgesang!«
Es folgte ein ungeheurer Zusammensturz. Zuerst rissen sich Gwendolin und Jockele an die Herzen. Dann warf Do ihre Arme um beide. So jauchzten sie ihre Glückseligkeit von heißen Lippen und aus quellenden Augen übereinander dahin. »Gwendolin, du ewiges Licht, du Zauberin!« Und genau wie damals in der Stube der kleinen Wirtschaft im Webicht bei Weimar, als die lange Gwendolin dem Jockele die Bilder zum »Armen Heinrich« verkauft und ihm sein erstes selbstverdientes Geld in blauen Scheinen gebracht hatte – genau wie damals schossen diese ranken jungen Menschen durcheinander wie Waldbäume und verflochten sich mit Wurzeln und Ästen. Aber nun waren es ihrer drei. Und genau wie damals stand eine Wirtsfrau zwischen Tür und Angel, kriegte die Verklärung und schrieb unter das Bild in Lebensgröße »Ein Wiedersehen nach langen Jahren«. Aber nun hieß die Wirtsfrau Nane Thord.
Großer Gott, wie klein ist deine Erde!
Henrik Tofte bekam durch das offene Fenster hinaus eine Ahnung der Ereignisse. Sollte der Herr, der sich ihm als Doktor Sinsheimer vorgestellt hatte, einer der vielen sein, die [18] Gwendolin Vogelgesang einmal schön gefunden hatten? Und einer von denen, die sie hernach gehen hieß mit hochmütigem Munde – »ich kenne diesen Menschen nicht«?
Henrik Tofte, der ährenblonde Skalde, schritt zweimal ums Haus, um sich zu überzeugen, ob es dadrinnen einen Streit gäbe oder eine ausgelassene Freude. Er entschied sich für die Freude und kam herein. »Tofte, herrlicher Tofte, das ist doch der Jockele und seine Frau Do!« jubelte Gwendolin.
»Ach soo!« brummte der Maler. Dann vollbrachte er eine fast ehrfürchtige Verbeugung vor Do. Aber den Jockele nahm er in seine beiden Hände … »Herr, Herr –«
»So redet er sonst nur den lieben Gott an,« rief Gwendolin dazwischen.
»Herr, Herr, hätten Sie sich nicht mit einem falschen Namen eingeführt drunten am Inselrande, so hätt' ich Sie auf meinen Armen in dies Haus getragen. Ja, wenn Sie der Jockele sind, Sie Seligster unter den Menschen! Sie kennen wir hier besser als uns selber. Na, und nun können Sie ja mit Gwendolin und Ihrer blonden Frau wieder durch die Welt ziehen wie auf dem Umschlagbilde des Buches ›Jockele und die Mädchen‹. Ein gelbes Kleid und einen Wildrosenhut hat die lange Gwendolin nämlich wieder … Und jetzt, Mutter Thord, bringen Sie Sekt, viel Sekt! Hätten Sie heut morgen alten Käse gehabt statt Quark, so wäre mein Bild jetzt fertig, und Mister Johnny hätte mir eine Anzahlung gemacht, bis daß es trocken ist. Nun aber schreiben Sie den Sekt so lange auf.«
»Geld hat er nie,« erklärte Gwendolin. »Und doch verdient er schrecklich viel. Ich sag' euch: er kann malen …«
»Wie ein Gott!« unterbrach sie Do.
»Nein, er kann malen, daß man sich schämt, neben ihm einen Pinsel anzurühren. Geld hat er nie. Aber er ist der [19] Schönste unter den Menschen.« Dabei wandte sich Gwendolin ab, aber nicht, weil sie rot wurde, sondern weil sie ihren Malkittel abstreifte und an den Haken hängte. »Kommen Sie, Tofte,« sagte sie dann und zog ihm den Linnenrock aus, »Sie gehen ja daher, als wären Sie von Stein.« Gwendolin hatte nun wirklich das gelbe Kleid an und sah aus, als liefe sie gerade aus dem Bilde vom Jockelebuch.
Marit, das Hausmädchen, hatte inzwischen das Smörgasbord hergerichtet; und Jockele und Do erfuhren, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Dieser Vorspeisentisch stand an der anderen Schmalseite des Saales, der Feuerstelle gegenüber, und wies, sauber zugeschnitten, alle Herrlichkeiten auf, die Nane Thord an den Vormittagen drüben in der Welt erhandelte. Es standen Teller dabei. Jeder nahm sich so viel und wonach er Lust hatte.
Henrik Tofte hatte draußen gefrühstückt. Er beschied sich bei einem Vortrunk Pomerans und Finkelbränvin. Dann saßen sie um den Tisch her. Tofte konnte tagelang zugeschlossen sein wie die Memnonssäule; aber heute klang er sein Glück in die Welt in ewigem Sonnenaufgang. »Herr, Herr, ich habe Mortsrespekt vor Ihnen,« sagte er zu Jockele, »aber dies erste volle Glas bring ich Ihrer herrlichen Frau! Frau Do, wissen Sie, daß Sie einen finsteren Winter lang der hohe Stern dieses Hauses gewesen sind?«
Da die Hauptmahlzeit erst des Abends um sieben Uhr genommen wurde, hatte man Muße, alles zu erfahren, was man voneinander wissen wollte. Jockele und Do würden auch Gelegenheit haben, alle Sturmschwalben kennenzulernen, die in diesen Tagen im Hardanger Fjord wohnten, sagte Gwendolin. »Sie fliegen nämlich herum, wo sie wollen – auf, in die Fjelds oder gar hin zu den Firnen, weit ins Land, zu den Wasserfällen in die Schluchten, oder sie segeln den Fjord [20] entlang. Nur zu Tisch erscheinen sie des Abends alle mit Pünktlichkeit.«
Hanna von Fellner und Gwendolin kannten sich übrigens nicht. Auch hatte sich seit Hannas kurzem Aufenthalte manches geändert; denn Henrik Tofte und Gwendolin wohnten nun doch auf der Insel bei Nane Thord. Durch den Anbau waren in dem Fischerhause zwei kleine Räume dafür frei geworden.
Neben dem Wiedersehen erstaunte Jockele am stärksten über das Verhältnis Dos zu Gwendolin. Er mußte jenes Tages auf dem Ettersberge bei Weimar gedenken, an dem sie Gwendolin malend im Walde getroffen hatten. »Jakobus Sinsheimer,« hatte Do damals zu ihm gesagt, »diese da ist Gwendolin Vogelgesang, eine Böhmin, und sehr jung. Die Männer finden sie hübsch, und sie kann etwas.« So war das Bild Gwendolins rasch und zutreffend von ihr gezeichnet worden. Aber zu einer herzlichen Zuneigung war es zwischen den Mädchen nie gekommen. Und als der Jockele in seinem jungen Unverstand an das heiße Abenteuer mit Gwendolin geraten war, hatte ihn Do sogar mit eifersüchtigem Spott überschüttet, und sie hatten einander den Frieden auf ein paar Wochen gekündigt.
Nun, Gwendolin war im Hardanger Fjord noch genau so verführerisch wie im Sommerwalde des Ettersberges. Ja sie war vielleicht noch gewalttätiger geworden in ihrer Sieghaftigkeit und Sinnenfreude. Aber Do brauchte sie heute nicht mehr zu fürchten. Und sie war auch inniger und fraulicher – natürlich nur, was ihr Herz anlangte; denn die schlanke Biegsamkeit des Leibes und das ganze betörende Feuer ihrer zwanzig Jahre schienen ihr unveränderliches Eigentum.
Den Samowar, den Gwendolin damals in einer Nebelnacht für Jockeles kleines Heim gestiftet, hatten sie mitgebracht. Von ihm war nun die Rede.
»Ach, der Teekessel!« jauchzte Henrik Tofte. »Das ist ja eine famose Geschichte!«
»Die kennen Sie auch?« wunderte sich Do.
»Kunststück! Alles kennen wir – als hätten wir's miterlebt!« gestand der Maler. »Wir wissen sogar, daß Jungjockele in jener verbiesterten Nacht zweimal den Namen Gwendolin Vogelgesang über die schöngemusterte Teedecke losgelassen und gesagt hat, es kröchen nun zwei Schlangen auf dem Tisch herum.«
Gott, wie lustig sich die Welt von damals jetzt ausnahm aus der gesicherten Entfernung heraus!
So lag das Lebensbuch des Jockele aufgeschlagen zu tiefster Vertraulichkeit für alle, die es sehen wollten. Und weil man auf der Insel einen Winter lang wißbegierig darin gelesen hatte, leistete sich der Jockele auch seinerseits gleich die vertrauliche Frage: »Henrik Tofte, wollen Sie Gwendolin Vogelgesang heiraten?«
»Jawohl, was mich anlangt,« sagte der. »Wir haben davon mehrfach miteinander geredet. Aber mit der Gwendolin ist ja nichts anzufangen, wenn sie nicht will.«
»Und – sie – will – nicht?« forschte Jockele aus drohender Versteinerung heraus.
»Will nicht!« bestätigte Tofte und zog die Schultern.
»Will nicht?« sagte Gwendolin. »So ist das nicht richtig! Nur – ich habe gelernt, mir diese Dinge zu überlegen. Man weiß, ich bin nicht ohne Erlebnisse. Und immer mußte ich es sein, die zur Vernunft kam, wenn es höchste Zeit wurde. Daher ist die Rede unter den Menschen: die Gwendolin Vogelgesang verleugnet nach vier Wochen kaltherzig jede Liebe … Nicht wahr, Jockele?« fragte sie in Erinnerung an den Zwetschengarten von Ettersburg.
»Es war das närrische Jungsein,« sagte Jockele.
»… das ich mein Lebtag nicht loswerden kann,« ergänzte Gwendolin. »Aber ich bin höllisch klug geworden und auf der Hut vor mir selber. Dürfte ich anders den Mut haben, mich – als das einzige junge Mädchen – in den Ring der Männer zu wagen, die des Abends hier zu Tische sitzen?«
Man merkte: dies Gespräch war die ganz persönliche Angelegenheit Gwendolins und Henrik Toftes. Es brach jäh ab, als sich die Tür öffnete.
Rolf Krake kam herein.
Er ging ein wenig vornübergebeugt und sah aus, als wollte er dem Geheimnis Gott auf den Grund kommen; und so, als wüßte er, daß es nur noch eins gebe, das unergründlicher sei: nämlich er selbst. Aber das wußte er nicht. Er hatte ein schmales, bartloses, scharfmodelliertes Gesicht mit einer auffällig hohen Stirn. Darüber dünnes blondes Haar, nach rückwärts gestrichen. Es schien zu wehen, so oft er in innere Erregung geriet. Ein anderes Zeichen dafür gab es an diesem besinnlichen, etwas übermächtigen Kopfe nicht. Denn die Augen lagen ihm unter der kraftvollen Stirn – grau und groß, und wer diese Augen zum erstenmal sah, der dachte, es gebe auf der Welt keine, die ruhevoller wären. Weit offen – und dennoch Rätsel, die kein Mensch je gelöst hat … wenn man nicht sagen will, daß dies dem Schwurgerichte gelungen sei, vor das Rolf Krake hernach gestellt wurde. Augen, wie diese, hatte niemand. Nicht einmal Nane Thord. Denn die von Nane Thord waren zwar auch grau, groß und ruhevoll, aber sie leuchteten jeden Tag über einen Wunderglauben. Deshalb konnte Nane Thord zuzeiten in die Welt schauen wie ein Kind, welches den lieben Gott sucht und meint, er stehe hinter der nächsten Ecke und spiele mit ihm Verstecken. – Seine Lippen waren schmal, aber nicht verkniffen; sondern dieser Mund sah aus, als könnte er sich [23] nur mit Rolf Krake unterhalten. Und doch hatte Rolf Krake keinen Feind auf der Welt als sich selber. Aber er war der Meinung: er selbst wäre sein bester Freund. In diesem Wahne litt er sich an den Rand des Verderbens; denn sein bester und edelster Freund war sein Bruder Woldemar. Der war aber noch niemals im Hardanger Fjord gewesen; denn Rolf Krake hatte ihm, in seiner Einbildung von der Feindschaft des Bruders, seinen Aufenthalt schon seit Jahr und Tag verschwiegen. Nur manchmal, manchmal bekam er eine so heftige Sehnsucht nach ihm, daß er Mister Johnnys Segelboot losmachte – mitten in der Nacht – und den ganzen Fjord lang segelte – mitten in der Nacht – bis hinaus gegen den Bömmelsund, wo das Meer offen wird. Das tat er, weil er auf diese Weise den großen und schnellen Dampfer erreichte, der im Morgengrauen von Norden kommt und nach Kiel fährt. Von dort aus reiste er seiner unheimlichen Sehnsucht nach, in einem fort bis Jena, wo sein Bruder Woldemar studierte. Aber wenn er ihm dann die Hände schüttelte, dachte Rolf Krake: »Es ist doch so – dieser Mensch ist mein schlimmster Feind.« Und in der nächsten oder in der folgenden Nacht reiste er ohne Abschied wieder von ihm weg. – Bei alledem hielt kein Mensch seine Sinne sorglicher zusammen als Rolf Krake.
Was die Leute von ihm wußten, und wie sie sich das Geheimnis Rolf Krake ausdeuteten – das kannten Do und Jockele von Hanna. Es war vielerlei, aber es war nicht viel. Und die Deutung war flach.
Rolf Krake dichtete und malte. Rolf Krake studierte dickleibige theologische Schriften, aber mit gleichem Eifer Darwin, Büchner und Haeckel. Er hatte zwar den Anbau zu Nane Thords Fischerhütte errichten lassen, aber er wohnte in der Sägemühle am Eingange des Seitentales, hinter welcher [24] der Skjoldefoß sechzig Fuß hoch über die Steilwand herabschießt. Es war dort so: der Wassersturz hing vor der Wand in der Luft. Wenn der Wind von Norden dagegenstieß, wehte er wie ein Schleier; denn der Felsen hatte oben eine Nase, die bei zehn Fuß hervorragte. Über diese Nase brauste die Flut hernieder. Deshalb konnte Rolf Krake zwischen der Bergwand und dem Falle stehen mit verschränkten Armen und konnte – hinter sich den Fels und vor sich die brüllende Allmacht des Sturzes – fürchterlich einsam sein.
Er sagte, er wohne in der Sägemühle, weil er dort an seiner Drehbank drechseln könne, ohne daß er mit seiner Liebhaberei jemandem auf die Nerven falle. Aber es geschah auch deshalb, weil die Sägen, Räder und aufgeregten Wasser lauter redeten als die vielen Stimmen, die in ihm waren.
Nach alledem könnte man denken, Rolf Krake wäre feindselig gegen seine Mitmenschen gewesen. Aber auch das traf nicht zu; ja es läßt sich sagen, daß er von allen Sturmschwalben der Wohltemperierteste und in seiner Art Liebenswürdigste war. Und der Rücksichtsvollste. Das ließ sich schon daran erkennen: er hatte an diesem Vormittage den Gesellschaftsrock angelegt. Es hatte sich in den Strandhäusern wohl herumgesprochen, daß die schöne lichte Frau Do nach der Insel gesegelt sei.
Do hatte mancherlei Aufträge von Hanna für ihn. Sie spazierte also im Saale mit ihm hin und her. Henrik Tofte trank indessen sehr viel Sekt. Darüber wurde er aber nicht lauter als sonst, und seine Augen verloren nichts von ihrer stahlblauen Klarheit. Wenn er früh zu trinken begann, trank er in der Regel bis in die Nacht, ohne daß seine Hünenkraft erkennbar erschüttert wurde.
Dieser Vollnatur gab sich Jockele in heller Aufgetanheit hin. Es gab an ihr nichts zu raten. Do aber wurde von Rolf [25] Krakes rätselhaften Dämmerungen aufs tiefste gefesselt. Sie dachte: weder Hanna noch irgendeiner aus diesem Tal ahnt sich heran an seine Seele – und Rolf Krake stand in der Fülle des Lichts, das von ihr ausging, und vergaß darüber die Welt und sich selber.
Nach einer Weile kamen Mister Johnny und Mister James. Beide in großkarierten hellen Anzügen und in gelben Kalblederschuhen mit dicken Sohlen. Beide in Sportmützen, beide gleich hochaufgeschossen und beide gleich blond und tadellos in der Aufmachung. An dem Malzeug, das sie bei der Tür ablegten, war zu sehen, daß sie Künstler waren oder werden wollten. Zu dieser Zeit waren sie englische Staatsstipendiaten, die von Henrik Tofte jedes Bild von der Staffelei weg erstanden, vorausgesetzt, daß er es nicht mit seinem Namen zeichnete. Mit dem reichlichen Gelde, das sie ihm dafür bezahlten, erwarben sie das Recht, die Bilder als ihre eigenen auszugeben und als Belege ihres Fleißes und Könnens nach England zu senden.
Dieser Brauch hatte sich aus ihrer Bequemlichkeit einerseits, aus dem andauernden Geldbedarfe Henrik Toftes andererseits entwickelt. Beide Teile fanden ihn angenehm. Aber es war eines der Wasser, die zwischen Gwendolin und Tofte rannen, und über die Gwendolin nicht zu ihm kommen konnte.
Ihre Shagpfeifen legten sie an diesem Tag auf dem kleinen Tische neben dem Eingang ab.
»Es ist ein lächerlich schöner Morgen gewesen,« sagte James King, »ein Morgen mit einer lächerlichen Fülle von Farben.«
Do und Rolf hatten sich wieder zu dem runden Tische gesetzt; und der Doktor hatte Mühe, sich nicht ausgelassen zu wundern, weil Mister James den Tag und seine Farbenfülle lächerlich fand.
»Sie malen also eine Nebelstimmung?« fragte er.
»Im Gegenteil,« behauptete James, »dieser lächerliche Reichtum von Licht ist mir erwünscht.«
»Lächerlich ist das einzige schmückende Beiwort, dessen sich Mister James bedient,« erklärte Henrik Tofte.
»Ah soo!«
»Treten Sie mit ihm in den Metzgerladen, so fragt er: Was kostet diese lächerliche Wurst? Machen Sie mit ihm eine Hochtour, so redet er von lächerlichen Gletschern und Schründen und von einer lächerlichen Herrlichkeit in dem Augenblick, in dem er überwältigt vor der Welt steht. Er hat die Bedeutung dieses Wortes zu eigenem Gebrauch umgeprägt, und es ist für ihn zu einem Universalausdruck seines uneingeschränkten Wohlgefallens geworden. – Dies ist die einzige nennenswerte Eigentümlichkeit an dem großen Künstler James King.«
Henrik Tofte allein durfte sich eine solche Erklärung erlauben. Er trieb es mit den Menschen, wie er wollte; und man ertrug seine Allmacht. Nur in Gwendolin war eine Kraft über ihn gekommen, vor der diese Allmacht versagte.
Mister Johnny dagegen fürchtete den starken Henrik noch aus einem anderen selbstsüchtigen Grunde: der Liebe zu Gwendolin. Nun ja, die Bilder des Norwegers waren wohl zu allen Zeiten mit Geld zu erkaufen. Und selbst, wenn Tofte der Wandertrieb überkäme, oder wenn er – was noch schlimmer war – sich eines Tages von Gwendolin bereden ließe, seine Lieferungen einzustellen: in einem nahen Augenblick würde er doch an seinen leeren Geldbeutel fassen. Und dann konnte für Tofte und seine beiden »Schüler« die Sache wieder von vorn anfangen. Aber die lächerlich hübsche, die lächerlich gescheite und die lächerlich mächtige Gwendolin hatte das Schicksal von James und Johnny in der Hand, wenn es ihr einfiel, den genialen Henrik eines Tages zu heiraten!
Am einfachsten wäre es gewesen, Gwendolin hätte ihre Bilder mit der gleichen stillschweigenden Abmachung dem James und dem Johnny überlassen. Aber die hatte vortreffliche Beziehungen in Deutschland, sie behielt keine fertige Tafel lange im Hause; und zweitens brauchte sie lächerlich wenig Geld.
Heute morgen hatten James und Johnny droben auf dem Fjeld gelegen, angeblich malenshalber, und hatten sich gesonnt. Dabei hatten sie erwogen, daß sie das mühselige Werken mit Pinsel und Farbe aufgeben und dennoch die berühmtesten Maler Englands werden könnten – nämlich: wenn der starke Henrik ihnen für ein paar Jahre sein Genie verkaufte. Und wenn es nur das war, was er leichtherzig »Kitsch« nannte … Seiner Ansicht nach malte Henrik Tofte – wenigstens in dieser Zeit und für James und Johnny – überhaupt nur Kitsch. Er prahlte nie mit seiner Kunst. Aber Gwendolin versicherte den Sturmschwalben: was Henrik eigentlich könne, das wisse kein Mensch, und auch er selbst nicht … Nun, die Gefahr, daß es die Menschen so bald erführen, war nicht groß; denn was er aus seinem genialen Pinsel strich, das trug einstweilen die Namen John Williams oder James King. Haha! Die beiden hatten in London eine Ausstellung gehabt von »ihren« Bildern, waren daran zu großem Ruhme gelangt und waren mit einem Schlage die gesuchtesten Maler ihres Landes geworden. Davon erzählten sie natürlich im Fjord kein Sterbenswörtchen; und es schien, als ob der geniale Henrik nicht einmal die richtige Verachtung für sie aufbrächte.
Es war ein fabelhafter Bluff. Aber er war lächerlich ungefährlich, solange James und Johnny das Meer zwischen sich und die gläubige Heimat legten und – solange diese Gwendolin Vogelgesang den schönen Pott nicht in Scherben schlug. – Da mußte etwas geschehen.
Jockele und Do, Henrik Tofte und Gwendolin verließen die erlebnisreiche Tafelrunde schon gegen Mittag; denn Sinsheimers wollten ein Boot kaufen. Die Lockungen des Fjords waren mit unwiderstehlicher Macht über sie gekommen. Aber sie wollten auch nicht immer abhängig bleiben von Nane Thords Fahrzeug, so oft ihnen der Sinn nach der Insel stehen würde.
Gwendolin mußte mit. Das entsprach dem Wunsche Henriks. Wenn er sie nicht in seiner Nähe wußte, geriet er aus seiner »lächerlichen Wurstigkeit« – wie James King den Normalzustand Henriks in tiefer Bewunderung nannte. Aber wenn er gar einmal nicht wußte, wo sie war, wurde er unfähig zum Schaffen. Dann war ihm sein guter Stern vom Himmel gefallen … Die Leute wußten das von einem Ende des Fjords bis zum anderen. Sie wußten: dieser Mann, auf den sich die Augen aller richteten, weil er daherschritt wie ein Sieger, konnte Felsen zerdrücken in seinen Händen, und er konnte vor Gwendolin beten. Aber sie hörte ihn nicht. Es war das lauterste Verhältnis, das je zwischen zwei Menschen bestand, und doch wurde zu Land und zu Wasser kaum eines ohne das andere gesehen. Keines betrat die Stube des anderen, die ihnen Nane Thord von ihrem einsamen Fischerhäuschen vermietet hatte. James und Johnny konnten dieses Platzmangel wegen nicht auf dem Eilande wohnen. Die beiden hausten drüben am Festland unter dem Dache der alten Bolette Steensgard, die auch eine Fischerswitwe war. Sinsheimers behalfen sich einstweilen im Gehöft Krokengaard mit zwei kleinen Stuben, die nach dem Fjord hinauslagen. Und Rolf Krake sinnierte in der Sägemühle. –
Der Wind, der am Morgen die Flut gekräuselt hatte, lag irgendwo schlafen an sonnigem Hange. Deshalb mußten die Männer die Ruder gebrauchen. Es war eine feine Fahrt; [29] denn der Schiffbauer wohnte zwei Stunden fjordabwärts. Darüber ließ sich Jockele von Henrik Tofte vollends in der Behandlung solch eines Fahrzeugs einweihen. Do und Gwendolin aber saßen in der Mitte gegen die rotgepolsterte Rückenlehne – Do ganz in Weiß, Gwendolin in Gelb – und brachten den Menschen, die sie vom Ufer aus sahen, den jauchzenden Glauben bei, daß nun der Frühling in vollem Gange wäre.
»Jockele,« sagte Gwendolin, »es ist furchtbar nett und delikat von euch, daß ihr vor der Mitwelt nicht ewig das Schauspiel der jungen Hochzeiter aufführt.«
»Der Mensch kann schließlich nicht alles auf einmal tun,« sagte Jockele. »Jetzt bin ich dabei, mir Quasen an die Hände zu rudern – siehste nich?«
Und: »Was meinst du, Jo – ist es nicht so herrlich und tatenreich hier, daß wir bis in den Herbst bleiben müssen?« fragte Frau Doris.
»Ich habe allbereits den gleichen Wunsch,« sagte Jo. »Es ist gut, daß ich meine Mikroskope eingepackt habe. Ich werde also versuchen, mein Werk über ›die Flechten‹ dem Abschluß nahezubringen. Später – etwa im Riesengebirge – will ich es vollenden. Und zweitens werde ich eine ›spezielle Naturgeschichte der europäischen Froschlurche‹ in Angriff nehmen. Es ist da eine Lücke in der Literatur.«
»Die Sache mit den Fröschen ist etwas Neues,« warf Do überrascht ein.
»Ja. Der Gedanke dazu ist mir in diesem Boote gewachsen.«
»Indes werde ich mich mit der speziellen Naturgeschichte der ›Sturmschwalben‹ beschäftigen,« sagte Do mit bedeutendem Lächeln.
»Hm,« scherzte Jockele, »hm – ich werde also darüber nachdenken, ob sich eine so junge Frau dem praktischen Studium dieses Objektes ohne Gefahr aussetzen darf.«
»Nun,« rief Gwendolin in fröhlichem Verstehen, »man könnte ja im Notfalle dies gefährliche Studium durch eine jähe Abreise unterbrechen.«
Henrik Tofte wurde ganz still vor dem Glück, das mit ihm im Boote saß. Er dachte, es ahnte niemand, welch ungeheure Erlebnisse diese liebliche Fahrt in ihn warf.
Aber Gwendolin wußte es doch; denn Henrik Tofte war für sie nie beredter als in seinem Schweigen. Sie sah heimlich zu ihm hinüber und erkannte: das Glück dieser klaren und aufrechten Menschen nahm sein liebes und unstetes Herz in beide Hände und hielt es tief hinein in die Sonne. Und Henrik träumte das Märchen: es würde nie mehr ein Sturm durch dies Herz laufen. Ach, es war ein wunderschöner Traum!
»Weißt du, Jo,« begann Do nach einer Weile, »es wäre wohl gut, wir ließen uns zu unserem Vorhaben ein gemeinsames Laboratorium von drei kleinen Zimmern auf der Insel errichten.« Darüber zog der Doktor die Ruder ein, und Henrik Tofte trieb das Boot mit leisen Schlägen voran. »Nun, einesteils zum Arbeiten, andernteils zu unserer Bequemlichkeit; drittens als ein heimeliges Nest für ›Sturmschwalben‹, die nach uns auf der Osterinsel hausen möchten und unser dabei freundlich gedenken können; und viertens: wir verbessern damit der eifrigen Nane Thord ihre wirtschaftliche Lage. Was meinen Sie zu diesem Plane, lieber Doktor Jockele?« fragte Do.
Dem langen Henrik schauerte das Glück immer tiefer in sein grundgütiges Herz. Er ließ die Ruder aus den Händen gleiten und vergaß zu atmen – wie Lottchen, als es den ersten Christbaum sah.
Er dachte nicht daran, daß man ihn auf solchen weichen Regungen des Gemüts ertappen könnte. Es focht ihn überhaupt [31] nicht an, was man ihm bei seinem eichbaummäßigen Wuchs als Schwäche aufrechnete. Pah – in diesem Hünenkörper flossen so viel Sanftmut und Gewaltart, so viel Allmacht und Unmacht, so viel Genie und Hilflosigkeit ineinander – der Teufel mochte dies Wirrsal ausfitzen! Haha, der Teufel! Als ob der ein Interesse daran gehabt hätte, dies wunderliche Stück Dasein, das man Henrik Tofte nannte, anders zu machen! Just so, wie er war, war er ihm herrlich verfallen. »Auf meinen Feingehalt kannst nur du mich läutern, Gwendolin Vogelgesang!« hatte er an einem Winterabend zu ihr gesagt, als sie miteinander bei der Feuerstelle gesessen und dem Schneesturme gelauscht hatten.
Nun, die Gwendolin hatte schon vor vier Jahren felsensicher auf sich selber gestanden – damals, als Jung-Jockele an ihr in den purpurroten Untergang geriet und am anderen Tage der Do gelobte: »Diese Gwendolin werde ich heiraten; sie ist ein süßes und heißes Mädel …«
Aber im Falle Henrik Tofte fehlte ihr das Vertrauen zu ihrer Kraft.
Jockele, der sich die Quasen unter der ungewohnten Tätigkeit nun errungen hatte, stieg nach vorn und setzte sich den Damen gegenüber. Sie besprachen den Plan. Do hatte die Sache ausgezeichnet bedacht. Der kleine Neubau sollte an die Westseite der Fischerhütte kommen, dem Krakesaal entgegengesetzt. Auf ein paar Stiegen sollte man von außen hineingehen, aber man sollte durch Nane Thords Flur auch zum Saale gelangen können. Und es sollte alles stilecht aus Blockholz errichtet werden, und mit einem Rasendache.
Henrik Tofte ruderte sich darüber im Grunde genommen in tiefe Zwiespältigkeit. Aber er dachte, dieser Tag wäre die Glückseligkeit selber und wäre für ihn die Schwelle zu einem neuen Leben. Ja, solch ein Mensch war er nun.
Es fehlte auf der Leiter der Affekte, die die guten und schlimmen Mächte in ihn hineingestellt hatten, das Satansgeschenk des Neides. Dafür war bei den Übermaßen seiner sonstigen Gaben offenbar kein Platz mehr gewesen. Und nicht vergeblich hatte für ihn das Doppelgestirn Do und Jo lange Winternächte hindurch im Haus auf der Insel geschienen – das hatte die berechnende Sorge Gwendolins getan. Nun fand er in diesen beiden alles, was ihm zu wünschen blieb.
Er fing das Wünschen auf dieser Bootfahrt überhaupt zum erstenmal an. Denn was er bis zur Stunde an anderen Menschen wahrgenommen, das besaß er selber in Hülle und Fülle. Sogar Geld, so viel er wollte. Früher hatte er sich auch darum den Teufel gekümmert. Aber seit ihm das Schicksal James und Johnny gesandt – eine Berliner Sturmschwalbe hatte sie in scharfem Spotte »die beiden Jötter« genannt – seitdem hatte er auch davon mehr, als nötig war. Er brauchte nur den Pinsel in sein Genie zu tunken und – er vermöchte in einem Jahre die gesamte Kulturwelt mit Begeisterung für ihn zu übermalen, behauptete Gwendolin. Und die mußte das wissen. Sie war ihm eine strenge Richterin. Aber er fühlte dazu – als ein richtiges Genie – nicht das Bedürfnis. Na, und wenn schon! Was hätte denn das alles zu sagen gehabt gegen die Taten des einzigen Menschen Jockele? Was denn? Dieser Jockele hatte sich geboren werden lassen in eine Sommernacht mitten im thüringischen Bergwald. Dann hatte er sich von der Zigeunerin, die seine Mutter war, auf die Schwelle der gütigsten, sehnsüchtigsten und weisesten Tante Veronika legen lassen. Diese Tante setzte sich von Stund' an mit all ihrer Weisheit und ihrem Gelde für ihn ein. Und so früh es nur anging, nahm ihn das Schicksal auf wie einen goldenen Ball und warf ihn schönen oder [33] klugen Mädchen zu, die ihn mit geschickten Händen fingen. Als die letzte hatte sich dies Schicksal Doris Rinkhaus aufgehoben. Die war ausgemachtermaßen so etwas wie die Krone unter den Frauen. Ja. War es denn anders möglich, als daß bei solch einem Lebenswandel der Zigeunerbub in ein paar Jahren sogar ein Doktor hieß? Und daß er nun – acht Tage nach seiner Hochzeit mit der gescheitesten Frau der Welt – im Boote den Hardanger Fjord entlangglitt und mit Do die Wohltaten erwog, die sie ihm und den Sturmschwalben angedeihen lassen wollte? Wenn diese beiden morgen nach Ägypten und in ein paar Tagen nach Hinterindien fahren wollten, so fuhren sie – das Schicksal würde nicht das mindeste dagegen einwenden.
Jawohl, Rührung und Freude weinte das lange Genie über diesen Erwägungen an die Ränder seiner Augen. So sah es nun in Henrik Tofte aus! In jeden Gedanken drängte sich der Begriff des Schicksals. Schicksal war das einzige Ding, vor dem der Riese auf der Osterinsel Respekt hatte – das heißt: wenn man Gwendolin Vogelgesang abrechnete. Schicksal – damit ließ sich doch noch etwas anfangen! Aber bloß mit Genie? Pah! – Henrik Tofte war ein Fatalist.
Das Leben der Sturmschwalben, die in jenem Frühling auf der Insel im Hardanger Fjord zusammengeflogen waren, war äußerlich wohl sehr arm an Ereignissen. Es war von der Art, welche Menschen aus dem Durchschnitt »gräßlich langweilig« finden. Wie es denn die einzige Eigentümlichkeit solcher Durchschnittsleute ist, jede Stunde fad und abgegriffen zu machen, in die sie treten. Von dieser Gattung kamen auch etliche. Sie flogen herzu, weil sie sich draußen in den Ländern hatten davon erzählen lassen. Genau so, wie Do und Jo durch Hanna von Fellner von der gastlichen [34] Stätte erfahren hatten und neugierig geworden waren. Und da diese Wandervögel nicht fanden, was sie erwarteten, zogen sie rasch wieder fort. Für die anderen aber war jeder Tag eine schöne schimmernde Schale, voll bis zum Rande.
Der Anbau, in dem Sinsheimers nisten wollten, wurde gleich in Angriff genommen. Er bekam, wegen der gefälligen Silhouette, auch noch ein Zimmer als Oberstock, das sich turmartig über denen zu ebener Erde erhob. Der Mai stand in goldener Fülle über der Welt. Die Stämme, die schon behauen bereitlagen, mußten nur auf die gegebenen Maße zugeschnitten werden. So war der Bau ein Werk von Tagen.
Do und Jockele, Henrik Tofte und Gwendolin und Krake waren um diese Zeit zu einer Mal- und Studienfahrt auf die Berge gezogen. Sie hatten sich für zwei Wochen ausgerüstet und wollten nordwärts bis zu dem großartig düsteren Songefjord. Nur James und Johnny waren daheimgeblieben, saßen im Krakesaal, blätterten in Zeitschriften und rauchten aus ihren Shagpfeifen. Draußen lag eine sehr finstere Neumondnacht.
»Meinst du, daß Gwendolin und Tofte heute zurückkommen?« fragte James.
Johnny zog die Uhr. »Es ist noch eine Stunde bis Mitternacht,« sagte er. »Ich glaube, wir fahren hinüber. Warum wartest du?«
»Weil Nane Thord noch nicht schlafengegangen ist und wohl auch wartet. Ich habe sie vor zwei Minuten hinausgehen hören.«
Da schritten sie durch die neue Tür in den Anbau, der schon überdacht war. Aber die Fenster waren noch nicht eingehängt. Sie sahen da und dort noch einen goldenen Stab Licht in dem schwarzen Wasser stehen wie Laternenträger. Die Flut flüsterte im Gestein.
»Nein, es ist ein Mensch,« sagte Johnny und lehnte sich auf den Fensterstock und hielt den Atem an.
Der Laden vor Nane Thords Stübchen war geschlossen. Es war aber ein Herz in jeden Flügel gesägt, so daß zwei Bündel Licht von Nanes Lampe in die Finsternis fielen. Die lagen nun draußen auf der Klippe wie zwei Augen. Und dazwischen stand eine Stranddistel oder eine kleine Birke oder sonst ein Gewächs, das von dem Schein ein wenig abbekam, ebenso wie der Zackenrand des Ufergesteins. Man konnte sich zwischen Traum und Wachen wohl ein wunderliches Bild von dieser Erscheinung machen.
James und Johnny rührten sich nicht. Aber so sehr sich ihre Augen nun an die Dunkelheit gewöhnt hatten, so konnten sie doch nichts weiter entdecken als das reglose Scheinen, das gespenstisch gewesen wäre, wenn sie nicht beide gewußt hätten, woher es kam.
Nane Thord sahen sie nicht. Weil sie aber gehört hatten, daß sie hinausgegangen war, erkannten sie ihre Stimme. Sie sagte: »Du kannst sehr ruhig schlafen, Lars Thord. Warum willst du nun in der Nacht hier sitzen und angeln? Mir scheint, du nimmst dir diese Arbeit nur zu einem Vorwande; denn das wissen wir wohl auch, daß sie dort keine Fische essen, wo du nun bist. Es war schon bei deiner Erdenzeit so: immer, wenn du Blockholz schichten oder eine Axt schlagen hörtest, mußtest du hin und sehen, was sie da treiben. Du darfst aber ruhig schlafen, Lars Thord. Es geschieht deinem kleinen Hause nichts. Oder willst du mir sagen, daß wir seltsamen Besuch erhalten? Du bist nun schon zum drittenmale da – zuletzt war es, ehe Rolf Krake kam. Das ist, weil du dir einbildest, man könnte nicht ohne dich fertig werden, Lars Thord. Du mußt das aber nicht meinen. Es ist nun schon die vierte Nacht, daß ich den [36] Schlaf nicht finden kann, weil ich dich um das Haus streichen höre …«
James und Johnny vernahmen schlürfende Schritte; und als sie wieder in den Saal traten, stand Nane Thord am Tisch und schaute sie aus ihren großen grauen Augen an. »Ich wunderte mich, daß Sie weggegangen sein sollten – und hätten doch das Licht brennen lassen?« sagte sie.
»Kommen Sie eben von draußen?« fragte Mister Johnny mit erzwungener Ruhe.
Da strich sich Nane Thord mit der Hand über die Stirn. »Ja – ich bin wohl einmal hinaus gewesen,« sagte sie in ihrer trockenen nordischen Art.
So hatte Gwendolin nun doch richtig gesehen: Nane Thord hatte ihren Wunderschlaf und ihre nächtlichen Erlebnisse! Und als James und Johnny wieder allein waren, wußten sie: sie würde sich jetzt zu Bett legen zu einem tiefen, traumlosen Schlafe.
Johnny war über all dem stark aus dem Gleichgange gekommen. Aber Mister James rieb sich die Hände und rief: »Welch eine lächerliche Komödie!« Er meinte damit: die Komödie wäre großartig und gefiele ihm ausgezeichnet; denn sie hatte ihn auf einen leuchtenden Einfall gebracht. Er trug nämlich seit einer Woche den Brief eines Londoner Kunsthändlers Watson in seiner Tasche, der an ihn und John Williams gerichtet war und ihnen den Besuch des Herrn Watson ankündigte. Aber diesen Brief hatte er seinem Freund Johnny verschwiegen; denn er hatte geglaubt, Johnny würde an der Malfahrt der anderen teilnehmen – der Besuch des Händlers wäre ihm also nicht von Nutzen gewesen. Nun aber lag nur noch eine halbe Nacht zwischen ihm und der Gefahr, und in höchster Not sprang er mit Hilfe von Nane Thords Schlafwandel gleich mitten hinein in die Verwicklung.
»Sie hat recht mit dem seltsamen Besuche,« begann er, »da, lies!«
»Warum hast du die Sache hinhängen lassen?« fragte Johnny mißvergnügt.
»Ich wollte dir einen Ärger ersparen,« sagte James. »Henrik Tofte hat ein halb Dutzend Skizzen in seiner Kammer – das ist alles. Was sollen wir damit beginnen? Ich habe auf Rettung gesonnen, aber es ist mir nichts eingefallen.«
Es war eine verzweifelte Sache. Und wenn Henrik und Gwendolin gar als Verlobte von der Bergfahrt zurückkehrten, dann konnte es nicht mehr lange dauern mit den Staatsstipendien und dem leicht erworbenen Künstlerruhme! Eine Art Rettung gab es freilich noch. Aber die war bescheiden genug. Henrik hatte nämlich drüben in Krokengaard ein Bild hängen – dort hatte er im vorigen Sommer gewohnt und damit einen Teil seiner Rechnung beglichen. Aus dem gleichen Grunde hing eine Fjordlandschaft Toftes in dem Gasthause, in dem er seine Mahlzeiten genommen. Nun, beide ließen sich wohl ohne ein großes Aufgebot von Silberkronen erstehen; und beide waren zum Glück nicht mit dem Namen ihres Schöpfers gezeichnet: man brauchte nach langen Jahren nicht zu wissen, wer einst sein Schlafgeld auf diese Weise bezahlt hatte. Aber der Händler wollte einen Abschluß auf die Gesamtproduktion der beiden Jötter für eine bestimmte Frist machen und hatte eine reichliche Anzahlung in Aussicht gestellt. Er dachte wohl daran, die Ateliers der beiden neuen Sterne am britischen Kunsthimmel einfach auszukaufen. Sie aber hatten nichts als hartgekrustete Farben auf ihren Paletten …
Je nun, die Nacht war lang genug, einen listigen Plan zu schmieden. Um Sonnenaufgang fuhr Johnny im Boot, die beiden Bilder zu erstehen. James ließ indessen von dem [38] Mädchen Marit die Kammer Toftes in Ordnung bringen, suchte darin zusammen, was als Bild oder Skizze gelten konnte, und als Johnny triumphierend zurückkehrte, stellte er die Fjordlandschaft auf die Staffelei und überzog sie mit Firnis. So wollten sie die Kammer Toftes als ihr Atelier vorstellen – lieber Gott, zu einem besseren langte es einstweilen eben nicht. Und übrigens malten sie stets in freiem Lichte. Ja. Johnny aber getraute sich nicht, den verbrecherischen Gleichmut des Mister James aufzubringen. Er wollte sagen: ein dänischer Kunstfreund habe ihn just einen Tag vor Empfang des Briefes ausverkauft.
So erwarteten sie den Mann aus London. Und Mister Watson kam. Kein anderer als Henrik Tofte ruderte ihn zur Insel der Auferstehung. Er und Gwendolin, die mit im Boote war, verstanden zwar kein Wort Englisch und Watson kein Wort Norwegisch oder Deutsch. Aber an der Haltestelle des Dampfers hatte man sie zueinandergeführt. Und Gwendolin, die Ahnungsreiche, hatte dem kindlichen Gemüte Toftes auseinandergesetzt, um was es sich dabei handelte; denn Herr Watson hatte ihnen die Namen James King und John Williams als den jüngsten Stolz Britanniens genannt.
Und in der Tat: man fand die beiden in heißem Bemühen in Toftes Kämmerlein. James war angetan mit Henriks Malkittel und gerade dabei, den letzten Strich Firnis auf das »neue« Bild zu setzen, dem er bereits seinen Namen verliehen hatte. Johnny aber rieb Farben für künftige Wunder.
Das ging dem guten Tofte nun doch über die Hutschnur! Er verfiel also in ein so männliches Schimpfen, daß Mister Watson wie angedonnert dastand; denn das merkte er wohl: Liebenswürdigkeiten klingen anders, selbst in einer der unmöglichen Sprachen außerhalb Englands.
Der erfinderische James aber besann sich augenblicklich auf eine kühne Geschichte: dieser lange Mensch, der sich Henrik Tofte nenne, wäre ein Neiding. Er ärgere sich, wenn James und Johnny ihre Bilder verkauften. Und zu alledem hätte das Mädchen Marit in seiner Abwesenheit eine fürchterliche Dummheit gemacht …
Das leuchtete Herrn Watson auch vollkommen ein; denn draußen im Flur lehnte die zerbrochene Marit und bangte vor dem Zorne Toftes, weil sie den Einbruch in sein Gemach nicht verhindert hatte.
Zuletzt waren es doch nur diese Tränen, die den starken Henrik ins Poltern gebracht hatten. Das Weinen anderer wendete ihm nun einmal das Herz um. Und zu einem Lawinensturz kam es diesmal nicht; denn dieser Gewaltmensch hätte nicht Henrik Tofte zu heißen brauchen, um die lustige Seite der lächerlich frechen Komödie dennoch genialisch zu finden, die die »Jötter« in seiner Stube aufführten. Er begann also, auf sanfteren Saiten zu spielen, und sagte: »Wenn es nicht ein Kunsthändler wäre, den ihr da foppt, so ließe ich jetzt den Vorhang erbarmungslos über eurer Gaunerposse heruntergehen.«
»Was sagt er?« fragte Mister Watson.
»Oh, er sagt: unseren Ruhm verdienten wir ja, aber zu beneiden blieben wir trotzalledem. Er selbst hätte doch auch eine Ahnung vom Malen – nur eine Ahnung vom Geschäft hätte er nicht.«
Da schupfte Mister Watson hochmütig die Schultern: » He's no Englishman. «
Danach kamen für Henrik Tofte Tage voll Finsternis: Gwendolin verachtete ihn. Sie tat nicht nur so; sie setzte sich nicht in den Schmollwinkel wie eine gekränkte [40] Liebste; sie wich ihm nicht einmal aus, sondern redete sogar mit ihm, aber alle Herzlichkeit und Teilnahme für ihn war verweht. Das dauerte bis zur Einweihung des Neubaus. Da waren alle im Saale versammelt, und es gab ein Fest, wie es nur Künstlerjugend feiern kann, die zuletzt doch ein Reich regiert, in dem die Sonne nicht untergeht. Für diesen Abend hatte Henrik Tofte eine Überraschung vorbereitet …
Jockele, Do und Gwendolin waren nämlich wieder einmal vier Tage auswärts gewesen. Mit Rucksack, Pickel und Nagelschuhen waren sie den Flechten nachgeklettert bis an die Ränder des Folgefondgletschers; denn den Doktor drängte es zu Forschungsreisen dorthin, wo das Geschlecht der Flechten noch den einzigen Pflanzenschmuck liefert an verschmähten und gefrorenen Hochlandzinnen; oder dorthin, wo im glühenden Sonnenbrande jedes andere Pflänzchen verdorrend stirbt. Hundert Arten von Strauch- und Laubflechten hatte er vorher eingetragen. Nun kämpfte er an den letzten Steilhängen der Erde um Krustenflechten, die oft so innig mit ihrer Unterlage verschmolzen waren, daß er sie nur durch Auflösung des Gesteins mit Säuren befreien konnte. So führte er Do und Gwendolin vor ungeahnte Geheimnisse.
Als sie heimkehrten, war Henrik Tofte verschwunden. Mit ihm Nane Thord. Aber in einem Winkel des Krakesaales war ein Webstuhl aufgeschlagen, und ringsherum sah es aus wie in einer Armeleutstube. Die blonde Marit lief umher mit wissenden Augen; an der Bedeutung des Winkels mit dem Webstuhle schwieg sie sich vorbei.
Abends jedoch, als alle schon um den runden Tisch saßen, tat sich die Tür auf, und Henrik Tofte kam herein als ein Mann von fünfzig Jahren. Nane Thord aber war sein Weib geworden. Und die beiden hatten sieben Kinder, fünf Buben und zwei Mädel. Der älteste mit seinen sechzehn Jahren [41] stellte den Henrik Tofte dar … Das Spiel begann. Es hieß »Der verlorene Sohn«.
Zuerst sprach der wirkliche Henrik einen Vorspruch in machtvoll gestaltenden harten Versen: er wäre der Weber Skule Tofte, der mit seiner Familie aus dem Aardal käme, wo ihnen alles verbrannt wäre – deshalb wollten sie hier in dem Winkel mit dem Webstuhl ihr Leben der Armut von vorn anfangen. Darauf setzte sich der alte Skule Tofte an den Stuhl, und das Webeschifflein begann seine Arbeit …
Das Spiel stellte jenen Tag aus dem Leben des Henrik Tofte dar, an dem er gegen Abend ausgezogen war aus der Kümmerlichkeit der väterlichen Mietstube, um sich sein Brot als Anstreicher zu verdienen.
Es war ein Spiel, und es wuchs zu einem gewaltigen Erlebnis. Es war in zwei Stunden von Henrik Tofte herausgeschrieben aus einem Jahre seiner Vergangenheit. Und es war durch vier Tage gelernt worden von Weberkindern und Nane Thord, die sich dabei nicht in eine fremde Welt hineinzudenken brauchten. Und es waren harte und schmucklose Worte, die sie sprachen. Vater Skule Tofte aber war ein Philosoph im Weberkittel, der es sich angelegen sein ließ, dem langen Sohne Henrik die Lehre von der Allmacht des Schicksals ohne Mitleid ins Herz zu hämmern:
So sah die Tröstung aus, die Skule Tofte seinem Ältesten Henrik mit auf den Weg gab.
Da es aber doch ein Spiel sein sollte, was man hier trieb, war es von dem Dichter nicht uneben erdacht, daß er am Ende die Schauspieler um einen Tisch gesetzt hatte, während die Mutter in einem Schrank nach Brot suchte und sprach:
Und gleich rief das jüngste Töchterlein das Schlußwort:
Das war für die Zuschauer der gegebene Augenblick zum Mitspielen: im Nu war den Webersleuten der Tisch gedeckt, und auch der lange Henrik durfte umkehren und den Lohn für seine Mühe in Empfang nehmen. Henrik Tofte aber, der richtige, wollte auch nicht zu kurz kommen. Erst überzeugte er sich von der versöhnlichen Stimmung Gwendolins, dann trank er ein Glas Sekt.
So hatte der Abend mit einer ernsten Rückschau begonnen. Vor allem waren James und Johnny an dem Aktus nachdenklich geworden; denn ihnen war die Herkunft ihres jugendlichen Meisters noch ganz unbekannt gewesen.
»Oh, er hat kein Staatsstipendium gehabt!« flüsterte Johnny Gwendolin in reuevoller Einkehr zu.
Da sagte Gwendolin nicht ohne Härte: »Aber er hat ein Stipendium von Gott: sein Genie. Wendet er es etwa besser an als Sie das Ihre?«
Doch – das hörte niemand; denn die vollen Gläser klangen aneinander, und Henrik Tofte klimperte zum Überfluß auf der Gitarre, die er einstweilen unter den linken Arm geklemmt hatte. Es war ihm ein Lied eingefallen, das er nun singen wollte. Jawohl, auch singen konnte er – furchtbar komisch [43] und mit wunderlichen Gebärden. Wie die Bänkelsänger singen auf den Jahrmärkten vor einer bemalten Leinwand. Er aber hatte diese Leinwand nicht und deutete doch mit dem spanischen Rohre, als ob sie da wäre. Mit der Zunge ahmte er das Klatschen des Stockes gegen die Bilder nach und malte sie mit seinen Worten, grausig und volksmäßig. Oder er sang edle alte Balladen. Seine Stimme konnte dabei klingen wie geschlagene Glocken oder wie die See, die vor dem Sturmwind in Klippen zerschellt …
War es nicht so, als hätte der liebe Gott alle Stipendien, die er für diese Zeit zu vergeben gehabt, in einem Schöpferrausch an diesen einen verschwendet? …
Wenn er annahm, daß man in seiner Abwesenheit von ihm gesprochen hatte, ärgerte er sich. Aber nicht, weil er fürchtete, man verlästere ihn. Sondern er sagte: »Ich bin ein Mensch, der sich nicht auskennt in sich selber. Lobt oder lästert ihr mich, wenn ich nicht dabei bin, so nützt mir das nichts. Also ist es besser, ihr schmäht mich oder huldigt mir ins Angesicht. Ich mache es euch ja so leicht und sage nie ein Wort dazu, wenn es mich angeht.«
Als er eine schöne und machtvolle Ballade über Harald Harfager gesungen hatte, waren alle ganz in der Gewalt seiner stolzen Begabung, die er gar nicht achtete, weil er nur in die Luft zu greifen brauchte wie ein Zauberkünstler, der ringsum Wunder fängt.
Da fragte der nachdenkliche Rolf Krake: »Sagen Sie, Tofte, sind Sie eigentlich ein verbummeltes Genie?«
Henrik schlug ein paar Akkorde aus den Saiten und schaute sich im Kreise um. Es sollte jemand an seiner Statt antworten, weil er sich selber dazu nicht wichtig genug nahm. An Gwendolin blieben seine Augen hängen.
»Ach nein,« sagte sie, »verbummelt ist er nicht. Und er [44] wird auch nie dahin kommen. So oft er an die Dürftigkeit streift – was er so Dürftigkeit nennt – wird er etwas ganz Großes aus sich herausschlagen.«
»Warum heiraten Sie ihn dann nicht?« fragte Rolf Krake.
»Weil ich zu fleißig bin,« sagte sie gefaßt. »Er würde dann nie in die tiefe Not geraten, vor der er sich fürchten muß. Eine kleine Malerin kann aber nicht sich und diesen Riesen und am Ende eine Familie erhalten mit ihrer Kunst. Trotz allem: ich mag ihn furchtbar gern leiden. Sehen Sie, das ist die Tragik meines Lebens. Aber ich werde daran nicht zugrundegehen.«
»Plumm plumm,« machte Toftes Gitarre. Er hatte sich an den Tisch gesetzt und folgte diesem Gespräche mit großer Aufmerksamkeit. Sie redeten von ihm, als wäre er gar nicht da.
»Liebe Gwendolin,« begann Rolf Krake wieder, »wäre es nicht die Aufgabe einer Frau, dieses Genie für immer in ihre Macht zu bringen, damit es ranke und blühe nach ihren Gedanken?«
»Man könnte das meinen,« entgegnete Gwendolin. »Aber dann kennt man Henrik Tofte flach. Auf die Dauer erkennt er nur einen einzigen Herrscher an über die Riesenmaße seiner Begabung; und dieser König ist der Augenblick.«
Es war ein Uhr geworden. Tofte hatte sich schon über Gebühr von dem Gericht über sich selbst fesseln lassen. Er hatte für die Mitternacht Leute auf die Insel bestellt, die an Drähten hunderte von Papierlaternen aufhingen … So kommandierte er die Welt. Wohin er kam, regierte er und dachte doch nicht daran. Aber sich selbst konnte er kein anderes Gesetz schreiben als das von der rasenden Unbeständigkeit des Willens. Nur so vermochte er sich zu ertragen. »Meine Freunde,« sagte er nun, »die Nacht ist lieb und heiß wie [45] Gwendolin, und sie ist schwer vom Dufte der Rosen, des Weins und der Berge …«
»Plumm plumm!« Und Henrik Tofte sang das Lied vom Rattenfänger. Da mußten sie alle hinterdrein und zogen hinaus in die liebe heiße Sommernacht, wo die blonde Marit einen Tisch unter vielen stillen Lampen gedeckt hatte. Und weit drüben am Ufer standen die Menschen und sahen die Ranken der blühenden Lichter in der weichatmenden Nacht und in den weichatmenden Wassern und lauschten dem Sänger. Dann zischten von den Rändern des Fjords die goldenen Schlangen eines Feuerwerks empor – oh, Henrik Tofte hatte heute »viel« Geld eingenommen von James und Johnny! Und Henrik Tofte stand nun auf dem Dache. Stand dort mit einem wallenden Barte und in einem langen wehenden Mantel, wie ein Geist, der aus dem Berge gestiegen, und sang zu geschlagenen Saiten. Es war immer so: seiner Kraft schienen keine Grenzen gezogen – je mehr er von ihr forderte, desto mehr gab sie. Er hatte nie so übermächtig gesungen wie an den Säumen dieser Mitternacht. Es war ein Lied der Liebe. Er huldigte damit Gwendolin. Und so klang es aus:
Die bunten Lampen begannen zu verlöschen. Noch verabredete man für den Vormittag eine Lustfahrt in bekränzten [46] Booten nach der Fjordstadt Elde, um die sich die Berge türmen und der Sommer blühte. Ein großer Zeltzirkus hatte dort Einzug gehalten. Dann geleitete man Do und Jockele wie ein Brautpaar zur Schwelle ihrer Kammer, in der sie zum ersten Male schliefen. Aber Henrik Tofte fand, das Fest wäre noch lange nicht zu Ende. Er ruderte Rolf Krake, James und Johnny hinüber ans Land. Und als er allein in Boot und Nacht war, streifte er darin um die Insel. Das Glück Jockeles und seiner Frau machte sein Herz sehnsüchtig – er wußte nicht wie. Er glitt ein Stück hinaus in die Flut und verwandte kein Auge von dem einzigen Fenster, das noch hell war auf dem Eilande. Es war das Gwendolins. Dann trieb er das Boot an den Rand der Klippe, kletterte empor im Gestein und rief leise Gwendolins Namen. »Komm zu mir!« bat er.
Da dachte sie: es ist nicht ungefährlich. Aber sie ging doch. Es war fast, als hätte sie auf ihn gewartet. Darum war sie ungeheuer gewappnet. Und die Nacht war spät; es hauchte schon der Tag an die Zinnen des Gletschers.
Henrik legte seinen Arm in den ihren und zog sie ganz fest an sich. So schritten sie nach der Spitze des Eilands, die am weitesten von den Häusern entfernt lag. Es stand dort eine Bank ins Strandrohr geschmiegt, und große moosige Felsblöcke lagen darum her.
»Wußtest du, daß ich dich rufen würde?« fragte er froh.
»Ich dachte es,« sagte sie; »denn ich weiß: in Nächten, wie in dieser, nehmen Sie sich nicht erst die Zeit zum Schlafen. Warum sagen Sie übrigens »du« zu mir?«
»Ich habe das beschlossen,« sagte er.
In der Nähe der Bank fing sein Schritt auf einmal an zu zögern. Aber sie hüllte sich fester in das graue Schultertuch und sagte: »Kommen Sie nur. Es muß doch einmal klar werden zwischen uns – für die nächste Zeit.«
Da hob er sie zärtlich über das Wässerlein, das einen Schuh breit quer vor der Bank lag. Dann krochen sie zwischen die hohen Halme wie Rohrhühner.
»Es war fein heute,« begann Gwendolin. »Sie waren wieder einmal einfach vollkommen; denn Sie waren nie unmäßig, wie das Ihre Art ist: unmäßig groß, unmäßig durstig, unmäßig grob und unmäßig sentimental. Deshalb bin ich jetzt auch gekommen.«
Er warf seine Arme um sie, daß sie hörte, wie ihr die Gelenke knackten. »Es ist dir doch nicht ernst gewesen mit dem, was du heut abend zu Rolf Krake gesagt hast?«
»Ich schwöre es Ihnen,« sagte sie. »Und wenn Sie mich jetzt küssen, dann lauf' ich nicht etwa weg – oh nein! Aber das sag' ich Ihnen: Sie machen mich damit nur häßlich und aufgewiegelt. Ich habe gelernt, viel zu fest auf mir selber zu stehen, lieber Henrik Tofte, und mit einem Aufgebot Ihrer Kraft erobern Sie die Festung nicht.«
Gwendolin wußte genau, wie sie der Gefahr zu begegnen hatte, die sie in diesem Mann umlauerte. Ihr heißes jähes Herz hatte ihr in der anderen Zeit schon manchen Streich gespielt.
»Erkennst du denn nicht, daß du der einzige Mensch bist, der mich in Ketten legt?« fragte er.
»Sieben Tage, mein Freund!« lachte sie. »Oder siebenmal sieben Tage. Aber es müßten siebenmal sieben Jahre sein.«
»Das ist lange,« seufzte er.
»Billiger bin ich nicht zu haben,« sagte sie.
»Und wenn ich dir einen Vertrag unterschreibe mit meinem Blut auf siebenmal sieben Jahre?«
»Wie dem Herrn der Hölle, dem Sie verfallen sind,« lachte sie.
»Nun?«
»Dann glaub' ich Ihnen doch nicht, Henrik Tofte; denn ich glaube nur an mich und an meine Liebe. Und diese Liebe hat zu Ihnen nicht die Kraft des Vertrauens für einen Vertrag auf Lebenszeit.«
»Und das ist dein letztes Wort, du liebste Gwendolin?«
»Nein,« sagte sie. »So dienen Sie um Rahel! Meinetwegen sieben Jahre. Es kann auch kürzer sein. Es braucht nur bis zu dem Tage zu sein, an dem wir beide wissen: wir können zu einer Zweieinigkeit gelangen wie Jockele und Do. Ich habe viel Leidenschaft und Liebe erfahren in meinem Leben, Henrik Tofte – aber ich danke mir auf den Knien, daß ich daran nicht zur Närrin geworden bin wie Tausende. Oh, wir Mädchen tragen unser Herz in den Händen, und wenn ein Mann Blumen darüber wirft, bilden wir uns gleich ein, sie blühen ewig. Sehen Sie Do und Jockele an, mein Freund! Die haben sich errungen durch Jahre. Diese herrliche Do hat ihren Mann dem Leben abgekämpft in einem verschwiegenen Kampfe. Und er ahnte es nicht; sie selbst nicht – niemand ahnte es. So selbstlos war der Kampf; und doch war er nicht minder schwer. Darum: reden Sie von diesen beiden nicht als von Hätschelkindern des Schicksals! Es gibt unter den Menschen keine, die sich ihr Glück köstlicher erzwungen haben als sie.« Jawohl, das Wort vom Schicksal hatte sich ihm schon auf die Lippen gedrängt. Da scheuchte es Gwendolin fort. »Gute Nacht, Henrik Tofte! Vielleicht gelangen auch wir über den Sonnensteg in das schöne ferne Land. Gute Nacht!«
Die Gletscherspitzen leuchteten nun in einem wundervollen Rot. Und auch die Worte Gwendolins waren voll von Verheißung gewesen für einen neuen Tag. Sie waren gewesen wie nie zuvor. Dennoch sah Henrik Tofte aus, als [49] schrumpften seine mächtigen Glieder vor der Helligkeit ihrer Rede zusammen.
So hockte er im Schilfrohr und war ohne Hoffnung. Gwendolin hatte just das Werk für den neuen Herkules ausgesucht, das er unmöglich bewältigen konnte. Sie hatte seinen Gott, das Schicksal, gelästert und vom Sockel geworfen; sie hatte allen fröhlichen Glauben in ihm vernichtet; sie hatte seinen herrlichen Freibrief fürs Leben in tausend Stücke gerissen und in das Röhricht verstreut. »So dienen Sie um Rahel!«
Es brach ein Lachen gewaltigen Schmerzes aus seiner Brust. Dann hob er den gestürzten Gott wieder an seine Stelle. – O diese Narren! Warum mochten sie nicht an das einige Schicksal glauben, das die Welt regiert? War es denn nicht Schicksal, daß die drei Menschen, die Henrik Tofte am meisten liebte von allen, ihm den Weg zum Glück verwehrten? Gleich am ersten Mittag, an dem sie den Fjord entlang gerudert waren, waren seine Augen finster geworden über dem Blick in die Sonne Dos und Jockeles. »Nun,« tröstete er sich damals, »sie sind Hochzeiter!« Aber seither war alles Flittergold von ihrer Ehe abgefallen, und ein schönes klares Leuchten war geblieben, das sah aus, als wär' es für Zeit und Ewigkeit. Vor diese beiden Menschen führte ihn Gwendolin und sagte: »Sieh hin – getraust du dir das auch? Was wäre es, wenn wir einen Bund schlössen, und er könnte nicht sein wie dieser? Was wäre es, wenn wir zueinanderliefen in einem kindsköpfigen Rausche, wie zwei aus der Herde? Und flickten an unserer Gemeinsamkeit herum, stächen die Löcher mühselig zusammen und schafften damit doch nichts weiter, als daß das Ding ganz morsch würde? Und zuletzt ließen wir's gehen und kümmerten uns nicht mehr um die getrennten Nähte, weil sie ja doch nicht halten! Henrik Tofte, was wäre das?«
Jawohl, es war eine ungeheuer freventliche Weltanschauung, die die Gwendolin da zum besten gegeben hatte! Bildete sie sich denn nicht ein, sie wäre der liebe Gott selber und könnte sich mit ihrer eigenen Kunstfertigkeit das Leben zimmern?
Darüber nahm er Stück für Stück der umherliegenden Fetzen auf und paßte sie mit Sorgfalt aneinander. So baute er den richtigen Henrik Tofte wieder zusammen. Zwar, die Risse konnte er nicht ungesehen machen. Aber er war froh, daß es ihm leidlich gelungen war, und kroch aus dem Rohre; denn er hörte das Fischerboot mit den Kindern inselwärts plätschern, die die Kränze und Ranken brachten.
Als die Fahrzeuge bunt und fröhlich geschmückt waren, trat er in den Saal, wo ihn die Sturmschwalben mit Jubel empfingen. Da jubelte er sich zwischen sie hin. Aber er dachte, seit dieser Nacht wäre er hier nicht mehr daheim. Es war ein wunderlicher Zustand. So, als wäre er nun von dem Schicksal an eine Wegscheide gesetzt.
Indessen bereiteten sich die anderen schon zur Fahrt. Gwendolin und Do blühten wie der junge Tag: Hanna von Fellner hatte geschrieben, sie wäre auf dem Wege nach dem Hardanger Fjord und hätte sich Do und ihrem Mann in Sehnsucht schon dreimal an die Herzen gestürzt; nachmittags käme sie mit dem Dampfer fjordaufwärts, und sie erwarte, daß an der Haltestelle alle Flaggen gehißt wären.
Deshalb war die Insel in so funkelndem Betriebe. Sogar Rolf Krake, der zu noch seltsameren Göttern betete als Gwendolin, schnalzte schon drunten auf dem Ufersande herum.
Daher kam es, daß Henrik Tofte bald allein am runden Tische saß und merkwürdige Gedanken in den Morgenkaffee hineinrührte. Es war ihm ums Herz, als geschähe alles zum letzten Male, was er in den vertrauten Räumen tat. Aber [51] endlich stand er mit feuchten Augen vom Tisch auf, um hinabzugehen zu den anderen.
An der Schwelle traf er Nane Thord. Die hatte zur Feier des Tages eine blinksaubere Haube angetan. Sie wollte hinübersegeln an den Strand, einkaufen. Da bekam Toftes Herz die Dankbarkeit: er nahm Nane Thord auf den Arm wie ein dreijähriges Mägdlein und trug sie hinab in sein Boot und sagte, sie müßte mit nach Elde in den Zirkus. Als sie merkte, daß es ihm ernst damit war, trieben die Boote schon mit gefüllten Segeln vor dem Winde – bunt wie fünf Sommerblumen, die dem Himmel aus den Händen gefallen waren. Und Henrik Tofte sang ein Scheidelied. Es klang, als würde er nie mehr einen Fuß auf das Eiland setzen.
Wo sich jener kurze Arm vom Hardanger Fjord nach Norden abzweigt, an dessen Ende die Fischerstadt Elde liegt, ist auch die Haltestelle des Dampfers. Dort machten sie ihre Boote fest, Hanna zu erwarten. Aber Henrik Tofte war ruhelos. Er reffte vor dem Eldefjord zwar das Segel; denn der Fjord ist nach Süden offen, und die Uferberge legen sich darum wie zwei Arme, die alle Sonne für ihn einfangen. Aber der Wind aus Morgen streicht an seinen Toren vorbei. Deshalb legte Tofte dort die Ruder ein und sagte: »Nane Thord will die Rundholmen besuchen, ihre Tochter, die auf Gaeslinggaard wohnt. Ich fahre also mit ihr voraus.«
Aber als die anderen Boote zwei Stunden danach an Gaeslinggaard vorüberkamen, lief Nane Thord aus dem Hofe und machte die Windmühle: Henrik Tofte hatte sie noch nicht wieder abgeholt.
Da stieg Nane Thord in Gwendolins Seelenverkäufer und nahm ihr die Ruder aus den Händen und forschte auf [52] der Weiterfahrt an dem Mädchen herum, was es mit Henrik Tofte wäre.
Die zugeflogene Hanna saß in lauter Wiedersehensfreude im Boote von Do und Jockele. Rolf Krake aber fuhr mit diesem auf gleicher Höhe und ihm so dicht zur Seite, daß Do sehen konnte: er schien wie die Sonne.
In Elde war ein großes Leben. Die Fischer lehnten in ihren Sonntagskleidern breit und rauchend an den Steinen. Die Blockhäuser hatten helle Augen. Und die bunten blonden Mädchen und jungen Frauen wanderten Arm in Arm am Strande und hatten alle Fenster offen. Aber Henrik Tofte, den man sonst schon von weitem über allem Volk dahinsegeln sah, war nicht da. Nur sein Boot hatten sie im Hafen gesehen.
Im Zirkus saßen sie dann in der ersten Reihe, gleich neben den Borten des geharkten Sandes. Die Holzbänke füllten sich bis auf den letzten Platz und bis unter das Zeltdach hinan, das leis im Sonnenwinde flappte. Ein sehr kleiner Clown im weißen Linnenanzuge mit faustgroßen schwarzen Wollknöpfen ließ es sich angelegen sein, die Menge schon vor Beginn der Reitkünste und Akrobatenstücke neugierig zu machen. Dabei diente ihm seine zuckerhutförmige Filzmütze als Sitzgelegenheit und Schlafgemach: so bedeutend war diese Mütze, und so gering war das Männlein.
Aber Henrik Tofte war nicht da – es war zum Lustigwerden.
Endlich kam er – da war es zum Weinen.
Er trug die Drahtseiltänzerin Miß Millie auf der freien Hand herein und schwang sie auf das gespannte Seil. Er hatte das Kleid eines Hanswurstes an, genau wie der Zwerg, hatte eine weiße Riesenfilzmütze wie dieser, hatte sich das Gesicht gepudert und die Nasenspitze und jede Wange mit [53] einem schwarzen Tupfe geziert. Mit der Mütze reichte er beinahe bis an das Zeltdach. Seine Einkleidung aber war ohne Wissen des kleinen Mitclowns vor sich gegangen. Deshalb staunte ihn keiner gewaltiger an als dieser. Er fand sich aber rasch in die Lage und stellte ihn den Zuschauern vor als seinen großen Bruder. Weil er immerzu schwätzte, und Miß Millie doch endlich ihre Kunststücke vorführen wollte, nahm der neue Clown ihm den Zuckerhut ab, klemmte ihn hinter ein Seil unterm Dache und steckte das Männlein einstweilen in seine Hosentasche …
Es war überwältigend, und der Erfolg der Eröffnungsvorstellung war schon mit dieser Improvisation gerettet.
Der Kleine, den man nun in der Tasche der Pluderhose herumkrauchen sah, drohte die Hauptnummer der Seiltänzerin in Gefahr zu bringen; denn natürlich guckte er alsbald heraus wie aus einem Fenster. Es war so hinreißend, daß Henrik Tofte eine Zeit mit ihm aus der Arena verschwinden mußte, was dadurch glaubhaft gemacht wurde, daß ein Nachtwächter mit Spieß und Laterne kam und den geharkten Sand nach dem großen Bruder des kleinen Mannes ableuchtete. Als er ihn endlich gefunden hatte, verhaftete er ihn.
Als »letzte Nummer« aber trat Henrik Tofte wieder auf. Und zwar als Schnellmaler. Natürlich hatte er den Kleinen immer noch im Hosensack und tat, als hätte er das ganz vergessen. Damit ihn die geschwollene Tasche nicht beim Malen störe, entledigte er sich ihres Inhalts. Er zog ganze Steine bunter Kreiden hervor, eine Tabakspfeife und zwei Beutel – in dem vollen war Tabak, in dem leeren kein Geld. Danach holte er die Rollen seines Malpapiers hervor und zuletzt den kleinen Mann, über dessen Vorhandensein er natürlich äußerst verblüfft war. Deshalb ließ er ihn an seinem freien Arm herumkrabbeln wie einen Käfer.
Danach lief der Kleine nach einem Rahmengestell. Daran hefteten sie das Zeichenpapier. Der große Bruder begann sein Werk. Zuerst zeichnete er Gwendolin Vogelgesang – eins, zwei, drei … und schon war sie fertig. Jedermann sah, daß sie es war. Er überreichte ihr das Bild mit komischer Eleganz. Er zeichnete schöne Mädchen und alte Fischer, wie sie da umhersaßen. Und zuletzt brachte der Kleine einen Riesenrahmen geschleppt, den stellte er vor dem Eingange der Sandbahn auf und rief: »Ha, du bist ein großer Maler, mein Bruder – du bist ein so großer Maler, daß ich deine Hosentasche als Schlafstelle gemietet habe! Aber du kannst nicht das große Meer malen.«
»Kleinigkeit!« sagte Henrik Tofte.
»Das ganze Meer? Mit dem Sturme? Und mit Schiffen in Not? Und alles auf dies kleine Papier? Ha!«
»Kleinigkeit!« sagte Henrik Tofte und begann zu malen. Die Fläche maß zehn Geviertmeter. Er sprang um das Papier, als wäre er aus Gummi: bald kroch er in sich zusammen, bald schnellte er empor, als hätte er eine Feder aus Stahl im Leibe. Und aus seinen bunten Kreiden schuf er das Meer. Wozu der liebe Gott einen Tag gebraucht hatte – oder tausend Jahre … Henrik Tofte machte das in sieben Minuten. Und der kleine Bruder saß auf dem Sand und heulte den Sturmwind darüber.
»Fertig!« schrie der Kleine.
Henrik Tofte aber lief an die andere Seite der Arena, als wolle er sich die Sache aus der Ferne betrachten – da! Mit ungeheuerem Anlauf flog er über den Sand, mit einem Gewaltschwung sprang er mitten hinein in das gemalte Meer. Und blieb verschwunden.
»Oh,« sagte der Kleine – »jetzt ist er ertrunken!«
Die Menge tobte. Aber Henrik Tofte kam nicht mehr.
Drei Minuten später schaukelte der »Seelenverkäufer« mit Gwendolin und Nane Thord aus dem Hafen von Elde. Die anderen suchten nach Henrik Tofte bis gegen Abend. Sie fanden ihn nicht.
Da zogen sie mit raschen Ruderschlägen Gwendolin nach. »Was nützt es uns, wenn wir uns um ihn sorgen oder uns grämen?« fragte sie. »Auf dies Herz kann man nun einmal keine Häuser bauen – und er selbst getraut sich das am wenigsten.«
Hanna von Fellner wohnte nun im Turm – es war ein lustiger Name für den kleinen Aufbau, auf dessen Dache der Sommerrasen schon wieder blühte.
»Eure Tage in diesem abwendigen Weltwinkel sind ewig bewegt wie die hohe See,« sagte Hanna.
»Es ist in der Tat so,« bestätigte Do, »wir haben genau die gleiche Wahrnehmung gemacht: als wir nach unserer Ankunft kaum zwei Stunden am runden Tische gesessen hatten, war uns, wir wären durch die Erlebnisse aufgeregter Wochen gewirbelt.«
Seit Henrik Toftes Verschwinden war fast ein Monat verstrichen. Der Wanderzirkus war längst fortgezogen.
Einmal segelten die von der Insel nach Elde, um über den Freund etwas zu erfahren. Da hörten sie viele widersprechende Meinungen über das Reiseziel der Truppe – es lag offenbar eine Verabredung vor, die Neugier irrezuführen. Henrik Tofte wollte seine Spur für die Sturmschwalben verwischt sehen. Nur das eine ward ihnen zur Gewißheit: sein Boot hatte er in Elde verkauft. Daraus war zu schließen, daß er sich nicht mit der Absicht einer baldigen Rückkehr trug.
»Er will dich durch dies Mittel reuig und gefüge machen,« [56] sagte Hanna zu Gwendolin. »Ich denke, in ein paar Tagen geht das große Licht uns wieder auf.«
Über das »große Licht« lachten sie. Und damit war ein Name für Henrik Tofte gefunden, der nun unter ihnen blieb, wie das freundliche und sorgende Gedenken, das sie ihm bewahrten.
Jockele war tief betrübt über den zwar nicht ruhmlosen, aber unwürdigen Abgang, den sich Tofte gesichert hatte. »Vielleicht hätte ich mich mehr um ihn kümmern sollen,« sagte er.
»Nein,« sagte Gwendolin, »denn dann hätte ich gegen euch beide kämpfen müssen und wäre wohl besiegt worden. Möchtest du, daß es so gekommen wäre?«
Jo zog die Achseln: »Es ist eine zu ungewöhnliche Sache gewesen mit euch. Und Do und ich, wir haben uns gesagt: wir wollen uns da nicht hineinmischen. Du hast so klare Augen, Gwendolin, und du hast ein so aufrechtes Herz – einem Menschen, der nicht aus eigener Klugheit erwägen kann, was er wagen darf, wird auch durch den Rat anderer nicht geholfen. Aber es wäre mir doch leid um das große Licht, wenn er sich selbst aus den Händen fiele.«
Den tiefsten Eingriff bewirkte Toftes Flucht in das Leben der »Glasgow Boys« James und Johnny. Auch dieser Name stammte von der erfinderischen Hanna. Doch brachte sie ihn der Kürze halber nur zur Anwendung, wenn sie von beiden sprach. Meinte sie nur James, so nannte sie ihn den »Karauschenteich« – nach einem Wasser auf dem Fjeld, zu dem sie mit Jakobus Sinsheimer um diese Zeit manchmal auszog. Es war wegen der grünen Wasserfrösche. Der Karauschenteich war ein Tümpel wunderlich verhaltenen Lebens. Algen wuchsen drin; Moosinseln trieben auf seinem Spiegel; er wimmelte von Molchen, Fröschen und [57] Wasserkäfern; und es standen ein paar würdige Karauschen in der Nacht seiner Gründe, die hatten sich bereits Mooshauben angeschafft. Es konnte kein Blick recht erspähen, was in diesem Auge zwischen den Bergen sein verschwiegenes Dasein pflog – genau so ging es dem forschenden Blicke Hannas vor Mister James King; da erfand sie für ihn den Namen: der Karauschenteich. Aber weder das eine noch das andere Kosewort hatte seine Ursache in einer besonderen Hochachtung Hannas vor James und Johnny. Doch – sie unterschätzte die beiden; und Jockele mußte sie eines Tages belehren, daß die »Glasgow Boys« ihre Staatsstipendien keineswegs zur Pflege ihrer Talentlosigkeit empfangen hätten. Sondern die Dinge lagen so: Henrik Tofte war im Vergleich zu ihnen allerdings ein Genie – aber das war er gegenüber jedem anderen Malmenschen auch. Und da hatte die Gelegenheit Diebe gemacht: James und Johnny waren seine Schüler, sie kopierten ihn, sie übernahmen seine Malweise, und über allem war dann der große Bluff zustande gekommen: aus einer weitgehenden Bequemlichkeit und Leichtherzigkeit auf beiden Seiten.
Nun saßen James und Johnny am Rande des Verderbens. Oder sie mußten sich den Ruhm, den sie im Traum errungen hatten, erwerben, um ihn zu besitzen.
Johnny hatte dazu die ernstliche Absicht. Er ging also ans Werk; aber er schleppte Lasten. Zu allem erfuhr er von dem Kunsthändler Watson, daß nach seinen Bildern eine noch größere Nachfrage wäre als nach denen von James King … Das war eine neue unfaßbare Überraschung; denn Henrik Tofte hatte für Johnny nicht etwas Ausgezeichneteres gemalt als für James. Einige Tage später stellte es sich heraus, daß dies auf die Meinung Watsons zurückzuführen war: weil Johnny ihn damals angelogen hatte, ein dänischer [58] Kunstfreund habe seinen gesamten Bestand an Bildern ausgekauft, war Herrn Watson das Licht aufgegangen, John Williams wäre der stärkere von den beiden »Jöttern«.
So kam es, daß Johnny für die Leute auf der Insel nahezu unsichtbar ward. Es hieß, er feiere seine Auferstehung in der Romantik der Berge. Mister James dagegen hatte nach dem Vorbilde seines entschwundenen Meisters ein weit größeres Vertrauen zu seinem guten Stern als zu seiner Arbeit und Mühe. Ganz im geheimen erwog er, ob es nicht ratsamer sei, die sonnige Hanna von Fellner und ihre Wohlhabenheit sich gewogen zu machen – trotz dem »Karauschenteich«. Diesen Traum träumte er bald aus und zog der Leuchte Gwendolins nach. Aber auch das war ein Irrlicht.
Do hatte sich über allem mit heißem Eifer in das Studium der norwegischen Sprache gestürzt. Eines Tages fand sie bei Ibsen das Gedicht von der »Sturmschwalbe«. Dabei hatte sie eine Offenbarung. Sie übersetzte es in ihrer klaren Einfühlungskraft und ihrer freien Art:
Do wollte weder aus dem Gedichte noch aus der Offenbarung, die sie davor gehabt hatte, ein Geheimnis machen. Sie kannte nun die Leute alle bis auf die letzten Kammern [59] ihrer Herzen, die sich die Sturmschwalben nannten. Rolf Krake hatte mit jenem Namen ihren stolzen Flug zu den Höhen des Lebens kennzeichnen wollen, zu denen nur seltene Menschen den Aufschwung probieren. Er war ihm eingefallen in beglückter jugendlicher Überhebung und in einer Stunde, in der er die Maße zu sich und der Erde wohl einmal nicht bei der Hand hatte. Aber nun wußte Do: Rolf Krake war auch mit der Naturgeschichte der Sturmschwalbe nicht vertraut gewesen, sonst hätte er zu erhabenem Sinnbild nicht dies Geschöpf gewählt, das, nach alter Seemannsmär, weder fliegen noch schwimmen kann, sondern in ewigem Wechsel bald das eine versucht, bald das andere, und sein Element doch niemals findet. »Sturmvögel« hatte Rolf Krake sagen wollen; denn in dem Namen sollte das Symbol des Kampfes einer hochgemuten Jugend mit den Stürmen des Lebens aufgestellt werden.
Nun sprachen sie darüber. Es war abends an dem runden Tisch im Saal. Do dachte zwar, daß ihm das aus mangelnder Naturgeschichte passiert wäre – aber: es konnte auch aus überlegen spottender Erkenntnis gewesen sein.
»Nein,« gestand er, »es ist eine Dummheit gewesen … Je nun, vielleicht war es das Gescheiteste, was mir je eingefallen ist; denn wir alle – mit Ausnahme von Jakobus und Doris – sind wir nicht die leibhaftigen Sturmschwalben der Seemannsmär? Zu leicht zum Gleiten am Grund, zum Fluge zu schwer?«
Sie saßen bis gegen Mitternacht. Und weil sie sich voreinander nicht versteckten, war dies Gespräch für alle voller Erkenntnis und Gewinn.
Am anderen Tage war Jockele mit Hanna schon vor Sonnenaufgang zum Karauschenteiche hinan auf das Fjeld gewandert. Die neuesten Werke über die Froschlurche stimmten [60] seltsamerweise darin überein, daß der grüne Wasserfrosch ein Schattentier wäre – etwa wie die Kröte. Der Doktor aber hatte beobachtet, daß gerade dieser mit der Sonne an den Teichrand stieg und mit ihr um den Saum des Wassers wanderte, immer ängstlich darauf bedacht, in der vollen Bestrahlung zu sitzen. Auch anderen Irrtümern der neuesten Forschung war er auf der Spur. Sie betrafen alle die Lebensweise der Frösche und nicht die Kenntnisse, die man sich in den zoologischen Instituten der Hochschulen aneignen kann.
Johnny und Gwendolin waren ebenfalls schon mit dem Malzeug fjordaufwärts gefahren. Do hatte eine Bergwanderung mit Rolf Krake vor. So blieb James allein daheim. Aber auch er ward von Nane Thord kaum gesehen; denn er steckte den Tag über mit seinem Boote im Rohr am Ende der Insel und strich Schilf und Ruder mit Zinkfarbe an, die in der Nacht leuchtet. Dabei setzte er ein sehr geheimnisvolles Gesicht auf.
Es wurde wieder einmal ein ereignisvoller Tag.
Droben am Karauschenteiche, dem Auge der Bergheide, saßen Jockele und Hanna. Sie hatten nun das brüderliche Du füreinander erfunden, und Hanna nannte ihn im fröhlichen Sonnenrausch ihrer Hochwelteinsamkeit den »Mann mit den drei Frauen«.
»Na, hör mal!« sagte Jockele in lustiger Entrüstung.
»Es ist dennoch so! Du machst es der Gwendolin und mir furchtbar schwer, dich nicht über Gebühr liebzuhaben.«
»Das könnt ihr halten wie ihr wollt,« sagte Jockele.
Da legte sie ihm den Arm um den Nacken und drei schwesterliche Küsse auf den Mund. »Ist das nicht über Gebühr, mein Herr?«
»Ach Unsinn,« sagte er.
»Nun, so soll Do entscheiden!« antwortete sie ein bißchen [61] ärgerlich; denn sie hatte aus den rückwärtigen Tagen die Überzeugung gewonnen: ihre Wette von der Hochzeitstafel würde für sie verloren. Da fiel es auch dem Jockele wieder ein, daß er damals in überschießender Lust dagegen gesetzt hatte. »Du hast Angst um deine Mark,« spottete er.
Da lachte sie: »Ach nein – um die Richtigkeit meiner Ansicht! Entweder hab' ich damals Unsinn geredet oder – Jakobus Sinsheimer ist eine Ausnahme von der Regel.«
»Nach so kurzer Zeit läßt sich das noch nicht mit Sicherheit feststellen,« scherzte er. »Wir müssen wohl warten bis zu meinem Tode.«
»Du hast fürchterliche Angst um deine Mark!« vergalt sie ihm nun. Sie küßte ihn in jähem Übermute noch dreimal und sagte: »So, nun hast du deine Wette verloren! Es ist rein zum Verzweifeln.«
»Ich finde: weder das eine noch das andere,« sagte er.
»Nun, wir werden ja hören, was Do dazu meint.«
Dann sprachen sie über Liebe und Ehe und auch von den Erlebnissen, die er in seiner jungen Zeit mit Gwendolin gehabt hatte. Es war Hanna furchtbar interessant, wiewohl Do und Gwendolin ihr das alles schon einmal erzählt hatten. »Wenn ich Do wäre, so litte ich nicht, daß Gwendolin und Hanna Fellner die gleiche Luft mit dir atmeten.«
»Ja, so halten es die Menschen,« sagte er, »weil sie einander nicht vertrauen bis zum nächsten Busche – und weil sie ihre Liebe nicht reif werden lassen vor der Hochzeit.«
Dann schlich er wieder einmal auf den Zehen um den Karauschenteich. »Es sind annähernd dreihundert grüne Wasserfrösche da!«
Hanna betrieb inzwischen ein nachdenkliches Spiel mit Heidehalmen. Sooft er an ihr vorüber kam, warf er ihr ein kluges und schönes Wort von der Ehe hin oder von der Liebe. [62] Das fing sie wie eine seltene Blume und schmückte sich das Herz damit – das wirbelige törichte Herz, das einst gemeint hatte: es hätte die Liebe nach allen Himmelsrichtungen erprobt. –
Wie es indessen um Gwendolin und den langen Mister Johnny aussah? Auf der Fahrt den Fjord hinauf war es morgendlich kühl in dem kleinen Schiffe. Als sie dann an ein sehr schönes Naturtheater kamen, auf dem sich die Kulissen sommerbunt und kühn durcheinanderschoben, sagte Gwendolin: »Sie, lassen Sie mich heraus – das muß ich malen!« Sie war noch genau so wie damals in der wilden Jockele-Zeit: vor einer romantischen Aufführung der Natur konnte sie nicht vorübergehen. Das strich sie dann keck und aufgeblüht aus ihrem jauchzenden Herzen, und es wurde ein ungeheueres Farbenerlebnis daraus.
Sie hatte sich seit dem Tage, da ihr der Freund verlorengegangen war, nicht gewandelt. Nein, Gwendolin Vogelgesang war nicht von der Art jener, die die Tür unbedacht ins Schloß werfen und dann davorstehen mit Reu' und »Hätt' ich doch«. O, die Entgleisung Henriks war ihr nicht gleichgültig – ihr am wenigsten. Aber sie hatte von allen die kräftigste Überlegenheit gegen das Leben.
Nachdem sie ihre Staffelei aufgestellt hatte, verfiel sie gleich mit Allgewalt ins Malen. Sie war dabei so rasch, daß sie nie zweimal zu einem Motive ging; denn sie kopierte nicht die Natur, sondern sie schuf das künstlerische Erlebnis, das sie davor hatte, in Form und Farbe. Ja, so war es um ihre Kunst; es wandelte sich auch darin nichts. Viele verstanden sie nicht, aber viele beglückte sie. Es kümmerte sie nicht, was sie damit für eine Wirkung erzielte.
Ob John Williams weiter fjordaufwärts gerudert war, oder ob er irgendwo hinter einer Kulisse steckt und sich in [63] seiner veristischen Manier abmühte, wußte sie in ihrem himmlischen Untergange nicht. Er aber hatte zur Genüge erfahren: Gwendolin konnte jemandem Palette und Pinsel ins Gesicht werfen, dem es beikam, ihre Eingebungen zu stören. Sie mußte allein sein mit dem Gott, der in ihr schuf.
Wenn Johnny an diesem Tag nicht vorgehabt hätte, auf sie zu warten, so hätte er sie am Morgen nicht mit in sein Boot genommen.
Der Wandel der Lichter und Schatten, der um Mittag eintrat, verurteilte ihn zur Untätigkeit. Da legte er sich auf das kurze Gras eines Hügels und guckte in die spiegelnden Wasser. Bergkuppen standen darin, silberstämmige Birken, finstere Föhren, die sich an Zacken klammerten; und die flimmernden Eisströme vom Folgefond. Und alles blühte hinein in die seligen Himmel der Tiefe. Den »Malkasten des Herrgotts« hatte Gwendolin den Fjord genannt.
Johnny hatte seinen Platz so gewählt, daß er Gwendolins Wildrosenhut sehen konnte, wenn er sich ein wenig aufreckte. Diese Gelegenheit nahm er viel öfter wahr, als er dachte. Er sah sich an dem Zauberspiegel der Flut müde, aber an Gwendolin nicht. Nun ja – Henrik Toftes Abreise mit unbekanntem Aufenthalt war ein harter Schlag für ihn gewesen. Aber die Sache hatte doch auch ihre gute Seite …
Der lange Johnny hatte nie in seinem Leben eine so kurzweilige Sonnenruhe gehalten wie an diesem Tage. Ohne Pinsel und Farbe malte er sich ein Bild. Das stellte den listigen James dar in dem Augenblick, in dem er erkannte: die heiße nußbraune Gwendolin hatte John Williams unwiderstehlich gefunden. – Es war sehr unterhaltsam. Ja. Und deshalb lugte Mister Johnny immer durch den Spalt zwischen den beiden Birkenstämmen.
Um die gleiche Stunde befand sich sein Freund James [64] in nicht minder heftiger Kurzweil. Einesteils hockte er in seinem Boot im Sommerrohr und strich mit einem großen Pinsel Zinkfarbe an die äußeren Bordwände. Anderenteils malte er sich ein Bild. Das stellte den listigen Johnny dar in dem Augenblick, in dem er erkannte: die heiße, nußbraune Gwendolin hatte James King unwiderstehlich gefunden. – Es war sehr unterhaltsam. Denn: wo in aller Welt war ein Mensch auf die köstliche Idee verfallen, mit Hilfe eines Gespensterschiffes seiner Angebeteten eine nächtliche Aufwartung zu machen? Seiner Angebeteten? Nun, auf eine so romantische Gemütsverfassung zielte der Ehrgeiz eines richtigen Glasgowboys im Grunde genommen nicht. Aber etliches hatte er doch den Deutschen und Norwegern abgeguckt; und er war nicht umsonst der Schüler Henrik Toftes gewesen. So war seiner Weisheit letzter Schluß: mit einigem romantischen Behaben mußte der Gwendolin wohl beizukommen sein. Denn erstens würde ihr dabei das Herz erschauern: es war ja bekannt, daß auch Nane Thord nächtliche Zusammenkünfte mit ihrem Verstorbenen hatte. Zweitens: Gwendolin, deren Licht stets bis über die Mitternacht hinaus durch das Fenster schien, lebte in so später Stunde ein gesteigertes Leben: sie würde an Henrik Tofte denken, der in der Geisterzeit sehnsüchtig um die Insel strich … Und drittens berechnete James das Einkommen, das sich aus Gwendolins Fleiß und Talent schlagen ließe.
Mister Johnny, weit, weit draußen vorm Zauberspiegel, stellte die gleiche Berechnung an. Im übrigen aber: auf die Hilfe der vierten Dimension verließ er sich nicht. Er wartete, bis Gwendolin so gegen drei Uhr ihre Brote auspackte, dann schritt er unternehmungsfroh die Hügellehne zu ihr hinan.
»Fertig!« sagte sie und biß in die Schinkenstulle, »ich schließe, daß es spät geworden ist, denn ich habe einen Mortshunger.«
»Well,« sagte Mister Johnny, »und ich habe Ihnen drei Eier aufgehoben.«
»Famos! Geben Sie her!«
Das ließ sich sehr hübsch und nüchtern an und stimmte mit der Rechnung Johnnys Punkt für Punkt. Er setzte sich zu ihren Füßen in das blühende Gras und half ihr bei der Betrachtung des Bildes. Sie kniff das linke Auge zu: »Da rechts, in den Firnenschnee, muß noch ein kobaltblaues Licht – der Firn ist um sieben Grad Celsius zu warm,« sagte sie, sprang auf und strich die fehlende Kälte auf das Bild.
Über allem schien es dem langen Johnny: Gwendolin würde ihm nach dem Mahle nicht die nötige Muße zu seinem Vorhaben lassen.
»Sie, sind die Eier hart?«
»Hm,« sagte er. – Es war nun doch ungeheuer schwierig. Gwendolin ballerte am Stein schon das zweite Solei auf. »Wie weit sind Sie gekommen?« fragte sie zwischendurch.
»Ah,« sagte er gefaßt, »bis zu dem Entschlusse, den Ruhm im Stiche zu lassen, der mir in meinem Vaterlande so unverdient zugefallen ist.«
»Und wie gedenken Sie das fertigzubringen?« forschte sie in belustigter Neugier.
»Ich will für einige Zeit mit Ihnen nach Deutschland gehen. Es wäre mir am liebsten … ich meine: was sagen Sie dazu, wenn wir uns einander nahe blieben, so ganz nahe … wenn wir gewissermaßen einen eigenen Herd gründeten?«
Gwendolin biß in das Ei. »Wir – zwei? … Mensch, hat Ihnen denn die Sonne das Hirn geröstet?«
Johnny schnellte mit einem Satze von dem blühenden Rasen zu seiner ganzen Länge empor – es war zu vermuten, er hätte sich auf eine Giftschlange gesetzt. Gwendolin zuckte zusammen: er sah aus, als wollte er sich nun auf sie stürzen. Aber sein Herz war von einer unfaßbar versöhnlichen Stimmung. »Ich danke,« sagte er. »Es ist nicht nötig, daß Sie noch stärker gewappnet aus sich heraustreten; an einem Kampf bis zum sogenannten bitteren Ende liegt mir nicht das geringste.«
»Sie sind wohl nicht ganz glücklich in der Wahl des deutschen Ausdrucks gewesen, so daß ich Sie mißverstehen mußte?« fragte sie.
Aber Mister Johnnys Herz war von rassereinstem Gleichmut – er ergriff nicht einmal dies rettende Seil. »Ach nein,« sagte er, »sondern mir scheint, ich bin nicht sehr geschickt zu Werke gegangen. Nun, so teil' ich das Schicksal mit Henrik Tofte, mit Jakobus, mit dem Mann aus dem deutschen Zwetschengarten und mit den anderen, die vor mir kamen und nach mir kommen.« Das kollerte er aus seinem breiten Britenmunde hervor wie eine Reihe Kegelkugeln. Sie gingen alle daneben.
Auf der Bootfahrt, die dreizehn Kilometer lang war, unterhielten sie sich noch über den Vorfall. Es war die vergnügteste Überraschung gewesen in Gwendolins Leben. Darum flatterte ihr Herz nun auch wie ein kleiner Wimpel im lustigen Sommerwind.
Unterwegs sahen sie Do und Rolf Krake. Die beiden spazierten die schöne Uferstraße lang und befanden sich offenbar in einem angelegentlichen Gespräche. Die Bergfahrt war also kurz gewesen; denn sie hatten sich schon umgekleidet. Do hatte den roten Sonnenschirm über die Achsel gelegt, [67] als dürfe sie kein Wort von der Geschichte verlieren, die ihr Begleiter im weißen Strandanzuge berichtete. Darum hielten sie sich auch vor dem vorübergleitenden Boote nur für die Länge eines Freundesgrußes auf.
»Nun ja,« sagte Do im Weitergehen, »ich habe nicht umsonst an Ihnen herumgeforscht seit der Stunde, in der wir uns kennen lernten. Wenn ich nun gleichwohl anfange, Sie zu verstehen: das verzwickteste Kapitel Mensch, der mir je vorgekommen ist, bleiben Sie für mich trotzdem.«
»Darauf kommt es mir weniger an,« sagte Rolf Krake. »Getrauen Sie sich nun, meine Frage von heute vormittag zu beantworten?«
»Ob Hanna von Fellner mit Ihnen glücklich werden könnte? Nein, das zu entscheiden getraue ich mir nicht. Ich möchte Sie aber nicht mutlos machen, Rolf Krake, und nicht feindseliger gegen sich selbst. Es eilt ja damit auch nicht so sehr.«
»O, es eilt doch,« sagte er. »Wenn mein Bruder Woldemar kommt, so wird er sich in Hanna verlieben.« Do sah ihn befremdet an. »Weiß Gott, er wird sich in sie verlieben,« setzte er mit Nachdruck hinzu.
Darüber ward sie ganz besinnlich und sagte: »Nun, eigentlich müßten Sie ja recht haben. Was wir über Ihr Verhältnis zu diesem Woldemar wissen, ist doch mächtig sonderbar. Ich kann das nicht verstehen – nein, ich kann es nicht! Das liegt auch daran, daß Sie alle Fäden Ihrer Jugendgeschichte an einer gewissen Stelle unvermutet abschneiden. Sie sagten: als Knaben wären Sie beide keine Ausnahmenaturen gewesen. Aber Sie, Rolf, dachten schon damals über leichtsinnige Streiche nach, die Sie gemeinsam begingen. Woldemar dagegen nahm sich und das Leben wie ein Junge. Die Mutter verstand Rolf nicht. Sie hält den nachdenklichen Knaben für ein Kind mit verstocktem Herzen – und setzt ihn [68] zurück. Darüber wird Rolf zu einem Grübler: er sieht in sich einen Menschen voller Fehler, die ihm dereinst den Weg ins Leben vermauern werden. Und er mag sich nicht mehr leiden. Er überträgt dieses Gefühl allgemach auf den Bruder Woldemar. Sie sind Studenten in Bonn. Da tritt Hanna von Fellner zum ersten Male zwischen sie. Aber sie verlieren sie wieder. Der eine studiert dann in Jena weiter, der andere in Kiel – möglichst entfernt voneinander …«
So ließ Do die Geschichte Rolf Krakes im Wandern noch einmal an ihnen vorüberziehen. Dabei knüpfte sie die Fäden just an der Stelle scheinbar absichtslos wieder zusammen, an der er sie zu zerreißen pflegte. Es war ganz offenbar: das tat er deshalb, weil er von da ab sich in sich selber nicht mehr zurechtfand.
Sie aber wollte ihn von sich selber erlösen. Daher mußte er über diese Stelle hinwegkommen. Sie sah: es war der verwickeltste Prozeß eines innersten Gefühlslebens, den Rolf Krake sich selbst nicht klar aufzeigen konnte, geschweige denn einem anderen. Aber so viel Licht, als in das Geheimnis dieser verschnörkelten Seele zu werfen war, wollte sie für ihre Erkenntnis doch erringen – nicht allein, weil sie dies verschleierte Bild lockte, sondern – wie es häufig geschieht, daß feinfühlige Frauen sich von Ahnungen leiten lassen: weil sie dachte, sie könnte dem wunderlichen Freunde mit dieser Erkenntnis einmal von Nutzen sein.
Erst in der sinkenden Nacht kamen sie nach Hause. Do saß danach mit ihrem Manne noch lange wach. Sie sprachen von Rolf Krake.
»Es ist so mit ihm,« sagte Do, »als Kind hat er gelernt, sich zu hassen. Dieser Haß blieb ihm und wuchs in dem Jüngling weiter …«
»Aber, ich bitte dich, Do, wie ist denn so etwas möglich? [69] Es kann sich ein Mensch über sich ärgern, oder es kann ein Mensch das Vertrauen zu sich selber verlieren – aber er kann sich doch nicht durch eine Reihe von Jahren unausgesetzt hassen! Das wäre für ihn einfach nicht zu ertragen und müßte ja zum Selbstmord führen!«
»Ganz richtig,« sagte Do, »und das ist auch die Stelle, an der der Schlüssel zu dem Rätsel vergraben liegt: die Eigenliebe Rolf Krakes hieß ihn, den Haß gegen sich selbst auf sein Ebenbild zu übertragen – auf seinen Bruder Woldemar! Alles, was er an sich selber nicht leiden mag, das kommt ihm im Bruder doppelt und dreifach und peinigend verzerrt zum Bewußtsein. Er sehnt sich nach ihm, er reist in dieser brüderlichen Sehnsucht sogar über viele Meilen zu ihm – aber dann ist es, als begegne er seinem Bilde, und der Haß gegen dies Bild ist ihm geläufiger; denn die Selbstliebe dämmt ihn nicht ein.«
»Ich werde ihn in der kommenden Zeit mitnehmen an den Karauschenteich,« sagte Jakobus. »Du und Hanna, ihr sollt mehr um ihn sein als bisher. Während ich arbeite, lustiert ihr euch in der blühenden Heide.«
Am anderen Morgen zogen sie zusammen aus. Auch in den folgenden Tagen. Rolf Krake war gerne dabei. Aber die funkelnde Helligkeit, mit der er Hanna damals am Eldetag umleuchtet hatte, war nicht mehr in ihm.
Darüber ward das Verhältnis der beiden zueinander freier, erlöster. Von Stund' an konnten sie in der hohen Sommerwelt miteinander spielen wie Kinder, die sich heute bis zur Ausgelassenheit aneinander freuen und sich morgen vergessen. »Ich habe mich immer ein bißchen vor Ihnen gefürchtet, Rolf Krake,« sagte Hanna. »Nun haben Sie den Plan der Verlobung ja aufgegeben. Das ist vernünftig. Kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hände – von jetzt ab [70] sagen wir ›du‹ zueinander. Und nun geben Sie mir auch einen brüderlichen Kuß!«
Jockele lachte. »Hanna küßt immer erst fröhlich drauflos, wenn die Gefahr vorüber ist; dann aber mit Vorliebe. Ich kenne das.«
»Du, du!« drohte das aufgeblühte Mädchen. »Nimm dich vor mir in acht! Dich möcht' ich doch gerade erst in Gefahr bringen – es ist aber furchtbar schwer.«
»Ach nein,« scherzte Do.
»Das sagt sie heute, heute so leicht hin,« rief Jockele und warf seiner Frau einen lustigen Blick zu. Da sah ihn die frohe blonde Do an und wurde rot bis hinab in den Ausschnitt ihres Sommerkleides; denn es fiel ihr ein: sie hatte einmal im Moose des Buchwaldes im fernen Thüringerlande gelegen, hatte ihr Gesicht mit dem Hute bedeckt, um den die Ranke aus kleinen Blumen geschlungen war, und hatte gedacht: »Am Rhein sind die jungen Studenten in Schwärmen um mich geflogen – dieser Jockele aber hat seine Augen noch nicht ein einziges Mal vor mich hingestellt, damit sie zu mir sagten: ›Do, Do, du bist auch hübsch, und du gefällst mir doch eigentlich sehr‹ … Die Mädchen prickeln um seine vollen Sinne wie Sekt in einem neugefüllten Glase. Warum prickelt er nicht um mich? Und wenn er gar einmal schäumte, wie vor Gwendolin – man würde sich ja wohl helfen können … Und wenn nicht? – Na …«
Ja, so war das damals gewesen. Und vor diesem Gedanken aus dem Thüringerwalde wurde die frohe blonde Frau auf dem nordischen Fjeld glückselig rot bis hinab in den Ausschnitt ihres Sommerkleides. Aus der gesicherten Entfernung sah sich das alles nun furchtbar lustig an … Aber damals?
So blühte sich die Jugend dieser Menschen durch den Glanz, der sie einwob. Und Rolf Krake fand sich für seine Art fröhlich [71] und aufgetan zu ihren Sonnenseelen. »Es wäre wunderschön gewesen, wenn wir uns fürs Leben gefunden hätten,« sagte er zu Hanna; »aber ganz so wie Do bist du nun doch nicht … Na, es ist auch so, wie es ist, wunderschön,« sagte er in sanfter Bescheidung. »Und dein Kuß hat mir sehr wohlgetan.«
»Da hast du noch einen, du wunderlicher Heiliger! Du kannst mitunter einen bekommen – aber sauber, weißt du, und in Ehren! Ich glaube, man kann dich damit aus deinem dunklen Wasser ziehen …«
»Rettungsringe!« lachte Jockele.
»Es ist ein feiner Einfall,« bestätigte Rolf Krake. »Mir scheint, ich werde bei euch noch ein ganz vernünftiger Mensch.«
»Das scheint mir auch so,« sagte Hanna, »nun, da du mich nicht mehr um jeden Preis heiraten willst, ist das Spiel für dich schon zur Hälfte gewonnen.«
So waren die Tage auf dem Fjeld lustig und hell bis ins Herz.
Einmal des Morgens, als man auf der Osterinsel wieder zum Aufbruch rüstete, trat Nane Thord herein und sagte: »Es ist in der Nacht ein Boot um die Insel gefahren. Es sah aus, als wär' es aus Glas. Und es schien wie ein erleuchtetes Fenster in der Nacht. Es hatte auch zwei leuchtende Ruder in den Halftern. Aber es war kein Fährmann dabei.«
Nane Thord machte ihre großen, grauen Augen.
Da sagte Gwendolin: »Wir haben Neumond.«
»Lars Thord wird wieder etwas auf dem Herzen haben,« setzte Jockele mit gut verhehltem Spotte hinzu.
»Ach nein,« antwortete Nane, »wenn Lars Thord kommt, so setzt er sich auf die Klippe und angelt Karauschen. Deshalb bin ich auch nicht hinaus gewesen in der Nacht. Es [72] war mir unheimlich. Vor Lars Thord ist es mir nicht unheimlich.«
»Wir müssen da mal aufpassen,« beruhigte sie Jockele.
»Ja, das müssen wir wohl,« sagte Nane Thord.
John Williams war seit ein paar Tagen verreist, nach London. – Gwendolin wußte: am zweiten Morgen nach dem Überfall hatte er die Fahrt angetreten.
In der Nacht, von der Nane Thord auf der Osterinsel erzählte, was sie darin gesehen haben wollte, schlenderte Johnny vom Hydepark her durch die Greenstreet seinem Gasthause zu. Es ist da an der Ecke ein Kaffeehaus, in dem man zu allen Zeiten Deutsche trifft. Als Johnny im Vorübergehen durch die große helle Scheibe blickte, stand er mit jähem Ruck still, als wäre er gegen ein Hindernis gestoßen. Denn da drinnen sah er einen hünenhaften Menschen sinnend hinter dem Stuhl eines Schachspielers stehen … Jawohl, es war Henrik Tofte!
Da ging Johnny hinein. Aber Tofte bemerkte ihn nicht. Es wurden in dem Raume mehrere Partien ausgetragen, und es wurde kein Wort gesprochen. Deshalb setzte sich John Williams an einen der kleinen Tische, die hinter Henrik frei waren, bestellte sich ein Glas Tee, rauchte die Pfeife und wartete. Wartete zwei Stunden, ohne daß er von dem »großen Lichte« bemerkt wurde; denn Tofte war ganz vertieft in die Partie, der er zuschaute. Während nun da und dort ein Spiel mit dem Siege ausging oder remis wurde, erkannte Johnny: man spielte in diesem Kaffeehaus die Partie um die Zehnpfundnote. Um so merkwürdiger war die Anwesenheit des Malers. Zuletzt lief nur noch jene, bei der sich Henrik als Zuschauer aufgestellt hatte. Da wurde der schwarze Turm geschlagen. »Ich gebe das Spiel auf!« [73] rief der Verlustträger seinem Partner zu, »Sie haben Ihre zehn Pfund gewonnen.« – »Geben Sie sich nicht verloren, Herr!« sagte Henrik Tofte. »Doch? Nun, wenn Sie erlauben, spiele ich die Partie für Sie zu Ende und – wenn Sie mir im Gewinnfalle fünf Pfund abgeben.« – »Mit Vergnügen, mein Herr,« sagte der Deutsche und schaute verwundert an dem Riesen empor. Der setzte sich ans Brett und gewann mit dem siebenten Zuge. Eine freudige Erregung unter den Anwesenden war die Folge. Währenddessen schob Tofte die verdienten hundert Mark in die Tasche.
»Nun darf ich Sie wohl auch zu dem famosen Spiel beglückwünschen, Meister!« sagte in diesem Augenblick John Williams.
»Johnny!!«
»Ich bin's leibhaftig!«
»Kommen Sie, trinken wir eine Flasche Sekt!« sagte Tofte in alter Gewohnheit, faßte seinen Schüler unter und verließ mit ihm das Schachzimmer. Draußen in dem Erfrischungsraum, in sicherem Winkel, setzten sie sich fest. »So treib' ich es seit einer Woche, mein lieber Johnny,« erzählte das große Licht.
»Und haben sich dabei einen häßlichen Augenkatarrh geholt,« warf John halb im Scherz, halb im Ernst ein.
»Weiß der Teufel,« entgegnete Tofte, »ist das schon so sichtbar? Im Zirkus hat es angefangen. Es war ein Hundeleben, sag' ich Ihnen. Seit fünf Wochen bin ich nun in London. Ich habe gemalt wie nie zuvor: beim Schifferfeuer an der Themse, im Mondschein an der See und im Hafen, bei lumpigem Tranlicht in Armeleutkneipen und im Staube der Straßen. So an die vierzig Bilder. Bei dieser wilden Fahrt haben meine Augen nachgegeben – wie ein Pferd beim Rennen um den Goldpokal … Schicksal, Schicksal, Mister Johnny!«
»Vierzig Bilder!« rief Williams wie im Traume.
»Nu passen Sie auf,« sagte Tofte. »Einmal hab' ich einen Stoß davon unter den Arm genommen, habe mir einen deutschen Matrosen als Dolmetsch gedingt, und so bin ich zu Mister Watson gezogen. »Kaufen Sie mir diese Bilder ab, Herr,« hab' ich zu ihm gesagt. »Well,« hat er gesagt, »lassen Sie sehen.« Und »Ah« hat er gesagt, »was soll mir so etwas nützen? Es ist nicht die Kunst, die ich brauche. Sehen Sie, dies hier – dies wird bei mir gesucht!« Dabei führt mich der Kerl vor Bilder, die ich im Hardanger Fjord gemalt habe und die nun die Namen James King und John Williams tragen!«
Johnny erschrak. »Und was haben Sie ihm geantwortet?«
»Nun, ich war wohl um meinen Verstand gekommen,« sagte das große Licht, »sonst hätt' ich zu ihm gesagt: ›Mein Herr, entweder sind Sie ein Esel, oder Sie sind ein Verbrecher.‹ Aber ich sagte nur, ich glaubte, mit dieser Kunst könnte es die meine auch aufnehmen … Ausgelacht hat er mich!«
»Und die Bilder?«
»O, die hab' ich aus alter Gewohnheit als Zahlungsmittel benützt. Für eins hab' ich ein Roastbeef eingetauscht, für ein anderes eine Flasche Kognak. Zwei hab' ich dem Dolmetscher gegeben. Den Rest hab' ich um einen Pappenstiel verkauft, so unter der Hand, wissen Sie, beim Tandler oder dem Antiquitätenhändler.«
»Wissen Sie noch einen von den Läden?«
»Wie soll ich?« rief er. »Sie, das Malen ist eine verdammte Kunst! Ich glaube, ich geb's auf. Prosit! Und es lebe die nußbraune Gwendolin!«
Johnny erhob zwar sein Glas, aber das Gespräch leitete er hartnäckig zurück zu Henrik Toftes Geschichte. »Sagen [75] Sie, Meister, wie sind Sie eigentlich auf die Idee mit dem Schachspiel gekommen?«
»Schicksal!« sagte Tofte. »Ich kenne jetzt drei Kaffeehäuser, in dem Deutsche, Schweden oder Norweger die Partie um die Zehnpfundnote spielen. Da geh' ich abwechselnd vor Anker, verfolge Zug auf Zug, und auf dem toten Punkt springe ich ein. Immer geht das natürlich nicht, wissen Sie. Aber dreimal ist es mir geglückt in dieser Woche – sind dreihundert Mark!« Er ließ noch eine Flasche Sekt kommen. »Ich spare nämlich jetzt, sag' ich Ihnen. Und wenn ich zwölfhundert Mark habe, schüttle ich den Staub Englands von den Füßen und gehe nach Rom. Jawohl, nach Rom.«
»Malen?«
»Das heißt: wenn ich es bis dahin fertiggebracht habe, meinen Schwur zu brechen, daß ich keinen Pinsel mehr anrühren wollte.«
»Aha,« sagte Johnny.
»Warum aha?«
»Weil Sie einer von denen sind, die – wenn sie ohne Arme geboren – dennoch Maler geworden wären … Sehen Sie, von mir kann ich das nicht sagen.« John Williams hatte die Lider gesenkt und folgte mit den Augen der Spitze seines kleinen Fingers, die allerhand Figuren auf der Marmorplatte des Tisches beschrieb. Johnny war sehr nachdenklich.
»Haben Sie Ursache zur Reue?« fragte Tofte. »Haben Sie eine moralische Anwandlung? Bedrängt Ihr Herz eine große Tat? Lieben Sie unglücklich?« Er wartete aber nicht auf Antwort, sondern setzte hinzu: »Mit derlei Ballast schlepp' ich mich überhaupt nicht.«
»Ich finde, daß wir uns vortrefflich ergänzen, Meister.«
»Diese Wahrnehmung gehört für mich schon der Vergangenheit an!« lachte das »große Licht«. Dabei strahlte er, als wäre just er dazu ausersehen, der Erde den Frühling zu bringen.
»Übrigens: was hat Sie jetzt nach London geführt?« fragte Tofte unvermittelt.
»Ich bin auf dem Wege nach Glasgow. Je nun, man hat etliches zu bestellen, wenn man der Heimat voraussichtlich für lange den Rücken kehrt …«
»Holla – la – la!« machte Tofte.
»Hm,« sagte Johnny und schaute nicht auf. »Ich muß loskommen von James King. Er ist kein unebenes Talent. Ich auch nicht. Aber wir sind beide nicht stark genug, um faul sein zu dürfen. Er ist ein Mensch, der seine Freunde mit in den Abgrund reißt. Meister, ich werde nicht mehr in den Hardanger Fjord zurückkehren. Ich möchte später einmal nach München. Was meinen Sie dazu, wenn ich vorerst mit Ihnen nach Rom ginge?«
»Hurra!«
»Ich bin von Haus aus nicht ohne Mittel,« fuhr John fort, »ich werde deshalb auf den Rest meines Stipendiums verzichten …«
»Sie sind wohl wild geworden?«
»O, es ist nicht mehr viel. Und ich werde mich der Bildhauerei widmen.« Er lächelte. »Wir dürften für die Folge also noch enger zusammenstehen, aber die Firma ›Tofte, King und William‹ ist aufgelöst – der Gesellschafter Williams ist ausgeschieden.«
Henrik Tofte schwenkte das Glas. »Sturmschwalben auf dem Fluge zum Süden!« Er hatte Dos Naturgeschichte der Sturmschwalben nicht mit erlebt.
Auf dem Hauptbahnhof in Hamburg standen an einem Augustmorgen Do, Gwendolin und Hanna, Jockele und Rolf Krake. Sie warteten auf die Ankunft des Zuges, der ihnen den vor wenigen Tagen fertig gewordenen Dr. phil. Woldemar Krake bringen sollte. Der Sommer des Fjords war an ihnen hängengeblieben, und namentlich den Damen war anzusehen, daß sie geradewegs aus des Herrgotts Malkasten kamen. Es war ein Bild von betörendem Reiz, wie die drei auf dem Bahnsteige wandelten: die Wildrose Gwendolin in der Mitte, natürlich in sanftem Gelb, Do in Weiß und Hanna in der Farbe des Morgenhimmels, wenn der hell um die Schneegefilde des Folgefonds weht. Es war die springlebendige Lieblichkeit, vor der der Herzschlag der Männer sieben Sekunden lang aussetzt, und nach der sich die Augen der Frauen in neidlos stiller Beglücktheit wenden. Selbst inmitten des losgelassenen Lebens auf einem Bahnhof.
Da schnitt auf einmal einer quer über die schaukelnden Wogen des bunten Sommergetriebes hinweg. In der Hand des hochgereckten linken Armes, der wie ein Mastbaum ragte, schwenkte er einen Rucksack, schmetterte einen jodelnden Ruf, trieb wie ein Schiff übers Meer vor dem Sturm seiner Freude und riß die Schwertlilien aus dem Hardanger Fjord alle drei auf einmal an sein Herz: Henrik Tofte auf dem Wege nach Rom!
Weiß Gott, jeder Tag im Leben des »großen Lichtes« sorgte für eine Stunde, die den Schicksalsglauben immer fester in ihn hineinhämmerte! – Vor einer Minute hatte er gejauchzt »Nach Rom! Nach Rom!« nun aber war alles, was er vorgehabt hatte, in seiner himmellangen Freude ertrunken, und schon drehte er das Steuer gegen den Wartesaal, um dies Wiedersehen mit ungeheurer Hingabe zu feiern.
Sein Freund Johnny stand indessen hinter der rückwärtigen Scheibe des letzten Wagens im D -Zug und merkte wohl, daß er und die Reise für den jubelnden Henrik ein verwehender Traum geworden waren. Johnny hatte sich aus einer vorgefaßten Meinung gegen Gwendolin nicht sehen lassen wollen; darüber hinaus aber hatte er das Geld für Toftes Fahrkarte – und zwar bis nach Rom – ausgelegt. Im Zuge wollten sie abrechnen … Johnny schwang sich also aus dem Wagen und eilte dem Festzuge Toftes nach. So gelangte er in die Lage, sich noch ein Auge voll Gwendolin zu nehmen, riß das große Licht vom Himmel der Seligen herab und hinter sich drein – Türen schlugen, Fertigrufe erschollen, die Lokomotive tat einen erlösten Atemzug, Henrik Tofte streckte seine Arme aus dem Fenster, Gwendolin blühte ihr Hochsommerglück über das Eisengeländer noch einmal zu ihm hin – vorbei!
Vorbei war's, ehe sie recht erkannten, was ihnen da begegnet war.
Henrik Tofte aber sank in seinen Ecksitz und ließ den Rausch eines Kusses über seine Seele perlen wie schäumenden Wein über die dürstende Zunge. Diesen Kuß hatte er sich von Gwendolins Lippen genommen in der jähen Sekunde des Abschieds und in wildausbrechendem Glück. Nun schwieg er. Schweigend hob er die Finger zum Schwur und deutete auf seinen Mund. Das sollte heißen: »Ich werde fortan als stummer Mann durch meine Tage ziehen; denn ich darf den Kuß nicht zertrümmern, der mir auf den Lippen blüht.«
So sahen die Schwüre des »großen Lichts« aus. Keine wußte das besser als Gwendolin. Darum reiste Henrik Tofte nun in das neue Leben und – sie war nicht dabei.
Doch, es gibt keinen Fleck Erde, über dem sich die schwarzen und die roten Fäden hastiger durcheinanderwerfen zu dem [79] närrischen Gewebe des Lebens als über jener Stelle, auf der die Fünf von der Osterinsel dem wunderlichen Gesicht noch lustig und betroffen nachstarrten, das sie soeben gehabt hatten – und schon pustete der erwartete Zug in die Halle. Deshalb lösten sich Rolf Krake und Hanna von den anderen … Hanna, die Gwendolin und Do noch gerade von hinnen funkeln sahen; und Rolf in ehrlichem besinnlichem Frohsinn vor dem Bruder.
Und dann brachten sie ihn, den Doktor Woldemar Krake, der sein Herz voll heißer Liebestatkraft dem sausenden D -Zug hatte voranfliegen lassen! Der andere hatte überwunden. Aber Do dachte auch jetzt: sie können wohl Stunden haben, in denen der eine sich mit dem anderen verwechselt.
Da war das gleiche schmale, bartlose, scharf modellierte Gesicht mit der auffällig hohen Stirn. Darüber dünnes blondes Haar, nach rückwärts gestrichen – es wehte bei Rolf Krake vor jedem Sturme der Seele. Und die Augen lagen unter der kraftvollen Stirn, grau und groß, wie Nane Thords Augen, die das Wundern so gut verstanden. Woldemar ging auch ein wenig vornübergebeugt, genau wie Rolf. Er sah nicht geschmeidig aus; aber es stand der Jugend beider gut und vornehm. Es war fast so, als käme das Übergewicht der Besinnlichkeit in dieser Haltung zum Ausdruck. Die gleichen Kräfte des Geistes hatten sich die Krakestirnen geformt; die gleichen Kräfte des Gemüts stimmten sich diese Stimmen und Seelen. Aber der eine ging gern mit der Stunde, ob sie laut war oder leise. Der andere verhielt sich ihr zu aller Zeit.
In Hamburg machten sie sich einen vergnügten Tag, und es war ihnen wohl anzumerken, daß ihnen die Buntheit der großen Stadt nach der Ruhe ihres heimeligen Winkels im Fjord zu einem genußhaften Erleben wurde. Abends [80] waren sie in St. Pauli. Als sie lange nach Mitternacht in ihr Gasthaus am Alsterbassin kamen, sagte Do:
»Mir ist, als müßte ich mich nun zum Trocknen auf die Leine hängen; denn wir sind immerfort durch bunte klingelnde Gewässer gehüpft, ich habe mich vollgeplätschert bis zu den Scheiteln.«
»O,« sagte Woldemar Krake, »wenn Sie gerade aus dem Examen kämen, klänge Ihnen das kecke Lied vom Brettl wie Engelsang, und die Spritzer aus flachen Wässern würden Ihnen zu einem Bade der Wiedergeburt. Es war ein feiner Tag. Gute Nacht.«
Danach schliefen sie einen fixen Schlaf; denn des Morgens halb fünf Uhr mußten sie schon auf dem Dampfer sein. Als sie hinkamen, hatten sie noch alle Nerven voll Klingeling und Gestern und die Lider voll zerbrochenem Schlaf und standen auf dem Deck herum und sahen, wie noch rasch letzte Lasten auf dem Dampfer verstaut wurden, und schwiegen sich an und dachten: es riecht nach Teer.
Aber es war ein schöner Morgen. Dünne Nebel streiften seehin wie der Rauch einer feinen Zigarette; und aus der Kajüte stieg Duft von Kaffee und schmeichelte um ihre Sinne eine liebe Verheißung. Die ward Erfüllung. Darüber gerieten sie von dem taukühlen Rande des Tages gleich tief in ihre Freude. Und als sie wieder auf Deck kamen, zerstießen die Türme Hamburgs die gelbgraue Hülle, in der die Stadt versunken war. –
Am anderen Nachmittage überraschte sie James King an den Toren des Eldefjords mit den Booten. Es stand ein kleiner Wind aus Westen, mit dem konnten sie heimsegeln. Gwendolins »Seelenverkäufer« aber hatte James nicht mitgebracht, und auch nicht sein eigenes Boot. Er sagte, es wäre leck, deshalb hätte er sich das von Nane Thord ausgeliehen, und nahm Gwendolin mit zu sich hinein. Nane Thord aber [81] hatte sich indessen um ein feines Mahl bemüht. So konnte die Ankunft des Doktors Woldemar mit Nachdruck gefeiert werden …
Es machte danach einige Mühe, das durcheinandergeratene Werk wieder so in Gang zu setzen, daß es den alten schönen Schlag der Stunden fand.
Woldemar wohnte nun in dem Zimmer Henrik Toftes. Und mit Ausnahme von Rolf Krake in der Sägemühle und von James King, der noch in dem Fischerhaus drüben am Festland saß, hatten sie alle ihr Nest auf Nane Thords Insel. Da die Nächte früher einfielen, die Nebel dichter wurden, und das Feuer an den Abenden schon wieder glomm, rückten sie gern um die Herdstatt zu traulichen Gesprächen.
In dieser Zeit, als der Herbst sich heimlich über die Welt legte, arbeitete Jockele scharf an seinem Werk über die Flechten und kam über Tag oft kaum von seinen Mikroskopen. Deshalb fiel ihm die Wandlung, die sich mit Rolf Krake in jenen Wochen vollzog, stärker auf als den anderen. Rolf schied sich auch wieder mehr von ihnen ab. Aber wenn sie zu ihm in ihrer weitoffenen Art davon sprachen, schob er sein Einsamkeitsbedürfnis auf seine theologischen Studien und Haeckel. »Es macht mir ein sonderliches Vergnügen, mich darüber hin und wieder mitten entzweizureißen. Mit dreiundzwanzig Jahren ist der Mensch nun einmal ein Philosoph.«
»Man muß aber nicht auch die Nächte hindurch philosophieren,« wendete Do ihm ein, »und es ist zum mindesten nicht notwendig, daß Ihre Lampe dem Morgen ins Gesicht scheint.«
Eines Abends blieb er länger als sonst. »Ich setze mich neuerdings mit dem Glauben an die Seelenwanderung auseinander,« sagte er.
»Eine Sache, die Ihnen unbedingt noch gefehlt hat,« scherzte Gwendolin.
»Spaß beiseite,« sagte Hanna, »du hast zweifellos zuvor als Kröte unter dem Skjoldefoß gesessen oder als Steinkauz in einer der benachbarten Klippen. Ich habe das neulich ganz genau bemerkt, als wir zu dem Falle gingen: dein Eulenschrei hui – huiiihihi war mehr als eine bloße Nachahmung.«
»Hm,« machte er aus einem lustigen Nachdenken heraus, »die Wanderung durch den philosophischen Steinkauz fesselt mich gegenwärtig weniger, sondern vielmehr die Anschauung: die Seelen fliegen nach dem Tode des Körpers auf den Mond. Dort wohnen sie während des zunehmenden Mondes, aber bei abnehmendem steigen sie mit dem Regen herab und gehen je nach ihren Taten in höhere oder niedere tierische Körper ein oder sogar in Pflanzen.« Solcherart waren die Gespräche, die sie über das Herz der Nacht hinweg am Herdfeuer auf der Insel führten. James King aber saß dabei und wunderte sich und sagte: »Vom Geschäft reden die jungen Deutschen niemals. In England lacht man über sie, und in Amerika nennt man sie › the greenhorns ‹ und füllt das Wort › dutch ‹ bis obenhin mit Verachtung. Ich glaube, es kommt die Zeit, da werden sie es spüren.« An diesem Abend erfuhr er auch, daß Gwendolin eine Böhmin wäre, und es kam heraus, daß der gescheite James sich Böhmen als eine Insel im Ozean dachte. Doch – er berief sich dabei auf Shakespeare. Gwendolin nahm sich den Mister James daraufhin in ihrer witzigen und leuchtenden Art vor. Es wurde so launig, daß sogar Rolf Krake vor Vergnügen seine Schenkel schlug und Mister James auf allen vieren um den runden Tisch galoppierte. Er hatte den grauen Anzug an.
Dieses Schauspiel verpaßten Hanna und Woldemar. Gleich nach Rolfs Mondfahrt waren sie hinausgegangen [83] in die Nacht: sie wollten hören, ob die Käuze riefen – dann gäbe es anderes Wetter, und sie müßten die Kletterpartie auf den Folgefond verschieben …
Es war eine Neumondnacht voll Klarheit und stiller Sterne und doch so finster im Schatten der Berge, daß sie sich ganz fest umschlangen. Zu der Bank im Rohre fanden sie sich aber doch.
»Holla,« rief Woldemar, »es liegt schon einer da!«
Da verfiel Hanna in ein schütteres Lachen. »Ach wo,« sagte sie, »ich habe vor dem Essen rasch meinen Mantel und das dicke Umschlagtuch hergetragen. Man konnte doch nicht wissen, ob die Hüllen nötig wären. Nun, eigentlich brauchten Sie es nicht gleich zu merken.«
Das war das letztemal, daß sie das fremde »Sie« gegen ihn gebrauchte; denn nun kam eine Stunde ohne Worte. Die war so leise – das Rohr hätten sie atmen hören können! Aber sie horchten nicht hin.
Auf einmal knirschte der Kies hinter ihnen. Da wurden ihre betörten Sinne steil. Dann strich etwas in die Schilfhalme hinein – aber das war schon einen kleinen Steinwurf weit weg von ihnen und war dort, wo das Rohr so dicht stand, daß man ein brennendes Licht hinter dem grünen Gewebe nicht gesehen hätte. Dann folgte ein leichter Sprung und ein langes heimliches Gleiten … Aber auch darüber fiel gleich wieder die dunkelblaue Stille.
»Du,« flüsterte Hanna, »meinst du, daß Rolf nächtlicherweile Gespenster suchen geht?«
Da stieg Woldemar auf die Bank, um gegen das Haus zu schauen, und sagte: »Das Licht im Saal ist ausgetan.« Dann wollten sie von neuem in ihre liebe purpurne Finsternis versinken. Aber es kam nicht mehr zu einem tiefen Untergange; [84] denn der Gedanke an den nächtlichen Wanderer drängte sich zwischen sie. Da brachen sie auf. Und als sie über das Riff gingen, sahen sie einen leuchtenden Kahn über die Sterne ziehen, die im Fjord lagen, der wurde von zwei leisen Rudern getrieben. Aber es war kein Fährmann im Boot.
Es war unheimlich. Da blieb den beiden der Atem stehen, und sie legten sich der Länge nach auf den Stein und lugten aus. So blieben sie, und das Gespensterschiff zog her und hin …
Um diese Zeit klopfte Nane Thord an Gwendolins Tür; denn Gwendolin schlief Wand an Wand mit ihr. Als sie herauskam, sah sie: die Kerze zitterte in Nane Thords Hand. »Kommen Sie,« sagte Nane Thord, blies das Licht aus und führte sie in ihre finstere Stube … »Da! Da ist das feurige Boot! Sehen Sie es auch?«
»Ja,« sagte Gwendolin.
»Die Gespenster kommen hier immer im neuen Mond.«
»Je nun, es hängt vielleicht mit Rolf Krakes neuer Erkenntnis zusammen.« Das verstand Nane Thord nicht; aber das merkte sie wohl: es lag in Gwendolins Worten ein Spott, der nicht recht zur Blüte kam. Eine wunderliche Sache war die Erscheinung nun doch. Gwendolin eilte indessen vor die Schlafzimmertür Dos und ihres Mannes. Die lagen im ersten Schlummer, und es verstrich eine Frist, bis man sich durch die Tür verständigt hatte. Jockele schlüpfte in den Kimono, Do warf sich das Morgenkleid über und ließ Gwendolin herein. Dann öffneten sie das Fenster, so lautlos es anging – da sahen sie die Sterne still und traumhaft auf dem Grunde der Wasser funkeln, aber von dem Gespensterschiff keine Spur.
Jockele hatte den Revolver aus dem Nachttischkasten genommen und drehte die Trommel. Es klang ein wenig erregt, aber es gab die Gewißheit, daß er im Ernstfalle –
Da war's wieder! »Ho!« machte Jockele sehr bedeutend.
»Es ist jetzt anders geworden,« stellte Gwendolin fest, »vorhin war kein Fährmann darin.«
»Ein Mann ohne Kopf!« flüsterte Do. »Sagt, was ihr wollt – die Sache ist nun doch unheimlich.«
Sie sahen den Mann ohne Kopf alle drei. Er saß dort in weißem Linnen; seine Arme unter der Hülle bewegten die Ruder in geräuschlos langem Schlag, und zwischen den Schultern konnte man genau die Stelle erkennen, an der der Kopf abgerissen war: es sah aus, als läge da noch der Rest eines Bartes, der bei Männern, die ihn tragen, die Schifferkrause heißt.
»Dies Spiel ist mir zu dumm,« sagte Jockele in einer Anwandlung von Mannesmut, »ich schieße dem Herrn eine Kugel achtern ins Boot.« Und »Bumm!« dröhnte der Knall in die schwarze Stille und rannte an den Bergen herum in hundertfacher Verstärkung. »Nicht getroffen! Noch einmal!« Bumm! Aber das gläserne Schiff klirrte auch diesmal nicht in Stücke. Sondern der Mann ohne Kopf schnellte von seinem Sitz in die Höhe und rief: »Doktor, machen Sie keinen Unsinn! Was soll denn diese lächerliche Schießerei?«
Natürlich liefen Jockele und Gwendolin nun hinaus und nahmen Nane Thord und ihre Windlaterne mit. Dann legte James King bei der Klippe an, in der Henrik Tofte in Stunden der Einkehr sein Frühstück zu verzehren pflegte, und kletterte am Gestein empor. Von der anderen Seite kamen Woldemar und Hanna, und Jockele leuchtete das Gespenst zwischen Lachen, Spott und Verwundern mit der Laterne an: Mister James hatte sich ein Bettuch über die Schultern geworfen und den Kopf mit einem Pudelfell verhängt, das war genau so schwarz wie Nacht und Flut und von beiden nicht zu unterscheiden.
»Ist das nicht ein lächerlicher Spaß?«
»Man kann es so nehmen – aber auch anders,« sagte Gwendolin ein bißchen verstimmt. »Je nun: es ist der erste Sieg, den Sie in Ihrem Leben errungen haben – lassen wir ihn gelten.«
Mister James gebärdete sich sehr lustig. Aber im Grunde: nach einem Siege sah die Sache für ihn ganz und gar nicht aus, sondern nach einer lächerlichen Niederlage; denn er hatte Gwendolin damit eine Gelegenheit geben wollen, ihn zu lieben. Und zwar hatte er sich den Gang der Dinge also gedacht: Gwendolins Licht war alle Nacht das letzte im Haus. Wenn sie es austat und das Fenster öffnete, ehe sie sich zu Bett legte, sollte sie die Erscheinung bemerken. Weil sie nun ein tapferes Herz hatte und eine Lust an kühnem Erleben, würde sie nicht schreien, sondern sie würde sich die Erscheinung mit Teilnahme näher betrachten. Auf dies »näher« kam es ihm an. Alles übrige gedachte der listige James der Gunst des Augenblickes zu überlassen …
So war seine Berechnung. Es war eine umständliche Sache. Aber – nun ja, er hatte seit der Flucht Toftes tausendmal vergeblich nach einem geraderen Wege zu dem wachen Mädchen gesucht: es gab für ihn keinen.
»Mister James,« rief Do aus dem Fenster herab, »wäre es nicht einfacher gewesen, Sie hätten an Gwendolins Scheibe geklopft?«
»Hm,« sagte er, »da hätte sie mir einen Krug Wasser über den Kopf geschüttet.«
Dos Frage war keck und hellsichtig. Und das Geständnis des James war verblüffend. Danach hätte er im Reste der Nacht seine Koffer packen können. Das tat er aber nicht; sondern am anderen Morgen fand er sich im Krakesaal zum Frühstück ein und sah aus, als hätt' er nie im Leben eine [87] Dummheit gemacht. Der begehrten Gwendolin aber schlug das Herz fortan in schöner Sicherheit, und Hanna und Do lächelten sich so um den geschlagenen König herum. Der aber streckte die langen Glieder von sich, zeigte eine lächerliche Wurstigkeit und rauchte Shagtabak.
Einige Tage danach waren Do, Gwendolin und Hanna an Land gefahren und wanderten mit verschränkten Armen am Ufersaum entlang und sprachen vom Leben. Sie mußten heute dazu unter sich sein. Do war für Hanna in der letzten Zeit in allen Stücken die liebe weise Beraterin geworden, und Gwendolin hörte ihnen in nachdenklichem Frohsinn zu. »Sie reden von meinem fernen Lande,« dachte sie. Seit der Kunstschule in Weimar war ihr der Anblick solch einer hoffenden, drängenden und geheimnisvollen Frauenjugend ganz verlorengegangen. Und auch damals hatte sie abseits gestanden mit ihrer größeren Begabung und ihrer gefestigten Art; denn was da in den Malsälen gesessen hatte aus Liebhaberei oder in der Absicht, sich zu beschäftigen, das hatte Augen, denen das Lebensziel im Nebel verschwamm. Eine wie Hanna von Fellner war ihr nie begegnet: die wollte das ganze Reich, in dem sie einmal als Frau einzog, aus ihren fixen weißen Händen zaubern – wenigstens alle Feinarbeit daran. Nun empfing sie Packen weißen Linnens und spiegelnden Batist und weiße Seide. Sie hatte sogar eine Nähmaschine kommen lassen. Im Haus auf der Insel klangen die Nadeln stundenlang durch gespannte Tücher im Stickrahmen; das Wort »Dutzend« spielte eine mächtige Rolle, und Nane Thord betastete mit Augen und Händen den schneeigen Reichtum und wunderte sich stumm vor den Herrlichkeiten, die da mit blauen Seidenbändern zu Türmlein geschichtet wurden.
Aber es war nun einmal so; und die Hanna, die sich immer ein bißchen obenhin durch ihren Vorfrühling geträllert hatte, rüstete für ihr Ostern mit einer Tiefgewalt, die altmodisch ausgesehen hätte, wäre sie nicht so voller Innigkeit gewesen. Deshalb wurde sie einzig in ihrer Art. Sogar die zärtlichen Jung-Frauenträume der »kleinen Wäsche« vergaßen sie nicht – es war ein schweres Exempel. Aber mit vereintem Scharfsinn bekamen sie auch das heraus und dichteten es gleich für zwei.
Darüber bekam Gwendolin das lange Sehen. Sie mußte schon wieder an das »ferne Land« denken und sagte: »Ich habe mir ein feines Leben gemacht; es ist voll Schönheit und Fülle und Freiheit bis oben. Und zuletzt? Zuletzt gehör' ich doch zu den Menschen, die den Weg verloren.«
»O nein,« sagte Do, »aber du könntest wohl dahin kommen.«
»Liegt das an mir?« fragte Gwendolin.
»Ja,« sagte Do, »in der Fremde an deinem hellen Licht siehst du als Dämmerung und Nacht, was außer dir ist. Es ist kein Mädchen umworbener als du. Und ich weiß auch kein Herz, das heißer und genußfroher wäre als deins. Aber du probierst es nicht, diesem Herzen seine Aufgabe zu stellen.«
»Das ist wieder einmal eine richtige Do-Rede gewesen,« lachte Gwendolin, »nun ja, du bist nach Rolf Krake in dem Alter, in dem die Menschen Philosophen sind. Oder hast du das bei Ibsen entdeckt?«
»Nein,« sagte Do. »Ibsen würde sagen: ›Die Frau soll dem Manne bei seiner Arbeit und bei seinem Leben helfen, indem sie ihm Arbeit und Leben leichter macht und indem sie um ihn ist und ihn pflegt‹.«
»So ist es mir handlicher,« sagte Gwendolin. »Ich werde mich daraufhin einmal ansehen müssen.«
»Ja, tue das,« sagte Do, »es wird dir nicht schaden. Ein Mann ohne Frau ist ein Halbnarr. Mit einer Frau ohne Mann steht es nicht so schlimm; aber die Weisheit, daß wir ja doch nicht alle heiraten können, ist ein windiger Trost, und sie ist von alten Jungfern erdacht als Decke für ihre greuliche Erkenntnis: ich bin durchs Examen gefallen.«
»Paßt nicht für mich!« erriet Gwendolin.
»Aber du hast auch keinen gefunden, der dich hätte deinem Trotz abringen wollen. Zuletzt traut dir keiner zu, daß du ihm zuliebe ein Stück von dir selbst aufgeben könntest.«
Gwendolin dachte an Henrik Tofte und an sein Wort von der Malerei. Das wandelte sie nun ab und sagte: »Die Ehe ist eine verdammte Kunst.«
So schritten sie froh, nachdenklich und wachsam gegen sich selbst in Sonne.
Hanna hatte schon wiederholt gegen die Sägemühle geschaut, ob Woldemar nicht käme. »Ich weiß nicht, warum er uns warten läßt,« sagte sie.
»Nun, er wird eine kleine Ausstaubung an Rolf Krake vornehmen,« meinte Do, »man wird damit nicht so rasch fertig, wie man denkt. Ich kenne das. Es gibt in dieser Seele Winkel voll Dämmerungen. Rolf Krake ist wie eine alte Burg, vollkommen eingerichtet, aber es wohnt ein Sonderling darin, und neben ihm ein Haufen wunderlich Wesen, wie es sich in solch einem abseitigen Bauwerk festsetzt …«
Wenn sie von Rolf Krake redeten, kamen sie so bald nicht los. Es wurden da immer neue Entdeckungen gemacht, und man gelangte doch zu keiner Lösung.
»Dazu müßte man Seelenarzt sein oder Schriftsteller, hat mein Jockele gestern abend zu mir gesagt,« erzählte Do.
»Na ja,« warf Gwendolin ein, »ich sehe Jockele doch noch [90] als Dichter! Ich kann mir gar nicht denken, daß die trockene Wissenschaft ihn zeit seines Lebens fesselt.«
»Vielleicht habilitiert er sich einmal in Jena,« sagte Do.
»Aber wenn er des Abends erzählt, dann höre ich doch immerfort den Dichter,« redete Gwendolin hartnäckig dagegen. »Ich glaube, wenn er seine Abhandlungen über die Flechten und über die lächerlichen Frösche geschrieben hat, wird er mal halb wachend, halb träumend zu einem Romane kommen, etwa mit dem Romfahrer Henrik Tofte als Helden oder mit Rolf Krake, der Zauberburg. Über die Flechten und Frösche wird er sich noch zu den Menschen finden …«
»Jockele auf Seelenwanderung!« sagte Hanna. Sie setzten sich in den blühenden Rasen und plauderten sich in Ausblicke und Einblicke. Sie hörten in ihrem Sonnenwinkel an der Hügellehne den Skjoldefoß rauschen und ahnten sich tief ins Leben. Aber das Entsetzliche, was sich in diesen Minuten am Fall ereignete, das ahnten sie nicht.
Zwischen dem Fels und dem schäumenden Vorhange der Wasser stand Rolf Krake auf der moosgrünen Steinplatte und schaute in den Gischt, der um seine Füße kochte. Er stand dort wie einer, der auf der Wanderung ist in den Sommermorgen. Vielleicht war er auch von den Bergen gekommen. Unter ihm quoll es aus Tiefen herauf und brüllte. Vor ihm brach es aus Höhen herab und schnob. Hinter ihm ragte der tropfende Fels und barst nicht, und doch donnerte der Bergstrom seit tausend Jahren seine Allmacht darüber hin. Vor ihm in der Luft hing die zischende Flut, hing zwischen ihm und der Welt, rückte die Welt weit, weit hinaus: wenn er seine Füße hob und jetzt schnurgeradeaus wanderte durch diesen kochheißen eiskalten Vorhang hindurch – die Welt war für ihn nicht zu erreichen, mochte er gleich tausend Jahre laufen! So weit weg war Rolf Krake von der Welt, und so [91] fürchterlich hing die Einsamkeit um ihn. Er dachte: »Ich will den Weg, der tausend Jahre lang ist, jetzt wandern. Es wird mich von oben die Gewalt des Stromes fassen und in die Tiefe werfen. Und es wird mich das Brodeln der Tiefe greifen, wie der heulende Sturm ein Körnlein Sonnenstaub, und wird mich aus der brüllenden Finsternis heraufwirbeln und hinab, herauf und hinab. Hundert Schritte wird mein Herz mitrasen auf der Straße der tausend Jahre … liebes Herz, so töricht bist du schon all die Zeit her gewesen – ich will dir diesen letzten verrückten Wettlauf ersparen …«
Rolf Krake redete das ganz laut in die fürchterliche Einsamkeit und zog den Revolver aus der Tasche.
Da trat Woldemar Krake über den Steig von links in den hohen Dom, der aus Fels und Flut, aus Donner und blauem Lichte gebaut war. Woldemar Krake sah die Waffe in seines Bruders Hand, und er sah auch den weiten Weg in seinen Augen, den er vorhatte.
Rolf Krake aber kniff die Lippen in unsäglichem Hasse zusammen – die Felsplatte, auf der sie standen, war von Manneslänge und drei Fuß breit. Wie tief das Sterben war, das den Stein umbrandete, ermaß kein Menschenwitz. Und es gab kein Menschenwort, das den tosenden Schlag der Wasser überschrie – keine Frage, keine Bitte. Deshalb riß sich Woldemar Krake zusammen wie ein Tiger zum Sprung: es durfte kein Ringen geben auf dieser Spanne Gestein, sondern nur ein gewaltiges Umschließen mit Armen, in denen der Wille des anderen augenblicklich zerbrach …
Rolf Krake aber dachte: »Es ist doch kein Wahn, daß ich dich hasse! Wer hat mir das Leben vermauert von Kind an? Du! Wer hat mir den Traum der Liebe zerpflückt? Du! Wer hat mich vor der Welt und mir selbst zum Narren gemacht? Du! Und wer kommt jetzt und mengt sich auch [92] in mein Sterben? Du! Du! Du – der du ich bist, ich!« Und er warf den Arm mit der Waffe hoch. Der gekrümmte Finger riß den Abzug durch. Kein Knall war zu hören. Kein Wölklein Rauch war zu sehen … Nach dem vierten Schuß schleuderte er die Handvoll mörderisches Eisen in den Schwall und sprang durch den Spalt des weißen Vorhangs hinaus. Durch diesen Spalt war der andere vor einer Minute hereingetreten …
Noch einen jähen Blick warf er zurück – das verhaßte Bild folgte ihm nicht. In einer Bergschrunde klomm er empor, in der im Frühling ein fußbreites Tauwasser über die Steinstufen sprang. Er rannte immerzu. Er zog sich an Krüppelkiefern empor. Er kam in eine sanfte Mulde zwischen den Wänden, da sah er Lona Steensgard, die Tochter der Fischerswitwe Bolette Steensgard. Sie stand dort in groben Schuhen und in ihrem schlechten Wollrock, brach Astholz und stapelte es in ihren Korb. Lona Steensgard lachte und sagte: »Sie können von hier aus gut wieder auf den Pfad kommen, Sie müssen nur immer ein bißchen links bleiben gegen den Skjold zu, dann sehen Sie alsbald den Bratthammer …«
Danach sah ihn niemand mehr, der ihn kannte. –
»Nein,« sagte Hanna, »das finde ich doch unerhört! Woldemar hat versprochen, in einer halben Stunde wär' er da!«
Gwendolin rieb sich die Hände. »Die unglückliche Ehe ist schon in vollem Gange.«
Da zog Hanna die Do unter den Wiesenblumen hervor, zerträllerte ihr Unglück und sagte: »Na warte!« Das galt ihrem Liebsten; denn sie steuerte nun nach der Mühle und wollte Rechenschaft von ihm fordern.
»Ah, das Spiel schau' ich mir an,« lachte Gwendolin und lief hinterdrein.
In der Sägemühle fanden sie die Brüder nicht. Ein Arbeiter, der auf dem Holzplatz war, hatte den Dr. Krake vor gar nicht langer Zeit den schmalen Steig zum Fall schreiten sehen. Man konnte diesen Steig von der Mühle aus aber nur eine kleine Strecke weit überschauen, dann kroch er hinter Felsblöcke. Also gingen Do, Hanna und Gwendolin hinüber zum Skjold, und als sie durch den Spalt im Vorhang traten, lehnte Woldemar Krake dort sitzend gegen die nasse Bergwand und hatte das Gesicht so tief vornübergesenkt, daß ihm der Hut vom Kopfe gefallen war und auf seinen Knien lag. Die rechte Hand ruhte flach auf dem Moos und war wie ein welkes Laub, und es war Blut daran, das aus dem Rockärmel sickerte.
Zuerst standen sie mit ihrem Schreck nebeneinander wie Erscheinungen; denn sie schrien sich an und hörten sich doch nicht und warfen die Arme. Hanna nahm Woldemars Kopf in ihre Hände. Dann faßte ihn Do unter den Armen und Gwendolin an den Füßen, und sie trugen ihn hinaus an den Rasenrand in die Sonne. Nach einer Zeit erwachte er und lächelte, weil er die Freundinnen sah. Er hielt Gwendolin am Rocksaum fest und Hanna an der Hand und sagte: »Geh du auch nicht fort, liebe Do.« Seit dieser wilden Stunde nannten sie sich alle du. Aber er schloß die Augen gleich wieder. Da zogen sie ihm den Rock aus; denn sie sahen die Schußöffnungen in den Ärmeln. Darüber erwachte er abermals und merkte, daß Do noch hinter ihm stand und daß er an ihren Knien lehnte. »Sollen wir denn nicht Hilfe holen?« fragte Gwendolin.
»Nein, es ist schon vorbei.«
Da ließen sie ihn wieder auf den Rücken in das Mittagsgras gleiten; denn sie merkten, wie ihm die Sonne wohltat. »Es ist gut, daß wir an diesem Platze sind,« sagte er, »es kommt [94] hierher oft tagelang kein Mensch. Gwendolin, möchtest du mir nicht ein Glas Sekt holen oder Kognak? Aber du mußt niemandem ein Wort sagen, wie es mit mir steht, hörst du?«
Während Gwendolin den Steig hinabeilte und hinüberruderte nach der Insel, fragte er: »Wo ist Rolf?«
»Wir haben ihn nicht gesehen. Hat er dich geschossen?«
Er nickte und schloß die Augen vor dem tiefen Schmerz, der über sein Gesicht fiel.
»Großer Gott, wie hat denn das geschehen können?« sagte Hanna. Do winkte ihr, daß sie alles Geschrei vermiede, legte sich den Finger auf den Mund und gab ihr ein Zeichen. Dann kam Gwendolin mit dem Sekt, und er trank ein Glas in der Gier eines Verdürstenden. Sie gaben ihm noch mehr, und danach verlangte er seinen Rock. Sie führten ihn zum Strand und kamen zur Insel.
Nicht Nane Thord erfuhr von diesen Dingen und nicht James King; der war an diesem Tag malen gegangen. Sie aber wuschen Woldemars Wunden und verbanden sie aus ihren Reiseapotheken. Es waren Fleischwunden, die eine im rechten Unterarm, die andere im linken, oben nahe dem Schultergelenk. Danach lag er und schlief bis gegen Abend. Jockele aber war inzwischen in der Mühle gewesen und hatte nach Rolf Krake gesehen und sein Zimmer unverschlossen gefunden. Da sperrt er die Tür zu und steckte den Schlüssel zu sich.
Auch am Abend blieben sie im Saal unter sich, sie hatten James gebeten, sie dies eine Mal allein zu lassen. Do aber war nun auch in der Mühle gewesen und hatte über Rolf Krake nichts erfahren. Da ging sie in sein Zimmer; denn er hatte ihr in allen Stücken vertraut und viel mehr als sich selber. Auf dem Tische fand sie sein Tagebuch, das war bis [95] zu dem Augenblicke geführt, in dem er von hinnen gegangen war. Den letzten Abschnitt las sie:
»Liebe liebste Frau Do – wenn Sie mich suchen: ich bin die Straße gegangen, die tausend Jahre lang ist und noch viel länger. Darum werden Sie mich nie finden. Aber denken Sie einmal an mich, wenn im nächsten Jahre der Wildrosenbusch wieder so schön blüht … wenn Seelen wandern, dann will ich Ihre Güte und Ihr liebes helles Licht umhauchen als der Duft von wilden Rosen. Aber auch wenn dieser Glaube närrisch ist, wie alles, was ich im Leben tat und träumte, und wenn im ewigen Wechsel des Stoffes die Lösung des Rätsels von der Unsterblichkeit liegt – kehren Sie im blühenden Sommer einmal zurück zu dem Rosenstrauch am Skjoldefoß! Denn wenn er mit seinen Wurzeln aus dem Quell trinkt, der die Straße der tausend Jahre umspült, dann trinkt er einen Tropfen meines närrischen Lebens, und es wird ein Wildrosenduft daraus. Darum: denken Sie an mich, wenn Sie wilde Rosen sehen, Sie liebste Frau!
Geschrieben in dieser Stunde, da ich auf den Weg trat, der tausend Jahre lang ist.
Rolf Krake.«
»Was er nur mit dem Wege der tausend Jahre meint?« dachte Do. Sie nahm das Buch und verschloß die Tür. Als sie ein Stück den Hügel hinabgegangen war, blieb sie stehen und blickte hinüber nach dem Rosenstrauch; der klemmte in einem Felsenspalt, nahe dem Fall. Es wuchs graue Flechte an seinem alten Holz, und es war ein borstiges und rauhes Ding. Aber in jedem Jahr trieb er noch Schosse zu seiner Verjüngung, und so konnte er an diesem feuchten Standort schon älter geworden sein als Nane Thord und konnte seine Wurzeln wohl so tief in den steinichten Grund getrieben haben, daß sie aus dem Kessel der brodelnden Wasser tranken. »Rolf [96] Krake hat sich in das wilde Bergwasser gestürzt,« sagte sie, und das Herz erschauerte ihr. Dann ruderte sie zur Insel. Aber in der sinkenden Nacht fuhr Jockele mit zwei Booten an den Strand und machte das eine dort fest und legte auch die Ruder hinein – für Rolf Krake, wenn er in der Nacht käme und den Schlüssel haben wollte. Dort lag das Boot drei Wochen. Sie ließen in diesen drei Wochen alle Nacht ein Licht im Blockhaus auf der Insel brennen, bis in den Tag. Aber Rolf Krake sah es nicht, und er gebrauchte auch das Boot nicht.
Er hatte mitten in die Sonne getroffen. Es wurde nach jenem Tage nicht mehr recht hell in Haus und Herzen. Auch Nane Thord hatte ihre Sorgen; denn sie fühlte: die leiseren Stimmen um sie her hatten ein Geheimnis. Die Wanderfreude von einst war nicht mehr da. Jockele arbeitete über Tag in seinem Zimmer, Do und Hanna saßen im Saal und nähten, Gwendolin war ganz gegen ihre Art versonnen. Und wenn sie sich einmal alle zusammenfanden, dann mußte Nane Thord an die Schwalben denken, die sich sammeln, um zu plaudern von dem großen Fluge, der Sonne nach. Auch James King war traurig. Gerade in den letzten Tagen hatte er einen Weg zu Rolf Krake gesehen – es war durch das Gespensterboot gekommen, und weil er wußte, der Einsame aus der Sägemühle las in den Werken der Inder; vielleicht neigte er zu allerlei Geheimwissenschaft und Spiritismus! Das alles lag auch im Wesen des blonden Briten. Aber vorsichtig, wie er mit sich selber war, hatte er es vor den anderen verborgen. Von der Tat Rolfs ahnte James auch jetzt nichts. Aber das mußten sie ihm doch bekennen, daß sie dachten, der unglückliche Freund wäre im Skjold ertrunken. Eine Stunde danach hatten sie die Gewißheit: dies wäre nicht der Fall; denn Lona Steensgard hätte ihn gesehen auf der [97] Wanderung ins Gebirge. Dadurch wurde der Vorgang vom Skjold noch finsterer. Und auch trostreicher wurde er nicht.
In jenen Tagen trat Kordula Gunkel in den kleinen Kreis. Sie war dunkel wie ihr Name; und auch ihre Stimme klang, als hätte sie an diesem Namen abgefärbt. Sie liebte die dunklen Farben in ihrer Kleidung und war am frohesten in Schwarz, das sie mit halbverdeckten gelben oder blauen Seidenbändern durchbrach. Fräulein Gunkel trug das Haar kurzgeschnitten. Sie hatte lange, schmale, sehr weiße Hände, mit denen sie sich die Locken lässig aus der Stirn zu streichen pflegte. Dann konnte sie aussehen wie eine Heilige aus der Legende.
Aber eine Heilige war sie eigentlich nicht.
Sie bezog das Zimmer auf Krokengaard, in dem John Williams gewohnt hatte, malte und komponierte Lieder zur Laute. Wenn ihre weiche Frauenstimme in Dämmerungen tief und dunkel durch den Krakesaal klang – o ja, das war schön!
Und so war es kein Zufall, daß sie über Sommer in einem Waldhaus am düsteren Songefjord gewohnt hatte. Es war auch kein Zufall, daß sie nun hier war: Gwendolin kannte sie aus Weimar, wo Kordula Gunkel damals an der Musikschule studiert hatte. Auch Jockele erinnerte sich ihrer sehr wohl; aber sie hatte ihn damals besser gekannt als er sie, und sie hatte zu denen gehört, die die »Erziehung zum Manne«, welche Do dem Zigeuner Jockele angedeihen ließ, sonderbar fanden. Sie kannte diese Geschichte nur vom Hörensagen. Nun gehörte das Jockelebuch zu ihrer Reiseausrüstung – denn eine Heilige war sie eigentlich nicht. Sie wollte die Gelegenheit nicht zum zweiten Male versäumen, die berühmte Do kennen zu lernen, die sich das Glück ihres Lebens baute nach ihrem Gefallen. Aber das Licht dieser Frau Do brannte [98] nun unter dem Schleier einer sanften Trauer; und die Märzenklarheit ihrer Augen leuchtete um kleine Wäsche.
Kordula Gunkel hatte sich das anders gedacht.
»Du bist zu spät gekommen,« sagte Gwendolin.
»Ich komme stets zu spät – es scheint eine meiner Eigenarten zu sein,« sagte Kordula. Sie wollte den Winter über in Rom leben oder auch für immer. Aber Pläne für weithinaus machte sie nicht. Vielleicht war an diesem Einfall Henrik Tofte schuld; denn Gwendolin redete mehr von ihm, als ihr lieb war. »Tofte und ich, wir mögen uns gern leiden, aber wir sind nicht füreinander geboren. Nein, nein. Mit dem gleichen Rechte könnte man behaupten, du und das große Licht paßten zueinander.«
»Man kann das nie wissen,« sagte Kordula. Sie war so gemessen in ihren Bewegungen und von so stilvoller Ruhe in ihrem Auftreten, aber ihre Wirkung auf Gwendolin war ganz anders: Gwendolin wurde manchmal heimlich lustig vor ihr. Doch ließ sie sich das nicht anmerken, auch nicht nach dem deutsamen: »Man kann das nie wissen«. Sie wurde darüber so vergnügt, daß sie nicht übel Lust hatte, mit Kordula an den Tiber zu reisen. Aber – dann wäre die Posse ja gar nicht zur Aufführung gelangt! Nun, vielleicht ging es so: wenn man dem Henrik den Aufenthalt Gwendolins in Rom verschwiege, bis der Vorhang über dem Spiel zwischen ihm und Kordula gefallen war?
Gwendolin verwarf auch diesen Gedanken; denn eigentlich war er eine Nichtswürdigkeit gegen die dunkle Kordula, und am Ende: man konnte doch vielleicht nicht wissen … Im Falle Tofte geriet ihr felsenfestes Vertrauen zu sich selber immer ins Wanken. »Ach, Unsinn,« sagte sie und lachte, »was will ich denn in Rom, was will ich in Italien? Sie haben ja keine Luft dort! Sie haben bloß Äther. Es steht da jede [99] Mauer und jeder Baum so hart darin, daß man sich die Augen wund daran stößt. Nein, ich kann in Italien nicht malen.«
Kordula sah das gern ein. Auch überzeugte sie sich weiter davon, daß Henrik Tofte der interessanteste, genialste und schönste Mann war, der sich denken ließ …
Einmal nach dem Zwölf-Uhr-Frühstück ging Kordula mit James King zu der Bank im Rohr. Es schien eine märchengoldene Septembersonne. Sie sprachen davon, daß Sinsheimers in den nächsten Tagen nach Weimar, der Doktor Krake und Hanna nach Bonn reisen wollten. Nane Thord hatte der blonden Marit daraufhin schon den Dienst gekündigt.
Mit Gwendolin hatte James seine Partie verloren – dabei war ihm passiert, was man im Schachspiel den »Kälberstich« nennt. Es war blamabel, es war durchaus blamabel. Deshalb liebte James King nun die dunkle Kordula – einesteils um die Scharte mit Gwendolin wieder auszuwetzen und um den Freunden zu zeigen, was er könne; andernteils, weil ihm vor der Einsamkeit des Winters graute; und zum dritten: weil Kordula von dem Gedanken gelockt wurde, Nane Thord als Medium bei spiritistischen Sitzungen zu benutzen. Nun, dazu gab es an den langen Winterabenden auf dem Eiland im Fjord ja ausgiebig Gelegenheit. Er erwog noch einmal die drei Gründe, dann erklärte er Kordula seine Liebe.
Kordula pflegte Lagen, wie diese, gemeinhin ernst zu nehmen, sehr ernst. Sie zählte vierundzwanzig Jahre, mochte hohe blonde Jünglinge gern sehen, na und schließlich – reich war sie nicht, aber sie brauchte sich für ein Leben, wie sie sich's dachte, auch nicht gerade etwas zu versagen. Selbst der Weisheit war sie nicht abhold, daß die Liebe mit der Ehe wüchse. Nur von der freien Liebe schwärmte sie nicht mehr – das [100] lag für sie schon weit dahinten und war eine Übergangsanschauung gewesen.
Den listigen James gereuten die umständlichen Vorbereitungen, die er an Gwendolin verschwendet hatte. Deshalb sprang er diesmal gleich mittenhinein in die Sache. Daß ihm die Worte ein bißchen im Munde lagen wie gequellte Erdäpfel, das inkommodierte Kordula nicht weiter. Auch seinen eigentümlichen Gebrauch des Wortes »lächerlich« kannte sie, und sie wandelte es um zu der landläufigen Bedeutung. Und also sprach James King:
»Well. Ich nehme die lächerliche Gelegenheit wahr, Sie auf den Reiz des Wintersports aufmerksam zu machen – er ist in der Umgebung des Fjords von unausstaunbarem Zauber …«
»Oh,« sagte Kordula, »im Winter bin ich ja in Rom.«
»Das ist aber kein guter Einfall. Ich habe die lächerliche Hoffnung, daß Sie das aufgeben; denn ich habe noch kein Frauenhaar gesehen von dem matten Glanze des … des … ebony … Na, wie heißt doch gleich das Holz, das von weit, weit hinter Hindostan herkommt?«
»Von weit, weit hinter Hindostan?« fragte Kordula. Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten Kings, mit dieser geographischen Bezeichnung eine übergroße Ferne anzudeuten. »Ah, Sie meinen Ebenholz?«
»… des Ebenholzes!« rief er erlöst. »Und Sie haben Augen, schön wie die Fjordnacht, Kordula Gunkel. Oh, ich liebe diese dunkle Schönheit an Frauen. Ich denke es mir lächerlich, wenn wir zwei die nordischen Nächte verleben könnten auf dieser einsamen Insel als Mann und Weib, von keinem Menschen gestört in unserer Liebe. Und wenn Sie dann sängen, wissen Sie, und draußen brauste der Sturm, und Ihre lächerlichen Hände griffen dabei die Saiten der Laute …«
Eine Heilige war Kordula nicht, ja, sie war so erfahren, daß sie merkte: diese gefühlvolle Rede hatte sich der listige James in der letzten Nacht auswendig gelernt. Sie hatte sogar an die Holzwand klopfen wollen zwischen ihren Zimmern drüben auf Krokengaard; denn James war bis weit über die Mitternacht auf ihrem Schlaf herumgestampft in seinen geräumigen Bergsteigstiefeln.
Nun braucht heimliches Erlernen einer solchen Rolle nicht auf eine Komödie der Liebe zu deuten – o nein! Und Kordula war ein Mädchen: sie trat also ihren Glauben, geliebt zu werden, niemals mutwillig darnieder. Aber vor der gleichmütigen Semmelblondheit, die neben ihr saß, konnte sie diesen Glauben nicht aufbringen. Deshalb lächelte sie – sie lächelte sogar ein bißchen impertinent, lächelte aus der Genugtuung, daß diesmal nicht sie es war, die zu spät kam. Übrigens war Gwendolin nicht ganz verschwiegen gewesen, hinsichtlich ihres Erlebnisses mit dem listigen James. Also nahm Kordula Gunkel einen Vorschuß auf ihre römische Liebe und sagte: »Es tut mir ehrlich leid, mein Herr – aber über mein Herz habe ich nicht mehr zu verfügen.«
»Schade,« sagte Mister James, »ich glaube, es wäre ein sehr netter Winter geworden.«
Damit waren die letzten Früchte des lieblichen Sommers im Fjord fallreif geworden. Oder: die Schwalben, die sich in der Mittagssonne vor der Südwand des Inselhauses versammelten, konnten nun die große Reise antreten. Nur Gwendolin erwog, ob sie vor den Frost der Julzeit hinstehen wollte, um der gefrorenen Welt in Filzstiefeln, Pelzen und Einsamkeit ihren flimmernden Zauber mit raschem Pinsel zu stehlen. Auch dachte sie, sie könnte sich in diesen stillen Wochen auf mancherlei Erkenntnisse ein wenig näher ansehen.
Zuerst entflogen Hanna und der Doktor Krake nach Bonn. Im letzten Augenblick schloß sich ihnen Kordula mit der Laute an. Sie gab ihnen bis Hamburg Geleite. Am anderen Tage reiste James King – schach und matt. Und als auch Do und Jockele ihre Koffer packten, die blonde Marit mit geröteten Augen half, und Nane Thord mit bitterem Munde sagte, nun könne sie sich ja schön mit Lars Thord unterhalten – da sang der Wind bei Gwendolin um alle Fenster ein Lied, das war sterbenstraurig. Und weil Jockele und Do so dicht beieinander standen, warf Gwendolin ihre Arme um beide und sagte: »Kinder, es geht nicht! Ich bin schon über manch gefährlich finsteren Steg geschritten, aber über diesen find' ich mich nicht hinweg. In eurem großen Haus am Horn werdet ihr ein Kämmerlein für mich finden. Oder ich will dicht daneben in dem Gartenhause wohnen, aus dem der Jockele den Flug in die Sonne getan hat … Kinder, laßt mich mit euch ziehen!«
Ja, es war Herbst geworden. Auf den Wassern des Fjords schwamm das Birkenlaub und war goldgelb. In der Schärenflur saßen die Nebelfrauen und spannen. Es war Herbst.
Am anderen Tage fuhren sie nach Kiel, von da nach Weimar. Dort hatten sie das schöne Haus am Horn Nummer 17 A gemietet, das in dem Garten mit den herrlichen alten Bäumen sieht. Sommer und Winter träumen ringsum traute Märchen, und die Wege sind von silbernem Sand. Dort war der Jockele vorbeigerannt und hatte sich die Krawatte geknüpft im Sturmschritt – damals, als er mit der schlanken Felidora im Puppenheim des Apfelgartens Geburtstag feierte und darüber ganz vergaß, daß er des Morgens um acht Uhr vor dem Herrn Professor Redslob die Einjährigenprüfung ablegen wollte … Jawohl, dort war er krawattenknüpfend vorbeigestürmt, und die Frau Stadtrat Meyer stand in ihrem Wintergarten [103] und sah ihn vorüberflitzen und dachte, der Jockele hätte eine neue Methode erfunden, sich vom Leben zum Tode zu bringen; denn daß sich einer im Zweimeterschritt aufhängt, war ihr noch nicht vorgekommen. Nun, solche und ähnliche Dinge hatte der Jockele in seiner »Mädchenzeit« angestellt. Aber er brauchte sein Schuldbuch von damals nicht mit ängstlichen Augen zu durchblättern – es stand kein Posten darin, deswillen er die Nachbarschaft aus seinen Frühlingstagen hätte meiden müssen. Darum war es den Dreien nun auch so heimatlich und tiefbeglückt um die Herzen, als sie durch die Dämmerung des Septembertages im offenen Wagen ans Horn fuhren. Langsam, langsam mußten die Pferde treten. Das gelbe Maßholderlaub raschelte um die Hufe, das Ilmwehr rauschte, die Leutra plätscherte unter der Sphinx hervor, hinter den Fenstern am Hange waren die Lichter angetan, und alle Häuslein guckten so lieb mit den hellen Augen zu ihnen herunter … »Na, Gott sei Dank, daß ihr endlich wieder im Lande seid!«
Am anderen Morgen stand der Herr Doktor Jakobus Sinsheimer schon im werdenden Licht am Fenster und schaute über die Wipfel des Weimarer Parks. Sein Glück konnte den Tag nicht erwarten. Er sah Goethes Gartenhaus durch die herbstlaubigen Hecken lugen – weiß Gott, dies ehrwürdige Stück Literaturgeschichte zwinkerte ihm vergnügt zu! Es kam ein Zug fröhlicher Gestalten klingelnd und doch traumhaft über Anger und Hecken, alle bunt angetan; und es guckten blanke Augen hinter jedem Baumstamm hervor. Alles, was ringsum war, kniff die Augen zusammen und lachte. Da riß der Doktor Sinsheimer die Fenster auf, das Wunder zu betrachten – und auf einmal war er wieder der Jockele. Der hob Doris Rinkhaus auf seine Arme und drehte sich mit ihr herum wie ein Kreisel und machte holdrio hoho … »Mensch, Mensch,« sagte die Do – denn [104] es war noch ein bißchen morgenkühl um sie; aber innig festhalten an ihm mußte sie sich doch, sonst hätte er sie zum Fenster hinausgewirbelt – »Mensch, du bist ja lebensgefährlich, aber du bist doch nun etliche Jahre älter geworden!« …
Doch der Jockele hatte keine Zeit, darüber nachzudenken; denn als ihm die weiße Do entschlüpft war, wippte einer draußen am Gartenzaun entlang … Erich Meyer – mit y, aber nicht verwandt mit der Frau Stadtrat Meyer … Großer Gott, das war das einzige Erlebnis der Weimarer Tage, das dem Jockele durch ein Loch in seinem Gedächtnis gesickert war! Nicht im Traume war ihm Erich Meyer wieder eingefallen! Und nun war der der erste, der aus dem glückhaften Schiff leibhaftig an Jockeles neues Land stieg. Erich Meyer – wie war denn das damals gleich? Er nahm das Jockelebuch … Nein, Erich Meyer hatte sich nicht verändert: er wandelte mit vorgeschobenen Knien, weil die Rockschöße Platz haben mußten, hinter ihm herzuläuten. Und während diese Partie seines Menschen sich für den Pendelschlag von vorn nach hinten entschieden hatte, schwangen die langen stracken blonden Haare über dem Rockkragen von links nach rechts. Er war Musikstudierender gewesen, von durchschnittlichem Talente, und weil er dazu noch ein Herz von Gold besaß, so war seine Begabung auch nach der rein menschlichen Seite fast lebensgefährlich. Der blonde Erich hatte damals ein Stipendium von dreihundert Mark bekommen, deshalb erwog er die Frage, ob er nicht umsatteln und sich dem Bankfach widmen sollte … Nun, Finanzminister schien Erich Meyer inzwischen ja nicht geworden zu sein. Aber den lieben weltfremden Idealisten mußte man sich wieder einmal bei Licht betrachten!
Ach ja, was mußte man sich in diesen neuen Tagen in der alten Heimat nicht alles betrachten: die Häuschen im Apfelgarten; den Zaun, wo der Maler Jockele aus dem Tartarus [105] den Berg der Seligkeiten gemacht und hernach mit dem Grabscheit zertrümmert hatte! Es war seine letzte Missetat in Farben gewesen. Man ging zu dem Kastanienstamm, in dessen Rinde die Namen Do und Jo in schlichter, aber unlösbarer Verschlingung geschnitten waren. Frühling nach Frühling hatte die tiefen Spuren der Klinge fast zugezogen. Jede Seite des bunten Lebensbuches von damals blätterten sie um. Aus jeder stieg's wie der Klang einer silbernen Trompete und schmetterte ihnen in die Herzen – Leben, o Leben! Liebe, o Liebe! Jugend, o Jugend! Welch ein herrlicher frohgemuter Kampf war das gewesen!
Es stand noch alles wie damals. Auch die alten Menschen standen noch. Die Dame mit den kraushaarigen grauen Hunden begegnete ihnen – vor Zeiten waren es drei gewesen, jetzt waren's vier. Sie schlug noch immer die grüne Stille tot mit ihrem brutalen Pfiff, und sie wogte noch immer die gemütvolle Baumstraße lang wie ein neapolitanischer Schiffer; aber ihre Strickmütze war blau. Nur eins war neu geworden: »Haus in der Sonne« stand in schwarzer Schrift an der weißen Gartenpforte. Oben auf dem First dieses Hauses in der Sonne war eine Leier. Vor der Tür stand ein kleiner Junge mit einer roten Zipfelmütze und präsentierte seine Holzflinte. Und es sang jemand zum Fenster heraus. Hoh! – Wegen der Leier und der dunklen Frauenstimme dachten sie an Kordula Gunkel, wie sie nun römische Schlendertage hielt und doch auf dem Kriegspfade war … Und das kleine Haus neben dem mit der Harfe stand wie damals auf den Zehen, lugte rechts über die hohe Gartenmauer und duckte sich nach vorn hinter grüne Hecken. Und die beiden glückseligen Menschen, die darin wohnten, saßen in ihrem Fichtenwinkel und pfiffen noch immer ganz leise auf die Welt. Das mußte doch sehr unterhaltsam sein!
Und richtig, auf dem Heimweg vor der Wildenbruchmauer wippte Erich Meyer den Pfad entlang! Wie er Jockele und die leuchtende Do und die gescheite Gwendolin erkannte, erging er sich in einer ehrfürchtigen Verbeugung und trat hinab auf den Fahrdamm. Er hatte – im Gegensatz zu seinen Nachbarn in dem kleinen Hause – ungeheueren Respekt vor der Welt.
»Ah, sieh da, lieber Meyer! Wie steht's mit dem Finanzminister?« rief Jockele und faßte ihn an beiden Händen.
»O,« sagte er, »es war ein Plan Hansens im Glück. Aufgegeben, verehrter Herr Doktor! Was muß man nicht alles aufgeben in diesem Leben!«
»Na, und was machen Sie sonst, lieber Herr Meyer?« fragte Do.
»Musik, gnädige Frau, ungeheuer viel Musik. Ich gebe Unterricht und wohne im Haus mit der Harfe – das spricht sich bequemer, eigentlich ist es ja wohl eine Leier.«
»Und die haben sie sich als Wahrzeichen dahinaufsetzen lassen?«
»O nein, nicht ich!«
Zwei Herren schritten grüßend an dem fröhlichen Trüpplein vorüber: ein hochgewachsener junger Mann mit dunklem Vollbart und ernstem Gesicht war der eine. Es war ihm anzusehen: er war ein Künstler, wußte zu sinnen und wußte zu schweigen. Ein Licht ging an in seinen großen braunen Augen, als er Gwendolin erkannte. »Sagen Sie, Herr Meyer, war das nicht der Porträtmaler Schaffrath?« fragte Gwendolin mit leiser Verstellung; denn es lockte sie, zu erfahren, was aus diesem tüchtigen und strebsamen Menschen geworden wäre.
»Ja,« antwortete er, »der Schlachtenmaler. Er hat im Vorjahr ein Panorama gemalt, in Dresden oder Leipzig – ich weiß es nicht mehr. Es heißt: er kann ungeheuer viel.«
»Und der ältere Herr, der bei ihm war?« fragte Jockele. – »Ein Gelehrter, der Professor Salzer.« – »Wahrhaftig, er war's,« sagte Jockele. »Ich habe ihn vor Jahren flüchtig kennengelernt und habe den Wunsch, diese Bekanntschaft zu erneuern. Der Professor ist der Mann für meine Frau,« setzte er scherzend hinzu. Und Meyer sagte: »Es wird nicht lange dauern, dann ist Schaffrath auch Professor, an der Kunstschule, und wohl gar Direktor.«
»Ich glaube, er hat sich einmal in meiner Jugend für mich interessiert,« sagte Gwendolin zu Do.
Darüber mußte Do lachen. »Du glaubst ? So etwas weiß man doch, wenn man solch helle Augen hat.«
»O, bei Schaffrath weiß man das nie,« sagte Gwendolin. »Wenn ich mich recht erinnere, hat man ihn damals nie in Gemeinschaft anderer gesehen, er pflegte keine Freundschaften, und er war nie im Kaffee. Er hatte auch keine Erlebnisse mit Frauen – trotz der Weisheit Jockeles.«
»Vielleicht ist er die Ausnahme von der Regel,« sagte Jockele. »Aber woher kam dir dann der Glaube, daß er sich für dich interessierte, teuerste Gwendolin?«
»Nun, er ging nie ohne Gruß an mir vorüber,« sagte sie. »Ich weiß, das ist damals von den Malmädchen und in der Stadt sehr beachtet und bemutmaßt worden.«
Sie fanden, daß die Straße zu so bedeutenden Gesprächen nicht der rechte Platz wäre. Deshalb reichte Gwendolin Herrn Meyer die Hand.
»In einigen Tagen hoffen wir auf Ihren nachbarlichen Besuch, lieber Meyer,« sagte Jockele.
»O,« sagte der in ehrlicher Bescheidenheit und deutete an seinem fadenscheinigen Rock hinab, »zuviel Ehre für einen armen Musikmeister.«
»Ach, dichten Sie keine Tragödien, Meyer,« sagte Gwendolin, »bei Jockeles sieht man das Herz an.«
Erich Meyer war erschüttert. In seiner Dachkammer sank er auf den Stuhl und dachte: vor ein paar Jahren war er mit diesem vornehmen Doktor Sinsheimer durch den Park gezogen – damals war der ein schlechter Zigeuner gewesen … »aber ein guter Musikant!« sagte Erich Meyer und holte einen tiefen Seufzer aus seiner Brust.
Als sie nach Hause kamen, lag da ein Schreiben der Staatsanwaltschaft in Hamburg an Frau Doktor Doris Sinsheimer. Es war nach der Insel Nane Thords gerichtet gewesen und nachgesandt worden. Darin stand: Es befindet sich in Hamburg seit drei Wochen ein junger Mann namens Rolf Krake in Untersuchungshaft. Er hat sich der Polizei gestellt und behauptet: »Ich habe meinen Bruder, den Doktor Woldemar Krake, vor acht Tagen erschossen. Den Ort sage ich nicht: ich nehme an, die Bluttat ist der Bevölkerung verschwiegen worden, die ich durch eine Untersuchung an Ort und Stelle nicht beunruhigt sehen mag. Ich glaube auch nicht, daß außer mir ein Mensch von dem Verbrechen weiß, da mein Bruder im Augenblick seines Sterbens in eine unergründliche Tiefe versunken sein dürfte. Man wird ihn vermissen, aber man nimmt wohl an: er und ich haben sich heimlich von unserem damaligen Aufenthaltsort entfernt – ich weiß es nicht. Ob ich die Tat mit Überlegung und bei vollem Bewußtsein vollbrachte, kann ich nicht genau sagen. Ich bin mit der Absicht zu dem Tatorte gekommen, mich selbst zu töten. Es ist wahrscheinlich, daß der Mord die Folge eines psychologischen Vorgangs ist, den ich nicht in vollem Umfange zu erklären vermag.« Weiter stand in dem Schreiben: Es stimmen alle Angaben Rolf Krakes über seine Herkunft und seinen Bildungsgang. [109] In Kiel, wo er zuletzt Student war, ist er auf Reisen ins Ausland abgemeldet, ohne nähere Bezeichnung des Aufenthaltsortes. Er hat Frau Doris Sinsheimer angegeben als diejenige, welche den von ihm erwähnten »psychologischen Vorgang« mit größerer Sicherheit darstellen könnte als er selbst. – Do wurde aufgefordert, aus dem Auslande zunächst einen schriftlichen Bericht an die Hamburger Staatsanwaltschaft zu senden.
Die Erregung über diese Botschaft glich einer totalen Sonnenfinsternis: sie brachte eine bleierne Schwere, die den Atem beengte, aber sie ging rasch vorüber. Sie wich der freudigen Genugtuung, daß dem unglücklichen Freund ein großer Dienst geleistet werden konnte.
»Wie hab' ich ihn gequält, damals, ehe ich dem Rätsel in ihm auf den Grund kam: dem Weg des Hasses gegen sich selbst, in dem eine Stelle ist, an der immer Woldemar Krake auftaucht und für ihn zum Träger des Hasses wird …«
»Sage: ein Blitzableiter an der höchsten Stelle des Hauses, der den Funken auf sich zieht,« warf Jockele ein. Dann begab er sich in sein Arbeitszimmer, schrieb einen langen Bericht und nahm darin das eigentümliche Räderwerk dieser Seele auseinander und setzte es kunstgerecht wieder zusammen. Es wurde darüber Abend, es wurde Nacht, und es graute der andere Tag: es war ein Buch geworden, das Jockele verfaßt hatte. Darin fand sich alles geschildert, was sich am Skjold ereignet hatte, wie sie den Verletzten mit zwei Wunden gefunden, die so leicht gewesen waren, daß nicht einmal alle des kleinen Kreises Kenntnis von dem Vorfall erhielten. Es war die jetzige Wohnung Woldemar Krakes angegeben; es war das Verhältnis Rolfs zu den Freunden geschildert und die Eigenart seines wissenschaftlichen Interesses; es waren Auszüge aus seinem Tagebuch beigefügt, und es wurde der Tatort [110] mit Anschaulichkeit gezeichnet, dessen Lage in Rolf Krake die Meinung erweckt hatte, der Bruder wäre in den schäumenden Wassern versunken. Über den seelischen Druck, unter dem Rolf seit den Tagen des Knaben gelebt hatte, über die Ursachen und das Wachstum dieses Druckes gelangte Jakobus zum Letzten und Schwersten: zu der Darstellung des psychologischen Vorgangs im Augenblick der Tat – Rolf sieht sich von seinem Bruder verfolgt, wiewohl er es selbst ist, der sich verfolgt; im Grunde hat er die Liebe zu Hanna von Fellner längst überwunden – zuletzt vielleicht, weil er sich sagte: sie wird sich ja doch für den Bruder entscheiden. Und dennoch benützt er diesen Verzicht als Vorwand zu seinem Selbstmord: er richtet die Waffe gegen sein Herz. Als er schon den Daumen um den Abzug krümmt, wird er von dem Bruder gestört. Wiederum von diesem Bruder, der ihm, seiner Meinung nach, den Weg zu Glück und Leben vermauert – soll ihm von dem nun sogar der Weg zum Sterben verwehrt sein? … Undurchdringlich sinkt die Finsternis des Hasses in ihn. Vier Kugeln sendet er nach dem Bruder und – hat eigentlich auf sich geschossen: das mörderische Blei galt dem eigenen Spiegelbilde! Keine Eifersuchtstat, keine Rache, keine perverse Lust an fremdem Blut, nichts von Mordgier, nichts von Gemeingefährlichkeit – sondern: ein »psychologischer Vorgang«, dessen Entschleierung die Aufgabe des Seelenarztes ist …
Im Oktober reiste Do mit ihrem Manne zur Verhandlung vor dem Schwurgericht nach Hamburg. Woldemar hatte die Aussage verweigert, er war nicht da. Die Begegnung mit seinem Bruder sollte vermieden werden. Do wiederholte in ihrer klaren klugen Art, was sie von Rolf Krake wußte.
Die Volksrichter sprachen ihn frei.
Er verließ das Gerichtsgebäude mit Do und Jockele, war nicht fröhlich, war nicht traurig, und sagte: »Die große [111] Einsamkeit, die in diesen Wochen um mich gewesen ist, war sehr wohltätig. Kommt, wir wollen unter viele fremde Menschen gehen, wo es einsam ist. Und wir wollen nicht von gestern reden, sondern von morgen.«
»Was wollen Sie denn morgen tun?« fragte Do.
»Ich will in den Hardanger Fjord reisen und auf Nane Thords Insel wohnen,« sagte er.
Es wollte Abend werden. Oktoberabend. Der Sommer hauchte von irgendwoher in die Dämmerung unter den Bäumen am Horn, und aus dem gefallenen Laube dufteten Veilchen. Da gingen Do, Gwendolin und Jockele mit verschränkten Armen auf den Wegen des alten Gartens. »Mir ist, als wäre die Geschichte der Sturmschwalben noch nicht zu Ende,« sagte Gwendolin. »Es ist da wohl noch ein langes merkwürdiges Kapitel, das heißt ›Rolf Krake‹ …«
»Und du wärest darauf gespannt?« fragte Do.
»Vielleicht war es nur eine Überleitung von mir,« gestand Gwendolin, »es sind ja auch drei Sturmschwalben nach Rom verschlagen worden. Ich denke mehr an die, als mir lieb ist. Ich habe merkwürdige Ahnungen.«
»Ahnungen!« sagte Jockele, »Henrik Tofte ist ein Mensch, an dem jede Berechnung zerschellt und vor dem auch jede Ahnung in tiefe Finsternis gerät.«
»Darum flattern die meinen wie Fledermäuse. Ich glaube, es geht ihm nicht gut.«
»Natürlich wird es ihm nicht gut gehen. Pah, was gilt das ihm! Fällt ihn heute der Teufel an, so stellt er ihn auf den Kopf, und es wird morgen der liebe Gott daraus. Er mißt sein Schicksal immer so, daß nie ein richtiges Unglück herauskommt. Na und schließlich: er weiß uns ja zu finden.«
»Niemals!« sagte Gwendolin. Dann verscheuchten ihr [112] Do und Jockele die Fledermäuse und wurden alle drei lustig an Henrik Tofte, der so lang war, daß er immer ganz vergnügt oben herausragte, wenn ihn sein Schicksal gleich einmal in recht tiefes Wasser warf. »Er hilft sich selbst,« sagte Jockele, »und Rolf Krake hilft sich auch selbst, man muß ihn allein lassen – lebensgefährlich ist das Leben nur für Erich Meyer. Erich Meyer ist ein Mensch, der sich seit zehn Jahren in einemfort aufrichtet. Aber er hat gleich eine Waffe zur Hand, mit der er sich ebenso unausgesetzt niederschlägt: sein goldenes Herz. Ich wette, ehe er in die Dachkammer dieses Erholungsheims geraten ist, hat er dreimal sein Bett verschenkt. Und den Stuhl, für den er einmal das Geld besaß und verschenkte, den hat er sich bis heute nicht angeschafft. Aus lauter Bescheidenheit geht er jetzt einen anderen Weg zur Stadt, nur damit er nicht durch unsere Tür gerät. Do, liebste Do, dieses Märchen mit dem Goldherzen könntest du zu einem vernünftigen Ende dichten!«
»Nun, und du?« fragte Gwendolin. Da setzte Jockele ein geheimnisvolles Gesicht auf. »Ha!« sagte er, »ich glaube, ich bin durch die Erlebnisse des Sommers ein bißchen aus dem Sattel gekommen« – er klopfte Gwendolin sanft auf die Achsel – »du, mir scheint, ich stehe wieder einmal am Zaune des Tartarus, um auf den Berg der Seligkeiten zu steigen! Seit ich mich schreibenderweise in die Rätselseele Rolf Krakes vertieft habe, sind mir Flechten und Frösche eine etwas trockene Materie geworden.«
Gwendolin schloß ihn in komischer Rührung in ihre Arme. »Hurra! Meine Ahnungen! Meine Ahnungen!«
»Es ist wahrhaftig so,« sagte er, »das Beste hab' ich dem Hamburger Gericht nämlich gar nicht aufschreiben können – na, nennen wir es mal: den Ertrag des spekulativen Denkens. Es sind seit jenen Tagen allerhand Lockungen da, zum [113] Beispiel Henrik Tofte. Seht, diesen Menschen möcht' ich mal aufschreiben; den möcht' ich mal auf einem Haufen Papier zum Bilde Gottes erschaffen, zu dem er sich selbst nie erschaffen kann! Ich gehe seit einigen Tagen in einem wunderlichen Zustand umher: als Gelehrter dacht' ich – jetzt denkt es in mir; als Gelehrter schrieb ich – jetzt aber fängt es in mir an zu schreiben …«
»Wie es in mir malt,« unterbrach ihn Gwendolin lachend.
»Ja, so wird es wohl sein.«
»Ich finde, es ist bei uns immer ungeheuer viel los,« sagte Do, »Gesellschaften will er geben, dichten will er, Erich Meyern wollen wir einrichten, die Tante Veronika soll kommen …«
»Ach, Teufel,« machte Jockele, »da müssen wir das Dichten und den ersten Gesellschaftsabend doch noch aufschieben! Aber bereiten werden wir Haus und Herzen für beides; denn das mag Tante Veronika gern leiden.«
Also gingen sie ans Werk und sannen ein Zimmer nach dem anderen, sannen das ganze Haus in seiner Einrichtung um, wie es ihrem Wohlbefinden und ihrem anderen Geschmack entsprach. Das hatte gleich in den ersten Tagen geschehen sollen, aber die waren ja voll gewesen bis zum Rande. Doch nun waren sie in Schwung, stellten einen großen Rumor an, wirbelten zwischen dem Diener Fritz und einigen Handwerkern, wirbelten zwischen der Köchin und dem Zimmermädchen herum und fanden das nach den mannigfachen Erschütterungen der Gemüter äußerst beruhigend. Zuletzt kamen der Wintergarten auf der einen und die Vorhalle mit dem Treppenaufgange an der anderen Seite daran. Im Wintergarten hinter den doppelten Scheiben wirkte Do. Sie schuf ein liebliches Wunder aus Palmen, Grün und Blumen und dem Strahle des Springbrunnens, der nun klingend über Kristall fiel. In der Vorhalle ließen Jockele und [114] Gwendolin schön geschnittene Säulen aus Lorbeer wachsen, und auf den Trägern vor der Treppe glühte das Licht in Schalen aus buntgewürfeltem Glas. Es war schön und heimelig – beides.
Erich Meyer war der erste, der kam – glücklich und unglücklich wie stets im Leben. Vor dieser neuerschaffenen Welt verzagte ihm das Herz. Zum Glück hatte Gwendolin seinen Schatten in der Dämmerung durch die Gartenpforte huschen sehen; weil sie danach im Hause nichts von ihm hörte, ward sie von einer Ahnung getrieben – und wahrhaftig: da stand Herr Meyer in der Vorhalle zwischen den Lorbeersäulen und den stillen dunklen Bildern der Wände und den Glasschalen, die aussahen, als wären sie mit leuchtenden Steinen gefüllt bis oben hin – ja, da stand Erich Meyer, hatte beide Hände auf sein goldenes Herz gepreßt und träumte, er erlebe ein Märchen … denn über den Hintergrund seiner Erinnerung zog er selber mit Jockele dem Zigeuner.
»Na, Meyer!« sagte Gwendolin in ihrer lustigen Art.
»Ach, Fräulein Gwendolin, Fräulein Gwendolin … kann ich denn da – –«
»Natürlich können Sie! Kommen Sie nur.«
»Wie glücklich, daß ich gerade Sie hier treffe! Man ist doch gleich viel mutiger.«
Dann saßen sie in dem Zimmer mit den braunen Ledersesseln – Do, Jo, Gwendolin und Erich Meyer – und tranken Tee. Erich Meyer brauchte zwar geraume Zeit, sich an dem Gedanken aufzurichten, daß diese lichten frohen Menschen das Herz ansähen; dann aber beteuerte er: diese Stunde wäre das tiefste Erlebnis in seinem Dasein. Das kam auch daher, weil sie ihn alle drei gleich in Reparatur nahmen. »Wir wollen durchaus einen richtigen jungen Mann aus Ihnen machen, Herr Meyer,« gestand Gwendolin.
»O,« sagte er. Es klang dankbar und wehmütig.
Und Do dachte: die Zahl der Sturmschwalben unter den Menschen ist nicht zu zählen – der eine treibt's so, der andere anders – aber Sturmschwalben sind sie fast alle … zu leicht zum Gleiten am Grund, zum Fluge zu schwer, Sturmschwalben, wo nehmt ihr den Mut zum Leben her?
Gwendolin schoß Leuten gegenüber, wie Meyer, gern ein bißchen über das Ziel. Sie konnte sich nicht helfen: sie fand ihn komisch. Und wenn sie gleich jeden Satz mit »lieber Meyer« begann, so lag darin zwar ein bißchen warmes Mitleid, aber der Spott schwamm oben darauf und deckte das Mitgefühl zu.
Der Musikant war empfindsam, aber die Empfindlichkeit hatte er vor der Welt verlernt; denn mit Spott begegneten ihm sogar Menschen, gegen die er in jeder Beziehung ein bedeutendes Licht war. Wie eine Blume, die im Schatten blüht, wandte er sich Do zu. Da merkte Gwendolin, daß sie und auch Jockele in dieser Stunde nicht am rechten Platze wären, und sie sagte: »Lieber Meyer, den Doktor und mich beurlauben Sie wohl für heute; wir haben im Büchersaal noch alle Hände voll zu tun.« Damit preßte ihn Gwendolin mit sanftem Druck in seinen Sitz zurück; denn der arme Musikant schickte sich gleich in tiefer Betretenheit zur Flucht.
»Gnädige Frau, ist es wirklich wahr, daß ich gern bei Ihnen gesehen bin?« fragte er, als er mit Do allein war.
»Ganz gewiß,« sagte sie in ihrer leuchtenden Art, »und nicht nur, weil wir nebenan einen sehr schönen Blüthner stehen haben, für den wir drei viel zu unmusikalisch sind.«
»O, wenn ich Ihnen mit meiner bescheidenen Begabung Freude machen könnte …«
»Ja, das können Sie,« lächelte Do. »Was meinen Sie zu [116] einem kleinen musikalischen Tee, immer an Donnerstagen von Fünf bis halb Sieben?«
Es fiel ein Sonnenregen über Erich Meyers Herz. Dann saß er draußen an dem Blüthner, nur für zwei dankbare flüchtige Minuten – da regnete es immer weiter, und es war zu sehen und zu hören, welch selige Erquickung diesen armen Menschen segnete. Er dachte, er wäre zu schlecht, der schlanken lichten Frau die Hand zum Abschiede zu bieten. Da reichte sie ihm alle beide und sonnte ihre Güte noch einmal über den Rausch seines Glückes. Und dann stand draußen in der Vorhalle der Diener Fritz und öffnete ihm die Haustür und hatte eine herrlich weiße Krawatte vor – »So lange haben Sie auf mich gewartet?«
»O nein,« lächelte Fritz und machte eine tiefe Verbeugung vor dem armen Musikanten. Der aber flog auf breiten Flügeln davon und flog in den abenddunklen Park, in dem die Herbstnebel schwammen. Wunder Gottes, Wunder Gottes, es wurde immer heller um ihn. Juhu! –
Wieder nach ein paar Tagen waren Haus und Herzen fertig. Da kam Tante Veronika aus Ibenheim am Walde. Aber diesmal kam sie im Wagen, und Do, Jockele und Gwendolin hatten sie am Bahnhof erwartet. Sie ging noch immer an dem gleichen gelben Krückstock, und sie trug noch immer einen Kapotthut mit veilchenfarbenen Bindebändern und trug die cremefarbenen Handschuh. Und sie hatte den Umhang mit sanft flimmerndem Jett über den Achseln, hatte noch die klaren Augen, und die weichen Wellen des Haars um Stirn und Schläfen, und sie sah noch immer so schmuck und fein aus, als hätte sie der liebe Gott aus seinen Sonntagshänden gerade erst auf die Erde gesetzt. Ihre Seele tat einen Rundblick aus den blankgeputzten Fensterlein unter der Stirn [117] und erkannte: es ist alles gut. Aber Do mußte ihr schon im Wagen gegenüber sitzen; denn die Do war ihres Glückes Erfüllung. Und ihr mußte sie immer einmal aus dem heimeligsten Winkel ihres Herzens zublinzeln; das hieß: »Wir zwei, wir haben ihn aus dem Walde gezogen.«
So kamen sie heim. Erich Meyer war ein Fremdling in diesem Hause gewesen – Tante Veronika paßte allenthalben: wie eine blühende Pflanze auf den Geburtstagstisch oder an das helle Fenster. Aber als sie durch die schönen ruhevollen Zimmer geschritten war, in der die Jugend einer anderen Zeit mit so viel Klugheit und Hingebung gewaltet hatte, da war ihr doch: der liebe Gott stünde an der letzten Türe, lachte sie aus seinen Himmelsaugen an und reichte ihr einen schönen Strauß aus gelben Rosen, die sie vor allen liebte; und sie machte ihm einen respektvollen Knicks. Dann aber preßte sie Do gleich ihr liebes gerührtes Gesicht ans Herz –: »O, laßt mich nur weinen; gäbe es denn ein reineres Glück, als in Freude zu weinen über seine Kinder?«
So waren sie durch innige und frohe Stunden beieinander, diese drei Menschen, von denen Henrik Tofte gesagt haben würde: »Es ist unheimlich, an ihnen der Besinnlichkeit des Schicksal nachzuspüren, das man gemeinhin gedankenlos nennt.«
Daran dachten sie und belustigten sich über die Maßen, denn es lag auf dem weiten klaren Wege, von der Schwelle des Zigeunerfindlings an bis zu dieser Stunde, nichts, als was von tüchtigem und klugem Menschenwillen an seine Stelle geleitet worden war.
Tante Veronika blieb drei Tage, blieb genau so lange, daß sie sagen konnte: »Nun hab ich auch diesem Abschnitt eures Lebens kennengelernt, und es ist mir, als wäre ich stets um euch gewesen.« Gleich an dem Abend, an dem sie [118] wieder in ihrem Ibenheimer Stübchen saß, geleitete Mali den Herrn Peter Squenz herein, den früheren Gemeindevorsteher, der nun ein sehr alter Mann geworden war; denn Herr Peter Squenz verlebte seine Ruhejahre in dem »Wunder«, das an dem kleinen Zigeunerjungen geschah. Er sagte, es wäre unausstaunlich – hätte er denn sonst seine schwarze Schirmmütze in der Hand behalten, während er mit dem Doktor Sinsheimer gesprochen, als sie damals alle nach Bonn reisten? Tante Veronika und Herr Peter Squenz waren gute Freunde geworden, o ja, aber vor seinem Wunderglauben funkelte sich die alte Dame in einen lustigen Spott.
Doch Herr Peter Squenz war nicht der einzige, der sich an dem Märchen ergötzte, das sich da durch die nüchterne Gegenwart lebte. Es waren noch die hundert Leute um ihn her, die der Tante Veronika vor etlichen zwanzig Jahren hatten weismachen wollen: wenn der kleine Zigeuner erst mal ein großer Zigeuner geworden, dann würde er im Walde von Ibenheim ein Räubergeschäft aufmachen!
Und da war auch noch das Zinzilein im Forsthause weit draußen vorm Berge der Frau Venus. Das Zinzilein hatte dem Jockele an seinem ersten Lebenstage das samtige Fellchen auf seinem Kopfe gebürstet und den kleinen Menschen im Puppenwagen spazierenfahren wollen. Nun war eine blonde hüftenfeste Frau Försterin daraus geworden, die selber ein ganzes Haus voll lebendiger Puppen hatte. Daneben hätschelte sie die liebe Frage: ob der Jockele mit seiner lichten Frau Do wohl einmal leibhaftig in ihr sehnsüchtiges Herz scheinen würde? O, das gäbe für dies Herz und seine Waldeinsamkeit einen großen Tag!
Und da waren noch andere, die mit ihren Gedanken die hochgemuten Menschen suchten, die sich unter den alten Bäumen am Horn so wegsicher vorwärtslebten ins Leben; denn [119] Jockeles »Mädchenzeit« kannten sie nun alle. Und in ihrer Geschäftigkeit dichteten sie das kleine rote Jockelebuch auf eigene Faust weiter zu einem dickleibigen Lexikon; denn sie wußten ganz genau: es wäre ihnen in dem kleinen Buche aus triftigen Gründen manches verschwiegen worden, und just das wäre das Interessanteste. Was darüber hinaus passierte, wollten sie nun auch wissen; denn sie meinten, das wäre genau so bunt und springlebendig und schmeckte so nach Champagner wie die Geschichten aus dem Pflaumenwinkel. Deshalb war der Stufensteig, der vom Horn an Goethes Gartenhaus vorüber hinabführt in den Park, seit dem Tage ein heftig gesuchter Spaziergang für die Weimaraner, an dem es ruchbar wurde, Sinsheimers wären wieder im Lande. Die Gymnasiasten, die am Zaune vorübergingen, hinter dem der Jockele dem geheimnisvollen Augenaufschlag seiner Dichterseele zuschaute, erzählten sich von ihm und sagten: »Es ist eine großartige Sache!« Und damit fanden sie genau die gleichen Worte, die dem Zinzilein vor dreiundzwanzig Jahren aus seinem kleinen Munde gestolpert waren, als es dem Herrn Peter Squenz berichten sollte: droben bei der Tante Veronika wäre ein kleiner Jockele angekommen.
Etliche von diesen vielen waren in der sehr freundlichen Lage, die Geschichte mitzuerleben, die sie »Jockele und seine Frau« nannten, schon lange bevor sie aufgeschrieben wurde. Es war aber nicht ganz leicht, in diese freundliche Lage zu kommen. Man durfte nun nicht mehr durch die Türen fahren wie vor ein paar Jahren im Pflaumenwinkel – nein, denn schon die eiserne Gartenpforte war verschlossen. Das deutete weder auf einsiedlerische noch auf menschenfeindliche Neigungen, sondern es hing mit jenem Augenaufschlag der Dichterseele zusammen. Das schien ein äußerst geheimnisreicher Vorgang zu sein. Ja.
Hinwiederum gab es Abende, da strömte das Licht in goldenen Strömen bei Sinsheimers aus allen Fenstern, da sausten die Wagen durch die herbststille Baumstraße, da kamen elegante Herren und funkelnde Damen; denn es war bei Sinsheimers angeregt, klug, heimelig, und es blühte da eine Art, die sich nicht nachmachen ließ, weil sie außerhalb dieses Hauses eben nicht wuchs. Das war das Werk Dos. Und die blonde Frau Do war der helle Stern, der in jenen Tagen über dem Herzen Deutschland aufging. Sie war leuchtend, innig und schön. Aber verführerisch schön war Gwendolin. So standen sie nebeneinander: fröhliche Geistigkeit die eine, beseelte Sinnenfreude die andere. Die eine sonnig von Augen und Antlitz wie Märzhimmel – und sie konnte auch so kühl sein, wenn sie merkte, sie begegnete leerer Neugier –, die andere bald von träumerischer Melancholie, bald ein lachendes leichtgeschürztes Mädchen. Die eine liebte die geistreiche Unterhaltung, die andere wich einem galanten Flirt nicht aus; aber auch wo sie nur schelmische Zuschauerin war, begegnete sie sich mit Do und Jockele in dem Wunsch, einen Kreis erlesener Freunde um sich zu sammeln. Der blonde Graf Metting nannte das: »Frau Dos graziöse Kunst geistiger Geselligkeit.« Aber als wüßte er, daß er diesen Forderungen nicht allenthalben standhalten konnte, war er besorgt, sich durch seine frohe Laune unentbehrlich zu machen. Er war es auch, der für Gwendolin den Namen »Herzogin von Urbino« erfand. Die war die Freundin jener Isabella d'Este, die man in den Salons der Renaissance » la prima donna del mondo « genannt hatte. Und so machte Graf Metting in diesem Namen auch vor Frau Do eine ritterliche Verbeugung, mochte er nun für Gwendolin ganz passen oder nicht – was lag ihm daran? Da legte die neue Herzogin von Urbino den Finger längs der Nase – von der träumerischen [121] Melancholie, die sie aus dem Fjord mitgebracht hatte, war dabei nichts zu merken – und taufte ihn Fra Mariano. »Man ist hier unheimlich gescheit,« sagte Metting, »denn man ist noch gescheiter als ich!« Damit rettete er für sich die Lage, und Gwendolin erklärte ihm: erstens wäre Fra Mariano der bestgelaunte und schlagfertigste Gesell am Hofe Leos des Zehnten gewesen, und zweitens hätte er niemals Damengesellschaft gesucht … also passe dieser Name für ihn in jeder Hinsicht.
Abneigung gegen Damengesellschaft – es war kostbar! Und bei dem »Fra Mariano« blieb es.
So war auch der Scherz artig und funkelnd. Und dennoch: Fra Mariano hatte seine liebe Not; da war nämlich noch der Schlachtenmaler Richard Schaffrath, ein stolzer ritterlicher junger Mann mit dunklem Vollbart und nachdenklichen Augen. Wie Frau Do war er kein Freund lärmender Feste. Er war in sich gekehrt, in allen Dingen das Gegenstück zu dem Grafen Metting. Anderswo spielte er gern den philosophischen Eckensteher; in diesem Hause gab's dazu keine Gelegenheit. Man beachtete ihn hier sehr, und er erschien allen in gleicher Weise anziehend. Und da war drittens noch Henrik Tofte – er war zwar nicht leibhaftig anwesend, aber: die Welt ist eine Nußschale; und so dauerte es gar nicht lange, da hatte Fra Mariano das große Licht entdeckt, das im Lande der Mitternachtssonne um das größere Gwendolins gekreist hatte. Natürlich war daran Kordula Gunkel schuld, die ihre Berichte von römischen Schlendertagen an Weimarer Freundinnen sandte.
Der Schlachtenmaler aber nannte Gwendolin »Flämmlein«; zuerst nur in den Erwägungen, die er wegen ihrer Wildrosenschönheit mit sich selber anstellte; dann auch vor den anderen.
So war jedes Zusammensein farbig und abwechslungsreich, und Frau Do bildete die reizvolle Vermittlung zwischen [122] den Menschen von verschiedenster Art, die sich in ihrem Hause fanden.
Als im Februar – in Rücksicht auf das große Frühsommerereignis – die Gesellschaftsabende aufhörten, war die Welt für viele um ihren lieblichsten Glanz gekommen. »Was machen wir nun?« fragte Fra Mariano Gwendolin verzweifelt, als er ihr im Park begegnete. – »Wir arbeiten und halten Einkehr,« sagte sie; denn sie wußte, das waren zwei Dinge, mit denen sich Graf Metting sein Lebtag nicht gern befaßt hatte. Er gehörte auch nicht zu jenen, die an den Donnerstagen zu dem musikalischem Tee geladen waren. Dazu versammelten sich nur wenige, nur die Intimen des Hauses. Vor allen: der Literaturprofessor Salzer, ein älterer Herr mit grauem Vollbart und einer Hornbrille mit großen Rundgläsern. Er galt als Sonderling. Von ihm stammte das Wort: »Um von den Menschen dieser Zeit als Sonderling verrufen zu werden, dazu gehört weiter nichts als Natürlichkeit.« Er hatte viele tüchtige literarische Werke verfaßt, um die sich sein Zeitalter nicht kümmerte. Nur ein einziges Mal hatte er die nähere Umwelt in Erregung versetzt. Wenn er arbeitete – und das tat er in der Regel – war er nämlich sehr empfindlich gegen jedes Geräusch. Er hatte in allen bewohnbaren Einsamkeiten in und vor der Stadt sein Nest gebaut, aber stets war für ihn etwas zu wünschen geblieben, was er sich unmöglich versagen konnte. Vor allem liebte er des Tags einmal eine reich besetzte und vornehm ausgestattete Tafel; dazu ein Glas erlesenen Weins, den er aber nur bei der Mahlzeit trank. Er war ein wohlhabender Mann, und dennoch drohte an der Wohnungsfrage das Glück seines einspännigen Lebens zu zerschellen. Endlich machte er im Turme der Hofkirche zwei Stübchen ausfindig. Er mußte dahin einhundertneununddreißig Stufen emporklettern. Doch – [123] das verschlug ihm nichts. Mit Hilfe der Großherzogin errang er die Wohnung im Turm, lebte seit Jahren hoch über allem Dasein und pries sich als den Glücklichsten der Menschen. Wahrscheinlich hatte er recht. Frau Do war seine himmlische Liebe. Man sah ihn an Donnerstagen immer zur gleichen Minute über die Sternbrücke schreiten, wo er in den kleinen Steig nach dem Horn einbog, und immer hatte er einen Strauß der schönsten Blumen in der Hand; denn Frau Do war seine himmlische Liebe! Vielleicht war es die einzige Herzensangelegenheit, mit der er sich in seinem Leben befaßt hatte. Und gerade damit stand er nun nicht allein. Aber das war damals noch nicht zu ahnen. Im Haus am Horn hieß er der Kürze halber »die Würze des Lebens«. Man verschwieg ihm das ebensowenig, wie er aus seiner himmlischen Liebe ein Hehl machte. Sein Name Salzer spielte dabei nur die Rolle des Zufalls; denn man hörte, sann und freute sich an ihm die kargste Stunde in helles Licht. Ohne den Professor war das Haus am Horn nicht mehr zu denken. Er kam, wenn er wollte, und war blank wie die Tante Veronika. So war er auch nach dieser Seite hin ein einziger seiner Art.
Außer ihm waren der Schlachtenmaler Richard Schaffrath und der Musikant Erich Meyer da. An Schaffrath schätzte er die gesammelte Kraft, an Erich Meyer die Bescheidenheit und Entwicklungsfähigkeit; denn Meyer – oho, wie war dieses Blümlein Wegwart über Winter aufgeblüht! Die Wandlung ging so weit, daß er selbst den klingenden Namen Meyer verloren hatte. Er hieß nun Cornelius, Peter Cornelius. Das hatte der Professor erfunden. Erich Meyer mit dem stracken Blondhaar und dem gut modellierten Profil sah auch geradeso aus wie der Komponist des »Barbiers von Bagdad«. Auch seine Kunst ging auf den gleichen Bahnen.
So flogen die zwei Stunden der Donnerstage rasch und [124] tiefbeseelt vorüber und blieben freudig ersehnt von allen. Es wurde dabei vom gesamten schöngeistigen Erleben der Welt gesprochen; und es lag auch ganz in der Art dieser Menschen, von ihren eigenen Wegen zu reden. Nur über Jockeles aufgehendes Lebensziel wurde geschwiegen. Davon wußten für lange, lange bloß Do und Gwendolin. Aber der Same, den Do in jener jungen Zeit ahnungslos ausgestreut hatte, in der dem Jockele das Hirn brauste vor den Fragen: »was wissen Sie von Goethe, Schiller, Wieland, Wildenbruch?« dieser Same hatte ohn' Unterlaß gekeimt und Wurzel gefaßt. Das erkannten sie nun und wußten: damals war er gesäet worden, als Do dem Zigeuner Jockele die deutsche Literatur an einem Bindfädlein zum Fenster im Pflaumenwinkel herabgelassen hatte! Und vor dieser Erkenntnis legte der Doktor eines Abends seiner Frau den Arm um den Nacken und sagte zu ihr: »Was hab' ich denn nun, das mir nicht von dir gekommen wäre, du mein lieber Segen?«
Es wuchs vieles aus den sicheren Händen Dos – von Jockele gar nicht zu reden; denn der war sozusagen der nächste dazu. Bei dem sanften Erich war es zum mindesten kein Wunder, daß in ihrer schönen Sonne aus der Raupe ein Schmetterling, aus dem Meyer ein Cornelius wurde. In die vorweihnachtlichen Gesellschaften aber hatte er sich nur getraut, wenn ihm Do unweigerlich erklärte, daß er unabkömmlich sei. Das lag teils an seiner Außenseitigkeit, teils an seiner Außenseite. Deshalb gab ihm Do die Erklärung im Wintergarten, wo sie beide allein waren. Und eines Tages bekam er vom ersten Schneider der Stadt einen Brief; darin wurde er gebeten, sich Maß nehmen zu lassen zu zwei neuen Anzügen. Doch diese Einkleidung mußte mit einem großen Aufgebot von List vorgenommen werden: es wären Rester, erzählte ihm der Schneider. Das versöhnte den bescheidensten [125] der Musikanten, langte aber nicht. Da mußte weiter gelogen werden: der Schneider habe ihn einmal Klavier spielen hören und darüber den Entschluß gefaßt. Das rührte den armen Menschen so, daß er den nächsten Donnerstag nicht erwartete, sondern gleich am Sonnabend aus dem Himmel seines Glücks in Dos Wintergarten fiel und es ihr als ein tiefes Geheimnis offenbarte. Do freute sich mit ihm. Und da sie gerade um die Pflanzen beschäftigt war, gelang ihr auch das nötige Aufgebot von Ahnungslosigkeit. »Nun passen Sie nicht mehr in die schiefe Dachkammer, Cornelius,« sagte sie.
»O, ich träume von einem Haus zum Alleinbewohnen,« scherzte er.
»Und ich von einem Stutzflügel für Sie,« sagte Do.
Da sank Cornelius in den Rohrstuhl …
»Nun ja, ich denke, Sie wollen eine Oper komponieren?«
»Das tu ich ja schon, teure gnädige Frau! In meiner Kammer schreib ich's auf und am anderen Morgen geh' ich in den Erlkönig …«
»In den Erlkönig?«
»Ja. Das ist ein Gasthaus da drüben in der Nähe der Ilm, da haben sie ein Klavier …«
So fand sich nun dieser Erich Meyer mit dem Leben ab!
»Und Ihre Villa?« fragte Do.
»Ach, da ist doch das kleine Dienerhaus im Apfelgarten, wissen Sie, wo Jockele mit der Husch den armen Heinrich aufgeführt hat und mit Felidora Geburtstag feierte« – Cornelius war wirklich sehr lustig – »und wohin Fräulein Gwendolin den Teekessel geschickt hat … gnädige Frau, gnädige Frau,« sagte er mit geheimnisreichem Gesicht, »ich glaube, in dem kleinen Haus steht ein großes Sprungbrett ins Leben!«
Ein paar Tage später zog Peter Cornelius in den Apfelgarten; [126] denn Do machte ihm weis, das Wohnen dort wäre nicht nur nicht teurer als in der Dachkammer, sondern es kostete gar nichts. Es gehörte auch dazu wieder List; denn Meyer durfte es anders nicht erfahren. Dahinein kam auch der Stutzflügel aus Bonn, an dem Do im Flügelkleide geübt hatte. Erichs Glück war vollkommen. Er las um diese Zeit häufig und sehr nachdenklich den »Ring des Polykrates«.
Auf einmal ward er drei Tage nicht in der Welt gesehen, obwohl er doch nun ein vornehmer Herr geworden war. Er erklärte sich diese drei Tage lang für den unglücklichsten Narren und hätte sich am liebsten sein undankbares Herz ausgerissen. Warum denn? Ach, er hatte da neulich im Wintergarten der Frau Do alle blutjungen Streiche an den Fingern hergezählt, die dem Jockele in dem kleinen Hause gelungen waren! Und das hatte dieser Erich Meyer fertiggebracht in dem Augenblick, in dem ihm Do den Stutzflügel verhieß! Nun kam er sich vor wie –
Auf einmal donnerte es heftig an die braune Tür. Fra Mariano trat herein. »Sie, Cornelius, was wissen Sie denn von Gwendolin und Richard Schaffrath?«
»Hm. Eigentlich weiter nichts, als daß sie gewissermaßen mit Henrik Tofte verlobt ist.«
Diese Antwort war zusammenfassend. Sie wirkte wie Öl aufs Feuer. »Die Gwendolin hat sich wohl unsichtbar gemacht, was?«
»Es ist nicht ihre Art,« sagte Meyer. Graf Metting hatte ihn immer ein wenig verspottet. Warum fand er sich nun in das kleine Haus? Er kam zu keiner glücklichen Stunde. Erich Meyer war aufgewühlt bis auf den Grund.
»Ich – nun ich habe die Absicht, mich mit Fräulein Gwendolin zu verloben,« sagte Fra Mariano.
»Wär' es nicht besser, Sie sagten ihr das selber?«
»Dazu brauche ich Sie natürlich nicht,« fuhr ihn Metting an, »aber Sie können doch zum Beispiel hier mal vierhändig spielen.«
»Na, davon hätten Sie auch nicht sehr viel.«
»Aber wenn ich dazu käme, teuerster Meyer, und Sie hätten gerade zum Beispiel eine Klavierstunde in der Stadt zu geben nach dem Spiel zu vier Händen …«
»Ach, fällt mir ja gar nicht ein! Ich geh' überhaupt nicht mehr aus dem Hause, verstehen Sie wohl?«
»Nein,« sagte Metting und griff nach seinem Hut, »Frau Do geht nicht mehr aus dem Hause, Gwendolin geht nicht mehr aus dem Hause, Jockele nicht und Erich Meyer auch nicht – zum Donnerwetter, wollen Sie denn alle Kinder kriegen?« Fra Mariano schlug die Tür hart ins Schloß und stapfte zwischen Tag und Dunkel die Kastanienallee entlang.
Er hatte dreimal vergeblich bei Doktor Sinsheimer vorgesprochen. Nun ging er zum vierten Male hin. Da wurde er von Jockele mit weitoffener Fröhlichkeit empfangen: sie wären über köstlichem Schaffen, Gwendolin male den Vorfrühling von allen Seiten, seit vierzehn Tagen wäre sie in Ibenheim bei Tante Veronika …
Nein, es war kein Schatten Falschheit in diesem Lichte, das aus Jockele schien. Aber eine halbe Stunde später kam Gwendolin aus Ibenheim, und Fra Mariano fuhr gleich am nächsten Morgen hin. Fünf Tage später traf ein Brief von Tante Veronika ein; darin stand: es wäre seit einigen Tagen ein feiner junger Mann ums Haus gestreift, heute habe er sich ein Herz gefaßt und nach Gwendolin gefragt … er heiße Graf Metting.
Es war eine Pflicht, die die aufmerksame Tante Veronika erfüllte. Jockele und Do lasen diesen Brief mit großer Heiterkeit und schickten ihn durch Fritz hinauf zu Gwendolin. Als [128] die aus ihrem Zimmer herunterkam, waren Professor Salzer und Erich Meyer schon da. Meyer berichtete von seinem Zusammenstoß mit Fra Mariano. Deshalb waren sie so ausgelassen lustig. Gwendolin aber hatte ihre melancholische Stunde. Sie lachte nicht, sondern sah Do mit ernsten Augen an und fragte: »Liebe Schwester Do, was soll ich denn nun tun?«
Der Winter mit seiner feinen Geselligkeit hatte in ihr einen mächtigen Wandel vollbracht. Wenn sie allein war und nachdenklich und wohl auch ein bißchen traurig, sah sie nun der Herzogin von Urbino viel ähnlicher als dem Flämmlein. Dies andere Leben hatte ihr wohlgetan. Sie sehnte sich mit heißem Herzen aus ihrem sorglosen »Junggesellentume« heraus. Da stand Dos und Jockeles großes Glück, da stand die lautere, geregelte und kluge Art dieses Hauses, da war … es waren da tausend Dinge, die ließen ihr nun keine Ruhe.
Es war von ihnen nicht mehr über Herzensangelegenheiten gesprochen worden seit jenem Tage im Fjord, der sich so grauenvoll über ihre Sonnenseelen gelegt hatte. Mit keinem Worte. Do liebte es nicht, bei jeder Gelegenheit Verbindungen zu erwägen. Sie hatte in solchen Dingen auch keinen Rat gewünscht, sondern hatte das mit ihrem Herzen und ihrer Klugheit ausgemacht. Und damals, auf dem Uferwege am Skjold, hatte sie mit Nachdruck ein Punktum dahintergesetzt, indem sie zu Gwendolin sagte: »Ich weiß kein Mädchen, das umworben ist wie du. Aber du kommst nicht dazu, deinem Herzen eine Aufgabe zu stellen.«
»Ich werde mich daraufhin einmal ansehen,« hatte Gwendolin geantwortet und: »Die Ehe ist eine verdammte Kunst.« Nun sagte sie: »Ich wäre euch dankbar, wenn wir heute statt des musikalischen Tees einen Familienrat hielten.« Sie setzte [129] sich in den Ledersessel und dachte, sie hätte ein gefaßtes Herz. »Ich sehe, daß ihr auf meine Kosten vergnügt seid.«
»Auf Kosten Fra Marianos,« sagte Jockele. Professor Salzer lächelte so in sich hinein; er hatte für Graf Metting nie viel übrig gehabt.
»Das kommt auf eins heraus. Wie steht es mit mir? Es steht so: Ehemals habe ich meine Freiheit und Selbständigkeit sehr hoch bewertet – etwa wie ein reicher Mann seine Millionen; denn ich habe zu mir gesagt: dafür erstehe ich mir die halbe Welt. Dann kamt ihr und ließet mich mit euch ziehen. Ich bat euch damals halb wehmütig, halb lustig: eine schiefe Kammer werdet ihr in eurem großen Hause für Gwendolin, die Heimatlose, haben. Nun aber weiß ich: ich war in jener Stunde zum erstenmal ahnungslos. Ihr seid so lieb zu mir gewesen, und ihr habt das Leben angepackt mit euren guten und reichen Herzen, wie es mir nicht im Traume eingefallen wäre – das Leben und mich selbst. Und nun steh' ich vor euch mit leeren Händen und habe nachdenkliche Stunden. O, manchmal bin ich sehr traurig: darf das denn so weitergehen aus einem Jahr ins andere?« Da merkten sie, daß sich Gwendolins Herz auflehnte gegen sich selber und daß ihre Stimme zitterte. »Ach nein, liebe Do, spare dir deine Worte! Wie es in euch aussieht, das weiß ich. Aber jetzt kommt's wieder einmal auf mich an – endlich!« rief sie. »Mein Reichtum von einst – meine Freiheit – ist vertan. Ich mag ihn nicht wiedererwerben. Ihr habt mich ein Leben gelehrt, das ist schöner und beseelter … Ich bin kein Kindskopf. Deshalb hab ich mir nicht geschworen: dies Leben mach' ich euch in allen Stücken nach; aber ich habe mir gelobt: in meiner Art will ich euch ähnlich werden. Nun kommt Graf Metting und sagt, er liebt mich. Ist das nicht der Augenblick, in dem ich meinem Herzen die Aufgabe zu stellen habe? Liebe Schwester Do, was soll ich denn nun tun?«
Nach Gwendolins langer Rede mußte diese Frage kommen. Sie war peinlich – nichts als »ungeheuer interessant« war sie nur für Cornelius. Da meldete der Diener Herrn Richard Schaffrath, den Schlachtenmaler. Der hatte wichtigen Atelierbesuch gehabt …
Atelierbesuch? Ja. Nur: wie dieser Atelierbesuch ausgesehen hatte, das war nicht zu ahnen; denn der Maler, der nach fast den gleichen Maßen erbaut war wie Henrik Tofte, kam wirklich recht besuchsmäßig daher, feierlich und ungewöhnlich vorschriftsmäßig in Anzug und Behaben. Und so war seiner Aufmachung nicht anzusehen, daß er daheim im Malraum zwei Stunden lang einen Kampf ausgefochten hatte mit einem Menschen, der genau so groß und kräftig war wie er, der über genau einen so cholerischen Zorn verfügte wie er, und der gar noch Richard Schaffrath hieß! Nun kam dieser Herr so geruhig und blank gebürstet daher und sah aus, als wäre noch niemals ein Sturm durch ihn gefahren. Aber bis vor einer halben Stunde hatte er auf seinen Gegner einen heißen Zorn niedergehen lassen – just als hieße dieser Graf Metting und hätte einen Eid geschworen, dem Maler Schaffrath bei der schönen, schlanken, heißen und klugen Gwendolin den Rang abzulaufen. »Siehst du, das kommt nun von deiner wortkargen Art! Jetzt hat sich der Windhund ihr ans Herz geschmeichelt …« und so weiter – aber solche häßlichen Gedanken waren ihm nicht mehr anzumerken. Sondern er trat mit einer sehr höflichen Verbeugung zu Frau Do und rettete sich die Verzeihung für sein Zuspätkommen. Gwendolin aber wartete noch auf Dos Antwort. Und so schlug sie in ihrer bangen Ungeduld eine Brücke … »Wir spielen heut ein anderes Instrument, Herr Schaffrath,« sagte sie, »aber Sie dürfen zuhören.«
»Ah, ein neues Instrument?« – »Ja … meine verstimmte [131] Seele,« sagte sie, »sie ist erstaunlich in Unordnung geraten … Nun, liebe Schwester Do?«
»Du sollst deine Beziehungen zu Metting abbrechen; denn in diesem Falle wäre die Aufgabe, die du deinem Herzen zu stellen hättest, zu groß. Gwendolin, du stehst mit deinen herrlichen Gaben viel zu weit fort von ihm, und du würdest in diesem blitzenden, aber flachen Wasser verdürsten.«
Gwendolin schwieg. Sie schwiegen alle. Und sie sahen, es hing eine verräterische Träne an ihrer dunklen Wimper.
»Do, ich wußte: so mußtest du antworten. Und dennoch hab' ich dich gefragt. Soll ich dir nun an den Fingern herzählen, was ich damit aufgebe?«
»Nein,« sagte Do, »das wissen wir. Aber ich will dir nennen, was du dir ersparst: die trostlose Mühe, die Kunst einer solchen Ehe zu erlernen. Fürchte dich davor, Gwendolin, fürchte dich vor der Reue ohne Ende!«
Da ging Gwendolin in ihre Zimmer und warf sich auf ihr Bett und weinte.
Die anderen saßen im Wintergarten noch lange beisammen. Schaffrath war noch schweigsamer als sonst. Jockele allein schupfte die Schultern. Er konnte zum erstenmal nicht ganz mit Do übereinstimmen. »Nun, es ist ja nicht das letzte Wort,« sagte sie, »Gwendolin wird ihre freudige Klarheit wiederfinden und mit sich selbst zu Rate gehen.«
»Ja,« sagte Jockele, »und es ist gut so. Es kommt mir vor, als entschieden wir ein bißchen selbstherrlich – schließlich: Fra Mariano bewirbt sich doch nicht um jeden von uns, sondern um Gwendolin.«
Danach ging Do zu ihr. Cornelius blieb am Flügel und träumte wunderliche Fantasien. Jakobus, Salzer und Schaffrath begaben sich in das Rauchzimmer. Der Doktor schickte seine Gedanken den blauen Ringen nach. »Die Sache ist [132] qualvoller für uns als Sie denken, lieber Schaffrath,« sagte er. »Und was halten Sie davon, Professor?«
»Je nun, es überfällt Sie ja nicht,« antwortete er. Es war nicht ohne Spott.
»Eigentlich nicht,« sagte Jockele, »wir haben es gefürchtet. Aber Do will es durchaus nicht zum äußersten kommen lassen. Wenn Metting erst um Gwendolin wirbt, wird sie ihn nicht abweisen – verlassen Sie sich darauf, und dann ist das Unglück fertig! Es ist nicht zu glauben, wie erstaunlich die Unordnung ist, in die sie geraten. Bedenken Sie doch: dies kluge und aufrechte Mädel!«
Hm. Es war wirklich eine höchst unangenehme Geschichte.
Schaffrath konnte sehr undurchsichtig sein; er war es heute doppelt. Jockele ärgerte sich darüber und sagte: »Richard Schaffrath, Sie sehen aus wie ein Bräutigam auf dem Wege von der Kirchtür zum Altar.«
»Wie sieht denn der aus?«
»Versteinert.«
Der Professor prüfte ihn daraufhin. Seit die Herren unter sich waren, zuckte es ihm unausgesetzt um die Lippen wie Spott und Schadenfreude … »Und Sie, Professor,« sagte Jockele, »Sie sehen aus, als sezierten Sie ein Drama von Maeterlinck.«
»O nein,« sagte er, »mein Vergnügen ist viel größer.«
»Es wäre besser, Sie machten sich um uns ein bißchen nützlich,« scherzte Jockele, aber er sprach nicht ohne Bitterkeit. Der Schlachtenmaler schritt indes auf dem Teppich hin und her wie ein Löwe im Käfig. Der Lösung seiner schwierigen Frage kam er nicht näher. Und die Augen Salzers liefen funkelnd hinter ihm drein. Endlich lehnte der Professor sich in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände über der Uhrkette und verfiel in ein ungeheueres Lachen. Jockele stand hilflos am [133] Tisch, Salzer lachte in einemfort, und Schaffrath tat, als wäre dieser Ausbruch des Vergnügens eine Selbstverständlichkeit: er kümmerte sich nicht darum.
»Zum Teufel,« rief Jockele, »was soll denn das heißen?«
»Großartig, ach großartig! Es ist eine Komödie! Doktor, muten Sie mir denn zu, daß ich in einer Komödie sitze wie ein Ölgötze? Der Schlachtenmaler, hurrjeh, der Schlachtenmaler hat nämlich den Brief im Sack, mit dem er sich um Gwendolin bewirbt! Hahahahaha.«
»Und das nennen Sie Komödie?« platzte Jockele heraus. »Herr, das ist eine Tragikomödie!«
»Gibt es nicht,« sagte der Professor. »Eine Geschichte endet mit unglücklichem Ausgang und ist eine Tragödie. Oder sie endet mit vergnüglichem Ausgang, dann ist sie eine Komödie. Oder wollen Sie etwa den Mut aufbringen, einen Stoff zu gleicher Zeit aus einem ernsten und aus einem lustigen Gesichtswinkel zu betrachten? Bedenken Sie doch bloß den Unsinn: ein heiteres Trauerspiel, oder ein trauriges Lustspiel! Mit der Bezeichnung Tragikomödie hat Plautus ursprünglich einen Scherz …«
»Himmeldonnerwetter!« schrie der Doktor, »ist denn die Welt aus den Fugen? Und was gehen uns augenblicklich Plautussen seine Witze an?«
»Dieses aber ist eine Komödie,« dozierte der Professor weiter; »denn warum? Ich betrachte sie aus dem vergnügten Gesichtswinkel des Weisen mit der himmlischen Liebe.« Salzer hatte heimlich auf den Klingelknopf gedrückt, der Diener trat herein. »Fritz, bringen Sie eine Flasche Johannisberger Schloßberg 1878,« befahl der Professor. Und Richard Schaffrath ging hin und her, als ginge ihn alles Lebendige nichts an. Dann aber setzte ihn Salzer neben sich an den Tisch, und sie tranken Johannisberger Schloßberg. Da fand der Schlachtenmaler [134] seine Sprache wieder, und mit Gwendolins Worten sagte er: »Liebe Schwester Do, was soll ich denn nun tun?«
»Mir scheint allerdings, als wäre das eine Sache für Frauen,« sagte Jockele ratlos.
»Je,« wunderte sich der Professor, »als Sie noch ›Jockele und die Mädchen‹ spielten, sind Sie nach allem, was man weiß, beherzter gewesen.«
»Ja,« bekannte Jockele und verfärbte sich in blutrotem Erinnern, »aber die Gwendolin kann einen mörderlich aufsitzen lassen!«
Darüber fiel der Schlachtenmaler vollends ins Dasein zurück. »Es ist eine peinliche Sache.«
»Ach wo!« sagte der Professor, »sehen Sie, meine Herren, so denk' ich mir das Spiel zwischen schönen Mädchen immer; denn an einem schönen Mädchen hängen die Augen vieler; und die schönen Mädel – na, ich weiß nicht, ob die nur immer so geradeaus gucken! Wissen Sie, was ich machen würde? Ich riefe den Diener Fritz und ließe der Gwendolin mein Bewerbungsschreiben um die freigewordene Wohnung augenblicklich überbringen.«
»Ich aber werde den Diener Fritz rufen und augenblicklich meine Koffer packen lassen,« sagte Jockele.
»Doktor,« gebot Salzer, »machen Sie keine Späße!«
»Wollen Sie die Gwendolin denn ganz zerreißen?«
»Nun, es ist eine Gewaltkur,« sagte der Professor. »Vor reichlich drei Wochen haben wir uns die Sache in meiner Turmstube ausgedacht. Aber – ist denn der steinerne Ritter Schaffrath zu einem Worte zu bewegen gewesen?«
»Die Würze des Lebens ist in solchen Dingen ahnungslos wie der Sommerhimmel,« sagte Schaffrath.
»Warum sind Sie denn dann zu mir gekommen? Und [135] was hab' ich Ihnen gesagt? Schämen Sie sich, Schaffrath, so ein großer, schöner, tüchtiger Mensch …«
»Als ob's bei den Mädchen darauf ankäme!« lächelte Schaffrath bitter, »hieß es nicht, Gwendolin hätte sich versprochen mit Henrik Tofte? Hieß es nicht, sie wäre heimlich verlobt mit dem Grafen Metting? Wollen Sie mich denn vor Gwendolin und der Welt zum Narren machen, indem Sie –«
»… mich auf das zwiefach verhürdete Schäflein loslassen!« vollendete der Professor die Rede des Schlachtenmalers. Er konnte sich nicht helfen – für ihn war dieser Zusammenstoß der Ereignisse ein Quell erschütternder Heiterkeit. »Ich begreife nicht, warum Sie nicht lachen, meine Herren! So helfen Sie mir doch – lachen wir, daß die Wände wackeln und in den Gemächern der Damen –«
»Hab' ich nicht gesagt: die Würze des Lebens ist ahnungslos wie der Sommerhimmel?« fragte Schaffrath. Darüber bekam Jockele das Laufen und stampfte nun seinerseits über den Teppich. Er rang mit beidem: mit dem Lachen und mit der Verzweiflung. Salzer aber begann ein Examen. »Ist Gwendolin verlobt?«
»Nein.«
»Ist sie verliebt?«
»Nein.«
»Würde sie den Grafen Metting heiraten?«
»Wahrscheinlich.«
»Würde sie Henrik Toften nehmen, wenn er heute um sie anhielte?«
»Möglich.«
»Na also,« wandte sich Salzer an Richard Schaffrath, »was steht Ihnen denn im Wege? Ein Vielleicht und ein Möglich! Und vor diesen beiden windigen Gespenstern fürchten Sie sich, Sie Ritter ohne Furcht und Tadel?«
»Eigentlich hat er recht,« erwog Jockele. »Aber, liebster Schaffrath, warum haben Sie denn den langen Winter vor ihr gestanden, als hätten sie ein neunmal gepanzertes Herz?«
»Es ist eine Eigentümlichkeit von mir,« sagte Schaffrath.
»Und Sie, Professor, hätten Sie sich nicht für Ihren Freund in die Schranken werfen können?«
»Na, ich bitt' Sie, ich habe doch kein Heiratsbureau!« schrie Salzer in heller Entrüstung.
So sprangen sie rings um den toten Punkt und bekamen das Wirbeln, aber vom Flecke kamen sie nicht.
»Hier muß etwas geschehen,« sagte der Professor. »Ich übernehme die Verantwortung!« Er drückte mit fester Hand auf die Klingel und nahm den Brief vom Tisch …
»Ich betrete dies Haus drei Wochen nicht mehr!« rief Schaffrath.
Aber Salzer befahl: »Fritz, bringen Sie diesen Brief zu Fräulein Gwendolin Vogelgesang. Sagen Sie: eine Antwort würde vor Ablauf von drei Wochen nicht erwartet.« Fritz wiederholte den Befehl und verschwand. Salzer und Schaffrath verschwanden auch. »Wollen Sie mich nicht mitnehmen?« fragte Jockele. – »Kommen Sie!«
So schritten sie hinaus in den stürmischen Abend. Peter Cornelius aber saß am Flügel und vergaß Zeit und Ewigkeit. Halb zehn Uhr spielte er immer noch. Da ging Do hinein zu ihm und sagte: »Möchten Sie nicht mit uns zur Nacht essen? Es ist zwar schon reichlich über die Stunde, und wir sind ganz allein …«
Erich Meyer tat einen harten Fall auf die Erde – was aber nicht wörtlich zu nehmen ist – und erwachte aus tiefen Träumen; denn er erfuhr, daß die Herren mittlerweile im Rauchzimmer ein Gelage gehalten hätten und abhanden [137] gekommen wären, und daß er seit länger als drei Stunden am Klavier gesessen.
Gwendolin war auch im Speisezimmer. »Sehen Sie, lieber Meyer, das ist Ihre Art, das Leben zu verpassen,« sagte sie mit einem fröhlichen und einem traurigen Auge. »Ich glaube, an diesem Punkt begegnen wir uns. Man wird darüber leicht zu einer komischen Figur, lieber Meyer.«
»Wohl, wohl,« sagte er, »aber das ist mir ganz egal. Ob der Mensch glücklich ist, darauf kommt's an! Und darin nehm' ich es mit ihnen allen auf, seit ich mein Landhaus besitze und meinen Stutzflügel.«
»O,« machte Gwendolin, »so ist auch das ins Wasser gefallen! Ich dachte schon: wenn Sie noch solch ein Ritter von der traurigen Gestalt wären, könnten wir zwei uns heiraten.«
»Ja, wenn ich es wäre!« scherzte Cornelius, »aber jetzt bin ich ein feiner Herr.«
»Und ich? Ich wandele mich allgemach zu einem Narren,« sagte Gwendolin bitter, »aber wofür ist denn Fasching? Freilich, die Herren haben sich einen sehr schlimmen Spaß mit mir erlaubt. Doch warum beklag' ich mich darüber?« Cornelius sah Do an, und er sah Gwendolin an. Und weil die merkte, Meyer war schuldlos, so begann sie zu erzählen in herzhaftem Spott gegen sich selbst … »Nun, wenn ich mich selber nicht mehr verhöhnen könnte, stünde es noch schlimmer mit mir.«
Aber Erich Meyer saß fast andächtig dabei.
»Und da lachen Sie nicht, Cornelius?«
»Nein,« sagte er, »denn ich warte auf die Geschichte von dem schlimmen Spaß.«
»Mensch, die hab' ich Ihnen ja soeben haarklein erzählt!«
»Ach so,« staunte Meyer, »und das nennen Sie Spaß?« Do begann zu begreifen. »Ein Spaß ist das ganz und gar [138] nicht, Fräulein Gwendolin; denn der Brief Schaffraths ist schon seit drei Wochen geschrieben, nämlich: der Schlachtenmaler liebt Sie bis zur Selbstverlorenheit.« Und Peter Cornelius setzte neckisch hinzu: »Sehen Sie, darum hab' ich vorhin Ihrer freundlichen Aufforderung, Sie zu heiraten, nicht gleich Folge geleistet.«
Es kam nun eine Stille – die Uhrenpendel hörte man darin schlagen und die Herzen. Do aber legte die Gabel fort und faltete ihre beiden Hände im Schoße … »Sturmschwalben, Sturmschwalben, wo nehmt ihr den Mut zum Leben her?« Die Uhren tickten wieder und die Herzen. Gwendolin war aufgestanden und hinter Frau Dos Stuhl getreten. Sie neigte die Stirn auf Dos Schulter und umfaßte sie und sagte: »Ist es nicht gräßlich mit mir, Do? Die erste tiefe Liebe, die mir begegnet, halt' ich für einen schlimmen Spaß … Ist es nicht gräßlich?« Und Gwendolin weinte bitterlich.
Wäre diese Geschichte nicht wahr, sondern ein Roman, so würde es nun weiter heißen: »Drei Wochen später wurde die Verlobung mit großer Pracht gefeiert.« Dem war aber nicht so; denn als man Verlobung feierte, war man nur selbdritt beieinander: Gwendolin und Richard und eine zeitlose Frühlingsnacht, die lag so schmeichelnd, veilchenduftig und sammetschwarz über dem Weimarer Park, daß sie James King kurz und bündig »lächerlich« genannt hätte. Und wenn etwa einer nachträglich kommt und erzählt: es wäre bei Sinsheimers im Haus am Horn gewesen, und es hätte eine große Aufmachung von Licht, Kuchen, Wein und Musik gegeben, so ist das einfach nicht wahr. Sondern: wenn man von Goethes Gartenhause den Wiesenweg nach der Ilm geht und an der Ilm links weiter, so kommt man nach zweihundert Schritten an einen Wildapfelbaum mit tief herabhängenden Ästen. [139] Unter dem Apfelbaume steht eine Bank. Auf dieser Bank war es. Und es gab weder Kuchen noch Wein noch große Festmusik, bloß Lieder ohne Worte und Süßigkeiten … Ferner: es war auch gar nicht drei Wochen später; denn Richard Schaffrath war ja schon beim nächsten musikalischen Tee wieder bei Sinsheimers, es war da sehr fein, und ein Narr wäre gewesen, wer behauptet hätte: am Donnerstag zuvor hätte Gwendolin Frau Do ihren heißen Schmerz auf die Achsel geweint und hätte gesagt: mit ihr wäre es gräßlich. Nein, nein. Die Geschichte unter dem Apfelbaum geschah in Wahrheit am darauffolgenden Samstag, abends von neun bis elf Uhr; und zwischen dort und jenem Donnerstag im Leid lagen zweimal die hundertneununddreißig Stufen der Weimarer Hofkirche am alten Friedhof, die Gwendolin zu dem Herrn Professor Salzer emporgestiegen war. Daraus ist zu ersehen, daß es sich für sie um einen ernsten und wichtigen Fall handelte; denn weder wegen James King noch wegen Mister Johnny, noch wegen Henrik Tofte hatte sie einen Fuß gerührt – des Jockele und des Unbekannten aus dem Ettersburger Zwetschengarten gar nicht zu gedenken! Fra Mariano aber stand in der Mitte zwischen Richard Schaffrath und der langen Reihe, von der ihr jeder den Jungfernkranz winden lassen wollte; denn wegen Fra Mariano war sie wenigstens in ihre Zimmer gestiegen, und Fra Mariano muß hier erwähnt werden, weil er schon auf dem Weg unter den Wildapfelbaum war und zu dem Fest als ungeladener Gast kam … Aber es war sehr finster im Park, und es sind viele Bänke dort; nach der richtigen mußte er erst eine Weile suchen. Er war noch an kein Vorhaben mit gleicher Unentwegtheit herangetreten; denn er wollte diesen Porträtmaler auf frischer Tat ertappen.
Es ist auch nicht bei der Wahrheit geblieben, wenn man wissen will: Gwendolin wäre in tiefer Zerknirschung und mit [140] vom Weinen geröteten Augen unter dem Apfelbaum erschienen; denn zweimal hundertneununddreißig Turmstufen sind so lang wie zweimal hundertneununddreißig Jahre. Und Gwendolin, die weitoffene und gescheite Gwendolin, war viel zu ehrlich, als daß sie aus ihrem Herzen eine Mördergrube gemacht hätte. Weitoffen, klar und gescheit stieg sie gleich am Freitag früh nach dem verweinten Donnerstag zu Salzer, dem Turmwart, und sagte: »Ich wollte nur sehen, ob Sie über Nacht wieder herzugekommen sind.«
»O ja,« sagte der Professor, »Jockele, Schaffrath und ich haben bis gegen morgen im Turm einen respektablen Trunk getan. Aber: wollten Sie wirklich nur nachsehen, ob –?«
»Sie sind sehr neugierig,« sagte Gwendolin.
»Das kommt daher, weil ich für den Brief die Verantwortung übernommen habe.«
»Es war tapfer von Ihnen,« lobte sie, »mit den jungen Leuten hat man seine liebe Not.«
»Ja,« sagte der Professor.
»Morgen komm' ich noch einmal,« sagte Gwendolin, »ich möchte da Richard Schaffrath hier sehen. Übernehmen Sie die Verantwortung?«
»Ja,« sagte der Professor.
Am Samstag kam sie erst gegen Abend. Schaffrath aber hatte schon seit dem frühen Vormittag auf sie gewartet. »Sie müßten Engelein heißen,« sagte der Professor zu ihm. Es war Schaffrath sehr bange; denn er dachte: »Dies fixe wackere Mädchen wird meine Vorsicht als Feigheit ansehen.« Aber das tat sie nicht; sondern sie sagte sehr milde: »Nun, ich hätte es mit der Gwendolin wahrscheinlich anders gemacht. Wußten Sie denn nicht, daß ich in einer großen Gefahr schwebte?«
»Nein,« sagte er, »Sie konnten es auch für ein großes Glück halten.«
Sie war ans Fenster getreten. Es lag über den Dächern ein feiner grauer Nebel. Nur die Firste und Schornsteine guckten oben darüber heraus, und am Himmel gingen verheißungsfroh die ersten Sterne an. »Der Frühlingsmantel, den sich die Erde umlegt! Kommen Sie, wir wandern zusammen hinab ins Tal!«
»Nein, auf einen hohen Berg.«
Da gingen sie miteinander. Und nach einer Stunde kamen sie unter den Wildapfelbaum. Ein ganz dünner Streif Mond lag nun auf der Ilm als ein silberner Kahn. Darüber fiel Gwendolin James Kings Gespensterschiff ein, und sie erzählte dem Manne, der nun neben ihr saß, alle Liebschaften, die sie gehabt hatte in den acht Jahren, seit ihrem fünfzehnten, und wie sie umworben worden – von lange vor Jockele bis zu dem Grafen Metting. »In fast allen Fällen konnte ich gar nichts dafür – bloß die zwei Sachen in Ettersburg, die stehen auch mit auf meiner Rechnung. Aber du mußt nun alles wissen; mein Herz sagt einfach: es ist so in der Ordnung! Ach du, mein Herz ist ein so natürliche ungefaltetes Ding – rein zum Bangewerden! Wird dir nun bange davor?«
»Nein,« sagte er und wunderte sich, daß sie auch für das Erlebnis mit Henrik Tofte die Verantwortung ablehnte. Aber er redete nicht davon.
Da zog Fra Mariano des Weges. Er hatte sich in seinen Sommerüberzieher verkrochen und den Kragen hochgeschlagen und trug den Gehstock steil in der Rocktasche. Weil er am Apfelbaum so kecklich vor sich hinhüstelte, sagte Gwendolin: »Wenn Sie Lust haben, sich ein wenig zu uns zu setzen, Graf Metting – es steht Ihnen ganz und gar nichts im Wege.«
Es war zu merken: die da sprach, war die alte Gwendolin. Von ihr hat einer gesagt: sie hätte Stunden, in denen sie den lieben Gott besiegen könnte. Ja, so war das mit ihr. [142] Metting hatte vorgehabt, den Überraschten zu spielen und beide zur Rechenschaft zu ziehen, aber »zu spielen« brauchte er nun nicht; denn das hier war keine Komödie – das war das Leben selber und forderte ihn auf den Plan. Und davor stand er, und wußte nicht, was er sagen sollte. Er setzte sich auf die Bank, rechts neben Gwendolin, und verkroch sich noch tiefer in seinen Überrock.
»Nun?« fragte sie, »was halten Sie von diesem Tatbestande, Graf?«
»Eins der vielen Abenteuer der Herzogin von Urbino,« sagte er sehr zugeknöpft. Er hätte sagen können, was er wollte – sie faßte ihn sofort am Schopfe und beutelte ihn … was wiederum nicht wörtlich zu nehmen ist.
»Ich weiß im Augenblick nicht, ob die Herzogin von Urbino Abenteuer suchte in dem Sinne, in dem Sie das meinen, lieber Graf. Aber das sag' ich Ihnen: durch die Ungewißheit ihres Schicksal ist jede Frau von ihrem sechzehnten Lebensjahr ab eine Abenteurerin …«
»Ha, es wäre schlimm!« unterbrach sie Metting.
»… nicht in ihren Taten, sondern in ihren Träumen! Sie läßt ihre Träume vom Leben ausfliegen wie Noah den Raben oder die Taube aus dem Kasten: sie finden nicht, da ihr Fuß ruhen kann. Aber einer bringt den Ölzweig. Und danach ist es gemeinhin vorbei mit dem abenteuerlichen Flug über den wogenden Wassern. Sehen Sie, so mein' ich das.«
»Nicht übel,« sagte er, »und recht spitzfindig ausgedacht. Nun, Frauen sind um eine Entschuldigung niemals verlegen.«
»Männer auch nicht,« sagte sie. »Aber ich habe gar nicht das Bedürfnis, mich vor Ihnen zu entschuldigen; sondern die Dinge liegen einfach so: in dem Augenblick, in dem auch mein Herz in die Lage kam, zu wählen zwischen Richard [143] Schaffrath und dem Grafen Metting, entschied ich mich für Richard. Wir haben uns in der vorigen Stunde verlobt.«
»Hoh!«
»Ja. Die Liebe ist ein Geist; sie kann nicht reden, eh' ihr nicht ein Wort oder Zeichen gegeben wird. Die Liebe ist ein Geist; aber dieser Geist wird erlöst, wenn er weiß, man verlangt nach ihm.«
»Nun, ich habe Ihnen Zeichen genug gegeben, Gwendolin.«
»Aber als der andere die Sprache fand, blieb mir keine Wahl: mein Herz flog ihm in Seligkeit nach.«
»Hm. Dann wäre wohl meine Aufgabe unter diesem Baum erfüllt?«
»Ich glaube es,« sagte Gwendolin.
»Gute Nacht.«
Fra Mariano versickerte in der Finsternis.
Von den Türmen schlug es Elf, als Richard und Gwendolin unter den hohen Birken des Philosophenwegs hervortraten und nach dem Horn einbogen. Sie hatten keine Eile und sprachen leise. Auf der Höhe des Goethegartens sahen sie: bei Sinsheimers war noch das ganze Haus hell. Da wunderten sie sich. Es rasselte auch ein Wagen durch die Stille der Straße davon. Sollte Fra Mariano –?
Als Schaffrath sie verlassen und Gwendolin hineinkam, fragte sie den Diener. »Herr Meyer ist da«, sagte der, »und eine Dame: Fräulein Kordula Gunkel aus Rom. Fräulein Gunkel hat sich durch ein Telegramm angemeldet und ist vor kaum fünf Minuten angelangt.« Man hörte durch die Türen lachen, und Gwendolin funkelte in die erste Freude des Wiedersehens.
»Lieber Meyer, wissen Sie, daß die dunkle Kordula eminent musikalisch ist?«
»Ja,« sagte er, »Sie selbst haben es mir erzählt, aus der Geschichte der Sturmschwalben.«
»Und wißt ihr, Kinder, daß ich mich verlobt habe?«
Da rissen sie Gwendolin der Reihe nach an ihr Herz – zuerst Jockele. »Er tut das immer sehr ausgiebig,« sagte Do. »Ja,« erklärte Cornelius, »man kann da mittlerweile eine Partie Schach spielen oder Beethovens Neunte.« Dann kamen Do und Fräulein Gunkel an die Reihe. »Na, lieber Meyer?« jauchzte Gwendolin. Und weil er beschaulich am Flügel lehnte und Miene machte zu einem sanften Handkusse, griff sie ihn auf und wirbelte ihn ein paarmal herum. »Die Liebe ist ein Geist – sie muß durch ein Zeichen erlöst werden!« rief sie. Cornelius ward von diesem Überfall reichlich betört; und als sie ihn wieder freigegeben hatte, war er blutrot geworden und gestand: »Jetzt hab' ich den ersten Kuß von einer Dame bekommen! … Sie auch?« wandte er sich an Jockele.
»Ich – –? – Ja, natürlich.«
Darüber gerieten sie noch mehr in Lustigkeit. Erich Meyer aber hatte einen großen Tag und durfte hinausgehen und Wein kommen lassen, ganz nach seiner Wahl. Da entschied er sich für Sekt; denn Sekt hatte er in diesem Hause zum ersten Male getrunken, und Sekt stand obenan in der Reihe seiner unvergeßlichen Erlebnisse. Dann sanken sie in die braunen Ledersessel, und es war herzhaft und aufgetan wie in der Mädchenzeit.
Die Standuhr schlug die Mitternacht. Da horchten sie hin; denn es war ein schöner, weicher Klang und voller Andacht. »So ist es, wenn Kordula Gunkel zur Laute singt,« sagte Gwendolin und dachte an die Abende im Fjord. Sie dachte auch an Henrik Tofte; aber sie wollte nicht nach ihm fragen. War die dunkle Kordula damals nicht mit heimlichen Hoffnungen nach Rom gezogen? »Jede Frau ist eine Abenteurerin [145] von ihrem sechzehnten Jahr ab.« Der Gedanke, den Gwendolin vor zwei Stunden dem Grafen Metting gegenüber ausgesprochen hatte, stand nun neben den vielen Lichtern, die in dieser Nacht ihre Seele hell machten, und sie fragte: »Kordula, warum bist du heute in unser Haus gekommen?«
»Daran ist dein glückseliger Brief schuld, Gwendolin.«
»Du, den hab' ich doch in der Woche vor Weihnachten geschrieben!«
»Jawohl,« sagte Kordula, »und es fehlte nicht viel, ich wäre gleich damals zu euch gekommen. Er war ein Stern in tiefer Finsternis. Ich habe nicht wieder geschrieben – nun ja, ich habe gewartet, bis ich meiner Sehnsucht nachfahren könnte …«
»Na, und Tofte?« fragte Jockele, »ist denn der nicht das große Licht in der Finsternis geworden?«
»Ja und nein,« sagte Kordula. »Ich war schon seit langem wandermüde, aber jetzt bin ich's doppelt. Gwendolin hat mir so strahlend vom Leben in diesem Haus erzählt, und das hübscheste war der Abschnitt ›Jockele und seine Frau‹. Seht, ich komm' auch aus einem solchen Hause! Als meine Eltern kurz hintereinander starben, wurde ich mit dem Haus abgefunden, mein Bruder empfing bares Geld, er ist Arzt in Bingen, und ich saß nun in Göttingen, und es kam mir vor, als wollte mich das Leben dort sitzen lassen. Da verkaufte ich meine steinerne Einsamkeit, kam nach Weimar und wurde Kordula mit der Laute. So lebt' ich mich zwei Jahre durchs Dasein. Ich ging an den düsteren Songefjord und ließ die traumhafte Herrlichkeit an meiner Seele abfärben. Als ich zu euch in den Hardanger Fjord geriet, da hatt' ich Heißhunger nach Sonne. Gwendolin hatte mir geschrieben: ›Wo Jockele und Do sind, da ist die Sonne.‹ Die Insel der Auferstehung lockte mich, dort wollt' ich mein Ostern feiern. [146] Und als ich eintraf, hatte Rolf Krake die Kugel in die Sonne geschossen. Ich kam zu spät – aber ich kam zu rechter Zeit nach Rom. Da fand ich Henrik Tofte. Er hatte einige Wochen mit Mister Johnny in dem deutschen Gasthause ›Zur Post‹ zu Mittag gegessen. Mister Johnny war noch dort, aber es hatte Auseinandersetzungen zwischen beiden gegeben, und nun begegneten sie einander mit stummem Gruß, und Henrik speiste nicht mehr in der Post. Er speiste überhaupt nicht mehr – so schien's. Künstler, die ihn kannten, erzählten, er triebe sich in kleinen italienischen Weinhäusern herum; und einer wollte wissen: Henrik Tofte wäre Gepäckträger, und wenn ich ihn suchte – draußen am Bahnhofe könnt' ich ihn treffen. ›Großer Gott,‹ sagte ich, ›dieser Henrik Tofte ist ja aber ein Genie!‹ Da lachte man mich aus – Genies gäb's auf dem heißen Pflaster Roms massenhaft, aber die meisten bekämen das Fieber … Ich ließ also meine Reisetasche im Handgepäckschalter niederlegen, und tags darauf ging ich vor der Ankunft des Berliner D -Zugs zum Bahnhofe. Den Längsten unter den Gepäckträgern ersah ich mir. Er war blond und reckenhaft wie ein Skalde und trug die rote Mütze der Facchini. ›Wie heißen Sie?‹ fragte ich ihn auf norwegisch. Da zuckte er zusammen und schlug die Augen nieder. ›Tofte.‹ – ›So besorgen Sie mir die Tasche auf diesen Gepäckschein nach Via Gregoriana Nummer 5.‹ Auf meinem Zimmer in der Gregoriana hab' ich dann versucht, ihn instandzusetzen. Kinder, diese Geschichte hättet ihr erleben sollen! Eine Wohnung hatte er nicht. Aber Angelina Fabbro, die Witwe eines Postschaffners, bei der ich wohnte, hatte eine große Küche. Sie war sehr einsam, sehr faul und sagte, sie trauerte sich um ihren Emilio einen grauen Kopf. Angelina Fabbro ist sechsunddreißig Jahre … Nun: Kordula Gunkel stattete Henrik Toften aus, bis er wieder manierlich [147] war an seinem langen Leibe. Schön und manierlich; aber Angelina liebte ihn, und er liebte sie. Sie ist rund an allen Enden, sie ist zierlich, und sie hat das Herz einer Römerin. Und Angelinas Küche ist groß, kühl und heimelig, wenn die grünen Sparrenläden vor den Fenstern liegen. In dieser Küche schliefen sie, in dieser Küche liebten sie einander und waren faul, wie man nur in Rom faul sein kann. Angelina Fabbro vermietet ihre Zimmer, hat ein kleines Witwengeld und führt ein gutes Regiment im Hause. Als ich mir über dies alles klar war, zog ich aus …«
»Römische Schlendertage!« sagte Jockele. »Die Geschichte ist zu Ende.« Er klang sein Glas gegen das Glas Kordulas, und seine Stimme war von frohem Klang; denn es war zu sehen: Kordula Gunkel erzählte nicht aus schmerzlichem Verzicht. »Die Geschichte ist zu Ende!«
»Nein, ich möchte sagen: sie geht erst los.«
»Sekt, Sekt, Cornelius!« mahnte Gwendolin, »Herrgott, Sie sind sich ja abhanden gekommen!«
»Ich finde so was furchtbar interessant, Fräulein Gwendolin« – das war Erich Meyers Erwachen – »denken Sie mal: Rom, Angelina Fabbro, rund an allen Ecken …« Cornelius merkte den lustigen Streich gar nicht, den ihm die gespitzten Lippen spielten … »wenn ich daran denke … nun: eigentlich dumm scheint Henrik Tofte nicht zu sein. Und diese famose Geschichte geht noch weiter, Fräulein Kordula?« Erich Meyer rieb sich die Hände. Dann goß er Kordula das Glas voll Sekt, ihr ganz allein. »Er will verhüten, daß dir die Lippen trocken werden,« bemerkte Gwendolin.
Ach ja, Cornelius war zum Ergötzen! Denn nun sprang er hinaus an den Flügel und griff leise, gebrochene Akkorde, wie aus einer Harfe, ehe das erwartete Lied ertönt … Und Kordula Gunkel sprach:
»Ich kann nicht sagen, daß ich darüber traurig geworden wäre. O nein, Henrik Tofte ist nicht ein Mensch, vor dem man so leicht traurig werden kann – höchstens ein bißchen wehmütig wird einem ums Herz, wenn man sieht, wie diese Fülle glänzender Gaben in den Staub fällt …«
Gwendolin sprang ihr mitten hinein in die Rede: »Das macht, man kann keinen Glauben an ihn aufbringen, nicht einmal den Glauben daran, daß seine unerhörten Gaben im Staube liegen bleiben könnten.«
»Ja, so ist es wohl mit ihm,« sagte Kordula, »denn als ich damals in Rom hinaus zum Bahnhofe ging und dachte: ›Nun sollst du diesen schönen und bedeutenden Menschen an der Ecke stehen sehen als einen Paria des Lebens,‹ da war mir, als hätte der Blitz in mein Herz geschlagen. Aber hernach? Es war eine fast gleichgültige Begegnung und war kaum anders, als wenn ich den Dienstmann Nummer 17 einen Weg schickte.«
Gwendolin hatte noch keinem Erzähler mit tieferer Hingabe gelauscht. Es war ihr – und so war es auch Do und Jockele – als reiche ihr nun das Leben die Bestätigung ihrer Klugheit von einst. Und sie sagte: »Das ist der Schadenersatz, den das ›Schicksal‹ dem Henrik gewährt für das, was es ihm vorenthält: man kann kein Mitleid mit ihm haben! Deshalb ist es ihm versagt, andere unglücklich an ihm zu machen. In dem Augenblick, in dem er auch das noch fertigbringt, wird er zum ersten Male an sich selber unglücklich sein.«
»Du kennst ihn sehr gut,« sagte Kordula; »denn als ich aus der Gregoriana fortgezogen war und in der Via Parma wohnte, war es mir, als wär' ich einem finsteren Verhängnis entronnen: ich war seit dem Tode meiner Eltern nicht mehr frohherzig gewesen, nun aber war ich's wieder. Es war zwar ein wunderliches Vergnügen, dem ich mich hingab, aber es war doch eins: [149] ich baute mir in Gedanken das Leben Henrik Toftes aus den Stücken zusammen, die von ihm in der Welt herumlagen. Kinder, was wurde da für eine barocke Unmöglichkeit daraus! Alle Narrheit und Weisheit, alles Licht und alle Finsternis, aller Ernst und alle Kindsköpfigkeit, die je aus den Gedanken des großen Weltenbaumeisters hervorgegangen sind, hat er in diesen Überschwung hineingepaßt, der nun Henrik Tofte heißt! … Neugierig ging ich nach ein paar Wochen durch die Gregoriana – da war drunten am Torstein des Hauses Nummer 5 ein Schild in vier Sprachen angebracht: ›Institut für schwedische Heilgymnastik und Massage von Henrik Tofte.‹« …
Die Standuhr schlug Eins. Sie schlug in die verblüffte Stille, die genau so lang war wie der Uhrenschlag. Dann brach das Lachen los.
Frau Do aber ging hinaus und kam nicht wieder.
So drängte sich das Leben mit Ungestüm im Haus am Horn. »Das Dasein hat um Jockele und Frau Do ein ganz anderes Gesicht wie um andere,« bemerkte Cornelius mit einem Aufgebot von Wichtigkeit. Sie saßen in dieser Frühlingsnacht, bis der Morgen heimlich an die Fenster klopfte, und waren doch nur vier junge Menschen, die sich nicht einmal von anregendem Trunke locken ließen. Dann verfielen sie in ein lustiges Raten, woher das käme. »Es ist die Nachbarschaft Goethes,« sagte Jockele, und er hielt eine schöne Rede. Daran war zu merken, daß er vor der peinlichen Frage: »Was wissen Sie von Goethe?« längst nicht mehr zag zu sein brauchte. »Wer in Weimar lebt, hat die Pflicht, in jeder Woche einmal nachdenklich daran zu werden, daß Weimar das Herz der Welt ist – diese Erkenntnis wirkt auf die Seele wie ein Sonnenbad auf den Körper.«
»Alle Sinne werden wach, wenn man in das Reich der Frau [150] Do tritt,« sagte Cornelius – »was ich bin und habe, dank' ich ihr allein,« setzte er hinzu. Er hatte leuchtende Augen. Und Kordula Gunkel war auf die Schwelle des Musikzimmers getreten und ließ ihre Blicke wandern. Es hingen da schöne und wuchtige Gemälde an den Wänden: der Folgefond, wie er sich spiegelte in den dunklen Wassern des Hardangerfjords – von Henrik Tofte. Es war ein königliches Bild. Es hing an der Wand im Speisezimmer der Skjoldefoß mit der Sägemühle – auch von Henrik Tofte. Groß und gewaltig in Farben und Auffassung. Es waren da Bilder von Gwendolin aus den Schären und Holmen; dann die Insel der Auferstehung, und der Anger im Walde von Ettersburg, den sie damals gemalt hatte, als Jockele vor ihr erkennen wollte, wie viel weniger er könnte. Und über den Flügel hin, als das einzige an dieser Wand, war ein Kopf Beethovens, gemalt von Richard Schaffrath – stark und tiefbeseelt hingestrichen, ward er zu einem Erlebnis.
O ja, es atmeten in diesem Hause Tat, Kraft und Wille zu Leben und Schönheit. Und Kordula Gunkel hatte nun fünf Jahre an sich vorüberstreichen sehen, fünf Jahre voller Dinge, die außer ihr lagen wie ein Film. Das Herz war ihr müde daran geworden und das Auge flimmrig. Darum lehnte nun Kordula an dem Pfosten der Tür und sagte: »Es ist schön und wunderbar – es ist ein Märchen.« Gwendolin aber schenkte die Reste des Sekts aus den Flaschen in ihr Glas und setzte sich samt dem Glas mit dem schäumenden Mützlein an die Spitze eines Zuges; denn die anderen marschierten hinter ihr drein und legten einander die Hände auf die Hüften. So schritten sie hinaus in das Zwielicht des Vorgartens. Die Luft war weich und voller Verheißungen; die Tulpen stiegen aus dem Rasen. So kamen sie bis vor den Erker mit dem grünen Kupferdach, der aus der Stirnseite des Hauses springt. [151] Und Gwendolin hob das Glas und rief: »Schön und wunderbar bist du, du Reich der goldenen Do! Wunderbar bist du und schön wie ein Märchen, du Märchenhaus!« Und sie warf das Glas gegen den Stein, daß es jauchzend zersprang.
Da hatte das Haus den Namen, den es seit jener Stunde in der Stadt trägt und im Reiche und darüber hinaus; denn wo Do und Jockele regieren als König und Königin, das weiß die Welt.
Aber der irrt sich, der da meint: nun wäre die Geschichte alle, und Frau Do hätte doch nicht ganz recht gehabt, als sie sagte: es wäre bei ihnen immer schrecklich viel los; denn eine Woche danach – der Frühling brannte zeitlos gerade sein Eröffnungsfeuerwerk ab – hurra! da hatten sie im Märchenhaus ein kleines Mädchen. Das kleine Ding hatte es nicht erwarten können! Kunststück – wenn in der Welt an jedem Baum ein grüner Zettel angeschlagen ist: »Heute Einzug Sr. Kgl. Hoheit des Frühlings!« und wenn die bunten Fähnlein um alle Steine wehen und über dem Rasen flattern – ha, Kunststück! Und so war sie denn gekommen. Gwendolin, die als die einzige dabei war – denn Jockele rasselte in einem gefährlich fixen Auto durch die Stadt, und sein überfallenes Herz schrie um Hilfe – die Allerwelts-Gwendolin sagte hernach: »Du hättest dich gar nicht zu eilen brauchen, die Erbprinzessin sprang so vergnügt in die Welt – es fehlte bloß noch, daß sie heidi! rief.« Damit gab sie auch Dos Kindlein den Namen – in diesem Falle warf sie aber kein Sektglas nach ihm. Sondern das war ein lustiger Zufall; und es lag in diesem Namen ein so köstliches Befreien von der Überrumplung, die sich die kleine Heidi geleistet hatte. – Eine ähnliche Sache hatte sie sich auch für späterhin vorbehalten, [152] als sie die Buschgroßmutter besuchen ging … Das war ein sehr aufregendes Unternehmen.
So war Heidi das Frühlingskind das wichtigste Ereignis seit der Taufe des Märchenhauses. Die ruhevolle Kordula Gunkel erklärte: »Es ist nicht nur ungeheuer viel los bei euch, nein, die Tage schießen in Kopfstürzen über eure Stiegen.« Und damit hatte sie recht. Um so mehr wunderte sie sich, daß von einem Jahrmarktsrummel in diesem Hause beim besten Willen nicht geredet werden konnte; denn es wohnte besinnliche und gesammelte Freude am Dasein darin; und die ist immer leise – zum Unterschiede vom Haus mit der Harfe, wo man zu den Fenstern heraussang, und wo der Knabe mit der roten Zipfelmütze sogar an einem Wintertage mit verbürgten 17 Grad Kälte vorm Gartentore an seinen Liedern in die Luft kletterte.
Der ganze römische Winter war für Kordula nicht so voller Ereignisse gewesen wie die erste Woche im Märchenhaus: Gwendolin verlobte sich; Jockele arbeitete mit geheimnisvoller Hingabe an seinem Werk über die Flechten – so hieß es. Dann aber stellte sich's heraus: er hatte einen Roman begonnen. Man riet sich über dem Titel und über seinem Stoff leuchtende Augen und Herzen und riet daneben. An den Abenden fehlte zwar die Märchenkönigin Do; aber Cornelius, Schaffrath und der Professor Salzer waren dreimal da, und man sprach von der Nachbarschaft. Es gab für die Leute im Märchenhause nur einen Nachbar: Goethe. Man brauchte ja bloß zum Fenster hinauszulugen, da blinzelte das heimelige Schindeldach durch Busch und Hecken … An einem dieser Abende war auch Erika Flucht da; denn auf den Spuren der endgültigen Fassung des »Faust«, die Goethe im benachbarten Gartenhang vergraben haben sollte, erschien mit jedem jungen Jahr, sobald die ersten Lerchen schwirrten, dies [153] Mädchen schön und wunderbar. Kordula wußte aus dem Jockelebuch, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Und Fräulein Flucht war noch immer nett und so überzeugt von ihrer literarischen Sendung wie vor Jahren. Die kluge Do aber blieb diesmal für sie verschollen. Dagegen fand Erika Flucht in Salzer einen geistvollen und launigen Zweifler. An ihrer Unentwegtheit änderte das nichts. Aber die Menschen im Märchenhause waren so, daß auch das Mädchen aus der Fremde ein Ereignis unverkümmerter Freude blieb. – Dann wachten die grünen Wasserfrösche auf, die Jockele noch am letzten sonnigen Herbsttag in Belvedere gefangen und in seinem Gartenteich angesiedelt hatte. Alle Bewohner und Freunde des Hauses versammelten sich dazu. Nur Jockele war nicht mehr so bei der Sache wie am Karauschenteich in Norwegen – nun ja, es gab in dieser Woche für ihn mancherlei Ablenkung. Aber es half ihm nichts: der ansehnliche Stoß Papier, den er den Froschlurchen zuliebe vollgeschrieben hatte in naturforscherischem Bemühen, durfte nicht unter den Tisch fallen. So nahm er Messungen über den Ernährungszustand des grünen Teichvolks vor: es war genau so dick in den fünfmonatigen Winterschlaf gegangen! Er fütterte sie mit Regenwürmern, sogar kleine Molche ließ er sie vertilgen; und als sie am dritten Tage Jockeles Schritt auf dem Gartensand hörten, hüpften sie ihm entgegen und nahmen die Würmer aus seiner Hand. Nicht zu glauben – und dennoch eine Entdeckung rührender Intelligenz der grünen Teichmänner, von der die gesamte Literatur keine Ahnung hatte! Jockele war davon so überrascht, daß er die wonnevollen Frühlingsmittage dieser Woche in forschendem Spiel am kleinen Gartenteich verbrachte. Darüber mußte der Rausch des Dichtens in die Einsamkeit der Nächte verlegt werden. Und es hätte niemand so leicht davon erfahren, hätte nicht Kordula Gunkel das Geheimnis erspäht …
Dies alles fiel in die Woche vor Heidis Sprung in die Welt – der Gwendolin und ihres Schlachtenmalers gar nicht zu gedenken! Zu allem: Kordula Gunkel war mit ihren Freuden seit ihrem Auftauchen im Märchenhause keineswegs bloß neben die anderen gestellt – nein, nein, die fünf Jahre waren für sie vorbei, die ihr Augen und Herz flimmrig gemacht hatten, weil sie immer nur zugucken durfte!
Daran war Erich Meyer schuld. Auch an dem Hausschlüssel, den die dunkele Kordula besaß. Jockele hatte ihr verständnisvoll seinen eigenen gegeben. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß der blonde Erich mit Eintritt der Dunkelheit von einer Schaffenslust befallen wurde, die er am Tage nicht ahnen ließ … Das kann hier nicht verschwiegen werden, verwahrt sich aber im vorhinein gegen jede lästerliche Deutung; denn im Grunde genommen war diese Eigentümlichkeit Meyers im Märchenhause längst bekannt.
Auf Katersteigen ging er nicht, o nein, er komponierte. Schon vor Jahren, als er noch im Brückenhause wohnte, wo das Ilmwehr über seine Einsamkeiten rauschte, hatte er des Nachts schöpferische Bedrängnisse. Doch in jener Zeit wußte er sich nicht zu deuten, was nach Leben in ihm rang. Da mutmaßte er, und er kam auf wunderliche Gedanken. Aber dann später, im Haus mit der Harfe, wenn die drei Jungen, die neben seiner Kammer schliefen, sich des Abends ausgetobt hatten, da hörte er schöne lockende Saiten tönen über das Herz der Nacht hinweg. Als ihm dies zum ersten Male geschah, dachte er, es wäre die Leier auf dem Dache, an der sich der Sommerwind im Wandern vorübergriff. Da schrieb er auf Notenpapier, was durch seine Seele zog. Und am Morgen dachte er, er hätte geträumt. Aber das mit Noten bedichtete Blatt auf dem Tische belehrte ihn anders.
Seit er im Häuschen im Apfelgarten wohnte, und seit er den Flügel besaß, wußte er: die Nacht war für ihn die schöpferische Zeit. Danach richtete er fortan sein Leben: er komponierte an seiner Märchenoper; oder in einem goldenen Meer von Tönen badete er sich durch Mitternächte die Seele rein von dem Staube, der sich über den Klavierstunden am Tage darauf gelagert hatte. Unterricht gab er nur noch nachmittags – auch das dankte er Do und dem Märchenhaus.
Und zuletzt dankte er diesem Hause auch Kordula Gunkel. Ja, es war Himmel um ihn, Himmel, wohin er griff! Nicht die Laute war es gewesen, die ihn bestrickt, sondern er hatte noch nie ein Mädchen gesehen, das den Kranz ihres schwarzen Haars so fromm um die weiße Stirne trug. Er hatte noch nie eine so weiche dunkle Frauenstimme gehört, die sich ins Herz schmeichelte wie diese und die so warm zu ihm sprach. Gleich am ersten Abend, als Kordula auf der Schwelle stand und einkehrfroh war, da hatte er an die heilige Cäcilie gedacht. Nun, eigentlich eine Heilige war Kordula Gunkel nicht. Aber auch das fand Erich Meyer wunderwunderschön an ihr.
Kordula merkte schon am dritten Tage, wie das mit ihm stand. Alle merkten es. Bloß: Erich Meyer wußte nicht, wie er so etwas machen sollte …
Einmal ging Kordula mit Gwendolin im Garten spazieren. Sie sprachen von Erich, und Gwendolin war von einer bedeutenden Lustigkeit – natürlich ganz heimlich. Da fanden sie Jo am Froschteich.
»Er ist bei der Dressur,« sagte Kordula.
»Jockele,« rief Gwendolin, »du mußt der Kordula deinen Hausschlüssel geben!«
Kordula war entrüstet. »Willst du mich hier etwa in ein verdächtiges Licht setzen? Und meinst du, daß ich Meyern damit pfeifen soll?« sagte sie leise zu Gwendolin.
»Ja,« sagte die – »so ähnlich; die Liebe ist ein Geist; sie lernt erst reden, wenn du ihr ein Zeichen gibst.«
Es ist nicht festgestellt worden, ob die gefährliche Gwendolin dem Jockele eine Andeutung gemacht hat – der Hausschlüssel lag gleich danach auf dem Tisch in Kordulas Zimmer.
Es war zwischen den Mädchen nicht mehr von dieser Sache gesprochen worden. Aber Kordula dachte darüber nach. Gwendolins Weisheit von der Abenteurerin fiel ihr ein – die Gwendolin war doch ein mortsgescheites Mädel!
In der Dämmerung saß Kordula am geöffneten Fenster und ließ die hohen Maßholder und die ersten Sterne sacht über sich aufblühen. Es knirschten Tritte im Wegsand unter den alten Bäumen. Da steckte Kordula Gunkel den Hausschlüssel in die Tasche, nahm ein Schultertuch und ging ein bißchen in den Garten.
»Sieh da, Herr Meyer! Gehen Sie oft hier ums Märchenhaus spazieren?«
»O nein. Ich dachte, vielleicht träfe ich Jo oder Gwendolin oder sonst einen lieben Menschen. Man hat sich schon so daran gewöhnt. Früher hab' ich nach niemandem Sehnsucht gehabt.«
Kordula blickte ringsum und sah die Kastanien des alten Schießstands. »Sagen Sie, Herr Meyer, was ist denn eigentlich da oben? Es ist da eine Reihe so schöner Kastanien.«
»O,« sagte Meyer, »man kann von da aus recht gut in mein ›Landhaus‹ gelangen, wenn man nämlich durch die Schlüpfe im Zaune geht, wissen Sie – wo Minchen Herzlieb aus dem Jockelebuch den blühenden Mandelzweig zwischen den Zinseln hindurchgesteckt hat, und wo die Kastanie steht, in die Jockele damals seine Liebe eingeschnitten.«
»Aha,« sagte Kordula, »wollen Sie mich da nicht einmal hinführen?«
»Wenn es Ihnen nicht zu dunkel wird, Fräulein Kordula?«
»Ach Unsinn!«
Da wanderten sie miteinander ein Stück das Horn entlang und bogen dann rechts in den Pfad zwischen den Gärten, der unter die Kastanien des alten Schießstandes führt. Es war nun schon recht finster geworden unter dem tiefhängenden Frühlingslaube. Kordula stieß an einen Stein.
»Es sind wohl gar Stiegen in diesem Wege?«
»Ja,« sagte Meyer, »wenn Sie erlauben, könnte ich Sie vielleicht führen?«
»Wenigstens über diese holperige Stelle.«
»O, holperig sind hier alle Stellen,« sagte er.
»Und finster ist es.«
»Für mich kann es gar nicht finster genug sein, Fräulein Kordula, ich lebe dann eine Art gesteigertes Dasein, und es fällt mir darüber furchtbar viel ein.«
»Ja? Ich habe gehört, Sie machen Ihre besten Sachen im Finstern, Herr Meyer.«
»Jawohl,« sagte er; »denn erstens spart man dabei Licht. Na, und überhaupt …«
Sie gingen den ganzen Schießstand lang. Sie kamen auf einen Feldrain. Sie kamen in das Kastanienwäldchen. Und sie kamen nach Oberweimar. Da fand Kordula, daß es sehr weit wäre, bis zu Meyers Gartenhaus. »Ach,« sagte er, »da sind wir ja gleich anfangs vorbeigekommen! Doch – es war so schön … Ich habe ja noch nie das Glück gehabt, eine junge Dame zu führen, Fräulein Kordula.«
Da lachte sie. »Mein Gott, ich wollte aber Ihr Häuschen sehen! Und Sie sagten doch, in der Nacht fielen Ihnen immer die schönsten Dinge ein?«
»Erstaunlich schöne Dinge, Fräulein Kordula …«
Bis dahin war es ein bißchen dürftig zwischen ihnen gewesen; [158] denn Erich Meyer berührte die Erde nur mit den Fußspitzen. Kordula Gunkel dachte: »Was ist er für ein lieber unbeholfener Träumer! Er fällt immer tiefer hinein in den Himmel. Ich glaube, wenn ich ihn nicht festhalte, verläuft er sich hinter seinem Glücke her.« Darüber fiel es ihr auch ein: der Hausschlüssel wäre der Gwendolin wohl nun ein Sinnbild gewesen und Erich Meyer wüßte vor lauter Freude wirklich nicht, wie man so etwas mache.
Aber solch ein Unterricht ist furchtbar schwierig …
»Es ist himmlisch, Fräulein Kordula.«
»Woran merken Sie denn das?«
»Es sind mir herrliche Dinge eingefallen auf diesem Wege.«
»Sie sind sehr selbstsüchtig, Herr Meyer – nun ja, weil Sie all die schönen Sachen für sich behalten!«
»Es läßt sich gar nicht in Worten ausdrücken, Fräulein Kordula.«
»In Tönen etwa?« begann sie zu raten.
»In Tönen?« fragte er erstaunt. »Na ja, da ginge es auch. Aber daran dachte ich nicht. Ich dachte überhaupt nicht an Musik …«
»Herrgott noch mal!« begehrte sie auf.
»Wie, bitte?«
»Lieber Cornelius, ich glaube, Sie müssen sich gewöhnen, die Welt herzhafter anzufassen.«
»Ja, das muß ich wohl. Aber ich habe nun mal so leise Hände, und ich habe doch ein so furchtbar heißes Herz. Sie ahnen gar nicht, Fräulein Kordula, was dies Herz alles anstellen möchte!«
»Ach, ahnen,« sagte sie, »natürlich ahn' ich es!«
Darüber waren sie durch die Finsternis wieder zur Wildenbruchbank gelangt, die auf dem Kopfe des alten Schießstands steht. Sie wußten beide die Verse auswendig, die Wildenbruch [159] dafür gedichtet hatte und die in die Lehne eingegraben sind. »Weimar hat so viele Gaben ausgestreut, dir zur Rast ein Plätzchen, Wandrer, schenkt es heut.« Meyer sprach diese Verse in lockendem Tone vor sich hin.
»Jawohl,« sagte Kordula, »hier wollen wir uns niedersetzen. Und nun erzählen Sie mir mal ohne Scheu, was Ihr berüchtigtes Herz eigentlich möchte; denn wenn Sie Ihr ganzes Leben betreiben, wie die Wünsche dieses Abends, so werden Sie daran unselig. Wie ist denn das so mit Ihnen gekommen?«
Da war es, als täte er einen tiefen Griff in sein Herz und sagte: »Wenn die Menschen sich dereinst nicht mehr einbilden, daß sie das Recht besitzen, in dem Leben der anderen herumzuwühlen wie in ihrem eigenen, dann geht das Seligsein schon auf Erden los.« Er holte das weither. Aber er legte damit den Schlüssel zu seinem Wesen zum erstenmal in die Hand eines Menschen. Selbst Do gegenüber hatte er das nicht gewagt. »Ja, so ist es mit mir – die Menschen sind von jeher um mich herumgelaufen wie Gassenbuben: jeder hat eins der kleinen Fenster an mir eingeworfen. Und ehe ich zu Sinsheimers kommen durfte, hab' ich wohl ausgesehen wie das Haus eines Lumpenmanns. Sie haben alle in meinem Leben herumgewühlt wie in einem lächerlichen Dinge. Deshalb ist es so mit mir geworden. Erst durch Frau Do hab' ich Lust bekommen, dies Haus des Lumpenmannes wieder ein wenig sonntäglich aufzuputzen. Und nun möcht' ich es so schön haben, daß es auch Ihnen gefällt, Fräulein Kordula. Meinen Sie, daß das ginge?«
So darf sich die Wildenbruchbank am Horn rühmen, die wunderlichste Liebeserklärung gehört zu haben, die je losgelassen worden ist.
Kordula Gunkel war nicht schwerhörig. Sie sagte: »Wissen Sie was, lieber Cornelius? Wir werden die Sache miteinander [160] versuchen … denn das war es doch wohl, was ich ahnen sollte?«
»Ja, liebe Kordula, das war es.«
»Sie meinen, wir sollen uns heiraten, und dann …«
»Dann, Kordula – Kordula!«
Sie zogen nun die blaue Sammetdecke der Nacht ein wenig fester um sich zusammen …
»Es ist alles gar nicht so furchtbar schwer, du, gelt?« lachte Kordula.
»Ja, nun ist es sehr süß und sehr einfach. – Komm,« sagte er nach einer Weile, »ich zeige dir jetzt mein kleines Haus.«
Da gingen sie den Wall entlang in der holdseligen Finsternis und glitten durch die Schlüpfe im Zaun.
Es war recht jämmerlich in dem Häuschen. Aber Erich Meyer fand es herrlich. Es war viel jämmerlicher als in jenen Tagen, in denen Jockele dort gewohnt hatte. Was darin stand, hatte Meyer des Abends von Do herübergetragen. Der Stutzflügel füllte das Vorderzimmer, daß fast kein Platz mehr blieb. Aber mit einiger Mühe gelangte man zwischen Wand und Flügel hindurch in den Schlafraum. Da war neben dem Bett auch nur ein schmaler Gang, in dem aller möglicher Kram aufgestapelt lag. Erich Meyer hatte die kärgliche Stehlampe angebrannt und leuchtete an den Dingen verliebt herum.
So sah das Leben Erich Meyers aus. Es war ein Haufen Gerümpel, und mitten darin stand der glänzende kleine Flügel. Aber es war zu merken: eines Tages würde auch er untergegangen sein in den Dingen, die sich um ihn sammelten. Der Flügel stellte Meyers Herz dar, und das ganze kleine Haus Erich Meyers Leben.
Und doch wurde Kordula Gunkel sehr vergnügt an allem, was sie sah. Genau so hatte es ihr Gwendolin schon erzählt. [161] Fünf Jahre lang hatte sie vor ihrem Leben gestanden, wie viele Mädchen, und hatte dies Leben gefragt: »Was soll ich denn nun tun?« Und dies Leben hatte vor ihr gestanden und die Schultern gezogen. Aber in dieser Nacht sagte es zu ihr: »Weißt du nun, was du tun sollst, Kordula Gunkel? Du bist vor einem halben Jahre nach Rom gefahren und hattest den Mut, etwas viel Schwereres zu vollbringen. Weißt du nun, was du tun sollst?«
Ja, sie wußte es. »Du,« sagte sie, »da müssen wir gleich beginnen, alles fest in die Hand zu nehmen.« Sie rückte den Stuhl neben den Klaviersessel Meyers, und sie fingen an zu rechnen und Pläne zu machen, und Kordula preßte die Pflugschar zur ersten Furche in das verqueckte Land.
Es war so, wie wenn ein Mann einen Acker gekauft hat, auf dem seit Menschengedenken Sommer und Winter wachsen und ruhen ließen, was Wind und Sonne an gutem und wildem Samen in die Scholle geworfen haben nach ihrer Wahl.
Und am Ende der Woche, in der dies alles geschah, kam Heidi das Frühlingskind.
Kein Wunder, daß Gwendolin und Kordula in der Pflege um Do wetteiferten. Sie wechselten in den Tag- und Nachtwachen ab, und sie wußten nun alle drei, daß sie von dieser Woche noch zärtlicher aneinandergekettet worden und daß ihr Leben auf einmal ein ganz anderes Gesicht bekommen hatte. Die Herzen der Mädchen hatten heimgefunden und sahen eine schöne lichte Straße, von der sie nun sagten: hier müssen wir wandern. Und die gütige und weise Frau Do, die sich seit der Mitte des Winters in beseligtem Erwarten ein wenig zur Seite gestellt hatte, fühlte nun wieder inniger mit den Mädchen. So waren sie sich in vollerem Glücke nähergerückt. Es gab neue Pflichten im Hause für Kordula [162] und Gwendolin, Pflichten, die sie heimlich ersehnt hatten, um Do und Jockele ihre Dankbarkeit zu bezeigen. Und über allem schwebte die fröhliche und doch wehmütige Zuversicht: in ein paar Wochen wäre dies neue Leben schon wieder von einem noch neueren verdrängt. Danach würden sie zusammenkommen als drei junge Frauen, jung und glückselig und voller Erfüllungen und Geheimnisse …
So lief die Zeit. Es war anders geworden in allen Dingen, seit Heidi das Frühlingskind Einzug gehalten hatte. Aber ein liebes heimeliges Märchen blieb's, ja, es war noch lieber und heimeliger als zuvor. Do fand das richtige Wort dafür und sagte:
»Es ist ein Sommer der gekrönten Sorgen. Wißt ihr noch, wie wir damals im Blockhaus auf der Osterinsel schon einmal an Hochzeit und kleinen Ausstattungen bauten? Es ist jetzt viel schöner. Es ist jetzt so, wie ich mir dachte, daß es sein müßte – wir sind jetzt erst alle drei daheim,« setzte sie in ihrer goldenen Innigkeit hinzu.
Darüber wurden Sommer, Leben und Menschen immer fertiger und schöner.
Zuerst hielten Meyers Hochzeit. Es war im Juni. Sie mieteten das kleine Haus am Park, das vor Oberweimar an das Birkenwäldchen hingelehnt ist. Man muß nur immer die breite Straße weiter gehen, die an Goethes Gartenhause vorüberführt – da ist es dann das erste linker Hand. Auch wenn man abends vorbeigeht, erkennt man es gleich: hinter zwei Fenstern des Oberstockwerks brennt eine grüne, hinter den zwei anderen eine rote Lampe. Bei der roten sitzt Erich Meyer und verdichtet sein junges Glück in Tönen. Kordula ist eine kluge, ruhsame und frohbewußte Frau. Deshalb steht Erich Meyer in voller Blüte. Er ist nun Lehrer für Komposition und Klavier an der Musikschule.
Na, und Schaffraths? Die warteten noch auf das Haus, das in dieser Zeit als Nummer 15 am Horn gebaut wurde. Sie wollten sich alle nahe bleiben und auch in der Nachbarschaft Goethes, damit die grüne leuchtende Parkstille ihnen durch Fenster und Herzen schiene und dazu die freudige Blüte des Lebens, die im Märchenhause gedieh.
So lebten sie bis tief in den Sommer hinein, und doch hatten die Tage schnellere Flügel als je zuvor. Wie sich einer an den anderen reihte in sommerlicher Helligkeit, waren Gwendolin und Do mit der kleinen Heidi schon von morgens an unter den Bäumen des Gartens, oder sie saßen auf dem Platze mit dem weichen geschorenen Rasen. Es war für jede Stunde des Tages eine Stelle gewählt, an der es ganz besonders herrlich war.
Jockele war nur mittags oder abends in ihrer Gesellschaft. Die Monographie über die Froschlurche hatte er nun fertig und einem Verleger übergeben. An dem Werk über die Flechten arbeitete er in dieser Zeit nicht; es brauchte dazu noch weiterer Forschungen.
So saßen sie auch einmal nach Tisch im Garten zusammen: Do, Jo und Gwendolin, die die kleine Heidi auf dem Schoße hatte. Da planten sie die »Flechtenreise«, die recht breit und besonnen sein sollte wie ihr Leben. Jockele wollte nämlich mit Do und seiner Tochter in einem Kutschwagen in das Fichtelgebirge reisen, dann die Kammstraße des Erzgebirges entlang fahren, an den Hochmooren zwischen Böhmen und Sachsen dahin, und so immerfort nach Osten bis in das Riesengebirge. Sie dachten, es könne ein ganzer Sommer über jener Wagenfahrt dahingehen; aber in dieser Zeit fingen sie die Reise in ihren fröhlichen Gedanken schon an. Sie sprachen davon, was sie mitnehmen müßten, wiewohl es bis dahin noch vier oder fünf Jahre dauern würde, und sie [164] malten sich aus, wie sie zu dritt ganz langsam durch die Herrlichkeit der Bergwälder rollen wollten. Das wäre dann eine sehr neumodische Art zu reisen; und eine neumodische Art, wieder zu dem Genuß einer Reise zu gelangen und nicht nur zum Behagen am Ziele. »Es gehört Zeit dazu,« sagte Jockele, »es gehört auch Zeit zum Leben. Die Menschen haben diese fröhliche Muße verloren, aber ich will sie für euch und mich erringen, selbst auf die Gefahr hin, vor der Welt ein Narr zu heißen.«
Do sah Gwendolin an. »Merkst du, wer ihm das eingegeben?«
»Aha,« machte Gwendolin und tat den Jasminbusch ein wenig auseinander, »schaut da nicht die Tante Veronika heraus?«
»Natürlich,« lachte Do.
»Und gleich neben ihr der Zigeuner,« sagte Jockele. »Wißt ihr: den Kunstzigeuner hab' ich immer ein bißchen verächtlich angesehen – auch wenn er wirklich mal ein Genie war wie Henrik Tofte; die Gwendolin ist ja ihr Lebtag viel zu besonnen dazu gewesen – aber das Gottesgeschenk der echten Zigeunerseele, das will ich mir wohl wahren! Denn es ist eine Gnade, die ich vor anderen Menschen habe – ich ganz allein. Ganz richtig zu leben verstehen eigentlich nur die Zigeuner,« scherzte er. »Aber zu solch einem Auserwählten hat's bei mir nicht gelangt. Die Maljahre waren eine Hatz. Dabei wär' ich um mich selber gekommen – es war ein Irrtum aus lauter Sehnsucht! Na, und dann tat Do ihre Segenshände auf und erschuf mich vollends zum Menschen. Da wurde der Naturforscher aus mir – es war wieder ein Irrtum aus Sehnsucht. Aber er war heilsamer. Und nun kommt das letzte: dies letzte ist der Dichter. Es ist die Sehnsucht, jeden Tag dem lieben Gott einmal mitten hineinzusehen ins Herz! Wem anders könnte diese Sehnsucht Erfüllung [165] werden als dem Dichter? … So ist ein gerader Weg von dem Findling auf der Schwelle des Frühlingshauses am Walde über den Malmenschen mit seiner Unrast, dann über den Naturforscher, der in das Räderwerk der Schöpfung eindringt – ein gerader Weg bis hin zum Dichter. Und es ist ein gerader Weg von dem Herzen der Zigeunerin durch das Herz der Tante Veronika über das Herz Dos an das Herz Gottes – hinter dieses Geheimnis bin ich heute gelangt. So. Und da habt ihr die viererlei Gnaden meines Daseins! Aber die Zigeunerseele, das Herz Dos und Heidi das Frühlingskind fahren wir mal ins Riesengebirge spazieren.«
Danach schlug sich Jockele in die Büsche gegen das Haus hin. Er wollte wieder in sein Arbeitszimmer gehen. Auf der Straße flimmerte die Sommerluft, die Frösche saßen am Teichrand und plumpten schon längst nicht mehr ins Wasser, wenn Jockele vorüberschritt. Da tauchte auf einmal ein Mensch über den Zaunlatten empor und warf ein paar machtvolle Arme in die Luft …
»Henrik Tofte!«
Dieser Name stürzte in den Mittagstraum unter den Bäumen wie ein Stück Fels. Do sprang auf. Gwendolin duckte sich ein wenig, dann preßte sie Heidi fest ans Herz und lief Do nach. Wahrhaftig! Im Torweg standen sie: Henrik Tofte und Jockele. Und der Besitzer des »Instituts für schwedische Heilgymnastik und Massage« in Rom schwenkte seinen echten Panama, sah aus wie der liebe Gott, als er dreißig Jahre alt war und noch den blonden Vollbart trug, und hatte sich zu diesem Besuch im Märchenhaus einen nagelneuen Sommeranzug machen lassen.
Aber es war zu merken: auch ohne diese Nagelneuheit hätte er vollwertig ausgesehen. Ein Mensch, um den die Mädchenaugen flogen wie Sommervögel, war er schon [166] immer. Selbst die rote Mütze des welschen Gepäckträgers hatte dem wenig Eintrag getan.
Und nun war es Heidi das Frühlingskind, das den drei Erwachsenen über das Herzbeben hinweghalf. Sie saß da auf Gwendolins Arm in ihrem himmelblauen Kleidchen, streckte dem machtvollen Manne die Ärmchen entgegen und jubelte ein helles Lachen um ihn. Das hatte sie vor einem Fremden noch nie getan. Und sie machte das so reizend – was ringsum lebte, jauchzte mit. Da kriegte Tofte das himmelblaue Menschlein zu packen, und es hing an seinem Herzen wie ein kleiner blauer Schmetterling an einem Eichstamm und schlug vor lauter Sonnenfreude mit den Flügeln. Es faßte ihm in den Nordlandbart und patschte ihm ins Gesicht, und dem blonden Riesen liefen die Augen an vor einer Handvoll Kleinkinderglück.
Gwendolin lockte Heidi und wollte ihn von ihr erlösen; Mama wandte ihre süßesten Liebkosungen an, aber Heidi blieb für alle verloren. Sie hatte ihre Ärmchen auf Toftes Achsel gelegt und sah aus, als wollte sie, vereint mit ihm, ihr Jahrhundert in die Schranken fordern.
Dem Henrik Tofte gefiel dies holdselige Wunder ungemein. Ein bißchen bänglich war ihm aber doch, und er fragte, ob er an dem Kleinen etwas entzweimachen könnte …
Das war wieder einmal so bärenmäßig lieb von ihm, daß er für die Damen zu seiner vollen Siegergröße emporwuchs. Und beruhigt setzte er sich mit Heidi in Bewegung nach dem Schattenplatz unter der Ulme, wo schon die Wildrose die Hagebutten aufsteckte. Heidi aber blieb bei ihm, bis sie sich müde staunte an seinen Übermaßen. Gegen seine sichere Brust gelehnt, schlief sie ein. Da legte man sie in den Wagen und fuhr sie ein bißchen seitab unter die Bäume; denn Henrik Toftes Stimme dröhnte wie der Skjold.
Gwendolin war rasch einmal ins Haus gesprungen – einer Erfrischung wegen, die Fritz alsbald auftrug. Aber sie hatte ihm auch befohlen, danach gleich zu Frau Kordula zu laufen – Gwendolin brauchte durchaus eine Seele, die sie von der elektrischen Spannung befreite. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie Herbstlaub, und in ihrer Not verfiel sie auf Kordula. Unter dem Blätterfalle fand sie sich wieder zur Ulme.
Sie fand Jockele und Do fröhlich und gefaßt. Da wollte sie nicht zurückstehen. Henrik Tofte saß in himmelheller Aufgetanheit dabei, rauchte eine Zigarette und erzählte.
Gwendolin sagte:
»Ich glaube, es kommt vor Abend ein Gewitter – die Frösche hupfen.«
Dazu schwieg Do. Aber Jockele lachte die Gwendolin ahnungslos aus und sagte, vor Witterungsverhältnissen ginge alle Frauenweisheit in die Brüche.
»… ja,« fuhr Henrik Tofte fort, »so war Angelina Fabbro ein etwas wunderliches Erlebnis: ich machte mit ein paar Leuten Heilgymnastik und sie nahm das Geld dafür ein, kaufte sich Spitzen und Süßigkeiten. Aber was wollen Sie: Angela Fabbro war eine Römerin! Da hab' ich mich von ihr fortgemalt. Mit dem Frühling bin ich losgezogen: er und ich, wir nahmen unser Malzeug untern Arm, einer so reich an Geld wie der andere, und im Mai gelangten wir in die Bäder von Lucca. Dort setzte ich mich instand, so gut es nach zwei Monaten meiner Wanderfahrt in welschem Straßenstaube ging. Ich kam gerade zur rechten Zeit. Ich malte da ein Fischermädchen am Strand – vielleicht hatt' ich einen guten Tag, vielleicht warf mir das Schicksal einen Dummen zu: eines Morgens stand in der Bäderzeitung ein Aufsatz ›Henrik Tofte als Erzieher‹ …«
Es trat eine Unterbrechung ein: stürmischer Beifall auf offener Szene; denn »Tofte« und »Erzieher« waren Begriffe – klafften da nicht Himmel und Hölle dazwischen?
Nach einer Weile fuhr Tofte fort: »Es wäre ein neuer Stern am Himmel Italien aufgegangen, eine unerhörte Begabung säße am Strande, ein Porträtmaler, dessen machtvolle Kunst wert wäre, vorbildlich zu sein für die Welschen« … Tofte sprach mit den Worten der Zeitung. Weiter aber führte er nichts zu seinem Ruhm an; und es war zu sehen: selbst das kostete ihm einen Aufwand an Kraft; denn Henrik Tofte hatte nicht zwei Vergrößerungsgläser im Kopfe, wenn er sich selbst betrachtete. »Nun, ich kannte weder den Aufsatz noch seinen Schreiber. Und als ich davon erfuhr, dacht' ich: es ist ein Reklametrick der Bäderverwaltung – ähnlich wird sie es jedes Jahr machen. Fortan war ich umdrängt. Was ich in Lucca gemalt hatte, verwandelte sich in ein paar Stunden in Gold. Nach drei Wochen besaß ich siebentausend Lire. Vielleicht hätt' ich siebzigtausend machen können. Aber die Luft von Lucca ist gefährlicher als die von Rom, und das Malen ist eine verdammte Kunst. Nach drei Wochen hatt' ich es satt. Ich wollte einfach nicht mehr, nein, ich wollte nicht! Was kann man da machen? Es kam eine kleine Modellgeschichte dazu, aus der ein großer Skandal wurde. Ich schwur einen Eid, nie mehr im Leben einen Pinsel anzufassen, warf meinen Malkasten ins Meer und verschwand. Diesmal per Bahn. Ich hatte gedacht: reich sein wäre schön. Nun war ich reich, fünf Wochen lang unbändig reich; denn ich kam mit annähernd dreitausend Lire nach München und lebte meinem Freunde Johnny mal was vor. Johnny befleißigt sich nämlich an der Isar der Bildhauerei; neuerdings modelliert er eine Giraffe; er träumt aber von einem Löwen … Und wie ich so im besten Leben bin, da wählt sich das Schicksal den Rolf Krake aus! Er schreibt mir [169] einen Brief und fordert mich auf: Tofte, fahren Sie nach Weimar und malen Sie Frau Do für mein Haus auf der Insel! Ich schrieb ihm: Lieber Krake, mit dem Malen ist es vorbei. Aber hartnäckig wie das Schicksal ist, läßt es ihn wieder auf mich los. Da ist der Brief – Rolf Krake mag reden, verehrungswürdige Frau Do! Er ist der Mund meines Schicksals, und dies Schicksal spricht:
›Mit Ihrer Nachricht von dem jüngsten Eide, durch den Sie sich der Malerei abgeschworen, teuerster Tofte, haben Sie den stärksten Heiterkeitserfolg gehabt. Die Augen müßten Ihnen ja auslöschen, Genie, wenn Sie Ihren Schwur halten wollten! Ich brauche das Bild der blonden Frau Do in jedem Fall, und ich weiß, sie wird ihrem wunderlichen Freunde von der Insel der Auferstehung diesen Wunsch nicht versagen. Das Bild ist für die Nordwand im Krakesaal bestimmt. Ich habe dort zwischen den beiden Mittelfenstern dunkelblauen Samt anschlagen lassen. Es ist auch ein Vorhang aus dunkelblauem Samt angebracht worden, der in schwerem Faltenwurfe über das Kunstwerk gezogen werden kann; denn kein fremdes Auge soll dies Bild erschauen. Ich selbst aber will des Tages eine Stunde davorsitzen, und dann soll der blaue Samt es mir nicht verhüllen. Ich habe alle Götter abgesetzt, um die ich mich dereinst bemüht habe. Aber zu jener blonden Frau Do kann ich noch beten.
Sie fragen nach mir. Ja, ich bin gesund wie je, wenn ich allein war. Nur vor Menschen wurde ich krank; deshalb gehe ich nicht mehr zu ihnen – nie, nie, nie! Ich habe seit dem Tage meiner Rückkehr aus Hamburg die Insel nicht mehr verlassen und werde sie nicht mehr verlassen. Ich habe sie von Nane Thord erworben. Die soll hier wohnen bleiben bis an ihr Ende. Das Mädchen Marit habe ich zurückgerufen – wenn es einmal käme, daß Nane Thord einer Pflege [170] bedarf. Der große Anbau ist nun mein Büchersaal. In Gwendolins Zimmer steht die Drechselbank, aber ich brauche sie fast nie mehr, vielleicht im Winter. Ich benütze alle Räume für mich. Nur in jenem, in dem Sie gelebt haben, teuerster Tofte, ist alles unberührt geblieben. Oft, wenn ich an der verschlossenen Tür vorübergehe, muß ich denken: es wartet dahinter auf Ihre Rückkehr. Ich habe Marit Anweisung gegeben, daß Sie zu aller Zeit Zutritt zur Insel haben. Der Schlüssel hängt im Turmzimmer am rechten Fensterpfosten.
Gleich nach meiner Ankunft im Herbst habe ich in Schiffen beste Walderde auf die Insel bringen lassen. Ich habe diese Erde ausgebreitet. Ich habe durch Maurer alle Rinnen in den Klippen schließen lassen, durch die sie hinabrinnen könnte. Und ich habe ein heizbares Glashaus gebaut, in dem ich die betörenden Wunder der Orchideen züchte. Über Winter hatte ich mir den Plan für die gärtnerischen Anlagen der Insel gemacht. Es war kurzweilig und schön; denn ich war darauf bedacht, den landschaftlichen Reiz des Eilands zu erhöhen und ihn einzustimmen in den vollen und heiteren Zusammenklang der Umgebung. Nun treiben die Rosen, wo vordem das Strandgras klirrte. Nun stehen die silbernen Säulen der Birken, wo vordem wilde Halme schossen, und nun grünen die Fichten in verschwiegenen Gruppen, und die Krüppelweiden machen Köpfe und werden in nicht zu langer Zeit Höhlen in ihren Stämmen bilden, damit die bunten Mandarinenenten darin nisten können, die ich bezogen habe. Sie sind sehr zutraulich geworden.
So treib' ich es, Meister Henrik! Des Morgens bad' ich im Fjord, auch im Winter; denn ich fühle mich sehr wohl dabei. Die gärtnerische Anlage ist so, daß ich stundenlang auf meiner kleinen Insel umherspazieren kann und vom Strand aus in ein paar Jahren doch nicht gesehen zu werden brauche, [171] wenn ich nicht will. Nur den Himmel laß ich hereinschauen, wo er mag. Ich glaube nicht, daß er einen Winkel in der Welt weiß, der inniger ist als der meine, und ich glaube nicht, daß er je einen Menschen sah, der glücklicher ist als ich‹.«
»Schlicht und wunderlich ist Rolf Krake,« sagte Do, »und doch ist zu erkennen: er lebt ein glückseliges Leben.«
»Wollen Sie ihm seinen Wunsch erfüllen?« fragte Tofte.
»Ja,« sagte sie, »aber es ist gut, daß Sie uns den Brief mitgebracht haben; sonst hätte ich mich wohl nicht entschließen können.«
»Warum denn nicht?« fragte Jockele befremdet.
»Du solltest das doch verstehen.«
»Nein.«
Do blickte hinab auf ihre weißen Hände und schwieg. Da rekelte sich Heidi im Wagen, und Mama war froh, daß sie zu ihr eilen konnte. Gwendolin aber sagte zu Jockele: »Erich Meyers und Salzers himmlische Liebe haben für Do nichts Aufregendes; aber bei Rolf Krake – es ist ja der reine Götzendienst! Ich glaube, seit den Abschiedsworten Krakes, die er damals in sein Tagebuch geschrieben, hat Do öfter an ihn gedacht, als wir ahnen. Sie ist sehr froh gewesen, daß sie ihm damals in Hamburg helfen konnte. Und sie ist auch in diesem Augenblick froh, weil sie weiß: sie hat ihn zu sich selber zurückfinden lassen.«
Das Wort Gwendolins vom Götzendienst griff Henrik Tofte gleich auf; denn Do kam mit Heidi zurück, und das Kleine lehnte sein goldenes Köpfchen an Mamas Wange und hatte die Augen noch ganz voll blankem Schlaf. So stand sie gerade vor dem Wildrosenbusch, der sich nun hochsommerlich mit Hagebutten geschmückt hatte. Aber vor Toftes Künstleraugen wuchs wieder das Wunder der rosa Blüte darüber. »Madonna in Rosen,« rief Tofte. »So will ich Sie malen!«
Da dachten sie alle an Rolf Krakes Tagebuch, und was er von den wilden Rosen hineingeschrieben hatte. – Es war seltsam. Aber Henrik Tofte wußte es nicht.
Kordula kam. Still, blühend und mit forschenden Blicken. »Es ist gut, daß ich dich nicht geheiratet habe,« sagte Tofte zu ihr, »und es ist auch gut, daß du mich nicht gewollt hast, Gwendolin.«
Kordula sagte: »Schön und begabt warst du immer, daß du nun aber auch vernünftig geworden bist, ist neu.«
»Vernünftig?« fragte er. »Nun, wie man's nimmt! Ich bin in meinem Leben einem einzigen Menschen begegnet, der annähernd so unvernünftig war wie ich: Angelina Fabbro. Und just an ihr bin ich bis zu einem gewissen Grade vernünftig geworden. Ich beschränke seitdem meine Dummheiten auf ein Mindestmaß …«
»… das bei Ihren machtvollen Maßstäben immerhin noch riesenwüchsig sein wird,« sagte Gwendolin.
»Je nun,« machte Tofte, »zu einem Narren reicht's wohl noch! Und Narren sollen nicht heiraten. Die Ehe ist die Kunst der Weisen. Nur diese ziehen das Wunder einer Blüte daraus. Bei allen anderen kümmert sie.«
»Die Frösche hupfen nun nicht mehr,« sagte Gwendolin.
Das wußten sie alle: in der Kunst Henrik Toftes war der Mensch nicht zu erkennen; denn diese Kunst war die Stete – der Mann, der dahinterstand, die Unstete. Der Mann huldigte Seiner Majestät dem Augenblick.
Darum war es klug und doch unvorsichtig von Gwendolin, daß sie gesagt hatte: »Die Frösche hupfen nun nicht mehr.« Als die Hochsommernacht zwischen den alten Bäumen herniederhing und die Silberbrünnlein der Sterne aus den blauen Gründen sickerten, war Gwendolin mit Henrik Tofte noch einmal in den Garten gegangen, gleich nach dem Nachtmahl. [173] Es kam kein Gewitter, aber es wetterleuchtete doch ganz gefährlich.
»Hast du denn nicht gesagt, ich sollte sieben Jahre dienen um Rahel?« Das klang, als fiele in der Ferne ein Berg um.
»Wohl,« sagte sie; dabei fand sie zum ersten Male die brüderliche Anrede, aber er merkte es gar nicht; »hast du jemals daran gedacht?«
»Nein,« sagte er.
»Und bist nun gekommen, Rechenschaft von mir zu fordern – von mir?«
»Nein,« sagte er. »Aber es wäre doch lieb und gut von dir gewesen, wenn du dich für mich armen Menschen aufgehoben hättest.«
»Ah! Seit wann weißt du denn die Geschichte von deiner Armut?«
»Seit heute,« sagte er. »Damals, als ich der Kordula am Bahnhof in Rom den Gepäckschein aus der Hand nahm, war ich ein Millionär – seit heute bin ich ein Bettelmann.«
»Du, das hört sich furchtbar tragisch an.«
»Es ist auch so, liebste Gwendolin – es ist weiß Gott so! Sieh, ich bin zum erstenmal in meinem Leben in einem solchen Haus. Dazu hab' ich dreißig Jahre gebraucht. Dreißig Jahre lang bin ich auf den Schwellen herumgestanden und habe immer gedacht: es gäbe keinen König auf der Welt außer mir. Nun kam dies Heute und hat mich vor ein Leben geführt voller Liebe, Wohlhabenheit, Ordnung, gesammelter Kraft, Sonne und was weiß ich! Darum ist mir's vorhin bei Tisch so auf die Sprache gefallen: ein Rausch von Andacht vor diesem Unerhörten … und deshalb hab' ich mich nun heimlich von den anderen fortgeschwiegen.«
»Ah pah, Räusche sind von kurzer Dauer,« sagte Gwendolin leichthin. »Du siehst, es ist mit meinem Glauben an dich noch [174] immer wie einst. Das kommt daher, daß du nicht an dich selber glaubst.«
Da riß er sie an sein Herz und küßte sie – dreimal – siebenmal …
»Siehst du,« sagte sie, »das ist alles, was du kannst: die Sekunde kannst du überwältigen; aber dein großes und starkes Leben in deine mächtigen Arme zwingen – das kannst du nicht. Und willst du jetzt wieder mit hineingehen? Was hätten wir zwei uns Neues zu sagen, das die anderen nicht hören dürften?«
Da gingen sie. Cornelius saß am Flügel. Richard Schaffrath und Professor Salzer waren zusammen schon seit dem Morgen auswärts. Do und Jockele sahen Gwendolin und Henrik an, was sie draußen miteinander geredet hatten: es blieb immer das gleiche zwischen ihnen für und für. Und beide wollten auch gar nichts geheimhalten vor den Freunden.
Gwendolin sagte: »Es ist so, daß ich mich mit diesem gefühlvollen Musikanten lieber verlobt hätte als mit dir; denn wären wir zwei aneinander gefesselt gewesen – wir hätten nach beiden Polen der Erde gedrängt und hätten uns mittenauseinandergerissen.«
»Jetzt aber dränge ich nach zwei Menschen: nach Richard Schaffrath und nach mir selber,« sagte Henrik. »Ich warte mit Ungeduld.« Darüber füllte er sich sein Glas von neuem und ging damit in den Wintergarten. Er setzte sich in den Rohrsessel, Do gegenüber. »Mich allein haben Sie am Rande stehenlassen, liebste Frau Do,« sagte er zu ihr. Es klang wehmütig.
Do wußte, wie es um solche Mollakkorde des Herzens bei Tofte stand. Sie scherzte selten. Aber diesmal griff sie die Sache doch lustig auf und sagte: »Wir Frauen haben [175] mit den Männern unsere liebe Not. Die anderen konnten sich nicht selber helfen: Jockele, weil er zu jung war, und die übrigen, weil jeder einen sanften Sparren hatte – wie unser Freund Cornelius.«
»Nun, einen sanften Sparren …«
»O nein,« unterbrach ihn Do, »der Ihre geht über unsere Kraft! Ein Mensch wie Henrik Tofte hat auf sich selber zu stehen. Tofte, Sie sind von hundert Frauen geliebt worden … nein, nein, zu rechnen brauchen Sie nicht! – hat Sie eine repariert?«
»Jawohl,« sagte er.
»Nun, dann reisen Sie augenblicklich ab und fahren Sie zu ihr!«
»Ich bin schon da, sagte der Swinegel.« Tofte sprach es mit dunklem Klang der Stimme. Er hatte die Finger durcheinandergeschoben und senkte die Stirn. »Ich bin schon da.«
»Jockele,« rief Gwendolin, »komm doch mal in den Wintergarten! Vor fünf Minuten hat mich das große Licht siebenmal geküßt, und jetzt erklärt er deiner Frau seine ewige Liebe.«
»O,« lachte Jockele, »soll ich mich deswegen erst in Bewegung setzen?«
Aber Cornelius kam. Er rieb sich die Hände und schmunzelte. »Ich mag derlei Dinge furchtbar gern sehen.«
»Na, Meyer?« fragte Henrik Tofte.
Da raffte sich Erich Meyer zusammen und sagte: »Mir scheint, die Gassenbuben werfen Ihnen die Fenster ein. O, ich kenne das – diese Zeit hab' ich schon überwunden.« Dafür drückte ihm Gwendolin sein Glas in die Hand und klang das ihre herzhaft dagegen.
Aber mit Henrik Tofte war es an diesem Abend doch anders. Zu anderen Zeiten war er immer mit geschwungenem Becher hoch über der Freude dahingeschwankt. Heute saß er fromm [176] in dem goldenen Lichte Dos. Und so oft ihm ein Stein ins Fenster flog, merkte er besinnlich auf. Gwendolin sagte: »Es geschehen Zeichen und Wunder, Cornelius! Komm, wir beide setzen uns zu Jockele und Kordula. Ich will euch eine schöne Rede halten über das Thema Henrik Tofte.« Sie faßte ihn unter, und nun gerieten sie im Besuchszimmer an dem »großen Licht« in Lust. Die beiden im Wintergarten hörten zu. Zuletzt sagte Tofte: »Liebste Frau Do, darf ich einen Monat in dem Märchenhause bleiben? Einen ganzen Monat?«
»Ja,« sagte sie, »Sie dürfen bleiben, solang es Ihnen Freude macht.«
Man ging auch an diesem Abend zur gewohnten Zeit schlafen. Halb elf Uhr; längstens elf Uhr wurde es, wenn Gäste da waren. Es hatte sich seit dem Winter manches geändert. Heidi verlangte früh am Tage nach Mama – so ward der Tag länger. Und Jockele fand sich in das Wirken der neuen Zeit nur zäh und ungesammelt, wenn er die Mitternacht in Gesellschaft vorübergewacht hatte. Aber von dem Geheimnisse seines Schreibzimmers war nicht ein Zipflein gelüpft worden, trotz List und tastender Neugier. Und Gwendolin hatte in vier Wochen Hochzeit. So trugen die Tage für jeden ein gerüttelt Maß freudiger Mühen, die Abende Sehnsucht nach Schlummer.
Aber Henrik Tofte schlief nicht. Er saß an dem offenen Fenster, an dem noch im Frühlinge die hohen Maßholder und Sterne über Kordula aufgeblüht waren, ließ die Nacht um sein Herz wehen und erlebte das große Wunder. Nicht so, als ob er die Rede vom Segen dieses Hauses weitergedacht hätte, die er am Abend vor Gwendolin gehalten. Und nicht so, als ob er sich den Weg zu den kommenden Tagen mit guten und tüchtigen Vorsätzen gepflastert hätte, weil in der [177] dunkelblauen Hochnacht so schön Zeit dazu war, die Gedanken auf einen Müßiggang zu schicken …
Henrik Tofte stand am Anfang einer neuen hellen Straße und hub an zu wandern – ganz ohne Rausch und Plausch, ganz ohne Traum und Schaum und ganz ohne Mahnung und Ahnung: es war das leibhaftige Wunder! Aber er wußte es nicht. Wußte nichts von dem neuen Wege, schwur keinen Eid und fühlte nicht, daß, der da saß vor der flimmernden Stille der Nacht, ein Mann war, der ihm zeit seines Lebens noch nicht vor die Augen gekommen: sondern er dachte: dieser Mann ist der blonde Skalde, Weber, Maler, Heilgymnastiker, Anstreicher, Zirkusclown und Gepäckträger, den ein verrückter Welscher sogar einmal für einen Erzieher gehalten hat …
Die Einbildung, daß er sich in diesem Menschen zurechtfinden würde, hatte er schon längst aufgegeben, und damit mühte er sich nicht mehr ab. Stunden, wie diese – dachte er – hätte er schon tausendmal erlebt. Also: es wäre mit ihm wieder einmal alles in schönster Ordnung, und der kleine Gefühlsausbruch in Tugend und Reue, den er nach dem Nachtmahle gehabt, wäre glücklich überstanden. So dachte er. Und er gelobte nicht: »morgen oder übermorgen, oder wenn es paßt, werde ich der Welt mal zeigen, was eigentlich hinter mir steckt – hah!«
Von all dem keine Spur. Es war das leibhaftige Wunder. Henrik Tofte wandelte rüstig auf der neuen hellen Straße und sah Do. Die kleine Heidi legte ihr Köpflein mit dem gesponnenen Golde lieblich an ihre Wange. Und hinter ihr stand breit und frühlingsoffen der Wildrosenbusch und blühte und blühte. »Madonna in Rosen! So will ich dich malen – in dem kupferfarbigen Sommergewand und mit dem blauen Kinde!«
Wäre es nicht das leibhaftige Wunder gewesen, das in ihm wirkte, so wäre er nun in den Garten gestürmt, mitten in der Nacht, oder in den Park, und hätte nach dem Lichte des Morgens gerufen, um eine ungeheure Tat zu tun. Aber wenn er den Morgen dann erspäht hätte, wäre er müde gewesen, hätte sich hingelegt und geschlafen – drei Tage, wenn's ihm gerade so paßte.
Das alles tat er nicht. Er legte sich zu Bett. Und am Morgen fand er sich pünktlich um acht Uhr an den Frühstückstisch, der so schmuck unter der Ulme stand. Ein breiter Strom von Sonne stürzte von rechts herein. Und Henrik Tofte sprach ruhevoll mit Jockele und Do über die Madonna in Rosen, und daß er in diesem wundertätigen Frühlichte malen wollte.
»Dies Licht ist nur eine halbe Stunde,« sagte Do.
»So werde ich Sie viele Tage und immer nur eine halbe Stunde bitten,« sagte er. »Wo ist Gwendolin?«
»Sie nimmt den Kaffee auf ihrem Zimmer. Früher ging sie dann malen, und wir sahen sie über Tag nicht. Sie wissen ja, wie sie es treibt. Nun aber hat sie freudige Sorgen und Pflichten, die alle in diesen vier Wochen erfüllt sein müssen. Für heut abend bittet sie Richard Schaffrath und den Professor zu uns.« Und Jockele sagte: »Über Tag richten Sie sich ganz nach Ihren Wünschen, lieber Tofte – wie wir uns nach den unseren. Ich arbeite zwischen den Mahlzeiten auf meinem Zimmer. Wir wollen da nicht aufeinander angewiesen sein, nicht wahr?«
Abends waren sie im Garten unter stillen bunten Lampen. Schaffrath, Salzer und Tofte schritten hin und wieder in nachdenklichen Gesprächen um den großen Rasenplatz. Von der Gewaltsart, in der ihnen der Norweger vorgestellt [179] worden, spürten sie nichts. Da wuchsen sie freimütig und männlich zueinander. Gwendolin merkte es, und die anderen merkten es auch: das Wunder war geschehen. Nur Tofte ging daran vorüber und war ahnungslos wie ein Kind. »Du hast dich an ihm verzeichnet,« sagte Schaffrath zu Gwendolin, »du hast uns einen Riesen mit einem Kindskopf gemalt und einen Seher mit einer Schellenkappe – und nun ist er ein ganz gewöhnlicher und aufrechter Mensch.«
»Morgen werdet ihr ihn erkennen,« sagte Gwendolin.
Es vergingen Tage. Einmal wanderten Schaffrath, Meyer, der Professor und Tofte nach Ettersburg, ein andermal nach Belvedere. Sie waren fast an jedem Abend zusammen – aber sie erkannten ihn nicht anders als in den ersten Stunden.
»Was ist das mit dem großen Licht?« fragte Gwendolin.
»Ich weiß es nicht,« sagte Do.
Wenn es des Morgens die Zeit war, daß er malte, war er mit ihr und Heidi allein im Garten. Es drängte sich niemand in diesem Haus um ein wachsendes Werk. Am Ende der zweiten Woche fragte Do die Gwendolin: »Hast du die Madonna gesehen?«
»Nein.«
Do blickte die Freundin aus ihren hochgemuten Augen an und sagte: »Dann laß sie dir zeigen. Ich glaube, das Bild ist sehr schön.«
»Hast du mit ihm davon gesprochen, Do?«
»Nein. Du weißt, er wartet nicht auf ein Lob. Und was ich zu sagen hätte, kam mir zu billig vor. Deshalb schwieg ich – und weil es so unerhört, weil es über jedes Maß ist.«
»Es kann sein,« sagte Gwendolin.
»Weißt du auch nicht, daß er sich über jedes Maß abmüht dabei, Gwendolin?«
»O, Henrik Tofte quält sich nie!« sagte sie.
»Mir scheint, er weiß es selbst nicht. Aber er ist froh, daß das Licht nur eine kurze halbe Stunde hält. Nur einmal sagte er, es läge wie Spinnengewebe in seinen Augen.«
»So wird er sich an deinem Lichte geblendet haben,« scherzte Gwendolin.
»Ja, das sagte er.«
Am Anfange der vierten Woche ließ Henrik Tofte das Bild auf der Staffelei im Garten stehen. »Nun – darf man kommen?« fragte Gwendolin. »Fertig?«
»Ja.«
Da legte sie seinen Arm in den ihren und führte ihn hin. Wie sie davorstanden, war es, als schlüge Gwendolin Wurzeln; und die Augen liefen ihr über. »Tofte, Tofte!« sagte sie und legte ihre Hände auf seine Achsel und ihre Stirn an seine Brust. Dann sah sie ihn an und sagte:
»Ich habe zweimal geweint, daß ich es weiß: einmal – nun: ein andermal … und jetzt! Du stehst ja selbst davor und möchtest weinen!«
»O nein,« sagte er, »es ist fromm und freudig, ja, und es macht mich sehr glücklich.«
Dann wandten sie sich, und im Gehen sagte sie: »Ich habe recht gehabt: so kann nur Henrik Tofte malen und der liebe Gott. Laß das Bild dort stehen. Ich habe Richard und Salzer gebeten – sie kommen vormittags.«
Und als sie gekommen waren, standen sie alle um die Madonna in Rosen. Gwendolin hatte nun einen ruhevollen Rahmen in altgoldener Tönung darum gelegt. Und alle sahen: es war ohnegleichen. Ohnegleichen in seiner Lebensfülle. Ohnegleichen in den warmen Schwingungen der Farben. Kein Farbenrausch, der die atmende Schönheit der Natur erstickte. Ohnegleichen in der schmuckhaften Anordnung. »Ein kostbarer Edelstein,« sagte Richard Schaffrath aus [181] einer tiefen Künstlerandacht heraus, »vom Lichte des Gottes durchtränkt – es ist ohnegleichen, ist ohnegleichen.«
Henrik Tofte löste sich hernach aus dem Ringe der Freunde und ging in sein Zimmer. Er dachte daran, daß die Zeit seiner Abreise nun nahe wäre.
Mit dem Lobe der Freunde war es, wie wenn ein Mann einen Becher füllt mit edelstem Weine, den er lange Jahre hindurch in seinem Keller aufbewahrt hat für einen Tag, der recht herrlich und königlich über alle seine Art hinauswächst. Und dies Lob dauerte auch genau so lange, wie jener Becher braucht, um einmal die Runde zu machen. Dann war es vorbei. Henrik Tofte hatte diese Menschen nicht zum ersten Male vor die Schätze geführt, die verschwenderisch in ihn geworfen waren. Man wußte: solches Verschwendertum ist eine Schöpferlaune. Aber es wiederholt sich darin die Geschichte vom Distelfinken, dem der liebe Gott aus jeder Farbschale den Rest auftupfte. Er verstaut an Gaben in einen einzigen, was in seiner Werkstatt herumliegt und ihm gerade in die Hände fällt. Und der Mensch, der also angefüllt ist, mag zuschauen, wie er damit fertig wird. »Ja, so ist der liebe Gott mit Henrik Tofte zu Werke gegangen,« sagte Gwendolin. »Es ist auch viel Sturm in ihn hineingepackt, und das große Licht blakt nun in diesem Sturme.« Jockele schupfte die Schultern: »Was wollt ihr? Es geht in dem reichsten Kopf und Herzen eine ganze Bibliothek von Dichtungen zu Grabe, die nie erschienen sind – hat ein Dichter gesagt – und selbst der liebe Gott kann nicht jedem Tag ein Gesicht geben: es hat eben nicht jeder eins.« – »Ja,« sagte Schaffrath, »so ist es wohl. Aber das sollt ihr wissen: ich habe vor keinem Bilde die Schauer der Allmacht empfunden wie vor diesem.« Sie sahen immer nach der Madonna hin, während sie so redeten. Und Gwendolin sagte: [182] »Ich mag dir diesmal nicht zustimmen, Jo; denn ich weiß, Henrik Tofte hätte die Kraft, jedem Tag ein Gesicht zu geben, wenn er nur wollte!«
Da hatte sie einen schweren Stand und kam sich vor wie ein kleiner Vogel, der in einen Flug Falken geraten ist. Aber sie wehrte sich mit Frauenhartnäckigkeit und sagte: »Ihr werdet mich doch nicht unterkriegen mit euren scharfen Schnäbeln! Es wäre besser, ihr fragtet: was ist es, das dem Henrik hier in eurem Hause diese Gnade schenkte?«
»Ho,« sagte der kluge Professor Salzer, »jetzt kommen wir dem Geheimnis auf die Spur! Es ist der Segen der schönen Frau Do; es ist der Segen des Vorbilds, das er sich diesmal wählte …«
So rieten sie sich heiße Augen und Herzen. Sie errieten vieles, aber zum Kerne des Rätsels gelangten sie nicht; denn der Tag, der das letzte Licht brachte, war ein Tag tiefster Finsternis. Und dieser Tag war noch nicht gekommen.
Henrik Tofte kümmerte das alles nicht. Er kümmerte sich auch nicht um sich selber. Und er konnte nicht begreifen, daß die Menschen sich um ihn stritten. Heute hatte er Lust, in einem offenen Wagen hinauszufahren in die Wälder. Also rief er aus dem Fenster, ob sie dabei sein wollten. Und dann bestellte er für nach Tisch drei Wagen aus der Stadt. Die Madonna in Rosen schien über dem neuen Plan in ihm schon in ewiges Vergessen gesunken zu sein; Gwendolin mußte Sorge tragen, daß das Bild ins Haus kam und gefahrlos trocknete.
Daß Henrik von einer Sehnsucht nach der grünen Stille der Wälder und den sanften Farben der Erde in diesen späten Sommertagen geleitet wurde, daran dachte er nicht. Er »beschloß« die Fahrt – das war seine Erklärung. Die stillen Stimmen, die sie ihm geboten, vernahm er nicht. Das waren [183] in diesem Falle seine Augen. Und in diesen hellen Brunnen, die das Wunder des Lichts auf all seinen Glanz und seine Geheimnisse durchspürten, lag zuletzt das Rätsel begriffen, das Henrik Tofte hieß. Aber er wußte es nicht. Niemand wußte es. Deshalb hatte er zu Frau Do gelacht über das Spinnengewebe, das in diese Augen fiele.
Nun hatte er vier Wochen gemalt – durch dreißig Jahre hatte er sich nicht zu einem solchen Aufgebot an Kraft zwingen können. Er hatte vier Wochen gemalt, und nun sahen seine Augen die Welt wie die Augen eines Kindes, das fürwitzig ins Gesicht der Sonne geschaut hat: es hing für sie ein leiser grauer Schleier um alle Dinge. Der war unendlich fein, aber er war da. Und Henrik Tofte wußte es nicht; denn so war es für ihn gewesen, solange er denken konnte. Es war eine Selbstverständlichkeit – wie es für die Sterne eine Selbstverständlichkeit ist, daß sie nicht in ihrem Glanze sind, wenn sie der Himmel nicht mehr braucht.
Einmal im Hardangerfjord, ein einziges Mal, hatte er daran gerührt. Das war, als ihm Gwendolin vorwarf: »Faulheit bei einem gewöhnlichen Menschen ist ein Laster – aber bei Ihnen, Tofte, ist sie eine Gotteslästerung.«
Da hatte er gesagt: »Diese Faulheit liegt in meinen Augen – nur wenn ich alle Wunder mit ihnen erringe, die im Lichte sind, dann will ich malen. Ihr anderen, die ihr blind geboren seid, mögt das halten, wie ihr wollt. Mir sind die Augen an manchem Tag ausgegangen – je nun: die Sonne geht dem lieben Gott ja auch mal für ein paar Wochen aus!« Da sagte Gwendolin: »Mit so schönen Worten deckt Henrik Tofte seine Faulheit zu.« Weiter fiel dem feinhörigen Mädchen dabei nichts ein.
Nach Mittag fuhren sie in die Welt. Auch Kordula und Erich Meyer waren dabei, und es war noch Platz in jedem [184] Wagen für ihre Freude. Jockele, Do und Tofte saßen zusammen. In allen drei Wagen sprach man von Henrik oder von der Madonna. Das Bild war ein Erlebnis. Aber im vorderen, in dem Henrik saß, redete man auch von seiner Abreise und von seiner Wiederkehr; die eine sollte morgen geschehen, die andere in ein oder zwei Jahren. So fuhren sie durch die Ettersburger Wälder und am Abend über Tiefurt heim. Für Gwendolin und Schaffrath gab es an diesem Tage noch andere wichtige Dinge zu reden; denn übermorgen hatten sie Hochzeit. Es war gar nicht zu verkennen: Tofte wollte diesem Tag ausweichen. Gwendolin fand das seltsam, die anderen nicht. Aber er hatte es so eilig, daß ihm Do die Sorge um die Madonna abnahm – sie wollte dafür tun, daß sie in Rolf Krakes Hände käme, wenn die Zeit da war.
Am anderen Tage schied Henrik aus dem Haus am Horn und ging wieder nach München. Er mietete sich ein Atelier in Altschwabing – das gab eine Aufregung unter den Malern, die er kannte. Mister Johnny, der nun wieder sein Nachbar war, hatte die Giraffe vollendet. »Ein dusterer Einfall,« sagte Tofte.
»Noch dusterer scheint mir Ihr Vorhaben,« lachte Johnny, »wozu in aller Welt brauchen Sie einen Malraum?«
»Arbeiten will ich.«
»Haben Sie das in Weimar gelernt? Und ist aus dem Bild etwas geworden?«
»In ein paar Jahren will ich es mir darauf ansehen. Bis dahin hab' ich zu tun – es ist die höchste Zeit.«
Mister Johnny wunderte sich selten; aber Tofte sprach diesmal so, als gäb' es kein Ausweichen vor sich selber. Zu anderen Zeiten hätte das anders geklungen. »Ich modelliere jetzt einen Löwen,« sagte Johnny. Dann führte er Henrik hinaus in den Garten. Dort stand ein Käfig, wie ihn die [185] Leute aus den Tierbuden von Jahrmarkt zu Jahrmarkt senden, und ein leibhaftiger Löwe saß darin … Nun ja, auch Mister Johnny hatte seinen sanften Sparren. »Ich habe ihn von einem Menageriebesitzer gemietet bis zum Oktoberfest,« sagte er. »Und gleich morgen wollen Sie anfangen zu arbeiten? Ach, kommen Sie doch heute mit mir nach Dachau! Morgen mittag sind wir wieder daheim, und Sie haben bis zum Abend noch Zeit zur Übersiedlung.«
Aber Tofte schlug es ihm ab; er hatte einen Einfall, der wog ihm heute so viel wie eine Tonne Gold; gerade heute; denn gänzlich hatte er den alten Henrik in Weimar nicht umgebracht. Er redete aber nicht davon.
Abends, als Johnny schon längst weggefahren war, erschien Henrik mit einigen Freunden und einem Löwenkäfig im Garten von Altschwabing. Sie ließen den Löwen aus dem einen Käfig in den anderen spazieren und entführten ihn so im Dunkel der Nacht. Am anderen Vormittage, kurz vor der Heimkehr Johnnys, kam Tofte noch einmal und markierte in dem geschorenen Rasen eine Löwenfährte. Er wurde damit fertig, und es war nun sehr gut zu sehen, wie das Tier ausgebrochen und über den Rasen gestapft war, wie es vor dem Zaun zum Sprung angesetzt und den Sand mit den Klauen geschlagen hatte, ehe es in den Englischen Garten entwich.
Nicht lange, so sprang Mister Johnny die Stiege im Nachbarhause zu Toftes Malraum in langen Sätzen empor. Er riß die Tür auf und berichtete, der Löwe wäre ihm davongelaufen.
»Unmöglich!«
Dann eilten sie miteinander hinab und sahen die Spuren im Gras und im Sande der Wege. »Ha!« stöhnte Mister Johnny.
»Man wird Ihnen einen Schabernack gespielt haben,« sagte Tofte.
»Denken Sie denn, ich kenne die Löwenfährte nicht?« schrie Johnny. »Halten Sie mich für einen Dummkopf?«
»Im allgemeinen nicht.«
»Und meinen Sie, ich hätte nicht einmal das bei meinen afrikanischen Jagderlebnissen gelernt?« Dabei führte er Toften noch einmal auf der Spur durch den Garten. »Er hat sich keinen Augenblick besonnen – auf dem kürzesten Weg ist die Bestie entronnen.«
»Zu dichten brauchen Sie deshalb nicht – sondern Sie müssen sofort die Polizei benachrichtigen,« sagte Henrik; »mir schwant ein fürchterliches Unglück.«
Johnny enteilte. Er warf sich in ein Auto und fuhr zum nächsten Polizeiamt. Dort wußte man nichts von dem Ausbruch eines Löwen. »Nun ja. Vielleicht ist es erst vor einer Viertelstunde geschehen; denn die Fährte war frisch.« Heimlich erwog Johnny, ob er nicht auch ausbrechen und nach England entweichen sollte auf Nimmerwiedersehen. Finsternis fiel über ihn bei dem Gedanken an das Unglück, das da drohte, und bei dem Gedanken an die Rechenschaft, die man von ihm fordern könnte. In rauchendem Wagen kehrte er nach Hause zurück. Es fiel ihm nichts dabei ein, daß er Tofte in seinem Atelier fand und daß dieser sagte: »Ich habe alle Polizeireviere Münchens und die Ortschaften über den Englischen Garten hin angerufen und geboten, das Vieh zu erschießen, wo es sich sehen läßt.«
»Machen Sie, was Sie wollen!« brüllte Johnny, »ich reiße aus.«
Das hatte Tofte geahnt.
Und keine fünf Minuten vergingen, da rasselte der Wecker des Fernsprechers …
»Hier John Williams.«
»Hier Stationsvorsteher von Pasing. Es steht ein Löwe [187] auf der Strecke kurz vor Pasing, der Zug kann nicht einfahren – ist das vielleicht Ihr Löwe?«
»Ach wo! Wie kommen Sie darauf?«
»Ein Reisender sagt, Sie hätten Ihren Löwen als vermißt bei der Polizei gemeldet.«
»Fällt mir ja gar nicht ein!«
»Um so besser. So werden wir ihn erschießen.«
Johnny erbleichte. »Um Gottes willen … Nicht erschießen! Ja, ja, es ist mein Löwe! Er ist es – mit größter Wahrscheinlichkeit. Aber nicht erschießen – der Spaß würde mich zehntausend Mark kosten!«
»Gut. Wir wollen also sehen, was sich tun läßt. Schluß.«
Tofte hatte das Kursbuch einstweilen in seiner Brusttasche geborgen, in dem Johnny zuvor hastig geblättert hatte. »Der erste Akt!« sagte Johnny zerknirscht und hing den Hörer an. Dann warf er die tausend Dinge herum, die er auf den Tisch gestapelt hatte, warf sie in die Koffer, warf sie wieder heraus und suchte das Fahrbuch und wußte es kaum. Wieder rief das Telephon …
»Hier Erholungsheim Waldhaus.«
»Wer?«
»Wald – haus, eine halbe Stunde hinter Pasing. Es steht hier ein Löwe vor der Gartentüre … Ist das vielleicht Ihr Löwe?«
»Wie kann ich das wissen?« brüllte Johnny.
»Wie, bitte?«
»Lauter, lauter!« mahnte Tofte.
»Teufel,« knirschte Johnny, »Teufel!«
»Nein, ein Lö – we, ein Lö – we! Wir müssen ihn erschießen, wenn Sie nicht augenblicklich Abhilfe schaffen.«
Mit triefender Stirn sank Mister Johnny in den Stuhl. »Wollen Sie nicht in einem Auto nachfahren?« rief Tofte.
»Zum Donnerwetter, was soll ich denn dabei tun?«
Und wieder gellte der Wecker, jäh, jäh und schüttete einen Haufen Entsetzen aus …
»Hallo! Hier Hotel ›Zur Post‹ in Garmisch. Eben ist ein Löwe in unseren Speisesaal eingebrochen. Ist das vielleicht Ihr Löwe?«
»Herr – gott!« stöhnte Johnny.
»Nein, ein Löwe …«
»Was?«
»Ein Lö – we!«
Der Hörer klirrte an den Haken. Mister Johnny preßte die Hände vor die Ohren und irrte mit seinem Entsetzen durch den Raum. Dann schlug er die Koffer zu, verschloß sie und zerrte sie zur Tür. »Es nützt Ihnen nichts,« sagte Tofte, »längstens in der Halle des Bahnhofs hat man Sie gehascht. Merken Sie denn nicht, daß Sie der Mann des Tages sind?«
Das Telephon!
Noch einmal wankte Johnny hinzu …
»Hallo! Hier Berghaus Zugspitze.«
»Wer?«
»Berghaus Zugspitze – dreitausend Meter über dem Meere.«
»Was gibt's?«
»Es ist hier ein Löwe zugelaufen. Wir haben die Bestie eingekäfigt. Ist das vielleicht Ihr Löwe?«
»Ja,« gestand John Williams. Seine Kräfte gingen zu Ende. Aber Erlösung träufelte in sein Herz wie Mairegen.
»Sind Sie noch da? Wir fordern Sie auf, Ihr Eigentumsrecht …«
»Was?«
»Ihr Eigentumsrecht geltend zu machen und das Tier spätestens morgen abzuholen!«
»Dem Himmel sei Dank,« sagte Mister Johnny, »das Leben wird mir in dieser Stunde zum zweiten Male geschenkt.«
»Das kann ich mir wohl denken,« begann Tofte nachdenklich. Es wollte ihm scheinen, als hätte das Spiel seinen Höhepunkt wohl für die Freunde, nicht aber für Mister Johnny bereits überschritten. Das ging eigentlich gegen den Plan. »Je nun, die Welt ist nicht reich an Humor, und wo er einmal wächst, soll man ihn nicht in der Blüte knicken,« sagte er zu sich. Daß es mit der Geographie Johnnys mangelhaft bestellt war, das wußte man – o, Mister Johnny war ein Brite! Und so war es für ihn durchaus kein Wunder, daß der Löwe die Strecke Pasing, Garmisch, Zugspitze im Fluge weniger Minuten durchmessen. Die Freunde hatten ihre Rolle ausgezeichnet gespielt, und dem Johnny war über der raschen Folge der Ereignisse wirklich nicht der leiseste Verdacht aufgestiegen …
Oder doch? Und suchte er nun schweigend die Fäden zu entwirren? Sann er darüber nach, wie die Lage für ihn zu retten wäre? Tofte wollte zur Klarheit gelangen. »Hm,« unterbrach er die Stille, »schleierhaft bleibt mir bei alledem, was das Vieh eigentlich auf der Zugspitze zu suchen hat?«
»Das ist mir ganz egal,« polterte Johnny los, »im Atlas klettern die Löwen auch auf die Berge! Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten, verstehen Sie? Die Frage ist jetzt: wie kriegen wir ihn herunter.«
»Nun, das ist doch sehr einfach: Sie telefonieren nach einem Rollfuhrwerk, lassen den leeren Käfig zur Bahn bringen, geben ihn als Passagiergut auf, und wenn es Mühe machen sollte, ihn auf den Gipfel der Zugspitze zu bringen – nun, so kann man die Bestie vielleicht droben in ein Drahtgeflecht einnähen, anseilen und herunterlassen … O, das läßt sich dann schon machen.«
»So!« brüllte Johnny, »und das nennen Sie einfach?«
Tofte zog die Achseln. »Tja – der kürzeste Weg zum Ziele! Das ist stets der relativ einfachste …«
Auf einmal erklangen Männerstimmen – von drüben aus den Fenstern des Ateliers im Nachbarhause. Es waren die Maler, die an dem Scherze beteiligt waren und zuerst in Toftes Malraum die Gegend erkunden wollten. Tofte sah aus dem Fenster und rief hinüber: »Mister Johnny hat mir den ganzen Tag zerdonnert. Der Löwe ist los!«
»Der Löwe?«
Da eilten sie alle herüber, stießen ihre Arme und ihre entsetzten Stimmen in die Luft, und Johnny forderte sie auf, mit ihm die Zugspitze zu besteigen, um den Ausreißer im Triumphe heimzuführen. Aber sie lehnten ab. Tofte schützte Arbeit vor, die anderen vier fanden die Sache zwar eigenartig, aber auch gefährlich.
Es nahm nun alles seinen ordnungsmäßigen Verlauf: das Rollfuhrwerk kam, der Käfig wurde aufgeladen, Mister Johnny ließ seine gepackten Koffer im Atelier, reiste dem Käfig nach und – ward nicht mehr gesehen.
Die Koffer forderte er einige Tage später nach Glasgow – woraus zu schließen war, daß er die Zugspitze erklommen und dort sein »Eigentumsrecht an dem Löwen geltend gemacht« hatte … Nein, wieder kam er nicht – aber sein Ruhm hält in München noch für hundert Jahre.
In diesen Tagen war es, daß Professor Salzer die Tante Veronika entdeckte. Er war auf einer Septemberwanderung im Thüringerwald. Damit hielt er es schon immer; denn dies Fahren in bunten Blättern und Träumen war für sein gesammeltes und weises Herz die Erfüllung des Jahres. Und vor allem der letzte Sommer hatte ihm Veranlassung gegeben [191] zum Nachdenken über sich selbst. Ganz leise war die Jugend um ihn her in ihren Frühling geflogen – Kordula, Cornelius, Gwendolin, Schaffrath, selbst Do und Jockele! Gott ja, sie waren ihm nicht abhanden gekommen. Aber ihr Leben hatte einen neuen kraftvollen Schoß getrieben, und Salzer war ein wenig aus dem Kurs gefallen. Nicht so, als wäre man seiner müde geworden, o nein. Er fand nur: es wäre für ihn in der Ordnung, ein bißchen zur Seite zu rücken. Manchmal, wenn er so droben über den Dächern zwischen Einsamkeit und aufglimmenden Sternen gesessen hatte, pochte es leis an sein Herz. »Herein!« Es war das Glück. »Herr Professor, ich wollte nur fragen, ob wir zwei uns im Leben vielleicht doch nicht so vollkommen eingerichtet haben, wie wir die Jahre her dachten.« – »Je nun,« sagte er und strich die Asche seiner Importe ab, »im allgemeinen doch wohl … trotz alledem! Etwas zu wünschen bleibt ja immer. Sollten wir es nicht genau so weiter treiben?«
Aber am nächsten Morgen, während das neue Licht einen herrlichen Kampf mit den Nebeln ausfocht, fuhr auch Salzer in seinen Frühling, fuhr stracks zu Tante Veronika. Er kam vor das Häuschen am Buchenschlag wie die Sonne selber; denn er hatte am Abend zuvor herausbekommen, daß auch die weise Frau vom Walde über den neuen Schossen, die das Jahr im Märchenhause getrieben hatte, ein wenig zur Seite gerückt war. Und Frau Do sollte ihn nicht umsonst die »Würze des Lebens« genannt haben!
Tante Veronika war gerade im Gärtlein und schnitt mit der kleinen Rosenschere ein bißchen am verblühenden Jahre herum. Sie hatte ein violettes Morgenhäubchen auf den schneeweißen Haaren. Da stiegen auf einmal zwei blanke Augen über den Zinseln des Zaunes hervor und darüber der hellgraue Künstlerhut, der stets aussah, als wär' er erst [192] am Morgen aus dem Hutladen bezogen worden. Es gab eine große Freude; die sah zuletzt aus wie eine Malve, die vom Scheitel bis zur Sohle und ringsherum mit schönen rosa Blüten bedeckt ist; denn der Professor wackelte an dem Zauntürlein … Und als Tante Veronika drinnen den Riegel zurückschob, feierten die beiden Leutchen das Wiedersehen so herzfröhlich – es konnte kein Mensch glauben, sie wären einander in ihrem langen Leben nur ein einziges Mal auf fünf Minuten begegnet!
Natürlich lugte das Mädchen Mali im Eckzimmer gleich ein bißchen durch den Vorhang – was es da draußen für einen Spektakel gäbe. Und wie sie Herrn Salzer erkannte, der damals im Märchenhaus auch an ihr vorübergestrichen war, und wie die Frühsonne so um die beiden herumjauchzte, dachte sie: »Die Weisen aus dem Morgenlande!« So war nun das Mädchen Mali! Die Malve wuchs indes immer weiter, und zuletzt ward ein richtiges Feuerwerk daraus; denn der Professor wollte zwei bis drei Wochen im Frühlingshause zu Gast sein – der erste Herr, der darin »Logierbesuch« war, wenn man das Zigeunerbüblein nicht rechnete. Man denke!
Die Mali lief im Haus herum, als wäre sie frisch geölt, und flitzte über die Stiegen wie siebzehn Jahre. Und die Glocke über der Haustür läutete in einemfort, geriet außer Atem und mußte abgestellt werden; denn die Leute im Dorfe hätten ja gedacht, bei Fräulein Sinsheimer wär' Feuer ausgekommen.
Die Mali rückte gleich das ganze Häuschen in die neue Sonne. Nach ein paar Stunden funkelte es bis ins Herz hinein. Nicht etwa, als ob sie nun alle Winkel ausgestaubt hatte – ach nein, Winkel gab's hier nicht für solch beschauliches graues Dasein; sondern es war eine lichte Gelegenheit, alle Fenster aufzustoßen an den beiden alten Frauenherzen, [193] und der Himmel fanfarte hinein mit schmetternden Trompeten; denn auch der Tante Veronika war anzusehen, wie glückselig sie war.
Den ganzen Nachmittag saßen die alten Herrschaften in dem Eckzimmer, durch dessen Scheiben damals das Zinzilein nach dem Herrn Prinz geschaut hatte, weil sie ahnte, daß sie nun eine Prinzessin würde – saßen dort nach Tisch vor den Meißener Schälchen beim Kaffee, und saßen dort beim Tee, als schon die Sonne ihr Königskleid über den Wipfeln des Waldes raffte. Das Leben aber fügte in diesen klaren und köstlichen Herbsttagen dem leuchtenden Sommerschlößlein, das den Namen Veronika Sinsheimer führte, den Schlußstein ein. Um diese Zeit wurde es fertig. Ja, es hatte lange gebraucht dazu, aber nun war es auch etwas prachtvoll Schönes geworden und war ausgerüstet mit allen Kleinodien, die auf dem Wege vom Auszug aus dem Himmel bis zur Heimkehr in ein Menschenherz gelegt werden können. Zuerst hatte es fast so ausgesehen, als wollte dies Leben dem Fräulein Sinsheimer seine Kargheit zeigen und ein Weiblein aus ihr machen, wie sie da und dort an den Rändern stehen. Nun hatte sie Kinder gehabt und hatte Enkel, ihr Herz hatte alles Glück der Welt hundertfältig gespiegelt, und nun hatte sie auch den weisen und fröhlichen Freund, der neben den herrlichen Blüten ihres Geistes und Herzens bestehen konnte.
Deshalb trugen die Stunden im Frühlingshaus Festkleider. Die gläsernen Schränke und die Mahagonimöbel funkelten so, wenn Tante Veronika mit ihrem Freunde vor den Meißener Tassen saß … »Ja, ja,« sagte der alte Herr, »mit dem Jockele sind wir noch nicht am Ende! Ich glaube, da kommt noch einmal etwas zutage, das keinem von uns im Traum eingefallen ist. Er hat sich dazu so herrlich auf sich selber gestellt, und uns – läßt er nicht einmal durch das Schlüsselloch gucken.«
Tante Veronika spielte mit ihren Händen auf dem Rande des Tischleins wohl ein schönes leises Lied. Und ihr Gegenüber, der Herr Salzer, führte sie an seiner sicheren Freundeshand den Weg der Wunder: aus dem Herzen der Zigeunerin durch das Herz der Tante Veronika ans Herz der Frau Do zum Herzen des lieben Gottes …
Es war ein feines besinnliches Hinschauen.
Dann redeten sie von weiser Frauenliebe und von dem Segen, der in ihr ist. Von dem Fluche sprachen sie nicht; denn Fluch wächst nur aus Leidenschaft. Liebe aber ist Weisheit ohn' Unterlaß und Einschränkung; denn das Weiseste, was es gibt, ist der Verstand Gottes; und dieser ist Liebe.
So war der Herr Professor Salzer dem Märchenhaus in jenen Tagen abhandengekommen. Niemand fand eine Spur von ihm. Auch Jockele nicht – wiewohl er siebenmal die hundertneununddreißig Turmstufen emporzog. Cornelius komponierte die Märchenoper und war weg. Gwendolin feierte Hochzeit und war auch weg. Henrik Tofte? Ganz richtig – zu ihm gehörte das Fragezeichen. Schreiben tat er nicht. Tinte und Feder waren für ihn sein Lebtag Dinge gewesen, die er scheute wie Gift. Seine »Korrespondenz« hatte er sogar einen Winter lang von Nane Thord besorgen lassen. Und das einzige Mal, wo er nachweislich geschrieben – damals, als er unter die Dichter gegangen – hatte er das Manuskript vor den Augen der Menschen verborgen. Er sagte: ums Leben könnte er sich auch bringen mit Pinsel und Farbe.
Da packte Frau Do mit dem Diener Fritz die »Madonna in Rosen« in eine flache Kiste und schickte sie an Rolf Krake. Natürlich durfte Fritz nicht sagen, was er dabei dachte – aber auch für Do war es ein wehmütig Beginnen. Dann setzte sie sich hin und schrieb an Rolf Krake einen klugen und frohen Brief …
Lieber Einsiedler!
Ihr Verlangen war seltsam. Aber wir dachten: Sie wollen einen Menschen um sich haben, über den Sie Ihre weisen und närrischen Gedanken hinausschicken können ins Leben, in das Sie nicht einmal mehr zu Gaste kommen mögen. Sie haben sich einen neuen Garten Eden geschaffen und fordern eine Gehilfin. Da ist sie! Gwendolin sagt: »Geschaffen von den Händen Gottes …«
Sie haben sich nun an einen Platz gestellt, an dem für die Menschen das Narrentum angeht. Wir im Märchenhaus aber sagen: das Narrentum hört dort auf. Jeder soll es treiben, wie es sein Glück fordert; denn auf der Welt gehört nichts inniger zusammen als Leben und Glück. Vielleicht werden die Menschen nun Ihre Insel die »Narreninsel« nennen und sagen: »Es lebt dort einer mit einem Bilde!« Und sie wähnen, Sie wären der einzige.
Die so reden, haben es zwar nicht zu dem Kleinod einer Insel gebracht, aber zu Millionen leben sie sich an ihrem Dasein vorüber und leben – einem Bilde! Meist einem, von dem sie nicht einmal eine klare Vorstellung haben. So kümmern sie sich ihre Straße dahin und kümmern sich ins Grab; aber den frohen Einsamen auf einer Insel nennen sie den Narren.
Sehen Sie, so verstehen wir im Märchenhause den Brief, den Sie an Henrik Tofte geschrieben haben. Er hat ihn uns gelassen als Gastgeschenk. Wir lesen ihn oft und halten unsere Herzen in sein warmes stilles Licht. Erkennen Sie nun: es war ein Traum vom Leben, der Ihnen eingab, das Eiland die »Insel der Auferstehung« zu taufen? Ein lieblicheres Ostern – wer könnte sich vermessen, es zu feiern? Die Menschen sind Schiffer auf dem Ozean. Nach ihrer Insel steuern sie alle: der eine nennt sie die Insel der Auferstehung, der [196] andere nennt sie Märchenhaus – – ihrer sieben gelangen in den Hafen, dreihundert Millionen treiben daran vorüber. »Die Insel finden!« stiller Freund, das ist die Weisheit, das ist die Kraft! Und nun messen Sie Ihr »Narrentum« an diesem Leitsatze des Lebens und sagen Sie getrost: »Es sei wie es sei – meinen Himmel hab' ich mir errungen!«
Ich sage nicht: wenn Sie einmal Lust haben, in die Welt zu fahren, so kommen Sie zu uns! Nein, schlagen Sie Ihre Wurzeln frohgemut in Einsamkeit und Tiefe, und stehen Sie unerschütterlich auf Ihrem Gelöbnis. Aber wenn Sie einmal herüberzureden wünschen in die Welt der Menschen, so fragen Sie – mein Mann und ich werden Ihnen von dieser Welt so viel erzählen, wie Sie hören wollen.
Frau Do.
Nichts als ein Brief! Und in den ersten Worten nicht einmal ganz frei und nicht ohne die Sorge des Weibes, das eines anderen ist. Aber nur in den ersten Worten. Die sollten dem Robinson sagen: »Siehe, so ist mein Bild gemeint! Und weil wir es so meinten, hast du es mit Freuden bekommen.« Aber dann war alle Befangenheit von ihr abgefallen. Sie erinnerte ihn nicht pharisäisch an die große Dummheit seines Lebens und sagte: »Das werden Sie nicht wieder tun« – sondern sie krönte seinen Sieg. Und sie sagte ihm: »Es gibt von alters her auf Erden sieben Weise; sie sterben nicht aus; darum ist ihr Sinnbild zu den Gestirnen des Himmels erhoben. Es sind nicht Sterne erster Größe, aber siehe, du bist einer dieser glückseligen Sieben. Freue dich!«
Von sich selber sprach sie kein Wort. Aber sie ließ ihn ahnen: dein Leben ist nun klug und klar, und es ist ein Leben der Fülle – trotz alledem! Es ist ein Sinnbild für die dreihundert Millionen Toren, die jeden einen Narren heißen, der nicht die Schellenkappe trägt wie sie …
Jockele war zu ihr an den Schreibtisch getreten; das Fenster stand offen, die kleine Heidi lag drunten im Garten in ihrem Wagen und schlief.
Nun sprachen sie von Rolf Krake aus ihren hochgemuten Herzen. Do lächelte und sagte: »Haben wir es denn anders gemacht als er?«
Da sah er sie erstaunt an. »Ganz anders.«
Sie aber machte ihre Siegeraugen. Und er sagte: »So hast du mich nicht mehr angesehen, seit – ich glaube seit damals, als ich die Gwendolin heiraten wollte.« Es war sehr lustig.
»Dann hast du wahrscheinlich in all den Jahren keine so vollendete Dummheit in die Welt gesetzt, liebster Jo.«
»Vor den Siegeraugen hab' ich noch den gleichen Respekt wie damals,« sagte er. Dann zog er sie aus ihrem Schreibsessel empor und führte sie in den Garten, und sie spazierten Arm in Arm unter den schönen alten Bäumen. Es war eine heimelige Stunde, leise und voll von dem warmen Lichte des Mittags.
»Nichts als ein Brief,« sagte er, »aber du hast damit wieder einmal einen Wegstein aufgerichtet für Rolf Krake – und auch für uns. Der Sommer im Fjord war der Reisesommer: es flimmerte fremde Sonne hinein. Dann kam der Winter der Freunde oder der Gesellschaften. Im neuen Frühling fühlte man so sachte vor nach sich selber. Und nun will alles schön und klar werden …«
»Nun haben wir unsere Insel,« sagte sie, und wieder blühten ihre Siegeraugen. »Nun, es ist wohl die Art ernster Frauen, daß sie ihr Leben früher anfangen, bewußt zu leben, früher als die Männer. Vielleicht kommt das daher, daß sie die Grenzen ihres kleineren Reiches besser übersehen.«
»Es ist bei uns Männern das heiße Begehren nach der Tat, oft nach einer unerhörten Tat. Darüber stellen wir uns in [198] Sturm und werden getrieben und bilden uns ein, wir wären der Sturm selber. Es ist bei euch Frauen einfacher.«
»Es ist gar nicht einfacher. Von den Frauen verstehst du noch immer herzlich wenig, lieber Jockele – trotz deiner umfangreichen Sammlung von Erfahrungen,« setzte sie lächelnd hinzu. »Wir geraten in unserer Mädchenzeit an Knaben, von denen wir uns vorreden, sie wären Männer. Und wir werden spielerisch. Zuerst fangen wir an, uns mit äußerlichem Kram zu behängen – und von Stund an ist die Mehrzahl der jungen Mädchen ruiniert fürs Leben. Aller Sinn für den wahrhaften Schmuck des Daseins geht ihnen verloren. Aber der für den Jahrmarktströdel bleibt, wächst, wuchert und verqueckt uns das Herz.«
»Ist dir das alles über dem Brief an Rolf Krake eingefallen?«
»Warum?«
»Du hast noch nie so hart geredet.«
»O ja,« sagte sie, »aber nicht oft, und du hast auch wohl nie mit so willigen Ohren zugehört. Oder denkst du, ich wäre damals aus dem reichen Hause meines Vaters in das Gartenhüttchen am Horn geflohen und hätte mein Leben auf Biegen oder Brechen gestellt, wenn ich das nicht gewußt hätte?«
Sie hatten ihre Arme fest ineinandergelegt und wanderten zurück bis in jenen Tag, an dem sie einander im Apfelgarten zum ersten Male begegnet waren. Und sahen ihr Leben an. Es stand vor ihnen wie in der Kristallkugel der Buschgroßmutter.
Davon sprachen sie nun. Jockele kannte dies schöne Märchen von Tante Veronika. Er hatte es lange, lange nicht mehr erzählt – zuletzt wohl droben im Hardanger Fjord am Herdfeuer. Da hatten sie alle zugehört, und Gwendolin hatte gesagt: »Paßt auf, wir erleben es doch noch, daß aus dem Naturforscher der Dichter wird.«
Durch das grüne Dämmerlicht unter den hohen Bäumen sah Jockele die Bilder in der Kristallkugel aufgehen und merkte gar nicht, daß er zu atmen vergaß – genau wie damals, als ihn die Tante Veronika zum ersten Male vor das Haus der Buschgroßmutter geführt hatte. Es war ein Novemberabend gewesen, und der Bergwind lief ums Haus und sang. Als ihn das Mädchen Mali dann zu Bett brachte, hatte er zu ihr gesagt: »Wenn es wieder Frühling ist, wollen wir die Buschgroßmutter besuchen. Ich nehme meinen Schirm und fort geht's!« – »Na ja,« hatte ihn die Mali vertröstet, »vielleicht im Frühling. Aber das Gebirge der Riesen ist schwer zu besteigen, und die Riesen sind auch keine netten Leute.« Dies Zwiegespräch hatte Mali der Tante Veronika berichtet; denn das sollte sie. Und Fräulein Sinsheimer sagte: »Sooo! Dann müssen wir das in den nächsten Tagen reparieren; denn fürchten darf er sich nicht.« – »Überhaupt diese Schauergeschichten …,« warf Mali ein. »O, die sind herrlich,« behauptete Tante Veronika. »Ich besitze gar nichts Schöneres, was ich in den Jungen hineinspeichern könnte; aber ich habe es wohl nicht richtig gemacht.« Und gleich am nächsten Abend erzählte sie wieder. Das Mädchen Mali durfte zuhören, und es war so schauerlich, daß sie ganz heimlich die Füße unter ihren Sitz zog, weil sie merkte: die große Kreuzspinne spann sie ein, die sich die Buschgroßmutter als Haustier hielt. Dem Zigeunerbuben aber legten sich die blanken Fäden dieser Phantasien schimmernd um das Herz.
Wie viele Jahre waren seitdem vergangen! Und nun stand ein Mann vor der Kristallkugel der Hexe im Baumgarten am Horn, sah die Bilder seines Lebens darin und sagte: »Es ist gar kein Märchen!«
Nein, es war das Leben! Und der Sinn der Rede, daß es ein Aber habe mit Männern, in deren Leben die Frauen [200] nicht eine ungeheure Rolle spielen, ging ihm erst auf in dieser Stunde. Vor anderthalb Jahren an der Hochzeitstafel hatte er das so hinausgeschmettert aus seinem ungestümen Herzen. Es war nicht darin gewachsen. Darum hatte er es auch in seiner Art verstanden – nicht so wie die ältere Dame, die »O« sagte, aber auch nicht viel tiefer als die anderen. Freilich hatte er hinzugesetzt: »Was mich betrifft, so werde ich mich in die Sonne meiner Frau stellen, wie sich die Erde stellt in das Licht des Frühlingshimmels.« Nun ja, das hatte einen ergebungsvollen Klang gehabt und war auch vorsatzfroh gewesen. Aber man kennt das; und beides war nicht ungewöhnlich für einen jungen Hochzeiter, dem das Zigeunertum nur so aus den Augen blühte. Aber verstanden? Verstanden hatte er es nach seiner Kraft, und etwa wie Hanna von Fellner, die daraufhin mit ihm wettete.
Daran dachten sie nun. Und sie wußten: Hanna hatte die Wette verloren! Jockele war ein Mann geworden mit allen Erkenntnissen. Und es kam eine Allgewalt über ihn – da faßte er Do an den Hüften und hob sie empor und schmetterte einen Jauchzer über sie. Als sie wieder auf der Erde stand, preßte sie die Hände an die Schläfen, denn seine Wildheit brauste ihr durch die Adern. Er aber sagte ganz fromm zu ihr: »Du liebe Wundertäterin!«
Als es wieder Frühling wurde, ging Heidi im Rasen auf wie eine Tulpe. Sie trippelte von einer Blume zur anderen und trank die blühenden Wunder der Erde in ihre Augen. Jockele dachte: »Wenn sie im nächsten Jahre kommen, kann ich ihr die schöne Geschichte von der Buschgroßmutter erzählen.« Es war ein ungeduldiges Warten in ihm – er wollte auch sein Teil an der Kleinen haben. Und die verfallende Hütte der Buschgroßmutter stand in seinem Herzen [201] noch genau so, wie sie die Tante Veronika darin aufgebaut hatte. Sogar der Waldkauz brütete noch über dem Türpfosten, und kein Sturm, der in den Jahren durch Jockele gebraust war, hatte das Spinnennetz zerrissen, das vor dem windschiefen Fenster hing: die dicke Spinne mit dem blanken Kreuz auf dem Rücken lauerte noch darin – genau wie damals.
Ach, vieles, vieles, wovon sich die Erziehungsfreude der Tante Veronika Wunder versprochen hatte, war verflogen – dachte er. Aber die verstaubteste, hübscheste und geheimnisvollste Hexenhütte, die je ein Märchenmund gedichtet hatte, die war stehengeblieben. Und die wollte Jockele seinem Frühlingskinde mitten hineinbauen ins Herz; denn wie Papa sollte Heidi in jeder Woche einmal darin einziehen und ihr Zauberglück finden, weil es so wunderschön war.
Um diese Zeit begann er, für Heidi zu dichten: kleine Blumen, kleine Blätter, die er über sie warf und die sie mit ihrem jauchzenden Herzlein fing. Dazwischen führte er sein Werk über die Flechten nun doch zur Vollendung. Er reiste an die Hochmoore des Erzgebirges und Bayerns; er durchwanderte die Schründe der Sächsischen Schweiz, wo die Flechten um die Felsenzinnen blühen. Das Riesengebirge lag noch zu tief in den Jahren, und er fühlte, wie er der Naturwissenschaft aus den Händen wuchs. Alles drängte in ihm nach einem Abschluß; denn der hatte noch gut Platz in der Zeit, in der der Dichter in ihm nicht ganz daheim war.
Wie alle Dichter, so fing auch dieser mit sich selber an. »Die halben kommen nie darüber hinaus,« sagte er zu Do; »ich aber will mich weit dahinten lassen. Es soll nicht etwas Windiges werden, was ich da schreibe, und nicht ein kärglicher Abklatsch des Daseins. Es ist Schwachsinn, eine Dichtung über den Leisten des Lebens zu schlagen. Was soll dann [202] weiter daraus werden als ein Schusterwerk? Nein, der Dichter muß sich den Weltplan vom lieben Gott dazu borgen. So etwa: ›Gib her, ich werde jetzt einen Roman schreiben und will darin erschaffen, was du mit der Welt mal vorgehabt hast; denn ich bin besser daran – mir können die Menschen mein Werk nicht verpatzen, wie sie es dir täglich tun!‹ Wenn man von einem Romane nicht sagen kann: er ist ein schönes Märchen, dann ist er in der Regel miserabel.«
Das war das erste und letzte, was Jockele über sein Dichten zu Do und den anderen sagte, bis zu jener Wagenfahrt ins Riesengebirge. Aber das merkten sie wohl, daß er der Ansicht war: ein vollkommenes Märchen wäre die wahrhaftigste und wahrhafteste Dichtung, die sich ersinnen ließe; denn es steht darin: alle Schöpferweisheit und Teufelslist, alle Menschenklugheit und Torheit, alle Tücke und Liebe – und das eindringlichste und beredteste Weltbild ist fertig. »Laß dir nicht in deinem Leben und Dichten herumwühlen von den Menschen!« sagte er.
»Mich deucht, das wäre ein gutes Nachtgebet,« sagte Salzer.
»Ja – für alle; aber zumeist für die Dichter.«
So schwang sich aus den Frühlingswiesen des Lebens alles in die Bahnen, auf denen es dereinst schön und kraftvoll zu den Höhen des Daseins gelangen sollte. Aber stetig und unwandelbar in den wandelnden Jahren blieben Dos und ihres Mannes Herz: das eine in seinem stillen klaren Licht – und war ein Segen für und für; das andere in seinem weltseligen Zigeunertum: ewig unrastig und voll stolzer Träume, dabei immer bedacht auf die ruhevolle Breite des Lebens – und doch ohne Sturm; stets voller Blüten und voll der fröhlichen Weisheit des Glücks. »Es ist das Erbgut der Männer meines Volks,« sagte Jockele, »als Könige der Pußta tragen sie den Himmel in den Augen, und von dem [203] Golde der Sterne – den fliegenden Tropfen des großen Weltenozeans – ist ein Glanz in unsere Herzen gespritzt.«
Gwendolin lächelte über diese Worte dahin. »Es scheint, den Pußtawanderer Adalbert Stifter trägst du stets auf der Brust.«
»Nein, mitten darin,« bekannte er.
Aber Gwendolins Rede war nicht mehr frei wie einst. In ihren Augen lag nicht mehr die stürmende Fülle. Und in den Klang ihrer Stimme fand sich die Wehmut.
In einer Juninacht saßen die drei Frauen und Jockele im Garten, unter der Ulme, und tranken Erdbeerbowle. Der Mond kämpfte sich blutrot hinter den Büschen herauf. Heuduft schwebte von den Parkwiesen hoch. Da erhob Gwendolin ihr Glas gegen den Mond und sagte: »Noch eine halbe Stunde, du lieber Nachtgesell, dann hast du gesiegt in deinem dumpfen Kampfe gegen den Dunst der Tiefe! Wo bleibe aber ich?«
»Unbegreiflich,« sagte Kordula, »wer hätte gedacht, daß eine Zeit käme, in der du zag würdest vor dem Leben? Du!«
»Es wundert mich gar nicht,« sagte Do, »Gwendolin ist eine von jenen, die mit siebzehn Jahren heiraten müssen. Es ist nun nicht leicht, ihr Mann zu sein.«
»Ihr habt beide gut reden,« sagte Gwendolin bitter, »du und Kordula.«
»Halt,« gebot Jockele, »ich arbeite nur noch nebenher in Flechten, Menschenherzen sind mir wertvoller, und Do sagt, von Frauen hätte ich keine Ahnung. Aber vielleicht von der Ehe?«
»Erst recht nicht,« behauptete Gwendolin, »denn du bist eines jener Hätschelkinder des Schicksals: laufe nur mit weit offenen Händen durchs Leben – es fällt immer etwas Herrliches hinein!«
Nun, Jockele war diese Rede von den Menschen gewöhnt; sie wächst wild um alle Zäune. Ernst nahm er sie nicht. Da [204] sie nun aber von Gwendolin kam, wurde er steil und blies zur Schlacht. »Du, seit wann bist du ungerecht?«
»Ich habe wohl schon an meinem Verstande gelitten,« bekannte sie.
»Du bist auch ungerecht gegen dich selber,« sagte er, »denn Kämpfer sind wir alle beide – nicht so: ›Mensch sein, heißt Kämpfer sein‹ … sondern: wir zwei haben unser Lebtag weit weg gestanden vom Durchschnitt – auch mit unserem Kampfe. Weiß Gott, es war ein steinichter Weg in den Tartarus und von da auf den Berg der Seligkeiten! Dann hab' ich den Berg mit dem Grabscheit zerhauen; dann hab' ich – na, ich hab' etliches fertiggebracht in meinem Leben. Aber freilich: an den Laden hab' ich mich dazu nicht gelegt, und der Welt in die Ohren geschrien hab' ich's nicht: ›Seht mal her, solch ein Kerl bin ich nun!‹ Zuletzt – das darf man wohl sagen: das Leben hat es gut gemeint mit mir. Aber etwa deswegen, weil ich ihm ein lammfrommer Zuschauer gewesen wäre?«
»War das bei mir anders?« fragte Gwendolin. Die Wehmut war weg. Es klang herausfordernd, es klang unzufrieden.
»Nein. Salzer hat einmal gesagt: ›Die Gwendolin Vogelgesang ist der weibliche Jakobus Sinsheimer.‹ Recht hat er. Aber nun, da du davorstehst, dir das Ehrendoktorat fürs Leben zu erwerben, liebe Gwendolin, nun kneifst du.«
Gwendolin lachte bitter und jäh auf.
»Ach papperlapapp!« rief Jockele. »Mit einem Munde voll Hohn schnellst du mir diesmal nicht aus den Händen!«
»Du hast ja keine Ahnung von der Ehe,« sagte Gwendolin.
»Nun, so ist mir das Talent, für und in Do zu leben, wahrscheinlich im Bergwald eingeboren worden,« sagte er ärgerlich. »Nein, liebste Gwendolin, ich habe mich gehörig in diese [205] Sonne finden müssen! Und das will ich dir auch verraten: sie war im Vorfrühlinge mitunter eklig frostig – man konnte sich das Herz daran erfrieren bei all dem hellen Scheinen. – Warum hast du Erich Meyer nicht geheiratet?«
»Er ist mir zu sacht.«
»Warum hast du mich nicht genommen?«
»Du warst mir damals zu jung.«
»Mir war er nicht zu jung,« sagte Do sehr ernsthaft.
»Warum hast du Toften gehen heißen?«
»Er springt immer hin und her zwischen Himmel und Hölle.«
»Und James King und John Williams?«
» They are Englishmen. «
»Und den Grafen Metting?«
»Den hätt' ich beinahe genommen.«
»Wenn ich nicht dazwischengekommen wäre,« sagte Do.
»Und wenn er kein Windhund gewesen wäre,« ergänzte Jockele. »Wie sagte Gwendolin Vogelgesang? ›Die Ehe ist eine verdammte Kunst.‹ Meine Finger langen nicht mehr zu, dir herzuzählen, was du an jedem auszusetzen hattest. Du hättest auch zu keinem gepaßt.«
»Na also!«
»Aber Richard Schaffrath …«
»Es scheint, den hab' ich mir vorbehalten, meiner Dummheit die Krone damit aufzusetzen. O!«
Im Märchenhause wußte man seit langem, daß die Herzen dieser beiden hochgemuten Menschen Miene machten, in Trotz und Selbstherrlichkeit Wege zu laufen, die sie voneinander fortführten. Es fehlte in diesem Hause nicht an Verständnis für die Art beider: die Schuld lag bei Gwendolin, und sie lag bei Schaffrath. Der war nun Professor geworden. Er war nicht frei von rücksichtslosem Ehrgeiz, aber er hatte nichts von einem Streber. Es war eine gesunde und männliche [206] Kraft. Er stand fest auf sich selber, wie Gwendolin auch; und beide hatten den Sinn zur opferwilligen Zweisamkeit der Ehe darüber ein wenig verkümmern lassen. Nun, so etwas wächst in jedem Garten. Aber seit einiger Zeit fanden sie beide: es wüchse bloß bei ihnen. »Er ist ein Starrkopf und Egoist,« sagte Gwendolin. »Und sie ist unweiblich und rechthaberisch,« sagte Schaffrath.
So war es zwischen ihnen über Winter geworden. Gwendolin war in den vergangenen vierzehn Tagen in Ibenheim gewesen. Dann war sie ins Forsthaus am Hörselberg gewandert, hatte wütig darauflos gemalt und zwischendurch dem Zinzilein ihr Leid geklagt – nicht kleinmütig, und wohl auch nicht mit vergiftetem Munde. Aber von dem »brutalen Egoismus der Männer« war doch mehrfach die Rede gewesen. Die Tante Veronika mischte sich ein für allemal nicht in derlei Dinge. Sie sagte: »Davon versteh' ich wohl nicht genug.«
Das Spiel stand bei den Freunden im Märchenhause, zu denen auch in diesem Falle Kordula und Erich Meyer und Professor Salzer gehörten, für Gwendolin und Schaffrath so, daß man Fehler gegen Fehler aufrechnete. Aber in jener Nacht unter der Ulme verlor Gwendolin die Partie. Man rückte auf der ganzen Linie geschlossen gegen sie an. Daran war das harte Wort von der Dummheit schuld, mit der sie ihr Leben gekrönt hätte.
Do sagte: »Wenn man nicht wüßte, daß du jetzt gallig und ungerecht bist, so würde man dich von nun ab zu jener kläglichen Sorte von Frauen rechnen, die immer auf dem Sprung ins Elternhaus sind, wenn ihnen in der Ehe mal eine Katze über den Weg läuft. Du solltest dich schämen, dieser jammervollen Art nahezurücken.«
Gwendolin war betroffen. Die hohe Stehlampe mit dem pfirsichroten Schirme machte diese Betroffenheit offenbar. [207] Und Kordula sagte: »Mit meinem Mann habe ich wohl wenig Mühe …«
»Nun ja, dieser Athlet des Herzens,« warf Gwendolin aufgewiegelt hin, »der paßt sich in dich wie der Kern in die Aprikose.«
Kordula griff dies Bild auf. »Ja, wenn die Aprikose fertig ist!« Dann sagte sie: »Es war auch für mich nicht so einfach, und es gab viel Falten und Knitter auszubügeln. Das gehört nun eben zur Ehe. Warum ist sie ein Vertrag auf Gegenseitigkeit?«
Darauf sagte Do: »Was könntest du denn dagegen haben, wenn er dich einfach für die Hauswirtschaft forderte?«
»Gilt nicht!« höhnte Gwendolin, »daß ich dazu nicht tauge, wußten wir im vorhinein.«
»Du sollst dir aber nicht einbilden, du könntest nun mit dem Malkasten unterm Arm in die Welt ziehen, so oft dir's paßt, und brauchtest zwei Wochen nicht heimzukommen aus Trotz und Kindsköpfigkeit, und könntest im Walde herumzigeunern und warten, ob er dich sucht. Wenn ich dein Mann wäre, liebe Gwendolin, ich würde sehr viel herzhafter mit dir reden.«
Gwendolin entschuldigte ihre Waldfahrt. »Na, das war doch bloß mal eine kleine Flucht zu mir selber.«
So standen sie mit spitzen Sinnen gegeneinander bis Mitternacht. Schwere Weisheiten förderten sie nicht zutage, aber wahr war's doch, was sie sagten. Gwendolin hatte einmal vorgehabt, der blonden Do in dem Verhältnisse zu ihrem Mann ähnlich zu werden. Und nun war das daraus geworden!
Sie wäre in ihrer Hartmütigkeit am liebsten bis in den neuen Tag im Baumwinkel sitzengeblieben. Aber Kordula nahm ihren Arm, und von der Straße aus sahen sie noch Licht in Richards Zimmer. »Ich bringe dich nach Hause,« sagte Gwendolin. Da gingen sie ganz langsam unter den [208] Sommerbäumen dahin. Das Mondsilber sickerte über sie. »Hast du denn gewußt, daß du so trotzköpfig bist?« fragte Kordula.
»Eigentlich – nein. Hartnäckig war ich stets, aber ich hatte dazu niemanden als mich.«
»Dann würde ich mir auch fürderhin an mir selber den Kopf einrennen,« spottete Kordula, »du hast dich ja damals ganz gut dabei gestanden. Warum suchst du dir nun deinen Mann dazu aus?«
Gwendolin lachte. Aber nur mit einem Auge; denn sie mußte an Salzers Wort denken: »Er ist ja wohl der nächste dazu.«
Endlich kamen sie doch vor das Häuschen in Oberweimar, und Gwendolin mußte mit sich nach Hause wandern. Sie schritt mitten auf der mondhellen Parkstraße von Oberweimar her, kam an Goethes Gartenhause vorüber und stieg die Stufen beim Euphrosyne-Denkmal herauf, die zwischen dem Märchenhaus und Schaffraths Wohnung ins Horn münden. Von den Türmen der Stadt rief es ein Uhr. Richards späte Lampe brannte noch immer.
Es war eine schmerzliche Niederlage, die Gwendolin in dieser Nacht erlitten hatte. Ihr Herz, dies funkelnde, lichtselige Künstlerherz, war angelaufen wie ein Morgenfenster von der Oktoberkälte.
Am Kopfe des Stufenweges lehnte sie sich gegen das Geländer. Der Schatten einer Ohreule zog über den Mond. Gwendolin suchte nach einem Licht im Märchenhaus. Es war keins mehr da. Und die Lampe, die in Richards Zimmer wachte, war so peinlich beredt! »Warum könnt ihr beide nicht schlafen?« fragte sie, und: »Stehst du nun nicht da draußen unter den Sommerbäumen wie eine Abenteurerin?« Jetzt fingen auch die stillen Fenster des Märchenhauses an [209] zu reden. Es war ein heimliches Flüstern vom Glück … Man konnte neidisch werden. Sogar aus den Tiefen der Nacht heraus betörte die Sonne von dort her das Herz! Waren denn Frau Do und Jockele nicht auch aus dem Edelstahle, der stets wieder zu seiner blanken Geradheit zurückschnellte, wenn man ihn bog? Zu allem war Do noch zwei Jahre älter als ihr Mann – und es ging doch? War nun dort die Weisheit, von der Henrik Tofte gesagt hatte: sie allein brächte das Wunder einer Blüte zur Entfaltung? Aber im Zwielicht des Durchschnitts oder des Narrentums kümmere dies Wunder? …
Es war eine heilsame Einkehr, die Gwendolin der blonden Do dankte. Dann ging sie den Gartenweg zwischen den Hecken entlang und trat in ihr Haus. Als sie im ersten Stock am Zimmer ihres Mannes vorüberkam, blieb sie nicht stehen; sie ging auch mit ihrem herausfordernden Schritt und legte den Hut ab und das Schultertuch. Aber dann kam sie doch zurück, trat in Richards Zimmer und setzte sich in den Lehnstuhl, der gleich links neben der Tür stand. Eigentlich wollte sie etwas sagen. Aber nun ging das nicht. Das Wort vertrocknete ihr auf den Lippen. Und man kann sich doch auch das Herz nicht zerbrechen wegen eines Wortes. Also!
Schaffrath saß am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Die kleine Lampe mit dem roten Schirme stand links vor ihm. Und wenn man ihn so von rückwärts betrachtete, war er in das rote Licht gemeißelt wie ein Riese aus schwarzem Gestein. Eigentlich wollte er etwas sagen. Aber es ging nicht. Man kann sich doch das Herz nicht zerbrechen wegen eines Wortes.
So saßen sie eine Weile. Die Zeit lief zwischen ihnen dahin – mit jedem Pendelschlag der Standuhr tat sie einen Schritt – ein unsichtbares Gespenst. Einmal zog Gwendolin den [210] Atem ein; es war, als fiel ein Tropfen auf eine heiße Herdplatte. Da stand Schaffrath auf, hob die Lampe hoch und leuchtete damit gegen die trotzige verführerische Frau. Sie sah ihn mit versteinten Augen an.
»Es ist mit dir immer das gleiche,« sagte er und stellte die Lampe auf den Schreibtisch. Dann schritt er hin und her, und sein Gang ward heftiger, wie eines Mannes, der gegen den Sturm läuft. Und dann barst die gefesselte Stille, und seine machtvolle Stimme gewitterte dahin über beide. »Bilde dir nicht ein, daß das sieben Jahre zu tragen wäre! Es ist ein klägliches Leben, und es geht darüber alles in die Brüche: unsere Freundschaften, unser Ruf, unser Werk und wir selber. Vier Wochen war es ein Schäferspiel, vier Wochen war es eine Komödie, seit vier Monaten ist es ein Trutzspiel, und nun wird gleich eine Tragödie daraus. – Wo bist du heute abend gewesen?« Sie schwieg. »Es ist gut, daß du dich scheust, es zu gestehen! Das heißt, Sinsheimers wissen längst, wie es um uns steht. Sie haben es seit vier Monaten gewußt. Aber sie sind still gewesen aus Mitleid. Aus Mitleid! Verstehst du, was das sagen will?«
Über diesem Worte wand sich Gwendolin in ihrem Stuhl. »Nicht aus Mitleid! Ich glaube, es ist noch ärger. Vielleicht ist es auch schon Verachtung. Sie sagen: es fehlt uns an gutem Willen.«
»Dir!« schrie er.
»Natürlich,« höhnte sie, »immer mir!«
Da rückte er seinen Schreibsessel in die Mitte des Zimmers und schaltete das Deckenlicht ein und warf sich in den Stuhl. Gwendolin aber war aufgesprungen und lief vor der Türwand hin und her.
»Es liegt doch an dir, Richard! Hast du in den letzten vier Monaten einmal um mich geworben wie jetzt?«
»Werben nennst du das?«
Nun mußte sie doch ein wenig lachen. »Jawohl – werben! Vier Monate hast du gebraucht zu diesem erlösenden Wetter! … Es hätte sich wohl auch anders denken lassen. Aber es war doch mal ein Losbruch, es war ein Zerdonnern dieser grauenhaften Verschlossenheit. Du hast dann alle Fenster an dir verhängt, und es ist mir nicht gegeben, da einen Einschlupf zu suchen. Ich habe mit mir selber genug zu tun.«
»Es ist so meine Art,« sagte er. »Ich brauche vier Wochen, ich brauch' ein Vierteljahr lang mit keinem Menschen zu reden, weder von Leid noch von Liebe.«
»So rede wenigstens mit deiner Frau. Aber du sitzt dann im Haus und im Leben als ein steinerner Gast. Es ist zum Verzweifeln. Und am Ende versteinere ich auch.«
»Jawohl, an deinem schlimmen und trotzigen Willen!«
»Nein, Richard, nein, ich bin ein Weib und bin gewöhnt, umworben zu werden im Guten und Bösen. Meinetwegen donnere durch die Tage; das ist mir ganz egal … oder: es ist mir lieber, als wenn du dich zumauerst mit dieser wortlosen Kargheit. Damit weiß ich nichts anzufangen. Und dann lauf' ich fort und mach' es wie in der anderen Zeit, in der ich glücklich gewesen bin mit mir selber und hell und aufgetan …«
Da lief sie hinaus. Es sah aus, als wollte sie nun den Hut nehmen und das rettende Malzeug und hinfliehen in die Nacht. Aber das tat sie nicht; sondern sie ging mit ihren heißen und trockenen Augen in das Schlafzimmer. Sie hatte ihm alles gesagt, was ihr Herz in dieser jähen Stunde hergeben mochte. Es war nicht über ihre Kraft gegangen, wie damals im Märchenhaus, als sie sich ausweinend über das Bett warf, aber sie dachte: was sie ihm gesagt hätte, wäre viel mehr gewesen, als sie sich je zugemutet hätte.
So war nun dies lichte klingende Herz: es mußte durchaus umworben werden, wenn es blühen sollte. Und so war es mit ihm gewesen seit den frühesten Mädchentagen. Zehn Jahre hatte sie es so mit diesem Herzen gehalten; denn es war eine große Gefahr für sie. Viele Mädchen haben solche Herzen und nehmen sie nicht in acht und kommen darüber von sich selber und von allem tapferen Willen für ein gutes und züchtiges Leben. Vor Gott und der Welt hatte sich Gwendolin nicht gefürchtet, seit sie sich verstand; aber vor ihrem Herzen war ihr bange gewesen. Nun war das so geworden; und als ihr Mann wartete, daß sie es ihm wie einen goldenen Ball zuwerfen sollte, konnte sie es nicht; denn dies Spiel hatte sie dereinst mit aller Kraft und Selbstzucht verlernen müssen.
»Vielleicht hätten wir mit der Aussprache von gestern abend nicht so lange warten sollen,« sagte Jockele am anderen Morgen zu seiner Frau.
»Wir sind viel zu nachsichtig mit ihnen gewesen,« sagte sie, »wir haben uns in diese Angelegenheiten gar nicht zu mischen – darum haben wir auch nicht zu lange gewartet. Ich weiß recht wohl, woran sie beide leiden. Deshalb weiß ich auch, wir hätten uns auf derlei Auseinandersetzungen gar nicht einlassen sollen. Aber dazu haben wir ein Recht – ich will zu ihr sagen: Ihr zwei haltet es miteinander wie ihr es für gut findet; in unser Haus könnt ihr jedoch nur kommen, wenn ihr in dies Haus paßt.«
»Es ist wieder mal eklig kalt,« spottete Jockele.
»Ach nein,« sagte sie, »du hältst dein Herz nur immer in den Händen wie ein großes Licht und möchtest alle Finsternis der Welt damit hell machen. Trösten und Ehen flicken, liebster Jo, das sind zwei Dinge, mit denen schwer hantieren [213] ist. Ich traue mir weder das eine zu noch das andere. Wenn du ihnen Moral predigen willst, so ist das deine Sache. Für mich gibt es in diesem Falle nur einen Weg: ich lasse in meine lichte Burg keine Narrheit von draußen hereinbrechen.«
Dagegen gab es kein Eifern. Und es war wohl auch in der Ordnung; denn die Moral hatte den beiden im Nachbarhause der Herr Professor Salzer schon zur Genüge gepaukt. Aber er hatte es aufgegeben. Nun hatte Schaffrath das Empfinden: es gehen über unserer Ehe zuerst unsere Freundschaften in die Brüche. Und daraus folgerte er: man gab die Schuld beiden, sonst hätte man sich ja auf seine oder auf die Seite Gwendolins schlagen können. – Vor allem aber hatte Herr Salzer ihnen gegenüber einen schweren Stand; denn beide sagten zu ihm: »Sie mögen ja ein ganz guter Literarhistoriker sein, aber von einer Ehe verstehen Sie nicht das geringste.« Da hatte er's.
Schaffrath aber und auch Gwendolin wurden sehr nachdenklich an sich selber.
Um Herrn Salzer war es mit einem Male recht einsam geworden, schauerlich spätherbstlich, mitten im Sommer. Sein Turm gefiel ihm nicht mehr halb so gut. Das vornehme Mahl, das er im »Erbprinzen« zu halten pflegte, erfüllte alle Ansprüche des Feinschmeckers – aber es mundete ihm nicht mehr recht. Mit der Literatur war das auch solch eine Sache – man brauchte dazu nicht unbedingt auf einem Turme zu wohnen. Kurz: Herr Salzer hatte einmal wieder das dringende Bedürfnis, sein Glück aufzubügeln. Er kleidete sich unerhört vornehm. Er kaufte sich einen grauen Zylinderhut wie der Stadtrat Schniedewind. Er trug Schuhe mit einem Einsatz vom Stoffe seiner Kleider – nun, einen Zigeuner oder gelehrten Tropf hatte man seinem äußeren Menschen nie angesehen. Und so furchtbar wichtig vermochte [214] er diesen selbst nicht zu nehmen, nicht einmal jetzt; darum merkte er nach acht Tagen: auch das war kein Heilmittel für das geheimnisvolle Leiden. Er verfiel sogar auf den verrückten Gedanken, es wäre das Alter. Achtundfünfzig! Lieber Himmel, vor einem halben Jahre war er noch ein leibhaftiger Jüngling gewesen an seinem Herzen! Und nun wollte dies Herz über Nacht misepeterig geworden sein? Aber dennoch – er rüstete sich mit der Ergebung des wahrhaft Weisen und bildete sich drei Tage lang ein, er wäre ein alter Mann.
Und merkwürdig: die einhundertneununddreißig Stufen im Turm waren auf einmal erstaunlich schwer zu steigen. Am dritten Tage pustete er sich schon hörbar empor und rechnete aus: in vier Wochen könnte er sich die Welt überhaupt nur noch aus der Herrgottsperspektive betrachten. Peinlich, höchst peinlich! Und gerade jetzt hatte er Lust, mal durch einen Wald zu spazieren, den Gehstock zwischen den Fingern zu drehen wie ein Windrädchen und dabei vergnügt vor sich hin zu trudeln »Freut euch des Lebens«!
»Das Alter muß ich mir wieder abgewöhnen,« sagte er, »es ist unlustig. Ich muß mir überhaupt mein ganzes bisheriges Leben abgewöhnen. Zum Beispiel wäre es doch gar nicht übel …«
Er dachte an den schönen Buchenwald bei Ibenheim. Dort hinauf brauchte man keine hundertneununddreißig Stufen zu klettern …
Nein, übel wäre das ganz und gar nicht! Aber wenn man in das Haus der Tante Veronika ziehen wollte, so, so für immer, da mußte man zunächst mit Tante Veronika darüber reden. Das war schon wieder ein Stein des Anstoßes, gleich am Anfange des neuen Wegs. Seit jenen Septembertagen war er viermal zu Gast im Frühlingshause gewesen. Zuerst [215] hatte er gesagt: es wäre der schöne Buchenwald, der ihn lockte, und die Stille auf dem Hügel, und die Champagnerluft, die so in die Lungen prickelte. Und später hatte er gemeint: es wäre doch ein herrliches Vergnügen, das Erwachen des Jahres so gleichsam aus der Hand des Weltenschöpfers heraus zu genießen. Und zuletzt? Da hatte er die Tante Veronika ganz vergnügt angeguckt: »Warum haben wir uns nicht ein Dutzend Jahre früher kennengelernt?«
Natürlich, die Tante Veronika verstand das vollkommen richtig, aber in ein silbernes Mädchenlachen verfiel sie doch; denn Tante Veronika war nun Siebzig!
Nein, nein, an Hochzeit dachte Herr Salzer nicht. Aber die blanken Augen taten ihm wohl wie der Mai; und wenn die leisen weißen Hände einmal etwas an ihm zurechtzurücken hatten, hielt er sehr stille – ganz gegen seine Art. Es war so feiertäglich um diese klare alte Dame – es war mit einem Worte: außerordentlich.
Darum packte er seine Koffer und fuhr nach Ibenheim. »Hallo! Sie müssen mich mal in die Kur nehmen, liebste Tante Veronika,« sagte er und schüttelte ihr die Hände, als wollt' er mit ihr zum Tanz antreten, »jawohl, in die Kur; denn sonst steh' ich für nichts!«
Nach einer halben Stunde kam er aus dem Gaststübchen wieder herunter. Die eine Ledertasche hatte er dem Mädchen Mali anvertraut. Es waren darin Schildkrötensuppen in Büchsen, Kaviar, Spickaal, allerhand Pasteten, gezuckerte Früchte … es war eine Sammlung, die dem Herrn Salzer Ehre machte. »Es ist aber noch nicht alles,« sagte er geheimnisvoll, »das hab' ich nur so im Abreisen aufgerafft. Der Wein kommt aus dem ›Erbprinzen‹ und kommt von Krehan, eine ganze Kiste,« flüsterte er und sah das alte Mädchen dabei an … tja, der Herr Salzer! Und ein Kochbuch hatte er ihr [216] auch mitgebracht. Damit sie das aber nicht übelnähme, überreichte er ihr dazu ein Hausstandsportemonnaie, natürlich gefüllt. »Sehen Sie, das da, in dieser Abteilung, ist ganz allein für Sie.« Es war gut und reichlich … tja, der Herr Salzer!
Die Tante Veronika geriet an dem neuen Mietsherrn in herzenshelles Vergnügen. Und der Herr Professor merkte ihr an, wie es ihr ums Herz war. »Hähähä,« lachte er, »ich weiß alles: die Schwelle des Frühlingshauses ästimieren Sie als die reinste Fundgrube für Buben – erst war es ein kleiner, nun ist es ein alter Junge, den Ihnen der Wind hergeweht hat, hähähä.«
Aber – und das ist die Hauptsache – die beiden Leutchen erschmunzelten sich darüber eine blühende Daseinsfreude. Das ist ein rares Gewächs auf den höchsten Höhen des Lebens, und es gibt keins, das köstlicher wäre. So schlossen sie einen Vertrag, der kaum zwischen ihnen besprochen und der jedenfalls nie geschrieben wurde: sie wollten sich gegenseitig in unwandelbarer Glückseligkeit hinauspflegen aus den grünen Gärten der Erde in die blauen Weiten des Himmels. Fräulein Sinsheimer dachte, nun würde sie das Häuschen am Walde nicht mehr verlassen, bis sie die Sternenreise anträte, die auch fröhlich werden sollte; denn an frohmütiger Weisheit schüttete das Leben in ihr Herz, was nur hineingehen wollte. Aber einmal zog sie doch noch hinüber ins Märchenhaus. Das war aber viel später. Ach ja, die Funkelwiesen, auf denen die Engel spazieren, mußten lange warten, ehe man im Frühlingshause die Wanderschuhe schnürte …
Nach Weimar geriet der Herr Salzer hauptsächlich nur, wenn es galt, Küche, Keller und Vorratskammer von neuem auszurüsten. Dies Werk betrieb er fortan mit großem Eifer und ausgezeichnetem Feinsinn. Tante Veronika schalt immer [217] ein bißchen über den sündhaften Aufwand, den er mit sich machte, nannte ihn einen Verschwender und behauptete, sie helfe ihm diese vornehmen Sachen nur essen, weil sie für ihn allein unbekömmlich wären. Aber schlimm war das nicht gemeint; denn beim Auspacken waren sie immer zu dritt und hüpften um die Herrlichkeiten herum wie Kinder um den Weihnachtsbaum. Es muß auch verraten werden, daß Fräulein Sinsheimer in dieser Zeit ein ganz kleines venezianisches Glas besaß. Das war nicht geräumiger als ein Daumen. Daraus half sie ihrem Freunde mittags und abends einen Fingerhut voll Wein trinken, oder gar Sekt. Sie fand, es bekäme ihr ausgezeichnet, und sie schlief danach wie eine Tulpe im Winter.
Ja, so trieben sie es. Es war eine Herrlichkeit. Und der Herr Salzer? So oft es Frühling wurde in der Welt, spazierte er an den Waldrand, kippte daselbst sein Tintenfaß um und tat ein Gelöbnis, daß es vor dem ersten November nicht wieder gefüllt würde; denn er hatte herausgefunden, Literaturgeschichte im Sommer säure das Herz an.
»Und zu dieser Entdeckung haben Sie sechzig Jahre gebraucht?« spottete Tante Veronika.
»Hm,« machte er. Aber gleich war er wieder vergnügt; denn er hatte auch herausbekommen, daß er an Frau Do und ihrem Jockele recht eigentlich zum Leben genesen wäre. Und doch, von wem sonst hatten jene beiden es gelernt als von Tante Veronika? Also war Fräulein Sinsheimer für ihn der Brunnen aller Freude! Die Sache war in schönster Ordnung, und die Tage flossen in Heiterkeit dahin. Aber einmal kam ein Ereignis voll herrlicher Allgewalt – das hieß Henrik Tofte. Es kam nicht in eigener Person, wie man nach dem Ausdruck »Allgewalt« schließen könnte, sondern es kam in Gestalt von Zeitungsberichten, und kam aus dem [218] Märchenhaus. Aber es wirkte, als stürmte der nordisch blonde Skalde selber ins Häuschen und wuchtete die oberen Türpfosten heraus, weil sie zu niedrig waren für sein Hünenmaß …
Es war in jenem März, in dem Heidi das Frühlingskind vier Jahr alt wurde.
Bis dahin war Henrik Tofte für Do und Jo verschollen gewesen. Das hing auch damit zusammen, daß er Tinte und Feder für minderwertige Werkzeuge hielt. Zwei Jahre lang hatte es ausgesehen, als wäre er gestorben. Zwei Jahre? Ach, noch länger, als Richard Schaffrath brauchte, seine schlanke Frau Professorin in gründliche Reparatur zu nehmen. Aber nun war sie wundervoll ausgeputzt, und beide gingen ausgezeichnet. Schaffrath hatte reden gelernt und werben, wie sie es gern hatte. Und sie warf ihm ihr funkelhelles Herz zu, wie er es gern wollte. Aber eigentlich in Weimar war das nicht so geworden, sondern in Dresden. Dort hatten sie bei Arnold eine Ausstellung ihrer Bilder, die sie zu bewundertem Erfolge führte. Beide. Und von der Elbe zogen sie heim als Hochzeitsreisende und standen in voller Blüte. So blieb das nun.
»Und Henrik Tofte?« fragte man im Märchenhause, »habt ihr nichts von Henrik Tofte gehört?«
»Nein.«
»Ach, Henrik Tofte!« lächelte Kordula Meyer. Merkwürdig – seitdem das Institut für schwedische Heilgymnastik und Massage in Rom zu verblüffender Tatsache geworden war, seitdem konnte Kordula den Namen Henrik Tofte nicht aussprechen ohne elektrische Zuckungen. Etwa so, als ob sie sagte: »Kladderadatsch.«
Zwei Jahre gingen dahin, beinahe drei – Zeit genug, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen: »Henrik Tofte ist versickert im Staube der großen Stadt.«
»Sturmschwalbe du!« sagte Frau Do voller Wehmut. Es war ihr um diese Fülle von Kraft doch leid.
»Nun, am Ende wäre durch Rolf Krake etwas zu erfahren?«
Aber Rolf Krake hatte nicht einmal auf den Brief Dos geantwortet, den sie damals mit der Madonna in Rosen gesandt hatte. Er hatte nicht das Bedürfnis gehabt, herüberzurufen in die Welt der Menschen, und nicht das Bedürfnis, vom Märchenhause zu hören. Verstürmt – verschollen.
Einmal – einmal waren zwei Schülerinnen Richard Schaffraths nach Norwegen gereist. Sie waren an den Hardanger Fjord gekommen und hatten die Insel der Auferstehung gesucht und gefunden. Sie waren im Boot um das Eiland gesegelt. Es hatte in Rosen gestanden, in Rosen. Eine Wolke von rosa und roten Blüten hatte darübergeweht, Mauern von Rosen waren rings um die Inselkanten gezogen, die Dächer des Blockhauses hatten ausgesehen wie Frühlingswiesen – aber nur der liebe Gott hatte hineinzuschauen vermocht, Menschen nicht. Die beiden Malerinnen hatten versucht, vorn an der Stiege zu landen. Da stand es in den Stein gemeißelt: das Anlegen von Booten und das Betreten des Eilands wäre verboten! Nane Thord war herausgekommen und die blonde Marit. Sie hatten beide fremdartig gelächelt: Herr Krake? O nein, Herr Krake wäre für niemanden zu sprechen.
Und dann waren die Mädchen wieder nach Weimar gekommen. Einen Sommerabend lang erzählten sie unter der Ulme von der Roseninsel im Hardanger Fjord, und wie sie mit den spiegelnden Wassern so schön und zauberisch und traumhaft gewesen wäre. Man hätte zu atmen vergessen, solange man um dies blühende Wunder glitt …
Das war das letzte. Auch Rolf Krake war für seine Freunde verschollen.
»Nun, einmal werden wir ihn zum Leben erwecken,« sagte Jockele. »Ich weiß eine blonde Frau, die ihn errufen kann.«
»Vielleicht,« lächelte Do, »aber die blonde Frau will nicht! Ach, dies kluge einsame Herz versteht keiner besser als sie! – Rolf Krake ist gar nicht einsam,« sagte sie nach einer Weile, »für ihn ist das die Fülle des Lebens. Warum soll ich ihn aus seinem Rosengrab erwecken?«
Und Henrik Tofte?
Nun, der Herr Salzer verstand es schon, eine Zeitung zu lesen! Er saß an dem Fenster nach dem Garten hinaus, vor dem die »fliegenden Herzen« im Lenzwind schaukelten, und rückte die Hornbrille wiederholt sehr bedeutend. Tante Veronika saß an ihrem Nähfenster und hörte ihm zu: Henrik Tofte war nun nicht mehr das Genie, das dem lieben Gott aus der Hand gefallen, ehe es ganz fertig geworden war – war nicht mehr das Genie, in das von allen Gaben des Lichts und der Finsternis ein wahllos Übermaß hineingepackt worden war, nein: Henrik Tofte war der größte Maler des Jahrhunderts! Es stand da: seine Kunst wäre seherhafte Physiognomik, und er wäre ein aufrichtender und ausgleichender Deuter aller Dinge. Er war nicht Impressionist, nicht Kubist, nicht Pleinairist – es war nicht Raum für diesen Gewaltstrom zwischen Ufern, in denen sich die Wässerlein vom Berge recht hübsch ausschäumten oder zwischen denen sie recht wacker funkelten – sondern: seine Kunst wäre das vertiefende Gleichgewicht zwischen Form und Farbe, stand da zu lesen, und Henrik Tofte hätte sein Genie an den Alten gestärkt; in München zum ersten Male hätte er mit Eifer studiert – was man so nennt – und die skulpturale Abrundung seiner Figuren, das feinste Farbengefühl für die lebendige Masse und für die warmen Schwingungen der körperlichen Oberfläche – all das wäre in dieser Vollkommenheit vor Henrik [221] Tofte ein schöner Malertraum gewesen; in ihm aber wäre es Erfüllung geworden …
Das war die kleine Auslese aus dem dicken Stoß Zeitungen. Herr Salzer gab sie der Tante Veronika zum besten. Bei manchen der randgefüllten Sätze konnten sie sich viel denken, bei manchem weniger – was kam zuletzt darauf an? Das aber wußten sie beide: Henrik Tofte war ein ungeheures Ereignis geworden – ungeheuer, wie die Manierlosigkeit seiner Schöpfungen. Riesenflächen von Leinwand hatte er bemalt mit Leben. Und wer seine Bilder sah, der mußte empfinden: der das gemacht, hatte die Kraft, Chronik und Spiegel seiner Zeit zu sein.
Das war umfassend. Und danach stellten sich die beiden Alten am Buchenwalde vor, wie das aussähe: Chronik und Spiegel seiner Zeit.
»Na, da muß er ja reinweg einen ganzen Himmel bemalt haben,« sagte Tante Veronika in ihrer bedachtsam-lustigen Art. Und sie gab damit des berühmten Mannes berühmtem Werke gleich die nötige Ausdehnung an Fläche. Herr Salzer hinwiederum sorgte für den Gehalt der Bilder. So betrachteten sie das Ereignis in ihrem Häuschen am Walde aus der Ferne; denn man hatte aus der kleinen Stube einen Rundblick über die Welt – nicht zu sagen! Sie redeten von Henrik Tofte und seinem Leben; denn auch von diesem Leben stand in den Zeitungen: von dem Drama, das er einst selber gedichtet hatte; von seinen Eltern, die arme Webersleute gewesen; von seiner Lehrzeit als Anstreicher; von seinem Zwischenspiel als Zirkusclown; und von seinem Erlebnis mit King, Williams und Watson. Jawohl, Watson – und das war ein feines Kapitel! Sie redeten von der Löwenballade und von der Zugspitzpartie des Mister Johnny und vom alten Käse … es war nichts unwichtig auf der Bahn dieser neuen [222] Sonne. Und sie redeten von der Frage: wo sie augenblicklich kreise. Die Zeitungen wußten es nicht und rieten.
Danach schrieb Herr Salzer den Ertrag seiner Kunstbetrachtung mit Veronika in einem langen Brief an die Leute vom Märchenhaus. Und darunter schrieben sie: »Der Hügelmann und die Hügelfrau.« Und diese Namen verblieben den beiden Menschen für den fröhlichen Rest ihres Lebens.
Nachschrift: »Wo ist Henrik Tofte? Wißt ihr es nicht?« »Nein.«
Sein Ruhm war nicht über Nacht gekommen. Schon lange hatte er kleine Ringe geschlagen auf dem stillen Wasser seines Lebens. Tofte verkaufte ein Bild, wenn er Geld brauchte. Dann wurden die Leiter der großen und staatlichen Sammlungen auf ihn aufmerksam. Er verkaufte. Aber er blieb in der Stille seiner Werkstatt. Die Freunde vom Zigeunerbummel vergaßen ihn; die Helden der Löwenballade wurden berühmt oder verkamen – Tofte wußte es kaum. Er hatte keine Zeit. Denn was er erkannte, maß er, und es maß drei Jahre … Drei Jahre?
»Wo ist Henrik Tofte, wißt ihr es nicht?« fragten die Leute vom Märchenhaus Richard Schaffrath und seine Frau. »Nein.«
Die Ringe, die seine Würfe zogen, wurden größer. Immer mehr malte er und staffelte seine Werke vor die Wände seiner Wohnung. Er trachtete nicht nach Verkauf; denn er wußte: wenn er Geld hatte, mußte er dies Geld umbringen – und seine Frist maß drei Jahre!
Nach einigen Wochen erzählte eine Zeitung, Henrik Tofte wäre in Rom. Eine andere wußte es besser: er wäre in einer einsamen Alpenklause zwischen grünen Sommermatten, um seinen Augen Ruhe zu gönnen. Eine dritte sagte gar: er hätte in jungen Jahren zu rasch gelebt und wäre in einer Nervenheilanstalt. Eine vierte meinte, sie hätte den Stein [223] der Weisen gefunden: Henrik Tofte hätte die große Ausstellung im Münchener Glaspalaste noch geordnet, die drei Säle füllte, und dann wäre er geflohen vor den Bedrängnissen seines riesenwüchsigen Ruhms …
Sie wußten es alle nicht. Henrik Tofte saß in der Augenklinik des Doktors Pagenstecher in Wiesbaden. Saß in einem halbfinsteren Raume. Trug einen grünen Schirm auf der Stirn. Und ward blind. Ganz langsam fiel Finsternis in die hellen Brunnen seiner Augen. Ein Himmelswunder war das Licht für sie gewesen. An diesem Himmelswunder hatten sie sich zersehen. Noch war es nicht Nacht. Aber Henrik Tofte hatte gemalt bis in die späte Dämmerung. Und nun saß er in dem halben Düster seiner Krankenstube und sagte: »Doktor, warum fürchten Sie sich vor dem letzten Worte? Wissen Sie nicht, daß mir mein Freund, das Schicksal, dies letzte Wort schon im Garten des Märchenhauses von Weimar verraten hat, zu dem Sie nun nicht den Mut aufbringen? Wissen Sie nicht, daß in jenem Märchenhaus ein Vorhang von meinem ganzen rückwärtigen Leben dahinsank und daß ich von Stund an in dies Leben blicken konnte, solang ich es gelebt hatte, und daß ich erkannte: in meinen Augen liegt die Lösung des wunderlichen Rätsels, das Henrik Tofte heißt? O, ich bin nicht traurig, Doktor! Es haben sich alle Wunder der Erde und des Himmels in diesen hellen Brunnen gespiegelt in unerhörtem Glanze. Nun steh' ich dort, wo die Millionen der anderen stehen – was ist dabei traurig zu sein? Drei Jahre, oder sagen Sie: an jedem Tag, an dem ich malte, war ich begnadet wie keiner der Menschen. Soll ich nun traurig sein? Ich habe mein Werk getan, und, weiß Gott, ich war ein frommer und getreuer Knecht – mögen's die Menschen glauben oder nicht! Warum sitz' ich hier und lasse mir vorreden, ich sei krank?« Henrik Tofte war aufgestanden; [224] er riß den Schirm von der Stirn und schritt nach den dunkelblauen Vorhängen der Fenster und riß sie zurück. »Noch find' ich den Weg heim,« sagte er, »so lassen Sie mich gehen!«
In jenem Mai war das, in dem Heidi das Frühlingskind vier Jahre alt wurde.
Er reiste nordwärts und reiste in der Nacht. Des Tages schlief er in einem Gasthaus. Mit der Nacht zog er wieder aus. Am vierten Morgen kam er in den Hardanger Fjord. Da scheute er das Licht nicht mehr. An jener Haltestelle, wo der Arm nach Elde gegen Norden abzweigt, kannte man ihn. Er erzählte den Schiffern, wie es mit ihm wäre, lieh sich ein Boot, ließ sich hineingeleiten und ruderte auf den Wassern des heimatlichen Landes gegen Morgen. Er kam an Eilanden vorüber, er rief Schiffer an und fragte nach der Insel Rolf Krakes, wie weit es noch wäre. Und als er den Folgefond scheinen sah, wenn er das Antlitz gegen den Himmel bog, als könne nur so der volle Strom des Lichts in seine Augen sinken, da lauschte er, ob ein Rauschen in der Luft wäre. Denn jenen dumpfen Klang der Allmacht hatte er mit hinausgetragen über die Alpen und in seinen Ohren wieder zurückgebracht an die Isar: das Rauschen des Skjold.
So glitt er die Bahn der dunklen Wasser und kam vor die Roseninsel.
Es war die Zeit, in der sich die ersten Blüten erschlossen. Er sah sie nicht mehr, aber aus der Schründe rauschte der Fall des Bergstroms, und in der Luft hing der Atem der Rosen. Darum rief er Nane Thord. Er stand im Boot und hatte die Hände um den Mund gelegt. »Nane Thord!« O, das war nicht die Stimme des Schmerzes; denn an den Hängen lief der Ruf hin als ein Jauchzen. »Nane Thord!«
Da trat sie aus dem Haus und baute mit der Hand ein Dächlein über ihre staunenden Augen gegen die Nachmittagssonne, [225] daß sie das Wunder besser betrachten könne. Das merkte sie gleich: Henrik Toftes Ruf war voll von Heimatglück – es brach aus seinem Munde als ein Sturm. Aber wie er sich in dem Boote zurechtsetzte, wie er nach den Rudern griff und so langsam dem Klange von Nane Thords Stimme nachtrieb, das war tastend und war, als ob er nicht mit den Augen, sondern mit den anderen Sinnen sehe. Er bat sie, sie sollte herunterkommen auf die letzte Stufe und sollte reden; denn er müßte sie hören. Dann sagte er, sie sollte das Boot vollends heranziehen und an dem Pfosten festmachen und ihm die Hand herüberreichen – es fiele vom Tage nur ein mühseliger Schimmer in seine Augen. Und doch war er froh, so froh! »Nane Thord,« rief er und riß die alte Frau in seine Arme, »liebe Mutter Thord, wissen Sie auch, daß Sie nun nicht sterben dürfen, weil ich Sie immer um mich haben muß? Liebe, treue Mutter Thord!«
»Heiliger Gott,« sagte sie, »was ist da geschehen?« Sie sah ihn an: in seinen Augen waren die blauen Reifen der Iris noch blank wie Sommerhimmel. Aber die Pupillen lagen nicht mehr darin wie funkelndes Glas, in dem das große Strahlenmeer des Lichtes zusammenrinnt, sondern sie lagen dort wie schwarzer Sammet, matt und still und ohne Glanz. Sie waren auch größer als andere, die vor den ungedämmten Schein des Sonnenmittags gestellt sind; und es sah aus, als hätten sie sich geweitet in Sehnsucht, von dem Bilde der Heimatscholle so viel in sich zu trinken, wie sie vermochten.
Er hatte Nane Thords Hand gefaßt und ließ sich von ihr die schmale Treppe emporleiten. Da quollen Nane Thords Augen über in heißem Schmerz und in mütterlichem Glück.
Rings um die Insel lief eine Mauer aus rankenden Rosen. Die war drei Meter hoch und bildete am Kopfe der Stiege [226] einen Torbogen, der schon ganz erblüht war, weil er gegen Süden lag. Unter diesem Bogen hätte Henrik Tofte sich ein wenig neigen müssen; denn das Tor aus Rosen war nicht bestimmt für das Maß eines so hohen Mannes. Er aber löste seine Hand aus der Hand der alten Frau, legte seine Arme über die Brust wie ein Kreuz und beugte sich sehr tief. »Ich grüße mein schönes Grab,« sagte er, »und ich grüße mein schönes neues Leben.«
Darüber trat Rolf Krake in einem Mantel aus roher gelber Seide in die Tür des Hauses; denn die fremde Stimme hatte ihn gelockt. Henrik Tofte streckte ihm beide Hände entgegen. »Das große Licht!« rief der Einsiedler von der Roseninsel, »das große Licht nun in Wahrheit! Was ist das für ein herrlicher Ruhm, den Sie heimbringen!« Denn er hatte in den Zeitungen gelesen, wie der Klang des Namens Henrik Tofte durch alle Länder lief.
»Lieber Bruder Krake,« sagte der Heimgekehrte, »das große Licht? Ich komme mit zwei armen Fünklein in diesem Haupte, so winzig wie das Verglimmen des Dochtes, auf dem gestern eine Flamme gestanden. Empfange mich nicht wie einen Fremden, lieber Bruder; denn ich bin da, um mit deinen Augen zu sehen.«
Dann setzten sie sich auf die Bank neben der Tür, an die sich Rolf Krake bei der Nachricht gelehnt hatte. Es war ihm gewesen, als bräche das Verhängnis über seine gesicherten Grenzen, und er fand kein Wort, diesem Einsturz zu begegnen.
Aber es löste sich alle Dumpfheit des Augenblicks; denn Henrik Tofte kam als ein fröhlicher Sieger. »Warum bist du so schweigsam, mein Bruder?« fragte er. »Ist etwas weiser und gewaltiger im Himmel und auf Erden als mein Schicksal? Dies Schicksal allein hat gewußt, was mit mir [227] war. Da hat es dir und mir den Weg zu dem Eilande gewiesen, und es hat dich gesandt, daß du aus Fels und Klippe blühende Gärten schufst. Und es hat durch deinen Mund zu mir geredet vor vier Jahren, daß du hier auf mich wartest. Ich aber, habe ich den Becher meines Lebens im Licht nicht ausgetrunken wie ein König? Ungeheuere Reichtümer habe ich in diesem Leben aufgestapelt; ich habe errungen, was zu erringen war – und viel mehr. Und sollte nicht fröhlich sein?«
Henrik Tofte berichtete über die letzten Jahre. Er begann bei der Madonna in Rosen, und wie ihn die Erkenntnis der versickernden Brunnen in seinem Haupte so tief getroffen hatte, daß er dachte, er hätte die Sprache verloren und das Herz gefröre ihm in der Brust. Er berichtete alles bis zur Pforte des Eilands und sagte, wie wunderbar es wäre, daß Rolf Krake dafür vor Jahren den Namen der Auferstehungsinsel gefunden hätte; denn beiden wäre nun hier ein neues Leben geschenkt.
Danach ging er an der Hand des Freundes durchs Haus. Die Räume lagen zu ebener Erde, und die alten Gänge waren dem Heimgekehrten bald wieder vertraut. Sie schritten in den Saal – Henrik, Rolf Krake, Nane Thord und die blonde Marit – und es klang fremd und machte sie betroffen, wenn Henrik sagte: »Ich sehe …« »Ich sehe, daß es hier ganz anders geworden ist: der Klang der Tritte und der Stimmen ist nicht mehr wie früher.«
»Nein,« sagte Rolf Krake, »die Wände sind mit einem grauen Wollstoff bespannt, und auch der Fußboden ist mit diesem weichen Überzuge belegt. Hier zwischen den Fenstern hat die Madonna in Rosen ihren Platz gefunden. Und rings an den Wänden sind auch die Regale mit den vielen Büchern.«
Henrik betastete den blauen Sammetgrund, auf dem das Bild hing, und betastete den schweren Vorhang und die Schnur, an dem sich jener zur Seite ziehen ließ. Sie traten hinaus in den Garten. Die Wege waren so breit, daß zwei Männer nebeneinander wandeln konnten, ohne an die grünen Mauern zu streifen, zwischen denen sie dahinliefen. Die kleinen Mandarinenenten schaukelten auf dem Wasser wie schwimmende Edelsteine, in denen die Sonne spielt; oder sie flogen empor, richteten sich zum Dreieckflug und stießen weit hinaus über den Fjord, bis man ihren Ruf nicht mehr hören konnte.
Rolf Krake malte ihm jedes Bild, das sich an einer Wegbiegung für seine Augen öffnete. Er wählte dazu Worte von weichem Klang und warmen Farben, die nur dem zu Gebote standen, der dies ganze bunte Wunder zwischen Berg und Wasser hingedichtet hatte in beglückter Einsamkeit.
Es kam der Sommer und wehte seinen Glanz um die Insel, und es war, als wäre das blaue Tuch des Himmels offen darüber, und Rosen würden hindurch geschüttet: weiß und gelb auf die Spitzbogen und Pfeiler eines kleinen Tempels, der in der Mitte des Gartens stand – rot und rosa auf alle grünen Wände, daß sie aussahen, wie aus dem Purpur oder der Seide des vergehenden Tages gewoben.
Henrik Tofte lernte dies alles sehen durch die Augen des Freundes, wie er gesagt hatte.
Und in den einsamen Mann von der Insel, der nun im fünften Jahre mit keinem Schritt aus der freiwilligen Haft gewichen war, wuchs dies Erlebnis herrlicher hinein als er geahnt hatte. Damals aber, als Tofte kam, hing sich Rolf Krakes erster Gedanke wie ein neues Glied an jene Kette, mit der er vor langer Zeit gefesselt worden war. Er wähnte nämlich, von nun an müßte er die schwere Last von einst [229] wieder aufnehmen, und er könnte, trotz allem, seinem dumpfen Geschicke nicht entfliehen, ob er gleich wiche an das Ende der Erde. Er hätte sich nun sein Leben so erlöst gestaltet – da trete dieser unselige Fremde hinein und zertrümmere das beste Teil …
Aber es kam anders; denn es war der alte Rolf Krake gewesen, der so zu ihm gesprochen – jener alte, dem es immer gelungen war, niederträchtig zwischen ihn und das Glück zu treten und zu sagen: »Mann der Finsternis, was träumst du von einem sonnigen Leben?« Nun aber war es ihm zur Gewißheit geworden: jener Frühlingstag, mit dem Henrik Tofte kam, war seines Traumes Erfüllung geworden! In der Madonna in Rosen hatte er sich ein Sinnbild der schönen und heiteren Erde aufstellen wollen, die für ihn verschlossen war. Es war ein Bild gewesen, ein Bild. Nun aber hatte er einen Menschen gewonnen, der in Dankbarkeit und Freude um ihn war und der in ihm ebenfalls die Erfüllung erkannte. Für diesen Menschen war er der Brunnen des Lichts geworden in allerschöpfendem Sinne, denn er senkte mit seinen warmen gütigen Dichterworten nicht nur das Bild der Erde so lebendig in ihn hinein, daß es fast war, als tränken die erloschenen Sterne des Sehens das Leben wie einst – sondern er schenkte dem sinnenden Geiste des Genossen auch das Licht seiner Klugheit und seiner Bücher; er schenkte der dürstenden Seele die Träume der Weisen und Dichter und gab zugleich die Deutung. Er hob die Hülle für den Blinden von einer Welt, an der dieser in den Tagen des Lichts scheu und fremd vorübergestrichen war, weil er meinte: die Armut und Unbildung seines Elternhauses wären schuld daran, daß er diese fremden Gärten nie betreten dürfe.
So saßen sie in Zeiten, in denen der Regen über die Insel plätscherte, im Büchersaal und wanderten doch im Geiste [230] weite Wege der Wissenschaft und wanderten durch ferne Länder: zwei Menschen, die gar nicht voneinander konnten, wenn sie nicht elend werden wollten. Oder sie saßen in lauen Sommernächten draußen unter den Rosen. Henrik nahm die Gitarre und sang, und wie einst traten die Menschen drüben aus ihren Häusern am Lande, schritten auf dem Uferweg und lauschten, wie schön es war. Die blonde Marit und Nane Thord saßen dann bei den Männern am Tisch und rasteten ihre Hände von der Arbeit des Tages.
Henrik Tofte schritt nun allein bis an die Kante der Flut an jenem Ende, an dem die Mandarinenenten im Röhricht schliefen. Auch bei Nacht. Er stieß an keine Ranke, er streifte an keinen Zweig. Und wenn er des Abends in den Garten kam, so sprach er von dem leisen Lichte der Mondsichel, die auf den Flutterwolken des Himmels schwamm, oder er sprach von der Fülle des Glanzes der vollen Scheibe, als ob er sie sähe.
Des Morgens fuhren die Frauen noch immer hinüber und kauften ein. Oder sie ließen sich an Speis' und Trank aus den Städten schicken, wonach die Männer Lust hatten. Ehe Henrik Tofte gekommen, war es karger in Keller und Küche gewesen; denn Rolf Krake hatte die Hälfte seines kleinen Vermögens zur Ausstattung des Hauses und zum Aufbau der Insel verwandt, die beide sehr schön geworden waren. Und er hatte durch drei Jahre so viele Bücher angeschafft, daß Nane Thord das Geld dafür mit schwerem und immer schwererem Herzen eingezahlt hatte.
An jenem Tag, an dem Henrik eintraf, hatte der gesagt: »Ungeheure Reichtümer hab' ich in meinem Leben aufgestapelt« – er meinte aber nicht: an Geld. Daß er auch davon so viel besaß, um sich das Dasein äußerst behaglich zu gestalten, wußte er damals noch nicht. Zuerst war er eine [231] Zeitlang verschollen gewesen. Nicht einmal der Leiter seiner Ausstellung in München konnte ihn finden. Aber als es klar war, daß die Insel im Fjord seine Heimat wäre für und für, sandte er Botschaft hinaus – nur daß er blind wäre, sagte er nicht. Es fand sich, daß bei der Bayerischen Vereinsbank in München ein Betrag für ihn eingezahlt war, der zweimalhunderttausend Mark überstieg. Das war der Erlös aus seinen Bildern. Etliche große Gemälde waren noch im Glaspalast.
Als es gegen den Herbst ging, arbeitete er mit Rolf Krake im Inselgarten. Er löste die Weidenbänder von den Rosen und bog die Stämme an die Erde. Er schaufelte sie mit dem weichen Boden zu, gegen die Kälte des Winters. Oder er legte das Deckreisig darüber, das in Schiffen hergefahren worden war. Er grub die Erde, er tat alles, als ob er sähe. Und so ging durch die freudige Siedelei keine Stunde mit leeren Händen.
Der erste Schnee fiel.
Auf diese Zeit hatten sie gewartet. Da wollten sie für die Leute im Märchenhause die Frage lösen: Wo ist Henrik Tofte?
Als der Brief in Weimar eintraf, da war es, als träte Henrik Tofte selber herein mit seinen erloschenen Augen – so erschraken die Freunde. Aber auch in ihnen löste sich die dumpfe Schwere der Stunde; denn es klang aus jeder Zeile der Ruf: »Sollen wir nun nicht fröhlich sein?« Ein Brief? Ach, es war ja kein Brief. Es war ein Buch, an dem Rolf Krake die erste weiße Woche des Winters geschrieben hatte; es war das Buch mit den Ereignissen von fünf Jahren. Nur Inseleinsamkeit, nur Auferstehungsglück – aber gerade deshalb gehörte ein Buch dazu.
An diesem Abende saßen sie im Wintergarten des Märchenhauses – Do und Jo, Schaffrath und Gwendolin, Kordula [232] und Cornelius – saßen um den plätschernden Springbrunnen und lasen bis weit über die Mitternacht. Am anderen Tage riefen sie Tante Veronika und Herrn Salzer. Aber der Hügelmann kam allein, denn um die Tore des Waldes fuhr ein harter Wind und säete Novemberschnee.
Herr Salzer, der einige Verbindungen mit großen Zeitungen besaß, berichtete des Rätsels Lösung augenblicklich in die Welt. So jäh fiel die Nachricht auch in ihn, daß er gleich am Pulte Jockeles ins Schreiben geriet; »denn«, sagte er, »ich habe daheim mein Tintenfaß noch in der Sommerfrische.« Und nun erfuhr man draußen, daß Henrik Tofte nie mehr ein Bild malen würde. Damit leistete er dem blinden Mann im Fjord einen großen Dienst, denn das Wenige, was noch von ihm im Glaspalast hing, wuchs im Preise, wuchs, wuchs. Als es Henrik Tofte erfuhr, fragte er allen Ernstes: ob er sich denn nicht schämen müßte, dies sündhafte Geld anzunehmen für Dinge, die schon weit dahinten lägen in dem vergangenen Leben! Er hatte seintag keine Wage gehabt für das Gewicht des Goldes. Und nun, da andere für ihn rechneten, und da er nicht einmal mehr in seine Tasche langte, um ein Tüblein Farbe oder einen Apfel zu erstehen, nun war ihm auch der Gedanke an das Geld abhanden gekommen. Ja, solch ein König war er geworden!
Im Ausgange jenes Winters beendete Jakobus seinen Roman.
Aber wie er während der langen Zeit kaum einmal vor den Freunden von den Gedanken gesprochen hatte, die ihn bewegten, so blieb es auch jetzt. Märchen und Kinderverse für Heidi hatte er viele gedichtet, und die kannten sie alle; denn er hatte auch Zeichnungen oder gar bunte Bilder dazu gemacht, und das Kind hatte das meiste in seinem Gedächtnisse [233] behalten. Es erzählte Mama die schönen Geschichten, wenn sie mit ihr im Garten saß. Oder es dichtete den Wintergarten in der rauhen Jahreszeit schon selbst zu einem tiefen Wald und die Blumenbänke zu dem Hexenhause der Buschgroßmutter.
So hatte Jakobus in den erblühenden Geist eine Fülle köstlichen Samens gelegt, und es war zu sehen, wie herrlich dieser in dem Segen wuchs, der ihn umschien. –
Ob Do, die Vertraute seines Herzens und seiner Pläne, von dem großen Dichtwerke ihres Mannes mehr wußte als die Freunde, ließ sich von diesen nicht erraten. Jedenfalls drang sie nie in ihn. Sie dachte, es wäre wohl die rätselvolle Seele des Rolf Krake, die ihn beschäftigte, oder das traurig-glückselige Los des blinden Königs Henrik Tofte, das ihn zu dichterischer Gestaltung verlockt hätte. Sicher wußte sie nur, daß auch sein eigenes Leben für ihn nun ein rechter Dichtertraum geworden war; denn er sprach mit ihr in jener Zeit mehr davon als je. Vor allem die Waldjahre von Ibenheim hatten sich für ihn schon mit dem Funkelglanze der Phantasie umwoben. Oft schien es, als wisse er kaum noch, was an ihnen gesehen oder Gesicht war; und seine Erzählungen glichen der Wirklichkeit wie ein brennender Weihnachtsbaum einem Tännlein im Walde.
Wenn er dann an den musikalischen Donnerstagen nach der Abendmahlzeit berichtete, so erkannten sie alle, wie heimisch sein Herz in den Gärten der Dichtung geworden war, und in wie tiefer Glückseligkeit es darin blühte.
Aber das Geschriebene den Freunden vorzulesen, dazu brachten sie ihn nicht. Fast sah es aus, als hätte er eine Scheu, sich ihnen auf den neuen Bahnen zu offenbaren – entweder weil die wissenschaftlichen Werke noch hüben und drüben wuchsen, oder weil er sich selbst noch für zu jung hielt, als [234] Dichter etwas leidlich Vollendetes zu schaffen; oder auch, weil er den Ereignissen nicht vorgreifen wollte, die sich im Leben der Freunde vom Hardanger Fjord vor seinen Augen erfüllten.
So verschloß er dies Werk in sich, ganz gegen seine Art. Und als Salzer eines Abends im Märchenhause zu Gast war und mit Gwendolin ihn um sein Geheimnis bestürmte, entwischte er doch und sagte: »Es muß erst auf der schönen Frühlingsfahrt ins Riesengebirge vor mir selber die Probe bestehen.«
Ja, die Wagenfahrt über die hundert Meilen! Das war der Traum, der von ihm durch Jahre geträumt war und der lieblicher wurde, je länger er sich dahinspann.
Es waren dazu aber auch sehr umfassende Vorbereitungen nötig – nicht an jenen Dingen, die sie mitnehmen wollten in ihren Koffern. Die waren an einem Tage geordnet. Sondern es war Klein Heidi, ohne die der strahlende Vater durchaus nicht reisen wollte. Es war lustig anzusehen, mit welchem Eifer er das kleine goldhaarige Menschenkind für die lange Waldfahrt an Herz und Verstand ausrüstete.
Professor Salzer, der Herr nach der Mode, neckte ihn mit dieser Reise weidlich; denn er begriff nicht, warum ein Mensch von so leuchtenden Gaben mit dem Aufgebot aller Kraft in die Gebräuche des Mittelalters zurücksegeln wollte. Herr Salzer konnte in solchen Augenblicken wissenschaftliche Vorträge halten! Er hatte das mehrfach bewiesen – auch damals, als Gwendolin in der Bedrängnis ihres Herzens auf dem Bette lag und weinte und der Herr Richard Schaffrath den Werbebrief in der Brusttasche trug. Das hatte Herrn Salzer Gelegenheit gegeben zu einer Erörterung über den Begriff Tragikomödie und über einen lustigen Einfall des Plautus …
Vor der Hochwaldfahrt in der Kutsche schnitt ihm Jockele den Faden seiner Rede aber kurzerhand ab. Er behauptete: der Herr Salzer wäre gar nicht der einzige, der eine solche Reise für hervorragend hirnverbrannt und altmodisch hielte. Aber sie wären alle auf falschen Wegen; denn die Jockelereise wäre das neueste und wäre so neumodisch, daß sie für diese Zeit überhaupt noch um reichlich fünf Jahrzehnte verfrüht wäre! Erstens müßte das Automobil für Vergnügungsreisen überwunden werden. Nun, das würde in einer kleinen Frist Tatsache geworden sein. Es könnte doch kein vernünftiger Mensch meinen, daß eine Fixfahrt zwischen Staub, Stank und Sturm zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehöre.
Hm. Herr Salzer konnte dagegen nicht viel vorbringen. Er hatte sich dies Vergnügen einige Male geleistet. Aber als er mit einer mächtigen Panne sieben Stunden im Regen auf dem Thüringer Walde gelegen hatte, fern von jeder menschlichen Siedlung, hatte das Automobil als Lustfahrzeug wesentlich für ihn eingebüßt. Nach dem Automobil käme die Flugmaschine. Auch darin würde man spazierenfahren – natürlich. Aber so um 1940 herum – ermaß Jakobus – würde das friedliche Zweigespann mit behaglichem Polstersitz zu den Gepflogenheiten aller jener Menschen gehören, die es verstünden, in weisem Behagen wohlhabend zu sein. Zu solch einer neumodischen Sache gehörten freilich vier Dinge, sagte Jakobus: Zeit, Gemüt, Weisheit und Geld. Da diese vier Brüder aber nicht leicht in einem Wagen zusammenzubringen wären, bespöttelten die Menschen mit Zeit und Geld das »vorsintflutliche Vehikel«. Jockele aber hielt es mit dieser »Dichterkutsche« und sagte, schon der Gedanke an solch eine Reise beselige ihn wie die Maiensonne die Felder. Wenn er dichte, brauche er sich nur vorzustellen, er schaukele in einem [236] weichen Wagen hinter zwei trabenden Pferden durch einen Bergwald …
Natürlich bemerkte Herr Salzer: schade, daß er das nicht früher gewußt hätte. Das Dichten wäre danach eine sehr einfache Sache, und er hätte wohl selber –
So spottete man weidlich. Aber es war nicht unzeitgemäß; denn das Märchenhaus ward getauft in jenen Jahren, in denen das Leben, das man darin führte, vor der Welt rar war wie Erdbeeren im Winter.
Das konnte selbst der neumodische Herr Salzer nicht von der Hand weisen. Und Jockele blieb der Sieger im Kampf.
Herr Salzer kam immer ein bißchen nachdenklich aus dem Märchenhaus vor die Tore des Waldes. Diesmal aber hatte er so viel erlebt, daß er der Tante Veronika gelobte, er wolle ein besserer Mensch werden, und er hätte das unfehlbare Rezept dazu gefunden.
Ob er es ihr nicht verraten wollte, fragte Fräulein Sinsheimer.
»O,« sagte er, »man knetet Gemüt, Geld, Zeit und Weisheit gut durcheinander und bäckt sie in einer Dichterkutsche bei mäßiger Sonne.«
»Ach,« lächelte Tante Veronika, »das hab' ich schon längst gewußt; denn danach hab' ich den Jakobus für sein Dasein zurechtgemacht.«
Fast die ganze nächste Woche hindurch erzählte Herr Salzer von Heidi dem Frühlingskind. Es wäre ganz unbeschreiblich, welch ein liebes herziges Wunder solch ein kleines Mädel ist …
Und in diesem Fall erlitt der alte Herr keine Abfuhr; denn Heidi war in der Sonne des Märchenhauses gewachsen wie ein schöner Frühlingstag im Herzen des lieben Gottes. Ihretwegen war die Wagenfahrt solange hinausgeschoben worden; [237] Heidi sollte aufgeschlossen und mit der beseligenden Gabe vor die Welt treten, sich an allem zu wundern; denn es gibt nichts Kurzweiligeres im Leben, als sich zu wundern.
Eine Woche danach jubelten Himmel und Erde. Da ging die Sache los.
Hinter dem Wagen war eine Gepäckraufe angelegt für einen einzigen Koffer. Weiteres Gepäck war an bestimmte Haltestellen auf dem Reiseweg vorausgesandt. An diesen Stellen wurden alle verbrauchten Stücke aus dem Koffer ausgewechselt und liefen von dort ab zurück in die Heimat. So wurde die Reise selbst zu einer breiten Behaglichkeit – man denke: die Reise selbst! Aus der Last wurde eine Lust, aus der Hatz ein fröhliches Rasten, fast ununterbrochen in stilldurchsonnten Bergforsten. Regnete es einmal, so ward der Wagen zu einem heimeligen Stübchen, an dessen Fenstern die Tropfen spielten. Hatte man Lust zu wandern, so ließ man die Pferde des Weges trotten, schlug sich hinüber auf einen freundlichen Pfad im Hochwald, und Klein Heidi konnte den Frühling in beiden Fäusten halten. Ward sie über Tag müde, so schlief sich's daheim in ihrem Bettchen nicht halb so schön wie in den sanft dahingleitenden Polstern, über die sich die blaue Seide des Himmels deckte. Und wenn der Abend dämmerte, kam man zu dem im vorhinein bestimmten Gasthause. Da standen die Zimmer blank und gerüstet, da wartete ein Mahl, und da wartete die Genugtuung über den herrlich hinabgeblühten Reisetag; denn es wickelt sich auf der ganzen Welt nichts behaglicher und mit schönerer Pünktlichkeit ab als die wohlbedachte Fahrt in solch einer Dichterkutsche.
Das ist ein Ding, von dem die fixe Zeit und das jappende Menschenherz seit anderthalbhundert Jahren die Wissenschaft verloren haben.
So kamen sie in die Waldstille des Fichtelgebirges. Sie kamen am fünften Tage zwischen Keilberg und Fichtelberg auf die Kammstraße des hohen Erzgebirges, und die Rösser traten auf der breiten Bahn in Sonne und Bergwind. Wieder fünf Tage – da durchquerte man das Elbsandsteingebirge mit seinen zerklüfteten Felsen und setzte bei Herrnskretschen über den Strom. Man gelangte ins Zittauergebirge, ins Isergebirge, ins Riesengebirge. Sie kamen am Hohen Rad vorbei und sahen die Elbquellen. Sie standen auf der Schneekoppe und kamen durch finstere Forsten, in denen die Fichten so wohlbetagt sind, daß sie ihre Bärte auf der Erde schleppen. Sie strichen vorüber an der »Kanzel Rübezahls« bei der Schneegrubenbaude; und weiter ging es die Kammstraße lang nach dem Zackenfall. Ihre Herzen wurden Säle, und diese Säle füllten sich mit schönen lichten Bildern, vor deren jedem man ruhen konnte, wie Rolf Krake ruhte vor der Madonna in Rosen. Sie rasteten noch einmal zur Nacht in dem Städtchen Freiheit, wie es vorausbestimmt war – es war nur eine halbe Stunde von ihrem Reiseziel Johannisbad entfernt. Aber sie rasteten und gelangten ins Johannisbad so sauber, so froh, so erdselig, als wenn sie sich daheim im Märchengarten nach süßestem Schlummer an den funkelnden Frühstückstisch setzten. Und Johannisbad war in den Bergwald gefallen wie das Bild eines Sterns in einen dunkelgrünen See.
Ja, so war diese Fahrt in der Dichterkutsche.
Sie dauerte fast den lieben fröhlichen Mai hindurch. Aber es war der köstlichste Frühling, und war so köstlich, daß kein Dichtertraum hinreicht, dieses Erleben zu schildern.
Sie hätten in ihrem Reisewagen auch in der halben Zeit am Ziele sein können, ohne die Pferde zu wechseln. Aber Jockeles Zigeunerherz hatte sich vorgesetzt, drei Monate also [239] durch die Welt zu gleiten, den Frühling erblühen und vergehen, den Sommer heraufkommen und reifen zu sehen geradeswegs aus der Hand Gottes und in langsamen bunten Bildern …
Die Menschen, die von dieser Reise lesen, meinen: so etwas wäre nicht auszuhalten; in solch einer Dichterkutsche müßte man ja vor Langeweile sterben! Aber: sst, lieber Leser und geliebte Leserin – wie furchtbar altmodisch ist solch eine Anrede wieder mal mitten in der Erzählung, gelt? – sst, sag' du das nicht, lieber Leser! Denn du möchtest doch zum mindesten jenen Menschen ähnlich werden, die mit den vornehmen Herrschaften Zeit, Geld, Gemüt und Weisheit durchs Leben fahren; aber solche Menschen haben nie Langeweile – Langeweile haben nur Dummköpfe …
Es war Ende Mai geworden. Aber die Tage im Wagen waren nun doch rasch vergangen; denn Klein Heidi riet an Gott und der Welt herum und tat, als müßte sie alle Rätsel des Daseins lösen. Sie wollte wissen, wie lang die Wälder wären, und was hinter dem blauen Tuche des Himmels ist, und wie die Wege über den Sternen aussehen, und ob der liebe Gott auch eine Dichterkutsche hätte, und ob die kleinen Engel mit den Sternen Fußball spielten oder Wurfball, und ob sie auch so schöne Musik machen könnten wie die Kurmusikanten von Johannisbad, und ob Rübezahl auf der Kanzel bei der Schneegrube Sonntags eine Predigt hielt, und ob dann die Riesen kämen und ihm zuhörten …
Manchmal mußte Do diese Fragen beantworten, und manchmal Jockele. Und es kam dabei heraus, daß Eltern furchtbar gescheite Leute sein müssen, wenn sie solch ein kleines Menschenwunder nicht heißhungrig vom Tisch ihrer Weisheit aufstehen lassen mögen.
Aber sie standen beide ihren Mann. Frau Do kam dabei meist mit ihrem natürlichen Verstand aus – der Herr Doktor aber mußte eine geradezu unnatürliche Findigkeit aufbieten.
Es gelang ihm betörend. Auch Mama hörte da gleich mit zu; und Heidi lehnte mit weitoffenen Augen zwischen Väterchens Knien und konnte gar nicht erwarten, bis die wunderschönen Weisheiten wohlbedachte Worte waren. Sie verstand alles herrlich, so herrlich, daß sie behauptete, Papa könnte ebensogut der liebe Gott sein und die Welt regieren. Dabei fiel ihr ein, wie das eigentlich gemacht würde, dies Regieren?
Man kann sich vorstellen, daß ein findiger Verlag auf den Einfall käme, ein hundertbändiges Lexikon herauszugeben, in dem immer nur vom Weltregieren die Rede wäre, und an dem die zehntausend besten Gelehrten der Welt hundert Jahre zu arbeiten hätten – Jockele aber mußte diese Aufgabe in einem halben Nachmittage lösen! Es gelang; doch stand er hernach tief erschüttert und sagte: seine mündliche Doktorprüfung wäre dagegen ein Kinderspiel gewesen.
Schon allein daraus ist zu erkennen: langweilig ist es in einer Dichterkutsche keineswegs.
Aber Klein Heidi war nur ein Teil der Reisegesellschaft und Reiseaufgaben, wenn auch der lieblichste; denn da war noch das Werk über die Flechten; da war der Roman; da war wiederum Heidi, das Märchenkind; da waren der Hügelmann und die Hügelfrau, die im Geist an der Fahrt teilnehmen wollten; da waren ferner der Herr und die Frau Professor Schaffrath, Kordula und Erich Meyer, der blinde König und sein Freund Rolf Krake, die immerfort in der Auferstehung begriffen waren – kurz: wenn die Reise nicht so lang gewesen, wäre es gar nicht gegangen.
Vier Stunden der Tagesfahrt brauchte Heidi allein zur Vervollkommnung der Wertschätzung ihres Papas. Wenn er [241] ihr zwanzig Märchen erzählt hatte, wollte sie wissen, ob es tausend gäbe, und ob er sie nun alle erzählt hätte, und er sollte doch gleich noch mal von vorne anfangen, und bei jedem neuen wollte sie einen Knoten in die Schnur ihres Nastuchtäschleins knüpfen, damit kein Irrtum entstehe …
So lief das weiter. Und so ging die Fahrt herum. Rübezahl und Papa traten für die Kleine allgemach an die Stelle des lieben Gottes.
Abends schrieb Jockele manchmal noch einen Brief in den Hardanger Fjord, ans Horn oder an die beiden Alten im Frühlingshause; denn eigentlich müde wurde man ja von diesem neumodischen Reisen nicht, sondern nur ungeheuer wohlig und ausgeruht. Was daher kam: man hatte sich ganz voller Himmel und Hochwald geatmet.
Da passierte etwas. Es passierte etwas ganz Unerhörtes.
Als die Dichterkutsche hinter Oberwiesenthal auf die Kammstraße des Erzgebirges rollte – das war also am fünften Tage nach der Ausreise – bekam Herr Salzer das Fieber.
Einen Tag lang trug er es schweratmend mit sich herum. Am nächsten Morgen fand es sich: auch die Tante Veronika war angesteckt worden. Salzer, der sogar einen grauen Zylinderhut riskiert hatte, wollte unter keinen Umständen hinter der Zeit dreinhinken. Er stellte also fest, daß ihre Krankheit das Reisefieber wäre. Das ließe sich nur heilen, wenn sie schnurstracks einen Wagen nähmen und hinterdrein führen.
Weiß Gott, die Sache wurde gemacht!
Als die Dichterkutsche ins Isergebirge einbog, setzten sich die Rösser vor der zweiten in Ibenheim am Walde in Bewegung. Tante Veronika diesmal in einem neuen grauseidenen Umhang, den ihr Herr Salzer gestiftet hatte, in einem silbergrauen Kapotthütchen mit veilchenfarbenen Bindebändern [242] und mit dem gelben Krückstock. Und Herr Salzer im grauen Zylinderhut. Es war außerordentlich.
Den Reiseweg wußten sie auswendig; denn so an die drei Jahre hatte Jockele den gelehrten Freund daran in Begeisterung gehüllt. Also.
Natürlich hatten die Drei in der ersten Dichterkutsche von der zweiten keine Ahnung. Sie fuhren dahin, als wäre die ihrige ganz allein auf der Welt. Die Alten hatten es ein bißchen eiliger, und auch sie fanden die Reise kurzweilig. »Herrlich, herrlich!« sagte Herr Salzer und rollte seine Augen auf dem grünen Tuche der Matten und Bergwälder und auf dem blauen des Himmels herum, als wären sie ein paar blanke Billardkugeln. Herrlich! Herrlich!
So langten sie auf dem gleichen Wege in Johannisbad bei Freiheit im Riesengebirge an. Es war ein großes Ereignis. Alle zweihundertzwanzig Einwohner des Ortes nahmen daran teil.
»Heidi! Heidi, die Großmama ist gekommen!«
Ja, lieber Gott, wo ist denn das Kind? Es flatterte doch so aufgetan um die Mittagsmusik am Kurbrunnen!
»Heidi! Heidi!«
Kein Mensch wußte, wo Heidi war. Aber ängstlich war man gar nicht; denn das kleine Fräulein im blauen Röckchen lächelte alle Finsternis der Erde hell.
Tante Veronika brauchte ein Viertelstündchen Mittagsschlaf. Und da es gerade ihre Zeit war, geleitete Frau Do sie auf ihr Zimmer und sagte, sie solle nur recht hübsch sorglos schlafen.
Als Do wieder herunterkam, war Heidi immer noch nicht da. Ein kleines Mädel sagte: »O, die Heidi ist vor einer Viertelstunde in den Wald gelaufen, dort beim hohen Steig hinan. Sie hat im Sommergrase gestanden und hat mit den Schmetterlingen geredet.«
In den Wald gelaufen? Na!
»Jo,« sagte Do, »ich werde nun doch ein bißchen ängstlich.«
»Ach lieber gar – das gescheite Mädel.«
»Ich kenne das,« sagte Do. »Sie redet mit Schmetterlingen und Vögeln und mit blitzenden Bächlein; sie versteht ja all diese Sprachen von ihrem Papa her …«
Keine drei Minuten vergingen, so hatte der Herr Salzer seinen grauen Zylinder aufgestülpt, griff in der Hast nach Tante Veronikas Krückstock, der da am Tisch im Kurgarten lehnte, und hüpfte hinter Do und Jo den hohen Steig entlang gegen den Waldrand.
Es schwammen Schmetterlinge in der Mittagssonne – Heidi nicht.
Es sangen Drosseln, es sangen Grasmücken – Heidi nicht.
Es plauderte ein Bächlein zwischen den Blütenköpfen dahin – Heidi nicht.
»Heidi! Heid – di! Heiei – diih!«
Ja, vor einer kleinen Erdenfrist war die Heidi dort gewesen! Man konnte noch die Füßchen im Grase sehen. Aber da kam ein Schwalbenschwanz am Waldrande daher gesegelt – es war, als schwämme er auf der Kurmusik, die man ganz traumhaft bis hier herauf hören konnte.
»Wo fliegst du denn hin?« fragte Heidi den Sommervogel in dem schönen gelben Kleidchen mit den schwarzen Streifen und blauen Tupfen darauf.
Der Schmetterling sagte nichts, bog in den Wald und winkte so mit den Flügeln. Da ging Heidi ein bißchen hinterdrein.
Auf einmal – da zog ein Trauermantel um einen silbernen Birkenstamm. Der hatte ein Röckchen aus dunkelbraunem Sammet an, funkelnagelneu, und mit hellgelben Borten.
»Ei, du bist ein kleines Mädchen wie ich,« sagte das himmelblaue Menschenkind; »denn die Buben bei den Trauermänteln tragen Kleider aus schwarzem Sammet. Darf ich mitkommen?«
Der Trauermantel winkte mit den Flügeln und flog über den Bach.
Plötzlich konnte das Bächlein reden und sagte: »Guten Tag, Heidi Sinsheimer. Komm, spring ein bißchen mit mir den Berg hinunter. Wir laufen zur Buschgroßmutter!«
»Meinst du auch, daß ich mich wieder heimfinde von solch einer langen Reise? Du mußt doch bedenken, daß ich noch ein recht kleiner Mensch bin.«
»Haha,« lachte das Bächlein, »nichts leichter als das! Du brauchst nur immer an meinem Ufer zurückzulaufen, bis du zu der weißen Birke kommst; von dort führt das Pfädlein aus dem Walde.«
Ein Stückchen ging Heidi mit. Das Bächlein plätscherte so herrlich um die Steine. Da sangen sie ein Lied miteinander, und Heidi pflückte im Wandern und Singen ein Händchen voll Vergißmeinnicht. Und da sie an einen Mooshang gelangte, setzte sie sich hin und wollte ein Kränzlein winden … winden … la … la … l …
Auf einmal guckte ein liebes kleines Gesicht über den Spiegel des Baches heraus. Das sah genau aus wie Heidis Gesicht, das sie vorhin darin gesehen hatte, und hatte so goldene Härchen und so zwei Augen voller Frühling.
»Heidi,« sagte das Kleine, das da über den Bachrand guckte, »paß auf, jetzt kommt gleich der Elfenzug durch den Wald!«
Und schon ging es los. Es war eine sehr merkwürdige Geschichte; denn es kam mitten auf der silbernen Straße des Bächleins daher: hundert Elfen, oder tausend, oder eine Million – das wußte Heidi nicht so genau. Aber es waren [245] lauter Elfen in herrlichen bunten Kleidchen. Hohe Stengel rosaroten Fingerhuts schwangen die ersten und klingelten damit, daß die Luft wackelte. Dunkelrotes Löwenmaul trugen die anderen und Mohnblumen, und dann kam ein schöner junger Elfenjunge mit braunen Locken, der spielte auf einer Hirtenflöte, wie sie jener Knabe beim Schneebruche geblasen hatte. Danach marschierten sie alle im Takt und marschierten hinüber auf die Waldwiese, die an dem Berghange lag. Viele winkten dem kleinen Mädchen am anderen Ufer: »Heidi! Heidi, komm mit! Weißt du denn nicht, daß Herr Rübezahl heute Hochzeit hält?«
»Ah,« sagte Heidi, »das trifft sich ja großartig! Natürlich komm' ich da mit. Aber ein bißchen will ich noch warten und dem langen Zuge zugucken – es sind ja eine Million.«
Es kamen immer mehr, und sie schritten im Takte der Pfeife. In der Mitte des Zuges ging ein schönes weißes Pferd, und darauf saß ein wunderschönes Jungfräulein. Das war die Braut. Sie hatte ein seegrünes Schleierkleid an, und das Haar fiel ihr über die Schultern wie gesponnenes Mondlicht.
Ein Mann führte das Pferd am Zügel über alle Fährnisse. Der hatte einen so großen Bart, daß er ihm bis auf die Bergschuhe hinabfiel. Und in der Hand hatte er einen mäßigen Fichtenstamm als Spazierstock.
»Ist das der Herr Rübezahl?« fragte Heidi.
»Natürlich! Und du bist wohl gar ein richtiges Menschenkind, weil du den König der Berge nicht kennst?«
»O,« sagte Heidi, »kennen tu ich ihn schon. Ich kenn' ihn sogar sehr gut. Aber, nicht wahr – wenn man einem Bergkönig zum ersten Male begegnet –«
»Komm mit, komm mit!« sagten die Elfen, und warfen ihr Blumen herüber; die sprangen dem kleinen Mädchen an die Nase oder auf die Stirn und waren kühl wie Morgentau.
Dann ging sie mit und ging richtig im Takte der Pfeife, die nun von ganz fern über den Hügel herüberklang. Sie lief auch rasch einmal zu dem weißen Pferd und warf der schönen jungen Elfenbraut ihre Vergißmeinnicht in den Schoß. Da nickte die sehr lieblich und königlich. Und Heidi machte ihr einen feinen Knicks.
Nach einer Weile kamen sie auf eine kleine Wiese im Walde. Dort stand ein Himmelbett aus blauer Seide, und oben auf dem Himmel saßen zwölf Engel und wackelten mit den Flügeln.
Auf einmal erklang eine mächtige Stimme. Nämlich: der Herr Rübezahl hielt eine Rede …
Es war aber gar nicht der Herr Rübezahl, sondern es war der Herr Professor Salzer, der hatte den gelben Krückstock in die Erde gestochen und den grauen Stoffzylinder daraufgestülpt, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Na, Heidi, was ist dir denn eigentlich eingefallen?«
Und neben ihm standen Papa und Mama und eine große Menge Menschen aus Johannisbad, dazu die halbe Kurmusik; denn als es ruchbar geworden, daß Heidi weg wäre, die der Liebling aller war, kriegten sie das Suchen und stürzten gegen den Wald, als wäre dort ein Luftschiff niedergegangen und sie müßten es besehen.
Und nun tat Heidi die Augen auf und sagte: »O, jetzt seid ihr gerade zu spät gekommen! Nämlich, der Herr Rübezahl hat heute Hochzeit und eben ist der ganze Zug hier vorübergeschritten.«
Eigentlich wollte Mama ein bißchen schelten. Aber nun ging das nicht. Es gab nur Küsse, und der Großpapa Salzer hatte ihr noch etwas sehr Schönes mitgebracht.
Ein Glück war, daß Fräulein Sinsheimer die ganze Aufregung verschlafen hatte.
Einmal im August, als schon die Linden tief drinnen im Astwerk die ersten goldenen Blätter aufsteckten, war der ganze Freundeskreis wieder im Märchenhause versammelt. Auch die Tante Veronika war mit aus Ibenheim gekommen. Sie hatten die fröhliche Heimkehr gefeiert, und Herr Salzer war Festredner gewesen. Zwei Stunden war ihm Frist gesteckt worden dafür – das war lange. Aber es ist zu bedenken, daß er über die Erlebnisse zweier Dichterkutschen und über Rübezahls Hochzeit und die schöne Elfenbraut im seegrünen Schleierkleide und über ein Himmelbett mit zwölf Engeln zu berichten hatte …
Es war schön. Es war atemberaubend schön. Es war so springlebendig, daß sie meinten, sie machten die Reise in dieser Nacht noch einmal. Aber nun waren es vier Dichterkutschen.
Als Herr Salzer fertig war, waren sie noch lange nicht müde, und Gwendolin bat: »So, Jockele, und nun lies uns deinen Roman.«
»Das nächste Mal,« sagte er, »es ist ja gleich Mitternacht.«
Da schlugen die Uhren.
Im Verlag Ullstein & Co, Berlin , erschien ferner in der Sammlung der Ullstein-Bücher von
Max Geißler
Jockele
und die Mädchen
Ein Buch der Jugend ist dieser erste Jockele-Roman
Geißlers und ein Buch der genialischen Lehrjahre,
durch die der schwarzlockige Jakobus Sinsheimer,
Kunstschüler in Weimar und Student in Jena, zum
Manne reift. Kluge und törichte, blonde und dunkle,
sanfte und ausgelassene Mädchen begleiten das
verhätschelte Naturkind. An die rauschende Ilm
versetzt der Roman, in den Weimarer Stadtpark,
ins Liszthaus, nach Tiefurt, Belvedere und
Ettersburg. Allen Reiz der Erinnerung macht
er lebendig, der für die deutsche Andacht
diese Stuben und Gärten umklingt, und der
traulich hinüberspielt in die Gegenwart
mit ihrem frohen, jungen
Menschenwesen.
In gleicher Ausstattung zu gleichem Preise
Verlag Ullstein & Co, Berlin
Ferner erschien von
Max Geißler
Der Stein der Weisen
Die letzten fünfundzwanzig Jahre deutschen Lebens umfaßt Max Geißlers Roman, der ganz eingesponnen ist in den Frieden des dunkelgrünen Bergwaldes. Durchs Wettertal fährt im Juli 1890 der Doktor Valerius Degenhart aus Frankfurt a. Main, der Träumer, der aus der zerrüttenden Berufsarbeit sich nach der großen Stille sehnt. Im Wettertal läßt er, als seine unmoderne Reisekutsche verunglückt, zu dauernder Rast sich nieder. Zwischen Himmel und Erde, vor einer Natur von unsagbarer Schönheit baut er sich sein Haus, die Streitburg. Wenig Äußeres geschieht in diesem Buch. Aber es hat eine Melodie tiefinnerster Seligkeit, die im Herzen nachklingt wie der Glanz endloser Sommertage, und die Andacht, mit der es vom wahren Glück spricht, kommt aus dem besten Erbteil des deutschen Wesens.
Preis 4.50 Mark
Von Max Geißler sind im Verlage von L. Staackmann in Leipzig erschienen:
Das Tristanlied. Epos
Die Rose von Schottland. Epos
Gedichte. Volksausgabe
Die neuen Gedichte. Volksausgabe
Die Bernsteinhexe. Schauspiel
Die Herrgottswiege. Roman
Das hohe Licht. Roman
Soldatenballaden
Am Sonnenwirbel. Roman
Das Heidejahr. Roman
Das Moordorf. Roman
Das sechste Gebot. Roman
Der Erlkönig. Roman
Die Glocken von Robbensiel. Roman
Nach Rußland wollen wir reiten! Roman
Die Musikantenstadt. Roman
Hütten im Hochland. Roman
Inseln im Winde. Roman
Die goldenen Türme. Roman
Die Wacht in Polen. Roman
Das neue Märchenbuch
Briefe an meine Frau
Ullstein & Co
Berlin SW 68
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die Originalschreibweise wurde beibehalten. Der Schmutztitel wurde entfernt.
Korrekturen:
S. 22: übernächtigen → übermächtigen
diesem besinnlichen, etwas
übermächtigen
Kopfe nicht
S. 43: Harsager → Harfager
Ballade über Harald
Harfager
gesungen
S. 57: pflag → pflog
den Bergen sein verschwiegenes Dasein
pflog