Title : Carlos und Nicolás
Author : Rudolf Johannes Schmied
Illustrator : Georg Walter Rössner
Release date : July 17, 2017 [eBook #55130]
Language : German
Credits
: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.
von
Rudolf Johannes Schmied
Mit vielen ganzseitigen Original-Steindrucken von
Georg Walter Rößner
Verlegt bei Erich Reiß, Berlin
Copyright 1909 by Erich Reiß, Verlag
Spamersche Buchdruckerei in Leipzig
Carlos und Nicolás Kinderjahre in Argentinien | |
Die Boleadoras | 9 |
Der Chinese | 19 |
Das Brüderchen | 25 |
Die Tigerjagd | 29 |
Herr Dr. Bürstenfeger | 35 |
Ein Tag mit Herrn Dr. Bürstenfeger | 41 |
Die Reise nach Mendoza | 50 |
Die Stadt Mendoza | 54 |
In den Kordilleren | 60 |
Nach Paraguay | 70 |
Paraguay | 77 |
Die Revolution | 84 |
Carlos und Nicolás auf dem Meere | |
Auf dem großen Meer | 97 |
In der Bai von Rio | 104 |
Rio de Janeiro | 108 |
Nach der Alten Welt | 121 |
Europa | 145 |
Ines Wolff
zugeeignet
Der breite Paraná mit seinen Inseln, eine Schafherde, über der ein hungriger Geier, nach Lämmern auslugend, kreist, kleine Trupps von Kühen und Pferden, das große, weiße Herrschaftsgebäude mit den Parkanlagen unterbrechen die Monotonie der Pampa.
Carlos und Nicolás saßen in weißen Matrosenanzügen am Stromufer. Sie waren Brüder. Carlos war sieben Jahre, Nicolás sechs.
Ihre Ponys, dickbauchige Pampasponys mit kurzen Hälsen und großen Köpfen, standen einige Schritte von ihnen schweißbedeckt und keuchend an einer Weide angebunden.
Die Knaben hatten hinter Straußen gejagt, ohne sie einholen zu können. Carlos hatte dabei seine Boleadoras verloren.
„Schenke mir deine Boleadoras [1] , und ich tausche mein Pferd mit deinem“, sagte Carlos.
Carlos’ Pferd war wertvoller. Wenn die Brüder um die Wette rannten, war es immer um zwei Nasenlängen voraus. Bei raschem Anhalten warf es nicht den Kopf zurück, daß er mit dem seines Herrn zusammenstieß. Es hatte nicht die böse Gewohnheit, nach dem Beine zu schnappen, wenn man aufsaß. Auch wußte es geschickt die gefährlichen, im Grase versteckten Löcher der Tucatús zu umgehen, die Nicolás schon manchmal zum Stürzen gebracht hatten.
Aber trotzdem wollte Nicolás nicht tauschen. Er spielte mit seiner Waffe und gab keine Antwort.
„Du kriegst meinen Sattel dazu“, fuhr der Bruder fort.
„Was hat dir Onkel Paulus alles geschenkt?“ fragte Nicolás begierig.
„Sehr viel“, antwortete Carlos. „Zu meinem Geburtstage schenkte er mir ein großes Landgut in Paraguay mit zwei Millionen Pferden und einer Million Kühen. Nächstes Jahr reise ich hin auf meinem Dampfer Pingo; ich werde hundert Soldaten mitnehmen, um mit den Indianern zu kämpfen, drei Tigerfelle bringe ich dir mit; ich denke vierzig Indianer zu töten. Mein Landgut heißt Isla-Verde und liegt links neben dem Fluß. Aber weil du mir die Boleadoras gegeben hast, schenke ich dir das Landgut.“
Darauf zeigte er nach der Schafherde, die in einiger Entfernung von ihnen graste: „Die Schafe gehören mir.“ Er zeigte nach einem Baum, der sich einsam aus der Steppe erhob: „Von jenem Ombú an gehört alles Land mir, hundert Meilen weit bis nach Chile. Ich schenke es dir.“
Bei diesen Worten machte er einen Schritt zurück, und ohne auf Dank zu warten, ging er mit leuchtenden Augen nach seinem Pferde, stieg auf und ritt hochaufgerichtet, die Kugeln über seinem Haupte schwingend, davon.
Nicolás blieb liegen und schaute ihm nach. Er dachte, wie edel sein Bruder sei, aber zugleich auch, was für ein Narr er sei, für ein paar armselige Boleadoras so viel Reichtum wegzugeben.
Eine geraume Weile lag er unbeweglich: „Du hast Landgüter, du hast Kühe und Pferde“, sagte er sich. Er schloß die Augen und ließ im Geiste all diese Herrlichkeiten an sich vorüberziehen. „Du hast einen Dampfer“, sagte er, die Augen öffnend, und sah nach dem Fluß hin.
Gleich würde der Dampfer hinter der Biegung des Stromes verschwinden. Ganz lautlos glitt er dahin. Man sah die Leute auf dem Verdeck nicht mehr.
Dann blickte Nicolás zum Himmel, ob keine Wolken da seien, denn er wußte, daß Stürme den Schiffen gefährlich sein könnten. Er wünschte, daß es bald aus Paraguay zurückkehren möchte; er würde hier am Ufer stehen und mit dem Taschentuch winken.
Damit erhob er sich. Es litt ihn nicht länger in der tödlichen Einsamkeit allein mit seinem unendlichen Glück.
Er wollte zu Juanita, der Tochter des Schafhirten, und ihr erzählen, wie unermeßlich reich er sei.
* *
*
Nicolás stieg zu Pferd und ritt in kurzem Trabe davon, an dem Herrschaftsgebäude und dann an dem Galpon vorbei.
Unweit der Schafherde stand die Hütte von Juanitas Vater, und nicht weit davon saß sie im Grase und peitschte mit einer Gerte die Halme.
Sobald Nicolás sie sah, ließ er sein Pferd kurbettieren; er schlug, die losen Zügel in der Hand, darauf ein und riß es dann gleich wieder zurück.
Er liebte Juanita, und er wollte, daß sie ihn in Gefahr sehen solle.
Sie aber blickte ihn mit leisem Lächeln an. Ihr älterer Bruder Isidor war Pferdebändiger auf dem Gute von Don Ignacio Rodriguez, und das erschien ihr weit gefährlicher.
Nicolás hatte sich ihr inzwischen bis auf wenige Schritte genähert und begann sein Pony zu beruhigen, indem er ihm freundliche Worte sagte und auf Hals und Kruppe tätschelte.
Dann stieg er mit einem meisterhaften Sprung ab und stand dicht bei ihr.
Er war sehr ernst, beinahe feierlich.
„Juanita,“ begann er, „vorhin ist der Tridente vorbeigefahren, du weißt, er ist der schnellste Dampfer von allen; ich habe ihn von Carlos bekommen mit dem Silbergeschirr, mit den Betten und Stühlen und mit der Maschine. Ich habe mir ein Landgut in Paraguay erworben mit Millionen von Kühen und Pferden.“ Er zeigte nach dem Baume: „Von jenem Ombú an ist alles Land mein bis nach Chile.“ Er zeigte nach der Schafherde: „Und auch die Schafe hier sind mein.“
Juanita hatte ihm zugehört, ohne daß eine Miene sich in ihrem Gesichte veränderte; bei seinen letzten Worten jedoch zuckte sie die Achseln, rümpfte die Nase und wiegte den Kopf langsam hin und her.
Eine kleine Pause entstand.
Endlich sagte sie: „Ich weiß nicht, ob du lügst, wenn du sagst, daß der Tridente dein ist und alle Landgüter in Paraguay und alles Land hinter dem Ombú bis nach Chile. Aber du lügst, wenn du sagst, daß die Schafe dein sind; die Schafe gehören meinem Vater, und wenn mein Vater tot ist, gehören sie meiner Mutter, und wenn meine Mutter tot ist, gehören sie meinem Bruder und mir.“
Nicolás war über diese Worte etwas betroffen, dann aber stieg der Ärger in ihm auf.
„Was mein ist,“ antwortete er, „hat zuerst Papa und Onkel Paulus gehört. Papa und Onkel Paulus haben das Recht, zu verschenken, was sie wollen. Onkel Paulus lügt meinen Bruder nicht an. Er hat ihm das Land und die Sachen gegeben, er darf es.“
„Er kann dir alles Land und alle Schiffe verschenken, aber niemals die Schafe, die gehören meinem Vater.“
„Meinetwegen,“ sagte Nicolás mit einer nachlässigen Gebärde, „die Schafe sollen deinem Papa gehören, ich würde sie ihm ja sowieso geschenkt haben. Gefallen mir einmal alle Reichtümer nicht, gebe ich sie her oder verkaufe sie und gehe nach Europa und kaufe mir die großen Wälder. Weißt du, was Wälder sind, Juanita?“
„Nein“, sagte sie.
„Natürlich kannst du nicht wissen, was Wälder sind, weil es hier keine gibt. In Buenos Aires und Uruguay sind die großen Städte und die Pampas. Die Wälder sind in Europa, und das sind viele große Bäume, die beieinander sind. Man kann tagelang darin reisen, die Bäume ragen beinahe bis zum Himmel.“
„Willst du wissen, wie es darin aussieht, beuge dich ins Gras herab und bleibe eine Weile ruhig. Aber schaue immer zwischen den Halmen hindurch. Gibst du dir Mühe und denkst du immer an einen Wald, wird es dir so vorkommen. Das hat mich Onkel Paulus gelehrt.“
Juanita verharrte eine Weile schweigend.
Schließlich sagte sie: „Beug’ du dich doch zuerst herab, und wenn du einen Wald siehst, so sage es mir.“
Sogleich kniete Nicolás nieder.
Juanita sah ihn eine ganze Weile ernst an, plötzlich aber mußte sie laut auflachen, denn Nicolás erschien ihr in seiner kauernden Stellung komisch.
Er blieb trotzdem noch eine ganze halbe Minute unbeweglich, dann aber richtete er sich auf und sagte ärgerlich: „Ich begann schon die Wälder zu sehen, aber durch dein Lachen hast du mir alles verdorben.“
Nach einigen Sekunden aber war sein Ärger wieder verraucht.
„Beug’ dich herab, Juanita,“ beharrte er, „bleibe eine Weile ruhig, denke immer an die Wälder, und du wirst sie sehen.“
Sie war unschlüssig; es widerstrebte ihr, etwas zu tun, wozu ihr der richtige Glaube fehlte und was ihr außerdem etwas lächerlich erschien.
Aber da sie schließlich doch ein bißchen neugierig war, stand sie auf, kniete nieder und blieb eine Zeitlang still.
Doch es wollten sich ihr keine Wälder zeigen.
Sie richtete sich auf, strich sich über das Kleidchen und sagte: „Ich sehe nichts.“
Nicolás ließ resigniert den Kopf sinken.
Nicht lange jedoch, und er hatte sich von seiner Enttäuschung erholt.
„In Europa“, hub er an, „ist es schöner als hier, durch die Straßen fließen Ströme. Schwarze Boote fahren darauf. Der Himmel ist golden und blau; an allen Häusern sind Balkone und viele Blumen, ich habe es auf einem Bilde gesehen. In Europa gibt es Könige und nicht Präsidenten, sie fahren auf goldenen Booten und sind die reichsten Leute der Welt. Wenn die Präsidenten sehr reich werden wollen, müssen sie stehlen, habe ich schon oft sagen hören, die Könige brauchen das nicht, denn sie bekommen alles von selbst. In Europa gibt es Prinzessinnen, die sind tausendmal schöner als alle Frauen von Buenos Aires und Uruguay, sie haben goldene Haare und reiten auf weißen Pferden, manchmal tragen sie große Adler, die man Falken nennt, auf dem Arme. Könige und Prinzessinnen wohnen zusammen in Palästen, die sind am Meere gebaut, denn in Europa ist das Meer, und das ist der größte Strom von allen. Auf dem Meere fahren die größten Schiffe, die es gibt, Kanonen sind darauf, um gegen die Walfische zu kämpfen. Ich bin ein mächtiger Mann, Juanita, der viel Geld und Güter hat, und wenn ich groß bin, will ich mich zum Präsidenten von Buenos Aires machen, und weißt du, Juanita, was ich dann tue? Ich werde mir ein Meerschiff bauen lassen und werde nach Europa reisen, und als mächtigen Präsidenten von Buenos Aires müssen mich die Könige auf ihren goldenen Booten empfangen, und die Prinzessinnen sitzen dabei und spielen auf goldenen Harfen.“
Nicolás hielt inne, um zu hören, was sie dazu sagte.
Aber sie schwieg, und von ihrem Antlitz war gar nichts abzulesen, weder Unglauben noch Erstaunen.
Etwas gereizt fuhr er fort: „Wenn ich will, kann ich die Töchter der Könige heiraten, und ich werde es tun, Juanita, bei allen Königen werde ich anfragen, nur beim König eines großen Landes, das Paris heißt, nicht. Gegen diesen werde ich Krieg machen, denn er ist der Mächtigste, und wenn ich ihn dann mit meinem Schwert erschlagen habe, kann ich, wenn ich will, mich zum Herrscher seines Landes machen. Sag’ mal, Juanita,“ sagte er, seine Stimme erhebend, „möchtest du Königin von Paris werden?“
Es entstand eine Pause.
„Ph,“ sagte sie, „ich möchte schon.“
„Gut,“ antwortete Nicolás „du mußt mir aber versprechen, wenn du Königin bist, meine Frau zu werden.“
„Bin ich einmal Königin, will ich deine Frau sein“, sagte sie und zuckte die Achseln.
„Du wirst es, aber da müssen wir uns zuerst verloben, und du mußt mir einen Kuß geben.“
„Ich kann mich ja mit dir verloben und dir einen Kuß geben, aber alles, was du erzählst, ist ja Lüge“, meinte sie, die Nase rümpfend.
„Wenn du glaubst, daß ich lüge, gehen wir zu José und fragen wir ihn. José war König von England, früher, als es ihm noch gut ging und er nicht Knecht zu sein brauchte.“
„Meinetwegen, gehen wir zu ihm“, sagte sie und lächelte ziemlich überlegen.
José, ein geborener Neapolitaner, aber seit langem eingewandert, stand dicht beim Galpon und wusch den Schecken des Verwalters. Er goß Eimer auf Eimer über Bauch und Rücken des Pferdes, das bebend auswich; dazu fluchte er, denn jede Arbeit war ihm verhaßt. Unter den Pferden haßte er aber den Schecken, seiner heiklen Hautfarbe wegen, und weil er die schlechte Gewohnheit hatte, sobald er freigelassen war, sich auf der Erde zu wälzen.
Nicolás trat mit Juanita an ihn heran und sagte laut und in einem Tone, der keine Widerrede litt: „Nicht wahr, José, du warst früher König von England?“
Zuerst erstaunte José, dann aber antwortete er mit wildhumoristischem Auflachen: „Natürlich war ich König von England, corpo di Dio , war das eine fröhliche Zeit, damals, als ich noch König von England war!“ Bei diesen Worten gab er dem Schecken einen Fußtritt, als wollte er ihn den grausamen Umschwung der Dinge vergelten lassen.
„Siehst du, Juanita“, sagte Nicolás, „José war König von England. Gehen wir jetzt.“
Als sie einige Schritte gegangen waren, sagte er: „Jetzt müssen wir uns verloben“ und faßte sie bei der Hand; sie folgte ihm kichernd, und als sie an die Stelle gelangt waren, von wo sie gekommen waren, küßte er sie feierlich auf den Mund.
„Jetzt bist du meine Braut und wirst Königin von Paris“, sagte er. Er sah sie leuchtend an, tat einen Schritt zurück, wie vorhin sein Bruder, und stieg zu Pferd.
Im Galopp, graziös den Oberkörper wiegend, ritt er davon.
Juanita sah ihm nach, die Rechte schlaff am Leibe; mit der Linken wischte sie sich die feuchten Spuren ab, die Nicolás weihevoller Kuß zurückgelassen hatte.
* *
*
Es war Nacht geworden, Carlos war nicht zum Abendessen zurückgekehrt, er war beim Puestero Eusebio; Gäste waren bei ihm und man hatte ein Lamm geschlachtet. Carlos hatte es abhäuten und ausweiden helfen.
Ziemlich spät ritt er heim. Seine Stimmung war etwas gedrückt, außerdem langweilten ihn bereits die Boleadoras.
Zu Hause war alles schlafen gegangen. Carlos sattelte sein Pferd ab und ließ es auf die Weide laufen. Dann ging er, die Boleadoras in der Hand, in sein und seines Bruders Schlafzimmer.
Nicolás lag im Bett, aber er schlief noch nicht; es brannte Licht.
„Wo warst du?“ fragte Nicolás.
„Bei Eusebio.“
„Freuen dich die Boleadoras?“
Carlos gab keine Antwort.
„Was hast du?“
„Nichts“, sagte Carlos und zog sich mürrisch aus.
Nicolás fragte nicht weiter. Carlos ging ins Bett und löschte das Licht aus.
„Nicolás!“ rief er plötzlich.
„Was?“
„Bah!“ sagte Carlos und drehte sich im Bett um.
Es herrschte Stille.
Und nochmals: „Nicolás!“
„Was willst du denn?“
Sehr gepreßt kam es aus Carlos heraus: „Ich meinte nur ...“ und dann: ... „die Boleadoras sind wieder dein.“
Die Knaben schwiegen.
Carlos richtete sich im Bette auf und sagte schmerzlich: „Die Boleadoras sind dein, denn den Tridente und das Gut in Paraguay und alles Land hinter dem Ombú bis nach Chile und die Schafe hat mir Onkel Paulus nicht geschenkt; daher durfte ich sie dir nicht schenken.“
Wieder herrschte Pause.
„Also hast du mich angelogen“, tönte es von Nicolás’ Bett tief enttäuscht zurück.
„Ja, ich habe dich angelogen“, antwortete Carlos etwas erleichtert.
„Warum hast du mich angelogen?“
„Weil ich die Boleadoras haben wollte“, kam es zerknirscht zurück.
Nochmals Pause.
Nicolás raffte sich auf: „Schwörst du mir, daß du mich angelogen hast?“
„Ich schwöre es.“
„Küß’ das Kreuz!“
Carlos machte ein Kreuz mit beiden Zeigefingern und schwor: „ Te juro, que Dios me castigue. “
„Hast du wirklich das Kreuz geküßt?“ fragte Nicolás mißtrauisch, denn er konnte es der Dunkelheit wegen nicht sehen.
„Ja“, sagte Carlos.
„Schwörst du mir, daß dich sofort der Blitz treffen wird, wenn es nicht wahr ist?“
„Ich schwöre es“, antwortete Carlos.
Daraufhin herrschte vollständiges Schweigen.
Nicolás lag da, erfüllt von einer nie gekannten, unsagbaren Trostlosigkeit: Keine Güter! Kein Schiff! Keine Schafe! Nie würde er die Wälder von Europa kaufen, niemals würde er den König von Paris bekriegen dürfen und Juanita würde niemals seine Frau.
Er versank in tiefes Grübeln.
Vom Bette seines Bruders aber vernahm man ruhige Atemzüge; er schlief schon lange.
Was würde Juanita zu allem sagen? Wie sollte er ihr morgen unter die Augen treten? Er hatte sie angelogen, nie würde sie ihm das verzeihen.
Und weil er die quälenden Gedanken nicht los werden konnte, zündete er schließlich Licht an, stand auf, kroch unters Bett und zog eine kleine grüne Eisenbahn hervor: eine Lokomotive mit drei Waggons.
Aus der Schublade des Nachttisches holte er einen starken Faden und band ihn an den Schornstein der Lokomotive.
Lange stand Nicolás da, barfuß auf den Fliesen, und ließ die Eisenbahn im Kreise laufen.
Und das war seine Erlösung.
Langsam zog tiefer Trost und Friede in seine Seele ein.
Hinter dem Hause im Hofe hielten Carlos und Nicolás Tiere, Haustiere und Tiere der Pampa. Oft machten sie Streifzüge und kehrten mit einem Fang zurück, einem jungen Strauß, einer Kropfeidechse, einem Gürteltier; sie stellten Fallen im Hof auf und fingen Beutelratten. Aber über die neuen Tiere vernachlässigten und vergaßen sie die alten. Einmal brachen die meisten aus. Ein junges Reh hatte oben im Salon übernachtet, eine Kropfeidechse war ins Bett einer Magd gekrochen. Da wurde Carlos und Nicolás gedroht, die Tiere müßten fort, wenn sie sich nicht besser um sie kümmerten.
Am nächsten Tag waren die Knaben, wie gewöhnlich, hinaus in die Pampa geritten. Nach einer Stunde scharfen Galopps wandten sie die Ponnys nach einem Ombú, um Rast zu halten; es war ein sehr heißer Tag, die Pferde ließen die Köpfe hängen und bewegten die Ohren müde nach den Seiten; die Sättel lagen beinahe auf ihren Hälsen. Als die Knaben sich dem Baum näherten, sahen sie dort einen seltsamen, kleinen, dicken Mann auf der Erde sitzen, den Kopf gegen den Stamm gelehnt. Statt eines Rockes oder Ponchos trug er einen ganz eigentümlichen Kittel, der ihm bis an die Kniee reichte; neben ihm lag ein breitrandiger Strohhut und ein rotes Bündel. Gleich nachher erkannten sie jedoch, daß es kein Mann war, sondern eine Frau in Männertracht; denn es trug einen langen, dünnen Zopf.
„Das ist komisch“, sagte Carlos und lachte.
„Sehr komisch“, sagte Nicolás und lachte auch.
Sie ritten ganz nah an den Baum heran: es war keine Frau.
„Ein Chinese!“ sagte Carlos und erbleichte.
„Ein Chinese!“ sagte Nicolás und erbleichte auch.
Der Kopf, der Kittel und der Hut waren ganz so, wie sie es bei Chinesen auf Bilderbogen gesehen hatten.
Der Chinese, der geschlafen hatte, war erwacht und sah die Knaben ohne merkliches Erstaunen an.
Sie wollten kehrtmachen und fliehen, denn sie hatten gehört, diese Menschen seien wild und blutdürstig wie die Indianer des Gran Chaco. Aber sie ermannten sich zugleich, denn keiner wollte vor dem anderen feig erscheinen; und dazu blinzelte und lächelte der Chinese so gemütlich und Vertrauen erweckend, daß Flucht den Knaben doppelte Feigheit erschien. Vielleicht ist es ein zahmer Chinese, dachten sie.
„Was schaut ihr mich so an, ihr Büblein?“ fragte er endlich. Seine Stimme klang sanft; sie hatte nichts von einem wilden Indianergeheul.
„Wir schauen dich nicht an“, sagte Carlos und starrte fortwährend auf ihn.
„Seht mir diese Knaben!“ Der Chinese lachte und schlug sich auf die dicken Schenkel; das Gesicht, das er dabei machte, war so komisch, daß auch Carlos und Nicolás in Lachen ausbrachen.
„Was hast du in deinem Bündel?“ fragte Carlos nach einer Weile.
„Zwei Hemden und eine Hose; ich bin auf Reisen.“
„Weite Reisen?“
„Ich gehe von Gut zu Gut und suche mir eine Stelle als Koch. Meine Herrschaft hat ihr Gut verkauft und ist ausgezogen; da bin ich auch ausgezogen. Könnt ihr einen Koch bei euch brauchen, ihr Buben?“
„Nein“, sagte Carlos. Gleich darauf aber durchzuckte ihn ein Gedanke: „Wir können dir aber eine andere Stelle verschaffen.“
„So. Eine andere Stelle? Und die wäre?“
„Du könntest unsere Tiere pflegen, denn sonst müssen sie fort. Ich will Mama sagen, daß man dir so viel bezahlt wie einem Koch. Kannst du Tiere pflegen?“
„Gewiß; aber was für Tiere sind’s, ihr lieben kleinen Knaben?“
„Verschiedene; wenn du mit uns nach Hause kommst, wirst du sie sehen.“
Der Chinese war damit einverstanden; die Kinder hielten kurze Rast, rückten dann die Sättel zurecht, schnallten die Gurte fester und stiegen zu Pferd. Der Chinese saß bei Nicolás hinten auf.
„Wie ist denn dein Name?“ fragte Carlos; „denn wenn wir jetzt zu Mama gehen, um dir die Stelle zu verschaffen, müssen wir wissen, wie du heißt.“
Der Chinese nannte einen Namen, der sehr seltsam klang. Die Knaben brachten immer nur Bichuante heraus.
„Nennt mich nur immerhin Bichuante!“ meinte der Chinese.
Mit stark klopfendem Herzen ritten Carlos und Nicolás in das Gut ein. Von irgendwoher erschien José, der Knecht, und starrte diesem seltsamen Aufzug mit offenem Munde nach. Die Knaben ritten bis zur Mitteltür des Hauses. Carlos sprang ab und rannte hinauf zu seiner Mutter.
Sie saß im Musikzimmer am Klavier. „Mama,“ schrie er, „wir haben einen Chinesen mitgebracht, aber einen zahmen Chinesen!“
„Was habt ihr mitgebracht?“ Sie unterbrach ihr Spiel.
„Einen ganz zahmen Chinesen, Mama, der Bichuante heißt.“
„Was redest du da für Unsinn? Was soll denn der Mann?“
„Er soll unsere Tiere pflegen, Mama.“
Carlos faßte seine Mutter am Arm, zog sie ungestüm nach dem Fenster und zeigte nach unten: „Dort ist er.“
Wahrhaftig: es war ein Chinese. „Das ist schon euer verrücktester Einfall!“ sagte sie. Aber nachher ward ihnen gestattet, den Chinesen zu behalten.
Er trat sofort seinen Dienst an. Ställe mußten ausgebessert und gründlich gereinigt werden. Er stieg in den Taubenschlag hinauf und wirtschaftete. Weiß gesprenkelt und mit Federn bedeckt, kam er wieder herunter. Er grub für das Wasserschwein einen regelrechten Teich; bisher hatte es sich mit einem Tümpel begnügen müssen, der nach einer halben Stunde immer wieder ausgetrocknet war. Vor allem war es eine Freude, zu sehen, wie sanft er mit den Tieren umging. Die Kaninchen schnupperten ihm durch die Fenster ihrer Kisten entgegen, sobald er sich zeigte; nicht lange, und die Tauben setzten sich ihm auf die Schultern, das Reh lief ihm nach. Nicolás glaubte sogar zu sehen, wie das Gürteltier ihn freundlich anblinzelte. Die Knaben liebten den Chinesen, besonders Nicolás.
Von den Dienstboten hielt sich der Bichuante möglichst fern, denn sie lachten über ihn und spielten ihm auch manchmal einen Schabernack. Namentlich aber fürchtete er José. Als er einmal an der Küche vorbeiging, hörte er, wie der Knecht dem Gärtner sagte, er wolle den Chinesen umbringen (José haßte ihn, weil er fand, daß die Tierpflege eine zu leichte Arbeit sei). Der Bichuante erbebte, ließ aber nie ein Wort darüber verlauten. Nur wenn er zu Bett ging (seine Kammer lag neben der Josés), verriegelte er die Tür, schlief aber trotzdem immer gleich ein.
Er kümmerte sich aber gar nicht nur um die Tiere auf dem Hof. Er striegelte und sattelte die Ponnys, er putzte ihr Zaumzeug; einmal wusch er sogar den Schecken des Verwalters. Als José das sah, war er gleich darauf bedacht, ihm nach Kräften von seiner Arbeit aufzubürden, und seinem Beispiel folgten die anderen Dienstboten. Der Chinese verrichtete alles, still, ohne zu klagen.
Manchmal, wenn er sich freimachen konnte, saß er gegen Sonnenuntergang mit den Knaben auf der Weide im Grase. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, er pflückte eine Blume, besah sie aufmerksam und murmelte leise etwas vor sich hin. Carlos und Nicolás rückten ganz nah an ihn heran, um zu hören, was er sage. Dann baten sie: „Sprich jetzt mal ganz laut auf Chinesisch.“ Der Bichuante zog die dünnen Augenbrauen in die Höhe, bewegte den Kopf langsam hin und her und sagte einige Sätze, worüber die Kinder laut auflachen mußten.
„So, jetzt sprich wieder die christliche Sprache“, sagte Carlos; denn er wußte von den Gauchos: alles, was nicht spanisch ist, ist auch nicht christlich. Dann mußte der Bichuante Purzelbäume schlagen. Das konnte er wie kein anderer. Nicolás umarmte ihn und gab ihm lautschallende Küsse auf beide Backen. Aus Dankbarkeit, denn den ganzen Tag hatte er sich auf diese Purzelbäume gefreut. Und dann saßen sie wieder im Gras beieinander.
Der Bichuante stand auf und schlich auf den Zehenspitzen einem Schmetterling nach; ohne eigentlichen Grund, aus unbegreiflicher Freude. Der Schmetterling setzte sich auf eine Blume, klappte die Flügel auf und zu; aber sobald der Bichuante sich genähert hatte, flog er wieder auf und setzte sich auf eine andere Blume. Der Chinese blieb in behutsamer Entfernung von ihm stehen und ahmte mit Daumen und Zeigefinger den Flügelschlag nach, ganz erstaunt, als hätte er nie in seinem Leben einen Schmetterling auf einer Blume gesehen.
„Wie merkwürdig ist doch so ein Chinese!“ sagte Nicolás zu Carlos.
Einmal hatte Nicolás, ohne etwas Böses zu denken, den Bichuante am Zopf gezogen; da hatte ihn der Chinese sehr ernst und traurig angeschaut und gesagt: „Tu’ das ja nie wieder, mein Liebling!“ Nicolás erschrak. Auch freute es den Chinesen nicht, wenn die Kinder den Ponnys Zöpfe flochten, wie es am Samstagabend geschah, damit die Pferde gewellte Mähnen hätten, wenn man am Sonntag zu den Wettrennen der Gauchos ritt. Merkwürdig, dachte Nicolás; er fand manches an dem guten Bichuante merkwürdig ...
Die Eltern der Knaben waren auf einige Zeit nach Buenos Aires verreist. Die Kinder blieben unter der Obhut des Verwalters, eines sehr strengen Franzosen, der selbst einmal ein großes Gut gehabt hatte. Er kümmerte sich äußerst gewissenhaft um die Wirtschaft und alle fürchteten ihn. Der Bichuante hatte mehrmals in der Küche mithelfen müssen und da war sein Kochtalent in vollem Glanz sichtbar geworden. Der Franzose hielt auf gute Küche. Er entließ ohne weiteres den alten Koch und erhob den Chinesen auf diesen Posten. Der Bichuante erhielt einen weißen Rock, eine weiße Schürze und eine weiße Mütze und war mit einem Schlag eine Respektsperson unter den übrigen Dienstboten. Das war ein Triumph für Carlos und Nicolás, und ihre Dankbarkeit und Verehrung für den Verwalter kannte keine Grenzen.
Sechs Wochen waren vergangen; es war an einem außergewöhnlich heißen Tage, der Chinese stand in der Küche und bereitete den Teig für die Nachtischpasteten. Carlos und Nicolás schauten ihm zu. Weil die Hitze geradezu unerträglich war und der Chinese, seit er seine neue Stelle bekleidete, viel dicker geworden war, beschloß er, um sich Luft zu machen, Rock und Hemd abzulegen. Carlos und Nicolás halfen ihm dabei unter Freudengeschrei.
„Nie hätte ich geglaubt, daß du einen so dicken Bauch hast“, sagte Carlos und klopfte ihm auf den Leib.
Aber ein unendlicher Jubel brach aus, als der Bichuante, um sich ein Späßlein zu erlauben, zwei Hände voll Teig nahm und, sich ein wenig nach hinten beugend, ihn auf seinem nackten Leib zu kneten begann. „Bravo!“ riefen die Knaben, umtanzten ihn und schüttelten sich vor Lachen. Und der Chinese stand da, von Fliegen umsummt, grinste und knetete weiter. Dann wurde der Teig auf dem Tisch ausgerollt und die Pasteten geformt und gefüllt.
„Das ist meine Pastete“, sagte Carlos und machte in die größte ein Loch mit dem Zeigefinger. „Und die ist meine“, sagte Nicolás und machte ein Loch in die zweitgrößte. Dann wurden die Pasteten in den Ofen geschoben.
Einige Stunden später saßen Carlos und Nicolás mit dem Verwalter bei Tisch. Die Suppe und der Puchero, die Carbonado und der Asado wurden gebracht; zum Schluß kamen die Pasteten ...
„Ach,“ sagte der Verwalter, „die Pasteten sind heute wirklich ganz ausgezeichnet!“
Carlos würgte, denn er hatte den Mund voll und wollte antworten. „Warum sind sie so gut?“ sagte er, mit vollen Backen kauend; „weil der Bichuante den Teig auf seinem nackten Bauch geknetet hat. So macht man’s in seiner Heimat und dann werden die Pasteten sehr gut.“
„Was hat er getan?“ fragte der Verwalter betroffen.
„Er hat Rock und Hemd ausgezogen und hat den Teig auf seinem nackten Bauch gerieben“, sagte Carlos arglos; und er sprang auf, beugte sich etwas rückwärts und ahmte den Chinesen nach. Der Verwalter gab keine Antwort ... Er schob seinen Teller weg und drückte auf den Knopf einer Klingel ...
Eine Viertelstunde später hingen Carlos und Nicolás weinend am Hals des Chinesen; der Bichuante mußte fort. Die Knaben wußten: der Verwalter hat sein letztes Wort gesprochen.
„Warum hast du das von den Pasteten erzählt, Carlos?“ heulte Nicolás.
„Ich wußte doch nicht ...!“ Carlos konnte nicht weiter. Er drückte sein Gesicht auf den Hals des Chinesen, der ganz naß von Tränen war.
„Der Bichuante muß jetzt fort ...!“ Nicolás’ Stimme schnappte über, er gluckste und hustete.
„Geh’ nicht fort, Bichuante!“ heulte Carlos.
„Weinet nicht, ihr Buben,“ sagte der Chinese, der seine Rührung niederzwang; „weinet nicht, seid Männer!“
Carlos und Nicolás trockneten sich die Augen und schneuzten sich. Sie sahen einander an, ein Beben ging über ihre Züge und wieder brachen sie in Tränen aus.
Am nächsten Morgen war der Aufbruch.
Carlos und Nicolás sattelten ihre Ponnys; der Chinese saß bei Nicolás hinten auf. Man ritt in der Richtung des Ombús; dort wollte man Abschied nehmen, denn dort hatte man sich einst gefunden. Auf des Chinesen Gesicht lag ein ruhiges, resigniertes Lächeln. Carlos und Nicolás weinten leise. Der Bichuante redete ihnen zu: „Ruhig, ruhig, ihr Buben, seid Männer!“
Als sie vor dem Ombú angekommen waren, stieg der Chinese vom Pferd. Er umarmte Carlos und Nicolás; auch sie schlangen ihre Arme um seinen Hals und küßten ihn auf den Mund.
Dann, wie auf Verabredung, wandten sie die Pferde (denn sie wollten als Helden scheiden) und ritten im Galopp, laut heulend, nach dem Gut zurück.
Am Morgen waren Carlos und Nicolás mit ihren Eltern aus Buenos Aires zurückgekehrt, es war Nachmittag, sie ritten in der Pampa spazieren. Carlos hielt im Arm einen kleinen weißen Seidenpintscher, den er vor vierzehn Tagen geschenkt bekommen hatte.
Sie kamen bis vor die einsame Hütte des Puesteros Eusebio und sahen sein sechsjähriges Söhnchen Miguelito, das nahe bei der Schwelle stand und eine niedrige Holzwiege wiegte, in der ein Säugling lag. Er lag festeingewickelt, konnte weder Arme noch Beine bewegen und schrie.
Der Pintscher spitzte die Ohren nach der Wiege und bellte feindselig.
„Ist das dein Brüderchen?“ fragte Carlos ganz erstaunt.
„Ja!“ sagte Miguelito und sah mit leuchtenden Augen nach dem Pintscher.
„Seit wann hast du dieses Brüderchen?“ fragten Carlos und Nicolás zugleich.
„Weiß nicht“, antwortete Miguelito. „Vor einigen Wochen brachte mich abends der Vater zu Don Ignacio, und als ich am Morgen wieder hier war, war das Brüderchen da.“
Nicolás ritt ganz nahe an die Wiege heran, um sich das Kind genau zu betrachten.
Miguelito blickte unverwandt den Pintscher an und fragte: „Seit wann habt ihr dieses Hündchen?“
„Ich habe es von Papa geschenkt bekommen“, antwortete Carlos.
„Wie heißt dein Brüderchen?“ fragte er nach einer Weile.
„Pepito.“
Was ist das für ein schönes Brüderchen! sagte sich Carlos, und es entstand ein Gedanke in ihm, den er aber kaum auszudenken wagte.
Doch er ließ ihm keine Ruhe und zaghaft fragte er: „Gefällt dir mein Hündchen?“
„Ja!“ sagte Miguelito und war ganz verklärt.
„Er heißt Blanco“, antwortete Carlos, „und wenn du seine Wolle berührst, ist sie wie Seide. Da, fühle doch!“
Und er beugte sich herab und hielt ihm das Hündchen hin: „Ist das nicht schön?“
„Sehr schön!“ erwiderte Miguelito.
Carlos stieg behend vom Pferd und sagte: „Jetzt werde ich dir was zeigen.“
Er bückte sich, streckte den Arm aus und rief: „Hops!“
Blanco sprang über seinen Arm.
„Hops!“ rief Carlos, und Blanco sprang zurück.
Miguelito klatschte selig in die Hände.
„Und jetzt, Blanco, aufwarten!“ befahl Carlos.
Blanco setzte sich auf die Hinterbeine, bewegte die Pfoten und Miguelito jubelte.
„Wenn du mir dein Brüderchen gibst, gebe ich dir mein Hündchen!“ sagte Carlos.
Miguelito war einige Sekunden unschlüssig, dann aber siegte die Versuchung, er ging nach der Wiege und bat Carlos, ihm zu helfen, das Kind herauszuheben.
Darauf bestieg Carlos sein Ponny, und Miguelito und Nicolás reichten ihm Pepito hinauf.
Carlos und Nicolás aber machten, daß sie schnell fortkamen, denn sie fürchteten, den andern würde der Tausch bald reuen.
Carlos hielt das Kind vor sich auf dem Sattel wie ein Bündel, sie ritten im Trab, mußten aber gleich halten, denn es wäre beinahe heruntergefallen.
Sie ritten im Schritt weiter und nach einiger Zeit wollte Nicolás es tragen.
Wieder hielten sie an und Carlos reichte es ihm hinüber, was nicht ohne Lebensgefahr war für den kleinen Pepito.
Nach zehn Minuten beschlossen sie abzusteigen, denn er war nicht leicht zu tragen, außerdem schrie er immerfort aus Leibeskräften.
Carlos sprang vom Pferd, nahm seinem Bruder das Kind ab und legte es sacht auf die Erde.
Darauf pflückten sie zusammen Gräser, machten daraus ein weiches Bett und legten es hinein. So würde es sich beruhigen.
Und wirklich, es dauerte nicht lange und das Kind war eingeschlafen.
Nicolás kniete neben ihm und betrachtete es voller Andacht, er beugte sich ganz nahe herab, um seinen Atem zu hören.
„Kann man wohl die Stelle sehen, wo ihn der Storch gehalten hat?“ fragte er Carlos.
„Niemals!“ antwortete Carlos, „denn da müßte er ihm ja wehe getan haben! Außerdem ist es gar nicht gesagt, daß ihn der Storch gebracht hat. Zenobia hat ihr Baby in einem Eimer gefunden, als sie aus der Zisterne Wasser schöpfte.“
„Aber da hat doch alles gelacht in der Küche, wie sie das erzählte“, erwiderte Nicolás.
„Vielleicht hat sie gelogen“, meinte nachdenklich Carlos. „Aber das weiß ich, man findet ganz sicher die Kinder in den Lagunen, und die bringen dann gewöhnlich die Störche. Auch sind sie manchmal in Straußeneiern, und man muß die Eier dann zerschlagen.“
Die Knaben schwiegen, Nicolás kaute an einem Grashalm; schließlich fragte er: „Sag mal, Carlos, glaubst du, daß wir vielleicht auch ein Brüderchen finden könnten, wenn wir in der Lagune suchten, oder wir zerschlügen Straußeneier; denn weißt du, Carlos, ich habe vorhin nachgedacht, so ganz ist doch nicht Pepito unser Brüderchen, wie ich dein Bruder bin, und du mein Bruder bist, Miguelito hat ihn doch für den Blanco vertauscht.“
Carlos hatte darüber nicht nachgedacht, aber was ihm sein Bruder eben sagte, leuchtete ihm ein.
„Weißt du was“, sagte er, „reiten wir nach der Lagune und suchen wir — wenn wir nichts finden, suchen wir Straußeneier!“
Nicolás war einverstanden, sie stiegen auf ihre Ponnys und ließen den schlafenden Pepito so lange allein.
Die Lagune war nicht weit; als sie angesprengt kamen, entstand eine Bewegung. Die Kibitze schrieen, die Enten erhoben sich schnatternd, ein paar Störche schlugen mit den Flügeln und klapperten zu den Knaben hinüber. Ein einsamer Reiher nur suchte unbekümmert weiter nach Fröschen.
Carlos sagte zu seinem Bruder: „Höre mal, Nicolás, ich werde in der Lagune suchen und du wirst Straußeneier suchen, so stört keiner den andern!“
Sie stiegen ab, Carlos zog Schuhe und Strümpfe aus und watete im Wasser.
Nach einer Weile rief Nicolás hinüber: „Hast du was gefunden, Carlos?“
Carlos antwortete nicht, er starrte krampfhaft nach dem Grunde, er glaubte, ein kleines Kind zu sehen.
Lange suchten sie, aber sie fanden kein Brüderchen.
Nicolás stand vor zwei zerschlagenen Straußeneiern, von plötzlicher Melancholie befallen.
„Wir haben kein Glück“, sagte Carlos sehr niedergeschlagen, und sie kehrten zu Pepito zurück.
Er schlief nicht mehr, er lag da mit großen offenen Augen, den Blick ernst staunend zum Himmel gerichtet, und um ihn herum weideten Strauße, Hirsche, Rinder und Pferde.
Carlos und Nicolás hoben ihn auf und ritten zum Puestero zurück.
Sie hatten beschlossen, es Miguelito wieder zurückzubringen, weil es doch sein Brüderchen war.
Miguelito kauerte vor der Hütte, der Tausch hatte begonnen, ihn zu reuen, auch hatte ihn Blanco in den Finger gebissen.
Er nahm Pepito in Empfang, Carlos hielt wieder seinen Hund im Arm ...
Kurz nachher kehrten der Vater und die Mutter zurück ...
Die Sonne ging unter, die Herden trieben heim nach ihren Hürden, unter dem Ombú vor der Hütte saß der Gaucho Gonzales und sang laut ein melancholisches Steppenlied.
Carlos und Nicolás schauten der Mutter zu, wie sie ihr Kind säugte.
Der Paraná war weit aus seinen Ufern getreten; die Überschwemmung nahm zu, bald war das Land bis dicht an die Parkanlagen unter Wasser. Wipfel von Weidenbäumen bezeichneten die Stelle, wo früher das Ufer gewesen war ...
Im Norden von Argentinien hatten große Regengüsse stattgefunden, auf schwimmenden Inseln war Getier aller Art heruntergeschwemmt worden, und nun wimmelte es hier von einer unbekannten Fauna, von seltsamen Wat- und Schwimmvögeln, Amphibien und Säugetieren.
Eines Nachts vernahm man, nicht sehr weit vom Hause, in der Richtung des Stromes, das Brüllen eines Jaguars. Durch die Herden ging eine Bewegung, trotzdem es ein unbekanntes Ereignis war. Die Pferde in ihren Umzäunungen erbebten; viele, die gelegen hatten, erhoben sich, machten mit vibrierenden Nüstern ein paar Schritte und blieben dann schnaufend und den Kopf emporgereckt stehen.
Zenobia, die Mulattin, spazierte mit ihrem Liebsten, dem Stallknecht Ramon, in einiger Entfernung vom Hause. Auch sie blieben stehen und horchten entsetzt auf.
In der Küche, wo noch ein Teil der Dienstboten versammelt war, reckte man die Hälse, der Papagei, der nicht schlafen konnte, weil es hell war, schrie „Caramba!“
Auch Carlos und Nicolás hatten das Brüllen gehört. Sie befanden sich oben in ihrem Zimmer und waren eben zu Bett gegangen. Nie in ihrem Leben hatten sie einen Jaguar brüllen hören, aber sie wußten gleich, was es war.
„Ein Tiger!“ rief Carlos und schnellte auf.
Auch Nicolás hatte sich erhoben.
„Was sagst du dazu, jetzt gibt’s auch Tiger hier!“ sagte Carlos.
Nicolás antwortete nichts vor lauter Ergriffenheit.
Nun schwieg auch Carlos und beide lauschten, ob er nicht zum zweitenmal brüllen würde.
Richtig, da brüllte er wieder.
Sie standen auf, traten ans Fenster und spähten, ob sie ihn vielleicht irgendwo sehen könnten, denn der Mond schien; aber es war zwecklos, er lag auf einer der nahen Inseln im Schilfe verborgen.
Carlos und Nicolás warteten, ob er sich nicht zum drittenmal hören ließe. Doch es blieb still.
Schräg vor ihnen am Himmel fiel langsam, einen langen Lichtstreifen hinter sich ziehend, ein Meteor zur Erde.
Carlos ergriff Nicolás Hand und die Knaben starrten in der Richtung.
„Hast du dir was gewünscht?“ fragte Carlos mit unterdrückter Stimme.
„Daß wir den Tiger erlegen!“ antwortete der jüngere Bruder.
„Das gleiche habe ich mir von ganzer Seele gewünscht!“ antwortete der andere. Dann schwiegen sie wieder.
Endlich sagte Carlos: „Sieh, Nicolás, nun kann es nicht fehlen, wir werden den Tiger schießen. Morgen gehen wir zum Capataz und er muß uns seine Flinte leihen, und wenn ich acht Jahre alt bin, muß Papa mir eine kaufen.“
Sie blieben noch lange am Fenster, da sie viel zu aufgeregt waren, jetzt schon schlafen zu gehen. Dann aber lag Carlos noch lange wach im Bett auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und dachte an den Tiger ...
In der Frühe, wie sie aufstanden, war es bereits allgemein bekannt, daß sich in der Nähe ein Jaguar aufhielt.
Die Knaben gingen sofort zum Capataz, und Carlos sagte mit einer Miene, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als Tiger gejagt: „Leihe uns deine Flinte, wir fahren nach den Inseln und wollen den Tiger töten!“
Der Capataz brach in Lachen aus: „Ich werde euch Flinte geben!“ und machte eine Handbewegung durch die Luft.
Sie gingen mit ihrem Gesuch zu anderen Leuten, die ein Gewehr hatten, wurden aber überall gleich höhnisch abgewiesen.
Nachmittags hörten sie, der Capataz und viele andere seien nach den Inseln gefahren, um den Jaguar zu töten. Abends aber kehrten sie unverrichteter Sache zurück.
Und es war ein Trost für die Knaben.
Nachts hörte man wieder den Jaguar brüllen. Aber am Morgen ganz in der Frühe weckte Carlos seinen Bruder: „Weißt du was, reiten wir zu Benito, er wird uns sicher sein Gewehr leihen.“
Benito war Capataz auf dem Nachbargut und ein guter Freund von ihnen.
Es waren jedoch sechs Meilen bis zu ihm und mittags wollten sie wieder zurück sein.
In gestrecktem Galopp, mit kurzen Unterbrechungen, ritten sie die Hälfte des Weges, ließen die Pferde ausschnaufen und machten dann gleich schnell die zweite Hälfte.
Benito war mit einigen Knechten draußen bei den Herden, beschäftigt, neugekauften Rindern die Marke aufzudrücken.
Auf Feuern, die in Abständen brannten, glühten die Eisen.
Die Tiere wurden mit dem Lasso gefangen, zu Boden geworfen und dann brannte man ihnen die Namenszeichen des neuen Besitzers auf die Seite.
„Leih uns dein Gewehr!“ rief Carlos, im Galopp auf Benito zureitend, der neben einem niedergestreckten Stier stand.
Carlos sprang vom Pferd und umarmte seinen Freund: „Gib es uns, wir wollen einen Tiger schießen!“
„Tiger?“ lachte der Capataz, denn er wußte nicht, daß ein Jaguar heruntergeschwemmt worden war, „die gibt es nur im Norden in Chaco!“ und war nicht zu bewegen, ihnen das Gewehr zu leihen.
Nachts stand Carlos in seinem Zimmer im Hemd am Fenster und brütete: am Ende existiert der Tiger nicht mehr? Vielleicht hat man ihn heute geschossen?!
Nicolás lag im Bett, hatte bereits begonnen, sich in das Unvermeidliche zu fügen und sprach zu seinem Bruder: „Nimm es nicht so schwer; wenn wir groß sind, gehen wir nach dem Gran Chaco und töten viele Tiger.“
Das war aber kein Trost für Carlos. Nicolás war eingeschlafen; Carlos lag am Fenster und brütete.
Plötzlich ergriff er seinen Bruder am Arm und rüttelte ihn:
„Hast du gehört?! Er lebt, da brüllt er wieder!“
Das Brüllen kam von ganz fern, das viele Schießen hatte den Jaguar vertrieben.
„Da brüllt er wieder!“ murmelte Nicolás schlaftrunken und schlief wieder ein.
Aber Carlos hielt es nicht länger im Zimmer aus. „Ich kann nicht schlafen, ich reite aus“, sagte er sich, die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, hinunterwürgend, „und wenn mich auch der Tiger verschlingt.“
Er zog sich an, nahm den Sattel mit und ging nach der Umzäunung, wo die Pferde waren.
Sein Ponny schlief stehend mit etwas gesenktem Kopfe; als Carlos sich näherte, erwachte es und machte eine Bewegung nach der Seite, Carlos ergriff es bei der Mähne, das Tier erbebte, Carlos warf ihm die Zügel um den Hals und das Pferd ergab sich in sein Schicksal.
Ein paar Minuten später sprengte er in die Pampa hinein, bis das Herrschaftsgebäude und die Parkanlagen in der Nacht verschwanden.
Er warf sein Pferd nach rechts und sprengte in der Richtung des Paraná, an einer Straußenhenne, die mit ihren Kücken floh, vorbei und an zwei jungen schlafenden Stieren, die, sich aufrichtend, ihm feindselig nachstarrten.
Am Flusse angekommen, stieg Carlos vom Pferde, koppelte dessen beide Vorderbeine fest und zog sich aus. Er wollte baden.
Der Mond stand ziemlich hoch am Himmel, in der Ferne schwamm undeutlich ein langer, schwarzer Streifen, es waren die Parkanlagen ...
Der Ritt, das laue Flußwasser hatten Carlos beruhigt.
Er legte sich nahe am Ufer in den Schlamm, der sich wie eine weiche Decke an seine Glieder schmiegte, steckte Mund und Nase zum Wasser heraus und sagte sich, er läge zu Hause in seinem Bett.
Dann spazierte er nach der Mitte des Stromes zu, eine gute Strecke weit, bis das Wasser sein Kinn berührte. Dann schwamm er. Einmal tauchte er nach dem Grund unter, öffnete plötzlich die Augen und es war ganz seltsam hell um ihn, weil der Mond hinein schien.
Seine Glieder leuchteten, es ward ihm unheimlich. Vom nahen Grunde löste sich schnappend ein seltsames Ungetüm, irgend ein großer, unbekannter Fisch. Ein Grausen packte ihn, er schloß krampfhaft die Augen, arbeitete sich nach oben und schwamm zurück, mit einem Mal erfüllt von einem Gefühl furchtbarster Verlassenheit.
Am Ufer angelangt, schlüpfte er, naß, wie er war, in seine Kleider und ritt in gestreckter Karriere zum Gut zurück ...
Es war am Morgen. Carlos war soeben erwacht und sein erster Gedanke war der Tiger.
Da hörte er vor seinem Fenster unten Stimmen. Der Franzose Dupont, der auf einem nahen Gut, das aber vom Fluß entfernt war, auf Besuch und ein Freund des hiesigen Verwalters war, sprach zum Gaucho Gonzales: „Ich kann mich verlassen, die Kanoe ist gut?“ und sah auf den Eimer, den dieser in der Hand hielt.
„Sie ist gut“, antwortete trocken Gonzales.
„Also auf! wir werden ihn schon noch aufstöbern!“ rief Dupont.
Mit zwei Sprüngen war Carlos am Fenster; er wußte, um was es sich handelte.
„Dupont!“ schrie er, „nimm uns mit, ich bitte, nimm uns mit. Wir wollen ja nicht schießen; wir wollen nur dabei sein, wenn du den Tiger tötest!“
Dupont blickte etwas überrascht hinauf. Er stand auf sein Gewehr gestützt, in Poncho und Chiripá, wie ein Gaucho.
Nicht ohne Feierlichkeit erwiderte er: „Euch kleine Bengels, euch soll ich auf eine Jagd mitnehmen, auf der man sein Leben riskiert?!“
Pause.
„Aber ihr gefallt mir, ihr seid beherzt. Ich, Dupont, auf meine Verantwortung hin ... ich nehme euch mit!“
Carlos stieß einen Freudenschrei aus, daß Nicolás erwachte.
„Warte vier Minuten noch!“ rief er, „wir ziehen uns an, ohne uns zu waschen!“
Die Knaben stürzten in ihre Kleider und standen knappe vier Minuten später in ihren Matrosenanzügen und mit ungekämmten Köpfen bereit zur Tigerjagd.
„ Mes braves garçons ,“ entschlüpfte es Dupont auf französisch, „ihr dürft abwechselnd, bis wir zur Kanoe kommen, mein Gewehr tragen, weil ihr so tapfere Bengels seid.“
Stolz umklammerte Carlos das „Remington“, doppelt stolz, weil er glaubte, es sei geladen, wie Dupont versicherte.
„Ist die Kanoe auch wirklich gut?“ fragte der Franzose mit einem mißtrauischen Blick auf den Eimer.
„Gut genug“, sagte verächtlich der Gaucho.
Als man am Flusse ankam, sah Dupont zu seinem nicht geringen Schrecken, daß die Kanoe bis beinahe zur Hälfte mit Wasser angefüllt war. Kröten schwammen darin herum, an den Wänden klebten Laubfrösche.
Ohne eine Miene zu verziehen, begann Gonzales mit seinem Eimer das Wasser herauszuschöpfen, wobei es sich herausstellte, daß unten ein nicht unbeträchtliches Loch war.
Dupont zögerte, in das Boot zu treten, Gonzales aber meinte, es mache nichts.
Und so stieß man denn ab.
Zuerst wurde das Ufer abgesucht. Der Franzose stand in der Mitte der Kanoe, das Gewehr im Anschlag und spähte umher. Die Kanoe füllte sich mit Wasser; Gonzales war fortwährend mit dem Eimer beschäftigt.
Carlos und Nicolás saßen nebeneinander, die Beine emporgezogen. Ihre Gesichter glühten vor Erwartung.
„Endlich,“ sagte Carlos, „endlich werden wir den Tiger erschießen!“
Plötzlich schnellte er auf, daß der Kahn beinahe umgekippt wäre, klammerte sich bebend an Dupont und zeigte krampfhaft nach dem Ufer: „Der Tiger ... schieß, Dupont!“
Dupont, in maßloser Aufregung, feuerte ab.
Der Rauch verzog sich, es war kein Tiger.
„... die Blätter ... das Gras, und ich sah was Braunes und Gelbes, wahrhaftig, ich glaubte ...“ stammelte Carlos.
Dupont sagte nichts, er sah ihn an. Er schämte sich vor Gonzales, von dem er wußte, daß er ihn verachtete.
Das Absuchen des Ufers blieb erfolglos; man fuhr nach den Inseln unter allgemeiner Besorgnis, das Boot würde nicht standhalten.
Die erste Insel wurde nach allen Richtungen durchstreift, jedoch ohne Ergebnis.
„Ich fürchte, wir schießen den Tiger nicht,“ sagte Carlos leise zu Nicolás, worauf Nicolás erwiderte: „Sei ruhig, wir werden ihn schießen, erinnerst du dich nicht an den Meteor?“
Man landete auf der zweiten Insel. Vorn ging der Franzose, hinter ihm Carlos, dann Nicolás, und es folgte Gonzales, alle drei tief gebückt, wie es Dupont befohlen hatte.
Einmal rührte sich etwas im Schilf, Dupont schoß ab, und von der entgegengesetzten Seite, von der Mitte der Insel zu, erhoben sich schreiend Wildgänse und strichen gen Norden.
Die Expedition auf der dritten Insel blieb gleichfalls erfolglos, und es war inzwischen Mittag geworden, und die Hitze war kaum zu ertragen.
Nachdem man auf Anraten von Gonzales die Kanoe ans Land gezogen hatte und das Loch im Boden, so gut es ging, mit Gras und Schilf verstopft hatte, fuhr man, um sich etwas auszuruhen und einen kleinen Imbiß zu nehmen, zum Italiener Barruchi, der weiter oben auf dem Festlande, nicht weit vom Ufer, seine Hütte hatte.
Als sie da ankamen, saß der Italiener auf einem Holzklotz und kaute Tabak; vor ihm auf der Erde lag der Jaguar, den er heute erlegt hatte ...
Carlos und Nicolás waren starr, Dupont entsetzt, der Italiener lächelte mit selbstverständlicher Miene, Gonzales lachte stumm in sich hinein ...
Eine Stunde später aber trieb etwas, anzuschauen wie eine trübselige Jagdmaskerade, den Strom herab: die Kanoe mit dem Franzosen Dupont, Carlos und Nicolás und Gonzales.
Mitten im Boot stand Dupont in seinem Gauchokostüm mit Poncho und Chiripá, auf seine Flinte gestützt, die Füße im Wasser. Um seine Lippen war ein melancholischer Zug. Das Boot war mit Reihern und Störchen und anderen Vögeln bis zum Rand gefüllt, die er aus Wut und Verzweiflung geschossen hatte. Auch ein Wasserhuhn war dabei, halb zerfleischt von der Remingtonkugel. Carlos und Nicolás saßen nebeneinander, die Beine eingezogen.
Vor ihnen Gonzales, abwechselnd rudernd und Wasser schöpfend.
Lange hörte man nicht mehr das Brüllen eines Jaguars in der Gegend.
Im Herbst war man in Buenos Aires.
Es war Nachmittag, die Knaben befanden sich hinten im Stall und stifteten Unruhe und Verwirrung unter den Pferden, zur unverhohlenen Wut Josés, des Knechtes.
Als sie dann genug hatten, zogen sie einen Hammel, den sie vom Landgut mitgebracht hatten, aus seinem Verschlage und banden ihn an einen Karren. Carlos stieg auf, sein Bruder stand daneben und kniff den Hammel in die Schwanzwurzel, damit er ziehen sollte. Das Tier drückte den Schwanz ein, machte einen jähen Satz, und der Wagen warf um.
Darauf hielt ihm Nicolás ein Büschel Weinblätter dicht vors Maul, und nun lief der Hammel hinter ihm her; Carlos saß oben auf dem Karren und jauchzte.
Da ertönte laut von der Terrasse die Stimme des Kindermädchens, der Mulattin Zenobia: „Kommt den Lehrer abholen!“
„Der Lehrer!“ murmelte Nicolás entsetzt und blieb stehen.
Seit geraumer Zeit lag ihnen Herr Dr. Bürstenfeger, der künftige Hauslehrer, beständig im Sinn.
Vor einem Monat hatte er sich in Bremen aufs Schiff gesetzt, und acht Tage darauf schon sagte der Papa: „Heute ist Herr Dr. Bürstenfeger in Lissabon angekommen, ich habe es auf der Agentur erfahren.“
Man saß gerade bei Tische, der Diener, der auftrug, ein frecher Galicier, grinste schadenfroh.
Und wieder nach ungefähr acht Tagen sagte der Papa: „Jetzt ist er in Teneriffa.“
Gestern aber war er in Montevideo angekommen, und heute lag das Schiff draußen auf der Rede von Buenos Aires, und alles grinste im Hause: Zenobia, die Mulattin, Mauricio, der Galicier, der Gärtner, ein strenger Sachse, der Kutscher und vor allem José, der Knecht ...
Die Knaben brachten schnell Hammel und Wagen in den Verschlag und liefen ins Haus, um sich anzuziehen.
Sie stürmten die Treppe hinauf und erfüllten das Haus mit Stallgeruch, sie hatten ein warmes Bad zu nehmen unter Aufsicht der Zenobia, sie rauften im Bade und liefen dann nackt durch die Zimmer, Zenobia hinter ihnen her.
Eine Stunde später aber standen sie mit leuchtend gewaschenen Gesichtern und vor Aufregung knallroten Backen vor ihrer Mutter. Von ihren Köpfen, die wie Schwarten glänzten, ging ein starker Duft von Eau de Quinin aus.
Die Mama befahl, daß sie Handschuhe anziehen sollten, um ihre Nägel, die durchaus nicht weiß werden wollten, vor Herrn Dr. Bürstenfeger zu verbergen. Carlos tat es nur unter der Bedingung, daß sie ihm drei Knäuel Bindfaden für einen Drachen versprach und ihm erlaubte, auf dem Rebgang herumzuklettern, was den Trauben schadete, denn die Handschuhe machten ihn ganz wahnsinnig.
Nun stand er da, die Arme ausgestreckt, die zehn Finger gespreizt und heulte.
Dann fuhren sie mit Zenobia, die eine blendend weiße Schürze trug, zum Papa ins Bureau.
Er schrieb gerade einen sehr wichtigen Brief.
Carlos und Nicolás hatten sich eine halbe Stunde lang mäuschenstill zu verhalten, sie taten es mit Schmerzen, aber dabei brummte der Papa die ganze Zeit, sie sollten noch stiller sein.
Als der Brief fertig war, wandte er sich streng an Carlos, der noch Tränenspuren auf den Backen hatte: „Du hast geweint, warum?“
„Weil mich die Handschuhe ganz verrückt machen“, antwortete Carlos.
„So ziehe sie doch aus“, meinte der Papa lächelnd.
Carlos gehorchte und dachte: „Du hast doch einen guten Papa.“
Zenobia kehrte nach Hause zurück, und der Papa fuhr mit den Knaben nach der Landungsbrücke.
Es wimmelte da von Menschen; es roch nach Pasteten und Kuchen. Allerhand Erfrischungen wurden feilgeboten, Schwärme von Fliegen summten. Irgendwo spielte ein Orgelmann. Rechts und links dem Strand entlang flatterte Wäsche, und Männer und Frauen hockten am Ufer und wuschen.
Weit dehnte sich der La Plata mit seinem gelb-trüben Wasser, es wimmelte von Segeln, Flußdampfer lagen weiter draußen vor Anker, und am Horizont sah man die Rauchsäulen der überseeischen „Steamer“ aufsteigen.
Es war gerade Wassertiefstand. Selbst am Ende der Landungsbrücke, die sich ein paar hundert Meter weit in den Fluß hinaus erstreckte, war das Wasser nicht höher als zwei Fuß. Es fuhren Karren darin herum, die Fuhrleute knallten mit ihren Peitschen nach Kundschaft, gerade wie Droschkenkutscher.
Man stieg in einen Karren und wurde zu einer Barke befördert, die einen bis zum kleinen Dampfer der Agentur brachte.
Nun folgte eine Fahrt von zwei Stunden, bald jedoch verschwanden die Ufer im Horizont.
Carlos und Nicolás sahen heute zum erstenmal ein überseeisches Schiff, aber sie hatten sich ein solches viel größer vorgestellt und waren enttäuscht.
Doch ihre Aufmerksamkeit wurde bald abgelenkt durch die Sorge, wie ihr Lehrer wohl aussehen möchte.
Dort oben auf Deck stand am Geländer dichtgedrängt ein Haufen Menschen. Viele schrieen und gestikulierten nach dem Dampfer der Agentur hinunter, wo ebenfalls am Geländer sämtliche Passagiere standen, daß er sich bedenklich nach der Seite neigte, und schrieen und gestikulierten hinauf.
Carlos und Nicolás blickten gespannt nach oben, ob sie nicht vielleicht den Lehrer erkannten, wie Zenobia ihn geschildert hatte: als einen Mann, stark und gewaltig, mit einem langwallenden Bart, zornfunkelnden Augen und einem furchtbaren Stock in der Hand; aber sie erkannten keinen solchen Mann, und Carlos sagte leise zu Nicolás: „Ich sehe ihn nicht“, und Nicolás erwiderte: „Wo ist er wohl?“
Oben wurde das Fallreep heruntergelassen. Carlos und Nicolás erstiegen mit ihrem Papa und einem großen Teil der Passagiere den Bauch des Kolosses.
„Können Sie mir nicht vielleicht einen Herrn Dr. Bürstenfeger zeigen?“ fragte der Papa einen Herrn in blauer Uniform mit einer Pfeife im Mund, der auf einer Bank saß und der aufgeregten Gesellschaft teilnahmslos den Rücken zukehrte.
Er verneinte und zeigte auf einen anderen Herrn in Uniform, dieser nickte, wies wieder auf einen anderen Herrn mit einem äußerst milden Gesicht, der einen Regenschirm in der Rechten hielt und in der Linken eine grüne Reisetasche, auf der Veilchen und Rosen gestickt waren, mit einem Nickelverschluß, der in der Sonne funkelte, und sagte laut: „Herr Dr. Bürstenfeger ...“
Carlos und Nicolás waren starr.
So also sah Herr Dr. Bürstenfeger aus? Er war nicht fürchterlich, er trug keinen gewaltigen Stock in der Hand, er hatte keinen gewaltigen Bart.
Das war der Lehrer?! Sie faßten es nicht.
Nachdem man sich gegenseitig vorgestellt hatte und einige Worte ausgetauscht, stieg man wieder das Fallreep zum kleinen Dampfer hinunter.
Während der Heimfahrt unterhielt sich der Lehrer meistens mit dem Papa.
Carlos und Nicolás verbrachten die Zeit damit, Herrn Dr. Bürstenfeger aufmerksam zu betrachten.
Sein Anzug war schwarz, die Krawatte war schwarz, der Kragen niedrig, die Manschetten mit den Knöpfen aus Elfenbein, auf welchen die Initialien RB standen, ragten ziemlich weit aus den Ärmeln heraus.
Sein hoher steifer Hut war mit dem Gummiband an dem obersten Knopf der Weste befestigt, obgleich sich kaum ein Lüftchen regte.
Carlos beobachtete sein Gesicht und überlegte, ob es vielleicht doch ein sehr grimmiges Aussehen haben könnte, wenn er einen Bart trüge, wie ihn Zenobia geschildert hatte. Er schloß die Augen, um sich das zu vergegenwärtigen, aber es gelang ihm nicht, trotz aller Mühe.
Es war eine Weile Stillschweigen, und Herr Dr. Bürstenfeger wandte sich an die Knaben; er sprach mit mildem Ernste: „Es wird euch nicht unbekannt sein, Karl und Nikolaus, daß hier der La Plata, an dem eure Heimatstadt erbaut ist, einer der imposantesten Ströme der Welt ist?“
„Ja, ja“, antworteten Carlos und Nicolás, wußten jedoch nicht, was sie weiter sagen sollten.
„Was eure Heimatstadt anlangt,“ fuhr Herr Dr. Bürstenfeger fort, „so werdet ihr wissen, daß ihr Umfang dem der französischen Hauptstadt Paris nahekommt, und daß diese Tatsache darauf zurückzuführen ist, daß eure Häuser, mit wenigen Ausnahmen, alle sehr niedrig sind.“
„Woher wissen Sie das, waren Sie schon in Buenos Aires?“ fragte Carlos begierig.
Herr Dr. Bürstenfeger lächelte: „Gewiß nicht, ich kenne von Südamerika nur flüchtig einige wenige Häfen, die ich auf dieser Reise berührt habe, aber das ist Sache des Studiums, der Bildung, Karl ...“
So gelangte man wieder bis zur Barke zurück, worauf man nochmal auf die Karren stieg.
Herr Dr. Bürstenfeger schüttelte den Kopf über diese originelle Beförderungsart; er hatte darüber noch nichts gelesen.
Auf der Landungsbrücke nahm er mit Erlaubnis des Papas die Knaben bei der Hand, Carlos rechts, Nicolás links. Man ging bis zum Wagen und fuhr dann nach Hause.
Dort begab sich Herr Dr. Bürstenfeger, von Nicolás begleitet, auf sein Zimmer, und Carlos lief aufgeregt zur Zenobia.
„Du verfluchte Schwarze,“ schrie er, „warum hast du mich angelogen; er hat ja gar keinen langen Bart?!“
Worauf Zenobia mit höhnischem Lachen antwortete: „Paß auf, der Bart wird ihm schon noch wachsen!“
Eine halbe Stunde später wurde der Lehrer mit der Mama bekannt gemacht, und dann war es Zeit zum Abendessen.
Carlos und Nicolás saßen zu beiden Seiten von Herrn Dr. Bürstenfeger. Die Unterhaltung war sehr lebhaft, an der sich aber die Knaben nicht beteiligten. Sie ihrerseits sprachen laut von Sachen, die mehr Interesse für sie hatten: von Pferden und Schafen und Ziegen, von Gänsen, Hühnern und Hahnenkämpfen, und Herr Dr. Bürstenfeger schaute manchmal mit leisem Erstaunen auf sie, aufs höchste aber erstaunte er darüber, daß, wenn ihnen ein Gericht nicht schmeckte, sie es einfach weitergehen ließen, ohne daß Papa und Mama etwas sagten ...
Nach dem Essen nahm der Lehrer Carlos und Nicolás bei der Hand und ging mit ihnen in den Garten.
Er blieb plötzlich stehen und sagte sehr ernsthaft: „Karl und Nikolaus, ein neuer Abschnitt geht in eurem Leben an. Eure braven Eltern werden euch hinlänglich unterrichtet haben, was mein Eintritt hier in diesen Kreis für euch bedeutet. Karl und Nikolaus, euch wie mir sind Pflichten auferlegt ... Ich bitte euch mit ganzer Seele, seid mir stets gehorsam, lügt niemals ... ja, lügt niemals, denn seht, nichts auf der ganzen Welt ist häßlicher, verabscheuungswürdiger. Bei den alten Germanen machte kein Laster den Mann verächtlicher, und Deutsche sind Germanen, merkt euch, Karl und Nikolaus. Euer Vater ist ein Deutscher, ihr seid Deutsche ... Sagt, wollt ihr euch bestreben, gute Deutsche zu sein?“
Hier machte Herr Dr. Bürstenfeger eine Pause.
Carlos und Nicolás, verwirrt über diese ungewohnte Rede, schwiegen.
Wenn auch manchmal der Papa mit ihnen deutsch sprach, waren sie doch Argentinier, dachten sie.
Carlos erwiderte endlich: „Aber Deutschland verliert doch immer gegen Argentinien?!“
„Wieso, Karl?!“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger überrascht.
Carlos wußte nicht recht, wie er diese Behauptung begründen sollte. Es war ihm nur eingefallen, daß er neulich mit seinem Freunde Pedro Kestner Krieg gespielt hatte, Pedro hatte eine deutsche Fahne in der Hand gehalten und war Deutschland gewesen, und Carlos hatte eine argentinische Fahne gehalten und war Argentinien gewesen.
„Und da ist Pedro auf dem Bauch gelegen,“ erzählte Carlos, „und ich stand mit dem einen Fuß auf seinem Rücken und hatte gesiegt. Papa und Mama haben zugeschaut, und Alberto Hanfstett war auch dabei und auch der Papa von Pedro. Der lachte auch, aber nicht so sehr.“
Herr Dr. Bürstenfeger zwang sich zu einem leisen Lächeln, wollte dann etwas erwidern, ließ aber klug für heute das Thema fallen.
Schweigend gingen sie weiter.
Carlos, den die Stille drückte, sagte endlich: „Ich will Argentinier sein, aber ich will mir Mühe geben, auch ein guter Deutscher zu sein.“
Und Nicolás sagte: „Ich will auch ein wenig ein guter Deutscher sein!“
Der Hauslehrer sagte zu Carlos und Nicolás: „Ihr dürft wie zuvor allein ausreiten, nur um eines bitte ich euch inständig, reitet niemals mehr Karriere, ich bin für euer Wohl und Wehe verantwortlich und muß einstehen, wenn ihr Schaden nehmt.“
Der Ton, in dem Herr Dr. Bürstenfeger das sagte, zeugte von bestimmter Erwartung, war aber im übrigen milde.
Die Knaben fühlten beide: „So frei, wie wir früher waren, sind wir nun freilich nicht“, aber sie waren erfüllt von dem guten Willen, sich ihm zu unterwerfen, da sie sich ihn ja weit schlimmer vorgestellt hatten und außerdem Zenobia bestimmt wußte, man würde einen anderen Lehrer anstellen, wenn sie diesem nicht gehorchten, und der wäre dann wirklich fürchterlich.
Carlos und Nicolás antworteten: „Wir werden nicht Karriere reiten“, aber als sie knappe zehn Minuten fort waren, erreichten sie das offene Feld, und schon rein aus Macht der Gewohnheit ließen sie den Pferden die Zügel schießen und ritten Karriere.
Herr Dr. Bürstenfeger aber war mit seinem Operngucker auf das flache Dach des Hauses gestiegen und war Zeuge ihres Ungehorsams.
„Karl und Nikolaus,“ sagte er, als sie zurück waren, mit gedämpfter Traurigkeit in der Stimme, „habt ihr Karriere geritten?“
Carlos und Nicolás senkten die Köpfe und antworteten nichts.
„Zeigt ihr euch so?! ...“ fuhr Herr Dr. Bürstenfeger mit wachsender Traurigkeit fort. „Ich schäme mich für euch, Karl und Nikolaus; geht, wascht euch die Hände, es ist Zeit zum Abendessen!“
Wie sie aber zu Bett gebracht worden waren, kam er wie jeden Abend noch, gab ihnen den Gutenachtkuß auf die Stirn, drückte ihnen leise die Hand und dachte: „Auch ihr leidet um eures Ungehorsams willen, Karl und Nikolaus.“
Anfangs waren sie wirklich ein wenig beschämt gewesen, hatten sich aber schon lange wieder erholt und waren jetzt nur von dem einen Gefühl erfüllt: Er ist ein guter Mann, der Herr Dr. Bürstenfeger!
Herr Dr. Bürstenfeger jedoch ging ins Musikzimmer, wie immer zu dieser Stunde, und phantasierte, bevor er auch schlafen ging.
Carlos und Nicolás aber lauschten mit offenen Augen, und als er geendet hatte, sagte der Ältere: „Wie seltsam, wenn Herr Dr. Bürstenfeger spielt, denke ich mir alles Schöne aus, was kommen wird, wenn ich groß bin, und ich mache weite Reisen in Ländern und auf Meeren, und wenn er aufgehört hat, versuche ich es weiter, aber es ist dann lange nicht mehr so schön.“
„Seltsam,“ meinte Nicolás, „wie du das nur so sagst; ganz das gleiche fühle ich auch! ...“
Bald nachher waren sie beide eingeschlafen ...
Über einen Monat schon war der Hauslehrer in Buenos Aires, vor etwa drei Wochen hatte der Unterricht begonnen.
Jeden Morgen um halb sieben klopfte Herr Dr. Bürstenfeger dreimal vernehmlich an Carlos’ und Nicolás’ Türe, die Knaben sprangen aus den Betten und zogen sich an.
Dann ging es hinunter zum Frühstück.
Bisher waren die Knaben gewohnt, des Morgens Kaffee zu trinken, auf Herrn Dr. Bürstenfegers Veranlassung tranken sie jetzt Kakao.
Früher war das Frühstück in zwei Minuten erledigt gewesen, jetzt saß man über eine Viertelstunde bei Tisch.
Herr Dr. Bürstenfeger, der an einem sehr schlechten Magen litt, pflegte äußerst langsam und umständlich zu kauen und stellte das gleiche Ansinnen an Carlos und Nicolás, die großartige Magen hatten, und er war gezwungen, sie jeden Augenblick zu ermahnen, da sie immer wieder seine Vorschrift vergaßen.
Nach dem Frühstück machten sie einen dreiviertelstündigen Spaziergang. Herr Dr. Bürstenfeger ging in der Mitte und hielt die Knaben an der Hand.
Dann folgte der Unterricht. Er fand in einem dafür hergerichteten Zimmer statt, in dem eine Schulbank stand und eine große schwarze Tafel mit einem Schwamm.
Zuerst kam das Rechnen, weil die Gehirne noch unverbraucht waren.
Herr Dr. Bürstenfeger stellte die Rechenmaschine vor sich auf den Tisch und fragte: „Karl, wieviel ist 3 + 2?“
Pause — Carlos schwieg.
Carlos streckte unwillkürlich die Hand nach der Maschine aus.
Herr Dr. Bürstenfeger schlug ihn leise auf die Finger.
Da mußte Nicolás antworten, und er wußte es.
„Karl, wieviel ist 3 + 1?“
Carlos streckte die Hand nach der Maschine aus.
„Sei gehorsam, Karl!“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger und richtete sich ein wenig auf, wobei er etwas rot wurde.
Carlos schwieg ratlos.
„3 + 1“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger, wandte sich halb ab, summte irgend etwas und tat, als interessiere ihn zugleich die Fensterscheibe.
Nochmal griff Carlos nach der Maschine, er hatte den Kopf vollkommen verloren. Er berührte zitternd drei Kugeln und dann noch eine, und das waren vier. Es fehlte ihm nämlich jeder Sinn für die Rechenkunst.
Herr Dr. Bürstenfeger aber ging im Zimmer auf und ab und murmelte: „Es kann nicht böser Wille sein!“
Nachher kam das Lesen. Da war Carlos schon ganz anders.
Herr Dr. Bürstenfeger schrieb ein großes U an die Wandtafel.
„Karl, was für ein Buchstabe ist das?“
„U!“ rief Carlos, er erinnerte sich ganz deutlich, daneben auf der Fibel einen Uhu gesehen zu haben.
„Richtig! Und das?“ Er schrieb ein I hin.
„I!“ rief Carlos, ganz deutlich sah er einen Igel daneben.
„Bravo!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger und schrieb ein E hin.
„E!“ sagte Carlos. Ganz deutlich sah er einen Esel daneben.
„Merkwürdig, merkwürdig,“ murmelte Herr Dr. Bürstenfeger, „wie seltsam bei ihm die Elemente auseinandergehen; individuelles Verfahren tut hier wohl not!“
Nach dem Lesen war größere Pause. Dann öffnete der Lehrer die Türe nach der Terrasse, und es kam Freiturnen: „Beinstrecken“, „Kniebeugen“, „Fußwippen“, „Mähen“, „Holzhacken“ usw. Diese Übungen begleitete Herr Dr. Bürstenfeger mit seinem eigenen Beispiel.
Daran schloß sich eine Art höheren Anschauungsunterrichtes im Garten an.
„Was ist das für eine Blume?“ fragte der Lehrer und zeigte auf ein Beet.
„Nelke!“ riefen Carlos und Nicolás.
„Nelke“, bestätigte Herr Dr. Bürstenfeger.
Sie gingen einige Minuten schweigend weiter: „Was ist das für eine Frucht?“
„Granatapfel!“ riefen sie.
„Granatapfel“, bestätigte Herr Dr. Bürstenfeger.
„Das ist ein Säugetier“, sagte er plötzlich sehr bestimmt und zeigte auf einen Wurm. Er wollte sie irreführen.
„Nein, kein Säugetier!“ riefen beide triumphierend aus. Das wußten sie doch zu genau.
Nach dem Anschauungsunterricht hatten sie frei, und dann kam das Mittagessen.
Heute gab es Hirn. Über fünf Wochen schon hatte es keines mehr gegeben.
„Herr Dr. Bürstenfeger, wir können kein Hirn essen!“ sagten sie kläglich.
Der Lehrer blickte abwechselnd beide Knaben an und kaute zu Ende.
„Karl und Nikolaus, tut mir den Gefallen, mäkelt nicht!“ antwortete er nicht ohne Milde, aber bestimmt.
Die Knaben blickten flehentlich nach der Mama.
Die Mama zeigte mit den Augen auf Herrn Dr. Bürstenfeger, sie durfte sich nicht einmischen.
Nicolás sah seinen Bruder ermutigend an, und beide würgten das Hirn hinunter, daß ihnen die Tränen auf die Teller fielen.
Nach dem Essen gingen die Knaben in den Garten, bauten eine Hütte, machten Pfeile und Bogen, um Indianer zu spielen, oder fuhren auf ihren Karren herum. Manchmal nahm Carlos ein Blatt Papier und einen Bleistift zur Hand und versuchte nach der Natur zu zeichnen, eine Baumgruppe oder sonst etwas. Das wollte er einrahmen lassen und der Mama zu ihrem Geburtstag für den Salon schenken.
„Komisch,“ sagte Nicolás, „wenn man deine Bilder von ganz nah ansieht, erscheinen sie schlecht, stellt man sich aber weiter weg, so kommen sie einem besser vor.“
Carlos war nicht sehr erfreut über diese Kritik. Er hatte es nicht so gemeint.
Von zwei bis vier war in der Regel Schule, heute aber nur bis drei, denn es fand der „große Spaziergang“ statt.
Es gab heute Schreiben, was die Knaben sehr liebten. Sie hatten dicke und dünne Striche zu ziehen, gerade und schiefe. Besonders die dicken Striche machten ihnen Freude, weil es ihnen angenehm war, auf den Bleistift zu drücken.
Das dauerte aber nur eine halbe Stunde, und dann kam das Allerschönste vom ganzen Schultag.
Herr Dr. Bürstenfeger las ihnen eine Geschichte vor, die mußten sie dann wiedererzählen.
Heute war es die Schilderung eines Turniers aus einem mit herrlichen Bildern geschmückten Sagenbuch.
Die Folge dieser Vorlesung ahnte Herr Dr. Bürstenfeger nicht, Carlos und Nicolás waren ganz aufgelöst.
Verschiedene Male war er nahe daran, das Buch zuzuklappen, so aufgeregt benahm sich Carlos.
„Weißt du was,“ sagte dieser nach der Schule zu Nicolás, „sobald wir vom großen Spaziergang zurück sind, veranstalten wir zusammen ein Turnier.“
Und Nicolás war damit aufs höchste einverstanden.
Die „großen Spaziergänge“ aber dauerten mindestens bis um sechs. So hatte es Herr Dr. Bürstenfeger eingerichtet.
Heute schlugen sie den Weg nach der Stadt ein. Da für Carlos und Nicolás Schuhe zu kaufen waren, wollte man die Gelegenheit benützen.
Über eine Stunde gingen sie auf der großen breiten Straße. Herr Dr. Bürstenfeger marschierte, den Blick geradeaus gerichtet, in langsamem, aber regelmäßigem Tempo. Carlos und Nicolás gingen an seiner Hand mit gedämpfter Unzufriedenheit auf ihren Mienen.
Manchmal drehte sich ein Passant um und lächelte.
Auch geschah es, daß irgendein Gassenjunge ihnen eine Hand voll trockenen Kotes nachwarf.
Carlos vergaß sich und wollte auf ihn eindringen. Herr Dr. Bürstenfeger aber drückte strafend seine Hand und sagte: „Karl, kümmere dich nicht darum!“
So gelangte man bis zum Zentrum; hier waren die Straßen sehr eng, das Pflaster zum Teil sehr holperig, überall roch es nach Gas, weil an der Leitung gearbeitet wurde. Große, beladene Karren fuhren unter fürchterlichem Getöse langsam und schwerfällig aneinander vorüber, die Tramways fuhren im Schritt, von Zeit zu Zeit zu kurzem Trab einsetzend, mußten aber wieder jäh bremsen; die kleinen abgehetzten Pampaspferde streckten sich in ihrer ganzen Länge, um den Wagen nochmal in Bewegung zu bringen, eines stürzte und lag da mit vor Ermattung geschlossenen Augen.
Aus den offenen Magazinen drang der Geruch von Teer, von getrocknetem Stockfisch. An einem Haustor stand ein Neger, einen Sack auf dem Kopf und keuchte.
Herr Dr. Bürstenfeger bahnte sich, Carlos und Nicolás an der Hand, einen Weg durchs Gedränge, schüttelte den Kopf und murmelte: „Schon über 30 Advokatenschilder in einer halben Stunde gezählt.“
Sie kamen bis zur Calle Florida. Dies war die Straße des eleganten Publikums und der schönen Läden.
Vor der Confiteria del Aguila stauten sich die Gecken. Elegante, schöne Frauen gingen vorüber. Equipagen fuhren langsam in langer Reihe.
Herr Dr. Bürstenfeger blieb plötzlich stehen und sah zu einem Haus empor. Auf dem Dache ragte eine Flasche, wohl über 8 Meter hoch. Die Flasche war aus Holz, und der Name eines bekannten Likörs stand schräg darauf in Riesenlettern.
„Amerikanismus!“ murmelte Herr Dr. Bürstenfeger und stampfte leise mit dem Fuß auf.
Ein paar Minuten später traten sie in den Schuhladen ein. Als sie wieder herauskamen, hatten Carlos und Nicolás strahlende Gesichter: jeder hielt einen eben geschenkten Luftballon in der Hand. Sie schauten abwechselnd zu ihnen hinauf und herab auf die neuen Schuhe, die sie trugen, und das erschwerte sehr das Gehen im Gedränge. In einem fort mußte Herr Dr. Bürstenfeger ermahnen.
Sowie sie aus dem ärgsten Gewühl heraus waren, zog Herr Dr. Bürstenfeger seine Uhr und sagte: „Jetzt steigen wir in eine Tram und machen unseren versprochenen Besuch bei der Familie Hanfstett.“
Der siebenjährige Alberto Hanfstett, ein bildschöner und verwöhnter Knabe, war ein Freund von Carlos und Nicolás. Auch seine Mutter hatten sie von Herzen gern, denn sie gab ihnen Kuchen und Bonbons, soviel sie nur wollten, und sie freuten sich jetzt darauf.
Seit vierzehn Tagen hatten sie auch dort einen Hauslehrer, einen gewissen Herrn Klausroth, der mit der Absicht, sich dem kaufmännischen Beruf zu widmen, nach Amerika gekommen war. Seine Anlagen aber waren rein pädagogische, und so hatte er sich zum Kaufmann ungeeignet erwiesen.
Herr Dr. Bürstenfeger war nur einmal flüchtig mit ihm zusammengekommen, und er sehnte sich, in nähere Beziehungen zu ihm zu treten.
Auf der Trambahn verkürzten sich die Knaben die Zeit damit, daß sie die Insassen einer heiteren Kritik unterzogen.
„Sieht nicht unser Gegenüber so aus wie eine Ziege?“ fragte Carlos leise.
Nicolás quiekte: „Großartig, ganz wie eine magere Ziege!“
Carlos fragte: „Schau dir mal den dort drüben an, sieht er nicht so aus wie ein Huhn?“
Nicolás betrachtete ihn eine Weile mit naiver Unverblümtheit und bestätigte es fröhlich.
Carlos fand, daß ein kleiner dicker Herr, der seine Brille abgenommen hatte und jetzt matt und müde dreinblickte, einem abgezäumten Pony glich; auch damit war Nicolás sehr einverstanden.
Herr Dr. Bürstenfeger hatte einige spanische Worte, die er verstand, aufgefangen und legte sich ins Mittel, denn er fand solche Vergleiche sehr unpassend.
Hanfstetts bewohnten eine prächtige Villa in einer schönen, breiten Straße.
Der Diener, der ihnen öffnete, geleitete sie bis zur Türe des Schulzimmers: „Der Unterricht müsse schon zu Ende sein.“
Sie klopften, traten ein, aber es war noch Schule.
Herr Klausroth stand vor der Schulbank, ein Buch in der Hand und sagte:
„ La mesa der Tisch.“
Unter der Bank aber hockte Alberto und sang trotzig zu einer selbst erfundenen Melodie: „Ich will kein Deutsch lernen!“
„ La mesa der Tisch“, wiederholte Herr Klausroth mit einem zynischen Lächeln.
Er durfte ihn nicht hauen, die Mama erlaubte es nicht.
„ Tschisch, tschisch “, sagte Alberto. Das bedeutete Tisch und war eine Verhöhnung der deutschen Sprache.
Herr Dr. Bürstenfeger, der anfangs nicht begriff, was da vorging, machte plötzlich einen Schritt zurück und breitete abwehrend die Hände nach Carlos und Nicolás aus.
„ La mesa der Tisch“, sagte Herr Klausroth, lächelte, stampfte leise mit dem Fuß auf und spielte mit fünf Fingern Klavier auf der Bank.
Jetzt wollte Alberto sich vor Carlos und Nicolás zeigen.
Er kroch unter der Bank heraus, verfügte sich auf allen vieren hinter eine lange Gardine und war unsichtbar.
Herr Klausroth folgte ihm.
„ La mesa der Tisch“, wiederholte er mit wachsendem Zynismus.
Er rieb sich die Hände: „Ich darf ihn nicht hauen, ich haue ihn nicht! La mesa der Tisch.“
Nun erfolgte gar keine Antwort.
Herr Klausroth fuhr fort, sich die Hände zu reiben, und lachte laut; er schien ungemein aufgeräumt zu sein.
Alberto steckte den Kopf zur Gardine heraus und rief: „ Tschisch, tschisch, tschisch! “
In dem Augenblick aber ging die Tür auf, und der Papa stand auf der Schwelle, eine Gerte in der Hand.
Er hatte geahnt, was vorging.
Schnurstracks verfügte er sich zur Gardine, und was jetzt geschah, sahen weder Herr Dr. Bürstenfeger noch Carlos und Nicolás.
Bestürzt packte er sie bei den Händen und verließ mit ihnen das Haus.
In ihrem Zimmer aber saß Albertos Mama und weinte, weil ihr Sohn Prügel bekommen sollte.
Sie war eine geborene Rodriguez, und auch sie haßte die deutsche Sprache ...
Herr Dr. Bürstenfeger ging, Carlos und Nicolás an der Hand, die schöne breite Straße entlang mit beschleunigten Schritten, weil die Erregung noch mächtig in ihm war.
Sie kamen an der herrlichen Villa der Familie Ilinares vorbei.
Aus dem Gartenportale fuhr eine elegante Equipage heraus, in der das achtjährige Töchterchen Julietta mit ihrer Gouvernante saß.
Man grüßte. Carlos sagte zu Herrn Dr. Bürstenfeger: „Das hübsche Mädchen ist meine Braut.“
Herr Dr. Bürstenfeger zwang sich zu einem Lächeln: „Du kannst noch keine Braut haben, Karl.“
„Warum nicht?“
„Weil du noch zu jung bist“, dabei drückte er kaum merklich seine Hand.
„Bah!“ antwortete Carlos, „Alfredo Lopez, mein Freund, ist ein Jahr jünger als ich, und hat acht Bräute.“
Herr Dr. Bürstenfeger antwortete nichts, runzelte aber stark die Stirn.
In die schöne, breite Straße, auf der sie gingen, mündete eine andere, die stark vernachlässigt war.
Es war kein Trottoir und kein Pflaster da, außerdem versank man ein wenig in den Kot.
Irgendwo lag ein totes Pferd mit aufgedunsenem Bauch.
Aasgeruch wehte herüber.
„Brr!“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger, ließ Carlos’ Hand los und hielt sich die Nase zu.
„Das ist noch gar nichts!“ rief Carlos und bückte sich nach einem Ziegelstein. „Passen Sie auf, jetzt werfe ich, das Pferd platzt und dann stinkt es ganz fürchterlich!“
„Halt ein!“ schrie Herr Dr. Bürstenfeger, ließ seine Nase los, packte Carlos’ Hand wieder und floh mit ihnen aus dem Bereich des Kadavers.
Es waltete aber ein Unstern über dem heutigen Tage. Zu Hause angekommen, sagte Carlos zu seinem Bruder: „Wir haben noch Zeit; jetzt führen wir unser Turnier auf!“
In einer halben Stunde hatten sie aus Brettern zwei Schilde gezimmert; aus Zeitungspapier machten sie primitive Helme, in die sie Hahnenfedern spießten.
Zwei lange Stecken, an deren Spitzen ein Wedel war, womit man an den Decken der Zimmer nach Spinngeweben suchte, verwandelten sie in Lanzen.
Die Wedel aber wurden zum Kopfschmuck ihrer Ponys verwandt, denen sie auch noch die Stalldecken umgelegt hatten.
Ihrem vierjährigen Schwesterchen, die sie „die Dicke“ nannten, weil sie kugelrund war, drückten sie eine Kindertrompete in die Hand. Sie war der Herold und mußte zum Kampfe blasen.
Carlos und Nicolás stiegen auf ihre Pferde; sie waren anzuschauen wie zwei prächtige Ritter. Die Backen des Schwesterchens blähten sich, Carlos und Nicolás stürmten aufeinander los, über die Beete.
Wie sie ganz nahe beieinander waren, scheuten die Pferde und machten einen Sprung auf die Seite, so daß sie unverrichteter Sache ein Stück weitertraben mußten.
Wieder stellten sie sich auf, wieder wollten sie aufeinander eindringen.
Schon kündigte die Schwester den Kampf an, als mit fliegenden Schößen eine Gestalt daherkam: „Wehe euch, Karl und Nikolaus, haltet ein!“
„Halt ein!“ schrie Herr Dr. Bürstenfeger und war mit einigen Sprüngen am Zügel von Carlos’ Pferd.
„Die Dicke“ floh erschrocken mit der Kindertrompete.
Carlos ließ die Lanze sinken.
„Herunter!“ schrie Herr Dr. Bürstenfeger und machte mit beiden Zeigefingern eine gebieterische Bewegung nach der Erde.
Die Knaben stiegen ab, und ohne Schild und Lanze — Carlos hatte auch noch seine Hahnenfeder verloren — folgten sie dem Lehrer in der Richtung des Hauses.
Friedlich grasten die Ponys nebeneinander, während die Wedel auf ihren Köpfen leise zitterten.
Wetternd tauchte von der einen Seite der Gärtner auf und höhnend von der anderen José, der Knecht ...
Von nun an war Herr Dr. Bürstenfeger ungemein scharf in seinen Maßregeln.
Wenn die Knaben ausritten, ging er neben ihnen zu Fuß auf dem Trottoir.
Das war eine schwere Zeit gewesen, viele Wochen hatte die Mama sehr krank im Bette gelegen. Seit gestern erst durfte sie wieder ein wenig im Garten spazierengehen, und heute hatte der Arzt bestimmt, daß sie in die Kordilleren hinauf sollte, dort würde sie sich vollständig erholen.
Carlos und Nicolás mußten mit Herrn Dr. Bürstenfeger vorausreisen. Er hatte im Auftrage der Eltern einiges mit Don Pablo Romero zu besprechen, der sich in dieser Zeit in Mendoza aufhielt, ihnen aber sein Landgut oben am Fuße der Berge beinahe ganz zur Verfügung gestellt hatte. Die wichtigen Teile in dieser Angelegenheit wurden Herrn Dr. Bürstenfeger so oft und so nachdrücklich auseinandergesetzt, daß er anfing, sich etwas beleidigt zu fühlen. Man hatte ihn nämlich im Verdacht, ein wenig unpraktisch zu sein.
Viel Mühe hatte er nun, Carlos und Nicolás zu beruhigen, die die Abreise mit brennender Ungeduld erwarteten; wo sie auch waren, in der Schule, auf den Spaziergängen, bei Tische, weilten ihre Gedanken in den fernen Bergen, die sie zum erstenmal in ihrem Leben besuchen sollten, bei Maultieren, Pumas und Kondors.
Herr Dr. Bürstenfeger aber, der sich ein Bild von Land und Leuten machen wollte, kaufte sich eine Karte und spanische und deutsche Bücher; die spanischen las er mit Hilfe eines dickbauchigen Lexikons, das er aus Europa mitgebracht hatte. Die Karte breitete er auf dem Tisch aus und spießte Stecknadeln auf Flüsse und Berge, Städte und Dörfer, die ihn interessierten.
Carlos brannte vor Neugier, zu wissen, was das zu bedeuten habe, wagte aber nicht zu fragen, weil die Erläuterungen des Hauslehrers immer fürchterlich lang waren ...
Zehn Tage später saßen die drei im Herrenschlafwagen der Pazifikbahn. Bald hatten sie Buenos Aires mit seinen Lichtern, Schornsteinen, Vororten und Anlagen hinter sich, und es umfing sie die weite Pampa.
Carlos und Nicolás hatten schon lange keine Eisenbahnfahrt mehr gemacht, nach dem Landgut reisten sie immer zu Schiff. In einem Schlafwagen aber waren sie noch nie gefahren.
Alles um sie her war neu und entzückte sie. Sie kletterten auf die Betten und tasteten nach der Decke hinauf, die sie nicht erreichen konnten, sie berochen die Wand, den Lederriemen an der Fensterscheibe, sogar die Reisetasche eines fremden Herrn, bis Herr Dr. Bürstenfeger, der mit dem Gepäck beschäftigt war, es sah und einschritt.
Nach zehn Uhr ermahnte er sie, sich zum Schlafen niederzulegen.
Das war eine neue Freude für die Knaben.
Der Hauslehrer war schon eingeschlafen, als sie sich das Versprechen abnahmen, einander zu wecken, wenn einer von ihnen auch einschlafen sollte, was doch zu schade wäre. Und so sahen sie, auf ihren Arm gestützt, zum Fenster hinaus, und als ihnen das zu langweilig wurde, starrten sie zur Decke empor, wo über ihnen leise die Lampe zitterte. Ganz hinten im Wagen schnarchte jemand von Zeit zu Zeit. Jedesmal ließ dann ein anderer in seiner Nähe ein Wimmern oder ein Seufzen hören. Herr Dr. Bürstenfeger aber lag auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet, und gab keinen Laut von sich.
Endlich schliefen auch Carlos und Nicolás ein. Als sie erwachten, ging gerade die Sonne auf, und zu beiden Seiten des Geleises lag ein Feld von Gerippen, Knochen von Pferden und Rindern, die der letzte große Frost getötet hatte. In der Ferne galoppierte ein Reiter. Dann verschwanden Reiter und Gerippe, der Zug fuhr an einer Lagune vorbei, groß wie ein See, bevölkert mit Reihern und Störchen, Kibitzen und Enten. Weit entfernt stand ein Ombú, am Horizont eine große Baumgruppe, irgendein Landsitz. Und beide bewegten sich in ihrer Richtung.
Herden von Straußen weideten nahe am Geleise, weiter hinten verbreitete sich als großer, hellgrauer Fleck eine Schafherde.
Dann erschienen Rinder und Pferde. Sie trabten manchmal bis dicht ans Geleise heran und flohen wieder zurück, die Rinder mit erhobenen Schweifen, die Pferde mit steilen Mähnen.
Der Zug hielt an einer kleinen Pampastation. Eine Dame stieg in den vorderen Wagen, eine Provinzlerin in bunten Farben, sie hatte sich für die Reise aufgeputzt. Eine fette alte Indianerin in einem geblümten Kattunkleid bot Fleischpasteten feil, verkaufte aber nichts, weil die Passagiere noch schliefen.
Neben der Station stand ein Tilbury mit zwei abgetriebenen Gäulen. Sie schlugen mit den kotigen Schwänzen nach den ersten Fliegen, die ihnen der heiße Sommertag brachte. In einiger Entfernung sauste die Post heran, in eine Staubwolke gehüllt. Zwölf Pferde waren davorgespannt.
Der Zug fuhr weiter.
Man stand auf und trank den Kaffee im Restaurationswagen. Als Carlos und Nicolás zurückkehrten, hatte sich der Schlafwagen zu ihrem nicht geringen Erstaunen vollständig verändert, an der Stelle der Betten standen Stühle.
Bis zum Abend ringsum das gleiche Bild: Rinder, Pferde, Schafe, Strauße und die weite Pampa.
Aber Carlos und Nicolás langweilten sich nicht. Sie verstanden, sich die Zeit auf ihre Weise zu vertreiben. Sie zählten z. B. die gescheckten Rinder, die gescheckten Pferde und schwarzen Schafe, die sie sahen, und wer mehr gezählt hatte, hatte gewonnen.
Oder sie führten seltsame Gespräche miteinander. Carlos fragte tiefsinnig: „Was möchtest du lieber sein, wenn man dich wählen ließe, der Mann, der dort in der Ferne reitet, oder dieser Herr im Staubmantel auf dem Perron?“ Und Nicolás antwortete, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte: „Lieber dieser Herr, denn er ist kein Gaucho und braucht niemandem zu dienen.“
Carlos entgegnete: „Aber der Gaucho kann reiten, so viel er will, vom Morgen bis zum Abend.“
Darauf wußte Nicolás nichts zu erwidern.
Dann gaben sie diesem Frage- und Antwortspiel eine scherzhafte Wendung. Carlos fragte: „Was möchtest du lieber sein, der Stuhl, auf dem du sitzest, oder der Stuhl, auf dem ich sitze ?“
Da griff gewöhnlich Herr Dr. Bürstenfeger in diese Unterhaltung ein, weil er sie zu albern fand, und schlug etwas Nützlicheres vor. Er holte einen Band Fabeln oder ein Märchenbuch aus seiner Reisetasche und las den Knaben vor.
Damit waren sie auch einverstanden, und mit pochenden Herzen und roten Gesichtern hörten sie zu, und ihre Blicke hingen an seinen Lippen.
Bei besonders aufregenden Stellen, wie z. B. da, wo die böse Hexe sagt: Heda, Gretel, sei flink und trag Wasser, Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen, fuhr Carlos von seinem Stuhl auf und zuckte mit der Nase.
Herr Dr. Bürstenfeger klappte das Buch über seinen Zeigefinger zusammen und sagte mißbilligend: „Verhalte dich still, Karl, und mache keine Grimassen!“ Und um zu zeigen, wie häßlich das aussähe, fuhr er selbst von seinem Stuhl auf und zuckte ein paarmal mit der Nase, hielt sich aber dabei den Kneifer fest, damit er nicht herunterfalle. Dann las er in seiner Geschichte weiter ...
Gegen Abend wurde verkündet, daß man in einer Stunde die ersten Ausläufer der Kordilleren sehen würde.
Sofort knieten Carlos und Nicolás ans Fenster und ihr Blick war unverwandt nach dem Horizont gerichtet; sie rührten sich nicht von der Stelle, bis die Berge auftauchten, aber da waren sie enttäuscht, denn sie hatten sie sich viel, viel höher vorgestellt ...
Am nächsten Morgen um sechs Uhr kamen sie in Mendoza an.
Herr Dr. Bürstenfeger trat, Carlos und Nicolás an der Hand, aus seinem Zimmer im Hotel, hinaus auf den ersten Hof. Ein Orangenbaum stand dort, an dem drei große Knochen hingen.
„Was sind das für Knochen?“ wandte sich Herr Dr. Bürstenfeger an einen Kellner.
„Menschenknochen, eine Erinnerung an das große Erdbeben vor dreißig Jahren.“
„Barbarisch!“ dachte der Hauslehrer, blieb eine Weile in Gedanken versunken vor dem Baum stehen, und dann erinnerte er sich plötzlich, daß er den Eltern einen Brief zu schreiben habe.
Er überließ Carlos und Nicolás eine kleine Viertelstunde sich selbst und ging zurück in sein Zimmer.
Er schrieb, daß sie heute gesund angekommen seien, Karl und Nikolaus seien ganz artig, er werde ein wenig Toilette machen und sich mit ihnen zu Don Pablo Romero begeben und dann auch der Familie Igarzabal Grüße bringen, wie er es am Tage der Abreise versprochen habe.
Carlos und Nicolás gingen unterdessen nach dem zweiten Hof und sahen dort einen kleinen barfüßigen Indianer, der Ball spielte. Carlos fragte, ob sie mitspielen dürften, er sagte ja, und sie waren drei Parteien.
Das erste Mal gewann der Indianer, das zweite Mal Nicolás, das dritte Mal wieder der Indianer.
Darauf kauerten die drei sich an die Wand hin.
Carlos fragte den Indianer, wie er heiße.
„Julio!“ antwortete er. „Ich bin von Julio Roca bei seinem letzten Ausfall im Azul erbeutet worden.“
„Also bist du ein wilder Indianer?“ fragte Carlos nicht ohne Respekt.
„Ich bin Indio Pampa!“ sagte Julio mit Würde, „mein Vater wurde getötet, meine Mutter ist in Stellung in Entre-Rios.“
„Siehst du oft deine Mutter?“ fragte Carlos.
„Ich habe sie seit dem Tage, an dem ich gefangen wurde, nicht mehr gesehen.“
„Warst du sehr traurig, als dein Vater getötet wurde?“ fragte Nicolás.
Julio grinste.
Herr Dr. Bürstenfeger trat auf. Er nahm Carlos und Nicolás bei der Hand, und sie gingen zu Don Pablo Romero.
Der Hauslehrer wußte, daß alle Häuser in Mendoza, die bekleideten und die unbekleideten, aus Lehm waren, seit dem letzten fürchterlichen Erdbeben.
Aber man begann bereits das Unglück zu vergessen, und von Zeit zu Zeit wagte sich wieder ein Ziegelsteinbau empor.
Es war heute ein trüber Tag, in der Luft lag ein seltsamer Geruch, den Herr Dr. Bürstenfeger sich nicht zu deuten wußte.
Es war der Geruch von Kräutern auf den nahen kahlen Bergen, womit die Ziegenhirten ihr Feuer anzündeten.
Den Knaben schien es, als ob die Menschen auf den ziemlich leeren Straßen unheimlich langsam gingen und als ob auch die Wagen und Karren unheimlich langsam fuhren.
Vor dem Hause Don Pablo Romeros wartete ein Kabriolett.
Herr Dr. Bürstenfeger klopfte mit dem bronzenen Klopfer an die Tür.
Eine alte, schmutzige Mulattin, gefolgt von einer Meute von Hunden, öffnete.
Mitten im Hof stand ein verkrüppelter Orangenbaum, überall lungerten Dienstboten herum. Im Hintergrund lehnte ein Bursche an einer Mauer und spielte auf einer Mundharmonika.
Ein großer zottiger Hund lag auf der Erde und wälzte sich nach den Sonnenstrahlen, die die Wolken durchbrachen, erschauerte aber, als zugleich ein feiner Sprühregen ihn bespritzte.
Die Mulattin führte die Gäste ohne weiteres in den Salon. Auf den Möbeln waren die Bezüge, auf dem unebenen Fließboden lagen Zigarettenstummel. Es roch nach Weihrauch.
Die Mulattin forderte sie auf, zu Don Pablo Romero einzutreten.
Der lag in seinem Zimmer, das von Zigarettenqualm erfüllt war, im Bett. Seine Füße schauten unter einer wollenen Decke hervor. Sie ruhten auf einem schwarzen, vollständig unbehaarten, mit Warzen bedeckten Hunde.
Der Hauslehrer erfuhr später, daß man solche Hunde dort als Bettwärmer gebrauchte.
Auf dem Nachttisch schwammen in einer braunen Brühe unzählige Zigarettenstummel.
Während sich Herr Dr. Bürstenfeger mit dem Hausherrn unterhielt, machten die Knaben ihre Beobachtungen; sie sahen, daß Don Pablo Romero kein Nachthemd trug, sondern ein Taghemd, sie sahen, daß aus der einen Warze des Hundes ein langes Haar wuchs. Sie beobachteten Herrn Dr. Bürstenfeger, wie er die Hände bewegte, während er sprach, denn weil er sich nur schwer auf spanisch verständlich machen konnte, mußte er stark durch Gestikulationen nachhelfen, und sie sahen, wie er bei seinen Erläuterungen Kreise zog, Dreiecke beschrieb, wie er die Hände auseinanderbreitete und sie beseligt wieder zusammenlegte, weil er das Wort gefunden hatte.
Don Pablo Romero sagte endlich, sein Kabriolett warte draußen, er habe beabsichtigt, heute hinauf nach seinem Gute zu fahren, aber es werde wohl nichts daraus werden.
Er lud den Hauslehrer und die Knaben ein, mit ihm eine Fahrt in die Umgebungen der Stadt zu machen, etwa in einer Stunde, wenn es ihnen recht sei.
Sie waren damit einverstanden, verabschiedeten sich und gingen ein paar Straßen weiter zur Familie Igarzabal. Herr Dr. Bürstenfeger klopfte. Nach einer langen Pause, in der sich nichts rührte, stellte sich Carlos auf eine Fußspitze, streckte den Arm aus und wollte noch einmal klopfen, aber Herr Dr. Bürstenfeger zog streng seinen Arm zurück. Schließlich mußte er sich selbst dazu entschließen. Jetzt hörte man eine Stimme, von der man nicht wußte, ob sie aus dem Munde einer Frau oder eines Mannes kam. „Pancha, man hat geklopft!“
Und dann nach einer Weile aus dem Hintergrund links eine andere Stimme, und diesmal war es bestimmt die einer Frau: „Es hat geklopft, Pancha!“
Darauf näherten sich träge Schritte, und eine Magd mit einem Kropf öffnete.
Herr Dr. Bürstenfeger machte ein schmerzliches Gesicht. Sie führte sie geradewegs in den Salon.
Dort waren elf Frauen versammelt und unter ihnen ein kleiner fetter Herr mit einem blassen weichen Gesicht und einer hängenden Unterlippe.
Es war die Familie Igarzabal. Wie Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás wußten, lauter Geschwister. Zwei hatten eine Häkelarbeit in der Hand. Zu ihrem großen Erstaunen sahen die Knaben, daß auch der Herr häkelte.
Don José Igarzabal erhob sich und sprach; und es war jene Stimme, von der man nicht wußte, ob sie einer Frau oder einem Mann angehörte.
Sie blieben nicht lange dort.
Um die Stunde auszufüllen, nach deren Ablauf sie bei Don Pablo Romero sein sollten, gingen sie ein wenig auf den Straßen spazieren.
Die Sonne hatte sich hinter den Wolken verkrochen, es regnete nicht mehr.
Alle drei waren ziemlich wortkarg, es erfüllte sie eine unbestimmte Traurigkeit. Besonders der Hauslehrer war sehr niedergeschlagen ...
Die Magd Don Pablo Romeros bat sie, sofort ins Schlafzimmer zu gehen.
Sie klopfte, es blieb still; da hatte Carlos, bevor Herr Dr. Bürstenfeger ihn daran hindern konnte, geöffnet.
Eingehüllt in Zigarettenqualm, schlief der Hausherr, der Hund knurrte. Der Lehrer nahm Carlos und Nicolás bei der Hand, und sie verließen das Haus.
Sie kehrten ins Hotel zurück, Herr Dr. Bürstenfeger zuerst ungemein gekränkt über Don Pablo Romeros Empfang, dann aber gequält von einem Gefühl wachsender Traurigkeit.
Wieder schien die Sonne durch die Wolken, wieder rieselte ein feiner Regen herab.
Über ihnen spielte jemand immer wieder eine Tonleiter ...
Plötzlich trat der Hauslehrer auf eine tote Ratte, machte einen Sprung und wischte sich dann den Schweiß von der Stirne ab.
Sie gingen weiter. Da sah Herr Dr. Bürstenfeger ein Plakat, das er in Breslau bei seiner Abreise noch gesehen hatte. Seine Züge erhellten sich, aber bald umfing ihn wieder Traurigkeit.
Im Hotel bat er die Knaben, in den Hof zu gehen und Ball zu spielen, er wollte sich ein wenig ausruhen.
Kaum war er in seinem Zimmer, als Carlos auf einen Berg zeigte und Nicolás den Vorschlag machte, hinaufzusteigen, in einer Viertelstunde würden sie wieder zurück sein.
Sie gingen und gingen, länger als eine Stunde, weit zur Stadt hinaus, an Weinbergen vorbei, die von niedrigen Lehmmauern umschlossen waren, aber der Berg entfernte sich immer mehr von ihnen.
Da fragte Carlos einen Mann, der einen Kropf hatte, wie weit es wohl bis dahin sei.
Der Mann antwortete, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte: „Etwa drei bis vier Stunden.“
Carlos und Nicolás konnten das nicht begreifen, aber sie mußten sich entschließen, zurückzukehren, denn es war spät und Herr Dr. Bürstenfeger würde wohl sehr unruhig sein. Der Mann begleitete sie ins Hotel zurück. Nicolás schaute manchmal verstohlen nach seinem Kropf.
Aber Herr Dr. Bürstenfeger hatte sonderbarerweise ihre lange Abwesenheit gar nicht beachtet. Er saß in seinem Bett und las in einem spanischen Buch mit Hilfe des dickbauchigen Lexikons, das er aus Europa mitgebracht hatte, über das letzte fürchterliche Erdbeben in Mendoza.
„Warum haben die Menschen so viel Kröpfe hier?“ fragte Nicolás.
„Ja, das ist nicht schön!“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger. „Aber das macht das kalkige Wasser.“
Nach Tische ging Herr Dr. Bürstenfeger mit den Knaben spazieren.
Ein Bettler bat um Geld. Er hatte beim letzten großen Erdbeben ein Bein eingebüßt; er war geschwätzig, und um sich interessant zu machen, erzählte er, daß er dabei seine Eltern und seine sämtlichen Geschwister verloren habe.
Sie kamen durch den Teil der Stadt, von dem nur noch Ruinen erhalten waren, ein eingestürzter Kirchturm, eingestürzte Tore, geborstene, mit Gras bewachsene Mauern.
Herr Dr. Bürstenfeger murmelte: „In einer einzigen Nacht sind beinahe zwanzigtausend Menschen in dieser Stadt umgekommen.“
Der folgende Tag war stockfinster. Staub fegte durch die Straßen, aber es regnete nicht.
Der Hauslehrer ging mit den Knaben in der Stadt spazieren, er ging später in seinem Zimmer auf und ab über eine Stunde lang, von einer Aufregung ergriffen, die immer mächtiger wurde ...
Es war nach Mitternacht, als er sich zu Bett legte. Kaum war er im Bett, als er wieder aufstand und sich anzog; er drückte den Kopf an eine Fensterscheibe, würgte die Tränen hinab, die ihm gewaltsam in die Augen drangen, und ballte die Fäuste.
So war Herr Dr. Bürstenfeger noch nie gewesen.
Er setzte sich aufs Kanapee und pfiff mit einer fürchterlichen Miene ein lustiges Liedchen.
Dann zog er sich rasch aus und warf sich aufstöhnend ins Bett. Lange wälzte er sich herum, plötzlich begann er zu beten: „Unser Vater, der du bist im Himmel ...“
„Unser Vater, der du bist im Himmel ...“ wiederholte er.
Vier, fünfmal rekapitulierte er, aber er hatte in seiner maßlosen Aufregung die Fortsetzung vergessen.
Er saß in seinem Bett aufgerichtet und stierte ins Dunkle. Dann fiel er in wahnsinniger Erschöpfung zurück.
Er schlief zwei Stunden traumlos und dann träumte er, daß er von Bremen reise, und es war Sturm auf der See.
Er erwachte und hielt sich am Bettpfosten fest.
Draußen aber schwankten die Kirchtürme, daß die Glocken erklangen, die Menschenknochen im Orangenbaum bewegten sich; dann war es ruhig.
Die Leute im Hotel stürzten auf den Hof hinaus, die Einheimischen, die die Gefahr besser kannten, auf die Straßen.
Herr Dr. Bürstenfeger stürzte in Carlos’ und Nicolás’ Zimmer und dann mit ihnen ebenfalls auf den Hof hinaus.
Don Pablo Romero floh aus seinem Hause, in eine wollene Decke gehüllt, gefolgt von seinem schwarzen Hunde.
Don José Igarzabal floh im Hemd mit seinen elf Schwestern.
Aus allen Häusern stürzte man heraus; es war jetzt mit einem Mal eine furchtbare Bewegung in Mendoza.
Der Hotelhof war angefüllt mit Menschen.
In einem Zimmer aber saß eine schöne, blonde Frau und hielt einen kleinen Knaben und ein kleines Mädchen umfangen. Sie schämte sich, im Hemd zu fliehen.
Herr Dr. Bürstenfeger stand neben einer kaum bekleideten Engländerin.
Sie starrte nach der Hofmauer vor sich, in der ein breiter Riß gähnte ...
Eine halbe Stunde verging, es blieb ruhig.
Da erinnerte sich plötzlich Herr Dr. Bürstenfeger, daß er im Hemd war, und schämte sich.
Er ging in sein Zimmer, bekleidete sich schnell, holte zwei Decken und warf sie um Carlos und Nicolás.
Dann eilte er mit ihnen hinaus auf den Platz vor dem Hotel.
Eine Menschenmenge war dort versammelt.
Im Hintergrund kniete ein Priester und betete laut.
Die Knaben blickten erstaunt auf einen Zwerg mit einem Wasserkopf, der, ein Bündel in der Hand, laut heulte.
Über zwei Stunden stand dort Herr Dr. Bürstenfeger mit Carlos und Nicolás. Es blieb ruhig, die Sonne ging auf, die Luft war klar und schön.
Auf den Bergen zündeten die Hirten ihre Feuer an. Der Duft der Kräuter erfüllte die Stadt.
Carlos sagte zu Nicolás: Das ist der Geruch des Erdbebens.
Herr Dr. Bürstenfeger aber kehrte mit ihnen ins Hotel zurück. Auf seinen Lippen ruhte ein Lächeln großer Befreiung; er legte sich zu Bett und schlief zwölf Stunden hintereinander. Manchmal träumte er von seiner Heimat.
Die Ansiedelung Don Pablo Romeros war eine kleine Oase, die aus einigen Wiesen, einem Obstgarten und einer Pappelallee bestand. Hinten erhoben sich die grauen, kahlen, nur mit dichtem Gestrüpp und Kakteen bewachsenen Berge, und vorn senkte sich ebenfalls kahl und grau die Ebene in die Pampa hinab.
Bloß zwei Zimmer seines Häuschens bewohnte Don Pablo, die übrigen hatte er Carlos’ und Nicolás’ Eltern überlassen, und weil trotzdem Raummangel war, waren noch drei Zelte aufgespannt worden. Das eine, etwas abseits gelegen, bewohnten die weiblichen Dienstboten, das zweite war als eine Art kleiner Salon hergerichtet, und im dritten schliefen Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás.
Seine Sorge um die Knaben blieb immer gleich mustergültig. Morgens, wenn sie erwachten, stand er an ihrem Bett, beinahe den ganzen Tag ließ er sie nicht aus den Augen. Abends, wenn sie schlafen gingen, kam er noch und gab ihnen den Gutenachtkuß.
Zum nicht geringen Verdruß der beiden hielt er aber immer fest am Prinzip der weiten Spaziergänge. Nur an Tagen, an denen er besonders zufrieden mit ihnen war, durften sie, während er zu Fuß ging, rechts und links von ihm auf ihren Maultieren reiten. Wünschten sie zu galoppieren, mußten sie fragen, und Herr Dr. Bürstenfeger antwortete: „Ja, aber nur bis zu jenem Strauch oder jener Kuh!“ oder er verweigerte auch die Erlaubnis.
In der Regel aber blieb es bei den gewöhnlichen Spaziergängen, und sie durchstreiften zusammen die Gegend nach allen Richtungen. Zu Hause banden sie sich, auf Wunsch von Herrn Dr. Bürstenfeger, Lappen um die Füße, um keine Blasen zu bekommen. Auch versahen sie sich mit einer kleinen Apotheke, mit Mitteln gegen den Sonnenstich, den Schlangenbiß, mit Pflastern und Pflästerchen gegen kleine Verletzungen, mit Pfeffermünzpastillen und Orangen und Zitronenessenzen gegen den Durst. Um die Schultern hingen sie sich zwei Feldflaschen mit Wasser und eine blecherne Büchse, auf der ein grasender Hirsch abgebildet war — gefüllt mit Brot, harten Eiern, Butter und „Landjäger“.
Und so zogen sie aus, zur Freude des gesamten Dienstpersonals; denn Fußgänger und dazu noch so ausgerüstete, waren hier seltene Leute.
Zu Anfang hielt Herr Dr. Bürstenfeger seine Leidenschaft ein wenig im Zügel, weil er fürchtete, sich zu verirren, und aus Angst vor den wilden Tieren, besonders auf den Spaziergängen in der Richtung nach den Bergen. Bald aber waren sie mit der Umgegend so vertraut, daß sie die ersten Gipfel ersteigen konnten, von denen aus man eine herrliche Aussicht auf die dahinter liegenden, höheren hatte. Herr Dr. Bürstenfeger zog seine Karte aus der Tasche, um nachzusehen, wie die wohl heißen möchten, aber es stand kein Name da, und als er später daheim fragte, wußte es auch niemand. Darüber mußte er heimlich den Kopf schütteln; er fand aber zugleich auch diese Kulturlosigkeit interessant.
Was seine Angst vor den wilden Tieren betraf, so brauchte er geraume Zeit, bis er sie überwunden hatte.
Zu den wilden Tieren zählte er aber auch die Schlangen, obgleich er wußte, daß sie zoologisch eigentlich nicht dazu gehörten. Ein abgebrochener Ast auf der Erde, der Schatten seines eigenen Stockes ... überall sah er welche.
Einmal sahen sie wirklich ein Puma in einiger Entfernung. Herr Dr. Bürstenfeger blieb stehen, erblaßte, sammelte sich aber und flüsterte: „der Silberlöwe greift nicht den Menschen an, sondern flieht ihn.“ Ein andermal, als sie durch eine Schlucht gingen, kreiste in ziemlicher Höhe über ihnen ein Kondor, und obwohl der Hauslehrer wußte, daß er ihnen nicht gefährlich sein konnte, zog er doch krampfhaft die Knaben an sich und neigte einen Augenblick sehr erschrocken den Kopf ...
Die Spaziergänge nahmen einen nicht kleinen Teil des Tages ein, oft gab Herr Dr. Bürstenfeger dabei seine Lektionen. Den eigentlichen Unterricht erteilte er hinter dem Hause im Garten unter einem Nußbaum, wo ein Tisch und zwei Bänke standen.
Jeden Morgen mußte sie José, der Knecht, auf Befehl Herrn Dr. Bürstenfegers mit heißem Wasser scheuern, weil sie inzwischen wieder von den Vögeln beschmutzt worden waren; dann folgten ein paar Schulstunden, die auch nicht ohne Zwischenfälle abliefen. Es trieb sich z. B. José mit einer der Mägde weiter hinten herum, oder es wurde Obst von den Bäumen geschlagen, eine Kuh verirrte sich in den Garten, oder gar die Säue.
Diese zu hüten war ein kleiner, dreijähriger Indianer angestellt, der zusammen mit Julio beim letzten Ausfall im Azul erbeutet worden war. Er hieß Manuelito und hielt eine lange Gerte in der Hand, Beinkleider, die einem halbwüchsigen Knaben gehört hatten, umschlotterten seine Beine. Auf dem Kopfe trug er einen riesigen Filzhut, dessen Krempen auf seinen Schultern ruhten. So ausgerüstet, hatte er die Schweine auf die Weide zu treiben, die ihn aber gar nicht respektierten.
Einmal drangen sie durch eine schadhafte Stelle der Hecke in den Garten. Manuelito hatte sich ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegengestellt und geschrien: „Kehrt um, kehrt um, ihr Schweinchen!“ Sie aber waren einfach über ihn hinweggetrampelt.
Als Carlos und Nicolás das sahen, schnellten sie von ihrer Bank auf und eilten Manuelito, der heulend auf dem Rücken lag, zu Hilfe.
Herr Dr. Bürstenfeger stand im Hintergrund und kämpfte einen harten Kampf zwischen Pflicht und Wohlwollen, aber die Pflicht siegte, und Carlos und Nicolás hatten hundertmal einen Satz abzuschreiben, der sich auf den Schulunterricht und Manuelito und seine Schweine bezog. Dieser Zwischenfall aber änderte durchaus nichts am Programm des Schultages. Zum Schluß nahm der Hauslehrer das Lineal in die Hand, reichte den Knaben ein Liederbuch, und sie stimmten alle drei an, er mit ungemein kräftigem Baß, Carlos und Nicolás mit sehr falscher Stimme:
Kuckuck, Kuckuck ruft aus dem Wald,
Lasset uns singen, tanzen und springen.
„Tanzen und springen!“ brüllte Herr Dr. Bürstenfeger und schlug mit dem Lineal auf den Tisch, daß ein Huhn, das sich in der Nähe aufhielt, gackernd davonstelzte, denn Carlos hatte drei Noten daneben gesungen. Im Hintergrund aber, den Knaben zugekehrt, stand Zenobia, die Mulattin, wiegte den Kopf, fletschte die Zähne und ahmte Herrn Dr. Bürstenfeger mit einem Besenstiel nach ...
Am gleichen Nachmittag noch machten sie einen Spaziergang in die Berge. In einer Schlucht sahen sie ein Pferd liegen, das abgestürzt war und die Vorderbeine gebrochen hatte. Als die drei herankamen, bewegte es mit einem unsäglich schmerzhaften Ausdruck der Augen den Kopf ein wenig in die Höhe und stöhnte.
Der Hauslehrer erlaubte, daß sofort der Spaziergang unterbrochen wurde, und die Knaben gingen zu Don Pablo und baten ihn, das Tier töten zu lassen. Aber Don Pablo antwortete: „Das Pferd ist in unser Gebiet eingedrungen, es gehört dem Nachbar, töte ich es, so muß ich es bezahlen.“
Die Knaben ritten zu Don Andrés (so hieß der Nachbar) und stellten an ihn die gleiche Bitte. Don Andrés lächelte und erwiderte, er werde heute jemanden hinschicken.
Abends aber lag das Pferd zu Carlos’ und Nicolás’ Entsetzen noch immer in der Schlucht und stöhnte.
Es fiel ihnen ein, daß es zu seinen Schmerzen auch noch Hunger und Durst leiden müsse, sie kehrten daher zum Gut zurück, Nicolás nahm ein Bündel Gras und Carlos einen Eimer mit, den er in einer Quelle, die halbwegs von der Schlucht entfernt war, füllte.
Das Pferd hob schnaubend den Kopf, sobald es das Wasser roch, wollte sich auf seinen beiden Vorderbeinen aufrichten und fiel mit einem Schmerzenslaut zurück. Carlos und Nicolás hoben seinen Kopf ein wenig in die Höhe, und so konnte es, ohne sich sonst zu bewegen, saufen.
Am folgenden Abend hatte man das Pferd noch nicht getötet, Don Andrés hatte es scheint’s ganz vergessen.
Der Gedanke an das Tier ließ Carlos und Nicolás in der Nacht nicht ruhen.
„Ich höre es ächzen!“ rief Carlos und richtete sich im Bett auf.
„Es ist nicht möglich, es ist zu weit“, antwortete Nicolás; aber ihm tat das Tier nicht weniger leid.
Pause.
„Weißt du was, wir wollen es töten, jetzt sofort, dann leidet es nicht mehr“, meinte Carlos.
Nicolás antwortete nicht gleich, dann aber sagte er ebenfalls entschlossen: „Ja!“ ...
Sie standen auf, nahmen eine Axt aus der Küche, sattelten ihre Maultiere und ritten davon.
Es war eine wunderbare, sternklare Nacht, die Sträucher mit ihren harten, öligen Blättern, die harten Kräuter, gespeist vom trockenen, vulkanischen Boden, dufteten.
In der Schlucht lag das Pferd und stöhnte.
Nicolás sagte zu seinem Bruder: „Carlos, du bist der Ältere, du wirst das Pferd töten!“
Aber kaum hatte er das ausgesprochen, als ihn Beschämung und Mitleid mit Carlos ergriff.
„Losen wir!“ sagte er mit gepreßter Stimme, rupfte zwei Gräser aus, die aus einem Riß in einem Steine wuchsen, und hielt sie ihm hin.
Carlos, das Beil in der Linken, zog zitternd einen Halm und hatte den kürzeren gezogen.
Da ging sein Bruder zehn Schritte weg, kehrte sich ab und hielt sich die Ohren zu.
Carlos ging entschlossen zum Pferd, streichelte es und hob dann das Beil in die Höhe, ließ es aber kraftlos sinken und weinte.
Nicolás hatte sich wieder umgewandt, stand da und sah ihn dumpf an.
Am folgenden Morgen ließen sie durch José, für eine kleine Geldsumme, die sie aus ihren Sparbüchsen nahmen, das Tier umbringen ...
Drei Tage später kam der General Acevedo zu Besuch aufs Gut. Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit bereits ergrautem Haar, groß und breit und mit einem starken Ansatz von Embonpoint. Er kam auf einem großen, schwarzen Maultier geritten, trug einen Poncho um die Schultern und ein weißes flatterndes Tuch um den Hals.
Das war ein Fest für die Knaben; er war immer sehr gut zu ihnen gewesen; stets brachte er ihnen Geschenke mit.
Diesmal holte er aus seiner Reisetasche zwei große Schachteln mit Bleisoldaten heraus und dazu noch für jeden eine Kinderpistole mit roten Zündhütchen.
Die Knaben schossen und stellten ihre Soldaten auf. Obgleich der General morgen schon wieder reisen mußte, fand er doch noch Zeit, ihnen einen großen Drachen zu machen.
Am nächsten Morgen vor dem Unterricht traten Carlos und Nicolás in sein Zimmer; das Fenster ging nach dem Garten.
Der General schlief noch, er trug ein elegantes, seidenes Nachthemd mit einer Brusttasche, in der ein Batisttaschentuch steckte. Die linke Hand lag auf der Bettdecke, sie war weiß, aber kräftig und gut gepflegt, die Nägel rosig und schön gestutzt.
Auf dem primitiven Waschtisch sah man ein Schlachtgewühl von Flakons. Es roch im Zimmer nach allen möglichen Essenzen. Auf dem Nachttisch stand eine offene Pomadenbüchse, in die drei Fliegen ihre Rüssel getaucht hielten. Daneben lag ein Revolver mit elfenbeinernem Griff und kleinen silbernen Initialen.
Auf der Erde lag offen seine Reisetasche aus indischem Strohgeflecht, in der ein Durcheinander herrschte.
Carlos und Nicolás schlichen auf den Fußzehen aus dem Zimmer, um den General nicht zu wecken; aber gleich nach der ersten Pause machten sie ihm wieder ihren Besuch. Er war eben erwacht, streckte seine Arme mit geschlossenen Fäusten in die Höhe und gähnte.
Die Knaben krochen zu ihm ins Bett und rupften ihm am Schnurrbart.
„Macht das eurem Schulmeister, verfluchte Bengels!“ rief der General. „Wollen wir wetten, ihr habt ihm noch nie einen Streich gespielt?!“
Herr Dr. Bürstenfeger saß unter dem Nußbaum und las Klopstock, er war ganz darin versunken.
„Habt ihr ihm denn noch keinen einzigen Streich gespielt?“ forschte der General.
Carlos und Nicolás schwiegen und sahen ihn mit großen Augen an.
„Ihr seid Kerls, ihr wollt Argentinier sein und wagt euch nicht an diesen gringo [2] heran! In eurem Alter war ich doch ein anderer Kerl, da habe ich meinen Lehrern ...“
Der General schwieg und schmunzelte.
„Was haben Sie ihnen getan?“ fragten Carlos und Nicolás.
„Ich habe ihnen Honig auf die Bank geschmiert, Schwänze an die Röcke gehängt, einem habe ich ein Loch in seinen blechernen Nachttopf gebohrt, und da er die Gewohnheit hatte, nachts den Topf ins Bett zu nehmen, hat es ein großes Unglück gegeben.“
Carlos und Nicolás mußten lachen.
Der General höhnte: „Ihr wollt Argentinier sein? Schämt euch!“
Er strich Carlos über den Schopf und sagte: „Was dich betrifft, so traue ich dir sowieso nicht viel zu, du bist viel zu blond!“
Carlos war gekränkt. Er schwieg eine Weile, dann sagte er, jedoch ziemlich zaghaft: „So schlagen Sie doch was vor!“
„Bravo!“ rief der General. Dann sann er nach.
„Um einen kleinen Anfang zu machen, nehmt eine Hand voll Zündhütchen, geht zu eurem Dr. Burstenfecherr und streut sie ihm in seiner Nähe auf den Boden. So wie ich ihn kenne, wird er Luftsprünge machen, wenn er darauf tritt.“
Die Knaben machten einen harten Kampf durch, aber die höhnische Miene des Generals trieb sie zum Entschluß.
Sie griffen in ihre Taschen, wo sie noch einen Haufen Zündhütchen hatten, traten aus dem Zimmer und schlichen auf den Hauslehrer zu.
Wie sie ganz nahe bei ihm standen, blickte Herr Dr. Bürstenfeger von seinem Buch auf und fragte: „Na, was wollt ihr, Karl und Nikolaus?“
Hinten aber saß der General aufgerichtet in seinem Bett, schwang den einen Arm in die Höhe und spornte die Knaben zum Kampf an.
Carlos antwortete: „Wir wollten sehen, was Sie da lesen, Herr Dr. Bürstenfeger.“
„Was ich da lese?“ antwortete er nicht ohne leises Erstaunen, „ist der Messias von Klopstock, aber es wird noch manches Jahr vergehen, bis ihr auch darin lesen könnt, Karl und Nikolaus.“
Sie fragten nicht mehr, sie schlichen weiter, mit blutroten Köpfen; sie schämten sich vor dem General und schämten sich, daß sie nie gute Argentinier werden könnten.
Der General aber war ins Bett zurückgesunken und hielt sich den Bauch vor Lachen ...
Am Nachmittag reiste er wieder fort ...
Weiter oben, den Bergen näher, wuchs neben einer großen schattigen Weide bei einer Quelle ein Pfirsichbaum, der jedes Jahr um diese Zeit die schönsten Früchte trug.
Niemand wußte, wie er dahingekommen war, kein Mensch hatte ihn gepflanzt, vielleicht hatte irgendein Vorübergehender bei der Quelle einen Kern fallen lassen. Auch Carlos und Nicolás kannten ihn, und eines Tages baten sie ihren Lehrer, einen Ausflug mit ihnen dorthin zu machen, denn Pfirsiche waren ihre Lieblingsfrucht.
Da Herr Dr. Bürstenfeger heute sehr mit ihnen zufrieden gewesen war, so durften sie auf ihre Maultiere steigen, Herr Dr. Bürstenfeger stellte sich in die Mitte, und man brach auf.
Am Ziel angelangt, blieben die Knaben, auf seinen Befehl hin, auf ihren Tieren sitzen, Herr Dr. Bürstenfeger schritt zum Baume, von dem sich eine bunte Schar von Singvögeln kreischend erhob, und rüttelte am Stamm.
Eine ganze Anzahl Pfirsiche fiel herab, er hob einige auf, prüfte sie, bewegte unentschlossen den Kopf und sagte endlich: „Karl und Nikolaus, wartet eine Woche noch, dann sind sie ganz reif.“
Und nach diesem Bescheid kehrte er mit ihnen, ohne daß sie einen einzigen Pfirsich gegessen hatten, zum Gut zurück.
Als die Woche vorbei war, ließ er sie noch zwei Tage warten, dann sagte er: „Ich werde euch nicht begleiten, reitet allein!“
Er nahm Carlos’ Hand in seine Rechte und die des Bruders in die Linke und fügte mit nachdrücklichem Ernst hinzu: „Karl und Nikolaus, ihr wißt, daß ich es gut mit euch meine, ihr seid bisher gehorsame Knaben gewesen, ich kann es ruhig sagen: bis auf gewisse Ausnahmen. Ich habe beschlossen, von nun an euch nicht mehr auf Schritt und Tritt zu folgen, ihr seid selbständig genug.“
Pause! — Darauf feierlich: „Karl und Nikolaus, ich nehme euch das Versprechen nicht ab, ihr seid frei, zu handeln, wie ihr wollt. Aber Karl und Nikolaus“ — und jetzt lag ein Ausdruck von wehmütiger Sorge auf seinem Gesicht: „Ich bitte euch, als euer väterlicher Freund, eßt nicht mehr als vier Pfirsiche jeder!“
Carlos und Nicolás, glücklich, überhaupt Pfirsiche essen zu dürfen, gelobten ihm das, Herr Dr. Bürstenfeger aber zog die Hände zurück zum Zeichen, daß sie sich nicht durch ein Versprechen binden sollten.
So waren sie aus seiner Hut entlassen und ritten davon.
Bei der Quelle banden sie ihre Maultiere an die Weide und stiegen auf den Pfirsichbaum hinauf. Singvögel stoben kreischend auseinander.
Nun pflückte jeder von ihnen vier der schönsten Pfirsiche, und sie wollten schon wieder herabsteigen, als Carlos den Vorschlag machte, sie oben zu essen, weil es ihm schien, daß sie dann besser schmeckten; und so saßen sie sich denn gegenüber, jeder auf einem dicken Ast, lautlos und beobachteten sich gegenseitig aufmerksam, und wenn einer einen Biß tat, wartete der andere eine Weile und biß ein etwas kleineres Stück ab; denn jeder wollte, um einen längeren Genuß zu haben, der letzte sein. Bei diesem stummen Ringen verhielten sie sich so mäuschenstill, daß sämtliche verscheuchten Vögel sich wieder zurückwagten, und es war ganz still bis weithin. Unten nur hörte man die Quelle murmeln, und oben war ein Kauen und Picken.
Als nun Carlos seine vier Pfirsiche verzehrt hatte, hatte Nicolás noch einen, den wollte er auf dem Heimweg essen. Sie kletterten wieder herab und stiegen auf ihre Maultiere, Nicolás in etwas gedrückter Stimmung, Carlos tief melancholisch.
Stumm ritten sie nebeneinander her. Nicolás hielt seinen Pfirsich in der Hand, strich mit den Fingerspitzen darüber hin, manchmal roch er daran, einmal wollte er hineinbeißen, besann sich aber und steckte ihn wieder in die Tasche.
Carlos schaute zu, seine Augen füllten sich mit Tränen, er wollte sich zur Resignation zwingen, aber der innere Kampf dauerte fort.
Plötzlich hielt er sein Maultier an, stieß einen schweren Seufzer aus und sagte zu seinem Bruder: „Ich reite zu Bernabé, dem Ziegenhirten, sage Herrn Dr. Bürstenfeger, ich werde in einer Stunde nachkommen.“ Dann wandte er sein Maultier, ritt zum Pfirsichbaum zurück und setzte sich auf den Ast, auf dem er vorhin gesessen war. Beschämt und zaghaft biß er in den ersten Pfirsich, dann aber wurde er kühner, und bald dachte er an nichts weniger, als an Herrn Dr. Bürstenfeger und seine inständige Bitte.
Als er endlich genug hatte, stieg er hinunter, setzte sich faul an den Baumstamm und war in kurzer Zeit, ohne daß er wußte wie, eingeschlafen.
Als er erwachte, verschwand gerade die Sonne hinter den Bergen, langsam krochen die Schatten die Ebene hinab.
Sein erster Gedanke war, daß er Herrn Dr. Bürstenfeger jämmerlich hintergangen hatte, und eine tiefe Traurigkeit erfüllte ihn. Er saß da, den Kopf an den Baum gelehnt, und weinte vor Reue.
Aber es war schon spät, und er mußte an die Rückkehr denken.
Im Schritt, die losen Zügel in der Hand, ritt er heimwärts; er war aber noch keine Viertelstunde geritten, als er sich mit Schrecken erinnerte, daß unter dem Baume die Kerne der vielen gegessenen Pfirsiche lagen, die würden ihn verraten, er kehrte daher um und vergrub sie nahe bei der Quelle. Schon wollte er wieder aufs Pferd steigen, als ihn plötzlich der Gedanke überfiel, aus den Kernen könnten Pfirsichbäume wachsen, und obgleich er wußte, daß es noch in weiter Ferne lag, ließ der Gedanke ihm doch keine Ruhe, er scharrte die Kerne wieder aus und steckte sie in seine Rocktasche.
Als er im Gut ankam, war die Ebene schon ganz vom Abend beschattet. Aber fern am Horizont stieg blutrot der Mond auf.
Vor ihm stand Herr Dr. Bürstenfeger.
„Du warst beim Ziegenhüter Bernabé“, sagte er, „du hättest nicht so spät heimkommen sollen, Karl.“
Ganz harmlos, etwas vorwurfsvoll sagte er das, und doch war etwas wie leises Mißtrauen in seiner Stimme.
„Ich war beim Ziegenhirten Bernabé“, antwortete Carlos. Seine Stimme zitterte, er blickte Herrn Dr. Bürstenfeger nicht in die Augen. Trotz der ziemlichen Dunkelheit sah Herr Dr. Bürstenfeger, daß Carlos über und über rot war.
Da wußte er, daß er ihn belogen hatte, und stumm wandte er sich ab, von Beschämung überwältigt.
Carlos aber ging ins Zelt, legte sich zu Bett und schluchzte in die Kissen hinein.
Im Garten blühten die Veilchen, es duftete der Mimosenbaum; aber der Winter hatte schon lange begonnen.
In der Frühe standen Carlos und Nicolás im Garten vor dem Springbrunnen. Der bronzene Reiher streckte den Kopf in die Höhe, und kalte Tropfen rieselten ihm über Hals und Brust in das Bassin herab, wo sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte. Die Knaben drückten den Finger darauf, daß sie brach, und sie dachten: Hundertmal so dick und tausendmal so weit, und es ist ein Fest in Europa, die roten Lampions leuchten, auf großen Tribünen spielt die Musik, und man schwebt wie auf weiten Flügeln über die Fläche.
So hatte es Tia Lolita erzählt und ähnlich auch Herr Dr. Bürstenfeger.
Tia Lolita war die jüngste Schwester ihrer Mutter; die Knaben nannten sie aber gewöhnlich nur Lolita.
Sie war sechzehn Jahre alt, hatte langes, goldblondes Haar und trug ein blaues Kleid mit Matrosenkragen. Jedermann sagte, sie sei ein ungewöhnlich schönes Mädchen. Carlos und Nicolás meinten: vielleicht das schönste auf der ganzen Welt.
Damals, als sie noch im Kloster erzogen wurde, sahen die Knaben sie nur manchmal des Sonntags. Dann aber spielte sie mit ihnen, erzählte ihnen schöne Geschichten und ritt mit ihnen aus. Jetzt, da sie von Europa zurück war, wo sie sich mit der Großmama zwei Jahre aufgehalten hatte, kam sie beinahe jeden Tag zu ihnen auf Besuch.
In Herrn Dr. Bürstenfeger aber schien seitdem etwas Seltsames vorzugehen.
Oft mitten im Unterricht, wenn Carlos und Nicolás über einem Rechenexempel saßen oder aus dem Gedächtnis ein Lesestück niederschrieben, erhob er sich plötzlich, stampfte auf, ballte die Fäuste, setzte sich ans Klavier und phantasierte mit flammenden Backen, und seine Hände rasten über die Tasten, wie losgelassene Pferde auf der Pampa; mit einem Schlage aber hielt er inne, seufzte tief auf, und es war ein sehr wehmütiges Spiel, das nun folgte.
Manchmal, wenn Carlos und Nicolás hinten im Garten waren, sahen sie ihn auf der Terrasse auf und ab gehen, den Blick zu Boden gerichtet, wie in tiefe, melancholische Gedanken versunken. Es war die Zeit, wo er sonst immer die Hefte korrigierte; die Knaben wußten nicht, was es zu bedeuten hatte.
Eines Morgens, während der ersten Pause — Carlos und Nicolás schnitten Figuren aus einem Pappdeckel — klopfte es, und Tia Lolita stand im Zimmer.
Herr Dr. Bürstenfeger machte einen Schritt zurück, über und über errötend, verbeugte sich und wischte sich die Finger, die voll Kreide waren, an den Rockschößen ab.
Die Knaben sprangen auf, packten die Tante an beiden Armen und drehten sie im Kreise herum.
„Carlos und Nicolás“, sagte sie, die Hand an der Stirne, denn es war ihr schwindlig, „wir reisen in einigen Tagen alle miteinander nach der Kolonie Trinidad. Mama hält es nicht mehr aus!“
Die Knaben stürzten ins Zimmer ihrer Mutter: es war wahr, in einer Woche reiste man. —
Es goß in Strömen an dem Tage der Abfahrt.
Carlos und Nicolás knieten auf dem Sofa im Salon des Dampfers und schauten zum Fenster hinaus. Die Wolken hingen zerfetzt und niedrig. Aus dem Schornstein stieg schwarz der Rauch auf. Die Knaben folgten ihm mit den Blicken, und als er ganz hoch war, glaubten sie, er sei jetzt auch eine Wolke.
Man hatte vor drei Stunden Campana verlassen; große beladene Barken strichen vorüber, langsam, mit eingezogenen Segeln, die dunkel vom Regen waren. Carlos und Nicolás schauten auf die trübe Fläche des Stromes, auf der fortwährend Blasen entstanden und platzten. Leise pochte die Maschine.
Darauf setzten sie sich zu Tia Lolita, die melancholisch in einem großen roten Album blätterte, und verlangten, daß sie ihnen eine Geschichte erzählte.
„Das Märchen von Amlet!“ bat Carlos.
Herr Dr. Bürstenfeger, der in der Nähe saß und eine Idylle von Voß las, sah auf.
„Meinst du Hamlet? ... Aber das ist doch kein Märchen, sondern ein Trauerspiel!“
Carlos begriff das nicht recht, es war doch keine wahre Geschichte, sondern ausgedacht.
„Erzähle uns lieber das Märchen vom Swinegel und sine Fru, es ist viel schöner!“ rief Nicolás.
Herr Dr. Bürstenfeger sah manchmal auf, die Parallele schmerzte ihn.
Und Tia Lolita erzählte, um Carlos zu befriedigen, „das Märchen von Amlet“ und dann das Märchen vom Swinegel und sine Fru, um Nicolás zu befriedigen.
Herr Dr. Bürstenfeger hatte zugehört und war entzückt, er sagte sich: Hamlet ist doch eigentlich nichts für Kinder, aber wie hat sie gewußt, es ihnen nahezubringen, mit welch feinem Eindringen in die kindliche Seele!
Hundertmal schon hatte Tia Lolita ihnen das Märchen von Amlet erzählt, und hundertmal schon das Märchen vom Swinegel und sine Fru; aber es war immer wieder eine neue Geschichte für sie.
Carlos sagte: „Armer, armer Amlet, aber auch armer Polonius!“
Über das Schicksal der Ophelia jedoch waren sie sehr erfreut, Tia Lolita hatte nämlich, um ihre Gemüter nicht zu sehr zu belasten, es von Grund aus umgestaltet und einen fröhlichen Ausgang erdacht.
Nicolás sagte: „Beim Märchen vom Swinegel und sine Fru kann man auch traurig und lustig sein, die Swinegels sind komisch, aber der Hase tut mir leid.“
Tia Lolita bestätigte das, und Herr Dr. Bürstenfeger lächelte nachsichtig und milde.
Es wurde zu Tische geläutet, nachher ging Herr Dr. Bürstenfeger in seine Kabine, um ein Mittagsschläfchen zu halten.
Carlos und Nicolás spielten mit Tia Lolita Fangen, und dann versteckten sie sich, und sie mußte sie suchen.
Carlos war schlau; er wußte, daß sie schwerlich auf Deck gehen würde, weil es in Strömen regnete, ging hinauf und duckte sich in eine Taurolle.
Nach seinem Mittagsschläfchen begab sich Herr Dr. Bürstenfeger in den Salon; er fand die Knaben nicht, suchte sie und sah sie schließlich oben auf Deck mit aufgespannten Regenschirmen bei Backbord sitzen, jeder eine lange Angelrute in der Hand. Die gehörten dem Schiffskommissär. Sie hatten sie vor seiner Kabine stehen sehen, und auf ihre Frage, ob er erlaube, daß sie damit Fische für das Abendessen fingen, war er überaus erfreut darüber gewesen; und nun saßen Carlos und Nicolás bereits dreiviertel Stunden lang da und fingen nichts.
Der Lehrer legte ihnen die Hand auf die Schulter und belehrte sie, es sei bei der schnellen Fahrt nicht gut möglich, Fische zu fangen, und der Schiffskommissär, der weiter hinten unter Dach stand, lachte und meinte, die Fische müßten lange Beine haben, und warnte sie vor dem Kapitän, der beleidigt sei, denn sein Schiff sei kein lahmer Klepper.
Bei Tisch sahen Carlos und Nicolás nach der Spitze, wo der Kapitän saß, und waren nachher furchtbar froh, weil er nichts gesagt hatte.
Heute hatte man frei gehabt, aber morgen war Schule ...
„Wir werden gesattelt“, sagte Carlos zu Nicolás, als Herr Dr. Bürstenfeger sie zum Unterricht abholte. Sie meinten, so müsse es auch ihren Ponys zumute sein, wenn die Knaben mit ihren Zäumen kamen.
Übrigens war es ungewiß, wer diesen Witz erdacht hatte, Carlos oder Nicolás. Der Witz war alt, jeder nahm ihn für sich in Anspruch, und sie hatten sich manchmal ernstlich darüber gestritten.
Auf Carlos’ Vorschlag führten sie seit einiger Zeit ein Notizbuch in der Tasche, und machte einer von ihnen einen Witz, so wurde er sofort in beide Hefte eingetragen und darunter geschrieben:
Diesen Witz hat Carlos (oder Nicolás) am 5. November 18.. um 4 Uhr nachmittags auf einem Ritt nach Flores gemacht.
Es folgten dann beide Unterschriften.
Aber auch dies lief nicht immer ohne Streitigkeiten ab, denn oft war der andere geneigt, den Witz zu schlecht zu finden, als daß er notiert werden sollte, was ihn aber manchmal nicht daran hinderte, später, als er bereits längst vergessen schien, darauf zurückzukommen und für sich die Autorschaft zu beanspruchen. —
In Herrn Dr. Bürstenfegers Kabine lag alles fein säuberlich nebeneinander: das Rechenbuch, das Lesebuch, die französische Grammatik, zwei Hefte und zwei gespitzte Bleistifte.
Sie setzten sich. Zuerst kam das Rechnen, dann folgte Französisch.
Draußen vor der Tür aber war Geräusch zu hören, ganz sicher stand dort jemand und horchte.
Carlos wurde unruhig. Herr Dr. Bürstenfeger aber tat, als höre er nichts. Er öffnete die Grammatik und las:
„ Ma tangt a oublie song parablü “, und Carlos übersetzte: „Meine Tante hat ihren Regenschirm vergessen.“
Herr Dr. Bürstenfeger las: „ Hannibal frangschi les Alp. “
Carlos starrte nach der Tür. Er hörte kichern, ganz deutlich sah er ein Auge durch das Schlüsselloch.
Er würgte und übersetzte: „Hannibal hat seinen Regenschirm vergessen.“
Herr Dr. Bürstenfeger fuhr auf, er glaubte, Carlos erlaube sich einen Scherz. Dann aber erkannte er seine Verwirrung.
Er stand auf, ging entrüstet nach der Tür und öffnete.
Es war Tia Lolita gewesen, die schnell entschlüpft war, ohne daß Herr Dr. Bürstenfeger sie gesehen hatte.
Der Unterricht wurde fortgesetzt.
Zum Schluß kam das Freiturnen, der Gesang wurde ausgelassen.
Herr Dr. Bürstenfeger öffnete die Luke, damit frische Luft herein käme, und es wurde mit der Kniebeuge begonnen, zuerst er und Carlos allein, weil zu wenig Raum in der Kabine war.
Carlos dachte: Wir bewegen uns auf und ab wie die Kolben unten in der Maschine. Er empfand es aber nicht als einen Witz, weil er zu erbittert war ...
In der Nacht schliefen Carlos und Nicolás lange nicht ein vor Aufregung; am Morgen würden sie ihr Landgut passieren, noch nie waren sie im Schiff daran vorbeigefahren. Außerdem hatten sie einige Tage vor ihrer Abfahrt einen Brief an den Verwalter geschrieben, unter welchen die Mama ihre Unterschrift gesetzt hatte. Darin stand, daß, wer Zeit hätte: der Capataz, Ramon der Stallknecht, Juanita die Tochter des Schafhirten, Juan der Sohn des Capataz, sich, sobald das Schiff in Sicht wäre, ans Ufer begeben sollte, weil Carlos und Nicolás mit dem Taschentuch winken wollten.
Die Knaben baten den Kapitän, sich möglichst nahe an der Küste zu halten, und gaben ihm den Grund an.
Der Kapitän, der ihnen scheinbar das Fischen gar nicht übelgenommen hatte, erklärte sich bereit, und wirklich fuhr er so nahe daran vorbei, als er konnte.
Von allem Gesinde aber waren nur Ramon der Stallknecht und Miguel der Koch anwesend.
Carlos und Nicolás waren ganz außer sich vor Freude, winkten und schrieen, man konnte aber nichts verstehen.
In gestrecktem Galopp kam plötzlich Juan auf Carlos’ Pony, das er ihm für die Zeit seiner Abwesenheit geliehen hatte, dahergeritten.
Um zu zeigen, daß er so schnell als das Schiff sei, ritt er in Karriere mit diesem parallel und hieb unbarmherzig auf das Pferd ein; mit seinem dicken Bauch und seinem kurzen Halse glich es einer dahinstürmenden Wildsau.
Carlos hatte sich anfangs gefreut, dann aber begann er, sich über Juan zu ärgern.
„Hau nicht so! Hau mein Pferd nicht so!“ schrie er, „sonst hau ich dich!“
Juan aber kehrte sich nicht daran, erstens weil er nichts hörte, und zweitens, weil Carlos ihn doch nicht hauen konnte.
Die Passagiere aber lachten. —
Man hatte bereits San Nicolas, Rosario und Santa Fé hinter sich.
Die warme Luft des Nordens begann sich schon bemerkbar zu machen. Heute war ein schöner, windstiller Tag.
Nach dem Mittagessen lag man auf Deck unter dem aufgespannten Toldo auf langen Strohstühlen und trank schwarzen Kaffee und rauchte Zigaretten.
Auch Herr Dr. Bürstenfeger war oben, lag aber nicht, sondern saß, auch rauchte er nicht Zigaretten, sondern eine leichte Bremer Zigarre, von denen er einen großen Vorrat aus Deutschland mitgebracht hatte, ohne sie dem Zoll vorzuenthalten.
Zwei Stunden später hielt plötzlich das Schiff mit starkem Erbeben an, die Schaufelräder bohrten sich in den Grund, ein Dutzend Gläser und sechs Flaschen zerbrachen, ein Buch fiel in Herrn Dr. Bürstenfegers Kabine vom Netz. Es war Wassertiefstand, und man war auf eine Sandbank aufgefahren. Es war aber weiter kein Unglück geschehen.
Gegen Dämmerung kam ein großes Dampfschiff den Strom herab; mit Tauen versuchte es das andere frei zu machen, aber es war umsonst.
Am Morgen jedoch, als Carlos und Nicolás erwachten, war man bereits wieder in voller Fahrt begriffen. Ein Sturm hatte in der Nacht das Schiff flott gemacht.
Vor Ablauf einer Woche langte man in Formosa an. Man ging ans Land. Auf einem Balkon saß ein schönes kleines Mädchen, fächelte sich mit einem Papierfächer und kokettierte zu Carlos und Nicolás herab. Carlos und Nicolás blieben stehen und lächelten hinauf, Herr Dr. Bürstenfeger drängte vorwärts; das schöne kleine Mädchen klappte den Papierfächer zu und lachte.
Sieben Stunden war man bereits wieder unterwegs; ein Dampfer mit Militärbesatzung fuhr stromabwärts. Es galt, Formosa zu Hilfe zu kommen, das soeben von Horden von Tobasindianern angegriffen worden war.
Carlos und Nicolás hörten die Nachricht und waren trostlos, daß ihr Schiff so früh abgefahren war, so daß sie sich nicht am Kampfe beteiligen konnten. Es fiel ihnen plötzlich ein, daß das kleine schöne Mädchen, das in Formosa auf dem Balkon gestanden hatte, in großer Lebensgefahr sein müsse. Niemals würden Carlos und Nicolás erfahren, ob sie tot sei, denn sie hatten die Straße, wo sie wohnte, vollständig vergessen, auch konnten sie sich ihres Gesichtes gar nicht mehr erinnern, so starken Eindruck es auch auf sie gemacht hatte. Und sie waren erfüllt von Traurigkeit.
Ganz in der Frühe hielt wieder der Dampfer an. Vom Lande wurde eine lange Brücke bis zum Schiff geschlagen, ein langer Zug von Indianern und Indianerinnen brachte Orangen an Bord in großen Körben, die sie auf den Köpfen trugen.
Bis spät nachmittags dauerte das Verladen. Auf dem vorderen Teil des Schiffes ragte ein goldener Berg von Orangen, ein leiser Wind ging und brachte den Duft herüber.
Carlos und Nicolás gruben sich ein Loch in den Berg, kauerten hinein und aßen Orangen.
Der Kapitän sah es, auch die Verlader sahen es, sagten aber nichts.
Die Knaben jedoch glaubten von niemandem beobachtet zu sein und fanden es romantisch und abenteuerlich.
Gegen Dunkelwerden fuhr man ab. —
Am Morgen nach dem Frühstück — die Knaben saßen im Eßzimmer — erscholl plötzlich auf Deck Gewehrschießen. Sie sprangen auf und eilten hin, Herr Dr. Bürstenfeger sehr besorgt hinter ihnen her.
Oben wurde auf Alligatoren geschossen, die sich auf dem nahen Ufer sonnten.
Vor einer Stunde hatten sich die ersten gezeigt, bis jetzt zählte man bereits über zwanzig; zwei Passagiere hatten ihre „Remingtons“ heraufgebracht, und andere eilten, es ihnen nachzutun.
„Karl und Nikolaus,“ rief streng Herr Dr. Bürstenfeger, „kommt zum Unterricht herab!“
Carlos begann zu weinen, Nicolás war sehr niedergedrückt. Aber es half nichts.
Es wurde die Grammatik aufgeschlagen, und Carlos las: „ Après la bataille de Marathon ...“
Oben auf Deck aber krachte ein Schuß nach dem andern.
„ Après la bataille de Marathon ...“ heulte Carlos. „Oh, Herr Dr. Bürstenfeger, lassen Sie uns hinauf!“
Aber Herr Dr. Bürstenfeger wehrte streng ab.
Er hätte wohl den Unterricht verschoben, wenn es sich um eine würdigere Sache gehandelt hätte, aber er wollte nicht, daß Carlos und Nicolás ihren Spaß daran hätten, daß Tiere getötet werden.
Da ging die Türe auf, und Tia Lolita stand in der Kabine.
„Herr Dr. Bürstenfeger,“ bat sie, „lassen Sie die Knaben hinauf!“
Herr Dr. Bürstenfeger war blutrot. Er verbeugte sich und sagte flehend: „Mein gnädiges Fräulein, ich bitte ... ich bitte Sie ... nein ... mein gnädiges Fräulein ...!“
Es war umsonst, Tia Lolita kehrte unverrichteter Sache zurück.
Es waren aber nicht drei Minuten vergangen, da schlug er plötzlich sein Buch zu und rief, während seine Stimme vor Beschämung bebte: „Geht hinauf, Karl und Nikolaus, geht hinauf!“ —
Am Abend war man in Asuncion.
„Nach dieser langen Flußfahrt ist es nötig, daß wir uns endlich einmal gründlich Bewegung machen“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger und nahm Carlos und Nicolás bei der Hand.
Und sie spazierten auf den Straßen von Asuncion, der Stadt mit den blendend weißen Häusern, den vorgebauten Holzgitterfenstern, den bedeckten Galerien, in denen Hängematten hingen, und den breiten, ungepflasterten Straßen mit der roten, weichen Erde. Der Duft der Orangenblüte erfüllte die Stadt. Frauen, eingehüllt in lange, weiße Tücher, wandelten langsam und sehr aufrecht, bunte Krüge auf den Köpfen. In ihren Gärtchen, unter Orangenbäumen, lagen die Männer, manchmal nur mit einem Hemd bekleidet, und schliefen.
„Es ist dies ein paradiesisches Land,“ sagte der Lehrer, „ohne Hast und Qual und ohne Arg verbringen die Menschen hier ihre Tage, brauchen, um zu leben, nur die Hand auszustrecken nach den herrlichen Früchten, die diese gütige Erde ihnen spendet.“
Der Weg führte sie am Markt vorbei.
Carlos und Nicolás sahen zwei Affen je auf einem großen Kürbis kauern. Vier uralte, verschrumpfte Indianerinnen saßen um einen großen Kessel, kauten Mais und spuckten ihn hinein.
„Der Speichel bringt den Mais zum Gären, daraus wird Schnaps“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger und schüttelte sich.
Aber die Aufmerksamkeit der Knaben war auf die beiden Affen gerichtet.
Wenn man nach Paraguay käme, sollten sie einen haben, hatte die Mama gesagt.
Eine der alten Indianerinnen erhob sich, setzte auf jede Hand einen Affen und hielt sie dem Hauslehrer hin.
Sie wimmerten und kratzten sich.
„Herr Dr. Bürstenfeger, kaufen Sie uns einen Affen!“ baten Carlos und Nicolás zugleich.
Herr Dr. Bürstenfeger machte eine erschrockene Bewegung; er erinnerte sich an das Versprechen, das ihnen die Mama gegeben hatte.
Aber kein Tier war ihm so unsympathisch wie ein Affe.
„Kaufen Sie uns einen Affen!“ wiederholten die Knaben.
Nach einigem Zaudern begann er mit der Indianerin zu unterhandeln.
Carlos und Nicolás waren sich nicht einig in der Wahl; schließlich einigten sie sich auf den, der auf der linken Hand saß, und der Lehrer gab seine Einwilligung.
Als aber die Indianerin die Kiste, in die er hineingehörte, in die Höhe hob und ihn an der Schnur zog, an der er angebunden war, fielen sich beide Tiere in die Arme und begannen laut zu heulen.
Sie wußten es von manchen Vorgängern, daß es galt, Abschied zu nehmen.
„Arme Affen!“ sagten Carlos und Nicolás.
Auch Herr Dr. Bürstenfeger war voller Mitleid.
Die Affen hielten sich umklammert, der Lehrer war ratlos.
„Kaufen Sie beide!“ baten die Knaben.
Herr Dr. Bürstenfeger rang mit sich.
„Es wäre eine Grausamkeit, die armen Tiere zu trennen!“ entschied er endlich.
Er gab der Indianerin eine Weisung, die Knaben jubelten, und einige Minuten später zogen sie heim, Carlos und Nicolás rechts und links von Herrn Dr. Bürstenfeger, jeder mit seiner Kiste und seinem Affen. —
Zwei Tage später fand die Weiterreise nach Trinidad statt; es war ein Ritt von fünf Stunden.
Zum erstenmal in seinem Leben mußte sich Herr Dr. Bürstenfeger entschließen, auf ein Pferd zu steigen. In ganz Asuncion war kein einziger Wagen aufzutreiben. Sie hätten kaum fortkommen können auf der weichen, lockeren Erde der Wege.
Da der Tag zu heiß war, entschloß man sich, nachts zu reisen.
Man brach um 11 Uhr auf, bei herrlichem Mondschein, um mit beginnender Dämmerung anzukommen.
Die Pferde waren zahm und mager, und es war gesorgt worden, daß Herr Dr. Bürstenfeger das zahmste erhielt. Die Eltern, Tia Lolita und die übrigen ritten voraus. Carlos und Nicolás ritten neben ihrem Lehrer und waren beschäftigt, sein Tier anzutreiben, wenn sie traben wollten. Gewöhnlich aber ging es im Schritt, da der Weg zum größten Teil durch Urwälder führte. —
Die Kolonie Trinidad war von Urwäldern umgeben, nachts drang von dort das Geschrei der Brüllaffen herüber.
Der größte Teil der Einwohnerschaft bestand aus deutschen Bauern und Handwerkern, die beinahe alle eine zweifelhafte Vergangenheit hatten.
Sie waren zusammengewürfelt aus allen Teilen des Reiches, und man hörte sämtliche Dialekte nebeneinander.
Es lebten aber auch dort Leute aus anderen Gesellschaftsklassen: verbummelte deutsche Studenten, durchgefallene Mediziner, die sich um die Praxis rauften, verlotterte Richter und Advokaten. Sie nannten sich „alte Semester“ und berauschten sich nachts an billigem Schnaps; es wimmelte in Trinidad von Wirtshäusern. Des Tages aßen sie Orangen, Bananen und Mandioca, das kostete wenig.
Alle Einwohner lebten in Haß und Hader miteinander.
Ging Herr Dr. Bürstenfeger mit Carlos und Nicolás im Dorfe spazieren, widerhallten seine Ohren von böswilligem Klatsche.
Der Bäcker lauerte ihm auf und begeiferte den Schuster, der Schuster ging ihnen heimlich nach, und sobald Herr Dr. Bürstenfeger frei war, redete er schmählich über den Bäcker, der Tischler folgte und erzählte Ruchloses von der Frau des Bienenzüchters.
Und ganz so war es auch mit den Ärzten, Richtern und Advokaten bestellt.
Anfangs ließ Herr Dr. Bürstenfeger wortlos den Schwall über sich ergehen. Dann aber wehrte er mit den Händen ab und floh nach dem Urwald.
Aber als er nach Hause zurückkehrte, umging er das Dorf. —
Zweimal in der Woche war es Carlos und Nicolás erlaubt, allein auszureiten. Herr Dr. Bürstenfeger erlaubte es, weil die Gegend sicher war, von den friedlichen Guarangsindianern war keine Gefahr zu erwarten.
Auf ihren mageren, struppigen Pferden schlugen die Knaben am liebsten die Richtung dahin ein, wo bald nach dem Urwald die Steppe begann.
Da konnten sie lange Galopp reiten, und es erinnerte sie an die Pampas in Argentinien. Nur erhoben sich hier von Zeit zu Zeit kleine Palmenhaine. Die Palmen aber standen nicht dicht beieinander, sondern so, daß die Sonne breit hineinfluten konnte.
Sie ritten, bis der Urwald ein schwarzer Streifen am Horizont war, stiegen von den Pferden und legten sich ins Gras, wie sie es oft auf ihrem Gute getan hatten, und lauschten in die Stille hinein; eine Heuschrecke klapperte, irgendwo sang ein Vogel. Diese Geräusche und die Hitze des Tages wiegte sie in Halbschlaf ein.
Carlos träumte, er jage hinter Straußen, dann träumte er, daß er mit den wilden Tobasindianern kämpfe. Plötzlich erwachte er. Er rieb sich die Augen, und es war seltsam, was er eben geträumt hatte, sah er deutlich aber regungslos in die Wolken gezeichnet, die über dem Horizonte lagerten, und je länger er hinstarrte, um so lebendiger wurde das Bild. Er schloß die Augen und sah es langsam vergehen, er öffnete sie, und das Bild schwebte über dem Horizonte. —
Eines Tages, als Carlos und Nicolás in den Urwald ausritten, begegneten sie einem kleinen Indianer. Er hielt eine große bunte Schlange, die er eben getötet hatte, auf einem Stocke.
Carlos fragte, ob er sie verkaufen oder gegen irgend etwas vertauschen wollte.
Da er nickte, sie aber kein Geld hatten, sprang er vom Pferd und gab ihm eine Satteldecke dafür.
Auf dem Heimritt beschlossen sie, eine Schlangensammlung zu machen.
Sie verschafften sich Flaschen, denen sie die Köpfe abschlugen, und füllten sie mit Spiritus.
Einen Teil ihrer Mußestunden aber verbrachten sie damit, Schlangen aufzustöbern, die sie töteten, in die Flaschen taten und sorgfältig in ihrem Kleiderschrank verschlossen, weil sie wußten, welchen Abscheu Herr Dr. Bürstenfeger vor diesen Reptilien hatte.
Aber das Unglück wollte es, daß einmal der Schrank aufblieb und Herr Dr. Bürstenfeger hineinsah und mit einer Miene, als blicke er in Blaubarts Kammer.
Er strafte sie aber nicht, er war nur sehr blaß und sagte: „Karl und Nikolaus, ihr habt mich unendlich betrübt!“
Carlos und Nicolás gelobten ihm unter Tränen, nie mehr eine Schlange zu fangen, flehten ihn aber an, diese behalten zu dürfen, da sie ja tot seien und dabei so wunderbar schöne Tiere.
Diese letztere Bemerkung erregte in Herrn Dr. Bürstenfeger wieder ein Gefühl des Grausens. Mit großem Nachdruck erwiderte er: „Daß ihr nie mehr welche fangen werdet, weiß ich — im übrigen habe ich euch nichts mehr zu sagen!“
Damit entfernte er sich.
Seine Unterhaltung mit den Knaben beschränkte sich von nun an auf das Allernotwendigste; er hatte durch Zenobia in Erfahrung gebracht, daß die Schlangen noch immer im Schrank seien.
In der Schule sagte er mit höchst betrübtem Tonfall: „Jetzt gehen wir zum Kopfrechnen über“, oder „Karl, schlag deine Grammatik auf!“
Und das trieb er so lange, bis Carlos und Nicolás es nicht mehr ertragen konnten und die Schlangen vergruben.
Herr Dr. Bürstenfeger zuckte mit keiner Miene, als er es erfuhr. Abends aber, als sie zu Bett gegangen waren, gab er ihnen mit ungleich mehr Herzlichkeit, als in den letzten Tagen, den Gutenachtkuß. —
Eines Vormittags während der großen Pause saßen Carlos und Nicolás rechts und links von Tia Lolita unter dem Bananenbaum vor dem Hause.
Carlos hatte ihr die Zöpfe aufgeflochten und das Haar auf die Schultern gelegt, daß auch ihr Gesicht umrahmt war. So fand er sie noch viel schöner als gewöhnlich und nannte sie Genovefa.
„Du siehst wie Sneewittchen aus,“ sagte Nicolás, „das war die schönste Königstochter.“
Tia Lolita lachte: „Ich kann doch nicht Sneewittchen gleichen; ihr Haar war doch so schwarz wie Ebenholz, und ich bin blond!“
„Aber der Gänsemagd gleichst du“, meinte er.
Herr Dr. Bürstenfeger kam vorbei. Er blieb stehen und starrte Tia Lolita an.
„Mit einer Gänsemagd vergleicht Nicolás mich, was meinen Sie dazu, Herr Dr. Bürstenfeger?“ sagte sie und stellte sich gekränkt.
„Oh, oh!“ meinte Herr Dr. Bürstenfeger, fand aber keine Worte mehr, er schien verwirrt.
Nicolás war geärgert: „Ich meine doch nicht eine gewöhnliche Gänsemagd, sondern die Gänsemagd, die in Wirklichkeit eine Königstochter war, ihr Haar war eitel Gold, und sie mußte mit Kurtchen die Gänse hüten.“
Mit dieser Erklärung war Tia Lolita zufrieden, sie gab Nicolás einen Kuß, und er schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter.
Herr Dr. Bürstenfeger machte ganz unwillkürlich eine rasche Bewegung und ging weiter. Dann begab er sich hinauf in den Salon, setzte sich ans Klavier und phantasierte.
Tia Lolita und Carlos und Nicolás lauschten, ohne ein Wort zu sprechen.
Carlos sagte: „Wie schön spielt doch Herr Dr. Bürstenfeger!“
„Sehr schön spielt er“, antwortete sie aufrichtig. —
Einige Tage später hatten die Landbewohner Tanz weiter draußen unter einem uralten Baum.
Ein alter Indianer spielte die Gitarre und sang leise dazu.
Es war Mondnacht, und die jungen Indianerinnen tanzten. Sie hatten feine, schmale Gesichter und große, dunkle Augen. Die dicken Haarflechten fielen auf die braunen nackten Schultern. Sie trugen weiße Leinenhemden und weiße Sommerröcke, eine Korallenkette um den Hals und sämtliche Finger mit Ringen geschmückt.
Der Duft der Orangenblüte wehte herüber.
Tia Lolita schwatzte mit Herrn Dr. Bürstenfeger. In einem Anfall von Laune lachte sie ihm zu und neckte ihn harmlos.
Herr Dr. Bürstenfeger starrte sie wortlos an mit klopfendem Herzen.
„Wollen wir auch einmal tanzen!“ sagte sie.
„Ja, ja ...!“ stammelte Herr Dr. Bürstenfeger; er wußte selbst nicht recht, was er sagte.
Und sie tanzten. —
Als Carlos und Nicolás im Begriff waren, zu Bett zu gehen, ging Herr Dr. Bürstenfeger nebenan in seinem Zimmer langsam auf und ab und murmelte leise etwas vor sich hin.
Plötzlich blieb er stehen, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: „Ich liebe dich, Lolita ... sei mein Weib, ich liebe dich mit meiner ganzen Seele!“
Carlos und Nicolás hörten das, und maßloses Erstaunen ergriff sie.
Sie saßen sprachlos auf ihren Stühlen und konnten es lange nicht fassen.
... Seine Frau sollte sie werden, Tia Lolita! Aber armer Herr Dr. Bürstenfeger!!
Sie waren von tiefem Mitleid mit ihm erfüllt, waren aber weit entfernt, den Umfang seines Schmerzes zu ehren.
Tia Lolita würde ja den Prinzen heiraten, mit ihm auf sein Schloß ziehen und die schönste Königin der Welt werden. Niemals würde sie Herrn Dr. Bürstenfeger heiraten! ...
Am nächsten Tag während des Unterrichts war der Lehrer sehr seltsam, er hörte kaum auf die Antworten, die Carlos und Nicolás gaben.
Ein dunkles Gefühl sagte ihnen, er wisse, daß sie den Prinzen heiraten werde, und darüber sei er so traurig.
Abends bei anbrechender Dunkelheit saßen sie mit Tia Lolita in ihrem Zimmer am offenen Fenster.
„Wirst du den Prinzen heiraten?“ fragte Carlos.
„Gewiß“, antwortete sie.
„Armer Herr Dr. Bürstenfeger!“
Tia Lolita lachte.
Was sich gestern ereignet hatte, hatten sie ihr arglos erzählt. Anfangs war sie betroffen gewesen und dann aufs höchste belustigt.
Da, unten im Garten, kam Herr Dr. Bürstenfeger daher.
Er ging, den Kopf zu Boden gerichtet, und bewegte die Hände, wie im Selbstgespräch.
Er ging zur Bank und setzte sich.
Ganz deutlich hörten sie, wie er leise sagte: „Lolita!“
Carlos ahnte nicht, was in Herrn Dr. Bürstenfeger vorging; aber ein Mitleid ergriff ihn, unbestimmt, doch übergewaltig.
Er lief die Treppe herab, zum Garten hinaus, Herrn Dr. Bürstenfeger entgegen: „Armer Herr Dr. Bürstenfeger!“
Aufs höchste betroffen, sah ihn der Lehrer an.
„Armer Herr Dr. Bürstenfeger, sie wird ja den Prinzen heiraten!“
Oben am Fenster war Bewegung.
Herr Dr. Bürstenfeger sah hinauf und sah Tia Lolita dort sitzen.
Da erkannte er, daß er belauscht worden war, und erhob sich jäh, während ihm das Blut ins Gesicht strömte.
Dann aber fiel er zurück, ließ den Kopf sinken und begann zu schluchzen, aufgelöst in wahnsinnige Beschämung.
Carlos stand da, sah ihn an und begriff das große Rätsel nicht.
Plötzlich aber fiel er ihm um den Hals und brach ebenfalls in Schluchzen aus.
Aus den Urwäldern aber ertönte laut das Konzert der Brüllaffen.
Ein paar Jahre waren vergangen.
Man wohnte seit einigen Wochen in der Stadt, da die Villa restauriert wurde.
In zehn Tagen aber sollten Carlos und Nicolás mit Herrn Dr. Bürstenfeger nach Europa reisen.
Carlos wurde nächstens zehn Jahre. Sie waren in ihrem Unterricht so weit, daß sie in die erste Klasse des Gymnasiums eintreten konnten, und es war dafür eine kleine Stadt irgendwo in Deutschland bestimmt worden.
Nach Europa! jauchzten Carlos und Nicolás, das war endlich einmal eine weite Reise. Übers Meer reiste man, wo die Wellen wie Berge waren. Man sah Walfische und Haifische. Man erlebte vielleicht auch Schiffbruch, man strandete auf einer einsamen Insel und nährte sich von Gräsern und Kräutern, bis die Vorräte des Wracks ans Land geschafft waren. Dann kam ein Schiff vorbei, Carlos und Nicolás würden die Hemden ausziehen und damit winken, und dann würden sie endlich nach Europa kommen und eine herrliche Robinsongeschichte erlebt haben.
In Europa aber versank man bis zum Hals in den Schnee, wenn man auf den Straßen ging. Das erschien ihnen lustig. Dann waren auch dort die großen Schlittenfahrten. Sechs Pferde waren vor die Schlitten gespannt, und in Karriere ging es über Berge und Täler und durch den Wald. Oft verfolgten sie Wölfe.
In der Schule war es schön. Man ging mit einem Tornister auf dem Rücken dahin, und um zehn Uhr war Picknick, das mußte man sich von zu Hause mitnehmen.
Die Schule fand in einem großen Saale statt, darin wimmelte es von Schülern. Der Lehrer sprach mit lauter Stimme, alle lauschten, und jeder wollte der Beste sein. Wenn man so allein zu zweit im Hause Schule hatte, war man lange nicht so ehrgeizig.
So war es in Europa! Carlos und Nicolás wußten es, obgleich Herr Dr. Bürstenfeger es nur zum Teil so dargestellt hatte. —
Heute aber saßen sie noch in Buenos Aires im Spielzimmer und stellten eine Liste auf von den Knaben und Mädchen, die sie für übermorgen einladen wollten, zu Carlos’ Geburtstag.
Carlos wollte, daß auch sein bester Freund dabei sein sollte, ein Junge in seinem Alter, der auf einem lahmen Schimmel ritt mit einem Schafspelz als Sattel, und dessen Vater Knecht bei den Schlächtereien in Barracas war.
Herr Dr. Bürstenfeger aber fand es durchaus nicht statthaft, und so verließen denn die drei das Haus, ohne daß Carlos’ Wunsch willfahrt worden wäre, um die Einladungen zu besorgen.
Zuerst gingen sie zu Aguieres, die nicht weit von ihnen wohnten.
Sie wurden zum älteren Bruder des Freundes, der zwanzig Jahre alt war und einen Schnurrbart hatte, ins Zimmer gebeten.
Er saß vor einem großen Schreibtisch, auf dem ein Haufen Papiere lagen, schien nachdenklich und besorgt und versprach zerstreut, daß sein kleinerer Bruder, der augenblicklich noch in der Schule sei, zu Carlos’ Geburtstag kommen werde. Dann schrieb er sich das auf einen Zettel auf.
Im Sagnan begegneten Herr Dr. Bürstenfeger und die Knaben der Mama, einer Dame aus den nördlichen Provinzen mit mattem Teint und großen, sanften Augen. Sie gab den Knaben einen Kuß und bestätigte die Erlaubnis.
An Carlos’ Geburtstag erwachten die Knaben ganz in der Frühe. Im Dämmerlicht sahen sie die vor den Betten aufgestellten Geschenke.
Nicolás wurde ebenfalls zu Carlos’ Geburtstag beschenkt, weil der seine kurz nach Weihnachten fiel.
Auf einer großen Kiste lag ein Zettel, darauf zu lesen stand: Von Herrn Dr. Bürstenfeger.
Nachdem sie von den übrigen Sachen fieberhaft Kenntnis genommen hatten, eilte Carlos im Hemd nach der Küche und holte ein Brecheisen, um die Kiste zu öffnen.
Darin fanden sie eine Pappschachtel, die beinahe die ganze Kiste einnahm. Als sie diese öffneten, fanden sie wieder eine Schachtel darin, und in dieser ein Paket. Es war aber kein Paket, sondern zusammengeknülltes Zeitungspapier.
Wie sie bereits verzagen wollten, stießen sie auf einen großen Zettel, auf dem zu lesen stand:
„Diese Kiste mit allem, was darin ist,
nennt man bei uns einen Julklapp.“
Unzufrieden mit dieser Erklärung, suchten sie jetzt ohne alle Hoffnung weiter, fanden aber zuletzt, in braunes Papier eingewickelt, zwei schöne Bücher als Geschenk, in die Herr Dr. Bürstenfeger eine herzliche Widmung geschrieben hatte.
Carlos und Nicolás zogen sich an und gingen ins Spielzimmer; es war noch ganz still im Hause.
Auch draußen war es still, die Tramways fuhren noch nicht, nur ein Bäckergeselle ritt auf seinem Maultier pfeifend die Straße herab.
Carlos und Nicolás hatten eine Menge Bleisoldaten erhalten, die wurden ihren Armeen einverleibt. Dann zogen sie einen Kreidestrich mitten über den großen Tisch, die Kanonen wurden mit Erbsen geladen, und die Schlacht begann.
Unten auf der Straße aber ertönte gedämpfter Trommelschlag, die Knaben sprangen zum Balkon, ein Bataillon Infanterie zog vorüber.
Inzwischen war es ganz hell geworden, die Dienstboten waren aufgestanden.
An der Straßenecke stand ein Trupp Leute, ein Stück weiter wieder einer.
Eine Schwadron Polizei mit Gewehren ritt im Trabe vorbei, von einigen Neugierigen gefolgt.
Immer noch fuhren die Tramways nicht ...
Herr Dr. Bürstenfeger war mittlerweile aufgestanden. Er beglückwünschte Carlos zu seinem Geburtstag, die Knaben dankten für das schöne Geschenk; darauf gingen sie ins Eßzimmer, um zu frühstücken.
Auf dem Gang hörten sie die Köchin laut und aufgeregt sprechen.
Herr Dr. Bürstenfeger stand auf, um zu hören, was geschehen war.
Ganz aufgelöst erzählte sie, man hätte sie nicht auf den Markt gelangen lassen, die Plaza sei mit Militär besetzt, Kanonen stünden dort, das Pflaster sei ausgehoben.
„Revolution!“ sagte Mauricio, der Diener aus Galicien.
„Waas ...!“ entgegnete Herr Dr. Bürstenfeger.
„Das ist die Revolution!“ riefen Carlos und Nicolás und stürmten nach dem Balkon.
Auf der Plaza aber krachte eine Salve, daß die Fenster klirrten; das war der Beginn. —
Es dauerte eine geraume Weile, bis Herr Dr. Bürstenfeger sich von seinem ersten großen Schreck erholt hatte, sofort aber nahm er die Knaben unter seine Obhut.
„Die Revolution, die Revolution!“ schrieen Carlos und Nicolás und waren ganz außer sich.
Herr Dr. Bürstenfeger beschwor sie, zu schweigen, und faßte sie dann streng an beide Hände.
Darauf befahl er Mauricio, alle Fenster, die auf sein sollten, zu schließen.
Um nun kümmerlich sehen zu können, was auf der eigenen Straße geschah, mußte man auf Stühle steigen.
Von Zeit zu Zeit ertönte von der nahen Plaza wieder eine Salve.
Aber auch in anderen Teilen der Stadt begann es lebendig zu werden; Bürger stiegen bewaffnet auf die flachen Dächer ihrer Häuser, aus Fenstern und Balkonen wurde geschossen.
Mit anbrechender Dunkelheit aber wurde es allmählich überall still.
Losgelöste Rotten durchzogen schreiend die Straßen.
Man verriegelte die Häuser, um sich gegen Einbrecher zu schützen.
Auch bei Carlos und Nicolás wurde das Tor sorgfältig geschlossen, und Herr Dr. Bürstenfeger ging hinunter, um sich davon zu überzeugen. —
Als die Knaben zu Bett gegangen waren, unterhielten sie sich noch lange über die Lage.
Es waren Flugschriften von der Regierung und auch von der Revolutionspartei herausgegeben worden, die vom Gange der Ereignisse berichteten.
Herr Dr. Bürstenfeger und der Papa hatten heute bei Tische darüber gesprochen, und Carlos und Nicolás versuchten, sich davon ein Bild zu machen: sie waren sich klar, der Präsident hatte viel gestohlen, und wer ein guter Argentinier war, mußte Revolution machen.
Gewiß wollten Carlos und Nicolás sich Mühe geben, gute Deutsche zu sein, aber sie wollten auch gute Argentinier bleiben.
„Weißt du was!“ sagte Carlos. „Sollte der Präsident daran sein, zu gewinnen, so ziehen wir beide auch in die Revolution, und alle unsere Freunde müssen mit. Auf unseren Ponys reiten wir einher und helfen den Präsidenten schlagen.“
Mit diesem Entschlusse schliefen sie beruhigt ein ...
Bei anbrechendem Tage wurden sie durch lautes und ununterbrochenes Schießen geweckt. Auch auf nahen Straßen schoß man.
Ein Bataillon Infanterie zog unten auf der Straße mit aufgepflanztem Bajonett nach der Plaza, ohne Trommelschlag.
Gleich würden sie dort sein. Carlos und Nicolás erschauerten.
Wenige Minuten, und eine neue, das allgemeine Krachen übertönende Salve erfolgte.
Das war der Empfang.
„Mein Gott!“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger und entfärbte sich.
Wieder zog eine Rotte schreiender Menschen vorüber, mit Stößen von Flugblättern beladen.
Sie türmten sie zu Bergen auf und verbrannten sie.
Dabei brüllten sie: „ Viva la revolucion! “
„ Viva la revolucion! “ schrien Carlos und Nicolás, von Begeisterung ergriffen.
„Schweigt, um Himmels willen,“ rief Herr Dr. Bürstenfeger; „enthaltet euch jeder Meinungsäußerung!“
Gegen Mittag erschien das Geschwader, das eine Tagreise südlich von Buenos Aires stationiert hatte. Es kam den Revolutionären zu Hilfe.
Und jetzt begann von dorther ein Bombardement auf die Stadt.
Die weiblichen Dienstboten hatten sich schreiend in die Küche geflüchtet, denn schon eines der ersten Geschosse war nicht sehr weit vom Hause geplatzt.
Die Eltern, Carlos und Nicolás und Herr Dr. Bürstenfeger saßen zusammen im Eßzimmer.
„Recht töricht,“ meinte der Papa, „jetzt gilt ja Freund und Feind gleich.“
„Büberei!“ hauchte Herr Dr. Bürstenfeger, er war kreidebleich.
„Wenn wir aufs Dach stiegen, könnten wir alles sehen“, sagte Carlos zu Nicolás.
Niemand hatte es gehört. Die Mama stand bei der Tür, Herr Dr. Bürstenfeger war ganz aufgelöst, der Papa sprach über die Aussichten der Revolution.
Die Knaben stiegen die Treppe zum flachen Dach hinauf.
Die fünf Panzer des Geschwaders standen etwa einen Kilometer entfernt in Schlachtlinie.
Sie schossen abwechselnd.
„Klingt es nicht wie eine Eisenbahn, die vorübersaust?“ sagte Carlos zu Nicolás, wenn eine Bombe vorbeiflog.
... Plötzlich stand Herr Dr. Bürstenfeger neben ihnen.
„Karl und Nikol...!“ mehr brachte er nicht heraus. Aschfahl war er im Gesicht. Er packte jeden an einem Arm, und seine Hände waren wie Schraubstöcke.
Ohne ein Wort zu sagen, stieg er mit ihnen die Treppe hinab und brachte sie zu Papa und Mama.
Die ganze Zeit hielt jetzt Herr Dr. Bürstenfeger die Hände der Knaben erfaßt.
Das Bombardement dauerte fort.
„Herr Dr. Bürstenfeger,“ flehten sie, „lassen Sie unsere Hände los!“
„Nein“, sagte er.
„Wir bitten Sie, Herr Dr. Bürstenfeger!“
Er ließ sie los.
„Wir möchten ins Spielzimmer“, sagten sie und standen auf.
Herr Dr. Bürstenfeger folgte ihnen.
Sie stellten ihre Bleisoldaten auf, schossen mit Erbsen und spielten Revolution. Jeder von ihnen war die Revolutionspartei. Sie vergaßen sich ganz und rückten einander auf den Leib.
„Haltet ein!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger und ergriff sie bei den Armen. Dann legte er seine Hände auf ihre Schultern und sagte emphatisch: „Karl und Nikolaus!“ und nun zeigte er mit einer raschen Bewegung nach draußen, „euren braven Eltern und dann mir habt ihr es zu verdanken, daß ihr nicht werdet, wie jene bübischen ... dort ...“
Bei diesen letzten Worten platzte nicht weit eine Bombe, daß die Scheiben barsten.
Carlos und Nicolás aber, sinnlos vor Aufregung, sprangen zum Fenster, rissen es auf und sahen einige Häuser weiter eine große rote Wolke Ziegelstaubes aufsteigen — dort, wo die Bombe geplatzt war ...
Was in den nächsten drei Stunden vorging, sahen Carlos und Nicolás nicht.
Herr Dr. Bürstenfeger hatte sie ins Schulzimmer eingesperrt, das hinten auf den Hof hinausging; er war ganz ratlos.
Sie sahen nicht, wie der ältere Bruder ihres Freundes, der zwanzigjährige Augiere, der, so jung er auch war, zu den Häuptern der Revolution gehörte, von vier bewaffneten jungen Bürgern auf einer Bahre am Hause vorbeigetragen wurde.
Er war von einer Kugel unterhalb der Brust getroffen worden, und man brachte ihn, weil er es wünschte, zu seiner Mutter nach Hause. Er würde wohl heute noch sterben.
Sie hörten nur das Sausen und Krachen der Bomben.
Herr Dr. Bürstenfeger aber saß, ohne daß die Knaben es wußten, draußen bei der Tür.
Er wollte nahe bei ihnen sein in diesen gefährlichen Stunden, kein Vorwurf sollte ihn treffen ...
Gegen Abend hörte das Bombardement auf, und auch auf Plätzen und Straßen wurde es ruhiger.
Herr Dr. Bürstenfeger entließ sie aus ihrer Haft.
Als sie einige Augenblicke später im Eßzimmer auf den Stühlen standen und auf die Straße herabsahen, kam ein langer Zug Karren vorbeigefahren. Leichen von Soldaten, Polizisten und Bürgern lagen darauf gehäuft.
Nicolás wandte sich ab, Carlos aber blickte wie festgebannt hin, und da sah er, wie in diesem Haufen sich Arme und Beine bewegten, es waren noch Verwundete darunter.
Von Schauder und Angst ergriffen, floh er in sein Zimmer und vergrub sein Gesicht in die Kissen.
Den Plan, der Revolution zu Hilfe zu kommen, falls der Präsident siegen sollte, hatten sie jetzt plötzlich ganz fallen gelassen ...
Als sie nachts im Bett lagen — sie konnten lange vor Aufregung nicht einschlafen —, klopfte es mit einem Mal laut an die Haustür, es war gegen zwölf Uhr.
Carlos fuhr auf.
„Öffnen, öffnen, um Gottes willen, öffnen!“ rief jemand unten.
Carlos sprang aus dem Bett und eilte in Herrn Dr. Bürstenfegers Zimmer.
„Herr Dr. Bürstenfeger, jemand klopft unten und verlangt herein!“
Der Hauslehrer saß aufrecht in seinem Bett, stierte ihn an und antwortete nicht.
Carlos lief ins Zimmer seines Vaters:
„An der Haustür klopft jemand und bittet por el amor de Dios , daß man ihn hereinläßt!“
Der Papa stand auf und ging ans Fenster.
Unten stand ein Polizist, über und über mit Kot bedeckt, ganz verstört.
Der Papa schlüpfte in seine Beinkleider und zog den Rock an.
Draußen war Herr Dr. Bürstenfeger.
„Wir müssen ihm öffnen!“ meinte der Lehrer düster.
Beide gingen, von Carlos und Nicolás gefolgt, hinunter.
Der Polizist trat schnell in die geöffnete Tür, sein linker Arm blutete.
Er hatte einen Streifschuß bekommen.
Man führte ihn in die Küche, weckte den Diener und verband seinen Arm.
Armer Gallego! dachten Carlos und Nicolás, von Mitleid erfüllt.
Es war ein spanischer Galicier, einer der vielen eingewanderten armen Teufel, die sich mit der ersten besten Anstellung zufriedengeben mußten.
„Man schießt auf uns, von den Dächern, zu dieser Zeit noch. Wie Fliegen tötet man uns, ich bin der letzte der Patrouille!“ sagte er.
Sein angstverstörtes Gesicht war auf Herrn Dr. Bürstenfeger gerichtet.
Er bat, man möchte ihm die glänzenden Knöpfe seiner Uniform abschneiden, damit er nicht auf den ersten Blick kenntlich sei.
Carlos und Nicolás holten zwei Messer aus der Schublade und machten sich sofort daran.
„Legen Sie auch Ihr Käppi ab,“ sagte Nicolás, „und setzen Sie einen alten Hut von Papa auf, so glaubt jeder, Sie seien ein Zivilist!“
Der Polizist sah Nicolás einen Augenblick an, als leuchte ihm dieser Vorschlag ein.
Dann aber meinte er kläglich: „Nein, das geht doch nicht ... ich darf nicht ... die Knöpfe höchstens.“
Man hatte ihm Wein gebracht, er trank drei Gläser.
Nach einer halben Stunde aber sagte er, er müsse fort, er dürfe nicht länger bleiben.
Er konnte sich anfangs kaum auf den Beinen halten: die Wirkung des Weines, die durchwachten Nächte und die Angst.
Der Diener begleitete ihn hinunter und öffnete ihm.
Nicolás sagte: „Armer Polizist, ich habe so große Furcht, daß man ihn tötet.“
Er aber huschte an den Häusern entlang, sah manchmal verstohlen in die Höhe, ob nicht jemand herunterziele, und verschwand dann um die Straßenecke ...
Als Carlos und Nicolás am Morgen erwachten, hörten sie unten auf der Straße die Trambahn fahren, der Kutscher stieß in sein Horn, es waren die ausgelassensten Melodien; polternd fuhren die Karren. Auf ihren kleinen dickbäuchigen Pferden ritten die Milchmänner. Man hörte das Klatschen der Milch in ihren Blecheimern.
Carlos öffnete das Fenster.
„Nicolás,“ rief er seinem Bruder zu, der eben erwachte, „die Revolution ist zu Ende, glaube ich!“ ...
„Wir haben Frieden“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger, als die Knaben zum Frühstück erschienen. „Gott sei Dank, Frieden ... Karl und Nikolaus, jetzt dürft ihr wieder ungehindert auf den Balkon!“
In dem Augenblick zog unten eine Rotte Menschen vorbei. Sie schrien: „Fort ist sie, fort ist die Canaille!“
Damit war der Präsident gemeint, er war gestürzt; gestern war er fort nach Paris mit einigen Millionen.
„Fort ist sie, fort ist die Canaille!“ Der Jubel griff um sich, alles Volk stimmte mit ein.
Acht Tage später reisten Carlos und Nicolás nach Europa ...
Sie waren im Zimmer ihrer Mutter und sagten ihr Adieu.
Sie wollte nicht mit aufs Schiff, um nicht die Qual des Abschieds zu verlängern.
Der Papa aber würde die Knaben bis nach Montevideo begleiten.
Sie weinte, Carlos und Nicolás weinten.
„Nicht wahr, du besuchst uns bald!“ Nicolás hielt die Mama umarmt.
„In einem Jahr reise ich hinüber“, schluchzte sie.
Plötzlich begann Carlos laut zu heulen: „Ich will nicht nach Europa, ich will bei dir bleiben!“
Und Nicolás heulte: „Ich will auch nicht nach Europa, ich will bei dir bleiben!“
Draußen aber stand Herr Dr. Bürstenfeger mit seiner Reisetasche, auf der Veilchen und Rosen gestickt waren, die Uhr in der Hand.
Eine Viertelstunde später fuhren die drei an der Calle Horida vorbei.
Carlos wandte sich dreimal schnell nach der großen Holzflasche um und dachte schluchzend: Wann werde ich die wiedersehen?! ...
Auf der Landungsbrücke wartete der Papa.
Die Knaben fielen ihm um den Hals: „Nicht wahr, bis nach Montevideo begleitest du uns ...?!“
„Ja, meine lieben Jungens“, sagte er und wischte sich eine Träne ab, die ihm über die Backe lief.
Die Lombardia hatte vor drei Stunden Montevideo verlassen. Carlos und Nicolás standen mit Herrn Dr. Bürstenfeger hinten auf Deck.
Eine halbe Tagereise hinter ihnen lag Buenos Aires; nun endlich waren sie auf dem Meer. In den Abschiedsschmerz, der die Knaben erfüllte, mischte sich die freudige Erwartung noch nie gesehener, vielleicht unerhörter Dinge.
Sie fragten einen Schiffsoffizier, der neben ihnen stand, ob Sturm im Anzuge sei.
„Gott sei Dank nein!“ antwortete lachend der Offizier, worauf sie sich auf morgen vertrösteten.
Die Knaben hatten in ihrer Kabine um die Betten gelost. Nicolás war das obere zugefallen; von da aus konnte er durch die gegenüberliegende Luke gerade aufs Meer sehen.
Sollte er, wenn er nachts erwachte, die Wolke am Horizont schauen, die unfehlbar Sturm verkündete, hatte er seinen Bruder zu wecken.
Es reisten nicht viel Passagiere in der ersten Klasse. Mit einem dicken fröhlichen Priester aus Montevideo waren sie gleich Freunde geworden.
Sie hatten ihn abends bei Tische beobachtet, wie er vor jedem Gericht seine Reverenz machte.
Nachher lag er oben auf Deck auf seinem Reisestuhl ausgestreckt und verdaute.
„Seid ihr noch nicht seekrank, Süßwasserratten!“ sprach er Carlos und Nicolás an.
„Wir sind keine Süßwasserratten,“ antwortete Carlos und zeigte nach seiner Matrosenmütze, worauf der Name eines großen französischen Panzers stand, „und vor dem Sturm fürchten wir uns auch nicht!“
„Bravo!“ rief der fröhliche Priester.
Darauf erzählten sie ihm, daß sie mit ihrem Hauslehrer, Herrn Dr. Bürstenfeger, nach einem schönen Städtchen in Deutschland reisten, das Mufflingen hieße, um in die Schule zu gehen. Dort wohnten auch ein Onkel und eine Tante von ihnen. Sie selbst zwar seien aus Buenos Aires und daher Argentinier, aber zugleich auch Deutsche, weil ihr Vater ein Deutscher sei.
Der fröhliche Priester antwortete: „Wenn ihr in Argentinien geboren seid, so seid ihr Argentinier, und vergeßt ihr das, seid ihr keine braven Kerle!“
„Wir bleiben gute Argentinier!“ antworteten ein wenig gereizt beide Knaben.
„Das ist gut!“ meinte zufriedengestellt der Priester.
Nicht weit von ihnen an der Reling stand ein Herr mit einem langen fahlen Gesicht und einer fahlen Glatze.
Auch er war ihnen bei Tisch aufgefallen. Seltsam düster hatte er vor sich hingeschaut und manchmal ganz absonderlich gelächelt.
Jetzt machte er Carlos und Nicolás heimlich Winke, die sie aber nicht gleich verstanden. Schließlich begriffen sie, daß sie zu ihm hinüber sollten, und, wie es schien, in einer sehr dringlichen Angelegenheit.
Als eine Pause in der Unterhaltung entstand, gehorchten sie möglichst unauffällig.
„Das ist ein schwarzer Pfaffe“, sprach leise und finster der Herr mit der fahlen Glatze und zeigte auf den fröhlichen Priester, der mit geschlossenen Augen wieder seine Verdauung pflegte. „Gebt euch nicht mit ihm ab, schwarze Pfaffen bringen Unglück. Ich würde wieder an Land gegangen sein, wenn nicht noch zwei Mönche mit weißen Kutten an Bord wären.“
Darauf erzählte er anschaulich und grausig von den Schrecken eines Schiffunterganges, von Menschen, die verzweifelt mit den sturmgepeitschten Wellen ringen, sprach vom Nachlassen ihrer Kräfte, dem völligen Ermatten und der Drangsal des Ertrinkens, sprach vom Hai und beschrieb seine Gestalt und seinen Charakter. „Wehe denen, die in seinen grausigen Rachen gerieten!“ Er ließ krachende Knochen hören und herzzerreißende Aufschreie und schloß seine Schilderung mit dem Bild eines oben am höchsten Mast angeklammerten Mannes im Lichte des zuckenden Blitzes.
Und dabei rieb er sich die Hände und lachte unheimlich, als bereiteten ihm diese Vorstellungen ein unsägliches Vergnügen.
Carlos und Nicolás aber überlief es eiskalt. Sie hatten keine Sehnsucht mehr nach dem Sturm.
Und als sie nachher in ihren Betten lagen, schaute Nicolás voller Angst nach dem Horizont, ob sich nicht vielleicht die unheilverkündende Wolke zeige.
Am nächsten Morgen, als sie erwachten, schaukelte das Schiff beträchtlich. Ein wenig beunruhigte sie das, denn sie hatten die Erzählung des Herrn mit der Glatze noch nicht vergessen.
Durch die Luke sahen sie, daß das Meer nun blau statt grün, die Wellen aber nicht viel höher waren als gestern, und das enttäuschte sie wieder, denn sie mußten längst auf offenem Ozeane sein.
Rasch zogen sie sich an und eilten auf Deck. Sie ließen die Blicke nach allen Richtungen schweifen, doch überall sahen sie nur Himmel und Wasser.
Carlos und Nicolás schöpften einige Male tief Atem, und Carlos sagte: „Es ist doch schön, das große Meer!“
Bald darauf fiel ihnen ein, daß sie eigentlich auch zu Herrn Dr. Bürstenfeger müßten; überdies klingelte es schon zum Frühstück.
Sie gingen in seine Kabine; er lag noch im Bett und war ungemein bleich.
„Mir ist nicht recht wohl, Karl und Nikolaus,“ sagte er, „mein Magen ist wieder einmal nicht in Ordnung; aber geht nur jetzt zum Frühstück; ich werde gleich folgen.“
Im Eßzimmer saß bereits der fröhliche Priester vor einer Tasse Schokolade. Er war erstaunt, Carlos und Nicolás so früh munter und immer noch nicht seekrank zu sehen.
Beide Knaben dachten zugleich an die gestrige Warnung des Herrn mit der Glatze. Aber wie sie jetzt wieder in des Priesters breites gutmütiges Gesicht sahen, verging ihnen sofort alle Angst. Sie begriffen nicht recht, daß er ihnen gefährlich sein könnte, nur darum, weil er ein schwarzes Gewand trug.
Der fröhliche Priester tauchte einen Zwieback in seine Schokolade und sagte: „Nun, Jungens, setzt euch neben mich!“
Aber sie hatten auf ihren Lehrer zu warten.
Sie begannen miteinander zu plaudern. Der Priester machte ihnen den Vorschlag, nicht nach Deutschland zu reisen, sondern mit ihm nach Rom. Er werde sie dort dem Papst vorstellen, und in wenigen Jahren schon würde ganz sicher Nicolás ein Erzbischof und Carlos ein Kardinal werden.
Was ein Erzbischof sei, wußten ungefähr die Knaben; aber unter einem Kardinal verstanden sie nur einen grauen Vogel mit einer roten Haube. Davon hatten sie viele auf dem Gute in der Pampa mit Klebruten gefangen. Aber das zu sein bedankte sich Carlos lebhaft.
Der Priester erklärte ihnen, ein Kardinal, wie er ihn meine, sei ein mächtiger Kirchenfürst, der übrigens auch eine rote Haube trage. Darauf behauptete er, in Deutschland liefen die Leute auf acht Beinen umher und der Großtürke sei dort Herrscher. Er schneide allen seinen Untertanen die Ohren ab und mache sich daraus einen türkischen Salat.
Carlos und Nicolás merkten nun, daß der fröhliche Priester Witze machte, und lachten. Sie dachten wieder an den Herrn mit der fahlen Glatze; sehr wahrscheinlich hatte er gestern auch nur Witze gemacht.
Inzwischen erschienen die übrigen Passagiere; auch der Herr mit der Glatze. Ganz zum Schluß kam Herr Dr. Bürstenfeger. Von den Damen war keine einzige da.
„Die werden jetzt schon seekrank sein“, meinte der Priester.
Der Herr mit der Glatze nahm weit von ihnen Platz und warf düstere Blicke auf die Knaben.
Carlos und Nicolás glaubten, er fahre mit seinen gestrigen Späßen fort, grüßten ihn und lachten.
Aber die finster vorwurfsvolle Miene, die er daraufhin machte, verwirrte sie wieder ganz.
Herr Dr. Bürstenfeger setzte sich zwischen Carlos und Nicolás und schenkte sich und ihnen Schokolade ein, trank aber selbst beinahe nichts. Weder Kuchen noch Brot berührte er; dabei aber schien er in einemfort seltsam zu schlucken.
Von Zeit zu Zeit ermahnte er sie, die Bissen nicht, wie es ihre Gewohnheit war, hinunterzuschlingen, sondern ordentlich zu kauen. Bei der schaukelnden Bewegung des Dampfers seien die Magen ohnehin nicht sehr aufnahmefähig.
Der fröhliche Priester, der Herrn Dr. Bürstenfeger gegenübersaß, sah ihn einige Male verstohlen an und zwinkerte dann den Knaben zu.
Carlos und Nicolás schauten ihren Lehrer an; er war noch bleicher als vorher; es war ihnen klar, er war seekrank. Sie hatten großes Mitleid mit ihm, aber zugleich dachten sie: Wenn das andauert, haben wir keine Schule!
Sie hatten kaum fertig gegessen, als Herr Dr. Bürstenfeger aufstand und sagte: „Gehen wir auf Deck, die Luft ist dort besser!“
„Ach diese Schiffsgerüche!“ seufzte er auf der Treppe und blieb eine Zeitlang stehen.
„Es riecht nur nach Teer“, meinte Nicolás.
Oben irgendwo stand ein Froschspiel. Carlos und Nicolás nahmen es sofort in Beschlag.
Herr Dr. Bürstenfeger marschierte mit langen Schritten auf Deck auf und ab.
Nun stieg eine Dame aus einem Städtchen in Patagonien die Treppe hinauf. Den Kopf hatte sie in einen schwarzen Schal gewickelt, ihr Gesicht war gelbgrün.
Schwankend ging sie auf ihren Reisestuhl zu, der sich in der Nähe von Carlos und Nicolás befand, blieb plötzlich stehen, blickte zu Boden, ächzte, ging dann einige Schritte nach der Seite und beugte sich über die Reling.
Herr Dr. Bürstenfeger sah sie, und Schweißtropfen perlten auf seiner bleichen Stirn. Er machte kehrt und verfügte sich schnell nach der anderen Seite des Decks.
Wenige Minuten darauf erschien er wieder, aschfahl und mit einer Haarsträhne über der Stirn.
„Karl und Nikolaus,“ sagte er, seine Stimme klang mitleiderregend, „ich gehe in meine Kabine, bleibt meinetwegen hier, aber treibt keinen Unfug und besucht mich bald!“
Damit entfernte er sich.
Gleich nachher sahen die Knaben weiter hinten den Herrn mit der Glatze in Gesellschaft eines kleinen hageren Herrn, der Pantoffeln trug und eine Reisemütze mit einem großen weißen Hornschirm.
Der Herr mit der Glatze hielt ihn am Rock fest und redete lebhaft auf ihn ein. Der Herr mit der Reisemütze wiegte den Kopf und zuckte die Achseln; schließlich gab er ihm einen Klaps auf die Schulter und machte sich lachend von ihm los. Er ging auf die seekranke Dame zu und streichelte ihr teilnehmend die Wange.
Sie stöhnte leise und schloß die Augen.
Aber auch der Herr mit der Glatze war herangetreten.
Carlos und Nicolás hörten, wie er eindringlich von einem schweren Kesselschaden auf einer früheren Reise sprach und sich dann in düstere Mutmaßungen über die Lombardia erging.
Die seekranke Dame öffnete langsam ihre großen leeren Augen, schloß sie wieder und hauchte: „Mir ist jetzt alles gleich.“
Der Herr mit der Reisemütze jedoch rief: „Um Himmels willen, wissen Sie denn immer nur von solch unheimlichen Dingen zu reden? Sie verderben einem ja die ganze Reisefreude!“
„Niemandem will ich die Reisefreude verderben, ich schweige!“ rief der Herr mit der Glatze aus, wobei er ein unheimliches Gelächter erschallen ließ.
„Der Herr macht keine Späße“, sagte Carlos leise und erschrocken zu seinem Bruder.
„Nein, er macht keine Späße“, antwortete Nicolás.
Beide sehnten sich jetzt nach dem fröhlichen Priester, weil er so lustig war, und sie gingen ihn suchen.
Er lag weiter vorn auf seinem Reisestuhl und schlief.
Die Knaben wollten ihn nicht wecken. Da das Froschspiel sie bereits langweilte, gingen sie nach Zwischendeck, um die Emigranten zu sehen.
Viele hundert Menschen waren dort beisammen: Italiener, Spanier, Basken; Leute aus allen möglichen Nationen.
Sie standen umher, saßen auf Kisten und Säcken oder lagen auf der Erde ausgestreckt mit einem Bündel als Kopfkissen. Manche waren seekrank; einige hatten sich übergeben, auf dem Platze, wo sie waren.
Im großen und ganzen aber war Lustigkeit. Man schwatzte laut, man sang, es wurde Gitarre gespielt. —
Kurz vor dem zweiten Frühstück gingen die Knaben zu ihrem Lehrer.
Er lag im Bett und hatte Rock und Kragen abgetan. Neben ihm auf dem Boden stand ein Blechkübel.
Sein Aussehen war bejammernswert.
„Karl und Nikolaus, ist euch wohl?“ fragte Herr Dr. Bürstenfeger mit matter Stimme, indem er sich langsam aufrichtete.
„Ja“, antworteten Carlos und Nicolás zögernd, denn im Netze auf Armweite von ihm sahen sie einen Stoß Hefte.
„Das ist gut,“ fuhr er fort, „denn seht, mir ist sehr schlecht, und ich bin für heute nicht in der Lage, euch Unterricht zu geben.“ Er faßte sich an die Stirn und schwieg einige Sekunden. „Damit ihr nun die Zeit nicht zwecklos verbringt, nehmt diese Hefte und seht sie durch, es sind alles Sachen, die wir noch zusammen an Bord behandeln werden.“
Nach diesen Worten langte er mit einer schmerzlichen Miene nach dem Netz, ergriff die Hefte und streckte sie ihnen hin.
Eine Weile saß er aufgerichtet und blickte stumm geradeaus. Dann beugte er sich rasch über sein Bett und übergab sich in den Kübel.
Carlos und Nicolás verließen ihn höchst mißmutig.
„Jetzt ist er seekrank, und wir haben doch nicht frei!“ sagte draußen Carlos.
„Wären wir etwas länger in seiner Kabine geblieben, würden wir auch seekrank geworden sein, und wir hätten frei“, antwortete Nicolás.
Darauf hielten sie Rat, wann sie mit ihrer Tätigkeit beginnen wollten, und beschlossen, sie für einstweilen aufzuschieben.
Bald nachher ertönte die Glocke zum zweiten Frühstück.
Sehr selten hatten sie Gelegenheit gehabt, ohne ihren Lehrer zu Tisch zu gehen. Es war ihnen eine langentbehrte Freude, Schüsseln, die ihnen nicht schmeckten, weitergehen zu lassen, und sie machten jetzt ausgiebigen Gebrauch davon. Dafür aßen sie dreimal Torte und auch Bananen und Orangen nach Herzenslust.
Herr Dr. Bürstenfeger kam den ganzen Tag nicht aus seiner Kabine.
Sie machten ihm einige pflichtschuldige Besuche. Auf seine Fragen, ob sie auch fleißig gewesen seien, gaben sie nur ausweichenden Bescheid.
Am folgenden Morgen war das Wetter gut, die Bewegungen des Dampfers weit ruhiger und regelmäßiger.
Herr Dr. Bürstenfeger befand sich in leidlichem Zustand; er erschien auf Deck und erteilte den Knaben am Vormittag schon zwei Stunden in seiner Kabine. Von Zeit zu Zeit waren über ihren Köpfen in regelmäßigen Abständen schwere Schritte hörbar.
Während Carlos mühselig und weinerlich die dritte lateinische Deklination hersagte, dachten beide Knaben: oben spaziert jemand, der keine Schule hat!
Als der Unterricht zu Ende war, liefen sie auf Deck, neugierig zu erfahren, wer es sei.
Es war der fröhliche Priester, der ein lustiges Lied trällernd seinen Vormittagsspaziergang machte.
„Meinen Appetitsspaziergang für den Lunch“, erklärte er. Darauf stellte er fest, daß er heute bereits drei Meilen gegangen sei.
Nachmittags hatten Carlos und Nicolás nochmals Unterricht. Den Rest der Zeit verbrachten sie spielend auf Deck und in Gesellschaft des Priesters.
Abends nach Tisch hörten Carlos und Nicolás den Schiffsarzt über den Herrn mit der fahlen Glatze reden. Er sei ein italienischer Handlungsreisender in Konserven, ein harmloser Herr, der seine phantastischen Grillen habe, niemand nehme ihn ernst.
So vergingen die Tage, das Wetter war gut, der fröhliche Priester aß mit Appetit, der Herr mit der Glatze fuhr fort in seiner düsteren Freude an allem Ungemach, und Herr Dr. Bürstenfeger gab seinen Unterricht, aber jetzt auf Deck, weil die Hitze in der Kabine zu drückend wurde.
Am fünften Tage frühmorgens fuhr die Lombardia in die Bai von Rio ein. Der Himmel war heiter, die Luft schwül.
Herr Dr. Bürstenfeger stand mit Carlos und Nicolás auf Deck.
Er rief begeistert aus: „Unsäglich lang habe ich mich auf diesen Anblick gefreut, Karl und Nikolaus. Herrlicheres bietet die Natur nicht oft! — Bai von Rio de Janeiro, seit Entdeckung Amerikas gepriesen von den hehrsten Reisenden aller Nationen, sei mir gegrüßt!“
Eine Weile verharrte er stumm in Betrachtung der Ufer; dann bemerkte er: „Schaut hin, Karl und Nikolaus, rechts von uns haben wir jetzt das Fort Santa Cruz und links den weltberühmten Zuckerhut — Pao d’Azuka. Der Meerbusen — gerade fahren wir hinein — ist einer der inselreichsten der Welt und hat die erstaunliche Breite von mehr als zwanzig Kilometer! — Betrachtet diese Hügel, diese Berge! Noch sind wir ihnen freilich zu fern, als daß wir uns ein Bild machen könnten ihrer über alle Begriffe göttlichen Vegetation!“
„Seht“, rief er nach einer Weile, „nun die Stadt selbst!“
Eine Zeitlang genoß er schweigend ihren Anblick: „Wahrhaftig, man sollte glauben, nur glücklich sei dieses Rio zu preisen, um solchen Kranzes lodernder Schönheit willen; aber auf dieser Stadt ruht zugleich abgrundtief der Fluch des Schöpfers. Eine lautlose, gespenstische Schlacht wird hier zum großen Teil des Jahres geschlagen, ich meine das Wüten des fürchterlichen gelben Fiebers, das die Dünste dieser nur zu freigiebigen Erde nähren. Die günstige Jahreszeit, Karl und Nikolaus, bewahrt uns davor.“
Neben ihnen tauchte jetzt der italienische Handlungsreisende auf, und erstaunt sahen die Knaben auf seiner fahlen Glatze eine seltsame gelbe Kruste.
„Ich beschwöre Sie und jedermann im Interesse von uns allen,“ wandte er sich an Herrn Dr. Bürstenfeger, „gehen Sie nicht an Land, laden Sie sich nicht das schreckliche Fieber auf, hören Sie vielmehr auf meinen inständigen Rat: Nehmen Sie um Himmels willen Schwefel ein oder bestreuen Sie sich damit.“ Er zeigte auf seine Glatze. „Es ist das einzige halbwegs sichere Mittel gegen die Ansteckung. Was mich betrifft, ich schließe mich jetzt in meine Kabine ein, bis wir diesen verruchten Ort weit hinter uns haben!“
Nach diesen Worten machte er kehrt und verschwand.
Kopfschüttelnd sah ihm Herr Dr. Bürstenfeger nach. Dann meinte er: „Karl und Nikolaus, ich muß schlechterdings annehmen, daß dieser Herr sich mit seinem seltsamen Rat nur einen Scherz erlaubt hat, Schwefel als inneres Mittel wird freilich hie und da angewandt, aber schwerlich glaube ich,“ und nun lächelte Herr Dr. Bürstenfeger, „daß durch bloßes Bestreichen des Kopfes bei Fieberanlässen irgendwelche Wirkung erzielt wird, obwohl, ich wiederhole es, jetzt gar keine Gefahr ist.“
Herr Dr. Bürstenfeger schüttelte den Kopf und lächelte noch lange.
Plötzlich rief Carlos erfreut: „Nicht wahr, Herr Dr. Bürstenfeger, wenn Sie, ich, Nicolás und alle Passagiere uns mit Schwefel bestreuten, dann wären wir ja alle miteinander eine Schwefelbande?!“
„Karl,“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger, „ich bitte dich, laß mich wenigstens aus dem Spiel bei deinen recht törichten, wirklich übel angebrachten Witzen!“
Eine Viertelstunde darauf warf die Lombardia Anker.
Als der kleine Dampfer der Sanität das Schiff verlassen hatte, fuhren Barken und Boote heran, beladen mit Orangen, Bananen, Ananas, Kokosnüssen und Käfigen mit kreischenden bunten Vögeln.
Auf einem Berg von Orangen stand eine Kiste, auf der zwei Affen hockten.
Sofort hatten Carlos und Nicolás sie gesehen. Die beiden Affen waren ganz so wie die, welche sie in Paraguay gekauft hatten.
Weil sie ihnen mit der Zeit lästig geworden waren, hatten sie die Knaben in Buenos Aires einem Straßenjungen für einen Drachen vertauscht, aber seit einiger Zeit war wieder ihr größter Wunsch, zwei Affen zu besitzen. Die Eltern hatten die Erlaubnis gegeben, auf der Reise nach Europa ein Paar zu kaufen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte.
Beinahe gleichzeitig mit den Knaben hatte auch Herr Dr. Bürstenfeger die beiden Affen bemerkt.
Heftig erschrocken wollte er sich schnell mit Carlos und Nicolás nach der anderen Seite des Decks verfügen.
Aber schon riefen sie: „Herr Dr. Bürstenfeger, sehen Sie nicht dort die zwei Affen, kaufen Sie sie uns, Papa und Mama haben es erlaubt!“
Einen Augenblick schwieg Herr Dr. Bürstenfeger, dann erwiderte er: „Es sei, ich weiß, es war dies der Wunsch eurer Eltern. Es wird mir aber schwer; ihr seid Zeugen, zu oft und über Gebühr haben mich die beiden unappetitlichen Vorgänger dieser häßlichen grimassierenden Tiere geärgert.“
Carlos und Nicolás hatten jetzt für Herrn Dr. Bürstenfegers Mißmut keinen Sinn, sondern waren hocherfreut, weil er zu kaufen gesonnen war.
Wenige Minuten nachher stand die Kiste vor ihnen auf Deck, und sie waren nun ausschließlich mit den Affen beschäftigt, die Welt um sich her vergessend. —
Kurz darauf trat eine Dame unbestimmten Alters neben sie an die Schiffsbrüstung.
Die Knaben hatten sie bisher nur ein einziges Mal flüchtig am Tage ihrer Abreise, unten bei Tische gesehen.
Sie war klein und hager, mit einem Gesicht voller Sommersprossen, trug ein altmodisches Kleid und Ringellocken auf der Stirn. Ihre Nase war stark gerötet; sie trug eine Brille.
„Himmlisches Panorama!“ rief sie aus und ließ beide Arme auf die Brüstung sinken. „Ach doppelt schön erscheint einem die Welt,“ und dabei schielte sie nach Herrn Dr. Bürstenfeger, „wenn man fünf Tage krank in seiner Kabine lag!“
Plötzlich hatte sie auch die beiden Affen bemerkt.
„Sieh mal an,“ rief sie aus, „was sind das für zwei allerliebste, süße Geschöpfchen!“
Sie trippelte heran und begann die Affen am Halse zu kraulen; dabei blickte sie ganz eigentümlich Herrn Dr. Bürstenfeger an.
„Wohl der Papa der beiden jungen Herren“, nickte sie und zeigte auf Carlos und Nicolás.
Herr Dr. Bürstenfeger rieb sich die Hände und schien etwas verlegen zu sein.
„Ich bin der Erzieher dieser beiden Knaben, mein Name ist Bürstenfeger“, antwortete er, indem er sich verneigte.
„Ach das trifft sich ja reizend; ich war Erzieherin in Buenos Aires, mein Name ist Libussa v. Pfnühl.“ Sie brach in ein silberhelles Lachen aus. „Miß Von nannten mich kurzweg meine argentinischen Schülerinnen. Was wissen diese indolenten Zierpüppchen von deutschem Adel! Aber das sage ich Ihnen, glücklich bin ich jetzt, nach Deutschland zurückzureisen, zu meinem guten, geliebten Bruder. Ach,“ sie schlug die Augen zum Himmel auf, „er ist eine Perle!“
„Seht erfreut, sehr erfreut“, murmelte in einem fort Herr Dr. Bürstenfeger.
„Übrigens,“ sie neigte den Kopf auf die Seite und lächelte Herrn Dr. Bürstenfeger schelmisch an, „ich wußte bereits, wer Sie sind, Herr Doktor, nichts bleibt ja hier an Bord verborgen.“
Sie senkte die Augen nieder und fuhr fort zu lächeln. Ihre Finger spielten mit einer dünnen silbernen Uhrkette, die sie um den Hals trug.
Was will diese Dame! dachten Carlos und Nicolás.
Herr Dr. Bürstenfeger war betreten; er räusperte sich, rieb sich die Hände und machte kleine Verbeugungen, indem er fortwährend lächelte.
„Karl und Nikolaus,“ sagte er und sah die Knaben kläglich an, „wollen wir uns nicht nach einer geeigneten Unterkunft für die beiden Affen umsehen? Gleich kommt die Barkasse, und wir müssen an Land!“
Er stammelte einige Entschuldigungen, verbeugte sich und entfernte sich mit den Knaben.
Sie gingen nach Zwischendeck; ein Matrose nahm die Affen in seine Obhut.
Darauf stiegen sie als erste in die Barkasse.
Herr Dr. Bürstenfeger trug einen rohseidenen Rock und einen breitrandigen Strohhut; Carlos und Nicolás hatten weiße Matrosenanzüge an.
Erst nach längerer Zeit kam es zur Abfahrt; dann waren sie in zehn Minuten an Land, und bald nachher spazierten sie in den Straßen von Rio im Menschengewühl umher.
Carlos und Nicolás fiel es auf, wieviel Neger es in dieser Stadt gab.
Die Hitze auf den Straßen war unerträglich. Herr Dr. Bürstenfeger hielt in der Linken ein deutsch-portugiesisches Lexikon und in der Rechten sein Taschentuch, womit er sich von Zeit zu Zeit seufzend den Schweiß von der Stirne wischte.
Sie gingen durch die schmale, elegante Hauptstraße Rua d’Ouvidor, die nur für Fußgänger bestimmt war.
Der Anblick gelber, ausgemergelter brasilianischer Herren in schwarzen Gehröcken und Zylindern steigerte in Herrn Dr. Bürstenfeger das Hitzegefühl.
Sie blieben vor einem Schaufenster stehen, wo in Massen Fächer und phantastische Blumen ausgestellt waren, aus dem Gefieder brasilianischer Singvögel gefertigt.
„Barbarisches Verfahren!“ murmelte Herr Dr. Bürstenfeger und schüttelte den Kopf.
Man sah in der Auslage auch Broschen, Ohrringe und Armbänder, hergestellt aus bunt schillernden Käfern.
Schließlich trat Herr Dr. Bürstenfeger in den Laden und kaufte einen Kasten mit brasilianischen Schmetterlingen für seinen jüngeren Bruder in Deutschland, der Botanik und Zoologie studierte.
Als sie wieder auf der Straße waren, blieb Herr Dr. Bürstenfeger stehen und ächzte: „Flüchten wir uns jetzt um Gottes willen auf irgendeinen freien Platz, wo man atmen kann; dort wollen wir in Erwägung ziehen, was wir weiter machen wollen!“
Bald darauf standen sie auf einer großen Plaza, die von grellem Sonnenlicht durchflutet war.
Vor einem großen rosafarbigen Palaste ging eine Schildwache in scharlachroter Uniform auf und ab. Ein barfüßiger Neger, der Zuckerwaren verkaufte, kam an Carlos und Nicolás vorbei. Er schwang eine Knarre in der Hand, hielt eine weiße Zuckerstange zwischen den wulstigen Lippen und nickte den Knaben einladend zu.
Die Sonne brannte unerträglich.
Carlos und Nicolás hatten die Krempen ihrer Strohhüte herabgezogen. Ihre Gesichter glühten.
Herr Dr. Bürstenfeger stöhnte: „Hier ist es schon ganz und gar nicht mehr zum Ertragen — fahren wir aus der Stadt.“
Sie gingen auf einen mit Maultieren bespannten Wagen zu, der unter dem Schatten eines Baumes hielt, und stiegen ein.
„Botafogo, Botafogo!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger dem Kutscher zu.
Bald waren sie aus dem Innern der Stadt heraus und fuhren dem Meere entlang, an vielen schönen Gärten und bunt aufgeputzten Villen vorbei.
„Seltsam kindlich exotische Farbenfreudigkeit“, murmelte Herr Dr. Bürstenfeger.
Carlos und Nicolás wetteten, wer von ihnen die meisten Neger zählen könnte, bis zur nächsten Ecke. Carlos sah nach rechts, Nicolás nach links.
„Zehn“, rief Carlos aus.
„Vierzehn“, rief Nicolás, er hatte gewonnen: denn gerade in dem Augenblick kamen sechs Negerweiber um die Ecke.
„Was zählt ihr da?“ fragte Herr Dr. Bürstenfeger.
„Neger“, antworteten Carlos und Nicolás.
Herr Dr. Bürstenfeger schüttelte den Kopf. „Ist das euer ganzes Interesse an dieser Stadt? Was seid ihr kindisch!“
Eine Trambahn, von Maultieren gezogen, kam ihnen entgegen. Eine Militärkapelle saß auf den Bänken. Der Kapellmeister schwang stehend den Taktstock: er hatte eine Nelke hinter dem Ohr; grell erklangen die Blechinstrumente, die Pauke dröhnte. Immer ohrenbetäubender wurde der Lärm.
Ein mit Steinen beladener Karten kreuzte die Schienen und brachte die Trambahn zum Stehen.
Der Droschkenkutscher hielt jetzt auch den Wagen an, damit seine Insassen die Musik länger genießen könnten. Er drehte sich um und rief Herrn Dr. Bürstenfeger triumphierend zu: „ Imno brasileiro! “
„Vorwärts, vorwärts!“ schrie Herr Dr. Bürstenfeger auf Spanisch und hielt sich die Ohren zu. Ergrimmt schlug der Kutscher auf die Maultiere ein, die in raschem Galopp den Wagen mit sich fortzogen. Bald nachher trabten sie wieder träge in ihrem früheren Tempo.
„Karl und Nikolaus,“ bemerkte Herr Dr. Bürstenfeger nach einer Weile, „ist es euch nicht aufgefallen, wie schwächlich und verkümmert diese brasilianische Bevölkerung ist; doppelt auffällig bei Betrachtung der Wehrkraft?!“
In diesem Augenblick fuhren sie an einem schattigen, mit Palmen bewachsenen Platze vorbei.
Ein halbwüchsiger sehniger brauner Bursche, nur mit Hemd und Zwillichhosen bekleidet, verteidigte sich mit Faustschlägen und Fußtritten gegen drei Polizisten. Ein Polizist lag schon auf der Erde, ein anderer stand keuchend daneben, der dritte hielt den Burschen fest umklammert. Dieser wand sich wie ein Aal, entriß sich ihm und floh davon mit fliegendem zerfetztem Hemd, das eine Hosenbein über dem Knie; die Polizisten hinter ihm drein.
Eine fette alte Negerin unter einem Magnolienbaum hielt sich die Seiten vor Lachen.
„Dieser Junge war aber doch ein starker Brasilianer!“ rief Nicolás aus.
„Nikolaus,“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger lächelnd, „du weißt: keine Regel ohne Ausnahme.“
Bald fuhren sie nach der Stadt zurück. Sie begaben sich in ein Restaurant und speisten.
Darauf sagte Herr Dr. Bürstenfeger: „Jetzt gehen wir zur Zahnradbahn und fahren auf den Corcovadoberg. Dort wird uns die Natur die Wunder ihrer Vegetation in nächster Nähe offenbaren!“
Als sie auf der Station anlangten, war die Bahn zur Abfahrt bereit. Es fuhren nur wenige Passagiere.
Sie stiegen ein; mit starkem Rütteln fuhr die Zahnradbahn die Höhe hinauf. Bald hatten sie die Stadt unter sich, weit dehnte sich die Bai.
„Die Luft wird immer leichter, welche Wohltat!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger aus.
Auf der Station Silvestre stieg ein brasilianisches Ehepaar mit einem Knaben und einem kleinen Mädchen ein und nahm ihnen gegenüber Platz.
Man fuhr durch den Wald. Links sah man das Meer durch die Wipfel der Bäume schimmern.
Carlos und Nicolás dachten: das ist ja viel schöner als in Paraguay!
Herr Dr. Bürstenfeger erhob sich plötzlich von seinem Sitz und rief begeistert aus: „Unsere Erwartungen sind nicht getäuscht worden: blickt in diesen Abhang, welche Pflanzenwelt! welch grandiose Verwirrung von Schönheit!“
Die brasilianische Dame starrte Herrn Dr. Bürstenfeger mit ihren großen braunen Glotzaugen an; dann hielt sie sich das Taschentuch vor den Mund und kicherte.
„Karl und Nikolaus,“ rief Herr Dr. Bürstenfeger und schnellte noch mal von seinem Sitz auf, „seht mir jetzt mal dorthin, die baumhohen Farne, die mit Früchten beladenen Bananenbäume und die Orchideen dort! — Wirklich ein generöses Land, wo die Schmarotzer Orchideen heißen!“
Die brasilianische Dame kicherte immer mehr. Auch der kleine Knabe und das kleine Mädchen lachten.
Kurz danach beugte sich der Papa zum Wagen hinaus und schleuderte weit ausholend ein Bambusrohr in den Abgrund.
Herr Dr. Bürstenfeger fuhr zurück, die Hand vor den Augen, es schwindelte ihm.
Die brasilianische Dame lachte laut auf. Der kleine Knabe und das kleine Mädchen lachten auch aus voller Kehle.
Herr Dr. Bürstenfeger sah die Dame aufs höchste verwundert an. Carlos und Nicolás, von ihrer Fröhlichkeit angesteckt, lachten mit, ohne zu wissen, um was es sich handelte.
Nach dreiviertelstündiger Fahrt war man am Ziel. Man hatte noch fünf Minuten zu steigen; dann stand man oben auf der Spitze des Corcovado am Rande einer niedrigen Mauer.
Man sah weit hinaus aufs offene Meer. In der Reede wimmelte es von Schiffen. Von allen Richtungen fuhren Schiffe in die Bai hinein.
„Herrlich, herrlich!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger.
„Sehen Sie diese vielen schönen bunten Käfer auf der Mauer!“ riefen Carlos und Nicolás.
„Genießt jetzt lieber den Anblick dieses unvergleichlichen Panoramas“, antwortete der Lehrer. „So Schönes wird euch nicht so leicht im Leben wieder geboten werden!“
Sie standen noch einige Zeit oben, dann fuhr die Bahn wieder zurück.
Auf der Station Silvestre stiegen Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás aus. Zu Fuß auf schattigen Wegen gingen sie nach dem schönen Hotel auf dem Berge Santa Teresa mit dem Ausblick auf die Bai.
Hier wollten sie die Nacht verbringen.
Herr Dr. Bürstenfeger begab sich auf sein Zimmer, um Toilette zu machen, Carlos und Nicolás trieben sich im Garten umher.
Der Himmel begann sich langsam zu trüben ...
Es war nach dem Nachtessen. Jenseits der Bai über den Bergen von Petropolis ragte eine mächtige Wolkenbank; dahinter wanderte unsichtbar der Mond. Am ganzen Himmel hingen zerfetzte Wolken.
Grell leuchteten unten am Strande bei Botafogo die Lichter der Landesproduktenausstellung. Die Bai war dunkel.
Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás saßen im Garten unter einem Mangobaum.
„Wie schade,“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger, „daß die herrliche Mondnacht uns so verdorben worden ist!“
Aus dem Salon des Hotels ertönte jetzt ein Nocturno Chopins.
„Horcht,“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger und ergriff Carlos’ und Nicolás’ Hände ... „so schön hörte ich noch nie Chopin spielen!“
Stumm lauschten sie, bis das Nocturno zu Ende war.
Gleich darauf erschien am hellerleuchteten Salonfenster ein junger Mann. Er trug Smoking, sein Gesicht war blaß und von Pockennarben zerrissen.
Lange starrte er nach der Wolkenbank.
Plötzlich streckte er die geballten Fäuste nach ihr aus und schrie laut: „Mond, Mond, Mond!“
Einige Damen und Herren, die am Gartengeländer standen, und auch Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás schauten erstaunt und erschrocken zu ihm hinauf.
„Mond, Schmierenschauspieler,“ schrie er nochmals, „was stehst du hinter deinem Vorhang, wartest du noch auf Publikum?“
Vier deutsche Exporteure aus Buenos Aires, Herr Hurtwig, Herr Drumke, Herr Kitzian und Herr Krause, Inhaber starker Firmen, und Herr Schurtzenjager, ein deutscher Bankier aus London, die auf dem gleichen Schiff mit ihm die Reise gemacht hatten, traten nun aus der Hoteltüre heraus und stellten sich unter einer Gruppe von Königspalmen auf.
Eine Weile verging. Unter den Damen und Herren war Bewegung und Geflüster.
Die Wolkenbank färbte sich am Rande silbern, der Mond erschien. Bald erstrahlte die Bai.
„Mond,“ jubelte der junge Mann in maßloser Verzückung, „o du Genie, das du erweckst.“ Er wies mit ausgestreckten Armen nach unten: „Sieh, wie die Bai leuchtet, wie der Gischt hüpft gegen den Pao d’Azuka!“
„Nanu!“ rief Herr Schurtzenjager aus.
„Der hat mal wieder einen gehörigen sitzen“, meinte gelassen Herr Drumke.
Nochmal war Stille. Der Mond verschwand hinter einer zweiten Wolke.
„Verruchter,“ jammerte laut der junge Mann, „läßt du uns wieder ganz im Dunkeln?!“
„Mahlzeit!“ rief Herr Kitzian hinauf.
Doch jener hörte es nicht: „Hahaha,“ lachte er laut, „Licht der Landesproduktenausstellung, du leuchtest weiter in deinem proletarischen Glanze, grell und frech, aber du erweckst die Bai nicht; du führst keine Konversation mit ihr!“
Mit dem Ausdruck unendlicher Trauer ließ er den Kopf sinken und blickte hinab in den Garten und gerade auf Herrn Krause.
„Verehrtester,“ rief Herr Krause aus, dem endlich die Geduld riß, „wir wünschen keine Konversation mit Ihnen!“
Die übrigen Exporteure und der Bankier lachten laut über den Witz. Die Damen und die übrigen Herren schüttelten verwirrt lächelnd die Köpfe. Herr Dr. Bürstenfeger war wortlos, Carlos und Nicolás lachten. Aber der junge Mann hatte wieder nichts gehört.
Und nochmals erschien der Mond, und nun leuchtete er lang, denn die Bahn war weit bis zur nächsten Wolke.
Stark vorgebeugt und reglos stand jetzt der junge Mann und starrte nach der Bai, wie erfüllt von einer unendlichen Erwartung. Sein Atem ging schwer; er richtete sich auf. Die Augen waren ekstatisch geöffnet.
„Venus,“ hauchte er, „entsteigst du dem Meere?! ... Aphrodite, jetzt schau’ ich dich!“ ...
Er verschwand vom Fenster, und gleich darauf ertönte ein kurzes, grell verworrenes Spiel in den Garten hinab.
„Was waren das für schreckliche Disharmonien!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger aus und erhob sich jäh von seiner Bank.
Die Damen und die Herren blickten sich gegenseitig an. Alle schwiegen bestürzt.
„Ganz ausgefallene Type!“ rief ein junger deutscher Leutnant aus.
Herr Hurtwig sagte: „Ein ganz unmöglicher Kauz! Freund von Gratisvorstellungen war er immer, aber das zuletzt übertraf alles!“
„Er wird noch ganz überschnappen!“ meinte Herr Kitzian.
„Er ist es wohl schon!“ antwortete Herr Krause.
Herr Dr. Bürstenfeger, der alles dies gehört hatte, schaute aufgeregt zum Fenster hinauf.
Carlos und Nicolás drangen in ihn, zu erklären, wer dieser sehr seltsame Herr sei.
Herr Dr. Bürstenfeger antwortete: „Karl und Nikolaus, quält mich nicht, ich weiß es selbst nicht!“
Er saß noch lange in Gedanken versunken unter dem Mangobaum. Dann stand er auf und spazierte mit den Knaben im Garten umher.
Sie stiegen die breite steinerne Treppe zum Wege nach Silvestre hinab und standen am Rande des urwaldbewachsenen Abhanges.
Ein Nachtvogel sang, der Mond schien in den Wald. Die Kronen zweier geknickter Wandrerpalmen ruhten schwer auf Lianen, die sich um Agaven schlangen.
Herr Dr. Bürstenfeger seufzte. Carlos und Nicolás dachten: ob es wohl in Deutschland auch so schön ist?
Nun stiegen sie wieder zum Garten hinauf.
Nochmal saßen sie auf der Bank unter dem Mangobaum und blickten auf die Bai hinab.
Ein starker Wind kam jäh von der Spitze des Corcovado und schwoll mächtig an.
Schnell zogen die Wolken; rasch wurde es hell und rasch wieder dunkel. Es rauschten die Königspalmen. Alle die vielen seltsamen Bäume rauschten gewaltig. In der Bai sprang hoch der Gischt gegen die Felsen.
Nun kommt ein Sturm, dachte Carlos; jetzt wird unser Schiff untergehen ...
Mit verstörtem Gesicht und Verzweiflungsgeschrei stolperte gerade durch den Urwald auf den Hängen von Silvestre der unmögliche Kauz: „Ha es klopfte ein Herz im Mutterschoße, aber nun endlich hat die Entbindung stattgefunden ... in Buenos Aires war ich ein verachteter Mann; aber hier bin ich lebend geworden!“
Er rannte wild mit den Fäusten gegen einen mächtigen Baumstamm, prallte zurück und brach in ein lautes, höhnisches Gelächter aus: „Es darf nicht sein, daß vom Protoplasma bis zu den Menschen der Weg näher sei, als wie von ihnen bis zu Dante und Jesus Christus; wir müssen uns stark verbinden! Hohoho, mein Urgroßvater war ein toller Mann!!“ ...
Herr Dr. Bürstenfeger unter dem Mangobaum hielt seinen Hut in der Hand, während der Sturm seine Haare zauste. Er sagte: „Karl und Nikolaus, auch dieser Aufruhr in der Natur ist wunderbar!“ —
Allmählich begann sich der Wind zu legen. Die Bäume hörten auf zu rauschen; bald war überall Stille. Nur die Wipfel der Königspalmen bewegten sich noch leise wie lächelnd im seligen Einschlafen.
Der Himmel war bis weit hinaus frei von Wolken ...
Aus der Hoteltür trat jetzt ein bildschönes, schwarzäugiges kleines Mädchen in einem weißen Kleide.
Auf den Zehenspitzen schlich sie näher und stand nun neben Herrn Dr. Bürstenfeger.
Da ist ja wieder das wunderschöne Mädchen, dachten Carlos und Nicolás, denn sie hatten sie schon bei Tische bewundert, und ihre Herzen klopften.
„Senhor,“ fragte sie Herrn Dr. Bürstenfeger und lächelte schalkhaft, „lieben Sie die Schmetterlinge?“
„Oh“, antwortete er begeistert, „diese prächtigen brasilianischen Schmetterlinge ...“
„Hier schenke ich Ihnen einen!“ Sie machte eine rasche Bewegung nach seiner Manschette und hüpfte lachend weg.
Herr Dr. Bürstenfeger saß zuerst etwas betroffen da, dann aber sprang er auf und schüttelte heftig seinen Arm; denn unter dem Hemdsärmel krabbelte ihm etwas hinauf und kitzelte ihn sehr.
Ein kleiner schwarzer Falter fiel auf die Erde, flatterte aber gleich davon.
„Der Racker, der Racker!“ murmelte Herr Dr. Bürstenfeger.
Wie unartig ist das wunderschöne Mädchen, dachten Carlos und Nicolás ...
Spät in der Nacht war Tumult im Hotel: zwischen zerschlagenen Spiegeln, Tischen und Stühlen und herabgerissenen Bildern raste der unmögliche Kauz in seinem Zimmer.
Der Hotelier, die Kellner und einzelne Gäste stürzten zu ihm.
Mit blutenden Fäusten warf er sich auf sie.
Man rang mit ihm. Er heulte und tobte. Am Genick, an der Brust, an Armen und Beinen wurde er gefaßt und gebändigt.
Ein weißer Pfau, der draußen im Garten in einem Brotfruchtbaum geschlafen hatte, flog krächzend auf. Irgendwo schnatterte eine Ente.
In den Gängen trieben sich flüsternd aufgeregte Gäste umher.
Der Hotelier trat mit zerzauster Krawatte zu ihnen. Er war ganz bestürzt über die schreckliche nächtliche Störung und entschuldigte sich nach Kräften.
Langsam beruhigte man sich und zog sich zurück.
Die Exporteure und der Bankier aber standen noch lange in der Halle vor der Treppe und besprachen ernst den Fall.
Herr Drumke drückte den Zeigefinger auf seine Stirn und sagte: „Wenn es bei einem von jeher im obersten Stübchen nicht recht bestellt war, so kann die Konsequenz der Wahnsinn sein. Was war überhaupt Natur und was war Whisky bei diesem Menschen?!“
Herr Hurtig meinte streng: „Er hat zuviel gebummelt, er hat die Nacht zum Tag gemacht. Niemand weiß von seiner Arbeit!“
Herr Krause sagte: „Er hat manchmal bei uns verkehrt, aber um die Wahrheit zu sagen, nie wurde ich ganz aus ihm klug!“
Herr Kitzian bewegte den Zeigefinger hin und her und bemerkte: „Ich sage nur oha!“
Der deutsche Bankier aus London sagte nichts. Er hatte die Hände in den Taschen, kniff sich in die Schenkel vor Wonne und dachte: ich trank und trinke noch viel mehr Whisky als er und werde nicht verrückt!
Die Exporteure und der Bankier stiegen nun die Treppe hinauf, um zu Bett zu gehen.
Draußen am Gartengeländer lehnte stumm Herr Dr. Bürstenfeger.
Am Himmel bewegten sich zwei letzte dunkle Wolkenmassen langsam dem Horizonte zu, wie abziehende Bataillone.
Auf seinem Bett lag geknebelt und an Händen und Füßen gebunden der unmögliche Kauz und stierte gegen die Decke. Ein Hausknecht und ein kräftiger Stallbursche waren bei ihm.
Carlos und Nicolás schliefen schon einige Stunden tief und traumlos in einem der Gartenpavillong ...
Kurz nach Sonnenaufgang, als die Uistiti-Äfflein in den Wäldern kreischten, brachten ein Herr mit einer Brille und zwei Männer den unmöglichen Kauz nach einem geschlossenen Wagen und fuhren mit ihm davon. Ein Rudel kleiner Straßenjungen lief im Staube jubelnd hinterdrein.
Über den Felsen Ipanemas, wo unten stark die Brandung geht, erhob sich ein Adler und flog über die Bai, hinüber nach dem Orgelgebirge.
Bald nachher stand Herr Dr. Bürstenfeger auf. Er stand vor dem Waschtisch in Gedanken versunken.
„Wie schön spielte er Klavier ... und nachher das Schreckliche!“ murmelte er. Er seufzte tief auf: „Aber man darf sich nicht beladen mit allen Qualen dieser Welt!“
Als er angezogen war, ging er zu Carlos und Nicolás und weckte sie.
Nach dem Frühstück machten sie einen Spaziergang in der Richtung der Tijuca.
In vielen Krümmungen führte der Weg durch Sonne und Urwaldschatten.
Als sie in den Wald gelangten, sagten Carlos und Nicolás: „Es riecht hier ganz so wie bei uns zu Hause im Invernaculo.“
Herr Dr. Bürstenfeger antwortete: „Ich habe euch schon gesagt, es heißt auf deutsch Treibhaus und nicht Invernaculo!“
An einer Krümmung tauchte plötzlich am Wegrand in der Einsamkeit eine Strohhütte auf. Einige Neger und Negerinnen standen davor. Sie sprachen mit lebhaften Gebärden alle zugleich und stießen dabei ein grausig tierisches Gelächter aus. Die Frauen hatten gelbe Schals um die Schultern, eine trug einen roten Turban. Die Männer waren nackt bis zum Gürtel und schwangen lange blitzende Messer in der Hand, womit sie eben Rinde von den Bäumen geschält hatten. Einer biß mit seinen großen weißen Zähnen in ein Stück Kokosnuß, ein anderer schlug zum Zeitvertreib mit einem dicken Knüppel auf einen Strauch mit seltsamen roten Blumen.
Carlos und Nicolás zerrten Herrn Dr. Bürstenfeger am Ärmel zurück und sagten ängstlich: „Die Neger werden uns töten!“
Herr Dr. Bürstenfeger schaute unsicher nach der Gruppe, dann aber sagte er: „Karl und Nikolaus, fürchtet euch nicht!“ Und mit beschleunigten Schritten gingen sie an der Gruppe vorbei.
Bei jeder neuen Krümmung des Weges hörten sie wieder ihr tierisch grausiges Lachen, bis es langsam verhallte.
Auf einem Umweg kehrten sie zum Hotel zurück und nahmen dort ihren Lunch. Dann begaben sie sich hinunter in die Stadt. Dort setzten sie sich in einen Wagen und fuhren nach dem Botanischen Garten.
Unterwegs sahen sie vor einem Gartentor ein paar Mulatinnen vergnügt schwatzend einen farbigen Sarg in einen Leichenwagen schieben. Und nicht lange drauf kam ihnen ein Mann entgegen, einen mit rosa Stoff überzogenen und mit Silberspitzen ausgeschmückten Kindersarg auf dem Kopf.
Plötzliche Unruhe malte sich in Herrn Dr. Bürstenfegers Zügen, er dachte an das gelbe Fieber.
In diesem Augenblicke setzte der Mann den Sarg nieder und öffnete den Deckel.
Herr Dr. Bürstenfeger lachte laut auf: „Karl und Nikolaus, seht hin, es ist ja nur ein Kuchenkasten!“
„Eigentümliche Gebräuche“, murmelte er vor sich hin.
Bald waren sie im Botanischen Garten. Sie schritten durch das breite Portal und standen in einer endlos schnurgeraden Allee uralter Königspalmen.
„Die Vegetation der ganzen Tropen ist hier in diesem Garten vereinigt“, erklärte Herr Dr. Bürstenfeger.
Sie spazierten umher. Nicolás blieb staunend vor einer Gruppe von Riesenbambussen stehen. Herr Dr. Bürstenfeger machte Carlos auf ein Beet mit zarten kleinen Pflänzlein aufmerksam.
„ Mimosa pudica sensitiva “ stand auf einem kleinen Brettlein geschrieben.
„Karl, berühre leise ein Blatt dieser Pflänzchen“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger.
Carlos beugte sich nieder und berührte sachte ein Blättchen. Das Blättchen schloß sich; darauf zog das Pflänzlein langsam seine sämtlichen Blätter ein und knickte zusammen; im Fallen streifte es eine Nachbarin — eine ganze Gruppe sank zusammen.
„Sie werden sich bald wieder aufgerichtet haben“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger.
„Ob wohl die Pflanzen wie die Menschen fühlen?“ bemerkte Carlos.
„Die Betrachtung ist nicht übel, Karl“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger.
Sie gingen weiter, bis sie am Fuße eines Berges standen; hier verlor sich der Garten in den Urwald.
Herr Dr. Bürstenfeger zog seine Uhr.
Carlos und Nicolás sahen plötzlich einen großen blauen prächtigen Schmetterling.
Sie liefen ihm nach, um ihn zu fangen.
„Lauft nicht weg, es ist viel später, als ich dachte,“ rief ihnen Herr Dr. Bürstenfeger nach, „wir verlieren noch das Schiff!“
Nicolás blieb stehen, Carlos lief weiter.
Der Schmetterling ließ sich auf einen blühenden Gardenienbusch nieder. Carlos wollte ihn fassen.
Der Schmetterling erhob sich, setzte sich auf eine Fächerpalme, bewegte die Flügel und glich einer lebenden, prächtigen Blume.
Beinahe hätte Carlos ihn gehascht, aber schon war er wieder fort, er flog hinein in den Wald, Carlos hinterher.
Tief drinnen in einer Wildnis baumhoher Farne verschwand der Schmetterling, tauchte wieder auf, ließ sich wieder auf einen Busch nieder, stieg hoch in die Luft und verlor sich im blauen Himmel.
Carlos hörte in der Ferne Herrn Dr. Bürstenfegers Stimme, der ihn laut und zornig rief. Erschreckt lief er zurück, über Baumwurzeln stolpernd und sich in Lianen verwickelnd, vor Hitze und Wut heulend.
Am Waldrand stand Herr Dr. Bürstenfeger.
„Ungehorsamer Junge,“ schrie er, „warum kamst du nicht, als ich dich rief!“ Carlos heulte: „Der schöne Schmetterling ist fort, nie mehr werde ich ihn fangen!“
Herr Dr. Bürstenfeger schüttelte ihn am Arm: „Wegen dir werden wir noch das Schiff verlieren!“
Carlos heulte immer lauter.
„Kommt schnell zum Wagen,“ rief Herr Dr. Bürstenfeger, „wenn wir uns beeilen, erreichen wir vielleicht noch die Barkasse!“
Rasch gingen sie die Allee hinunter und stiegen draußen in den Wagen.
„Zum Hafen, schnell!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger dem Kutscher zu.
Der Kutscher trieb die Pferde zur Eile an; in einer halben Stunde waren sie am Hafen.
Aus dem Schornstein der Lombardia stieg schwarzer Rauch auf, sie gab langgezogene Signale.
Herr Dr. Bürstenfeger erkundigte sich aufgeregt nach der Barkasse.
„Dampfer weg, Dampfer weg!“ schrieen fröhlich einige schwarze Bootsmänner.
„Siebzigtausend, sechzigtausend, fünfzigtausend Reis nach dem Bord Lombardia!“ riefen sie durcheinander.
„Vierzigtausend“, rief einer und sprang in sein Boot, erfaßte die Ruder und winkte Herrn Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás zu.
„Schamlose Ausbeutung!“ schrie Herr Dr. Bürstenfeger empört.
„Senhor, zwanzigtausend Reis!“ rief ein anderer und zupfte Herrn Dr. Bürstenfeger am Rock.
„Unverschämt teuer, aber jetzt ist nichts zu machen. Das haben wir nur dir zu verdanken, Karl!“
Sie stiegen ein, gleich stieß der Bootsmann ab.
Am Ufer erhob sich ein lautes Wutgeschrei.
Ein baumstarker Neger schleuderte ihnen ein Ruder nach. Es platschte dicht neben Herrn Dr. Bürstenfeger ins Wasser.
Erschreckt fuhr er zur Seite und rief: „Das sind hier die reinsten Wilden!“
Der Bootsmann legte sich mit doppelter Kraft in die Ruder; bald hatten sie das Ufer weit hinter sich.
Carlos und Nicolás blickten zurück.
„Dort waren wir noch vor einer Stunde“, sagte Nicolás und zeigte in der Richtung von Botafogo.
„Man sieht noch den Wald“, antwortete Carlos. „Wie schade, der schöne blaue Schmetterling ist fort!“
„Denke doch nicht immer an den Schmetterling“, meinte Nicolás. „Wir haben ja die Affen!“
In einigen Minuten waren sie an Bord. Sie stiegen das Fallreep hinauf.
Der zweite Offizier rief Herrn Dr. Bürstenfeger lachend zu: „Signore, bald wären wir ohne Sie abgefahren!“
„Ob wohl der Herr mit der Glatze noch immer in seiner Kabine ist?“ sagte Carlos zu seinem Bruder.
Herr Dr. Bürstenfeger ging in den Salon, Carlos und Nicolás begaben sich zu den Affen.
Als sie zum Promenadendeck zurückkehrten, sahen sie eine große, sehr schöne Dame mit goldblondem Haar, roten Wangen und Purpurlippen, von Herren umringt, sich laut und lachend unterhalten.
Carlos und Nicolás sahen sie verwundert an.
„Das ist ja eine neue Dame,“ sagte Nicolás, „die muß hier eingestiegen sein!“
Jetzt ertönte die Glocke zum Abendessen. Herr Dr. Bürstenfeger erschien auf Deck, trat mit den Knaben an die Reling und zeigte nach dem sich entfernenden Festlande: „Karl und Nikolaus, seht noch einmal hin nach der letzten Küste eures Heimatkontinentes; es werden viele Jahre vergehen, bis ihr es wieder erblickt!“
Fräulein von Pfnühl hatte zwei Tage seekrank in ihrer Kabine gelegen, am dritten erschien sie wieder.
Beim Lunch bemerkten Carlos und Nicolás, daß sie sehr oft zu ihnen hinüberschaute und Herr Dr. Bürstenfeger dann krampfhaft auf seinen Teller blickte.
Nachher hatte sich Carlos zu den Affen begeben.
Auf Deck war Fräulein von Pfnühl eifrig bemüht, ihren Reisestuhl von einer Stelle zur anderen zu rücken. Dabei warf sie hilflose Blicke auf Herrn Dr. Bürstenfeger, der zufällig mit Nicolás in der Nähe stand.
Nicolás sprang hinzu, um ihr behilflich zu sein.
„Laß das,“ zischte sie ihn an, „hast du denn nie Schularbeiten zu machen, du Dummbart?!“
Erschreckt wich Nicolás zurück.
Gleich kam Herr Dr. Bürstenfeger nach. Er brachte den Stuhl nach der Stelle, die sie wünschte, und ordnete ihre Kissen.
Sie dankte; er wollte sich mit einer Verbeugung zurückziehen. Aber sie redete ihn an:
„Ach, Herr Doktor, gehen Sie noch nicht, es freut mich so, Sie wiederzusehen; nehmen Sie doch einen Augenblick Platz!“ Dabei ließ sie sich auf ihren Stuhl nieder und zeigte auf einen Rohrsessel neben sich.
Herr Dr. Bürstenfeger murmelte: „Sehr angenehm“ und setzte sich am Rande des Rohrsessels.
„Nun,“ meinte sie, „wie finden Sie unsere Mitreisenden?! — Ach, Herr Doktor,“ sie schlug die Augen, die sie einige Sekunden gesenkt hatte, zu ihm auf, „ich lese in Ihrer Seele — wie können Sie an dieser zusammengewürfelten, zum Teil fragwürdigen Gesellschaft Gefallen finden — gerade Sie, Herr Doktor!“ Sie stieß einen Seufzer aus, schloß die Augen und sah ihn dann gleich wieder an.
„Und überhaupt, wo findet man die Menschen, die einem ganz zusagen, mit denen man eins sein möchte in seinem tiefsten Innern?! ... Was folgt dem einsamen Heischen hochgestellter Seelen nach Wahlverwandtschaft?“ Wieder seufzte sie und schloß die Augen: „Ach nur Resignation!“
In diesem Augenblick war nicht weit von ihnen ein seltsam langgezogenes Gewinsel hörbar, dem gleich darauf ein markdurchdringendes erbostes Schreien und Quieken folgte.
Gleich nachher tauchte Carlos auf, beide Affen, die sich grimmig balgten, an ihren Schnüren hinter sich herzerrend.
„Karl, was hast du wieder mit dem süßen Tierchen getan!“ schrie Fräulein von Pfnühl, indem sie sich aufrichtete.
Carlos wandte sich weinerlich an Herrn Dr. Bürstenfeger: „Ich brachte sie auf meinen Schultern vom Zwischendeck hierher, sie haben das Zanken bekommen und sich einander verwickelt, und als ich sie auf die Erde setzte, bekamen sie noch mehr das Zanken!“
Der Lehrer winkte dem Decksteward, und nicht ohne Mühe gelang es, die Affen wieder auseinander zu bringen.
Worauf Carlos und Nicolás, von Herrn Dr. Bürstenfeger begleitet, sie in ihre Kiste zurückbrachten.
„Karl und Nikolaus,“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger, „ich gehe jetzt einstweilen in meine Kabine, doch bitte ich euch ernstlich, treibt keinen Unsinn!“
„Zu der verrückten Dame gehe ich nicht mehr!“ sagte Nicolás.
„Nikolaus, was sind das für Ausdrücke!“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger.
„Sie hat mir ein Schimpfwort gesagt!“
„Ein Schimpfwort, wieso?!“
„Sie hat mich einen Dummbart genannt!“
„Das ist kein Schimpfwort!“ Herr Dr. Bürstenfeger unterdrückte ein Lächeln. „Aber wahrscheinlich hast du es auch verdient!“
„Ich habe es nicht verdient, ich habe ihr nur mit ihrem Stuhle helfen wollen!“ antwortete Nicolás.
„Schon gut“, meinte nach einer kleinen Weile Herr Dr. Bürstenfeger. „Man darf einer alten Dame nicht gleich alles übelnehmen, sie wird es nicht so böse gemeint haben!“
Darauf ging er.
Nun erzählte Nicolás seinem Bruder, was ihm geschehen war.
„Mich hat sie vorhin auch angeschnauzt!“ sagte Carlos.
Um sich zu rächen, beschlossen die Knaben die verrückte Dame auch nur Miß Von zu nennen.
Sie kehrten nach Deck zurück und begegneten dort dem fröhlichen Priester, der trotz der großen Hitze wieder seinen Spaziergang machte.
Sie schlossen sich ihm an, er erzählte ihnen Geschichten, die sie sehr lustig fanden, aber zugleich auch im höchsten Grade lügenhaft.
Als ihm nichts mehr einfiel, verließen sie ihn und setzten sich auf eine Bank.
Lange saßen sie schweigend da und baumelten mit den Beinen.
Carlos sagte schließlich: „Wie langweilig ist eine Seereise ... man sieht nichts ... nie ein brennendes Schiff und auch niemals einen Walfisch!“
„Es ist langweilig, aber bald sind wir im schönen Europa“, tröstete ihn Nicolás.
Darauf beschlossen sie wieder nach Zwischendeck zu ihren Affen zu gehen.
Unterwegs blieben sie vor einem Windleiter stehen, der nach dem großen gemeinsamen Schlafraum der Emigranten führte.
Carlos steckte den Kopf in die Öffnung, zog ihn aber rasch zurück und machte „brr!“
Sofort steckte nun Nicolás den Kopf hinein, schnellte aber auch gleich zurück.
„Das stinkt!“ sagten beide.
Sie wollten schon weitergehen, als Nicolás vorschlug: „Wenn du mir zwanzig Centavos gibst, rieche ich zwanzig Sekunden hinein!“
„Gut, wetten wir“, antwortete Carlos und zog die Uhr.
Nicolás’ Kopf verschwand in der Öffnung.
„Zwanzig!“ rief Carlos, als die Zeit um war.
Nicolás aber, um seine Willenskraft zu zeigen, beschloß es zwanzig Sekunden länger auszuhalten. Hochrot tauchte dann sein Kopf aus der Öffnung.
Er schüttelte sich, spuckte aus und schneuzte sich.
„War das ein Gestank!“ rief er aus. „Jetzt gib mir die zwanzig Centavos!“
„Die Wette gilt nicht, du hast bis vierzig gerochen und nicht bis zwanzig!“ antwortete Carlos.
Nicolás sah seinen Bruder an, er traute seinen Ohren nicht.
„Ich bezahle nichts!“ sagte Carlos.
„Meinst du, daß ich umsonst den schrecklichen Gestank ausgehalten habe?!“ rief Nicolás zornig.
„Es galt nur bis zwanzig; ich zahle nichts!“ beharrte Carlos.
„Du bist betrügerisch und gemein!“ rief Nicolás und wollte auf ihn eindringen. Schon wurden sie handgemein; da erschien Herr Dr. Bürstenfeger.
„Was ist hier los, Karl und Nikolaus?!“ fragte er streng.
Nicolás erzählte ihm aufgeregt den Fall.
Herr Dr. Bürstenfeger runzelte die Stirn, sann eine Weile und antwortete sehr ernst: „Dein Vorschlag, Nikolaus, der reinen Geldgier entsprungen, zeugte von wenig Geschmack, Stolz und persönlicher Würde. Die Ausführung war außerdem im höchsten Grade gesundheitsschädlich. — Nicht weniger geschmacklos, Karl, war dein Eingehen in diesen unappetitlichen Kontrakt. Dein weiteres Betragen Nikolaus gegenüber sehr mutwillig und durchaus nicht brüderlich. Jetzt kommt mit, und macht Schularbeiten, die viele Freiheit, die ich euch der Hitze wegen gegeben habe, scheint euch nicht gut zu bekommen!“
Damit erfaßte er sie bei den Händen. Sie folgten ihm aufs höchste verdutzt.
Bald folgte ein Tag von unerträglicher Hitze, denn man hatte vollständige Windstille. Totenstill und bleifarben lag das Meer. Dunstschleier verbargen die Sonne; von Zeit zu Zeit gingen Regenschauer nieder. Dann aber wurde die Temperatur noch drückender.
Im Maschinenraum arbeiteten halbnackt die Heizer, Herr Dr. Bürstenfeger lag reglos unter dem aufgespannten Zeltdach auf Deck: unter der Dusche im Badezimmer aber stand der fröhliche Priester und dachte: Reiste ich jetzt nicht nach Rom, um den Heiligen Vater zu sehen, ich wollte, eine Seereise sollte immer dauern. —
Manche Passagiere verbrachten die Nacht auf Deck. Carlos und Nicolás lagen in ihren Betten und wälzten sich hin und her.
Kurz nach Mitternacht — Herr Dr. Bürstenfeger war eben in einen unruhigen Schlaf verfallen — wurde er plötzlich durch laute Schreie geweckt.
Er richtete sich jäh auf und noch unsicher, ob er geträumt habe, saß er reglos aufrecht mit stark klopfendem Herzen und horchte gespannt.
„Hilfe, Hilfe, ich sterbe!“ kreischte durchdringend eine weibliche Stimme.
„Mein Gott, mein Gott, ... was für ein Unglück ist da wieder geschehen!“ Herr Dr. Bürstenfeger rang nach Atem; dann war er mit einem Satz aus dem Bett.
„Hilfe, Hilfe!“ gellte es wieder.
Wie von Sinnen drehte sich Herr Dr. Bürstenfeger im Kreise herum; er suchte etwas: seine Hosen. Jetzt hatte er sie; im Nu war er drin.
Er stürzte in den Gang; draußen standen schon Leute.
Von neuem ertönten durchdringende Schreie.
„Schwarzer Pfaffe, Schiffsuntergang!“ rief der Herr mit der fahlen Glatze.
Man eilte in der Richtung, woher die Schreie kamen, allen voran Bepino der Nachtsteward.
Er riß die Tür einer Kabine auf.
Mit einem Satz stand Herr Dr. Bürstenfeger neben ihm. Aber er prallte zurück.
In ihrem Bett lag Fräulein von Pfnühl, und ein fliegender Fisch schnellte über ihr auf und nieder.
Auch die übrigen Passagiere wichen zurück.
Gleich erschien Bepino aus der Kabine, den Fisch, der heftig zappelte, in den Händen.
„Durch die offene Luke hat er sich ins Bett der Dame verirrt!“ rief er vor Lachen platzend.
Es erfolgt ein allgemeines Gelächter.
Hinten vor ihrer Kabinentüre standen Carlos und Nicolás in ihren Nachthemden und lachten auch aus vollem Halse.
„Nicht wahr, Herr Dr. Bürstenfeger, jetzt hat Miß Von auch das Gruseln gelernt!“ rief Carlos aus.
„Ihr müßt auch bei allem dabei sein; geht schlafen!“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger und schob sie in die Kabine hinein.
* *
*
Am nächsten Morgen gingen Carlos und Nicolás nach Zwischendeck, um ihre Affen zu füttern. Gerade erhielten auch die Emigranten ihre erste Ration.
Irgendwo kauerte ein altes verrunzeltes Mütterchen auf der Erde, den Rücken gegen eine Kiste gelehnt; sie war bisher noch nie auf Deck erschienen.
So ein uraltes Mütterchen glaubten Carlos und Nicolás noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben. Ihre zitterigen Hände hielt sie gefaltet; die Augen, die nie zuckten, schienen seltsam ins Weite zu blicken.
Ein Bursche, der eine Baskenmütze trug, kniete mit einem Blechteller vor ihr und flößte ihr Suppe ein. Daneben stand eine Frau mit einem zerrissenen Schal gegen einen schwarzbärtigen Mann gelehnt, der leise und scheinbar zerstreut auf einer Ziehharmonika spielte, während sie an einem großen Stück Brot kauend sehr ernst auf die Alte herabblickte.
Carlos und Nicolás erfuhren gleich darauf, daß die vier eine Familie waren und die Alte beinahe hundert Jahre alt und blind.
* *
*
Als Carlos und Nicolás zum Promenadendeck zurückkehrten, spazierte die schöne Dame mit den Purpurlippen, in Gesellschaft eines brasilianischen Herrn, der im Gespräch lebhaft mit den Händen gestikulierte. Von seinen Fingern, die voller Ringe waren, ging ein Blitzen und Funkeln aus.
Gerade als die Knaben an ihnen vorbeikamen, glitt ihr ein mit Perlen besetzter Kamm aus den Haaren und fiel auf den Boden.
Die Knaben bückten sich rasch danach, Nicolás hatte ihn erfaßt, lief der Dame nach und überreichte ihn ihr.
„Ich danke dir, mein lieber Junge“, sagte die schöne Dame, streichelte ihn mit der Hand über den Kopf und gab ihm einen Kuß. „Ihr liebenswürdigen Kavaliere, ich muß euch doch endlich mal die längst versprochenen Bonbons geben, kommt mit!“
„Gleich bin ich wieder da“, nickte sie dem Herrn zu und lief lachend die Treppe hinunter. Carlos und Nicolás hinter ihr drein, in ihre Kabine.
„Das ist ja hier wie in einem Kleiderschrank“, rief Carlos aus, denn ringsherum hingen Kleider, Spitzenblusen und seidene Röcke. Die Gardinen waren vollgesteckt mit Schleiern, Krawatten und Bändern. Handtaschen und Hutschachteln, Stiefel und Schuhe waren unter die Betten gezwängt.
„Und wie es wunderschön riecht!“ rief nochmals Carlos.
„Gefällt euch das Parfüm, meine Jungens?“ Sie griff nach einem kleinen silbernen Flakon, der auf dem Waschtisch stand.
„Na, gebt mir eure Taschentücher.“
Rot und verlegen sahen sich Carlos und Nicolás an.
Zögernd sagte Nicolás, indem er noch mehr errötete: „Unsere Taschentücher sind sehr schmutzig!“
„Das schadet nichts,“ lachte sie, „gebt nur her; Jungens haben immer schmutzige Taschentücher!“ und damit entleerte sie die Hälfte ihres Fläschchens in die Taschentücher der Knaben.
Darauf holte sie eine große Schachtel mit Pralinés aus ihrem Koffer und füllte davon Carlos’ und Nicolás’ Taschen.
Dann gab sie jedem einen laut schallenden Kuß:
„So, jetzt aber muß ich rasch wieder hinauf!“ ...
Kurz nachher lag die schöne Dame oben auf Deck auf ihrem Reisestuhl; ihr Kopf lehnte gegen ein rotseidenes Kissen; der Herr mit den Ringen fächelte ihr Kühlung zu mit einem großen japanischen Fächer und redete leise und eindringlich auf sie ein.
Sie lächelte nach einer Weile und nickte.
Ganz in ihrer Nähe saßen Carlos und Nicolás stumm auf einer Bank und knabberten an ihren Bonbons.
„Du,“ sagte Carlos, „hier habe ich einen mit Likör!“
Ganz weit hinten stand Herr Dr. Bürstenfeger vor einer schwarzen Tafel und konstatierte freudig: „Drei Meilen mehr als gestern!“
Gegen Abend waren die Knaben wieder auf Zwischendeck.
Das alte blinde Mütterchen hockte noch immer in ihrer alten Stellung, ihre zitterigen Hände hielt sie gefaltet, die Augen blickten ins Weite.
Carlos und Nicolás schritten scheu an ihr vorbei; sie gingen bis ganz vorn nach der Spitze des Schiffes.
Der Steuermann auf der Brücke drehte das Rad. Langsam wandte sich das Schiff nach Nordosten.
Die Sonne neigte sich gegen den Horizont, blutrot und strahlenlos. Jetzt berührte sie ihn. Schon war sie unter.
„Die Sonne ist tot, ertrunken!“ sagte Carlos zu seinem Bruder.
In verschleiertem Blau dämmerte der Himmel weiter.
Zwei ungeheure Wolkenbänke standen gleich gigantischen Torflügeln rosenrot im Nordosten.
Und mitten auf das offene Tor zu fuhr das Schiff.
Ein junger Mann und eine junge Frau standen neben Carlos und Nicolás an der Reling. Ihre Gesichter waren verhärmt, ihre Kleider abgetragen.
Der junge Mann zeigte in der Richtung des offenen Tores.
Tränen glänzten in seinen Augen. Er sagte leise: „Sieh, ist es nicht, als führen wir endlich unserem Ziele entgegen?“ —
Sie stand da, stumm und sah nach den Wolken.
Zwei italienische Emigranten sangen:
In guerra non voglio andare
perquè si mangea male
e si dorme in terra.
„Carlos, horch’, es ist das Lied, das José immer zu Hause sang!“ sagte Nicolás.
Gleich fielen andere Stimmen ein, und bald brauste es aus mehr als hundert Kehlen:
In guerra non voglio andare
perquè si mangea male ...
Ein gellender Schrei unterbrach den Gesang: „Jesus, Maria, Mutter ist tot!“
Und gleich darauf erfolgte ein herzzerreißendes Weinen.
Die Frau mit dem Schal war auf die Knie gesunken, ihre Arme hielten das alte tote Mütterchen umfangen.
Und neben ihr kniete der junge Baske, und der Mann mit der Ziehharmonika und sie bekreuzten sich schluchzend.
Ein Haufen Männer und Frauen umdrängte die Gruppe. Viele Frauen waren niedergekniet, hielten die Hände vors Gesicht und jammerten laut; bald knieten alle Frauen. Das Jammern und Schreien griff um sich: der ganze große Haufe stimmte laut mit ein in die Totenklage.
Bleich und wortlos standen Carlos und Nicolás auf ihren Plätzen.
Erschreckt durch den Lärm spähte Herr Dr. Bürstenfeger vom Promenadendeck nach ihnen aus. Zugleich ertönte die Glocke zum Abendessen.
Carlos und Nicolás gingen rasch nach der ersten Klasse, die Blicke vom Haufen, der die Alte umgab, abgewandt.
Bei Tisch konnten sie keinen Bissen herunterbringen. Sie dachten an das alte Mütterchen; vor einer halben Stunde noch hatte sie lebend dagesessen mit gefalteten Händen, und nun war sie eine Tote.
Nachher hörten sie, wie der Herr mit der fahlen Glatze der Dame aus Patagonien erzählte, heute noch werde man die Leiche auf ein Brett geschnallt und in ein Segeltuch gewickelt ins Meer senken.
Carlos und Nicolás erschauerten.
Gegen zehn Uhr brachte Herr Dr. Bürstenfeger die Knaben in ihre Kabine.
Als er fort war, zündeten sie das Licht wieder an und lagen schweigend in den Betten, fortwährend an das tote Mütterchen denkend.
Endlich meinte Carlos: „Um ein Uhr wird sie ins Meer geworfen!“
„Um zwei Uhr hat man gesagt.“
„Niemand weiß es genau.“
„Wirst du heute nacht einschlafen können?“ fragte eine Weile darauf Nicolás.
„Brr, ich bleibe sicher die ganze Nacht wach.“
„Wir sollten versuchen, an etwas Lustiges zu denken, vielleicht könnten wir dann doch einschlafen! — Weißt du noch, wie alle gelacht haben, als du einmal eines Abends, als wir noch klein waren, zu Mama ins Eßzimmer gelaufen kamst und sagtest, ein Wolf sei in ihrem Zimmer, und es war doch nur Papa, der auf dem Sofa fürchterlich schnarchte!“
„Ja, Mama hatte mir an dem Tage die Geschichte von Rotkäppchen erzählt“, antwortete Carlos.
Er schwieg.
„Arme Alte“, sagte er nach einer Weile.
„Denke doch nicht immer daran!“ —
„Nicolás, fährt das Schiff nicht langsamer?!“ Carlos richtete sich in seinem Bett auf. „Jetzt — ich glaube, man wirft sie ins Meer!“
Nicolás horchte gespannt; auch ihm war recht gruselig zumute.
„Nein, das Schiff fährt gleichschnell!“ flüsterte er.
Es wurde elf. Der Steward trat in die Kabine und löschte die Lichter.
Carlos und Nicolás hielten es jetzt nicht länger in ihren Betten aus.
Sie standen auf, knieten auf dem Sofa und schauten durch die Luke. Draußen war stockfinstre Nacht, das Meer schwarz wie Tinte.
Sie hörten, wie die Wellen rauschten und gegen das Schiff aufschlugen. Sonst war es totenstill.
„Wie dunkel!“ flüsterte Carlos. „Wenn man nur einen einzigen Stern sehen könnte!“
„Ob wohl die Fische die Alte gleich auffressen werden?“ meinte er nach einer Weile.
„Sie werden sie wohl bald auffressen,“ antwortete Nicolás, „aber vielleicht kommt sie auch heil bis zum Grunde!“
„Wie tief mag wohl der Meeresgrund sein?“
„Vielleicht so tief, als der Acongaqua hoch ist.“
Carlos schloß die Augen, und erschauernd suchte er sich den Grund des Meeres vorzustellen.
Sie schwiegen lange.
Wieder fuhr Carlos zusammen. Er faßte seinen Bruder beim Arm: „Hörst du nicht ... die Stricke?! Jetzt wird sie heruntergelassen!“
Sie hielten den Atem an und horchten.
Nicolás sagte: „Es waren nur die Taue der Boote, die sich bewegten.“
Nun sprachen sie nicht mehr; sie horchten angestrengt weiter.
Schließlich fielen Nicolás die Augen zu. Er ging ins Bett und war gleich eingeschlafen. Carlos blieb vor der Luke, bis der Morgen begann. Dann begab er sich auch ins Bett und verfiel sofort in einen schweren Schlaf. —
Gegen acht Uhr trat Herr Dr. Bürstenfeger in die Kabine.
Hell schien die Sonne durch die Luke.
„Heraus, ihr Langschläfer“, rief er. „Es hat schon längst zum Frühstück geläutet!“
Carlos und Nicolás richteten sich auf und rieben sich schlaftrunken die Augen.
Vom Zwischendeck ertönte Gesang und Gitarrespiel.
Die gestrigen Ereignisse traten plötzlich wieder in ihre Erinnerung.
„Da singen sie ja wieder, und heute nacht hat man doch das Mütterchen ins Wasser geworfen!“ rief Carlos aufs höchste verwundert aus.
Herr Dr. Bürstenfeger antwortete lächelnd: „Bedenkt, Karl und Nikolaus, daß dies ein leichtlebiges Völklein ist, unter einem heiteren Himmel geboren. Freude und Leid wechseln schnell bei ihnen ab!“
Im Eßzimmer fragten die Knaben sofort den Obersteward, wann man in der Nacht die Leiche ins Meer gesenkt hätte. „Um zwei Uhr“, antwortete der Obersteward.
„Wir haben aber gar nichts gehört!“ sagte Carlos.
„Dergleichen Sachen werden hier möglichst still abgetan“, antwortete der Obersteward.
* *
*
Zwei Tage später passierte man die Linie. Abends war Galadiner. Der Speisesalon war mit Fähnchen und Papiergirlanden ausgeschmückt, auf den Tischen standen große Aufsätze mit Kuchen und Knallbonbons.
Die Damen hatten ihre schönsten Kleider angezogen; die Dame mit den Purpurlippen trug Brillanten im Haar und Perlen um den Hals; Herr Dr. Bürstenfeger erschien im Gehrock und weißer Krawatte, Carlos und Nicolás in ihren besten weißen Matrosenanzügen mit hellblauen seidenen Kragen.
Man war in der festlichsten Stimmung. Es wurde viel Champagner getrunken; auch Carlos und Nicolás durften mittrinken; gegen Ende der Mahlzeit herrschte die ausgelassenste Fröhlichkeit ...
Nach Tisch spazierte Herr Dr. Bürstenfeger mit den Knaben auf Deck auf und ab. Er hatte ihnen die Erlaubnis gegeben, heute bis elf Uhr aufzubleiben.
Die Sonne war vor kurzem untergegangen; schnell kam die Nacht.
Herr Dr. Bürstenfeger war sehr aufgeräumt ...
„Bis jetzt, Karl und Nikolaus,“ sagte er, „können wir uns im großen und ganzen über die Seereise nicht beklagen; aber unendlich freue ich mich doch auf Deutschland; der Winter hält jetzt dort seinen Einzug, unser prächtiger deutscher Winter; ihr werdet Schlittschuhlaufen lernen und Schneemänner machen, hei, das wird ein Spaß!“
Herr Dr. Bürstenfeger wurde immer aufgeräumter. Er erzählte ihnen weiter von den Freuden des Winters und dann viele lustige Geschichten aus seiner Kindheit und Studentenzeit.
Carlos und Nicolás hörten begierig zu. So vergnügt hatten sie ihren Lehrer noch nie gesehen.
Durch die geöffneten Oberlichtfenster sahen Carlos und Nicolás ins Eßzimmer hinab. Alles war schon aufgestanden; nur Fräulein von Pfnühl saß noch auf ihrem Platze, vor sich ein Glas und eine halbgeleerte Flasche.
„Herr Dr. Bürstenfeger, sehen Sie,“ sagte Carlos, „wieviel Puder sich Miß Von auf ihre Nase gepappst hat, und dabei ist sie doch noch rot!“
„Still, Karl, werde nur nicht übermütig,“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger lächelnd, „Fräulein von Pfnühl ist und bleibt eine gute, harmlose Dame!“
Er verfügte sich mit den Knaben nach Hinterdeck, blieb dort stehen und begann etwas vor sich hinzusummen.
„Herr Dr. Bürstenfeger, singen Sie doch lauter!“ baten Carlos und Nicolás.
Herr Dr. Bürstenfeger sang:
„Als die Römer frech geworden, sim serim sim sim sim sim,
sogen sie nach Deutschlands Norden, sim serim sim sim sim sim,
Vorne mit Trompetenschall terätätätäterä
Ritt der General-Feldmarschall terätätätäterä
Herr Quintilius Varus wau wau wau wau wau wau,
Herr Quintilius Varus, schnäderängtäng, schnäderängtäng, schnäderäng tängderängtängtäng.“
„Was ist das für ein komisches Lied?!“ unterbrachen ihn Carlos und Nicolás lachend.
„Ein wackeres deutsches Kneiplied, das ich gar oft gesungen habe in feuchtfröhlichem Zecherkreise.“
Herr Dr. Bürstenfeger sang weiter:
„In dem Teutoburger Walde, sim serim sim sim sim sim,
Huh! wie pfiff der Wind so kalte, sim serim sim sim sim sim,
Raben flogen durch die Luft, trä ...“
„Endlich gefunden!“ ertönte emphatisch eine Stimme.
Vor Herrn Dr. Bürstenfeger stand Fräulein von Pfnühl.
„Wie eine Stecknadel habe ich Sie gesucht, Herr Doktor; ich mußte Sie sehen, Sie sprechen, Sie mich einzig verstehende, mir wahlverwandte Seele!“
Fräulein von Pfnühl machte einen Schritt näher. Ein Geruch nach Kognak, wie noch nie, schlug Herrn Dr. Bürstenfeger entgegen.
„Sie guter, edler Mann,“ Fräulein von Pfnühl begann laut zu schluchzen, „lassen Sie mich an Ihrem Busen meinen Lebensschmerz ausweinen!“
Herr Dr. Bürstenfeger wich entsetzt zurück.
Sprachlos starrten Carlos und Nicolás Fräulein von Pfnühl an.
„Ich habe den Glauben an die Welt verloren“, schluchzte sie wieder laut auf.
Von neuem näherte sie sich ihm, ihr Kopf senkte sich gegen Herrn Dr. Bürstenfegers Brust.
„Karl und Nikolaus, zu Bett, zu Bett, es ist die höchste Zeit!“ Herr Dr. Bürstenfeger ergriff Carlos und Nicolás bei den Händen und zog sie mit sich fort.
„Ich will noch nicht zu Bett!“ schrie Carlos und zerrte an seinem Arm.
„Du hast zu gehorchen!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger.
„Wir dürfen bis elf Uhr aufbleiben, Sie haben es erlaubt!“ heulte Carlos.
„Marsch, marsch!“
Sich widersetzend und laut heulend, folgte Carlos; Nicolás trabte resigniert mit. Herr Dr. Bürstenfeger eilte mit ihnen die Treppe hinunter, in seine Kabine, dort ließ er sie los.
„Alberner, törichter Junge!“ herrschte er Carlos an.
Knirschend und schluchzend rieb sich Carlos sein Handgelenk. Plötzlich heulte er laut auf: „Ich bekomme den Krebs!“
„Waas!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger.
„Sie haben mich fürchterlich am Arm gekniffen, eine alte Frau hat man auch am Arm gekniffen, und da hat sie den Krebs bekommen und ist gestorben!“
„Was schwatzt du da für Unsinn,“ schrie Herr Dr. Bürstenfeger, „erstens bist du keine alte Frau, und zweitens bin ich noch viel zu glimpflich mit dir umgegangen!“
Er schwieg, die Lippen fest aufeinandergepreßt. Nicolás sah, wie sein Kehlkopf sich über dem niederen Klappkragen auf und ab bewegte.
„Ich habe mich bedacht, ihr braucht noch nicht zu Bett,“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger, „geht einstweilen ins Eßzimmer und verhaltet euch still, ich komme bald nach!“
Carlos wollte schon die Türklinke ergreifen.
Herr Dr. Bürstenfeger hielt ihn zurück. Er sah ihn an. Über seiner Nasenwurzel hatten sich zwei Furchen gebildet.
„Rebellischer Knabe, rebellischer Knabe, pfui, schäme dich — so, jetzt geht!“
Sie gehorchten schweigend.
Stumm blickte er noch eine Weile in der Richtung der geschlossenen Tür. Dann aber glätteten sich langsam seine Züge; er sagte vor sich hin: „Ich hätte diesem aufgeregten Karl auch heute den Alkoholgenuß versagen sollen!“
* *
*
Am nächsten Morgen beim Frühstück wagte Herr Dr. Bürstenfeger nicht vom Teller wegzusehen, aus Angst, den Augen Fräulein von Pfnühls zu begegnen.
Als er nachher mit Carlos und Nicolás auf Deck ging, ließ er die Knaben allein.
Von Unruhe gequält, spazierte er umher und spähte in alle Winkel.
Plötzlich erhellten sich seine Züge. Neben einer großmächtigen Taurolle hatte er ein Plätzchen gefunden, das wie geschaffen schien, ihn aufs prächtigste vor aller Welt Blicken zu verbergen.
Schon wollte er seinen Reisestuhl holen. In diesem Augenblick erscholl zwanzig Schritte von ihm Fräulein von Pfnühls Stimme: „Herr Doktor!“
Herr Dr. Bürstenfeger sah sie starr an, machte dann kehrt und floh nach dem Treppenhaus.
Zwei Stewards mit Teebrettern voller Teller und Schüsseln kamen gerade die Treppe hinauf und versperrten ihm den Weg.
„Herr Doktor!“ ertönte es noch mal kläglich bittend dicht hinter ihm.
Herr Dr. Bürstenfeger duckte sich, und mit zwei Sätzen war er unter den Teebrettern durch, die Treppe hinab, lief durchs Eßzimmer in seine Kabine und schloß sich ein.
Schwer ließ er sich auf das Sofa nieder. Gleich aber hatte er sich wieder erhoben. Er reckte die Arme zur Decke empor und rief aus: „Nichts Fürchterlicheres gibt es für einen Mann, als wenn eine Frau, die er nicht lieben kann, ihn immerzu mit ihrer Zärtlichkeit verfolgt!“
Aber von nun an haßte und verabscheute Fräulein von Pfnühl Herrn Dr. Bürstenfeger aus ganzer Seele.
Auch sie begab sich gleich in ihre Kabine. Von Zorn und Bitterkeit erfüllt, schenkte sie sich ein Wasserglas Kognak ein und trank es mit einem Zuge aus.
* *
*
Mehr als eine Woche war vergangen. Man war aus dem Bereich der Tropen.
Seit St. Fernando d’Oronho, der Verbrecherinsel, hatte man kein Land mehr gesehen.
Am zehnten Tage aber, gegen Mittag, kündeten vereinzelte Möwen die Nähe der Küste an, gegen Abend umkreisten sie in Scharen das Schiff. Am Horizont tauchten Dampfer und Segler auf.
Bei Dunkelwerden fuhr die Lombardia ganz nahe an einem Feuerschiff vorbei. Carlos und Nicolás schwenkten jubelnd die Mützen.
Am frühen Morgen erschien in der Ferne die schneebedeckte Spitze des Piks von Teneriffa; um Mittag aber sah man schon Palmen und schimmernde Häuser.
„Land, Land!“ riefen Carlos und Nicolás beglückt aus ...
Bald stieg der Lotse an Bord. Langsam führte er das Schiff in die Reede des felsenumstandenen Santa Cruz ...
Die Lombardia sollte Kohlen laden.
Sämtliche Passagiere begaben sich an Land. Man stieg zu Wagen und ließ sich im Städtchen umherfahren.
Oberhalb der Stadt auf der Anhöhe speiste man im Hotel auf der Veranda mit dem Blick auf Felsen und Meer.
Die Gesellschaft war in der heitersten Stimmung, denn endlich war man wieder an Land nach langer Seereise.
Dann spazierte man auf den Berghängen umher, und als das erste Signal des Dampfers ertönte, kehrte man an Bord zurück ....
Noch war die Lombardia lange nicht mit dem Laden fertig, die Krane lärmten, das ganze Schiff war schwarz vom Kohlenstaub.
Aber die gute Laune der Passagiere dauerte unvermindert fort.
Alle Welt war auf Deck; man wollte den Anblick der schönen Insel genießen, solange es noch hell war. —
Der vorletzte Leichter hatte seine Arbeit beendet und sollte gerade abstoßen, als ein kleines schmächtiges Männchen in einem geflickten Zwillichanzug das Fallreep herunterstieg. Er war barhäuptig und trug ein kleines Bündel in der Hand; ein Matrose ging hinter ihm.
Auf der letzten Stufe blieb er stehen und sah den Matrosen unschlüssig an. Aber dieser legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang ihn in den Leichter zu steigen.
Sein Bündel krampfhaft gefaßt, blickte der kleine Mann verzweifelt zum Deck der Lombardia hinauf.
Als der Leichter im Begriff war, sich in Bewegung zu setzen, streckte er die Arme in die Höhe und brach in lautes Weinen aus: „Herr Kapitän, ich beschwöre Sie um Himmels willen, lassen Sie mich nicht auf dieser Insel zurück, nehmen Sie mich nach Barcelona mit, ich muß ja zu den Meinen!“
Der Kapitän, ein Mann mit einem dicken gutmütigen Gesicht, stand reglos an der Reling, mitten im Haufen der Passagiere, die neugierig herunterschauten.
„Ein blinder Passagier, der sich in Rio eingeschmuggelt hat und hier an Land gesetzt wird“, erklärte der Kapitän einigen Umstehenden, die ihn mit Fragen bestürmten.
„Um Himmels willen doch kein Anarchist!“ schrie Fräulein von Pfnühl auf.
„Warum darf der arme Mann nicht mitfahren?!“ fragten Carlos und Nicolás voller Mitleid einen Herrn aus Coruña, der karierte Hosen trug.
„Weil er sich eingeschmuggelt hat, wie ein Dieb, um umsonst zu fahren, versteht ihr, Jungens?!“ belehrte sie dieser.
„Herr Kapitän“, schrie das Männchen hinauf und weinte herzbrechend, „ich flehe Sie an, nehmen Sie mich mit; ich will ja wieder jede Arbeit tun; machen Sie mich doch nicht unglücklich!“
„Das fehlte noch,“ lachte der Herr aus Coruña, „wir haben bei uns schon genug anarchistisches Gesindel!“
Die meisten Passagiere schauten gleichmütig hinunter; einige bemitleideten das Männchen, andere lachten über sein Geschrei und seine komischen Armbewegungen.
Der Kapitän zuckte die Achseln, brummte etwas in den Bart und trat von der Reling zurück.
„Herr Kapitän, ist es erlaubt, dem armen Mann etwas Geld zu geben?!“ fragten aufgeregt Carlos und Nicolás.
„Erlaubt ist es schon, und brauchen wird er es wohl auch!“ lächelte der Kapitän.
Carlos und Nicolás wollten sofort in die Kabine laufen, um ihre Sparbüchse zu holen.
Aber Herr Dr. Bürstenfeger hielt sie zurück: „Ihr habt keine Zeit, der Leichter fährt schon ab!“
Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und gab einem Matrosen ein Goldstück, der schnell das Fallreep hinunterlief und es dem noch immer laut weinenden Mann hinreichte.
In diesem Augenblick fuhr der Leichter weg.
„ Gracias, gracias, Señores, que Dios se lo pague! “ rief schluchzend der Mann und winkte mit dem Bündel zum Schiff hinauf ...
Es war schon lange dunkel, als der letzte Kohlenleichter abstieß. Kurz darauf lichtete die Lombardia die Anker und verließ die Reede.
Carlos und Nicolás standen noch lange auf Deck und sahen stumm nach den steilen Felsen der Insel, die allmählich in der Dunkelheit verschwanden.
Es war ihnen traurig zumute.
Nicolás sagte: „Was wird wohl jetzt der arme Mann anfangen?“ —
* *
*
Sechs Stunden vor der Lombardia hatte ein spanischer Dampfer, gleichfalls mit Bestimmung nach Barcelona, Teneriffa verlassen.
„Den werden wir morgen vormittag schon eingeholt haben!“ sagte der Kapitän.
Am Morgen spähten Carlos und Nicolás nach dem spanischen Dampfer aus, aber er war noch nicht sichtbar.
Der Herr aus Coruña mit den karierten Hosen stand, sein Fernglas in der Hand, auf Deck, suchte den Horizont ab und sagte triumphierend: „Den holen wir nie ein, der Kapitän hat wieder einmal den Mund zu voll genommen.“
Nicolás fragte verwundert: „Freuen Sie sich denn, wenn jener dreckige Kasten gewinnt?“
„Was für ein Landsmann bist du?“ fragte der Herr aus Coruña ein wenig herausfordernd.
„Argentiner!“ antwortete Nicolás stolz.
„So, und wenn jener dreckige Kasten ein Argentiner wäre, würdest du dich freuen, wenn unser Schiff gewönne?“
„Ja,“ antwortete Nicolás „denn wir sind ja selbst darauf!“
„Du bist mir ein trauriger Patriot,“ antwortete der Herr aus Coruña und klopfte ihm auf die Schulter, „ich bin ein Spanier, und jener dreckige Kasten ist es auch, ich wünsche ihm von ganzen Herzen den Sieg!“
Damit richtete er sein Fernglas wieder nach dem Horizont.
* *
*
Als Carlos und Nicolás kurz darauf nach Zwischendeck gingen, waren sie aufs höchste überrascht: dort stand der blinde Passagier von gestern und putzte eifrig Blechteller.
Er sah die Knaben, und sein Gesicht hellte sich auf. Rasch kam er auf sie zu, erfaßte ihre Hände und drückte sie lange und herzlich: „Tausend Dank, meine kleinen Herren, Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen.“ Tränen standen in seinen Augen. „Von einem Matrosen habe ich erfahren, daß Sie es waren, die mir das Geld schenkten.“
„Ja, aber wie sind Sie wieder aufs Schiff gekommen?!“ riefen Carlos und Nicolás.
„So ... mit einem Boot!“ antwortete er und zwinkerte schlau mit den Augen.
Jubelnd liefen Carlos und Nicolás zu Herrn Dr. Bürstenfeger: „Der arme Anarchist ist wieder da!“
Gleichfalls überrascht hörte Herr Dr. Bürstenfeger die Nachricht. Schließlich meinte er nicht ohne Bedenklichkeit: „Er wird sich doch nicht wieder eingeschmuggelt haben?“
Gleich begab er sich zum Schiffskommissar, um Näheres zu erfahren.
Der Schiffskommissar lachte: „Das haben Sie auf dem Gewissen, mit Ihrem Geld hat er einen Bootsmann bestochen und sich als Kohlenträger in der Dunkelheit wieder eingeschlichen.“
„Herr Kommissar, dann wäre ich ja das indirekte Werkzeug dieser Tat!“ meinte Herr Dr. Bürstenfeger in peinlichster Verwirrung.
„Beruhigen Sie sich nur, in diesem Falle war es eine gute Tat; der arme Teufel wollte zu seiner schwerkranken Frau nach Barcelona und hatte kein Reisegeld, aber wir haben strenge Order, blinde Passagiere an Land zu setzen.“ Er lachte wieder. „Da er nun aber wieder da ist, muß er mit nach Barcelona, ins Wasser kann man ihn nicht werfen.“
Beruhigt und erfreut antwortete Herr Dr. Bürstenfeger: „Dann freilich war das die beste Wendung, Herr Kommissar!“ ...
Als Carlos und Nicolás am nächsten Morgen auf Deck erschienen, stand dort alle Welt, die Ferngläser und Operngucker nach dem spanischen Dampfer gerichtet, der einige Seemeilen vor ihnen herdampfte. Er entsandte eine dicke Rauchsäule; man konnte schon die Farben des Schornsteins erkennen.
Der Herr mit der Reisemütze lachte: „Er will nicht schmählich überholt werden und arbeitet mit Volldampf!“
Ein Franzose aus Teneriffa meinte: „Auch die Lombardia spart nicht die Kohlen, sie sollte dem Spanier mehr Verachtung zeigen.“
„Nur zu, nur zu!“ meinte ein aufgeregter Herr aus Triest.
Der Herr aus Coruña stand abseits, zuckte die Achseln und versuchte hämisch und überlegen zu lächeln.
Carlos und Nicolás aber glühten vor Stolz und Begeisterung für die Lombardia.
Sie liefen zu ihrem Lehrer, der auf der anderen Seite des Decks stand: „Herr Dr. Bürstenfeger, kommen Sie, wir überholen den Spanier, wir gewinnen!“
„Ich habe keinen Sinn für diese alberne Wettfahrt,“ antwortete Herr Dr. Bürstenfeger, „ich betrachte jetzt das Meer; so schön und so licht war es auf der ganzen Reise noch nicht, schaut doch: geradezu ins Unendliche scheint der Horizont gerückt!“
Aber Carlos und Nicolás waren bereits auf und davon und wieder zurück nach der anderen Deckseite.
Der Herr mit der fahlen Glatze, der neben ihnen stand, meinte kurz: „Wenn dieser Spaß noch andauert, prophezeie ich beiden Schiffen eine Kesselexplosion!“
* *
*
Es war am nächsten Tag; Carlos und Nicolás waren auf Zwischendeck. Unter den Passagieren, die in Teneriffa an Bord gekommen waren, sahen sie einen spindeldürren alten Mann mit einer Adlernase. Er trug einen verblichenen blauen Rock und Zwillichhosen. Über dem eingesunkenen Leib baumelte eine schwere silberne Uhrkette. Die magere Brust bedeckte eine Lavallièrekrawatte, reichlich bedeckt mit Speiseresten.
Neben ihm auf einem Feldstuhl saß eine hagere, alte Frau in einem schmutzigen Waschkleide von sehr jugendlichem Schnitt, einen aufgespannten Sonnenschirm in der Hand. Das Gesicht war voller Falten, aber ihr schwarzes Haar, das seltsam aufgeklebt schien, zeigte keinen einzigen weißen Faden.
Mit lauter Stimme, die manchmal überschnappte, und lebhaften Gebärden trug der Greis einem Haufen, der ihn umstand, ein Gesangstück vor.
Carlos und Nicolás blieben in einiger Entfernung stehen und hörten zu.
Als er geendet hatte, wurde laut bravo gerufen und geklatscht. Viele schrien begeistert: „ Da capo, da capo! “
Der Alte dankte lächelnd herablassend und setzte sich neben die Frau auf einen Holzkoffer. Mit nachlässiger Gebärde holte er eine Zigarre aus seiner Tasche und steckte sie an.
Carlos und Nicolás fragten sich; wer wohl diese beiden alten Leute sein möchten.
Der Alte aber, der neulich Zeuge ihres Wiedersehens mit dem blinden Passagier gewesen war, hatte sie schon längst bemerkt.
„Meine jungen Herren,“ sagte er und verneigte sich leicht, „ich weiß nicht, ob Sie meine Darbietung angehört haben; aber immerhin, wollen Sie uns nicht die Ehre erweisen, näher zu treten?“
Er stand auf und machte eine großartige Verbeugung: „Mein Name ist Vittorio Chiasaponte!“
Etwas verwirrt über eine so ungewöhnliche Ansprache, traten die Knaben heran.
„Hier stelle ich Ihnen meine Gattin vor!“ Der Alte zeigte nach der Dame auf dem Feldstuhl, die sich mit einem huldreichen Lächeln verneigte. „Santa Madonna, ohne mich brüsten zu wollen, aus dem Nichts zog ich sie einst empor, in Lumpen gehüllt; ich brachte sie zur Erkenntnis ihres schlichten Talentes, machte sie zur Sängerin, die sie wurde, machte sie zu meiner Gattin!“
„Ja, das tat er“, nickte sie mit Überzeugung. Und emphatisch die Hand in die Höhe bewegend: „Er, der große Vittorio! Ich habe ihm zu danken bis zu meinem letzten Atemzuge!“
„Schon gut, schon gut, Elvira“, winkte der Künstler gutmütig ab. Mit schmerzlichem Pathos fuhr er fort: „Freilich, Signorini, die Zeit meines großen Wirkens liegt hinter mir, die Zeit, da mein Name in der Welt jenen Klang hatte, den heute noch die Annalen eines Teatro San Carlo und einer Scala verzeichnen, und der erlöschen muß, wenn es der Ratschluß der grausamen Nachwelt bestimmt, die Schauspielern, Sängern und Virtuosen niemals dankbar war!“
„Vittorio, das wird nicht geschehen!“ rief die Gattin.
„Wie dem auch sei!“ Zwei Zornesfalten erschienen auf seiner Stirn. „Der Schauplatz meines Wirkens hat sich verändert; Haß und Neid haben mich von den großen Bühnen vertrieben; einzig allein mir selbst angehörend, reise ich mit meiner treuen, geliebten Elvira als freier Künstler in der Welt umher!“
„Bravo, bravissimo!“ sagte ein kleiner Mann, der ein rotes Halstuch trug. Ein Beifallsgemurmel ertönte umher.
Chiasaponte trat einen Schritt zurück und machte vor Carlos und Nicolás nochmal eine Verbeugung: „Signorini, meine Gattin und ich stehen mit unserem reichen Repertoire“, er zeigte in der Richtung der ersten Klasse, „einem hochdistingierten, hochkultivierten Publikum jederzeit zur Verfügung. Wenn Sie geneigt wären, in diesem Sinne ein Abkommen zu vermitteln, wäre an Chiasaponte die Reihe, Ihnen zu dienen!“
Carlos und Nicolás standen ein wenig verlegen da, sie hatten den Inhalt seiner Rede nicht ganz verstanden.
Der kleine Mann mit dem roten Halstuch trat vor: „Il Signor Chiasaponte bittet euch, zu euren Leuten in die erste Klasse zu gehen und ihnen die Mitteilung zu machen, daß zwei große Künstler“, er wies auf das Paar, „oben eine Gesangsvorstellung zu veranstalten beabsichtigen — selbstverständlich“, der kleine Mann neigte sein Gesicht zu Carlos und Nicolás herab und rieb den Daumen gegen den Zeigefinger — „gegen entsprechende Bezahlung!“
Die Knaben hatten jetzt vollkommen begriffen. Hocherfreut über die Aussicht auf Theater, eilten sie nach der ersten Klasse.
Der Vorschlag wurde von der Gesellschaft angenommen. Die Honorarbedingungen lauteten: Nach der Vorstellung wird eingesammelt.
Chiasaponte war mit dem Anerbieten vollkommen einverstanden. In Sachen der Kunst, meinte er, sei die Geldfrage Nebensache.
Die Vorstellung wurde für den nächsten Tag bestimmt. Carlos und Nicolás konnten die Zeit kaum erwarten.
Am folgenden Abend nach dem Essen stand auf Deck eine improvisierte Bühne. Straff gespannte Segeltücher, mit Fahnen behängt, bildeten den Hintergrund und die Seiten, zwei große Fahnen den Vorhang.
Das Publikum erschien vollzählig und pünktlich. Auch die Passagiere der zweiten Klasse waren eingeladen; die Versammlung bestand aus mehr als sechzig Personen.
Bereits über zehn Minuten wartete man; das Publikum wurde ungeduldig, begann zu scharren und zu stampfen.
Da sahen Carlos und Nicolás in der Dunkelheit zwei abenteuerlich gekleidete Gestalten die Treppe nach Deck hinaufsteigen und schnell hinter der Bühne verschwinden.
Der Vorhang bewegte sich, man hörte dahinter leise und aufgeregt sprechen. Die Knaben unterschieden Chiasapontes Stimme. Dann wurde es still, und bald nachher öffnete sich der Vorhang. Rechts im Vordergrund der Bühne stand das Klavier vom Salon. Daran saß ein Herr aus der ersten Klasse, der sich lächelnd gegen das Publikum verneigte. Links weiter hinten stand ein kleiner runder Tisch.
Hinter der Szene hörte man wieder Chiasapontes Stimme, eine Hand mit einem Glas Wasser kam zum Vorschein. Der Herr am Klavier stand auf, nahm das Glas und stellte es auf den Tisch.
Kurz darauf erschienen beide Künstler. Durch den Zuschauerraum ging eine Bewegung. Carlos und Nicolás reckten die Hälse.
Chiasaponte trug einen roten Samtrock mit einem Spitzenkragen, rote Pluderhosen und lange schwarze Strümpfe, die einige Löcher hatten, als Fußbekleidung die Stiefel, welche er immer trug, auf dem Kopf eine weiße Perücke, an der Seite einen Degen. Sein Gesicht war sehr stark geschminkt, die hageren Waden ausgestopft; den eingesunkenen Leib bedeckte ein gestreiftes Kissen, das unter seiner schlecht schließenden Weste sichtbar war.
Die Künstlerin hatte ein verblaßtes Atlaskleid an mit roten Papierblumen, trug eine hohe weiße Perücke und war sehr ausgeschnitten. Auf ihrem grotesk geschminkten Gesicht prangten Schönheitspflästerchen, die Augen leuchteten schwarz wie Kohlen. Weiße schmutzige Atlasschuhe mit abgetretenen Absätzen zierten ihre Füße.
Jetzt wandte sich die Künstlerin halb ihrem Partner zu, legte die Hand auf ihren Busen und begann in hohem Sopran zu singen.
Schon bei den ersten Tönen preßte Herr Dr. Bürstenfeger seine Hände zusammen, verzog schmerzlich das Gesicht und murmelte: „Ach schrecklich, arme Frau!“
Chiasaponte griff nach der Hand der Künstlerin. Aber sie trippelte lächelnd zurück, mit schnell verneinenden Bewegungen des Kopfes. Er näherte sich ihr singend, die Hand auf der Brust.
Nochmal verzog Herr Dr. Bürstenfeger schmerzlich sein Gesicht, denn auch sein Tenor erschien ihm ganz unerträglich.
Wieder griff Chiasaponte nach ihrer Hand. Sie wich nicht mehr zurück, sondern lehnte ihren Kopf an seine Schulter und lächelte zu ihm hinauf. Sie sangen ein Duett.
Plötzlich stieß er sie zurück. Seine Miene war mit einem Schlage verändert, die Augen schossen Blitze; sein Tenor erscholl drohend und racheheischend.
Unter den Zuschauern hörte man unterdrücktes Kichern; irgendwo rief jemand laut: „Bravo!“ Mit flammenden Backen verfolgten Carlos und Nicolás die Vorgänge.
Flehend und beteuernd mischte sich Donna Elviras Gesang in den Chiasapontes.
Er langte in eine Seitentasche und überreichte ihr wild triumphierend einen Brief, worauf er seinen Degen zog.
Sie überflog die Zeilen, ihr Busen wogte heftig. Schmerzlich aufschreiend warf sie den Brief von sich und sang mit wild verzweifelten Gebärden eine leidenschaftliche Arie.
Er warf seinen Degen auf die Erde und schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust. Flehentlich näherte er sich ihr.
Sie machte eine streng abwehrende Bewegung, ging nach dem Tisch und griff nach dem Glase.
Er fiel auf die Knie und rang die Hände zu ihr empor.
Die Heiterkeit beim Publikum wuchs.
Chiasaponte trat an die Rampe, und gegen das Auditorium gewandt, gab er in einer langen Arie verzweifelt kund, sie werde nun doch das Gift nehmen, und niemand könne sie mehr erretten.
Die rechte Wade war ihm heruntergerutscht, die Perücke saß ihm schief auf dem Kopf, seine Stimme schnappte wiederholt über.
Das Lachen beim Publikum wurde immer haltloser. Der Herr mit der Reisemütze, der Carlos und Nicolás schräg gegenüber saß, hatte sein Taschentuch in den Mund gestopft und wand sich.
Carlos zupfte Herrn Dr. Bürstenfeger am Rock und fragte: „Ist das ernst oder komisch?“ Nicolás sagte leise: „Ich glaube komisch.“ „Eher wohl ernst“, meinte kurz Herr Dr. Bürstenfeger.
Mit wachsendem Feuereifer sang Chiasaponte. Hinten lag seine Gattin schon längst als Leiche auf der Erde.
Nun war die Arie beendet. Laute Bravo-, bis, da capo -Rufe ertönten.
Chiasaponte verbeugte sich verschiedene Male.
„ Bis, da capo! “ ertönte es von neuem.
Nochmal sang er die Arie. Darauf kehrte er sich nach seiner Gattin um.
Mit einem Schrei taumelte er zurück; dann aber machte er einige Schritte vorwärts, und nach einem kurzen, ergreifenden Schlußgesang bückte er sich nach seinem Degen, stieß ihn sich in den Leib und fiel neben seine Gattin nieder.
Ein grenzenloser Applaus erfolgte. Man stampfte, jubelte, der Beifall wollte nicht enden.
Das Paar erhob sich; Chiasaponte nahm die Hand seiner Gattin, sie traten bis zur Rampe und verbeugten sich viele Male; worauf sie sich dann wieder zurückzogen.
Kurz danach erschien Donna Elvira mit einem Teller unter den Zuschauern. Man war allgemein in der freigebigsten Stimmung. Gold und Banknoten flogen in den Teller. Die Künstlerin ging die Reihen auf und ab, der Teller zitterte in ihrer Hand. Beinahe taumelnd verschwand sie hinter der Szene.
Das Publikum begann sich von den Plätzen zu erheben.
„Pst, stille!“ ertönte es plötzlich, denn in demselben Augenblick erschienen wieder beide Künstler auf der Bühne. Ihm wie ihr rannen dicke Tränen über die geschminkten Backen.
Sie traten bis zur Rampe und verbeugten sich.
„Meine Damen und Herren ...“, begann Chiasaponte. Seine Stimme bebte, er hielt inne und schluckte heftig. „... Ich danke Ihnen ... Wohl weiß ich,“ zitternd berührte er seine Kehle, „daß ich nicht meiner Stimme diesen Erfolg zu verdanken habe ... sie ist nicht mehr die frühere; ich bin ein Greis ... aber das, was höher steht als die Materie, der Geist, der zu den Gemütern spricht, er ist noch nicht ganz erloschen, er hat einen Widerhall bei Ihnen gefunden!“ — Wieder hielt er inne „Meine Damen und Herren, nicht immer hat man Gelegenheit, vor ein solches Publikum zu treten!“
Die Künstler verneigten sich und zogen sich von der Szene zurück.
Im Publikum war große Stille. Allmählich ging man auseinander.
„Warum weinten sie, sie haben ja soviel Geld bekommen?“ fragte Carlos Herrn Dr. Bürstenfeger.
„Arme, arme Menschen“, flüsterte der Lehrer.
Ilona Ritscher
gewidmet
Ein paar Tage waren vergangen. Morgen in der Frühe würden Carlos und Nicolás zum ersten Male die Küste Europas erblicken.
Vor freudiger Aufregung konnten sie die halbe Nacht nicht schlafen.
Kurz nach Sonnenaufgang waren sie schon wach. Sie schauten durch die Luke, sahen aber nichts als Himmel und Wasser.
Schnell zogen sie sich an und eilten auf Deck; nirgends sah man noch Land.
Vor acht Uhr würde noch nichts zu sehen sein, erklärte ein Matrose.
Von Ungeduld erfüllt, gingen Carlos und Nicolás bis zur Spitze des Schiffes; dort waren sie der Küste näher.
Carlos sagte: „Man sieht nur Schiffe.“
Ein kalter Wind wehte; sie froren und kehrten aufs Promenadendeck zurück.
Dort standen einige Passagiere und schauten mit Ferngläsern nach dem Horizont.
„Sieht man was?“ fragte Carlos gespannt.
„Nein, noch nichts!“
Herr Dr. Bürstenfeger erschien.
„Karl und Nikolaus,“ sagte er, „ihr seid heute frühzeitig auf!“
„Ja,“ antwortete Nicolás, „wir sind ja bald in Europa.“
„Na, das wird noch eine kleine Weile dauern“, antwortete Herr Dr. Bürstenfeger lächelnd.
Bald ertönte die Frühstücksglocke.
Carlos und Nicolás gingen widerwillig hinunter und ärgerten sich, weil Herr Dr. Bürstenfeger so gemächlich kaute.
Als sie wieder oben waren, sagte ein Offizier, man würde jetzt schon Land sehen, wenn die Luft klarer wäre.
Eine Stunde verging; es wurde immer dunstiger. Noch immer sah man kein Land.
Geärgert und gelangweilt gingen Carlos und Nicolás in den Salon und spielten Mühle.
Manchmal blickten sie zum Fenster hinaus; ein Dampfer und zwei Segler fuhren an ihnen vorbei.
Als die Knaben auf Deck zurückkehrten, erfuhren sie, daß man bereits am Eingang der Meerenge sei.
Aber Land sah man nicht.
„Wie schade, nicht einmal Afrika“, sagte Carlos.
„Wir bekommen Nebel,“ sagte der Herr mit der Reisemütze, „das wird eine schöne Durchfahrt!“
Einige Seemeilen von ihnen fuhr ein Schiff in leichte Dunstschleier gehüllt.
Etwas später saß man beim Lunch. Der Kapitän war nicht zu Tisch erschienen.
Kaum waren die Passagiere mit dem Essen fertig, als über ihren Köpfen ein langgezogenes dumpfes Signal ertönte.
Der Herr mit der fahlen Glatze rief aus: „Die Sirene, da haben wir die Bescherung!“
Alles ging schnell auf Deck. Es war bereits starker Nebel, man sah kaum zweihundert Meter weit.
Wieder ertönte laut und dumpf die Sirene.
„Unverantwortlich vom Kapitän, sich bei solchem Nebel in die Meerenge zu wagen; ich mache mich auf alles gefaßt!“ rief der Herr mit der fahlen Glatze aus.
„Wir fahren jetzt nur mit halber Kraft“, bemerkte der Herr mit der Reisemütze.
Der Herr mit der Glatze meinte: „Damit uns ein fixer Engländer um so leichter in den Grund rennt!“
Herr Dr. Bürstenfeger sah ihn an und dachte: Eine peinliche Erscheinung!
Irgendwo hörte man ein Nebelhorn, ganz in der Ferne eine Sirene.
Der Nebel wurde dichter; immer häufiger gab die Lombardia ihre Signale.
„Brrr, diese Feuchtigkeit dringt in die Knochen“, bemerkte Herr Dr. Bürstenfeger. „Karl und Nikolaus, geht hinunter und holt eure Mäntel!“
Carlos und Nicolás gingen in ihre Kabine. Gleich erschienen sie wieder in ihren Pelerinenmänteln, die Kapuzen über die Köpfe gezogen.
„Man kann nicht mal mehr bis zur Spitze des Schiffes sehen“, sagte Nicolás.
„Es wird immer schlimmer“, murmelte Herr Dr. Bürstenfeger zwischen den Zähnen.
Wieder hörte man ein Nebelhorn.
Grausiges Getute, dachte Herr Dr. Bürstenfeger.
„Karl und Nikolaus, marschieren wir etwas schneller, es ist sehr kalt!“
Kurz darauf ging er mit ihnen ins Rauchzimmer.
Vier Herren spielten Karten, der Schiffsarzt stand dabei und rauchte eine Toskanazigarre.
Herr Dr. Bürstenfeger wandte sich leise an ihn: „Wird dieser schreckliche Nebel noch lange anhalten?“
Der Schiffsarzt zuckte die Achseln: „Das ist sehr schwer vorauszusehen!“
„Ist wohl ernstliche Gefahr vorhanden?“ fragte Herr Dr. Bürstenfeger noch leiser.
„O nein, kaum; unser Kapitän ist sehr vorsichtig.“
Herr Dr. Bürstenfeger nahm ein Buch zur Hand und setzte sich.
„Lassen Sie uns bitte wieder hinaus, Herr Dr. Bürstenfeger,“ baten Carlos und Nicolás, „es ist schrecklich langweilig hier.“
„Gut, aber ich komme mit euch“, antwortete der Lehrer.
Nicht weit von ihnen ertönte eine Sirene; die Lombardia gab Antwort.
Der Nebel war noch dichter geworden.
An der Reling lehnte der fröhliche Priester.
„Ich glaube, unser Dampfer steht still“, sagte er.
Der Herr mit der Reisemütze tauchte auf.
„Ein Dampfer kommt uns entgegen,“ raunte er Herrn Dr. Bürstenfeger zu; „gehen wir nach vorn und stellen wir uns hinter die Kommandobrücke!“
„Herr Dr. Bürstenfeger, gehen wir!“ drängten die Knaben.
„Aber ihr müßt euch dort ganz still verhalten, um die Offiziere nicht zu stören“, sagte der Herr mit der Reisemütze.
Sie gingen nach Zwischendeck, stiegen dort eine schmale Treppe hinauf und standen hinter der Kommandobrücke neben dem Schornstein.
Vorn, unter ihnen saßen und kauerten die Emigranten, fröstelnd in ihre Mantel und Decken gehüllt.
Wie Chirurgen bei einer schweren Operation standen schweigend die Offiziere hinter ihren Instrumenten.
Ihre Gegenwart erfüllte Herrn Dr. Bürstenfeger mit Beruhigung.
Plötzlich machte er von eisigem Schrecken erfaßt einen Satz.
Auch der Herr mit der Reisemütze und die Knaben fuhren zusammen. Denn gerade über ihnen ertönte markerschütternd der Schrei der Sirene.
„Um Gottes willen!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger und preßte die Hände an die Ohren.
Sofort kam die Antwort des Dampfers vor ihnen, und wieder heulte die Sirene der Lombardia.
„Wenn wir nur endlich aus diesem schrecklichen Nebel heraus wären!“ Die Hände fest an die Ohren gepreßt, starrte Herr Dr. Bürstenfeger in den dichten Nebel, er fühlte eine Beklemmung auf der Brust, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.
„Miserikordia!“ ertönte es plötzlich aus dem Haufen der Emigranten; mitten unter ihnen stand der Herr mit der fahlen Glatze und verbreitete Panik. Man sah seine Hände im Nebel fuchteln.
Jetzt stieg ein Offizier schnell die Treppe von der Kommandobrücke hinab.
Carlos und Nicolás sahen, wie er energisch auf den Herrn mit der fahlen Glatze zuschritt und in der Richtung der ersten Klasse zeigte.
Der Herr mit der fahlen Glatze duckte sich und verschwand.
Nochmals heulte die Sirene über ihnen; ganz nahe erfolgte die Antwort.
„Karl und Nikolaus, gehen wir nach dem Promenadendeck“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger.
Sie kehrten zurück.
An der Reling lehnte ernst der fröhliche Priester, sein Brevier in der Hand.
Beinahe alle Passagiere waren auf Deck.
Fräulein von Pfnühl saß in ihrem Reisestuhl in ihren Schal gehüllt und weinte leise: „Wir werden untergehen; mein guter, lieber Bruder, du siehst mich nie wieder!“
Bewegungslos stand die Lombardia, die Sirene heulte. Aus nächster Nähe erfolgte jetzt die Antwort des fremden Dampfers.
Herrn Dr. Bürstenfegers Herz krampfte sich zusammen.
Einige Sekunden vergingen; Lichter glitten im Nebel vorüber.
„Gott sei Dank ... er ist an uns vorbei!“ murmelte Herr Dr. Bürstenfeger.
Bald setzte die Lombardia wieder zu langsamer Fahrt an.
Herr Dr. Bürstenfeger ging mit Carlos und Nicolás ins Rauchzimmer; die vier Herren waren noch immer in ihr Kartenspiel vertieft.
In einer Ecke saß stumm und finster der Herr mit der fahlen Glatze und brütete vor sich hin ...
Nicolás zeigte heimlich auf ihn und sagte zu Carlos: „Er ist noch wütend über den Anschnauzer, den er vom Offizier bekommen hat ...“
Zwei Stunden war die Lombardia langsam weitergefahren. In kurzen, regelmäßigen Abständen gab sie ihre Warnungssignale.
Plötzlich ertönten nahe vor dem Schiffe Schreie, zugleich laut ein Nebelhorn. Einige Barken huschten wie Schatten dicht an der Lombardia vorbei.
Die Maschine des Dampfers arbeitete nach rückwärts. Das Schiff stand.
Sämtliche Passagiere waren aufs Deck gestürzt. Von rechts und links kam schrilles Pfeifen; wieder ertönten Nebelhörner, dazwischen Schimpfen und Fluchen.
„Wir sind in eine Fischerflottille geraten“, rief ein Steward.
„Um Gottes willen, man hat doch keine Barke überfahren?!“ rief Herr Dr. Bürstenfeger.
„Es ist nichts passiert“, lachte der Steward ...
Die Schreie und Rufe verklangen in der Ferne.
Eine Möwe flog nahe an Carlos und Nicolás vorbei, beinahe die Reling streifend.
Lange rührte sich die Lombardia nicht von der Stelle, unaufhörlich ertönten ihre Signale.
Dann fuhr sie wieder langsam weiter ...
Nach dem Nachtessen saß Herr Dr. Bürstenfeger mit Carlos und Nicolás im Rauchzimmer.
Auf dem Sofa saß die Dame aus Patagonien, neben ihr der Herr mit der Reisemütze.
„Heute nacht gehe ich nicht zu Bett!“ sagte sie.
„Das Klügste wäre, wir blieben alle auf“, bemerkte er.
Lange saß man schweigend.
Plötzlich rief Carlos aus: „Es tutet ja schon lange nicht mehr!“
In dem Augenblick kam der Herr aus Coruña hereingelaufen und rief laut und freudig: „Meine Herrschaften, der Nebel zerteilt sich!“
Alles eilte auf Deck. Man sah weit hinaus ins Meer. Hell erleuchtete Schiffe fuhren vorüber.
Gibraltar erstrahlte in tausend Lichtern.
„Herr Dr. Bürstenfeger, sehen Sie, Europa!“ riefen Carlos und Nicolás.
Bald leuchteten sämtliche Sterne am Himmel.
Ein großer Dampfer fuhr mit Musik nahe an der Lombardia vorbei.
Herr Dr. Bürstenfeger stand noch eine Weile mit Carlos und Nicolás auf Deck, dann ging er hinunter in den Salon, und von Begeisterung erfüllt, setzte er sich ans Klavier und spielte Beethovens Eroika ...
Zwei Tage später war man in Barcelona.
Schon frühmorgens war ein großer Teil der Emigranten ausgeschifft worden.
Etwas später stiegen die Passagiere der ersten Klasse aus.
Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás standen auf Deck.
„Schade, daß wir nicht an Land können, weil das Schiff so kurze Zeit hält“, sagte Herr Dr. Bürstenfeger.
„Ist es denn in Deutschland nicht schöner als hier?!“ bemerkte tief enttäuscht Carlos.
„Barcelona ist eine schöne spanische Stadt, freilich ist dies hier von der Ferne aus schwer zu beurteilen“, antwortete Herr Dr. Bürstenfeger.
„Aber Deutschland ist doch viel schöner?!“
„Es wird euch dort schon gefallen“, antwortete Herr Dr. Bürstenfeger.
Jetzt stieg die schöne Dame mit den Purpurlippen in Begleitung eines jungen Exdeputierten aus Buenos Aires als Letzte in die unten wartende Barkasse.
Unzähliges Handgepäck folgte.
Die Barkasse stieß ab.
Die schöne Frau sah Carlos und Nicolás oben an der Reling stehen und warf ihnen zum Abschied Kußhände zu.
Carlos und Nicolás winkten mit den Taschentüchern und schrieen aus Leibeskräften: „Adieu, adieu, auf Wiedersehen!“
„Schon gut, schon gut, jetzt hört mal endlich auf!“ sagte Herr Dr. Bürstenfeger ärgerlich und legte ihnen die Hand auf die Schulter ...
* *
*
Zwei Tage später in der Frühe fuhr die Lombardia in den Hafen von Genua ein.
Beinahe alle Passagiere waren auf Deck.
An der Reling standen Herr Dr. Bürstenfeger und Carlos und Nicolás, neben ihnen das Handgepäck und die Kiste mit den Affen.
Die Knaben dachten: Wie schön, bald sind wir in Mufflingen!
Herr Dr. Bürstenfeger murmelte: „Genua, Königin des Meeres, letzte große Station vor meiner Heimat!“
Auf Zwischendeck standen zwischen Koffern, Ballen und zusammengerollten Matratzen die Emigranten zum Aussteigen bereit.
Ganz vorn an der Spitze lehnte an der Reling ein alter Mann.
Vierzig Jahre war er von seiner Vaterstadt fortgewesen. Arm wie er fortgezogen, kehrte er jetzt wieder zurück.
Die Lippen aufeinandergepreßt, blickte er schon lange auf das sich nahende Genua.
Plötzlich breitete er die Arme aus, und laut weinend rief er, daß es über das ganze Schiff ertönte: „ Genova mia Genova! “
Auf den Hafendocks spazierte Fräulein von Pfnühls guter Bruder. In Angst und Sorge wartete er auf seine Schwester. Er wußte, daß sie sich dem Trunk ergeben hatte, und stand bereits mit einer Alkoholentziehungsanstalt Mitteldeutschlands in Verbindung.
— Ende —
[1] Ein aus Lederriemen gedrehtes Seil, an dessen Enden Eisenkugeln hängen; zum Einfangen von Tieren.
[2] Verächtliche Bezeichnung für Fremder.
Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Korrekturen (vorher/nachher):