Title : Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter
Author : Felix Pinner
Editor : Wilhelm Ostwald
Release date : July 24, 2017 [eBook #55188]
Language : German
Credits
: Produced by Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This
file was produced from images generously made available
by The Internet Archive)
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1918 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Fremdsprachliche Ausdrücke können in verschiedenen Variationen auftreten. Diese wurden nicht korrigiert, wenn sie im Text mehrmals auftreten. Auch andere inkonsistente Schreibweisen, einschließlich Personennamen (z.B. ‚Sigismund/Sigmund Schuckert‘) wurden nicht vereinheitlicht.
Der Übertrag (‚Transport‘) der Tabelle ‚Gewinn- und Verlust-Conto‘ zu Beginn der Seite 122 wurde vom Bearbeiter entfernt.
Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.
Grosse Männer
Studien zur Biologie des Genies
Herausgegeben von
Wilhelm Ostwald
Sechster Band
Emil Rathenau
und
das elektrische Zeitalter
Von
Felix Pinner
L e i p z i g
Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H.
1918
Von
Felix Pinner
Mit einer Heliogravüre
L e i p z i g
Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H.
1918
Copyright 1918
by Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H.
in Leipzig
Druck von Paul Dünnhaupt , Cöthen i. A.
Als die „Akademische Verlagsgesellschaft“ an mich die Aufforderung richtete, eine Lebensgeschichte Emil Rathenaus zu schreiben, habe ich diesen Vorschlag mit Freuden angenommen. Gab er mir doch die Möglichkeit, das Bild einer großen, und in jedem Zuge ihres Wesens reizvollen Persönlichkeit aus dem Hintergrund ihrer Zeitgeschichte heraustreten zu lassen und den wechselseitigen Einfluß von Persönlichkeit und Organisation, der für die großen Kaufleute der letzten Epoche deutscher Wirtschaft typisch gewesen ist, an einem großen, wohl dem größten Beispiel darzustellen. Gerade dieses Bild und dieses Leben wird zeigen, wie falsch es ist, wenn man die Kraft und das Wesen der deutschen Industriewirtschaft — was ja heute häufig in der Kritik des Auslandes und leider auch des Inlands geschieht — ganz allein aus dem Organisatorischen ableitet und ihnen damit den Charakter einer unpersönlichen, zwar durchschnittlich starken, aber doch höchster Einzelleistungen nicht fähigen Kultur aufprägen will. Emil Rathenau, und nicht nur er allein — neben dem mindestens ein halbes Dutzend ähnlicher Kopfe über einen gehobenen Durchschnitt in Geniehöhen hinausragt — beweist, daß Persönlichkeiten in dem Deutschland der Organisation und des „Militarismus“ durchaus nicht zu verkümmern brauchten. Wo sind im Bereiche des viel gepriesenen englischen Individualismus während der letzten Jahrzehnte die Erscheinungen gewesen, die einen Vergleich mit Emil Rathenau, Albert Ballin, Georg v. Siemens, August Thyssen, Emil Kirdorf, Guido v. Donnersmarck aufnehmen konnten? — Gewiß [S. VI] mag das Mittelmaß an Persönlichkeitswerten, der Mensch, Bürger und Kaufmann mittlerer Größe in England und in anderen Ländern freier gelebt, geschaffen, über seine Zeit und Arbeit verfügt haben als in Deutschland, aber die große Persönlichkeit konnte sich in Deutschland so stark und frei ausleben wie nirgend wo anders. Allerdings haben sich alle diese deutschen Schöpfernaturen den Gesetzen, die sie zuerst kraft ihrer Eigenart und Überlegenheit aufgestellt haben, später freiwillig unterworfen gemäß dem klugen Spruch des Wagnerschen Hans Sachs, der das Wesen jeder schöpferischen Meisterschaft darin sieht, die Regeln zuerst aufzustellen und ihnen dann zu folgen. Daraus und nicht aus dem Mosaik des Zusammenwirkens vieler, zu großen höchstpersönlichen Leistungen unfähiger Mittelmäßigkeiten sind die deutschen Organisationen entstanden, die sich in ihrer Wirkung als so stark und unüberwindlich erwiesen haben.
Das Bild der Persönlichkeit Emil Rathenaus, das ich in diesem Buche zeichnen möchte, soll sozusagen in einem doppelten Rahmen gefaßt sein. Der engere stellt die Geschichte der A. E. G. dar, der weitere die allgemeine deutsche Wirtschaftsentwicklung , wie sie sich in jenem Zeitalter gestaltet hat, von dem Emil Rathenau so viel empfing, dem er aber auch nicht weniger zurückgab. Eine solche Darstellung bald nach dem Tode eines Mannes nicht als Skizze, sondern als sorgfältig ausgeführtes Bild zu versuchen, hat seine Schwierigkeiten, aber auch seine Vorteile. Die Nähe noch frischer oder halbfrischer Geschehnisse mag dem Urteil die Distanz erschweren und auch der Sammlung des vollständigen Materials in mancher Beziehung hinderlich sein, da mit Rücksicht auf den soeben Gestorbenen und noch Lebende sich manche Quellen vorerst nicht öffnen werden. Bei einem volkswirtschaftlich zu Wertenden ist der Nachteil, der aus solcher Zurückhaltung erwachsen könnte, allerdings nicht so groß wie bei einem Künstler oder selbst einem Politiker. Das Privat- und Intimmenschliche, auf das sie sich erstrecken könnte, spielt bei der [S. VII] zutreffenden Schilderung einer wirtschaftlichen Persönlichkeit, wenngleich es durchaus nicht ohne Wichtigkeit ist, doch nicht die gleiche Rolle wie bei einem Dichter oder Musiker. Die Geschäftsgeheimnisse hinwiederum brauchen vor dem rückschauenden Auge nicht so sorgsam und so lange gehütet zu werden wie manche politischen Geheimnisse (meist nicht der großen, sondern der kleinen Art). Denn das Geschäftsgeheimnis verliert seinen diskreten Charakter in dem Augenblick, in dem das Geschäft oder die Geschäftsreihe, deren Teil es ist, seinen Abschluß erreicht hat. Bei Emil Rathenau im besonderen liegt der Fall für den Geschichtsschreiber so, daß ein wirklich bedeutendes Schriftenmaterial innerer Art gar nicht vorhanden ist. Es könnte im wesentlichen nur in Briefen bestehen, und ein Briefschreiber war Rathenau im Gegensatz zu Werner v. Siemens, dessen interessanten Briefwechsel kürzlich Conrad Matschoß veröffentlicht hat, ganz und gar nicht. Persönlichkeit, Zeit, Arbeits- und Ruhensart Rathenaus widerstrebten der Beschaulichkeit, auf deren Boden ein Bedürfnis zum Briefschreiben und die Kunst des Briefschreibens erwachsen können. Die Privatbriefe, die Rathenau mit seinen Angehörigen und Freunden wechselte, sind rein familiär und meist knapp gehalten, ohne besondere stilistische und menschliche Eigenart und bekunden höchstens — was wir auch ohnedies wissen — daß Rathenau ein guter Sohn, Gatte und Vater gewesen ist. Mit Berufs- und Geschäftsfreunden korrespondierte Rathenau nur selten in persönlicher Weise, wichtige Auseinandersetzungen wurden meist mündlich erledigt. Viel bessere Proben seines fachlichen Stils als Briefe bieten die Geschäftsberichte der A. E. G., an deren Abfassung sich Rathenau — in Gemeinschaft mit seinem Sohn Walther — bestimmend zu beteiligen pflegte, ferner Denkschriften, Reden, von denen ich einige besonders kennzeichnende ganz oder auszugsweise wiedergebe.
Im ganzen war das dokumentarische Material, das einer Bearbeitung unterzogen werden mußte, trotzalledem außerordentlich umfangreich. Die Geschäftsberichte nicht nur der A. E. G. selbst, [S. VIII] sondern der wichtigeren Tochter- und Konkurrenzgesellschaften, die sehr zerstreuten Zeitungsberichte über Generalversammlungen und sonstige Vorgänge bei dem Konzern, Verträge, Denkschriften und Vorlagen der verschiedensten Art mußten durchgearbeitet werden. Diese Vorbereitung war nicht ganz einfach, weil die A. E. G. wie die meisten und leider auch die allergrößten unserer gewerblichen Unternehmungen keine systematischen, nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten geführten Archive besitzt, sondern sich mit der — lediglich für geschäftliche Bedürfnisse hinreichenden — Registratur begnügt, in die ja wohl Geschäftsdokumente zunächst auch gehören, aus der aber wenigstens die wichtigeren nach Ablauf einer gewissen Frist in Archive überführt werden sollten. Die ganzen Registraturen zu durchforschen ist naturgemäß für den volkswirtschaftlichen Schriftsteller ebenso undurchführbar und unlohnend, wie es den Geschäftsunternehmungen nicht zugemutet werden könnte, eine solche Durchforschung zu gestatten. So blieb nichts übrig, als jeweils solche Dokumente zu erbitten, deren Studium sich mir im Laufe meiner Arbeit als notwendig oder wünschenswert erwiesen hatte, ein Verfahren, das natürlich bei aller erzielten Reichhaltigkeit absolute Vollständigkeit des Materials nicht zu gewährleisten vermag.
Gerade bei einer solchen Verfassung der dokumentarischen Verhältnisse bietet die schnelle Inangriffnahme einer biographischen Bearbeitung eher Vorteile als Nachteile. Denn mit der fortschreitenden Zeit werden diese Verhältnisse nicht besser, sondern schlechter. Die Registraturen entrücken immer mehr der Zugänglichkeit, die sich ständig häufende Fülle des Nebensächlichen erdrückt das Wesentliche, — und vor allem die Personen, die heute noch durch ihre Kenntnis der zurückliegenden Vorgänge, durch ihre lebendige Erinnerung den Schlüssel zu den toten Akten in den Händen haben, verschwinden allmählich aus dem Betrieb und aus dem Leben. Die neueren Leiter haben aber an die Gegenwart zu denken, nicht an die Vergangenheit.
Gerade aber die Erinnerung Mitlebender ist eine schätzenswerte und unersetzbare Quelle für die Nachschaffung wirtschaftlicher Vorgänge. Ich konnte sie erfreulicherweise reich zum Fließen bringen, und wenn auch in manchen Einzelzügen die Schilderung, mehr noch das Urteil der noch lebenden Mitarbeiter und Freunde Emil Rathenaus auseinanderging, so haben gerade diese Darstellungen, verbunden mit meiner eigenen persönlichen Kenntnis des Menschen Rathenau mir eine plastische Vorstellung von diesem gegeben, die keine Distanz des späteren Biographen ersetzen könnte.
Gedenken möchte ich noch der zahlreichen, wenn auch nicht immer ebenso reichen Literatur, die bereits vor meiner Arbeit über Emil Rathenau und die A. E. G. vorlag. Für die ersten Abschnitte, etwa bis zur Befreiung von den Fesseln der Verträge mit Siemens & Halske, vermochte sie mir manche wertvolle Hilfe zu leisten. Für die Darstellung der Reifezeit und der Zeit der Reife, wie auch besonders für die Schilderung der wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenhänge bin ich im wesentlichen auf mich selbst angewiesen gewesen.
Berlin-Friedenau , im Jahre 1917.
Dr. Felix Pinner.
Arthur Wilke, Die Berliner Elektrizitätswerke. Berlin 1890. F. A. Günther & Sohn.
Dr. Hermann Hasse, Die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft und ihre wirtschaftliche Bedeutung. Heidelberg 1902. Karl Winter.
Dr. Emil Kreller, Die Entwicklung der deutschen elektrotechnischen Industrie. Leipzig 1903. Dunker & Humblot.
Dr. Friedrich Fasolt, Die sieben größten deutschen Elektrizitätsgesellschaften, ihre Entwickelung und Unternehmertätigkeit. Dresden 1904. O. V. Böhmert.
A. E. G. Zeitung, Festnummer 2. 10. 1908.
A. E. G. 1883–1908, herausgegeben von der Gesellschaft.
Conrad Matschoß, Die geschichtliche Entwickelung der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens. Jahrbuch des Vereins Deutscher Ingenieure, 1909, 1. Bd. Julius Springer, Berlin.
B. E. W. 1884–1909, herausgegeben von der Gesellschaft.
Dr. Felix Pinner, Emil Rathenau, „Der Kaufmann und das Leben“. Beiblatt der Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis. Leipzig, Februar 1913. Ernst Poeschel.
Artur Fürst, Emil Rathenau, der Mann und sein Werk. Vita, Deutsches Verlagshaus. Berlin.
Gedenkblatt zum Todestage Emil Rathenaus. Berlin, Juni 1915.
Emil Schiff, Allgemeine Elektrizitäts Gesellschaft und Berliner Elektrizitäts-Werke. Berlin 1915. Franz Siemenroth.
Conrad Matschoß, Geschichtliche Entwickelung der Berliner Elektrizitäts-Werke von ihrer Begründung bis zur Übernahme durch die Stadt. Jahrbuch des Vereins Deutscher Ingenieure. Berlin 1916.
A. Riedler, Emil Rathenau und das Werden der Großwirtschaft. Julius Springer. Berlin 1916.
Werner v. Siemens, Lebenserinnerungen. 9. Auflage. Berlin 1912. Julius Springer.
Francis Arth. Jones, Thomas Alva Edison. Sechzig Jahre aus dem Leben eines Erfinders. Frankfurt a. M. Otto Brandner.
Dr. ing. Gustav Siegel, Der Staat und die Elektrizitätsversorgung. Berlin 1915. Georg Stilke.
G. Klingenberg, Elektrische Großwirtschaft unter staatlicher Mitwirkung. Berlin 1916.
Archiv der Handelszeitung des Berliner Tageblattes.
Archiv der Zeitschrift „Die Bank“, Herausgeber Alfred Lansburgh. Berlin.
Seite | |
Vorwort | V |
Litteratur | X |
Erstes Kapitel: Jugendjahre | 1 |
Zweites Kapitel: Zwischenspiel | 35 |
Drittes Kapitel: Wirtschaftliche Vorbedingungen | 48 |
Viertes Kapitel: Technische Vorbedingungen | 59 |
Fünftes Kapitel: Licht | 80 |
Sechstes Kapitel: Die Deutsche Edison Gesellschaft | 100 |
Siebentes Kapitel: Zentralstationen | 129 |
Achtes Kapitel: A. E. G. | 146 |
Neuntes Kapitel: Ausdehnung und Befreiung | 155 |
Zehntes Kapitel: Das Finanz- und Trust-System | 186 |
Elftes Kapitel: Krisis | 223 |
Zwölftes Kapitel: Konzentration | 251 |
Dreizehntes Kapitel: Weltwirtschaft | 280 |
Vierzehntes Kapitel: Großkraftversorgung | 317 |
Fünfzehntes Kapitel: Gemischt-wirtschaftliche Unternehmung | 336 |
Sechzehntes Kapitel: Charakterbild | 350 |
Emil Rathenau wurde am 11. Dezember 1838 in Berlin geboren. In der Rede, die er am Vorabend seines 70. Geburtstages hielt, erzählte er, nicht ohne beziehungsreichen Stolz:
„Als ich die Lebensreise antrat, gab es in unserer Vaterstadt ein interessantes Erlebnis: Die Vollendung der ersten preußischen Eisenbahn. Die Berliner sollen in hellen Haufen begeistert zum Potsdamer Tor hinausgepilgert sein, um den Zug nach Steglitz abfahren zu sehen. Viel zu langsam (nach heutigen Begriffen) bewegte er sich vorwärts, ohne Schlaf- und ohne Speisewagen; und doch war die Eisenbahn ein gewaltiger Fortschritt gegen die Postkutsche, in der mein Vater aus der Uckermark als Jüngling, meine Mutter als Kind mit ihren Eltern aus der Mark hierher übersiedelten.“
Rathenaus Großeltern väterlicherseits und namentlich mütterlicherseits waren für die damalige Zeit wohlhabende Leute gewesen. Sein Vater wurde früh Rentier und betätigte sich nur hier und da in Gelegenheitsgeschäften. In der Mischung von geschäftigem Unternehmungsdrang und schnellem Überdruß an einer seßhaften, geordneten Geschäftlichkeit, die der ganzen Familie etwas eigen gewesen zu sein scheint, die sich entschiedener in dem Lebensgang seines ältesten und seines jüngsten Sohnes ausprägte und die eine Zeitlang auch den mittleren und begabtesten Sohn Emil zu erfassen drohte, scheint bei dem Vater die Abneigung gegen eine ausdauernde Geschäftstätigkeit das überwiegende Element gewesen zu sein. Gewiß nicht aus Unlust zur Arbeit, sondern zu einer Arbeit, die ihm nicht zusagte, seinen Wünschen und Fähigkeiten nicht zu entsprechen schien. Ein strenger, Fremden und Verwandten gegenüber nicht gerade entgegenkommender Mann, dessen Denkungsweise aber rechtlich und redlich war, so wird er von denen geschil [S. 2] dert, die ihn gekannt haben. Sein Anteil an der Erziehung seiner Kinder war offenbar nicht sehr positiv, er hielt sie äußerlich streng, aber er verstand und versuchte es nicht, auf ihre innere Bildung Einfluß zu gewinnen, und zu diesem Zwecke in ihr Charakter- und Seelenleben einzudringen. Sie entwickelten sich, im Guten wie im Schlechten, ohne ihn und trotz ihm, und da er kein sehr hohes Alter erreichte (er starb im Jahre 1871), verwischte und verfärbte sich die Einwirkung seiner Persönlichkeit in dem späteren Leben der erwachsenen Söhne ziemlich schnell. Emil Rathenau hat in der selbstbiographischen Skizze, die in seinem Nachlaß vorgefunden wurde, das Verhältnis zu seinen Eltern mit ein paar kurzen und ziemlich kühlen Worten geschildert:
„Mein Vater hat sich bald nach meiner Geburt vom Geschäft zurückgezogen. Er war streng und gewissenhaft und führte eine korrekte Ehe mit der klugen und geistreichen Mutter, die Ehrgeiz besaß und Eleganz in ihrer Erscheinung bis an ihr spätes Lebensalter zu bewahren, die Schwäche hatte. Für die Erziehung der drei Söhne scheuten die Eltern keine Kosten, aber sie überließen die Sorge hierfür der Schule und Privatlehrern, weil das gesellige und gesellschaftliche Leben ihnen die Muße nicht ließ, den wilden Knaben die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen.“
Auch der Mutter werden in dieser sachlich-knappen Darstellung keine Worte innerer Beziehung gewidmet und es mag richtig sein, daß auch sie trotz unleugbarer geistiger Begabungen und Interessen keine eigentliche Menschenerzieherin im innerlichen Sinne des Wortes gewesen ist. Dennoch wirkten der mütterliche Einfluß und das Gefühl für die Mutter in dem Leben der Kinder ganz anders nachhaltig wie die Beziehungen zum Vater fort. Hier war nicht nur Respekt, hier war Liebe und herzliche Zuneigung auf beiden Seiten, und wie sehr auch Entwicklung und Veranlagung die Söhne später auseinander führten, ja entfremdeten, der Mutter hingen sie alle treu an, und namentlich Emil Rathenau ließ — auch in den Zeiten, in denen seine Tage nicht mehr die Fülle der Arbeit fassen wollten — kaum einen Sonntag vergehen, an dem er die Frau, die in seltenem und klugem Greisenalter den stolzen Aufstieg des Sohnes erleben, seinen Stern noch im Zenith sehen durfte, nicht zu einem Plauderstündchen besuchte. Den Kindern gegenüber hatte sie jene Herzensfreundlichkeit besessen, die die Grundlage jedes wirklich [S. 3] schönen Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern ist und die bei tüchtigen und guten Kindern auch einmal einen bewußten Erziehungsplan ersetzen kann.
Emil Rathenau besuchte, wie seine Brüder, zunächst die alte Berliner Knabenschule von Marggraf in der Sophienstraße, wo die Vorschüler in ziemlich patriarchalischer Weise auf das Gymnasium vorbereitet wurden. Die Privatanstalt verließ Emil Rathenau nach einiger Zeit mit seinem älteren Bruder, der das nach Ansicht des Schulvorstehers unverzeihliche Vergehen begangen hatte, den Unterricht durch Knallerbsen zu stören. Im Jahre 1849 kam er auf das Gymnasium zum grauen Kloster, das damals von dem älteren Professor Bellermann geleitet wurde. Wie so viele, die später im praktischen Leben bedeutende Männer geworden sind, war Emil Rathenau kein Musterschüler, und den meisten Fächern, die auf dem humanistischen Gymnasium gelehrt wurden, vermochte er nicht viel Interesse abzugewinnen. Immerhin hielt er sich auf leidlichem Niveau. Die Selbstkritik seiner Leistungen auf dem Gymnasium hat er in die Worte zusammengefaßt: „An Begabung fehlte es mir weniger als an häuslichem Fleiß.“ Die interessanten und aufregenden Begebnisse politischer Art, die in die ersten Schuljahre Rathenaus fielen, lenkten naturgemäß seine und seiner Mitschüler Aufmerksamkeit von den Schuldingen ab, so sehr auch die Eltern und Lehrer die Jugend durch Vorhaltungen und Strafen ihrer Wirkungssphäre zu entrücken versuchten. Die Ereignisse des Jahres 1848 hat Rathenau meist auf der Straße miterlebt. Die ausführliche Schilderung, die er in seinen Aufzeichnungen von ihnen gibt, läßt erkennen, daß der Eindruck auf ihn und die damalige Schuljugend ein starker war, aber ebenso auch, daß dieser Eindruck ganz im Sensationellen, Straßenjungen-Romantischen wurzelte und ihm kaum eine Ahnung der politischen Hintergründe beigemischt war. „Es war eine lustige Zeit für die Jungen, da die neuerrungene Freiheit sich häufig auch auf den Schulunterricht erstreckte und Eltern und Lehrer im Ernst der Zeit den strengen Gehorsam nicht als das oberste Gesetz mehr zu betrachten schienen.“ — Einen ernsten und tiefen Eindruck machte wohl nur die Überführung der Märzgefallenen nach dem Friedrichshain. Hier traf die Wucht und Tragik der Ereignisse auch die Kinderseele. „Unvergeßlich“ nannte Rathenau diese Stunde.
„Wir beobachteten das Schauspiel von den Fenstern eines kleinen Hauses am Schloßplatz, das jetzt dem Neubau des Marstalls zum Opfer gefallen ist; es gehörte der Firma Krüger & Peterson, deren Tabakgeschäft durch den Verkauf von Hyazinthenzwiebeln in Berlin bekannt geworden war. Der Schloßplatz, die Kurfürstenbrücke, König- und Burgstraße waren dicht gedrängt, alles schwarz; überall wehten Trauerfahnen von den Dächern und an Fenstern, und auf Balkonen standen Männer und Frauen in tiefer Trauer. Die nicht endenden Züge von offenen Särgen konnten sich nur mühsam und langsam durch die enge Menschengasse gen Osten bewegen. Auf den Balkonen des Schlosses und gegenüber standen entblößten Hauptes der König und sein Gefolge über der Stelle, von der die Kartätschen ihren Weg durch die Breitestraße zur d’Heureuseschen Konditorei genommen und manche Erinnerung an die blutigen Ereignisse in Straßenbrunnen und Häusern zurückgelassen hatten.“
Mit dem Zeugnis für Unterprima verließ Rathenau schließlich das Gymnasium. Über seinen zukünftigen Beruf hatte er noch wenig nachgedacht. Technische Neigungen hatten sich wohl gelegentlich gemeldet, waren aber nicht so stark und bestimmend gewesen, daß die technische Laufbahn sozusagen im festen Plan eines zielbewußten Willens gelegen hätte. Die Entscheidung brachten vielmehr, wie so häufig im Leben, Familienbeziehungen. Rathenau wurde Maschinenbauer und lernte sein Handwerk von der Pike auf. „Da weder Terpsichore noch andere Musen an meiner Wiege gestanden,“ erzählt er launig, „reiste ich auch ohne ihr Geleit in die Lehre nach Schlesien.“ Dort besaßen seine reichen Verwandten, die Liebermanns, industrielle Betriebe, die für die damalige Zeit als sehr respektabel gelten konnten. Die Wilhelmshütte, bei Sprottau, ein Eisenwerk mit Maschinenbauanstalt, das seine Entstehung wie viele der damals noch karg gesäten industriellen Unternehmungen des preußischen Landes Friedrich dem Großen verdankte, später in Privatbesitz übergegangen war, aber erst in den Händen von Rathenaus Großvater mütterlicherseits, Liebermann und dessen Söhnen sich schnell einen gewissen industriellen Ruf erworben hatte, diente Rathenau als Lehrstelle. Die Lehre war wie die väterliche Erziehung zu Hause streng, und das verwandtschaftliche Verhältnis zu den Inhabern der Fabrik schaffte dem jungen Maschinenbauer in der Arbeit keine Erleichterung. „Proletarier in blauer Bluse und [S. 5] mit zerschundenen Händen“ nannte er sich, als er in späteren Jahren auf diesen Abschnitt seines Lebens zurückblickte. Das Herrensöhnchen durfte er — zu seinem eigenen Besten — nicht spielen und der tüchtige Mestern, der den technischen Betrieb ziemlich selbständig leitete, behandelte ihn wie jeden beliebigen anderen Praktikanten auch. Der junge Rathenau, der doch immerhin die Primareife besaß, niemals gering von sich dachte und sich wohl damals schon zu Höherem berufen fühlte, mag manchmal unter dem Joch geknirscht haben, und sich etwas inferior vorgekommen sein, zumal wenn er den nicht nur äußerlich feinkultivierten Haushalt seiner Verwandten als Kontrast zu seiner damaligen Lage betrachtete. Erblickte der Lehrling im Arbeitskittel seine „vornehmen“ Kusinen von ferne, so wich er einer Begegnung lieber aus und drückte sich, wenn es ging, um eine naheliegende Ecke, tief beschämt, wenn er inne ward, daß sie ihn doch gesehen und sich an seiner Verlegenheit geweidet hatten. — Volle 4½ Jahre mußte er aushalten und er hielt aus. Von seiner Lehrzeit hat Rathenau die folgende Schilderung gegeben:
„Das Werk hatte mein Großvater, ein hervorragender Industrieller unserer Stadt, mit seinen Söhnen eben erworben. Es lag in hübscher Gegend am Bober, besaß schöne Wohnhäuser und einen großen Park, und prächtige Wälder in der näheren und weiteren Umgebung machten den Aufenthalt angenehm.
Der Reichtum an Holzbeständen und Wiesenerzen, die die Verhüttung lohnten, Wasserkräfte von mäßiger Stärke und sehr billige Arbeitslöhne hatten im niederschlesischen Revier zur Errichtung von Hochöfen und Walzwerken Anlaß gegeben, und namentlich erstere versorgten fast die ganze Monarchie mit einfachem Guß und Poterien, die roh oder mit einer schönen weißen Emaille auf den Markt kamen. In den Gießhütten stellte sich bald das Bedürfnis nach Kupolöfen ein, um die Hallen und Arbeitskräfte durch Herstellung von Maschinen- und Bauguß besser zu verwerten. Die Wilhelmshütte hatte einen Hochofen von mäßigen Dimensionen, dessen Gase ungenutzt in die Luft stiegen und die Gegend mit hellen Flammen erleuchteten. Das Kolbengebläse wurde durch ein mittelschlächtiges Wasserrad angetrieben, wie es Scharwerker jener Zeit herstellten; bei der Konstruktion hatte man offenbar mehr auf billige und solide Herstellung als auf hohen Nutzeffekt Wert gelegt. Die [S. 6] Maschinenfabrik baute landwirtschaftliche Maschinen, meist nach englischem Muster, Pumpen, Wasserstationen, Weichen, Radsätze für Eisenbahnwagen, Apparate für Gasanstalten, Einrichtungen für Brennereien und Mühlen jeder Art, daneben wurde all und jedes, was das Publikum verlangte, auch wenn es in sehr losem Zusammenhang mit dem Maschinenbau stand, hergestellt, zum Beispiel eiserne Bettstellen, Turmuhren und dergleichen. Diese Vielseitigkeit wurde eingeschränkt, als bald nach meinem Antritt A. Mestern die Leitung des Werkes übernahm. Dieser begabte Techniker hatte sein gemeinsam mit Tischbein in Magdeburg betriebenes Zivil-Ingenieur-Geschäft aufgegeben und war auf Fr. Walz’ Empfehlung als Sozius in die Firma getreten. Er war ein reiner Empiriker und hatte meines Wissens weder im praktischen Betriebe noch auf Hochschulen Erfahrungen gesammelt, aber sein feines Auge und Gefühl, sein Verständnis der kinematischen Vorgänge, sein Talent in der Formgebung und Abmessung aller Konstruktionen ersetzten diesen Mangel an Ausbildung. Mestern kannte die Dampfmaschine in ihrer damaligen primitiven Ausführung, und wenn er nach einfachen Formeln, wie sie in England gebräuchlich zu sein schienen, die Hauptabmessungen festgestellt hatte, konstruierte er vertikale oder Balanzier-Maschinen mit gotischem Gestell oder auf blanken Säulen gelagerter Schwungradwelle. Viel Fleiß verwendete er auf Ausgestaltung der Formen im Geschmack seiner Zeit, auf tadellose Bearbeitung von unzähligen blanken Pfeilern; das Publikum der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts liebte und bezahlte solche Erzeugnisse, legte aber wenig Wert auf die ökonomische Wirkung, die es weder zu beurteilen noch zu messen verstand. Obwohl Sachverständige die Bedeutung der Expansion des Dampfes zu schätzen wußten, begnügten viele Konstrukteure sich mit der unvollkommenen Wirkung nicht entlasteter Schieber und Drosselklappen, und die Kunst im Bau dieser langsam laufenden Maschinen bestand zumeist in der Bearbeitung der Einzelteile mit nichts weniger als vollendeten Werkzeugen. Die schwachen Hobelmaschinen vibrierten schon bei winzigen Spänen, und da genaue Flächen einer gründlichen Nacharbeit in jedem Falle bedurften, begann man häufig sogleich mit der Handarbeit, um die Zeit des Aufspannens zu ersparen.
Eine neue Ära des Maschinenbaues begann mit der Corliß-Dampfmaschine nach amerikanischen Mustern. Ihr vorangegangen [S. 7] war eine Periode des Maschinenbaues mit U-förmiger Grundplatte, deren Dampfzylinder und Geradführung an dieser seitlich befestigt waren; das Schwungradlager mit mehrteiliger Büchse lag so in derselben, daß die Kurbel gegen die gedrehte Fläche lief; der hohle Raum der Grundplatte war mit einem Holzdeckel geschlossen und diente als Schrank für Werkzeuge; auf der Grundplatte stand der von einem Riemen angetriebene Regulator.
Die Konstruktion der Corliß-Maschine mit ihren getrennten Ein- und Auslaßschiebern wurde in allen Größen und in einer Ausführung hergestellt, die dem amerikanischen Original nicht nachstand; sie führten sich durch das bestechende Äußere und die Ökonomie des Dampfes rasch ein, trotzdem die Verkaufspreise den teuerern Herstellungskosten entsprechend hohe waren. Für Reversier-Walzwerke und Gebläsemaschinen wurde die Schiebersteuerung beibehalten, und bei den Wasserhaltungsmaschinen für das Waldenburger Revier büßte die Katarakt-Ventil-Steuerung ihre Bedeutung nicht ein. Als ich die Wilhelmshütte nach 4½jähriger Tätigkeit verließ, war sie eine Maschinenfabrik, die sich eines guten Rufes in den Kreisen der Industrie erfreute und den besten Fabriken gleichwertig erachtet wurde.“
Die lange praktische Lehrzeit, die weit über das hinausging, was heute ein akademisch gebildeter Ingenieur auf diesem Gebiete zu leisten hat, gab Rathenau eine gründliche handwerkliche Kenntnis des Maschinenbaus, für den er immer eine gefühlsmäßige Vorliebe behielt, mit auf den Lebensweg.
Rathenaus Austritt aus der Wilhelmshütte wurde durch die Mobilmachung der preußischen Armee aus Anlaß des italienischen Krieges herbeigeführt. Er sollte beim 2. Garde-Regiment eintreten, als der Friede von Villafranca geschlossen wurde. Damit wurde der Eintritt in das Heer zunächst aufgeschoben, der junge Mann ging aber nicht wieder zur Wilhelmshütte zurück, sondern entschloß sich, seiner technischen Bildung zunächst eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Aus der Erbschaft des Großvaters, die beim Kinderreichtum der Familie allerdings in 15 Teile ging, fiel ihm eine an sich bescheidene, für ihn aber damals nicht unbedeutende Summe von einigen tausend Talern zu. Mit diesem Gelde ausgerüstet, über das er ganz frei verfügen konnte, durfte Emil Rathenau, seinem längst gehegten Wunsch nach akademischer Durchbildung [S. 8] nachgeben. Er bezog zunächst die polytechnische Schule in Hannover. Da seine mathematischen Kenntnisse durch den Schulbesuch auf dem „Grauen Kloster“ nur recht mangelhaft gefördert worden waren, strebte er danach, sie durch Selbststudien zu ergänzen und hatte sich tatsächlich in kurzer Zeit in die Differential- und Integral-Rechnung so eingearbeitet, daß er den Vorlesungen, die allerdings keine großen Vorkenntnisse der Mathematik voraussetzten, gut folgen konnte. Die meisten Lehrer, so der Technologe Karmarsch, der Architekt Debo und der Statiker Ritter verstanden es, mit einer geringen Menge von Mathematik auszukommen, auch für das Studium des Maschinenbaus in seiner damaligen Form war ein Zurückgehen auf mathematische Begriffe nicht unbedingt erforderlich. Nicht lange konnte sich aber Rathenau in Hannover seinen Studien ruhig hingeben. Ein Streit um die akademische Freiheit sah Rathenau und einige preußische Kommilitonen unter den Wortführern, was den Zorn der welfischen Lehrer gegen die preußischen Studenten erregte. Nach Beendigung der Ferien ging Rathenau darum nicht mehr nach Hannover zurück, sondern wandte sich nach Zürich, wo Männer wie Zeuner, Reuleaux, Culmann und andere lehrten und in einem fast kameradschaftlichen Verhältnis zu ihren Schülern standen. Die Diplomprüfung bestand Rathenau, trotzdem die Zeit der schriftlichen Arbeiten gerade in die feuchtfröhliche Feier des eidgenössischen Schützenfestes fiel, mit der besten Nummer. Mit dem Diplom „eines richtig gehenden Ingenieurs“ kehrte der junge Techniker nach Berlin zurück. Der Wiedereintritt in die Wilhelmshütte stand ihm wohl offen, aber er hatte die Empfindung, daß er mit seiner inzwischen erworbenen wissenschaftlichen Methodik nicht mehr so recht unter die dortigen Empiriker passen würde. Als einen großen Erfolg betrachteten er und die Familie es, als er eine Anstellung in der Lokomotivfabrik von A. Borsig erhielt, die damals von dem Sohn des Begründers geleitet wurde. Zuerst wurde er im Zeichenbureau beschäftigt und hatte Arbeiten mehr untergeordneter Art auszuführen. Bald wurde er aber unter die meist älteren Konstrukteure versetzt und konnte sich unter der Leitung des Oberingenieurs Flöhringer mit der Konstruktion von Gitterbrücken, später unter der Leitung des Obermaschinenmeisters Stambke mit dem Entwerfen von Lokomotiven beschäftigen. Sein Gehalt betrug 25 Taler monatlich, womit er [S. 9] seine einfachen Bedürfnisse bestreiten konnte, ohne die geldliche Hilfe der Eltern in Anspruch zu nehmen. Dagegen speiste er Sonntags und an manchen Abenden der Woche im elterlichen Haus in der Kronenstraße. Die Tätigkeit bei Borsig befriedigte den jungen Ingenieur indessen nicht lange. Der Lokomotivbau wurde ziemlich schematisch nach den Entwürfen der Maschinenmeister durchgeführt und ließ den Konstrukteuren wenig Spielraum für die freie Entfaltung eigener Gedanken. Dazu war auch die Fühlung mit der Praxis, die eine solche Tätigkeit wenigstens vorausgesetzt hätte, sehr gering. Denn der Besuch der Werkstätten wurde durch Meister und Werkführer, die ihre Domäne namentlich den jungen Ingenieuren eifersüchtig verschlossen, sehr erschwert. Befand man sich doch damals in einer Zeit, in der die alte empirische Technik im Kampfe mit der neu aufkommenden wissenschaftlichen Methode stand, die auf den technischen Schulen herangebildet wurde und infolgedessen ihre Ideen etwas ungestüm und in der Form vielleicht auch etwas überheblich in die Praxis hineinzutragen suchte. Emil Rathenau war nicht der Mann, um seine frisch errungenen wissenschaftlichen Erkenntnisse sich im praktischen Betriebe um des leichten Fortkommens willen wieder langsam abzugewöhnen. Er hätte, wenn er ein Durchschnittsmensch und ein Durchschnittstechniker gewesen wäre, bei Borsig bleiben und allmählich eine wichtige Stellung, wahrscheinlich sogar einen Ober-Ingenieurposten erringen können. Aber Rathenau hat sich nie in seinem Leben mit mittelmäßigen Zielen begnügt. Er besaß die fruchtbare Unzufriedenheit des nach Großen strebenden Charakters, dem seine innere Entwickelung mehr wert war als eine gesicherte Existenz. Als er Borsig von seinem Entschluß, bereits nach ½jähriger Tätigkeit aus seinem Betriebe auszuscheiden und nach England zu gehen, benachrichtigte, schien der Chef einigermaßen darüber befremdet, daß Rathenau sein Interesse und seine Absicht, ihn bald in eine höhere Stellung aufrücken zu lassen, nicht mit größerem Dank anerkannte. Neben dem Bestreben, sich fortzubilden und alles in sich aufzunehmen, was die Technik damals in den fortgeschritteneren Industrieländern an Gegenwartserfüllungen und Zukunftsmöglichkeiten bieten konnte, war es wohl auch der Wandertrieb, der „Durst nach weiter Welt“, die ihn bewogen, die aussichtsreiche Stellung in der Heimat aufzugeben und sich in England, dem damals an der Spitze schreitendem [S. 10] Lande der Technik und Wirtschaft, gründlich umzusehen. Mit einem Empfehlungsbrief von Borsig an die große Maschinenfabrik von John Penn in Greenwich und einem zweiten des Admiralrates Coupette reiste Rathenau über den Kanal. Die Hoffnung einer Anstellung bei Penn schien sich zunächst nicht zu verwirklichen und Rathenau war vorerst darauf angewiesen, sich durch Annoncen im „Engineer“ eine Stellung zu suchen. Ein persönlicher Besuch in der Villa John Penns führte aber, ehe sich der junge Ingenieur zur Annahme eines Anerbietens der landwirtschaftlichen Maschinen- und Lokomotivfabrik Marshall in Gainsborough entschloß, doch noch zum Ziele einer Anstellung in der großen Greenwicher Fabrik und er bekam die Stelle eines Draughtsman mit 30 sh. Wochenlohn. Lassen wir nun Rathenau wieder selbst erzählen, wie sich seine Tätigkeit in verschiedenen englischen Fabriken gestaltete:
„Mein Vorgesetzter war ein liebenswürdiger Herr Lobb, der bald nach meiner Anstellung zu dem Österreichischen Lloyd überging; sein Nachfolger, Mr. Wright, war mir weniger sympathisch. Aber dieses Vorurteil war ungerecht, denn gerade ihm verdanke ich meine Heranziehung zu größeren Arbeiten. Ein Landsmann, der spätere Oberwerftdirektor Meyer, trat in dasselbe Bureau ein. Die teueren Lebensbedingungen veranlaßten uns zu einem gemeinsamen Haushalt, und wir fanden eine passende Behausung in der Nähe von zwei Marineingenieuren Gujod und Dede, die zur Überwachung der im Bau befindlichen Panzerkorvette nach England geschickt waren. Während wir unser Leben in Gainsborough allesamt sehr bescheiden einrichten mußten, fand ich hohe Befriedigung in der geschäftlichen Tätigkeit. Die englische Marine muß sehr gute Erfahrungen mit den Schiffen der Warrior-Klasse, zu denen „Achilles“ und „Black Prince“, wie ich glaube, gehörten, gemacht haben, denn sie ging zu einem ähnlichen Typ, dem Bellerophon, über und übertrug der Firma J. Penn & Sons die Ausrüstung des Schiffes mit Maschinen, Kesseln und Zubehör. Es war die erste 1000 PS-Expansionsdampfmaschine mit Zylinder von 105 Zoll, eine Trunk-Maschine, in der die Kurbelwelle zwischen jenen und den Kondensatoren gelagert war. Diese Konstruktion war neu, die Firma hatte früher meist oszillierende Dampfmaschinen gebaut und durch sie einen Weltruf erlangt. Nach Vollendung der Werkstattszeichnungen, Transportmittel, die für die ungewöhnlich schweren Arbeitsstücke angefertigt [S. 11] werden mußten, und der Gesamtanordnung, die bis in die Einzelheiten auf dem Papier festgelegt und in Maßskizzen den verschiedenen Abteilungen zur Fertigstellung überlassen wurden, befragte mich ein Freund, der nach Deutschland zurückzukehren im Begriff stand, ob ich sein Nachfolger in der Firma Easton & Amos zu werden wünsche. Die Vielseitigkeit dieses Geschäftes zog mich an und ich siedelte nach London über, das ich während meines Aufenthaltes in Gainsborough an Sonnabenden jeder Woche nachmittags mit Vergnügen aufgesucht hatte, und in dem das großzügige Leben und der enorme Verkehr auf den Straßen mich förmlich elektrisierten.
Im Gegensatz zu John Penns prächtigen Werkstatthallen und imposanten Werkzeugmaschinen fand ich hier eine elende Baracke, man mußte sich erst an die Arbeit in diesen Bureaus gewöhnen, die von den Schlägen der Dampfhämmer erzitterten. Auf den Zeichenbrettern häufte sich der Kohlenstaub, und während in Gainsborough unsere Kollegen junge lustige Leute waren, die Späße trieben und sich amüsierten, befanden sich hier meist Familienväter, deren Pünktlichkeit, wie die von Arbeitern, durch den Portier und Stundenzettel kontrolliert wurde; sie waren wohl meist aus diesem Stande hervorgegangen.
Meine erste Aufgabe war die Konstruktion einer Tunnelbohrmaschine nach den Patenten von Captain Beaumont: Eine Scheibe von etwa 5 Fuß Durchmesser enthielt an ihrem Umfange zur Achse parallel laufende Schlitze, in denen eine große Zahl von Stahlbohrern mit Keilen befestigt waren. Die hin- und hergehende Bewegung wurde durch einen mit der Scheibe verbundenen Differential-Dampfkolben verursacht, der in einem nach Art direkt wirkender Dampfspeisepumpen gesteuerten Zylinder vor- und rückwärts lief. Der volle Dampfdruck erfolgte bei der Stoßwirkung, während die kleinere Fläche den Rückzug vollendete. Waren die Stähle bis an die Befestigung in der Scheibe vor Ort in das Gebirge durch schnell aufeinanderfolgende Schläge eingedrungen, so erhielt der auf Rollen stehende Truck, der nach jedem Stoß selbsttätig vorrückte und sich wieder befestigte, eine geringe Drehung, so daß die Löcher in der gewünschten Teilung einen Kreis bildeten. Ein Bohrer in seinem Zentrum diente zur Aufnahme der Patrone, durch die die Sprengung erfolgte. Hierbei wurde die schwere Maschine auf den radial zur kreisrunden Öffnung stehenden Rollen des Trucks so weit zurück [S. 12] gezogen, daß man die Débris vor Ort bequem ausräumen konnte. Über das Schicksal dieser Maschine ist mir nichts bekannt geworden, dagegen sah ich ein anderes Werk meiner damaligen Tätigkeit nach einem Menschenalter noch im Betriebe. Es war ein hydraulischer Aufzug mit direktem Antrieb für Personentransport, der in dem ersten großen, damals im Bau befindlichen Hotel in Brighton aufgestellt wurde. Der sehr lange Stempel stak in dem Preßzylinder, für den man einen tiefen Rohrbrunnen in das Erdreich gesenkt hatte. Die einzelnen Kolbenteile bestanden aus gußeisernen Röhren, die durch Gewinde miteinander verbunden waren. Trotzdem diese Konstruktion große Sicherheit den Reisenden bot, erfuhr ich später durch Zeitungen, daß im Grand Hotel ein nach diesem Muster erbauter Aufzug mit den Passagieren verunglückt sein soll.
Die primitiven Einrichtungen deuteten auf den allmählichen Verfall des Werkes, und obgleich ich wegen der Vielseitigkeit der Aufträge eine bessere Schule in England kaum hätte wieder finden können, trat ich mit achttägiger Kündigung aus der Fabrik aus, die zwar bald nachher einen neuen Partner aufnahm, aber später von der Bildfläche, wie ich vorausgesehen hatte, verschwand. Der Wert der Grundstücke in der City hat hoffentlich die Inhaber oder Gläubiger für ihre Verluste im Betriebe entschädigt.
Auf eine Annonce in einem Londoner Fachblatt, durch die ein theoretisch erfahrener, der französischen Sprache mächtiger Ingenieur bei hohem Salär gesucht wurde, meldete ich mich zum sofortigen Antritt und hatte das Glück, aus der großen Zahl von Bewerbern mit 4 Lstrl. wöchentlichem Gehalt Anstellung nach kurzer Prüfung bei einer neu gegründeten Gesellschaft, die British & Continental Steam Improvements Co. firmierte, zu erhalten. Das Bureau der Gesellschaft lag in Adelphi Street, Strand, ihr Leiter war ein französischer Chemiker namens Martin, auf dessen Erfindungen das Unternehmen gegründet war. Der Dienst begann um 10 Uhr; nach dem Luncheon, das ich in dem dem Theater gegenüber liegenden Public House stehend, aber mit Gemütsruhe einzunehmen pflegte, erschien der Chef; er las die wenigen eingegangenen Briefe, besprach die Geschäfte, die ihn kaum mehr als mich erregten, und führte mich bei eintretender Dunkelheit in ein vornehmes Restaurant zum Mittagessen, das mir wegen der lukullischen Genüsse und der gewaltig hohen Preise imponierte. Niemals hatte ich für [S. 13] eine so geringe Tätigkeit eine solche Behandlung und Bezahlung erfahren. Meine Aufgabe war doppelter Natur; Konstruktionen und Schriftstellerei. Beide erstreckten sich auf eine Rauch verzehrende Lokomotivfeuerung einerseits und einen Kesselsteinreinigungsapparat andererseits; letzteren kannte ich bereits aus meiner früheren Tätigkeit; ich entsinne mich nicht, wo er zuerst konstruiert worden war, glaube aber aus der Literatur später erfahren zu haben, daß er unter dem Namen Schau in der Lokomotivfabrik in Wiener-Neustadt gebaut wurde. Auf dem Kessel war ein zweiter Dampfdom so befestigt, daß man ihn von den ebenen Dichtungsflächen leicht abnehmen konnte. In diesem waren Teller übereinander so angebracht, daß das kaskadenweise herabfließende Speisewasser von den oberen zu den unteren langsam in der heißen Dampfatmosphäre herabtröpfelte. Da gewisse Verunreinigungen bei diesen Temperaturen sich bereits absondern, so wurde die bewußte Reinigung häufig erzielt, und da auch die Wärmeverluste unbedeutend waren, so hat der Apparat sich zuweilen und jedenfalls bei den Versuchen bewährt, wie denn die Salze auf den Tellern bei ihrer Herausnahme ad oculus demonstrierten. Mit guten Patenten, genügender Reklame und glänzenden Zeugnissen hätte der Erfinder vielleicht durch Herstellung en masse einen Gewinn für die Gesellschaft erzielen können, dazu aber fehlte ihm kaufmännische Begabung.
Die Lokomotive, in die auf einem der großen Bahnhöfe in London — ich entsinne mich nicht, ob Great Eastern, Northern oder Western — die neue Feuerung eingebaut wurde, gab befriedigende Resultate in ökonomischer Beziehung, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die feuerfesten Konstruktionsteile bei den Stößen und Erschütterungen, denen solche Dampfkessel ausgesetzt sind, eine genügend lange Dauer besitzen. Die maßgebenden Persönlichkeiten scheinen anderer Ansicht gewesen zu sein, denn kaum waren die Meßresultate in ihren Händen, so erhielt ich den Auftrag, eine Straßenlokomotive von Aveling und Porter mit der Feuerung auszurichten. Technisch bot dieses Kommissorium keine Schwierigkeiten, aber die kommerzielle Behandlung öffnete mir die Augen über die Geschäftsgebarung, und ich beschloß deshalb, einen neuen Wirkungskreis zu suchen.“
Vorher wünschte Rathenau seine Eltern nach zweijähriger Abwesenheit wiederzusehen; zumal diese in der Meinung, daß der junge [S. 14] Ingenieur sich draußen in der Welt genügend umgesehen habe, und sich nunmehr eine dauernde Existenz gründen solle, auf die Rückkehr drängten, die nach ihrem Wunsche eine dauernde Heimkehr sein sollte, während Rathenau selbst, als er sich zur Heimreise anschickte, noch nicht fest entschlossen war, sich für die Dauer im Heimatlande anzusiedeln. Indessen gefiel es ihm im Hause Viktoriastraße 3, das die Eltern inzwischen bezogen hatten, recht wohl und er ließ sich unschwer überreden, seine weiteren Wanderpläne aufzugeben. Den Eltern und Freunden kam es bei ihren Plänen zu statten, daß Rathenau, trotz aller Lust die Welt kennen zu lernen, doch mit seinem ganzen Herzen an Deutschland und besonders seiner Heimatstadt Berlin hing, und eigentlich in seinem ganzen Leben niemals ernstlich daran dachte, sich wie so viele andere tüchtige Deutsche jener Zeit irgendwo draußen, wo es sich zu jener Zeit besser und aussichtsvoller leben ließ, dauernd anzusiedeln. In seinem Streben und Denken war Rathenau Kosmopolit. In seinem Grundgefühl blieb er trotzdem immer bodenständig. Jeder Fortschritt, jede Errungenschaft, jede Verbesserung der Verhältnisse, die er irgendwo draußen sah, waren ihm nie allein Inhalt genug. Er konnte sie sich nur in Verbindung mit der Heimat denken, der er entstammte und der er ihren Nutzen dienstbar machen wollte. So wenig sich Rathenau durch die Schranken und Bedingungen des Vaterlandes binden oder hemmen ließ, so sehr er alle Fernen nach neuen wissens- und nachahmenswerten Einrichtungen abschweifte, in irgend einem fremden Boden hätte er nie Wurzel fassen können. Dort sich einfach und bequem niederzulassen, wo das Neue bereits entwickelt war, reizte ihn nicht, bot seinem Schaffenswillen wohl auch nicht Leistungsmöglichkeit und Spielraum genug. Ihn leitete stets das instinktive Bestreben, das Neue dorthin zu verpflanzen, wo es sich noch nicht vorfand und ihm schwebte wohl schon damals der Gedanke vor, daß in Deutschland ein weiteres Arbeitsgebiet offen lag als in fortgeschritteneren Ländern, wo er die Hauptstraßen bereits durch einen zu starken Wettbewerb besetzt fand. „Trotz schmaler Kost und wenig Geld“, sind Emil Rathenau, der in dem berechtigten Stolz, auf eigenen Füßen zu stehen, schon damals auch die kleinste geldliche Beisteuer des Vaters nicht mehr angenommen hatte, die Jahre in England unvergeßlich geblieben. Außer den technischen Erkenntnissen, die er ihnen verdankte, gaben sie ihm den [S. 15] freien Blick des Staats- und Weltbürgers und eine ausgeprägte demokratische Anschauungsweise , deren Fundament sich nie verlor, wenngleich der Geschäftsmann sie später aus Opportunitätsgründen, vielleicht auch aus Mangel an Zeit für politische Interessen, nicht mehr sonderlich betonte, allerdings auch nie verleugnete. Auch der spätere Gegensatz zu der aufkommenden sozialdemokratischen Agitation mit ihrer Erschwerung der Arbeiterbehandlung und Arbeiterökonomie für das Unternehmertum mag dazu beigetragen haben, den demokratischen Grundton der Rathenauschen Denkweise zu dämpfen. In den englischen Jahren warf er sich ihr aber mit Entschiedenheit in die Arme. Bedeutete sie doch eine reife Betätigung und Erfüllung der ringenden Bestrebungen, deren jähes gewaltsames Aufflackern der heranwachsende Knabe im Jahre 1848 staunend, wenn auch wohl nicht verstehend, miterlebt, für die der junge polytechnische Student dann im engen Kreise mitgekämpft hatte. Das waren Erinnerungen, die in der englischen Luft wieder aufgewacht waren und ihm manche Einrichtungen der englischen Bürgerfreiheit als glücklich und nachahmenswert erscheinen ließen. Auch die Freihändlerlehre mochte sich dem jungen Deutschen damals so tief ins Gemüt gesenkt haben, daß er Zeit seines Lebens nie so recht von ihr loskam, auch hier allerdings später die Theorie den Zweckmäßigkeitsgründen seiner besonderen Interessensphäre anpassend.
Nun machte Emil Rathenau zum ersten Mal den Versuch, seßhaft zu werden und sich eine Position zu schaffen, wie sie den Augen der Familie wohlgefiel. Ein wohlsituierter Bürger und tüchtiger Fabrikbesitzer, das war das Ziel, das den Eltern vorschwebte und das sich immerhin um eine wesentliche Spielart von den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen unterschied, die sonst in den damaligen jüdischen Kreisen Berlins und Deutschlands üblich waren. In der Industrie hatten die jüdischen Kaufleute damals erst in geringem Umfange Fuß gefaßt. Handel und Finanz waren noch ausgesprochener als heute die Hauptgebiete ihrer Betätigung, und die kombinierten, großkapitalistischen und großgewerblichen Methoden, durch die sie späterhin den Übergang auch in die Industrie fanden, erschienen damals noch wenig ausgebildet. Allerdings fehlte es nicht an Ausnahmen. Der Stern des industriellen Gründers Strousberg, der allerdings durch eine Welt von dem soliden deut [S. 16] schen Industrietypus geschieden war, stand damals noch im Zenith. In Berlin waren es gerade Rathenaus Verwandte, die Liebermanns und Reichenheims, die als Industrielle sich bereits einen soliden Reichtum und ein großes bürgerliches Ansehen geschaffen hatten. Mitglieder der Familie Liebermann besaßen neben der schon erwähnten Wilhelmshütte in Sprottau eine bedeutende Tuchweberei, die Familie Reichenheim gleichfalls eine blühende Textilfabrik im schlesischen Wüste-Giersdorf. Auch die noch jetzt als Aktiengesellschaft bestehende Textil-Firma Anton und Alfred Lehmann befand sich im Besitz von Verwandten Rathenaus. Gerade diese Beispiele aus der Familie, die sich allerdings nach dem Tode des Großvaters Liebermann nicht mehr allzuviel um Emil Rathenau und sein Elternhaus kümmerte, werden dazu beigetragen haben, den jungen Rathenau der industriellen Laufbahn zuzuführen. Nach der Rückkehr aus England begab er sich auf die Suche nach einem geeigneten, bereits bestehenden und eingeführten Unternehmen. Durch Familienbeziehungen gelangte Rathenau an eine Fabrik, die damals verkäuflich war und auch den Eltern eine geeignete Grundlage für eine Selbständigkeit zu bieten schien. Es war die kleine Maschinenfabrik von M. Webers , die in der Chausseestraße, dem damaligen Berliner Maschinenfabrikenviertel, unweit der alten Berliner Anstalten von Schwartzkopf, Borsig, Wöhlert und Engells gelegen war. Die Fabrik beschäftigte nicht mehr als 40–50 Arbeiter und betrieb neben dem Bau von Dampfmaschinen die Herstellung von Einrichtungen für Gas- und Wasserwerke. Auch Zentrifugalpumpen, Lokomobilen und was sonst zu dem Betrieb einer damaligen Maschinenfabrik gehörte, wurde gelegentlich hergestellt. Daneben führte das Unternehmen, gewissermaßen als Monopol, sämtliche Apparaturen aus, die die Königlichen Theater brauchten. Emil Rathenau prüfte die Grundlage des Betriebes, von denen die technische trotz ziemlich primitiver Methoden einen besseren Eindruck machte als die kaufmännische, und war grundsätzlich zu einem Erwerb bereit. Die Verfassung, in der sich das Unternehmen damals befand, wurde von ihm wie folgt geschildert:
„Aus einem früheren Vergnügungslokal, Bella Vista, war ein hübsches Wohnhaus mit Vorgarten stehen geblieben, das sich durch schmuckes Äußeres hervortat; hinter diesem lag die Fabrik in dem früheren Tanzsaal, der sich als Seitenflügel dem einstöckigen Wohnhause [S. 17] anschloß; Dampfkessel, wie sie unter bewohnten Räumen zu jener Zeit zulässig waren, und eine ihrer Größe entsprechende Dampfmaschine trieben vermittels Wellentransmission die einfachen Werkzeugmaschinen, wie sie Chemnitzer und Berliner Fabriken herstellten. Die Fabrik hatte einen guten Ruf. Der spätere Rektor der technischen Hochschule in Darmstadt hatte als technischer Leiter die Bügel- und Balanziermaschinen etwas modernisiert und mit einer Expansionsvorrichtung versehen, die sich recht bewährt hat. Ein Glockenventil, das auf und mit dem Schieber sich bewegte, wurde von dem unrunden Konus auf der Spindel des Zentrifugalregulators geöffnet und geschlossen.“ — Der junge Ingenieur konnte und wollte das Wagnis, das auch über die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Kräfte hinausging, nun allerdings nur in Gemeinschaft mit einem tüchtigen und gleichgesinnten Kaufmann übernehmen. Für die Fabrik mit Grundstücksgebäuden und Inventar — dazu gehörte ein großer Garten mit schönen alten Bäumen — wurden 75000 Taler gefordert und von dem Käufer eine Anzahlung von einem Drittel dieses Betrages verlangt, über das Emil Rathenau nur zum Teil verfügte. An Geldmännern, die sich an dem Geschäft beteiligen wollten, fehlte es nicht. Doch konnte sich Rathenau nicht zur Wahl eines stillen Teilhabers entschließen. Ein Sozius fand sich aber bald in der Person des um zwei Jahre jüngeren Julius Valentin , den Rathenau als Nachbarkind vom Monbijouplatz und als jüngeren Schulgenossen vom Grauen Kloster her kannte. Die beiden jungen Männer trafen sich ganz zufällig. Auf der Straße begegnete Rathenau einige Zeit nach seiner Rückkehr aus England dem jungen Valentin, der ihm den Eindruck eines intelligenten, offenen Menschen machte. Den ersten gegenseitigen Fragen nach dem „Woher“, nach den Lebensschicksalen beider seit der gemeinsamen Schulzeit, folgte bald die Frage nach dem „Wohin“, den Plänen für die Zukunft.
Rathenau erzählte schließlich, daß er etwas Eigenes unternehmen wolle, auch schon eine bestimmte Sache in Aussicht habe, daß ihm aber noch der Kaufmann fehle. Auf die Frage, ob er dieser Kaufmann sein wolle, und ob er sich mit einem bestimmten Kapital beteiligen könne, bat sich Valentin Bedenkzeit aus, gestand auch ganz offen, daß er nicht nur über die zu erwerbende Maschinenfabrik, sondern auch über Rathenau selbst vorher Erkundigungen einziehen müsse. Einige Tage nachher bat sich Valentin von Rathenau [S. 18] eine schriftliche Erklärung aus, daß er ihn zum Sozius bei der Fabrik nehmen wolle. Den jungen Ingenieur verstimmte diese Vorsicht ganz und gar nicht, sie gefiel ihm sogar, und man vereinbarte weitere Besprechungen. Diese fanden statt, und man wurde miteinander einig. Rathenau und Valentin erwarben gemeinsam die Maschinenfabrik, und der Jugendbekanntschaft folgte eine enge, fast zehnjährige Geschäftsgenossenschaft und bald eine herzliche Freundschaft, die auch die geschäftliche Trennung überdauerte, in manchen späteren gemeinsam geplanten, wenn auch nicht ausgeführten Projekten ihren Ausdruck fand, und das ganze Privatleben der beiden trefflich zueinander passenden Männer durchzog. Wenn man den glaubhaften Schilderungen des in seinem Verhältnis zu Rathenau selten bescheidenen Valentin folgt, so ist Emil Rathenau schon in der damaligen gemeinsamen Tätigkeit der führende, aktive und bestimmende Teil gewesen, während Valentin sich anpaßte und bemüht war, die Gedanken und Anregungen Rathenaus, so gut ihm das möglich war, auszuführen. Daß auch Valentin kein gewöhnlicher Mensch gewesen ist, zeigen die immerhin respektablen Erfolge in seiner späteren eigenen Tätigkeit. In der Leitung der Maschinenfabrik Webers jedenfalls vereinigten und ergänzten sich die beiden Charaktere auf das beste, und es ist vielleicht nie wieder ein äußerlich Gleichgeordneter mit Rathenau, der im Verkehr mit Menschen als eigenwillig, rücksichtslos, ja manchmal sogar als hart galt, so gut und glatt ausgekommen wie Valentin. Dieser rühmt besonders die feine, taktvolle Art, mit der sein damaliger Sozius bei gemeinsamen Verhandlungen und Beratungen jedes Pochen auf seine Überlegenheit, jede besserwisserische Art vermied. „Ja sogar, wenn man Aufklärung, Belehrung bei ihm suchte, hatte man am Ende den Eindruck, als ob Rathenau, der klar und mit ausgeprägtem Sinn für das Wesentliche auseinanderzusetzen und zu antworten verstand, als der Gewinnende, Belehrte und Dankbare aus der Unterhaltung schied.“ — Ungefähr zu derselben Zeit, als die Maschinenfabrik M. Webers in den Besitz der beiden Freunde überging, heiratete Rathenau Mathilde Nachmann, die Tochter eines angesehenen und wohlhabenden Bankiers, und die Mitgift, die er erhielt, bildete zum Teil die finanzielle Einlage, die er in die Sozietät mit einbrachte. Mathilde war Emil Rathenau sein ganzes Leben hindurch eine treue und kluge Lebensgefährtin, die in den jungen Jahren der ersten [S. 19] kaufmännischen Tätigkeit an den Plänen und Arbeiten ihres Mannes ihren beratenden Anteil nahm und ihm später in den Jahren des beschäftigungslosen, manchmal unbefriedigten Suchens stützend und anspornend zur Seite stand. Als dann das Lebenswerk Rathenaus auf fester Grundlage errichtet war, die Tätigkeit wuchs, sich verzweigte und die Tages-, manchmal auch die Nachtstunden des Mannes in immer zunehmenden Umfange fortnahm, lernte sie sich bescheiden, gerade weil sie verstand, daß große Männer mehr ihrem Werke als sich und ihren Nächsten gehören. Sie konnte sich auch bescheiden, weil sie der Liebe ihres Mannes, des Teils seines Denkens und Fühlens, der dem Menschen und Privatmann verblieb, stets sicher war und stets sicher sein durfte. So wenig Emil Rathenau für seine Familie im weiteren Sinne übrig hatte, so innig war er mit seiner engsten Familie verwachsen, so selbstverständlich fest war sein Familienzusammengehörigkeitsgefühl mit seinen nächsten Angehörigen. Unzertrennbar wie er den Eltern, besonders der Mutter anhing, fühlte er sich auch Frau und Kindern verbunden. Dieses Bewußtsein linderte auch in den späteren Jahren die Klage der Lebensgefährtin, daß sie von ihrem Manne so wenig hätte, und „es kaum so viele Romane gäbe, wie sie in ihren einsamen Stunden lesen müßte.“ Daß an eine ins Einzelne gehende Teilnahme der Gattin an der Arbeit des Gatten in späteren Jahren in der Rathenauschen Ehe gar nicht mehr zu denken war, erscheint bei der Größe, dem Umfange und der Vielseitigkeit dieser Arbeit nicht verwunderlich. Auch die aktiengesellschaftliche Form und die strenge Scheidung, die Rathenau — wie wir noch später sehen werden — zwischen seinen eigenen Vermögensinteressen und denen der Aktiengesellschaft stets wahrte, ließ eine enge Fühlungnahme der Gattin mit den Geschäften des Gatten, zu der Mathilde Rathenau an sich durchaus fähig gewesen wäre, nicht entstehen. Wie weit ihre Geschäftsfremdheit in späteren Jahren gegangen ist, zeigt ein Vorfall, den mir Rathenau einmal persönlich erzählt hat. Die A. E. G. hatte seit einiger Zeit die Herstellung der lichtstarken und stromsparenden Metallfadenlampen aufgenommen und dafür eine große geschäftliche Propaganda entfaltet. In seiner eigenen Wohnung am Schiffbauerdamm brannten aber noch ganz gemütlich die altmodischen Kohlenfadenlampen, bis eines Abends Frau Mathilde einmal den Gatten fragte: „Sag mal, Emil, Ihr macht doch jetzt in den Zeitungen [S. 20] so viel für eine neue Lampe Reklame. Können wir die nicht auch bei uns einführen?“ — Dieser Vorfall, der zugleich für die völlige Gleichgültigkeit kennzeichnend ist, mit der Emil Rathenau immer nur das Allgemeine, nie das Spezielle sehend, sein Privatleben wenigstens in äußeren Dingen behandelte, kann gegen den tiefen inneren Ernst, mit dem Rathenau die Ehe — allerdings weitab von jeder modernen Emanzipation — ansah und behandelte, nicht das geringste besagen. Frau Mathilde wird diesen Vorfall wahrscheinlich ebenso von der gemütlichen, humoristischen Seite genommen haben, wie die harmlose Galanterie, die ihr Mann, besonders auf Reisen — und zwar je älter er wurde, umso mehr — jungen oder klugen Damen, mit denen er gern und gut plauderte, entgegengebracht hat. Wußte sie doch, daß dabei keine Spur von Erotik, sondern nur angeborene Ritterlichkeit dem weiblichen Geschlechte gegenüber mitspielte, die diesem innerlich keuschen, jeder groben Sinnlichkeit abholden Manne stets eigen war, eine Ritterlichkeit, die er der Gattin selbst stets entgegengebracht hatte.
Aber kehren wir wieder zu dem jungen Rathenau und seiner Maschinenfabrik zurück. Kurz nach ihm hatte auch der Sozius Valentin geheiratet, und die beiden Familien wohnten nun in dem der Fabrik vorgelagerten Wohnhause in der Chausseestraße, einträchtig beisammen. Abends nach getaner Arbeit zogen die beiden Ehepaare nicht selten gemeinsam in das Stadtinnere, nach der Friedrichstadt, wo es damals noch an jeder Kanalisation fehlte und die Abwässer in offenen Rinnsteinen, an den Straßenübergängen nur von Bohlen überdeckt, sich ihren Weg suchten, an warmen Sommerabenden einen wenig angenehmen Duft verbreitend. Die baulichen und hygienischen Verhältnisse ließen auch in der Zeit, als Berlin schon Reichshauptstadt geworden war, noch viel zu wünschen übrig. Die Einführung der Gasbeleuchtung hatte die wenig fortgeschrittene Kommunalverwaltung zunächst einer englischen Gesellschaft überlassen, die Gründung des ersten öffentlichen Schlachthofes und der ersten Markthalle durch Strousberg betrachtete man mit Mißtrauen und suchte ihr, statt sie zu unterstützen, allerlei kleinliche Hindernisse in den Weg zu legen. Rathenau, der ja die damals viel besseren Verhältnisse in englischen Großstädten kannte, empfand die Rückständigkeit der Vaterstadt schmerzlich, und auf den gemeinsamen Abendspaziergängen entwarf er, dessen Hirn stets voll [S. 21] von Plänen steckte und dem besonders beim Sprechen die Projekte nur so zudrängten, nicht selten kühne und großzügige Modernisierungsvorschläge.
Die Tätigkeit Rathenaus in der Maschinenfabrik M. Webers dauerte fast 10 Jahre. Als die beiden Freunde die Leitung übernahmen, verstanden sie von dem Fabrikbetriebe, wie Rathenau selbst zugab, wenig oder nichts. Der alte Webers hatte einen Buchhalter hinterlassen, der Valentin in die Mysterien der einfachen kaufmännischen Tätigkeit einweihte. Rathenau glaubte eine ähnliche Stütze in dem Ingenieur zu finden, der den technischen Arbeiten in Bureau und Werkstatt vorgestanden hatte. Dieser Mann, verstimmt darüber, daß sein früherer Chef das Anwesen verkauft hatte, ohne ihn zu fragen, ob er selbst darauf reflektiere, zog sich aus dem Geschäft zurück, um eine eigene Fabrik zu begründen und Emil Rathenau war somit allein auf sich selbst angewiesen. Der wichtigste Gegenstand bei seinem Eintritt war die Herstellung des Schiffes für Meyerbeers Oper „Die Afrikanerin“, die von dem Königlichen Opernhaus damals vorbereitet wurde. Rathenaus Interesse für derartige Theaterarbeiten war gering. Weder die Bühne noch die Balletteusen, für deren Gruppendarstellungen er schmiedeeiserne Konstruktionen auszuführen hatte, übten eine Anziehungskraft auf ihn aus. Zu dem Programm des Unternehmens gehörten, wie wir schon gesehen haben, außer Dampfmaschinen von nicht erheblicher Größe, Apparate für Gasanstalten und Wasserwerke, wie sie in den beschränkten Werkstätten und mit den vorhandenen einfachen Hilfsmaschinen ausgeführt werden konnten. Auch Schieber von den kleinsten bis zu den größten Abmessungen bildeten eine lohnende Spezialität. Über die technischen Zustände, die Rathenau in der Fabrik vorfand, und über die Versuche, sie auf eine höhere Stufe zu heben, lassen wir ihn am besten wieder selbst berichten:
„Während Aufträge auf gewisse Gegenstände ohne Mühe und regelmäßig einliefen und die listenmäßigen Preise ohne Feilschen erzielten, schwankten die Bestellungen auf Dampfmaschinen, und diese Schwankungen erschwerten den geordneten Werkstattbetrieb. Brauchbare und leistungsfähige Arbeiter lassen sich nur erziehen, wenn sie die Überzeugung gewinnen, daß ihre Beschäftigung eine dauernde ist und das Unternehmen im Aufblühen sich befindet, denn mit dem Wachsen der Bestellungen nimmt auch ihr Verdienst zu. [S. 22] Der Bau von Dampfmaschinen nach Preislisten, wie viele amerikanische Fabriken ihn später aufgenommen haben, lag zuerst in meiner Absicht, aber ich sah bald, daß jeder Kunde neue Wünsche äußerte und die von mir festgelegten Typen diesen nicht entsprachen. Lag die fertige Maschine rechts, wünschte man das Spiegelbild, war das Schwungrad als Riemscheibe ausgebildet, forderte man besondere Scheiben, befand sich die Kondensation hinter dem Dampfzylinder, legte man Wert auf den Antrieb der Luftpumpe von der Kurbel usw. Unter solchen Umständen beschloß ich eine neue Type zu schaffen, in der Hoffnung, daß mit derselben die Kritik aufhören würde, und in dieser Erwartung habe ich mich nicht getäuscht, denn viele hundert Maschinen von 1 PS bis zu ansehnlichen Leistungen wurden ohne Änderungen der Modelle ausgeführt und verkauft; freilich sorgte ich stets, daß sie auf der Höhe der Technik verblieben. Diese Maschinen nannte ich zum Unterschiede von Lokomobilen auf Rädern transportable Dampfmaschinen. Sie bildeten ein in sich abgeschlossenes Ganze. Die vertikale Maschine war mit ihrer Grundplatte an dem sauber gearbeiteten stehenden Dampfkessel befestigt; die einfache Feuerbüchse erhielt durch herabhängende (Fieldsche) Röhren genügende Heizfläche, und die aufsteigenden Rauchgase wurden durch eine mit feuerfestem Material bekleidete Eisenwand abwärts und dann in den Schornstein geführt. Die Montage der Maschinen nahm geringe Zeit in Anspruch, sie konnten in tadelloser Ausführung fast immer sogleich vom Lager oder aus den Werkstätten geliefert werden, hatten einen ganz befriedigenden ökonomischen Effekt und so viele Vorzüge vor stationären Maschinen mit schwerfälligen Kesselanlagen, Einmauerungen, Schornsteinen usw., daß die Firma sich bald eines Rufes erfreute und die Fabrikate über die ganze Welt absetzte. Weitere Spezialfabrikationen bauten sich auf direkt gesteuerten Dampfpumpen auf, die die Schwungradpumpen allmählich ersetzten, auf Zentrifugalpumpen, darunter solche für Hochdruck und direkten Dampfmaschinenantrieb, auf Ejektoren für Kondensationszwecke und dergleichen, während Dampfmaschinen und Dampfkessel in allen Größen, wie sie damals üblich waren, auf besondere Bestellung gebaut wurden. Es muß hier bemerkt werden, daß der schöne Garten modernen Werkstätten für Kessel- und Maschinenbau inzwischen Platz gemacht und Umsatz sowie Arbeiterzahl mit jedem Jahre sich vermehrt hatten. Außer den laufenden [S. 23] Bestellungen betätigten wir uns in Konstruktionen für das Heer und die Marine.
Die Firma Siemens & Halske hatte uns den Auftrag zur Herstellung einer 10 PS transportablen Dampfmaschine erteilt, die auf Rädern dergestalt hergestellt war, daß Dampfkessel und Maschinen auf der Hinterachse, Dynamo- und Erregermaschine auf einem leichten schmiedeeisernen Gestell ruhten. Der Betrieb erfolgte mittels Riemen. Die Versuche mit Scheinwerfern wurden entweder auf dem Tegeler Schießplatze oder der damals unbebauten Genthinerstraße, wo die Bureaus des Ingenieurkomitees sich befanden, wie ich meine, mit befriedigendem Erfolge ausgeführt.
An ersterer Stelle hatten wir bereits größere Leistungen aufgewiesen. Unter Leitung eines sehr befähigten, damals als Hauptmann fungierenden Offiziers hatten wir einen drehbaren Panzerturm für zwei 50 cm-Geschütze erbaut; die Panzerplatten waren so schwer, wie sie die englische Firma damals walzen konnte, umgaben aber hauptsächlich den Teil des Turmes, in dem die Minimalscharten sich befanden, während der übrige Teil des Ringes aus sehr starken Flächen und die gewölbte Kalotte aus einer Doppellage von diesen gebildet wurde. Die Drehung des solid und genial konstruierten Turmes erfolgte durch das Gewicht von Artilleristen mittelst Hebel und Tritte vorwärts und rückwärts in mäßigem Tempo. Fast eine Kunst war die Auswechslung der schweren und langen Geschützröhren in dem niedrigen Turm; ohne Kräne und Winden mußte sie in wenigen Stunden erfolgen. Diese Röhren wurden in Eisenblechlafetten durch zwei voneinander unabhängige Vorrichtungen so bewegt, daß der ideelle Drehpunkt in der Schießscharte verblieb und diese auf ein Minimum reduziert werden konnte.
Die Mannschaft wurde allmählich mit den Manipulationen so vollkommen vertraut, daß es eine Freude war, die schwierigen Exerzitien zu beobachten. Welche Einfachheit der Übungen im Vergleich zu den heutigen Manövern, bei welchen alle Neuerungen der modernen Technik zur Anwendung gebracht sind! Über die zahlreichen Feldbefestigungen, die wir ausführten, gehe ich hinweg zu dem Barackenlager, das in Tegel errichtet, vorher aber in einem Exemplar in unserer Fabrik aufgestellt wurde. Gebogene I-Eisen, durch einen Ring zu einer Kuppel vereinigt und mit einem halben Stein ausgewölbt, bildeten hohe, luftige Wohnräume für etwa je 16 [S. 24] Mann; kleinere Baracken waren für Offiziere, Küchen, Latrinen usw. bestimmt. Bei Ausbruch des französischen Krieges hatte das für eine Kompagnie in Tegel bestimmte Lager die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und der damalige Direktor der Charité Esse, Virchow und andere Zelebritäten bestürmten uns, zwei solcher Baracken, für die das Material noch vorhanden war, in dem Königin Augusta-Hospital zu errichten. Acht Damen, darunter meine Frau, übernahmen die Pflege der Verwundeten, deren Lob und Dank sie erwarben. Die hohe Protektorin wünschte mir als Urheber des zeitgemäßen Gedankens und seiner Verwirklichung ihre Anerkennung persönlich auszusprechen, aber die Auszeichnungen, die meine Frau erfuhr, schienen mir eine ausreichende Belohnung für die zur Befriedigung meiner patriotischen Gesinnung bewirkte Leistung.
Als die Kriegserklärung erfolgte, stand das Geschäft plötzlich still, der Gütertransport auf den Bahnen hatte aufgehört, die besten Arbeiter waren zu den Fahnen berufen, Aufträge liefen nicht mehr ein, und niemand wußte, welche Ausdehnung der Zustand nehmen würde. Da erhielten wir die Anfrage, ob wir Minentorpedos anfertigen könnten. Die anderen Berliner Fabriken hatten es abgelehnt, sich auf die Herstellung der völlig neuen und von unseren Fabrikaten gänzlich verschiedenen Konstruktionen einzulassen, und so erhielten wir den großen Auftrag zu den von uns auskömmlich berechneten Preisen. Das Material wurde auf Requisitionsschein herbeigeschafft, und die mit der Fabrikation beschäftigten Beamten, wie ich selbst, von der Dienstpflicht im Heere befreit. In kurzer Zeit waren Werkstätten und Höfe für den neuen Zweck eingerichtet. Verzinkereien angelegt, große Feuer zum Biegen der Bleche gebaut und Drehbänke für Herstellung der Schrauben und Zünder angeschafft. Die ungewohnte Arbeit ging anfänglich schwer vonstatten; es fehlte an guten Holzkohlenblechen, die die unsanfte Behandlung vertrugen, und auch die Dichtung ließ zu wünschen übrig. Allmählich lernten wir und unsere Arbeiter jedoch die Behandlung, und jeder Torpedo wurde anstandslos abgenommen. Als die Konkurrenz sah, wie immer neue Arbeiter von uns eingestellt wurden, die sie aus Mangel an Beschäftigung entlassen mußten, bewarben auch sie sich um diese Aufträge und erhielten sie, da unsere Leistungen erschöpft waren. Aber die höheren Preise, die man ihnen zugebilligt hatte, wurden uns nicht nur für die noch in Ausführung und Bestellung [S. 25] gegebenen, sondern auch für die bereits abgelieferten Torpedos in einem schmeichelhaften Schreiben über unsere Leistungen gewährt.
So beschlossen wir, unsere Fabrikation beträchtlich zu erweitern. Die Kesselschmiede wurde damals in Berlin noch recht primitiv betrieben. Bei Arbeiten aus dünnen Blechen, wie bei Gasbehältern, erhielten wir kaum die Auslagen für Material und Lohn ersetzt, wie wir zuletzt beim Bau in Nauen zu unserem Bedauern erfahren hatten, und nicht viel besser erging es bei Dampfkesseln, Brücken, Dächern, Trägern usw., die nach Gewicht geliefert und verrechnet wurden. Die einzige Hilfe, uns aus dieser üblen Lage zu befreien, war auch in diesem Zweig die Aufnahme von Spezialfabrikaten, denn die Herstellung der Torpedos hatte gezeigt, daß wir billig zu arbeiten in der Lage waren. Da mit feinerem Material auch die Arbeit sich verbessern mußte, nahmen wir den Bau von Stahlkesseln auf, die zwar neue Konstruktionen und Einrichtungen erforderten, aber auch bessere Verkaufspreise erzielten, da wir mit Preisunterbietungen seitens der Konkurrenz nicht mehr zu rechnen brauchten. Auch hier zahlten wir Lehrgeld; denn als ich in den Weihnachtsfeiertagen durch die Kesselschmiede ging und die Arbeiten betrachtete, sah ich, daß an verschiedenen Bördelungen der Feuerröhren infolge mangelhaften Materials Längsrisse entstanden waren. Der Fabrikant der Bleche schob die Schuld von sich auf nicht genügend langsame Abkühlung nach dem Biegen der Flansche, ich vermutete die Ursache in der Unzuverlässigkeit des Materials und überlegte, ob es nicht geraten sei, die weitere Fabrikation solange zu sistieren, bis Erfahrungen aus dem Betriebe vorlägen. Seit länger als 30 Jahren ist der von mir gefertigte Stahlkessel im Betriebe einer Tuchfabrik, und der Besitzer ist seines Lobes voll.
Eine andere von mir eingeführte Fabrikation hat sich seit meiner Zeit zu außerordentlicher Höhe entfaltet: die Verarbeitung von Wellblechen. In der Fabrik für Eisenbahnbedarf von Pflug erbaute ich zwei freitragende Dächer aus Wellblech von erheblicher Spannweite über der großen Schmiede. Interessant ist, daß gerade auf diesem Grundstücke die A. E. G. etwa zehn Jahre später ihre erste Fabrikationsstätte errichtet hat. Indem ich jener Fabrik gedenke, erinnere ich mich, daß nicht nur die ersten Dampfheizungen in den Waggons unter den Sitzen der Reisenden, sondern auch Niederdruck-Wasserheizungen in Wohnhäusern von mir ausgeführt sind: [S. 26] sie bewiesen, daß man ideale Behaglichkeit erreichen kann, wenn man die Kosten der Anlage nicht spart. — Kompressoren wurden gebaut, um Gefäße mit komprimierter Luft zu füllen, mit der die Soldaten in langen Minengängen sich ernährten. Sie trugen die kurzen Röhren über den Tornistern auf dem Rücken und konnten dadurch ihre Arme frei bewegen. Erwähnenswert ist auch die Herstellung einer Dampfturbine . Sie bestand aus zwei miteinander verbundenen Scheiben, die, durch dünne Zwischenlagen voneinander getrennt, den Dampf von der Mitte nach dem Umfang durch Schaufeln ausströmen ließen, die in den Zwischenlagen ausgespart waren. Die Querschnitte der Aktionsturbinen erweiterten sich der Expansion des Dampfes entsprechend nach dem Umfang zu, und dieser strömte durch die hohle Welle in das Rad, das in einem Gebäude rotierte, um den Auspuff in die Atmosphäre zu leiten. Bei der geringen Heizfläche der stehenden Dampfkessel und der wenig ökonomischen Wirkung war es immer nur minutenweise möglich, die Turbine im Leerlauf zu erhalten, und die Versuche wurden aufgegeben. Hätte man die Geschwindigkeit zu steigern, Kondensation anzuwenden und die erzeugte Arbeit auf die noch wenig bekannten Dynamos zu übertragen verstanden, die Fortsetzung der Versuche wäre beim Übergang von Aktions- zu Reaktionsrädern vielleicht von Erfolg gekrönt worden.“
Diese Schilderung zeigt, daß alles von Rathenau damals an Neuerungen Versuchte, zwar im einzelnen ganz schöne Erfolge brachte, aber doch den Rahmen für eine großzügige Erweiterung oder gar für eine grundlegende Umgestaltung des im ganzen primitiven Betriebes nicht abgeben konnte. Über die Grenzen, die der damaligen Maschinen-Industrie in Deutschland noch gesetzt waren, fand sich das Unternehmen nicht hinaus. Es gab in der Maschinenfabrikation jener Zeiten bestimmte Typen, an denen zwar hier und da kleinere oder größere Verbesserungen angebracht wurden, die aber doch im großen und ganzen ziemlich festlagen. Bahnbrechende Erfindungen wurden nicht gemacht, für großzügige Experimente wurde nicht viel Geld ausgegeben. Emil Rathenau, der noch mit einem anderen Ingenieur den ganzen technischen Stab der Maschinenfabrik bildete, saß in jener Zeit fleißig am Reißbrett und betätigte sich, ohne schon eine Spur seiner späteren schöpferischen Kaufmannsbegabung erkennen zu lassen, hauptsächlich als Konstrukteur. [S. 27] Mit dem, was sich mit den Mitteln seiner Fabrik verwirklichen ließ, war er innerlich nicht zufrieden. Damals durchgrübelte er in den freien Stunden, die ihm der nicht überhastete Betrieb ließ, bereits die Möglichkeiten des Maschinenbaus, und Ideen, die später in der Hochdruck-Zentrifugalpumpe und der Dampfturbine ihre Verwirklichung fanden, fühlte und dachte er schon bis an die Schwelle ihrer Konstruierbarkeit problematisch vor. Zum großen Konstrukteur fehlte ihm weder die technische Phantasie noch die intime Kenntnis der maschinellen Praxis, aber wohl das breite Zwischengebiet, das zwischen diesen beiden Exponenten liegt. Er hatte das Gefühl dafür, welche Erfindung nottat, und wußte wohl auch die Richtung ungefähr zu treffen, in der sie zu gewinnen war. Er verstand es auch trefflich, die vielen kleinen und großen Hindernisse zu beseitigen, die auf dem Wege von der prinzipiell gelungenen Konstruktion bis zu ihrem glatten und geschäftlich rationellem Funktionieren in der Praxis wie Steingeröll auf einer schon tracierten, aber noch nicht applanierten Chaussee zu liegen pflegen. Aber die Chaussee zu bauen vermochte er nicht. Dazu fehlte es seinem technischen Sinn an gleichmäßiger Kraft, seiner Arbeit an Freiheit und Selbständigkeit. Darunter scheinen auch seine konstruktiven Versuche in der Maschinenfabrik gelitten zu haben. Gänzlich neue Gebilde vermochte er nicht zu schaffen. Damals bemächtigte sich seiner zeitweilig sogar eine gewisse Resignation hinsichtlich der Entwickelungsfähigkeit des Maschinenbaus überhaupt, und seinem Sozius klagte er in der beginnenden Stimmung des Überdrusses an dem ewigen Kreislauf des kleinen Betriebes, daß die Kolbendampfmaschine in allem Großen und Wesentlichen wohl für alle Zeiten festgelegt sei, und an ihr höchstens mittlere und kleine Verbesserungen noch erreicht werden konnten. Es war schon nach einigen Jahren ersichtlich, daß die Tätigkeit in der Maschinenfabrik dem ruhelos schweifenden Geist Rathenaus, der Entwickelungsfeld, Weite und die Möglichkeit des vollen Schaffens vor sich sehen mußte, keine dauernde Befriedigung zu bieten vermochte. Wäre Emil Rathenau eine Durchschnittsnatur gewesen, ein Mensch, dem es genügt hätte, einen guten und entwickelungsfähigen Wohlstand zu gründen, so würde er in der Chausseestraße zufrieden geblieben sein, mit der Aussicht, es vielleicht allmählich zu einer Position zu bringen, wie sie seine Verwandten Liebermann sich geschaffen hatten. Das Gefühl und der [S. 28] Wert des Erwerbens und Besitzens haben aber Rathenau in seiner Handlungsweise nie geleitet. Gelderwerb war ihm eine Begleiterscheinung der Arbeit und ein äußeres Zeichen für ihren Erfolg. Persönlich bedürfnislos, ohne Sinn für Wohlleben und Luxus, auch in der Zeit des Reichtums noch dem Geld mit kleinbürgerlichen Gefühlen gegenüberstehend, so ist er allezeit geblieben. Nur die Seligkeit des Schaffens war es, die ihn beflügelte und befriedigte. Seinem Werke diente er, weil er in dem Werke und mit ihm wachsen, sich ausleben konnte, nicht weil er durch Geld genießen und Macht üben wollte. Es ist kein Wunder, daß einen so gearteten Menschen nach wenigen Jahren ruhigen Wirkens im gemäßigten Klima Überdruß und Unrast überfielen. Nicht lange vermochte er sie sich und den Seinen zu verbergen. „Lassen Sie mich heraus,“ bat er den Sozius, Valentin. „Behalten Sie mein Geld im Geschäft, ich will keinen Pfennig heraushaben.“ — „Aber warum wollen Sie unser gutes Unternehmen, unsere harmonische Zusammenarbeit im Stich lassen?“ fragte bekümmert der Freund. „Ich finde darin keine Zukunft für mich, ich komme mir auch manchmal unseren Kunden gegenüber wie ein Betrüger vor. Unsere heutigen Maschinen verbrauchen viel mehr Kohlen, als sie dürften. Die Abnehmer rügen es nicht, aber gerade deswegen drückt es mich. Gewiß sind unsere Fabrikate nicht schlechter als die anderer Firmen. Das ganze Niveau ist zu niedrig. Es müßte gehoben werden, aber in einer Fabrik wie unserer, mit unseren Mitteln muß ich daran verzweifeln, es heben zu können.“ So sprach Rathenau, zuerst aus vorübergehenden Stimmungen heraus, die Valentin zurückzudrängen versuchte. „Ich will Ihre Stimmungen und Verstimmungen nicht benutzen, um mich zu bereichern. Wenn Sie aus der Firma herausgehen, bleibe auch ich nicht. Dann liquidieren wir eben oder verkaufen die Fabrik gemeinsam.“ Der Gedanke, den Sozius und Freund der ihm lieb gewordenen Unternehmung zu entziehen, hielt Rathenau dann wieder eine Zeitlang von seinem Vorhaben zurück. Aber die Stimmungen wurden immer düsterer, die Klagen immer dringlicher. „Es ist die typische Veränderungssucht der Rathenaus, ihr Mangel an Sitzfleisch,“ so urteilte vielleicht die Familie über die Nöte des schwer ringenden Mannes. Wer mochte ihn damals verstanden haben? — Nach dem Kriege von 1870/71 schien ein Ausweg zu winken. Ein großer Auftrag der Militärverwaltung auf Umarbeitung von 800000 Gewehren [S. 29] sollte vergeben werden. Rathenau gibt von dem Vorgang folgende Schilderung:
„Während der Torpedoauftrag zu Ende ging, erfuhr ich, daß man in den Spandauer Gewehrfabriken sich mit Umänderung der Visiere auf den eroberten Chassepotgewehren herumquälte und gern Offerten der Privatindustrie entgegennehmen würde. Ich begab mich unverweilt in das Bureau des Dezernenten und führte aus, daß die Umänderungen mit den hier üblichen Mitteln kostspielig und zeitraubend seien, daß ich mit modernen amerikanischen Millingmaschinen die Arbeit, deren Selbstkosten in Spandau ich auf fünf Taler schätzte, für ebensoviel Mark liefern würde. Der alte General hielt mich zuerst für einen Hochstapler oder Wahnsinnigen, wie ich aus seinen Fragen und Mienen sah, im weiteren Verlauf der Unterhaltung gewann er indessen die Überzeugung, daß meine Offerte Ernst sei, als ich als Garantie für die Erfüllung meiner Verpflichtungen eine imposante Summe (300000 Taler) bei einer ersten hiesigen Bank zu hinterlegen mich erbot. Obwohl ich keine Zusage erhielt, daß der Auftrag an uns zur Vergebung gelangen würde, veranlaßte ich einen Freund, der die Fabrikation der oben bezeichneten Maschinen durch seine Tätigkeit in Amerika genau kennen gelernt hatte, schleunigst nach den Vereinigten Staaten abzureisen und sich zu vergewissern, in welcher kürzesten Zeit der ausgedehnte Maschinenpark zu beschaffen sei. Ein Probevisier hatte er mitgenommen, und bald erhielt ich ein Kabeltelegramm, daß ein großer Teil der Werkzeuge und Maschinen in vier Monaten, der Rest in gewissen, näher bezeichneten Perioden zur Verladung gelangen würde. Mit diesem Telegramm begab ich mich nach der Zimmerstraße in das Bureau des Dezernenten, der fast sprachlos war, als ich auf seine Fragen die Absendung meines Delegierten kurz und bündig schilderte. Er hätte mir weder einen Auftrag erteilt, noch in sichere Aussicht gestellt, meine Handlungsweise sei nicht zu rechtfertigen; als ich ihm entgegenhielt, daß die Arbeit in kürzester Zeit vollendet werden müsse, daß weder die Königlichen Fabriken noch ein Dritter hierzu in der Lage seien, daß mit den alten Werkzeugmaschinen präzise Arbeit nicht hergestellt werden könne und meine Mittel mir gestatteten, für die Möglichkeit, eine große Bestellung zu erlangen, eine Summe zu opfern, beruhigte sich der alte Herr und entließ mich mit dem Versprechen, die Offerte wohlwollend zu prüfen. Als [S. 30] wir am Weihnachtsheiligabend desselben Jahres unsere Kinder unter dem Baum zu bescheren gerade im Begriff waren, meldete sich der Adjutant des Generals mit dem Auftrage, uns zu befragen, ob wir den geforderten Preis für Änderung von 800000 Visieren um 50 Pfg. das Stück zu reduzieren geneigt seien; in diesem Falle würde der Auftrag uns, sonst aber der inzwischen aufgetauchten Konkurrenz erteilt werden. Ohne lange Überlegung lehnten wir den Vorschlag ab, nicht weil wir an einen ernsten Wettbewerb glaubten, sondern weil nach Lage der Dinge diese Behandlung uns nicht fair erschien. Der Konkurrent ging, wie vorauszusehen war, bei der Arbeit zugrunde, denn er hatte weder die Mittel, die neuen Arbeitsmethoden einzuführen, noch kannte er diese. Sein Untergang war die Erweckung der Nähmaschinenfabrik von Ludwig Loewe & Co. , die bis dahin Erfolge nicht aufzuweisen gehabt hatte. Nach meinen Kalkulationen sind an diesem Auftrage mehrere Millionen verdient worden, aber wichtiger als der einmalige Gewinn war die hierdurch herbeigeführte Annäherung an die Firma Pratt, Whitney & Co. in Hartford, Conn., deren Maschinen- und Werkzeugbau Loewe an Stelle der unlohnenden Nähmaschinen aufnahm und hiermit das Verdienst erwarb, den amerikanischen Machine tools eine würdige Stätte in unserem Vaterlande zu bereiten.“
Das Fehlschlagen dieses Geschäfts bedeutete aber für die Maschinenfabrik Rathenaus nicht nur einen entgangenen Gewinn und eine entgangene Entwicklungsmöglichkeit, sondern brachte auch einen — wenn auch nicht allzu schweren — Geldverlust mit sich. Im Vertrauen auf das erwartete Geschäft, an dessen Zustandekommen die Sozien nicht zweifelten, hatten sie zur Aufbringung der erforderlichen beträchtlichen Kapitalien einen stillen Teilhaber aufgenommen oder doch mit ihm einen Vertrag abgeschlossen, nach dem er einen Betrag von 600000 Mark einbringen sollte. Nachdem das Geschäft sich zerschlagen hatte, mußte dieser Vertrag gelöst werden, wobei dem Kapitalisten eine Abstandssumme von 20000 Mark zu zahlen war. Die Frage, ob Rathenau dem Unternehmen treu geblieben sein würde, wenn es durch den großen Auftrag der Militärverwaltung auf eine verbreiterte, und vielleicht wesentlich veränderte Grundlage gestellt worden wäre, ist schwer zu beantworten. Auch auf dem Gebiet der Waffen- und Werkzeugmaschinen-Industrie waren große Entwickelungsmöglichkeiten vorhanden, wie ja der [S. 31] Werdegang der Löweschen Fabrik zeigte, die später einen ganzen Kranz gewaltiger Unternehmungen der Waffen- und Munitionsindustrie, ihrer Hilfs- und Nebengewerbe und der Werkzeugmaschinenfabrikation um sich gruppiert hat. Hinter dem großartigen und vielgestaltigen Sonnensystem der A. E. G. mit seinen Ausstrahlungen nach allen Seiten und Himmelsrichtungen bleibt die beschränkte Spezialfabrikation des „Waffenkonzerns“ aber nicht nur an Umfang, sondern auch an Fülle der Formen und Gestaltungen, an Möglichkeiten zur Betätigung des kaufmännischen Ingeniums und des industriellen Schaffenswillens so weit zurück, daß sie fast einförmig erscheint. Ob einen Emil Rathenau, dem der Formenreichtum und die gewaltigen Maße der A. E. G. kaum genügten, dessen Phantasie den Wundern der Elektrizität himmelhoch nachfliegen durfte, die nüchterne Klein- und Präzisionskunst der Waffenindustrie und der Drehbänke dauernd gefesselt hätte, will mir nicht sonderlich glaubhaft erscheinen. Für die Entwickelung der deutschen Industrie ist es jedenfalls gut gewesen, daß Emil Rathenau als 33jähriger eine Enttäuschung bei einem kleineren Werke erlebte, um für größere Aufgaben freizubleiben, zu denen er erst als Reiferer mit 43 Jahren gelangen sollte.
Den Jahren der gewerblichen Beschäftigungslosigkeit und der Kriegsdepression, in denen Rathenau und Valentin, um ihrer Fabrik überhaupt eine größere Arbeit zuzuführen, dem ihnen an sich fremden Auftrag aus dem Gebiet der Waffenindustrie nachgegangen waren, folgte bald die Gründerperiode mit ihrem Überschwung, ihren stürmischen Hoffnungen und schweren Enttäuschungen. An alledem sollte auch die Webers’sche Maschinenfabrik Anteil haben. Die Inhaber entschlossen sich, da die Räume in der Chausseestraße eine Vergrößerung, wie sie diese planten, nicht zuließen, eine neue Fabrik nach modernen Grundsätzen auf billigem Gelände in der Nähe der Stadt zu errichten. Sie erwarben einen geeigneten Komplex von großer Ausdehnung in Martinikenfelde für 70000 Taler. Der Plan war großzügig angelegt. An den beiden gegenüberliegenden Straßenfronten lagen nach Martinikenfelde zu die mächtige Eisengießerei, an der Huttenstraße die ihr an Größe entsprechende Modellierwerkstatt und Dreherei und zwischen ihnen auf der westlichen Seite Schmiede und Kesselschmiede. Im Mittelpunkte befand sich die zentrale Dampferzeugungsstation, die alle Maschinen des [S. 32] ausgedehnten Werkes durch wohl isolierte Röhren mit Dampf versorgte. Die Kondensation erfolgte durch Ejekteure, deren Bau die Firma neuerdings aufgenommen hatte, auch nur ein Schornstein war auf dem Werke vorhanden.
„Die Gießerei bestand aus einem Längsschiff von ca. 20 Meter Spannweite und einer beträchtlichen Höhe und Länge. Sie war mit großen Kupolöfen, schweren Lauf- und Drehkranen, tiefen Dammgruben und allen Vorrichtungen einer modernen Gießhalle ausgerüstet, um die schwersten Stücke in Sand, Masse und Lehm zu gießen. An ihren Enden schlossen sich zweistöckige Gebäudeflügel an; der eine diente als Modelltischlerei und Modellboden, der andere für Kleinguß, der mit Maschinen geformt wurde. — Die Montagehalle war in Form und Größe der Gießerei ähnlich, die sich ihr anschließende Dreherei mit kräftigen Werkzeugen reichlich versehen. Auch in den anderen Werkstätten ließen die Einrichtungen nichts zu wünschen übrig.“
Rathenau faßte später sein Urteil über die Anlage in die Worte zusammen: „Es war eine Fabrik aus einem Guß, wie sie Berlin nicht besaß.“ Schon während des Baues waren in der Gründerzeit Offerten von Großbanken zur Umwandlung des Unternehmens in eine Aktien-Gesellschaft immer wieder ihren Inhabern gemacht worden. Rathenau hatte sie zuerst standhaft zurückgewiesen, ja er hatte sogar ein großes Kapital unter nicht leichten Bedingungen von privater Seite beschafft, um den Klauen des Geldmarktes zu entschlüpfen, dem er eine unüberwindliche Abneigung entgegenbrachte und trotzdem, so bekannte er später resigniert, „entging ich meinem Schicksal nicht.“
„Ein befreundetes Bankhaus hatte mit einer ersten Bank sich verbunden und meinen Sozius zum Verkauf überredet. Trotz der ungewöhnlichen Bedingungen, die ich in der Erwartung stellte, daß sie die Käufer abschrecken würden, gingen sie zu meinem Bedauern auf diese ein und verwandelten das gutrentierende Unternehmen in eine Aktiengesellschaft. Ich übernahm keine Aktie, erhielt vielmehr den gesamten Kaufpreis in bar ausgezahlt, die Leitung der Geschäfte mußten wir trotz allem Widerwillen für einige Zeit übernehmen, da eine geeignete Direktion nicht sogleich sich finden ließ und die zweckmäßige Umwertung der Bestände von nicht zu unterschätzendem Wert war. Die Geschäfte gingen zunächst glänzend, als aber der [S. 33] Krach von 1873 hereinbrach und das große und sehr geschätzte Bankinstitut, das die Gründung durchgeführt hatte, von diesem am stärksten betroffen wurde, erlitten wir zwar keine Einbuße an dem vorhandenen Betriebskapital, aber die Obligationen, die für den Bau der neuen Fabrik uns zugesichert waren, konnten nicht zur Ausgabe gelangen, und Hypotheken waren nicht zu beschaffen. Mein Entschluß war sofort gefaßt: Nachdem die Fabrikbauten schleunigst vollendet und alle Gläubiger befriedigt waren, legten wir unsere Stellungen nieder und überließen das weitere Geschick der Gesellschaft, die später liquidierte. Den fast täglich an mich herantretenden, zuweilen sehr verlockend erscheinenden Anerbietungen, das glänzende Unternehmen zurückzuerwerben, entzog ich mich durch eine lange Reise. Gewiß wäre es ein gutes Geschäft gewesen, die beiden Werke billig zu kaufen und den früheren Betrieb mit vergrößerten Mitteln aufzunehmen, aber dieses Ansinnen widerstrebte mir. Geradezu verfolgt hat mich mit seinen Anträgen der reiche Verwandte eines Großindustriellen der Branche, der Kriegsmaterial in Martinikenfelde fabrizieren wollte, große Aufträge der Regierung hinter sich hatte und über sehr erhebliche pekuniäre Mittel verfügte. Der Kauf kam ohne meine Mitwirkung zustande, die schöne Fabrik wurde umgestaltet, und ihr Besitzer stellte die Zahlungen ein, nachdem er das große Vermögen der Erzeugung von Stahl geopfert hatte. Aus dem Konkurs erwarben die Waffen- und Munitionsfabriken dieses Werk und gestalteten es für ihre Zwecke um.“
Das Bankinstitut, das an der Finanzierung sich beteiligte, war die Preußische Boden-Kredit-Aktienbank, deren Direktor Schweder Aufsichtsrat-Vorsitzender bei der „Berliner Union“ — so hieß die neue Aktiengesellschaft — geworden war. Er hatte Rathenau und Valentin sogar größere Geldmittel als sie beanspruchten, förmlich aufgedrängt, indem er in den Aufsichtsratssitzungen darlegte, daß es auf 300000 Mark mehr oder weniger bei einer solchen Gründung nicht ankomme. Infolgedessen war das finanzielle sowohl wie das betriebliche Gewand des neuen Unternehmens den Gewohnheiten jener Zeit entsprechend sehr reichlich bemessen worden. Man hatte neue Fabrikationszweige aufgenommen und wenn auch alles organisch gut gegliedert und nach dem Rathenauschen Urteil „wie aus einem Guß“ hingestellt war, so setzte es doch die pünktliche und regelmäßige Zuführung immer neuer Geldmittel voraus. Als nun die [S. 34] Krise hereinbrach, stockte der Kapitalzufluß plötzlich, die bereits gedruckten Schuldverschreibungen konnten nicht mehr emittiert werden und zu allem Überfluß brach Schweder, eine der verwegensten Spekulantennaturen jener Periode, finanziell zusammen und wurde seines Direktorpostens bei der von ihm geleiteten Bank enthoben. Als daraufhin die Direktoren der „Berliner Union“ bei dieser Bank vorstellig wurden und um die Hergabe der ihnen zugesagten Mittel ersuchten, wurde ihnen ein kühl ablehnender Bescheid. Die Bank habe sich zu nichts verpflichtet, sie könne und wolle als Hypothekenbank überhaupt derartige industrielle Geschäfte nicht mehr machen und die Herren möchten sich an Schweder halten. Mit diesem Bescheid mußten sich Rathenau und Valentin zufrieden geben. Es blieb nichts anderes übrig als die Liquidation der Gesellschaft, bei der die Gläubiger nichts verloren, die Aktionäre allerdings nur sehr wenig retteten. Mit geschmälertem aber immerhin noch ansehnlichem Besitz — jeder der beiden Teilhaber verfügte damals aus dem Verkauf der Aktien über ein Vermögen von etwa 900000 M. — ging Rathenau nach 10jähriger Tätigkeit aus seinem ersten Unternehmen heraus. Aber er behielt doch als nie vergessene Lehre aus der ganzen Angelegenheit die später für seine großen Transaktionen sehr nützliche und heilsame Abneigung gegen Geschäfte zurück, für die er vorher das Geld nicht bar im Kasten hatte. Ihm, dem sich gewisse persönliche Erfahrungen hartnäckig bis zur Grenze der Zwangsvorstellung einprägten, hatte sich für allezeit ein Mißtrauen gegen Banken und Bankiers eingegraben, von denen er, wenn es irgend ging, bei seinen Geschäften nicht abhängig sein wollte. Hier liegt die erste tiefe Wurzel für seine Bankguthabenpolitik in der A. E. G.-Zeit, die wir später noch kennen lernen werden. Auch eine unüberwindbare Antipathie gegen Effektenspekulationen jeder Art hatten die Erlebnisse und Erfahrungen der Gründerjahre in ihn gelegt. Der Zusammenbruch Schweders, die Liquidation der „Berliner Union“, und das tragische Schicksal seines Schwiegervaters Nachmann, der nach schweren Börsenverlusten aus dem Leben schied, waren die Fälle, die sich von dem gleichgestimmten Hintergrund der allgemeinen Zeitverhältnisse für ihn besonders scharf abhoben und ihn persönlich tief berührten. Sein Unterbewußtsein hat diese Eindrücke nie vergessen.
Emil Rathenau war in einer ungünstigen Zeit frei geworden. Wir haben bereits gesehen, daß die Krisis, die der Gründerzeit folgte, mit in die letzten Phasen seiner ersten Unternehmung hineingespielt hatte. Wenngleich seine Trennung von der Maschinenfabrik zweifellos früher oder später auch ohnedies erfolgt wäre, so ist sie doch durch den mißglückten Aufschwung und den darauf folgenden Zusammenbruch, mit denen die Rathenau-Valentinsche Fabrik der Zeitentwicklung Rechnung trug, beschleunigt worden. Inzwischen war die Krisis hereingebrochen, und für einen halbverkrachten Unternehmer, als der Rathenau damals in den Augen der Öffentlichkeit erscheinen mußte, war es nicht leicht, etwas Neues und Besseres zu finden, das ihm voll zusagte. Vom Standpunkt der damals nächstliegenden Situation aus beurteilt war das vielleicht ein „Pech“, vom Standpunkte der langsichtigen Entwickelung aber ein Glück für den innerlich noch nicht Ausgereiften. Hätte er seine erste Fabrik vor oder in den Gründerjahren aufgegeben, so würde die hochflutende Welle der Konjunktur ihn vielleicht schnell wieder an irgend einen anderen Strand geführt haben. Von dem hochgestimmten, der Selbstkritik und der Kritik der Dinge abholden Schwunge der Zeit getragen, würde er vielleicht — wie so viele andere auch — Arbeit und Kredit in einer Sache engagiert haben, der es an solider Grundlage und dauernder Lebensfähigkeit fehlte. Selbst eine in der Anlage gute Sache hätte von der Sturmflut der wenig später hereinbrechenden Krisis untergraben und fortgespült werden können. Ein zweites Mißlingen hätte ihm aber innerlich und äußerlich zweifellos [S. 36] noch schwerer geschadet, hätte sein Selbstvertrauen und das Vertrauen, das andere ihm entgegenbrachten, völlig erschüttern können. So war es wohl für ihn am besten, daß er, der innerlich noch nicht fertig geworden, der noch nicht im Feuer des doppelten Kampfes mit sich selbst und mit der Außenwelt dreimal gehärtet war, nach der Aufgabe seiner ersten Selbständigkeit in eine Zeit geriet, die aus Erfahrung kritisch geworden war, die ein berechtigtes Mißtrauen vor neuen Gründungen und Unternehmungen hatte. Im Jahre 1875 war die Auflösung der „Berliner Union“ vollendet, und nun tat der siebenunddreißigjährige Rentier, der seinen wahren Beruf noch nicht gefunden hatte, eigentlich 8 Jahre, — sonst die produktivsten Jahre des Manneslebens — nichts Bestimmtes, wenn man eben für das unablässige Suchen und das leidenschaftliche Lernen eines reifenden Charakters den Ausdruck „nichts Bestimmtes tun“ gebrauchen will. Die Familie, besonders die weitere, die Reichenheims und Liebermanns, die etwas hinter sich gebracht hatten, deren gefestigter Wohlstand sich von dem Aufschwung der Gründerzeit vornehm zurückgehalten hatte, aber auch von den Folgen des Zusammenbruches verschont geblieben war, gebrauchte wahrscheinlich solche Ausdrücke, und vielleicht — wenn sie unter sich war — noch weniger respektvolle. Für sie war Emil Rathenau der kleine Verwandte, der Fiasko erlitten hatte, der sich mit einer Menge von nicht ernstzunehmenden Projekten herumtrug und herumschlug, dem man darum auch keine rechte Zukunft zutraute. Emil Rathenau schwankte und irrlichtellierte in dieser Zeit tatsächlich ziemlich viel hin und her. Er faßte Pläne, ließ sie wieder fallen, erwärmte sich anfänglich für irgend einen ihm von den Brüdern oder Fremden zugetragenen Vorschlag, und lehnte — manchmal im letzten Augenblick — wenn der andere sich schon darauf eingerichtet hatte, aus irgend einem eigensinnigen oder nebensächlichen Vorwande ab. Sein älterer Bruder zum Beispiel, der eine glückliche Hand bei dem Kaufe und Wiederverkauf von Häusern zeigte, hatte ihn einmal zur Teilnahme an einem derartigen Geschäft, das Rathenau von ferne zunächst einen plausiblen Eindruck zu machen schien, aufgefordert. Man war übereingekommen, 80000 Taler für das Objekt anzulegen, der Bruder hatte das Grundstück aber nur zu einem höheren Preise bekommen können und Emil, dem das ganze seinem Charakter fernliegende Geschäft inzwischen leid geworden war, benutzte den Vorwand des überschrittenen Prei [S. 37] ses, um sich von der Sache loszusagen. „Behalte du das Haus lieber alleine,“ sagte er zu dem Bruder, der ihm den Kaufabschluß melden kam. Ein anderes Mal, als es sich um den von Rathenau eine Zeitlang erwogenen Ankauf der sogenannten Jablochkoff-Patente für elektrische Bogenlampen-Beleuchtung handelte, die in der Avenue de l’opéra in Paris mit vielem Reklame-Tam-Tam als erste elektrische Straßenbeleuchtung größeren Umfangs angewendet worden war, erwog er mit demselben Bruder den Plan, daß jeder zum gemeinsamen Ankauf jener Patente für Deutschland einen Teil des erforderlichen Geldes beschaffen sollte. Auch hier kam es aber nicht zum Kaufabschluß, und die Verstimmungen, die sich aus diesen gescheiterten Unternehmungen ergaben, waren so stark, daß eine Aussöhnung zwischen den beiden Brüdern nie mehr erfolgte.
Für die Menschen, die ihn damals sahen und kannten, soll Emil Rathenau, wie manch’ einer von den Zeitgenossen berichtet, keineswegs den Eindruck eines überragend genialen Mannes gemacht haben, dessen Stunde noch nicht gekommen ist, und der im vollen Bewußtsein seiner Kraft den richtigen Augenblick für sein Hervortreten abwartet. Er trug noch immer den Marschallstab im Tornister, aber der Durchschnittsmensch sah es ihm nicht an, und er hatte, wo und wann er auch immer mit Plänen an jemanden herantrat, Mißtrauen oder die noch schlimmere Gleichgültigkeit, kurz alle jene Hemmungen zu überwinden, die dem Anfänger, erst recht aber dem, der zum zweiten Mal anfangen will, im Wege stehen. Nur wer selbst mit Genieaugen Menschen und Dingen durch die äußere Schale auf den Grund blickte, wie Werner v. Siemens, spürte aus Rathenaus Reden und Entwürfen den göttlichen Funken überspringen. „Dem Mann geben wir Geld,“ sagte er, und machte sein Versprechen trotz skeptischer Einwände und passiver Resistenz seiner Mitarbeiter schließlich wahr. Für die meisten übrigen Menschen aber mochte Rathenau, der stets bereitwillig die Lippen von dem überfließen ließ, wessen sein Herz voll war, in jener Zeit manche Züge von Hjalmar Ekdal, dem ewigen Genie von morgen, an sich gehabt haben. Eine gewisse leidenschaftliche Beflissenheit und Verbissenheit konnten dem werdenden Genius eigen sein, aber dieselben Eigenschaften weist auch häufig die problematische Natur auf. Auch für Rathenau selbst war die Wartezeit zwischen der ersten provisorischen Unternehmung, die im Niedergang einer alten, überlebten [S. 38] Epoche zerbröckelte, und der zweiten endgültigen Schöpfung, die im Aufstieg einer neuen Zeit sich zu weltenweiten Formen auswuchs, keineswegs immer die bewußt gewählte, in jedem Augenblick gut ausgefüllte Ruhe- und Lernpause, als die sie in den Rückblicken des Vollendeten erscheint. Gar manchmal, wenn der Akkumulator des phantasiebegabten Kopfes zu viel von der aufgespeicherten Gedankenkraft von sich gegeben und sich erschöpft hatte, kamen Stunden und Tage der Verzagtheit, der Trübsal, in denen der beschäftigungslose Vierziger sich in seine Wohnung in der Eichhornstraße mit grauen Gedanken einspann. Aber solche Zeiten wurden von der ihm eigenen Schwungkraft des Wesens bald überwunden, und im Notfalle half die Ablenkung und Abwechselung einer Reise, wie denn Emil Rathenau Zeit seines Lebens vom Reisetrieb beseelt war und auch in den späteren Jahren der Arbeitsüberlastung aus geschäftlichen und privaten Reisen — mochten sie auch noch so kurz sein — immer wieder Frische und Nervenergänzung mit heim brachte. Wenn somit den in der Vollkraft der Jahre stehenden Mann die Tatenlosigkeit manchmal drückte, so zeigt doch seine ganze spätere Entwickelung, besonders die Art, wie er im richtigen Augenblick mit genialer Intuition und unbeirrbarer Entschlossenheit zugriff und alle Zweifelsucht von sich abstreifte, daß nicht er es gewesen war, der in jener Warteperiode an Ziellosigkeit, an Stagnation krankte, sondern die Zeit . Jene Zeit, in der die Triebkräfte der alten Wirtschaftsordnung abgestorben waren und die der neuen Epoche nach dem ersten überschwänglichen Aufflackern in der Gründerperiode noch nicht so recht Wurzelboden gefunden hatten. Rathenau wartete — innerlich betrachtet — nicht aus Unentschlossenheit, sondern aus Prinzip, und, wenn seine oberflächlichen Einsichten auch manchmal vielleicht ihn selbst der hamletischen Charakterschwäche anklagen mochten, die instinktiven, tieferen Einsichten waren stark genug, um sich dieser Selbstkritik und der Kritik der Außenwelt gegenüber durchsetzen zu können. Es waren nicht Jahre der inneren Klarheit, der bewußten Selbstzügelung und überlegenen Voraussicht, die Emil Rathenau damals durchmachte, sondern Jahre des inneren Kämpfens und Ringens . Mit dieser Feststellung setzt man die Größe des Mannes und seines Charakters nicht herab, dessen Bild weder menschlich-richtig, noch glaubhaft erscheinen würde, wenn man ihm nur geniale Frühzüge andichten [S. 39] wollte. Zu seiner vollen Entfaltung ist Rathenau, wie so viele seiner Zeitgenossen, erst dadurch gelangt, daß die Zeit sein Werk und sein Werk ihn zu einer Höhe trug, die er unter weniger glücklichen Bedingungen kaum erreicht hätte. Was er vorher darstellte, war ein Charakterboden, auf dem alle die reichen Saaten der Zeit Wurzel fassen und in reicher Blüte aufgehen konnten.
Der Fehler mancher früheren Biographen, den jungen Rathenau zu bewußt, zu klar und gewissermaßen zu seherisch-weise darzustellen, ist vom Standpunkt des nachgeborenen Betrachters verständlich und er ähnelt der Art der dichterischen oder zweckhistorischen Schilderung, die ihrem Helden bereits pränumerando Gedankengänge und Ereignisdarstellungen prophetisch in den Mund legt, welche erst viel später als Ergebnis von Notwendigkeiten, Zufällen, sich kreuzenden Entwickelungsrichtungen in Kampf und Wirrnis verwirklicht wurden. So wird von oberflächlichen Schilderern vielfach die Geschichte der Reichsgründung in der Weise gelehrt, als ob Bismarck bereits, als er die preußische Ministerpräsidentschaft übernahm, die genauen Pläne für den Aufbau des Reiches und die Politik, die zu ihm führte, fertig in seinem Kopfe getragen hätte, als ob Moltke, da er Chef des preußischen Generalstabs wurde, seine drei großen Kriege und ihren genauen Hergang bereits in ihren „notwendigen“ Grundzügen vor Augen gehabt hätte. Wer bewußt Geschichte miterlebt hat, weiß, wie ganz anders die Dinge sich zu entwickeln pflegen, wie auf dem großen Schachbrett der Geschehnisse Zug und Gegenzug abwechseln, wieviel verschiedene Züge in einem bestimmten Augenblick möglich sind, und wieviel Zufälligkeiten, Gegenströmungen und Wechselwirkungen einen Entschluß zeitigen und seine Folgen bilden. Die Rathenauschilderer, die in seinem Leben alles auf Gesetzmäßigkeit, auf Notwendigkeit und Vorherbestimmung zurückführen, die der Ansicht sind, daß dem 37jährigen, als er seine Maschinenfabrik Webers aufgab und sich zur ersten Ausreise nach Amerika anschickte, seine ganze spätere Entwickelung und die ganze spätere Entwickelung der Industrie wenigstens in ihren Umrissen klar vor Augen gestanden haben, können allerdings eines zu ihrer Entschuldigung anführen: Rathenau selbst hat in der schon verschiedentlich erwähnten Jubiläumsrede die Gedankenwelt, die ihn damals an der Wende zweier Generationen und wirtschaftlicher Epochen erfüllte, so dargestellt, als ob er nicht [S. 40] erst als rückschauend Betrachtender, sondern schon als Miterlebender Vergangenheit und Zukunft mit voller Klarheit erkannt und durchschaut hätte. Die betreffenden Ausführungen sind interessant genug, um hier wörtlich wiederholt zu werden. Rathenau erzählte:
„Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ich die erste Phase geschäftlicher Tätigkeit abgeschlossen hatte, erwog ich, ein Dreißiger damals, ob ich den mit Leib und Seele zugetanen Beruf wieder aufnehmen oder einer neuen Technik mich zuwenden sollte. An Anerbietungen fehlte es nicht, aber der Großmaschinenbau schien seine Bedeutung in Berlin eingebüßt zu haben, und die Geburtsstadt mochte ich ungern verlassen.
Mit der Erhebung zur Reichshauptstadt hatten die Berliner Verhältnisse sich wesentlich geändert: Der Wert von Grund und Boden, die Preise der Lebensbedürfnisse und infolgedessen die Arbeitslöhne waren so gewaltig gestiegen, daß die großen Maschinenbauanstalten von Borsig, Egells, Schwartzkopf, Wöhlert, Hoppe und andere sich anschickten, ihre Fabriken aus dem Norden der Stadt, wo sie seit Begründung betrieben wurden, in die weitere Umgebung zu verlegen, oder das Feld früher ersprießlicher Tätigkeit aufzugeben. Auf den weitläufigen Geländen entstanden neue Straßenzüge, an der Stelle lärmender Werkstätten erhoben sich Wohnhäuser und Mietskasernen, und wo aus hohen Schornsteinen dichter Qualm zu den Wolken emporgestiegen war, wirbelten dünne Rauchsäulen von den häuslichen Herden. In den Vororten aber waren bei dem Mangel an Verkehrsgelegenheit geschulte Arbeitskräfte mit Schwierigkeit zu beschaffen. Ein noch wichtigerer Faktor beeinflußte meinen Entschluß, von der unmittelbaren Aufnahme einer neuen Tätigkeit abzustehen und den völligen Verlauf der Krisis abzuwarten, die in der Finanzwelt und Industrie unzählige Opfer gefordert hatte: Patriotische Fabrikherren, die trotz eigener Sorgen in der schweren Zeit die Angehörigen ihrer im Felde stehenden Arbeiter mit reichen Mitteln unterstützt hatten, ernteten hierfür keinen Dank, sondern mußten nach dem Kriege mit Bedauern wahrnehmen, daß die Wogen der sozialdemokratischen Bewegung sich höher auftürmten als zuvor. Männer, wie Siemens, Schwartzkopf, — auch ich hatte die Ehre, der kleinen Vereinigung anzugehören, — hofften vergeblich durch Wohlfahrtseinrichtungen und den Bau von Wohnhäusern die Unzufriedenheit der Arbeiter einzudämmen.
Unter diesen Verhältnissen war eine Wiederbelebung des einst hochgefeierten Berliner Maschinenbaus frühestens mit dem Ersatz der physischen Arbeit durch selbsttätig wirkende Maschinen oder bei vollkommener Ausnutzung der der Berliner Arbeiterschaft eigenen Geschicklichkeit und Intelligenz zu erwarten. Unter ähnlichen Bedingungen waren vollendete Arbeitsmethoden in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika entstanden, allerdings unter Befolgung des Prinzips, das Zahl und Wahl der Produkte durch Teilung der Arbeit beschränkte. Leider steht in den heimischen Werken die weitgehende Spezialisierung der Erzeugnisse auch jetzt noch hinter der amerikanischen zurück, trotzdem die Fabrikation aus ihr große Vorteile ziehen würde.
Dieses amerikanische System war in Berlin nicht unbekannt. Intelligente Fabrikanten hatten mehr oder weniger automatisch arbeitende Maschinen von Amerika eingeführt, konnten ihnen jedoch in ihren Betrieben genügende Geltung nicht verschaffen, weil entweder die Präzision der Leistung damals noch nicht hoch genug eingeschätzt, oder die Rückkehr zu altmodischen Werkzeugen durch die Gewohnheit zu sehr begünstigt wurde.
Im Gegensatz zu diesen Erfahrungen erblickte ich in den Maschinen Werkzeuge der Zukunft; ich war überzeugt, daß ihre vortrefflichen Eigenschaften die Abneigung der Arbeiter allmählich überwinden und eine ihrer Bedeutung entsprechende Verwendung sichern würden.“
Zweifellos hat Rathenau damals wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das sichere Gefühl gehabt, daß eine gründliche Umwandlung der ganzen industriellen Technik und Arbeitsmethoden bevorstehe. Und zweifellos hat ihn dies Gefühl mit dazu veranlaßt, mit der vollkräftigen Gründung eines neuen Unternehmens erst dann zu beginnen, wenn sich die neue Lage einigermaßen übersehen lasse, wenn sich der neue Boden derart gefestigt haben würde, daß auf ihm ein tragfähiger Bau errichtet werden könnte. Was aber die Einzelheiten der von ihm gegebenen Schilderung, was ihre scharfe Präzisierung und Schattierung anlangt, so darf nicht vergessen werden, daß es sich bei ihr nicht um eine impulsive Beschreibung aus der geschilderten Zeit heraus, sondern um eine rückschauende Darstellung [S. 42] handelt, gesehen mit der Brille des durch Erfahrungen hindurchgegangenen Mannes, geklärt im Spiegel der Distanz, geordnet und gerichtet nach den Ergebnissen der Strömungen, die in ihren Ursprüngen und Anfängen geschildert werden. Vergleicht man mit dieser bewußten Darstellung die Zeugnisse Mitlebender, so möchte man der Ansicht zuneigen, daß in Emil Rathenau damals, als er an der Wende zweier Zeiten und Unternehmungen stand, bei aller Denk- und Sehschärfe, die ihn stets ausgezeichnet haben, doch mehr Chaos gewesen ist, als er später selbst zugegeben und gewußt hat. Das Vorhandensein eines derartigen kreisenden Chaos würde ja auch die ungemeine Ursprünglichkeit, Kraft und Ausdauer seiner späteren Leistung nicht abschwächen, sondern erst recht verständlich machen. Jede völlig durchsichtige Klarheit wird auf die Dauer kraftlos, matt und unschöpferisch, und nur das Ringen der wechselnden Gedanken vermag fortzeugendes Leben, Formen und Gestalten zu gebären. Für Emil Rathenau bildeten die 8 Jahre, die zwischen der Aufgabe seiner Maschinenfabrik und der Gründung der Deutschen Edison Gesellschaft lagen, das Staubecken, in das die neuen Kräfte von allen Seiten strömten, in dem sich — oft unter Schmerzen, unter drängender Hoffnungs- und Zweifelsfülle — aus der Tüchtigkeit das Genie bildete. Fast spürt man angesichts dieser Pause Neigung an Zarathustra zu denken, dem der Dichter an die Stirn seiner Geistesgeschichte die Worte schrieb: „Als Zarathustra 30 Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging ins Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde 10 Jahre nicht müde. Endlich aber wandelte sich sein Herz —“. Auch Zarathustra trug keine Klarheit in seine Einsiedelei, sondern er brachte erst Klarheit und Entschiedenheit aus ihr mit zurück. Der moderne Zarathustra der Industrie mußte allerdings nicht in die Einsamkeit, sondern in die Welt gehen, um sich mit dem Geiste anzufüllen, den er später in Taten umsetzen wollte. Die erste große Reise, die Rathenau schon im Jahre 1876, also ein Jahr nach der Auflösung der „Berliner Union“ antrat, ging nach Amerika , dem Lande der technischen Verheißungen. Ein langgehegter Wunsch, mit dem schon der 28jährige während seines englischen Aufenthaltes gespielt hatte, fand damit seine Erfüllung. Den äußeren Anlaß zu der Reise bot die Weltausstellung in Philadelphia , eine der wirklich großen Ausstellungen, auf der [S. 43] fruchtbare technische Gedanken verkündet wurden und von der aus sie ihren Weg in die Welt fanden. Für Emil Rathenau, der später als großer Kaufmann und Industrieller von den Reklameausstellungen, mit denen gewisse Länder und Städte ihren Fremdenverkehr zu heben suchten, nur recht wenig hielt, bedeutete die Ausstellung in Philadelphia eine Offenbarung. Was ihm in den Jahren der mühsamen Kleinarbeit, der beschränkten Enge in seiner Berliner Maschinenfabrik vor dem geistigen Auge gestanden hatte, an dessen Erreichung er aber damals verzweifelte, hier war es verwirklicht und erfüllt. „Was ich im Geiste erschaute, gestaltete sich zur Wirklichkeit, und mit reicher Ausbeute kehrte zurück, wer der Heimat neue Arbeitsprozesse und Industrien zu beschaffen gedachte.“ Damit meinte Rathenau nicht so sehr die Dampfmaschine, die in Amerika damals eher auf einer niedrigeren Stufe der Entwickelung stand als in Deutschland und England. Die 1400 PS vertikale Corlißmaschine, die in der Mitte der Maschinenhalle paradierte, imponierte zwar dem Maschinenbauer Rathenau durch den einfachen und soliden Bau, sowie den langsamen und sanften Gang, aber er hatte doch bereits ähnliches gesehen. Viel stärker fesselten ihn die Holzbearbeitungs- und Werkzeugmaschinen für Präzisionsarbeiten, die automatischen Maschinen zur Herstellung von Massenfabrikaten, neuartige und feine Instrumente zum Messen, wie sie die deutschen Fabriken nicht einmal kannten. Auch die Schreibmaschine fand sein lebhaftes Interesse. Im allgemeinen war es die neuartige technische und wirtschaftliche Betriebsökonomie, die arbeitssparenden und leistungsverbessernden Maschinen, die Rathenau in Philadelphia und in den amerikanischen Fabriken bewunderte, während die räumlichen und sozialen Einrichtungen ihm im Verhältnis zu den deutschen vernachlässigt zu sein schienen. Auch die deutsche Industrie hatte damals in Philadelphia ausgestellt, und breite Kreise der öffentlichen Meinung in Deutschland waren patriotisch-kurzsichtig genug, um die „soliden und bewährten“ Leistungen der heimischen Industrie den amerikanischen Bluffkonstruktionen an die Seite oder noch voranzustellen. Wer den Unterschied wahrheitsgemäß feststellte, wie Professor Reuleaux, der von der deutschen Industrie damals das bittere, von unseren Neidern und Konkurrenten noch jahrzehntelang auch dem längst führend gewordenen deutschen Gewerbe entgegengehaltene Wort „billig und schlecht“ prägte, wer erkannte und aussprach, daß [S. 44] die deutsche Fabrikation sich damals zum großen Teil auf Vergangenheitsgleisen bewegte, während in der amerikanischen Industrie die konstruktiven Neugedanken vorwärts stürmten, der wurde „gesteinigt und verbrannt“. Emil Rathenau gehörte weder zu den radikalen Verächtern der Heimat, deren guten Industrieboden, deren schlummernde Entwickelungsmöglichkeiten er wohl würdigte, noch zu den Selbstzufriedenen, die da ständig priesen, „wie wir es so herrlich weit gebracht hätten.“ „Die Schätze der Maschinenhalle blieben mir unvergeßlich,“ so erzählte er und in der Tat hat er sich das, was er dort sah, so tief eingeprägt, daß er es in dem Augenblicke, in dem er davon Gebrauch machen konnte, nur aus der Kammer des Gedächtnisses hervorzuholen brauchte. Im Geiste noch übertrumpft mag die mächtige Phantasie Rathenaus auch die derzeitigen Höchstleistungen des Großmaschinenbaus schon damals haben. Denn was Rathenau zu jener Zeit in Philadelphia sah, war neben dem, was er später an gewaltigen Aggregaten von den Konstrukteuren seiner Drehstrom- und Hochspannungsmaschinen verlangte und erreichte, das reine Kinderspiel.
Aber so stark auch die Anregungen auf dem Gebiete der Maschinentechnik waren, so sehr sie gerade den gelernten Maschinenbauer reizten und beschäftigten, es war vielleicht zu viel des Neuen, das auf ihn einstürmte und ihm die Wahl schwer machte. „Mir schien, als brauche ich nur ins volle Menschenleben hineinzugreifen, um mir die Fabrikation zu sichern, die mich interessierte,“ schrieb er. Aber die Fülle der Gesichte, die den Schauenden und Lernenden überwältigte, hätte entsagungsvoll eingedämmt und eingeschränkt werden müssen, sobald es ans praktische Ausführen gegangen wäre. Er war ja nicht nur nach Amerika gereist, um zu lernen, sein Wissen zu bereichern und zu vertiefen, sondern auch um eine geschäftliche Idee, eine faßbare Grundlage für eine neue aussichtsreiche Unternehmung mit nach Hause zu bringen. Der frühere Sozius Valentin begleitete ihn auf dieser Reise, und beide waren sich darüber klar, daß sie ihr gutes Geld nicht ausschließlich für eine wissenschaftliche Studienreise ausgeben durften, sondern als einen Spesenbetrag betrachten müßten, den sie sich aus den geschäftlichen Früchten dieser Reise vervielfacht zurückholen wollten. Mehrere amerikanische Städte und Fabriken wurden darum besucht, und es wurde nach einer aussichtsreichen Sache gesucht, die man mit den zur Verfügung [S. 45] stehenden, immerhin nicht unbeschränkten Mitteln und Kräften nach Deutschland verpflanzen könnte. Daß diese Mittel für die gewaltigen Maße einer in Deutschland nach amerikanischem Muster zu errichtenden Großmaschinenfabrik nicht ausreichten, sagten sich die beiden Freunde wohl ohne weiteres. Wenn Rathenau diese notgedrungene Entsagung nicht zu schwer fiel, so war dies darauf zurückzuführen, daß sich noch etwas anderes bot, das ihn technisch kaum weniger fesselte, dazu aber leichter und schneller praktische Erfolge versprach:
In Philadelphia hatte Rathenau das Telephon und Mikrophon, eine dem Gedanken nach deutsche Erfindung, zuerst praktisch brauchbar ausgeführt in überzeugender Funktion gesehen. „Das Telephon und das fast gleichzeitig mit ihm erfundene Mikrophon haben, vielleicht wegen ihrer verblüffenden Einfachheit, die Bewunderung niemals erregt, die minder bedeutsamen Errungenschaften der Technik zuteil geworden war. Mich elektrisierten förmlich die ingeniösen Apparate...“ Rathenau schwankte, ob er ihre Erzeugung im Großen aufnehmen sollte, aber die Befürchtung, daß einerseits fremde Patente den Absatz ins Ausland erschwerten und andererseits die Herstellung so außerordentlich, so fast handwerksmäßig leicht war, daß sie einen verheerenden Wettbewerb anlocken mußte, ließ ihn vorsichtig sein. Der Kaufmann in Rathenau bändigte eben fast immer die Leidenschaft des technischen Gründers. Er entschloß sich, keine Telephonfabrik zu bauen, sondern nur eine Konzession für eine Berliner Telephonzentrale nachzusuchen, gewissermaßen das Telephon in Berlin in Generalentreprise zu nehmen. Die Stadt Berlin hätte die Sache vielleicht mit ihm gemacht, aber der damalige Polizeipräsident v. Madai wollte die Konzession, die Rathenau brauchte, nicht erteilen. „Das Telephon ist ein Reichsregal,“ entschied Herr v. Madai, und, wenn sich auch später bei der Beratung des Telegraphengesetzes ergab, daß er geirrt hatte, Rathenau fürchtete zu jener Zeit die Scherereien des Instanzenweges und bot dem damaligen Generalpostmeister Stephan, dem Verweser des angeblichen Regals, die Durchführung in Reichsregie an. Aber der sonst so weitsichtige Stephan versagte zunächst. Er stellte sich auf den Standpunkt, den die Verteidiger der Postkutsche der Einführung der Eisenbahnen gegenüber eingenommen hatten und prophezeite, daß eine Telephonzentrale in Berlin höchstens 23 Anschlüsse finden [S. 46] würde. Diesen rückständigen Standpunkt nahm er ein, trotzdem die Postverwaltung damals mit dem telephonischen Überlandverkehr zwischen verschiedenen Ortschaften Versuche gemacht und günstige Erfolge erzielt hatte. Die städtische Schaltzentrale hielt die Postbehörde dagegen für ein unlösliches Problem. Später kam Stephan von selbst auf die Idee zurück, er bot Rathenau an, die Einführung des Telephons im öffentlichen Postdienst auf Reichskosten zu leiten. Rathenau, den inzwischen schon ganz andere Dinge beschäftigt und tiefer in das Wesen der elektrischen Industrie hineingeführt hatten, nahm trotzdem an, weil er sich mit der elektrischen Technik praktisch vertraut machen wollte. Ihre Zukunftskraft hatte ihn inzwischen mit Macht gepackt, um ihn nie mehr loszulassen.
Den ihm von Stephan übertragenen Auftrag führte er ehrenamtlich aus, ohne eine Vergütung dafür zu beanspruchen oder anzunehmen. Nachdem er die grundlegende Organisation geschaffen hatte, verließ er das Arbeitszimmer im Reichspostamt, das ihm Stephan für die Zeit seiner Tätigkeit im Telephondienste der Post eingeräumt hatte. Da Schwachstromanlagen dem Feinmechaniker mehr Spielraum als dem Ingenieur gewährten, so wandte er sich seinem alten Plan, nach kurzer Übung auf dem Schwachstromgebiete zu der durch die Elektrizität veredelten Technik zurückzukehren, ohne längeres Besinnen wieder zu. An einer Tätigkeit, die ihm innerlich nichts mehr sagte, ihm keine Rätsel mehr aufgab, hielt er nicht fest, auch wenn sie ihm noch so gute geschäftliche Erfolge versprochen hätte.
An die großartige Verbindung und die gegenseitige Befruchtung der Maschinentechnik und der Elektrizität, die Rathenau auf sein ureigenstes Schaffensgebiet, zu der großen Leistung seines Lebens führen sollten, dachte dieser damals noch nicht. Die gewaltige Weite und Tiefe der zukünftigen Verschwisterung hatte sich vor seinem Auge noch nicht aufgetan, und wenn er auch einige Blicke in die Werkstatt der Elektrizität geworfen hatte, so lag es doch nicht in seiner Absicht, sich zum Meister dieser Werkstatt zu machen, sondern er dachte an Rückkehr zum „veredelten“ Maschinenbau. Der „Dynamo“, der Hauptträger der maschinellen Elektrotechnik, befand sich damals allerdings noch immer in einem primitiven Zustand und ließ die gewaltige Entwickelung, die er bald — besonders auf Grund [S. 47] der Anforderungen nehmen sollte, die Rathenau seinen Konstrukteuren stellte, noch nicht ahnen. Wie so viele technische Erfindungen wurde er nicht aus sich heraus, aus seiner eigenen konstruktiven Idee zur vollen Leistungsfähigkeit entwickelt und ihm dann die Anwendungsmöglichkeit geschaffen, sondern als sich die praktischen Bedürfnisse einstellten und immer größere Ansprüche an ihn stellten, wurden die Heere der Techniker mobilisiert, die besten Ingenieurgehirne aufgeboten, um ihm seine Geheimnisse abzulauschen und ihm die Leistungen abzuringen, die der Anwendungszweck von ihm forderte.
Die Wirtschafts-Geschichte aller Epochen und Länder weist wohl kaum — trotz der japanischen Emanzipation — einen zweiten Fall auf, in dem sich ein Volk in seinem ganzen ökonomischen Leben so grundsätzlich und grundlegend wandelte, in die Breite, Tiefe und Höhe reckte, wie das deutsche Volk nach dem wahrhaft schöpferischen Einigungskriege von 1870/71. Ich weiß, daß ich eine Binsenwahrheit niederschreibe, die von pathetischen Rednern, denen das unbegreifliche Wunder dieser Befreiung und Beflügelung elementarer Volkskräfte nie das Hirn erhellt hat, so oft leer hingesprochen worden ist, daß sie fast zur Phrase versteinte. Wenn man eine Erscheinung, wie die Emil Rathenaus, wenn man ein Werk, wie das des großen Organisators der Elektrizität in seinen Wurzeln und Verzweigungen, in seinem Werden und Sein verstehen will, darf man sich nicht schämen, diese Binsenwahrheit dreimal unterstrichen noch einmal auszusprechen, nachdem man sie von allem Phrasenwerk gereinigt und mit dem Blut des Gedankens wieder gefüllt hat.
Was der Schöpfer des geeinten Deutschland politisch erreicht hat, war schon nach wenigen starken Schritten des Volkes auf der neuerschlossenen Bahn klar und im Resultat abzuschätzen. Nach Bismarcks entscheidender staatsmännischer Tat hat es in Deutschland einen großen politischen Gedanken nicht mehr gegeben, brauchte es auch auf lange Zeit keinen mehr zu geben. Die erobernde Arbeit, die jetzt zu leisten war, ist wirtschaftliche Arbeit gewesen, selbst die Ansätze zu einer deutschen Kolonialpolitik, die nach den nun einmal verpaßten Möglichkeiten einer vollblütigen deutschen Kolonialwirtschaft mehr ein Luxus des mächtig gewordenen und reich werdenden Deutschlands waren, als eine wirtschaftliche Notwendigkeit, mußten Nebensache bleiben. Darin — noch mehr als in dem subalternen Niveau der epigonischen Regierungskunst — liegt wohl [S. 49] der tiefste Grund dafür, daß sich die Persönlichkeiten mit Schöpferwillen und Schöpferkraft im Deutschland der nachbismärckischen Zeit nicht der Politik, sondern dem Wirtschaftsleben zuwendeten, daß wir in Deutschland eine Überfülle bedeutender, ja großer Kaufleute und Industrieller, so wenig politische Talente besaßen. Der schöpferische Mensch drängt dahin, wo es zu schaffen gibt, und besonders Männer des großen Wurfes fanden in der Politik nicht das Feld, das ihrem Schaffensbedürfnis genügte, ganz abgesehen davon, daß sich ihr Temperament an den ständigen Reibungen und fruchtlosen Hemmungen (es gibt auch fruchtbare) mit dem Bureaukratenstaat müde gelaufen hätte. Es konnten wohl Organisatoren jener stillen, schmiegsamen Art, wie Stephan und Miquel im preußisch-deutschen Staate ihren Platz finden, eine volle und vielleicht übervolle Kraft wie Dernburg wurde darin nie heimisch, überschritt allenthalben die ihr gezogenen Grenzen, fand die Einheit ihres Werkes auf Schritt und Tritt von hochmütiger Verständnislosigkeit durchkreuzt und kapitulierte schließlich vor dem Geist Erzbergers.
Die politische Sammlung, die die bis 1870 verzettelten, durcheinander und gegeneinander streitenden Kräfte des Volkes in Richtung und Zusammenwirkung brachte, vermochte aber allein für sich und aus sich zunächst das neue wirtschaftliche Deutschland noch nicht zu schaffen, wenngleich eine Änderung und ein Aufschwung gegenüber dem bisherigen binnenwirtschaftlich beschränkten Zustand des Landes sofort sichtbar wurde, wenngleich aus dem Boden fast fabelhaft schnell frisches Grün emporsproß, vielleicht zu schnell emporwucherte. Aber all das war nur eine Verstärkung, eine Beschleunigung einer in ihrer Art und Richtung bisher schon im Flusse befindlichen Entwicklung. Es war nicht die Etablierung des neuen, technisch wie organisatorisch völlig anders gearteten Systems, das bisher noch nicht dagewesene Betriebsformen, Arbeitsmethoden, Wirtschaftsgebilde in Deutschland auf die Füße stellte, Kanäle und breite Tore auf den Weltmarkt öffnete, aus dem nach innen gerichteten, an versteckten Meereswinkeln träumenden Binnenlande den modernsten und expansivsten Industriestaat, den emsigsten Exporteur der Welt schuf. Dazu bedurfte es erst einer völligen Umdüngung des freigerodeten Bodens, der für die neue Ökonomie aufnahmefähig sein sollte. Die tüchtigen Industrieunternehmungen des Landes erhielten sofort nach dem Kriege einen verstärkten An [S. 50] trieb gerieten in ein schnelleres Tempo der Entwicklung. Krupp, Borsig, Siemens fingen an wirklich groß zu werden. Sie und ein paar andere Werke wuchsen in die Statur von Weltfirmen hinein, aber die deutsche Industrie wuchs noch nicht zur Weltindustrie. Es gab schon große Industriepersönlichkeiten, Männer von jener zähen, soliden Genialität, die von unten, von klein herauf strebten, ihre Geschäfte Schritt für Schritt aufbauten, ihren Unternehmungen nur den gerade unbedingt notwendigen Schuß von Spekulation beimischten und geliehenes Geld wenn überhaupt, so nur widerwillig, gewissermaßen contre coeur und contre honneur aufnahmen. Noch in unsere heutige ganz anders geartete Zeit ragen Reste dieser Familienindustriewirtschaft hinein. Man denke an die Tradition bei Aktiengesellschaften wie Siemens & Halske und Krupp, an den alten Magnaten- und Gewerkenreichtum in Westfalen und Oberschlesien. Neben diesen Industriepersönlichkeiten und Industriefamilien mit durchaus intensiver Finanzwirtschaft standen schon damals große, oder doch wenigstens berühmte Finanziers. Sie waren entweder ihrem Grundzuge nach reine Bankiers wie damals noch die Bleichröders, Mendelsohns, Schicklers, die Industriefinanzierungen nur gelegentlich mitmachten, oder sie konnten, wenn sie die wechselseitigen Befruchtungsmöglichkeiten von Industrie und Bankgeschäft schon erkannten — wie einer der Bahnbrecher des modernen Finanzwesens, David Hansemann — den neuen Weg nur vorsichtig beschreiten, weil sich in ihrer Hand zu jener Zeit lange noch nicht die Kapitalien gesammelt hatten, die für eine Industriefinanzierung großen Stils notwendig sind. Die damals größte Bank Deutschlands, die Diskontogesellschaft, verfügte in den 70er Jahren über ein Kapital von 60 Millionen Mark, unser heutiges führendes Institut, die Deutsche Bank, nur über ein solches von 45 Millionen. Die Mittel dieser Banken und des Kapitalmarktes flossen in jenen Zeiten abgesehen von den Beträgen, die der Handel beanspruchte, in weit größerem Umfange als den Industrien den Eisenbahngesellschaften zu, die sich damals noch im Privatbesitz befanden und deren Aktien wie Obligationen mit den wichtigsten Posten in der Anlagenbilanz des nationalen Kapitals bildeten.
Einer allerdings hat schon damals — und zwar schon vor dem Kriege — seiner Zeit und ihren Möglichkeiten mit ungeduldigem Geniewurf vorausgreifend, beides, das Industrielle und das Finan [S. 51] zielle, in denkbar größtem Maße zu vereinen versucht, sich nicht damit begnügen können, ein einziges Unternehmen in Ruhe auszubauen, sondern sein Bedürfnis und seine glänzenden Fähigkeiten im Anregen, Finanzieren und Verwirklichen immer neuer Projekte betätigen müssen. Strousberg , dessen Größe nur allzusehr im „Entwerfen“ lag, und den nicht nur seine nach einem Sündenbock suchende Zeitgenossenschaft, sondern auch die geschichtliche Registratur als das böse Musterbeispiel einer „Gründerei nur um des Gründens willen“, als das Symbol jener sinn- und skrupellosen Wertetreiberei der ersten siebziger Jahre verewigt hat. Er war es nicht, war nicht Symbol, nicht Urheber, sondern Opfer dieser in allen Fäulnisfarben schillernden Periode. Ihre Wurzeln waren nicht die seinen; der Krieg, der die eigentlichen Gründer groß machte, hatte ihn, der damals gerade zuviel auf die Karte seiner rumänischen Bahnbauten gesetzt hatte, bereits empfindlich geschwächt. Die Atmosphäre der Gründerjahre ergriff den schon unsicher Gewordenen, und in ihren Zusammenbruch wurde der Ausschweifend-Geniale, der seine Saatkörner auf zu viele Äcker ausgestreut hatte, als einer der ersten mit hineingezogen. Den guten, den fruchtbaren Grundkern in Strousberg und seiner Methode anzuerkennen, ist Pflicht desjenigen, der die Art und das Werk eines Emil Rathenau in ihrer ganzen Bedeutung für unsere deutsche Wirtschaft erkennen und würdigen will. Wer Rathenau unbedingt bejaht, darf Strousberg nicht unbedingt verneinen. Denn Strousberg hat schon das vorgeschwebt, was Rathenau und die anderen großen Industriellen in den Jahrzehnten um die Wende des 19. Jahrhunderts auf ihren begrenzteren, aber geschlosseneren und intensiver bearbeiteten Arbeitsgebieten verwirklichen konnten. Woran Strousberg scheiterte, das waren Anomalien der Charakterveranlagung und der Zeitverhältnisse, die seinen Plänen und Absichten ebenso stark zuwiderliefen, wie die Schöpfungen Rathenaus und der anderen Nachsiebziger durch Harmonien der Umstände gefördert und hochgetragen wurden. Der Vergleich zwischen Strousberg und Rathenau ist darum ganz besonders lehrreich, wenn man die historischen Wurzeln und Bedingtheiten einer Erscheinung wie der Emil Rathenaus verstehen lernen will. Strousbergs Entwickelung und geschäftlicher Höhepunkt lagen in einer Zeit, in der größere Bildungen industrieller Natur in Deutschland zwar an sich möglich waren, [S. 52] aber doch mangels entwickelter Kapitalmächte und Geldorganisationen, mangels einer ausgebildeten modernen Fabrikationstechnik nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit hingeworfen werden konnten. Die bedächtige Entwicklung von innen heraus, der stufenweise Aufbau vom kleineren zum größeren war nötig, um dem industriellen Wachstum Gesundheit und Dauerhaftigkeit zu verleihen. So entwickelten Krupp und Siemens ihre Betriebe, so betrieb Wilhelm v. Mevissen seine Eisenbahnbaupolitik. Die kühneren Perspektiven eines Friedrich List waren nur Theorien, die zwar mit treffsicherem Blick für die Praxis erdacht waren, aber doch erst in einer späteren Zeit verwirklicht werden konnten. Strousberg ging ohne Rücksicht auf die Zeitumstände zu Werke. Er sprang mit Volldampf in seine Projekte. Nicht aus kleinen Anfängen und Entwürfen wuchsen seine Werke allmählich über sich hinaus, sondern seine Verwirklichungen blieben fast immer hinter dem Idealbild seiner Pläne zurück. Interessant und bezeichnend war es schon, wie er die Geldmittel für seine Gründungen aufbrachte. Sein Kapital stammte — wenigstens in der ersten Periode seiner Gründungstätigkeit — vorwiegend aus England, dem Lande, das ihm den Namen und die industriellen Maßstäbe gebildet, aber wohl auch für deutsche Verhältnisse etwas verbildet hatte. Es war ein geistreicher und geschickter Gedanke Strousbergs, den damals sehr erheblichen Unterschied zwischen dem niedrigen englischen und dem hohen deutschen Geldleihsatz als rentensteigernden Faktor in seine Rechnung einzustellen. Der Gedanke war nicht einmal ganz neu in jener Zeit, aber er war sonst nicht von Deutschen, sondern meist von Engländern ausgegangen und hatte zum Beispiel dazu geführt, daß englische Kapitalisten und Unternehmer in Deutschland Kohlenbergwerke (wie die Hibernia), Gasanstalten (wie die Berliner Imperial Gas Association), zu deren Errichtung von deutscher Seite es an Kapital oder auch an Unternehmungsgeist fehlte, mit eigenen Mitteln und unter eigener Verantwortung gründeten. Strousberg wollte selbst gründen, selbst die vollen industriellen Chancen ausnützen und das englische Kapital, das er verwendete, auf den bescheidenen Platz des mit einer festen Rente abgefundenen Finanz- oder Bankkapitals verweisen. Auch das ließ sich durchführen, und versprach sogar hohen Ertrag, wenn mit der bei einer Verringerung jener Zinsdifferenz eintretenden Gefahr des plötzlichen Abziehens der englischen Gelder gerechnet und [S. 53] gegen die Nachteile, die aus einer derartigen Geldentziehung erwachsen mußten, Vorsorge getroffen worden wäre. Eine solche Vorsorge hätte darin bestehen können, das englische Kapital entweder so fest an die deutschen Unternehmungen zu fesseln, daß eine plötzliche Abziehung nicht hätte vorgenommen werden können. Dann hätte Strousberg aber diesem Kapital einen starken Einfluß auf die Verwaltung und Verfassung seiner Unternehmungen einräumen, wahrscheinlich ihnen sogar einen englischen Sitz und englische Rechtsform, ihren Aktien einen englischen Markt geben müssen ( deutsche Aktien würden ja bei einer Krise auf den deutschen Markt geworfen worden sein). Da Strousberg aber seinen Geldgebern einen solchen Anteil an der Macht nicht einräumen wollte, hätte er sich auf eine andere Art gegen die Gefahr der Kapitalentziehung sichern müssen. Er hätte das englische Kapital nur als eine vorübergehende, vorläufige Finanzgrundlage seiner Unternehmungen betrachten und dafür sorgen müssen, daß es allmählich entsprechend der langsameren Kapitalbildung auf dem deutschen Geldmarkte oder auch vermittels der eigenen Erträgnisse seiner Unternehmungen durch deutsches Kapital ausgewechselt werden konnte. Das hätte aber einmal einen Verzicht auf die langfristige Ausnutzung der Zinsdifferenz, an deren dauerndes und ununterbrochenes Vorhandensein Strousberg geglaubt zu haben schien, zur Bedingung gehabt; ferner hätte es einen ruhigen, geduldigen Ausbau der Gründungen verlangt, nicht jenes überstürzte Eiltempo der Expansion, das in dem Temperament Strousbergs begründet lag. Schon in finanzieller Hinsicht waren Strousbergs Werke also auf einer historischen Anomalie gegründet. Dasselbe gilt von ihrer industriellen und technischen Anlage. Seine Entwürfe und Ideen waren meist gut, oft zukunftsreich und immer genialisch, die Mittel, mit denen er sie ausführte, oft unzulänglich. Denn der intellektuelle Defekt in diesem bewunderungswürdig scharfsinnigen und positiven Gehirn bestand darin, daß Strousberg keinen Sinn für die praktischen Hemmungen der Materie hatte, daß er seiner eigenen Phantasie gegenüber durchaus unkritisch war. Sein Positivismus war ein Rausch, keine fest verankerte Weltanschauung, er war zu sehr Bau künstler und zu wenig Bau meister . Seiner Phantasie schwebte ein großzügiges Eisenbahnsystem von Rumänien durch Deutschland bis zum Atlantischen Ozean vor, aber die Art, wie er nun an allen Ecken und Enden, wo sich ihm gerade eine [S. 54] Möglichkeit bot, Linien anzulegen begann, in der Hoffnung, das Stückwerk werde sich schon von selbst zum Ganzen runden, war ganz und gar systemlos. Der Gedanke, die Lokomotiven, Waggons, Schienen, Eisenteile und den sonstigen Bedarf für seine Bahnen in eigenen Betrieben herzustellen, war von industrieller Folgerichtigkeit und Fruchtbarkeit, aber es war vermessen und ein Zeichen gänzlich falscher Einschätzung des Entwicklungsgesetzes, die Konzentrationsidee, den Gedanken der Selbstbedarfsdeckung, des gemischten Fabrikationsprozesses gleich mit einem umfassenden Radikalismus zu beginnen, bis zu dem er heute nach 50 industriellen Entwicklungsjahren kaum gediehen ist. Das konnte keine gesunde Grundlage für mächtige Unternehmungen, kein gerundetes Ganzes geben, sondern es wurde Stückwerk, das beim ersten naturnotwendigen Rückschlag der Entwicklung, beim ersten Kampf der Idee mit der Materie zerbrechen mußte. Die Dortmunder Union, das erste, fast ein Menschenalter zu früh angewendete Beispiel eines gemischten Eisen- und Stahlwerks, wie es später eine der schöpferischsten Ideen der deutschen Industrie wurde, ist in der praktischen Anlage so verunglückt, daß immer neue Sanierungen notwendig wurden und doch Jahrzehnte hindurch den Boden des Fasses nicht erreichten. Noch haltloser waren die Grundlagen für das von Strousberg geplante große Werk in Zbirow bei Pilsen, das ebenfalls die ganze Eisenfabrikation vom Erz bis zum Eisenbahnbedarf umfassen sollte. Hier war nicht nur die Anlage, sondern auch der Standort, die Rohstoffgrundlage verfehlt. Auch den übrigen Gründungen Strousbergs, den Markthallen, Schlachthöfen, Zeitungen, die er gewissermaßen nebenbei aus dem unerschöpflichen Füllhorn seines Ideenreichtums schüttete, lag fast stets ein guter Gedanke zu Grunde, die Ausführung aber war flüchtig und sorglos. Es war vielleicht die verhängnisvollste Schwäche Strousbergs, daß er, der Nichtfachmann, der seine Unternehmungen auf die Technik einer künftigen Zeit anlegte, nicht einmal die Technik seiner Zeit völlig beherrschte. So sehr er sich in seinem Memoirenwerk dagegen wehrt, er hat manchmal schlecht gebaut, trotz des meist ehrlichen Willens, gut zu bauen, weil er nicht imstande war, sich die richtigen Fachleute auszusuchen und weil er zu schnell bauen wollte und mußte.
Aber nicht nur in den Zeitumständen, auch in den Charaktereigenschaften war Emil Rathenau fester gegründet, als der so ähnlich [S. 55] begabte Stammesgenosse. In dem wesentlichen Grundzug ihrer finderischen Natur waren diese beiden Juden einander nahe verwandt. Beide von einer — bei aller Fähigkeit für das Komplizierte — schlichten und fast naiven Konstruktivität, Strousberg naiver, Rathenau schlichter, beide von hellseherischer Phantasie für zukünftige Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Strousberg schweifender auf die Möglichkeiten, Rathenau — wenigstens in der Arbeit — nüchterner auf die Notwendigkeiten gerichtet. Des einen, des Bahnenkönigs Unternehmungsgeist, trotzdem er nie eine Sache um des Gründergewinns, sondern nur um des meist guten industriellen Gedankens willen gründete, etwas fessel- und hier und da auch wahllos umherspringend, des andern Schaffen bei allen gelegentlichen gedanklichen Exkursionen von einer einheitlichen Grundidee gebändigt und beherrscht, sich selbst mit eiserner Selbstzucht stets wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzwingend. Strousberg hat auf viele Gebiete der Industrie übergegriffen, Rathenau hat eine Industrie mit höchster Vertiefung und Vielseitigkeit ausgebaut und die Nebenindustrien, denen er sich zuwandte, doch immer unter die Gesichtspunkte des elektrotechnischen Gewerbes gestellt. Bei aller Verwandtschaft der spirituellen Intelligenz, der Begabung und der Methode, eine starke Verschiedenheit weniger der Temperamente, als der Hemmungen der Temperamente. Strousberg drängte gewaltsam vorwärts und überstürzte. Rathenau hat gezeigt, daß er wohl zu warten verstand.
Unter solchen Umständen ist es falsch zu sagen, daß Glück oder Unglück die entscheidende Rolle in dem Leben dieser beiden Männer gespielt haben, wie dies Strousberg in seiner im russischen Schuldgefängnis geschriebenen Selbstbiographie von sich behauptet hat. Es ist richtig, daß die 6 Millionen Taler Entschädigung, die Strousberg gerade in seiner kritischen Zeit an Rumänien infolge fehlerhafter Ausführung eines Bahnenbaus zahlen mußte, seinen Zusammenbruch beschleunigt haben. Aber dieses Schicksal traf ihn nicht unverdient, und es wurde aufgewogen durch manchen Glückszufall, aus dem er früher hatte Nutzen ziehen können. Emil Rathenau andererseits ist durch das Glück nie sonderlich verwöhnt worden und gerade die vielen Reserven, Hindernislinien und Schutzgräben, von denen er um sein Werk nicht genug ziehen konnte, um es gegen jeden Schicksalsschlag, gegen jeden ungünstigen Zufall zu sichern, [S. 56] zeigen den Unterschied seiner industriellen Bauweise von der Strousbergs.
Die vorangegangene Schilderung hat gezeigt, welche große Bedeutung die zeitlichen Umstände als Vorbedingung für ein Werk, wie das Rathenaus gehabt haben, wenngleich sie keineswegs allein ausschlaggebend für das Wachstum seiner Persönlichkeit und seiner Schöpfung gewesen sind. Man kann sagen, daß die letzten 3 Jahrzehnte in Deutschland deswegen so viel schöpferische Persönlichkeiten und Leistungen in Handel und Gewerbe hervorgebracht haben, weil sie selbst so schöpferisch waren und Gelegenheit, ja förmlich Zwang zu produktiver Tätigkeit boten. In dem Agrarland Deutschland war noch so viel Platz für große Industrieunternehmungen, es gab so viele ungehobene industrielle Rohstoffe, so viel überschüssiges, früher auf den Weg der Auswanderung gedrängtes Menschenmaterial, daß die Entwicklung, nachdem einmal die Bahn durch Beseitigung der politischen Hemmungen, durch Freimachung und Anreicherung der kapitalbildenden Kräfte geebnet war, mächtig vorwärts drängen mußte. Man brauchte sich nur von dieser Entwicklung tragen zu lassen, um es zu etwas zu bringen und selbst die mäßige Begabung konnte sich ansehnliche Ziele stecken. Die große aber fand Baustoff und Werkzeug zu stärkstem Vollbringen. Man kann den Anteil, den Zeit und Persönlichkeit an den gewerblichen Schöpfungen unseres Zeitalters hatten, vielleicht am besten charakterisieren, wenn man sagt, daß die Männer dieser Zeit mit der Stromrichtung schwimmen konnten. Sie hatten — natürlich nur im Großen, und nicht im einzelnen betrachtet — kein zähes Gestrüpp an Gewohnheiten, Vorurteilen erst auszuroden, ehe sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnten. Sie brauchten nicht einen erheblichen Teil ihrer besten Kraft darauf zu wenden, erst den Kampf des Positiven gegen das Negative zu führen, wie etwa der gedankliche Bahnbrecher Friedrich List, sie brauchten auch keiner spröden Materie langsame Gestaltung abzuzwingen, wie David Hansemann, Alfred Krupp und Werner Siemens. Sie fanden den Boden gepflügt und gedüngt. Gewiß, nur fruchtbare Körner konnten auf ihm aufgehen. Aber das fruchtbare Korn wird, wenn es auf einen guten und bereiten Boden fällt, anders und stärker gedeihen, als wenn es in Brachland oder dünnen Sandboden gesenkt wird.
Es spricht nicht gegen unsere Auffassung von den wirtschaft [S. 57] lichen Wirkungen der reichsdeutschen Gruppierung um die staatenbildende Zentrifugalkraft Preußens, wenn man feststellt, daß einmal der wirtschaftliche Zusammenschluß Norddeutschlands und der spätere Hinzutritt Süddeutschlands zu dem deutschen Zollverein schon vor dem deutsch-französischen Kriege stattgefunden hatten und daß nachher noch fast ein Jahrzehnt hinging, ehe die moderne Wirtschaftsbewegung mit voller Kraft einsetzte. Vor dem Kriege war durch die Zollbündnisse, die den politischen Reichsgedanken vorbereiten halfen, wohl eine gewisse Einheit schon de jure erreicht. Das blieb auch ganz gewiß nicht ohne befruchtende Wirkung auf das Wirtschaftsleben und führte schon in der Mitte der 60er Jahre zu günstigen Geschäftskonjunkturen. Aber die große Revolutionierung des Wirtschaftsbodens, von der wir gesprochen haben, wurde dadurch höchstens angekündigt, noch nicht eingeleitet. Dies konnte erst geschehen, nachdem die wirtschaftliche Einheit durch die feste politische Form endgültig geworden, gegen jede Bedrohung von innen und außen gesichert war. Die allgemeine Überzeugung, daß die Einheit politisch und kriegerisch noch einmal würde erprobt und verteidigt werden müssen, hinderte vorerst das organische Zusammenwachsen der einzelnen Glieder Deutschlands zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet. Nach dem Kriege setzte der subjektive Aufschwung sofort ein und zwar in einem Tempo, daß ihm der objektive Aufschwung nicht zu folgen vermochte. Da keine genügende Zahl von industriellen Unternehmungen und von den sie repräsentierenden Wertpapieren da war, an denen die spekulative Hochbewertung sich hätte genug tun können, nahm der Aufschwung die Form der künstlichen „Wertschafferei“ und „Werttreiberei“ an, die sich auch am fingierten Wert entzündeten. Die wirklichen Werte an industriellen Objekten, an Grund und Boden, an Waren und Rohstoffen wurden gewaltig übersteigert, wie das immer der Fall ist, wenn der Kreis der realen Tatsachen nicht schnell genug erweitert und auf den Umfang der neuen geistigen Möglichkeiten gebracht werden kann. Die Plötzlichkeit, mit der die deutsche Binnenwirtschaft vor weltwirtschaftliche, ja imperialistische Probleme gestellt wurde, zeitigte ein gewaltiges schöpferisches Bedürfnis, dem die schöpferischen Verwirklichungen nicht im gleichen Tempo folgen konnten. Die Zukunftsphantasien, die den Gründern und Spekulanten jener Zeit vor Augen standen, waren dabei sicherlich nicht einmal [S. 58] falsch gesehen oder übertrieben. Was seither verwirklicht wurde, hat jene Phantasiegemälde längst überboten und in Schatten gestellt. Falsch war nur die Bemessung der Distanz, der Zeitspanne, in der man zur Verwirklichung jener Ideen kommen zu können glaubte. Man glaubte Tal und Berg im Sprung überwinden zu können, während eine mühselige Wanderung über Hügel und Einsenkungen, durch Schluchten und Gestein notwendig war. Was diesen Trugschluß damals noch so wesentlich förderte, war der französische Milliardensegen, der sich unerwartet und unvorbereitet über Deutschland ergoß. Man glaubte, daß mit diesem Gelde jede Distanz überwunden werden könnte und hatte noch nicht die vorher nirgends so augenfällig gewordene, erst anläßlich dieser gewaltigsten gegenwertlosen Geldübertragung der Geschichte möglich gewordene Erfahrung gemacht, daß ein Überfluß an Geld eine gesunde Entwicklung nicht fördert, sondern stört. Nur Geld, das Kapital geworden ist oder Kapital werden kann, das heißt für das sich eine gesunde Anlagemöglichkeit findet, vermag Früchte zu tragen. Das Geld, das beschäftigungslos umhertreibt oder zu zwecklosen Experimenten verwendet wird, schafft eine künstliche Kaufkraft, eine ungesunde Unternehmungslust, bringt die Faktoren der Preisbildung, die Ventile der Marktregulierung in Unordnung und treibt in Krisen hinein, in denen die künstlichen Gebilde zusammenbrechen müssen, ehe wieder richtige Wertmaßstäbe gewonnen werden können.
Durch die Delirien dieser Krise mußte erst die subjektive Aufschwungskraft des wirtschaftlichen Deutschland nach seiner Einigung hindurchgehen, ehe der wirkliche, wohlfundierte Aufstieg begonnen werden konnte. In dieser Krise wurde schon die Spreu von dem Weizen gesondert, und wer sie überlebte, hatte schon halb bewiesen, daß er würdig und fähig war, an den Mühsalen und Früchten des aufsteigenden Weges teilzunehmen. Emil Rathenau gehörte zu jenen, die sich durch das falsche Gold der Gründerjahre nicht hatten blenden lassen. Er hatte seine gewaltige Bejahungskraft, seine Phantasie, die doch nicht weniger lebendig und beweglich waren als die des verwegensten Abenteurers aus der Gründerzeit, vollkräftig und doch fast unbeschädigt durch die Jahre getragen, die rings um ihn von Orgien der Unternehmungslust erfüllt gewesen waren. So war er rein und stark für die kommenden Jahre der Stärke geblieben.
„Als Emil Rathenau seine Siegeslaufbahn begann, war die Elektrotechnik wenig mehr als ein bescheidener Versuch, die großartigen Forschungen der Physik des vorigen Jahrhunderts nützlicher Verwertung zu erschließen. Die Erfindungen trugen noch deutlich den Stempel ihrer Geburtsstätte — es waren Erzeugnisse instrumentaler Technik. Werner v. Siemens, selbst aus dieser hervorgegangen, war der erste, dessen weitschauender Geist die Notwendigkeit erkannte, die Hilfe eines Bundesgenossen, der Maschinentechnik, herbeizurufen, das Studium der Elektrotechnik den Technischen Hochschulen zuzuweisen, und mit dem Maschinenbau auf das Innigste zu verschmelzen. Schwierig war die Aufgabe, die er damit den technischen Hochschulen erteilte, fehlte es denselben doch zunächst an geeigneten Lehrkräften, die mit theoretischem Wissen praktisches Können vereinten. Da brachte Hilfe die schnell sich entwickelnde Technik selber. Hervorragende Maschineningenieure, technische Physik beherrschend, traten in die Werkstätten der Elektrotechnik und wurden bald ihre Lenker und Leiter. Als der ersten einer — Emil Rathenau. Es war ein großes Glück für die deutsche Elektrotechnik, daß ihr neben Siemens ein Mann erstand, von gleichen Überzeugungen beseelt, mit genialer Veranlagung zum Maschineningenieur erzogen, der, zwar nicht mit ihm vereint, wohl aber im edelsten Wetteifer [S. 60] mit ihm gleichen Zielen zustrebte. Dem Wirken dieser beiden Männer verdankt die deutsche Elektrotechnik ihre erstaunlich schnelle Entwicklung.“
(Prof. Dr. Slaby in einer Festrede zur Feier des 25jährigen Bestehens der A. E. G.)
Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, welche allgemeinwirtschaftlichen Bedingungen Emil Rathenau vorfand, als er am Anfang der 80er Jahre daranging, ein neues Unternehmen aufzubauen. Jetzt soll untersucht werden, wie es mit der Entwicklung der elektrotechnischen Industrie stand, der sich Rathenau zuwandte, weil er auf ihrem Gebiet die größten Zukunftsmöglichkeiten für einen technischen Kaufmann sah.
Die Elektrotechnik, als Grundlage der Elektrizitäts-Industrie, das heißt einer praktisch-wirtschaftlichen Ausnutzung der Wissenschaft von der Elektrizität ist viel jünger als die Erfindung oder besser als die Findung der galvanischen Kraft. Sie ist ganz und gar ein Kind des 19. Jahrhunderts und setzte zu ihrer Ausbildung die Pionierdienste voraus, die auf allgemein-technischem Gebiete erst die Physik und die Chemie leisten mußten. Der erste Schritt in das seitdem experimentell vielfach durchleuchtete Gebiet einer ihrem inneren Wesen nach noch immer geheimnisvollen Kraft wurde halb durch Zufall getan. Lange Zeit ging die herrschende Ansicht dahin, daß die magnetischen und elektrischen Erscheinungen nicht miteinander zusammenhingen. Ein dänischer Physiker Hans Chrystian Oersted entdeckte 1820 das Prinzip des Elektromagnetismus, indem er bemerkte, daß eine auf seinem Experimentiertische befindliche Magnetnadel durch galvanischen Strom abgelenkt wurde. Deutsche, französische und englische Forscher warfen sich bald darauf mit intensiver Energie auf das neue Gebiet der Wissenschaft und suchten die schmale Eingangspforte durch systematische Arbeit zu erweitern. Während man auch nach der Entdeckung Oersteds zunächst noch an der Ansicht festhielt, daß nicht die Elektrizität, sondern der Magnetismus die einfachere, grundlegende Kraft sei, begründete Ampère die Theorie, daß das Grundphänomen das elektrische sei und daß alle Äußerungen des Magnetismus auf elektrischen Strömen beruhten, eine Theorie, die als erwiesen gelten konnte, nachdem gezeigt worden war, daß durch elektrischen Strom ein Magnetfeld erzeugt [S. 61] werden konnte. Damit war die industriell so außerordentlich fruchtbar gewordene Einwirkung der elektrischen Kraft auf den Grundstoff aller modernen industriellen Betätigung, das Eisen, festgestellt, das die Eigentümlichkeit besitzt, durch einen elektrischen Strom sehr kräftig magnetisiert zu werden. Gauß und Weber gelangten auf Grund ihrer Arbeiten im Jahre 1833 zur Erfindung des elektrischen Telegraphen und stellten bald darauf die erste telegraphische Verbindung auf eine kurze Strecke — zwischen ihren beiden Arbeitsstätten in Göttingen — her. Damit schien die deutsche Forschung, nachdem sie dieses eminent praktische Problem wissenschaftlich gelöst hatte, sich zunächst begnügen zu wollen. Für eine praktische Ausnutzung fehlte es in Deutschland damals an einer entwickelten Industrie und gerade umgekehrt wie bei späteren großen Erfindungen, die im Auslande gemacht, aber in Deutschland systematisch-praktisch durchgebildet wurden, ließ man bei den ersten epochemachenden Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektrotechnik die grundsätzlichen Erkenntnisse der Wissenschaft ohne Folgen. Wie später auch das von dem deutschen Physiker Philipp Reis erfundene Telephon wurde der elektrische Telegraph in Amerika entwickelt. Schon im Jahre 1835 konstruierte der Amerikaner Samuel Morse den nach ihm benannten Fernschreibapparat, auch andere Amerikaner und Engländer, wie Wheatstone und Coke befaßten sich erfolgreich mit der Ausbildung des Telegraphen. Im Jahre 1844 wurde die erste öffentliche Telegraphenleitung zwischen Washington und Boston eingerichtet und dem öffentlichen Verkehr zugänglich gemacht. Die verkehrstechnische Entwicklung des Telegraphen schritt nun mit schnellen Schritten fort. In Amerika, wo besonders große Entfernungen zu überwinden sind, war das Bedürfnis nach rascher Nachrichtenübermittelung naturgemäß am stärksten, und der praktische Sinn überdies am schnellsten bereit, die Errungenschaften der Technik nutzbar zu machen. Aber auch Europa rührte sich. England, Frankreich und Deutschland vermochten sich der Bedeutung nicht zu entziehen, die der Telegraph für das ganze wirtschaftliche, soziale und politische Leben gewinnen mußte. Die Welt war damals bereits aus dem handwerklichen in das maschinelle Zeitalter getreten, und sie rückte auch immer entschiedener in das Zeichen des Verkehrs. Im Jahre 1838 war die erste Eisenbahn in Deutschland fertiggestellt worden, nun folgten allenthalben [S. 62] neue Schienenwege, und die Eisenbahnverwaltungen erkannten bald die Vorteile, die es ihnen bot, ihre Linien von telegraphischen Leitungen begleiten zu lassen. So trafen sich die Bedürfnisse der maschinellen Verkehrstechnik mit denen der elektrischen. Der erste Anstoß für die Einführung des Telegraphen kam in Preußen allerdings nicht von der verkehrspolitischen, sondern von der militärischen Seite her. Die Kommission des preußischen Generalstabes für die Einführung der elektrischen Telegraphen übertrug im Jahre 1847 dem Artillerieleutnant Werner Siemens die Herstellung einer unterirdischen Telegraphenlinie von Berlin nach Großbeeren zu Versuchszwecken. Eine glücklichere Wahl hätte die Militärbehörde nicht treffen können. Damit wurde zum ersten Male der Mann mit der Lösung einer bedeutsamen Aufgabe betraut, der zu den größten technischen Konstrukteuren aller Zeiten gehörend, die Entwicklung der elektrotechnischen Industrie in ihrer ersten, grundlegenden Periode anregen, führen und verkörpern sollte wie kein zweiter in Deutschland, wie nur wenige andere in der ganzen Welt. In der Mitte zwischen technischer Wissenschaft und Praxis stehend, war es Werner Siemens in einer Zeit, in der eine tiefe Kluft zwischen der Theorie und der ausübenden Technik gähnte, vergönnt, sich beide Gebiete ganz zu eigen zu machen, auf beiden Gebieten Gedanken aus erster Hand, von primärem Wert und schöpferischer Auswirkung zu prägen und miteinander zu verschmelzen. Die eiserne Folgerichtigkeit seines technischen Denkens, und die nie ermüdende und nie abschweifende Konstanz seiner Arbeit ermöglichten es ihm, die fruchtbaren Gedanken zur industriellen Reife zu entwickeln. Kein schnelles Blitzlicht, das hier und dorthin springend dunkle Gebiete der Forschung einen Augenblick erhellt und es dann anderen oder auch dem Zufall überläßt, sie dauernd aufzuklären, sondern eine ruhig brennende Flamme, die sich von dem zu erforschenden Gegenstand nicht früher abkehrt, bis sie ihn von allen Seiten abgeleuchtet hat. Nicht so geniefunkelnd, experimentell-geistreich und vielseitig wie der amerikanische „Zauberer“ Thomas Alva Edison, aber nicht weniger finderisch als dieser. Der ernste Kopf, das tiefe Auge, die feste Hand des Niederdeutschen, eine Natur, die mit einer Sache ringt und sie nicht läßt, bevor sie sich ihm ergeben hat. Gewiß, auch Werner Siemens fehlte manches, wovon später noch zu reden sein wird. Aber es war vielleicht gut, daß ihm dieses fehlte, wofür in [S. 63] seiner Zeit die Bedingungen wenigstens in Deutschland noch nicht vorhanden waren, was ihn möglicherweise in der Sicherheit seines Wesens und Wollens nur beirrt, in der Gradlinigkeit seines Schaffens zersplittert hätte. Gerade dadurch, daß Werner Siemens die Möglichkeiten und Forderungen seiner Zeit so völlig erschöpfte, erschöpfte er sich in ihnen, ging die Entwicklung schließlich über ihn hinweg, vermochte er sich einer anderen Zeit nicht mehr so recht anzupassen.
Werner Siemens wurde im Jahre 1816 in Lenthe in Hannover als Sohn eines Gutspächters geboren. Schon den jungen Gymnasiasten drängten Begabung und Neigung zur Technik. Da das Studium auf der Bauakademie, dem damals einzigen technischen Lehrfach, dem Vater zu kostspielig war, wurde auf Anraten eines Freundes der Familie ein Kompromißweg gefunden. Werner Siemens sollte preußischer Pionieroffizier werden, wo er Gelegenheit haben würde, dasselbe zu lernen wie auf der Bauakademie. Wie so viele strebsame Jünglinge aus den deutschen Mittel- und Kleinstaaten wandte sich Siemens nach Preußen. „Der einzige feste Punkt in Deutschland ist jetzt der Staat Friedrichs des Großen und die preußische Armee,“ sagte ihm zustimmend der Vater, als er seinen Entschluß zu erkennen gab. Werner Siemens wurde aber nicht Pionier-, sondern Artillerieoffizier, da ihm gesagt wurde, daß er als solcher bedeutend bessere militärische Aussichten und dieselbe technische Vorbildung haben würde. Die Zeit auf der Artillerie- und Ingenieurschule nutzte der junge Mann in ernster Weise aus, auch als Offizier in verschiedenen preußischen Garnisonstädten befaßte er sich mit wissenschaftlichen Studien und Experimenten. Die Erfindung Jacobis, Kupfer in metallischer Form durch den galvanischen Strom aus reiner Lösung von Kupfervitriol niederzuschlagen, veranlaßte ihn, sich im Jahre 1840 mit der Galvanisierung zu beschäftigen. In der Zitadelle von Magdeburg, in der er eine ihm wegen Sekundierens beim Duell auferlegte Festungshaft absolvieren sollte, richtete er sich, ganz zufrieden mit der ihm ermöglichten Muße, ein Laboratorium ein, und es glückte ihm, ein neues Verfahren galvanischer Versilberung und Vergoldung zu entdecken. Der praktische Sinn des jungen Offiziers äußerte sich darin, daß er, obwohl als Militär in der Wahl der Mittel zur Einleitung von Geschäften sehr beschränkt, darauf bedacht war, aus seiner Erfindung Kapital zu [S. 64] schlagen. Es gelang ihm, mit der Neusilberfabrik J. Heninger einen Vertrag abzuschließen, auf Grund dessen er dieser eine Anstalt für Vergoldung und Versilberung nach seinen Patenten gegen Gewinnbeteiligung einrichtete. Seinen Bruder Wilhelm schickte er nach England, damit er dort den Versuch mache, die elektrolytischen Patente und das später erfundene Verfahren der Vernickelung zu verwerten. Diesem glückte es auch, die Patente für 1500 Pfd. Sterl. an eine englische Firma zu verkaufen. Bald lenkten größere Aufgaben das Interesse Werner Siemens auf sich. Er beteiligte sich an den Versuchen, die Leonhardt im Auftrage des Generalstabes der preußischen Armee über die Frage der Ersetzbarkeit der optischen Telegraphie durch elektrische anstellte. Siemens konstruierte einen Zeigertelegraphen mit Selbstunterbrechung, dessen Herstellung er einem jungen Mechaniker namens Halske anvertraute. Kurze Zeit später fand er in dem damals neu auf dem englischen Markte erschienenen Guttapercha ein ausgezeichnetes Isolationsmaterial für unterirdische elektrische Drahtleitungen, wie sie damals angesichts der herrschenden Meinung, daß oberirdische Leitungen zu leicht der Zerstörung ausgesetzt seien, für allein anwendbar gehalten wurden. Er stellte ferner auch eine Schraubenpresse her, durch die der erwärmte Guttapercha unter Anwendung hohen Drucks nahtlos um den Kupferdraht gepreßt wurde. Siemens Entschluß, sich ganz der Entwicklung des Telegraphenwesens zu widmen, stand nun fest. Er veranlaßte im Jahre 1847 den Mechaniker G. Halske, mit dem die gemeinsame Arbeit ihn näher verbunden hatte, eine Telegraphenbauanstalt zu begründen, in die er nach seiner Verabschiedung aus dem Heeresdienste selbst eintreten wollte. Das Betriebskapital von 6000 Talern lieh ihm ein Vetter, der Justizrat Siemens, der Vater des später so berühmt gewordenen ersten Direktors der Deutschen Bank Georg von Siemens. Die Werkstatt wurde in einem Hinterhaus der Schönebergerstraße in der Nähe des Anhalter Bahnhofs eröffnet. Siemens selbst wollte seine ganze Kraft dem neuen Unternehmen erst widmen, wenn die Generalstabskommission zur Einführung des elektrischen Telegraphen ihre Aufgabe voll erfüllt hatte. So sehr er auch die ihm offenstehende Laufbahn, sich dank seiner beherrschenden Stellung in der Telegraphenkommission allmählich zum Schöpfer und Leiter des preußischen Staatstelegraphen aufzuschwingen, als zu eng, zu wenig selbständig, zu bureaukratisch ablehnte, hier lag [S. 65] doch in der damaligen Zeit noch das Feld, auf dem er am entscheidendsten an der Verwirklichung seiner Pläne mitarbeiten konnte. Bald darauf wurde auch die bereits erwähnte erste unterirdische Telegraphenlinie Berlin-Großbeeren und die oberirdische Linie Berlin-Potsdam fertiggestellt, und von dem freien Blick dieses kaufmännischen Soldaten zeugt es, daß er — im Gegensatz zu den Heeresbehörden — dafür eintrat, daß die neuen Linien nicht nur dem Militär, sondern auch dem Publikum zur Verfügung stehen mußten. Die März-Revolution und der dänische Krieg von 1848 unterbrachen die systematische Arbeit am Telegraphen. Wir sehen Siemens als Kriegstechniker in Kiel, Friedrichsort und Eckernförde, wo er die Verteidigung dieser Seehäfen durch Minensperren — die ersten, die jemals gelegt wurden — und durch Hafenbatterien durchführte. Nach Berlin zurückgekehrt, nahm Siemens die telegraphischen Projekte mit Hochdruck wieder auf. Der brave Halske hatte, unbeirrt durch Revolution und Kriegsgeschrei, seine Telegraphenapparate auch ohne Bestellung weiter fabriziert und dadurch das junge Unternehmen vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die Zuversicht sollte sich lohnen. Es gab bald Arbeit in Hülle und Fülle. Eine große unterirdische Telegraphenlinie von Berlin nach Eisenach und eine oberirdische von dort nach Frankfurt, wo damals das erste deutsche Parlament tagte, waren im Auftrage des preußischen Handelsministeriums zu bauen. Die Loslösung des Telegraphen vom rein militärischen Interesse, seine Verwendung im Dienste des Verkehrs war eine Tatsache. Siemens zog nun endgültig den Soldatenrock aus und trat als offener Teilhaber in die Firma Siemens & Halske ein. Die Periode der Versuche, der tastenden Anfänge und kleinen Dimensionen ist überwunden. Die Entwicklung verstärkt, verbreitert, vervielfältigt sich, geht ins Große und trägt die Firma Siemens & Halske zur Bedeutung nicht nur des ersten elektrotechnischen Unternehmens in Deutschland, sondern eines Welthauses empor.
Neben Telegraphenanlagen wurden bald Läutewerke für Bahnanlagen, Meßinstrumente hergestellt. Der im Jahre 1850 nach Europa gekommene Morse-Apparat wurde von der Firma mit vielen Verbesserungen versehen und zu einer Vollendung gebracht, die ihn über alle früheren Systeme weit hinaushob. Das Absatzgebiet wurde über Deutschland hinaus erweitert. Insbesondere in Rußland verstand es die junge Firma, die im Jahre 1849 immer noch mit 32 Arbeitern [S. 66] auskam, festen Fuß zu fassen; neben kleineren Telegraphenlinien wurden die großen Strecken Petersburg-Warschau, Moskau-Kiew-Odessa, Petersburg-Reval und Petersburg-Helsingfors fertiggestellt. Werner Siemens hatte das Glück, energische und tüchtige Brüder zu besitzen, denen er die Geschäfte im Auslande anvertrauen konnte, was dazu beitrug, den Familiencharakter der Siemensschen Unternehmungen zu wahren, und trotz der notwendig gewordenen Dezentralisation aufrecht zu erhalten. Wie Karl Siemens das russische Geschäft, den technischen Weisungen des genialen Werner folgend, aber kaufmännisch mit einem hohen Grade von Selbständigkeit und Geschick entwickeln konnte, so vermochte Wilhelm Siemens, der früh nach England gegangen war, trotz der starken Konkurrenz in diesem technisch dem damaligen Deutschland überlegenen Lande, eine starke Stellung zu erkämpfen. Er lieferte für den indischen Telegraphen Materialien und Apparate und eröffnete einen lohnenden Fabrikationszweig durch die Konstruktion des nach ihm benannten Wassermessers. Entscheidend wurde die Betätigung in England für die Bedeutung, die sich die Firma Siemens & Halske in der Kabelfabrikation und in der Kabellegung erwerben sollte. Zunächst beschränkte man sich auf die Herstellung von Kabeln und elektrischen Apparaten für die Unterwassertelegraphie, und entwickelte grundlegende Methoden für Kabelprüfung und Fehlerbestimmung. Die erste selbständige Kabellegung für die Linie Kartagena-Oran, die von der französischen Regierung in Auftrag gegeben worden war, aber infolge ungünstiger Formation des Meeresbodens dreimal mißglückte, forderte schwere Opfer, die die Brüder Siemens nicht entmutigten, aber den vorsichtigen, jeder Großzügigkeit baren Halske veranlaßten, die Trennung des Londoner Geschäfts von dem Berliner zu beantragen. Diese erfolgte und das Londoner Geschäft ging unter der Firma Siemens Brothers in den Besitz der Brüder Wilhelm, Werner und Karl über. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit dieser Firma für den Bau von Überseekabeln hat nicht getrogen. Im Laufe der Jahre gelang es Siemens Brothers mit einem direkten Kabel von Irland nach Amerika das Monopol eines damals unter den Auspizien Sir William Penders gebildeten Kabelringes zu durchbrechen und andere große Überseekabel in Auftrag zu bekommen. Kein Geringerer als der große Gelehrte Sir William Thomson hatte das erste Siemenskabel geprüft und für fehlerfrei und [S. 67] außerordentlich sprechfähig erklärt. Vorangegangen war die Errichtung einer eigenen Guttaperchafabrik in England, die notwendig wurde, da die einzige englische Fabrik, die bis dahin nahtlos mit Guttapercha umpreßte Drähte nach dem Siemensschen System herstellte, offenbar im Interesse jenes Kabelringes bei der Lieferung von gereinigter Guttapercha an Siemens Brothers Schwierigkeiten gemacht hatte. Die Gesellschaft, die von den Brüdern Werner, Wilhelm und Karl Siemens für den Bau der Kabellinie Irland-Amerika gegründet wurde, mußte ihr Kapital auf dem Kontinent aufbringen, da der englische Markt durch die übermächtige Konkurrenz verschlossen war. Schon vorher hatte der ständig nach neuen Projekten ausschauende Geist Werner Siemens ein anderes gewaltiges Werk ersonnen und ausgeführt. Es handelte sich um nichts geringeres, als um den Bau einer Indo-Europäischen Überland-Telegraphen-Linie, die England über Preußen, Rußland und Persien mit seiner Kolonie Indien verband. Zu diesem Zwecke wurde eine englische Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 425000 Pfd. Sterl. gegründet, die sämtliche Konzessionen von den beteiligten Regierungen erwarb und die Linie bis zum Jahre 1869 fertigstellte. Der Bau, die Lieferungen an Materialien und Apparaten und die Unterhaltung der ganzen Linie wurde der Firma Siemens & Halske übertragen, die sich ihrerseits mit einem Fünftel des Aktienkapitals an dem Unternehmen beteiligte. Die Indo-Europäische Überland-Linie und die Kabelgesellschaft Irland-Amerika bilden die ersten Fälle von sogenannten Betriebsunternehmungen, die nicht im fremden Auftrag, sondern auf eigene Initiative von einer Fabrikationsgesellschaft in der elektrischen Industrie gegründet worden sind. Für Werner Siemens sind es Ausnahmefälle geblieben, die nicht einem geschäftlichen System entsprangen, sondern der Verwirklichung technischer und verkehrspolitischer Lieblings-Gedanken dienen sollten, weil diese Verwirklichung auf anderem Wege nicht hätte erfolgen können. Zu den Prinzipien der Firma Siemens & Halske gehörten derartige Eigen-Gründungen durchaus nicht, und wir werden später sehen, daß hier gerade ein Ansatzpunkt für das kaufmännisch anders geartete und modernere System Emil Rathenaus lag.
Schon der unternehmerische Wagemut, den damals die Firma Siemens & Halske an den Tag legte und der die Grenzen der Firma immer weiter ins Weltwirtschaftliche und Großbetriebliche hinaus [S. 68] schob, sagte Halske, dem ersten Sozius Werner Siemens und Mitbegründer der Firma nicht zu. Sein ehrlicher, gediegener, aber immerhin begrenzter und ängstlicher Geist liebte nur Geschäfte, die er überblicken konnte. Wohl fühlte er sich nur in kleineren Dimensionen, das andere schien ihm ein Wagen, das dem Hazardieren verwandt war. Darum schied er im Jahre 1868 aus der Firma, der er in den ersten Jahren ihres Bestehens als geschickter und tüchtiger Feinmechaniker hatte treffliche Dienste leisten können, die ihm aber entwachsen war, seitdem sich die Firma handwerkliche Talente, wie er eins war, zu Dutzenden gegen mäßige Bezahlung halten konnte. An Bedeutung für das Geschäft war Halske schon lange hinter Siemens Jugendfreund William Meyer, der jahrelang die Stellung eines Oberingenieurs und Prokuristen bekleidet hatte, zurückgeblieben. Meyers Nachfolger, der frühere Leiter des Hannoverschen Telegraphenwesens Karl Frischen, überragte als Persönlichkeit Halske noch beträchtlicher. Endlich wuchs in der Person des Herrn v. Hefner-Alteneck, der aus dem jüngeren Schülerstabe Werner Siemens stammend, als Chef des Konstruktionsbureaus tätig war, eine Kraft heran, der als technischer Erfinder in der Folgezeit Bedeutendes leisten sollte und als Konstrukteur neben Werner Siemens wohl bestehen konnte. Damit war Halskes Platz als erster Mitarbeiter Werner Siemens in einer dem neuen Charakter des Geschäfts entsprechenden Weise schon lange besetzt worden, ehe er ihn noch verlassen hatte.
Alles was die Firma Siemens & Halske, was die Elektrizitätsindustrie in der vergangenen Periode geleistet hatte, was auch noch den Hauptinhalt des nächsten Jahrzehnts bildete, gehörte der Schwachstromindustrie , das heißt der Erzeugung von Elektrizität auf chemischem Wege an. In Deutschland waren in dieser ersten Blüteperiode der Elektrizitätsindustrie nur verhältnismäßig wenige größere Firmen neben Siemens & Halske tätig. Bedeutung erwarben außerdem eigentlich nur die Firmen Felten & Guilleaume in Mülheim a. Rh., Gebr. Naglo und H. Poege in Chemnitz. Im übrigen gab es wohl eine ganze Anzahl von kleinen Betriebswerkstätten, die mit wenigen Arbeitern auskamen, und sich auf die Anfertigung von Apparaten, kleineren Telegraphenanlagen, Instrumenten usw. beschränkten. Über eine nationale, kaum lokale Bedeutung gingen aber diese Betriebe nicht hinaus. Wie wenig [S. 69] auch Siemens & Halske damals noch trotz ihres internationalen, weit ausgesponnenen Geschäfts dem entsprachen, was wir heute unter einem Großunternehmen verstehen, geht daraus hervor, daß diese Firma im Jahre 1869 nur 250, im Jahre 1875 nur 600 Arbeiter beschäftigte, eine Anzahl, die ungefähr die Hälfte der damals in der ganzen deutschen Elektrizitätsindustrie verwandten Arbeiter darstellte. Die überragende Bedeutung der Firma Siemens & Halske in dieser Periode hatte insofern ihr gutes, als der deutschen Elektrizitätsindustrie dadurch die konjunkturellen Ausschreitungen und die darauf folgende Krise erspart blieben, die in den anderen damals industriell weiter entwickelten Ländern infolge der Übergründungen elektrotechnischer Unternehmungen unausbleiblich gewesen waren. Die erste der großen elektrotechnischen Krisen berührte infolgedessen Deutschland nur verhältnismäßig wenig. Am stärksten hatte sie England betroffen, wo die industrielle Elektrotechnik namentlich nach den ersten großen Erfolgen des Kabelbaus mit einer Hochflut von Gründungen und Projekten eingesetzt hatte. Die hohen Dividenden der ersten Kabelunternehmungen hatten zur Nachahmung angestachelt, und das Publikum riß sich förmlich um die Papiere von Aktiengesellschaften, die irgend etwas mit Elektrizität zu tun hatten. Da die Aktien nach dem englischen Gesetz auf den kleinen Betrag von 1 Pfd. Sterl. ausgegeben werden konnten, ergriff das elektrische Spekulationsfieber auch die kleinsten Kapitalistenschichten. Ein Börsenkrach fegte diese ungesunden Auswüchse schließlich fort und die englische Regierung hielt es für richtig, als im Jahre 1880 mit der Lichtelektrizität ein neues Feld für Gründungen auf elektrotechnischem Gebiete sich zu eröffnen schien, mit einem beschränkenden Gesetz, der Electric Lighting Act, einzugreifen. Durch dieses Gesetz, das elektrische Beleuchtungsanlagen für die Dauer von 20 Jahren als ein Monopol der Regierung erklärte, wurde aber nicht nur die Entwicklung der Gründerei und Spekulation, sondern auch die der elektrotechnischen Industrie behindert, was sich in den kommenden Zeiten der zweiten elektrotechnischen Blüteperiode, in der die Starkstrom-Industrie zur Geltung kam, als ein schwerer Nachteil für England erwies. Die großen Erfolge der deutschen Starkstromindustrie, die dieser die unbestrittene Führung in Europa sicherten, sind einmal dadurch ermöglicht worden, daß in Deutschland dank der soliden Vorherrschaft der Firma Siemens & Halske kein kapitalistischer [S. 70] Zusammenbruch den Enthusiasmus für elektrische Gründungen abgekühlt hatte; dann aber auch dadurch, daß England, das gegebene Hauptwettbewerbsland, schon unangenehme Erfahrungen mit der industriellen Elektrotechnik hinter sich hatte, von denen sich weder die Regierung, noch das Publikum im richtigen Augenblick befreien konnten.
Das große historische Verdienst Werner v. Siemens lag nicht nur in der hervorragenden Mitwirkung, die er der Entwicklung der Schwachstromtechnik hatte angedeihen lassen, sondern in der schöpferischen Wendung , die er der Starkstromtechnik durch seine grundlegende Erfindung des sogenannten dynamo-elektrischen Prinzips im Jahre 1866 gegeben hatte. Dieses Prinzip besteht darin, daß Elektrizität nicht wie beim Schwachstrom auf chemischem Wege (durch Elemente oder Batterien), sondern auf physikalischem Wege durch die elektromagnetische Induktionsmaschine erzeugt wird. Werner v. Siemens schildert seine Versuche auf diesem Gebiete und die Ergebnisse, zu denen er durch sie gelangte, in seinen Lebenserinnerungen folgendermaßen:
„Bereits im Herbst des Jahres 1866, als ich bemüht war, die elektrischen Zündvorrichtungen mit Hilfe meines Zylinderinduktors zu vervollkommnen, beschäftigte mich die Frage, ob man nicht durch geschickte Benutzung des sogenannten Extrastromes eine wesentliche Verstärkung des Induktionsstromes hervorbringen könnte. Es wurde mir klar, daß eine elektromagnetische Maschine, deren Arbeitsleistung durch die in ihren Windungen entstehenden Gegenströme so außerordentlich geschwächt wird, weil diese Gegenströme die Kraft der wirksamen Batterie beträchtlich vermindern, umgekehrt eine Verstärkung der Kraft dieser Batterie hervorrufen müßte, wenn sie durch eine äußere Arbeitskraft in der entgegengesetzten Richtung gewaltsam gedreht würde. Dies mußte der Fall sein, weil durch die umgekehrte Bewegung gleichzeitig die Richtung der induzierten Ströme umgekehrt wurde. In der Tat bestätigte der Versuch diese Theorie, und es stellte sich dabei heraus, daß in den feststehenden Elektromagneten einer passend eingerichteten elektromagnetischen Maschine immer Magnetismus genug zurückbleibt, um durch allmähliche Verstärkung des durch ihn erzeugten Stromes bei umgekehrter Drehung die überraschendsten Wirkungen hervorzubringen.
Es war dies die Entdeckung und erste Anwendung des allen dynamo-elektrischen Maschinen zu Grunde liegenden dynamo-elektrischen Prinzips. Die erste Aufgabe, welche dadurch praktisch gelöst wurde, war die Konstruktion eines wirksamen elektrischen Zündapparates ohne Stahlmagnete, und noch heute werden Zündapparate dieser Art allgemein verwendet. Die Berliner Physiker, unter ihnen Magnus, Dove, Rieß, du Bois-Reymond, waren äußerst überrascht, als ich ihnen im Dezember 1866 einen solchen Zünderinduktor vorführte und an ihm zeigte, daß eine kleine elektromagnetische Maschine ohne Batterie und permanente Magnete, die sich in einer Richtung ohne allen Kraftaufwand und in jeder Geschwindigkeit drehen ließ, der entgegengesetzten Drehung einen kaum zu überwindenden Widerstand darbot und dabei einen so starken elektrischen Strom erzeugte, daß ihre Drahtwindungen sich schnell erhitzten.“
Die Priorität der Siemensschen Erfindung ist bald nach ihrer Bekanntgabe von verschiedenen Seiten bestritten worden. Die Engländer Wheatstone und Varley nahmen für sich die Gleichzeitigkeit der Idee in Anspruch. Immerhin hat Werner v. Siemens das dynamo-elektrische Prinzip zuerst literarisch dargestellt, konstruktiv mit Hilfe des sogenannten Doppel-T-Ankers ausgeführt, und ihm den Namen gegeben. Sein Verdienst wird nicht geschmälert, wenn man selbst annimmt, daß er etwas erfunden habe, was damals in dem Gang der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung logisch begründet und sozusagen in der Luft lag. Dies zeigt im Gegenteil, daß seine Erfindung systematischer Arbeit und folgerichtigem Denken, nicht einem Zufall ihr Dasein verdankt. Richtig ist hingegen, daß Werner v. Siemens weder die Dynamomaschine zu voller praktischer Brauchbarkeit entwickelt, noch den ganzen Umfang ihrer industriellen Nutzungsmöglichkeit erkannt und mit der sonst bei ihm gewohnten Energie zu verwirklichen gesucht hat. Sein Gedanken- und Arbeitskreis war doch wohl zu sehr von den Problemen der Schwachstromtechnik erfüllt, seine Kraft zu sehr von der lebenslangen Beschäftigung mit ihr absorbiert, als daß er sich dem Neuland der Starkstromtechnik hätte mit unverminderter Schaffensfähigkeit zuwenden können. Dazu gehörte eine unverbrauchte Frische, eine Jugend mit Zukunftsaugen, nicht der Rest eines mit Arbeit und Gedanken überfüllten Lebens.
Die praktische Verwertbarkeit der Dynamomaschine wurde [S. 72] gefördert durch die Einführung des sogenannten Pacinottischen Ringankers und des Hefnerschen Wickelungssystems (Trommelanker), aber erst Gramme baute im Jahre 1869 die erste wirklich gut funktionierende und industriell brauchbare Dynamomaschine, die kontinuierlichen Gleichstrom erzeugte. Werner v. Siemens hat selbstverständlich als der bedeutende Techniker und der klare Kopf, der er war, erkannt, daß die neue Erfindung eine große Tragweite besitze. An seinen Bruder Wilhelm schrieb er schon im Jahre 1866: „Die Effekte der dynamo-elektrischen Maschine müssen bei geeigneter Konstruktion kolossale werden. Die Sache ist sehr ausbildungsfähig und kann eine neue Ära des Elektromagnetismus anbahnen. Magnet-Elektrizität wird billig werden und kann nun zur Lichterzeugung, für elektrochemische Zwecke, ja selbst wieder zum Betriebe von kleinen elektromagnetischen Maschinen zum Vorteil verwandt werden.“ — Man sieht, das sind Worte, in denen die höchsten Erwartungen und Hoffnungen sich widerspiegeln, aber es ist merkwürdig, die Hand Werner v. Siemens war bei den Ausführungsmaßnahmen auf dem neuen, als gewaltig erkannten Gebiet nicht mehr so sicher, fest und glücklich wie früher, die Phantasie arbeitete nicht mehr so hoffnungsfreudig und kühn, und die Durchführung wirkt sozusagen kleiner als der Gedanke. Wenn Werner v. Siemens auch recht wohl erkannte, daß die Erzeugung starker Gleichströme und großer Strommengen für die Lichterzeugung von großer Bedeutung sein werde, so sah er doch auf diesem Gebiete hauptsächlich nur die äußerlich pompöse Bogenlampe, die in den 70er Jahren erfunden worden war, und für die Siemens & Halske in der Hefner-Alteneckschen Differential-Lampe ein besonders gutes Modell besaßen. Die unscheinbarere, aber für die elektrische Beleuchtung viel wichtiger gewordene Glühlampe lehnte Siemens nicht gerade ab. Er ließ sich, als Emil Rathenau mit genialem Blick die großartige Zukunft dieser Lampe erkannt hatte und zu ihrer Einführung in Deutschland die Unterstützung der damals maßgebenden deutschen elektrotechnischen Firma nachsuchte, sogar ziemlich leicht von ihrem Wert überzeugen, aber seine ganze Stellung zur Glühlampe war doch mehr passiv. Sie mußte ihm erst plausibel gemacht, fast aufgedrängt werden. Er riß sie nicht an sich, wie er vor 30 Jahren den Telegraphen an sich gerissen hatte. Auch von der [S. 73] gewaltigen quantitativen Ausdehnungsfähigkeit der Dynamomaschine machte er sich nicht das richtige Bild. Als Emil Rathenau, der in den ersten Jahren seiner Tätigkeit für die Edison-Gesellschaft die Maschinen vertragsgemäß bei Siemens & Halske bauen lassen mußte, von Siemens bis dahin unerhört große Maschinentypen verlangte, sah ihn der große Konstrukteur verwundert, und fast geringschätzig wie einen überspannten Dilettanten an, und sagte ihm: „Gewiß, bauen kann ich Ihnen solche Maschinen, aber gehen werden sie nicht.“ Emil Rathenau ließ die Maschinen schließlich aber doch bauen, und sie gingen nicht nur, sondern es gingen auch noch solche, neben denen sich seine ersten heute als Zwerge ausnehmen würden. Emil Rathenau reichte als positiver Techniker auch nicht entfernt an Werner v. Siemens heran, aber in diesen Dingen und zu diesen Zeiten hatte er den größeren technischen Weitblick.
Auch im Kaufmännischen ging Werner v. Siemens nicht ganz mit der aufkommenden neuen Zeit mit, wenngleich ein Unternehmen, wie das von Siemens & Halske naturgemäß genug innere Triebkraft und Elastizität besaß, um seine Stellung — allerdings hier und da nach einigem Zaudern — allen Methoden der Konkurrenz gegenüber zu verteidigen, und wo es nottat, sich ihnen anzupassen. Einrosten ließ diese Firma ihren Betrieb auch auf der Höhe der Entwicklung nicht, lebendig blieb ihr Geschäft auch in der Folgezeit, aber das Bahnbrechende ging doch in mancher Hinsicht verloren. Das Kämpfen wurde nicht verlernt, aber doch das Angreifen und Erobern. Die Zeiten, in denen Werner Siemens nacheinander sechs Außenseiterlinien gegen den englischen Kabelring aufbot, und immer eine neue Linie begann, wenn sich der Ring mit der früheren verglichen hatte, wichen ruhigeren Perioden, in denen nicht das Erringen des Besitzes, sondern seine Wahrung dem Ganzen den Stempel aufdrückte. Das lag sozusagen an der zunehmenden „Klassizität“, in die sich Werner v. Siemens hineinwuchs. Der Grundzug seines Wesens war ja nie loderndes Temperament, heiße Flamme gewesen, wie sie manchmal auch Grauköpfe noch zu Ausbrüchen, Überraschungen, Neuerungen bringen mögen. Die ruhige Wärme, die gleichmäßige Kraft, die seiner ganzen Natur eigen war, gaben seinem reifen Alter etwas Zurückhaltendes, in sich Geschlossenes, manchmal Abweisendes. Eine gewisse — wenigstens äußere — Abkühlung war bei Menschen seines [S. 74] Schlages mit den zunehmenden Jahren nicht zu vermeiden. Wir haben bereits früher einmal gesagt, daß Werner v. Siemens in der Mitte zwischen Wissenschaft und Technik stand und durch die eine die andere zu erobern trachtete. In seinen späteren Jahren suchte er immer tiefer von dem Technischen in das Wissenschaftliche vorzudringen, und wie ernst seine Wissenschaftlichkeit nicht nur war, sondern auch von der Zunft und ihren Königen genommen wurde, zeigt sich darin, daß Männer wie Magnus, Dove, du Bois und Helmholtz ihm eng befreundet waren und ihn durchaus als ihresgleichen betrachteten. Du Bois-Reymond sagte von ihm, daß er nach Beanlagung und Neigung in weit höherem Maße der Wissenschaft als der Technik angehöre und Werner Siemens war mit dieser Charakteristik durchaus zufrieden. Er wurde philosophischer Ehrendoktor, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, und war als solches nicht nur genötigt, sondern auch gern bereit, sich über Probleme der angewandten technischen Wissenschaft hinaus, auch mit rein naturwissenschaftlichen Untersuchungen und Arbeiten allgemeiner Art zu beschäftigen. Diese Beschäftigung und dieser Umgang mußten auch auf die kaufmännische Seite seiner Tätigkeit zurückwirken. Er wurde als Kaufmann sehr vornehm, und als der alte Kaiser Wilhelm ihm durch die Ernennung zum Kommerzienrat eine Ehre erweisen wollte, bemerkte er ablehnend zu dem Beauftragten des Monarchen: „Premierleutnant, Dr. phil. honoris causa und Kommerzienrat vertrügen sich nicht, das mache ja Leibschmerzen.“ — Es wäre indes völlig falsch, wenn man Werner Siemens, wie dies hier und da geschehen ist, kaufmännische Talente und Neigungen absprechen wollte. Er besaß sie in hohem Maße, wie sich schon in seiner ersten Periode der technischen Erfindungen, für die er mit großer Geschäftsgewandtheit noch als Offizier sofort die richtige kaufmännische Ausnutzung zu finden wußte, hinlänglich gezeigt hat; wie noch stärker die spätere meisterhafte Ausnutzung aller nationalen und internationalen Kaufmannschancen bewies. Man vergleiche damit z. B. die Weltfremdheit, mit der ein Gauß auf jede kommerzielle Verwertung seines Telegraphen verzichtet hatte, man vergleiche damit auch moderne Erfinder, wie Nernst, Röntgen, Ehrlich usw., die zwar — im Zeitalter der technischen Ausnutzung — sehr wohl verstanden, Industrielle für ihre Entdeckungen zu interessieren und Kapital aus ihnen zu schlagen, aber trotzdem Gelehrte [S. 75] gewesen und geblieben sind. Werner Siemens war — das kann man auch seiner eigenen anders lautenden Ansicht gegenüber aufrecht erhalten — im Kerne seines Wesens vor allem nicht nur praktischer Techniker, sondern auch praktischer Kaufmann. Er beherrschte nicht nur die großen, sondern auch die kleinen kaufmännischen Mittel und konnte nicht nur klug, sondern auch gerissen sein. Erst nachdem er sich in diesen Richtungen so weit ausgelebt hatte, als es die Bedingungen seiner Zeit und seine Veranlagung erlaubten, gab er der dritten Fähigkeit seiner reichen Natur freie Bahn, die vielleicht nicht die innerste, aber doch die innerlichste seines Wesens war, in der er am reinsten und klarsten zu einer Vertiefung und Sammlung seiner Gedankenarbeit, zu einem einheitlichen, geschlossenen Wissensbild, zu einer Klarheit über sich, die Wurzeln und Kräfte seiner Welt gelangen konnte. Diese Verinnerlichung und Veredelung seines Wesens, die gewiß nur wenig mit Akademikerstolz, mit geschmeichelter Eitelkeit des wissenschaftlich Anerkannten zu tun hatte, ehrt den Menschen Siemens gewiß; diese schließliche seelische Intensivierung ist keine geringe ethische Leistung für einen von Hause aus praktisch veranlagten Menschen, dessen Leben lange Zeit im Zeichen der äußersten, vielgestaltigsten Expansion gestanden hatte. Dem industriellen Kaufmann und seinem Unternehmen hat sie naturgemäß nicht in gleicher Weise zum Vorteil gereicht.
Die Starkstromtechnik brachte bald das zu Wege, was in den Zeiten der Schwachstromtechnik — wenigstens in Deutschland — nicht gelungen war. Es entstand neben Siemens & Halske eine ganze Reihe von Unternehmungen, die sich im industriellen Großbetrieb der Elektrotechnik zuwandten. Auf dem Gebiete des Telegraphen und des Kabels hatten die Verhältnisse so gelegen, daß zur Gründung von Betrieben, die den Bau von großen Telegraphenlinien und Kabelverbindungen für fremde oder auch für eigene Rechnung unternehmen wollten, umfangreiche Kapitalien und eingehende Erfahrungen nötig waren. An solche Aufgaben traute man sich in Deutschland, besonders angesichts des Vorsprungs, den Siemens & Halske darin erworben hatten, nicht heran. Für die Herstellung von Apparaten, Instrumenten und Materialien der Schwachstromindustrie genügten aber kleinere Mechanikerbetriebe, die der großgewerblichen Methoden entraten konnten, da es auf die feinmechanische Arbeit, nicht auf die Maschinentechnik ankam. [S. 76] Dies wurde mit einem Schlage anders, als die Starkstromtechnik auf dem Plane erschien. Dynamomaschinen, elektrische Lampen usw. ließen sich nur in fabrikmäßigen Betrieben herstellen. Hierzu waren aber weder — wenigstens in der ersten Zeit — besonders große Kapitalien nötig, noch war die weit überlegene Konkurrenz älterer Fabriken zu überwinden. Die Firma Siemens & Halske mußte hier genau so von vorn anfangen, wie alle anderen Fabriken, und es gab eine ganze Menge von Fachleuten, die in der Maschinentechnik ebenso große, vielleicht noch größere Vorkenntnisse besaßen, als die Ingenieure dieser Firma. Gegen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre entstanden infolgedessen mehrere elektrotechnische Fabriken, die sich vornehmlich der Starkstromindustrie zuwandten. Von ihnen sind besonders zu erwähnen die Elektrizitätsgesellschaft vorm. Schuckert und die Deutschen Elektrizitätswerke Garbe, Lahmeyer & Co., die später in die Kommanditges. und schließlich in die Elektrizitäts-Aktiengesellschaft W. Lahmeyer & Co. überführt wurde. Ihre Entstehung hat mit der Lichtelektrizität, die — ihrerseits vorbereitet durch die Konstruktion der Dynamomaschine — wiederum eine Reihe weiterer Unternehmungen wie die Deutsche Edison-Ges. (A. E. G.), die Helios-Elektrizitäts-Ges., die Elektrizitäts-Akt.-Ges. Kummer ins Leben rief, noch nicht viel zu tun. Jene Gründungen — Schuckert und Lahmeyer — beruhten hauptsächlich auf der Fabrikation von Dynamomaschinen. Besonders die Entwicklung der Schuckertschen Fabrik illustriert deutlich die Bedeutung, die die praktische Ausgestaltung der Dynamomaschine für die geschäftlichen Aussichten neuer Unternehmungen in der Elektrizitätsindustrie gehabt hat.
Johann Sigmund Schuckert gehört zu den interessanteren Persönlichkeiten der deutschen Elektrizitätsindustrie, und darum seien seinem ungewöhnlichen Lebens- und Entwicklungsgang einige Worte gewidmet. Schuckert hat keine Ingenieurbildung erhalten, sondern er stammte aus ganz einfacher Mechanikerlaufbahn, und ist in dieser Hinsicht von allen bekannten Persönlichkeiten der deutschen Elektrizitätsindustrie am meisten Halske ähnlich. Während dieser aber alles, was er geworden ist, seinem Sozius Siemens verdankte, dessen fortreißende Persönlichkeit den für bescheidene Verhältnisse Geschaffenen über die ihm sonst gesetzten Grenzen hinaushob, ohne ihn [S. 77] doch auf der erreichten Höhe heimisch machen zu können, besaß Schuckert die Energien des Auftriebs in sich selbst. In einer mechanischen Werkstätte seiner Vaterstadt Nürnberg duldete es ihn nur gerade die drei Lehrjahre. Dann ging er auf die Wanderschaft durch eine Reihe von größeren deutschen Städten. In Berlin arbeitete er eine Zeitlang im Betriebe von Siemens & Halske. Allmählich brachte er es bis zum Werkmeister, die Mußestunden, die ihm seine Berufsarbeit ließ, zu seiner technischen Fortbildung benutzend. Sein Wandertrieb führte ihn schließlich nach Amerika, wo er auch bei Edison tätig war. Im Jahre 1873 kehrte er nach Nürnberg zurück, wo er eine kleine Werkstätte errichtete und sich mit der Reparatur von Nähmaschinen und der Herstellung von Instrumenten und Apparaten beschäftigte, die er zum Teil selbst konstruierte oder verbesserte. Seine Fabrikate verleugneten nicht den Fachmann, der die Elemente der Feinmechanik nicht nur technisch, sondern auch handwerklich bis ins Kleinste studiert hatte. Im Jahre 1875 baute er seine erste Dynamomaschine, und die vorzüglichen Eigenschaften, die sie besaß, schufen seinen Erzeugnissen Ruf, seinem Geschäft die Grundlage für den Aufschwung. Auch die Bogenlampe und später die Glühlampe traten hinzu, wodurch sich das Unternehmen allmählich zum größeren elektrotechnischen Etablissement auswuchs, das in Alexander Wacker einen tüchtigen Kaufmann fand, der die technische Arbeit Schuckerts so lange glücklich ergänzte, als er sich nicht zu unbeherrschten Experimenten hinreißen ließ.
In technischer und kaufmännischer Hinsicht richteten sich die meisten der damals neugegründeten Firmen bis zum Beginn der 90er Jahre noch immer nach dem Vorbild von Siemens & Halske, die damals ihren Vorrang noch unbestritten behaupteten. Sie begannen als offene Handelsgesellschaften und sobald es galt, ihnen eine straffere handelsrechtliche Form zu geben, bedienten sie sich der Rechtsnatur der Kommanditgesellschaft , die auch Siemens & Halske (Inhaber Werners Bruder Karl und Werners Söhne Arnold und Wilhelm) nach dem im Jahre 1890 erfolgten Austritt Werner v. Siemens aus der Firma gewählt hatten. Erst später, als die A. E. G. sich immer stärker mit ihren neuen Geschäftsmethoden an die Seite von Siemens & Halske und an dieser vorbei in den Vordergrund schob, wurde auch für die anderen Unternehmungen der Elektrizitätsindustrie die Aktiengesellschaft die gegebene [S. 78] Form, für die sich Emil Rathenau schon bei der Gründung seiner Gesellschaft im Jahre 1883 ohne Zögern, und ohne an irgend welche Vorbilder zu denken, entschieden hatte. Selbst Siemens & Halske konnten schließlich nicht umhin, ihr Unternehmen auch in dieser Hinsicht ihrer jüngeren Konkurrenz anzupassen und wandelten im Jahre 1897 ihre Kommanditgesellschaft als letzte der großen Elektrizitätsfirmen in eine Aktiengesellschaft um. Der Typ Rathenau hatte endgültig gesiegt. Werner v. Siemens, der im Jahre 1892 gestorben war, hatte diesen Umschwung allerdings nicht mehr erlebt. Ob er ihn gebilligt hätte, ist schwer zu sagen. Noch im Jahre 1889, als er seine Lebenserinnerungen schrieb, äußerte er sich über die Frage der rechtlichen Form von gewerblichen Unternehmungen folgendermaßen:
„Es führt mich dies auf die Frage, ob es überhaupt dem allgemeinen Interesse dienlich ist, daß sich in einem Staate große Geschäftshäuser bilden, die sich dauernd im Besitze der Familie des Begründers erhalten. Man könnte sagen, daß solche großen Häuser dem Emporkommen vieler kleineren Unternehmungen hinderlich sind und deshalb schädlich wirken. Es ist das gewiß in vielen Fällen auch zutreffend. Überall, wo der Handwerksbetrieb ausreicht, die Fabrikation exportfähig zu erhalten, wirken große konkurrierende Fabriken nachteilig. Überall dagegen, wo es sich um die Entwicklung neuer Industriezweige und um die Eröffnung des Weltmarktes für schon bestehende handelt, sind große zentralisierte Geschäftsorgane mit reichlicher Kapitalansammlung unentbehrlich. Solche Kapitalansammlungen lassen sich heutigen Tages für bestimmte Zwecke allerdings am leichtesten in der Form von Aktiengesellschaften herbeiführen, doch können diese fast immer nur reine Erwerbsgesellschaften sein, die schon statutenmäßig nur die Erzielung möglichst hohen Gewinnes im Auge haben dürfen. Sie eignen sich daher nur zur Ausbeutung von bereits vorhandenen, erprobten Arbeitsmethoden und Einrichtungen. Die Eröffnung neuer Wege ist dagegen fast immer mühevoll und mit großem Risiko verknüpft, erfordert auch einen größeren Schatz von Spezialkenntnissen und Erfahrungen, als er in den meist kurzlebigen und ihre Leitung oft wechselnden Aktiengesellschaften zu finden ist. Eine solche Ansammlung von Kapital, Kenntnissen und Erfahrungen kann sich nur in lange bestehenden, durch Erbschaft in der Familie bleibenden Geschäftshäusern bilden [S. 79] und erhalten. So wie die großen Handelshäuser des Mittelalters nicht nur Geldgewinnungsanstalten waren, sondern sich für berufen und verpflichtet hielten, durch Aufsuchung neuer Verkehrsobjekte und neuer Handelswege ihren Mitbürgern und ihrem Staate zu dienen, und wie dies Pflichtgefühl sich als Familientradition durch viele Generationen fortpflanzte, so sind heutigen Tages im angebrochenen naturwissenschaftlichen Zeitalter die großen technischen Geschäftshäuser berufen, ihre ganze Kraft dafür einzusetzen, daß die Industrie ihres Landes im großen Wettkampfe der zivilisierten Welt die leitende Spitze, oder wenigstens den ihr nach Natur und Lage ihres Landes zustehenden Platz einnimmt.“
Man sieht also, Werner v. Siemens fühlt das Bedürfnis, sich und seinen Typus des großindustriellen Geschäftshauses noch nach zwei Seiten hin zu verteidigen, einmal gegenüber dem von ihm überwundenen Handwerksbetrieb , den er zur Zeit seiner Anfänge in Deutschland noch als den herrschenden vorgefunden hatte, ferner gegenüber dem Aktienbetrieb, der damals schon im Begriff war, seinen Typus zu überwinden. Inzwischen hat sich gezeigt, daß die Nachteile, die er den Aktiengesellschaften zuschreibt, nämlich die Notwendigkeit, hohe Gewinne zu erzielen und auszuschütten , dieser Rechtsform zwar anhaften können, aber nicht anzuhaften brauchen. Es gibt Aktiengesellschaften, die Gewinne ebenso zurückzuhalten und im Betriebe weiterarbeiten zu lassen verstehen, wie Privathäuser. Man braucht gar nicht einmal an die Friedrich Krupp Akt.-Ges., an die Thyssenschen, Hanielschen Unternehmungen und an viele andere zu denken, deren Aktien sich in einer Hand oder in den Händen einer geschlossenen Gruppe befinden. Wir wissen jetzt, daß auch die eigentlichen Aktiengesellschaften, die nicht Privathäuser in Aktiengesellschaftsform, sondern republikanische Gebilde mit zersplittertem Aktienbesitz sind, die Nachteile, die ihnen Werner v. Siemens zuschreibt, sehr wohl vermeiden und über das jeweilige Aktionärinteresse hinaus bei zweckentsprechender Verwaltung eine solide Innenkultur treiben können. Diesen Beweis hat kein anderer so glänzend erbracht, wie der zweite große technische Kaufmann der deutschen Elektrizitätsindustrie: Emil Rathenau.
Emil Rathenau benutzte, wie wir schon gehört haben, die Zeit zwischen seinen beiden Arbeitsperioden viel zu Reisen, die teils der Unterrichtung, teils der Erholung dienten. Auch der schwankende Gesundheitszustand seines zweiten Sohnes Erich, der seit einer schweren Erkältung, die er sich auf dem Eise zugezogen hatte, an einer Herzkrankheit litt, veranlaßte die Familie, häufig Kurorte und Bäder aufzusuchen. Es mag vielleicht nur ein eigenartiger Zufall sein, daß Emil Rathenau, ebenso wie er sich die entscheidenden Anregungen für neue Phasen seiner beruflichen Tätigkeit auf Reisen holte — in England, von den Weltausstellungen in Philadelphia und Paris —, auch die wichtigsten persönlichen Beziehungen auf Reisen anknüpfte. Die Ausnutzung solcher Zufälle, in mancher Hinsicht möglicherweise auch die geeignete Prädisposition für ihre Herbeiführung, ist aber doch zweifellos von der „Reisestimmung“ begünstigt worden. Die größere Freiheit und Leichtigkeit der veränderten Atmosphäre, die Losgebundenheit von der latenten Trägheit, in die auch dieser Arbeiter trotz aller in ihm wirkenden Energien des Gedankens und der Tat ebenso wie andere Mitglieder seiner Familie gelegentlich verfallen konnte, wenn sein Leben sich in gewohnten Gleisen ohne zwingende Arbeitsnötigung hinspann, erfrischten und verjüngten ihn, hoben seine Entschlußkraft und sein Selbstvertrauen. „Geistige Luftveränderung“ ist ihm stets sehr gut bekommen, so wenig auch für ihn ein dauernder Ortswechsel denkbar war. Wir werden später sehen, daß Emil Rathenau die finanzielle Beihilfe zur Gründung seiner Deutschen Edison Gesellschaft einer zufälligen Begegnung in Bad Langenschwalbach verdankte. Auch die Anknüpfung näherer Beziehungen zu Werner v. Siemens, die so wichtig für [S. 81] ihn werden sollten, vollzog sich auf einer Schweizer Reise. Kennen gelernt hatte Rathenau den Altmeister der deutschen Elektrizität, wie wir schon berichteten, bereits lange vorher, als er noch Besitzer der Maschinenfabrik Webers war. Am Anfang der 70er Jahre hatte Emil Rathenau mit Siemens, Schwartzkopff und anderen der kleinen Vereinigung Berliner Fabrikanten angehört, die durch patriarchalische Wohlfahrtseinrichtungen, wie den Bau von Arbeiterhäusern gehofft hatten, der jungen sozialdemokratischen Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Die Bekanntschaft war damals aber nur ziemlich oberflächlicher Art gewesen. Zwischen dem berühmten technischen Industriellen und dem bescheidenen jungen Fabrikbesitzer war es zu einem näheren Verkehr nicht gekommen. Immerhin war die frühere Beziehung dazu hinreichend, daß sich Werner v. Siemens des damaligen Vereinsgenossen erinnerte, als dieser auf der Rückreise vom Engadin in Bad Alveneu mit ihm zusammentraf. Nach dem Mittagessen entspann sich eine zunächst wohl konventionell einsetzende, dann allmählich wärmer werdende Unterhaltung. Man erörterte die Möglichkeiten des damals aufkommenden elektrischen Lichts. Rathenau, der gerade über Zukunftsprobleme zündend zu sprechen wußte, beklagte die Rückständigkeit Berlins in der elektrischen Beleuchtung gegenüber Paris, wo die Avenue de l’opéra und die Place de la Concorde jeden Abend im Glanz von Jablochkoff-Kerzen erstrahlten. Emil Rathenau, der sich — wie wir wissen — vorübergehend selbst mit dem Plan, die Jablochkoff-Patente für Deutschland zu erwerben, beschäftigt, die Idee aber bald wieder fallen gelassen hatte, warf die Bemerkung hin, daß die Leipziger Straße mit Hefner-Altenecks Differential-Lampen beleuchtet, die französische Hauptstadt in Schatten stellen würde. Werner v. Siemens gefiel die Anregung, vielleicht schmeichelte sie ihm auch nur, und er lud Rathenau ein, in Berlin weiter darüber zu sprechen. Bei seinem Besuch begleitete er Rathenau zur Tür des Chefkonstrukteurs, mit dem Rathenau persönlich bekannt war, seitdem er für die erste von Siemens & Halske konstruierte elektrische Scheinwerferanlage die Dampfmaschine geliefert hatte. Hefner-Alteneck, der merkwürdigerweise seiner eigenen Erfindung nur eine beschränkte praktische Entwickelung zuzutrauen schien, fragte Rathenau skeptisch, ob ihm der Alte gesagt hätte, wie er die Aufgabe zu lösen denke oder ob er selbst es wisse. Ihm sei das Problem schleierhaft. [S. 82] Hefner-Alteneck dachte bei diesem Ausspruch vielleicht noch mehr als an die technische Schwierigkeit der Anlage an die schwer zu überwindende Konkurrenz der Gasbeleuchtung, die bereits im Jahre 1880, bei einem Versuch, den Pariser Platz mit Bogenlampen zu beleuchten, hervorgetreten war. Die probeweise hergestellte Anlage war damals nicht zur Ausführung gekommen, weil die Gasfachleute das neue elektrische Licht wirksam zu übertrumpfen in der Lage gewesen waren. Mit etwas bitterer Selbstironie hatte Hefner-Alteneck damals bemerkt, daß es zu den guten Eigenschaften des elektrischen Lichtes gehörte, überall da, wo es sich auch nur von ferne blicken lasse, zu einer mächtigen Gasbeleuchtung die Veranlassung zu bieten. Daß der Gedanke Rathenaus, die Leipziger Straße mit Differentiallampen zu beleuchten, übrigens doch nicht so ganz aus der Welt lag, zeigte sich etwa 1½ Jahre später. Damals — im Herbst 1882 — führten Siemens & Halske nach einem kurzen Versuche mit einer Glühlichtbeleuchtung in der Kochstraße eine Bogenlampenbeleuchtung in der Leipziger Straße durch. Beide fanden aber keinen so rechten Anklang beim Publikum. Das Glühlicht in der Kochstraße imponierte infolge der noch unentwickelten Lampen, die sich mit ihrem roten Licht kaum vom Gas unterschieden, nur wenig, das Bogenlicht in der Leipziger Straße, das von 4 Deutzer Gasmaschinen zu je 12½ PS erzeugt wurde, stellte sich, trotzdem mit der verwendeten Gasmenge die zehnfache Lichtwirkung wie beim reinen Gaslicht erzielt wurde, sehr teuer, denn die Lampenbrennstunde kam auf 38 Pfennige zu stehen. Rathenau, der die Unvollkommenheit der Siemensschen Versuche nicht verkannte, sprach damals die Überzeugung aus, daß trotz alledem der Sieg des elektrischen Lichts in der Straßenbeleuchtung nicht ausbleiben werde.
Die Möglichkeit, mit Siemens & Halske an der elektrischen Beleuchtung Berlins zu arbeiten, war jedenfalls nach jenem Besuch bei Werner Siemens, der sich nur halbinteressiert gezeigt hatte, und bei Hefner-Alteneck, der Rathenau — zum Teil vielleicht aus einem Konkurrenzgefühl heraus — völlig abgewiesen hatte, vorerst erledigt. Sie stellte für ihn aber nicht den einzigen oder auch nur den besten Weg dar, auf dem er sich dem Gebiet der elektrischen Beleuchtung nähern konnte. Dazu war er — die große Zukunft der Lichtelektrizität erkennend — fest entschlossen. War es nicht die Differentiallampe, [S. 83] die er Siemens gegenüber wohl nur vorgeschlagen hatte, weil er so am schnellsten dessen mächtige Unterstützung zu finden hoffte, so war es ein anderer Typus. Diesen fand er mit divinatorischer Sicherheit auf der Pariser Elektrizitäts-Ausstellung im Jahre 1881, wo Thomas Alva Edison sich eben anschickte, sein neues Beleuchtungssystem, in dessen Mittelpunkt als Hauptstück die Kohlenfadenlampe stand, der europäischen Öffentlichkeit vorzuführen.
Bevor wir uns der Edisonschen Erfindung und ihrer umwälzenden Bedeutung für die Lichtelektrizität zuwenden, wollen wir einen kurzen Rückblick auf die früheren Versuche auf dem Gebiete des elektrischen Lichts werfen. Die erste — allerdings nicht praktisch gewordene — Verwendung der Elektrizität zur Erzeugung von Licht ist sehr früh erfolgt, lange bevor der elektrische Telegraph, der doch mehr als ein Menschenalter vor dem elektrischen Licht die Welt eroberte, entdeckt worden war. Der berühmte englische Chemiker Humphry Davy stellte im Jahre 1808, also nur 18 Jahre nach der Entdeckung Galvanis, den fundamentalen, für seine eigene wissenschaftliche Leistung allerdings nur nebensächlichen Versuch an, der unter dem Namen des elektrischen Lichtbogens berühmt geworden ist und die Grundlage für das Verfahren der Bogenlichterzeugung bildet. Davy hatte zwei zugespitzte Kohlenstäbchen mit den Polen einer galvanischen Kette verbunden, und beobachtete, daß zwischen den Spitzen eine leicht gebogene Flamme entstand, wenn man die vorher in Berührung gebrachten Kohlenspitzen vorsichtig auseinanderzog. Von da bis zur Anwendung der Bogenlampe in der Praxis war aber ein weiter Weg. Solange man auf Schwachstrom angewiesen war, kam man über vereinzelte Versuche nicht hinaus, als gebräuchliches Beleuchtungssystem wollte die Bogenlampe nicht Fuß fassen. Im Jahre 1846 wurde die Lampe, der „potenzierte Mondschein“, wie man sie damals nannte, bei der Erstaufführung der Meyerbeerschen Oper „Der Prophet“ in Paris als Bühnenbeleuchtung benutzt. Als Straßenbeleuchtung erschien das neue Licht zu grell und „augenschädlich“. Diese ungünstigen Eigenschaften verbunden mit einer noch ziemlich starken Unzuverlässigkeit des Lichtes, ließen den Versuch einer Straßenbeleuchtung, den Jacobi im Jahre 1850 in Petersburg machte, scheitern. Dagegen erwies es sich gerade der genannten Eigenschaften wegen als besonders geeignet für Leuchtturmlicht. Und besonders nachdem der berühmte englische Elektro- [S. 84] Physiker Faraday zum wissenschaftlichen Berater der Korporation, die die Instandhaltung des gesamten englischen Leuchtturmwesens zur Aufgabe hatte, ernannt worden war, fand das Bogenlicht ausgedehnte Anwendung bei Leuchttürmen. Dabei bediente sich Faraday aber als Kraftquellen nicht mehr großer galvanischer Batterien, wie das bei den früheren Versuchen (auch in St. Petersburg) geschehen war, sondern von ihm hergestellter magnetelektrischer Maschinen, die nach dem von Faraday entdeckten Prinzip der Induktion hergestellt worden waren. Diese Maschinen, bei denen die induzierende Wirkung durch die Kraft permanenter Stahlmagnete hervorgerufen wurde, arbeiteten indes trotz ihrer Größe und im Verhältnis zu ihrer Größe wie ihren Kosten sehr unökonomisch, so daß sich ihre Verwendung für Zwecke, in denen andere, billigere Beleuchtungsarten zur Verfügung standen und nicht besonders starke Einzellichter benötigt wurden, verbot. Erst die Erfindung des dynamoelektrischen Prinzips, bei dem sich die induzierenden Magnete und der erzeugte Strom gegenseitig verstärkten, und die hieraus folgende schnelle Entwickelung immer vollkommenerer Dynamomaschinen schufen hierin Wandel. Es schoß bald eine große Anzahl von Bogenlampen-Konstruktionen aus dem Boden. Das ganze System krankte aber noch an dem Nachteil, daß für jede Lampe eine besondere Dynamomaschine als Kraftquelle benötigt wurde, was das Bogenlicht als Beleuchtung dem aus zentralen Kraftquellen gespeisten Gas unterlegen machte. Die erste Erfindung, nach der aus einer Maschine mehrere Stromkreise gespeist werden konnten, ging von Jablochkoff aus, von dessen Lampen wir bereits mehrfach, unter anderem zum Beginn dieses Kapitels gesprochen haben. Das Pariser Warenhaus „Louvre“ wurde zuerst mit Jablochkoff-Kerzen erleuchtet, es folgten mehrere öffentliche Plätze und Straßen in Paris, darunter die Avenue de l’opéra, deren strahlendes Licht Emil Rathenau als Berliner Lokalpatriot in Gegensatz zu der rückständigen Beleuchtung seiner Vaterstadt gestellt hatte. Zur Krafterzeugung für diese eine kurze Straße waren damals noch drei Zentralstationen notwendig. Kurze Zeit später, im Jahre 1878, konstruierte Hefner-Alteneck die nach ihm benannte Differentiallampe, deren Prinzip von Werner Siemens herrührt. Hier wurde derselbe Erfolg der Speisung mehrerer Lampen aus einer Kraftquelle solider und vollkommener erreicht als bei Jablochkoff, wobei die Differentiallampe auch durch andere Verbesse [S. 85] rungen, wie die Verwendung der sogenannten Dochtkohlen, reineres Licht usw. ausgestaltet worden war. Dennoch war man, wie wir gesehen haben, im Hause Siemens & Halske nicht so wagemutig und unternehmend wie in Paris, was die Beleuchtung von öffentlichen Straßen mit Bogenlampen anlangt. Werner Siemens stand derartigen neuen Problemen passiver gegenüber als den Erfindungen seiner Jugendzeit, und dem Konstrukteur Hefner-Alteneck fehlte bei aller Tiefe und Gründlichkeit der technischen Anschauung doch der Feuergeist und die Einbildungskraft des großen Erfinders. Man beschränkte sich zunächst auf die Beleuchtung von Hallen, Innenräumen usw. und der Gedanke der zentralen Kraftstation auch in der primitivsten Form war den vorsichtigen Technikern der Firma Siemens & Halske noch „schleierhaft“.
Die große Belebung sollte der Industrie des elektrischen Lichtes aber nicht von der Bogenlampe, sondern von der Glühlampe kommen. Die Bogenlampe war bei ihrer großen Intensität und Lichtstärke nur für die Beleuchtung von Straßen und großen Innenräumen zu verwenden, nicht für die Erhellung von Wohnräumen. Ihr Licht brannte — namentlich in der ersten Zeit — flackerig und unregelmäßig und sie sonderte verhältnismäßig viel Kohlenruß ab.
Experimentelle Versuche mit der Glühlampe sind gleichfalls schon sehr früh angestellt worden. Das Prinzip bestand darin, Kohlen oder Metalle in luftleer gemachtem Raume so zu erhitzen, daß sie leuchteten, ohne zu verbrennen. Als im Jahre 1859 C. G. Farmer in Newport sein Haus mit 42 Platinfaden-Lampen beleuchtete, war dies nicht der erste, wohl aber der erste größere Versuch dieser Art. Eine weitere Ausdehnung der Erfindung scheiterte auch hier daran, daß große galvanische Batterien, auf die man vorläufig als Kraftquellen angewiesen blieb, sehr teuer herzustellen waren und trotzdem eine für praktische Zwecke nur beschränkte Kraftmenge lieferten. Im Großen gelang erst Thomas Alva Edison , dem Verbesserer des Mikrophons — unter Benutzung von Dynamomaschinen — die Herstellung und Verwendung von Glühlampen. In seinem Laboratorium zu Menlo-Park, einem Vorort von New York, begann Edison im Jahre 1878, angeregt durch den Anblick der ersten Bogenlampe, die er sah, und deren Mängel er bei aller Bewunderung sofort erkannte, mit Hilfe eines Kreises von Assistenten und Schülern die systema [S. 86] tische Arbeit an der Glühlampe, die er trotz aller anfänglichen Fehlschläge mit großer Zähigkeit fortsetzte. Es ist eigentümlich, daß Edison seine ersten Versuche nicht mit Kohlenfäden, sondern mit Metallfäden machte, zu denen ja die Glühlampenindustrie in neuerer Zeit schließlich nach dem Umwege über die Kohlenfadenlampe wieder zurückgekehrt ist. Damals mißglückten die 13 Monate lang fortgeführten Versuche mit Platindrähten, mit Platin-Iridiumdrähten und anderen Metallen, weil es nicht gelingen wollte, die Drähte bei genügender Erhitzung unschmelzbar zu machen. Versuche, die Drähte mit Oxyden zu umwickeln, ließen eine Lampe mit hoher Widerstandsfähigkeit entstehen, aber solche Lampen erlitten bald Kurzschluß. Durch einen Zufall kam Edison auf die Idee, Kohlenfäden zu benutzen. Das Experiment glückte mit verkohlten Baumwollfäden, aber die Brenndauer der Lampe war noch nicht lang genug. Es dauerte noch einige Zeit, ehe er den geeigneten Stoff zur Herstellung der Kohlenfäden in den Bambusfasern gefunden hatte. Mit der Erzeugung der Lampe, auf die Edison bald in Amerika und Europa Patente nahm, war aber nur der Keim der neuen Beleuchtungsart gefunden. Für das ihm im Januar 1880 erteilte amerikanische Patent auf die Glühlampe hat Edison folgende Beschreibung seiner Erfindung geliefert:
„Ich, Thomas Alva Edison, von Menlo Park, New-Jersey, Vereinigte Staaten von Amerika, habe eine Verbesserung an elektrischen Lampen und in der Methode der Fabrikation dieser Lampen erfunden, die ich im Folgenden einzeln beschreibe:
Das Objekt dieser Erfindung ist die Herstellung elektrischer Lampen mit weißglühendem Licht, die einen so starken Widerstand leisten, daß sie die praktische Verteilung des elektrischen Lichtes gestatten. Die Erfindung beruht auf einem Licht spendenden Körper von verkohltem Draht, der dergestalt gedreht ist, daß er dem Durchgang des elektrischen Stromes hohen Widerstand leistet und gleichzeitig nur eine geringe Oberfläche für die Ausstrahlung darbietet. Die Erfindung besteht ferner in der Verwendung von Brennern von großer Widerstandskraft in einem nahezu vollkommenen Vakuum, die das Oxydieren und eine Beschädigung des Konduktors durch die Luft verhindern. Der so durch Platindrähte in die evakuierte Birne geleitete Strom wird im Glas verschlossen. Die Erfindung umfaßt [S. 87] ferner die Methode der Herstellung von Konduktoren aus Kohlenstoff von hoher Widerstandskraft, damit sie imstande sind, ein weißes Glühlicht zu liefern.
Vordem hat man weißes Glühlicht von Kohlenstiften mit ein bis vier Ohm Widerstand erhalten und in verschlossenen Gefäßen gehabt, worin die Luft durch Gase ersetzt war, die sich chemisch nicht verbinden. Die Leitungsdrähte sind immer stark gewesen, so daß ihre Widerstandskraft manchmal geringer als jene des Brenners ist. Überhaupt waren die Versuche früherer Arbeiter darauf gerichtet, den Widerstand des Kohlenstifts zu vermindern. Die aus dieser Praxis erwachsenden Nachteile sind, daß eine Lampe mit nur ein bis vier Ohm Widerstand in großer Anzahl zu vielfachem Bogenlicht nicht ohne Verwendung von Konduktoren von enormen Dimensionen zu benutzen ist, sowie daß wegen des geringen Widerstands der Lampe, die Leitungsdrähte stark und die Konduktoren gut sein müssen, und eine Glaskugel nicht dicht gehalten werden kann, wo die Drähte eingeleitet und fest verbunden sind. Deshalb verzehrt sich der Kohlenstift, weil stets ein vollkommenes Vakuum vorhanden sein muß, um den Kohlenstift dauerhaft zu erhalten, besonders wenn dieser nur klein ist und hohen elektrischen Widerstand leistet.
Die Verwendung von Gas in dem Empfänger führt bei dem Luftdruck, wiewohl dieser die Kohle nicht angreift, in kurzer Zeit zur Zerstörung, entweder durch das Ausfegen durch die Luft, oder durch die von dem rapiden Durchströmen des Gases über die nur lose verbundene, noch erhitzte Oberfläche der Kohle erzeugte Reibung. Die Methode habe ich umgestaltet. Ich habe gefunden, wie selbst ein gut verkohlter Baumwollfaden in einer verschlossenen Glasbirne, woraus die Luft bis auf ein Millionstel gepumpt ist, dem Durchgang des Stromes 100–500 Ohm Widerstand leistet, und daß er auch bei sehr hoher Temperatur durchaus aushält. Ferner, daß, wenn der Faden als Spirale gedreht und verkohlt ist, oder wenn die Fasern gewisser Pflanzen, die einen Rückstand von Kohle aufweisen, nach Erhitzung in einem geschlossenen Raum gedreht werden, sie bis zu 2000 Ohm Widerstand leisten, ohne zur Ausstrahlung einer größeren Oberfläche als drei Sechzehntel eines Zolls zu bedürfen. Baumwoll- und Leinenfaden habe ich verkohlt probiert, Holzsplitter, auf verschiedene Weise gedrehte Papiere, auch Lampenruß, Graphit und [S. 88] Kohle in der verschiedensten Weise mit Teer gemischt und daraus Drähte von verschiedener Länge und Stärke gedreht.“
Mit der bloßen Konstruktion der Glühlampe begnügte sich indes ein Mann der praktischen Ausnutzung wie Edison nicht. Er glaubte seine Arbeit nicht eher beendigen zu können, als bis er ein bis ins Kleinste durchkonstruiertes, alle Erfordernisse der praktischen Nutzbarkeit berücksichtigendes Beleuchtungssystem fertiggestellt hatte. Die Hauptstücke waren die Glühlampe und die nach damaligen Begriffen riesige Stromerzeugungsmaschine (im Volksmund Jumbo genannt), ein sogenannter „Schnelläufer“ von 150 PS. Die Verbindung zwischen beiden hatte ein mit allen Finessen feinmechanischer Inspiration ausgedachtes und ausgeführtes Netz von Apparaten zu schaffen. Emil Rathenau, der das Ganze auf der Pariser Ausstellung sah, schilderte den Eindruck folgendermaßen: „Edisons Beleuchtungssystem war bis in die Einzelheiten so genial erdacht und sachkundig durchgearbeitet, daß man meinte, es sei in unzähligen Städten jahrzehntelang erprobt gewesen. Weder Fassungen, Umschalter, Schmelzsicherungen, Lampenträger noch andere zur Installation gehörige Gegenstände fehlten, und die Stromerzeugung, die Regulierung, die Leitungen mit ihren Abzweigen, Hausanschlüssen, Elektrizitätsmessern usw. waren mit staunenswertem Verständnis und unvergleichlichem Genie durchgebildet.“
Dem Eindruck, wie ihn Rathenau hier 27 Jahre nach dem auslösenden Erlebnis schilderte, ist wohl, wie wir das schon in einem anderen Falle feststellen zu können glaubten, ein gewisser Schuß retrospektiver Phantasie beigemischt. So urteilte nicht der unmittelbar Erlebende, sondern der Zurückschauende, der inzwischen eine lange Periode der Entwickelung, Durchbildung und Vervollkommnung mit angesehen und sein ganzes Leben und Tun mit ihr so identifiziert hatte, daß er die Fähigkeit zur historischen Kritik vielleicht nicht mehr in vollem Maße besaß. Gewiß, Rathenau, dem die Gabe in seltenem Maße zu eigen war, eine Erfindung — auch wenn sie nur in ihrer Urzelle vorlag — mit blitzschneller Prophetie bis zu ihrer höchsten Vollendung zu Ende zu denken, hat in Paris in dem Edisonlicht mehr gesehen als alle anderen, vielleicht sogar mehr als der Erfinder selbst. Er war überhaupt wohl der einzige, der die ganze Zukunftskraft der Erfindung erfaßte, wie er denn auch derjenige gewesen [S. 89] ist, der am meisten zu ihrer Ausbildung getan hat. Seine Tat war vom technischen Standpunkt aus betrachtet keine primäre, sondern eine „zweithändige“, aber technisch doch keine Epigonenleistung und praktisch direkt von schöpferischer Prägung. Um dies zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß der allgemeine Eindruck des Edisonlichts in Paris durchaus nicht einhellig und mit dem Rathenaus identisch war. Es gab gewiß genug Leute, die von der neuen Erfindung fasziniert waren, ohne doch ihren ganzen Zukunftswert zu erfassen. Es gab auch wieder andere, die kühl blieben und das Glühlicht — ohne seinen praktischen Wert ganz zu verneinen — weit hinter das Bogenlicht stellten. Es fehlte aber auch schließlich nicht an Fachleuten, die die ganze Geschichte für Humbug, für eine Spielerei erklärten. So hielt ein namhafter Techniker im Saal der Ausstellung einen wissenschaftlichen Vortrag, in dem er die Edisonsche Erfindung mit Ironie abtat und am Schluß die Behauptung aufstellte, daß in Paris eine Edisonsche Glühlichtanlage zum ersten, aber wohl auch zum letzten Male im Betrieb gewesen sei. Derartige Aussprüche können heute nur noch komisch wirken. Immerhin war die Edison-Beleuchtung — das sollte gerade Rathenau in den ersten Jahren, als er sich praktisch mit Installationen befaßte, erfahren — keineswegs so vollkommen, wie er sie rückschauend geschildert hat. Sie litt vielleicht nicht in der Anlage, wohl aber in der Durchführung an großen Mängeln und Unvollkommenheiten. Edison ist stets mehr ein genialer Experimentierer, ein origineller Erfinder, als ein systematischer Forscher, ein exakter Konstrukteur gewesen. Diesen Stempel trug auch seine Pariser Glühlichtanlage, und alles was er in derselben Art bereits in Amerika gemacht hatte, deutlich an der Stirn. Besonders die Maschinen waren nicht gut konstruiert, und noch schlechter ausgeführt. Es war alles mehr empfunden, als genau errechnet; die Maße der Spannungen und Belastungen usw. waren in ziemlich primitiver empirischer Weise gewählt, sozusagen nach dem Gefühl. Man hielt sich an eine Schablone, die man bei den ersten Versuchen gefunden hatte und war zufrieden, wenn sie halbwegs stimmte. Den Grundsatz „Probieren geht über Studieren“ hat auch die Arbeit des Autodidakten Edison trotz ihrer genialen Faktur nicht verleugnet. Gewiß leidet jede große Erfindung unter derartigen anfänglichen Unvollkommenheiten der Ausführung und des Details, aber es ist sehr fraglich, ob die damalige [S. 90] amerikanische Elektrotechnik imstande gewesen wäre, sie so schnell zu beseitigen, wie dies Rathenau später tat. Jedenfalls waren derartige Mängel in Paris vorhanden, und während ein technisch-kritisches Genie wie Rathenau über diese leicht zu beseitigenden Nebensächlichkeiten hinwegblickte und nur den genialen Kern der Idee und den guten Grundzusammenhang der ganzen Anlage sah, blieben kleinere Geister, weniger scharfe Augen an den mangelhaften Äußerlichkeiten haften und erschöpften ihre Kritik an ihnen. — Trotzdem aber die Wirkung der Edisonschen Ausstellung gerade in Fachkreisen keine einhellige war, ist selten der Eindruck einer technischen Demonstration so nachhaltig gewesen, wie der des Edison-Lichts in Paris.
Die Pariser Elektrizitätsausstellung vom Jahre 1881 erlangte für das elektrische Glühlicht dieselbe epochemachende Bedeutung wie die Pariser Weltausstellung von 1878 für das Bogenlicht. Die französische Hauptstadt war damals das unbestrittene Zentrum der modernen Elektrizitätsentwickelung, die gerade in ihr effektvollstes, brillantestes Stadium, das der „Lichtwunder“ getreten war. Während Frankreich in der früheren Geschichte der angewandten Elektrizität keine besonders ausschlaggebende Rolle gespielt, in der Technik der elektrischen Telegraphen, Kabel und Maschinen den Pionierländern Amerika, England und Deutschland nur eben gefolgt war, riß es in der Beleuchtungsfrage oder wenigstens in ihrer ersten praktischen Anwendung (denn von den grundlegenden Erfindungen der Lichtelektrizität war in Frankreich keine gemacht worden) die Führung an sich. Für diese Erscheinung können zwei Gründe angeführt werden. Einmal war gerade der französische Volkscharakter und der ihm anhaftende Ehrgeiz, in seiner Hauptstadt Paris die erste Welt- und Fremdenstadt der Erde zu sehen, besonders empfänglich für Wirkungen, wie sie das elektrische Licht als großstädtischer Faktor ausüben mußte. Ferner war besonders die damalige Zeit, in der sich die französische Republik von dem militärischen und politischen Schlage des Krieges von 1870/71 zu erheben begann, angefüllt mit leidenschaftlichen Bemühungen, das an Prestige auf jenen Gebieten Verlorene durch wirtschaftliche und kulturelle Werke, oder vielleicht besser durch wirtschaftliche und kulturelle Effekte wettzumachen. Die Republik warb mit solchen Mitteln aufs neue um die Bewunderung der Welt, die den Diplomaten und Soldaten des Kaiserreichs [S. 91] durch den unglücklichen Krieg zu einem großen Teile verloren gegangen war. Die Weltausstellung wurde hier in die moderne internationale Form gegossen, in der sie die nächsten Jahrzehnte beherrschen sollte, als ein Mittelding zwischen einer wissenschaftlichen, technischen und gewerblichen Demonstrationsstätte und einem den Fremdenverkehr anziehenden Sensations- und Amüsierbetrieb. Sie war hier nicht so sehr der Ausdruck einer großen gewerblichen und technischen Leistungsfähigkeit und Fortschrittlichkeit, deren überquellende innere Kräfte nach äußerer Darstellung drängten, als die Bekundung eines ehrgeizigen Glänzenwollens. Nicht die Befriedigung des Schaffens, sondern der Drang nach Wirkung beherrschte diese Ausstellungen, und gerade der Umstand, daß das eigene Schaffen der französischen Nation damals nicht auf einer Höhe stand, die es gestattete, großartige Ausstellungswirkungen hervorzurufen, ließ es notwendig erscheinen, den Welt charakter der Ausstellungen in bisher nicht üblich gewesener starker und wie man zugeben muß national vorurteilsloser Weise zu betonen. Dieses Weltausstellungssystem ist im Laufe der Jahre, als es jede mittlere Nation, jede mäßig interessante Stadt nachzuahmen versuchte, allmählich zu Tode gehetzt worden und es verlor an Zugkraft, je häufiger sich derartige Ausstellungen wiederholten. Das Ungewöhnliche wird gewöhnlich, wenn es regelmäßig wiederkehrt und dabei noch verkleinlicht wird. Die Welt stumpft gegen Sensationen ab, die einander zu ähnlich sehen. Trotz dieser späteren Entwickelung und trotz der zweifelhaften Motive, die den ersten Pariser Ausstellungen zu Grunde lagen, darf ihr gewaltiger Wert für die Verbreitung und Popularisierung technischer Fortschritte nicht verkannt werden. Gerade auf dem Gebiete der elektrischen Lichtindustrie haben sie durch die überzeugende, wirkungsvolle Darstellung, die sie einem ungewöhnlich großen internationalen Kreis von den damaligen Errungenschaften der Technik gaben, eine sehr beträchtliche Beschleunigung in der praktischen Anwendung herbeigeführt. Die Vorführung des Edisonschen Beleuchtungssystems wirkte an dieser Stelle mit ganz anderer internationaler Anregungskraft, als wenn die Erfindung in irgend einer amerikanischen Stadt mit nüchternem Nutzungszweck durchgeführt und ihre internationale Propaganda in Europa nur durch Beschreibungen in Büchern und Zeitungen vermittelt worden wäre.
Auf Naturen wie Emil Rathenau, deren Energien der Anregung durch eine überzeugende Demonstration bedurften (ebenso wie er später die Demonstration am gut gewählten Beispiel als das nachhaltigste Wirkungsmittel auf andere erkannte und benutzte), waren die Eindrücke in Paris derartig überwältigend, daß sie alles innere Schwanken, alle Wahlnöte und Entschlußhemmungen mit einem Schlage beseitigten. Aus dem reflektierenden Zauderer, der auf Enttäuschungen ebenso stark und schnell reagiert hatte wie auf Hoffnungen, war mit einem Male der sehnige, bestimmte Tatmensch geworden, der Rathenau, einmal in die richtige Bahn gestellt, bis an sein Lebensende geblieben ist. Die Fülle der Gesichte und Möglichkeiten war durch den Anblick des „Ziels“ gebändigt und vereinheitlicht. Das verwirrende Durcheinander der gangbaren Wege war zur Straße geworden, deren Lauf mit Notwendigkeit vorgeschrieben war. Rathenau glaubte, als er Edisons Beleuchtungssystem zuerst sah, sich seiner ganzen Art nach im Sturm der neuen Aufgabe bemächtigen zu können. Als nicht sofort festzustellen war, von wem man die Patente und Nutzungsrechte erwerben könne, kabelte er kurzentschlossen an Edison nach New York, er möge sich sofort auf das Schiff setzen und in einer dringenden, für beide Teile außerordentlich wichtigen Angelegenheit nach Europa kommen. Edison erklärte dies zur Zeit für unmöglich und riet dem ihm unbekannten deutschen Ingenieur, sich an seine Pariser Vertreter zu wenden. Wäre Rathenau der leicht zu entflammende, aber von Schwierigkeiten schnell wieder abgekühlte Stimmungsmensch gewesen, für den er damals vielfach gehalten wurde, so hätte er bald die Büchse ins Korn geworfen. Aber es bildete die erste große Probe auf den inneren Stahl, der in dem Charakter des Mannes enthalten war, mit welcher Energie und Zähigkeit er aus dem Labyrinth der Edisonschen Patent- und Rechtsverwirrnis die Verträge herauszuzwingen verstand, die er für eine gesicherte Anwendung des Edisonlichts in Deutschland haben zu müssen meinte.
Edison hatte zur Verwertung seiner Patente zunächst zwei Gesellschaften gegründet. Die Edison Electric Light Company mit dem Sitz in New York sollte die Patente für Amerika verwerten, eine Tochtergesellschaft gleichen Namens in London sollte Europa bearbeiten. Sie veranstaltete die erste elektrische Ausstellung im Crystal Palace und baute die erste elektrische Zentralstation — oder was man damals so bezeichnete — in Europa. Von ihr abgezweigt wurde [S. 93] wieder die Compagnie Continentale Edison , der die Verwertung aller Edisonschen Patente auf dem europäischen Kontinent übertragen wurde. Sie errichtete wieder zwei Untergesellschaften, die Société électrique Edison, die sich mit der Ausführung privater Beleuchtungsanlagen beschäftigte, und als Fabrikationsunternehmen die Société industrielle commerciale Edison, die in Ivry bei Paris Maschinen und Apparate herstellte. Die Rechtsverhältnisse waren also reichlich kompliziert, was nicht so sehr an der Vielheit der Gesellschaften, als an der unklaren Organisation und Kompetenzverteilung zwischen ihnen lag. Auch Rathenau hat später in seiner industriellen und finanztechnischen Praxis das System der Dezentralisation und Verschachtelung mit Vorliebe angewandt, aber er beherrschte doch dieses System derart, daß er jederzeit die Zügel in der Hand behielt. Zwischen den von ihm gegründeten Unternehmungen waren die rechtlichen Beziehungen und Aufgaben so klar geordnet und verteilt, daß Zweifel niemals entstehen konnten, wie dies bei den Edisonschen Gesellschaften damals und auch weiterhin noch der Fall war. „Edison hatte,“ so erzählt Rathenau, „seine europäischen Interessen in die Hände von Gesellschaften gelegt, deren Ideal zum wenigsten darin bestand, die Welt mit einem Kulturwerk zu beglücken; und so gelang es erst nach unsäglichen Schwierigkeiten, Verträge zu vereinbaren, die das Fundament solider deutscher Gesellschaften bilden konnten.“ Nachdem die unberechtigten Ansprüche verschiedener Gesellschaften abgewiesen bzw. abgefunden worden waren, wurde der grundlegende Vertrag schließlich mit der Compagnie Continentale Edison in Paris abgeschlossen. Ähnlich wie in Frankreich sollte danach auch für Deutschland eine Fabrikationsgesellschaft und eine zweite zur Herstellung von Zentralstationen gegründet werden. So großzügig wie die Sache geplant war, ließ sie sich allerdings zunächst noch nicht verwirklichen. Während der Verhandlungen hatte sich der finanzielle Himmel infolge einer von Paris ausgehenden Krisis umwölkt. Der etwas gewaltsame Industrialismus, mit dem Frankreich über die Schlappe von 1870/71 hinwegzukommen hoffte, hatte zu einem Rückschlag geführt, und die englische Elektrizitätskrise, die aus einer Überspannung im Gründerwesen auf dem Gebiete der Kabeltelegraphie entstanden war, trug dazu bei, daß man gerade Neugründungen auf dem Gebiete der Elektrizitätsindustrie [S. 94] damals mit Zurückhaltung begegnete. Rathenau ließ sich von dem einmal gewählten Wege auch durch dieses Hemmnis nicht abbringen. Er suchte in Berlin in den maßgebenden Bankkreisen Unterstützung für sein Projekt zu finden. Er besuchte Bleichröder und andere führende Finanzgrößen. Ohne Erfolg. Die „Großen“ auf dem Gebiete des Kapitals hielten sich kühl zurück. Schließlich lernte Rathenau bei einem Besuch seiner Mutter in Bad Langenschwalbach Ludwig von Kaufmann , den Schwiegersohn Jacob Landaus und Mitinhaber des Bankhauses Jacob Landau kennen. Es gelang ihm, diesen für die Idee zu interessieren. Es war in verschiedenen Berliner Unterredungen, die sich an dieses Langenschwalbacher Zusammentreffen knüpften, vereinbart worden, ein Bankenkonsortium zu bilden, das die neue Gesellschaft errichten und mit Geld ausstatten sollte. Infolge der finanziellen Krise kamen die Verhandlungen zunächst ins Stocken. Das Bankenkonsortium hatte die Geldmittel natürlich nur vorstrecken wollen, und zwar angesichts seiner nicht sehr starken eigenen Kapitalskraft, nur für kurze Zeit. Jahrelange Vorschüsse, wie sie die finanziellen Trustunternehmungen gewährten, die Rathenau später für derartige Zwecke gegründet hatte, konnten und wollten Rathenaus Geldgeber dem Ingenieur, dessen Enthusiasmus die einzige Garantie war, die er bieten konnte, nicht anvertrauen. Man hatte daher von vornherein geplant, das zur Gründung erforderliche Geld sofort durch Ausgabe der Aktien an das Publikum aufzubringen. Als dies unmöglich wurde, verzichtete man auf die sofortige Ausführung des Planes. Rathenau sorgte indessen dafür, daß die einmal angeknüpften Beziehungen zwischen ihm und der Bankengruppe nicht völlig abgebrochen wurden. Er komplizierte die Situation, schon damals sein leidenschaftlich vorwärts drängendes Temperament durch realpolitische Erwägungen zügelnd, nicht dadurch, daß er die Bedingung „Alles oder nichts“ stellte. Er schlug ein Kompromiß vor, das den Mittelweg zwischen völliger Aufgabe und unbestimmter Vertagung des Projekts darstellte. Es sollte eine Studiengesellschaft mit dem geringen Kapital von 250000 Mark gegründet werden. Diese sollte die Arbeit unverzüglich aufnehmen und Rathenau war überzeugt, daß sie den praktischen Wert der neuen Beleuchtung einwandfrei dartun würde. Geschah dies aber, so war die Gründung eines größeren Unternehmens später wesentlich leichter, als wenn wiederum ganz neue Verhandlungen hätten [S. 95] angeknüpft und neue Vorbedingungen hätten geschaffen werden müssen. Es war also auf diesem Wege manches zu gewinnen, und wenig zu verlieren.
Die Studiengesellschaft trat denn auch bald auf Grund der deutschen Edisonpatente ins Leben. Die drei Patentansprüche des ersten und grundlegenden Patentes lauteten folgendermaßen:
1. Eine elektrische Lampe, die durch Weißglühen Licht gibt, und in der Hauptsache aus Kohlefasern von großem Widerstand besteht, hergestellt und mit den metallischen Drähten verbunden, wie beschrieben.
2. Ein Faden oder Streifen aus Kohlefasern, welche in solcher Weise in Spiralform gewunden ist, daß nur ein Teil der Oberfläche dieses Kohlenleiters (ca. 5 mm) Licht ausstrahlt.
3. Die Platindrähte wie beschrieben an dem Kohlenfaden zu befestigen und das Ganze in einem geschlossenen Gefäß zu karbonisieren.
(Der Widerstand ist je nach der Menge des abgelagerten Lampenrusses klein oder groß herstellbar.)
Die Studiengesellschaft verfolgte den doppelten Zweck, praktische Erfahrungen für die Glühlampentechnik zu sammeln, und das Publikum mit dem neuen Licht bekannt zu machen. Ein paar kleinere Anlagen wurden für den Berliner Börsencourier und das Böhmische Brauhaus geschaffen. Dann wandte man sich etwas größeren Aufgaben zu. Der Unionklub in der Schadowstraße und die benachbarte Ressource von 1794 erteilten den Auftrag zur Ausführung von Musteranlagen. Die Ressource veranstaltete zur Feier der gelungenen Beleuchtung ein Bankett, das so etwas wie ein gesellschaftliches Ereignis für Berlin darstellte. Gerade während Hugo Pringsheim in einer schwungvollen Rede das neue Licht und den Schöpfer der Anlage, Emil Rathenau, feierte, verdüsterte sich allmählich, wie Rathenau später ausplauderte, das Licht und der diensthabende Ingenieur meldete mit schreckensbleichem Gesicht, daß er die Anlage nicht halten könne. In der gehobenen Festesstimmung bemerkte niemand das Verschwinden des Ehrengastes, der im Gesellschaftsanzuge die persönliche Führung der Anlage bis zum Morgen übernahm, und mit zwei Ingenieuren durch eifriges Kühlen der Lager mit dem für [S. 96] die Sektkühler bestimmten Eis den Betrieb aufrecht erhielt. Ein Verlöschen des Lichts an dieser sichtbaren Stelle wäre ein harter Schlag für das Schicksal der elektrischen Beleuchtung geworden und noch ein stärkerer für das Schicksal des in der Gründung befindlichen Unternehmens, dessen Aktien in kurzer Zeit herausgebracht werden sollten. Das Gelingen wirkte dagegen wie eine besonders wirksame Propaganda. Weitere Privatanlagen entstanden bald in Berlin. Auch eine Straßenbeleuchtung wurde versucht und zwar in der Wilhelmstraße zwischen den Linden und der Leipzigerstraße. Die Wirkung war zumal bei dem am Eröffnungstage herrschenden Schneefall eindrucksvoll. Trotzdem ist das intimere Glühlicht in der Folgezeit bei Straßenbeleuchtungen hinter dem lichtstarken Bogenlicht stets zurückgetreten. In München, wo der Ingenieur Oscar von Miller im Jahre 1882 die erste deutsche Elektrizitätsausstellung veranstaltet hatte, von dem größten Teil der Aussteller aber im Stich gelassen worden war, sprang die Studiengesellschaft entschlossen ein. Sie übernahm fast die ganze Versorgung des als Ausstellungsgebäude dienenden Kristallpalastes mit Elektrizität. Unter ihren Vorführungen erregte besonders die Beleuchtung eines zu diesem Zwecke errichteten kleinen Theaters, in dem Balletts aufgeführt wurden, Bewunderung nicht nur beim Publikum, sondern auch bei Fachleuten. Namentlich faszinierte sie den Intendanten der Kgl. Schauspiele in München so, daß er sogleich einen Vertrag über die Einrichtung der elektrischen Beleuchtung des Residenztheaters, der kleineren der beiden Königlichen Bühnen Münchens, die zur Aufführung von Schauspielen und Spielopern diente, abschloß. Die Grundlage dieses Vertrages war, daß die Deutsche Edison Gesellschaft das ganze Risiko des Gelingens oder Mißlingens auf sich nehmen mußte.
Oscar v. Miller hatte Rathenau die tatkräftige Hilfe bei der Rettung der gefährdeten Ausstellung nicht vergessen. Rathenau hinwiederum hatte in dem Münchener Ingenieur einen für die Sache der Elektrizität begeisterten, durch Tatkraft und Wagemut ausgezeichneten Mann gefunden, der ihm als Mitarbeiter bei seinem Unternehmen wie kein anderer geeignet erschien. Er bewog ihn daher, in die Deutsche Edison Gesellschaft als Mitdirektor einzutreten, als diese — durch die bisherigen technischen und propagandistischen Erfolge der Studiengesellschaft gut vorbereitet — am 19. April 1883 mit einem Aktienkapital von 5 Millionen Mark gegründet und am 5. Mai [S. 97] desselben Jahres in das Handelsregister eingetragen wurde. Das Bankenkonsortium, das Emil Rathenau zwei Jahre vorher zusammengebracht hatte, hielt ihm trotz mancher Zweifel und Meinungsverschiedenheiten, die sich inzwischen eingestellt hatten, die Treue. Es war ihm sogar, als es an die endgültige Konstituierung des Unternehmens ging, gelungen, eine Erweiterung dieses Konsortiums herbeizuführen, das ursprünglich aus den Firmen Jacob Landau in Berlin, Gebr. Sulzbach in Frankfurt a. M. und der Nationalbank für Deutschland in Berlin bestanden hatte. Einen Überblick über seine Mitglieder gibt der erste Aufsichtsrat der Neuen Edison Gesellschaft, der sich aus folgenden Persönlichkeiten zusammensetzte:
Bankier Rudolph Sulzbach in Firma Gebrüder Sulzbach in Frankfurt a. M., Vorsitzender.
Ludwig von Kaufmann, in Firma Jacob Landau in Berlin, Stellvertretender Vorsitzender.
J. F. Bailey, Administrateur délegué der Compagnie Continentale Edison in Paris.
Bankier Edmund Becker, in Firma Becker & Co. in Leipzig.
Rechtsanwalt Robert Esser II in Köln.
Kommerzienrat Paul Gaspard Friedenthal in Breslau, in Firma Breslauer Discontobank Friedenthal & Co.
Stadtrichter Julius Friedenthal in Breslau, Direktor der Breslauer Wechslerbank.
Bankier Moritz Guggenheimer, in Firma Guggenheimer & Co. in München.
Bankier Hermann Köhler, Disponent der Firma Gebrüder Sulzbach in Frankfurt a. M.
Konsul Dr. Kunheim, in Firma Kunheim & Co. in Berlin.
Bankier Hugo Landau, in Firma Jacob Landau in Berlin.
Assessor a. D. Dr. Hermann Löwenfeld, Direktor der Nationalbank für Deutschland in Berlin.
Bankier Carl Schlesinger-Trier, in Firma C. Schlesinger, Trier & Co. in Berlin.
Kommerzienrat Wilhelm Wolf in Berlin.
Es war also für ein Unternehmen von mäßigem Umfang ein ziemlich mitgliederreiches Kollegium, das im ganzen 14 Köpfe umfaßte. Darin lag insofern eine gewisse Absicht, als man einmal [S. 98] durch einen stattlichen Aufsichtsrat mit Namen von gutem Klang eine gewisse werbende Wirkung auf die Öffentlichkeit und die für eine Aktienbeteiligung in Betracht kommende Kapitalistenwelt erzielen wollte. Ferner hielten es aber auch die hauptsächlich beteiligten Bankfirmen Jacob Landau und Gebr. Sulzbach für notwendig, sich im Aufsichtsrat doppelt vertreten zu lassen, einmal um sich bei den Abstimmungen des Kollegiums den ihnen gebührenden Einfluß zu sichern, andererseits aber auch, um eine möglichst weitgehende Kontrolltätigkeit ausüben zu können. Da der große Aufsichtsrat für eine intensive Beteiligung an den innergeschäftlichen Dingen nicht geeignet war, zweigte man von ihm einen aus 5 Mitgliedern bestehenden Arbeitsausschuß ab, der die Aufgabe hatte, der Direktion bei der Führung der Geschäfte zur Seite zu stehen und wohl auch auf die Finger zu sehen. Man war wohl von der Lebenskräftigkeit der Rathenauschen Idee durchaus überzeugt, man schätzte die Energie und die Tüchtigkeit des Direktors auch sehr hoch ein, aber man hielt ihn für zu schlau und zu eigenwillig, um sich ihm rückhaltlos anvertrauen zu können. Es zeigte sich schon hier, und es hat sich in den ersten Jahren der Edison Gesellschaft wiederholt gezeigt, daß das Genie Emil Rathenaus mit dem Kritizismus und dem gelegentlichen Mißtrauen einer kleingeistigen Umgebung manchmal recht schwer zu kämpfen hatte. Von einem großzügigen Verständnis für seine aufs Ganze gerichtete Art und seine hochfliegenden Pläne, das ihm später sein Aufsichtsrat stets entgegenbrachte, war anfänglich noch wenig zu spüren. Man glaubte ihn, in dem man noch immer etwas vom Projektemacher witterte, fest an der Kandare halten zu müssen, und wenn er seinen Willen schließlich auch stets zur Geltung zu bringen wußte, so genügte in den Zeiten, in denen seine Autorität noch nicht über allen Zweifel gefestigt war, doch häufig nicht sein einfaches Wort, um überall Vertrauen zu finden, sondern es waren manchmal laute und stille Kämpfe nötig, zu deren Durchführung es seiner ganzen Zähigkeit bedurfte. Zur Erledigung der kaufmännischen Geschäfte, zum Teil wohl auch zur Überwachung seiner Geschäftsleitung im inneren Betriebe war ihm als Helfer Felix Deutsch , der bis dahin in dem der Firma Jacob Landau nahestehenden Strontianitkonsortium und in deren Zuckerinteressen sich bewährt hatte, beigegeben worden. Deutsch hat, ohne daß er darum je nötig hatte, [S. 99] das Vertrauen seiner Auftraggeber zu enttäuschen, doch vom ersten Augenblick an seine Aufgabe so aufgefaßt, daß er mit ihr vornehmlich dem Unternehmen, in dessen Dienste er trat, förderlich war und förderlich sein wollte. Er hat die überragende Bedeutung Emil Rathenaus wie seine moralische Zuverlässigkeit keinen Augenblick verkannt, hat sich redlich Mühe gegeben, einen Standpunkt zu gewinnen, der dem des genialen Mannes ebenbürtig war und es ist ihm sowohl als Helfer und Mitarbeiter Rathenaus, wie später auch schöpferisch in dem ihm ziemlich selbständig überlassenen Kreis der Absatz-Organisation gelungen, eine des Meisters würdige Arbeit zu leisten.
Als die Deutsche Edison Gesellschaft gegründet wurde, verfügte sie keineswegs über eine starke und gefestigte Position. Was ihr an Kapitalmacht zur Seite stand, um ihr über die schwierigen Anfänge hinwegzuhelfen, war trotz mancher gut angesehener Namen, die im Bankenkonsortium vertreten waren, nicht eben hervorragend und geeignet, die junge Gesellschaft gegen die Fährnisse der Konjunkturen und die Bedrohungen durch eine übermächtige Konkurrenz sicherzustellen. Von den damals führenden Großbanken war keine an der Gesellschaft beteiligt. Die Nationalbank für Deutschland, die selbst erst im Jahre 1881 gegründet worden war, verfügte über ein Kapital von 40 Millionen Mark, das aber nur zur Hälfte eingezahlt war, und hatte in den folgenden Jahren mit eigenen Schwierigkeiten genug zu tun. Sie wie auch die Breslauer Diskontobank, die gleichfalls in der Bankengruppe vertreten war, stand unter Landauschem Einfluß. Diese Aktienbanken waren also höchstens als Ableger des Bankierkonsortiums, nicht als weitere unabhängige Finanzquellen zu betrachten und konnten einem jungen industriellen Unternehmen jedenfalls keinen sonderlichen Rückhalt geben. Viel Spielraum zum Experimentieren stand Emil Rathenau also nicht zur Verfügung. Er mußte schnell vorwärtskommen und die Tragfähigkeit seiner Schöpfung beweisen. In der II. Etage des Hauses Leipziger Str. 94, in der Rathenau und Deutsch mit einem Buchhalter und einer Schreibmaschine ihr Heim aufgeschlagen hatten, wurde denn auch mit Hochdruck gearbeitet. Aber nicht nur zu arbeiten galt es, sondern auch zu paktieren und zu diplomatisieren. Zuerst mußten die Verträge mit der Pariser Edison Gruppe einer Revision unterzogen werden, denn es hatte sich erwiesen, daß sie in der Form, wie sie im [S. 101] Jahre 1881 vereinbart worden waren, nicht aufrechterhalten werden konnten. Der Plan, neben der Fabrikationsgesellschaft eine besondere Gesellschaft für den Bau von Zentralen zu gründen, wurde fallen gelassen, da Zweifel bestanden, ob eine solche in nächster Zeit auf genügende Aufträge würde rechnen können. Man wollte nicht Kapital in einer besonderen Gesellschaft festlegen, um es etwa nachher brach liegen zu lassen. Es wurde vielmehr der Fabrikationsgesellschaft auch das Baugeschäft übertragen; dafür wurde sie mit einem erhöhten Kapital von 5 Millionen Mark statt dem ursprünglich in Aussicht genommenen von 2 Millionen Mark ausgestattet. Durch diese Art der Finanzierung war ein freieres Disponieren über die zur Verfügung stehenden Gesamtkapitalien ermöglicht. Die französische Edison-Gesellschaft beteiligte sich mit Aktienkapital nicht an dem deutschen Unternehmen. Dagegen erhielt sie 1500 Genußscheine. Weitere 1000 Genußscheine wurden den ersten Zeichnern des Aktienkapitals ausgefolgt. Die Inhaber der 2500 Genußscheine hatten Anspruch auf 35% des nach Zahlung einer Dividende von 6% verbleibenden Gewinnüberschusses. Der mit der französischen Gesellschaft abgeschlossene Vertrag, der in das Statut der Deutschen Edison Gesellschaft aufgenommen wurde, hatte folgenden Wortlaut:
Rechtsverhältnisse zu der Compagnie Edison in Paris, sowie zu Herrn Thomas Alva Edison und der Edison Electric Light Company of Europe Lim. zu New York.
§ 35.
Die Deutsche Edison Gesellschaft für angewandte Electricität erwirbt von der Compagnie Continentale zu Paris mit Genehmigung des Herrn Thomas Alva Edison und der Edison Electric Light Company of Europe lim. zu New York, unter Anwendung des Art. 209 b des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches das Recht der gewerblichen Ausnützung der in § 3 bezeichneten Erfindungen des Herrn Edison und der vorgedachten Electric Light Company und zwar für das gesamte deutsche Reichsgebiet als ausschließliches Recht, insbesondere nachbezeichnete Befugnisse:
1. Das Recht, sämtliche zu den im § 3 dieses Statuts spezialisierten (gleichviel ob patentierten oder nicht patentierten) Edisonschen [S. 102] Verfahren gehörigen Maschinen zu fabrizieren oder auch in den Werkstätten ausländischer Edisonscher Gesellschaften fabrizieren zu lassen, während die Herstellung in sonstigen Fabriken, so lange die Compagnie Continentale besteht, nur mit deren Genehmigung statthaft ist; ferner die gedachten Objekte zu beziehen und zu verkaufen;
2. das Recht, Installationen für Beleuchtungs- und Kraftübertragungszwecke einzurichten oder die hierauf bezüglichen Befugnisse anderen einzuräumen;
3. das Recht, die ad I und II gedachten Gegenstände selbst zu benutzen, sowie deren Benutzung Dritten zu gestatten.
Eine andere Gewähr, als die für die gegenwärtige Existenz der Patente wird bezüglich derselben von Herrn Edison, der Edison Electric Light Company und der Compagnie Continentale nicht übernommen.
Das Recht der Fabrikation (ad I) erstreckt sich auch auf die bei den elektrischen Bahnen zur Verwendung kommenden Maschinen, Apparate, Utensilien und Materialien, nicht aber auf die Anwendung derselben.
Die Gesellschaft ist hinsichtlich ihrer gewerblichen Tätigkeit (§ 3) und hinsichtlich der ihr vorstehend eingeräumten Rechte nur beschränkt durch diejenigen Rechte, welche der Firma Siemens & Halske in Berlin laut der am 13. März 1883 zwischen dieser Firma einerseits und dem Herrn Edison und der Edison Electric Light Company, der Compagnie Continentale sowie sonstigen Konsorten andererseits abgeschlossenen beiden Verträge eingeräumt sind, wogegen aber auch die Rechte, welche in den gedachten Verträgen dem Herrn Edison, der Electric Light Company und deren Rechtsnachfolgern zugestanden sind, auf die Deutsche Edison Gesellschaft von selbst übergehen, sofern dieselbe spätestens innerhalb 4 Wochen nach ihrer Eintragung in das Handelsregister eine schriftliche Annahmeerklärung zu Händen der Herren Siemens & Halske abgiebt.
Als Erwerbspreis für die vorstehend beschriebenen Rechte wird an die Compagnie Continentale zu Paris die Summe von Dreihundertfünfzigtausend Reichsmark bar aus dem Vermögen der Gesellschaft bezahlt. Es findet aber eine Amortisierung dieser Summe in der Weise statt, daß die Compagnie Continentale auf die ihr im folgenden § 41 zugebilligten Prästationen so lange verzichtet, bis dieselben den Betrag von 350000 Reichsmark erreicht haben. In dem [S. 103] Maße, in welchem dieser Betrag aus dem Geschäftsbetriebe der Gesellschaft aufkommt, fließt er den Aktivis der letzteren zu, während der Erwerbspreis der dafür gemäß Vorstehendem erworbenen Rechte immer nur mit dem entsprechenden Minderbetrage in die Bilanz eingestellt werden darf, bis er spätestens bei Erreichung der vollen Summe aus den Aktivis gänzlich verschwindet.
Neben den vorstehend gedachten 350000 Reichsmark gelten auch diejenigen Vermögensvorteile, welche der Compagnie Continentale sonst in dem gegenwärtigen Statut eingeräumt worden sind (vergl. §§ 12 und 41), als Äquivalente für die gemäß dem Vorstehendem und § 36 erworbenen Rechte.
Der Wert der von Herrn Edison, der Edison Electric Light Company und der Compagnie Continentale gemäß diesem Statut (§§ 35, 36) eingeräumten Rechte wird hiermit auf den mehrgedachten Betrag von 350000 Reichsmark und die in vorstehendem Alinea bezeichneten Äquivalente festgesetzt.
§ 36.
Die Compagnie Continentale in Paris verpflichtet sich, der Gesellschaft und zwar dieser ausschließlich alle einschlägigen patentierten und nicht patentierten Erfindungen, Verbesserungen und Erfahrungen, welche dem Herrn Edison, der Edison Electric Light Company, oder ihr selbst für elektrische Beleuchtungen und Kraftübertragung bereits zu Gebote stehen oder in deren Besitz Herr Edison, die Electric Light Company oder sie selbst bis zum 15. November 1886 noch gelangen wird, für Deutschland im ganzen Umfange der im § 35 erwähnten Verfahren mitzuteilen, und sie in ihrem Geschäftsbetriebe für Deutschland auf jede Art dergestalt zu unterstützen, daß sie in der Lage ist, die Fabrikation in dem nämlichen Grade der technischen Vollkommenheit auszuführen wie die Compagnie Continentale selbst.
Insbesondere soll die Pariser Gesellschaft verpflichtet sein, der Gesellschaft auf deren Kosten geeignete Instrukteure zu stellen. Die Deutsche Edison Gesellschaft ist in allen diesen Beziehungen zur Reziprozität verpflichtet.
§ 37.
Sobald die Gesellschaft in das Gesellschaftsregister eingetragen ist, erhält dieselbe von der Compagnie Continentale diejenigen Voll [S. 104] machten des Herrn Edison und der Light Company zu New York ausgehändigt, deren dieselbe zur Führung etwaiger, wegen Verletzung der durch diesen Vertrag auf sie zu übertragenden Rechte erforderlichen gerichtlichen und außergerichtlichen Maßnahmen bedürfen wird.
Dem Herrn Edison und der Light Company wird hiermit das ihnen laut ihres Vertrages mit der Compagnie Continentale vom 15. November 1881 gewährleistete Recht, sich an allen wegen unbefugter Nachahmung der von ihnen patentierten Erfindungen zu führenden Prozessen akzessorisch zu beteiligen, sowie an jedem anderen Rechtsstreit und Verwaltungsverfahren, welcher auf Antrag der Lizenzberechtigten in Gang gebracht werden sollte, ausdrücklich reserviert.
§ 38.
Die Deutsche Edison Gesellschaft übernimmt ihrerseits die Verpflichtung, für den Schutz der in Rede stehenden Edison-Patente auf ihre Kosten Sorge zu tragen, und von jeder zu ihrer Kenntnis gelangenden Verletzung der einschlägigen Patentrechte der Compagnie Continentale in Paris unverzüglich Mitteilung zu machen. Ist zur Inschutznahme der gedachten Patente ein prozessualisches Einschreiten erforderlich, so dürfen Vergleiche hierüber nur mit Genehmigung der Compagnie Continentale abgeschlossen werden.
§ 39.
Die Compagnie Continentale ist verpflichtet, der Gesellschaft an deren Sitz unter der Bedingung der Gegenseitigkeit das erforderliche Aktenmaterial zu dem im § 37 gedachten Zweck jederzeit zur Verfügung zu stellen.
§ 40.
Für den Fall der Auflösung der Gesellschaft, insbesondere für den Fall der Liquidation fallen die derselben übertragenen Patentrechte, soweit sie sich zu jener Zeit noch in Kraft befinden sollten, an die Compagnie Continentale zu Paris unentgeltlich zurück.
§ 41.
Außer den in dem § 12 bestimmten Vorteilen, welche die Gesellschaft der Compagnie Continentale eingeräumt hat, ist dieselbe verpflichtet, an die Compagnie Continentale in Paris halbjährlich nach Abschluß der Gesellschafts-Rechnungen folgende Prästationen, zahlbar an die Kasse der letzteren, zu entrichten:
a) für jede durch die Deutsche Edison Gesellschaft oder deren Lizenzberechtigte oder durch die Firma Siemens & Halske auf Grund des im § 35 erwähnten Vertrages in Benutzung genommene oder verkaufte Lampe, unabhängig von der Lichtstärke derselben 16⅔% des jeweiligen Selbstkostenpreises, zu welchem die Deutsche Edison Gesellschaft ihre Lampen fabriziert oder bei einer auswärtigen Edison Gesellschaft entnehmen wird, keinesfalls aber mehr als 25 Pfennige pro Stück; von dieser Abgabe sind jedoch diejenigen Lampen befreit, welche die Firma Siemens & Halske gemäß dem vorgedachten Vertrage, sowie die Deutsche Edison Gesellschaft selbst im Bereiche ihrer eigenen Geschäfts- und Fabrikationsräume verwenden wird;
b) eine Abgabe für jede von der Deutschen Edison Gesellschaft oder von der Firma Siemens & Halske auf Grund des mehrgedachten Vertrages innerhalb des Deutschen Reiches ausgeführte Glühlampenbeleuchtung; diese Abgabe wird entrichtet für jede in solchen Glühlampen tatsächlich verbrauchte Maschinen-Pferdekraft gleich 75 Kilogrammeter per Sekunde. Die Feststellung dieser in Lampen verbrauchten Pferdekraft hat nach dem elektrischen Maßsystem zu erfolgen; für die ersten 50 hiernach bei einer Anlage in Rechnung kommenden Pferdekräfte beläuft sich die Abgabe auf 12½ Mark pro Pferdekraft, für jede weitere Pferdekraft auf 16 Mark; für außerordentliche Anlagen, die vorübergehend eingerichtet werden, wird diese Abgabe nicht entrichtet. Bei Anlagen gemischter (Glüh- und Bogenlicht-)Beleuchtung wird diese Abgabe nur für die in den Glühlichtlampen verbrauchten Pferdekräfte bezahlt. Die Abgaben werden fällig für die von der Gesellschaft selbst in Benutzung genommenen resp. verkauften Lampen und Dynamomaschinen mit Ende des jeweilig laufenden Semesters, für die von der Firma Siemens & Halske auf Grund des mehrgedachten Vertrages, sowie von etwaigen Lizentiaten der Gesellschaft benutzten oder verkauften Lampen und Maschinen jedesmal alsbald nach Eingang. Die Deutsche Edison Gesellschaft wird der Compagnie Continentale zu Paris allmonatlich eine Liste der ihrerseits sowie seitens ihrer Lizentiaten oder der Herren Siemens & Halske in Deutschland veräußerten zur Glühlichtbeleuchtung verwendbaren Stromerzeugungs-Maschinen unter Angabe der näheren Details zufertigen.
Von jeder in Glühlicht verbrauchten Maschinen-Pferdekraft und von jeder Lampe ist jedoch diese Angabe nur einmal zu leisten.
§ 42.
Solange und in so weit die Gesellschaft nicht in der Lage sein wird, die zur Anwendung des Edisonschen Glühlichtsystems nötigen Maschinen, Apparate, Utensilien und Materialien bezw. Teile derselben selbst zu fabrizieren oder durch die Firma Siemens & Halske fabrizieren zu lassen, jedoch nicht länger als auf die Dauer eines Jahres, hat die Compagnie Continentale in Paris die zur Anwendung der einschlägigen Edisonschen Verfahren nötigen Maschinen, Apparate, Utensilien und Materialien zum Selbstkostenpreise an die Gesellschaft zu liefern.
Eine Ausnahme hiervon bilden die Lampen, welche der Deutschen Gesellschaft zu demselben Preise wie der Compagnie Continentale und der Société électrique zu Paris frei an Bord des Dampfers in New York geliefert werden.
§ 43.
Die Compagnie Continentale verpflichtet sich, der Deutsches Edison Gesellschaft die zur Errichtung von Installationen oder auch Zentralstationen erforderlichen Hilfskräfte, insbesondere das technische Personal, auf Kosten der letzteren zur Verfügung zu stellen.
§ 44.
Die Compagnie Continentale wird die Gebühren für die in §§ 3 und 36 erwähnten Patente jedesmal rechtzeitig vor Verfall an das Deutsche Reichs-Patentamt entrichten und die Belege darüber der Deutschen Edison Gesellschaft spätestens einen Monat vor Ablauf der letzten Frist zustellen.
§ 45.
Die Compagnie Continentale in Paris hat das Recht, zwei ständige Kommissarien zur Wahrnehmung ihrer Befugnisse und Interessen der Gesellschaft gegenüber zu bestellen.
Diese Kommissarien partizipieren als solche, wenn sie nicht schon Mitglieder des Aufsichtsrats sind, an der Tantieme des letzteren und es stehen ihnen, soweit es sich um die Wahrung der Vertragsrechte der Compagnie Continentale handelt, sämtliche den Mitgliedern des Aufsichtsrats in diesem Statut eingeräumten Revisions- und Kontroll-Befugnisse zu.
§ 46.
Die Bestimmungen dieses Titels können ohne Genehmigung der Compagnie Continentale in Paris nicht geändert werden.
* *
*
Ein Vertreter der Compagnie Continentale Edison in Paris trat in den Aufsichtsrat der Deutschen Edison Gesellschaft ein. Daneben wurden noch zwei Kommissare der französischen Gesellschaft bestellt, die die Geschäftstätigkeit des neuen Unternehmens unter dem Gesichtspunkte der Interessenwahrnehmung der Compagnie Continentale zu überwachen hatten. Es waren Herr Louis Rau, administrateur délégué de C. C. E. in Paris und der deutsche Rechtsanwalt und Notar A. Simson in Berlin.
Abgesehen von der juristischen Auseinandersetzung mit Edison und den von ihm gegründeten Gesellschaften war aber noch eine schwierigere mit der deutschen Konkurrenz zu bewerkstelligen. Insbesondere erschien es nicht als ratsam, die Tätigkeit ohne Übereinkommen mit der stärksten Konkurrenzfirma Siemens & Halske zu beginnen, umsomehr, als die Edisonpatente nicht mehr als unerschütterlich gelten konnten. Es hätten Versuche gemacht werden können, Glühlampen von ähnlicher Beschaffenheit und Güte unter Umgehung der Edisonschen Patente herzustellen und solche Versuche sind auch, je erfolgreicher das neue Licht sich bewährte, und je mehr es sich beim Publikum einführte, in großer Zahl unternommen worden. Wenigstens die leistungsfähigste Elektrizitätsfirma Deutschlands galt es von einem derartigen Vorgehen zurückzuhalten. In einem der ersten Geschäftsberichte der Deutschen Edison Gesellschaft wird von der illegitimen Konkurrenz gesprochen und ihre Erzeugnisse werden als „billig und schlecht“ bezeichnet. Infolge dieser Eigenschaften waren sie vielleicht nicht allzusehr zu fürchten. Etwas ganz anderes wäre es aber gewesen, wenn die Firma Siemens & Halske mit ihren reichen technischen Mitteln und ihren großen Erfahrungen in der elektrischen Feinmechanik an die Aufgabe, eine Konkurrenzlampe herzustellen, herangegangen wäre. Dies galt es zu verhindern, und so wurde, noch bevor die Deutsche Edison Gesellschaft sich endgültig konstituierte, gleichsam als eine der Vorbe [S. 108] dingungen für ihre rechtliche und wirtschaftliche Lebensfähigkeit ein umfassender Vertrag mit der Firma Siemens & Halske abgeschlossen, an dem Edison, die europäischen Edisongesellschaften, das Gründungskonsortium der Deutschen Edison Gesellschaft und die Rechtsnachfolger Edisons, unter denen insbesondere die zu gründende Deutsche Edison Gesellschaft namhaft gemacht wurde, als Vertragsgenossen teilnahmen. Nach dem Vertrage verpflichteten sich Siemens & Halske, die Edison-Patente nicht anzufechten und zu stören, sondern im Gegenteil alles zu tun, um ihre Aufrechterhaltung zu fördern. Ein damals schwebender Prozeß zwischen Edison und Siemens & Halske, bei dem es sich um eine angebliche Verletzung der Siemensschen Dynamomaschinen-Patente durch Edison handelte, wurde bei dieser Gelegenheit durch Vergleich aus der Welt geschafft. Rathenau entschloß sich nicht leicht zu dem Pakt mit der älteren Konkurrenzfirma, zumal er damals wie auch später noch die Empfindung hatte, daß trotz der geschriebenen Verträge eine wirkliche Harmonie, ein ehrliches Vertrauensverhältnis schwer herzustellen sein würde. Aber es blieb ihm tatsächlich kein anderer Ausweg und das Bankenkonsortium forderte wenigstens nach dieser Seite hin gesicherte Verhältnisse. Ein Streit mit der Firma Siemens & Halske hätte für das junge Unternehmen, gleich wie er auch juristisch und tatsächlich schließlich ausgelaufen wäre, doch sicher jahrelange Kämpfe und Unruhen mit sich gebracht und wäre jedenfalls die denkbar schlechteste Beigabe für die zielbewußte Arbeit der ersten entscheidenden Jahre gewesen. So kam denn der rechtlich durch die eigenartige Stellung der vielen Kontrahenten zueinander sehr verwickelte Vertrag zustande, der 10 Jahre lang in Geltung bleiben sollte. Die Deutsche Edison Gesellschaft übernahm von Siemens & Halske mit der Edison Gruppe geschlossene Patentausnutzungs-Verträge in der Weise, daß Siemens & Halske ihre Abgaben nicht an die ausländischen Edison Gesellschaften, sondern an die Deutsche Edison Gesellschaft abzuführen hatten, während diese die Hälfte der ihr so zugeflossenen Beträge ebenso wie ihre eigenen Abgaben an die Pariser Gesellschaft weitergeben mußte. Wirtschaftlich erhielt also die Firma Siemens & Halske die Stellung einer Unter-Lizenznehmerin der Deutschen Edison Gesellschaft, wenn sie auch rechtlich direkte Lizenznehmerin der ausländischen Edisongruppe blieb. — Natürlich war für Rathenau [S. 109] diese „Einrangierung“ der Firma Siemens & Halske in sein deutsches Glühlampenmonopol nicht ohne Zugeständnisse an das alte Elektrizitätshaus zu erreichen gewesen. Die Übertragung der Siemensschen Verträge mit der Pariser Gruppe auf die Deutsche Edison Gesellschaft war nur die eine Seite des Vertragskomplexes zwischen den beiden Gruppen. Ein zweiter Teil bestand darin, daß Siemens & Halske im Verhältnis der Vertragsgenossen das alleinige Recht erhielten, Maschinen, Apparate und Materialien für Beleuchtungsanlagen nach dem System Edison herzustellen, die sie zu Meistbegünstigungspreisen an die Deutsche Edison Gesellschaft liefern und die diese von Siemens & Halske beziehen mußte. Glühlampen und Zubehör durften beide Gesellschaften selbst herstellen. Hinsichtlich ihres Bezuges von Dampf- und Hilfsmaschinen war die Deutsche Edison Gesellschaft nicht auf den Bezug von S. & H. angewiesen. Was Bogenlampen anlangt, so sollte die Deutsche Edison Gesellschaft die nach dem System von S. & H. gebauten verwenden müssen, sofern nicht Edison eine eigene Lampe erfinden und exploitieren würde. Als Gegenleistung für diese Zugeständnisse verpflichtete sich die Firma Siemens & Halske, keine elektrischen Anlagen zu gewerblichen Zwecken (sogenannte Zentralstationen) zu betreiben. Die vertraglichen Abmachungen, die einer Teilung der Fabrikations- und Interessengebiete auf dem Gebiete der elektrischen Beleuchtung zwischen beiden Unternehmungen gleichkamen, wurden dadurch bekräftigt, daß die Firma Siemens & Halske der jüngeren Gesellschaft, die für die Propagierung des Edisonlichts eine weitverzweigte und leistungsfähige Absatzorganisation benötigte, ihre eigenen Vertreter in allen Teilen des Deutschen Reiches für diese Zwecke zur Verfügung stellte. — Der für die Entwickelung der Deutschen Edison Gesellschaft so wichtig gewordene Hauptvertrag mit Siemens & Halske soll nachstehend gleichfalls in seinen wesentlichsten Bestimmungen wörtlich wiedergegeben werden.
§ 3.
Die Firma Siemens & Halske verpflichtet sich für die Dauer des gegenwärtigen Vertrages, die dem Herrn Edison bezw. der Light-Company für das Deutsche Reich erteilten, die elektrische Glühlicht-Beleuchtung betreffenden Patente weder mit dem Antrag auf Nichtigkeits-Erklärung noch sonst anzufechten; sie ist im Gegenteil ge [S. 110] halten, tunlichst dahin mitzuwirken, daß diese Patente in ihren wesentlichen Teilen aufrechterhalten und hinsichtlich ihrer gesetzlichen Wirkung allseitig beachtet bleiben.
Dagegen räumen Herr Edison, die Light-Company, die Continentale und das Konsortium hierdurch der Firma Siemens & Halske für das Deutsche Reich auf die Dauer des gegenwärtigen Vertrages das Recht ein, den Gegenstand der durch die vorbezeichneten Glühlicht-Patente geschützten Erfindungen uneingeschränkt gewerbsmäßig herzustellen, herstellen zu lassen, in Verkehr zu bringen und feilzuhalten. Die Kontrahenten zu 2. bis 7. entsagen demgemäß für sich und ihre Rechtsnachfolger dem Recht, selbst oder durch ihre Agenten oder sonstigen Vertreter der vorbeschriebenen Ausnutzung der Glühlicht-Patente von Seiten der Herren Siemens & Halske, sei es im Rechtswege, sei es in irgend einer anderen Weise ein Hindernis entgegenzusetzen, während die letzteren als Entgelt hierfür, sowie für die weiteren ihnen in diesem Vertrage von dem anderen Teile eingeräumten Vorteile die Verbindlichkeit übernehmen, nach näherer Maßgabe der §§ 4 und 6 eine Abgabe
a) für die Verwendung der Glühlicht-Lampen und ihrer akzessorischen Teile zur Beleuchtung,
b) für die Veräußerung solcher Lampen
zu entrichten.
§ 4.
..... Diese Abgabe wird entrichtet für jede in den Glühlampen tatsächlich verbrauchte Pferdekraft (= 75 Kilogrammeter per 1 Sekunde). Die Feststellung dieser in den Lampen verbrauchten Pferdekraft hat nach dem elektrischen Maß-System zu erfolgen. Es wird vorbehalten, künftig eine möglichst einfache und sichere Art der Erhebung dieser Abgabe zu vereinbaren. Für die ersten fünfzig hiernach bei einer Anlage überhaupt in Rechnung kommenden Pferdekräfte beläuft sich die Abgabe auf 25.— Mark pro Pferdekraft, für jede weitere Pferdekraft auf 32.— Mark. Für außerordentliche Anlagen, die vorübergehend eingerichtet werden, wird diese Abgabe nicht entrichtet.
..... Von Stromerzeugungsmaschinen, welche die Herren Siemens & Halske veräußern, ohne selbst oder durch ihre Agenten oder Monteure die Installation auszuführen, haben sie eine Abgabe nicht zu entrichten.
§ 5.
Die Herren Siemens & Halske entsagen für die Dauer des gegenwärtigen Vertrages dem Recht, permanente Anlagen mit dem gewerblichen Zweck der Abgabe von Licht gegen Bezahlung des Licht-Verbrauchs zu betreiben. Dieser Verzicht umfaßt unbedingt jede Anlage, aus welcher jedermann Licht beziehen kann, betrifft indessen nicht den Betrieb solcher Anlagen, bei welchen das Eigentum der Anlagen innerhalb eines Zeitraumes von längstens 6 Jahren auf den resp. die Licht-Konsumenten übergeht, auch wenn solche bis zum Eigentumsübergang als Lichtlieferungsanstalten angesehen werden könnten, und ferner nicht den Betrieb solcher Anlagen, welche nur dem Zweck der in § 4 erwähnten vorübergehenden Beleuchtungen dienen.
§ 6.
Auf jede Glühlampe, welche die Herren Siemens & Halske im Deutschen Reich anwenden oder zum Zweck der Anwendung im Deutschen Reich veräußern, ausschließlich jedoch aller derjenigen Lampen, welche sie von Herrn Edison oder dessen Rechtsnachfolgern beziehen, und ausschließlich derjenigen, welche sie im Bereich ihrer eigenen Fabrikations- und Geschäftsräume verwenden, werden die Herren Siemens & Halske — in besonderer Anerkennung der Verdienste des Herrn Edison in der Erfindung und Durchführung der Glühlicht-Lampe — an diesen beziehungsweise an den von ihm jeweilig als empfangsberechtigt bezeichneten Rechtsnachfolger eine Abgabe entrichten. Die dieser Abgabe unterliegenden Lampen werden von den Herren Siemens & Halske bei der Fabrikation durch ein besonderes Merkmal kenntlich gemacht werden. Ein ähnliches Merkmal wird auch seitens der künftigen Deutschen Edison Gesellschaft bei den von ihr in Deutschland in Verkehr gebrachten Lampen angewendet werden. Die Abgabe wird unabhängig von der Lichtstärke der Lampen festgesetzt auf 33⅓% (dreiunddreißig ein Drittel Prozent) des jeweiligen Selbstkostenpreises, zu welchem die Lampen in der Fabrik der Light-Company zu New York resp. in derjenigen Fabrik, der die künftige Deutsche Edison Gesellschaft die Mehrzahl ihrer Lampen entnimmt, hergestellt werden und welchen Herr Edison bezw. seine Rechtsnachfolger halbjährig nach Semestral-Abschluß der Bücher den Herren Siemens & Halske mitteilen werden. Die [S. 112] Abgabe pro Lampe darf indessen in keinem Falle den Betrag von 50 Pf. (fünfzig Pfennig) übersteigen.
Das Minimum des Preises, zu welchem Herr Edison und seine Rechtsnachfolger die Glühlampen in Deutschland verkaufen dürfen, soll der jeweilige Selbstkostenpreis der Fabrik der Light-Company zu New York oder derjenigen Fabrik, der die künftige Deutsche Edison-Gesellschaft die Mehrzahl ihrer Lampen entnimmt, unter Zurechnung eines Gewinnaufschlages von 33⅓% sein, auch wenn und wo ein Rabatt gewährt wird. Die so festgesetzte untere Preisgrenze ist für die Herren Siemens & Halske gleichfalls verbindlich.
§ 7.
Die Abgabe (§ 6) wird nicht gezahlt für alle Glühlampen, welche die Herren Siemens & Halske von Herrn Edison beziehungsweise der ins Leben zu rufenden Deutschen Aktien-Gesellschaft (§ 1) oder seinen sonstigen Rechtsnachfolgern erwerben.
Im Geschäftsverkehr zwischen diesen und den Herren Siemens & Halske werden den letzteren vielmehr, unbeschadet etwaiger künftiger Verständigung über weitergehende Vergünstigungen, mit Rücksicht auf die vertragsmäßigen Gegenleistungen der Herren Siemens & Halske folgende Vorzugs-Verkaufspreise zugesichert:
a) Auf Glühlampen bis zu 16 Kerzenstärken erhalten die Herren Siemens & Halske einen Rabatt von 25% (fünfundzwanzig Prozent) des Preiskourant-Satzes, mindestens aber einen Rabatt, der den irgend einem anderen Abnehmer in Deutschland gewährten um wenigstens 10% des Preiskourant-Satzes übersteigt.
b) Wird der Preiskourant-Satz der vorbezeichneten Lampen für Deutschland loko Berlin unter 4 Mark herabgesetzt, so erhalten die Herren Siemens & Halske die Lampe zu einem Preise, der um mindestens 5% niedriger ist, als der irgend einem anderen Abnehmer in Deutschland bewilligte. Stellt sich der so normierte Preis höher als der nach Litt. a) von einem Preis von 4 Mark oder mehr berechnete, so sind die Herren Siemens & Halske berechtigt, die Lieferung zu diesem letzteren Preise zu fordern.
c) Auf Glühlampen von mehr als 16 Kerzenstärken erhalten die Herren Siemens & Halske auf den Preiskourant-Satz einen [S. 113] Rabatt, welcher den irgend einem anderen deutschen Abnehmer gewährten um wenigstens 5% des Preiskourant-Satzes übersteigt.
Die Herren Siemens & Halske sind befugt, selbstverfertigte oder von Dritten bezogene Lampen — unter Einhaltung der in § 6 am Ende gezogenen unteren Preisgrenze — zu einem ihnen beliebigen Preise zu verkaufen, während sie die von Herrn Edison bezw. dessen Rechtsnachfolgern, das heißt ohne Leistung einer Abgabe bezogenen Lampen nicht unter dem Edisonschen Preiskourant-Satz und nicht mit einem höheren, als dem auf diesen Edisonschen Preiskourantsatz Dritten gewährten Rabatt weiter veräußern dürfen.
§ 8.
Herr Edison und die Kontrahenten zu 3. bis 7. entsagen mit Rücksicht auf die vertragsmäßigen Gegenleistungen der Herren Siemens & Halske für sich und alle ihre Rechtsnachfolger in der Ausnutzung der Edison-Patente, zu Gunsten der Herren Siemens & Halske, dem Rechte, Maschinen, Apparate und Materialien anzufertigen, welche bei ihren Anlagen in Deutschland für elektrische Beleuchtung zur Verwendung kommen.
Ausgenommen von vorstehender Entsagung bleiben:
a) Glühlampen,
b) sockets (Lampenhalter),
c) safety-catches (Sicherheitsausschalter),
d) commutators (Umschalter),
e) alle solche Gegenstände, welche die Herren Siemens & Halske selbst, nachdem sie solche eingekauft, ohne Bearbeitung weiter verkaufen würden, als blanke Drähte, Porzellan-Isolatoren und dergl.,
f) Dampfmaschinen oder sonstige Motoren, Dampfkessel und Hilfsmittel für Betriebskraft,
g) Kandelaber und Befestigungsteile für die Anbringung der Lampen.
In der Anschaffung und Anfertigung ihres Bedarfs an Gegenständen der Kategorien zu a) bis g) sind Herr Edison und seine Rechtsnachfolger nicht beschränkt. Dagegen verpflichten sie sich, [S. 114] gleichfalls aus der oben gedachten Rücksicht, alle sonstigen nachstehend unter 1. bis 4. einschließlich aufgeführten Gegenstände unter folgenden Modalitäten ausschließlich von den Herren Siemens & Halske fabrizieren zu lassen und zu beziehen, und zwar:
1. Stromerzeugungs-Maschinen nach Edisonschen Modellen, welche die Herren Siemens & Halske zu fabrizieren und zu Preisen zu liefern haben, die für innerhalb Berlin zur Installation gelangende Maschinen unverpackt franko Ausstellungsort in Berlin, für andere Maschinen einschließlich der Verpackung und franko Bahnhof Berlin die Ausgangspreise nicht übersteigen, zu denen die Société industrielle et commerciale Edison in Paris die gleichen Typen jeweilig franko Bahnhof Paris einschließlich der Verpackung abgibt. Für die innerhalb des ersten Fabrikationsjahres, von dem Zeitpunkte ab gerechnet, mit welchem die Verpflichtung der Herren Siemens & Halske zur Fabrikation beginnt oder zu welchem tatsächlich Bestellungen erfolgt und akzeptiert sind, ausgeführten Lieferungen darf jedoch der Preis der Herren Siemens & Halske den vorbeschriebenen Pariser Preis um 5% übersteigen;
2. Conductoren Edisonscher Spezialkonstruktion, boites de jonction und T-Stücke, sowie alle übrigen hier nicht besonders aufgeführten, zu dem Edisonschen Leitungssysteme gehörenden Gegenstände, welche die Herren Siemens & Halske verpackt loko Berlin Bahnhof bezw. unverpackt loko Berlin franko Aufstellungsort zu Preisen zu liefern haben, die denjenigen Preis nicht übersteigen, zu welchem die Société industrielle et commerciale Edison in Paris diese Gegenstände inklusive Verpackung franko Pariser Bahnhof abgibt.
3. Kabel zur Glühlicht-Beleuchtung und Bogenlicht-Beleuchtung, die Spezial-Konstruktionen der Firma Siemens & Halske sind, welche die Herren Siemens & Halske zu liefern und loko Fabrik ausschließlich der Verpackung mit einem Rabatt zu berechnen haben, der den irgend einem anderen deutschen Abnehmer in derselben Rechnungsperiode gewährten Rabatt um 5% des Lieferungspreises übersteigt.
4. Leitungsdrähte für die Installation im Innern der Gebäude, welche Herr Edison und seine Rechtsnachfolger gleichfalls [S. 115] vorzugsweise von den Herren Siemens & Halske beziehen sollen, sofern und solange diese Firma jene Gegenstände unter den gleichen Bedingungen, insbesondere in gleicher Qualität, zu dem nämlichen oder einem geringeren Preise und innerhalb der gleichen Lieferungszeiten liefert, als zu welchen dieselben loko Berlin von einem anderen Lieferanten bezogen werden können.
..... Die Verpflichtung der Herren Siemens & Halske, Maschinen etc. unter obigen Bedingungen zu liefern, beginnt sechs Monate nach Vollziehung dieser Vertrages.
..... Im Fall die Herren Siemens & Halske eine Kündigung des Vertrages ausgesprochen haben, werden Herr Edison und seine Rechtsnachfolger — in besonderer Anerkennung der Verdienste des Herrn Dr. Werner Siemens und der von ihm geleiteten Firma in der Erfindung und Durchführung der Dynamo-Maschine — für die Dauer des gegenwärtigen Vertrages von jeder solchergestalt in ihren eigenen Werkstätten angefertigten Maschine an die Herren Siemens & Halske eine Abgabe entrichten. Diese Abgabe wird festgesetzt auf 5% (fünf Prozent) desjenigen Preises, welcher den Herren Siemens & Halske für eine stromerzeugende Maschine der betreffenden Type zuletzt tatsächlich gezahlt ist, bezw. — bei neuen Typen — nach dem Obigen (siehe Nr. 1 etc.) zu zahlen sein würde.
§ 11.
Herr Edison und seine Rechtsnachfolger entsagen mit Rücksicht auf die vertragsmäßigen Gegenleistungen der Herren Siemens & Halske für Deutschland dem Recht, bei Bogenlicht-Beleuchtungen irgend ein anderes System als dasjenige der Herren Siemens & Halske oder ein von Herrn Edison selbst erfundenes zu exploitieren und den zu Bogenlicht-Beleuchtungen gebrauchten Zubehör aus einer anderen Bezugsquelle als von den Herren Siemens & Halske zu entnehmen, unbeschadet der im § 8 bestimmten Ausnahmen. Nur Kohlenstäbe fallen nicht unter diese Vereinbarung (§ 9 in fin.).
* *
*
Das Abkommen zwischen der Deutschen Edison Gesellschaft und Siemens & Halske hatte für beide Teile seine Vorteile und Nachteile. Für die ältere Firma, deren weitverzweigter Geschäftskreis dadurch nur in einem, überdies ziemlich weit an der Peripherie gelegenen Teile berührt wurde, hatte es zunächst mehr die Bedeutung eines Ausgleichs über ein neues, den alten Geschäftsstamm ergänzendes Zukunftsgebiet, keineswegs die Tragweite einer Teilung bisherigen Alleinbesitzes mit einem neu hinzukommenden Konkurrenten. So wurde es wenigstens damals von den Leitern der Firma S. & H. aufgefaßt. Auf diesem neuen Gebiete, dem der Lichtelektrizität, sicherte man sich das Recht, die beste damals vorhandene Glühlampe zu produzieren. Die der Deutschen Edison Gesellschaft gegenüber höhere Lizenzgebühr nahm man in den Kauf, glaubte diesen Nachteil aber dadurch hinlänglich ausgeglichen zu haben, daß man das ausschließliche Recht, Maschinen und Materialien für Beleuchtungszwecke nach dem Edisonschen System herzustellen und dazu einen bedeutenden Pflichtabnehmer für diese Fabrikate sowie für die eigene Bogenlampenkonstruktion gewann. Der Verzicht auf die sogenannten „Konzessionen“, das heißt das Recht, Zentralstationen zur Erzeugung und gewerblichen Abgabe von Lichtstrom für eigene Rechnung zu errichten, fiel der Firma Siemens & Halske damals nicht schwer. Sie hielt diesen Zentralenbau in eigener Regie für etwas Unsolides, mit dem Odium der Gründerei Behaftetes und hätte — wenigstens zu jener Zeit — wohl auch ohne diese Bindung nicht an die Errichtung solcher Stationen gedacht. Der ganze Vertrag war für die Firma insofern wertvoll, als er ihr die Möglichkeit bot, die neue Konkurrenz, deren Kapitals- und Industriekraft ihr gewiß nicht ebenbürtig war, deren Unternehmungslust aber sehr groß und lebhaft zu sein schien, auf ein Sondergebiet, das der Glühlampenbeleuchtung, zu beschränken. Für die Deutsche Edison Gesellschaft waren manche der einschränkenden Bedingungen — darüber war sich Emil Rathenau schon damals nicht im Unklaren — hemmend, wenngleich nicht so sehr für die nächste Zeit, die auf dem gewählten Sondergebiet vorerst mehr als genug Arbeit bot, als für die weitere Entwickelung. Dafür erwarb die junge Gesellschaft aber ein Rechtsmonopol für Glühlampen Edisonschen Systems in Deutschland, schaltete die stärkste Konkurrenz auf dem wichtigen Zentralenbaugebiet aus und hatte die Gewähr, diejenigen Hilfsanlagen, die sie selbst [S. 117] nicht herstellen durfte, von der leistungsfähigsten Fabrikationsfirma zu günstigen Preisen geliefert zu erhalten. Schließlich war die enge Geschäftsverbindung mit dem großen Hause Siemens & Halske für den geschäftlichen Ruf eines neu gegründeten Unternehmens an sich, ganz unabhängig von dem Inhalt der Verträge, wertvoll genug. Sie hob es über die Fährnisse und Unsicherheiten der Vertrauensfrage Abnehmern und Aktionären gegenüber mit einem Schlage soweit hinaus, wie dies sonst nur durch jahrelange gute Leistungen und Erträgnisse möglich gewesen wäre, und gab ihm von vornherein den Rahmen der Ernsthaftigkeit und industriellen Bedeutung. Eine Gesellschaft, die Siemens & Halske eines Interessenteilungs-Vertrages für würdig hielten, mußte — so wird man sich damals gesagt haben — doch eine ernsthafte Grundlage besitzen, und der „Vertrag mit Siemens, der Rathenau an Händen und Füßen fesselte“ — so drückte sich ein bekannter Finanzmann aus — „war für das junge Unternehmen nichtsdestoweniger ein Glück, weil es eben ein Vertrag mit Siemens war.“
Nach Erledigung dieser rechtlichen und vertraglichen Grundkonstruktionen konnte sich die neue Verwaltung mit Intensität ihrer industriellen Arbeit widmen. Dabei war sie sich durchaus der Tatsache bewußt, daß das neue Beleuchtungssystem in seiner praktischen Anwendung und Handhabung noch nicht völlig über die Periode der Versuche und Kinderkrankheiten hinausgewachsen war. Rückschläge und Mißerfolge — namentlich in der Hand von ungeübten Unternehmern — waren leicht möglich, und hätten der Volkstümlichkeit der jungen Beleuchtung schweren Schaden bringen können. In der ersten eigenen Blockstation, Friedrichstraße 85, von der aus man die umliegenden Häuser und Etablissements mit elektrischem Licht speiste, mußten die Ingenieure der Gesellschaft, darunter Rathenau und Oscar v. Miller, noch immer persönlich scharfen Überwachungsdienst leisten, damit die Maschinen in richtigem Gang blieben, und wenn doch einmal, was gar nicht so selten vorkam, die elektrische Beleuchtung plötzlich erlosch, mußten die Gäste im Café Bauer, das zu den Abnehmern jener ersten Station gehörte, mit guter Laune über die unangenehme Situation hinweggebracht werden, eine Aufgabe, die allerdings — wie Oscar v. Miller humorvoll zu erzählen pflegte — bei den Kollegen am wenigsten begehrt war. Hatte die [S. 118] Deutsche Edison Gesellschaft schon selbst trotz ihrer besonderen Erfahrungen auf dem Gebiete des Glühlampen-Lichts mit derartigen Schwierigkeiten zu kämpfen, so mußte sie sich die Lizenzanträge, die ihr in großer Zahl zugingen, doppelt und dreifach daraufhin ansehen, ob die Firmen, von denen sie ausgingen, die erforderliche technische Gewähr für zuverlässige Ausführung boten. In ihrem ersten Geschäftsbericht hebt die Edisongesellschaft ausdrücklich hervor, daß sie unter Verzicht auf den durch unbeschränkte Lizenzerteilung zu erzielenden Nutzen unter dem Schutz der deutschen Edison-Patente nur Firmen vereinigen dürfe, die durch ihre bisherigen Leistungen und durch ihre bevorzugte Stellung in der Industrie dem Publikum genügende Sicherheit für sorgfältige Installation und Garantien dafür boten, daß sie nicht auf Kosten der Qualität eine Preiskonkurrenz herbeiführen würden. Infolge dieser vorsichtigen Verkaufspolitik wurden im ersten Geschäftsjahre nur mit der Firma J. Schuckert in Nürnberg und der Firma Heilmann, Ducommun & Steinlen in Mülhausen Lizenzverträge abgeschlossen, nach denen sie gegen Erstattung gewisser Abgaben und gegen die Verpflichtung, die Lampen ausschließlich von der Deutschen Edison Gesellschaft zu beziehen, zur Benutzung der Edisonschen Patente berechtigt waren. Trotz dieser selbstgewählten Beschränkung waren bei Ablauf des ersten im ganzen noch nicht 8 Monate umfassenden Geschäftsjahres der Gesellschaft in Deutschland bereits 138 Dynamomaschinen mit mehr als 12000 Lampen unter dem Schutze der Edisonschen Patente in Tätigkeit. Die ersten Maschinen, Apparate usw. mußten noch von ausländischen Edison-Gesellschaften bezogen werden, da die Firma Siemens & Halske nicht sofort mit der Lieferung von Edison-Maschinen beginnen konnte, sondern erst umfassende Vorbereitungen für die Produktion treffen mußte. Hierbei trat denn die Mangelhaftigkeit der Edisonschen Original-Maschinen klar zutage. Eisenteile zerbrachen häufig, die Widerstände waren falsch berechnet. Kurz, die Deutsche Edison Gesellschaft hatte mit diesen Maschinen viel Ärger. Schon in kurzer Zeit gelang es der Firma Siemens & Halske aber dank ihrer ausgezeichneten und geschulten Kräfte und der reichen Mittel, die ihr zur Verfügung standen, sich der übernommenen Aufgabe in so vollendeter Weise zu entledigen, daß die Deutsche Edison Gesellschaft ihren Bedarf ausschließlich in ihren Werkstätten decken konnte. Für die Herstellung von Antriebsmotoren [S. 119] zum Betriebe der Dynamomaschinen, bei deren Bezug die Gesellschaft nicht an S. & H. gebunden war, entwarf die Edison-Gesellschaft, nachdem es sich herausgestellt hatte, daß die zu verwendenden Motoren die bisherigen Ansprüche überstiegen, Spezialkonstruktionen, die nach ihren Anweisungen von einer Berliner Maschinenfabrik hergestellt wurden. Auch hier ging es nicht ohne Fehlschläge ab. Für die Herstellung von Glühlampen, die den wesentlichsten Teil der neuen Beleuchtung bildeten, richtete die Gesellschaft dagegen eigene Fabrikationsanlagen auf Grund der in Amerika und Frankreich gemachten Erfahrungen ein; die Erzeugungsfähigkeit der Fabrik wurde auf zunächst 150000 Lampen jährlich bemessen und im ersten Geschäftsjahre — in einer Verkaufszeit von 6 Monaten — wurden 25000 Stück abgesetzt. An größeren Installationsaufträgen waren u. a. auszuführen: Die endgültigen Beleuchtungsanlagen in den beiden Münchener Königlichen Theatern, dem Residenztheater und dem Opernhaus, und eine Anlage in dem neuen Königlichen Residenztheater zu Stuttgart. Im ganzen wurden 27 Anlagen mit 33 Maschinen hergestellt, unter deren Bestellern sich Maschinen-, Zucker- und Papierfabriken, Spinnereien, Webereien, Geschäftshäuser und Restaurants befanden. Dabei leisteten Felix Deutsch seine Beziehungen namentlich zur Zuckerindustrie gute Dienste. Auch hier waren die Ergebnisse aber zunächst keineswegs so befriedigend, wie man das erhofft hatte. Abgesehen von den Störungen, die durch die anfänglich gelieferten schlechten amerikanischen Maschinen hervorgerufen wurden, konnten sich die Kunden auch nur schwer an die sogenannten „Schnelläufer“ gewöhnen, die mit den 300 Touren, die sie in jener Zeit liefen, für damalige Begriffe ein Höllengeräusch machten. In eigenem Betrieb wurde die kleine von der Versuchsgesellschaft übernommene Zentralstation ausgebaut, die von dem Grundstück des Unionklubs in der Schadowstraße diesen sowie die Ressource von 1794 mit elektrischer Energie versorgte. Eine Erweiterung mit dem Zwecke, auch das in der Nähe gelegene Aquarium so wie einige andere Nachbarbetriebe mit Licht zu versorgen, wurde in die Wege geleitet. Die im Jahre 1883 in Berlin abgehaltene Hygiene-Ausstellung wurde dazu benutzt, das Glühlicht in großem Maßstabe dem Publikum der Reichshauptstadt vorzuführen.
Für das Jahr 1883, das erste Geschäftsjahr des neuen Unternehmens, wurde folgende Bilanz aufgestellt:
Bilance für das erste Geschäftsjahr,
abgeschlossen per 31. Dezember 1883.
Aktiva. | M. Pf. | ||
An | Kasse-Conto | 7.720.07 | |
„ | Effekten-Conto 3½ pCt. Pr. St. Schld. (Kaution) nom. M. 150.— | 150.05 | |
„ | Waaren-Conto | 204.248.01 | |
„ | Conto-Corrent-Conto | ||
a) Guthaben bei diversen Banken | 4.103.672.— | ||
b) Guthaben auf Forderungen in lfd. Rechnung | 548.298.27 | 4.651.970.27 | |
„ | Inventarien-Conto | ||
I. Mobilien | 11.727.97 | ||
II. Comptoir- und Bureau-Utensilien | 4.219.95 | ||
III. Technische Instrumente, Apparate und Chemikalien | 5.929.55 | ||
IV. Bücher und Pläne | 2.387.60 | ||
V. Werkzeuge | 1.233.85 | ||
25.498.92 | |||
ab 10% Abschreibung | 2.550.— | 22.948.92 | |
„ | Immobilien-Conto | ||
Grundstück Friedrichstrasse 85 | 227.211.38 | ||
„ | Vorschuss-Conto Compagnie Continentale Paris, Rest der an dieselbe, für Ausnutzung der Edison-Patente gezahlten Erwerbspreise von M. 350.000 per 31. Dezember 1883 (§ 35 der Statuten) | 336.133.45 | |
„ | Centralstation Schadowstrasse 9 | ||
Union-Club und Ressource 1794 | 54.739.05 | ||
„ | Patent-Conto | 2.000.— | |
5.507.121.20 | |||
[S. 121] Passiva. | M. Pf. | ||
Per | Actien-Capital-Conto | 5.000.000.— | |
„ | Conto-Corrent-Conto Creditoren in laufender Rechnung | 303.137.03 | |
„ | Hypotheken-Conto auf Friedrichstrasse 85 haftende Hypothek | 30.000.— | |
„ | Gewinn- und Verlust-Conto Reingewinn | 173.984.17 | |
„ | Dividenden-Conto per 1883 4% v. M. 5.000.000 resp. 10.000 Act. à M. 13.35 | M. 133.500 | |
„ | Rückstellungs-Conto für unternommene Anlagen | M. 40.000 | |
„ | Gewinn-Uebertrag pro 1884 | M. 484.17 | |
5.507.121.20 |
Gewinn- und Verlust-Conto
per 31. Dezember 1883.
Debet. | M. Pf. | ||
An | Handlungs-Unkosten-Conto | ||
I. Gehälter | 56.563.70 | ||
II. Reisekosten | 4.203.75 | ||
III. Schreib- und Zeichen-Material, Druckkosten, Formulare und Bureaubedürfnisse | 6.529.48 | ||
IV. Porti, Depeschen, Insertionen und öffentliche Blätter | 5.926.68 | ||
V. Miethe und Instandhaltung der Dienstlokale | 6.641.50 | ||
VI. Feuer-Versicherung | 861.48 | ||
VII. Stempel, Steuern, Einkommen- und Mieths-Steuer | 4.993.70 | ||
85.720.29 | |||
[S. 122] An | Organisations-Conto | ||
Druck der Actien und Statuten, Prospekte, Eintragungskosten, Fertigstellung und Controllzeichnung der Actien und Publikationen durch die Presse | 12.323.33 | ||
„ | Inventarien-Conto | ||
10 pCt. Abschreibung von 25.498.92 | 2.550.— | ||
Reiner Gewinn | 173.984.17 | ||
274.577.79 | |||
Credit. | M. Pf. | ||
Per Waaren-Conto | 160.151.23 | ||
Per Zinsen-Conto | 114.426.56 | ||
274.577.79 |
* *
*
Wir sehen aus dieser Bilanz, daß nach Ablauf des ersten Geschäftsjahres das eingezahlte Kapital der Gesellschaft von 5 Millionen Mark erst zu einem kleinen Teil in Anspruch genommen und in den Betrieb überführt worden war. Ein Betrag von 4.103.672 Mark war noch bar vorhanden und als Guthaben der Gesellschaft bei verschiedenen Banken niedergelegt. Trotzdem konnte auf das Aktienkapital von 5 Millionen Mark eine Dividende von 4% für die Zeit von der Gründung der Gesellschaft bis zum Bilanzabschluß zur Ausschüttung gebracht werden, was aber zum Teil dadurch ermöglicht wurde, daß neben dem Warengewinn von 160.151 Mark ein Zinsgewinn von 114.426 Mark aus dem Bankguthaben der Gesellschaft zufloß.
In den folgenden Jahren schritt die technische Entwickelung rüstig fort. Trotz mancher Rück- und Fehlschläge war der Siegeszug des Edison-Lichts nicht mehr aufzuhalten, besonders nachdem es der Gesellschaft gelungen war, eine Bogenlampenkonstruktion zu erwerben, bei der es möglich wurde, Bogenlicht und Glühlicht rationell in demselben Stromkreise zu brennen. Diese Lampe füllte auch die Lücke aus, die bisher zwischen der sechzehnkerzigen Glühlampe und der Bogenlampe von 1000 Normalkerzen bestanden hatte, da man ihre Lichtstärke durch Regulierung des Stromverbrauchs in [S. 123] weiten Grenzen bis zu 100 Kerzen Leuchtkraft herab vermindern konnte. Damit wurde eine der Hauptvorbedingungen für die Einrichtung von Zentralstationen, die Straßen und Innenräume gleichzeitig versorgen konnten, gegeben. Die neue Bogenlampe bewährte sich gleich gut in Wohnungen wie in Werkstätten, in Theatern wie auf Straßen und gewann schon in wenigen Monaten unter der großen Zahl von Bogenlampen, die allenthalben angeboten wurden, solchen Ruf, daß die Deutsche Edison Gesellschaft nur selten Glühlichtbeleuchtungen ausführte, bei denen nicht einige oder mehrere Bogenlampen mit verwendet wurden. Mit dem neuen System hatte die Deutsche Edison Gesellschaft zwar, bei der damals herrschenden Praxis des Patentamts, neue Erfindungen nur in begrenztem Umfange zu schützen, kein Monopol für gemischtes Licht erworben, aber trotz der Intensität, mit der sich fast die gesamte Konkurrenz sofort dem neuen Gebiete zuwandte, einen Vorsprung erlangt, der so schnell nicht einzuholen war. Auf Grund ihrer Erfahrungen hatte sie eine Spezialfabrikation der neuen Lampe eingerichtet, die es ihr ermöglichte, diese in einer Vollendung herzustellen, wie sie die Konkurrenz damals noch nicht erreichen konnte. Derartige Vorsprünge lassen sich gerade in der Elektrotechnik allerdings nur verhältnismäßig kurze Zeit hindurch aufrechterhalten, und, selbst wenn unablässig weiter gearbeitet und der Zwischenraum durch neue Verbesserungen aufrecht zu halten versucht wird, gelingt es meist nach einiger Zeit der Konkurrenz, den Anschluß wieder zu finden. So schnell war dies damals bei dem gemischten Licht der Deutschen Edison Gesellschaft aber nicht möglich, und infolgedessen wurde gerade von der stärksten Konkurrenzfirma, Siemens & Halske, die sich in ihrer bisherigen fast monopolistischen Beherrschung des Bogenlampengeschäfts durch die neue Erfindung ernstlich bedroht sah, eine Einwirkung auf nichttechnischem Gebiete versucht. Siemens & Halske bestritten der Deutschen Edison Gesellschaft auf Grund des zwischen beiden Firmen geschlossenen Vertrages das Recht, Bogenlampen anderer Konstruktion als der von Siemens & Halske verwendeten herzustellen oder zu beziehen. Der Vermittlungs-Vorschlag der Deutschen Edison Gesellschaft, Siemens & Halske die Anfertigung der neuen Lampen vorzugsweise zu bestimmten Preisen zu übertragen, wurde nicht angenommen, und es kam zwischen den beiden Firmen zu ihrem [S. 124] ersten Prozeß. Auch sonst hatte die Edison Gesellschaft ihre Patente und Konstruktionen gegen Einsprüche und Verletzungen zu verteidigen. Insbesondere die Swan United Electric Light Co. in London, die Besitzerin der englischen Edisonpatente, hatte einerseits eine Klage auf Nichtigkeit der Edison-Patente in Deutschland angestrengt, und andererseits behauptet, daß die von ihr hergestellten und in Deutschland vertriebenen sogenannten Swanlampen die Edison-Patente nicht berührten. Es entwickelte sich ein Rattenkönig von Prozessen, da umgekehrt auch die Deutsche Edison Gesellschaft gegen Agenten und Abnehmer der Swan Electric Co. Klagen bei verschiedenen Landgerichten wegen Patentverletzung eingereicht hatte. Solange die Prozesse schwebten, konnten, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, wirksame Mittel gegen eine Herstellung und Vertreibung der „rechtswidrig hergestellten“ Lampen nicht ergriffen werden. Selbst als die Hauptklagen vom Reichsgericht zu Gunsten der Edison Gesellschaft entschieden waren, gelang es nicht mehr, eine völlige Aufrechterhaltung der Edison-Patente zu erreichen, da die Gegner in gewissen rechtlich als Nebenpunkte figurierenden Teilen ihrer Klage durchdringen konnten, womit aber bei der Lage der damaligen Technik die Edison-Patente tatsächlich gefallen waren. Streng genommen sind sie niemals derart in Kraft gewesen, daß sie ein tatsächliches Monopol für die Herstellung der Glühlampen gewährten. Es gab stets Konkurrenzfirmen, sowohl in Deutschland als auch anderswo, die sich außerhalb der Patente zu stellen wußten, und so wäre es auch Rathenau an sich möglich gewesen, seine Glühlampenfabrikation ohne die belastenden Verträge mit Edison aufzunehmen. Er hätte vielleicht als „Patent-Freibeuter“ nicht viel mehr Prozesse führen müssen, wie er in seiner Eigenschaft als Wahrer der legitimen Edisonschen Rechte gegen die Freibeuter zu führen gezwungen war. Aber er wählte zum Teil aus Redlichkeit, zum Teil, um die große Zugkraft des berühmten Erfindernamens und die damals beste und fertigste Glühlampe sowie die von Edison bereits gemachten Erfahrungen sich nutzbar machen zu können, den geraden Weg. Bitter hat er es gelegentlich beklagt, daß „dem großen Meister der Tribut seiner Erfindung vorenthalten worden sei und daß selbst die technische Autorität eines Slaby nicht ausgereicht hätte, um den Richtern seine wissenschaftliche Überzeugung, mit der er für die Erhaltung der deutschen [S. 125] Patente eingetreten war, glaubhaft zu machen.“ Wieviel Intriguenspiel und inneres Unrecht bei diesen „rechtlich“ zu Gunsten der Gegner entschiedenen Prozessen mit im Spiel war, zeigt allein die Tatsache, daß dieselbe Swan Electric Co., die in Deutschland die Edison-Patente bekämpfte und zu Fall brachte, in England selbst Inhaberin dieser Patente war und daß es ihr dort gelang, sie noch etwa 10 Jahre lang gegen alle Einsprüche aufrecht zu erhalten. Angesichts solcher Widersprüche wird die Bitterkeit, mit der Rathenau häufig genug von den Patententtäuschungen jener Zeit sprach, wohl verständlich.
Die geschilderten Umstände dürften gezeigt haben, daß es nicht die bequemen Monopolrechte waren, denen es zuzuschreiben war, daß die Deutsche Edison Gesellschaft vorwärts kam, sich Namen und Erfolge errang. Kaufmännische Zähigkeit und technische Tüchtigkeit errangen diese Erfolge und bewirkten, daß die junge Gesellschaft die von ihr rechtmäßig erworbenen Monopole auch tatsächlich verdiente. Sie mußte sie sozusagen täglich erwerben, um sie zu besitzen. Überall da, wo die Einführung der Lichtelektrizität am schwersten war, da war die Deutsche Edison Gesellschaft zu finden. Die kleineren isolierten Einrichtungen, die mit Hilfe von Agenten und selbständigen Installateuren verhältnismäßig leicht ausgeführt werden konnten, überließ sie ihren Lizenzträgern. Sie selbst befaßte sich fast ausschließlich mit dem Bau umfangreicherer Anlagen wie Blockstationen, Beleuchtungen von Theatern, Kauf- und Warenhäusern, ausgedehnten gewerblichen Etablissements. Den bereits geschilderten Anlagen im Jahre 1883 folgten im nächsten Jahre die Blockstation in der Friedrichstraße 85, die das Café Bauer, die Gebäude Unter den Linden 26 und 27 mit Strom versorgte und eine Lichtkapazität von 2000 Lampen erhielt. Der Schnelldampfer „Werra“ des Norddeutschen Lloyd und das chinesische Panzerschiff „Chen Yuen“ erhielten durch die Gesellschaft Edison-Anlagen. Den Theaterbeleuchtungen in München und Stuttgart folgten solche in Schwerin, Dessau und Halle. Das Bayerische Landtagsgebäude, das Preußische Kultusministerium und die Friedrich Wilhelmsuniversität in Berlin erteilten Aufträge. In Spinnereien, Webereien, Druckereien, Mühlen, Brauereien fand das neue Licht wegen seiner Annehmlichkeit und Sicherheit immer größeren Eingang, besonders nachdem die Maschinen zuverlässiger ausgeführt wurden und regelmäßiger funk [S. 126] tionierten. Derartige größere Anlagen waren durch selbständige Abnehmer, Agenten oder Installationsingenieure nicht einzurichten, sie erforderten eine so eingehende Kenntnis der neuen Methoden, eine so umfangreiche Bauorganisation, daß sie nur von der Edison-Gesellschaft selbst vorgenommen werden konnten und nicht nur eine Projektierung durch diese Firma, sondern auch eine sorgfältige Überwachung der Installationen durch alle Stadien von der Zentralstelle aus erforderten. Sollte das Werk wirksam seinen Meister loben, und dem neuen Licht die Anhängerschaft immer weiterer Kreise werben, so mußten alle wichtigen und schwierigen Anlagen unter eigener Verantwortlichkeit ausgeführt werden. Besonders Deutsch, der von Anfang an die Licht- und Kraftanlagen sowie das Installations- und Absatzgeschäft unter sich hatte, erkannte, gewitzigt durch die Klagen, die ihm in seinen Abnehmerkreisen fehlerhaft ausgeführte Anlagen eingetragen hatten, die Notwendigkeit, die bisherigen Absatzmethoden, wie sie in der Elektrizitätsindustrie, namentlich auch bei Siemens & Halske, üblich gewesen waren, einer gründlichen Reform zu unterziehen. An die Stelle des Agenten, Installateurs und Händlers, der Maschinen, Apparate, Lampen und Materialien bezog, setzte er das eigene Installationsbureau , das allmählich in allen wichtigeren Städten des In- und Auslands entstehen, die dort vorkommenden Aufträge ausführen und durch lebendige, individuelle Propaganda, solide Arbeit und wirksame Beispiele die in Betracht kommenden Betriebe zur Einführung der elektrischen Beleuchtung anregen sollte. Bereits im Jahre 1885 wurde das erste Installationsbureau in München errichtet, zum Teil um den partikularischen Interessen und Eigenheiten entgegenzukommen, zum Teil weil man in der Stadt der Elektrizitätsausstellung von 1883 und der ersten elektrischen Theaterbeleuchtung einen besonders gut vorbereiteten Boden zu finden hoffte. Leipzig, Breslau, Köln, Hamburg und Straßburg i. E. folgten bereits in den nächsten Jahren. Die Entwickelung des Geschäfts in der ersten Periode der Gesellschaft, die mit dem Jahre 1886 abschließt, wird dadurch am besten gekennzeichnet, daß im Jahre 1883 27 Anlagen mit 33 Maschinen und 4729 Lampen hergestellt wurden, während am Schlusse des Jahres 1886 durch die Gesellschaft bereits 260 Anlagen mit 70000 Glühlampen und 1000 Bogenlampen in Betrieb gesetzt waren.
Dieser Entwickelung des Absatzes und der Geschäftsorganisation entspricht auch das Wachstum der Fabrikations- und Geschäftseinrichtungen. Bereits nach wenigen Monaten hatte die Gesellschaft ihre Bureauräume im Hause Leipzigerstraße 94 aufgegeben, zum Teil weil sie zu eng wurden, zum Teil weil die Nähe eines in die Parterre-Räume eingezogenen Caféetablissements mit wenig vornehmem Konzert- und Nachtbetrieb unangenehm fühlbar wurde. Die Gesellschaft hatte alsdann auf Veranlassung des rührigen Deutsch das Grundstück Friedrichstraße 85 erworben. Deutsch hatte einen Erwerb der ganzen damals verkäuflichen 400 Quadratruten vorgeschlagen. Rathenau, der bei Neuerwerbungen immer sehr vorsichtig zu Werke ging, hatte von diesen 400 Quadratruten 200 abgestrichen. Er huldigte überhaupt dem Grundsatz „Eher zu klein, als zu groß“ und diesem Grundsatz hat es seine Gesellschaft zu verdanken gehabt, daß ihre Betriebe stets überbeschäftigt waren, und jene Halbleere, die die Produktionskosten und Zinsen so abnorm steigert, auch in Zeiten schlechter Konjunktur vermieden wurde. Auf die Chancen, gute Konjunkturen ganz auszunutzen, besonders wenn sie überraschend auftraten, mußte allerdings bei einem solchen System verzichtet werden. In dem Gebäude Friedrichstraße 85, in dessen Kellerräumen die schon mehrfach erwähnte Blockstation untergebracht war, befanden sich die Bureauräume, indes auch nur kurze Zeit. Als das erste Fabrikgebäude in der Schlegelstraße, die Lampenfabrik, auf dem einstmals von Strousberg für einen Schlachthof, später für eine Markthalle in Aussicht genommenen Gelände fertiggestellt war, wurden die Bureauräume im Interesse einheitlicher Verwaltung bereits Mitte März 1884 in die Fabrik verlegt. Die Parterre-Räumlichkeiten des Hauses Friedrichstraße wurden an Laden-Geschäfte vermietet, in den oberen Räumen wurde eine permanente Ausstellung von Erzeugnissen der Gesellschaft eingerichtet. Die neue Fabrik hatte einen Umfang und Einrichtungen erhalten, in denen jährlich 300000 Glühlampen hergestellt werden konnten. Man glaubte damals, mit solchen Dimensionen einen gewaltigen Spielraum für weitere Ausdehnungsmöglichkeiten der Zukunft erschlossen zu haben. Mit welchen Riesenschritten die Ansprüche wachsen würden und wie bald und wie oft neue Erweiterungen dieser Grundfabrik notwendig werden würden, hat selbst ein Elektrizitäts-Optimist wie Emil Rathenau damals nicht vorhergesehen.
Die Bilanz von Ende 1886 gewährte schon ein ganz anderes Bild als die erste von 1883. Das Anfangskapital von 5 Millionen Mark, mit dem die Gesellschaft bei ihrer Gründung ziemlich reichlich ausgestattet worden war, ist auch jetzt noch nicht aufgezehrt. 1.724.886 Mark werden noch als Bankguthaben flüssig gehalten. Daneben aber sind die Immobilien (Friedrichstraße und Schlegelstraße) bereits auf 829.502 Mark angewachsen, die Blockstation in der Friedrichstraße erscheint mit 132.843 Mark, die in der Schadowstraße mit 50.102 Mark; Aktien der Städtischen Elektrizitätswerke werden mit 557.200 Mark aufgeführt, Maschinen und Apparate mit 162.756 Mark, Waren mit 491.938 und Forderungen in laufender Rechnung mit 1.724.886 Mark. Die Geldmittel sind also zum großen Teil in den Betrieb geflossen und in werbende Anlagen überführt worden. Die offenen Schulden der Gesellschaft sind nur gering und betragen 392.912 Mk., und es hätte aus dem Reingewinn von 324.870 Mk. bequem eine Dividendensteigerung auf 6%, nachdem in den ersten beiden Jahren 4% und im dritten Jahre 5% gezahlt worden waren, vorgenommen werden können. Um zu verstehen, warum dies nicht geschah, warum die Gesellschaft sogar 1886 und Anfang 1887 in eine Krise — die einzige wirklich bedrohliche in ihrer ganzen Geschichte — geriet, muß noch von anderen Dingen gesprochen, eine andere Entwickelungsreihe verfolgt werden, die uns zeigen wird, daß der unternehmerische Geist Rathenaus sich in den bereits geschilderten Dingen nicht erschöpft hatte, andererseits aber auch, daß er sich trotz seiner unleugbaren Erfolge noch nicht zum entscheidenden Erfolg durchgerungen hatte.
Der Name Zentralstation ist uns in den früheren Kapiteln schon öfter begegnet. Bereits in den Verträgen mit Edison und Siemens wird von Zentralstationen gesprochen. In dem ersten Vertrage mit Edison im Jahre 1881 hieß es, daß abgesehen von der Fabrikationsgesellschaft eine zweite für den Bau von Zentralstationen errichtet werden sollte, in dem zweiten endgültigen Vertrage von 1883, der die Gründung nur einer Gesellschaft vorsieht, ist von Zentralstationen in diesem Zusammenhange nicht mehr die Rede. Es heißt darin schlechthin, daß die Deutsche Edison Gesellschaft das Recht, Installationen für Beleuchtungs- und Kraftübertragungswerke einzurichten, von Edison erwirbt. Im Vertrage mit Siemens & Halske wird der Edison Gesellschaft bekanntlich das Recht vorbehalten, allein Zentralstationen für eigene Rechnung zu bauen. Daß der Begriff Zentralstation überhaupt so früh auftaucht, ist nicht darauf zurückzuführen, daß er in der damaligen Zeit bereits in großem Maßstabe und in vielen Beispielen verwirklicht war. Er lebte — wenigstens in einer Form, die diesen Namen wirklich verdiente — eigentlich erst allein in der Idee Emil Rathenaus, der sich dafür keineswegs auf Vorbilder, sondern höchstens auf gewisse Ansätze in den damals in der Lichtelektrizität am meisten entwickelten Ländern Amerika und Frankreich berufen konnte. Was zu jener Zeit die Regel, den Typus bildete, waren isolierte Lichtanlagen, die ein Haus, eine Fabrik, einen Park, eine Straße oder mehrere benachbarte Häuser in einem beschränkten Radius versorgen konnten. Edison war dem Gedanken des Zentralwerks allerdings bereits früh nachgegangen und hatte auch eine Zentrale, die einen Stadtteil südlich von Wallstreet mit Licht versehen sollte, errichtet. Aber diesem genialen Techniker war [S. 130] doch nur bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit gegeben, ein technisches Verfahren industriell auszubauen. Seine Anschauungen von finanziellen Dingen waren naiv, und an betrieblicher Methodik fehlte es ihm so gut wie ganz. Edison hat denn auch aus seinen großartigen Erfindungen nur verhältnismäßig geringen und fast niemals dauernden Nutzen wirtschaftlicher Art gezogen. Wie wenig die Edisonsche Zentrale, obwohl für einen ersten Versuch sinnreich erdacht, doch dem entsprach, was wir später unter einer Großstation verstanden, geht daraus hervor, daß die Herstellung von Maschinen mit 150 PS als ganz besonders großartiger Fortschritt bezeichnet wurde. Bei der Broadway-Zentrale wurden die Dynamos nach Edisons eigener Aussage auf bloße Vermutung hin gebaut. Die gewählte Spannung von 110 Volt reichte denn auch nicht aus. Auch sonst wurde rein empirisch, ohne jede Systematik vorgegangen, wenig berechnet und viel probiert. Die Folge war, daß von den parallel geschalteten Maschinen die eine stille stand, während die andere bis auf 1000 Umdrehungen lief und dabei wippte. Zur Messung bediente die „Edison Beleuchtungsgesellschaft“ sich alter chemischer Geräte, die bald zufroren, bald rotglühend wurden, bald in Brand gerieten. „Voltometer“, so hat Edison in der „Electrical Review“ erzählt, „besaßen wir schon gar nicht. Wir benutzten Glühlampen. Mit Mathematikern ließ ich mich erst recht nicht ein, da ich bald fand, wie ich es ein gut Teil besser treffen konnte als sie mit ihren Ziffern, und so fuhr ich im Vermuten fort.“ Gewiß hat ein so glänzender Experimentator wie Edison alle Anstände, die aus solchem Vorgehen entstehen mußten, immer, wenn sie sich zeigten, durch seine genialen Kombinationen zu beseitigen verstanden, aber schließlich kam dabei doch nur ein Werk zustande, das in seinem empirisch-primitiven Aufbau auf die Persönlichkeit eines so erfinderischen Kopfes wie Edison gestellt blieb, und überall dort keine Nachahmung finden konnte, wo eine ähnlich überlegene Persönlichkeit als Leiter fehlte. 8 Jahre lang arbeitete das Edisonsche Werk auf diese Weise. Schule konnte es natürlich nicht machen, da ihm die systematische Durchbildung, die sichere wissenschaftliche Grundlage fehlte. Emil Rathenau erkannte die Mängel eines solchen gefühlsmäßigen Vorgehens auf den ersten Blick. Er war sich klar darüber, daß eine wirklich epochemachende Zentral-Station nicht auf dem Versuch und dem Zufall, [S. 131] sondern nur auf dem festen Boden der wissenschaftlichen Methodik aufgebaut sein mußte. Seine Einbildungskraft lebte nicht von dem Experiment, sondern von der Konstruktion. Auch er war voller Phantasie und rechnete mit neuartigen Antriebsmaschinen, kunstvoll durchgearbeiteten Kabelsystemen und wenn er vor den Grenzen der Gegenwart nicht halt machte, so ließ er doch die Wege in die Zukunft, ehe er sie betrat, stets von dem Mathematiker genau durchforschen. Er fragte sich, warum eine Vergrößerung und Vervielfältigung, eine Sammlung und Verteilung der in kleinem Rahmen geschaffenen Anlagen nicht möglich sein sollte. Er suchte nach den Gründen, die einer Übertragung ins Große hätten im Wege stehen können und fand, daß es keine gab, die unüberwindlich gewesen wären. Denn die Hemmnisse lagen alle nur noch in der Durchführung, nicht mehr im Prinzip. Gerade aber die Probleme der Durchführung ließen sich, das wußte er, nur auf wissenschaftliche Weise lösen. Wenn er daher mit dem damals der übrigen Welt noch nicht geläufigen oder nur in unvollkommener Form bekannten Begriff der Zentralstation wie mit etwas Selbstverständlichem operierte, so hatte er seine bestimmten Gründe dafür. Er erreichte damit, daß dieser anscheinend harmlose Begriff — und zwar in einem ihm günstigen Sinne — in seine Verträge aufgenommen wurde, was ihm deswegen nicht besonders schwer fiel, weil die Vertragsgegner diesem Begriff teils zweifelnd, teils sogar direkt mißtrauisch gegenüberstanden und das mit ihm gekennzeichnete Gebiet der Wagnisse und Fährnisse gern dem „Phantasten“ überlassen wollten. Selbst ein Mann wie Werner v. Siemens lächelte über die Idee der Zentralstation, und erklärte es für eine Utopie, daß man den Leuten jemals aus einer Zentrale elektrisches Licht in die Häuser würde leiten können, wie man es mit dem Gaslicht machte. Die Gasfachleute stellten sich gleichfalls ungläubig, aber durch ihre Ironie klang doch ein Unterton von Furcht vor der neuen Konkurrenz, die ihnen vielleicht auch noch die Hausbeleuchtung streitig machen könnte, nachdem sie ihnen bereits in der Straßen-, Fabrik- und Theaterbeleuchtung Boden abgerungen hatte. Daß Rathenau eigentlich als einziger die Idee erfaßte und trotz aller Anfeindungen von wissenschaftlich-autoritativer und technisch-praktischer Seite an ihr festhielt, ist ein Beweis seines originellen, unabhängigen und im Grunde schöpferischen technischen Denkens.
Trotzdem aber der Gedanke absolut klar, folgerichtig und fertig entwickelt vor dem Geiste Rathenaus stand, sah es zunächst noch nicht so aus, als ob er bald verwirklicht werden würde. In den Jahren der Versuchsgesellschaft konnte an die Schaffung einer Zentralstation natürlich nicht herangegangen werden. Es fehlte an dem technischen Apparat, es fehlte auch an den geldlichen Mitteln. Das erste Jahr der Deutschen Edison Gesellschaft sah lediglich die Verwirklichung einer Reihe von Einzelanlagen und die Vollendung einer Blockstation (in der Schadowstraße) sowie die Inangriffnahme einer zweiten größeren (in der Friedrichstraße). Sie wurden in den ersten Geschäftsberichten und Bilanzen der Gesellschaft als Zentralstationen bezeichnet. Mit Unrecht. Sie waren im technischen Sinne keine Zentralen, sondern isolierte Anlagen, die — über den Umfang einer größeren Einzelanlage kaum hinausgehend — mehrere Verbraucher versorgten, weil jeder dieser Verbraucher einen zu geringen Bedarf für eine eigene Anlage hatte. Weder die Technik war zentral, noch die Verteilung. Denn die Krafterzeugung erfolgte nicht durch Großmaschinen, sondern durch eine große Zahl kleiner „Schnellläufer“, von denen jeder nur eine beschränkte Anzahl von Lampen speiste. Die Verteilung erfolgte nicht unter Benutzung der öffentlichen Straßen und Verkehrswege für die Kabellegung, sondern auf dem weit kostspieligeren Wege der Kabelführung durch privates Gelände. Nur unter besonders günstigen Bedingungen, nämlich dann, wenn genügend gut zueinander gelegene Abnehmerbetriebe da waren, die die Leistung der Anlage voll ausnutzen konnten, waren die Voraussetzungen für die Rentabilität solcher Blockstationen gegeben. Aber selbst in der Schadowstraße, und in der Friedrichstraße, also in besonders gut gelegenen Stadtteilen, waren diese Voraussetzungen nicht vorhanden, denn es konnte nur ein Teil des erzeugten Stromes abgesetzt werden, und die Erträgnisse reichten kaum für die notwendigen Abschreibungen, geschweige denn für eine Verzinsung der Kapitalien aus. Emil Rathenau, für den derartige Blockstationen nur ein Kompromiß, eine Abschlagszahlung auf die vollkommenere Idee der Zentralstation darstellten, gelangte sehr bald zu der Ansicht, daß ein ähnliches Schicksal der Unrentabilität sehr bald auch die übrigen Stationen erreichen werde, die die Lieferung elektrischer Ströme mit Umgehung der öffentlichen Straßen ins Werk setzten. Er war der [S. 133] Ansicht, daß diese Blockstationen nur Übergangsgebilde darstellen, die verschwinden müßten, nachdem sie ihren eigentlichen Zweck, als Demonstrationsunternehmungen zu dienen, erfüllt hätten, und die nächste große Etappe in der Entwickelung, nämlich die öffentliche Zentralstation, erreicht war. Die spätere Gestaltung der Dinge hat ihm auch durchaus recht gegeben. Es haben sich in der Licht- und Krafterzeugung nur die Einzelanlage, die genau auf die Bedürfnisse des Verbrauchers berechnet war, sich seinem Betriebe in Produktion und Bedarf anpassen konnte, also im wesentlichen die industrielle Einzelanlage und ferner die öffentliche Zentralstation erhalten. Die Blockstation ist völlig verschwunden, wenn man nicht Einzelanlagen mehrerer Verbraucher oder solche, bei denen ein Hauptverbraucher nach vorher ungefähr festgelegtem Bedarfsplan an Nachbarbetriebe Energie abgibt, als Blockstationen bezeichnen will.
Die Entwickelung von der Blockstation bis zur Zentrale, die zunächst noch im weiten Felde zu liegen schien, ging aber schließlich wider Erwarten schnell vor sich. Die Praxis folgte in diesem glücklichen Falle — einem der wenigen, in dem Rathenaus fast immer richtige Diagnostik schneller als er erwartet hatte, durch die Tatsachen bestätigt wurde — nicht dem behutsamen Gang der allgemeinen Anschauungen, sondern dem Siebenmeilenstiefelschritt der Rathenauschen Phantasie. Professor Slaby , dem doch niemand langsames Denken und mangelndes Einbildungsvermögen in elektrischen Dingen wird nachsagen können, erzählte später, daß er beim Anblick der ersten Rathenauschen Blockstation, die aus zahlreichen winzigen Maschinen, von sogenannten Schnellläufern betrieben, mit bewunderungswerten Regulierungsmethoden die elektrische Kraft sammelte, um sie in einige umliegende Häuser zu verteilen, begeistert ausgerufen habe: „Die Lichtzentrale des kommenden Jahrhunderts.“ — „O nein,“ erwiderte Rathenau lächelnd, „wie verkennen Sie den unersättlichen Elektrizitätshunger der Menschheit, der in wenigen Jahren sich einstellen wird. Statt dieser Kellerräume mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm sehe ich hohe, luftige Riesenhallen mit vieltausendpferdigen Maschinen, die automatisch und geräuschlos Millionenstädte mit Licht und Kraft versorgen. Zuvor haben wir den Maschinenbau für diese Leistungen zu erziehen.“ Slaby und wohl auch Rathenau selbst haben damals kaum gedacht, daß schon ein [S. 134] Jahr nach diesem Zwiegespräch die erste Zentralstation projektiert und kaum ein halbes Jahr später im Betrieb sein würde.
Der demonstrative Erfolg der Einzel-Installationen, der Blockstationen und der Anlage in der Hygieneausstellung war groß gewesen. Es hatten sich daraufhin in verschiedenen Stadtgemeinden Vereinigungen von Haus- und Ladenbesitzern gebildet, die mit Anträgen zur Beleuchtung ihrer Lokale von abgeschlossenen Stationen aus an die Gesellschaft herantraten. Die Schwierigkeit bestand darin, die Genehmigung der Stadt Berlin wegen Überlassung städtischen Grund und Bodens zur Legung von Leitungen zu erhalten, und man bezweifelte, daß die Stadtverwaltung, als Eigentümerin des Konkurrenzbetriebes der städtischen Gaswerke, diese Genehmigung in absehbarer Zeit erteilen würde. Die Kommunalbehörde war aber in diesem Falle besser als ihr Ruf. Im Roten Hause erinnerte man sich daran, daß man bereits einmal, als Rathenau vor einer Reihe von Jahren mit dem Plan einer städtischen Telephonzentrale an die Stadtverwaltung herangetreten war, die Vorschläge dieses Mannes kurzsichtig abgelehnt hatte. Man entschloß sich also, trotz der städtischen Gasinteressen, der Idee der elektrischen Lichtzentrale näherzutreten, und erwog sogar, ob man das Werk in städtischer Regie errichten solle. Dafür war aber weder die Mehrheit der Stadtverordneten, noch der vorsichtig abwägende Oberbürgermeister Forkenbeck , der damals an der Spitze der hauptstädtischen Verwaltung stand, zu haben. Es setzte sich die zu jener Zeit zweifellos richtige Überzeugung durch, daß ein erstes Experiment auf so schwierigem Gebiete nicht mit bureaukratischen Kräften gelöst werden könnte, daß in einer noch so sehr der technischen Ausgestaltung und Erprobung bedürfenden Unternehmung nicht städtische Mittel größeren Umfanges investiert werden dürften. Am 24. Januar 1884 wurde von der Stadtverordnetenversammlung nach langen erregten Debatten, in denen besonders der Bürgermeister Duncker die Vorlage mit den Worten verteidigte: „Alles Risiko entfällt auf die Gesellschaft, alle finanziellen Vorteile fallen auf die Stadt,“ ein Vertrag genehmigt. Das Monopol der ausschließlichen Straßenbenutzung, das bei einem Teil der Stadtverordneten besonderen Widerspruch hervorgerufen hatte, fiel allerdings, wenigstens de jure. De facto ist es nicht durchbrochen worden, da die Stadt Berlin anderweitige Konzessionen nicht mehr [S. 135] erteilt hat. Die Zersplitterung, die in manchen anderen, besonders ausländischen Großstädten, wie New York, Paris usw., die Entwickelung der Zentralen sehr gehemmt hat, wurde dadurch in der Berliner Elektrizitätsversorgung glücklicherweise vermieden. Durch den Konzessionsvertrag wurde der Deutschen Edison Gesellschaft das Recht eingeräumt, in den Straßen eines beträchtlichen im Stadtinnern gelegenen Teils von Berlin, begrenzt durch einen um den Werderschen Markt gezogenen Kreis mit einem Halbmesser von 800 m, Leitungen zur Fortführung elektrischer Ströme von einer oder mehreren Zentral-Stationen aus zu legen und zur Anlage dieser Leitungen die Straßendämme und Bürgersteige zu benutzen. Die Stadt Berlin bedang sich natürlich Gegenleistungen aus, die u. a. in einer jährlichen Abgabe von der Bruttoeinnahme wie vom Reingewinn bestanden. Gewonnen war mit dem neuen Vertrage viel. Die Gesellschaft war durch das Recht, die Straßen für ihre Leitungen zu benutzen, der Notwendigkeit enthoben, kleine Sonderstationen für die zu beleuchtenden Häuserblocks zu beschaffen, sich zu diesem Zwecke in jedem Einzelfall teure Lokalitäten zu mieten und kostspielige Kabelführungsverträge abzuschließen.
Mit dem technischen Gedanken der Zentralstation war auch in Rathenaus Kopfe sofort schon die finanzielle und rechtliche Form da, in der er am besten verwirklicht werden konnte. Es sollte eine besondere Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 3 Millionen Mark gegründet werden, an der die Deutsche Edison Gesellschaft bezw. ihre Aktionäre beteiligt werden konnten. „Um im Interesse unserer Aktionäre die Aktien der neuen Gesellschaft diesen zu einem angemessenen Kurse reservieren zu können, haben wir von einer festen Begebung der Aktien an ein Bankierkonsortium Abstand genommen, mit einem solchen jedoch die Verabredung getroffen, daß es gegen eine mäßige Gewinnbeteiligung uns die Abnahme von 80% des gesamten Kapitals garantiert. Wir zweifeln nicht, daß uns aus dem Verkauf dieser Aktien schon in diesem Jahre ein entsprechender Nutzen erwachsen wird.“ — Dies sind die Worte, mit denen die Gründung der Städtischen Elektrizitätswerke, der ersten Tochtergesellschaft der Deutschen Edison Gesellschaft, im Geschäftsbericht von 1883 angekündigt wird. In dem gleichen Bericht findet sich schon ein programmatischer Satz über die Behandlung von Zentralstationen und Tochterunternehmungen im allgemeinen, [S. 136] der einige der wichtigsten Richtlinien, die die Gesellschaft später beim Ausbau ihres Beteiligungssystems befolgt hat, wenn auch noch in ziemlich einfacher Form, enthält. Er lautet: „Im übrigen liegt es nicht in unserer Absicht, den liquiden Vermögensstand dauernd durch eigene Übernahmen großer Zentralstationen zu alterieren. Vielmehr verfolgen wir das System, solche Stationen mit Hilfe unserer Geldmittel zwar einzurichten, dieselben aber spätestens nach erfolgter Inbetriebsetzung selbständigen Gesellschaften zu überlassen, um so unser Kapital immer wieder für neue Unternehmungen flüssig zu machen.“ — Hier ist das Ideal gekennzeichnet, dem Emil Rathenau von Anfang an zugestrebt hat, das er allerdings gerade in den ersten Zeiten und gerade bei der ersten Tochtergründung, wie wir später sehen werden, nicht sofort verwirklichen konnte. Es bedurfte erst eines elastischen und fein ausgebildeten Finanz- und Beteiligungssystems, mit sinnreich angelegten Kapitalsammlungs-, Aufsparungs- und Verteilungsvorrichtungen, um stets die Freiheit der Verfügung über die eigenen Betriebsmittel und die in Gründungsbauten anzulegenden Kapitalien zu behalten und das finanzielle Gleichgewicht unabhängig von den Zufälligkeiten der Geld- und Industriekonjunkturen, unbeeinflußt von unvorhergesehenen Entwickelungen in den Finanzbedürfnissen der Tochterunternehmungen, sicherzustellen.
An einer anderen Stelle des Geschäftsberichtes für 1883, in der von eingeleiteten Verhandlungen mit anderen Städten über die Einrichtung elektrischer Zentralen gesprochen wird, findet sich gleichfalls ein Satz, der wert ist, hier wiedergegeben zu werden. Er lautet: „Wir sind indessen weit entfernt, die Organisation solcher Lokal-Beleuchtungs-Gesellschaften mit Ausschluß jeder Konkurrenz nur aus eigenen Mitteln zu bewirken, sondern werden vielmehr die Kooperation solcher Kräfte, welche naturgemäß zur Einführung des neuen Lichts berufen scheinen, mit Dank begrüßen; insbesondere hoffen wir, auch auf dem Wege der Genossenschafts-Assoziation die Wohltaten des elektrischen Lichtes selbst kleineren Städten und Industriebezirken zugänglich zu machen, welche entweder eine Beleuchtung von Zentralstellen überhaupt noch nicht besitzen, oder vermöge ihrer natürlichen Hilfsmittel imstande sind, das elektrische Licht billiger als andere Beleuchtungen zu erzeugen.“ Diese Stelle ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einmal zeigt sie das Bestreben, Aktionäre, Geldgeber und Finanzkonsortium, denen vielleicht [S. 137] damals noch vor den Risiken des gänzlich unerprobten Zentralenbaus in eigener Regie etwas bange war, die Beruhigung zu geben, daß man nicht mit vollen Segeln auf das noch von der Gründerkrisis her gefürchtete Meer der Unternehmertätigkeit hinausfahren werde. Ferner aber klingen hier auch schon Ideen über verteiltes Risiko und verteilten Einfluß zwischen Privatunternehmung und Lokal-Verwaltungen an, die zwar in der dort geschilderten Form der genossenschaftlichen Assoziation nie verwirklicht worden sind, aber doch später in der ähnlichen Form der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung zur Durchführung gelangten. Es dauerte allerdings Jahrzehnte, bis dieses Zusammenarbeiten von privatem und öffentlichem Kapital sich durchsetzte. Es ist aber ein Beweis für den durchdringenden Blick Rathenaus, daß er damals schon das unzweifelhaft vorliegende Bedürfnis erkannte. Bevor der Zentralenbau zu dieser Zusammenarbeit gelangte, mußte erst die Privatunternehmung allein eine ausgedehnte erfolg-, aber auch zum Teil verlustreiche Arbeit leisten, und die kommunale Verwaltung mußte gleichfalls die Methoden der öffentlichen Unternehmung ausbilden. Erst dann gelang es, die Kräfte und Mittel beider organisatorisch zusammenzufassen.
Der von der Stadtverordnetenversammlung genehmigte Vertrag mit der Stadt Berlin wurde am 6. Februar 1884 vom Magistrat, und am 19. Februar desselben Jahres von der Deutschen Edison Gesellschaft vollzogen. Das ganze Jahr 1884 und ein Teil des Jahres 1885 gingen mit den Bauarbeiten hin.
Die Städtischen Elektrizitätswerke , eine neu gegründete Aktiengesellschaft, der die Deutsche Edison Gesellschaft die ihr von der Stadt gewährte Konzession zur Einführung des elektrischen Lichts in einem zentralen Berliner Stadtteil überließ, hatten dafür die Verpflichtung übernommen, alle Maschinen, Apparate und Utensilien zur Erzeugung und Verwendung des elektrischen Stroms zu meistbegünstigten Preisen ausschließlich von der Edison Gesellschaft zu beziehen. Die Lieferungen hielten sich im Jahre 1884 noch in engen Grenzen, die Gewinne bei dem Bau der beiden geplanten Zentralen wurden, um den zukünftigen Nutzen aus den Lieferungen ungeschmälert zu erhalten, über Handlungsunkosten abgeschrieben. Von den Aktien der Städtischen Elektrizitätswerke behielt die Edison Gesellschaft nur 560000 Mark für sich zurück, die übrigen wurden [S. 138] teilweise von den Aktionären der Edison Gesellschaft bezogen, teilweise zum Parikurse dem Bankenkonsortium überlassen. Es mag wohl die Aktionäre enttäuscht haben, daß der „entsprechende Nutzen“, der im vorjährigen Bericht aus diesen Transaktionen schon für 1884 in Aussicht gestellt worden war, ausblieb. Auch sonst wickelten sich die Bau- und Installationsarbeiten bei der Zentralstation nicht ganz glatt ab. Zwar funktionierte der elektrische Teil der Anlage von Anfang an ohne Tadel, die Durchführung der Installationen wird als völlig gelungen und als mustergiltig bezeichnet. Aber die Dampfmaschinen, die die Gesellschaft auf den Wunsch der Stadtverwaltung, die heimische Industrie bei ihren Aufträgen zu berücksichtigen, bei der Firma Borsig bestellte, hatten sich bei Ablauf der kontraktlichen Liefertermine „noch nicht so bewährt, wie das der Ruf der mit der Konstruktion beauftragten Firma erwarten ließ.“ Die Städtischen Elektrizitätswerke leiteten aus der Verzögerung der Termine Schadenersatzansprüche gegen die Deutsche Edison Gesellschaft als Generalunternehmerin der gesamten Anlage her, gegen die diese Gesellschaft allerdings durch Garantien der Maschinenfabrik gedeckt war. Nach einiger Zeit wurden die bestehenden Differenzpunkte durch beiderseitiges Entgegenkommen aus der Welt geschafft. Der mißglückte Teil der motorischen Anlage mußte unter der direkten Aufsicht der Edison Gesellschaft einer Remontierung unterzogen werden, die von der Firma Kuhn in Stuttgart zur Zufriedenheit durchgeführt wurde. Die erste Zentrale in der Mauerstraße war somit erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1886 in Betrieb gekommen, der sich nach Angabe der Gesellschaft nunmehr tadellos und regelmäßig abwickelte. Eine der ersten größeren Aufgaben, die den Städtischen Elektrizitätswerken gestellt wurde, war die Beleuchtung der beiden königlichen Theater, des Opernhauses und des Schauspielhauses. Sie wurde nach anfänglichen Schwierigkeiten mit gutem Gelingen durchgeführt. Es folgten die Reichsbank, das Hotel Kaiserhof und eine Anzahl von Bankgeschäften im Zentrum der Stadt. Die elektrische Straßenbeleuchtung machte nur langsame Fortschritte. Eigentlich wurden in den ersten Jahren nur die von Siemens & Halske früher angelegten, und bis dahin mit besonderen Antriebsmaschinen versorgten Straßenbeleuchtungen, also im wesentlichen die in der Leipziger Straße übernommen, deren Kosten sich durch den Strombezug aus der Zentralstation in der Mauerstraße [S. 139] erheblich verbilligten, nämlich von 36 auf 4 Pfennige für die Lampenbrennstunde. Aber auch dieser Preis war im Vergleich mit dem des Gaslichts noch hoch, und erst später, als mit der zunehmenden Vergrößerung und der wachsenden Spannung der elektrischen Maschinen die Ausnutzung der Kohlen beim elektrischen Licht sich erhöhte, konnten die Preise, die später nicht mehr nach Lampenstunden, sondern nach Kilowattstunden berechnet wurden, wesentlich herabgesetzt werden.
Die Stadtverwaltung, die die anfänglichen Hemmnisse vielleicht etwas stutzig gemacht hatten, die vielleicht auch die Zeit gekommen glaubte, die Werke zu günstigen Bedingungen an sich zu bringen, verlangte die Errichtung zweier weiterer Zentralen, abgesehen von den beiden schon erbauten, und finanzielle Garantien für die Fähigkeit der Gesellschaft, diese Aufgabe durchzuführen. Insbesondere wurde die Erhöhung des Grundkapitals von 3 auf 6 Millionen Mark gefordert. Da in den ersten Jahren die Werke mangels jeglicher Erfahrungen im Zentralenbetrieb mit Verlust arbeiteten, und die ersten beiden Zentralen in der Markgrafenstraße mit 6 Dampfmaschinen und in der Mauerstraße mit 3 Dampfmaschinen, jede nach Edisonschem Vorbild mit nur 150 PS ausgestattet, über die Voranschläge hinausgehende Summen verschlangen, war die Situation für die Städtischen Elektrizitätswerke und die hinter ihr stehende Edison Gesellschaft eine sehr heikle. Der damalige Direktor Geh. Postrat Ludewig wurde damit beauftragt, ein Gutachten abzufassen, ob die Gesellschaft die neue Finanzbelastung ertragen könnte und wie sich bei Erfüllung der von der Stadt geforderten Garantien die Lage der Werke gestalten würde. Ludewig kam zu einem niederschmetternden Ergebnis. „Erfüllen wir die Forderungen der Stadt, so sind wir bankerott.“ Dieses Gutachten rief unter den Aktionären und den Geldleuten eine wahre Panik hervor, und es mußte unbedingt etwas geschehen, wenn der Zusammenbruch, der nicht nur für die Städtischen Werke, sondern auch für die gesamte Zentralen-Idee von den verhängnisvollsten Folgen begleitet gewesen wäre, verhütet werden sollte. Rathenau, der die Gefahr erkannte, innerlich aber in dem festen Glauben an seine Sache keinen Augenblick wankend geworden war, bewies zum ersten Male die Unbeirrbarkeit, die ihn in kritischen Lagen stets auszeichnete. Er, der in weniger zugespitzten Situationen die Vorsicht [S. 140] selbst war, setzte alles auf eine Karte. Es blieb ihm allerdings wohl auch keine andere Wahl, da eine weniger entschlossene Haltung wahrscheinlich den Zusammenbruch nicht nur der Städtischen Werke, sondern auch der Deutschen Edison Gesellschaft, jedenfalls aber seine Ausschaltung aus beiden Unternehmungen herbeigeführt hätte. Als Aufsichtsrat und Aktionäre ihn mit Vorwürfen bestürmten, erklärte er sich bereit, 1.500.000 Mark Aktien der Städtischen Elektrizitätswerke zum Kurse von 95% zurückzuerwerben. Man ging gern auf sein Angebot ein. Was damals als tollkühnes Wagnis erschien, hat sich später als ein sehr gutes Geschäft erwiesen, ja es ist der A. E. G. später noch häufig zum Vorwurf gemacht worden, daß sie zuviel an den B. E. W. verdiene und daß sie sich bei der Aktienübernahme zuviel Vorteile in vertraglicher und verwaltungstechnischer Hinsicht habe zusichern lassen. Zu diesen späterhin besonders scharf bekämpften Vorteilen gehörte die Einführung der sogenannten Verwaltungsgemeinschaft zwischen der Edison Gesellschaft und ihrem Tochterunternehmen, ferner die Einräumung von Gründerrechten in der Art, daß die Gesellschaft bei Kapitalserhöhungen die Hälfte der neuen Aktien zum Parikurse beziehen durfte. Man kann es Rathenau indes nicht verdenken, daß er sich das Risiko, das er ganz allein zu tragen bereit war, gehörig bezahlen lassen wollte. Der Geh. Oberpostrat Ludewig, der sich der Situation so wenig gewachsen gezeigt hatte, wurde mit einer angemessenen Abfindung aus seinem Amt entfernt, und Emil Rathenau, Oscar v. Miller sowie der inzwischen zum Vorstandsmitglied der Edison Gesellschaft aufgerückte Felix Deutsch übernahmen die Leitung der Gesellschaft, die dem Mutterunternehmen aus ihren Einnahmen einen bestimmten Betrag als Beisteuer zu den Verwaltungskosten zahlte, wogegen die Verwaltung von der Edison Gesellschaft geführt und bestritten wurde.
Bei Gelegenheit der finanziellen Stärkung der Städtischen Elektrizitätswerke, die vielleicht keine offene, wohl aber eine heimliche Reorganisation bedeutete, wurden die Beziehungen zur Stadt — dieses Äquivalent wußte Rathenau immerhin herauszuschlagen — gefestigt und für die Gesellschaft im großen und ganzen verbessert. Die Abgaben vom Reingewinn wurden eingeschränkt, die vom Installationsgeschäft völlig aufgehoben, wogegen für die Installationen aber die freie Konkurrenz ausdrücklich zugelassen werden mußte. Die Straßenbeleuchtung [S. 141] sollte erweitert werden und zwar besonders durch die Einbeziehung der Straße „Unter den Linden“ (1888). Das Konzessionsgebiet wurde ausgedehnt und umfaßte jetzt einen Stadtteil, der von der Besselstraße bis zum Oranienburger Tor, von der Wallner-Theater-Straße bis zum Ende der Bellevue-Straße reichte. Dieser ganze Stadtteil mußte mit Kabeln ausgerüstet werden. Zwei neue Zentralstationen, in der Spandauerstraße und am Schiffbauerdamm waren anzulegen und mit je 2000 Pferdekräften zunächst für je 6000 Lampen, die bis zum Jahre 1892 auf 24000 bezw. 12000 gesteigert werden sollten, auszustatten. Die Zentrale in der Mauerstraße war erheblich zu erweitern. Die Maschinen für diese Anlagen wurden bei der belgischen Fabrik van der Kerkhoven in Gent bestellt. Emil Rathenau benutzte die Gelegenheit, um von den kleineren Schnellläufermaschinen von nicht mehr als 150 PS, mit denen die erste Zentrale in der Markgrafenstraße gegen seinen Willen auf Verlangen des zur Vorsicht mahnenden Bankenkonsortiums ausgestattet worden war, zu großen „Langsamläufern“ überzugehen, die schnell bis auf 1000 PS gesteigert wurden. Er stand dabei im Gegensatz zur ganzen Fachwelt, selbst zu Edison, der die Meinung vertrat, daß die Kraft mehrerer Kleinmaschinen besser ausgenutzt und den jeweiligen Strombedürfnissen richtiger angepaßt werden könnte als die einer Großmaschine. Auch die Sachverständigen der früheren Bankengruppe der Städtischen Elektrizitätswerke hatten sich von dieser durch die Autorität des Erfinders Edison gestützten Ansicht nicht abbringen lassen und das war ein weiterer Grund für die Banken gewesen, Rathenau das Geld für die Erweiterung der Elektrizitätswerke zu verweigern. Wenn er schon mit den kleinen Maschinen keine Rentabilität erzielte, so würde er sie — dies war ihr Argument — mit großen sicherlich nicht erreichen. Rathenau war damals der einzige, der von großen Maschinen das Heil erwartete, nicht nur aus technischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen, denn er hielt es für wichtig, daß ihre Aufstellung viel weniger Platz in Anspruch nahm als die vieler Kleinmaschinen, was bei den hohen städtischen Bodenpreisen immerhin ins Gewicht fiel. Als er bei den Städtischen Werken nun unabhängig von fremdem Einfluß geworden war, konnte er seine Pläne hinsichtlich des Großmaschinenbaus unbehindert zur Durchführung bringen und hatte die Genugtuung, daß sich selbst Edison nach einer Besichtigung der neuen Zentralen von der Überlegenheit [S. 142] der Neuerung überzeugen ließ. Erst durch das von Rathenau gegen die ganze damalige übrige Fachwelt durchgesetzte Prinzip der Großmaschinen ist die Grundlage für die gewaltige Entwickelung des Zentralenbaus gelegt worden.
Die Kosten des Bauprogramms wurden auf 9 Millionen Mark berechnet, die zur Hälfte in Aktien, zur Hälfte in Obligationen aufzubringen waren. Die Firma der Gesellschaft wurde umgewandelt in Berliner Elektrizitätswerke . Durch die Forderungen der Stadt war die Tragfähigkeit der ersten großen Elektrizitätszentrale auf eine harte Probe gestellt worden. Nachdem diese aber bestanden war, schlug die Belastungsprobe zum Segen für das Unternehmen aus, das dadurch in seinem Wachstum und seiner Stärke in einer Weise gefördert wurde, die es wahrscheinlich, sich selbst überlassen, nicht so schnell erreicht haben würde.
An den Schluß dieses Kapitels sei der Wortlaut der Rede gesetzt, die Emil Rathenau am Vorabend der Einführung des elektrischen Lichtbetriebes in der Straße „Unter den Linden“ hielt:
„Es ist uns ein Bedürfnis, im Namen der Berliner Elektrizitätswerke den Spitzen der Städtischen Verwaltung unseren Dank dafür auszusprechen, daß Sie uns gestattet haben, an einer Schöpfung mitzuwirken, deren epochemachende Bedeutung weit über die Grenzen dieser Stadt hinaus greift und deren Vollendung überall mit Freuden begrüßt werden wird. Diese Schöpfung beweist aufs neue, mit welchem Verständnis die Stadt Berlin jede neue Errungenschaft der Wissenschaft und Technik dem Wohle der Bürgerschaft dienstbar zu machen weiß. Das „lichtvolle“ Werk, dessen Generalprobe Sie soeben beigewohnt haben, tritt würdig in die Reihe der schon bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen, welche der Erleichterung des Verkehrs, der Befriedigung der Lebensbedürfnisse und der immer weiteren Ausgestaltung des täglichen Komforts zu dienen berufen sind. Die Naturkraft des neunzehnten Jahrhunderts, welche im Telegraphen und im Telephon sich bereits überall das Bürgerrecht erworben hat, soll in Zukunft der gesamten Bevölkerung zugängig gemacht werden, dem Wohlhabenden in der Form strahlenden Lichts, dem Handwerker als Werkzeug des täglichen Gebrauches.
Unsere Stadt tritt mit dem heutigen Tage in eine neue Entwickelungsphase ihres Beleuchtungswesens ein; neben das Gaslicht, [S. 143] das bisher die Alleinherrschaft behauptete, tritt heute gleichzeitig das elektrische Licht, und die Zukunft wird lehren, welchem von beiden der Sieg gehört.
80 Jahre sind es her, daß in dieser selben Straße „Unter den Linden“ das bescheidene Öllämpchen von der ersten Gasflamme verdrängt wurde und es wird vielleicht nicht weiterer 80 Jahre bedürfen, um, wie damals die erste, so dereinst die letzte Gasflamme als staunenswerte Kuriosität betrachtet zu wissen.
Nicht leicht war die Entscheidung, auf welchem Wege am raschesten und sichersten das erstrebte Ziel zu erreichen sei, zumal da städtische Interessen hinzuweisen schienen, welche schon in Gasanstalten, den Wasserwerken und last not least, der unübertroffenen Kanalisation zu unbestrittenem Erfolge verholfen hatten. Die Erkenntnis aber, daß die junge Industrie sich frei entfalten müsse, bevor sie völlig in den Dienst des städtischen Ärars treten durfte, hat Früchte gezeitigt, welche die Bewunderung aller Nationen erregen. Und in dieser Entwicklung betätigt sich gleichzeitig das Walten ausgleichender Gerechtigkeit, denn an seiner Geburtsstätte hat der elektrische Strom seine größte Verbreitung gefunden, obgleich es eine Zeitlang schien, als ob die neue Welt uns diesen Ruhm streitig machen wolle.
Weit hinter dieser zurück steht das übrige Europa; in England erschwert der Wille des Parlaments die Errichtung elektrischer Zentralstationen und Frankreich konnte, trotz des hohen Fluges, den es in der Ausstellung des Jahres 1881 zu nehmen schien, weder in der Städtebeleuchtung noch in der elektrotechnischen Industrie mit uns Schritt halten. So können wir mit Stolz behaupten, daß wir an der Spitze aller Kulturvölker marschieren, die in erster Linie berufen waren, das Prinzip der elektrischen Beleuchtung zu fördern und sich nutzbar zu machen.
Diese Erfolge verdanken wir nicht zum wenigsten der Weisheit und Einsicht unserer Behörden, welche der Privatindustrie freien Spielraum ließen, und sie vor allen schädlichen Hemmnissen und Beschränkungen bewahrten. So konnten wir in freier Entfaltung aller unserer Kräfte das große Werk fördern helfen, das, noch früher als gehofft und beabsichtigt war, als fertiges und vollendetes Ganzes vor [S. 144] Ihnen stehen wird. Ein hoher Wille, dem wir uns in Ehrfurcht beugen, hat uns diese Beschleunigung unserer Arbeiten nahe gelegt, und wir sind stolz darauf, daß wir diesem Willen trotz mancher entgegenstehender Hindernisse gerecht werden konnten.
So wird denn die elektrische Beleuchtung der prächtigsten Straße der Reichshauptstadt schon mit dem morgigen Abend definitiv beginnen.
Freilich konnten wir, die wir an der Lösung dieser gewaltigen Aufgabe mitzuwirken das Glück hatten, nicht immer gleich allen Wünschen in dem Umfange Rechnung tragen, wie es das Publikum, das nach elektrischem Licht sich sehnt, in seiner leicht erklärlichen Ungeduld beanspruchte, und auch dem Maß des zunächst Erreichbaren entsprach. Vielleicht nicht immer den weitgehenden Erwartungen, die gerade auf diesem Gebiet der Technik mehr als auf jedem anderen sich geltend zu machen pflegen. Das Publikum steht eben unserer Aufgabe im allgemeinen zu fern, um deren ganze Schwierigkeit voll ermessen zu können, und es vergißt leicht, wie neu die Sache eigentlich noch ist, deren Ausbildung und Realisierung wir uns gewidmet haben. Es vergißt dies um so eher, als die Elektrizität, trotz der ihr noch anhaftenden Jugendfehler uns schon jetzt ganz unvergleichliche Dienste leistet. So mag man denn das immer noch unvermeidliche Mißverhältnis zwischen unserem Wollen und unserem Vollbringen in der Überzeugung entschuldigen, daß die Naturkraft, die schon in ihren Kinderjahren so Gewaltiges zu leisten vermochte, zu noch Größerem berufen ist, wenn Sie derselben Ihren Schutz mit wohlwollender Nachsicht so lange angedeihen lassen, bis sie völlig erstarkt ist und in freiem Fluge ihre Schwingen zu regen vermag. Wir aber, die wir den Berliner Elektrizitätswerken vorstehen, werden, wie bisher, so auch in Zukunft mit redlichem Eifer bemüht bleiben, die neue Schöpfung zu einer der Reichshauptstadt würdigen Stellung emporzuheben und dafür zu sorgen, daß die führende Stellung in der Elektrotechnik, die Deutschland in beiden Hemisphären einnimmt, ihm dauernd erhalten werde.
Das Verdienst für diese Führerschaft gebührt, wie nochmals betont sei, in erster Reihe den Leitern unserer Stadt, die mit weitsichtigem Blick, trotz der Bedenken vieler, daß die Elektrizität andere [S. 145] städtische Unternehmen beeinträchtigen werde, den Mut besaßen, für die Verwirklichung jener Ideen einzutreten, welche die Bürgerschaft von Berlin schon jetzt als weise und wohltätig erkannt hat.
Darum bitte ich Sie, Ihr Glas mit mir zu erheben, und einzustimmen in den Ruf: Berlin, die Stadt der Intelligenz, die darum auch die Stadt des Lichtes werden müßte, sowie die Verwaltung derselben, sie lebe hoch!“
Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß die Idee und Ausführung einer Berliner Zentralstation die Deutsche Edison Gesellschaft in ernste Gefahr gebracht hatte, nicht weil die Lösung des technischen Problems — abgesehen von gewissen anfänglichen Hemmnissen — Schwierigkeiten oder Enttäuschungen verursachte, sondern weil das finanzielle Gleichgewicht zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft verloren zu gehen drohte. Die geldlichen Erfordernisse für die Zentralstation, die mit einem Kapital von 3 Millionen Mark gegründet worden war und nach 3 Jahren 9 Millionen Mark neues Geld brauchte, waren zu groß, als daß sie im richtigen Verhältnis zu den Finanzen der Muttergesellschaft gestanden hätten, die noch immer mit einem Kapital von 5 Millionen Mark arbeitete. Ein derartiges Über-den-Kopf-Wachsen der Tochtergesellschaft würde dann möglich und unbedenklich gewesen sein, wenn die Zentralstation in der öffentlichen Meinung gesichert und bewährt genug gewesen wäre, um ein eigenes kapitalistisches Leben führen, und ihre geldlichen Erfordernisse selbständig auf dem Anlagemarkt befriedigen zu können. Das war aber, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Im Gegenteil, nicht nur die Öffentlichkeit und die Stadt Berlin als Konzessionsgeberin, sondern auch die Aktionäre, der eigene Aufsichtsrat und die Banken standen der Gesellschaft skeptisch gegenüber, und waren froh, als Emil Rathenau ihnen ihren riskanten Aktienbesitz, wenn auch mit Verlust, abnahm. Mit dieser Transaktion war nun zwar die Tochtergesellschaft gerettet, aber die Muttergesellschaft war mit einer finanziellen Last beschwert, die sie in ihrem bisherigen Zustande und mit ihren bisherigen Kräften nicht tragen konnte, selbst wenn sie ihre ganzen flüssigen Mittel — besonders [S. 147] die ihr verbliebenen 1,7 Millionen Mark Bankguthaben — für die Berliner Elektrizitätswerke verwendet hätte, was sie aber, ohne ihre eigene Entwickelung als Fabrikationsgesellschaft zu beeinträchtigen, eigentlich gar nicht tun durfte. Dennoch schien Emil Rathenau eine Zeitlang wohl oder übel entschlossen gewesen zu sein, seine letzte Geldreserve zu opfern und das Problem der B. E. W. auf Kosten seiner Deutschen Edison Gesellschaft zu lösen, die zu diesem Behufe ihre Kräfte aufs äußerste hätte anspannen und sich wahrscheinlich hätte überlasten müssen. Da die flüssigen Mittel dieser Gesellschaft aber allein zu jenem Zwecke nicht ausgereicht hätten, wurde der außerordentlichen Generalversammlung vom 10. Februar 1887 eine Kapitalserhöhung um 2 Millionen Mark vorgeschlagen. Eine stärkere Inanspruchnahme des Kapitalmarktes verbot sich deswegen, weil am politischen Horizont schwere Wolken aufgezogen waren und ein Krieg mit Rußland im Bereiche der Möglichkeit zu liegen schien. Wäre diese Kapitalstransaktion damals zur Ausführung gelangt, so hätte durch sie nur eine isolierte Lösung der einen brennenden Frage, nämlich derjenigen der Städtischen Elektrizitätswerke, herbeigeführt werden können. Die Dinge lagen aber bei der Deutschen Edison Gesellschaft schon seit geraumer Zeit so, daß abgesehen von dem Problem der Elektrizitätswerke noch mehrere andere zur Entscheidung drängten, weil die Grenzverhältnisse der Gesellschaft gegenüber ihren wichtigsten Geschäftsfreunden unerfreulich, ja unhaltbar geworden waren. Es handelte sich um die Pariser Edison Gesellschaft und um die Firma Siemens & Halske, die aus Interessen-Freunden immer mehr zu Interessen-Gegnern geworden waren oder zu werden drohten. Mit Siemens & Halske hatte dieser Zustand schon zu mehreren Prozessen geführt, von denen wir den wichtigsten über die Frage, ob die Edison Gesellschaft nur Bogenlampen nach dem Siemensschen System verwenden dürfte, bereits erwähnt hatten. Auch die fabrikatorische Einengung der Edison Gesellschaft, die in der Verpflichtung bestand, Maschinen und Materialien mit Ausnahme von Glühlampen unter Verzicht auf die Selbstherstellung nur von S. & H. zu beziehen, machte sich mit jedem Schritte mehr fühlbar, den die Gesellschaft in ihrer Entwickelung vorwärts tun wollte. Das Gleiche galt von den Beschränkungen und Auflagen, mit denen das Vertragsverhältnis zu der Compagnie Continentale die Edison Gesellschaft belastet hatte. Die Zeit, in der die [S. 148] Abgaben an die Pariser Edison Gesellschaft und der Verzicht auf Gewinne aus wichtigen Absatzartikeln, die die Gesellschaft von Siemens & Halske beziehen mußte, die Lebensfähigkeit des Unternehmens nicht beeinträchtigten, war sehr bald vorübergegangen. Als die Deutsche Edison Gesellschaft ihr Geschäft auf die Glühlampenfabrikation beschränkte und diese noch dazu mit hohen Abgaben an den Erfinder belastete, glaubte sie ein Monopol erworben zu haben. Ein Monopol, geschützt rechtlich durch Patente und tatsächlich durch Einrichtungen und Erfahrungen, die anderen Fabrikationsfirmen nicht zu Gebote standen. Technische Vorsprünge können aber erfahrungsgemäß in einer Zeit starken technischen Wettbewerbs nur eine Zeitlang gegenüber der Konkurrenz aufrecht gehalten werden. Nach einigen Jahren war es dieser sogar gelungen, so wesentliche Verbesserungen an der Lampe anzubringen, daß es zeitweilig starker Anstrengungen der Ingenieure der Gesellschaft bedurfte, um sich die Spitze nicht nehmen zu lassen. Der Monopolschutz versagte in der Praxis so gut wie vollständig. 5 richterliche Erkenntnisse hatten bis zum Jahre 1887 die Monopolrechte der Gesellschaft im wesentlichen bestätigt, eine definitive Entscheidung war noch immer nicht ergangen. Inzwischen war fast die Hälfte der Patentdauer verstrichen, und die Gesellschaft besaß keine hinreichenden Handhaben, um gegen die angeblichen Patentbrecher vorzugehen, die zwar riskierten, bei einem späteren obsiegenden Endurteil der Deutschen Edison Gesellschaft zum Schadensersatz verurteilt zu werden, inzwischen aber an der Herstellung von Glühlampen nicht verhindert werden konnten. Das Warten auf diesen Endsieg und die sich etwa daran schließende retrospektive Verfolgung der früher erfolgten Patentverletzungen war für eine Erwerbsgesellschaft eine unlohnende und unsichere Sache, selbst wenn die Patentrechte schließlich durchgesetzt worden wären. Im entgegengesetzten Falle aber — der ja bei der Deutschen Edison Gesellschaft schließlich praktisch eintrat — würde die Gesellschaft ihre ganze Existenzberechtigung verloren haben, wenn sie sich bis zur Entscheidung der Patentfrage nur auf ihr beanspruchtes Monopolrecht und nicht auf Leistungen gestützt hätte, die auch unabhängig von diesem Monopolrecht ihr eine starke Stellung im Wettbewerb sicherten. Dieser Wettbewerb war, angelockt durch die glänzenden und, wie man glaubte, leicht zu erringenden Erfolge der [S. 149] Lichtelektrizität, immer größer geworden. Die Errichtung einer Glühlampenfabrik schien eine leichte, mit verhältnismäßig kleinem Kapital durchzuführende Unternehmung zu sein. Fast alle elektrotechnischen und verwandten Betriebe, daneben noch andere Unternehmer, errichteten Lampenfabriken. Auf dem Gebiete des Dynamo-Baus lagen die Verhältnisse nicht anders. Hier waren Patentrechte, die das Prinzip des Dynamos erfaßten, überhaupt nicht vorhanden, und höchstens spezielle Typen patentierbar. Jeder konnte sich eine eigene Dynamo-Type konstruieren, und neben den elektrotechnischen Fabriken gingen auch Maschinenfabriken vielfach dazu über, zur Unterstützung des Absatzes ihrer Motoren die eigene Herstellung von Dynamomaschinen aufzunehmen. Auch das Gebiet der Installation wurde stark umworben. Unternehmer für Gas- und Wasseranlagen dehnten ihre Betriebe auf elektrische Anlagen ähnlicher Art aus. In einer solchen Zeit verstärkten und ungehemmten Wettbewerbs konnte die Deutsche Edison Gesellschaft nicht ohne dauernde Beeinträchtigung ihrer Position und Entwickelungsmöglichkeit so weiter existieren, wie sie gegründet worden war: gebunden durch Beschränkungen nach verschiedenen Richtungen, belastet durch Abgaben, die bei einem Monopol gerechtfertigt gewesen wären, bei einem nahezu unbegrenzt freien Wettbewerb aber ihren Sinn verloren hatten. Das Ideal für Rathenau wäre schon damals die Befreiung von allen hemmenden Verträgen gewesen, sowohl denen mit der Compagnie Continentale als auch mit Siemens & Halske. Das erstere ließ sich erreichen, aber nur dadurch, daß die Bindung an Siemens & Halske enger gestaltet wurde. Die völlige Selbständigmachung nach allen Richtungen — besonders zu einem Zeitpunkte, in dem die auf 10 Jahre geschlossenen Verträge noch nicht abgelaufen waren und ihre vorzeitige Ablösung auf dem Vergleichswege nur unter Aufwendung großer Abfindungssummen möglich gewesen wäre — hätte finanzielle Ansprüche an die Gesellschaft gestellt, denen sie in einer Zeit, in der die Stützung der Berliner Elektrizitätswerke ihre ganzen Mittel und ihren ganzen Kredit schon über Gebühr in Anspruch nahm, auch nicht entfernt gewachsen war. Eine Lösung ließ sich damals also nur durch engere Anlehnung der Edison Gesellschaft an Siemens & Halske, und die Bankkräfte, die ihr diese Anlehnung zuführen konnte, erreichen. Bereits im September 1886 wurden Verhandlungen eingeleitet, die sich [S. 150] über volle 8 Monate hinzogen. Sie kamen ins Stocken, wurden wieder aufgenommen, aufs neue abgebrochen und führten schließlich zu einem komplizierten Vertrags- und Vertragslösungskomplex, der der Generalversammlung vom 23. Mai 1887 zugleich mit dem verspätet veröffentlichten Geschäftsbericht und der Bilanz für das Jahr 1886 vorgelegt wurde. Die Vorbedingung für die Lösung vom Edison-Konzern bildete, wie schon gesagt, die Änderung des Vertragsverhältnisses mit Siemens & Halske, durch die — wie es in der Vorlage an die Aktionäre hieß — die „Gleichberechtigung beider Firmen in technischer und kommerzieller Beziehung auf dem von ihnen gemeinschaftlich vertretenen Arbeitsfelde anerkannt wurde.“ Die Grundlage des Neuabkommens mit S. & H. war die folgende:
I. Der Bau und Betrieb von Zentralstationen, die beträchtliche Geldmittel, reiche Erfahrungen und wohlgeschulte Kräfte erfordern, wird durch Kooperation beider Firmen im In- und Auslande bewirkt. Der Grundsatz, daß die Edison Gesellschaft die Konzessionen nehmen sollte, wurde dabei nicht fallen gelassen, dagegen hatte die Bauausführung in Gemeinschaft mit Siemens & Halske zu erfolgen. Alle Stromlieferungsunternehmungen von mehr als 100 PS, deren Konzession Siemens & Halske erwarben, hatten sie der Edison Gesellschaft gegen Erstattung der Unkosten anzubieten, die die Finanzierung, den Bau und die Einrichtung der Zentralen zu besorgen hatte, während Siemens & Halske Maschinen und Kabel lieferten. Verzichtete die Edison-Gesellschaft auf den Bau, so blieb ihr doch das Recht, gegen eine Entschädigung die Hausinstallationen auszuführen. Auch dieses Recht konnte sie gegen eine bestimmte Abgabe an S. & H. abtreten. Konzessionen auf elektrolytische Einzelanlagen und elektrische Anlagen für den Betrieb von Eisenbahnen brauchten S. & H. nicht an die Edison Gesellschaft abzutreten.
II. Auf dem Gebiete der isolierten Anlagen wurden die der Ausdehnung der eigenen Fabrikationsfähigkeit der Edison Gesellschaft entgegenstehenden Schranken beseitigt. Zu diesem Zwecke wurde es der Gesellschaft erlaubt, Kraftmaschinen bis zu 100 PS selbst herzustellen.
III. Die Glühlampenfabrikation wurde durch eine Konvention vor einer gegenseitig ruinösen Preiskonkurrenz geschützt.
Das Hauptzugeständnis, das der Deutschen Edison Gesellschaft hier gemacht wurde, lag in der Erlaubnis, Maschinen bis zu 100 PS [S. 151] selbst bauen zu dürfen. Es war dürftig genug und mußte mit der Aufteilung des bisher der Edison Gesellschaft allein zustehenden Zentralenbaus unter beide Firmen bezahlt werden, zu der sich Rathenau gerade in dem damaligen Zeitpunkte etwas leichter verstand, weil das Berliner Musterbeispiel eines solchen Zentralenbaus die großen finanziellen Ansprüche, die dieser Geschäftszweig stellte, deutlich dargetan hatte. Überdies bedeutete diese Teilung des Zentralengebietes insofern keine allzugroße Änderung im Vertrage, als ja auch schon vorher die Deutsche Edison Gesellschaft bei Zentralenbauten einen erheblichen Teil der Anlage, nämlich die elektrischen Maschinen, Kabel und sonstigen Materialien von S. & H. hatte beziehen müssen. Allerdings war das in Aussicht genommene Zusammenwirken beider Firmen im Zentralenbau insofern ein wunder Punkt in dem gegenseitigen Verhältnis beider Firmen, als die Fassung dieser Vertragsbestimmung ziemlich dehnbar war, und nur bei beiderseitigem guten Willen ein ersprießliches Zusammenwirken versprach. Böswilligkeit oder passive Resistenz auf einer Seite konnten das Zusammenwirken im Zentralengeschäft sehr erschweren.
Die Voraussetzung für dieses Abkommen zwischen der Edison Gesellschaft und Siemens & Halske bildete eine Regelung der Vertragsbeziehungen zu der Compagnie Continentale. Beide deutschen Firmen besaßen das Ausnutzungsrecht für die Edison-Patente, beide waren dafür mit einer Abgabenpflicht belastet. Die Deutsche Edison Gesellschaft war ferner durch satzungsmäßige Bestimmungen zu Gunsten der Compagnie beschränkt und schließlich an sie durch die der französischen Gesellschaft übergebenen Genußscheine gebunden. Die satzungsmäßigen Beschränkungen bestanden hauptsächlich darin, daß die Deutsche Edison Gesellschaft für die Glühlicht-Beleuchtung sich ausschließlich des Edisonschen Systems bedienen und daß sie Patente, Patentausnutzungsrechte sowie alle hierher gehörigen Rechte aller Art, betreffend die Anwendung technischer Prozeduren, Erfindungen und Geheimnisse nur mit Genehmigung der Compagnie Continentale erwerben durfte. Die Verhandlungen mit der französischen Edison Gruppe wurden nicht von der Deutschen Edison Gesellschaft, sondern von der Firma Siemens & Halske geführt, die sich durch ihren Unterhändler, den Bürgermeister a. D. Rosenthal, zum Befremden Rathenaus und hinter seinem Rücken in das Eigentum der deutschen Edisonpatente gesetzt hatten. Rathe [S. 152] nau war dadurch noch mehr auf die Mitwirkung von S. & H. bei der von ihm geplanten Loslösung von der Compagnie Continentale angewiesen. S. & H. schlossen ein Abkommen, das die Beseitigung aller Beschränkungen und Abgaben, die Rück-Übertragung der 1500 Genußscheine der Compagnie Continentale und den gemeinsamen Erwerb der Patente durch S. & H. sowie die Deutsche Edison Gesellschaft (nicht nur wie bisher das Ausnutzungsrecht) ermöglichte. Der Firma S. & H. waren aus diesem Abkommen Kosten von 809000 Mark erwachsen, von denen sie selbst ein Drittel, nämlich 269666 Mark, die Deutsche Edison Gesellschaft 75000 Mark für den Rückerwerb von 1500 im Besitz der französischen Gesellschaft befindlichen Genußscheinen übernahm und ferner auf die noch etwa 170000 Mark betragende Restsumme verzichtete, die von dem der Compagnie Continentale seinerzeit als Vorschuß auf die Patentabgaben gezahlten Betrage von 350000 noch verblieben und in der obigen Summe von 809000 Mark verrechnet war. Der Rest von 294334 Mark wurde von einem durch Siemens & Halske gebildeten Bankenkonsortium unter Führung der Deutschen Bank übernommen, das ebenso wie die Firma Siemens & Halske einen Teil der 7 Millionen Mark neuen von der Deutschen Edison Gesellschaft auszugebenden Aktien zeichnen sollte.
Die Deutsche Edison Gesellschaft hatte im ganzen einschließlich 50000 Mark, die zum Rückerwerb der restlichen 1000 seinerzeit an die Gründer begebenen Genußscheine dienten, 295000 Mark bereitzustellen. Die Aufbringung dieser Summe fiel der Gesellschaft, die damals stille Reserven kaum aufgesammelt hatte, nicht leicht. 195000 Mark sollten den außerordentlichen (offenen) Reserven entnommen werden, von denen damals ein Rückstellungskonto in Höhe von 145743 Mark und eine außerordentliche Reserve von 95000 Mark bestand. Diese wurden demnach durch die Entnahme bis auf 45000 Mark verzehrt. Ferner bestand noch ein gesetzlicher Reservefonds von 47674 Mark. Das war alles, was der Gesellschaft an Reserven verblieb. Die innere Verfassung des Unternehmens war damals also eine ziemlich schwache, und wenn im Geschäftsbericht für 1886, wohl um die Aktionäre über die unbehagliche Situation hinwegzutrösten, mit Genugtuung darauf hingewiesen wurde, daß in den bisherigen 4 Geschäftsjahren Reserven von 284667 Mark aufgesammelt, buchmäßige Abschreibungen von 239912 Mark vorgenommen [S. 153] und 883500 Mark an Dividenden gezahlt worden seien, so bedeutete diese Zusammenstellung vom Standpunkt der späteren Rathenauschen Reserven- und Bilanzpolitik betrachtet, eine ziemlich herbe Kritik, was das Verhältnis der gezahlten Dividenden zu den zurückgehaltenen Beträgen anlangt. Es waren Dividenden ausgeschüttet worden, die — wenn sie auch an sich niedrig waren, — Emil Rathenau in späteren Jahren im Verhältnis zu dem erzielten Gewinn entschieden als viel zu hoch betrachtet haben würde. Das war vielleicht nötig gewesen, um die Aktionäre des jungen Unternehmens nicht sofort vor den Kopf zu stoßen, den technischen und finanziellen Kredit nicht zu gefährden und das Bankenkonsortium zufriedenzustellen, das zu großen Entsagungen nicht bereit war. Die Folge davon war die mangelhafte Fundierung der Gesellschaft bei Gelegenheit der Vertragsrevision mit der Edison-Gruppe. Nicht nur die Reserven mußten geplündert werden, sondern auch die Aktionäre mußten auf einen Teil ihrer Rente verzichten. Von dem 308626 Mark betragenden Überschuß mußten 100000 Mark abgezweigt werden, um den Restbetrag der aus Anlaß des Ausgleichs mit der Edison-Gruppe aufzubringenden Summe herbeizuschaffen. Statt 6%, wie erwartet worden war, konnten die Aktionäre nur 4% erhalten. In der Generalversammlung vom 23. Mai 1887 herrschte darum eine recht ungemütliche Stimmung, und zum ersten Male trat eine kräftige Opposition hervor, die sich gegen nicht eingelöste Versprechungen usw. richtete. Die Aktionäre Michelet und Jacob kritisierten die Verwaltung mit scharfen Worten und gaben Protest gegen die Beschlüsse der Versammlung zu Protokoll. Hugo Landau, der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats und Vertreter der Bankengruppe, erklärte demgegenüber, daß nur durch die Verkürzung der Dividende die fehlenden 100000 Mark aufgebracht werden könnten. Werde das abgelehnt, so sei die Transaktion nicht durchzuführen. Der Vertrag mit S. & H. und die Kapitalserhöhung kämen nicht zustande. Statt eine gesunde und große Zukunft zu gewärtigen, müßte die Gesellschaft mit ihren jetzigen unzureichenden Mitteln in eine Periode verschärfter Konkurrenz eintreten. Der Kampf könnte ohne wesentliche Herabschreibung der Aktiva dann nicht mit Aussicht auf Erfolg aufgenommen werden. Die Sanierung wurde also als drohendes Gespenst an die Wand gemalt. Sie wurde vermieden, denn die Generalversammlung genehmigte die Anträge der Verwaltung [S. 154] schließlich mit großer Mehrheit, und sie tat gut daran. Schon im nächsten Geschäftsjahr 1887/88, das infolge Verlegung des Bilanztermins auf den 30. Juni 1½ Jahre umfaßte, konnte eine Dividende von 7% für das Jahr und 10½% auf 1½ Jahre bei sehr vorsichtiger Bilanzierung ausgeschüttet werden, und die Aktionäre haben sich über schlechte Abschlüsse, und nicht eingehaltene Versprechungen nie wieder zu beklagen gehabt.
Die 7 Millionen Mark neuen Aktien, von denen Siemens & Halske 1 Million Mark übernahmen, erhielten für 1887/88 nur 4% Bauzinsen. In den Aufsichtsrat traten als Vertreter von Siemens & Halske, Arnold von Siemens, der Sohn Werners, und Bürgermeister a. D. Rosenthal, ferner als Vertreter des neuen Bankenkonsortiums Dr. Georg Siemens (Deutsche Bank), August Klönne (Schaaffhausenscher Bankverein), Geh. Kommerzienrat A. Delbrück (Delbrück, Leo & Co.) sowie Eisenbahnpräsident A. Jonas (Discontogesellschaft) ein. Trotzdem wurde der Mitgliederbestand des Aufsichtsrats nicht erhöht. Er betrug wie zuletzt 11 Köpfe, eine Reihe von bisherigen Aufsichtsratsmitgliedern mußte den Bankenvertretern ihren Platz räumen. Bereits früher waren verschiedene Mitglieder, darunter der Vertreter der Nationalbank für Deutschland, Assessor Löwenfeld ausgeschieden. Im Jahre 1888 wurde der Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft Carl Fürstenberg in den Aufsichtsrat gewählt, der späterhin — besonders nach dem Ausscheiden Georg Siemens — der eigentliche finanzielle Berater Emil Rathenaus geworden ist und ihm in enger Freundschaft bis an sein Lebensende verbunden blieb.
Die Gesellschaft legte nach ihrer Lösung vom Edison-Konzern den Namen „Deutsche Edison Gesellschaft“ ab und nahm den Namen „ Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft “ an, unter dem sie groß und berühmt geworden ist.
Die folgenden Jahre der Gesellschaft, die ersten unter der Firma Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft, standen im Zeichen einer Expansion nach allen Richtungen. Die neuen Mittel im Betrage von 7 Millionen Mark jungen Aktien, deren Ausgabe die Generalversammlung vom 23. Mai 1887 beschlossen hatte, sollten in erster Linie zu dem Ausbau der Berliner Elektrizitätswerke verwendet werden, aber dieser Ausbau erfolgte nur allmählich, und wenn er schließlich auch wesentlich höhere Kapitalien verschlang, als damals vorgesehen war, so konnte ein Teil des Aktienerlöses aus der Emission von 1887 zunächst flüssig gehalten und zu anderen Zwecken verwendet werden. Schon zu dieser Zeit verfolgte Emil Rathenau das Prinzip, in finanzieller Hinsicht über den augenblicklichen und im Augenblick übersehbaren Bedarf ausgestattet, in der Einleitung jedes neuen Geschäfts nicht von der Geldbewilligung durch Banken und Aktionäre abhängig zu sein, und eine „Von der Hand in den Mund-Politik“, wie sie ihm einmal beinahe verhängnisvoll gewesen wäre, zu vermeiden. Die Bilanz vom 30. Juni 1888 wies noch ein Bankguthaben von 6401740 Mark auf, was allerdings zum Teil damit zusammenhing, daß die Verhandlungen mit der Stadt Berlin über den neuen Vertrag sich länger als erwartet hinzogen, und erst im August 1888 zum Abschluß gelangten, so daß im Geschäftsjahr 1887/88 nur 400.000 Mark zu der Erweiterung der schon bestehenden Zentralen verwendet wurden. Umso stärker und über die Voranschläge weit hinausgehend gestaltete sich das Geldbedürfnis der Berliner Elektrizitäts-Werke in den nächsten Jahren, da die Nachfrage nach Licht- und Kraftanschlüssen sich im Zusammenhang mit dem Bau neuer Zentralen über Erwarten steigerte. Die [S. 156] gesamten Investitionen sollten nach dem Bauentwurf von 1887 9 Millionen Mark betragen, sie schwollen schon im nächsten Jahre auf 18 Millionen Mark an. Die A. E. G., die abgesehen von der Erhöhung ihrer Aktienbeteiligung ein Darlehen von 3 Millionen Mark zugesagt hatte, mußte dieses auf 6 Millionen Mark erhöhen. Abgesehen davon bezog sie die Hälfte der neuausgegebenen 3 Millionen Mark B. E. W.-Aktien in Ausnutzung ihrer Gründerrechte zu pari, und an der Übernahme der anderen Hälfte beteiligte sie sich nach Maßgabe ihres Aktienbesitzes mit 549000 Mark. Einen Teil der Mittel für die Zeichnung der neuen Aktien beschaffte sie sich dadurch, daß sie mit ansehnlichem Nutzen 1044000 Mark von ihrem im ganzen 2.044.000 Mark betragenden Aktienbesitz erster Emission verkaufte, die sie erst im Jahre vorher zum Kurse von 95% von den Banken übernommen hatte. Zwar hatten die B. E. W. ihre Dividendenzahlung noch nicht aufgenommen, aber es stand doch schon fest, daß bereits im Jahre 1889/90 die erste Dividende in ansehnlicher Höhe würde ausgezahlt werden können. Diese Aussicht schuf den Aktien der B. E. W. eine ganz andere Bewertung als noch vor kurzer Zeit, und erleichterte infolgedessen die Abstossungstransaktion der A. E. G. Die Gesellschaft verfolgte auch späterhin bei den B. E. W. wie bei anderen Aktienbeteiligungen das Prinzip, bei Ausübung des Bezugsrechtes auf junge Aktien einen entsprechenden Teil der alten Aktien zu realisieren, sofern dies mit Gewinn ermöglicht werden konnte. In solchen Austauschtransaktionen lag jedesmal ein sicherer Zwischengewinn, denn die alten Aktien konnten stets zu höheren Kursen abgestoßen werden, als die jungen Aktien erworben wurden, während diese für die A. E. G. denselben Beteiligungs- und Kapitalswert besaßen. Ganz besonders groß und glatt zu erzielen waren die Zwischengewinne bei den Transaktionen mit den B. E. W.-Aktien, da die A. E. G. bei dieser Gesellschaft ja infolge ihrer Gründerrechte die Hälfte der neuen Aktien zu pari beziehen konnte, während infolge der hohen Dividenden der Gesellschaft ihr Kurs und damit auch ihre Verwertungsmöglichkeit für die A. E. G. wesentlich über dem Parikurse lag. Emil Rathenau hat einmal in einer Generalversammlung erklärt, daß er — auch als das Kapital der B. E. W. auf viele Zehnmillionen stieg — den Besitz der A. E. G. dauernd nie über 2 Millionen Mark hinaus zu steigern brauchte. Mit einem solchen Kapital konnte er die Tochtergesell [S. 157] schaft völlig beherrschen. Dieses Prinzip der Kontrollausübung mit sparsamen Geldmitteln, fußend auf guter Verwaltung und Autorität, war überhaupt charakteristisch für das Rathenausche Beteiligungssystem, doch konnte es nicht überall so schnell und wirksam zur Geltung gebracht werden wie bei den B. E. W. Manche Beteiligungen kosteten viel mehr Geduld und viel größere und länger festliegende Investierungen. Übrigens hat sich Emil Rathenau durch den Gesichtspunkt der hohen Zwischengewinne, die ihm das Pari-Bezugsrecht für die Hälfte der Neuemissionen der B. E. W. ermöglichte, nicht dazu verleiten lassen, die Finanzpolitik der B. E. W. auch dort unter diesen Gesichtspunkt zu stellen, wo deren eigene Kapitalinteressen andere Rücksichten erheischten. Wäre das der Fall gewesen, so hätte er überhaupt nur Stammaktien, bei denen die Differenz zwischen dem Paribezugsrecht und dem Börsenkurse allein in größerem Umfange zu realisieren war, ausgegeben. In Wirklichkeit sind aber durch die B. E. W. neben Stammaktien im Betrag von 44100000 Mark auch 4½%ige Vorzugsaktien von 20 Millionen Mark (deren Börsenpreis nie erheblich über den Paristand gehen konnte), und fast 60 Millionen Mark Obligationen ausgegeben worden, bei denen ein Bezugs- und Verwertungsrecht der A. E. G. überhaupt nicht in Frage kam.
Neben der kräftigen Weiterentwickelung der B. E. W., die nach kaum 10jährigem Bestehen etwa 30 Millionen Mark in ihren Betrieben angelegt hatten, und nur in den ersten Jahren die Festlegung erheblicher Mittel seitens der A. E. G. verlangten, während sie sich später mit ihrer zunehmenden Rentabilität selbständig mit Kapital versorgen konnten, erforderte das Fabrikations- wie das sonstige Beteiligungsgeschäft der A. E. G. beträchtliche neue Mittel. Die Glühlampenfabrik erfuhr eine gewaltige Ausdehnung. Gegen 90000 Stück Lampen im Jahre 1886 wurden im nächsten, 18 Monate umfassenden Geschäftsjahr 1887/88 bereits 300000 Stück abgesetzt. Ein paar Jahre später zählte der Absatz nach Millionen. Die zunehmende Konkurrenz zwang allerdings zu Preisherabsetzungen und zu Verbesserungen in der Ökonomie der Lampen, die nur durch Verbilligungen des Herstellungsprozesses ausgeglichen werden konnten. Die Aufnahme der Dynamomaschinenfabrikation, die für Maschinen bis zu 100 PS durch den neuen Vertrag mit Siemens & Halske der Gesellschaft ermöglicht worden war, [S. 158] und für die erst noch das Edisonsche, dann später ein eigenes System verwendet wurde, erforderte die Errichtung einer besonderen Fabrik. Es wurde bereits im Jahre 1887 die Weddingsche Maschinenfabrik samt dem zugehörigen von der Acker-, Hermsdorfer-, Feld- und Hussitenstraße begrenzten Gelände erworben und ausgebaut. Auch eine neue Fabrik für Leitungsmaterial wurde errichtet, desgleichen eine Akkumulatorenfabrik, nachdem die Gesellschaft mit Rücksicht auf die zukünftige Bedeutung, die sie den Apparaten zur Aufspeicherung des elektrischen Stromes beimaß, die Patentrechte der Electrical Power Storage Company für das Deutsche Reich erworben hatte. Im Jahre 1888/89 wandte sich die Gesellschaft ferner der Herstellung elektrischer Straßenbahnen zu. Um sogleich mit einem fertigen und in allen Teilen erprobten System hervortreten zu können, erwarb Rathenau — der sich nie gern mit Vorarbeiten abgab, wo fertige Resultate bereits vorlagen — die Erfindungen und Patente des im amerikanischen Eisenbahnwesen bekannten Konstrukteurs J. Frank Sprague und sicherte sich dadurch vertragsgemäß weitgehende Erfahrungen auf dem Gebiete der elektrischen Straßenbahnen. Auch elektrische Grubenbahnen wurden in den Tätigkeitskreis der Gesellschaft gezogen. Die Zahl der inländischen und ausländischen Installationsbureaus wurde fernerhin vermehrt. Die Herstellung isolierter Anlagen, für die die Gesellschaft nach dem neuen Vertrage mit Siemens & Halske nun auch die Maschinen selbst herstellen durfte, nahm beträchtlich zu, insbesondere erhielt die Gesellschaft wieder eine Reihe von Aufträgen für Theaterbeleuchtungen sowie industrielle Stationen, und mit Genugtuung wurde im Jahre 1892 festgestellt, daß die Gesellschaft nunmehr den ganzen Bedarf derartiger Anlagen von der Dampfmaschine bis zur Glühlampe selbst herstelle. Inzwischen war nämlich neben der Dynamomaschine auch der Elektromotor, ferner die Herstellung von Gummi- und anderem Isolationsmaterial in den Produktionskreis der Gesellschaft gezogen worden. Elektrische Pumpen, Winden, Aufzüge und Krähne wurden gleichfalls fabriziert und außer dem ersten großen Anwendungsgebiet des elektrischen Starkstroms, der Beleuchtungselektrizität, begann das zweite, das im Laufe der Entwickelung ungleich wichtiger werden sollte, das Gebiet des Kraftstroms an Bedeutung zu gewinnen. Die elektrische Kraftübertragung, die Emil Rathenau schon früh an Stelle [S. 159] der Dampfkraft setzen wollte, weil er sie als ökonomischer und leistungsfähiger ansah, faßte allmählich Fuß, wenngleich sich die Industrie nur schwer von ihrer Überlegenheit beim Betrieb von Fabriken, Bergwerken usw. überzeugen ließ, und die demonstrative Vorführung am Muster-Beispiel, die Rathenau sonst gern eindrucksvoll zur Wirkung kommen ließ, hier viel schwieriger wie auf anderen Gebieten durchzuführen war. Denn Blockstationen, Beleuchtungszentralen, elektrische Bahnen, konnte die A. E. G. selbst erbauen und betreiben, um an ihnen den Wert der Elektrizität zu beweisen. Der überzeugende Nachweis der elektrischen Ökonomie im Fabrikbetriebe war viel schwieriger zu erbringen. Rathenau konnte nicht eigene Bergwerke, Hütten, Hochöfen erwerben, um vergleichende Tabellen über die Kosten des Dampf- und des elektrischen Betriebes aufzustellen. Die Industrie ihrerseits, noch immer gegen die unbedingte Zuverlässigkeit des elektrischen Betriebes mißtrauisch, fürchtete Störungen, und gab sich zu gefährlichen Experimenten nicht leicht her. Dampfkrafttechniker und Elektrotechniker bekämpften sich mit Ökonomie-Statistiken, und jeder wollte nachweisen, daß seine Methode die billigere sei und den Vorzug verdiene. Emil Rathenau hat die Heranziehung der Elektrizität als Kraftquelle mit den von Jahr zu Jahr steigenden Kohlenpreisen einerseits und andererseits mit der Notwendigkeit begründet, die allmählich sich aufbrauchenden Kohlenvorräte der Erde dadurch zu „strecken“, daß nur der Kraftantrieb durch Kohle zu erfolgen habe, während die eigentliche Krafterzeugung durch die mit Kohle in Bewegung gesetzte Elektrizität erfolgen müsse, eine Anschauung, die vom Standpunkte einer weitsichtigen Entwickelung aus betrachtet, zweifellos Berechtigung besitzt. Einen großen Schritt auf dem Wege der Kraftübertragung tat im Jahre 1890 die A. E. G. durch die Ausbildung eines von ihrem Ingenieur Dolivo Dobrolowsky ausgebildeten neuen Stromsystems, das als Drehstrom- oder Mehrphasensystem für die Kraftübertragung eine fundamentale Bedeutung erlangt hat. Die Kraftübertragung, die bis dahin technischer Behandlung nur in engen räumlichen Grenzen fähig war, wurde damit auch auf weitere Entfernungen hin möglich. Noch wichtiger für die damalige Zeit war es wohl, daß durch das Drehstromsystem der Wechselstrom mit seinen hohen Spannungen und größeren Leistungen sich endgültig gegenüber dem bis dahin vorherrschenden [S. 160] Gleichstrom durchzusetzen vermochte, nachdem er bis dahin mehrere Jahre lang einen nicht gerade erfolgreichen Kampf gegen den Gleichstrom geführt hatte. Die technische Welt war längere Zeit in zwei Lager gespalten gewesen, und gerade die größten Autoritäten, wie Siemens und Edison, bis zu einem gewissen Grade auch Rathenau, hatten sich durch die bis dahin eingeführten unvollkommenen Systeme des Wechselstroms meist einphasiger Natur nicht für die neue Stromart gewinnen lassen. In Amerika kämpften Georg Westinghouse, in England Ferranti, in Deutschland besonders die Helios-Elektrizitäts-Gesellschaft für den Wechselstrom. Es wurden von diesen auch große Krafterzeugungswerke errichtet, die aber weder in technischer, noch in wirtschaftlicher Beziehung die Überlegenheit des Wechselstromsystems zu erweisen vermochten, trotzdem manche von ihnen, besonders das Ferrantische Werk in Deptford bei London mit großzügigen Baugedanken, namentlich auf dem Gebiete der Großmotorentechnik errichtet worden waren. Erst das mehrphasige Drehstromsystem, das nach einem von dem italienischen Physiker Ferraris entwickelten Prinzip von verschiedenen Konstrukteuren, mit besonderem Erfolg von Dolivo Dobrolowsky ausgeführt worden war, brachte die endgültige Entscheidung.
Die A. E. G. fand Gelegenheit, die starke Wirkung ihres Drehstromsystems und der dadurch ermöglichten Kraftübertragung in die Ferne auf der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt a. M. im Jahre 1891 vorzuführen, unter deren hervorragenden, von der Leistungsfähigkeit der Starkstromtechnik zum ersten Male ein zusammenfassendes Bild gebenden Veranstaltungen die Fernleitung Lauffen-Frankfurt a. M. im Mittelpunkt des Interesses stand. Die Idee, mit Hilfe des neuerfundenen Drehstroms die Wasserkräfte des Neckarfalles bei Lauffen 175 km weit auf elektrischem Wege nach Frankfurt a. M. zu überführen, ging von dem Ingenieur Oscar v. Miller aus, der ebenso wie in München vor 9 Jahren auch der leitende Geist der Frankfurter Elektrizitätsausstellung war. Miller, dieser nicht nur geschickte, sondern auch geistvolle Organisator und Herold der Elektrizitäts-Propaganda, der es wie kaum ein anderer verstand, das repräsentative Bild einer modernen technischen Kultur aus ihren historischen Fundamenten aufzubauen, in ihrem Gegenwartswert greifbar lebendig zu machen und zugleich ihre Zukunftsperspektiven [S. 161] aufzurollen, Oscar v. Miller, der später in der Schöpfung des Deutschen Museums einen klassischen Ausdruck für seine „gehobene Ausstellungskunst“ fand, suchte nach einem „Schlager“ für die Frankfurter Ausstellung, der über die bereits anderweitig gezeigten „Errungenschaften“ der Elektrizität nicht nur dem Grade nach hinausging, sondern etwas ganz Neues bieten sollte. Die modernsten Lampen, die damals gerade in voller Entwickelung stehenden Techniken des Zentralen- und Bahnenbaus, alles das wurde selbstverständlich in Frankfurt gezeigt, das waren doch aber nur Verbesserungen von technischen Prozessen, die anderswo auf Ausstellungen oder im praktischen Betriebe bereits vorgeführt worden waren, Feinheiten des Details und des Fortschritts, die eigentlich nur den Techniker voll interessierten. Das ganz Neue, das er suchte, fand Oscar v. Miller nun bei der A. E. G., deren Mit-Direktor er bis vor wenigen Jahren gewesen war, bevor er dem an ihn ergangenen Rufe folgte, die Frankfurter Ausstellung zu organisieren. Miller, der übrigens bereits 1882 in München den allerdings damals mehr spielerischen Versuch gemacht hatte, eine Fernleitung vermittelst Gleichstroms nach dem System von Deprez vorzuführen, kannte von der A. E. G. her das Dobrolowskysche Drehstrom-Verfahren. Er wußte auch, daß Emil Rathenau entgegen den Zweifeln und Einwänden, mit denen ein großer Teil der Elektriker der Fernübertragung des elektrischen Stroms noch immer begegnete, die kühnsten und höchsten Erwartungen in dieses Verfahren setzte. Es galt diesen latenten Kräften und Ideen die Vorbedingungen der Verwirklichung zu geben, da sonst damals auf anderem Wege die Mittel zur praktischen Nutzanwendung der Erfindung noch nicht geschaffen werden konnten. Die Fernübertragung war gewissermaßen nur die sensationelle Einkleidung für das weniger wirkungsvolle, aber für die damalige Entwickelungsstufe der Elektrizität weit wichtigere Drehstromsystem. Hinter dem Schlager verbarg sich das vielumstrittene Problem , und Oscar v. Miller leistete weit mehr als ausstellungstechnische Arbeit, indem er einer der zukunftskräftigsten, aber auch am schwersten zu verwirklichenden Ideen der angewandten Elektrizität durch Dornengestrüpp die Wege bahnte. Denn die zu überwindenden Hindernisse waren groß. Sie bestanden nicht so sehr in den maschinellen Vorbedingungen der Anlage, die auf eine so hohe Spannung eingerichtet werden mußte, wie sie damals noch unerhört [S. 162] war. Daß man Maschinen von genügender Größe und Stärke herstellen konnte, ist Emil Rathenau und Oscar v. Miller nie zweifelhaft gewesen. Die Maschinenfabrik Oerlikon bei Zürich in der Schweiz lieferte auch eine tadellos funktionierende Maschine von mehr als 200 Pferdestärken, mit der es möglich war, eine Spannung von 16000 Volt — eine für jene Zeit außerordentliche Leistung — zu erzeugen. Die Anwendung einer derartigen Hochspannung gestattete es auch, Kupferleitungen zu verwenden, die einen verhältnismäßig geringen Durchmesser aufwiesen, während bei starkem Gleichstrom wesentlich größere und direkt unwirtschaftliche Kupferdurchschnitte notwendig gewesen waren. Auch genügend widerstandsfähige Isolatoren konnten gebaut werden. An der Erzeugungsstelle, und an der Verbrauchsstelle des Stroms wurden Transformatoren eingebaut, die die Heraufsetzung und Wiederherabsetzung des dreiphasigen Stroms tadellos bewirkten. Schwerer waren die Hemmungen zu überwinden, die der Durchleitung des damals als sehr gefährlich geltenden Hochspannungsstroms durch die zwischen der Erzeugungs- und der Verbrauchsstelle liegenden Landstrecken im Wege standen. Württemberg, Baden, Hessen und Preußen hatten die Genehmigung zur Durchführung der Leitungen über ihr Gebiet zu erteilen. Nach großen Schwierigkeiten und Widerständen namentlich seitens der Postverwaltung, die eine Störung ihrer Schwachstromleitungen durch die Hochspannungsanlagen befürchtete, gelang auch dies, aber erst längere Zeit nach Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt konnte die Fernleitung in Betrieb gesetzt werden. Dann aber brannten in Frankfurt a. M. eines Abends 1000 Glühlampen, die mit Wasserkraftstrom aus dem 175 km entfernten Kraftwerk gespeist waren. Um die trotz der Übertragung nicht verminderte Stärke des Fernstroms zu zeigen, wurde in Frankfurt ein Wasserfall betrieben, der vermittelst einer durch einen Drehstrommotor in Bewegung gesetzten Kreiselpumpe in Tätigkeit gesetzt wurde. Charakteristisch für den reifen und klaren Blick, mit dem Emil Rathenau das Fernleitungsproblem schon im Jahre 1891 sah, ist die Rede, die er bei der Besichtigung der Frankfurter Anlage vor den Festgästen gehalten hat. Sie ist interessant genug und gibt außerdem ein so bezeichnendes Bild von der Art, mit der Rathenaus reale Phantasie Zukunftsentwickelungen schon aus Erfindungen, die erst sozusagen in den Anfangsgründen vor [S. 163] lagen, gedanklich vorwegnahm, daß sie hier im Wortlaut wiedergegeben werden soll:
„Meine Hochgeehrten Herren!
Wenn wir auch das Verdienst in keiner Weise für uns in Anspruch nehmen, daß Sie, meine hochgeehrten Herren, von weit hergekommen sind, um sich durch den Augenschein zu überzeugen, auf welche Entfernung der elektrische Strom zur Übertragung der Kraft des Neckars mit Erfolg verwendet werden kann, so können wir doch nicht umhin, Ihnen unseren ehrerbietigen und verbindlichsten Dank auszusprechen, daß Sie uns gestattet haben, die Anregung dazu zu geben und in diesem Sinne heiße ich Sie willkommen.
Es möchte als Selbstverherrlichung erscheinen, wenn die, welche an dem eben vollendeten Werke mitgewirkt haben, sich in Betrachtungen verlören, über etwaige Umwälzungen, die das Gelingen dieser Aufgabe herbeiführen kann, und ich überlasse es deshalb der begeisterten Phantasie Fernstehender, Zukunftsbilder auszumalen; aber vom rein technischen Standpunkte aus wollen Sie mir gestatten, einige Worte über die Kraftübertragung hier auszusprechen.
Wenn wir, uns des wohlgelungenen Werkes freuend, Rückblicke in die Vergangenheit werfen und sinnend in die Zukunft schauen, so geschieht dies nicht in dem selbstgenügenden Sinne, in welchem Goethe seinen alternden Faust zum Augenblicke sagen läßt: „Verweile doch, du bist so schön.“ Wir glauben nicht einen Idealzustand, ein endgültiges Ziel erreicht zu haben. Wir möchten uns dem kühnen Bergsteiger vergleichen, welcher, nachdem wieder ein großer Teil des Weges zurückgelegt ist, stehen bleibt und auf die überwundenen Schwierigkeiten zurückblickt, dabei aber doch das Endziel nicht aus den Augen verliert.
Die Kultur unserer Erde ist den Jugendjahren entwachsen, sie tritt in das ernste Alter der Männlichkeit, wo die volle Kraft zur Verfügung steht, wo es aber zu Ende sein muß mit dem übermütigen Brausen und Vergeuden der Jugend, und was hier im Bilde von der Kraft gesagt ist, müssen wir auf die Kraft im wissenschaftlichen Sinne, auf das eigentliche Lebensprinzip unserer Erde mit bedeutungsvollem Ernst anwenden. Die Zunahme der Bevölkerung und ihre dichtere Verbreitung auf dem besser gelegenen Teil unserer Erde zwingen uns, mit dem Vorhandenen haushälterisch umzugehen. [S. 164] Die Not hat uns suchen gelehrt, und wir lernen, die Entfernungen aufzuheben und auszugleichen. Ein Baum, ein Rind, ein Getreidefeld ist an der einen Stelle kaum des Aneignens wert und wird weit entfernt von dort so hoch geschätzt, daß einer großen Mehrzahl der Bevölkerung nur unter schwerer Arbeit es möglich ist, diese zur Erhaltung notwendigen Erzeugnisse unserer Erde, unser Aller Mutter, sich zu verschaffen. Nicht anders ergeht es uns mit jener belebenden Naturkraft, der Sonnenwärme, welche wir in den mannigfachsten und wunderbar erscheinenden Formen auf unserer Erde aufgespeichert finden. Die Quelle, der Wassersturz, die Ebbe und Flut des Ozeans, sie alle sind Kräfte, welche der menschliche Geist sich dienstbar machen kann und muß, soll er anders die Herrschaft über die Erde behaupten, und doch gestatten ihm sehr oft oder vielleicht zumeist die scheinbar zufällig sich entwickelnden Lebensbedingungen der Individuen nicht, diese Kräfte am günstigsten auszunutzen. Als der Mensch überhaupt darauf kam, die elementaren Naturkräfte sich dienstbar zu machen, waren es nur Wind und Wasser, die er sich gefügig zu machen vermochte, und Jahrhunderte, Jahrtausende vergingen, ohne daß ein Fortschritt verzeichnet werden konnte. Erst unserem Jahrhunderte, dem des Dampfes, blieb es vorbehalten, die Kräfte der Erde dem Menschen zu erschließen und die in der Kohle angehäufte Sonnenwärme in ihren Urzustand wieder zurückzubringen, sie zu zwingen, sich wieder als Kraft und so als Arbeit dem Menschen zu betätigen. Der Dampf wiederum war es, der es ermöglichte, die Kraft zu verteilen, einerseits durch Verbesserung der Transportmittel, andererseits, indem man es bald lernte, seine Wirkung direkt auf Entfernungen, die man für große hielt, zu übertragen; ja man lernte es auch, die Dampfkraft zu teilen und mehreren den Nutzen einer großen Einrichtung gemeinschaftlich und zu gleicher Zeit zuzuführen.
Bei weitem überflügelt hat aber der, wie man ihn bisher nannte, elektrische Funke den Dampf. Wir haben es heute gezeigt, daß auf eine Entfernung von über 170 km mit mathematischer Gewißheit Elektrizität die ihr von einem Wasserfall zugeführte Kraft überträgt, und was heute auf 175 km und mit 16000 Volt Spannung gelingt, wird gewiß in wenig Jahren mit 100000 Volt auf weit riesigere Entfernungen ein Leichtes sein .
Aber nicht allein dieser fast märchenhafte Erfolg, der Überwindung von Zeit und Raum ist uns klargelegt; Sie werden, meine hochgeehrte Versammlung, bei Ihrer Rückkehr nach der Ausstellung dort gewahren können, wie die auf nur 4 Millimeter starke Drähte eingezwängte und über weite Strecken fortgeleitete Kraft von mehr als 200 Pferdestärken an der Ankunftsstelle den verschiedenartigsten Zwecken dienstbar gemacht wird, wie sie nicht nur mit einem Aufwand von etwa 80 Pferdestärken eine Wassermenge 10 Meter in die Höhe drückt, um dieselbe als Wasserfall hinabsprudeln zu lassen, wie sie dann noch an verschiedenen Stellen dem Gebote eines geringen Drucks auf einen Hebel folgend, eine große Anzahl von Lampen aufglühen läßt, wie sie endlich ohne jede Schwierigkeit geringe Teile ihrer Kraft, 1 ⁄ 10 Pferdekraft, abgibt, um mittels einer kleinen, fast spielzeugartigen und doch dauerhaften und betriebsfähigen Maschine, einen Luftfächer zu bedienen.
Die großartige Verteilungsfähigkeit der Elektrizität ist es, welche den Versuch der Übertragung auf große, sehr große Entfernungen erst so recht zu einem bedeutungs- und wertvollen gemacht hat. Wenn wir daran denken, daß es das ungewußte Sinnen der Menschheit, das zielbewußte Streben der Forscher, Erfinder, der Leute der Zukunft, wie ich den Ingenieur bezeichnen möchte, ist, menschlicher Arbeit das Gebiet des Nachdenkens, das Gebiet der individuellen Tätigkeit vorzubehalten und immer weiter zu erschließen, alle rein mechanische, gedankenlose Tätigkeit aber durch Unterjochen der Naturkraft durch Maschinen zu vollbringen, so darf ich den jetzt eingeschlagenen Weg kühn als denjenigen bezeichnen, auf dem Jahrhunderte mit Erfolg weiter wandeln können. Wir dürfen uns auch weiter der Überzeugung nicht verschließen, daß die Unterstützung unserer Tätigkeit durch die Arbeitsleistung der Tierwelt längst nicht mehr ausreicht, und das Zugpferd und der Zugochse von rechtswegen schon längst der Vergangenheit angehören müßten. Das Zeitalter des Dampfes hat hierin großes getan, aber wie jeder rapide und bedeutende Fortschritt auch Nachteile gezeitigt; so haben wir besonders auf dem Gebiete des Handwerkers mit Bedauern sehen müssen, daß dem Individualismus die Maschinenarbeit den Garaus gemacht hat, so daß wir bis vor kurzem uns gewöhnt hatten, mit dem Ausdruck „Handwerksarbeit“ eine gedankenlose mechanische Nachahmung zu bezeichnen. Es liegt aber in der Natur des Dampfes, als [S. 166] Betriebskraft, für große Betriebe mit Erfolg verwendet werden zu können. Wir haben kein Mittel, um mit materiellem und technischem Vorteil den Dampf direkt in die Wohnung des Kleinmeisters zu führen, ebenso wenig können wir die Wirkungen des Dampfes, sei es durch Transmissionen oder durch andere Art, gut auf erhebliche Entfernungen übertragen. Ganz anders die Elektrizität! Die neuesten Fortschritte werden uns gestatten, großartige Krafterzeugungszentren an beliebigen Stellen , im Bergwerk, an der Meeresküste, um die Ebbe und Flut zu benutzen, an den großen Katarakten anzulegen, die dort vorhandenen, bisher zwecklos vergeudeten Kräfte in nutzbringende Elektrizität umzusetzen, diese in, wir können fast sagen, beliebige Entfernungen zu versenden und dort in beliebiger Art zu verteilen und zu verbrauchen. Wir können dem Handwerkmeister seine Nähmaschine elektrisch betreiben, wir heizen ihm sein Bügeleisen, wir rüsten dem Vergolder die chemischen Bäder für seine Erzeugnisse. Wir geben noch dazu einem jeden die Beleuchtung in der Stärke und an dem Orte und zu der Zeit, wo sie am vorteilhaftesten ist. Und wenn wir schließlich den Elektromotor mit anderen ähnlichen Maschinen vergleichen, so finden wir, daß er den geringsten Raum einnimmt, daß seine Einrichtung die einfachste ist, daß er keine Wartung braucht und keine Gefahr des Explodierens vorhanden ist, vor allem aber, daß er ökonomisch deshalb am vorteilhaftesten arbeitet, weil sein Kraftverbrauch sich mit seiner Belastung selbsttätig regelt. Und wie wir so an der Verbrauchsstelle sehen, daß die Elektrizität sich bemüht, eine sparsame Betriebskraft zu sein, so auch an der Erzeugungsstelle. Das schlechteste Feuerungsmaterial, das bisher den Transport nicht lohnte, weil zu viel tote Last mit ihm davon geschleppt werden mußte, wird am Orte, wo es gefunden wird, immer noch mit Vorteil zum Betriebe von Erregermaschinen Verwendung finden können, und so sehen wir vor uns, daß die Fortleitung und Verteilung der Kraft als Elektrizität von der schönsten ausgleichenden Wirkung ist. Wir können dadurch den Vorteil großartiger Zentralisation erreichen und ersparen daher viel nutzlose Betriebskraft und Arbeit, und wir können andererseits in vollkommenster Weise die dezentralisierte Kraft dem Einzelnen in dem kleinsten Teilchen zugängig machen und beleben dadurch das Schaffensvermögen und die Schaffensfreudigkeit der Einzelnen zum Wohle Aller und des Ganzen. Es ist auch nicht [S. 167] zu unterschätzen, daß die Elektrizität als Verteiler von Kraft die natürlichen Wasserkräfte wieder zu Ehren gebracht hat, welche durch den Dampf in die Ecke gedrückt, ein im Verhältnis zu ihrem hohen ökonomischen Werte zu bescheidenes Dasein fristeten.
In diesem Sinne bitte ich Sie, meine hochgeehrte Versammlung, diesen, unseren ersten, in den Einzelheiten gewiß noch der Ausarbeitung bedürftigen Versuch als einen neuen Schritt auf der Bahn der menschenbeglückenden Zivilisation wohlwollend zu betrachten. Ich möchte aber meine herzliche Begrüßung und den Ausdruck meiner hohen Freude über Ihre Anwesenheit, welche ich zugleich im Namen aller mitbeteiligten ausführenden Firmen und Männer der Wissenschaft und Praxis auszusprechen die Ehre habe, nicht schließen, ohne der überaus nutzbringenden Fürsorge der hohen Reichs- und Staatsbehörden unseren tiefgefühlten Dank ehrerbietigst abzustatten, ohne welche dieser Versuch nicht hätte unternommen werden können. Ich bitte die anwesenden hohen und geehrten Herren Vertreter der Regierungen diesen, unseren ehrfurchtsvollen Dank auch an dieser Stelle entgegennehmen zu wollen.“
Die Frankfurter Anlage wurde bei aller epochemachender Wirkung, die nach Schluß der Ausstellung noch zu experimentellen Zwecken auf eine Spannung von 30000 Volt gesteigert wurde, nur als ein Versuch aufgefaßt, der nicht als dauernde Einrichtung, sondern als eine lediglich für die Zeit der Ausstellung berechnete Demonstration in Geltung bleiben sollte. Trotz des großen Aufsehens, das dieses Probebeispiel in wissenschaftlichen, technischen und Laienkreisen machte, hat es ziemlich lange gedauert, bis sich die Kraftübertragung und erst gar die Fernübertragung elektrischer Kraft praktisch in vollem Umfange durchgesetzt hat. Die großen Verwirklichungen auf diesem Gebiete gehören erst einer viel späteren Zeit an. Die ersten Zweckanwendungen, die dem Frankfurt-Lauffener Experiment folgten, wurden in der Schweiz vorgenommen, wo Wasserkräfte in großer Zahl zur Verfügung standen und die zu überwindenden Entfernungen verhältnismäßig gering waren. Die A. E. G. selbst hat mit den Kraftübertragungswerken Rheinfelden bereits in den nächsten Jahren eine praktische Durchführung der Fernübertragung größeren Umfanges in Angriff genommen. Mit Maschinenleistungen von 15000 PS sollten elektrische Ströme bei diesem Werk 50 km weit an große und kleine Abnehmer [S. 168] geliefert werden. Dieser erste Dauer-Anwendungsversuch hat noch manche schwierige, nur durch langwierige geduldige Arbeit zu lösende Probleme theoretischer und praktischer Natur aufgeworfen, zumal da er mit den ersten Versuchen, die Turbine statt der Kolbenmaschine als Antrieb für Dynamomaschinen zu verwenden, zusammenfiel. Er hat aber gerade durch die zu überwindenden Schwierigkeiten außerordentlich lehrreich und klärend gewirkt und über die durch das Lauffener Experiment bereits festgelegten und im großen ganzen bis heute unverändert gebliebenen Grundgedanken der Fernübertragung hinaus viele wichtige Erfahrungen eingetragen. Ist die Lauffen-Frankfurter Fernübertragung als die erste experimentell-theoretische Lösung des Problems zu bezeichnen, so stellt die Rheinfeldener Unternehmung das Schulbeispiel der praktischen systematischen Durchbildung der Fernübertragung dar. Neben der technischen Bedeutung hat die Inangriffnahme des Kraft- und Fernübertragungs-Problems für die A. E. G. noch eine wichtige geschäftliche Folge gehabt. Durch sie sind die Beziehungen der Gesellschaft zu der schweizerischen Industrie und Finanz mitangebahnt bezw. es sind diese Beziehungen, die noch von einer anderen Seite her, nämlich von der Aufnahme der Aluminium-Erzeugung auf elektrischem Wege in Neuhausen, eingeleitet wurden, derart erweitert worden, daß sie für die fabrikatorische, besonders aber für die finanztechnische Entwickelung der Gesellschaft eine große Bedeutung erhielten.
Das Drehstromsystem, dieses Rückgrat der modernen Kraftübertragung, hatte übrigens auch mit dem Lauffen-Frankfurter Erfolge die starke Opposition, die der Wechselstrom in einem Teile der Fachwelt gefunden hatte, noch keineswegs völlig überwunden. Der Streit der technischen Sachverständigen verstummte erst einige Jahre später, und sogar für die Stadt Frankfurt a. M., die doch gerade in ihren Mauern die Elektrizitätsausstellung veranstaltet hatte, um für den damals geplanten Bau eines städtischen Elektrizitätswerkes das beste und modernste System ausfindig zu machen, war es trotz des großen Erfolges der Lauffener Fernübertragung nicht ohne weiteres ausgemacht, daß für ihr Werk das Drehstromsystem zur Anwendung kommen müßte. Als dies doch schließlich geschah, wurde die Ausführung einer ausländischen Gesellschaft übertragen. Gleichstrom- und Wechselstrom-Anhänger kämpften noch bei dieser Gelegenheit scharf gegeneinander. Von den letzteren wurde auf die [S. 169] Vorteile der Unabhängigkeit vom Verbrauchsort, des kleineren Querschnitts der Kupferleitungen und der billigeren Erzeugungskosten, die besonders für Kraftzwecke in die Wagschale fielen, von den ersteren auf die Mängel, die dem Wechselstrom damals noch für die Lichtelektrizität anhafteten, sowie auf die angeblichen Gefahren der Hochspannung hingewiesen. Rathenau nahm auch nach dem Frankfurt-Lauffener Erfolge noch einen vermittelnden Standpunkt ein, und wollte die Frage „Gleichstrom oder Wechselstrom“ von den Bedürfnissen des jeweiligen Anwendungsfalles abhängig machen. Durch die Verbesserung des Drehstromlichtes wurde schließlich diese Streitfrage endgültig zugunsten des moderneren Systems gelöst.
Aber nicht nur die fabrikationstechnische Entwickelung der A. E. G. kam nach Überwindung der Krise von 1887 in Schwung, auch auf einem anderen Gebiete begann sie eine weitreichende und bis zu einem gewissen Grade neuartige Tätigkeit auszuüben. Wir haben gehört, daß schon bei der Gründung der Gesellschaft nicht nur die Fabrikationstätigkeit, sondern der Erwerb von Konzessionen zum Zwecke der Errichtung von Zentralstationen in ihr Programm aufgenommen worden war. Auf dieses Feld der Gründung und Finanzierung von Tochterunternehmungen, von denen elektrotechnische Lösungen zunächst beispielmäßig zu Anwendungszwecken in der Praxis durchgeführt wurden, war die Gesellschaft umsomehr angewiesen, als ihre fabrikatorische Tätigkeit durch die Verträge mit der ersten deutschen Fabrikationsgesellschaft Siemens & Halske nach vielen Seiten hin eingeengt war. Es trafen also sozusagen Neigung und Zwang zusammen, um einen guten Teil der Kräfte der Gesellschaft auf das Gebiet des Unternehmergeschäfts zu leiten. In der ersten Periode des Unternehmens von 1883–1887, als die Kraftquellen noch spärlich flossen, wurde ihre Gründungstätigkeit voll und sogar übermäßig beansprucht durch das große Werk der Berliner Elektrizitätswerke. In der zweiten Periode konnte sich das Unternehmer- und Beteiligungsgeschäft der Gesellschaft freier und vielfältiger betätigen dank dem größeren Reichtum der Mittel und dem stärkeren finanziellen Rückhalt, den der A. E. G. die Erweiterung ihrer Bankengruppe und die erfolgreiche Entwickelung ihrer ersten großen Tochtergesellschaft verliehen hatten. Der Umstand, daß die Schranken der Fabrikationstätigkeit in dieser zweiten Periode zum Teil niedergelegt worden waren, zog die Gesellschaft von dem Unternehmergeschäft [S. 170] aber nicht ab, sondern verstärkte in mancher Hinsicht sogar ihre Neigung zu Geschäften auf diesem Gebiet. Denn um in den neu aufgenommenen Fabrikationszweigen nicht erst selbst die Anfangsgründe mühsam auf empirischem Wege sich aneignen zu müssen und der bereits vorher in ihnen tätig gewesenen Konkurrenz sofort gewachsen zu sein, erwarb die Gesellschaft fertige Verfahren, in die sie dann sofort mit entwickelter Produktion eintrat. Das konnte aber am besten dadurch geschehen, daß sie Gesellschaften, die diese Verfahren bisher betrieben hatten, in sich aufnahm, oder daß sie für diese Verfahren besondere Gesellschaften bildete, um sie von ihrem bisherigen Arbeitsgebiete zu trennen, ihr eigenes Risiko zu begrenzen und der neuen Fabrikation Spielraum zu Experimenten, Fehlschlägen und Investitionen zu lassen, durch die sie nicht so direkt berührt wurde wie beim Eigenbetrieb. Über die verschiedenen Arten und Zwecke der Untergesellschaften soll später eine systematische Darstellung versucht werden, hier soll nur rein historisch über die Gründungen und Beteiligungen der Gesellschaft in der eben behandelten Periode berichtet werden. Zu den ersten Beteiligungsinteressen der A. E. G. gehörten die an der General Electric Co. in New York und an der Compagnie Internationale d’Electricité in Lüttich. Beide Verbindungen standen hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt: „Austausch von Erfahrungen — Gegenseitige Absatzunterstützung in den beiderseitigen Arbeitsgebieten“. — Die General Electric Co. in New York vereinigte die verschiedenen amerikanischen Edison-Gesellschaften zu einem großen Unternehmen, dem größten, das damals in der elektrotechnischen Industrie Amerikas bestand. Die Finanzierung erfolgte durch ein Konsortium erster deutscher und amerikanischer Firmen, in das die A. E. G. mit einem Anteil von 250000 Doll. eintrat, der später auf 400000 Doll. erhöht wurde. Es ist bezeichnend für die Fortschritte, die in dem kurzen Zeitraum von 8 Jahren in der Durchbildung der deutschen Starkstrom- und Beleuchtungstechnik wie in den Methoden ihrer Bewirtschaftung gemacht worden waren, daß ihre Hilfe bei der erst jetzt einsetzenden Organisation der zwar technisch bahnbrechenden, aber lange unsystematisch arbeitenden Unternehmungen in Amerika nachgesucht wurde und gewährt werden konnte. Emil Rathenau überzeugte sich durch einen persönlichen Besuch in Amerika, der ihm wie stets solche Besichtigungsreisen große Anregungen brachte, von [S. 171] „den vortrefflichen Einrichtungen und den ausnahmsweise günstigen Aussichten dieses größten elektrotechnischen Unternehmens der neuen Welt.“ Weder der aufgefrischte Enthusiasmus für die technische Welt Amerikas noch die alte Liebe zu dem großen Edison verhinderten aber, daß die A. E. G. einige Jahre später den Besitz an General Electric-Aktien veräußerte, als dies mit Nutzen (der Gewinn betrug allerdings nur 85459 Mark) geschehen konnte und naheliegendere Aufgaben wichtiger wurden als die amerikanische Freundschaftsbeteiligung, die ihren eigentlichen Zweck bereits erfüllt hatte. So wurde dieser Faden verloren und erst nach Jahren wieder aufgenommen, als die A. E. G. durch ihre Fusion mit der Union Elektrizitäts-Ges. in neue Beziehungen zu dem Konzern der General Electric trat. Eine ähnliche technisch-kontrollierende und geschäftlich-ausdehnende Bedeutung wie die Beteiligung an der General Electric hatte auch der Erwerb von 500000 Frcs. Aktien der Compagnie Internationale d’Electricité in Lüttich. Diese Gesellschaft war aus einer Firma hervorgegangen, deren Erzeugnissen die A. E. G. seit Jahren mit Erfolg den deutschen Markt erschlossen hatte. Bei dieser Anknüpfung war zum Teil der Gedanke maßgebend, daß die Compagnie Internationale umgekehrt neben ihren Fabrikaten auch denen der A. E. G. in den westlichen Ländern Europas, die deutschen Gesellschaften aus nationalen Gründen damals schwer zugänglich waren (gemeint war wohl in erster Linie Frankreich), Eingang verschaffen sollte. Der Gesellschaft wurde die Generalvertretung der A. E. G. für Belgien und Frankreich übertragen. Auch verschaffte sich diese durch die Aktienbeteiligung an dem belgischen Unternehmen den deutschen Vertrieb einer von der Compagnie Internationale exploitierten neuen Lampe, die in der Beleuchtungstechnik eine gewisse Rolle zu spielen versprach, da sie die Vorzüge des Glühlichts mit denen des Bogenlichts zu vereinigen schien. Auch hier war die Interessennahme nur eine vorübergehende. Bereits im Jahre 1891 wurden die Aktien zum Nennwerte wieder verkauft, nachdem die A. E. G. durch eigene Konstruktionen in den Stand gesetzt worden war, die Fabrikate, die den Hauptgegenstand der Lütticher Fabrikation bildeten, selbst herzustellen. — Wenig ersprießlich gestaltete sich zunächst auch die Beteiligung der in London von der A. E. G. mitbegründeten Key’s Electric Co. , die an Stelle einer Filiale für den Verkauf der Erzeugnisse der A. E. G. in England tätig sein sollte. Von dem 15000 Pfd. Strl. betragenden [S. 172] Kapital erwarb die A. E. G. zuerst die Hälfte, schließlich 13500 Pfd. Strl. Die Gesellschaft zeigte sich in dieser Form ihrer Aufgabe nicht gewachsen, zumal auch in England die Einführung und der Vertrieb deutscher Produkte auf nationalistischen Widerstand stieß. Die A. E. G. glaubte trotzdem für die Erschließung des englischen Absatzgebietes noch weitere Opfer bringen zu sollen. Sie formte das genannte Unternehmen unter Änderung der Firma in „The Electrical Company Ltd.“ zur Vertretung ihrer alleinigen Interessen um, erwarb die in fremdem Besitz befindlichen Aktien und Gründeranteile und beseitigte die vorhandene Unterbilanz, nachdem sie die ihr dadurch verursachten Verluste in ihrer eigenen Bilanz bereits vorher abgeschrieben hatte. Auch in dieser Form vermochte sich die Gesellschaft aber nicht auf die Dauer zu halten.
Sehr früh wurde der Grund zu einer neuen elektrischen Technik gelegt, die in nicht langer Zeit zu einer großen industriellen Bedeutung gelangen und der Gesellschaft ansehnliche Erträge bringen sollte. Es handelt sich um die Gewinnung von Aluminium auf elektrischem Wege. In der Generalversammlung vom 22. November 1888 äußerte sich Emil Rathenau auf Anfragen aus Aktionärkreisen zum ersten Male ausführlich über seine Anschauungen und Pläne auf diesem elektrolytischen Gebiete. Auch hier fehlte es nicht an Fachleuten, die von Utopien und Phantastereien sprachen, auch hier hat die Entwicklung bewiesen, daß Emil Rathenaus in die Zukunft dringender Blick die technischen Möglichkeiten durchaus sicher und zutreffend abgeschätzt hat und daß seine „phantastisch klingenden“ Worte vom Standpunkt der späteren Verwirklichungen aus betrachtet eher noch zu vorsichtig gewählt waren. Die Bedeutung der elektrischen Legierungs-Verfahren, so bemerkte Rathenau in jener Generalversammlung, der ersten, in der er mit einer größeren Rede hervortrat, sei durchaus nicht zu unterschätzen. Es sei anzunehmen, daß die Verbindungen des Aluminiums mit Eisen als Ferro-Mangan und mit Kupfer als Aluminium-Bronze der Metallindustrie sogleich neue Bahnen eröffnen würden. Das Problem der Aluminiumgewinnung bestehe darin, das Metall mittels des elektrischen Stromes aus seinen häufig in der Natur vorkommenden Verbindungen (hauptsächlich der Tonerde) auszuscheiden und ohne jede Zutat zu gewinnen. Die bisherige kleine Fabrik habe gute Erfahrungen für den Großbetrieb geschaffen. — In Zürich war unterdessen eine „Metallurgische Gesell [S. 173] schaft“ mit gleichen Zielen ins Leben getreten. Rathenau hielt es seiner Gewohnheit nach als kluger Taktiker für zweckmäßig, statt eines Konkurrenzkampfes, eines Wettrennens beider Unternehmungen um das beste und billigste Verfahren, eine Vereinigung der zwei Gruppen und Techniken herbeizuführen. Eine solche empfahl sich für die A. E. G. besonders, weil der Züricher Gesellschaft die Wasserkräfte des Rheinfalls bei Schaffhausen zur Verfügung standen, die ihr bei gleicher technischer Leistungsfähigkeit jedenfalls eine billigere Produktion ermöglicht hätten als der auf Kohlenfeuerung angewiesenen Fabrik der A. E. G. Der Schweizerischen Gruppe hinwiederum erschien eine Anlehnung an die stärkere Finanzmacht und an die größere Absatzorganisation der A. E. G. zweckmäßig. Da schon auf anderen geschäftlichen Gebieten gute Beziehungen zwischen der A. E. G. und den maßgebenden Schweizer Persönlichkeiten bestanden, gelang es rasch, eine Grundlage zur Verständigung zu finden, nachdem eine gegenseitige Prüfung der beiden Verfahren befriedigt hatte. Es wurde eine Gesellschaft mit 10 Mill. Frcs. Kapital gegründet, von dem die A. E. G. 1½ Mill. Frcs. übernahm. Der Besitz der Wasserkräfte des Rheins, die Vereinigung der beherrschenden europäischen Patente und Verfahren stellten der Gesellschaft auf die Dauer einen Schutz gegen jede Konkurrenz in Aussicht. Den Alleinverkauf der Produkte des Neuhausener Werks übernahm die A. E. G. für Deutschland und Rußland. Die Erwartungen der Industrie für Verwendung des leichten Metalls wurden allerdings nicht so rasch erfüllt, als man bei fabrikmäßiger Herstellung des bis dahin kostbaren Erzeugnisses vorausgesetzt hatte. Zu den Schwierigkeiten des Großbetriebs gesellte sich neben mangelnder Erfahrung in der Behandlung, Unkenntnis der Verwendungszwecke. Ferner warf durch den zollfreien Import begünstigt, die ausländische Konkurrenz ihre Überproduktion zu Schleuderpreisen auf den deutschen Markt. Erst allmählich gelang es der Neuhausener Gesellschaft, die Schwierigkeiten des Gewinnungsprozesses vollkommen zu beseitigen und das Produkt zu einem den Vorausberechnungen entsprechenden, konkurrenzfähigen Preise herzustellen. In der Folge hat sich das Aluminium, das erst nur als Kuriosität betrachtet und in etwas spielerischer Weise zu allen möglichen und unmöglichen Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs, wie Federhaltern, Büchsen etc. verwendet wurde, in der Industrie und im Militärbedarf immer mehr eingebürgert. Der Absatz [S. 174] stieg förmlich von Tag zu Tag, die Selbstkosten wurden immer weiter herabgedrückt und die vorhandene Anlage konnte auf die volle Leistung ausgebaut werden, die die Gesellschaft dem Rheinfall zu entnehmen berechtigt war. Bereits nach wenigen Jahren stellte sich die Produktion der Gesellschaft auf 1 Million Kilo, für 1892 wurde zum ersten Mal die Dividendenzahlung mit 8% aufgenommen, die im nächsten Jahre auf 10% stieg. Die Gesellschaft vermochte die Kosten für ihre Erweiterung bereits aus verfügbaren Mitteln zu decken und die ursprünglichen Aktienzeichner waren, nachdem die Gesellschaft zur Rentabilität und damit zur kapitalistischen Selbständigkeit gelangt war, nicht mehr genötigt, neue Investitionsmittel in dem Unternehmen festzulegen, sie konnten sogar einen Teil der von ihnen ursprünglich übernommenen Aktien auf den Markt bringen und dort mit Gewinn abstoßen. Nachdem die in Neuhausen gemachten Erfahrungen die fabrikatorische Lage hinreichend geklärt hatten, konnte auch das Konsortium für die Verwertung der Aluminium-Patente in Österreich , dem die A. E. G. gleichfalls angehörte, zu dem Bau einer Fabrik in Lend-Gastein und zur Ausnutzung der ihr daselbst gehörigen Wasserkraft mit einem Gefälle von über 100 m schreiten.
Die eigene Betätigung, die die A. E. G. auf dem Gebiete der Akkumulatoren-Herstellung nach Erwerb der Electrical Power Storage Company für Deutschland geplant, und, um zunächst die notwendigen Erfahrungen unter geringem Kostenaufwand gewinnen zu können, in mäßigem Umfange aufgenommen hatte, fand bald ihr Ende, nachdem die Gesellschaft im Verein mit Siemens & Halske die bewährte Akkumulatorenfabrik Müller & Einbeck erworben und in eine Aktiengesellschaft unter der Firma Akkumulatorenfabrik Akt.-Ges. Hagen umgewandelt hatte. Dieser Akkumulatorenfabrik, die nach dem System Tudor arbeitete und die von der A. E. G. erst zu machenden Erfahrungen bereits in erheblichem Grade gesammelt hatte, überließen sowohl die A. E. G. als auch Siemens & Halske ihre Patente. Von den Aktien wurde der überwiegende Teil von Siemens & Halske, der A. E. G. und den Vorbesitzern, der kleinere Teil von den Finanzgruppen der beiden Gesellschaften übernommen. Der Vorsprung, den diese Gesellschaft damals an sich schon besaß, die technischen Ergänzungen, die ihr durch die Akkumulatorenabteilungen der beiden Elektrizitätsgesellschaften zugeführt [S. 175] wurden, und die Stärke, die ihr die Finanzbeteiligung sowie die Kundschaft dieser Gesellschaften gewährten, haben die Stellung der Akkumulatorenfabrik Hagen, die später auch in Berlin Fabriken errichtete, so gefestigt, daß sie nicht nur eine glänzende Rentabilität, sondern auch eine marktbeherrschende, fast monopolistische Stellung in Deutschland erringen konnte. — Im Jahre 1890 erwarb die A. E. G. schließlich den größten Teil der Aktien der Akt.-Ges. für Bronze- und Zinkgußwaren vorm. J. C. Spinn & Sohn im Umtausch gegen Aktien der Berliner Elektrizitätswerke. Damit gliederte sich die Gesellschaft ein Unternehmen an, das die Herstellung von Beleuchtungskörpern als Spezialität betrieb und ergänzte damit ihr Glühlampengeschäft in wirksamer Weise.
Neben dieser Gruppe von Beteiligungs-Unternehmungen, die im wesentlichen dazu dienten, entweder bestimmte elektrische Produktionsprozesse von dem Hauptunternehmen abzusondern bezw. einen Einfluß auf derartige der Gesellschaft bis dahin fernstehende Fabrikationen zu gewinnen, oder die auch den Zweck verfolgten, Hilfsorganisationen für den Absatz in bestimmten Produkten und Ländern zu schaffen, wurde eine andere Gruppe von Beteiligungsunternehmungen ausgebildet, mit der Aufgabe, Muster- und Anwendungsbeispiele für stromverbrauchende Werke zu schaffen. Nachdem man in Amerika bereits seit einiger Zeit mit der Umwandlung von Pferdebahnen in elektrischen Betrieb günstige technische wie wirtschaftliche Erfahrungen gemacht hatte, entschloß sich die A. E. G. zur Anlage einer elektrischen Straßenbahn in Halle . Sie tat dies, indem sie sich unter maßgebender Beteiligung an einem zur Übernahme der dortigen Stadtbahn und zu ihrem elektrischen Ausbau gegründeten Finanzsyndikat die Betriebführung der neuen Bahn für 10 Jahre sicherte. Das Projekt wurde mit bestem Gelingen durchgeführt und bildete ein so wirksames, von staatlichen und kommunalen Kommissären, Vertretern von vielen europäischen Straßenbahngesellschaften studiertes Demonstrationsobjekt, daß nicht nur die elektrische Straßenbahnführung in Halle auch auf den bisher noch im Pferdebetrieb verbliebenen Linien eingeführt wurde, sondern sofort eine Anzahl neuer Elektrisierungspläne in anderen Städten zur Verwirklichung gelangte. Allerdings führte die A. E. G. diese Betriebe nicht mehr ausschließlich in eigener Regie durch, sondern baute sie zum Teil für Rechnung von Kommunen oder Straßenbahngesellschaften, an [S. 176] denen sie sich allerdings vielfach durch kleinere Aktienübernahmen beteiligte. Zu erwähnen sind aus diesen Jahren die Bahnen in Breslau, Gera, Kiew, Chemnitz, Essen, Dortmund, Christiania, Lübeck und Plauen. Charakteristisch für die kleinlichen Bedenken, die zu jener Zeit der Einführung der elektrischen Straßenbahnen entgegengehalten wurden, ist die, auch in der Presse damals vielfach erörterte, Furcht gewesen, daß die Starkstromleitungen der Straßenbahnen die Schwachstromleitungen, die die Post für ihre Telegraphen- und Telephonnetze unterhielt, stören könnte. Es war der Technik ein Leichtes, diese Gefahr durch geeignete Vorrichtungen zu bannen. Auch der ästhetische Gesichtspunkt in Form einer Opposition gegen die „unschöne Oberleitung“ wurde damals von manchen Kreisen nur zu wirksam gegen die elektrischen Bahnen ins Feld geführt. Er hat zum Beispiel die Elektrisierung der Berliner Straßenbahn solange verzögert, daß die Reichshauptstadt erst wesentlich später als viele andere deutsche Städte elektrische Bahnen erhielt.
Gleichzeitig mit dem Erwerb der Spragueschen Patente für den elektrischen Straßenbahnbau und der Inangriffnahme der Elektrifizierung der Stadtbahn in Halle hatte sich die A. E. G. im Jahre 1890 durch Aktienübernahme Einfluß auf die Allgemeine Lokal- und Straßenbahn gesichert, die eine Reihe von Beteiligungen an damals noch mit Pferden betriebenen Straßenbahnen besaß. Bei dem Erwerb leitete die Gesellschaft einmal der Gesichtspunkt, daß die betreffenden Aktien aus dem Konsortialbestande einer nach Entlastung strebenden Bank billig zu haben waren, andererseits das Bestreben, eine Reihe von Objekten für die Anwendung ihres elektrischen Straßenbahnsystems sich fest zu sichern. Der Nutzen, den der Erwerb dieses Aktienpostens für die Gesellschaft im Gefolge haben konnte, erwies sich erst später. In der Generalversammlung vom 26. November 1891 kritisierte ein Aktionär sowohl diesen Ankauf wie auch den der Spinn & Sohn-Aktien. Die Allgemeine Lokal- und Straßenbahn-Gesellschaft zahle nur 5% Dividende. Großen Ertrag verspreche eine derartige Kapitalsanlage nicht, und was die technischen Umgestaltungspläne der Gesellschaft anlange, so solle man in dem Bestreben, alles selber machen zu wollen, nicht die finanzielle Übersicht verlieren und die Rücksicht auf die Geldbeschaffung außer acht lassen. Man möge den Nebenindustrien auch etwas zukommen lassen, und nicht die ganze Welt aufkaufen. Die günstigen [S. 177] Erträgnisse, die die Aktien der Allgemeinen Lokal- und Straßenbahn-Gesellschaft später aufwiesen, die vorteilhaften Bauaufträge, die sie der Gesellschaft zuführten, haben indes die Berechtigung auch dieser Transaktion erwiesen.
Auch mit dem Problem der elektrischen Untergrundbahnen befaßte sich die A. E. G. frühzeitig, und es ist nicht ihre Schuld, wenn andere Weltstädte, insbesondere London, Paris und New York, früher ihre „Subways“ und „Metropolitains“ erhalten haben als die deutsche Hauptstadt. Im Geschäftsbericht für das Jahr 1890/91 schreibt die Gesellschaft: „Ein Projekt von ungewöhnlicher Bedeutung für die Verkehrsinteressen der Stadt Berlin haben wir den Behörden zur Konzessionserteilung eingereicht. Es betrifft den Bau einer elektrischen Untergrundbahn, die in zwei sich kreuzenden Achsen nord-südlich und ost-westlich und zwei konzentrischen Ringen in beträchtlicher Tiefe unter dem Niveau der Straßen den Hauptverkehrsadern folgen wird. Wir hoffen zuversichtlich, daß dieses Unternehmen, dem vom Publikum und der Presse eine sympathische Beurteilung zuteil wird, auch bei den Behörden die Unterstützung finde, deren es zu seiner Verwirklichung bedarf.“ — Diese Hoffnung sollte indes nicht erfüllt werden. Die Gesellschaft bereitete technisch alles aufs Beste für dies — wie man zugeben muß — großzügige Untergrundbahn-Projekt vor, sie ließ sich Verfahren für neuartige Tunnelvortriebsapparate patentieren, und rief eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung für den Bau von Untergrundbahnen ins Leben. Das Projekt scheiterte indes sowohl an den Hemmnissen, die ihm die Aufsichtsbehörden entgegensetzten, wie auch an dem geringen Entgegenkommen, das die Stadt Berlin bewies. Mehr Erfolg hatte bekanntlich das von der Firma Siemens & Halske sowie der Deutschen Bank geplante und durchgeführte Projekt einer Hoch- und Untergrundbahn, die zunächst von Osten nach Westen unter Einbeziehung des Verkehrs mit dem Potsdamer Platz führte. In der Generalversammlung interpelliert, warum die A. E. G. nicht dem Siemens & Halskeschen Projekt Konkurrenz gemacht habe, erklärte Rathenau, daß man es für besser erachte, nicht in einen zu scharfen Wettbewerb zu dieser Firma zu treten, durch den man nur die Preise verderben würde. Man erwarte, daß Siemens & Halske in einem anderen, ähnlich gelagerten Falle der A. E. G. gegenüber ebensolche Zurückhaltung zeigen würden. Abgesehen von diesen nach außen hin zugegebenen Gründen [S. 178] war man wohl damals schon darauf bedacht, die Konkurrenzfirma, mit der man noch in dem bekannten Interessengemeinschaftsverhältnis stand, schonend zu behandeln, da Rathenau zu jener Zeit schon die Lösung des im Jahre 1887 auf 10 Jahre geschlossenen Vertrages anstrebte, diese aber nur bei gutem Willen der Firma S. & H. erreichen zu können Aussicht hatte.
Am wenigsten entwickelte sich bei der A. E. G. eigentlich der Geschäftszweig, den man ursprünglich am sorgfältigsten zu pflegen beabsichtigt hatte: der Zentralenbau . Die A. E. G. hatte das erste große Musterbeispiel für eine Elektrizitätszentrale in den Berliner Elektrizitätswerken geschaffen und war nach diesen Erfolgen und Erfahrungen die nächste dazu, für ähnliche Werke, die anderswo errichtet werden sollten, als Baufirma herangezogen zu werden. Dennoch war ihre Tätigkeit auf diesem Gebiete sowohl für eigene Rechnung auf Grund erteilter Konzessionen als auch im fremden Auftrag verhältnismäßig gering. Konzessionsbauten wurden in Eisenach und im Berliner Villenvorort Wannsee errichtet, es handelte sich aber hierbei nur um kleinere Unternehmungen, denen keine große Bedeutung zukam. Eine weit wichtigere Schöpfung war die Compania Generale Madrilena de Electricidad in Madrid , eine Zentrale, die im Zusammenwirken mit der Besitzerin der Madrider Gasanstalten, der Compagnie Madrilene d’Eclairage et de Chauffage par le Gaz in Paris, unter erheblicher Aktienbeteiligung der A. E. G. errichtet wurde. Infolge der ausnahmsweise günstigen Verhältnisse in Madrid war diese Zentrale, die sich eng an das Vorbild der Berliner Elektrizitätswerke anlehnte, in technischer wie in finanzieller Hinsicht ein voller und schneller Erfolg; umsomehr als diese Unternehmung sich weit günstiger entwickelte, als eine andere gleichfalls in Madrid arbeitende englische Konkurrenzgesellschaft. Die Gesellschaft begann bereits nach 2 Jahren mit der Dividendenzahlung, schüttete in der Folge hohe Erträgnisse aus, und mußte andauernd erweitert werden. Bereits nach wenigen Jahren konnte die A. E. G. ihr Aktieninteresse mit einem Buchgewinn von etwa 1 Mill. Mark abstoßen, und dieses gute und glatte Geschäft, das aber auch für die A. E. G. eine Ausnahme bildete, während die meisten übrigen Gründungen eine geduldigere Behandlung erforderten, trug in erster Linie dazu bei, in der deutschen Elektrizitätsindustrie den Glauben an die leichten und großen Gewinnchancen des Unternehmergeschäfts [S. 179] zu erwecken, ein Glauben, der für viele Elektrizitäts-Firmen späterhin verhängnisvoll werden sollte.
Dieser „Treffer“ in Madrid war aber, solange der Vertrag mit Siemens & Halske in Geltung war, der einzige Lichtblick in dem sonst unergiebigen Zentralenbau-Geschäft. Der Vertrag hemmte an allen Ecken und Enden. Die Bedingung, große Maschinen und Kabel von Siemens & Halske zu beziehen, erschwerte die Kalkulation, gestattete keine ökonomischen Projektierungen und verringerte die Wettbewerbsfähigkeit beider Vertragsgesellschaften gegenüber der ungebundenen Konkurrenz, die sich auf dem ureigenen Gebiet Rathenauscher Initiative die Unfreiheit der beiden stärksten Gesellschaften zunutze machte. Besonders die Firma Schuckert in München, die sich fabrikatorisch damals auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit befand, sehr gute Maschinen herstellte und in allem Technischen der Konkurrenz nicht nachstand, warf sich auf den Zentralenbau und stellte zeitweilig allein mehr Werke her, als Siemens & Halske und die A. E. G. zusammen. Dabei wurde man sich in der A. E. G. bald darüber klar, daß die Firma Siemens & Halske oder wenigstens manche ihrer Beamten in der Zentralenfrage nicht den guten Willen hatten, den Vertrag seinen Absichten gemäß loyal zu erfüllen. Kamen zum Beispiel eine Gemeinde oder ein Unternehmer zu Siemens, der damals namentlich bei Behörden noch immer als die höchste Autorität in elektrischen Dingen galt, mit der Frage, ob und wie sie ein Elektrizitätswerk bauen könnten, so empfahl ihnen der Altmeister Werner v. Siemens zwar in durchaus korrekter Weise, wegen Konzession und Projektierung sich mit der A. E. G. in Verbindung zu setzen. Darüber hinaus kümmerte sich aber der alte Herr um Einzelheiten des Geschäfts nicht mehr wie in den früheren Zeiten seiner industriellen Vollkraft. Er hörte die an ihn Empfohlenen oder ihm Bekannten zwar höflich an, zur Besprechung der Einzelfragen verwies er sie aber an seine Prokuristen, Oberingenieure usw. Und wenn die Frager in diese Regionen kamen, wehte meist ein ganz anderer Wind. Die „Halbgötter“ der Firma Siemens waren eifersüchtig auf den jungen Ruhm, die kräftige Unternehmungslust und die wachsende Bedeutung der Berliner Konkurrenzfirma. „Was brauchen Sie dazu die Juden?“ fragten sie diejenigen, die mit Projektierungswünschen an sie gewiesen wurden. Sie wollten der A. E. G. weder Konzessionen zuweisen, noch selbst welche übernehmen, [S. 180] denn sie hätten sie ja an die A. E. G. vertragsgemäß weitergeben müssen. So empfahlen sie meistens den Anfragern, die Anlagen in eigener Regie zu errichten. Die Kapitalien würden sie sich ja auch ohne die A. E. G. beschaffen können, und den Bau, die Maschinenlieferung usw. würden ihnen Siemens & Halske ebensogut direkt liefern können als indirekt durch die A. E. G. Derartige Fälle kamen wiederholt zur Kenntnis Rathenaus und seiner Mitdirektoren. Man war empört, beschwerte sich, aber die Tatbestände waren so geschickt verschleiert, daß Vertragsverletzungen nicht nachgewiesen werden konnten. Sogar im eigenen Aufsichtsrat, in dem verschiedene Vertreter des Siemens-Konsortiums saßen, konnte die Direktion mit ihren Beschwerden nicht hinreichend durchdringen. Es fehlte nicht an Intriguen und Kabalen, und es gab Zeiten, in denen an jedem Tage ein anderer A. E. G.-Direktor seine Demission einreichte. Die Situation war in dieser Weise nicht länger haltbar. Diese Überzeugung kam schließlich nicht nur bei der A. E. G., sondern auch bei Siemens & Halske zum Durchbruch. Die A. E. G. war allmählich, das merkte man jetzt auch bei Siemens, eine solche Macht, eine solche Lebenskraft geworden, daß man sie — durch den besten Vertrag — nicht mehr niederhalten konnte, umsomehr wenn dieser Vertrag nicht nur die Freiheit der A. E. G., sondern auch die eigene zu Gunsten lachender Dritter hemmte. Georg von Siemens, der Direktor der Deutschen Bank, der Zeit seines Lebens ein Verehrer und Freund Emil Rathenaus gewesen ist, auch Objektivität und volkswirtschaftlichen Sinn genug besaß, um die engherzige Knebelung einer Gesellschaft, die das Zeug hatte, Mehrerin der deutschen Industriekraft zu werden, zu Gunsten seiner Bankinteressen nicht mitzumachen, erbot und bemühte sich als Vermittler, eine vorzeitige Lösung des Vertrages auf gütlichem Wege herbeizuführen. Nach schwierigen Verhandlungen gelang am 20. Juni 1894 die endgültige Auseinandersetzung. Die A. E. G. verpflichtete sich, an Siemens & Halske eine Entschädigungssumme von 696742 Mark zu zahlen. Darauf waren aber Bestellungen auf Maschinen und Kabel in Anrechnung zu bringen, die die A. E. G. noch bis zum 1. Januar 1900 von Siemens & Halske beziehen sollte und die zum Meistbegünstigungspreise mit 13% Rabatt geliefert werden mußten.
So wichtig die endgültige Trennung der A. E. G. von Siemens & Halske auch war, weder im Geschäftsbericht für das Jahr 1893/94 [S. 181] noch in der Generalversammlung wurde dieser Vorgang eingehender behandelt. — Bald nach Lösung des Vertrages wurde der Bau des Kabelwerks an der Oberspree begonnen und damit der Fabrikation der A. E. G. das letzte ihr noch fehlende Hauptglied eingefügt. Auch die Maschinenfabrikation wurde erweitert. Die Befreiung von den Vertragsfesseln äußerte sich sofort in einer sichtbaren Zunahme des Zentralenbaus. Der Geschäftsbericht für 1893/94 verzeichnet bereits Bauaufträge für Barcelona, Sevilla, Craiova, Freihafengebiet Kopenhagen und Straßburg. Außerdem wurde für die B. E. W. eine neue Zentralanlage an der Oberspree errichtet, die die Vorstädte Berlins und die umliegenden Ortschaften mit elektrischem Strom versorgen sollte. Hier wie in Straßburg gelangte das Drehstromsystem in großem Maßstabe zur Anwendung.
* *
*
Überblicken wir den zuletzt behandelten Abschnitt, der von der Überwindung der Krisis von 1886/87 und dem zweiten Vertragsabschluß mit Siemens & Halske bis zur vollständigen Vertrags- und Betätigungsfreiheit Mitte 1894 reicht, so finden wir, daß diese Periode, vielleicht die entscheidende und grundlegende für die Fundierung und Richtungsentwickelung der Gesellschaft —, im Inneren voll von drängender, vielgestaltiger und doch deswegen nicht unbeherrschter Gestaltung, auch das äußere Bild der Gesellschaft wesentlich verändert hat. Zunächst in den Kapitalverhältnissen. Der Erhöhung des Aktienkapitals von 5 auf 12 Millionen Mark im Jahre 1887 folgte im April 1889 eine weitere Erhöhung auf 16 Millionen Mark. Dabei konnten die Aktien der Gesellschaft zum ersten Male mit einem äußerlich sichtbaren Agio begeben werden. Sie wurden zum Kurse von 150% herausgebracht und 2 Millionen Mark flossen in den Reservefonds, der dadurch die statutenmäßige und gesetzliche Höhe bereits um 501364 Mark überschritt. Im nächsten Jahre 1890/91 erfolgte eine dritte Kapitalserhöhung um wieder 4 Millionen Mark auf 20 Millionen Mark, wobei die neuen Aktien zu dem weiter erhöhten Kurse von 165% ausgegeben wurden und nach Abzug sämtlicher Provisionen, Spesen, Stempelkosten usw. 2378115 Mark in [S. 182] den Reservefonds flossen. Von der Generalversammlung (29. November 1890) hatte sich ferner die Verwaltung die Ermächtigung erteilen lassen, Obligationen in Höhe des Aktienkapitals auszugeben, nicht ohne daß aus Aktionärkreisen — der Oppositionsredner war der angesehene Inhaber des Bankhauses N. Helfft & Co. — die Warnung ergangen wäre, den Geschäftsbetrieb zu weit auszudehnen und die Aktion durch eine uferlose Expansion zu beunruhigen. Emil Rathenau belächelte innerlich diese Warnungen kleingeistiger Aktionärvorsicht, die von seiner pflichtgemäßen Verwaltungsvorsicht so sehr verschieden war. — In jener Zeit konnte er allerdings noch nicht auf die Erfolge seiner Finanzwirtschaft verweisen, mit denen er später alle ähnlichen Einwendungen leicht zu schlagen vermochte. Georg v. Siemens und Rathenau entschuldigten die immer neuen Geldforderungen gewissermaßen mit den großen Geldbedürfnissen der B. E. W., in denen man bald 30 Millionen Mark investiert haben werde. Man tröstete die Aktionäre damit, daß die Stadt Berlin die Berliner Werke sicher später einmal übernehmen würde, vielleicht schon im Jahre 1895, wobei man dann das ausgelegte Geld auf Heller und Pfennig, dazu mit einem ansehnlichen Gewinn, zurückerhalten müßte.
Trotz der großen Agiogewinne, mit denen die Reserven stattlich aufgefüllt werden konnten, sah Emil Rathenau aber bald ein, daß es nicht zweckmäßig sein würde, den Emissionskredit der Gesellschaft allzusehr anzuspannen und den Marktwert der Aktien durch eine Überproduktion an Aktienkapital zu entwerten. „Wir verkennen den Vorteil nicht, der bei dem gegenwärtigen Kursstande unserer Papiere der Gesellschaft durch Ausgabe neuer Aktien erwachsen würde, glauben aber mit Rücksicht auf eine möglichst gleichbleibende Rente von derselben für jetzt Abstand nehmen zu sollen, nachdem wir — allerdings bei progressiver Steigerung der Gewinnziffern — in rascher Folge Kapitalserhöhungen durchgeführt haben, die das ursprüngliche Gesellschaftsvermögen von 5 auf 20 Millionen Mark vermehrten.“ — Der Finanzpolitiker, der stets eine feine Witterung für die Imponderabilien des Geld- und Kapitalmarktes bekundet hat, erkannte in einem Augenblick, in dem der Aktienkurs seinen höchsten Stand erreicht hatte, und mancher andere vielleicht dem Agio noch seine letzten Möglichkeiten abgepreßt haben würde, daß der Aktienemissionskredit nun zunächst einmal einer längeren Schonung bedürfe und das Gefäß, das jetzt vielleicht noch nicht ganz angefüllt [S. 183] sei, durch einen neuen Aufguß zum Überlaufen gebracht werden könne. Also entschloß sich Rathenau, zunächst einmal ein anderes Mittel der Geldbeschaffung zu wählen und Obligationen auszugeben. Auch hier nahm er jedoch bei weitem nicht den ganzen Spielraum, den er sich von der Generalversammlung hatte geben lassen, in Anspruch. Im Jahre 1890/91 wurden 5 Millionen Mark Obligationen ausgegeben, mit deren Auslosung sofort begonnen wurde. Eine meisterhafte Hand in der Verteilung und Niedrighaltung der Kapitalien für das Gründungsgeschäft tritt schon hier zu Tage. Im Geschäftsbericht für 1893/94 wird bemerkt: „Da wir die Finanzierung fast aller größeren Unternehmungen potenten Bankkonsortien überlassen haben, in denen wir uns angemessene Beteiligungen vorbehielten, so wird unser Geldbedarf im Verhältnis zu dem Kapitalsaufwand, den diese Anlagen erfordern, in mäßigen Grenzen sich bewegen.“ Schon damals gelang es Rathenau, mit einem kleinen eigenen Kapital große Unternehmergeschäfte in Bewegung zu setzen. Verschiedene glückliche Geschäfte, die er zum Teil im Gegensatz zur herrschenden Auffassung und zu den Ansichten der Banken mit großem Erfolge durchgeführt und durchgehalten hatte, schufen ihm den Ruf eines glücklichen und scharfsinnigen Finanziers. So drängten sich die Konsorten zu seinen Geschäften, und er, dem es letzten Endes immer nur auf die industriepolitische Seite ankam, überließ ihnen gerne einen Teil der finanziellen Chance, wenn sie ihm halfen, einen entsprechenden Teil der finanziellen Last und des finanziellen Risikos zu tragen.
Trotzdem innerhalb des von uns behandelten Zeitabschnittes eine gewerbliche Krise, die der A. E. G. zwar nichts anhaben konnte, der aber Rathenau durch die vorsichtige Behandlung des Emissionsmarktes Rechnung trug, die Verhältnisse unsicher machte, brauchte die Dividende der Gesellschaft nur vorübergehend und nicht erheblich gesenkt zu werden. Sie zeigt von 1887–1893 folgende Kurve: 7, 9, 10, 9, 7½, 8¼, 9%. Sehr interessant ist das Bild, das die Bilanz der Gesellschaft im Vergleich mit denen an früheren markanten Abschnittspunkten gewährt. Immobilien sind bis Ende 1894 auf 2807455 Mark, Maschinen und Apparate auf 1220000 Mark, Werkzeuge auf 263000 Mark, Fabrikutensilien auf 60000 Mark, Waren auf 4108925 Mark, Guthaben in laufender Rechnung einschließlich der bei Zweigniederlassungen auf 6613742 [S. 184] Mark, Forderungen für Installationen auf 535848 Mark, Wechsel auf 247128 Mark und Kautionen auf 579712 Mark gestiegen. Es ergibt sich danach eine Summe des Fabrikationsgeschäfts von 16435810 Mark. Das Finanzgeschäft wird dargestellt durch Effekten von 5976266, Konsortialien von 2963348 Mark und 1913253 Mark Guthaben bei den B. E. W., also zusammen durch 10852867 Mark. Daneben erscheint als gleitender Faktor in der Bilanz das Bankguthaben von 7933463 Mark, wohlgemerkt in einem Zeitpunkte, in dem seit mehreren Jahren weder neues Aktien-, noch Obligationenkapital der Gesellschaft zugeflossen war. Die Kreditoren von 2575873 Mark sind gegenüber den festliegenden und flüssigen Aktivwerten bescheiden und stellen keine Verschuldung, sondern laufende, durch den Stand des regulären Geschäfts bedingte Verbindlichkeiten dar, die durch die Aktiva — und zwar schon durch die sofort greifbaren — weit überdeckt sind. Die äußere Finanzlage der Gesellschaft muß also als glänzend bezeichnet werden. Zum Teil hing das damit zusammen, daß die B. E. W. durch Obligationenausgabe in der Lage gewesen waren, einen großen Teil der ihnen geleisteten Vorschüsse zurückzuzahlen. Auch war vom Effektenbestande einiges verkauft worden. Die innere Fundierung der Gesellschaft, nicht zu verwechseln mit der äußeren Finanzlage, ist befriedigend, aber nicht mehr als dies, wenn man sie in Vergleich stellt zu der Reservenfülle, die in späteren Jahren erreicht wurde. Der ordentliche Reservefonds, der bei einem Kapital von 20 Millionen Mark 4479479 Mark enthielt, ist fast ausschließlich aus den Agiogewinnen der Kapitalserhöhungen zusammengesetzt. Eine solche Reserve kann wertvoll sein, wenn der innere Wert der mit hohem Agio begebenen Aktien dem äußeren Kurse entspricht, er kann aber auch ein Truggebilde darstellen, wenn die Emissionskurse und die Dividenden künstlich und ungesund in die Höhe getrieben worden sind. Eine außerordentliche Reserve von 500000 Mark und ein Rückstellungskonto von 550000 Mark sind zweifellos als echte Reserven zu bezeichnen, denn sie stammen aus den erzielten Gewinnen. Stille Reserven enthielt die Bilanz der Gesellschaft im Jahre 1894 wohl erst in bescheidenem Umfange; sie ruhten zumeist in dem Effektenbesitz, wenngleich dieser damals über alle Schwankungen noch keineswegs hinaus war und deshalb eigene Vorsichtsreserven brauchte, die auf ihm ruhenden Reserven also erst zum Teil für das [S. 185] Gesamtunternehmen in Rechnung gestellt werden konnten. Die Abschreibungen auf Anlagekonten, die damals noch sichtbar gemacht wurden, waren angemessen, zum Teil sogar reichlich, sie betrugen bei Maschinen etwa 10%, bei Werkzeugen, Modellen usw. etwa 20%. Hier und da wurden Extraabschreibungen vorgenommen. Auch hier kann man von Überschuß-Reserven, die über die Sicherung der einzelnen Anlagekonten wesentlich hinausgingen, auf die sie vorgenommen worden waren, kaum schon sprechen.
In einem kurzen Jahrzehnt war es dem bauenden Genie Rathenaus gelungen, aus einer eng begrenzten Spezialfabrikation trotz aller technischen und vertraglichen Fesseln, ein großes, universelles Fabrik- und Geschäftsunternehmen zu machen. Die kleine Glühlampe hatte den Weg zu großen industriellen Neuschöpfungen erhellt. Sie hatte auch in dem ringenden Chaos des Rathenauschen Hirns den schöpferischen Funken, die klärende Flamme entzündet.
Im vorigen Kapitel haben wir die äußere Expansion der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in dem ersten Abschnitt ihrer veränderten Gestalt geschildert, die Verbreiterung der Fabrikation und die ersten, aber schon kräftigen und vielfältigen Anfänge des Beteiligungs- und Unternehmergeschäfts. Der jetzt zu behandelnde Zeitraum, der ungefähr die Jahre 1895–1901 umfaßt, und von der Gewinnung der vollständigen Handlungsfreiheit der A. E. G. bis zum Ausbruch der großen Elektro-Krise um die Jahrhundertwende reicht, ist erfüllt von den starken Fortschritten dieser doppelten Expansion, die sich ins Große und Reiche auslebt. Daneben aber und im Gleichschritt mit dieser ständigen Mehrung der Quantität des Besitzes und Einflusses entwickelt sich — mehr unterirdisch und zunächst nur dem eingeweihten Auge sichtbar — ein Prozeß der Konsolidierung und Organisierung der zunächst nach außen bewegten Kräfte, der zu einer stärkeren Festigung der Fundamente, zu einer Dichtung des Gebälks, zu einer inneren Auspolsterung mit freien, beliebig hin- und herschiebbaren Reserven führt. Dadurch wird für das Ganze eine Elastizität erreicht, die in der Lage ist, Verschiebungen, Erschütterungen und Verluste, die von außen an das Unternehmen oder einzelne Teile herantreten, im wachsenden Maße innerlich auszugleichen und somit auf den Weg der Rentenstabilisierung, der Sicherstellung und Festigung der Aktiendividende führt. Die Fabrikation wird nicht nur ausgedehnt, sondern auch teils durch technische, teils durch [S. 187] finanzielle Ökonomie verbilligt, und somit in die Lage gesetzt, wettbewerbsfähiger liefern und Konjunkturabschläge ausgleichen zu können. In das Unternehmergeschäft, das bisher unorganisiert, sozusagen von Augenblickserwägungen geleitet war, wird System gebracht. — Mit wenigen Strichen soll zunächst das Bild der äußeren Fortentwickelung der Gesellschaft in dieser Periode gezeichnet werden.
In den Geschäftsberichten der Jahre 1894 und 1895 war bereits auf die zunehmende Bedeutung der Kraftübertragung für die elektrische Industrie hingewiesen worden, nachdem die Bestrebungen, die Elektrotechnik der Kraftübertragung und Kraftverteilung zuzuführen, infolge des Beharrungsvermögens der Verbraucher lange erfolglos geblieben waren. Zwei Entwickelungen waren es, die dann in der Frage des elektrischen Antriebes der Arbeitsmaschinen den Bann brachen: Die — nach kurzem Zögern — rapide Entwickelung des Drehstroms, die Möglichkeit der Verwendung, Umformung und Verteilung hochgespannter Ströme, die technisch wie ökonomisch dem bisher verwendeten Gleichstrom und Wechselstrom weit überlegen waren, und ferner das Beispiel der ersten Straßenbahnen , die sofort und schlagend die Betriebsbilligkeit der Elektrizität als Antriebs- und Arbeitsfaktor erwiesen. „Die Elektrotechnik vertieft sich zur Maschinenindustrie.“ Im Straßenbahnbau war die A. E. G. von Anfang an ebenso frei gewesen wie Siemens & Halske, in der Entwickelung der Kraftübertragung hemmte das vertragliche Verbot der Herstellung großer Maschinen und hierdurch wurde die Ausnutzung des starken Vorsprungs, den der Gesellschaft das von ihr zuerst und besonders wirkungsvoll dargestellte Drehstromsystem ermöglicht hätte, verhindert, zumal eine Monopolisierung dieses bald allenthalben von der Konkurrenz adoptierten Systems — wie das bei großen elektrischen Erfindungen üblich ist — nicht gelang. Die erste technische Aufgabe nach der Erlangung der völligen Fabrikationsfreiheit war die Erweiterung der Maschinenfabrikation. 84541 qm wurden zu diesem Zwecke längs des Humboldthains zwischen der Brunnen- bis zur Hussitenstraße von der Berliner Lagerhof-Ges. in Liqu. erworben und mit der alten Maschinenfabrik durch eine Tunnelbahn verbunden. 2 Millionen Mark neue A. E. G.-Aktien, die bei dem damaligen Kurse einen Wert von mehr als 5 Millionen Mark repräsentierten und 341667 Mark in bar mußten für die Grundstücke [S. 188] allein bezahlt werden. Für den Ausbau wurden die Mittel der Gesellschaft um weitere 5 Millionen Mark Obligationen und 3 Millionen Mark neue Aktien vermehrt, von denen allerdings 1 Million Mark zum Erwerb von 2 Millionen Mark Anteilen der Elektrochemischen Werke Bitterfeld G. m. b. H. dienten und der Rest zum Kurse von 175% den Aktionären angeboten wurde. Die zweite große Ergänzung des fabrikatorischen Prozesses der Gesellschaft, das Kabelwerk , das Material für unterirdische Leitungen erzeugen sollte, nachdem die Gesellschaft schon seit längerer Zeit oberirdisches Leitungsmaterial herstellte, wurde im Jahre 1896 begonnen. Dafür wurde ein Gelände von 102,120 qm an der Oberspree, unmittelbar neben der neuen Kraftstation der B. E. W. erworben; dahin wurde die gesamte Leitungsmaterialfabrikation verlegt, so daß der bisher durch die Fabrik für oberirdisches Leitungsmaterial belegte Werkstattraum in der Ackerstraße für andere Zwecke frei wurde. Zugleich gewann die Gesellschaft durch den neuen Grundstückskauf einen wertvollen Wasserstraßenanschluß. Von den bestehenden Fabrikanlagen wurde die Glühlampenfabrikation durch Hinzunahme neuer Räume auf dem Grundstück Schlegelstraße so beträchtlich erweitert, daß sie im Jahre 1895/96 600000 Lampen mehr erzeugen konnte als im Vorjahre und daß die Erhöhung der gesamten Produktion auf das Doppelte im Bedarfsfalle mit den geschaffenen Betriebseinrichtungen vorgenommen werden konnte. Eine Anzahl von neuen Modellen, besonders Lampen hoher Spannung, die eine wesentliche Ausdehnung der Netze von Beleuchtungsstationen ohne starke Kosten ermöglichten, wurde in den nächsten Jahren geschaffen. Im Jahre 1897/98 stieg der Absatz weiter um 900000 Lampen gegenüber der gleichfalls wesentlich erhöhten Zahl des Vorjahres; in den Jahren 1898/99 und 1899/1900 um je 1 Million. Damit war die Leistungsfähigkeit der erweiterten Fabrik erschöpft und es mußte zu einer neuen Ausdehnung geschritten werden. Dabei wurde auch Vorsorge für die Haltung eines größeren Lagerbestandes getroffen. Die Preise für Glühlampen waren infolge der starken Konkurrenz in dieser Zeit ständig unter Druck, und in den Kreisen der Fabrikanten wurde vielfach über unauskömmliche, zum Teil ruinöse Preise geklagt. Im Geschäftsbericht für das Jahr 1895/96 trat die A. E. G. diesen Anschauungen mit folgenden Worten entgegen: „Trotzdem der Marktpreis der Glühlampen sich über das frühere [S. 189] Niveau nicht erhoben hat, müssen wir der, auch von Fabrikanten vielfach ausgesprochenen Ansicht entgegentreten, daß derselbe die Lieferung eines sorgfältig sortierten und geprüften Fabrikates nicht gestatte. Bei zweckmäßigen Einrichtungen und entsprechendem Umsatz ist der Preis dieses nach Millionen zählenden Massenartikels auskömmlich.“ — In den nächsten Jahren bis zur Krise kam die rückläufige Preisbewegung auf dem Kohlenfadenlampen-Markte nicht zum Stillstand. Erst nachdem eine Reihe schwacher und nicht konkurrenzfähiger Betriebe zum Erliegen gekommen war, gelang ein Zusammenschluß der verbliebenen Fabriken im Kohlenfadenlampensyndikat . Im Jahre 1898 erwarb die A. E. G. die Nernstlampe, die nach dem Erfinder Prof. Dr. Nernst in Göttingen diesen Namen erhalten hat, und suchte, zunächst durch Laboratoriumsarbeit die praktische Verwertbarkeit dieser Lampe zu erreichen und sie für die Fabrikation vorzubereiten. Darüber wurde im Geschäftsbericht dieses Jahres geschrieben:
„Im Laboratorium beschäftigen wir uns seit Mitte März mit der Erfindung des Herrn Professors Dr. Nernst in Göttingen. Das Prinzip derselben läßt sich kurz dahin charakterisieren, daß, ähnlich wie beim Gasglühlicht anstatt leuchtender Kohlenpartikelchen Substanzen von besserer Lichtemission durch die Flammgase zum Glühen gelangen, so auch in der neuen Lampe anstatt Kohlenkörper, die sowohl beim elektrischen Bogen- wie Glühlicht bisher praktisch ausschließlich zur Verwendung kamen, unverbrennliche Substanzen von hohem Lichtvermögen durch den galvanischen Strom zur blendenden Weißglut erhitzt werden. Die Hauptschwierigkeiten, die der Übertragung der Erfindung in die Praxis anfänglich entgegenstanden, und welche einerseits die Anregung der im kalten Zustande isolierenden Glühkörper, andererseits die Erzielung genügender Haltbarkeit und Konstanz der Glühkörper bot, können jetzt als bis zum gewissen Grade überwunden angesehen werden. Der Nutzeffekt der Lampen ist z. Zt. etwa derjenige kleinerer Bogenlampen, also erheblich besser als derjenige der bisherigen Glühlampen. Es steht zu hoffen, daß sich der Nutzeffekt noch merklich steigern wird, und daß sich Glühkörper bis zu fast beliebigen Kerzenstärken werden herstellen lassen. In der Bequemlichkeit oder Handhabung sind die neuen Lampen den Bogenlampen offenbar überlegen, stehen aber darin den gewöhnlichen Glühlampen erheblich nach. Wir glauben nicht, daß die neue Lampe die [S. 190] bisherigen Systeme elektrischer Beleuchtung verdrängen wird, vielmehr scheint uns sicher, daß sie neben jenen ihr Anwendungsgebiet sich erobern wird.“
Die Exploitation der Lampe nahm indes unerwartet viel Zeit in Anspruch, trotzdem unermüdlich unter tätiger und ratender Mitarbeit Emil Rathenaus an ihr gearbeitet und experimentiert wurde. 1899 hieß es: „Die technische und wirtschaftliche Bedeutung der Nernstlampe werden wir zu erproben Gelegenheit haben, sobald die im Bau begriffenen Werkstätten uns in den Stand setzen, die der regen Nachfrage entsprechenden Mengen herzustellen. Das Hauptpatent ist in Deutschland nach Erledigung verschiedener Einsprüche erteilt worden. Die Option auf die übrigen Patente mit Ausnahme derer für Österreich-Ungarn, Italien und der Balkanländer haben wir ausgeübt.“ — Die Hauptschwierigkeit lag danach nicht mehr in der Konstruktion, sondern in der Produktion, deren Überführung ins Große sich Hindernisse in den Weg stellten. Sie waren auch im folgenden Jahre noch nicht behoben. Endlich im Jahre 1900/01 war das Stadium der Versuche und Enttäuschungen überwunden, worüber die Gesellschaft mit folgenden Sätzen im Geschäftsbericht quittierte:
„Ein voller Erfolg ist nach jahrelanger, mühsamer Arbeit die Einführung der Nernstlampe geworden. Die schöne und zugleich sparsame Lichtquelle befindet sich in Hunderttausenden von Exemplaren bereits im Gebrauch und gewinnt infolge sehr günstiger Betriebserfahrungen und der äußerst befriedigenden Meßresultate der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt täglich weitere Kreise.“
Vermochte die A. E. G. auf dem Gebiete der Beleuchtungstechnik ihre dominierende Stellung (wenn auch unter ständiger, gewaltiger Steigerung der Absatzquantität) nur gerade zu behaupten, während ihren Plänen, neue Vorsprünge vor der Konkurrenz zu gewinnen, — wie die Folgezeit lehren sollte — trotz der Nernstlampe ein durchschlagender und dauernder Erfolg nicht beschieden war, so wurden auf anderen Gebieten Leistungen vollbracht, die durchaus den Stempel des Neuartigen, Schöpferischen trugen. Hierher gehört vor allem die klassische Durchbildung und praktisch-großartige Nutzanwendung der Kraftübertragung in Stromerzeugungswerken, die das Höchstmaß der damals möglichen Leistungsfähigkeit zu erreichen und ständig zu erweitern suchten. Gerade dadurch, daß Rathenau auf dem Gebiete des Wechselstroms nichts überstürzte und andere [S. 191] Unternehmungen, so die Helios-Gesellschaft in Köln, englische und schweizerische Gesellschaften den Wettlauf um die halbfertigen, halbgelungenen Verwirklichungen ausfechten ließ, erwies er die Geduld und die Kunst des Meisters. Er hatte sehr richtig erkannt, daß die Motoren und auch die Lampen erst einer gründlichen Durchbildung für das Hochspannungssystem bedurften, die nicht im Handumdrehen zu erreichen war. Seine ersten nach dem Drehstromsystem erbauten Zentralen waren, nachdem diese Schwierigkeiten überwunden waren, von überzeugender Schlagkraft und Reife. Die Zentrale in Straßburg i. E. wurde im Jahre 1895 rechtzeitig eröffnet, um die Stromlieferung für die elsaß-lothringische Landesausstellung übernehmen zu können. Die neue Zentrale an der Oberspree trat im Jahre 1896 in Tätigkeit mit einer Anlage, die auf 50000 Pferdekräfte zugeschnitten war und einen Teil der Vororte Berlins mit billiger Energie nach einem besonders vorteilhaften Tarif versorgen sollte. Die Werke der Berliner Elektrizitätswerke wurden dadurch ergänzt und die B. E. W. übernahmen das fertiggestellte Werk, nachdem sein Funktionieren zweifelsfrei erwiesen war. Die moderne Außenanlage wurde bei der nächsten Vertragserneuerung dem Vertrage mit der Stadt Berlin eingegliedert, und man sorgte dafür, daß der in Oberschöneweide erzeugte Hochspannungsstrom auch in das innere Weichbild Berlins eingeführt werden konnte, wo er in 5 Unterstationen umgeformt wurde. Die Riesenmaschinen der neuen Zentrale erregten die Bewunderung der ganzen Fachwelt, deren Vertreter wie seinerzeit bei der Straßenbahn in Halle aus aller Herren Länder zur Besichtigung herbeieilten. Es folgten die Anfänge der Versorgung des oberschlesischen Industriebezirks mit Licht- und Kraftstrom, verbunden mit der Elektrifizierung oberschlesischer Straßenbahnen. In Zaborze und Chorzow wurden zunächst Zentralstationen errichtet, die das Fundament für die Oberschlesischen Elektrizitätswerke abgaben, und im Laufe der Zeit unter der Firma Schlesische Elektrizitäts- und Gas-Aktiengesellschaft sich zu einem der wenigen ganz großen Überlandzentralen-Werke Deutschlands auswuchsen. Die Kraftübertragungswerke Rheinfelden, deren schwierige Wasserbauten infolge ungünstiger Witterungsverhältnisse und des dadurch herbeigeführten hohen Wasserstandes des Rheins nicht mit der planmäßigen Schnelligkeit gefordert werden konnten, reiften ihrer Vollendung entgegen. Hier wie in anderen [S. 192] modernen Zentralstationen wurden Turbinen großer Maßstäbe als Antriebsmaschinen verwendet. Auch auf diesem Gebiete trat das echt Rathenausche Prinzip deutlich hervor, nicht zu warten, bis der Absatz allmählich den Erzeugungsstätten zufloß, sondern sich für besonders rationell zu erzeugende Kraft Groß-Abnehmer zu schaffen. Die Kraftübertragungswerke Rheinfelden überließen die Hälfte ihrer verfügbaren Kraft auf die Dauer der Konzession großen elektrochemischen Fabriken, die von der A. E. G. und ihrem Konzern zu diesem Behufe gegründet oder unterstützt worden waren und deren Produktionsnutzen auf dem Prinzip des billigen Kraftbezuges beruhte. Der Standort der billigen Betriebskraft fing auch in der elektrotechnischen Industrie an, eine maßgebende Bedeutung neben dem Standort der günstigen Produktions- und Absatzverhältnisse zu erlangen. Die Elektrochemie, der sich die A. E. G. besonders durch Errichtung der Elektrochemischen Werke in Bitterfeld mit ihren Zweigunternehmungen in Rheinfelden zugewendet hatte, betätigte sich in der ersten Zeit besonders durch Erzeugung von Kalziumkarbid, um später durch die elektrochemische Herstellung von Luftstickstoff eine gewaltige Bedeutung zu erlangen. — Lizenzen der elektrochemischen Verfahren wurden an ausländische Gesellschaften, in Polen, in Frankreich, in der Schweiz usw. übertragen, an denen sich das Stammunternehmen beteiligte.
In dieser Zeit beginnt auch das ausländische Gründungs- und Beteiligungsgeschäft, das schon vorher in kleineren und mittleren Unternehmen betätigt worden war, große Formen anzunehmen. Die Werke in Madrid, Barcelona, Bilbao, Craiova, Kopenhagen hatten die A. E. G. im Auslandsgeschäft heimisch gemacht. Im Jahre 1894 wird durch Übernahme der Aktien der von der Stadtgemeinde Genua und der italienischen Regierung konzessionierten Società di Ferrovie Elettriche e Funicolare (Elektrische Tram- und Drahtseilbahnen) die Zusammenfassung und Elektrifizierung des gesamten Straßenbahn- und Krafterzeugungswesens der lebendigsten italienischen Hafenstadt eingeleitet. Schon im nächsten Jahre wird diese Gesellschaft zum Erwerb sämtlicher Aktien der Società dei Tramways Orientali veranlaßt, die mit den Konzessionsrechten zum Bau und zum Betrieb elektrischer Trambahnen für den Osten von Genua und für die Vororte bis Nervi ausgerüstet war. Die Netze beider Verkehrsunternehmen sollten zusammen ausgebaut und in einheitlichem Betriebe geführt [S. 193] werden. Nahezu gleichzeitig mit dem Erwerb der Società dei Tramways Orientali wird der A. E. G. von der Stadt Genua die Konzession für den Bau und Betrieb eines Werkes zur Erzeugung von Licht und Kraft erteilt, die einer neugegründeten italienischen Aktiengesellschaft „Officine Elettriche Genovesi“ übertragen wird. Die Interessen der drei Gesellschaften wiesen auf enges Zusammengehen hin, damit alle Vorteile ausgenutzt würden, die sich aus der Zusammenlegung der Betriebe ergeben konnten. Die schon an sich starke Position der A. E. G. in der Elektrizitätsversorgung Genuas wird noch dadurch verstärkt und ergänzt, daß die seit Jahren bestehende große Pferdebahn der Compania Generale Francese, die Genua mit Sampierdarena, Pegli, Voltri und Pontedecimo verband, in den Besitz einer neugegründeten italienischen Aktiengesellschaft, der Unione Italiana, übergeführt und dem Netz der A. E. G. — wenn auch nicht durch direkte finanzielle Beteiligung, so doch durch Bau- und Betriebseinfluß — angegliedert wird. Alle drei Trambahnunternehmen, die eine Gleislänge von 90 km besitzen, werden in elektrischen Betrieb überführt und mit dem Strom der Offizine Elettriche Genovesi, des neuen Kraftwerks, gespeist. Diese mustergültige Konzentration des gesamten Elektrizitätswesens einer großen Stadt bietet eine Fülle finanzieller, organisatorischer und technischer Arbeit, zu deren Bewältigung ebenso wie für andere gegenwärtige und zukünftige Aufgaben ähnlicher Art eine besondere Finanzgesellschaft, die „ Bank für elektrische Unternehmungen in Zürich “ mit einem Kapital von 30 Mill. Fr. gegründet wird. Sie übernimmt zunächst den Hauptaktienbesitz der A. E. G. an den italienischen Gesellschaften, zu denen im Laufe der Zeit Betriebe in Mailand, Venedig und Neapel treten.
Noch breitere Dimensionen, weitere Perspektiven weist ein zweites Auslandsunternehmen auf, das zum ersten Mal die Pioniere der A. E. G. nach Übersee führt. In Buenos Aires und in Santiago de Chile werden im Jahre 1897 Konzessionen zur Errichtung von Zentralstationen für die Erzeugung von Kraft und Licht erworben. Straßenbahnprojekte ergänzen diese Konzessionen. An der chilenischen Unternehmung beteiligen sich neben der A. E. G. und ihren Finanzfreunden, die dem Löwe-Konzern nahestehende Gesellschaft für Elektrische Unternehmungen und das Haus Wernher, Beit & Co. in London. Die südamerikanischen Werke, zu denen später noch [S. 194] Gründungen in Montevideo und Rosario treten, werden in einer Deutsch-Überseeischen Elektrizitäts-Ges. zusammengefaßt. Diese Gesellschaft entwickelt sich so gewaltig, daß zu ihrer Finanzierung später fast alle deutschen Banken, unter der Führung der Deutschen Bank hinzugezogen werden, und daß ihr technischer Ausbau ein Zusammenarbeiten der A. E. G. mit Siemens & Halske wünschenswert erscheinen läßt. Es entsteht und wächst ein Unternehmen, dessen Kapital schließlich 150 Millionen Mark an Aktien und über 100 Millionen Mark an Obligationen erreichte, das größte Kulturwerk deutscher Auslandswirtschaft.
* *
*
Neben der zentralistischen Tätigkeit der A. E. G. in den eigenen Fabriken war seit der Schaffung der B. E. W. in immer stärkerem Umfange die dezentralisierende getreten, die sich in der Gründung von Zweigunternehmungen, Tochter- und Enkelgesellschaften aller Art ausdrückte. Es wurde ein Weg beschritten, zunächst scheinbar unabsichtlich oder doch ohne feste programmatische Absicht, der von Fall zu Fall, wie es jeweilig die einzel-geschäftliche Erwägung zweckmäßig erscheinen ließ, zu Außenansiedelungen führte, die dem Stammunternehmen in irgend einer Hinsicht von Nutzen sein und als Stützpunkte dienen konnten. Die Methode der Dezentralisation, der Abzweigung exzentrischer Unternehmergebiete vom Hauptunternehmen durch Schaffung juristisch selbstständiger Gesellschaften oder auch der Zusammenfassung einer Reihe von verwandten, miteinander in Beziehung stehenden oder einander ergänzenden Unternehmungen in einer Gruppe, sei es durch eine übergeordnete Mantelunternehmung oder durch gegenseitige Aktienbeteiligung, ist nicht von Rathenau erfunden worden. In dem Zeitalter, das durch Konzentration groß wurde, lag sie sozusagen in der Luft. Die dezentralisierenden Seiten des sogenannten Verschachtelungssystems entlasteten die Leiter der großen Gruppenunternehmungen von einer Kleinarbeit und einer aktienrechtlichen Verantwortlichkeit für Einzelheiten ihrer weitverzweigten Geschäfte, die sie bei einer streng zentralistischen Verwaltung in der Entfaltung ihrer Kräfte behindert, vielleicht erdrückt hätten. Die zusammenfassenden Seiten dieses Systems boten ihnen trotzdem die Möglichkeit, jederzeit alle Ausstrahlungen [S. 195] ihrer Unternehmungen zu überblicken und zu überwachen. Vor Rathenau und gleichzeitig mit ihm waren in der heimischen und der ausländischen Industrie trustartige Gebilde entstanden, so besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie sich als eine Folge des dort üblichen Finanz- und Kapitalsystems herausbildeten. Zusammenballung unter ständigem Kampf mit Konkurrenten war die Tendenz, in der unter der rein plutokratischen Ordnung in Amerika Vermögen und Unternehmungen in die Breite strebten. Die Häufung der Quantität gab hier oft den Ausschlag, und die großen Trustherren des Landes erweiterten ihren Aktienbesitz durch Zusammenschweißung vielfach heterogener Wirtschaftsgebilde, getrieben häufig nur von dem Willen zur Macht und zum Reichtum. Rivalitätsneid, Agiotage, Plusmacherei, Spekulationssucht und andere unsachliche Nebenerscheinungen des kapitalistischen Unternehmertums nahmen im Transaktionswesen einen ungebührlich breiten Raum ein und durchseuchten auch das Wurzelreich der Trustkombinationen. Die Operationen am Aktienmarkte, nicht die wirtschaftlichen Interessen der Industrie bildeten häufig die Triebfeder für Effektengeschäfte. Nicht die Wertebildung, sondern die Wertebemessung war ihr Ziel. Es konnte durch rasche Manöver besser erreicht werden als durch geduldige Arbeit, und der Kurs ließ sich schneller beeinflussen als die Rente. Da der Gewinn am Kurse schon an sich den Gewinn an der Rente um ein Vielfaches übertrifft, indem er sozusagen die Kapitalisierung des letzteren darstellt, da überdies Schwankungen des Kurses sich ungleich häufiger ins Werk setzen lassen als Schwankungen der Rente, findet derjenige, der auf eine schnelle Häufung großer Kapitalien ausgeht, in dem Manipulieren, das heißt dem Hin- und Herschieben von industriellen Wertpapieren eine Potenzierung der Gewinnmöglichkeiten, die ihm die Entwickelung von industriellen Werten bietet. Nur durch die skrupellose Schaffung und Ausnutzung von künstlichen oder gar fiktiven Werteverschiebungen und Wertevergrößerungen, für die industrielle Vorgänge geschickt als Vorwand benutzt oder konstruiert wurden, erklärt sich die schnelle Bildung mancher amerikanischen Riesenvermögen. Ebensowenig wie behauptet werden kann, daß unsere deutschen Verhältnisse von derartigen Erscheinungen und Auswüchsen ganz frei gewesen sind — wir werden später noch sehen, daß gerade das Rathenausche Unternehmergeschäft, falsch nachgeahmt, zu ganz [S. 196] ähnlichen Mißbräuchen des Effekteninstruments, allerdings in den kleineren Maßen unseres Landes geführt hat —, ebensowenig soll dem amerikanischen Trustsystem jeder sachlich-wertvolle Inhalt, jeder industriell-zweckvolle Gesichtspunkt abgesprochen werden. Neben der rein kapitalistischen Macht wurde vielfach auch industrielle Macht angestrebt, und im Entwurf, wenn auch nicht in der Ausführung, hatten die Spekulationen der Trustkönige fast stets einen wirtschaftlich wertvollen Kern, weshalb manchen dieser Männer auch — im Anfange ihrer Tätigkeit wenigstens — der gute Glaube nicht unbedingt abgesprochen werden kann. An wirtschaftlicher Phantasie fehlte es ihnen häufig nicht, wohl aber an wirtschaftlicher Solidität, und sie zogen es bald — nachdem sie die großen Schwierigkeiten zäher Industriearbeit kennen gelernt hatten — vor, Effektenpolitik zu treiben, statt Wirtschaftspolitik. Viele der großen Trusts haben infolgedessen Jahrzehnte gebraucht, ehe sie das ihnen bei ihrer Taufe mitgegebene reichliche „Wasser“ aus ihren Eingeweiden aussondern konnten, und die unorganische Anlage mancher der amerikanischen Bahnsysteme hat sich bis in die heutige Zeit als unheilbar erwiesen. Auch die elektrischen Konzerne der Vereinigten Staaten litten jahrzehntelang unter den Schäden zu leichter Zimmerung.
Wenn nun im Laufe der Jahre, nachdem die Expansionsmöglichkeiten selbst in Amerika eine gewisse Einengung erfahren haben, die Entwickelung auch in diesem Lande zu einer gewissen Intensität der Wirtschaft hinlenkte, wenn auch hier die Effektenfluktuationen allmählich ruhiger wurden, das Land des Trustsystems hat es bisher eigentlich nur zu Unternehmungsgruppen gebracht, die man Flächentrusts nennen kann. Es wird eine Anzahl von Unternehmungen, die denselben Zweck verfolgen und einander ungefähr ähnlich organisiert sind, zusammengebracht, um die Konkurrenz zwischen ihnen auszuschließen und den Markt in den von ihnen hergestellten Waren oder den von ihnen geleisteten Arbeiten zu monopolisieren. Die amerikanischen Trusts sind im allgemeinen Gegenstücke zu unseren deutschen Kartellen . Sie verfolgen denselben Zweck wie diese, wenngleich sie ihn nie so voll erreicht haben, weil in Amerika die größeren industriellen Neubildungsmöglichkeiten ein Außenseitertum mehr begünstigten als unsere extensiv ziemlich erschöpfte und nur im wesentlichen noch intensiv zu entwickelnde Industrie. Der wirtschaftliche Vorteil der amerikanischen Trusts besteht nun [S. 197] fast lediglich darin, ihre Beteiligten davor zu bewahren, die Waren ohne den von ihnen für notwendig gehaltenen Produktionsnutzen abgeben zu müssen. Die Politik, die sie betreiben, ist daher nicht nur in der Absicht, sondern auch in der Wirkung reine Produzentenpolitik. Sie stärkt die Erzeugerschicht und leistet der Volkswirtschaft damit einen — wenn auch einseitigen — Dienst, indem sie die Rente des in der Industrie arbeitenden Kapitals schützt und mehrt, und das Gesamtkapital des Landes, allerdings vielleicht unter Schädigung anderer Schichten, nach einer bestimmten Richtung hinlenkt. Wird ihre Politik maßvoll gehandhabt, so braucht sie, und dasselbe gilt von der Politik der deutschen Kartelle, auch den Interessen der Konsumenten nicht zuwider zu laufen. Ist ihre Preisdiktatur aber rücksichtslos, so kann die damit verbundene Schädigung der Konsumenten oder Weiterverarbeiter so groß sein, daß sie der gesamten volkswirtschaftlichen Ökonomie des Landes abträglich wird. In der Praxis haben die amerikanischen Trustherren, die „reichen Räuber“, begünstigt durch eine auf ihre industriellen Interessen zugeschnittene Hochschutzzollpolitik, tatsächlich die Kapitalbildung des Landes in eine industrieplutokratische Richtung gezwungen, wie sie sich in keinem anderen Lande auch nur annähernd so scharf ausgeprägt hat. Den amerikanischen Flächentrusts sind aber die ökonomischen Vorteile, wenn auch nicht gänzlich fremd, so doch verhältnismäßig wenig vertraut, die sich aus der Vertiefung des Produktionsprozesses durch Selbstbedarfsherstellung und Selbstabsatzdeckung ergeben können. Derartige Tiefentrusts , wie sie besonders die deutsche Industrie herausgebildet hat, verfolgen an sich nicht die Tendenz der Marktbeherrschung. Sie wollen nicht so sehr an dem teuren Absatz einer Ware verdienen, als an der billigen Produktion. Sie wollen diese Ware so billig wie möglich herstellen , um sie — trotz Erzielung ihres angemessenen Unternehmer-Nutzens — so wettbewerbsfähig, das heißt so wohlfeil wie möglich verkaufen zu können. Sie erreichen dies dadurch, daß sie die Ware in einem möglichst lückenlosen Produktionsprozeß in allen Stadien der Rohstoffbeschaffung, Weiterverarbeitung und Endproduktion selbst erzeugen und sie so — unbelastet mit den Produktionsnutzen der Vor-Unternehmer (Roh- und Halbstofflieferanten) — lediglich unter Einkalkulierung ihres Schlußgewinnes in den Verkehr bringen können. Die volkswirtschaftlichen Vorteile dieses Systems [S. 198] liegen auf der Hand. Sie sind produzenten-fördernd und zugleich konsumenten-dienlich und selbst wenn der Tiefentrust zugleich ein Monopol besitzt oder — wie dies in der deutschen Montanindustrie der Fall ist — sich mit anderen Unternehmungen ähnlicher Art durch Kartelle usw. zu einem Monopol zusammenschließt, sind die Gefahren der Monopolisierung nicht so groß wie bei dem Flächentrust, weil selbst ein hoher Preisaufschlag beim Verkauf durch die Ersparnis an den Produktionskosten kompensiert oder doch verringert wird. Ähnliche Ersparnisse kann der Flächentrust — wie dies ja in Amerika teilweise der Fall ist — nur durch äußerste Spezialisierung, also auf dem ganz entgegengesetzten Wege, machen, zum Beispiel dadurch, daß eine Fabrik oder eine Fabrikengruppe nicht Werkzeugmaschinen verschiedener Art, sondern nur eine ganz bestimmte Werkzeugmaschinentype, daß eine andere Gruppe nur Automobilreifen, eine dritte nur Fahrradreifen usw. herstellt. Eine solche Spezialisierung läßt sich aber nur in der Verfeinerungsindustrie, nicht in den unteren gewerblichen Stufen erreichen, sie entzieht dem Unternehmer auch den Überblick über die Gesamtheit seiner Industrie, hindert manchmal darum sein technisches Fortschreiten und setzt jedenfalls seinen, lediglich auf einen bestimmten Produktionsprozeß zugeschnittenen Betrieb der Gefahr aus, konkurrenz- und damit lebensunfähig zu werden, sobald von irgend einer anderen Seite ein besseres Verfahren gefunden wird oder die Konjunktur seinem Erzeugnisse ungünstig wird.
Schon aus der Gegenüberstellung von Tiefen- und Flächentrust werden wir erkannt haben, daß die trustartigen Erscheinungen, die Emil Rathenau in Amerika vorgefunden haben mochte, als er sich anschickte, sein Beteiligungs- und Unternehmungssystem zu schaffen, von ihm keineswegs nur kopiert zu werden brauchten, um die ihm vorgeschriebenen Probleme lösen zu können. Was er dort sah und von dort übernehmen konnte, war eigentlich nur die Form der Effektenverschachtelung. Diese konnte ihm an sich naturgemäß nichts bedeuten, sondern er bediente sich ihrer nur, um die ganz eigenartigen und neuartigen Aufgaben durchzuführen, vor die ihn seine Arbeit — erst von Fall zu Fall, dann allmählich systematisch aus- und um sich greifend — stellte. Das von ihm geschaffene Trustsystem läßt sich weder als Flächen- noch als Tiefentrust bezeichnen, es hat Merkmale von beiden und daneben Eigenschaften, die jenen beiden Systemen [S. 199] ganz fremd sind. Es ist auch nicht ausschließlich auf die Bildung von industriellen Werten bedacht, wenngleich diese stets ausschlaggebend im Vordergrunde stehen. Es trägt auch manche Bestandteile des Effektengeschäfts in sich, die zuerst vielleicht unbewußt und unbeabsichtigt als Folgen der industriellen Bildungen in Erscheinung treten, dann aber, als sie in ihrem Wert und Nutzen erkannt sind, gern ausgebeutet und zur Gewinnung von Geldmitteln benutzt werden, die später als erwünschtes Subsidienkapital dem industriellen Prozeß wieder zugeführt werden. Als Selbstzweck, das heißt als Mittel lediglich zum Zwecke der Geldansammlung werden derartige Effektengeschäfte aber niemals betrachtet, und weil dies nicht der Fall ist, können sich Effekten-Gesichtspunkte niemals zu Herren der industriellen Gesichtspunkte machen. Die Effektengewinne fallen sozusagen als reife Früchte vom Baume der industriellen Entwickelung, und dürfen sich nie hervordrängen, wenn die industrielle Frucht noch nicht gereift ist.
Das Rathenausche Trustsystem wurde ganz von innen heraus aufgebaut. Es waren Geschäfte da, die gemacht werden sollten, und zwar mit dem geringsten Aufwand von Mitteln, Abhängigkeiten und Reibungen. Beispiele sollten gegeben, Versuche unternommen werden. Alle diese Unternehmungen suchten sich die Formen, die ihnen paßten, Formen, die nicht durch ein Übermaß von Organisationsschwere, technischem Apparat den Inhalt bedrückten, die aber genug Organisationskraft und Tragfähigkeit besaßen, um nicht durch eine mangelhafte Durchführung die Sache zu gefährden. Elastisch in seiner Beweglichkeit, fest in seiner Konstanz, vielfältig in der Fülle und Verschiedenheit seiner Erscheinungen war das Trustsystem Emil Rathenaus; es fanden sich Formen in ihm vor, die nur einmal angewendet wurden, es gab aber auch Typen, die in verwandten Fällen mit mehr oder weniger großen Abweichungen wiederholt wurden. Wenn es auch empirisch aufgebaut wurde, so mußte es doch in einem gewissen Stadium seiner Entwickelung das Feuer logischer Durchschmelzung und Gliederung, die Kontrolle der Idee durchschreiten. Dieses Stadium war in dem Zeitraum von 1895–1900 gekommen, dessen äußeren Entwickelungsgang wir oben geschildert haben. Deshalb dürfte sich an dieser Stelle zweckmäßig der Versuch anschließen, das Trustsystem Emil Rathenaus als ein Gebilde sui generis in seinen Grundrissen und Grundzwecken zu untersuchen.
Die erste große Gruppe der Tochterunternehmungen der A. E. G. verfolgte Zwecke der Demonstration. Werke dieser Art waren die Berliner Elektrizitätswerke, die Stadtbahn in Halle, zu einem Teil auch die Kraftübertragungswerke Rheinfelden und die Elektrochemischen Werke in Bitterfeld. Durch sie sollten wichtige Anwendungsgebiete der Elektrizitätsindustrie in der Methode geklärt und der Praxis erschlossen werden. Ein Schulbeispiel wurde aufgestellt, an dem der Produzent, wie der Konsument lernen sollte. Die A. E. G. lernte die Methodik der praktischen Ausführung eines theoretisch bereits gelösten Problems, der Konsum wurde durch die Vorteile, die ihm vor Augen geführt wurden, zur Nachahmung und Benutzung angefeuert. War eine Idee für die Ausführung im Großen, für die dauernde praktische Nutzanwendung noch nicht reif, waren vor allem noch Zweifel vorhanden, ob sich diese Idee in der Praxis ebenso bewähren würde wie in der Theorie, oder war das technische Rüstzeug für die Ausführung eines Problems noch nicht durchgebildet genug, so wurden der Kostenersparnis halber nur Studiengesellschaften mit kleinem Kapital gegründet, sofern die bloße Laboratoriumsarbeit in den eigenen Fabriken nicht die Sicherheit der praktischen Bewährung zu bieten vermochte. Dies war zum Beispiel bei der ersten Einführung des Edisonlichtes selbst, beim Akkumulatorenbau, bei den elektrischen Vollbahnen, beim Untergrundbahnenbau, bei der drahtlosen Telegraphie usw. der Fall. Waren anderswo bereits reifere Stadien der Erfahrung erreicht, so suchte Rathenau — um sich zeitraubende Umwege zu ersparen und nicht hinter der Konkurrenz zurückzubleiben — sich ihre Benutzung zu sichern, entweder indem er die Unternehmungen, die im Besitze brauchbarer Erfahrungen waren, erwarb, oder indem er seine Verfahren ihnen überwies, und sich an dem so geschaffenen Gemeinschaftsbetriebe beteiligte. Auf solche Weise kam zum Beispiel die Beteiligung an der Akkumulatorenfabrik Berlin-Hagen zustande, die gemeinsam mit Siemens & Halske erfolgte, indem die A. E. G. in diese Gesellschaft ihre eigenen Akkumulatorenpatente einbrachte und mit den von den Vorbesitzern des Hagener Werkes benutzten Tudor-Patenten vereinigte. In solchen Fällen handelte es sich meist um Produktionsprozesse, die die Gesellschaft für sich nicht als hauptsächlich betrachtete und vornehmlich deswegen pflegte, um Ergänzungen ihrer Hauptproduktionen herbeizuführen. Betriebszweige ersten Ranges entwickelte sie meist selbständig, und [S. 201] die oben erwähnten Demonstrationsunternehmungen hatten den Zweck, sie populär zu machen, wenn der Konsum sich ihnen nur zögernd zuzuwenden schien. Das geschah hauptsächlich bei den Werken, die als Groß-Produzenten oder Groß-Verwender elektrischen Stroms in Betracht kamen. Ihre Produktions- und Absatzverhältnisse mußten erst sinnfällig geklärt, ihre Rentabilitäts- und Wettbewerbsbedingungen praktisch erprobt werden, ehe fremde Unternehmer sich ihnen zuwendeten. Der Einfluß der Berliner Elektrizitätswerke auf den Zentralenbau war, wie wir schon gesehen haben, außerordentlich stark, nachdem erst das Unternehmen den Kinderschuhen entwachsen war. Sehr schnell wirkte das Beispiel der Stadtbahn in Halle, zu dessen Besichtigung sofort Interessenten aus ganz Deutschland und Europa zusammenströmten. Frühere Erfahrungen aus amerikanischen Städten hatten hier den Bauproblemen wie der Aufnahmefähigkeit des Publikums vorgearbeitet. Ziemlich langsam, aber dann umso intensiver wirkte das Beispiel der Kraftübertragung.
Das Demonstrations-Motiv blieb aber nicht lange das einzige oder hauptsächlich ausschlaggebende beim Unternehmergeschäft. Auch nachdem das gelungene Beispiel aufgestellt war, kamen die Interessenten nun nicht in genügender Zahl sofort herbei, um es für ihre Rechnung nachahmen zu lassen, und außerdem kamen die, welche es nachahmen lassen wollten, nicht alle mit ihren Aufträgen zu der A. E. G. Auch die Konkurrenz tat sich um und machte sich die werbende Kraft der gelungenen Probestücke zunutze. Bei Interessenten, die noch nicht ganz von der industriellen Lebensfähigkeit der Anlagen überzeugt oder auch nicht allein in der Lage waren, ihre Kosten und Risiken zu tragen, mußte nachgeholfen werden, indem sich die A. E. G. an der Kapitalaufbringung oder sogar an der Betriebsführung beteiligte. Bei Objekten, die von der Konkurrenz umworben wurden, mußten gleichfalls finanzielle und betriebliche Beihilfen zugesagt werden. Neben das Motiv der Anregung traten bald das Motiv der Nachhülfe sowie das Motiv des Wettbewerbs. Hier erscheint die Unternehmer-Beteiligung aber immerhin noch als ein Mittel zum Zweck der Alimentierung des Fabrikationsgeschäfts mit Aufträgen, immer wieder von der Tendenz begleitet, für die allgemeine Ausdehnung der angewandten Elektrizität Propaganda zu machen. Die guten Erfahrungen, die mit diesen Beteiligungsgeschäften gemacht wurden (und zwar nicht nur [S. 202] in ihrer Rückwirkung auf die Fabrikation, sondern in rein effekten-technischer Hinsicht) ließen aber neben die sekundären Motive der Effektenbeteiligungen ebenso stark schließlich ihren Selbstzweck treten. Der Effektenbesitz rentierte sich so gut, daß das Bestreben der A. E. G. ganz von selbst darauf hinging, ihn in geeigneter Weise zu mehren. Die Unternehmungen, an denen sie beteiligt war, wurden nicht nur durch ihre Bauaufträge, sondern die in ihrem Betriebe fortlaufend hervortretenden Betriebs- und Erweiterungsbedürfnisse zu einer ständigen Abnehmerschicht für die A. E. G., ihre alljährlichen Dividendenerträgnisse führten der Gesellschaft auch regelmäßig namhafte Summen zu. Daneben gab der Effektenbesitz auch Gelegenheit zu vorteilhaften Transaktionen mit der Wertpapier substanz . Günstige Bezugsrechte auf neue Aktien konnten ausgeübt, billig erworbene Effekten nach Eintritt oder nach Besserung der Rentabilität abgestoßen werden. Häufig wurden beide Transaktionen vereinigt und aus dem alten Besitz Aktien mit Buchgewinn abgestoßen, während das Beteiligungsinteresse durch Übernahme billigerer junger Aktien wieder aufgefüllt wurde. Je mehr sich der betriebstechnische, verwaltungstechnische und finanzielle Umkreis derartiger Geschäfte mehrte, desto nötiger wurde seine Gruppierung und Organisierung in besonderen zusammenfassenden Verwaltungs- und Aktionsunternehmungen, die die Hauptgesellschaft von einem verwirrenden Zuviel an Belastung und Arbeit befreiten, wie es bei einem im Grunde die Fabrikation pflegenden Unternehmen den eigentlichen Kern nicht überwuchern durfte. Es wurden Neben-Zentralen, sogenannte Mantel-Gesellschaften gegründet, die nicht Unternehmungen besonderer Art schaffen , sondern diese verwalten, überwachen und ihre Bedürfnisse befriedigen sollten. Sie nahmen dem Konzern-Mittelpunkt Funktionen ab, sie fügten ihm aber auch andererseits Kräfte und Hilfsquellen zu, über die er ohne sie wahrscheinlich nicht hätte verfügen können. Bei derartigen Mantelgesellschaften sind solche, die als bankähnliche Institute die finanziellen Aufgaben der Unternehmungen zu übernehmen hatten, zu unterscheiden von anderen, die eine technische und betriebliche Überwachung durchführen sollten. Zu den letzteren Unternehmungen gehörten die Allgemeine Lokal- und Straßenbahn-Akt.-Ges. für den Geschäftszweig „Elektrische Bahnen“ und die Elektrizitätslieferungsgesellschaft für [S. 203] die Abteilung „Elektrizitätswerke“. Die Allgemeine Lokal- und Straßenbahn-Gesellschaft war ein bereits vorher bestehendes Unternehmen, dessen Aktien die A. E. G. im Jahre 1890 aus dem damals entlastungsbedürftigen Portefeuille der Nationalbank für Deutschland erworben hatte. Der Geschäftsbericht der A. E. G. verzeichnet über den Erwerb nur eine kurze Begründung: „Wir haben uns damit bei einem in solider Entwickelung befindlichen Unternehmen beteiligt und eine bleibende Unterlage für ein aussichtsvolles Vorgehen auf Einführung des elektrischen Betriebes gewonnen.“ Der zunächst in den Vordergrund tretende Zweck der Angliederung war nicht die Schaffung eines „Mantels“ für neu zu errichtende oder zu erwerbende elektrische Bahnen, sondern die Gewinnung eines Stammes eigener Pferdebahnen, die als Objekte für die Überführung in den elektrischen Betrieb benutzt werden konnten. Das Versuchs- und Demonstrationsmotiv spielt also hier noch stark hinein, und das Unternehmerbaumotiv steht zunächst im Mittelpunkt der Erwerbung. Später verschiebt sich die Aufgabe der Allgem. Lokal- und Straßenbahn immer stärker nach der Richtung einer Holding- und Verwaltungsorganisation für alte und neuzuerwerbende Straßenbahninteressen. Sie wird eine echte Mantelgesellschaft großen Stils. Daneben werden im Laufe der Jahre noch kleinere Konzernunternehmungen für den Bahnenbetrieb, so z. B. die Schlesische Kleinbahn-Akt.-Ges. erworben. — Die Elektrizitätslieferungsgesellschaft , die von vornherein als Betriebs- und Verwaltungsgesellschaft errichtet ist, wurde im Jahre 1897 ins Leben gerufen. Im Geschäftsbericht desselben Jahres wird ihr Zweck folgendermaßen geschildert: „Nach dem Muster der Allgem. Lokal- und Straßenbahn-Gesellschaft haben wir eine Stromlieferungsgesellschaft unter der Firma „Elektrizitätslieferungsgesellschaft“ gegründet. Wie jene eine Anzahl von elektrischen Bahnen in sich vereinigt und nach einheitlichem Prinzip und mit wirtschaftlichem Erfolge verwaltet, wird diese den Betrieb auch von Elektrizitätswerken übernehmen, die den kostspieligen Apparat einer selbständigen Organisation nicht zu tragen vermögen oder einer längeren Entwickelungszeit bedürfen, bevor sie eine angemessene Rente gewähren. Wir haben das gesamte 5 Mill. M. betragende Aktienkapital unserem Effektenbestande zu dauerndem Besitz einverleibt und einen maßgebenden Einfluß auf die Geschäftsführung der Gesellschaft uns gesichert.“ Weiterhin [S. 204] wird dann bemerkt, daß die Preise und Bedingungen für den Bau von Zentralen mit Rücksicht auf die engen Beziehungen der Elektrizitätslieferungsgesellschaft zur A. E. G. in billiger Weise durch Verträge festgelegt sind. Ein Teil der Aktien der Elektrizitätslieferungsgesellschaft wurde später übrigens den Berliner Elektrizitätswerken übereignet, als bei diesen die Wahrscheinlichkeit eintrat, daß die Verträge mit der Stadt Berlin, die ihren Hauptinhalt bildeten, nicht erneuert werden würden. Die B. E. W. haben sich schon in den letzten Jahren vor dem Vertragsablauf, und später noch entschiedener, zu einer Mantelgesellschaft für Stromerzeugungswerke ausgebildet, da der bei ihnen nach der Übernahme der Werke durch die Stadt Berlin eintretende Rückfluß freigewordener Anlagekapitalien mit dem gerade um diese Zeit akut werdenden Geldbedürfnis anderer in der Entwickelung befindlicher Unternehmungen des Konzerns zusammentraf. Ihren Hauptbesitz bildeten einige Zeit die „Elektrowerke“ in Bitterfeld, die auf Braunkohlengrundlage die Stromerzeugung in großem Maßstabe mit der Tendenz der Fernübertragung aufnahmen. Als die Entwickelung der Elektrowerke nicht die gewünschten schnellen Fortschritte machte, wurde diese Beteiligung indes von den B. E. W. der A. E. G. selbst übertragen und später das ganze Werk von den Reichsstickstoffwerken übernommen. Durch den früher erfolgten Erwerb von Aktien der Elektrizitätslieferungsgesellschaft seitens der B. E. W. wurde eine doppelte Verschachtelung herbeigeführt, die nicht das einzige Beispiel für die indirekten Beteiligungs-Methoden des Systems Rathenau ist. Die Mantelgesellschaft erwarb — und zwar lediglich aus finanztechnischen Gründen — die Aktien einer anderen Mantelgesellschaft, der Weg von dem äußersten Mantel bis zu den direkten Produktionsgesellschaften führte hier über zwei Stufen. Ähnliche Mehrstufigkeiten traten z. B. dadurch in Erscheinung, daß die Elektrizitätslieferungsgesellschaft territoriale Unter-Elektrizitätslieferungsgesellschaften in Bayern, Sachsen, Thüringen und so weiter gründete, in denen die bayerischen, sächsischen und thüringischen Stromwerke zusammengefaßt waren. Den größten Teil der Aktien dieser territorialen Elektrizitätslieferungsgesellschaften nahm die Berliner Elektrizitätslieferungsgesellschaft in ihr Portefeuille. Stellt man folgende Stammtafel auf:
Aktien des Elektrizitätswerkes Plauen besitzt die Sächsische Elektrizitätslieferungs- [S. 205] Ges. , Aktien der Sächs. E. L. G. besitzt die Elektrizitätslieferungsgesellschaft Berlin , Aktien der E. L. G. Berlin besitzen die B. E. W. — Aktien der B. E. W. besitzt die A. E. G.,
so erhält man das System der Verschachtelung bis zum vierten Gliede fortgeführt. — Übrigens wird bei den sogenannten Mantelgesellschaften das Prinzip, Aktien von Werken einer bestimmten Gattung nur jeweilig der dafür geschaffenen Trust-Gesellschaft zu übergeben, nicht immer ganz konsequent durchgeführt. So besitzt zum Beispiel die Elektrizitätslieferungsgesellschaft Anteile der Brenner Werke G. m. b. H. und der Elektromotor G. m. b. H. Hier handelt es sich aber immerhin um Gesellschaften, die als Hilfswerke für Stromunternehmungen bezw. als Erzeugungsstätten für Produkte, die bei der Stromverwendung gebraucht werden, in Betracht kommen. Eine solche Verwandtschaft ist aber — wenigstens äußerlich — nicht vorhanden, wenn zum Beispiel die Elektrizitätslieferungsgesellschaft Aktien der Lahrer Straßenbahn-Akt.-Ges. erwirbt. Erklären wird sich diese Anomalie wahrscheinlich dadurch, daß irgend ein Werk der E. L. G. den Strom für die Lahrer Straßenbahnen liefert und sich diese Beziehung durch Aktienbesitz zu festigen wünscht. In manchen Fällen werden auch finanzielle Gründe für derartige Systemlosigkeiten maßgebend sein, manchmal vielleicht auch nur Zufälligkeiten. An Prinzipienreiterei hat das System Rathenau nie gekrankt, und es hat sich manche sozusagen künstlerische Regellosigkeit leisten können, weil es in den großen Grundgedanken so ganz logisch aufgebaut war.
Neben den industrie- und verwaltungstechnischen Mantelgesellschaften stehen die vielleicht noch wichtigeren finanztechnischen . Die bedeutendste und erste von ihnen ist die „Bank für elektrische Unternehmungen in Zürich“. Dieses Unternehmen ist im Jahre 1896 mit einem zunächst zu 50% eingezahlten Aktienkapital von 30 Mill. Frcs. und einem autorisierten, aber erst allmählich ausgegebenen Obligationenkapital in derselben Höhe begründet worden. Es wurde im Laufe der Zeit auf 75 Mill. Frcs. Aktien und mehr als 75 Mill. Frcs. Obligationen erhöht. Als Zweck der Gesellschaft wurde im Statut angegeben: „Übernahme und Durchführung von Finanzgeschäften, insoweit dieselben Bezug haben auf die Vorbereitung, den Bau, den Erwerb, den Betrieb, die Umwandlung oder die Veräußerung [S. 206] von Unternehmungen im Gebiet der angewandten Elektrotechnik, insbesondere der Beleuchtung, Kraftübertragung, des Transportwesens und der Elektrochemie.“ — Der erste Inhalt, der dieser großen, von vornherein mit bewußter Absicht ihrer weitausgreifenden Ziele und Grenzen geschaffenen Form gegeben wurde, bestand — wie wir schon gesehen haben — in den wichtigen italienischen Elektrounternehmungen (in Genua), denen sich die A. E. G. in der damaligen Zeit eben zugewandt hatte. Neben der Erkenntnis, daß das Beteiligungsgeschäft des Konzerns ganz allgemein bis zu einem Umfang und einer Verzweigung gediehen sei, die die Schaffung einer besonderen Finanzgesellschaft erforderlich machten, war schon damals für die Wahl eines in der neutralen Schweiz liegenden Gesellschaftssitzes der Gedanke maßgebend, daß es zweckmäßig sei, große Auslandsbeteiligungen nicht in Deutschland, sondern im neutralen Ausland zu verankern; ein Gedanke, der sich gerade in den im Weltkriege eingetretenen chauvinistischen Irrungen und Wirrungen als psychologisch durchaus richtig erwiesen hat, wenn er auch die deutschen Interessen im feindlichen Auslande — neben dem italienischen Besitz verwaltete die Bank für elektrische Unternehmungen (kurz Elektrobank genannt) insbesondere auch den großen Besitz an Aktien der St. Petersburger Gesellschaft für elektrische Beleuchtung vom Jahre 1886 — nicht so wirksam zu schützen vermochte, wie dies erwünscht gewesen wäre. Außer dieser Dislozierung deutscher Auslandsinteressen verfolgte die Errichtung der Finanzgesellschaft der A. E. G. in der Schweiz noch verschiedene andere Zwecke. Zunächst einmal bot die freiere Aktiengesetzgebung der Schweiz einen größeren Spielraum für Aktien-Transaktionen, wie sie den Haupttätigkeitskreis der neuen Gesellschaft bildeten. Ferner wurde damit die Einbeziehung der Schweiz in den Aktions-Radius der A. E. G. in zweifacher Richtung angestrebt. Einmal sollte die Produktions- und Absatzsphäre der Gesellschaft auf das elektrischen Unternehmungen von jeher besonders günstige Gebiet der Schweiz ausgedehnt werden, das mit seinen reichen Wasserkräften für die Erzeugung billiger Elektrizität und besonders für die damals aufkommende Kraftübertragung einen besonders guten Entwickelungsboden abgab, das in der Fernübertragung, im Vollbahnenwesen späterhin bahnbrechende Leistungen sah. Zweitens sollte der Kapitalmarkt der Schweiz und vielleicht auch indirekt derjenige anderer ausländischer Staaten, die [S. 207] vielleicht einer direkten Bearbeitung durch deutsche industrielle und finanzielle Kräfte nicht so leicht zugänglich gewesen wären, dem Emissionskredit der A. E. G. erschlossen werden. Alle diese Zwecke sind in mehr oder weniger starkem Grade auch erreicht worden. Die Elektrobank wurde, so eng sie stets auch an die A. E. G. angeschlossen blieb, ein Unternehmen, das sehr stark in der Schweiz verwurzelte, in dem Schweizer Einfluß sich zur Geltung zu bringen verstand, und durch das Schweizer Kapitalien dem A. E. G.-Konzern und umgekehrt deutsche Kapitalien der Schweiz zuflossen. Als die russische Regierung während des Weltkrieges die schon erwähnten Petersburger Elektrizitätswerke als „deutsche Unternehmungen“ mit Zwangsmaßnahmen aller Art bedrohte, konnte von der schweizerischen Regierung mit Recht darauf hingewiesen werden, daß die Bank für elektrische Unternehmungen, die Hauptbesitzerin der Aktien der Gesellschaft für elektrische Beleuchtung, durchaus kein überwiegend deutsches Unternehmen sei und daß von den 75 Millionen Francs Aktien der Gesellschaft sich nur 14512000 Francs im Besitze der A. E. G. befänden. Wenngleich der gesamte Besitz des A. E. G.-Konzerns einschließlich dem ihrer Bankengruppe und ihrer Tochtergesellschaften größer ist und sich auch im deutschen Publikum namhafte Beträge von Elektrobank-Aktien befinden mögen, so ist doch auch der Schweizer Eigenbesitz an Aktien und namentlich an Obligationen der Elektrobank sehr erheblich.
Der Zweck dieser Elektrobank ist in ihrem Statut bereits in gedrungener Kürze, aber eigentlich mit allen wichtigen Merkmalen umgrenzt worden. In späteren Geschäftsberichten wurden die Finanzmethoden, die die Gesellschaft zur Anwendung brachte, eingehender unterschieden. Sie benutzte folgende juristische Formen der Beteiligung:
Diese Formen sind so gewählt, daß sie allen Bedürfnissen der Unternehmer- und Industrietätigkeit gerecht werden können. Um [S. 208] dies zu verstehen, müssen wir diesen Bedürfnissen etwas näher nachzugehen versuchen. Die Methoden der Finanzierung neuer Unternehmungen, die Rathenau vorfand, waren ziemlich primitiv. Wenn man Bauprojekte nicht von irgend einem geldkräftigen Unternehmer, einer Kommune, einer fremden Aktiengesellschaft usw. im festen risikolosen Auftrag erhielt (was aber namentlich in den ersten Zeiten der angewandten Elektrotechnik nur selten der Fall war), mußte man die Geldmittel für zunächst in eigener Regie auszuführende Werke entweder selbst bereitstellen, von Banken borgen oder am Kapitalmarkt beschaffen. Alle derartige Methoden waren aber sozusagen nur von kurzem Atem. Sie schafften zinsloses Geld nur für verhältnismäßig kurze Zeit, und hinter dem Industriellen stand der Kapitalist, stets nach schneller Rente, kurzfristiger Rückgewährung des Kapitals und eventuell noch nach möglichst hohen Zwischengewinnen drängend. Baldigen und hohen Nutzen erwartete er von einer neuen Industrie, der er noch nicht so recht traute und deren Risikoprämie er also verhältnismäßig hoch bemaß und kurz begrenzte. Die Solidität der Bauarbeiten mußte darunter leiden, und den Unternehmungen war nicht genügend Zeit und Raum zum Ausreifen gegönnt. Wir haben gesehen, daß durch solche Verhältnisse selbst ein so aussichtsreiches und gutfundiertes Unternehmen wie die Berliner Elektrizitätswerke an den Rand der Krise geführt wurde, daß nicht nur die Aktionäre, sondern auch die Banken bei dieser Gesellschaft vorzeitig das Vertrauen verloren. Schon damals wurde es Rathenau, der von der Notwendigkeit der eigenen Unternehmertätigkeit stets fest durchdrungen war, vollkommen klar, daß er mit den bisherigen Finanzierungsmethoden diese Unternehmertätigkeit und damit die Entwickelung der Elektrizitätsindustrie nicht in dem gewünschten Tempo vorwärts bringen könnte. Zwar wuchs mit den Erfolgen der ersten Werke — mit den technischen wie finanziellen — auch der Emissionskredit und die Emissionsgeduld beim Kapitalistenpublikum und bei den Banken. Immerhin war die Hebelkraft, die man auf diese Weise gewinnen konnte, noch zu gering, und von zu vielen Zufälligkeiten abhängig. Man konnte dem Publikum vielleicht zu gleicher Zeit zwei oder drei Papiere werdender, aber noch nicht werbender Unternehmungen derselben Art anbieten, überall hätte man subsidiär wohl noch den Kredit der A. E. G. einsetzen müssen. Außerdem war man von den Banken, als Emissionsvermittlern, Garanten [S. 209] und Vorschußgebern abhängig, und was das zu bedeuten hatte, wußte Rathenau aus der Praxis ziemlich genau. Eine derartige Abhängigkeit war ihm unsympathisch und sie paßte auch nicht in seine planmäßig festen Baukalkulationen. Schließlich mußte man sich auch nach Industrie- und Börsenkonjunkturen richten. Man lief somit Gefahr, daß in einem Augenblicke, in dem irgend ein Bauprogramm dringend fortgeführt werden mußte, die Erweiterung einer Anlage sich als zweckmäßig und gar notwendig erwies, kein Geld aufzutreiben war, weil die Verhältnisse auf dem Emissionsmarkte gerade ungünstig lagen. Hier nun sollte das Finanzierungssystem sichernd, ergänzend, helfend, vermittelnd und vorsorgend eingreifen. Es war nicht lediglich eine Vermittelungsorganisation, die den geldbedürftigen Unternehmungen am Anlagemarkte mit ihrem eigenen gefestigteren Kredit Kapital besorgte, es war selbst ein Kapitalmarkt im Kleinen, ein Sammel- und Staubecken, das in günstigen Zeiten der Geldkonjunktur sich mit Kapital vollsog — gleichgültig ob es zunächst eine bestimmte Verwendung dafür hatte —, um es zu geeigneten Zeiten an die Bauunternehmungen des Konzerns weiterzugeben. Ähnlich wie der unregelmäßige Wasserzufluß eines Gebirgsbaches zu Zeiten des Wasserreichtums in einer Talsperre aufgesammelt wird, um die konstanten Ansprüche eines Kraftwerkes auch in Perioden der Wasserarmut befriedigen zu können, war auch das Stauwerk des Finanzsystems organisiert. „In den nächsten Jahren wird eine Reihe von neuen Aufgaben an uns herantreten, zu deren Lösung wir uns jetzt schon rüsten müssen.“ Mit solchen oder ähnlichen Worten sind von der A. E. G. selbst und ihren Finanzgesellschaften häufig genug Kapitalserhöhungen begründet worden, für die im Augenblick ihrer Durchführung bestimmte Anlässe noch nicht vorlagen oder doch noch nicht klar hervorgetreten waren. Emil Rathenau hielt darauf, daß in seinen Kassen nie der Boden sichtbar wurde und sorgte dafür, daß stets mehr Geld darin war, als er für alle im Augenblick übersehbaren Ausgaben brauchte. Es mußten stets beträchtliche Kapitalreserven für unvorhergesehene Mehrausgaben oder für neue, plötzlich hervortretende Projekte verfügbar gehalten werden. Nur dadurch konnte er stets die besten Geschäfte machen, daß er allen anderen Mitbewerbern in geldlicher Bereitschaft und geldlicher Leistungsfähigkeit überlegen war. Er war stets Gläubiger, nie Schuldner der Banken, und blieb durch die beträchtlichen Bankguthaben, die er so unterhielt, [S. 210] nicht nur von den großen Geldinstituten unabhängig, sondern er schuf sich eine solche Position, daß sie um ihn werben mußten und sich zur Teilnahme an seinen Finanzierungen, an seinen Konsortial- und Kreditgeschäften drängten. Denn das ist gerade das Geniale an seinem System der Finanzgesellschaften: Sie waren wohl stets in der Lage und gerüstet, ihm das Höchstmaß der etwa verlangten finanziellen Kraftanspannung zu leisten, er nutzte diese theoretische Höchstbelastung aber praktisch nie aus, sondern verteilte die Ansprüche auf einen möglichst weiten Kreis ihm zur Verfügung stehender Geldquellen. Nachdem er die feineren und zuverlässigen Methoden der Finanzierung ausgebildet hatte, verzichtete er durchaus nicht auf die älteren und primitiven. Neben dem neuen Trustsystem wendete er das alte Konsortialsystem weiter an, und die Banken, die ihm zuerst nur vorsichtig Kredit gegeben hatten, beteiligten sich später gern an seinen neuen, wenn auch zunächst noch nicht rententragenden Unternehmungen, weil sie bald aus Erfahrung wußten, daß die mageren Jahre bei ihnen durch darauffolgende fette mehr als reichlich ausgeglichen würden. So legten sie gewissermaßen die Bankguthaben, die Rathenau bei ihnen unterhielt, wieder in seinen industriellen Unternehmungen an und zogen aus der Zinsdifferenz zwischen beiden Konsortialgewinne. Rathenau selbst hinwiederum brauchte nicht die ganzen ihm zur Verfügung stehenden Kapitalien in industriellem Risiko festzulegen, sondern war in der Lage, einen Teil davon, wenngleich auch dieser letzten Endes indirekt seinem Unternehmergeschäft wieder zugute kam, als Bankgeld flüssig zu halten.
Die reichlichen Mittel, die ihm jederzeit für Unternehmungen zur Verfügung standen, wurden nun in der verschiedensten Form den jungen Bauwerken zur Verfügung gestellt, teils als einfache Vorschüsse mit längerer oder kürzerer Rückzahlungsfrist, teils als fundierte Darlehen (Obligationen oder Hypotheken), teils als aktives Beteiligungskapital, je nachdem die Bedürfnisse der jungen Werke dies erforderten und ihre Baureife es zuließ. Mit fortschreitender Entwickelung wurde vielfach die formlosere Art der Kapitalhergabe in die gebundenere umgewandelt. Während der Anlaufszeit, die junge Unternehmungen bis zu dem Zeitpunkt erforderten, in dem sie sich „freigebaut“ hatten und zinstragend geworden waren, betätigten sich die Finanzgesellschaften, das Beteiligungskonto der Hauptgesellschaft und die Bankenkonsortien als kapitalische „Vorwärmer“ für sie, indem [S. 211] sie ihren Geldbedarf sicherstellten, das Risiko und entsprechend auch die kapitalistische Gewinnchance übernahmen. Der Emissionskredit der alten bewährten Unternehmungen trat gewissermaßen solange für die Finanzbedürfnisse der jungen werdenden Betriebe ein, bis deren eigener Emissionskredit gereift war und selbständig auf dem Kapitalmarkt tätig sein konnte. Sobald dieses Stadium erreicht war, erledigten die flügge gewordenen Gesellschaften nicht nur ihre zukünftige Geldbeschaffung selbständig (wobei die Finanzgruppen des Konzerns häufig Teilbeträge der neuen Emissionen noch weiter übernahmen, aber nicht um den geldsuchenden Tochtergesellschaften die Geldbeschaffung zu erleichtern, sondern um selbst an den durch sie gebotenen günstigen Anlagemöglichkeiten teilzunehmen); sondern die Vorwärmer-Gesellschaften konnten dazu schreiten, die früher von ihnen übernommenen Kapitalbeteiligungen unter Ausnutzung der inzwischen eingetretenen Wertsteigerungen soweit abzustoßen, als es ihnen zweckmäßig erschien. Derartige „Realisierungen“ rententragend gewordener Beteiligungen sorgten dafür, daß die Finanz- und Konsortialkonten aus dem Wechsel ihrer Bestände selbst einen Teil der Mittel gewinnen konnten, die sie für neue Aufgaben brauchten. Der Effektenbesitz alimentierte und ergänzte sich aus sich selbst. Da der Umfang dieser Aufgaben aber ständig anwuchs, reichten die Realisations- und Abbaufonds meist nicht aus, um die Anlage- und Aufbaufonds vollständig zu speisen. Es wurden Kapitalserhöhungen der Finanzstammunternehmungen, Verstärkungen der zentralen Geldquellen selbst, von Zeit zu Zeit nötig. Gelegentlich fügte es sich auch so, daß neugegründete Unternehmungen die ihnen mitgegebenen Kapitalien nicht sofort vollständig verwenden konnten. Sie stellten sie dann zeitweilig den Finanzgesellschaften zur Verfügung, die sie ihrerseits teils wieder zur Deckung akuter Geldbedürfnisse anderer Betriebswerke verwandten, um sie ihren Eigentümern im gegebenen Augenblicke zurückzustellen. Neben die Disposition über dauernde Anlagekapitalien trat dann die Disposition über vorübergehend verfügbare Mittel, die Finanzgesellschaften wurden zu Ausgleichsstellen, die sich von den wirklichen Banken nur noch durch die Begrenzung ihrer Geschäftsgebiete, nicht durch das Wesen ihrer Geschäfte unterschieden.
Im allgemeinen wurde bei dem Rathenauschen Finanzsystem nicht der Nachdruck auf dauernde, unlösliche Aktien-Verkapselung [S. 212] gelegt. Je selbständiger die Tochtergesellschaften in ihrer Finanzgebarung gestellt werden konnten, umso mehr ihrer Wertpapiere wurden aus den Portefeuilles der Konzerngesellschaften an den freien Markt gegeben. An dem Besitz von Dreiviertel-Majoritäten oder auch nur einfachen Majoritäten wurde nicht pedantisch festgehalten, sondern das Streben darauf gerichtet, daß der Konzernzusammenhang bei verhältnismäßig kleinen Aktienbeteiligungen durch innere Bande, durch den Magnetismus des wechselseitigen Interesses und der Gewohnheit erhalten blieb. Nicht die Majoritätskontrolle, sondern die Hingezogenheit der freien Aktionäre zum Konzern der A. E. G. sollte und konnte fast stets die Verbindung wahren. Die Besetzung der Aufsichtsratskollegien mit Konzernmitgliedern, und auch der Herdentrieb der freien Aktionäre, die die Vertretung ihrer Aktien in den Generalversammlungen meist der Konzerngesellschaft oder ihren Banken überließen, unterstützte die Aufrechterhaltung der Herrschaft auch in solchen Fällen, in denen der Konzern an sich in der Minderheit war. So zum Beispiel besaß die A. E. G. zeitweilig nicht mehr als 1 Million Aktien der B. E. W. und vermochte doch das mit einem Aktienkapital von 60 Millionen Mark arbeitende Unternehmen in allen Einzelheiten zu leiten, trotzdem ihr die Bestimmung darüber zeitweilig durch eine aus Kreisen der freien Aktionäre gebildete Opposition streitig zu machen versucht wurde. Eine solche Herrschaft mit geringem Eigenbesitz konnte nur durch einen Konzern ausgeübt werden, der ein hohes Maß von immanenter Macht und Autorität besaß, und der das ihm entgegengebrachte Vertrauen trotz mancher gegen ihn vorgebrachten Einzel-Kritiken nie getäuscht hat.
Ein Trustsystem der geschilderten Art war aber nicht nur imstande, die Emissionskraft der ihm angehörenden Unternehmungen sozusagen zu „eskomptieren“, auf indirektem Wege früher zur Geltung zu bringen, als es auf direktem Wege möglich gewesen wäre; es hat sie auch in außerordentlicher Weise erweitert und verbreitert, und zwar dadurch, daß es die Emissionen durch Teilung und Abwechslung reizvoller und verdaulicher für den Kapitalmarkt zu gestalten vermochte. Hätte die A. E. G. ihr Finanzsystem streng zentralistisch ausgebaut, hätte sie die Kosten ihrer Unternehmertätigkeit nur durch ihre eigenen Aktien und Obligationen bestritten, oder auch nur in vorbereitender Weise aufgebracht, so würde das an dem [S. 213] industriellen und technischen Wert des Gesamtanlagenkomplexes und der Sicherheit der ihn repräsentierenden Kapitalanlage eigentlich nichts geändert haben. Ob ein Betriebsunternehmen direkt von der A. E. G. oder von einer ihrer Finanzgesellschaften finanziert wurde, wäre für die industrielle Entwickelung dieses Unternehmens und seiner Rente gleichgültig gewesen, nicht aber für die Geldaufbringung am Kapitalmarkt. Hätte die A. E. G. 500 oder 1000 Millionen eigener Aktien und einen ähnlichen Betrag eigener Obligationen am Geldmarkt aufnehmen müssen, statt nur 200 Millionen Mark, so würde der Marktwert der A. E. G.-Aktien zweifellos unter einem Überangebot gelitten haben, ihre Emissionskraft wäre vermindert worden, da sich der Kapitalmarkt gesträubt und schließlich ganz geweigert hätte, immer dasselbe Papier aufzunehmen. Viel günstiger gestaltete sich die Situation dadurch, daß der Emissionskredit des Gesamtkonzerns auf eine ganze Reihe von A. E. G.-Unternehmungen verteilt wurde. Er wurde vor Überanstrengung bewahrt, denn die Tochtergesellschaften behielten ebenso wie die Hauptgesellschaft jede ihren Einzel-Kredit für sich, und empfingen von ihrer Zugehörigkeit zum Gesamtkonzern noch eine Beigabe moralischer Art, die ihren eigenen Kredit festigte und steigerte.
Dem rückschauenden Blick wird es vielleicht scheinen, daß dieses Rathenausche Finanz- und Trustsystem, das — so kompliziert es in der Darstellung sich auch ausnehmen mag, — doch wie jede einem wirtschaftlichen Bedürfnis organisch angepaßte Methode im Kerne und Aufbau ganz einfach ist, die Zeitgenossen sofort gewonnen und überzeugt haben muß. In dieser Ansicht wird man noch bestärkt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß bereits ein paar Jahre später die ganze Konkurrenz in der Elektrizitätsindustrie das Bestreben zeigte, dieses System nachzuahmen und die mit ihm — anscheinend so mühelos — erzielten Erfolge auch ihrerseits zu erreichen. Aber es war nicht der gesunde, innere, nur in geduldiger Arbeit zu entwickelnde Kern, der diese Mitläufer überzeugt hatte, sondern meist die von ihnen mißverstandenen und für die Hauptsache gehaltenen äußeren Oberflächenwirkungen, die sie blendeten . In den damals mit Rathenau liierten Bankkreisen war man von den fachlichen Finanzierungsbanken innerlich durchaus nicht begeistert. Einmal fürchtete man von ihnen einen Übergriff auf ihr eigenes Geschäftsgebiet, sah in ihnen das Instrument, durch das sich Rathenau [S. 214] von den Emissionsbanken unabhängig machen, diese jedenfalls ihrer finanziellen Vorherrschaft — soweit die Finanzierung seiner Unternehmungen in Frage kam — entkleiden wollte. Die Banken ahnten wohl, daß hier ein Industrieller den Versuch machte, ihnen die herrschende Stellung im Industrieleben allmählich zu nehmen und ihnen die Rolle von dienenden Gliedern in seinem Bereich anzuweisen. Außerdem war der letzte, vielleicht unbewußte Rest von Mißtrauen in die Neuerungen des Mannes noch immer nicht geschwunden, von dem erst endgültig zu erweisen war, ob er ein schöpferischer Umwälzer aller Werte, oder nur ein glänzend begabter, doch unruhiger Experimentierer war, dessen kühnes, vielstöckiges Architekturwerk doch eines Tages — in sich selbst überbaut — zusammenbrechen konnte. Es gibt ja Brücken- und Gebäudekonstruktionen, deren Tragfähigkeit die technische Wissenschaft als sicher, ja übersicher errechnet hat und die doch auf den Laien einen gefährlichen Eindruck machen. Man hatte sich an der Gründung der Elektrobank — fasziniert von der Neuartigkeit der Idee, und unter dem Einfluß der Rathenauschen Erfolge — kapitalistisch beteiligt. Aber es kam hier, — ähnlich wie seinerzeit bei den Berliner Elektrizitätswerken, wenn auch in weit weniger krisenhafter Weise — bald dahin, daß die Banken an der Ertragfähigkeit des neuen Unternehmens zweifelten und sich von den ihnen zu groß erscheinenden Aktienbeteiligungen, die das Publikum ihnen nicht bereitwillig genug abnehmen wollte, zu entlasten wünschten. In der Tat war in diesen ersten Jahren ihres Bestehens die Elektrobank, wie das nicht anders zu erwarten war, mit jungen, meist noch halbfertigen Unternehmungen — besonders den ausländischen Werken in Genua, Barcelona, Bilbao, Buenos Aires, Santiago — angefüllt, die sich nur langsam zur Rentabilität entwickelten und von Rathenau bewußtermaßen nicht zur schnellen Einträglichkeit getrieben wurden. Mit Mühe und Not zahlte die Elektrobank Dividenden von 5%. Darin lag keine Emissionschance für ihre Aktien und was aus den „exotischen“ Werten ihres Portefeuilles werden würde, war noch eine ganz offene Frage. Die Banken hatten vielleicht gewünscht, daß um ihrer Beteiligung an der Mantelgesellschaft willen, die in deren Besitz befindlichen Betriebswerke etwas gewaltsam gefördert worden wären. Aber Rathenau war viel zu sehr Industrieller, als daß er finanztechnische Momente den bautechnischen hätte, auch nur vor [S. 215] übergehend, voranstellen können. Er, der inzwischen so erstarkt war, daß er Konzessionen — wie manchmal am Anfang — nicht mehr zu machen brauchte, hätte aber gerade in diesem Punkte zuallerletzt Bankwünschen nachgegeben. Das entscheidende Interesse legte er stets den produzierenden Unternehmungen und niemals den finanzierenden Hilfsgesellschaften bei. Das Mittel, mit dem er die latenten Schwierigkeiten in dem Falle der Elektrobank beseitigte, war genau dasselbe wie das im Falle der Berliner Elektrizitätswerke — vor einem Jahrzehnt — angewandte. Er übernahm kurz entschlossen die gesamten Elektrobank-Aktien der Bankgruppe zu vorteilhaftem Kurse und gewann die Mittel dazu durch Erhöhung des Kapitals der A. E. G. um 12 Millionen Mark, die allerdings nicht sämtlich zum Umtausch der Elektrobank-Aktien benötigt wurden. Dieser erfolgte in der Weise, daß für je 5 vollgezahlte Elektrobank-Aktien zu 1000 Frcs. nom. 2000 M. junge A. E. G.-Aktien angeboten wurden. Hierbei gelangte die A. E. G. zu dem lächerlich geringen Buchpreise von 400 Mark für das Stück in den Besitz von 28640000 Frcs. Elektrobank-Aktien, sie erwarb also fast das ganze damals 30 Mill. Frcs. betragende Aktienkapital. Im Geschäftsbericht des Jahres 1897/98 wird der Erwerb nur kurz begründet: „Die Angliederung einer Trust-Gesellschaft war ratsam, und das uns nahestehende Institut in Zürich wegen der in Angriff genommenen internationalen Geschäfte hierfür vorzüglich geeignet.“ — Für einen Schritt, der vielleicht in den Augen Emil Rathenaus den Keim für ein sehr gutes Geschäft darstellte, in den Augen der Aktionäre aber als ein großes Wagnis erscheinen mußte, waren diese paar Zeilen der Begründung ziemlich dürftig. Allerdings wurde den Aktionären der A. E. G. auf Wunsch ein ausführlicher Bericht über die Situation der Elektrobank zur Verfügung gestellt, aber bei der statistischen Ungeklärtheit der die ausländischen Unternehmungen betreffenden Fragen, enthielt er natürlich auch nur Konjekturen, keine unumstößlichen Tatsachen. In der General-Versammlung sah sich Emil Rathenau denn auch veranlaßt, den Erwerb der Elektrobank-Aktien näher zu motivieren. In seinen Ausführungen klingen die Unstimmigkeiten mit der Bankengruppe, die den Entschluß der Fusion mit der Elektrobank letzten Endes ausgelöst hatten, nur leise an. In ihrem wesentlichen Teile bedeuten sie eine Rechtfertigung des Systems der Trustgesellschaften im allgemeinen. Sie sind gerade darum interessant genug, um nachstehend [S. 216] in ihrem Wortlaut wiedergegeben zu werden, Rathenau sagte:
„Zur Durchführung der von uns ins Leben gerufenen Unternehmungen hatten wir uns bisher mit einem aus potenten Finanzkräften bestehenden Konsortium verbunden, und diese Vereinigung wird vielleicht auch in Zukunft aufrecht erhalten werden. Aber wir verhehlen uns nicht, daß die Banken als Vermittler des Kapitals zwischen dem Publikum und dem Unternehmer der jeweiligen Stimmung des ersteren Rechnung tragen und in Perioden wirtschaftlichen Niederganges und politischer Wirren ihre Mitwirkung leicht versagen könnten. Gerade in solchen Zeitläuften, deren baldige Wiederkehr freilich vorläufig nicht zu befürchten ist, am wenigstens für uns, die wir mit lohnenden Aufträgen versorgt sind, bedarf der Fabrikant ihrer Unterstützung zur Erlangung von Arbeiten, mit denen er seine Werkstätten beschäftigen und den Stamm geschulter Arbeiter erhalten kann. Schon aus diesem Grunde erachten wir es als eine Pflicht, Geldquellen für den steigenden Kapitalbedarf, den die ausgedehnten Unternehmungen fortdauernd hervorrufen, rechtzeitig uns zu sichern. Diese Vorsicht scheint uns umsomehr geboten, als wir in einer Industrie stehen, von der wir nicht wissen, wie lange ihr die Gunst des Publikums erhalten bleibt. Denn es sind durch die Leichtigkeit der Geldbeschaffung in den vergangenen Jahren zahlreiche Unternehmungen gegründet worden, die ihre Lebensfähigkeit noch zu erweisen haben; Enttäuschungen irgend welcher Art können aber ein Mißtrauen verursachen, das sich auch auf gesunde Unternehmungen erstreckt. Unter solchen Umständen werden gut organisierte und kapitalkräftige Trustgesellschaften, welche den inneren Wert von Unternehmen erkennen, die sich noch in der Vorbereitung befinden, den Mangel an Unternehmungslust ersetzen können. Für die großen ausländischen und überseeischen Unternehmungen, welche eine um so größere Bedeutung für uns erlangen, je mehr die Geschäfte im Mutterlande abnehmen, tritt aber das unabweisbare Bedürfnis einer Trustgesellschaft hervor, welche ein internationales Gepräge besitzt und kapitalkräftig genug ist, um die Führung in solchen Unternehmungen zu übernehmen. Eine solche Organisation besteht bereits in der unter dem Patronat der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich wirkenden Bank für elektrische Unternehmungen, die auf einem politisch neutralen Gebiet, unter dem Schutz einer für Trustgesellschaften [S. 217] günstigen Gesetzgebung im Juli 1895 gegründet wurde. Ein solches großes, bereits in voller Tätigkeit befindliches internationales Organ für unsere Zwecke in noch höherem Maße als bisher nutzbar zu machen, halten wir für zweckentsprechend.“
Die Aktionäre der A. E. G. haben, wie sich bald zeigte, die Transaktion nie zu beklagen gehabt. Die Dividende der Elektrobank erhöhte sich sehr bald auf 6½% und dann nach einem zweijährigen Rückschlag, der sie in den Jahren der Elektrokrise auf 6% zurückführte, weiter auf 10 und 12%. Die A. E. G. wurde dadurch in die Lage versetzt, jeden beliebigen Teil ihrer Elektrobank-Aktien mit ansehnlichem Kursgewinn wieder zu veräußern, eine Möglichkeit, von der sie auch in den ihr zweckmäßig erscheinenden Grenzen Gebrauch machte. Wieder einmal hatte Emil Rathenau recht behalten und eine zunächst unerfreulich scheinende Situation zum Vorteil gewandt. Späterhin wurde der Versuch gemacht, die Organisation der Elektrobank auf eine grundsätzlich breitere Grundlage zu stellen und ihren Wirkungskreis über den Bezirk der A. E. G. hinaus zu erweitern. In ihrem Geschäftsbericht für 1903/04 finden sich folgende Programmsätze:
„Nachdem wir uns früher hauptsächlich mit der Finanzierung solcher neuen Unternehmungen abgegeben haben, deren technische Ausführung durch die uns nahestehende Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft besorgt wurde, haben wir im Laufe des letzten Berichtsjahres den ausdrücklichen Beschluß gefaßt, unsere geschäftliche Tätigkeit insbesondere auch auszudehnen auf die Beschaffung der nötigen Geldmittel für bereits bestehende Unternehmungen und die Bevorschussung von Werten solcher, beides eventuell in Verbindung mit technischer und administrativer Reorganisation des Betriebes und mit dadurch zu erzielender Höherbewertung der eigentümlich erworbenen oder mit Ausbedingung von Optionsrechten bevorschusster Werte solcher Unternehmungen. Unsere Bank soll mit anderen Worten ein allgemeines Finanzierungsinstitut der Elektrizitätsindustrie sein.“
Zur besseren Durchführbarkeit dieser Ziele wurde in Berlin ein Zweigbureau geschaffen, das von Dr. Walther Rathenau, dem Administrateur und eigentlichen Kopf der Elektrobank geleitet wurde. In dieser Zeit war die fast völlige Union zwischen der A. E. G. und der Elektrobank einer Lockerung insofern gewichen, als die [S. 218] A. E. G. langsam größere Posten ihres Aktienbesitzes der Elektrobank abstieß. Ferner hatte die Annäherung der Union-Elektrizitäts-Gesellschaft an die A. E. G. zwar eine erhebliche Anzahl von Beteiligungen dieser Gesellschaft dem Portefeuille der A. E. G. zugeführt, andere wiederum einer selbständig bleibenden Trustgesellschaft der „Gesellschaft für elektrische Unternehmungen“ überlassen. Auch neue schweizerische Interessentenkreise traten der Elektrobank nahe, und gerade an Finanzierungen aus der von der A. E. G. unabhängigen Schweizer Elektrizitätsindustrie war wohl gedacht, wenn die Grenzen der Tätigkeit der Elektrobank etwas weitergerückt wurden. Überdies wuchs auch die Deutsch-Überseeische Elektrizitätsgesellschaft, die in ihren Anfängen vorwiegend von der Elektrobank entwickelt worden war, immer mehr über das Wurzelreich des A. E. G.-Konzerns hinaus. Sie brauchte zur Speisung ihres gewaltigen Kapitalbedarfs stärkerer Quellen, als die A. E. G. und ihr engeres Bankenkonsortium zu bieten vermochten. Die Gruppe der Deutschen Bank, die an der D. Ü. E. G. schon seit der Gründung beteiligt gewesen war, wurde schließlich die führende Bankverbindung der großen südamerikanischen Elektrizitätsunternehmung und als solche gelangte auch ihre Stellung in der Elektrobank, die ja noch immer einen beträchtlichen Teil der Deutsch-Überseeischen Aktien besaß, zu ausgeprägterer Bedeutung. Aus allen diesen Gründen erschien eine allzugroße Isolierung der Elektrobank auf den A. E. G.-Konzern nicht mehr erwünscht, und wenn die A. E. G.-Note bei der Züricher Finanzgesellschaft auch stets die vorherrschende blieb, so sollte sie doch nicht mehr die einzige sein. In späteren Jahren ist der Elektrobank durch die Fusion mit der Elektrizitäts-Akt.-Ges. vorm. Lahmeyer , der Finanzgesellschaft des von der A. E. G. aufgenommenen Felten-Guilleaume-Lahmeyerkonzerns, ein neues großes Einflußgebiet zugeführt worden. Sie übernahm von dem 25 Millionen Mark betragenden Kapital der Lahmeyergesellschaft 21720000 Mark gegen Hingabe von 16290000 Frcs. neuer Elektrobank-Aktien. Es fand also eine Verkapselung zweier Finanzgesellschaften ineinander statt, die beide ohne förmliche Fusion juristisch selbständig nebeneinander bestehen blieben.
* *
*
Werfen wir zum Schluß auch dieses Kapitels unserer Gewohnheit nach noch einen Blick auf die Entwickelung der Erträgnisse und der Bilanzaufstellungen der A. E. G. in dem soeben behandelten Abschnitt, den die Jahre 1894 und 1900 umrahmen. Die Entwickelung der Kapitalien ist folgende: Im Jahre 1895/96 wurde das Stammkapital von 20 auf 25 Millionen Mark erhöht, im Jahre 1896/97 auf 35 Millionen Mark, im Jahre 1897/98 auf 47 Millionen Mark, im Jahre 1898/99 auf 60 Millionen Mark, eine Höhe, die es auch im Jahre 1899/1900 nicht überschritt. Das Obligationenkapital wurde in dieser Zeit von 4844000 auf 14046500 Mark gesteigert. Der ordentliche Reservefonds stieg von 4479479 auf 22027621 Mark, wie früher ausschließlich durch Agiobeträge, die ihm bei den verschiedenen Kapitalerhöhungen zuflossen. Daneben wurde die freie oder außerordentliche Reserve von 500000 auf 5 Mill. M. vermehrt. Neben diesen offenen Reserven sind aber die stillen Rücklagen in ganz anderer Weise gestärkt worden als in den früheren Perioden. Die Gesellschaft hat die dazwischen liegende große Expansion nicht nur zur Erzielung hoher Agiogewinne, sondern auch zur inneren Festigung des Unternehmens durch Zurückhaltung beträchtlicher Teile der erzielten Gewinne benutzt, und sich so aufs beste gerüstet und gewappnet, die folgenden Jahre des Rückschlages und der Krisis nicht nur unerschüttert zu überstehen, sondern auch ausnutzen zu können. In dem von der A. E. G. gewählten System waren die stillen Reserven darum die echten Reserven, die offenen — wenigstens soweit der gesetzliche Reservefonds in Frage kam — nur der Ausfluß des hohen Markt- und Emissionswertes der A. E. G.-Aktie. Offene Reserven brauchen durchaus nicht immer wirkliche Schutzwälle zu sein, die um das Aktienkapital gelegt sind, um es gegen Stöße und Erschütterungen zu sichern und zu verhindern, daß Verluste sofort die Kapitalsubstanz, den inneren Fundus einer Gesellschaft treffen können. Sie brauchen es besonders dann nicht zu sein, wenn sie aus Agiogewinnen stammen. Denn Agiomöglichkeiten können künstlich durch hochgetriebene oder leichtfertige Gewinnausschüttungen herbeigeführt werden, da sich ja der Kurs einer Aktie und damit das Aufgeld bei Kapitalerhöhungen nach der Höhe der gezahlten Dividenden zu richten pflegen. Gerade wenn ein zu großer Teil der verdienten Gewinne auf Kosten der Abschreibungen und Rückstellungen als Dividende ausgeschüttet wird, läßt sich der Aktienkurs [S. 220] steigern, und in der Zeit, von der wir sprechen, war die Bilanzkritik bei der Presse und bei den Aktionären noch nicht ausgebildet genug, als daß nicht derartige Versuche auf dem Gebiet der künstlichen Agiotage möglich gewesen wären und die Wirtschaftswelt hätten irre führen können. In der Elektrizitätsindustrie insbesondere, die in den von uns behandelten Jahren unter einem Überschwange der Tendenzbeurteilung bei den Produzierenden sowohl wie auch beim Publikum stand, war ein besonders geeigneter Nährboden für eine derartige Ausnutzung des Aktienagios vorhanden. Es wurde überreichlich von ihm Gebrauch gemacht, und wir werden später sehen, daß die auf diese Weise geschaffenen großen offenen Reserven mancher Unternehmungen dem Anprall der Krise durchaus nicht standhielten und sozusagen auf den ersten Anhieb zusammenstürzten, das innere Leben der Gesellschaften, die sie decken sollten, sofort dem Ansturm preisgebend. In der Rathenauschen Bilanz war die Expansion, die zur Bildung der großen offenen Reserven geführt hatte, Hand in Hand mit einer Konsolidierung der inneren Werte gegangen, und die Echtheit der inneren Reserven wirkte auch auf den Bestand der äußeren Reserven zurück. Worin bestanden nun diese inneren Reserven? — Ein Vergleich der Bilanzen von 1894 und von 1900 zeigt es deutlich. Während im Jahre 1894 noch die sämtlichen Anlagekonten der A. E. G. in der Bilanz mit sichtbaren Wertansätzen erschienen, die einen vielleicht verhältnismäßig niedrigen, aber doch absolut betrachtet, noch einen recht hohen Bewertungsgrad darstellten, werden im Jahre 1900 nur noch Grundstücke, Gebäude und Vorräte mit Effektivansätzen bewertet. Maschinen, die 1894 noch mit 1220000 Mark ausgewiesen worden waren, erscheinen jetzt lediglich mit pro-Memoria-Beträgen von je 1 Mark. Sie sind also ganz abgeschrieben worden, trotzdem ihr wirklicher Wert in dieser Zeit nicht verringert, sondern um viele Millionen Mark — entsprechend dem gewaltigen Anwachsen der A. E. G.-Unternehmungen — vergrößert worden ist. In diesen Konten liegen also sehr beträchtliche innere Reserven, die sich von Jahr zu Jahr steigerten, denn alles, was in einem Jahre an neuen Maschinen, Werkzeugen, Utensilien usw. angeschafft wurde, gelangte sofort wieder voll zur Abschreibung. Während im Jahre 1894 auf Werkzeuge 20%, auf Maschinen 10% abgesetzt worden waren, betrugen im Jahre 1899/1900 die Abschreibungssätze auf diesen Konten volle 100%. Emil Rathenau [S. 221] hatte, um diese Bilanzierungsmethode möglichst unkontrolliert von der Öffentlichkeit und den Aktionären durchführen zu können, seit einigen Jahren die Gewohnheit angenommen, nur die Ergebnisse der Fabrikation, des Produktionsgeschäftes — und auch diese nur soweit es ihm paßte — in der Gewinn- und Verlustrechnung auszuweisen. Die gesamten Erträge des Finanzgeschäftes, und zwar sowohl die Rentenerträgnisse der im Besitz der A. E. G. befindlichen — auf Effekten- und Konsortialkonto verbuchten — Wertpapiere und Beteiligungen wie auch die Gewinne aus Effektentransaktionen wurden überhaupt nicht eingestellt, sondern zu Abschreibungen entweder auf Effekten oder auf Anlagen benutzt. Dabei richtete sich das Ausmaß der vorzunehmenden Abschreibungen nicht nach den wirklichen jeweiligen Ergebnissen der Effektenkonten, die ja immerhin einen zufälligen Faktor darstellten, und somit auch ein Moment der Zufälligkeit in die Abschreibungspolitik der Gesellschaft gebracht hätten. Sie wurden vielmehr nach dem Abschreibungsbedürfnis reguliert, das durch die Höhe der Zugänge auf den regelmäßig bis auf 1 Mark herunterzubuchenden Anlagekonten und durch den Stand der übrigen Konten (Gebäude, Grundstücke, Vorräte usw.) bestimmt wurde. Reichten also die aus dem Effektengeschäft stammenden Beträge nicht aus, so mußten noch Teile aus dem Fabrikationsgewinn abgezweigt und zu Abschreibungen mit herangezogen werden. Je gewaltiger die so heruntergeschriebenen Anlagen der Gesellschaft anwuchsen, desto größer mußten naturgemäß auch die hinter den Eine-Mark-Posten stehenden inneren Reserven sich erhöhen. Über die Bedeutung dieses später nur noch quantitativ, nicht mehr grundsätzlich geänderten Abschreibungssystems für die innere und äußere Entwickelung der Gesellschaft, für ihre Finanzen und die Stellung der Aktionäre zu ihr, wird noch später zusammenfassend zu sprechen sein. Hier soll nur im historischen Entwickelungsgange auf den Zeitpunkt hingewiesen werden, in dem diese Methode in das Finanzsystem der Gesellschaft eintritt und auf den Kontrast, in dem sie zu den früheren Bilanzierungsgewohnheiten steht. In dieser Hinsicht ist sie als Symptom für den fortschreitenden Konsolidierungsprozeß der Gesellschaft zu bewerten.
Abgesehen von diesem Zeichen der Konsolidierung weist die Bilanz von 1899/1900 aber auch noch andere interessante Merkmale auf. Auch bei den übrigen Anlagekonten ist eine stärkere Abschrei [S. 222] bungspolitik sichtbar. Während zum Beispiel früher auf Gebäude nur 2% abgeschrieben wurden, werden jetzt neben den ordentlichen Abschreibungen in derselben Höhe noch außerordentliche Abschreibungen vorgenommen, die dreimal so hoch sind wie die Pflichtabschreibungen. Es gelangen also auf Gebäude jetzt 8% gegen 2% früher zur Abschreibung, das sind für solche Anlagen ungewöhnlich hohe Prozentsätze. Das Effektenkonto wird mit 20984364 Mark gegen 5976266 Mark ausgewiesen, das Konsortialkonto mit 4837794 gegen 2963348 Mark. Daneben werden noch die Aktien der Bank für elektrische Unternehmungen mit 11395290 Mark aufgeführt. Die Effektenbestände sind also in sehr erheblichem Umfang gestiegen. Vergleicht man aber die Buchwerte mit dem Nominalbesitz an Wertpapieren, so zeigt sich, daß die Effektenbestände durchschnittlich viel niedriger zu Buche stehen als im Jahre 1894. In der Bilanz erscheint ferner — und dies ist für die Flüssigkeit des Status, nicht so sehr für die Solidität der Bewertung charakteristisch — ein Bankguthaben von 15620344 Mark gegen ein solches von 7933463 Mark in der Vergleichsbilanz. Die Gesamtdebitoren betragen 47037896 Mark gegen 16996308 Mark, die Gesamtkreditoren 19301579 Mark gegen 2575873 Mark. Bei einem Kapital von 60 Millionen Mark weist jede Seite der Bilanz jetzt einen Saldo von 133420023 Mark gegen einen solchen von 35542941 Mark bei einem Kapital von 20 Millionen Mark in der Vergleichsperiode auf. Trotzdem die Werte im Jahre 1900 viel niedriger bemessen sind als im Jahre 1894, trotzdem also ein großer Teil dieser Werte nur durch innere Reserven, nicht durch sichtbare Bilanzwerte belegt ist, stellt sich sogar der Gesamtbetrag der sichtbaren Aktiva im Verhältnis zum Aktienkapital ganz unvergleichlich höher als im Jahre 1894. D. h. mit einer Kapitalverdreifachung ist eine Expansion ausgeführt worden, die die Werte des Unternehmens weit mehr als verdreifacht hat.
Trotz dieser starken inneren Konsolidierung und der Zurückbehaltung großer Gewinnteile ist die Rente der Aktionäre in diesem Abschnitt ständig gestiegen. Die Dividende betrug im Jahre 1893/94 9%, sie ging dann in den folgenden Jahren bis 1895/96 auf 11% und 13%. In den Jahren 1896/97–1899/1900 betrug sie 15%.
Die bisherige Schilderung des Entwickelungsganges der A. E. G. seit der Überwindung der Krisis des Jahres 1887 wird bei dem Leser den Eindruck einer unaufhaltsamen, im Innern von mächtiger, manchmal ungestümer Triebkraft bewegten, von den äußeren Verhältnissen im großen und ganzen begünstigten Vorwärts- und Aufwärtsbewegung gemacht haben. Dieser Eindruck war auch vom Verfasser gewollt, denn er gibt ein richtiges Spiegelbild von dem inneren Schwung und dem Tempo, die Rathenaus Persönlichkeit wie das von seinem Geist geschaffene und erfüllte Werk stets, doch vielleicht nie so feurig beflügelten wie in jenem Zeitraum. Es waren die Jahre, in denen die Persönlichkeit sich am reichsten und freiesten entfaltete, in denen die Schöpfung den Ausdruck der Persönlichkeit und der Eigenart des Schöpfers annahm, in denen sie die bestimmenden Formen ihres Charakters, ihrer äußeren und inneren Gestalt, kurz ihres Entwickelungsgesetzes fand. Der Besitz der A. E. G. ist in späteren Perioden vielleicht noch stärker gemehrt worden, die Expansion noch vielgestaltiger fortgeschritten. Das geschah aber dann zum Teil infolge der automatisch nach Erweiterung drängenden Schwerkraft des kernhaft gewordenen Unternehmens, nicht mehr so sehr durch höchstpersönliche Leistung am werdenden Werk. Die Entwickelung nach 1902 hätte man sich zur Not auch ohne Emil Rathenau vorstellen können, die vor 1900 aber keinesfalls. Alle Keime begannen in dieser schöpferischen Periode bereits aufzugehen, alle Möglichkeiten traten bereits in den Kreis des Unternehmens, alle Fundamente wurden gefestigt und alle Grenzen fingen an, sich abzuzeichnen. Die Ideen traten hervor, ohne sich allerdings bereits ganz zu erfüllen, oder gar zu erschöpfen. Aber das Werk ließ bereits die Umrisse er [S. 224] kennen, das Wesenhafte an Rathenaus Art und Leistung hatte sich ausgeprägt. Seine Art der Industriepolitik, der Unternehmerpolitik, der Finanzpolitik und der Sozialpolitik ist grundsätzlich hier bereits festgelegt. Was dann noch kam, war gewiß keineswegs bloße Wiederholung oder nur Anwendung und Ausbau im Quantitativen, keineswegs nur das Abrollen und Anschwellen einer im Lauf befindlichen Lawine, aber es war doch das Fortschreiten auf dem bereits gebahnten und gerichteten Wege. Die Verfeinerungsarbeit, die nun folgte, die eine naturgemäß im Expansionsgange liegende Häufung der Mengen und Mittel vor einer Ausartung ins Nichts-als-Kolossale bewahren, und darum einer ganz besonders eindringlichen inneren Verarbeitung unterziehen mußte, warf tagtäglich neue Probleme auf, erforderte ständig eine Verjüngung und Erneuerung der Methoden. Sie stellte an die Individualität immer frische geistige Anforderungen, damit die Gefahr der Schematisierung und Mechanisierung vermieden wurde, die eine unbeherrscht so stark anschwellende Masse schließlich starr und unproduktiv gemacht hätte. Eine Organisation, die nur vergrößert, nicht stets kontrolliert und erneuert wird, muß schließlich zur Bürokratie werden und leidet unter ihrem eigenen Gewicht. Dies im zunehmenden Tagesdrang der kleinen und großen Geschäfte vermieden, daneben jedoch neuen Problemen frisches Augenmaß gegeben zu haben, bleibt die geistige Leistung der nachfolgenden Schaffensperiode Rathenaus.
Das große Bild jener Grundlegung in den Entwickelungsjahren bis 1900 durfte nicht durch zu starkes Betonen der Retardations- und Rückschlagsmomente, der Nebenwirkungen, Auswüchse, der richtigen und falschen Nachahmungen beschwert und beunruhigt werden, wenn es voll wirken sollte. An solchen Zügen hat es natürlich auch in jenen Zeiten des Aufschwungs nicht gefehlt, weder innerhalb, noch außerhalb des A. E. G.-Kreises. Auf sie ist gelegentlich auch bereits hingewiesen worden, so besonders auf die langsame, kühle Verwirklichung mancher heiß und kühn konzipierten technischen und wirtschaftlichen Erkenntnisse, auf den Überschwang mancher Projekte und die falsche Abschätzung mancher Dimensionen, schließlich auch auf die falsche, mißverstandene Anwendung mancher Methoden durch dritte. Wir haben gesehen, daß in der vergangenen Epoche die Führung und Tonangabe, wenn auch nicht in der elektrischen Industrie, [S. 225] so doch in ihrer Fortentwickelungstendenz von der Firma Siemens & Halske auf die A. E. G. übergegangen war. Ihre Schwungkraft, ihr Expansionswille und die Art seiner Betätigung gaben der ganzen Industrie die bestimmende Note. Auf ihrem Fluge war sie bald von einem ganzen Schwarm von Mitläufern umringt, die ihr Tempo mitzuhalten, wenn gar noch zu übertreffen versuchten. Überspannung, heftiger Konkurrenzkampf, der noch durch die Energie und Eifersucht, mit der sich die früher allein herrschende Firma Siemens & Halske aus ihrem bereits etwas satt gewordenen Entwickelungstemperament heraus zur Wehr setzte, gesteigert und vertieft wurde, gaben schon in den letzten Jahren des zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhunderts den Verhältnissen in der Elektrizitätsindustrie immer stärker das Gepräge. Überproduktion und Preisrückgänge waren die Folgen. Sie traten umso schärfer in Erscheinung, als die großen Anregungen der Elektrizitätsbewegung, die von der Konstruktion der Dynamomaschine, der Erfindung des Bogen- und Glühlichts ihren Ausgang genommen und ihre Kraft zwei Jahrzehnte hindurch in ständig anschwellendem Strom betätigt hatten, ihren Höhepunkt überschritten zu haben und in die Periode des Auslaufs zu kommen schienen, ohne daß zunächst neue motorische Kräfte an ihre Stelle traten. Die Krise kündigte sich durch mehr als ein Zeichen an, und es kam jetzt darauf an, ob alle Unternehmungen der Industrie ebenso wie die A. E. G. trotz des Sturmschritts des letzten Jahrzehnts ausreichende Sicherheitsventile gegen die Wucht plötzlichen Überdrucks, innere Kraftausgleichsquellen gegen Rückschläge geschaffen hatten.
Von Emil Rathenau war mit der Wahrscheinlichkeit, ja Notwendigkeit eines Rückschlages immer gerechnet worden. Trotz allem Optimismus für die große Zukunft und die unverwüstliche Lebenskraft der elektrischen Idee überließ sich seine praktische Arbeit nie unbeherrscht diesem felsenfesten Vertrauen in den Enderfolg, sondern sie wurde auf Schritt und Tritt von dem latenten Pessimismus überwacht, der die Durchführung dieser Idee gegen alle nur denkbare Zufälle und Mißhelligkeiten nicht genug versichern konnte. „Ich traue auf meinen Stern, also brauche ich mich nicht vorzusehen,“ diese beliebte Devise der Optimisten war Rathenau ganz und gar fremd. Bereits in den letzten Jahren des zu Ende gehenden Jahrhunderts hat Rathenau die Krisis nahen gefühlt, während die Konkurrenz sich noch mit ungeminderter Leidenschaft dem Gründungstaumel hingab. [S. 226] Ganz besonders auf dem scharf umstrittenen Gebiete des elektrischen Straßenbahnbaus legte sich die A. E. G. sichtbare Zurückhaltung auf. Dem Handelsredakteur eines großen süddeutschen Blattes vertraute Emil Rathenau bereits längere Zeit vor Ausbruch der Krisis seine Befürchtungen an. „Flaumacherei, Baissemanöver, Neid gegenüber der ihn überflügelnden Konkurrenz“ wurden Rathenau damals von anderen Elektrizitätsfachleuten in der Presse vorgeworfen, als seine Äußerungen an die Öffentlichkeit gelangten. In den offiziellen Kundgebungen der A. E. G. wird zum ersten Male im Geschäftsbericht für das Jahr 1898/99 das Nahen der Krisis angedeutet, nachdem bereits in der oben wiedergegebenen Generalversammlungsrede im Jahre 1898 gelegentlich des Erwerbes der Elektrobank-Aktien auf die ungesunden Gründungen in der Elektrizitätsindustrie, und auf die Wahrscheinlichkeit eines früher oder später eintretenden Rückschlags hingewiesen worden war. Die Gesellschaft spricht im Jahre 1898/99 von eventuell bevorstehenden schlechteren Zeiten und einer für die Elektrizitätsindustrie drohenden Überproduktion. Im Bericht für das Jahr 1899/1900 wird schon ein deutlicheres Warnungssignal gegeben. Nachdem konstatiert worden ist, daß die Geschäftslage noch günstig sei, daß die Summe der auf das laufende Jahr übertragenen Aufträge den Umsatz des abgelaufenen Jahres wesentlich übersteige und die Gesellschaft auch im neuen Jahre mit lohnenden Arbeiten bisher reichlich versehen worden sei, heißt es: „Ungeachtet dessen mahnt die schwindende Zuversicht in den Fortbestand der industriellen Hochkonjunktur zu verstärkter Vorsicht bei Aufnahme neuer Geschäfte, die zu ihrer Entwickelung erfahrungsgemäß einer Reihe von Jahren bedürfen.“ — Weiter unten wird aber schon die tröstliche Versicherung gegeben: „Gegen die Nachteile einer etwaigen Überproduktion im Lande hoffen wir, durch die Einrichtungen unserer Fabriken und deren Bewertung uns wirksam schützen zu können.“ In der Generalversammlung vom 6. Dezember des Jahres 1900 unterstrich Rathenau diese Mitteilungen noch, indem er ausführte, es könne niemand leugnen, daß die Konjunktur ihren Höhepunkt überschritten habe. Vorläufig sei allerdings der Rückgang noch mäßig. Als einer der Gründe für den Rückschlag wurde angegeben, daß zu viele neue Unternehmungen gegründet seien. Am frühesten zeigten sich Spuren der beginnenden Stauung denn auch im Unternehmergeschäft . Der Geschäftsbericht der Bank für elektrische [S. 227] Unternehmungen für das Jahr 1899/1900 geht diesen Spuren nach und schildert sie folgendermaßen, zugleich zeigend, daß die Trustorganisation für das Unternehmergeschäft nach Versagen des Kapitalmarktes genau so funktioniere und wirke, wie das von Emil Rathenau gedacht worden war:
„Die nicht unerhebliche Steigerung der Preise fast sämtlicher, für die elektrische Industrie in Betracht fallender Rohprodukte und die daraus sich ergebende Preiserhöhung der Fabrikate, hat glücklicherweise den Umfang der geschäftlichen Tätigkeit der großen Elektrizitätsgesellschaften bisher nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil wird von vielen Seiten während des ganzen Berichtsjahres eine erfreuliche Andauer der Beschäftigung und eine Steigerung der Umsätze gemeldet, welche häufig sogar den Gewinn-Ausfall auszugleichen vermocht hat, der dadurch entstand, daß die Preise der Fabrikate nicht im gleichen Verhältnis hinaufgesetzt werden konnten, wie die Preise der Rohstoffe und Hilfsmaterialien für die Konstruktion der elektrotechnischen Produkte sich steigerten.
Diese Preissteigerung der Rohstoffe und Hilfsmaterialien hat sich aber, mehr noch als beim Bau, beim Betrieb der elektrotechnischen Maschinen und Anlagen fühlbar gemacht. Man denke nur an die sehr erhebliche Erhöhung der Selbstkosten des elektrischen Stromes, wie sie sich für diejenigen Zentralen, die auf Dampfkraft angewiesen sind, aus der Preissteigerung der Kohle um rund 50% ergeben mußten. Eine Reihe von diesen Anlagen ist dadurch in ihrer finanziellen Entwickelung im abgelaufenen Jahr gehemmt worden, und da infolgedessen den großen Elektrizitätsgesellschaften die definitive Abstoßung ihrer finanziellen Beteiligungen an von ihnen ins Leben gerufenen Unternehmungen nicht erleichtert worden ist, so hat sich in neuester Zeit eine gewisse Zurückhaltung in der Übernahme von Aufträgen, mit welchen finanzielle Leistungen seitens der Unternehmerfirmen verknüpft sind, geltend gemacht. Daß die großen Gesellschaften diesen Standpunkt, jedenfalls nicht zum Nachteil des eigentlichen legitimen Unternehmer- und Fabrikations-Geschäftes, einnehmen können, erleichtert und ermöglicht ihnen gerade der erfreuliche Umstand, daß sie bis jetzt auch ohnedies auf allen Gebieten vollauf und zu lohnenden Preisen beschäftigt zu sein scheinen.
Unter solchen Umständen finden Banken, welche, wie die unsrige, sich speziell mit der Übernahme und Durchführung von Finanz [S. 228] geschäften auf elektrotechnischem Gebiet abgeben, Gelegenheit genug, sich zu betätigen, und es hat der Umfang unserer Geschäftsverbindungen und die Anlage unserer Betriebsmittel in Beteiligungen aller Art bei elektrotechnischen Unternehmungen auch im abgelaufenen Jahr wieder zugenommen. Immerhin genügten hierfür die von uns schon früher beschafften Mittel, während wir von der Begebung weiterer Obligationen unserer Bank bei der im ganzen ungünstigen Disposition des Geldmarktes glaubten absehen zu sollen.“
Nichtsdestoweniger wird für das Jahr 1899/1900 bei der A. E. G. noch die unverminderte Dividende von 15% ausgeschüttet. Das folgende Jahr bringt einen Rückgang auf 12%, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß diesmal 13 Millionen Mark junge Aktien, die im Vorjahre nur die Hälfte der Dividende erhielten, voll daran teilnehmen. So wird noch immer eine Dividendensumme von 7,2 Millionen Mark gegen 8025000 Mark im Vorjahre herausgewirtschaftet. Der Niedergang kann nun von niemandem mehr geleugnet werden. Die starken wohlfundierten Unternehmungen halten den Stoß bewunderungswürdig gut aus, aber in dem leichten Gebälk der schwächer gezimmerten Gesellschaften kracht und knirscht es bereits. Der Geschäftsbericht des Jahres 1900/1901 setzt sofort mit Krisenstimmung ein. „Fast zwei Jahrzehnte lang hat die elektrotechnische Industrie immer neue lohnende Aufgaben gefunden und sich einer stetigen Entwickelung erfreut; die bekannten Vorgänge in unserem Wirtschaftsleben mußten eine vorläufige Unterbrechung dieser Bewegung mit Notwendigkeit herbeiführen. Auf die Anzeichen drohender Überproduktion und ungesunder Übertreibung haben wir in den letzten Jahren oftmals hingewiesen. Wie schmerzlich auch der scharfe Rückgang in der Konjunktur empfunden wird und wie berechtigt die Klagen über Schäden und Einbußen sind: der auf Vervollkommnung der Arbeitsmethoden bedachte Fabrikant und Techniker wird zugeben, daß nur normal beschäftigte Werkstätten Zeit und Muße zu Verbesserungen und Verbilligungen finden, während die zwei- und dreifachen Schichten, wie sie jahrelang zur Notwendigkeit geworden waren, Ausgestaltungen und Neuerungen der Fabrikationsmethoden erschwerten.“ — Von Resignation oder Waffenstreckung also trotz der Enttäuschungen und Rückschläge keine Spur. Auch hier der feste Wille, sich von Mißhelligkeiten nicht unterkriegen zu lassen und sogar aus ihnen noch Vorteil für die Zukunft zu ziehen. Zur [S. 229] Verzweiflung lag allerdings bei der A. E. G. auch noch kein Anlaß vor: „Wir konnten annähernd den gleichen Umsatz wie im Vorjahre abrechnen und waren in den meisten Abteilungen unseres Geschäftsbetriebes und der Fabrikation befriedigend beschäftigt; neuen Unternehmungen gegenüber legen wir uns aber große Beschränkungen auf.“ — Auch die Aussichten werden nicht als direkt ungünstig geschildert, wenigstens was die Arbeits quantität anlangt: „Nach den ultimo September gemachten Aufstellungen erreichen die fakturierten Umsätze nahezu die der gleichen Periode des Vorjahres, ebenso die vorliegenden Aufträge, soweit Bahnunternehmungen und Bestellungen für die Berliner Elektrizitätswerke, deren Bautätigkeit einstweilen zum Abschluß gelangt ist, nicht in Betracht kommen.“ Nun aber kommt der wunde Punkt:
„Diese Ziffern wären unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen befriedigend, wenn die Akquisitionstätigkeit der Konkurrenz, welche ohne Rücksicht auf Herstellungskosten um jeden Auftrag kämpft, nicht zu andauerndem Rückgang der Preise führte. Da unter diesen Umständen ein Urteil über die zukünftige Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens schwer zu gewinnen ist, müssen wir damit rechnen, daß ein Aufschwung gleich dem der letzten Jahre, dem die Elektrotechnik ihre Größe verdankt, sich nicht sogleich erneuern werde. Vielfach haben Unternehmungen, welche in der Hochflut der Konjunktur ohne innere Notwendigkeit entstanden und mit ungenügender Sachkenntnis geleitet waren, das Vertrauen in die Ergiebigkeit unserer Industrie erschüttert. Es wird die Aufgabe der auf solider Grundlage errichteten und mit Umsicht und Verständnis geleiteten Werke sein, dieses Vertrauen wieder herzustellen. Aber hierdurch allein wird die Schwierigkeit der Lage, die teilweise auf notorischer Überproduktion der Fabriken beruht, nicht beseitigt. Die mißlichen Verhältnisse werden schwinden, und die deutsche Elektrotechnik wird ihre Macht und Bedeutung, welche sie im Wettbewerbe der Nationen in Chicago und Paris gezeigt hat, erfolgreich auf dem Weltmarkt betätigen, wenn neue Handelsverträge, wie wir hoffen, unseren Waren die Märkte befreundeter Nationen offen halten, und wenn die kräftigeren Unternehmungen durch zweckmäßige Organisation und rationelle Arbeitsteilung die Versuchs-, Fabrikations- und Verkaufsspesen auf das geringste Maß herabmindern. Im eigenen Interesse, wie in dem der elektrotechnischen Industrie ist deshalb unser Bestreben darauf ge [S. 230] richtet, in dem angedeuteten Sinne zu wirken, und wir halten uns die Initiative hierfür zu ergreifen für berechtigt, weil die innere und äußere Lage unserer Gesellschaft die Vermutung ausschließen sollte, daß sie auf das Zustandekommen derartiger Projekte angewiesen ist.“
Noch weiter werden die hier angedeuteten Gesichtspunkte betreffend die ruinöse Konkurrenz und das Mißtrauen des Kapitals, von dem gerade die Elektrizitätsindustrie in den letzten Jahren außerordentlich verwöhnt worden war, ausgesponnen und daneben noch andere negative Momente, so die langsame Verwirklichung der von der Elektrizitätsindustrie mit Ungeduld erwarteten Elektrisierung der Vollbahnstrecken, in dem Geschäftsbericht der Elektrobank für das Jahr 1900/01 geschildert:
„Die von kompetenten Fachleuten schon vor geraumer Zeit gemachte und geäußerte, anfänglich aber vielfach bestrittene Wahrnehmung, daß die Konjunktur in der elektrischen Industrie für einmal ihren Höhepunkt erreicht habe, hat durch den Geschäftsgang in dem Zeitraum, über welchen wir Bericht und Rechnung zu erstatten haben, eine Bestätigung gefunden, welche an der Richtigkeit dieser Tatsache heute wohl niemanden mehr zweifeln läßt. Zwar sind wenigstens die größeren Etablissements der elektrischen Industrie noch immer befriedigend beschäftigt. Aber der Bau neuer elektrischer Anlagen, sowohl für Beleuchtung, als für Straßenbahnen und für Kraftübertragung, hat doch insofern eine fühlbare Einschränkung erfahren, als es den Unternehmerfirmen nicht mehr so leicht gemacht ist, durch gleichzeitige Finanzierung der zu erstellenden Werke sich vorteilhafte Bestellungen zu sichern: Das Kapital drängt sich zu Anlagen in elektrischen Werten nicht mehr so heran, wie vor einigen Jahren. Das hat zur Folge, daß die Konstruktionsfirmen diejenigen Aufträge bevorzugen, welche für sie keine finanziellen Leistungen involvieren, selbst wenn die dabei zu erzielenden Preise weniger günstig sind. Daneben kommt das eigentliche Fabrikationsgeschäft, welches sich die Erzeugung der vielfältigen Verbrauchsgegenstände für die bereits bestehenden Anlagen zur Aufgabe stellt, immer mehr zur Geltung. Die Zeit muß lehren, ob alle die großen Konstruktionsunternehmungen, welche die elektrische Industrie namentlich in Deutschland und der Schweiz zu so hoher Blüte gebracht haben, auch auf dieser reduzierten Basis genügende und lohnende Beschäftigung finden, namentlich wenn neben der gegenseitigen inländischen auch [S. 231] die ausländische, speziell amerikanische Konkurrenz in der Folge sich noch intensiver geltend machen sollte. Jedenfalls ist die heutige Situation ein Ansporn, allen Bestrebungen, welche neue Arten der Verwendung der elektrischen Energie zu finden bezwecken, die größte Aufmerksamkeit zu widmen. Angesichts der unbestrittenen Höhe, welche die Leistungsfähigkeit unserer elektrischen Industrie, wissenschaftlich und praktisch, erreicht hat, darf man zuversichtlich hoffen, daß es ihr gelingen wird, die Aufgabe zu lösen, der Elektrizität Anwendung auf immer weiteren Gebieten zu sichern und sich damit die Möglichkeit ausreichender Tätigkeit auch in Zukunft zu wahren. So dürfte eine neue, der frühern nahekommende Blütezeit für die elektrische Industrie namentlich dann zu erwarten sein, wenn es gelingen sollte, das Problem eines rationellen elektrischen Vollbahn-Betriebes endgültig zu lösen, ein Problem, welches namentlich für kohlenarme, aber wasserkraftreiche Länder, wie die Schweiz, von sehr großer Bedeutung ist und bleiben wird.
Für unsere Bank ist der eingetretene Unterbruch in der mehrjährigen glänzenden Entwicklung der Elektrizitätsbranche bis jetzt nur insofern von Einfluß gewesen, als auch wir uns mehr mit unseren bisherigen Geschäften und deren weiteren Forderung, als mit neuen Unternehmungen abgegeben haben.“
Das Jahr 1901/1902 bringt noch eine Vertiefung der Krisis. Die Dividende der A. E. G. sinkt bis auf 8% und neben der Kritik der äußeren Dinge wird auch die Selbstkritik schärfer, wird die Notwendigkeit anerkannt, aus den begangenen Fehlern und Irrtümern zu lernen, aber doch zugleich eingestanden, daß ein Ende des Niederganges noch nicht abzusehen und eine volle Erkenntnis der Heilmittel noch nicht möglich ist. Lassen wir wieder den Geschäftsbericht in Rathenaus diesmal besonders scharf geprägten Worten sprechen:
„Wie der wirtschaftliche Aufschwung des letzten Jahrzehntes sich um die aufblühende elektrotechnische Industrie konzentrierte, so steht diese in der gegenwärtigen Periode im Mittelpunkte des allgemeinen Niederganges; ja es darf heute kaum mehr geleugnet werden, daß die elektrische Krisis eher eine der Ursachen als eine Folge der wirtschaftlichen Gesamterkrankung darstellt.
Die Ursachen der Krisis waren übermäßige Investitionen bei Betriebsunternehmungen, die weder mit der Kapitalskraft des Landes [S. 232] noch mit den landesüblichen Ansprüchen an Verzinsung im Einklang standen, mangelhafte Prüfung und Überkapitalisation dieser Unternehmungen; ungerechtfertigte Erweiterung der Fabrikationsstätten auf Grund der Aufträge , die aus Lieferung für eigene Unternehmungen stammten und daher nur einmalige waren, Ausbreitung der Geschäfts- und Verkaufsorganisationen über dasjenige Maß hinaus, das durch die Basis der Fabrikation gegeben war.
Die Bedeutung und Zukunft der Elektrotechnik als Faktor des modernen Lebens wird durch die Kalamität der Industrie nicht verringert; im Gegenteil ist zu erwarten, daß die durch Besorgnis gesteigerte Emsigkeit neue Gebiete und neue Anwendungen erschließen und die Kenntnis und Beherrschung der vorhandenen erweitern wird. Wenn auch diese Rückwirkung der elektrotechnischen Industrie zugute kommen wird, eine Gesundung wird schwerlich sofort erfolgen. Fürs erste handelt es sich darum, dem vorhandenen Zustand ins Auge zu sehen und das Mißverhältnis zwischen Produktionsfähigkeit und Konsum rückhaltlos zu konstatieren. Dies wird dem Kapitalisten heute leichter sein als vor einem Jahre, nachdem inzwischen vielfach Ergebnisse und Bewertungen in scharfen Kontrast zu mannigfachen hoffnungsvollen Erklärungen und Voraussagen getreten sind. Welche Mittel zu ergreifen sein werden, um unsere Industrie zu konsolidieren, haben wir wiederholt ausgesprochen. Ein engeres Zusammenschließen der großen Firmen wird sich kaum vermeiden lassen, wenn die Verkaufspreise der Erzeugnisse wieder auf ein der Fabrikation lohnendes Niveau gebracht werden sollen. Daß aber eine Beschleunigung des Zusammenschlusses leicht zu Übereilungen führen könnte, scheint uns durch die Tatsache erwiesen, daß noch im Verlauf des letzten Jahres erhebliche Verschiebungen in der relativen Bewertung der einzelnen Unternehmungen stattgefunden haben und anscheinend dauernd sich vollziehen. Schon aus diesem Grunde scheint uns ein klares Erfassen der Situation die nächstliegende Vorbedingung für spätere Sanierung.“
Noch pessimistischer klingt’s im Geschäftsbericht der Elektrobank:
„Der Rückschlag auf dem Gebiete der Elektrizitätsindustrie, der sich schon im Vorjahre als recht intensiv erwies, hat im Berichts [S. 233] jahre leider weitere Fortschritte gemacht, und es ist noch nicht abzusehen, wann die rückläufige Bewegung einem wiederkehrenden Aufschwunge weichen wird. Speziell das Unternehmergeschäft, das für Institute, wie das unsrige, in erster Linie in Betracht fällt, hat an Umfang noch mehr eingebüßt. Zweifelsohne trägt daran die allgemeine Depression der wirtschaftlichen Lage in Europa, welche durch den ungewissen Ausgang der Verhandlungen über den Abschluß neuer Zoll- und Handelsverträge noch verstärkt wird, eine Hauptschuld. Daneben wirkt aber mit, daß die Anlagen auf dem Gebiete der elektrischen Zentralstationen und Straßenbahnen, soweit es sich wenigstens um hinsichtlich ihrer Ertragsfähigkeit gerechtfertigte Projekte handelt, in den hierfür einstweilen in Betracht fallenden Ländern zum guten Teil bereits ausgeführt sein dürften. Eine weitere Betätigung nach dieser Richtung wird sich also entweder auf entferntere, politisch und wirtschaftlich weniger entwickelte Länder erstrecken oder durch eine Verbilligung der Anlagekosten und des Betriebes die Vorteile der elektrischen Beleuchtung und Traktion auch solchen Gemeinwesen zugänglich zu machen suchen müssen, die man für derartige Einrichtungen bis anhin nicht als genügend lohnende Objekte betrachten konnte. Wohl hat sich die deutsche und schweizerische Elektrizitätsindustrie auch schon wiederholt an große ausländische Beleuchtungs- und Transport-Unternehmungen herangemacht, und wir selbst haben uns finanziell an solchen interessiert; die Frage bleibt aber noch offen, ob namentlich die daherige überseeische Tätigkeit überall eine mit den vermehrten Risiken aller Art im Einklang stehende Entlohnung dabei findet. Und was die Ausdehnung elektrischer Einrichtungen im Beleuchtungs- und Traktionswesen auf wirtschaftlich minder entwickelte Gemeinwesen anbetrifft, so scheint man auch da schon jetzt oft bis an die äußerste Grenze des Berechtigten gegangen zu sein.
Solange die Elektrizitäts- und deren Hilfsgesellschaften über, wie es damals schien, unerschöpfliche Geldmittel verfügten, wurden die ihnen sich bietenden Unternehmungen häufig mit einem, den tatsächlichen Verhältnissen widersprechenden Optimismus eingeschätzt, und die an der Erteilung von Konzessionen interessierten Organe nahmen nicht selten zum eigenen Nachteil keinen Anstand, Bewerber nur deshalb zu bevorzugen, weil sie glänzende Zugeständnisse machten und hohe Erträge in Aussicht stellten. Nach dieser Richtung [S. 234] wird die jetzt zuweilen beklagte Zurückhaltung des Kapitals Wandel schaffen, indem es die Bedingungen des Zustandekommens und die Chancen neu zu schaffender Elektrizitätsunternehmungen sorgfältiger prüft als bisher. Andererseits werden aber auch die Kreise, welche die Hebung der Gemeinden und die Förderung des Verkehrs durch Einführung von elektrischem Licht und elektrischen Bahnen mit fremden Mitteln anstreben, im eigenen Interesse auf die zukünftige Prosperität dieser Schöpfungen bedacht sein und den privaten Unternehmungen durch Gewährung günstiger Bedingungen das mit Übernahme derselben verbundene Risiko erleichtern müssen.
Unter den gegenwärtigen Verhältnissen liegt einstweilen nach wie vor das Schwergewicht der Tätigkeit der großen elektrischen Konstruktionsfirmen in der Fabrikation aller Einrichtungen für den täglichen, laufenden Gebrauch und Verbrauch der elektrischen Bedarfsgegenstände aller Art. Hier aber zeigt sich immer mehr, daß die vorhandenen Fabrikationseinrichtungen für die gegenwärtigen Bedürfnisse mehr als genügend sind. Daraus resultiert ein ungemein intensiver Wettbetrieb und ein Preisniveau für die Erzeugnisse, das kaum mehr den richtigen industriellen Nutzen läßt. Daß dabei diejenigen Gesellschaften, welche in den guten Zeiten auf möglichst hohe Rücklagen und Abschreibungen Bedacht genommen und vor allem für die höchste technische Vervollkommnung ihrer Fabrikationseinrichtungen Sorge getragen haben, im Konkurrenzkampf am günstigsten dastehen, ja vielleicht diesen allein zu überdauern vermögen, ist selbstverständlich. Vielleicht wird auch für unsere europäischen Elektrizitäts-Gesellschaften ein engerer Zusammenschluß nach amerikanischem Vorbild zur Notwendigkeit, bei dem die weniger günstig produzierenden Anlagen einstweilen zum Stillstand verurteilt werden könnten, bis die Verhältnisse sich wieder gebessert haben werden. Aber wenn auch verschiedene Gruppen ihre Interessen vereinigen, so wird eine durchgreifende Besserung erst allmählich und in dem Maße eintreten, wie die heutigen Anwendungsarten der elektrischen Industrie auf neue Gebiete sich erweitern. Wird auch in dieser Richtung unablässig gearbeitet, und dürfen wir auch in die Fähigkeit, Intelligenz und Energie der Vertreter unserer elektrischen Wissenschaft und Praxis für die Zukunft alles Zutrauen haben, so müssen wir doch zugestehen, daß speziell im abgelaufenen Jahr neue, epochemachende Erfindungen auf elektrischem Gebiete nicht gemacht, [S. 235] auch längst anhängige wichtige Probleme, wie insbesondere der elektrische Vollbahnbetrieb, sehr weit nicht gefördert worden sind.“
Doch gerade hier werden die Interessenten nicht ohne Hoffnungsschimmer entlassen:
„So düster das vorstehend entworfene Bild sein mag, so fehlen doch auch gewisse Lichtblicke nicht, die leicht eine Wendung zum Besseren einleiten könnten: Die starke Verbilligung vieler für die Elektrotechnik wichtiger Rohmaterialien, insbesondere von Kupfer und Eisen, hat bereits mit zur Herabsetzung der Preise elektrischer Maschinen, Kabel usw. beigetragen und wird die Erstellung neuer elektrischer Einrichtungen, sowie die Ausdehnung des Anwendungsgebietes der elektrischen Energie zweifelsohne fördern. Auch die ganz außerordentliche Geldflüssigkeit, die sich seit längerer Zeit geltend macht, muß früher oder später das Kapital veranlassen, sich wieder eine höhere Verzinsung bei der Industrie zu suchen. Das kann auch der Elektrizitätsbranche zugute kommen. Wie bald, das ist freilich schwer vorauszusagen.“
Das Jahr 1902/03 bringt endlich den ersten Schritt zur Lösung und Überwindung der Krise. Die Dividende der A. E. G. kann zwar noch nicht wieder über 8% hinaus erhöht werden, aber bei der Elektrobank und der Elektrizitäts-Lieferungsgesellschaft werden Steigerungen von 6 auf 6½ und 7 auf 7½% vorgenommen. Das Wesentlichste aber ist, daß das Mittel nicht nur gefunden, sondern auch zum erstenmal in durchgreifender Weise zur Anwendung gebracht wird, das den schlimmsten und am bösesten verwucherten Keim der Krisis, die Überproduktion und den ruinösen Konkurrenzkampf, zu ertöten geeignet ist. Dieses Mittel heißt Konzentration . Bis dahin in der Elektrizitätsindustrie mit ihren völlig dezentralisierenden, durch keinerlei Kontrollvereinbarungen abgedämpften Absatzmethoden völlig unbekannt, ergriff der Gedanke der Konzentration diese Industrie, geboren aus der Not des Zusammenbruches und der Kraft des Kontrastes, nun stärker als jedes andere Gewerbe, die Macht der Schwachen völlig erschütternd, die der Starken aus der Erbschaft jener außerordentlich mehrend. Er hat die ganze Entwickelung des folgenden Jahrzehntes beherrscht, aber auch diesen ganzen Zeitraum gebraucht, um die Reste der früheren individualistischen Entwicklungsära völlig aufzusaugen und zu verdauen. Bevor wir diesen Weg wei [S. 236] terverfolgen, wird es notwendig sein, zu untersuchen, wie sich die Situation der gesamten Industrie in dem Hexenkessel der Krisis gestaltet und verändert hat. Was wir bisher von ihr gesehen haben, war aus dem Spiegel der A. E. G. zurückgeworfen und gab — abgesehen von subjektiv gefärbten, übrigens immerhin zurückhaltenden Darstellungen der Lage des Allgemeingewerbes — nur die Wirkungen auf das A. E. G.-Unternehmen selbst wieder. Dieses Bild muß durch die Schicksale der anderen in der Industrie tätigen Unternehmungen, ihre Ursachen und ihre Folgen, ergänzt werden. Erst dann wird das Verständnis der Krise und das Verständnis ihrer Überwindung ganz erschlossen werden können.
Wie wirkte nun der Niedergang auf die übrigen Unternehmungen der Elektrizitätsindustrie? — Wenden wir uns zunächst zu der Firma Siemens & Halske , die erst im Jahre 1897 — nach dem Tode Werner Siemens — in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden war. Das Kapital dieser Gesellschaft hatte bei der Gründung 35 Millionen Mark betragen, hatte also genau dieselbe Höhe wie das damalige Aktienkapital der A. E. G., auf das allerdings zu jener Zeit nur 32586000 Mark eingezahlt waren. In den Jahren 1898 und 1899 trug die Gesellschaft dem stürmischen Expansionstempo in der Elektrizitätsindustrie durch Erhöhungen von je 5 Millionen Mark Rechnung, und im April 1900, also in einer Zeit, in der der kluge und vorsichtige Emil Rathenau bereits warnend von der schwindenden Zuversicht in die Konjunktur sprach und sich wohlweislich hütete, den Kapitalmarkt noch in Anspruch zu nehmen (nachdem er sich allerdings vorher zu geeigneter Zeit reichlich mit Mitteln versehen hatte), erfolgte bei Siemens & Halske noch eine dritte größere Kapitalvermehrung um 9500000 Mark. Die Aktien wurden allerdings nur teilweise — in Höhe von 4,5 Millionen Mark — auf dem Kapitalmarkt untergebracht, 5 Millionen Mark übernahm die Familie Siemens, die der Aktiengesellschaft dafür Aktien der Siemens Brothers & Co. in London und der russischen elektrotechnischen Werke Siemens & Halske überließ. Damit war das Kapitalbedürfnis der Siemens & Halske Akt.-Ges. in jener Zeit der Hochspannung aber noch keineswegs gedeckt. Im Jahre 1898 wurde eine Obligationenanleihe von 20 Millionen Mark, im Jahre 1900 eine weitere von 10 Millionen Mark aufgenommen. Auch auf dem Gebiete des Obligationenkredits hatte Emil Rathenau seine Bedürfnisse in jener vor-kritischen Periode [S. 237] niedriger zu halten verstanden und im Jahre 1900 eine Anleihe von 15 Millionen Mark, also nur die Hälfte der von Siemens & Halske beanspruchten Obligationen-Mittel ausgegeben. — Die Folge der von Siemens & Halske gerade in der kritischen Zeit auf sich genommenen neuen Zinslasten war, daß dieses alte, historisch und technisch viel tiefer als die A. E. G. verwurzelte Unternehmen dennoch von der Krisis schärfer angefaßt wurde als die jüngere Konkurrenzgesellschaft. Die Aktiengesellschaft Siemens & Halske, die in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens Dividenden von 10% ausgeschüttet hatte, mußte im Jahre 1900/01 auf 6%, im Jahre 1901/02 sogar auf 4% heruntergehen, zum Teil auch deswegen, weil sie das Unternehmer- und Beteiligungsgeschäft, das bei der A. E. G. schon durch jahrelangen Ausbau gefestigt worden war, erst in den letzten Jahren vor der Krisis eingerichtet, und infolgedessen noch nicht hinlänglich geschützt hatte.
Immerhin hielt sich die Siemens & Halske Akt.-Ges. naturgemäß doch ganz anders als die übrigen Elektrizitätsunternehmungen, die der zweiten und dritten Kategorie angehörten. Sie blieb nicht nur lebenskräftig und unerschüttert, sondern auch aufnahmefähig zur Übernahme schwachgewordener Elemente der Elektrizitätsindustrie und konnte, gestützt auf ihren unverwüstlichen Fundus, trotz einer nicht gerade elastischen, sondern eine freie Bewegung erschwerenden Organisation an der gewaltigen Konzentrationsbewegung, die nach Überwindung der Krisis einsetzte, mit erstaunlicher Aktivität teilnehmen. Für alle anderen Unternehmungen, — mit Ausnahme der A. E. G. und der Siemens & Halske-Akt.-Ges. — waren die destruktiven Einwirkungen der Krisis aber derart schwer, daß sie nicht nur von dem akuten Rückschlag in ihren Grundfesten erschüttert wurden, sondern auch die Reorganisationskraft für alle Dauer einbüßten. Bei ihnen wurden — ob nun die volle Schwere der Krisis sogleich, oder erst später nach außenhin hervortrat — nicht nur die Bezirke an der Peripherie, sondern der Lebensnerv von der Krisis getroffen. Zum offenen Zusammenbruch kam es sofort bei der Elektrizitätsgesellschaft vormals Schuckert in Nürnberg , bei der Akt.-Ges. Elektrizitätswerk (vorm. O. L. Kummer) in Dresden und bei der Helios-Akt.-Ges. für Elektrizität in Köln . Die Schuckert-Gesellschaft in Nürnberg war — wie wir schon gesehen haben — ein Unternehmen, das [S. 238] eine ausgezeichnete technische Leistungsfähigkeit und einen vorzüglichen Ruf in der Fachwelt besaß und sich diese auch trotz aller späteren Fehlschläge und Mißerfolge, die sie auf organisatorisch-finanziellem Gebiet erlitt, bewahren konnte. Ihre Anfänge und die Persönlichkeit ihres grundtüchtigen Gründers haben wir bereits an früherer Stelle geschildert, und späterhin auch gesehen, wie sich die Firma in den achtziger und am Anfang der neunziger Jahre die vertragliche Gebundenheit der A. E. G. und der Siemens & Halske-Ges. im Zentralenbau derart zunutze zu machen verstand, daß sie zeitweilig mehr Elektrizitätswerke bauen konnte, als die beiden Berliner Unternehmungen zusammen. Ihre Dynamomaschinen besaßen vorzügliche technische Eigenschaften, auf dem Gebiete der kombinierten Bogen- und Glühlichtbeleuchtung gelangen ihr treffliche Konstruktionen. Bereits in den Jahren 1883–1886 baute die Gesellschaft elektrische Straßenbahnen (zwischen Schwabing bei München und Ungarbad) und Industriebahnen (bei Rosenheim). 1887, also wenige Jahre nach der Errichtung der Berliner Elektrizitätswerke, wurde in Lübeck die erste Elektrizitätszentrale von Schuckert gebaut, seine Scheinwerferkonstruktionen (mit parabolischen Spiegeln) wurden zeitweilig in der deutschen Marine ausschließlich verwendet. Kurzum eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob die Gesellschaft sich als drittes großes Gestirn neben der A. E. G. und Siemens & Halske am Elektrizitätshimmel dauernd behaupten würde. Der gesellschaftliche Entwickelungsgang des Unternehmens führte im Jahre 1888 zur Bildung einer Kommanditgesellschaft mit einem Kapital von 2 Millionen Mark, an der neben Johann Siegismund Schuckert auch Hugo Ritter von Maffei von der Maschinenfabrik Maffei in München, die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg und der A. Schaaffhausensche Bankverein beteiligt waren. In demselben Jahre wurde die Elektrotechnische Fabrik Spieker & Co. in Köln aufgenommen. Im Jahre 1893, also in demselben Jahre, in dem sich die A. E. G. endgültig von Siemens & Halske frei machte, erfolgte die Umwandlung des Schuckert-Unternehmens in eine Aktiengesellschaft, an der auch die Firma Felten & Guilleaume, die in Mülheim am Rhein ein Kabelwerk betrieb, Anteil nahm. Das Kapital betrug 12 Mill. M., es wurde im Jahre 1896 bereits auf 18 Mill. M., im Jahre 1897 weiter auf 22,5 Mill. M. erhöht, wobei ein Teil der jungen Aktien zu dem hohen Kurse von 265% an die Firma [S. 239] Gebr. Naglo als Kaufpreis für deren Fabrikunternehmen gegeben wurde; im Jahre 1898 stieg das Kapital weiter auf 28 Millionen Mark und im Jahre 1899 auf 42 Millionen Mark, bei welcher Gelegenheit das noch im Umlauf befindliche Kapital der Continentalen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen , der Trust- und Beteiligungsgesellschaft des Schuckert-Konzerns, erworben wurde. Anleihen von 10, 10 und 15 Millionen Mark wurden in den Jahren 1898, 1899 und 1901 aufgenommen und standen in schlechtem Verhältnis zu der Höhe des Aktienkapitals. Die bald nach der Aktiengründung einsetzende Periode der schnellen Expansion hatte der ruhige und solide, allen phantastischen Plänen abholde Joh. Siegismund Schuckert, der, solange er lebte, die technische Seele und das Gewissen des Unternehmens gewesen war, nicht mehr miterlebt. An seine Stelle trat Alexander Wacker, der zuerst die Generalvertretung der Firma Schuckert für Mittel- und Norddeutschland innegehabt, dann mit der zunehmenden Ausdehnung des Geschäfts die kaufmännische Leitung in Nürnberg übernommen hatte. Alexander Wacker schloß sich der Hochkonjunktur in der Elektrizitätsindustrie mit vollen Segeln an. Er nahm das Unternehmergeschäft nach Rathenauschem System auf und betrieb die fabrikatorische Expansion in großem Stile. Die Dividenden der Gesellschaft steigerten sich schnell von 9 auf 15%, bei den Kapitaltransaktionen wurde das sich aus den hohen Dividenden ergebende Agio des Aktienkurses bis zur letzten Neige ausgenutzt, ohne daß dabei aber auf die innere Stärkung des Unternehmens Rücksicht genommen worden wäre. Die hohen offenen Agio-Reserven vermochten das Unternehmen nicht vor dem Niederbruch zu bewahren. Für das Jahr 1900/01 war im Geschäftsbericht noch eine Dividende von 10% vorgeschlagen. Weil aber als Folge des Krachs der Leipziger Bank 4,2 Millionen Mark für den Erwerb von Aktien der Bosnischen Elektrizitätswerke seitens der Gesellschaft sofort zu zahlen waren, die nach den ursprünglichen Abmachungen erst in 2 Jahren hätten fällig sein sollen, wurde die Dividendenzahlung von der Generalversammlung sistiert. 714602 Mark Unkosten und Disagio aus der Begebung der letzten noch im Krisisjahre 1901 aufgenommenen Anleihe von 15 Millionen Mark belasteten überdies den Abschluß, die Erträgnislosigkeit der Continentalen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen beeinträchtigte ihn weiterhin. Die Vorgänge bei der Gesellschaft [S. 240] wurden im Bayerischen Abgeordnetenhause einer abfälligen Kritik unterzogen, was die geschäftliche Entwickelung natürlich keineswegs förderte. Im Jahre 1901/02 fiel der Umsatz von 72 auf 49 Millionen Mark und das Resultat dieses Jahres gipfelte nach Aufzehrung des Gewinnvortrages von 5549689 Mark in einem Verlust von nicht weniger als 15399317 Mark, durch den auch der Reservefonds in Anspruch genommen wurde. Die Gesellschaft war in ihren Grundlagen erschüttert und „fusionsreif“ geworden.
Ganz ähnlich entwickelten sich die Verhältnisse bei der Kummer-Gesellschaft . Sie war als Aktiengesellschaft im Jahre 1894 errichtet worden und aus der Firma O. L. Kummer, die in den achtziger Jahren durch den Marineingenieur gleichen Namens gegründet worden war, hervorgegangen. Auch hier eine stürmische Kapitalssteigerung von 1,5 Millionen Mark auf 2,5 Millionen Mark im Jahre 1896, auf 4,5 Millionen Mark im Jahre 1897, auf 7,5 Millionen Mark im Jahre 1898, auf 10 Millionen Mark im Jahre 1899, hohe Dividenden bis zu 10%, Ausnutzung des Aktienkurses zur Agiotage und eine über den engen Rahmen des Unternehmens weit hinausgehende Beteiligung am Unternehmergeschäft. Am 31. Dezember 1900 waren die offenen Schulden einschließlich der Bankschulden infolge des in den letzten Jahren schon verringerten Emissionskredites bis auf 9150239 Mark angewachsen, erreichten also fast die Höhe des Aktienkapitals. Die von den Gesellschaftern beabsichtigte Geldbeschaffung zur Finanzierung schwebender Projekte auf dem Gebiet des Bahnen- und Zentralenwesens konnte nicht mehr durchgeführt werden, nachdem die Begebung einer Obligationenanleihe von 2,5 Millionen Mark nur teilweise geglückt war. Zuerst glaubte die Verwaltung mit einer Sistierung der Dividendenzahlungen über die Krisis hinwegzukommen. Der Geschäftsbericht für das Jahr 1900 berichtet sogar noch über die Schaffung von Ingenieurbureaus in Hannover, Bielefeld, München, Breslau und von mehreren in Japan und China errichteten Vertretungen. Bald aber wurde es klar, daß die Verhältnisse des Unternehmens nicht ohne Sanierung zu ordnen waren, doch auch dieser Ausweg war nach kurzer Zeit nicht mehr gangbar. Die Situation verschlimmerte sich rapide. Das Finanzinstitut, auf das sich die Gesellschaft seit ihrer Gründung gestützt hatte, die Creditanstalt für Industrie und Handel, geriet selbst in Schwierigkeiten, und es schwand die Möglichkeit, mit seiner Hilfe [S. 241] die Sanierung durchzuführen. Anderweitig eingeleitete Verhandlungen zerschlugen sich und am 15. Juni 1901 mußte wegen Zahlungsunfähigkeit der Konkurs über die Gesellschaft eröffnet werden. Aus ihren Trümmern entstand späterhin auf gänzlich neuer Grundlage die Sachsenwerk-Akt.-Ges., ein Elektrizitätsunternehmen, das sich sehr langsam zu einer mäßigen Rentabilität entwickelte, bis ihm die Kriegskonjunktur zu außerordentlich günstigen Verhältnissen verhalf.
Ein ähnliches Schicksal erlebte die Helios Elektrizitäts-Akt.-Ges. Ihr Ursprung geht zurück auf die im Jahre 1882 mit 200000 Mark Aktienkapital gegründete Kommanditgesellschaft für elektrisches Licht und Telegraphenbau P. Berghausen in Köln. Im Jahre 1884 wurde diese Firma mit einem Kapital von 1 Million Mark in eine Aktiengesellschaft umgewandelt; 1886 erfolgte eine Erhöhung auf 2 Millionen Mark, 1890 eine zweite auf 3,1 Millionen Mark. Das Jahr 1894 führte zu einer Sanierung des Unternehmens durch Herabsetzung des Kapitals auf 2056000 Mark, das Jahr 1895 bereits wieder zu einer Erhöhung auf 3 Millionen Mark. Nunmehr geht es wie bei allen übrigen Gesellschaften im stürmischen Tempo weiter. Das Jahr 1897 sieht sogar zwei Kapitalerhöhungen, um 1 und 4 Millionen Mark, das Jahr 1898 eine Erhöhung um 2 Mill. M. und das Jahr 1899 schließlich eine solche um 6 Millionen Mark, so daß das Kapital der Gesellschaft beim Ausbruch der Krisis auf 16 Millionen Mark angewachsen war. Daneben wurden in den Jahren 1896 und 1898 Obligationsanleihen von 1 und 3 Millionen Mark, im Jahre 1900 eine solche von 10 Millionen Mark und im Jahre 1901 noch eine von 6 Millionen Mark aufgenommen. Dividenden von 11 und 12% stützten das auf so schmaler Grundlage hochgetürmte Kapitalgebäude eine Zeitlang. Die Gesellschaft war in ganz besonders starkem Maße bestrebt, das Rathenausche Unternehmergeschäft nachzuahmen und sie schuf sich zu seiner Unterstützung eine ganze Reihe von Finanz- und Beteiligungsgesellschaften, so die Akt.-Ges. für Elektrizitätsanlagen in Köln, die Bayerische Elektrizitäts-Ges. Helios, die Elektrizitätsgesellschaft Felix Singer in Berlin, die Bank für elektrische Industrie in Wien. Aber die Krisis warf alle diese Gebilde über den Haufen. Die Betriebe und Tochterunternehmungen vermochten den Anprall des Konjunkturrückschlages nicht auszuhalten, das Jahr 1900/01 schloß mit einer Unterbilanz von [S. 242] 4906417 Mark, die im folgenden Jahre auf 8853094 Mark stieg. Eine im Jahre 1902 beschlossene Sanierung konnte das Unternehmen nicht lebensfähig machen, das Jahr 1903/04 ergab eine neue Unterbilanz von 5283953 Mark und die Gesellschaft mußte in Liquidation treten, nachdem mit den Obligationären und Bankengläubigern ein kompliziertes Abkommen zur Rettung der Masse getroffen worden war und die großen Elektrizitätskonzerne eine Anzahl von Beteiligungen übernommen hatten.
Nicht ganz so scharf wie die vorstehend geschilderten Unternehmungen wurden einige andere von der Krisis gefaßt, wenigstens gelang es ihnen, den offenen Zusammenbruch zu vermeiden. Die Union Elektrizitäts-Akt.-Ges. in Berlin, die im Jahre 1892 gegründet worden war, verdankt ihre Existenz starken Kapital- und Industriekräften, die allerdings damals noch bei weitem nicht die Bedeutung und Macht erlangt hatten, die sie heute besitzen. An ihrer Gründung waren beteiligt die Akt.-Ges. Ludw. Loewe & Co. in Berlin, die damals noch außer ihrer Werkzeugmaschinenfabrik die später auf die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken übergegangene Waffenfabrik Martinikenfelde besaß, ferner die Dresdner Bank, die Firma Thyssen & Co. in Mülheim, deren Industriemacht zu jener Zeit gleichfalls noch nicht so entwickelt war wie jetzt, schließlich die Thomson Houston Electric Co. in Boston, die im Jahre 1892 aus einer Fusion zwischen der Thomson Houston Co. mit der — uns schon aus den Rathenauschen, allerdings nur vorübergehend geknüpften Beziehungen bekannt gewordenen — General Edison Electric Co. hervorgegangen war. Die beiden Hauptgründer, die Firma Ludw. Löwe und die Thomson Houston Electric Co. hatten mit der Errichtung der „Union“ ganz bestimmte Zwecke verfolgt und daher das junge Unternehmen durch langfristige Verträge an sich gefesselt. Löwe sicherte sich — ähnlich wie dies in dem Vertrage zwischen Siemens & Halske und der Deutschen Edison-Ges. der Fall gewesen war — bei der neuen Gesellschaft auf 25 Jahre ein Monopolrecht für den Bau und die Lieferung aller von ihr benötigten elektrischen Maschinen, die Firma Thomson Houston Electric Co. übertrug der Union ihre bekannten und ausgezeichneten Straßenbahnbau-Patente, nach denen bis zum Jahre 1897 etwa 70% aller elektrischen Straßenbahnen in Amerika und 50% aller europäischen Straßenbahnen gebaut waren. [S. 243] Dem Straßenbahnbau widmete sich die junge Gesellschaft auch vornehmlich und auf diesem Gebiete übertraf sie bald die anderen, auch die größten deutschen Elektrizitätsgesellschaften in dem Umfang ihrer Tätigkeit. Ihr eigenes Anfangskapital war nur klein, es betrug 1,5 Millionen Mark. Da ihre Fabrikation nur gering war und der Straßenbahnbau, ihr Spezialfach, sie hauptsächlich auf das Unternehmergeschäft hinwies, gliederte sie sich schon im Jahre 1894 in der „Gesellschaft für elektrische Unternehmungen“ ein Finanzunternehmen an, das mit dem Zehnfachen ihres Kapitals, nämlich 15 Millionen Mark, arbeitete. Bald aber wurde auch die Union E. G. von dem Expansionstaumel in der Elektrizitätsindustrie erfaßt. Ihr Aktienkapital wurde im Jahre 1896 auf 3 Millionen Mark, und bis zum Jahre 1900 in schnellen Sprüngen auf 24 Millionen Mark gesteigert. Daneben wurden noch 10 Millionen Mark Obligationen aufgenommen. Auch diese Gesellschaft vermochte es in der kurzen Zeit ihrer Schnellentwickelung nicht zu einer soliden inneren Durchbildung zu bringen. Ihre Dividenden von 12% gingen im Jahre 1899/1900 auf 10%, im nächsten Jahre auf 6% und in 1901/02 auf 4% zurück. Immerhin schien es, als ob diese Gesellschaft die Krisis besser überwinden würde als manche anderen Unternehmungen der Industrie, ja sie benutzte sogar die Zeit stillerer Beschäftigung, um die maschinellen Einrichtungen ihrer Fabrik durch Einführung besonders trefflicher Werkzeugmaschinen und vorteilhafte Anordnung und Anwendung „in einer Weise zu vervollkommnen, wie sie ihresgleichen kaum finden.“ (Geschäftsbericht für 1900/01.) Aber gerade die Kosten dieser inneren Umwälzung und die drückende Bürde des schlechtrentierenden Effektenbesitzes, den die Gesellschaft im Gegensatz zur A. E. G. nicht durch Vornahme innerer Abschreibungen auf einen gefahrlos niedrigen Stand herabgeschrieben hatte, und der daher in der Krisis immer weitere Kursabbuchungen verlangte, führte auch bei dieser Gesellschaft einen Schwächezustand herbei. Dieser veranlaßte sie, nachdem das Bilanzgleichgewicht bis in das Jahr 1901/02 künstlich aufrecht erhalten worden war, in dem Anschluß an die A. E. G. Hilfe zu suchen. Dem kritischen Prüferauge Emil Rathenaus hielt das notdürftig gezimmerte Bilanzgerüst nicht stand, und bevor die endgültige Übernahme der Union durch die A. E. G. erfolgte, mußte die Bilanz noch im Juni 1903 in einer Zwischenaufstellung einer gründlichen Säuberung unterzogen werden. Ein [S. 244] buchmäßiger Verlust von 2549933 Mark war das äußere Zeichen dieser verspäteten Krisen-Reaktion.
Noch länger konnte die Elektrizitätsgesellschaft vorm. Lahmeyer in Frankfurt a. M. den vollen Umfang der Schäden verschleiern, den ihr die Krisis verursacht hatte. Diese Gesellschaft führte ihren Ursprung zurück auf die im Jahre 1896 als offene Handelsgesellschaft gegründeten Deutschen Elektrizitätswerke Garbe, Lahmeyer & Co. Von dieser bezw. von dem Ingenieur W. Lahmeyer wurde im Jahre 1890 mit 1,2 Millionen Mark Kapital die Kommanditgesellschaft W. Lahmeyer gegründet, die hauptsächlich große Dynamos bauen sollte. Diese Firma wieder errichtete im Jahre 1893 die „Elektrizitätsgesellschaft vorm. W. Lahmeyer in Frankfurt a. M.“ mit einem Kapital von 500000 Mark sowie die „Aktiengesellschaft für den Bau und Betrieb elektrischer Anlagen“, die eine für die Fabrikation, die andere für die Ausführung von Elektrizitätsanlagen. Später wurden beide Unternehmungen, da sich der getrennte Betrieb organisatorisch nicht bewährte, wieder miteinander fusioniert. Das Kapital der Gesellschaft, das im Jahre 1893 1,7 Millionen Mark betrug, wurde 1896 auf 3 Millionen Mark, 1897 auf 4 Millionen Mark, 1899 auf 6 Millionen Mark und 1900 auf 10 Millionen Mark erhöht. Im Jahre 1901 wurde das Aktienkapital gelegentlich der Angliederung der „Deutschen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen“, der Finanzgesellschaft des Lahmeyer-Konzerns, auf rund 20 Millionen Mark erhöht, daneben wurden im Jahre 1898, 1901 und 1902 Anleihen von 2, 4 und 10 Millionen Mark aufgenommen. Bei dieser Gesellschaft liegt also das Schwergewicht der Kapitalsvermehrung schon direkt in der Krisenzeit. Die Gesellschaft zahlte auch ihre Höchstdividende von 11% noch im Jahre 1899/1900, im Jahre 1900/01 ging sie auf 10% herab, und erst die beiden folgenden Jahre brachten die völlige Einstellung der Dividendenzahlungen. Das Jahr 1901/02 ergab einen Verlust von 2493871 Mark, das Jahr 1902/03 einen solchen von 371698 Mark, wodurch der Reservefonds so gut wie vollständig aufgezehrt wurde. Wenn es dieser Gesellschaft gelang, die Bilanzreinigung länger als andere Unternehmungen hinauszuschieben, so war dies auf den Umstand zurückzuführen, daß eine verhältnismäßig gute, aber auf Kosten zu niedriger Konkurrenzpreise erreichte Beschäftigung und ein relativ befriedigender Geldbestand die latente Schwäche zeitweilig zu übertünchen gestatteten und [S. 245] die akute Gefahr hinausschoben. Auf die Dauer war eine derartige Bilanzierung aber natürlich nicht aufrechtzuerhalten. Auch die Verlustjahre 1901/02 und 1902/03 brachten keine wirkliche Gesundung. Eine im Jahre 1905 vorgenommene Vereinigung des Fabrikationsgeschäfts der Gesellschaft mit dem Kabelwerk Felten & Guilleaume in Mülheim am Rhein, einem in sich durchaus kräftigen und lebensfähigen Unternehmen, gestattete eine Aufrechterhaltung der Scheingesundheit für ein paar weitere Jahre. Erst im Jahre 1910 ließ sich die innere Schwäche der Gesellschaft nicht länger verbergen und die Gesellschaft fiel als Fusionsobjekt der A. E. G. anheim.
Günstiger als diese Unternehmungen, die den großen führenden Konzernen nach zur Universalität in der elektrischen Fabrikation strebten und sich von Emil Rathenau auf das gefährliche Gebiet der Unternehmergeschäfte locken ließen, überstanden die guten elektrotechnischen Spezialfabriken die Krise der Jahre 1900–1903. Kabel- und Drahtwerke, Apparatefabriken, Dynamowerke, Instrumentenfabriken, die ihre Spezialität sorgfältig ohne Großmannssucht und ohne Übergriffe auf andere Gebiete ausbildeten, konnten sich auch späterhin gegen die erdrückende und aufsaugende Übermacht der großen Konzerne behaupten, der sich die „gemischten Unternehmungen“ zweiten und dritten Ranges ohne Ausnahme nicht gewachsen zeigten.
Es bleibt noch zu untersuchen, weswegen die Krisis des Jahres 1900/01 die Elektrizitätsindustrie stärker mitnahm als jede andere gewerbliche Depression vorher und nachher, wenigstens soweit die von uns vornehmlich behandelte Periode von der Gründung der A. E. G. bis zur Gegenwart in Betracht kommt. Wohl stand der Anfang der achtziger Jahre in der Elektrizitätsindustrie, namentlich in der englischen, unter dem Zeichen einer Kabelkrisis, die durch die vielen Gründungen von Telegraphen- und Kabelgesellschaften entstanden war. Gerade aber die beginnende Epoche der Starkstromindustrie und die Erfindung des elektrischen Bogen- und Glühlichts trugen dazu bei, diese Krisis verhältnismäßig schnell zu überwinden. Indem man sich in England unter dem Eindruck der Schäden und Verluste, die eine übermäßige Gründungstätigkeit auf dem Gebiete der Schwachstromtechnik dort verursacht hatte, vor ähnlichen Gefahren und Auswüchsen auf dem Gebiete der Lichtelektrizität in Zukunft durch gesetzliche Hemmungen und Kontrollen [S. 246] schützen zu müssen meinte, trug man dazu bei, das Schwergewicht der Starkstromtechnik nach anderen Ländern zu verlegen, von denen besonders Deutschland, dank der Voraussicht und der Energie Emil Rathenaus, die Führung auf dem neuen Gebiete übernahm. Die kurze Krisis von 1891/92 berührte natürlich auch die Elektrizitätsindustrie, aber sie hinterließ keine tieferen Spuren. Die Entwickelungskräfte, von denen die Industrie damals getrieben wurde, der Zentralenbau, der Straßenbahnbau und die Anfänge der Kraftübertragung, waren noch frisch, und zeigten bislang keine Spuren von Erschöpfung. Das Unternehmergeschäft war noch nicht allzusehr umstritten, und überhaupt die Konkurrenz in der Elektrizitätsindustrie noch verhältnismäßig gering, die Expansionsfreiheit bei großen Unternehmungen wie bei Siemens & Halske und der A. E. G. beschränkt und durch Verträge gehindert. Diese Verhältnisse hatten sich in dem folgenden Jahrzehnt gründlich verändert. Die großen Erfindungen und Entwickelungsprobleme der achtziger Jahre hatten einen starken und zahlreichen Wettbewerb auf den Plan gelockt, der sich fast ganz frei betätigen und ausbreiten konnte, denn die Dynamomaschine und die Glühlampe, die technischen Träger dieser Entwickelung, hatten sich durch Patente nicht monopolisieren lassen. Dadurch wurden diese Erfindungen und die ihnen innewohnenden industriellen Möglichkeiten sehr schnell aus- und abgenützt, alle der Anwendung zugänglichen Objekte in kurzer Zeit herausgesucht und bearbeitet und zwar unter Bedingungen, die mit dem zunehmenden Wettbewerb sich für die Industrie verschlechterten. Die Zeit von 1890 bis 1900 war eine Periode der schnellen, umfassenden und gründlichen Durchführung, Verbesserung und Ausbildung früherer Erfindungen, keine Periode neuer schöpferischer und befruchtender Gedanken, eine Periode der Industrialisierung, keine der technischen Grundlegung. Der Zentralenbau hatte noch nicht den großen Schritt zur Überlandzentrale und erst recht noch nicht den größeren zu der Montan- oder Wasserkraftzentrale mit weiterem Fernübertragungsradius getan. Der Lichtelektrizität erstand in der scheinbar schon stark zurückgedrängten Gastechnik ein alter, aber verjüngter Wettbewerber wieder, der mit Zähigkeit, Geschick und Glück dem elektrischen Eindringling die Spitze zu bieten, ja ihn zurückzuschlagen suchte. Das Gasglühlicht, die geniale Erfindung Auer v. Welsbachs, mit seinem großen technischen und ökonomischen Fortschritt [S. 247] gegenüber der alten Gaslampe nahm den Kampf gegen die stagnierende Technik der Kohlenfadenlampe auf. In der Mitte der neunziger Jahre war es, als die damals gegründete Deutsche Gasglühlicht-Akt.-Ges. ( Auer-Gesellschaft ) Dividenden von 100 und 130% ausschüttete und das märchenhafte Phantom am deutschen Börsenhimmel wurde, bis die Krisis auch diesen Kometen vorerst wieder verdunkelte. Jene Konstruktion hatte gleichfalls dem Versuch, sie in die Fesseln des Patentes zu schlagen, gespottet. Die Patentfreiheit hatte das Monopol der Auer-Gesellschaft zwar vernichtet, die Konkurrenz des Gasglühlichts gegenüber dem elektrischen Glühlicht aber wesentlich gesteigert. Später bedeutete das hängende Gasglühlicht einen weiteren bedeutenden Fortschritt an Lichthelle, Lichtschönheit und Gasersparnis. Selbst das an die elektrische Bogenlampe verlorene Terrain suchte die Gaslampe durch neue gelungene Konstruktionen wiederzuerobern. Demgegenüber gelang der Lichtelektrizität in dieser Zeit kein ganz großer Wurf. Die elektrische Metallfadenlampe, mit der Auer v. Welsbach seiner Deutschen Gasglühlicht-Ges. die durch die Überproduktion im Gasglühlichtgebiete erschütterte Sonderstellung wiederzugeben versuchte, war noch nicht auf dem Plan erschienen; die Nernstlampe, so ingeniös ihre Idee auch war und so enormen Aufwand an Kapital und Arbeit in der Konstruktion und Propaganda die A. E. G. ihr auch widmete, blieb eine Sonderlichtquelle von schönem, reichem und stromsparendem Licht. Sie bedeutete für gewisse Zwecke einen beachtenswerten Fortschritt, es fehlte ihr aber doch das Zündende und Einfache, das sie zu einem Massenbeleuchtungsartikel hätte machen können. Der Optimismus Emil Rathenaus sollte sich diesmal nicht ganz als gerechtfertigt erweisen. „Wiederum stehen wir,“ so hatte Rathenau in der Generalversammlung der A. E. G. vom November 1899 prophezeit, „wie damals in Paris an der Wiege einer neuen Beleuchtungsart.“ Gerade aber das, was Rathenau von der Erfindung der elektrolytischen Beleuchtungskörper erwartet hatte, daß „das elektrische Licht mit ihr nicht länger seinen Triumphzug auf Paläste und vornehme Häuser beschränken würde, sondern vielmehr in die Hütten und Werkstätten Minderbemittelter eindringen und den Wettbewerb mit untergeordneten Beleuchtungsmitteln auch ökonomisch bestehen würde,“ hat sich mit der Nernstlampe noch nicht erfüllt. Diese Aufgabe wurde erst mit der Metallfadenlampe gelöst. — Auch auf dem Gebiet der [S. 248] elektrischen Bahnen schien ein Stillstand einzutreten. Im Strassenbahnbau mußte sich der Kreis der möglichen Aufträge mit ihrer Erledigung allmählich erschöpfen, und je stürmischer die Elektrifizierung der Straßenbahnen in der vorangegangenen Periode vor sich gegangen war, desto stärker war der Abfall in der Beschäftigung, nachdem der größte Teil der lokalen Pferdebahnen in den elektrischen Betrieb überführt war. Dieser Geschäftszweig schrumpfte zusammen und stellte bald kein ergiebiges Tätigkeitsfeld mehr für eine so umfangreich gewordene Industrie wie die elektrische dar. Was jetzt noch an Aufträgen einging, setzte sich aus der Nachlese der Straßenbahnbau-Tätigkeit und dem im Verhältnis zu den großen Fabrikationsanlagen der Werke geringen Reparatur- und Ergänzungsgeschäft zusammen. Der Bau von Untergrundbahnen wollte noch nicht so recht vorwärts schreiten, und die Unternehmung im Reiche hielt es für richtig, fürs erste einmal die Erfahrungen abzuwarten, die man mit der Elektrischen Hoch- und Untergrundbahn in Berlin machen würde. Vollends die Elektrifizierung der Vollbahnen , die von den Elektrizitätsfachleuten, voran Emil Rathenau, als das große, ertragreiche Zukunftsgebiet bezeichnet wurde, stieß auf schwer zu überwindende Hemmungen. Die Staatsbahnverwaltungen, die über die ökonomische Frage, und die militärischen Behörden, die über die Betriebssicherheit im Kriege recht skeptisch dachten, standen den großen, stürmisch geäußerten Plänen der Industrie sehr zurückhaltend gegenüber, und waren nur für eine langsame, vorbereitende Versuchsarbeit auf kurzen Strecken zu gewinnen. Alles, was in dieser Epoche auf elektrischem Gebiet geleistet wurde, war somit — oft sehr wertvolle und verdienstliche — Kleinarbeit, bot aber keine großen, in die Zukunft weisenden, die Phantasie und das Kapital anregenden Ausblicke. Der bisher stürmisch dahinsausende Wagen der Entwickelung verlangsamte seinen Lauf, es traten Reibungen und Hemmungen auf und der Schwung drohte verloren zu gehen.
Als letztes, die Krisis auslösendes und verschärfendes Moment traten die Auswüchse des Unternehmergeschäfts hinzu, das von einer Rathenauschen Spezialität zu einer allgemeinen Übung der Industrie geworden war, ohne aber in dieser allgemeinen Anwendung die Solidität, Sicherheit und Rückendeckung zu besitzen, die ihr der Erfinder und Meister für seinen Sonderfall gegeben hatte. [S. 249] Eine Zeitlang hatte dieses Unternehmergeschäft der Industrie verstärktes Leben einhauchen können, gerade diese künstliche Belebung des Pulsschlages mußte aber umso früher zu einer Erschöpfung und Erschlaffung führen. Die Fabriken waren, wie die A. E. G. es in ihrem Geschäftsbericht ausgedrückt hatte, auf Grund von Aufträgen, die aus Lieferungen für eigene Unternehmungen stammten, und darum nur einmalige waren, ungerechtfertigt erweitert worden. Von dieser falschen Einschätzung des Verhältnisses zwischen Unternehmer- und Fabrikationsgeschäft hatte sich sogar die A. E. G. nicht ganz freihalten können; die meisten übrigen Gesellschaften der elektrotechnischen Industrie hatten ihre ganze Schwerkraft darauf eingestellt.
Rathenaus System war zwar in seinen Äußerlichkeiten nachgeahmt, aber nicht in seinem organischen Wesen begriffen und übernommen worden. Was Emil Rathenau in jahrelanger geduldiger Arbeit Stein auf Stein setzend, vom Kleineren zum Größeren schreitend, keinen Schritt tuend, ohne den vorigen gesichert und gefestigt zu haben, aufgebaut hatte, sollte von den anderen in der raschen Arbeit weniger Jahre zu gleicher Höhe geführt werden. Der industrielle Baugedanke, der bei Rathenau die Hauptsache gebildet hatte, aus dessen Durchführung erst alle anderen gefolgt, die Auftragsgewinne, die Effektengewinne usw. als Früchte langsam gereift waren, trat bei den anderen mehr und mehr in den Hintergrund. Sie bauten ihre Unternehmungen nicht so selbstlos wie möglich, damit sie als dauernde Rentenquellen ihren späteren, dann aber endgültigen Wert erhielten, sondern sie suchten sich schon an der Ausführung zu bereichern. Sie hielten die Effekten nicht vorsichtig zurück, bis sie wirklich emissionsreif geworden waren, sondern wollten den Emissions- und Finanzgewinn schnell pflücken. Die Banken, die ihnen nahestanden, drängten zu häufigen und schnellen Transaktionen, bei denen auch die Finanzinstitute umsetzen und verdienen konnten. Sie machten sich so zu den Herren der Finanzpolitik, während sie bei Rathenau stets die Diener geblieben waren. Das Mißverhältnis der Finanzkapitalien zu den Industriekapitalien, das wir bei einigen der jüngeren Gesellschaften oben festgestellt haben, ist charakteristisch für die falsche Anwendung der Methode Rathenau. So gelangen den Nachahmern zwar vielleicht am Anfang einige Transaktionen — wenigstens scheinbar. Die schlechten Erfahrungen, die das Kapitalistenpublikum [S. 250] aber schließlich mit der Mehrzahl der erworbenen Werte machte, diskreditierte bald ihren Emissionskredit und den der Elektrizitätsindustrie überhaupt. Denn es ist verständlich, daß für die zu Tage getretenen Enttäuschungen und Auswüchse nicht die falsche Anwendung des Systems Rathenau, sondern das System an sich verantwortlich gemacht wurde. Gerade in Hausseperioden wie in Krisenzeiten unterscheidet und sichtet das Publikum nicht ruhig und unbefangen, sondern es ist geneigt, zu verallgemeinern, statt zu unterscheiden. Der Rausch wie der Katzenjammer führen zu stimmungsmäßigem, nicht zu kritischem Urteil.
Auch hier wieder machte die Firma Siemens & Halske eine rühmliche Ausnahme. Das Finanzierungssystem, das auch sie schließlich gezwungen war anzunehmen, hat sie nicht leichtfertig gehandhabt. Daran hinderte sie die anerzogene Gründlichkeit und Ehrlichkeit ihrer industriellen Methoden. Aber die Tatsache, daß sie sich erst verhältnismäßig spät entschloß, Rathenau auf den von ihm eingeschlagenen Wegen zu folgen, hat es ihr nicht gestattet, den Vorsprung des Rivalen, wenn er auch vielleicht nur 3–4 Jahre alt war, einzuholen. Das zeigt die Rentabilität ihrer Finanzgesellschaften deutlich. Die „Schweizerische Gesellschaft für elektrische Industrie“, die das Siemens & Halskesche Gegenstück zu der Rathenauschen Bank für elektrische Unternehmungen bildete, hat nur eine Rente von durchschnittlich 6% erreicht gegenüber einer solchen von 12% der Elektrobank. — Die „Elektrische Licht- und Kraftanlagen-Gesellschaft“, die denselben Zwecken diente wie die Elektrizitätslieferungsgesellschaft der A. E. G., zahlte, nachdem sie lange Zeit nur eine bescheidene Rente von durchschnittlich 5% erbracht hatte, in den letzten Friedensjahren 7% gegen 10 und 12% der Elektrizitätslieferungsgesellschaft. Ein ähnliches bescheidenes Erträgnis haben auch die Siemenssche „Akt.-Ges. für Elektrizitätsanlagen“ und die „Siemens Elektrische Betriebe Akt. Ges.“ bisher nicht überschritten.
Jede große Krisis in der Wirtschaftsgeschichte hat neben dem allgemeinen Gesetz der Ebbe und Flut, des aus der Überspannung geborenen Rückschlages, noch irgendeinen bestimmten Sondercharakter und somit besondere Ursachen und Folgen, die sie von ihren Schwestern unterscheiden. D. h. nicht im innersten, wesenhaften Kern und auch nicht so sehr in der Art und Zahl der äußeren Merkmale oder Ausstrahlungen sind die Krisen voneinander verschieden, sondern in dem größeren oder geringeren Nachdruck, mit dem sie gewisse wirtschaftliche Adern und Schichten treffen, in der Stärke, mit der sie aus ihnen gespeist werden und in der Intensität, mit der solche Schichten von ihnen umgelagert werden. Fast alle Krisen weisen ungefähr dieselben Symptome auf, aber in der einen ist dieses Hauptsymptom stärker ausgeprägt, in der anderen jenes, während die Symptome zweiten Ranges nur eine mitschwingende, schwächer nuancierte Bedeutung haben. Diese Differenzierung und Unterscheidung äußert sich in den Ursachen, Ausdruckserscheinungen und Folgen der einzelnen Krisen. Gewisse Krisen entstehen hauptsächlich durch die Erfindung neuer revolutionierender Techniken oder durch die Schaffung neuer wirtschaftsverändernder Wettbewerbs- und Transportmittel. Andere haben ihren Grund in geldlichen Bewegungen, in monetären Umwälzungen, Häufungen oder Verknappungen von Zahlmitteln, sei es aus Metall oder Papier, die die Kaufkraft des Geldes nach oben oder nach unten von ihrem normalen Stande entfernen. Manche Krisen wieder entstehen durch den Wechsel wirtschaftspolitischer Systeme (Freihandel oder Schutzzoll), die gewisse Wirtschaftsformen in ihren Bedingungen begünstigen, andere wiederum benachteiligen. Auch [S. 252] soziale und politische Veränderungen können Revolutionen wirtschaftlicher Art zur Folge haben. Den verschiedenen Ursachen entsprechen auch stets die verschiedenen Äußerungs- und Wirkungserscheinungen der einzelnen Krisen, und jede von ihnen weist sozusagen die Gegenbilder des vorausgegangenen Aufschwungs und namentlich des ihm fast stets auf dem Fuße folgenden Überschwangs auf. Frühere Krisen hatten ihre Ursachen in der Entdeckung neuer großer Gold- oder Silberläger, in der Verdrängung von Manufakturen durch Maschinentechniken, in der Ausweitung der lokalen Absatzkreise zu nationalen oder internationalen durch die Entwickelung der Eisenbahnen und Dampfschiffe. In diesem Sinne war ferner die Krisis von 1873 vornehmlich eine durch politische und damit auch wirtschaftliche Maßstabsvergrößerung hervorgerufene, sowie durch geldliche Hyperthrophie begünstigte Wertveränderungskrise. Die von 1881, aus Frankreich stammend, hatte ihre Ursache im Gegenteil in einer Verkleinerung der Maßstäbe, gegen die sich der französische Wirtschaftsgeist, dazu bestimmt von der unternehmerischen zur rentnerischen Hauptfunktion überzugehen, in einer krampfhaften, doch vergeblichen Aufwallung zu wehren strebte. Die Krise von 1907 hatte ihren Ursprung in einer wirtschaftspolitischen Umwälzung der Ver. Staaten von Amerika, die zu einer Hochkonjunktur im dortigen Trustwesen und zu einer Übergründung innerlich schwach konstruierter Trustgebilde geführt hatte. Der internationale Güteraustausch und das überseeische Transportwesen waren denn auch von dieser Krise am schärfsten betroffen worden. Die Krise von 1913 war hinwiederum wenigstens für Deutschland eine typische Großstadtkrise, von der die gut konsolidierte Industrie und die gleichfalls gesunde Landwirtschaft nur oberflächlich berührt wurden, während der städtische Grundbesitz und seine künstlich hochgezüchteten Blüten, das Terrain-, Kaufhaus-, Theater- und Etablissementswesen ihre bis dahin schärfste Erschütterung erlebten.
Die Krisis von 1901 war dagegen die ausgesprochene Krise der Großindustrie , hervorgerufen durch die starken Wucherungen, die mit der Expansion der zur Großwirtschaft strebenden Gewerbe naturnotwendig verbunden waren. Die allenthalben ins Breite dringenden, in individueller Geschäftspolitik bis dahin ungehemmt entwickelten Großunternehmungen „stießen sich hart im Raume“, rieben sich aneinander und verstanden noch nicht, Fühlung [S. 253] miteinander zu nehmen, sich miteinander zu organisieren, in die Absatzgebiete zu teilen und gewisse Absatzfunktionen gemeinsam auszuüben. Die Krisis des freien, ungezügelten Wettbewerbs war gekommen, nachdem die ihr vorangegangene Epoche zu unerhört raschem Wachstum, aber auch zu starken Energieverlusten geführt hatte. Die Krisis, die nun folgte, war das deutlichste Negativ jener Entwickelungsperiode. Sie trug aber auch bereits das Gegengift in sich, die Keime zur Gesundung und Überwindung, und diese ergaben sich logisch aus der Natur und der Art der Krankheit. Überproduktion der zu schnell ausgedehnten Wirtschaftskräfte und Überflutung der beschränkten heimischen Märkte: das war die Krankheit gewesen. Planmäßige Eroberung der Auslandsmärkte einerseits, Konzentration und gegenseitiger Ausgleich der zersplitterten Industriekräfte andererseits, das waren die angewandten Heilmittel.
Die Konzentration erfolgte in den verschiedensten Formen, je nachdem der Charakter, das Entwicklungsstadium und die Vorgeschichte der verschiedenen Industrien sie forderten oder begünstigten. In den Gewerben, die Massenfabrikate herstellten, also in der Kohlenindustrie, in den roheren Stadien der Eisenindustrie, erfolgte der Zusammenschluß auf dem Wege der Kartellierung , d. h. der Vereinigung der Produzenten zur Regelung und gemeinsamen Erledigung gewisser Teile ihres Geschäftes unter Aufrechterhaltung der bisherigen freien Besitzverhältnisse. Die Not der Krisenjahre von 1901/02 war es, die nach dem bekannten Worte die Kartelle der Montanindustrie teils erst schuf, teils festigte und dauerhaft ausbaute. Daneben trat aber auch bereits das Konzentrationsprinzip der Verschmelzung , der Zusammenfassung mehrerer sich ergänzender Betriebe sowohl der Breite als auch der Tiefe nach als generelle Tendenz oder auch als Mode stärker hervor. Das große und gemischte Montanwerk, das vorher in einer Reihe von Unternehmungen, so bei Krupp, dem Bochumer Verein usw. als Einzelerscheinung schon verwirklicht worden war, begann sich zum Typus in der Montanindustrie auszugestalten. Wo Zusammenballungstendenzen verwirklicht wurden, drängten sie zum großen und gemischten Werk, das alle Stufen der Produktion vom untersten Rohstoff bis zum verfeinertsten Fertigfabrikat umfaßte und in dieser Vertiefung des Produktionsprozesses und in der Unabhängigmachung [S. 254] von allen Märkten außer dem letzten Markte der fertigen Verbrauchsartikel das Ideal des für den Produzenten höchsten und für den Konsumenten geringsten Unternehmergewinns suchte. Das kleine und reine Werk, das sich außerhalb dieser Produktionsordnung zu halten versuchte, wurde konkurrenzunfähig. Einmal, weil die gemischten Werke sich ihre Rohstoffe billiger zu beschaffen, ihre Selbstkosten durch Großfabrikation zu ermäßigen und darum die Verkaufspreise niedriger zu stellen vermochten, zweitens weil die großen gemischten Werke bald die Verbände in den Stufenfabrikaten beherrschten, denen sie gemeinsam mit den reinen Werken, — zum Teil ihren eigenen Abnehmern — angehörten und deren Preisbildung sie zu ungunsten der reinen Werke regeln konnten. Das Trustsystem benutzten sie also dazu, um sich die eigenen Rohstoffe zu verbilligen, das Kartellsystem u. a. dazu, um sie ihrer Konkurrenz zu verteuern.
In anderen Industrien hatten sich die Vertrustungs- und Verschmelzungstendenzen noch reiner ausgeprägt als in der Montanindustrie, die sowohl Massenartikel als auch individuelle Produkte umfaßte und in deren Konzentration sich infolgedessen das System der Kartellierung mit dem der Vertrustung vermengte. Reine Vertrustungs-Konzentration fand in der großen chemischen Farbenindustrie statt, reine Vertrustungs-Konzentration war auch der Weg der Elektrizitäts-Industrie . Umfassende und vielfältige Gestaltung der Produktion, weitgehende Selbstbedarfsdeckung und Selbstabsatzwirtschaft waren hier unter Führung der Großkonzerne schon lange vor der Krisis wenigstens von einem Teil der Industrie angestrebt und erreicht worden. Die Krisis führte alsdann eine Ergänzung und Verstärkung dieser Vertrustungsbewegung dadurch herbei, daß eine Reihe der vorher selbständig entwickelten Konzerne miteinander verschmolzen wurde. Vor der Krise war das Konzentrationsprinzip in einer Zusammenfassung von Spezialbetrieben zu Gemischtbetrieben zum Ausdruck gekommen, nachher wirkte es sich in der Zusammenfassung mehrerer Gemischtbetriebe zu Kolossalbetrieben aus. Wir haben bei der Schilderung der Einwirkungen, die die Krisis auf die einzelnen Unternehmungen ausübte, bereits gesehen, daß eine Reihe von Unternehmungen der Elektrizitätsindustrie schwach, unfähig zur selbständigen, wettbewerbsfähigen Weiterexistenz, — wie man zu sagen pflegt — fusionsreif wurde. Sie hatten aber — wenn auch nicht mehr mit eigener [S. 255] Zentrilfugalkraft ausgestattet — zum Teil genug an technischen Werten, Kundschaft und Beteiligungsbesitz in sich, daß ihre Angliederung einem oder dem anderen der großen Konzerne verlockend erscheinen mußte. Konnten diese doch so ihr Machtgebiet erweitern und — was vielleicht manchmal noch entscheidender für sie war — eine Erweiterung des Machtgebietes der Konkurrenz verhindern. Der Faktor des Dualismus , der seit jener Krisis die Entwickelung der Elektrizitätsindustrie zu beherrschen begann, also die Existenz und der Gegensatz von zwei stark, ausdehnungs- und kristallisationsfähig gebliebenen Gruppen, der A. E. G. und der Siemens & Halske-Ges., hat die Konzentrationsbewegung wenn auch nicht veranlaßt, so doch sehr gefördert und beschleunigt. Es ist seither für die Verschmelzungsbewegung in der Elektrizitätsindustrie charakteristisch geworden, daß immer, wenn der eine der beiden Konzerne eine größere Angliederung vornahm, bald auch der andere zu einer ähnlichen Erweiterung schritt, um das Gleichgewicht in der Machtlage und der Marktbeherrschung wieder herzustellen. Der Übernahme der „Union“-Elektrizitätsgesellschaft durch die A. E. G. folgte sofort die Aufnahme der Schuckert-Ges. durch Siemens & Halske. Die Angliederung der Lahmeyer-Gesellschaft durch die A. E. G. zog den Anschluß der Bergmann Elektrizitätswerke an Siemens & Halske nach sich.
Die Tatsache, daß die Konzentration in der Elektrizitätsindustrie fast ausschließlich auf dem Wege der Verschmelzung und nicht auf dem der Kartellierung erfolgte, war aber nicht auf den zufällig oder doch nur historisch begründeten Umstand zurückzuführen, daß in der Krisis von 1901/02 eine Reihe von Unternehmungen fusionsreif wurde und von den starkgebliebenen Werken zu niedrigen Preisen und günstigen Bedingungen (unter geschickter Ausnutzung des eigenen Aktienagios) erworben werden konnte. Sie beruhte vielmehr auch auf dem natürlichen Umstand, daß die Elektrizitätsindustrie als Erzeugerin meist komplizierter, individueller Produkte sich für die Gleichmacherei einer Kartellierung im allgemeinen nicht eignete. Für die Spezialgebiete, auf denen die Elektrizitätsindustrie Massenartikel erzeugte, also hauptsächlich auf dem Gebiete der Glühlampen- und Kabelerzeugung sind sehr wohl Preis- und Kontingentierungssyndikate zustande gekommen, die nicht nur die gemischten Konzerne, sondern auch Spezialfabriken umfaßten. Im Geschäftsbericht des Jahres [S. 256] 1902/03 der A. E. G. werden die Gründe für den Vertrustungscharakter der Elektrizitätskonzentration in ganz ähnlicher Weise geschildert. Es heißt da:
„Die bisher zumeist bekannten und betretenen Wege industrieller Konsolidierung, Bildung von Kartellen, Syndikaten und Verkaufsvereinigungen, sind für die Elektrotechniker aus zwei Gründen schwerer gangbar: Einmal, weil die Fabrikation in zahllose Gattungen von Erzeugnissen verschiedenster Konstruktion und Bewertung sich spaltet, sodann, weil nicht Zwischenprodukte, sondern für den Einzelkonsum bestimmte Endprodukte hergestellt werden, und nicht der weiterverarbeitende Fabrikant, sondern der Verbraucher selbst in der Hauptsache die Kundschaft unserer Industrie bildet. Das kaufende Publikum aber wünscht nicht auf die Auswahl konkurrierender Produkte zu verzichten und entschließt sich ungern, von einer monopolisierenden Organisation seinen Bedarf zu beziehen.
Unsere Unternehmungen sind daher darauf angewiesen, organisatorische Ersparnis durch gruppenweise Zusammenfassung anzustreben, und die bisher dutzendfach geleistete Projektierungsarbeit, Propaganda und Verkaufstätigkeit auf eine drei- oder vierfache zu beschränken. Daß daneben allgemeine Verständigungen über Auswahl der Typen, Auslandsgeschäfte, allgemein geschäftliches Vorgehen und mannigfache Einzelgebiete durch Zusammenschlüsse dieser Art erleichtert werden, liegt auf der Hand.
Auch sind Syndizierungen solcher Produkte keineswegs ausgeschlossen, bei denen die individuelle Nüanzierung wenig bedeutet, und bei denen geringe Korrekturen der Verkaufspreise über Gewinn und Verlust bei der Fabrikation entscheiden. Dies zeigt das Zustandekommen der Verkaufsstelle Vereinigter Glühlampenfabriken.“
Anfangs hatte es den Anschein, als ob die A. E. G. schnell und energisch die Führung bei der Konzentrationsbewegung in die Hand nehmen würde, die sie theoretisch bereits in verschiedenen offiziellen Auslassungen als notwendig bezeichnet hatte. Doch stellten sich der Verwirklichung dieser Theorie manche inneren und äußeren Hindernisse entgegen. Bereits im Jahre 1897 wurde zwischen der A. E. G. und der Löweschen „Union-Elektrizitäts-Gesellschaft“ über eine Fusion verhandelt. Das Projekt zerschlug sich an dem hohen Preise, den die Union damals noch fordern zu können glaubte und Rathenau schritt unter Verzicht auf die Angliederung zu einer Erweiterung [S. 257] seiner eigenen Werke unter Erhöhung des Aktienkapitals. Auch mit Schuckert in Nürnberg wurden im Jahre 1901, also bereits nach Ausbruch der Krisis Verhandlungen eingeleitet, die damals noch in dem Bestreben gipfelten, die allmählich unhaltbar gewordenen Wettbewerbsverhältnisse in der Industrie zu erleichtern und sozusagen sanierend zu wirken. Diese Verhandlungen wurden aber zu jener Zeit mehr grundsätzlich und dilatorisch als auf konkret-geschäftlicher Grundlage geführt. Schuckert war damals schon wankend geworden, aber der Tag seines Zusammenbruchs war noch nicht gekommen. In der Generalversammlung vom 5. Dezember 1901 interpellierte ein Aktionär die Verwaltung der A. E. G. über die bekanntgewordenen Gerüchte hinsichtlich einer Fusion mit der Nürnberger Gesellschaft. Emil Rathenau gab die Tatsache der Verhandlungen zu, stellte aber eine nahe Entscheidung nicht in Aussicht. Es sei erklärlich, so legte er dar, daß sich Verwaltungen zweier Konkurrenzunternehmungen in Zeiten der Krisis miteinander über die Marktlage aussprachen und Erwägungen anstellten, in welcher Weise sie sich durch engeren Anschluß ergänzen könnten. Ein festes Programm oder andere Ergebnisse als eine persönliche Annäherung der Verwaltungen hätten die jüngsten Verhandlungen, die von beiden Seiten ohne Leidenschaft (und wohl auch ohne sonderlichen Eifer) geführt wurden, bisher nicht gezeigt. Es ließe sich auch nicht übersehen, ob ein Resultat erzielt werden würde. Unmöglich könne man eine derartige Transaktion in wenigen Tagen zu Ende bringen. — Wer die Naturgeschichte wirklich aussichtsreicher und ernsthafter Transaktionen kennt, sieht sofort, daß hier nicht der Boden und die Atmosphäre vorhanden waren, in denen Entschlüsse wachsen. Die öffentliche Behandlung so heikeler Verhandlungen ertötet ihre Entwickelungsfähigkeit und die Realität ihrer Aussichten, zumal wenn ein kalter akademischer Hauch durch derartige Erörterungen geht. Rathenau, der kühne und unabhängige Rechengeist, dem das Urteil der kompakten Majoritäten sonst immer so gleichgültig gewesen ist, scheint mitten in der Krisis, aus der er den Ausweg noch nicht sieht, etwas unschlüssig und unsicher. Seine eigene Schöpfung ist gut konsolidiert, durch jahrzehntelange Auspolsterung mit inneren und äußeren Reserven so geschützt, wie Vorsicht und Voraussicht nur schützen können, und dennoch leidet sie unter den schlechten Zeiten, muß sie sich vor neuen [S. 258] Geschäften hüten. Soll sie sich mit einer so großen und mangelhaft organisierten Masse belasten, wie es die Schuckertgesellschaft ist? — Rathenau tut auch jetzt noch, als wenn er Aktionäre und Kapitalistenpublikum verachte und Außenstimmen keinen Einfluß auf das innere Rädergetriebe seiner Gesellschaft einräume: „Weder Anfeuerungen, noch Furcht, Enttäuschungen hervorzurufen, werden uns bestimmen, auf einen voreiligen Abschluß der Verhandlungen hinzuwirken,“ ruft er trotzig aus, der Spekulation zugewandt, die offenbar die Ungewißheit über den Ausgang der Verhandlungen ausgenutzt hat und nunmehr ungeduldig und unsicher hinsichtlich der Früchte ihrer Manipulationen geworden ist. Aber trotz dieser zur Schau getragenen Gleichgültigkeit gibt es damals doch anscheinend für Rathenau einen außenstehenden Faktor, von dem er sich abhängig fühlt, von dem er nicht genau weiß, ob er sich günstig oder ungünstig zu der Transaktion stellen wird: den Kapitalmarkt, der — wie er instinktiv fühlt — Anlagen in Elektrizitätsunternehmungen nach den gemachten schlechten Erfahrungen noch mißtrauisch gegenübersteht. „Das Publikum ist mit Recht weittragenden Kombinationen gegenüber skeptisch geworden und wir teilen diese Skepsis.“ Daß es nicht innerste industrielle Überzeugung ist, die ihn hemmt, sondern augenblickliche finanzielle Unsicherheit, geht wieder aus dem prinzipiellen Bekenntnis zur Konzentrationspolitik hervor, das er den negativen Sätzen sofort folgen läßt: „Daß die materiellen Voraussetzungen für lohnende Geschäfte auf dem Gebiet der Verständigung liegen, ist nicht zweifelhaft.“ — Er schildert die Ersparnisse im Laboratorium, bei den Arbeiten auf dem Erfindungsgebiete, bei den Versuchsarbeiten, bei der Propaganda, die auf dem Wege der Konzentration zu finden waren. „Eine solche Teilung der Arbeit könnte auch eine Mehrheit von Fabrikationsunternehmungen umfassen,“ sagt er, und deutet damit an, daß nicht nur an Interessengemeinschaft, sondern an völlige Fusion gedacht wird. Den in der Öffentlichkeit im Anschluß an die Konzentrationstendenzen in der Elektrizitätsindustrie schon damals von Theoretikern geäußerten Befürchtungen, daß diese Tendenzen zu einem Elektrizitätsmonopol führen könnten, tritt er beruhigend entgegen. „Die Grenzen werden uns gezogen durch die Notwendigkeit, den Wettbewerb zu erhalten, der für den technischen Fortschritt ebenso unentbehrlich ist, wie für die Verhinderung einer Monopolwirtschaft.“ — Die Aktionäre werden aus alledem nicht recht klug [S. 259] geworden sein. Ein halbes Ja, dem ein halbes Nein folgt. Das Resumée ist mehr auf Nein gestimmt. „Weder Expansionslust noch Waghalsigkeit werden bestimmend sein. — Es ist nicht beabsichtigt, für irgendwelche Kombinationen jetzt neue Mittel zu investieren, noch die Liquidität und die Kreditfähigkeit der A. E. G. zu beeinflussen.“ Der tiefblickende Bilanzkenner Rathenau witterte wohl, daß bei Schuckert der Boden des Fasses mit dem schlechten Abschluß für das Jahr 1900/01 noch nicht erreicht sei und er sollte recht behalten. In der nächsten Generalversammlung am 2. Dezember 1902, als sich das Schicksal von Schuckert bereits erfüllt hat, erlebte er die Genugtuung, daß ein Aktionär — anscheinend derselbe, der ihn in der vorigen Generalversammlung wegen des langsamen Fortgangs der Verhandlungen mit der Nürnberger Gesellschaft befragte — seiner Freude darüber Ausdruck gab, daß aus der Fusion nichts geworden sei. Die Freude teilten nicht alle Kenner und nicht alle Getreuen im Hause der A. E. G. In einer dreiwöchentlichen eingehenden Prüfung, die Vertrauensmänner der A. E. G., besonders Walther Rathenau und Deutsch an Ort und Stelle in Nürnberg vorgenommen hatten, waren einige zu der Überzeugung gelangt, daß diese Fusion trotz alledem zweckmäßig und erstrebenswert sei. Sie meinten, daß die Schuckertschen Fabrikbetriebe und auch die Beteiligungen soviel Wertvolles enthielten, daß ihre Erwerbung in jedem Falle eine außerordentliche Bereicherung des A. E. G.-Konzerns, nicht nur einen Zuwachs an Umfang, sondern auch an Qualität darstellen würde. Es käme nur auf die Bedingungen der Übernahme an. Ließen sie sich annehmbar gestalten, so sei das Geschäft zu machen, schon wegen der Gewinnung der wichtigen Stützpunkte in Süddeutschland, über die Schuckert verfügte. Man müßte 25 Millionen Mark in die Nürnberger Unternehmungen stecken, um sie auf die Höhe zu bringen. Allerdings könnte man eine solche Summe den bisherigen Leuten der Schuckert-Ges. nicht ohne weiteres anvertrauen, sondern es müßten erste A. E. G.-Leute für die Dauer nach Nürnberg gesetzt werden. Emil Rathenau scheint in jenen Zeiten unter einer Art Depression, einer Erschlaffung der Willens- und Entschlußkräfte gestanden zu haben, die ihm nicht gestattete, selbst das entscheidende Wort zu sprechen, wie er es in früheren Fällen, so beim Rückerwerb der B. E. W. und bei der Übernahme der Elektrobank ohne Zaudern, mit durchaus sicherem inneren Gefühl [S. 260] getan hatte, unbekümmert um die Bedenklichkeit und Gefährlichkeit der Lage, die auch bei jenen Transaktionen in den äußeren Verhältnissen vorhanden gewesen war. Die Kraft der Initiative war ihm zeitweilig verloren gegangen, wie schon in der bereits erwähnten Generalversammlung vom 5. Dezember 1901 zu erkennen gewesen war, in der er auf einen Angriff aus Aktionärkreisen, der sich gelegentlich der Einstellung seiner beiden Söhne in den Vorstand gegen die Aufrichtung einer „Dynastie Rathenau“ gerichtet hatte, die Erklärung abgab: Er müsse seine Nachfolge vorbereiten, denn er selbst gedenke sich in absehbarer Zeit von der Leitung der Gesellschaft zurückzuziehen, allerdings gehe es gegen sein Gefühl, der A. E. G. in der Zeit der Krisis den Rücken zu kehren. Das werde er erst tun, wenn für das Unternehmen wieder eine Zeit des Aufschwungs gekommen sei. Und was er sonst nie getan hatte, weder vorher noch nachher, tat er im Falle der Schuckert-Fusion. Er überließ, in einem Anfall von Unentschlossenheit, der seinem Charakter — wie wir ja wissen — gelegentlich nicht fremd war, die Entscheidung dem Direktorium. Er beschloß, sich der Majorität seiner Kollegen zu fügen. Gründe und Gegengründe drangen damals bis in die Öffentlichkeit. In einem offenbar von einer Verwaltungsseite inspirierten Artikel, der Anfang 1902 seinen Weg in die Presse fand, wurden die Vorteile der Angliederung breit ausgemalt. Es hieß darin:
„Die Herstellungskosten des fertigen Fabrikates werden erfahrungsgemäß durch die Preise für die Rohmaterialien und durch die Arbeitslöhne wenig beeinflußt, (?) es kommt außerdem hinzu, daß, wenn diese beiden Summanden fallen, alle Fabrikanten ziemlich denselben Nutzen davon haben. Die Preise der fertigen Fabrikate geben dann ganz allgemein nach und für eine einzelne Fabrik kann beim Verkauf ein ins Gewicht fallender Nutzen hierdurch nicht erzielt werden. Es bleiben somit allein die Generalunkosten übrig, durch deren Reduzierung Ersparnisse erzielt werden können, und der Zweck der Fusion A. E. G.-Schuckert ist in der Tat der, die beiderseitige Fabrikation durch ein Zusammenarbeiten zu verbilligen, dadurch, daß sich die Generalunkosten beider Gesellschaften, welche teils durch die eigentliche Fabrikation, teils durch den Verkauf der fertigen Fabrikate entstehen, sich ermäßigen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser Zweck durch die Fu [S. 261] sion erreicht werden würde, und es ist auch leicht einzusehen, daß damit ein Vorsprung erreicht wird, welcher von anderen Firmen nicht leicht hinfällig gemacht werden kann. Augenblicklich, so kann man sagen, halten sich die Unkosten aller großen Fabriken so ziemlich das Gleichgewicht, der Nutzen, den die Fabrikation abwirft, ist gleich schlecht. — Wenn nun zwei Gesellschaften imstande sind, den wesentlichsten Faktor, der im Selbstkostenpreis seinen Ausdruck findet, herabzumindern, so müssen die anderen Fabriken erst Mittel und Wege finden und suchen, um das Gleiche zu erreichen, bevor das Gleichgewicht wieder hergestellt wird. Früher oder später tritt das natürlich ein, und von dann an wird ein weiteres Fallen der Preise wieder allmählich beginnen, bis wieder weitere Ersparnisse, um die Fabrikation rentabel zu machen, nötig werden.“
Ferner enthielt dieser Artikel einen genauen Plan über die Organisation der Unkostenersparnis und der Arbeitseinteilung, die zwischen den beiden Fabrikationsstätten in Berlin und Nürnberg vorgenommen werden sollte. — Trotz aller Propaganda für den Plan überwog im Kollegium schließlich die Abneigung. — Es wurde zwar noch ein Versuch gemacht, wenigstens den Beteiligungsbesitz der Schuckert-Gesellschaft, an dem der A. E. G. anscheinend am meisten gelegen war, unter deren Einfluß zu bringen. Nachdem die umfassende Interessenvereinigung nicht zustande gekommen war, wurden zwischen dem Finanzkonsortium der A. E. G. und der Schuckert-Gesellschaft bezw. der Continentalen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen, der Finanzgesellschaft Schuckerts, Verhandlungen eingeleitet mit dem Ziele, daß das genannte Konsortium der Schuckert-Gruppe einen Vorschuß von 7½ Millionen Mark gewähren solle. Als Unterpfand für das Darlehen sollten die im Besitz der „Continentalen“ befindlichen Effekten dienen, die das Berliner Konsortium möglichst günstig verwerten und aus denen das Darlehen allmählich abgetragen werden sollte. — Auch diese Verhandlungen, die wochenlang hin und her gingen, wurden schließlich ohne Resultat abgebrochen; damit war die Annäherung zwischen der A. E. G. und Schuckert endgültig gescheitert. — Später kam bekanntlich zwischen der Siemens & Halske-Gesellschaft und Schuckert ein Abkommen zustande, wonach die beiderseitigen Starkstrombetriebe in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die Siemens-Schuckert-Werke , eingebracht wurden. Von deren 90 Millionen Mark [S. 262] betragenden Stammanteilen übernahmen Siemens & Halske 45050000 Mark, die Elektrizitätsgesellschaft Schuckert 44950000 Mark. Die Gründung dieser Gesellschaft erfolgte im März 1903, also ein Jahr nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der A. E. G. Sie richtete die zusammengebrochene Schuckert-Gesellschaft wieder empor, indem sie ihr die meisten Fabrikbetriebe abnahm. Das Schwachstromgeschäft, die Beteiligungen, auf die doch bei den Verhandlungen mit der A. E. G. von dieser gerade der Hauptwert gelegt worden war, und die Finanzierungsaufgaben verblieben bei den unabhängig erhaltenen Stammgesellschaften. In dieser Form, die vielleicht etwas umständlich war, aber die Parität sorgfältig wahrte, haben sich die Siemens-Schuckert-Werke gekräftigt und bald nach der Überwindung der Krisis eine aufsteigende Entwickelung genommen.
Ob unter den Gründen, die die Fusionspläne bei der A. E. G. aus dem Stadium der Grundsätzlichkeit in den Bereich der Aktualität rückten, das Beispiel eine Rolle gespielt hat, das die Erweiterung des Machtgebiets der Siemens & Halske-Gesellschaft durch die Angliederung der Schuckertschen Fabriken gab, oder ob umgekehrt die A. E. G.-Pläne Siemens & Halske anregten, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die Transaktion zwischen der A. E. G. und der Union-Elektrizitätsgesellschaft schwebte zur gleichen Zeit, wie die zwischen Siemens und Schuckert und sie wurde sogar einige Tage früher veröffentlicht. Wo die Priorität des ersten inneren Gedankens lag, läßt sich nicht feststellen; zweifellos waren beiden Parteien die geführten Fusionsverhandlungen der anderen Gruppe nicht verborgen geblieben, und sie hatten damit einander beeinflußt und angespornt. Was in jenem obenerwähnten Zeitungsartikel als ein Vorsprung bezeichnet worden war, der erst allmählich von der Konkurrenz eingeholt werden müßte, hatte sich blitzschnell in der Taktik der beiden führenden Konzerne paralysiert. Keine von ihnen wartete ab, daß ein solcher Vorsprung zugunsten der anderen eintrat. Das Machtverhältnis sollte sich nicht verschieben, es mußte sofort wieder das frühere Gleichgewicht hergestellt werden. Das Gesetz des Dualismus begann zu wirken.
Die A. E. G. konnte aber den Weg der Konzentration nicht nur aus konkurrenztaktischen, sondern aus sachlichen Gründen betreten, umsomehr, als er ihr schon seit langem als der zweckmäßigste, ja der [S. 263] einzig gangbare erschienen war. Dazu kam, daß die Krisis den Tiefpunkt überschritten hatte und sich bereits wieder hellere Ausblicke zu zeigen begannen. Die Furcht, bei einer Transaktion neue große Mittel zu investieren, war zwar noch nicht geschwunden. Aber immerhin war doch in den Wertverhältnissen der einzelnen Unternehmungen zueinander jetzt etwas mehr von jener Klarheit geschaffen, die Rathenau noch im Jahre vorher vermißt hatte, als er im Geschäftsbericht für 1901/02 schrieb: „Daß aber eine Beschleunigung des Zusammenschlusses leicht zu Übereilungen führen könnte, scheint uns durch die Tatsache erwiesen, daß noch im Verlauf des letzten Jahres erhebliche Verschiebungen in der relativen Bewertung der einzelnen Unternehmungen stattgefunden haben und anscheinend dauernd sich vollziehen.“ Das hieß auf deutsch: Die Dividenden- und Kursverhältnisse, die doch bei Fusionen den Maßstab für den Aktienumtausch oder die Bewertung der Aktiva anderer Unternehmungen abgeben mußten, boten nicht nur vor, sondern noch in der Krisis ein falsches Bild. Man hätte auf ihrer Grundlage die zu erwerbenden Objekte zu teuer bezahlt und mußte erst warten, bis die Krisis, dieser untrügliche Prüfstein der Werte und Potenzen, die Fusionsobjekte genügend verbilligt haben würde. In der Generalversammlung vom Dezember 1902 war Emil Rathenau sogar noch deutlicher geworden und hatte, nachdem doch schon empfindliche Schäden bei manchen Gesellschaften zu Tage getreten waren, mit dem untrüglichen Scharfblick des Kritikers seine Zweifel darüber ausgesprochen, „ob einige Gesellschaften, die einer Sanierung unterzogen worden und sich damit genügend organisiert glaubten, nun auch wirklich gesundet wären.“ Die Prognose war richtig, denn schon die nächstjährigen Bilanzen brachten neue, noch viel schwerere Verluste bei den halbsanierten Unternehmungen zu Tage. Das Jahr 1902/03 erst konnte als Tiefpunkt der Krisis bezeichnet werden; und erst jetzt ließ sich mit Sicherheit erkennen, was bei den erschütterten Elektro-Unternehmungen seinen Wert behalten hatte und was abgestorben war. Nicht vor dem Frühjahr 1903 entschlossen sich darum sowohl die A. E. G. wie Siemens & Halske zu ihren ersten großen Konzentrationsgeschäften. Fast gleichzeitig mit der Transaktion Siemens-Schuckert wurde der erste Vertrag mit der „Union-Elektrizitätsgesellschaft“ den Aktionären der A. E. G. vorgelegt. Er enthielt lediglich den Vorschlag einer Interessengemeinschaft zwischen beiden [S. 264] Unternehmungen, und sollte — wie in der beschlußfassenden Generalversammlung erklärt wurde — den Beweis liefern, daß eine Verständigung der sich zusammenschließenden Firmen auch ohne Verzicht auf ihre Individualität erreicht werden könne. Diese Selbstbeschränkung, die in Wirklichkeit aber nur eine Halbheit war und als solche auch wohl von Rathenau innerlich erkannt wurde, hatte ihren Grund weniger in Zweckmäßigkeitsfragen, als in persönlichen Rücksichten und Vorbehalten auf beiden Seiten. Bei der A. E. G. wollte man anscheinend noch immer nicht an die große Kapitalstransaktion herangehen, die mit einer vollständigen Fusion unumgänglich verbunden gewesen wäre, auch hielt man die Bilanz-Verhältnisse bei der Union wohl noch immer nicht für geklärt genug, als daß man auf der damaligen Bewertungsbasis die Objekte der Union dauernd und unwiderruflich hätte aufnehmen wollen. Bei der Union hinwiederum konnte man sich zu dem Opfer der völligen Aufgabe der Selbständigkeit noch nicht recht entschließen. Endlich schien sich auch eine vorherige Auseinandersetzung mit den amerikanischen Verbindungen der Union als zweckmäßig zu erweisen. Man machte also aus der Not eine Tugend und rühmte bei der unvollkommenen Transaktion die Erhaltung der Individualität beider Unternehmungen. Der geschlossene Vertrag hatte nach den damals den Aktionären beider Gesellschaften gemachten ausführlichen Mitteilungen den Zweck, eine Zusammenfassung und möglichste Vereinigung der technischen und kommerziellen Kräfte und Leistungen beider Gesellschaften herbeizuführen. Für ihn sollten die folgenden Bestimmungen und Grundsätze gelten.
1. Identität der Geschäftsführung und Verwaltung, soweit dies gesetzlich zulässig ist;
2. Arbeitseinteilung , entsprechend der Eigenart der beiderseitigen Fabrikationseinrichtungen, unter Austausch der kommerziellen und technischen Erfahrungen;
3. Möglichste Erhaltung des gegenwärtigen Beschäftigungsverhältnisses beider Gesellschaften;
4. Tunliche Verschmelzung der auswärtigen Organisationen .
Im einzelnen wurde bestimmt, daß die beiderseitigen Direktoren gemeinschaftlich die Geschäfte beider Gesellschaften als Gesamtdirektoren leiten. Die Zahl der Direktoren wurde auf zehn festgesetzt, [S. 265] wovon sieben der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft und drei der Union angehören sollten. Die Mitglieder der Aufsichtsräte beider Gesellschaften bildeten zusammen den gemeinsamen Delegationsrat der Gesellschaften. In dem Delegationsrate führten die Mitglieder jedes Aufsichtsrates zusammen zwölf Stimmen, ohne Rücksicht auf die Zahl der Abstimmenden. Die Aufsichtsräte beider Gesellschaften waren bei der Beschlußfassung über folgende Gegenstände an die Beschlüsse des Delegationsrates gebunden:
1. Erweiterung oder Abtretung von Fabrikationseinrichtungen, im Falle es sich um mehr als 1% des Aktienkapitals der betreffenden Gesellschaft handelte.
2. Dauernde Investitionen im Betrage von mehr als 2% des Aktienkapitals der betreffenden Gesellschaft.
3. Abänderungen des Interessengemeinschaftsvertrages.
4. Ausgabe von Obligationen.
Über folgende Gegenstände sollten die Aufsichtsräte beider Gesellschaften nur in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Delegationsrates beschließen: Vorschläge an die Generalversammlungen, betreffend Statutenänderung, Fusion mit anderen Unternehmungen, Kapitalserhöhung und -herabsetzung, Auflösung einer Gesellschaft, Anstellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern. — Abgesehen von den obigen Einschränkungen, behielten die Aufsichtsräte ihre bisherigen Funktionen bei. Die Aufsichtsratsmitglieder der A. E. G. wurden zu den Aufsichtsratssitzungen der Union E. G. eingeladen und nahmen daran mit beratender Stimme teil und umgekehrt. Jede der beiden Gesellschaften sollte zunächst in der bisher bei ihr üblichen Weise eine Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung aufmachen. Von dem Gewinn- oder Verlustsaldo dieser Vorbilanz der A. E. G. sollten von dieser der Union E. G. 4 ⁄ 19 gutgebracht bzw. belastet werden, während die Union E. G. von dem Gewinn- oder Verlustsaldo ihrer Vorbilanz an die A. E. G. 15 ⁄ 19 gutzubringen bzw. zu belasten hatte. Auf Grund der ermittelten Gewinn- oder Verlustziffer stellte dann jede Gesellschaft für sich ihre gesetzlich und statutarisch vorgeschriebene Bilanz auf. Der Vertrag sollte vom 1. Juli 1903 ab auf eine Dauer von 35 Jahren in Kraft treten. Über alle die Auslegung des Vertrages betreffenden oder sonst sich aus ihm ergebenden Streitigkeiten sollte ein Schiedsgericht entscheiden. Zur Begründung dieses Vertrages, der eine aktienrechtlich außerordentlich [S. 266] seltene und interessante Verquickung der Verwaltungsorgane zweier Gesellschaften darstellte, verlas Generaldirektor Rathenau in der Generalversammlung eine Erklärung, aus der wir folgendes hervorheben:
„Mit dem Vertrag, den wir mit der Union Elektrizitätsgesellschaft getätigt haben, tritt die deutsche elektrotechnische Industrie in die Phase der Associationen, die seit Jahren zur Heilung ihrer Schäden von uns empfohlen werden. Daß der Zusammenschluß der Gesellschaften neben anderen Zwecken die Hebung der durch gegenseitige Unterbietungen unlohnend, zuweilen verlustbringend gewordenen Geschäfte auf eine dem Fabrikationsgewinn entsprechende, angemessene Höhe verfolgt, wird nicht in Abrede gestellt. Aber dieser Zweck soll weder durch willkürliche Preisfestsetzungen, noch durch Syndikatsbildungen erreicht werden, für welche die Elektrotechnik ihrer Natur nach sich weniger als andere Industrien eignet.....
... Unser Vertrag mit der Union zeigt, daß eine Verständigung der sich zusammenschließenden Firmen auch ohne Verzicht auf ihre Individualität erzielt werden kann. Der nach dem Vorgang der A. E. G. erfolgte Zusammenschluß anderer Firmen der Elektrizitätsindustrie beweist ferner, daß auch an anderen maßgebenden Stellen Befürchtungen vor den ungünstigen Folgen der Vertrustung zu weichen beginnen. Auch in Amerika hat die Trustbildung technische Fortschritte nicht ausgeschlossen, sondern gefördert, und nicht mit Unrecht wird darauf hingewiesen, daß in diesem Lande noch immer mehr erfunden und versucht wird wie in Europa.... Von keiner Seite ist bisher behauptet worden, daß die Interessengemeinschaft unserer Gesellschaft mit der Union inkongruente Elemente zusammengeführt habe; es werden vielmehr von allen Seiten Gründe angeführt, die gerade für diese Kombination sprechen. Bei unserer umfangreichen Tätigkeit, welche über die gesamte Starkstromtechnik sich erstreckt, hatten wir dem Bau elektrischer Eisenbahnen weniger Bedeutung geschenkt als die sich hauptsächlich auf dieses Gebiet konzentrierende Union, der noch dazu die Versuche und Erfahrungen befreundeter Gesellschaften in Amerika zur Verfügung stehen. Von jeher hat dieses Land gerade im elektrischen Transportwesen einen Vorsprung erlangt, den es bei der Eigenart der dortigen Verhältnisse voraussichtlich noch länger zu bewahren imstande sein wird. Die Fabriken [S. 267] der A. E. G. und der Union ergänzen sich so glücklich, daß nur verhältnismäßig wenige, in beiden Unternehmungen gleichzeitig ausgeübte Betriebe im Interesse der Einheitlichkeit verschmolzen zu werden brauchen. Außerdem können Aufträge, welche die Union bisher anderweitig vergeben mußte, den Werkstätten der A. E. G. im Interesse beider zufallen. Im Besitze der Union befinden sich keine Aktien ihrer Trustgesellschaft. Die Finanzgesellschaft bleibt außerhalb des Vertrages ; ebenso sind die selbständigen, ausländischen Geschäfte in die jetzige Kombination nicht einbezogen worden. Immerhin sichert die gewählte Form des Abschlusses die Möglichkeit weiterer Angliederungen solcher Unternehmungen, die den geschaffenen Konzern zu ergänzen oder zu stärken geeignet sind.
Die von uns gewählte Art des Zusammengehens steht der formellen Fusion vielleicht insofern nach, als diese einen scheinbar weniger umständlichen Verwaltungsapparat erfordert und der Gedanke einer Verschmelzung, von dem man ursprünglich ausgegangen war, braucht auch deshalb nicht aus dem Auge verloren zu werden . Für jetzt wird man sich begnügen, den Zusammenschluß einer tatsächlichen Fusion so zu nähern, daß materielle Nachteile aus dem etwas künstlicheren Aufbau weder für die Gesellschaften noch für die Aktionäre entstehen. Die verschiedenen Momente kann man ihrem wesentlichen Inhalte nach dahin zusammenfassen: Die gegenwärtige Lage der Industrie macht den Zusammenschluß der elektrotechnischen Firmen zu einer Notwendigkeit. Die wirtschaftlichen Vorteile des Zusammenschlusses sind so erheblich, daß ihnen gegenüber die Bedenken verschwinden. Interessen dritter werden nicht verletzt, weder Einzelner noch der Allgemeinheit. Dem Lande aber wird das Fortbestehen einer seiner schönsten und stärksten Industrien gesichert.“
Wenngleich in den die Interessengemeinschaft begründenden Ausführungen auf die verbleibende Selbständigkeit der beiden Unternehmungen ein gewisser Nachdruck gelegt worden war, so betonte doch dasselbe Verwaltungsdokument, in einem gewissen Widerspruch zu diesem Individualitätsprinzip bereits, „daß der Gedanke einer Verschmelzung, von dem man ursprünglich ausgegangen war, deshalb nicht aus dem Auge verloren zu werden brauchte.“ Daß man bei der A. E. G. die gefundene Form von vornherein nur für eine vorläufige [S. 268] hielt und sobald als möglich in eine endgiltige umzuwandeln bestrebt war, geht aus allen nachprüfbaren Umständen hervor. Auch weiterhin blieb man in jener Zeit der Konzentrationsbewegung, die man während der Krisis aus praktischen Gründen hatte zurückdämmen müssen, mit Entschlossenheit zugewandt und hielt sie mit dem vorstehend geschilderten Abkommen noch nicht für erledigt. Der Geschäftsbericht für 1902/03 stellte fest: „der erste Schritt in der Richtung, die wir stets als die wünschenswerte bezeichneten, ist geschehen: die vier bedeutendsten Unternehmungen unserer Industrie sind heute zu zwei Gruppen vereinigt, die mehr als dreiviertel der Gesamtproduktion repräsentieren.“ — An einer weiteren Stelle hieß es: „In gemeinsamem Interesse wünschen und hoffen wir, daß die zentralisierende Bewegung in der Elektrotechnik andauert und unterstützt vom guten Einvernehmen der leitenden Persönlichkeiten die Erfolge zeitigt, deren, wenn auch nicht alleinige, Voraussetzung sie bildet.“ — In demselben Bericht konnte schon auf ein paar weitere Ergebnisse der Transaktionspolitik hingewiesen werden, die sich allerdings — vom Standpunkte der großen Entwickelung aus betrachtet — als Nebengeschäfte darstellen. Die A. E. G. beteiligte sich an der Umwandlung der bekannten Maschinenfabrik Gebr. Körting in Hannover in eine Aktiengesellschaft, von deren 16 Millionen Mark betragendem Kapital sie 1,1 Millionen Mark übernahm. Die elektrische Abteilung des Unternehmens wurde von der A. E. G. ganz erworben und als G. m. b. H. insbesondere zum Zweck der Herstellung von Generator-Gasanlagen für elektrische und andere Betriebe organisiert. — Auch zwischen den beiden Großkonzernen, der A. E. G. und Siemens & Halske, die sich bereits früher einmal bei der Gründung der Akkumulatorenwerke Berlin-Hagen zu gemeinsamer Betätigung zusammengefunden hatten, spannen sich unter dem Einfluß der Konzentrationsbewegung weitere Fäden. Die beiderseitigen funkentelegraphischen Systeme Arco-Slaby und Braun wurden in der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie (System Telefunken) vereinigt. Nur in gemeinsamer technischer und kommerzieller Ausgestaltung der zu entwickelnden Anfänge konnte man hoffen, dem mächtigen englischen Marconi-System, das auf ein Weltmonopol namentlich in der drahtlosen Schiffstelegraphie hinsteuerte, die Spitze zu bieten. Auch an dem Bau eines großen Unternehmens in Valparaiso für Licht-, Kraft- und Bahnbetrieb beteiligten sich die beiden [S. 269] Konzerne. Fertiggestellt sollte das Werk der Deutsch-Überseeischen Elektrizitätsgesellschaft, jenem gewaltigen südamerikanischen Sammelunternehmen, zugeführt werden, in das neben der A. E. G. und der Deutschen Bank damit auch Siemens & Halske eintraten. Derartige gelegentliche Gemeinschaftsgeschäfte führten aber letzten Endes keineswegs zu einer engeren Zusammenfassung der beiden Gesamtgruppen. Die Hauptstrome liefen weiter getrennt nebeneinander und vielfach sogar auseinander.
Die konzentrative Hauptrichtung der A. E. G. blieb in dieser Zeit aber auf den Ausbau der Verbindung mit der „Union“ und den Anschluß an das amerikanische Interessengebiet dieser Gesellschaft gerichtet. Diese Angelegenheit erschien Emil Rathenau so wichtig, daß er sich im Herbst 1903 zu einer Reise nach Amerika entschloß. Wie in früheren Fällen schon war ihm auch diesmal die Auffrischung nach den niederdrückenden Zeiten der Krisis ein körperliches und geistiges Bedürfnis, wie früher schon war die amerikanische Reise ein Jungbrunnen für seine Energien, eine Quelle neuer bezwingender Eindrücke, die den auch auf der Höhe des Erfolges und des Ruhmes frisch und naiv gebliebenen, genau so wie den jungen, unbekannten Ingenieur enthusiasmierten. Diesmal erschien er aber in der Neuen Welt nicht als einer, der einen kleinen Teil des drüben angehäuften Geistesreichtums in sich aufnehmen und zur Errichtung einer bescheidenen Existenz im Heimatlande mit sich forttragen wollte, sondern als ein Geistesherrscher, ein Industriekönig, der den führenden Männern drüben als Gleichberechtigter entgegenzutreten und mit ihnen über die Verteilung der elektrischen Welt zu verhandeln beabsichtigte. Er kam nicht nur, um zu nehmen, sondern auch um zu geben, um auszutauschen. Gewiß hatte die amerikanische Elektrizitätsindustrie, der die Welt und der Rathenau das elektrische Glühlicht verdankte, inzwischen erfolgreich weiter gearbeitet und Erstaunliches geleistet. Aber auch die deutsche Elektrizitätsindustrie sah auf eine Periode glänzender Vollbringungen, systematischer Durcharbeitungen zurück und konnte namentlich im Zentralenwesen, auf dem Gebiete der Kraftübertragung, der Metallurgie und Elektrochemie wertvolle Kompensationen anbieten.
Der ordentlichen Generalversammlung vom 12. Dezember 1903 wohnte Rathenau nicht bei. Es war kein Wunder, daß aus Kreisen [S. 270] der Aktionäre Interesse und Neugierde laut wurden, welche Zwecke die Reise des Generaldirektors verfolge, mit der sich auch schon die Presse angelegentlich beschäftigt hatte. Den Fragern wurde eingehende Auskunft. Die Union-Elektrizitäts-Ges., so hieß es, war eine Tochtergesellschaft der amerikanischen Thomson Houston Co., von der sie als Wirkungsgebiet Mittel- und Nordeuropa zugewiesen erhalten und mit der sie einen Austausch von Erfindungen, Patenten und Konstruktionen vereinbart hatte. Später wurde die Thomson Houston Co. — wie wir schon wissen — mit der Edison Electric zu der General Electric Co. verschmolzen, deren Aktienkapital den stattlichen Betrag von 42 Millionen Dollar erreichte. Die amerikanischen Interessenten sahen nun eine Beeinträchtigung für sich darin, daß die A. E. G., die territorial unbeschränkt war, in Wettbewerb mit den Tochtergesellschaften der General Electric auf den Gebieten des Weltmarkts treten konnte, die der Union verschlossen waren. Bei der engen Interessenverbindung, die zwischen der A. E. G. und der Union neuerdings bestand, war damit die Beschränkung auch für die Union praktisch hinfällig geworden. Der Präsident der General Electric war persönlich nach Europa gekommen, um mit der A. E. G.-Union-Gruppe auf vorbereiteter Basis ein neues Übereinkommen zu treffen, dessen Voraussetzung sein sollte, daß die Tochtergesellschaften der General Electric, die britische und die französische Thomson Houston Co., denen die Mittelmeergebiete zugewiesen waren, sich der Abgrenzung der Organisationsgebiete anschlossen. Neben diesen Absatzfragen gab es auch technische Angelegenheiten zu regeln. Diese bezogen sich insbesondere auf die Turbinenfrage . Die A. E. G. hatte den Turbinenbau aufgenommen, aus dem Bestreben heraus, sich neue Geschäftszweige zu schaffen, nachdem manche der alten unter dem starken Wettbewerb in ihrer Ergiebigkeit gelitten hatten. „Die Konstruktion von Dampfturbinen haben wir mit dem ihrer Bedeutung entsprechenden Nachdruck entwickelt und die hierbei erzielten günstigen Ergebnisse haben uns bestimmt, die Fabrikation dieses für stationäre Betriebe und die Seeschiffahrt gleich wichtigen Motors, welcher ein hervorragendes Organ auch der elektrischen Stromerzeugung zu werden verspricht, in großem Umfange zu betreiben. Zur Erfüllung dieser Aufgabe genügen unsere für andere Zwecke der Technik geschaffenen Einrichtungen nicht, aber wir sind bis zur Vollendung der neuen Projekte in der Lage, die noch zu [S. 271] schaffenden Typen, sowie die Hilfsmittel und Werkzeuge zu ihrer Herstellung im praktischen Gebrauche zu erproben.“ So hieß es im Geschäftsbericht für das Jahr 1902/03. Die A. E. G. stützte sich bei ihren Plänen auf die Riedler-Stumpf schen Patente. Die General Electric besaß die wertvolle und bereits weiter entwickelte Curtis Turbine . Während die General Electric große Typen herstellte, versuchte die A. E. G., der für diese Zwecke damals unbeschränkte Mittel nicht zur Verfügung standen, die Konstruktion kleinerer Typen. Eine Vereinigung beider Systeme und eine damit zu erreichende Vervollkommnung des Turbinenbaus wurde von den Gruppen angestrebt. In der Zeit der Anwesenheit des Präsidenten der General Electric in Europa waren die Schwierigkeiten mit den Mittelmeergesellschaften noch nicht gelöst. Dagegen war es gelungen, mit der Brown Boveri-Ges. , die zur Ausnutzung ihrer Parsons Patente die Turbinia Parsons Marine-Akt.-Ges. gegründet und auch einige Aufträge für die deutsche Marine erhalten hatte, ein Abkommen zu treffen. Die A. E. G. übernahm im Anschluß daran 5625000 Frcs. Aktien der Brown Boveri & Cie.-Ges. in Baden (Schweiz). Auch hier war ein Erfolg auf dem Konzentrationswege erreicht worden, der zwar keine Verbindung erster Größe, doch immerhin eine solche von Wichtigkeit auf einem Spezialgebiet darstellte.
Die Reise Emil Rathenaus nach den Ver. Staaten löste alle noch offenen Probleme und überwand alle Schwierigkeiten. Am 27. Februar 1904 konnte eine außerordentliche Generalversammlung einberufen werden, von der die Anträge auf völlige Verschmelzung der A. E. G. mit der Union E. G. genehmigt wurden. Aus der ausführlichen Denkschrift, die den Aktionären in der Generalversammlung vorgelegt wurde, sei das Folgende wiedergegeben:
„Die Schranken, welche die Verschmelzung unserer Gesellschaften hinderten, sind beseitigt, und, nachdem die Beziehungen zu den amerikanischen Gesellschaften eine den neu zu schaffenden Verhältnissen entsprechende Gestaltung gefunden haben, erscheint die Fusion jetzt als letzte Konsequenz der Interessengemeinschaft, die eine Etappe auf diesem Wege war und sein sollte.
In der Generalversammlung vom 12. Dezember 1903 sind Andeutungen über den Zweck der Reise des Generaldirektors der Gesellschaft nach den Vereinigten Staaten gemacht worden. Im Vordergrunde [S. 272] des Interesses stand die Regelung der zukünftigen Beziehungen der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft zur General Electric Co., der mächtigsten Trägerin der elektrischen Industrie in der Neuen Welt. Die Werke dieser Gesellschaft sind von gewaltigem Umfang; sie verfügt über einen großen Stab fähiger Männer aus der Wissenschaft und Praxis und fördert mit reichen Mitteln und seltener Freigebigkeit die Ziele der elektrischen Industrie in Laboratorien und Versuchswerkstätten.
Eine innige Annäherung an diese Organisation erschien umso erstrebenswerter, als schon das Bündnis der Union E. G. mit der inzwischen von der General Electric Co. aufgesaugten Thomson Houston Co. die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft in hervorragendem Maße für die Interessengemeinschaft bestimmt hatte.
Es bestehen europäische Tochtergesellschaften der General Electric Co. für England, Frankreich und die Mittelmeerländer; sie haben den Namen Thomson Houston beibehalten. In den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika werden von der General Electric Co. kontrolliert: Edison General Electric Co., Thomson Houston Electric Co., Fort Wayne Electric Works, Stanley Electric Manufacturing Co., Eddy Electric Corporation, General Incandescent Arc Light Co., Sprague Electric Co. und Northern Electric Co.
Das Gebiet der Union E. G. war Deutschland, Mittel- und Nord-Europa und die Balkanstaaten. In Österreich, Rußland und Belgien hat sie unter Beteiligung einheimischer Finanzinstitute die österreichische bezw. russische Union E. G. und die Union Electrique in Brüssel errichtet.
Die einzelnen Gesellschaften sind durch Verträge untereinander und mit der Muttergesellschaft auf den ihr zugewiesenen Bezirk geographisch beschränkt, aber frei, die Gebiete durch Separatabkommen zu erweitern; so hat die Union Electrique durch eine Vereinbarung mit der Mittelmeergesellschaft, kurz Meditomson genannt, das Recht erlangt, unter gewissen Bedingungen auch in Italien Geschäfte abzuschließen.
Das alle Gesellschaften gemeinsam verbindende Element ist der wechselseitige Austausch von Patenten und Erfahrungen.
Auf den Beitritt zu diesem Konzern und die Anbahnung freundschaftlicher Beziehungen auch zu den europäischen Unternehmungen waren unsere Bemühungen nicht weniger gerichtet, als auf die Ver [S. 273] allgemeinerung der wichtigen technischen und kommerziellen Interessen, welche wir in unseren Dampfturbinen-Patenten und denen von Riedler-Stumpf besaßen. Die Vereinigung der letzteren mit den Patenten der Curtisgruppe, die die General Electric Co. zur eigenen Ausübung in den Vereinigten Staaten erworben hatte und für andere Länder zu verwerten im Begriff stand, erschien uns nützlich.
Unsere zahlreichen Verträge mit den amerikanischen und europäischen Gesellschaften enthalten folgende Hauptpunkte:
1. Eine Vereinbarung, nach welcher die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft und die General Electric Co. ihre Gebiete für sich und ihre Tochtergesellschaften gegenseitig abgrenzen und jede Partei der anderen Patente und Erfahrungen für die betreffenden Gebiete überläßt.
Das ausschließliche Gebiet der General Electric Co. umfaßt im wesentlichen die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika und Kanada, das der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft Deutschland mit Luxemburg, Österreich-Ungarn, europäisches und asiatisches Rußland, Finnland, Holland, Belgien, Schweden, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Türkei und die Balkanstaaten.
Für die Gebiete der europäischen Tochtergesellschaften sind langsichtige Separatabkommen geschlossen, für die anderen Weltteile einschließlich Süd-Amerika ist ein gemeinsames Arbeiten der beiden großen Elektrizitätsgesellschaften in Aussicht genommen, Abmachungen, welche ein langjähriges und ersprießliches Zusammenwirken erwarten lassen.
Auf die Vereinbarungen über Italien werden wir später noch zurückkommen; in Spanien und Griechenland bleiben die bisherigen Verhältnisse einstweilen unverändert.
2. Die General Electric Co. und die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft gründen eine Gesellschaft mit 3 Millionen Mark zur Verwertung der Riedler-Stumpf- und Curtis-Patente im Gebiete der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft. Hierbei sind die Patente von Curtis mit 1,8 Millionen Mark, die von Riedler-Stumpf mit 1,2 Millionen Mark bewertet. Die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft hat sich eine Lizenz gesichert. Sie erlangt hiermit auch das Lieferungsrecht nach allen außereuropäischen Ländern mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und Kanada, für welche die General Electric Co. die Riedler-Stumpf-Rechte erwirbt.
3. Das Recht der Benutzung von Curtis-Patenten für Betriebsmaschinen von Schiffen war der International Curtis Marine Turbine Co. vorbehalten. Diese hat der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft Lizenz für deren europäisches Gebiet erteilt, wogegen die letztere der Marine Turbine Co. die Verfügung über Riedler-Stumpf-Patente für Schiffsbewegungszwecke gestattet.
4. Mit den Professoren Riedler und Stumpf besitzt und bearbeitet die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft deren Dampfturbinen-Patente in der Gesellschaft zur Einführung von Erfindungen m. b. H. Die Patente sind nunmehr an die Vereinigte Dampf-Turbinen-Gesellschaft und für Nord-Amerika an die General Electric Co. übergegangen, die Marine-Rechte an die Marine-Turbinen-Gesellschaften, während die genannten Erfinder an den der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft gewährten Gegenleistungen beteiligt werden.
5. Mit der British Thomson Houston Co. ist ein analoger Vertrag, wie der mit der General Electric Co. über das Exportgeschäft geschlossen worden. Es sind der englischen Gesellschaft aber außerdem im Interesse der Geschäftsbetriebe noch gewisse Befugnisse eingeräumt worden, u. a. die finanzielle Beteiligung an der englischen Tochtergesellschaft der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft und an einer in England etwa zu gründenden Gesellschaft für Herstellung von Nernstlampen. Dagegen bleibt der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft das Recht, außer anderen Fabrikaten auch Turbinen nach England zu liefern, vorbehalten.
6. Wie mit der britischen Gesellschaft findet auch mit der französischen Thomson Houston Co. ein gegenseitiger Austausch der Patente und Erfahrungen statt. Die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft wird ihre französische Organisation auf den Verkauf ihrer Erzeugnisse in Frankreich beschränken und Maschinen, sowie Dampfturbinen nur an die französische Gesellschaft liefern, welcher eine Option auf den Bezug von Aktien der Société Française d’Electricité A. E. G. bis zu einem gewissen Betrage zugesichert ist. Dagegen garantiert die französische Thomson Houston Co. der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft einen dem bisherigen Umsatz an Maschinen in Frankreich entsprechenden Bezug von Dynamos.
Aus den Verträgen ergibt sich für uns das Recht und die Pflicht, folgende Gesellschaften zu gründen:
I. eine Gesellschaft für den Bau von Dampfturbinen, Turbodynamos und deren Zubehör. Die „Allgemeine Dampfturbinen-Gesellschaft“ soll mit einem nach Bedarf einzuzahlenden Aktienkapital von 5 Millionen Mark ausgerüstet werden. Die Aktien zeichnet die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft. Als Fabrikanlage werden Grundstücke, Gebäude und Maschinen der Union E. G., deren Fabrikbetrieb mit dem der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft verschmolzen worden ist, voraussichtlich dienen. Die vorgenannten Immobilien würden der Allgemeinen Dampfturbinen-Gesellschaft auf eine Reihe von Jahren mit dem Rechte des Erwerbes verpachtet werden. Die technische Leitung wird Herrn Direktor Lasche, in dessen Hände der Turbinenbau der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft sich gegenwärtig bereits befindet, übertragen.
II. Die oben erwähnte Turbinen-Licenz-Gesellschaft; diese ist unter der Firma „Vereinigte Dampfturbinen-Gesellschaft m. b. H.“ bereits errichtet.
III. Eine italienische Gesellschaft mit einem Kapital von 6 Millionen Lire, auf die die bisherigen Organisationen der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft und der Thomson Houston-Gesellschaft, sowie die italienischen Turbinen-Patente sämtlicher Gruppen übergehen.
IV. Zwischen der Union Electrique in Brüssel und der Société Belge d’Electricité A. E. G. ist ein analoges Abkommen, wie es zwischen der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft und Union Elektrizitäts-Gesellschaft besteht, einstweilen getroffen; eine förmliche Fusion dieser Gesellschaften dürfte vielleicht später sich vollziehen.
Sind schon die Aufwendungen für die genannten Gesellschaften, den Erwerb von Patenten und die Gewährung von Vorschüssen und aus den erwähnten Transaktionen von beträchtlichem Belang, so erfahren sie noch eine Vermehrung durch Übernahme von Aktien der Österreichischen Union E. G., an der die hiesige Union E. G. hervorragend beteiligt ist, und die wir sowohl aus diesem Interesse, als auch zur Schaffung geeigneter Fabrikationsstätten in Österreich, einer durchgreifenden Rekonstruktion zu unterziehen beabsichtigen.
Endlich wird die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft die häufig im Wege des Kredits beschafften Betriebsmittel der Union E. G. , falls sie ihre durch zwei Jahrzehnte bewährte Finanzgebarung [S. 276] auch auf diese Geschäfte übertragen will, ergänzen und verstärken müssen .
Zur Beschaffung der für die Durchführung des vorgezeichneten Programms erforderlichen Kapitalien unterbreiten wir folgende Vorschläge Ihrer geneigten Erwägung:
Die Union E. G. verfügte nach der Bilanz vom 30. Juni 1903 über Effekten und Anlagen im eigenen Betriebe zum Buchwerte von ca. 13 Millionen Mark, aber die Objekte befinden sich größtenteils in der Entwicklung, haben keinen Börsenkurs und würden deshalb schwer flüssig gemacht werden können. Zur Verwertung dieser Vermögensobjekte wird die Union E. G. unter Gewährleistung angemessener Erträgnisse den größten Teil dieses Besitzes der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft überlassen und dafür von ihr 6,5 Millionen Mark nominal neu auszugebender Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschafts-Aktien mit Gewinnberechnung vom 1. Juli 1903 empfangen. Diese 6,5 Millionen Mark neuer Aktien hat sich der Union E. G. gegenüber ein Konsortium zu einem Kurse von 210% tel quel netto ohne Stückzinsenberechnung abzunehmen bereit erklärt.
Vermöge dieser Transaktion würde die Union in den Besitz von Barmitteln in Höhe von ca. 13650000 Mark gelangen, und die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft die erworbenen Effekten unter Abzug der aus dieser Transaktion entstehenden Spesen und Zinsen weit unter dem Buchwerte bei der Union E. G. inventarisieren dürfen.
Sollte dieses Anerbieten Ihre Zustimmung finden, so würden wir gleichzeitig den Antrag stellen, die bisherige Interessen-Gemeinschaft der beiden Gesellschaften aufzuheben und den Umtausch der Aktien der Union E. G. gegen solche der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft im Verhältnis der durch die Interessengemeinschaft festgesetzten Relationen von 3:2 zum Zwecke einer späteren Fusion bezw. Liquidation der Union E. G. zu vollziehen. Diese Verschmelzung würde wesentlich noch dadurch erleichtert werden, daß Immobilien, Betriebsinventarien, Waren und Materialien teils auf die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft übergehen, welche zugleich Kasse, Wechsel, Kautionen, Vorräte, Debitoren, Versicherungsprämien und Patente zu übernehmen hätte. Da die Reserven der Union E. G. den aus der Bilanz sich ergebenden Verlust des letzten Jahres reichlich decken, so wäre das teils in bar, teils in sofort [S. 277] realisierbaren Werten vorhandene Gesellschaftskapital der Union E. G. zur Durchführung sämtlicher Transaktionen vorhanden.
Aktionäre der Union E. G., welche über die Hälfte des Aktienkapitals verfügen, haben den eventuellen Umtausch ihrer Aktien unter diesen Bedingungen zugesagt, und wir zweifeln nicht, daß die übrigen ihrem Beispiel folgen werden.
Aber auch die Aktionäre der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft hätten Grund zur Zufriedenheit, denn ihre Gesellschaft würde gegen Hergabe von 22½ Millionen neuer Aktien und Übernahme von 10 Millionen Obligationen erstens 34 Millionen liquider Mittel, zweitens Effekten, Zentralen und Bahnen, welche bei der Union E. G. mit mehr als 13 Millionen Mark zu Buche stehen, und drittens Rechte, Erfahrungen, Patente, die gesamten Grundstücke und Fabrikanlagen und die Organisation dieser Gesellschaft erlangen, sowie in den alleinigen und ausschließlichen Besitz der Rechte und Verträge treten, die namens der deutschen Gruppe mit den oben erwähnten Parteien geschlossen sind.“
Das äußere Resultat, sozusagen der Mantel, mit dem die Fülle der neuen Lebens- und Schaffensformen umkleidet wurde, ist die Kapitalserhöhung der A. E. G. um 26 auf 86 Millionen Mark. Die vielen kleineren und größeren Kräfte, die mit den Transaktionen des 27. Februar 1904 dem Fundus der A. E. G. zugefügt wurden, setzten ihr Wirken fort, aber ihr Pulsschlag, ihre Richtung und ihr Taktschritt wird dem größeren Leben der A. E. G. angepaßt, ihren Gesichtspunkten und Interessen eingeordnet, — gewiß nicht im ersten Wurfe, sondern in langsamer, zusammenschweißender und abschließender Organisationsarbeit. Allmählich gingen sie auf in dem regelmäßig und einheitlich arbeitenden Räderwerk, das der Betrieb eines Riesenunternehmens wie der A. E. G. darstellte, darstellen mußte, wenn nicht Reibungsverluste, Desorganisation, Absterben von Trieben den Organismus verfallen lassen sollten. Nur wer die ungeheuren Schwierigkeiten und die gewaltige Menge an Kleinarbeit, Disharmonik und Unstimmigkeit kennt, die mit einer Eingliederung und Abstimmung oft heterogener Fusionselemente verbunden sind, wer es einmal gesehen hat, wie neben den durch die Fusion erhaltenen und belebten Kräften auch andere der Verpflanzung sich widersetzen und verkümmern, ja wie manchmal der ganze theoretisch fein ausgeklügelte Fusionsgedanke sich bei der Verwirklichung als irrtümlich und [S. 278] verfehlt erweist, der kann ermessen, welche kaufmännische Leistung die Durchführung einer so umfangreichen und vielgestaltigen Transaktion wie der vorstehend geschilderten bildet. Für den Außenstehenden ist die Angelegenheit damit erledigt, daß der Plan der Transaktionsarchitektur im großen festgelegt ist, die Personalveränderungen in den höchsten Stufen, bei Aufsichtsrat und Vorstand, erfolgt und die Generalversammlungsformalitäten erfüllt sind. Die neuen Aktien sind da und verbergen dem Außenstehenden das Chaos, das noch besteht, das Durcheinander der Meinungen, Gewohnheiten und Methoden, das nun erst zu ordnen, in Reih und Glied zu bringen ist. Welche ungeheure Menge an Fehlschlägen, an Verstimmungen, an Vergewaltigungen nach der papierenen Beschlußfassung über die Verschmelzung noch zu entstehen vermag, ahnt der Aktionär nicht, dessen Wertpapiere nur eine andere Uniform angezogen haben. Oder er bekommt es manchmal erst später zu erfahren, wenn sich herausstellt, daß das Mißlingen der Fusionsdurchführung die Rente und die Aktie entkräftet hat. Auch solche Fälle von unheilbarer Fusionskrankheit gibt es, und gerade in der Elektrizitätsindustrie ist ein sehr lehrreiches Beispiel dieser Art in der Fusion des Felten Guilleaume Carlswerks mit der Elektrizitäts-Ges. Lahmeyer zu finden, die kurze Zeit nach der Verschmelzung der A. E. G. mit der Union E. G. aus derselben Konzentrationstendenz heraus und mit ähnlichen Absichten erfolgte. Hier war nicht Kräftigung, sondern Schwächung die Folge der in der Durchführung mißlungenen Fusion, und bei der später wieder erforderlich werdenden Trennung war es gerade die Reorganisationskraft der A. E. G., die das Übel heilen mußte und heilen konnte. Nicht nur in der Anlage von Fusionsplänen, sondern auch in ihrer Durchführung haben Rathenau und seine Mitarbeiter stets eine überragende Meisterschaft bekundet. Gewiß gab es auch bei ihnen im einzelnen Rückstände im Einschmelzungsprozeß, aber die große Reservekapazität ihrer Unternehmungen gestattete es diesen, derartige Verluste bei Fusionen leicht zu verwinden, ja von vornherein mit in die Rechnung einzustellen.
Das Gesetz der Rivalität und des Dualismus wurde durch die Ausdehnung der A. E. G. auf das amerikanische Interessengebiet augenblicklich in Tätigkeit gesetzt. Siemens & Halske leiteten bald nach Bekanntwerden der Reise Rathenaus nach Amerika und der damit verbundenen Pläne Verhandlungen mit dem Westinghouse [S. 279] -Konzern ein, der zeitweilig seinen mit großer Kühnheit und Vielseitigkeit entworfenen Unternehmungen größere Ausdehnung zu geben verstanden hatte als selbst die General Electric. Georg Westinghouse, ein Geist von hohen technischen und kaufmännischen Fähigkeiten, hatte ähnliche Bahnen beschritten wie Rathenau, aber gerade bei ihm machte sich verhältnismäßig früh das Fehlen einer soliden Fundierung, einer inneren Festigung und Sicherung der durch die Expansion eroberten großen und mit verschwenderischer Fülle ausgestatteten Gebiete geltend. Die amerikanische Krisis des Jahres 1907 erschütterte die Fundamente seiner Gründungen und stellte sie vor die Notwendigkeit einer Reorganisation. Die Westinghouse-Gesellschaft mußte sich damals unter Receiverschaft (Zwangsverwaltung) begeben, während Emil Rathenau die Genugtuung hatte, daß die von ihm beratene General Electric den Sturm überstehen konnte. So waren es letzten Endes hüben und drüben nur wenige der aus der großen Schwungkraft der Elektrizitätsbewegung geborenen Unternehmungen, die aus der Feuerprobe der Krisis ungeschwächt hervorgingen. Die wenigen allerdings, die stark blieben, wurden durch den Verlust und den Fall der anderen noch stärker und konnten einen Teil der Werte aufraffen, die von den anderen hatten aufgegeben werden müssen.
Es kamen die Jahre der Reife und der Ernte. Nachdem die Krisis überwunden, der Besitz durch sie gemehrt, die früher mit unzulänglichen Mitteln unternommene Einflußausdehnung auf die verwandte Industrie der Neuen Welt mit gesammelter Kraft wiederholt, die überseeische Tätigkeit durch mächtige Stützpunkte und gewaltige Kulturbauten fest gegründet worden war, brauchte eine Erschütterung der Position nicht mehr befürchtet zu werden. Eines der größten Unternehmungen Deutschlands nicht nur, sondern auch eines der bekanntesten im Auslande war die A. E. G. geworden. Der Weltruf war geschaffen. Nur wenige deutsche Industrie-Unternehmungen standen ihr darin gleich. Vielleicht Krupp, Siemens, die Hamburg-Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd. Die Riesenhüttenwerke Rheinland-Westfalens konnten es an internationaler Popularität mit ihr nicht aufnehmen, weil sie für breite Teile ihres Absatzes nicht unmittelbar, sondern durch die großen Montanverbände, Kohlensyndikat, Stahlwerksverband, Walzdrahtverband usw. mit der Auslandskundschaft in Berührung traten.
Nach der stilleren Laboratoriumsarbeit, der inneren Ausgestaltung der Betriebe und Methoden, die in der Zeit der Krisis und Nachkrisis zu Ersparnissen und Verbilligungen in der Arbeit führen sollten, kam wieder die Zeit des kühnen Planens, der neuen Entwürfe und Geschäfte. Es wurde nicht mehr gespart, sondern gewagt, um zu gewinnen. Millionen wurden wieder auf eine Karte gesetzt, und die Zurückhaltung gegenüber neuen Projekten, die Rathenau in den Generalversammlungen der vergangenen Jahre gepredigt hatte, drückte nicht mehr auf die Schaffensfreudigkeit. Die Fenster wurden weit wie nie zuvor geöffnet, und frische Luft drang von allen Seiten in [S. 281] Bureauräume und Fabrikhallen. Auch in äußeren Dingen wurde mehr auf Repräsentation und würdige Aufmachung gegeben als vorher. Man mußte auch dadurch erweisen, daß man an der Spitze der deutschen Industrie marschierte und Welthaus geworden war. Statt des engen und veralteten Verwaltungsgebäudes, das die A. E. G. von den B. E. W. gemietet und mit ihnen geteilt hatte, entstand der in seiner Schlichtheit schöne und monumentale Messelbau am Friedrich Karl-Ufer. Statt der roten Backsteinfabriken, wie sie die 80er und 90er Jahre in einer unschönen Mischung von Kasernen- und Trutzburgenstil geschaffen hatten, — Bauwerke, die den Fabrikcharakter mehr verdecken, als zum Ausdruck bringen sollten — entstanden die Maschinen- und Turbinenhallen Peter Behrens , massige, dabei doch leichte und lichte Zweckbauten aus Stein, Beton und Eisen, die mit selbstbewußter Sachlichkeit, doch ohne Aufdringlichkeit den Verwendungszweck der Gebäude betonten. Das Großgewerbe fand seinen künstlerischen Stil und die Kunst begann das Großgewerbe zu verstehen.
Neue große Fabrikbauten entstanden an allen Betriebsstätten des Unternehmens. Die Grundstücke der Union E. G. in der Sickingen- und Huttenstraße wurden zur Verlegung ganzer gesonderter Produktionsabteilungen benutzt. Neben dem Kabelwerk Oberspree wurden neue Betriebe, so ein Messingwalzwerk, eine eigene Eisen- und Stahldrahtfabrik, eine Automobilfabrik errichtet. Schließlich als die in der Stadt und nahe der Stadt liegenden Grundstückskomplexe der Gesellschaft nicht mehr ausreichten, wurde in Hennigsdorf am neuen Großschiffahrtsweg Berlin-Stettin im Jahre 1909 ein weites zusammenhängendes Gelände erworben, auf dem neue Betriebe entstanden und der Expansionsdrang sich frei ausleben konnte.
Die Selbstbedarfsdeckung und die Vielseitigkeit im Produktionsprozeß wurden weiter ausgedehnt, und gingen soweit, daß eigene Porzellan-, Gummi- und Papierfabriken als Hilfsbetriebe entstanden. Dabei hat sich die A. E. G. allerdings nicht eigensinnig auf die Durchführung eines lückenlosen Selbstbedarfsdeckungsprinzips versteift, wo es nicht rationell in den herrschenden Marktverhältnissen begründet war. Als zum Beispiel die französische Gummireifen-Firma Michelin plötzlich dazu überging, die Verkaufspreise ihrer Fabrikate um 50% herabzusetzen, stellte Rathenau kurzentschlossen die Eigenproduktion in diesem Artikel ein, denn er konnte seinen Bedarf [S. 282] am Markte billiger eindecken. Das System der Selbstbedarfsdeckung wurde von der A. E. G. auch nicht soweit ausgedehnt, daß das Gleichgewicht des Aufbaus durch die Angliederung „schwerer“ Nebenbetriebe beeinträchtigt worden wäre. Insbesondere hielt sich Rathenau davon zurück, die Hauptrohstoffe seiner Produktion in eigenen Betrieben zu erzeugen. Ein Strousberg hätte vielleicht den jährlichen Kupferverbrauch von zuletzt mehr als 30000 t zum Anlaß genommen, sich eine eigene Kupfermine in Amerika zu kaufen. Emil Rathenau war ein zu vorsichtiger Rechner, um in derartige Nebenbetriebe, die ihm möglicherweise eine etwas günstigere Materialbeschaffung gestattet hätten, ein Kapital zu investieren, das im Mißverhältnis zu den Anlagen seiner Hauptwerke stand und mit dem er in seinen Verfeinerungsbetrieben weit mehr verdienen konnte. Bei aller Großzügigkeit in der Fabrikationspolitik war er doch frei von jeder Großmannssucht. Er suchte Wirkungen, nicht Effekte. Auch der Versuchung, eine Kohlenzeche zu erwerben, widerstand er, denn er hätte deren Produkte nur zum Teil ausnutzen können, zum anderen Teil verkaufen und damit Geschäftszweige aufnehmen müssen, die seinem Gebiet ganz fern lagen. Die Feldererwerbungen im Bitterfelder Braunkohlenrevier dienten nicht der Brennstoffversorgung der A. E. G., sondern der Stromerzeugung besonderer Kraftwerke. Eine eigene Stahlanlage in Steinfort schuf sich der A. E. G.-Konzern nur indirekt durch das Felten-Guilleaume-Carlswerk in Mülheim, dessen Aktienmajorität er im Jahre 1910 erwarb. Im allgemeinen verfolgte Rathenau das Prinzip, über den Kreis der Elektrizitätsindustrie nicht hinauszugehen, und von Erwerbungen, die nur teilweise in diesen Kreis hineingehörten, mit beträchtlichen Abschnitten aber in andere Industrien hineinragten, wollte er nicht viel wissen. Dafür war er aber darauf bedacht, sein eigenes Gebiet, das der Elektrizitätsindustrie, so weit als möglich auszubauen, innerhalb dieses Gebietes alle möglichen Techniken und Betriebszweige zu entwickeln, alle Absatzmöglichkeiten durch Sonderorganisationen zu pflegen und alle Hilfsindustrien, soweit dies mit angemessenen Kosten möglich war, sich anzugliedern.
Eine eigenartige Entwickelung nahm im neuen Jahrhundert die Beleuchtungs-Industrie . Die A. E. G. hatte durch Übernahme und Entwickelung der Nernstlampe die Führung auf diesem Urgebiete der Starkstromtechnik, die sie bei ihrer Gründung [S. 283] durch den Erwerb der Edisonpatente für Deutschland inne gehabt hatte, sich von neuem sichern und festigen wollen. Große Mittel waren in diese Lampe investiert worden, der Erfolg hatte sich allmählich eingestellt, überwältigend wäre er nie geworden, — auch wenn die bessere Metallfadenlampe nicht gekommen wäre, und sofort über die gute Nernstlampe den Sieg davon getragen hätte.
Die sogenannten „ökonomischen“ Lampen waren nicht aus einer in sich selbst begründeten Fortentwickelung der elektrischen Glühlampe entstanden, sondern sie wurden gesucht und gefunden, weil das Gasglühlicht in seinen modernen Formen die „stromfressende“, teure und lichtschwache Kohlenfadenlampe völlig zu verdrängen drohte. Zuerst hatte man es mit einer Verbesserung der Ökonomie des Kohlenfadens versucht und durch die sogenannte Metallisierung dieses Fadens in der Tat eine Stromersparnis von etwa 30% zu erreichen verstanden. Das genügte aber nicht lange und höhere Glühtemperaturen ertrug der Kohlenfaden nicht. Schon vorher war Nernst auf den Plan getreten. Er nahm an, daß unter den metallisch leitenden Körpern (den sogenannten Leitern I. Klasse) sich keine Substanz befinde, die für die Herstellung einer wirklich ökonomischen Lampe geeignet sei. Er benutzte darum als Glühkörper seltene Oxyde, bei denen die Leitfähigkeit elektrolytischer Natur ist, die allerdings den Nachteil haben, den elektrischen Strom erst in der Wärme zu leiten. Es dauerte darum stets einige Zeit, ehe die Nernstlampe zu leuchten begann. Die Glühstäbchen mußten erst glühend geworden sein. Die A. E. G. hat auf alle mögliche Weise versucht, diesen Nachteil zu beheben oder doch abzumildern. Sie stellte in der sogenannten Expreßlampe eine Kombination der Heizspirale der Nernstlampe mit sofort leuchtenden Glühfäden her, ein höchst kunstreiches Produkt, das aber naturgemäß nicht zur Billigkeit eines Massenartikels zu bringen war. Auch die sogenannte Mehrfach-Lampe, die eine Anordnung mehrerer Nernstlampen zur Verwendung für die verschiedensten Zwecke darstellte, konnte den Hauptnachteil nicht beheben. Es ist eine seltsame Ironie des Schicksals, daß es gerade Auer von Welsbach, der Erfinder des Gasglühlichts war, dem als zweiter großer Wurf seines Lebens die Konstruktion der elektrischen Lampe gelang, die einzig und allein imstande gewesen ist, die Niederlage des elektrischen Glühlichts im Kampfe mit dem Gasglühlicht zu verhindern. Auer von Welsbach [S. 284] teilte die Ansicht Nernsts nicht, daß unter den Metallen keine für die Herstellung ökonomischer Lampen geeignete Substanz zu finden sei. Nach langen und mühevollen Versuchen gelang es ihm, im Osmium der Platingruppe (wer erinnert sich nicht der ersten Versuche Edisons vor Herstellung des Kohlenfadens?) ein Metall zu finden, das nur im elektrischen Lichtbogen geschmolzen werden konnte. Helles Licht, große Fortschritte in der Stromökonomie und verhältnismäßig lange Lebensdauer waren schon die Vorzüge dieser ersten Metallfadenlampe, die den Anstoß zu neuen, immer vollkommeneren Konstruktionen gab. Emil Rathenau, der die Nernstlampe doch gewiß außerordentlich hoch eingeschätzt hatte, besaß wissenschaftliche Einsicht und kritische Objektivität genug, um sofort zu erkennen, daß die Bahn Auer von Welsbachs die erfolgversprechendere war und daß seine eigene Mühe und der gewaltige Aufwand, den er an die Nernstlampe gewandt hatte, diese nicht zu retten vermochten. Eine Spezialfabrik, die in eine solche grundsätzlich „überwundene“ Konstruktion viele Millionen hineingesteckt haben würde, ohne sie schließlich produktiv machen zu können, hätte den Schlag wahrscheinlich überhaupt nicht verwunden. Auch ein gemischtes Unternehmen, das aus großen Reserven die entstandenen Verluste nicht hätte ausgleichen können, würde schwer unter dem Fehlschlag gelitten haben. Die A. E. G., die alle für die Nernstlampe gemachten Investitionen sofort abgeschrieben hatte, vermochte ihn angesichts ihrer inneren Stärke ohne äußerlich erkennbare Schäden zu überwinden, und konnte sich sofort mit erheblichen Geldkräften der neuen Industrie der „seltenen Metalle“ zuwenden. Im Jahre 1909 wird der Nernstlampe auch offiziell im Geschäftsbericht der Begräbnisschein ausgestellt. „Nur noch Ersatzbrenner und Projektionslampen werden verkauft.“ Bis die A. E. G. eine leistungsfähige Metallfadenlampe aus Wolfram-Erz hergestellt hatte, verging natürlich einige Zeit. Neben ihr arbeiteten noch andere Firmen, darunter Siemens & Halske, die in der Tantallampe eine Erstkonstruktion von nicht so erheblicher Stromersparnis als Stoßfestigkeit hergestellt hatten, unermüdlich an der Ausgestaltung der Metallfadenlampe. Ein bedeutender Fortschritt gelang der General Electric Co. durch die Erzeugung der Metalldrahtlampe , bei der der gespritzte Metallfaden durch den gezogenen Metalldraht ersetzt worden war. Die A. E. G. hatte auf Grund ihres technischen Austauschvertrages mit der General Electric Anspruch [S. 285] auf die Auslieferung der Erfahrungen dieser Gesellschaft. Schließlich kam zwischen der A. E. G., der Siemens & Halske-Ges. und der Deutschen Gasglühlicht-Gesellschaft (Auer) ein Gegenseitigkeitsvertrag zustande, auf Grund dessen alle diese Gesellschaften zur Vermeidung von Patentkonflikten ihre Konstruktionen austauschten. Auch andere Firmen wandten sich dem neuen Gebiete zu, aber durch Reichsgerichtsurteil wurde den obengenannten drei Gesellschaften, zu denen später auch noch die Bergmann-Elektrizitätswerke als Lizenznehmer traten, der Patentschutz für die Metalldrahtlampe gesichert. Eine Metallfadenlampen-Konvention nach dem Muster der Verkaufsvereinigung für Kohlenfadenlampen war von manchen Seiten zur Bekämpfung der bald eintretenden scharfen Konkurrenz vorgeschlagen worden. Die A. E. G. lehnte eine solche Konvention diesmal ab, mit der Begründung, daß die technische und ökonomische Höchstleistung der Metallampe noch nicht erreicht sei und eine Festlegung von Absatzkontingenten die freie Entwickelung hemmen könnte. Einige Zeit später schritt die A. E. G. sogar zu mehrmaligen beträchtlichen Herabsetzungen der Verkaufspreise für die Metalldrahtlampen und zwar besonders für die größeren Lampentypen, in denen sie damals leistungsfähigere Konstruktionen besaß als in den kleinen Lampen. Ihre Absicht war es dabei offenbar, die Verbraucher an die größeren Lampen zu gewöhnen, die sie ihnen zu ungefähr denselben Preisen lieferte wie vorher die kleinen. Neben ihren Fabrikationsinteressen mochten sie dabei auch die Interessen ihrer Stromerzeugungswerke geleitet haben. Erst während des Krieges ist eine lose Preiskonvention zwischen den größeren Metallfadenlampenfabriken zustande gekommen. — Auch mit der Metalldrahtlampe war der Höhepunkt der Entwickelung noch nicht erreicht. Es folgte die Halbwattlampe , bei der der Glühfaden nicht mehr im luftleeren, sondern im gasgefüllten Raum eingespannt war. Zuerst wurde diese Lampe nur für ganz große Formen hergestellt, in denen sie weniger der Glühlampe, als der Bogenlampe Konkurrenz machte. In letzter Zeit ist es aber auch gelungen, kleine Halbwattlampen herzustellen. Die Ökonomie der elektrischen Lampe ist im Laufe der Entwickelung seit Erfindung der Glühlampe außerordentlich verbessert worden. Die Halbwattlampe verbraucht weniger als den zehnten Teil des Stromes, den die Kohlenfadenlampe mit mehr als 5 Watt für die Normalkerze anfänglich in Anspruch nahm.
Auf dem Gebiete der Kraftübertragung begann in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die vorher in mühseliger technischer und propagandistischer Arbeit ausgestreute Saat ihre reichen Früchte zu tragen, und zwar sowohl auf dem Gebiete der Einzelanlagen als auch auf dem der Zentralen. Die Industrie ging in immer stärkerem Umfange zur Benutzung des elektro-motorischen Antriebes über. Die elektrische Fördermaschine begann sich in den Bergwerken einzubürgern. Die Dampfmaschine setzte sich zwar anfangs energisch zur Wehr und ihre Techniker konstruierten eine Dampfförderanlage, die die Vorzüge der elektrischen Förderung wettzumachen versuchte und in wenigen Jahren Verbesserungen erreichte, wie sie vorher in Jahrzehnten nicht hatten erzielt werden können. Hüben und drüben wurde mit ökonomischen Tabellen in den industriellen Zeitschriften für die Vorteile dieses oder jenes Systems gestritten. Es nützte der Dampfförderanlage nicht viel. Der Kampf war scharf, aber nur kurz. An Betriebssicherheit und Bequemlichkeit war die elektrische Anlage namentlich für die Personenbeförderung der Dampfanlage überlegen. Auch auf den Hochofen- und Stahlwerksanlagen , bei den Reversierstraßen der Walzwerke setzte sich die elektrische Kraftübertragung rasch durch. Hier galt es einen Kampf mit dem Gasmotor zu führen, der allerdings nicht so leicht gewonnen werden konnte, wie der mit der Dampfförderanlage. Die Verwendung des Turbinenantriebes für Dynamos brachte die Elektrizität auch auf diesem Gebiet in Vorteil, zumal da es hierdurch möglich war, die Abfallgase mehr als bisher nutzbar zu machen. Immerhin behauptete sich der Gasmotor für manche Zwecke. Auch in anderen Industriezweigen, in der Braunkohlenindustrie, in der Papierindustrie, in der Textilindustrie, die großer Heißdampfmengen bedarf, drang die Kraftübertragung im Verein mit der Turbine vor. „Die Zeit der Groß-Elektromotoren ist im Beginnen“ heißt es im Geschäftsbericht der A. E. G. für 1903/04.
Die Hochkonjunktur für Zentralstationen , für die das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts den Höhepunkt gebracht hatte, war in den Jahren der Krisis und in der Folgezeit merklich abgeflaut. Zwar wurden auch jetzt im Inlande, namentlich aber im Auslande noch Zentralstationen errichtet, doch der Regiebetrieb überwog den Unternehmer-Betrieb. Auch an Aufträgen für Ergän [S. 287] zungs- und Ersatzlieferungen für alte Zentralen fehlte es nicht. Der Geschäftszweig war aber im ganzen viel ruhiger geworden, und infolge der scharfen Konkurrenzbedingungen nicht mehr so lohnend wie früher. Schwung kam erst in ihn wieder hinein, als sich das Lokalwerk zur Überlandzentrale auswuchs, vermittelst des Hochspannungssystems der Versorgungsradius der Kraftwerke sich ausdehnte und neben dem städtischen Bedarf auch die Industrie und das platte Land in die Versorgung von Zentralwerken einbezogen werden konnten. Erst jetzt — wiederum begünstigt durch die Ausgestaltung des Turbodynamos — kam das Drehstromsystem, das vorher etwas rohe und ökonomisch wie technisch nicht ganz befriedigende Ergebnisse geliefert hatte, zu voller und reifer Auswirkung. Aber die technische Leistungsfähigkeit war eher erreicht als das Gleichgewicht der wirtschaftlichen Durchbildung. Emil Rathenau warnte vor Überlandzentralen, die nur ländliche Bezirke versorgten. Der ungleichmäßige, zeitweilig anschwellende, dann wieder erheblich nachlassende Bedarf, die zu geringe Beanspruchung des Stroms in den dünn besiedelten ländlichen Verbrauchsstätten machten die großen Kosten des weit auseinandergezogenen Hochspannungsnetzes nicht bezahlt. Erst der Anschluß von industriellen Verbrauchern, die Einbeziehung lokaler Kraftwerke, die von den Überlandzentralen den Strom zu niedrigeren als ihren eigenen Erzeugungskosten beziehen und ihn durch ihre Anlagen umformen sowie verteilen konnten, ließen die Zentralen rentabel arbeiten. An besonders geeigneten Stellen, im Kraftwerk an der Oberspree, im oberschlesischen Industriebezirk schuf die A. E. G. Musterbeispiele moderner und ökonomisch arbeitender Überlandzentralen. Zu typischer Bedeutung gelangte das neue System erst in den Jahren 1907 bis 1909. Im englischen Kohlenrevier von Newcastle führte die A. E. G. ein Kabelnetz von 130 km Länge mit 10000 bis teilweise 20000 Volt Spannung aus, im südafrikanischen Randminen-Gebiete errichtete sie das gewaltige Elektrizitätswerk der Victoria Falls und Transvaal Power Co. mit Wasserkraftantrieb, das einen beträchtlichen Teil der Goldminen Transvaals mit Energie versorgte, während allerdings ein anderer Teil an seinen eigenen Kraftzentralen festhielt. Als dieses Projekt in der Öffentlichkeit bekannt wurde, warf man der unternehmenden Gesellschaft wie der bauausführenden A. E. G. Phantasterei vor und hielt es technisch, besonders aber wirtschaftlich für außerordentlich [S. 288] gewagt, eine oberirdische Fernleitung 800 Kilometer weit von den Victoria-Fällen durch die Wüste nach dem Rand zu legen. „Die deutsche Elektrizitätsindustrie ist an der Ausführung des Planes durch ihr gewordene große Aufträge wesentlich interessiert. Sie hat sich dadurch vielleicht ebenfalls etwas ins Utopische hineinziehen lassen. Die Utopie ist aber eine Insel, die schwer mit heilem Schiffe zu umsegeln ist,“ so hieß es in einer der gelesensten Berliner Zeitungen. Nichtsdestoweniger gelang das kühne Unternehmen. In Deutschland erstand durch die A. E. G. das Märkische Elektrizitätswerk bei Eberswalde, das eine Anzahl märkischer Kreise versorgte und in neuester Zeit zu einem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen unter Beteiligung der Provinz Brandenburg umgestaltet wurde. Im westfälischen Bezirk wurde das Elektrizitätswerk Westfalen am Standorte der Kohle errichtet, im Saargebiet gleichfalls ein großes Elektrizitätswerk unter denselben Bedingungen. Zur Ausrüstung des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks, der größten Montanzentrale Deutschlands, lieferte die A. E. G. Turbodynamos von 21500 K. V. A. Ständig wurden diese Größenmaße überboten und im Kriegsjahre 1915/16 erhielt dasselbe Werk von der A. E. G. Turbodynamos von 60000 K. V. A. Auch in Braunkohlenrevieren entstanden große Kraftwerke. Die Hochspannung wurde schließlich bis auf 100000 Volt und mehr gesteigert. Über diese Werke, ihre rechtliche, wirtschaftliche und technische Bedeutung soll in einem besonderen Kapitel gesprochen werden. Hier seien sie nur als vorläufige Endpunkte einer mit der Schaffung der Überlandzentralen eingeleiteten Entwickelung kurz erwähnt.
Eine gleiche Entwickelung vom Kleinen zum Großen, vom Lokal- zum Überland- und Fernbetrieb wie im Zentralenwesen vollzog sich auch auf dem zweiten großen Ausdehnungsgebiete der Elektrizität, bei den elektrischen Bahnen . Allerdings kam hier die Entwickelung noch schwerer in Fluß und der Ausbreitung stellten sich größere Widerstände entgegen als dem Bau zentraler Kraftwerke. Insbesondere bekundeten die Staatsbahnverwaltungen in der Frage der Elektrisierung der Vollbahnen Zurückhaltung. Emil Rathenau schätzte die Widerstände anfänglich wohl zu gering ein, seinem lediglich auf den Fortschritt eingestellten Geist war die bureaukratische und fiskalische Bedächtigkeit, mit der die Verwaltungsbehörden diese Dinge anfaßten oder vielmehr nach Möglichkeit von [S. 289] sich fernhielten, unverständlich. Er hatte daher nicht mit ihr gerechnet und das Problem der Vollbahnen für gelöst oder doch für lösbar gehalten, nachdem die technische Seite und vielleicht auch die ökonomische, wie sie für große privatwirtschaftliche Betriebe sich dargestellt hätte, ihre grundsätzliche Klärung gefunden hatten. Bereits um die Wende des 20. Jahrhunderts sprach Rathenau in den Geschäftsberichten der A. E. G. viel davon, daß die Lösung des elektrischen Vollbahnproblems zu den nächsten großen Aufgaben der Zukunft gehöre. Er hatte aber dabei wohl nicht genügend berücksichtigt, daß eine aktive Art der demonstrativen Propaganda, wie sie die Elektrizitätsindustrie unter seiner Führung bei der Einführung der früheren großen Unternehmungstypen entwickelt hatte, auf diesem Gebiete unmöglich war. Für Eigenbetriebe war hier wenigstens in Deutschland wegen des Eisenbahnmonopols kein Raum, in anderen Ländern verbot der Umfang der notwendigen Kapitalinvestitionen große Unternehmergeschäfte im Vollbahnbau.
So entwickelte sich der Großbahnenbetrieb nur langsam, tastend und versuchsweise. Die Staatsbahnverwaltung verlangte umfangreiche Vor- und Probearbeiten. Auf der Militärbahnstrecke Berlin-Zossen wurde ein elektrischer Versuchsbahnbetrieb eingerichtet, an dem neben der A. E. G. auch Siemens & Halske sich beteiligten. Die zu diesem Behufe bereits im Jahre 1902 gebildete Studiengesellschaft bekundete schnell ihre elektrotechnische Leistungsfähigkeit, indes gestattete der Oberbau der Strecke nur eine Schnelligkeit von 125 km in der Stunde. Um größere Schnelligkeiten zu erreichen, war eine Verstärkung des Oberbaus der Strecke erforderlich. Nachdem diese durchgeführt war, gelangen mühelos Stundengeschwindigkeiten bis zu 200 km. Damit war die Schnelligkeitshöchstgrenze, über die man vorerst praktisch nicht hinausgehen wollte, erreicht und die Studiengesellschaft beendete im Jahre 1905 vorläufig ihre Arbeiten, nachdem sie die technische Seite des Problems hinlänglich klargestellt hatte. Das von der A. E. G. und Siemens & Halske auf Grund der Erfahrungen ausgearbeitete Projekt einer elektrischen Schnellbahn Berlin-Hamburg , durch das die Elektrizitätsindustrie an einer Stelle der stärksten Verkehrsakkumulation sozusagen in medias res springen wollte, erschien der Regierung zu kühn. Es war dazu bestimmt, Schreibtischarbeit zu bleiben. Dagegen entschloß sich die preußische Eisenbahnverwaltung in schrittweisem [S. 290] Vorgehen zu einem zweiten Stadium der Versuchsarbeiten. Es wurde — auch hier wieder ohne Überstürzung und Beschleunigung — der Ausbau einer größeren für den praktischen Verkehr bestimmten Vollbahnstrecke Magdeburg-Halle-Leipzig begonnen und zunächst der Streckenteil Dessau-Bitterfeld in Angriff genommen. An dieser Strecke sollte die betriebliche und wirtschaftliche Seite der elektrischen Fernbahn studiert werden. Gemäß dem Grundsatz, daß bei der Ausprobierung des Problems möglichst vielseitige Konstruktionen und Erfahrungen gesammelt und aus ihrem Zusammenarbeiten die beste praktische Lösung gefunden werden sollte, wurden verschiedene Elektrizitätsfirmen zur Beteiligung aufgefordert, neben der A. E. G. auch Siemens & Halske, die Bergmann Elektrizitätswerke und andere leistungsfähige Unternehmungen. Noch eine weitere — kleinere — Strecke Lauban-Königszelt, die nicht ausschließlich durch Flachland führte, sondern größere Steigungen zu überwinden hatte, wurde in Angriff genommen.
Schon vorher hatte die A. E. G. sich auf eigene Faust mit dem Schnellbahnsystem in seinen verschiedensten Formen, wenn auch in kleineren Ausmaßen beschäftigt. Dabei hatte sie sich auf das Einphasen-Wechselstromsystem gestützt, das die „Union“ ihr aus dem amerikanischen Patentkreis in die Fusion eingebracht hatte. Zunächst wurde es bei der Elektrisierung der Anhalter Vorortbahnstrecke Berlin-Groß-Lichterfelde-Ost, dann auf der Strecke Spindlersfeld-Johannisthal, beidemal im Auftrage der Preußischen Staatsbahnverwaltung, ausprobiert und bewährte sich schon in der ersten Anlage. Auch der Stadt- und Vorortverkehr von Hamburg-Altona wurde nach demselben System teilweise in den elektrischen Betrieb überführt, daneben wurden mehrere Gebirgsstrecken, so die Linie Berchtesgaden-Salzburg, die Stubaitalbahn erbaut. Auch im Auslande konnte die A. E. G. ihr Einphasen-Wechselstromsystem zur Anwendung bringen, auf einer schwedischen Linie und auf der Strecke Padua-Fusina. Die London Brighton und South East Bahn (Victoria Station) bezog ihre elektrische Ausrüstung ebenfalls von der A. E. G. Um die elektrische Städtebahn Köln-Düsseldorf mußte ein langwieriger Konzessionsstreit geführt werden. Um das Bild der Betätigung der A. E. G. auf dem Gebiete der elektrischen Vollbahnen vollständig zu machen, soll noch auf die Hamburger Hochbahn hingewiesen werden, die von der A. E. G. gemeinsam mit Siemens [S. 291] & Halske erbaut wurde, ferner auf die A. E. G. Schnellbahn-Gesellschaft , ein die Stadt Berlin in der Richtung Gesundbrunnen-Neukölln durchquerendes Untergrundbahn-Unternehmen, das in eigener Regie von der A. E. G. gebaut wird. Das Projekt wurde im Jahre 1907 den Behörden unterbreitet, die Fertigstellung des Baus, bei dem schwierige Wasseruntertunnelungen nach neuartigen Systemen unternommen wurden, ist in einigen Jahren zu erwarten. Das Kapital dieses Unternehmens, das ganz allein von der A. E. G. finanziert wird, beträgt 42500000 M.
Im Zusammenhang mit den Bestrebungen auf dem Gebiet des Fernbahnenbaus wurde die Lokomotivfabrikation aufgenommen, die sich bald zu einem umfangreichen Geschäftszweig entwickelte. Bereits im Jahre 1909/10 waren tausend Lokomotiven von den Fabriken der Gesellschaft geliefert. Ergänzt wurden die Fabrikationen auf dem Gebiet der motorischen Beförderungsmittel durch die Aufnahme des Automobilbaus . Zu diesem Zwecke wurde in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Automobilfirma Kühlstein in Charlottenburg übernommen und eine eigene Fabrik neben dem Kabelwerk Oberspree errichtet, die sowohl Benzin-Automobile wie Elektromobile herstellte. Gerade auf diesem Gebiet blieben der Gesellschaft aber Anfangsschwierigkeiten und Kinderkrankheiten nicht erspart. Die schwere Automobil-Krise der Jahre 1907/08 traf auch ihre Fabriken, und die Neue Automobil-Gesellschaft, die den Vertrieb der A. E. G.-Automobile besorgte, mußte erst einer durchgreifenden Reorganisation unterworfen werden, ehe aus dem von ihr bearbeiteten Geschäftszweige ein rentables Unternehmen werden konnte. Bei der Automobilindustrie sind die Erfahrungen der Krisenjahre auf ganz besonders fruchtbaren Boden gefallen, sie hat die Unsicherheitsfaktoren, die gerade in ihrer Fabrikation liegen, ebenso wie die ungewöhnlich großen Reklameaufwendungen richtig einschätzen gelernt, und ist seither eine der bestfundierten und reichsten Industrien Deutschlands geworden.
Die gewaltig steigenden Leistungen und Ausmaße der elektrischen Großkraftwerke auf allen Gebieten wären nicht möglich gewesen ohne die schnelle und glückliche Entwickelung der Turbinen und der Turbodynamos. Emil Rathenau hatte sich in richtiger Voraussicht dieser Entwickelung, mit dem sicheren Instinkt des geborenen Maschinenbauers, dem neuen Gebiete frühzeitig zugewandt, [S. 292] und den Turbinenbau noch in den Krisenjahren 1901 und 1902 als einen der neuen Geschäftszweige aufgenommen, die dazu dienen sollten, die infolge der starken Konkurrenz geschmälerten Gewinne der alten Produktionen zu ergänzen und zu ersetzen. Er hatte sich nicht lange mit der eigensinnigen Beschränkung auf die eigenen Turbinensysteme aufgehalten, sondern diese nur als Kompensationsobjekte benutzt, um die besten damaligen Patente in seinen Bereich zu ziehen und durch Verschmelzung mit seinen eigenen einen möglichst vollkommenen Typ zu gewinnen. Er bekannte sich zu dem Standpunkte, lieber eine vollkommene Maschine in einem vertraglich beschränkten Absatzgebiet zu verkaufen, als für eine schlechtere Maschine die ganze Welt freizuhaben. Diese Grundsätze kamen in den Verträgen mit der General Electric und der Brown Boveri-Gesellschaft zum Ausdruck. Die Turbine errang sich auf verschiedenen Gebieten bald eine beherrschende Stellung. Große Kraftleistung, regelmäßiger Gang, Geräuschlosigkeit und geringe Raumbeanspruchung zeichneten sie vor den Kolbenmaschinen aus, ihre Größen- und Leistungsmaße erwiesen sich schlechthin als unbegrenzt. Mit Leistungen von 3000 bis 6000 PS begann die Turbine ihre Entwickelung, bis zu Leistungen von 60000 PS ist sie zurzeit schon gelangt. Als die beiden Hauptanwendungsgebiete hatten — das wurde bald klar — der Kraftantrieb bei Schiffen und die Verbindung mit dynamoelektrischen Maschinen im sogenannten Turbodynamo zu gelten. Schon im Jahre 1905 wurde der Hapag-Dampfer „Kaiser“ mit 2 Turbinen von je 6000 PS ausgerüstet, die vom ersten Tage an ohne Störung liefen. Schnell griff die Kriegsmarine die neue Errungenschaft auf, die damit erreichbare größere Schnelligkeit der Schiffe gab für sie den Ausschlag. Zuerst wurden ein paar Torpedobootdivisionen mit Turbinen ausgerüstet, dann der kleine Kreuzer „Mainz“. Die gemachten Erfahrungen führten dahin, daß schließlich auch die größten Schiffsneubauten der Marine Turbinenantrieb erhielten. Die Handelsmarine entschloß sich etwas langsamer zur allgemeinen Einführung der Turbinen. Hier war das Problem der Wirtschaftlichkeit, das für die Kriegsmarine gegenüber der offenkundig größeren Schnelligkeit an Bedeutung zurücktrat, erst zu lösen. Ferner wirkte zuerst der Umstand störend, daß der Turbinenantrieb nur in einer Laufrichtung des Schiffes wirksam war. Für die Rückwärtsbewegung mußte eine zweite Turbine oder ein zweiter Turbinensatz eingebaut werden. Die [S. 293] Umschaltung der Turbinen gelang erst eine Reihe von Jahren später durch Transformatoren (Föttinger Transformator). Nachdem die englische Cunard-Linie ihre beiden Rekordbrecher-Schiffe „Lusitania“ und „Mauretania“ unter Subvention der englischen Regierung gebaut und mit Turbinenantrieb versehen hatte, verschloß sich auch der deutsche Handelschiffsbau bei seinen Großschiffen der Turbine nicht länger. Die Hamburg-Amerika-Linie versah ihre gewaltigen Bauten der Imperatorklasse mit Turbinen, der Norddeutsche Lloyd verhielt sich zunächst allerdings noch abwartend. — Im Kraftantrieb wie im Schiffsbau hat allerdings der Dieselmotor in den letzten Jahren sich einen Platz neben der Turbine zu erringen verstanden, doch bewährte sich jener bislang nur für kleinere Schiffseinheiten und für Privatzentralen, nicht so sehr für Großkraftwerke und es ist ein Fall bekannt geworden, in dem eine neue große Kraftzentrale die zuerst von ihr eingebauten Dieselmotoren wieder stillgelegt und dafür Turbinen verwendet hat. Die A. E. G. hat denn auch nur Dieselmotoren kleineren Typs in ihr Fabrikationsprogramm aufgenommen.
Der große Erfolg der Turbine führte naturgemäß bald dahin, auch dieses Produktionsgebiet starker Konkurrenz auszusetzen, und zwar umsomehr, als es von zwei verschiedenen Industriegruppen aus zu erreichen und zu erobern war: von der Elektrizitätsindustrie und von der Maschinenindustrie aus. Fast alle namhaften Elektrizitätswerke und Maschinenfabriken bemächtigten sich der Turbine und konnten, nachdem die Technik des Turbinenbaus die grundsätzlichen Schwierigkeiten überwunden hatte und zu einer typischen Fabrikation geworden war, unschwer brauchbare Konstruktionen herstellen: das übliche Schicksal neuer Produktionszweige, in denen sich technische Vorsprünge bei der systematischen Durchbildung und dem öffentlichen Charakter der modernen Technik nicht lange aufrecht erhalten lassen. Die Turbinenfabrikation wurde infolgedessen bald aus einem privilegierten und einträglichen Geschäft zu einem landläufigen und scharf umstrittenen. Überproduktion und Preisdruck waren die Folge dieser Entwickelung, die sich höchstens durch eine allgemeine Syndizierung, nicht durch Einzelverträge hätte beseitigen oder mildern lassen. Ein allgemeines Syndikat kam bei der Verschiedenartigkeit der Fabrikate und der Fabrikanten indes nicht zustande, die Sonderverträge aus früherer Zeit [S. 294] hatten aber ihre Bedeutung verloren. Infolgedessen löste die A. E. G. nach einiger Zeit auch ihr Turbinenabkommen mit der Gesellschaft Brown Boveri & Cie. in Baden (Schweiz) und brachte den von ihr früher erworbenen Besitz an Aktien dieser Gesellschaft wieder zur Abstoßung.
* *
*
Die Krisis von 1907/08 hatte den starken und gefestigten Unternehmungen der deutschen Elektrizitätsindustrie nicht viel anzuhaben vermocht. Die A. E. G. hatte ihre Dividende von 12% unverkürzt aufrecht erhalten können, und das Jahr 1908/09, das in der allgemeinen Konjunktur bereits Ansätze zu einer Wiederbelebung aufwies, brachte den Aktionären sogar eine vorsichtige Erhöhung auf 13%. Die großen Arbeiten und schwebenden Probleme der A. E. G. waren während der kritischen Zeit nicht unterbrochen, kaum verlangsamt worden. Von einer Cäsur wie in 1901/02 war hier nichts zu spüren gewesen. Der Umfang des Geschäftes, namentlich für Großmaschinen, und die Preise hatten sich besonders gegen das Ende der Krisis wohl etwas gesenkt, es setzten auch zeitweilig der Auftrieb und der jährliche Zuwachs aus, auf die ein blühendes Unternehmen wie jeder lebendige Organismus vielleicht vorübergehend, aber nicht dauernd verzichten kann, wenn statt des Aufbaus nicht ein Abbau der Kräfte eintreten soll. — Im Geschäftsbericht für 1907/09 wird mit knappen Strichen das Bild der schwindenden Krisis gezeichnet:
„Die Krisis, die Handel und Gewerbe während der jüngsten Jahre niederhielt, hatte ihren Ursprung in Amerika. Wie in mehreren früheren Fällen, ist indes auch die Besserung des Wirtschaftslebens von dort ausgegangen. Ihre Ausdehnung auf die heimische Konjunktur wurde zunächst durch politische Besorgnisse und durch die Unsicherheit über die deutsche Finanzreform verzögert. Erst in den letzten Monaten zeigen sich erfreulicherweise auch in Deutschland wieder vertrauenerweckende Ansätze zu einer Hebung der gewerblichen Tätigkeit. Wenngleich nun die deutsche Elektrizitätsindustrie sich gegenüber der jüngsten Krisis verhältnismäßig widerstandsfähig erwiesen hatte, so begrüßt sie doch das Wiedererwachen des Unternehmungsgeistes mit lebhafter Befriedigung und knüpft daran die zuversichtliche Erwartung auf kräftige Anregungen und lohnende Beschäftigung.
War eine der Ursachen der Krisis die Geldklemme gewesen, so wurde durch deren Beseitigung die Erholung eingeleitet. Die A. E. G. war auch während der kritischen Periode des Geldmarktes mit verfügbaren Mitteln überaus reichlich versorgt. Die Geldflüssigkeit, die in vielen Fällen als Folge darniederliegender Gewerbstätigkeit anzusehen ist, erklärte sich, soweit unsere Gesellschaft in Betracht kommt, größtenteils aus den niedrigen Preisen der Metalle, wie der sonstigen Rohstoffe und damit unserer Lagerbestände. Bei Lieferungen und Bauausführungen hat sich diese Liquidität schon als nutzbringend erwiesen.
Die Gefahr einer Elektrizitätssteuer ist glücklich abgewendet worden, nur Beleuchtungsmittel werden seit dem 1. Oktober d. J. besteuert. Für die Verbraucher elektrischer Beleuchtungsmittel wird diese Belastung insofern weniger empfindlich, als Leuchtkörper für das Gas ebenfalls von der Steuer betroffen werden, und die elektrischen Lichtquellen neuerdings so gebessert sind, daß sie trotz der Steuer beträchtliche Ersparnisse gegen früher ermöglichen.“
Nicht so glimpflich war die neue Krisis an den wenigen gemischten Fabriken vorübergegangen, die sich abseits von dem Dualismus der beiden führenden Großkonzerne noch bis dahin eine volle Selbständigkeit gewahrt hatten. Die Kräfte, die sie nach den Blutverlusten der Krise von 1901–1903 in den folgenden Jahren des Aufschwungs langsam wieder angesammelt hatten, waren ihnen durch den bald von frischem entbrannten Wettbewerb und die Angriffe der neuen Krisenzeit wieder verloren gegangen. Viel Hoffnung, es den führenden Gruppen noch gleichtun, diese an Leistungsfähigkeit und Finanzkraft erreichen zu können, besaßen sie nicht mehr. Immer breiter dehnte sich das Wurzelreich der „Großen“ unter der Erde, das Geäst ihrer üppigen Baumkronen über der Erde aus, immer stärker sog es die Kräfte des Bodens in sich hinein, nahm Licht und Luft für sich in Anspruch. Die größten Kapitalmächte des Landes waren ihnen dienstbar geworden, speisten ihren Geldhunger, konnten und wollten anderen Wettbewerbern nicht die riesigen Mittel zuführen, die zur Behauptung neben den führenden Gruppen, oder gar zur Überwindung jener Konzerne notwendig gewesen wären. Und neue Geldmächte, die vielleicht ein Interesse an der Stärkung und Stützung mittlerer Unternehmungen gehabt hätten, konnten sich auf dem aufgeteilten und größtenteils kultivierten Kapitalboden Deutschlands [S. 296] nicht mehr bilden. Denn ebenso wie in der Elektrizitätsindustrie lagen die Wettbewerbsverhältnisse auch im Bankgewerbe. Auch hier war die Welt vergeben, Machtverschiebung nicht mehr durch Neubildung, sondern nur noch durch Konzentration und Fusion möglich. So nahte denn für die Elektrizitätsindustrie die zweite Fusionsära , auch diese wieder nach einer Krisis, die die Schwachen geschwächt und die Starken gestärkt hatte.
Zuerst wurde der Konzern Felten Guilleaume Lahmeyer fusionsreif. Die Felten Guilleaume Lahmeyerwerke in Mülheim und Frankfurt waren 1905 durch Zusammenschluß der Felten Guilleaume Carlswerk-Akt.-Ges. mit der Fabrikationsabteilung der Elektrizitäts-Akt.-Ges. vorm. W. Lahmeyer & Co. entstanden. Der Zusammenschluß war die Frucht jener ersten Konzentrationsperiode in der Elektrizitätsindustrie gewesen und die beiden stattlichen Provinzunternehmungen hatten versucht, sich nach demselben Prinzip, nach dem die beiden großen Berliner Gruppen vorgegangen waren, gegenseitig zu stützen und zu ergänzen. Der Versuch mißlang, trotzdem das Mülheimer Carlswerk als ein altes, wohlsituiertes und tragfähiges Unternehmen recht wohl den Kern hätte bilden können, um den sich eine starke und leistungsfähige Elektrizitätsgesellschaft gemischter Art kristallisieren konnte. Das Carlswerk war hervorgegangen aus der schon im Jahre 1826 gegründeten offenen Handelsgesellschaft Felten & Guilleaume, seine Ursprünge reichten also sogar weiter zurück als die der Siemens & Halske-Ges. und gar der A. E. G. Das Unternehmen war aber erst viel später der Elektrizitätsindustrie nähergetreten und befaßte sich auch dann noch als Spezialfabrik fast ausschließlich mit der Erzeugung von Draht, Kabeln und metallurgischen Fabrikaten für die Zwecke der angewandten Elektrizität. So standen die Dinge noch, als die offene Handelsgesellschaft nebst ihrer Filiale in Nürnberg Ende 1899 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Damals war allerdings bei den Inhabern des Werkes — und darin lag einer der Hauptzwecke der Aktiengründung — bereits der Gedanke entstanden, der Zeitrichtung folgend, das Unternehmen zu einem elektrischen Universalbetrieb auszubauen. Unter den Zwecken der Aktiengesellschaft war auch die „Erlangung von Konzessionen zur gewerblichen Ausnutzung der Elektrizität und deren Ausbeutung im eigenen Betriebe oder mittels sonstiger Verwertung“ in [S. 297] den Gesellschaftsvertrag aufgenommen. Es war vielleicht kein Schaden für die Gesellschaft, daß die nahende Krisis eine umfangreichere Betätigung der Gesellschaft auf neuen Gebieten, insbesondere im Unternehmergeschäft, zunächst verhinderte. Erst nach Überwindung der Krise tauchten die Ausdehnungspläne von neuem auf, und erhielten durch die Konzentrationsbeispiele bei der Konkurrenz einen stärkeren Nachdruck. Auch der Weg war vorgeschrieben. Er lag nicht in der Errichtung eigener Fabriken mit neuen Geschäftszweigen, insbesondere auf dem Gebiete der Maschinen- und Lampenherstellung, die eine zu lange Anlaufszeit bis zur Produktionsreife gefordert und die Gesellschaft gezwungen hätten, eine Menge von Betriebserfahrungen, neuen Techniken aus dem Nichts zu schaffen und bis zur Wettbewerbsfähigkeit mit einer hochentwickelten Konkurrenz zu vervollkommnen. Der Weg der Angliederung schien schnelleren und leichteren Erfolg zu versprechen. Zeitweilig hatte man sich mit dem naheliegenden Gedanken getragen, mit der Kölner Helios-Gesellschaft, dem größten rheinischen Unternehmen auf dem Gebiete der Licht- und Kraftelektrizität, zusammenzugehen, aber ehe derartige Pläne sich verwirklichen konnten, kam der Zusammenbruch des „Helios“, aus dem es, wie sich bald zeigte, auch mit Hilfe eines stärkeren Werkes, keine Rettung mehr gab. So blieb eigentlich nur Lahmeyer in Frankfurt übrig. In der Theorie ergänzten sich beide Werke recht gut, vielleicht sogar besser als die Kontrahenten bei den bisherigen Fusionen in der Elektrizitätsindustrie. Während bei Siemens-Schuckert, bei der A. E. G. und der Union sich Werke miteinander vereinigt hatten, die vielfach dieselben Erzeugnisse herstellten und gleichartige Geschäftszweige betrieben, deckten sich die Produktionen des Carlswerkes und der Lahmeyer-Gesellschaft nur zum kleinen Teile. Dem „gemischten Starkstromwerk“ Lahmeyer fehlte die Kabel- und Drahtindustrie vollständig, in der Schwachstrom-Technik, die Felten und Guilleaume seit langem ganz besonders gründlich ausgebildet und noch vor kurzem durch die Aufnahme des Baues von Telephon- und Telegraphen-Apparaten ergänzt hatten, war Lahmeyer nur ganz geringfügig tätig gewesen. Seine Hauptbedeutung lag in der Fabrikation von elektrischen Maschinen, Motoren und Apparaten (in denen im Jahre 1904/05 die Ablieferung 4783 Stück mit 164000 PS, gegen 25829 Stück mit 667773 PS bei der A. E. G. betragen hatte) und in dem Bau von elektrischen Anlagen für eigene oder [S. 298] fremde Rechnung. Ebenso wie Felten und Guilleaume eine Ergänzung ihres Betriebes durch den Maschinenbau und das Anlagengeschäft schon seit längerer Zeit anstrebten, hatte sich Lahmeyer bereits verschiedentlich mit der Frage der Errichtung und des Erwerbs eines Kabelwerks beschäftigt. Gut angelegt, litt und scheiterte der Plan des Zusammenschlusses an der schlechten Durchführung. Was bei Siemens-Schuckert wenigstens betrieblich, wenn auch nicht in gleicher Weise finanzpolitisch, was bei der A. E. G.-Union in beiden Richtungen restlos gelungen war, die organische Verschmelzung und Vereinheitlichung, zwischen Mülheim und Frankfurt kam sie nicht zustande. Gerade die „in die Augen springenden Vorteile der Transaktion“, von denen der Geschäftsbericht der Lahmeyer-Werke sprach, die Gunst der organisatorischen und geschäftlichen Vorbedingungen, verleiteten offenbar zu einer zu leichten Behandlung der Organisationsfrage. Da sich beide Betriebe gut zu ergänzen schienen, glaubte man, die Zusammenarbeit und der Zusammenschluß würden sich von selbst einstellen, brauchten nicht erst durch sorgfältige Organisations- und Abtönungskunst herbeigeführt zu werden. Die Folge war, daß beide Betriebe, in der Verwaltung selbständig gelassen, nebeneinander und zu wenig miteinander arbeiteten.
Die Selbständigkeit entwickelte sich mit der Zeit zu stark, das Selbständigkeitsgefühl der örtlichen Direktionen verschärfte sich allmählich zur Eifersucht, und die lokale Trennung, die zuerst nur passive Hemmungen verursacht hatte, führte schließlich zu lokalpatriotischen Absonderungen und Störungen. So kam es, daß am Ende aus dem „Nebeneinander“, das nicht gleich von Anfang an zu einem „Miteinander“ geworden war, in vielen Dingen ein „Gegeneinander“ wurde. Beide Teile verfolgten zum mindesten im Kleinen, im Betriebsdetail, eine eigene Geschäftspolitik, wenn es dem Aufsichtsrat auch im allgemeinen gelingen mochte, die Gegensätze in der großen Geschäftspolitik immer wieder auszugleichen oder wenigstens nicht zum offenen Ausbruch kommen zu lassen. Eine solche Zwiespältigkeit der Richtung, die das Gesamtunternehmen naturgemäß außerordentlich schädigen, den Nutzen der Sammlung beeinträchtigen und die Kraft des Auftriebs dämpfen mußte, hatte Emil Rathenau bei seinen Fusionen immer klug zu verhindern gewußt und zwar gleich in den ersten Keimen. Auch er nahm wohl geeignete Direktoren und Aufsichtsräte aus den angegliederten Unternehmungen mit zu sich [S. 299] hinüber, aber sie durften keine Nebenregierungen bilden, mußten sich anpassen und wurden, wenn sie dies nicht konnten oder wollten, bald wieder ausgeschifft. Selbständige Arbeit duldete auch er und wünschte sie sogar, aber sie mußte sich streng sachlich äußern, sich dem Willensgesetze seiner Persönlichkeit und dem Entwickelungsgesetze der A. E. G. unterordnen, dem er selbst trotz aller scheinbaren Autokratie gehorchte. An Ungerechtigkeiten, ja an Gewalttätigkeiten und sonstigen Zusammenstößen auf persönlichem Gebiete hat es auch in seinem System nicht gefehlt, aber Rathenau hielt es immer noch für besser, einmal einer einzelnen Persönlichkeit unrecht zu tun, als die Ordnung des Gesamtunternehmens zu gefährden, dessen streng zentralistische Leitung nicht angetastet werden durfte.
Für die Konzentration Felten Guilleaume-Lahmeyer war es abgesehen von der dualistischen Organisation nachteilig, daß die Frankfurter Abteilung sozusagen unkonsolidiert in die Fusion hineingenommen worden war. Die Union wie die Schuckertwerke waren bei ihrem Übergang auf die Hauptwerke einer gründlichen Bilanzreinigung unterzogen worden, ihre zu hohen Buchwerte waren auf einen Stand abgeschrieben worden, der den Bilanzmaßstäben der aufnehmenden, durch und durch gesunden Unternehmungen entsprach. Auch die Verfassung der Lahmeyerwerke hätte einen derartigen Umwertungsprozeß erforderlich gemacht. Statt dessen wurden die Buchwerte unverändert übernommen, da eine innere Sanierung dem streng paritätischen Charakter dieser doch von „zwei gleichwertigen und ebenbürtigen Gesellschaften“ beschlossenen Fusion nicht entsprochen hätte. So krankte das Gesamtwerk weiter an der Krankheit des einen der beiden Beteiligten, und die Gefahr lag nahe, daß auch das gesunde Unternehmen schließlich angesteckt werden würde. Dieser in der Gesamtanlage der Vereinigung anfänglich begangene Fehler mußte in der weiteren Entwickelung umso nachteiliger hervortreten, als es nicht das gesunde, tragfähige Kabelwerk, sondern das schwache Dynamowerk war, bei dem sich die Hauptexpansion der folgenden Jahre abzuspielen hatte, bei dem der Hauptwettbewerb mit der überlegenen Konkurrenz auszufechten und auszuhalten war. Das Kabelwerk war in sich geschlossen und nur noch in den unteren Stufen der Selbstbedarfsdeckung, also im Montanbetriebe, auszubauen. Bei ihm war der Wettbewerb nicht — wie im Maschinen-, Turbinen- und Lampenfach oder im Unternehmergeschäft des Frank [S. 300] furter Werks — ungeregelt, sondern durch das Kabelkartell vor ruinösem Preiskampf gesichert. Somit traf es sich unglücklich, daß gerade der schlecht organisierte, schlecht fundierte und mangelhaft geleitete Teil des zersplitterten Unternehmens den ungünstigen Zeitverhältnissen besonders stark ausgesetzt war.
In den ersten beiden Jahren nach der Fusion, 1905 und 1906, war, — wohl auf Grund einer unbekümmerten, mit Zukunftshoffnungen rechnenden Bilanzpolitik — der Versuch einer aufsteigenden Rentenentwickelung gemacht und es waren Dividenden von 10 und 11% ausgeschüttet worden, aber schon im Jahre 1907, das doch eigentlich ein Hochkonjunkturjahr war, mußte die Gesellschaft auf 10% heruntergehen, dann ging es weiter abwärts auf 8%, 6 und 4%. — In Frankfurt, namentlich aber auch in Mülheim mußte man sich jetzt sagen, daß die Dinge so nicht weitergehen konnten, sollten die guten Gewinne der Mülheimer Abteilung nicht durch die Zuschüsse, die das Dynamowerk in den letzten Jahren gefordert hatte, vollends aufgezehrt werden. Aussicht auf Besserung war nirgends zu sehen, sofern das Dynamowerk weiter seine Selbständigkeit behaupten wollte. So entschloß man sich zu Verhandlungen mit der A. E. G., die von Dr. Walther Rathenau über die grundsätzlichen Punkte hinweg geführt wurden, ehe der Vorstand der A. E. G. sich mit ihnen beschäftigte. Der Abschluß erfolgte in zwei Etappen . Zunächst wurde die Elektrizitäts-Gesellschaft vormals Lahmeyer in Frankfurt a. M., die bei der Fusion des Dynamowerks mit Felten Guilleaume bestehen geblieben war und das Beteiligungsgeschäft selbständig weitergeführt hatte, mit der Bank für elektrische Unternehmungen in Zürich, der Finanzgesellschaft der A. E. G., in Verbindung gebracht. Auch die Elektrizitäts-Gesellschaft Lahmeyer, die für ihre an die Felten Guilleaume-Lahmeyerwerke im Jahre 1905 abgetretenen Fabrikanlagen 15 Millionen Mark Aktien der letzteren Gesellschaft erhalten und ins Portefeuille genommen hatte, war durch den Dividendenrückgang des Fabrikations-Unternehmens, der für ihren Haupteffektenposten eine bedeutende Mindereinnahme mit sich brachte, in Mitleidenschaft gezogen worden und hatte ihre eigene Dividende von 7 auf 4% ermäßigen müssen. Als nunmehr von ihrem 25 Millionen Mark betragenden Aktienkapital 21720000 Mark auf die Züricher Elektrobank übergingen, wurden auf je 4000 Mark Lahmeyer-Aktien [S. 301] 3000 Frcs. neue Elektrobank-Aktien gegeben, so daß 16290000 Frcs. dieser Elektrobank-Aktien für die Durchführung des den Lahmeyer-Aktionären anheimgegebenen Umtausches erforderlich waren. Mit dieser ersten Transaktion aus der Gruppe der A. E. G.-Lahmeyer-Geschäfte, die sich lediglich zwischen den beiderseitigen Finanzgesellschaften abspielte, war aber doch schon eine Brücke auch zwischen den Fabrikationsunternehmungen geschlagen. Denn die 14 Millionen Mark Aktien der Felten & Guilleaume Lahmeyerwerke (1 Million Mark war vorher abgestoßen worden), die sich im Besitze der Elektrizitäts-Ges. Lahmeyer befunden hatten, waren damit nebst 2 weiteren Millionen Mark aus Konzernbesitz in den Machtbereich der A. E. G. gelangt. Ein so kleiner Aktienbesitz erschien aber für die Ausübung der Macht seitens der A. E. G. nicht ausreichend. Auf ihr fußend konnte Rathenau eine Neuordnung der Verhältnisse bei dem Felten Guilleaume-Lahmeyer-Konzern noch nicht durchführen. Der ersten Transaktion , die Ende August 1910 vor sich ging, folgte Mitte Oktober nach weiteren eingehenden Verhandlungen die zweite entscheidende. Sie war von dem Gelingen des Aktienaustausches zwischen der Bank für elektrische Unternehmungen und der Elektrizitäts-Ges. vormals Lahmeyer abhängig gemacht worden und führte zu folgenden Anträgen an die Generalversammlung der A. E. G. vom 15. Oktober 1910:
„1. Das Grundkapital der Gesellschaft wird um 30 Millionen Mark auf 130 Millionen Mark erhöht durch Ausgabe von 30000 auf den Inhaber lautenden Aktien über je 1000 Mark, die für das mit dem 30. Juni 1911 abschließende Geschäftsjahr den halben Gewinnanteil erhalten und sonst den übrigen Aktien gleichstehen.
Von diesen Aktien werden:
a) 8777 Stück den Herren Geheimer Kommerzienrat Theodor von Guilleaume und Kommerzienrat Max von Guilleaume zu Mülheim am Rhein zum Nennwert überlassen gegen Hergabe von nominal 16 Millionen Mark Aktien der Felten & Guilleaume-Lahmeyerwerke-Aktien-Gesellschaft zu Mülheim am Rhein nebst Gewinnanteilscheinen vom 1. Januar 1910 ab;
b) 11223 Stück werden der Felten & Guilleaume-Lahmeyerwerke-Aktien-Gesellschaft zu Mülheim am Rhein zum Nennwert überlassen gegen Einbringung der sämtlichen 10 Millionen Mark nominal Aktien einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft [S. 302] unter der Firma A. E. G.-Lahmeyer-Werke Aktiengesellschaft oder unter einer anderen Firma, zu Frankfurt a. M., die die gesamte Abteilung Frankfurt (Dynamowerk) der Felten & Guilleaume-Lahmeyerwerke Aktiengesellschaft zu Mülheim am Rhein, mit allen zugehörigen Immobilien, Maschinen, Beständen, Vorräten und Aufträgen, jedoch ohne Übernahme von Schuldverbindlichkeiten und Außenständen, besitzen soll.
c) 10000 Stück der Berliner Handels-Gesellschaft und der Direktion der Diskonto-Gesellschaft zu Berlin gemeinschaftlich zum Kurse von 200% und einem Spesenbauschbetrag von je 100 Mark für jede Aktie ohne Stückzinsenberechnung überlassen und mit der Verpflichtung, die sämtlichen übernommenen 10000 Stück-Aktien alsbald nach Eintragung des Kapitalserhöhungsbeschlusses in das Handelsregister den Besitzern der 100 Millionen Mark alter Aktien unter Offenhaltung einer mindestens zweiwöchentlichen Frist zum Kurse von 200% und einem Spesenbauschbetrag von 100 Mark für jede Aktie zum Bezuge derart anzubieten, daß auf je 10000 Mark Nennwert alter Aktien eine neue Aktie bezogen werden kann.
Die Ausgabe dieser 10000 Stück Aktien erfolgt zur Verstärkung der Betriebsmittel.“
Den Anträgen wurde folgende Begründung gegeben:
„Als die Felten & Guilleaume-Lahmeyerwerke Akt.-Ges. für das Jahr 1909 nur 6% Dividende verteilte, weil der in den letzten Jahren bei ihrem Dynamowerk in Frankfurt a. M. eingetretene Rückgang die früheren guten Dividenden der Felten & Guilleaume-Gesellschaft beeinträchtigte, wurden Verhandlungen wegen Abstoßung des Frankfurter Werkes veranlaßt. Diese haben zu einer Verständigung mit der A. E. G. geführt, nach der die Felten & Guilleaume-Gesellschaft das Dynamowerk an die A. E. G. gegen Hergabe von neuen A. E. G.-Aktien abstößt. Das Werk wird der A. E. G. in Form einer mit einem Aktienkapital von 10 Millionen Mark und mit Reserven von 3 Millionen Mark ausgestatteten Aktiengesellschaft übergeben; diese neue Gesellschaft übernimmt die Fabriken und Anlagen des Dynamowerks nebst Inventar und Vorräten, jedoch ausschließlich Debitoren und Kreditoren. Das Werk geht hiermit auf ein Unternehmen über, [S. 303] das die Kraft und Mittel zu dessen vorteilhafter Ausgestaltung besitzt. Zugleich wird die A. E. G. infolge der bei der Überlassung ihrer Aktien festgesetzten Relation das Frankfurter Werk zu niedrigem Buchwert in ihre Bilanz einstellen können. Für die Felten & Guilleaume-Gesellschaft ergibt sich der nicht zu unterschätzende Vorteil, daß sie die von ihr für das Frankfurter Werk bisher verwendeten erheblichen Kapitalien in Zukunft nutzbringend in ihren Stammwerken anlegen wird. Hiermit bessert sie ihre bisherige Situation wesentlich, indem sie an Stelle von Verlusten aus dem Dynamowerk Gewinne aus den frei gewordenen Mitteln ziehen kann. Zu der Übernahme des Dynamowerks hat sich die A. E. G. indes nur unter der Voraussetzung entschlossen, daß ihr gleichzeitig ein ausreichender Betrag Aktien der Felten & Guilleaume-Gesellschaft zu günstigen Bedingungen überlassen wurde. Indem weit ausschauende Großaktionäre der Felten & Guilleaume-Gesellschaft 16 Millionen M. Aktien an die A. E. G. abtreten, erlangt diese in Gemeinschaft mit der befreundeten Elektrobank in Zürich 32 Millionen Mark Aktien von den im ganzen 55 Millionen betragenden Felten & Guilleaume-Aktien und hiermit entscheidenden Einfluß auf die in hohem Ansehen stehende Gesellschaft, aus deren Firma der Name Lahmeyer in Zukunft ausscheidet. Zudem erwachsen der A. E. G. Vorteile daraus, daß sie mit der Übernahme des Frankfurter Dynamowerks eine lästige Konkurrenz beseitigt, mit dem Dynamowerk materielle und ideelle Werte zu günstigen Bedingungen erwirbt, einen neuen Stützpunkt in Süddeutschland erlangt und durch innige Verbindung ihres Kabelwerks mit dem alten Mülheimer Carlswerk auch auf dem Gebiet des Seekabelwesens die Führung übernimmt. Indem die A. E. G. in dieser Weise ihre Stellung von neuem um ein erhebliches stärkt, wird dieser Zusammenschluß auch der von dem Dynamowerk befreiten Felten & Guilleaume-Gesellschaft die Bahn zu neuer erfolgreicher Tätigkeit ebnen.
Der Erwerb der 16 Millionen Mark Felten & Guilleaume-Aktien erfolgt gegen Hergabe neuer A. E. G.-Aktien in einem Umtauschverhältnis, das der A. E. G. die Einstellung in die Bilanz zu niedrigem Buchwert gestattet. Während die vorstehenden Transaktionen 20 Millionen Mark neue A. E. G.-Aktien erfordern, soll den Aktionären gleichzeitig ein Bezugsrecht auf 10 Millionen Mark Aktien angeboten [S. 304] werden, um die Mittel für den Betrieb und die Ausgestaltung des Dynamowerks zu schaffen.“
Das Prinzip der Gesamttransaktion bestand also darin, daß die mißlungene Verbindung zwischen der Frankfurter Lahmeyer-Fabrik und dem Carlswerk durch einen resoluten Schnitt wieder beseitigt wurde. Der Frankfurter Teil wurde mit der A. E. G. verschmolzen, der Mülheimer Teil und die Finanzgesellschaft traten durch Aktienbeteiligung in den Konzern der A. E. G. ein. Da der Kurs der A. E. G.-Aktien zur Zeit jener Transaktion ungefähr 260% betrug, stellten die 11223000 Mark jungen Aktien, die mit halber Dividendenberechtigung für 1910/11 bei der Übernahme des Lahmeyer-Dynamowerks in Zahlung gegeben wurden, einen rechnerischen Wert von etwa 28,4 Millionen Mark dar. In der Bilanz der A. E. G. erschien das Werk allerdings nur mit einem Betrage von 10 Millionen Mark, das heißt in Höhe des Nominalkapitals der A. E. G.-Unternehmungen-Akt.-Ges., welchen Namen die zur Aufnahme der Frankfurter Werke der Felten & Guilleaume-Lahmeyerges. neu gegründete Aktiengesellschaft schließlich erhielt. Diese blieb in Zukunft nicht in ihrer bisherigen Gestalt, das heißt als gemischtes Elektrizitätswerk, bestehen. Die Hauptabteilungen, die als Produktionsstätten die Wirtschaftlichkeit der entsprechenden Berliner Betriebe nicht erreichten, so die Maschinenfabrik, die Lampenfabrik wurden aufgegeben bezw. mit den Berliner Betrieben zusammengelegt. Aufrechterhalten und weiterentwickelt wurden in Frankfurt nur einige Sonderbetriebe, so die Stellwerk-Abteilung, in der elektrische Signalapparate als neuer Produktionszweig aufgenommen wurden, ferner die Scheinwerferabteilung, die hauptsächlich für den Bedarf von Heer und Marine arbeitete. Die Beschränkung der Frankfurter Abteilung hatte zur Folge, daß ein beträchtlicher Teil des in Frankfurt benutzten Fabrikgeländes frei wurde, der an die Adlerwerke vorm. Kleyer veräußert werden konnte und somit einen Gegenwert für die Aufgabe der Frankfurter Betriebsstätten und die damit verbundenen Substanzenverluste bildete.
Die technische und industrielle Bereicherung, die die A. E. G. aus dem Transaktionskomplex mit dem Felten & Guilleaume-Lahmeyerkonzern gewann, war vielleicht nicht so groß wie jene, die ihr bei dem Zusammenschluß mit der Union zugeflossen war. Die Bedeutung lag hier mehr auf dem Gebiete der [S. 305] Verringerung des Wettbewerbs und der Absatzausdehnung, die durch die neuen starken Stützpunkte in Süddeutschland und dem industriereichen Westen gefördert werden konnte. Dem kräftigen, wohl arrondierten und wohl proportionierten Wirtschaftskörper der A. E. G. waren nicht so sehr neue Lebensquellen, neue Befruchtungsmöglichkeiten nötig, sondern er schob die Grenzen seines Wirtschafts- und Wirkungsgebiets, der Schwerkraft, dem drängenden Wachstumsbedürfnis seiner industriellen Kraft Raum schaffend, weiter vor. Der Wille zur Macht und zur Entwickelung der Macht, der jedem blühenden Wirtschaftskörper unzertrennlich innewohnt, war hier die Haupttriebfeder des Handelns. Rein wirtschaftlich betrachtet, gehörte die Aufnahme der Lahmeyerwerke zu den Geschäften, die sich nicht sofort und nicht unmittelbar völlig bezahlt machen, und es gehörte schon die ganze strotzende Gesundheit der A. E. G. und die Fülle ihrer Säfte dazu, um einen so schweren Bissen wie das Lahmeyerwerk zu verdauen und zu verarbeiten. Erst allmählich begann diese Fusion sowie auch die Verbindung mit dem Carlswerk ihre Früchte zu tragen.
War Triebfeder und Ergebnis der Lahmeyer-Transaktion für die A. E. G. in erster Linie Machterweiterung, so konnte es nicht ausbleiben, daß das die Verhältnisse in der Elektrizitätsindustrie beherrschende Gesetz des Dualismus die Wurzel für einen Gegenzug des Siemens-Schuckert-Konzerns bildete. Dieser erfolgte nicht so stürmisch, so „Zug um Zug“ wie in der ersten großen Konzentrationsperiode, in der die Machtverhältnisse noch nicht so gefestigt, die Möglichkeiten der Ausdehnung noch zahlreicher, die Auswahl unter den Fusionsobjekten noch größer, die ganze Entwickelung noch mehr im Fluß gewesen war. Beide Konzerne waren inzwischen in ihrem Besitz, in ihrer inneren Verfassung reicher, weiter und sicherer geworden und konnten ihre Transaktionen langsam vorbereiten und überlegen. Sie brauchten sich der neuen Objekte nicht ungeduldig zu bemächtigen, sondern konnten die Dinge an sich herankommen lassen. So dauerte es noch fast ein Jahr, bis die Siemens-Schuckert-Werke auf die Machterweiterung der A. E. G. damit antworteten, daß sie sich durch Aktienerwerb und Verwaltungseinfluß an dem letzten bis dahin noch unabhängig gebliebenen „gemischten“ Großwerk der Elektrizitätsindustrie, den Bergmann-Elektrizitätswerken , beteiligten.
Die Bergmann-Elektrizitätswerke in Berlin waren nicht als gemischtes Werk gegründet worden, sondern hatten sich, ursprünglich als Spezialfabrik für Isolier-Leitungsrohre und Spezial-Installations-Artikel errichtet, erst später und in allmählichem Ausbau zum elektrischen Universalunternehmen entwickelt. Ihre Geschichte, ihr Kampf und ihr Schicksal ist in mehr als einer Hinsicht charakteristisch für die Gestaltung der Verhältnisse in der deutschen Elektrizitätsindustrie nach der Krise von 1901/03. Im Jahre 1893 wurde die Gesellschaft mit dem kleinen Kapital von 1 Million Mark zur Herstellung der oben erwähnten Sonderartikel gegründet, sie ging hervor aus der seit 1891 bestehenden offenen Handelsgesellschaft S. Bergmann & Co. in Berlin. Sigmund Bergmann, ihr Gründer, stammte aus der Schule des Amerikaners Edison, mit dem er jahrelang als Associé zusammengearbeitet hatte und der ihm auch später stets in enger Freundschaft verbunden blieb. Bergmann gründete im Jahre 1897, während er seinen Wohnsitz noch in New York hatte, außerdem die Bergmann-Elektromotoren- und Dynamo-Werke, die gleichfalls zuerst nur mit einem Kapital von 1 Million Mark arbeiteten. Im Jahre 1900 wurden beide Gesellschaften miteinander fusioniert und das Kapital des damit den Weg der gemischten Werke beschreitenden Gesamtunternehmens erhielt einen Umfang von 8,5 Millionen Mark. Die Gesellschaft, technisch aufs beste und modernste ausgerüstet und mit den neuesten amerikanischen Konstruktionen arbeitend, hatte bis zum Jahre 1900 ihre Dividenden auf 23% gesteigert. Die Krisis brachte nur einen Rückgang auf den immerhin noch sehr hohen, von keiner anderen Elektrizitätsgesellschaft jemals gezahlten Satz von 17%. Nach der Krisis stellte sich die Dividende jahrelang auf 18%. Die hohe Rente bot die Möglichkeit zur Erzielung großer Agiogewinne bei den verschiedenen und häufigen Kapitalerhöhungen. Die Aktienkurse bewegten sich zwischen 200 und 300%. Bei Neuemissionen konnten Begebungskurse von durchschnittlich 200% festgesetzt werden, und kein geringeres Institut als die Deutsche Bank wurde für den Aufsichtsrat und als Bankverbindung für die Gesellschaft gewonnen.
Diese äußerlich glänzende Entwickelung hatte aber eine Schattenseite. Sigmund Bergmann war ein ausgezeichneter Techniker, ein moderner, tatkräftiger Industrieller, aber er, der Amerikaner unter den deutschen Elektrikern, glaubte die amerikanischen Industrie- und [S. 307] Finanzmethoden nach Deutschland übertragen zu können, wo doch Emil Rathenau längst einen Typus und ein System entwickelt hatte, das dem amerikanischen weit überlegen war und die nach diesem arbeitenden Unternehmungen letzten Endes schlagen mußte . Bergmann mangelte bei seinen außerordentlichen technischen und industriellen Fähigkeiten eine ebenbürtige kaufmännische Veranlagung. Er kopierte hier eigentlich nur, was ihm die großen Konkurrenzwerke bereits erfolgreich vorgemacht hatten. Ganz ging ihm aber die finanzielle Meisterschaft eines Emil Rathenau ab, er besaß nicht das eigene finanzielle Urteil, geschweige denn die originale, schöpferische Finanzkunst des A. E. G.-Gründers. So ließ er sich auf der Bahn, die ihm die ersten großen technischen Erfolge seines Unternehmens mit ihren hohen Dividendenresultaten eröffnet hatten, gern und kritiklos weitertreiben. Er nutzte unbekümmert um die innere Konsolidierung, um die Sicherung seiner Basis durch starke Reservestellungen, die Möglichkeiten aus, die ihm die hohen äußeren Renten boten. Seine Finanztechnik bestand in der Ausmünzung des Aktienagios , und er glaubte genug Rücklagen zu haben, wenn er die ihm aus seinen Kapitalserhöhungen zufließenden stattlichen Aufgelder in den Reservefonds einstellte. Seine Finanzpolitik war ein grundsätzliches Gegenbild zu der Emil Rathenaus, der sich nie durch die Agiochancen dazu verführen ließ, seine Dividenden höher zu bemessen, als ihm dies seine streng sachliche, hypervorsichtige Bilanzierung gestattete. Sigmund Bergmann war dabei zweifellos finanziell gutgläubig, seine Finanzpolitik kann nicht etwa als leichtfertige Agiotage bezeichnet werden, und in einer anderen, nicht so sehr durch übermächtigen Wettbewerb älterer Unternehmungen beengten Industrie hätte sie vielleicht sogar passieren können. Bergmanns Tragik war, daß er 10 oder 15 Jahre zu spät kam, und in seiner Fachtüchtigkeit einen Gegner wie Emil Rathenau vorfand, der nicht nur fachtüchtig, sondern universal-tüchtig war und obendrein im Besitz, im Vorsprung war. Bergmann fand die ungeheuer schwere Aufgabe vor, nicht nur unter gleichen Bedingungen die stärksten Gegner zu besiegen, sondern noch deren beträchtliche Vorgabe einzuholen. Der Mut, mit dem der finanziell naive Techniker an die gewaltige Aufgabe heranging, ist bewunderungswürdig, bewunderungswürdig auch, was er unter so ungünstigen Bedingungen industriell erreicht hat. Der Ausbau seiner kleinen [S. 308] Spezialbetriebe zu einem großen modernen elektrotechnischen Universalwerk, das sich in technischer Beziehung durchaus neben der A. E. G. und Siemens-Schuckert sehen lassen konnte, ist eine hervorragende Leistung, die ohne bedeutende Organisationskraft nicht zu bewältigen war. Da er große und zahlreiche Werke schnell bauen mußte, auch in der kostspieligen Außenorganisation, die ihn zur Errichtung vieler auswärtiger und ausländischer Installations- und Konstruktionsbureaus zwang, und schließlich in der Fundierung des Unternehmergeschäfts, die er durch die Gründung einer Trustgesellschaft „der Bergmann Elektrische Unternehmungen-Akt.-Ges.“ zu stützen versuchte, den großen Vorbildern nachstreben mußte, konnte er allerdings wohl finanziell gar nicht so vorsichtig und bedächtig vorgehen wie Emil Rathenau. Er konnte sich nicht den Luxus leisten, das Geld auf die hohe Kante zu legen, sondern mußte häufige und umfangreiche Kapitalerhöhungen vornehmen, und dabei so beträchtliche Agiobeträge wie möglich hereinbringen. Er war spät gekommen und mußte schnell vorwärts, wenn er noch mit an die Spitze wollte. Der finanziell Einsichtige hätte wissen müssen, daß er so Gefahr lief, sich letzten Endes in geldlichen Schwierigkeiten zu verfangen, der industriell Wagemutige und Schaffensfreudige hat das Experiment doch versucht, und ist daran gescheitert. Bergmanns Tragödie ist die Tragödie des Nachgeborenen, der mit all seiner Schaffenskraft beendete Entwickelungen, verschlossene Kanäle, gelöste Probleme vorfindet, wie Rathenaus Glück das Glück des Schöpfers ist, der gerade im Augenblicke zu schaffen beginnt, in dem die Zeit seinen Plänen entgegenreift, in dem Baugrund und Baumaterial nur des Baumeisters warten. Den einen haben die Verhältnisse niedergehalten, den anderen haben sie emporgetragen.
Sigmund Bergmann war es zwar in den Tagen des Glücks gelungen, die erste deutsche Bank zur Unterstützung seiner Finanzgebarung zu gewinnen. Aber gerade hier hat sich erwiesen, wie wenig auch die beste Bank (wenn sie nicht gerade selbst industrielle Unternehmungen entwickelt) in der Lage und gewillt ist, rein industrielle Finanzpolitik zu treiben, die eigene, rein sachliche und nur den Interessen des Unternehmens dienende Finanzpolitik des industriellen Leiters zu ersetzen. Gerade dieses negative Ergebnis bei Bergmann illustriert in scharfem Kontrast, wie sehr umgekehrt Emil Rathenau, der sein eigener Finanzminister war, die Bankier-Begabung zustatten [S. 309] gekommen sein muß. Die Deutsche Bank hat Sigmund Bergmanns falsche Finanzpolitik, die ihr selbst bei den vielen Kapitalserhöhungen schöne Provisions- und Emissionsgewinne einbrachte, bereitwillig und ohne Kritik mitgemacht, so lange alles gut ging. Als aber die Zeit der Dividendenrückgänge, des Schwachwerdens im Konkurrenzgeschäft, das Versagen des Emissionsmarktes und die durch keine Kapitalserhöhungen mehr zu behebenden Geldschwierigkeiten kamen, hat die Deutsche Bank der Gesellschaft und ihrem Leiter nicht die starke finanzielle Rückendeckung gewährt, die ihn vielleicht noch (oder vielleicht auch nicht mehr) hätte retten können. Sie hat vielmehr die Bergmann-Gesellschaft zur Aufgabe ihrer Selbständigkeit, zum Anschluß an einen der großen Konzerne gedrängt und die weitere Geldhergabe von dieser Kapitulation abhängig gemacht. Mit diesen Worten soll der Deutschen Bank gewiß nicht der Vorwurf einer illoyalen, unzuverlässigen Handlungsweise gemacht, sondern nur gezeigt werden, daß auch die größten Banken nicht gewillt und imstande sind, schon mit Rücksicht auf ihre eigenen Aktionäre gar nicht imstande sein können, junge Industrie-Unternehmungen im Kampf gegen große übermächtige Konkurrenzkonzerne durchzuhalten und in ihrer Entwickelung zu stützen; insbesondere dann nicht, wenn diese Kapitalmächte — wie das im deutschen Wirtschaftsleben nicht selten der Fall ist — in Beziehungen zu einem jener großen Konkurrenzkonzerne stehen und im Interesse der wertvolleren Verbindung die minder wertvolle preiszugeben geneigt sind. Die Unabhängigkeit eines Industrieunternehmens, besonders eines mittleren, noch nicht zum ersten Range emporgestiegenen, kann nur auf dem Wege erreicht werden, den Rathenau einschlug, nämlich dem der finanziellen Selbständigkeit. Unbedingt Herr im eigenen Hause bleibt nur der Industrielle, der sich frei von Bankgeld und Bankenhilfe hält, der genug eigene Geldmittel aufsammelt, um damit auch Krisen überwinden, in Zeiten schlechten Emissionswetters seine Bedürfnisse decken zu können. Beispiele für solche selbständige Finanzpolitik, die zwar die Banken gelegentlich benutzt, darin aber nicht so weit geht, daß sie von Banken beherrscht werden kann, bieten abgesehen von der A. E. G., Siemens & Halske, Krupp, die Hamburg-Amerika-Linie, die Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft, der Bochumer Gußstahlverein, die großen Anilinfarbengesellschaften und eine erhebliche Anzahl in der letzten Zeit reich gewordener Unternehmungen [S. 310] kleineren Formats. Gegenbeispiele der durch Banken in ihrer sachlichen Geschäftspolitik zeitweilig beeinflußten Unternehmungen sind außer Bergmann u. a. die Phönix-Akt.-Ges. in ihrer früheren Periode, in der sie durch die Banken zum Eintritt in den Stahlwerksverband gezwungen wurde, die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-Ges., die Hohenlohewerke, die Deutschen Erdölwerke. Nur ein großes Beispiel, bei dem sich industrielle Selbständigkeit mit starker Verschuldung bei Banken vereinigt hat, kennt die Geschichte der deutschen Großindustrie: den Fall August Thyssens . Dieser Ausnahmefall weist aber so viele seltene, einzigartige Vorbedingungen auf, daß er gerade dadurch die Regel bestätigt. Eine große, kühne und ganz besonders im Komplizierten sich erweisende Finanzkunst, die in ihrer Art der ganz anders gerichteten Emil Rathenaus ebenbürtig war, die mit dem persönlichen Kredit ebenso überlegen operierte, wie Rathenau mit dem Aktienkredit, unterstützte hier die industrie-kaufmännische Begabung. August Thyssen verstand es, so viele Kreditquellen zu benutzen, und die Konkurrenzströmungen auf dem Kapitalmarkte so geschickt gegeneinander auszuspielen, daß er stets Herr der Lage blieb und schließlich eine Macht wurde, mit der es kein Bankgläubiger verderben durfte, — in guten Zeiten, weil er den großen Kunden zu verlieren fürchtete, in schlechten, weil er die Sicherheit des geliehenen Geldes besser durch Nachgiebigkeit als durch Rücksichtslosigkeit gewährleistet glauben mußte.
Kehren wir zu den Verhältnissen der Elektrizitätsindustrie zurück. Die Bergmann-Elektrizitätswerke mußten, durch den Konkurrenzkampf der letzten Jahre geschwächt, mitten in großen Erweiterungsplänen und Geldbedürfnissen, ihre Dividende im Jahre 1910 von 18 auf 12%, im folgenden Jahre auf 5% herabsetzen. Der überanstrengte Emissionskredit brach damit zusammen, die unvollendeten Pläne konnten nicht mehr weiter geführt werden. In dieser Situation gab es keinen anderen Ausweg als den Anschluß an einen der großen Konkurrenzkonzerne. Die Deutsche Bank vermittelte die Anlehnung an den Siemens-Schuckert-Konzern, dem sie ja selbst finanziell nahestand. Auch mit der A. E. G. war verhandelt worden, aber diese konnte sich nicht dazu entschließen, Bergmann die von ihm verlangte, wenigstens halbe Selbständigkeit zu gewähren, war wohl auch durch die Angliederung des Felten Guilleaume-Lahmeyer- [S. 311] Konzerns vorerst gesättigt und brauchte kein Unternehmen mehr zu erwerben, das ihr nur Machterweiterung, aber keine Ergänzung durch neue Betriebszweige bot. So kam die Anlehnung der Bergmannwerke an Siemens-Schuckert zustande. Das Kapital der Bergmann-Werke wurde von 29 auf 52 Millionen Mark erhöht, davon übernahmen die Siemens-Schuckertwerke 8½ Millionen Mark. Aus ihrem Konzern trat Theodor Berliner in die Generaldirektion der Bergmannwerke neben Sigmund Bergmann ein, er übernahm die kaufmännische und finanzielle Führung, während die technische bei Bergmann verblieb. Die industriellen Baupläne wurden, mit dem Teil des neuen Geldes, der nicht zur Ablösung bereits verbauter, vorläufig durch Bankkredit beschaffter Mittel erforderlich war, zu Ende geführt. Das Unternehmergeschäft dagegen wurde liquidiert. Der früher hochrentablen Bergmann-Aktie stand eine Reihe magerer Jahre bevor, bis der Krieg auch diesem Unternehmen, wie so manchen anderen durch Betätigung auf dem seiner eigentlichen Natur fremden Gebiet der Munitionsherstellung eine unerwartet schnelle Erholung brachte.
Die Geschichte der Bergmannwerke hat den Beweis erbracht, daß ein aussichtsreicher Wettbewerb gegen die beiden herrschenden Groß-Konzerne auf dem Gebiete der Neuerrichtung von Werken ebensowenig möglich war, wie er durch Fusion bereits bestehender Unternehmungen mittlerer Größe im Falle Felten Guilleaume-Lahmeyer auf die Dauer sich hatte behaupten können. Dies Aufgehen der beiden letzten Konkurrenzbetriebe gemischter Natur in die Interessenkreise der beiden „Großen“ hatte nunmehr die Situation in voller Reinheit und Klarheit hervortreten lassen, auf die die ganze Entwickelung seit Beginn der Konzentrationsperiode sichtlich hingedrängt hatte. Das Prinzip des Dualismus hatte sich voll ausgewirkt. Nur zwei Gruppen, die A. E. G. und Siemens-Schuckert, standen sich jetzt noch gegenüber. Es war kein Wunder, daß die Monopolfurcht, die schon gelegentlich der ersten großen Fusionen im Jahre 1903 in der Öffentlichkeit hervorgetreten war, von neuem auftauchte. Vom konsequent durchgeführten Dualismus bis zum Monopolismus war ja nur — so fürchtete ein Teil der öffentlichen Meinung — ein Schritt. Ein offener oder ein geheimer Vertrag zwischen den beiden Gruppen konnte den deutschen Konsum der Herrschaft eines Elektrizitätsmonopols ausliefern. In der Mitteilung, die [S. 312] der Siemens-Schuckertkonzern gelegentlich der Transaktion mit Bergmann bekannt gab, verwahrte er sich allerdings mit Nachdruck gegen Monopolbestrebungen. Man wolle kein Monopol, und man halte es nicht einmal für nützlich im Interesse der Elektrizitätsindustrie. Darum beabsichtige man auch nicht, die kaufmännische Selbständigkeit der Bergmann-Elektrizitätswerke durch die Übernahme der Bergmann-Aktien anzutasten. Diese Gesellschaft solle ihre Bewegungsfreiheit auch weiter behalten. Eine nachhaltige Beunruhigung über die Monopolfrage kam denn auch infolge der letzten Fusionen in der Elektrizitätsindustrie nicht auf oder sie verlor sich doch bald. Das war zum Teil darauf zurückzuführen, daß man den Monopolen in manchen Kreisen nicht mehr so streng ablehnend gegenüberstand, wie noch vor 10 Jahren, nachdem man erkannt hatte, daß ihre Macht durch Staatskontrolle zu beschränken sei, während die betriebliche Wirtschaftlichkeit durch sie zweifellos gefördert werde. Auf der anderen Seite hatte man aber gerade in der Zwischenzeit die Erfahrung gemacht, daß die Vereinigungsidee in der Elektrizitätsindustrie über den Dualismus A. E. G.—Siemens-Schuckert nur schwer hinwegschreiten würde. Zwischen beiden Konzernen waren viele Berührungspunkte entstanden, sie saßen in manchen Produktionsgesellschaften, wie den Akkumulatorenwerken Hagen, in der Telefunkengesellschaft, in vielen Betriebsgesellschaften, wie der Deutsch-Überseeischen Elektrizitätsgesellschaft, der St. Petersburger Gesellschaft für elektrische Beleuchtung, der Hamburger Hochbahn usw. zusammen, sie gehörten verschiedenen Kartellen an, hatten sogar gelegentlich geheime Submissionsabmachungen getroffen, und doch waren die Grundgegensätze zwischen ihnen dadurch keineswegs beseitigt, oder auch nur gemildert worden. Wenn man mit Persönlichkeiten aus einem der beiden Häuser von der Konkurrenz sprach, so waren es durchaus nicht immer Worte des gegenseitigen Verständnisses, der Anerkennung, der Würdigung, die man über den anderen zu hören bekam. Die Gefühle der Rivalität, des Konkurrenzneides, waren mehr als je vorherrschend. Statt eine Annäherung im großen herbeizuführen, hatten die gelegentlichen geschäftlichen Verbindungen nur das heimliche Gegensatzgefühl, die innere Kampfstellung verschärft. Und dieser Gegensatz blieb nicht auf akademische Erörterungen beschränkt, er trat auch auf den Absatzmärkten allenthalben in Er [S. 313] scheinung. Überall war das Bestreben fühlbar, den Gegner zu verdrängen, an Leistung zu überbieten und im Preise zu unterbieten, seine Produkte schlecht zu machen, seine Geschäftspraxis zu bemängeln. Wenn auch bei großen Geschäften der eine manchmal vornehm hinter dem anderen zurücktrat, er tat es nur mit innerlichem Ingrimm, und in kleinen Geschäften wurde der Konkurrenzkampf oft bis aufs Messer ausgefochten. Man hat gesagt, daß dieser Gegensatz in Personenfragen begründet sei und mit dem Rücktritt der alten, im gegenseitigen Kampf aufgewachsenen Personen verblassen und schließlich ganz verschwinden werde. Das mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein, vorläufig ist aber mit einem Absterben dieser persönlichen Stimmungen noch lange nicht zu rechnen. Der Patrizierstolz der Familie Siemens hat sich nun bereits bis ins dritte Glied fortgeerbt, und ist noch immer stark und unerschüttert. Der A. E. G.-Geist, der nicht einmal so sehr in der weniger fruchtbaren Dynastie Rathenau verkörpert ist, wie in den vielen noch lebenden Mitarbeitern Emil Rathenaus aus seinen ersten Anfängen, will und braucht ebenfalls keine Kompromisse zu schließen. Ob vielleicht die veränderte Weltlage, die nach Beendigung des Krieges zweifellos in Erscheinung treten wird, einen Zusammenschluß der Elektrizitätskonzerne aus Gründen der Verteidigung des Weltmarktbesitzes herbeiführen wird — wie sie während des Krieges schon zu einer Vereinigung der Anilinkonzerne geführt hat und wie ihre Vorahnung vor dem Kriege bereits ein Bündnis zwischen Hapag und Lloyd zu Wege brachte — läßt sich jetzt noch nicht beurteilen. Es ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen, daß auch hier vielleicht die Sachen stärker sein werden als die Personen.
Bei Beurteilung der Monopolfrage darf nicht außer acht gelassen werden, daß die elektrischen Großkonzerne, die gemischten Betriebe, nicht die einzigen Unternehmungen auf dem Gebiete der deutschen Elektrizitätsindustrie sind. Es besteht sowohl auf dem Starkstrom- wie auch auf dem Schwachstromgebiet noch eine erhebliche Anzahl leistungsfähiger und unabhängiger Spezialbetriebe, die gewisse Sonderprodukte herstellen und die darin eine beachtenswerte Konkurrenz für die Großkonzerne bilden. Es gibt fast kein elektrotechnisches Erzeugnis, angefangen von der kleinen Glühlampe und dem Telephonapparat bis zu der größten Dynamomaschine, das nicht in Spezialfabriken hergestellt wird. Man kann annehmen, daß die Produktion [S. 314] dieser Spezialfabriken sich zu der der Großkonzerne etwa wie 1:3 verhält. Eine Reihe der Spezialfabriken, wie zum Beispiel das Sachsenwerk, die elektrotechnische Fabrik Rheydt, die Telephonfabrik Berliner, die Mix & Genest-Gesellschaft, die Elektrizitätsgesellschaft Poege, die Hackethal-Draht- und Kabelwerke, die Fabrik isolierter Drähte Vogel, das Kabelwerk Cassierer, hat sich im Kriege finanziell sehr günstig entwickelt und große Reserven aufgehäuft. Dadurch dürfte die Konkurrenzfähigkeit dieser Gesellschaften nach dem Kriege gegenüber dem früheren Stand wesentlich gesteigert worden sein. Solange der Dualismus zwischen der A. E. G. und Siemens-Schuckert erhalten bleibt, werden auch die Spezialfabriken ihre Stellung behaupten können.
Etwas anders liegen die Verhältnisse auf dem Gebiete der Betriebsunternehmungen . Hier beherrschen die beiden Gruppen ziemlich allein das Feld und sowohl im Unternehmergeschäft, als auch bei den Auftragsbauten für Rechnung von besonderen Betriebsgesellschaften, Kommunen und sonstigen Behörden findet sich für sie kaum ein nennenswerter Wettbewerb. Das Prinzip des Dualismus, der wechselseitigen Konkurrenz beider Konzerne, reicht aber auf diesem Gebiet nur bis zur Projektionsgenehmigung und Auftragserteilung für den Bau im ganzen, manchmal, wenn beide Gruppen zusammenarbeiten oder sich über Projekte verständigen, scheidet es auch schon vorher aus. In der Durchführung des Baus, meist auch in der späteren Materialversorgung, werden die Gruppen kaum noch durch eine Einwirkung der Konkurrenz gestört. Diese Gestaltung der Dinge hat in der Öffentlichkeit vielfach die Furcht vor einem privaten Strommonopol hervorgerufen. Gerade aber hier würde es auch einem solchen Monopol schwer sein, seine Macht zu einer Vergewaltigung der Konsumenten, die doch hauptsächlich nur in einer Heraufschraubung der Tarife bestehen könnte, zu mißbrauchen. Besonders gilt das für den Kraftstrom. Sobald bei der Tarifbemessung für elektrische Kraft nämlich die Elektrizitätswerke zu hohe Preise forderten, würde die Anlage von Privatkraftzentralen für größere Verbraucherbetriebe, die schon bisher den Strom vielfach vorteilhafter liefern konnten als öffentliche Zentralen nicht ganz moderner Art und Leistungsfähigkeit, eine solche Ausdehnung nehmen, daß die öffentliche Stromversorgung jede Aussicht verlieren würde, an großindustrielle Betriebe Strom überhaupt abzusetzen. Wurden doch von [S. 315] öffentlichen Elektrizitätswerken im Jahre 1913 nur 2800 Millionen Kwstd. nutzbar abgegeben gegen 10000 Millionen Kwstd. von Einzelanlagen [1] . Was aber den kommunalen Stromverbrauch für Licht- und Kraftzwecke anlangt, so ist seine Abgabe von der Erteilung der Konzessionen seitens der Kommunalbehörden abhängig, die sich vertraglich gegen eine Ausnutzung der Strommonopole zur Erzielung unangemessener Preise schützen können, wobei die Angemessenheit der Preise durch den sachverständigen Vergleich mit anderen Werken und Verträgen der gleichen Art nicht schwer festzustellen ist. Vielfach haben auch Städte, Kreise und sonstige öffentliche Körperschaften die Stromwerke in eigenen Betrieb genommen, um statt des privaten Monopols ein öffentliches zu schaffen. Auch verschiedene Staaten haben sich Einfluß auf die Elektrizitätserzeugung innerhalb ihrer Grenzen durch Errichtung von eigenen großen Kraftwerken, Beschlagnahme der Wasserkräfte, Kohlenläger usw. gesichert.
Das hindert allerdings nicht, daß die elektrischen Großkonzerne durch geschickte „Strategie“ verschiedentlich kommunalpolitische Elektrizitätsprojekte geschädigt haben. Ein Beispiel bildet das Vorgehen des A. E. G.-Konzerns im Falle der Berliner Elektrizitätswerke, nachdem diese auf die Stadt Berlin übergegangen waren. Hier hat die A. E. G. mit ihrem Märkischen Elektrizitätswerk die Berliner Elektrizitätserzeugung sozusagen „eingekreist“, indem sie durch ihren die Bildung eines gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens vorsehenden Vertrag mit der Provinz Brandenburg der Stadt Berlin jede Möglichkeit nahm, sich mit dem Stromabsatz ihrer Werke über deren altes Versorgungsgebiet auszudehnen, wie es wohl im Rahmen einer großzügigen und ökonomischen Berliner Elektrizitätspolitik gelegen hätte. In ähnlicher Weise ist die Stadt Mülhausen i. E. an der Errichtung eines leistungsfähigen kommunalen Werkes verhindert worden, weil ringsherum große, mit Wasserkraft und Montankraft arbeitende Privatwerke entstanden, die ihr an Wettbewerbsfähigkeit überlegen waren. Aber auch in diesen Fällen kann man nicht sagen, daß die eigentlichen Verbraucherinteressen durch das Vorgehen der Großkonzerne gelitten haben, denn es ist ja gerade die aus höherer Leistungsfähigkeit [S. 316] sich ergebende Möglichkeit der Unterbietung, die das private Großwerk dem kommunalen Lokalwerk überlegen macht. Beeinträchtigt werden vielmehr nur kommunale Interessen, wobei die Frage, ob es überhaupt kommunalpolitisch gerechtfertigt ist, daß eine Gemeinde über ihr eigenes Weichbild hinaus als Stromlieferant auftritt, offenbleiben soll. — Im Falle der Berliner Elektrizitätswerke steht übrigens nicht das kommunalpolitische Verwaltungs-Prinzip dem privaten Unternehmerprinzip, sondern dem gemischt-wirtschaftlichen Prinzip gegenüber, da ja die Märkischen Elektrizitätswerke durch Beteiligung der Provinz Brandenburg zu einem halböffentlichen Unternehmen geworden sind. Durch den Hinweis auf öffentliche Interessen wird man also diesen Widerstreit — auch bei aller Sympathie für die Reichshauptstadt — nicht in ihrem Sinne lösen können. Was der Stadt Berlin recht ist, muß schließlich der Provinz Brandenburg billig sein. Es bleibt ein rein wirtschaftlicher Kampf übrig, in dem letzten Endes wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und geschickte Geschäftstaktik den Ausschlag geben müssen.
Ein besonderes Wort sei noch den sogenannten Installationsmonopolen gewidmet. Darunter versteht man den von manchen Stromlieferungswerken ausgeübten Zwang auf die Stromabnehmer, die Hausinstallationen, die Anschlüsse an das Kabelnetz des Stromwerkes usw. von ihnen selbst oder von den ihnen nahestehenden Fabrikationsgesellschaften vornehmen zu lassen und die dazu erforderlichen Apparate durch sie zu beziehen. Derartige Installationsmonopole, die bei konsequenter Durchführung den Handwerkerstand der unabhängigen Elektromechaniker bald völlig beseitigen würden, sind neuerdings in fast allen Konzessionsverträgen ausdrücklich verboten, die Zentral-Regierungen in den einzelnen Bundesstaaten haben sie in Erlassen bekämpft, und auch die großen Elektrizitätsgesellschaften haben erkannt, daß derartige Installationsmonopole (nicht zu verwechseln mit den Einrichtungs- und Materiallieferungsmonopolen oder den Lieferverträgen mit Meistbegünstigung für den Bedarf der Stromwerke selbst) weder durchzusetzen sind, noch den Fabrikationsgesellschaften selbst zum Nutzen gereichen, da diese an der Vernichtung eines selbständigen und leistungsfähigen Installateur-Standes keineswegs ein Interesse haben.
Die Entwicklung der elektrischen Stromversorgung, die von der Blockstation über die Zwischenetappen der Lokal- und Überlandzentrale zum großen Zentral- und Fernkraftwerk schritt, ist im letzten Jahrzehnt besonders durch zwei Dinge vorbereitet und ermöglicht worden. Einmal durch die Lösung des technischen Problems der Fernübertragung hochgespannter Ströme über beliebig weite Strecken und ferner durch die juristisch-organisatorische „Erfindung“ der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung. Die letztere war in Wirklichkeit allerdings nur das Verwaltungskleid, das der ersteren gesucht und gefunden wurde. Die grundsätzliche Lösung des Fernübertragungsproblems liegt schon Jahrzehnte zurück, sie war mit der Einführung des Drehstromsystems gegeben, das wir an der Stelle unseres Buches, die ihm im historischen Gange der Untersuchung zukam, bereits behandelt haben. Wenn es auch noch ziemlich lange dauerte, bis die neue Erfindung trotz schon anfänglich verblüffender Demonstrationswirkung in größerem Umfange angewendet wurde und die Praxis der Theorie auf ihre damals dem vorausschauenden Genie schon erkennbaren Wege folgte, so lag dies daran, daß man in der Elektrizitätsindustrie erst die Verwendung hochgespannter Ströme zu hinreichender Leistungsfähigkeit entwickeln und ebenso sicher ihre Umwandlung in niedrige Spannungen beherrschen mußte. Ganz besonders für die Fernübertragung kam es auf diese Ausbildung der Transformatoren-Technik an. Denn in den Zentralwerken war, um deren günstige Ökonomie auszunutzen, die Erzeugung höchster Spannungen nötig, ebenso für die Übertragung nach den Verbrauchsstätten durch die weiten dazwischen liegenden Strecken. An den letzteren mußte der Strom, um für manche Verwandlungszwecke erst brauchbar zu werden, auf niedrige Spannungen wieder [S. 318] zurückgebracht werden. Besonders die Lichtelektrizität verlangte eine solche Verringerung der Spannung. Neben den Maschinen, Transformatoren und Generatoren, die für die großen Ausmaße hergestellt und erprobt werden mußten, bedurfte auch das Leitungsnetz einer Einrichtung für die erforderlichen hohen Volt-Spannungen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Leitungsdrähte mit der Zunahme der Spannung nicht verstärkt zu werden brauchten, sondern im Gegenteil eine Verringerung ihres Querschnittes zuließen und daß gerade darin einer der Hauptvorteile der Hochspannung lag. Auf der anderen Seite war aber für besonders gutes, zug- und druckfestes Material und für eine minutiöse Isolierung Sorge zu tragen.
Nachdem diese technischen Vorbedingungen gelöst waren, stand das Problem großzügiger und billiger Stromerzeugung bald klar vor Augen: die Elektrizität konnte in Zukunft viel vorteilhafter an den Fundstätten der Antriebsenergie , also an Orten, wo Wasserkräfte oder Kohle aus erster Hand zur Verfügung standen, gewonnen werden, als an den Verbrauchsorten des elektrischen Stromes, wo sie bisher erzeugt worden war, nachdem man die zu ihrer Gewinnung erforderliche Kohle mit der Bahn oder mit dem Schiff dorthingeschafft hatte. Der Vorteil des neuen Systems lag einmal darin, daß die Massenproduktion in großen Zentralwerken die Gewinnungskosten verbilligte und ferner darin, daß durch die Herstellung größerer Absatzgebiete ein besserer Ausgleich zwischen Stromproduktion und Strombeanspruchung ermöglicht wurde. Je größer das Versorgungsgebiet eines Elektrizitätswerkes ist, desto vielseitigere und vielzeitigere Anwendungsmöglichkeiten bieten sich in ihm für den elektrischen Strom. Kraftstrom und Lichtstrom, Industriebedarf, Hausbedarf und Straßenbahnbedarf ergänzen einander. Wenn der eine Verbraucher feiert, arbeitet der andere, alle Tages- und Nachtzeiten werden ausgenutzt, die steil ansteigenden und wieder abfallenden Beanspruchungskurven, die zu ungleichmäßiger Beschäftigung und schlechter Ausnutzung der Anlagen führen, — werden gemildert, oder gar ganz aufgehoben. Eine geschickte Produktionspolitik, die eine möglichst gleichmäßige Erzeugung in den Hauptwerken herbeizuführen sucht, und den außergewöhnlichen Bedarf durch kleinere Spitzenwerke deckt, eine großzügige Absatzpolitik, die sich für die sogenannten Vacuen selbst Abnehmer schafft [S. 319] oder erzieht, können den wirtschaftlichen Effekt wesentlich verbessern. Ein neuer Standort für Industrien bildete sich im Anschluß an diese Großkraftwerke heraus. Neben den Gewerben, die an den Gewinnungsstätten für Kohle, Erze und sonstige industrielle Rohstoffe sich niedergelassen hatten, neben den Verfeinerungsindustrien in und bei den Großstädten wurden nunmehr auch in der Nähe der Großkraftwerke Betriebe, namentlich chemischer Art (Stickstofferzeugung aus Luft) und metallurgischer Art errichtet, mit dem Zwecke, die billige Kraft auszunutzen. Aber auch dort, wo die Kraft nicht an Ort und Stelle verbraucht werden konnte, sondern transportiert werden mußte — und hier tritt ja der Hauptzweck der Fernkraftwerke in Erscheinung — bedeutete es eine sehr große Ersparnis an Transportkosten, daß die körperlich schwere Kohle nicht mehr auf Schienen- und Wasserwegen an die lokalen Erzeugungsstätten der elektrischen Energie geschafft zu werden brauchte, sondern daß der körperlose Strom in fertigem Zustande sozusagen an die Verbrauchsorte „hinübertelegraphiert“ werden konnte. Ein besonderer Vorteil ergab sich noch insofern, als auch ganz minderwertige Brennstoffe, die einen Transport nicht lohnten, für die Krafterzeugung an ihrem Fundorte noch mit Nutzen verwendet werden konnten.
Derartige Kraftwerke auf Wasser- oder Kohlengrundlage, die nicht immer allergrößten Umfanges waren und vielfach an Ausmaßen hinter einem Unternehmen wie den Berliner Elektrizitätswerken zurückblieben, wenn sie diese auch an technischer und wirtschaftlicher Ökonomie übertrafen, wurden im vorletzten und besonders letzten Jahrzehnt allenthalben in den großen Montanrevieren und an Wasserkraft-Standorten (Niederdruckwerke) errichtet. In Rheinland-Westfalen erstand das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk Hugo Stinnes, das zum Teil unter Ausnutzung der von den Hochöfen entweichenden Gichtgase zum Motorenantrieb eine große Anzahl von Stadt- und Landgemeinden mit Strom versorgte, ferner das Elektrizitätswerk Westfalen, an dessen Gründung die A. E. G. mitwirkte, das aber später in ein rein kommunales Verbandsunternehmen überführt wurde. Auch in Oberschlesien und im Saarrevier wurden von der A. E. G. ähnliche Werke errichtet. In allen deutschen Braunkohlenrevieren traten gleichfalls Montankraftwerke ins Leben, namentlich im rheinischen Braunkohlenrevier, im mitteldeutschen, niederlausitzer und bitterfelder Gebiet. Eines [S. 320] der größten und modernsten waren die Elektrowerke in Bitterfeld, die von der A. E. G. erbaut und später auf die B. E. W., nach deren Abtretung der Berliner Werke an die Stadt Berlin, überführt wurden. Sie wurden auf eine Erzeugungsfähigkeit von mehreren Millionen Kilowattstunden im Jahre eingerichtet. Vor dem Kriege waren zwischen den B. E. W. und der Stadt Berlin Verhandlungen geführt worden, um eine Verlängerung des Vertrages zwischen diesen beiden Parteien unter der Bedingung zu erreichen, daß der Strom für die Berliner Werke aus Bitterfeld bezogen werden sollte. Diese Verhandlungen wurden von den B. E. W. abgebrochen, nachdem sie während des Krieges in den staatlichen Stickstoffwerken in Bitterfeld an Ort und Stelle einen Abnehmer gefunden hatten, der von ihnen 500 Mill. Kwstd. jährlich bezog, während ein anderes Unternehmen, die Elektrosalpeterwerke, einen weiteren Lieferungsvertrag von 250 Mill. Kwstd. jährlich abschloß. Diese Verträge, die einen Stromverkaufspreis von nur 1 Pf. für die Kwstd. vorsahen gegen einen durchschnittlichen Licht- und Kraftpreis der B. E. W. von zuletzt 13,32 Pf., erwiesen sich allerdings später infolge der unerwartet ungünstigen Selbstkostenentwickelung des Braunkohlenbergbaus im Kriege als recht unvorteilhaft für die Elektrowerke, und die Folge davon war, daß die A. E. G. den B. E. W. das Interesse an den Elektrowerken wieder abnahm, um es mit ihren reicheren Mitteln erst selbst zur Reife zu bringen. [2] Auch die preußische Regierung hat bereits mehrere große Fernkraftwerke auf Kohlenbasis errichtet, so das Werk Muldenstein für den Bedarf der Staatsbahnstrecke Dessau-Bitterfeld; ferner ist ein noch größeres Kraftwerk bei Wittenberg im Bau begriffen, das den Bedarf für die Elektrifizierung der Berliner Stadt- und Ringbahn decken soll und daneben mit dem Märkischen Elektrizitätswerk, dem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen des A. E. G.-Konzerns, an dem sich neuerdings die Provinz Brandenburg führend beteiligt hat, einen langjährigen Lieferungsvertrag abgeschlossen hat. In den meisten dieser Dampfkraftwerke auf Montanbasis wird der Brennstoff auf mechanischen Rosten verfeuert, wobei auch die minderwertigsten Kohlen, die für Heiz- und Brikettierungszwecke unbrauchbar sind, Verwendung finden können. Neuerdings hat man auch mit dem System der Vergasung der [S. 321] Kohle in Generatoren zum Zwecke der Elektrizitätserzeugung gute Erfolge erzielt, ein Gebiet, auf dem wieder die A. E. G. in Gemeinschaft mit einer Reihe anderer Unternehmungen bahnbrechend vorging. Dieses noch der Ausbildung bedürfende System ist deswegen besonders aussichtsreich, weil es einmal die Möglichkeit gibt, den Brennwert der Kohle fast vollständig auszunutzen und ferner eine Verwertung der meisten Nebenprodukte wie Mineralöle, Ammoniak usw. gestattet. Sogar der in Mooren gewonnene Torf läßt sich für die Zwecke der Energieerzeugung mit Nutzen verwenden, wie die vom Siemens-Schuckertkonzern errichtete Überlandzentrale Wiesmoor, die allmählich ganz Ostfriesland, Oldenburg und die anstoßenden Gebiete mit Strom versorgen soll, erwiesen hat. Auf der Grundlage von Wasserkräften wurden namentlich in den süddeutschen Staaten große Stromerzeugungswerke errichtet, so in Bayern das staatliche Walchenseewerk, die Isarwerke, die Ampèrewerke, die Lech-Elektrizitätswerke, in Baden das Murgtalwerk usw. An eine Ausnutzung der großen Wasserkräfte des Oberrheins unter Mitwirkung des Reiches wird demnächst herangegangen werden.
Emil Rathenau hat den Problemen der Großkraftversorgung in den letzten Jahren seines Lebens lebendige und fast jugendliche Anteilnahme entgegengebracht. Greisenhafte Müdigkeit oder jene Abgeklärtheit des Alters, die von Werner v. Siemens Besitz ergriff, waren ihm gänzlich fremd. Er, der Zeit seines Lebens für die private Elektrizitätswirtschaft eingetreten war, der er die Sphäre seiner Leistung und den Erfolg seines Lebens verdankt, besaß Elastizität genug, um umzulernen, als die Verhältnisse sich änderten und über die Grenzen hinauswuchsen, die der privaten Erzeugung gezogen werden. Die fachliche und sachliche Einsicht, daß die Tendenz, ganz große Elektrizitätswerke zu errichten, nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen zu stark geworden sei, als daß sie mit der denkbar größten Leistungssteigerung privater Werke noch dauernd hätte aufgehalten werden können, genügte, um diesen Realpolitiker umzustimmen und ihm neue Gedankengänge zu eröffnen. Als ich Rathenau im Mai 1914 aufsuchte, nachdem er von schwerer Krankheit scheinbar genesen, seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, sah er mich aus seinen hellfragenden, klugen Augen ganz wie früher an. Er war durchaus mitten im Strom lebendiger Probleme [S. 322] und als ich neben anderen Fragen, auch die eines Elektrizitätsmonopols streifte, war ich erstaunt, von ihm Ansichten zu hören, die ich dem alten Privatindustriellen am wenigsten zugetraut hätte. Ich habe damals unter dem frischen Eindruck seiner Darlegungen ihren Gedankengang folgendermaßen aufgezeichnet:
„Der ganz billige Strom, wie wir ihn zu Kraftzwecken unbedingt brauchen, kann nur in Betrieben hergestellt werden, die über das Ausmaß auch unserer bisherigen größten Zentralen weit hinausgehen. Die Stadt Berlin verbraucht im Jahre alles in allem zurzeit vielleicht 300 Millionen Kilowattstunden, der preußische Eisenbahnfiskus dagegen dürfte auf seiner einzigen kleinen elektrischen Vollbahnstrecke Dessau-Bitterfeld bei vollem Betriebe fast das Doppelte an Strom verbrauchen. Es ist also durchaus natürlich, daß der preußische Staat, zumal bei einer fortschreitenden Elektrifizierung der Vollbahnen, Kraftwerke bauen muß, die in bezug auf die Leistungsfähigkeit selbst die größten lokalen Werke und Überlandzentralen weit übertreffen werden. Da nun die Herstellungskosten des Stromes sich mit der Größe der Anlagen und der produzierten Menge progressiv verringern, da andererseits aber die staatlichen Werke ihre Kapazität sowie die für einen regelmäßigen Bahnbetrieb unumgänglich notwendige Reservekapazität nicht und vor allem nicht zu jeder Zeit voll ausnutzen können, ist es natürlich, daß sie dazu übergehen, und auch schon dazu übergegangen sind, Strom an Private abzugeben. Bereits kürzlich hat eines der staatlichen Werke auf dem Wege der Submission ein Stromkontingent von ca. 30 Mill. Kilowattstunden ausgeboten. Wenn wir in unseren lokalen Elektrizitätswerken den Strom uns dadurch billiger schaffen können, daß wir ihn von einem staatlichen Riesenwerk beziehen, so sehe ich gar keinen Grund, warum wir uns eigensinnig gegen einen derartigen Verzicht auf eigene Erzeugung sperren sollen. Wir beziehen dann einfach Strom statt Kohlen und benutzen die lokalen Anlagen für Stromverteilungszwecke. Die technischen Möglichkeiten der Stromherstellung im großen sind beinahe unbegrenzt. Es wäre durchaus möglich, daß der ganze Bedarf Europas an elektrischer Energie an einem Orte hergestellt würde und die elektrische Fernübertragung wäre durchaus imstande, diesen zentral hergestellten Strom über ganz Europa und noch weiterhin zu versenden. Natürlich wird es in der Praxis zu einer derartigen intensiven Konzentrierung der Stromherstellung [S. 323] nicht kommen. Immerhin aber wird man voraussichtlich über die jetzige Dezentralisation und Verzettelung hinausstreben müssen. Ein Reichsmonopol allerdings ist für Deutschland wohl kaum noch durchführbar, nachdem Einzelstaaten wie Bayern und Baden bereits mit Hilfe ihrer Wasserkräfte durch Errichtung riesiger Werke ihre Stromproduktion auf dem Wege der einzelstaatlichen Gesetzgebung geregelt haben. Wohl aber wäre es denkbar, daß man für Preußen zu einer monopolistischen Gestaltung der Stromerzeugung unter staatlicher Führung oder Mitwirkung gelangte. Das notwendige Korrelat für eine derartige großzügige Regulierung der Stromproduktion müßte allerdings ein Enteignungsgesetz für die Zwecke elektrischer Anlagen, besonders für Kabelführungen durch private und öffentliche Grundstücke bilden. Heute sind, um derartige Durchführungen zu ermöglichen, komplizierte Privatverträge erforderlich, die oft durch kleinliche Motive erschwert werden.“
Es waren keine Projekte und spekulativen Phantasien, wie sie Rathenau manchmal aus irgend einer Stimmung heraus entwickelte, um sie ebenso schnell wieder zu vergessen. Diese Darlegungen gaben wohldurchdachte Anschauungen wieder, die sich bei ihm und seinem Kreise über die Fortführung einer Hauptrichtung ihres Gewerbes gebildet hatten und deren systematisch-theoretische Durcharbeitung auch bald danach von Mitgliedern dieses Kreises in Angriff genommen wurde. Anfang 1915 veröffentlichte Dr. ing. Gustav Siegel in den Preußischen Jahrbüchern unter dem Titel „Der Staat und die Elektrizitätsversorgung“ eine Arbeit, in der er den von Rathenau entwickelten Plan mit einem ausführlichen Zahlen- und Datenmaterial zu begründen und die Tatsache, daß die Reichszuständigkeit für das vorgeschlagene Monopol durch Präjudiz in verschiedenen Einzelstaaten behindert werde, durch den Vorschlag der Bildung eines Reichselektrizitätsverbandes zu überwinden suchte. Rathenau selbst schrieb dem Aufsatz ein kurzes Vorwort, in dem er sich zu dem Grundgedanken zustimmend äußerte. Drei Gesichtspunkte stellte er darin in den Vordergrund: Einmal Befriedigung des Verbrauchs zu niedrigen Strompreisen, zweitens die Schaffung neuer Einnahmequellen für den Staat und drittens die wenigstens teilweise Erhaltung des Tätigkeitsgebietes für die bisherigen Träger des Elektrizitätsgebietes. Rathenau schrieb:
„Die seit einer Reihe von Jahren gepflogenen Erörterungen über die seitens des Staates gegenüber der Elektrizität einzunehmende Haltung haben durch das starke Bedürfnis nach Erhöhung der Staatseinnahmen einen neuen Anstoß erhalten. Wenn die auf diesem Gebiete gestellte Aufgabe eine zweckmäßige Lösung finden soll, ist darauf Bedacht zu nehmen, unter Befriedigung des Verbrauchs zu niedrigen Strompreisen dem Staate in der Elektrizität eine Quelle zu neuen Einnahmen zu schaffen, indem ihm nicht über das unvermeidliche Erfordernis hinaus Aufgaben und Lasten auferlegt werden und den bisherigen Trägern der Elektrizitätsunternehmungen die Tätigkeit vorbehalten bleibt, in der sie sich Jahrzehnte hindurch bewährt haben. Einen zu diesem Ziele führenden Weg scheint mir der Verfasser der Arbeit „Der Staat und die Elektrizitätsversorgung“ zu weisen, indem er empfiehlt, die elektrische Arbeit an den Energiequellen durch staatliche Großkraftwerke zu erzeugen und den Strom mit einem durch die wirtschaftlichere Erzeugung ermöglichten Gewinn den Stromverteilungsunternehmen zu überlassen, die die für sie erforderlichen Leitungsnetze anschließen und betreiben. Diesem Grundgedanken der mir vorliegenden Arbeit pflichte ich durchaus bei. Ohne zu den Ausführungen im Einzelnen Stellung zu nehmen, möchte ich die eine Bemerkung hinzufügen, daß der von dem Verfasser empfohlene Reichs-Elektrizitätsverband, der die von den Einzelstaaten zu betreibenden Großkraftwerke zusammenfassen soll, dahin ausgestaltet werden könnte, daß er die gesamten Einnahmen aus dem Stromabsatz der Elektrizitätswerke einzieht und nach Entschädigung der Einzelstaaten für die von ihnen gemachten Aufwendungen und nach ihrer angemessenen Beteiligung an den Überschüssen den verbleibenden Ertrag an das Reich zur Befriedigung des hier am dringendsten fühlbaren Bedürfnisses nach neuen Einnahmen abführt.“
Siegel selbst sucht in seiner Arbeit nachzuweisen, daß die für ein Elektrizitätsmonopol zumeist vorgebrachten Gründe, soweit sie den Schutz der Verbraucher vor einer Vergewaltigung und Ausnutzung durch private Elektrizitätsmonopole wie den Schutz der Installateure vor einer Ausschaltung durch den überlegenen Wettbewerb der Fabrikationsgesellschaften betreffen oder im Interesse der politischen und militärischen Macht des Staates über die Kraftquelle der Zukunft vorgebracht werden, nicht zwingend genug seien. Wenn [S. 325] er trotzdem einer Zentralisation der Stromerzeugung und im gewissen Sinne auch der Stromverteilung zustimmt, so tut er dies lediglich aus Gründen der technischen und wirtschaftlichen Ökonomie.
„Es handelt sich darum, unmittelbar an ergiebigen Kraftquellen, an den Fundstätten der Brennstoffe, an den Wasserkräften, den Torfmooren, oder wo sonst sich billige Betriebsstoffe in ausreichender Menge finden, Elektrizitätserzeugungsstätten größten Umfangs zu errichten und sie durch ein nach einem einheitlichen Plane ausgebautes Hochspannungsnetz zu verbinden , das sich über das ganze Reich erstrecken und den Ausgleich aller verfügbaren und benötigten Elektrizitätsmengen bilden soll. Diese Aufgabe stellt sowohl in finanzieller wie organisatorischer Hinsicht schwierige Probleme, die zwar auch ohne Mithilfe des Staates vielleicht im Laufe von Jahrzehnten überwunden werden könnten, die aber durch sein Eingreifen schneller , zuverlässiger und vollständiger einer glücklichen Lösung entgegengeführt würden.“
Siegel untersucht die Möglichkeiten und Bedingungen der einzelnen Vorschläge, auf Grund deren eine Vereinheitlichung der Elektrizitätserzeugung unter Wahrung der Interessen des Staates, der Verbraucher und der Erzeuger durchgeführt werden könnte. Ein lediglich kontrollierendes Elektrizitätsschutzgesetz, das keine wirtschaftliche oder technische Umgestaltung der Verhältnisse, sondern nur eine Abwägung der Interessen aller beteiligten Kreise durch Zuweisung der Kontrolle an den Staat, Festlegung günstiger Bezugsbedingungen für den Konsum, und Beseitigung der Wege- und Leitungsschwierigkeiten für die Stromerzeugung auf dem Wege staatlicher Gesetze und Verwaltungsnormative herbeiführen würde, lehnt er aus zwei Gründen ab. Es würde einen Hemmschuh für die freie Entwicklung der immerhin von starken Konkurrenzen, wie dem Gas, dem Petroleum, dem Treiböl bedrängten Elektrizitätserzeugung bedeuten und dem Staate keine Erträgnisse zuführen. Auch ein derartiges Schutzgesetz, verbunden mit einem finanziellen Nutzen für den Staat, wird als unsachgemäß bezeichnet. Denn eine Regelung, die darin bestehen würde, die Erzeugung des elektrischen Stromes in den bisherigen Händen, also denen der Privatindustrie, der kommunalen und der gemischt-wirtschaftlichen Werke zu belassen, um den Staat an ihr nur durch das Recht der Konzessionserteilung sowie [S. 326] durch Anteile am Umsatz, Gewinn oder sonstige Abgaben zu beteiligen, würde letzten Endes auf eine Elektrizitätssteuer hinauslaufen, wie sie gelegentlich der Reichs-Finanzreform von 1909 bereits einmal vorgeschlagen, aber abgelehnt worden war. Eine solche Steuer-Ordnung müßte, da sie die betriebliche Ökonomie der Elektrizitätsindustrie nicht verbessern, sondern die bisherigen Methoden der Erzeugung beibehalten würde, infolge der den Werken aufgebürdeten neuen Lasten eine Erhöhung der Selbstkosten und dadurch eine Steigerung der Strompreise im Gefolge haben, während doch umgekehrt die Bedürfnisse der Konsumenten — und zwar mit berechtigtem Nachdruck — gerade auf eine Ermäßigung der Strompreise hindeuten. Eine solche fiskalische Methode würde letzten Endes auch den Interessen des Staats zuwiderlaufen, da eine Verteuerung der Strompreise oder auch nur eine Erhaltung des jetzigen, den Möglichkeiten der neuzeitlichen Technik nicht mehr entsprechenden Preisniveaus die Einnahmen, die der Staat aus der Elektrizitätsregelung erwartet, schmälern oder doch jedenfalls den von der Zukunft erhofften Zuwachs stark herabmindern würde.
Eine dritte — die radikalste — Möglichkeit bestünde darin, halbe Maßnahmen jeder Art zu vermeiden, und sofort an die gesamte Monopolisierung der Elektrizitätserzeugung und -Verteilung heranzugehen. Diese Forderung besticht durch ihre staatssozialistische Entschiedenheit und wird insbesondere von politischen Schriftstellern, aber technischen Laien erhoben, die damit die Ausschaltung der Privatindustrie am gründlichsten herbeiführen, die staatlichen Einnahmen am stärksten steigern zu können meinen. Siegel geht davon aus, daß der Staat nur die öffentlichen Elektrizitätswerke mit einer nutzbaren Stromabgabe von 2,8 Milliarden Kilowattstunden, nicht die viel umfangreicheren Einzelanlagen privater Erzeuger, mit der viel größeren Stromabgabe von 10 Milliarden Kwstd. erwerben würde und erwerben könnte. Der Erwerb der unzähligen, auf die einzelnen Verbraucherbetriebe zugeschnittenen Privatanlagen käme aus betrieblichen wie finanziellen Gründen nicht in Betracht. Er würde dem Staat eine zersplitterte, statt einer zentralisierten Elektrizitätswirtschaft aufhalsen und das Anlagekapital auf weit über 6 Milliarden Mark steigern. Bereits bei der Übernahme der 4000 öffentlichen Elektrizitätswerke müßte das aufzuwendende [S. 327] Kapital 2,9 Milliarden Mark betragen, und bei einem daraus zu erzielenden Reinertrag von 167 Milliarden Mark würde für den Staat nach Abzug der Zinsen von 4½% für das Anlagekapital ein frei verfügbarer Überschuß von nur 37 Milliarden Mark verbleiben. Das sei bei einem so riesigen Anlagekapital ein viel zu geringer Ertrag. Die ganze Konstruktion eines solchen Monopols wäre aber weder vom Standpunkte des Produzenten, noch von dem des Konsumenten, noch schließlich auch von dem der Staatswirtschaft aus fortschrittlich, sondern würde eher Keime zur Stagnation, oder gar zum Rückschritt in sich tragen. Die Übernahme der vielen verschiedenartigen, teils veralteten, teils halbmodernen, teils modernen Erzeugungsstätten zu ihrem Gegenwarts- oder Vergangenheitswerte durch den Staat müßte den Übergang zu einer wirklich zeitgemäßen Großerzeugung in wenigen billig arbeitenden Zentralwerken erschweren, infolgedessen einer Ermäßigung der Strompreise entgegenstehen, den Wettbewerb der privaten Einzelanlagen und der übrigen konkurrierenden Kraftquellen stärken, der Zukunftsentwicklung der Elektrizitätswirtschaft den Weg verlegen und somit auch den — an sich schon geringen — staatlichen Ertrag des Elektrizitätsmonopols gefährden. Siegel kommt infolgedessen auf Grund seiner theoretischen Gründe und praktischen Berechnungen zu der Empfehlung des oben erwähnten gemischten Systems, bei dem der Staat, ohne sich mit der Übernahme und Bezahlung alter und veralteter Werke zu belasten, nur die zentralen Hauptkraftwerke an den Standorten der Wasserkräfte, der Kohlenläger, der Torfmoore usw. errichten, diese untereinander und mit den bestehenden öffentlichen Privatwerken durch Hochspannungsanlagen verbinden und die letzteren als Verteilungs- und Reserveanlagen in Privatbetrieb weiter bestehen lassen würde, soweit er es nicht für zweckmäßig erachtete, einige ganz besonders moderne Anlagen, die den Anforderungen zentraler Erzeugung entsprechen, zur Beschleunigung und Erleichterung seiner Produktionsaufnahme zu erwerben. Die Privatwerke sollen bei diesem System durch die vorteilhafte Preisstellung der Zentralwerke veranlaßt werden, von diesen den Strom zu besseren Bedingungen zu beziehen, als sie ihn selbst in ihren eigenen Werken herstellen könnten. Besonders leistungsfähige Privatwerke sollen aber auch berechtigt werden, an staatliche Fernleitungen elektrische Kraft zu liefern, sofern sie dies zu gleichen Preisen wie die [S. 328] Staatswerke zu tun vermöchten. Einen gesetzlichen Zwang für die Privatwerke, Strom von den Staatszentralen zu beziehen, will Siegel nicht schaffen, er erwartet die allmähliche freiwillige Zentralisation vielmehr von den Vorteilen des billigeren Bezuges. Die Verteilung des Stroms soll wie bisher in den Händen der privaten, kommunalen und gemischt-wirtschaftlichen Unternehmungen verbleiben, die dadurch in die Lage versetzt würden, für ihre Anlagen weitere Beschäftigung und für ihre Kapitalien weitere Verzinsung zu finden, die auch besser als der Staat in der Lage seien, für die Ausdehnung des Stromabsatzes werbend tätig zu sein. Die Träger der staatlichen Unternehmung sollen die Bundesstaaten sein, die sich ähnlich wie bei den Eisenbahnen zu einem „Reichs-Elektrizitätsverband“ zusammenschließen müßten.
Siegel errechnet bei einem Kapitalaufwand des Staates für den ersten Ausbau der Fernleitungszentralen von 400 Millionen Mark, bei einem durchschnittlichen Selbstkostenpreis von 1 Pfennig pro Kwstd. und einem Verkaufspreis von durchschnittlich etwa 2,6 Pfennig auf Grund einer jährlichen Verkaufsmenge von 6 Milliarden Kwstd., einen Reinüberschuß des Staates von 60 Millionen Mark. Hinsichtlich der Zukunftsentwicklung legt Siegel seiner Phantasie keine Zügel an. Er schreibt:
„Nach einem weiteren Ausbau wird eine nutzbare Abgabe von etwa 12 Milliarden Kilowattstunden in Frage kommen; die Zahl der Kraftwerke dürfte sich dann auf etwa 35 erhöht haben. Die Gesamtkosten betragen mit einem entsprechend erweiterten Ausbau der Hochspannungsleitungen etwa 650 Millionen Mark. Unter ähnlichen Verhältnissen wie beim ersten Ausbau läßt sich selbst unter Verringerung des Verkaufspreises noch ein Reinüberschuß von etwa 90 Millionen Mark für den Staat erzielen. Es dürfte auf diese Weise möglich sein, vielleicht im Laufe eines Jahrzehnts einen großen Teil des gesamten Kraftbedarfs Deutschlands, der einschließlich der Eisenbahnen weiter oben auf etwa 80 Milliarden Kilowattstunden geschätzt wurde, aus den staatlichen Kraftwerken zu liefern, selbstverständlich unter entsprechender Erhöhung der Reineinnahme des Staates.“
Während sich Siegels Untersuchung auf eine Zusammenstellung der wirtschaftlichen Grundgedanken des Problems beschränkt und die technischen wie statistischen Nachweise, sofern sie [S. 329] überhaupt gegeben sind, in einer gewissen al fresco-Manier behandelt werden, hat sich Professor Georg Klingenberg , Direktor und Leiter der Abteilung Elektrizitätswerke der A. E. G., mit einer statistisch wie technisch sorgfältig durchgeführten Studie in einem Vortrag, den er unter dem Titel „Elektrotechnische Großwirtschaft unter staatlicher Mitwirkung“ [3] in Frankfurt a. M. hielt, mit derselben Frage beschäftigt. Der Gedankengang seiner Ausführungen ist genau derselbe wie bei Dr. Siegel, kleine Abweichungen brauchen hier nicht hervorgehoben zu werden, auf technische und ökonomische Details, so lehrreich sie auch sein mögen, kann ich im Rahmen dieses Buches leider nicht eingehen. Interessant sind aber die Ergebnisse, zu denen Klingenberg kommt. Er faßt sie in folgenden Leitsätzen zusammen:
1. Die Zusammenfassung großer Gebiete zu einer einheitlichen und großzügigen Elektrizitätswirtschaft läßt sich mit dem heutigen System der Einzelanlagen nicht erreichen. Nur der Staat ist imstande, die entgegenstehenden rechtlichen Schwierigkeiten zu beseitigen; hieraus folgt die Notwendigkeit des staatlichen Eingriffs.
2. Es empfiehlt sich nicht, den staatlichen Betrieb auch auf die Verteilung elektrischer Arbeit zu erstrecken. Die Verteilung muß vielmehr Sache derjenigen bleiben, die sie heute schon besorgen. Der Staat muß sich auf die Erzeugung des Stromes und die Verkupplung der Kraftwerke durch Hochspannungsleitungen beschränken.
3. Das Übergewicht großer Werke gegenüber mittleren und kleinen entsteht durch die geringeren Erzeugungskosten des Stromes, durch die Ausnutzung billiger Brennstoffe und vor allem durch die Verkupplung der Werke, die zur Verbesserung des Ausnutzungsfaktors und zur Verminderung der Reserven führt. Diese Vorteile werden durch die erhöhten Umformungs- und Fortleitungskosten zwar vermindert, als Endergebnis bleibt jedoch eine ziffernmäßige Überlegenheit des staatlichen Betriebes.
4. Es werden Untersuchungen über die gegenseitigen Versorgungsgrenzen mehrerer mit verschiedenen Brennstoffen arbeitender Großkraftwerke angestellt.
5. Ein staatlicher Wettbewerb mit den bestehenden großen und mittleren Werken würde zu einem Mißerfolg führen. Der Staat kann deshalb nur auf dem Wege vorgehen, daß er die bestehenden [S. 330] Werke als Abnehmer zu gewinnen sucht. Für die bereits vorhandene Erzeugung ist dies nur teilweise möglich, dagegen läßt sich der Zuwachs fast restlos für die staatlichen Werke sichern.
6. Der Staat muß zu diesem Zwecke eine Anzahl von Großkraftwerken an geeigneten Stellen errichten, sie mit 100000 Volt-Leitungen untereinander verbinden, und an diese Umformerwerke anschließen, die zur Versorgung der Verteilungsorganisation dienen. Die Einführung einer Reihe von technischen Normalien ist hierbei wünschenswert.
7. Es muß ferner eine einheitliche staatliche Organisation für diese Aufgaben geschaffen werden.
8. Unter Voraussetzung der zu erwartenden Entwicklung darf für das Jahr 1926 mit folgenden Zahlen für Preußen gerechnet werden:
Gesamte Erzeugung der staatlichen Werke 10 Milliarden Kwstd.
Anlagekapital 900 Millionen Mark.
Jährlicher Reingewinn 41 Millionen Mark.
9. Weitere Einnahmen lassen sich nur durch eine Besteuerung erzielen. Von den vielen möglichen Steuerformen empfiehlt sich eine unmittelbare Besteuerung der Beleuchtungselektrizität und des Beleuchtungsgases in Höhe von 10 v. H. des Rechnungsbetrages und eine mittelbare durch Besteuerung der Kohle . Insgesamt wird ein Erträgnis aus der Elektrizitätswirtschaft und den Steuern für 1926 von 320 Millionen Mark errechnet.
Die Arbeit Klingenbergs hat in der Fachwelt manche Kritik hervorgerufen. Insbesondere hat sich der Direktor des Städtischen Elektrizitätswerkes in Kiel, Dr. Voigt , in der Hauptversammlung der Vereinigung der Elektrizitätswerke, die im wesentlichen die kommunalen Werke umfaßt, gegen die Vorschläge Klingenbergs gewandt, denen er das uneingestandene Motiv unterlegte, daß die Elektrizitätsindustrie sich eine gute Geschäftskonjunktur durch die Aufträge, die die Errichtung der neuen staatlichen Elektrizitätszentralen mit sich bringen würde, schaffen wolle. Er nannte im besten Falle die Erträgnisse des Monopols für den Staat sehr bescheiden, erwartete sogar im Gegensatz zu Klingenberg Fehlbeträge und fürchtete Nachteile für die Kommunen, deren Gasbetriebe durch das Monopol nicht weniger beeinträchtigt werden würden als die Elektrizitäts [S. 331] betriebe. „Die Aufgabe der staatlichen Großkraftwerke sei letzten Endes auf die Stillsetzung der Ortskraftwerke gerichtet. Damit werde eine große Zahl von Trägern selbständigen Lebens und selbständiger Wirtschaft zugunsten einer Zentralisation ausgeschaltet, deren technisch-wirtschaftliche Notwendigkeit nicht bewiesen sei.“ Auf die Dauer werde neben der staatlichen Elektrizitätserzeugung eine private oder gemeindliche Gaswirtschaft nicht bestehen können, deren Verstaatlichung würde — wenn die Ergebnisse des Elektrizitätsmonopols gut seien, aus dem Wunsch nach weiteren finanziellen Einnahmequellen heraus, wenn sie schlecht seien, aus dem Wunsch nach ihrer Verbesserung heraus — bald folgen und schließlich würde der Staat auch die Urquelle beider Kräfte, die Kohle, mit Beschlag belegen. Die Klingenbergschen Pläne zielten auf eine äußere und einseitige Zusammenfassung der im Lande gebrauchten elektrischen Kräfte hin, während die natürliche Entwicklung auf eine wirtschaftliche Sammlung aller an ein und demselben Ort vorhandenen Energiemengen (offenbar durch die Kommunen. Der Verf.) gerichtet sei.
Klingenberg hat auf die Darlegungen Voigts geantwortet und die Überzeugung ausgesprochen, daß die technisch mögliche Modernisierung und Verbilligung der Stromerzeugung in zentralen Großkraftwerken, die nach Voigts Ansicht ganz von selbst sich vollziehen werde, nur durch staatliche Mitwirkung gelöst werden könne. Nur durch den Staat, der allein die Macht hierfür besitze, würden sich die politischen Grenzen zwischen den einzelnen Wegeberechtigten und deren partikularistische Eigeninteressen soweit überwinden lassen, daß Großkraftwerke geschaffen werden könnten. Von den bestehenden Werken weisen nur ganz wenige befriedigende Ausnutzung auf. Das gelte insbesondere von den städtischen Werken, die in ihrer bisherigen Entwickelung nur sehr langsam auf die industrielle Versorgung eingegangen seien. Die Werke — auch die meisten großstädtischen — seien viel zu klein, um größere Industrien wirtschaftlich versorgen zu können. Aber nur durch die Einbeziehung industriellen Anschlusses, nur durch die möglichst weit getriebene Vermischung eines verschiedenartigen Verbrauches ließen sich die höchstmöglichen wirtschaftlichen Vorteile erzielen, und so gute Ergebnisse erreichen, wie sie durch die besten städtischen Belastungen, nämlich die Straßenbahnen, erzielbar seien. Damit würden die Erzeugungskosten auf einen Bruchteil der bisherigen heruntergehen.
Zu dieser Kontroverse ist zu sagen, daß der rein technisch-ökonomische Kern des Klingenbergschen Vorschlages zweifellos richtiger und überzeugender ist als die von allen möglichen außerwirtschaftlichen, kommunalpolitischen und partikularistischen Gesichtspunkten beeinflußte Gegenargumentation Voigts, womit aber nicht gesagt werden soll, daß in dieser Angelegenheit nur der technisch-ökonomische Gesichtspunkt Beachtung verdient, wenn er zweifellos auch den wichtigsten Faktor des Problems darstellt.
Dennoch werden auch die Klingenbergschen Vorschläge oder vielmehr Ergebnisse, an den hohen Erwartungen gemessen, mit denen man auf Grund der großzügigen Perspektiven Rathenaus der Lösung der Monopolfrage entgegensah, manch einen etwas enttäuscht haben. Klingenberg, der seine Rechnung nur für Preußen aufgestellt, gelangt auf Grund eines von den Staatswerken gedeckten Stromverbrauchs von 10 Milliarden Kwstd. und bei einem Anlagekapital von 900 Millionen Mark für das Jahr 1926 zu einem jährlichen Reingewinn von 41 Millionen Mark. Siegel berechnete den in ganz Deutschland durch Staatswerke zu deckenden Stromverbrauch nach Fertigstellung der von ihm vorgeschlagenen Anlagen auf 6 Milliard. Kwstd. und kam bei einem Anlagekapital von 400 Mill. M. auf 60 Mill. M. jährlichen Reingewinn. Sind Klingenbergs Berechnungen richtig, so folgt daraus, daß jene Siegels — auf die Kilowattstunde berechnet — viel zu optimistisch waren. Die Klingenbergschen Ergebnisse, die wohl als besser fundiert gelten müssen, können aber vom Standpunkte der Staatsfinanzwirtschaft betrachtet, nicht sehr befriedigen. Er will im Jahre 1926 — also erst nach einem Jahrzehnt — dem Staate eine Einnahme von 41 Millionen Mark zuführen, muß aber zu diesem Zwecke in einer Zeit, in der Kapital sehr knapp sein wird, 900 Millionen Mark investieren. Auch ihm selbst haben offenbar die finanziellen Resultate, die sich allerdings nach Überwindung des Übergangsstadiums, nach Amortisierung der alten, jetzt noch im lokalen Verteilungsprozeß mitzuschleppenden Werke wesentlich erhöhen dürften, nicht genügt. Darin liegt denn offenbar auch der Grund, daß er seinen Vorschlag mit einer Besteuerung der Beleuchtungselektrizität und des Beleuchtungsgases — die ja vom Standpunkt der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf dem Weltmarkte vielleicht nicht gefährlich, aber vom Standpunkt der Verbraucherinteressen doch bedauerlich wäre — verknüpft, daß [S. 333] er auch die zweifellos auf einem ganz anderen Blatte stehende Besteuerung der Kohle mit heranzieht, und ihr sogar den Hauptanteil (200 Millionen Mark) an seiner mit 320 Millionen Mark balanzierenden „Finanzreform“ aufbürdet. [4]
Die Frage der Reichskonzentration, die recht schwierig geworden ist, nachdem Bayern und Sachsen bereits selbständig Wege beschritten haben, wie sie Klingenberg vorgeschlagen hat, wird von diesem gar nicht behandelt, während sie von Siegel mit dem Wort Reichs-Elektrizitätsverband leichthin abgetan worden ist. Ganz so einfach dürfte es ja nicht sein, die Wasser-Elektrizität Bayerns zum Beispiel mit der Kohlen-Elektrizität Preußens auf eine gemeinsame Formel zu bringen, abgesehen davon, daß gerade die größeren Bundesstaaten nicht ohne weiteres bereit sein werden, ihre Elektrizitätskompetenzen auf das Reich übergehen zu lassen oder auch nur Teile davon in eine Reichs-Elektrizitätsgemeinschaft einzubringen.
Nach alledem kommen wir zu dem Ergebnis, daß der Gedanke der zentralen Krafterzeugung der technischen und ökonomischen Folgerichtigkeit nicht entbehrt, daß er aber starke Hemmnisse, die zum Teil aus der Belastung der Gegenwart mit Rudimenten der Vergangenheitsentwickelung, zum Teil aus dem bundesstaatlichen und kommunalen Partikularismus stammen, überwinden muß, ehe er zu voller Wirkung und Reife erwachsen kann. Die Ernte dieses fruchtbaren Gedankens wird erst in der Zukunft gepflückt werden [5] . Viel wird dabei auf die Frage ankommen, welche Entwickelung in den nächsten Jahren das Vollbahnenproblem nehmen wird. Geht der Staat nach dem Kriege in verstärktem Tempo zur Elektrifizierung der Vollbahnen über, wie das allerdings nach den Erfahrungen des militärischen Verkehrs und bei der starken Verschuldung aller kriegführenden Staaten nicht gerade erwartet werden kann, so würden [S. 334] zur Deckung des Strombedarfs für die Bahnen sowieso riesige Zentralstromwerke errichtet werden müssen, die ganz natürlich zur Unterbringung ihrer überschüssigen Kapazitäten versuchen würden, auch andere Großabnehmer an sich zu ziehen. Daß auch der preußische Staat in solchem Falle danach streben würde, diese Tendenz durch ein Strommonopol zu unterstützen, erscheint naheliegend. Ebenso ist damit zu rechnen, daß sich bei einer solchen Entwickelung, wenn nämlich die Anlageinvestitionen sowieso vorgenommen werden müßten, und zur Deckung des zusätzlichen Absatzes an Private nur vergrößert zu werden brauchten, die Erträgnisbedingungen für das Staatsmonopol wesentlich verbessern würden. Je stärker nämlich in der Zusammensetzung von neuem Bedarf (für die Bahnen) und von altem Bedarf (für bestehende Verteilungsanlagen) der neue Bedarf, bei dem eine Verzinsung und Amortisierung alter Anlagen nicht mehr in Betracht kommt, dominieren würde, desto stärker und ungestörter würden sich in der Monopolwirtschaft die technischen und ökonomischen Wirkungen und Vorteile des Großkraftwerk-Betriebes ausprägen können. In jedem Falle, ob nun die Elektrifizierung der Vollbahnen das Monopolproblem begünstigen würde oder ob dieses sich ohne eine solche Stütze durchzusetzen hätte, bleibt es fraglich, ob der Monopolgesetzgeber die Frage des Anschlusses der bisherigen privaten Erzeuger — öffentlicher Werke und Einzelanlagen — an das Monopolnetz so ganz von deren freiem Willen abhängen lassen könnte, wie dies sowohl Siegel wie Klingenberg voraussetzen. Das Riesenproblem der Kriegslastendeckung wird vielleicht tiefere Eingriffe in das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der Privaten erforderlich machen und insbesondere dürfte ein Elektrizitätsmonopol sich nicht damit begnügen, den viel geringeren Teil der Elektrizitätserzeugung zu erfassen, der in den öffentlichen Werken vereinigt ist, und den weit größeren Teil frei zu lassen, der in den Einzelanlagen zum Ausdruck kommt. Gewiß ist für manche Unternehmer die Versorgung durch Einzelanlagen, trotz der an sich höheren Produktionskosten des Stroms in meist kleinen und oft unmodernen Betrieben infolge der Ersparnis der Kosten des Leitungsnetzes vorteilhafter als der Bezug aus einer öffentlichen, wenn auch ganz modernen Zentrale. Es wird aber auch Fälle geben, in denen, namentlich bei günstiger Lage der Zentralen, das Gegenteil zutrifft. Will man aber [S. 335] schon den Besitzer einer bereits bestehenden Privatanlage um der Kapitalien willen, die er in seine Zentrale gesteckt hat, nicht zwingen, vom Staatsnetz teureren Strom zu beziehen, als er ihn sich in seiner eigenen Anlage selbst herstellen könnte, so fällt doch diese Rücksicht fort bei dem Unternehmer, der erst eine Privatanlage schaffen oder eine schon bestehende erweitern will. Ihm schmälert man kein wohlerworbenes Recht, wenn man ihn durch gesetzlichen Zwang oder durch Prohibitiv-Steuer veranlaßt, seinen Strombedarf bei den Staatswerken zu decken. Die Furcht Klingenbergs, daß dann ein Teil der Industrie wieder von der elektrischen Kraftübertragung zur Dampftransmission zurückkehren würde, erscheint mir kaum begründet. Der ganze Zusatzbedarf jedenfalls, gleichgültig ob er sonst durch öffentliche Werke oder private Einzelanlagen gedeckt werden würde, gebührt dem Monopol. Erst dann kann dieses auf die große und einträgliche Neubeschäftigung rechnen, die ihm die Grundlage für eine sichere und ergiebige Gewinn-Kalkulation bietet.
Wenn man der Stellungnahme Rathenaus und seines Kreises für das Elektrizitätsmonopol in der oben geschilderten Art neben den objektiven, volkswirtschaftlichen Gründen auch so etwas wie ein subjektives, sozusagen — im erlaubten Sinne — eigennütziges Motiv unterlegen wollte, so könnte es im folgenden liegen: Der kluge Realpolitiker, der sich bei allem Gedankenschwung nie an Unmöglichkeiten klammerte, dessen Stärke darin bestand, immer nur zu wollen, was er konnte, hatte wohl erkannt, daß die Tendenz zum Staatsmonopol so stark sei, daß ihr auf die Dauer nicht Widerstand zu leisten war. Gewisse Widerstände, denen Konzessionsanträge von Privatgesellschaften für Großkraftwerke seit einiger Zeit bei der Regierung begegneten, zeigten ihm, daß man dort die Zukunft nicht zu „präjudizieren“, sondern sich die Freiheit des Handelns zu erhalten wünschte. War sich die Privatunternehmung aber einmal klar darüber geworden, daß sie die Zukunft auf dem Gebiete der Stromerzeugung nicht mehr so würde beherrschen können wie die Vergangenheit und zum Teil auch noch die Gegenwart, so war es für sie unklug, sich gegen eine doch unvermeidliche Entwickelung zu sträuben, schließlich besiegt zu werden und unter Bedingungen kapitulieren zu müssen, die sie dann nicht mehr stellen, mit bestimmen oder auch nur beeinflussen könnte. Bis zur Rolle des Expropriierten hat sich Emil Rathenau nie drängen lassen. Er hielt es in solcher Lage für besser, mit den Zukunftsmächten in einem Zeitpunkte zu paktieren, in dem er ihnen noch als Gleichstarker, Ebenbürtiger, in freier Verhandlungs-, Forderungs- und Konzessionsfähigkeit gegenübertreten konnte. Er wollte lieber beizeiten einen Teil seiner Macht und seines Besitzes an Kräfte, deren [S. 337] schließliche Überlegenheit er erkannt hatte, hergeben, um sich durch dieses Opfer den anderen Teil zu erhalten, anstatt später einmal alles zu verlieren. Auf unseren Fall übertragen: Rathenau hielt es für richtiger und vorteilhafter, früh ein Strommonopol vorzuschlagen, auf dessen Konstruktion und Beschaffenheit er bestimmend einwirken konnte, statt schließlich eins nehmen zu müssen, bei dessen Formung und Verwaltung er ausgeschaltet sein würde. Sein Elektrizitätsmonopol mit der Zentralkraftherstellung durch den Staat und der Verteilung durch die bisherigen Privatunternehmer läßt auch deutlich die Aufteilung der Macht, des Besitzes, der produktiven und ertragsfähigen Arbeit zwischen Staat und Privatindustrie erkennen.
Genau nach diesem diplomatischen Rezept hatte sich Rathenau bereits vorher mit einem anderen — kleineren, wenn auch für die Zeit seiner Geltung sehr wichtigen — Problem abgefunden, nämlich dem Problem der kommunalen und sonstigen öffentlich-korporativen Einfluß- und Besitzansprüche auf dem Gebiete der Elektrizitätserzeugung. Die Gefahr war auch hier die völlige Überführung der Stromversorgung und Stromverteilung auf die Gemeinden, Kreise, Provinzen usw. und damit die Expropriierung der Privatindustrie gewesen, die Lösung wurde in der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung gefunden. Diese ist im Verhältnis zum staatlichen Elektrizitätsmonopol, der Betriebs- und Verwaltungsform der Größtkraftversorgung von morgen, das Gewand, das die Großkraftversorgung der letzten Vergangenheit und zum Teil auch noch der Gegenwart sich geschaffen hat. Eine Schöpfung, die im Prinzip bereits wieder überholt und überwunden ist, in der Praxis aber die Verhältnisse gegenwärtig noch stark beherrscht. Ist das Elektrizitätsmonopol die Rechts- und Betriebsform, der die zentrale Fernkraftversorgung zudrängt, so ist die gemischt-wirtschaftliche Unternehmung die typische Rechtsform der Überlandzentrale .
Um die ganze Atmosphäre, die historische Bedingtheit zu verstehen, in der sich die gemischt-wirtschaftliche Unternehmung entwickelte, muß man etwas weiter ausholen und sich kurz die Entwicklung des Staatssozialismus vergegenwärtigen, ehe man sich dem für uns in Betracht kommenden damit verschwisterten Kommunalsozialismus zuwenden und neben dem technischen [S. 338] auch den öffentlich-wirtschaftlichen Wurzelboden der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung verstehen lernen kann.
Eine Zeitlang hat es den Anschein gehabt, als ob der Staats- und Kommunalsozialismus mit raschen Schritten das wirtschaftliche Gebiet mit Beschlag belegen wolle, das den von ihm bereits beherrschten Verwaltungsfeldern benachbart oder verwandt ist. Nachdem das Reich und die Einzelstaaten mit bedeutendem Organisations- und Finanzerfolge die großen Verkehrsmittel, wie Eisenbahnen, Post, Telegraph und Telephon, verstaatlicht hatten, nachdem auch in den Kommunen vielfach mit Erfolg versucht worden war, Anstalten lokaler Ausbreitung und öffentlichen Charakters, wie Straßenbahnen, Schlachthäuser, Wasserwerke, Gas- und Elektrizitätswerke, in eigenen Betrieb zu nehmen, schien die Entwicklung darauf hinzuzielen, die privatwirtschaftlichen Reste innerhalb dieses von der Theorie bereits mit Entschiedenheit für die öffentliche Unternehmung in Anspruch genommenen Gebietes auch praktisch zu verdrängen. Es gab eine Zeit — und sie liegt gar nicht einmal weit zurück —, in der es zum Beispiel für die städtischen Verwaltungsorgane, für die Presse und die Bürgerschaft von Berlin außer Zweifel stand, daß alle Straßenbahnen und Elektrizitätswerke beim Erlöschen der Privat-Konzessionen städtisch werden müßten; in der es das Ziel jeder großzügigen Gemeindepolitik war, alle derartigen Anstalten in kommunale Verwaltung zu bringen, einerseits um die Anstalten den öffentlichen Gesichtspunkten besser und unabhängiger von privaten Unternehmerinteressen dienstbar zu machen, andererseits auch, um die aus den Anstalten erzielten Unternehmergewinne den Kommunen in vollem Umfang zuzuführen.
Der Kreis der für den öffentlichen Betrieb geeigneten Unternehmungen erweiterte sich immer mehr. Die bereits öffentlich betriebenen Gewerbe zogen andere nach sich, die als Hilfsgewerbe für sie wichtig waren. Der preußische Staat errichtete in Westfalen staatliche Kohlenbergwerke, um den Kohlenbezug für seine Bahnen sicherzustellen und sich von der Preisdiktatur des Kohlensyndikats unabhängig zu machen. Das war in einer Zeit, in der die Kartellbildungen noch neu waren und, namentlich was die Roh- und Halbstoffindustrien anlangt, nicht nur bei den Konsumenten, sondern auch bei den Regierenden Beklemmungen erweckten und Gegenwehr erheischten. [S. 339] Den schlüpfrigen Boden eines Kartellgesetzes scheute man sich zu betreten, da man nicht wußte, wie sich die neuen Organisationen entwickeln würden, da man auch fürchtete, für die Gesamtwirtschaft vielleicht fruchtbare (und tatsächlich außerordentlich fruchtbar gewordene) Möglichkeiten durch Bureaukratismus und Polizeimaßregeln zu verbauen. So versuchte man es mit einer indirekten Methode der Sicherung, indem man in staatlichen Konkurrenzwerken Gegengewichte gegen die Überspannung des Unternehmereigennutzes zu schaffen suchte. Aus dieser Stimmung heraus motivierte man die neuen Unternehmungen nicht nur mit den fiskal-wirtschaftlichen Beweggründen der Sicherstellung des Kohlenbedarfs für die staatlichen Bahnen, sondern man stellte sie auch unter die Gesichtspunkte der Wahrung allgemeiner Bürger- (das heißt Verbraucher-)Interessen. Es mag dahingestellt sein, ob man sich damals klar darüber war, wie weit man mit solchen immerhin nur in beschränktem Umfange vorgenommenen Experimenten das angestrebte Ziel überhaupt erreichen konnte, oder ob man mit der Möglichkeit rechnete, diesen Experimenten im Erfolgsfalle eine breitere Basis zu geben, oder ob man vielleicht nur aus einer Stimmung, nicht aus einem durchdachten Plane heraus staatssozialistischen und auch bodenreformerischen Bestrebungen, die sich damals zu einem System gerundet hatten, eine Konzession machen wollte. Jedenfalls griff die staatssozialistische Theorie die vereinzelten Eroberungszüge, die die öffentliche Unternehmung aus dem Gebiet der Kommunikationsmittel in das Gebiet der Produktionsmittel unternahm, sofort begeistert auf und verallgemeinerte sie zu Forderungen, nach denen die Bodenschätze und Bodenwerte eines Landes nicht von einzelnen Unternehmern nach Belieben ausgenutzt werden dürften, sondern im Interesse der Allgemeinheit verwendet werden müßten. Damit war eine Atmosphäre geschaffen, in der es auch im kommunalen Leben als überaus rückständig galt, Unternehmungen öffentlicher Art mit lokal umgrenztem Wirkungskreise privaten Unternehmern zu überlassen.
Es ist aber bald ein Rückschlag eingetreten. Er mußte eintreten, da es sich zeigte, daß staatssozialistische Experimente, auf schmaler Grundlage zaghaft und ohne volle Konsequenz ausgeführt, ohne organische Umbildung des ganzen Wirtschaftslebens auf ungünstige Betriebsbedingungen angewiesen, ohne Monopolrechte dem in vielen Dingen freieren Wettbewerb der Privatunternehmer unter [S. 340] legen, keinen überzeugenden und namentlich keinen schnellen Erfolg haben konnten. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen gelang, weil hier ein Monopol geschaffen wurde, dessen ganze Organisation dem bureaukratischen Apparat entgegenkam und dessen Betrieb mehr die verwaltende als die propagandistische Seite der Kaufmannstätigkeit in Anspruch nahm. Die Ordnung, die Sicherheit, die Einheitlichkeit bedeuteten hier mehr als die bloße geschäftliche Nutzwirkung, die möglicherweise beim Privatbetriebe größer gewesen wäre als beim Staatsbetriebe. Was aber für die Kommunikationsmittel galt, das galt nicht in gleicher Weise für die Produktionsmittel. Die teurere Betriebsweise des Staates, die im bureaukratischen Betriebe wie in der staatssozialistischen Idee begründeten Hemmungen des unternehmerischen Agens, würden auch bei einer vollständigen Verstaatlichung vieler Produktionsmittel (namentlich solcher, die in ihrem Absatzradius nicht auf die Staatsgrenzen beschränkt, sondern auf den Ausfuhrmarkt angewiesen sind) den volkswirtschaftlichen Nutzeffekt der Industrien herabgedrückt haben, ohne daß diese Nachteile auf der anderen Seite durch so große Vorteile wie bei den Eisenbahnen aufgewogen worden wären. Ganz besonders augenfällig mußte diese Unterlegenheit des staatlichen Betriebes in Erscheinung treten, als der Staat auf privatkapitalistischem Boden mit der Privatindustrie in Wettbewerb trat, als er sich nicht die monopolistische Form schuf, die seiner Verwaltungsmethode entsprach. Hier mußte er den Kürzeren ziehen, nicht nur weil seine Arbeits- und Verwaltungsweise weniger beweglich war, sondern auch weil er in seiner Unternehmerpolitik naturgemäß sozialer und rücksichtsvoller sein mußte als die Privatindustrie.
Die Tatsache, daß die staatssozialistischen Eroberungszüge in das Gebiet der Produktionsmittel, geführt mit dem Rüstzeug und auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, unergiebig ausgelaufen sind und auslaufen mußten, schien vor dem Kriege fast festzustehen. Was der Krieg an unfreiwilligen und durch die Verhältnisse erzwungenen staatssozialistischen Verwirklichungen umfassenderer Art gebracht hat, welche Erfahrungen — sie schienen zuerst günstiger, dann wieder ungünstiger zu sein, als man erwartet hatte — dabei gemacht wurden, braucht uns hier ebenso wenig zu interessieren wie die Folgen, die sich daraus ergeben werden. Denn wir sprechen von dem Zeitpunkt und den Zeitverhältnissen, aus denen [S. 341] die gemischt-wirtschaftliche Unternehmung historisch entstand und die wir in ihren Ursachen und Anlässen zu erklären haben.
In dieser Zeit war nun die Folge der wenig erfolgreichen staatssozialistischen Experimente, daß die Stimmung in den Kreisen der Regierenden unsicher wurde, und neues Feld für staatssozialistische Versuche nicht mehr zu gewinnen war. Der Fiskus, der bei der ganzen Sache viel riskiert und wenig gewonnen hatte, sträubte sich und verlangte aus dem Spiel gelassen zu werden, und somit war der Bildung von Unternehmungen, die eine rein staatliche Verwaltung und beträchtliche staatliche Mittel erforderten, zunächst der Weg erschwert. Dennoch war die Luft inzwischen mit staatssozialistischen Ideen derart getränkt worden, daß ein völliger Rückzug nicht mehr gut möglich war. So kam man denn schließlich zu dem Aushilfsgebilde der halböffentlichen Betriebs- und Verwaltungsform . Verschiedene brennende Probleme der Industriepolitik suchte man mit ihr zu bewältigen. So stellte die Diamantenregie Dernburg-Fürstenbergs ein gelungenes, für die Privatunternehmung und den Staat vorteilbringendes Beispiel, die Regelung des Kaliabsatzes, die der Industrie als solcher nur Unsegen und dem Staate keinerlei Vorteil brachte, ein mißglücktes Beispiel dieser halbstaatlichen Verwaltungsform dar. Alle diese Experimente liegen aber nicht mehr ausschließlich in der Richtung des Staatssozialismus; sie laufen nicht lediglich auf eine Regulierung, Machtbeschränkung und Erziehung der Produzenten im staatlichen und Konsumenten-Interesse hinaus. Zu derselben Zeit, da der Staat seine Bemühungen, den großen Unternehmerorganisationen mit Staatssozialismus beizukommen, fast schon aufgeben wollte, hatten die Unternehmer erkannt, welche Möglichkeiten ihnen der Staatssozialismus für die Aufrechterhaltung ihrer künstlichen Marktregelungen zu bieten vermochte. Das Argument, daß man die wirtschaftliche Lage, wie sie durch die ehemals als Feinde bekämpften Kartelle seit Jahren befestigt worden war, im volkswirtschaftlichen Interesse nicht zusammenbrechen lassen dürfe, daß aus der Auflösung dieser oder jener „bewährten Organisation“ unberechenbare Folgen sich ergeben würden, wurde nicht selten als Vorspann für die Forderung oder Verwirklichung halböffentlicher Regelungen von den privaten Unternehmern selbst benutzt und die Verbraucher mußten noch froh sein, wenn bei derartigen auf Anregung der Produzenten vorgenommenen Regelungen [S. 342] durch gewisse Lieferungsvorschriften auch auf sie Rücksicht genommen wurde.
Diese ganze Hemmung und Umbiegung einer in ihrer Art und Richtung anfänglich recht entschiedenen Bewegung ist aber nicht lediglich auf die obengeschilderte wirtschaftliche und betriebliche Überlegenheit der Privatindustrie über die Staatsindustrie (wohlgemerkt, wenn sie nach dem System und auf dem Boden der Privatindustrie arbeitet), sondern auch auf die Überlegenheit der privatwirtschaftlichen Finanztechnik über die staatswirtschaftliche zurückzuführen. Es ist durchaus kein Zufall, daß die Resignation des Staatssozialismus mit dem damals vielleicht vorläufigen, aber doch recht entschiedenen Siege der Industrieaktie , ja sogar der Industrieobligation, über die Staatsrente zeitlich zusammenfiel. Einstmals besaß die staatliche Unternehmung vor der privaten den einen, manche Nachteile ausgleichenden Vorteil der wesentlich billigeren Geldbeschaffung. Hier hat die neuere Entwicklung abschwächend gewirkt. Als der Staat noch sein Leihgeld mit nur 3 oder 3½% zu verzinsen brauchte, die Privatindustrie aber für das ihrige 5 bis 6% oder noch mehr zahlen mußte, bestand hinsichtlich der Sicherheit und Stabilität zwischen Staats- und Privatpapieren eine scharfe Trennungslinie. Auch heute sind Staatsanleihen theoretisch noch sicherer als die besten Privatpapiere, aber je mehr die großgewerblichen Kartelle und Trustgebilde die privatindustrielle Rente ausgeglichen und befestigt haben, um so mehr ist die praktische Sicherheitsgrenze verwischt worden. Dazu kam, daß die zunehmende Industrialisierung unserer Wirtschaft schon im Frieden eine andauernde Verteuerung der Lebenshaltung und ein andauerndes Sinken des Geldwerts im Gefolge hatte, wodurch der Rentner veranlaßt worden ist, auf eine höhere Verzinsung seines Kapitals hinzuarbeiten. Es war eben die Rückwirkung der überwiegend im Produzenteninteresse liegenden Wirtschaftspolitik, die der Staat in den letzten Jahrzehnten getrieben hatte und vielleicht mit Rücksicht auf die Gesamtwirtschaft und ihre Stellung im Wettbewerb auch treiben mußte, daß der Staat nun diese Politik bei seiner Finanzgebarung am eigenen Leibe nachteilig zu spüren bekam. Jedenfalls hatte diese Entwicklung, welche die althergebrachte, in der Finanzwissenschaft beinahe zum Dogma gewordene Lehre von dem Abstand zwischen Staatsrente und Industriepapier zuungunsten der Staatsrente ver [S. 343] schob, für eine Weiterbildung der staatssozialistischen Ansätze starke finanzpolitische Hemmungen geschaffen.
Die zurückflutende Welle der staatssozialistischen Bewegung hat naturgemäß auch die Entwicklung des Kommunalsozialismus , die an sich schon durch allerlei Reibungen in ihrem zeitweilig kräftigen Vorwärtsdrängen gehemmt worden war, nicht unberührt gelassen. Das bureaukratische Betriebssystem ist mit seinen Nachteilen und Vorteilen in der Kommune und der sonstigen öffentlichen Körperschaft ungefähr dasselbe wie im Staate. Das schwerfällige Rechnungs- und Haushaltswesen der öffentlichen Gemeinschaften, das ohnehin die Beweglichkeit und Elastizität der privaten Unternehmertätigkeit nicht zuläßt, macht sich vielleicht in den Kommunen noch störender bemerkbar, weil bei ihnen nicht nur der eigene Instanzenzug, sondern auch der der übergeordneten Staatsbehörde zu berücksichtigen ist. Selbst wenn eine Kommune Unternehmungen in eigenen Betrieb übernehmen wollte, ist ihr dies häufig (man denke an die Erfahrungen der Stadt Berlin in der Straßenbahn-Verstadtlichungsfrage und bei dem Ankaufsgebot auf das Tempelhofer Feld) durch die Staatsregierung erschwert, wenn nicht ganz unmöglich gemacht worden.
Ein weiterer und sehr wichtiger Grund, der einer allzustarken Ausdehnung des Kommunalsozialismus — selbst wenn betriebliche Gründe, von denen noch die Rede sein wird, ihm nicht von selbst schon gewisse Schranken gezogen hätten — hinderlich werden mußte, war wieder die Finanzierungsfrage, die sich für die Kommunen noch schwieriger gestaltete als für den Staat. Der Kapitalmarkt, schon an sich den festverzinslichen Rentenwerten nicht mehr so geneigt wie früher, vermochte die sich von Jahr zu Jahr häufende Menge von Stadt- und Kommunalanleihen nicht mehr aufzunehmen; das Wettrennen zwischen den Staaten, Kommunen, Bodenkreditanstalten und industriellen Unternehmungen um den günstigsten Platz auf dem Anleihemarkte drohte diesen der Schonung dringend bedürftigen Markt völlig zu desorganisieren. Die Städte hatten unter diesen Umständen Mühe, ihren bei den erhöhten Anforderungen der modernen Kommunalpolitik schon an und für sich stark angeschwollenen Geldbedarf für reine Verwaltungszwecke recht und schlecht zu decken. Die Aufgaben des Kommunalsozialismus mußten so nach Möglichkeit eingeschränkt oder zurückgestellt werden, und sie ließen [S. 344] sich leichter zurückstellen als die übrigen öffentlichen Aufgaben. Man kann der Regierung infolgedessen nicht so unrecht geben, wenn sie die Kommunen mehrfach zur Einschränkung ihrer Anleiheausgaben aufgefordert und so indirekt auf eine Eindämmung des reinen Kommunalsozialismus hingewirkt hat. Emil Rathenau, der diese Entwickelung frühzeitig erkannt hatte, machte verschiedene Versuche, um aus ihr Nutzen zu ziehen oder doch die sich daraus für die Elektrizitätsbewegung ergebenden Nachteile zu beseitigen. Ein erster Versuch in dieser Richtung, der darin bestand, Elektrotreuhandbanken zu errichten, die den Kommunen und Korporationen zur Errichtung von Elektrizitätsunternehmungen Obligationenkredit einräumen sollten, führte zu keinem rechten Ergebnis. Dagegen bürgerte sich die ähnlichen Zwecken dienende gemischt-wirtschaftliche Unternehmung ziemlich schnell und umfassend ein und die Kommunalpolitik nahm bereitwillig diese Form an, als das Großgewerbe — den Zeichen der Zeit folgend — sie ihr sozusagen auf halbem Wege entgegenbrachte. Man hat sie hier sogar in verhältnismäßig kurzer Zeit praktisch wirkungsvoller auszugestalten vermocht, als dies dem Staat gelungen ist. Allerdings gerade denjenigen Vorteil, den der theoretische Befürworter und Ausgestalter dieser Form, Geheimrat Freund, vielleicht als den ausschlaggebenden angesehen hat, konnte sie nicht erbringen. Sie vermochte nicht mit der privatwirtschaftlichen Initiative und Beweglichkeit die billigere Geldbeschaffung der Kommunen zu vereinigen, eben weil eines der Hauptmotive zu ihrer Bildung und zur Abkehr der Kommunen von eigenen Betrieben die Überspannung des Kommunalkredits gewesen ist.
Anwendung gefunden hat die Form der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung bisher hauptsächlich bei Elektrizitätswerken (Kraft-, Lichtwerken und elektrischen Bahnen), Kleinbahnbetrieben, und mit schwächeren Ansätzen auf dem Gebiet der Grundstücksunternehmung. Im nachfolgenden soll ausschließlich von dem uns im Rahmen unserer Arbeit vornehmlich angehenden Anwendungsgebiet der Elektrizitätsbetriebe die Rede sein.
Will man verstehen, warum gerade das elektrische Lokal- und Überlandunternehmen die Hauptanwendungsform für die gemischt-wirtschaftliche Unternehmung geworden ist, so muß man notwendig auf die Entstehung und Geschichte der loka [S. 345] len Elektrizitätsunternehmungen zurückgehen. Sie gehörten im Anfang nicht zu jenen Betrieben, die mit städtischen Mitteln und in städtischer Verwaltung errichtet wurden. Das hat seinen Grund vor allem darin, daß vor der Elektrizitätszentrale die Gasanstalt da war. Die Errichtung der ersten lokalen Zentralbeleuchtungsanstalt war naturgemäß eine wichtige Angelegenheit jeder einigermaßen fortgeschrittenen Kommunalpolitik. Es bildete eine fast unerläßliche Aufgabe jeder größeren Kommune, eine zentrale Beleuchtung einzuführen, die nicht nur eine helle Lichtwirkung, sondern auch eine bequeme Bedienung ermöglichte. Diese Möglichkeit bot zuerst das Gas, und da die Privatunternehmung nicht mit einer an der Gasherstellung interessierten Spezialindustrie zusammenhing, und da sich überdies die Städte damals noch nicht damit befreunden konnten, ihren Straßengrund der privaten Röhrenverlegung preiszugeben, so mußten die Kommunen, wenn sie sich modernes Licht schaffen wollten, die Gaszentralen und die verteilenden Röhrennetze in vielen Fällen selbst errichten (wenngleich auch auf diesem Gebiete der Privatunternehmung ein größeres Arbeitsfeld verblieb). Als dann geraume Zeit später die elektrische Beleuchtung aufkam, zögerten die Kommunen, die ja ihr Beleuchtungssystem in eine immerhin moderne Verfassung gebracht hatten, neben ihren Gaswerken noch Elektrizitätswerke zu bauen. Das Bedürfnis dafür schien nicht unbedingt vorhanden zu sein, zumal da die Gasbeleuchtung den Kampf mit der Elektrizität tatkräftig und lange Zeit erfolgreich führte. Das Elektrizitätswerk stellte zudem eine technisch wesentlich kompliziertere, in ihrem Betriebe besonders in der ersten Zeit schwerer zu übersehende Unternehmung dar als die Gaszentrale. Auch beschränkte sich die Elektrizität nicht auf das Beleuchtungsgebiet, vielmehr griff sie in der Form von Antriebsenergie für alle Arten von Maschinen direkt auf das industrielle Leben über und in den allgemeinen Produktionsprozeß hinein. Man scheute sich daher in kommunalen Kreisen zunächst, eine so vielfältige und schwer übersehbare Produktion in eigene Verwaltung zu übernehmen. Da griff denn die Elektrizitätsindustrie — als Großinteressentin an der Ausbreitung der elektrischen Energie — wie wir dies in unserem Buche bereits ausführlich geschildert haben, mit privater Initiative ein. Die privaten Elektrizitätswerke, an die zumeist auch elektrische Straßenbahnnetze angeschlossen wurden, entwickelten sich trotz der beträchtlichen Abgaben, die an die Kommunen [S. 346] zu entrichten waren, so nutzbringend, daß die Privatindustrie gern die ganze kommunale Elektrizitätsversorgung dauernd in ihrer Hand behalten hätte. Je mehr aber die hohe Nutzwirkung der Stromerzeugung ersichtlich wurde, desto mehr zeigte sich bei den Kommunen das Bestreben, diese Quelle reichlich strömender Gewinne völlig für sich mit Beschlag zu belegen. Es kam die Periode, in der allenthalben die Verstadtlichung der elektrischen Kraftwerke und Straßenbahnen angestrebt und vielfach auch durchgesetzt wurde.
Zweifellos haben die Kommunen dabei keine schlechten Erfahrungen gemacht. Die von ihnen geführten Betriebe wurden vielfach geschickt verwaltet, ihre Erträgnisse befruchteten die kommunalen Finanzen, und für die Verbraucher ergaben sich befriedigende Verhältnisse. Dennoch ist die kommunalsoziale Strömung im Elektrizitätswesen schon nach kurzer Zeit verlangsamt worden. Daran waren neben den oben geschilderten finanziellen Gründen auch verwaltungspolitische und betriebstechnische schuld. Die Übernahme von Elektrizitätswerken, elektrischen Straßenbahnen usw. in städtische Regie erforderte eine beträchtliche Verstärkung der kommunalen Beamten- und Arbeiterschaft; sie schuf verwickelte Besoldungsprobleme und rapide anschwellende Pensionsetats. Überdies erforderte die Eigenart des elektrischen Betriebes die Anstellung besonders tüchtiger und demgemäß auch teurer Kräfte, deren Bezahlung innerhalb der kommunalen Beamtenschaft Schwierigkeiten bot. Alles dies in einer Zeit, in der die Kommunalpolitik notgedrungen auf größtmöglichste Sparsamkeit und auf Einschränkung der Ausgaben hinarbeiten mußte. Das ausschlaggebende Moment war aber doch wohl das betriebstechnische. Die Elektrizitätswerke fingen an zu groß zu werden, als daß ihr Wirkungsgebiet sich hätte auf eine einzige mittlere oder selbst große Kommune beschränken können. Elektrizitätszentralen, die auf der Höhe der Technik und Wirtschaftlichkeit stehen sollten, mußten neben der Zentralstadt nicht nur die Vororte und benachbarten Landkreise, sondern auch weitere Zentralstädte in ihren Versorgungsradius ziehen. Den einzelnen Kommunen wuchs mit anderen Worten das Problem der wirtschaftlichen Elektrizitätsversorgung aus den Händen. Sie machten zwar gelegentlich den Versuch, sich zu Verbänden oder Verbands-Aktiengesellschaften zusammen zu schließen, aber solche Versuche gelangen doch nur ausnahmsweise, zumal da sich gleichzeitig die Elektrizitätserzeugung [S. 347] der großen Industriezentren mit überzeugendem Nutzen an privatindustrielle Produktionsstätten anzulehnen begann, die einen Teil ihrer überschüssigen oder billig zu erzeugenden Kraft für die Elektrizitätserzeugung hergeben konnten. Hier liegt die große produktive Leistung Hugo Stinnes, der — ohne eigentlich Elektrizitätsfachmann zu sein — eine derartige Elektrizitätserzeugung auf montanindustrieller Basis zum ersten Mal in großem Stile aufnahm, die Gichtgase seiner Hochöfen als Antriebskraft für riesige Dynamomaschinen benutzte und in seinem Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk eine technisch wie kaufmännisch gleich hervorragende Organisation schuf. In diese Organisation zog er eine große Reihe rheinisch-westfälischer Groß- und Kleinstädte, Landgemeinden und Privatkonsumenten mit hinein. Was Emil Rathenau vorschwebte, als er vor Jahrzehnten bereits aus den damaligen Schwierigkeiten seiner privaten Kraftwerke heraus ein Zusammenwirken zwischen Privatindustrie und Gemeinden auf genossenschaftlicher Grundlage vorschlug, was er später beim Elektrizitätswerk Straßburg i. E. durch Verbindung eines Konzessionsvertrages mit einer mäßigen Aktienbeteiligung der Kommune vorbereitend anbahnte, ist beim Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk aus den Unzulänglichkeiten lokaler Elektrizitätsversorgung heraus voll verwirklicht und in reifer Form angewendet worden.
Hugo Stinnes hat nicht nur zuerst das technische Problem der montanindustriellen Großzentrale bewältigt, er hat auch zugleich die grundsätzliche wirtschaftliche Unternehmungsform gefunden, die es gestattete, einen privaten Industriebetrieb mit einer oder mehreren kommunalen Körperschaften zu einem Interessenverbande zu vereinigen. Er wählte die Form der Privat-Aktiengesellschaft, an deren Finanzierung sich sowohl das private Unternehmerkapital als auch die Kommunen beteiligten, und in deren Verwaltungsrat sowohl Vertreter der beteiligten Kommunen als auch der privaten Unternehmerkreise saßen. Ging beim Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk die Anregung zur Bildung eines gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens von der Rohstofflieferantin, der Montanindustrie, aus, so gab bei anderen Bildungen dieser Art die Materiallieferantin, die Elektrizitätsindustrie, den Anstoß. Diese Industrie, die seit langem mit der Errichtung von Elektrizitätswerken in eigener Regie oder in der Regie von Tochterunternehmungen günstige finanzielle Erfolge [S. 348] erzielt hatte, indem sie sich nicht nur für den Absatz ihrer Fabrikate Stützpunkte schuf, sondern auch noch die Quelle reichlich und ziemlich gleichmäßig fließender Rentengewinne erschloß, diese Industrie hat sehr schnell eingesehen, daß sie mit der neuen Form der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung, mit dieser Konzession an den sozialen Zeitgedanken, der streng kommunalsozialistischen Bewegung den Wind wenigstens teilweise würde aus den Segeln nehmen können. Was sie praktisch aufgab, war nicht sehr viel. Das absolute privatindustrielle Selbstbestimmungsrecht, das ihr übrigens vorher schon durch die Konzessionsverträge mit den Kommunen beschnitten gewesen war, wurde durch die Beteiligung der Kommunen am Stimmrecht und an der Verwaltung, sowie durch gewisse kommunale Veto- und Forderungsrechte allerdings bis zu einem gewissen Grade eingeschränkt. Dafür bot ihr aber die Kontrolle durch öffentliche Verwaltungsorgane einen wirksamen Schutz gegen Angriffe, denen sie vorher ausgesetzt war. Ferner behielt die Privatindustrie die besonders wertvolle Möglichkeit, die von ihr in Gemeinschaft mit den Kommunen betriebenen Elektrizitätswerke als Arbeitszubringer und Abnehmer für ihre Fabrikate zu benutzen, fast unbeschränkt bei. Ebenso blieb ihr das Renteninteresse an den Unternehmungen erhalten, wenn auch der Quantität nach durch die Beteiligung der Kommunen etwas verringert; der Qualität nach wurde es durch die moralische und manchmal auch rechtliche Garantieübernahme seitens der Kommunen sogar noch erhöht.
Ob die Interessen der Kommunen und der Verbraucher bei der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung ebenso gut aufgehoben gewesen sind, wie die der Privatindustrie, ist eine Frage, die sich nicht allgemein entscheiden und bejahen läßt. Ein gewisser Nachteil für die Kommunen mag darin liegen, daß eine gemeinsame Beteiligung und Tätigkeit in denselben Unternehmungen sie aus übergeordneten Behörden zu Wirtschaftsgenossen und Geschäftsteilnehmern der Unternehmer macht, ein Verhältnis, das gewiß Gefahren mit sich bringt, deren Vermeidung besondere Klugheit und Charakterfestigkeit der kommunalen Vertreter erfordert. Dabei war besonders anfänglich der Kaufmann dem Verwaltungsbeamten in der geschäftlichen Praxis, noch mehr in der industriellen Technik so sehr überlegen, daß die theoretisch zugestandenen Aufsichts- und Mitbestimmungsrechte nicht immer wirkungsvoll zur Geltung gebracht werden konnten. Das [S. 349] lag aber oft nicht an der Formulierung dieser Rechte, die meist ausreichend war und einer besonderen gesetzlichen Regelung, wie sie zum Beispiel Freund gefordert hat, nicht bedurfte, sondern eben an der mangelhaften Handhabung. Gerade in dieser Hinsicht hat der Kommunalbeamte im Laufe der Entwickelung und durch diese viel gelernt. Die Möglichkeiten der Erfahrung und der Vergleichung haben ihn geschult. Eine Kontrolle durch fachmännische Revisoren ist bei Elektrizitätswerken heute fast schematisch möglich. Es läßt sich ziemlich genau bestimmen, welche Stromkosten ein Kraftwerk je nach seiner Größe, seiner betriebstechnischen Grundlage (als montanindustrielles, Fernleitungs- oder lokales Werk) haben, und welche Strompreise es berechnen darf. Schwieriger schon ist die Kontrolle, ob die von den privaten Unternehmergesellschaften berechneten Preise für Maschinen- und Materiallieferungen angemessen sind, aber auch in dieser Hinsicht sind die Kontrollaufgaben für eine tüchtige Kommunalverwaltung schließlich recht wohl zu erfüllen. Prinzipiell wird man das System der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung in der elektrischen Stromerzeugung schon deswegen billigen können, weil in dem Entwicklungsprozeß der Stromerzeugung, der sich gegenwärtig vollzieht, die gemischte Unternehmung eine nützliche Übergangsstufe zu den höheren Betriebsformen darstellt, die wir im vorigen Kapitel geschildert haben.
Wenn man sich den großen Tatmenschen vorstellt, so sieht man ihn gemeiniglich als absoluten Willensmenschen von unbeirrbarer Geistesschärfe, unerschütterlicher Entschlußkraft und Entschlußdurchführung, von immer gleichbleibender Energie des Entwerfens und Arbeitens. Unentschlossenheit, Schwankungen des Intellektes und des Willens traut man ihm und seiner ganzen Art nicht zu. Hat er Nerven, so sind es stählerne, federnde, die ihn nicht in der Entfaltung seiner Geisteskräfte hemmen, sondern ihn beschwingen, ihn über körperliche Anfechtungen und Schwächen hinwegtragen, seinem Geist, wenn er in zu einsame Höhen der Abstraktion fliegen will, die Verbindung mit dem Körper, dem Humusboden der Realität erhalten. So sieht vielleicht das Bild des Genies der Tat für den Fernstehenden aus, wie es sich am Ende einer festliegenden und festlegenden Entwickelung geformt hat. Mit so abgeschlossenen und verschlossenen Zügen tritt das Genie vielleicht aus den Kämpfen seines Innenlebens, aus den Stürmen seines Werdegangs der Öffentlichkeit entgegen, der es nur die fertigen Tatsachen, nicht den schweren Weg, auf dem es zu ihnen gelangt ist, nur die äußeren Ergebnisse, nicht den aufreibenden und oft verzweifelten Kampf der Möglichkeiten, der ihnen voranging, zeigen will und zeigt. So ist es auch erklärlich, daß zunächst nur das äußere Bild des großen Mannes in die Geschichte übergeht und erst die eindringende Nachforschung des psychologischen Geschichtsschreibers notwendig ist, um es zu verinnerlichen, um hinter der Maske das Gesicht hervortreten zu lassen. Man hat gesagt, daß niemand vor seinem Kammerdiener der große Mann bleibt, und man kann mit der gleichen Berechtigung sagen, daß niemand vor dem Spiegel seines eigenen Inneren oder dem seiner nächsten Umgebung [S. 351] der eiserne Tatenmensch bleibt, als den ihn die Fernstehenden nach seinen Taten ansehen. Shakespeare hat seinem Hamlet, diesem genialischen Typus der Halbheit und Unentschlossenheit, der ewigen einander lähmenden Schwankungen und Streitereien des Gemüts und des Verstandes in Fortinbras einen Tatmenschen, einen Typus des Positivismus gegenübergestellt. Jener zergrübelt, dieser handelt. Hamlet ist ein bis ins Feinste ausgeführtes Bildnis, Fortinbras eine nur den Zwecken des Kontrastes dienende Skizze. Hätte Shakespeare diese Skizze weiter ausgeführt, so würde er gefunden haben, daß auch Fortinbras nicht nur klares Wissen, gradliniger Wille ist. Er, der tiefe Menschenkenner, würde sicherlich zu dem Ergebnis gekommen sein, daß auch der Tatmensch nicht immer sofort instinktiv das Richtige sieht und das Richtige tut, sondern daß auch ihm die Fülle der Gesichte oft beängstigend entgegendrängt, daß auch er sich in Streit und Widerstreit, in leidenschaftlichen Diskussionen mit sich selbst und anderen erst aus dem verwirrenden Zuviel der Möglichkeiten auf den klaren Weg der Notwendigkeit retten muß. Das Entscheidende und Unterscheidende ist es eben, daß er sich rettet, daß er nicht in dem Strauchwerk der Reflexion hängen bleibt wie der hamletische Charakter, der ihm an vielen Gaben nicht unterlegen zu sein braucht, dem aber die eine Gabe fehlt, in sich Ordnung zu schaffen, seiner Gedanken und Gefühle doch schließlich Herr zu werden, nachdem er sie genug in sich hat ringen und wühlen lassen. Gewiß tritt mancher schöpferische Gedanke intuitiv, sozusagen blitzartig vor den Geist des Tatmenschen hin. Er hat sich vielleicht nie oder nur obenhin mit dem Problem beschäftigt, das dieser Gedanke löst. Er erhält Antwort, ohne gefragt zu haben, findet Gold, ohne daß er danach zu graben brauchte. Die Überlieferung berichtet von manchen großen Taten, die so entstanden sind, aber sie verschweigt, wie viel öfter der sogenannte Instinkt den schöpferischen wie den problematischen Menschen irregeführt hat. Die Bewunderung der Masse vor dem genialen Instinkt würde vielleicht geringer werden, wenn sie erfaßte, daß gerade zu dem psychischen Bild Hamlets schnelle Gedankenblitze und Gedankensprünge gehören, die dem geistreichen Menschen in gehobener Stimmung oft einen Goldwert der Idee vortäuschen, der sich bei nüchterner Überlegung nur als blinder Glanz erweist.
Wie nahe die Grenzen problematischen Wesens und tatkräftiger [S. 352] Veranlagung beieinander liegen können, wie schmal manchmal die Wasserscheide ist, von der der Lauf eines Lebens zu diesem oder jenem Charakter führen kann, zeigt gerade die Geschichte Emil Rathenaus. Nach einer frisch, doch keineswegs ungewöhnlich geführten Jugend drohte sein Dasein — eine beklemmend lange Zeit — in Unentschlossenheit zu zerfließen, und doch hat sich derselbe Mann später zu einem Tatmenschen stärkster Prägung entwickelt. Es ist eben nicht nur Charakter material zur Bildung eines Charakters erforderlich, sondern auch das taugliche Objekt, an dem sich dieses Material bewähren kann. Sicherlich gibt es nicht nur Begabungen, sondern auch Charaktere, die ihre beste Energie im Suchen um einen geeigneten Platz aufbrauchen, ihn vielleicht nie finden oder, wenn sie ihn endlich gefunden haben, nicht mehr Vollkraft genug besitzen, um auf ihm Großes zu wirken. Das tägliche Leben kennt viele solcher halben Helden, die Geschichte weiß nicht ebensoviel von ihnen zu erzählen, denn ihr Schicksal erfüllt sich meistens nicht im Licht, sondern im Dunkel. Hätte Emil Rathenau ganz mit denselben Geistes- und Charaktereigenschaften erst zehn Jahre später seinen wahren Beruf, sein wahres Objekt gefunden, und dann nicht mehr die Frische gehabt, um sich ganz darin auszuleben und auszuwirken, oder wäre er über die Krise der Berliner Elektrizitätswerke gestrauchelt und hätte nicht die Kraft besessen, um zum dritten Male anzufangen, die Geschichte hätte kaum etwas von ihm gewußt und in dem Gedächtnis seiner Bekannten hätte er höchstens als begabter „Lebensverfehler“ fortgelebt.
Emil Rathenaus Charakter rückte wohl deswegen eine Zeitlang scheinbar so dicht in die Nähe der problematischen, weil er ganz ungewöhnlich voll von Gegensätzen und Widersprüchen war, die sich mit dem zunehmenden Alter nicht etwa verringerten oder abschliffen, sondern im Gegenteil bis zur Wunderlichkeit und Skurrilität verschärften. Hierin lag vielleicht letzten Endes der Grund für die Langsamkeit, mit der er sich in die entscheidende Bahn fand, mit der er den Boden erreichte, auf dem er endlich Wurzel fassen und den festen Punkt für die Ausgleichung seiner starken Charakterschwankungen finden konnte. Aber hierin lag auch der Grund für die Kraft, den Reichtum, die Mannigfaltigkeit und die Elastizität seiner Natur, die sich niemals länger in einer Richtung festhalten ließ, als dies ihrer Entwickelung förderlich war und die bei aller sachlichen Kon [S. 353] sequenz — wenn es von höherem Gesichts- oder Gefühlspunkte zweckmäßig war — auch einmal inkonsequent sein konnte. Dem außenstehenden Beobachter mochte vielleicht manchmal als Sprunghaftigkeit, als Impressionismus erscheinen, was doch nur ein freies und souveränes Spiel mit den äußeren Formen der Logik war, ein Spiel, das manchmal vielleicht den Gesetzen der Umwelt, niemals aber den Gesetzen der eigenen Natur zuwiderlief. Den Mitlebenden oft unverständlich, sich selbst vielfach nicht bewußt, sprang Rathenaus schneller Instinkt manchmal über Zwischenglieder der logischen Entwickelung hinweg, an denen andere nicht vorüberkamen oder vor denen sie wenigstens stutzten. Seine Entschlüsse und Maßnahmen, die aus einem derartigen geistigen Telegrammstil entsprangen, erschienen anderen darum oft verkehrt und nicht folgerichtig, zumal Rathenau sie häufig nicht bewußt begründen konnte. Die rückschauende Beurteilung mußte sie fast stets als treffend und zweckmäßig anerkennen, was Rathenau verschiedentlich den Ruf prophetischer Gabe eingetragen hat. In der schönen Grabrede, die er seinem Vater hielt, hat Walther Rathenau diese Gabe folgendermaßen geschildert: „Wer ihm nahe gestanden hat, der weiß es, wie erschütternd es war, wenn er in seiner einfachen Sprache von Dingen erzählte, die ihm selbstverständlich erschienen; aber diese Dinge waren nicht selbstverständlich, denn es waren keine Erinnerungen und es war keine Gegenwart. Was er schilderte und was er erzählte, das war die Zukunft, und in dieser Zukunft sah er so klar, wie wir sehen in unserer Zeit und in dem, was wir von der Vergangenheit wissen. So kamen die Menschen von weit her und fragten ihn: was wird aus dieser Technik, was wird aus jenem Verkehr, was wird aus dieser Wirtschaftsform und was wird aus jener Entwickelung? Und dann gab er ihnen stille Antwort und wunderte sich nur über das Eine, daß der andere nicht als ein Selbstverständliches schmählte, was er ihm aussprach.“
Gegensätze und Widersprüche des Charakters können die Tatkraft einer Intelligenz lähmen und zerreiben, wie wir das nur zu oft auch bei klugen und scharfsinnigen Menschen zu beobachten vermögen. Aber sie können einem Wirken auch jene Fruchtbarkeit geben, die der einfach organisierten Natur nicht erreichbar ist, weil sie nicht die ganze Tiefe, Fülle und Vielgestaltigkeit der Probleme ausschöpfen kann, die der komplizierte Charakter — stets auf den [S. 354] Kampf und den Ausgleich zwischen seinen verschiedenen Gegensätzen angewiesen — aufwerfen und in glücklichen Fällen lösen wird. Jeder Mensch und besonders der sanguinische hat Zeiten des Optimismus und Pessimismus, schwankt zwischen verschiedenen Stimmungen auf und nieder. Hochgefühl, frische Spannkraft auf der einen Seite, Depression, Unzufriedenheit und Überdruß auf der anderen Seite wechseln miteinander ab. Wie sehr hier eine der Triebkräfte jeder Leistung, jedes Fortschritts und jeder Entwickelung liegt, zeigt die Übertragung dieser Schwankungen auf die Geschichte allgemeiner Gestaltungen, die sozusagen von diesem Auf und Nieder leben, aus dem Wechsel von Hausse und Baisse, von Ebbe und Flut ihre immer neue motorische Lebenskraft ziehen. Fehlten die Pendelschwingungen dieses geistigen „Perpetuum mobile“, so würde die Uhr bald stille stehen, jede Fortentwickelung im Marasmus ersticken. Bei Emil Rathenau war die Wellenlinie zwischen Optimismus und Pessimismus außerordentlich stark ausgeprägt. Beide Pole standen einander ganz schroff entgegen. Daher lebte der Organismus so stark, wirkte der Ausgleich so fruchtbar, war der entladende Funke von so zündender Durchschlagsgewalt. So kraß Wärme und Kälte in dem Wesen Emil Rathenaus aber auch in Erscheinung treten konnten, so wenig ließ der reale Tatsachensinn, der in der Mitte zwischen den beiden Polen stand, zu, daß sie mit ihrem Übermaß Einfluß auf die praktische Arbeit gewinnen konnten. Sie hatten im richtigen Moment anzufeuern und im richtigen Momente abzukühlen, hatten sich gegenseitig zu beobachten und zu kontrollieren. War die rechte Mischung erreicht, so war damit die Bahn und das Tempo der Arbeit festgelegt. Beide wurden dann unbeirrt und unbeirrbar festgehalten bis zum Ende. Optimistische Voreiligkeit und pessimistische Hemmung durften ihre Konstanz nicht mehr stören.
Optimist war Rathenau stets im Entwerfen, und noch vielmehr in der Absteckung des Feldes, auf dem entworfen oder verwirklicht werden sollte. Die Ziele, die er seiner elektrischen Technik stellte, wurden mit fast unbegrenzter Phantasie so weit als nur irgend denkbar gestellt. Sein Ideal war, die Welt mit Elektrizität zu durchdringen. Oft im Gespräch mit Fachgenossen, noch mehr mit Laien und Frauen erging er sich in kühnen Zukunftskombinationen, die sich bis zu Jules Verneschen Sphären versteigen konnten. Wenn [S. 355] er in den bescheidenen Anfängen der Lichtelektrizität von den Möglichkeiten sprach, zu denen die neue Beleuchtungsart einmal führen könnte, mochte das den Zeitgenossen phantastisch klingen. Für uns, die wir die Verwirklichung seiner Pläne miterlebt haben, wirken diese Äußerungen als fast exakt wissenschaftliche Voraussagung einer Entwickelung, die kommen mußte, wie sie gekommen ist, und die doch nur dieser eine damals gerade so vorhergesehen hat. Dasselbe war bei der elektrischen Kraftübertragung der Fall, wenngleich hier noch einige andere an die große Zukunftskraft der Erfindung vielleicht nicht weniger stark geglaubt haben als Rathenau. Ihren optimistischen, phantasievollen Charakter auch jetzt noch bis zu einem gewissen Grade behalten haben die Rathenauschen Prophezeiungen über das elektrische Fernbahnsystem, dessen Durchführung nur langsam fortschreitet, trotz alledem jedoch im Bereiche der Wahrscheinlichkeit liegt. Aber, wenn Rathenau ins Schwärmen kam, konnte er auch Ideen entwickeln, zu deren Verwirklichung heute noch nicht die geringsten Ansätze vorliegen, die zu verwirklichen die Menschheit vielleicht auch nie unternehmen wird, weil der erreichbare Erfolg in keinem Verhältnis zu dem technischen Aufwand steht. Warum sollte man, so meinte er, nicht dahin kommen, daß alle Wohnungen von großen Elektrizitätszentralen aus geheizt werden, daß jede Wohnung mit einer Anlage versehen ist, die sie von einer Zentrale her elektrisch mit Kälte für die Eisherstellung versorgt? Fast stets waren derartige Kombinationen — auch wenn sie Dinge nebensächlicher Art betrafen — technisch richtig gesehen. Das verstand sich für einen so gewiegten Fachmann von selbst. Rathenau war sich aber recht wohl bewußt, daß er in solchen lässigen Gesprächen mehr beispielmäßig als ernst sprach und er würde es sich verbeten haben, wenn ihn jemand beim Wort genommen und seine praktische Mitwirkung bei der Ausführung derartiger Projekte verlangt haben würde. Solche Phantasien im großen und im kleinen waren aber doch kennzeichnend für den gewaltigen Glauben, mit dem Rathenau seiner Wissenschaft anhing, für die stets beschwingte Vorstellungswelt, in der dieser Praktiker lebte und aus der er sich Kraft und Lebendigkeit für seine Arbeit immer wieder aufs neue holte, wenn ihn die Kleinlichkeiten und Schwierigkeiten mancher Einzeltätigkeit zu ermüden und niederzudrücken drohten.
Optimist war Rathenau nicht nur in seiner technischen Weltanschauung, sondern auch im Entwerfen und Unternehmen, wenn es sich um die Bewältigung einer neuen bestimmten Aufgabe oder eines Aufgabenkomplexes handelte. Seine Initiative war frisch, sein Plan großzügig, seine Stimmung hoffnungsfreudig angeregt, sein Einfluß auf die Tätigkeit der Mitarbeiter anfeuernd. Kurzum der Rausch des Schaffens erfüllte und bewegte ihn, wie nur je einen Künstler, der von der Inspiration ergriffen ist. Sobald aber vom Entwerfen zum Ausführen geschritten wurde, trat eine merkwürdige Erkältung ein. Ernüchterung, Mißtrauen und Zweifel an der Arbeit und ihrer Lösung überkamen ihn, er quälte sich und die Mitarbeiter mit Bedenken, Abänderungsplänen, immer neuen Einwürfen und Fragen. Kein Ergebnis erschien ihm vollkommen genug, keine Leistung genügte ihm. Dieser Abfall der Stimmung hatte aber nun nicht wie bei optimistischen Plänemachern die Wirkung, daß er der Sache schnell überdrüssig wurde und sie mißmutig und müde beiseite legte, um sich neuen Projekten zuzuwenden. Im Gegenteil, nun, da der Schwung, das Hochgefühl des Schaffens verloren gegangen war, trat eine andere Eigenschaft seines Charakters in Erscheinung, die seine Mitarbeiter und Untergebenen bewunderten, aber auch fürchteten. Es war eine Zähigkeit ohne Gleichen, die allen das Leben schwer machte, kein Ausruhen, keine Ablenkung für ihn und für die anderen zuließ. Die spröde Materie mußte sozusagen bis ins Kleinste durchknetet, der Arbeitsprozeß immer wieder von neuem wiederholt werden, bis das Höchste an Inhalt und Form aus dem Stoffe herausgearbeitet war. Ein Abschweifen zu anderen Plänen gab es dabei selten, wenigstens nicht, wenn es sich um die Bewältigung einer großen Aufgabe handelte. Der Meister, der sonst viele Zügel auf einmal in der Hand halten konnte, konzentrierte sich dann ganz auf die eine Sache, Schwierigkeiten konnten ihn nie schrecken, sie veranlaßten ihn höchstens, die bereits geleistete Arbeit über den Haufen zu werfen und das Problem von einer ganz anderen Seite anzupacken. Auch in finanziellen Dingen trat dieser Gegensatz zwischen optimistischem Schwung und kritischer, ja übertriebener Vorsicht oft auffallend in Erscheinung. Vor finanziellen Wagnissen, neuen großen Unternehmungen und Gründungen schreckte er nie zurück, aber er begann nie eine Sache zu verwirklichen, bis er sie nicht gründlich nach allen Seiten hin fundiert hatte. Damit, daß er jemandem, der ihm ein Projekt [S. 357] vortrug, in freudigen Worten seine erste Zustimmung ausgedrückt hatte, war er — wie manche Erfinder und Unternehmer zu ihrer Verblüffung inne wurden — noch keineswegs für die Durchführung gewonnen. Solche Leute schickte er gewöhnlich zu dem Fachdirektor, der das betreffende Gebiet bearbeitete, mit dem Auftrag, alles einzelne zu besprechen und zu verabreden. Hier wurden nun häufig die überschwänglichen Hoffnungen, denen sich die Besucher auf Grund ihrer Unterredung mit Rathenau hingegeben hatten, wesentlich herabgemindert. War aber einmal ein Projekt als reif und aussichtsvoll anerkannt, so trug Rathenau kein Bedenken, seine Verwirklichung in freigebiger Weise mit Geldmitteln zu unterstützen. Vor großen geldlichen Transaktionen ist er nie zurückgescheut, das Kapital der A. E. G. war ihm stets zu niedrig, und als es auf 60 Millionen Mark angelangt war, erklärte er Aktionären, denen das Tempo der Expansion zu schnell gegangen war, daß er sich freuen würde, wenn er es auf 100 Millionen bringen könne. Dabei war ihm doch häufig sozusagen vor seiner eigenen „Courage“ bange. Die Sorge vor Rückschlägen, vor unerwarteten Entwickelungen raubte ihm den Schlaf mancher Nacht, und wenn er sein Unternehmen nie genug mit Reserven auspolstern konnte, so tat er dies weniger, weil er sich von dem großen Spartopf nicht trennen konnte, sondern weil er, Zeit seines Lebens beherrscht von den schlimmen Erfahrungen, die er mit seiner Maschinenfabrik in der Gründerzeit gemacht hatte, ein überstarkes Gegengewicht gegen die großen Risiken und Gefahren, denen er durch seine extensive Geschäftspolitik die Gesellschaft aussetzen mußte , für unbedingt nötig hielt. Als ich ihn einmal ein paar Jahre vor seinem Tode besuchte, sagte er mir wörtlich: „Sie glauben gar nicht, welch ein Stein mir vom Herzen gefallen ist, als ich die offenen Reserven in diesem Jahre auf 50% des verantwortlichen Aktienkapitals bringen konnte.“
Höchst widerspruchsvoll war auch das Verhältnis Rathenaus zum Gelde . Bei den Geschäften seiner Unternehmungen schaltete er damit in einer Weise, die an Großzügigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Aussichtsreiche, gut begründete Geschäfte stattete er in durchaus splendider Weise aus, knauserte nicht mit Einrichtungskosten, Spesen, Versuchs- und Propagandaopfern. In technische Ideen, die ihm zukunftsreich erschienen, konnte er Millionen hineinstecken, ehe er noch Aussicht hatte, einen Pfennig wieder herauszu [S. 358] holen. So legte er zum Beispiel die Netze neuer elektrischer Bahnen manchmal in einem Umfange an, der die bisherigen Verkehrszahlen weit übertraf und alle Vorkalkulationen außer acht ließ. Dabei ging er von der optimistischen Ansicht aus, daß die modernere Verkehrsform die Frequenz auf eine ganz andere als die bisherige Stufe stellen würde. Nicht nur dem Inhalt seiner Unternehmungen gab er, was notwendig war, sondern er hatte auch Sinn für die Form, die Ausstattung, das Dekorum. Zwischen dieser Großzügigkeit bei Ausgaben, die er sozusagen nur auf dem Papier übersah und nur auf ihrem Wege durch Projekte, Rechnungsauszüge und Bilanzen verfolgen konnte, und dem Ausgabeetat, der zu seiner unmittelbaren persönlichen Sphäre gehörte, gewissermaßen unter seinen Augen verbraucht wurde, bestand aber ein großer Unterschied. Hier war er kleinlich bis zum Geiz, weniger aus System — denn ein System hätte zweifellos die geistig sichtbaren mit den körperlich sichtbaren Ausgaben auf eine Stufe gestellt und die nur scheinbare Verschiedenheit zwischen ihnen überwunden — sondern aus Gewohnheit und Beharrungsträgheit. Wir können ja vielfach bei selfmademen, die aus kleinen Anfängen sich zu großen Verhältnissen hinaufgearbeitet haben, die Beobachtung machen, daß sie mit den Maßen ihrer Geschäfte in allen Hauptdingen gewachsen sind, aber in gewissen Äußerlichkeiten und Nebensachen sich von den alten Befangenheiten und Beschränktheiten nicht zu befreien vermögen. Daß eine den neuzeitlichen Anforderungen entsprechende Fabrik, ein modernes Geschäftshaus gebaut werden muß, sieht ein solcher selfmademan stets ein, zur Anschaffung einer neuen Kopiermaschine kann er sich dagegen viel schwerer entschließen. In seiner Jugend ist man, so meint er, mit dem alten Kontormaterial sehr gut ausgekommen. Warum muß man jetzt neue und kostspieligere Moden einführen? Für jüngere Kaufleute, die derartige Reminiszenzen aus ihrer bescheidenen Werdezeit nicht mit sich herumschleppen und gleich in größere Verhältnisse hineingeboren sind, ist ein derartiges Verhalten unverständlich, es erscheint ihnen kleinlich, unlogisch, ja lächerlich. Von Emil Rathenau werden viele Züge solcher Kleinlichkeit erzählt, und mit den Anekdoten, die über seine Sparsamkeit in kleingeschäftlichen und privaten Dingen über ihn im Umlauf sind, könnte man ein Kapitel füllen, das an Umfang das längste dieses Buches übertreffen würde. Das würde zwar ganz unterhaltend sein, [S. 359] aber doch die kleinen Schönheitsflecke, die auch im Bilde dieses Großen nicht fehlen, über Gebühr betonen. Einiges, was für dieses Bild charakteristisch ist, möge immerhin erzählt werden. So konnte Rathenau es nicht über sich gewinnen, aus der Hausverwaltung des unmittelbaren Geschäftsgebäudes der A. E. G. sich ganz auszuschalten. Dabei begnügte er sich nicht mit gelegentlichen Stichproben. Er ließ sich über alle Anschaffungen, die gemacht werden mußten, Bericht erstatten. Jeder neue Linoleumläufer mußte von ihm genehmigt sein, und er konnte recht ungemütlich werden, wenn er Botenjungen im Hause unbeschäftigt herumlungern sah. Wenn bei den Generalversammlungen der Gesellschaft drei Garderobiers den Aktionären die Mäntel und Hüte abnahmen, konnte er den Hausverwalter heftig zur Rede stellen, und ihm vorrechnen, daß für diesen Zweck auch zwei Beamte völlig ausreichend seien. Auch in Personalangelegenheiten behielt er sich die letzte Entscheidung vor bis zur Anstellung von Maschinenschreiberinnen hinab. Alle nicht ganz geringfügigen Zulagen bedurften seiner Genehmigung. Es war aber vielleicht nicht nur die alte Gewohnheit, von der er sich nicht zu trennen vermochte, sondern einem derartigen Abschweifen und Haftenbleiben an geschäftlichem Kleinkram, bei dem möglicherweise wirklich erzielbare Ersparnisse den Zeitaufwand auch nicht im entferntesten lohnten, den die Oberleitung und kostbarste Kraft des Unternehmens an sie wendete, lagen wohl noch andere Ursachen zu Grunde. Die eine von ihnen bestand vielleicht darin, daß Emil Rathenau, wie viele praktische Kaufleute, die „von der Pike auf gedient haben,“ mit der persönlichen „Kontrolle bis ins Kleinste“, wenn er sie auch nur in einem ganz schmalen Ausschnitt des gewaltigen Gesamtbetriebes zur Geltung bringen konnte, bei seinem Personal den Eindruck erwecken wollte, als ob sein Auge und sein Interesse allgegenwärtig seien. Möglicherweise wollte er dadurch einen erzieherischen Eindruck auf Kontrollierte und Kontrolleure ausüben. Wahrscheinlicher ist es aber, daß dieser bewußte Beweggrund, wenn er wirklich mitspielte, nur eine Art Vorwand darstellte für ein unbewußtes Bedürfnis, das überlastete Menschen, die aber doch nicht stillsitzen und sich einer völligen Muße hingeben können, häufig dazu zwingt, sich ein Ventil gegen Überspannung zu schaffen. Die ständige ununterbrochene Beschäftigung mit großen und schwierigen geschäftlichen Problemen würde solche Männer frühzeitig aufreiben und aufbrauchen, und es [S. 360] ist ja auch schon häufig beobachtet worden, daß derart überanstrengte Persönlichkeiten, die stets mit voller Kraft arbeiteten, plötzlich geistig oder körperlich zusammenbrachen. Bei anderen wieder sucht sich die Natur selbsttätig einen gewissen Ausgleich. Dieser kann in der Beschäftigung mit Sport, Kunst, Spiel oder auch in der Geselligkeit bestehen. Er kann aber auch sehr wohl darin liegen, daß sie sich für gewisse Zeiten mit kleingeschäftlichen Dingen beschäftigen, zu deren Behandlung sie keine eigentliche Geistesarbeit aufzuwenden brauchen und die sie gerade aus diesem geistigen Ausruhebedürfnis heraus häufig ganz schablonenhaft (wie sie es in ihrer Jugend gelernt haben), erledigen. Emil Rathenau hatte außerhalb seines Geschäftes keine Interessen. Er besuchte zwar regelmäßig — aber meist nur zu leichteren Stücken — das Theater, im übrigen war er gänzlich kunstfremd. Musik, Malerei sagten ihm nichts. Er konnte nicht einmal der Kunstsammlerei, die manche reichen Leute auch ohne innere Beziehung zur Kunst betreiben, einen Geschmack abgewinnen. Von Politik und von Fragen des Gemeinlebens hielt er sich fast gänzlich fern. Spiel und gesellige Anregung reizten ihn nicht. Auch die Fähigkeit auszuruhen, ohne irgend etwas äußerlich Greifbares zu tun, besaß seine unruhige Natur nicht. So ruhte er in der Beschäftigung mit geschäftlichem Kleinkram aus, wobei er sich natürlich bemühte, die sachlich wenig ergiebige, für sein persönliches Gleichgewicht aber nützliche und heilsame Tätigkeit durch logische Erwägungen vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Auf einem ganz ähnlichen Blatte stand es zum Beispiel auch, wenn er manchmal mit der Stadtbahn nach Niederschöneweide ins Kabelwerk hinausfuhr, statt — wie die übrigen Direktoren und höheren Beamten — Automobile dazu zu benutzen. Er redete sich dann ein, daß die Fahrt mit der Stadtbahn ökonomischer sei als die Automobilfahrt, bei der Benzin, Gummi usw. verbraucht würden. Der folgerichtige Denkprozeß hätte ihn natürlich dahin geführt, daß der Zeitverlust, den er bei der Stadtbahnfahrt erleiden mußte, ökonomisch für ihn in keinem Verhältnis zu den verhältnismäßig geringen Unkosten stand, die bei einer Automobilfahrt entstanden. Aber trotzdem war in diesem Falle die unbewußte Halblogik besser als die schärfste Konsequenz im abstrakten, unpersönlichen Denkprozesse. Hätte Rathenau in der Struktur seiner Seele und seines Körpers ganz klar lesen können, wie in den Blättern eines Buches, so würde er den Vorwand der Materialersparnis erst [S. 361] gar nicht gebraucht haben. Er hätte die Frage überhaupt nicht mit rechnenden, sondern mit psychologischen oder wenn man will, mit ärztlichen Augen angesehen und wäre zu dem Schluß gekommen, daß die Zeit, die er an unwichtige Dinge preisgab, für ihn doch im ganzen betrachtet keine zur Arbeit nutzbare gewesen wäre.
Noch bescheidener und sparsamer als in kleingeschäftlichen Dingen war Rathenau in seinem Privatleben . Bedürfnisse hatte er nicht, Wohlleben verstand er nicht zu würdigen. Wenn er auch ganz und gar nicht frei von Ehrgeiz und dem Bedürfnis nach Anerkennung war, im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben wollte er keine repräsentative Rolle spielen. Er hätte sie auch schlecht gespielt, da ihm das leichte Plaudertalent fehlte, und er nur im geistig anregenden, ernsthaften Gespräch seine nicht gewöhnliche Fähigkeit des Sprechens erweisen konnte. Überdies schätzte Rathenau das Geld, seine wirtschaftliche Kraft und Macht zu hoch ein, um es für Dinge hinzugeben, die er nicht würdigte, kaum verstand. Seine Sparsamkeit war nicht das Hängen am persönlichen Besitz, der ihm niemals eine besondere Freude oder auch bloß Interesse bereitete, da er nur arbeitete, um zu schaffen, nicht um zu erwerben. Seine Sparsamkeit entsprang vielmehr ganz einem sachlichen Wertgefühl gegenüber dem Gelde, das man nicht vergeudete oder verschenkte, sondern verwertete, und zwar so, daß keine Leistung überzahlt wurde. In großen Dingen des geschäftlichen Lebens konnte Rathenau den Wert oder den Kurs einer Leistung nun sehr wohl abschätzen, nicht aber in den kleinen Privatangelegenheiten des täglichen Lebens. Hier war er, der vom Weltmann nichts, aber auch gar nichts an sich hatte, gänzlich unerfahren und die Maße, die er an solche Ausgaben anlegte, entstammten noch den kleinbürgerlichen Verhältnissen und Zeiten, in denen er aufgewachsen war. Wenn seine Mitdirektoren oder Geschäftsfreunde zum Beispiel mit ihm im Schlafwagen reisten oder im Hotel wohnten, so gaben sie häufig dem Dienstpersonal nach Rathenau noch einmal Trinkgeld, um dieses einigermaßen auf die in ihren Kreisen übliche Höhe zu bringen. Rathenau selbst bekam, wenn er allein reiste, oft mürrische Gesichter zu sehen, denn er betrachtete den Hotelportier, „der ihm ja nichts geleistet hatte,“ mit 50 Pfennigen als genügend entlohnt. Es konnte auch vorkommen, daß Rathenau zu einer Geschäftsreise nach Zürich, die er mit einem Vorstands- oder Aufsichtsratsmitgliede [S. 362] gemeinsam unternahm, in Lackstiefeln erschien und auf die Frage, ob er gerade von einer Gesellschaft komme, erwiderte: „Das nicht, aber man muß doch solche Stiefeln einmal auftragen.“ „In großen Dingen ein Grandseigneur, in kleinen Dingen ein Krämer,“ so hat ihn einmal einer seiner Freunde charakterisiert und ein anderer, Karl Fürstenberg, hat den hübschen Ausspruch geprägt, daß bei Rathenau das Geld bei 3 Mark aufhöre und erst bei 3 Millionen Mark wieder anfange. Die Gegensätze in seiner Stellung zum Gelde waren so groß, daß sie Emil Rathenau selbst nicht verborgen bleiben konnten. Er zwang sich, weil er seine schwache Seite kannte, manchmal direkt, seinem Naturell zuwider zu handeln, besonders in solchen Fällen, in denen er sich vor anderen genierte, als geizig zu erscheinen. Wenn er zum Beispiel mit Bekannten zusammen ein Restaurant besuchte, so bezahlte er manchmal die ganze Zeche heimlich, lange vor dem geeigneten Zeitpunkt, damit alle späteren Erörterungen über den Zahlungsmodus von vornherein abgeschnitten wurden. Ebenso kam es vor, daß er bei gemeinsamen Droschken- und Autofahrten den Kutscher vor der Fahrt schon entlohnte. Gerade die Umständlichkeit, mit der er freihielt, bildet aber die beste Bestätigung dafür, daß ihm das Freihalten und Geldausgeben nicht leicht und selbstverständlich von der Hand ging.
Diese kleinbürgerliche Einfachheit, ja Knickerigkeit des Privatlebens bei sonst groß gewordenen Lebens- und Schaffensformen ist eine Eigenschaft, die vielleicht als Erbteil der jüdischen Rasse bezeichnet werden kann. Sie ist ebenso jüdisch wie das entgegengesetzte Extrem der üppigen Lebensführung, die sich gerade bei manchen jüdischen Emporkömmlingen herauszubilden pflegt. Auch sonst ist der jüdische Einfluß in Rathenaus Charakter deutlich zu spüren. Der rechnerische Sinn im Schwärmen, der Realismus in der Phantasie, die Kühle im Enthusiasmus, die Selbstkritik im Optimismus und schließlich die Schärfe und Helle des Intellekts, die trotzdem nicht zur Gedankenblässe wird, sondern der Fülle und Farbe fähig ist, alles das sind Zeichen des einmal bodenständig gewesenen, aber dann entwurzelten und nun wieder nach Verankerung strebenden, darum in seinen Empfindungen häufig umschlagenden jüdischen Geistes. Eine Wesens- und Blutsverwandtschaft zwischen Rathenau und seinem um 8 Jahre jüngeren Vetter, dem Maler Max Liebermann, mit dem er sich allezeit gut verstand und dessen Berufswahl er einst gegenüber [S. 363] der ganzen Familie verteidigt hatte, ist hier schwer zu verkennen.
Außer dem Unterschied zwischen dem problematischen und dem positiven Charakter, von dem wir am Eingang dieses Kapitels ausgingen, ist auch für die Beurteilung großer Männer noch ein anderer zu beachten, nämlich jener, den Schiller durch den Gegensatz von naiv und sentimentalisch gekennzeichnet hat. Ein Tatmensch kann sowohl naiv wie auch sentimentalisch sein oder besser gesagt, sowohl der naive wie der sentimentalische Mensch kann es zu starken Taten bringen. Der ganze Unterschied liegt vielleicht, wenn man den seelischen Vorgängen auf den Grund geht, nur im Graduellen. Beim naiven Menschen ist die Ausbeute aus den intuitiven Einfällen größer als beim sentimentalischen. Er denkt, schafft, ringt leichter, weil ihm mehr zufliegt, d. h. weil sein schwingendes, schaffendes Unterbewußtsein an den Problemen mitarbeitet, die es selbst seinem Bewußtsein als die seinem Wesen adäquatesten sozusagen untergeschoben hat. Einfall und bewußte Gedankenarbeit kommen sich bei ihm auf halbem Wege entgegen, während sich beim sentimentalischen Menschen die Gedankenbildung fast (aber nur fast ) vom Urgrund an in der quälend offenliegenden Sphäre des Bewußtseins, d. h. im Bereiche der Kämpfe, Zweifel und Widerstände abspielt und er auch Anlage und Form der Schöpfung, die sich dem naiven Schöpfer meist unwillkürlich runden, erst mühsam konstruieren muß. Aber man soll nur ja diesen graduellen Unterschied nicht zu einem grundsätzlichen machen. Auch sentimentalische Schöpfer gehen von Einfällen aus, wenn diese auch unfertiger, geringer entwickelt, weniger original sind und mehr von Außendingen angeregt zu werden pflegen. Auch sie haben Visionen, indes auf der anderen Seite genialen Männern, die wir als Hauptvertreter des naiven Typus zu bezeichnen pflegen, wie Luther, Goethe, Friedrich, Napoleon und Bismarck problematische Kämpfe der schwersten Art gewiß nicht erspart geblieben sind.
Emil Rathenau ist, wenn man ihn von dieser Seite aus betrachtet, nicht ganz leicht in eine der beiden Charakterklassen einzuordnen, aber im ganzen ist er doch mehr den naiven als den sentimentalischen Menschen- und Schöpfernaturen zuzurechnen. Dies zeigt sich einmal in dem schon oben angeführten Merkmal, daß bei ihm die Zahl und Qualität der „Einfälle“, der intuitiven Gedanken, verhältnis [S. 364] mäßig groß war. Ferner aber in der echt naiven Art, wie er sich, so sehr und vielseitig er auch die Möglichkeiten seiner Begabung auf den ihr zugänglichen Gebieten auszubilden bestrebt war, gegen alles abschloß und verschloß, was ihm nicht „lag“, was ihn von den Grundlagen seines Wesens und seiner Kraft ablenken, zersplittern und unnötigerweise mit wahrscheinlich doch zweckloser Arbeit belasten konnte. Der sentimentalische Mensch weiß oder fühlt nicht so sicher, was ihm nützen oder schaden, fördern oder hemmen wird. Weil er sich aus unsicheren Grundlagen heraus seinen wesenhaften und charakteristischen Besitz erringen muß, kommt er manchmal auch in die Versuchung, sich etwas nutzbar machen zu wollen, was ihm nichts nützen, ihn nicht bereichern kann. Er hat, um die gleiche Leistung zu vollbringen wie der naive Schöpfer, meist einen größeren Material- und darum auch Energieverbrauch aufzuwenden als jener. Seinem Ertrag an Weizen steht eine größere Menge Spreu gegenüber. Darüber darf auch die Tatsache nicht forttäuschen, daß er, als der selbstkritischere Intellekt, gegenüber dem, was er als fertig betrachtet und an die Öffentlichkeit gelangen läßt, meist schonungsloser urteilt und es sorgfältiger sichtet, als der naive Genius.
Emil Rathenau, der ein großer Fachmann war und den die kleinen Künstler vielleicht mitleidig lächelnd als einen Fachmenschen abtun werden, stand zum Beispiel jeder Kunst — mit Ausnahme vielleicht der ihm naheliegenden Architektur — mit gänzlich naivem Unverständnis gegenüber. Er hat sie und manches andere, dem näherzukommen er keinen Sinn und keine Zeit hatte, aber durchaus nicht etwa geringgeschätzt. Im Gegenteil, er hatte eine Art kindlich staunender, echt naiver Bewunderung dafür, die er allerdings auch in derselben Weise den halsbrecherischen Kunststücken irgendeines Akrobaten entgegenbringen konnte. Vielleicht hat er manches, was ihm nicht zugänglich war, sogar mit größerer Ehrfurcht betrachtet als die eigenen Leistungen und das Gebiet, auf dem sie sich abspielten, und die schriftstellerischen Arbeiten seines Sohnes Walther, die er wohl kaum ganz verstand, haben ihn gerade darum etwas von jener Art bewundernden Stolzes auf den gelehrten und in allen schöngeistigen Sätteln gerechten Sohn abgenötigt, wie sie der reiche Kaufmann vor dem „studierten“ Erben häufig genug empfindet. Trotz seiner Kunstfremdheit war Emil Rathenau, der sich so ängstlich in sein Fachgebiet einschloß, aber im Grunde seines Wesens [S. 365] und seines Schaffens eine durch und durch künstlerische Natur. Den Fachmenschen charakterisiert Trockenheit, Pedanterie und Erdenschwere. Rathenau besaß Schwung, visionäre Kraft und Leidenschaft. Seine Geistesklarheit, seine Logik waren nicht von nüchterner Abstraktion durchsetzt, sondern sozusagen bluterfüllt und darum auch Widersprüchen zugänglich, die ja der Natur gleichfalls nicht so fremd sind wie der Wissenschaft.
Bei einer solchen Grundveranlagung war an Emil Rathenau und den Eigenschaften seines Wesens nichts alltäglich, schablonenhaft, vielmehr alles eigenartig, persönlich, eigenem Boden entwachsen und nach eigenen Maßen gebildet. Nichts war eindruckslos, matt und trübe, alles farbig, und zwar von starker, gleichzeitig aber subtil vermischter Farbe. Alles rundete und gestaltete sich bei ihm zur charakteristischen, bedeutenden Form. Nichts blieb ungebildetes, unbeherrschtes Material. Gerade dieser unwillkürliche Drang zur Form offenbart die im tiefsten Wesen künstlerische Natur dieses Geschäftsmannes.
Rudolf Sulzbach , der dem Aufsichtsrat der A. E. G. seit ihrer Gründung angehörte und mit ihrem Begründer mehr als nur geschäftsfreundlich verkehrte, fragte einmal, als in einem Kreise von den technischen Fähigkeiten Rathenaus gesprochen wurde, einigermaßen erstaunt: „Ist Rathenau denn Ingenieur?“ Herrschte schon in dem engeren Kreise, der Emil Rathenau umgab, solche Unwissenheit über seine technische Begabung und Leistung, so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die weitere Öffentlichkeit von dem Techniker nicht viel wußte und ihn so sehr ausschließlich als Kaufmann und Finanzmann betrachtete, daß die Legende entstehen und sich jahrelang erhalten konnte, die A. E. G. sei gar kein Fabrikationsunternehmen, sondern ein rein industrielles Finanzinstitut. Gewiß, Emil Rathenaus einzigartige Begabung, sein Genie und das Schöpferische seiner Leistung lagen auf industrie-kaufmännischem und industrie-finanziellem Gebiete, aber alles dies hätte sich doch nicht zu so geschlossener Wirkung, zu so sicherer Schlagkraft und Ausgeglichenheit entwickeln können, wenn es nicht auf dem Untergrunde einer zuverlässigen technischen Fähigkeit aufgebaut [S. 366] gewesen wäre. Ein Kaufmann, der erst über die technische Grundlage und Tragweite seiner wirtschaftlichen Projekte den Fachmann befragen muß, wird seine Pläne nie so frei, so sicher, so souverän entwerfen und überwachen können, als wenn er selbst der technische Fachmann ist. Er ist von dem Urteil anderer abhängig und kann Glück haben, wenn diese anderen ein richtiges Urteil besitzen und seinen Plänen kongeniales Verständnis entgegenbringen. Er kann aber auch Unglück haben, wenn das Urteil seiner Fachleute falsch ist oder sich ihr technischer Ideengang nicht ganz harmonisch mit seinem wirtschaftlichen verschmelzen läßt. Emil Rathenau war kein sogenannter produktiver Techniker, kein Erfinder und Entwerfer, er hat nur selten eine technische Konstruktion selbständig von Anfang bis zum Ende durchgeführt. Darin waren ihm viele Ingenieure mittleren und kleineren Formats überlegen. Selbst in der Maschinenfabrik Webers, wo er doch konstruieren sollte und wollte, hat er es nur zu Verbesserungen der Maschinen gebracht. Das Hauptresultat seiner Arbeit war ein ziemlich resigniertes Urteil über die Unzulänglichkeit der ganzen damaligen Maschinentypen. Dennoch besaß er auch auf dem Fachgebiet eine Begabung allerersten Ranges: Er war ein technischer Kritiker von ungewöhnlichem Scharf- und Weitblick, ein Kritiker, der nicht nur tief in die Einzelheiten und Kleinheiten einer Materie eindringen, sondern der neben dem Mikrokosmos auch den Makrokosmos, die großen Zusammenhänge, Untergründe und Ausblicke sah. Vielleicht ist diese Gabe der technischen Kritik sogar für den Leiter eines so weit ausgesponnenen Unternehmens mit gemischter Fabrikation, das sozusagen alle Erzeugnisse seines Faches herstellen und sich nicht auf die hervorragende Durchführung irgend einer Spezialität beschränken darf, wichtiger als die geniale Technikerveranlagung positiver Art. Denn der positive Techniker, der ein großes Unternehmen leitet, kann immer nur eine beschränkte Anzahl von Konstruktionen selbst durchführen oder leiten. Es liegt bei ihm die Gefahr vor, daß er gerade seine Konstruktionen für die wichtigsten hält, sie in der Gesamtökonomie seiner Fabrikation bevorzugt und darum den objektiv richtig wertenden Überblick über den ganzen technischen Komplex der Gesamt-Unternehmung aus subjektiven Gründen verliert. — Ein technischer Kritiker ist dieser Gefahr nicht so sehr ausgesetzt. Auch er kann natürlich, wie jeder Mensch, subjektiv sein, sich in den Maßstäben seiner Kritik [S. 367] irren, gewisse Vorlieben und Vorurteile haben. Während aber bei dem positiven Techniker der Subjektivismus mit der Größe des Talents sehr wohl wachsen, der Eigensinn mit der Eigenart sich steigern kann, wird der Kritiker, je klüger, scharfsinniger, treffsicherer er denkt, auch umso objektiver in seinem Urteil werden und man kann ruhig sagen, daß gerade der große Kritiker sich von Willkürlichkeiten in der Wertbemessung im allgemeinen fern halten wird. Er hat die Distanz zum Einzelnen und zum Gesamten, die dem Erfinder häufig fehlt. Denn das Grundelement seiner Begabung ist vergleichende Logik, das des Erfinders temperamentvolle Logik. Worin tritt nun die Wirksamkeit eines solchen technischen Kritikers, wie Emil Rathenau einer war, besonders in Erscheinung? — Wenn man es kurz und prägnant zusammenfassen will, kann man vielleicht sagen, daß er einmal aus dem bisherigen Stande der Wirtschaft und der Technik Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung für die weitere Entwickelung ablesen kann und zweitens , daß er bei technischen Erfindungen die Frage ihrer praktischen Verwertbarkeit treffend zu beurteilen vermag. Die erstere Eigenschaft macht den technischen Anreger, und tatsächlich ist Rathenau für seine Konstrukteure ein außerordentlich fruchtbarer Anreger gewesen, er hat sie auf Ideen gebracht, die nicht selten unter den Händen der richtigen Fachleute zu glücklichen Verwirklichungen führten. Er sagte zum Beispiel: Wir brauchen, um eine gewisse wirtschaftlich notwendig erscheinende Wirkung zu erzielen, jetzt Maschinen oder Transformatoren von einer gewissen Stärke und Beschaffenheit. Oder wir brauchen, um die elektrische Kraftübertragung in den Fabriken einzuführen, Vorrichtungen bestimmter Art und Wirkung, durch die gewisse ökonomische Vorteile erreicht werden. Er gab das Ziel an, und manchmal auch den Weg oder mehrere Wege, auf denen man zu dem erwünschten Ziel kommen könnte und er hat sich in der richtigen Beurteilung des Zieles nur selten geirrt und ziemlich häufig auch mit den von ihm vorgeschlagenen Wegen das Richtige getroffen. Vielleicht noch erfolgreicher war Rathenau in der treffsicheren Beurteilung der in einer Erfindung liegenden praktischen Ausnutzungs-Möglichkeiten. Sein Blick dafür war direkt genial, und es gibt vielleicht keinen zweiten, der ihm in dieser Hinsicht an die Seite zu stellen ist. Seine praktische Vision beim Anblick der Edisonlampe sah sofort Jahrzehnte der Entwickelung [S. 368] voraus, die dann tatsächlich fast genau so eingetreten ist, wie er sie sich vorgestellt hatte. Die Aussichten der Aluminiumherstellung auf elektrochemischem Wege erkannte er gleichfalls auf der Stelle und hielt das Verfahren und die praktische Arbeit mit diesem durch alle Schwierigkeiten und Kosten hindurch aufrecht. Den Wert des Drehstromsystems, der Turbine hat er mit schneller Sicherheit begriffen, und auch viele kleinere Erfindungen verdanken ihm ihre Ausgestaltung und Nutzanwendung. Erfindungen dagegen, die nicht so absolut schlagkräftig waren, wie den Jablochkofflampen, dem ersten Wechselstromsystem usw. stand er mit abwartender Vorsicht gegenüber. Den Akkumulator, der viele Techniker und Gründer blendete, hat er niemals überschätzt, sondern bei aller Würdigung seines Wertes doch stets als Stromquelle minderen Ranges betrachtet.
Der kritische Techniker dieser Art braucht zwar kein hervorragender Könner im Positiven zu sein, aber ohne grundlegende technische Vorbildung, ohne genaue Einsicht in die technischen Methoden, Erfahrungen und Gesetze kann er seine fruchtbare Arbeit nicht ausüben. Ein begabter Dilettant, der nur gewisse mehr oder weniger phantasievolle, selbst geistreiche Vorstellungen von technischen Dingen hätte — ein Jules Verne der Praxis — würde das sichere Urteil, diese Grundlage des technischen Kritikers, nicht besitzen, er würde vielleicht einmal einen Treffer erzielen, öfter jedoch irren und Fehlschläge erleiden. Ein solcher Dilettant, dessen Wissen Stückwerk ist, würde, an die Spitze eines großen Unternehmens gestellt, mit seiner Autorität im Anregen und Entscheiden großes Unheil über seine Gesellschaft bringen können, Geld und Arbeitskräfte vergeuden und das Unternehmen zum finanziellen Ruin treiben können. Emil Rathenau war ganz und gar kein solcher Dilettant. Er hatte die Maschinentechnik in seiner Jugend gründlich gelernt und studiert, und mit der Elektrotechnik, wenigstens dem für ihn ausschlaggebenden Starkstromwesen, war er sozusagen aufgewachsen. Ihre Gesetze und ihre Erscheinungsformen waren ihm nicht angelernter, sondern erworbener Besitz.
Neben seiner Fähigkeit der technischen Kritik oder sozusagen verbunden mit ihr, besaß Rathenau noch eine andere Gabe, die seine Mitarbeit an technischen Dingen für seine Ingenieure zwar manchmal wenig angenehm, aber im Interesse eines gelungenen Ergeb [S. 369] nisses außerordentlich wertvoll machte. Er besaß eine ausgesprochene, direkt erfinderische Kunst, Hemmnisse, Fehler und Widerstände in der technischen Konstruktion zu überwinden oder doch die Konstrukteure auf die richtigen Wege zu ihrer Überwindung hinzuweisen. Diese Kunst, bei der es sich um kein bloßes Herumraten, sondern um ernstes Durchdenken handelte, wurzelte in zweien seiner grundlegenden Eigenschaften, nämlich einmal in seiner intellektuellen Fähigkeit der technischen Kritik und ferner in der Unerschütterlichkeit des Willens, mit der er, von keinem Fehlschlage entmutigt, immer wieder von neuem durchdachte, versuchte und aufstachelte, um schließlich dennoch — wenn nicht auf der Hauptstraße, so doch auf Umwegen — zum Ziele zu gelangen. Dabei begnügte er sich nicht mit einer unvollkommenen oder annehmbaren Lösung, sondern er gab nicht eher Ruhe, als bis die höchstmöglichste Vollendung erreicht war. Als einmal Felix Deutsch noch in der ersten Zeit der A. E. G. von einer Geschäftsreise aus England zurückkehrte, empfing ihn Rathenau zu seiner großen Bestürzung mit den Worten: „Lieber Deutsch, Sie haben zwar sehr schöne Aufträge gebracht. Das nützt aber nichts. Wir sind kaputt. Siemens hat eine neue Lampe, die viel besser ist als die unsrige.“ Emil Rathenau setzte sich aber trotz dieses Anfalls von Resignation 4 Wochen lang von morgens früh bis tief in die Nacht hinein in die Lampenfabrik, und arbeitete mit den Konstrukteuren so lange, bis er eine Lampe fertiggebracht hatte, die dem Konkurrenzfabrikat mehr als ebenbürtig war. Unsäglich peinigte er die armen Techniker, denen er die knifflige Aufgabe zugewiesen hatte, die Nernstlampe, aus einer geistreich ersonnenen in eine praktisch brauchbare Konstruktion umzuwandeln. Hier liegt vielleicht der einzige Fall vor, bei dem sich Rathenau in eine falsche Richtung verrannt, oder doch die noch richtigere Bahn verfehlt hatte. Bei dieser Arbeit war der Verbrauch Rathenaus an Technikern ganz gewaltig gewesen, und einige von ihnen mußten Sanatorien aufsuchen, um sich von der Arbeit und Mitarbeit Emil Rathenaus zu erholen.
Leicht gemacht wurden Emil Rathenau seine technischen Erfolge fast nie. Er mußte überall ringen, und Lehrgeld bezahlen, viel Mühe und Zeit aufwenden, ehe er den Erfolg sah. Dafür hat er aber auch diesen am Ende fast stets für sich gehabt, und ein vollständiges Fiasko kaum je erlitten.
Als Kaufmann wurzelte Emil Rathenau nicht im Händlerischen , sondern im Industriellen . Das heißt, ihn interessierte nicht der Verkauf der Ware, und die Technik des Absatzes, sondern sein Interesse und seine Arbeit gingen dahin, eine Ware so herzustellen und auszustatten, daß sie sich gut verkaufen ließ, daß ihre Eigenschaften dazu angetan waren, auf dem Absatzmarkte Nachfrage zu erregen, wirkliche Bedürfnisse zu befriedigen oder auch zukünftige Bedürfnisse zu wecken. Dabei wußte er sehr wohl, daß man dem Käufer auf die Dauer keine Ware aufdrängen konnte, die ihm nicht wirklich Vorteile bot. Nicht das Verblüffende, das Effektvolle einer Ware konnte das dauernde Bedürfnis nach ihr schaffen, sondern nur das Zweckmäßige, das irgendwelche Vorzüge vor der bisherigen Art der Bedarfsdeckung bot, eine höhere Stufe der Wirtschaftlichkeit verhieß, neue produktive Möglichkeiten eröffnete und neue Aussichten des Gewinnes oder der Ersparnis bot. Das Telephon, die Glühlampe, die Kraftübertragung führte er in Zeiten, in denen ein großer Bedarf nach ihnen sich noch nicht feststellen ließ, vielleicht auch noch gar nicht vorhanden war, keineswegs deswegen ein, weil die Einrichtungen technisch sinnreich und praktisch effektvoll waren, sondern er sah voraus, welche neuen Wirkungen, Leistungen und Vervielfältigungen im Wirtschafts- und Verkehrsleben sich mit ihnen erreichen lassen würden. Hier, wo die Statistik, die Erfahrung, die zahlenmäßige Kalkulation auf Grund des vorhandenen Tatsachenmaterials versagen, wo aber auch die Phantasie nicht theoretisch schweifen darf, sondern die realen Voraussetzungen, die Tatsachen einer zukünftigen Wirtschaftswelt sich sozusagen im Irrealen voraus konstruieren muß, als ob bereits Erfahrungen vorlagen, ist das schwierigste, aber auch das erfolgversprechendste Gebiet des industriellen Kaufmanns.
Emil Rathenau war ein Meister dieser realen , dieser statistischen Phantasie. Naturgemäß genügte aber bei der Befriedigung erst zu weckender Kaufbedürfnisse nicht die einfache ökonomische Fertigstellung einer brauchbaren, ja selbst konkurrenzüberlegenen Ware, so daß dann alles übrige der Verkaufs- und Handelstechnik überlassen werden konnte. Es war auch notwendig, die Ware oder die Leistung so zu zeigen, daß ihre Vorzüge für jeden als [S. 371] Verbraucher in Betracht kommenden deutlich in Erscheinung treten mußten . Diese Propaganda für neuartige Dinge gehörte infolgedessen mit zu der Sphäre des industriellen Kaufmanns, in der Rathenau lebte und webte. Die Schaffung und Organisation der sogenannten Demonstrationsunternehmungen war sogar eine seiner ureigenen Aufgaben, zu deren Lösung er die Anregungen und die bestimmenden Anweisungen gegeben hat. Anders war es mit dem Absatz von sogenannten marktgängigen Waren, von Typen- und Massenartikeln, worunter nicht nur solche zu verstehen sind, die in ihren Formen und Eigenschaften endgültig oder für längere Zeitspannen festliegen, sondern auch solche, die — wie es bei den meisten Fabrikaten einer fortschrittlichen Technik der Fall ist — in einem ständigen Entwickelungs- und Verbesserungsprozeß begriffen sind. Hier griff die eigentliche Verkaufsorganisation ein, die für Rathenau aber nur eine Sache zweiter Ordnung war. Wenn trotzdem die A. E. G. auch in dieser Hinsicht nicht nur mustergültig versorgt war, sondern ganz neuartige Wege beschritt, so ist dies dem Umstand zu danken, daß ihr von Anfang an in Felix Deutsch, Rathenaus erstem Mitarbeiter, eine Kraft zur Verfügung stand, die an händlerischer Begabung die mehr aufs Industrielle gerichteten Fähigkeiten des Meisters wirksam und glücklich ergänzte. Deutsch war auf seinem ureigenen Gebiete so überragend und selbstsicher, daß Emil Rathenau ihm dieses Gebiet fast ganz selbständig überließ und sogar zugab, daß die Organisation des Verkaufsgeschäfts sich in einer Richtung entwickelte, die seinen eigenen Anschauungen anfangs bis zu einem gewissen Grade zuwiderlief. Rathenau hatte nämlich in allen Fragen, die er nicht aus erster Hand, sozusagen in höchstpersönlicher Art löste (was bei dem ihn nur mittelbar interessierenden Verkaufsgeschäft aber nicht der Fall war), eine gewisse bewundernde Vorliebe für das Amerikanische. Das amerikanische Verkaufssystem bestand nun wesentlich in der Abgabe der typischen Artikel und Massenware an Vertreter, Kommissionäre, Installateure und Händler, die ihrerseits den Absatz an die Verbraucher besorgten. Ein solches System ist einfach für den Fabrikanten, und entsprach aus diesem Grunde wohl der minder bedeutsamen Stellung, die Rathenau dem Verkaufsgeschäft zuwies. Er wollte es ohne allzugroßen Aufwand an Eigenarbeit, Apparatur und Kapital, die nach seiner Ansicht besser anderen, ihm wichtiger erscheinenden Gebieten zugeführt werden [S. 372] sollten, erledigen und konnte sich dabei immerhin darauf berufen, daß die Amerikaner mit diesem System gute Geschäfte machten und einen großen Umsatz erzielten. Nun lagen allerdings die Verhältnisse in Amerika wohl etwas anders als in Europa. Die Absatzmöglichkeiten des weiten und sich rasch auf jungem Kulturboden entwickelnden Landes waren an sich größer, der Bedarf war weniger passiv und wandte sich ganz von selbst den modernsten Methoden der Technik zu, denn es waren dort absolut und relativ viel mehr Unternehmungen und Ausrüstungen ganz neu zu schaffen, die sich naturgemäß dann sofort mit den zeitgemäßesten Einrichtungen versahen. In der Zeit der Licht- und Kraftelektrizität entstanden drüben zum Beispiel erst viele Städte oder es wuchsen Ortschaften zu städtischem Umfang an, die, vor das Problem der Beleuchtung und Beförderung gestellt, naturgemäß nicht die älteren Systeme (Gas und Pferdebahn), sondern die modernsten (elektrisches Licht und elektrische Straßenbahnen) wählten. Dasselbe war mit neuerstehenden Fabriken, Hüttenwerken usw. der Fall. Sie führten sofort die rationellste Art der Kraftübertragung ein. Ganz anders lagen die Verhältnisse in den europäischen Ländern. Hier waren die Städte und ein großer Teil der Fabrikationsbetriebe bereits, bevor die Elektrotechnik ihre Leistungsfähigkeit bis zu voller Überlegenheit entwickelt hatte, auf andere Weise eingerichtet gewesen, und es galt, sie zur Auswechslung ihrer alten Einrichtungen und zur Ersetzung durch neue elektrotechnische Anlagen zu veranlassen, eine Aufgabe, die naturgemäß eine größere Aktivität der Elektrizitätsindustrie erforderte als in Amerika. Für die Zentralunternehmungen (Elektrizitätswerke und Bahnen) erkannte dies auch Rathenau als erster durchaus richtig, und seine Gründungen auf jenen Gebieten dienten darum in erster Linie dem Zwecke, den Konsum durch anregende Beispiele zur Elektrizität hinzuführen, ja sogar hinzuzwingen. Sobald es sich aber um Privatzentralen oder sonstige Einzelanlagen handelte, wollte Emil Rathenau die Konsequenzen seiner eigenen Idee merkwürdigerweise nicht ziehen. Er neigte dem amerikanischen System des Absatzes zu, trotzdem man mit diesem doch nicht unmittelbar an den Konsum herankommen, und offenbar manche Möglichkeiten des Geschäfts nicht tatkräftig genug ausnutzen konnte. Anscheinend fürchtete Rathenau, die Schicht der Zwischenhändler, Vertreter-Firmen und Installateure zu verstimmen, die zur Zeit der Gründung der A. E. G. [S. 373] das Geschäft zum großen Teil noch vermittelte und auf die er bis zu einem gewissen Grade sich stützen zu müssen glaubte. Hier war nun Deutsch weitsichtiger als Rathenau selbst, indem er die Aussichten der Zukunft über die Beschränktheiten der damaligen Gegenwart stellte. Er machte die Inkonsequenz seines Meisters nicht mit und bestand, gestützt auf seine Autorität als Leiter des Verkaufsgeschäfts, darauf, auch in diesem Gebiete das Rathenausche System zur Geltung zu bringen. Rathenau selbst ließ ihn gewähren und mußte sich später überzeugen, daß Deutsch recht gehabt hatte. Die 300 kaufmännisch-technischen Bureaus, die Deutsch an allen größeren Plätzen des In- und Auslandes errichtete, bildeten immer mehr die Tragpfeiler der Absatzorganisation und boten die Möglichkeit, den Absatz in schneller Progression zu steigern, und alle neuen Konstruktionen auf dem direktesten Wege in den Konsum zu bringen. Die Bureaus waren nicht nur mit Kaufleuten besetzt, die propagandistisch tätig waren und Geschäfte in ihrem Bezirk abschlossen, sondern auch mit Technikern, die sich nicht darauf beschränkten, die von der A. E. G. gelieferten Anlagen zu montieren, sondern sie auch ständig überwachten, Anregungen zu ihrer Anlage, Ergänzung, Verbesserung usw. gaben, Fehler beseitigten, Belehrungen über die Anwendung erteilten, Irrtümer in der Anwendung korrigierten, kurzum den Kunden dieselben Berater-Dienste erwiesen, die ihnen sonst von sogenannten „konsultierenden Technikern“ geleistet wurden. Naturgemäß verschlang ein solcher Riesenapparat von 300 technischen Bureaus mit ihrem Beamtenstab, ihren Lagerbeständen, ihren Räumlichkeiten gewaltige Summen. Er machte sich nur bei einem wirklich großen Umsatz bezahlt, und gewann infolgedessen besonders an Einträglichkeit durch die verschiedenartigen großen Fusionen, die eine Zusammenlegung der Verkaufsorganisationen der verschmolzenen Unternehmungen und eine wesentliche Vergrößerung ihres Umsatzes bei nur geringfügig erhöhten Unkosten gestatteten. Gerade der gewaltige Apparat der Verkaufsorganisation war ebenso wie das Unternehmergeschäft eine der Klippen, an denen die schwächeren Konkurrenzunternehmungen in der Elektrizitätsindustrie scheiterten. Sie vermochten den Umsatz nicht hereinzubringen, der die großen Spesen dieses Apparates aufgewogen hätte.
Emil Rathenau hat sich um das Verkaufsgeschäft — wie schon gesagt — nicht allzusehr gekümmert. Wenn er zum Beispiel auf [S. 374] Reisen war, ließ er sich nur in gewissen Abständen eine kurze Aufstellung über die Art und die Summe der erfolgten Verkäufe nachsenden. Die Namen der Käufer interessierten ihn nicht. Das war Deutsch’s Ressort, der als „Globetrotter der A. E. G.“ einen großen Teil des Jahres unterwegs war, die Filialen und Bureaus kontrollierte, dort Anregungen geschäftlicher und organisatorischer Art gab und dafür sorgte, daß die Einrichtungen auf der Höhe blieben. Wenn Rathenau reiste, so geschah dies — sofern nicht Aufsichtsratssitzungen oder Generalversammlungen befreundeter Gesellschaften und Transaktionsverhandlungen die Veranlassung dazu boten — fast stets nur, wenn technische oder fabrikatorische Fragen zu lösen waren. Insbesondere hatten seine Reisen nach Amerika, deren letzte noch im Jahre 1912 geplant war, aber nicht mehr zur Ausführung kam, meist sozusagen eine vergleichende Generalrevision der jeweiligen technischen Gesamtlage der elektrischen Welt zum Zwecke. Er prüfte, wie die beiderseitigen Leistungen und Fortschritte zueinander standen, brachte Eindrücke und Anregungen mit heim und hielt drüben auch nicht mit den Errungenschaften zurück, die in der alten Welt inzwischen gemacht worden waren. Natürlich genügten diese gelegentlichen persönlichen Besuche in Amerika nicht, um einen wirklich erschöpfenden Ausgleich zwischen kontinentaler und amerikanischer Elektrizitätstechnik zu gewährleisten. Sie dienten sozusagen nur der Superkontrolle für das von Rathenau bereits früh eingeführte System des Austausches mit der General Electric-Gruppe.
Nicht nur gegenüber dem Kaufmann wußte Rathenau das industrielle Prinzip zur Geltung zu bringen, sondern auch gegenüber dem Techniker. Der manchmal eigensinnige Ehrgeiz vieler, hauptsächlich konstruktiv begabter Techniker, alles im eigenen Hause machen zu wollen, für jeden Gegenstand eine eigene Konstruktion zu haben, war ihm fremd. Es hat der A. E. G. unter der Leitung Rathenaus nie an hervorragenden Eigenkonstruktionen gefehlt. Wenn aber durch den Erwerb fremder, bereits erprobter Verfahren oder durch die Zusammenlegung eigener und fremder Verfahren schneller und vorteilhafter zum Ziele zu kommen war als durch die mühselige technische Innenarbeit, so wählte Rathenau, dem es letzten Endes nicht nur auf den technischen, sondern auch auf den wirtschaftlichen Erfolg ankam, unbedenklich statt des rein technischen Weges den technisch-kommerziellen. Von einer bloßen schematischen Nachahmung [S. 375] und Benutzung fremder Geistesarbeit war die Rathenausche Methode aber auch in solchen Fällen weit entfernt. Überall, wo er fremde Konstruktionen erwarb, so bei den Edisonlampen, bei den Spragueschen Straßenbahnpatenten, beim Akkumulator und der Curtis-Turbine, hat er die übernommenen Gegenstände in steter Weiterentwickelung verbessert und durchgebildet, sie so recht eigentlich erst zu der Reife gebracht, durch die sie ihre großen Erfolge davontrugen.
Für die industrielle Grundlage des kaufmännischen Charakters Emil Rathenaus zeugt schließlich auch die innere Ausbildung des Kalkulationswesens der A. E. G. Dieses war so organisiert, daß die Fabrikationsabteilungen mit dem Verkauf und mit der Preisbemessung für die von ihnen hergestellten Waren nicht das geringste zu tun hatten. Für sie gab es nur Selbstkostentabellen. Diese übermittelten sie der Verkaufsabteilung, der es vorbehalten war, auf der Grundlage jener Tabellen die Preise festzusetzen. Damit wurde bezweckt, daß sich die Fabrikation von dem Verkaufspreise weder nach oben noch nach unten in ihrem Herstellungsprozess beeinflussen lassen sollte. Ihre Aufgabe war es, nach rein sachlichen Gesichtspunkten zu produzieren und dabei die Ware so gut und so billig wie möglich herzustellen, ohne sich in der Qualität ihrer Arbeit durch die Kenntnis der Verkaufspreise beirren zu lassen. Stellte die Verkaufsabteilung fest, daß die Selbstkosten einer bestimmten Ware im Vergleich mit dem Preise einer gleichartigen Ware der Konkurrenz zu hoch waren, so wurde auf ihre Veranlassung in die Frage einer Untersuchung und Verbesserung des Produktionsprozesses eingetreten. Im übrigen war es das Prinzip Rathenaus, aus den drei Faktoren Grundrente, Produktionspreis und Vertriebskosten eine Preisstellung zu ermöglichen, die der jedes Konkurrenten gewachsen, möglichst aber überlegen war. Über die Faktoren Produktionspreis und Vertriebskosten ist schon gesprochen worden. Über das Thema Grundrente soll der nächste Abschnitt, der die Grundlage der Rathenauschen Finanzpolitik noch einmal zusammenfassend schildern will, Aufschluß geben.
Industriefinanzier — das ist das Wort, mit dem Rathenau am häufigsten charakterisiert wird, womit man die Größe und Besonderheit seiner Leistung am kräftigsten herausheben und umschreiben [S. 376] zu können meint. Große Industriegebilde hätten auch andere geschaffen, unterschiedlich und neu seien bei Rathenau aber hauptsächlich die Finanzierungsmethoden, die in dieser Art und Ausprägung kein anderer vor ihm und neben ihm ausgebildet habe, die für eine ganze Generation vorbildlich und fruchtbar geworden seien. Drängt sich ein so starker Eindruck von dem Wesen und Wirken eines Mannes der Öffentlichkeit auf, so muß ihm naturgemäß irgend eine berechtigte Ursache zu Grunde liegen. Das Urteil der öffentlichen Meinung braucht nicht umfassend zu sein, es braucht das Bild des beurteilten Menschen oder Gegenstandes nicht ganz in der Fläche zu decken und nicht ganz bis in die Tiefe zu erfassen. Die Beurteilung kann schief und oberflächlich, aber sie kann nicht völlig falsch sein. In der Tat war Emil Rathenau ein Finanzkünstler ersten Ranges, und in der Tat gehen von hier vielleicht die stärksten Einflüsse aus, die er über die Grenzen seiner Sondertechnik und Sonderindustrie hinaus auf das Gesamtwirtschaftsleben ausgeübt hat, sofern wir allerdings die umwälzenden Einwirkungen der von Rathenau beschleunigten „Elektrisierung“ fast aller Verkehrs- und Produktionsprozesse als zur elektrischen Sondertechnik gehörend betrachten. Unter seinen Methoden, die einfach von anderen Gewerben übernommen, zum Gemeingut der Gesamtwirtschaft werden konnten, stehen die finanziellen weitaus im Vordergrunde. Das System der Selbstbedarfsdeckung und Selbstabsatzwirtschaft, wie es Rathenau für die elektrische Industrie erfunden hat, war doch im wesentlichen auf diese oder wenige verwandt organisierte Industrien beschränkt, in anderen Großgewerben, wie zum Beispiel im Montangewerbe, in der chemischen Großindustrie usw. entstanden unabhängig davon ganz andere, zum Teil sogar noch radikalere Methoden der „Gemischtwirtschaft“. Das Finanz- und Reservensystem Emil Rathenaus dagegen ist weit über die Grenzen der Elektrizitätsindustrie hinaus epochemachend geworden, und mit Recht konnte Dr. Walther Rathenau in der ersten Generalversammlung, die die A. E. G. während des Krieges abhielt, darauf hinweisen, daß die großen Reserven der industriellen Unternehmungen, dieses „Mark im Knochengerüst des deutschen Industriekörpers“ die schnelle Umstellung und Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie im Kriege in erster Linie ermöglicht hätten. Nun folgt allerdings daraus, daß Emil Rathenau diese Reservenpolitik [S. 377] zuerst im großen Maßstabe angewandt hat, noch nicht unbedingt, daß sie ohne ihn überhaupt nicht Eingang im deutschen Wirtschaftsleben gefunden hätte. Vielleicht lag sie ohnedies in der Richtung unserer Industrieentwickelung und Emil Rathenaus Verdienst bestände alsdann nur darin, durch sein erfolgreiches Vorbild diese Entwickelung bestärkt und beschleunigt zu haben. Daß sie nicht mit jeder großen und reichen Wirtschaftsentwickelung notwendig verbunden zu sein braucht, zeigt das Beispiel Englands, wo eine viel ältere wirtschaftliche Generation doch nicht annähernd so viel Reservekraft der unpersönlichen Unternehmungen, dafür aber mehr persönlichen Reichtum angesammelt hatte wie die deutsche, zeigt ferner das Beispiel Amerikas, wo man trotz einer fast noch stärkeren Industrialisierung im allgemeinen noch nicht die Kinderkrankheit jeder Großwirtschaftsbewegung, das System der Agiotage und Kapitalverwässerung, überwunden hat.
Und doch — trotz der großen Ausbildung, Sichtbarkeit und Fernwirkung der Rathenauschen Finanzkunst, kann sie nicht als seine grundlegende, seine primäre Begabung bezeichnet werden. Rathenau hat niemals reine Geschäfte mit dem Gelde und um des Geldes willen gemacht, er finanzierte nie aus Freude am Finanzieren, sondern dies war ihm nur das — virtuos angewandte — Mittel zum Zwecke des Industrialisierens. Seine Finanzwirtschaft war sozusagen nur das der Industriewirtschaft genau angepaßte Kleid, eine sekundäre Kunst, destilliert aus seinen ursprünglichen Begabungen und Eigenschaften, denen sie dienen und die sie erst zu voller Wirkung bringen sollte. Finanzgewinne wurden von Rathenau — wenigstens ursprünglich — nicht angestrebt , sondern sie fielen als reife Früchte von dem Baume seiner Industriepolitik ab. Erst später, als er erkannt hatte, wie reiche Geldfrüchte dieser Baum tragen könnte, ging er dazu über, sie zu züchten, immer jedoch die Gesichtspunkte der Industriewirtschaft denen der Finanzwirtschaft voranstellend, deren Gefahren er wohl kannte und deren Verlockungen er darum nie Macht über sich gewinnen ließ.
Entwickelte sich so Rathenaus Finanzkunst, die in der Hochzüchtung, Festigung und späteren gewinnreichen Verwertung von Betriebsrenten, nicht im Manipulieren mit dem Aktienkurse bestand, ganz aus dem Bedürfnis des Industrialisierens, also aus der wirt [S. 378] schaftlichen Grundeigenschaft des Mannes, so wurzelte seine finanzielle Reservenpolitik vielleicht noch tiefer in einem der Grundgefühle des Rathenauschen Charakters : nämlich in dem Pessimismus . In der Kühnheit des Entwerfens industrieller und finanzieller Transaktionen keinem der großen Kaufleute unserer Zeit nachstehend, übertraf sie Rathenau doch alle in dem Gegengewicht der Vorsicht, durch das er diese Kühnheit des Entwurfes bei der Ausführung gegen alle möglichen Gefahren zu sichern bestrebt war. Dieses Gegengewicht war aus Reserven gebildet, die zum Teil aus zurückgelegten Beträgen der Jahresgewinne, zum Teil aus dem zurückhaltend angewandten Aktienagio und zum Teil aus Buchvorteilen bei Transaktionen unter Ausnutzung dieses Aktienagios stammten, das es der A. E. G. gestattete, Fabrikationswerte und Beteiligungen zu außerordentlich niedrigen Preisen zu erwerben oder doch so in ihre Bilanz einzustellen. Dabei hat sich die Reservenpolitik nie so weit verstiegen, daß von einer ungesunden Thesaurierung gesprochen werden könnte, wie sie sich in einem Teil der deutschen Verfeinerungsindustrie, namentlich im Metallgewerbe, in der chemischen Großindustrie, in der Rüstungsindustrie — unter übertriebener Nachahmung des Rathenauschen Vorbildes — während des letzten Jahrzehnts ohne berechtigten wirtschaftlichen Zweck herausgebildet hat. Ein so falsches Bild wie bei den Unternehmungen dieser Art, so zum Beispiel den Daimlerwerken, den Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, den Köln-Rottweiler Pulverfabriken, der Deutschen Gasglühlicht-Gesellschaft (Auer), den Vereinigten Glanzstofffabriken und vielen anderen, die mit verantwortlichen Aktienkapitalien von 10 bis 20 Millionen Mark, Vermögenswerte von 50 und 100 Millionen Mark decken, hat die Bilanz der A. E. G. niemals gezeigt. Bei ihr standen die Rücklagen immer noch in einem ungefähr richtigen Verhältnis zu den Risiken, der Aktienkurs war nicht so beschwert mit spekulationstreibenden Rätseln, wenn auch das Bilanzbild keineswegs jene Durchsichtigkeit besaß, die der Sinn und jedenfalls der Buchstabe des Aktienrechts vielleicht verlangen, die der wirtschaftlichen Entwickelung des Aktienwesens aber nicht immer zuträglich ist. Niemals hat die A. E. G. jene künstlichen Kapitalserleichterungen und Kapitalsverwässerungen vornehmen müssen, die das sicherste äußere Kennzeichen einer ungesunden Reservenanhäufung sind, eine spekulative Unsicherheit in den Besitz der Aktien und bis zu einem [S. 379] gewissen Grade auch in die Verwaltung der Aktiengesellschaften tragen. Emil Rathenau hat niemals unter Verzicht auf das Aktienagio Pari-Aktien oder gar Gratis-Aktien ausgegeben, er hat andererseits auch niemals das Agio bis zur letzten Grenze oder gar noch darüber hinaus ausgenutzt. Er ging einen Mittelweg, der alle Bedürfnisse des gesellschaftlichen Interesses, des Aktionärinteresses und des Kapitalmarktes zu berücksichtigen suchte. Ebenso wie die Rente und den Aktienkurs suchte er auch das Aktienagio stabil oder doch in stabiler, das heißt stetiger Aufwärtsbewegung zu halten.
Damit waren der Grundrente nicht nur günstige, sondern auch sichere Verhältnisse geschaffen und das Verhältnis zwischen Kapital plus inneren und äußeren Reserven auf der einen Seite und dem Umsatz, dem Gewinn und dem Unternehmerrisiko auf der anderen Seite blieb in den Formen des Ebenmaßes und Gleichgewichts, die auf Produktion und Kalkulation vorteilhaft und festigend einwirkten und in guten Zeiten angenehme Überraschungen nicht übermäßigen Umfanges, in schlechten Zeiten niemals allzu unangenehme Enttäuschungen bringen konnten. Das finanzielle Traggerüst war so gezimmert, daß es auf die denkbar größte Belastung eingerichtet war. Dieses Ideal der Sicherheit, das für Rathenau mit dem der allgemeinen und durchschnittlichen Wirtschaftlichkeit zusammenfiel, wurde soweit verfolgt, daß darüber die Wirtschaftlichkeit in manchen Einzeldingen allerdings auch außer acht gelassen wurde. Dies zeigt sich vornehmlich auch in der von Jahr zu Jahr größeren Anhäufung von baren Mitteln , die nicht im Betriebe werbend angelegt, sondern in Form von Bankguthaben stets greifbar gehalten wurden und fast immer die Hälfte des nominellen Aktienkapitals, so gewaltig dieses auch zuletzt anwuchs, erreicht haben. Der Zweck dieser Bankguthaben, in denen ja allerdings nicht allein die Barmittel der A. E. G. selbst vereinigt waren, sondern auch ein Teil der überschüssigen Gelder des ganzen Konzerns zum Ausdruck kam, bestand in der jederzeitigen völligen Unabhängigkeit von den Banken und vom Kapitalmarkte. Die Gesellschaft sollte stets bereit und fähig sein, neue Projekte und Geschäfte, die sich ihr vom technischen oder industriellen Standpunkte aus boten, durchzuführen, gleichgültig, ob die Zeitverhältnisse oder die kapitalbeherrschenden Geldmächte solche Unternehmungen gerade begünstigten oder nicht. Bis zu einem gewissen [S. 380] Grade war die Geldbeschaffung des Konzerns durch die Finanzgesellschaften sichergestellt. Ein Teil von deren Hilfskräften aber gerade sowie die eigenen Barmittel der A. E. G. waren in den Bankguthaben der A. E. G. (im Gegensatz zu den buchmäßigen Rücklagen, die möglichst verborgen gehalten wurden) sichtbar zusammengefaßt und mit einem gewissen Stolze zur Schau getragen, als deutliches Zeichen der finanziellen Macht und Stärke der Gesellschaft. Industriell ist diese Hauptreserve der Gesellschaft in den späteren Jahren selten in vollem oder auch nur größerem Umfange in Anspruch genommen worden, und das Beispiel anderer großer Industriekonzerne hat gezeigt, daß ein wohlfundiertes, gut rentierendes Unternehmen auch von außenher fast stets Investitionsmittel erhalten konnte, wenn es sie für wichtige Zwecke gebrauchte. Gerade erstklassige Großunternehmungen brauchen so riesige Barmittel nicht unbedingt, kleinere und weniger gefestigte Gesellschaften können sie sich wiederum nicht leisten. Eine rückschauende Kritik wird daher möglicherweise einmal zu dem Ergebnis kommen, daß diese großen Flüssigkeitsreserven in stärkerem Maße einen Luxus darstellten als die von den Aktionären viel heftiger bekämpften Buchreserven. Bei der Struktur unseres Kapital- und Bankenwesens, die immer mehr darauf zugeschnitten wurde, die einträgliche Industrieanlage vor den sonstigen Kapitalanlagen, der Staatsrente, dem Hypothekarkredit usw. zu bevorzugen, erscheint von einem industriellen Nützlichkeitsstandpunkte aus betrachtet diese übermäßige Anhäufung von Barmitteln für ein industrielles Unternehmen vielleicht nicht mehr unbedingt nötig. Vom finanziellen Standpunkte aus bedeutet die Barhaltung so großer Teile des Anlagekapitals, die nicht im Betriebe gewinnbringende Anlage finden, sondern im günstigsten Falle die Zinsen wieder einbringen, die sie kosten, bis zu einem gewissen Grade eine unwirtschaftliche Last. Emil Rathenau, der doch sonst moderne Entwickelungen so schnell begriffen, häufig sogar ihnen vorangegangen ist, kam in dieser Hinsicht von den Verhältnissen in den 70er und 80er Jahren und den schlechten Erfahrungen, die er damals mit der „Berliner Union“, der Deutschen Edison Gesellschaft und den Städtischen Elektrizitätswerken gemacht hatte, niemals so recht los. Er bedachte nicht, daß sich in der Zwischenzeit nicht nur sein Unternehmen bis zu einer Größe und Kraft entwickelt hatte, die es den Banken unter keinen [S. 381] Umständen hätte geraten erscheinen lassen, seine Bedürfnisse zu ignorieren, sondern daß auch Bankwesen und Kapitalmarkt sich inzwischen gewandelt und zu größerer Aufnahmefähigkeit und Aufnahmewilligkeit für Industriefinanzierungen vertieft hatten. Wenn sich trotzdem auch der Grundsatz der Unabhängigkeit von Banken und Kapitalmarkt für ein großindustrielles Unternehmen sehr wohl billigen ließ, so ist doch die Übertreibung dieses Grundsatzes, die durch Ansammlung übergroßer Barmittel eher umgekehrt eine Beherrschung der Banken anstrebte, nicht ebenso ganz zu rechtfertigen.
Die Krisengefahr konnte — wie sich wiederholt gezeigt hat — die übermäßige Höhe der unwirtschaftlichen Barmittel nicht hinreichend begründen, höchstens konnte man bis vor ein paar Jahren der Ansicht sein, daß die Kriegsgefahr sie fordere. Der gegenwärtige Weltkrieg scheint aber — wohl entgegen der vorher überwiegend herrschenden Meinung — gerade diese Ansicht bis zu einem gewissen Grade widerlegt zu haben. Denn er hat — wenn man von wenigen Gewerben, wie der Seeschiffahrt, absieht — nicht die Folge gehabt, die Barmittel der industriellen Unternehmungen in Anspruch zu nehmen oder gar aufzubrauchen, sondern er hat im Gegenteil allenthalben diese Barmittel in ungeahntem Umfange vergrößert, und Verhältnisse, wie sie in dieser Hinsicht vor dem Kriege nur bei einer Minderzahl von Gesellschaften, besonders bei der A. E. G., bestanden, für die Mehrzahl der Industrieunternehmungen geschaffen. Das Barreservensystem ist im Kriege typisch für die deutsche Gesamtindustrie geworden, bei den Kriegsmaterialunternehmungen infolge übernormaler Gewinnansammlungen, bei vielen Friedensunternehmungen infolge einer immer weiter fortschreitenden Liquidierung ihrer Betriebsmittel (Vorräte, Außenstände usw.). Welche Wirkung allerdings in dieser Hinsicht ein unglücklich verlaufender Krieg gehabt haben würde, der ja auch zu einer Besetzung großer deutscher Industriegebiete durch den Feind hätte führen können, ist eine andere Frage, die uns veranlassen muß, das Urteil über das industrielle Barreservensystem immerhin mit einiger Vorsicht abzugeben.
Gerade wenn wir uns die Reserven- und Finanzpolitik Emil Rathenaus ansehen, mit ihrer Fülle von verwickelten Erscheinungen und Formen, von Mitteln und Zwecken, und ihren wenigen einfachen, manchmal vielleicht übertrieben vereinfachten Resultaten, in die am [S. 382] Ende alle diese Ströme münden, so finden wir einen der stärksten Grundzüge Rathenauschen Wesens und Strebens bekräftigt, der sich auch auf allen anderen seiner Wirkungsgebiete nachweisen läßt: den Drang vom Komplizierten zum Einfachen . Menschen kleineren und mittleren Wuchses beginnen häufig mit dem Einfachen und gelangen im Laufe ihrer Tätigkeit immer mehr zum Komplizierteren. Ganz anders Rathenau. Seine Anfänge waren kompliziert. Er besaß eine erdrückende Fülle der Formen und Möglichkeiten in sich, in ihm gärte, wie in vielen genialen Charakteren, ein Chaos, das nach Ausdruck, nach Gestaltung rang. Jede Unfertigkeit, jede Unklarheit und Ungelöstheit war ihm dabei eine Qual und so strebte er naturgemäß nach ihrer Beseitigung. Den Mitlebenden mag die erste Schaffensperiode Rathenaus wirr, unübersichtlich und sprunghaft erschienen sein. Sie mußte Außenstehenden und in Sonderheit oberflächlich Urteilenden wohl auch so erscheinen, wenngleich die mannigfaltigen Kräfte Rathenaus wohl innerlich stets schon nach bestimmten Richtungen und Zielen gedrängt haben. Erst die zweite Periode brachte — auch nach außenhin erkennbar — die Vereinfachung, die Zusammenfassung der auf verschiedenen Wegen vorwärts strebenden Tendenzen. Auch dieser kaufmännische Stratege folgte — wenn auch bis zu einem gewissen Grade unbewußt — dem Grundsatz: „Getrennt marschieren und vereint schlagen“. Und nun trat das ein, was stets bei den Leistungen großer Männer zu geschehen pflegt. Was während des mühevollen Arbeitens und Ringens solcher Männer den Zuschauern unentwirrbar, fragwürdig, im Ziele unklar, im Ausgang zweifelhaft erschien, wurde nach erreichten Resultaten allen so einleuchtend, so selbstverständlich, daß es gar nicht anders hätte kommen können, daß alle schon vorher gewußt und vorher gesagt haben wollten, wie es kommen würde. Ein großes Beispiel aus der Geschichte: Die Bismarcksche Reichsgründung, von der wir Nachgeborenen den Eindruck haben, daß die ganze vorherige Entwickelung mit Notwendigkeit darauf hindrängte, die aber doch von ihrem Schöpfer nicht mit wenigen mächtigen Hammerschlägen gefügt, sondern aus vielen Möglichkeiten, gegen hundert Widerstände und Mißhelligkeiten im erbitterten Ringen mit sich selbst und der Umwelt, unter aufreibenden Kleinkämpfen durchgesetzt wurde. Wenn man mit dem gewaltigen politischen Werk Bismarcks die in ihrer Art gleichfalls imposante Leistung eines großen Industrieschöpfers [S. 383] vergleichen darf, so hat sich das Urteil der Welt ihr gegenüber mit dem Erfolge in ähnlicher Weise gewandelt. Aber erst die lapidaren Linien der Resultate ließen auch die innere Arbeit erkennen, die das Ringen um sie verursacht haben mußte.
* *
*
In dem Bilde des finanziellen Charakters Emil Rathenaus ist einer der Hauptzüge die Meisterschaft, mit der er die Aktie behandelte, und es ist kaum glaublich, daß derselbe Mann, dessen ganzes öffentliches Wirken auf der Grundlage des Aktienwesens aufgebaut ist, im Privatleben eine unüberwindliche Scheu vor Aktienerwerb und Aktienbesitz hatte. Das ist kaum glaublich und doch müssen wir, da es von Personen, die ihm nahestanden, übereinstimmend versichert wird, wohl daran glauben, ohne es allerdings hinreichend verstehen und erklären zu können. Der kleinbürgerliche Privatcharakter, den wir ja auch schon in anderem Zusammenhange in Gegensatz zu seinem geschäftlichen Weltbürgertum stellen mußten, scheint sich hier von dem Netzwerke der höchstpersönlichen Begebnisse nicht haben befreien zu können mit dem Ergebnis, daß Rathenau für sich selbst, und auch für Freunde, die Rat von ihm verlangten, alles das abschwor, was er öffentlich verkündet hatte. Einem alten Freunde, der ihn einmal fragte, ob er denn jetzt A. E. G.-Aktien hinzu kaufen, oder seinen alten Besitz verkaufen solle, erwiderte er: „Sie können auch das Spekulieren nie lassen.“ Es mag Leute geben, die Emil Rathenau nach solchen Feststellungen für unehrlich halten werden und man könnte sich sogar denken, daß ein findiger Staatsanwalt für den Fall, daß Rathenaus vielverschlungene Aktiengründungen nicht zu einem großen Erfolg, sondern zu einem finanziellen Zusammenbruch geführt hätten, aus dem Gegensatz zwischen der öffentlichen und der privaten Stellung zur Aktie so etwas wie den „bösen Glauben“ konstruiert haben würde. Als feiner Psychologe hätte er sich dabei allerdings nicht erwiesen, denn man wird diesen Widerspruch nicht klären, wenn man den öffentlichen Charakter Rathenaus der Unehrlichkeit, sondern wenn man den privaten Charakter einer schrullenhaften Schwäche zeiht. Zweifellos ist Emil Rathenau, dieser größte Meisterer des Aktienwesens, die tiefinnerliche Abneigung gegen die Aktie nie losgeworden, die ihn schon beherrschte, als er in [S. 384] der Gründerzeit gegen die Umwandlung der Maschinenfabrik Webers in eine Aktiengesellschaft längere Zeit Widerstand leistete. Da er aber ohne sie seine industriellen Pläne nicht ausführen konnte, mußte er sie wohl oder übel benutzen, denn sein Drang zum industriellen Schaffen war schließlich doch noch größer als seine Abneigung gegen die Aktie. Gewissermaßen um sein Gewissen zu beschwichtigen, hat er die Aktie in seinem Machtbereich durch die Reservenpolitik immer mehr der Obligation angenähert, sozusagen aus ihr ein Surrogat für das festverzinsliche Papier gemacht, ohne daß er sich doch entschließen konnte, für seine Person von diesem Surrogat Gebrauch zu machen. Als reicher und dabei bedürfnisloser Mann war er auf die paar Prozent Mehrzinsen, die ihm die Aktie vor der Staatsrente, der Hypothek brachte, nicht angewiesen.
Doppelseitig wie die Stellung Rathenaus zur Aktie war auch die zu den Aktionären. Er verachtete und ignorierte die Kapitalisten, die ihr Geld ihm und seinen Gesellschaften anvertrauten, keineswegs, wie das manche Selbstherrscher des Aktienwesens tun, von denen die Aktionäre nur als Objekte, nicht als Subjekte der aktienrechtlichen Gesetzgebung und der aktiengesellschaftlichen Interessen betrachtet werden. Für Emil Rathenau stand das Interesse der Aktionäre sehr hoch und wurde von ihm mit peinlicher Gewissenhaftigkeit wahrgenommen. Bei allen Maßnahmen, die er traf, bei allen Vorschlägen, die er machte, fragte er sich und seine Mitarbeiter stets: „Was werden die Aktionäre dazu sagen, wie schneiden die Aktionäre dabei ab?“ Diese Frage beschäftigte ihn unausgesetzt und spielte bei seinen Entschließungen eine wichtige Rolle. Er fühlte sich durchaus als Sachwalter fremden Vermögens, und in der Tat waren seine Maßnahmen, selbst wenn sie von Generalversammlungs-Oppositionen heftig bekämpft wurden, auch vom Standpunkte der Aktionäre aus betrachtet, fast immer wohlüberlegt. Jedenfalls kann Emil Rathenau kein Fall nachgewiesen werden, in dem er berechtigte Interessen der Aktionäre verletzt und Ansprüche, die von einem höheren Gesichtspunkte aus begründet waren, nicht zu erfüllen versucht hätte. Aber formell erkannte er den außenstehenden Aktionären nicht das Recht zu, sich über wichtige gesellschaftliche Fragen, die nur aus der Kenntnis der inneren Verhältnisse und Vorgänge bei dem Unternehmen begriffen werden konnten, ein Urteil anzumaßen, das an fachmännischem Gehalt dem der Verwaltung gleichwertig gewesen wäre. [S. 385] Der Tag der Generalversammlung war für Rathenau durchaus keine bloße Formalität, keine unbequeme Äußerlichkeit, der aus gesetzlichen Gründen genügt werden und die man so schnell als möglich erledigen mußte. Er schilderte den Aktionären seine Beweggründe so ausführlich, wie er das mit den geschäftlichen Interessen der Firma vereinbaren zu können glaubte, gab Auskunft, so weit er es für irgend tunlich hielt und gewährte den Aktionären volle Rede-, Frage- und Beschwerdefreiheit. In seinen Entschlüssen ließ er sich aber fast nie durch sie umstimmen, zumal sie ihm selten etwas Neues vortrugen, einer Frage eine Beleuchtung geben konnten, in der er sie nicht schon selbst gesehen hatte. Er pflegte ja die ihm vorliegenden Probleme nach allen Seiten hin zu durchdenken, sie immer wieder hin- und herzudrehen, ehe er zu einem Ergebnis kam. Sein Sohn Walther hat nach dem Tode des Vaters einmal Aktionären, die der Ansicht waren, neue Gesichtspunkte zur Beurteilung einer Angelegenheit beigebracht zu haben, das Wort zugerufen: „Glauben Sie denn nicht, daß wir Phantasie genug besitzen, um uns ungefähr alle Einwände, die Sie hier in der Generalversammlung vorbringen könnten, schon vorher vorzulegen und sie in Erwägung zu ziehen?“ — Die Aktionäre antworteten auf diesen Ausspruch, — der ganz und gar aus dem Geiste Rathenaus, des Vaters, gesprochen war, wenn dieser ihm vielleicht auch nicht die schlagfertige, scharf pointierte Fassung gefunden haben würde, — daß dann ja die Generalversammlung nur eine Farce sei und es sich für die Aktionäre nicht lohne, sie zu besuchen und in ihr das Wort zu ergreifen. In der Tat läßt sich mit einer solchen Aktionärpolitik mancher Mißbrauch treiben, denn keine Verwaltung ist unfehlbar und es gibt Fälle, in denen der Außenstehende mehr und schärfer sieht, eine bessere Distanz zu den Dingen hat, als die doch immerhin im Geschäftsgang befangene Verwaltung. Rathenau hat sich solchen Mißbrauch aber eben nie zu schulden kommen lassen. Wenn man heute zurückschauend die verschiedenen Kämpfe zwischen ihm und den Aktionären betrachtet, so wird man finden, daß in der Sache fast stets Rathenau recht gehabt hat, und daß die Anträge und Wünsche der Aktionäre, wenn ihnen Folge gegeben worden wäre, die A. E. G. von der finanziellen Richtung, die sie mit so großer Konsequenz und mit so glänzendem Erfolge innehielt, abgelenkt und vielleicht etwas ganz anderes aus ihr gemacht hätten.
Niemals ist Emil Rathenau in den Generalversammlungen wegen Schäden, fehlerhafter oder schlechter Führung der Geschäfte angegriffen worden, sondern das in allen Versammlungen mit seltener Regelmäßigkeit wiederkehrende Thema der Opposition waren die angeblich zu niedrigen Dividenden. „Tun Sie doch nicht immer nur in den Spartopf hinein, sondern nehmen Sie doch auch einmal etwas für die Aktionäre heraus.“ — „In guten Zeiten sammeln Sie für die schlechten, in schlechten nehmen Sie nichts von den Notreserven, sondern sammeln weiter im Hinblick auf die ungeklärte Lage.“ — „Was nützen uns die Reserven, von denen man versprochen hat, daß sie uns einmal zugute kommen werden, wenn erst unsere Enkel den Vorteil davon haben sollen.“ — So und ähnlich lauteten die manchmal ganz witzig und klug zugespitzten Wendungen, mit denen man ihn — nicht selten mit Argumenten aus dem Arsenal seiner eigenen Logik — zu schlagen und aus seiner Festung herauszulocken suchte. Emil Rathenau blieb kühl bis ans Herz hinan. Er war nicht so gewandt wie sein Sohn Walther, der als Aufsichtsratsvorsitzender resigniert zu entgegnen pflegte: „Es hat keinen Zweck, der Opposition entgegen zu kommen, denn gleichgültig, welche Dividende wir auch vorschlagen, es wird stets eine Erhöhung um 2% beantragt werden.“ Wenn die Opposition heftig oder gar in der Form verletzend wurde, so konnte allerdings auch Emil Rathenau in Harnisch geraten und seine Worte waren dann manchmal von einer Bitterkeit, einer persönlichen Gereiztheit, die er ruhigen Blutes wohl selbst als zu weit gehend erkannt haben würde. — Zu derart heftigen Kämpfen kam es aber nur in einigen wenigen Versammlungen, so in der vom 12. Dezember 1905, als der Führer der Opposition, Rechtsanwalt Elsbach, nachdem er die Bilanz undurchsichtig, den Geschäftsbericht einen furchtbaren Blender genannt und dem Generaldirektor vorgeworfen hatte, daß er seine Versprechungen nicht gehalten habe, seine Rede mit den Worten schloß: „Wir bitten nicht mehr, fordern wollen wir. Wir sind hier im eigenen Hause und stehen vor den Verwaltern unseres Vermögens.“ — Rathenau entgegnete aufbrausend: „Wenn wir in derartiger wenig taktvoller Weise angegriffen, ja persönlich besudelt werden, so können wir nichts anderes tun, als Ihnen unseren Platz zur Verfügung zu stellen.“ — Erst Fürstenberg, der kluge Dialektiker, der die Verhandlungen gewöhnlich anstelle der dekorativen Aufsichtsratsvorsitzenden mit dem Staatssekretärstitel leitete, konnte [S. 387] durch seine schlagfertigen Bemerkungen die Situation in solchen Fällen wieder einigermaßen herstellen. Derart scharfe Zusammenstöße bildeten aber Ausnahmen. Im allgemeinen verliefen die Generalversammlungen ruhig und sachlich, und wenn die Aktionäre auch durch sie keinen Einfluß auf die Verwaltung zu gewinnen vermochten, so waren diese Tage doch für die Besucher nicht selten recht interessant und lehrreich, und diese konnten stets die Beruhigung mit davon tragen, daß die Verwaltung ihres Vermögens in guten Händen sei.
Wenn in der Presse die Unergiebigkeit unseres politischen Lebens, das angeblich niedrige Niveau unserer Parlamente und Parlamentsdebatten beklagt wird, so empfiehlt man häufig als Abhilfe die Zuwahl unserer geistigen und gewerblichen Führer in den Reichstag oder Landtag, da man von ihnen glaubt und hofft, daß sie mit ihren anderwärts bewährten überlegenen Persönlichkeitswerten auch das parlamentarische Leben befruchten, neue und größere Gesichtspunkte in den Kleinkram der geschäftspolitischen Verhandlungen bringen könnten. Die Stände des Handels und der Industrie haben es auch oft genug beklagt, daß ihre Vertreter in den Parlamenten weit spärlicher zu finden seien als zum Beispiel Persönlichkeiten aus der Landwirtschaft. Ob die so ausgesprochenen Gedanken und Wünsche allgemein betrachtet einen berechtigten Kern haben, ist mir stets zweifelhaft gewesen. Die Beschäftigung mit der Politik stellt ihre eigenen Ansprüche, fordert ihre eigenen Maßstäbe. Nicht geistiges, industrielles oder agrarisches Talent ist zu ihrer Ausübung erforderlich, sondern politisches, daneben auch politische Leidenschaft. Sie fordert heute bei der Fülle der Facharbeit, die im parlamentarischen Leben zu erledigen ist, den ganzen Mann, und ist nicht mit den paar beschäftigungslosen oder der eigentlichen Beschäftigung abgerungenen Stunden zufrieden, die ihr ein auf anderem Gebiete voll in Anspruch genommener Mann etwa widmen könnte. Beim Landwirt liegen die Verhältnisse meist etwas anders. Die agrarischen Führer sind fast durchweg Berufspolitiker, die aus landwirtschaftlichen Kreisen stammen und die Interessengesichtspunkte ihrer Herkunft mit in das politische Leben hinüber [S. 388] nehmen. Üben sie eine landwirtschaftliche Tätigkeit noch aus, so ist sie meist nebensächlicher Natur. Es fehlt ihr auch fast stets der schöpferische Inhalt, der den großen Industriellen so stark ausfüllt und beansprucht, daß er kaum eine seiner Hauptkräfte für eine ganz anders geartete politische Tätigkeit einsetzen kann. Für die Richtigkeit dieser Ansicht sprechen die Erfahrungen, die wir mit bedeutenden Kaufleuten in ihrer parlamentarischen Praxis gemacht haben. In ihrer besten schaffenskräftigsten Zeit waren sie nur selten gute, vollgültige Politiker. Man wird vielleicht auf Männer wie Hansemann und Camphausen verweisen. Aber diese gehörten einer anderen Zeit an. Damals lag das wirtschaftliche Leben ganz auf der Linie des politischen. Die Wirtschaft wollte frei werden wie der Staatsbürger. Beide hatten denselben Weg. Inzwischen ist die wirtschaftliche Freiheit schneller zum Ziele gelangt als die politische. Statt nach Zielen orientierte sich die Wirtschaft nunmehr nach Interessen. Das war auch auf die Stellung der Industriellen nicht ohne Einfluß geblieben. Sie waren nun meistens Interessenten, ähnlich wie die Agrarier, nur nicht auf einem so geschlossenen und in sich einheitlichen Gebiet wie der Landwirtschaft, sondern auf ihrem eigenen Sondergebiete, das ja in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht durchaus nicht von denselben Interessen beherrscht zu werden brauchte, wie irgend ein anderes, nicht minder wichtiges, aber auch nicht minder beschränktes Wirtschaftsgebiet. Es gibt Gewerbe, die schutzzöllnerisch sind, andere die dem Freihandel zuneigen, es gibt Gewerbe, deren Vertreter politisch rechts, andere, deren Vertreter politisch links stehen. Der Hansabund, dessen unorganische Zusammensetzung im Gegensatz zu dem homogenen Bund der Landwirte schnell zutage trat, ist ein sprechendes Beispiel für diese politische Zerfallenheit der Handels- und Industriekreise. Die höheren politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte, die früher in unserem parlamentarischen Leben zur Geltung kamen, vermochte er ebensowenig zurückzubringen, wie das die stärkere Zuwahl bedeutender Gewerbetreibender in unsere Parlamente tun könnte, wenn diese nicht zugleich einen entwickelten Sinn für Dinge des Gemeinwohls, für staatsbürgerliche und staatsgesellschaftliche Interessen hätten.
Emil Rathenau gingen diese Interessen so gut wie völlig ab. Auf seinem Fachgebiete universell, in allem Können und Wissen, das [S. 389] diesem Fachgebiete irgendwie nützen konnte, unbestrittener Meister, schloß er sich von Gesichtspunkten und Fragen des Gesamtinteresses fast ebenso entschieden ab, wie von den schönen Künsten, den theoretischen Wissenschaften und ähnlichen für ihn abseits liegenden Dingen. Sein Leben war so ganz von der Sphäre durchdrungen, in der es zur Vollendung gelangte, daß er sicher keine Zeit, und ebensowenig Neigung zu Dingen hatte, in denen er es höchstens zu halben Resultaten hätte bringen können. Die Mehrzahl der intensiven Schöpfer ist so organisiert, ihre Kraft ist an den Boden gebannt, dem sie entwuchs, und nur ganz frei und leicht schaffenden Naturen ist es manchmal gegeben, daß ihnen ihre Genialität auch auf anders geartete Gebiete folgen darf. Emil Rathenau war ein überwiegend naiver Schöpfer, aber darum wurde ihm sein Werk nicht leicht. Sein Ringen mit ihm verzehrte alle Kräfte. So blieb er denn auch ganz in seinem Werk und dessen Dunstkreise befangen. Seine Tätigkeit für gemeinwirtschaftliche Fragen beschränkte sich auf eine vorübergehende Gastrolle, die er im Ältestenkollegium der Berliner Kaufmannschaft gab. Nach dem Tode seines Sohnes Erich zog er sich auch von dieser Tätigkeit und der damit verbundenen Geselligkeit zurück. Allgemeine wirtschaftspolitische Anschauungen besaß er vielleicht, sie waren aber nach den Interessen seines Faches orientiert, ein freies wirtschaftspolitisches Weltbild wurde nicht daraus. Er war gegen Kartelle, weil sie der elektrotechnischen Industrie nicht „lagen“, er war gegen die hohen Schutzzölle, weil seine Industrie einen ausländischen Wettbewerb im Inlande nicht zu befürchten brauchte und andererseits stark auf den Export angewiesen war. Er war in diesen Dingen Interessent, besaß aber Takt und Selbsterkenntnis genug, um seine privatwirtschaftlichen Interessen nicht im Gewande des Volkswirts der Allgemeinheit aufzudrängen. Einmal hat er, befragt von einer illustrierten Zeitschrift (Illustrierte Zeitung, 27. Januar 1910), sich über Zollfragen öffentlich ausgelassen. Die Äußerung ist so interessant, daß sie hier wiedergegeben werden soll.
„Als Nichtpolitiker möchte ich mich einer Antwort auf die erste Frage enthalten, wie sehr ich auch die Bedeutung des darin angeregten schiedsgerichtlichen Vertrages für die deutsch-französischen Beziehungen und für das gesamte Kulturleben zu schätzen weiß.
Mehr berechtigt halte ich mich zur Beantwortung der zweiten [S. 390] Frage, die das wirtschaftliche Verhältnis der beiden Länder betrifft. Sie bietet mir eine willkommene Gelegenheit, zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen. Das unter der Parole „Schutz der nationalen Arbeit“ betriebene System hat nunmehr zwar schon eine langjährige Geschichte, indes ist damit noch nicht ohne weiteres seine Berechtigung erwiesen. Vorteilhafter ist es vielmehr, wenn eine Ware möglichst da produziert wird, wo die dafür günstigsten Bedingungen gegeben sind. Statt dessen hat es das Schlagwort vom Schutz der nationalen Arbeit mit sich gebracht, daß heute nicht mehr bloß jedes Land, sondern auch die verschiedenen Städte, ja selbst kleine Gemeinden allerlei herstellen möchten, was geeigneter anderwärts und unter anderen Bedingungen geschaffen werden kann. Um Produktion und Konsum steht es am besten, wenn die denkbar höchste Qualität unter möglichst niedrigen Kosten erreicht werden kann. Das läßt sich nur erzielen, wenn die Herstellung an dem dafür zweckmäßigsten Orte erfolgt, da, wo sie sich am ehesten im großen auf höchster Stufenleiter betreiben läßt. Statt dessen werden die Produktionsstätten verengt, wenn die Länder sich gegeneinander absperren, und wenn dem Vorbilde, das diese in ihrem Verhalten zueinander geben, auch Städte und Gemeinden innerhalb der einzelnen Länder folgen.
Dieser Auffassung von den Nachteilen des Schutzzollsystems pflegen die Vereinigten Staaten von Amerika als ein Beispiel entgegengehalten zu werden, das für die Ersprießlichkeit der Schutzzölle spreche. Indes nehmen die Vereinigten Staaten eine Ausnahmestellung ein. Ich werde da an eine Begegnung mit Mac Kinley erinnert. Wir sprachen über den teueren Lebensunterhalt in Amerika und ich bezeichnete ihn als eine nachteilige Wirkung der von Mac Kinley so eifrig vertretenen Hochschutzzölle. Er stimmte meiner Verurteilung dieses Systems und meiner Befürwortung des freien Handels im Prinzip zu, nur wollte er meinen Standpunkt nicht für die Vereinigten Staaten gelten lassen. Sie bildeten ein Land für sich, das auf das Ausland nicht angewiesen wäre. Amerika sei als eine Art Robinson Crusoe imstande, seine Bedürfnisse vom Rohprodukt bis zum letzten Fabrikat selber herzustellen.
Mindestens bis zu einem gewissen Grade ist dieses Urteil Mac Kinleys in der Tat berechtigt. Die sich auf achtzig Millionen belaufende Bevölkerung der Vereinigten Staaten stellt einen Konsumenten [S. 391] von ungewöhnlicher Größe dar. Da sie zudem fast völlig einheitlich in ihrer Sprache, ihren öffentlichen Einrichtungen und ihren Lebensgewohnheiten ist, hat sie mehr als die Bevölkerung anderer Länder die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse durch Massenfabrikation zu befriedigen. Indem damit der Arbeit der Maschine ein so viel größerer Spielraum gewährt ist, wird die Produktion durch die Höhe der Löhne für menschliche Arbeit nur verhältnismäßig wenig benachteiligt. Die übrigen Produktionsmittel aber stehen dem Lande in der größten Mannigfaltigkeit und Fülle zur Verfügung.
Anders die europäischen Länder. Deutschland mit seinen sechzig, Frankreich mit vierzig Millionen Einwohnern bleiben in der Bevölkerungszahl hinter der amerikanischen stark zurück. Dazu ist die Bevölkerung und damit auch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse hier um vieles differenzierter. Und weiter ist keines dieser Länder mit den vielseitigen und reichen Naturschätzen bedacht, die den Vereinigten Staaten beschieden sind. In Frankreich ist, da es über Kohle und Erz nur in relativ unzureichenden Mengen verfügt, der Betrieb von Gewerben, in denen es auf Massenfabrikation ankommt, erschwert. Er ist vergleichsweise so viel mehr für Deutschland geeignet, dem jene Roh- und Hilfsmaterialien in umfassender Menge zu Gebote stehen. Hinwiederum sind Frankreich in manchen seiner Weine und in deren vorzüglicher Kultur, sowie in dem durch jahrhundertlange Tradition überlegenen Kunst- und Luxusgewerbe Produktionszweige gegeben, in denen es berufen ist, die Bedürfnisse des Auslandes, unter anderm auch die Deutschlands, zu befriedigen.
Aus dieser meiner Auffassung ergibt es sich als selbstverständlich, daß ich alle Schritte, die das bisherige handelspolitische Verhältnis Deutschlands zu Frankreich bessern könnten, mit voller Sympathie begrüße. Da die hier veranstaltete Umfrage die Anregung gibt, „in einem bestimmten Punkte Vorschläge zu machen“, liegt es mir nahe, im Hinblick auf etwaige Besprechungen zwischen den beiden Regierungen Frankreich darauf hinzuweisen, von welcher Bedeutung es für die französische Bevölkerung wäre, wenn ihr die Möglichkeit geboten würde, elektrotechnische Fabrikate, für deren Herstellung in Deutschland die günstigeren Voraussetzungen bestehen, billiger und leichter, als es bisher möglich ist, zu beziehen.
Die deutsche Elektrotechnik nimmt in Europa eine führende [S. 392] Stellung ein. Der Vorsprung, den sie erreicht hat, läßt sich anderwärts in absehbarer Zeit nicht einholen. Es wäre demnach natürlich, daß die Nachbarländer sich die Leistungen der deutschen Elektrizitätsindustrie zunutze machten, zumal es keinerlei Beschäftigung oder Beruf gibt, in denen die Elektrizität nicht in irgend einer Weise Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen mit sich bringt. Für die Erzeugnisse der elektrotechnischen Industrie besteht aber zwischen Frankreich und Deutschland keine handelsvertragliche Verständigung. Die Zollschranke, die Frankreich zwischen sich und der Schweiz aufgerichtet hat, und die die elektrotechnische Industrie im besonderen Grade trifft, gilt laut Vertrag vom Jahre 1871 unter der Bezeichnung einer „Meistbegünstigung“ auch für die deutsche Einfuhr nach Frankreich. Wenn ein Handelsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich zustande käme, das den Erzeugnissen der deutschen Elektrotechnik die französische Grenze öffnete, würde Frankreich damit die Teilnahme an den Fortschritten der Industrie erleichtert werden. Für den Vorteil, der sich daraus zugleich für Deutschland ergäbe, könnten Frankreich Zugeständnisse bei der Einfuhr seiner Weine und kunstgewerblichen Fabrikate gemacht werden. Das hätte auch für Deutschland den Vorteil, daß die Lebensfreude hier durch die Erzeugnisse Frankreichs gehoben würde.
Statt daß die Lebenshaltung des einen Landes durch die Zollmauer, die es von dem andern trennt, niedergehalten wird, schüfe ein auf der Grundlage freieren Warenaustausches sich aufbauendes Handelsabkommen eine Harmonie der Interessen, die hier und dort Arbeit und Genuß mehrten und erleichterten.“
Wir sehen also: Am Anfang ganz gescheite, wenn auch nicht übermäßig originelle Ausführungen prinzipieller Natur. Sobald aber die Nutzanwendung kommt, steuern sie in das Fahrwasser einer Interessenpolitik, die nur auf den Nutzen für die eigene Industrie, nicht auf eine wirklich tief durchdachte und objektive wissenschaftliche Begründung Wert legt. Hätte Emil Rathenau, als er zu schaffen anfing, den Vorsprung, den sich damals Amerika und England in der elektrotechnischen Industrie errungen hatten, als etwas gegebenes hingenommen und auf eine eigene Betätigung in dieser Industrie verzichtet, so würde er nie die A. E. G. geschaffen und zu der ersten Elektrizitätsgesellschaft der Welt gemacht haben.
Wie ist Emil Rathenau, der die Sachen im allgemeinen so trefflich zu behandeln verstand, nun mit Menschen umgegangen? — Man könnte vielleicht sagen: Wie mit den Sachen, — wenn dem Worte nicht ein gewisser herabsetzender Beiklang von Gefühllosigkeit, von Herzenskälte innewohnte, der in Rathenaus Art, mit Menschen zu verkehren, vielleicht manchmal, aber durchaus nicht immer enthalten war. Rathenau konnte kühl und uninteressiert, ja schroff und ablehnend sein, aber er war durchaus keiner von den Menschen, die über Leichen gehen. Er hatte darum für eine so ausgesprochene Eroberernatur eigentlich wenig persönliche Konflikte. Er war Gefühlsregungen keineswegs unzugänglich und Personen gegenüber, die ihm menschlich nahe standen, sogar großer Zartheit fähig. Man konnte seine Art, Menschen zu behandeln, eher „sachlich“ nennen, wenn diese Sachlichkeit nicht gelegentlich durch persönliche Stimmungen, Gereiztheiten und sogar Ungerechtigkeiten getrübt worden wäre. Am besten wird man sein Verhältnis, seinen Umgang mit Menschen vielleicht mit dem Worte „direkt“ kennzeichnen. Er kannte im Verkehr mit Menschen keine Umschweife, keine Nebenwege, keine Umhülltheiten, mit einem Worte keine Indirektheiten. Er hielt mit nichts zurück, und täuschte nichts vor. Er sagte ehrlich, was er dachte, war in Lob und Tadel, in Anerkennung und Kritik offen. Rücksichten auf Stand, Rang und Alter nahm er dabei nicht, und er hat einmal — wie mir ein Augenzeuge berichtete — eine hochgestellte Persönlichkeit seines Konzerns, einen Exzellenzherrn in Gegenwart von dritten ziemlich brüsk zur Rede gestellt, weil dieser eine von ihm übernommene Aufgabe nicht zu seiner Zufriedenheit ausgeführt hatte. Aber so sehr sein Tadel verletzen konnte, so tief konnte sein Lob beglücken. Für Mitarbeiter, die viel mit ihrem Chef in Berührung kamen, gab es keine schönere Belohnung als eine Anerkennung des Meisters, nicht nur deswegen, weil sie selten war, sondern weil er ihr oft eine menschlich-warme, den Belobten innerlich berührende Form zu geben verstand. Eine so direkte Art der Menschenbehandlung war natürlich für das kaufmännische Verhandeln nicht unter allen Umständen geeignet. Delikate Besprechungen, in denen zunächst sondiert werden mußte, in denen es darauf ankam, vorerst einmal nicht das ganze Ziel, die letzte Absicht, das [S. 394] eigentliche Interesse zu zeigen und aus dem Gegner, der sich ebenso vorsichtig, abwartend und berechnend verhielt, trotzdem das Wissenswerte herauszuholen, lagen ihm im allgemeinen nicht. Auch Verhandlungen, bei denen der Kontrahent nicht durch sachliche Gründe, sondern durch politische List, nicht durch den Inhalt, sondern durch die Form des Gesprächs gewonnen werden sollte, verstand Emil Rathenau, trotzdem er am Schreibtisch und im monologischen Denkprozeß nicht nur klug, sondern auch schlau zu argumentieren vermochte, nicht übermäßig gut zu führen. Der Mensch , der ihm gegenüber saß, zwang ihn mehr oder minder rasch zur Offenbarung seiner Karten. Die Ursprünglichkeit, die Ungeduld, das Endziel zu erreichen, sprengten den zurückhaltenden Gang umhüllter Unterredungen. Emil Rathenau vermochte im Gespräch schlagend, aber nicht ebenso schlagfertig zu sein. Während er im uninteressierten Fachgespräch gut zu plaudern verstand, waren für Einleitungsverhandlungen zu konkreten Geschäften andere im Konzern besser geeignet als er. Denn er sagte hier, wie auch in Zweckgesprächen mit Konkurrenten, Vertretern von Behörden usw. zu schnell und zu offen, alles was zu sagen und manchmal besser auch nicht zu sagen war, wie er denn überhaupt der Ansicht war, daß gute Geschäfte nur solche seien, die beiden Kontrahenten zum Vorteil gereichten. Vorsichtig zu behandelnde Einleitungsbesprechungen ließ er denn auch meist von seinen Direktoren oder von seinem Sohn Walther führen. Standen die Dinge aber so, daß eine offene Aussprache am besten zum Ziele führen konnte, das heißt handelte es sich um Geschäfte, die überhaupt ganz auf diese Weise erledigt werden konnten, oder waren die Erörterungen bei anderen Geschäften über das Stadium des Parlamentierens hinausgelangt, so war Emil Rathenau der richtige Mann. Dann wurde er zum glänzenden Verhändler. Kurz, sachlich, bestimmt formulierte er seinen Standpunkt, machte die Konzessionen, die er machen konnte, feilschte nicht viel und blieb unbeirrbar bei der Sache. Für Leute, die gleichfalls sachlich zu diskutieren verstanden, war es ein Vergnügen mit ihm zu verhandeln, eine Leichtigkeit, mit ihm ins Reine zu kommen. Aber auch Abschweifende zwang er durch die Suggestion seiner Art und Persönlichkeit gleichfalls bald zur Sache.
Ein schneller Menschenkenner war Emil Rathenau nicht. Dazu war er zu vertrauensvoll und darum anfänglich stets geneigt, [S. 395] die Menschen als das zu nehmen, was sie selbst darstellen und scheinen wollten. Seine Naivität veranlaßte ihn, nicht nur die Menschen direkt zu behandeln , sondern sie auch direkt, das heißt ohne Hintergedanken zu beurteilen . So kam es, daß ihm auch ein weniger wertvoller Mensch anfänglich zu interessieren, zu gefallen, ja zu imponieren vermochte. Niemand konnte ihn aber auf die Dauer über seinen Wert täuschen. Eine nähere Bekanntschaft offenbarte Rathenau bald die wirkliche Natur und Fähigkeit eines Menschen, und wenn er diese einmal als unzulänglich erkannt hatte, so war er für allezeit mit ihrem Besitzer fertig. Auf eine nachträgliche Revision seines Urteils ließ er sich nur höchst selten ein. Dies führte dazu, daß er — der im allgemeinen die Menschen richtig und gerecht einschätzte — in Ausnahmefällen auch einmal aus Vorurteil oder Eigensinn einem Menschen unrecht tat. Las er meist auch nicht so schnell in Menschenseelen wie andere sogenannte gute Psychologen, so las er doch häufig tiefer und gründlicher als diese. Ungewöhnliche Menschen, auch wenn sie ihre Eigenart noch nicht greifbar bekundet hatten, vielleicht selbst nicht einmal kannten, hat er nicht selten entdeckt, gefördert und an die richtige Stelle gesetzt. Als der Professor an der technischen Hochschule Klingenberg mit einem in der Konstruktion nicht gerade gelungenen Automobilmotor zu Rathenau kam, erkannte dieser im Gespräch, welche ungehobenen Schätze technischer Praxis in diesem akademischen Professor schlummerten, und ohne langes Besinnen forderte er ihn zum Eintritt in die Direktion der A. E. G. auf, in der sich Klingenberg ganz so bewährte, wie es Rathenau vorausgesehen hatte. Seine Mitarbeiter suchte und erzog er sich auf ganz individuelle Weise, und zwar individuell für ihn wie für die anderen. Wenn irgend ein Platz zu besetzen, irgend eine Aufgabe zu lösen war, so schaffte er sich die Personen hierzu nicht nach dem System, das leider sonst vielfach in der Industrie üblich ist, wo man bekannte Fachkräfte durch das Angebot eines höheren Gehalts einfach aus ihrem früheren Wirkungskreis fortengagiert. Ein derartiges System, bei dem schließlich nicht nur Tenoristen-, sondern fast Bankdirektorengehälter für sogenannte erste Fachkräfte üblich wurden, hat er seiner Konkurrenz oft vorgeworfen. „Auf solche Weise ist es kein Kunststück, Leute zu bekommen,“ hat er mir selbst einmal geklagt. Er selbst ging ganz anders zu Werke. Er nahm nicht notwendigerweise für einen freigewordenen [S. 396] Posten oder eine zu lösende Aufgabe — abgesehen von Ausnahmen, bei denen die Zeit drängte, oder es eine besondere Spezialität unbedingt verlangte, — einen gerade auf diesem Gebiete bewährten oder bekannten Fachmann, es sei denn, daß er ihn ebenso leicht wie einen anderen bekommen und ihn ebensogut brauchen konnte. Er suchte sich vielmehr unter seinen Leuten denjenigen aus, der ihm für diese Sache die beste Eignung zu besitzen schien, auch wenn er sich erst in das neue Gebiet einarbeiten mußte. Fähigkeiten, nicht Vorkenntnisse waren für ihn ausschlaggebend und er wußte, daß Frische, Unbefangenheit, die Gabe, sich eine Materie während der Arbeit zu erobern, manchmal wertvoller sind als Wissen, das zur Routine geworden ist. Er kannte seine Mitarbeiter genau, schematisierte nicht mit Menschen und suchte jeden nach seiner Individualität, nach der Art, nicht nur nach dem Maß seiner Leistung zu beschäftigen.
Emil Rathenau hatte das Glück, schon bei der Gründung oder kurz nach der Gründung seines Unternehmens Mitarbeiter zu finden, die ihm und seiner Gesellschaft ihr ganzes Leben lang treu blieben und so eng mit ihr verwuchsen wie er selbst. Daß Deutsch, Mamroth oder Jordan jemals hätten aus der A. E. G. ausscheiden, eine andere Stellung suchen oder annehmen können, ist ein Gedanke, der allen Beteiligten wohl absurd vorgekommen wäre. Diese treue und gute Kameradschaft, die auf der Arbeit an der gemeinsamen großen, unter ihren Händen aufblühenden Sache, aber auch auf der gegenseitigen Achtung vor der Persönlichkeit der anderen beruhte, spricht gleicherweise für den menschlichen Wert Rathenaus wie seiner Mitarbeiter. Tüchtige, energische Charaktere von eigener Prägung und starkem Wuchs gruppierten sich um den Mittelpunkt des Genies, dessen Überlegenheit alle anerkannten, das aber auch ihnen Spielraum und Entwickelungsfreiheit für ihre Kräfte gewährte. Die Stärke des Vorstandes der A. E. G., sagte mir einmal eines seiner Mitglieder, liegt in ihrer seltenen, nicht herbeigeführten, sondern „gewordenen“ Homogenität . Da war stets ein vollständiges Gleichgewicht in dem Verwaltungskörper vorhanden, niemand drängte sich vor, niemand blieb zurück, nichts verschob sich, nichts mußte verschoben werden. Palastrevolutionen, innere Konflikte und Auseinandersetzungen — abgesehen von Meinungsverschiedenheiten wegen sachlicher Fragen — gab es nicht. Eifersucht, Neid, Intriguen, persönliche Motive trugen [S. 397] keine Verwirrung in den Geschäftsgang. Die geschäftliche Arbeit spielte sich auf dem Untergrund langjähriger persönlicher Freundschaft ab. Viele Jahre hindurch wohnte Emil Rathenau mit Deutsch und Mamroth zusammen in einem Hause am Schiffbauerdamm, ganz nahe den alten und nicht fern den neuen Geschäftsräumen, Rathenau im ersten, Deutsch und Mamroth im zweiten Stockwerk. Rathenau in seiner Einfachheit hätte die alte Wohnung vielleicht nie aufgegeben. Aber die Kollegen zogen fort, erbauten sich eigene Villenhäuser. So entschloß sich denn auch Rathenau als Siebzigjähriger zum Bau eines eigenen Hauses in der Viktoriastraße, auf dem Grundstück, das seinen Eltern, zuletzt seiner Mutter, gehört hatte und das er durch das danebenliegende erweiterte. Pietät gegen einen geliebten Menschen erleichterte ihm den Bruch mit der Pietät gegen die gewohnte Heimstätte. Um den Umständlichkeiten, den Gemütsbewegungen des Umzuges zu entgehen, reiste er nach Wien, als schwerkranker Mann kehrte er zurück und kurz, nachdem er sein neues Heim bezogen hatte, mußte er sich zur Beinamputation entschließen.
Die Organisation des Vorstandes der A. E. G. ist, wie ich schon sagte, nicht geschaffen worden, sie hat sich historisch entwickelt und ist gerade darum so innerlich organisch geworden. Es wird von Interesse sein, sie nachstehend in der Form, zu der sie sich in den letzten Jahren Rathenaus entwickelt hatte, zu schildern.
1. Deutsch :
System der inländischen und ausländischen Zweiganstalten. Installation und Fabrikation im Auslande. Organisation der 300 Filialen, Installations- und Ingenieurbureaus. — Großinstallationsgeschäft, soweit es von Berlin aus geleitet wurde, also Einrichtung von Stationen für Berg- und Hüttenwerke, Fabriken usw. (Privatanlagen). Fertigstellung der Jahresbilanz (nicht Buchwesen). Sozusagen Minister des Äußeren.
2. Mamroth :
Wiederverkaufsgeschäft, Warenhandelsgeschäft, Buchführung, Kasse, Gelddispositionen (Anlage der flüssigen Gelder, Bankguthaben), Überwachung der Betriebsgesellschaften (nicht der Trustunternehmungen). — Sozusagen Minister des Inneren.
3. Jordan :
(früher im Patentamt tätig, leitete zuerst das Patentbureau der A. E. G.) Leitung der gesamten Fabriken der A. E. G. mit Ausnahme des Kabelwerks , und ausschließlich derjenigen Fabriken, die an ausländische Zweiganstalten angegliedert waren. Arbeiterwesen.
4. Prof. Klingenberg :
Bau der Zentralstationen für eigene und fremde Rechnung.
5. Baurat Pforr :
Elektrische Bahnen.
6. Emil Rathenau :
Vereinheitlichung und Kontrolle der Geschäftspolitik, Kontrolle der Finanzinvestitionen, technische Politik, wie Aufnahme neuer Fabrikationszweige, ferner besondere Mitwirkung beim Bahnengeschäft, beim juristischen, litterarischen und Patentbureau. Das Kabelwerk, das Erich Rathenau geleitet hatte, übernahm nach dessen Tode Emil Rathenau aus Pietät. — Vertretung der Gesellschaft in ihren Ausstrahlungen, Finanzbeteiligungen (Aufsichtsräten) in erster Linie E. Rathenau , unterstützt durch Dr. Walther Rathenau und daneben durch Deutsch, Mamroth und Klingenberg. — Fusionsunternehmungen behandelte E. Rathenau mit Dr. Walther Rathenau, Elektrobankunternehmungen Dr. Walther Rathenau allein.
Diese Organisation des Vorstandes erwies sich als außerordentlich glücklich und leistungsfähig.
„Wir bewältigen damit einen Umsatz von 300 Millionen Mark, wir können ebenso gut damit einen Umsatz von einer halben, ja einer ganzen Milliarde kontrollieren,“ sagte einmal Deutsch zu einem Frager.
Bei einem Vorstande, der aus so starken Persönlichkeiten zusammengesetzt ist, bei einer Gesellschaft, die sich zudem geldlich so unabhängig zu halten verstand wie die A. E. G., ist die bestimmende geschäftliche Mitwirkung des Aufsichtsrats natürlich nur verhältnismäßig gering. Abgesehen von den gesetzlichen Funktionen, die er zu erfüllen hat, sind seine Aufgaben im wesentlichen dekorativer Natur, nicht in leer repräsentativer Bedeutung, sondern in [S. 399] dem Sinne einer Zusammenfassung und Wiederspiegelung wichtiger geschäftlicher Beziehungen, die das Unternehmen mit anderen Industrie- und Kapitalmächten verbinden. Eine intensive Arbeitsleistung kann ein Kollegium von 30 Mitgliedern, das fast schon ein kleines Parlament ist und sich nur ein paar Mal im Jahr vollständig versammeln wird, naturgemäß nicht vollbringen. Es waren wohl auch zu vielerlei Interessen in ihm vertreten, als daß diesem Kollegium ein allzutiefer Einblick in alle Geschäftsdetails gegeben werden konnte. Neben den Vertretern fast aller Großbanken gehörten Repräsentanten solcher Unternehmungen dem Aufsichtsrat der A. E. G. an, die in einer hervorragenden Geschäftsverbindung mit ihr standen, so Albert Ballin von der Hamburg-Amerika-Linie, Ministerialdirektor a. D. Micke und später Dr. Wussow von der Großen Berliner Straßenbahn, ferner die Vertreter der früher mit der A. E. G. fusionierten Konzerne der „Union“, der Lahmeyerwerke, der Felten & Guilleaume-Gesellschaft. Auch die beiden großen Berliner Kohlenhändler Eduard Arnhold in Firma Caesar Wollheim und Fritz von Friedländer-Fuld waren in ihm vertreten. Als Fachleute, die für eine industrie-technische Kontrolle in Betracht kamen, konnten eigentlich nur die früheren, inzwischen in den Aufsichtsrat gewählten Vorstandsmitglieder und einige wissenschaftliche Praktiker oder Konstrukteure, wie Geheimrat Dr. Kirchhoff und bis zu seinem Tode v. Hefner-Alteneck gelten. Den Vorsitz im Aufsichtsrat führten nach Georg v. Siemens Ausscheiden zwei Exzellenzen, zuerst der preußische Staatsminister a. D. Herrfurth, dann der Staatssekretär a. D. Hollmann, Repräsentationsfiguren, die offenbar Beziehungen zu Regierungskreisen herstellen sollten und in dieser Hinsicht auch wertvolle Dienste leisten konnten, namentlich in einer Zeit, in der die A. E. G. als jüngeres Unternehmen noch mit dem alten Ruhm und Ruf, den die Konkurrenzfirma Siemens & Halske namentlich bei Behörden sich erhalten hatte, ringen mußte. Der eigentlich geschäftsführende Vorsitzende war in jenen Zeiten Carl Fürstenberg, der finanzielle Vertrauensmann und Freund Emil Rathenaus, der den Titel eines stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden führte. Nach dem Ausscheiden Hollmanns wurde Dr. Walther Rathenau Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft und erhielt nach dem Tode Emil Rathenaus als solcher den Titel Präsident der A. E. G. Mit diesem war eine ausgedehnte und [S. 400] dauernde Arbeitsstellung verbunden, in die ein Teil der früher von Emil Rathenau erfüllten Obliegenheiten, u. a. die Zusammenfassung der Gesamtpolitik der A. E. G., eingebracht wurde, während den anderen Teil der Vorsitzende des Direktoriums Geheimrat Felix Deutsch übernahm.
Die ungewöhnliche und geistig leitende Stellung, die dem einzig überlebenden Sohne Emil Rathenaus in der von diesem geschaffenen, aber doch längst über die Grenzen eines persönlichen und privaten Unternehmens hinausgewachsenen Gesellschaft von den bewährten Mitarbeitern des Gesellschaftsgründers bereitwillig eingeräumt wurde, findet ihre hinreichende Erklärung nicht in einem traditionellen Erbgange, nicht in dem Streben nach einer Fortführung der „Dynastie Rathenau“ aus dekorativen Gründen. Dem verständnisvollen Leser dieses Buches braucht nicht gesagt zu werden, daß nur sachliche Gründe zu verantwortlichen Stellungen in der A. E. G. führen, daß solche Stellungen nicht ererbt werden konnten, sondern erworben werden mußten. Um den Nachweis für die Richtigkeit dieser Ansicht zu führen, aber auch deswegen, weil es für das Charakterbild des Vaters nicht ohne Wert sein kann, wenn dem Wesen und Wirken der Kinder — ebenso wie dem der Eltern — nachgegangen wird —, wollen wir uns mit den Gestalten der Söhne Emil Rathenaus an dieser Stelle kurz befassen. Der Anteil, den sie an der Schöpfung des Vaters genommen haben, war nicht gering; er war auch nicht äußerlich und zufällig, sondern innerlich und sozusagen organisch.
Emil Rathenaus Söhne sind beide keine Epigonennaturen gewesen. Sie haben ihr Licht nicht nur von dem väterlichen Gestirn erhalten, sondern durch ausgeprägte Eigenleistungen gezeigt, daß die Kraft des Stammes, die das Genie des Vaters formte, in ihnen nicht ermüdete, sondern lebendig blieb. Der jüngere von ihnen, Erich Rathenau ist an der Schwelle der Mannesjahre einem tückischen Leiden erlegen, das ihn schon in den Knabenjahren befiel. Wohl kein Ereignis seines Lebens hat den Vater so schwer getroffen, wie dieses Leiden und dieser Tod, es hat ihn jahrelang der Geselligkeit und eine Zeitlang fast dem Werke entfremdet. Erich Rathenau wird von allen, die ihn kannten, als ein gradliniger, schlichter und gütiger Mensch geschildert. Er hatte ohne Zweifel das Zeug zu einem hervorragenden Techniker. Das Kabelwerk der A. E. G., das [S. 401] er leitete, hat er zur Vollendung entwickelt. Es war keine Phrase, wenn Emil Rathenau, als ihm in einer Generalversammlung vorgeworfen wurde, daß er nun auch noch seinen zweiten Sohn in den Vorstand der A. E. G. berufen lasse, sein Vorgehen in folgender Weise begründete: „Dem tüchtigen Fachmann Erich Rathenau sind von der Konkurrenz so glänzende Anerbietungen gemacht worden, daß es besonderer Gegenleistungen seitens der A. E. G. bedarf, um ihn zu halten.“
Walther Rathenau, sein älterer Bruder, ist eine kompliziertere Natur. Auch er ging vom Technischen aus. Als Ingenieur war er in schaffender Weise an der Ausbildung der elektrochemischen Arbeitsgebiete der A. E. G. beteiligt, baute und leitete sieben Jahre hindurch die drei Fabriken der Elektrochemischen Werke G. m. b. H., deren Chlorverfahren er selbständig entwickelt hatte. Im Jahre 1899 trat er in den Vorstand der A. E. G., übernahm dort die Abteilung „Zentralenbau“ und führte insbesondere das Baugeschäft für fremde Rechnung, das vorher etwas vernachlässigt worden war, zu ansehnlichem Wachstum. Im Jahre 1901 wurde er mit Karl Frey Administrateur der Elektrobank in Zürich, deren Geschäftskreis er ganz selbständig verwaltete und deren Geschäftsmethoden er reformierte; eine Tätigkeit, die ihn zu weitgehender Mitwirkung an dem Aufbau des Trust- und Finanzsystems der A. E. G. berief und fähig zeigte. Die Besserung der Beziehungen zu der Konkurrenzfirma Siemens & Halske, die eine Verständigung über das Zentralengeschäft und die Bildung des Kabelkartells ermöglichte, hat er durch ausgesprochenes Verhandlungsgeschick angebahnt. Besonders war seine Hand bei den großen Ausdehnungsgeschäften der A. E. G. zu spüren. Die Aufnahme der Schuckert-Gesellschaft, für die er sich nach gründlicher Untersuchung der Verhältnisse entschieden ins Zeug legte, konnte er im Vorstandskollegium nicht durchsetzen. Dieses Schicksal eines persönlichen Projektes, dessen Mißlingen er als einen großen und dauernden Verlust für die A. E. G. ansah, veranlaßte ihn im Jahre 1902 aus dem Vorstand der A. E. G. auszuscheiden und einer Aufforderung Karl Fürstenbergs zu folgen, in die Berliner Handelsgesellschaft als Geschäftsinhaber einzutreten. Aber auch nach seinem Austritt blieb Walther Rathenau in enger Fühlung mit der A. E. G., zumal da er seine Stellung als Administrateur der Elektrobank beibehielt. Bei der Verschmelzung der [S. 402] A. E. G. mit der „Union“ wirkte er in weitgehender Weise mit; den Zusammenschluß mit dem Lahmeyer-Konzern, der ja von der Elektrobank seinen Ausgang nahm, hat er fast selbständig entworfen, desgleichen die erst nach dem Tode Emil Rathenaus eingeleitete Serie der B. E. W.- und Elektrowerke-Transaktionen, durch die die Berliner Elektrizitätswerke Akt. Ges. nach der Verstadtlichung ihrer Berliner Zentralen durch Überführung des größten Teils der Aktien mit der A. E. G. nahe verbunden und dann von dem ihr zur Last gewordenen Besitz an den Elektrowerken in Bitterfeld befreit wurde. Bei allen diesen Entwürfen kamen ihm sein Sinn für die Architektur großer Transaktionen und seine konstruktive Begabung zustatten, die er während des Krieges in noch größerem Rahmen bei der Rohstoffsicherung für die Zwecke des deutschen Heeresbedarfs erweisen konnte.
Hatte sich in Erich Rathenau die naive Seite des väterlichen Charakters fortentwickelt, so war Walthers Erbteil die Größe und Schärfe des Denkens. Eine Erscheinung von ausgesprochener und sehr bewußter Geistigkeit, die sich nicht auf das Fachgebiet des Vaters oder das eigene beschränkte, sondern die allgemeinen Probleme des wissenschaftlichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens ihrer Zeit in den Brennspiegel ihrer Persönlichkeit zog. Die nicht nur in den Schaffens- , sondern auch in den Lebensformen , mit denen der Vater, wie wir gesehen haben, im Kleinbürgertum seiner Herkunft haften geblieben war, frei zum Weltbürgertum emporwuchs und darum ihrer Geistigkeit auch Kultur zu geben verstand. Daß eine solche Entwickelung auch zu schriftstellerischer Betätigung drängen mußte, ist verständlich. An dieser Stelle das Bild des Schriftstellers Walther Rathenau und seines litterarischen Schaffens zu zeichnen, ist unmöglich. Aber wenn wir feststellen, daß er Tiefe des Gedankens mit einer ungewöhnlichen Plastik der Darstellungsweise, Originalität der Anschauung mit einem sicheren Blick für das Praktische zu verbinden weiß, sind wir uns der Zusammenhänge bewußt, die zwischen dem Geist des Vaters und dem des Sohnes bestehen.
* *
*
Haben wir im Vorstehenden geschildert, wie Emil Rathenau die Menschen als einzelne Persönlichkeiten behandelte, so bleibt noch zu untersuchen, wie er zu den Menschengruppen , zu den Kollektivpersönlichkeiten stand, mit denen er in Berührung kam. Rathenau hatte, wie fast alle bedeutenden Industriellen seiner Epoche, keinen ausgesprochenen Sinn und kein unmittelbares Interesse für das Soziale . Er war nicht gerade antisozial, aber er war asozial. Das Schicksal der Arbeiter- und Beamtenklasse interessierte ihn nicht um dieser Menschenschichten oder um der Menschheit willen, sondern weil er mit ihnen zu tun hatte, sie für seine industriellen Zwecke und Pläne brauchte. Daß die meisten Industriepolitiker keine Sozialpolitiker sind, ist erklärlich. Um ein bedeutender Industriepolitiker zu werden und zu sein, braucht man die Arbeit eines ganzen Lebens und oft reicht sie nicht einmal dazu hin. Auch die Sozialpolitik braucht ihren ganzen Mann. Dazu kommt, daß der Industrielle, der verdienen, das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben ständig verbessern will, als größten Widerstand auf diesem Wege die ständige Forderung des Arbeiters und Beamten nach höherer Entlohnung, höherem Anteil am Produktionsertrag findet. Der Fabrikant, dessen Streben in der Gegenrichtung fortdrängt, hat es naturgemäß am schwersten, den Standpunkt der arbeitenden Klassen zu begreifen. Denn er muß erst sich selbst ausschalten, seine stärksten Ichgefühle neutralisieren, ehe er beginnen kann, sich in die Seele des Arbeiters einzufühlen. So einfach, so primitiv und brutal darf man den Gegensatz natürlich nicht darstellen, als ob die unersättliche Geldgier des reichen Produzenten dem armen Arbeiter nicht von seinem Überfluß ein Teilchen zur Verbesserung seiner Existenzbedingungen abgeben will. Gewiß, auch das hat es häufig gegeben und gibt es wohl auch noch. Aber gerade bei industriellen Schöpfernaturen spielt das Geld nicht die ausschlaggebende Rolle, sondern die Kalkulation, die Ökonomie des Produktionsprozesses, das Gedeihen des Werkes. Gerade die tiefsten Verelendungen der Arbeiterklasse hatten ihren Ursprung nicht in der Willkür zu reichlich verdienender Fabrikanten, sondern in der Verschlechterung der Produktionsbedingungen für den Industriellen, häufig sogar in dem Aufkommen neuer überlegener Produktionseinrichtungen, die die Herstellung der nach den alten Verfahren arbeitenden Unternehmer unrentabel machten und sie zum Lohndruck zwangen.
Emil Rathenau hat sich mit der Sozialwissenschaft, die derartige soziale Übergangskatastrophen zu verhindern oder doch zu mildern suchte, nicht bewußt beschäftigt, ebenso wenig war er allerdings auch konsequenter Antisozialist, wie zum Beispiel Kirdorf. Er war in dieser Hinsicht, wie in mancher anderen, Unternehmer, Realist und Rationalist und suchte mit dem Sozialismus, den er als eine wurzelstarke, unausrottbare Bewegung erkannt hatte und mit dem er darum rechnen mußte, so gut wie möglich fertig zu werden. Konflikte suchte er so lange als möglich zu verhindern, denn er wußte, daß eine Niederlage für den Arbeitgeber verhängnisvoll werden konnte, daß ein Sieg die Lage für ihn nur auf eine verhältnismäßig kurze Zeit sicherte und den Keim zu immer neuen Kämpfen bildete. Dabei war seine Art, der Arbeiterbewegung Konzessionen zu machen, keineswegs die alte patriarchalische, die sich vorzugsweise an das Gemüt wendet und die auch in ganz großen Betrieben, wie zum Beispiel bei der Firma Fried. Krupp noch gepflegt wird. Seine Methode war vielmehr eine ganz nüchtern rechnungsmäßige, die an den Verstand appelliert und vom Verstande geleitet wird. Während der Patriarchalismus manchen Forderungen des Sozialismus, rein sachlich betrachtet, entgegenkommt, aber stets betont, daß er diese Konzessionen freiwillig, gewissermaßen als Wohltat gewähre, dem Arbeitenden jedoch keinen Anspruch auf sie einräumen will, war es Rathenau ziemlich gleichgültig, in welcher Form er die Forderungen der Arbeiter erfüllte. Wenn er sachlich etwas geben mußte, hielt er sich nicht lange bei der Formfrage auf, ob er den Arbeitenden ein Recht einräume, oder ob er ihnen ein Geschenk mache. Die Hauptfrage war für ihn der rechnerische Effekt, die Einwirkung auf die Ökonomie. Erschien diese ihm zu nachteilig, so ließ er es lieber auf den Kampf ankommen, ehe er nachgab. Im anderen Falle war er zum Entgegenkommen bereit, sofern er den Eindruck hatte, daß der Gegner stark genug war, um einen Arbeitskampf wagen zu können. Im allgemeinen huldigte er der Ansicht, daß es auch wirtschaftlich zweckmäßig sei, Störungen der industriellen Arbeit möglichst zu vermeiden, da sie auch dem Unternehmer häufig mehr schaden könnten als Zugeständnisse, die er den Arbeitern machte und die vielleicht durch Verbesserung der Arbeitsmethoden wieder ausgeglichen werden konnten. Von Arbeitskämpfen [S. 405] aus prinzipiellen Gründen wollte er nicht viel wissen, und vermied sie, wenn es irgend angängig war.
Naturgemäß haben sich seine Anschauungen und Methoden auch in der Arbeiterfrage im Laufe der Zeit verändert und entwickelt. Vor einer Reihe von Jahren hielt ihm einmal jemand vor, daß er in der Zeit der Hochkonjunktur viele Arbeiter eingestellt habe, die er dann in der Periode des Rückschlags nicht behalten konnte. Er erwiderte: „Habe ich denn diese Arbeiter alle gezeugt, daß ich verpflichtet bin, sie zu beschäftigen? Wenn ich Arbeit für sie habe und sie zu mir kommen, gebe ich ihnen Beschäftigung, habe ich keine Arbeit mehr für sie, muß ich sie entlassen.“ — Von diesem Standpunkt kam er mit den Jahren immer mehr ab, je klarer er erkannte, wie vorteilhaft es vom geschäftlichen Standpunkt für ein Großunternehmen ist, einen dauernden, treuen und geübten Arbeiterstamm zu besitzen. Natürlich führte er diese Ansicht nicht bis zu der Konsequenz durch, nun überhaupt keinen Arbeiter mehr zu entlassen, auch wenn es für ihn an Beschäftigung fehlte. Aber er suchte die Entlassungen möglichst einzuschränken, indem er für Arbeiter, deren Tätigkeit auf einem Gebiet beendigt war, neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen bestrebt war und zur Erreichung solcher Zwecke auch Opfer nicht scheute, von denen er wußte, daß sie sich später wieder bezahlt machen würden. Übrigens trug sein kaufmännisches System, die A. E. G. vor Beschäftigungskrisen sicherzustellen und die Produktion auch in schlechten Zeiten konstant zu erhalten, naturgemäß dazu bei, auch die Arbeiterverhältnisse in ihren Betrieben zu festigen. Entlassungen fanden in späteren Jahren weniger in Zeiten des Konjunkturrückganges als infolge der Einführung neuer arbeitersparender Produktionsmethoden statt. Hier war aber der Arbeiterrückgang meist nur ein ganz vorübergehender, denn solche neuen Produktionsmethoden pflegten sehr schnell den Bedarf anzuregen und damit auch die Nachfrage nach Arbeitern wieder zu heben.
In der Angestelltenfrage war der Standpunkt Rathenaus grundsätzlich derselbe wie in der Arbeiterfrage. Er stellte sich auf den Boden einer nüchternen Tatsachenpolitik, und wenn die Angestellten bei ihm trotzdem nicht dasselbe erreichten wie die Arbeiter, so liegt das daran, daß ihnen die Macht und Solidarität des Zusammenschlusses nicht in demselben Maße zur Seite stand, die ihren [S. 406] Forderungen denselben Nachdruck hätte geben können wie der Arbeiterschaft. Immerhin versuchte er, soweit es bei einem so großen Betrieb möglich ist, den tüchtigen Angestellten den Aufstieg aus den niedrigsten Regionen zu ermöglichen. Die Verbesserung der sozialen Lage des Durchschnitts ging nur schrittweise vor sich.
Ein eigenartiges Kapitel im sozialen Leben Rathenaus betrifft die Frauenarbeit . Er schätzte an Frauen besonders die Weiblichkeit, und infolgedessen entsprach seinem Gefühl die Frauenarbeit recht wenig. Als ihm aber manche seiner Mitarbeiter rechnerisch überzeugend deren Vorteile für das Unternehmen dargelegt hatten, gab er seinen Widerstand auf und ließ sogar zu, daß Frauen von der A. E. G. in großem Umfange eingestellt wurden. In seinem innersten Empfinden blieb er aber immer ungläubig und als einmal in irgend einer Zeitung die Meldung zu lesen war, daß die Baltimore- und Ohio-Bahn eine Statistik aufgemacht habe, nach der die Bezahlung der Frauen bei dieser Gesellschaft um 30%, die Leistung aber um 50% geringer sei als die der Männer, ließ er überall nachforschen, um Näheres über diese Statistik zu ermitteln. Die Ermittelungen fielen negativ aus und es erwies sich, daß die Baltimore-Ohio-Bahn überhaupt keine Statistik dieser Art angefertigt habe. — Die Beamten, die er mit dieser Nachforschung beauftragt hatte, waren nicht wenig erstaunt, als Rathenau wenige Tage nachher gelegentlich des Empfanges einer Studiengesellschaft eine Rede hielt, in der er die Vorteile der Frauenarbeit begeistert pries und mit Stolz darauf hinwies, daß bei der A. E. G. schon seit langem die Frauenarbeit in großem Maßstabe gepflegt würde.
Im Endeffekt hat natürlich Emil Rathenau, wie jeder andere große Entwickeler industrieller Arbeit, auch sozial fördernd gewirkt. Industrie schaffen, heißt Arbeit schaffen und die Bedingungen der Industrie verbessern, heißt auch die Bedingungen der Arbeit verbessern, wenngleich eine zu plötzliche, revolutionierende Verbesserung der Industrietechnik vorübergehend auch auf die Arbeiterverhältnisse drücken kann. Das von Adam Smith aufgestellte Lohngesetz, nach dem die Industrie den Arbeiter stets nur so viel verdienen läßt, daß er gerade sein Auskommen finden kann, hat doch heute nicht mehr volle Geltung. Die soziale Bewegung, aber auch die großartige Industrieentwickelung haben zweifellos in den letzten [S. 407] Jahrzehnten dahin gewirkt, die soziale Lage zu mindestens des Standes der gelernten Arbeiter zu heben und sie der des Kleinbürgertums anzunähern.
Wir sind am Ende. Wir haben versucht, ein Menschenleben in seinem Sein und Wirken zu schildern, das ein Heldenleben gewesen ist, wie nur irgend eines, wenn ihm auch vielleicht der Schimmer der Romantik gefehlt hat. An Kämpfen war dieses Leben reich und reich an Erfolgen. Mit dem Leben hatte Emil Rathenau zu ringen, und zuletzt auch mit dem Tode. Wer den Invaliden sah, als er sich, von dem ersten Anfall der tückischen Krankheit kaum erholt, im Rollstuhl nach seinem Arbeitszimmer am Friedrich Karl-Ufer fahren ließ, diese zitternden Hände, diesen totenblassen Kopf, diese müden Züge, die einst von Energie und Lebenswillen durchglüht gewesen waren, gab diesem Mann nur noch wenige Wochen. Immer neue Attacken der Krankheit schüttelten ihn. Er überwand sie und gewann noch ein paar Jahre. Im Mai 1914, als ich ihn zum letzten Male aufsuchte, war er äußerlich ganz der alte. Seinen künstlichen Fuß, den ihm ein Meister-Orthopäde konstruiert hatte, betrachtete er nur als technisches Problem. In stundenlanger Unterhaltung entwickelte er mir damals alle brennenden Fragen der Elektrizitätsindustrie, jugendlich, frisch, zukunftsfreudig wie nur je, ganz ungebrochener Geist, der sich die Materie untertan gemacht hat. Ein Jahr später hatte die Materie doch den Geist überwunden. Am Tage der Wiedereroberung von Lemberg schloß Emil Rathenau die Augen.
Können heute noch Männer seinesgleichen wachsen und werden? Die Großen aus dem Reiche der Industrie sind gestorben oder sie altern. Aus den Reihen der jungen Saat sehen wir noch keinen Halm, der über die umstehenden Köpfe soweit hinausragt, wie Saul über die Propheten. Unsere Industrieentwickelung ist voller aber auch ruhiger geworden. Es sind nur Schritte vorwärts zu tun, langsame oder schnelle, aber keine großen Distanzen mehr zu überspringen, im Sturmschritt zu durcheilen wie zur Zeit, als Rathenau nicht nur selbst jung war, sondern das Glück hatte, die Jugend einer Epoche zu erleben. Es fehlen die neuen, großen jungfräulichen Probleme, an denen sich die Begabung zur Vollkraft entwickeln, der [S. 408] Feuerfunke des Genius zum lodernden Brand entzünden kann. — Fehlen sie? Oder werden sie aus der ungeheuren Umwälzung entstehen, in die dieser lange, schwere und zerstörende Krieg Europa gestürzt hat und aus der seine Weltherrschaft nur eine ungeheure Arbeit der Geister und Hände erretten könnte? — Warten wir und hoffen, daß uns Deutschen Männer wie Emil Rathenau wieder geschenkt werden, die unsere Kraft der Organisation mit dem Blute der Persönlichkeit durchtränken und zu noch höherem Werte emporheben können.
Wir machen bei dieser Gelegenheit noch besonders auf die früher erschienenen Bände I–V der „Großen Männer“ aufmerksam.
Band I
Große Männer.
Von Wilhelm Ostwald , 3. u. 4. Aufl. Broschiert M. 14.—.
Die schnelle Folge der Auflagen ist ein Beweis dafür, wie dieses Werk die öffentliche Meinung wachgerüttelt hat. Demgemäß haben denn auch die vorliegenden Kritiken alle Stufen von glühendem Enthusiasmus bis zu wütender Gegnerschaft durchmessen... Es sei wiederholt auf dieses bedeutsame Buch hingewiesen, das die so wichtigen Gegenstände der Erziehung und Bildung der Jugend in eine ganz neue Beleuchtung rückt und aus deren Ergebnis einschneidende Verbesserungsvorschläge gewinnt.
Frankfurter Zeitung.
Band II
Zur Geschichte der Wissenschaften und der Gelehrten seit zwei Jahrhunderten
nebst anderen Studien über wissenschaftl. Gegenstände, insbesondere Vererbung u. Selektion beim Menschen v. Alphonse de Candolle . Deutsch herausgeg. v. Wilh. Ostwald . Brosch. M. 12.—, gebunden M. 13.—.
... Die Umsicht und die Gewissenhaftigkeit, mit der das Material bearbeitet ist, erweckt ebenso unsere Bewunderung, wie die Bescheidenheit, mit der die Ergebnisse vorgetragen werden, unsere Sympathie erregt. Forscher und Lehrer sollten sich mit dem Inhalt des schönen Werkes vertraut machen.
Prof. Schaum, Leipzig, in „Leipziger Neueste Nachrichten.“
Band III
Jacobus Henricus van’t Hoff.
Sein Leben und Wirken von Ernst Cohen , Prof. an der Reichs-Universität zu Utrecht. Mit 2 Gravuren u. 90 Abbildungen. Broschiert M. 14.75, gebunden. M. 16.—.
Das Aufsehen erregende Werk bildet einerseits einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der exakten Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie und sucht andererseits die Schätze aufzudecken, die der heutige Schulbetrieb für einseitig begabte Menschen, die das Zeug zum „großen Mann“ hätten, im Gefolge habe.
„Jahresbericht für das höhere Schulwesen.“
__________BESTELLSCHEIN__________
Unterzeichneter bestellt hiermit von den im Verlage der
Akademischen Verlagsgesellschaft m. b. H. in Leipzig
erschienenen Bänden der „Großen Männer“ :
Bd. I: | Große Männer. Von Wilh. Ostwald. Brosch. M. 14.—, gebd. M. 15.— |
Bd. II: | Zur Geschichte der Wissenschaften u. der Gelehrten seit zwei Jahrhunderten. Von A. de Candolle–Wilh. Ostwald. Brosch. M. 12.—, gebd. M. 13.— |
Bd. III: | Jac. Henr. van’t Hoff. Von Ernst Cohen. Brosch. M. 14.75, gebd. M. 16.— |
Bd. IV: | Victor Meyer. Von Rich. Meyer. Brosch. M. 18.—, gebd. M. 20.— |
Bd. V: | Ernst Abbe. Von F. Auerbach. Brosch. M. 18.—, gebd. M. 21.— |
Ort und Datum Unterschrift (bitte recht deutlich):
GROSSE MÄNNER
Studien zur Biologie des Genies
Herausgegeben von
WILHELM OSTWALD
................
Band IV
VICTOR MEYER
Leben und Wirken eines deutschen Chemikers und
Naturforschers
1848–1897
von
RICHARD MEYER
Geh. Rat, Professor an der Herzogl. Techn. Hochschule zu Braunschweig.
Mit 1 Titelbilde, 79 Textabbildungen und der Wiedergabe eines Originalbriefes.
Geheftet M. 18.—; gebunden M. 20.—.
Aus dem Vorwort:
Das vorliegende Werk ist aus einem Nachruf hervorgegangen, den ich auf Wunsch des Vorstandes der Deutschen Chemischen Gesellschaft verfaßt habe und der in den Berichten der Gesellschaft (41, 4505) im Jahre 1909 erschienen ist. Wie ich damals ausführte, glaubte ich im ersten Augenblick die Aufgabe, ein Lebensbild meines geliebten Bruders zu entwerfen, nicht übernehmen zu können. Ich empfand nicht nur die großen, allgemeinen Schwierigkeiten, sondern vor allem die besonderen persönlichen Bedenken, welche sich aus meinem verwandtschaftlichen Verhältnisse zu dem früh Geschiedenen ergaben. Sie wollten sich auch durch die Erwägung nicht beschwichtigen lassen, daß die gemeinsam verlebte Jugend und unsere durch ein ganzes Leben fortgesetzten innigen Beziehungen mir eine Fülle von Erinnerungen und schriftlichen Zeugnissen seiner Entwickelung hinterlassen haben, welche eine wertvolle Grundlage für ein Lebensbild abgeben konnten. Die Bedenken habe ich in eingehender Darlegung zum Ausdruck gebracht. Sie wurden freundlich aber entschieden zurückgewiesen — und so glaubte ich mich der verantwortungsvollen und zugleich mir teuren Pflicht nicht entziehen zu dürfen.
Als vier Jahre später die Akademische Verlagsgesellschaft mit der Aufforderung an mich herantrat, eine ausführliche Biographie zu verfassen, habe ich dem nach gründlicher Überlegung Folge gegeben. An der Bearbeitung des Werkes hat meine Frau einen wesentlichen Anteil. Von der Jugend her in inniger Freundschaft mit uns beiden verbunden, stand sie meinem Bruder menschlich nahe und teilte seine künstlerischen und literarischen Interessen. Manches hier Niedergeschriebene stammt aus ihrer Feder, und vielfach ist die Grenze ihres und meines Anteils verwischt.
Dem Texte sind zahlreiche Bildnisse von Personen eingefügt, welche mit meinem Bruder in näherer wissenschaftlicher oder freundschaftlicher Beziehung gestanden haben. Daher war ich bestrebt, die Betreffenden in dem Alter wiederzugeben, in dem sie hauptsächlich mit meinem Bruder verkehrten, was in den meisten Fällen, wenn auch nicht immer gelungen ist.
Die Darstellung gliedert sich in zwei Abschnitte. Der erste enthält die Schilderung des Lebensganges, im zweiten ist die wissenschaftliche Lebensarbeit des Mannes im Zusammenhange dargestellt. Dabei konnte es aber nicht fehlen, daß die Arbeiten auch schon im ersten Teile berührt wurden, soweit sie das innere Leben beeinflußten, und weil die Briefe vielfach ganz davon erfüllt sind. — Den Schluß bildet ein Anhang, welcher kurze biographische Notizen über die im Text erwähnten Persönlichkeiten enthält. Dabei ließ ich mich von demselben Gedanken leiten, welcher G. W. A. Kahlbaum bei der Herausgabe von Liebigs Briefwechsel mit Schönbein und Friedr. Mohr zur Anfügung umfassender Anmerkungen veranlaßte, und welchen er durch die Worte zum Ausdruck brachte: „Als Ideal hat uns vorgeschwebt, den Leser so zu stellen, als sei er ein Mitglied des Freundeskreises Liebig-Schönbein gewesen, und daher über Menschen und Dinge, über Vorgänge und Arbeiten einigermaßen orientiert.“ — Dabei mußte ich auf einen Leserkreis Rücksicht nehmen, der sich aus Chemikern und Nicht-Chemikern zusammensetzt.
Die Arbeit wurde im Januar 1914 begonnen. Während ich damit beschäftigt war, brach der Weltkrieg aus, der natürlich hemmend darauf einwirken mußte. Gleichwohl konnte ich sie zu Ende führen, und wenn jetzt der ersehnte Friede anscheinend noch in unbestimmter Ferne liegt, so wird doch vielleicht nach mehr als zweijähriger Kriegsdauer der Leserwelt die Darbietung eines friedlichen Stoffes nicht unerwünscht sein.
Braunschweig , im Oktober 1916.
Richard Meyer.
Band V
ERNST ABBE
Sein Leben, sein Wirken, seine Persönlichkeit
nach den Quellen und eigenen Erinnerungen dargestellt
von
FELIX AUERBACH
Mit 1 Gravüre, 115 Abbildungen im Text und der Wiedergabe zweier Originalschriftstücke.
Geheftet M. 18.—
Gebunden M. 21.—.
Hiermit wird den Lesern die Lebensbeschreibung eines Mannes geboten, der wegen der völligen Originalität seiner Persönlichkeit wie seines Wirkens, durch die Mannigfaltigkeit seiner Betätigung und doch auch wieder durch die einheitliche Größe seines Wesens das Interesse weiterer Kreise erwecken und erfüllen muß, als es sonst Biographien tun können. Hat doch Ernst Abbe nicht bloß in der wissenschaftlichen Optik Bahnbrechendes geleistet, hat er doch nicht bloß die optische Industrie auf eine Höhe gebracht, von der aus Deutschland jetzt auf die andern Länder mit berechtigtem Stolze herabschaut; sondern auch auf einem ganz andern Gebiete, als sozialer Reformator, Unvergleichliches geschaffen — auf einem Gebiete, auf dem es leicht ist zu reden und zu schreiben, aber ebenso schwer zu handeln, schwer wegen der unumgänglichen Voraussetzungen des Herzens, des Charakters und des Verstandes, an die jenes Handeln geknüpft ist. Nur selten in Jahrhunderten finden sich diese Voraussetzungen in einer und derselben Person vereinigt; bei Abbe sind sie es gewesen, und so war diesem einfachen Arbeitersohn ein innerer und äußerer Erfolg gleichen Maßes und größten Stils beschieden. Im vorliegenden Buche wird, an der Hand des Quellenmaterials und persönlichen Erlebnisses, unterstützt durch sorgfältig ausgewählte Bildnisse und Illustrationen, der ganze Aufbau dieses Lebens dargestellt, und das in einer Weise, die es auch dem Nichtfachmann (und Abbe gegenüber sind wir das alle) ermöglicht, Schritt für Schritt mitzugehen und die Entwickelung dieses wahrhaft großen Mannes zu verfolgen — nicht nur dem Gelehrten, dem Techniker, dem Industriellen, dem Volkswirt; nein, auch ganz einfach dem Menschen, zu dem der große Mensch eindringlich spricht. Den Beschluß des Buches bilden Beigaben für den, der durch seine Lektüre zu eingehender Beschäftigung mit seinem Gegenstande angeregt worden ist.
Fußnoten:
[1] Siehe „Der Staat und die Elektrizitätsversorgung“ von Dr. ing. Gustav Siegel.
[2] In letzter Zeit hat die A. E. G. die Elektrowerke an den Reichsfiskus verkauft.
[3] Abgedruckt in der „Elektrochemischen Zeitschrift“ 1916, S. 297 ff.
[4] Inzwischen ist die Besteuerung der Kohle ohne Zusammenhang mit dem Elektrizitätsproblem bereits zur Durchführung gelangt, und zwar in viel höherem Ausmaß, als es Klingenberg vorgeschlagen hatte.
[5] Nach Fertigstellung dieser Ausführungen hat der Verkehrsminister v. Breitenbach im Abgeordnetenhause eine stärkere Betätigung des preußischen Staates auf dem Gebiete der Großkrafterzeugung angekündigt und Pläne entwickelt, die ganz in der Richtung der Rathenau’schen, Siegel’schen und Klingenberg’schen liegen. Auch er mußte aber zugeben, daß die Vorteile eines solchen Vorgehens zunächst nicht so sehr auf dem staatsfinanziellen, als auf dem allgemeinwirtschaftlichen Gebiete liegen würden.